Émile Zola
Die Freude am Leben
Roman Band 12 - der RougonMacquart Die Freude am Leben; (La joie de vivre 1884) Natur...
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Émile Zola
Die Freude am Leben
Roman Band 12 - der RougonMacquart Die Freude am Leben; (La joie de vivre 1884) Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich
TUX ebook 2010
DIE FREUDE AM LEBEN Kapitel I Als die Kuckucksuhr im Eßzimmer sechs schlug, verlor Chanteau alle Hoffnung. Er erhob sich mühsam aus dem Sessel, in dem er seine Beine, die schwerfälligen Beine eines Gichtkranken, an einem Koksfeuer wärmte. Seit zwei Stunden wartete er auf seine Frau, die nach fünfwöchiger Abwesenheit an diesem Tage ihre kleine Cousine Pauline Quenu aus Paris mitbringen sollte, eine zehnjährige Waise, für die das Ehepaar die Vormundschaft übernommen hatte.
»Ich verstehe das nicht, Véronique«, sagte er und stieß die Küchentür auf. »Es muß ihnen ein Unglück zugestoßen sein.« Das Hausmädchen, eine große Person von fünfunddreißig Jahren mit Männerhänden und einem Gendarmengesicht, nahm gerade eine Hammelkeule vom Feuer, die sonst sicherlich verbrutzelt wäre. Sie schimpfte nicht, aber Zorn ließ die rauhe Haut ihrer Wangen bleich werden. »Madame wird in Paris geblieben sein«, sagte sie trocken. »Bei all diesen Geschichten, die kein Ende nehmen und die das ganze Haus durcheinanderbringen!« »Nein, nein«, erklärte Chanteau. »Die Depesche von gestern abend teilte mit, daß die Angelegenheit der Kleinen endgültig geregelt ist ... Meine Frau muß heute früh in Caen angekommen sein, wo sie haltgemacht hat, um bei Davoine hereinzuschauen. Um ein Uhr mußte sie wieder den Zug nehmen, um zwei in
Bayeux aussteigen; um drei müßte Vater Malivoires Reisewagen sie in Arromanches abgesetzt haben, und selbst wenn Malivoire seine alte Berline nicht gleich angespannt hat, hätte meine Frau gegen vier Uhr, spätestens um halb fünf hiersein können ... Es sind kaum zehn Kilometer von Arromanches nach Bonneville.« Ohne die Blicke von ihrer Hammelkeule zu wenden, hörte sich die Köchin all diese Berechnungen an und schüttelte den Kopf. Er fügte nach einem Zögern hinzu: »Du solltest an die Ecke der Landstraße gehen und mal nachsehen, Véronique.« Noch bleicher vor verhaltenem Zorn, sah sie ihn an. »So! Und warum? Da ja doch Herr Lazare ihnen draußen schon entgegenpatscht, lohnt es sich nicht, daß ich mich bis zum Kreuz hoch eindrecke.«
»Es ist nur«, murmelte Chanteau sanft, »weil ich jetzt auch um meinen Sohn in Unruhe bin ... Er kommt auch nicht wieder. Was kann er seit einer Stunde auf der Landstraße treiben?« Da nahm Véronique, ohne noch weiter ein Wort zu sagen, von einem Nagel ein altes schwarzwollenes Umschlagtuch, das sie sich um Kopf und Schultern legte. Als Chanteau ihr in den Flur folgte, sagte sie dann barsch: »Gehen Sie doch an Ihr Feuer zurück, wenn Sie nicht morgen den ganzen Tag lang vor Schmerzen schreien wollen.« Und nachdem sie die Tür zugeschlagen hatte, zog sie auf der Freitreppe ihre Holzschuhe an und schrie in den Wind: »Ach du großer Gott! Das ist vielleicht eine Rotznase, die sich was darauf einbilden kann, daß sie unsereinen herumscheucht!« Chanteau blieb friedlich. Er war an die
heftigen Ausbrüche dieses Mädchens gewöhnt, das mit fünfzehn Jahren, kurz nach der Heirat der Chanteaus, ins Haus gekommen war. Als er das Klappern der Holzschuhe nicht mehr hörte, entwischte er wie ein Schüler, der schulfrei bekommt, und pflanzte sich am anderen Ende des Flures vor einer Glastür auf, die auf das Meer hinausging. Dort verharrte er eine Weile, mit seiner untersetzten und dickbäuchigen Gestalt, seiner gesunden Gesichtsfarbe, und betrachtete mit seinen hervortretenden großen blauen Augen unter der schneeigen Kappe seiner kurzgeschorenen Haare den Himmel. Er war kaum sechsundfünfzig Jahre alt; aber die Gichtanfälle, an denen er litt, hatten ihn frühzeitig altern lassen. Von seiner Unruhe abgelenkt, schaute er gedankenverloren vor sich hin und dachte, daß die kleine Pauline am Ende sicherlich Véroniques Herz erobern würde. Und dann, war es etwa ihre Schuld? Als dieser
Anwalt aus Paris ihm geschrieben hatte, daß sein Cousin Quenu, der seit sechs Monaten verwitwet war, nun auch gestorben sei und ihn testamentarisch mit der Vormundschaft über seine Tochter betraut habe, hatte er nicht die Kraft in sich gefühlt, das abzulehnen. Gewiß, man sah sich kaum, die Familie war auseinandergerissen, Chanteaus Vater hatte vorzeiten in Caen einen Handel mit Holz aus nordischen Ländern gegründet, nachdem er Südfrankreich verlassen und als einfacher Zimmermannsgeselle das ganze Land durchwandert hatte; während der kleine Quenu gleich nach dem Tode seiner Mutter in Paris gelandet war, wo ein anderer seiner Onkel ihm später eine große Fleischerei mitten im Hallenviertel überlassen hatte. Und man war kaum zwei oder dreimal zusammengekommen, wenn Chanteau, den seine Schmerzen zur Aufgabe des Geschäftes zwangen, Reisen nach Paris unternommen hatte, um die medizinischen Kapazitäten zu
konsultieren. Allein die beiden Männer schätzten einander, der Sterbende wünschte vielleicht, daß seine Tochter in der gesunden Meeresluft heranwuchs. Die Tochter übrigens, die die Fleischerei erbte, würde keineswegs eine Belastung sein. Kurz und gut, Frau Chanteau war darauf eingegangen, sogar so begeistert, daß sie ihrem Mann die gefährliche Anstrengung einer Reise hatte ersparen wollen und allein gefahren war, in ihrem ständigen Tätigkeitsdrang die Straßen ablief, die Angelegenheit regelte; und es genügte Chanteau, daß seine Frau zufrieden war. Doch warum kamen die beiden nicht? Seine Befürchtungen befielen ihn wieder angesichts des fahlen Himmels, über den der Westwind große schwarze Wolken trieb, gleich Rußfetzen, deren zerrissene Enden in der Ferne im Meer schleppten. Es war einer dieser Märzstürme, wenn um die Tagundnachtgleiche die Wogen wütend gegen die Küsten branden. Die Flut, die erst zu steigen begann, legte
zunächst einen weißen Balken über den Horizont, einen schmalen, verlorenen Schaumstreifen; und der Strand, der an diesem Tag so weit entblößt war, diese meilenweit sich erstreckende Fläche voller Felsen und düsterer Algen, diese von Lachen beschmutzte, mit Trauerschleiern gefleckte kahle Ebene, nahm in der Abenddämmerung, die sich aus den entsetzt fliehenden Wolken herniedersenkte, eine gräßliche Schwermut an. »Vielleicht hat der Sturm sie in einen Graben geworfen«, murmelte Chanteau. Es trieb ihn, selber nachzusehen. Er öffnete die Glastür, wagte sich mit seinen bandgeflochtenen Hausschuhen auf den Kies der Terrasse, die das Dorf überragte. Ein paar Regentropfen, die mit dem Sturm daherflogen, peitschten ihm das Gesicht, ein furchtbarer Wind klatschte ihm die grobwollene blaue Jacke an seinen Körper. Doch er blieb hartnäckig, setzte keine Mütze auf, machte den
Rücken krumm; und er stützte sich mit den Ellbogen auf die Brüstung, um auf die Landstraße unten aufzupassen. Diese Landstraße führte zwischen zwei Felswänden zu Tal, man hätte meinen können, es sei ein Axthieb in das Gestein gefahren, aus einer Spalte seien die wenigen Meter Erde herausgeflossen, auf der die fünfundzwanzig bis dreißig baufälligen Häuser von Bonneville standen. Jede Flut schien sie am Abhang zerschmettern zu müssen, auf ihrem schmalen Bett aus Geröll. Links befand sich eine kleine Landestelle, ein Streifen Sand, wo Männer mit regelmäßigen Rufen etwa zehn Boote an Land zogen. Der Ort hatte keine zweihundert Einwohner, sie lebten vom Meer, äußerst schlecht, mit der stumpfsinnigen Hartnäckigkeit von Mollusken an ihren Felsen geklebt. Und über den erbärmlichen Dächern, die jeden Winter von den Sturmböen eingedrückt wurden, sah man an den Felsabhängen auf halber Höhe rechts nur die
Kirche und links nur das Haus der Chanteaus, getrennt durch die Schlucht der Landstraße. Das war ganz Bonneville. »Was für ein erbärmliches Wetter, wie?« rief eine Stimme. Als Chanteau aufblickte, erkannte er den Pfarrer, Abbé Horteur, einen untersetzten Mann von bäurischem Aussehen, dessen fünfzig Jahre sein rotes Haar noch nicht gebleicht hatten. Vor der Kirche hatte sich der Priester auf dem Friedhofsgelände einen Gemüsegarten vorbehalten; und dort war er und sah sich seine ersten Salatköpfe an, wobei er seine Soutane zwischen die Schenkel klemmte, damit der Sturm sie ihm nicht über den Kopf schlug. Chanteau, der sich gegen den Wind nicht verständlich machen konnte, mußte sich damit begnügen, mit der Hand zu grüßen. »Ich glaube, es ist nicht falsch, wenn sie die Boote an Land ziehen«, schrie der Pfarrer aus
Leibeskräften weiter. werden sie tanzen.«
»Gegen
zehn
Uhr
Und als ihm ein Windstoß nun doch den Kopf mit seiner Soutane bedeckte, verschwand er hinter der Kirche. Chanteau hatte sich umgedreht, wölbte die Schultern vor und hielt stand. Obwohl ihm die Augen voller Wasser standen, warf er einen Blick auf seinen vom Meer versengten Garten und auf das Backsteinhaus mit den beiden fünffenstrigen Stockwerken, deren Sommerläden trotz der Vorsteckkeile abgerissen zu werden drohten. Als die Bö vorüber war, beugte er sich von neuem über die Landstraße vor; doch Véronique kam zurück und fuchtelte mit den Armen. »Wie! Sie sind rausgegangen? Wollen Sie wohl schleunigst wieder reingehen, Herr Chanteau!« Sie erwischte ihn im Flur, schalt ihn aus wie
ein Kind, das man bei einem Vergehen ertappt hat. Nicht wahr? Wenn er morgen Schmerzen bekäme, dann müßte sie ihn wieder pflegen! »Du hast nichts unterwürfig.
gesehen?«
fragte
er
»Nein, natürlich habe ich nichts gesehen ... Ihre Frau hat bestimmt irgendwo Unterschlupf gefunden.« Er wagte ihr nicht zu sagen, daß sie hätte noch weiter gehen sollen. Jetzt ängstigte er sich vor allem, weil sein Sohn nicht da war. »Ich habe gesehen«, begann das Hausmädchen wieder, »daß die ganze Gegend in Aufregung ist. Diesmal haben sie Angst, dabei draufzugehen ... Schon im September hat das Haus der Familie Cuche von oben bis unten einen Riß bekommen, und Prouane, der das Angelus1 läuten ging, hat mir geschworen, es würde bis morgen einstürzen.« Doch in diesem Augenblick eilte ein großer
neunzehnjähriger Bursche, die drei Stufen mit einem Schritt nehmend, die Freitreppe herauf. Er hatte eine breite Stirn, sehr helle Augen, und zarter kastanienbrauner Bartflaum umrahmte sein längliches Gesicht. »Na endlich! Da ist Lazare!« sagte Chanteau erleichtert. »Du bist ja patschnaß, armer Junge!« Der junge Mann hängte in der Diele einen von den Regengüssen durchnäßten Kapuzenmantel auf. »Nun, was ist?« fragte von neuem der Vater. »Was ist? Kein Mensch zu sehen!« erwiderte Lazare. »Ich bin bis nach Verchemont gegangen, und dort habe ich unter dem Wagenschuppen des Gasthauses gewartet und unverwandt auf die Landstraße gesehen, die einem wahren Schlammstrom gleicht. Kein Mensch! Da habe ich Angst bekommen, du könntest dir Sorgen machen, und bin
zurückgegangen.« Er hatte das Gymnasium von Caen im August verlassen, nachdem er sein Abitur abgelegt hatte, und seit acht Monaten durchstreifte er die Felsenküste, ohne sich zu dem Entschluß durchzuringen, sich eine Beschäftigung zu suchen; nur für Musik begeisterte er sich leidenschaftlich, was seine Mutter zur Verzweiflung brachte. Sie war verärgert abgereist, denn er hatte es abgelehnt, sie nach Paris zu begleiten, und dabei war es ihr Traum, ihm dort eine Lebensstellung zu verschaffen. Der innere Zusammenhalt der Familie ging mehr und mehr verloren in einer ungewollten Verbitterung, die durch das häusliche Zusammenleben noch verstärkt wurde. »Jetzt, da du Bescheid weißt«, begann der junge Mann wieder, »möchte ich noch bis nach Arromanches gehen.« »Nein, nein, es wird schon dunkel«, rief Chanteau. »Es ist unmöglich, daß deine Mutter
uns ohne Nachricht läßt. Ich erwarte eine Depesche ... Halt, das hört sich wie ein Wagen an.« Véronique hatte die Tür wieder geöffnet. »Das ist der Wagen von Doktor Cazenove«, verkündete sie. »Sollte er denn kommen, Herr Chanteau? – Ach, mein Gott! Aber das ist ja Ihre Frau!« Alle eilten die Freitreppe hinunter. Ein riesiger Hund, eine Kreuzung aus Neufundländer und Bernhardiner, der in einer Ecke der Diele geschlafen hatte, sprang mit wütendem Bellen auf. Bei diesem Lärm erschien auch eine kleine weiße, zierlich gebaute Katze auf der Schwelle; doch angesichts des schlammbedeckten Hofes zitterte ihr Schwanz leicht vor Widerwillen, und sie setzte sich manierlich oben auf die Stufen, um zu sehen. Indessen war eine etwa fünfzigjährige Dame mit mädchenhafter Behendigkeit aus dem
Wagen gesprungen. Sie war klein und mager, hatte noch tiefschwarzes Haar und ein angenehmes Gesicht, das durch eine große Nase, die Nase einer Ehrgeizigen, verunziert wurde. Mit einem Satz hatte der Hund ihr die Pfoten auf die Schultern gelegt, um sie zu umarmen; und sie wurde ärgerlich. »Pfui, Mathieu, willst du mich wohl loslassen? Dummes Tier! Nun ist's aber genug!« Lazare kam hinter dem Hund über den Hof. Er fragte: »Nichts passiert, Mama?« »Nein, nein«, erwiderte Frau Chanteau. »Mein Gott, waren wir besorgt!« sagte der Vater, der trotz des Windes seinem Sohn gefolgt war. »Was ist denn geschehen?« »Oh, immerfort Ärger!« erklärte sie. »Einmal sind die Wege so schlecht, daß wir nahezu zwei Stunden gebraucht haben, um von Bayeux herzukommen. Dann hat sich doch in Arromanches eines von Malivoires Pferden
einen Fuß gebrochen; und er hat uns kein anderes geben können, ich habe schon kommen sehen, daß wir bei ihm würden übernachten müssen ... Schließlich war der Doktor so freundlich, uns seinen Wagen zu leihen. Der brave Martin hat uns gefahren ...« Der Kutscher, ein alter Mann mit einem Holzbein, ein ehemaliger Matrose, der einst von dem Marinearzt Cazenove operiert worden und später in seinen Diensten geblieben war, band gerade das Pferd an. Frau Chanteau unterbrach sich, um ihm zu sagen: »Martin, helfen Sie doch der Kleinen beim Aussteigen.« Niemand hatte bis jetzt an das Kind gedacht. Da das Wagenverdeck sehr tief herunterreichte, sah man nur seinen Trauerrock und seine kleinen Hände in den schwarzen Handschuhen. Übrigens wartete sie nicht, daß der Kutscher ihr half, sondern sprang auch leichtfüßig heraus. Bei einem
Windstoß flatterten ihre Kleider und wirbelten die braunen Locken unter dem Trauerflor ihres Hutes auf. Und sie sah sehr kräftig aus für ihre zehn Jahre, mit ihren aufgeworfenen Lippen, ihrem vollen Gesicht, das weiß war wie bei allen kleinen Mädchen, die in den Pariser Ladenstuben aufwachsen. Alle schauten sie an. Véronique, die ihre Herrin begrüßen kam, war mit eisigem, eifersüchtigem Gesicht abseits stehengeblieben. Doch Mathieu nahm sich an dieser Zurückhaltung kein Beispiel, er stürzte dem Kind in die Arme und fuhr ihm mit der Zunge übers Gesicht. »Hab keine Angst!« rief Frau Chanteau. »Er beißt nicht.« »Oh, ich habe keine Angst!« erwiderte Pauline sanft. »Ich habe Hunde gern.« Tatsächlich verhielt sie sich ganz ruhig bei Mathieus ungestümen Liebkosungen. Ihr ernstes Gesichtchen wurde trotz ihrer Trauer von einem Lächeln erhellt; dann drückte sie
dem Neufundländer einen dicken Kuß auf die Schnauze. »Und die Leute, küßt du die nicht?« begann Frau Chanteau wieder. »Hier, dies ist dein Onkel, denn zu mir sagst du ja Tante ... Und hier ist also dein Cousin, ein großer Schlingel, der nicht so artig ist wie du.« Das Mädchen empfand keinerlei Scheu. Es umarmte alle, es fand mit der Anmut einer in Höflichkeiten schon geübten kleinen Pariserin für jeden ein Wort. »Onkel, ich danke Euch sehr, daß Ihr mich bei Euch aufnehmt ... Ihr weidet sehen, lieber Cousin, wir beide werden gut miteinander auskommen ...« »Sie ist ja ganz reizend!« rief Chanteau entzückt aus. Lazare sah sie überrascht an, denn er hatte sie sich kleiner vorgestellt, schüchtern und albern, wie nun einmal kleine Mädchen sind.
»Ja, ja, ganz reizend«, wiederholte die alte Dame. »Und tapfer, ihr habt keine Vorstellung! Im Wagen bekamen wir den Wind von vorn, und wir konnten kaum sehen bei dem sprühenden Regen. Das Verdeck krachte wie ein Segel, und zwanzigmal glaubte ich, es würde auseinanderreißen. Und sie, sie hatte ihren Spaß daran, sie fand das komisch ... Aber was stehen wir hier herum? Es ist ja nicht nötig, daß wir noch nasser werden, es fängt schon wieder an zu regnen.« Sie drehte sich um und suchte Véronique. Als sie sie mit mürrischer Miene abseits stehen sah, sagte sie spöttisch zu ihr: »Guten Tag, liebes Kind, wie geht es dir? Bis du dich entschließt, dich nach meinem Befinden zu erkundigen, kannst du eine Flasche für Martin heraufholen, nicht wahr? Wir haben unsere Koffer nicht mitnehmen können, Malivoire wird sie morgen früh bringen ...«
Sie unterbrach sich, kehrte verstört zum Wagen zurück. »Und meine Tasche! – Habe ich einen Schreck bekommen! Ich fürchtete schon, sie sei unterwegs aus dem Wagen gefallen.« Es war eine dicke schwarze Ledertasche, die vom häufigen Gebrauch an den Ecken bereits abgestoßen war und die sie unter keinen Umständen ihrem Sohn anvertrauen wollte. Schließlich gingen alle auf das Haus zu, als ein erneuter Windstoß ihnen den Atem benahm und sie vor der Tür aufhielt. Die Katze, die mit neugieriger Miene dasaß, sah ihnen zu, wie sie gegen den Wind kämpften; und Frau Chanteau wollte wissen, ob Minouche sich während ihrer Abwesenheit gut betragen habe. Beim Namen Minouche spielte wieder ein Lächeln um Paulines ernsten Mund ... Sie bückte sich und streichelte die Katze, die sich sogleich mit erhobenem Schwanz an ihrem Rock rieb. Mathieu hatte wieder heftig zu bellen
begonnen, um die Rückkehr an den heimischen Herd zu melden, als er sah, daß die Familie die Freitreppe hinaufging und endlich in der Diele Schutz suchte. »Ach, hier fühlt man sich wohl!« sagte die Mutter. »Ich glaubte schon, wir würden niemals ankommen ... Ja, Mathieu, du bist ein guter Hund, aber laß uns in Ruhe. Oh, ich bitte dich, Lazare, bring ihn zum Schweigen; er zerreißt mir die Ohren!« Der Hund bellte beharrlich weiter, und unter dieser laut schallenden Freudenmusik gingen die Chanteaus ins Eßzimmer. Vor sich her schoben sie Pauline, das neue Kind des Hauses; und hinterdrein kam Mathieu, der immer noch bellte und dem Minouche folgte, deren feinnerviges Fell bei diesem Spektakel zitterte. In der Küche hatte Martin schon zwei Glas Wein rasch nacheinander getrunken; er wünschte allen einen guten Abend und ging,
mit seinem Holzbein auf den Fliesenboden aufstapfend, davon. Véronique hatte ihre Hammelkeule, die kalt geworden war, wieder ans Feuer geschoben. Sie erschien und fragte: »Wird jetzt gegessen?« »Ich glaube wohl, es ist sieben Uhr«, sagte Chanteau. »Wir müßten nur warten, Véronique, bis meine Frau und die Kleine sich umgezogen haben.« »Aber ich habe Paulines Koffer noch nicht«, bemerkte Frau Chanteau. »Glücklicherweise sind wir unter dem Mantel nicht naß geworden ... Zieh den Mantel aus und nimm den Hut ab, mein Herzchen. Hilf ihr doch aus den Sachen, Véronique ... Und zieh ihr die Schuhe aus, nicht wahr? Ich habe hier, was wir brauchen.« Das Hausmädchen mußte vor dem Kind, das sich hingesetzt hatte, niederknien. Währenddessen holte die alte Dame aus ihrer
Tasche ein Paar kleine Filzschuhe hervor, die sie Pauline selber anzog. Dann ließ auch sie sich die Schuhe ausziehen und kramte von neuem tief in der Tasche, aus der sie ein Paar Pantoffeln für sich herauszog. »Dann kann ich also auftragen?« fragte abermals Véronique. »Gleich ... Pauline, komm, wasch dir in der Küche die Hände und auch das Gesicht ein bißchen ... Wir verhungern ja schon, später machen wir uns gründlich sauber.« Pauline erschien als erste wieder, während ihre Tante noch in der Küche blieb und ihre Nase in eine Schüssel steckte. Chanteau hatte sich wieder an den Kamin, tief in seinen großen, gelbsamtenen Sessel gesetzt, und mit einer mechanischen Bewegung rieb er sich in der Angst vor einem nahe bevorstehenden Anfall die Beine, während Lazare am Tisch stand und das Brot aufschnitt. Der Tisch war seit mehr als einer Stunde für vier Personen gedeckt. Die
beiden Männer, die ein wenig verlegen waren, lächelten dem Kinde zu, ohne daß ihnen ein Wort einfiel. Pauline sah sich seelenruhig das mit Nußbaummöbeln ausgestattete Zimmer an, ließ die Blicke von der Anrichte und dem halben Dutzend Stühlen zur Hängelampe aus Messing schweifen, wurde aufgehalten vor allem durch fünf gerahmte Lithographien, die Jahreszeiten und einen Blick auf den Vesuv, die sich von der kastanienbraunen Tapete abhoben. Zweifellos ließen sie die von kreidigen Schrammen zerkratzte falsche Täfelung aus gemaltem Eichenholz, das mit alten Fettflecken beschmutzte Parkett, der vernachlässigte Zustand dieses Wohnzimmers, in dem die Familie lebte, Heimweh nach der schönen, in Marmor gehaltenen Fleischerei empfinden, die sie am Abend zuvor verlassen hatte, denn ihre Augen wurden traurig, sie schien einen Augenblick lang die heimliche Verbitterung zu erahnen, die sich unter der Gutmütigkeit dieser für sie neuen Umgebung
verbarg. Schließlich blieben ihre Blicke, nachdem sie sich für ein sehr altes Barometer in einem goldbemalten Holzgehäuse interessiert hatten, an einem sonderbaren Gebilde haften, das in einem an den Kanten mit schmalen blauen Papierstreifen beklebten Glaskasten das ganze Kaminsims einnahm. Man hätte es für ein Spielzeug halten können, eine hölzerne Miniaturbrücke, doch eine Brücke mit außerordentlich kompliziertem Zimmerwerk. »Das hat dein Großonkel gemacht«, erklärte Chanteau, glücklich, einen Gesprächsstoff zu finden. »Ja, mein Vater hat als Zimmermann begonnen ... Ich habe sein Meisterstück immer aufbewahrt.« Er errötete nicht ob seiner Herkunft, und Frau Chanteau duldete die Brücke auf dem Kamin, obgleich diese platzraubende Kuriosität sie verdroß, weil sie dadurch an ihre Verbindung mit einem Handwerkerssohn erinnert wurde.
Aber schon hörte Pauline ihrem Onkel nicht mehr zu: durch das Fenster hatte sie soeben den unermeßlich weiten Horizont erblickt, und rasch durchquerte sie das Zimmer und stellte sich an die Fenster, deren Musselinvorhänge mit baumwollenen Vorhanghaltern gerafft wurden. Seit ihrer Abreise aus Paris beschäftigte sie das Meer unausgesetzt. Sie träumte davon, sie fragte im Zug unaufhörlich ihre Tante und wollte bei jedem Hügel wissen, ob nicht hinter diesen Bergen das Meer sei. Am Strand von Arromanches war sie stumm und mit großen Augen stehengeblieben, und ihr entrang sich ein tiefer Seufzer; von Arromanches bis Bonneville hatte sie dann trotz des Windes alle Augenblicke den Kopf aus dem Wagen gesteckt, um das Meer zu sehen, das ihnen folgte. Und jetzt war das Meer noch immer da, es würde immer dasein, wie etwas, das ihr gehörte. Langsam schien sie mit einem Blick davon Besitz zu ergreifen. Die Nacht sank vom fahlen Himmel herab,
über den die Windstöße in wildem Galopp die Wolken peitschten. Man konnte hinten in dem zunehmenden Chaos der Finsternis nur noch den blassen Streifen der steigenden Flut erkennen. Es war ein immer breiter werdender Gischtstreifen, eine ununterbrochene Folge sich entrollender Tücher, die die Tangfelder überfluteten, die Felsplatten in einem sanften und wiegenden Gleiten, dessen Nahen eine Liebkosung zu sein schien, zudeckten. Doch in der Ferne hatte das Tosen der Wellen zugenommen, ungeheure Wogenkämme schäumten hoch auf, und Todesdämmerung lastete zu Füßen der Klippen auf dem menschenleeren Bonneville, das sich hinter seine Türen verkrochen hatte, während die auf dem Strandgeröll verlassenen Boote gleich Kadavern großer gestrandeter Fische dalagen. Der Regen ertränkte das Dorf in dunstigem Nebel, allein die Kirche hob sich noch deutlich ab in einem fahlen Winkel der Wetterwolken. Pauline sprach nicht. Ihr kleines Herz war ihr
wieder schwer; sie glaubte zu ersticken., und sie seufzte tief, ihr ganzer Atem schien über ihre Lippen zu strömen. »Na? Das ist breiter als die Seine«, sagte Lazare, der hinter sie getreten war. Dieses kleine Mädchen setzte ihn immer von neuem in Erstaunen. Er fühlte sich, seit sie da war, schüchtern wie ein unbeholfener großer Junge. »O ja!« erwiderte sie sehr leise, ohne den Kopf zu wenden. Er hätte sie beinahe geduzt, besann sich jedoch. »Erschreckt Sie das nicht?« Da sah sie ihn verwundert an. »Nein, warum? Sicher wird das Wasser nicht bis hierher steigen.« »Nun, das kann man nicht wissen«, sagte er, in dem Bedürfnis, sich über sie lustig zu machen.
»Manchmal geht das Wasser bis über die Kirche.« Doch sie brach in ein lustiges Lachen aus. Bei ihrem sonst so bedächtigen Wesen war dies eine Anwandlung lärmender und gesunder Fröhlichkeit, der Fröhlichkeit eines vernünftig denkenden Menschen, dem das Unsinnige Spaß macht. Und sie duzte den jungen Mann als erste und ergriff wie zum Spiel seine Hände. »Oh, Lazare, du hältst mich aber für sehr dumm! Würdest du wohl hierbleiben, wenn das Wasser bis über die Kirche ginge?« Lazare lachte nun auch, drückte die Hände des kleinen Mädchens, und beide waren von nun an gute Kameraden. Gerade bei diesem fröhlichen Gelächter kam Frau Chanteau wieder herein. Sie schien glücklich, und während sie sich die Hände abtrocknete, sagte sie:
»Ihr habt also Bekanntschaft geschlossen ... Ich wußte doch, daß ihr euch verstehen würdet.« »Soll ich auftragen, Madame?« unterbrach Véronique, die auf der Küchenschwelle stand. »Ja, ja, mein Kind ... Nur solltest du vielleicht erst die Lampe anzünden. Man sieht ja nichts mehr.« Die Nacht brach in der Tat so schnell herein, daß das dunkle Eßzimmer nur noch vom roten Widerschein der Kohle erhellt wurde. Das gab noch eine Verzögerung. Endlich zog das Hausmädchen die Hängelampe herunter, der gedeckte Tisch erschien unter dem Rund strahlender Helligkeit. Und alle saßen schon, Pauline zwischen ihrem Onkel und ihrem Cousin, ihrer Tante gegenüber, als diese mit der Lebhaftigkeit einer mageren alten Frau, die nicht stillsitzen kann, wieder aufstand. »Wo ist meine Reisetasche? – Warte, mein
Liebling, ich geb dir deinen Becher ... Nimm das Glas weg, Véronique. Sie ist an ihren Becher gewöhnt, die Kleine.« Sie hatte einen schon verbeulten Silberbecher hervorgeholt, den sie mit ihrer Serviette auswischte und vor Pauline hinstellte. Dann behielt sie ihre Reisetasche hinter sich auf einem Stuhl. Das Mädchen trug eine Nudelsuppe auf, wobei sie in ihrer mürrischen Art darauf hinwies, daß sie viel zu lange gekocht habe. Niemand wagte sich zu beklagen: Alle hatten großen Hunger, die Brühe zischte auf den Löffeln. Dann kam das gekochte Rindfleisch. Chanteau, der ein Feinschmecker war, rührte es kaum an und sparte seinen Appetit für die Hammelkeule auf. Doch als diese auf dem Tisch stand, erhob sich allgemeiner Protest. Das war gedörrtes Leder, es war nicht zu genießen. »Mein je, ich weiß es ja!« sagte ruhig Véronique. »Sie hätten uns nicht warten lassen
sollen!« Pauline schnitt fröhlich ihr Fleisch in kleine Stücke und schluckte es trotzdem hinunter. Was Lazare betraf, so wußte er niemals, was er auf seinem Teller hatte, er hätte Brotschnitten verschlungen und sie für Hühnerbrust gehalten. Chanteau jedoch betrachtete die Hammelkeule mit trübem Blick. »Und was hast du dazu, Véronique?« »Bratkartoffeln, Herr Chanteau.« Er machte eine Gebärde der Verzweiflung und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. Das Hausmädchen sagte: »Wenn der Herr will, kann ich das Rindfleisch noch einmal bringen?« Doch er lehnte mit einem melancholischen Kopfschütteln ab. Dann war Brot schon ebenso gut wie gekochtes Rindfleisch. Ach, mein Gott! Was für ein Abendessen! Und zu
alledem auch noch das schlechte Wetter, so daß man nicht einmal Fisch bekommen hatte! Frau Chanteau, die ein schlechter Esser war, sah ihn mitleidsvoll an. »Mein armer Freund«, sagte sie plötzlich. »Du tust mir richtig leid ... Ich hatte da ein Geschenk, das ich dir eigentlich erst morgen geben wollte, aber da es heute abend nichts zu essen gibt ...« Sie hatte ihre Reisetasche wieder geöffnet und zog eine Schüssel mit Gänseleberpastete daraus hervor. Chanteaus Augen leuchteten auf. Gänseleberpastete! Verbotene Frucht! Ein heiß begehrter Leckerbissen, den sein Arzt ihm gänzlich untersagt hatte. »Aber du weißt«, fuhr seine Frau fort, »ich erlaube dir nur eine Schnitte damit ... Sei vernünftig, oder du bekommst nie wieder so etwas.« Er hatte die Schüssel ergriffen und nahm sich
mit zitternder Hand. Oft focht er schreckliche Kämpfe aus zwischen seiner Angst vor einem Anfall und seiner unbändigen Sucht nach einem Leckerbissen, und fast immer war die Sucht nach einem Leckerbissen die Stärkere. Da war ihm nicht zu helfen! Es schmeckte zu gut, er würde eben leiden! Véronique, die zugesehen hatte, wie er sich eine dicke Scheibe abschnitt, kehrte in ihre Küche zurück und brummelte: »Na, da wird der Herr aber wieder schreien!« Diese Worte kamen ihr ganz selbstverständlich über die Lippen, und ihre Herrschaft hatte sich daran gewöhnt, so völlig unbefangen gab sie sie von sich. Herr Chanteau »schrie«, wenn er einen Anfall hatte; und das stimmte so genau, daß man gar nicht daran dachte, ihr diese Redewendung zu verbieten. Das Ende des Abendessens verlief sehr fröhlich. Lazare nahm seinem Vater scherzend
die Schüssel aus den Händen. Doch als der Nachtisch erschien, ein Pontl'EvêqueKäse und Biskuits, löste Mathieus jähes Auftauchen große Freude aus. Bis dahin hatte er irgendwo unter dem Tisch geschlafen. Als die Biskuits kamen, war er wach geworden, er schien sie in seinem Schlaf zu riechen; und jeden Abend, genau in diesem Augenblick, schüttelte er sich, machte seine Runde und spähte nach dem Ausdruck der Gesichter. Gewöhnlich ließ sich Lazare am schnellsten rühren; doch an diesem Abend sah Mathieu bei seiner zweiten Runde mit seinen guten, menschlichen Augen fest Pauline an; dann legte er, weil er erriet, daß sie es mit Tieren und Menschen sehr gut meinte, seinen riesigen Kopf auf das kleine Knie des Mädchens, ohne indes seine Blicke voll zärtlichen Flehens von ihr zu wenden. »Oh, so ein Bettler!« sagte Frau Chanteau. »Sachte, Mathieu! Willst du dich wohl nicht so wild auf das Essen stürzen!«
Der Hund hatte mit einem Haps das Stück Biskuit verschlungen, das Pauline ihm hinhielt; und er legte seinen Kopf wieder auf das kleine Knie, bettelte um ein weiteres Stück, die Augen noch immer auf die Augen seiner neuen Freundin gerichtet. Sie lachte, küßte ihn, fand ihn sehr komisch mit den Schlappohren, dem einen schwarzen Fleck über dem linken Auge, dem einzigen Fleck, der sein weißes langhaariges, lockiges Fell zeichnete. Doch es gab einen Zwischenfall: Minouche war eifersüchtig mit einem leichten Sprung auf den Rand des Tisches gehüpft; schnurrend stand sie da mit geschmeidigem Rücken, in der Anmut eines Zickleins, und stieß mit ihrem Kopf dem Kind kräftig ans Kinn. Das war ihre Art, sich einzuschmeicheln, man fühlte ihre kalte Nase und die leichte Berührung ihrer spitzen Zähne, während sie auf ihren Pfoten tanzte wie ein Bäckerjunge, der den Teig knetet. So saß Pauline entzückt zwischen den beiden Tieren,
der Katze zur Linken, dem Hund zur Rechten, ließ sich von ihnen mit Beschlag belegen, schändlich ausnutzen, bis sie ihren ganzen Nachtisch an sie verteilt hatte. »Jag sie doch fort«, sagte Frau Chanteau zu ihr. »Sie werden dir nichts übriglassen.« »Was macht das schon!« erwiderte sie nur in ihrem Glück, alles zu verschenken. Man war fertig. Véronique deckte den Tisch ab. Die beiden Tiere gingen, als sie den Tisch leer sahen, von dannen, ohne sich zu bedanken, und leckten sich noch ein letztes Mal die Schnauze. Pauline war aufgestanden und ans Fenster gegangen, wo sie noch etwas zu sehen versuchte. Seit der Suppe hatte sie beobachtet, wie dieses Fenster immer dunkler und allmählich tintenschwarz wurde. Jetzt war es eine undurchdringliche Wand, eine finstere Masse, in der alles untergegangen war, der
Himmel, das Wasser, das Dorf, sogar die Kirche. Ohne über die Scherze ihres Cousins zu erschrecken, suchte sie das Meer, wurde sie von dem Verlangen gequält, zu erfahren, bis wohin dieses Wasser steigen würde; und sie hörte nur, wie das Tosen zunahm, eine ungeheuerliche, laute Stimme, deren ständige Drohung beim Heulen des Windes und beim Peitschen der Regengüsse in jeder Minute anschwoll. Kein Schimmer mehr, nicht einmal die Blässe der Gischt über dem Chaos von Schatten; nichts als der vom Sturm gepeitschte Galopp der Wogen in der Tiefe dieses Nichts. »Verflixt!« sagte Chanteau. »Die Flut kommt rasend schnell ... Und zwei Stunden lang wird sie noch steigen!« »Wenn der Wind von Norden wehte«, erklärte Lazare, »wäre es um Bonneville geschehen, glaube ich. Glücklicherweise packt er uns von der Seite.« Das kleine Mädchen hatte sich umgewandt
und hörte ihnen zu, die großen Augen voll unruhigen Mitleids. »Ach was!« meinte Frau Chanteau. »Wir sind in Sicherheit, laß die anderen doch sehen, wie sie zurechtkommen, jeder hat seine eigenen Sorgen ... Sag, mein Herzchen, möchtest du eine Tasse schönen heißen Tee? Und dann gehen wir zu Bett.« Véronique hatte über den abgedeckten Tisch eine alte, rote, großgeblümte Decke gebreitet, an der die Familie die Abende verbrachte. Jeder nahm seinen Platz wieder ein. Lazare war für einen Augenblick hinausgegangen und mit einem Tintenfaß, einer Feder und einer ganzen Handvoll Papier zurückgekommen; er ließ sich unter der Lampe nieder und begann Noten abzuschreiben. Frau Chanteau, die seit ihrer Rückkehr ihre zärtlichen Blicke nicht von ihrem Sohn gewandt hatte, wurde plötzlich sehr ärgerlich. »Schon wieder deine Musik! Kannst du uns
denn nicht einen Abend schenken, nicht einmal an dem Tage, an dem ich von der Reise zurückkomme?« »Aber Mama, ich gehe ja nicht fort, ich bleibe bei dir ... Du weißt doch, daß mich das nicht hindert zu plaudern. Nun, sag mir doch etwas, ich werde dir schon antworten.« Und er blieb bei seiner Beschäftigung und bedeckte mit seinen Papieren den halben Tisch. Chanteau hatte sich wohlig in seinem Sessel ausgestreckt, die Hände müßig im Schoß. Mathieu schlief vor dem Kamin ein, während Minouche, die mit einem Satz wieder auf die Tischdecke gesprungen war, große Toilette machte, einen Schenkel hoch in die Luft reckte und sich bedächtig das Bauchfell leckte. Eine freundliche Traulichkeit schien sich von der Messinghängelampe herniederzusenken, und bald konnte Pauline, die mit halbgeschlossenen Augen ihrer neuen Familie zulächelte, dem Schlaf nicht
widerstehen, so zerschlagen war sie vor Müdigkeit, so benommen durch die Wärme. Ihr Kopf glitt herab, sie schlummerte in der Beuge ihres gekrümmten Armes mitten in der ruhigen Helligkeit der Lampe ein. Ihre feinen Lider waren gleichsam ein über ihren Blick gezogener seidener Schleier, ein regelmäßiger leichter Hauch kam über ihre reinen Lippen. »Sie muß sich ja nicht mehr aufrecht halten können«, sagte Frau Chanteau, die Stimme senkend. »Wir werden sie wecken, damit sie ihren Tee trinkt, und dann bringen wir sie zu Bett.« Jetzt herrschte Schweigen. Im Grollen des Sturms war nur Lazares Feder zu hören. Es war ein tiefer Friede, die Schläfrigkeit der alten Gewohnheiten, das jeden Abend am selben Platze wiedergekäute Leben. Lange schauten Vater und Mutter einander an, ohne etwas zu sagen. Schließlich fragte Chanteau zögernd:
»Wird Davoine in Caen einen guten Abschluß haben?« Sie zuckte wütend die Achseln. »Ach ja! Einen guten Abschluß! Wo ich dir doch gesagt habe, daß du dich reinlegen ließest!« Jetzt, da die Kleine schlummerte, konnte man sich unterhalten. Sie sprachen leise, sie wollten einander zunächst nur kurz die Neuigkeiten mitteilen. Doch die Leidenschaft riß sie fort, und nach und nach wurde aller Verdruß der Familie ausgebreitet. Chanteau hatte beim Tode seines Vaters, des einstigen Zimmermannsgesellen, der seinen Handel mit Holz aus dem Norden mit der kühnen Unternehmungslust eines abenteuerlichen Kopfes führte, eine äußerst gefährdete Firma vorgefunden. Da er wenig tatkräftig und gewohnheitsmäßig vorsichtig war, hatte er sich damit begnügt, durch gute
Ordnung die Lage zu retten und auf ehrliche Weise vom sicheren Gewinn sein Leben zu fristen. Der einzige Roman seines Lebens war seine Heirat, er heiratete eine Lehrerin, der er in einer befreundeten Familie begegnet war. Eugénie de la Vignière, eine Waise, Tochter einer ruinierten Junkerfamilie aus dem Cotentin2, gedachte ihren Ehrgeiz auf ihn zu übertragen. Doch er, der nur über eine lückenhafte Ausbildung verfügte und erst spät in ein Internat geschickt worden war, schreckte vor den großen Unternehmungen zurück, setzte den Herrschergelüsten seiner Frau die Trägheit seiner Natur entgegen. Als ihnen ein Sohn geboren wurde, übertrug sie ihre Hoffnung auf ein großes Vermögen auf dieses Kind, steckte es ins Gymnasium, hielt es selber jeden Abend zum Arbeiten an. Indessen sollte ein letztes Unheil ihre Berechnungen durchkreuzen: Chanteau, der seit seinem vierzigsten Lebensjahr an der Gicht litt, bekam schließlich so schmerzhafte
Anfälle, daß er die Absicht äußerte, seine Firma zu verkaufen. Das hieß, man würde in Mittelmäßigkeit leben und die kleinen Ersparnisse in der Zurückgezogenheit aufzehren müssen; man würde den Jungen später ohne den Rückhalt der ersten zwanzigtausend Francs Jahreszinsen, die sie für ihn erträumt hatte, ins Leben schicken müssen. Da wollte sich Frau Chanteau wenigstens um den Verkauf kümmern. Der Gewinn mochte sich auf etwa zehntausend Francs belaufen, wovon das Ehepaar üppig leben könnte, denn sie liebte es, Gäste zu empfangen. Sie war es, die einen Herrn Davoine ausfindig machte und auf den Gedanken kam, folgende Berechnung anzustellen: Davoine würde den Holzhandel für hunderttausend Francs kaufen, allerdings würde er davon nur fünfzigtausend zahlen; da die Chanteaus ihm die restlichen fünfzigtausend belassen müßten, würden sie seine Teilhaber bleiben und am Gewinn
beteiligt sein. Dieser Davoine schien ein Mann von kühnem Verstande zu sein; selbst wenn man zugab, daß er nicht mehr aus der Firma herausholte, so kam für sie dabei immerhin eine gesicherte Summe von fünftausend Francs heraus; zusammen mit den dreitausend Francs Zinsen der als Hypothek sicher angelegten fünfzigtausend würde das insgesamt achttausend Francs Jahreszinsen ergeben. Damit würde man sich gedulden, würde man die Erfolge des Sohnes abwarten, der sie aus ihrem mittelmäßigen Leben herausholen sollte. Und die Dinge wurden denn auch so geregelt. Chanteau hatte gerade zwei Jahre zuvor ein Haus am Meer, in Bonneville, erworben, ein Gelegenheitskauf, der sich ihm beim Zusammenbruch eines zahlungsunfähigen Kunden geboten hatte. Statt es wiederzuverkaufen, wie Frau Chanteau eine Weile die Absicht hatte, entschied sie, daß man sich dorthin zurückziehen solle,
wenigstens so lange, bis sich Lazares glänzende Erfolge einstellten. Auf ihre Empfänge zu verzichten, sich in einem gottverlassenen Nest zu vergraben war für sie Selbstmord; doch sie überließ ihr ganzes Haus Davoine, der sonst hätte anderswo mieten müssen, und sie brachte den Mut auf, sparsam zu leben, bei der beharrlichen Vorstellung, später eine triumphale Rückkehr nach Caen zu halten, wenn ihr Sohn dort eine bedeutende Stellung einnähme. Chanteau stimmte allem zu. Was seine Gicht betraf, so würde sie sich an die Nähe des Meeres gewöhnen müssen; im übrigen waren von drei zu Rate gezogenen Ärzten zwei so freundlich gewesen, zu erklären, der Seewind würde den Allgemeinzustand bedeutend kräftigen. Eines Morgens im Mai also zogen die Chanteaus fort, um sich endgültig in Bonneville einzurichten, und ließen den damals vierzehnjährigen Lazare im Gymnasium zurück.
Seit sie sich heldenhaft von allem losgerissen hatten, waren fünf Jahre vergangen, und um ihre geschäftlichen Angelegenheiten stand es immer schlechter. Da sich Davoine in große Spekulationen stürzte, behauptete er, ständig Vorschüsse zu benötigen, setzte er von neuem den Gewinn aufs Spiel, so daß die Bilanzen jeweils fast mit Verlust abschlossen. In Bonneville mußte man sich deshalb darauf beschränken, von den dreitausend Francs Jahreszinsen zu leben, und zwar so dürftig, daß man das Pferd hatte verkaufen müssen und daß Véronique den Gemüsegarten bestellte. »Hör mal, Eugénie«, wagte Chanteau zu sagen, »wenn man mich reingelegt hat, so ist es ein wenig deine Schuld.« Doch sie wollte nichts mehr von dieser Verantwortlichkeit wissen, sie vergaß gern, daß die Teilhaberschaft mit Davoine ihr Werk war. »Wieso?
Meine
Schuld?«
erwiderte
sie
schroff. »Bin etwa ich krank? Wenn du nicht krank geworden wärest, dann wären wir vielleicht Millionäre.« Sooft die Verbitterung seiner Frau in dieser Weise hervorbrach, senkte er verlegen den Kopf und schämte sich, daß der Feind der Familie ihm in den Knochen steckte. »Wir müssen abwarten«, murmelte er. »Davoine scheint sich der Sachen, die er vorhat, sicher zu sein. Wenn Tannenholz wieder im Preis anzieht, gewinnen wir ein Vermögen.« »Na und?« mischte sich Lazare ein, ohne beim Abschreiben seiner Noten innezuhalten. »Wir haben doch auch so zu essen ... Es ist wirklich falsch von euch, daß ihr euch so quält. Ich für mein Teil pfeife aufs Geld!« Frau Chanteau zuckte ein zweites Mal die Achseln. »Du tätest besser daran, etwas weniger darauf
zu pfeifen und deine Albernheiten zu vertun.«
Zeit
nicht
mit
Und dabei hatte sie selber ihm das Klavierspielen beigebracht! Der bloße Anblick einer Partitur versetzte sie heute in Wut. Ihre letzte Hoffnung brach zusammen: Dieser Sohn, der, wie es ihr Traum war, einmal Präfekt3 oder Gerichtspräsident werden sollte, sprach davon, Opern zu schreiben; und sie sah ihn schon durch den Straßendreck stapfen und Privatstunden geben, wie sie selbst es getan. »Kurz und gut«, begann sie wieder, »hier ist eine Übersicht über die letzten drei Monate, die Davoine mir gegeben hat ... Wenn das so weitergeht, werden wir ihm im Juli schließlich noch Geld schulden.« Sie hatte ihre Tasche auf den Tisch gestellt und holte ein Papier daraus hervor, das sie Chanteau hinhielt. Er mußte es nehmen, drehte es hin und her,
legte es schließlich vor sich hin, ohne es auseinanderzufalten. Eben brachte Véronique den Tee. Langes Schweigen trat ein, die Tassen blieben leer. Neben der Zuckerdose lag Minouche, die ihre Pfoten wie in einem Muff übereinandergelegt hatte, und kniff scheinheilig die Lider zusammen, während Mathieu vor dem Kamin schnarchte wie ein Mensch. Und die Stimme des Meeres schwoll draußen immer mehr an, gleich einem ungeheuren Baß, der die Begleitmusik zu den friedlichen kleinen Geräuschen dieses schläfrigen Wohnraumes abgab. »Willst du sie nicht lieber wecken, Mama?« sagte Lazare. »Es muß nicht gerade bequem für sie sein, in dieser Stellung zu schlafen.« »Ja, ja«, murmelte Frau Chanteau in Gedanken, die Augen auf Pauline gerichtet. Alle drei betrachteten das schlummernde Kind.
Paulines Atem war noch ruhiger geworden, ihre weißen Wangen und ihr rosiger Mund hatten im hellen Licht der Lampe die reglose Lieblichkeit eines Blütenstraußes. Allein ihr vom Wind zerzaustes kastanienbraunes Haar warf einen Schatten auf ihre zarte Stirn. Und Frau Chanteau kehrte im Geiste nach Paris zurück, zu den Scherereien, die sie gerade gehabt; sie war selber verwundert, mit welchem Eifer sie diese Vormundschaft angenommen hatte, und von instinktiver Hochachtung vor einem reichen Mündel erfaßt; im übrigen war sie von strenger Redlichkeit und hegte keinerlei Hintergedanken in bezug auf das Vermögen, das sie nun verwalten würde. »Als ich in den Laden gekommen bin«, begann sie langsam zu erzählen, »hatte sie ein schwarzes Kleidchen an und küßte mich mit heftigem Schluchzen ... Oh, ein sehr schöner Laden! Eine Fleischerei ganz aus Marmor und Spiegeln, den Markthallen gerade
gegenüber ... Und ich habe da eine tüchtige Person gefunden, ein Hausmädchen, so einen Dreikäsehoch, frisch, rosig; sie hatte den Notar benachrichtigt, hatte die gerichtlichen Siegel anbringen lassen und verkaufte in aller Seelenruhe weiter Blut und Bratwürste ... Adèle hat mir auch vom Tod unseres armen Cousins Quenu erzählt. Nach dem Verlust seiner Frau Lisa vor sechs Monaten erstickte er fast vor Blutandrang; immerfort faßte er sich mit der Hand an den Hals, als wolle er seine Krawatte abnehmen; schließlich fand man ihn eines Abends mit blaurotem Gesicht, mit der Nase in einer Schmalzschüssel ... Sein Onkel Gradelle war auch so gestorben.« Sie schwieg, es trat wieder Stille ein. Über Paulines schlafendes Antlitz huschte ein Traum, der flüchtige Schimmer eines Lächelns. »Und mit der Vollmacht ist alles gut gegangen?« fragte Chanteau.
»Sehr gut ... Aber dein Notar hat ganz recht daran getan, den Namen des Bevollmächtigten offenzulassen, denn allem Anschein nach konnte ich dich nicht vertreten: Frauen sind von diesen Dingen ausgeschlossen ... Wie ich dir schrieb, habe ich mich gleich nach meiner Ankunft mit diesem Pariser Anwalt ins Einvernehmen gesetzt, der dir einen Auszug aus dem Testament geschickt hatte, in dem du als Vormund genannt warst. Sogleich hat er die Vollmacht auf den Namen seines Bürovorstehers ausgestellt, was oft geschieht, wie er mir sagte. Und so konnten wir die Sache in Angriff nehmen ... Beim Friedensrichter habe ich als Familienrat drei Verwandte von Lisas Seite bezeichnen lassen, zwei junge Cousins, Octave Mouret und Claude Lantier, und einen angeheirateten Cousin, Herrn Rambaud, der in Marseille wohnt; von unserer Seite, der Seite Quenu, habe ich die Neffen Naudet, Liardin und Delorme genommen. Du siehst, das ist ein sehr
annehmbarer Familienrat, mit dem wir zum Wohl des Kindes machen werden, was wir wollen ... Dann haben sie bei der ersten Sitzung den Gegenvormund ernannt, den ich zwangsläufig unter Lisas Verwandten gewählt hatte, Herrn Saccard ...« »Pst! Sie wacht auf«, unterbrach Lazare. Tatsächlich hatte Pauline soeben die Augen ganz weit geöffnet. Ohne sich zu rühren, betrachtete sie mit verwundertem Ausdruck diese Leute, die da redeten; dann ließ sie mit einem schlaftrunkenen Lächeln in unüberwindlicher Müdigkeit die Lider wieder herabsinken, und ihr regloses Antlitz nahm von neuem die milchige Durchsichtigkeit einer Kamelie an. »Dieser Saccard, ist das nicht der Spekulant?« fragte Chanteau. »Ja«, erwiderte seine Frau. »Ich habe ihn aufgesucht, wir haben uns unterhalten. Ein
reizender Mann ... Er hat so viel Geschäfte im Kopf, daß er mir gleich gesagt hat, ich solle nicht auf seine Mitwirkung rechnen ... Du verstehst, wir brauchen niemand. Da wir nun mal die Kleine zu uns nehmen, nehmen wir sie auch ganz zu uns, nicht wahr? Ich habe es nicht sehr gern, daß man die Nase in meine Angelegenheiten steckt ... Und das übrige war dann schnell erledigt. Deine Vollmacht führte glücklicherweise alle notwendigen Befugnisse im einzelnen auf. Man hat die Siegel abgenommen, die Bestandsaufnahme gemacht, die Fleischerei versteigert. Oh, ein Glück! Zwei wütende Konkurrenten, neunzigtausend Francs in bar! Der Notar hatte schon sechzigtausend Francs in Wertpapieren in einem Möbelstück gefunden. Ich habe ihn gebeten, noch mehr Wertpapiere zu kaufen, und hier haben wir nun hundertfünfzigtausend Francs in sicheren Werten; ich war sehr froh, sie gleich mitbringen zu können, nachdem ich den Bürovorsteher von der Vollmacht
entbunden und ihm die Empfangsbestätigung für das Geld übergeben, um deren postwendende Übersendung ich dich gebeten hatte ... Da, seht euch das an!« Sie hatte ihre Hand wieder in die Tasche versenkt und holte ein umfangreiches Paket daraus hervor, das Paket mit den Wertpapieren, das zwischen die beiden Pappdeckel eines alten Rechnungsbuches der Fleischerei geklemmt war, aus dem man die Seiten herausgerissen hatte. Der Buchdeckel mit den großen grünen Marmorierungen war mit Fettflecken gesprenkelt. Und Vater und Sohn betrachteten dieses Vermögen, das auf die abgenutzte Decke ihres Tisches herniederfiel. »Der Tee wird kalt, Mama«, sagte Lazare und ließ endlich seine Feder los. »Ich gieße ihn ein, nicht wahr?« Er war aufgestanden und füllte die Tassen. Die Mutter, deren Augen auf die Wertpapiere
starrten, antwortete nicht. »Natürlich«, fuhr sie langsam fort, »habe ich in einer letzten Zusammenkunft des Familienrates, die ich angeregt habe, die Rückerstattung meiner Reisekosten verlangt, und das Kostgeld für die Kleine ist auf achthundert Francs festgesetzt worden ... Wir sind nicht so reich wie Pauline, wir können ihr keine Almosen geben. Keiner von uns würde an diesem Kind verdienen wollen, aber es fällt uns schwer, von dem Unsrigen zuzuschießen. Die Zinsen aus ihren Wertpapieren werden wieder angelegt, und bis sie großjährig ist, hat sich ihr Kapital fast verdoppelt ... Mein Gott! Wir erfüllen nur unsere Pflicht. Man muß den Toten gehorchen. Wenn wir außerdem von dem Unsrigen zuschießen, nun ja, so wird uns das vielleicht Glück bringen, und das haben wir dringend nötig ... Die arme Kleine ist so erschüttert gewesen, und sie schluchzte so sehr, als sie von ihrem Hausmädchen Abschied nahm! Ich will, daß sie bei uns
glücklich ist.« Die beiden Männer waren von Rührung ergriffen. »Gewiß, ich werde ihr schon nichts zuleide tun«, sagte Chanteau. »Sie ist reizend«, fügte Lazare hinzu. »Ich habe sie schon sehr gern.« Doch Mathieu, der in seinem Schlummer den Tee gerochen, hatte sich geschüttelt und seinen mächtigen Kopf wieder auf den Rand des Tisches gelegt. Auch Minouche reckte sich, machte gähnend einen Buckel. Es war ein allgemeines Erwachen, die Katze machte schließlich einen langen Hals, um das Paket mit den Wertpapieren in dem fettigen Pappdeckel zu beschnuppern. Und als die Chanteaus ihre Blicke wieder auf Pauline richteten, sahen sie, daß sie mit weit geöffneten Augen auf die Papiere starrte, auf dieses zerlumpte alte Rechnungsbuch, das sie
dort wiederfand. »Oh, sie weiß ganz genau, was darin ist!« begann Frau Chanteau wieder. »Nicht wahr, mein Herzchen, ich habe es dir dort in Paris gezeigt ... Es ist das, was dein armer Vater und deine arme Mutter dir hinterlassen haben.« Tränen rollten über die Wangen des kleinen Mädchens. Ihr Kummer kehrte immer noch wieder, wie plötzlicher Frühlingsregen. Schon lächelte sie unter Tränen, sie hatte ihren Spaß an Minouche, die, zweifellos angelockt durch den Geruch, lange an den Wertpapieren gerochen hatte und nun wieder zu tänzeln und zu schnurren begann und dabei heftig mit dem Kopf an die Ecken des Rechnungsbuches stieß. »Minouche, willst du das wohl lassen!« rief Frau Chanteau. »Man spielt nicht mit Geld!« Chanteau lachte, Lazare ebenfalls. Mathieu verschlang mit seinen glühenden Augen die
Papiere, die er wohl für eine Leckerei hielt, und bellte über den Tischrand hinweg aufgeregt die Katze an. Und die ganze Familie lachte laut. Entzückt von diesem Spiel, hatte Pauline Minouche in die Arme genommen und wiegte und liebkoste sie wie eine Puppe. Da Frau Chanteau Angst hatte, die Kleine könne wieder einschlafen, ließ sie sie gleich ihren Tee trinken. Dann rief sie Véronique. »Gib uns die Leuchter ... Wir reden und reden und denken nicht ans Zubettgehen. Dabei ist es schon zehn Uhr! Und ich schlief schon beim Essen ein!« Doch eine Männerstimme wurde in der Küche laut, und sie fragte das Hausmädchen, als dieses die vier angezündeten Leuchter gebracht hatte: »Mit wem unterhältst du dich denn?« »Das ist Prouane, Madame ... Er will Herrn Chanteau sagen, daß es unten nicht gut steht.
Die Flut zerschlägt alles, wie es scheint.« Chanteau hatte einwilligen müssen, Bürgermeister von Bonneville zu werden, und Prouane, ein Trunkenbold, der Abbé Horteur als Küster diente, versah außerdem das Amt eines Gemeindeschreibers. Er hatte es bei der Flotte zu einem Dienstgrad gebracht und schrieb wie ein Schulmeister. Als man ihn hereingerufen hatte, trat er, seine Wollmütze in der Hand, Jacke und Stiefel patschnaß, ins Zimmer. »Nun, was ist denn, Prouane?« »Ach, Herr Chanteau! Das Haus der Familie Cuche ist erst mal hin ... Wenn das jetzt so weitergeht, wird das von den Gonins drankommen ... Wir waren alle da, Tourmal, Houtelard, ich, die anderen. Aber was soll man machen! Man vermag nichts gegen dieses Luder, es steht eben geschrieben, daß es uns jedes Jahr ein Stück Land wegnimmt.«
Schweigen trat ein. Die vier Kerzen brannten mit hoher Flamme, und man hörte das Meer, das Luder, an die Felsenküste branden. Zu dieser Stunde hatte es seinen höchsten Wasserstand erreicht, jede hereinbrechende Woge erschütterte das Haus. Es hörte sich an wie die Detonationen einer gigantischen Artillerie, dumpfe und regelmäßige Kanonenschüsse mitten im Geprassel der auf die Felsen geschleuderten Uferkiesel, das einem unausgesetzten Gewehrgeknatter glich. Und in diesem Getöse stieß der Wind das Geheul seiner Klage aus, verdoppelte der Regen für Augenblicke seine Gewalt und schien die Mauern mit einem Geschoßhagel zu peitschen. »Das ist das Ende der Welt«, murmelte Frau Chanteau. »Und die Cuches, wo werden sie nun unterkommen?« »Man wird sie wohl unterbringen müssen«, erwiderte Prouane. »Einstweilen sind sie schon
bei den Gonins ... Wenn Sie das gesehen hätten! Der kleine Dreijährige pudelnaß! Und die Mutter im Unterrock, alles war zu sehen, was sie hat, mit Verlaub zu sagen! Und der Vater, dem der Kopf von einem Balken halb gespalten war und der unbedingt die paar Habseligkeiten retten wollte!« Pauline war vom Tisch aufgestanden. Ans Fenster zurückgekehrt, hörte sie mit dem Ernst einer Erwachsenen zu. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich tiefbekümmerte Güte, leidenschaftliche Anteilnahme, von der ihre vollen Lippen zitterten. »Oh, Tante!« sagte sie. »Die armen Leute!« Und ihre Blicke schweiften nach draußen in diesen schwarzen Abgrund, in dem die Finsternis noch undurchdringlicher geworden war. Man spürte, daß das Meer bis zur Landstraße galoppiert war, daß es jetzt dort brüllend hochwogte; doch man sah es noch immer nicht, es schien das kleine Dorf, die
Felsen der Küste, den ganzen Horizont in tintenschwarzen Fluten ertränkt zu haben. Das war für die Kleine eine schmerzliche Überraschung. Dieses Wasser, das ihr so schön erschienen war und das sich nun auf die Leute stürzte! »Ich gehe mit Ihnen hinunter, Prouane«, rief Lazare. »Vielleicht gibt es etwas zu tun.« »O ja, Lazare!« murmelte Pauline, deren Augen strahlten. Doch der Mann schüttelte den Kopf. »Es lohnt nicht, daß Sie sich bemühen, Herr Lazare, Sie würden nicht mehr ausrichten als die Kumpels. Wir stehen da und können nur zusehen, wie es uns zusammenschlägt, solange es ihm gefällt; und wenn es ihm nicht mehr gefällt, nun ja, dann müssen wir ihm noch dankbar dafür sein ... Ich wollte nur einfach den Herrn Bürgermeister benachrichtigen.« Da wurde Chanteau böse, er war ärgerlich über
dieses Drama, das ihn um seine Nachtruhe bringen würde und mit dem er sich am nächsten Tage würde beschäftigen müssen. »Ein so dämlich gebautes Dorf kann man sich überhaupt nicht vorstellen«, rief er. »Ihr seid regelrecht unter die Wogen gekrochen, wahrhaftigen Gottes! Es ist nicht verwunderlich, wenn das Meer eure Häuser eins nach dem anderen verschlingt ... Und im übrigen, warum bleibt ihr in diesem Nest? Ihr könnt doch fortgehen.« »Wohin denn?« fragte Prouane, der mit verdutzter Miene zuhörte. »Wir sind hier, Herr Chanteau, und wir bleiben hier ... Irgendwo muß man doch sein.« »Das stimmt«, sagte Frau Chanteau abschließend. »Und sehen Sie, hier oder woanders, man hat immer seine Plage ... Wir wollten gerade schlafen gehen. Gute Nacht. Morgen wird klares Wetter sein.«
Der Mann grüßte und ging, und man hörte, wie Véronique hinter ihm die Riegel vorschob. Jeder hielt seinen Leuchter in der Hand, man streichelte noch einmal Mathieu und Minouche, die gemeinsam in der Küche schliefen. Lazare hatte seine Noten zusammengerafft, während sich Frau Chanteau die Wertpapiere in dem alten Rechnungsbuch unter den Arm klemmte. Sie nahm gleichfalls Davoines Bilanzaufstellung vom Tisch, die ihr Mann dort vergessen hatte. Der Anblick dieses Papiers zerriß ihr das Herz, es war nicht nötig, es überall herumliegen zu sehen. »Wir gehen nach oben, Véronique«, rief sie. »Du wirst dich doch zu dieser Stunde nicht noch herumtreiben?« Und da aus der Küche nur ein Brummen kam, fuhr sie leiser fort: »Was hat sie denn? Ich bringe ihr doch kein Wickelkind.«
»Laß sie in Ruhe«, sagte Chanteau. »Du weißt, daß sie ihre Launen hat ... Na? Wir sind ja alle vier soweit. Also, gute Nacht.« Er schlief im Erdgeschoß am anderen Ende des Flures, in der ehemaligen guten Stube, die in ein Schlafzimmer umgewandelt worden war. So konnte man, wenn ihn seine Gicht packte, bequem seinen Sessel an den Tisch oder auf die Terrasse rollen. Er öffnete die Tür, stand noch einen Augenblick da auf seinen schwerfälligen Beinen, die schon geplagt wurden vom heimlichen Nahen eines Anfalls, den die Steifheit seiner Gelenke ihm seit dem Abend zuvor ankündigte. Es war entschieden grundverkehrt von ihm gewesen, Gänseleberpastete zu essen. Diese Gewißheit brachte ihn jetzt zur Verzweiflung. »Gute Nacht«, wiederholte er weinerlich. »Ihr könnt immer schlafen, ihr da ... Gute Nacht, meine Süße. Ruh dich schön aus, das gehört sich so in deinem Alter.«
»Gute Nacht, Onkel«, sagte Pauline und gab ihm einen Kuß. Die Tür schloß sich wieder. Frau Chanteau ließ die Kleine vor sich her hinaufgehen. Lazare folgte ihnen. »Mich braucht man heute abend wirklich nicht in den Schlaf zu wiegen«, erklärte die alte Dame. »Und überhaupt, mich schläfert das ein, dieses Getöse, das ist mir gar nicht unangenehm ... In Paris fehlte es mir, daß ich in meinem Bett nicht durchgeschüttelt wurde.« Alle drei gelangten ins erste Stockwerk. Pauline, die ihre Kerze sehr gerade hielt, hatte ihren Spaß an diesem Treppensteigen im Gänsemarsch, jeder mit einer Kerze, deren Licht Schatten tanzen ließ. Als sie zögernd auf dem Treppenabsatz stehenblieb, weil sie nicht wußte, wohin ihre Tante sie führte, schob diese sie sanft vorwärts. »Geh geradeaus ... Hier ist ein Gastzimmer, und gegenüber ist mein Schlafzimmer ...
Komm einen Augenblick herein, ich will es dir zeigen.« Es war ein Schlafzimmer, dessen Wände mit gelbem, grüngeblümtem Kretonne bespannt waren und das sehr einfach mit Mahagonimöbeln eingerichtet war: ein Bett, ein Schrank, ein Sekretär. In der Mitte stand ein Tischchen auf einer roten Brücke. Als Frau Chanteau mit ihrer Kerze in die kleinsten Winkel geleuchtet hatte, trat sie an den Sekretär und ließ dessen Klappe herunter. »Da, sieh her«, sagte sie. Sie hatte eines der kleinen Schubfächer herausgezogen, in das sie seufzend Davoines unglückselige Bilanzaufstellung legte. Dann machte sie ein anderes Schubfach darüber leer, zog es heraus, schüttelte es aus, damit alte Krümel herausfielen, und während sie sich anschickte, vor den Augen des Kindes die Wertpapiere darin zu verschließen, sagte sie:
»Siehst du, ich lege sie dort hinein, sie werden ganz allein sein ... Willst du sie selber hineinlegen?« Pauline empfand eine Scham, die sie nicht hätte erklären können. Sie errötete. »Oh, Tante, das ist doch nicht nötig!« Aber schon hatte sie das alte Rechnungsbuch in der Hand, und sie mußte es ganz tief in das Schubfach legen, während Lazare mit der Kerze in das Möbelstück hineinleuchtete. »So«, fuhr Frau Chanteau fort. »Du bist jetzt sicher, und sei unbesorgt, wir würden daneben vor Hunger sterben ... Denk daran, das erste Schubfach links. Sie werden erst an dem Tage wieder daraus hervorkommen, an dem du groß genug bist, um sie selber an dich zu nehmen ... Na? Da drin kann sie Minouche sicher nicht fressen.« Bei der Vorstellung, daß Minouche den Sekretär öffnen und die Papiere fressen
könnte, mußte Pauline hell auflachen. Ihre kurze Verlegenheit war verschwunden, sie spielte mit Lazare, der, um sie zu belustigen, wie die Katze schnurrte und so tat, als habe er es auf das Schubfach abgesehen. Er lachte ebenfalls aus vollem Herzen. Doch seine Mutter hatte feierlich die Klappe wieder geschlossen, und sie drehte mit energischer Hand zweimal den Schlüssel herum. »Das wär's«, sagte sie. »Hör mal, Lazare, sei nicht albern ... Jetzt gehe ich mit nach oben, um mich zu vergewissern, daß es ihr auch an nichts fehlt.« Und alle drei stiegen sie wieder einer hinter dem anderen die Treppe hoch. Im zweiten Stockwerk hatte Pauline von neuem gezögert und dann die Tür zur Linken geöffnet, als ihre Tante ihr auch schon zurief: »Nein, nein, nicht auf dieser Seite! Das ist das Zimmer deines Cousins. Dein Zimmer ist gegenüber.«
Pauline blieb unbeweglich stehen, hingerissen von der Größe des Raumes und dem Rumpelkammerwirrwarr, mit dem er vollgepfropft war: ein Klavier, ein Diwan, ein riesiger Tisch, Bücher, Bilder. Schließlich stieß sie die andere Tür auf und war entzückt, obgleich ihr das Zimmer, verglichen mit dem anderen, ganz klein erschien. Die Tapete hatte einen elfenbeinfarbenen Grund und war mit blauen Rosen übersät. Ein eisernes, mit Musselinvorhängen versehenes Bett, ein Toilettentisch, eine Kommode und drei Stühle standen darin. »Alles ist da«, murmelte Frau Chanteau. »Wasser, ein Zuckerstückchen, Handtücher, Seife ... Und schlaf ruhig. Véronique schläft in der Kammer nebenan. Wenn du dich graulst, klopfe an die Wand.« »Außerdem bin ich da«, erklärte Lazare. »Wenn ein Gespenst auftaucht, komme ich mit meinem großen Säbel.«
Die Türen der beiden einander gegenüberliegenden Zimmer waren offengeblieben. Pauline ließ ihre Blicke von einem Raum zum anderen schweifen. »Es gibt keine Gespenster«, sagte sie in ihrer heiteren Art. »Ein Säbel, der ist für Diebe ... Gute Nacht, Tante. Gute Nacht, Lazare.« »Gute Nacht, mein Liebling ... Wirst du dich allein ausziehen können?« »Oh! Ja, ja ... Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr. In Paris habe ich alles allein gemacht.« Sie umarmten Pauline. Während Frau Chanteau sich zurückzog, sagte sie zu ihr, sie könne ihre Tür zuschließen. Doch schon stand das Kind am Fenster, ungeduldig, zu wissen, ob der Blick auf das Meer hinausging. Der Regen rann mit solcher Heftigkeit über die Scheiben, daß sie das Fenster nicht zu öffnen wagte. Es war sehr dunkel, sie war jedoch
glücklich, das Meer zu ihren Füßen branden zu hören. Und obgleich sie vor Müdigkeit fast im Stehen einschlief, machte sie die Runde durch das Zimmer und betrachtete die Möbel. Bei dem Gedanken, daß sie ein Zimmer für sich hatte, ein von den anderen getrenntes Zimmer, in dem sie sich einschließen durfte, war sie von Stolz geschwellt wie eine Erwachsene. In dem Augenblick, da sie den Schlüssel herumdrehen wollte, als sie schon ihr Kleid ausgezogen hatte und im Unterröckchen dastand, zögerte sie jedoch, wurde ihr unbehaglich zumute. Wohin sollte sie fliehen, wenn sie jemanden erblickte? Ein Schauer überlief sie, sie machte die Tür wieder auf. Gegenüber, mitten im anderen Zimmer, stand noch Lazare, der sie ansah. »Was denn?« fragte er. »Brauchst du etwas?« Sie wurde sehr rot, wollte lügen, gab dann ihrem Bedürfnis nach Offenheit nach. »Nein, nein ... Siehst du, ich habe nämlich
Angst, wenn die Türen abgeschlossen sind. Ich werde also nicht zuschließen, verstehst du, und wenn ich klopfe, dann sollst du kommen ... Du, hörst du, nicht das Hausmädchen!« Er war näher getreten, hingerissen von dem Zauber dieser so aufrichtigen und so rührenden Kindlichkeit. »Gute Nacht«, wiederholte er und streckte die Arme aus. Sie fiel ihm um den Hals, umschlang ihn mit ihren mageren Ärmchen, unbekümmert ob ihrer Nacktheit. »Gute Nacht, Lazare.« Fünf Minuten später hatte sie brav ihre Kerze ausgeblasen, kuschelte sie sich tief in ihr Bett hinter den Musselinvorhängen. Ihre Erschöpfung verlieh ihrem Schlaf lange eine traumhafte Leichtigkeit. Zunächst hörte sie Véronique ohne Rücksicht heraufkommen und ihre Möbel herumstoßen, als wolle sie alle
Welt aufwecken. Dann gab es nur noch den grollenden Donner des Sturms: der hartnäckige Regen prasselte auf die Dachziegel, der Wind rüttelte an den Fenstern, fuhr heulend unter die Türen; und eine Stunde lang noch ging die Kanonade weiter, jede Woge, die zusammenstürzte, rüttelte sie mit einem tiefen und dumpfen Stoß. Es war ihr, als werde das Haus, zerschmettert, zermalmt vom Schweigen, wie ein Schiff vom Wasser davongetrieben. Sie empfand jetzt eine angenehme wohlige Wärme, ihr schwankendes Denken richtete sich wieder mit hilfsbereitem Erbarmen auf die armen Leute, die das Meer da unten aus ihren Betten jagte. Dann ging alles unter, sie schlief ohne einen Hauch.
Kapitel II Von der ersten Woche an brachte Paulines
Anwesenheit Freude ins Haus. Ihre schöne ausgewogene Gesundheit, ihr ruhiges Lächeln besänftigten die heimliche Verbitterung, in der die Chanteaus lebten. Der Vater hatte eine Krankenwärterin gefunden, die Mutter war glücklich, daß ihr Sohn mehr daheim blieb. Allein Véronique brummte weiter. Die Familie schien durch die im Sekretär eingeschlossenen hundertfünfzigtausend Francs reicher geworden zu sein, obgleich sie das Geld nicht anrührte. Ein neues Band war geknüpft, und es erwuchs eine Hoffnung inmitten ihres Ruins, ohne daß man eigentlich wußte, was für eine. In der übernächsten Nacht war der Gichtanfall, den Chanteau nahen fühlte, zum Ausbruch gekommen. Seit einer Woche spürte er ein Stechen in den Gelenken, Schauer, die ihm durch die Glieder fuhren, ein unüberwindliches Grauen vor jeglicher Bewegung. Am Abend hatte er sich dennoch ruhiger schlafen gelegt, da stellte sich um drei Uhr morgens der Schmerz in der großen Zehe
des linken Fußes ein, sprang dann auf die Ferse über, befiel schließlich den Knöchel. Bis es Tag wurde, stöhnte Chanteau leise und schwitzte unter den Decken, weil er niemand stören wollte. Seine Anfälle waren der Schrecken des ganzen Hauses, er wartete bis zur letzten Minute, bevor er rief, denn er schämte sich, daß es ihn wieder gepackt hatte, und er war verzweifelt, wenn er daran dachte, wie wütend man sein Übel wieder aufnehmen würde. Indessen konnte er, als Véronique gegen acht Uhr an seiner Tür vorüberging, einen Schrei nicht unterdrücken, den ihm ein tief sitzend er stechender Schmerz entriß. »So! Da haben wir's!« brummte Hausmädchen. »Da schreit er wieder.«
das
Sie war eingetreten, sah, wie er ächzend den Kopf hin und her drehte, und fand als Trost nur einen Satz: »Na, da wird sich Ihre Frau aber wieder freuen!« Als Frau Chanteau, die man benachrichtigt
hatte, nun auch erschien, ließ sie in der Tat mit einer Gebärde verbitterter Mutlosigkeit die Arme sinken. »Schon wieder!« sagte sie. »Ich bin kaum da, und schon geht es los!« In ihr lebte gegen diese Gicht ein fünfzehnjähriger Groll. Sie verwünschte sie als den Feind, das Luder, das ihr Dasein verdorben, ihren Sohn ruiniert, ihr ganzes Streben zunichte gemacht hatte. Hätten sie sich ohne die Gicht tief in dieses gottverlassene Dorf verbannt? Und trotz ihres guten Herzens verhielt sie sich zitternd und feindselig gegenüber den Anfallen ihres Mannes, erklärte sie sich selber für ungeschickt, unfähig, ihn zu pflegen. »Mein Gott! Wie ich leide!« stammelte der arme Mann. »Der Anfall wird schlimmer sein als der letzte, ich fühle es ... Bleib nicht hier, da dich das doch bloß ärgert, aber laß gleich Doktor Cazenove holen.«
Von nun an stand das Haus kopf. Lazare war nach Arromanches gefahren, obgleich die Familie keine große Hoffnung mehr in die Ärzte setzte. Seit fünfzehn Jahren hatte Chanteau es mit allen erdenklichen Arzneien versucht, und bei jedem neuen Versuch wurde das Leiden schlimmer. Die zunächst schwachen und seltenen Anfälle waren bald öfter aufgetreten und hatten an Heftigkeit zugenommen; heute waren bereits beide Füße befallen, sogar ein Knie war bedroht. Dreimal schon hatte der Kranke erlebt, daß man die Behandlungsweise wechselte, sein trauriger Körper war schließlich zu einem Versuchsfeld geworden, auf dem sich die Reklamemittel Schlachten lieferten. Nachdem man ihn erst reichlich zur Ader gelassen, hatte man ihm dann ohne Vorsicht Abführmittel gegeben, und jetzt stopfte man ihn mit Kolchikum und Lithium voll. Daher auch wandelte sich durch die Erschöpfung des ausgelaugten Blutes und der geschwächten Organe seine akute Gicht
nach und nach in eine chronische Gicht. Die örtlichen Behandlungen zeitigten kaum bessere Erfolge, nach dem Ansetzen der Blutegel waren seine Gelenke steif geblieben, das Opium verlängerte die Anfälle, die Zugpflaster führten zu Geschwüren. Wiesbaden und Karlsbad hatten nicht die geringste Wirkung, eine Kur in Vichy hätte ihn fast umgebracht. »Mein Gott! Wie ich leide!« wiederholte Chanteau. »Es ist, als ob Hunde mir den Fuß zerfleischten.« Und von ängstlicher Aufregung ergriffen, drehte er, in der Hoffnung, sich durch Veränderung seiner Lage Erleichterung zu verschaffen, das Bein hin und her. Doch der Anfall wurde immer schlimmer, jede Bewegung entriß ihm Klagelaute. Bald stieß er im äußersten Schmerz ein anhaltendes Gebrüll aus. Er hatte Schüttelfrost und Fieber, brennender Durst versengte ihn.
Indessen war Pauline ins Zimmer geglitten. Sie stand vor dem Bett und betrachtete ihren Onkel mit ernster Miene, ohne zu weinen. Frau Chanteau, der das Schreien auf die Nerven ging, verlor den Kopf. Véronique hatte die Decke zurechtziehen wollen, deren Gewicht der Kranke nicht ertragen konnte; doch als sie näher gekommen war mit ihren Männerhänden, hatte er noch mehr geschrien und ihr verboten, ihn anzurühren. Sie versetzte ihn in Angst und Schrecken, er beschuldigte sie, daß sie ihn wie ein Bündel schmutziger Wäsche durchschüttele. »Dann rufen Sie mich nicht, Herr Chanteau«, sagte sie und ging wütend fort. »Wenn man die Leute zurückstößt, muß man sich eben allein pflegen.« Langsam war Pauline näher herangekommen; und mit ihren Kinderhänden hob sie leicht und geschickt die Decke an. Er empfand eine kurze Erleichterung, er nahm ihre Gefälligkeit an.
»Danke, Kleine ... Sieh mal, da, diese Falte! Sie wiegt fünfhundert Zentner ... Oh! Nicht so schnell! Du hast mich erschreckt.« Im übrigen setzte der Schmerz wieder stärker ein. Als seine Frau sich in dem Zimmer zu schaffen machen wollte, die Fenstervorhänge aufzog, dann wieder eine Tasse auf den Nachttisch stellte, wurde er abermals ungehalten. »Ich bitte dich, geh nicht immerzu hin und her, du bringst alles zum Zittern ... Bei jedem deiner Schritte ist mir, als versetzte man mir einen Schlag mit dem Hammer.« Sie versuchte gar nicht einmal, sich zu entschuldigen und ihn zufriedenzustellen. Das endete immer so. Man ließ ihn allein leiden. »Komm, Pauline«, sagte sie nur. »Du siehst, daß dein Onkel uns nicht in seiner Nähe ertragen kann.« Doch Pauline blieb. Sie trat so leicht auf, daß
ihre kleinen Füße kaum den Boden berührten. Und von diesem Augenblick an richtete sie sich bei dem Kranken ein, er ertrug sonst niemanden im Zimmer. Wie er sagte, hätte er am liebsten von einem Hauch gepflegt werden mögen. Mit klugem Einfühlungsvermögen erriet sie, was ihm weh tat, und verschaffte ihm Erleichterung, ahnte im voraus seine Wünsche, sorgte dafür, daß ihn das Tageslicht nicht störte, oder reichte ihm die Tassen mit Haferschleim, die Véronique bis an die Tür brachte. Vor allem beruhigte es den armen Mann, wenn er sie ständig vor sich sah, wie sie da vernünftig und unbeweglich auf dem Rand eines Stuhles saß, mit großen mitleidigen Augen, die sich nicht von ihm abwandten. Er versuchte sich dadurch abzulenken, daß er ihr seine Leiden beschrieb. »Siehst du, in diesem Augenblick ist es, als ob ein schartiges Messer mir die Fußknochen aus den Gelenken schneidet; und gleichzeitig würde ich schwören, daß man mir lauwarmes
Wasser über die Haut gießt.« Dann veränderte sich der Schmerz: Man band ihm den Knöchel mit Draht, man spannte seine Muskeln bis zum Zerreißen wie Violinsaiten. Pauline hörte mit freundlicher Miene zu, schien alles zu verstehen, ließ sich durch sein klagendes Gebrüll nicht erschüttern, war einzig auf die Heilung bedacht. Sie war sogar fröhlich, es gelang ihr, ihn zwischen zwei Wehklagen zum Lachen zu bringen. Als Doktor Cazenove endlich kam, war er entzückt und drückte der kleinen Krankenwärterin einen kräftigen Kuß aufs Haar. Er war ein hagerer und kraftvoller Mann von vierundfünfzig Jahren, der sich nach dreißigjähriger Dienstzeit bei der Marine nach Arromanches zurückgezogen, wo ein Onkel ihm ein Haus hinterlassen hatte. Er war der Freund der Chanteaus, seitdem er Frau Chanteau von einer bedenklichen Verstauchung geheilt hatte.
»Nun ja, da sind wir wieder mal soweit!« sagte er. »Ich bin herbeigeeilt, um Ihnen die Hand zu drücken. Doch Sie müssen wissen, daß ich dabei nicht mehr tun kann als dieses Kind. Mein Lieber, wenn man die Gicht geerbt hat und über die Fünfzig hinaus ist, soll man Trauer anlegen. Dazu kommt noch, daß Sie sich mit einem Haufen Arzneien zugrunde gerichtet haben ... Sie kennen das einzige Heilmittel: Geduld und Flanell!« Er legte große Skepsis an den Tag. Dreißig Jahre lang hatte er so viele Unglückliche mit dem Tode ringen sehen, unter allen Himmelsstrichen und auf alle Arten des Verfalls, daß er im Grunde sehr bescheiden geworden war: Er zog es meistens vor, das Leben walten zu lassen. Dennoch untersuchte er den geschwollenen Zeh, dessen glänzende Haut dunkelrot war, ging zu dem von der Entzündung befallenen Knie über, stellte am Rand des rechten Ohres das Vorhandensein eines harten, weißen kleinen Knotens fest.
»Aber Doktor«, ächzte der Kranke, »Sie können mich doch nicht so leiden lassen!« Cazenove war ernst geworden. Dieser Gichtknoten nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch, und er fand angesichts dieses neuen Symptoms seinen Glauben wieder. »Mein Gott!« murmelte er. »Ich will es gerne mit Alkaloiden und Salzen versuchen ... Offensichtlich wird sie chronisch.« Dann ereiferte er sich. »Überdies ist es Ihre Schuld, Sie befolgen nicht die Diät, die ich Ihnen vorgeschrieben habe ... Niemals Bewegung, immer in Ihren Sessel hingesielt. Und ich wette, Wein und Fleisch, nicht wahr? Geben Sie zu, daß Sie etwas Erhitzendes gegessen haben.« »Oh! Ein kleines bißchen Gänseleberpastete«, bekannte Chanteau schwach. Der Arzt hob beide Arme, um Himmel und
Erde als Zeugen anzurufen. Indessen zog er einige Fläschchen aus seinem großen Überrock und begann einen Arzneitrank zuzubereiten. Bei der örtlichen Behandlung begnügte er sich damit, den Fuß und das Knie in Watte zu hüllen, die er dann mit Wachsleinwand fest umwickelte. Und als er ging, wandte er sich an Pauline und wiederholte ihr seine Anordnungen: alle zwei Stunden einen Löffel von der Medizin, so viel Haferschleim, wie der Kranke zu trinken wünschte, und vor allem absolute Diät. »Glauben Sie vielleicht, man kann ihn am Essen hindern?« sagte Frau Chanteau, als sie den Doktor hinausbegleitete. »Nein, nein, Tante, er wird vernünftig sein, du wirst sehen«, erlaubte sich Pauline einzuwenden. »Ich werde ihn schon dazu bringen, daß er alles befolgt.« Cazenove schaute sie an, belustigt über ihren besonnenen Ausdruck. Er küßte sie von
neuem, diesmal auf beide Wangen. »Diese Kleine hier ist wahrlich für die anderen geboren«, erklärte er mit dem klaren Blick, mit dem er seine Diagnosen stellte. Chanteau schrie acht Tage lang. Der rechte Fuß hatte in dem Augenblick angefangen, da der Anfall bereits beendet schien, und die Schmerzen waren mit doppelter Heftigkeit wieder aufgetreten. Das ganze Haus erzitterte; Véronique schloß sich tief hinten in ihrer Küche ein, um nichts zu hören; Frau Chanteau und Lazare flohen in ihrer nervösen Angst zuweilen nach draußen. Allein Pauline verließ das Zimmer nicht, wo sie gegen die Dickköpfigkeit des Kranken ankämpfen mußte, der mit aller Gewalt ein Kotelett essen wollte und schrie, er habe Hunger, Doktor Cazenove sei ein Esel, weil er ihn nicht einmal zu heilen verstünde. Vor allem nachts wurde das Übel doppelt schlimm. Sie kam kaum zwei oder drei Stunden zum Schlafen. Im übrigen
war sie munter, niemals wuchs ein kleines Mädchen gesünder heran. Frau Chanteau hatte schließlich erleichtert diese Hilfe eines Kindes angenommen, das das ganze Haus beruhigte. Endlich trat die Genesung ein, Pauline erhielt ihre Freiheit zurück, und eine enge Kameradschaft knüpfte sich zwischen ihr und Lazare. Im großen Zimmer des jungen Mannes fing es an. Er hatte eine Wand niederreißen lassen und bewohnte auf diese Weise eine ganze Hälfte des zweiten Stockwerks. Ein kleines eisernes Bett stand verloren in einer Ecke hinter einem zerrissenen alten Wandschirm. An einer Wand waren auf Fichtenholzbrettern an die tausend Bände aufgereiht, klassische Bücher, zerflederte Bände, die er hinten auf einem Dachboden in Caen entdeckt und nach Bonneville gebracht hatte. Neben dem Fenster quoll aus einem riesigen alten normannischen Schrank ein Wust von außergewöhnlichen Gegenständen, Gesteinsproben, nicht mehr
gebräuchlichen Werkzeugen, halb zerbrochenem Kinderspielzeug. Außerdem stand da noch das Klavier, über dem ein Paar Stoßdegen und eine Fechtmaske hingen, und ein riesengroßer alter Tisch in der Mitte, ein sehr hoher ehemaliger Zeichentisch, der voller Papiere, Bilder, Tabakdosen, Pfeifen lag und auf dem man nur mit Mühe einen Platz zum Schreiben finden konnte. Pauline, die sich in dieser Unordnung tummeln konnte, war entzückt. Sie brauchte einen Monat, um das Zimmer zu erforschen, und täglich gab es neue Entdeckungen: einen »Robinson« mit Kupferstichen fand sie im Bücherschrank, einen Hampelmann fischte sie unter dem Schrank hervor. Sowie sie aufgestanden war, hüpfte sie aus ihrem Zimmer zu ihrem Cousin hinüber, ließ sich dort nieder, ging am Nachmittag wieder hinauf, lebte dort. Lazare hatte sie vom ersten Tage an wie einen Jungen aufgenommen, wie einen neun Jahre jüngeren Bruder, der aber so
fröhlich, so drollig war mit seinen großen klugen Augen, daß er sich keinen Zwang mehr antat, seine Pfeife rauchte, auf einen Stuhl hingelümmelt, die Beine hochgelegt, las und lange Briefe schrieb, in die er Blumen mit einlegte. Nur wurde der Spielgefährte zuweilen schrecklich ausgelassen. Unvermittelt kletterte Pauline auf den Tisch, oder sie sprang wohl auch mit einem Satz durch den zerrissenen Wandschirm. Als er sich eines Morgens umdrehte, weil er sie nicht mehr hörte, sah er, wie sie mit der Fechtmaske vor dem Gesicht und einem Florett in der Hand ins Leere grüßte. Und wenn er ihr anfangs zurief, sie solle sich ruhig verhallen, wenn er ihr drohte, sie hinauszuwerfen, so endete das gewöhnlich mit ausgelassenen Spielen zu zweit, mit Bocksprüngen mitten im Zimmer, in dem alles drunter und drüber lag. Sie warf sich ihm an den Hals, er wirbelte sie wie einen Kreisel herum, daß ihre Röcke flogen, war selbst wieder zum kleinen Jungen
geworden, und beide lachten dabei ein lustiges Kinderlachen. Sodann beschäftigte sie das Klavier. Das Instrument stammte aus dem Jahre 1810, ein altes Èrard4Klavier, auf welchem seinerzeit Fräulein Eugénie de la Vignière fünfzehn Jahre lang Stunden gegeben hatte. In dem glanzlos gewordenen Mahagonigehäuse seufzten die Saiten ferne Klänge von verschleierter Lieblichkeit. Lazare, der von seiner Mutter kein neues Klavier bekam, hämmerte mit aller Kraft auf diesem herum, ohne ihm die romantischen Wohllaute zu entlocken, die ihm im Schädel summten; und er hatte die Gewohnheit angenommen, sie mit dem Munde zu verstärken, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. In seiner Leidenschaft nutzte er Paulines Gefälligkeit bald aus; er hatte jetzt einen Zuhörer, ganze Nachmittage lang spielte er sein Repertoire herunter: Es bestand aus dem Schwierigsten, was es in der Musik gab, vor allem aus den damals
verpönten Werken von Berlioz5 und Wagner. Und er brüllte und spielte schließlich ebensoviel mit der Kehle wie mit den Fingern. An jenen Tagen langweilte sich das Kind sehr, aber es hörte dennoch ruhig zu, aus Furcht, den Cousin zu kränken. Die Abenddämmerung überraschte sie bisweilen. Von den Rhythmen berauscht, erzählte Lazare dann von seinen großen Träumen. Auch er würde ein genialer Musiker werden, seiner Mutter und aller Welt zum Trotz. Auf dem Gymnasium von Caen hatte er einen Geigenlehrer gehabt, der von seiner musikalischen Begabung so beeindruckt war, daß er ihm eine glorreiche Zukunft voraussagte. Er hatte sich heimlich Kompositionsunterricht geben lassen, er arbeitete jetzt allein, und er hatte schon eine unklare Vorstellung, die Vorstellung von einer Sinfonie über das irdische Paradies; ein Stück war sogar bereits gefunden, die Vertreibung Adams und Evas durch den Engel, ein Marsch
von feierlichem und schmerzlichem Charakter, den er eines Abends Pauline vorzuspielen geruhte. Das Mädchen stimmte allem zu, fand das alles sehr gut. Dann äußerte sie ihre Meinung. Zweifellos mußte es Freude machen, schöne Musik zu komponieren; aber vielleicht wäre es vernünftiger von ihm, wenn er seinen Eltern gehorchte, die einen Präfekten oder einen Richter aus ihm machen wollten. Das Haus war tief bekümmert über den Streit zwischen Mutter und Sohn, denn dieser sprach davon, daß er sich in Paris beim Konservatorium vorstellen wolle, während jene ihm noch bis zum Oktober Zeit ließ, sich den Beruf eines rechtschaffenen Mannes zu wählen. Und Pauline unterstützte den Plan ihrer Tante, der sie mit ihrer ruhig überzeugten Miene angekündigt hatte, sie werde es übernehmen, ihren Cousin umzustimmen. Man lachte darüber, der wütende Lazare schloß heftig das Klavier und schrie ihr zu, sie sei »eine dreckige Spießbürgerin«.
Sie waren drei Tage miteinander böse, dann versöhnten sie sich wieder. Um Pauline für die Musik zu gewinnen, hatte er es sich in den Kopf gesetzt, ihr Klavierspielen beizubringen. Er führte ihre Finger über die Tasten, ließ sie stundenlang Tonleitern rauf und runter spielen. Aber sicherlich brachte sie ihn zur Verzweiflung durch ihren Mangel an Begeisterung. Sie war nur darauf aus, zu lachen, sie fand es drollig, Minouche die Tastatur entlangspazieren zu lassen, deren Pfoten barbarische Sinfonien aufführten; und sie schwor, die Katze spiele den berühmten Auszug aus dem irdischen Paradies, worüber sogar der Komponist lachen mußte. Dann fingen die wilden Spiele wieder an, sie sprang ihm an den Hals, er wirbelte sie herum, während Minouche, die bei dieser Tanzerei mitmachte, vom Tisch auf den Schrank hüpfte. Was Mathieu betraf, so war er dazu nicht zugelassen, seine Freude war zu gewalttätig. »Laß mich in Frieden, du garstige kleine
Spießbürgerin!« sagte Lazare eines Tages aufgebracht. »Mama wird dir das Klavierspielen beibringen, wenn sie will.« »Deine Musik ist zu nichts nütze«, erklärte Pauline rundheraus. »An deiner Stelle würde ich Arzt werden.« Empört sah er sie an. Jetzt auch noch Arzt! Wie kam sie darauf? Er ereiferte sich, er stürzte sich in seine Leidenschaft mit einem Ungestüm, das alles mit sich fortzureißen schien. »Hör zu«, schrie er, »wenn man mich hindert, Musiker zu werden, bringe ich mich um!« Der Sommer hatte Chanteau wieder ganz genesen lassen, und Pauline konnte mit Lazare ins Freie gehen. Das große Zimmer war verödet, in guter Kameradschaft galoppierten sie davon auf tolle Streifzüge. Einige Tage lang begnügten sie sich mit der Terrasse, auf der vom Seewind versengte
Tamariskenbüschel dahinkümmerten; dann fielen sie in den Hof ein, zerschlugen die Kette der Zisterne, scheuchten das Dutzend magerer Hühner auf, die von Heuschrecken lebten, versteckten sich im leeren Pferdestall und im Wagenschuppen, von denen der Putz abblätterte; dann bemächtigten sie sich des Gemüsegartens, eines ausgedörrten Geländes, das Véronique wie ein Bauer umgrub, vier Beete, die mit knorrigem Gemüse besät und mit verkrüppelten, von den Nordweststürmen in derselben Richtung gebeugten Birnbäumen bestanden waren; und sie brauchten nur eine kleine Pforte aufzustoßen, und schon befanden sie sich auf der Felsenküste, unter freiem Himmel, im Angesicht des weiten Meeres. Pauline hatte die leidenschaftliche Neugier für dieses unermeßliche Wasser beibehalten, das in der hellen Julisonne jetzt so rein und so sanft dalag. Nach dem Meer schaute sie immer wieder von jedem Zimmer des Hauses aus. Aber sie war noch nicht hingekommen, und
ein neues Leben begann, als sie sich mit Lazare losgelassen sah in die lebendige Einsamkeit des Strandes. Was für herrliche Streifzüge! Frau Chanteau schalt, wollte sie trotz ihres Vertrauens in die Vernunft der Kiemen in der Wohnung zurückhalten. Daher auch gingen sie niemals über den Hof, wo Véronique sie gesehen hätte; sie machten sich durch den Gemüsegarten davon und waren bis zum Abend verschwunden. Bald fanden sie die Spaziergänge um die Kirche, die Winkel des von Eiben geschützten Friedhofs, die paar Salatköpfe des Pfarrers langweilig; und in acht Tagen hatten sie auch ganz Bonneville ausgiebig erforscht, die dreißig an die Felsen geklebten Häuser, die Geröllbank, wo die Fischer ihre Boote an Land zogen. Unterhaltender war es, bei Ebbe unterhalb der Felsenküste sehr weit hinauszugehen: Sie schritten über feinen Sand, aus dem Krabben entflohen, sie sprangen zwischen den Algen
von Fels zu Fels, um den kleinen Bächen mit klarem Wasser auszuweichen, die voller zappelnder Garnelen waren; gar nicht zureden vom Fischen, von den Muscheln, die sie ohne Brot und roh aßen, von den seltsamen Tieren, die sie in einem Taschentuchzipfel mitnahmen, von unerwarteten Funden, einer verirrten Kliesche, einem kleinen Hummer, den sie tief in einem Loch herumkrabbeln hörten. Das Meer stieg wieder, sie ließen sich bisweilen von ihm überraschen, spielten Schiffbrüchige, die sich auf irgendein Riff geflüchtet hatten, bis das Wasser freundlichst wieder zurückging. Sie waren entzückt, sie kehrten bis zu den Schultern durchnäßt heim mit vom Winde zerzaustem Haar und waren so an die frische Salzluft gewöhnt, daß sie am Abend klagten, sie müßten unter der Lampe ersticken. Doch ihre größte Freude war das Baden. Der Strand war zu felsig, um die Familien aus Caen und Bayeux anzulocken. Während sich die Felsenküste von Arromanches in jedem
Jahr mit neuen Sommerhäusern bedeckte, ließ sich in Bonneville nicht ein Badegast sehen. Sie nun hatten einen Kilometer vom Dorf entfernt in Richtung auf PortenBessin einen entzückenden Winkel entdeckt, eine zwischen zwei Felsenhänge eingebettete kleine Bucht mit feinem, goldenem Sand. Sie nannten sie die Schatzbucht wegen ihrer einsamen Flut, in der Zwanzigfrancsstücke zu rollen schienen. Dort waren sie zu Hause, entkleideten sich ohne Scheu. Er plauderte weiter, drehte sich halb um und knöpfte seinen Badeanzug zu. Sie hielt einen Augenblick mit dem Mund das Bündchen ihres Hemds fest, erschien dann mit einem nach Knabenart um die Hüften geschlungenen wollenen Gürtel. In acht Tagen brachte er ihr das Schwimmen bei: Das machte ihr mehr Spaß als das Klavierspiel, sie zeigte dabei so viel Beherztheit, daß sie oft tüchtig Meerwasser schlucken mußte. Jung wie sie waren, lachten sie in dieser herben Frische, wenn eine stärkere Woge sie
übereinanderpurzeln ließ. Sie kamen von Salz glänzend aus dem Wasser, sie ließen ihre nackten Arme im Wind trocknen, ohne bei ihren kecken Lausbubenspielen innezuhalten. Das machte noch mehr Spaß als das Fischen. Die Tage vergingen, es war jetzt Anfang August, und Lazare traf keinerlei Entscheidung. Pauline sollte im Oktober in ein Pensionat in Bayeux kommen. Wenn das Meer sie in glücklicher Mattigkeit hatte erschlaffen lassen, streckten sie sich im Sande aus und sprachen sehr vernünftig über ihre Angelegenheiten. Es gelang ihr schließlich, ihn für die Medizin zu interessieren, indem sie ihm erklärte, daß sie, wäre sie ein Mann, leidenschaftlich gern Menschen heilen würde. Gerade seit einer Woche stand es schlecht um das »Irdische Paradies«, er zweifelte an seinem Genie. Gewiß, es hatte auch medizinische Ruhmestaten gegeben, große Namen fielen ihm wieder ein, Hippokrates6, Ambroise Paré7 und so viele andere. Doch
eines Nachmittags brach er in Freudengeschrei aus, jetzt hatte er die Idee zu seinem Meisterwerk: Das war ja albern, das Paradies, er zerriß das alles, er schrieb die »Schmerzenssinfonie«, ein Blatt, auf dem er in erhabenen Harmonien die verzweifelte Klage der unter dem Himmel schluchzenden Menschheit aufzeichnete; und er verwendete seinen AdamundEvaMarsch, er machte ohne viel Federlesens daraus den Todesmarsch. Acht Tage lang wuchs seine Begeisterung von Stunde zu Stunde, er nahm das ganze Weltall in seinen Entwurf hinein. Eine weitere Woche verstrich, seine Freundin war eines Abends sehr erstaunt, ihn sagen zu hören, er würde trotzdem gern zum Medizinstudium nach Paris gehen. Er hatte sich überlegt, daß er dadurch dem Konservatorium näher kommen würde: Erst einmal in Paris sein, dann würde er schon weitersehen. Das war eine große Freude für Frau Chanteau. Sie hätte ihren Sohn lieber im Beamtenstand oder im Richteramt gesehen;
aber die Ärzte waren wenigstens ehrbare Leute, die viel Geld verdienten. »Du bist wohl eine kleine Fee?« sagte sie und küßte Pauline. »Ach, mein Liebling, du lohnst es uns gut, daß wir dich zu uns genommen haben!« Alles wurde geregelt. Lazare sollte am 1. Oktober abreisen. Da begannen die beiden im September ihre Streifzüge mit noch mehr Schwung von neuem, sie wollten ihr schönes ungebundenes Leben würdig beschließen. Bis zur Nacht verweilten sie auf dem Sand der Schatzbucht. Eines Abends lagen sie nebeneinander ausgestreckt und schauten zu, wie die Sterne gleich feurigen Perlen am verblassenden Himmel aufgingen. Pauline war ernst und erfüllt von der ruhigen Bewunderung eines gesunden Kindes. Lazare, der fieberhaft erregt war, seit er sich auf die Abreise vorbereitete, zuckte nervös mit den Lidern, und seine
Sprunghaftigkeit riß ihn unaufhörlich zu neuen Plänen fort. »Wie schön, die Sterne«, sagte sie feierlich nach langem Schweigen. Er ließ das Schweigen wieder herabsinken. Seine Fröhlichkeit klang nicht mehr so hell, ein inneres Unbehagen trübte seine weit geöffneten Augen. Am Himmel nahm das Sternengewimmel von Minute zu Minute zu, als hätte man Schaufeln voller Glut quer durch die Unendlichkeit geworfen. »Du hast das nicht gelernt«, murmelte er schließlich. »Jeder Stern ist eine Sonne, um welche solche Gebilde wie die Erde rollen; es gibt Milliarden davon, und dahinter wieder andere, immer wieder andere ...« Er schwieg, mit von heftigem Schauer erstickter Stimme begann er dann wieder: »Ich betrachte die Sterne nicht gern ... Das macht mir angst.«
Das steigende Meer ließ eine ferne Wehklage ertönen, gleich der Verzweiflung einer Menschenmenge, die ihr Elend beweint. Über dem unermeßlichen, jetzt schwarzen Horizont flammte der fliegende Staub der Welten. Und in dieser Klage der Erde, die unter der unendlichen Zahl der Sterne erdrückt wurde, glaubte das Mädchen neben sich ein Schluchzen zu hören. »Was hast du denn? Bist du krank?« Er antwortete nicht, er schluchzte, das Gesicht mit seinen heftig verkrampften Händen bedeckend, als wolle er nichts mehr sehen. Als er zu reden vermochte, stammelte er: »Oh, sterben, sterben!« Pauline bewahrte eine verwunderte Erinnerung an diese Szene. Lazare hatte sich mühsam erhoben, sie kehrten im Dunkel nach Bonneville zurück, während ihnen die Wellen schon um die Füße spülten; und beide fanden
sie einander nichts mehr zu sagen. Sie sah ihn vor sich gehen, er schien ihr kleiner geworden, gebeugt unter dem Wind, der von Westen wehte. An jenem Abend erwartete sie ein neuer Besuch, der im Eßzimmer mit Chanteau plauderte. Seit acht Tagen rechnete man mit dem Eintreffen von Louise, einem elfeinhalbjährigen Mädchen, das jedes Jahr fünfzehn Tage in Bonneville verbrachte. Doch zweimal hatte man schon den Weg nach Arromanches umsonst gemacht; und nun schneite sie ihnen plötzlich eines Abends ins Haus, als man gar nicht an sie dachte. Louises Mutter war in Frau Chanteaus Armen gestorben und hatte dieser ihre Tochter ans Herz gelegt. Der Vater, Herr Thibaudier, ein Bankier aus Caen, hatte sich ein halbes Jahr später wieder verheiratet und schon drei Kinder aus der zweiten Ehe. Da er von seiner neuen Familie in Anspruch genommen war und den Kopf voller Zahlen hatte, ließ er die
Kleine im Pensionat und war froh, wenn er sie in den Ferien los wurde und zu Freunden schicken konnte. Meist bemühte er sich nicht einmal selbst, ein Diener hatte das kleine Fräulein mit acht Tagen Verspätung gebracht. Herr Thibaudier habe so viel um die Ohren! Der Diener hatte noch gesagt, Herr Thibaudier werde sein möglichstes tun, um das Fräulein persönlich abzuholen, und war sogleich wieder zurückgefahren. »So komm doch, Lazare!« rief Chanteau. »Sie ist hier!« Lächelnd küßte Louise den jungen Mann auf beide Wangen. Sie kannten sich jedoch wenig, weil sie immer in ihrem Pensionat wie in einem Kloster eingesperrt war und er vor kaum einem Jahr das Gymnasium verlassen hatte. Ihre Freundschaft rührte erst von den letzten Ferien her; und er hatte sie außerdem förmlich behandelt, weil er spürte, daß sie schon gern kokettierte und sich aus den lauten
Kinderspielen nichts machte. »Nun, Pauline, willst du sie nicht umarmen?« fragte Frau Chanteau, die eben hereinkam. »Sie ist anderthalb Jahre älter als du ... Habt euch lieb, das würde mir Freude machen.« Pauline sah Louise an, die schlank und zart war, ein unregelmäßiges, aber sehr reizvolles Gesicht und schönes blondes, wie bei einer Dame zu einem Knoten geschlungenes und gekräuseltes Haar hatte. Sie war blaß geworden, als sie Louise an Lazares Hals sah. Und als die andere sie fröhlich küßte, erwiderte sie den Kuß mit zitternden Lippen. »Was hast du denn?« fragte ihre Tante. »Ist dir kalt?« »Ja, ein bißchen, der Wind ist nicht gerade warm«, erwiderte sie und wurde ganz rot bei dieser Lüge. Bei Tisch aß sie nicht. Sie ließ ihre Blicke nicht mehr von den anderen, und die Farbe
ihrer Augen wurde zu einem wilden Schwarz, sobald sich ihr Cousin, ihr Onkel oder auch nur Véronique mit Louise beschäftigten. Aber vor allem schien es sie zu schmerzen, als Mathieu beim Nachtisch seine gewohnte Runde machte und seinen dicken Kopf der Neuangekommenen auf den Schoß legte. Vergeblich rief sie ihn, er ließ nicht ab von Louise, die ihn mit Zucker geradezu vollstopfte. Man hatte sich erhoben, Pauline war verschwunden, als Véronique, die den Tisch abräumte, aus der Küche zurückkam und mit triumphierender Miene sagte: »Ach ja! Madame findet ihre Pauline ja immer so gut! Gehen Sie doch bloß auf den Hof gucken.« Alle gingen hin. Hinter dem Wagenschuppen verborgen, drückte Pauline Mathieu an die Wand, und außer sich, fortgerissen von einem tollen Anfall von Wildheit, hieb sie mit der
ganzen Kraft ihrer kleinen Fäuste auf seinen Schädel ein. Ganz benommen stand der Hund da, ohne sich zu wehren, und hielt den Kopf gesenkt. Die Familie stürzte herzu, aber Pauline schlug immer weiter, man mußte sie forttragen, und sie war steif, leblos, so krank, daß man sie sogleich zu Bett brachte und ihre Tante einen Teil der Nacht bei ihr verbringen mußte. »Sie ist wirklich reizend, ganz reizend«, sagte Véronique immer wieder, hoch erfreut, daß sie endlich einen Fehler an dieser Perle entdeckt hatte. »Ich erinnere mich, daß man mir in Paris von ihren Wutanfällen erzählt hat«, sagte Frau Chanteau. »Sie ist eifersüchtig, das ist eine häßliche Sache ... Seit dem halben Jahr, das sie hier ist, hatte ich gewisse kleine Vorfälle wohl bemerkt; aber wirklich, den Hund halbtot schlagen, das geht zu weit.« Als Pauline am nächsten Morgen Mathieu
begegnete, umschlang sie ihn mit ihren zitternden Armen, küßte ihn unter einer solchen Tränenflut auf die Schnauze, daß man fürchtete, der Anfall könne wiederkommen. Dennoch besserte sie sich nicht, es war ein innerer Druck, der ihr alles Blut ihrer Adern ins Gehirn trieb. Es schien, als kämen diese eifersüchtigen Gewaltausbrüche von weit her über sie, von irgendeinem Vorfahren mütterlicherseits, die schöne Ausgeglichenheit ihrer Mutter und ihres Vaters überspringend, deren lebendes Abbild sie war. Da sie für ihre zehn Jahre sehr vernünftig war, erklärte sie selber, daß sie alles nur Erdenkliche täte, um gegen ihre Wutanfälle anzukämpfen, doch es gelänge ihr nicht. Hinterher war sie darüber traurig, wie über ein Übel, dessen man sich schämt. »Ich habe euch alle so lieb, warum habt ihr andere lieb?« erwiderte sie und barg ihren Kopf an der Schulter ihrer Tante, die ihr in ihrem Zimmer Vorhaltungen machte.
Daher litt Pauline trotz aller Mühe, die sie sich gab, sehr unter Louises Gegenwart. Seit man ihr Kommen angekündigt, hatte Pauline sie mit unruhiger Neugier erwartet, und jetzt zählte sie die Tage, beseelt von dem ungeduldigen Wunsch, sie möge bald wieder abreisen. Übrigens konnte sie sich des Zaubers nicht erwehren, der von Louise ausging, die hübsch angezogen war, sich wie ein kluges, erwachsenes Fräulein benahm und die schmeichlerische Freundlichkeit eines Kindes an den Tag legte, das zu Hause wenig Liebkosungen erfährt; war aber Lazare anwesend, so war es gerade dieser Zauber eines kleinen Weibes, dieses Erwachen des Unbekannten, was Pauline verwirrte und erregte. Der junge Mann hingegen gab Pauline den Vorzug; er neckte die andere, sagte, sie langweile ihn mit ihrem vornehmen Getue, meinte, man solle sie ruhig ganz allein die Dame spielen lassen, damit er und Pauline weiter ungezwungen zusammen sein könnten.
