WERNER BAUER
DIE FRÖHLICHEN EINSIEDLER Illustrationen von Kurt Zimmermann
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN 1961
EINBAND:...
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WERNER BAUER
DIE FRÖHLICHEN EINSIEDLER Illustrationen von Kurt Zimmermann
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN 1961
EINBAND: KURT ZIMMERMANN Alle Rechte vorbehalten
Printed in the German Democratic Republic Lizenz-Nr. 304-270/171/61-(105-IIIA) Satz und Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30 • 7. Auflage ES9D3 Für Leser von 10 Jahren an
Am 27. Mai 1961 erhielt ich folgendes Telegramm: „ankommen sonntag gegen zehn stop die fröhlichen einsiedler.“ Nanu, dachte ich, seit wann schickt der Verlag ein Telegramm, wenn er ein Buch neu auflegt? Doch dann fiel mir ein, daß vielleicht eine Pioniergruppe sich diesen kleinen Scherz erlaubt haben könnte, und ich kaufte vorsichtshalber fünf große Sandkuchen. Die standen, in Scheiben geschnitten, auf dem Tisch, als es am nächsten Vormittag Viertel vor zehn klingelte. Vor der Tür warteten zwei junge Männer, in Lederjacken und jeder einen Sturzhelm unter dem Arm. „Sprotte“, stellte der größere sich vor. „Angenehm“, antwortete ich und überlegte, wo ich den Namen bereits gehört hatte. Doch ich kam nicht darauf. Deshalb fragte ich, was sie von mir wollten. Da lachten sie beide. Ob ich alle Helden meiner Bücher so schlecht im Gedächtnis hätte, wollten sie wissen. Sprotte? Natürlich, das war doch der Rudi Kowarz, den ich seinerzeit 1952 im Pionierlager Einsiedel kennengelernt hatte. Und der andere? Das konnte nur Zwecke sein. „Da habt ihr ja was Schönes angerichtet“, sagte ich und zeigte ihnen die fünf Sandkuchen. „Bevor ihr die nicht aufgegessen habt, lasse ich euch nicht fort.“ Und während wir alle drei uns den Magen vollstopften, erfuhr ich, was inzwischen aus den beiden „Einsiedlern“ geworden ist. Auf der Baustelle des Erdölkombinats in Schwedt arbeiten sie. Zwecke hat vorher sein Abitur gemacht und will Diplomchemiker werden. Rudi ist erst seit zwei Jahren in unserer Republik. Er kam zu uns, weil er im Westzonenstaat Nato-Soldat werden sollte. Jetzt ist er Schweißer, hat seine Facharbeiterprüfung bestanden und will Ingenieur werden. Sein Vater, so erzählte
er, wäre noch drüben; aber es ginge ihm nicht gut. Arbeit hätte er seit Jahren, doch nirgends könnte er lange bleiben. Er wäre gegen die Aufrüstung, und zu Ostern hätte er mit Tausenden gegen die atomare Bewaffnung demonstriert. Seitdem steht er endgültig auf der Schwarzen Liste. „Weißt du noch, wie dein Vater damals ins Lager kam, um dich abzuholen?“ fragte ich. „Da hielt er uns für eine Art Menschenräuber.“ „Hielt er“, bestätigte Rudi, „und wenn Zwecke und die anderen nicht gewesen wären – übrigens, du schuldest mir noch eine Widmung.“ Er zog jenes kleine Buch mit dem gelben Umschlag und den lustigen Figuren darauf aus der Tasche. Ja, so war das, und dann blätterten wir in dem Büchlein, das vor Euch liegt. Zuerst fiel es uns schwer, uns in das Jahr 1972 zurückzuversetzen; doch bald wurde alles, , was wir gemeinsam erlebt hatten, wieder lebendig. Und wenn Ihr jetzt das Blatt umwendet, könnt Ihr lesen, worüber wir an jenem Sonntag bis in den Abend hinein herzhaft lachten. P.S. Den Kuchen haben wir geschafft; aber meine Frau und meine Kinder mußten mitessen. Weißenreuth, am 29. August 1952 Lieber Siegfried! Du hast lange nichts von Dir hören lassen und ich auch nicht. Deshalb will ich Dich erst einmal fragen, wie es Dir geht. Es ist doch fast drei Jahre her, daß Ihr nach Duisburg gezogen seid. Wir wohnen immer noch in Weißenreuth. Es ist aber nicht mehr schön hier. Was glaubst Du wohl, wo ich in den letzten Wochen gewesen bin? Das kannst Du Dir bestimmt nicht denken. Ich war
drüben, weißt Du, drüben im Osten, in der Deutschen Demokratischen Republik. Da war es großartig, kann ich Dir sagen. Da hätte es Dir bestimmt auch gefallen. Wie ich da hingekommen bin? Du, das war ganz komisch. Am besten, ich erzähle Dir mal alles. Ja, ich weiß, ich schreibe Dir alles auf und schicke es Dir mit. Und wenn ich heute nicht damit fertig werde, dann schreibe ich eben morgen oder übermorgen weiter und sende es Dir später. Du sollst wissen, wie es gewesen ist. Und wenn Du willst, kannst Du es auch Deinen Freunden vorlesen. Es grüßt Dich herzlich Dein alter Freund Rudi
Wie es dazu kam
Es begann eigentlich mit einem Brief. Er kam am Montag. Ich mußte gerade wieder auf die Kleinen aufpassen. Mutter hatte große Wäsche, und Vater war in die Stadt gegangen. Er geht immer montags, weil er denkt, am Anfang der Woche sind die Aussichten auf Arbeit am besten. Bis jetzt hat es aber noch nicht geklappt. Der Postbote rief mir also von der Straße aus zu, daß er einen Brief für uns habe. Ich bin gleich über die Wiese gerannt. „Otto Kowarz“, las er ab. „Das ist doch dein Vater?“ Dann hat er den Brief umgedreht und auf den Absender geguckt. „Von drüben“, meinte er und zog die Augenbrauen hoch. „Wohl ein Freund von deinem Vater?“ Dabei sah er mich neugierig an. Ich antwortete aber nicht, sondern lief schnell zurück.
Als der Vater mittags zurückkam, hat er den Brief gleich aufgemacht. Lange hielt er ihn in der Hand, bestimmt eine
Viertelstunde. Dann brummte er: „Der Walter kann gut reden, der hat seine Arbeit“, und gab den Brief der Mutter. Was drin stand, habe ich erst am Abend erfahren. Ich schlafe doch jetzt in der Küche auf der Bank, weil Luise und Reinhard das Bett brauchen, aber die Tür zur Stube ist immer offen. Vater dachte wohl, ich schlafe schon, als er mit der Mutter darüber sprach. Der Brief war von Walter Jahn. Vielleicht kannst du dich noch an ihn erinnern? Er hat in Schlesien mit Vater im gleichen Betrieb gearbeitet, und als wir kurz vor Kriegsende wegmußten, war er mit uns zusammen. Dann ist er mit seiner Frau zurückgeblieben, in Sachsen, in der Nähe von Chemnitz. Wie Vater sagt, muß es ihm dort gut gehen. Aber ich wollte von dem Brief erzählen. Walter Jahn schrieb, daß Vater mich während der Ferien zu ihm schicken sollte. Dann könnte ich mich einmal richtig satt essen und erholen. Ich habe vor Angst, der Vater könnte merken, daß ich alles hörte, nicht mehr zu atmen gewagt. Mutter war eigentlich gleich einverstanden. „Dann haben wir einen Esser weniger“, sagte sie. Der Vater brummte nur vor sich hin. „Gut wäre das schon“, sagte er schließlich. „Aber wie soll er denn hinüberkommen? Ist doch alles abgesperrt. Die lassen doch keinen rein…“ Das hatte ich auch schon gehört, von unserem Lehrer, Herrn Thiemer. Der schimpft bei jeder Gelegenheit auf die drüben. Damals kümmerte ich mich nicht weiter darum, weil Herr Thiemer doch immer schimpft. Heute ist das natürlich anders; denn jetzt weiß ich, daß vieles nicht wahr ist, was er erzählt, und das sage ich ihm auch. „Na, und wenn er hinüberkommt“, hat Vater noch gesagt, weil die Mutter meinte, daß ein Kind vielleicht doch über die Grenze käme, „wenn er hinüberkommt, dann weißt du noch nicht, was sie dort mit ihm anfangen. Ich habe nichts gegen Walter und auch nichts gegen
die da drüben. Was der Walter uns bisher geschrieben hat, klingt nicht schlecht. Aber weißt du denn, ob man das alles glauben kann? Nein, Trudel, laß den Jungen lieber hier. Haben wir ihn bisher einigermaßen satt gekriegt, wird er auch in den paar Wochen nicht verhungern. Schließlich muß es doch auch für uns einmal anders werden. Wenn ich erst Arbeit habe…“ Da sagte Mutter nichts mehr. Sie konnte ja auch nicht wissen, wie es hinter der Zonengrenze wirklich aussieht. Trotzdem muß sie noch einmal mit Vater darüber gesprochen haben; denn ein paar Tage später fragte er mich beim Mittagessen, ob ich gern für ein paar Wochen verreisen möchte. Natürlich habe ich gleich gewußt, was los war. „Ja, das wäre schon was“, meinte ich. „Vielleicht könnte ich mich da einmal richtig satt essen.“ Am liebsten hätte ich mir gleich auf den Mund geschlagen. Das mit’ dem Sattessen wollte ich doch gar nicht sagen. Mutter steckt uns Kindern ohnehin alles zu. Vater aber sah mich nur an und strich mir übers Haar. Gesagt hat er nichts mehr. Es vergingen viele Tage. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, da – es war wieder an einem Montag – kam Vater aus der Stadt und sagte: „Wenn du willst, Junge, kannst du fahren.“ Die Mutter sah ihn ganz erstaunt an. „Ja, es geht“, sagte er, und dann erzählte er mir alles, von dem Brief und daß ich zu Walter Jahn kommen sollte. Ich habe natürlich nicht verraten, daß ich es schon wußte. „Ein Bekannter fährt nächste Woche nach Dresden“, erzählte der Vater. „Wenn du willst, nimmt er dich mit.“ Da bin ich aufgesprungen und dem Vater um den Hals gefallen. Die Mutter hat geweint, aber ich glaube, es war vor Freude.