Die wilden Spiele wurden aufgegeben, man sah sich im Zimmer Bilder an, man ging gemessenen Schrittes am Strand spazieren. Das waren zwei völlig verpfuschte Wochen. Eines Morgens erklärte Lazare, er reise fünf Tage früher ab. Er wollte sich in Paris einrichten, er würde dort einen seiner ehemaligen Schulkameraden aus Caen wiedertreffen. Und Pauline, die der Gedanke an diese Abreise seit einem Monat zur Verzweiflung brachte, unterstützte lebhaft die neue Entscheidung ihres Cousins, half mit fröhlicher Tatkraft ihrer Tante, den Koffer zu packen. Als dann Vater Malivoire Lazare in seiner alten Berline mitgenommen hatte, lief sie in ihr Zimmer, schloß sich ein, weinte lange. Am Abend war sie sehr nett zu Louise, und die acht Tage, die diese noch in Bonneville verbrachte, waren bezaubernd. Als der Diener ihres Vaters sie wieder abholen kam und erklärte, Herr Thibaudier habe seine Bank nicht verlassen können, umarmten die
beiden kleinen Freundinnen einander stürmisch und schworen, sich immer zu lieben. Jetzt ging langsam ein Jahr dahin. Frau Chanteau hatte ihre Ansicht geändert: Statt Pauline ins Pensionat zu schicken, behielt sie sie bei sich, wozu sie vor allem durch die Klagen ihres Mannes bewogen wurde, der die Kleine nicht mehr entbehren konnte; aber sie gestand sich diesen eigennützigen Grund nicht ein, sie sprach davon, daß sie selber Paulines Ausbildung übernehmen wolle, und war ganz verjüngt bei dem Gedanken, auf diese Weise wieder zum Unterrichten zu kommen. Im Pensionat hören die kleinen Mädchen häßliche Dinge, sie wollte für die vollkommene Unschuld ihrer Schülerin einstehen können. Man fischte aus der Tiefe von Lazares Bücherschrank wieder eine Grammatik, ein Rechenbuch, ein Geschichtsbuch, ja sogar einen kurzen Abriß über die Göttersagen hervor; und Frau Chanteau schwang wieder für eine Stunde am Tag den Schulmeisterstock bei
Diktaten, Rechenaufgaben, beim Aufsagen von Gedichten. Lazares großes Zimmer wurde in ein Studierzimmer umgewandelt. Pauline mußte sich wieder ans Klavier setzen, ganz zu schweigen davon, daß ihre Tante ihr die Grundsätze des feinen Anstands streng vor Augen führte, um ihr das jungenhafte Benehmen abzugewöhnen; im übrigen war sie gelehrig und klug, sie lernte gern, selbst wenn der Stoff ihr zuwider war. Ein einziges Buch langweilte sie, der Katechismus. Sie hatte noch nicht begriffen, weshalb ihre Tante sich sonntags die Mühe machte, sie zur Messe zu führen. Wozu? In Paris war man niemals mit ihr in die Kirche SaintEustache gegangen, die sich doch nahe bei ihrem Hause befand. Die abstrakten Vorstellungen drangen nur sehr schwer in ihr Hirn ein, ihre Tante mußte ihr erklären, daß ein wohlerzogenes Fräulein auf dem Lande sich nicht davon frei machen könne, dadurch ein gutes Beispiel zu geben, daß es dem Pfarrer gegenüber höflich war. Sie
selbst war immer nur zur Messe gegangen, weil es sich eben so schickte und weil es zu einer guten Erziehung gehörte, ebenso wie der Anstand. Das Meer indessen brandete täglich zweimal mit dem ewigen Auf und Ab seiner Dünung gegen Bonneville, und Pauline wuchs im Anblick der unermeßlichen Weite heran. Sie spielte nicht mehr, weil sie keinen Gefährten hatte. Wenn sie mit Mathieu um die Terrasse galoppiert war oder hinten im Gemüsegarten auf ihrer Schulter Minouche spazierengetragen hatte, war es ihre einzige Erholung, das Meer zu betrachten, das immer lebendig war, fahlgrau im düsteren Dezemberwetter, von zartem, schillerndem Grün bei den ersten Maisonnenstrahlen. Das Jahr verlief im übrigen glücklich, das Glück, das ihre Gegenwart ins Haus gebracht zu haben schien, äußerte sich überdies in einer unerwarteten Übersendung von fünftausend Francs, die Davoine den Chanteaus zukommen ließ, um
einen Bruch zu vermeiden, mit dem sie ihm drohten. Sehr gewissenhaft fuhr die Tante jedes Vierteljahr nach Caen, um Paulines Zinsen in Empfang zu nehmen, zog ihre Auslagen und das vom Familienrat bewilligte Kostgeld ab und kaufte dann mit dem Rest neue Wertpapiere; und wenn sie heimkam, wünschte sie, daß die Kleine sie auf ihr Zimmer begleitete, und sie öffnete das bewußte Schubfach des Sekretärs und wiederholte dabei immer: »Du siehst, ich lege dies zu den anderen ... Na? Der Haufen nimmt zu. Hab keine Angst, du wirst alles wiederfinden, es wird nicht ein Centime daran fehlen.« Im August schneite eines schönen Morgens Lazare herein und brachte die Nachricht von einem vollen Erfolg bei seiner Jahresabschlußprüfung mit. Er sollte erst eine Woche später kommen, er hatte seine Mutter überraschen wollen. Das gab eine große
Freude. In den Briefen, die er alle vierzehn Tage schrieb, hatte er eine wachsende Leidenschaft für die Medizin bekundet. Als er da war, erschien er ihnen völlig verändert, weil er nicht mehr von Musik sprach und sie schließlich langweilte mit seinen wissenschaftlichen Abhandlungen über alles nur Erdenkliche, über die Gerichte, die aufgetragen wurden, über den Wind, der wehte. Eine neue fiebrige Leidenschaft riß ihn fort, er hatte sich voll und ganz mit Feuereifer dem Gedanken hingegeben, ein genialer Arzt zu werden, dessen Erscheinen die Welten erschüttern würde. Nachdem Pauline ihm wie ein kleines Mädchen, das noch kein Hehl aus seinen Zärtlichkeiten macht, um den Hals gefallen war, hatte sie vor allem mit Verwunderung gefühlt, daß er anders geworden war. Es betrübte sie fast, daß er nicht mehr von Musik sprach, nicht mal ein kleines bißchen, gleichsam zur Erholung. Konnte man denn
wirklich aufhören, etwas zu lieben, was man einmal sehr geliebt hatte? An dem Tage, da sie ihn nach seiner Sinfonie fragte, begann er zu scherzen und sagte, mit diesen Albernheiten sei es nun vorbei; und sie wurde ganz traurig. Dann sah sie, wie er ihr gegenüber verlegen war, ein häßliches Lachen lachte und wie seine Augen, seine Gebärden von zehn Monaten eines Lebens sprachen, von dem man kleinen Mädchen nichts erzählen konnte. Er hatte seinen Koffer selber ausgepackt, um seine Bücher zu verbergen, Romane, naturwissenschaftliche Werke voller Kupferstiche. Er wirbelte Pauline nicht mehr wie einen Kreisel herum, daß ihre Röcke flogen, und war zuweilen ungehalten, wenn sie durchaus in sein Zimmer kommen und dort leben wollte. Allerdings war sie kaum größer geworden, sie schaute ihn mit ihren klaren Augen, den Augen eines unschuldigen Mädchens, frei an; und nach acht Tagen war ihre jungenhafte Kameradschaft wieder neu
geknüpft. Der rauhe Seewind wusch ihn rein von den Gerüchen des Quartier Latin8, er ward wieder zum Kind, wenn er mit diesem gesunden Kinde voll klingender Fröhlichkeit zusammen war. Alles wurde wiederaufgenommen, alles begann von neuem, die Spiele rund um den großen Tisch, das Herumgaloppieren mit Mathieu und Minouche hinten im Gemüsegarten ebenso wie die Ausflüge zur Schatzbucht und das unbefangene Baden in der Sonne, bei dem ihnen die Hemden freudig lärmend wie Fahnen an die Beine klatschten. Gerade in diesem Jahr verbrachte Louise, die im Mai nach Bonneville gekommen war, ihre Ferien in der Nähe von Rouen bei anderen Freunden. Zwei köstliche Monate gingen dahin, keine Mißstimmung verdarb ihre Freundschaft. An dem Tag im Oktober, an dem Lazare seinen Koffer packte, sah Pauline zu, wie er die Bücher aufstapelte, die er mitgebracht hatte und die im Schrank verschlossen
geblieben waren, ohne daß er auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, ein einziges aufzuschlagen. »Du nimmst sie also wieder mit?« fragte sie mit tief betrübter Miene. »Natürlich«, erwiderte er. »Die brauch ich für mein Studium ... Donnerwetter noch mal, wie werde ich arbeiten! Das alles muß ich mir eintrichtern.« Totenstille senkte sich wieder auf das kleine Haus in Bonneville, die einförmigen Tage flossen dahin und brachten angesichts des ewigen Rhythmus des Ozeans die täglichen Gewohnheiten wieder. Doch in jenem Jahr gab es in Paulines Leben ein Ereignis, das sich besonders hervorhob. Im Juni ging sie im Alter von zwölfeinhalb Jahren zu ihrer Ersten heiligen Kommunion. Langsam hatte die Religion von ihr Besitz ergriffen, eine ernste Religion, über die Antworten des Katechismus erhaben, die sie stets hersagte, ohne sie zu
begreifen. In ihrem scharf denkenden jungen Kopf hatte sie sich schließlich von Gott die Vorstellung eines allmächtigen, allwissenden Herrn gemacht, der alles lenkte, so daß auf Erden alles nach der Gerechtigkeit vor sich gehe; und diese vereinfachte Auffassung genügte ihr, um sich mit Abbé Horteur gut zu verstehen. Der war ein Bauernsohn, ein Hartschädel, in den allein der Buchstabe des Evangeliums Eingang gefunden hatte und der dahin gekommen war, sich mit den äußerlichen Andachtsübungen, mit der guten Ordnung einer wohlanständigen Frömmigkeit zufriedenzugeben. Was ihn selbst betraf, so sorgte er für sein Seelenheil; was seine Pfarrkinder anging, so war ihnen eben nicht zu helfen, wenn sie sich der Verdammnis anheimgaben! Fünfzehn Jahre lang hatte er erfolglos versucht, ihnen Angst und Schrecken einzujagen, er verlangte von ihnen nur noch die Höflichkeit, an den hohen Feiertagen zur Kirche heraufzukommen. Ganz Bonneville
ging aus einem Rest von Gewohnheit zur Kirche hinauf, trotz der Sünde, in der das Dorf verkam. Seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Seelenheil der anderen ersetzte dem Priester die Duldsamkeit. Er ging jeden Sonnabend zu Chanteau, um mit ihm Dame zu spielen, obgleich der Bürgermeister, dank seiner Gicht entschuldigt, niemals den Fuß in die Kirche setzte. Frau Chanteau übrigens tat das Nötige, indem sie regelmäßig zur Messe ging und auch Pauline mitnahm. Die große Einfachheit des Pfarrers nahm nach und nach das Kind gefangen. In Paris hatte man in ihrer Gegenwart mit Verachtung von den Priestern gesprochen, von diesen Heuchlern, deren schwarze Gewänder alle Verbrechen verbargen. Aber dieser Priester hier am Meeresstrand schien ihr wirklich ein wackerer Mann, mit seinen groben Schuhen, seinem sonnenverbrannten Nacken, dem Benehmen und der Sprache eines armen Bauern. Eine Beobachtung hatte sie vor allem für ihn
eingenommen: Abbé Horteur rauchte leidenschaftlich gern eine große Meerschaumpfeife, wobei er indessen noch immer Gewissensbisse hatte und sich ganz hinten in seinen Garten flüchtete, wo er allein war mit seinen Salatköpfen; und diese Pfeife, die er voller Verwirrung verbarg, wenn man ihn überraschte, rührte die Kleine sehr, ohne daß sie hätte sagen können, warum. Sie ging mit sehr ernster Miene zur Erstkommunion, zusammen mit zwei anderen kleinen Mädchen und einem Schlingel aus dem Dorf. Als der Pfarrer abends bei Chanteaus speiste, erklärte er, er habe in Bonneville niemals eine Kommunikantin gehabt, die in so guter Haltung an den Tisch des Herrn getreten sei. Das Jahr war weniger gut, die von Davoine seit langem erwartete Hausse9 in Tannenholz trat nicht ein; und schlechte Nachrichten kamen aus Caen: Es wurde behauptet, da er gezwungen sei, mit Verlust zu verkaufen, steuere er unvermeidlich auf eine Katastrophe
zu. Die Familie lebte dürftig, die dreitausend Francs Jahreszinsen reichten gerade eben für die notwendigsten Bedürfnisse des Hauses, wenn man auch von den bescheidensten Einkäufen noch etwas abzwackte. Frau Chanteaus große Sorge war Lazare, von dem sie Briefe bekam, die sie für sich behielt. Er schien leichtsinnig zu werden, er verfolgte sie mit ständigen Geldforderungen. Als sie im Juli in Caen war, um Paulines Zinsen in Empfang zu nehmen, tauchte sie unvermutet bei Davoine auf; zweitausend Francs, die dieser schon herausgerückt hatte, waren in die Hände des jungen Mannes übergegangen; und es gelang ihr, Davoine noch einmal tausend Francs zu entreißen, die sie sogleich nach Paris schickte. Lazare schrieb ihr, er könne nicht kommen, wenn er nicht seine Schulden bezahlte. Eine Woche lang wartete man auf ihn. Jeden Morgen kam ein Brief, in dem er seine Abreise
auf den folgenden Tag verschob. Seine Mutter und Pauline gingen ihm bis Verchemont entgegen. Man umarmte sich auf der Landstraße, man ging durch den Staub nach Hause, gefolgt vom leeren Wagen mit dem Koffer. Doch diese gemeinsame Rückkehr war weniger fröhlich als die triumphale Überraschung im Vorjahr. Er war bei seinem Juliexamen durchgefallen, er war erbittert gegen die Professoren, den ganzen Abend schimpfte er auf sie, sie seien Esel, von denen er langsam die Nase voll habe. Am Tage drauf warf er in Paulines Gegenwart seine Bücher auf ein Brett des Schrankes, wobei er erklärte, dort könnten sie seinetwegen verfaulen. Dieser so unvermittelte Widerwille versetzte sie in Bestürzung, sie hörte ihm zu, wie er grimmig über die Medizin herzog, die, wie er wettete, nicht einmal einen Schnupfen zu heilen vermöchte; und als sie eines Tages mit jugendlichem, gläubigem Schwung die Wissenschaft verteidigte, wurde sie ganz rot,
so sehr verlachte er ihre Begeisterung einer Unwissenden. Im übrigen ergab er sich dennoch darein, Arzt zu werden; ob nun dieser Schwindel oder ein anderer; zu lachen hatte man im Grunde nirgends was. Sie war entrüstet über diese neuen Gedanken, die er mitbrachte. Wo hatte er das her? Sicherlich aus den schlechten Büchern; aber sie wagte nicht mehr, sich zu äußern, weil sie gehemmt war durch ihre völlige Unwissenheit und sich unbehaglich fühlte bei dem höhnischen Grinsen ihres Cousins, der so tat, als könne er ihr nicht alles sagen. Die Ferien vergingen auf diese Weise unter fortwährenden Sticheleien. Bei ihren Spaziergängen schien er sich jetzt zu langweilen, fand das Meer albern und immer gleich; allerdings hatte er begonnen, Verse zu machen, um die Zeit totzuschlagen, und er schrieb über das Meer sorgfältig ausgefeilte Sonette mit volltönenden Reimen. Er weigerte sich zu baden, er hatte entdeckt, daß kalte Bäder bei seiner Konstitution schädlich für ihn
waren; denn obgleich er nichts von der Medizin hielt, äußerte er selber entschiedene Meinungen, verdammte oder rettete er die Leute mit einem Wort. Als gegen Mitte September Louise kommen sollte, sprach er plötzlich davon, nach Paris zurückzukehren, wobei er die Vorbereitung auf sein Examen zum Vorwand nahm: Die beiden kleinen Mädchen würden ihn zu Tode langweilen, ebensogut könne er das Leben des Quartier Latin einen Monat früher wiederaufnehmen. Pauline war um so sanfter geworden, je mehr er sie kränkte. Zeigte er sich schroff, freute er sich daran, sie zur Verzweiflung zu bringen, so sah sie ihn mit den zärtlichen, lächelnden Augen an, mit denen sie Chanteau besänftigte, wenn dieser in der Qual eines Anfalls schrie. Ihrer Meinung nach mußte ihr Cousin krank sein, er sah das Leben an wie die Alten. Am Abend vor seiner Abreise bekundete Lazare eine solche Freude, Bonneville zu verlassen, daß Pauline schluchzte.
»Du hast mich nicht mehr lieb!« »Bist du dumm! Muß ich nicht meinen Weg machen? Wie kann ein großes Mädchen so heulen!« Schon fand sie ihren Mut wieder und lächelte. »Arbeite schön in diesem Jahr, damit du zufrieden zurückkommst.« »Oh! Es ist unnütz, so viel zu arbeiten. Das Examen ist vielleicht blöd! Wenn ich nicht bestanden habe, so deshalb, weil ich mir nicht die Mühe gemacht habe, es bestehen zu wollen ... Ich werde das schon erledigen, weil ich kein Vermögen besitze und nicht die Hände in den Schoß legen kann, das einzig Vernünftige, was ein Mensch zu tun vermag.« Gleich in den ersten Oktobertagen, nachdem Louise nach Caen zurückgekehrt war, begann Pauline wieder mit dem Unterricht bei ihrer Tante. Der Lehrstoff des dritten Jahres sollte vor allem die von anstößigen Stellen gereinigte
Geschichte Frankreichs und die Mythologie zum Gebrauch junger Mädchen beinhalten, ein höherer Unterricht, der sie befähigen sollte, die Gemälde in den Museen zu verstehen. Aber die Kleine, die im Vorjahr so fleißig gewesen, schien jetzt einen schweren Kopf zu haben: Sie schlief zuweilen bei ihren Schulaufgaben ein, jähe Hitzewellen färbten ihr Gesicht purpurn. Ein toller Wutanfall gegen Véronique, die sie, wie sie behauptete, nicht liebte, hatte sie für zwei Tage ans Bett gefesselt. Außerdem vollzogen sich in ihr Veränderungen, die sie verwirrten, die langsame Entwicklung ihres ganzen Körpers, Rundungen entstanden, gleichsam schwellend und schmerzend, dunkle Schatten, leichter Flaum an der verborgensten und heikelsten Stelle ihrer Haut. Wenn sie sich abends beim Zubettgehen mit einem verstohlenen Blick prüfend betrachtete, empfand sie ein Unbehagen, eine Verwirrung, die sie veranlaßte, rasch die Kerze auszublasen. Sie
bekam eine klangvollere Stimme, die sie häßlich fand, sie gefiel sich selbst nicht mehr, sie verbrachte die Tage in einer Art nervöser Erwartung, ohne zu wissen, worauf sie eigentlich hoffte, und ohne zu wagen, mit jemand über diese Dinge zu sprechen. Gegen Weihnachten schließlich beunruhigte Paulines Zustand Frau Chanteau. Die Kleine klagte über heftige Kreuzschmerzen, ein Gefühl von Zerschlagenheit drückte sie nieder, Fieberanfälle stellten sich ein. Als Doktor Cazenove, der ihr großer Freund geworden war, ihr einige Fragen gestellt hatte, nahm er die Tante beiseite, um ihr zu raten, ihre Nichte aufzuklären. Die steigende Flut der Geschlechtsreife war das alles; und er sagte, er habe junge Mädchen gesehen, die angesichts der Katastrophe dieses Blutstroms vor Entsetzen krank wurden. Die Tante sträubte sich zunächst, weil sie diese Vorsicht übertrieben fand und ihr solche Vertraulichkeiten zuwider waren: Ihr
Erziehungssystem war es, das Kind in völliger Unwissenheit zu belassen und peinliche Tatsachen zu vermeiden, solange sie sich nicht von selbst aufdrängten. Da jedoch der Arzt darauf drang, versprach sie zu reden, tat allerdings am selben Abend nichts dergleichen, verschob es dann von Tag zu Tag. Die Kleine war ja nicht ängstlich; und außerdem waren viele andere auch nicht aufgeklärt worden. Es würde immer noch Zeit sein, ihr einfach zu sagen, daß die Dinge nun einmal so seien, ohne sich im voraus auf unschickliche Fragen und Erklärungen einzulassen. Eines Morgens hörte Frau Chanteau in dem Augenblick, da sie ihr Schlafzimmer verließ, aus Paulines Zimmer Wehklagen, und sie ging sehr beunruhigt hinauf. Die Kleine saß mitten in ihrem Bett, hatte die Decken zurückgeworfen und schrie, weiß vor Schreck, ununterbrochen nach ihrer Tante: Und sie spreizte ihre blutbefleckte Scham, und von
einer Bestürzung betroffen, deren Schock ihre ganze gewohnte Tapferkeit hinweggerafft hatte, sah sie sich an, was da aus ihr herausgeflossen war. »Oh, Tante! Oh, Tante!« Frau Chanteau hatte auf den ersten Blick begriffen. »Es ist nichts, mein Liebling. Beruhige dich.« Aber Pauline, die sich in der erstarrten Haltung eines verwundeten Weibes noch immer betrachtete, hörte sie nicht einmal. »Oh, Tante! Ich habe gefühlt, daß ich naß war, und sieh nur, sieh nur, es ist Blut! Alles ist zu Ende, die Bettücher sind ganz voller Blut.« Ihre Stimme versagte, sie glaubte, ihre Adern entleerten sich in diesem roten Strom. Der Schrei ihres Cousins kam über ihre Lippen, jener Schrei, dessen Hoffnungslosigkeit angesichts des beängstigenden grenzenlosen
Himmels sie nicht verstanden hatte. »Alles ist zu Ende, ich werde sterben.« Bestürzt suchte die Tante nach schicklichen Worten, nach einer Lüge, die sie beruhigen sollte, ohne ihr etwas zu erklären. »Nun, nun, mach dir keine Sorge, ich wäre doch viel unruhiger, nicht wahr, wenn du in Gefahr wärest ... Ich schwöre dir, daß das allen Frauen so geht. Das ist wie Nasenbluten ...« »Nein, nein, du sagst das nur, um mich zu beruhigen ... Ich werde sterben, ich werde sterben.« Es war keine Zeit mehr. Als Doktor Cazenove kam, befürchtete er ein Gehirnfieber. Frau Chanteau hatte die Kleine wieder hingelegt und ihr dabei gesagt, sie müsse sich eigentlich schämen, so viel Angst zu haben. Tage vergingen, Pauline war verwundert aus der Krise hervorgegangen und dachte von nun an über neue und verworrene Dinge nach, hegte
tief in ihrem Innern heimlich eine Frage, auf die sie eine Antwort suchte. In der folgenden Woche machte sich Pauline wieder an die Arbeit und schien sich für die Göttersagen zu begeistern. Sie kam nicht mehr aus Lazares großem Zimmer heraus, das noch immer ihr Studierzimmer war; man mußte sie zu jeder Mahlzeit rufen, und sie erschien geistesabwesend, vom unbeweglichen Sitzen steif geworden. Oben aber lagen die Göttersagen am äußersten Ende des Tisches herum, denn Pauline saß tagelang nur über den im Schrank zurückgelassenen medizinischen Werken, die Augen vom Wissensdrang geweitet, die Stirn in beide Hände gestützt, die vor Eifer eiskalt wurden. Lazare hatte in den schönen Tagen der Begeisterung Bücher gekauft, die er nicht sofort brauchte, das »Lehrbuch der Physiologie« von Longet10, die »Beschreibende Anatomie« von Cruveilhier11; und gerade diese waren dageblieben, während er seine Arbeitsbücher
wieder mitgenommen hatte. Sie holte sie hervor, sowie ihre Tante den Rücken kehrte, stellte sie dann beim geringsten Geräusch ohne Hast wieder an ihren Platz, nicht wie ein schuldbewußtes, neugieriges Mädchen, sondern wie eine fleißig arbeitende Schülerin, deren Neigung zur Wissenschaft sich die Eltern entgegenstellten. Zunächst hatte sie nichts verstanden, wurde abgeschreckt durch die Fachausdrücke, die sie im Wörterbuch suchen mußte. Da sie dann erraten hatte, daß man eine Methode brauche, hatte sie sich verbissen auf die »Beschreibende Anatomie« gestürzt, bevor sie zum »Lehrbuch der Physiologie« überging. So lernte dieses vierzehnjährige Mädchen wie eine Schulaufgabe, was Jungfrauen bis zur Hochzeitsnacht verheimlicht wird. Sie blätterte in den Bildtafeln der »Beschreibenden Anatomie«, diesen großartigen Bildtafeln von blutiger Realität; sie verweilte bei jedem der Organe, erforschte die geheimsten, jene, die
man bei Mann und Weib zum Anlaß der Scham gemacht hatte; und sie empfand keine Scham, sie war ernst, ging von den Organen, die das Leben geben, über zu den Organen, die es regeln, wurde durch ihre gesunde Lebensauffassung den sinnlichen Vorstellungen entrückt und vor ihnen gerettet. Die langsame Entdeckung dieser menschlichen Maschine erfüllte sie mit Bewunderung. Sie las das alles leidenschaftlich gern, niemals hatten ihr früher die Märchen und auch »Robinson« nicht solchermaßen den Verstand geweitet. Das »Lehrbuch der Physiologie« war dann gleichsam die Erläuterung zu den Bildtafeln, nichts blieb ihr verborgen. Sie fand sogar ein »Handbuch der Pathologie und der medizinischen Heilkunde«, sie drang bis zu den grauenvollen Krankheiten, bis zur Behandlungsweise jeglicher Zersetzungserscheinung vor. Vieles war zu hoch für sie, sie wußte von sich aus einzig und allein, was man wissen mußte, um den
Leidenden Linderung zu bringen. Ihr Herz brach vor Mitleid, sie träumte wieder ihren alten Traum, alles zu erkennen, um alles zu heilen. Und jetzt wußte Pauline, warum der Blutstrom ihrer Geschlechtsreife wie aus einer reifen, bei der Weinlese zerstampften Traube hervorgesprudelt war. Dieses jetzt aufgeklärte Mysterium stimmte sie ernst angesichts der Lebensflut, die sie in sich steigen fühlte. Sie hegte Verwunderung und Groll ob des Schweigens ihrer Tante, ob der völligen Unwissenheit, in der diese sie hielt. Warum nur ließ man zu, daß sie sich so erschreckte? Das war nicht richtig, es war nichts Schlechtes dabei, wenn man darum wußte. Im übrigen ereignete sich zwei Monate lang nichts wieder. Frau Chanteau sagte eines Tages: »Wenn es dir wieder so geht wie im Dezember, du erinnerst dich, dann erschrick
bloß nicht ... Das wäre besser.« »Ja, ich weiß«, erwiderte das junge Mädchen ruhig. Ihre Tante sah sie entgeistert an. »Was weißt du denn?« Da errötete Pauline bei dem Gedanken, daß sie lügen müsse, um noch länger zu verheimlichen, was sie las. Lügen war ihr unerträglich, sie zog es vor zu beichten. Als Frau Chanteau die auf dem Tisch liegenden Bücher aufschlug und die Bildtafeln erblickte, war sie wie versteinert. Sie, die sich so viel Mühe gab, um Jupiters Liebschaften als unschuldig hinzustellen! Wirklich, Lazare hätte solche abscheulichen Sachen unter Verschluß halten müssen. Und ausführlich befragte sie die Schuldige, mit allen möglichen Vorsichtsmaßnahmen und versteckten Andeutungen. Aber Pauline brachte sie schließlich mit ihrer unbefangenen Art in
Verlegenheit. Nun, was denn? Man war nun einmal so geschaffen, dabei gab es nichts Schlimmes. Ihre rein geistige Leidenschaft kam zum Ausbruch, noch regte sich keine heimliche Sinnlichkeit in ihren großen klaren Kinderaugen. Sie hatte auf demselben Brett Romane gefunden, deren sie gleich bei den ersten Seiten überdrüssig geworden, so sehr langweilten sie sie, so vollgestopft waren sie mit Redensarten, von denen sie nichts verstand. Ihre Tante, die immer mehr aus der Fassung geriet, sich jedoch auch ein wenig beruhigt fühlte, begnügte sich damit, den Schrank abzuschließen und den Schlüssel an sich zu nehmen. Acht Tage später lag der Schlüssel wieder herum, und Pauline gestand es sich hin und wieder gleichsam als Erholung zu, das Kapitel über die Neurosen zu lesen, wobei sie an ihren Cousin dachte, oder über die Behandlung der Gicht, mit dem Gedanken, ihrem Onkel Erleichterung zu verschaffen. Im übrigen tat man sich trotz Frau Chanteaus
Strenge in Paulines Gegenwart kaum Zwang an. Schon die wenigen Tiere des Hauses hätten sie aufgeklärt, wenn sie die Bücher nicht aufgeschlagen hätte. Minouche vor allem erregte ihr Interesse. Diese Minouche war ein liederliches Weibsbild, das sich viermal im Jahr fürchterlich herumtrieb. Sie, die sonst so zart war, die sich unaufhörlich putzte und die Pfoten nur mit Schaudern vor die Tür setzte, aus Furcht, sich schmutzig zu machen, verschwand plötzlich für zwei oder drei Tage. Man hörte, wie sie fauchte und sich herumbalgte, man sah in der Dunkelheit die Augen aller Kater von Bonneville gleich Kerzen leuchten. Dann kam sie in abscheulichem Zustand, wie eine verkommene Dirne zugerichtet, wieder nach Hause, mit so zerlumptem und schmutzigem Fell, daß sie sich eine Woche lang leckte. Darauf setzte sie wieder die gelangweilte Miene einer Prinzessin auf, rieb sich schmeichelnd am Kinn der Leute und schien nicht zu merken,
daß ihr Bäuchlein sich rundete. Eines schönen Morgens fand man sie mit Jungen vor. Véronique trug sie in einem Schürzenzipfel alle fort, um sie ins Wasser zu werfen. Und Minouche, die verabscheuungswürdige Mutter, suchte sie nicht einmal, denn sie war daran gewöhnt, sie auf solche Weise loszuwerden, und glaubte, die Mutterschaft sei damit zu Ende. Sie leckte sich wieder, schnurrte, tat vornehm, bis zu dem Abend, da sie sich unter Pfotenhieben und Miauen wieder schamlos den Bauch voll machen ließ. Mathieu war ein besserer Vater für diese Kinder, die er nicht gezeugt hatte, denn er folgte winselnd Véroniques Schürze, es war seine Leidenschaft, alle kleinen Wesen im Nest abzulecken. »Oh, Tante, dieses Mal muß man ihr eins lassen!« sagte Pauline bei jedem Wurf, entrüstet und entzückt zugleich ob der verliebten Anmut der Katze.
Doch Véronique wurde ärgerlich. »Auch das noch! Damit sie es uns überall herumschleppt! – Und außerdem, ihr liegt nichts daran. Sie hat das ganze Vergnügen, ohne die Mühe zu haben.« In Pauline war eine Liebe zum Leben, die mit jedem Tag mehr überströmte, die sie zur »Mutter der Tiere« machte, wie ihre Tante sagte. Alles, was lebte, alles, was litt, erfüllte sie mit tätiger Liebe, mit einem Überschwang von Fürsorge und Liebkosungen. Sie hatte Paris vergessen, ihr schien, als sei sie hier aufgewachsen, auf diesem rauhen Boden, beim reinen Wehen der Seewinde. In weniger als einem Jahr war aus dem Kind mit den zögernd sich andeutenden Formen ein schon kräftiges junges Mädchen mit festen Hüften und vollen Brüsten geworden. Und die Verwirrung über dieses Erblühen beunruhigte sie nicht länger, das Unbehagen über ihren von Lebenskraft geschwellten Körper, die ängstliche
Bestürzung über ihren voller werdenden Busen, über den dunkleren feinen Flaum auf ihrer atlasglänzenden braunen Haut. Im Gegenteil, jetzt hatte sie Freude an ihrem Aufblühen, hatte sie das sieghafte Empfinden, zu wachsen und in der Sonne zu reifen. Das aufsteigende und in rotem Regen hervorquellende Blut machte sie stolz. Vom Morgen bis zum Abend erfüllte sie das Haus mit den Trillern ihrer jetzt tieferen Stimme, die sie nun schön fand; und wenn beim Zubettgehen ihre Blicke über die blühende Rundung ihrer Brüste glitten, bis zu dem Tintenfleck, der ihren purpurnen Unterleib beschattete, lächelte sie, sog sie einen Augenblick ihren Wohlgeruch ein, gleich dem eines frischen Straußes, glücklich über ihren neuen Duft, den Duft des Weibes. Es war das Leben, das sie willig annahm, das Leben, das sie ohne Widerwillen noch Angst in seinen Funktionen liebte und das sie mit dem triumphierenden Lied der Gesundheit
begrüßte. Lazare schrieb in jenem Jahr sechs Monate lang nicht. Kaum daß kurze Mitteilungen die Familie beruhigten. Dann überschüttete er seine Mutter Schlag auf Schlag mit Briefen. Bei den Prüfungen im November war er wiederum durchgefallen; mehr und mehr angewidert vom Medizinstudium, das allzu traurige Stoffgebiete behandelte, hatte er sich abermals in eine andere Leidenschaft gestürzt, die Chemie. Durch Zufall hatte er die Bekanntschaft des berühmten Herbelin gemacht, dessen Entdeckungen damals die Wissenschaft in Aufruhr versetzten, und er war als Präparator in dessen Laboratorium eingetreten, ohne jedoch zuzugeben, daß er die Medizin aufgegeben hatte. Aber bald waren seine Briefe erfüllt von einem zunächst schüchtern, nach und nach begeistert vertretenen Plan. Es handelte sich um eine umfangreiche Nutzung der Meeresalgen, die dank den von dem berühmten Herbelin
entdeckten neuen Methoden und Reagenzien Millionen einbringen sollte. Lazare zählte die Erfolgsaussichten auf: die Hilfe des großen Chemikers, die Leichtigkeit, sich den Rohstoff zu verschaffen, die wenig kostspielige Anlage. Schließlich teilte er seinen ausdrücklichen Wunsch mit, nicht Arzt zu werden; scherzend sagte er, er wolle lieber den Kranken Heilmittel verkaufen als sie selber umbringen. Mit der Beweisführung, wie er dadurch schnell zu Reichtum gelangen werde, schloß jeder seiner Briefe, in denen er außerdem seine Familie mit dem Versprechen blendete, sie nicht mehr zu verlassen und die Fabrik dort unten bei Bonneville zu errichten. Die Monate vergingen. Lazare war in den Ferien nicht nach Hause gekommen. Den ganzen Winter über schilderte er dergestalt sein Vorhaben in allen Einzelheiten auf eng beschriebenen Seiten, die Frau Chanteau abends nach dem Essen laut vorlas. An einem Abend im Mai fand eine große Beratung statt,
denn er verlangte eine entscheidende Antwort. Véronique schlich herum, nahm das Tischtuch ab, legte die Decke wieder auf. »Er kommt ganz und gar nach seinem Großvater, einem Wirrkopf und Unternehmungsgeist«, erklärte die Mutter und warf einen Blick auf das Meisterwerk des einstigen Zimmermannsgesellen auf dem Kamin, über das sie sich immer noch ärgerte. »Gewiß, nach mir kommt er nicht, denn mir graut vor Veränderungen«, murmelte Chanteau zwischen zwei Klagelauten, in seinem Sessel ausgestreckt, wo er das Ende eines Anfalls überstand. »Aber du, meine Gute, du bist auch nicht sehr ruhig.« Sie zuckte die Achseln, wie um zu sagen, daß ihr Tätigkeitsdrang auf Logik beruhe und von Logik gelenkt werde. Dann begann sie langsam wieder: »Nun, was meint ihr? Man muß ihm schreiben,
er soll nach seinem Kopf handeln ... Ich hätte ihn gern im Richteramt gesehen; Arzt, das war schon nicht sehr passend; und nun ist er Apotheker ... Soll er zurückkommen und viel Geld verdienen, das ist immerhin etwas.« Im Grunde gab der Gedanke an das Geld für sie den Ausschlag. Ihre abgöttische Liebe zu ihrem Sohn stürzte sich auf einen neuen Traum: Sie sah ihn schon sehr reich, als Besitzer eines Hauses in Caen, als Mitglied des Generalrats12, der Abgeordnetenkammer vielleicht. Chanteau hatte keine Meinung, er begnügte sich damit, zu leiden, und überließ seiner Frau die höhere Sorge für die Interessen der Familie. Was Pauline betraf, so war sie trotz ihrer Verwunderung und ihrer stummen Mißbilligung des ständigen Wechsels der Zukunftspläne ihres Cousins der Ansicht, man solle ihn zurückkommen und den Versuch mit seinem großen Geschäft unternehmen lassen. »Wenigstens leben wir dann alle zusammen«,
sagte sie. »Und außerdem, was wird Herr Lazare in Paris schon Vernünftiges tun!« erlaubte sich Véronique hinzuzufügen. »Es ist besser, er kuriert sich ein bißchen bei uns seinen Magen.« Frau Chanteau nickte zustimmend. Sie nahm wieder den Brief, den sie am Morgen erhalten hatte. »Wartet, er erörtert die finanzielle Seite des Unternehmens.« Jetzt las sie vor und machte dazu ihre Bemerkungen. Man brauchte etwa sechzigtausend Francs, um die kleine Fabrik einzurichten. Lazare hatte in Paris einen seiner ehemaligen Schulkameraden aus Caen wiedergetroffen, den dicken Boutigny, der die Lateinschule in der vierten Klasse verlassen hatte und jetzt mit Wein handelte. Boutigny, der von dem Vorhaben sehr begeistert war, bot
dreißigtausend Francs: Er wäre ein ausgezeichneter Teilhaber, ein Verwalter, dessen praktische Fähigkeiten den materiellen Erfolg sichern würden. Blieben noch dreißigtausend Francs zu leihen, denn Lazare wollte die Hälfte des Besitzes in Händen haben. »Wie ihr gehört habt«, fuhr Frau Chanteau fort, »bittet er mich darum, mich in seinem Namen an Thibaudier zu wenden. Der Gedanke ist gut, Thibaudier wird ihm das Geld sofort leihen ... Louise ist gerade etwas leidend, ich habe vor, sie für eine Woche zu holen, so daß ich Gelegenheit hätte, mit ihrem Vater zu reden.« Paulines Augen trübten sich, ein krampfhaftes Zusammenkneifen machte die Lippen schmaler. Von der anderen Seite des Tisches her sah Véronique, die sich dort aufgepflanzt hatte und gerade eine Teetasse auswischte, Pauline an.
»Ich hatte wohl an etwas anderes gedacht«, murmelte die Tante. »Aber da man in der Industrie immer ein Risiko eingeht, hatte ich mir sogar vorgenommen, nicht darüber zu sprechen.« Und sich an das junge Mädchen wendend, fuhr sie fort: »Ja, mein Liebling, es sei denn, du selber würdest deinem Cousin die dreißigtausend Francs leihen ... Niemals würdest du dein Geld vorteilhafter anlegen können, es würde dir vielleicht fünfundzwanzig Prozent Zinsen einbringen, denn dein Cousin würde dich am Gewinn beteiligen; und es bricht mir das Herz, den ganzen Reichtum in die Tasche eines anderen fließen zu sehen ... Nur möchte ich nicht, daß du dein Geld aufs Spiel setzt. Das ist ein heiliges, uns anvertrautes Gut, es liegt da oben, und ich werde es dir unangetastet zurückgeben.« Noch blasser geworden und einem inneren Kampf ausgeliefert, hörte Pauline zu. In ihr war ein ererbter Geiz, die Liebe Quenus und
Lisas zum schweren Geld ihrer Kasse, die ganze Erziehung, die ihr einst in früher Kindheit im Fleischerladen zuteil geworden, die Achtung vor dem Geld, die Angst, daß es einem fehlen könne, ein beschämendes unbekanntes Etwas, eine geheime Filzigkeit, die tief in ihrem guten Herzen erwachte. Außerdem hatte ihre Tante ihr so oft das Schubfach des Sekretärs gezeigt, in dem ihre Erbschaft schlummerte, daß der Gedanke, zusehen zu müssen, wie sie in den fahrigen Händen ihres Cousins dahinschmolz, sie beinahe ärgerte. Und sie schwieg, gepeinigt von der Vorstellung, daß Louise dem jungen Mann einen großen Sack Geld bringen würde. »Dir wäre es lieber, wenn ich dies nicht wollte«, sagte Frau Chanteau zu ihrem Mann. »Nicht wahr, mein Freund, das ist eine Gewissensfrage?« »Ihr Geld ist ihr Geld«, erwiderte Chanteau, der bei dem Versuch, sein Bein anzuheben,
einen Schrei ausstieß. »Wenn die Dinge schlecht ausgehen, würde man über uns herfallen ... Nein, nein! Thibaudier wird sehr gern das Geld leihen.« Doch endlich fand Pauline in einem Ausbruch ihrer Herzensgüte die Sprache wieder. »Oh! Bereitet mir nicht diesen Kummer, ich, ich muß Lazare das Geld leihen! Ist er nicht mein Bruder? Es wäre zu häßlich, wenn ich es ihm verweigerte. Warum habt ihr mir überhaupt davon gesprochen? Gib ihm das Geld, Tante, gib ihm alles.« Bei der Anstrengung, die sie dies gekostet, schwammen ihre Augen in Tränen; und sie lächelte, war beschämt, daß sie zunächst gezögert hatte, und wurde noch von einem Bedauern gequält, über das sie todunglücklich war. Im übrigen mußte sie gegen ihre Verwandten ankämpfen, die starrköpfig die schlechten Seiten des Unternehmens voraussahen. Bei dieser Gelegenheit zeigten
sie sich von vollkommener Redlichkeit. »Nun komm und gib mir einen Kuß«, sagte schließlich die Tante, die die Tränen übermannten. »Du bist ein gutes kleines Mädchen ... Lazare wird dein Geld nehmen, weil du sonst böse wirst.« »Und mir gibst du keinen Kuß?« fragte der Onkel. Man weinte, man küßte einander rings um den Tisch. Während Véronique den Tee auftrug und Pauline nach Mathieu rief, der draußen auf dem Hof bellte, wischte sich Frau Chanteau die Augen und fügte hinzu: »Das ist ein großer Trost, sie hat das Herz auf dem rechten Fleck.« »Weiß der Himmel!« brummte das Hausmädchen. »Damit die andere nichts gibt, würde sie ihr Hemd hergeben.« Acht Tage später, an einem Sonnabend, kehrte
Lazare nach Bonneville zurück. Doktor Cazenove, der zum Abendessen eingeladen war, sollte den jungen Mann in seinem Wagen mitbringen. Abbé Horteur, der zuerst gekommen war und auch mit zu Abend aß, spielte Dame mit Chanteau, der auf dem Wege der Besserung war und wie üblich in seinem Sessel saß. Der Anfall hielt ihn seit drei Monaten gepackt, nie zuvor hatte er so sehr gelitten; und jetzt war es das Paradies trotz des fürchterlichen Juckens, das ihm die Füße zerfraß; die Haut schälte sich, das Ödem war fast verschwunden. Da Véronique Tauben briet, hob er jedesmal die Nase, wenn die Küchentür aufging, wieder von seiner unverbesserlichen Leckerhaftigkeit befallen, was ihm die weisen Ermahnungen des Pfarrers eintrug. »Sie sind mit den Gedanken nicht beim Spiel, Herr Chanteau ... Glauben Sie mir, Sie sollten sich heute abend bei Tisch mäßigen. Das üppige Essen ist nicht gut bei Ihrer
Verfassung.« Louise war am Abend zuvor gekommen. Als Pauline den Wagen des Doktors hörte, stürzten beide auf den Hof. Aber Lazare schien nur seine Cousine zu sehen, er war verblüfft. »Wie, das ist Pauline?« »Aber ja doch, das bin ich!« »Ach, mein Gott! Was hast du nur gegessen, um dich so herauszumachen? – Du bist ja schon heiratsfähig.« Sie errötete und lachte vor Freude, und ihre Augen glänzten vor Wonne, als sie sah, daß er sie so prüfend betrachtete. Bei seiner Abreise hatte er einen Wildfang zurückgelassen, eine Schülerin im Leinenkittel, und er stand jetzt vor einem großen jungen Mädchen, dessen Brust und Hüften kokett von einem weißen, rosageblümten Frühlingskleid eng umschlossen wurden. Sie wurde jedoch wieder ernst, sie sah nun ihn an und fand ihn gealtert:
Er ging gebeugt, sein Lachen war nicht mehr jung, ein leichtes nervöses Zucken lief über sein Gesicht. »Nun«, fuhr er fort, »man wird dich ernst nehmen müssen ... Guten Tag, meine Teilhaberin.« Pauline errötete noch mehr, dieses Wort machte sie überglücklich. Mochte ihr Cousin nun ruhig Louise umarmen, nachdem er sie umarmt hatte: Sie war nicht eifersüchtig. Das Abendessen verlief reizend. Durch die Drohungen des Doktors in Schrecken versetzt, aß Chanteau mit Maßen. Frau Chanteau und der Pfarrer machten großartige Pläne für die Vergrößerung Bonnevilles, wenn die Gegend durch die Spekulation mit den Algen erst einmal zu Reichtum gekommen war. Man ging erst um elf Uhr zu Bett. Als Lazare und Pauline sich oben vor ihren Zimmern trennten, fragte der junge Mann in scherzendem Ton:
»Nun, sagt man sich nicht mehr gute Nacht, weil man groß geworden ist?« »Aber ja!« rief sie, fiel ihm um den Hals und küßte ihn herzhaft mit ihrem kleinmädchenhaften Ungestüm von einst.
Kapitel III Zwei Tage später legte eine starke Ebbe die tiefliegenden Felsen bloß. Bei der leidenschaftlichen Begeisterung, die Lazare zu Beginn jeder neuen Unternehmung fortriß, wollte er nicht länger warten, er zog mit nackten Beinen los, einfach eine Leinenjacke über seinen Badeanzug geworfen; und Pauline ging mit auf Erkundung, auch sie im Badeanzug, mit derben Schuhen an den Füßen, die sie sonst nur zum Krabbenfischen anzog. Als sie einen Kilometer von der Felsenküste
entfernt waren, mitten in dem noch von der zurückgehenden Flut rieselnden Algenfeld, brach die Begeisterung des jungen Mannes hervor, als entdecke er jetzt erst diese ungeheure Ernte von Meerespflanzen, durch die sie schon hundertmal zusammen gegangen waren. »Sieh doch, sieh!« rief er. »Da haben wir die Ware! Und man macht nichts daraus, und das wächst so bis zu mehr als hundert Meter Tiefe!« Dann nannte er ihr mit fröhlicher Genauigkeit die Arten: das zartgrüne Seegras, feinem Haar gleich, das sich bis ins Unendliche wie die Aufeinanderfolge weiter Rasenflächen ausbreitete; den Meerlattich mit den breiten, dünnen Salatblättern von graugrüner Durchsichtigkeit; den Sägetang, den Blasentang in so großer Menge, daß ihre Fülle gleich hohem Moos die Felsen bedeckte; und je weiter sie, dem zurückgehenden Wasser
folgend, hinausgingen, trafen sie auf Arten von größerem Wuchs und seltsamerem Aussehen, Riementang, vor allem Neptuns Wehrgehänge, jenen grünlichen Ledergürtel mit den gekräuselten Rändern, der für die Brust eines Riesen zugeschnitten scheint. »Hab ich nicht recht? Welch verlorener Reichtum!« begann er wieder. »Ist man dumm! In Schottland sind sie wenigstens so klug, den Meerlattich zu essen. Wir, wir machen Polstermaterial aus dem Seegras und verpacken den Fisch mit dem Tang. Das übrige ist Dünger von fraglicher Qualität, den man den Bauern an den Küsten überläßt ... Wenn man bedenkt, daß die Wissenschaft noch bei der vorsintflutlichen Methode ist, einige Karren voll davon zu verbrennen, um Soda daraus zu gewinnen!« Pauline, die bis zu den Knien im Wasser stand, war glücklich über diese salzige Frische. Im übrigen interessierten sie die Erklärungen ihres
Cousins ungemein. »Also«, fragte sie, »du wirst das alles destillieren?« Das Wort »destillieren« erheiterte Lazare sehr. »Ja, destillieren, wenn du so willst. Aber das ist äußerst kompliziert, du wirst sehen, meine Liebe ... Gleichviel, behalte gut meine Worte: Man hat die Vegetation auf dem Festland erobert, nicht wahr? Die Pflanzen, die Bäume, das, was wir benutzen, das, was wir essen. Nun gut! Vielleicht wird uns die Eroberung der Meeresvegetation an dem Tage, da man sich entschließt, sie in Angriff zu nehmen, noch reicher machen.« Von Eifer entflammt, sammelten beide indessen Proben. Sie beluden sich die Arme damit, sie gerieten so weit hinaus, daß sie, um wieder zurückzugelangen, bis zu den Schultern durchs Wasser mußten. Und die Erklärungen gingen weiter, der junge Mann wiederholte Aussprüche seines Lehrers Herbelin: das Meer
sei ein gewaltiges Reservoir chemischer Verbindungen; die Algen arbeiteten für die Industrie, indem sie in ihren Zellen die Salze kondensierten, die die Gewässer, in denen sie leben, in geringer Menge enthalten. Daher bestehe das Problem darin, auf wirtschaftliche Weise alle nützlichen Verbindungen aus diesen Algen zu gewinnen. Er sprach davon, daß man die Asche nehmen müsse, das handelsübliche Rohsoda; im Zustand der vollkommenen Reinheit müsse man dann die Kalium und Natriumbromide und jodide, das Glaubersalz, andere Salze wie Eisen und Mangansalz davon isolieren, so daß keinerlei Rückstände des Rohstoffes übrigblieben. Was ihn begeisterte, war die Hoffnung, dank der vom berühmten Herbelin gefundenen Kältemethode nicht eine einzige nützliche Substanz zu verlieren. Damit wäre ein gewaltiges Vermögen zu gewinnen. »Du lieber Gott! Wie seid ihr zugerichtet!« rief Frau Chanteau, als sie nach Hause kamen.
»Ärgere dich nicht«, entgegnete fröhlich Lazare und warf seinen Packen Algen mitten auf die Terrasse. »Da! Wir bringen dir Hundertsousstücke mit.« Am nächsten Tag holte der Karren eines Bauern aus Verchemont eine ganze Ladung Meerespflanzen, und die Untersuchungen begannen im großen Zimmer des zweiten Stockwerks. Pauline erhielt den Rang eines Präparators. Einen Monat lang herrschte eine rasende Leidenschaft, das Zimmer füllte sich schnell mit trockenen Pflanzen, mit Gläsern, in denen Algen schwammen, mit Instrumenten von wunderlichem Aussehen; ein Mikroskop nahm eine Ecke des Tisches ein, das Klavier verschwand unter Kesseln und Retorten, der Schrank selber krachte von Spezialwerken, von unaufhörlich zu Rate gezogenen Sammelbänden. Im übrigen ergaben die solchermaßen im kleinen, mit peinlicher Sorgfalt unternommenen Versuche ermutigende Ergebnisse. Die Kältemethode
führte zu der Entdeckung, daß gewisse Substanzen bei niedrigen, für die verschiedenen Substanzen unterschiedlichen Temperaturen auskristallisieren; und es handelte sich nur noch darum, die gewünschten Temperaturen zu erreichen und aufrechtzuerhalten: jede Substanz schied sich nach und nach ab, wurde von den anderen isoliert. Lazare verbrannte die Algen in einem Graben und kühlte dann die Aschenlauge mit Hilfe eines Kühlsystems, das auf der schnellen Verdampfung des Ammoniaks beruhte. Aber man mußte dieses Verfahren im großen ausführen, es aus dem Laboratorium in die Fabrik verlegen und die Apparate so gewinnbringend wie möglich arbeiten lassen. An dem Tag, da Lazare aus den Mutterlaugen bis zu fünf durchaus unterschiedliche Substanzen isoliert hatte, hallte das Zimmer von Triumphgeschrei wider. Es gab vor allem einen überraschenden Anteil von Kaliumbromid. Dieses Modeheilmittel würde
sich wie Brot verkaufen. Pauline, jungenhaft fröhlich wie früher, tanzte um den Tisch herum, lief dann plötzlich die Treppe hinab und stürzte ins Eßzimmer, wo ihr Onkel eine Zeitung las, während ihre Tante Servietten zeichnete. »Ha!« rief sie. »Ihr könnt ruhig krank sein, wir werden euch schon Bromid geben!« Frau Chanteau, die seit einiger Zeit an nervösen Zuständen litt, war von Doktor Cazenove Bromid verordnet worden. Sie lächelte und sagte: »Werdet ihr auch genug haben, um alle Welt zu heilen, da ja jetzt alle Welt mit den Nerven zerrüttet ist?« Das junge Mädchen mit den kräftigen Gliedern, dessen fröhliches Gesicht vor Gesundheit strotzte, breitete weit die Arme aus, als wollte es die Heilung in alle vier Himmelsrichtungen schleudern.
»Ja, ja, wir werden die Welt damit vollstopfen ... Aus ist es mit ihrer schweren Neurose!« Nachdem Lazare die Küste besichtigt, die Baustellen in Erwägung gezogen hatte, entschied er, daß er seine Fabrik an der Schatzbucht errichten würde. Alle Voraussetzungen waren dort gegeben: ein unendlicher Strand, der gleichsam mit flachen Steinen wie mit Fliesen ausgelegt war, was die Ernte der Algen erleichterte; günstigerer Transport auf der Landstraße von Verchemont, billiges Gelände, Rohstoffe gleich zur Hand, genügend große, doch nicht übermäßige Entfernung. Und Pauline scherzte über den Namen, den sie einst der Bucht wegen ihres feinen goldenen Sandes gegeben: Damals hatten sie nicht geglaubt, es so richtig getroffen zu haben, einen wahren »Schatz« würden sie jetzt im Meer finden. Die Anfänge waren großartig, glücklicher Kauf von zwanzigtausend Meter öden Heidelandes, die
Genehmigung des Präfekten, die sie nach einer Verzögerung von nur zwei Monaten erhalten. Schließlich machten sich die Arbeiter an den Bau. Boutigny war angekommen, ein sehr gewöhnlicher, rotgesichtiger kleiner Mann von ungefähr dreißig Jahren, der den Chanteaus sehr mißfiel. Er hatte es abgelehnt, in Bonneville zu wohnen, da er, wie er sagte, in Verchemont ein sehr bequemes Haus entdeckt habe; und die Familie verhielt sich noch kühler zu ihm, als sie erfuhr, daß er dort auch noch eine Frau untergebracht hatte, irgendeine Dirne, die er zweifellos aus einem verrufenen Pariser Haus mitgebracht hatte. Empört über diese provinzlerhaften Ansichten, zuckte Lazare die Achseln; diese Frau, eine Blondine, sei sehr nett und müsse wirklich aufopferungsvoll sein, wenn sie darein willigte, sich in dieser gottverlassenen Gegend zu vergraben; im übrigen ging er, Paulines wegen, nicht weiter darauf ein. Was man von Boutigny erwartete, war eine tatkräftige
Beaufsichtigung, eine kluge Organisation der Arbeit. Und darin erwies er sich als fabelhaft, war immer auf den Beinen, ein wirkliches Organisationstalent. Unter seinen Anweisungen wuchsen die Mauern zusehends empor. Jetzt war vier Monate hindurch, solange die Arbeiten an der Errichtung der Gebäude und an der Montage der Apparate dauerten, die Schatzfabrik, wie man sie schließlich nannte, ein tägliches Ausflugsziel. Frau Chanteau begleitete die Kinder nicht immer, Lazare und Pauline nahmen ihre Streifzüge von früher wieder auf. Nur Mathieu folgte ihnen, er wurde rasch müde, schleppte seine dicken Pfoten dahin und legte sich dort mit hängender Zunge und dem kurzen, keuchenden Atem eines Blasebalgs nieder. Er allein badete auch noch, stürzte sich ins Meer, wenn man einen Stock hineinschleuderte, den er klugerweise gegen die Wellen schnappte, um kein Salzwasser zu schlucken. Bei jeder
Besichtigung drängte Lazare die Unternehmer, während Pauline praktische, zuweilen äußerst treffende Überlegungen vorzubringen wagte. Lazare hatte die Apparate nach von ihm gezeichneten Plänen in Caen bestellen müssen, und es waren Arbeiter gekommen, sie zu montieren. Boutigny begann Befürchtungen zu äußern, als er die Kosten unaufhörlich ansteigen sah. Warum hatte man sich nicht zunächst mit den unbedingt notwendigen Sälen, mit den unerläßlichen Maschinen begnügt? Weshalb diese komplizierten Bauten, diese ungeheuren Apparate im Hinblick auf eine Ausbeutung, die man besser nach und nach erweitert hätte, wenn man sich über die Bedingungen der Herstellung und des Verkaufs gänzlich im klaren gewesen wäre? Lazare ereiferte sich. Er dachte immer in großen Dimensionen, er hätte den Schuppen gerne eine monumentale Fassade gegeben, die das Meer beherrschte und vor dem grenzenlosen Horizont die Größe seiner Idee
dartat. Dann ging die Besichtigung in einem Hoffnungsfieber zu Ende: Wozu mit dem Pfennig knausern, da man doch das Glück in Händen hielt? Und der Heimweg war sehr fröhlich, man erinnerte sich an Mathieu, der fortwährend zurückblieb. Pauline versteckte sich plötzlich mit Lazare hinter einer Mauer, und beide freuten sich wie die Kinder, wenn der Hund, verblüfft, sich allein zu sehen, und im Glauben, er habe sich verirrt, in komischer Bestürzung hin und her lief. Jeden Abend empfing sie zu Hause dieselbe Frage. »Nun? Geht es voran? Seid ihr zufrieden?« Und die Antwort war ebenfalls immer dieselbe. »Ja, ja ... Aber sie werden nicht fertig.« Das waren Monate vollkommener Innigkeit. Lazare bezeigte Pauline eine lebhafte Zuneigung, in die sich die Dankbarkeit für das
Geld mischte, das sie in sein Unternehmen gesteckt hatte. Nach und nach trat das Weibliche an ihr für ihn wieder zurück, er lebte neben ihr wie in Gesellschaft eines Jungen, eines jüngeren Bruders, dessen gute Eigenschaften ihn mit jedem Tage mehr rührten. Sie war so vernünftig, beseelt von so schönem Mut und so heiterer Güte, daß sie ihm schließlich eine uneingestandene Achtung einflößte, eine heimliche Ehrfurcht, gegen die er sich noch wehrte, indem er sie neckte. Ruhig hatte sie ihm von ihrer Lektüre erzählt, vom Entsetzen ihrer Tante angesichts der anatomischen Bildtafeln; und einen Augenblick war er überrascht und verlegen gewesen gegenüber diesem schon wissenden Mädchen mit seinen großen reinen Augen. Dann hatten sich ihre Beziehungen dadurch nur noch enger gestaltet, er nahm die Gewohnheit an, bei ihren gemeinsamen Untersuchungen, wenn sie ihm half, ungezwungen über alles zu sprechen: und das
in vollkommener wissenschaftlicher Einfachheit, das zutreffende Wort gebrauchend, als gäbe es kein anderes. Sie selber schnitt alle Fragen an und schien nichts anderes im Sinn zu haben als die Freude, zu lernen und ihm nützlich zu sein. Aber sie belustigte ihn oft, so viel Lücken hatte ihre Bildung, eine so außergewöhnliche Mischung von einander widerstreitenden Kenntnissen trat dabei zutage: die Hilfslehrerinnenideen ihrer Tante zum einen, der Lauf der Welt, wie er sich in der Beschränktheit der geschämigen Auffassung der Pensionate darstellt; zum anderen die genauen Fakten, die sie in den medizinischen Werken gelesen, die das Leben erklärenden physiologischen Wahrheiten über Mann und Frau. Wenn sie etwas Naives von sich gab, lachte er so sehr, daß sie wütend wurde: Täte er nicht besser daran, statt zu lachen, ihr ihren Irrtum zu erklären? Und meistens endete so der Streit mit einer Belehrung, als junger, über das Herkömmliche
erhabener Chemiker vervollständigte er ihre Bildung. Sie wußte zuviel, um nicht auch den Rest zu erfahren. Im übrigen vollzog sich ein langsames geistiges Wachstum, sie las immerzu, und nach und nach verknüpfte sie miteinander, was sie hörte, was sie sah, und blieb dennoch ehrerbietig gegenüber Frau Chanteau, deren wohlanständige Lügen sie auch weiterhin mit ernster Miene anhörte. Nur wenn sie mit Lazare in dem großen Zimmer war, wurde sie zum Jungen, zum Präparator, dem er zurief: »Sag, hast du dir diese Rotalge angesehen? Sie ist eingeschlechtig.« »Ja, ja«, erwiderte sie. »Männliche Organe in dicken Büscheln.« Dennoch stieg eine unbestimmte Verwirrung in ihr auf. Wenn Lazare sie bisweilen brüderlich anstieß, benahm es ihr für Sekunden den Atem, und ihr Herz klopfte heftig. Das Weib, das sie beide vergaßen,
erwachte in ihrem Fleische mit dem Drängen ihres Blutes. Eines Tages stieß er sie, als er sich umdrehte, aus Versehen mit dem Ellbogen. Sie schrie auf und fuhr sich mit den Händen an die Brust. Was denn? Hatte er ihr weh getan? Aber er hatte sie doch kaum berührt! Und mit einer unbefangenen Bewegung wollte er ihr Brusttuch auseinanderschieben, um nachzusehen. Sie war zurückgewichen, sie standen verwirrt, gezwungen lächelnd einander gegenüber. An einem anderen Tage weigerte sie sich während eines Versuchs, ihre Hände in kaltes Wasser zu tauchen. Er war verwundert, wurde ärgerlich: Warum? Was für eine sonderbare Laune? Wenn sie ihm nicht helfen wollte, konnte sie auch hinuntergehen. Als er sie erröten sah, begriff er dann, sah er sie mit erstauntem Gesicht an. Dieses kleine Mädchen, dieser jüngere Bruder war also tatsächlich ein Weib? Man konnte sie nicht berühren, ohne daß sie einen Klagelaut
ausstieß, man durfte nicht mehr an allen Tagen des Monats auf sie rechnen. Bei jedem neuen Vorfall gab es ein Verwundern, gleichsam eine unvorhergesehene Entdeckung, die sie in ihrer jungenhaften Kameradschaft beide in Verlegenheit brachte und erregte. Lazare schien darüber nur Ärger zu empfinden, es würde nicht mehr möglich sein, zusammen zu arbeiten, weil sie kein Mann war und ein Nichts sie aus der Fassung brachte. Was Pauline betraf, so blieb in ihr ein gewisses Unbehagen zurück, eine Bangigkeit, in der ein köstlicher Zauber aufkeimte. Von diesem Augenblick an entstanden in dem jungen Mädchen Empfindungen, über die sie zu niemand sprach. Sie log nicht, sie schwieg nur aus ängstlichem Stolz und auch aus Scham. Mehrmals glaubte sie, sie sei leidend, stehe vor dem Ausbruch einer schweren Erkrankung, denn sie legte sich mit Fieber zu Bett, ausgebrannt von Schlaflosigkeit, gänzlich fortgerissen von dem dumpfen Aufruhr des
Unbekannten, das über sie herfiel; am Tage dann war sie nur wie zerschlagen, beklagte sie sich nicht einmal ihrer Tante gegenüber. Hinzu kamen jähe Hitzewallungen, eine nervöse Erregung, unvermutete Gedanken, die sie gleich darauf empörten, und vor allem Träume, aus denen sie aufgebracht gegen sich selber hervorging. Ihre Lektüre, diese leidenschaftlich durchbuchstabierte Anatomie und Physiologie hatten ihr eine so große körperliche Jungfräulichkeit erhalten, daß sie bei jeder Erscheinung in kindliche Betroffenheit zurückfiel. Dann beruhigte sie folgende Überlegung: Sie war kein Sonderfall, sie mußte darauf gefaßt sein, zu sehen, wie dieser für die anderen geschaffene Mechanismus des Lebens sich in ihr selber entfaltete. Eines Abends nach dem Essen äußerte sie ihre Ansicht über den Unsinn der Träume: War es nicht ärgerlich, wehrlos auf dem Rücken zu liegen, eine Beute wunderlicher Vorstellungen? Und vor allem
schien sie das Sterben des Willens im Schlaf, das völlige Preisgegebensein ihrer Person aufzubringen. Ihr Cousin mit seinen pessimistischen Theorien griff ebenfalls die Träume an, weil sie das vollkommene Glück des Nichts störten, während ihr Onkel Unterschiede machte, die angenehmen Träume liebte, die Alpträume des Fiebers verabscheute. Aber sie blieb so hartnäckig dabei, daß Frau Chanteau sie verwundert fragte, was sie denn in der Nacht sähe. Da stammelte sie: Nichts, widersinniges Zeug, zu unbestimmte Dinge, als daß man die Erinnerung daran bewahren könne. Und sie log noch immer nicht, ihre Träume verliefen in einem Zwielicht, Erscheinungen streiften sie, ihr weibliches Geschlecht erwachte zum sinnlichen Leben, ohne daß jemals ein deutliches Bild die Empfindung genau erkennen ließ. Sie sah niemand, sie konnte an eine Liebkosung des Seewindes glauben, der im Sommer durch das geöffnete Fenster
hereinwehte. Indessen schien Paulines große Zuneigung für Lazare mit jedem Tag glühender zu werden; und in ihrer siebenjährigen brüderlichen Kameradschaftlichkeit war dies nicht allein das instinktive Erwachen des Weibes, sie hatte auch das Bedürfnis, sich aufzuopfern, ein Trugbild zeigte ihn ihr als den Klügsten und Stärksten. Langsam wurde aus dieser Brüderlichkeit Liebe mit dem köstlichen Gestammel aufkeimender Leidenschaft, mit klangvoll schauerndem Lachen, mit verstohlenen und nachdrücklichen Berührungen, der ganze verzauberte Aufbruch nach dem Land der reinen Zärtlichkeiten unter dem Peitschenhieb des Geschlechtstriebes. Er, der durch seine Ausschweifungen im Quartier Latin geschützt und nicht mehr neugierig war, sah weiterhin in ihr eine Schwester, die sein Begehren nicht streifte. Sie hingegen, die noch unberührt war, betete ihn nach und nach an in dieser Einsamkeit, darin sie niemand fand als
ihn, und gab sich völlig hin. Wenn sie vom Morgen bis zum Abend zusammen waren, schien sie nur von seiner Gegenwart zu leben; voller Eifer, ihm zu dienen, suchte sie mit ihren Augen die seinen. Um diese Zeit wunderte sich Frau Chanteau über Paulines Frömmigkeit. Zweimal sah sie sie zur Beichte gehen. Dann schien das junge Mädchen plötzlich Abbé Horteur zu meiden; sie weigerte sich sogar an drei Sonntagen, zur Messe zu gehen, und ging nur wieder dorthin, um ihrer Tante keinen Kummer zu bereiten. Im übrigen sprach sie sich nicht aus, sie war wohl verletzt worden durch die Fragen und Bemerkungen des Pfarrers mit seiner plumpen Ausdrucksweise. Und jetzt erriet Frau Chanteau mit dem Spürsinn einer leidenschaftlichen Mutter Paulines wachsende Liebe. Sie schwieg jedoch und sprach nicht einmal zu ihrem Mann darüber. Dieses verhängnisvolle Ereignis überraschte sie, denn bis dahin war eine mögliche Liebe, vielleicht
gar eine Heirat, nicht in ihren Plänen vorgesehen. Wie Lazare hatte auch sie ihr Mündel immer weiter als kleines Mädchen behandelt, und sie wollte nachdenken, sie nahm sich vor, ein Auge auf die beiden zu haben, tat jedoch nichts dergleichen, denn sie scherte sich im Grunde wenig um das, was nicht das Vergnügen ihres Sohnes ausmachte. Die heißen Augusttage waren gekommen, der junge Mann bestimmte eines Abends, daß man am folgenden Tage auf dem Wege zur Fabrik baden würde. Von ihren Vorstellungen über die Schicklichkeit gequält, begleitete die Mutter sie trotz der glühenden Nachmittagssonne. Sie setzte sich neben Mathieu auf die brennendheißen Kiesel, suchte Schutz unter ihrem Sonnenschirm, unter den auch der Hund seinen Kopf stecken wollte. »Na, wohin geht sie denn?« fragte Lazare, als er Pauline halb hinter einem Felsen verschwinden sah.
»Sie will sich ausziehen, du liebe Güte!« sagte Frau Chanteau. »Dreh dich um, du bringst sie in Verlegenheit, das schickt sich nicht.« Er blieb sehr verwundert stehen, sah noch einmal zum Felsen hin, wo ein weißer Hemdzipfel flatterte, blickte wieder auf seine Mutter, drehte sich dann endlich um und zog sich selber ganz schnell aus, ohne noch ein Wort hinzuzufügen. »Sind wir soweit?« rief er schließlich. »Was sollen diese Umstände! Machst du dich denn besonders schön?« Leichtfüßig kam Pauline herbeigelaufen, mit einem allzu fröhlichen Lachen, aus dem man ein wenig Verlegenheit heraushörte. Seit Lazares Rückkehr hatten sie nicht zusammen gebadet. Sie trug einen aus einem Stück gefertigten Badeanzug, der in der Taille von einem Gürtel zusammengehalten wurde und die Hüften hervortreten ließ. Mit den geschmeidigen Lenden, der hohen Büste
wirkte sie schlanker und glich einer florentinischen Marmorstatue. Ihre nackten Arme und Beine, ihre kleinen Füße in den Sandalen waren kindlich weiß geblieben. »Na?« begann Lazare wieder. »Schwimmen wir bis zu den Picochets?« »Sicher, bis zu den Picochets«, erwiderte sie. Frau Chanteau rief: »Entfernt euch nicht zu weit ... Ihr macht mir immer angst!« Doch sie waren schon im Wasser. Die Picochets, eine Gruppe von Felsen, von denen einige auch bei Flut aus den Wogen ragten, waren etwa einen Kilometer entfernt. Und sie schwammen beide nebeneinander, ohne Hast, wie zwei Freunde, die zu einem Spaziergang auf einem schönen, ganz geraden Weg aufgebrochen sind. Zunächst war Mathieu ihnen gefolgt; als er sie dann immer weiter schwimmen sah, war er umgekehrt, hatte sich
geschüttelt und Frau Chanteau bespritzt. Unnütze Heldentaten waren seiner Faulheit zuwider. »Du bist vernünftig«, sagte die alte Dame. »Darf man denn, weiß Gott, sein Leben so aufs Spiel setzen?« Sie unterschied kaum Lazares und Paulines Köpfe, die wie Seegrasbüschel auf den Wellen dahintrieben. Das Meer hatte eine ziemlich starke Dünung; von weichen Wellenbewegungen gewiegt, kamen sie voran, sie sprachen ruhig über die Algen, die in der Durchsichtigkeit des Wassers unter ihnen dahinglitten. Pauline, die müde war, ließ sich auf dem Rücken treiben, das Gesicht zum Himmel gewandt, tief in all diesem Blau verloren. Diese See, die sie wiegte, war ihre große Freundin geblieben. Sie liebte ihren herben Odem, ihre eisige, keusche Flut, sie überließ sich ihr, war glücklich, ihr unendliches Fließen an ihrem eigenen Fleisch
zu spüren, und genoß die Freude an dieser ungestümen Bewegung, die die Schläge ihres Herzens regelte. Doch sie stieß einen leisen Schrei aus. »Was hast du denn?« fragte Lazare besorgt. »Ich glaube, mein Mieder ist gerissen ... Ich habe den linken Arm zu straff ausgestreckt.« Und beide scherzten, Pauline hatte langsam wieder zu schwimmen begonnen, sie lachte mit verlegenem Lachen, als sie das Mißgeschick feststellte: Die Achselnaht hatte nachgegeben, die ganze Schulter und die Brust waren entblößt. Der junge Mann, sehr ausgelassen, sagte zu ihr, sie solle doch in ihren Taschen nachsehen, ob sie nicht Stecknadeln bei sich habe. Indessen waren sie bei den Picochets angekommen, er stieg auf einen Felsen, wie sie es gewohnt waren, um wieder Atem zu schöpfen, bevor sie an Land zurückkehrten. Sie schwamm noch immer um
die Klippe herum. »Du steigst nicht herauf?« »Nein, ich fühle mich hier wohl.« Er glaubte, das sei eine Laune von ihr, und ärgerte sich. War das vernünftig? Ihre Kräfte konnten beim Zurückschwimmen versagen, wenn sie sich nicht einen Augenblick ausruhte. Doch sie blieb eigensinnig, antwortete nicht einmal mehr, schwamm mit leisem Geplätscher, bis zum Kinn im Wasser, das das nackte Weiß ihrer Schulter bedeckte und verschwommen und milchig wie das Perlmutt einer Muschelschale hindurchschimmern ließ. Der Felsen war nach dem offenen Meer hin zu einer Art Grotte ausgehöhlt, in der sie früher angesichts des freien Horizontes Robinson gespielt hatten. Auf der anderen Seite, am Strand, hob sich Frau Chanteau schwarz und verloren ab wie ein winziges Insekt. »Verdammter Dickkopf, los!« rief schließlich
Lazare und stürzte sich wieder ins Meer. »Wenn du Wasser schluckst, laß ich dich ruhig schlucken, Ehrenwort!« Langsam schwammen sie wieder zurück. Sie schmollten, sie sprachen nicht mehr miteinander. Als er hörte, wie sie außer Atem geriet, sagte er ihr, sie solle wenigstens auf dem Rücken schwimmen und sich so ausruhen. Sie schien nicht zu verstehen. Der Riß wurde größer; bei der geringsten Bewegung, sich umzudrehen, wäre ihre Brust an die Wasseroberfläche emporgetaucht, gleich dem Blühen der in der Tiefe wachsenden Algen. Jetzt begriff er zweifellos; und da er ihre Erschöpfung bemerkte, da er spürte, daß sie niemals den Strand erreichen würde, schwamm er entschlossen näher, um sie zu stützen. Sie wollte sich wehren, wollte allein weiterschwimmen; dann mußte sie sich ihm überlassen. Sie lag in seinen Armen, und eng aneinandergepreßt, kamen sie an Land.
Entsetzt war Frau Chanteau herbeigelaufen, während Mathieu heulend bis zum Bauch in den Wellen stand. »Mein Gott! Was für eine Unbesonnenheit! Ich sagte es ja, ihr würdet zu weit hinausschwimmen!« Pauline war ohnmächtig geworden. Lazare trug sie wie ein Kind auf den Sand; und sie blieb an seiner Brust liegen, war jetzt halb nackt, und sie trieften beide von Salzwasser. Aber es dauerte nicht lange, da seufzte sie und schlug die Augen auf. Als sie den jungen Mann erkannte, brach sie in heftiges Schluchzen aus, erstickte sie ihn fast in einer nervösen Umarmung und drückte ihm aufs Geratewohl einen herzhaften Kuß auf sein Gesicht. Das geschah gleichsam unbewußt, im freien Aufwallen ihrer Liebe, das aus dieser Todesgefahr hervorging. »Oh, wie gut du bist, Lazare! Oh, wie lieb ich dich habe!«
Er war ganz erschüttert vom Ungestüm dieses Kusses. Als Frau Chanteau sie wieder ankleidete, entfernte er sich von selbst. Die Rückkehr nach Bonneville war lieblich und mühsam zugleich, beide waren vor Müdigkeit wie zerschlagen. Zwischen ihnen ging die Mutter und überlegte, daß es an der Zeit sei, einen Entschluß zu fassen. Andere Sorgen bewegten die Familie. Die Schatzfabrik war errichtet, man probierte seit acht Tagen die Apparate aus, die jämmerliche Ergebnisse zeitigten. Lazare mußte sich eingestehen, daß er einige Stücke schlecht berechnet hatte. Er begab sich nach Paris, um seinen Meister Herbelin um Rat zu fragen, und kehrte verzweifelt wieder zurück: Alles mußte von vorn begonnen werden, der große Chemiker hatte seine Methode bereits vervollkommnet, was eine vollständige Umstellung der Apparate bedingte. Inzwischen waren die sechzigtausend Francs verschlungen, Boutigny weigerte sich, auch
nur einen Sou mehr hineinzustecken; vom Morgen bis zum Abend sprach er mit der unerträglichen Beharrlichkeit des triumphierenden Praktikers in bitterem Ton über diese Geldverschwendung. Lazare hatte nicht übel Lust, ihn zu verprügeln. Er hätte vielleicht alles aufgegeben, wäre nicht die Angst gewesen, die ihn bei dem Gedanken beschlich, Paulines dreißigtausend Francs in diesem Abgrund zu lassen. Seine Redlichkeit, sein Stolz empörten sich: Das war unmöglich, er mußte Geld auftreiben, man konnte ein Geschäft, das später Millionen einbringen würde, nicht so einfach preisgeben. »Bleib nur ruhig«, sagte seine Mutter immer wieder, als sie sah, daß er vor Ungewißheit krank war. »So weit sind wir noch nicht, daß wir nicht wissen, wo wir ein paar Tausendfrancsscheine hernehmen sollen.« Frau Chanteau brütete einen Plan aus. Nachdem sie der Gedanke an eine Heirat
zwischen Lazare und Pauline zunächst überrascht hatte, schien er ihr jetzt annehmbar. Sie waren schließlich nur neun Jahre auseinander, ein Altersunterschied, der jederzeit gebilligt wurde. Brachte das nicht die Dinge ins reine? Lazare würde hinfort für seine Frau arbeiten, er würde sich um seine Schulden keine Sorgen mehr machen, er würde sogar von Pauline die Summe leihen, die er brauchte. Verworren regten sich in Frau Chanteau sehr wohl Bedenken, die Furcht vor einer schließlichen Katastrophe, vor dem Ruin ihres Mündels. Allein sie schob den Gedanken an einen solchen Ausgang als unmöglich beiseite: War Lazare nicht genial? Er würde Pauline reich machen, sie machte dabei ein gutes Geschäft. Mochte ihr Sohn auch arm sein, er war ein Vermögen wert, wenn sie ihn hergab. Die Heirat wurde auf höchst einfache Weise beschlossen. Eines Morgens fragte die Mutter in seinem Zimmer das junge Mädchen, das
sogleich mit lächelnder Ruhe sein Herz ausschüttete. Dann veranlaßte sie Pauline, ein wenig Müdigkeit vorzuschützen, und begleitete am Nachmittag ihren Sohn allein zur Fabrik. Als sie ihm auf dem Heimweg ihren Plan ausführlich auseinandersetzte, wie sehr die kleine Cousine ihn liebe, wie passend eine solche Heirat sei, wie vorteilhaft für jeden von ihnen, schien er zunächst verblüfft. Niemals hatte er daran gedacht, wie alt war denn das Kind eigentlich? Dann war er ganz bewegt. Gewiß, er hatte sie auch gern, er würde tun, was man von ihm verlangte. Als sie heimkamen, deckte Pauline, um sich zu beschäftigen, gerade den Tisch, während ihr Onkel eine Zeitung auf den Knien hielt und Minouche betrachtete, die sich behutsam den Bauch leckte. »Nun also, wie steht's, wir heiraten?« Lazare verbarg seine Bewegung hinter diesen lärmend heiteren Worten.
Hochrot und unfähig, ein Wort zu sagen, war Pauline mit einem Teller in der Hand stehengeblieben. »Wer heiratet?« fragte der Onkel, als fahre er aus dem Schlaf auf. Seine Frau hatte ihn zwar am Morgen verständigt; doch die genießerische Art, in der die Katze sich mit der Zunge über das Fell fuhr, nahm ihn völlig in Anspruch. Er erinnerte sich aber sogleich. »Ach ja!« rief er. Und er sah die jungen Leute mit einem schalkhaften Blick an, während sich sein Mund bei einem schmerzhaften Stechen im rechten Fuß krampfhaft verzog. Pauline hatte vorsichtig den Teller hingestellt. Schließlich entgegnete sie Lazare: »Wenn du willst, ich, ich will schon.« »Nun denn, abgemacht, gebt euch einen Kuß«,
sagte abschließend Frau Chanteau und hängte ihren Strohhut an den Haken. Das junge Mädchen ging mit ausgestreckten Händen auf Lazare zu. Immer noch lachend, nahm er sie in seine Arme und neckte sie. »Von deiner Puppe willst du wohl nichts mehr wissen? Deshalb bist du eine solche Geheimniskrämerin geworden, daß man dir nicht einmal mehr zusehen darf, wenn du dir die Fingerspitzen wäschst! Und ausgerechnet den armen Lazare hast du dir zum Opfer erwählt?« »Oh, Tante, sag ihm, er soll schweigen, oder ich laufe davon!« murmelte sie verwirrt und suchte sich loszumachen. Langsam zog er sie an sich, er spielte noch mit ihr wie zur Zeit ihrer Schuljungenkameradschaft; und unversehens drückte sie ihm einen schallenden Kuß auf die Wange, den er ihr auf gut Glück auf ein Ohr
wiedergab. Dann schien ein uneingestandener Gedanke ihn trübe zu stimmen, er fügte mit trauriger Stimme hinzu: »Einen sonderbaren Handel schließt du da ab, mein armes Kind! Wenn du wüßtest, wie alt ich im Grunde bin! Immerhin, da du mich nun einmal haben willst!« Beim Abendessen ging es hoch her. Sie redeten alle zugleich, sie schmiedeten Zukunftspläne, als wären sie zum ersten Mal beisammen. Véronique, die mitten bei der Verlobungsszene hereingekommen war, schlug die Küchentür zu, ohne ein Wort zu sagen. Beim Nachtisch wurden endlich die ernsten Fragen erörtert. Die Mutter erklärte, daß die Hochzeit erst in zwei Jahren stattfinden könne: Sie wollte das gesetzliche Alter der Volljährigkeit abwarten, man sollte ihr nicht vorwerfen können, sie habe mit Hilfe ihres Sohnes einen Druck auf ein zu junges Kind ausgeübt. Diese Frist von zwei Jahren
versetzte Pauline in Bestürzung; aber die Rechtschaffenheit ihrer Tante rührte sie sehr, sie stand auf, um sie zu umarmen. Ein Datum wurde festgesetzt, die jungen Leute würden sich gedulden, und während sie sich geduldeten, würden sie die ersten Taler von den künftigen Millionen verdienen. Die Geldfrage wurde solcherart in einem edlen Aufschwung behandelt. »Nimm alles aus dem Schubfach, Tante«, sagte das junge Mädchen immer wieder. »Alles, was er will, wahrhaftig! Es gehört ihm jetzt ebenso wie mir.« Frau Chanteau erhob Einspruch: »Nein, nein, es wird nicht ein Sou unnötig herausgenommen ... Du weißt, daß man Vertrauen zu mir haben kann, eher ließe ich mir die Hand abhacken ... Ihr braucht zehntausend Francs da unten: Ich gebe euch die zehntausend Francs und schließe dann doppelt wieder zu. Das Geld ist unantastbar.«
»Mit zehntausend Francs«, sagte Lazare, »bin ich des Erfolges sicher ... Die großen Ausgaben sind gemacht, es wäre ein Verbrechen, den Mut zu verlieren. Ihr werdet schon sehen, ihr werdet schon sehen ... Und dich, mein Liebling, dich will ich am Tage unserer Hochzeit in ein goldenes Gewand kleiden wie eine Königin.« Die Freude wurde durch die unerwartete Ankunft von Doktor Cazenove noch erhöht. Er hatte soeben einen Fischer verbunden, der sich die Finger unter einem Boot zerquetscht hatte; und man ließ ihn nun nicht weg, man nötigte ihn, eine Tasse Tee zu trinken. Die große Neuigkeit schien ihn nicht zu überraschen. Allein als er die Chanteaus über die Ausbeutung der Algen schwärmen hörte, sah er Pauline mit beunruhigtem Ausdruck an und murmelte: »Zweifellos ist der Gedanke sinnvoll, man kann einen Versuch machen. Aber Zinsen aus
Wertpapieren zu haben ist doch sicherer. An eurer Stelle würde ich mich gleich in meinen kleinen Winkel zurückziehen und dort glücklich sein ...« Er unterbrach sich, als er sah, wie ein Schatten die Augen des jungen Mädchens trübte. Die lebhafte Zuneigung, die er für Pauline empfand, bewog ihn, gegen seine Überzeugung fortzufahren: »Oh! Das Geld hat auch sein Gutes, verdient nur recht viel ... Und wißt ihr, ich werde auf eurer Hochzeit tanzen. Ja, ich werde den Zambuco der Karaiben13 tanzen, den ihr nicht kennt, das möchte ich wetten ... So, beide Hände wie Windmühlenflügel, und dazu klatscht man sich auf die Schenkel, und rundherum geht's um den Gefangenen, wenn er gebraten ist und die Weiber ihn zerlegen.« Die Monate flossen weiter dahin. Jetzt hatte Pauline ihre lächelnde Ruhe wiedergefunden, nur die Ungewißheit lastete auf ihrer freimütigen Natur. Das Geständnis ihrer Liebe, das für die Hochzeit festgesetzte Datum
schienen sogar die Unruhe ihres Fleisches besänftigt zu haben; und sie nahm ohne fieberhafte Erregung das Blühen des Lebens hin, dieses langsame Erblühen ihres Leibes, diese rote Woge ihres Blutes, die sie einen Augenblick lang am Tage gequält und ihr in der Nacht Gewalt angetan hatte. War das nicht das gemeingültige Gesetz? Man mußte heranwachsen, um zu lieben. Im übrigen änderten sich ihre Beziehungen zu Lazare kaum, beide führten ihr Leben in gemeinsamer Arbeit weiter: er unaufhörlich geschäftig, vor einem plötzlichen Ausbruch des Begehrens durch seine Abenteuer in Stundenhotels gewarnt; sie so schlicht, so aufrecht in ihrer Ruhe eines wissenden und unberührten Mädchens, daß sie gleichsam geschützt war durch eine doppelte Rüstung. Manchmal jedoch faßten sie sich mitten in dem vollgestopften großen Zimmer bei den Händen und lachten einander zärtlich an. Bald berührte sich beim gemeinsamen Blättern in einem
Handbuch der Algenkunde ihr Haar; oder sie lehnten sich einen Augenblick aneinander, wenn sie ein purpurnes Bromfläschchen, eine blaßviolette Jodprobe untersuchten; oder sie beugte sich auch neben ihm über die Instrumente, die in Mengen auf dem Tisch und dem Klavier herumstanden; sie rief ihn, damit er sie bis zum obersten Brett des Schrankes emporhebe. Doch in diesen stündlichen Berührungen lag nichts als die erlaubte Liebkosung, die ebensogut unter großelterlichen Augen ausgetauscht werden konnte, eine gute, kaum von einem Anflug sinnlicher Freude erwärmte Freundschaft zwischen Cousin und Cousine, die sich eines Tages heiraten sollen. Sie waren, wie Frau Chanteau sagte, wirklich vernünftig. Als Louise kam und sich mit dem niedlichen Frätzchen eines gefallsüchtigen Mädchens zwischen sie stellte, schien Pauline nicht einmal mehr eifersüchtig. So ging ein ganzes Jahr dahin. Die Fabrik
arbeitete jetzt, und vielleicht schützte sie gerade der Verdruß, den diese ihnen bereitete. Nach einer schwierigen Neuaufstellung der Apparate schienen die ersten Ergebnisse ausgezeichnet zu sein; zweifellos war der Gewinn noch bescheiden, aber wenn man die Methode vervollkommnete, wenn man Sorgfalt und Tatkraft verdoppelte, mußte man eine ungeheure Produktion erreichen. Boutigny hatte bereits ausgedehnte, sogar zu ausgedehnte Absatzmöglichkeiten geschaffen. Das Glück schien ihnen gewiß. Und von nun an machte diese Hoffnung sie starrköpfig, sie schlugen die Warnungen vor dem Ruin in den Wind, die Fabrik war wie ein gähnender Schlund, in den sie mit vollen Händen das Geld hineinwarfen, immer in der Überzeugung, daß sie es auf dem Grunde als Goldbarren wiederfinden würden. Jedes neue Opfer machte sie nur noch besessener. Frau Chanteau entnahm die ersten Male dem Schubfach des Sekretärs keine Summe, ohne
Pauline davon in Kenntnis zu setzen. »Am Sonnabend sind Zahlungen zu leisten, mein Kind, euch fehlen dreitausend Francs ... Kommst du mit hinauf, um ein Wertpapier auszuwählen, das wir verkaufen wollen?« »Aber du kannst es doch allein auswählen«, erwiderte das junge Mädchen. »Nein, du weißt, daß ich nichts ohne dich tue. Das ist dein Geld.« Dann lockerte sich allmählich Frau Chanteaus strenge Rechtlichkeit. Eines Abends gestand ihr Lazare eine Schuld, die er Pauline verheimlicht hatte: fünftausend Francs für Kupferrohre, die man nicht einmal gebraucht hatte. Und da die Mutter gerade mit dem jungen Mädchen an dem Schubfach gewesen war, ging sie noch einmal allein dahin zurück; in Anbetracht der Verzweiflung ihres Sohnes nahm sie die fünftausend Francs heraus, hatte allerdings den festen Vorsatz, sie beim ersten
Gewinn wieder zurückzulegen. Doch von diesem Tage an war die Bresche geschlagen, es wurde ihr zur Gewohnheit, sie griff hinein, ohne zu rechnen. Im übrigen fand sie bei ihrem Alter diese ständige Abhängigkeit vom guten Willen eines kleinen Mädchens auf die Dauer unerträglich und wurde deshalb innerlich auf Pauline allmählich böse. Man würde ihr ihr Geld schon wiedergeben; wenn es ihr auch gehörte, war das noch längst kein Grund, daß man sich keinen Schritt mehr gestatten konnte, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen. Seitdem sie in den Wertpapieren im Schubfach ein Loch gemacht hatte, verlangte sie nicht mehr, daß Pauline sie begleitete. Pauline empfand das als eine Erleichterung; denn trotz ihres guten Herzens waren ihr die Gänge zum Sekretär peinlich: Ihre Vernunft warnte sie vor einer Katastrophe, die kluge Sparsamkeit ihrer Mutter begehrte auf in ihr. Zunächst wunderte sie sich über Frau Chanteaus Schweigen, sie
spürte wohl, daß das Geld dennoch zerrann und daß man sie einfach überging. Dann war es ihr so lieber. Zumindest hatte sie nicht den Verdruß, sehen zu müssen, wie der Haufen Wertpapiere jedesmal kleiner wurde. Es gab nunmehr zwischen ihnen beiden zu gewissen Stunden nur noch einen raschen Austausch von Blicken: den festen und besorgten Blick der Nichte, wenn sie eine neue Entnahme erriet; den flackernden Blick der Tante, die gereizt war, daß sie den Kopf abwenden mußte. Es war gleichsam gärender Haß, der in ihr aufkeimte. Unglücklicherweise wurde in jenem Jahr über Davoine das Konkursverfahren eröffnet. Dieses Unheil hatte man kommen sehen, nichtsdestoweniger war es ein schrecklicher Schlag für die Chanteaus. Es blieben ihnen nur noch ihre dreitausend Francs Jahreszinsen. Alles, was sie aus dem Zusammenbruch retten konnten, ungefähr zwölftausend Francs, wurde sofort angelegt, und so kamen sie alles in
allem auf dreihundert Francs im Monat. Daher mußte Frau Chanteau schon in der zweiten Monatshälfte fünfzig Francs von Paulines Geld nehmen: der Fleischer aus Verchemont wartete mit seiner Rechnung, man konnte ihn nicht fortschicken. Dann waren es hundert Francs für den Kauf eines Waschkessels, ja sogar zehn Francs für Kartoffeln und fünfzig Sous für Fische. Es war so weit mit ihr gekommen, daß sie mit beschämend kleinen Summen von einem Tag zum anderen für Lazare und die Fabrik aufkam; und sie sank noch tiefer, bis zu den Centimes für den Haushalt, bis zu den jämmerlich bezahlten Läpperschulden. Gegen Monatsende vor allem sah man sie unaufhörlich mit verstohlenem Schritt verschwinden und gleich darauf wiederkommen, die Hand in der Tasche, aus der sie nur mit Überwindung die Sous für eine Rechnung einzeln hervorholte. Das war nun zur Gewohnheit geworden, Frau Chanteau bestritt schließlich das ganze Leben aus dem
Schubfach des Sekretärs, denn sie wurde fortgerissen und leistete keinen Widerstand mehr. Doch wenn sie in ihrer Besessenheit immer wieder dorthin zurückkehrte, stieß das Möbelstück, wenn sie die Klappe herunterließ, einen leisen Schrei aus, der sie nervös machte. Was für ein alter Kasten! Wenn man bedachte, daß sie sich niemals einen anständigen Schreibtisch hatte kaufen können! Dieser ehrwürdige Sekretär, der, mit einem Vermögen vollgestopft, dem Hause zuerst ein Ansehen von Fröhlichkeit und Reichtum verliehen hatte, richtete jetzt darin Verheerungen an, war gleichsam die mit allen Plagen vergiftete Büchse der Pandora, ließ das Unheil aus allen Ritzen dringen. Eines Abends kam Pauline vom Hof herein und rief: »Der Bäcker! ... Wir sind ihm für drei Tage das Geld schuldig, zwei Francs fünfundachtzig.«
Frau Chanteau wühlte in allen Taschen. »Ich muß nach oben gehen«, murmelte sie. »Bleib doch«, sagte das junge Mädchen unbesonnen, »ich werde hinaufgehen ... Wo ist dein Geld?« »Nein, nein, du würdest es nicht finden ... es liegt irgendwo ...« Die Tante stammelte, und beide tauschten den stummen Blick, der sie erbleichen ließ. Ein peinliches Zögern entstand, dann ging Frau Chanteau, ganz kalt vor verhaltener Wut, nach oben und fühlte ganz deutlich, daß ihr Mündel wußte, wo sie die zwei Francs fünfundachtzig hernehmen würde. Warum auch hatte sie ihr so oft das im Schubfach schlummernde Geld gezeigt? Ihre geschwätzige Redlichkeit von früher erbitterte sie jetzt, diese Kleine folgte ihr sicher in Gedanken, sah, wie sie das Schubfach öffnete, durchwühlte und wieder schloß. Als sie wieder heruntergekommen war
und den Bäcker bezahlt hatte, brach ihr Zorn gegen das Mädchen los. »Na, dein Kleid sieht ja sauber aus! Wo kommst du denn her? Wie? Du hast wohl Wasser für den Gemüsegarten geschöpft? Laß doch bloß Véronique ihre Arbeit tun. Ich wette, du machst dich absichtlich schmutzig, du scheinst nicht zu wissen, wie teuer alles ist ... Dein Kostgeld ist nicht so reichlich, ich komme damit nicht mehr aus ...« Und sie redete weiter. Pauline, die zuerst versucht hatte, sich zu verteidigen, hörte jetzt wortlos zu, und ihr war schwer ums Herz. Seit einiger Zeit liebte ihre Tante sie immer weniger, das fühlte sie wohl. Als sie mit Véronique wieder allein war, weinte sie; und das Hausmädchen begann mit den Kochtöpfen herumzuklappern, um nicht Partei ergreifen zu müssen. Véronique schimpfte zwar noch immer auf das junge Mädchen; aber es zeigte sich jetzt in ihrer Rauhbeinigkeit hin und
wieder ein Erwachen von Gerechtigkeit. Der Winter kam, Lazare verlor den Mut. Wieder einmal war seine Leidenschaft verraucht, die Fabrik widerte ihn an und erfüllte ihn mit Entsetzen. Im November packte ihn die Angst angesichts einer neuerlichen Geldverlegenheit. Er hatte schon andere überwunden, doch bei dieser zitterte er, verzweifelte an allem, erhob Beschuldigungen gegen die Wissenschaft. Sein Gedanke von der Nutzung der Algen sei blödsinnig; mochte man auch die Methoden vervollkommnen, man würde der Natur doch niemals entreißen, was sie nicht hergeben wollte; und er zog vernichtend sogar über seinen Lehrer her, den berühmten Herbelin, der, nachdem er auf einer Reise aus Gefälligkeit einen Umweg gemacht, um die Fabrik zu besichtigen, verlegen vor den Apparaten gestanden hatte, die, wie er sagte, vielleicht zu groß angelegt waren, um ebenso zuverlässig zu arbeiten wie die kleinen Apparate in seinem Studierzimmer. Kurz und
gut, der Versuch schien gemacht, die Wahrheit aber war, daß man bei diesen Kältereaktionen noch nicht das Mittel gefunden hatte, die für die Kristallisation der Substanzen notwendigen niedrigen Temperaturen auf dem gewünschten Grad zu halten. Lazare gewann wohl aus den Algen eine gewisse Menge von Kaliumbromid; da es ihm in der Folge jedoch nicht gelang, die vier oder fünf anderen Substanzen genügend zu isolieren, die er zum Abfall werfen mußte, führte der Betrieb zum völligen Zusammenbruch. Er war krank davon, er erklärte sich für besiegt. An dem Abend, da Frau Chanteau und Pauline ihn anflehten, sich zu beruhigen, eine letzte Anstrengung zu unternehmen, gab es einen schmerzlichen Auftritt, verletzende Worte, Tränen, Türen, die mit solcher Helligkeit zugeschlagen wurden, daß Chanteau verstört in seinem Sessel in die Höhe fuhr. »Ihr bringt mich noch um!« schrie der junge Mann und schloß sich, von einer kindlichen
Verzweiflung aus der Fassung gebracht, doppelt ein. Am nächsten Morgen brachte er beim Frühstück ein mit Zahlen bedecktes Blatt Papier mit. Man hatte schon fast hunderttausend Francs von Paulines hundertachtzigtausend Francs aufgezehrt. War es vernünftig, so weiterzumachen? Alles würde dabei draufgehen; und seine Angst vom Abend zuvor ließ ihn von neuem erbleichen. Im übrigen gab seine Mutter ihm jetzt recht; niemals hatte sie sich gegen ihn gestellt, in ihrer Liebe ging sie so weit, daß sie an seinen Fehlern mitschuldig wurde. Pauline allein versuchte noch darüber zu reden. Die Summe von hunderttausend Francs hatte sie ganz verstört. Wie! So weit war man schon, er hatte ihr mehr als die Hälfte ihres Vermögens weggenommen? Hunderttausend Francs waren verloren, wenn er sich weigerte, weiter zu kämpfen! Doch sie sprach umsonst, während Véronique den Tisch abdeckte. Dann ging sie,
um nicht in Vorwürfe auszubrechen, verzweifelt nach oben und schloß sich in ihrem Zimmer ein. Hinter ihr war Schweigen entstanden, die verlegene Familie blieb in Gedanken versunken am Tisch sitzen. »Dieses Kind ist wahrhaftig geizig, das ist ein häßlicher Charakterfehler«, sagte schließlich die Mutter. »Es paßt mir nicht, daß Lazare sich mit Strapazen und Widerwärtigkeiten umbringt.« Der Vater wagte mit schüchterner Stimme zu bemerken: »Man hatte mir nichts von einer solchen Summe erzählt ... Hunderttausend Francs, mein Gott! Das ist ja furchtbar.« »Na was schon, hunderttausend Francs!« unterbrach sie ihn in ihrer kurz angebundenen Art. »Man wird sie ihr zurückgeben ... Wenn unser Sohn sie heiratet, ist er Manns genug,
um hunderttausend Francs zu verdienen.« Unverzüglich wurde die Liquidation in Angriff genommen. Boutigny hatte Lazare in Schrecken gesetzt, indem er ihm einen verheerenden Bericht über die wirtschaftliche Lage vorlegte. Die Schulden beliefen sich auf nahezu zwanzigtausend Francs. Als er seinen Teilhaber entschlossen sah, sich zurückzuziehen, erklärte er zunächst, er selber werde abreisen und sich in Algerien niederlassen, wo eine großartige Stellung auf ihn warte. Dann wollte er gern die Fabrik wieder übernehmen; doch er schien dabei einen solchen Widerwillen an den Tag zu legen, er stellte so verwickelte Rechnungen auf, daß schließlich die Grundstücke, die Gebäude, die Apparate ihm für die zwanzigtausend Francs Schulden zufielen; Lazare mußte es im letzten Augenblick noch als einen Sieg betrachten, fünftausend Francs in vierteljährlich zahlbaren Wechseln aus ihm herauszuziehen. Am folgenden Tage verkaufte
Boutigny das Kupfer der Apparate und richtete die Gebäude für die fabrikmäßige Herstellung des handelsüblichen Sodas ein, die er ohne jegliche wissenschaftliche Forschung, ganz nach den althergebrachten bekannten Methoden betrieb. Pauline, die sich ihrer ersten Regung eines sparsamen und vorsichtigen Mädchens schämte, war wieder sehr heiter, sehr freundlich geworden, als müsse sie um eines Vergehens willen um Verzeihung bitten. Daher auch triumphierte Frau Chanteau, als Lazare die Wechsel über fünftausend Francs brachte. Das junge Mädchen mußte hinaufgehen und sie in das Schubfach legen. »Das sind immerhin fünftausend Francs, die wir wiederhaben, meine Liebe ... Sie gehören dir, da sind sie. Mein Sohn hat für all seine Mühen nicht einmal einen einzigen Franc davon behalten wollen.« Seit einiger Zeit machte sich Chanteau in
seinem Krankenstuhl große Sorgen. Obgleich er seiner Frau keine Unterschrift zu verweigern wagte, erfüllte ihn die Art und Weise, wie sie das Vermögen ihres Mündels verwaltete, mit Furcht. Immer noch dröhnte ihm die Summe von hunderttausend Francs in den Ohren. Wie sollte man an dem Tage, da er Rechenschaft abzulegen hätte, ein solches Loch zustopfen? Und das schlimmste war, daß der Gegenvormund, dieser Saccard, der damals in Paris mit seinen Spekulationen Aufsehen erregte, sich gerade jetzt an Pauline erinnert hatte, nachdem er sie fast acht Jahre lang vergessen zu haben schien. Er schrieb, fragte, wie es ihr gehe, sprach sogar davon, auf dem Wege zu einer Geschäftsverhandlung in Cherbourg eines Morgens in Bonneville hereinzuschauen. Was sollte man antworten, wenn er Einblick in die Vermögenslage forderte, wie es sein gutes Recht war? Sein jähes Erwachen nach so langer Gleichgültigkeit war bedrohlich.
Als Chanteau schließlich dieses Thema mit seiner Frau erörterte, zeigte sie sich mehr von Neugier als von Besorgnis geplagt. Einen Augenblick hatte sie die Wahrheit gewittert und gedacht, Saccard wäre mitten im Galopp seiner Millionen vielleicht ohne einen Sou und sinne darauf, sich Paulines Geld aushändigen zu lassen, um es zu verzehnfachen. Dann kam sie auf abwegige Gedanken und fragte sich, ob nicht das junge Mädchen selber in einer rachsüchtigen Laune an seinen Gegenvormund geschrieben hatte. Und da diese Vermutung ihren Mann in Empörung versetzte, dachte sie sich eine verwickelte Geschichte aus, anonyme Briefe, die Boutignys Frauenzimmer in Umlauf brachte, dieses liederliche Weibsbild, das zu empfangen sie ablehnten und von dem sie in den Läden von Verchemont und Arromanches schlechtgemacht wurden. »Sie können mir alle gestohlen bleiben!« sagte sie. »Die Kleine ist noch nicht achtzehn Jahre alt, das stimmt; aber ich brauche sie nur
sogleich mit Lazare zu verheiraten, die Heirat macht sie nach Recht und Gesetz mündig.« »Bist du dessen sicher?« fragte Chanteau. »Allerdings! Ich hab es erst heute früh im Gesetzbuch gelesen.« Tatsächlich las Frau Chanteau jetzt im Gesetzbuch. Ihre letzten Bedenken schlugen sich mit diesen Fragen herum, sie suchte nach Entschuldigungen; dann interessierte sie sich mit aller Beharrlichkeit für die legalen Möglichkeiten einer Erbschleicherei, denn ihre Rechtschaffenheit war allmählich zerbröckelt, die Versuchung durch diese Riesensumme, die neben ihr im Schubfach schlummerte, hatte ihre Rechtschaffenheit nach und nach zerstört. Im übrigen konnte sich Frau Chanteau nicht für die Eheschließung entscheiden. Nach dem Geldverlust hätte Pauline die Angelegenheit gern beschleunigt: Weshalb sechs Monate warten, bis sie achtzehn Jahre alt wäre? Man
sollte lieber zum Schluß kommen, ohne erst abzuwarten, bis sich Lazare eine Stellung suchte. Sie wagte darüber zu ihrer Tante zu sprechen, die in ihrer Verlegenheit eine Lüge erfand; sie schloß die Tür und senkte die Stimme, um ihr eine geheime Qual ihres Sohnes anzuvertrauen: Er sei sehr zartfühlend, er würde sehr leiden, wenn er sie heiratete, ohne ein Vermögen mit in die Ehe bringen zu können, jetzt, da er das ihre aufs Spiel gesetzt hatte. Das junge Mädchen hörte ihr voller Verwunderung zu, ohne diese romanhafte Spitzfindigkeit zu verstehen; er hätte sehr reich sein können, und sie hätte ihn trotzdem geheiratet, weil sie ihn liebte; und im übrigen, wie lange müßte man dann noch warten? Vielleicht ewig. Aber Frau Chanteau erhob laut Einspruch. Lazare werde dieses übertriebene Ehrgefühl schon überwinden, wenn man nur nichts übereilte. Zum Schluß ließ sie Pauline schwören, Stillschweigen zu bewahren, denn sie fürchtete, der junge Mann
könne eine Unbesonnenheit begehen, plötzlich abreisen, wenn er erführe, daß man seine Gedanken erraten, ausgebreitet und erörtert hatte. Von Besorgnis erfaßt, mußte sich Pauline entschließen, Geduld zu üben und zu schweigen. Als indessen Chanteau von der Angst vor Saccard geplagt wurde, sagte er zu seiner Frau: »Wenn dadurch alles in Ordnung kommt, dann verheirate die Kinder doch.« »Nichts treibt zur Eile«, erwiderte sie. »Die Gefahr steht nicht vor der Tür.« »Aber wenn du die beiden ohnehin eines Tages miteinander verheiraten willst ... Du hast deine Ansicht doch nicht etwa geändert, denke ich? Sie würden daran sterben.« »Oh! Sie würden daran sterben ... Solange eine Sache nicht getan ist, kann man sie ebensogut bleiben lassen, wenn sie sich als schlecht erweist. Na, und was denn? Sie sind völlig
frei, wir werden sehen, ob sie später immer noch daran Gefallen finden.« Pauline und Lazare hatten ihr gemeinsames Leben von früher wiederaufgenommen, waren beide durch die Härte eines schrecklichen Winters ans Haus gefesselt. In der ersten Woche sah sie ihn so traurig, so voll Scham über sich selbst und so wütend auf die Verhältnisse, daß sie ihn mit unendlicher Aufmerksamkeit wie einen Kranken umsorgte; sie hatte sogar Mitleid mit diesem großen Jungen, dessen beschränkter Wille, dessen lediglich nervöser Eifer die Fehlschläge erklärte; und sie bekam nach und nach die scheltende Autorität einer Mutter über ihn. Zunächst brauste er auf, erklärte, er würde Bauer werden, machte haufenweise verrückte Pläne, wie er rasch ein Vermögen erwerben könne, und dabei errötete er über das Brot, das er aß, und wollte nicht eine Stunde länger seiner Familie zur Last fallen. Dann gingen die Tage dahin, er verschob die Ausführung seiner
Ideen immer wieder auf später, er begnügte sich damit, jeden Morgen seinen Plan zu ändern, den Plan, der ihn mit wenigen Sprüngen zu den höchsten Ehren und Reichtümern führen sollte. Durch die unwahren Geständnisse ihrer Tante erschreckt, redete Pauline ihm zu: Verlangte man denn von ihm, daß er sich so den Kopf zerbrach? Er solle sich im Frühjahr eine Stellung suchen, er würde bestimmt gleich eine finden; aber bis dahin würde man ihn schon zwingen, sich Ruhe zu gönnen. Nach einem Monat schien sie ihn bezwungen zu haben, er war in einen planlosen Müßiggang verfallen, in eine spöttische Resignation gegenüber dem, was er »die Widerwärtigkeiten des Daseins« nannte. Von Tag zu Tag deutlicher spürte Pauline ein beunruhigendes unbekanntes Etwas bei Lazare, das sie empörte. Sie bedauerte die Wutausbrüche, die Strohfeuer, in denen er zu schnell entflammte, wenn sie sah, wie er über alles höhnisch lachte und sich mit farbloser,
schneidender Stimme zum Nichts bekannte. In dem Frieden des Winters erwachte tief in diesem gottverlassenen Nest Bonneville gleichsam wieder, was er früher in Paris an Verhältnissen gehabt, was er gelesen, worüber er mit Studiengefährten diskutiert hatte. Auf diesem Wege war der Pessimismus eingedrungen, ein schlecht verdauter Pessimismus, von dem nichts als die genialen Geistesblitze, die gewaltige düstere Poesie Schopenhauers übriggeblieben waren. Das junge Mädchen verstand wohl, daß bei ihrem Cousin hinter diesem Prozeß, den er der Menschheit machte, vor allem die Wut über die Niederlage steckte, über den Bankrott der Fabrik, von dem die Erde auseinanderzukrachen schien. Doch sie vermochte nicht tiefer in die Ursachen einzudringen, sie erhob leidenschaftlich Einspruch, wenn er seine alte These von der Verneinung des Fortschritts, von der letzten Endes doch feststehenden Nutzlosigkeit der
Wissenschaft wieder vorbrachte. War dieser viehische Kerl, dieser Boutigny, nicht dabei, ein Vermögen zu verdienen mit seinem handelsüblichen Soda? Wozu also hatte man sich ruiniert, um Besseres zu finden, um neue Gesetze zu entwickeln, da doch der Empirismus den Sieg davontrug? Und jedesmal ging er hiervon aus, äußerte mit zu einem häßlichen Lachen verzogenen Lippen die Schlußfolgerung, daß die Wissenschaft nur einen sicheren Nutzen hätte, wenn sie jemals die Möglichkeit böte, die Welt mit einem Schlage, vermittels irgendeiner gewaltigen Kartätsche, in die Luft zu sprengen. Dann erging er sich in kalten Spottreden über die Ränke des göttlichen Willens, der die Welt lenkt, über die blinde Dummheit, leben zu wollen. Das Leben war Schmerz, und er gelangte schließlich zu der Morallehre der indischen Fakire, die Erlösung in der Vernichtung zu sehen. Wenn Pauline hörte, wie er den Abscheu vor jedem Tun betonte,
wie er den schließlichen Selbstmord der Völker verkündete, die scharenweise in die Finsternis stürzten und sich weigerten, neue Generationen zu zeugen, sobald ihr entwickelter Verstand sie davon überzeugte, wie blödsinnig und grausam das Possenspiel war, das eine unbekannte Macht sie aufführen ließ, ereiferte sie sich, suchte nach Beweisgründen, vermochte sich aber nicht zu behaupten, da sie in diesen Fragen unwissend war und keinen »metaphysischen Kopf« hatte, wie er es nannte. Sie weigerte sich jedoch, sich für besiegt zu erklären, sie schickte seinen Schopenhauer, aus dem er ihr einige Stellen hatte vorlesen wollen, ohne weiteres zum Teufel: ein Mann, der so furchtbar Schlechtes über die Frauen schrieb! Sie hätte ihn erdrosselt, wenn er nicht wenigstens ein Herz für die Tiere gehabt hätte. Gesund, wie sie war, immer aufrecht im Glück der Gewohnheit und in der Hoffnung auf den morgigen Tag, brachte nun sie ihn zum Schweigen durch ihr
schallendes, klangvolles Lachen, triumphierte sie mit dem kraftvollen Drängen ihrer Geschlechtsreife. »Hör mal!« rief sie. »Du erzählst aber Dummheiten ... Wir werden ans Sterben denken, wenn wir alt sind.« Der Gedanke an den Tod, den sie so heiter abtat, stimmte ihn jedesmal ernst, machte seinen Blick scheu. Er gab gewöhnlich der Unterhaltung eine andere Wendung, nachdem er gemurmelt hatte: »Man kann in jedem Alter sterben.« Pauline begriff schließlich, daß der Tod Lazare in Schrecken versetzte. Sie erinnerte sich seines angstvollen Aufschreis damals angesichts der Sterne; sie sah ihn jetzt bei gewissen Worten erbleichen und schweigen, als hätte er ein Übel zu verbergen, das er nicht eingestehen konnte; und es war für sie eine große Überraschung, dieses Entsetzen vor dem
Nichts bei diesem eingefleischten Pessimisten, der davon sprach, die Gestirne gleich Kerzen ausblasen zu wollen über dem allgemeinen Gemetzel der Wesen. Das Übel stammte von weit her, sie ahnte nicht einmal, wie bedenklich es war. Je älter Lazare wurde, desto drohender sah er den Tod sich aufrichten. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr hatte ihn des Abends, wenn er sich schlafen legte, kaum ein kalter Hauch gestreift. Heute konnte er nicht den Kopf auf das Kissen legen, ohne daß der Gedanke an das Nimmermehr sein Gesicht eisig anwehte. Schlaflosigkeit befiel ihn, er kannte keine Ergebenheit angesichts der unausweichlichen Notwendigkeit, die sich in schauerlichen Bildern entrollte. Wenn ihn die Müdigkeit überwältigt hatte, fuhr er dann zuweilen aus dem Schlaf hoch, setzte sich auf mit vor Grauen geweiteten Augen und gefalteten Händen und stammelte in der Finsternis: »Mein Gott! Mein Gott!« Seine Brust drohte
zu zerspringen, er glaubte zu sterben; und er mußte wieder Licht machen, er wartete, bis er vollkommen wach war, um wieder ein wenig Ruhe zu finden. Ein Gefühl der Scham ob dieses Entsetzens blieb in ihm zurück: War das blöde, dieses Anrufen eines Gottes, den er leugnete, dieses Erbe der menschlichen Schwäche, die bei der Zerschmetterung der Welt um Hilfe schreit! Aber der Anfall kehrte dennoch jeden Abend wieder, gleich einer schlimmen Leidenschaft, die ihn trotz seiner Vernunft auspumpte. Auch am Tage brachte ihn alles wieder darauf zurück, eine zufällig hingeworfene Redensart, ein rascher Gedanke, der geboren war aus dem, was er flüchtig geschaut, was er gelesen hatte. Als Pauline eines Abends ihrem Onkel aus der Zeitung vorlas, war Lazare hinausgegangen, verstört über den Einfall eines Erzählers, der den Himmel des zwanzigsten Jahrhunderts voller Luftschiffe zeigte, welche Reisende von einem Kontinent zum anderen spazierenfuhren: Er
würde nicht mehr dasein: diese Luftschiffe, die er nicht zu Gesicht bekommen würde, verschwanden in der Tiefe jenes Nichts der künftigen Jahrhunderte, deren Verlauf außerhalb seines Seins ihn mit Angst erfüllte. Seine Philosophen mochten ihm noch so oft wiederholen, daß nicht ein Fünkchen Leben verlorenging, sein Ich weigerte sich ungestüm, ein Ende zu nehmen. Schon war in diesem Kampf seine Fröhlichkeit dahingeschwunden. Wenn Pauline, die nicht immer die Sprunghaftigkeit seines Charakters verstand, ihn in den Stunden ansah, da er seine Wunde mit ängstlicher Scham verbarg, empfand sie Mitleid, hatte sie das Bedürfnis, sehr gut zu sein und ihn glücklich zu machen. Die Tage schleppten sich im großen Zimmer des zweiten Stockwerks dahin, inmitten der Algen, der Gläser, der Instrumente, die Lazare in seiner Kraftlosigkeit nicht einmal mehr weggeschafft hatte; und die Algen zerfielen, die Gläser entfärbten sich, während die
Instrumente unter dem Staub aus den Fugen gerieten. Sie waren beide verloren, ihnen war heiß in dieser Unordnung. Oft prasselten vom Morgen bis zum Abend die Regengüsse des Dezember auf die Schieferplatten des Daches, der Westwind schnaufte wie eine Orgel durch die Ritzen der Holzverkleidung. Ganze Wochen vergingen ohne einen Sonnenstrahl, sie sahen nur das graue Meer, eine graue Unermeßlichkeit, in der die Erde zu zerfließen schien. Um die langen leeren Stunden auszufüllen, vergnügte sich Pauline damit, eine Sammlung von Rotalgen zu ordnen, die sie im Frühling zusammengetragen hatte. Zunächst hatte sich Lazare, der seinem Verdruß nachhing, damit zufriedengegeben, ihr zuzusehen, wie sie die fein verzweigten Pflanzen einklebte, deren zartes Rot und Blau Aquarelltöne bewahrten; dann hatte er, da er krank war von Nichtstun und seine Theorie von der Untätigkeit vergaß, unter den verbeulten Apparaten und den schmutzigen
Fläschchen, die in Mengen darauf herumstanden, das Klavier ausgegraben. Acht Tage später hatte ihn die Leidenschaft für die Musik wieder ganz und gar gepackt. War er als Wissenschaftler und Industrieller gescheitert, so ließ sich das aus der ersten seelischen Verwundung erklären, aus dem Riß, den sein Künstlertum erlitten. Eines Morgens, als er seinen »Todesmarsch« spielte, hatte ihn der Gedanke an die große »Schmerzenssinfonie«, die er früher einmal schreiben wollte, von neuem begeistert. Alles übrige erschien ihm schlecht, er würde nur den Marsch beibehalten. Aber was für ein Thema war das doch! Was für ein Werk war da zu schreiben! Und er faßte darin seine Philosophie zusammen. Am Anfang sollte das Leben entstehen durch die selbstsüchtige Laune einer Kraft; dann sollte in ergreifenden Zügen die Illusion des Glücks, der Schwindel des Daseins folgen, eine Vereinigung Liebender, ein Gemetzel von Soldaten, ein am
Kreuze sterbender Gott; immer würde der Schrei des Bösen emporsteigen, würde das Geheul der Wesen den Himmel erfüllen, bis zum Schlußgesang der Erlösung, einem Gesang, dessen himmlische Süße die Freude über die allgemeine Vernichtung zum Ausdruck bringen sollte. Gleich am nächsten Morgen war er bei der Arbeit, hämmerte auf dem Klavier herum und bedeckte das Papier mit schwarzen Strichen. Da das mehr und mehr geschwächte Instrument nur noch ächzte, sang er selber die Töne mit Glockengedröhn. Nie zuvor hatte ihn eine Arbeit dermaßen mitgerissen, er vergaß darüber die Mahlzeiten, er dröhnte Pauline damit die Ohren voll, die das alles, gutmütig, wie sie war, sehr schön fand und ihm die Stücke säuberlich abschrieb. Dieses Mal hielt er sein Meisterwerk in Händen, dessen war er gewiß. Gleichwohl beruhigte Lazare sich schließlich. Es blieb ihm nur noch der Anfang zu schreiben, für den ihm nichts einfallen wollte.
All das schlummerte wohl noch. Und er rauchte Zigaretten vor seiner auf dem großen Tisch ausgebreiteten Partitur. Nun spielte Pauline Stellen daraus mit schülerhafter Ungeschicklichkeit. Zu diesem Zeitpunkt wurde ihre Vertrautheit gefährlich. Sein Hirn hatte nichts mehr zu tun, seine Glieder waren nicht mehr ermüdet von der Plackerei mit der Fabrik; und jetzt, da er sich neben ihr, unbeschäftigt und das Blut von Faulheit gepeinigt, eingeschlossen fand, liebte er sie mit wachsender Zärtlichkeit. Sie war so heiter, so gut! Sie opferte sich so freudig auf! Er hatte zunächst geglaubt, einer bloßen Regung von Dankbarkeit nachzugeben, einer Verdoppelung jener brüderlichen Zuneigung, die sie ihm von Kindheit an einflößte. Doch nach und nach war das bis dahin schlummernde Verlangen erwacht: Er sah endlich ein Weib in diesem jüngeren Bruder, den er bislang bei den breiten Schultern gefaßt und geschubst hatte, ohne vom Duft des Weibes verwirrt zu werden. Jetzt
wurde er rot wie sie, wenn er sie streifte. Er wagte nicht mehr, ihr nahe zu kommen, sich über ihre Schulter zu beugen, um einen Blick auf die Musik zu werfen, die sie abschrieb. Wenn ihre Hände sich trafen, verharrten sie beide stammelnd, ihr Atem ging rascher, ihre Wangen wurden von einer Flamme verbrannt. Von nun an vergingen so die ganzen Nachmittage in einem Unbehagen, nach dem sie sich wie zerschlagen fühlten, gequält von dem verworrenen Verlangen nach einem Glück, das ihnen fehlte. Um einer jener Verwirrungen zu entrinnen, unter denen sie auf köstliche Weise litten, scherzte Pauline zuweilen mit der schönen Kühnheit eines wissenden unberührten Mädchens. »Ach! Hab ich es dir nicht gesagt? Ich habe geträumt, dein Schopenhauer habe in der anderen Welt von unserer Heirat erfahren und sei des Nachts gekommen, uns an den Füßen
zu ziehen.« Lazare lachte gezwungen. Er verstand wohl, daß sie sich über seine ständigen Widersprüche lustig machte; aber eine unendliche Zärtlichkeit durchdrang ihn, tilgte seinen Haß gegen den Lebenswillen. »Sei nett«, murmelte er. »Du weißt, daß ich dich liebe.« Sie setzte eine strenge Miene auf. »Sieh dich vor! Du wirst die Erlösung hinausschieben ... Du bist schon wieder in Egoismus und Wahn verfallen.« »Willst du wohl schweigen, du Giftnudel!« Und er jagte sie durch das ganze Zimmer, während sie mit der dozierenden Stimme eines Doktors der Sorbonne14 weiter Bruchstücke pessimistischer Philosophie hersagte. Wenn er sie dann gefaßt hatte, wagte er es nicht, sie wie früher länger in den Armen zu halten und sie
zur Strafe zu kneifen. Eines Tages indessen war die Jagerei so hitzig, daß er sie ungestüm bei den Lenden packte. Sie bebte am ganzen Leibe vor Lachen. Er drängte sie gegen den Schrank, geriet außer sich, da er fühlte, daß sie sich wehrte. »Ah! Diesmal habe ich dich ... Sag, was soll ich wohl mit dir machen?« Ihre Gesichter berührten sich, sie lachte noch immer, aber ein ersterbendes Lachen. »Nein, nein, laß mich los, ich fang nicht wieder an.« Er drückte ihr einen derben Kuß auf den Mund. Das Zimmer drehte sich, es schien ihnen, als risse sie ein Flammenwind ins Leere. Sie fiel hintenüber, da machte sie sich mit Gewalt frei. Sie blieben einen Augenblick beklommen stehen, waren hochrot und wandten den Kopf ab. Dann setzte sie sich, um Atem zu schöpfen, und ernst und verstimmt
sagte sie: »Du hast mir weh getan, Lazare.« Von diesem Tage an mied er sogar die laue Wärme ihres Atems, das Streifen ihres Kleides. Der Gedanke an einen dummen Fehltritt, ein Fallen hinter irgendeiner Tür, empörte seine Rechtschaffenheit. Trotz des instinktiven Widerstandes des jungen Mädchens sah er schon, wie sie, benommen vom Blut, bei der ersten Umarmung die Seine wurde, weil sie ihn so sehr liebte, daß sie sich ganz hingeben würde, wenn er es verlangte; und er wollte Besonnenheit für beide haben, er begriff, daß er der Hauptschuldige bei einem Abenteuer sein würde, dessen Gefahr er allein mit seiner Erfahrung vorauszusehen vermochte. Doch seine Liebe wurde stärker bei diesem gegen sich selbst geführten Kampf. Alles hatte ihre Glut entfacht, die Untätigkeit der ersten Wochen, seine angebliche Entsagung, sein Lebensüberdruß, aus dem die
wilde Lust, zu leben, zu lieben, die Langeweile der leeren Stunden mit neuen Leiden zu füllen, wieder erwuchs. Und die Musik versetzte ihn jetzt vollends in Schwärmerei, die Musik, die sie auf den unaufhörlich ausgebreiteten Schwingen des Rhythmus gemeinsam ins Reich der Träume emportrug. Jetzt glaubte er eine große Leidenschaft festzuhalten, er schwor sich, sein Genie in ihr zu bilden. Es bestand kein Zweifel mehr: Er würde ein berühmter Musiker werden, denn er brauchte nur aus seinem Herzen zu schöpfen. Alles schien sich zu läutern, er tat so, als betete er seinen guten Engel auf Knien an, es kam ihm nicht einmal der Gedanke, die Heirat zu beschleunigen. »Da, lies doch diesen Brief, den ich soeben erhalten habe«, sagte Chanteau eines Tages erschrocken zu seiner Frau, die gerade aus Bonneville zurückkam. Es war abermals ein Brief von Saccard,
diesmal aber ein Drohbrief. Seit November verlangte er eine Vermögensaufstellung; und da die Chanteaus mit Ausflüchten antworteten, kündigte er schließlich an, daß er ihre Weigerung vor dem Familienrat zur Sprache bringen werde. Frau Chanteau war ebenso von Entsetzen erfaßt wie ihr Mann, obwohl sie es nicht eingestand. »Dieser Lump!« murmelte sie, nachdem sie den Brief gelesen hatte. Die beiden Gatten waren bleich geworden und schauten sich schweigend an. Schon hörten sie in der leblosen Luft des kleinen Eßzimmers das Dröhnen eines Skandalprozesses. »Du darfst nicht länger zögern«, begann der Vater wieder. »Verheirate sie, da doch die Heirat mündig macht.« Doch dieser Ausweg schien der Mutter mit jedem Tage mehr zu widerstreben. Sie äußerte Befürchtungen. Wer wußte denn, ob die
beiden Kinder zueinander paßten? Man konnte ein gutes Freundespaar abgeben und dennoch eine abscheuliche Ehe führen. In der letzten Zeit, so sagte sie, hätten sehr viele unerfreuliche Beobachtungen sie stutzig gemacht. »Nein, siehst du, es wäre schlecht, sie unserem Frieden zu opfern. Warten wir noch ... Und im übrigen, warum sollen wir sie jetzt verheiraten, da sie ja im vergangenen Monat achtzehn Jahre alt geworden ist und wir die gesetzliche Mündigkeitserklärung verlangen können?« Ihre Zuversicht kehrte wieder, sie ging hinauf, ihr Gesetzbuch zu holen, und beide studierten es. Der Artikel 478 beruhigte sie, während sie angesichts des Artikels 480, in dem gesagt wird, daß über die Vormundschaft vor einem vom Familienrat ernannten Kurator Rechenschaft abzulegen sei, sehr verlegen waren. Gewiß, sie hatte alle Mitglieder des Familienrates in der Hand, sie würde schon
dafür sorgen, daß sie zum Kurator ernannten, wen sie wollte; allein, wen soll man sich da aussuchen, wo jemand hernehmen? Das Problem bestand darin, an die Stelle eines gefürchteten Gegenvormunds einen gefälligen Kurator zu setzen. Plötzlich hatte sie eine Eingebung. »Wie wäre es mit Doktor Cazenove? Er ist ein wenig mit unseren Angelegenheiten vertraut, er wird nicht ablehnen.« Chanteau stimmte mit einem Kopfnicken zu. Aber er sah seine Frau fest an, ein Gedanke beschäftigte ihn stark. »Du wirst also«, fragte er schließlich, »das Geld zurückgeben, ich meine das, was übrigbleibt?« Sie antwortete nicht sogleich. Sie hatte den Blick gesenkt und blätterte mit nervöser Hand im Gesetzbuch. Dann sagte sie mit Anstrengung:
»Natürlich, ich werde es zurückgeben, und das wird sogar eine große Erleichterung für uns sein. Du siehst, wessen man uns schon beschuldigt ... Wahrhaftig, es kommt noch so weit, daß man an sich selber zweifelt; ich würde hundert Sous geben, um es heute abend nicht mehr in meinem Sekretär zu haben. Und außerdem hätte man es auf jeden Fall zurückgeben müssen.« Da Doktor Cazenove am nächsten Tag in Bonneville seine sonnabendlichen Krankenbesuche machte, sprach Frau Chanteau gleich zu ihm von dem großen Dienst, den er ihnen aus Freundschaft erweisen sollte. Sie gestand ihm die Sachlage ein, bekannte, daß das Geld beim Zusammenbruch der Fabrik verschlungen worden war, ohne daß man jemals den Familienrat befragt hatte; dann sprach sie mit Nachdruck von der geplanten Heirat, vom Band der Liebe, das sie alle vereinte und das der Skandal eines Prozesses zerreißen würde.
Bevor der Doktor seine Hilfe zusagte, wünschte er mit Pauline zu sprechen. Seit langem fühlte er, daß sie ausgebeutet, nach und nach aufgezehrt wurde; wenn er aus Furcht, ihr Kummer zu bereiten, bis dahin hatte schweigen können, so war es jetzt, da man versuchte, ihn zum Mitschuldigen zu machen, seine Pflicht, sie zu warnen. Die Angelegenheit wurde im Zimmer des jungen Mädchens besprochen. Die Tante wohnte dem Beginn der Unterredung bei; sie hatte den Doktor begleitet, um zu erklären, daß die Heirat jetzt von der Mündigkeitserklärung abhänge, denn niemals würde Lazare einwilligen, seine Cousine zu heiraten, solange man ihn beschuldigen könne, die Rechnungslegung umgehen zu wollen. Dann zog sie sich zurück und tat so, als wolle sie keinen Druck auf die Gedanken jener ausüben, die sie schon jetzt ihre innigst geliebte Tochter nannte. Sogleich flehte Pauline ganz gerührt den Doktor an, ihnen den heiklen Dienst zu
erweisen, dessen Notwendigkeit man soeben in ihrer Gegenwart erläutert hatte. Vergeblich versuchte er, sie über ihre Lage aufzuklären: sie entäußere sich, sie begäbe sich jeglichen Regreßanspruchs. Er ließ sogar seine Angst vor der Zukunft, vor dem völligen Ruin, vor Undankbarkeit und vor viel Leid durchblicken. Bei jedem Pinselstrich, mit dem er das Bild immer schwärzer malte, erhob sie Einspruch, weigerte sie sich zuzuhören, zeigte eine fieberhafte Eile. Opfer zu bringen. »Nein, lassen Sie es mich nicht bereuen. Ich bin ein Geizhals, wenn es auch nicht so aussieht, es fällt mir schon schwer genug, mich zu überwinden ... Sollen sie alles nehmen! Ich überlasse Ihnen den Rest, wenn sie mich dafür mehr lieben wollen.« »Kurzum«, fragte der Doktor, »Sie berauben sich also aus Freundschaft für Ihren Cousin?« Sie errötete, ohne zu antworten.
»Und wenn Ihr Cousin Sie später einmal nicht mehr lieben sollte?« Fassungslos schaute sie ihn an. Ihre Augen füllten sich mit schweren Tränen, und aus ihrem Herzen brach der Schrei empörter Liebe hervor: »O nein! O nein! Warum bereiten Sie mir solchen Schmerz!« Da willigte Doktor Cazenove ein. Er fühlte nicht den Mut in sich, aus diesem großen Herzen die Illusion der Liebe durch eine Operation zu entfernen. Nur zu rasch würde sich die Härte des Daseins zeigen. Frau Chanteau führte den Feldzug mit einer erstaunlichen intriganten Überlegenheit. Dieser Kampf verjüngte sie. Sie war von neuem nach Paris gereist und hatte die notwendigen Vollmachten mitgenommen. Rasch wurden die Mitglieder des Familienrates für ihre Ideen gewonnen; sie
hatten sich im übrigen niemals Gedanken um ihre Aufgabe gemacht: Sie brachten ihr die übliche Gleichgültigkeit entgegen. Die Verwandten von der Seite der Quenus, die Vettern Naudet, Liardin und Delorme, waren ihrer Meinung; und von den drei Verwandten von der Seite Lisas brauchte sie nur Octave Mouret zu überzeugen, weil sich die beiden anderen, Claude Lantier und Rambaud, die zur Zeit in Marseille waren, damit begnügt hatten, ihr eine schriftliche Zustimmung zu schicken. Sie hatte allen eine rührende und verworrene Geschichte erzählt, von der Zuneigung des alten Arztes von Arromanches für Pauline, von seiner vermutlichen Absicht, dem jungen Mädchen sein Vermögen zu hinterlassen, wenn man ihm gestattete, sich ihrer anzunehmen. Was Saccard betraf, so gab er ebenfalls nach, nachdem ihn Frau Chanteau dreimal besucht und auf den großartigen Gedanken gebracht hatte, die Buttersorten des Cotentin dank eines neuen Transportsystems
aufzukaufen. Und so wurde Pauline durch den Familienrat für mündig erklärt, man ernannte als Kurator den ehemaligen Marinearzt Cazenove, über den der Friedensrichter die besten Auskünfte erhalten hatte. Vierzehn Tage nach Frau Chanteaus Rückkehr nach Bonneville fand die Rechnungslegung über die Vormundschaft auf die einfachste Weise statt. Der Doktor hatte zu Mittag gegessen, man hatte sich bei Tisch ein wenig damit aufgehalten, die letzten Neuigkeiten aus Caen zu besprechen, wo Lazare gerade achtundvierzig Stunden wegen eines Prozesses verbracht hatte, mit dem dieser Schuft Boutigny ihn bedrohte. »Dabei fällt mir ein«, sagte der junge Mann, »Louise wird uns wohl in der kommenden Woche überraschen ... Ich habe sie nicht wiedererkannt, sie lebt jetzt bei ihrem Vater, und sie wird immer eleganter! Oh, haben wir gelacht!«
Pauline sah ihn an, verwundert über die warme Erregung in seiner Stimme. »Da du gerade von Louise sprichst«, rief Frau Chanteau aus, »ich bin mit einer Dame aus Caen gereist, die die Thibaudiers kennt. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Thibaudier soll seiner Tochter eine Mitgift von hunderttausend Francs geben. Mit den hunderttausend Francs ihrer Mutter würde die Kleine zweihunderttausend haben ... Na? Zweihunderttausend Francs, da ist sie ja wirklich reich!« »Ach was!« begann Lazare wieder. »Das hat sie nicht nötig, sie ist bildhübsch ... Und eine rechte Schmeichelkatze!« Paulines Augen hatten sich verdüstert, ihre Lippen preßten sich in einer leichten nervösen Zerrung zusammen. Da hob der Doktor, der sie nicht aus den Augen ließ, das kleine Glas Rum, das er gerade austrinken wollte.
»Na, wir haben ja noch gar nicht angestoßen ... Also, auf euer Glück, meine Freunde. Heiratet schnell und bekommt viele Kinder.« Frau Chanteau streckte ohne ein Lächeln langsam ihr Glas vor, während Chanteau, dem alkoholische Getränke verboten waren, sich damit begnügte, zustimmend zu nicken. Lazare aber hatte Paulines Hand ergriffen mit einer Gebärde bezaubernder Hingabe, die genügt hatte, dem jungen Mädchen alles Blut ihres Herzens in die Wangen zu treiben. War sie nicht der gute Engel, wie er sie nannte, die immer zugängliche Leidenschaft, aus der das Blut seines Genies fließen würde? Sie erwiderte seinen Händedruck. Alle stießen an. »Daß ihr hundert Jahre werden möget!« fuhr der Doktor fort, nach dessen Theorie hundert Jahre das schöne Alter des Menschen waren. Da aber erbleichte Lazare. Diese hingeworfene Zahl durchfuhr ihn mit einem Schauder, beschwor die Zeiten herauf, da er aufgehört
haben würde zu sein und vor denen tief in seinem Fleisch die ewige Angst wach war. Was würde in hundert Jahren mit ihm sein? Welcher Unbekannte würde an diesem Platz, an diesem Tische trinken? Er leerte sein Glas mit zitternder Hand, während Pauline, die seine andere Hand wieder gefaßt hatte, diese mütterlich von neuem drückte, als sähe sie über dieses fahle Antlitz den eisigen Hauch des Nimmermehr wehen. Nach einem Schweigen sagte Frau Chanteau voller Würde: »Wenn wir jetzt die Angelegenheit zu Ende brächten?« Sie hatte beschlossen, die Unterzeichnung solle in ihrem Schlafzimmer erfolgen: Das wäre feierlicher. Seit Chanteau ein Salizylpräparat nahm, konnte er besser gehen. Er stieg hinter ihr die Treppe hinauf und zog sich dabei am Geländer hoch; und als Lazare sagte, er wolle auf die Terrasse gehen und eine
Zigarre rauchen, rief sie ihn zurück und verlangte, daß er zumindest anstandshalber zugegen sei. Der Doktor und Pauline waren als erste nach oben gegangen. Verwundert über diesen feierlichen Aufzug, folgte ihnen Mathieu. »Wie lästig ist dieser Hund, überall mit einem mitzukommen!« rief Frau Chanteau, als sie die Tür wieder schließen wollte. »Los, komm schon rein, ich will nicht, daß du kratzt ... So, niemand wird uns hier stören ... Ihr seht, alles ist bereit.« In der Tat befanden sich ein Tintenfaß und Federn auf dem Tischchen. In dem Zimmer war jene dumpfe Luft, jene tote Stille von Räumen, die man selten betritt. Minouche allein verbrachte hier faule Tage, wenn sie am Morgen hineinschlüpfen konnte. Gerade jetzt schlief sie tief im Daunenbett; verwundert über diesen Überfall, hob sie den Kopf und schaute mit ihren grünen Augen umher.
»Setzt euch, setzt euch«, sagte Chanteau mehrmals. Jetzt wurden die Dinge rasch geregelt. Frau Chanteau tat so, als zöge sie sich zurück, und ließ ihren Mann die Rolle spielen, die sie ihm am Abend zuvor eingeübt hatte. Um dem Gesetz Genüge zu tun, hatte er zehn Tage zuvor im Beisein des Doktors Pauline die Abrechnung über den Zeitraum der Vormundschaft übergeben, ein dickes Heft, in dem die Einnahmen auf der einen, die Ausgaben auf der anderen Seite eingetragen waren; man hatte alles in Abzug gebracht, nicht nur das Kostgeld für das Mündel, sondern auch noch die Gebühren für die Urkunden, die Reisen nach Caen und Paris. Es handelte sich also nur noch darum, die Abrechnung durch persönliche Unterschrift anzuerkennen. Aber Cazenove, der seine Aufgabe als Kurator ernst nahm, wollte bezüglich der Fabrikangelegenheiten einen Einwand erheben; und er zwang Chanteau, auf
gewisse Einzelheiten einzugehen. Pauline sah den Doktor flehend an. Wozu? Sie hatte selber geholfen, diese Abrechnungen zu vergleichen, die ihre Tante mit ihrer feinsten englischen Schrift geschrieben hatte. Indessen hatte Minouche sich mitten auf das Daunenbett gesetzt, um dieser sonderbaren Szene besser zusehen zu können. Nachdem Mathieu brav seinen dicken Kopf auf den Rand des Teppichs gestreckt, hatte er sich nun auf den Rücken gedreht und gab sich ganz dem Genuß hin, in der schönen warmen Wolle zu liegen; und er rieb sich, er wälzte sich und knurrte behaglich dabei. »Lazare, bring ihn doch zur Ruhe!« sagte endlich Frau Chanteau ungeduldig. »Man versteht ja sein eigenes Wort nicht.« Der junge Mann stand am Fenster und schaute, um sein Unbehagen zu verbergen, einem weißen Segel in der Ferne nach. Er empfand Scham, als er hörte, wie sein Vater genau die
Summen einzeln aufführte, die beim Bankrott der Fabrik verschlungen worden waren. »Still, Mathieu«, sagte er und streckte den Fuß vor. Der Hund glaubte, er wollte ihm einen Klaps auf den Bauch geben, was er leidenschaftlich liebte, und knurrte noch lauter. Glücklicherweise brauchten nur noch die Unterschriften geleistet zu werden. Pauline beeilte sich, mit einem Federstrich allem zuzustimmen. Dann riß der Doktor gleichsam widerwillig einen ungeheuren Schnörkel über das Stempelpapier. Peinliches Schweigen war eingetreten. »Die Aktiva«, begann Frau Chanteau wieder, »betragen also fünfundsiebzigtausendzweihundertzehn Francs dreißig Centimes ... Ich werde Pauline dieses Geld zurückgeben.« Sie war auf den Sekretär zugegangen, dessen
Klappe den dumpfen Schrei ausstieß, der sie so oft erregt hatte. Aber in diesem Augenblick war sie feierlich, sie öffnete das Schubfach, in dem man den alten Buchdeckel erblickte; es war derselbe grün marmorierte, mit Fettflecken gesprenkelte Buchdeckel; nur war er magerer geworden, die Wertpapiere hatten abgenommen und sprengten nicht mehr seinen schafledernen Rücken. »Nein, nein!« rief Pauline aus. »Behalte das, Tante.« Frau Chanteau war beleidigt. »Wir legen Rechenschaft ab, wir müssen das Geld zurückgeben ... Es ist dein Besitz. Du erinnerst dich daran, was ich dir vor acht Jahren gesagt habe, als ich es dorthin legte? Wir wollen nicht einen Sou behalten.« Sie holte die Wertpapiere heraus, sie zwang das junge Mädchen, diese nachzuzählen. Sie machten fünfundsiebzigtausend Francs aus;
ein kleines Päckchen Gold, in ein Stück Zeitung gewickelt, machte die Summe voll. »Aber wohin soll ich das tun?« fragte Pauline, deren Wangen sich durch das Hantieren mit dieser gewaltigen Summe verfärbt hatten. »Schließ es in deine Kommode ein«, erwiderte die Tante. »Du bist groß genug, um auf dein Geld aufzupassen. Ich will es nicht einmal mehr sehen ... Da, wenn es dir lästig ist, gib es Minouche, die dich da anguckt.« Die Chanteaus hatten bezahlt, ihre Fröhlichkeit kehrte zurück. Erleichtert spielte Lazare mit Mathieu, der sich mit rundem Rücken endlos um sich selbst drehte und seinen eigenen Schwanz haschte, während Doktor Cazenove, der seine Rolle als Kurator wahrnahm, Pauline versprach, ihre Rentenpapiere in Empfang zu nehmen und ihr Hinweise zu geben, wie sie ihr Geld anlegen solle. Und in ebendiesem Augenblick
polterte
Véronique unten mit ihren Kochtöpfen. Sie war heraufgekommen, hatte das Ohr an die Tür gepreßt und Zahlen aufgeschnappt. Seit einigen Wochen verjagte das heimliche Wirken ihrer zärtlichen Liebe zu dem jungen Mädchen ihre letzten Vorurteile. »Sie haben ihr die Hälfte weggefressen, mein Wort drauf!« brummte sie wütend. »Nein, das ist nicht anständig ... Gewiß brauchte sie nicht zu uns zu kommen; aber war das ein Grund, sie bis aufs Hemd auszuplündern? Nein, ich, ich bin gerecht, ich werde dieses Kind am Ende noch liebgewinnen!«
Kapitel IV Als Louise, die zwei Monate bei den Chanteaus verbringen sollte, an jenem Sonnabend auf der Terrasse aus dem Wagen stieg, fand sie dort die ganze Familie
versammelt. Der Tag ging zu Ende, ein sehr heißer, von der Meeresbrise erfrischter Augusttag. Abbé Horteur war auch schon da und spielte Dame mit Chanteau, während Frau Chanteau neben ihnen saß und an einem Taschentuch stickte. Und einige Schritt entfernt stand Pauline vor einer Steinbank, auf der sie vier Rangen aus dem Dorf, zwei kleine Mädchen und zwei kleine Jungen, hatte Platz nehmen lassen. »Wie! Du bist schon da!« rief Frau Chanteau. »Ich wollte gerade meine Handarbeit zusammenlegen, um dir bis zur Weggabelung entgegenzugehen.« Louise erklärte fröhlich, Vater Malivoire habe sie schnell wie der Wind hergebracht. Sie fühlte sich wohl, sie wollte sich nicht einmal umziehen; und während ihre Patin für ihre Unterbringung sorgte, begnügte sie sich damit, ihren Hut an dem Eisenbeschlag eines Fensterladens aufzuhängen. Sie hatte sie alle
umarmt, dann ging sie zu Pauline und faßte sie lachend und schmeichelnd um die Taille. »Sieh mich doch nur an! Sind wir jetzt groß, was? Weißt du, ich mit meinen neunzehn Jahren bin schon eine alte Jungfer ...« Sie unterbrach sich und fügte lebhaft hinzu: »Dabei fällt mir ein, ich beglückwünsche dich ... Oh, stell dich nicht dumm, man hat mir gesagt, im nächsten Monat werde es soweit sein.« Pauline hatte Louises Liebkosungen mit der ernsthaft zärtlichen Art einer älteren Schwester erwidert, obgleich sie anderthalb Jahre jünger war. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen, es handelte sich um ihre Heirat mit Lazare. »Aber nein, man hat dir etwas Falsches gesagt, versichere ich dir«, erwiderte sie. »Nichts ist festgelegt, es ist nur die Rede von diesem Herbst.« In der Tat hatte Frau Chanteau unter dem
Druck der Umstände, trotz ihres Widerwillens, den die jungen Leute ihr allmählich anmerkten, vom Herbst gesprochen. Sie war auf ihren ersten Vorwand zurückgekommen; sie sähe es lieber, sagte sie, wenn ihr Sohn zunächst eine Stellung hätte. »Gut!« begann Louise wieder. »Du bist eine Geheimniskrämerin. Immerhin, ich werde dabeisein, nicht wahr? Und Lazare, ist er denn nicht da?« Chanteau, den der Abbé geschlagen hatte, gab die Antwort: »Du bist ihm also nicht begegnet, Louisette? Wir sagten vorhin, daß ihr zusammen ankommen würdet. Ja, er ist in Bayeux, um bei unserem Unterpräfekten15 vorzusprechen. Aber er kommt heute abend noch zurück, etwas spät vielleicht.« Und sich wieder seinem Spiel zuwendend, sagte er: »Jetzt fange ich an, Abbé ... Sie wissen, daß wir sie kriegen werden, diese großartigen Schutzbuhnen, denn
das Departement16 kann uns in dieser Angelegenheit seine Unterstützung nicht verweigern.« Das war ein neues Abenteuer, das Lazare leidenschaftlich erregte. Bei den letzten Springfluten im März hatte das Meer abermals zwei Häuser von Bonneville fortgerissen. Nach und nach würde das Dorf auf seinem schmalen Strand aus Kiesgeröll aufgefressen und drohte endgültig an der Felsenküste plattgedrückt zu werden, wenn man sich nicht entschloß, es durch ernstliche Uferbefestigungen zu schützen. Doch es war von so geringer Bedeutung mit seinen dreißig baufälligen Häusern, daß Chanteau in seiner Eigenschaft als Bürgermeister seit zehn Jahren vergeblich die Aufmerksamkeit des Unterpräfekten auf die verzweifelte Lage der Einwohner lenkte. Schließlich hatte Lazare, getrieben von Pauline, deren Wunsch es war, ihn wieder der Tätigkeit zuzuführen, den Gedanken an ein ganzes System von
Schutzbuhnen und Pfahlwerken gehabt, das dem Meer einen Maulkorb anlegen sollte. Allein man brauchte Mittel, zwölftausend Francs zumindest. »Den da schnappe ich Ihnen weg, mein Freund«, sagte der Priester und nahm einen Stein. Dann gab er bereitwillig einen eingehenden Bericht über das Bonneville von einst. »Die Alten erzählen, es gab einen Pachthof direkt unter halb der Kirche, einen Kilometer vom heutigen Strand entfernt. Seit mehr als fünfhundert Jahren schon werden sie vom Meer langsam aufgefressen ... Das ist unbegreiflich, sie müssen wohl Generation um Generation ihre Schandtaten büßen.« Indessen war Pauline zu der Bank zurückgekehrt, auf der die vier schmutzigen, zerlumpten Rangen mit offenem Mund warteten.
»Was bedeutet das?« fragte Louise, ohne sich allzu nahe heranzuwagen. »Das sind meine kleinen Freunde«, erwiderte Pauline. Jetzt dehnte sich ihre tätige Nächstenliebe auf die ganze Gegend aus. Sie liebte aus natürlichem Gefühl die Elenden, fühlte sich nicht abgestoßen von ihrer Verkommenheit, trieb diese Neigung so weit, daß sie mit Stöcken den Hühnern die gebrochenen Pfoten wieder richtete und des Nachts Näpfe mit Suppe für die streunenden Katzen hinausstellte. Sie war beseelt von einer ständigen Sorge um die Leidenden, von dem Bedürfnis und der Freude, ihnen Erleichterung zu verschaffen. Und so kamen die Armen zu ihren ausgestreckten Händen, wie die räuberischen Spatzen zu den offenstehenden Fenstern der Scheunen kommen. Ganz Bonneville, diese Handvoll von Fischern, leidzerfressen unter der zermalmenden Wucht
der Fluten, kam hinauf zu dem »Fräulein«, wie sie sie nannten. Aber sie schwärmte vor allem für die Kinder, die kleinen Jungen mit den durchlöcherten Hosen, durch die ihr rosiges Fleisch hervorsah, die kleinen bleichgesichtigen Mädchen, die sich nicht satt essen konnten und mit den Augen die Schnitten verschlangen, die sie unter sie verteilte. Und die schlauen Eltern spekulierten auf diese Liebe, schickten die Gören mit den schlimmsten Lumpen, mit dem kümmerlichsten Aussehen zu ihr, um noch mehr Mitleid zu erregen. »Du siehst«, begann sie lachend wieder, »am Sonnabend habe ich meinen Empfangstag wie eine Dame. Man kommt mich besuchen ... He, du, kleine Gonin, willst du wohl nicht diesen großen Dummkopf Houtelard kneifen! Ich werde böse, wenn ihr nicht artig seid ... Wir wollen versuchen, der Reihe nach vorzugehen.«
Jetzt begann die Verteilung. Sie hielt sie im Zaum, stupste sie mit Mütterlichkeit zurecht. Der erste, den sie aufrief, war der Sohn von Houtelard, ein zehnjähriger Junge mit gelber Hautfarbe und düsterem, erdfahlem Aussehen. Er zeigte sein Bein, er hatte am Knie eine lange Schramme, und sein Vater schickte ihn zu dem Fräulein, damit sie ihm etwas darauf tue. Sie versorgte die ganze Gegend mit Arnika und Beruhigungstropfen. In ihrer Leidenschaft zu heilen hatte sie sich nach und nach eine komplette Apotheke angeschafft, auf die sie stolz war. Als sie das Kind verbunden hatte, senkte sie die Stimme und unterrichtete Louise über Einzelheiten. »Meine Liebe, reiche Leute, diese Houtelards, die einzigen reichen Fischer von Bonneville. Du weißt doch, das große Boot gehört ihnen ... Bloß, entsetzlich geizig, führen ein Hundeleben in unaussprechlichem Schmutz. Und das schlimmste ist, daß der Vater, nachdem er seine Frau zu Tode geprügelt,
seine Magd geheiratet hat, ein entsetzliches Weib, das noch hartherziger ist als er. Jetzt schlagen sie beide dieses arme Wesen halbtot.« Und ohne zu bemerken, daß ihre Freundin unruhig wurde und ihr das alles zuwider war, hob sie die Stimme. »Nun zu dir, Kleine ... Hast du auch die Flasche Chinawein ausgetrunken?« Sie hatte die Tochter von Prouane, dem Kirchendiener, angesprochen. Man hätte sie für eine heilige Therese als Kind halten können, weil sie mit Skrofeln bedeckt und von äußerster Magerkeit war und große hervorstehende Augen hatte, in denen schon die Hysterie flammte. Sie war elf Jahre alt und wirkte kaum wie sieben. »Ja, Mademoiselle Pauline«, stotterte sie, »ich habe getrunken.« »Lügnerin!« rief der Pfarrer, ohne das Damebrett aus den Augen zu lassen. »Dein Vater roch gestern abend wieder nach Wein.«
Daraufhin wurde Pauline ärgerlich. Die Prouanes hatten kein Boot, sammelten Krabben und Muscheln, lebten vom Garnelenfang. Doch dank der Kirchendienerstelle hätten sie noch alle Tage Brot essen können, wäre nicht ihre Trunksucht gewesen. Man fand den Vater und die Mutter quer über der Türschwelle liegen, zu Boden gestreckt durch den Calvados, den schrecklichen normannischen Branntwein, während die Kleine über sie hinwegstieg, um die letzten Tropfen aus ihren Gläsern herauszuschlecken. Wenn Prouane keinen Calvados hatte, trank er den Chinawein seiner Tochter. »Und ich mache mir die Mühe, Chinawein für dich zu bereiten!« sagte Pauline. »Hör zu, ich behalte die Flasche, du kommst jeden Abend um fünf Uhr zu mir und trinkst ihn hier ... Und ich werde dir ein wenig gehacktes rohes Fleisch geben, der Doktor hat es verordnet.«
Dann kam die Reihe an einen großen Jungen von zwölf Jahren, den Sohn von Cuche, einen ausgemergelten, mageren, frühzeitig lasterhaften Bengel. Ihm gab sie ein Brot, einen Topf Rindfleischsuppe und ein Fünffrancsstück. Das war noch eine häßliche Geschichte. Nach der Zerstörung seines Hauses hatte Cuche seine Frau verlassen, um sich bei einer Cousine einzunisten; und die Frau, die sich in ein verfallenes Zollwärterhäuschen zurückgezogen hatte, schlief trotz ihrer abstoßenden Häßlichkeit mit allen Männern im Dorf. Man gab ihr dafür etwas zu essen, manchmal schenkte man ihr auch drei Sous. Der Junge, der das alles miterlebte, kam vor Hunger um. Aber er sprang wie eine wilde Ziege davon, wenn man davon sprach, ihn aus dieser Kloake herauszuholen. Louise, der das alles peinlich war, wandte sich indessen mit verlegener Miene ab, während Pauline ihr ohne jede Verlegenheit diese
Geschichte erzählte. Sie war frei erzogen worden und zeigte angesichts der Schandtaten der Menschen die ruhige Beherztheit der Nächstenliebe, sie wußte alles und sprach über alles mit der Freimütigkeit ihrer Unschuld. Louise hingegen, die durch zehn Jahre Pensionatsleben aufgeklärt war, errötete bei den Bildern, die in ihrem von den Träumen des Schlafsaales verwüsteten Kopfe durch die Worte wachgerufen wurden. Das waren Dinge, an die man wohl dachte, über die man aber auf keinen Fall sprechen durfte. »Da, siehst du«, fuhr Pauline fort, »die Kleine, die übrigbleibt, dieser so freundliche und so rosige Blondkopf von neun Jahren, das ist die Tochter von Gonins, von den Leuten, bei denen sich dieser Taugenichts, dieser Cuche, eingenistet hat ... Die Gonins waren sehr wohlhabend und hatten ein Boot; aber den Vater hat es an den Beinen erwischt, eine Lähmung, die in unseren Dörfern ziemlich häufig auftritt; und Cuche, zunächst ein
einfacher Matrose, wurde bald der Herr über Boot und Frau. Jetzt gehört ihm das Haus, er verprügelt den Siechen, einen großen alten Mann, der Tag und Nacht in einer Kohlenkiste liegt, während der Matrose und die Cousine das Bett für sich behalten haben, und das in derselben Stube ... Nun kümmere ich mich um das Kind. Zu allem Unglück kriegt sie hier und da auch noch Ohrfeigen ab, ganz abgesehen davon, daß sie viel zu klug ist und vieles merkt ...« Sie unterbrach sich und fragte die Kleine: »Wie geht es zu Hause?« Die Kleine hatte mit den Blicken verfolgt, was da mit halber Stimme erzählt wurde. Ihr hübsches Gesicht einer lasterhaften kleinen Göre lachte verschlagen bei den Einzelheiten, die sie erriet. »Sie haben ihn wieder geprügelt«, entgegnete sie und lachte weiter dabei. »Heute nacht ist Mama wieder aufgestanden und hat ein Holzscheit genommen ... Ach, Mademoiselle
Pauline, Sie wären sehr freundlich, wenn Sie ihm ein wenig Wein gäben, denn sie haben einen Krug vor die Kiste gestellt und geschrien, er könne ruhig verrecken.« Louise gab mit einer Handbewegung ihrer Empörung Ausdruck. Was für fürchterliche Leute! Und ihre Freundin brachte Teilnahme für diese Greuel auf! War es möglich, daß es so nahe bei einer großen Stadt wie Caen noch Löcher gab, in denen Menschen wohnten, die so lebten wie richtige Wilde? Denn schließlich konnten nur die Wilden alle göttlichen und menschlichen Gesetze so übertreten. »Nein, meine Liebe«, murmelte sie und setzte sich neben Chanteau. »Ich habe genug von deinen kleinen Freunden! Von mir aus kann das Meer sie holen, ich werde ihnen keine Träne nachweinen!« Der Abbé hatte soeben eine Dame bekommen. Er rief:
»Sodom und Gomorrha! Ich warne diese Leute seit zwanzig Jahren. Da ist ihnen eben nicht zu helfen!« »Ich habe um eine Schule ersucht«, sagte Chanteau betrübt, weil er seine Partie gefährdet sah. »Doch es sind nicht genug, ihre Kinder sollen nach Verchemont gehen; aber sie gehen entweder gar nicht erst hin, oder sie treiben sich auf der Landstraße herum.« Pauline sah die beiden verwundert an. Wenn die Menschen, die sich im Elend befinden, sauber wären, brauchte man sie nicht sauber zu machen. Krankheit und Elend gingen Hand in Hand, sie empfand keinen Widerwillen angesichts des Leidens, selbst wenn es die Folge des Lasters zu sein schien. Sie begnügte sich damit, die Duldsamkeit ihrer Nächstenliebe mit einer weit ausholenden Gebärde zum Ausdruck zu bringen. Und sie versprach der kleinen Gonin, ihren Vater zu besuchen, als Véronique erschien und ein
anderes kleines Mädchen vor sich her schob. »Da, Mademoiselle Pauline, hier ist noch eine!« Diese letzte, die noch ganz klein war, höchstens fünf Jahre alt, war völlig zerlumpt, hatte ein schwarzes Gesicht und zerzaustes Haar. Sogleich begann sie mit der außergewöhnlichen Dreistigkeit einer schon zur Bettelei auf den Landstraßen abgerichteten kleinen Göre zu jammern: »Haben Sie Mitleid ... Mein armer Vater, der hat sich das Bein gebrochen ...« »Das ist die Tochter von Tourmals, nicht wahr?« fragte Pauline das Hausmädchen. Aber der Pfarrer brauste auf: »Ah, die Gaunerin! Hören Sie nicht auf sie, es ist schon fünfundzwanzig Jahre her, daß sich ihr Vater den Fuß verstaucht hat ... Eine Diebesfamilie, die nur von Stehlereien lebt!
Der Vater hilft beim Schmuggeln, die Mutter plündert die Felder von Verchemont leer, der Großvater geht nachts auf der staatlichen Austernbank in Roqueboise Austern sammeln ... Und Sie sehen, was sie aus ihrer Tochter machen: eine Bettlerin, eine Diebin, die sie zu den Leuten schicken, um alles mitgehen zu heißen, was herumliegt ... Sehen Sie nur, wie sie nach meiner Tabakdose schielt.« Tatsächlich war in den flinken Augen der Kleinen, nachdem sie alle Winkel der Terrasse abgesucht, beim Anblick der alten Tabakdose des Priesters eine rasche Flamme aufgeblitzt. Aber sie verlor nicht ihre Dreistigkeit, sie wiederholte, als hätte der Pfarrer nicht ihre Geschichte erzählt: »Das Bein gebrochen ... Geben Sie mir etwas, mein gutes Fräulein ...« Diesmal fing Louise an zu lachen, so drollig kam ihr diese fünfjährige Spottgeburt vor, die
schon abgefeimt war wie Vater und Mutter. Pauline, die ernst geblieben war, holte ihr Portemonnaie hervor und entnahm ihm ein neues Fünffrancsstück. »Hör zu«, sagte sie, »das gebe ich dir jeden Sonnabend, wenn ich erfahre, daß du dich die ganze Woche lang nicht auf den Straßen herumgetrieben hast.« »Nehmen Sie die Eßbestecke fort!« rief Abbé Horteur abermals. »Sie wird Ihnen gleich was stehlen.« Pauline, ohne darauf einzugehen, verabschiedete aber die Kinder, die mit »Danke schön!« und »Vergelt's Ihnen Gott!« in ihren Latschen davonschlurrten. Währenddessen schalt Frau Chanteau, die eben in Louises Zimmer kurz nach dem Rechten gesehen hatte, ganz leise mit Véronique. Das sei ja nicht zum Aushalten, auch das Hausmädchen bringe jetzt Bettlerinnen herein! Als ob Pauline nicht schon genug ins Haus
schleppe! Lauter Geschmeiß, das sie auffresse und sich über sie lustig mache! Gewiß, das Geld gehöre ihr, sie könne es gern nach ihrem Belieben vergeuden; aber es sei doch wahrhaftig nachgerade unmoralisch, das Laster so zu unterstützen. Frau Chanteau hatte gehört, wie das junge Mädchen der kleinen Tourmal für jeden Sonnabend hundert Sous versprach. Wieder zwanzig Francs im Monat! Das Vermögen eines Satrapen würde hier nicht ausreichen. »Du weißt, daß ich diese Diebin hier nicht wiedersehen will«, sagte sie zu Pauline. »Wenn du auch jetzt über dem Vermögen verfügen kannst, darf ich doch nicht zulassen, daß du dich so töricht zugrunde richtest. Ich habe eine moralische Verantwortung ... Jawohl, zugrunde richtest, meine Liebe, und zwar schneller, als du glaubst!« Véronique, die, wütend über Frau Chanteaus Verweis, in ihre Küche zurückgekehrt war,
erschien wieder und rief rücksichtslos: »Der Fleischer ist da ... Er will sein Geld, sechsundvierzig Francs zehn Centimes.« Frau Chanteau war so bestürzt, daß ihr die Worte fehlten. Sie wühlte in ihren Taschen, äußerte mit einer Gebärde ihre Verwunderung. Dann fragte sie mit leiser Stimme: »Sag mal, Pauline, hast du genügend bei dir? ... Ich habe kein Kleingeld, ich müßte erst nach oben gehen. Wir rechnen dann ab.« Pauline folgte dem Hausmädchen, um den Fleischer zu bezahlen. Seit sie ihr Geld in ihrer Kommode hatte, begann die gleiche Komödie immer von neuem, sooft eine Rechnung vorgelegt wurde. So vollzog sich eine schon geregelte Ausplünderung durch fortgesetzt erbetene kleine Summen, was ganz natürlich zu sein schien. Die Tante hatte nicht einmal mehr die Mühe, selber von dem Haufen nehmen zu müssen: Sie verlangte, sie ließ das
junge Mädchen sich mit seinen eigenen Händen um seinen Besitz bringen. Zuerst hatte man noch gezählt und ihr mal zehn, mal fünfzehn Francs zurückgegeben; dann waren die Aufrechnungen so durcheinandergeraten, daß man nur noch davon sprach, sie später, zum Zeitpunkt der Heirat, zu begleichen, was Pauline keineswegs daran hinderte, pünktlich am Ersten eines jeden Monats ihr Kostgeld zu zahlen, das man auf neunzig Francs heraufgesetzt hatte. »Wieder Ihr Geld, das dabei draufgeht!« brummte Véronique im Flur. »Ich hätte Frau Chanteau ruhig ihr Geld holen lassen! Es kann doch wohl nicht erlaubt sein, daß man Ihnen so das Fell über die Ohren zieht!« Als Pauline mit der quittierten Rechnung zurückkam, die sie ihrer Tante übergab, triumphierte der Pfarrer laut. Chanteau war geschlagen; er würde bestimmt nicht eine einzige Partie gewinnen. Die Sonne ging unter,
die schrägen Strahlen färbten das mit träger Flut steigende Meer purpurn. Und Louise lächelte mit gedankenverlorenem Blick dieser Freude des unermeßlichen Horizontes zu. »Louisette ist in die Wolken entschwebt«, sagte Frau Chanteau. »He, Louisette, ich habe deinen Koffer hinaufbringen lassen ... Wir sind also wieder einmal Nachbarn!« Lazare kam erst am folgenden Tag zurück. Nach seinem Besuch beim Unterpräfekten in Bayeux hatte er den Entschluß gefaßt, nach Caen zu gehen, um den Präfekten aufzusuchen. Und wenn er auch den Zuschuß nicht in seiner Tasche mitbrachte, so war er überzeugt, wie er sagte, daß der Generalrat wenigstens die Summe von zwölftausend Francs bewilligen würde. Der Präfekt hatte ihn bis zur Tür begleitet und sich durch förmliche Versprechen verpflichtet: Man könne Bonneville nicht so im Stich lassen, die Behörde sei bereit, den Eifer der Einwohner
der Gemeinde zu unterstützen. Aber Lazare geriet in Verzweiflung, denn er sah alle möglichen Verzögerungen voraus, und der geringste Aufschub bei der Verwirklichung eines seiner Wünsche wurde für ihn zu einer wahren Folter. »Ehrenwort!« rief er. »Wenn ich die zwölf tausend Francs besäße, würde ich sie lieber vorschießen ... Um einen ersten Versuch zu machen, brauchte man nicht einmal diese Summe ... Und ihr werdet sehen, was für Ärger es gibt, wenn sie erst einmal ihren Zuschuß bewilligt haben! Wir werden alle Ingenieure des Departements auf dem Hals haben. Während sie, wenn wir ohne sie begännen, sehr wohl gezwungen wären, sich vor den Ergebnissen zu beugen ... Ich bin meines Vorhabens sicher. Der Präfekt, dem ich es kurz auseinandergesetzt habe, war entzückt, wie billig und einfach es ist.« Die Hoffnung, das Meer zu bezwingen, erregte
ihn leidenschaftlich. Er hegte noch immer einen Groll gegen das Meer, weil er ihm in der Algenaffäre heimlich die Schuld an seinem Ruin gab. Wenn er es nicht laut zu schmähen wagte, so nährte er doch den Gedanken, sich eines Tages zu rächen. Und gab es eine schönere Rache, als ihm in seiner blinden Zerstörung Einhalt zu gebieten, ihm als Herr und Meister zuzurufen: »Bis hierher und nicht weiter!« Abgesehen von der Großartigkeit des Kampfes war bei diesem Unternehmen auch ein Teil Menschenliebe mit im Spiel, was ihn vollends in Schwärmerei versetzte. Als seine Mutter gesehen hatte, wie er die Nase in Lehrbücher der Mechanik steckte und seine Tage damit vertat, Holzstücke zurechtzuschneiden, hatte sie sich zitternd des Großvaters erinnert, des unternehmenden und wirrköpfigen Zimmermanns, dessen unnützes Meisterwerk unter einem Glaskasten schlief. Sollte der Alte etwa wiedererstehen, um den Untergang der Familie zu vollenden? Dann
hatte sie sich von dem angebeteten Sohn überzeugen lassen. Wenn es ihm gelänge, und es würde ihm natürlich gelingen, so wäre dies schließlich der erste Schritt, eine schöne Tat, ein uneigennütziges Werk, das ihn in hellem Licht erscheinen lassen würde; von da aus würde er leicht gelangen, wohin er wollte, so hoch hinaus, wie ihn sein Ehrgeiz triebe. Seit diesem Tage träumte das ganze Haus nur noch davon, das Meer zu demütigen, es am Fuß der Terrasse im Gehorsam eines geprügelten Hundes in Ketten zu legen. Lazares Plan war übrigens, wie er sagte, sehr einfach. Er sah dicke Pfähle vor, die in den Sand gerammt und mit Bohlen beschlagen werden mußten und hinter denen das von der Flut angeschwemmte Geröll eine Art unüberwindliche Mauer bilden sollte, an der sich in der Folge die Wogen brechen würden: Dem Meer selber fiele es auf diese Weise zu, die Schanze zu bauen, die ihm Einhalt gebieten würde. Buhnen, lange, auf
Rammpfählen befestigte Bohlen, die weit draußen, vor den Geröllmauern, als Wellenbrecher dienten, sollten das System vervollständigen. Man konnte schließlich, wenn man die notwendigen Mittel hatte, zwei oder drei große Pfahlwerke bauen, auf Zimmerwerk errichtete ausgedehnte Balkenlagen, deren dichte Massen den Ansturm der höchsten Springflut brechen würden. Lazare hatte den ersten Gedanken im »Handbuch des vollendeten Zimmermannes« gefunden, einer Schwarte mit naiven Bildtafeln, die zweifellos früher einmal vom Großvater gekauft worden war; aber er vervollkommnete diesen Gedanken, er stellte beachtliche Untersuchungen an, studierte die Wirkung der Kräfte, die Widerstandsfähigkeit des Materials, zeigte sich vor allem sehr stolz über eine neue Anordnung und Neigung der Buhnen, die nach seiner Meinung den Erfolg vollkommen sicherstellten. Pauline hatte wieder einmal Interesse für diese
Studien bekundet. In ihr wie auch in dem jungen Mann wurde durch die Experimente, die sie zur Auseinandersetzung mit dem Unbekannten zwangen, unaufhörlich die Neugier geweckt. Aber da sie von kühlerem Verstande war, täuschte sie sich nicht mehr über die möglichen Mißerfolge. Wenn sie das Meer steigen, die Erde mit seiner Brandung wegfegen sah, richtete sie Blicke des Zweifels auf die Spielzeuge, die Lazare gebaut hatte. Pfahlreihen, Schutzbuhnen, Wellenbrecher in Miniaturausfertigung. Das große Zimmer war jetzt damit überfüllt. Eines Nachts stand das junge Mädchen noch sehr spät an seinem Fenster. Seit zwei Tagen sprach Lazare davon, alles zu verbrennen; eines Abends bei Tisch hatte er ausgerufen, er werde nach Australien gehen, da es für ihn in Frankreich keinen Platz gebe. Und sie dachte an diese Dinge, während die Flut, die ihren höchsten Stand erreicht hatte, auf dem Grunde der Finsternis Bonneville umbrandete. Jeder
Anprall erschütterte sie, sie glaubte in regelmäßigen Abständen das Heulen der vom Meer verschlungenen Elenden zu vernehmen. Da wurde der Kampf, den die Liebe zum Geld abermals ihrer Güte lieferte, unerträglich. Sie schloß das Fenster, weil sie nicht länger hinhören wollte. Doch die fernen Schläge ließen ihr keine Ruhe in ihrem Bett. Warum nicht das Unmögliche versuchen? Was bedeutete schon das ins Wasser geworfene Geld, wenn sich eine einzige Aussicht bot, das Dorf zu retten? Und sie schlief bei Tagesanbruch ein im Gedanken an die Freude ihres Cousins, der, aus seinem finsteren Trübsinn gerissen, vielleicht endlich auf den richtigen Weg gebracht und durch sie glücklich würde und ihr so alles verdankte. Am nächsten Morgen rief sie ihn, bevor sie hinunterging. Sie lachte. »Weißt du was? Ich habe geträumt, ich leihe dir deine zwölf tausend Francs!«
Er wurde ärgerlich, lehnte heftig ab. »Willst du denn, daß ich abreise und nicht wieder auftauche? Nein, es ist schon genug mit der Fabrik. Ich sterbe vor Scham darüber, wenn ich es dir auch nicht gesagt habe.« Zwei Stunden später nahm er an, drückte er ihr die Hände mit leidenschaftlichem Überschwang. Es sei nur ein Vorschuß; ihr Geld laufe keinerlei Gefahr, denn die Bewilligung der Unterstützung durch den Generalrat stehe außer Zweifel, vor allem angesichts der bereits begonnenen Ausführung. Und schon am Abend wurde der Zimmermann von Arromanches gerufen. Es gab endlose Besprechungen, Spaziergänge längs der Küste, eine erbitterte Auseinandersetzung über die Kostenanschläge. Das ganze Haus verlor darüber den Kopf. Frau Chanteau indessen war außer sich geraten, als sie von dem Darlehen von zwölftausend Francs erfuhr. Lazare war
erstaunt und begriff nicht. Seine Mutter überschüttete ihn mit sonderbaren Beweisgründen: Gewiß strecke Pauline ihnen von Zeit zu Zeit kleine Beträge vor, doch sie werde sich am Ende noch für unentbehrlich halten, man hätte recht gut Louises Vater um die Eröffnung eines Kredits bitten können. Louise selber, die eine Mitgift von zweihunderttausend Francs habe, mache nicht so viel Gewese mit ihrem Vermögen. Diese Summe von zweihunderttausend Francs kam Frau Chanteau unaufhörlich über die Lippen; und sie schien eine zornige Verachtung gegen die Trümmer des anderen Vermögens zu hegen, jenes Vermögens, das in dem Sekretär dahingeschmolzen war und das in der Kommode weiter dahinschmolz. Auf Betreiben seiner Frau tat Chanteau ebenfalls so, als sei er ärgerlich. Pauline empfand darüber schweren Kummer; selbst wenn sie ihr Geld gab, fühlte sie sich weniger geliebt als früher; sie war gleichsam von
einem Groll umgeben, dessen Ursache sie sich nicht zu erklären vermochte und der von Tag zu Tag zunahm. Was Doktor Cazenove betraf, so schalt er ebenfalls, wenn sie ihn der Form halber um Rat fragte; aber er war wohl oder übel gezwungen gewesen, zu allen Darlehen, den kleinen wie den großen, ja zu sagen. Seine Aufgabe als Kurator blieb illusorisch, er sah sich entwaffnet in diesem Haus, in dem er als alter Freund empfangen wurde. Am Tage der zwölf tausend Francs lehnte er jede Verantwortung ab. »Mein Kind«, sagte er und nahm Pauline beiseite. »Ich will nicht länger Ihr Mitwisser sein. Fragen Sie mich nicht mehr um Rat, ruinieren Sie sich, wie Ihr Herz es Ihnen eingibt ... Sie wissen sehr wohl, daß ich Ihren Bitten niemals widerstehen werde; und wirklich, ich leide nachher darunter, ich habe ein ganz schlechtes Gewissen ... Ich möchte das, was ich mißbillige, lieber nicht wissen.«
Sie blickte ihn sehr bewegt an. Dann sagte sie nach einem Schweigen: »Danke, mein guter Doktor ... Aber ist das nicht das Vernünftigste? Was bedeutet das schon, wenn ich nur glücklich bin!« Er hatte ihre Hände gefaßt und drückte sie väterlich in trauriger Ergriffenheit. »Ja, wenn Sie glücklich sind ... Nun, auch das Unglück wird zuweilen recht teuer erkauft.« Natürlich hatte Lazare in der Hitze dieser Schlacht, die er dem Meer lieferte, die Musik aufgegeben. Feiner Staub legte sich auf das Klavier, die Partitur seiner großen Sinfonie war dank Pauline, die die einzelnen Blätter sogar unter den Möbeln aufgelesen hatte, wieder hinten in ein Schubfach zurückgekehrt. Im übrigen befriedigten ihn manche Stellen nicht mehr; so würde die himmlische Süße der endgültigen Vernichtung, die auf alltägliche Weise durch eine Walzerbewegung
wiedergegeben war, vielleicht besser durch ein sehr verlangsamtes Marschtempo zum Ausdruck gebracht werden. Eines Abends hatte er erklärt, er würde alles von vorn beginnen, wenn er die Zeit dazu hätte. Und sein aufflammendes Verlangen, sein Unbehagen bei der ständigen Berührung mit dem jungen Mädchen schien zugleich mit dem Fieber seines Genies verflogen. Es war ein Meisterwerk, das er auf eine bessere Zeit vertagte, eine gleichfalls hinausgezögerte große Leidenschaft, deren Stunde er anscheinend zurückstellen oder vorstellen konnte. Er behandelte seine Cousine wieder als alte Freundin, als Ehefrau, die sich an dem Tage, da er die Arme ausbreitete, hingeben würde. Seit April lebten sie nicht mehr in so enger Eingeschlossenheit, der Wind trug die Glut ihrer Wangen davon. Das große Zimmer war leer, beide durchstreiften den felsigen Strand vor Bonneville und nahmen die Stellen in Augenschein, an denen das Pfahlwerk und
die Schutzbuhnen errichtet werden sollten. Oft kehrten sie mit den Füßen im kühlen Wasser müde und rein zurück wie in den fernen Tagen der Kindheit. Als Pauline, um Lazare zu necken, den großartigen Todesmarsch spielte, rief er: »Hör doch auf! Dummheiten.«
...
Was
sollen
diese
Am Abend nach dem Besuch des Zimmermanns wurde Chanteau von einem Gichtanfall gepackt. Jetzt kehrten die Anfälle fast jeden Monat wieder; das Salizylpräparat schien, nachdem es sie zunächst gemildert hatte, ihre Heftigkeit zu verdoppeln. Und Pauline kam vierzehn Tage lang nicht vom Bett ihres Onkels weg. Lazare, der seine Untersuchungen am Strande fortsetzte, begann jetzt Louise mitzunehmen, um sie von dem Kranken fernzuhalten, dessen Schreie sie erschreckten. Da sie das Gästezimmer gerade über Chanteaus Zimmer bewohnte, mußte sie
sich, um schlafen zu können, die Ohren zustopfen und den Kopf im Kissen vergraben. Draußen lächelte sie wieder, war entzückt über den Spaziergang und vergaß den armen heulenden Mann. Das waren vierzehn bezaubernde Tage. Der junge Mann hatte seine neue Begleiterin zunächst mit Verwunderung betrachtet. Sie war ganz anders als Pauline, schrie auf, wenn eine Krabbe ihr Stiefelchen streifte, fürchtete sich vor dem so großen Wasser, so daß sie sich schon ertrunken glaubte, wenn sie über eine Pfütze springen mußte. Die Kiesel verletzten ihre kleinen Füße, sie trennte sich nie von ihrem Sonnenschirm, trug Handschuhe bis zu den Ellbogen, in der ständigen Angst, ein Eckchen ihrer zarten Haut der Sonne auszusetzen. Nach dem ersten Erstaunen hatte er sich dann verlocken lassen durch diese ängstliche Geziertheit, diese Schwäche, die stets bereit war, ihn um Schutz zu bitten. Diese hier roch nicht nur nach der frischen Luft, sie
berauschte ihn durch ihren lauen Heliotropduft; und es war schließlich kein Junge mehr, der an seiner Seite galoppierte, es war ein Weib, das ihm das Blut in den Adern pulsen ließ, wenn er bei einem Windstoß flüchtig ihre Strümpfe erblickte. Sie war jedoch weniger schön als die andere, war älter und schon verblaßt; aber es ging von ihr ein einschmeichelnder Zauber aus, ihre kleinen, geschmeidigen Glieder hatten hingebungsvolle Bewegungen, ihre ganze kokette Person schmolz hin in Glücksverheißungen. Es schien ihm, als entdeckte er sie plötzlich, er erkannte das magere Mädchen von einst nicht wieder. War es möglich, daß die langen Pensionatsjahre dieses so verwirrende junge Mädchen aus ihr gemacht hatten, das in seiner Jungfräulichkeit so vom Manne erfüllt war und auf dem Grunde seiner klaren Augen die Lüge seiner Erziehung trug? Und er faßte nach und nach eine absonderliche Neigung zu ihr, eine abwegige Leidenschaft, in der seine einstige
Kinderfreundschaft sich in eine raffinierte Sinnlichkeit verwandelte. Als Pauline das Zimmer ihres Onkels verlassen konnte und Lazare wieder zu begleiten begann, spürte sie sogleich zwischen diesem und Louise ein neues Verhalten, Blicke, Lachen, woran sie nicht teilhatte. Sie wollte sich erklären lassen, was die beiden so erheiterte, und vermochte kaum darüber zu lachen. An den ersten Tagen blieb sie mütterlich und behandelte sie wie junge Narren, die ein Nichts belustigt. Bald aber wurde sie traurig, jeder Spaziergang schien für sie eine Anstrengung zu sein. Es entschlüpfte ihr jedoch keine Klage; sie sprach von anhaltenden Migränen; wenn Lazare ihr dann riet, nicht auszugehen, wurde sie ärgerlich, wich selbst im Hause nicht mehr von seiner Seite. Als er eines Nachts gegen zwei Uhr noch nicht zu Bett gegangen war, weil er erst einen Plan fertigstellen wollte, öffnete er seine Tür, denn er hatte zu seiner Verwunderung
Schritte gehört; sein Erstaunen wuchs, als er sah, wie sie sich, nur im Unterrock und ohne Licht, über das Geländer beugte und auf die Geräusche aus den Zimmern unten horchte. Sie erzählte, sie habe geglaubt, Klagelaute zu vernehmen. Doch diese Lüge trieb ihr das Blut in die Wangen, er wurde ebenfalls rot, weil er plötzlich an ihren Worten zweifelte. Seitdem herrschte, ohne daß sie sich weiter darüber ausgesprochen hätten, Verstimmung zwischen ihnen. Er wandte den Kopf ab, fand sie lächerlich, daß sie wegen Kindereien derart schmollte, während sie immer finsterer wurde, ihn nicht eine Minute mit Louise allein ließ, die geringsten Gebärden der beiden beobachtete und am Abend in ihrem Zimmer Todesqualen litt, wenn sie gesehen hatte, daß sie bei der Rückkehr vom Strand leise miteinander sprachen. Mit den Arbeiten ging es vorwärts. Ein Trupp Zimmerleute nagelte starke Bohlen auf eine Reihe von Pfählen und vollendete eine erste
Buhne. Es war im übrigen ein bloßer Versuch, sie beeilten sich in Erwartung einer Hochflut; wenn die Holzbalken widerstanden, würde man das Schutzsystem vervollständigen. Das Wetter war zu allem Unglück abscheulich. Regengüsse gingen ohne Unterlaß nieder, ganz Bonneville wurde pitschnaß, nur weil man sehen wollte, wie die Pfähle mit Hilfe einer Ramme in den Boden getrieben wurden. Am Morgen des Tages endlich, an dem man die Hochflut erwartete, verdüsterte ein tintenschwarzer Himmel das Meer; von acht Uhr an ging der Regen mit doppelter Gewalt nieder und ertränkte den Horizont in eisigem Nebel. Das war ein Jammer, denn man hatte sich vorgenommen, mit der ganzen Familie hinzugehen und dem Sieg der Bohlen und Balken unter dem Ansturm der Wasserfluten beizuwohnen. Frau Chanteau beschloß, bei ihrem noch sehr leidenden Gatten zu bleiben. Und man gab sich die größte Mühe, Pauline zurückzuhalten,
die seit einer Woche einen entzündeten Hals hatte: Sie war etwas heiser, jeden Abend bekam sie einen leichten Fieberanfall. Doch sie wies alle Ratschläge zur Vorsicht zurück, sie wollte an den Strand gehen, weil Lazare und Louise auch hingingen. Diese Louise mit ihrem so zerbrechlichen Gehabe, die stets der Ohnmacht nahe war, verfügte im Grunde über eine erstaunliche Nervenkraft, wenn ein Vergnügen sie aufrecht hielt. Alle drei brachen also nach dem Frühstück auf. Ein Windstoß hatte gerade die Wolken fortgefegt, triumphierendes Lachen begrüßte diese unerwartete Freude. Am Himmel waren so ausgedehnte blaue, noch von einigen schwarzen Fetzen durchzogene Flächen, daß die jungen Mädchen darauf bestanden, nur ihre Sonnenschirme mitzunehmen. Lazare allein nahm einen Regenschirm. Im übrigen bürgte er für ihre Gesundheit, er würde sie schon irgendwo unterstellen, wenn die Regengüsse von neuem einsetzten.
Pauline und Louise gingen voraus. Doch gleich an dem steilen Hang, der nach Bonneville hinunterführte, schien Louise auf der aufgeweichten Erde fehlzutreten, und Lazare eilte zu ihr und bot ihr an, sie zu stützen, Pauline mußte ihnen folgen. Ihre anfängliche Fröhlichkeit war dahin, ihre argwöhnischen Blicke bemerkten, daß der Ellbogen ihres Cousins mit einer ständigen Liebkosung Louises Taille streifte. Bald sah sie nur noch diese Berührung, alles andere verschwand, sowohl der Strand, an dem die Fischer aus dem Ort mit spöttischer Miene warteten, als auch das steigende Meer und die schon von Gischt weiße Buhne. Am Horizont wuchs ein düsterer Balken, eine Wetterwolke, die im Sturmgalopp herannahte. »Teufel!« murmelte der junge Mann und wandte sich um. »Wir werden wieder eine schöne Brühe bekommen ... Aber der Regen wird uns schon Zeit zum Sehen lassen, und wir werden uns gegenüber, bei den Houtelards, in
Sicherheit bringen.« Die Flut, die den Wind gegen sich hatte, stieg mit aufreizender Langsamkeit. Zweifellos würde dieser Wind sie hindern, so stark zu werden, wie sie vorausgesagt worden war. Niemand jedoch verließ den Strand. Die halb vom Wasser überspülte Buhne tat ihre Schuldigkeit, brach die Wogen, die dann, in ihrer Wucht geschwächt, bis zu den Füßen der Zuschauer brodelten. Der Triumph jedoch war der siegreiche Widerstand der Pfähle. Bei jeder Woge, die sie überspülte, hörte man, wie die Meereskiesel, die sie mit sich führte, auf der anderen Seite der Bohlen niederfielen und sich anhäuften, als sei plötzlich eine Fuhre Steine entladen worden; und diese Mauer, die sich von selbst erbaute, das war der Erfolg, die Verwirklichung des versprochenen Schutzdammes. »Ich hab es ja gesagt!« rief Lazare. »Jetzt könnt ihr euch alle über das Meer lustig
machen!« Neben ihm stand Prouane, der seit drei Tagen nicht nüchtern geworden war, schüttelte den Kopf und stotterte: »Erst mal sehen, wenn der Wind von See bläst.« Die anderen Fischer schwiegen. Doch an der Art, wie Cuche und Houtelard den Mund verzogen, war zu erkennen, daß sie nur ein mäßiges Vertrauen zu all diesen Kniffen hatten. Außerdem hätten sie es nicht gern gesehen, daß dieses Meer, das sie zerschmetterte, von diesem schwächlichen Bürgersöhnchen bezwungen wurde. Sie würden schön lachen, wenn es ihm eines Tages seine Balken wie Strohhalme fortschwemmen würde. Mochte ruhig das Dorf dabei draufgehen, es wäre dennoch ein Spaß. Plötzlich brach der Platzregen los. Schwere Tropfen fielen aus der fahlen Wolke, die drei
Viertel des Himmels überzogen hatte. »Das ist nichts, warten wir noch einen Augenblick«, wiederholte Lazare begeistert. »Seht doch, seht doch, nicht ein Pfahl rührt sich!« Er hatte seinen Regenschirm über Louises Kopf aufgespannt. Diese drängte sich gleich einer fröstelnden Turteltaube noch enger an ihn. Und Pauline, die die beiden ganz vergessen hatten, schaute sie immerfort an, von finsterer Wut gepackt, und glaubte die Hitze ihrer innigen Umarmung im Gesicht zu spüren. Es goß jetzt in Strömen, Lazare wandte sich plötzlich um. »Was ist denn?« rief er. »Bist du wahnsinnig? Spann wenigstens deinen Sonnenschirm auf.« Sie stand da unter dieser Sintflut, die sie nicht zu spüren schien. Sie erwiderte mit heiserer Stimme: »Laß mich in Ruhe, ich fühle mich sehr wohl.«
»Oh, Lazare, ich bitte Sie«, sagte Louise tief bekümmert, »zwingen Sie sie doch, unter unsern Schirm zu kommen ... Wir haben alle drei Platz.« Aber in ihrer wilden Halsstarrigkeit geruhte Pauline nicht einmal mehr abzulehnen. Sie fühlte sich wohl, warum störte man sie? Und als er, mit seinen Bitten am Ende, wieder begann: »Das ist doch blödsinnig, laßt uns zu den Houtelards laufen!«, erklärte sie grob: »Lauft, wohin ihr wollt ... Da wir ja hergekommen sind, um uns das anzusehen, will ich mir's auch ansehen.« Die Fischer waren geflohen. Pauline verharrte unbeweglich unter dem Regenguß, den Bohlen zugewandt, die die Wogen vollständig überspülten. Dieses Schauspiel schien sie gänzlich in Anspruch zu nehmen, trotz des Wasserstaubs, in dem jetzt alles verschwamm, eines grauen Staubes, der, vom Regen durchsiebt, aus dem Meer aufstieg. Ihr
triefendes Kleid zeichnete sich an Schultern und Armen in großen dunklen Flecken ab. Und sie war nicht eher dazu zu bewegen, den Platz zu verlassen, als bis der Westwind die Wolke davongeweht hatte. Alle drei kehrten schweigend heim. Mit keinem Wort wurde von dem Vorkommnis dem Onkel oder der Tante berichtet. Pauline war rasch nach oben gegangen, um die Wäsche zu wechseln, während Lazare vom vollen Erfolg des Versuches berichtete. Am Abend bei Tisch bekam Pauline wieder einen Fieberanfall; aber sie behauptete, es sei nicht schlimm, trotz der offensichtlichen Qualen, die ihr das Schlucken bei jedem Bissen bereitete. Sie gab schließlich Louise, die sich mit zärtlicher Miene um sie sorgte und sie unaufhörlich nach ihrem Befinden fragte, sogar eine grobe Antwort. »Wirklich, sie wird unausstehlich mit ihrem schlechten Charakter«, murmelte Frau
Chanteau hinter ihr her. »Man mag sie schon nicht mehr ansprechen.« In jener Nacht wurde Lazare gegen ein Uhr von einem so schmerzhaft trockenen hohlen Husten geweckt, daß er sich aufsetzte, um zu horchen. Er dachte zunächst, es sei seine Mutter; dann veranlaßte ihn, als er noch immer lauschte, der jähe Fall eines Körpers, von dem der Fußboden erzitterte, aus dem Bett zu springen und sich eilig anzuziehen. Das konnte nur Pauline sein, der Körper schien hinter der Wand niedergefallen zu sein. Mit seinen fahrigen Fingern zerbrach er die Streichhölzer. Endlich konnte er mit seinem Leuchter aus dem Zimmer gehen, und er fand zu seiner Überraschung die Tür gegenüber offenstehen. Die Schwelle versperrend, auf der Seite ausgestreckt, lag das junge Mädchen im Hemd, mit nackten Armen und Beinen da. »Was ist denn?« ausgeglitten?«
rief
er.
»Bist
du
Der Gedanke, daß sie umherschlich, um ihn wieder zu belauern, war ihm durch den Kopf gegangen. Doch sie antwortete nicht, sie regte sich nicht, und er sah sie mit geschlossenen Augen, als sei sie erschlagen worden, daliegen. Zweifellos hatte in dem Augenblick, da sie Hilfe holen wollte, ein plötzlicher Schwindelanfall sie auf die Fliesen niedergestreckt. »Pauline, antworte mir, ich flehe dich an ... Wo tut es dir weh?« Er hatte sich niedergebeugt, er leuchtete ihr ins Gesicht. Sie war hochrot und schien in heftigem Fieber zu glühen. Das unwillkürliche Gefühl der Verlegenheit, das ihn angesichts dieser jungfräulichen Nacktheit zögern ließ, so daß er es nicht wagte, sie um den Leib zu fassen, um sie auf ihr Bett zu legen, wich sogleich seiner brüderlichen Besorgnis. Er sah ihre Blöße nicht mehr, er faßte sie im Kreuz und an den Schenkeln, ohne sich dieser
Frauenhaut auch nur bewußt zu sein, die da seine Männerbrust berührte. Und als er sie wieder ins Bett gelegt hatte, fragte er sie abermals, bevor er noch daran dachte, sie wieder zuzudecken. »Mein Gott! So sprich doch ... Hast du dich vielleicht verletzt?« Bei der Erschütterung hatte sie die Augen aufgeschlagen. Aber sie sprach noch immer nicht, sie sah ihn starr an; und da er weiter in sie drang, faßte sie sich schließlich mit der Hand an den Hals. »Der Hals tut dir weh?« Da sagte sie mit veränderter, mühsamer und pfeifender Stimme sehr leise: »Zwing mich nicht, zu sprechen, ich bitte dich ... Das tut mir so weh.« Und sie bekam sofort einen Hustenanfall, jenen trockenen Husten, den er von seinem
Zimmer aus gehört hatte. Ihr Gesicht lief blau an, der Schmerz wurde so stark, daß ihre Augen sich mit schweren Tränen füllten. Sie faßte sich mit beiden Händen an ihren armen hin und her geschüttelten Kopf, in dem gräßliche Kopfschmerzen hämmerten. »Das hast du dir heute geholt«, stammelte er außer sich. »Wie konntest du auch so unvernünftig sein, wo du schon vorher krank warst!« Doch er hielt inne, als er wieder ihren flehenden Blicken begegnete. Mit tastender Hand suchte sie nach ihren Decken. Er deckte sie bis zum Kinn hoch zu. »Willst du den Mund aufmachen, damit ich hineinsehen kann?« Sie brachte die Kiefer kaum auseinander. Er hielt die Flamme der Kerze näher, er sah nur mit Mühe den entzündeten, trockenen, stark geröteten Rachen. Es war offensichtlich
Angina. Nur dieses schreckliche Fieber, die fürchterlichen Kopfschmerzen versetzten ihn in Schrecken über die Art dieser Angina. Das Gesicht der Kranken brachte ein so qualvolles Gefühl des Erwürgtwerdens zum Ausdruck, daß er wahnsinnige Angst bekam, sie würde vor seinen Augen ersticken. Sie konnte nicht mehr schlucken, jede Schluckbewegung schüttelte ihren ganzen Körper. Ein neuer Hustenanfall ließ sie abermals das Bewußtsein verlieren. Und er geriet vollends aus der Fassung, er rannte und donnerte mit Faustschlägen an die Tür des Hausmädchens. »Véronique! Véronique! Steh auf! Pauline stirbt!« Als Véronique verstört und halbbekleidet in Paulines Zimmer trat, stand Lazare fluchend und herumfuchtelnd in der Mitte des Raumes. »Was für ein erbärmliches Nest! Man kann ja hier glatt wie ein Hund verrecken ... Mehr als zwei Meilen, wenn man Hilfe holen will!«
Er ging auf Véronique zu. »Versuche, sofort jemand nach dem Doktor zu schicken!« Véronique war näher ans Bett getreten, sie betrachtete die Kranke, war erschüttert, daß sie so rot aussah, und aufs tiefste erschrocken in ihrer wachsenden Zuneigung zu diesem Kind, das sie zunächst nicht hatte ausstehen können. »Ich laufe selber hin«, sagte sie einfach. »Das geht schneller ... Frau Chanteau kann ja unten Feuer machen, wenn Sie das für nötig halten.« Und noch gar nicht ganz wach, zog sie derbe Stiefel an und hüllte sich in ein Umschlagtuch; nachdem sie beim Hinuntergehen Frau Chanteau Bescheid gesagt hatte, ging sie dann mit weit ausholenden Schritten auf der schlammigen Landstraße davon. Von der Kirche schlug es zwei Uhr, die Nacht war so stockdunkel, daß sie über die Steinhaufen stolperte.
»Was ist denn los?« fragte Frau Chanteau, als sie heraufkam. Lazare antwortete kaum. Er hatte soeben wild im Schrank gewühlt und nach seinen alten Medizinbüchern gesucht; und über die Kommode gebeugt, blätterte er mit zitternden Fingern die Seiten um und versuchte, sich die Vorlesungen, die er einst gehört, ins Gedächtnis zu rufen. Aber alles geriet ihm durcheinander, verwirrte sich ihm, er schlug unaufhörlich im Inhaltsverzeichnis nach und fand nichts mehr. »Es ist ohne Zweifel nur eine starke Migräne«, wiederholte Frau Chanteau, die sich gesetzt hatte. »Das beste wäre, sie schlafen zu lassen.« Da platzte er los. »Eine Migräne! Eine Migräne! Hör zu, Mama, du regst mich auf, daß du da so ruhig bleibst. Geh hinunter und mach Wasser heiß.« »Es ist wohl unnötig, Louise zu stören, nicht
wahr?« fragte sie noch. »Ja, ja, vollkommen unnötig ... Ich brauche niemand. Ich werde schon rufen.« Als er allein war, ging er zurück und ergriff Paulines Hand, um ihr den Puls zu fühlen. Er zählte hundertfünfzehn Schläge in der Minute. Und er fühlte, wie diese brennendheiße Hand die seine drückte. Das junge Mädchen, dessen schwere Augenlider geschlossen blieben, legte in diesen Händedruck einen Dank und seine Bitte um Verzeihung. Wenn sie auch nicht lächeln konnte, so wollte sie ihm doch zu verstehen geben, daß sie gehört hatte, daß sie sehr gerührt war, ihn da zu wissen, allein mit ihr, ohne mehr an eine andere zu denken. Gewöhnlich graute ihm vor dem Leiden, bei der geringsten Unpäßlichkeit der Seinen rannte er davon, so schlecht eignete er sich zum Krankenpfleger, war so wenig seiner Nerven sicher, wie er sagte, daß er fürchtete, in Schluchzen auszubrechen. Daher auch
empfand sie dankerfülltes Staunen, als sie merkte, daß er sich so aufopferte. Er selber hätte nicht zu sagen vermocht, welcher Eifer ihn antrieb, welches Bedürfnis, sich einzig auf sich selbst zu verlassen, um ihr Erleichterung zu verschaffen. Der glutvolle Druck dieser kleinen Hand erschütterte ihn, er wollte ihr Mut machen. »Es ist nichts, mein Liebling. Ich warte auf Cazenove ... Vor allem hab keine Angst.« Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen und murmelte mühsam: »Oh! Ich hab keine Angst ... Das macht dir so viele Ungelegenheiten, und das bekümmert mich.« Mit noch leiserer Stimme hauchte sie dann: »Nicht wahr, du verzeihst mir? Ich bin heute häßlich gewesen.« Er hatte sich über sie gebeugt, um sie auf die Stirn zu küssen, als sei sie seine Frau, und er wandte sich ab, denn die Tränen erstickten ihn.
Es kam ihm der Gedanke, wenigstens einen Beruhigungstrank zuzubereiten, bis der Arzt da wäre. Die Hausapotheke des jungen Mädchens befand sich in einem schmalen Wandschrank. Allein er fürchtete, sich zu irren, er fragte sie nach den Fläschchen, goß schließlich einige Morphiumtropfen in ein Glas Zuckerwasser. Wenn sie einen Löffel voll hinunterschluckte, war der Schmerz so heftig, daß er jedesmal zögerte, ihr noch einen zu geben. Das war alles, er fühlte sich außerstande, mehr zu versuchen. Das Warten wurde entsetzlich. Wenn er sie nicht mehr leiden sehen konnte und ihm die Beine durch das Stehen am Bett wie zerschlagen waren, schlug er wieder seine Bücher auf, in dem Glauben, er werde endlich den Fall und das Heilmittel finden. War es etwa eine Rachenbräune? Er hatte indessen keinen Belag auf den Pfeilern des Gaumensegels bemerkt; und er vertiefte sich in die Lektüre der Beschreibung und der Behandlung der
Rachenbräune, verlor sich im Gewirr langer Sätze, deren Sinn ihm entging, eifrig bemüht, die nutzlosen Einzelheiten zu buchstabieren, wie ein Kind, das eine unverständliche Aufgabe auswendig lernt. Dann führte ihn ein Seufzer wieder an das Bett zurück, er zitterte, während ihm der Kopf von wissenschaftlichen Worten brummte, deren holprige Silben seine innere Unruhe verdoppelten. »Nun?« fragte Frau Chanteau, die leise wieder heraufgekommen war. »Immer noch dasselbe«, erwiderte er. Und er brauste auf. »Das ist ja schrecklich mit diesem Arzt ... Man könnte inzwischen zwanzigmal sterben.« Da die Türen offengeblieben waren, war Mathieu, der unter dem Küchentisch schlief, in seiner Sucht, den Leuten in alle Räume des Hauses zu folgen, die Treppe heraufgekommen. Seine dicken Pfoten machten auf dem Fliesenboden ein Geräusch
wie alte wollene Hausschuhe. Er war sehr vergnügt über dieses nächtliche Unternehmen, er wollte zu Pauline ins Bett springen und schnappte nach seinem eigenen Schwanz, denn er merkte nicht, wie traurig seine Herrschaft war. Und Lazare, der über diese unpassende Freude aufgebracht war, versetzte ihm einen Fußtritt. »Hau ab oder ich erwürge dich! Siehst du denn nicht, du Dummkopf!« Ganz betroffen, daß er geschlagen wurde, schnupperte der Hund herum, als hätte er plötzlich alles begriffen, und kroch demütig unter das Bett. Aber über diese Roheit war Frau Chanteau entrüstet. Ohne zu warten, ging sie wieder in die Küche hinunter und sagte kurz angebunden: »Wenn du willst ... Das Wasser ist sicher schon heiß.« Lazare hörte sie auf der Treppe schimpfen, es
sei empörend, ein Tier so zu schlagen, er würde am Ende noch sie selber schlagen, wenn sie dabliebe. Er, der gewöhnlich vor seiner Mutter auf den Knien lag, machte hinter ihr eine Gebärde maßloser Gereiztheit. Alle Minuten warf er einen Blick auf Pauline. Vom Fieber zermalmt, schien sie jetzt ins Nichts gesunken; und in der erschauernden Stille des Raumes war von ihr nur noch das Rasseln ihres Atems zu hören, der in das Röcheln einer Sterbenden überzugehen schien. Die Angst ergriff ihn wieder, unvernünftige, unsinnige Angst: Sie würde sicher gleich ersticken, wenn keine Hilfe käme. Er durchmaß ruhelos das Zimmer, schaute unaufhörlich auf die Pendeluhr. Kaum drei Uhr, Véronique war noch nicht beim Arzt angekommen. Er folgte ihr in der stockdunklen Nacht auf der Landstraße nach Arromanches: Jetzt hatte sie den Eichenwald hinter sich gelassen und kam bei der kleinen Brücke an, sie würde fünf Minuten gewinnen, wenn sie den Hang
hinunterrannte. Jetzt veranlaßte ihn ein heftiges Verlangen, irgend etwas zu erfahren, das Fenster zu öffnen, obwohl er in diesem Abgrund von Finsternis nichts zu unterscheiden vermochte. Ein einziges Licht brannte tief unten in Bonneville, zweifellos die Laterne eines Fischers, der aufs Meer hinausfuhr. Es herrschte unheimliche Traurigkeit, unendliche Verlassenheit, in der er zu spüren glaubte, wie alles Leben dahinrollte und verlöschte. Er schloß das Fenster, öffnete es dann wieder, um es bald von neuem zu schließen. Das Zeitgefühl ging ihm schließlich verloren, er wunderte sich, es drei Uhr schlagen zu hören. Jetzt hatte der Doktor anspannen lassen, der Wagen flog auf dem Wege dahin und durchbohrte mit seinem gelben Auge die Dunkelheit. Und Lazare war angesichts der zunehmenden Atemnot der Kranken vor Ungeduld so verstört, daß er wie aus dem Schlaf aufschreckte, als gegen vier Uhr das Geräusch rascher Schritte die Treppe
heraufkam. »Endlich sind Sie da!« rief er. Doktor Cazenove ließ sogleich eine zweite Kerze anzünden, um Pauline zu untersuchen. Lazare hielt die eine, während Véronique, deren Haar vom Wind zerzaust war und die bis zur Taille mit Schmutz bespritzt war, auf der anderen Seite am Kopfende des Bettes stand und die andere Kerze nahe heranhielt. Frau Chanteau sah zu. Die schlaftrunkene Kranke konnte den Mund nicht öffnen, ohne Wehlaute auszustoßen. Nachdem der Doktor sie sanft wieder hingelegt hatte, trat er, der bei seinem Kommen sehr besorgt gewesen war, mit ruhigerer Miene in die Mitte des Zimmers zurück. »Die Véronique hat mir eine schöne Angst eingejagt!« murmelte er. »Nach den ungereimten Geschichten, die sie mir erzählt hat, glaubte ich, es handele sich um eine Vergiftung ... Sie sehen, ich hatte mir die
Taschen mit Arzneien vollgestopft.« »Es ist eine Angina, nicht wahr?« fragte Lazare. »Ja, eine einfache Angina ... Es besteht keine unmittelbare Gefahr.« Frau Chanteau machte eine triumphierende Gebärde, um zu verstehen zu geben, daß sie das ja gleich gewußt habe. »Keine unmittelbare Gefahr«, wiederholte Lazare, neuerlich von Furcht ergriffen. »Befürchten Sie Komplikationen?« »Nein«, erwiderte der Arzt nach einem Zögern. »Aber bei diesen verteufelten Halsleiden weiß man nie.« Und er gestand, daß vorerst nichts zu machen sei. Er wünschte den nächsten Morgen abzuwarten, bevor er die Kranke zur Ader ließe. Da der junge Mann ihn anflehte, ihr doch wenigstens Erleichterung zu verschaffen,
wollte er es außerdem gern mit Senfpflastern versuchen. Véronique brachte eine Schüssel mit heißem Wasser herauf, der Arzt legte selber die eingeweichten Blätter auf, indem er sie die Beine entlang von den Knien bis zu den Knöcheln gleiten ließ. Das war nur noch ein Leiden mehr, das Fieber hielt an, die Kopfschmerzen waren unerträglich. Erweichende Gurgelmittel waren ebenfalls angezeigt, und Frau Chanteau bereitete einen Aufguß von Brombeerblättern, von dem man jedoch nach dem ersten Versuch Abstand nehmen mußte, so unmöglich machte der Schmerz jede Bewegung des Schlundes. Es war fast sechs Uhr, der Tag brach an, als der Arzt sich zurückzog. »Ich komme gegen Mittag wieder«, sagte er im Flur zu Lazare. »Beruhigen Sie sich ... Es sind nur Schmerzen.« »Ist das etwa nichts, Schmerzen!« rief der junge Mann, der entrüstet war über das
Kranksein. »Man sollte keine Schmerzen leiden müssen.« Cazenove sah ihn an, hob dann angesichts einer so außergewöhnlichen Anmaßung die Arme zum Himmel. Als Lazare in das Zimmer zurückkam, schickte er seine Mutter und Véronique einen Augenblick zu Bett: Er hätte doch nicht schlafen können. In Paulines Zimmer, in dem alles durcheinanderlag, sah er den Tag anbrechen, diese unheimliche Morgendämmerung nach im Todeskampf verbrachten Nächten. Die Stirn an eine Fensterscheibe gelehnt, betrachtete er verzweiflungsvoll den fahlen Himmel, als ein Geräusch ihn veranlaßte, den Kopf zu wenden. Er glaubte, Pauline wolle aufstehen. Es war der von allen vergessene Mathieu, der endlich unter dem Bett hervorgekrochen war, um sich dem jungen Mädchen zu nähern, dessen eine Hand aus den Decken heraushing. Der Hund
leckte diese Hand mit so viel Zärtlichkeit, daß Lazare ihn ganz gerührt um den Hals faßte und sagte: »Siehst du, mein armer Dicker, Frauchen ist krank ... Aber es ist nichts, laß nur! Wir werden wieder alle drei herumgaloppieren.« Pauline hatte die Augen aufgeschlagen, und obgleich sich ihr Gesicht schmerzlich verzog, lächelte sie. Jetzt begann das Dasein in Angst, der Alptraum, den man im Zimmer eines Kranken erlebt. Lazare, der einem Gefühl wilder Zuneigung nachgab, verjagte alle daraus; kaum ließ er seine Mutter und Louise des Morgens hereinkommen, um sich zu erkundigen; und er ließ nur Véronique zu, bei der er eine echte Liebe herausfühlte. In den ersten Tagen hatte Frau Chanteau ihm begreiflich machen wollen, wie unschicklich es sei, wenn ein junger Mann ein junges Mädchen pflegte; aber er hatte heftig
Einspruch erhoben. War er denn nicht ihr Mann? Außerdem behandelten die Ärzte ebensogut Frauen. Zwischen ihnen gab es in der Tat keine schamhafte Verlegenheit. Das Leiden, der vielleicht nahe bevorstehende Tod ließen die Sinne verstummen. Er erwies Pauline alle kleinen Dienste, richtete sie auf, legte sie wieder hin, als mitleidsvoller Bruder, der in diesem begehrenswerten Körper nur das Fieber sah, das ihn durchschauerte. Es war gleichsam die Fortführung ihrer gesunden Kindheit, sie kehrten zur keuschen Nacktheit ihrer ersten Bäder zurück, da er sie wie ein kleines Mädchen behandelte. Die Welt verschwand, nichts war mehr vorhanden, nichts als die einzunehmende Arznei, als die vergebens von Stunde zu Stunde erwartete angekündigte Besserung, als die niederen Einzelheiten des tierischen Lebens, die plötzlich eine ungeheure Bedeutung annahmen und über Freude oder Traurigkeit der Tage entschieden. Und den Tagen folgten die
Nächte, Lazares Dasein pendelte gleichsam über der Leere in der zu jeder Minute gegenwärtigen Angst vor einem Sturz in die schwarze Dunkelheit. Jeden Morgen machte Doktor Cazenove Pauline seinen Krankenbesuch; er kam sogar manchmal am Abend nach dem Essen wieder. Gleich beim zweiten Besuch hatte er sich zu einem reichlichen Aderlaß entschlossen. Aber das für einen Augenblick unterdrückte Fieber war wiedergekommen. Zwei Tage vergingen, er war sichtlich beunruhigt, weil er die Hartnäckigkeit des Übels nicht begriff. Da das junge Mädchen immer größere Mühe hatte, den Mund zu öffnen, konnte er nicht den Rachen untersuchen, der ihm geschwollen und fahl gerötet schien. Als Pauline über eine zunehmende Spannung klagte, die ihren Hals zu sprengen schien, sagte der Doktor schließlich eines Morgens zu Lazare: »Ich vermute eine Phlegmone17.«
Der junge Mann nahm ihn mit in sein Zimmer. Er hatte am Abend zuvor beim Blättern in seinem alten Handbuch der Pathologie die Seiten über die Retropharyngealabszesse gelesen, die in die Speiseröhre vordringen und den Tod durch Ersticken herbeiführen können, indem sie die Luftröhre zusammendrücken. Sehr bleich, fragte er: »Also ist sie verloren?« »Ich hoffe, nein«, erwiderte der Arzt. »Man muß sehen.« Doch er selber verbarg nicht länger seine Besorgnis. Er bekannte seine nahezu völlige Ohnmacht in dem vorliegenden Fall. Wie sollte man einen Abszeß hinten in diesem krampfhaft zusammengezogenen Mund aufspüren? Und im übrigen würde es bedenkliche Folgen nach sich ziehen, wenn man diesen Abszeß zu früh öffnete. Das beste wäre, den weiteren Verlauf der Natur zu überlassen, was sehr langwierig und sehr
schmerzhaft sein würde. »Ich bin nicht der liebe Gott!« rief er, als Lazare ihm die Nutzlosigkeit seiner Wissenschaft vorwarf. Die Zuneigung, die Doktor Cazenove für Pauline empfand, äußerte sich bei ihm in doppelt großsprecherischer Barschheit. Dieser stattliche Greis, der dürr war wie ein wilder Rosenstamm, war ins Herz getroffen. Mehr als dreißig Jahre lang hatte er die Welt durchfahren, war von Schiff zu Schiff gewandert, hatte den Lazarettdienst in allen Ecken unserer Kolonien versehen; er hatte die Epidemien an Bord, die gräßlichen Tropenkrankheiten, die Elephantiasis in Cayenne18, die Schlangenbisse in Indien behandelt; er hatte Menschen aller Hautfarben getötet, Gifte an Chinesen ausprobiert, das Leben von Negern bei heiklen Versuchen der Vivisektion aufs Spiel gesetzt. Und heute erschütterte ihn dieses kleine Mädchen mit
seinem Halsweh so sehr, daß er nicht mehr schlafen konnte; seine Eisenhände zitterten, seine Vertrautheit mit dem Tode schwand dahin, in der Furcht vor einem verhängnisvollen Ausgang. Und so versuchte er in dem Bestreben, diese unwürdige Gemütsbewegung zu verbergen, so zu tun, als verachte er das Leiden. Man wurde geboren, um zu leiden, wozu sich also darüber aufregen? Jeden Morgen sagte Lazare zu ihm: »Versuchen Sie etwas, Doktor, ich flehe Sie an ... Es ist furchtbar, sie kann nicht einmal mehr einen Augenblick einschlafen. Die ganze Nacht hat sie geschrien.« »Aber zum Himmeldonnerwetter! Das ist nicht meine Schuld«, erwiderte er schließlich aufgebracht. »Ich kann ihr doch nicht den Hals abschneiden, um sie zu heilen.« Der junge Mann wurde jetzt auch ärgerlich.
»Dann ist also die Medizin zu nichts nütze.« »Zu gar nichts, wenn die Maschine aus den Fugen gerät ... Chinin unterdrückt das Fieber, ein Abführmittel wirkt auf die Gedärme, einen vom Schlag Getroffenen muß man zur Ader lassen ... Und alles übrige ist Glückssache. Man muß sich auf die Natur verlassen.« Es waren dies Ausbrüche, die ihm der Zorn über seine Ratlosigkeit entriß. Gewöhnlich wagte er nicht, die Medizin so rundweg zu verneinen, wenngleich er viel zu lange praktiziert hatte, um nicht skeptisch und bescheiden zu sein. Er vertat ganze Stunden damit, am Bett zu sitzen und die Kranke zu beobachten; und er ging fort, ohne auch nur ein Rezept dazulassen, denn ihm waren die Hände gebunden, und er konnte nichts anderes tun, als die vollständige Entwicklung dieses Abszesses abzuwarten, bei der ein Grad mehr oder ein Grad weniger über Leben und Tod entschieden.
Lazare schleppte sich acht volle Tage lang in schrecklichen Ängsten dahin. Auch er erwartete von Minute zu Minute den Urteilsspruch der Natur. Bei jedem mühsamen Atemholen glaubte er, alles ginge zu Ende. Die Phlegmone nahm Gestalt an, wurde zu einem lebendigen Bild, er sah sie ungeheuer groß, die Luftröhre versperrend; noch ein geringes Anschwellen, und die Luft würde nicht mehr durch können. Seine beiden schlecht verdauten Jahre Medizinstudium verdoppelten sein Entsetzen. Und vor allem der Schmerz brachte ihn außer sich, versetzte ihn in nervöse Empörung, in törichten Widerspruch gegen das Dasein. Warum dieser Greuel des Schmerzes? War das nicht alles entsetzlich überflüssig, dieses Gemarter des Fleisches, diese verbrannten und verkrümmten Muskeln, wenn das Übel über einen so zarten und weißen armen Mädchenkörper herfiel? Wie besessen von dem Leiden, kehrte er unaufhörlich an das Bett zurück. Auf die
Gefahr hin, Pauline zu ermüden, fragte er sie, ob sie noch mehr litt und wo es jetzt weh tat. Manchmal nahm sie seine Hand, legte sie auf ihren Hals: Dort war es, wie ein unerträgliches Gewicht, eine glühende Bleikugel, die da pochte, daß sie sie schier erstickte. Die Migräne wich nicht von ihr, sie wußte nicht, wie sie ihren von Schlaflosigkeit gepeinigten Kopf legen sollte; seit zehn Tagen, da das Fieber sie schüttelte, hatte sie nicht zwei Stunden geschlafen. Eines Abends waren, um das Elend voll zu machen, furchtbare Ohrenschmerzen aufgetreten; und bei diesen Anfällen verlor sie das Bewußtsein, es schien ihr, als zermalme man ihr die Kieferknochen. Aber sie gestand Lazare nicht dieses ganze Martyrium, sie legte einen schönen Mut an den Tag, denn sie fühlte, daß er fast ebenso krank war wie sie, daß sein Blut von ihrem Fieber brannte, daß seine Kehle von ihrem Abszeß gewürgt wurde. Oft sogar log sie, es gelang ihr, im Augenblick der heftigsten Ängste zu
lächeln. Der Schmerz lasse nach, sagte sie und nötigte ihn, sich ein wenig auszuruhen. Das schlimmste war, daß sie nicht mehr ihren Speichel schlucken konnte, ohne einen Schrei auszustoßen, so zugeschwollen war ihr Rachen. Lazare schreckte aus dem Schlaf auf: Es begann also schon wieder? Von neuem befragte er sie, wollte wissen, an welcher Stelle; während sie mit schmerzverzerrtem Gesicht und geschlossenen Augen noch immer kämpfte, um ihn zu täuschen, stammelnd, daß es nichts weiter sei, nur irgend etwas, was sie gekitzelt habe. »Schlaf, laß dich nicht stören ... Ich werde auch schlafen.« Abends spielte sie diese Schlafkomödie, damit er zu Bett ging. Aber er bestand hartnäckig darauf, in einem Sessel bei ihr zu wachen. Die Nächte waren so schlecht, daß er den Tag nicht mehr ohne abergläubischen Schrecken schwinden sah. Würde die Sonne jemals
wieder aufgehen? Eines Nachts hielt Lazare, an das Bett gelehnt sitzend, Paulines Hand in der seinen, wie er es oft tat, um zu bedeuten, daß er dableiben und sie nicht verlassen werde. Doktor Cazenove war um zehn Uhr fortgefahren, voller Wut, weil er für nichts mehr einstehen konnte. Bis zu diesem Augenblick hatte sich der junge Mann mit dem Glauben getröstet, sie selbst wisse nicht, in welcher Gefahr sie schwebte. In ihrer Nähe sprach man von einer einfachen, sehr schmerzhaften Halsentzündung, die jedoch ebenso leicht vorübergehen werde wie ein Schnupfen. Sie selber schien ruhig, zeigte ein tapferes Gesicht, war stets heiter, trotz der Schmerzen. Wenn man von ihrer Genesung sprach und dabei Pläne machte, lächelte sie. Und auch in jener Nacht hatte sie zugehört, wie Lazare für ihren ersten Ausgang einen Spaziergang an den Strand plante. Dann hatte sich Schweigen niedergesenkt, sie schien zu schlafen, doch nach einer reichlichen
Viertelstunde flüsterte sie mit deutlicher Stimme: »Mein armer Freund, ich glaube, du wirst eine andere Frau heiraten.« Er war betroffen, ein leichter Schauer lief ihm eisig über den Nacken. »Wieso?« fragte er. Sie hatte die Augen geöffnet, sie sah ihn mit ihrem Ausdruck mutiger Entsagung an. »Laß sein! Ich weiß sehr wohl, was ich habe ... Und es ist mir lieber, daß ich es weiß, damit ich euch wenigstens alle umarmen kann.« Da wurde Lazare böse: Wie könne sie solche Gedanken haben, vor Ablauf einer Woche würde sie auf den Beinen sein. Er ließ ihre Hand los und floh unter einem Vorwand in sein Zimmer, denn das Schluchzen würgte ihn. Dort im Dunkel ließ er sich gehen, war quer über das Bett gesunken, in dem er seit langem
nicht mehr schlief. Eine furchtbare Gewißheit hatte ihm plötzlich das Herz zusammengeschnürt: Pauline würde sterben, vielleicht würde sie diese Nacht nicht überstehen. Und der Gedanke, daß sie es wußte, daß ihr Schweigen, das sie bisher gewahrt, der Heldenmut eines Weibes war, das selbst im Tode auf die Empfindsamkeit der anderen Rücksicht nimmt, brachte ihn vollends zur Verzweiflung. Sie wußte es, sie würde den Todeskampf kommen sehen, und er würde ohnmächtig dabeistehen. Schon sah er sich beim letzten Abschied, die Szene spielte sich mit jammervollen Einzelheiten in der Finsternis des Zimmers ab. Das war das Ende von allem, er nahm das Kopfkissen in seine zuckenden Arme, er drückte den Kopf hinein, um sein Aufschluchzen zu ersticken. Indessen ging die Nacht ohne Katastrophe zu Ende. Zwei Tage vergingen noch. Doch jetzt gab es zwischen ihnen ein neues Band, den immer gegenwärtigen Tod. Sie machte
keinerlei Anspielung mehr auf den Ernst ihres Zustandes, sie fand die Kraft zu lächeln; ihm selber gelang es, vollkommene Ruhe vorzutäuschen und die Hoffnung, von einer Stunde zur anderen zu sehen, wie sie aufstand; und dennoch nahm in ihnen beiden in der längeren Liebkosung ihrer sich begegnenden Blicke alles fortwährend Abschied. Des Nachts vor allem, wenn er bei ihr wachte, hörte schließlich einer des anderen Gedanken, die Drohung der ewigen Trennung erfüllte selbst ihr Schweigen mit Rührung. Nichts war von so grausamer Süße, niemals hatten sie eine so innige Verschmelzung ihrer Wesen gespürt. Eines Morgens bei Sonnenaufgang wunderte sich Lazare darüber, wie ruhig der Gedanke an den Tod ihn ließ. Er suchte sich die Daten ins Gedächtnis zu rufen: Seit dem Tag, da Pauline krank geworden, hatte er nicht ein einziges Mal gefühlt, wie ihn das kalte Grausen des NichtmehrSeins vom Kopf bis zu den Fersen durchschauerte. Wenn er zitterte, seine
Gefährtin zu verlieren, so war das ein anderes Entsetzen, in dem nichts von der Zerstörung seines eigenen Ichs enthalten war. Das Herz blutete ihm, doch schien es, als mache diese dem Tode gelieferte Schlacht ihn dem Tode gleich, als verleihe sie ihm den Mut, dem Tod ins Angesicht zu schauen. Vielleicht war es auch nur Müdigkeit und Abstumpfung in dem Schlummer, der seine Angst betäubte. Er schloß die Augen, um nicht die Sonne höher steigen zu sehen; er wollte seinen Angstschauer wiederfinden, indem er sich bis zur Furcht steigerte, indem er sich immer wieder sagte, daß auch er eines Tages sterben würde: Nichts gab Antwort, das war ihm gleichgültig geworden, die Dinge hatten eine seltsame Schwerelosigkeit angenommen. Selbst sein Pessimismus wurde zunichte angesichts dieses Schmerzenslagers; statt ihn im Haß gegen die Welt zu bestärken, war seine Empörung gegen den Schmerz nichts als das glühende Verlangen nach Gesundheit, die aufs
höchste gesteigerte Liebe zum Leben. Er sprach nicht mehr davon, die Erde gleich einem unbewohnbaren alten Bauwerk in die Luft zu sprengen; das einzige Bild, das ihm keine Ruhe ließ, war das der gesunden Pauline, wie sie in der heiteren Sonne an seinem Arm dahinschritt; und er hatte nur den einen Wunsch, sie noch einmal lachend mit festem Schritt auf die Wege mitzunehmen, auf denen sie gegangen waren. An jenem Tage glaubte Lazare, der Tod sei gekommen. Seit acht Uhr war die Kranke von Brechreiz gepackt, jede Anstrengung hatte einen sehr beunruhigenden Erstickungsanfall zur Folge. Bald traten Fieberschauer auf, sie wurde von einem solchen Zittern geschüttelt, daß man ihre Zähne aufeinanderschlagen hörte. Erschreckt rief Lazare aus dem Fenster, man solle einen Jungen nach Arromanches schicken, obgleich er den Doktor wie gewöhnlich gegen elf Uhr erwartete. Das Haus war in trübseliges Schweigen versunken, eine
Leere entstand darin, seit Pauline es nicht mehr mit ihrer beschwingten Regsamkeit belebte. Chanteau verbrachte unten schweigsam seine Tage, hielt die Blicke auf seine Beine gerichtet, in der Angst, er könne einen Anfall bekommen, während niemand da war, um ihn zu pflegen; Frau Chanteau zwang Louise zum Ausgehen, beide lebten sie draußen, waren einander nähergekommen und jetzt innig miteinander vertraut; und nur der schwere Schritt Véroniques, die unaufhörlich hinauf und hinunterging, störte den Frieden des Treppenhauses und der leeren Räume. Dreimal war Lazare gegangen und hatte sich über das Geländer gebeugt, ungeduldig, zu erfahren, ob das Hausmädchen jemand zu dem Gang hatte bewegen können. Er war gerade wieder ins Zimmer getreten und betrachtete die ein wenig ruhiger gewordene Kranke, als die angelehnt gelassene Tür leise knarrte. »Nun, Véronique?«
Aber es war seine Mutter. An jenem Morgen sollte sie Louise zu Freunden in der Nähe von Verchemont begleiten. »Der kleine Cuche ist gleich losgelaufen«, erwiderte sie. »Er hat flinke Beine.« Dann fragte sie nach einem Schweigen: »Es geht also nicht besser?« Mit einer verzweifelten Gebärde wies Lazare wortlos auf die unbeweglich, wie tot daliegende Pauline, deren Antlitz in kaltem Schweiß gebadet war. »Dann gehen wir nicht nach Verchemont«, fuhr sie fort. »So was Hartnäckiges, diese Krankheiten, von denen man nichts versteht! Das arme Kind ist wahrlich schwer geprüft.« Sie hatte sich gesetzt, sie haspelte mit immer derselben leisen und eintönigen Stimme Sätze herunter. »Und wir wollten uns um sieben Uhr auf den Weg machen! Ein Glück, daß Louise nicht
früh genug aufgewacht ist ... Und was heute morgen alles zusammentrifft! Man könnte meinen, das sei Absicht. Der Krämer von Arromanches ist mit seiner Rechnung gekommen, ich habe ihn bezahlen müssen. Jetzt ist der Bäcker unten ... Wieder für vierzig Francs Brot im Monat. Ich begreife nicht, wo das bleibt ...« Lazare hörte nicht zu, völlig in Anspruch genommen von der Furcht, den Fieberschauer wieder auftreten zu sehen. Doch das dumpfe Geräusch dieses Wortschwalles reizte ihn. Er versuchte, seine Mutter hinauszuschicken. »Du kannst Véronique mal zwei Handtücher geben, damit sie sie mir heraufbringt.« »Natürlich muß man ihn bezahlen, diesen Bäcker«, fuhr sie fort, als hätte sie nicht gehört. »Er hat mit mir gesprochen, man kann ihm also nicht erzählen, ich sei ausgegangen ... Ach, ich habe genug von diesem Haus! Das wird mir alles zuviel, ich werde schließlich
noch alles stehen und liegenlassen ... Wenn es Pauline nur nicht so schlecht ginge, würde sie uns die neunzig Francs Kostgeld vorschießen. Wir haben den Zwanzigsten, das wären ohnehin nur zehn Tage ... Die arme Kleine scheint recht schwach ...« Mit einer jähen Bewegung wandte Lazare sich um. »Was? Was willst du?« »Du weißt nicht, wohin sie ihr Geld legt?« »Nein.« »Es muß in ihrer Kommode sein ... Wenn du einmal nachschautest.« Er lehnte mit einer empörten Gebärde ab. Seine Hände zitterten. »Ich bitte dich, Mama ... Um Himmels willen, laß mich.« Diese wenigen Sätze waren hastig im Hintergrund des Zimmers geflüstert worden.
Ein peinliches Schweigen entstand, als sich eine leise Stimme vom Bett vernehmen ließ. »Lazare, nimm den Schlüssel unter meinem Kopfkissen, gib der Tante, was sie haben will.« Beide waren betroffen. Er erhob Einspruch, wollte nicht in der Kommode herumwühlen. Aber er mußte nachgeben, um Pauline nicht zu quälen. Als er seiner Mutter einen Hundertfrancsschein eingehändigt hatte und den Schlüssel wieder unter das Kopfkissen schieben wollte, fand er die Kranke einem erneuten Fieberschauer preisgegeben, der sie schüttelte wie einen jungen, fast zerbrechenden Baum. Und zwei schwere Tränen rannen aus ihren armen geschlossenen Augen über ihre Wangen. Doktor Cazenove erschien erst zu seiner gewohnten Stunde. Er hatte den kleinen Cuche, der sich zweifellos in den Straßengräben herumtrieb, nicht einmal
gesehen. Sowie er Lazare angehört und einen Blick auf Pauline geworfen hatte, rief er: »Sie ist gerettet!« Dieser Brechreiz, diese schrecklichen Fieberschauer waren einfach die Anzeichen dafür, daß der Abszeß endlich aufging. Man hatte nicht mehr das Ersticken zu fürchten, nunmehr würde das Übel von selbst zurückgehen. Die Freude war groß, Lazare begleitete den Doktor hinaus, und da Martin, der mit seinem Holzbein im Dienste des Doktors verbliebene ehemalige Matrose, in der Küche ein Glas Wein trank, wollten alle anstoßen. Frau Chanteau und Louise nahmen Nußbranntwein. »Ich bin niemals ernstlich besorgt gewesen«, sagte Frau Chanteau. »Ich fühlte, daß es nichts weiter auf sich hatte.« »Immerhin ist es dem lieben Kind recht übel ergangen!« entgegnete Véronique.
»Wahrhaftig! Wenn man mir hundert Sous schenkte, würde ich mich nicht so freuen.« In diesem Augenblick trat Abbé Horteur ein. Er kam sich erkundigen, und er nahm ein Gläschen Likör an, um es den anderen gleichzutun. Jeden Tag hatte er sich so als guter Nachbar eingestellt; denn da ihm Lazare gleich beim ersten Besuch zu verstehen gegeben hatte, daß er ihn nicht zu der Kranken lassen würde, aus Furcht, sie zu erschrecken, hatte der Priester ruhig erwidert, daß er das verstehe. Er begnügte sich damit, seine Messen für das arme Fräulein zu lesen. Chanteau lobte ihn, während er mit ihm anstieß, ob seiner Duldsamkeit. »Sie sehen ja, daß sie auch ohne Gebet davongekommen ist.« »Jeder wird auf seine Weise selig«, erklärte der Pfarrer in belehrendem Ton, während er sein Glas vollends leerte.
Als der Doktor fort war, wollte Louise hinaufgehen und Pauline umarmen. Diese litt noch entsetzlich, aber es schien, als zähle das Leiden nicht mehr. Lazare rief ihr fröhlich zu, sie solle Mut fassen; und er hörte auf zu heucheln, er übertrieb sogar die überstandene Gefahr, indem er ihr erzählte, er habe sie dreimal tot in den Armen zu halten geglaubt. Sie indessen bekundete ihre Freude, gerettet zu sein, nicht so laut. Aber sie war durchdrungen von der Süße zu leben, nachdem sie den Mut aufgebracht hatte, sich an den Tod zu gewöhnen. Rührung malte sich auf ihrem schmerzerfüllten Antlitz, sie hatte Lazare die Hand gedrückt und mit einem Lächeln gemurmelt: »Siehst du, mein Freund, du kommst nicht drum herum; ich werde deine Frau.« Endlich setzte die Genesung ein mit ausgiebigem Schlaf. Pauline schlief ganze Tage lang sehr ruhig, mit sanftem Atem, in
einem Heilung bringenden Ausgelöschtsein. Minouche, die man in den aufgeregten Stunden der Krankheit aus dem Zimmer verjagt hatte, nutzte diesen Frieden aus, um wieder hineinzuschlüpfen; sie sprang leichtfüßig auf das Bett, rollte sich rasch an der Seite ihrer Herrin zusammen, verbrachte dort ebenfalls die Tage damit, die laue Wärme der Bettücher zu genießen; zuweilen putzte sie sich dort unendlich lange, indem sie sich mit der Zunge über das Fell fuhr, doch mit einer so geschmeidigen Bewegung, daß die Kranke nicht einmal spürte, wie sie sich regte. Mathieu, der gleichfalls im Zimmer zugelassen war und quer auf dem Bettvorleger lag, schnarchte währenddessen wie ein Mensch. Eine der ersten Launen Paulines war es, am folgenden Sonnabend ihre kleinen Freunde aus dem Dorf heraufkommen zu lassen. Nach der strengen Diät, die sie drei Wochen lang eingehalten hatte, erlaubte man ihr jetzt weichgekochte Eier. Sie konnte die Kinder im
Sitzen empfangen, war aber immer noch sehr schwach. Lazare hatte wiederum in der Kommode wühlen müssen, um ihr Hundertsousstücke einzuhändigen. Aber als sie ihre Armen ausgefragt und eigensinnig darauf bestanden hatte, mit ihnen zu regeln, was sie ihre rückständigen Rechnungen nannte, empfand sie eine solche Erschöpfung, daß man sie bewußtlos wieder hinlegen mußte. Sie bewies auch für die Schutzbuhne und für die Pfahlwerke Interesse, fragte jeden Tag, ob sie standhielten. Einige Balken hatten bereits nachgegeben; ihr Cousin belog sie, wenn er nur von zwei oder drei Bohlen sprach, die sich gelöst hätten. Als sie eines Morgens allein war, schlüpfte sie aus dem Bett und wollte sehen, wie die Flut in der Ferne an das Balkenwerk brandete; doch auch dieses Mal ließen ihre wiedererstehenden Kräfte sie im Stich, sie wäre gefallen, wäre nicht Véronique zur rechten Zeit hereingekommen, um sie in ihren Armen aufzufangen.
»Nimm dich in acht! Ich binde dich an, wenn du nicht vernünftig bist«, sagte Lazare immer wieder scherzend. Er bestand noch immer darauf, bei ihr zu wachen; doch von Müdigkeit zerschlagen, schlief er in seinem Sessel ein. Zunächst hatte er lebhafte Freude empfunden, ihr zuzusehen, wie sie ihre ersten Fleischbrühen trank. Die Gesundheit, die in diesen jungen Körper zurückkehrte, war etwas Köstliches, eine Erneuerung des Daseins, bei der er selber auflebte. Dann war die Gesundheit für ihn wieder zur Gewohnheit geworden, er hörte auf, sich darüber wie über eine unerwartete Wohltat zu freuen, seit der Schmerz gewichen war. Und es blieb nur eine Stumpfheit in ihm zurück, eine nervöse Entspannung nach dem Kampf, die verworrene Vorstellung, daß die allgemeine Leere wieder begänne. Eines Nachts schlief Lazare tief, als Pauline hörte, wie er mit einem angstvollen Seufzer
wach wurde. Sie sah ihn beim schwachen Licht der Nachtlampe mit entsetztem Antlitz, die Augen vor Grauen geweitet, die Hände in einer flehenden Gebärde gefaltet. Er stammelte zusammenhanglose Worte. »Mein Gott! Mein Gott!« Besorgt hatte sie hinübergebeugt.
sich
rasch
zu
ihm
»Was hast du denn, Lazare, tut dir etwas weh?« Diese Stimme ließ ihn zusammenfahren. Sie hatte ihn also gesehen? Er war peinlich berührt, fand schließlich nur eine ungeschickte Lüge. »Ach was, ich habe nichts ... Du selber hast gejammert.« Die Angst vor dem Tode war in seinem Schlafe wieder aufgetaucht, eine grundlose, gleichsam aus dem Nichts hervorgegangene
Angst, eine Angst, deren eisiger Hauch ihn mit einem gewaltigen Schauer geweckt hatte. Mein Gott! Eines Tages würde er sterben müssen! Das stieg in ihm auf, erstickte ihn, während Pauline, die den Kopf wieder auf das Kissen gelegt hatte, ihn mit ihrem Ausdruck mütterlichen Mitleids anschaute.
Kapitel V Jeden Abend, wenn Véronique das Tischtuch abgenommen hatte, begann im Eßzimmer die gleiche Unterhaltung zwischen Frau Chanteau und Louise, während Herr Chanteau völlig in die Lektüre seiner Zeitung versunken war und sich damit begnügte, mit einem Wort auf die seltenen Fragen seiner Frau zu antworten. Während der vierzehn Tage, da Lazare Pauline in Gefahr geglaubt hatte, war er nicht einmal zum Essen heruntergekommen; jetzt aß er
unten zu Abend, ging aber schon beim Nachtisch wieder zu der Genesenden hinauf; und kaum war er auf der Treppe, nahm Frau Chanteau ihre Klagen vom Abend zuvor wieder auf. Zunächst gab sie sich als zärtlich besorgte Mutter. »Der arme Junge, er macht sich noch kaputt ... Es ist wahrhaftig nicht vernünftig, seine Gesundheit so aufs Spiel zu setzen. Seit drei Wochen schläft er nicht mehr ... Er ist seit gestern noch blasser geworden.« Und sie bedauerte auch Pauline: Die liebe Kleine leide sehr, man könne nicht eine Minute oben zubringen, ohne daß es einem das Herz umdrehe. Doch nach und nach ging sie dazu über, von der Unordnung zu sprechen, die die Kranke im Hause verursachte: Alles sei durcheinandergeraten, unmöglich, etwas Warmes zu essen, man wisse schon nicht mehr, ob man überhaupt noch lebe. Hier
unterbrach sie sich, um ihren Mann zu fragen: »Hat Véronique wenigstens Eibischsirup gedacht?«
an
deinen
»Ja, ja«, erwiderte er über seine Zeitung hinweg. Da senkte sie die Stimme und wandte sich an Louise. »Es ist komisch, diese unglückselige Pauline hat uns niemals Glück gebracht. Und dabei glauben die Leute, sie sei unser guter Engel! Geh doch, ich weiß, was für Klatschgeschichten über uns in Umlauf sind ... In Caen, nicht wahr, Louisette, erzählt man, sie habe uns reich gemacht. Ach ja, reich gemacht! Du kannst offen reden, ich pfeife auf die bösen Zungen!« »Mein Gott! Man spricht über euch wie über alle Welt«, murmelte das junge Mädchen. »Im vergangenen Monat erst habe ich die Frau eines Notars zurechtgewiesen, die davon
sprach, ohne die geringste Ahnung zu haben ... Ihr werdet die Leute nicht daran hindern, zu reden.« Von diesem Augenblick an hielt Frau Chanteau sich nicht mehr zurück. Ja, sie waren die Opfer ihres guten Herzens. Hatten sie etwa vor Paulines Ankunft jemand gebraucht, um zu leben? Wo wäre sie jetzt, in welchem Winkel von Paris, wenn sie nicht eingewilligt hätten, sie aufzunehmen? Und es war wahrhaftig gut, daß man auf ihr Geld zu sprechen gekommen war: ein Geld, durch das sie persönlich nur zu leiden gehabt hatten; ein Geld, das den Ruin ins Haus gebracht hatte. Denn schließlich sprachen die Tatsachen für sich: Niemals hätte ihr Sohn sich auf diese blödsinnige Nutzung der Algen eingelassen, niemals hätte er seine Zeit damit verloren, das Meer daran hindern zu wollen, Bonneville zu zerschmettern, ohne diese unglückselige Pauline, die ihm den Kopf verdrehte. Um so schlimmer für sie, wenn sie ein paar Sous
dabei eingebüßt hatte! Er, der arme Junge, hatte dabei einen Teil seiner Gesundheit und seiner Zukunft eingebüßt! Frau Chanteau war unerschöpflich in ihrem Groll gegen die hundertfünfzigtausend Francs, von denen ihr Sekretär noch immer fieberte. Diese verschlungenen großen Summen, die außerdem täglich entnommenen und das Loch vergrößernden kleinen Summen brachten sie so außer sich, als spürte sie da den üblen Gärungsstoff, in dem sich ihre Rechtschaffenheit zersetzt hatte. Heute war die Zersetzung vollkommen, sie verabscheute Pauline um all des Geldes willen, das sie ihr schuldete. »Was soll man einem solchen Starrkopf sagen?« fuhr sie fort. »Sie ist entsetzlich geizig im Grunde und dabei die Verschwendung in Person. Sie wirft zwölftausend Francs ins Meer für diese Fischer von Bonneville, die sich über uns lustig machen, sie füttert die verlausten Gören des Dorfes, und ich zittere,
Ehrenwort, wenn ich sie um vierzig Sous bitten muß. Mach dir einen Vers daraus ... Sie hat ein Herz aus Stein und tut dabei so, als gäbe sie alles den anderen.« Oft kam Véronique ins Zimmer, trug das Geschirr herein oder brachte den Tee; und sie machte sich zu schaffen, sie hörte zu, erlaubte sich sogar manchmal, dazwischenzureden. »Mademoiselle Pauline, ein Herz aus Stein! Oh, wie können Sie so etwas sagen!« Mit einem strengen Blick gebot Frau Chanteau ihr Schweigen. Dann erging sie sich, die Ellbogen auf dem Tisch, in umständliche Berechnungen, als spräche sie zu sich selbst. »Ich brauche ihr Geld nicht mehr aufzubewahren, Gott sei Dank! Aber ich würde zu gerne wissen, was ihr davon bleibt. Keine siebzigtausend Francs, möchte ich schwören ... Na, rechnen wir doch mal: dreitausend schon für den Versuch mit den
Balken und mindestens zweihundert Francs Almosen jeden Monat und die neunzig Francs für ihr Kostgeld hier. Das geht schnell ... Willst du wetten, Louisette, daß sie sich zugrunde richtet? Ja, du wirst sehen, sie wird noch mal am Hungertuch nagen ... Und wenn sie sich zugrunde richtet, wer wird sie dann noch haben wollen, was wird sie anfangen, um zu leben?« Da konnte Véronique nicht mehr an sich halten. »Ich hoffe doch, daß Madame sie nicht vor die Tür setzen würde.« »He! Was?« fuhr Frau Chanteau wütend fort. »Was kommt die uns da vorsingen? Es ist überhaupt nicht die Rede davon, jemand vor die Tür zu setzen. Niemals habe ich jemand vor die Tür gesetzt ... Ich sage nur, wenn man ein Vermögen geerbt hat, scheint mir nichts törichter, als es zu verschleudern und den anderen wieder zur Last zu fallen ... Du geh in
deine Küche, Véronique, und kümmere dich um deinen Kram!« Das Hausmädchen ging fort und brummte dumpfe Protestäußerungen vor sich hin. Schweigen entstand, während Louise den Tee einschenkte. Man hörte nur noch das leise Rascheln der Zeitung, die Chanteau bis zu den Anzeigen auslas. Zuweilen wechselte er ein paar Worte mit dem jungen Mädchen. »Nun, du kannst noch ein Stück Zucker dazutun ... Hast du endlich einen Brief von deinem Vater bekommen?« »Ach so, nein, niemals«, erwiderte sie lachend. »Aber wissen Sie, wenn ich Ihnen lästig bin, kann ich ja abreisen. Sie sind schon genug belastet mit der kranken Pauline ... Ich wollte fort, aber Sie haben mich zurückgehalten.« Er wollte sie unterbrechen. »Davon spricht doch niemand. Es ist zu liebenswürdig von dir, uns Gesellschaft zu
leisten, bis das arme herunterkommen kann.«
Kind
wieder
»Ich ziehe mich bis zur Ankunft meines Vaters nach Arromanches zurück, wenn Sie mich nicht mehr haben wollen«, fuhr sie, scheinbar ohne ihn zu verstehen, fort, um ihn zu necken. »Meine Tante Léonie hat ein Sommerhäuschen gemietet; und man findet Gesellschaft dort, ein Strand ist da, an dem man wenigstens baden kann ... Nur, sie ist so langweilig, meine Tante Léonie!« Chanteau lachte schließlich über die Schelmereien dieser großen Schmeichelkatze. Indessen, ohne daß er es seiner Frau gegenüber einzugestehen wagte, war sein ganzes Herz Pauline zugetan, die ihn mit so sanfter Hand pflegte. Und er vertiefte sich wieder in seine Zeitung, sobald Frau Chanteau, die ganz in ihre Überlegungen versunken war, plötzlich wie aus einem Traum daraus erwachte. »Siehst du, etwas kann ich ihr nicht verzeihen,
nämlich daß sie mir meinen Sohn genommen hat ... Er bleibt kaum eine Viertelstunde bei Tische sitzen. Man spricht sich immer nur zwischen Tür und Angel.« »Das wird aufhören«, gab Louise zu bedenken. »Jemand muß doch bei ihr wachen.« Die Mutter schüttelte den Kopf. Sie kniff die Lippen zusammen. Die Worte, die sie anscheinend zurückhalten wollte, brachen trotzdem hervor. »Möglich! Aber es ist merkwürdig, ein junger Mann immer mit einem kranken Mädchen zusammen ... Oh, ich habe kein Blatt vor den Mund genommen, ich habe gesagt, was ich darüber denke; mir macht es nichts aus, wenn es Ärger gibt!« Und angesichts der verlegenen Blicke Louises fügte sie hinzu: »Im übrigen kann es kaum gut sein, die Luft dieses Zimmers zu atmen. Sie könnte ihn sehr
leicht mit ihrem Halsleiden anstecken ... Diese jungen Mädchen, die so mollig sind, haben manchmal allerlei Gebrechen im Blut. Soll ich es dir sagen? Nun denn, ich halte sie nicht für gesund.« Louise fuhr sanft fort, ihre Freundin zu verteidigen. Sie fand sie so nett! Und es war dies ihr einziges Argument, das sie den Anschuldigungen, Pauline habe ein hartes Herz und eine schlechte Gesundheit, entgegenhielt. Ein Bedürfnis nach Wohlwollen, nach glücklichem Gleichgewicht ließ sie die allzu grobe Gehässigkeit Frau Chanteaus bekämpfen, obgleich sie jeden Tag lächelnd zuhörte, wie diese ihren Haß vom Abend zuvor noch überbot. Sie erhob laut Einspruch, erregt durch die Heftigkeit der Worte, ganz rosig von der heimlichen Freude, die sie genoß, sich bevorzugt und jetzt als Herrin des Hauses zu fühlen. Sie war wie Minouche, sie rieb sich zärtlich an den anderen, ohne Bosheit, solange man ihr
Vergnügen nicht störte. Schließlich lief an jedem Abend die Unterhaltung nach immer den gleichen Wiederholungen auf diesen langsam gesprochenen Anfang eines Satzes hinaus: »Nein, Louisette, die Frau, die mein Sohn brauchte ...« Hiermit hob Frau Chanteau immer an, erging sich über die Eigenschaften, die sie von einer vollkommenen Schwiegertochter verlangte; und ihre Augen ließen nicht mehr von denen des jungen Mädchens, versuchten, ihr zu verstehen zu geben, was sie nicht aussprach. Das ganze Bild derselben entrollte sich: eine wohlerzogene junge Person, die schon die Welt kannte, imstande, Gäste zu empfangen, eher anmutig als schön, vor allem sehr fraulich, denn sie sagte, sie verabscheue diese jungenhaften Mädchen, die unter dem Vorwand der Freimütigkeit ungehobelt seien. Dann war da die Frage des Geldes, die einzig
entscheidende Frage, die sie mit einem Worte streifte: Gewiß, die Mitgift zähle nicht, aber ihr Sohn habe große Pläne, er könne sich nicht auf eine Heirat einlassen, die ihn ruinieren würde. »Sieh mal, meine Liebe, hätte Pauline nicht einen Sou gehabt und wäre sie ohne ein Hemd auf dem Leib hier hereingeschneit, nun, dann wäre die Heirat schon seit Jahren gemacht ... Doch soll ich etwa nicht zittern, wenn ich sehe, wie das Geld ihr unter den Fingern zerrinnt? Sie wird jetzt weit kommen, nicht wahr, mit ihren sechzigtausend Francs ... Nein, Lazare ist mehr wert als das, ich werde ihn niemals einer Verrückten geben, die am Essen knapst, um sich in Dummheiten zu ruinieren.« »Oh, das Geld bedeutet nichts!« entgegnete Louise und senkte den Blick. »Man braucht es eben nur.« Ohne daß noch deutlicher von ihrer Mitgift die Rede war, schienen die zweihunderttausend
Francs da auf dem Tisch zu liegen, beleuchtet vom schläfrigen Schein der Hängelampe. Da Frau Chanteau sie förmlich spürte, sie geradezu vor sich sah, geriet sie in Fieber, schob mit einer Handbewegung die armseligen sechzigtausend Francs der anderen beiseite und träumte davon, die zuletzt Gekommene mit ihrem unversehrten Vermögen zu erobern. Sie hatte das plötzliche Begehren in ihrem Sohn bemerkt, bevor ihn die Widerwärtigkeiten da oben festhielten. Wenn das junge Mädchen ihn gleichfalls liebte, warum sollte man sie nicht miteinander verheiraten? Der Vater würde einwilligen, besonders im Falle gegenseitiger Leidenschaft. Und sie schürte diese Leidenschaft, sie brachte den Rest des Abends damit zu, verwirrende Sätze zu murmeln. »Mein Lazare ist so gut! Niemand kennt ihn. Du selber, Louisette, du kannst nicht ahnen, wie zärtlich er ist ... Ach, seine Frau ist nicht zu bedauern! Die kann sicher sein, daß sie
geliebt wird! Und immer wohlauf! Schwanenweiße Haut. Mein Großvater, der Ritter de la Vignière, hatte so weiße Haut, daß er auf den Maskenbällen seiner Zeit ein Dekolleté trug wie eine Frau.« Louise errötete und lachte, sehr belustigt über diese Einzelheiten. Die Art, in der die Mutter ihr um des Sohnes willen den Hof machte, diese vertraulichen Mitteilungen einer ehrbaren Kupplerin, die zwischen zwei Frauen weit gehen konnten, hätten sie die ganze Nacht dort festgehalten. Doch Chanteau nickte schließlich über seiner Zeitung ein. »Gehen wir nicht bald schlafen?« fragte er gähnend. Dann fügte er, da er seit langem der Unterhaltung nicht mehr gefolgt war, hinzu: »Ihr habt gut reden, sie ist nicht boshaft ... Ich werde froh sein, wenn sie erst wieder herunterkommt und ihre Suppe mit mir ißt.«
»Wir werden alle froh sein«, rief Frau Chanteau gereizt. »Man redet, man sagt, was man denkt, aber das kann einen nicht hindern, die Leute zu lieben.« »Die arme Kleine!« erklärte nun auch Louise. »Ich würde ihr gern die Hälfte ihres Leidens abnehmen, wenn ich könnte ... Sie ist so lieb!« Véronique, die die Leuchter brachte, mischte sich von neuem ein. »Sie tun gut daran, ihre Freundin zu sein, Mademoiselle Louise, denn man müßte schon einen Pflasterstein anstelle des Herzens haben, um Gemeinheiten gegen sie anzuzetteln.« »Schon gut, du warst gar nicht gefragt«, begann Frau Chanteau wieder. »Du tätest besser daran, deine Leuchter zu putzen ... Der hier sieht ja ekelhaft aus!« Alle erhoben sich. Chanteau, der vor dieser bedrohlichen Auseinandersetzung floh, schloß sich in seinem Zimmer im Erdgeschoß ein.