Sie ist so gut, und wenn sie manchmal schimpft, dann meint sie es nicht so. Das ist nur, weil es uns so schlecht geht und weil sie soviel Sorgen hat.
Ich fahre
Als ich drei oder vier Jahre alt war, bin ich einmal mit der Eisenbahn gefahren. Vater lag damals in einem Lazarett, und wir wollten ihn besuchen. Später kam ich nicht mehr dazu. In unserem Dorf gibt es doch keinen Bahnhof, und wir hätten auch gar kein Geld zum Reisen. Ich konnte mich also kaum noch an die Eisenbahn erinnern und war gespannt darauf, wie ich die lange Fahrt überstehen würde. Die letzten Tage wollten überhaupt nicht vergehn. Ich konnte es nicht mehr erwarten. Endlich war es soweit. Aber sosehr ich mich auch freute, der Abschied fiel mir trotzdem ein wenig schwer. Mutter weinte wieder. „Ich komme bald zurück“, tröstete ich sie. Dabei war mir selbst bange. Die Leute redeten doch so viel. Zu Reinhard sagte ich: „Mach dich nicht immer so schmutzig. Jetzt muß Mutter alles allein machen.“ Ich umarmte noch einmal alle, und dann gingen wir in die Stadt. Vaters Bekannter wartete schon auf uns. Er saß im Wartesaal und trank ein Glas Bier. „Passen Sie gut auf den Jungen auf“, bat ihn Vater, als wir schon im Zug saßen. Der Bekannte – er heißt Herr Neubert und war bei irgendeiner Firma als Vertreter angestellt – hatte das Fenster heruntergelassen, und ich konnte mich noch mit meinem Vater unterhalten. „Sag dem Walter einen schönen Gruß“, trug er mir auf. „Und mach ihm nicht so viele Umstände. Und führ dich ordentlich auf.“ Ich versprach alles, und als der Zug den Bahnhof längst verlassen hatte, winkte ich noch immer mit dem Taschentuch.
Von der Fahrt war ich eigentlich ein wenig enttäuscht. Es gab nichts Besonderes. Es war genauso, als hätte ich zu Hause einen Stuhl ans Fenster gestellt, nur daß sich hier die Landschaft immerzu veränderte. Felder flogen vorüber, ein Wald, dann ein Dorf. „Warum halten wir nicht an?“ fragte ich Herrn Neubert, als wir an einem kleinen Bahnhof vorbeifuhren. „Das ist ein Schnellzug“, antwortete er. „Der hält nur in den großen Städten.“ Ich erinnerte mich, daß ich schon einmal davon gehört hatte. Aber wenn man es dann erlebt, ist es doch etwas anderes.
Die Grenze
Endlich hielten wir. „HOF“ las ich auf einem Schild. Wir mußten aussteigen. Der Zug, mit dem wir weiterfahren wollten, stand auf einem anderen Bahnsteig. Vorher aber wurden alle kontrolliert. Herr Neubert mußte seinen Ausweis vorzeigen, und auch in den Koffer haben die Polizisten geguckt. Dann sollte ich meine Schachtel aufmachen. Da sagte Herr Neubert, daß bloß ein Hemd und ein Paar Strümpfe drin sind, und der Polizist hat mich so gehen lassen. Schließlich durften wir weiterfahren. Es ging jetzt sehr langsam, und die Lokomotive schnaufte wie der Bulle vom Reimschbauer, wenn wir ihn auf der Weide ärgerten. Es ging wohl den Berg hinauf. Als der Zug endlich wieder hielt, war ich eingeschlafen. Herr Neubert mußte mich erst wachrütteln. „Komm“, sagt er, „wir müssen aussteigen.“ Schon wieder? dachte ich. Wir konnten doch noch nicht lange gefahren sein. Aber die anderen Leute stiegen auch alle aus. „Wir sind über die Zonengrenze gefahren“, erklärte mir Herr Neubert. Da habe ich einen richtigen Schreck bekommen. Als wir in Hof kontrolliert wurden, fand ich die Sache nicht so ernst. Und nun waren wir plötzlich schon drüben. Schade, daß ich eingeschlafen war, ich hätte so gern einmal die Grenze gesehen. Als ich Herrn Neubert danach fragte, lachte er mich aus. „Da siehst du gar nichts“, meinte er, „nur Wiesen und Felder und ein bißchen Wald. Außerdem ist das ja keine richtige Grenze. Es wohnen doch überall Deutsche.“
Das verstand ich nicht. Warum werden wir dann so oft kontrolliert? dachte ich. Wenn es keine richtige Grenze ist und überall Deutsche wohnen, dann können sie uns doch einfach durchfahren lassen. Mir wurde wieder ein bißchen ängstlich zumute. Jetzt fiel mir alles ein, was ich über die „Ostzone“ gehört hatte, von den Leuten und vom Lehrer. Wenn das nun stimmte, und es kam einer und – Ich konnte gar nicht weiterdenken. Bloß gut, daß Herr Neubert hier ist, überlegte ich. Er wird schon aufpassen. Zur Vorsicht habe ich mich auch nicht groß umgesehen, sondern immer nur vor mich hin geguckt. Sonst ging alles wie in Hof vor sich. Nur die Polizisten sahen anders aus. Die hatten eine ganz andere Uniform an und machten gar keine bösen Gesichter. Der eine kam mir sogar bekannt vor. Der sah wie der Renkergustl aus, der Kleinknecht vom Reimschbauer. Aber es war natürlich nicht der Gustl. Nur einmal habe ich mich noch erschrocken. Das war in einem Zimmer. Da saß ein Mann in einer fremden Uniform, und an der Mütze trug er einen roten Stern. Es war ein sowjetischer Offizier. Er prüfte die Ausweise und drückte dann einen Stempel hinein. Mich hat er nur angesehen. „Keinen Ausweis?“ fragte er. „Dann Stempel auf die Nase!“ Am liebsten wäre ich ausgerissen. Doch plötzlich lachte der Offizier, daß man seine weißen Zähne sehen konnte. Da mußte ich auch lachen. Er tupfte mir noch mit dem Finger auf die Nase, aber ohne Farbe. Fünf Wochen später, als ich nach Hause fuhr, traf ich ihn wieder. Er saß im selben Zimmer und erkannte mich auch gleich. „Wieder Stempel auf die Nase?“ sagte er. Da hatte ich aber keine Angst mehr. Er fragte mich noch, wie es mir gefallen habe. Ich wollte ihm alles erzählen, aber die Leute hinter mir
fingen an zu schimpfen, weil es zu lange dauerte. Da gab er mir die Hand und sagte, ich sollte nur bald wiederkommen. Aber ich will nicht jetzt schon erzählen, was erst zum Schluß passierte.