Aber als die beiden Frauen ins erste Stockwerk hinaufgegangen waren, wo ihre Zimmer einander gegenüberlagen, gingen sie noch nicht zu Bett. Fast immer nahm Frau Chanteau Louise für einen Augenblick mit zu sich; und hier begann sie wieder von Lazare zu sprechen, breitete seine Bilder aus, ging sogar so weit, Andenken von ihm hervorzuholen: einen Zahn, den man ihm gezogen, als er ganz klein war, verblichene Haare aus seiner frühesten Kindheit, selbst alte Kleidungsstücke, seine Kommunionskrawatte, seine erste Hose. »Da! Hier hast du Haare von ihm«, sagte sie eines Abends. »Du beraubst mich nicht, ich habe welche von allen Altersstufen.« Und wenn Louise endlich im Bett lag, konnte sie nicht die Augen schließen unter der Zwangsvorstellung von diesem Jüngling, den seine Mutter ihr so in die Arme trieb. Sie wälzte sich glühend vor Schlaflosigkeit hin
und her, sah ihn sich mit seiner weißen Haut von der Finsternis abheben. Oft lauschte sie, ob er nicht im oberen Stockwerk umherging; und die Vorstellung, daß er zweifellos noch bei der im Bett liegenden Pauline wachte, verdoppelte ihr Fieber so sehr, daß sie das Bettuch von sich werfen und mit nacktem Busen einschlafen mußte. Oben schritt die Genesung langsam voran. Obgleich die Kranke außer Gefahr war, blieb sie sehr schwach, erschöpft von Fieberanfällen, die den Arzt in Erstaunen setzten. Wie Lazare sagte, waren die Ärzte immer erstaunt. Er selber wurde mit jeder Stunde reizbarer. Die plötzliche Ermattung, die er gleich nach überstandener Krise empfunden, schien zuzunehmen, wandelte sich zu einer Art ruhelosen Unbehagens. Jetzt, da er nicht mehr gegen den Tod kämpfte, litt er unter dem luftlosen Zimmer, unter der Arznei, die er ihr zu festgesetzter Stunde eingeben mußte, unter all den Beschwerlichkeiten der
Krankheit, an denen er zuerst so glühenden Anteil genommen hatte. Sie konnte ihn entbehren, und er fiel zurück in die Langeweile seines leeren Daseins, eine Langeweile, bei der er mit lässig herabhängenden Händen dasaß, von einem Stuhl auf den anderen wechselte, mit verzweifelten Blicken auf die vier Wände umherlief, selbstvergessen vor dem Fenster verweilte, ohne etwas zu sehen. Sowie er ein Buch aufschlug, um neben ihr zu lesen, unterdrückte er zwischen den Seiten ein Gähnen. »Lazare«, sagte Pauline eines Tages, »du solltest an die Luft gehen. Wenn Véronique da ist, genügt es.« Er weigerte sich heftig. Konnte sie ihn denn nicht mehr ertragen, daß sie ihn fortschickte? Das wäre vielleicht freundlich, sie so zu verlassen, bevor man sie wieder völlig auf die Beine gebracht hätte! Er beruhigte sich
schließlich, während sie sanft erklärte: »Du würdest mich doch nicht verlassen, wenn du nur ein wenig Luft schöpftest ... Geh am Nachmittag aus. Was hätten wir davon, wenn du auch noch krank würdest!« Doch sie hatte hinzuzufügen:
die
Ungeschicklichkeit,
»Ich sehe doch, daß du den ganzen Tag gähnst.« »Ich sollte gähnen!« rief er. »Sag nur gleich, daß ich kein Herz habe ... Wahrhaftig! Du belohnst mich hübsch!« Am nächsten Morgen war Pauline geschickter. Sie tat, als habe sie den lebhaften Wunsch, den Bau der Schutzbuhnen und Palisaden fortschreiten zu sehen: Die winterlichen Hochfluten würden kommen, die Versuchsbalken würden fortgespült werden, wenn man das Schutzsystem nicht vervollständigte. Aber Lazares anfängliche
Begeisterung hatte sich schon gelegt; er zeigte sich unzufrieden mit der Anordnung, auf die er rechnete, neue Studien waren notwendig; am Ende werde man den Kostenanschlag überschreiten, und der Generalrat hatte noch nicht einen Sou bewilligt. So mußte sie zwei Tage lang seinen Erfinderstolz wieder wecken: Wollte er es zulassen, vor dem ganzen Dorf, das schon jetzt lachte, vom Meer geschlagen zu werden? Was das Geld betraf, so würde es ihm sicher zurückerstattet werden, wenn sie es, wie vereinbart, vorstreckte. Nach und nach schien Lazare sich wieder zu begeistern. Er erneuerte seine Pläne, er bestellte den Zimmermann von Arromanches, mit dem er Unterredungen in seinem Zimmer hatte, dessen Tür er offenließ, um auf den ersten Ruf herbeizueilen. »Jetzt«, erklärte er, als er sie eines Morgens küßte, »wird uns das Meer auch nicht mehr ein Streichholz zerbrechen, ich bin meiner Sache sicher ... Sobald du wieder gehen kannst,
sehen wir uns den Zustand der Bollwerke an.« Louise war heraufgekommen, um sich nach Paulines Befinden zu erkundigen, und als auch sie die Genesende küßte, flüsterte diese ihr ins Ohr: »Nimm ihn mit.« Lazare weigerte sich zunächst. Er erwartete den Doktor. Aber Louise lachte, wiederholte ihm, daß er zu höflich sei, um sie allein zu den Gonins gehen zu lassen, wo sie selber die Langusten aussuchte, die sie nach Caen schickte. Er könne im Vorübergehen einen Blick auf die Buhnen werfen. »Geh, du würdest mir Freude machen«, sagte Pauline. »Nimm doch seinen Arm, Louise ... So ist es recht, laß ihn nicht mehr los.« Sie war dabei lustig, die beiden anderen schubsten sich scherzend; und als sie hinausgingen, wurde sie wieder ernst und beugte sich über den Rand des Bettes, um
ihren Schritten und ihrem Lachen zu lauschen, die sich im Treppenhaus verloren. Eine Viertelstunde später erschien Véronique mit dem Arzt. Dann ließ sie sich an Paulines Kopfende nieder, ohne dabei ihre Töpfe im Stich zu lassen, kam in jeder freien Minute herauf und verbrachte dort eine Stunde zwischen zwei Soßen. Das geschah nicht auf einmal. Lazare war am Abend zurückgekehrt; aber am nächsten Morgen ging er wieder hinaus; und jeden Tag kürzte er, mitgerissen von dem Leben draußen, seine Besuche ab, blieb nur noch so lange, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Im übrigen war es Pauline, die ihn fortschickte, wenn er nur davon sprach, sich hinzusetzen. Wenn er mit Louise heimkam, forderte sie die beiden auf, von ihrem Spaziergang zu berichten, glücklich über ihre Angeregtheit, über die frische Luft, die sie in ihrem Haar mitbrachten. Sie schienen so gute Kameraden, daß Pauline keinen Argwohn mehr gegen die beiden hegte.
Und sowie sie Véronique mit der Arznei in der Hand erblickte, rief sie fröhlich: »Nun geht schon! Ihr stört mich.« Zuweilen rief sie Louise zurück, um ihr Lazare wie ein Kind ans Herz zu legen. »Sieh zu, daß er sich nicht langweilt. Er braucht Zerstreuung ... Und macht einen tüchtigen Ausflug, ich will euch heute nicht mehr sehen.« Wenn sie allein war, schien sie ihnen mit starren Augen in die Ferne zu folgen. Sie verbrachte die Tage mit Lesen, wartete, daß ihre Kräfte wiederkehrten, war noch so zerschlagen, daß zwei oder drei Stunden im Sessel sie erschöpften. Oft ließ sie das Buch in den Schoß sinken, verträumt schweifte sie ab und folgte in Gedanken ihrem Cousin und ihrer Freundin. Wenn sie am Strand entlanggegangen waren, mußten sie zu den Grotten kommen, wo es sich gut sein ließ auf
dem Sande, in der kühlen Stunde der Flut. Und sie glaubte in der Beharrlichkeit dieser Visionen nur das Bedauern darüber zu empfinden, daß sie nicht bei ihnen sein konnte. Ihre Lektüre langweilte sie im übrigen. Die Romane, die im Hause herumlagen, Liebesgeschichten mit dichterisch verbrämtem Verrat, hatten ihre Geradheit, ihr Bedürfnis, sich zu geben und sich nicht wieder zurückzunehmen, schon immer empört. War es möglich, daß man sein Herz belog, daß man eines Tages zu lieben aufhörte, nachdem man geliebt hatte? Sie stieß das Buch von sich. Jetzt sahen ihre gedankenverlorenen Blicke dort drüben, jenseits der Mauern, ihren Cousin, wie er ihre Freundin, deren müden Gang er stützte, nach Hause geleitete, einer an den anderen gelehnt, unter Lachen miteinander flüsternd. »Ihre Arznei, Mademoiselle Pauline«, sagte auf einmal Véronique, deren grobe Stimme sie aus ihrer Versunkenheit aufschreckte.
Am Ende der ersten Woche kam Lazare nicht mehr herein, ohne anzuklopfen. Als er eines Morgens die Tür aufstieß, erblickte er Pauline mit nackten Armen, wie sie sich in ihrem Bett kämmte. »Oh, Verzeihung!« murmelte er und prallte zurück. »Was denn?« rief sie. »Hast du Angst vor mir?« Da entschloß er sich, aber er fürchtete sie in Verlegenheit zu bringen und wandte den Kopf ab, während sie ihr Haar fertig aufsteckte. »Ach, gib mir doch eine Unterjacke«, sagte sie ruhig. »Da, im ersten Schubfach ... Es geht mir besser, ich werde putzsüchtig.« Er geriet in Verwirrung, fand nur Hemden. Als er ihr schließlich eine Unterjacke zugeworfen hatte, wartete er vor dem Fenster, bis sie sich bis zum Kinn zugeknöpft hatte. Vierzehn Tage zuvor, als er sie dem Tode nahe glaubte, hatte
er sie wie ein kleines Mädchen auf seine Arme genommen, ohne zu sehen, daß sie nackt war. Jetzt verletzte ihn sogar die Unordnung im Zimmer. Und auch sie, von seiner Verlegenheit angesteckt, bat ihn bald nicht mehr um die vertrauten Dienste, die er ihr eine Zeitlang erwiesen. »Véronique, mach doch die Tür zu!« rief sie eines Morgens, als sie den jungen Mann auf dem Flur gehen hörte. »Versteck das alles, und gib mir dieses Busentuch.« Es ging Pauline indessen immer besser. Als sie sich auf den Beinen halten und auf das Fensterbrett stützen konnte, war es ihr großes Vergnügen, den Bau der Buhnen in der Ferne zu verfolgen. Man hörte deutlich die Hammerschläge, man sah den Trupp von sieben oder acht Männern, deren schwarze Flecke sich wie große Ameisen auf den gelben Kieseln des Strandes hin und her bewegten. Zwischen zwei Fluten waren sie voller Hast
am Werk; dann mußten sie vor der steigenden Flut zurückweichen. Aber Pauline widmete ihre Aufmerksamkeit vor allem Lazares weißer Jacke und Louises rosa Kleid, die in der Sonne leuchteten. Sie folgte ihnen, fand sie immer wieder, hätte fast bis auf jede Geste erzählen können, wie sie ihren Tag verbrachten. Jetzt, da die Arbeiten energisch vorangetrieben wurden, konnten die beiden sich nicht mehr entfernen und zu den Grotten hinter den Felsenklippen gehen. Sie hatte sie unaufhörlich in einem Kilometer Entfernung vor sich, in der belustigenden Zierlichkeit von Puppen unter dem unendlichen Himmel. Und in ihre wiederkehrenden Kräfte, in die Fröhlichkeit ihrer Genesung mischte sich in großem Maße, ihr selber unbewußt, die eifersüchtige Freude, auf diese Weise mit ihnen zusammen zu sein. »Was? Das bringt Ihnen Zerstreuung, den Männern bei der Arbeit zuzusehen«, wiederholte jeden Tag Véronique, während sie
das Zimmer ausfegte. »Gewiß, das ist besser als lesen. Mir verwirren die Bücher den Kopf. Und wenn man wieder zu Kräften kommen muß, sehen Sie, dann muß man sich die Sonne in den Schnabel scheinen lassen wie die Truthennen, um ordentlich das Maul voll zu kriegen.« Sie war für gewöhnlich nicht redselig, man fand sogar, sie sei verschlossen. Aber mit Pauline schwatzte sie aus Freundschaft, in dem Glauben, ihr damit Gutes zu tun. »Komische Arbeit trotzdem! Nun, Hauptsache, es gefällt Herrn Lazare ... Wenn ich sage, daß es ihm gefällt, so sieht er doch schon nicht mehr so begeistert aus! Aber er ist stolz, und er hat es sich in den Kopf gesetzt, wenn er auch vor Ärger platzen sollte ... Und außerdem, wenn er diese Saufbrüder von Arbeitern auch nur eine Minute aus den Augen läßt, schlagen sie ihm gleich ein paar Nägel verquer ein.« Nachdem sie mit ihrem Besen unter das Bett
gefahren war, redete sie weiter: »Was die Gräfin angeht ...« Pauline, die nur mit halbem Ohr zuhörte, wunderte sich über dieses Wort. »Wieso, die Gräfin?« »Na, Mademoiselle Louise! Könnte man nicht meinen, sie sei aus dem Schenkel Jupiters hervorgegangen? Wenn Sie in ihrem Zimmer all ihre kleinen Töpfe Pomaden und Wässerchen sähen! Schon wenn man reinkommt, kriegt man es in der Kehle, so duftet das ... Sie ist trotzdem nicht so hübsch wie Sie.« »Oh, ich, ich bin nicht mehr als eine Bäuerin«, sagte das junge Mädchen mit einem Lächeln. »Louise ist sehr anmutig.« »Schon möglich! Aber sie hat trotzdem kein Fleisch auf den Knochen. Ich sehe sie ja, wenn sie sich wäscht ... Wenn ich ein Mann wäre,
ich würde nicht zögern!« Vom Feuer ihrer Überzeugung fortgerissen, lehnte sie sich jetzt neben Pauline auf die Fensterbrüstung. »Sehen Sie sie doch nur auf dem Sand da unten, man könnte sie für eine richtige Garnele halten! Natürlich ist es weit weg, und sie kann von hier aus nicht so breit erscheinen wie ein Turm. Aber schließlich muß man wenigstens nach etwas aussehen ... Ah! Da hebt Herr Lazare sie hoch, damit sie sich nicht ihre Stiefel naß macht. Da hat er aber nicht viel in den Armen! Doch es gibt ja Männer, die die Knochen lieben ...« Véronique unterbrach sich unvermittelt, als sie neben sich Paulines Zittern spürte. Unaufhörlich kam sie auf dieses Thema zurück, mit der unbändigen Lust, noch mehr darüber zu sagen. Alles, was sie jetzt hörte, was sie sah, blieb ihr in der Kehle stecken und würgte sie: die abendlichen Unterhaltungen,
bei denen man über das junge Mädchen herzog, Lazares und Louises verstohlenes Lachen, das ganze undankbare Haus, das dem Verrat zutrieb. Wäre sie sofort hinaufgegangen, wenn eine zu starke Ungerechtigkeit ihren gesunden Menschenverstand empörte, so hätte sie der Genesenden alles berichtet; aber die Angst, diese wieder krank zu machen, hielt sie in ihrer Küche zurück, wo sie herumstapfte und ihre Töpfe mißhandelte und schwor, daß das nicht so weitergehen könne, daß sie eines schönen Tages losplatzen werde. Sowie ihr dann oben ein beunruhigendes Wort entfuhr, versuchte sie, es zurückzunehmen, erklärte sie es mit rührender Ungeschicklichkeit. »Gottlob liebt Herr Lazare ja keine Knochen! Er ist in Paris gewesen, er hat einen zu guten Geschmack ... Sehen Sie, er hat sie wieder auf die Erde gestellt, als ob er ein Streichholz fortwirft.«
Und in der Furcht, noch andere unnütze Dinge zu sagen, schwang Véronique den Staubwedel, um die Hausarbeit zu beenden, während Pauline, in Gedanken versunken, bis zum Abend am Horizont das blaue Kleid Louises und Lazares weiße Jacke inmitten der dunklen Flecke der Arbeiter verfolgte. Als sie schließlich fast genesen war, wurde Chanteau von einem heftigen Gichtanfall gepackt, so daß sich das junge Mädchen entschloß, trotz seiner Schwäche hinunterzugehen. So verließ sie das erste Mal ihr Zimmer, um sich an das Bett eines Kranken zu setzen. Wie Frau Chanteau grollend sagte, war das Haus ein wahres Hospital. Seit einiger Zeit verließ ihr Gatte den Diwan nicht mehr. In der Folge wiederholter Anfalle wurde sein ganzer Körper mitgenommen, das Übel stieg von den Füßen in die Knie, dann in die Ellbogen und die Hände. Der kleine weiße Knoten am Ohr war abgefallen; andere, größere waren zum
Vorschein gekommen; und alle Gelenke schwollen an, die Kreide der Gichtknoten drang in weißlichen Spitzen, die wie Krebsaugen aussahen, überall unter der Haut hervor. Es war jetzt die unheilbare chronische Gicht, die Gicht, die die Gelenke steif macht und deformiert. »Mein Gott! Was muß ich leiden!« wiederholte Chanteau. »Mein linkes Bein ist steif wie Holz; nicht möglich, den Fuß oder das Knie zu bewegen ... Und mein Ellbogen fängt nun auch schon an zu brennen. Sieh ihn dir doch mal an.« Pauline stellte am linken Ellbogen eine stark entzündete Geschwulst fest. Er klagte vor allem über dieses Gelenk, in dem der Schmerz bald unerträglich wurde. Den Arm ausgestreckt, seufzte er und ließ seine Hand nicht aus den Augen, eine erbarmungswürdige Hand mit von Knoten geschwollenen Fingergliedern, mit einem gekrümmten und
wie von einem Hammerschlag zerquetschten Daumen. »Ich kann so nicht liegenbleiben, du mußt mir helfen ... Ich hatte eine so gute Lage gefunden! Und gleich fängt es wieder an, es ist, als kratzte man mir mit einer Säge auf den Knochen herum ... Versuch doch, mich ein wenig aufzurichten.« Zwanzigmal in einer Stunde mußte man seine Lage verändern. Eine ständige Angst bewegte ihn, immer hoffte er auf Erleichterung. Aber Pauline fühlte sich noch so wenig gekräftigt, daß sie ihn nicht allein zu bewegen wagte. Sie murmelte: »Véronique, faß ihn vorsichtig mit an.« »Nein!« schrie er. »Nicht Véronique! Sie schüttelt mich.« Da mußte Pauline sich so anstrengen, daß ihre Schultern krachten. Und sie mochte ihn noch so behutsam umwenden, er stieß ein Gebrüll
aus, das das Hausmädchen in die Flucht jagte. Véronique schwor, man müsse eine Heilige sein wie Mademoiselle Pauline, um nicht einer solchen Arbeit überdrüssig zu werden; denn der liebe Gott selber wäre auf und davon gelaufen, hätte er Herrn Chanteau brüllen hören. Die Anfälle wurden indessen weniger heftig; aber sie nahmen kein Ende, sie dauerten Tag und Nacht, steigerten so das Unbehagen und wurden durch die Angst vor der Unbeweglichkeit zu einer namenlosen Qual. Es waren nicht mehr nur die Füße, die ein Tier zernagte; der ganze Körper wurde wie unter einem hartnäckig arbeitenden Mühlstein zerschrotet. Und es gab keinerlei Möglichkeit der Erleichterung; Pauline konnte nur dableiben, seinen Launen ausgesetzt, immer bereit, ihn anders zu betten, ohne daß er dadurch jemals auch nur eine Stunde Ruhe gewann. Das schlimmste war, daß das Leiden ihn ungerecht und grob machte, er sprach
wütend mit ihr wie mit einer ungeschickten Dienstmagd. »Ach, du bist genauso dumm wie Véronique ... Wie kannst du mir bloß deine Finger in den Leib bohren! Hast du denn Gendarmenfinger? Laß mich in Frieden, ich will nicht mehr, daß du mich anrührst!« Sie jedoch, ohne zu antworten, verdoppelte in einer durch nichts zu erschütternden Ergebung ihre Sanftmut. Fühlte sie, daß er allzu gereizt war, so verbarg sie sich einen Augenblick hinter den Vorhängen, damit er sich beruhigte, wenn er sie nicht mehr sah. Oft weinte sie dort still vor sich hin, nicht über die Grobheiten des armen Mannes, sondern über das entsetzliche Martyrium, das ihn böse machte. Und sie hörte ihn zwischen seinen Klagen halblaut sprechen. »Sie ist weggegangen, die Herzlose ... Oh, ich kann ruhig verrecken, ich hätte nur Minouche, die mir die Augen zudrücken würde. Bei Gott, es ist doch wohl nicht möglich, daß man einen
Christenmenschen so im Stiche läßt ... Ich wette, sie sitzt in der Küche und trinkt Brühe.« Dann, nachdem er einen Augenblick mit sich gekämpft hatte, brummte er lauter und entschloß sich endlich zu sagen: »Pauline, bist du da? ... Komm doch und richte mich ein wenig auf, ich kann so nicht liegenbleiben ... Versuchen wir es auf der linken Seite, ja?« Rührung überkam ihn, er bat sie um Verzeihung, daß er nicht nett zu ihr gewesen. Zuweilen wollte er, daß sie Mathieu hereinließ, damit er weniger allein sei, denn er bildete sich ein, daß die Anwesenheit des Hundes günstig für ihn sei. Aber er hatte vor allem in Minouche eine treue Gefährtin, denn sie schwärmte für abgeschlossene Krankenzimmer, sie verbrachte jetzt die Tage in einem Sessel gegenüber dem Bett. Die allzu heftigen Klagen schienen sie jedoch zu befremden. Wenn er schrie, blieb sie auf ihrem
Schwanz sitzen und sah zu, wie er litt, mit ihren runden Augen, in denen das unwillige Erstaunen einer in ihrer Seelenruhe gestörten weisen Person glänzte. Warum machte er all diesen unangenehmen und unnützen Lärm? Jedesmal wenn Pauline Doktor Cazenove hinausbegleitete, bat sie ihn flehentlich: »Können Sie ihm denn nicht eine Morphiumspritze geben? Mir bricht das Herz, wenn ich ihn höre.« Der Doktor weigerte sich. Wozu? Der Anfall würde um so heftiger wiederkommen. Da das Salizylpräparat das Übel anscheinend verschlimmert hatte, wollte er lieber kein neues Heilmittel versuchen. Jedoch sprach er davon, die Milchkost auszuprobieren, sobald das akute Stadium des Anfalls vorüber wäre. Bis dahin absolute Diät, harntreibende Getränke und nichts sonst. »Im Grunde«, wiederholte er, »ist er ein
Schlemmer, der die guten Bissen zu teuer bezahlt. Er hat Wild gegessen, ich weiß es, ich habe die Federn gesehen. Um so schlimmer schließlich! Ich habe ihn genügend gewarnt; soll er nur leiden, da er sich lieber vollstopft und das Risiko dabei in Kauf nimmt! Noch weniger angebracht aber wäre es, mein Kind, wenn Sie sich wieder legen müßten. Seien Sie vorsichtig, nicht wahr? Ihre Gesundheit verlangt noch Schonung.« Sie schonte sich kaum, widmete ihm all ihre Stunden, und der Begriff der Zeit, ja selbst des Lebens ging ihr verloren in den Tagen, die sie bei ihrem Onkel zubrachte, während in ihren Ohren die Klage dröhnte, von der das Zimmer erschauerte. Diese Pflichtbesessenheit war so groß, daß sie darüber Lazare und Louise vergaß, sie wechselte nur im Vorübereilen ein paar Worte mit ihnen und begegnete ihnen nur in den wenigen Minuten wieder, da sie durch das Eßzimmer ging. Übrigens waren die Arbeiten an den Buhnen beendet, heftige
Regenfälle hielten die jungen Leute seit einer Woche im Haus zurück; und wenn ihr plötzlich wieder der Gedanke kam, daß sie zusammen waren, freute sie sich, die beiden in ihrer Nähe zu wissen. Niemals war Frau Chanteau so beschäftigt erschienen. Sie nutzte, so sagte sie, das Durcheinander, in das die Anfälle ihres Gatten die Familie stürzten, um ihre Papiere durchzusehen, ihre Abrechnungen zu machen, ihre Briefschaften zu erledigen. Deshalb schloß sie sich am Nachmittag in ihrem Zimmer ein und überließ Louise sich selbst, die sogleich zu Lazare hinaufging, weil ihr vor dem Alleinsein graute. Das war jetzt zur Gewohnheit geworden, sie blieben bis zum Abendessen in dem großen Zimmer des zweiten Stockwerks zusammen, in jenem Zimmer, das für Pauline so lange ein Raum des Lernens und der Freude gewesen war. Das schmale Eisenbett des jungen Mannes stand immer noch da, hinter dem Wandschirm
verborgen, während das Klavier sich mit Staub bedeckte und der ungeheure Tisch unter einem Wust von Papieren, Büchern und Broschüren verschwand. Mitten auf dem Tisch, zwischen zwei Packen getrockneter Algen, stand eine Buhne, groß wie ein Spielzeug, mit dem Messer aus Tannenholz geschnitzt, das an das Meisterstück des Großvaters erinnerte, an die Brücke, die in ihrem Glaskasten das Eßzimmer zierte. Lazare zeigte sich seit einiger Zeit nervös. Seine Handwerker hatten ihn aufgebracht, er hatte sich der Arbeiten entledigt wie einer allzu schweren Fron, ohne die Freude zu genießen, seine Vorstellung endlich verwirklicht zu sehen. Andere Pläne beschäftigten ihn, verworrene Zukunftspläne, der Gedanke an Ämter in Caen, an Werke, die dazu bestimmt waren, ihn sehr weit nach oben zu bringen. Aber er unternahm noch immer keine ernsthaften Schritte, er verfiel wieder in einen Müßiggang, der ihn verbitterte, ihn von
Stunde zu Stunde kraft und mutloser werden ließ. Dieses Unbehagen steigerte sich durch den tiefen Schock, den er durch Paulines Krankheit davongetragen, durch ein ständiges Bedürfnis nach frischer Luft, durch eine seltsame körperliche Erregung, als gehorchte er der gebieterischen Notwendigkeit, sich am Schmerz zu rächen. Louises Gegenwart reizte sein Fieber noch mehr; sie konnte nicht mit ihm sprechen, ohne sich auf seine Schulter zu stützen, sie hauchte ihm ihr hübsches Lachen ins Gesicht; und ihre katzenhafte Anmut, ihr Duft eines gefallsüchtigen Weibes, diese ganze freundschaftliche und verwirrende Ungezwungenheit berauschte ihn vollends. Er empfand schließlich ein krankhaftes, von Skrupeln bekämpftes Verlangen. Mit einer Freundin aus der Kindheit im Hause seiner Mutter war das unmöglich, der Gedanke der Schicklichkeit lähmte ihm plötzlich die Arme, wenn er sie spielend packte und ein jähes Feuer ihm das Blut unter die Haut trieb. In
diesem Widerstreit war es niemals das Bild Paulines, das ihn zurückhielt: Sie hätte nichts davon erfahren, ein Ehemann betrügt seine Frau ja auch mit einem Dienstmädchen. Des Nachts ersann er Geschichten, man habe Véronique, die unerträglich geworden, fortgeschickt, Louise sei nur noch ein kleines Hausmädchen, zu dem er sich barfuß hinschlich. Wie schlecht sich das Leben doch anließ! Daher auch übertrieb er vom Morgen bis zum Abend seinen Pessimismus in bezug auf die Frauen und die Liebe in grimmigen Spottreden. Alles Übel komme von den dummen, leichtfertigen Weibern, die den Schmerz durch das Begehren verewigten, und die Liebe sei nur Schwindel, das selbstsüchtige Drängen der zukünftigen Generationen, die leben wollten. Der ganze Schopenhauer verbarg sich dahinter, mit Roheiten, an denen sich das errötende junge Mädchen sehr erheiterte. Und nach und nach liebte er sie immer mehr, eine wahre Leidenschaft
entwickelte sich aus dieser wütenden Verachtung, er stürzte sich in diese neue Zuneigung mit dem üblichen Feuer seiner anfänglichen Begeisterung, stets auf der Suche nach einem Glück, das sich nie erfüllte. Bei Louise war es lange Zeit nichts als ein natürliches Spiel der Koketterie gewesen. Sie schwärmte für kleine Aufmerksamkeiten, für geflüsterte Schmeicheleien, für die leichte Berührung durch liebenswürdige Männer und fühlte sich sogleich fremd und traurig, wenn man sich nicht mehr mit ihr beschäftigte. Ihre jungfräulichen Sinne schlummerten, es blieb bei ihr nur beim Geplapper, bei den erlaubten Vertraulichkeiten eines galanten Hofierens in jedem Augenblick. Wenn Lazare sie einen Moment vernachlässigte, um einen Brief zu schreiben oder um sich in eine seiner plötzlichen, ohne offensichtlichen Grund auftretenden Schwermutsanwandlungen zu versenken, wurde sie so unglücklich, daß sie ihn zu necken, herauszufordern begann und
noch die Gefahr dem Vergessenwerden vorzog. Später indessen hatte Angst sie gepackt, als eines Tages der Atem des jungen Mannes wie eine Flamme über ihren zarten Nacken fuhr. Sie war durch ihre langen Pensionatsjahre genugsam unterrichtet, um wohl zu wissen, was ihr drohte; und seit diesem Augenblick hatte sie in der köstlichen und zugleich bangen Erwartung eines möglichen Unglücks gelebt. Nicht, daß sie es im geringsten wünschte oder auch nur ernsthaft darüber nachdachte, denn sie rechnete durchaus damit, ihm zu entrinnen, ohne jedoch aufzuhören, sich ihm auszusetzen, so sehr bestand ihr Frauenglück aus diesem prickelnden Kampf, aus ihrer Hingabe und ihrer Weigerung. Oben in dem großen Zimmer fühlten Lazare und Louise sich noch mehr zueinander gehörig. Die Familie, die das begünstigte, schien beide ins Verderben stürzen zu wollen, ihn, der untätig und vor Einsamkeit krank, sie,
die durch die vertraulichen Einzelheiten, durch die leidenschaftlichen Auskünfte Frau Chanteaus über ihren Sohn verwirrt worden war. Sie flüchteten sich dorthin unter dem Vorwand, die Schreie des Vaters, der sich unten mit seiner Gicht vor Schmerzen krümmte, weniger laut zu vernehmen; und sie lebten dort, ohne ein Buch anzurühren, ohne das Klavier zu öffnen, einzig mit sich selbst beschäftigt und damit, sich mit endlosen Plaudereien zu betäuben. An dem Tage, da Chanteaus Anfall seinen Höhepunkt erreicht hatte, bebte das ganze Haus von seinen Schreien. Es waren langgezogene, abgerissene Klagelaute, ähnlich dem Gebrüll eines Tieres, das man abschlachtet. Nach dem in nervöser Erregung rasch hinuntergeschlungenen Mittagessen flüchtete Frau Chanteau mit den Worten: »Ich kann nicht, ich würde auch zu brüllen anfangen. Wenn man nach mir fragt, ich bin in
meinem Zimmer und schreibe ... Und du, Lazare, nimm schnell Louise mit in dein Zimmer. Schließt euch gut ein, versuche, sie aufzuheitern, denn sie hat wahrlich kein Vergnügen hier, die arme Louisette!« Man hörte, wie sie im oberen Stockwerk ihre Tür heftig schloß, während ihr Sohn und das junge Mädchen noch höher stiegen. Pauline war wieder zu ihrem Onkel zurückgekehrt. Sie allein blieb ruhig in ihrem Mitleid für so viel Schmerz. Wenn sie auch nichts anderes tun konnte, als nur eben dazubleiben, so wollte sie wenigstens dem Unglücklichen den Trost geben, nicht einsam zu leiden, da sie fühlte, daß er dem Übel tapferer begegnete, wenn sie ihn ansah, selbst ohne das Wort an ihn zu richten. Stundenlang setzte sie sich so an das Bett, und es gelang ihr, ihn mit ihren großen mitleidsvollen Augen ein wenig zu beruhigen. Doch an jenem Tag sah er sie nicht einmal, hatte den Kopf über
das Kopfpolster zurückgeworfen, den Arm ausgestreckt, der am Ellbogen vom Schmerz zerfressen wurde, und schrie noch lauter, sobald sie sich näherte. Gegen vier Uhr suchte Pauline in ihrer Verzweiflung Véronique in der Küche auf, wobei sie die Tür offenließ. Sie gedachte sogleich zurückzukehren. »Man müßte doch etwas tun«, murmelte sie. »Ich habe Lust, Kaltwasserumschläge zu versuchen. Der Doktor sagt, das sei gefährlich, habe aber manchmal Erfolg ... Ich brauche dazu Leinen.« Véronique war scheußlicher Laune. »Leinen! Ich bin gerade wegen Wischtüchern nach oben gegangen, und man hat mich schön empfangen ... Man darf sie nicht stören, wie es scheint. Das ist eine Schweinerei!« »Wenn du Lazare fragtest?« begann Pauline wieder, ohne noch zu begreifen.
Aber von Empörung fortgerissen, hatte Véronique die Fäuste in die Hüften gestemmt, und der Satz war heraus, bevor sie ihn noch recht überlegt hatte. »Ach ja, die da oben sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich das Gesicht abzulecken!« »Wie?« stammelte das junge Mädchen, sehr blaß geworden. Véronique, die über den Ton ihrer Stimme selber erstaunt war und diese vertrauliche Mitteilung, die sie schon so lange zurückhielt, ungeschehen machen wollte, suchte nach einer Erklärung, einer Lüge, ohne etwas Vernünftiges zu finden. Sie hatte vorsichtshalber Paulines Handgelenke ergriffen; doch diese riß sich jäh mit einem Ruck los und stürzte wie eine Wahnsinnige ins Treppenhaus, so gewürgt, so verzerrt vor Zorn, daß das Hausmädchen ihr nicht zu folgen wagte, zitternd vor diesem weißen, maskenhaften Gesicht, das sie nicht
wiedererkannte. Das Haus schien zu schlafen, Schweigen senkte sich von den oberen Stockwerken herab, allein Chanteaus Geschrei stieg inmitten der Totenstille empor. Mit einem Schwung erreichte das junge Mädchen das erste Stockwerk, als sie mit ihrer Tante zusammenstieß. Diese stand dort und versperrte den Treppenabsatz wie eine Schildwache, vielleicht lag sie schon seit langem auf der Lauer. »Wo gehst du hin?« fragte sie. Pauline, außer Atem und wütend über dieses Hindernis, vermochte nicht zu antworten. »Laß mich«, stotterte sie schließlich. Und sie machte eine schreckliche Bewegung, die Frau Chanteau zurückweichen ließ. Mit erneutem Schwung stürmte sie dann in den zweiten Stock hinauf, während ihre Tante wie versteinert, ohne einen Schrei die Arme hob. Das war einer jener Anfälle wilder Empörung,
deren Sturm aus der heiteren Sanftmut ihres Wesens hervorbrach und an deren Ende sie schon in ihrer Kindheit wie tot gewesen war. Seit Jahren glaubte sie sich geheilt. Doch der Atem der Eifersucht hatte sie wieder so heftig gepackt, daß sie nicht hätte innehalten können, ohne sich selbst zu zerbrechen. Als Pauline oben vor Lazares Tür angekommen war, warf sie sich mit einem Satz dagegen. Der Schlüssel wurde verbogen, der Türflügel schlug an die Wand. Und was sie sah, brachte sie vollends außer sich. Lazare, der Louise, an den Schrank gedrängt, festhielt, verschlang ihr Kinn und ihren Hals mit Küssen, während diese, schwach werdend, von der Angst vor dem Manne ergriffen, es geschehen ließ. Zweifellos hatten sie gespielt, und das Spiel nahm ein schlechtes Ende. Es folgte ein Augenblick der Erstarrung. Alle drei sahen sich an. Schließlich schrie Pauline: »Ah, du Miststück! Du falsche Schlange!«
Der Verrat des Weibes vor allem brachte sie außer sich. Mit einer verächtlichen Gebärde hatte sie Lazare beiseite geschoben wie ein Kind, dessen Schwäche sie kannte. Aber dieses Weib, das sie duzte, dieses Weib, das ihr den Gatten stahl, während sie unten einen Kranken pflegte! Sie hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie, am liebsten hätte sie sie geschlagen. »Sag, warum hast du das getan? Das ist eine Gemeinheit!« Außer sich, mit flackernden Augen, stammelte Louise: »Er hat mich festgehalten, er hat mir die Knochen zerbrochen.« »Er? Was du nicht sagst! Er wäre in Tränen ausgebrochen, wenn du ihn nur zurückgestoßen hättest.« Der Anblick des Zimmers peitschte ihren Groll noch auf, dieses Zimmers von Lazare, in dem
sie sich geliebt hatten, in dem auch sie unter dem glühenden Atem des jungen Mannes das Blut in ihren Adern hatte brennen fühlen. Was sollte sie diesem Weibe nur antun, um sich zu rächen? Stumpfsinnig vor Verlegenheit, entschloß Lazare sich endlich, einzugreifen, als sie Louise so heftig fahrenließ, daß diese mit den Schultern an den Schrank schlug. »Da! Ich habe Angst vor mir ... Mach, daß du fortkommst!« Und von nun an hatte sie nur noch dieses Wort, verfolgte Louise durch das Zimmer, warf sie hinaus auf den Flur, trieb sie die Treppe hinunter und warf ihr immer wieder den gleichen Schrei wie Ohrfeigen hinterher. »Mach, daß du fortkommst! Mach, daß du fortkommst! Pack deine Sachen und mach, daß du fortkommst!« Indessen war Treppenabsatz
Frau des
Chanteau auf dem ersten Stockwerks
stehengeblieben. Die Geschwindigkeit, mit der sich der Auftritt abspielte, hatte ihr nicht erlaubt, sich ins Mittel zu legen. Aber sie fand ihre Stimme wieder; mit einer Handbewegung gab sie ihrem Sohn den Befehl, sich in seinem Zimmer einzuschließen; dann versuchte sie Pauline zu beruhigen, indem sie zunächst Überraschung heuchelte. Nachdem Pauline Louise bis in ihr Zimmer getrieben hatte, wiederholte sie immer wieder: »Mach, daß du fortkommst! Mach, daß du fortkommst!« »Was heißt das, sie soll machen, daß sie fortkommt! Hast du den Kopf verloren?« Da erzählte das junge Mädchen stammelnd die Geschichte. Ekel erfaßte sie, das war für ihre aufrechte Natur die schmählichste Tat, für die es keine Entschuldigung, keine Verzeihung gab; und je mehr sie darüber nachdachte, um so wütender wurde sie, empört in ihrem Abscheu vor der Lüge und in der Treue ihrer
Liebe. Wenn man sich einmal verschenkt hatte, nahm man sich nicht wieder zurück. »Mach, daß du fortkommst! Pack sofort deinen Koffer ... Mach, daß du fortkommst!« Louise, die verstört war und kein Wort zu ihrer Verteidigung fand, hatte schon ein Schubfach aufgezogen, um ihre Hemden herauszunehmen. Aber Frau Chanteau wurde böse. »Bleib, Louisette! Schließlich bin ich doch wohl noch Herr in meinem Hause? Wer wagt hier zu befehlen und erlaubt sich, die Leute fortzuschicken? Das ist ja widerwärtig, wir sind doch nicht in der Markthalle!« »Du verstehst also nicht?« schrie Pauline. »Ich habe sie da oben mit Lazare überrascht ... Er küßte sie.« Die Mutter zuckte die Achseln. Aller Groll, der sich in ihr aufgespeichert hatte, entfuhr ihr in einem Satz schändlichen Verdachtes.
»Sie spielten, was ist schon Schlechtes dabei? Haben wir etwa, als du im Bett lagst und er dich pflegte, die Nase in eure Geschichten gesteckt?« Jäh erlosch die Erregung des jungen Mädchens. Sie stand unbeweglich, sehr bleich da, betroffen von dieser Anschuldigung, die sich gegen sie selbst kehrte. Jetzt wurde sie also zur Schuldigen, und ihre Tante schien abscheuliche Dinge zu glauben! »Was willst du damit sagen?« murmelte sie. »Wenn du das gedacht hättest, hättest du es zweifellos nicht in deinem Hause geduldet!« »Nun, ihr seid groß genug! Aber ich will nicht, daß mein Sohn als liederlicher Mensch endet ... Laß die Personen in Frieden, die noch ehrbare Frauen abgeben können.« Pauline blieb einen Augenblick stumm, ihre großen reinen Augen starr auf Frau Chanteau gerichtet, die die ihren abwandte. Dann ging
sie in ihr Zimmer hinauf und sagte kurz: »Gut, dann gehe ich.« Von neuem trat Schweigen ein, ein lastendes Schweigen, in dem das ganze Haus zu versinken schien. Und in diesem plötzlichen Frieden stieg von neuem die Klage des Onkels auf, die Klage eines verlassenen, sterbenden Tieres. Unaufhörlich schwoll sie an, löste sich von den anderen Geräuschen, die sie schließlich übertönte. Jetzt bereute Frau Chanteau den Verdacht, der ihr entfahren war. Sie spürte den nicht wiedergutzumachenden Schimpf, den er bedeutete, sie empfand Unruhe bei dem Gedanken, Pauline werde ihre Drohung, sofort abzureisen, wahr machen. Bei einem solchen Dickschädel war alles möglich; und was würde man von ihr und ihrem Gatten sagen, wenn ihr Mündel draußen umherzog und die Geschichte ihres Zerwürfnisses erzählte? Vielleicht würde sie bei Doktor Cazenove Zuflucht suchen, das
würde einen fürchterlichen Skandal in der Gegend geben. Dieser Verlegenheit Frau Chanteaus lag der Schrecken vor der Vergangenheit zugrunde, die Furcht vor dem verlorenen Geld, das sich jetzt gegen sie wenden konnte. »Weine nicht, Louisette«, wiederholte sie, wieder von Zorn gepackt. »Du siehst, da sitzen wir durch ihre Schuld wieder einmal schön in der Tinte. Und immer sind es Gewalttätigkeiten, unmöglich, in Ruhe zu leben! Ich will versuchen, das in Ordnung zu bringen.« »Ich flehe euch an«, unterbrach Louise, »laßt mich abreisen. Ich würde zu sehr leiden, wenn ich bliebe ... Sie hat recht, ich will abreisen.« »Jedenfalls nicht heute abend. Ich muß dich deinem Vater zurückbringen ... Warte, ich gehe hinauf und sehe nach, ob sie wirklich ihre Koffer packt.«
Leise ging Frau Chanteau an der Tür horchen. Sie hörte Pauline mit eiligem Schritt hin und her gehen, Möbelstücke öffnen und schließen. Einen Augenblick dachte sie daran, einzutreten und eine Erklärung herauszufordern, die alles in Tränen ertränken würde. Aber sie hatte Angst, sie fühlte, daß sie vor diesem Kinde stammeln und erröten würde, was ihren Haß noch steigerte. Und statt anzuklopfen, ging sie, das Geräusch ihrer Schritte dämpfend, in die Küche hinunter. Ein Gedanke war ihr gekommen. »Hast du den Auftritt gehört, den Mademoiselle Pauline uns soeben wieder gemacht hat?« fragte sie Véronique, die wütend ihr Kupferzeug putzte. Das Hausmädchen vergrub die Nase förmlich im Putzzeug und antwortete nicht. »Sie wird unerträglich. Ich weiß nichts mehr mit ihr anzufangen ... Stell dir vor, sie will uns jetzt verlassen; ja, sie ist dabei, ihre Sachen zu
packen ... Vielleicht gehst du mal hinauf und versuchst, sie zur Vernunft zu bringen?« Und da sie noch immer keine Antwort erhielt: »Bist du taub?« »Wenn ich nicht antworte, dann, weil ich nicht will!« schrie plötzlich Véronique außer sich, während sie so an einem Leuchter herumrieb, daß sie sich fast die Haut von den Fingern scheuerte. »Sie hat recht, wenn sie geht; an ihrer Stelle wäre ich schon längst auf und davon.« Frau Chanteau hörte ihr mit offenem Munde zu, verblüfft über diesen entfesselten Wortschwall. »Ich bin nicht geschwätzig, Frau Chanteau; man soll mich aber nicht dazu treiben, denn dann sage ich alles ... So ist das, an dem Tage, an dem Sie die Kleine gebracht haben, hätte ich sie am liebsten ins Meer geschmissen;
bloß, ich kann nicht leiden, daß man jemand was Schlechtes antut, und Sie alle quälen sie so sehr, daß ich eines Tages schließlich noch dem ersten, der sie anrührt, ein paar langen werde ... Oh, ich pfeife darauf, Sie können mir ruhig kündigen, sie wird dann schöne Geschichten zu hören bekommen, ja, ja, alles, was Sie ihr angetan haben mit Ihrem Getue anständiger Leute!« »Willst du wohl den Mund halten, du verrücktes Frauenzimmer!« murmelte die alte Dame, beunruhigt über diesen neuerlichen Auftritt. »Nein, ich werde nicht den Mund halten ... Das ist zu gemein, verstehen Sie! Seit Jahren ersticke ich daran. War es nicht schon genug, daß Sie ihr das Geld genommen haben? Nun müssen Sie ihr auch noch das Herz in Stücke reißen! Oh, ich weiß, was ich weiß, ich habe gesehen, wie das alles angezettelt wurde ... Und hören Sie! Herr Lazare ist vielleicht nicht
so berechnend, aber er ist kaum besser, er würde ihr auch aus Selbstsucht den Todesstoß geben, um sich nicht zu langweilen ... Ein Jammer ist das! Manche sind eben dazu geboren, daß sie von den anderen aufgefressen werden!« Sie schwang ihren Leuchter, dann ergriff sie einen Kochtopf, der unter dem Lappen, mit dem sie ihn abwischte, wie eine Trommel dröhnte. Frau Chanteau hatte überlegt, ob sie Véronique nicht hinauswerfen sollte. Es gelang ihr, sich zu überwinden, und sie fragte kalt: »Du willst also nicht hinaufgehen und mit ihr reden? Es ist um ihretwillen, um ihr Dummheiten zu ersparen.« Wieder schwieg Véronique. Und schließlich brummte sie: »Ich werde trotzdem hinaufgehen ... Vernunft ist Vernunft, und Unüberlegtheiten haben noch
nie was eingebracht.« Sie wusch sich erst in aller Ruhe die Hände. Dann nahm sie ihre schmutzige Schürze ab. Als sie sich entschloß, die Tür zum Flur zu öffnen und zur Treppe zu gehen, drang ein jämmerlicher Laut herein. Es war das unaufhörliche, entnervende Geschrei des Onkels. Frau Chanteau, die ihr folgte, schien ein Einfall zu kommen, und mit halblauter Stimme begann sie eindringlich von neuem: »Sag ihr nur, sie könne meinen Mann nicht in diesem Zustand lassen ... Hörst du?« »Oh! Was das betrifft«, gab Véronique zu, »er schreit feste, das ist wohl wahr.« Sie ging hinauf, während Frau Chanteau, die mit vorgerecktem Kopf zum Zimmer ihres Gatten hinhorchte, sich wohl hütete, dessen Tür wieder zu schließen. Die Klagelaute stürzten sich ins Treppenhaus, verstärkt durch den Widerhall in den Stockwerken. Oben fand
das Hausmädchen das Fräulein im Begriff zu gehen, nachdem sie das bißchen notwendige Wäsche zu einem Paket zusammengeschnürt hatte, entschlossen, das übrige gleich am nächsten Tag von Vater Malivoire abholen zu lassen. Sie hatte sich beruhigt, war noch sehr blaß und verzweifelt, doch von kühler Vernunft, ohne jeden Zorn. »Entweder sie oder ich«, entgegnete sie auf alle Worte Véroniques, wobei sie es sogar vermied, Louises Namen zu nennen. Als Véronique diese Antwort Frau Chanteau überbrachte, befand sich diese gerade im Zimmer von Louise, die sich angekleidet hatte und ebenfalls hartnäckig darauf bestand, sogleich abzureisen; sie zitterte und schrak beim geringsten Geräusch einer Tür zusammen. Da mußte Frau Chanteau sich fügen; sie ließ aus Verchemont den Wagen des Bäckers holen und beschloß, selber das junge Mädchen zu seiner Tante Léonie zu begleiten,
die in Arromanches wohnte; man würde dieser schon eine Geschichte erzählen und den heftigen Anfall Chanteaus, dessen Geschrei unerträglich wurde, zum Vorwand nehmen. Nach der Abfahrt der beiden Frauen, die Lazare in den Wagen gesetzt hatte, schrie Véronique aus vollem Halse von der Vorhalle aus: »Sie können herunterkommen, Mademoiselle Pauline, es ist niemand mehr da.« Das Haus schien leer, die lastende Stille hatte sich wieder herabgesenkt, und das fortwährende Jammergeschrei des Kranken erscholl nur noch lauter. Als Pauline die letzte Stufe hinabschritt, stand ihr Lazare, der vom Hof zurückkam, plötzlich gegenüber. Sein ganzer Körper wurde von einem nervösen Zittern befallen. Er blieb eine Sekunde lang stehen, er wollte sich zweifellos anklagen und um Verzeihung bitten. Doch Tränen erstickten ihn, und er lief ungestüm wieder hinauf in sein
Zimmer, ohne daß er etwas zu sagen vermocht hätte. Sie war mit trockenen Augen und ernstem Gesicht in das Zimmer ihres Onkels getreten. Schräg auf dem Bett liegend, streckte Chanteau noch immer den Arm aus und warf den Kopf über das Kopfpolster zurück. Er wagte sich nicht mehr zu rühren, er mochte die Abwesenheit des jungen Mädchens nicht einmal bemerkt haben, da er die Augen fest geschlossen hielt und den Mund aufriß, um nach Belieben zu schreien. Keines der Geräusche im Hause drang zu ihm, seine einzige Beschäftigung war es, seine Klage auszustoßen, bis ihm der Atem ausging. Nach und nach zog er sie verzweifelt so sehr in die Länge, daß er Minouche lästig wurde, von der man am Morgen wieder einmal vier Junge ins Wasser geworfen hatte und die schon nicht mehr daran dachte und mit friedlicher Miene auf einem Sessel lag und schnurrte.
Als Pauline ihren Platz wieder einnahm, brüllte der Onkel so laut, daß die Katze sich mit unruhig gespitzten Ohren erhob. Sie sah ihn starr an, mit dem Unwillen einer weisen Person, deren Ruhe man stört. Wenn man nicht mehr in Frieden schnurren konnte, dann wurde es unmöglich! Und sie zog sich mit hocherhobenem Schwanz zurück.
Kapitel VI Als Frau Chanteau am Abend einige Minuten vor dem Essen zurückkehrte, war von Louise nicht mehr die Rede. Sie rief nur Véronique, damit diese ihr die Stiefel ausziehe. Der linke Fuß tat ihr weh. »Wahrhaftig, das ist nicht verwunderlich!« murmelte das Hausmädchen. »Er ist geschwollen.«
In der Tat waren die Nähte des Leders auf dem weichen weißen Fleisch rot abgezeichnet. Lazare, der herunterkam, sah es sich an. »Du wirst zuviel gelaufen sein«, sagte er. Aber sie war kaum durch Arromanches gegangen. Im übrigen litt sie an jenem Tag an Luftmangel, wurde von Atembeschwerden befallen, die seit einigen Monaten häufiger auftraten. Jetzt gab sie den Stiefeln die Schuld. »Diese Schuhmacher können sich nicht entschließen, den Spann hoch genug zu machen ... Sowie meine Schuhe zu fest geschnürt sind, ist es für mich eine Qual.« Und da sie in ihren Pantoffeln nicht mehr litt, beunruhigte man sich nicht weiter. Am nächsten Morgen hatte die Schwellung den Knöchel erreicht. Aber in der folgenden Nacht verschwand sie völlig. Eine Woche verging. Vom ersten Abendessen an, das Pauline am Tage der Katastrophe
wieder mit Mutter und Sohn zusammengeführt, hatte sich jeder bemüht, wieder die Alltagsmiene aufzusetzen. Keine Anspielung wurde gemacht, es schien, als gäbe es nichts Neues zwischen ihnen. Das Familienleben ging mechanisch weiter, wobei sich dieselben gewohnten Zärtlichkeiten abspielten, der übliche Morgen und Abendgruß, die zu bestimmter Stunde zerstreut gegebenen Küsse. Es war jedoch eine Erleichterung, als man Chanteau bis an den Tisch rollen konnte. Dieses Mal blieben seine Knie steif, es war ihm unmöglich, aufzustehen. Aber er genoß deshalb nicht minder die relative Ruhe, die der Schmerz ihm ließ, und dies so sehr, daß ihn weder die Freude noch die Traurigkeit der Seinen berührte, er war völlig dem Egoismus seines leiblichen Befindens hingegeben. Als Frau Chanteau es gewagt hatte, ihn von der überstürzten Abreise Louises zu unterrichten, hatte er sie angefleht, ihm nicht von diesen betrüblichen Dingen zu
sprechen. Seit Pauline nicht mehr an das Zimmer ihres Onkels gefesselt war, versuchte sie sich zu beschäftigen, ohne daß es ihr gelang, ihre Qual zu verbergen. Die Abende vor allem wurden quälend, das Unbehagen drang durch den vorgetäuschten gewohnten Frieden. Es war wohl das Leben von früher mit den täglich wiederkehrenden kleinen Ereignissen; doch aus gewissen nervösen Gesten, selbst aus einem Schweigen spürten alle den inneren Riß heraus, die Wunde, von der sie nicht sprachen und die immer größer wurde. Lazare hatte sich zuerst verachtet. Die moralische Überlegenheit der so aufrichtigen, so gerechten Pauline erfüllte ihn mit Scham und Zorn. Warum hatte er nicht den Mut, sich ihr offen zu bekennen und sie um Verzeihung zu bitten? Er hätte ihr den Vorfall dargelegt, hätte ihr von der Überrumpelung seines Fleisches erzählt, von dem Duft des koketten Weibes, an dem er sich berauscht; und sie
hatte eine zu großzügige Gesinnung, um nicht zu verstehen. Aber eine unüberwindliche Befangenheit hinderte ihn, er fürchtete, in einer klärenden Auseinandersetzung, bei der er vielleicht wie ein Kind stammeln würde, in den Augen des jungen Mädchens noch mehr zu verlieren. Außerdem war auf dem Grund seines Zögerns die Angst vor einer neuen Lüge, denn Louise verfolgte ihn noch immer, er sah sie wieder vor sich, besonders des Nachts, mit dem brennenden Bedauern, sie nicht besessen zu haben, als er sie unter seinen Lippen schwach werden fühlte. Gegen seinen Willen führten ihn seine langen Spaziergänge unaufhörlich in die Gegend von Arromanches. Eines Abends drang er bis zu dem Häuschen der Tante Léonie vor, er strich um die Mauer und floh eilig beim Geräusch eines Fensterladens, fassungslos über die schlechte Handlung, die er beinahe begangen hätte. Dieses Bewußtsein seiner Unwürdigkeit verdoppelte seine Befangenheit: Er verurteilte
sich, ohne sein Verlangen töten zu können; stündlich begann der Widerstreit von neuem, niemals hatte er so sehr unter seiner Unentschlossenheit gelitten. Es blieb ihm nur so viel Anständigkeit und Kraft, Pauline aus dem Wege zu gehen und sich die letzte Niedertracht der falschen Schwüre zu ersparen. Vielleicht liebte er sie noch, aber das aufreizende Bild der anderen war ständig da, löschte die Vergangenheit aus und versperrte die Zukunft. Pauline ihrerseits wartete, daß er sich entschuldigte. In ihrer ersten Empörung hatte sie sich geschworen, nicht zu verzeihen. Dann hatte sie im stillen darunter gelitten, daß sie nicht Gelegenheit hatte zu verzeihen. Warum schwieg er mit fieberhafter Miene und war stets draußen, als fürchtete er, mit ihr allein zu bleiben? Sie war bereit, ihn anzuhören, alles zu vergessen, wenn er nur ein wenig Reue zeigte. Da die erhoffte Erklärung nicht kam, zerbrach sie sich den Kopf, ging sie von einer
Vermutung zur anderen über, während ein Gefühl des Stolzes sie schweigen ließ; und während die peinlichen Tage träge dahinflossen, gelang es ihr, sich so weit zu überwinden, daß sie ihre Haltung eines tatkräftigen Mädchens wiederfand; doch diese schöne mutige Ruhe verbarg eine stete Qual, sie schluchzte des Abends in ihrem Zimmer und erstickte ihre Klagen in ihrem Kopfkissen. Niemand sprach von der Heirat, obgleich sichtlich alle daran dachten. Der Herbst nahte, was würde man tun? Jeder vermied es, sich zu äußern, man schien die Entscheidung auf später zu verschieben, wenn man es wieder wagen würde, davon zu sprechen. Es war dies in Frau Chanteaus Leben die Zeit, da sie ihre Ruhe vollends verlor. Von jeher hatte sie sich selbst zerfleischt; aber das dumpfe Werk, das in ihr die guten Empfindungen zerbröckelte, schien den äußersten Grad der Zerstörung erreicht zu haben; niemals war sie so unausgeglichen
erschienen, von einem solchen nervösen Fieber verheert. Die Notwendigkeit, sich Zwang aufzuerlegen, verschlimmerte ihr Übel noch mehr. Sie litt am Gelde, es war wie eine nach und nach angewachsene Wut auf das Geld, die ihr Herz und Verstand raubte. Immer wieder fiel sie über Pauline her, sie gab ihr jetzt die Schuld an Louises Abreise, wie an einem Diebstahl, durch den ihr Sohn ausgeplündert worden war. Es war dies eine blutende Wunde, die sich nicht schließen wollte; die geringsten Ereignisse wuchsen sich zu Katastrophen aus, sie vergaß nicht eine Gebärde, sie hörte noch immer den Schrei: »Mach, daß du fortkommst!«, und sie bildete sich ein, man hätte auch sie verjagt und die Freude und das Glück der Familie auf die Straße geworfen. Des Nachts, wenn sie sich im Halbschlaf voller Unbehagen hin und her warf, bedauerte sie es schließlich sogar, daß der Tod sie nicht von dieser verfluchten Pauline befreit hatte. Pläne, verwickelte Berechnungen stritten
sich in ihr, ohne daß sie das geeignete Mittel fand, das junge Mädchen zu beseitigen. Gleichzeitig verdoppelte sich in einer Art Reaktion ihre Liebe zu ihrem Sohn: Sie betete ihn an, wie sie ihn vielleicht nicht einmal in der Wiege angebetet hatte, als er in ihren Armen lag und ganz ihr gehörte. Vom Morgen bis zum Abend verfolgte sie ihn mit unruhigen Augen. Sowie sie dann allein waren, küßte sie ihn, flehte sie ihn an, sich nicht zu grämen. Nicht wahr, er verbarg ihr nichts, er weinte doch nicht etwa, wenn niemand da war? Und sie schwor ihm, daß alles in Ordnung kommen und daß sie eher die anderen umbringen würde, als ihn unglücklich zu sehen. Nach vierzehntägigen fortgesetzten Kämpfen dieser Art hatte ihr Gesicht eine wächserne Blässe angenommen, ohne daß sie indessen abgemagert war. Zweimal war die Schwellung der Füße wiedergekommen, dann war sie verschwunden. Eines Morgens läutete sie nach Véronique und
zeigte ihr ihre Beine, die über Nacht bis zu den Schenkeln angeschwollen waren. »Sieh doch, was mit mir los ist! Wie ärgerlich! Und ich wollte ausgehen! Da bin ich nun gezwungen, das Bett zu hüten. Sag nichts, damit sich Lazare nicht beunruhigt.« Sie selbst schien keineswegs erschrocken. Sie sprach nur von ein wenig Müdigkeit, und das ganze Haus glaubte an einen Erschöpfungszustand. Da Lazare an der Küste umherstreifte und Pauline es vermied hinaufzugehen, weil sie fühlte, daß ihre Gegenwart unliebsam war, lag die Kranke der Magd mit ihren wütenden Anschuldigungen gegen das junge Mädchen in den Ohren. Sie konnte nicht mehr an sich halten. Die Unbeweglichkeit, zu der sie verdammt war, das Herzklopfen, das sie bei der geringsten Bewegung erstickte, schienen sie in wachsende Erbitterung zu stürzen. »Na! Was braut sie da unten? Wieder
irgendein Unglück ... Du wirst sehen, sie bringt mir nicht einmal ein Glas Wasser herauf.« »Aber Frau Chanteau«, erwiderte Véronique, »Sie stoßen sie doch zurück!« »Laß nur! Du kennst sie nicht. Es gibt keine schlimmere Heuchlerin. Vor den Leuten spielt sie die Gutherzige; dann, hinter dem Rücken, frißt sie einen auf ... Geh, Véronique, du allein hast klargesehen an dem Tage, da ich sie hergebracht habe. Wenn sie niemals hier in unser Haus gekommen wäre, stünden wir nicht da, wo wir jetzt sind ... Und sie wird uns noch zugrunde richten: Der Herr leidet Höllenqualen, seit sie sich mit ihm befaßt; und mir ist das Blut erstarrt, so bringt sie mich durcheinander; und mein Sohn ist im Begriff, den Kopf zu verlieren ...« »Oh, Frau Chanteau, das ist doch die Höhe! Ausgerechnet sie, die so freundlich zu Ihnen allen ist!«
Bis zum Abend machte Frau Chanteau ihrem Herzen Luft. Alles kam dabei zur Sprache, sowohl der rücksichtslose Hinauswurf von Louise als auch vor allem das Geld. So kam es, daß Véronique, als sie nach dem Abendessen wieder hinuntergehen konnte und Pauline in der Küche mit dem Forträumen des Geschirrs beschäftigt fand, ihrerseits alles ablud, was sie auf dem Herzen hatte. Seit langem hielt sie diese empörten Mitteilungen zurück; doch diesmal sprudelten die Worte von selber hervor. »Ach, Mademoiselle Pauline, Sie sind schön dumm, daß Sie auf deren Teller achtgeben. Ich an Ihrer Stelle würde alles zerschlagen.« »Warum das?« fragte das junge Mädchen erstaunt. »Weil Sie niemals so viel Schlechtes tun können, wie man Ihnen nachsagt.« Und da legte sie los und ging bis auf die ersten
Tage zurück. »Muß das nicht den lieben Gott selber in Zorn versetzen? Sie hat Ihr Geld Sou um Sou aus Ihnen herausgesogen, und das auf so gemeine Art wie nur möglich. Ehrenwort! Man hätte meinen können, daß sie es war, die Sie ernährt hat ... Als es noch in ihrem Sekretär lag, Ihr Geld, machte sie alle möglichen Bücklinge davor, als hätte sie über die Jungfernschaft eines Mädchens wachen müssen; was ihre krummen Finger nicht hinderte, hübsche Löcher hineinzubohren ... Weiß der Himmel! Sie hat eine ganz schöne Komödie gespielt, um Ihnen die Sache mit der Fabrik an den Hals zu hängen und dann mit dem Rest des Vermögens den Laden hier in Schwung zu halten. Wollen Sie's genau wissen? Nun denn, ohne Sie wären sie alle vor Hunger verreckt ... Deshalb hat sie auch eine schöne Angst gekriegt, als die da aus Paris um ein Haar Stunk gemacht hätten wegen der Abrechnung! Ja doch, geradewegs vor das Schwurgericht
konnten Sie sie bringen ... Und das ist ihr keine Lehre gewesen, sie nimmt Sie auch heute noch aus, sie wird Sie bis auf den letzten Heller aussaugen ... Sie glauben vielleicht, ich lüge? Hier, ich schwöre! Ich habe mit meinen Augen gesehen und mit meinen Ohren gehört, und dabei sage ich Ihnen noch nicht einmal das Gemeinste, aus Rücksicht, Mademoiselle Pauline, wie Sie krank waren und wie Frau Chanteau tobte, nur weil sie nicht in Ihrer Kommode herumwühlen konnte.« Pauline hörte zu und fand kein Wort, um sie zu unterbrechen. Oft hatte der Gedanke, daß ihre Familie auf ihre Kosten lebte, sie haßvoll ausplünderte, ihr die glücklichsten Tage vergällt. Aber sie hatte es sich immer versagt, über diese Dinge nachzudenken, sie zog es vor, in Blindheit zu leben und sich selber des Geizes zu beschuldigen. Aber diesmal mußte sie wohl oder übel alles erfahren, die Brutalität dieser Mitteilungen schien die Tatsachen noch zu verschlimmern. Bei jedem Satz wurde ihre
Erinnerung wach, sie ließ alte Geschichten wiedererstehen, deren eigentlicher Sinn ihr entgangen war, sie verfolgte Tag um Tag Frau Chanteaus Anstrengungen in bezug auf ihr Vermögen. Langsam war sie auf einen Stuhl gesunken, als sei sie plötzlich von großer Müdigkeit überwältigt. Eine schmerzliche Falte durchschnitt ihre Lippen. »Du übertreibst«, murmelte sie. »Wie, ich übertreibe?« fuhr Véronique heftig fort. »Es ist nicht so sehr die Geschichte mit den Sous, die mich aus der Fassung bringt. Aber ich werde ihr niemals verzeihen, daß sie Ihnen Herrn Lazare wieder weggenommen hat, nachdem sie ihn Ihnen erst gegeben hatte ... Ja, so ist es! Sie waren nicht mehr reich genug, er brauchte eine Erbin. Na? Was sagen Sie dazu? Erst plündert man Sie aus, dann verachtet man Sie, weil Sie nichts mehr haben ... Nein, ich werde nicht schweigen, Mademoiselle Pauline! Man reißt den Leuten nicht das Herz
in Stücke, wenn man ihnen schon die Taschen geleert hat. Da Sie Ihren Cousin liebten und er Ihnen alles in Freundlichkeit hätte zurückzahlen müssen, ist es eine ausgemachte Gemeinheit, Sie auch noch von dieser Seite bestohlen zu haben ... Und sie hat diese ganze Geschichte eingerührt, ich habe es gesehen. Ja, ja, jeden Abend hat sie die Kleine angeheizt und für den jungen Mann mit einem Haufen unsauberer Geschichten entflammt. So wahr, wie diese Lampe uns bescheint, sie war es, die sie einander in die Arme getrieben hat. Am Ende hätte sie ihnen noch das Licht gehalten, um die Heirat unvermeidlich zu machen. Es ist nicht ihre Schuld, wenn sie nicht bis zum Äußersten gegangen sind ... Verteidigen Sie sie nur, jetzt, wo sie Sie unter ihren Füßen zertrampelt und schuld daran ist, daß Sie nachts wie ein Schloßhund heulen; denn ich höre Sie sehr wohl von meiner Kammer aus, ich werde noch krank von all diesem Kummer und all diesen Ungerechtigkeiten!«
»Sei still, ich flehe dich an«, stammelte Pauline, deren Mut am Ende war. »Du tust mir zu weh.« Dicke Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie fühlte, daß dieses Mädchen nicht log, ihre zerstörten Zuneigungen bluteten in ihr. Jede Szene, die sie heraufbeschwor, wurde zu lebendiger Wirklichkeit: Lazare umschlang die schwach werdende Louise, während Frau Chanteau an der Tür wachte. Mein Gott! Was hatte sie nur getan, daß jeder sie betrog, während sie doch allen treu war? »Ich flehe dich an, sei still, das erstickt mich.« Als Véronique sie so erschüttert sah, begnügte sie sich damit, dumpf hinzuzufügen: »Es ist Ihretwegen, nicht wegen der da, wenn ich nicht noch mehr sage ... und seit heute früh ist sie schon wieder dabei, einen Haufen Abscheulichkeiten auf Ihre Rechnung auszupacken! Da geht mir schließlich die
Geduld aus, mein Blut kocht, wenn ich höre, wie sie das Gute, was Sie ihr angetan haben, in Schlechtes verkehrt ... Ehrenwort! Sie behauptet, Sie hätten sie ruiniert und brächten ihr ihren Sohn um. Gehen Sie und horchen Sie an der Tür, wenn Sie mir nicht glauben.« Als Pauline in Schluchzen ausbrach, nahm Véronique bestürzt den Kopf des jungen Mädchens in ihre Hände und küßte sie aufs Haar und sagte immer wieder: »Nein, nein, Mademoiselle Pauline, ich sage nichts mehr ... Sie müssen es aber doch wissen. Das wird am Ende zu bunt, wenn man so ausgenommen wird ... Nein, nein, ich sage nichts mehr, beruhigen Sie sich.« Schweigen entstand. Das Hausmädchen löschte die im Herd gebliebene Glut. Doch sie konnte nicht umhin, noch zu murmeln: »Ich weiß, warum sie anschwillt: Ihre Bosheit ist ihr in die Knie gefahren.«
Pauline, die mit verworrenem und vor Kummer schwerem Sinn auf eine der Küchenfliesen starrte, sah auf. Warum sagte Véronique das, war die Schwellung wiedergekommen? Verlegen mußte Véronique ihrem Versprechen zu schweigen untreu werden. Sie erlaubte sich wohl, über ihre Herrin zu urteilen, doch sie gehorchte ihr. Nun ja, beide Beine wären seit der Nacht befallen, und man sollte es nicht vor Herrn Lazare wiederholen. Während das Hausmädchen diese Einzelheiten berichtete, veränderte sich Paulines Gesicht, Besorgnis verscheuchte aus ihm die düstere Niedergeschlagenheit. Trotz allem, was sie soeben erfahren hatte, erschrak sie über ein Symptom, von dem sie wußte, daß es sehr bedenklich war. »Aber man kann sie so nicht liegenlassen«, sagte sie und erhob sich. »Sie ist in Gefahr.« »In Gefahr, jawohl!« rief Véronique grob. »So sieht sie nicht gerade aus, jedenfalls denkt sie
kaum daran, dazu ist sie viel zu sehr damit beschäftigt, auf die anderen zu spucken und sich wie ein Pascha in ihrem Bett zu fläzen ... Übrigens schläft sie jetzt, man muß bis morgen warten. Das ist gerade der Tag, an dem der Doktor nach Bonneville kommt.« Am nächsten Morgen war es unmöglich, Lazare den Zustand seiner Mutter noch länger zu verheimlichen. Die ganze Nacht über hatte Pauline gelauscht, war von Stunde zu Stunde aufgewacht, ständig in dem Glauben, Klagelaute durch den Fußboden hindurch zu vernehmen. Gegen Morgen war sie dann in einen so tiefen Schlaf gesunken, daß es neun Uhr schlug, als das Geräusch einer Tür sie hatte auffahren lassen. Als sie, nachdem sie sich eilig angekleidet hatte, hinunterging, um sich zu erkundigen, begegnete sie auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks ausgerechnet Lazare, der aus dem Zimmer der Kranken kam. Die Schwellung war bis zum Bauch vorgeschritten, Véronique hatte sich
entschlossen, verständigen.
den
jungen
Mann
zu
»Nun?« fragte Pauline. Lazare, dessen Gesicht verzerrt war, antwortete zunächst nicht. Mit einer ihm eigenen Bewegung faßte er sein Kinn mit seinen zuckenden Fingern. Und als er endlich sprach, war seine erste Äußerung der kaum gestammelte Satz: »Sie ist verloren.« Er ging mit einem Ausdruck der Verstörtheit zu sich hinauf. Pauline folgte ihm. Als sie in dem großen Zimmer des zweiten Stockwerks waren, das sie nicht wieder betreten hatte, seitdem sie ihn hier mit Louise überrascht hatte, schloß sie die Tür, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Sieh mal, du weißt ja nicht einmal, was sie hat. Warte doch wenigstens den Arzt ab ... Sie ist sehr kräftig, es ist immer noch Hoffnung.«
Aber er blieb hartnäckig dabei, von einer plötzlichen Überzeugung ins Herz getroffen. »Sie ist verloren, sie ist verloren.« Das war ein unerwarteter Schlag, der ihn niederschmetterte. Beim Aufstehen hatte er, gähnend vor Langeweile, wie gewöhnlich das Meer betrachtet und sich über die blödsinnige Leere des Daseins beklagt. Dann, als seine Mutter sich bis zu den Knien entblößte, hatte ihn der Anblick dieser von dem Ödem geschwollenen, ungeheuren und bleichen armen Beine, die wie schon abgestorbene Baumstämme aussahen, mit entsetzter Rührung erfüllt. Was denn? Trat von einer Minute zur anderen so das Unglück ein? Auch jetzt noch, da er auf einer Ecke seines großen Tisches saß, am ganzen Leibe zitternd, wagte er nicht, die Krankheit, die er soeben erkannt hatte, laut beim Namen zu nennen. Stets hatte ihn das Grauen vor einer Herzkrankheit für sich und die Seinen verfolgt, ohne daß ihm
seine beiden Jahre Medizinstudium die Gleichheit aller Übel vor dem Tod bewiesen hätten. Am Herzen getroffen zu werden, an der Quelle des Lebens selber, blieb in seinen Augen der grauenvolle, erbarmungslose Tod. Und diesen Tod würde seine Mutter sterben, und er selber würde ihn danach gewiß auch sterben! »Warum härmst du dich so?« fuhr Pauline fort. »Es gibt Wassersüchtige, die sehr lange leben. Erinnerst du dich an Frau Simonnot? Sie ist schließlich an einer Lungenentzündung gestorben.« Aber er schüttelte den Kopf, er war kein Kind, daß man ihn so täuschen konnte. Seine herabhängenden Füße schlugen ins Leere, das Zittern seines Körpers hörte nicht auf, während er die Augen hartnäckig auf das Fenster gerichtet hielt. Da küßte sie ihn zum ersten Mal nach dem Bruch wie früher auf die Stirn. Sie fanden sich Seite an Seite wieder in
diesem Zimmer, in dem sie groß geworden waren, all ihr Groll versank in dem großen Kummer, von dem sie bedroht waren. Sie trocknete sich die Augen. Er konnte nicht weinen und wiederholte mechanisch: »Sie ist verloren, sie ist verloren.« Gegen elf Uhr, als Doktor Cazenove eintrat, wie er es gewöhnlich jede Woche tat, wenn er wieder von Bonneville heraufkam, schien er sehr erstaunt, Frau Chanteau im Bett vorzufinden. Was hatte sie denn, die liebe gnädige Frau? Und er scherzte sogar: Das ganze Haus sei überempfindlich, man werde es allen Ernstes in ein Lazarett umwandeln. Aber als er die Kranke untersucht, abgetastet und behorcht hatte, wurde er ernster; er brauchte sogar seine lange Berufserfahrung, um nicht ein wenig Bestürzung zu verraten. Im übrigen war Frau Chanteau der Ernst ihres Zustandes keineswegs bewußt.
»Ich hoffe, Sie werden mir da heraushelfen, Doktor«, sagte sie mit fröhlicher Stimme. »Sehen Sie, ich habe nur die eine Angst, daß diese Schwellung mich erstickt, wenn sie immer höher steigt.« »Seien Sie beruhigt, das steigt nicht so ohne weiteres«, erwiderte er ebenfalls lachend. »Und außerdem werden wir es schon aufzuhalten wissen.« Lazare, der nach der Untersuchung wieder hereingekommen war, hörte ihm zitternd zu, darauf brennend, ihn beiseite zu nehmen und ihn auszufragen, um endlich Gewißheit zu haben. »So, liebe Frau Chanteau«, fuhr der Doktor fort. »Machen Sie sich keine Gedanken, ich komme morgen wieder, mit Ihnen zu plaudern ... Auf Wiedersehen, ich werde mein Rezept unten ausschreiben.« Pauline ließ sie unten nicht ins Eßzimmer,
denn man sprach zu Chanteau immer nur von einem harmlosen Erschöpfungszustand. Sie hatte schon Tinte und Papier auf dem Küchentisch bereitgestellt. Angesichts ihrer beider angstvollen Ungeduld gestand Doktor Cazenove, daß es ernst um Frau Chanteau stehe; aber er gebrauchte lange, verworrene Sätze und vermied es, zu einem Schluß zu kommen. »Sie ist also verloren«, rief Lazare in einer Art Gereiztheit. »Es ist das Herz, nicht wahr?« Pauline warf dem Arzt einen flehenden Blick zu, den dieser verstand. »Oh, das Herz!« sagte er. »Das bezweifle ich ... Im übrigen, wenn sie auch nicht wieder ganz auf die Beine kommt, so kann sie bei schonender Behandlung vielleicht noch lange damit leben.« Der junge Mann hatte darauf nur sein Achselzucken, die Gebärde eines zornigen
Kindes, das sich keineswegs durch die Märchen täuschen läßt, mit denen man es belustigt. Er fuhr fort: »Und Sie haben mich nicht gewarnt, Doktor, obwohl Sie sie doch unlängst erst behandelt haben! Diese greulichen Sachen da kommen niemals ganz plötzlich. So hatten Sie also nichts gesehen?« »Doch, doch«, murmelte Cazenove. »Ich hatte wohl einige kleine Anzeichen bemerkt.« Dann, als Lazare ein verächtliches Lachen überkam: »Hören Sie, mein Bester, ich halte mich nicht für dümmer als andere, und doch geschieht es mir nicht zum ersten Mal, daß ich nichts vorausgesehen habe und wie dumm vor einer Krankheit stehe ... Sie fallen einem auf die Nerven mit Ihrer Forderung, daß man alles wissen soll, wo es schon nicht übel ist, wenn man die ersten Zeilen in dieser komplizierten Maschine des menschlichen Gerippes entziffern kann.«
Er ärgerte sich, er schrieb sein Rezept mit zorniger Feder, die das dünne Papier durchlöcherte. Der Marinearzt kam in den schroffen Bewegungen seines großen Körpers wieder zum Vorschein. Doch als er aufgestanden war, besänftigte sich sein von den Seewinden gegerbtes altes Gesicht, als er Lazare und Pauline mit gesenktem Kopf verzweifelt vor sich stehen sah. »Meine armen Kinder«, begann er wieder. »Wir werden unser möglichstes tun, um sie da herauszuholen ... Ihr wißt, daß ich nicht den großen Mann vor euch spielen will. Nun denn, offen gestanden, ich kann nichts sagen. Es scheint mir jedoch, daß keine unmittelbare Gefahr besteht.« Und er ging, nachdem er sich vergewissert hatte, daß Lazare Digitalistinktur hatte. Die Verordnung beinhaltete nur Einreibungen der Beine mit dieser Tinktur und einige Tropfen in einem Glas Zuckerwasser. Das genügte für
den Augenblick, er würde am nächsten Tag Pillen mitbringen. Vielleicht würde er sich zu einem Aderlaß entschließen. Pauline indessen hatte ihn bis zu seinem Wagen begleitet, um ihn nach der vollen Wahrheit zu fragen; doch die volle Wahrheit war in der Tat, daß er sich nicht zu äußern wagte. Als sie wieder in die Küche kam, war Lazare dabei, die Verordnung noch einmal durchzulesen. Schon das Wort Digitalis hatte ihn von neuem erbleichen lassen. »Ängstigen Sie sich doch nicht so sehr!« sagte Véronique, die sich ans Kartoffelschälen gemacht hatte, um dazubleiben und etwas zu hören. »Die Ärzte sind alles Pfuscher. Wenn der nicht weiß, was er sagen soll, dann wohl, weil es nichts Besonderes ist.« Sie verweilten noch im Gespräch, während die Köchin ihre Kartoffeln in eine Schüssel schnitt. Auch Pauline zeigte sich beruhigt. Am Morgen war sie hineingegangen, ihre Tante zu
umarmen, und sie hatte sie gut aussehend gefunden, mit solchen Wangen konnte man nicht sterben. Aber Lazare wendete das Rezept zwischen seinen fiebrigen Fingern hin und her. Das Wort Digitalis flammte auf: Seine Mutter war verloren. »Ich gehe wieder hinauf«, sagte er schließlich. An der Tür zögerte er und fragte seine Cousine: »Kommst du einen Augenblick mit?« Auch sie zögerte ein wenig. »Ich habe Angst, sie zu verdrießen«, murmelte sie. Es herrschte verlegenes Schweigen, und er ging allein hinauf, ohne ein weiteres Wort. Um seinen Vater nicht zu beunruhigen, erschien Lazare zum Mittagessen wieder; er war sehr bleich. Von Zeit zu Zeit rief ein Klingelzeichen Véronique, die mit Tellern voll
Suppe kam und ging, welche die Kranke kaum anrührte; und wenn sie wieder herunterkam, erzählte sie Pauline, daß der arme junge Mann dort oben den Kopf verliere. Es war ein Jammer, mit anzusehen, wie er angesichts seiner Mutter mit ungeschickten Händen und verstörtem Gesicht vor Fieber zitterte, als fürchtete er jeden Augenblick, sie in seinen Armen dahinscheiden zu fühlen. Gegen drei Uhr war die Magd wieder hinaufgegangen, als sie auch schon, sich über das Geländer beugend, nach dem jungen Mädchen rief. Als Pauline dann auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks war, sagte Véronique: »Sie sollten hineingehen, Mademoiselle Pauline, um ihm zur Hand zu sein. Um so schlimmer, wenn es Frau Chanteau ärgert! Sie will, daß er sie umdreht, und Sie sollten ihn bloß zittern sehen, ohne daß er sie auch nur anzurühren wagt! Dabei verbietet sie mir, ihr nahe zu kommen.«
Pauline trat ein. Aufrecht sitzend, an drei Kopfkissen gelehnt, schien Frau Chanteau nur aus Faulheit das Bett zu hüten, wäre nicht der kurze und beschwerliche Atem gewesen, der ihre Schultern hob. Vor ihr stand Lazare und stammelte: »Also du willst, daß ich dich auf die rechte Seite lege?« »Ja, schieb mich ein wenig ... Ach, mein armes Kind, wie bist du doch schwer von Begriff!« Schon hatte das junge Mädchen sie sanft gefaßt und drehte sie herum. »Laß mich machen, ich bin es von meinem Onkel gewohnt ... Liegst du so gut?« Gereizt schimpfte Frau Chanteau, daß man sie stoße. Sie konnte nicht eine Bewegung machen, ohne sogleich zu ersticken, und sie blieb eine Minute keuchend und mit fahlem Gesicht liegen. Lazare war hinter die Bettvorhänge zurückgetreten, um seine
Verzweiflung zu verbergen. Er blieb jedoch noch, während Pauline die Beine der Kranken mit der Digitalistinktur einrieb. Er wandte den Kopf ab, doch ein Bedürfnis, zu sehen, zwang seine Blicke wieder zu diesen ungeheuerlichen Beinen, diesen leblosen Paketen fahlen Fleisches hin, deren Aussehen ihm vor Angst vollends die Kehle zuschnürte. Als seine Cousine ihn so fassungslos sah, hielt sie es für klug, ihn hinauszuschicken. Sie näherte sich ihm, und als Frau Chanteau, vom bloßen Umbetten sehr erschöpft, einschlief, sagte sie ganz leise: »Du solltest lieber gehen.« Er kämpfte einen Augenblick, Tränen machten ihn blind. Aber er mußte nachgeben, beschämt ging er hinunter und stammelte: »Mein Gott! Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr!« Als die Kranke wieder erwachte, bemerkte sie
die Abwesenheit ihres Sohnes zunächst gar nicht. Eine Erstarrung schien über sie zu kommen, sie zog sich in sich selbst zurück, in dem egoistischen Bedürfnis, zu fühlen, daß sie lebte. Nur die Anwesenheit Paulines beunruhigte sie, obgleich diese abseits saß und, ohne zu sprechen, ohne sich zu rühren, sich verborgen hielt. Da ihre Tante den Kopf vorgereckt hatte, glaubte sie jedoch, sie mit einem Wort unterrichten zu müssen. »Ich bin es, ängstige dich nicht ... Lazare ist nach Verchemont gegangen, wo er beim Tischler vorsprechen muß.« »Gut, gut«, murmelte Frau Chanteau. »Du bist doch nicht so leidend, nicht wahr, daß ihn das hindern würde, seinen Angelegenheiten nachzugehen.« »Gewiß.« Von diesem Augenblick an sprach sie nur noch selten von ihrem Sohn, trotz der
Anbetung, die sie ihm noch am Abend zuvor bezeigt hatte. Er entschwand aus ihrem restlichen Leben, nachdem er Sinn und Ziel ihres ganzen Daseins gewesen. Die Zersetzung des Gehirns, die sich bei ihr bemerkbar machte, verdrängte alle Gedanken außer den an ihren Gesundheitszustand. Sie nahm die Pflege ihrer Nichte an, anscheinend ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, daß sie Lazares Stelle eingenommen hatte, einzig damit beschäftigt, ihr mit den Augen zu folgen, wie abgelenkt durch das wachsende Mißtrauen, das sie empfand, wenn sie sie ständig vor ihrem Bett hin und her gehen sah. Währenddessen war Lazare in die Küche hinuntergegangen, verstört, mit weichen Knien. Das ganze Haus machte ihm angst: Er konnte nicht in seinem Zimmer bleiben, dessen Leere ihn erdrückte, er wagte nicht, durch das Eßzimmer zu gehen, wo der Anblick seines friedlich die Zeitung lesenden Vaters ihn mit Schluchzen erstickte. Und so kam er
immer wieder in die Küche zurück, den einzigen warmen und lebendigen Winkel, beruhigt, daß er Véronique hier fand, die wie an den guten Tagen der Ruhe mit ihren Kochtöpfen hantierte. Als sie sah, wie er sich wieder neben dem Herd auf dem Strohstuhl niederließ, den er sich erwählt hatte, sagte sie ihm offen, was sie über seinen geringen Mut dachte. »Wahrhaftig, Herr Lazare, Sie sind keine große Hilfe. Wieder wird das arme Fräulein alles auf dem Halse haben ... Man könnte meinen, daß es hier noch nie einen Kranken gegeben hat; und was das erstaunlichste ist, Sie haben Ihre Cousine sehr gut gepflegt, als sie an ihrem Halsleiden beinahe gestorben wäre ... Na? Sie können nicht das Gegenteil behaupten, Sie sind vierzehn Tage da oben geblieben und haben sie wie ein Kind gebettet.« Lazare hörte ihr überrascht zu. Er hatte an
diesen Widerspruch nicht gedacht. Warum konnte man auf so unterschiedliche und unlogische Art empfinden? »Das stimmt«, wiederholte er. »Das stimmt.« »Sie ließen niemand hereinkommen«, fuhr das Hausmädchen fort. »Und Mademoiselle Pauline war noch trauriger anzusehen als Frau Chanteau, denn sie hatte solche Schmerzen. Ich kam immer ganz aufgelöst wieder herunter, ohne auch nur einen Happen Brot hinunterzukriegen ... Und heute dreht sich Ihnen das Herz um, schon wenn Sie Ihre Mutter im Bett sehen! Sie würden ihr nicht einmal eine Tasse Tee bringen ... Mag Ihre Mutter sein, wie sie ist, aber sie ist nun mal Ihre Mutter.« Er hörte nicht mehr, er blickte starr vor sich hin ins Leere. Schließlich murmelte er: »Was willst du? Ich kann nicht ... Vielleicht, weil es eben Mama ist, aber ich kann einfach
nicht ... Wenn ich sie mit ihren Beinen sehe und mir sage, daß sie verloren ist, dann zerreißt etwas in meinem Innern, und ich würde wie ein Tier schreien, wenn ich nicht aus dem Zimmer flüchtete.« Sein ganzer Körper wurde wieder von einem Zittern geschüttelt, er hatte ein vom Tisch gefallenes Messer vom Boden aufgehoben und betrachtete es, ohne es zu sehen, mit tränennassen Augen. Es herrschte Schweigen. Véronique steckte ihren Kopf in den Suppentopf, um die Rührung zu verbergen, die auch sie ergriff. Schließlich hob sie wieder an: »Hören Sie, Herr Lazare, Sie sollten ein wenig an den Strand hinabgehen. Sie stören mich, wenn Sie mir hier immerfort zwischen den Beinen herumlungern ... Und nehmen Sie doch Mathieu mit. Er ist unausstehlich, er weiß auch nicht, was er mit sich anfangen soll, und ich habe die größte Mühe, ihn davon abzuhalten, daß er zu Frau Chanteau hinaufgeht.«
Am nächsten Tage zeigte sich Doktor Cazenove noch immer unschlüssig. Eine plötzliche Katastrophe war möglich, vielleicht aber würde die Kranke sich auch für eine mehr oder weniger lange Zeit wieder erholen, wenn das Ödem zurückging. Er nahm Abstand von einem Aderlaß, begnügte sich damit, die Pillen zu verordnen, die er mitbrachte, ohne die Anwendung der Digitalistinktur abzubrechen. Sein bekümmertes, dumpf gereiztes Verhalten gab zu erkennen, daß er wenig an diese Heilmittel glaubte in einem dieser Fälle, in dem die aufeinanderfolgende Zerrüttung aller Organe die ärztliche Wissenschaft überflüssig macht. Im übrigen versicherte er, daß die Kranke gar nicht leide. In der Tat klagte Frau Chanteau über keinerlei heftigen Schmerz; ihre Beine waren von bleierner Schwere, sie litt mehr und mehr an Atemnot, sobald sie sich rührte; doch wenn sie unbeweglich auf dem Rücken ausgestreckt lag, hatte sie noch immer ihre kräftige Stimme, ihre lebhaften Augen,
die sie selber über ihren Zustand täuschten. Niemand in ihrer Umgebung, ausgenommen ihr Sohn, gab sich der Verzweiflung hin, da man sie noch so kräftig sah. Als der Doktor wieder in seinen Wagen stieg, sagte er ihnen, sie sollten sich nicht allzusehr beklagen, denn es sei schon eine Gnade für einen selbst und für die anderen, wenn man sich nicht selber sterben sähe. Die erste Nacht war für Pauline hart gewesen. Halb in einen Sessel ausgestreckt, hatte sie nicht schlafen können, da ihr von den schweren Atemzügen der Sterbenden die Ohren dröhnten. Sobald sie einschlummerte, schien es ihr, als erschüttere dieser Atem das Haus und als werde alles zusammenstürzen. Wenn sie dann mit offenen Augen dalag, wurde sie von Alpträumen befallen, durchlebte sie von neuem die Qualen, die ihr seit einigen Monaten das Leben vergällt hatten. Selbst neben diesem Sterbebett zog kein Friede in sie ein, es war ihr unmöglich, zu verzeihen. In
dem Halbtraum jener unheimlichen Nachtwache litt sie vor allem unter Véroniques Mitteilungen. Ihre heftigen Ausbrüche von einst, ihr eifersüchtiger Groll erwachten bei den Einzelheiten, die sie sich voller Pein immer wieder vergegenwärtigte. Nicht mehr geliebt zu werden, mein Gott! Sich verraten zu sehen von denen, die man liebt! Sich allein wiederzufinden, voller Verachtung und Empörung! Ihre wieder aufgerissene Wunde blutete, niemals hatte sie den Schimpf, den Lazare ihr angetan, in solchem Maße empfunden. Da man sie getötet hatte, mochten auch die anderen sterben. Und unaufhörlich vollzog sich der Raub ihres Geldes und ihres Herzens von neuem unter dem Alpdruck des schweren Atems ihrer Tante, der ihr schließlich die Brust sprengte. Bei Tagesanbruch blieb Pauline niedergeschlagen. Die Zuneigung kehrte nicht zurück, nur die Pflicht hielt sie in diesem Zimmer. Das machte sie vollends unglücklich:
Würde denn auch sie schlecht werden? Der Tag verging in dieser inneren Unruhe, sie war eifrig bemüht, unzufrieden mit sich, abgestoßen durch das Mißtrauen der Kranken. Diese nahm ihre Aufmerksamkeiten mit einem Murren an, verfolgte sie mit argwöhnischem Auge, indem sie hinter ihr herblickte, was sie wohl tat. Verlangte sie von ihr ein Taschentuch, so beroch sie es erst, bevor sie es benutzte, und sah sie sie eine Flasche mit warmem Wasser bringen, so wollte sie die Flasche anfassen. »Was hat sie nur?« sagte das junge Mädchen ganz leise zur Magd. »Hält sie mich für fähig, ihr etwas Schlechtes anzutun?« Als Véronique nach der Abfahrt des Doktors Frau Chanteau einen Löffel Arznei reichte, murmelte diese, ihre Nichte nicht bemerkend, die im Schrank nach Wäsche suchte: »Hat der Arzt diese Arznei zubereitet?«
»Nein, Frau Chanteau, das Fräulein.« Da kostete sie mit spitzen Lippen, dann zog sie eine Grimasse. »Das schmeckt nach Kupfer ... Ich weiß nicht, was sie mich einzunehmen zwingt, ich habe seit gestern den Geschmack von Kupfer im Magen.« Und mit einer jähen Bewegung schüttete sie den Inhalt des Löffels hinter das Bett. Véronique blieb der Mund offenstehen. »Nanu, was ist denn los? Das ist vielleicht ein Gedanke!« »Ich habe noch keine Lust abzukratzen«, sagte Frau Chanteau und ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken. »Da, horch nur, meine Lungen sind kräftig. Und sie könnte leicht vor mir abkratzen, denn sie hat kein sehr gesundes Fleisch.« Pauline hatte diese Worte gehört. Ins Herz
getroffen, wandte sie sich um und sah Véronique an. Anstatt vorzutreten, wich sie noch mehr zurück und schämte sich für ihre Tante dieses abscheulichen Verdachts. Eine Entspannung vollzog sich in ihr, es überkam sie großes Mitleid angesichts dieser von Angst und Haß verheerten Unglücklichen; und weit davon entfernt, darüber neuen Groll zu empfinden, fühlte sie sich von schmerzlicher Rührung überwältigt, als sie sich bückte und dabei unter dem Bett die Medikamente erblickte, die die Kranke aus Furcht vor Gift dorthin warf. Bis zum Abend zeigte sie eine heldenmütige Sanftheit, sie schien nicht einmal die unruhigen Blicke zu bemerken, die ihre Hände beobachteten. Ihr glühender Wunsch war es, durch ihre gütige Fürsorge die Ängste der Sterbenden zu besiegen, sie nicht diesen grauenvollen Gedanken mit ins Grab nehmen zu lassen. Sie verbot Véronique, Lazare diese Geschichte zu erzählen und ihn dadurch noch mehr zu erschrecken.
Seit dem Morgen hatte Frau Chanteau nur ein einziges Mal nach ihrem Sohn gefragt; und sie hatte sich mit der erstbesten Antwort zufriedengegeben, ohne sich zu wundern, daß sie ihn nicht mehr sah. Übrigens sprach sie noch weniger von ihrem Gatten, sie sorgte sich nicht darum, was er wohl allein im Eßzimmer tun mochte. Alles verschwand für sie, die Kälte in ihren Beinen schien von Minute zu Minute zu steigen und ihr das Herz erstarren zu lassen. Und zu jeder Mahlzeit mußte Pauline hinuntergehen, um ihren Onkel zu belügen. An jenem Abend täuschte sie sogar Lazare und versicherte ihm, daß die Schwellung zurückgehe. Doch in der Nacht machte das Leiden beängstigende Fortschritte. Als das junge Mädchen und die Magd am nächsten Morgen bei hellem Tageslicht die Kranke wiedersahen, waren sie betroffen von dem irren Ausdruck ihrer Augen. Das Gesicht hatte sich nicht verändert, und sie hatte noch immer kein
Fieber; nur der Verstand schien ergriffen zu werden, eine fixe Idee vollendete die Zerstörung dieses Hirns. Es war das letzte Stadium, in dem das Wesen allmählich von einer einzigen, in Raserei umgeschlagenen Leidenschaft verzehrt wird. Der Morgen vor der Ankunft Doktor Cazenoves war entsetzlich. Frau Chanteau wollte nicht einmal mehr, daß ihre Nichte sich ihr näherte. »Laß dich doch pflegen, ich bitte dich«, wiederholte Pauline. »Ich werde dich einen Augenblick anheben, du liegst ja so schlecht.« Da schlug die Sterbende um sich, als wollte man sie erwürgen. »Nein, nein, du hast deine Schere, du bohrst sie mir absichtlich ins Fleisch ... Ich spüre sie sehr wohl, ich blute überall.« Mit zerrissenem Herzen mußte das junge Mädchen sich fernhalten; und sie taumelte vor
Müdigkeit und Kummer, sie wurde von ohnmächtiger Güte überwältigt. Damit ihre geringste Sorgfalt angenommen wurde, mußte sie Grobheiten und Anklagen erdulden, die sie in Tränen ausbrechen ließen. Manchmal sank sie erschlagen auf einen Stuhl und weinte, da sie nicht mehr wußte, wie sie diese in Wut verwandelte einstige Zuneigung wiedergewinnen sollte. Dann kam wieder Ergebung über sie, und sie tat noch einmal alles nur Erdenkliche, sie verdoppelte ihre Sanftmut. Doch an jenem Tage hatte ihre Beharrlichkeit einen Anfall zur Folge, der sie noch lange erzittern ließ. »Tante«, sagte sie und machte den Löffel zurecht, »es ist Zeit für deine Arznei. Du weißt, der Arzt hat dir sehr ans Herz gelegt, sie pünktlich zu nehmen.« Frau Chanteau wollte die Flasche sehen und roch schließlich daran. »Ist es dieselbe wie gestern?«
»Ja, Tante.« »Ich will nichts davon.« Ihre Nichte erreichte indessen mit vielen schmeichelnden Bitten, daß sie einen Löffel voll nahm. Das Gesicht der Kranken drückte großes Mißtrauen aus. Und sowie sie die Flüssigkeit im Munde hatte, spuckte sie sie heftig auf die Erde, von einem Hustenanfall geschüttelt, und stammelte unter Röcheln: »Das ist Vitriol, das verbrennt mich.« Ihr Abscheu und ihr Schrecken vor Pauline, die seit dem Tage, da sie ihr ein erstes Zwanzigfrancsstück genommen, allmählich gewachsen waren, brachen endlich in der äußersten Zerrüttung durch ihr Leiden in einer Flut wahnwitziger Worte hervor, die das junge Mädchen erschüttert anhörte, ohne sich verteidigen zu können. »Wenn du glaubst, ich schmecke es nicht! Du tust Kupfer und Vitriol in alles ... Das ist es,
was mich erstickt. Mir fehlt nichts, ich wäre heute morgen aufgestanden, wenn du nicht gestern abend Grünspan in meiner Brühe aufgelöst hättest ... Ja, du hast genug von mir, du möchtest mich gern unter die Erde bringen. Aber ich bin kräftig, eher noch würde ich dich unter die Erde bringen.« Ihre Worte verwirrten sich mehr und mehr, sie drohte zu ersticken, und ihre Lippen wurden so schwarz, daß eine unmittelbare Katastrophe zu befürchten schien. »Oh, Tante, Tante«, murmelte Pauline entsetzt, »wenn du wüßtest, wie du dir schadest!« »Na und? Das willst du doch, nicht wahr? Geh, ich kenne dich, dein Plan steht seit langem fest, du bist mit dem einzigen Ziel hierhergekommen, uns umzubringen und auszuplündern. Deine Idee ist es, das Haus zu besitzen, und ich bin dir dabei im Wege ... Ah, du liederliches Weibsbild, ich hätte dich am
ersten Tage zertreten sollen ... Ich hasse dich! Ich hasse dich!« Pauline, die unbeweglich dastand, weinte still vor sich hin. Ein einziges Wort kam ihr immer wieder über die Lippen wie ein unwillkürlicher Protest. »Mein Gott! Mein Gott!« Aber Frau Chanteau erschöpfte sich, und eine kindische Angst folgte auf die Heftigkeit ihrer Angriffe. Sie war wieder auf ihre Kissen zurückgesunken. »Komm mir nicht nahe, rühr mich nicht an ... Ich rufe um Hilfe, wenn du mich anrührst ... Nein, nein, ich will nicht trinken. Das ist Gift.« Und sie zog mit ihren verkrampften Händen die Bettdecken hoch, und sie verbarg sich hinter den Kopfkissen, wobei sie den Kopf hin und her rollte und den Mund fest schloß. Als ihre Nichte sich bestürzt vorbeugte, um sie zu beruhigen, stieß sie ein Gebrüll aus.
»Tante, sei doch vernünftig ... Ich werde dir gegen deinen Willen nichts zu trinken geben.« »Doch, du hast die Flasche ... Oh, ich habe Angst! Oh, ich habe Angst!« Sie rang mit dem Tode, ihr zu tief liegender, im Entsetzen hintenüber geworfener Kopf bekam violette Flecke. Pauline glaubte, Frau Chanteau werde in ihren Armen verscheiden, und läutete nach der Magd. Beide hatten große Mühe, sie aufzurichten und wieder auf die Kissen zu betten. Da wurden die persönlichen Leiden Paulines, ihre Liebesqualen endgültig davongetragen in diesem gemeinsamen Schmerz. Sie dachte nicht mehr an ihre frische Wunde, die noch am Abend zuvor geblutet, sie empfand keine Heftigkeit mehr noch Eifersucht angesichts eines so großen Elends. Alles versank auf dem Grunde eines unendlichen Mitleids, sie hätte gewünscht, noch mehr lieben zu können, sich aufzuopfern, sich hinzugeben, Ungerechtigkeit
und Schimpf zu ertragen, um es den anderen leichter zu machen. Es erschien ihr wie eine Heldentat, den größten Teil des Leids im Leben auf sich zu nehmen. Von diesem Augenblick an gab es für sie kein Versagen mehr, sie zeigte vor diesem Sterbebett die ergebene Ruhe, die sie gehabt, als der Tod sie selber bedrohte. Stets bereit, ließ sie sich von nichts abschrecken. Und sogar ihre Liebe war zurückgekehrt, sie verzieh ihrer Tante, daß sie sich in ihren Anfällen hatte hinreißen lassen; sie bedauerte sie, daß sie allmählich so in Wut geraten, sah sie lieber so wie in den früheren Jahren und liebte sie von neuem, wie sie sie mit zehn Jahren geliebt hatte, als sie eines Abends bei stürmischem Wind mit ihr in Bonneville angekommen war. An jenem Tag erschien Doktor Cazenove erst nach dem Mittagessen: Ein Unfall, der gebrochene Arm eines Bauern, den er hatte einrenken müssen, hatte ihn in Verchemont aufgehalten. Als er Frau Chanteau gesehen
hatte und wieder in die Küche hinunterging, verbarg er seinen schlechten Eindruck nicht. Lazare saß am Herd in jener fiebrigen Untätigkeit, die ihn verzehrte. »Es gibt keine Hoffnung mehr, nicht wahr?« fragte er. »Ich habe heute nacht noch einmal das Werk von Bouillaud19 über die Herzkrankheiten durchgelesen ...« Pauline, die mit dem Arzt heruntergekommen war, warf diesem wiederum einen flehenden Blick zu, der ihn veranlaßte, den jungen Mann mit grimmiger Miene zu unterbrechen. Sooft die Krankheiten sich zum Bösen wandten, wurde er ärgerlich. »Ach! Das Herz, mein Lieber, Sie führen nichts als das Herz im Munde! Kann man etwas Genaues sagen? Ich halte die Leber für noch kränker. Nur, wenn die Maschine in Unordnung gerät, dann wird alles in Mitleidenschaft gezogen, weiß Gott! Die Lungen, der Magen und selbst das Herz ...
Anstatt des Nachts Bouillaud zu lesen, was durchaus zu nichts anderem dient, als auch Sie noch krank zu machen, sollten Sie lieber schlafen.« Das war ein Losungswort im Haus, man versicherte Lazare, seine Mutter werde an der Leber sterben. Er glaubte nichts davon, blätterte in den schlaflosen Stunden in seinen alten Büchern; dann geriet er in Verwirrung über die Krankheitserscheinungen, und die Erklärung des Doktors, daß die Organe eines nach dem anderen in Mitleidenschaft gezogen würden, erschreckte ihn schließlich noch mehr. »Ja aber«, begann er mühsam wieder, »wie lange, meinen Sie, wird sie noch zu leben haben?« Cazenove Bewegung.
machte
eine
unbestimmte
»Vierzehn Tage, einen Monat vielleicht ...
Fragen Sie mich nicht, ich könnte mich irren, und dann hätten Sie recht, zu sagen, daß wir nichts wissen und nichts können ... Es ist erschreckend, welchen Fortschritt die Krankheit seit gestern gemacht hat.« Véronique, die dabei war, die Gläser abzutrocknen, sah ihn mit offenem Munde an. Was! Es stimmte also, Frau Chanteau war so krank, Frau Chanteau würde sterben? Bisher hatte sie nicht an die Gefahr glauben können, sie brummte in den Winkeln herum und redete immer weiter von Bosheit, die in sie gefahren, damit sie die Leute verrückt machen konnte. Sie war wie vor den Kopf geschlagen, und als Pauline ihr sagte, sie solle zu Frau Chanteau hinaufgehen, damit diese nicht allein bleibe, ging sie hinaus, wobei sie sich die Hände an der Schürze abtrocknete und keine anderen Worte fand als diese: »Ja, also dann ... Ja, also dann ...« »Doktor«, hatte Pauline wieder begonnen, die
allein einen klaren Kopf behielt, auch an meinen Onkel denken ... daß man ihn vorbereiten muß? nicht bei ihm hereinschauen, aufbrechen?«
»man sollte Meinen Sie, Wollen Sie bevor Sie
Doch in diesem Augenblick erschien Abbé Horteur. Er hatte erst am Morgen von Frau Chanteaus Unpäßlichkeit, wie er es nannte, gehört. Als er erfuhr, wie ernst die Krankheit sei, nahm sein wettergebräuntes Gesicht, das in der frischen Luft strahlte, den Ausdruck wirklichen Kummers an. Die gnädige Frau! War es möglich? Sie, die noch vor drei Tagen so rüstig schien! Nach einem Schweigen fragte er dann: »Darf ich sie sehen?« Er hatte einen unruhigen Blick auf Lazare geworfen, da er wußte, daß der junge Mann ungläubig war, und da er eine Weigerung voraussah. Aber Lazare, der niedergeschlagen dasaß, schien nicht einmal begriffen zu haben.
Es war Pauline, die freiheraus antwortete: »Nein, nicht heute, Herr Pfarrer. Sie weiß nichts über ihren Zustand, Ihre Gegenwart würde sie in Aufregung versetzen ... Wir werden morgen sehen.« »Sehr gut«, beeilte sich der Priester zu sagen. »Ich hoffe, es drängt nicht. Aber jeder muß seine Pflicht tun, nicht wahr? Auch der Doktor, der nicht an Gott glaubt ...« Seit einer Weile starrte der Doktor, in Gedanken versunken, auf ein Tischbein, in den Zweifel verloren, in den er geriet, wenn er fühlte, daß die Natur sich ihm entzog. Er hatte jedoch gehört und schnitt Abbé Horteur das Wort ab. »Wer hat Ihnen gesagt, daß ich nicht an Gott glaube? Gott ist nicht unmöglich, man erlebt so seltsame Dinge! Nach alledem, wer weiß?« Er schüttelte den Kopf, er schien zu erwachen.
»Hören Sie!« fuhr er fort. »Könnten Sie nicht mit mir hineingehen und dem guten Herrn Chanteau die Hand drücken ... Er wird bald viel Mut brauchen.« »Wenn es ihn zerstreuen könnte«, bot der Pfarrer bereitwillig an, »würde ich bei ihm bleiben und einige Partien Dame mit ihm spielen.« Dann gingen beide ins Eßzimmer hinüber, während Pauline sich beeilte, wieder zu ihrer Tante hinaufzugehen. Lazare, der allein geblieben war, erhob sich, zögerte einen Augenblick, ob auch er hinaufgehen solle, ging dann zur Tür und horchte auf die Stimme seines Vaters, hatte aber nicht den Mut einzutreten; dann kam er zurück und ließ sich auf denselben Stuhl sinken, untätig in seiner Verzweiflung. Der Arzt und der Priester hatten Chanteau damit beschäftigt gefunden, eine Papierkugel über den Tisch zu stoßen, die er aus einem
seiner Zeitung beigelegten Prospekt gemacht hatte. Minouche, die neben ihm lag, schaute mit ihren grünen Augen zu. Sie verachtete dieses zu einfache Spielzeug, sie hatte die Pfoten unter den Bauch gezogen und scheute selbst die Anstrengung, die Krallen herauszustrecken. Die Kugel war vor ihrer Nase liegengeblieben. »Ach, Sie sind es!« sagte Chanteau. »Das ist aber nett von Ihnen, ich vergnüge mich nicht gerade übermäßig, so allein ... Nun, Doktor, geht es ihr besser? Oh, ich beunruhige mich nicht, sie ist die Gesündeste im Haus, sie wird uns alle begraben.« Der Doktor hielt die Gelegenheit für günstig, ihn aufzuklären. »Gewiß, ihr Zustand scheint mir nicht sehr bedenklich ... Nur finde ich sie recht geschwächt.« »Nein, nein, Doktor!« rief Chanteau aus. »Sie
kennen sie nicht. Sie hat eine unglaubliche Spannkraft ... Binnen drei Tagen werden Sie sie auf den Beinen sehen.« Und er weigerte sich zu begreifen, in seinem Bedürfnis, an die Gesundheit seiner Frau zu glauben. Da der Arzt ihm nicht auf rücksichtslose Weise sagen wollte, wie die Dinge standen, mußte er schweigen. Im übrigen konnte man ebensogut noch warten. Die Gicht ließ ihn zum Glück ziemlich in Ruhe, ohne allzu heftige Schmerzen, nur die Beine wurden mehr und mehr befallen, so daß man ihn vom Bett zu seinem Sessel tragen mußte. »Wenn nicht diese verfluchten Beine wären«, sagte er ein paarmal, »würde ich hinaufgehen und sie besuchen.« »Bescheiden Sie sich, mein Freund«, sagte Abbé Horteur, der seinerseits daran dachte, sein Trösteramt zu erfüllen. »Jeder muß sein Kreuz tragen ... Wir stehen alle in Gottes Hand
...« Doch er bemerkte, daß diese Worte, weit entfernt, Chanteau zu erleichtern, ihn eher langweilten und ihn schließlich sogar beunruhigten. Und so brach er, rechtschaffen wie er war, seine vorgefertigten Zuspruchsformeln ab und bot ihm eine wirksamere Zerstreuung an. »Wollen Sie eine Partie spielen? Das wird Sie auf andere Gedanken bringen.« Und er ging selber das Damebrett von einem Schrank holen. Entzückt drückte Chanteau die Hand des Doktors, der ging. Schon vertieften sich die beiden Männer in ihr Spiel, die ganze Welt darüber vergessend, als Minouche, zweifellos auf die Dauer durch die vor ihr liegengebliebene Papierkugel gereizt, plötzlich aufsprang und sie mit einem Pfotenhieb in die Luft schleuderte, dann mit tollen Purzelbäumen durch das ganze Zimmer hinter ihr herjagte.
»Launisches Biest!« rief Chanteau, der dadurch gestört wurde. »Vorhin wollte sie nicht mit mir spielen, und jetzt vergnügt sie sich ganz allein und hindert uns am Nachdenken!« »Lassen Sie nur«, sagte der Pfarrer voller Milde. »Katzen wollen auch ihren Spaß haben.« Als Doktor Cazenove wieder durch die Küche ging, wurde er beim Anblick Lazares, der noch immer niedergeschmettert auf demselben Stuhl saß, von einer plötzlichen Rührung ergriffen, er nahm ihn in seine starken Arme und küßte ihn väterlich, ohne ein Wort zu sprechen. Gerade kam Véronique wieder herunter und scheuchte Mathieu vor sich her. Er trieb sich mit seinem leisen Miefen, das der Klage eines Vogels glich, unentwegt im Treppenhaus herum; und sowie er die Tür des Krankenzimmers offen fand, ging er hinein und jaulte hier in jenem durchdringenden Ton
eines Flageoletts, dessen anhaltender Klang auf die Nerven ging. »Nun geh schon, geh schon!« rief das Hausmädchen. »Deine Musik wird sie nicht wieder auf die Beine bringen.« Dann, als sie Lazare erblickte: »Nehmen Sie ihn irgendwohin mit, dann sind wir ihn los, und Ihnen wird es guttun.« Das war ein Befehl von Pauline. Sie hatte Véronique beauftragt, Lazare aus dem Hause zu schicken, ihn zu langen Spaziergängen zu zwingen. Aber er weigerte sich, es kostete ihn schon große Mühe, sich zu erheben. Indessen hatte sich der Hund vor ihn hingesetzt und begann wieder zu jaulen. »Der arme Mathieu ist nicht mehr jung«, sagte der Doktor, der ihn betrachtete. »Weiß Gott! Er ist vierzehn Jahre alt«, erwiderte Véronique. »Das hindert ihn nicht, immer noch wie ein Verrückter hinter den
Mäusen her zu sein ... Sie sehen, er hat eine zerschundene Nase und rote Augen. Er hat nämlich in der letzten Nacht eine unter dem Herd gerochen; und er bat kein Auge zugetan, er hat meine Küche mit seiner Nase um und um gestoßen, er hat noch immer das Fieber in den Pfoten. Ein so großer Hund wegen eines so kleinen Tieres, ist das albern! Übrigens sind es nicht nur die Mäuse; alles, was klein ist, und alles, was herumwimmelt, die einen Tag alten Küken, die Kinder von Minouche, das erregt ihn so sehr, daß ihm die Lust auf Essen und Trinken darüber vergeht. Manchmal bringt er Stunden damit zu, unter einem Möbelstück zu schnüffeln, wo eine Schabe entlanggelaufen ist ... Im Augenblick, das muß man wohl sagen, riecht er nicht gerade gewöhnliche Dinge im Haus ...« Sie hielt inne, als sie sah, daß Lazares Augen sich mit Tränen füllten. »Gehen Sie doch spazieren, mein Kind«,
begann der Doktor wieder. »Sie sind hier nicht von Nutzen. Sie wären draußen besser aufgehoben.« Der junge Mann hatte sich schließlich mühsam erhoben. »Gehen wir«, sagte er. »Komm, mein armer Mathieu.« Als er den Doktor in den Wagen gesetzt hatte, ging er mit dem Hund davon, an der Felsenküste entlang. Von Zeit zu Zeit mußte er stehenbleiben, um auf Mathieu zu warten, denn dieser wurde wirklich sehr alt. Sein Hinterteil wurde lahm, man hörte seine dicken Pfoten wie Hausschuhe über die Erde schleifen. Er wühlte kein Loch mehr im Garten, er sank bald schwindlig nieder, wenn er seinem Schwanz nachjagte. Aber vor allem ermüdete er rasch, hustete, wenn er sich ins Wasser stürzte, legte sich nach einem viertelstündigen Spaziergang schnaufend nieder. Am Strand lief er seinem Herrn
zwischen den Beinen herum. Lazare blieb einen Augenblick unbeweglich stehen und sah einem Fischerboot aus PortenBessin nach, dessen graues Segel wie die Schwinge einer Möwe dicht über das Wasser streifte. Dann ging er weiter. Seine Mutter würde sterben! dröhnte es mit gewaltigen Schlägen in seinem Innern. Kaum daß er an etwas anderes dachte, erschütterte ihn ein neuer, heftigerer Schlag; und immer wieder war es eine Überraschung für ihn, eine Vorstellung, an die er sich nicht gewöhnen konnte, eine ständig sich erneuernde Bestürzung, die keinen Raum für andere Empfindungen ließ. Für Augenblicke verlor diese Vorstellung sogar an Deutlichkeit, dann war in ihm die quälende Unbestimmtheit eines Alptraums, aus dem einzig die angstvolle Erwartung eines großen Unglücks deutlich hervortrat. Minutenlang verschwand alles, was ihn umgab; wenn er dann den Sand, die Algen, das Meer in der Ferne, diesen unermeßlichen
Horizont wieder sah, war er einen Augenblick verwundert, ohne das alles zu erkennen. War er denn hier so oft vorübergegangen? Der Sinn der Dinge schien ihm verändert, niemals war er in ihre Formen noch in ihre Farben so tief eingedrungen. Seine Mutter würde sterben! Und er ging immer weiter, wie um diesem Dröhnen zu entrinnen, das ihn betäubte. Auf einmal hörte er ein Schnaufen hinter sich. Er wandte sich um und erkannte den Hund, der mit hängender Zunge am Ende seiner Kraft war. Da sprach er ganz laut: »Mein armer Mathieu, du kannst nicht mehr ... Wir gehen nach Hause, komm! Man mag sich noch soviel schütteln, man wird die Gedanken nicht los.« Am Abend aß man in Eile. Lazare, dessen zusammengeschnürter Magen nur ein paar Bissen Brot vertrug, beeilte sich, wieder in sein Zimmer hinaufzugehen, wobei er seinem Vater gegenüber den Vorwand einer
dringenden Arbeit erfand. Im ersten Stockwerk ging er zu seiner Mutter hinein und zwang sich, sich fünf Minuten hinzusetzen, bevor er sie küßte und ihr eine gute Nacht wünschte. Sie übrigens vergaß ihn völlig, beunruhigte sich nie über das, was er tagsüber machte. Wenn er sich über sie beugte, hielt sie ihm die Wange hin, schien dieses hastige »Gute Nacht« natürlich zu finden, von Stunde zu Stunde mehr in Anspruch genommen von dem instinktiven Egoismus ihres Endes. Und er flüchtete, Pauline kürzte den Besuch ab, indem sie einen Vorwand ersann, um ihn hinauszuschicken. Doch bei sich, im großen Zimmer des zweiten Stockwerks, verdoppelte sich Lazares Qual. Es war vor allem die Nacht, die lange Nacht, die auf seinem verwirrten Geist lastete. Er nahm Kerzen mit hinauf, um nicht ohne Licht zu bleiben; er zündete bis zum Tagesanbruch eine nach der anderen an, vom Grauen vor der Dunkelheit gepackt. Wenn er zu Bett
gegangen war, versuchte er vergeblich, zu lesen, allein seine alten Medizinbücher interessierten ihn noch; doch auch diese stieß er zurück, er hatte schließlich Angst davor. So blieb er mit offenen Augen auf dem Rücken liegen, mit der einzigen Empfindung, daß in seiner Nähe, hinter der Wand, etwas Entsetzliches geschah, dessen Gewicht ihn erstickte. Der Atem seiner sterbenden Mutter klang ihm in den Ohren, dieser Atem, der so laut geworden war, daß er ihn seit zwei Tagen auf jeder Treppenstufe hörte, wohin er sich nicht mehr wagte, ohne den Schritt zu beschleunigen. Das ganze Haus schien ihn gleich einer Klage auszuhauchen, er vermeinte in seinem Bett davon geschüttelt zu werden, und beunruhigt durch eine zuweilen entstehende Stille, lief er barfuß zum Treppenabsatz, um sich über das Geländer zu beugen. Pauline und Véronique, die gemeinsam unten wachten, ließen die Tür offen, um das Zimmer zu lüften. Und er
erblickte das bleiche Viereck schlummernden Lichts, das die Nachtlampe auf den Boden warf, und vernahm den lauten Atem wieder, der in der Dunkelheit an Umfang und Stärke noch zunahm. Auch er ließ, wenn er wieder hineinging, um sich hinzulegen, seine Tür offen, denn er hatte das Bedürfnis, dieses Röcheln zu hören, es war eine Zwangsvorstellung, die ihn bis in den Halbschlaf hinein verfolgte, in den er schließlich beim Morgengrauen glitt. Wie zur Zeit der Krankheit seiner Cousine war sein Entsetzen vor dem Tode verschwunden. Seine Mutter würde sterben, alles würde sterben, er ergab sich diesem Zusammenbruch des Lebens ohne ein anderes Gefühl als die Erbitterung über seine Ohnmacht, daran etwas zu ändern. Am folgenden Tag begann Frau Chanteaus Todeskampf, ein geschwätziger Todeskampf, der vierundzwanzig Stunden dauerte. Sie hatte sich beruhigt, das Entsetzen vor dem Gift peinigte sie nicht mehr; und unaufhörlich
sprach sie mit klarer Stimme in raschen Sätzen vor sich hin, ohne den Kopf vom Kissen zu heben. Das war keine Plauderei, sie wandte sich an niemand, es schien nur, als beeile sich ihr Hirn bei der Zerrüttung der Maschine, wie eine ablaufende Uhr zu arbeiten, und als sei diese Flut von hastigen kleinen Worten das letzte Ticktack ihres Verstandes am Ende der Kette. Ihre ganze Vergangenheit zog vorüber, es kam nicht ein Wort über die Gegenwart, über ihren Gatten, ihren Sohn, ihre Nichte, über dieses Haus in Bonneville, in dem ihr Ehrgeiz zehn Jahre lang gelitten hatte. Sie war noch Mademoiselle de la Vignière, die in den vornehmen Familien von Caen Stunden gab; sie sprach in vertrauter Weise Namen aus, die weder Pauline noch Véronique jemals gehört hatten; sie erzählte lange, zusammenhanglose, von eingeschobenen Sätzen unterbrochene Geschichten, deren Einzelheiten selbst dem Hausmädchen entgingen, das doch in ihren Diensten alt geworden war. Wie jene
Kästchen, denen man die vergilbten Briefe von einst entnimmt, so schien sie ihren Kopf von den Erinnerungen an ihre Jugend zu befreien, bevor sie starb. Pauline empfand trotz ihres Mutes einen Schauder davor, verwirrt angesichts dieses Unbekannten, dieser unfreiwilligen Beichte, die wieder an die Oberfläche kam, während der Tod schon sein Werk tat. Und jetzt war das Haus nicht mehr von ihrem Atem, sondern von diesem erschreckenden Geschwätz erfüllt. Wenn Lazare an der Tür vorüberging, fing er Sätze davon auf. Er drehte und wendete sie, fand keinen Sinn darin, entsetzte sich darüber wie über eine unbekannte Geschichte, die seine Mutter schon vom Jenseits her, inmitten unsichtbarer Leute erzählte. Als Doktor Cazenove kam, fand er Chanteau und Abbé Horteur im Eßzimmer beim Damespiel. Man hätte glauben können, sie hätten sich von dort nicht fortgerührt und setzten ihre Partie vom vergangenen Abend
fort. Neben ihnen auf ihrem Hinterteil sitzend, schien Minouche völlig ins Studium des Damebretts vertieft. Der Pfarrer war am frühen Morgen gekommen, seinen Posten als Tröster wieder einzunehmen. Pauline hatte jetzt nichts mehr dagegen, daß er hinaufging, und als der Arzt seinen Besuch machte, ließ er sein Spiel im Stich und begleitete ihn zu der Kranken, kam zu ihr als Freund, der sich nur nach ihrem Befinden erkundigen wollte. Frau Chanteau erkannte sie noch, sie wollte, daß man sie aufrecht gegen die Kissen lehnte, und empfing sie als schöne Frau aus Caen, die Gäste willkommen heißt, in einem lichten, lächelnden Fieberwahn. Der gute Doktor müsse mit ihr zufrieden sein, nicht wahr? Sie werde bald aufstehen, und sie fragte den Abbé höflich nach seiner Gesundheit. Dieser, der in der Absicht heraufgekommen war, seine priesterliche Pflicht zu erfüllen, wagte nicht den Mund aufzutun, betroffen von diesem geschwätzigen Todeskampf. Außerdem war
Pauline zugegen, die ihn daran gehindert hätte, gewisse Themen anzuschneiden. Sie selber hatte die Kraft, eine vertrauensvolle Heiterkeit vorzutäuschen. Als die beiden Männer sich zurückzogen, begleitete sie sie zum Treppenabsatz, wo der Arzt ihr mit leiser Stimme Anweisungen für die letzten Augenblicke gab. Die Worte »rascher Verfall« und »Phenol« wurden wiederholt ausgesprochen, während aus dem Zimmer immer noch das verworrene Gemurmel, der unerschöpfliche Wortschwall der Sterbenden drang. »Sie meinen also, daß sie den Tag überstehen wird?« fragte das junge Mädchen. »Ja, sie wird es zweifellos bis morgen schaffen«, erwiderte Cazenove. »Aber richten Sie sie nicht mehr auf, sie könnte Ihnen in den Armen bleiben ... Übrigens komme ich heute abend wieder.« Es wurde vereinbart, daß Abbé Horteur bei
Chanteau bleiben und ihn auf die Katastrophe vorbereiten solle. Véronique hörte auf der Türschwelle mit verstörter Miene, wie diese Vorkehrungen getroffen wurden. Seit sie an die Möglichkeit des Todes von Frau Chanteau glaubte, tat sie die Lippen nicht mehr auseinander, mit der Ergebenheit eines Lasttieres eifrig um sie bemüht. Doch alle schwiegen jetzt, Lazare kam herauf; er irrte durch das Haus und fand nicht die Kraft, den Besuchen des Doktors beizuwohnen und die Gefahr genau zu erkennen. Das plötzliche Schweigen, das ihn empfing, unterrichtete ihn gegen seinen Willen. Er wurde sehr bleich. »Mein liebes Kind«, sagte der Arzt, »Sie sollten mich begleiten. Sie könnten mit mir Mittag essen, und ich würde Sie heute abend wieder zurückbringen.« Der junge Mann war noch bleicher geworden. »Nein, danke«, murmelte er. »Ich will mich nicht entfernen.«
Von nun an wartete Lazare mit entsetzlich beklommener Brust. Ein eiserner Gürtel schien ihm die Rippen zusammenzupressen. Der Tag wurde zur Ewigkeit, und er verging dennoch, ohne daß Lazare gewußt hätte, auf welche Weise die Stunden dahinflossen. Er konnte sich nie daran erinnern, was er getan hatte, wie er hinauf und hinuntergegangen war und das Meer in der Ferne betrachtet hatte, dessen gewaltiges Wogen ihn vollends schwindlig machte. Der unaufhaltsame Ablauf der Minuten nahm für Augenblicke Gestalt an, wurde in ihm zum Stoß eines Granitbalkens, der alles in den Abgrund fegte. Dann geriet er außer sich, hätte er gewollt, daß alles zu Ende wäre, um sich endlich von diesem abscheulichen Warten auszuruhen. Als er gegen vier Uhr wieder einmal in sein Zimmer hinaufging, trat er unvermittelt bei seiner Mutter ein: Er wollte sie sehen, er hatte das Bedürfnis, sie noch einmal zu küssen. Doch als er sich über sie beugte, fuhr sie fort, das
verworrene Knäuel ihrer Sätze abzuspulen, hielt sie ihm nicht einmal die Wange hin mit dem müden Ausdruck, mit dem sie ihn seit ihrer Krankheit empfing. Vielleicht sah sie ihn gar nicht einmal. Das war nicht mehr seine Mutter, dieses bleifarbene Gesicht mit den schon schwarzen Lippen. »Geh«, sagte Pauline sanft. »Geh ein wenig aus ... Ich versichere dir, die Stunde ist noch nicht gekommen.« Und statt in sein Zimmer hinaufzugehen, flüchtete Lazare. Er ging hinaus und nahm das Bild dieses schmerzerfüllten Antlitzes mit sich, das er nicht mehr wiedererkannte. Seine Cousine belog ihn, die Stunde würde kommen; allein er erstickte, er brauchte Weite, er schritt wie ein Wahnsinniger aus. Dieser Kuß war der letzte. Der Gedanke, seine Mutter nie wiederzusehen, niemals, erschütterte ihn aufs heftigste. Aber er glaubte, jemand liefe hinter ihm her, er wandte sich um; und als er Mathieu
erkannte, der ihn mit seinen schwerfälligen Pfoten einzuholen suchte, geriet er ohne jeden Grund in Wut, nahm Steine und warf damit nach dem Hund, wobei er Schimpfworte stammelte, um ihn wieder nach Hause zu scheuchen. Mathieu, der über diesen Empfang bestürzt war, entfernte sich, dann wandte er sich um und sah ihn mit sanften Augen an, in denen Tränen zu schimmern schienen. Es war Lazare unmöglich, dieses Tier zu verjagen, das ihn von weitem begleitete, wie um über seine Verzweiflung zu wachen. Auch das unermeßliche Meer regte ihn auf, er war in die Felder gestürmt, er suchte die entlegensten Winkel, um sich dort allein und verborgen zu fühlen. Bis zur Nacht streifte er umher, lief über gepflügte Äcker, sprang über lebende Hecken. Endlich machte er sich erschöpft auf den Heimweg, als er durch ein Schauspiel vor seinen Augen von abergläubischem Entsetzen gepackt wurde: Über einer großen, allein stehenden schwarzen Pappel am Rande eines
einsamen Weges erhob sich der aufsteigende Mond mit einer gelben Flamme, und man hätte meinen können, eine große Kerze brenne dort in der Abenddämmerung am Kopfende irgendeiner quer über das Land gebetteten großen Toten. »Vorwärts, Mathieu!« rief er mit erstickter Stimme. »Beeilen wir uns.« Er kehrte im Laufschritt heim, so wie er losgegangen war. Der Hund hatte sich wieder zu nähern gewagt und leckte ihm die Hände. Obgleich es Nacht geworden war, brannte kein Licht in der Küche. Der Raum war leer und düster, die Decke vom Widerschein der Kohlenglut im Herd rötlich beleuchtet. Diese Finsternis ergriff Lazare, und er fand nicht den Mut weiterzugehen. Verstört blieb er mitten in dem Durcheinander von Töpfen und Scheuerlappen stehen und horchte auf die Geräusche, von denen das Haus erschauerte. Von nebenan vernahm er ein Hüsteln seines
Vaters, zu dem Abbé Horteur mit dumpfer, stetiger Stimme sprach. Doch was ihn vor allem erschreckte, waren eilige Schritte, Flüstern auf der Treppe, dann ein Gedröhn im oberen Stockwerk, das er sich nicht erklären konnte, wie das erstickte Getöse einer rasch verrichteten Arbeit. Er wagte nicht zu begreifen, war es also zu Ende? Und er blieb unbeweglich stehen, ohne die Kraft zu haben, hinaufzugehen und sich Gewißheit zu holen, als er Véronique herunterkommen sah: Sie lief, sie zündete eine Kerze an und trug sie so eilig fort, daß sie ihm weder ein Wort noch selbst einen Blick zuwerfen konnte. Die Küche, die einen Augenblick erhellt war, sank wieder ins Dunkel zurück. Oben beruhigte sich das Hin und Her. Noch einmal erschien das Hausmädchen, diesmal, um eine Schüssel zu holen; und immer die gleiche verstörte, stumme Hast. Lazare zweifelte nicht mehr, es war zu Ende. Da setzte er sich mit versagenden Kräften an den Rand des Tisches
und wartete in der Tiefe dieses Dunkels, ohne zu wissen, worauf er wartete, während ihm von der nun eingetretenen tiefen Stille die Ohren dröhnten. Im Schlafzimmer dauerte der letzte Todeskampf bereits zwei Stunden, ein grausamer Todeskampf, der Pauline und Véronique mit Entsetzen erfüllte. Die Angst vor dem Gift war mit dem Todesröcheln wiedergekehrt, Frau Chanteau richtete sich auf, sie sprach immer noch mit ihrer raschen, doch nach und nach von einem wütenden Delirium erregten Stimme. Sie wollte aus dem Bett springen, aus dem Haus fliehen, in dem jemand sie ermorden würde. Das junge Mädchen und die Magd mußten all ihre Kräfte aufbieten, um sie zurückzuhalten. »Laßt mich, ihr bringt mich noch um ... Ich muß fort, gleich, gleich ...« Véronique versuchte sie zu beruhigen.
»Frau Chanteau, sehen Sie uns an ... Sie halten uns doch nicht für fähig, Ihnen etwas Böses anzutun.« Erschöpft holte die Sterbende einen Augenblick Atem. Sie schien mit ihren trüben Augen, die zweifellos nichts mehr sahen, im Zimmer herumzusuchen. Dann begann sie wieder: »Macht den Sekretär zu. Es ist im Schubfach ... Da kommt sie schon herauf. Oh, ich habe Angst, ich sage euch doch, ich höre sie! Gebt ihr nicht den Schlüssel, laßt mich fort, gleich, gleich ...« Sie schlug in ihren Kissen am sich, während Pauline sie festhielt. »Aber Tante, es ist niemand hier, nur wir beide.« »Nein, nein, hört nur, da ist sie ... Mein Gott! Ich werde sterben, die Schurkin hat mir alles zu trinken gegeben ... Ich werde sterben! Ich
werde sterben!« Ihre Zähne schlugen aufeinander, sie flüchtete sich in die Arme ihrer Nichte, sie erkannte Pauline nicht. Diese preßte sie schmerzlich bewegt an ihr Herz, kämpfte nicht länger gegen den abscheulichen Verdacht und ergab sich darein, daß jene ihn mit in die Erde nahm. Glücklicherweise paßte Véronique auf. Sie streckte die Hände vor und murmelte: »Mademoiselle Pauline, geben Sie acht!« Es war die letzte Krise. Mit einer heftigen Anstrengung war es Frau Chanteau gelungen, ihre geschwollenen Beine aus dem Bett zu schleudern; und ohne das Zuspringen der Magd wäre sie zu Boden gefallen. Wahnsinn schüttelte sie, sie stieß nur noch unartikulierte Schreie aus; die Fäuste geballt wie zu einem Kampf Leib an Leib, schien sie sich gegen eine Vision zu wehren, die sie an der Kehle gepackt hielt. In dieser letzten Minute mußte
sie sich wohl sterben sehen, öffnete sie noch einmal kluge, vor Grauen geweitete Augen. In furchtbarem Schmerz griff sie sich einen Augenblick mit den Händen an die Brust. Dann fiel sie in die Kissen zurück und wurde schwarz. Sie war tot. Tiefe Stille trat ein. Pauline, die völlig erschöpft war, wollte ihr noch die Augen schließen: Das war das Letzte, was sie ihren Kräften abverlangte. Als sie aus dem Zimmer ging und die Frau von Prouane, die sie nach dem Besuch des Doktors hatte kommen lassen, mit Véronique als Wache zurückließ, fühlte sie, wie ihr auf der Treppe die Kräfte schwanden; und sie mußte sich einen Augenblick auf eine Stufe setzen, denn sie fand nicht mehr den Mut, hinunterzugehen, um Lazare und Chanteau den Tod mitzuteilen. Die Wände drehten sich um sie. Einige Minuten vergingen, sie faßte nach dem Geländer, hörte im Eßzimmer die Stimme des Abbé Horteur und zog es vor, in die Küche zu gehen. Dort
aber bemerkte sie Lazare, dessen düstere Silhouette sich vom roten Widerschein des Herdes abhob. Ohne ein Wort ging sie mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Er hatte begriffen, er sank an die Schulter des jungen Mädchens, während sie ihn in einer langen Umarmung an sich drückte. Dann küßten sie sich auf die Wangen. Sie weinte still vor sich hin, er aber konnte nicht eine Träne vergießen, es würgte ihn so, daß sein Atem stockte. Endlich löste sie die Arme und sagte den ersten besten Satz, der ihr auf die Lippen kam: »Warum sitzt du denn ohne Licht?« Er machte eine Gebärde, wie um zu bekunden, daß er in seinem Kummer kein Licht brauche. »Wir müssen eine Kerze anzünden«, begann sie wieder. Lazare war auf einen Stuhl gesunken, unfähig, sich auf den Beinen zu halten. Mathieu lief sehr unruhig um den Hof und schnupperte die
feuchte Nachtluft. Er kam wieder herein, sah sie nacheinander fest an, ging zu seinem Herrn und legte ihm seinen dicken Kopf auf das Knie; und so blieb er unbeweglich stehen und schien ihn aus nächster Nähe, Auge in Auge zu befragen. Vor diesem Hundeblick begann Lazare zu zittern. Auf einmal stürzten die Tränen hervor, er brach in Schluchzen aus, die Hände um das alte Haustier geschlungen, das seine Mutter seit vierzehn Jahren liebte. Er stammelte abgerissene Worte. »Ach, mein armer Dicker, mein armer Dicker! Wir werden sie nicht mehr sehen.« Pauline hatte schließlich trotz ihrer Verwirrung eine Kerze gefunden und angezündet. Sie versuchte nicht, ihn zu trösten, glücklich über seine Tränen. Eine schwere Aufgabe blieb ihr noch, nämlich ihren Onkel zu verständigen. Aber als sie sich entschloß, ins Eßzimmer hinüberzugehen, wohin Véronique bei Einbruch der Dämmerung eine
Lampe gebracht, hatte Abbé Horteur mit langen geistlichen Wendungen Chanteau soeben mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß seine Frau verloren und es nur noch eine Frage von Stunden sei. Darum erriet der alte Mann die Katastrophe, als er seine Nichte verstört und mit roten Augen hereinkommen sah. Sein erster Ausruf war: »Mein Gott! Ich hätte nur eines gewollt, sie noch einmal lebend wiederzusehen ... Ach, diese verflixten Beine! Diese verflixten Beine!« Darüber ging es bei ihm kaum hinaus. Er weinte kleine Tränen, die rasch trockneten, stieß schwache Seufzer eines Kranken aus; und er kam schnell auf seine Beine zurück, beschimpfte sie, bedauerte schließlich sich selbst. Einen Augenblick erwog man die Möglichkeit, ihn ins erste Stockwerk hinaufzutragen, damit er die Tote küssen könne; dann aber hielt man es, abgesehen von
der Schwierigkeit eines solchen Vorhabens, für gefährlich, ihm die Erschütterung dieses letzten Lebewohls zuzumuten, nach dem er im übrigen nicht mehr verlangte. Und so blieb er im Eßzimmer vor dem durcheinandergeratenen Damebrett, ohne zu wissen, womit er seine armen kranken Hände beschäftigen sollte, sogar ohne einen genügend klaren Kopf, wie er sagte, um seine Zeitung zu lesen und zu begreifen. Als man ihn zu Bett brachte, mußten wohl ferne Erinnerungen in ihm wach werden, denn er weinte sehr. Nun verstrichen zwei lange Nächte und ein endloser Tag, diese schrecklichen Stunden, in denen der Tod im Hause wohnt. Cazenove war nur wiedergekommen, um den Tod zu bestätigen, wiederum überrascht von einem so schnellen Ende. Lazare, der in der ersten Nacht nicht schlafen ging, schrieb bis zum Tagesanbruch Briefe an entfernte Verwandte. Man mußte den Leichnam auf den Friedhof von Caen in die Familiengruft überführen. Der
Doktor hatte es freundlicherweise übernommen, alle Formalitäten zu erledigen; und es blieb nur eine Unannehmlichkeit in Bonneville zu erfüllen, die Todesanzeige, die Chanteau in seiner Eigenschaft als Bürgermeister entgegenzunehmen hatte. Da Pauline kein angemessenes schwarzes Kleid besaß, richtete sie sich mit Hilfe eines alten Rockes und eines Merinoschals, aus dem sie sich ein Mieder schneiderte, eilig ein solches her. Die erste Nacht und auch der Tag darauf vergingen noch im Fieber dieser Beschäftigungen; doch die zweite Nacht wurde zur Ewigkeit, endlos durch die schmerzliche Erwartung des nächsten Tages. Niemand konnte schlafen, die Türen blieben offen, angezündete Kerzen standen überall auf den Treppenstufen und den Möbeln herum, während ein Geruch von Phenol bis in die entlegensten Räume gedrungen war. Alle waren sie völlig erschöpft durch den Schmerz, mit trockenem Mund und trüben Augen; und
sie hatten nur noch das dumpfe Bedürfnis, wieder vom Leben Besitz zu ergreifen. Am nächsten Tage endlich, um zehn Uhr, begann die Glocke der kleinen Kirche auf der anderen Seite der Landstraße zu läuten. Mit Rücksicht auf Abbé Horteur, der sich bei dieser traurigen Gelegenheit als recht mannhaft erwiesen, hatte man beschlossen, die kirchliche Feier vor der Überführung des Leichnams nach dem Friedhof von Caen in Bonneville abhalten zu lassen. Sobald Chanteau die Glocke hörte, wurde er unruhig in seinem Sessel. »Ich will sie wenigstens davongehen sehen«, wiederholte er. »Ach! Diese verflixten Beine! Was für ein Jammer, wenn man so verflixte Beine hat!« Vergebens versuchte man, ihm das schreckliche Schauspiel zu ersparen. Die Glocke läutete schneller, er wurde ärgerlich und rief:
»Rollt mich in den Flur. Ich höre sehr wohl, daß man sie herunterbringt ... Gleich, gleich. Ich will sehen, wenn sie davongeht.« Und Pauline und Lazare, in Trauerkleidung und schon mit Handschuhen, gehorchten ihm. Einer rechts, der andere links, schoben sie den Sessel bis an den Fuß der Treppe. In der Tat brachten im gleichen Augenblick vier Männer den Leichnam herunter, dessen Gewicht ihnen schier die Glieder zerbrach. Als der Sarg erschien, mit seinem neuen Holz, seinen glänzenden Griffen, seinem frisch gravierten Kupferschild, machte Chanteau eine unwillkürliche Anstrengung, sich zu erheben; doch seine bleiernen Beine nagelten ihn fest, er mußte in seinem Sessel sitzen bleiben, von einem solchen Zittern befallen, daß seine Kinnladen ein Geräusch machten, als spräche er zu sich selbst. Die schmale Treppe erschwerte den Abstieg, er schaute zu, wie der große gelbe Kasten langsam herabkam; und als er seine Füße streifte, beugte er sich vor, um
zu sehen, was man auf das Schild geschrieben hatte. Jetzt war der Flur breiter, die Männer gingen rasch auf die Tragbahre zu, die sie vor der Freitreppe niedergestellt hatten. Er schaute noch immer zu, sah vierzig Jahre seines Lebens dahingehen, die Ereignisse von einst, die guten wie die schlechten, denen er verzweifelt nachtrauerte, wie man seiner Jugend nachtrauert. Hinter dem Sessel weinten Pauline und Lazare. »Nein, nein, laßt mich«, sagte er zu ihnen, als sie sich anschickten, ihn wieder an seinen Platz im Eßzimmer zu rollen. »Geht nur. Ich will sehen.« Man hatte den Sarg auf die Tragbahre gestellt, andere Männer hoben ihn auf. Der Trauerzug ordnete sich auf dem Hof, auf dem sich die Leute aus dem Dorf eingefunden hatten. Mathieu, der seit dem Morgen eingesperrt war, winselte mitten in dem tiefen Schweigen unter der Tür des Wagenschuppens, während
Minouche vom Küchenfenster aus mit erstaunter Miene all diese Leute und diesen Kasten betrachtete, den man davontrug. Da man nicht schnell genug aufbrach, leckte sich die Katze gelangweilt den Bauch. »Gehst du denn nicht mit?« fragte Chanteau Véronique, als er sie neben sich bemerkte. »Nein, Herr Chanteau«, erwiderte sie mit erstickter Stimme. »Mademoiselle Pauline hat gesagt, ich soll bei Ihnen bleiben.« Die Kirchenglocke läutete noch immer, der Leichnam verließ endlich den Hof, gefolgt von Lazare und Pauline, beide schwarz gekleidet in der hellen Sonne. Und von seinem Krankenstuhl aus, im Rahmen der offengelassenen Flurtür, sah Chanteau ihn davongehen.
Kapitel VII Das Hin und Her mit der Trauerfeier und einigen zu erledigenden Angelegenheiten hielten Lazare und Pauline zwei Tage in Caen zurück. Als sie nach einem letzten Besuch auf dem Friedhof heimkehrten, hatte sich das Wetter geändert, ein böiger Wind blies über die Küsten. Sie fuhren bei strömendem Regen von Arromanches los, der Wind wehte so heftig, daß das Verdeck des Wagens fortgerissen zu werden drohte. Pauline erinnerte sich ihrer ersten Reise, als Frau Chanteau sie von Paris hierhergebracht hatte: Das war bei einem ebensolchen Sturm gewesen, die arme Tante hatte ihr verboten, sich aus dem Wagen zu beugen, und hatte ihr alle Augenblicke das Halstuch wieder festgebunden. Auch Lazare sann in seiner Ecke vor sich hin, sah seine Mutter auf dieser Landstraße wieder, wie sie jedesmal, wenn er heimkehrte, ungeduldig darauf wartete, ihn zu
umarmen: Einmal im Dezember war sie zwei Meilen zu Fuß gegangen, hatte er sie auf diesem Grenzstein sitzend gefunden. Der Regen fiel ohne Unterlaß, das junge Mädchen und ihr Cousin wechselten von Arromanches bis Bonneville nicht ein Wort. Indessen hörte der Regen auf, als man ankam; aber der Wind nahm an Heftigkeit zu, der Kutscher mußte absteigen, um das Pferd am Zügel zu nehmen. Endlich hielt der Wagen vor der Tür, gerade als der Fischer Houtelard vorbeilief. »Ah, Herr Lazare!« rief er. »Diesmal ist alles hin! Es zerschlägt Ihnen Ihre Wellenbrecher.« Man konnte von dieser Biegung der Straße aus das Meer nicht sehen. Der junge Mann blickte auf und gewahrte Véronique, die auf der Terrasse stand und zum Strand hinuntersah. Auf der anderen Seile hatte Abbé Horteur aus Furcht, der Wind werde seine Soutane zerfetzen, an seiner Gartenmauer Schutz
gesucht und schaute ebenfalls dorthin. Er beugte sich vor und schrie: »Es reißt Ihre Buhnen weg!« Da ging Lazare den Abhang hinunter, und Pauline folgte ihm trotz des schrecklichen Wetters. Als sie unterhalb der Felsenküste herauskamen, waren sie betroffen von dem Schauspiel, das sich ihnen bot. Die Flut, eine der Septemberhochfluten, stieg mit ungeheurem Getöse; sie war nicht als gefährlich angekündigt worden, aber der Sturm, der seit dem Abend zuvor von Norden blies, ließ sie so übermäßig anschwellen, daß Wasserberge sich vom Horizont erhoben, sich heranwälzten und an den Felsen zerschellten. In der Ferne war die See schwarz unter dem Schatten der Wolken, die über den bleiernen Himmel fegten. »Geh wieder hinauf«, sagte der junge Mann zu seiner Cousine. »Ich schaue einmal nach und komme gleich zurück.«
Sie antwortete nicht, sie folgte ihm weiter bis an den Strand. Dort hielten die Buhnen und ein großes Pfahlwerk, das man erst kürzlich gebaut hatte, einem fürchterlichen Angriff stand. Die immer gewaltiger werdenden Wogen schlugen eine nach der anderen wie Sturmböcke an; und ihr Heer war unzählbar, immer wieder warfen sich neue Massen dagegen. Große grünliche Rücken mit Schaummähnen wogten unendlich dahin, näherten sich unter einem gewaltigen Druck; dann flogen in der Wut des Anpralls diese Ungeheuer selber als Wasserstaub auseinander, fielen in weißem Gischt hernieder, den die Flut aufzusaugen und wieder fortzutragen schien. Unter jedem dieser Einstürze krachte das Balkenwerk der Buhnen. Einer waren bereits die Rammpfähle zerschlagen worden, und der lange Mittelbalken, nur noch an einem Ende fest, wankte verzweifelt, wie ein Rumpf, dem die Kartätsche die Glieder weggerissen hat. Zwei
andere hielten besser stand; aber man fühlte, wie sie in ihren Verankerungen erzitterten, wie sie ermüdeten und gleichsam dünner wurden in dieser schwankenden Umschlingung, die sie aufzureiben schien, um sie dann zu zerbrechen. »Ich hab es ja gesagt«, wiederholte Prouane, der stark betrunken am durchlöcherten Rumpf eines alten Bootes lehnte. »Das mußte man erst sehen, wenn der Wind von oben bläst ... Das Meer pfeift auf die Streichhölzer von diesem jungen Mann!« Mit Hohngelächter wurden diese Worte aufgenommen. Ganz Bonneville war da, Männer, Frauen, Kinder, sehr belustigt von den ungeheuren Schlägen, die die Buhnen abbekamen. Mochte das Meer ihre verfallenen Behausungen zerschmettern, sie liebten es mit angstvoller Bewunderung, sie hätten es als ihren eigenen Schimpf empfunden, wenn das erstbeste Jüngelchen es mit vier Balken und
zwei Dutzend Pflöcken bezwungen hätte. Und das erregte sie, schwellte sie wie mit persönlichem Triumph, mit anzusehen, wie es endlich erwachte und sich mit einem Aufreißen des Rachens vom Maulkorb befreite. »Aufgepaßt!« schrie Houtelard. »Seht doch nur, was für ein Schlag ... Na? Es hat einer Buhne zwei Pfoten weggerissen!« Sie riefen einander zu. Cuche zählte die Wogen. »Drei müssen es sein, ihr werdet sehen ... Eine macht sie locker, die zweite fegt sie weg! Ach, das Luder! Zwei haben ihm gereicht! So ein Luder!« Und dieses Wort war eine Liebkosung. Zärtliche Flüche wurden laut. Das Kindervolk tanzte, wenn eine noch schlimmere Sturzsee niederging und einer Buhne mit einem Mal das Kreuz brach. Noch eine! Noch eine! Alle
würden dabei draufgehen, würden zerkrachen wie Strandflöhe unter dem Schuh eines Kindes. Aber die Flut stieg noch immer, und das große Pfahlwerk hielt stand. Das war das erwartete Schauspiel, die entscheidende Schlacht. Endlich stürzten sich die ersten Wogen in das Gebälk, man würde was zu lachen haben. »Schade, daß er nicht da ist, der junge Mann!« sagte die spöttische Stimme des Gauners Tourmal. »Er könnte sich dagegenlehnen, um es zu stützen.« Ein Pfiff brachte ihn zum Schweigen, einige Fischer hatten Lazare und Pauline bemerkt. Diese hatten alles gehört, sie waren sehr bleich geworden und schauten dem Zusammenbruch weiter schweigend zu. Diese zerbrochenen Balken, das war nicht schlimm; aber die Flut sollte noch zwei Stunden lang steigen, das Dorf würde sicherlich in Mitleidenschaft gezogen, wenn das Pfahlwerk nicht standhielt.
Lazare hatte seine Cousine an sich gezogen und hielt sie um die Taille gefaßt, um sie gegen die Böen zu schützen, deren Stöße wie Sensenhiebe vorbeisausten. Ein unheilverkündender Schatten senkte sich vom schwarzen Himmel, die Wogen heulten, die beiden in ihrer Trauerkleidung standen unbeweglich im fliegenden Wasserstaub, in dem Getöse, das immer lauter anschwoll. Die Fischer um sie her warteten jetzt, den Mund von einem letzten Hohngelächter verzerrt, heimlich von wachsender Unruhe gequält. »Das wird nicht lange dauern«, murmelte Houtelard. Das Pfahlwerk hielt jedoch stand. Bei jeder Woge, die es mit Schaum bedeckte, kamen die schwarz geteerten Balken wieder unter dem weißen Wasser zum Vorschein. Sowie aber ein Stück Holz zerbrochen war, begannen die benachbarten eines nach dem anderen fortzuschwimmen. Seit fünfzig Jahren hatten
die Alten keine so starke See erlebt. Bald würde man zurückweichen müssen, die losgerissenen Balken schlugen gegen die anderen, zerstörten das Pfahlwerk vollends, dessen Trümmer heftig an Land geschleudert wurden. Nur ein einziger Pfeiler blieb aufrecht stehen, gleich einer jener Baken, die man auf die Klippen pflanzt. Bonneville hörte auf zu lachen, Frauen trugen weinende Kinder fort. Das Luder griff wieder nach ihnen, es war eine ergebene Bestürzung, der erwartete und erlittene Untergang in dieser so engen Nachbarschaft mit dem gewaltigen Meer, das sie ernährte und sie tötete. Es entstand ein wildes Durcheinander, ein Galopp derber Schuhe: Alle flüchteten sich hinter die Mauern aus Strandgeröll, deren Reihe allein noch die Häuser schützte. Pfähle gaben schon nach, die Bohlen wurden eingedrückt, die ungeheuren Wogen schlugen über die zu niedrigen Mauern. Nichts hielt mehr stand, eine Sturzsee zerbrach bei Houtelard die Fensterscheiben
und überschwemmte seine Küche. Da entstand eine wilde Flucht, es blieb nur das siegreiche Meer, das den Strand leer fegte. »Geh nicht hinein!« schrie man Houtelard zu. »Das Dach wird gleich einstürzen.« Langsam waren Lazare und Pauline vor der Flut zurückgewichen. Keine Hilfe war möglich, sie gingen wieder den Weg hinauf nach Hause, als das junge Mädchen auf halber Höhe einen letzten Blick auf das bedrohte Dorf warf. »Die armen Leute!« murmelte sie. Doch Lazare verzieh ihnen ihr blödes Gelächter nicht. Ins Herz getroffen durch diesen Zusammenbruch, der für ihn eine Niederlage war, machte er eine Gebärde des Zorns und tat endlich den Mund auf. »Soll das Meer doch in ihren Betten schlafen, wenn sie es nun einmal lieben! Ich werde es, zum Teufel, nicht daran hindern!«
Véronique kam ihnen mit einem Schirm entgegen, denn die Regengüsse begannen von neuem. Abbé Horteur, der noch immer im Schutze seiner Mauer stand, schrie ihnen Sätze zu, die sie nicht verstehen konnten. Dieses abscheuliche Wetter, die zerstörten Buhnen, das Elend dieses Dorfes, das sie in Gefahr zurückließen, machten ihre Heimkehr noch trauriger. Als sie wieder ins Haus traten, schien es ihnen kahl und eisig; nur der Wind blies mit ununterbrochenem Geheul durch seine düsteren Räume. Chanteau, der vor dem Koksfeuer eingenickt war, begann zu weinen, sowie sie erschienen. Keiner von beiden ging hinauf, sich umzukleiden, um die schrecklichen Erinnerungen an die Treppe zu meiden. Der Tisch war gedeckt, die Lampe angezündet, man speiste sogleich. Es war ein trauriger Abend, die heftigen Stöße des Meeres, von denen die Wände erzitterten, schnitten die wenigen Worte ab. Als Véronique den Tee einschenkte, meldete sie,
daß das Haus der Houtelards und fünf andere schon eingestürzt wären; diesmal würde das halbe Dorf dran glauben. Chanteau, der verzweifelt war, daß er noch nicht wieder sein Gleichgewicht in seinen Leiden hatte finden können, verbot ihr den Mund und sagte, er habe reichlich genug an seinem eigenen Unglück und wolle nicht von dem der anderen reden hören. Nachdem man ihn zu Bett gebracht hatte, gingen alle schlafen, zerschlagen vor Müdigkeit. Bis zum Tagesanbruch ließ Lazare das Licht brennen, und Pauline öffnete mehr als zehnmal leise ihre Tür, um zu horchen; aber es stieg aus dem jetzt leeren ersten Stockwerk nur Totenstille herauf. Vom nächsten Tage an begannen für den jungen Mann die langen herzzerreißenden Stunden, die einer großen Trauer folgen. Er erwachte wie aus einer Ohnmacht nach einem Sturz, von dem seine Glieder steif geblieben waren; und er hatte jetzt wieder einen klaren
Kopf, die sehr deutliche Erinnerung, frei von dem Alptraum, durch den er mit der verworrenen Vision des Fiebers gegangen war. Jede Einzelheit erstand wieder, er durchlebte noch einmal seinen Schmerz. Die Tatsache des Todes, mit der er noch nicht in Berührung gekommen war, war in der armen, in wenigen Tagen brutal dahingerafften Mutter für ihn gegenwärtig. Das Entsetzliche, nicht mehr zu sein, wurde greifbar: Man war zu viert, und es wurde ein Loch gegraben, man blieb zu dritt zurück, vor Elend zitternd und sich verzweifelt aneinanderdrängend, um ein wenig von der verlorenen Wärme wiederzufinden. Das also war es, sterben? Es war dieses Nimmermehr, diese zitternden Arme, die sich um einen Schatten schlangen, der nichts von sich zurückließ als entsetzte Trauer. Seine arme Mutter, er verlor sie stündlich aufs neue, sooft die Tote in ihm aufstand. Zunächst hatte er nicht so sehr gelitten, weder als seine Cousine heruntergekommen und ihm in die
Arme gestürzt war noch während der langen Grausamkeit der Beerdigung. Er empfand den schrecklichen Verlust erst seit seiner Rückkehr in das leere Haus; und sein Kummer wurde noch gesteigert durch den Selbstvorwurf, daß er nicht noch mehr geweint hatte unter dem Eindruck des Todeskampfes, als etwas von der Entschwundenen noch da war. Die Furcht, seine Mutter nicht geliebt zu haben, peinigte ihn, würgte ihn zuweilen mit einem Weinkrampf. Er beschwor sie unaufhörlich herauf, er wurde von ihrem Bild verfolgt. Wenn er die Treppe hinaufstieg, war er darauf gefaßt, sie mit dem raschen kleinen Schritt, mit dem sie über den Flur ging, aus ihrem Zimmer kommen zu sehen. Oft wandte er sich um, da er sie zu hören meinte, so erfüllt von ihr, daß ihm seine Einbildung schließlich vorgaukelte, er höre hinter der Tür ein Kleid schleifen. Sie war nicht ärgerlich, sie sah ihn nicht einmal an; es war nur eine vertraute Erscheinung, ein Schatten des Lebens von
ehedem. Des Nachts wagte er nicht, seine Lampe zu löschen, flüchtige Geräusche näherten sich dem Bett, ein Atem streifte seine Stirn in der Dunkelheit. Und statt sich zu schließen, wurde die Wunde immer größer, bei der geringsten Erinnerung war es ein nervöser Schock, eine wirkliche, schnell auftauchende Erscheinung, die sogleich wieder zerrann und die Angst vor dem Nimmermehr in ihm zurückließ. Alles im Hause erinnerte ihn an seine Mutter. Ihr Zimmer war unberührt geblieben, man hatte nicht ein Möbelstück von der Stelle gerückt, ein Fingerhut lag neben einer Stickarbeit am Rande eines Tischchens. Der Zeiger der Pendeluhr auf dem Kamin stand auf sieben Uhr siebenunddreißig Minuten: ihre Sterbestunde. Lazare vermied es, das Zimmer zu betreten. Dann wieder, wenn er rasch die Treppe hinaufging, trieb ein plötzlicher Entschluß ihn bisweilen dazu. Und während sein Herz in mächtigen Schlägen klopfte,
schien es ihm, als hätten die wohlvertrauten alten Möbel, der Sekretär, das Tischchen, das Bett vor allem, eine Erhabenheit angenommen, die sie veränderte. Durch die stets geschlossenen Fensterläden glitt ein bleicher Schimmer, dessen Unbestimmtheit seine Verwirrung steigerte, während er das Kopfkissen küßte, auf dem das Haupt der Toten erkaltet war. Eines Morgens, als er eintrat, blieb er betroffen stehen: Die weitgeöffneten Fensterläden ließen das helle Tageslicht in Strömen hereinfluten, ein heiteres Sonnentuch war bis über das Kopfkissen schräg über das Bett gebreitet, und auf den Möbeln standen Blumen in allen Töpfen, die man hatte auftreiben können. Da erinnerte er sich, daß es ein Jahrestag war, der Geburtstag jener, die nicht mehr war, ein Tag, der alle Jahre gefeiert wurde und den seine Cousine im Gedächtnis behalten hatte. Es waren nur die armseligen Blumen des Herbstes, Astern, Margeriten und die schon
vom Frost gestreiften letzten Rosen; doch sie rochen stark nach Leben, sie umrahmten mit ihren fröhlichen Farben das tote Zifferblatt, auf dem die Zeit stehengeblieben schien. Diese fromme, frauliche Aufmerksamkeit erschütterte ihn. Er weinte lange. Und das Eßzimmer, die Küche, die Terrasse sogar waren solchermaßen von seiner Mutter erfüllt. Er fand sie wieder in unbedeutenden Gegenständen, die er aufhob, in Gewohnheiten, die ihm auf einmal fehlten. Das wurde zur Zwangsvorstellung, und er sprach nicht darüber, eine Art ängstlicher Scham ließ ihn diese stündliche Qual, diese ständige Unterhaltung mit dem Tode verbergen. Da er sogar den Namen derjenigen auszusprechen vermied, von der er verfolgt wurde, hätte man glauben können, das Vergessen käme schon und er dächte niemals an sie, während doch nicht ein Augenblick verging, ohne daß er im Herzen den stechenden Schmerz einer Erinnerung fühlte.
Einzig der Blick seiner Cousine drang in ihn ein. Dann wagte er Lügen, schwor, er habe seine Lampe um Mitternacht gelöscht, gab irgendeine erdachte Arbeit vor, die ihn in Anspruch nähme, und war schnell aufgebracht, wenn man ihn weiter ausfragte. Sein Zimmer war seine Zuflucht, er ging immer wieder hinauf, sich dort seinen Gedanken hinzugeben, ruhiger in diesem Winkel, in dem er groß geworden, ohne die Angst, hier den anderen das Geheimnis seines Leids preiszugeben. Von den ersten Tagen an hatte er wohl versucht, auszugehen, seine langen Spaziergänge wiederaufzunehmen. Zumindest wäre er dem mürrischen Schweigen des Hausmädchens und dem peinlichen Anblick seines Vaters entgangen, der in seinem Sessel saß und nicht wußte, womit er sich zerstreuen und seine zehn Finger beschäftigen sollte. Doch eine unüberwindliche Abneigung gegen das Spazierengehen war über ihn gekommen, er langweilte sich draußen, mit einer
Langeweile, die sich bis zum Unbehagen steigerte. Dieses Meer mit seinem ewigen Wogen, seiner hartnäckigen Flut, deren Brandung zweimal am Tage an die Küste schlug, reizte ihn wie eine seinem Schmerz fremde, stumpfsinnige Gewalt, die da seit Jahrhunderten dieselben Steine abnutzte, ohne jemals über einen menschlichen Tod geweint zu haben. Das war zu groß, zu kalt, und er beeilte sich, heimzukehren, sich einzuschließen, um sich weniger klein, weniger erdrückt zu fühlen als zwischen der Unendlichkeit des Wassers und der Unendlichkeit des Himmels. Ein einziger Ort zog ihn an, der Friedhof, der die Kirche umgab: Hier war seine Mutter nicht, hier dachte er mit großer Sanftheit an sie, hier wurde er seltsam ruhig trotz seines Schreckens vor dem Nichts. Die Gräber schliefen im Gras, Eiben waren im Schutz des Kirchenschiffes gewachsen, man hörte nur das Pfeifen der vom Seewind geschaukelten Brachvögel. Und er
verweilte dort stundenlang, ohne auch nur die Namen der alten Toten auf den Steinplatten lesen zu können, die die Regengüsse des Westwinds ausgelöscht hatten. Hätte Lazare wenigstens den Glauben ans Jenseits gehabt, hätte er glauben können, daß man eines Tages die Seinen hinter der schwarzen Mauer wiederfindet! Doch dieser Trost fehlte ihm, er war zu überzeugt vom individuellen Ende des menschlichen Wesens, das da starb und sich in der Ewigkeit des Lebens verlor. Es lag darin eine versteckte Empörung seines Ichs, das nicht enden wollte. Welche Freude, anderswo, unter den Sternen, mit Eltern und Freunden ein neues Dasein zu beginnen! Wie hätte der Gedanke den Todeskampf versüßt, daß man sich mit den verlorenen Lieben wieder vereinigen würde, und welche Küsse beim Wiedersehen, und welch heitere Ruhe, gemeinsam und unsterblich von neuem zu leben! Er rang mit dem Tode angesichts dieser barmherzigen
Lüge der Religion, deren Mitleid den Schwachen die schreckliche Wahrheit verbirgt. Nein, alles endete mit dem Tode, nichts von unseren Lieben erstand wieder, Lebewohl war für immer gesagt. Oh! Für immer! Dieses furchtbare Wort war es, das seinen Geist in die schwindelerregende Leere fortriß! Als Lazare eines Morgens im Schatten der Eiben stehengeblieben war, bemerkte er Abbé Horteur hinten in seinem Garten, den nur eine niedrige Mauer vom Friedhof trennte. In einem alten grauen Kittel, mit Holzschuhen an den Füßen, grub der Priester selber ein Kohlbeet um; und mit seinem von der scharfen Meeresluft gegerbten Gesicht, mit dem sonnverbrannten Nacken glich er einem alten, über die harte Erde gebeugten Bauern. Kaum bezahlt, ohne Kasualien in diesem abgelegenen kleinen Kirchspiel, wäre er Hungers gestorben, wenn er nicht einiges Gemüse angebaut hätte. Sein spärliches Geld
ging für Almosen dahin, er lebte allein, von einem kleinen Mädchen bedient, oft genötigt, seine Suppe selber aufs Feuer zu setzen. Und zu allem Unglück taugte die Erde nichts auf diesem Felsen, der Wind versengte ihm seine Salatköpfe, es war wirklich keine Freude, sich mit den Kieselsteinen herumschlagen zu müssen und so magere Zwiebeln zu ernten. Trotzdem versteckte er sich noch, wenn er seinen Kittel überzog, aus Furcht, daß man dessenthalben die Religion verspotten würde. Daher auch wollte Lazare sich zurückziehen, als er sah, wie der Pfarrer eine Pfeife aus seiner Tasche holte, sie mit dem Daumen stopfte und laut und kräftig daran zog, um sie in Gang zu bringen. Doch als der Pfarrer eben glückselig die ersten Züge genoß, erblickte auch er den jungen Mann. Er machte eine erschreckte Bewegung, um seine Pfeife zu verbergen, dann begann er zu lachen und rief: »Sie schöpfen Luft ... Kommen Sie doch herein, Sie können sich meinen Garten
ansehen.« Als Lazare neben ihm stand, fügte er fröhlich hinzu: »Nicht wahr? Sie treffen mich bei einer Ausschweifung an ... Ich habe nur das, mein Freund, und Gott nimmt es gewiß nicht übel.« Er paffte weiter und nahm seine Pfeife nur noch aus dem Mund, um kurze Sätze von sich zu geben. Immer wieder kam er auf den Pfarrer von Verchemont zurück: ein glücklicher Mann, der einen prächtigen Garten hatte, reine Muttererde, auf der alles gedieh; und wie doch alles schlecht eingerichtet war, nicht einmal harken tat jener Pfarrer. Dann beklagte er sich über seine Kartoffeln, denn seit zwei Jahren gingen sie ein, obgleich der Boden ihnen zuträglich sein mußte. »Daß ich Sie nur nicht störe«, sagte Lazare zu ihm. »Machen Sie Ihre Arbeit ruhig weiter.« Der Abbé griff sofort wieder zu seinem
Spaten. »Wahrhaftig, ich möchte schon ... Diese Spitzbuben werden gleich zum Katechismusunterricht kommen, und ich möchte dieses Beet gern vorher fertigmachen.« Lazare hatte sich auf eine Granitbank gesetzt, irgendeinen alten Grabstein, der an die kleine Friedhofsmauer gelehnt stand. Er sah zu, wie Abbé Horteur sich mit den Steinen herumschlug, er hörte ihm zu, wie er mit seiner hohen Stimme eines alten Kindes plauderte; und es überkam ihn ein Verlangen, ebenso arm und einfach zu sein, mit leerem Kopf und ruhigem Fleisch. Um den guten Mann in dieser erbärmlichen Pfarre alt werden zu lassen, mußte das Bistum ihn wahrhaftig für einen Menschen von großer Unschuld im Geiste halten. Im übrigen gehörte er zu jenen, die sich niemals beklagen und deren Ehrgeiz befriedigt ist, wenn sie Brot zu essen und Wasser zu trinken haben.
»Es ist nicht gerade lustig, zwischen diesen Kreuzen zu leben«, dachte der junge Mann laut. Überrascht hatte der Priester zu graben aufgehört. »Wieso, nicht lustig?« »Ja, man hat immer den Tod vor Augen, man muß doch in der Nacht davon träumen.« Der Pfarrer nahm seine Pfeife aus dem Mund und spuckte tüchtig aus. »Weiß der Himmel, daran denke ich nie ... Wir stehen alle in Gottes Hand.« Und er nahm wieder seinen Spaten, trat ihn mit dem Absatz in die Erde. Sein Glaube bewahrte ihn vor der Angst, er ging über den Katechismus nicht hinaus: Man starb und kam hinauf in den Himmel, nichts war weniger kompliziert noch beruhigender. Er lächelte mit eigensinnigem Ausdruck, die feste Vorstellung
vom Heil hatte genügt, seinen engen Schädel auszufüllen. Von diesem Tage an kam Lazare fast jeden Morgen in den Garten des Pfarrers. Er setzte sich auf den alten Stein und verweilte dabei, ihn sein Gemüse bestellen zu sehen, einen Augenblick lang beruhigt durch diese blinde Unschuld, die vom Tode lebte, ohne davor zu erschauern. Warum denn sollte er nicht wieder zum Kinde werden wie dieser Greis? Und er hatte im tiefsten Innern die geheime Hoffnung, den entschwundenen Glauben wiederzuerwecken, in diesen Unterhaltungen mit einem Einfältigen im Geiste, dessen ruhige Unwissenheit ihn entzückte. Er brachte selber eine Pfeife mit, beide rauchten, während sie über die Schnecken sprachen, die den Salat auffraßen, oder über den Dung, der zu teuer war; denn der Priester sprach selten von Gott, in seiner Duldsamkeit und Erfahrung eines alten Beichtvaters hatte er ihn für sein persönliches Heil aufgespart. Die anderen
erledigten ihre Angelegenheiten, er erledigte die seine. Nach dreißig Jahren nutzloser Ermahnungen hielt er sich an die strikte Ausübung seines Amtes mit der wohlgeordneten Barmherzigkeit des Bauern, der bei sich selber den Anfang macht. Es war sehr freundlich von diesem Jungen, daß er jeden Tag so hereinkam; und da er ihn nicht beunruhigen noch die Pariser Anschauungen bekämpfen wollte, unterhielt er ihn lieber endlos über seinen Garten, während der junge Mann, dem der Kopf von unnützen Worten brummte, sich zuweilen nahe daran glaubte, wieder in das glückliche Alter der Unwissenheit zurückzukehren, in dem man keine Angst mehr hat. Aber die morgendlichen Gespräche folgten einander, und gleichwohl fand Lazare sich des Abends mit der Erinnerung an seine Mutter in seinem Zimmer wieder, ohne den Mut zu haben, seine Lampe auszulöschen. Der Glaube war tot. Eines Tages, als er mit Abbé Horteur
rauchend auf der Bank saß, ließ letzterer seine Pfeife verschwinden, als er Schritte hinter den Birnbäumen hörte. Pauline kam und wollte ihren Cousin holen. »Der Doktor ist da«, erklärte sie, »und ich habe ihn zum Mittagessen eingeladen ... Komm gleich heim, ja?« Sie lächelte, denn sie hatte die Pfeife unter dem Kittel des Abbés bemerkt. Dieser nahm sie sogleich wieder hervor mit dem gutmütigen Lachen, das er jedesmal hatte, wenn man ihn rauchen sah. »Es ist zu dumm«, sagte er. »Man könnte meinen, ich beginge ein Verbrechen ... Da, vor Ihren Augen will ich mir wieder eine anzünden.« »Wissen Sie was, Herr Pfarrer«, fuhr Pauline fröhlich fort, »kommen Sie zu uns zum Essen mit dem Doktor, und die da, die rauchen Sie zum Nachtisch.«
Entzückt rief der Priester sogleich: »Nun gut, ich nehme an! ... Gehen Sie nur schon, ich werde indes meine Soutane überziehen. Und meine Pfeife bringe ich mit, Ehrenwort!« Es war das erste Mittagsmahl, bei dem wieder einmal Lachen ertönte. Abbé Horteur rauchte zum Nachtisch, was die Tischgenossen erheiterte: doch er leistete sich diesen Genuß mit einer solchen Freimütigkeit, daß es sogleich als etwas ganz Natürliches erschien. Chanteau hatte viel gegessen, und er entspannte sich, erleichtert durch diesen Lebenshauch, der wieder ins Haus wehte. Doktor Cazenove erzählte Geschichten von Wilden, während Pauline strahlte, froh über diese Aufgeräumtheit, die Lazare zerstreuen und ihn vielleicht aus seiner düsteren Stimmung herausreißen würde. Von nun an wollte das junge Mädchen die durch den Tod ihrer Tante unterbrochenen
samstäglichen Abendmahlzeiten wiederaufnehmen. Der Pfarrer und der Arzt kamen regelmäßig, das Leben von früher begann von neuem. Man scherzte, der Witwer schlug sich auf die Beine und sagte, daß er ohne diese verfluchte Gicht tanzen würde, so heiter sei noch sein Gemüt. Nur der Sohn blieb innerlich zerrüttet; wenn er sprach, tat er es mit falschem Schwung, plötzlich erschauernd inmitten seiner Wortausbrüche. An einem Samstagabend, man war gerade beim Braten, wurde Abbé Horteur zu einem Sterbenden gerufen. Er trank sein Glas nicht aus, er ging, ohne auf den Doktor zu hören, der den Kranken gesehen hatte, bevor er zum Abendessen kam, und der ihm nachrief, er werde seinen Mann tot vorfinden. An jenem Abend hatte sich der Priester von solcher Gedankenarmut gezeigt, daß Chanteau selber hinter seinem Rücken erklärte: »Es gibt Tage, an denen er nicht gerade
geistreich ist.« »Ich wollte, ich wäre an seiner Stelle«, sagte Lazare grob. »Er ist glücklicher als wir.« Der Doktor begann zu lachen. »Vielleicht. Aber Mathieu und Minouche sind auch glücklicher als wir ... Ach! Da erkenne ich unsere jungen Leute von heute, die von den Wissenschaften gekostet haben und krank davon sind, weil sie in ihnen nicht die alten Vorstellungen vom Absoluten befriedigen konnten, die sie mit der Muttermilch eingesogen haben. Ihr möchtet in den Wissenschaften mit einem Schlage und in Bausch und Bogen alle Wahrheiten finden, wo wir sie doch kaum erst entziffern und sie ohne Zweifel immer nur ein ewiges Suchen bleiben werden. Dann schwört ihr ihnen ab, stürzt euch wieder in den Glauben, der nichts mehr von euch wissen will, und verfallt dem Pessimismus ... Ja, das ist die Krankheit vom Ende dieses Jahrhunderts, in euch ist Werther
auferstanden.« Er geriet in Eifer, das war seine Lieblingsthese. In ihren Diskussionen übertrieb Lazare wiederum seine Verneinung jeglicher Gewißheit, seinen Glauben an das allgemeine, endgültige Übel. »Wie soll man leben«, fragte er, »wenn einem in jedem Augenblick die Dinge unter den Füßen einkrachen?« Der alte Mann bekam eine Aufwallung jugendlicher Leidenschaft. »Aber so leben Sie doch! Genügt es denn nicht, zu leben? Die Freude liegt im Tätigsein.« Und unvermittelt wandte er sich an Pauline, die lächelnd zuhörte. »Nun, sagen Sie ihm doch, wie Sie es machen, um immer zufrieden zu sein.« »Oh, ich!« erwiderte sie in scherzhaftem Ton.
»Ich versuche, mich zu vergessen, aus Furcht, traurig zu werden, und ich denke an die anderen, das beschäftigt mich und läßt mich das Übel in Geduld hinnehmen.« Diese Antwort schien Lazare zu ärgern, der aus einem Bedürfnis nach boshaftem Widerspruch behauptete, die Frauen müßten Religion haben. Er tat so, als verstehe er nicht, weshalb sie seit langem aufgehört hatte, zur Kirche zu gehen. Und sie gab in ihrer friedlichen Art ihre Gründe an. »Das ist ganz einfach, die Beichte hat mich verletzt, ich denke, viele Frauen sind wie ich ... Außerdem ist es mir unmöglich, Dinge zu glauben, die mir unvernünftig scheinen. Wozu also lügen und so tun, als heiße man sie gut? Im übrigen beunruhigt mich das Unbekannte nicht, es kann nur logisch sein, das Beste ist, so brav wie möglich abzuwarten.« »Seid still, da kommt der Abbé«, unterbrach
Chanteau, den diese Unterhaltung langweilte. Der Mann war gestorben, der Abbé beendete ruhig das Abendessen, und man trank ein Gläschen Chartreuse. Jetzt hatte Pauline mit der lachenden Reife einer guten Hausfrau die Leitung des Hauses in die Hand genommen. Die Einkäufe, die geringsten Einzelheiten geschahen unter ihren Augen, und das Schlüsselbund hing an ihrem Gürtel. Das hatte sich ganz natürlich entwickelt, ohne daß Véronique sich darüber zu ärgern schien. Das Hausmädchen blieb indessen seit dem Tode Frau Chanteaus mürrisch und gleichsam stumpfsinnig. Es schien sich in ihr neuerlich eine Wandlung zu vollziehen, eine Rückkehr ihrer Zuneigung zu der Toten, während sie sich Pauline gegenüber wieder von mißtrauischer Übellaunigkeit zeigte. Diese mochte noch so sanft mit ihr sprechen, Véronique fühlte sich durch ein Wort beleidigt, man hörte, wie sie sich, ganz
allein in ihrer Küche, beklagte. Und wenn sie nach langem hartnäckigem Schweigen solchermaßen laut dachte, kam immer wieder die Bestürzung über die Katastrophe in ihr zum Vorschein. Wußte sie denn, daß Frau Chanteau sterben würde? Gewiß hätte sie dann niemals gesagt, was sie gesagt hatte. Gerechtigkeit vor allem, man durfte die Leute nicht umbringen, selbst wenn die Leute Fehler hatten. Im übrigen wusch sie ihre Hände in Unschuld, um so schlimmer für die Person, die die wahre Ursache des Unglücks war! Aber diese Beteuerung beruhigte sie nicht, sie fuhr fort zu murren, indem sie sich gegen ihre eingebildete Schuld sträubte. »Was zermarterst du dir eigentlich so das Hirn?« fragte Pauline sie eines Tages. »Wir haben unser möglichstes getan, man vermag nichts gegen den Tod.« Véronique schüttelte den Kopf. »Lassen Sie, man stirbt nicht so ... Mag Frau
Chanteau gewesen sein, wie sie will, aber sie hat mich aufgenommen, als ich noch ganz klein war, und ich würde mir die Zunge abschneiden, wenn ich mir sagen müßte, daß ich irgendwie schuld hätte an dieser Geschichte ... Reden wir nicht darüber, es würde übel enden.« Das Wort Heirat war zwischen Pauline und Lazare nicht mehr ausgesprochen worden. Chanteau, zu dem sich das junge Mädchen mit einer Näharbeit setzte, um ihm die Zeit zu vertreiben, hatte einmal gewagt, eine Anspielung zu machen, in dem Wunsche, jetzt, da das Hindernis verschwunden war, damit zum Schluß zu kommen. Es war bei ihm vor allem das Bedürfnis, sie zu behalten, der Schrecken davor, wieder in die Hände des Hausmädchens zu geraten, wenn er sie jemals verlor. Pauline hatte zu verstehen gegeben, daß man vor dem Ende des Trauerjahres nichts entscheiden könne. Nicht allein die Schicklichkeit gab ihr dieses vernünftige Wort
ein, sie erwartete von der Zeit auch die Antwort auf eine Frage, die sie sich nicht selber zu stellen wagte. Ein so jäher Tod, dieser schreckliche Schlag, von dem sie und ihr Cousin immer noch erschüttert waren, hatte gleichsam zu einem Burgfrieden in ihren blutenden Empfindungen geführt. Sie erwachten nach und nach daraus, um noch immer zu leiden, als sie unter dem unersetzlichen Verlust ihr eigenes Drama wiederfanden: Louise, die ertappt und verjagt worden war, ihrer beider zerstörte Liebe, ihr vielleicht verändertes Dasein. Was sollte man jetzt beschließen? Liebten sie sich noch immer, war die Heirat noch möglich und vernünftig? Das schwang in der Betäubung, in der die Katastrophe sie zurückließ, ohne daß weder der eine noch der andere ungeduldig schien, eine Lösung zu überstürzen. Indessen hatte sich bei Pauline die Erinnerung an den ihr angetanen Schimpf besänftigt. Sie hatte seit langem verziehen, bereit, ihre beiden
Hände in die Lazares zu legen an dem Tage, da er bereuen würde. Und es war bei ihr nicht der eifersüchtige Triumph, ihn sich demütigen zu sehen, sie dachte nur an ihn, so daß sie ihm sogar sein Wort zurückgeben wollte, wenn er sie nicht mehr liebte. Ihre ganze Angst lag in diesem Zweifel; Dachte er noch an Louise? Oder hatte er sie vielmehr vergessen, um zu der alten Zuneigung der Kindheit zurückzukehren? Wenn sie so davon träumte, lieber auf Lazare zu verzichten, als ihn unglücklich zu machen, wurde sie von Schmerz überwältigt; sie rechnete wohl damit, diesen Mut zu haben, doch sie hoffte, danach daran zu sterben. Seit dem Tode ihrer Tante war ihr ein großmütiger Gedanke gekommen, sie hatte sich vorgenommen, sich mit Louise zu versöhnen. Chanteau konnte ihr schreiben, sie selber würde dem Brief ein Wort des Vergebens hinzufügen. Man war so allein, so traurig, daß die Gegenwart dieses großen
Kindes für alle eine Zerstreuung sein würde. Außerdem schien nach einer so heftigen Erschütterung das, was davor geschehen, sehr weit zurückzuliegen, und sie machte sich auch Vorwürfe, so heftig gewesen zu sein. Doch jedesmal, wenn sie zu ihrem Onkel darüber sprechen wollte, hinderte ein Widerstreben sie daran. Hieß das nicht die Zukunft aufs Spiel setzen, Lazare in Versuchung bringen und ihn verlieren? Vielleicht hätte sie dennoch den Heldenmut und den Stolz gefunden, ihn dieser Prüfung zu unterwerfen, wenn sich nicht ihr Gerechtigkeitsgefühl empört hätte. Der Verrat allein war unverzeihlich. Und außerdem, sollte sie nicht selbst die Freude des Hauses wiederherstellen können? Warum eine Fremde herbeirufen, wenn sie sich von Zärtlichkeit und Hingabe überströmen fühlte. Ihr unbewußt, lag Hochmut in ihrer Selbstaufgabe, ihre Barmherzigkeit war eifersüchtig. Ihr Herz entzündete sich an der Hoffnung, das einzige Glück der Ihren zu sein.
Dies war von nun an Paulines ganzes Streben. Sie gab sich die größte Mühe, sie tat alles nur Erdenkliche, um das ganze Haus glücklich zu machen. Nie zuvor war sie mit solcher Tapferkeit frohgelaunt und gütig gewesen. Es war jeden Morgen ein lächelndes Erwachen, ein Bestrebtsein, ihre eigenen Nöte zu verbergen, um die der anderen nicht größer zu machen. Sie trotzte allem Unheil mit ihrer Sanftmut, sie hatte ein Gleichmaß des Wesens, das selbst die Böswilligkeit entwaffnete. Jetzt ging es ihr gut, sie war stark und gesund wie ein junger Baum, und die Freude, die sie um sich verbreitete, war eben das Strahlen ihrer Gesundheit. Der Beginn eines jeden Tages entzückte sie, sie ließ es sich ein Vergnügen sein, heute das wieder zu tun, was sie gestern getan, während sie nichts weiter erwartete und ohne Erregung auf den darauffolgenden Tag hoffte. Mochte Véronique, die wunderlich geworden war und von unerklärlichen Launen geplagt wurde, vor ihrem Herd auch noch so
brummen, ein neues Leben vertrieb die Trauer aus dem Haus, das Lachen von früher weckte die Zimmer auf, stieg fröhlich widerhallend im Treppenhaus empor. Der Onkel vor allem schien entzückt, denn die Traurigkeit war ihm stets schwergefallen, er sang gerne Scherzlieder, seit er seinen Sessel nicht mehr verließ. Für ihn wurde das Leben abscheulich, aber er klammerte sich daran mit der Verzweiflung eines Siechen, der selbst im Schmerz weiterleben will. Jeder gelebte Tag war ein Sieg, seine Nichte schien ihm das Haus mit einer wohltuenden Sonne zu erwärmen, unter deren Strahlen er nicht sterben konnte. Dennoch hatte Pauline einen Kummer: Lazare entzog sich ihren Tröstungen. Es beunruhigte sie, mit anzusehen, wie er in seine düsteren Stimmungen zurückfiel. Auf dem Grunde der Trauer um seine Mutter kam bei ihm das Entsetzen vor dem Tode von neuem zum Ausbruch. Seit mit der Zeit der erste Kummer
verblaßte, kehrte dieses Entsetzen wieder, durch die Furcht vor der erblichen Krankheit vergrößert. Auch er würde am Herzen sterben, er trug die Gewißheit eines nahen tragischen Endes mit sich herum. Und in jedem Augenblick horchte er darauf, wie er lebte, in einer solchen nervösen Erregtheit, daß er das Getriebe der Maschine laufen hörte: Das waren die mühsamen Kontraktionen des Magens, die roten Sekretionen der Nieren, die dumpfe Wärme der Leber; doch über dem Geräusch der anderen Organe betäubte ihn vor allem sein Herz, das in jedem seiner Glieder, bis in die Fingerspitzen hinein, mit Glockenschwüngen dröhnte. Legte er den Ellbogen auf einen Tisch, so schlug sein Herz in seinem Ellbogen; lehnte er seinen Nacken an die Sessellehne, so schlug sein Herz im Nacken; wenn er sich setzte, wenn er sich legte, so schlug sein Herz in den Schenkeln, in den Seiten, im Bauch: und immer, immer dröhnte diese Glocke, bemaß ihm das Leben
mit dem Gerassel einer ablaufenden Uhr. So glaubte er unter dem Zwang der Beobachtung, der er seinen Körper unaufhörlich unterzog, in jedem Augenblick, daß alles zusammenkrachen würde, daß die Organe sich abnutzten und in Stücke auseinanderflogen, daß das Herz, ungeheuer groß geworden, mit gewaltigen Hammerschlägen selbst die Maschine zerschmettern würde. Das war kein Leben mehr, sich in dieser Weise leben zu hören, zitternd vor der Zerbrechlichkeit des Mechanismus, in Erwartung des Sandkorns, das ihn zerstören sollte. So waren Lazares Ängste immer größer geworden. Seit Jahren streifte der Gedanke an den Tod beim Schlafengehen sein Gesicht und ließ ihm das Blut erstarren. Jetzt wagte er nicht mehr einzuschlafen, gequält von der Furcht, nicht wieder zu erwachen. Er haßte den Schlaf, er hatte ein Grauen davor, sein Ich ohnmächtig werden zu fühlen, wenn es vom Wachsein in den Taumel des Nichts sank. Sein plötzliches
Erwachen schüttelte ihn dann noch mehr, zog ihn aus dem Dunkel, als habe eine Riesenfaust ihn an den Haaren gepackt und ins Leben zurückgeschleudert, stammelnd vor Schrecken vor dem Unbekannten, aus dem er hervorging. Mein Gott, mein Gott! Man mußte sterben! Und noch nie hatten sich seine Hände in so verzweifelter Aufwallung gefaltet. Jeden Abend wurde seine Qual so groß, daß er sich lieber nicht ins Bett legte. Er hatte bemerkt, daß, wenn er sich am Tage auf einem Diwan ausstreckte, er ohne Erschütterung, in kindlichem Frieden einschlief. Das war dann ein stärkendes Ausruhen, ein bleierner Schlaf, der jedoch seine Nächte vollends verdarb, Allmählich gelangte er zu regelrechter Schlaflosigkeit, er bevorzugte seinen langen Nachmittagsschlaf und schlummerte nur noch gegen Morgen ein, wenn die Dämmerung die Angst vor der Finsternis verjagte. Dennoch ließen diese Zustände gelegentlich nach. Lazare wurde zuweilen zwei und drei
Abende nicht vom Tode besucht. Eines Tages fand Pauline bei ihm einen Kalender voller roter Striche. Verwundert befragte sie ihn. »Nanu! Was notierst du dir denn da? Sind das aber viele angestrichene Daten!« Er stammelte: »Ich notiere gar nichts ... Ich weiß nicht ...« Fröhlich fuhr sie fort: »Ich dachte, nur die Mädchen vertrauen den Kalendern Dinge an, die man niemand sagt ... Wenn du an all diesen Tagen an uns denkst, bist du wirklich sehr lieb ... Ach so, du hast Geheimnisse!« Doch da er immer verwirrter wurde, war sie so barmherzig, zu schweigen. Über die erbleichte Stirn des jungen Mannes sah sie einen ihr wohlbekannten Schatten gleiten, das verborgene Leiden, von dem sie ihn nicht zu heilen vermochte.
Seit einiger Zeit setzte er sie auch durch eine neue Manie in Erstaunen. In der Gewißheit seines nahen Endes verließ er keinen Raum mehr, schloß er kein Buch, bediente er sich keines Gegenstandes, ohne zu glauben, daß dies seine letzte Handlung sei, daß er weder den Gegenstand noch das Buch, noch den Raum je wiedersehen würde; er hatte die Gewohnheit eines ständigen Abschiednehmens von den Dingen angenommen, ein krankhaftes Bedürfnis, diese Dinge noch einmal in die Hand zu nehmen, sie noch einmal zu sehen. Das war begleitet von Vorstellungen der Symmetrie: drei Schritte nach links und drei Schritte nach rechts; die Möbel zu beiden Seiten eines Kamins oder einer Tür jedes gleich viele Male berührt; ganz abgesehen davon, daß hier im Grunde die abergläubische Vorstellung mit hineinspielte, daß eine gewisse Anzahl von Berührungen, fünf oder sieben zum Beispiel, auf besondere Weise verteilt, die Endgültigkeit des Abschieds
verhindere. Trotz seines lebhaften Verstandes, seiner Verneigung des Übernatürlichen befolgte er mit der Fügsamkeit eines Tieres diese stumpfsinnige Religion, die er wie eine schändliche Krankheit verbarg. So rächte sich die nervliche Zerrüttung an dem Pessimisten und Positivisten, der einzig an die Tatsache, an die Erfahrung zu glauben vorgab. Er fiel den anderen damit schließlich auf die Nerven. »Was läufst du bloß immer hin und her?« rief Pauline. »Dreimal gehst du jetzt schon zu diesem Schrank zurück, um den Schlüssel zu berühren ... Nun, er wird schon nicht wegfliegen.« Abends konnte er nicht aus dem Eßzimmer herausfinden; er stellte die Stühle in einer vorgeschriebenen Ordnung auf, ließ die Tür eine bestimmte Anzahl von Malen zuschlagen, ging noch einmal hinein und legte die Hände, die rechte nach der linken, auf das Meisterwerk des Großvaters. Pauline wartete
auf ihn am Fuße der Treppe und lachte schließlich. »Was für einen komischen Kauz wirst du mit achtzig Jahren abgeben! ... Ich frage dich nur, ob es vernünftig ist, die Gegenstände so zu plagen?« Mit der Zeit hörte sie auf zu scherzen, beunruhigt über seinen mißlichen Zustand. Eines Morgens überraschte sie ihn, wie er siebenmal das Holz des Bettes küßte, in dem seine Mutter gestorben war; und sie erschrak, sie erriet die Qualen, mit denen er sich das Leben vergiftete. Wenn er erbleichte, so er in einer Zeitung ein Datum aus dem zwanzigsten Jahrhundert fand, sah sie ihn mit einem Ausdruck des Mitleids an, der ihn den Kopf abwenden ließ. Er fühlte sich erkannt, er lief in sein Zimmer und verbarg sich dort mit der verwirrten Scham eines Weibes, das man in seiner Nacktheit überrascht. Wie viele Male hatte er sich einen Feigling genannt! Wie viele
Male hatte er geschworen, gegen sein Übel anzukämpfen. Er zwang sich, Vernunft anzunehmen, es gelang ihm, dem Tod ins Angesicht zu schauen; um ihm zu trotzen, streckte er sich dann, anstatt in einem Sessel zu wachen, sogleich auf seinem Bett aus. Der Tod mochte kommen, er wartete auf ihn wie auf eine Erlösung. Doch alsbald trug das Klopfen seines Herzens seine Schwüre davon, und der kalte Hauch ließ sein Fleisch erstarren, und er streckte mit dem Schrei »Mein Gott! Mein Gott!« die Hände aus. Das waren schreckliche Rückfälle, die ihn mit Scham und Verzweiflung erfüllten. Dann drückte ihn das zärtliche Mitleid seiner Cousine vollends nieder. Die Tage wurden so lastend schwer, daß er sie ohne die Hoffnung begann, sie jemals zu Ende zu bringen. Bei diesem Zerbröckeln seines Wesens hatte er zunächst seine Fröhlichkeit eingebüßt, und jetzt verließ ihn auch seine Kraft. Pauline indessen wollte siegen im Stolz ihrer
Selbstaufopferung. Sie kannte das Übel, sie versuchte, Lazare von ihrem Mute abzugeben, ihn dazu zu bringen, das Leben zu lieben. Aber ihre Güte erlitt dabei ständig Schiffbruch. Zuerst hatte sie gedacht, ihn geradeheraus anzugreifen, sie begann wieder mit ihren alten Scherzen über »dieses häßliche Tier von Pessimismus«. Was denn? Jetzt war sie es, die dem großen heiligen Schopenhauer die Messe las, während er, wie alle diese Spaßvögel von Pessimisten, zwar dafür war, die Welt in die Luft zu sprengen, es aber entschieden ablehnte, bei dem Tanz mitzumachen! Diese Spöttereien schüttelten ihn mit einem gezwungenen Lachen, und er schien so sehr darunter zu leiden, daß sie nicht wieder davon anfing. Dann versuchte sie es mit Tröstungen, mit denen man die Wehwehchen der Kinder beschwichtigt, bemühte sie sich, ihm eine freundliche, von heiterem Frieden erfüllte Umgebung zu schaffen. Stets sah er sie glücklich und frisch, mit einem Duft wie das
blühende Leben. Das Haus war voller Sonnenschein. Er hätte das Leben nur zu leben brauchen, aber er konnte es nicht, dieses Glück verschlimmerte sein Entsetzen vor dem Jenseits nur noch mehr. Schließlich gebrauchte sie List, sie träumte davon, ihn zu irgendeiner großen Arbeit zu bewegen, die ihn betäuben würde. Krank von Müßiggang, völlig lustlos, fand er sogar das Lesen zu beschwerlich und verbrachte seine Tage damit, sich zu zerfleischen. Einen Augenblick lang hoffte Pauline. Sie waren zu einem kurzen Spaziergang an den Strand gegangen, als Lazare angesichts der Trümmer der Wellenbrecher und des Pfahlwerks, von denen ein paar Balken übriggeblieben waren, ihr ein neues Schutzsystem zu erklären begann, von zuverlässiger Widerstandskraft, wie er versicherte. Das Übel rührte von der Schwäche der Rammpfähle her; man mußte ihre Stärke verdoppeln und dem Mittelbalken eine größere
Schräge geben. Da er dabei seine dröhnende Stimme, die leuchtenden Augen von früher hatte, drängte sie ihn, sich wieder ans Werk zu machen. Das Dorf litt, jede Flut spülte ein Stück davon fort; wenn er beim Präfekten vorstellig wurde, würde er gewiß die Unterstützung erhalten; außerdem bot sie ihm von neuem Vorschüsse an, sie wäre stolz, diesen Dienst der Wohltätigkeit erweisen zu können. Es war vor allem ihr Wunsch, ihn wieder in Tätigkeit zu stürzen, sollte sie auch den Rest ihres Geldes dabei verlieren. Aber schon zuckte er die Achseln. Wozu das alles? Und er war erbleicht, denn es war ihm der Gedanke gekommen, daß er, wenn er diese Arbeit begänne, sterben würde, bevor er sie zu Ende geführt hätte. So schützte er, um seine Verwirrung zu verbergen, seinen Groll gegen die Fischer von Bonneville vor. »Lumpenkerle, die sich über mich lustig gemacht haben, als dieses verteufelte Meer seine Verheerungen angerichtet hat! Nein,
nein, soll es sie nur zugrunde richten! Dann werden sie nicht mehr über meine Streichhölzer lachen, wie sie sie nennen.« Sanft versuchte Pauline ihn zu beruhigen. Diese Leute seien so unglücklich! Seit der Flut, die das Haus der Houtelards fortgerissen hatte, das festeste von allen, und noch drei andere, armselige Hütten, wurde das Elend noch größer. Houtelard, einst der Reiche im Dorf, hatte sich wohl in einer alten Scheune, zwanzig Meter weiter zurück, eingerichtet; aber die anderen Fischer, die nicht wußten, wo sie Zuflucht suchen sollten, hausten jetzt in einer Art von Hütten, die sie aus dem Rumpf alter Schiffe gebaut hatten. Es war eine erbarmungswürdige Not, ein Durcheinander der Geschlechter wie bei den Wilden, Frauen und Kinder wimmelten in Ungeziefer und Laster durcheinander. Die Almosen, die sie in der Gegend erhielten, gingen für Branntwein drauf. Diese Elenden verkauften Naturalien, Kleidungsstücke, Küchengeräte, Möbel, um
ein paar Liter von dem schrecklichen Calvados zu erwerben, der sie wie tot über die Türschwellen hinstreckte. Einzig Pauline verteidigte sie immer noch; der Pfarrer gab sie auf, Chanteau sprach davon, sein Amt niederzulegen, da er nicht mehr der Bürgermeister einer Schweineherde sein wollte. Und Lazare, wenn seine Cousine sein Mitleid für dieses kleine Volk von Säufern zu erregen suchte, wiederholte das ewige Argument seines Vaters. »Wer zwingt sie zu bleiben? Sie brauchen ja nur anderswo zu bauen ... So dumm ist doch wahrhaftig keiner, daß er sich derart unter den Wogen einnistet!« Alle Welt dachte das gleiche. Man ereiferte sich gegen sie und nannte sie verfluchte Starrköpfe. Dann gebärdeten sie sich wie mißtrauische Tiere. Da sie nun einmal hier geboren waren, weshalb hätten sie fortgehen sollen? Das ginge nun schon hundert und aber
hundert Jahre so, sie hätten anderswo nichts zu suchen. Wie Prouane sagte, wenn er sehr betrunken war: »Von irgendwas muß man immer gefressen werden.« Pauline lächelte, nickte zustimmend mit dem Kopf, denn das Glück hing ihrer Meinung nach weder von den Menschen noch von den Dingen ab, sondern davon, wie man sich auf vernünftige Weise auf die Dinge und die Menschen einstellte. Sie verdoppelte ihre gütige Fürsorge, sie verteilte großzügigere Unterstützungen. Endlich hatte sie die Freude gehabt, Lazare an ihren mildtätigen Werken zu beteiligen, in der Hoffnung, ihn zu zerstreuen, ihn durch Mitleid zum Vergessen seiner selbst zu führen. Jeden Sonnabend blieb er bei ihr, sie empfingen gemeinsam von vier bis sechs Uhr die kleinen Freunde aus dem Dorf, die Schar zerlumpter Kinder, welche die Eltern zu dem Fräulein betteln schickten. Es war ein trauriges Häufchen rotznasiger Bengel und verlauster kleiner Mädchen.
Eines Sonnabends regnete es, Pauline konnte ihre Verteilung nicht auf der Terrasse vornehmen, wie sie es für gewöhnlich tat. Lazare mußte eine Bank holen, die er in der Küche aufstellte. »Wie, Herr Lazare!« rief Véronique. »Gedenkt Mademoiselle Pauline etwa, das ganze Lausevolk hier hereinzubringen? Das ist ja ein großartiger Gedanke, wenn Sie nachher Flöhe in Ihrer Suppe finden wollen.« Pauline kam mit ihrem Beutel mit kleinem Silbergeld und ihrem Arzneikasten herein. Sie entgegnete lachend: »Ach was! Du fegst nachher einmal kurz über ... Und außerdem regnet es so heftig, daß der Regen sie schon abgewaschen haben wird, die armen Kleinen.« In der Tat hatten die ersten, die hereinkamen, ein rosiges, vom Platzregen gewaschenes Gesicht. Aber sie waren so durchnäßt, daß das
Wasser aus ihren Lumpen in Pfützen auf die Fliesen rann; und die schlechte Laune der Magd nahm zu, vor allem, als das Fräulein ihr befahl, rasch Feuer zu machen, um sie ein wenig zu trocknen. Man trug die Bank vor den Herd. Bald saß da in einer Reihe fröstelnd zusammengedrängt eine freche, verschlagene Kinderschar, die alles, was herumstand und herumlag, mit den Augen verschlang, angebrochene Liter Wein, einen Rest Fleisch, ein auf einen Hauklotz geworfenes Bündel Möhren. »Ob das wohl erlaubt ist«, fuhr Véronique zu brummen fort. »Heranwachsende Kinder, die alle ihren Lebensunterhalt verdienen müßten! Jawohl, sie werden sich bis zu fünfundzwanzig Jahren wie kleine Gören behandeln lassen, wenn Sie so weitermachen!« Das Fräulein mußte sie bitten, still zu sein. »Bist du nun fertig? Davon kriegen sie auch nichts zu essen, vom Heranwachsen.«
Pauline hatte sich an den Tisch gesetzt, das Geld und die Naturalien vor sich, und schickte sich an, mit dem Aufrufen zu beginnen, als Lazare, der stehengeblieben war und Houtelards Sohn in dem Haufen bemerkt hatte, laut Einspruch erhob. »Ich hatte dir doch verboten wiederzukommen, du großer Taugenichts! Schämen sich deine Eltern nicht, dich zum Betteln hierher zu schicken, sie, die noch was zu essen haben, wenn so viele andere schon vor Hunger verrecken!« Der Sohn Houtelards, ein schmächtiger, zu schnell in die Höhe geschossener Junge von fünfzehn Jahren mit traurigem, furchtsamem Gesicht, fing an zu weinen. »Sie schlagen mich, wenn ich nicht gehe ... Die Frau hat den Strick genommen, und der Vater hat mich hinausgejagt.« Und er streifte seinen Ärmel hoch, um den
blauroten Fleck zu zeigen, der von einem Schlag mit einem geknoteten Strick herrührte. Die Frau war die ehemalige Magd, die sein Vater geheiratet hatte und die ihn halbtot schlug. Seit sie alles verloren hatten, waren die Härte und der Schmutz ihres Geizes noch größer geworden. Jetzt lebten sie in einer Kloake und rächten sich an dem Kleinen. »Mach ihm einen Arnikaumschlag um den Ellbogen«, sagte Pauline sanft zu Lazare. Dann reichte sie Hundertsousstück.
dem
Kind
ein
»Hier, das wirst du ihnen geben, damit sie dich nicht schlagen. Und wenn sie dich schlagen, wenn du nächsten Sonnabend wieder blaue Flecken am Körper hast, dann bekommst du nicht einen Heller mehr, sag ihnen das.« Auf der Bank kicherten die anderen Schlingel, durch das helle Feuer, das ihnen den Rücken wärmte, ermuntert, und stießen sich die
Ellbogen in die Seiten. Ihre Kleidungsstücke dampften, dicke Tropfen fielen von ihren nackten Füßen. Einer von ihnen, ein ganz Kleiner, hatte eine Möhre gestohlen, die er heimlich hinunterschlang. »Cuche, steh auf«, fuhr Pauline fort. »Hast du deiner Mutter gesagt, daß ich damit rechne, bald ihre Aufnahme ins Spital von Bayeux zu erreichen?« Die Cuche, diese elend Verlassene, die sich in den Löchern an der Küste für drei Sous oder einen Rest Speck allen Männern verkaufte, hatte sich im Juli ein Bein gebrochen; und sie blieb dadurch verunstaltet, hinkte fürchterlich, ohne daß ihre abstoßende Häßlichkeit, durch dieses Gebrechen verschlimmert, sie etwas von ihrer gewöhnlichen Kundschaft verlieren ließ. »Ja, ich hab es ihr gesagt«, erwiderte der Junge mit heiserer Stimme. »Sie will nicht.«
Er, der kräftig geworden, war bald siebzehn Jahre alt. Mit baumelnden Armen stand er da und wiegte sich linkisch hin und her. »Was heißt, sie will nicht!« rief Lazare. »Und du, du willst auch nicht, denn ich hatte dir gesagt, du solltest in dieser Woche kommen und im Garten helfen, und ich habe vergebens auf dich gewartet.« Er wiegte sich noch immer hin und her. »Ich habe keine Zeit gehabt.« Als Pauline sah, daß ihr Cousin aufbrausen würde, legte sie sich ins Mittel. »Setz dich, wir werden das nachher bereden. Denk mal darüber nach, oder ich werde auch böse.« Die kleine Gonin war jetzt an der Reihe. Sie war dreizehn Jahre alt und hatte immer noch ihr hübsches rosiges Gesicht unter dem wilden Schopf ihrer blonden Haare. Ohne gefragt zu
sein, erzählte sie, und dabei ließ sie in einem Schwall geschwätziger Worte rohe Einzelheiten fallen, daß die Lähmung ihres Vaters ihm jetzt in die Arme und in die Zunge steige, denn er gebe nur noch ein Gegrunze von sich wie ein Tier. Vetter Cuche, der ehemalige Matrose, der seine Frau im Stich gelassen, um sich am Tisch und im Bett der Gonins einzurichten, hatte sich an ebendiesem Morgen auf den Alten gestürzt, in der Absicht, ihm den Garaus zu machen. »Die Mutter prügelt ihn auch. Nachts steht sie im Hemd mit dem Vetter auf und übergießt den Vater mit kaltem Wasser, weil er so laut stöhnt, daß es sie stört ... Wenn Sie sehen könnten, wie sie ihn zugerichtet haben! Er ist ganz nackt, Mademoiselle Pauline, er müßte Wäsche haben, denn er scheuert sich wund ...« »Schon gut, sei still!« sagte Lazare, sie unterbrechend, während Pauline, von Mitleid bewegt, Véronique ein paar Bettücher holen
ließ. Er fand sie viel zu schlau für ihr Alter. Obgleich sie zuweilen ein paar verirrte Ohrfeigen abbekam, hatte sie nach seiner Meinung auch angefangen, ihren Vater herumzustoßen; ganz abgesehen davon, daß alles, was man ihr gab, Geld, Fleisch, Wäsche, statt zu dem Siechen zu gelangen, den Gelagen der Frau und des Vetters diente. Er fragte sie unvermittelt: »Was hast du eigentlich vorgestern in dem Boot von Houtelard getan, mit einem Mann, der dann entwischt ist?« Sie lachte verschlagen. »Das war kein Mann, das war der da«, erwiderte sie und wies mit dem Kinn auf den jungen Cuche. »Er hatte mich von hinten gestoßen ...« Wieder unterbrach er sie.
»Ja, ja, ich habe wohl gesehen, du hattest deine Lumpen über dem Kopf. Du fängst ja zeitig an, mit deinen dreizehn Jahren!« Pauline legte ihm die Hand auf den Arm, denn alle anderen Kinder, selbst die jüngsten, lachten mit Augen, in denen vorzeitige Laster flammten. Wie sollte man diese Fäulnis aufhalten in dem Haufen, in dem Männchen, Weibchen und ihre Brut verdarben? Als Pauline der Kleinen Bettücher und einen Liter Wein ausgehändigt hatte, sprach sie einen Augenblick leise mit ihr und versuchte, ihr Angst vor den Folgen dieser garstigen Dinge einzuflößen, die sie krank und häßlich machen würden, bevor sie noch eine richtige Frau geworden war. Das war die einzige Art, sie zurückzuhalten. Lazare hatte, um diese Verteilung zu beschleunigen, die ihn auf die Dauer anwiderte und aufbrachte, die Tochter von Prouane aufgerufen.
»Dein Vater und deine Mutter haben sich gestern abend wieder betrunken ... Man hat mir gesagt, du wärest besoffener gewesen als sie.« »O nein, Herr Kopfschmerzen.«
Lazare,
ich
hatte
Er stellte einen Teller vor sie hin, auf dem rohe Fleischklößchen lagen. »Iß das.« Schon wieder war sie von Skrofeln zerfressen, nervöse Störungen waren zum kritischen Zeitpunkt der Geschlechtsreife aufgetreten. Die Trunksucht verdoppelte ihr Leiden, denn sie hatte angefangen, gemeinsam mit ihren Eltern zu trinken. Nachdem sie drei Klößchen hinuntergeschluckt hatte, verzog sie das Gesicht und schnitt eine Grimasse des Widerwillens. »Ich hab genug, ich kann nicht mehr.«
Pauline hatte eine Flasche genommen. »Gut«, sagte sie. »Wenn du dein Fleisch nicht ißt, bekommst du dein Gläschen Chinawein nicht.« Da überwand das Kind, die leuchtenden Augen auf das volle Glas geheftet, seinen Widerwillen; dann leerte sie es, kippte es sich mit der gekonnten Handbewegung des Säufers in die Kehle. Aber sie ging noch nicht fort, sie flehte schließlich das Fräulein an, sie die Flasche mitnehmen zu lassen, und sagte, es sei ihr zu mühsam, jeden Tag zu kommen; und sie versprach, damit zu Bett zu gehen, sie so gut in ihren Röcken zu verstecken, daß Vater und Mutter sie ihr nicht austrinken konnten. Das Fräulein lehnte rundheraus ab. »Damit du sie auf einen Zug leerst, bevor du noch die Küste hinabgestiegen bist«, sagte Lazare. »Jetzt muß man dir mißtrauen, kleiner Weinschlauch!«
Die Bank leerte sich, die Kinder verließen sie eins nach dem anderen, um Geld, Brot, Fleisch in Empfang zu nehmen. Einige wollten, nachdem sie ihren Teil bekommen hatten, noch vor dem guten Feuer verweilen; aber Véronique, die bemerkt hatte, daß die Hälfte ihres Möhrenbundes aufgegessen war, schickte sie fort, warf sie mitleidslos in den Regen hinaus: Hatte man so was schon mal gesehen! Möhren, die noch voller Erde waren! Bald stand nur noch der junge Cuche da, düster und träge in Erwartung der Predigt des Fräuleins. Sie rief ihn, sprach lange halblaut mit ihm, gab ihm schließlich trotzdem das Brot und die hundert Sous, wie jeden Sonnabend; und er ging davon mit seinem wiegenden Gang eines bösartigen, störrischen Tieres, nachdem er versprochen hatte zu arbeiten, aber sehr wohl entschlossen, nichts dergleichen zu tun. Endlich stieß die Magd einen Seufzer der Erleichterung aus, rief jedoch plötzlich:
»Sind sie denn nicht alle fort? Da ist ja noch eins in der Ecke!« Es war die kleine Tourmal, die Mißgeburt der Landstraße, die trotz ihrer zehn Jahre zwergenhaft klein blieb. Einzig ihre Dreistigkeit wuchs, sie war noch weinerlicher, noch hartnäckiger, schon in den Windeln aufs Betteln abgerichtet, gleich den Wunderkindern, die man für die Purzelbäume im Zirkus zu Schlangenmenschen erzieht. Sie hockte zwischen Küchenschrank und Herd, als hätte sie sich aus Furcht, bei üblem Tun ertappt zu werden, in diesen Schlupfwinkel gleiten lassen. Das schien verdächtig. »Was tust du da?« fragte Pauline. »Ich wärme mich.« Véronique blickte sich unruhig in ihrer Küche um. Schon an den anderen Sonnabenden waren, selbst wenn die Kinder sich auf die Terrasse setzten, kleine Gegenstände
verschwunden. Doch alles schien in Ordnung zu sein, und das Mädchen, das sich rasch aufgerichtet hatte, begann sie mit seiner schrillen Stimme zu betäuben. »Der Vater ist im Spital, Großvater hat sich bei der Arbeit verletzt, die Mutter hat kein Kleid zum Ausgehen ... Haben Sie Mitleid mit uns, gutes Fräulein ...« »Willst du uns wohl nicht den Kopf verwirren, du Lügnerin!« rief Lazare außer sich. »Dein Vater sitzt wegen Schmuggels im Gefängnis, und dein Großvater hat sich an dem Tag das Handgelenk verrenkt, als er die Austernbänke von Roqueboise verwüstete; ganz abgesehen davon, daß deine Mutter, wenn sie kein Kleid hat, wohl im Hemd auf Raub ausgehen muß, denn man hat sie schon wieder verklagt, daß sie beim Gastwirt von Verchemont fünf Hühner erwürgt hat ... Machst du dich über uns lustig, daß du uns Dinge vorlügst, die wir besser wissen als du? Geh und erzähl deine
Geschichten den Leuten auf der Straße.« Das Kind schien nicht einmal gehört zu haben. Es begann von neuem mit seiner schamlosen Dreistigkeit. »Haben Sie Mitleid, gutes Fräulein, die Männer sind krank, und die Mutter wagt sich nicht mehr aus dem Haus ... Der liebe Gott wird es Ihnen vergelten ...« »Da! Verschwinde und lüge nicht mehr«, sagte Pauline zu ihr, indem sie ihr ein Geldstück gab, um dem ein Ende zu machen. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Mit einem Satz war sie aus der Küche und lief über den Hof, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen. Aber im selben Augenblick stieß das Hausmädchen einen Schrei aus. »Oh, mein Gott! Der Becher, der auf dem Küchenschrank stand! Den Becher von Mademoiselle Pauline hat sie mitgenommen!«
Auf der Stelle war sie hinausgestürmt, um die Diebin zu verfolgen. Zwei Minuten später brachte sie sie am Arm zurück, mit der schrecklichen Miene eines Gendarmen. Man hatte die allergrößte Mühe, sie zu durchsuchen, denn sie wehrte sich, biß, kratzte und stieß dabei ein Gebrüll aus, als brächte man sie um. Der Becher war nicht in ihren Taschen, man fand ihn in dem Lumpen, der ihr als Hemd diente, direkt auf der Haut. Und während sie zu weinen aufhörte, behauptete sie jetzt frech, sie wisse nicht, wo das herkomme, das müsse auf sie herabgefallen sein, während sie auf der Erde saß. »Der Herr Pfarrer hat ganz richtig gesagt, daß sie Sie bestehlen würde«, wiederholte Véronique. »Ich würde ja die Polizei holen lassen!« Auch Lazare sprach von Gefängnis, aufgebracht durch das herausfordernde Benehmen der Kleinen, die sich wieder
aufrichtete wie eine junge Natter, der man den Schwanz zertreten hat. Man hätte sie ohrfeigen mögen. »Gib wieder her, was man dir gegeben hat«, rief er. »Wo ist das Geldstück?« Schon führte sie dieses Geldstück an die Lippen, um es zu verschlucken, als Pauline sie losließ und sagte: »Behalt es trotzdem und sag zu Hause Bescheid, daß es das letzte ist. Ich werde von nun an nachsehen, was ihr braucht ... Geh!« Man hörte die nackten Füße des Mädchens durch die Pfützen patschen, dann trat Stille ein, Véronique stieß die Bank fort, bückte sich mit einem Schwamm, um die Pfützen wegzuwischen, die aus den Lumpen herabgeflossen waren. Weiß Gott! Ihre Küche sah ja sauber aus, von diesem Elend so verpestet, daß sie alle Türen und das Fenster aufreißen mußte. Pauline nahm ernst, ohne ein
einziges Wort, ihren Beutel und ihre Heilmittel wieder an sich, während Lazare, mit empörter Miene, gähnend vor Ekel und Langerweile, sich am Brunnen die Hände wusch. Das war Paulines Kummer: Sie sah, daß Lazare für ihre kleinen Freunde aus dem Dorf kaum Anteilnahme bewies. Wenn er ihr auch am Sonnabend half, so geschah es doch aus bloßer Gefälligkeit ihr gegenüber, denn er war nicht mit dem Herzen dabei. Während nichts sie abstieß, weder Armut noch Laster, so ärgerte und betrübte er sich ob dieser häßlichen Dinge. Sie blieb ruhig und heiter in ihrer Liebe zu den anderen, während er nicht aus sich herauszugehen vermochte, ohne neue Gründe für düstere Stimmungen zu finden. So begann er nach und nach wirklich unter der unsauberen Schar zu leiden, in der bereits alle Sünden der Menschen gärten. Dieses Elendsgezücht vergällte ihm vollends das Leben, er verließ sie wie zerschlagen, verzweifelt, mit Haß und Verachtung
gegenüber der menschlichen Herde. Die zwei Stunden Mildtätigkeit machten ihn schließlich böse, er verwarf das Almosengeben, verspottete die Barmherzigkeit. Und er schrie, es sei das klügste, dieses Nest schädlicher Insekten mit dem Absatz zu zertreten, anstatt ihnen beim Heranwachsen zu helfen. Pauline hörte ihm zu, verwundert über seine Heftigkeit, sehr bekümmert darüber, daß er nicht in der gleichen Weise wie sie empfand. An jenem Sonnabend machte der junge Mann, als sie allein waren, seinem ganzen Leiden in einem Satz Luft. »Mir ist, als käme ich aus der Gosse.« Dann fügte er hinzu: »Wie kannst du diese Ungeheuer lieben?« »Ich liebe sie eben um ihretwillen, nicht um meinetwillen«, erwiderte das junge Mädchen. »Du würdest ja auch einen räudigen Hund von der Landstraße auflesen.«
Er machte eine Gebärde des Widerspruchs. »Ein Hund ist kein Mensch.« »Helfen, um zu helfen, ist das denn nichts?« begann sie wieder. »Es ist ärgerlich, daß sie sich nicht bessern, denn ihr Elend wäre dann vielleicht geringer. Aber wenn sie gegessen haben und ihnen ist warm, nun, das genügt mir, dann bin ich zufrieden: das ist immer schon etwas Schmerz weniger ... Warum sollen sie uns entgelten, was wir für sie tun?« Und sie schloß traurig: »Mein armer Freund, ich sehe, das macht dir kaum Vergnügen; es ist besser, du hilfst mir nicht mehr ... Ich habe keine Lust, dir das Herz zu betrüben und dich schlechter zu machen, als du bist.« Lazare entglitt ihr, sie war darüber tief betrübt, überzeugt von ihrer Ohnmacht, ihn aus seiner Krise des Grauens und der Langeweile zu reißen. Wenn sie ihn so nervös sah, konnte sie nicht glauben, daß allein das uneingestandene Übel so verheerend wirkte, sie vermutete
andere Gründe für seine Traurigkeit, der Gedanke an Louise erwachte in ihr. Bestimmt dachte er noch immer an das Mädchen, er schleppte das Leid, sie nicht mehr zu sehen, mit sich herum. Da erstarrte sie zu Eis, und sie versuchte, den Stolz ihrer Selbstaufopferung wiederzufinden, indem sie von neuem schwor, so viel Freude um sich zu verbreiten, daß es zum Glück der Ihren genüge. Eines Abends sprach Lazare ein grausames Wort aus. »Wie allein man hier ist!« sagte er gähnend. Sie sah ihn an. War das eine Anspielung? Aber sie hatte nicht den Mut, ihn geradeheraus zu fragen. Ihre Güte lag mit sich im Kampf, ihr Leben wurde wieder zur Qual. Eine letzte Erschütterung erwartete Lazare, seinem alten Mathieu ging es nicht gut. Das arme Tier, das im März vierzehn Jahre alt geworden war, bekam es mehr und mehr in
den Hinterpfoten. Wenn ihn Anfälle steif machten, konnte er kaum gehen, blieb er auf dem Hof in der Sonne ausgestreckt liegen und spähte mit seinen schwermütigen Augen nach den Leuten, die aus dem Hause kamen. Es waren vor allem diese alten Hundeaugen, die Lazare rührten, trüb gewordene, von einer bläulichen Wolke verdunkelte Augen, verschwommen wie die Augen eines Blinden. Indessen sah er noch, schleppte er sich zu seinem Herrn, um ihm seinen dicken Kopf aufs Knie zu legen, sah ihn dann starr an mit dem traurigen Ausdruck eines Wesens, das alles versteht. Und er war nicht mehr schön: Sein weißes gekräuseltes Fell war gelb geworden; seine einst so schwarze Nase wurde weißlich. Schmutz und eine Art Scham machten ihn bejammernswert, denn auf Grund seines hohen Alters wagte man nicht, ihn zu waschen. Alle seine Spiele hatten aufgehört, er wälzte sich nicht mehr auf dem Rücken, drehte sich nicht mehr nach seinem Schwanz herum,
wurde nicht einmal mehr von Zärtlichkeitsanwandlungen für Minouches Junge entflammt, wenn das Hausmädchen sie zum Meer trug. Er verbrachte jetzt die Tage in der Schläfrigkeit eines alten Mannes, und es bereitete ihm so viel Qual, wieder auf die Beine zu kommen, er zog sich so mühselig auf seinen kraftlosen Pfoten hoch, daß ihm oft jemand aus dem Hause, von Mitleid ergriffen, half, ihn einen Augenblick stützte, damit er wieder laufen konnte. Blutverluste erschöpften ihn mit jedem Tage mehr. Man hatte einen Tierarzt kommen lassen, der bei seinem Anblick in Lachen ausgebrochen war. Wie! Man bemühte ihn um dieses Hundes willen? Das beste wäre, ihn totzuschlagen. Man müsse wohl das Leben eines Menschen zu verlängern suchen, aber wozu ein zum Tode verurteiltes Tier leiden lassen! Man hatte den Tierarzt vor die Tür gesetzt und ihm die sechs Francs für seinen Besuch gegeben.
Eines Sonnabends verlor Mathieu so viel Blut, daß man ihn in den Schuppen sperren mußte. Er streute einen Regen dicker roter Tropfen hinter sich aus. Da Doktor Cazenove zeitig gekommen war, bot er Lazare an, sich den Hund anzusehen, den man wie ein Familienmitglied behandelte. Sie fanden ihn mit erhobenem Kopf daliegen, sehr geschwächt, doch mit noch lebhaftem Blick. Der Doktor untersuchte ihn lange mit dem nachdenklichen Ausdruck, den er am Bett eines Kranken annahm. Schließlich sagte er: »So starke Blutungen müssen von einer krebsartigen Veränderung der Nieren herrühren ... Er ist verloren. Aber er kann es noch ein paar Tage machen, falls er nicht von einem plötzlichen Blutsturz dahingerafft wird.« Der verzweifelte Zustand Mathieus überschattete die Mahlzeit. Man rief sich ins Gedächtnis zurück, wie sehr Frau Chanteau
ihn geliebt hatte, man erinnerte sich an die Hunde, die er erwürgt, an seine Jugendstreiche, vom Rost gestohlene Koteletts, ganz warm ausgeschlürfte Eier. Beim Nachtisch indessen, als Abbé Horteur seine Pfeife hervorholte, kam wieder Fröhlichkeit auf, man hörte ihm zu, wie er von seinen Birnen berichtete, die in diesem Jahr hervorragend zu werden versprachen. Chanteau summte schließlich trotz des dumpfen Prickelns eines nahenden Anfalls ein munteres Lied aus der Zeit, da er zwanzig war. Der Abend war bezaubernd. Lazare selber wurde heiter. Plötzlich, gegen neun Uhr, als man gerade den Tee eingeschenkt hatte, rief Pauline: »Aber da ist er ja, der arme Mathieu!« In der Tat schob sich Mathieu. auf seinen Pfoten wankend, blutend und abgemagert ins Eßzimmer. Gleich darauf hörte man Véronique, die mit einem Wischtuch hinter
ihm her war. Sie kam herein und sagte: »Ich habe im Schuppen zu tun gehabt, da ist er entwischt. Bis zuletzt muß er da sein, wo Sie sind; unmöglich, einen Schritt zu tun, ohne daß er einem zwischen den Röcken herumläuft ... Los, komm, du kannst da nicht bleiben.« Der Hund senkte mit sanftem, demütigem Ausdruck seinen zitternden alten Kopf. »Oh, laß ihn!« flehte Pauline. Aber das Hausmädchen wurde ärgerlich. »Das fehlt gerade noch! Ich habe es satt, das Blut hinter ihm aufzuwischen. Seit zwei Tagen schon ist meine Küche voll davon. Das ist ja ekelhaft ... Das Eßzimmer wird sauber aussehen, wenn er sich überall herumschleppt ... Los, hopp! Willst du wohl schnell machen!« »Laß ihn«, wiederholte Lazare. »Geh.« Während Véronique wütend die Tür schloß,
kam Mathieu, als habe er verstanden, und legte seinen Kopf auf das Knie seines Herrn. Alle wollten ihm eine Freude bereiten, man zerbrach Zuckerstücke, man versuchte, ihn aufzumuntern. Früher war es das allabendliche kleine Spiel, ein Stück Zucker weit von ihm entfernt auf die andere Seite des Tisches zu legen; schnell lief er um den Tisch herum, aber da hatte man das Stück schon weggenommen, um es ans andere Ende zu legen; und unaufhörlich lief er herum, und unaufhörlich sprang der Zucker fort, bis der Hund, schwindlig geworden, verblüfft über diese ständige Irreführung, wütend zu bellen begann. Dieses Spiel war es, das Lazare wieder zu beginnen versuchte, in dem brüderlichen Gedanken, dem traurigen Tier in seinem Todeskampf noch eine Freude zu verschaffen. Der Hund wedelte einen Augenblick mit dem Schwanz, lief einmal um den Tisch, stieß dann an Paulines Stuhl. Er sah den Zucker nicht, sein abgemagerter Körper
wich zur Seite aus, das Blut regnete in roten Tropfen rings um den Tisch. Chanteau trällerte nicht mehr, Mitleid preßte allen das Herz zusammen beim Anblick des armen sterbenden Mathieu, der in der Erinnerung an die Streiche des gefräßigen Mathieu von einst umhertappte. »Ermüden Sie ihn nicht«, sagte der Doktor sanft. »Sie töten ihn.« Der Pfarrer, der schweigend rauchte, bemerkte, zweifellos um sich seine innere Bewegung zu erklären: »Diese großen Hunde sind wie Menschen, möchte man sagen.« Um zehn Uhr, als der Priester und der Arzt gegangen waren, schloß Lazare selber, bevor er in sein Zimmer hinaufstieg, Mathieu im Wagenschuppen ein. Er bettete ihn auf frisches Stroh, vergewisserte sich, daß er seine Schüssel mit Wasser hatte, umarmte ihn und
wollte ihn dann allein lassen. Doch der Hund hatte sich mit qualvoller Anstrengung schon wieder auf die Beine gestellt und folgte ihm. Er mußte ihn dreimal hinlegen. Endlich fügte er sich, blieb mit erhobenem Kopf liegen und schaute mit so traurigem Blick seinem sich entfernenden Herrn nach, daß dieser verzweifelt zurückkehrte, ihn noch einmal zu umarmen. Oben versuchte Lazare, bis Mitternacht zu lesen. Dann ging er schließlich zu Bett. Aber er konnte nicht schlafen, der Gedanke an Mathieu verließ ihn nicht. Er sah ihn immer wieder auf dem Stroh vor sich, mit dem flackernden, zur Tür gerichteten Blick. Morgen würde sein Hund tot sein. Und wider seinen Willen richtete er sich jede Minute auf und horchte, da er glaubte, ihn im Hof bellen gehört zu haben. Sein lauerndes Ohr vernahm allerlei eingebildete Geräusche. Gegen zwei Uhr ließen Klagelaute ihn aus dem Bett springen. Wo weinte denn jemand? Er ging
hinaus auf den Treppenabsatz, das Haus war dunkel und still, nicht ein Hauch kam aus Paulines Zimmer. Da vermochte er dem Bedürfnis hinunterzugehen nicht länger zu widerstehen. Die Hoffnung, seinen Hund wiederzusehen, trieb ihn plötzlich zur Eile. Er ließ sich kaum die Zeit, eine Hose anzuziehen, und ging mit seiner Kerze raschen Schrittes hinunter. Im Schuppen war Mathieu nicht auf dem Stroh liegengeblieben. Er hatte es vorgezogen, sich ein Stückchen weiter auf die gestampfte Erde zu schleppen. Als er seinen Herrn hereinkommen sah, fand er nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf zu heben. Lazare hatte den Leuchter zwischen alten Brettern aufgestellt und sich niedergehockt, verwundert über die dunkle Farbe der Erde; mit zerrissenem Herzen fiel er auf die Knie, als er bemerkte, daß der Hund in seinem Todeskampf im Blute lag, in einer ganzen Blutlache. Es war sein Leben, das da von ihm wich, er klopfte
schwach mit dem Schwanz, während seine tiefgründigen Augen einen Schimmer hatten. »Ach, mein armer alter Hund!« murmelte Lazare. »Mein armer alter Hund!« Er sprach ganz laut, er sagte zu ihm: »Warte, ich werde dich an einen anderen Platz bringen ... Nein, das tut dir weh ... Aber du bist ja so naß! Und ich habe nicht einmal einen Schwamm! Ob du wohl trinken willst?« Mathieu sah ihn noch immer starr an. Nach und nach erschütterte ein Röcheln seine Rippen. Geräuschlos, wie aus einer verborgenen Quelle, verbreitete sich die Blutlache. Leitern und eingeschlagene Fässer warfen große Schatten, die Kerze gab sehr schlechtes Licht. Da raschelte es im Stroh: Es war die Katze, Minouche, die sich auf dem für Mathieu bereiteten Lager niedergelassen hatte und die das Licht störte. »Willst du trinken, mein armer alter Hund?« wiederholte Lazare.
Er hatte einen Lappen gefunden, tauchte ihn in die Schüssel mit Wasser und preßte ihn dem sterbenden Tier auf die Schnauze. Das schien ihm Erleichterung zu bringen, seine vom Fieber wunde Nase wurde ein wenig kühler. Eine halbe Stunde verging, er machte den Lappen immer wieder feucht, den jammervollen Anblick in sich aufnehmend, die Brust von unendlicher Traurigkeit zusammengeschnürt. Wie am Bett eines Kranken überkamen ihn wahnwitzige Hoffnungen: Vielleicht würde er mit dieser einfachen Erfrischung das Leben zurückrufen. »Was denn? Was denn?« sagte er plötzlich. »Du willst dich auf die Beine stellen?« Von einem Schauer geschüttelt, versuchte Mathieu sich aufzurichten. Er machte seine Glieder steif, während ein Schlucken, ein aus den Flanken kommendes Wogen ihm den Hals schwellte. Doch es war das Ende, er brach über den Knien seines Herrn zusammen, den
er nicht aus den Augen ließ und unter seinen schweren Lidern noch zu erkennen suchte. Erschüttert durch diesen klugen Blick eines Sterbenden, behielt Lazare ihn bei sich; und dieser große Körper, lang und schwer wie der eines Menschen, kämpfte in seinen verzweifelten Armen einen menschlichen Todeskampf. Das währte einige Minuten. Dann sah er wirkliche Tränen, schwere Tränen aus den trüben Augen rollen, während aus dem krampfhaft zuckenden Maul die Zunge zu einer letzten Liebkosung hervorkam. »Mein armes altes Hundchen!« rief er, während er selber in Schluchzen ausbrach. Mathieu war tot. Ein wenig blutender Schaum troff von seinen Lefzen. Als er ausgestreckt auf der Erde lag, schien er zu schlafen. Da fühlte Lazare, daß wieder einmal alles zu Ende ging. Sein Hund starb jetzt, und es war ein unverhältnismäßig großer Schmerz, eine Hoffnungslosigkeit, in der sein ganzes Leben
unterging. Dieser Tod rief die anderen Tode wach, seine Zerrissenheit war nicht grausamer gewesen, als er hinter dem Sarg seiner Mutter über den Hof geschritten war. Wieder ging etwas von ihr davon, er verlor sie vollends. Die Monate verborgenen Schmerzes erstanden wieder, seine von Alpträumen gestörten Nächte, seine Spaziergänge zu dem kleinen Friedhof, sein Grauen vor der Ewigkeit des Nimmermehr. Es gab ein Geräusch, Lazare wandte sich um und sah Minouche, wie sie sich auf dem Stroh seelenruhig putzte. Aber die Tür hatte geknarrt, Pauline kam herein, von derselben Sorge getrieben wie ihr Cousin. Als er sie erblickte, flossen seine Tränen doppelt heftig, und er, der die Trauer um seine Mutter in einer Art schamhafter Wildheit verborgen hatte, rief aus: »Mein Gott! Mein Gott! Sie liebte ihn so sehr! Erinnerst du dich? Sie hatte ihn bekommen, als
er ganz klein war, und sie war es, die ihm zu fressen gab, und er folgte ihr überallhin im Haus!« Dann fügte er hinzu: »Es ist niemand mehr da, wir sind ganz allein!« Tränen stiegen Pauline in die Augen. Sie hatte sich vorgebeugt, um den armen Mathieu im unbestimmten Schein der Kerze zu sehen. Ohne zu versuchen, Lazare zu trösten, machte sie eine mutlose Gebärde, denn sie fühlte sich nutzlos und ohnmächtig.