Es war also alles viel einfacher, als ich gedacht hatte, und als; ich wieder auf dem Bahnsteig stand, wünschte ich, Herr Thiemer, unser Lehrer, käme. Dem hätte der Offizier ruhig einen Stempel auf die spitze Nase drücken können, weil er immer so schlecht über die sowjetischen Soldaten spricht. Wir fuhren bald weiter. In Plauen mußten wir noch einmal umsteigen. Wir hatten nur wenig Zeit und mußten uns sehr beeilen. Aber wir haben noch einen schönen Platz gekriegt.
Im Zug
Wir hatten den Bahnhof noch nicht verlassen, da hörte ich auf einmal Musik. Ich schaute gleich zum Fenster hinaus. Die Kapelle mußte ganz dicht am Zuge stehen. Doch ich sah nichts. Dafür brach die Musik plötzlich ab, und eine Frau sagte: „Guten Tag, liebe Fahrgäste! Wir wünschen Ihnen eine recht angenehme Reise!“ Erstaunt sah ich mich um. Was war das nur? In unserem Abteil saß doch gar keine Frau! Hatte ich denn geträumt? Ich muß wohl ein sehr dummes Gesicht gemacht haben; denn Herr Neubert lachte plötzlich laut heraus. „Schau mal dorthin“, sagte er und zeigte auf ein Kästchen über der Tür des Abteils. Und als ich noch immer nicht dahinterkam, fuhr er fort: „Das ist ein Lautsprecher. Viele Schnellzüge haben hier eine eigene Rundfunkanlage.“ Da hätte ich lange nach der Kapelle suchen können. Natürlich, was ein Radio war, wußte ich. Beim Kronenwirt in Weißenreuth stand eins in der Gaststube. Das hatte mir schon immer gefallen, und Vater wollte später auch wieder so einen „Kasten“ kaufen. Er mußte nur erst Arbeit haben. Und nun war so ein Radio hier im Zug. Aus dem Lautsprecher erklang wieder Musik. Von Zeit zu Zeit erzählte die Frau etwas. Manchmal sprach auch ein Mann. Einmal fuhren wir über eine große Brücke. Mir war ein bißchen unheimlich zumute, weil es so tief hinunterging. Aber das habe ich nicht merken lassen. „Wir fahren jetzt über die Göltzschtalbrücke“, erklang es aus dem Lautsprecher. „Achtzig Bogen tragen uns in einer Höhe von dreiundachtzig Metern über das fast sechshundert Meter
breite Tal der Göltzsch. 1851 wurde dieser große Bau vollendet. Seitdem verbindet die Göltzschtalbrücke den Süden mit dem Norden unseres deutschen Vaterlandes.“ Ich sah wieder zum Fenster hinaus. Tief unter uns lag eine kleine Stadt mit einem Schloß. Das war Mylau. Die Frau erzählte uns, daß in dem Schloß jetzt ein Heimatmuseum untergebracht sei. Kurz darauf hielt der Zug wieder. Wir waren in Reichenbach. Neue Fahrgäste stiegen in unser Abteil, ein Mädchen mit seinen Eltern. Die Frau führte noch einen kleinen Jungen an der Hand. Den nahm sie auf den Schoß. Das Mädchen setzte sich mir gegenüber in die Ecke. Es war ungefähr so alt wie ich und hatte ein sehr schönes Kleid an. Dieses Mädchen – es hieß Inge – war die erste Bekanntschaft auf meiner großen Reise. Anfangs beachtete ich Inge nicht weiter, ich kannte sie ja nicht. Aber dann ergab sich’s ganz von selbst. Wir sahen beide zum Fenster hinaus, ich auf der einen Seite und Inge auf der anderen. „Schau mal, wie der sich plagt!“ rief sie plötzlich und zeigte hinaus. Neben der Bahnlinie war eine Straße, und da fuhr ein Radfahrer. Er trat tüchtig in die Pedale, geradeso, als ob er mit uns um die Wette fahren wollte. Aber wir waren natürlich schneller als er. Von da an machten wir uns immer gegenseitig auf das aufmerksam, was draußen vor sich ging. Wir gerieten richtig in Eifer; denn jeder wollte der erste sein, wenn es etwas zu sehen gab. Aber dann hörten wir wieder damit auf. Es kam nämlich ein Mann in unser Abteil, der ein großes Brett mit Würstchen trug. Inges Vater kaufte gleich vier Stück und Herr Neubert zwei. Eins gab er mir. „Du hast sicher Hunger“, sagte er. In diesem Augenblick erst fiel mir ein, daß ich seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte.
Die Fahrt war also wirklich sehr schön. Aber das Beste kam erst noch. Als wir unsere Würstchen gegessen hatten, sagte Inges Vater: „Was meinst du, Mädel, wollen wir einmal in den Kulturwagen gehen?“ „O ja, fein!“ rief sie gleich, und zu mir: „Kommst du mit?“
Ich wußte nicht, was sie wollte. In den Kulturwagen? Was war denn das nun wieder? Aber Herr Neubert stand schon auf. „Natürlich“, sagte er, „das mußt du dir ansehen, Rudi. Komm nur!“ Wir gingen den langen Gang an den Abteilen entlang bis zu einer Tür. Dann schritten wir über eine kleine Brücke in den Kulturwagen. Habe ich gestaunt! Dort gab es keine Abteile mit Bänken. Nein. Der Kulturwagen war ein einziges großes Zimmer mit kleinen Tischen und Sesseln. Inge rannte gleich auf so einen Tisch zu. „Erste!“ rief sie und setzte sich. „Komm Rudi, hier liegen illustrierte Zeitungen. Die können wir ansehen.“
Dabei tat sie, als sei sie zu Hause. Ich setzte mich auch. Der Sessel war so weich, daß ich erst dachte, ich würde durchfallen. „Guck mal.“ Inge hatte sich schon eine Zeitung genommen. „Ein Preisausschreiben.“ Zuerst sah ich nur ein großes Durcheinander. Da waren viele Menschen, die schaufelten Schutt weg oder schichteten Ziegelsteine auf. Ein paar Lastautos und zwei kleine Eisenbahnen waren auch zu sehen. Aber was das alles bedeuten sollte, konnte ich mir nicht denken. „Das ist beim Aufbau in Berlin“, erklärte mir Inge. Sie wußte nämlich schon, daß ich aus dem Westen kam, weil Herr Neubert das im Abteil erzählt hatte. „Ja“, sagte ihr Vater, der sich mit Herrn Neubert zu uns gesetzt hatte. „Aber es sind eine Menge Fehler drin. Wollen wir mal versuchen, ob wir sie finden?“ „Ich hab’ schon einen!“ rief Inge. „Hier die Leute werfen ja ganze Ziegelsteine mit auf den Schutt.“ „Und der Hund, der trägt einen Ziegel in der Schnauze“, sagte ich. Dabei war ich stolz, weil ich auch gleich einen Fehler entdeckt hatte. Es dauerte nicht lange, da hatten wir über ein Dutzend Fehler gefunden. Inges Vater sagte immer: „Seht euch das mal an!“ Deshalb war es nicht mehr schwer, das Falsche zu entdecken. Ich war so begeistert, daß ich gar nicht merkte, wie die Zeit verging, und als Herr Neubert sagte: „Du bist gleich da“, bekam ich einen schönen Schreck. Ich sah durchs Fenster. Draußen flogen die Häuser nur so vorbei. „Wir kommen jetzt nach Chemnitz. Dort mußt du aussteigen.“ „Aach“, meinte Inge, „das ist aber schade.“ Mir tat es auch leid, daß ich schon aussteigen sollte. Jetzt wäre ich gern noch ein Stückchen mitgefahren.