Kapitel VIII Langeweile lag Lazares Trübsinn zugrunde, eine ständige, erdrückende Langeweile, die aus allem hervordrang wie trübes Wasser aus einer vergifteten Quelle. Er langweilte sich bei der Ruhe, bei der Arbeit, mit sich selbst mehr noch als mit den anderen. Indessen machte er sich Vorwürfe ob seines Müßiggangs, er
errötete schließlich darüber. War es nicht eine Schande, daß ein Mann in seinem Alter seine besten Jahre in diesem Loch Bonneville verlor? Bis dahin hatte er wohl Vorwände gehabt; doch nichts hielt ihn jetzt zurück, und er verachtete sich, nutzlos den Seinen weiterhin zur Last zu fallen, wo sie doch selber kaum etwas zum Leben hatten. Er hätte ihnen ein Vermögen erwerben müssen, wie er es sich früher einmal geschworen hatte; es war ein völliges Versagen seinerseits. Gewiß, an Zukunftsplänen, großen Unternehmungen, Reichtum, den er mit einem Geniestreich erobern würde, daran mangelte es ihm noch immer nicht. Allein wenn er aus dem Traum heraustrat, fand er nicht mehr den Mut, sich ans Werk zu machen. »Das kann nicht so weitergehen«, sagte er oft zu Pauline. »Ich muß arbeiten ... Ich habe Lust, in Caen eine Zeitung zu gründen.« Jedesmal erwiderte sie ihm:
»Warte das Ende des Trauerjahres ab, nichts drängt dich ... Überlege gut, ehe du ein solches Unternehmen ins Leben rufst.« In Wahrheit zitterte sie bei dem Gedanken an diese Zeitung, trotz ihres Wunsches, ihn beschäftigt zu sehen. Ein neuer Mißerfolg würde ihn vielleicht vollends vernichten; und sie rief sich seine ständigen Fehlschläge ins Gedächtnis, die Musik, die Medizin, die Fabrik, alles, was er unternommen hatte. Im übrigen weigerte er sich zwei Stunden später sogar, einen Brief zu schreiben, als wäre er von Müdigkeit zerschlagen. Wieder vergingen Wochen, eine Hochflut riß drei Häuser von Bonneville mit sich fort. Wenn die Fischer jetzt Lazare begegneten, fragten sie ihn, ob er genug davon habe. Sicher, da könne man nichts machen, aber es brächte einen doch in Wut, so viel gutes Holz verloren zu sehen. Und in ihren Klagen, in der Art, wie sie ihn anflehten, das Dorf nicht in
den Wogen ertrinken zu lassen, steckte der grimmige Spott von Matrosen, die stolz auf ihr Meer mit den todbringenden Ohrfeigen sind. Er wurde nach und nach so gereizt, daß er es vermied, durchs Dorf zu gehen. Der Anblick der Überreste des Pfahlwerks und der Wellenbrecher in der Ferne wurde ihm unerträglich. Prouane hielt ihn eines Tages an, als er zum Pfarrer hineinging. »Herr Lazare«, sagte er demütig zu ihm mit einem boshaften Lachen in den Augenwinkeln, »Sie wissen, die Holzstücke, die da unten am Strand verfaulen ...« »Ja, und?« »Wenn Sie nichts mehr damit anfangen, sollten Sie sie uns geben ... Wir würden uns wenigstens daran wärmen.« Verhaltener Zorn riß den jungen Mann fort. Er erwiderte heftig, ohne überhaupt darüber
nachgedacht zu haben: »Unmöglich, in der nächsten Woche schicke ich die Zimmerleute wieder an die Arbeit.« Von nun an zeterte das ganze Dorf. Man würde den Tanz noch einmal erleben, da der junge Chanteau starrköpfig darauf bestand. Vierzehn Tage vergingen; wenn die Fischer ihm begegneten, fragten sie ihn jedesmal, ob er denn keine Arbeiter fände. Und er befaßte sich am Ende wirklich mit den Wellenbrechern, wobei er auch seiner Cousine nachgab, der es lieber war, in ihrer Nähe eine Beschäftigung für ihn zu finden. Doch er machte sich ohne Begeisterung wieder an die Arbeit, allein sein Groll gegen das Meer hielt ihn dabei, denn er behauptete, sicher zu sein, daß er es bezwingen werde: Es werde schon noch wie ein gehorsames Tier die Uferkiesel von Bonneville lecken. Noch einmal zeichnete Lazare Entwürfe. Er hatte neue Neigungswinkel berechnet, und er
verdoppelte die Rammpfähle. Trotzdem sollten die Ausgaben nicht sehr hoch sein, man würde den größten Teil des alten Holzes verwenden. Der Zimmermann legte einen Kostenanschlag vor, der sich auf viertausend Francs belief. Und angesichts der Geringfügigkeit dieser Summe willigte Lazare ein, daß Pauline das Geld vorschoß, überzeugt, wie er sagte, daß er dem Generalrat die Unterstützung ohne Mühe entreißen werde; das wäre sogar die einzige Möglichkeit, die ersten Auslagen wieder hereinzubekommen, denn der Rat würde gewiß nicht einen Sou bewilligen, solange die Wellenbrecher in Trümmern lagen. Dieser Gesichtspunkt der Frage erwärmte ihn ein wenig, die Arbeiten wurden zügig vorangeführt. Im übrigen war er sehr beschäftigt, er begab sich jede Woche nach Caen, um beim Präfekten und bei den einflußreichen Räten vorzusprechen. Man vollendete gerade die Befestigungen, als er endlich erreichte, daß ein Ingenieur beauftragt
wurde, einen Bericht zu machen, auf Grund dessen dann der Rat die Unterstützung bewilligen würde. Der Ingenieur blieb einen ganzen Tag in Bonneville, ein reizender Mann, der nach seinem Spaziergang am Strand gern bei den Chanteaus zu Mittag aß; sie vermieden es aus Zurückhaltung, ihn nach seiner Meinung zu fragen, da sie ihn nicht beeinflussen wollten; doch bei Tisch zeigte er sich Pauline gegenüber so galant, daß sie von da an selber an den Erfolg der Sache glaubte. So war das Haus vierzehn Tage später, als Lazare von einer Reise nach Caen zurückkehrte, betroffen und bestürzt über die Nachrichten, die er mitbrachte. Er erstickte vor Wut: Hatte doch dieser eitle Geck von Ingenieur einen abscheulichen Bericht erstattet! Oh, er war höflich geblieben, aber er hatte mit einer außerordentlichen Fülle von technischen Ausdrücken jedes Stück Holz verspottet. Im übrigen hätte man darauf gefaßt sein müssen, diese Herren ließen es nicht zu,
daß man auch nur einen Kaninchenstall ohne ihre Genehmigung baute. Und das schlimmste war, daß der Generalrat nach der Lektüre des Berichts den Antrag auf Unterstützung zurückgewiesen hatte. Das war für den jungen Mann eine neue Krise der Entmutigung. Die Wellenbrecher waren fertig, er schwor Stein und Bein, daß sie den stärksten Fluten standhalten würden, und alle vereinigten Straßenbauämter würden vor eifersüchtiger Wut darüber platzen; aber davon würde das Geld auch nicht wieder in die Hände seiner Cousine gelangen, es betrübte ihn bitter, sie in diese Niederlage mit hineingezogen zu haben. Sie jedoch, die ihren Hang zur Sparsamkeit besiegt hatte, nahm die volle Verantwortung auf sich, erinnerte daran, daß sie ihn genötigt hatte, ihre Vorschüsse anzunehmen; das sei ein barmherziges Werk, sie bereue nichts, sie hätte noch mehr gegeben, um das unglückliche Dorf zu retten. Als indessen der Zimmermann seine Rechnung
schickte, konnte sie eine Gebärde schmerzlicher Überraschung nicht unterdrücken: Die viertausend Francs des Kostenanschlags waren auf fast achttausend angestiegen. Im ganzen hatte sie mehr als zwanzigtausend Francs in diese paar Balken gesteckt, die der erste Sturm davontragen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war Paulines Vermögen auf ungefähr vierzigtausend Francs zusammengeschmolzen. Das waren zweitausend Francs Jahreszinsen, gerade so viel, wie sie zum Leben brauchte, wenn sie eines Tages allein auf der Straße stand. Das Geld war nach und nach draufgegangen in diesem Hause, wo sie weiterhin mit offenen Händen zahlte. Daher wachte sie von nun an über die Ausgaben mit der Strenge einer klugen Hausfrau. Die Chanteaus hatten nicht einmal mehr ihre dreihundert Francs im Monat; denn beim Tod der Mutter hatte man den Verkauf einer gewissen Anzahl von
Wertpapieren bemerkt, ohne herausfinden zu können, wo die erhaltenen Summen geblieben waren. Tat sie ihre eigenen Jahreszinsen zu denen der Chanteaus hinzu, so verfügte sie kaum über vierhundert Francs, und das Haus war kostspielig, sie mußte wahre Wunder an Sparsamkeit vollbringen, um das Geld für ihre Almosen zu retten. Seit dem letzten Winter hatte die Vormundschaft des Doktors Cazenove ein Ende genommen, Pauline war großjährig, verfügte unumschränkt über ihr Vermögen und ihre Person; zweifellos war der Doktor ihr kaum lästig gewesen, denn er hatte es abgelehnt, um Rat gefragt zu werden, und seine Mission war nach dem Gesetz schon seit Wochen beendet, als sie beide dessen gewahr wurden; aber sie fühlte sich gleichwohl reifer und freier, als sei sie gänzlich Frau geworden, nun, da sie sich als Herrin des Hauses sah, ohne Rechenschaft geben zu müssen, von ihrem Onkel inständig gebeten, alles zu regeln und ihm niemals von irgend etwas zu
sprechen. Auch Lazare hatte ein Grauen vor Geldangelegenheiten. Sie führte also die gemeinsame Kasse, sie vertrat ihre Tante mit einem praktischen Verstand, der die beiden Männer manchmal verblüffte. Nur Véronique fand, das Fräulein sei äußerst »knauserig«: Mußte man sich doch jetzt am Sonnabend mit einem Pfund Butter begnügen! Die Tage folgten aufeinander mit eintöniger Regelmäßigkeit. Diese Ordnung, diese unaufhörlich von vorn beginnenden Gewohnheiten, die in Paulines Augen das Glück bedeuteten, steigerten Lazares Langeweile noch mehr. Nie hatte ihn so viel Unruhe im Hause umhergetrieben wie jetzt, seit sie jeden Raum mit heiterem Frieden einschläferte. Die Beendigung der Arbeiten am Strand war für ihn eine wahre Erleichterung, denn jede Inanspruchnahme war ihm lästig; aber er war kaum wieder in den Müßiggang zurückgefallen, als er sich darin auch schon vor Scham und Unbehagen verzehrte. Jeden
Morgen änderte er von neuem seine Zukunftspläne: Der Gedanke an eine Zeitung wurde als unwürdig aufgegeben; er ereiferte sich über seine Armut, die es ihm nicht erlaubte, sich in Ruhe einem großen literarischen oder historischen Werk zu widmen; dann liebäugelte er schließlich mit dem Plan, Lehrer zu werden und, wenn es sein mußte, auch Prüfungen abzulegen, um sich den notwendigen Broterwerb für seine Arbeit als Literat zu sichern. Zwischen Pauline und ihm schien nur ihre Kameradschaft von früher zu bestehen, wie eine gewohnte Zuneigung, die sie zu Bruder und Schwester machte. Er sprach in dieser engen Vertrautheit nie von ihrer Heirat, sei es, daß er sie völlig vergessen hatte, sei es, daß er sie für eine allzu häufig wiederholte Angelegenheit hielt, die sich von selbst verstand. Auch sie vermied es, davon zu sprechen, überzeugt, daß er beim ersten Wort zustimmen würde. Und indessen begehrte Lazare sie von Tag zu Tag weniger; sie fühlte
es, ohne zu begreifen, daß ihr Unvermögen, ihn von der Langeweile zu retten, keine andere Ursache hatte. Eines Abends in der Dämmerung ging sie hinauf, ihm zu sagen, daß das Essen aufgetragen sei, und überraschte ihn dabei, wie er hastig einen Gegenstand versteckte, den sie nicht zu erkennen vermochte. »Was hast du denn da?« fragte sie lachend. »Verse für meinen Namenstag?« »Aber nein«, sagte er sehr erregt mit stammelnder Stimme. »Gar nichts.« Es war ein von Louise vergessener alter Handschuh, den er hinter einem Stapel Bücher wiedergefunden hatte. Der Handschuh aus feinem Leder hatte einen strengen Geruch bewahrt, jenen eigentümlichen Wildgeruch, den das bevorzugte Parfüm des jungen Mädchens, Heliotrop, durch einen Hauch Vanille milderte; und sehr empfänglich für
Wohlgerüche, durch diese Mischung von Blume und Fleisch heftig verwirrt, war er außer sich geraten, den Handschuh am Mund, die Wollust seiner Erinnerungen trinkend. Von diesem Tage an begann er über die gähnende Leere hinweg, die der Tod seiner Mutter in ihm auftat, von neuem Louise zu begehren. Er hatte sie zweifellos nie vergessen; doch sie schlummerte in seinem Schmerz, und es bedurfte nur eines Gegenstandes von ihr, um sie mit der Wärme seines Atems wieder zum Leben zu erwecken. Wenn er allein war, nahm er den Handschuh hervor, atmete seinen Duft, küßte ihn, glaubte, daß er sie von neuem mit beiden Armen umschlungen hielt, den Mund in ihren Nacken vergraben. Das nervöse Unbehagen, in dem er lebte, die durch seinen langen Müßiggang geförderte Erregbarkeit machten diesen sinnlichen Rausch noch lebendiger. Es waren regelrechte Ausschweifungen, in denen er sich erschöpfte. Und ging er auch unzufrieden mit
sich daraus hervor, so verfiel er dennoch wieder darein, fortgerissen von einer Leidenschaft, über die er nicht Herr war. Das steigerte seine düstere Stimmung, er zeigte sich schließlich schroff gegenüber seiner Cousine, als grollte er ihr ob seines eigenen Sichgehenlassens. Sie sagte seinem Fleische nichts, und zuweilen entfloh er einer heiteren, ruhigen Plauderei, die sie miteinander hatten, um zu seinem Laster zu eilen, sich einzuschließen, sich ganz der brennenden Erinnerung an die andere hinzugeben. Dann ging er mit dem Ekel vor dem Leben wieder hinunter. In einem Monat veränderte er sich so sehr, daß die verzweifelte Pauline furchtbare Nächte verbrachte. Am Tage blieb sie noch tapfer, immer auf den Beinen in diesem Hause, das sie mit ihrer sanften Autorität leitete. Doch am Abend, wenn sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, durfte sie ihren Kummer haben, all ihr Mut schwand dahin, und sie
weinte wie ein kraftloses Kind. Es blieb ihr keine Hoffnung, das Versagen ihrer Güte wurde immer offenkundiger. War es denn möglich? Die Barmherzigkeit genügte also nicht, man konnte die Leute lieben und ihr Unglück bewirken; denn sie sah ihren Cousin unglücklich, vielleicht gar durch ihre Schuld. Dann wuchs auf dem Grunde ihres Zweifels die Furcht vor dem Einfluß einer Nebenbuhlerin. Hatte sie sich lange Zeit beruhigt, indem sie diese düstere Stimmung mit ihrer frischen Trauer erklärte, so kehrte der Gedanke an Louise jetzt wieder, jener Gedanke, der sich am Tage nach Frau Chanteaus Tod in ihr erhoben, den sie mit dem stolzen Vertrauen in ihre Liebe verscheucht hatte und der an jedem Abend in der Niederlage ihres Herzens von neuem entstand. Da hatte Pauline keine Ruhe mehr. Sobald sie ihren Leuchter hingestellt hatte, sank sie auf den Rand ihres Bettes nieder, ohne den Mut zu finden, ihr Kleid auszuziehen. Ihre seit dem
Morgen zur Schau getragene Fröhlichkeit, ihre Ordnung und ihre Geduld drückten sie zu Boden wie ein zu schweres Gewand. Der Tag, gleich den vorangegangenen und den folgenden Tagen, war verflossen in Lazares Langeweile, von deren Hoffnungslosigkeit das ganze Haus erfaßt wurde. Wozu ihr Bemühen um Freude, da sie diesen geliebten Winkel nicht mehr mit Sonne erwärmen konnte? Das alte grausame Wort ertönte wieder, man lebte zu einsam, schuld war ihre Eifersucht, die die Leute ferngehalten hatte. Sie nannte nicht Louise, sie wollte nicht an sie denken, und trotzdem sah sie sie mit ihrem hübschen Gesicht vorübergehen, wie sie Lazare mit ihrem koketten Schmachten belustigte, ihn mit dem Schwingen ihrer Röcke erheiterte. Die Minuten verstrichen, sie vermochte das Bild nicht zu verjagen. Es war zweifellos dieses Mädchen, auf das er wartete, nichts wäre so leicht, wie ihn zu heilen, indem man sie holte. Und jeden Abend, wenn Pauline in ihr Zimmer
hinaufging und vor Müdigkeit auf den Rand ihres Bettes sank, verfiel sie wieder derselben Vision, gequält von dem Glauben, daß das Glück der Ihren vielleicht in den Händen der anderen lag. Dennoch lehnte sich ihr Gefühl immer wieder empört dagegen auf. Sie verließ ihr Bett und öffnete das Fenster, von Atemnot befallen. Dann blieb sie angesichts der schwarzen Unendlichkeit, über dem Meer, dessen Klage sie hörte, stundenlang aufgestützt stehen, ohne schlafen zu können, die brennende Brust dem Wehen des Seewindes dargeboten. Nein, niemals würde sie so erbärmlich sein, die Rückkehr dieses Mädchens zu dulden. Hatte sie sie nicht einander in den Armen liegend überrascht? War das nicht der gemeinste Verrat, in ihrer Nähe, in einem benachbarten Zimmer, in dieser Wohnung, die sie als die ihre betrachtete? Diese Schlechtigkeit blieb unverzeihlich, es hieße mitschuldig werden, würde sie die beiden wieder zueinander
bringen. Ihr eifersüchtiger Groll erhitzte sich bei den Bildern, die sie so heraufbeschwor; sie erstickte ihr Schluchzen, indem sie das Gesicht in ihren nackten Armen verbarg, die Lippen auf ihr Fleisch gepreßt. Die Nacht schritt vor, die Winde strichen ihr über den Hals, zerrten an ihrem Haar, ohne das zornige Blut zu besänftigen, das in ihren Adern pochte. Doch heimlich, unbezwinglich dauerte der Kampf zwischen ihrer Güte und ihrer Leidenschaft fort, selbst in ihrer äußersten Empörung. Eine sanfte Stimme in ihr, die ihr nun wie fremd erschien, sprach beharrlich ganz leise von den Freuden des Wohltuns, von dem Glück, sich den anderen zu opfern. Sie wollte sie zum Schweigen bringen: Wie blödsinnig war diese bis zur Feigheit getriebene Selbstverleugnung; und trotzdem hörte sie auf diese Stimme, es wurde ihr bald unmöglich, sich ihrer zu erwehren. Nach und nach erkannte sie darin ihre eigene Stimme und redete sich selber zu: Was bedeutete ihr Leid, wenn nur die
geliebten Wesen glücklich waren! Sie schluchzte leiser, der aus der Tiefe der Finsternis steigenden Flut lauschend, erschöpft und krank, ohne jedoch schon besiegt zu sein. Eines Nachts war sie zu Bett gegangen, nachdem sie lange am Fenster geweint hatte. Sobald sie ihre Kerze gelöscht hatte und mit weitgeöffneten Augen im Dunkel lag, faßte sie plötzlich einen Entschluß: Am nächsten Morgen würde sie, vor allem anderen, ihren Onkel veranlassen, an Louise zu schreiben, um diese zu bitten, daß sie komme und einen Monat in Bonneville verbringe. Nichts schien ihr natürlicher noch leichter. Sie fiel sofort in einen tiefen Schlaf, seit Wochen hatte sie nicht so gut geruht. Doch als sie am nächsten Morgen zum Frühstück hinuntergegangen war und sich zwischen ihrem Onkel und ihrem Cousin wiederfand an diesem Familientisch, auf dem die Plätze der drei Milchschalen bezeichnet waren, drohte sie plötzlich zu ersticken, fühlte sie ihren Mut schwinden.
»Du ißt nicht«, sagte Chanteau. »Was hast du bloß?« »Ich habe nichts«, erwiderte sie. »Im Gegenteil, ich habe geschlafen wie eine Selige.« Der bloße Anblick Lazares lieferte sie wieder ihrem Kampf aus. Er aß schweigend, dieses beginnenden neuen Tages bereits überdrüssig; und sie fand nicht mehr die Kraft, ihn einer anderen zu geben. Die Vorstellung, daß eine andere ihn nehmen, ihn küssen würde, um ihn zu trösten, war ihr unerträglich. Als er hinausgegangen war, wollte sie dennoch tun, was sie beschlossen hatte. »Geht es deinen Händen heute schlechter?« fragte sie ihren Onkel. Er besah sich seine Hände, die voller Gichtknoten waren, und ließ mühsam die Gelenke spielen. »Nein«, erwiderte er. »Die Rechte scheint
sogar beweglicher ... Wenn der Pfarrer kommt, werden wir eine Partie spielen.« Dann, nach einem Schweigen: »Warum fragst du mich danach?« Zweifellos hatte sie gehofft, er werde nicht schreiben können. Sie wurde rot, sie verschob feige den Brief auf den nächsten Tag und stammelte: »Mein Gott! Nur so.« Seit diesem Tag verlor sie jede Ruhe. In ihrem Zimmer gelang es ihr nach Weinkrämpfen, sich zu überwinden, sie schwor, nach dem Erwachen ihrem Onkel den Brief zu diktieren. Und sobald sie das tägliche Leben des Haushalts zwischen denen, die sie liebte, wieder begann, wurde sie kraftlos. Es waren unbedeutende kleine Dinge, die ihr das Herz brachen, das Brot, das sie für ihren Cousin schnitt, die Schuhe des jungen Mannes, die sie der Sorge des Hausmädchens empfahl, der ganze übliche und gewohnheitsmäßige Gang
des Familienlebens. Dabei hätte man so glücklich sein können in diesen alten Gewohnheiten des Hauses! Wozu eine Fremde rufen? Warum diese süßen Dinge stören, von denen sie seit so vielen Jahren lebten? Und bei dem Gedanken, daß eines Tages nicht sie es mehr sein würde, die das Brot schnitt, die über die Kleidung wachte, würgte sie Verzweiflung, fühlte sie das vorausgesehene Glück ihres Lebens zusammenbrechen. Diese Qual, die sich in die geringsten Arbeiten mischte, die sie in der Wirtschaft tat, vergiftete ihre Tage einer rührigen Hausfrau. »Was ist nur?« sagte sie manchmal laut. »Wir lieben uns und sind nicht glücklich ... Unsere Zuneigung schafft nur Unglück um uns her.« Immer wieder versuchte sie zu begreifen. Es lag vielleicht daran, daß ihr Charakter und der ihres Cousins nicht zueinander paßten. Indessen hätte sie nachgeben, jedem eigenen Willen entsagen wollen; aber dies gelang ihr
kaum, denn die Vernunft trug trotzdem den Sieg davon, sie war versucht, die Dinge durchzusetzen, die sie für vernünftig hielt. Oft versagte ihre Geduld, gab es Verstimmungen. Sie hätte lachen, diese Vorkommnisse in ihrer Fröhlichkeit ertränken mögen; doch nun regte auch sie sich auf. »Das ist ja reizend!« wiederholte Véronique vom Morgen bis zum Abend. »Nun sind Sie bloß drei und werden sich am Ende noch gegenseitig auffressen ... Frau Chanteau hatte recht unangenehme Tage, aber wenigstens war man zu ihren Lebzeiten noch nicht so weit, daß man sich die Kochtöpfe an den Kopf warf.« Auch Chanteau spürte die Auswirkungen dieser langsamen, durch nichts zu erklärenden Entfremdung. Wenn er einen Anfall hatte, schrie er noch lauter, wie das Hausmädchen sagte. Dann hatte er die Launen und heftigen Ausbrüche eines Kranken, ein Bedürfnis,
ständig die Leute zu quälen. Das Haus wurde wieder zur Hölle. Da fragte sich das junge Mädchen in den letzten Aufwallungen ihrer Eifersucht, ob sie das Recht hatte, Lazare ihr Glück aufzuzwingen. Gewiß, sie wollte ihn vor allem glücklich wissen, selbst um den Preis ihrer Tränen. Warum ihn also derart einschließen, ihn zu einer Einsamkeit zwingen, unter der er zu leiden schien? Bestimmt liebte er sie noch, würde er zu ihr zurückkehren, wenn er sie durch den Vergleich mit der anderen besser beurteilte. Auf jeden Fall mußte sie ihm erlauben zu wählen: Das war gerecht, und der Gerechtigkeitsgedanke blieb für sie oberstes Gebot. Jedes Vierteljahr begab sich Pauline wegen ihrer Jahreszinsen nach Caen. Sie fuhr am Morgen los und kam am Abend zurück, nachdem sie eine ganze Liste kleiner Einkäufe und Besorgungen erledigt hatte, die sie
während der drei Monate aufstellte. Dieses Jahr im Juni wartete man bis neun Uhr vergeblich mit dem Abendessen auf sie. Chanteau, der sehr beunruhigt war, hatte aus Furcht, daß ein Unfall geschehen sein könne, Lazare auf die Landstraße geschickt, während Véronique mit ruhiger Miene sagte, man täte unrecht, sich aufzuregen: Das Fräulein habe sich gewiß verspätet und sich entschlossen, in Caen zu übernachten, in dem Wunsch, alle ihre Besorgungen zu erledigen. Man schlief sehr schlecht in Bonneville; und am nächsten Morgen begannen beim Frühstück die Ängste von neuem. Gegen Mittag entschloß sich Lazare, da es sein Vater nicht mehr aushielt, sich auf den Weg nach Arromanches zu machen, als das Hausmädchen, das auf der Landstraße Wache stand, wieder erschien und rief: »Da kommt Mademoiselle Pauline!« Man mußte Chanteaus Sessel auf die Terrasse
rollen. Vater und Sohn warteten, während Véronique Einzelheiten angab. »Es ist der Wagen von Malivoire ... Ich habe Mademoiselle Pauline von weitem an ihren Kreppbändern erkannt. Nur, es kam mir seltsam vor, man könnte meinen, es ist noch jemand dabei ... Wo bleibt er denn nur, dieser Klappergaul!« Endlich hielt der Wagen vor der Tür. Lazare war näher getreten, und er tat schon den Mund auf, um Pauline, die leichtfüßig auf die Erde gesprungen war, zu befragen, als er betroffen innehielt: Hinter ihr sprang ein anderes junges Mädchen in einem fein gestreiften lila Seidenkleid heraus. Beide lachten wie gute Freundinnen. Seine Überraschung war so groß, daß er zu seinem Vater zurückging und sagte: »Sie bringt Louise mit.« »Louise! Ach, das ist ein guter Gedanke!« rief Chanteau aus.
Und als sie nebeneinander vor ihm standen, die eine noch ganz in Trauer, die andere in ihrer fröhlichen Sommergarderobe, fuhr er, entzückt über diese Zerstreuung, fort: »Was denn? Ihr habt Frieden geschlossen ... Wißt ihr, ich habe das nie richtig begriffen. Na, war das nicht dumm? Und wie unrecht du hattest, meine arme Louisette, uns das nachzutragen in all dem Kummer, den wir hatten! Nun, es ist vorbei, nicht wahr?« Vor Verlegenheit standen die jungen Mädchen unbeweglich da. Sie waren rot geworden, und ihre Blicke wichen einander aus. Louise küßte Chanteau, um ihr Unbehagen zu verbergen. Aber er wollte Erklärungen. »Ihr habt euch also getroffen?« Da wandte sie sich mit vor Rührung feuchten Augen zu ihrer Freundin. »Pauline war es, sie ist zu meinem Vater gegangen. Ich kam gerade heim. Ihr dürft sie
nicht ausschelten, daß sie geblieben ist, denn ich habe alles getan, um sie zurückzuhalten ... Da der Telegraph nur bis Arromanches geht, haben wir gedacht, wir würden zur selben Zeit hiersein wie eine Depesche ... Verzeiht ihr mir?« Sie küßte Chanteau noch einmal in ihrer schmeichelnden Art von früher. Er verlangte nichts weiter: Wenn alles zu seinem Vergnügen ausging, fand er es gut. »Und du, Lazare«, begann er wieder, »sagst du ihr nichts?« Der junge Mann war, gezwungen lächelnd, im Hintergrund geblieben. Die Bemerkung seines Vaters verwirrte ihn vollends, um so mehr, als Louise von neuem errötete, ohne einen Schritt auf ihn zu zu machen. Warum war sie da? Warum brachte seine Cousine diese Nebenbuhlerin zurück, die sie so roh verjagt hatte? Er war dadurch so betroffen, daß er sich nicht mehr zurechtfand.
»Gib ihr einen Kuß, Lazare, da sie es nicht wagt«, sagte Pauline sanft. Sie war ganz weiß in ihrer Trauerkleidung, doch ihr Gesicht war ruhig und ihre Augen klar. Mit ihrem mütterlichen Ausdruck, diesem ernsthaften Ausdruck, den sie in den wichtigen Stunden des häuslichen Lebens annahm, schaute sie die beiden an; und sie begnügte sich zu lächeln, als er sich entschloß, mit seinen Lippen die dargebotenen Wangen des jungen Mädchens leicht zu berühren. Daraufhin ging Véronique, die das sah, mit schlenkernden Händen wieder in ihre Küche zurück, das verschlug ihr den Atem. Auch sie begriff nicht. Nach allem, was geschehen war, mußte man recht wenig Herz haben. Mademoiselle Pauline wurde unmöglich, wenn sie es darauf anlegte, gut sein zu wollen. Es war also nicht genug mit all diesen kleinen verlausten Gören, die sie bis in die Küche schleppte: Jetzt brachte sie Herrn Lazare auch
noch Liebchen an! Das würde ja ein sauberes Haus werden. Als die Magd sich an ihrem Herd polternd erleichtert hatte, kam sie zurück und rief: »Sie wissen doch, daß das Mittagessen seit einer Stunde bereitsteht ... Die Kartoffeln sind ganz verkohlt.« Man aß mit großem Appetit, aber Chanteau allein lachte ungezwungen, er war zu vergnügt, um das anhaltende Unbehagen der drei anderen zu bemerken. Sie waren zueinander von liebevoller Zuvorkommenheit; und dennoch schienen sie einen Rest von unruhiger Traurigkeit in sich zu bewahren, wie nach jenen Streitigkeiten, bei denen man einander vergeben hat, ohne die nicht wiedergutzumachenden Beleidigungen vergessen zu können. Den Nachmittag verwandte man dann für die Unterbringung der Neuangekommenen. Sie nahm wieder ihr Zimmer im ersten Stock ein. Wäre am Abend
Frau Chanteau mit ihrem raschen kleinen Schritt zu Tisch heruntergekommen, so hätte man geglaubt, die Vergangenheit sei ganz, wie sie war, wiedererstanden. Noch fast eine Woche hielt die Befangenheit an. Lazare, der Pauline nicht zu befragen wagte, konnte sich ihr Verhalten, das er als seltsame Laune betrachtete, noch immer nicht erklären; denn der Gedanke an ein mögliches Opfer, an eine schlicht und großzügig ihm gebotene Wahl kam ihm keineswegs. Er selber hatte in dem Begehren, das ihn in seiner Untätigkeit durchtobte, nie daran gedacht, Louise zu heiraten. Und so entstand, seit sie sich alle drei wieder vereint sahen, daraus eine schiefe Situation, unter der sie litten. Hin und wieder gab es ein verlegenes Schweigen, manche Sätze blieben halb ausgesprochen auf ihren Lippen, aus Furcht vor einer ungewollten Anspielung. Überrascht durch dieses unvorhergesehene Ergebnis, war Pauline gezwungen, ihr Lachen zu übertreiben, um zu
der schönen Sorglosigkeit von früher zurückzukehren. Aber zunächst hatte sie eine tiefe Freude, sie glaubte zu fühlen, daß Lazare zu ihr zurückkam. Louises Gegenwart hatte ihn beruhigt, er floh sie fast, vermied es, mit ihr allein zu sein, empört bei dem Gedanken, daß er das Vertrauen seiner Cousine noch einmal täuschen könnte; und er wandte sich ihr wieder zu, von einer fieberhaften Zärtlichkeit gequält, erklärte mit gerührter Miene, sie sei die beste aller Frauen, eine wahre Heilige, deren er unwürdig sei. Glücklich über ihren Sieg, kostete sie ihn in himmlischer Freude aus, wenn sie ihn der anderen gegenüber so wenig liebenswürdig sah. Am Ende der Woche machte sie ihm sogar Vorwürfe. »Warum läufst du weg, sowie ich mit ihr zusammen bin? Das bekümmert mich. Sie ist nicht bei uns, damit wir ihr ein böses Gesicht zeigen.« Lazare vermied es zu antworten und machte
eine unbestimmte Geste. Da erlaubte sie sich eine Anspielung, die einzige, die ihr jemals entfuhr: »Ich habe sie mitgebracht, damit du weißt, daß ich euch seit langem verziehen habe. Ich habe diesen häßlichen Traum auslöschen wollen, es ist nichts mehr davon übrig ... Und du siehst, ich habe keine Angst mehr, ich habe Vertrauen zu euch.« Er nahm sie in seine Arme und drückte sie ganz fest an sich. Dann versprach er, liebenswürdig zu der anderen zu sein. Von diesem Augenblick an flossen die Tage in bezaubernder Vertrautheit dahin. Lazare schien sich nicht mehr zu langweilen. Statt in sein Zimmer hinaufzugehen und sich dort einzuschließen, menschenscheu und krank vor Einsamkeit, erfand er Spiele, schlug er Spaziergänge vor, nach denen man von frischer Luft berauscht heimkehrte. Und da geschah es, ganz unmerklich, daß Louise ihn
wieder gefangennahm. Er gewöhnte sich daran, wagte ihr den Arm zu bieten, ließ sich erneut von jenem verwirrenden Duft durchdringen, den der geringste Zipfel ihrer Spitzen ausströmte. Zunächst kämpfte er dagegen an, wollte er sich entfernen, sowie er den Rausch in sich aufsteigen fühlte. Doch seine Cousine selber rief ihm zu, er solle dem jungen Mädchen helfen, wenn sie an der Felsenküste über ein Rinnsal springen mußte; und sie selbst sprang kühn wie ein Junge, während sich die andere mit dem leisen Aufschrei einer verwundeten Schwalbe in die Arme des jungen Mannes fallen ließ. Bei der Rückkehr dann stützte er sie; das unterdrückte Lachen der beiden, ihr Geflüster begann von neuem. Noch beunruhigte nichts Pauline, sie bewahrte ihre tapfere Haltung, ohne zu erkennen, daß sie ihr Glück aufs Spiel setzte, indem sie nicht müde war und keines Beistandes bedurfte. Der gesunde Geruch ihrer Hausfrauenarme verwirrte niemand. Mit einer
Art lächelnder Verwegenheit zwang sie die beiden, Arm in Arm vor ihr her zu gehen, wie um ihnen ihr Vertrauen zu beweisen. Im übrigen hätte keiner von beiden sie betrogen. Obgleich sich Lazare von diesem Rausch wieder gefangennehmen ließ, wehrte er sich doch immer dagegen, gab sich hinterher Mühe und zeigte sich Pauline gegenüber noch liebevoller. Es war eine Überrumpelung seines Fleisches, der er mit Wonne nachgab, wobei er hoch und heilig gelobte, daß das Spiel diesmal beim erlaubten Lachen haltmachen würde. Warum hätte er sich diese Freude versagen sollen, da er ja entschlossen war, seiner Pflicht als ehrenhafter Mann treu zu bleiben? Und Louise hatte noch mehr Skrupel; nicht daß sie sich der Koketterie bezichtigte, denn sie war von Natur anschmiegsam, sie verschenkte sich, ohne es zu wissen, in einer Gebärde, in einem Atemzug; doch sie hätte weder einen Schritt getan noch ein Wort gesprochen, wenn sie
geglaubt hätte, Pauline zu verletzen. Die Verzeihung des Vergangenen rührte sie zu Tränen, sie wollte ihr beweisen, daß sie dessen würdig war, sie brachte ihr jene überschwengliche Anbetung einer Frau entgegen, die in Schwüren, Küssen und allen Arten leidenschaftlicher Liebkosungen zum Ausdruck kommt. So beobachtete sie sie unaufhörlich, um herbeizueilen, wenn sie meinte, einen Schatten auf ihrer Stirn zu sehen. Plötzlich ließ sie Lazares Arm los, kam und ergriff den ihren, ärgerlich darüber, daß sie sich einen Augenblick hatte gehenlassen; und sie suchte sie zu zerstreuen, wich nicht mehr von ihrer Seite, tat sogar so, als schmolle sie mit dem jungen Mann. Niemals war sie so charmant erschienen wie in dieser ständigen Erregung, in diesem Bedürfnis zu gefallen, das sie fortriß und ihr dann wieder unendlich leid tat und in dem sie das Haus mit dem Wirbel ihrer Röcke und mit ihrem schmeichelnden Schmachten einer jungen Katze erfüllte.
Nach und nach verfiel Pauline wieder in ihre Qualen. Die Hoffnung, der Triumph, die sie einen Augenblick erfüllt hatten, steigerten noch deren Grausamkeit. Das waren nicht die heftigen Erschütterungen von früher, die Eifersuchtsanfälle, die sie für eine Stunde verwirrten; es war ein langsames Erdrücktwerden, wie eine Last, die auf sie gefallen war und deren Gewicht sie mit jeder Minute mehr zermalmte. Von nun an gab es keinen Aufschub mehr, war keine Rettung mehr möglich: Am Ende würde doch ihr Unglück stehen. Gewiß, sie hatte ihnen keinen Vorwurf zu machen, beide überschütteten sie mit Zuvorkommenheit, kämpften gegen die verführende Gewalt, die sie zueinander trieb; und gerade unter dieser Zuvorkommenheit litt sie, sie begann wieder klarzusehen, seit die beiden sich darüber zu verständigen schienen, ihr den Schmerz ihrer Liebe zu ersparen. Das Mitleid dieser beiden Liebenden wurde ihr unerträglich. Waren das nicht Geständnisse,
dieses hastige, Geflüster, wenn sie sie miteinander allein ließ, das jähe Schweigen dann, sobald sie wieder erschien, und diese heftigen Küsse von Louise und diese liebevolle Demut Lazares? Sie hätte es lieber gesehen, sie würden sich schuldig machen und sie, in Winkeln verborgen, verraten; während diese ehrsame Behutsamkeit, diese Entschädigung durch Liebkosungen, die ihr alles sagten, sie entwaffneten, so daß sie weder den Willen noch die Tatkraft fand, ihr Gut zurückzuerobern. An dem Tage, da sie ihre Nebenbuhlerin wieder mitgebracht hatte, war es ihr Vorhaben gewesen, gegen sie zu kämpfen, wenn es sein mußte; allein was sollte man gegen Kinder beginnen, die so betrübt darüber waren, daß sie sich liebten? Sie selber hatte es ja gewollt, sie hätte Lazare nur zu heiraten brauchen, ohne sich zu sorgen, ob sie ihn dazu zwang. Aber noch heute, trotz ihrer Qual, empörte sie der Gedanke, so über ihn zu verfügen, die Erfüllung eines Versprechens zu
fordern, das er zweifellos bereute. Und wäre sie daran gestorben, so hätte sie ihn abgewiesen, wenn er eine andere liebte. Indessen blieb Pauline die Mutter ihrer kleinen Welt, pflegte Chanteau, dem es schlecht ging, war gezwungen, Véronique nachzuarbeiten, deren Sauberkeit nachließ, ganz abgesehen von Lazare und Louise, die sie als ausgelassene Kinder zu behandeln vorgab, um über ihre Streiche lächeln zu können. Es gelang ihr, lauter zu lachen als sie, jenes schöne, klingende Lachen, aus dem mit hellen Trompetentönen Gesundheit und Lebensmut klangen. Das ganze Haus heiterte sich auf. Vom Morgen bis zum Abend gab sie sich ihrer übertriebenen Geschäftigkeit hin, weigerte sie sich, die Kinder zum Spaziergang zu begleiten, indem sie einen Vorwand ersann wie Großreinemachen, Wäschewaschen oder Einkochen. Doch vor allem Lazare wurde geräuschvoll: Er pfiff im Treppenhaus, schlug die Türen zu, fand die Tage zu kurz und zu
ruhig. Obgleich er nichts tat, schien die neue Leidenschaft, die über ihn gekommen war, ihn weit über seine Zeit und seine Kräfte hinaus zu beschäftigen. Wieder einmal eroberte er die Welt, jeden Tag äußerte er beim Abendessen andere außerordentliche Zukunftspläne. Schon widerte die Literatur ihn an, er gestand, die Vorbereitungen für die Prüfungen aufgegeben zu haben, die er ablegen wollte, um ins Lehramt einzutreten; lange hatte er sich mit dieser Entschuldigung in seinem Zimmer eingeschlossen, so mutlos, daß er nicht einmal ein Buch aufschlug; und heute verspottete er seine Dummheit. War es nicht blödsinnig, sich einen Strick ans Bein zu binden, um später Romane und Stücke zu schreiben? Nein! Nur die Politik kam in Frage, sein Plan stand nunmehr fest: Er kannte ein wenig den Abgeordneten von Caen, er würde ihn als Sekretär nach Paris begleiten, und dort würde er in wenigen Monaten seinen Weg machen. Das Kaiserreich brauchte dringend intelligente
Burschen. Wenn Pauline, durch diesen Gedankengalopp beunruhigt, sein Fieber zu beschwichtigen suchte, indem sie ihm zu einer soliden kleinen Anstellung riet, erhob er laut Einspruch gegen ihre Vorsicht und nannte sie scherzhaft »Großmutter«. Und das Gepolter begann von neuem, das Haus hallte wider von einer allzu lauten Freude, aus der man die Angst einer verborgenen Not heraushörte. Eines Tages, als Lazare und Louise allein nach Verchemont gegangen waren, stieg Pauline, die eine Anleitung zum Auffrischen von Samt brauchte, hinauf und durchsuchte danach den großen Schrank ihres Cousins, in dem sie sie auf einem Stück Papier zwischen zwei Seiten eines Buches gesehen zu haben glaubte. Und dort, unter lauter Heften, entdeckte sie den alten Handschuh ihrer Freundin, jenen vergessenen Handschuh, an dem er sich so oft bis zu einer Art Ersatz sinnlicher Befriedigung berauscht hatte. Das war eine Erleuchtung für sie, sie erkannte den Gegenstand wieder, den
er mit so großer Verwirrung verborgen hatte an dem Abend, da sie unvermittelt heraufgekommen war, um ihn zu Tisch zu rufen. Sie sank auf einen Stuhl, wie vernichtet durch diese Entdeckung. Mein Gott! Er wollte dieses Mädchen schon, bevor sie zurückgekehrt war, er lebte mit ihr, er hatte diesen Fetzen mit seinen Lippen abgenutzt, weil er ein wenig von ihrem Duft bewahrte! Heftiges Schluchzen schüttelte sie, während ihre tränennassen Augen starr auf den Handschuh sahen, den sie noch immer in ihren zitternden Händen hielt. »Nun, Mademoiselle Pauline, haben Sie sie gefunden?« fragte vom Treppenabsatz her die laute Stimme von Véronique, die nun auch heraufkam. »Ich sage Ihnen, das beste Mittel ist, ihn mit einer Speckschwarte abzureiben.« Sie kam herein und begriff zunächst nicht, als sie Pauline in Tränen sah, die Finger um diesen alten Handschuh gekrampft. Aber sie
schnupperte im Zimmer herum und erriet schließlich den Grund dieser Verzweiflung. »Also doch!« begann sie in der groben Art, die sie mehr und mehr annahm. »Sie hätten wohl auf das gefaßt sein müssen, was da geschieht ... Ich habe Sie damals gewarnt. Sie bringen sie wieder zusammen, und nun amüsieren sie sich ... Und außerdem hatte Frau Chanteau vielleicht recht, dieses Püppchen da reizt ihn mehr als Sie.« Sie schüttelte den Kopf und fügte, zu sich selber sprechend, mit dumpfer Stimme hinzu: »Ach! Frau Chanteau sah klar, trotz ihrer Fehler ... Ich kann es noch immer nicht verwinden, daß sie tot ist.« Am Abend in ihrem Zimmer, als Pauline ihre Tür geschlossen und die Kerze auf die Kommode gestellt hatte, sank sie auf den Rand ihres Bettes nieder und sagte sich, sie müsse Lazare und Louise verheiraten. Den ganzen
Tag über hatte ihr Schädel so gebrummt, daß sie nicht einen klaren Gedanken zu fassen vermochte; und erst zu dieser nächtlichen Stunde, da sie ohne Zeugen leiden konnte, fand sie endlich zu diesem unvermeidlichen Schluß. Man mußte sie verheiraten, das dröhnte in ihr wie ein Befehl, wie eine Stimme der Vernunft und der Gerechtigkeit, die sie nicht zum Schweigen bringen konnte. Einen Augenblick wandte sie, die so mutig war, sich entsetzt um, als sie die Stimme ihrer Tante zu hören glaubte, die ihr zurief, sie solle gehorchen. Da warf sie sich völlig angekleidet aufs Bett und vergrub den Kopf im Kissen, um ihre Schreie zu ersticken. Oh! Ihn einer anderen geben, ihn in den Armen einer anderen wissen, für immer, ohne die Hoffnung, ihn je wieder zurückzuholen! Nein, sie würde diesen Mut nicht haben, lieber wollte sie ihr elendes Leben weiterleben; niemand würde ihn bekommen, weder sie noch dieses Mädchen, und er selber würde in
der Erwartung verdorren! Lange kämpfte sie mit sich, geschüttelt von einer eifersüchtigen Wut, die abscheuliche sinnliche Bilder vor ihr erstehen ließ. Immer siegte zuerst das Blut, eine Heftigkeit, die weder die Jahre noch die Klugheit besänftigten. Dann verfiel sie in eine tiefe Erschöpfung, ihr Fleisch war ausgelöscht. Nun überlegte Pauline lange, auf dem Rücken ausgestreckt, ohne die Kraft zu finden, sich zu entkleiden. Es gelang ihr, sich zu beweisen, daß Louise mehr als sie zu Lazares Glück beitragen würde. Dieses so schwache Kind mit den Zärtlichkeiten einer Geliebten, hatte es ihn nicht schon seiner Langeweile entrissen? Bestimmt brauchte er sie so, ständig an seinem Halse hängend, mit ihren Küssen die düsteren Gedanken, die Schrecken des Todes verjagend. Und Pauline setzte sich selbst herab, fand sich zu kühl, ohne verliebte weibliche Anmut, nur mit Güte begabt, was den jungen Männern nicht genügt. Eine weitere Überlegung überzeugte sie vollends.
Sie war ruiniert, und die Zukunftspläne ihres Cousins, jene Pläne, die sie beunruhigten, würden viel Geld erfordern. Sollte sie ihm diese ärmlichen Verhältnisse aufzwingen, in denen die Familie lebte, die Mittelmäßigkeit, unter der sie ihn leiden sah? Das wäre ein schreckliches Dasein, ein ständiges Bereuen, die zänkische Bitterkeit versäumten Ehrgeizes. Sie würde ihm den ganzen Groll gegen das Elend mit in die Ehe bringen, während Louise reich war und ihm die großen Stellungen öffnen konnte, von denen er träumte. Man versicherte, der Vater des jungen Mädchens halte für seinen Schwiegersohn eine fertige Position bereit; gewiß handelte es sich um eine Stellung in der Bank, und obgleich Lazare sich den Anschein gab, als verachte er die Finanzleute, würden sich die Dinge sicher arrangieren. Sie konnte nicht länger zögern, jetzt schien es ihr, als beginge sie eine gemeine Tat, wenn sie die beiden nicht verheiratete. In ihrer Schlaflosigkeit wurde ihr
diese Heirat zur natürlichen und notwendigen Lösung, die sie beschleunigen mußte, wollte sie nicht die Achtung vor sich selbst verlieren. Die ganze Nacht ging in diesem Kampf dahin. Als es Tag wurde, entkleidete Pauline sich endlich. Sie war sehr ruhig, sie genoß im Bett eine tiefe Ruhe, ohne schon schlafen zu können. Niemals hatte sie sich so leicht, so hochgestimmt, so losgelöst gefühlt. Alles nahm ein Ende, sie hatte soeben die Bande ihrer Selbstsucht zerschnitten, sie hoffte auf nichts und auf niemand mehr; und tief in ihrem Innern fühlte sie die subtile Wollust des Opfers. Sie fand nicht einmal ihren einstigen Willen wieder, dem Glück der Ihren zu genügen, jenes herrische Bedürfnis, das ihr zu dieser Stunde wie die letzte Verschanzung ihrer Eifersucht erschien. Der Stolz ihrer Selbstaufopferung war dahin, sie ließ es gelten, daß die Ihren ohne sie glücklich würden. Dies war der höchste Grad der Liebe zu den anderen: verschwinden, alles geben,
ohne zu glauben, daß man genug gibt, so sehr lieben, daß man sich eines Glückes freut, welches man nicht geschaffen hat und an dem man nicht teilhaben wird. Die Sonne ging auf, als sie in tiefen Schlaf sank. An jenem Tag ging Pauline sehr spät hinunter. Beim Erwachen hatte sie die Freude gehabt, ihre Entschlüsse vom Abend vorher klar und sicher in sich zu fühlen. Dann bemerkte sie, daß sie sich selbst dabei vergessen hatte und daß sie in der neuen Lage, die für sie entstehen würde, gleichwohl an das Morgen denken müsse. Wenn sie auch den Mut hatte, Lazare und Louise zu verheiraten, so würde sie doch niemals den Mut haben, bei ihnen zu bleiben und die Vertrautheit ihres Glückes zu teilen: Die Aufopferung hat Grenzen, Pauline fürchtete die Wiederkehr ihrer heftigen Ausbrüche, irgendeinen schrecklichen Auftritt, an dem sie gestorben wäre. Tat sie im übrigen nicht schon genug? Wer hätte die Grausamkeit besessen, ihr diese unnütze Folter
aufzuzwingen? Ihre Entscheidung wurde also auf der Stelle, unwiderruflich gefaßt: Sie würde fortgehen, sie würde dieses Haus voller beunruhigender Erinnerungen verlassen. Ihr ganzes Leben würde sich ändern, und sie schreckte nicht davor zurück. Beim Mittagessen zeigte sie jene ruhige Heiterkeit, die sie nicht mehr verließ. Der Anblick von Lazare und Louise, die flüsternd und lachend nebeneinander saßen, ließ sie tapfer bleiben, ohne eine andere Schwäche als eine große Kälte im Herzen. Dann, da es gerade Sonnabend war, hatte sie den Gedanken, die beiden zu einem ausgedehnten Spaziergang zu drängen, um allein zu sein, wenn Doktor Cazenove käme. Sie brachen auf, und sie war überdies so vorsichtig, letzteren auf der Landstraße zu erwarten. Sowie er sie erblickte, wollte er sie in seinen Wagen steigen lassen, um sie nach Hause zu fahren. Doch sie bat ihn auszusteigen, sie kehrten langsamen Schrittes zurück, während Martin hundert
Meter vor ihnen den leeren Wagen lenkte. Und Pauline schüttete in wenigen schlichten Worten ihr Herz aus. Sie sagte alles, sprach von ihrem Plan, Lazare Louise zu geben, von ihrem Willen, das Haus zu verlassen. Diese Beichte schien ihr notwendig, sie hatte nicht Hals über Kopf handeln wollen, und der alte Arzt war der einzige Mensch, der sie verstehen konnte. Plötzlich blieb Cazenove mitten auf der Straße stehen und nahm sie in seine langen mageren Arme. Er zitterte vor Erregung, er drückte ihr einen herzhaften Kuß aufs Haar und duzte sie. »Du hast recht, mein Kind ... Und siehst du, ich bin von Herzen froh, denn das hätte noch schlechter enden können. Seit Monaten quält mich das, ich war ganz krank, wenn ich zu euch ging, so unglücklich kamst du mir vor ... Ach, sie haben dich schön ausgeplündert, die guten Leute: zuerst dein Geld, dann dein Herz ...«
Das junge Mädchen unterbrechen.
versuchte
ihn
zu
»Mein Freund, ich flehe Sie an ... Sie beurteilen sie schlecht.« »Möglich, das hindert mich aber nicht, mich für dich zu freuen. Geh, geh, gib deinen Lazare her, es ist kein schönes Geschenk, das du der anderen machst ... Oh! Er ist gewiß reizend, voll der besten Absichten; aber mir ist es lieber, daß die andere unglücklich mit ihm wird. Diese Burschen, die alles langweilt, sind zu schwer zu tragen, selbst für so kräftige Schultern wie die deinen. Eher würde ich dir einen Fleischergesellen wünschen, ja, einen Fleischergesellen, der Tag und Nacht lacht, daß er sich die Kinnbacken ausrenkt.« Dann, als er sah, daß ihr Tränen in die Augen stiegen: »Gut! Du liebst ihn, sprechen wir nicht mehr davon. Und umarme mich noch einmal, denn du bist schon ein recht tapferes Mädchen, daß du so viel Vernunft hast ... So ein Dummkopf,
der nicht begreift!« Er hatte ihren Arm genommen, er drückte sie an sich. Und nun sprachen sie vernünftig miteinander, während sie wieder weitergingen. Gewiß, sie würde gut daran tun, Bonneville zu verlassen; und er übernahm es, ihr eine Stellung zu verschaffen. Er hätte nämlich in SaintLô eine reiche alte Verwandte, die eine Gesellschafterin suchte. Das junge Mädchen wäre dort vorzüglich aufgehoben, um so mehr, als jene Dame, die keine Kinder hatte, sie liebgewinnen und vielleicht später an Kindes Statt annehmen könne. Alles wurde geregelt, er versprach ihr eine endgültige Antwort vor Ablauf von drei Tagen, und sie kamen überein, zu niemand von diesem feststehenden Abreiseplan zu sprechen. Sie fürchtete, daß man darin eine Drohung sah, vielmehr wollte sie die Heirat zustande bringen und am Tage darauf ohne Aufhebens als nunmehr überflüssige Person ihres Weges gehen.
Am dritten Tag erhielt Pauline einen Brief vom Doktor: Man erwartete sie in SaintLô, sobald sie frei sein würde. Und an demselben Tag nahm sie, während Lazare abwesend war, Louise mit in den Garten, auf eine alte, von Tamariskensträuchern geschützte Bank. Vor sich, über die kleine Mauer hinweg, sah man nichts als das Meer und den Himmel, eine blaue Unendlichkeit, die am Horizont von einer einfachen großen Linie durchschnitten wurde. »Mein Liebes«, sagte Pauline in ihrer mütterlichen Art, »wir wollen wie zwei Schwestern miteinander reden, ja? Du liebst mich doch ein wenig ...« Louise unterbrach sie und faßte sie um die Taille. »O ja!« »Nun gut! Wenn du mich liebhast, tust du unrecht, mir nicht alles zu sagen ... Warum
hast du Geheimnisse?« »Ich habe keine Geheimnisse.« »Doch, du denkst nicht genug nach ... Komm, öffne mir dein Herz.« Beide sahen sich einen Augenblick aus so großer Nähe an, daß sie die Wärme ihres Atems spürten. Indessen trübten sich allmählich die Augen der einen unter dem klaren Blick der anderen. Das Schweigen wurde peinlich. »Sag mir alles. Dinge, über die man spricht, sind bald geklärt; wenn man sie aber verhehlt, wird am Ende etwas Häßliches daraus ... Nicht wahr, es wäre doch nicht schön, wenn wir uns erzürnten, wenn es noch einmal zu dem käme, was wir so sehr bedauert haben.« Da brach Louise heftig in Schluchzen aus. Sie preßte mit ihren zuckenden Händen Paulines Taille, sie hatte ihren Kopf sinken lassen und barg ihn an der Schulter ihrer Freundin,
während sie unter Tränen stammelte: »Oh, es ist schlecht, darauf zurückzukommen! Wir sollten nie wieder davon sprechen, nie wieder! Schick mich lieber gleich fort, bevor du mir diese Qual bereitest.« Vergeblich suchte Pauline sie zu beruhigen. »Nein, ich verstehe sehr wohl ... Du verdächtigst mich noch immer. Warum sprichst du mir von einem Geheimnis? Ich habe kein Geheimnis, ich tue alles nur Erdenkliche, damit du mir keinen Vorwurf zu machen brauchst. Es ist nicht meine Schuld, wenn es Dinge gibt, die dich beunruhigen: Ich achte sogar darauf, wie ich lache, wenn es auch nicht so aussieht ... Und wenn du mir nicht glaubst, nun gut, dann gehe ich, dann gehe ich sofort.« Sie waren allein in der großen Weite. Der vom Westwind versengte Garten erstreckte sich zu ihren Füßen wie unbebautes Land, während
jenseits das reglose Meer seine Unendlichkeit entrollte. »Aber hör doch mal zu!« rief Pauline. »Ich mache dir gar keinen Vorwurf, ich möchte dich im Gegenteil beruhigen.« Und indem sie sie bei den Schultern faßte und sie zwang aufzublicken, sagte sie sanft zu ihr, wie eine Mutter, die ihre Tochter befragt: »Du liebst Lazare? Und er liebt dich auch, ich weiß es.« Eine Blutwelle war Louise ins Gesicht gestiegen. Sie zitterte noch mehr, sie wollte sich losmachen und fliehen. »Mein Gott! Ich bin doch recht ungeschickt, daß du mich nicht verstehst! Würde ich wohl auf ein solches Thema zu sprechen kommen, um dich zu quälen? Ihr liebt euch, nicht wahr? Nun gut, ich will euch miteinander verheiraten, das ist ganz einfach.«
Verstört hörte Louise auf, sich zu sträuben. Bestürzung ließ ihre Tränen versiegen, lähmte sie, ihre Hände waren leblos herabgesunken. »Wie? Und du?« »Ich, mein Liebes, ich habe mich seit einigen Wochen ernsthaft befragt, des Nachts vor allem, in den Stunden des Wachseins, in denen man klarer sieht ... Und ich habe erkannt, daß ich für Lazare nur eine gute Freundschaft hatte. Merkst du es nicht selber? Wir sind Kameraden, man könnte meinen, zwei Jungen, es gibt zwischen uns nicht dieses Hingerissensein der Liebenden ...« Sie suchte nach Ausflüchten, um ihre Lüge glaubwürdig zu machen. Aber ihre Nebenbuhlerin sah sie noch immer mit ihren starren Augen an, als hätte sie den verborgenen Sinn der Worte durchschaut. »Warum lügst du?« murmelte sie schließlich. »Bist du fähig, nicht mehr zu lieben, wenn du
einmal liebst?« Pauline wurde verwirrt. »Was bedeutet das schließlich! Ihr liebt euch, es ist ganz natürlich, daß er dich heiratet ... Ich bin mit ihm aufgewachsen, ich werde seine Schwester bleiben. Die verliebten Gedanken schwinden dahin, wenn man so lange aufeinander gewartet hat ... Und außerdem gibt es noch viele Gründe ...« Ihr wurde bewußt, daß sie den Boden unter den Füßen verlor, daß sie abirrte, und mitgerissen von ihrer Offenheit, begann sie wieder: »Oh, mein Liebes, laß mich nur machen! Wenn ich ihn noch genügend liebe, um zu wünschen, daß er dein Mann wird, so deshalb, weil ich glaube, daß du zu seinem Glück nötig bist. Mißfällt dir das? Würdest du nicht ebenso handeln wie ich? ... Komm, laß uns in Freundschaft darüber reden. Willst du bei der
Verschwörung mitmachen? Willst du, daß wir im Einverständnis miteinander sind, um ihn zum Glück zu zwingen? Selbst wenn er böse würde, wenn er glauben sollte, mir etwas schuldig zu sein, müßtest du mir helfen, ihn zu überzeugen, denn du bist es, die er liebt, du bist es, die er braucht ... Ich bitte dich, sei meine Verbündete, laß uns alles gut verabreden, solange wir allein sind.« Aber Louise fühlte sie so erschauern, so zerrissen in ihrem Flehen, daß sie sich ein letztes Mal auflehnte. »Nein, nein, das kann ich nicht annehmen! Das wäre abscheulich, so etwas zu tun. Du liebst ihn noch immer, ich fühle es wohl, und du weißt nicht, was du erfinden sollst, um dich noch mehr zu quälen ... Statt dir zu helfen, werde ich ihm alles sagen. Ja, sowie er heimkommt ...« Pauline umschlang sie von neuem mit ihren beiden barmherzigen Armen und hinderte sie
daran, weiterzusprechen, indem sie ihren Kopf an ihre Brust drückte. »Sei still, du böses Kind! Es muß sein, denken wir an ihn.« Wieder trat Schweigen ein, eng umschlungen blieben sie sitzen. Louise, schon erschöpft, gab ihren Widerstand auf und fügte sich in ihrer schmeichlerisch hingebungsvollen Art; eine Flut von Tränen war wieder in ihre Augen gestiegen, jedoch sanfte Tränen, die langsam flossen. Ohne zu sprechen, drückte sie ihre Freundin von Zeit zu Zeit an sich, als könnte sie ihr nur so, mit aller Zurückhaltung und Herzlichkeit, danken. Pauline schien ihr so überlegen in der Großzügigkeit ihres blutenden Herzens, daß sie nicht einmal zu ihr aufzuschauen wagte, aus Angst, ihrem Blick zu begegnen. Nach einigen Minuten indessen wagte sie es, warf sie den Kopf in lächelnder Verwirrung zurück, hob dann die Lippen zu ihr empor und gab ihr einen stummen Kuß.
Das Meer in der Ferne unter dem fleckenlosen Himmel hatte nicht eine Welle, die sein unermeßliches Blau unterbrach. Es war eine Reinheit, eine Schlichtheit, in der sie noch lange die Gedanken schweifen ließen, die sie nicht mehr aussprachen. Als Lazare heimgekehrt war, suchte Pauline ihn in seinem Zimmer auf, in diesem geliebten großen Raum, in dem sie beide aufgewachsen waren. Sie wollte noch am selben Tag ihr Werk zu Ende führen. Bei ihm suchte sie keine Einleitung, sie sprach ohne Umschweife. Der Raum war voller Erinnerungen an früher: Trockene Algen lagen umher, das Modell der Buhnen nahm das ganze Klavier ein, der Tisch floß über von wissenschaftlichen Büchern und Notenblättern. »Lazare«, fragte sie, »willst du dich mit mir unterhalten? Ich habe dir ernste Dinge zu sagen.« Er schien überrascht und pflanzte sich vor ihr
auf. »Was denn? Ist etwas mit Papa?« »Nein, hör zu ... Wir müssen endlich dieses Thema anschneiden, denn es führt zu nichts, wenn wir schweigen. Du erinnerst dich, daß Tante den Plan gefaßt hatte, uns zu verheiraten; wir haben viel darüber gesprochen, und seit Monaten ist nicht mehr die Rede davon. Nun gut, ich denke, es wäre jetzt vernünftig, diesen Plan aufzugeben.« Der junge Mann war bleich geworden; doch er ließ sie nicht ausreden, er rief heftig: »Was? Was erzählst du da? Bist du denn nicht meine Frau? Gleich morgen, wenn du willst, gehen wir zum Pfarrer und sagen ihm, er soll die Sache ins reine bringen ... Nennst du das ernste Dinge?« Sie entgegnete mit ihrer ruhigen Stimme: »Es ist sehr ernst, da du dich aufregst ... Ich
sage dir noch einmal, wir müssen darüber reden. Gewiß, wir sind alte Freunde, aber ich fürchte sehr, daß wir nicht das Zeug zu zwei Liebesleuten in uns haben. Wozu uns auf einen Gedanken versteifen, der vielleicht für keinen von uns beiden das Glück bedeuten würde?« Da stürzte sich Lazare in eine Flut zusammenhangloser Worte. Suchte sie Streit mit ihm? Er konnte doch nicht immerfort an ihrem Halse hängen. Wenn man die Heirat von Monat zu Monat hinausgeschoben hatte, so wußte sie ja, daß es nicht an ihm lag. Und es war ungerecht, ihm zu sagen, er liebe sie nicht mehr. Er hatte sie so sehr geliebt, gerade in diesem Zimmer, daß er sie nicht mit seinen Fingern zu streifen wagte, aus Furcht, sich hinreißen zu lassen und sich schlecht zu betragen. Bei dieser Erinnerung an die Vergangenheit stieg Röte in Paulines Wangen, er hatte recht, sie erinnerte sich dieses kurzen Begehrens, dieses glühenden Atems, mit dem er sie eingehüllt hatte. Doch wie fern waren
diese Stunden köstlichen Erschauerns und welch kühle brüderliche Freundschaft bezeigte er ihr jetzt! Und so erwiderte sie traurig: »Mein armer Freund, wenn du mich wirklich liebtest, würdest du, statt dich zu verteidigen, schon in meinen Armen liegen und schluchzen und andere Dinge finden, um mich zu überzeugen.« Er wurde noch blasser, machte eine unbestimmte Gebärde des Widerspruchs und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Nein«, fuhr sie fort, »es ist klar, du liebst mich nicht mehr ... Was willst du? Wir sind eben nicht füreinander geschaffen. Als wir hier eingeschlossen waren, warst du wohl oder übel gezwungen, an mich zu denken. Und später ist dir der Gedanke daran vergangen, es war nicht von Dauer, weil ich nichts hatte, um dich zu fesseln.« Eine letzte Regung der Entrüstung riß ihn fort.
Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und stammelte: »Worauf willst du bloß hinaus? Was bedeutet das alles? frage ich dich. Ich kehre ganz friedlich heim, gehe hinauf, um meine Pantoffeln anzuziehen, und du fällst über mich her und fängst ohne vorherige Warnung mir nichts, dir nichts mit dieser überspannten Geschichte an ... Ich liebe dich nicht mehr, wir sind nicht füreinander geschaffen, wir müssen unsere Heiratspläne aufgeben ... Ich frage dich noch einmal, was bedeutet das?« Pauline, die auf ihn zugegangen war, sagte langsam: »Das bedeutet, daß du eine andere liebst und daß ich dir rate, sie zu heiraten.« Einen Augenblick blieb Lazare stumm. Dann verlegte er sich aufs Spotten. Gut! Die Auftritte begännen von neuem, wieder sei es ihre Eifersucht, die alles durcheinanderbringen
werde! Sie könne ihn nicht einen Tag fröhlich sehen, sie müsse immer Leere um ihn schaffen. Pauline hörte ihm mit dem Ausdruck tiefen Schmerzes zu; und plötzlich legte sie ihm ihre zitternden Hände auf die Schultern, und ihr Herz machte sich in einem ungewollten Aufschrei Luft: »O mein Freund, wie kannst du glauben, daß ich dich quälen will! Begreifst du denn nicht, daß ich einzig an deine Freude denke, daß ich in alles einwilligen würde, um dir eine Stunde des Vergnügens zu sichern? Nicht wahr, du liebst Louise? Nun gut, ich sage dir, du sollst sie heiraten! Versteh das doch, ich zähle nicht mehr, ich geb sie dir.« Er sah sie fassungslos an. In dieser nervösen, unausgeglichenen Natur sprangen die Empfindungen bei der geringsten Erschütterung von einem Extrem zum anderen. Seine Augenlider zuckten, er schluchzte. »Sei still, ich bin ein elender Kerl! Ja, ich
verachte mich um all der Dinge willen, die seit Jahren in diesem Hause geschehen ... Ich bin dein Schuldner, sag nicht nein! Wir haben dir dein Geld genommen, ich habe es wie ein Dummkopf vergeudet, und jetzt bin ich so tief gesunken, daß du mir mein Wort zum Almosen machst, daß du es mir aus Mitleid zurückgibst wie einem Mann ohne Mut und ohne Ehre.« »Lazare! Lazare!« murmelte sie entsetzt. Mit einer wütenden Bewegung war er aufgesprungen und lief hin und her, schlug sich mit den Fäusten an die Brust. »Laß mich! Ich würde mich auf der Stelle umbringen, wenn ich mir ein gerechtes Urteil spräche ... Müßte ich dich nicht lieben? Ist es nicht abscheulich, jene andere zu begehren, die zweifellos nicht für mich bestimmt war, die weniger gut und weniger gesund ist, was weiß ich? Wenn ein Mann auf diese Dinge verfällt, dann ist da etwas faul ... Du siehst, ich
verberge nichts, ich versuche kaum, mich zu entschuldigen ... Hör zu, ehe ich dein Opfer annähme, würde ich selber Louise vor die Tür setzen und nach Amerika gehen, und ich würde euch nie wiedersehen, weder dich noch sie.« Lange mühte sie sich, ihn zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen. Konnte er denn nicht ein einziges Mal das Leben nehmen, wie es war, ohne Übertreibung? Sah er nicht, daß sie mit Besonnenheit zu ihm sprach, nachdem sie lange nachgedacht hatte? Diese Heirat wäre vortrefflich für alle. Wenn sie mit so ruhiger Stimme darüber sprach, so deshalb, weil sie die Heirat wünschte und jetzt weit davon entfernt war, darunter zu leiden. Doch fortgerissen von ihrem Wunsch, ihn zu überzeugen, beging sie die Ungeschicklichkeit, auf Louises Vermögen anzuspielen und durchblicken zu lassen, daß Thibaudier am Tage nach der Hochzeit für seinen Schwiegersohn eine Stellung finden werde.
»Das ist es«, rief er, wieder von Heftigkeit gepackt. »Verkauf mich jetzt auch noch! Sag doch gleich, daß ich dich nicht mehr gern haben darf, weil ich dich ruiniert habe, und daß mir nur noch die Gemeinheit übrigbleibt, woanders ein reiches Mädchen zu heiraten ... Aber nein, sag ich dir, all das ist zu schmutzig. Niemals, hörst du? Niemals!« Pauline, die am Ende ihrer Kraft war, drang nicht weiter in ihn. Es entstand Schweigen. Lazare war gebrochen wieder auf den Stuhl gesunken, während Pauline langsam in dem großen Raum hin und her ging und vor jedem Möbelstück verweilte; und von diesen vertrauten alten Dingen, von dem Tisch, den sie mit ihren Ellbogen abgenutzt, von dem Schrank, in dem noch die Spielsachen ihrer Kindheit vergraben waren, von all den Erinnerungen, die da umherlagen, stieg eine Hoffnung wieder in ihr Herz, die sie nicht wahrnehmen wollte und deren Süße sich dennoch nach und nach ihrer ganz
bemächtigte. Wenn er sie wirklich genügend liebte, um sich zu weigern, einer anderen zu gehören! Aber sie kannte seine Reaktion, sein Versagen schon am nächsten Tag, wenn das erste Feuer seiner schönen Gefühle verflogen war. Außerdem war es feige, zu hoffen; sie fürchtete, einer List ihrer Schwäche zu unterliegen. »Du wirst darüber nachdenken«, sagte sie zum Schluß und blieb vor ihm stehen. »Ich will uns nicht noch mehr quälen ... Ich bin gewiß, daß du morgen vernünftiger bist.« Der nächste Tag jedoch verging in großer Befangenheit. Eine dumpfe Traurigkeit, eine Art Verbitterung verdüsterte von neuem das Haus. Louise hatte rote Augen, Lazare floh sie und verbrachte die Stunden eingeschlossen in seinem Zimmer. An den folgenden Tagen dann schwand diese Befangenheit allmählich, und das Lachen begann wieder, das Flüstern, die zärtlichen Berührungen. Pauline wartete,
trotz ihrer Vernunft von wahnsinnigen Hoffnungen geschüttelt. Es schien ihr, als habe sie vor dieser furchtbaren Ungewißheit das Leiden nicht gekannt. Eines Abends schließlich, in der Dämmerung, als sie in die Küche hinunterging, um eine Kerze zu holen, stieß sie auf Lazare und Louise, die sich im Flur küßten. Das junge Mädchen entfloh lachend, während er, durch die Dunkelheit ermutigt, nun auch Pauline ergriff und ihr zwei kräftige brüderliche Küsse auf die Wangen drückte. »Ich habe es mir überlegt«, murmelte er. »Du bist die Beste und die Vernünftigste ... Aber ich liebe dich noch immer, ich liebe dich, wie ich Mama geliebt habe.« Sie hatte die Kraft zu antworten: »Es ist also abgemacht, ich bin sehr froh.« Aus Furcht, ohnmächtig zu werden, wagte sie nicht, in die Küche zu gehen, denn sie hatte
das Gefühl, ganz bleich zu sein, so kalt war ihr Gesicht. Ohne Licht ging sie wieder zu sich hinauf; sie sagte, sie habe etwas vergessen. Und dort in der Finsternis glaubte sie zu sterben; dem Ersticken nahe, fand sie nicht einmal Tränen. Was hatte sie ihm getan, mein Gott, daß er die Grausamkeit so weit trieb, ihre Wunde noch zu vergrößern? Konnte er nicht sofort einwilligen, an dem Tage, da sie noch ihre ganze Kraft besaß, ohne sie mit einer vergeblichen Hoffnung zu schwächen? Jetzt war das Opfer doppelt groß, denn sie verlor ihn ein zweites Mal, und um so schmerzlicher, als sie sich eingebildet hatte, ihn wiederzubekommen. Mein Gott! Sie hatte wohl Mut, aber es war schlecht, ihr die Aufgabe so furchtbar schwer zu machen. Es wurde alles schnell geregelt. Véronique war sprachlos und begriff nicht mehr, sie fand, daß die Dinge seit Frau Chanteaus Tod verkehrt liefen. Chanteau aber war es, den diese Lösung am meisten aus der Fassung brachte. Er, der
sich für gewöhnlich um nichts kümmerte und allem, was die anderen wollten, mit einem Kopfnicken zustimmte, als habe er sich gleichsam zurückgezogen in den Egoismus der ruhigen Minuten, die er dem Schmerz stahl, begann zu weinen, als Pauline selber ihm die neue Übereinkunft mitteilte. Er sah sie an, er stammelte, Geständnisse entschlüpften ihm in erstickten Worten: Es sei nicht seine Schuld, er habe damals anders handeln wollen, sowohl was das Geld als auch was die Heirat betraf; aber sie wisse doch, wie schlecht es ihm gehe. Da umarmte sie ihn und schwor, daß sie es sei, die Lazare aus Vernunftgründen zwinge, Louise zu heiraten. Im ersten Augenblick wagte er nicht, ihr dies zu glauben; er blinzelte mit einem Rest von Traurigkeit und wiederholte: »Ganz bestimmt? Ganz bestimmt?« Dann, als er sie lachen sah, tröstete er sich rasch und wurde sogar ganz fröhlich. Endlich
war er erleichtert, denn diese alte Angelegenheit lag ihm auf der Seele, ohne daß er darüber zu sprechen wagte. Er küßte Louisette auf die Wangen, er fand am Abend beim Nachtisch wieder ein munteres Liedchen. Beim Zubettgehen jedoch äußerte er eine letzte Unruhe. »Du bleibst doch bei uns, nicht wahr?« fragte er Pauline. Sie zögerte eine Sekunde, über ihre Lüge errötend: »Aber natürlich.« Man brauchte einen reichlichen Monat für die Formalitäten. Thibaudier, Louises Vater, hatte die Werbung Lazares, der sein Patenkind war, sofort angenommen. Nur zwei Tage vor der Hochzeit gab es eine Auseinandersetzung zwischen ihnen, als der junge Mann es rundheraus ablehnte, in Paris eine Versicherungsgesellschaft zu leiten, deren
stärkster Aktionär der Bankier war. Er gedachte noch ein oder zwei Jahre in Bonneville zu verbringen, wo er einen Roman, ein Meisterwerk, schreiben wollte, bevor er Paris erobern würde. Im übrigen zuckte Thibaudier nur die Achseln und nannte ihn freundschaftlich einen großen Dummkopf. Die Hochzeit sollte in Caen stattfinden. Während der letzten vierzehn Tage war es ein ständiges Hinundherfahren, ein ungewöhnliches Reisefieber. Pauline betäubte sich, begleitete Louise, kehrte zerschlagen heim. Da Chanteau Bonneville nicht verlassen konnte, hatte sie versprechen müssen, der Feier beizuwohnen, wo sie als einzige die Familie ihres Cousins vertreten würde. Das Herannahen dieses Tages setzte sie in Schrecken. Am Abend vorher richtete sie es so ein, daß sie nicht in Caen übernachten mußte, denn ihr schien, als litte sie weniger, wenn sie zurückkäme und in ihrem Zimmer schliefe, beim geliebten Wiegen des großen Meeres. Sie
sagte, der Gesundheitszustand ihres Onkels mache sie besorgt, sie wolle sich nicht so lange von ihm fernhalten. Vergebens drängte er selber sie, einige Tage dort zu verbringen: War er denn krank? Im Gegenteil, außergewöhnlich erregt durch den Gedanken an diese Hochzeit, an dieses Mahl, an dem er nicht teilhaben würde, erwog er heimlich, von Véronique ein verbotenes Gericht zu verlangen, ein getrüffeltes Rebhuhn zum Beispiel, das er niemals aß, ohne eines Anfalls gewiß zu sein. Trotz allem erklärte das junge Mädchen, es werde am Abend zurückkommen; und sie rechnete auch damit, auf diese Weise freier zu sein, um tags darauf ihre Koffer zu packen und zu verschwinden. Ein feiner Regen fiel, es schlug Mitternacht, als Malivoires alter Wagen Pauline am Abend des Hochzeitstages zurückbrachte. In ihrem blauseidenen Kleid, unzureichend geschützt durch ein kleines Umschlagtuch, fröstelte sie und war sehr bleich, hatte jedoch warme
Hände. In der Küche fand sie Véronique, die auf sie wartete und an einer Ecke des Tisches eingeschlafen war; die Kerze, die mit sehr hoher Flamme brannte, blendete ihre Augen, die seit Arromanches weit aufgerissen und, gleichsam erfüllt von der Finsternis der Landstraße, tief schwarz waren. Sie konnte nur zusammenhanglose Worte aus der schlaftrunkenen Köchin herausbekommen: Herr Chanteau sei nicht vernünftig gewesen, jetzt schlafe er, es sei niemand gekommen. Da nahm sie eine Kerze und ging hinauf, erstarrt durch die Leere des Hauses, zu Tode verzweifelt über die Dunkelheit und Stille, die sie erdrückten. Im zweiten Stockwerk angelangt, beeilte sie sich, in ihr Zimmer zu flüchten, als eine unwiderstehliche Regung, über die sie sich wunderte, sie Lazares Tür öffnen ließ. Sie hielt die Kerze hoch, um sehen zu können, als wäre das Zimmer voller Rauch. Nichts war verändert, jedes Möbelstück stand an seinem
Platz; und doch hatte sie ein Gefühl von Unheil und Vernichtung, eine dumpfe Angst, wie man sie in dem Gemach eines Toten empfindet. Mit immer langsamer werdenden Schritten ging sie zum Tisch, besah das Tintenfaß, die Feder, eine begonnene Seite, die noch herumlag. Dann ging sie fort, es war zu Ende, die Tür schloß sich hinter der tönenden Leere des Raumes. In ihrem Zimmer erwartete sie dasselbe Gefühl von etwas Unbekanntem. War das denn noch die gleiche mit blauen Rosen bemalte Tapete, das mit Musselinvorhängen verkleidete schmale Eisenbett? Sie lebte doch dort seit so vielen Jahren! Ohne ihre Kerze abzusetzen, durchsuchte sie, die gewöhnlich so Mutige, den Raum, schob die Vorhänge auseinander, schaute unter das Bett und hinter die Möbel. Es war in ihr eine Erschütterung, eine Betroffenheit, die sie vor den Dingen stehenbleiben ließ. Niemals hätte sie geglaubt, daß von dieser Zimmerdecke, an der sie jeden
Fleck kannte, sich eine solche Beklemmung herabsenken könne; und sie bereute in diesem Augenblick, daß sie nicht in Caen geblieben war; ihr kam dieses Haus noch schrecklicher vor, mit Erinnerungen bevölkert und dabei so leer in der kalten Finsternis dieser Sturmnacht. Der Gedanke, zu Bett zu gehen, war ihr unerträglich. Sie setzte sich, ohne selbst ihren Hut abzunehmen, verharrte einige Minuten reglos, die weitgeöffneten Augen auf die Kerze gerichtet, die sie blendete. Plötzlich wunderte sie sich: Was tat sie hier, den Kopf von einem Aufruhr erfüllt, dessen Dröhnen sie am Denken hinderte? Es war ein Uhr, sie wäre besser in ihrem Bett aufgehoben. Und mit heißen Händen begann sie sich langsam zu entkleiden. Ein Bedürfnis nach Ordnung bestand selbst in diesem Zusammenbruch ihres Lebens fort. Sie verwahrte sorgfältig ihren Hut, warf besorgt einen Blick auf ihre Stiefel, ob sie auch nicht gelitten hätten. Ihr Kleid hing schon
zusammengelegt über einer Stuhllehne, sie hatte nur noch einen Unterrock und ihr Hemd an, als ihr Blick auf ihren jungfräulichen Busen fiel. Allmählich färbte eine Flamme ihre Wangen purpurn. Aus der Verwirrung ihres Hirns traten deutlich Bilder hervor und richteten sich auf die beiden anderen in ihrem Zimmer dort unten, einem Zimmer, das sie kannte, in das sie selber am Morgen Blumen gebracht hatte. Die Braut hatte sich niedergelegt, er kam herein, näherte sich mit zärtlichem Lachen. Mit einer heftigen Gebärde ließ sie ihren Unterrock hinabgleiten, zog sie ihr Hemd aus; und nackt jetzt, betrachtete sie sich noch einmal. Für sie gab es also diese Ernte der Liebe nicht? Sicherlich würde sie niemals Hochzeit halten. Ihr Blick ging von ihrem Busen, der fest war wie eine saftstrotzende Knospe, hinab zu ihren breiten Hüften, zu ihrem Leib, in dem eine mächtige Mutterschaft schlummerte. Sie war doch reif, sie sah, wie das Leben ihre Glieder schwellte,
sah es in den geheimen Falten ihres Fleisches sich in schwarzem Flaum entfalten, sie atmete ihren Duft eines Weibes wie einen blühenden Strauß, der der Befruchtung harrt. Und nicht sie, die andere war es in jenem Zimmer dort unten, die sie deutlich vor sich sah, wie sie verging in den Armen des Gatten, dessen Kommen sie selber seit Jahren erwartete. Doch sie beugte sich noch weiter vor. Die rote Spur eines Blutstropfens auf ihrem Schenkel setzte sie in Erstaunen. Auf einmal begriff sie: Ihr zu Boden geglittenes Hemd schien wie von einem Messerstich mit Blut bespritzt. Darum also empfand sie seit ihrer Abreise von Caen eine solche Schwäche ihres ganzen Körpers? So früh hatte sie diese Wunde nicht erwartet, die der Verlust ihrer Liebe an der Quelle des Lebens öffnete. Und der Anblick dieses Lebens, das nutzlos dahinfloß, machte das Maß ihrer Verzweiflung voll. Das erste Mal, so erinnerte sie sich, hatte sie vor Entsetzen aufgeschrien, als sie sich eines Morgens
blutbefleckt gefunden hatte. Und war sie nicht später so kindisch gewesen, abends, bevor sie die Kerze löschte, mit einem verstohlenen Blick das völlige Erblühen ihres Fleisches und ihres Geschlechts zu beobachten? Sie war stolz wie eine Närrin, sie genoß das Glück, Weib zu sein. Ach, welch ein Jammer! Da fiel heute der rote Regen der Geschlechtsreife gleich den vergeblichen Tränen, die ihre Jungfräulichkeit in ihr weinte. Von nun an würde sich dieses Hervorsprudeln wie aus einer reifen, bei der Weinlese zerquetschten Traube jeden Monat wiederholen, und niemals würde sie Weib sein, sie würde in Unfruchtbarkeit alt werden. Da packte sie angesichts der Bilder, die ihre Erregung noch immer vor ihr entrollte, wieder die Eifersucht. Sie wollte leben, erfüllt leben, Leben hervorbringen, sie, die das Leben liebte! Wozu auf der Welt sein, wenn man sein Ich nicht verschenkt? Sie sah die beiden anderen, eine Versuchung, ihre Nacktheit zu zerfetzen, ließ sie mit den Blicken die Schere suchen.
Warum nicht diese Brust zerschneiden, diese Schenkel zerbrechen, diesen Leib vollends öffnen und dieses Blut bis zum letzten Tropfen ausfließen lassen? Sie war schöner als dieses magere blonde Mädchen, sie war stärker, und er hatte sie dennoch nicht erwählt. Niemals würde sie ihn erkennen, nichts an ihr durfte ihn mehr erwarten, weder die Arme noch die Hüften, noch die Lippen. Alles konnte wie ein leerer Lumpen auf den Müll geworfen werden. War es möglich, daß jene beieinander waren, während sie allein blieb und vor Fieber zitterte in diesem kalten Haus? Plötzlich warf sie sich bäuchlings auf das Bett. Sie hatte das Kopfkissen in ihre zuckenden Arme gedrückt, sie biß hinein, um ihr Schluchzen zu ersticken; und sie versuchte ihr empörtes Fleisch zu töten, indem sie es an die Matratze drückte. Lange Erschütterungen hoben sie vom Nacken bis zu den Fersen. Vergebens preßte sie ihre Lider aufeinander, um nichts mehr zu sehen, und sie sah dennoch,
Ungeheuerlichkeiten erhoben sich in der Dunkelheit. Was tun? Sich die Augen ausstechen und doch noch sehen, vielleicht immerdar sehen? Die Minuten verstrichen, ihr war nur noch die Ewigkeit ihrer Qual bewußt. Ein Erschrecken ließ sie aufspringen. Jemand war da, denn sie hatte lachen hören. Aber sie fand nur ihre fast niedergebrannte Kerze, die die Manschette des Leuchters zum Platzen gebracht hatte. Wenn sie dennoch jemand gesehen hatte? Dieses eingebildete Lachen lief noch über ihre Haut wie eine rohe Liebkosung. War sie es wirklich, die so nackt dastand? Scham ergriff sie, verstört hatte sie die Arme über der Brust gekreuzt, um sich selber nicht mehr zu sehen. Endlich zog sie sich rasch ein Nachthemd über, kehrte zum Bett zurück und vergrub sich unter den Decken, die sie bis zum Kinn hinaufzog. Ihr zitternder Körper machte sich ganz klein. Als die Kerze erloschen war, rührte sie sich nicht mehr, von der Scham über diesen
Anfall vernichtet. Am Vormittag packte Pauline ihren Koffer, ohne die Kraft zu finden, Chanteau ihre Abreise anzukündigen. Am Abend indessen mußte sie ihm alles sagen, denn Doktor Cazenove sollte sie am nächsten Tage abholen und sie selber zu seiner Verwandten bringen. Als der Onkel begriffen hatte, hob er erschüttert in einer irren Gebärde seine armen verkrüppelten Hände, wie um sie zurückzuhalten; und er stammelte, er flehte sie an. Sie werde das doch niemals tun, sie werde ihn doch nicht verlassen, denn das sei Mord, er würde ganz gewiß daran sterben. Dann, als er sah, wie sie sanft darauf bestand, und er ihre Gründe erriet, entschloß er sich, das Unrecht einzugestehen, das er begangen, indem er am Abend zuvor Rebhuhn gegessen hatte. Leichte Stiche brannten ihn schon an den Gelenken. Es war immer dieselbe Geschichte, er unterlag in dem Kampf: Sollte er essen? Sollte er leiden? Und er aß, wissend, daß er leiden würde,
befriedigt und entsetzt zugleich. Aber sie würde doch nicht den Mut haben, ihn mitten in einem Anfall zu verlassen. In der Tat kam gegen zehn Uhr morgens Véronique herauf, Pauline mitzuteilen, daß sie Herrn Chanteau in seinem Zimmer schreien höre. Sie hatte abscheuliche Laune, sie schimpfte durch das ganze Haus, daß sie, wenn Mademoiselle Pauline fortgehe, sich auch aus dem Staube machen werde, denn sie habe genug davon, einen so unvernünftigen Alten zu pflegen. Pauline mußte sich wieder einmal am Lager ihres Onkels niederlassen. Als der Doktor erschien, um sie mitzunehmen, wies sie auf den Kranken, welcher triumphierte, indem er noch lauter schrie und ihr zurief, sie solle nur abreisen, wenn sie das Herz dazu habe. Alles wurde aufgeschoben. Jeden Tag zitterte das junge Mädchen davor, Lazare und Louise zurückkommen zu sehen, auf die ihr neues Zimmer, das für sie
hergerichtete ehemalige Gastzimmer, seit dem Tage nach der Hochzeit wartete. Sie hielten sich länger in Caen auf; Lazare schrieb, daß er sich Aufzeichnungen über die Finanzwelt machen wolle, bevor er sich nach Bonneville zurückziehen werde, um einen großen Roman zu beginnen, in dem er die Wahrheit über die Geschäftemacher sagen wolle. Eines Morgens dann erschien er ohne seine Frau und verkündete ruhig, daß er sich mit ihr in Paris niederlassen werde: Sein Schwiegervater habe ihn überzeugt, er nehme die Stellung in der Versicherungsgesellschaft an, unter dem Vorwand, daß er so seine Notizen aus dem Leben greifen könne; später werde er dann sehen und wieder zur Literatur zurückkehren. Als Lazare zwei Kisten mit Gegenständen gefüllt hatte, die er mitnahm, und Malivoires Berline gekommen war, ihn mit seinem Gepäck abzuholen, ging Pauline betäubt ins Haus zurück; sie fand ihre einstige Willenskraft in sich nicht wieder. Chanteau,
der noch sehr leidend war, fragte sie: »Du bleibst doch, hoffe ich? Warte so lange, bis du mich begraben hast!« Sie wollte nicht sogleich antworten. Oben stand ihr Koffer noch immer gepackt da. Sie sah ihn stundenlang an. Da nun die anderen nach Paris gingen, durfte sie ihren Onkel nicht im Stich lassen. Gewiß, sie mißtraute den Entschlüssen ihres Cousins; aber wenn das Ehepaar zurückkam, stand es ihr immer noch frei, fortzugehen. Und nachdem Cazenove ihr wütend gesagt hatte, sie verlöre eine prächtige Stellung, um ihr Leben bei Leuten zu vergeuden, die seit ihrer Jugend auf ihre Kosten lebten, entschloß sie sich auf einmal. »Geh nur«, sagte Chanteau jetzt wiederholt zu ihr. »Wenn du Taler verdienen und so glücklich sein sollst, kann ich dich nicht zwingen, mit einem Krüppel wie mir deine Tage zuzubringen ... Geh nur.«
Eines Morgens erwiderte sie: »Nein, Onkel, ich bleibe.« Der Doktor, der gerade zugegen war, hob die Arme zum Himmel und ging kopfschüttelnd fort. »Sie ist unmöglich, diese Kleine! Und welch ein Wespennest da drinnen! Da kommt sie nie heraus.«
Kapitel IX Und die Tage flossen wieder dahin in dem Haus von Bonneville. Nach einem sehr kalten Winter hatte es einen regnerischen Frühling gegeben, das von den Regengüssen gepeitschte Meer glich einem Schlammsee; dann hatte sich der späte Sommer bis in die Mitte des Herbstes hingezogen mit drückend heißer Sonne, die die blaue Unermeßlichkeit unter lastender Hitze
einschläferte; dann war wieder der Winter gekommen und ein Frühling und noch ein Sommer, die Minute für Minute in dem rhythmischen Ablauf der Stunden gleichförmig dahingingen. Pauline fand, als habe ihr Herz sich nach diesem Uhrwerk geregelt, ihre große Ruhe wieder. Ihre Leiden wurden eingeschläfert, gewiegt von den regelmäßigen Tagen, dahingetragen in immer denselben ständig wiederkehrenden Beschäftigungen. Sie ging des Morgens hinunter, küßte ihren Onkel, führte mit dem Hausmädchen die gleiche Unterhaltung wie am Tage zuvor, setzte sich zweimal zu Tisch, nähte am Nachmittag, ging am Abend zeitig zu Bett; und am nächsten Morgen begann der Tag von neuem, ohne daß jemals ein unerwartetes Ereignis eintrat und seine Eintönigkeit unterbrach. Chanteau, mehr und mehr durch die Gicht gefesselt, mit geschwollenen Beinen, unförmigen Händen, blieb stumm, wenn er nicht schrie, versunken
in die Glückseligkeit, nicht zu leiden. Véronique, die ihre Sprache verloren zu haben schien, verfiel in düstere Übellaunigkeit. Einzig die Abendmahlzeiten an den Samstagen unterbrachen diese Stille. Cazenove und Abbé Horteur hielten das Abendessen pünktlich ein, man hörte bis um zehn Uhr Stimmen, dann ging der Priester in seinen Holzschuhen über das Pflaster des Hofes davon, während der Wagen des Doktors im schwerfälligen Trab des alten Pferdes fortfuhr. Selbst Paulines Fröhlichkeit war stiller geworden, jene tapfere Fröhlichkeit, die sie inmitten ihrer Qualen bewahrt hatte. Ihr klangvolles Lachen erfüllte nicht mehr das Treppenhaus und die Räume; doch sie blieb die Tatkraft und die Güte des Hauses und brachte jeden Morgen neuen Mut zum Leben mit. Nachdem ein Jahr vergangen, war ihr Herz zur Ruhe gekommen, sie konnte glauben, daß die Stunden nunmehr auf solche Weise einförmig und sanft dahinfließen würden, ohne daß irgend etwas den
schlummernden wachriefe.
Schmerz
wieder
in
ihr
In der ersten Zeit nach Lazares Abreise hatte jeder seiner Briefe Pauline verwirrt. Sie lebte nur durch diese Briefe, erwartete sie mit Ungeduld, las sie wieder und wieder und fand darin viel mehr ausgedrückt, als die geschriebenen Worte besagten. Drei Monate lang kamen sie regelmäßig alle vierzehn Tage, waren sehr lang, voller Einzelheiten und von Hoffnung überströmend. Lazare ließ sich wieder einmal von seiner Begeisterung fortreißen, stürzte sich in die Geschäfte und träumte sogleich von einem riesenhaften Vermögen. Seinen Briefen nach brachte die Versicherungsgesellschaft ungeheure Gewinne ein; und er würde sich nicht darauf beschränken; er häufte Unternehmen auf Unternehmen, rühmte die Finanzleute und Industriellen als reizende Gesellschafter und klagte sich an, daß er sie als Dichter so töricht verurteilt hatte. Jeder literarische Gedanke
schien vergessen. Dann wurde er nicht müde, über die Freuden seiner Ehe zu berichten, erzählte von den Kindereien eines Verliebten mit seiner Frau, von geraubten Küssen, von Streichen, die er ihr gespielt, und breitete sein Glück aus, um jener zu danken, die er seine »geliebte Schwester« nannte. Diese Einzelheiten, diese vertraulichen Stellen gingen Pauline unter die Haut. Sie war betäubt durch den Liebesduft, der von dem Papier aufstieg, einen Duft von Heliotrop, Louises Lieblingsparfüm. Dieses Papier hatte neben ihrer Wäsche geschlummert: Pauline schloß die Augen, sah die Zeilen aufflammen, sah, wie sie die Sätze weiterführten, sah sich in die enge Vertraulichkeit ihres Honigmondes versetzt. Aber nach und nach wurden die Briefe spärlicher und kürzer, ihr Cousin sprach nicht mehr von seinen Geschäften und begnügte sich damit, ihr die Grüße seiner Frau zu schicken. Im übrigen gab er keinerlei Erklärung, er hörte einfach auf, alles zu sagen.
War er unzufrieden mit seiner Stellung, und war ihm die Finanzwelt bereits zuwider? War das Glück der Ehe durch Mißverständnisse gefährdet? Das junge Mädchen war auf Vermutungen angewiesen, sie war beunruhigt ob der Langeweile, der Hoffnungslosigkeit, die sie auf dem Grunde der wenigen, gleichsam widerwillig gesandten Worte spürte. Gegen Ende April, nach sechs Wochen Schweigen erhielt sie ein Briefchen von vier Zeilen, in dem Lazare schrieb, daß Louise im dritten Monat schwanger sei. Und das Schweigen begann von neuem, Pauline bekam keine Nachricht mehr. Mai und Juni gingen noch dahin. Die Flut zerbrach einen der Wellenbrecher, ein Ereignis, von dem man lange sprach: Ganz Bonneville lachte höhnisch, Fischer stahlen die zerbrochenen Balken. Und es gab noch ein Ereignis, die kleine Gonin, kaum dreizehneinhalb Jahre alt, kam mit einem Mädchen nieder; und man war nicht sicher, ob
es vom jungen Cuche war, denn man hatte sie mit einem alten Mann gesehen. Dann kehrte wieder Ruhe ein, das Dorf lebte am Fuße der Felsenküste wie eine der zähen Meerespflanzen. Im Juli mußten die Mauern der Terrasse und ein ganzer Giebel des Hauses ausgebessert werden. Als die Maurer den ersten Schlag mit der Kreuzhacke geführt hatten, drohte das übrige einzustürzen. Sie blieben den ganzen Monat, die Rechnungen beliefen sich auf fast zehntausend Francs. Immer war es Pauline, die bezahlte. Ein neues Loch höhlte sich in ihrer Kommode, ihr Vermögen war auf etwa vierzigtausend Francs zusammengeschrumpft. Im übrigen konnte sie mit ihren dreihundert Francs Rente im Monat den Haushalt auskömmlich führen; aber sie hatte noch weitere Wertpapiere verkaufen müssen, um nicht das Geld ihres Onkels anzugreifen. Wie früher seine Frau, so sagte er ihr nun, man werde eines Tages abrechnen. Sie hätte alles hingegeben, ihr Geiz hatte sich bei
diesem langsamen Zerbröckeln der Erbschaft abgenutzt; sie kämpfte nur noch, um die Sous für ihre Almosen zu retten. Die Furcht, ihre samstäglichen Spenden unterbrechen zu müssen, machte sie untröstlich, denn sie genoß hierbei die schönste Freude der Woche. Seit dem letzten Winter hatte sie begonnen, Strümpfe zu stricken; alle Rangen des Dorfes hatten jetzt warme Füße. Eines Morgens gegen Ende Juli, als Véronique den von den Maurern zurückgelassenen Schutt fortfegte, erhielt Pauline einen Brief, der sie aus der Fassung brachte. Dieser Brief war in Caen aufgegeben und enthielt nur wenige Worte. Lazare teilte ihr ohne jede Erklärung mit, daß er am nächsten Abend in Bonneville eintreffen werde. Sie lief, ihrem Onkel die Neuigkeit zu melden. Beide schauten sich an. In Chanteaus Augen stand die Angst, daß sie ihn verlassen würde, wenn das Ehepaar sich für längere Zeit häuslich einrichtete. Er wagte sie nicht zu fragen, er las auf ihrem Gesicht
den festen Entschluß fortzugehen. Am Nachmittag ging sie sogar hinauf, ihre Wäsche in Augenschein zu nehmen. Indessen wollte sie nicht den Anschein erwecken, als ergreife sie die Flucht. Gegen fünf Uhr stieg Lazare bei herrlichem Wetter vor der Hoftür aus dem Wagen. Pauline war ihm entgegengegangen. Aber hoch bevor sie ihn küßte, fragte sie erstaunt: »Wie! Du bist allein?« »Ja«, erwiderte er einfach. Und er drückte ihr zwei herzhafte Küsse auf die Wangen. »Wo ist Louise?« »In Clermont, bei ihrer Schwägerin. Der Arzt hat ihr das Gebirge empfohlen ... Ihre Schwangerschaft nimmt sie sehr mit.« Während er sprach, ging er auf die Freitreppe zu und warf hin und wieder einen längeren
Blick in den Hof. Er schaute auch seine Cousine an, und eine verhaltene innere Bewegung ließ seine Lippen zittern. Als ein Hund aus der Küche kam und seine Beine anbellte, schien Lazare überrascht. »Was ist das?« fragte er. »Das ist Loulou«, erwiderte Pauline. »Er kennt dich nicht ... Loulou, willst du wohl Herrchen nicht beißen!« Der Hund fuhr fort zu knurren. »Der ist ja abscheulich, meine Liebe. Wo hast du dieses Scheusal aufgefischt?« In der Tat war es ein armer mißratener Bastard mit räudezerfressenem Fell. Er hatte außerdem eine unausstehliche Gemütsart, immer knurrig, von der Schwermut eines enterbten, mitleiderregenden Hundes. »Was kann ich dafür? Als ich ihn bekam, hat man mir geschworen, daß er groß und prächtig
wird; und wie du siehst, ist er so geblieben ... Es ist der fünfte, den wir aufzuziehen versuchen: Alle anderen sind gestorben, nur der da will unbedingt am Leben bleiben.« Mit verdrossener Miene hatte Loulou beschlossen, sich in die Sonne zu legen, und kehrte den Leuten den Rücken. Fliegen umschwärmten ihn. Da dachte Lazare an die verflossenen Jahre, an das, was nicht mehr war, und das, was an Neuem und Häßlichem in sein Leben getreten war. Er warf noch einen Blick auf den Hof. »Mein armer Mathieu!« murmelte er ganz leise. Auf der Freitreppe empfing ihn Véronique mit einem Kopfnicken, ohne beim Möhrenputzen innezuhalten. Aber er ging geradewegs ins Eßzimmer, wo sein Vater, erregt vom Lärm der Stimmen, wartete. Pauline rief schon an der Tür:
»Denk bloß, er ist allein gekommen, Louise ist in Clermont.« Chanteau, dessen ruhige Blicke sich aufhellten, befragte seinen Sohn, noch ehe er ihn küßte. »Du erwartest sie hier? Wann will sie nachkommen?« »Nein, nein«, erwiderte Lazare. »Ich hole sie bei ihrer Schwägerin ab, bevor ich nach Paris zurückkehre ... Ich bleibe vierzehn Tage bei euch, dann ziehe ich wieder los.« Chanteaus Blicke brachten eine große stumme Freude zum Ausdruck; und als Lazare ihn endlich küßte, gab er ihm zwei kräftige Küsse zurück. Er hielt es jedoch für notwendig, sein Bedauern auszudrücken. »Wie ärgerlich, daß deine Frau nicht hat kommen können, wir hätten uns so gefreut, sie bei uns zu haben! Ein andermal mußt du sie uns dann unbedingt herbringen.«
Pauline schwieg und verbarg ihre innere Erschütterung unter dem zärtlichen Willkommenslachen. Alles änderte sich also wieder einmal, sie würde nicht fortgehen, und sie hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie glücklich oder ärgerlich darüber war, so sehr wurde sie zum Spielball der anderen. Im übrigen lag in ihrer Heiterkeit Trauer, Trauer darüber, daß sie Lazare gealtert wiederfand, mit erloschenem Auge, bitterem Mund. Sie kannte diese Falten gut, die ihm Stirn und Wangen durchschnitten; aber die Furchen hatten sich vertieft, sie erriet daraus, daß Langeweile und Entsetzen sich in ihm verdoppelt hatten. Er schaute sie ebenfalls an. Ohne Zweifel schien es ihm, als habe sie sich entwickelt, an Schönheit und Kraft zugenommen, denn er murmelte, nun ebenfalls lächelnd: »Teufel! Ihr habt nicht gelitten während meiner Abwesenheit. Ihr seid alle gut bei Leibe ... Papa wird immer jünger, Pauline sieht
prächtig aus ... Komisch, das Haus kommt mir auch größer vor.« Er blickte im Eßzimmer in die Runde, so wie er sich prüfend im Hof umgesehen hatte, überrascht und bewegt. Sein Blick blieb schließlich an Minouche hängen, die auf dem Tisch lag, die Pfoten wie zu einem Muff zusammengelegt, so in ihre Katzenglückseligkeit versunken, daß sie sich nicht rührte. »Und auch Minouche wird nicht älter«, begann er wieder. »He, du Undankbare, du könntest mich ruhig wiedererkennen!« Er streichelte sie, und sie begann zu schnurren, ohne sich deshalb zu rühren. »Oh! Minouche kennt nur sich«, sagte Pauline heiter. »Vorgestern hat man ihr wieder fünf Junge getötet. Du siehst, das stört sie kaum.« Das Abendessen wurde früher aufgetragen, weil Lazare zeitig zu Mittag gegessen hatte.
Trotz der Bemühungen des jungen Mädchens verlief der Abend traurig. Dinge, die nicht gesagt wurden, machten die Unterhaltung befangen; und hin und wieder trat Schweigen ein. Sie vermieden es, ihm Fragen zu stellen, da sie sahen, daß er nur gezwungen antwortete; sie suchten nicht zu erfahren, wie seine Geschäfte in Paris standen und weshalb er sie erst von Caen aus benachrichtigt hatte. Mit einer unbestimmten Bewegung schob er die allzu direkten Fragen beiseite, als wollte er die Antworten auf später verschieben. Als der Tee eingeschenkt war, stieß er nur einen tiefen Seufzer der Befriedigung aus. Wie wohl fühlte man sich hier, und welche Arbeit würde man in dieser großen Ruhe schaffen können! Er erwähnte ein Drama in Versen, an dem er seit sechs Monaten arbeitete. Seine Cousine war höchst erstaunt, als er hinzufügte, daß er es in Bonneville zu vollenden gedächte. Ein Dutzend Tage müßten genügen. Um zehn Uhr kam Véronique und sagte, das
Zimmer von Herrn Lazare sei fertig. Aber als sie ihn im ersten Stock in dem ehemaligen Gastzimmer einquartieren wollte, das man für das Ehepaar hergerichtet hatte, wurde er ärgerlich. »Du glaubst doch nicht, daß ich da drin schlafen werde! Ich schlaf in meinem kleinen Eisenbett.« Das Hausmädchen brummte. Warum diese Laune? Nachdem das Bett nun einmal gemacht war, wollte er doch wohl nicht von ihr verlangen, ein anderes herzurichten? »Es ist gut«, sagte er. »Ich schlafe in einem Sessel.« Und während Véronique wütend das Bettzeug herausriß und in den zweiten Stock hinaufbrachte, empfand Pauline eine unbewußte Freude, eine plötzliche Fröhlichkeit; in einer Aufwallung ihrer alten Kindheitskameradschaft fiel sie Lazare um den
Hals und wünschte ihm eine gute Nacht. Er bewohnte also wieder einmal sein großes Zimmer, so nahe bei ihr, daß sie ihn lange hin und her gehen hörte, gleichsam fieberhaft erregt durch die Erinnerungen, die auch sie wach hielten. Am nächsten Tag erst begann Lazare, Pauline ins Vertrauen zu ziehen; und er beichtete nicht in einem Zuge, sie erfuhr die Dinge zunächst in kurzen, in die Unterhaltung eingeworfenen Sätzen. Kühn geworden, fragte sie ihn dann bald voll besorgter Zuneigung aus. Wie lebte er mit Louise? War ihr Glück noch immer ebenso vollkommen? Er bejahte, aber er klagte über kleine häusliche Verdrießlichkeiten, er erzählte belanglose Vorfälle, die zu Streitigkeiten geführt hatten. Ohne daß es zu einem Bruch gekommen wäre, litt die Ehe unter den tausend Reibereien zweier nervöser Temperamente, die unfähig waren, in der Freude und im Schmerz das Gleichgewicht zu bewahren. Es herrschte zwischen ihnen eine
Art heimlichen Grolls, als hätten sie mit Überraschung und Zorn festgestellt, daß sie sich getäuscht, daß sie nach der großen Liebe der ersten Zeit ihren Herzen so schnell auf den Grund gekommen waren. Pauline glaubte einen Augenblick zu verstehen, daß Geldverluste sie verbittert hätten; aber sie täuschte sich, ihre zehntausend Francs Jahreszinsen blieben beinahe unangetastet, Lazare war nur der Geschäfte überdrüssig geworden, ebenso wie er der Musik, der Medizin, der Industrie überdrüssig geworden war; und über dieses Thema brach er in große Worte aus, niemals habe er eine dümmere noch verderbtere Welt erlebt als die des Geldes, er ziehe alles, die Langeweile der Provinz, die Mittelmäßigkeit eines kleinen Vermögens dieser ständigen Sorge um das Geld, dieser Hirnerweichung bei dem kopflosen Tanz der Zahlen vor. Im übrigen hatte er gerade die Versicherungsgesellschaft verlassen, er war entschlossen, es vom
kommenden Winter an, sowie er wieder nach Paris zurückgekehrt wäre, mit dem Theater zu versuchen. Sein Stück sollte ihn rächen, er werde darin zeigen, daß das Krebsgeschwür des Geldes die moderne Gesellschaft verschlinge. Pauline machte sich nicht allzu große Sorgen ob dieses neuen Versagens, das sie aus der Verlegenheit der letzten Briefe Lazares herausgespürt hatte. Was sie vor allem bewegte, war die zwischen ihm und seiner Frau nach und nach größer gewordene Unstimmigkeit. Sie forschte nach dem Grund: Wie kamen sie so rasch zu diesem Unbehagen, wo sie doch jung waren, auskömmlich leben konnten und keine andere Sorge hatten als ihr Glück? Zwanzigmal kam sie auf dieses Thema zurück, und sie hörte erst auf, ihren Cousin zu befragen, als sie ihn jedesmal verlegen sah: Er stammelte, erbleichte, wandte den Blick ab. Sie hatte sehr wohl diesen Ausdruck der Scham und der Angst wiedererkannt, der
Angst vor dem Tode, deren Schauer er einst verbarg, so wie man ein geheimes Laster verschweigt; aber war es möglich, daß die Kälte des Nimmermehr sich zwischen sie gelegt hatte in das noch brennendheiße Bett ihrer Hochzeitsnacht? Mehrere Tage zweifelte sie; dann las sie, ohne daß er mehr gebeichtet hätte, in seinen Augen die Wahrheit, eines Abends, da er ohne Licht verstört aus seinem Zimmer herunterkam, als wäre er auf der Flucht vor Gespenstern. In Paris hatte Lazare mitten in seinem Liebesfieber den Tod vergessen. Er flüchtete sich besinnungslos in die Arme Louises und war alsdann vor Erschöpfung so zerschlagen, daß er in einen tiefen Kinderschlaf fiel. Sie liebte ihn ebenfalls als Geliebte mit ihrem einzig für diesen Manneskult geschaffenen wollüstigen katzenhaften Gebaren, war sogleich unglücklich und verloren, wenn er eine Stunde lang aufhörte, sich um sie zu kümmern. Und die hitzige Befriedigung ihrer
früheren Sehnsüchte, das Vergessen alles übrigen, wenn sie einander in den Armen lagen, hatte angedauert, solange sie glaubten, niemals auf den Grund dieser sinnlichen Freuden zu gelangen. Doch die Sättigung kam, er war verwundert, nicht über den Rausch der ersten Tage hinausgehen zu können, während sie in ihrem ausschließlichen Bedürfnis nach Zärtlichkeiten nichts weiter verlangte noch gab, ihm keinerlei Rückhalt, keinen Mut zum Leben schenkte. War sie denn so kurz, diese Freude des Fleisches? Konnte man nicht unaufhörlich darein hinabtauchen, unaufhörlich neue Empfindungen darin entdecken, mächtig genug, um der Illusion vom Glück zu genügen? Eines Nachts wurde Lazare aus dem Schlaf geschreckt durch den eisigen Hauch, dessen leichte Berührung ihm die Nackenhaare sträubte; und er schlotterte und stammelte seinen Angstschrei: »Mein Gott! Mein Gott! Der Mensch muß sterben!« Louise schlief an seiner Seite. Es war der Tod,
den er am Ende ihrer beider Küsse wiederfand. Dann kamen andere Nächte, er verfiel wieder seiner Qual. Es traf ihn, wenn er schlaflos dalag, wie von ungefähr, ohne daß er etwas voraussehen noch verhindern konnte. Mitten in den ruhigen Stunden packte ihn plötzlich der Schauer, während er im Zorn und in der Zerschlagenheit eines schlechten Tages oft nicht von der Angst heimgesucht wurde. Und es war nicht mehr das einfache Aufschrecken von früher, die Nervenzerrüttung nahm zu, die Nachwirkung jedes neuen Schocks erschütterte sein ganzes Wesen. Die Finsternis steigerte seine Beklemmung, er konnte nicht ohne Nachtlampe schlafen, trotz der ständigen Furcht, seine Frau könne sein Leiden entdecken. Darüber wurde sein Unbehagen noch größer, was die Anfälle verschlimmerte, denn früher, als er allein schlief, hatte er feige sein dürfen. Dieses lebendige Geschöpf, dessen Wärme er an seiner Seite fühlte, beunruhigte ihn. Sowie die Angst ihn, noch
blind vom Schlaf, vom Kissen aufjagte, richtete sich sein Blick auf Louise, in dem verzweifelten Gedanken, sie mit offenen, groß auf die seinen gehefteten Augen zu sehen. Aber niemals rührte sie sich, er erkannte beim Schein der Nachtlampe ihr unbewegliches Gesicht mit den schlafgeschwollenen Lippen und den feinen blauen Lidern. Und so begann er ruhiger zu werden, als er sie eines Nachts, wie er schon lange gefürchtet hatte, mit weitgeöffneten Augen daliegen sah. Sie sagte nichts, sie sah ihn zittern und erbleichen. Ohne Zweifel hatte auch sie soeben gespürt, wie der Tod vorüberzog, denn sie schien zu begreifen, warf sich ihm an die Brust in der Verlassenheit eines hilfesuchenden Weibes. Da sie einander immer noch täuschen wollten, taten sie dann so, als hätten sie ein Geräusch von Schritten gehört, und standen auf, um unter den Möbeln und hinter den Vorhängen nachzusehen. Von nun an wurden sie alle beide von Zwangsvorstellungen verfolgt. Kein
Geständnis entschlüpfte ihnen, es war ein beschämendes Geheimnis, über das man nicht sprechen durfte; nur in der Tiefe des Schlafgemachs, wenn sie mit weit offenen Augen auf dem Rücken lagen, hörten sie einander deutlich denken. Sie war ebenso nervös wie er, sie mußten dieses Übel wohl aufeinander übertragen, wie es auch geschieht, daß zwei Liebende von demselben Fieber dahingerafft werden. Wenn er erwachte und sie fest schlief, erschrak er über diesen Schlaf: Atmete sie noch? Er vernahm nicht einmal mehr ihren Atem, vielleicht war sie soeben plötzlich gestorben. Einen Augenblick betrachtete er prüfend ihr Gesicht, berührte ihre Hände. Wenn er dann beruhigt war, schlief er dennoch nicht wieder ein. Die Vorstellung, daß sie eines Tages sterben würde, stürzte ihn in finsteres Sinnieren. Wer würde als erster davongehen, er oder sie? Er hing den beiden Mutmaßungen nach, Todesbilder entrollten sich in genauen
Darstellungen mit dem grauenvollen, herzzerreißenden Schmerz der Todeskämpfe, dem Greuel der letzten Zurüstungen, der gewaltsamen, ewigen Trennung. Dabei lehnte sich sein ganzes Sein vor Empörung auf: Sich nie, nie mehr wiedersehen, wenn man so miteinander, Fleisch an Fleisch, gelebt hatte! Und er fühlte, daß er wahnsinnig wurde, dieses Grauen wollte ihm nicht in den Schädel. In seiner Angst bekam er Mut und wünschte sich, als erster davonzugehen. Dann faßte ihn Rührung bei dem Gedanken an sie, er stellte sie sich als Witwe vor, wie sie ihre gemeinsamen Gewohnheiten fortsetzte, wie sie dieses oder jenes tat, was er nicht mehr tun würde. Um diese Zwangsvorstellung zu verscheuchen, nahm er sie zuweilen sanft in die Arme, ohne sie aufzuwecken; aber es war ihm unmöglich, sie lange an sich zu drücken, die Empfindung des Lebens, das er mit beiden Armen umfangen hielt, entsetzte ihn noch mehr. Wenn er den Kopf auf ihre Brust legte
und ihr Herz schlagen hörte, konnte er seinem Pochen nicht ohne Unbehagen folgen, da er immer an eine plötzliche Störung glaubte. Die Beine, um die er die seinen geschlungen, die Taille, die in seiner Umarmung weich nachgab, der ganze Leib, so geschmeidig, so angebetet, war ihm bald unerträglich zu berühren, erfüllte ihn in seinem Alptraum vom Nichts mit angstvoller Erwartung. Und selbst wenn Louise erwachte, wenn das Begehren sie enger miteinander verband, Lippe an Lippe, und sie sich in den Taumel der Liebe stürzten, in dem Gedanken, ihr Elend darin zu vergessen, gingen sie zitternd daraus hervor, blieben sie auf dem Rücken ausgestreckt liegen, ohne wieder Schlaf zu finden, angewidert von den Freuden der Liebe. Im Dunkel des Schlafgemachs blickten sie mit großen starren Augen wieder auf den Tod. Um diese Zeit wurde Lazare der Geschäfte überdrüssig. Seine Trägheit stellte sich wieder ein, er schleppte sich müßig durch die Tage,
indem er als Entschuldigung seine Verachtung für die Geldleute angab. Die Wahrheit war, daß die ständige Beschäftigung mit dem Tode ihm mit jedem Tage mehr die Lust und die Kraft zu leben raubte. Er verfiel wieder in sein altes »Wozu?«. Da man ja doch den letzten Schritt tun mußte, morgen, heute, vielleicht in einer Stunde, wozu sich bemühen, sich erregen, eher an dieser als an einer anderen Sache hängen? Alles war vergänglich. Sein Leben war nichts als ein langsamer, täglicher Tod, und wie früher lauschte er seinem Pendelschlag, der sich, wie ihm schien, immer mehr verlangsamte. Das Herz schlug nicht mehr so rasch, die anderen Organe wurden gleichfalls träge, bald würde ohne Zweifel alles stillstehen; und er verfolgte mit Schaudern diese Verminderung des Lebens, die das Alter unvermeidlich mit sich brachte. Es waren Verluste seiner selbst, die fortschreitende Zerstörung seines Körpers: Seine Haare fielen aus, es fehlten ihm mehrere
Zähne, er fühlte seine Muskeln erschlaffen, als kehrten sie zur Erde zurück. Das Herannahen der Vierzig hielt ihn in finsterer Schwermut, jetzt würde das Greisenalter rasch dasein, das ihn vollends dahinraffen würde. Schon glaubte er sich überall krank, irgend etwas würde sicherlich zerbrechen, seine Tage vergingen in der fieberhaften Erwartung des Unheils. Um sich her sah er andere sterben, und sooft er vom Ableben eines Kameraden erfuhr, traf es ihn wie ein Schlag. Konnte es möglich sein, dieser war dahingegangen? Dabei war er doch drei Jahre jünger; und wie er gebaut war, hätte man ihm hundert Jahre gegeben! Und jener auch, ein so vorsichtiger Mann, der sogar seine Nahrung abwog, wie hatte er schon seine letzte Rechnung machen können? Zwei Tage lang dachte er an nichts anderes, bestürzt über das Unheil, betastete sich, prüfte seine Krankheiten, suchte schließlich Streit mit den armen Toten. Um sich zu beruhigen, beschuldigte er sie, durch eigene Schuld
gestorben zu sein: Der erste hatte eine unverzeihliche Unbesonnenheit begangen; was den zweiten betraf, so war er einer äußerst seltenen Krankheit erlegen, für die die Ärzte nicht einmal einen Namen hatten. Doch er versuchte vergebens, das lästige Gespenst beiseite zu schieben, hörte in sich immerfort das Getriebe der Maschine knirschen, die bald auseinanderfallen würde, er glitt unaufhaltsam den Abhang der Jahre hinab, und bei dem Gedanken an das große schwarze Loch am Ende brach ihm der kalte Schweiß aus und sträubten sich ihm die Haare vor Entsetzen. Als Lazare nicht mehr in sein Büro ging, kam es zu Streitigkeiten in der Ehe. Er trug eine Reizbarkeit mit sich herum, die beim geringsten Anlaß zum Ausbruch kam. Das zunehmende Übel, das er mit so viel Sorgfalt verheimlichte, trat nach außen in kränkenden Worten, düsteren Stimmungen, schrulligen Handlungen zutage. Eine Zeitlang peinigte ihn die Angst vor dem Feuer so sehr, daß er aus
dem dritten Stockwerk ins erste hinunterzog, um sich leichter retten zu können, wenn das Haus brennen sollte. Die ständige Sorge um das Morgen verleidete ihm die Gegenwart. Er lebte in der Erwartung des Unglücks, fuhr jedesmal auf, wenn eine Tür zu laut geöffnet wurde, und bekam heftiges Herzklopfen beim Empfang eines Briefes. Hinzu kam, daß er allen Menschen mißtraute, er versteckte sein Geld in kleinen Summen an mehreren Orten und hielt seine einfachsten Vorhaben geheim; außerdem war er erbittert über die Welt und bildete sich ein, daß er verkannt werde und seine fortwährenden Mißerfolge von einer Art weitläufiger Verschwörung der Menschen und Dinge herrührten. Doch alles beherrschend, alles ertränkend, wurde seine Langeweile grenzenlos, die Langeweile eines aus dem Gleichgewicht geratenen Menschen, den der immer gegenwärtige Gedanke an den nahen Tod mit Widerwillen gegen das Tätigsein erfüllte und der sich unter dem Vorwand der
Nichtigkeit des Lebens unnütz dahinschleppte. Was half alles Tun? Die Wissenschaft war begrenzt, man verhinderte nichts, und man bewirkte nichts. Er hatte die skeptische Langeweile seiner ganzen Generation, nicht mehr jene romantische Langeweile der Werther und Rene, die den Verlust des alten Glaubens beweinten, sondern die Langeweile der neuen Helden des Zweifels, der jungen Chemiker, die sich ärgern und die Welt für unmöglich erklären, weil sie auf dem Boden ihrer Retorten nicht mit einem Schlag das Leben gefunden haben. Und bei Lazare ging durch einen logischen Widerspruch das uneingestandene Entsetzen vor dem Nimmermehr Hand in Hand mit einer unablässig aufgetischten Großsprecherei über das Nichts. Sein Schaudern, die Unausgeglichenheit seiner hypochondrischen Natur stürzten ihn in die pessimistischen Vorstellungen, in den wütenden Haß gegen das Dasein. Er betrachtete es als Schwindel, da
es nun einmal nicht ewig dauerte. Sehnte man sich nicht die ganze erste Hälfte seiner Tage nach dem Glück, um später zu bereuen und zu zittern? Daher auch überbot er noch die Theorien des »Alten«, wie er Schopenhauer nannte, von dem er die krassen Stellen auswendig hersagte. Er sprach davon, den Willen zum Leben zu töten, um dieser barbarischen, blödsinnigen Parade des Lebens, welche die beherrschende Macht der Welt zu einem unbekannten selbstsüchtigen Zweck sich vorführen läßt, ein Ende zu machen. Er wollte das Leben abschaffen, um die Angst abzuschaffen. Immer wieder gab es für ihn am Ende nur eine Befreiung: Nichts wünschen in der Furcht vor dem Schlimmsten, jede Bewegung vermeiden, weil sie Schmerz bedeutet, dann gänzlich dem Tode anheimfallen. Die praktische Möglichkeit eines allgemeinen Selbstmordes, eines von allen Wesen gutgeheißenen, vollständigen, plötzlichen Verschwindens, beschäftigte ihn
stark. Dieser Gedanke kehrte zu jeder Stunde wieder, mitten im gewöhnlichen Gespräch, in ungezwungenen und groben Ausfällen. Beim geringsten Ärger bedauerte er, nicht schon krepiert zu sein. Ein harmloser Kopfschmerz war ihm Anlaß genug, sich wütend über sein Gerippe zu beklagen. Im Gespräch mit einem Freund kam die Unterhaltung sofort auf die Widerwärtigkeiten des Lebens, auf das kolossale Glück derer, die unter der Erde liegen und den Löwenzahn fett machen. Die schaurigen Themen verfolgten ihn, er war erschrocken über den Artikel eines phantasierenden Astronomen, der das Erscheinen eines Kometen ankündigte, dessen Schweif die Erde wie ein Sandkorn hinwegfegen sollte: Mußte man darin nicht den erwarteten Weltuntergang sehen, die riesenhafte Kartätsche, die die Welt gleich einem verfaulten alten Schiff in die Luft sprengen würde? Und dieser Todeswunsch, diese gehätschelten Theorien von der
Vernichtung waren nichts als die verzweifelte Auseinandersetzung mit seinen Ängsten, das leere Wortgeklingel, unter dem er die grauenhafte Erwartung seines Endes verbarg. Die Schwangerschaft seiner Frau war für ihn in diesem Augenblick eine neue Erschütterung. Er verspürte ein unbestimmtes Gefühl, große Freude und verdoppeltes Unbehagen zugleich. Im Gegensatz zu den Ideen des »Alten« erfüllte ihn der Gedanke, Vater zu sein, Leben geschaffen zu haben, mit Stolz. Wenn er zum Schein auch sagte, die Dummköpfe mißbrauchten das Recht, es ebenso zu machen, empfand er darüber doch ein eitles Erstaunen, als sei ein solches Ereignis ihm allein vorbehalten. Dann wurde diese Freude ihm vergällt, er quälte sich mit dem Vorgefühl, daß die Niederkunft einen schlechten Ausgang nehmen werde: Schon war für ihn die Mutter verloren, das Kind käme nicht einmal zur Welt. Ausgerechnet brachte die Schwangerschaft gleich in den
ersten Monaten schmerzhafte Begleiterscheinungen mit sich, und das Durcheinander im Haushalt, die gestörten Gewohnheiten, die häufigen Streitigkeiten machten ihn vollends elend. Das Kind, das die Gatten einander wieder hätte näherbringen sollen, vermehrte die Mißverständnisse zwischen ihnen, die Reibungen des Zusammenlebens. Lazare war vor allem wütend, daß Louise vom Morgen bis zum Abend über irgendwelche Schmerzen klagte. Daher war er erleichtert, als der Arzt von einem Aufenthalt im Gebirge sprach; nun konnte er Louise zu ihrer Schwägerin bringen und selber unter dem Vorwand, seinen Vater in Bonneville zu besuchen, für vierzehn Tage entfliehen. Im Grunde schämte er sich dieser Flucht. Aber er besänftigte sein Gewissen, eine kurze Trennung würde ihrer beider Nerven beruhigen, und es genügte eigentlich, wenn er zur Niederkunft bei ihr war. An dem Abend, da Pauline endlich die ganze
Geschichte der verflossenen achtzehn Monate erfuhr, blieb sie einen Augenblick stumm, betäubt durch dieses Desaster. Es war im Eßzimmer, sie hatte Chanteau zu Bett gebracht, Lazare saß vor der erkalteten Teekanne unter der blakenden Lampe und hatte gerade seine Beichte beendet. Nach einem Schweigen sagte sie schließlich: »Ihr liebt euch also nicht mehr, großer Gott!« Er war aufgestanden, um in sein Zimmer hinaufzugehen. Und er widersprach mit seinem unruhigen Lachen. »Wir lieben uns so sehr, wie man sich nur lieben kann, mein Kind ... Weißt du denn gar nichts in deinem Nest hier? Warum sollte es mit der Liebe besser gehen als mit allem anderen?« Sowie Pauline sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, bekam sie wieder einen jener Anfälle der Verzweiflung, die sie so oft
schon auf demselben Stuhl durchgestanden hatte, unter Qualen wachend, während das Haus schlief. Würde das Unglück von neuem beginnen? Nachdem sie geglaubt hatte, für die anderen und für sie selbst sei alles vorbei, nachdem sie sich das Herz aus dem Leibe gerissen und gar Lazare an Louise verschenkt hatte, erfuhr sie plötzlich die Nutzlosigkeit ihres Opfers: Sie liebten sich schon nicht mehr, vergebens hatte sie die Tränen ihres Martyriums geweint und ihr Herzblut vergossen. Dieses erbärmliche Ergebnis war nun ihr Lohn, neue Schmerzen warteten auf sie, nahe bevorstehende Kämpfe, deren Vorahnung ihre Angst vergrößerte. Die Leiden hörten also niemals auf! Und während sie mit herabhängenden Armen starr auf ihre brennende Kerze schaute, stieg der Gedanke, daß sie allein schuld war an diesem Unglück, aus ihrem Gewissen auf und bedrückte sie. Vergeblich sträubte sie sich gegen die Tatsachen: Sie allein hatte diese Ehe
geschlossen, ohne zu begreifen, daß Louise nicht die Frau war, die ihr Cousin brauchte; denn sie sah sie zu dieser Stunde deutlich vor sich, zu nervös, um ihn ins Gleichgewicht zu bringen, beim geringsten Hauch selber nahe daran, kopflos zu werden, einzig den Reiz einer Geliebten besitzend, dessen er überdrüssig geworden. Warum fielen ihr alle diese Dinge erst heute auf? Waren es nicht eben die Gründe, die sie bestimmt hatten, Louise ihren Platz einnehmen zu lassen? Früher fand sie Louise zärtlicher, es schien ihr, daß diese Frau mit ihren Küssen die Macht hätte, Lazare aus seinen düsteren Stimmungen zu reißen. Welch ein Jammer, das Gute zu wollen und das Schlechte zu tun, so wenig vom Leben zu wissen, daß sie die Menschen ins Verderben stürzte, wenn sie nur ihr Heil wollte! Gewiß, sie hatte geglaubt, gütig zu sein, ihr Liebeswerk dauerhaft zu gestalten an dem Tage, da sie beider Freude mit so viel Tränen bezahlt hatte. Und eine große
Verachtung für ihre Güte überkam sie, da Güte nicht immer Glück bewirkte. Das Haus schlief, sie hörte in der Stille des Zimmers nur das Geräusch ihres Blutes, das in ihren Schläfen pochte. Das war ein Aufruhr, der nach und nach anschwoll und losbrach. Warum hatte sie Lazare nicht geheiratet? Er gehörte ihr, sie hätte ihn nicht herzugeben brauchen. Vielleicht wäre er zunächst verzweifelt, aber sie hätte es wohl verstanden, ihm in der Folge ihren Mut einzuhauchen, ihn vor den blödsinnigen Alpträumen zu beschützen. Immer hatte sie die Torheit besessen, an sich zu zweifeln, darin lag die einzige Ursache ihres Unglücks. Und das Bewußtsein ihrer Kraft, ihre ganze Gesundheit, ihre ganze Liebe grollten, machten sich endlich geltend. War sie nicht mehr wert als die andere? Weshalb also war sie so dumm gewesen, sich so in den Schatten zu stellen? Jetzt sprach sie Louise sogar die Leidenschaft ab, trotz ihrer Hingabe einer
sinnlichen Geliebten, denn sie fand in ihrem eigenen Herzen eine größere Leidenschaft, jene, die sich dem geliebten Wesen opfert. Sie liebte ihren Cousin genug, um zu verschwinden, wenn die andere ihn glücklich gemacht hätte; aber da die andere das große Glück, ihn zu besitzen, nicht zu wahren wußte, sollte sie da nicht handeln, diesen schlechten Ehebund zerbrechen? Und ihr Zorn steigerte sich noch immer, und sie fühlte sich schöner, tapferer, sie betrachtete ihren – Busen und ihren jungfräulichen Leib in dem plötzlichen Stolz des Weibes, das sie hätte sein können. Eine Gewißheit entstand in ihr, die sie niederschmetterte: Sie war es, die Lazare hätte heiraten sollen. Da überwältigte sie ein unermeßliches Bedauern. Die Stunden der Nacht vergingen, eine nach der anderen, ohne daß sie auf den Gedanken kam, sich bis zu ihrem Bett zu schleppen. Ein Traum hatte sich ihrer bemächtigt, mit weitgeöffneten Augen saß sie
da, von der hohen Flamme der Kerze geblendet, die sie immer noch anstarrte, ohne sie zu sehen. Sie war nicht mehr in ihrem Zimmer, sie malte sich aus, sie habe Lazare geheiratet; und ihr gemeinsames Leben entrollte sich vor ihr in Bildern der Liebe und Glückseligkeit. Es war in Bonneville, am Ufer des blauen Meeres, oder auch in Paris, in einer geräuschvollen Straße; die Ruhe des kleinen Zimmers blieb die gleiche, Bücher lagen herum, Rosen blühten auf dem Tisch, die Lampe verbreitete des Abends einen hellen Schein, während an der Decke Schatten schlummerten. Alle Augenblicke suchten sich ihre Hände, er hatte die unbekümmerte Fröhlichkeit seiner Jugend wiedergefunden, sie liebte ihn so sehr, daß er schließlich an die Ewigkeit des Lebens glaubte. Zu dieser Stunde setzten sie sich zu Tisch; zu jener Stunde gingen sie gemeinsam aus; morgen würde sie mit ihm die Abrechnungen der Woche durchsehen. Und Rührung ergriff sie, wenn sie
sich die Ehe so in allen vertrauten Einzelheiten vorstellte, auf denen das Glück beruhte, das endlich da war, sichtbar, wirklich, von ihrer heiteren Morgentoilette bis zu ihrem letzten Kuß am Abend. Im Sommer gingen sie auf Reisen. Dann bemerkte sie eines Morgens, daß sie schwanger war. Aber ein großer Schauer erschütterte ihren Traum, sie träumte nicht weiter, sie fand sich in ihrem Zimmer wieder vor ihrer fast heruntergebrannten Kerze. Schwanger, mein Gott! Die andere war schwanger, und niemals würde es geschehen, niemals würde sie diese Freuden kennenlernen! Sie wurde so unvermittelt aus ihrem Traum gerissen, daß Tränen in ihre Augen traten und sie ohne Ende weinte mit Schluchzern, die ihr schier die Brust sprengten. Die Kerze verlosch, sie mußte im Dunkeln zu Bett gehen. Pauline behielt von dieser Fiebernacht eine tiefe Erschütterung zurück, ein barmherziges Mitleid für die zerrüttete Ehe und für sich
selber. Doch eine zärtliche Hoffnung verdrängte ihren Kummer. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, worauf sie rechnete, sie wagte nicht, sich inmitten der verworrenen Gefühle, die ihr Herz bewegten, über sich selber klarzuwerden. Warum sich so quälen? Hatte sie nicht noch mindestens zehn Tage vor sich? Dann würde immer noch Zeit sein, nachzudenken. Wichtig war jetzt, Lazare zu beruhigen, es so einzurichten, daß diese Ruhepause in Bonneville ihm Nutzen brachte. Und sie fand ihre Heiterkeit wieder, sie stürzten sich beide in ihr schönes Leben von früher. Zunächst war es die Kameradschaft ihrer Kindheit. »Laß doch dein Drama, großer Dummkopf! Sie werden es auspfeifen, dein Drama ... Komm, hilf mir lieber nachsehen, ob Minouche nicht mein Garnknäuel auf den Schrank geschleppt hat.«
Er hielt den Stuhl, während sie, auf Zehenspitzen stehend, nachschaute. Es regnete seit zwei Tagen, sie konnten das große Zimmer nicht verlassen. Ihr Lachen erscholl bei jedem Fund aus den alten Jahren. »Oh! Hier ist die Puppe, die du aus zwei alten Hemdkragen von mir gemacht hattest ... Und das, weißt du noch, das ist ein Bild von dir, das ich an dem Tag gezeichnet habe, als du so häßlich warst und vor Wut heultest, weil ich dir nicht mein Rasiermesser geben wollte.« Sie wettete, noch mit einem Satz auf den Tisch zu springen. Er sprang ebenfalls, glücklich, daß er abgelenkt wurde. Sein Drama schlief schon in einem Schubfach. Als sie eines Morgens die große Schmerzenssinfonie entdeckten, spielte sie ihm die einzelnen Stücke vor, wobei sie auf drollige Weise den Rhythmus betonte; und er machte sich über sein Werk lustig, er sang die Noten, um das Klavier zu unterstützen, dessen verloschene
Töne nicht mehr zu hören waren. Ein Stück jedoch, der großartige Todesmarsch, stimmte sie ernst: Wirklich, das war nicht schlecht, das mußte man aufbewahren. Alles belustigte sie, rührte sie: eine einst von ihr geklebte, unter den Büchern wiedergefundene Rotalgensammlung; ein vergessenes Glas, das eine in der Fabrik gewonnene Bromitprobe enthielt; das halb zerbrochene, wie von einem Sturm im Wasserglas zertrümmerte winzige Modell einer Buhne. Dann durchstreiften sie das Haus, jagten sich wie ausgelassene Kinder, liefen unaufhörlich die Stockwerke hinauf und hinunter und rannten durch die Zimmer, deren Türen geräuschvoll zuschlugen. Waren das nicht die Stunden von früher? Sie war zehn Jahre alt und er neunzehn, sie faßte wieder eine leidenschaftliche Kleinmädchenfreundschaft zu ihm. Nichts hatte sich geändert, im Eßzimmer befand sich noch immer die Anrichte aus hellem Nußbaumholz, die Hängelampe aus poliertem
Kupfer, der Blick auf den Vesuv und die vier Lithographien der Jahreszeiten, die sie wie damals erheiterten. Unter dem Glaskasten schlief am selben Platz das Meisterwerk des Großvaters, das schließlich eine solche Einheit mit dem Kamin bildete, daß das Hausmädchen die Gläser und Teller darauf abstellte. Es gab nur einen Raum, in den sie stumm vor innerer Bewegung eindrangen, das ehemalige Schlafzimmer von Frau Chanteau, das seit ihrem Tode unberührt geblieben war. Niemand öffnete mehr den Sekretär, die Wandbespannung aus gelbem Kretonne mit grünlichen Ranken verblaßte einsam in der hellen Sonne, die man zuweilen hereinließ. Am Namenstag von Frau Chanteau, der in diese Zeit fiel, stellten sie große Blumensträuße in das Zimmer. Doch bald, als ein Windstoß den Regen vertrieben, stürzten sie ins Freie, auf die Terrasse, in den Garten, zur Felsenküste, und ihre Jugend begann von neuem.
»Kommst du mit Garnelen fischen?« rief sie ihm des Morgens beim Aufstehen durch die Wand zu. »Das Meer geht jetzt zurück.« Sie zogen im Badekostüm los, sie fanden die alten Felsen wieder, die die Flut in den vielen Wochen und Monaten kaum angegriffen hatte. Man konnte glauben, daß sie erst am Tage zuvor diesen Winkel der Küste durchstöbert hätten. Er erinnerte sich. »Sieh dich vor! Dort unten ist ein Loch, und der Grund ist mit großen Steinen übersät.« Doch sie beruhigte ihn schnell. »Ich weiß schon, hab keine Angst ... Oh, sieh doch diese riesige Krabbe, die ich gefangen habe!« Eine kühle Sturzwelle stieg ihnen bis zu den Lenden, sie berauschten sich an der frischen Salzluft, die von der offenen See her wehte. Und es waren wieder die Streifzüge von früher, die weiten Spaziergänge, Augenblicke
der Rast auf dem Sand, der Unterschlupf, den sie in der Tiefe einer Grotte suchten, um einen plötzlichen Regenguß vorübergehen zu lassen, die Rückkehr auf dunklen Pfaden bei Einbruch der Nacht. Auch unter dem Himmel schien nichts verändert, das Meer war noch immer da, unendlich, in seiner fortwährenden Unbeständigkeit unaufhörlich dieselben Horizonte widerspiegelnd. Hatten sie es nicht gestern erst gesehen, so türkisblau, mit jenen großen blassen schillernden Flächen, in denen sich das Kräuseln der Strömungen ausbreitete? Und dieses bleifarbene Wasser unter dem fahlen Himmel, dieser Regenschauer dort links, der mit der Flut herankam, würden sie dies alles nicht morgen wieder sehen, würde ihnen nicht ein Tag wie der andere scheinen? Vergessene Episoden fielen ihnen wieder ein und wurden lebendig wie die unmittelbare Wirklichkeit. Er war damals sechsundzwanzig und sie sechzehn. Wenn er sich vergaß und sie kameradschaftlich schubste, war ihr
beklommen zumute, eine köstliche Befangenheit benahm ihr den Atem. Sie ging ihm indessen nicht aus dem Wege, denn sie dachte an nichts Schlechtes. Ein neues Leben ergriff von ihnen Besitz, geflüsterte Worte, grundloses Lachen, langes Schweigen, aus dem sie zitternd hervorgingen. Die alltäglichsten Dinge bekamen außergewöhnliche Bedeutung, die Bitte um eine Scheibe Brot, eine Bemerkung über das Wetter, die Worte, mit denen sie sich an ihrer Tür eine gute Nacht wünschten. Die ganze Vergangenheit stieg in ihnen empor mit der Süße der eingeschlummerten, jetzt wiedererwachenden alten Liebe. Warum hätten sie sich beunruhigen sollen? Sie widerstanden nicht einmal, das Meer schien sie mit seiner ewigen Eintönigkeit einzulullen und erschlaffen zu lassen. So gingen die Tage ohne Erschütterung dahin. Schon begann die dritte Woche von Lazares Aufenthalt. Er reiste nicht ab, er hatte mehrere
Briefe von Louise erhalten, in denen sie schrieb, daß sie sich sehr langweile, daß aber ihre Schwägerin sie noch länger bei sich behalten wolle. In seinen Antworten ermunterte er sie zu bleiben und schickte ihr die Ratschläge von Doktor Cazenove, den er in der Tat befragte. Der friedliche, regelmäßige Gang des Hauswesens nahm ihn allmählich wieder gefangen, die alten Stunden der Mahlzeiten, des Aufstehens und des Zubettgehens, die er in Paris verändert hatte, Véroniques brummige schlechte Laune, die unablässigen Schmerzen des Vaters, der stets der gleiche blieb, das Gesicht von immer demselben Leiden verzogen, während alles im Leben ringsumher vorwärts drängte und sich veränderte. An den Samstagen sah er zur Abendmahlzeit auch wieder die alten bekannten Gesichter des Arztes und des Abbés, die sich über das letzte Unwetter oder über die Badegäste von Arromanches unterhielten. Minouche sprang beim Nachtisch
immer noch mit der Leichtigkeit einer Feder auf den Tisch und rieb ihren Kopf heftig an seinem Kinn, um sich einzuschmeicheln; und das leichte Kratzen ihrer kalten Zähne versetzte ihn um viele Jahre zurück. Neu unter diesen Dingen von früher war nur Loulou, der, zu einer Kugel zusammengerollt, jämmerlich und scheußlich unter dem Tisch lag und knurrte, wenn man ihm nahe kam. Vergebens gab Lazare ihm Zucker: Nachdem das Tier ihn hinuntergeschlungen hatte, zeigte es mit verdoppelter Übellaunigkeit die Zähne. Man hatte ihn sich selbst überlassen müssen, er lebte allein und als Fremder im Hause, gleichsam ein ungeselliges Wesen, das von den Menschen und Göttern einzig verlangt, daß man es in Frieden sich langweilen lasse. Manchmal jedoch, wenn Pauline und Lazare einen ihrer langen Spaziergänge machten, erlebten sie Abenteuer. So geschah es, daß sie eines Tages, als sie den Pfad an der Felsenküste verlassen hatten, um nicht an der
Fabrik in der Schatzbucht vorüberzukommen, an der Biegung eines Hohlweges ausgerechnet auf Boutigny stießen. Boutigny war jetzt ein großer Herr, der durch die Herstellung des handelsüblichen Sodas reich geworden war; er hatte das Geschöpf geheiratet, das sich so weit aufgeopfert hatte, ihm in diese gottverlassene Gegend zu folgen; und sie hatte vor kurzem ihr drittes Kind bekommen. Von einem Diener und einer Amme begleitet, saß die ganze Familie in einem prächtigen, mit zwei großen Schimmeln bespannten Break. Die beiden Spaziergänger mußten zur Seite treten, dicht an die Böschung heran, um nicht von den Rädern erfaßt zu werden. Boutigny hielt die Zügel und ließ die Pferde im Schritt gehen. Es gab einen Augenblick der Verlegenheit: Man sprach seit so vielen Jahren nicht mehr miteinander, die Gegenwart der Frau und der Kinder machte die Verwirrung noch peinlicher. Da aber ihre Blicke einander begegnet waren, grüßte man sich schließlich,
gemessen, ohne ein Wort. Lazare war bleich geworden, und als der Wagen verschwunden war, brachte er mit Mühe hervor: »Er führt also jetzt ein fürstliches Leben?« Pauline, die allein der Anblick der Kinder bewegt hatte, erwiderte sanft: »Ja, es scheint, er hat in der letzten Zeit ungeheure Gewinne erzielt ... Du weißt doch, er hat deine alten Versuche wiederaufgenommen.« Das war es gerade, was Lazare das Herz abschnürte. Die Fischer von Bonneville hatten ihn in dem von Spott erfüllten Verlangen, ihm etwas Unangenehmes zu sagen, ins Bild gesetzt. Seit einigen Monaten behandelte Boutigny mit Hilfe eines von ihm bezahlten jungen Chemikers erneut die Asche der Algen mit der Kältemethode; und dank seiner klugen Hartnäckigkeit eines praktischen Mannes
erzielte er wunderbare Ergebnisse. »Weiß Gott!« murmelte Lazare mit dumpfer Stimme. »Sooft die Wissenschaft um einen Schritt vorankommt, verdankt sie es einem Dummkopf, der es gar nicht wollte.« Ihr Spaziergang war verdorben, sie schritten schweigend nebeneinanderher, die Augen in die Ferne gerichtet, und sahen vom Meer graue Dünste aufsteigen, die den Himmel erblassen ließen. Als sie spät am Abend heimkamen, fröstelten sie. Die fröhliche Helle der Hängelampe auf dem weißen Tischtuch erwärmte sie wieder. Als sie an einem anderen Tage in Richtung Verchemont einem Pfad quer durch Rübenfelder folgten, sahen sie plötzlich ein Strohdach rauchen und blieben verwundert stehen. Es war ein Brand, dessen Flammen man nur deshalb nicht wahrnehmen konnte, weil die Sonne senkrecht herniederschien; und das Haus brannte einsam, bei geschlossenen
Türen und Fenstern, während die Bauern wohl in der Umgegend arbeiten mochten. Sogleich verließen sie den Pfad, rannten und riefen; aber sie scheuchten nur die Elstern auf, die in den Apfelbäumen schrien. Endlich kam aus einem fernen Möhrenfeld eine Frau mit einem Taschentuch auf dem Kopf, schaute einen Augenblick und lief dann über die gepflügten Äcker in einem wilden Galopp, daß sie sich fast die Beine brach. Sie gestikulierte, sie brüllte ein Wort, das man nicht verstehen konnte, weil es nur noch als verstümmelter Laut aus ihrer Kehle drang. Sie fiel hin, stand wieder auf, fiel abermals hin, lief mit blutenden Händen weiter. Ihr Taschentuch war fortgeflogen, ihr unbedecktes Haar löste sich in der Sonne. »Was sagt sie nur?« wiederholte Pauline, von Entsetzen gepackt. Die Frau kam näher, sie hörten den heiseren Schrei, einem tierischen Brüllen gleich.
»Das Kind! Das Kind! Das Kind!« Seit dem Morgen arbeiteten Vater und Sohn in ungefähr einer Meile Entfernung auf einem Haferfeld, das sie geerbt hatten. Die Frau hatte einen Korb Möhren holen wollen; sie hatte beim Fortgehen das schlafende Kind zurückgelassen und alles abgeschlossen, was sie sonst nie tat. Es war für sie ganz unfaßbar, sie schwor, selbst das letzte Fünkchen Glut ausgelöscht zu haben, doch zweifellos hatte das Feuer schon lange geschwelt. Jetzt war das Strohdach nur noch eine Feuersbrunst, die Flammen stiegen empor und ließen die große gelbe Helligkeit der Sonne rötlich flimmern. »Haben Sie denn abgeschlossen?« rief Lazare. Die Frau hörte ihn nicht. Sie war wie wahnsinnig, sie war grundlos rund um das Haus herumgelaufen, vielleicht um etwas Offenes zu finden, ein Loch, obgleich sie sehr wohl wußte, daß es nicht vorhanden war. Dann war sie abermals hingefallen, ihre Beine
trugen sie nicht mehr, ihr altes, graues, jetzt unbedecktes Gesicht war vor Verzweiflung und Entsetzen in Todesangst verzerrt, während sie immerfort schrie: »Das Kind! Das Kind!« Schwere Tränen stiegen Pauline in die Augen. Doch Lazare vor allem regte sich auf über diesen Schrei, bei dem es ihn jedesmal vor Unbehagen schüttelte. Es wurde unerträglich, er sagte plötzlich: »Ich geh das Kind holen.« Seine Cousine sah ihn fassungslos an. Sie versuchte seine Hände zu ergreifen, sie hielt ihn zurück. »Du! Ich will nicht ... Das Dach wird einstürzen.« »Wir werden ja sehen«, sagte er nur. Und er schrie nun seinerseits der Frau ins Gesicht:
»Der Schlüssel! Sie haben doch sicher den Schlüssel!« Die Frau starrte ihn offenen Mundes an. Lazare schüttelte sie und entriß ihr endlich den Schlüssel. Dann ging er, während sie heulend auf der Erde liegenblieb, mit ruhigem Schritt auf das Haus zu. Pauline folgte ihm mit den Augen, von Angst und Staunen festgenagelt, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihn aufzuhalten, etwas so Selbstverständliches schien er zu tun. Ein Funkenregen fiel hernieder, er mußte sich an das Holz der Tür pressen, um sie zu öffnen, denn Büschel brennenden Strohs rollten vom Dach wie Wassergeriesel bei einem Gewitter; und dort fand er ein Hindernis, der verrostete Schlüssel wollte sich nicht im Schloß drehen. Aber Lazare fluchte nicht einmal, er nahm sich Zeit, schaffte es, die Tür zu öffnen, blieb noch einen Augenblick auf der Schwelle stehen, um den ersten Rauchschwall entweichen zu lassen, der ihm ins Gesicht schlug. Niemals hatte er
solche Kaltblütigkeit an sich erlebt, er handelte wie im Traum, mit einer Sicherheit der Bewegungen, einer Geschicklichkeit und Umsicht, die die Gefahr ihm eingab. Er beugte den Kopf und verschwand. »Mein Gott! Mein Gott!« stammelte Pauline, die vor Angst fast erstickte. Mit einer unwillkürlichen Gebärde hatte sie die Hände gefaltet und preßte sie aneinander, als wollte sie sie zerbrechen; sie hob sie mit unablässigem Schwingen, wie es die Kranken in großen Schmerzen tun. Das Dach krachte, brach schon stellenweise ein, niemals würde Lazare die Zeit haben, wieder herauszukommen. Es schien ihr eine Ewigkeit, als wäre er seit unendlichen Zeiten dort drinnen. Die Frau auf der Erde atmete nicht mehr, sie lag da und konnte es nicht fassen, daß sie einen Mann hatte in das Feuer gehen sehen. Doch ein lauter Schrei stieg empor. Pauline
hatte ihn, ohne es zu wollen, aus tiefstem Innern ausgestoßen, in dem Augenblick, da das Strohdach in die rauchenden Mauern stürzte. »Lazare!« Er stand in der Tür, das Haar kaum versengt, die Hände leicht verbrannt; und als er das Kleine, das weinend zappelte, der Frau in die Arme geworfen hatte, schimpfte er beinahe mit seiner Cousine: »Was denn? Warum regst du dich so auf?« Sie hängte sich an seinen Hals, sie schluchzte in einer solchen nervösen Entspannung, daß er sie aus Furcht vor einer Ohnmacht auf einen moosbewachsenen alten Stein setzen mußte, der an den Brunnen des Hauses gelehnt stand. Ihm selber versagten jetzt die Kräfte. Es stand dort ein wassergefüllter Trog, in den er mit Wonne seine Hände tauchte. Diese Kühle ließ ihn wieder zu sich kommen, und er empfand
nun seinerseits große Verwunderung über seine Tat. War er wirklich mitten in diese Flammen eingedrungen? Es war wie eine Spaltung seines Wesens, er sah sich deutlich im Rauch wieder, mit unglaublicher Behendigkeit und Geistesgegenwart, während er das alles miterlebte wie ein von einem Fremden vollbrachtes Wunder. Ein Rest innerer Begeisterung ließ ihn das erhebende Gefühl einer subtilen Freude empfinden, die er nicht kannte. Pauline hatte sich ein wenig erholt, sie untersuchte seine Hände und sagte: »Nein, das ist sicher nicht schlimm, die Brandwunden sind nicht tief. Aber wir müssen nach Hause gehen, ich werde dich verbinden ... Mein Gott, hast du mir angst gemacht!« Sie hatte ihr Taschentuch ins Wasser getaucht, um ihm die rechte Hand, die stärker verletzt war, damit zu umwickeln. Sie erhoben sich,
versuchten die Frau zu trösten, die das Kind, nachdem sie es wie wild geküßt, neben sich gelegt hatte, ohne es weiter anzusehen; sie jammerte jetzt, ebenso laut heulend, über das Haus und fragte, was wohl ihre Männer sagen würden, wenn sie alles niedergebrannt fänden. Die Mauern hielten jedoch stand, schwarzer Qualm stieg aus der Glut im Innern mit gewaltigen prasselnden Funkenflügen, die man nicht sah. »Nur Mut, arme Frau«, wiederholte Pauline. »Kommen Sie morgen zu mir, dann reden wir darüber.« Nachbarn kamen, vom Rauch angezogen, herbeigelaufen. Pauline konnte mit Lazare fortgehen. Der Heimweg war erfüllt von gedämpfter Freude. Er litt wenig, aber sie wollte ihm trotzdem den Arm geben, um ihn zu stützen. Noch fehlten ihnen die Worte, so erschüttert und erregt waren sie, und sie schauten sich lächelnd an. Pauline vor allem
empfand eine Art glücklichen Stolzes: Er konnte also beherzt sein, auch wenn ihn die Angst vor dem Tode erbleichen ließ? Der Pfad flog dahin unter ihren Schritten, sie versenkte sich in das Erstaunen über diese Widersprüche bei dem einzigen Manne, den sie gut kannte; denn sie hatte ihn Nächte bei der Arbeit verbringen, dann wieder monatelang müßig bleiben sehen, hatte erlebt, wie er von verwirrender Offenheit war, nachdem er schamlos gelogen, wie er sie kameradschaftlich auf die Stirn küßte, während seine vor Verlangen fiebernden Männerhände ihr die Handgelenke verbrannten; und heute wurde er nun zum Helden! Sie hatte recht damit, nicht am Leben zu verzweifeln, die Welt nicht für ganz gut oder für ganz schlecht zu halten. Als sie in Bonneville ankamen, machte sich ihr bewegtes Schweigen in einer Flut lärmender Worte Luft. Die kleinsten Einzelheiten erstanden wieder, sie erzählten das Abenteuer wohl zwanzigmal,
wobei sie immer wieder vergessene Tatsachen heraufbeschworen, deren sich beide blitzartig erinnerten. Man sprach lange davon, den abgebrannten Bauern wurden Unterstützungen überbracht. Seit bald einem Monat war Lazare in Bonneville. Da kam ein Brief von Louise, die vor Langeweile verzweifelt war. Er antwortete, daß er sie zu Beginn der folgenden Woche abholen werde. Schreckliche Regengüsse gingen von neuem hernieder und fegten, wie so oft, mit solcher Gewalt über die Küste, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet und Erde, Luft und Meer in grauem Dunst aufgelöst. Lazare hatte davon gesprochen, sein Drama ernstlich zu beenden, und Pauline, die er in seiner Nähe haben wollte, damit sie ihn ermutige, brachte ihr Strickzeug mit herauf, die kleinen Strümpfe, die sie an die Kinder des Dorfes verteilte. Aber er arbeitete kaum, sowie sie sich an den Tisch setzte. Leise, fast flüsternd unterhielten sie
sich jetzt, Auge in Auge, über immer dieselben, unermüdlich wiederholten Dinge. Sie spielten nicht mehr, vermieden das Spiel ihrer Hände mit der unwillkürlichen Vorsicht gescholtener Kinder, die bei der Berührung der Schultern, beim leichten Hauch des Atems die Gefahr spüren, über die sie tags zuvor noch lachten. Übrigens schien ihnen nichts köstlicher als dieses friedliche Ermattetsein, diese Schläfrigkeit, die sie befiel, während draußen der Regen rauschte und ohne Unterlaß auf die Schieferplatten des Daches prasselte. Ein Schweigen ließ sie erröten, in jedes Wort legten sie eine Liebkosung, ungewollt, aus jenem Drang heraus, der nach und nach die für immer totgeglaubten alten Tage in ihnen hatte wiedererstehen und erblühen lassen. Eines Abends war Pauline bis Mitternacht in Lazares Zimmer geblieben, wo sie strickte, während er, dem die Feder aus der Hand gefallen, ihr in bedächtigen Worten seine künftigen Werke erklärte, mit kolossalen
Gestalten bevölkerte Dramen. Das ganze Haus schlief, auch Véronique war zeitig zu Bett gegangen; und dieser tiefe, erschauernde Frieden der Nacht, in dem einzig die gewohnte Klage der Flut aufstieg, hatte sie nach und nach mit einer Art sinnlichen Rührung durchdrungen. Er, der sich alles vom Herzen redete, bekannte, daß er sein Leben verfehlt habe: Wenn die Literatur dieses Mal unter seinen Füßen zusammenbräche, sei er entschlossen, sich in einen Winkel zurückzuziehen, um als Einsiedler zu leben. »Weißt du was?« begann er lächelnd wieder. »Ich denke oft, daß wir nach dem Tod meiner Mutter hätten auswandern sollen.« »Wie, auswandern?« »Ja, weit fliehen, nach Ozeanien zum Beispiel, auf eine jener Inseln, wo das Leben so lieblich ist.« »Und deinen Vater hätten wir mitgenommen?«
»Ach! Ich sage dir ja, es ist nur ein Traum ... Es ist doch nicht verboten, sich angenehme Dinge vorzustellen, wenn die Wirklichkeit so traurig ist.« Er war vom Tisch aufgestanden und hatte sich auf eine Armlehne von Paulines Sessel gesetzt. Sie ließ ihr Strickzeug sinken, um über den ständigen Galopp dieser Einbildungskraft eines überspannten großen Kindes lauthals zu lachen; und sie blickte zu ihm auf, den Kopf an die Sessellehne zurückgelehnt, während er ihr so nahe war, daß er an der Hüfte die lebendige Wärme ihrer Schulter fühlte. »Bist du verrückt, mein armer Freund! Was hätten wir da tun sollen?« »Wir hätten eben gelebt! Erinnerst du dich an jene Reisebeschreibung, die wir vor zwölf Jahren miteinander gelesen haben? Man lebt dort unten wie in einem Paradies. Niemals ist es Winter, ein ewig blauer Himmel, ein Leben in der Sonne und unter den Sternen ... Wir
hätten eine Hütte gehabt, köstliche Früchte gegessen, nichts zu tun und keinen Kummer gehabt!« »Also wie zwei Wilde mit Ringen in der Nase und Federn auf dem Kopf?« »Nun, warum nicht? Wir hätten uns das ganze Jahr hindurch geliebt, ohne die Tage zu zählen, was gar nicht so dumm gewesen wäre.« Sie sah ihn an, ihre Lider zuckten, ein leichter Schauer ließ ihr Gesicht erblassen. Dieser Liebesgedanke stieg in ihr Herz hinab, erfüllte sie mit köstlicher Mattigkeit. Er hatte ihre Hand ergriffen, ohne Berechnung, nur aus dem Bedürfnis, ihr noch näher zu sein, irgend etwas von ihr zu besitzen; er spielte mit dieser warmen Hand, mit ihren schlanken Fingern, und dabei lachte er noch immer, ein mehr und mehr verlegenes Lachen. Sie beunruhigte sich nicht, es war dies einfach ein Spiel ihrer Jugend; dann schwanden ihre Kräfte, sie
gehörte ihm bereits in ihrer wachsenden Verwirrung. Sogar ihre Stimme wurde kraftlos. »Aber immer nur Früchte essen, das ist kümmerlich. Man hätte jagen müssen, fischen, ein Feld bebauen ... Wenn dort die Frauen arbeiten, wie man erzählt, hättest du mich also den Acker umgraben lassen?« »Dich mit deinen kleinen Patschhändchen? Und die Affen, macht man nicht aus den Affen heutzutage ausgezeichnete Knechte?« Sie antwortete auf diesen Scherz mit einem ersterbenden Lachen, während er hinzufügte: »Deine Patschhändchen wären übrigens gar nicht mehr da ... Ja, ich hätte sie nämlich aufgefressen, siehst du, so!« Mit blutrotem Gesicht küßte er ihre Hände und biß schließlich leicht hinein, in einem plötzlichen Begehren, das ihn blind machte. Sie sprachen jetzt nicht mehr, sie waren beide
wie benommen, stürzten kopflos in einen Taumel, vom selben Schwindelgefühl erfaßt. Sie gab sich hin, tief in den Sessel hinabgeglitten, mit rotem, gequollenem Gesicht, die Augen geschlossen, wie um nicht mehr zu sehen. Mit roher Hand hatte er schon ihr Mieder aufgeknöpft, er riß die Häkchen ihrer Röcke auf, als seine Lippen den ihren begegneten. Er gab ihr einen Kuß, den sie hitzig erwiderte, indem sie ihm mit aller Kraft die Arme um den Hals schlang. Aber in dieser Erschütterung ihres jungfräulichen Körpers hatte sie die Augen geöffnet, sah sie sich auf den Boden rollen, erkannte sie die Lampe, den Schrank, die Decke, deren geringste Flecken ihr vertraut waren; und sie schien zu erwachen, mit dem Erstaunen eines Menschen, der sich nach einem schrecklichen Traum in seiner gewohnten Umgebung wiederfindet. Heftig wehrte sie sich, sprang auf. Ihre Röcke glitten herab, aus ihrem offenen Mieder quoll ihr nackter Busen hervor. Ein Schrei entfuhr ihr in
der keuchenden Stille des Raumes. »Laß mich los, das ist abscheulich!« Er hörte nicht mehr, toll vor Verlangen. Er packte sie wieder, riß ihr vollends die Kleider vom Leibe. Blindlings suchte er mit den Lippen das Nackte ihrer Haut, verbrannte sie mit Küssen, bei denen Pauline jedesmal durch und durch erschauerte. Zweimal noch wäre sie fast gefallen, dem unwiderstehlichen Verlangen unterliegend, sich hinzugeben, grausam leidend unter diesem Kampf gegen sich selbst. Mit kurzem Atem und verschlungenen Gliedern waren sie um den Tisch herumgerannt, als es ihm gelang, sie auf einen alten Diwan zu drängen, dessen Sprungfedern knarrten. Mit ausgestreckten Armen hielt sie ihn sich vom Leibe, während sie mit heiserer Stimme wiederholte: »Oh, ich bitte dich, laß mich! Es ist abscheulich, was du da willst!«
Er hatte, die Zähne aufeinandergepreßt, kein Wort gesprochen. Er glaubte sie endlich zu besitzen, als sie sich ein letztes Mal mit einer so ungestümen Anstrengung losmachte, daß er bis an den Tisch taumelte. Jetzt war sie für eine Sekunde frei, konnte hinauslaufen, mit einem Satz den Flur überqueren und in ihr Zimmer hineinstürzen. Schon hatte er sie eingeholt, sie fand nicht die Zeit, ihre Tür zuzuschlagen. Da er von außen drückte, mußte sie sich, um den Riegel vorschieben und den Schlüssel umdrehen zu können, mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers gegen das Holz stemmen; und während sie ihm diesen schmalen Spalt streitig machte, fühlte sie, daß sie verloren wäre, wenn er auch nur die Spitze seines Pantoffels hineinzwängte. Der Schlüssel kreischte laut, tiefe Stille trat ein, in der man von neuem hörte, wie das Meer die Mauer der Terrasse erschütterte. Indessen war Pauline mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt stehengeblieben, ohne Kerze,
die Augen in die Finsternis geöffnet. Sie wußte genau, daß Lazare, auf der anderen Seite der Tür, sich ebenfalls nicht gerührt hatte. Sie hörte seinen Atem, dessen Flamme sie noch immer auf ihrem Nacken zu spüren vermeinte. Wenn sie sich entfernte, würde er vielleicht mit der Schulter die Türfüllung eindrücken. Es beruhigte sie, dazusein; und ganz mechanisch stemmte sie sich weiter mit ihrer ganzen Kraft gegen die Tür, als versuchte er sie noch immer aufzustoßen. Zwei endlose Minuten vergingen, in denen beide fühlten, daß sie eigensinnig ausharrten, kaum durch das dünne Holz getrennt, hell entflammt, von jener Erregung des Begehrens geschüttelt, das sie nicht beschwichtigen konnten. Dann hauchte Lazares Stimme ganz leise, vor Aufregung erstickt: »Pauline, mach auf ... Du bist da, ich weiß es.« Ein Schauer überlief ihr Fleisch, diese Stimme hatte sie von Kopf bis Fuß durchglüht. Doch
sie antwortete nicht. Den Kopf vorgebeugt, hielt sie mit einer Hand ihre rutschenden Röcke fest, während die andere Hand, um das aufgerissene Mieder gekrampft, ihren Busen zusammenpreßte, um seine Nacktheit zu verbergen. »Du leidest ebenso wie ich, Pauline ... Mach auf, ich flehe dich an. Warum sollen wir uns dieses Glück versagen?« Er hatte jetzt Angst, Véronique zu wecken, deren Kammer nebenan war. Seine flehentlichen Bitten wurden sanft wie die Klage eines Kranken. »Mach doch auf ... Mach auf, und laß uns danach sterben, wenn du willst ... Lieben wir uns nicht seit unserer Kindheit? Du hattest meine Frau werden sollen; ist es nicht schicksalhaft, daß du es eines Tages bist? Ich liebe dich, ich liebe dich, Pauline ...« Sie zitterte stärker, jedes Wort schnürte ihr das
Herz zusammen. Die Küsse, mit denen er ihre Schultern bedeckt, brannten auf ihrer Haut wie Feuertropfen. Und sie machte sich noch steifer, vor Angst, zu öffnen, sich in dem unwiderstehlichen Drängen ihres halbnackten Körpers hinzugeben. Er hatte recht, sie betete ihn an, warum sich diese Freude versagen, die sie beide vor der ganzen Welt verbergen würden? Das Haus schlief, die Nacht war schwarz. Ach, im Dunkel eng umschlungen schlafen, ihn an sich gedrückt halten, und sei es nur für eine Stunde! Leben, ach, endlich leben! »Mein Gott, wie grausam du bist, Pauline! Du willst nicht einmal antworten, und ich steh da so elend ... Mach auf, ich werde dich nehmen, ich werde dich behalten, wir werden alles vergessen ... Mach auf, ich bitte dich, mach auf ...« Er schluchzte, und sie begann zu weinen. Sie schwieg noch immer, trotz des Aufruhrs ihres
Blutes. Eine Stunde lang flehte er sie an, wurde zornig, sagte schließlich abscheuliche Ausdrücke, um dann wieder in Worte brennender Zärtlichkeit zu verfallen. Zweimal glaubte sie, er sei gegangen, und zweimal kam er mit doppelt heftiger Liebeserregung aus seinem Zimmer zurück. Als sie dann hörte, wie er sich wütend in seinem Zimmer einschloß, empfand sie unendliche Traurigkeit. Diesmal war es vorbei, sie hatte gesiegt; aber sie war so verzweifelt und beschämt über diesen Sieg, daß sie sich entkleidete und niederlegte, ohne eine Kerze anzuzünden. Der Gedanke, sich in den Kleidern, die ihr vom Leibe hingen, nackt zu sehen, verwirrte sie schrecklich. Indes linderte die Kühle der Bettücher ein wenig das Brennen der Küsse, die ihr die Schultern fleckig färbten; und sie blieb lange reglos liegen, wie zermalmt unter der Last des Ekels und des Kummers. Schlaflosigkeit hielt Pauline bis zum Tagesanbruch wach. Diese Schandtat verfolgte
sie. Der ganze Abend war ein Verbrechen, das ihr Entsetzen einflößte. Jetzt konnte sie sich selber nicht mehr entschuldigen, sie mußte die Doppeldeutigkeit ihrer Liebe wohl eingestehen. Ihre mütterliche Zuneigung zu Lazare, ihre heimlichen Anschuldigungen gegen Louise waren einfach das heuchlerische Erwachen ihrer alten Leidenschaft. Sie war zu diesen Lügen herabgeglitten, sie stieg noch tiefer hinab in die uneingestandenen Gefühle ihres Herzens, in dem sie eine Freude über die Zerrüttung der Ehe entdeckte, eine Hoffnung, vielleicht daraus Nutzen zu ziehen. War nicht sie es, die ihren Cousin veranlaßt hatte, die Tage von früher wieder zu beginnen? Hätte sie nicht voraussehen müssen, daß es am Ende zum Sturz kommen würde? Jetzt trat die schreckliche Situation ein, die allen das Leben versperrte: Sie hatte ihn einer anderen gegeben, aber sie betete ihn an, und er begehrte sie. Das ging in ihrem Schädel um, dröhnte in ihren Schläfen wie Glockenschlag.
Zuerst beschloß sie, am nächsten Morgen zu fliehen. Dann fand sie diese Flucht feige. Da er selber abreiste, warum nicht warten? Und im übrigen regte sich wieder der Stolz in ihr, sie wollte sich besiegen, um nicht die Schande mitzunehmen, etwas Schlechtes getan zu haben. Von nun an, so fühlte sie, würde sie nicht mehr mit erhobenem Haupte leben können, wenn sie sich ständig Gewissensbisse ob dieses Abends machen müßte. Am nächsten Morgen kam Pauline zur gewohnten Stunde herunter. Nur der bläuliche Schatten ihrer Augenlider hätte die Qualen der Nacht erkennen lassen können. Sie war bleich und sehr ruhig. Als Lazare erschien, erklärte er sein müdes Aussehen einfach, indem er seinem Vater sagte, er habe bis in die späte Nacht gearbeitet. Der Tag verstrich mit den gewohnten Beschäftigungen. Keiner von beiden machte eine Anspielung auf das, was zwischen ihnen vorgefallen, selbst dann nicht, wenn sie allein zusammen waren, fern den
Augen und Ohren der anderen. Sie flohen sich nicht, sie schienen ihres Mutes sicher. Aber als sie sich am Abend auf dem Flur vor ihren Türen eine gute Nacht wünschten, fielen sie einander besinnungslos in die Arme, küßten sie sich mitten auf den Mund. Und Pauline schloß sich entsetzt ein, während Lazare ebenfalls floh und sich weinend auf sein Bett warf. Das war jetzt ihr Leben. Langsam folgte ein Tag auf den anderen, und sie blieben Seite an Seite in der ängstlichen Erwartung eines möglichen Fehltritts. Ohne jemals den Mund über diese Dinge aufzutun, ohne daß sie jemals wieder über diese schreckliche Nacht gesprochen hätten, dachten sie unausgesetzt daran, fürchteten sie, miteinander, gleichviel wo, wie vom Blitz getroffen niederzustürzen. Würde es des Morgens beim Aufstehen geschehen oder am Abend, wenn sie ein letztes Wort wechselten? Würde es in seinem Zimmer geschehen oder in ihrem oder in einem
abgelegenen Winkel des Hauses? Das blieb dunkel. Und ihre Vernunft behielt die Oberhand, jedes plötzliche Sichgehenlassen, jede Torheit eines Augenblicks, die verzweifelten Umarmungen hinter einer Tür, die im Dunkel geraubten brennenden Küsse empörten sie danach mit schmerzlichem Zorn. Der Boden erbebte unter ihren Füßen, sie klammerten sich an die Entschlüsse der ruhigen Stunden, um nicht in diesem Taumel zu versinken. Doch keiner von beiden hatte die Kraft zu der einzigen Rettung, einer sofortigen Trennung. Pauline hielt unter dem Vorwand der Tapferkeit angesichts der Gefahr hartnäckig aus. Lazare, der ganz gefangengenommen war und jeder Aufwallung eines neuen Abenteuers nachgab, antwortete nicht einmal mehr auf die dringlichen Briefe, die seine Frau ihm schrieb. Seit sechs Wochen war er in Bonneville, und es schien ihnen, als müsse dieses Leben grausamer und köstlicher Erschütterungen jetzt ewig währen.
Eines Sonntags beim Abendessen wurde Chanteau munter, nachdem er sich ein Glas Burgunder genehmigt hatte, eine Ausschweifung, die er jedesmal teuer bezahlte. An jenem Tage hatten Pauline und Lazare bei strahlend blauem Himmel zauberhafte Stunden am Meer verbracht; und sie wechselten gerührte Blicke, in denen die Unruhe ob dieser Angst vor sich selber flackerte, die ihre Kameradschaft jetzt so leidenschaftlich machte. Alle drei lachten, als Véronique in dem Augenblick, da sie den Nachtisch auftragen wollte, an der Küchentür erschien und rief: »Da kommt die gnädige Frau!« »Welche gnädige Frau?« fragte Pauline höchst erstaunt. »Na, Frau Louise natürlich!« Es verschlug ihnen die Sprache. Der verstörte Chanteau sah, wie Pauline und Lazare
erbleichten. Letzterer aber erhob ungestüm und stammelte vor Zorn:
sich
»Wie! Louise? Sie hat mir doch gar nicht geschrieben! Ich hätte ihr verboten, hierher zu kommen ... Ist sie denn verrückt?« Die Abenddämmerung senkte sich sehr klar und sehr mild herab. Lazare hatte seine Serviette fortgeworfen und war hinausgegangen; Pauline folgte ihm, bemüht, ihre lächelnde Heiterkeit wiederzufinden. Es war in der Tat Louise, die mühsam aus Vater Malivoires Wagen stieg. »Bist du toll?« rief ihr Lazare vom Hof aus entgegen. »Wie kannst du solche Dummheiten machen, ohne zu schreiben!« Da brach sie in Tränen aus. Dort unten war sie ganz krank und langweilte sich so! Da ihre beiden letzten Briefe ohne Antwort geblieben waren, hatte sie das unwiderstehliche Verlangen gepackt abzureisen, ein Verlangen,
in das sich der sehnliche Wunsch mischte, Bonneville wiederzusehen. Wenn sie ihn nicht benachrichtigt hatte, so aus Angst, daß er sie daran hinderte, ihren Wunsch zu befriedigen. »Und ich hatte mich so darauf gefreut, euch alle zu überraschen!« »Das ist lächerlich. Du wirst morgen wieder abreisen!« Louise, der dieser Empfang den Atem benahm, fiel Pauline in die Arme. Als diese sie so unbeholfen in ihren Bewegungen sah, mit der stärker gewordenen Taille unter dem Kleid, war sie noch bleicher geworden. Jetzt spürte sie diesen Leib einer schwangeren Frau an ihrem Körper und empfand Entsetzen und Mitleid darüber. Endlich gelang es ihr, den Aufruhr ihrer Eifersucht zu überwinden, sie brachte Lazare zum Schweigen. »Warum sprichst du so hart zu ihr? Gib ihr einen Kuß ... Meine Liebe, du hast recht daran
getan, zu kommen, wenn du meinst, daß du dich in Bonneville wohler fühlst. Du weißt, daß wir dich alle liebhaben, nicht wahr?« Loulou heulte, wütend über diese Stimmen, die den gewohnten Frieden des Hofes störten. Minouche hatte sich, nachdem sie die Nase auf die Freitreppe hinausgesteckt, zurückgezogen und schüttelte die Pfoten, als hätte sie sich bei einem unangenehmen Abenteuer beinahe kompromittiert. Alle gingen ins Haus, Véronique mußte ein Gedeck auflegen und das Essen noch einmal auftragen. »Wie! Du bist es, Louisette?« wiederholte Chanteau mit unruhigem Lachen. »Du hast deine Familie überraschen wollen? Ich hätte mich darüber fast an meinem Wein verschluckt.« Der Abend ging jedoch gut zu Ende. Alle hatten ihre Kaltblütigkeit wiedererlangt. Man vermied es, irgend etwas für die folgenden Tage zu regeln. In dem Augenblick, da man
hinaufgehen wollte, gab es von neuem Verlegenheit, als das Hausmädchen fragte, ob Herr Lazare im Zimmer der gnädigen Frau schlafe. »O nein, Louise wird sich so besser ausruhen«, murmelte Lazare, der unwillkürlich einen Blick von Pauline aufgefangen hatte. »Ja, ja, schlaf du nur da oben«, sagte die junge Frau. »Ich bin entsetzlich abgespannt, dann habe ich das ganze Bett für mich.« Drei Tage vergingen. Pauline faßte endlich einen Entschluß. Sie würde das Haus am Montag verlassen. Schon sprach das Ehepaar davon, bis zum Augenblick der Niederkunft zu bleiben, die man nicht vor einem reichlichen Monat erwartete; aber sie ahnte wohl, daß ihr Cousin genug von Paris hatte und daß er seine Jahreszinsen schließlich in Bonneville verzehren würde, als ein über seine ständigen Fehlschläge verbitterter Mann. Das beste wäre, ihnen sofort den Platz zu überlassen, denn es
gelang ihr nicht, sich zu überwinden, sie fand noch weniger als früher den Mut, mit ihnen in ihrem vertrauten Umgang von Mann und Frau zu leben. War dies nicht auch das Mittel, den Gefahren der wiedererstehenden Leidenschaft zu entrinnen, unter der Lazare und sie gerade so sehr gelitten hatten? Louise allein war verwundert, als sie den Entschluß der Cousine erfuhr. Man brachte Gründe vor, gegen die sich nichts einwenden ließ, Doktor Cazenove erzählte, die Dame von SaintLô mache Pauline außergewöhnliche Angebote und diese könne nicht länger ablehnen, ihre Verwandten müßten sie vielmehr zwingen, eine Stellung anzunehmen, die ihr die Zukunft sichern würde. Chanteau selber stimmte mit Tränen in den Augen zu. Es gab am Samstag ein letztes Abendessen mit dem Pfarrer und dem Doktor. Louise, die sehr leidend war, vermochte sich kaum an den Tisch zu schleppen. Das trübte die Mahlzeit vollends, trotz der Bemühungen Paulines, die
jedem zulächelte, mit dem Selbstvorwurf, dieses Haus, in das sie seit Jahren so viel klingende Fröhlichkeit gebracht hatte, traurig zurückzulassen. Ihr Herz floß von Kummer über. Véronique bediente mit tragischer Miene. Aus übertriebener Vorsicht lehnte es Chanteau ab, zum Braten einen Schluck Burgunder zu trinken, zitternd bei dem Gedanken, daß er bald nicht mehr die Krankenwärterin haben würde, die allein mit ihrer Stimme die Schmerzen einschläferte. Lazare, fieberhaft erregt, stritt sich die ganze Zeit mit dem Arzt über eine neue wissenschaftliche Entdeckung. Um elf Uhr war das Haus wieder in seine tiefe Stille gesunken. Louise und Chanteau schliefen schon, während das Hausmädchen die Küche in Ordnung brachte. Oben vor seinem ehemaligen Knabenzimmer, das Lazare immer noch bewohnte, hielt er wie jeden Abend Pauline einen Augenblick zurück.
»Leb wohl«, murmelte er. »Aber nein, nicht leb wohl«, sagte sie und bemühte sich zu lachen. »Auf Wiedersehen, da ich doch erst am Montag reise.« Sie sahen sich an, ihre Augen umflorten sich, und sie fielen einander in die Arme, ihre Lippen vereinten sich ungestüm in einem letzten Kuß.
Kapitel X Als sich am nächsten Morgen zum ersten Frühstück alle an den Kaffeetisch setzten, wunderten sie sich, daß Louise nicht herunterkam. Das Hausmädchen wollte gerade hinaufgehen und an die Tür des Schlafzimmers klopfen, als sie endlich erschien. Sie war sehr blaß, und jeder Schritt fiel ihr schwer. »Was hast du denn?« fragte Lazare unruhig.
»Mir ist schon seit dem frühen Morgen nicht gut«, erwiderte sie. »Ich habe heute nacht kaum ein Auge zugetan, ich glaube, ich habe jede Stunde schlagen hören.« Pauline sagte vorwurfsvoll: »Aber du hättest rufen sollen, wir hätten wenigstens für dich gesorgt.« Louise war am Tisch angelangt und hatte sich mit einem Seufzer der Erleichterung hingesetzt. »Oh«, begann sie wieder, »ihr könnt mir da nicht helfen! Ich weiß, was es ist, seit acht Monaten verlassen mich diese Schmerzen kaum noch.« Ihre sehr beschwerliche Schwangerschaft hatte sie in der Tat an ständige Übelkeit und Leibschmerzen gewöhnt, die manchmal so heftig waren, daß sie ganze Tage lang in gekrümmter Haltung verharrte. An diesem Morgen war die Übelkeit verschwunden, aber
sie fühlte sich wie von einem Gürtel eingeschnürt, der ihr schier den Leib zerquetschte. »Man gewöhnt sich ans Leiden«, sagte Chanteau in belehrendem Tone. »Ja, ich muß damit herumgehen«, schloß die junge Frau. »Deshalb bin ich heruntergekommen ... Ich kann nicht da oben auf einer Stelle bleiben.« Sie nahm nur etwas Milchkaffee zu sich. Den ganzen Vormittag schleppte sie sich durch das Haus, setzte sich bald auf den einen, bald auf einen anderen Stuhl. Niemand wagte sie anzusprechen, denn sie brauste auf und schien noch mehr zu leiden, sowie man sich um sie kümmerte. Die Schmerzen hörten nicht auf. Kurz vor zwölf Uhr mittags jedoch schien der Anfall nachzulassen, sie konnte sich wieder zu Tisch setzen und einen Teller Suppe essen. Aber zwischen zwei und drei Uhr stellten sich entsetzliche Leibschmerzen ein; und jetzt hielt
es sie nicht mehr, sie ging vom Eßzimmer in die Küche, stieg schwerfällig in ihr Zimmer hinauf, um sogleich wieder herunterzukommen. Pauline packte oben ihren Koffer. Sie wollte am nächsten Morgen abreisen, es blieb ihr gerade noch Zeit, ihre Möbel zu durchsuchen und alles aufzuräumen. Jede Minute indessen beugte sie sich über das Geländer, gequält von diesen schmerzensschweren Schritten, welche die Dielen erschütterten. Gegen vier Uhr, als sie Louise noch unruhiger werden hörte, entschloß sie sich, bei Lazare anzuklopfen, der sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, erbittert über das viele Unglück, mit dem das Schicksal ihn überhäufte. »Wir können sie so nicht lassen«, erklärte sie. »Wir müssen mit ihr sprechen. Komm mit mir.« Louise stand im ersten Stockwerk gekrümmt am Geländer, ohne mehr die Kraft zu haben,
hinauf oder hinunterzugehen. »Mein liebes Kind«, sagte Pauline sanft, »wir machen uns Sorgen um dich ... Wir werden die Hebamme holen lassen.« Da wurde Louise böse. »Mein Gott! Ist es denn möglich, mich so zu quälen, wenn ich nichts anderes verlange, als daß man mich in Ruhe läßt! Was soll die Hebamme wohl im achten Monat tun?« »Es wäre immerhin vernünftiger, sie zu rufen.« »Nein, ich will nicht, ich weiß, was es ist ... Um Himmels willen, sprecht nicht mehr mit mir, quält mich nicht länger!« Und Louise beharrte mit so übertriebenem Zorn darauf, daß Lazare nun auch aufbrauste. Pauline mußte ausdrücklich versprechen, die Hebamme nicht holen zu lassen. Diese Hebamme war eine Frau Bouland aus
Verchemont, die in der Umgegend im Ruf außergewöhnlicher Geschicklichkeit und Tatkraft stand. Man schwor, daß man ihresgleichen weder in Bayeux noch selbst in Caen finden würde. Deshalb hatte die sehr verzärtelte Louise, von der Vorahnung befallen, daß sie bei der Niederkunft sterben würde, den Entschluß gefaßt, sich in ihre Hände zu begeben. Aber sie hatte deshalb nicht weniger große Angst vor Frau Bouland, jene unsinnige Angst, die man vor dem Zahnarzt hat, der heilen soll und den man trotzdem so spät wie möglich aufsucht. Um sechs Uhr trat wieder eine plötzliche Beruhigung ein. Die junge Frau triumphierte: Sie sagte es ja, es waren ihre gewohnten Schmerzen, nur stärker; was hätte es genutzt, die Leute für nichts und wieder nichts in Bewegung zu setzen! Da sie tot vor Müdigkeit war, zog sie es indessen vor, zu Bett zu gehen, nachdem sie ein Kotelett gegessen hatte. Alles wäre vorbei, erklärte sie, wenn sie schlafen
könnte. Und sie wies eigensinnig alle Fürsorge zurück, sie wollte allein bleiben, während die Familie zu Abend aß, sie erlaubte nicht einmal, daß jemand nach ihr schaute, weil sie fürchtete, aus dem Schlaf geschreckt zu werden. Es gab an jenem Abend Rindfleischsuppe und ein Stück Kalbsbraten. Zu Beginn der Mahlzeit waren alle schweigsam, dieser Anfall Louises kam noch zu der Traurigkeit über Paulines Abreise hinzu. Man vermied, mit den Löffeln und Gabeln zu klappern, als hätte das Geräusch bis hinauf ins erste Stockwerk dringen und die Kranke noch mehr aufbringen können. Chanteau jedoch kam in Fahrt, erzählte Geschichten von außergewöhnlichen Schwangerschaften, als Véronique, die den aufgeschnittenen Kalbsbraten brachte, plötzlich sagte: »Ich weiß nicht, mir scheint, sie stöhnt da oben.«
Lazare stand auf, um die Tür zum Flur zu öffnen. Alle hielten inne und lauschten. Man hörte zunächst nichts; dann drangen langgezogene, unterdrückte Klagelaute zu ihnen. »Da hat es sie wieder gepackt«, murmelte Pauline. »Ich gehe hinauf.« Sie warf ihre Serviette hin und rührte nicht einmal die Scheibe Kalbfleisch an, die das Hausmädchen ihr auflegte. Der Schlüssel steckte glücklicherweise im Schloß, sie konnte eintreten. Auf dem Rand ihres Bettes sitzend, wiegte sich die junge Frau, bloßfüßig und in einen Morgenrock gehüllt, mit der Bewegung eines Uhrpendels hin und her, unter der unerträglichen Beständigkeit eines Schmerzes, der ihr laute, regelmäßige Seufzer entriß. »Geht es dir schlechter?« fragte Pauline. Sie antwortete nicht. »Sollen wir jetzt Madame Bouland holen?«
Da stammelte sie mit eigensinniger Ergebung:
dem
Ausdruck
»Ja, mir ist es gleich. Vielleicht habe ich Ruhe nachher ... Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr ...« Lazare, der hinter Pauline heraufgekommen war und an der Tür horchte, wagte einzutreten und meinte, es sei auch ratsam, Doktor Cazenove aus Arromanches zu holen, für den Fall, daß sich Komplikationen einstellen sollten. Aber Louise begann zu weinen. Hatten sie denn nicht das geringste Mitleid mit ihrem Zustand? Warum quälten sie sie so? Sie wußten doch sehr gut: Der Gedanke, daß ein Mann sie entbinden würde, hatte sie immer empört. Es war in ihr die krankhafte Scham einer gefallsüchtigen Frau, ein Unbehagen, sich in der entsetzlichen Preisgabe des Leidens zu zeigen, das sie selbst vor ihrem Mann und vor ihrer Cousine veranlaßte, den Morgenrock eng um ihre armen gekrümmten Lenden zu
schlingen. »Wenn du den Doktor holst«, stammelte sie, »dann leg ich mich ins Bett, dreh mich zur Wand und geb niemand mehr eine Antwort.« »Bring nur immer die Hebamme mit«, sagte Pauline zu Lazare. »Ich kann auch nicht glauben, daß es schon soweit ist. Wir müssen sie nur beruhigen.« Beide gingen wieder hinunter. Abbé Horteur war gekommen, rasch einen guten Abend zu wünschen, und er blieb stumm angesichts des verstörten Chanteau. Lazare sollte wenigstens ein Stück Kalbfleisch essen, bevor er sich auf den Weg machte; doch er erklärte, ihm würde jeder Bissen im Halse steckenbleiben, und er lief los nach Verchemont. »Ich glaube, sie hat mich gerufen«, sagte Pauline und stürzte zur Treppe. »Wenn ich Véronique brauchen sollte, klopfe ich ... Du ißt ohne mich zu Ende, nicht wahr, Onkel?«
Dem Priester war es unangenehm, daß er so mitten in eine Entbindung hineinplatzte, und er fand nicht seine üblichen Trostworte. Er zog sich schließlich zurück, nachdem er versprochen hatte wiederzukommen, wenn er die Gonins besucht hätte, wo der sieche alte Mann sehr krank war. Und Chanteau blieb allein an dem schrecklich unordentlichen, halb abgegessenen Tisch zurück. Die Gläser waren noch halb voll, das Kalbfleisch wurde auf den Tellern kalt, die fettigen Gabeln und die bereits angebissenen Brotstücke lagen herum, hingeworfen in dem plötzlichen Wirbel der Unruhe, der über das Tischtuch gefahren war. Während das Hausmädchen vorsichtshalber schon einen Kessel mit Wasser aufs Feuer setzte, brummte sie, daß sie nicht wisse, ob sie den Tisch abräumen oder alles so drunter und drüber liegenlassen solle. Oben war Louise aufgestanden und hielt sich an einer Stuhllehne fest, als Pauline ins Zimmer trat.
»Ich halt es nicht aus, wenn ich sitze, hilf mir beim Gehen.« Seit dem Morgen klagte sie über ein Zucken auf der Haut, als hätten Mücken sie übel zerstochen. Jetzt waren es innere Krämpfe, sie hatte das Gefühl, als sei ihr Leib in einen Schraubstock gepreßt und werde immer fester zusammengedrückt. Sobald sie sich setzte oder legte, schien eine bleierne Masse ihr die Eingeweide zu zermalmen, und sie empfand das Bedürfnis, hin und her zu gehen; sie hatte den Arm ihrer Cousine ergriffen, die sie vom Bett zum Fenster führte. »Du hast ein wenig Fieber«, sagte das junge Mädchen. »Möchtest du vielleicht etwas trinken?« Louise vermochte nicht zu antworten. Ein heftiger ziehender Schmerz hatte sie zusammengekrümmt, und sie hängte sich an Paulines Schultern mit einem solchen Zittern, daß sie beide davon erbebten. Schreie
entrangen sich ihr, in denen Ungeduld und Entsetzen zum Ausdruck kamen. »Ich sterbe vor Durst«, murmelte sie, als sie endlich sprechen konnte. »Meine Zunge ist wie ausgedörrt, und du siehst, wie rot ich bin. Aber nein, nein, laß mich nicht los, ich falle sonst. Laß uns noch ein bißchen gehen, nur gehen, ich trinke dann später.« Und sie setzte ihre Wanderung fort, zog die Beine schleppend nach, wiegte sich hin und her und hing immer schwerer an dem Arm, der sie stützte. Zwei Stunden lang ging sie unablässig auf und ab. Es war neun Uhr. Warum kam diese Hebamme nicht? Jetzt sehnte sie sie glühend herbei und sagte, man wolle sie also sterben sehen, da man sie so lange ohne Hilfe ließ. Verchemont war fünfundzwanzig Minuten entfernt, eine Stunde hätte genügen müssen. Lazare vergnügte sich wohl, oder es war ein Unglück geschehen; nun sei alles zu Ende, niemand würde
zurückkommen. Übelkeit schüttelte sie, sie mußte sich erbrechen. »Geh, ich will nicht, daß du bleibst! Ist es denn möglich, mein Gott, daß man in einen Zustand kommt, daß es alle Welt vor einem ekeln muß?« Es beschäftigte sie in der greulichen Qual einzig die Sorge um ihre Schamhaftigkeit und ihre weibliche Anmut. Ihre Nerven waren trotz ihrer zarten Glieder sehr widerstandsfähig, sie setzte ihre letzte Kraft darein, sich nicht gehenzulassen, gemartert von dem Gedanken, daß sie ihre Strümpfe nicht hatte überstreifen können, beunruhigt über jedes Zipfelchen Nacktheit, das sie zeigte. Aber sie geriet in eine noch größere Verlegenheit, denn unaufhörlich quälte sie ein eingebildetes Bedürfnis; sie verlangte, daß ihre Cousine sich umdrehte, und versteckte sich selbst hinter einem Zipfel des Vorhanges, um zu versuchen, dieses zu befriedigen. Da die Magd
heraufgekommen war, ihre Dienste anzubieten, stammelte Louise mit verzweifelter Stimme bei den ersten Beschwerden, die sie zu fühlen glaubte: »Oh, nicht vor diesem Mädchen ...! Ich bitte dich, schick sie einen Augenblick auf den Flur.« Pauline verlor allmählich den Kopf. Es schlug zehn Uhr, sie wußte nicht, wie sie die lange Abwesenheit Lazares erklären sollte. Ohne Zweifel hatte er Frau Bouland nicht angetroffen; aber was würde nun geschehen, wenn sie doch nicht wußte, was sie machen sollte mit dieser armen Frau, deren Zustand sich zu verschlimmern schien? Sie entsann sich zwar ihrer ehemaligen Lektüre, sie hätte Louise gern untersucht, in der Hoffnung, sich und sie selber zu beruhigen. Allein sie fühlte, wie schamhaft Louise war, so daß sie zögerte, ihr das vorzuschlagen. »Hör zu, meine Liebe«, sagte sie endlich, »laß
mich einmal nachsehen.« »Du! O nein! O nein! Du bist ja nicht verheiratet.« Pauline konnte sich nicht enthalten zu lachen. »Aber das macht doch nichts! Ich wäre so glücklich, dir Erleichterung zu verschaffen.« »Nein! Ich würde vor Scham sterben, ich könnte nie mehr wagen, dir ins Gesicht zu sehen.« Es schlug elf Uhr, das Warten wurde unerträglich. Véronique brach mit einer Laterne nach Verchemont auf, mit der Weisung, alle Straßengräben abzuleuchten. Zweimal hatte Louise versucht, sich ins Bett zu legen, die Beine vor Müdigkeit wie zerschlagen; aber sie hatte sich sogleich wieder erhoben, und sie stand jetzt da, die Arme auf die Kommode gestützt, und wiegte sich auf der Stelle mit einer ständigen Bewegung der Lenden. Die Wehen folgten
jetzt rasch aufeinander, verschmolzen zu einem einzigen Schmerz, dessen Heftigkeit ihr den Atem benahm. Alle Augenblicke ließen ihre tastenden Hände die Kommode los, glitten an ihren Seiten entlang und faßten nach ihrem Gesäß, wie um es zu stützen und das Gewicht zu vermindern, unter dem es zermalmt zu werden drohte. Und Pauline, die hinter ihr stand, konnte nichts tun, mußte zusehen, wie sie litt, den Kopf abwenden und so tun, als beschäftige sie sich, wenn Louise in der beständigen Sorge um ihr schönes blondes Haar und ihr verzerrtes feines Gesicht mit einer verlegenen Gebärde ihren Morgenrock an sich zog. Es war kurz vor Mitternacht, als ein Geräusch von Rädern zu hören war. Das junge Mädchen ging rasch hinunter. »Und Véronique?« rief sie von der Freitreppe aus, als sie Lazare und die Hebamme erkannte. »Habt ihr sie denn nicht getroffen?«
Lazare erzählte ihr, daß sie auf der Landstraße von PortenBessin gekommen seien: Unglück über Unglück, Frau Bouland drei Meilen entfernt bei einer Wöchnerin, weder Wagen noch Pferd, sie zu holen, die drei Meilen zu Fuß im Laufschritt zurückgelegt, und dort endloser Ärger! Glücklicherweise hatte Frau Bouland einen Wagen. »Und die Frau?« fragte Pauline. »War schon alles vorbei, hat Frau Bouland weggehen können?« Lazares Stimme zitterte, er sagte dumpf: »Die Frau ist tot.« Sie traten in die Diele, die von einer Kerze erhellt wurde. Es herrschte Schweigen, während Frau Bouland ihren Mantel aufhängte. Sie war eine brünette, magere kleine Frau, gelb wie eine Zitrone, mit einer großen gebieterischen Nase. Sie sprach laut, hatte ein herrisches Gebaren, um dessentwillen
sie von den Bauern verehrt wurde. »Wenn Sie mir bitte folgen würden, Frau Bouland«, sagte Pauline. »Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte, sie hat seit dem Abend nicht aufgehört zu klagen.« Im Schlafzimmer trat Louise noch immer vor der Kommode von einem Bein aufs andere. Und sie begann wieder zu weinen, als sie die Hebamme erblickte. Diese stellte ihr einige kurze Fragen über die Zeiten, den Sitz und die Art der Schmerzen. Dann schloß sie kurz angebunden: »Wir werden sehen ... Ich kann nichts sagen, solange ich nicht die Lage festgestellt habe.« »Ist es denn schon soweit?« murmelte die junge Frau unter Tränen. »Oh, mein Gott! Mit acht Monaten! Und ich glaubte, ich hätte noch einen Monat Zeit!« Ohne zu antworten, schüttelte Frau Bouland die Kopfkissen auf und legte sie mitten im Bett
übereinander. Lazare, der heraufgekommen war, hatte das unbeholfene Benehmen des Mannes, der mitten in das Drama der Niederkunft hereinplatzt. Immerhin war er näher getreten und hatte einen Kuß auf die schweißnasse Stirn seiner Frau gedrückt, die diese ermutigende Liebkosung nicht einmal wahrzunehmen schien. »Fangen wir an«, sagte die Hebamme. Louise sandte Pauline einen verstörten Blick zu, dessen stummes Flehen diese verstand. Sie ging mit Lazare hinaus, beide blieben auf dem Treppenabsatz und vermochten nicht, sich noch weiter zu entfernen. Die Kerze, die man unten gelassen, erhellte das Treppenhaus mit dem von wunderlichen Schatten unterbrochenen Schein einer Nachtlampe; und sie standen da, der eine an die Wand, der andere ans Geländer gelehnt, reglos und schweigsam. Sie lauschten. Undeutliche Klagelaute drangen immerfort aus dem
Zimmer hervor, dann zwei herzzerreißende Schreie. Eine Ewigkeit schien zu vergehen bis zu dem Augenblick, da die Hebamme endlich öffnete. Sie wollten eintreten, wurden aber zurückgedrängt von der Hebamme, die selber herauskam und die Tür wieder schloß. »Was ist?« murmelte Pauline. Mit einem Zeichen bedeutete sie ihnen, sie sollten hinuntergehen, und unten erst, im Flur, sprach sie. »Der Fall droht ernst zu werden. Es ist meine Pflicht, die Familie in Kenntnis zu setzen.« Lazare erbleichte. Ein kalter Hauch hatte sein Gesicht erstarren lassen. Er stammelte: »Was gibt es?« »Das Kind liegt mit der linken Schulter vorn, soweit ich mich davon habe überzeugen können, und ich fürchte sogar, daß der Arm zuerst kommt.«
»Und weiter?« fragte Pauline. »In einem solchen Fall ist die Anwesenheit eines Arztes unbedingt notwendig ... Ich kann die Verantwortung für die Entbindung nicht übernehmen, zumal im achten Monat.« Alle drei schwiegen. Dann fuhr Lazare verzweifelt auf. Wo sollte er in dieser nächtlichen Stunde einen Arzt finden? Seine Frau konnte zwanzigmal sterben, bevor er den Doktor aus Arromanches geholt hätte. »Ich glaube nicht an eine unmittelbare Gefahr«, wiederholte die Hebamme. »Machen Sie sich sofort auf den Weg ... Ich selber kann nichts tun.« Und da Pauline sie nun ihrerseits anflehte zu handeln, im Namen der Menschlichkeit, um der Unglücklichen, deren lautes Stöhnen das Haus noch immer erfüllte, wenigstens Erleichterung zu verschaffen, erklärte sie unumwunden:
»Nein, das ist mir verboten ... Die andere in dem Dorf da ist gestorben. Ich will nicht, daß diese hier mir auch unter den Händen bleibt.« In diesem Augenblick hörte man, Chanteau im Eßzimmer weinerlich rief:
wie
»Seid ihr da? Kommt doch herein! Keiner sagt mir etwas. Seit Ewigkeiten warte ich schon auf Nachricht.« Sie gingen hinein. Seit dem unterbrochenen Abendessen hatte man Chanteau vergessen. Er war vor dem gedeckten Tisch sitzen geblieben und drehte geduldig die Daumen mit der schläfrigen Ergebung eines Kranken, der an langes, einsames Unbeweglichsein gewöhnt ist. Dieses neue Unheil, das das Haus in Aufruhr versetzte, stimmte ihn traurig; er hatte nicht einmal Lust gehabt, zu Ende zu essen, die Augen auf seinen noch vollen Teller gerichtet. »Es geht ihr also nicht gut?« murmelte er.
Lazare zuckte wütend die Achseln. Frau Bouland, die ihre ganze Ruhe bewahrte, riet ihm, nicht noch mehr Zeit zu verlieren. »Nehmen Sie den Wagen. Das Pferd kann zwar kaum laufen, aber in zwei bis zweieinhalb Stunden können Sie hin und zurück sein ... Bis dahin werde ich wachen.« Da stürzte er in jähem Entschluß hinaus, mit der Gewißheit, daß er seine Frau tot wiederfinden würde. Man hörte ihn fluchen und auf das Pferd einschlagen, das den Wagen unter lautem Gerassel entführte. »Was ist los?« fragte von neuem Chanteau, dem niemand antwortete. Die Hebamme ging schon wieder hinauf, und Pauline folgte ihr, nachdem sie ihrem Onkel nur gesagt hatte, daß die arme Louise viel aushalten müsse. Als sie ihm anbot, ihn zu Bett zu bringen, weigerte er sich und bestand eigensinnig darauf, aufzubleiben, um das
Weitere zu erfahren. Wenn ihn der Schlaf übermannte, würde er sehr gut in seinem Sessel schlafen, wie er ja ganze Nachmittage darin schlief. Kaum war er wieder allein, als Véronique mit ihrer erloschenen Laterne zurückkam. Sie war wütend. Seit zwei Jahren hatte sie nicht so viele Worte verloren. »Sie hätten es sagen sollen, daß sie auf der anderen Straße kommen würden! Und ich habe in allen Gräben nachgesehen und bin bis nach Verchemont gelaufen wie eine Blöde! Dort habe ich noch eine reichliche halbe Stunde mitten auf dem Weg gewartet.« Chanteau blickte sie verschwollenen Augen an.
mit
seinen
»Allerdings, Véronique, ihr konntet euch kaum begegnen!« »Dann, wie ich zurückkomme, sehe ich da Herrn Lazare, der wie ein Verrückter in einem erbärmlichen Wagen dahingaloppiert ... Ich
schreie ihm zu, daß man auf ihn wartet, aber er schlägt noch stärker auf das Pferd ein, und es fehlte nicht viel, so hätte er mich überfahren! Nein, ich habe genug von diesen Aufträgen, von denen ich nichts begreife! Ganz abgesehen davon, daß meine Laterne ausgegangen ist.« Und sie drängte ihren Herrn, sie wollte ihn zwingen, zu Ende zu essen, damit sie wenigstens den Tisch abräumen könnte. Er hatte keinen Hunger, wollte aber dennoch ein wenig kalten Braten nehmen, mehr um sich zu zerstreuen. Was ihn jetzt ärgerte, war der Wortbruch des Abbés. Warum versprechen, daß man den Leuten Gesellschaft leisten will, wenn man entschlossen ist, zu Hause zu bleiben? Die Pfarrer gaben allerdings eine sehr komische Figur ab, wenn die Frauen niederkamen! Dieser Gedanke belustigte ihn, und fröhlich schickte er sich an, ganz allein zu speisen. »Nun los, Herr Chanteau, beeilen Sie sich«,
wiederholte Véronique. »Es ist bald ein Uhr, mein Abwasch kann nicht bis morgen so herumstehen ... Das ist vielleicht ein verflixtes Haus, in dem es dauernd drunter und drüber geht!« Sie begann die Teller abzuräumen, als Pauline sie von der Treppe her mit dringlicher Stimme rief. Und Chanteau fand sich wieder vor dem Tisch, von neuem vergessen, ohne daß jemand herunterkam und ihm Nachricht brachte. Frau Bouland hatte gebieterisch von dem Zimmer Besitz ergriffen, durchwühlte die Möbel, gab Anweisungen. Sie ließ zunächst Feuer anzünden, denn der Raum schien ihr feucht. Dann erklärte sie, das Bett sei unbequem, zu niedrig, zu weich; und als Pauline ihr sagte, daß sie auf dem Dachboden ein altes Gurtbett hätten, ließ sie es von Véronique holen, richtete es vor dem Kamin her, indem sie ein Brett darauflegte und es mit einer einfachen Matratze ausstattete. Dann
brauchte sie eine Menge Wäsche, ein Bettuch, das sie vierfach zusammenlegte, um die Matratze zu schützen, andere Bettücher und Handtücher und Wischtücher, die sie auf Stühlen vor dem Feuer vorwärmte. Bald sah das Zimmer, vollgestopft mit Wäsche und durch das Bett versperrt, wie ein Feldlazarett aus, das in Erwartung einer Schlacht in Eile eingerichtet wurde. Im übrigen redete sie jetzt unaufhörlich, ermahnte Louise mit militärischer Stimme, als wollte sie dem Schmerz befehlen. Pauline hatte sie leise gebeten, nicht vom Arzt zu sprechen. »Es wird nicht schlimm sein, kleine Frau. Ich würde Sie lieber liegen sehen; aber da Sie das aufregt, gehen Sie nur ohne Furcht umher, stützen Sie sich auf mich ... Ich habe Frauen im achten Monat entbunden, deren Kinder kräftiger waren als die anderen ... Nein, nein, das tut Ihnen nicht so weh, wie Sie glauben.
Wir werden Sie nachher leicht und schnell davon befreien.« Louise beruhigte sich nicht. Ihre Schreie nahmen den Charakter schrecklicher Herzensangst an. Sie klammerte sich an die Möbel; für Augenblicke ließen zusammenhanglose Worte erkennen, daß sie sogar ein wenig im Fieberwahn redete. Die Hebamme, die Pauline beruhigen wollte, erklärte ihr leise, daß die Schmerzen bei der Erweiterung des Muttermundes manchmal unerträglicher seien als die großen Wehen bei der Austreibung. Sie hatte es schon erlebt, daß dieses erste Stadium beim ersten Kind zwei Tage gedauert hätte. Was sie befürchtete, war das Platzen der Fruchtblase vor der Ankunft des Arztes; denn der Eingriff, den er wahrscheinlich vornehmen müßte, würde dann gefährlich sein. »Ich halt es nicht mehr aus«, wiederholte Louise keuchend. »Ich halt es nicht mehr
aus ... Ich sterbe ...« Frau Bouland hatte sich entschlossen, ihr zwanzig Tropfen Opiumtinktur in einem halben Glas Wasser zu geben. Dann hatte sie es mit Einreibungen der Lenden versucht. Die arme Frau, deren Kräfte schwanden, gab nun weiter nach: Sie verlangte nicht mehr, daß ihre Cousine und das Hausmädchen hinausgingen, sie verbarg ihre Nacktheit nur noch unter ihrem übereinandergeschlagenen Morgenrock, deren Vorderbahn sie in ihren verkrampften Händen hielt. Doch die durch die Einreibung herbeigeführte kurze Atempause dauerte nicht an; und schreckliche Krämpfe traten auf. »Warten wir«, sagte unerschütterlich Frau Bouland. »Ich kann absolut nichts dagegen tun. Man muß die Natur machen lassen.« Und sie begann sogar ein Gespräch über das Chloroform, gegen das sie die Abneigung der alten Schule hatte. Wenn man sie hörte, starben die Wöchnerinnen wie die Fliegen
unter den Händen der Ärzte, die dieses Mittel anwendeten. Der Schmerz sei notwendig, niemals sei eine eingeschläferte Frau zu so guter Arbeit fähig wie eine wache. Pauline hatte das Gegenteil gelesen. Sie antwortete nicht, das Herz von Mitleid ertränkt angesichts der Verwüstung durch das Leiden, das Louise nach und nach vernichtete und aus ihrer Anmut, aus ihrem Zauber einer zarten Blondine einen entsetzlichen Gegenstand des Erbarmens machte. Es war in ihr ein Zorn gegen den Schmerz, ein Bedürfnis, ihn aus der Welt zu schaffen, so daß sie ihn wie einen Feind hätte bekämpfen mögen, wenn sie die Mittel dazu gekannt hätte. Die Nacht jedoch verstrich, es war fast zwei Uhr. Mehrmals hatte Louise von Lazare gesprochen. Man log, man sagte ihr, er sei unten geblieben, da er selber so sehr erschüttert sei, daß er fürchtete, sie zu entmutigen. Im übrigen hatte sie kein
Zeitgefühl mehr: Die Stunden vergingen, Und die Minuten erschienen ihr eine Ewigkeit. In ihrer Erregung bestand einzig das Empfinden fort, daß dies niemals aufhören werde, daß alle um sie her ihr übelwollten. Die anderen waren es, die sie nicht befreien wollten, sie ereiferte sich gegen die Hebamme, gegen Pauline, gegen Véronique und beschuldigte sie, daß sie nicht verstünden, das Richtige zu tun. Frau Bouland schwieg. Sie warf verstohlene Blicke auf die Pendeluhr, obgleich sie den Arzt nicht vor einer weiteren Stunde erwartete, denn sie kannte die müde Langsamkeit des Pferdes. Die Erweiterung des Muttermundes mußte bald vollendet sein, der Blasensprung stand unmittelbar bevor; und sie bestimmte die junge Frau, sich niederzulegen. Dann bereitete sie sie auf das Kommende vor. »Erschrecken Sie nicht, wenn Sie fühlen, daß Sie naß sind ... Und rühren Sie sich nicht mehr, ich bitte Sie! Ich möchte jetzt lieber
nichts beschleunigen.« Louise blieb einige Sekunden reglos liegen. Es kostete sie übermäßige Willensanstrengung, den unregelmäßigen Schmerzensausbrüchen zu widerstehen; ihr Leiden wurde dadurch heftiger, bald vermochte sie nicht mehr zu kämpfen, sie sprang von dem Gurtbett in einem unbändigen Drang aller ihrer Glieder. In demselben Augenblick, als ihre Füße den Teppich berührten, gab es ein dumpfes Geräusch, wie von einem platzenden Schlauch, und ihre Beine wurden naß, zwei große Flecken erschienen auf ihrem Morgenrock. »Da haben wir's«, sagte die Hebamme, leise fluchend. Obgleich Louise vorbereitet war, blieb sie zitternd auf der Stelle stehen und betrachtete dieses Geriesel, das aus ihr hervorkam, voller Schrecken, den Morgenrock und den Teppich mit ihrem Blut getränkt zu sehen. Die Flecken
blieben blaß, der Strom hatte plötzlich aufgehört, sie beruhigte sich. Rasch hatte man sie wieder hingelegt. Und sie empfand plötzliche Ruhe, ein solch unerwartetes Wohlbefinden, daß sie mit dem Ausdruck triumphierender Heiterkeit sagte: »Das war es, was mich quälte. Jetzt leide ich gar nicht mehr, es ist vorbei ... Ich wußte wohl, daß ich im achten Monat nicht niederkommen konnte. Es wird im nächsten Monat sein ... Ihr habt allesamt keine Ahnung.« Frau Bouland schüttelte den Kopf, ohne ihr diesen Augenblick der Ruhe mit der Erwiderung verderben zu wollen, daß die Preßwehen erst kommen würden. Sie sprach nur leise mit Pauline und bat sie, sich auf die andere Seite des Gurtbettes zu stellen, um einen möglichen Sturz zu verhindern, falls die Wöchnerin sich wehren sollte. Aber als die Wehen wiederkamen, versuchte Louise nicht, sich zu erheben: Sie fand jetzt weder den
Willen noch die Kraft dazu. Beim ersten Wiedererwachen des Schmerzes war ihre Haut bleifarben geworden, hatte ihr Gesicht wieder einen Ausdruck von Verzweiflung angenommen. Sie hörte auf zu sprechen, sie verschloß sich in diese endlose Qual, in der sie von nun an auf niemandes Hilfe mehr rechnete, so verlassen, so elend auf die Dauer, daß sie sogleich zu sterben wünschte. Im übrigen waren es nicht mehr die unwillkürlichen Krämpfe, die ihr seit zwanzig Stunden die Eingeweide losrissen; es waren jetzt qualvolle Anspannungen ihres ganzen Seins, Anspannungen, die sie nicht zurückzuhalten vermochte, die sie selber in einem unwiderstehlichen Bedürfnis, sich zu befreien, übertrieb. Das Drängen ging vom unteren Rand der Rippen aus, stieg hinab in die Lenden, führte bis zu den Leisten wie ein unaufhörlich sich erweiternder Riß. Jeder Muskel des Leibes arbeitete, spannte sich über den Hüften, zog sich zusammen und streckte
sich wie eine Feder; selbst die des Gesäßes und der Schenkel waren in Bewegung, schienen sie für Augenblicke von der Matratze emporzuheben. Das Zittern verließ sie nicht mehr, sie wurde von der Taille bis zu den Knien von breiten schmerzhaften Wellen geschüttelt, die man bei der immer heftigeren Spannung des Fleisches eine nach der anderen unter ihrer Haut dahingleiten sah. »Nimmt das denn kein Ende, mein Gott! Nimmt das denn kein Ende?« murmelte Pauline. Dieser Anblick nahm ihr die gewohnte Ruhe und ihren sonstigen Mut. Und in einer eingebildeten Anstrengung preßte sie bei jedem Ächzen, mit dem die Gebärende wie eine außer Atem geratene Arbeiterin ihre Verrichtung begleitete. Die zunächst dumpfen Schreie wurden nach und nach lauter, schwollen an zu Klagen der Erschöpfung und Ohnmacht. Es war die rasende Wut, der
verzweifelte Urlaut des Holzhackers, der seine Axt seit Stunden auf denselben Knorren niedersausen läßt, ohne auch nur die Rinde verletzen zu können. Zwischen den Wehen, in den kurzen Augenblicken der Ruhe, klagte Louise über brennenden Durst. Ihre ausgetrocknete Kehle schien auf qualvolle Weise zugeschnürt zu werden. »Ich sterbe, gib mir etwas zu trinken!« Sie trank einen Schluck sehr leichten Lindenblütentee, den Véronique vor dem Feuer stehen hatte. Doch oft mußte Pauline ihn in dem Augenblick, da sie die Tasse an die Lippen führte, wieder fortnehmen, denn eine neue Wehe setzte ein, die Hände begannen wieder zu zittern, während bei dem erneuten Pressen, das die Muskeln anspannte, das hintenübergeworfene Gesicht dunkelrot wurde und der Hals sich mit Schweiß bedeckte.
Es traten auch Krämpfe auf. Alle Augenblicke wollte Louise aufstehen, um ein Bedürfnis zu verrichten, unter dem sie zu leiden behauptete. Die Hebamme widersprach energisch. »Bleiben Sie doch ruhig. Das ist eine Wirkung der Wehen ... Was hilft es Ihnen, wenn Sie aus dem Bett steigen, um dann doch nichts zu machen, hab ich nicht recht?« Um drei Uhr verbarg Frau Bouland vor Pauline ihre Unruhe nicht länger. Beängstigende Symptome traten in Erscheinung, vor allem eine langsame Verminderung der Kräfte. Man hätte glauben können, die Gebärende leide weniger, denn ihre Schreie und ihre Anspannungen wurden schwächer; doch in Wahrheit drohten die Wehen in der allzu großen Erschöpfung auszusetzen. Sie unterlag den endlosen Schmerzen, jede Minute der Verzögerung wurde zur Gefahr. Der Fieberwahn trat wieder auf, sie fiel sogar in Ohnmacht. Frau Bouland
benutzte die Gelegenheit, Louise zu befühlen und die Lage des Kindes besser zu ergründen. »Meine Befürchtung war richtig«, murmelte sie. »Hat sich denn das Pferd die Beine gebrochen, daß sie nicht zurückkommen?« Und als Pauline ihr sagte, sie könne die Unglückliche doch nicht so sterben lassen, wurde sie aufgebracht. »Glauben Sie etwa, ich bin in einer angenehmen Lage? Wenn ich den Eingriff versuche und es geht übel aus, dann habe ich alle nur möglichen Unannehmlichkeiten auf dem Halse ... Man ist da alles andere als nachsichtig mit uns!« Als Louise die Besinnung wiedererlangte, klagte sie über etwas Lästiges. »Das ist der kleine Arm, der heraushängt«, fuhr Frau Bouland ganz leise fort. »Er liegt vollständig frei ... Aber da ist die Schulter, und die wird nie herauskommen.«
Um halb vier Uhr jedoch, angesichts der immer bedenklicher werdenden Situation, schien sie sich halbwegs zum Handeln zu entschließen, als Véronique wieder aus der Küche heraufkam, Pauline auf den Flur rief und ihr sagte, der Arzt sei gekommen. Man ließ sie einen Augenblick bei der Gebärenden, das junge Mädchen und die Hebamme gingen hinunter. Mitten auf dem Hof stammelte Lazare Flüche gegen das Pferd; doch als er erfuhr, daß seine Frau noch lebte, war die Reaktion so stark, daß er sich wie mit einem Schlag beruhigte. Schon stieg Doktor Cazenove die Freitreppe hinauf, wobei er Frau Bouland rasch einige Fragen stellte. »Ihre plötzliche Anwesenheit würde Louise erschrecken«, sagte Pauline auf der Treppe. »Jetzt, da Sie da sind, muß man sie vorbereiten.« »Machen Sie schnell«, entgegnete er nur in knappem Ton.
Pauline ging allein hinein, die anderen blieben an der Tür stehen. »Mein Liebes«, erklärte sie. »Denke dir, der Doktor hat etwas vermutet, nachdem er dich gestern gesehen; und jetzt ist er gekommen ... Du solltest einwilligen, ihn zu sehen, denn das nimmt hier kein Ende.« Louise schien nicht zu hören. Sie rollte verzweifelt den Kopf auf dem Kissen hin und her. Endlich stammelte sie: »Wie ihr wollt, mein Gott! Ich weiß auch nicht, ich lebe schon nicht mehr.« Der Doktor war näher getreten. Da forderte die Hebamme Pauline und Lazare auf hinunterzugehen: Sie würde ihnen Nachricht geben, würde sie rufen, wenn man Hilfe brauchte. Sie zogen sich schweigend zurück. Unten im Eßzimmer war Chanteau vor dem immer noch gedeckten Tisch eingeschlafen. Mitten in seinem kleinen Nachtmahl, das er,
um sich zu zerstreuen, möglichst lang ausgedehnt hatte, mußte ihn der Schlaf übermannt haben, denn die Gabel lag noch am Rand des Tellers, auf dem sich ein Rest Kalbfleisch befand. Als Pauline hereinkam, mußte sie die Lampe höher schrauben, denn sie blakte und war am Verlöschen. »Wecken wir ihn nicht«, murmelte Pauline. »Er braucht nichts zu erfahren.« Leise setzte sie sich auf einen Stuhl, während Lazare unbeweglich stehen blieb. Ein entsetzliches Warten begann, keiner von beiden sagte ein Wort, sie vermochten nicht einmal die Angst ihrer Blicke zu ertragen und wandten den Kopf ab, sowie ihre Augen sich begegneten. Und kein Geräusch drang von oben zu ihnen, die schwächer gewordenen Klagelaute waren nicht mehr zu hören, sie lauschten vergeblich, ohne etwas anderes wahrzunehmen als das Dröhnen ihres eigenen Fiebers. Vor allem diese Totenstille machte
ihnen auf die Dauer angst. Was ging bloß vor? Warum hatte man sie hinausgeschickt? Lieber hätten sie die Schreie ertragen, den Kampf, etwas Lebendiges, das sich noch über ihren Köpfen wehrte. Die Minuten verflossen, und das Haus versank immer mehr in dieses Nichts. Endlich öffnete sich die Tür, Doktor Cacenove trat ein. »Nun?« fragte Lazare, der sich Pauline gegenüber hingesetzt hatte. Der Doktor antwortete nicht gleich. Das dunstige Licht der Lampe, jenes trübe Licht der langen Nachtwachen, beleuchtete schwach sein sonnverbranntes alles Gesicht, in dem die starken Gemütsbewegungen nur die Furchen blaß werden ließen. Aber als er sprach, ließ der gebrochene Ton seiner Worte den Kampf erkennen, der sich in ihm abspielte. »Ich habe noch nichts unternommen«, erwiderte er. »Ich will nichts unternehmen, ohne Sie zu Rate zu ziehen.«
Und mit einer mechanischen Bewegung strich er sich mit den Fingern über die Stirn, als wollte er ein Hindernis verscheuchen, einen Knoten, den er nicht zu lösen vermochte. »Aber es ist nicht an uns, zu entscheiden, Doktor«, sagte Pauline. »Wir vertrauen sie Ihren Händen an.« Er schüttelte den Kopf. Eine lästige Erinnerung ließ ihn nicht los, er erinnerte sich an einige Negerinnen, die er in den Kolonien entbunden hatte, insbesondere an ein großes Mädchen, bei dessen Kind die Schulter ebenso vorgelagert war; das Mädchen war gestorben, während er es von einem Bündel Fleisch und Knochen befreite. Für die Marineärzte war es die einzige Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, daß sie den Frauen gelegentlich den Bauch aufschnitten, wenn sie dort unten Spitaldienst machten. Seitdem er sich nach Arromanches zurückgezogen, hatte er sehr wohl Entbindungen vorgenommen und die
Fertigkeiten der Routine erlangt; aber der schwierige Fall, mit dem er es hier in diesem befreundeten Haus zu tun hatte, lieferte ihn wieder seiner ganzen früheren Unschlüssigkeit aus. Er zitterte wie ein Anfänger, ängstlich auch im Hinblick auf seine alten Hände, die nicht mehr die Kraft der Jugend hatten. »Ich muß Ihnen die ganze Wahrheit sagen«, begann er wieder. »Mutter und Kind scheinen mir verloren ... Vielleicht wäre es noch Zeit, einen von beiden, die Mutter oder das Kind, zu retten ...« Lazare und Pauline waren aufgestanden, vom gleichen Schauder erstarrt. Chanteau, der von dem Geräusch der Stimmen aufgewacht war, schaute mit trüben Augen drein und hörte verstört den Dingen zu, die man in seiner Gegenwart besprach. »Wen soll ich zu retten versuchen?« wiederholte der Arzt, der ebenso zitterte wie die armen Leute, denen er diese Frage stellte.
»Das Kind oder die Mutter?« »Wen? Mein Gott!« rief Lazare aus. »Weiß ich es denn? Kann ich es sagen?« Tränen erstickten ihn von neuem, während seine Cousine, die sehr bleich war, angesichts dieser furchtbaren Alternative stumm blieb. »Wenn ich die Wendung versuche«, fuhr der Doktor fort, der seine Unsicherheit ganz laut erörterte, »wird das Kind zweifellos als Brei herauskommen. Und ich fürchte die Mutter zu quälen, sie leidet schon viel zu lange ... Andererseits würde der Kaiserschnitt das Leben des Kindes retten; aber der Zustand der armen Frau ist nicht so hoffnungslos, daß ich mich berechtigt fühle, sie auf diese Weise zu opfern ... Das ist eine Gewissensfrage; ich bitte Sie inständig, selbst zu entscheiden.« Schluchzen hinderte Lazare zu antworten. Er hatte sein Taschentuch genommen und hielt es krampfhaft in seinen Händen, in dem
Bemühen, ein wenig von seiner Vernunft wiederzufinden. Chanteau sah noch immer bestürzt zu. Und Pauline stellte schließlich die Frage: »Warum sind Sie heruntergekommen? Warum quälen Sie uns, wenn Sie der einzige sind, der entscheiden und handeln kann?« Da kam Frau Bouland und verkündete, daß der Zustand sich verschlimmere. »Haben Sie sich entschieden? Die Kräfte der Mutter schwinden.« Da umarmte der Doktor Lazare in einer jener verwirrenden plötzlichen Aufwallungen und duzte ihn. »Hör zu, ich will versuchen, beide zu retten. Und wenn sie sterben, werde ich mehr Kummer haben als du, weil ich glauben muß, es sei durch meine Schuld geschehen.« Mit der Lebhaftigkeit eines entschlossenen
Mannes sprach er rasch über die Anwendung des Chloroforms. Er hatte alles Notwendige mitgebracht, doch gewisse Anzeichen ließen ihn eine Blutung befürchten, also eine deutliche Kontraindikation. Die Ohnmachten und der schwache Puls erfüllten ihn mit Besorgnis. Daher auch widerstand er dem Flehen der Familie, die um Chloroform bat, krank von den Leiden, die sie seit fast vierundzwanzig Stunden teilte; und er wurde in seiner Ablehnung durch die Haltung der Hebamme ermutigt, die vor Widerwillen und Verachtung die Achseln zuckte. »Ich entbinde an die zweihundert Frauen im Jahr«, murmelte sie. »Glauben Sie, die brauchen so was, um ihre Kinder zu kriegen? Sie leiden eben, alle Welt leidet!« »Geht hinauf, Kinder«, begann der Doktor wieder. »Ich werde euch brauchen ... Und außerdem möchte ich euch lieber in meiner Nähe wissen.«
Alle verließen das Eßzimmer, als Chanteau endlich zu sprechen begann. Er rief seinen Sohn. »Komm, umarme mich ... Ach, die arme Louisette! Ist es nicht schrecklich, solche Geschichten in einem Augenblick, wo man nicht darauf gefaßt ist? Wenn es wenigstens Tag wäre! ... Sag mir Bescheid, wenn es vorbei ist.« Wieder blieb er allein in dem Zimmer. Die Lampe blakte, er schloß die Lider, von der trüben Helligkeit geblendet, erneut von Schlaf übermannt. Einige Minuten kämpfte er dagegen an, indem er seine Blicke über das Geschirr auf dem Tisch und das Durcheinander der Stühle gleiten ließ, über denen noch die Servietten hingen. Aber die Luft war zu schwer, die Stille zu erdrückend. Er unterlag, seine Lider schlossen sich wieder, über seine Lippen drangen kurze regelmäßige Atemzüge mitten in der tragischen Unordnung
der am Abend zuvor unterbrochenen Mahlzeit. Oben riet Doktor Cazenove, im Nebenzimmer, dem ehemaligen Schlafzimmer Frau Chanteaus, ein großes Feuer zu machen: Man könne es nach der Entbindung nötig haben. Véronique, die während der Abwesenheit der Hebamme bei Louise gewacht hatte, machte sich sofort daran. Dann wurden alle Vorkehrungen getroffen, man legte noch mehr feines Leinenzeug vor den Kamin, man brachte eine zweite Waschschüssel, man holte von unten einen Kessel mit heißem Wasser, einen Liter Branntwein und einen Teller Schweineschmalz. Der Doktor hielt es für seine Pflicht, die Gebärende in seinen Plan einzuweihen. »Mein liebes Kind«, sagte er. »Beunruhigen Sie sich nicht, aber ich muß unbedingt einen Eingriff vornehmen ... Ihr Leben ist uns allen teuer, und wenn auch das arme Kleine bedroht ist, so können wir Sie doch nicht länger so
lassen ... Sie erlauben mir zu handeln, nicht wahr?« Louise schien nicht mehr zu hören. Durch die Anspannungen, die wider ihren Willen fortdauerten, steif geworden, lag sie mit offenem Mund da, den Kopf nach links auf das Kissen gerollt, und gab einen leisen, fortgesetzten Klagelaut von sich, der einem Röcheln glich. Als ihre Lider sich hoben, sah sie verwirrt die Zimmerdecke an, als sei sie an einem unbekannten Ort erwacht. »Sie erlauben?« wiederholte der Doktor. Da stammelte sie: »Töten Sie mich, töten Sie mich sofort.« »Machen Sie schnell, ich flehe Sie an«, flüsterte Pauline dem Arzt zu. »Wir nehmen die Verantwortung für alles auf uns.« Er ließ dennoch nicht ab und sagte zu Lazare: »Ich stehe für sie ein, wenn nicht eine Blutung
eintritt. Doch das Kind scheint mir verloren. Von zehn bleibt unter diesen Umständen nur eins am Leben, denn es gibt immer Verletzungen und Brüche, manchmal werden sie völlig zerdrückt.« »Machen Sie, machen Sie, Doktor«, erwiderte der Vater mit einer verzweifelten Gebärde. Das Gurtbett war nicht stabil genug. Man trug die junge Frau auf das große Bett, nachdem man ein Brett zwischen die Matratzen gelegt hatte. Mit dem Kopf zur Wand hin, an einen Berg von Kissen gelehnt, lag sie mit den Lenden auf dem Rand des Bettes; man spreizte die Schenkel auseinander und legte die Füße auf die Lehnen zweier kleiner Sessel. »Tadellos«, sagte der Arzt, während er die Vorbereitungen beobachtete. »So geht es gut, das ist sehr bequem ... Nur wäre es klug, sie festzuhalten, für den Fall, daß sie sich sträubt.« Louise war nicht mehr bei Sinnen. Wie ein
Gegenstand ließ sie alles mit sich geschehen. Ihre weibliche Scham, ihr Widerwille, sich in ihrem Leiden und in ihrer Nacktheit sehen zu lassen, waren schließlich untergegangen, vom Schmerz davongetragen. Ohne die Kraft, auch nur einen Finger zu bewegen, war sie sich weder ihrer nackten Haut noch dieser Leute bewußt, die sie berührten. Und bis zum Busen entblößt, den Bauch unbedeckt, die Beine gespreizt, lag sie da ohne jedes Erschauern und stellte ihre blutende und klaffende Mutterschaft zur Schau. »Frau Bouland wird den einen Schenkel halten«, fuhr der Doktor fort. »Und Sie, Pauline, Sie müssen uns helfen und den anderen halten. Haben Sie keine Angst, fassen Sie fest zu, verhindern Sie vor allem jede Bewegung ... Und von Lazare wäre es jetzt sehr freundlich, wenn er mir leuchten wollte.« Man gehorchte dem Arzt, diese Nacktheit war für alle verschwunden. Sie sahen nur ihr
erbarmungswürdiges Elend, dieses Drama einer ungewöhnlich schweren Geburt, das den Gedanken an die Liebe tötete. In dem grellen Licht war das verwirrende Mysterium von der so zarten Haut der Schamteile, von dem in kleinen blonden Locken sich kräuselnden Vlies gewichen, und es blieb nichts als die leidende Menschheit, das Gebären in Blut und Schmutz, das die Leiber der Mütter zu sprengen droht und den roten Spalt bis zum Grauen erweitert, gleich dem Axthieb, der den Baumstamm öffnet und das Leben der großen Bäume ausfließen läßt. Der Arzt sprach noch immer mit leiser Stimme, während er seinen Gehrock ablegte und den linken Hemdärmel bis über den Ellbogen hinaufstreifte. »Man hat zu lange gewartet, es wird schwierig sein, die Hand einzuführen ... Sie sehen, die Schulter ist schon in den Muttermund vorgedrungen.«
Mitten in den geschwollenen, gespannten Muskeln, zwischen den rosigen Wülsten erschien das Kind. Aber es wurde dort aufgehalten durch die Verengung des Organs, durch das es nicht hindurchkam. Indessen versuchten die Anspannungen des Leibes und der Lenden noch immer, es auszutreiben; selbst in ihrer Ohnmacht preßte die Mutter heftig, erschöpfte sich bei dieser mühevollen Arbeit in dem mechanischen Bedürfnis nach Befreiung; und die Schmerzwellen liefen noch immer an ihrem Körper herab, eine jede begleitet von dem Schrei ihrer Halsstarrigkeit, mit der sie gegen das Unmögliche ankämpfte. Die Hand des Kindes hing aus der Vulva. Es war eine kleine schwarze Hand, deren Finger sich für Augenblicke öffneten und schlossen, als wollten sie sich ans Leben klammern. »Beugen Sie den Schenkel ein wenig«, sagte Frau Bouland zu Pauline. »Wir wollen die arme Frau nicht quälen.«
Doktor Cazenove stand zwischen den beiden Knien, die von den zwei Frauen gehalten wurden. Er wandte sich um, verwundert über den tanzenden Lichtschein, der ihm leuchtete. Hinter ihm zitterte Lazare so stark, daß die Kerze in seiner Faust flackerte, als wehte ein starker Wind. »Mein lieber Junge«, sagte er. »Stellen Sie den Leuchter auf den Nachttisch. Ich kann dann besser sehen.« Unfähig, weiter zuzuschauen, sank der Ehegatte am anderen Ende des Zimmers auf einen Stuhl. Aber wenn er auch nicht mehr hinschaute, sah er doch immer noch die arme Hand des kleinen Wesens, jene Hand, die leben wollte, die tastend nach einer Hilfe in dieser Welt zu suchen schien, die sie als erste erblickte. Jetzt kniete der Doktor nieder. Er hatte seine linke Hand mit Schweineschmalz eingefettet und begann jetzt, sie langsam einzuführen,
während er die rechte auf den Leib legte. Er mußte den kleinen Arm zurückdrängen, ihn wieder ganz hineinschieben, damit seine Finger eindringen konnten; und dies war der gefährliche Teil des Eingriffs. Die Finger, in Keilform ausgestreckt, drangen dann allmählich ein, mit einer leichten drehenden Bewegung, die das Einführen der Hand bis zum Handgelenk erleichterte. Sie senkte sich tiefer hinein, schob sich immer weiter vor, suchte die Knie, dann die Füße des Kindes, während die andere Hand sich noch fester auf den Unterleib legte und so der Arbeit im Innern des Mutterleibes nachhalf. Aber man sah nichts von dieser Arbeit, man sah nur den im Körper verschwundenen Arm. »Frau Louise ist sehr fügsam«, bemerkte Frau Bouland. »Manchmal braucht man Männer, um sie zu halten.« Pauline drückte mütterlich den bejammernswerten Schenkel an sich, den sie
vor Angst zittern fühlte. »Mein Liebes, hab Mut«, murmelte sie. Es herrschte Schweigen. Louise hätte nicht zu sagen vermocht, was man mit ihr anstellte, sie empfand nur eine wachsende Angst, ein Gefühl des Losreißens. Pauline erkannte das schlanke Mädchen mit den feinen Zügen und dem zarten Liebreiz nicht wieder in dem quer über dem Bett liegenden und sich windenden Geschöpf mit dem schmerzverzerrten Gesicht. Zwischen den Fingern des Arztes war Schleim hindurchgeronnen und hatte den goldenen Flaum beschmutzt, der die weiße Haut beschattete. Einige Tropfen schwarzen Blutes liefen in einer Falte des Fleisches entlang und fielen auf das Leinentuch, mit dem man die Matratze bedeckt hatte. Louise sank in eine neue Ohnmacht. Sie schien tot, und die Arbeit ihrer Muskeln setzte fast gänzlich aus.
»Das ist mir lieber so«, sagte der Arzt, den Frau Bouland darauf aufmerksam machte. »Sie zerquetschte mir fast die Hand, beinahe hätte ich sie zurückziehen müssen, so unerträglich wurde der Schmerz ... Ach, ich bin nicht mehr jung! Sonst wäre es schon beendet.« Seit einer Weile hielt seine linke Hand die Füße, holte sie sanft heran, um die Wendungsbewegung auszuführen. Eine Stockung trat ein, er mußte mit seiner rechten Hand den Unterleib pressen. Die Linke kam ohne Erschütterungen wieder heraus, erst das Handgelenk, dann die Finger. Und endlich erschienen die Füße des Kindes. Alle empfanden Erleichterung, Cazenove stieß einen Seufzer aus, seine Stirn war schweißbedeckt, er war außer Atem geraten wie nach einer heftigen Leibesübung. »Das wäre geschafft, ich glaube, es ist alles gut gegangen, das kleine Herz schlägt noch ... aber wir haben ihn noch nicht, den Burschen!«
Er hatte sich wieder erhoben und heuchelte ein Lachen. Lebhaft verlangte er von Véronique warme Leinentücher. Während er dann seine Hand wusch, die beschmutzt und blutig war wie die Hand eines Schlächters, wollte er den Mut des auf dem Stuhl in sich zusammengesunkenen Ehemannes wieder aufrichten. »Es ist gleich vorbei, mein Lieber. Ein wenig Hoffnung, zum Teufel!« Lazare rührte sich nicht. Frau Bouland, die Louise aus ihrer Ohnmacht wieder zu sich brachte, indem sie ihr ein Fläschchen Äther zu riechen gab, war vor allem beunruhigt, daß die Wehen aufgehört hatten. Sie sprach darüber leise mit dem Doktor, der ganz laut entgegnete: »Ich war darauf gefaßt. Ich muß ihr helfen.« Und er wandte sich an die Gebärende: »Halten Sie sich nicht zurück, nutzen Sie Ihre
Wehen. Wenn Sie mich ein wenig unterstützen, werden Sie sehen, wie gut alles geht.« Aber sie machte eine Gebärde, um anzudeuten, daß sie keine Kraft mehr habe. Kaum hörbar stammelte sie: »Ich fühle nicht einen einzigen Teil meines Körpers mehr.« »Arme Kleine«, sagte Pauline und küßte sie. »Du bist am Ende deiner Qualen, laß nur!« Schon hatte sich der Doktor wieder hingekniet. Die beiden Frauen hielten von neuem die Schenkel, während Véronique ihm warme Leinentücher zureichte. Er hatte die kleinen Füße eingewickelt, er zog langsam und behutsam, aber beständig; und seine Finger glitten in dem Maße höher, wie das Kind aus dem Mutterleib herauskam, er faßte es an den Knöcheln, dann an den Waden, an den Knien, an jedem neuen Körperteil, der sich zeigte. Als
die Hüften erschienen, vermied er jeden Druck auf den Bauch, umspannte die Lenden und drückte mit beiden Händen auf die Leisten. Das Kleine glitt immer mehr heraus, die Wulst rosigen Fleisches in einer wachsenden Spannung erweiternd. Aber die bis dahin fügsame Mutter wehrte sich plötzlich, als sie wieder von den Wehen gepackt wurde. Das war nicht mehr nur der Geburtsvorgang, ihr ganzer Körper wurde erschüttert, es schien ihr, als spaltete man sie mit einem schweren Beil, wie in den Schlächtereien die Ochsen zerteilt werden. Sie lehnte sich so heftig auf, daß sie ihrer Cousine entglitt und das Kind dem Doktor aus den Händen rutschte. »Vorsicht!« rief er. »Hindern Sie sie doch, sich zu bewegen! Wenn die Nabelschnur nicht abgeklemmt worden ist, haben wir vielleicht Glück.« Er hatte den kleinen Körper wieder gefaßt, er beeilte sich, die Schultern frei zu bekommen,
er brachte die Arme einen nach dem anderen heraus, damit der Umfang des Kopfes dadurch nicht vergrößert würde. Aber die krampfhaften Zuckungen der Gebärenden behinderten ihn, er hielt jedesmal inne, aus Furcht, er könnte dem Kind Schaden tun. Mochten die beiden Frauen Louise auch mit all ihrer Kraft auf dem Schmerzenslager festhalten, sie schüttelte sie, bäumte sich mit einem unbezwinglichen Versteifen des Nackens auf. Beim Umsichschlagen hatte sie das Holz des Bettes gepackt, und man vermochte sie nicht zu bewegen, es wieder loszulassen; sie stemmte sich dagegen, streckte heftig die Beine aus, in der fixen Idee, diese Leute abzuschütteln, die sie peinigten. Ein wahrer Wutanfall hatte sie gepackt, sie stieß entsetzliche Schreie aus, in dem Gefühl, daß man sie umbringe, indem man sie von den Lenden bis zum Bauch vierteilte. »Es ist nur noch der Kopf«, sagte der Doktor, dessen Stimme zitterte. »Ich wage nicht, ihn
zu berühren bei diesen ständigen Stößen ... Da die Wehen wieder eingesetzt haben, wird sie sich zweifellos selber befreien. Warten wir ein wenig.« Er mußte sich setzen. Frau Bouland wachte, ohne die Mutter loszulassen, über das Kind, das zwischen den blutigen Schenkeln lag, noch am Hals zurückgehalten und gleichsam abgewürgt. Seine kleinen Glieder bewegten sich schwach, dann hörten die Bewegungen auf. Man mußte erneut Befürchtungen hegen, der Arzt kam auf den Gedanken, die Wehen anzuregen, um den Vorgang zu beschleunigen. Er erhob sich, führte heftige Druckbewegungen auf den Bauch der Gebärenden aus. Und es folgten entsetzliche Minuten, die Unglückliche schrie immer lauter, je weiter der Kopf herauskam und das Fleisch zurückstieß, das sich zu einem breiten weißlichen Ring rundete. Darunter, zwischen den beiden auseinandergezogenen, klaffenden Höhlungen wölbte sich die zarte Haut
entsetzlich, so dünn geworden, daß man einen Riß fürchtete. Kot spritzte hervor, das Kind fiel in einer letzten Anstrengung unter einem Regen von Blut und schmutzigem Wasser heraus. »Endlich!« sagte Cazenove. »Der kann sich rühmen, nicht gerade fröhlich auf die Welt gekommen zu sein.« Die Erregung war so groß, daß sich niemand um das Geschlecht gekümmert hatte. »Es ist ein Junge, Herr Lazare«, verkündete Frau Bouland dem Gatten. Lazare hatte den Kopf zur Wand gekehrt und brach in Schluchzen aus. Er fühlte eine grenzenlose Verzweiflung und hatte den Gedanken, daß sie besser alle gestorben wären, als nach solchen Leiden noch weiterzuleben. Dieses Wesen, das da geboren worden war, betrübte ihn zu Tode. Pauline hatte sich zu Louise hinuntergebeugt,
um ihr noch einen Kuß auf die Stirn zu drücken. »Komm, gib ihr einen Kuß«, sagte sie zu ihrem Cousin. Er trat näher, beugte sich nun auch hinab. Aber er wurde wieder von einem Schauder gepackt bei der Berührung dieses von kaltem Schweiß bedeckten Gesichts. Seine Frau atmete nicht und lag mit geschlossenen Augen da. Am Fußende des Bettes stehend, brach er erneut in ersticktes Schluchzen aus, den Kopf an die Wand gelehnt. »Ich glaube, es ist tot«, murmelte der Doktor. »Binden Sie schnell die Nabelschnur ab.« Das Kind hatte bei seiner Geburt nicht jenes durchdringende, von dumpfem Gurgeln begleitete Wimmern von sich gegeben, das den Eintritt der Luft in die Lungen verkündet. Es war von einem schwarzen, stellenweise fahlen Blau, klein für seine acht Monate, mit
einem Kopf von übertriebener Größe. Frau Bouland durchschnitt die Nabelschnur und band sie mit flinken Händen ab, nachdem sie eine kleine Menge Blut hatte herausfließen lassen. Das Kind atmete noch immer nicht, die Herzschläge waren nicht zu spüren. »Es ist vorbei«, erklärte Cazenove. »Vielleicht könnte man es mit Einreibungen und Beatmung versuchen; aber ich glaube, man würde nur seine Zeit verlieren ... Und außerdem ist da die Mutter, an die ich denken muß.« Pauline hörte zu. »Geben Sie es mir«, sagte sie. »Ich werde schon sehen ... Wenn es nicht atmet, werde ich selbst keinen Atem mehr haben.« Und sie nahm das Kind mit ins Nebenzimmer, nachdem sie die Branntweinflasche und einige Leinentücher ergriffen hatte.