„Steigst du auch in Chemnitz aus?“ fragte ich. Inge lachte. „Nein, wir fahren nach Dresden und dann weiter nach Bad Schandau. Vati hat doch Urlaub.“ Ihr Vater hat also Urlaub, dachte ich, und da fahren sie alle in ein Bad. „Das kostet wohl viel Geld?“ fragte ich. Da lachten sie. „Viel Geld?“ sagte Inges Vater. „Nein. Wir fahren doch in ein Gewerkschaftsheim. Das kostet nicht viel mehr, als wir zu Hause auch brauchen. Dort kann jeder hinfahren. Die Heime sind doch für uns Arbeiter da.“ Mir war das unbegreiflich. Ich hatte geglaubt, Inges Vater sei ein Kaufmann oder sogar ein Fabrikant. Und nun war er ein Arbeiter! Auch das mit den Heimen verstand ich nicht. Wieso konnte da jeder hinfahren? „Und mein Vater – ich meine – kann der auch dorthin?“ Der Mann sah mich ernst an. „Sicher könnte er in so ein Heim fahren“, sagte er dann. „Bestimmt! Und du könntest auch mit. Wenn diese verfluchte Grenze erst einmal weg ist…“ „Aber mein Vater ist doch arbeitslos“, wandte ich ein. „Und wir haben kein Geld.“ „Wie soll ich dir das erklären?“ meinte er. „Bei uns gibt es keine Arbeitslosen. Wir haben alle Arbeit, und deshalb können wir auch in ein Ferienheim fahren. Gerade deshalb, weil wir Arbeiter sind.“ Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Das hörte sich alles so an, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, daß alle Arbeit hätten. Ich sah wieder zum Fenster hinaus. Prüben, zwischen den Häusern, fuhr eine Straßenbahn. Oft kamen die Häuser auch dicht an die Bahnlinie heran. Das waren meistens große Fabrikhallen. Viele davon waren zerstört. Aber auch neue standen da, ganz neue, an denen noch gebaut wurde.
Bei Jahns
Der Zug fuhr immer langsamer, und als er endlich hielt, stiegen wir aus. Es war ein großer Bahnhof, viele Leute liefen hin und her. Herr Neubert fragte nach dem Fahrdienstleiter. „Dort wartet Herr Jahn auf dich“, sagte er zu mir. Und wirklich. Als wir in das kleine Zimmer traten, saß dort ein Mann, der mir gleich bekannt vorkam. Es war Herr Jahn oder Onkel Walter, wie ich ihn nannte. „Sieh mal einer an“, sagte er, als ich noch ganz benommen vor ihm stand, und faßte mich bei den Armen. „Das ist also der Kleine vom Otto? Mächtig gewachsen bist du inzwischen. Damals konntest du kaum auf den Tisch gucken.“ Das war natürlich übertrieben. Ich wußte genau, daß ich der Mutter immer beim Abtrocknen geholfen hatte. „Bloß ein bißchen spitz siehst du aus“, meinte er noch, „und so blaß. Aber laß mal. In ein paar Wochen hat sich das geändert.“ Wir konnten gleich weiterfahren. Unser Zug stand schon da, und Herr Neubert verabschiedete sich. Ich trug ihm noch einen Gruß an den Vater und die Mutter auf, weil er doch sicher früher als ich nach Hause kommen würde. Der Zug, mit dem wir jetzt fuhren, war sehr voll. Aber wir hatten es nicht mehr weit. Fünf oder sechs Stationen waren es, dann stiegen wir wieder aus. Tante Herta – das ist Onkel Walters Frau – wartete schon auf uns. Sie stand neben dem Häuschen, wo die Fahrkarten abgegeben werden. Mich hat sie gleich in die Arme genommen. Außer Mutter hat das noch niemand getan.
Onkel Walter trug mein Päckchen, und Tante Herta hängte sich bei mir ein, das sah bestimmt ulkig aus. Ich bin doch viel kleiner als sie. Der Weg zu Onkel Walters Haus kam mir sehr lang vor. Wir mußten immer bergauf gehen. Rechts und links von der Straße stieg das Land noch mehr an, und viele Bauernhöfe waren zu sehen. Dazwischen gab es auch ganz kleine Häuser – wie das in dem Märchen vom Waldhaus. Von dem habe ich nämlich ein Bild. Vor so einem Haus blieben wir endlich stehen. Es war bis zum Dach mit Efeu bewachsen, nur die Fenster guckten heraus. „So, da wären wir“, sagte Onkel Walter. „Das ist aber fein.“ Ich mußte an unsere Baracke denken. Hier hätte es Vater und Mutter bestimmt auch gefallen. Drinnen war es noch viel schöner. In der Küche standen weiße Möbel und in einem Zimmer ein Sofa und zwei Sessel. Die waren genauso weich wie die im Zug. Der Tisch war auch schon gedeckt. Sogar Blumen standen darauf und für mich eine Flasche Limonade. „Jetzt hast du bestimmt großen Hunger“, sagte Tante Herta, als ich mich gewaschen hatte. Es gab Brötchen und verschiedene Sorten Wurst, die ich noch nicht kannte. „Greif nur tüchtig zu.“ Ich habe mich nicht lange bitten lassen. Dann bin ich schlafen gegangen. Ich war so müde von der langen Fahrt. Eine ganze Kammer hatte ich für mich allein und auch ein Bett. Das war genauso weiß wie die Möbel in der Küche.
In Dittersdorf
Dittersdorf heißt der Ort, in dem Onkel Walter und Tante Herta wohnen. Er liegt in einem schmalen Tal und streckt sich so lang, daß man eine ganze Stunde laufen muß, um von dem einen zum anderen Ende zu kommen. Es gefiel mir vom ersten Tag an recht gut. Morgens konnte ich schlafen, bis die Sonne in mein Gesicht schien, aber auch dann brauchte ich noch nicht aufzustehen. Ich konnte vor mich hin träumen, solange ich wollte. Vormittags ging ich oft mit der Tante einkaufen. Ich nahm ihr immer das Netz mit dem Gemüse ab. Sonst spielte ich im Garten hinter dem Haus. Onkel Walter war meistens schon weg, wenn ich aufstand. Er arbeitete in Chemnitz in einer großen Fabrik. Manchmal fuhr er morgens mit dem Zug hin, manchmal nahm er auch sein Motorrad, eine ganz neue Maschine mit Fußschaltung. Er wollte mich auch einmal mitnehmen, das hat er mir gleich am ersten Tag versprochen, aber es klappte erst viel später. Ich hatte alles, was ich wollte, nur Freunde fehlten mir. In Weißenreuth sind wir eine ganze Meute, und wenn uns die Dorfkinder auch nicht leiden können, weil wir „Zugewanderte“ sind, so haben wir doch wenigstens miteinander hinter den Baracken gespielt. Das fehlte mir jetzt. Zuerst habe ich es nicht gemerkt. Da war alles noch neu für mich. Aber dann hätte ich gern mit jemandem gespielt. Es war bloß keiner da. Im ganzen Dorf schien es keine Kinder zu geben. Nur ganz selten sah ich einen Jungen oder ein Mädchen über die Straße laufen. Schließlich fragte ich Tante Herta. „Freilich gibt es bei uns Kinder“, sagte sie, „sehr viele sogar. Aber sie sind jetzt
unterwegs.“ Und dann erzählte sie mir, daß während der Sommerferien fast alle Kinder mit ihren Lehrern fortfahren, um unsere schöne Heimat kennenzulernen. Da mußte ich gleich wieder an das Mädchen im Zug denken. Doch habe ich trotzdem noch einen Freund gefunden. Er heißt Willi, ist drei oder vier Jahre älter als ich und arbeitete bei dem Bauern, dessen Hof gleich hinter unserm Hause liegt. Der Willi wurde mein Freund. Ein paarmal fuhren wir zusammen aufs Feld. Einmal ließ er mich sogar die Zügel halten. Da war ich mächtig stolz. Dann nahm er mich auch mit auf den Hof. Zuerst wollte ich nicht mitgehen; denn zu Hause, beim Reimschbauern, darf ich mich nie blicken lassen. Der droht mir immer mit der Faust oder mit einem Knüppel und schreit: „Scher dich fort!“ Nur zum Kartoffelbuddeln holt er mich. Dafür bekomme ich dann immer eine Tasche voll Kartoffeln oder auch zwei als Lohn. Der Bauer, bei dem Willi arbeitet, war ganz anders. Geschimpft hat er auch manchmal. Aber zu mir war er immer nett. „So, so, von drüben bist du“, hat er gesagt, als er mich zum erstenmal sah. „So, so! Na, dann willst du wohl bei mir helfen?“ Ich wollte schon ja sagen, weil ich dachte, er meinte es ernst. Aber er hat nur den Kopf geschüttelt. „Nein, nein! Das ist nichts für Kinder. Du mußt erst einmal wachsen und was lernen. Ja, und außerdem hast du doch Ferien.“ Und vom Hof gewiesen hat er mich auch nicht. Seitdem war ich mit Willi sehr oft zusammen. Er wußte immer etwas Neues. Einmal fragte er mich: „Kennst du unseren Hahn?“ Ich schüttelte den Kopf. „Dann mußt du ihn dir mal ansehen. Komm, ich zeig ihn dir.“ Wir gingen hinter den Stall. Dort stand der Hahn mitten unter seinen Hühnern und pickte im Mist herum.
„Schau ihn dir genau an“, sagte Willi. „So einen Hahn wirst du nämlich auf der ganzen Welt nicht wieder sehen.“ Ich habe mir den Hahn von allen Seiten angeguckt, aber etwas Besonderes konnte ich nicht an ihm finden. Das habe ich auch dem Willi gesagt. „Ja, weißt du“, flüsterte er geheimnisvoll, „unser Hahn weckt jeden Morgen den ganzen Hof.“ „Das machen andere Hähne auch!“ „Na, ja! Aber bei unserem ist das doch etwas anderes. Wenn du ihm zum Beispiel abends sagst, er solle zehn Minuten vor fünf krähen, dann tut er das auf die Minute genau.“ So etwas hatte ich wirklich noch nie gehört. Ich wußte nur, daß alle Hähne morgens schon sehr zeitig krähen. „Wie macht er denn das?“ fragte ich neugierig. „Wie er das macht?“ Willi ist ganz ernst geblieben. „Das ist so. Vor ein paar Jahren war einmal ein feines Fräulein aus der Stadt hier, und die hat ihre Armbanduhr auf dem Hof verloren. Der Hahn hat sie gefunden und verschluckt, und seitdem weiß er immer, wie spät es ist.“ Da haben wir beide so gelacht, daß die Hühner ganz erschrocken davongelaufen sind. Willi aber hat sich gefreut, weil er mich reingelegt hatte. Ein anderes Mal – wir waren aufs Feld gefahren, und Willi sollte die Kartoffelbeete nachackern – sagte er plötzlich: „Ei, verflixt! Jetzt habe ich doch den Furchenwinkel vergessen! Schnell, lauf zurück ins Dorf und hol ihn. Sonst kann ich hier nichts anfangen.“ Ich hatte zwar noch nie gehört, daß man zum Ackern einen besonderen Winkel braucht, aber weil Willi sich so ratlos hinterm Ohr kraulte, bin ich schließlich gegangen. Auf dem Hof traf ich den Bauern. „Ich soll den Furchenwinkel holen. Willi hat ihn vergessen.“ „Den Furchenwinkel? Hm.“ Der Bauer schmunzelte vor sich hin. Da merkte ich, daß etwas nicht stimmte. „Den
Furchenwinkel? Ja, wenn ich nur wüßte, wo der ist. Ach, weißt du, sag dem Willi, er soll heute mal so ackern. Und du, Junge, laß dich von ihm nicht immer verkohlen!“ Als ich wieder zum Tor hinaus wollte, rief er mich zurück. „Sag dem Willi, er soll heute mittag den großen Stein, der oben am Feldrain liegt, mitbringen.“ „Was denn für einen Stein?“ fragte mich Willi, als ich ihm das ausrichtete. „Den ganz großen? Wozu wird denn der gebraucht?“ Das wußte ich auch nicht. Als es Mittag war, habe ich Willi aber noch einmal daran erinnert. „So ein Quatsch!“ knurrte er. „Den bring ich doch allein gar nicht auf den Wagen.“ Er schaffte es aber doch. Dabei bekam er einen ganz roten Kopf, und der Schweiß ist ihm nur so übers Gesicht gelaufen. Der Bauer wartete schon auf uns. „Hast du den Stein?“ fragte er gleich. „Dann leg ihn dort vors Scheunentor.“
Das hat Willi auch getan. Und geschwitzt hat er wieder! Der Stein wog bestimmt einen halben Zentner. „Und solltest du wieder mal den Furchenwinkel vergessen, dann hol ihn dir gefälligst selber“, sagte der Bauer noch zu
ihm. „Den Stein, ja, den kannst du übrigens wieder mit hinausnehmen. Hier liegt er doch bloß rum.“ Da hat Willi gemerkt, daß er selbst reingefallen war. „Au verflucht!“ brummte er. „Daß mir so was passieren muß!“ Aber dann lachte er wieder. Ja, so ist Willi. Den ganzen Tag hat er nichts als Unsinn im Kopf. Aber arbeiten konnte er tüchtig. Das sagte auch der Bauer. Oft waren wir den ganzen Tag draußen auf den Feldern. Ich half Willi bei der Arbeit, und wenn er mich nicht brauchen konnte, legte ich mich ins Gras und sah ihm zu. Manchmal setzte er mich auch auf die Liese. Da hat mir aber mein Hinterteil wehgetan. Ich war das Reiten doch nicht gewöhnt. Einmal, als wir wieder draußen waren, sah ich drüben am anderen Berghang einen Traktor über die Felder fahren. Das Tuckern des Motors klang bis zu uns herüber. In Weißenreuth gibt es auch zwei Traktoren. Der eine gehört ins Rittergut und der andere dem Wiesnerbauern. Das ist der reichste Bauer im Dorf. „Hat dein Bauer auch so einen Traktor?“ fragte ich Willi. „Nein, wir haben bloß siebzehn Hektar Land. Da lohnt es sich nicht.“ Und nach einer Weile sagte er: „Wozu sollten wir uns auch einen Traktor anschaffen? Wir haben doch die MTS.“ „Was ist denn das, die Emm-te-es?“ fragte ich. Willi sah mich von der Seite an. „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen? Das weiß doch jedes Kind.“ Ich wußte es aber wirklich nicht. Woher denn? Ich hatte dieses komische Wort noch nie gehört. Aber fragen kostet nichts, dachte ich. „Das ist eine Abkürzung und heißt Maschinen-TraktorenStation“, erklärte mir Willi. „M-T-S, verstehst du?“
„Und dort kann man sich einen Traktor borgen?“ fragte ich weiter. Ich wollte einen Scherz machen. Aber Willi hat es ernst genommen. „Natürlich“, sagte er, „und einen Traktoristen gleich dazu.“ Dann hat er mir noch mehr von der MTS erzählt, es gibt dort viele Traktoren, und jeder Bauer kann einen oder auch zwei für die Arbeit bestellen. „Das gefällt mir“, meinte ich, als Willi fertig war. „Da braucht ihr doch gar nicht mehr zu arbeiten!“ Willi lachte nur.
„Na, so einfach ist es nun wieder nicht. Für uns bleibt noch genug Arbeit übrig. Aber so ein Traktor ist eine feine Sache. Warte mal ab, in acht oder vierzehn Tagen, wenn die Getreideernte anfängt, ziehen sie über die Felder, daß es nur so ein Spaß ist. Und beim Ackern erst! Da hängen sie einen Pflug an, der hat vier Pflugschare. Junge, Junge! Das müßtest du mal sehen. Da werden unsere Gäule ganz grau vor Neid. Stimmt’s Liese?“ Liese nickte gleich, als habe sie alles genau verstanden.