Erneute Leibschmerzen, sehr viel schwächer diesmal, rissen Louise aus ihrer Ermattung. Es waren die Nachgeburtswehen. Nach der Ausstoßung der Nachgeburt, die der Doktor beschleunigte, indem er an der Nabelschnur zog, hob die Hebamme Louise an, um die Handtücher wegzunehmen, die ein dickflüssiger Blutstrom rot gefärbt hatte. Dann legten beide sie ausgestreckt hin, nachdem sie die Schenkel gewaschen, ein Tuch dazwischengelegt und den Leib mit einem breiten Leinentuch umwickelt hatten. Die Furcht vor einer Blutung quälte den Doktor noch immer, obgleich er sich vergewissert hatte, daß im Innern kein Blut mehr zurückgeblieben war und daß Louise ungefähr die normale Menge verloren hatte. Andererseits schien ihm die Nachgeburt vollständig; aber die Schwäche der Wöchnerin und vor allem der kalte Schweiß, der sie bedeckte, blieben sehr beängstigend. Sie rührte sich nicht mehr, wachsbleich lag sie da, das
Bettuch bis zum Kinn heraufgezogen, erdrückt unter den Decken, die sie nicht wärmten. »Bleiben Sie«, sagte der Arzt, der Louises Puls nicht losließ, zur Hebamme. »Auch ich werde erst weggehen, wenn ich ganz beruhigt bin.« Auf der anderen Seite des Flurs, im ehemaligen Schlafzimmer von Frau Chanteau, kämpfte Pauline gegen die zunehmende Erstickung des jämmerlichen kleinen Wesens, das sie hierhergetragen hatte. Sie hatte es eilig auf einen Sessel vor dem großen Feuer gelegt; auf Knien liegend, tauchte sie ein Stück Leinen in eine Untertasse voll Alkohol und rieb das Kind ohne Unterlaß ein; hartnäckig glaubte sie an den Erfolg und fühlte nicht einmal den Krampf, der nach und nach ihren Arm steif werden ließ. Das kleine Wesen war von so armseligem Fleisch, von einer so erbarmungswürdigen Zerbrechlichkeit, daß sie große Angst hatte, es vollends zu töten, wenn sie allzu stark rieb. Mit liebkosender Sanftheit
bewegte sie das Tuch auf dem kleinen Körper hin und her, wie wenn ihn unablässig der Flügel eines Vogels streifte. Sie drehte das Kind behutsam um, versuchte das Leben in jedes seiner kleinen Glieder zurückzurufen. Doch es bewegte sich noch immer nicht. Obgleich die Einreibungen es ein wenig erwärmten, blieb seine Brust doch eingefallen und hob sie noch kein Atemzug. Im Gegenteil, es schien immer blauer zu werden. Da preßte sie, ohne Widerwillen gegen dieses weiche, kaum gewaschene Gesicht zu empfinden, ihren Mund auf den kleinen leblosen Mund. Langsam, lange blies sie so, ihren Atem nach der Kraft der engen Lungen bemessend, in die die Luft nicht hatte eindringen können. Wenn sie selber zu ersticken drohte, mußte sie einige Sekunden innehalten; dann begann sie von neuem. Das Blut stieg ihr zu Kopf, in ihren Ohren dröhnte es, ihr wurde etwas schwindlig. Doch sie ließ nicht nach, sie gab so mehr als eine halbe
Stunde lang ihren Atem hin, ohne durch das geringste Ergebnis ermutigt zu werden. Beim Atemholen schmeckte sie nur die Fadheit des Todes. Sehr sanft hatte sie vergebens versucht, den Brustkorb durch den Druck ihrer Fingerspitzen in Bewegung zu bringen. Nichts hatte Erfolg, jede andere hätte diesen aussichtslosen Erweckungsversuch aufgegeben. Aber sie mühte sich mit der hartnäckigen Verzweiflung einer Mutter, die das unvollkommen geborene Kind ihres Leibes vollends zur Welt bringen will. Es sollte leben, und endlich spürte sie, wie der kleine Körper sich belebte, der kleine Mund war unter dem ihren leicht erzittert. Seit nahezu einer Stunde führte sie mit verzweifelter Angst diesen Kampf, allein in diesem Zimmer, alles um sich her vergessend. Das schwache Lebenszeichen, die so kurze Empfindung an ihren Lippen, machte ihr wieder Mut. Sie begann von neuem mit den Einreibungen und gab im Wechsel weiter von
Minute zu Minute ihren Atem, wobei sie sich in ihrer überströmenden Barmherzigkeit verausgabte. Es war ein wachsendes Bedürfnis, zu siegen, Leben zu schaffen. Einen Augenblick fürchtete sie, sich getäuscht zu haben, denn ihre Lippen drückten sich noch immer nur auf reglose Lippen. Dann spürte sie von neuem eine flüchtige Bewegung. Nach und nach drang die Luft ein, wurde ihr genommen und zurückgegeben. Ihr schien, als hörte sie, wie unter ihrer Brust das Herz zu schlagen begann. Und ihr Mund ließ nicht mehr von dem kleinen Mund, sie war eins mit dem kleinen Wesen, sie lebte mit ihm, beide zusammen hatten sie nur noch einen Atem in diesem Wunder der Wiedererweckung, einen langsamen, anhaltenden Atem, der von einem zum anderen ging wie eine gemeinsame Seele. Gallert, Schleim beschmutzten ihr die Lippen, doch ihre Freude, das Kind gerettet zu haben, nahm ihr jedes Gefühl des Ekels: Sie atmete jetzt eine warme Herbheit von Leben ein, die
sie berauschte. Als das Kleine endlich schrie, einen schwachen, klagenden Schrei ausstieß, sank sie vor dem Sessel nieder, bis ins Innerste aufgewühlt. Das große Feuer brannte sehr hoch und erfüllte das Zimmer mit hellem Licht. Pauline blieb auf der Erde vor dem Kinde sitzen, das sie noch nicht betrachtet hatte. Wie schwächlich es war! Welch armes, kaum geformtes Wesen! Und ein letzter Aufruhr stieg in ihr auf, ihre Gesundheit empörte sich gegen diesen jämmerlichen Sohn, den Louise Lazare schenkte. Sie senkte einen verzweifelten Blick auf ihre Hüften, auf ihren jungfräulichen Leib, der erschauernd zusammengezuckt war. In ihrem breiten Schoß hätte ein kräftiger, starker Sohn Platz gehabt. Es befiel sie ein unermeßliches Bedauern über ihr verfehltes Dasein, über ihre Weiblichkeit, die unfruchtbar schlummern würde. Der Anfall, bei dem sie in der Hochzeitsnacht Todesqualen gelitten, wiederholte sich angesichts dieser
Geburt. Gerade an diesem Morgen war sie blutbefleckt vom vergeblichen Fluß ihrer Fruchtbarkeit erwacht; und nach den Aufregungen dieser schrecklichen Nacht fühlte sie ihn in ebendiesem Augenblick unter sich wie ein nutzloses Wasser dahinfließen. Niemals würde sie Mutter sein, darum hätte sie gewollt, daß alles Blut ihres Körpers versiege und auf solche Weise dahinschwinde, da sie ja doch kein Leben daraus schaffen konnte. Wozu ihre kraftvolle Geschlechtsreife, ihre saftgeschwellten Organe und Muskeln, der starke Duft, der von ihrem Fleisch emporstieg, dessen Kraft in braunem Erblühen sproß? Sie würde wie ein unbebautes Feld bleiben, das abseits verdorrt. Anstelle der jämmerlichen Frühgeburt, die gleich einem nackten Insekt da auf dem Sessel lag, sah sie den kräftigen Knaben vor sich, der aus ihrer Ehe hervorgegangen wäre, und sie konnte sich nicht trösten und beweinte das Kind, das sie nicht haben würde.
Aber das armselige Wesen schrie noch immer. Es zappelte, sie hatte Angst, es könnte herunterfallen. Da erwachte ihre Barmherzigkeit angesichts von so viel Häßlichkeit und Schwäche. Sie würde ihm wenigstens Erleichterung verschaffen, würde ihm helfen zu leben, wie sie die Freude gehabt hatte, ihm bei der Geburt zu helfen. Und im Vergessen ihrer selbst ließ sie ihm nun vollends die erste Pflege angedeihen, nahm ihn auf den Schoß und weinte wiederum Tränen, in die sich das Bedauern um ihre Mutterschaft und ihr Mitleid für das Elend aller Lebenden mischte. Frau Bouland, die gerufen worden war, half ihr beim Waschen des Neugeborenen. Sie hüllten ihn zunächst in ein warmes Tuch, dann zogen sie ihn an und legten ihn auf das Bett des Schlafzimmers, bis man die Wiege hergerichtet hatte. Die Hebamme, höchst erstaunt, ihn am Leben zu finden, hatte ihn sorgfältig untersucht; sie sagte, er scheine
normal gewachsen, aber man werde dennoch viel Mühe haben, ihn aufzuziehen, weil er so schwächlich sei. Im übrigen beeilte sie sich, zu Louise zurückzukehren, die noch immer in großer Gefahr schwebte. Als Pauline sich neben dem Kinde niederließ, kam nun auch Lazare herein, den man von dem Wunder in Kenntnis gesetzt hatte. »Komm und sieh ihn dir an«, sagte sie bewegt. Er trat näher, doch er zitterte; er konnte sich nicht enthalten zu sagen: »Mein Gott! Du hast ihn in dieses Bett gelegt!« Schon an der Tür war er zusammengezuckt. Dieses verlassene, noch von Trauer verdüsterte Zimmer, das man so selten betrat, war jetzt von Wärme und Licht erfüllt, belebt durch das Knistern des Feuers. Die Möbel waren indessen an ihrem Platz geblieben, die Stutzuhr zeigte noch immer sieben Uhr
siebenunddreißig Minuten an, niemand hatte dort gewohnt, seit seine Mutter darin gestorben war. Und in ebendem Bett, in dem sie ihren Geist aufgegeben hatte, in diesem geheiligten und furchtbaren Bett sah er nun sein Kind wiedergeboren werden, ganz klein inmitten der riesigen Bettücher. »Stört dich das?« fragte Pauline überrascht. Er verneinte mit einem Kopfschütteln, er vermochte nicht zu sprechen, so sehr würgte ihn die innere Bewegung. Dann stammelte er endlich: »Ich mußte nur an Mama denken ... Sie ist dahingegangen, und nun ist da ein anderer, der wie sie dahingehen wird. Warum ist er gekommen?« Schluchzen erstickte seine Stimme. Sosehr er bemüht war zu schweigen, seine Angst und sein Ekel vor dem Leben kamen seit der fürchterlichen Entbindung Louises wieder zum
Ausbruch. Als er den Mund auf die runzlige Stirn des Kindes gedrückt hatte, wich er zurück, denn er hatte vermeint, den Schädel unter seinen Lippen einsinken zu fühlen. Angesichts dieses so schmächtigen Geschöpfes, das er ins Leben schleuderte, brachten ihn Gewissensbisse zur Verzweiflung. »Beruhige dich«, begann Pauline wieder, um ihm Mut einzuflößen. »Wir werden einen Prachtburschen aus ihm machen ... Das besagt gar nichts, daß er so klein ist.« Er schaute sie an, und in seiner Erschütterung entschlüpfte seinem Herzen ein volles Geständnis. »Wieder bist du es, der wir sein Leben verdanken ... Muß ich denn immer dein Schuldner sein?« »Ich habe nur getan, was auch die Hebamme getan hätte, wenn sie allein gewesen wäre«,
erwiderte Pauline. Mit einer Gebärde gebot er ihr Schweigen. »Hältst du mich für so schlecht, daß ich nicht begreife, daß ich dir alles verdanke? Seitdem du dieses Haus betreten hast, hast du nicht aufgehört, dich zu opfern. Ich spreche nicht mehr von deinem Geld, aber du liebtest mich noch, als du mich Louise geschenkt hast, jetzt weiß ich es ... Wenn du wüßtest, wie sehr ich mich schäme, wenn ich dich ansehe, wenn ich mich erinnere! Du hättest dir die Adern geöffnet, du warst immer gütig und heiter, selbst an den Tagen, da ich dir das Herz verwundete. Ach, du hattest recht, es gibt nur Heiterkeit und Güte, alles übrige ist nur ein Alptraum.« Sie wollte ihn unterbrechen, aber er fuhr lauter fort: »Wie dumm waren diese Verneinungen, diese Großsprechereien, diese ganze Schwarzseherei
aus Furcht und Eitelkeit! Ich habe unser Leben verdorben, sowohl das deine wie das meine als auch das der Familie ... Ja, du allein warst klug. Das Dasein ist so einfach, wenn sich alle vertragen und einer für den anderen lebt! Wenn die Welt vor Elend verreckt, so soll sie wenigstens heiter verrecken und mit sich selber Mitleid haben!« Pauline mußte über die Heftigkeit dieser Worte lächeln, sie faßte seine Hände. »Komm, beruhige dich ... Da du erkennst, daß ich recht habe, bist du schon gebessert, und alles wird gut gehen.« »Ach ja, gebessert! Ich sage das in diesem Augenblick, weil es Stunden gibt, in denen die Wahrheit trotz allem zutage tritt. Doch morgen werde ich wieder in meine Qual zurückfallen. Als ob sich der Mensch ändert! ... Nein, es wird nicht besser gehen, es wird im Gegenteil immer schlechter gehen. Das weißt du ebensogut wie ich ... Es ist meine Dummheit,
die mich in Wut bringt!« Da zog sie ihn sanft an sich und sagte ihm in ihrer ernsten Art: »Du bist weder dumm noch schlecht, du bist unglücklich ... Komm, gib mir einen Kuß, Lazare.« Im Angesicht dieses kleinen Wesens, das eingeschlummert schien, tauschten sie einen Kuß, und es war ein geschwisterlicher Kuß, frei von dem plötzlichen Verlangen, von dem sie noch am Tage zuvor brannten. Der Morgen brach an, ein grauer Morgen von großer Milde. Cazenove kam, das Kind zu sehen, und war aufs höchste verwundert, es so wohlauf zu finden. Er war der Meinung, daß man es wieder in das Zimmer der Mutter zurückbringen sollte, denn er glaubte jetzt für Louise einstehen zu können. Als man den Kleinen seiner Mutter vorführte, ging ein blasses Lächeln über ihr Gesicht. Dann schloß
sie die Augen und fiel in jenen tiefen, heilbringenden Schlummer, der für die Wöchnerinnen Genesung bedeutet. Man hatte das Fenster leicht geöffnet, um den Blutgeruch zu vertreiben; und eine köstliche Frische, ein Hauch von Leben stieg mit der Flut herauf. Alle standen reglos, müde und glücklich vor dem Bett, in dem sie schlief. Dann zogen sie sich mit gedämpften Schritten zurück und ließen nur Frau Bouland bei Louise. Der Arzt ging indessen erst gegen acht Uhr fort. Er war sehr hungrig, auch Lazare und Pauline fielen um vor Erschöpfung; und Véronique mußte ihnen Milchkaffee und ein Omelett machen. Unten fiel ihnen Chanteau wieder ein, der, von allen vergessen, fest in seinem Sessel schlief. Nichts hatte sich vom Platze gerührt, das Eßzimmer war nur von dem beißenden Rauch der noch qualmenden Lampe verpestet. Pauline bemerkte lachend, daß der Tisch, auf dem die Gedecke liegengeblieben waren, gleich fertig gerichtet sei. Sie fegte die
Krümel ab und machte ein wenig Ordnung. Und weil der Milchkaffee auf sich warten ließ, fielen sie über den kalten Braten her und scherzten über die Mahlzeit, die durch diese schreckliche Entbindung unterbrochen worden war. Jetzt, da die Gefahr vorüber, legten sie eine kindliche Fröhlichkeit an den Tag. »Ob ihr es glaubt oder nicht«, wiederholte Chanteau begeistert, »aber ich schlief, ohne zu schlafen ... Ich war wütend, daß keiner herunterkam, mir Nachricht zu geben, und ich empfand indessen keinerlei Unruhe, denn ich träumte, daß alles sehr gut ginge.« Seine Freude war doppelt so groß, als er Abbé Horteur erscheinen sah, der nach seiner Messe herbeieilte. Er neckte ihn tüchtig. »Sie sind mir ja einer! So lassen Sie mich also im Stich? Sie haben wohl Angst vor Kindern?« Um sich aus der Verlegenheit zu ziehen,
erzählte der Priester, er habe eines Abends eine Frau auf der Landstraße entbunden und das Kind getauft. Dann nahm er ein Gläschen Curaçao an. Heller Sonnenschein vergoldete den Hof, als Doktor Cazenove sich endlich verabschiedete. Als Lazare und Pauline ihn hinausbegleiteten, fragte er Pauline ganz leise: »Sie reisen heute nicht ab?« Pauline schwieg einen Augenblick. Ihre großen nachdenklichen Augen blickten auf, schienen weit in die Ferne, in die Zukunft zu schauen. »Nein«, erwiderte sie. »Ich muß abwarten.«
Kapitel XI Nach einem abscheulichen Monat Mai waren
die ersten Junitage sehr heiß. Der Westwind wehte seit drei Wochen, Stürme hatten die Küsten verheert, Felswände ausgehöhlt, Boote verschlungen, Menschen getötet; und der weite blaue Himmel, das atlasglänzende Meer, die warmen, klaren Tage, die jetzt leuchtete, waren von unendlicher Lieblichkeit. An diesem herrlichen Nachmittag hatte Pauline sich entschlossen, Chanteaus Sessel auf die Terrasse zu rollen und neben ihm den schon achtzehn Monate alten kleinen Paul auf einer roten Wolldecke schlafen zu legen. Sie war seine Patin und verwöhnte das Kind ebensosehr wie den alten Mann. »Wird dich die Sonne auch nicht stören, Onkel?« »Aber nein doch! Ich habe sie so lange nicht gesehen. Und Paul läßt du da einschlafen?« »Ja, ja, die Luft wird ihm guttun.« Sie
hatte
sich
am
Rande
der
Decke
niedergekniet und betrachtete ihn in seinem weißen Kleidchen, aus dem seine nackten Arme und Beine herausschauten. Mit geschlossenen Augen wandte er sein rosiges, unbewegtes Gesichtchen dem Himmel zu. »Er ist wirklich gleich eingeschlafen«, murmelte sie. »Er war vom Herumwälzen müde ... Paß auf, daß ihn die Tiere in Ruhe lassen.« Und mit dem Finger drohte sie Minouche, die auf dem Fensterbrett des Eßzimmers saß, wo sie sich putzte. Abseits im Sand lag Loulou der Länge nach ausgestreckt und öffnete von Zeit zu Zeit ein mißtrauisches Auge, unaufhörlich bereit zu knurren und zu beißen. Als Pauline sich erhob, stieß Chanteau einen dumpfen Klagelaut aus. »Fängt es wieder an?« »Ja, es fängt wieder an, das heißt, es hört überhaupt nicht mehr auf ... Ich habe gestöhnt,
nicht wahr? Wie komisch! Ich merke das manchmal gar nicht.« Er war zu einem Gegenstand fürchterlichen Mitleids geworden. Nach und nach hatte die chronische Gicht in allen seinen Gelenken Harnsalze abgelagert, ungeheure Gichtknoten hatten sich gebildet und drangen als weißliche Wucherungen durch die Haut. Die Füße, die man nicht sah, da sie in Hausschuhen steckten, zogen sich zusammen wie die Krallen eines kranken Vogels. Doch die Hände stellten das Grauen ihrer Unförmigkeit zur Schau, Schwellungen von glänzenden roten Knoten an jedem Fingerglied, die Finger verkrümmt und gespreizt durch die Geschwülste, beide Hände gleichsam von unten nach oben gekehrt, die linke vor allem, die eine Steinbildung von der Größe eines kleinen, Eies abstoßend machte. Am linken Ellbogen hatte eine größere Ablagerung ein Geschwür hervorgerufen. Und jetzt war die Versteifung vollständig, weder Füße noch Hände
vermochten ihren Dienst zu tun, die wenigen Gelenke, die noch halbwegs beweglich waren, krachten, als schüttelte man einen Sack Billardkugeln. Mit der Zeit schien sich sein Körper in der Haltung versteinert zu haben, die er eingenommen, um das Leiden besser zu ertragen, vornübergebeugt, mit einer starken Abweichung nach rechts; so hatte er die Form des Sessels angenommen und blieb, wenn man ihn zu Bett legte, ebenso gebeugt und verkrümmt. Der Schmerz verließ ihn nicht mehr, die Entzündung war bei der geringsten Wetterveränderung, nach einem Schluck Wein oder einem Bissen Fleisch, die er außerhalb der strengen Diät zu sich nahm, wieder da. »Möchtest du eine Tasse Milch?« fragte Pauline. »Das würde dich vielleicht erfrischen.« »Ach ja, Milch!« erwiderte er zwischen zwei Klagelauten. »Noch so eine hübsche Erfindung, ihre Milchkur! Ich glaube, damit
haben sie mich vollends zugrunde gerichtet ... Nein, nein, nichts, das bekommt mir am besten.« Er bat sie jedoch, sein linkes Bein anders hinzulegen, denn er konnte es allein nicht bewegen. »Das Luder brennt heute. Leg es weiter ab, schieb es doch! Gut, danke ... Was für ein schöner Tag! Ach, mein Gott! Ach, mein Gott!« Die Augen auf den weiten Horizont gerichtet, fuhr er fort zu stöhnen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sein Jammerschrei war jetzt gleichsam sein Atem. In eine dicke blaue Moltondecke gehüllt, deren Weite seine wurzelähnlichen Glieder ertränkte, ließ er seine mißgestalten Hände, jämmerlich anzusehen im hellen Sonnenlicht, auf den Knien ruhen. Und das Meer nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch, diese blaue Unendlichkeit, auf der weiße Segel
vorüberzogen, diese grenzenlose Straße, die sich auf tat vor ihm, der nicht mehr fähig war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Pauline, die sich ob der nackten Beine des kleinen Paul Sorge machte, war von neuem niedergekniet, um einen Zipfel der Decke zurückzuschlagen. Drei Monate lang hatte sie jede Woche am folgenden Montag abreisen sollen. Doch die schwachen Hände des Kindes hielten sie mit unbezwinglicher Gewalt zurück. Im ersten Monat hatte man jeden Morgen gefürchtet, es nicht bis zum Abend leben zu sehen. Sie allein vollbrachte das Wunder, den Kleinen in jeder Sekunde zu retten, denn die Mutter lag noch zu Bett, und die Amme, die sie hatten nehmen müssen, gab nur ihre Milch mit dem fügsamen Stumpfsinn einer jungen Kuh. Pauline bemühte sich in ständiger Fürsorge um ihn, überwachte unaufhörlich seine Temperatur, hegte und pflegte mit der wahren Hartnäckigkeit einer Bruthenne Stunde um Stunde sein Leben, um
den Schwangerschaftsmonat zu ersetzen, der ihm fehlte. Nach diesem ersten Monat war er glücklicherweise so kräftig wie ein zum normalen Zeitpunkt geborenes Kind und hatte sich nach und nach entwickelt. Aber er blieb immer noch recht schwächlich, sie verließ ihn nicht eine Minute, vor allem nach seiner Entwöhnung, unter der er gelitten hatte. »So wird er nicht frieren ...«, sagte sie. »Sieh doch nur, Onkel, wie niedlich er ist in diesem Rot! Das macht ihn ganz rosig.« Chanteau wandte mühsam den Kopf, den einzigen Teil seines Körpers, den er bewegen konnte. Er murmelte: »Wenn du ihn küßt, wirst du ihn wecken. Laß ihn doch, unsern Engel ... Hast du den Dampfer da unten gesehen? Er kommt von Le Havre. Und wie der flitzt, was?« Pauline mußte den Dampfer betrachten, um Chanteau eine Freude zu machen. Es war ein
schwarzer Punkt auf der Unermeßlichkeit der See. Ein dünner Rauchstreifen zeichnete sich am Horizont ab. Versunken in den Anblick dieses so ruhigen Meeres unter dem weiten, klaren Himmel, blieb sie einen Augenblick reglos stehen, glücklich über diesen schönen Tag. »Bei alledem brennt mir mein Ragout an«, sagte sie und lenkte ihre Schritte zur Küche. Doch als sie gerade wieder ins Haus treten wollte, rief eine Stimme aus dem ersten Stockwerk: »Pauline!« Es war Louise. Sie lehnte sich aus dem Fenster des ehemaligen Schlafzimmers von Frau Chanteau, das jetzt von dem Ehepaar bewohnt wurde. Halb gekämmt, mit einer Nachtjacke bekleidet, fuhr sie mit scharfer Stimme fort: »Wenn Lazare da ist, sag ihm, er soll heraufkommen.«
»Nein, er ist noch nicht zurück.« Da geriet sie vollends außer sich. »Ich wußte ja, daß ich ihn erst heute abend sehen würde, wenn er überhaupt geruht zu kommen! Er war schon letzte Nacht nicht da, trotz seines ausdrücklichen Versprechens ... Ach, er macht mir wirklich Spaß! Wenn er nach Caen fährt, kann man ihn nicht wieder von dort losreißen.« »Er hat so wenig Zerstreuung!« erwiderte Pauline sanft. »Und außerdem wird er wegen der Düngerangelegenheit Zeit verloren haben ... Er kommt sicher mit dem Wagen des Doktors nach Hause.« Seit Lazare und Louise in Bonneville wohnten, gab es ständig Reibereien zwischen ihnen. Nicht, daß sie offen stritten, aber sie hatten fortwährend schlechte Laune und führten das jämmerlich verdorbene Leben zweier Menschen, die sich nicht verstehen. Sie
schleppte sich nach langen, quälenden Folgeerscheinungen der Entbindung durch ein leeres Dasein dahin, hatte ein Grauen vor den Besorgungen des Haushalts, schlug die Tage mit Lesen tot oder indem sie bis zum Abendessen Toilette machte. Er wiederum war von grenzenloser Langerweile befallen, tat keinen einzigen Blick in ein Buch, verbrachte die Stunden stumpfsinnig am Meer und versuchte nur hin und wieder eine Flucht nach Caen, von wo er noch verdrossener zurückkehrte. Und Pauline, die die Führung des Hauses hatte beibehalten müssen, war ihnen unentbehrlich geworden, denn sie versöhnte die beiden dreimal am Tage. »Du solltest dich endlich anziehen«, sagte sie. »Der Pfarrer wird zweifellos gleich dasein, du könntest dann ihm und dem Onkel Gesellschaft leisten. Ich habe noch so viel zu tun!« Aber Louise gab ihren Groll keineswegs auf.
»Ist es wohl möglich! So lange fortzubleiben! Mein Vater schrieb mir gestern, der Rest unseres Geldes werde dabei draufgehen.« In der Tat hatte sich Lazare bereits in zwei unglücklichen Unternehmungen so bestehlen lassen, daß Pauline, besorgt um das Kind, diesem als seine Patin zwei Drittel des ihr verbliebenen Vermögens zum Geschenk gemacht hatte, indem sie auf seinen Namen eine Versicherung abschloß, die ihm am Tage seiner Großjährigkeit hunderttausend Francs bringen sollte. Sie hatte jetzt nur noch fünfhundert Francs Jahreszinsen, ihr einziger Kummer war es, ihre gewohnten Almosen einschränken zu müssen. »Eine nette Spekulation, dieser Dünger!« fuhr Louise fort. »Mein Vater wird ihm davon abgeraten haben, und nun amüsiert er sich, deshalb kommt er nicht nach Hause ... Oh, ich mach mir nichts draus, soll er sich ruhig herumtreiben!«
»Na also, warum ärgerst du dich dann?« entgegnete Pauline. »Geh, der arme Junge denkt an nichts Schlechtes ... Komm herunter, ja? Was soll man bloß zu dieser Véronique sagen, verschwindet an einem Sonnabend und läßt mir die ganze Küche auf dem Hals!« Das war ein unerklärlicher Vorfall, der das Haus seit zwei Stunden beschäftigte. Die Magd hatte ihr Gemüse für das Ragout geputzt, eine Ente gerupft, ausgenommen und auf einem Teller zum Braten fertiggemacht; dann war sie plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, man hatte sie nicht wieder gesehen. Pauline hatte sich endlich entschlossen, selber das Ragout aufs Feuer zu setzen, durch dieses Verschwinden aufs höchste erstaunt. »Sie ist also nicht wieder aufgetaucht?« fragte Louise, von ihrem Zorn abgelenkt. »Aber nein!« erwiderte das junge Mädchen. »Weißt du, was ich jetzt annehme? Sie hat die
Ente von einer Frau gekauft, die vorbeikam, und vierzig Sous dafür bezahlt, und ich entsinne mich, ihr gesagt zu haben, daß ich in Verchemont schönere für dreißig Sous gesehen hätte. Sogleich hat sich ihr Gesicht verschlossen, und sie hat mir einen ihrer bösen Blicke zugeworfen ... Nun, ich wette, sie ist nach Verchemont gegangen, um zu sehen, ob ich die Wahrheit gesagt habe.« Sie lachte, doch es lag Traurigkeit in ihrem Lachen, denn sie litt darunter, daß Véronique ohne vernünftigen Grund von neuem so aufgebracht gegen sie war. Die Entwicklung, die sich seit dem Tode Frau Chanteaus in diesem Mädchen vollzog, hatte nach und nach den Haß von früher wieder in ihr aufleben lassen. »Länger als eine Woche schon kriegt man kein Wort aus ihr heraus«, sagte Louise. »Bei einem solchen Charakter ist sie zu jeder Dummheit fähig.«
Pauline winkte nachsichtig ab. »Ach was, soll sie ihre Schrullen befriedigen! Sie wird schon wiederkommen, und wir werden diesmal noch nicht Hungers sterben.« Aber das Kind auf der Decke bewegte sich. Pauline lief bin und beugte sich über den Kleinen. »Was hast du denn, mein Liebling?« Die Mutter, die immer noch am Fenster stand, sah einen Augenblick zu und verschwand dann im Zimmer. Chanteau, der in Gedanken versunken war, wandte erst den Kopf, als Loulou zu knurren begann; dann machte er seine Nichte aufmerksam. »Pauline, da ist dein Besuch.« Zwei zerlumpte Bengel kamen an, die ersten der Bande, deren Besuch sie jeden Sonnabend empfing. Da der kleine Paul sofort wieder eingeschlafen war, stand sie auf und sagte:
»Ach, die haben mir gerade noch gefehlt! Ich habe keine Minute Zeit ... Bleibt nur trotzdem, setzt euch auf die Bank. Und wenn andere kommen. Onkel, sollen sie sich danebensetzen ... Ich muß unbedingt einen Blick auf mein Ragout werfen.« Als sie nach einer Viertelstunde zurückkam, saßen auf der Bank schon zwei Jungen und zwei Mädchen, ihre ehemaligen Armenkinder, die jetzt herangewachsen waren und ihre Bettelgewohnheiten beibehalten hatten. Im übrigen war niemals so viel Elend auf Bonneville niedergegangen. Während der Maistürme waren die letzten drei Häuser an der Felsenküste zerschmettert worden. Es war zu Ende, die Hochfluten hatten das Dorf nach jahrhundertelangem Ansturm vollends hinweggefegt; unausgesetzt drang das Meer vor und verschlang jedes Jahr einen Zipfel des Landes. Es gab auf dem Strandgeröll nur noch die eroberungssüchtigen Wogen, die sogar die
Spuren der Trümmer auslöschten. Die Fischer, aus dem Loch verjagt, in dem Generationen unter der ewigen Bedrohung eigensinnig ausgeharrt hatten, waren wohl oder übel gezwungen gewesen, höher hinaufzusteigen, in den Hohlweg, und dort kampierten sie in Haufen, die Reichsten bauten, die anderen suchten unter den Felsen Zuflucht, alle gründeten ein neues Bonneville, bis die Flut sie nach weiteren Jahrhunderten des Kampfes abermals verdrängen würde. Um sein Zerstörungswerk zu vollenden, hatte das Meer zunächst die Buhnen und Palisaden fortreißen müssen. An jenem Tage wehte der Wind von Norden, ungeheure Wassermassen stürzten mit einem solchen Getöse zusammen, daß die Erschütterungen die Kirche erzittern ließen. Lazare, den man in Kenntnis gesetzt, hatte nicht hinuntergehen wollen. Er war auf der Terrasse geblieben und hatte zugesehen, wie die Flut kam, während die Fischer, durch diesen wütenden Angriff in Aufregung
versetzt, hinliefen. Ein mit Schrecken gemischter Stolz brach aus ihnen hervor: Das Luder sollte ruhig richtig brüllen, dann würde es wenigstens mit Lazares Kram endlich aufräumen. In weniger als zwanzig Minuten war in der Tat alles verschwunden, waren die Palisaden aufgeschlitzt, die Buhnen zertrümmert und kurz und klein geschlagen. Und die Fischer brüllten mit diesem Luder, sie gestikulierten und tanzten wie Wilde, vom Rausch des Windes und des Wassers aufgeputscht, dem Grauen dieses Gemetzels nachgebend. Dann hatten sie, während Lazare ihnen die Faust zeigte, das Weite gesucht, den wütenden Galopp der Wogen auf den Fersen, den nichts mehr aufhielt. Jetzt krepierten sie vor Hunger, jammerten in dem neuen Bonneville, während sie dem Luder die Schuld an ihrem Untergang gaben und sich der Mildtätigkeit des guten Fräuleins anempfahlen. »Was tust du hier?« rief Pauline, als sie den
jungen Houtelard erblickte. »Ich hatte dir doch verboten, noch einmal herzukommen.« Er war jetzt ein großer Bursche von bald zwanzig Jahren. Seine traurige und furchtsame Haltung eines geschlagenen Kindes hatte sich in Hinterhältigkeit verwandelt. Er antwortete mit niedergeschlagenen Augen: »Sie müssen Mitleid mit uns haben, Mademoiselle Pauline. Wir sind so unglücklich, seit der Vater tot ist!« Houtelard, der eines Abends bei Unwetter aufs Meer hinausgefahren war, war niemals zurückgekehrt; man hatte auch nichts gefunden, weder seinen Leichnam noch den seines Matrosen, noch eine Planke des Bootes. Aber Pauline, zum Haushalten mit ihren Almosen gezwungen, hatte geschworen, weder dem Sohn noch der Witwe etwas zu geben, solange sie in aller Öffentlichkeit in ehelicher Gemeinschaft lebten. Gleich nach dem Tode des Vaters hatte die Stiefmutter, diese
ehemalige Magd, die den Kleinen aus Geiz und Bosheit halbtot geschlagen hatte, ihn zu ihrem Mann gemacht, jetzt, da er zu alt war, um noch geschlagen zu werden. Ganz Bonneville lachte über diese neue Übereinkunft. »Du weißt, weshalb du nicht mehr zu mir kommen sollst«, sagte Pauline. »Wenn du dein Verhalten geändert hast, werden wir sehen.« Da verteidigte er sich mit schleppender Stimme. »Sie hat es gewollt. Sie hätte mich sonst weiter geschlagen. Und außerdem ist sie nicht meine Mutter, das macht nichts aus, ob sie mit mir oder mit einem anderen ... Geben Sie mir etwas, Mademoiselle Pauline. Wir haben alles verloren. Ich selber wüßte mir schon zu helfen; aber es ist für sie, denn sie ist krank, oh, wirklich, ich schwöre es!« Von Mitleid gerührt, schickte ihn Pauline
schließlich mit einem Brot und einem Topf Rindfleischsuppe fort. Sie versprach sogar, die Kranke zu besuchen und ihr Heilmittel zu bringen. »Ach ja, Heilmittel!« murmelte Chanteau. »So was wird die gerade schlucken! Die will nur Fleisch.« Pauline war schon mit der kleinen Prouane beschäftigt, deren Wange übel zugerichtet war. »Wie hast du das fertigbekommen?« »Ich bin gegen einen Mademoiselle Pauline.«
Baum
gefallen,
»Gegen einen Baum? Ich möchte eher meinen, du hast dich an einer Möbelkante gestoßen.« Das jetzt erwachsene Mädchen mit den vorspringenden Wangenknochen, das immer noch die großen verstörten Augen einer Verrückten hatte, machte vergebliche Anstrengungen, sich hübsch gerade zu halten.
Ihre Beine gaben nach, ihrer schweren Zunge gelang es nicht, die Worte deutlich auszusprechen. »Du hast ja getrunken, du fürchterliches Frauenzimmer!« rief Pauline und sah sie fest an. »Oh, Mademoiselle Pauline! Wie können Sie das sagen!« »Du bist betrunken, und du bist zu Hause gefallen, nicht wahr? Ich weiß nicht, was ihr alle im Leibe habt ... Setz dich, ich werde Arnika und Leinwand holen.« Sie verband die Kleine und machte ihr dabei Vorhaltungen. Das gehörte sich wohl für ein Mädchen ihres Alters, sich so mit ihrem Vater und ihrer Mutter zu berauschen, Trunkenbolden, die man eines Morgens tot auffinden würde, erschlagen vom Calvados! Die Kleine hörte ihr mit trüben Augen zu und schien sogleich einzuschlafen. Als sie
verbunden war, stammelte sie: »Papa klagt über Schmerzen, ich würde ihn einreiben, wenn Sie mir ein wenig Branntwein mit Kampfer geben wollten.« Pauline und Chanteau konnten sich nicht enthalten zu lachen. »Nein, ich weiß, wohin mein Branntwein wandern würde! Ich will dir gern ein Brot geben, auch wenn ich sicher bin, daß ihr es verkaufen werdet, um das Geld zu versaufen ... Bleib sitzen. Cuche wird dich nach Hause bringen.« Der junge Cuche hatte sich nun erhoben. Er war barfuß und nur mit einer alten Hose und einem Hemdfetzen bekleidet, so daß man seine von Dornen zerkratzte, von der Sonne schwarzgebrannte Haut sehen konnte. Jetzt, da seine Mutter entsetzlich heruntergekommen war und die Männer nichts mehr von ihr wissen wollten, durchstreifte er selber die
Gegend, um ihr noch Kundschaft zuzuführen. Man begegnete ihm, wenn er sich auf den Landstraßen herumtrieb und mit der Gewandtheit eines Wolfes über Hecken sprang, wie ein Tier lebend, das der Hunger über jegliche Beute herfallen läßt. Es war die letzte Stufe des Elends und der Verworfenheit, eine solche menschliche Verkommenheit, daß Pauline ihn mit Gewissensbissen betrachtete, als hätte sie sich schuldig gefühlt, ein Geschöpf in einer solchen Kloake zu lassen. Doch bei jedem ihrer Versuche, ihn da herauszuziehen, war er aus Haß gegen Arbeit und Knechtschaft stets bereit zu fliehen. »Da du wiedergekommen bist«, sagte sie sanft, »hast du also über meine Worte vom letzten Samstag nachgedacht. Ich will einen Rest von guten Gefühlen in den Besuchen sehen, die du mir noch machst ... Du kannst nicht länger ein so schändliches Leben führen, und ich bin nicht mehr reich genug, es ist mir unmöglich, dich zu ernähren, wenn du selbst nichts tust ...
Bist du entschlossen, meinen Vorschlag anzunehmen?« Seit dem Verlust ihres Vermögens versuchte sie ihrem Geldmangel dadurch abzuhelfen, daß sie bei anderen mildtätigen Personen Teilnahme für ihre Armen weckte. Doktor Cazenove hatte endlich durchgesetzt, daß die Mutter des jungen Cuche ins Hospital von Bayeux aufgenommen würde, und sie selber hatte hundert Francs beiseite gelegt, um den Sohn einzukleiden, für den sie eine Stelle als Streckenarbeiter auf der Linie von Cherbourg gefunden hatte. Während sie sprach, senkte er den Kopf und hörte ihr argwöhnisch zu. »Es ist also abgemacht, nicht wahr?« fuhr sie fort. »Du wirst deine Mutter begleiten und dich dann auf deinen Posten begeben.« Aber als sie auf ihn zuging, machte er einen Satz nach hinten. Aus seinen gesenkten Augen starrte er sie unverwandt an, er hatte geglaubt, sie wolle ihn bei den Handgelenken fassen.
»Was ist denn?« fragte sie erstaunt. Da murmelte er mit dem unruhigen Ausdruck eines wilden Tieres: »Sie werden mich packen, einzusperren. Ich will nicht.«
um
mich
Und von nun an war alles vergebens. Er ließ sie reden, schien von ihren guten Gründen überzeugt; allein sowie sie sich rührte, stürzte er zur Tür; und mit einem eigensinnigen Kopfschütteln lehnte er für seine Mutter, lehnte er für sich ab, wollte lieber nichts essen und dafür frei leben. »Hinaus mit dir, du Faulenzer!« rief endlich Chanteau entrüstet. »Du bist schön dumm, dich mit einem solchen Taugenichts abzugeben.« Paulines Hände zitterten ob der Nutzlosigkeit ihrer Barmherzigkeit, ob ihrer Nächstenliebe, die an diesem freiwilligen Elend zerbrach. Sie machte eine Gebärde verzweifelter Nachsicht.
»Laß nur, Onkel, sie leiden, und sie müssen doch essen.« Und sie rief Cuche wieder zu sich, um ihm wie an den anderen Samstagen ein Brot und vierzig Sous zu geben. Aber er wich noch weiter zurück und sagte schließlich: »Legen Sie das auf die Erde und gehen Sie fort ... Ich nehme es mir dann.« Sie mußte ihm gehorchen. Er kam vorsichtig näher und ließ sie dabei nicht aus dem Auge. Nachdem er die vierzig Sous und das Brot aufgehoben hatte, rannte er davon. »So ein Wilder!« rief Chanteau. »Er wird eines Nachts wiederkommen und uns alle erwürgen ... Das ist wie mit dieser Zuchthäuslerstochter da, ich lege meine Hand ins Feuer, daß sie mir neulich mein Halstuch gestohlen hat.« Er sprach von der kleinen Tourmal, deren Großvater dem Vater ins Gefängnis
nachgefolgt war. Sie war allein mit der vor Trunkenheit stumpfsinnigen kleinen Prouane auf der Bank zurückgeblieben. Sie schien nicht gehört zu haben, daß man sie des Diebstahls beschuldigte, war aufgestanden und hatte zu jammern begonnen. »Haben Sie Mitleid, mein gutes Fräulein ... Jetzt sind nur noch Mutter und ich zu Hause, die Gendarmen kommen jeden Abend herein, um uns zu schlagen, mein Körper ist eine einzige Wunde, die Mutter ist nahe daran, zu sterben ... Oh, mein gutes Fräulein, wir brauchten Geld und fette Brühe und guten Wein ...« Chanteau, durch diese Lügen aufgebracht, bewegte sich in seinem Sessel. Aber Pauline hätte ihr Hemd hingegeben. »Sei still«, murmelte sie. »Du würdest mehr bekommen, wenn du nicht soviel reden wolltest ... Bleib da, ich mache dir einen Korb zurecht.«
Als sie mit einem alten Fischkorb wiederkam, in den sie ein Brot, zwei Liter Wein und Fleisch gelegt hatte, fand sie auf der Terrasse noch eine von ihren Schutzbefohlenen vor, die kleine Gonin, die ihre Tochter mitbrachte, ein schon zwanzig Monate altes kleines Mädchen. Die sechzehnjährige Mutter war so zerbrechlich, so wenig entwickelt, daß sie die ältere Schwester zu sein schien, die ihre jüngere Schwester spazierenführt. Sie hatte Mühe, die Kleine zu tragen, aber sie schleppte sie so, da sie wußte, daß Fräulein Pauline Kinder vergötterte und ihnen nichts abschlug. »Mein Gott, wie dick sie ist!« rief Pauline aus und nahm das Mädchen auf den Arm. »Und dabei ist sie nicht einmal sechs Monate älter als unser Paul!« Gegen ihren Willen richtete sich ihr Blick voll Traurigkeit wieder auf den Kleinen, der mitten auf der Decke noch immer schlief. Diese ledige Mutter, die so jung niedergekommen,
hätte glücklich sein müssen, ein so kräftiges Kind zu haben. Statt dessen beklagte sie sich. »Wenn Sie wüßten, was sie ißt, Mademoiselle Pauline! Und ich habe keine Wäsche, ich weiß nicht, wie ich sie anziehen soll ... Dabei fallen, seit der Vater tot ist, die Mutter und ihr Kerl über mich her. Sie behandeln mich wie den letzten Dreck; wenn man ein liederliches Leben führt, sagen sie, dann muß das etwas einbringen, anstatt etwas zu kosten.« Man hatte in der Tat den alten Siechen eines Morgens tot in seiner Kohlenkiste gefunden; und er war so blutig geschlagen, daß sich beinahe die Polizei eingemischt hätte. Jetzt sprachen die Frau und ihr Geliebter davon, diese unnütze Rotznase zu erwürgen, die ihren Teil von der Suppe beanspruchte. »Arme Kleine!« murmelte Pauline. »Ich habe Sachen beiseite gelegt, und ich bin dabei, ihr Strümpfe zu stricken ... Du solltest sie mir öfter herbringen, es gibt hier immer Milch, sie
würde Grießsüppchen bekommen ... Ich werde zu deiner Mutter gehen und ihr angst machen, da sie dir immer noch droht.« Die kleine Gonin hatte ihre Tochter wieder an sich genommen, während Pauline auch für sie ein Bündel zurechtmachte. Sie hatte sich gesetzt und hielt das Kind mit der Ungeschicklichkeit eines kleinen Mädchens, das mit seiner Puppe spielt, auf dem Schoß. Ihre hellen Augen verrieten noch immer ihr Erstaunen, so eine Tochter zu haben, und obgleich sie sie genährt hatte, hatte sie sie oft um ein Haar fallen lassen, wenn sie sie an ihrer flachen Brust wiegte. Das Fräulein hatte sie eines Tages streng gescholten, als sie und die kleine Prouane sich gegenseitig mit Steinen bewarfen und sie zu diesem Zweck ihr Kind am Rande der Landstraße auf einen Steinhaufen gelegt hatte. Aber Abbé Horteur erschien auf der Terrasse. »Da kommen Herr Lazare und der Doktor«,
meldete er. Man hörte im selben Augenblick das Geräusch des Wagens; und während Martin, der ehemalige Matrose mit dem Holzbein, das Pferd in den Stall brachte, kam Cazenove vom Hof und rief: »Ich bringe Ihnen einen Burschen zurück, der heute nacht woanders geschlafen hat, wie es scheint. Sie werden ihm doch nicht den Kopf abschneiden?« Lazare kam nun auch, mit einem blassen Lächeln. Er alterte zusehends, hatte gebeugte Schultern, ein erdfarbenes Gesicht, gleichsam von der inneren Angst verzehrt, die ihn quälte. Zweifellos wollte er gerade den Grund für seine Verspätung angeben, als das halb offengebliebene Fenster im ersten Stockwerk wütend zugeschlagen wurde. »Louise ist noch nicht fertig«, erklärte Pauline. »Sie wird gleich herunterkommen.«
Alle sahen sich an und wurden verlegen, dieses gereizte Fensterzuschlagen kündete einen Streit an. Nachdem Lazare einen Schritt zur Treppe hin getan hatte, zog er es vor, zu warten. Er küßte seinen Vater und den kleinen Paul; um seine Unruhe zu verbergen, wandte er sich dann vorwurfsvoll an seine Cousine und murmelte mit verdrießlicher Stimme: »Befreie uns rasch von diesem Ungeziefer. Du weißt, daß ich es nicht in meiner Nähe haben möchte.« Er sprach von den drei Mädchen, die auf der Bank zurückgeblieben waren. Pauline schnürte eilig das Bündel der kleinen Gonin. »Geht jetzt«, sagte sie. »Ihr beiden, ihr werdet eure Kumpanin zurückbringen, damit sie nicht noch einmal hinfällt ... Und du sei schön vernünftig mit deinem Baby. Paß auf, daß du es unterwegs nicht vergißt.« Als sie endlich gingen, wollte Lazare den Korb
der kleinen Tourmal untersuchen. Sie hatte schon einmal eine alte, in die Ecke geworfene Kaffeekanne gestohlen und darin versteckt. Man drängte sie alle drei hinaus, die Betrunkene stolperte zwischen den beiden anderen davon. »So ein Volk!« rief der Pfarrer aus, während er sich neben Chanteau setzte. »Gott läßt sie offensichtlich im Stich. Von ihrer Ersten Kommunion an bringen diese Gören da Kinder zur Welt, trinken und stehlen wie Vater und Mutter ... Ach, ich habe ihnen das Unglück vorausgesagt, das über sie kommen würde!« »Sagen Sie mal, mein Lieber«, fragte der Arzt spöttisch Lazare, »werden Sie die famosen Buhnen wieder aufbauen?« Aber Lazare machte eine unwillige Gebärde. Die Anspielungen auf seine verlorene Schlacht gegen das Meer erbitterten ihn. Er rief: »Ich? Ich würde die Flut zu uns hereinlassen,
ohne auch nur einen Besenstiel über den Weg zu legen, um sie aufzuhalten ... O nein, ich bin viel zu dumm gewesen, man macht nicht zweimal solche Dummheiten! Wenn ich mir vorstelle, daß diese Elenden an dem Unglückstag getanzt haben! ... Und wissen Sie, was ich vermute? Sie müssen meine Balken am Abend vor der Hochflut angesägt haben, denn sie sind unmöglich ganz von allein zusammengekracht.« Er rettete so seine Eigenliebe als Konstrukteur. Dann zeigte er mit dem Arm nach Bonneville und fügte hinzu: »Sollen sie verrecken! Dann werde ich tanzen!« »Mach dich doch nicht so schlecht«, sagte Pauline in ihrer ruhigen Art. »Nur die Armen haben das Recht, böse zu sein ... Du wirst die Buhnen trotzdem wieder aufbauen.« Schon hatte er sich beruhigt, wie erschöpft
durch diesen Ausbruch.
letzten
leidenschaftlichen
»O nein!« murmelte er. »Das würde mich langweilen – Aber du hast recht, es lohnt nicht, daß man in Zorn gerät. Was geht es mich an, ob sie ersaufen oder nicht?« Von neuem herrschte Schweigen. Chanteau war wieder in seine schmerzerfüllte Unbeweglichkeit gesunken, nachdem er den Kopf gehoben, um den Kuß seines Sohnes zu empfangen. Der Pfarrer drehte die Daumen, der Doktor schritt, die Hände auf dem Rücken, auf und ab. Alle betrachteten jetzt den schlafenden kleinen Paul, den Pauline sogar gegen die Liebkosungen seines Vaters verteidigte, da sie nicht wollte, daß man ihn aufwecke. Seit der Ankunft der Männer bat sie darum, daß sie leise sprächen und nicht so laut um die Decke herumtrampelten; und Loulou, der immer noch knurrte, weil er gehört hatte, daß man das Pferd in den Stall brachte, drohte
sie schließlich mit der Peitsche. »Du glaubst doch nicht, daß er still ist!« begann Lazare wieder. »Er liegt uns noch eine Stunde lang in den Ohren ... Niemals habe ich einen so unangenehmen Hund erlebt. Man stört ihn schon, wenn man sich nur rührt, man weiß nicht einmal, ob es wirklich der eigene Hund ist, so sehr lebt er für sich. Das dreckige Biest taugt nur dazu, daß wir den Verlust unseres armen Mathieu bedauern.« »Wie alt ist eigentlich Minouche?« fragte Cazenove. »Ich habe sie schon immer hier gesehen.« »Sie ist über sechzehn Jahre alt«, erwiderte Pauline. »Und es geht ihr noch sehr gut.« Minouche, die sich auf dem Fensterbrett des Eßzimmers putzte, hatte aufgeblickt, als der Doktor ihren Namen aussprach. Sie blieb einen Augenblick mit erhobener Pfote sitzen, den Bauch wie aufgeknöpft in der Sonne; dann
machte sie sich wieder daran, sich sorgfältig das Fell zu lecken. »Oh, sie ist nicht taub!« sagte das junge Mädchen. »Ich glaube nur, ihre Sehkraft läßt nach, was sie nicht hindert, sich wie ein liederliches Frauenzimmer aufzuführen ... Stellen Sie sich vor, es ist kaum eine Woche her, daß man ihr sieben Junge fortgenommen hat. Sie wirft und wirft so viele, es ist nicht zu glauben. Hätte man sie seit sechzehn Jahren alle am Leben gelassen, hätten sie das ganze Dorf aufgefressen ... Nun, am Dienstag war sie wieder verschwunden, und Sie sehen, wie sie sich putzt, sie ist erst heute morgen heimgekommen nach drei Nächten und drei Tagen Herumtreiberei.« Heiter, ohne verlegen zu sein oder zu erröten, sprach sie von den Liebschaften der Katze. Ein so sauberes Tier, so fein, daß es bei feuchtem Wetter nicht aus dem Hause ging – aber viermal im Jahr wälzte sie sich im Schmutz
aller Gossen! Am Abend zuvor hatte sie Minouche mit einem großen Kater auf einer Mauer gesehen, wie sie beide die Luft mit ihren gesträubten Schwänzen fegten; und nach ein paar Ohrfeigen, die sie austauschten, waren sie unter entsetzlichem Miauen beide mitten in eine Pfütze gefallen. Und so war die Katze dieses Mal mit eingerissenem Ohr und schlammbespritztem Rückenfell von ihrem Streifzug heimgekehrt. Im übrigen gab es noch immer keine schlechtere Mutter als sie. Bei jedem Wurf, den man ihr fortnahm, leckte sie sich wie in ihrer Jugend, anscheinend ohne ihre unerschöpfliche Fruchtbarkeit zu ahnen, und holte sich sogleich wieder eine neue Bauchladung. »Wenigstens ist sie auf Sauberkeit bedacht«, schloß Abbé Horteur, der Minouche sah, wie sie beim Putzen schier ihre Zunge abnutzte. »So viele lose Frauenzimmer waschen sich nicht einmal!«
Chanteau, der ebenfalls zu der Katze hinschaute, seufzte lauter, mit jenem ständigen, unwillkürlichen Klagelaut, dessen er sich selber nicht mehr bewußt war. »Sie leiden wohl wieder mehr?« fragte ihn der Arzt. »Wie? Warum?« fragte er, wie aus dem Schlaf auffahrend. »Ach, weil ich so laut atme ... Ja, ich leide sehr heute abend. Ich glaubte, die Sonne würde mir guttun, aber ich ersticke trotzdem, mir brennen alle Gelenke.« Cazenove untersuchte seine Hände. Allen schauderte es beim Anblick dieser armen verunstalteten Stümpfe. Der Priester gab noch eine sinnreiche Betrachtung von sich. »Solche Finger sind nicht gerade bequem zum Damespielen ... Das ist eine Zerstreuung, die Ihnen jetzt fehlt.« »Seien Sie vernünftig mit dem Essen«, empfahl der Arzt. »Der Ellbogen ist recht
entzündet, die Geschwürbildung nimmt mehr und mehr zu.« »Was soll ich denn noch tun, um vernünftig zu sein?« stöhnte Chanteau verzweifelt. »Man bemißt mir den Wein, man wiegt mir das Fleisch ab, soll ich denn gar keine Nahrung mehr zu mir nehmen? Wahrhaftig, das ist kein Leben mehr. Wenn ich noch allein essen könnte! Aber wie soll ich das, mit solchen Apparaten an den Armen? Pauline, die mich füttert, ist doch ganz sicher, daß ich nicht zuviel zu mir nehme.« Das junge Mädchen lächelte. »Doch, doch, du hast gestern zuviel gegessen ... Es ist meine Schuld, ich kann mich nicht widersetzen, wenn ich sehe, daß deine Eßlust dich so unglücklich macht.« Da gaben sich alle den Anschein, als erheiterten sie sich und als neckten sie ihn ob der Gelage, die er noch veranstaltete. Doch
ihre Stimmen zitterten vor Mitleid angesichts dieses Überbleibsels von einem Menschen, dieser bewegungslosen Masse, die gerade noch genug Leben hatte, um zu leiden. Er war in seine Lage zurückgesunken, den Körper nach rechts verbogen, die Hände auf den Knien. »Heute abend zum Beispiel«, fuhr Pauline fort, »haben wir eine Ente am Spieß ...« Aber sie unterbrach sich und fragte: »Dabei fällt mir ein, sind Sie nicht vielleicht Véronique begegnet, als Sie durch Verchemont fuhren?« Und sie erzählte von dem Verschwinden der Magd. Weder Lazare noch der Arzt hatten sie erblickt. Man wunderte sich über die Schrullen dieses Mädchens, man scherzte schließlich darüber: Es müsse komisch sein, wenn man bei ihrer Heimkehr schon bei Tisch säße und ihr Gesicht sähe. »Ich ziehe mich jetzt zurück, denn ich habe Küchendienst«, fuhr Pauline fröhlich fort. »Wenn ich das Ragout anbrennen lasse oder
die Ente nicht genügend durchgebraten auftrage, kündigt mein Onkel mir!« Abbé Horteur lachte ein breites Lachen, und sogar Doktor Cazenove war über diese Bemerkung belustigt, als sich das Fenster im ersten Stock mit einem wütenden Quietschen des Riegels plötzlich wieder öffnete. Louise war nicht zu sehen, sie rief nur mit schroffer Stimme durch das halbgeöffnete Fenster: »Komm herauf, Lazare!« Lazare machte eine empörte Bewegung und wollte einer in solchem Tone hingeschleuderten Aufforderung nicht nachkommen. Aber Pauline richtete eine stumme Bitte an ihn, weil sie den Auftritt vor den Gästen vermeiden wollte; und er ging hinauf, während sie noch einen Augenblick auf der Terrasse blieb, um den schlechten Eindruck zu verwischen. Schweigen war eingetreten, man betrachtete verlegen das Meer. Die tiefstehende Sonne breitete jetzt ein
goldenes Tuch darüber, das die kleinen blauen Wellen mit flüchtigen Flammen aufleuchten ließ. In der Ferne spielte der Horizont ins zarte Violett hinüber. Ein schöner Tag ging in erhabenem Frieden zu Ende und entrollte die Unendlichkeit des wolkenlosen Himmels und des Wassers ohne Segel. »Na ja«, wagte Pauline lächelnd zu sagen, »da er über Nacht nicht nach Hause gekommen ist, muß man ihn schon ein wenig schelten!« Der Doktor schaute sie an, und er hatte nun auch ein Lächeln, in dem sie seinen Scharfblick von damals wiederfand, als er ihr vorausgesagt hatte, daß sie den beiden kein schönes Geschenk machte, wenn sie sie miteinander verheiratete. Und so ging sie schließlich zur Küche. »Nun, ich lasse Sie jetzt allein, suchen Sie sich eine Beschäftigung ... Und du, Onkel, ruf mich, wenn Paul aufwachen sollte.«
Ab sie in der Küche das Ragout umgerührt und den Bratspieß vorbereitet hatte, polterte sie voller Ungeduld mit den Kochtöpfen. Die Stimmen von Louise und Lazare drangen durch die Decke zu ihr, wurden immer lauter, und sie war verzweifelt bei dem Gedanken, daß man sie von der Terrasse aus hören mußte. Wahrhaftig, es war wenig vernünftig, so zu schreien, als wäre man taub, und aller Welt seine Uneinigkeit zu offenbaren. Sie wollte jedoch nicht hinaufgehen: Einmal hatte sie das Abendessen zu machen, und zum anderen empfand sie ein Unbehagen bei dem Gedanken, sich so zwischen die beiden zu stellen, sogar in ihrem Schlafzimmer. Gewöhnlich versöhnte sie sie unten in den Stunden des gemeinsamen Lebens. Einen Augenblick ging sie ins Eßzimmer hinüber, wo sie sich geräuschvoll mit dem Tischdecken zu schaffen machte. Aber die Stimmen tönten weiter, sie konnte nicht länger den Gedanken ertragen, daß sie sich unglücklich machten;
und sie ging hinauf, getrieben von jener tätigen Barmherzigkeit, die aus dem Glück der anderen ihr eigenes Leben machte. »Meine lieben Kinder«, sagte sie, als sie unvermittelt in das Zimmer eindrang, »ihr werdet sagen, daß mich das nichts angeht, aber ihr schreit allzu laut ... Es hat keinen Sinn, sich so aufzuregen und das Haus durcheinanderzubringen.« Sie war durch das Zimmer gegangen und schloß rasch das Fenster, das Louise halb offengelassen hatte. Glücklicherweise waren weder der Doktor noch der Pfarrer auf der Terrasse geblieben. Mit einem hastigen Blick hatte sie dort nur den sinnenden Chanteau neben dem schlafenden kleinen Paul entdeckt. »Man hörte euch von unten, als wäret ihr im Eßzimmer gewesen«, begann sie wieder. »Was gibt es denn schon wieder?« Aber sie waren in Fahrt, sie setzten den Streit
fort und schienen Paulines Eintreten nicht einmal bemerkt zu haben. Pauline jedoch stand reglos da, wieder von ihrem Unbehagen ergriffen, in diesem Zimmer, wo die Eheleute schliefen. Der grünberankte gelbe Kretonne, die rote Brücke, die alten Mahagonimöbel hatten Wandbespannungen aus dichtem Wollstoff und der Zimmereinrichtung einer anspruchsvollen Frau Platz gemacht; nichts mehr war von der toten Mutter geblieben, ein Heliotropduft kam vom Waschtisch her, auf dem feuchte Handtücher herumlagen; und dieser Geruch benahm Pauline ein wenig den Atem, sie blickte sich unwillkürlich in dem Zimmer um, in dem jeder Gegenstand die intime Gemeinsamkeit der Eheleute verriet. Wenn sie auch schließlich eingewilligt hatte, bei ihnen zu leben im täglichen Zerriebenwerden durch ihre innere Auflehnung, wenn sie nunmehr des Nachts schlafen konnte, während sie die beiden dort wußte, vielleicht einer in den Armen des
anderen, so war sie doch noch nicht zu ihnen hineingegangen, in ihren intimen ehelichen Bereich, in diese Unordnung der überall herumliegenden Kleidungsstücke und des schon für den Abend bereiteten Bettes. Ein Schauer stieg wieder in ihr auf, der Schauer ihrer früheren Eifersucht. »Wie könnt ihr euch so zanken!« murmelte sie nach einem Schweigen. »Wollt ihr denn nicht vernünftig sein?« »Nein!« rief Louise. »Ich habe es jetzt satt! ... Denkst du, er sieht sein Unrecht ein? Ach ja! Ich habe ihm nur gesagt, wie sehr es uns beunruhigt hat, als er gestern nicht nach Hause kam, und da fällt er über mich her wie ein Wilder und beschuldigt mich, ihm sein Leben verdorben zu haben, und droht mir, nach Amerika auszuwandern!« Lazare unterbrach Stimme.
sie mit
fürchterlicher
»Du lügst! ... Wenn du mir meine Verspätung so behutsam vorgeworfen hättest, dann hätte ich dich umarmt, und alles wäre schon vergessen. Aber du hast mich beschuldigt, daß ich dir ein tränenreiches Dasein bereite. Ja, du hast mir gedroht, dich im Meer zu ertränken, wenn ich dir das Leben weiterhin unmöglich mache.« Und sie legten beide wieder los, machten rücksichtslos ihrem Groll Luft, der während des ständigen Zusammenpralls ihrer Charaktere immer mehr angewachsen war. Bei Kleinigkeiten fing es an, mit einer Neckerei, die sie nach und nach zu heftiger Antipathie trieb, die den Rest des Tages trostlos machte. Louise mit ihrem sanften Gesicht wurde schließlich boshaft, seit er an ihre Vergnügungen rührte, boshaft wie eine schmeichlerische Katze, die sich an die anderen anschmiegt und dabei die Krallen ausstreckt. Lazare empfand trotz seiner Gleichgültigkeit die Streitigkeiten als eine
Befreiung aus der Stumpfheit seiner Langeweile, er blieb oft hartnäckig dabei, da es für ihn eine Zerstreuung bedeutete, sich fieberhaft zu erregen. Pauline hörte ihnen indessen zu. Sie litt mehr als die beiden; diese Art, sich zu lieben, ging über ihren Verstand. Warum schonten sie sich nicht aus Mitleid, warum stellten sie sich nicht aufeinander ein, wenn sie zusammen leben mußten? Es schien ihr so leicht, das Glück in der Gewohnheit und im Mitgefühl zu sehen. Und sie war zutiefst betrübt, sie betrachtete diese Ehe immer als ihr Werk, ein Werk, von dem sie gewünscht hätte, daß es gut und dauerhaft sei, damit sie wenigstens durch die Gewißheit, klug gehandelt zu haben, für ihr Opfer belohnt würde. »Ich mache dir nicht einmal den Vorwurf, daß du mein Vermögen vergeudest«, fuhr Louise fort. »Das fehlte auch noch!« rief Lazare. »Es ist ja
nicht meine Schuld, wenn man mich bestohlen hat.« »Oh! Man bestiehlt nur die Ungeschickten, die sich die Taschen ausnehmen lassen ... Wir haben trotzdem nur noch armselige vier oder fünftausend Francs Jahreszinsen, wovon man in diesem Loch eben gerade leben kann. Ohne Pauline würde unser Kind eines Tages ganz nackt herumlaufen, denn ich bin wohl darauf gefaßt, daß du das übrige auch noch aufzehrst mit deinen außergewöhnlichen Einfällen, deinen Unternehmungen, die allesamt fehlschlagen.« »Geh, fahr nur fort, dein Vater hat mir gestern schon die gleichen netten Komplimente gemacht. Ich habe erraten, daß du ihm geschrieben hattest. Daher habe ich auch diese Düngerangelegenheit fahrenlassen, ein sicheres Unternehmen, bei dem hundert Prozent zu gewinnen waren. Aber ich bin wie du, ich habe es satt, der Teufel soll mich holen,
wenn ich mir noch weiter Mühe gebe ... Dann werden wir eben hier leben.« »Ein schönes Leben für eine Frau meines Alters, bei Gott! Ein wahres Gefängnis; nicht eine einzige Gelegenheit, auszugehen und Menschen zu sehen; immer dieses dämliche Meer da vor einem, durch das die Langeweile scheinbar noch größer wird ... Ach, wenn ich das gewußt hätte! Wenn ich das gewußt hätte!« »Glaubst du denn etwa, für mich ist es ein Vergnügen? Wäre ich nicht verheiratet, könnte ich auf und davon gehen, sehr weit fort, und anderswo mein Glück versuchen. Zwanzigmal habe ich schon Lust dazu gehabt. Aber das ist jetzt vorbei, ich bin jetzt in diesem gottverlassenen Nest festgenagelt, wo mir nur noch zu schlafen übrigbleibt ... Du hast mich zugrunde gerichtet, ich fühle es wohl.« »Ich habe dich zugrunde gerichtet! ... Habe ich dich etwa gezwungen, mich zu heiraten?
Hättest du nicht sehen müssen, daß wir nicht füreinander geboren waren? Es ist deine Schuld, wenn unser Leben verpfuscht ist.« »O ja! Unser Leben ist verpfuscht, und du tust alles, um es jeden Tag noch unerträglicher zu machen.« In diesem Augenblick unterbrach Pauline sie zitternd, obgleich sie sich fest vorgenommen hatte, sich herauszuhalten. »Schweigt doch, ihr unvernünftigen Kinder! Die Wahrheit ist, daß ihr es mutwillig verpfuscht, dieses Leben, das so schön sein könnte. Warum müßt ihr euch so erregen und nicht wiedergutzumachende Dinge sagen, unter denen ihr hinterher leidet? Nein, nein, schweigt, ich will nicht, daß das so weitergeht!« Louise war, in Tränen aufgelöst, auf einen Stuhl gesunken, während Lazare, heftig erschüttert, mit großen Schritten hin und her
ging. »Die Tränen sind zu nichts nütze, meine Liebe«, begann das junge Mädchen wieder. »Du bist wirklich nicht sehr duldsam, du hast oft unrecht ... Und du, mein armer Freund, wie kannst du so über sie herfallen? Das ist widerlich, ich hielt dich wenigstens für gutherzig ... Ja, ihr seid alle beide gleichermaßen schuldige große Kinder, die nicht wissen, was sie anstellen sollen, um sich zu quälen. Aber ich will keine trübseligen Leute um mich haben, versteht ihr! Ich will es nicht ... Ihr werdet euch sogleich umarmen.« Sie versuchte zu lachen, sie fühlte nicht mehr jenen nahenden Schauer, der sie beunruhigte. Sie hatte nur noch den einen glühenden, barmherzigen Wunsch, sie vor ihren Augen einander in die Arme zu führen, um sicher zu sein, daß der Streit ein Ende hatte. »Ich ihn umarmen? O nein!« sagte Louise. »Er hat mir zuviel Grobheiten gesagt.«
»Niemals!« rief Lazare. Da brach Pauline freimütig in Lachen aus. »Nun macht schon, schmollt nicht! Ihr wißt, ich bin sehr starrköpfig. Mein Abendessen brennt an, unsere Gäste warten auf uns ... Ich helfe nach, Lazare, wenn du nicht gehorchen willst. Knie vor ihr nieder, nimm sie liebevoll an dein Herz ... Los, los, noch besser!« Und sie trieb die beiden in eine liebevolle Umarmung; mit dem Ausdruck fröhlichen Triumphes, ohne daß sich der Grund ihrer klaren Augen trübte, sah sie zu, wie sie sich auf den Mund küßten. Es war in ihr eine freudige Wärme, gleich einer zarten Flamme, die sie über die beiden erhob. Indessen drückte ihr Cousin seine Frau mit einem verzweifelten Selbstvorwurf an sich, während diese, noch immer im Nachthemd, mit nackten Armen und bloßem Hals, seine Zärtlichkeiten unter noch heftigerem Weinen erwiderte.
»Seht ihr wohl, das ist besser als sich schlagen«, sagte Pauline. »Ich verziehe mich, ihr braucht mich nicht mehr, um Frieden zu schließen.« Schon war sie an der Tür und schloß sie rasch wieder vor diesem Liebeszimmer mit dem aufgeschlagenen Bett und den herumliegenden Kleidern, deren Heliotropduft sie jetzt gerührt stimmte, gleich einem verbündeten Duft, der ihre Aufgabe der Versöhnung zu Ende führen würde. Unten in der Küche begann Pauline zu singen, während sie noch einmal ihr Ragout umrührte. Sie zündete ein Reisigbündel an, stellte den Bratenwender für die Ente auf und überwachte den Braten mit kundigem Auge. Diese Mägdearbeit machte ihr Spaß, sie hatte sich eine große weiße Schürze umgebunden und war entzückt, ihnen allen zu dienen, sich auf diese Weise zu den niedrigsten Dienstleistungen herabzulassen, um sich sagen
zu können, daß sie an diesem Tage ihre Heiterkeit und ihre Gesundheit ihr zu danken hätten. Jetzt, da sie dank ihrer lachten, war es ihr Traum, ihnen ein Festmahl aufzutragen, sehr gute Dinge, von denen sie viel essen und dabei am Tisch in fröhliche Stimmung geraten würden. Ihr fielen wieder der Onkel und der Kleine ein, sie lief eilend auf die Terrasse und war sehr erstaunt, Lazare bei dem Kind sitzen zu sehen. »Wie!« rief sie. »Du bist schon wieder unten?« Er antwortete mit einem bloßen Kopfnicken; wieder von seiner müden Gleichgültigkeit erfaßt, saß er mit gebeugten Schultern und müßigen Händen da. Pauline fragte beunruhigt: »Ihr habt hoffentlich nicht hinter meinem Rücken wieder von vorn angefangen?« »Nein, nein«, entschloß er sich endlich zu sagen. »Sie kommt runter, wenn sie ihr Kleid
angezogen hat ... Wir haben uns verziehen. Aber wie lange wird das dauern! Morgen wird es eine andere Geschichte sein, und so alle Tage und alle Stunden! Ändert man sich denn, kann man denn etwas verhindern?« Pauline war ernst geworden, ihre betrübten Augen senkten sich. Er hatte recht, sie sah klar und deutlich ähnliche Tage abrollen, ohne Unterlaß denselben Streit zwischen ihnen, den sie schlichten mußte. Und sie selber war nicht sicher, daß sie geheilt war und nicht abermals eifersüchtigen Heftigkeitsausbrüchen unterliegen würde. Ach, welch ewiges Wiederbeginnen in diesen täglichen Unzulänglichkeiten! Doch sie blickte schon wieder auf: Sie hatte sich so oft bezwungen! Und außerdem würde man schon sehen, ob nicht den beiden die Lust zum Streiten eher vergehen würde als ihr, Pauline, die Lust, sie wieder zu versöhnen. Dieser Gedanke erheiterte sie, sie erzählte ihn lachend Lazare. Was blieb ihr denn zu tun, wenn das Haus
allzu glücklich war? Sie würde sich langweilen, man mußte ihr schon einige Wehwehchen zu heilen übriglassen. »Wo sind denn der Abbé und der Doktor hingegangen?« fragte sie, verwundert, die beiden nicht mehr zu sehen. »Sie müssen im Garten sein«, erwiderte Chanteau. »Der Abbé wollte dem Doktor unsere Birnen zeigen.« Pauline wollte gerade von der Ecke der Terrasse Ausschau halten, als sie plötzlich vor dem kleinen Paul stehenblieb. »Ach, er ist ja aufgewacht!« rief sie. »Sieh nur, wie der schon herumstrolcht!« Auf der roten Decke hatte sich Paul in der Tat auf seinen kleinen Knien aufgerichtet; und er war losgekrochen und machte sich heimlich auf allen vieren davon. Doch bevor er den Sand erreicht hatte, mußte er wohl an eine Falte der Decke geraten sein, denn er wankte
und fiel auf den Rücken; bloßgestrampelt, reckte er Arme und Beine in die Luft. Er zappelte, er bewegte seine rosige Nacktheit auf diesem Rot einer erblühten Pfingstrose. »Gut! Er zeigt uns alles, was er hat«, begann sie fröhlich wieder. »Wartet, ihr sollt sehen, wie er seit gestern läuft.« Sie hatte sich neben ihn gekniet und versuchte, ihn auf die Beine zu stellen. Er war so widerwillig gewachsen, daß er für sein Alter sehr zurück war; einen Augenblick lang hatte man sogar gefürchtet, er werde schwach auf den Beinen bleiben. Daher sah die Familie mit Entzücken, wie er seine ersten Schritte tat, mit den Händen ins Leere tappte und beim geringsten Steinchen wieder auf sein Hinterteil fiel. »Willst du wohl nicht spielen!« wiederholte Pauline. »Nein, das ist ernst, zeig, daß du ein Mann bist ... Da, halt dich fest, geh und gib Papa einen Kuß, und dann gehst du auch zum
Großvater und gibst ihm einen Kuß.« Chanteau, dessen Gesicht von stechenden Schmerzen verzerrt war, wandte den Kopf, um dem Auftritt zuzusehen. Trotz seiner Niedergeschlagenheit wollte Lazare das Spiel gern mitmachen. »Komm«, sagte er zu dem Kind. »Oh, du mußt ihm die Arme entgegenstrecken«, erklärte das junge Mädchen. »Er wagt es nicht einfach so, er will wissen, wohin er fällt ... Komm, mein kleiner Engel, nur Mut.« Es waren drei Schritte zu machen. Da gab es gerührte Ausrufe, überströmende Begeisterung, als Paul sich entschloß, mit den schwankenden Bewegungen eines seiner Füße nicht sicheren Gleichgewichtskünstlers die kurze Strecke zurückzulegen. Er war in die Hände seines Vaters gefallen, der ihn auf das noch spärliche Haar küßte; und er lachte jenes
unbestimmte, entzückte Lachen der ganz kleinen Kinder und sperrte dabei einen feuchten und wie eine Rose schimmernden Mund ganz weit auf. Seine Patin wollte ihn jetzt sogar zum Sprechen bringen; aber sprechen konnte er noch weniger als laufen, er stieß kehlige Laute aus, aus denen allein die Eltern die Worte »Papa« und »Mama« heraushörten. »Das ist nicht alles«, sagte Pauline. »Er hat versprochen, Großvater einen Kuß zu geben ... Na? Diesmal ist es eine richtige Reise.« Mindestens acht Schritte trennten Lazares Stuhl von Chanteaus Sessel. Niemals hatte Paul sich so weit in die Welt hinausgewagt. Daher war es ein beachtliches Unternehmen. Pauline hatte sich auf den Weg gehockt, um aufzupassen, daß kein Unheil geschähe, und man brauchte zwei lange Minuten, um das Kind anzuspornen. Endlich stürzte er wild drauflos, mit den Ärmchen durch die Luft
rudernd. Einen Augenblick glaubte sie schon, sie werde ihn in den Armen auffangen. Doch er stürmte als mutiger Mann vorwärts und landete auf Chanteaus Knien. Bravorufe erschollen. »Habt ihr gesehen, wie er losgestürzt ist? Oh, dem ist nicht bange, das wird bestimmt einmal ein ganzer Kerl.« Und von nun an ließ man ihn den Weg wohl zehnmal machen. Er hatte keine Angst mehr, er lief bei der ersten Aufforderung los, ging laut lachend von seinem Großvater zu seinem Vater und wieder zu seinem Großvater zurück und war sehr belustigt über das Spiel, immer nahe daran, hinzupurzeln, als schwankte der Boden unter ihm. »Noch einmal zu Papa!« rief Pauline. Lazare begann zu ermüden. Kinder, selbst sein eigenes, langweilten ihn rasch. Als er ihn so fröhlich und nunmehr gerettet vor sich sah,
durchfuhr ihn der Gedanke, daß dieses kleine Wesen ihn fortsetzen, ihm sicherlich einmal die Augen schließen werde, mit jenem Schauer, der ihn vor Angst würgte. Seit er beschlossen hatte, in Bonneville sein Leben zu fristen, blieb ihm ein einziger beunruhigender Gedanke, daß er nämlich in dem Zimmer sterben würde, in dem seine Mutter gestorben war; und er ging nicht ein einziges Mal die Treppe hinauf, ohne sich zu sagen, daß eines Tages unvermeidlich sein Sarg dort herunterkommen würde. Der Eingang zum Flur verengte sich, es gab dort eine schwierige Biegung, über die er sich ständig beunruhigte, weil er sich überlegte, wie es die Männer wohl anstellen würden, ihn dort herauszutragen, ohne anzustoßen. In dem Maße, wie das Alter jeden Tag ein wenig von seinem Leben mitnahm, beschleunigte dieser Gedanke an den Tod den Verfall seines Seins, zerstörte ihn dergestalt, daß er seine letzten Manneskräfte vernichtete. Er war am Ende, wie er selber
sagte, nunmehr überflüssig; er fragte sich, wozu er noch arbeiten sollte, und erschöpfte sich mehr und mehr in der Stumpfsinnigkeit seiner Langeweile. »Noch einmal zu Großvater!« rief Pauline. Chanteau vermochte nicht einmal die Hände auszustrecken, um den kleinen Paul aufzufangen und festzuhalten. Mochte er auch die Knie spreizen, die so zerbrechlichen kleinen Finger, die sich an seine Hose klammerten, entrissen ihm langgezogene Seufzer. Das Kind war an das endlose Stöhnen des alten Mannes schon gewöhnt, da es in seiner Nähe lebte und sich mit seinem kaum erwachten Verstand zweifellos vorstellte, daß alle Großväter so leiden müssen. Als es jedoch an diesem Tage in der hellen Sonne auf Chanteaus Knien gelandet war, hob es sein Gesichtchen, hörte zu lachen auf und sah den Großvater mit seinen unsicheren Augen an. Die beiden unförmigen Hände schienen
scheußliche Klumpen aus Fleisch und Gichtknoten zu sein; das von roten Falten durchfurchte, vom Leiden zerquälte Gesicht war wie gewaltsam auf die rechte Schulter gekehrt, während der ganze Körper Buckel und Risse hatte wie ein schlecht zusammengeleimter steinerner alter Heiliger. Und Paul schien verwundert, ihn im Sonnenschein so krank und so alt zu sehen. »Noch einmal! Noch einmal!« rief Pauline. Sie, die vor Heiterkeit und Gesundheit bebte, trieb ihn immer wieder von einem zum anderen, vom hartnäckig im Schmerz befangenen Großvater zu dem bereits vom Entsetzen vor dem Morgen verzehrten Vater. »Der da wird vielleicht einer weniger dummen Generation angehören«, sagte sie plötzlich. »Er wird nicht die Chemie beschuldigen, daß sie ihm das Leben verdirbt, und er wird glauben, daß man leben kann, auch mit der Gewißheit, eines Tages sterben zu müssen.«
Lazare lachte verlegen. »Ach was!« murmelte er. »Er wird die Gicht bekommen wie der Vater, und seine Nerven werden noch zerrütteter sein als meine ... Sieh doch nur, wie schwach er ist! Das ist das Gesetz der Degenerierung.« »Willst du wohl schweigen!« rief Pauline. »Ich werde ihn großziehen, und du wirst sehen, ob ich einen Mann aus ihm mache!« Schweigen trat ein, während sie den Kiemen in einer mütterlichen Umarmung wieder an sich nahm. »Warum heiratest du nicht, wenn du Kinder so gern hast?« fragte Lazare. Sie hielt verblüfft inne. »Aber ich habe doch ein Kind! Hast du es mir nicht gegeben? Heiraten! Nie im Leben!« Sie wiegte den kleinen Paul, sie lachte lauter und erzählte scherzend, daß Lazare sie zum
großen heiligen Schopenhauer bekehrt habe, daß sie Jungfrau bleiben wolle, um an der allgemeinen Erlösung mitzuwirken; und in der Tat war sie die Entsagung, die Nächstenliebe, die über die schlechte Menschheit ausgebreitete Güte. Die Sonne ging im unermeßlichen Meer unter, vom verblaßten Himmel senkte sich heitere Ruhe herab, die Unendlichkeit des Wassers und die Unendlichkeit der Luft nahmen die gerührte Milde eines schönen, sich neigenden Tages an. Nur ein kleines weißes Segel in weiter Ferne setzte noch einen Funken da hinein, der erlosch, als das Gestirn unter die gerade und einfache große Linie des Horizonts hinabgestiegen war. Jetzt sah man nur noch, wie sich die Dämmerung langsam auf die reglosen Fluten herabsenkte. Und mit ihrem tapferen Lachen stand Pauline aufrecht auf der vom Dunkel bläulich schimmernden Terrasse zwischen ihrem niedergedrückten Cousin und ihrem ächzenden Onkel und wiegte noch
immer das Kind. Sie hatte auf alles verzichtet, aus ihrem strahlenden Lachen tönte das Glück. »Wird denn heute abend nicht gegessen?« sagte Louise, die in einem koketten grauseidenen Kleid erschien. »Ich bin soweit«, erwiderte Pauline. »Ich weiß nicht, was sie im Garten machen mögen.« In diesem Augenblick kam Abbé Horteur mit verstörtem Gesicht zurück. Als man ihn besorgt fragte, sagte er schließlich ohne Umschweife, nachdem er vergeblich eine Wendung gesucht hatte, um den Schlag zu mildern: »Wir haben die arme Véronique gefunden, sie hat sich an einem Birnbaum erhängt.« Alle stießen einen Schrei der Überraschung und des Entsetzens aus und erbleichten unter dem vorüberwehenden Hauch des Todes. »Aber warum?« rief Pauline aus. »Sie hatte
keinerlei Grund, ihr Abendessen war sogar schon vorbereitet ... Mein Gott! Sie wird es doch nicht getan haben, weil ich ihr gesagt habe, man hätte sie ihre Ente um zehn Sous zu teuer bezahlen lassen!« Doktor Cazenove kam nun auch. Seit einer Viertelstunde versuchte er vergeblich, Véronique im Wagenschuppen, wohin man sie mit Martins Hilfe getragen hatte, wieder ins Leben zu rufen. Bei solchen schrulligen alten Hausmädchen konnte man nie wissen! Niemals hatte sie sich über den Tod ihrer Herrin hinweggetröstet. »Das hat sicher nicht lange gedauert«, sagte er. »Sie hat sich mit dem Band einer Küchenschürze aufgehängt.« Lazare und Louise schwiegen, vor Angst erstarrt. Chanteau, der schweigend zugehört hatte, empörte sich jetzt plötzlich bei dem Gedanken an das in Frage gestellte Abendessen. Und dieser Elende ohne Hände
und Füße, den man wie ein Kind zu Bett bringen und füttern mußte, dieser bejammernswerte Rest von einem Menschen, dessen bißchen Leben nur noch ein Schmerzensgebrüll war, rief in wütender Entrüstung: »Wie kann man so dumm sein und sich das Leben nehmen!«
Anmerkungen 1 Angelus – das mit den Worten »Angelus Domini nuntiavit Mariae« – (lat.) Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft – beginnende katholische Dankgebet für Christi Menschwerdung, das morgens, mittags und abends beim Glockenzeichen verrichtet wird. 2 Cotentin – weit in den Ärmelkanal hinausragende Halbinsel Nordfrankreichs.
3 Präfekt – in Frankreich seit 1800 der vom Staatsoberhaupt ernannte oberste Verwaltungsbeamte eines Departements. 4 Erard – Sébastien Erard (1752–1831), Pariser Klavierbauer. 5 Berlioz – Hector Berlioz (1803–1896), französischer Komponist; öffnete mit seinen literarisch inspirierten romantischen Programmsinfonien, seinen Riesenbesetzungen und seiner Neigung zu ungewöhnlichen Klangmischungen der Orchestermusik neue Wege. 6 Hippokrates – (um 460–377 v.u.Z.), griechischer Arzt; begründete die wissenschaftliche Medizin. 7 Ambroise Paré – (um 1510–1590), französischer Chirurg; führte in Frankreich neue Operationsverfahren ein. 8 Quartier Latin – (franz.) lateinisches, d.h. gelehrtes Viertel; Pariser Stadtteil auf dem
linken SeineUfer, in dem sich die Sorbonne, das Collège de France und andere Hochschulen befinden. Früher wohnten die Studenten fast ausschließlich im Quartier Latin und gaben ihm ein eigenes Gepräge. 9 Hausse – in der Börsensprache Steigen der Preise. 10 Longet – FrançoisAchille Longet (1811– 1871), französischer Mediziner und Physiologe. 11 Cruveilhier – Jean Cruveilhier (1791– 1874), französischer Mediziner; galt Jahrzehnte als hervorragendster Vertreter der pathologischen Anatomie in Frankreich. 12 Generalrat parlamentarische Departements.
–
in Frankreich die Vertretung eines
13 Karaiben – indianische Völkergruppe im nördlichen Südamerika.
14 Sorbonne – ursprünglich 1254 von Robert de Sorbonne gegründete Theologenschule; zur Zeit der Romanhandlung nach umfangreichen Erweiterungsbauten Sitz der mathematischnaturwissenschaftlichen, der sprach und literaturwissenschaftlichen und der theologischen Fakultät der Pariser Universität. 15 Unterpräfekt – der oberste Verwaltungsbeamte eines Arrondissements; das Arrondissement ist dem Departement untergeordnet und entspricht etwa dem Kreis bei uns. 16 Departement – Verwaltungsbezirk in Frankreich; 1789 wurde die Landeseinteilung in wenige große Provinzen durch die Einteilung in bedeutend kleinere Departements ersetzt, die unter Berücksichtigung von Landschaft und Bevölkerung gebildet und nach Flüssen, Gebirgen usw. benannt wurden. 17 Phlegmone – Bindegewebsentzündung.
18 Cayenne – Hauptstadt von FranzösischGuyana; seit 1852 berüchtigte französische Strafkolonie. 19 Bouillaud – Jean Bouillaud (1796–1881), französischer Mediziner.
Biographisches und Fiktives in Zolas Roman »Die Freude am Leben« »Die Rosen von Arromanches« heißt der erste Teil eines Romans über den zweiten Weltkrieg von Armand Lanoux, »Wenn das Meer zurückweicht«. In diesem Roman schildert Lanoux den qualvollen Entwicklungsgang eines jungen Amerikaners, der 1944 mit der Befreiungsarmee an der normannischen Küste landete und seither unter dem Banne dieser Kriegserlebnisse steht. Jahre danach kehrt er als Tourist an diesen Ort des einstigen Grauens zurück, und nun erst vermag er in der
Konfrontation mit der so gänzlich veränderten Realität der französischen Alltagsgegenwart seine eigenen Kriegserlebnisse, ja das Phänomen des Krieges selbst geistigmoralischpolitisch zu bewältigen. Die Wiederbegegnung mit den einstigen »Befreiten« befreit ihn von den Schatten der Vergangenheit und gibt seinen Blick frei für die Zukunft und das Leben. Ein psychologischer Roman, der Roman eines Bewußtseinsprozesses? Lanoux ging es um mehr als nur um eine psychologische Studie, das Schicksal eines einzelnen. Krieg oder Frieden, die großen Fragen der Menschheit, ihre Zukunft standen zur Diskussion, nicht zuletzt die Zukunft des französischen Volkes selbst, dessen Schicksal so oft in der Geschichte dieser Nation auf dem Boden dieser Normandie ausgespielt worden war, auf diesem Küstenstrich zwischen Arromanches und Calais. Und die »Rosen von Arromanches« sind nicht nur Symbol des
Lebens schlechthin; Arromanches, der Schauplatz der Handlung, wird zum Kreuzwegsymbol des französischen Schicksals ... Auch Zolas Roman spielt in der Nähe von Arromanches, an dem gleichen nördlich davon gelegenen Küstenstrich; auch für das Leben seiner Menschen haben Meer und Landschaft symbolische Bedeutung, aber eine Bedeutung, die ihnen, losgelöst von dem geschichtlichen Beziehungsgefüge des gewählten Schauplatzes, allein aus der privaten Geschichte der in dem Roman agierenden Menschen zufließt. Die »privatisierte« Symbolik entspricht der »privatisierten« Darstellung in diesem Thesenroman. Der Schauplatz ist zufälliges Akzidens, nicht inhaltlich bedingtes Agens. Der vor der Niederschrift der »Freude am Leben« gerade abgeschlossene Kaufhausroman »Paradies der Damen« mußte in Paris spielen und konnte nicht in einem beliebigen Provinzstädtchen
angesiedelt werden, denn Paris war das Zentrum der sozialökonomischen Umwälzungen. Für diesen Thesenroman jedoch war die Wahl des Schauplatzes nicht vorgegeben. Ursprünglich wollte Zola ihn in irgendeinen kleinen Ort irgendwo in Frankreich verlegen. Vom Meer als Hintergrund war keine Rede, obwohl das Meer ihn seit Jahren zu beschreibender Gestaltung reizte. 1875 schon, als er sich nach Fertigstellung des Romans »Seine Exzellenz Eugène Rougon« in SaintAubin surMer erholte, fertigte er Skizzen von »jedem neuen Anblick des Meeres« an, »für eine große beschreibende Passage von ungefähr zwanzig Seiten«, die er »in einem seiner Romane unterbringen« wollte. Der Gedanke, die Handlung dieses neuen Romans an die normannische Küste nach Bonneville, dem kleinen Fischerdorf nördlich von Arromanches, zu verlegen, kam Zola erst sehr spät während des letzten Abschnitts seiner
Vorbereitungsarbeiten, die sich diesmal – allerdings mit einigen Unterbrechungen – über Jahre hinzogen. »Die Freude am Leben« gehört zu den Büchern, die weder in der, ersten Liste der »RougonMacquart« von 1868 noch in der von 1869 und auch nicht in der beträchtlich erweiterten Liste von 1872 vorgesehen waren, sondern vielmehr erst im Zuge der Gesamtausarbeitung des Zyklus aufgenommen wurden, offensichtlich mit der Absicht, das Gesamtgemälde der »Natur und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich« entweder durch die Hinzunahme neuer sozialer Phänomene zu erweitern oder durch kontrastierende »Lichteffekte« zu bereichern. Zu letzteren gehören – als »Kontrastromane« zum »Totschläger«, zur »Erde« und zu »Nana« – »Ein Blatt Liebe«, »Der Traum« und »Die Freude am Leben«. Im ersten Plan für dieses Buch, der nach den neuesten Forschungen von
Henri Mitterand auf die Mitte des Jahres 1880 datiert werden muß, heißt es ausdrücklich: »Wenn ich Pauline als Hauptfigur wähle, so kann sie das radikale Gegenteil von Nana werden, denn nach meiner Verteilung der Temperamente ist sie deren antithetisches Pendant. Wenn sich Nana allen gegeben hat, so wird Pauline sich nur einem einzigen geben ... so wird sie die ›Tugend‹ verkörpern, wie Nana das Laster verkörpert hat, als ein Produkt.« »Nana« war 1880 erschienen, die Buchveröffentlichung der »Freude am Leben« erfolgte aber erst 1884. Dazwischen wurden die entscheidenden literaturtheoretischen Sammelbände publiziert, u.a. »Der Experimentalroman« (1880), »Literarische Dokumente« und »Der Naturalismus im Theater« (1881); ferner der Novellenband »Die Abende von Médan« (1880); in der »RougonMacquart«Reihe die Romane »Ein feines Haus« (1882) und »Paradies der Damen« (1883).
Die tatsächliche Ausarbeitung des vorliegenden Romans »Die Freude am Leben« erfolgte erst zwischen Ende April und Ende November 1883, also drei Jahre nach dem Abschluß des Romans »Nana«. Am 29. November 1883 begann der Vorabdruck im »Gil Blas«. Doch schon im April 1880 hatte Zola, offensichtlich im Hinblick auf diesen Roman, Fernand Xau erklärt: »Ich möchte einen intimen Roman machen mit wenig Personen, mit einer großen Einfachheit des Stils geschrieben, in dem ich versuchen möchte, von der Beschreibung loszukommen. Es soll eine Art Reaktion gegen meine früheren Werke sein.« (Hervorhebungen R. Sch.) Was waren die Gründe für die mehr als dreijährige Verzögerung in der Ausführung dieses Plans? Die bisher zitierten Überlegungen Zolas bieten dafür keinen Anhaltspunkt. Sein Wunsch, nach
den großen historischen und sozialen Studien, nach der gewaltigen Bewegung von Menschenmassen und Sachkomplexen, von komplizierten Intrigen und endlosen Beschreibungen zur Abwechslung eine »intime«, »einfache« Geschichte zu erzählen, entspricht der Wellenbewegung seiner ganzen bisherigen Reihe, in der auf die Höhen der »livres forts« die Täler der »livres intimes« folgen. Ein Grund mehr, die Ausarbeitung des neuen Romans sofort aufzunehmen. Ebenso konnte seine Absicht, die Hauptfigur »Nana« zu kontrastieren, nur durch die unmittelbare Nachfolge dieses neuen Buches verwirklicht werden. Eigentlich gab es nur eines: zum Notizbuch zu greifen und die Dokumentation so rasch wie möglich zusammenzutragen. Aber eine Dokumentation wofür? Beschreibungen sollte es keine geben, der Stil sollte so einfach wie möglich sein und nicht mit Fachausdrücken aufgeputzt werden, die Handlung auf wenige
Personen beschränkt bleiben, die Charaktere nicht durch das Milieu determiniert erscheinen, die Hauptfigur schließlich selbst die Tugend in Person verkörpern. Schon Balzac hatte in seinem Vorwort zur »Menschlichen Komödie« festgestellt, daß sich »Engel« recht wenig zu Hauptakteuren dramatischer Handlungen eignen. Mit der Darstellung der »Tugend an sich« war kein Roman zu machen. Das Laster als Kontrapunkt? Das war ja Zolas tägliches Brot in allen seinen sozialkritischen Romanen. Also etwas anderes. Ein Buch, in dem »gute und anständige Menschen in ein Drama geraten, das die Idee der Güte und des Leids entwickelt« (Hervorhebung R. Sch.). Die Thematik war gefunden. Eine moralphilosophische Thematik. Dafür bedurfte es keiner aufwendigen Sachdokumentation, sondern menschlicher Erfahrung, des Hineinhorchens in das eigene Innere, des Nachdenkens über den Sinn des Daseins. Und
gerade das war offensichtlich auch ein Bedürfnis für den nunmehr Vierzigjährigen, der im Zenit seines Lebens stand, auf der Höhe seines Ruhms, und gerade dadurch eine kurze Zeit innerlich unsicher wurde, nervös, zerrissen. Viele Jahre später hat Zola bestätigt, daß dieser Roman »einige seiner eigenen inneren Ängste« in der Gestalt Lazares, der Verkörperung des »Leids«, wiedergebe. – Und die Frage nach der Funktion des Leids im menschlichen Dasein rückte auch sehr rasch in den Vordergrund: »Um die Größe des Buches zu sichern, muß die Idee des Leids dominieren.« (Hervorhebung R. Sch.) Die Gestalt der tugendhaften Pauline, der »AntiNana«, der Verkörperung der Güte, trat zurück; ihr Gegenspieler, der Lazare unseres Romans, gewann an Bedeutung. Die Fixierung seines Charakters erfolgte schrittweise: »Albert [der ursprüngliche Name wurde später gegen den durch die biblischen Reminiszenzen soviel symbolträchtigeren Namen ›Lazarus‹
ausgewechselt – R. Sch.] ist die Angst und das Nichts, das Jenseits, ein durch die Furcht vor dem Tode verpfuschtes Leben.« Also ein psychisch auffälliger, zerrissener Charakter. Und dieser Gedanke an den Tod, die Angst vor dem Tode kehrt in diesem ersten Plan immer wieder: »Ich werde selbstverständlich die Angst vor dem Tode beibehalten, die ständige Sorge vor dem Jenseits ... vor dem Nachher; die Angst vor dem Tode, die alles lähmt. Wozu?, da doch alles ein Ende nehmen muß, und vielleicht schon in der gleichen Stunde. Das trifft ihn in seiner Aktivität. Die Angst im Schmerz, die Revolte gegen den Schmerz.« Diese Charakterkonzeption machte Lazare für Zola zur Verkörperung des »modernen Ichs«. Zola schließt diese ersten Überlegungen damit, daß er noch einmal ausdrücklich auf die beabsichtigte Grundtendenz seines Buches hinweist: »Ich will nicht die kleinen Alltagssorgen schildern, die kleinen Gemeinheiten des Lebens ... [also keine
Erziehung à la Flaubert – R. Sch.]; ich will vielmehr einen breiten Strom des Lebens schildern, das Leiden und die Güte; und das – und darin liegt die Schwierigkeit – nicht mit meiner üblichen poetischen Manier, sondern mit einer ständigen Analyse der täglichen Fakten.« (Hervorhebung R. Sch.) Doch ein Flaubert? War der »Alte« nicht gerade dabei, seine große Abrechnung mit der menschlichen Dummheit vorzubereiten, den nicht mehr vollendeten Roman »Bouvard und Pécuchet«? Zola ging es um das Leid und die Güte. Flaubert um die menschliche Dummheit schlechthin, denn in diese hatte sich unter dem Einfluß der wachsenden Enttäuschung über die zeitgenössischen Zustände gerade auch der Dritten Republik für ihn allmählich die Dummheit des Spießbürgers verwandelt. Beide waren sich offensichtlich nicht bewußt, daß sie mit der abstrakten Fragestellung nach der menschlichen Natur schlechthin selbst in die Blickrichtung des so heftig abgelehnten
Idealismus einschwenkten und der bürgerlichen Modephilosophie des Pessimismus ihren Tribut zollten. Doch immerhin durchsuchte Flaubert noch für seinen Prozeß gegen die menschliche Dummheit die gesamte Geschichte nach tauglichen Beweisstücken. Zola zog sich diesmal anscheinend auf seine eigenen inneren Nöte und Ängste zurück. Daß er in diesem Jahr 1880 eine schwere seelische Krise durchlebte, bezeugen sowohl die Tagebuchaufzeichnungen Edmond de Goncourts wie auch die Mitteilungen seiner Freunde: die biographische Skizze von Paul Alexis, die Notizen Céards, aber auch Berichte von Journalisten wie de Amicis, die Zola interviewten. Die Unruhe Lazares, seine abergläubische Angst, die innere Zerrissenheit, die ohnmächtige Wut gegen Krankheit und Leiden, das qualvolle Gepeinigtwerden von dem Gedanken an den Tod, die Schlaflosigkeit alptraumerfüllter Nächte – das alles scheint
Zola selbst gekannt zu haben. Zumindest legen die Untersuchungen von Dr. Toulouse das nahe. Verstärkt wurde die psychische Krise des Jahres 1880 durch eine Reihe schmerzlicher Erschütterungen. Am 9. April starb sein Freund Duranty. Einen Monat danach, am 8. Mai, Flaubert. Zola hatte den »Alten« noch wenige Wochen vor seinem Tode auf einer der üblichen Pilgerfahrten zu ihm gemeinsam mit Edmond de Goncourt, Alphonse Daudet, Charpentier und Huysmans in Croisset besucht und voller Stolz das Lob Flauberts, des einzigen zeitgenössischen Schriftstellers, dessen Autorität er über sich anerkannte, für seinen letzten Roman, »Nana«, entgegengenommen. Nun mußte er den gleichen Weg nach Croisset zur Beerdigung zurücklegen. Sein Schmerz war so groß, daß er am nächsten Tag Céard gegenüber äußerte, es wäre besser, wenn sie alle gleich stürben. »Dann wäre es wenigstens rascher vorbei.« Nein, zweifelsohne, es gebe nur Traurigkeit,
und es lohne sich nicht der Mühe, daß man lebe. Kurze Zeit danach traf ihn ein dritter Schlag, der Tod seiner Mutter. Als einziges Kind hatte er immer ein sehr enges Verhältnis zu seiner Mutter gehabt. Daran änderte auch seine Ehe mit Alexandrine nichts. Madame François Zola wohnte im Hause ihres Sohnes, schrieb oft genug seine Manuskripte ab, bewunderte ihn, vergötterte ihn. Doch das Verhältnis der beiden Frauen zueinander war kein allzu gutes. Wie viele Mütter sah Frau Zola in der Schwiegertochter mehr die Nebenbuhlerin, mit der sie die Liebe des Sohnes teilen mußte, als dessen eigenes Lebensglück. Zola hatte der Mutter deshalb, sobald es ihm seine finanziellen Verhältnisse erlaubten, in Paris eine eigene Wohnung gemietet. 1880 war Madame Zola zu Verwandten nach Verdun zu Besuch gefahren. Dort wurde sie von einem schweren Herzanfall überrascht. Nur durch Aufbietung aller Willenskraft überstand sie die
beschwerliche Rückreise mit der Bahn nach Médan. Zehn Tage nach ihrer Rückkehr, am 17. Oktober, starb sie nach einem qualvollen Todeskampf, nach furchtbaren Szenen haßerfüllter Ausbrüche gegen die sie geduldig pflegende Schwiegertochter. Wie Frau Chanteau im sechsten Kapitel des Romans, das tatsachengetreu nach Zolas eigenen Erinnerungen aus diesen Tagen geschrieben ist, war auch Frau Zola in dem Wahn befangen, ihre Schwiegertochter wolle sie vergiften; und wie Lazare wußte auch Zola nichts Besseres zu tun, als in hilfloser Verzweiflung durch die Gegend zu streifen. Aber um diese Erlebnisse künstlerisch verarbeiten zu können, bedurfte es eines gewissen zeitlichen Abstands. Noch war Zola selbst viel zu unmittelbar von der gewählten Thematik des Leidens und Sterbens, der Angst vor dem Tode betroffen, als daß er sie mit der nötigen objektivierenden Distanz gestaltet aus sich herausstellen konnte. »Ich habe den Plan
zur ›Freude am Leben‹«, schreibt er an Edmond de Goncourt am 15. Dezember 1883, »vor dem des ›Paradieses der Damen‹ aufgestellt. Ich habe ihn liegenlassen, weil ich in dieses Werk viel von mir und den Meinen hineintun wollte und unter dem frischen Schlag des Verlustes meiner Mutter nicht den Mut hatte, es zu schreiben.« Statt dessen schrieb er ein anderes »düsteres« Buch, wie die Presse vermerkte, die bittere Satire auf die Scheinmoral des Pariser Bürgertums, »Ein feines Haus«. Doch schon mit dem nächsten Roman tritt eine gewandelte lebensphilosophische Grundhaltung zutage. Das »Paradies der Damen« sollte » ... die Freuden am Tätigsein und das Vergnügen am Dasein zeigen. ›Ein feines Haus‹ und die anderen genügten, um die Mittelmäßigkeiten und Niedergänge des Daseins zu zeigen. Also ein vollständiger Wechsel der Philosophie: zunächst kein Pessimismus mehr, den notwendigen Schluß nicht in der Dummheit
und Melancholie des Lebens finden, sondern in der Freude seines Werdens. In einem Wort: mit dem Jahrhundert gehen ... das Hohelied des modernen Tätigseins schreiben ...« (Hervorhebung R. Sch.) Sicher wird es schwierig sein, die Gründe im einzelnen zu ermitteln, die Zola zu diesem Perspektivenwechsel veranlaßten. Keineswegs waren es primär subjektive. Denn in gewisser Beziehung veränderte sich in dieser Etappe die gesamte künstlerische Zielsetzung für die »RougonMacquart«. Aus einer Abrechnung mit der Vergangenheit wurden sie immer stärker zu einer Abrechnung mit der Gegenwart und sollten zweifelsohne auch zugleich ein Entwurf in die Zukunft hinein werden oder ihn zumindest vorbereiten. Deshalb das stärkere Hineinnehmen neuer Themenkomplexe, die Beschäftigung mit dem Problem des Sozialismus, von dem Zola sagte, daß dies »die wichtigste Frage des kommenden Jahrhunderts« sei. Und deshalb
auch sein Bemühen, einen Beitrag zu leisten zur Lösung des sozialen Problems, zu der Frage nach den positiven Kräften, die die Gestaltung dieser neuen Gesellschaft garantieren konnten. Aber gerade an diesem Punkt stößt er an die Grenze seiner erkenntnismäßigen Möglichkeiten, seiner gesellschaftlichen Einsicht. Befangen im Positivismus Tainescher Prägung, in naturphilosophischen Gedankengängen, hat er keine andere Lösung anzubieten als seinen unerschütterlichen Glauben an die Kräfte des Lebens, seine optimistische Zuversicht in die sieghafte Kraft der Natur. Sie tritt selbst in seinem bedeutendsten gesellschaftskritischen Roman, im »Germinal«, in den Schlußkapiteln zutage. Diese naturphilosophische Grundposition bestimmt auch die veränderte Konzeption des vorliegenden Werkes. Aus dem Buch über »das Leid des Leidens« wird der Roman über »die Freude am Leben«. Die Titelwahl – Zola
hatte lange zwischen lauter negativen Titeln geschwankt: Das Tal der Tränen, Die Hoffnung auf das Nichts, Der alte Zyniker, Der düstere Tod, Die Qual des Daseins, Das Elend der Welt, Die heilige Ruhe des Nichts, Die traurige Welt – erhält programmatischen Charakter. Und erst aus diesem positiven Aufschwung heraus erfolgte wohl die Einbeziehung der Schopenhauerschen Philosophie. Er hat sie erst sehr spät, wahrscheinlich erst während der Ausarbeitung, zur Kenntnis genommen, obwohl die »Gedanken, Maximen und Fragmente« schon 1880 in französischer Übersetzung erschienen waren und Céard ihm das Buch damals bereits leihen wollte. Seine Beschäftigung damit war sichtlich sehr oberflächlich, was ihm schon von den Zeitgenossen angekreidet wurde. Aber Zola ging es eigentlich auch nicht um Schopenhauer, sondern um die Zurückweisung der ganzen modephilosophischen Richtung des
Pessimismus schlechthin, der Frankreich seit Jahren in Artikeln, Broschüren und wissenschaftlichen Abhandlungen überflutete. René Ternois hat dieses Hereinfluten des Pessimismus in seinem wohl dokumentierten Buch über »Zola und seine Zeit« im einzelnen verfolgt. Zola diente der Name Schopenhauer mehr als Firmenschild zur Kennzeichnung der ganzen Richtung. Die Vorwürfe wegen seiner oberflächlichen Behandlung der philosophischen Fragen trafen ins Leere, denn Zola wollte nach der neuen Konzeption einen »psychologischen Roman« schreiben. Damit änderte sich nicht nur die Gewichtsverteilung zwischen den Hauptpersonen – Pauline tritt wieder gleichberechtigt neben Lazare, und zwar als Zolas positive Heldin –, sondern auch die gesamte Komposition. Zwar wird das »drame«, die von Anfang an geplante Dreiergeschichte, beibehalten, aber der Roman wird wie alle bisherigen mit »Fakten« angereichert: die Szene der Niederkunft, die
technischen Details über die Buhnen, über die mögliche industrielle Nutzung der Algen, über die rechtlichen Fragen der Vormundschaft, durch deren Übernahme die Familie erst in die Lage versetzt wird, Paulines Gutwilligkeit finanziell so schamlos auszubeuten. Und nicht zuletzt kommt auch die Beschreibung wieder zu ihrem Recht, ja, man kann sagen, daß erst durch die großartigen Naturbilder, das Aufrollen des weiten Horizontes über diesem einsamen normannischen Küstenstrich, das ewig wechselnde Schauspiel des gewaltigen Ozeans, der Roman eine gewisse künstlerische Größe erhält. Denn im übrigen liegt dieser Roman niveaumäßig wohl unter dem, was sich Zola zum Ziel gesetzt hatte. Sicher sind ihm auch hier einige Gestalten gut gelungen, das Dienstmädchen Véronique in ihrer beschränkten Rechtlichkeit, der Pfarrer Horteur mit seiner resignierenden Nachsicht, der Doktor Cazenove mit seiner
welterfahrenen Skepsis. Auch das Ehepaar Chanteau wirkt echt: dieser unheilbar kranke, ewig von Schmerzen geplagte, ans Bett gefesselte und doch so aufs Leben erpichte Mann und diese enttäuschte Frau, eine Art Variante der Bovary, deren Jungmädchenträume Stück um Stück an der Enge der Verhältnisse und der Unfähigkeit ihrer Familie zerbrechen. Doch die Hauptgestalten erreichen nicht Zolas übliche Überzeugungskraft. Es war ja nicht das erste Mal, daß er »das langsame Zerbröckeln eines Wesens« untersuchte, wie er es sich nach dem endgültigen Entwurf vornahm. Er hatte in der »Beute« die Zerrüttung Renées, der Frau Saccards, studiert und in der »Eroberung von Plassans« die langsame geistige Umnachtung von Frau Marthe Mouret, den moralischen Verfall der Gervaise im »Totschläger« und die langsame Zerstörung einer Liebe in »Ein Blatt Liebe«. Aber in all diesen Romanen resultierte der Verfallsprozeß aus der Dialektik zwischen
den Charakteren und Lebensumständen, war er eine zwangsläufige, objektiv bedingte Entwicklung, nicht eine vom Autor subjektiv gesetzte These. Die Hypochondrie Lazares jedoch zieht ihn gleichsam mit dem Eigengewicht einer Spirale in ewig gleichen Windungen nach unten, ohne jegliche andere Motivation als die seiner ererbten unglücklichen Veranlagung. Vielleicht würden eingefleischte Bewunderer des Modernismus gerade in dieser Ausweglosigkeit seines Charakters die Größe dieser Figur sehen. Gemessen an Zolas sonstigen Gestalten aber, ist sie blutleer und wenig überzeugend. Und noch weniger überzeugend ist Pauline in ihrer entnervenden, fast dümmlichen Gutmütigkeit. Ihr ewiges Nachgeben, Versöhnen, Ausgleichen, Sichopfern ist eigentlich nur eine andere Spielart von Lazares pessimistischer Inaktivität, aufgeputzt mit Zolas naturphilosophischem Optimismus. In beiden Fällen haben wir es weniger mit Menschen
von Fleisch und Blut als mit Sprachrohren für Zolas naturphilosophische Grundthese zu tun, wobei der pessimistische Lazare, als die psychologisch durchgefeiltere Figur, zusätzlich auch noch Zolas optimistische Grundkonzeption selbst Lügen zu strafen scheint. Diese unaufgehobene, weil wirklich handlungsmäßig nicht vermittelte Doppelgesichtigkeit des Romans hat deshalb in der Zolakritik je nach der persönlichen philosophischen oder gesellschaftlichen Position der Kritiker zu gegensätzlichen Einschätzungen geführt. Das interessanteste Beispiel dafür ist vielleicht die gegensätzliche Meinung zweier Freunde Zolas, von Guy de Maupassant und von Paul Alexis. Guy de Maupassant schrieb in seiner Rezension des Buches in »Le Gaulois« vom 27. April 1884: »Von den bemerkenswertesten Romanen aus seiner Feder haben wenige eine
solche Größe wie die Geschichte dieser einfachen bürgerlichen Familie, deren mittelmäßige und doch fürchterliche Tragödien sich vor dem großartigen Hintergrund des Meeres abspielen, dieses Meeres, das wild ist wie das Leben und ebenso unerbittlich und unermüdlich und das langsam ein armseliges, in eine Falte der Steilküste gebautes Fischerdorf wegspült. Und über dem ganzen Buch schwebt wie ein schwarzer Vogel mit ausgebreiteten Schwingen: der Tod.« Während Maupassant, so wie ein Großteil der nachfolgenden Rezensenten und Sekundärwerke, den pessimistischen Charakter des Werkes unterstreicht, hat Paul Alexis, dessen Kritiken so oft hellsichtig den wahren Sinn von Zolas Romanen herausarbeiteten, auch hier zweifelsohne die wirkliche Absicht des Autors richtig erkannt, womit allerdings noch nicht gesagt ist, daß sich diese Absicht des Autors im Roman auch realisiert. In seiner Rezension in »Le Réveil« vom 18. Februar
1884 wies er nach, daß Zolas planmäßig strukturierte Romane stets auf das Ende wie auf einen Kulminationspunkt zustreben und daß folglich auch in der »Freude am Leben« der letzte Satz den Sinn des Ganzen erschließt. Es sind die Worte Chanteaus, dieses armen Gichtkranken, die seine Reaktion auf den sinnlosen Selbstmord des alten Hausmädchens Véronique ausdrücken: »Wie kann man so dumm sein und sich das Leben nehmen!« » ... Dieser Aufschrei Chanteaus ist der Schlüssel des Werkes. Der Autor wollte zeigen, daß das Leben trotz seines betrüblichen Einerleis und seines ständigen Scheiterns an sich etwas Gutes ist, das einzig wirklich Gute, das es überhaupt gibt. ›Die Freude am Leben‹ ist eine Zurückweisung des Pessimismus durch die Fakten selbst, eine Zurückweisung seiner unfruchtbaren Theorien und damit seine Verurteilung.« Die vertiefte Einsicht in das geistigpsychische
Klima, in dem Zola diesen Roman geschrieben hat, und in die Zusammenhänge seines gesamten Schaffensprozesses, wie sie von der neuesten Zolaforschung erschlossen worden sind, hat diese Ansicht von Paul Alexis als die wahre Absicht Zolas freigelegt und damit den engen Zusammenhang auch dieses auf den ersten Blick von Zolas üblicher Manier so weit abweichenden Buches mit der naturphilosophischen Grundhaltung seines gesamten Werkes – von den »RougonMacquart« bis hin zu den »Vier Evangelien« – dargetan. Und wenn man dem Werk heute noch einen Wert zuerkennen kann, dann liegt er in seiner Zeugniskraft für den unversieglichen Lebensoptimismus seines Autors. ebook - Erstellung Februar 2010 - TUX
Ende