„Ist ein kluges Tier, unsere Liese“, sagte Willi. „Wohl fast so wie euer Hahn?“ fragte ich schnell und kniff dabei das linke Auge zu. Da lachte Willi und meinte: „Ja, fast so klug wie unser Hahn.“
Neue Freunde
Als ich ungefähr eine Woche in Dittersdorf war, fragte mich Tante Herta, ob ich gern Himbeeren äße. Sie wollte am Nachmittag in den Wald gehen, um welche zu suchen. Ich bin natürlich mitgegangen. Es war nicht weit. Nur ein Stück den Berg hinauf, dort fing schon der Wald an. Und Himbeeren gab es! Soviel hatte ich noch nie gesehen. Es dauerte nicht lange, da hatte ich meinen Topf voll. „Du bist aber ein fleißiger Junge“, lobte mich Tante Herta. Dabei hatte sie mir einen ganz kleinen Topf gegeben. „Jetzt mußt du in den Mund pflücken, bis ich auch fertig bin.“ Darüber war ich nicht böse. Himbeeren schmecken wirklich gut. In Weißenreuth gibt es zwar auch welche, aber ich muß immer recht viel nach Hause bringen – zum Verkaufen. Ich pflückte also fleißig weiter, immer in den Mund hinein. Und erst als ich nicht mehr konnte, hörte ich auf. Dann setzte ich mich ins Gras und blickte durch die Lichtung ins Tal. Wie ein langer Wurm sah das Dorf dort unten aus. Auch das Haus von Tante Herta und Onkel Walter konnte ich erkennen. Es liegt ungefähr in der Mitte. Hinter dem Dorf aber kamen immer neue Berge, bis an den Horizont. Da sah ich auf einmal, wie ein großer Vogel auf mich zukam. Er flog nicht hoch und sah ganz weiß aus. Aber es war kein Vogel, sondern ein kleines Flugzeug. Still, ohne daß ich etwas hörte, flog es über mich hinweg, direkt in den Wald hinein.
Ich sprang auf. Drüben in einer großen Fichte sah ich es noch einmal weiß aufleuchten. Schnell lief ich hinterher, um es mir aus der Nähe anzusehen. Aber ich hatte Pech. Das Flugzeug hing an einem Ast fest, kaum drei Meter über mir. Zuerst wollte ich hinaufklettern. Aber das ging nicht, der Stamm war zu glatt. Da suchte ich mir ein paar große Steine. „Mach es bloß, nicht kaputt“, hörte ich plötzlich eine Stimme rufen. Erschrocken drehte ich mich um und sah, wie hinter mir zwei Jungen durch das Gebüsch brachen. „Das hat schon Löcher genug“, sagte der eine, der andere aber legte die Hände an den Mund und rief: „Hallo! Wir haben es! Wir haben es!“ Gleich darauf kamen noch mehr Jungen angerannt. Auch zwei Mädchen und ein Erwachsener waren dabei. Das ist sicher ihr Lehrer, dachte ich.
„Da haben wir aber noch einmal großes Glück gehabt“, sagte, der Lehrer, als er das Flugzeug hängen sah. „Komm, Bernd, steig auf meine Schultern, dann kannst du es erreichen.“ Der Junge, der mich zuerst angesprochen hatte, stieg dem Lehrer auf die Schultern. „Zwecke, fall bloß nicht runter!“ riefen die anderen. Es sah aber auch wirklich gefährlich aus. „Halt dich am Ast fest!“ Aber er hatte das Flugzeug schon gefaßt. Vergnügt sprang er herunter. „Das war wirklich Glück“, meinte der Lehrer, als er sich das Flugzeug genau angesehen hatte. „Nur an der einen Stelle ist das Papier ein wenig eingerissen.“ „Siehst du, so macht man das“, sagte der Junge, den sie Zwecke nannten, zu mir. „Und nicht mit Steinen.“ „Allein wärst du auch nicht hinaufgekommen“, gab ich ihm zur Antwort. „Nun streitet euch nicht gleich“, mischte sich der Lehrer ein, und mich fragte er: „Du bist wohl aus dem Dorf?“ Ich wußte nicht gleich, was ich darauf sagen sollte. „Ja – oder eigentlich nein. Ich bin nur zu Besuch hier. Tante Herta ist dort drüben und pflückt Himbeeren.“ „Und du hast wohl bloß welche gegessen“, sagte Zwecke frech. „Bernd!“ ermahnte ihn der Lehrer. „Na, er hat doch so einen roten Ring unter der Nase“, verteidigte sich Zwecke. Ich fuhr mir unwillkürlich über den Mund. „Wo bist du denn her?“ fragte mich der Lehrer. Ich zögerte. Sollte ich es jedem sagen, daß ich von drüben bin? Jetzt erst sah ich, daß einige ein blaues Tuch um den Hals trugen. „Ihr seid wohl Pioniere?“ fragte ich schnell. Von denen hatte mir Tante Herta erzählt. Aber ich konnte mir nichts
darunter vorstellen. „Na, du bist vielleicht ulkig“, meinte ein Mädchen. „Du tust geradeso, als hättest du noch nie gehört, daß es Pioniere gibt. Woher kommst du denn?“ Nun mußte ich die Wahrheit sagen. „Was denn? Du bist aus dem Westen?“ Sie fielen gleich alle über mich her. „Und das sagst du erst jetzt! Wie bist du rübergekommen? Haben die drüben dich so einfach zu uns gelassen?“ Jeder hatte eine andere Frage. Ich wußte nicht, welche ich zuerst beantworten sollte. „Wo seid ihr denn her?“ fragte ich. „Wir? Aus dem Lager!“ Das war, als habe mir jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Aus dem Lager? Herr Thiemer hatte einmal erzählt, daß es hier Lager gebe. „Da kommen alle die hin“, sagte er, „die gegen die Regierung sind.“ Aber daß sie sogar Kinder in ein Lager bringen, das hatte ich noch nicht gemußt. „Aus dem Lager?“ habe ich noch einmal gefragt. Vielleicht hatte ich sie nur falsch verstanden. „Ja, aus dem Lager. Drüben, auf der anderen Seite des Berges liegt es, unser Pionierlager.“ „Und – und – da könnt ihr so frei herumlaufen?“ Jetzt machten die anderen erstaunte Gesichter. „Du bist vielleicht einer“, meinte Zwecke. „Wir sind doch keine Affen hinter Gittern wie im Zoo.“ Und ein anderer sagte: „Wir sind in einem Ferienlager, wir erholen uns von der Schularbeit.“ Ich mußte wieder an das Mädchen im Zug denken. Hier sprachen alle nur vom Erholen. Ich hatte mich wohl ganz schön blamiert mit meinen dummen Fragen. Was mögen sie jetzt bloß von mir denken? ging es mir durch den Kopf. Zu dumm. Immer wenn ich glaubte, ich wüßte
etwas, war es falsch. Warum hatte uns Herr Thiemer nur den Bären mit den Lagern aufgebunden! Nach dem werde ich mich nicht mehr sosehr richten, dachte ich. Ich werde lieber die Augen aufmachen. Trotzdem war ich nun ziemlich durcheinander. Da mischte sich zum Glück der Lehrer wieder ein. „Nun laßt mal“, sagte er. „Unser Freund kann doch nicht wissen, wie es in einem Pionierlager aussieht. Ihr müßt ihm das erst einmal erzählen.“ „Du solltest uns besuchen“, schlug das Mädchen vor. „Wenn wir dir jetzt alles erzählen wollten, würden wir bis übermorgen nicht fertig.“ „Traudel hat recht“, meinten auch die anderen. „Komm doch mit, dann zeigen wir dir alles.“ Ich wäre natürlich am liebsten ‘gleich mitgegangen. Angst hatte ich wirklich nicht mehr, und ich wollte so ein Lager auch gern einmal sehen. Aber was würde Tante Herta dazu sagen? „Die hat bestimmt nichts dagegen“, beruhigte mich Traudel. „Kommt, wir fragen sie!“ Tante Herta hatte wirklich nichts dagegen. „Aber warum denn nicht?“ sagte sie. „Wenn ihr den Rudi mitnehmen wollt? Aber zum Abendessen muß er zurück sein.“ „Essen kann er auch bei uns“, fiel Zwecke ein. „Wir haben genug.“ „Nein“, meinte Traudel, „das geht nicht. Wenn Rudi zum Abendessen wieder bei seinen Verwandten sein soll, kannst du nicht etwas anderes sagen. Aber wir werden dich zurückbringen, Rudi, damit du dich nicht verläufst.“ Damit waren alle einverstanden, am meisten ich. „Also los, dann gehen wir“, drängte Zwecke. Sie nahmen mich in die Mitte, und wir gingen zum Pionierlager.
Im Pionierlager
Mit Bernd Römer, den sie Zwecke nannten, habe ich mich gleich angefreundet. Er war ein ganzes Stück kleiner als ich und die anderen. Daher hatte er wohl auch seinen Namen. Auf dem Weg zum Lager gingen wir nebeneinander. Er erzählte mir viel von ihrem Ferienleben. Aber weil auch die anderen immer auf mich einredeten, verstand ich fast nichts. Es war alles noch so neu, was ich hörte, und dann war ich doch auch gespannt auf das Lager. Der Weg führte zuerst den Berg hinauf und dann auf der anderen Seite wieder hinunter. „Paß auf, jetzt sind wir gleich da“, sagte Zwecke, als wir oben waren. Ich konnte aber noch gar nichts sehen, weil ringsum nur hoher Wald war. Traudel zupfte mich am Ärmel. „Dort unten, siehst du! Dort!“ Sie zeigte den Weg hinab. „Das ist unser Lager.“ Da sah ich es auch. Wo der Wald aufhörte, flatterten viele Fahnen, blaue und rote und welche mit verschiedenen Farben. Je näher wir kamen, um so mehr wurden es. Ich glaube, es waren mindestens fünfzig. Dazwischen standen die Zelte. Das waren noch mehr. Sie sahen weiß aus, eins stand neben dem anderen. Und groß waren sie! Fast wie ein richtiges Haus, und sie hatten sogar Fenster. Zwischen den Zelten war ein großer freier Fleck. Das war der Sportplatz. Und mitten durch das Lager ging eine Straße. Die war bestimmt dreihundert Meter lang. Wer in das Lager hinein wollte, mußte durch ein großes Tor gehen. Da
standen drei Pioniere, die Wache. Sie fragten jeden nach seinem Namen und schrieben den in ein großes Buch ein. Zwecke hat mir alles gezeigt. Zuerst sind wir in sein Zelt gegangen. Das befand sich gleich am Anfang des Lagers. „Hier wohne ich“, erklärte er, „und dort hinten ist mein Platz.“ In den Zelten standen rechts und links so eine Art Betten. Das waren niedrige Holzpritschen mit Strohsäcken. „Probier mal“, forderte mich Zwecke auf, „da schläfst du wie ein Murmeltier.“ Ich setzte mich. Es war wirklich schön weich, fast wie ein richtiges Bett. Zu den anderen Jungen, die noch im Zelt waren, sagte Zwecke: „Das ist Rudi. Den haben wir unterwegs getroffen. Er ist von drüben, aus Westdeutschland.“ Da haben sich die Jungen gleich um mich herumgesetzt, und ich sollte erzählen, aber Zwecke wehrte ab: „Wir haben nicht soviel Zeit.“ Dabei tat er sehr wichtig. „Ich muß doch dem Rudi noch das Lager zeigen.“ „Bleibst du hier?“ fragte mich ein Junge. „Nein“, antwortete ich. „Ich muß zum Abendessen wieder bei Tante Herta sein.“ Dann gingen wir weiter. „Wir haben hier drei Teillager“, erklärte Zwecke. „In dem einen wohnen nur Jungen. Das ist unser Lager. Im zweiten sind nur Mädchen und im dritten Jungen und Mädchen.“ „Dann sind wohl hundert Kinder hier?“ fragte ich. Das kam mir sehr viel vor, denn in Weißenreuth gibt es nicht einmal siebzig. „Wenn du noch eine Null anhängst, dann kann es stimmen.“ Mir blieb vor Staunen beinahe der Mund offenstehen. Tausend Kinder? Wer sollte denn auf die aufpassen? Wir sind achtunddreißig in unserer Klasse, und Herr Thiemer sagt immer, mit uns sei kein Fertigwerden.
Und hier waren tausend! Aber auch darauf wußte Zwecke gleich eine Antwort. „Aufpasser brauchen wir hier nicht“, sagte er. „Wir halten selber Ordnung. Aber allein sind wir trotzdem nicht. Jede Zeltgruppe hat einen Pionierleiter. Der ist den ganzen Tag mit uns zusammen und hilft uns.“ Jetzt wußte ich Bescheid. „Der Mann, der vorhin mit euch zusammen war, ist also euer Pionierleiter?“ „Nein, das war Hans, unser AG-Leiter.“
„Was für ein AG-Leiter?“ fragte ich. Woher sollte ich auch wissen, was das ist: ein AG-Leiter. Zwecke griff sich an den Kopf. „Ach du Schreck“, stöhnte er. „Wie soll ich dir das bloß klarmachen? Wir haben doch eine Arbeitsgemeinschaft für Segelflugmodellbau. Und die leitet Hans. Es gibt bei uns auch noch andere Arbeitsgemeinschaften: Elektrotechnik, Zeichnen, und wie sie alle heißen. Die leitet immer ein anderer.“ Ich war aber noch bei dem ersten. „Dann ist Hans also gar kein Lehrer?“ fragte ich. Zwecke sah mich erstaunt an.
„Wieso? Freilich, sonst ist er schon einer. Nur hier im Lager nicht. Da leitet er die Arbeitsgemeinschaft.“ Wir kamen zu einer großen Baracke. „Hier ist unsere Lagerleitung drin und der Verwalter. Und da…“ Er öffnete eine Tür. „Das ist unser Klubraum.“ Der Raum war bestimmt zehnmal größer als unsere Küche. Und lauter Sessel standen darin, ähnliche wie bei Onkel Walter. „Hier spielen wir Schach oder lesen Bücher“, sagte Zwecke. „Kannst du Schach spielen?“ Ich konnte es nicht. „Macht nichts. Das lernst du noch.“ Wir gingen weiter. In einer anderen Baracke waren die Waschräume. Sechsundachtzig Hähne habe ich gezählt. Auch zwanzig Brausen waren da. „Das ist nur für uns Jungen“, erklärte mir Zwecke. „Die für die Mädchen sind weiter hinten.“ In einer dritten Baracke war die Küche untergebracht Das sah ich gleich an den vielen Kesseln. „So und jetzt gehen wir noch einmal zum Hans“, meinte Zwecke schließlich und führte mich in eine vierte Baracke. In einem kleinen Zimmer fanden wir den Mann, den ich für einen Lehrer gehalten hatte und der ja sonst auch einer war. Er baute an einem Gerippe aus Holz herum. „Du, Hans, zeigst du dem Rudi mal dein neues Modell?“ fragte Zwecke. Ein neues Rätsel! Wenn Hans ein Lehrer war, warum sagte Zwecke dann du zu ihm? Unter uns nannten wir Herrn Thiemer ja auch nur Alfons. Aber das durfte er nicht hören, sonst gab es Ohrfeigen oder Hiebe mit dem Stock. Als wir wieder draußen waren, fragte ich Zwecke: „Sagt ihr immer du zu euren Lehrern?“
Er schüttelte den Kopf. „Auf was für Ideen du bloß immer kommst“, sagte er. „Das geht nun doch nicht. In der Schule sagen wir Sie und Herr Schulze oder Herr Meier. Ordnung muß schließlich sein. Aber hier im Lager ist das anders. Da sind wir alle wie eine große Familie, und Hans ist unser Freund.“ Das konnte ich von unserem Lehrer nicht behaupten. Ich mußte lachen, wenn ich daran dachte. Herr Thiemer in seinen engen Hosen und dem Stehkragen, den alle „Vatermörder“ nannten! Und wie er immer hinter dem Pult stand, die eine Hand auf dem Rücken und in der anderen ein Lineal oder einen Stock! Nein, der würde wohl nie mein Freund werden. Aber einer wie Hans? Ich wußte auch nicht, warum ich das dachte. Aber Hans war eben ganz anders als Alfons, und bei so einem Lehrer ging man vielleicht sogar gern in die Schule. Vor ein paar Jahren hatten wir übrigens einen anderen Lehrer. Der war nicht so schlecht wie Alfons. Geschlagen hat er uns nie, und auch geschimpft hat er nicht so viel. Nur mit Alfons hatte er immer Krach. Alle Leute aus dem Dorf wußten es. Sie sagten, er sei ein „Roter“, und deshalb mußte er wohl auch weg. Zum Schluß gingen wir dann noch einmal durch die Zeltreihen. Dabei trafen wir Traudel wieder. „Na, wie gefällt dir unser Pionierlager?“ fragte sie mich. Was sollte ich sagen? Wem es hier nicht gefiel, der konnte von mir aus gleich auf den Mond ziehen und dem Mann im Mond die Stiefel wichsen.
Am Abend
Als ich wieder bei Onkel Walter und Tante Herta in Dittersdorf war, kam ich mir richtig einsam vor. Wie schön wäre es, wenn ich bei Zwecke und den anderen sein könnte, dachte ich. Aber gesagt habe ich nichts. Jahns gaben sich doch soviel Mühe, um mir das Leben recht schön zu machen. Natürlich mußte ich erzählen, wie es war und was ich gesehen hatte. Das ist mir auch nicht schwergefallen. Als ich fertig war, lachte der Onkel und sagte zu seiner Frau: „Jetzt schau dir mal den Jungen an, Herta! Richtig rote Backen hat er vor lauter Aufregung.“ Mir war wirklich heiß. Zuerst glaubte ich nämlich, Onkel Walter würde schimpfen, weil ich mit den fremden Kindern gegangen bin. Aber er meinte: „Na, wenn es dir so gut gefallen hat und du möchtest so gern mit ihnen zusammen sein, dann besuch doch deine neuen Freunde wieder einmal.“ Das kam mir gerade recht. Als Traudel und Zwecke und noch ein paar andere Jungen mich nach Dittersdorf zurückbrachten, hat Traudel gesagt, ich sollte einmal wiederkommen. Am besten wäre es am kommenden Sonntag, da hätten sie ein großes Pionierfest. Ich wollte gleich zusagen, aber dann fiel mir der Onkel ein. Ob er es erlaubte? Und nun fing er selbst davon an. Ich erzählte ihm also, was Traudel gesagt hatte. „Na, und – willst du da etwa nicht hingehen?“ fragte er ganz erstaunt. „Doch“, stotterte ich. „Ich möchte gern, nur…“
„Was denn? Du denkst wohl, ich hätte was dagegen? Aber warum denn?“ Und zu Tante Herta sagte er: „Was meinst du, Herta, gehen wir am Sonntag alle drei nach Einsiedel zu den Pionieren? Das wäre doch mal was anderes.“ Tante Herta war gleich einverstanden. Da habe ich mich gefreut und nur gewünscht, daß es recht bald Sonntag wäre.
Ein Festtag
Am Sonntagmorgen war ich schon sehr zeitig wach. Ich glaube, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, so sehr freute ich mich darauf, meine neuen Freunde wiederzusehen. Gleich nach dem Kaffeetrinken gingen wir los. Es war ein herrlicher Tag. Am Himmel stand nicht eine einzige Wolke. Am Lagertor fragte ich nach Zelt sechs. Das war Zweckes Zelt. Die Pioniere wußten aber schon Bescheid; denn der eine sagte: „Moment mal!“ und rannte davon. Gleich darauf kam er mit Zwecke zurück. Der sah ganz anders aus als sonst. Er hatte ein weißes Hemd an und das blaue Halstuch sauber darübergebunden. „Großartig, fein, daß du gekommen bist“, begrüßte er mich. „Und deine Verwandten hast du auch mitgebracht?“ Er konnte ja nicht wissen, daß ich zu Jahns nur Onkel und Tante sagte. „Kommt nur rein. Es geht gleich los.“ Dann hatte er keine Zeit mehr für uns. Überall liefen Jungen und Mädchen aufgeregt umher. Fast alle trugen weiße Hemden oder weiße Blusen, das sah sehr festlich aus. Wir gingen auf den Sportplatz. Dort waren schon viele Leute. Sie standen herum oder saßen auf den Terrassen. Wir setzten uns ins Gras, gleich neben die Bühne. Ja, eine Bühne war auch da. Die hatte ich bei meinem ersten Besuch gar nicht bemerkt. Und dann kamen die Pioniere, immer vier nebeneinander, eine lange Schlange. Vor der Bühne spielte eine Kapelle. Als die Pioniere dort vorbeikamen, hoben alle die Hände hoch und
klatschten. Die auf der Bühne haben auch geklatscht und schließlich sogar die Leute, die zuschauten. Zum Schluß, als schon viele Pioniere auf dem Platz waren, kam noch einmal eine Gruppe. Sie trug große Fahnen und stellte sich damit auf die Bühne. Dann trat ein Mädchen vor und sagte, daß alle Pioniere versammelt wären. Ganz vorn auf der Bühne erschien jetzt eine Frau. Sie trug eine blaue Bluse. „Pioniere!“ rief sie. „Für Frieden und Völkerfreundschaft – seid bereit!“ „Immer bereit!“ riefen die Pioniere. Dann sprachen zwei Männer. Davon habe ich aber nicht viel verstanden. Ich hörte nur, daß sie allen viel Freude und gute Erholung wünschten. Als sie fertig waren, kam noch einer. Der trug auch eine blaue Bluse wie die Frau. Er sagte, er käme vom Landesvorstand der Freien Deutschen Jugend aus Dresden und bringe den Pionieren drei Freundschaftsfahnen. Die hat er ihnen dann auch überreicht. Es war sehr feierlich. Als alles zu Ende war, zeigte ich Onkel Walter und Tante Herta das Lager. „Schau mal einer an“, sagte der Onkel und lachte. „Du bist ja hier schon fast zu Hause.“ Später gingen wir wieder zum Zelt 6. „Wo treibt ihr euch denn herum?“ empfing mich Zwecke. „Wir haben auf dich gewartet. Es ist Zeit zum Mittagessen.“ Bis das Essen kam, dauerte es aber noch eine Weile. Wir unterhielten uns inzwischen mit den Jungen. Diesmal war auch ihr Pionierleiter da. Er hieß Gert. Nach dem Essen – es gab Schweinebraten und eine große Schüssel mit Kirschen – setzten wir uns hinter das Zelt. Bis drei war nämlich Mittagsruhe. Keiner durfte herumlaufen. Onkel Walter hat ein bißchen geschlafen.
Endlich – um drei Uhr – wurde es überall wieder lebendig. Die Pioniere kamen aus ihren Zelten, und auch Onkel Walter stand auf. „Kommt!“ forderte er uns auf. „Wir wollen einen schönen Platz suchen.“ Doch ich hielt ihn zurück. „Onkel Walter, wir müssen das gute Essen noch bezahlen“, flüsterte ich ihm zu; denn ich dachte, er hätte es vergessen. Aber er lachte mich aus und meinte: „Komm nur, heute bezahlen wir nichts. Hier kriegen wir das Essen umsonst.“ Zuerst wollte ich’s nicht glauben. Nicht einen Pfennig sollte es kosten? Zweifelnd sah ich Onkel Walter an. „Ja, Rudi“, sagte er da, „natürlich muß alles bezahlt werden: das gute Essen, die Zelte und was sonst noch zu einem Lager gehört, aber nicht von den Pionieren.“ „Von wem denn?“ wollte ich wissen. „Von uns, von den Werktätigen“, antwortete Onkel Walter. „Durch unsere Arbeit schaffen wir das Geld für diese Ferienlager, und unsere Regierung sorgt dafür, daß es euch Kindern wirklich zugute kommt!“ Eine Regierung, die sich um die Kinder kümmert, dachte ich, so eine Regierung müßten wir auch haben. „Unser Präsident ist ein Arbeiter“, fuhr Onkel Walter fort. „Ihm ging es in seiner Jugend nicht so gut wie den Pionieren heute. Das hat er nicht vergessen, und deshalb gilt seine größte Sorge den Kindern.“ Inzwischen waren wir auf dem Sportplatz angekommen. Wir setzten uns wieder auf die Terrassen neben der Bühne. Nun ging es sehr lustig zu. Zuerst marschierten die Pioniere genau wie am Vormittag auf den Platz. Diesmal gingen sie zu zweien, immer ein Mädchen und ein Junge, und die Musik spielte Volkslieder dazu. Sie
liefen im Kreis herum und dann wieder geradeaus. Manchmal trafen sie auch zusammen und gingen dann zu vieren. „So etwas nennt man eine Polonäse“, sagte Onkel Walter. Ein Pionierleiter auf der Bühne sagte an, wie die Pioniere laufen sollten. „Aufpassen!“ rief er einmal. „Jetzt erreichen wir ein Gebüsch. Wir müssen uns bücken, sonst kommen wir nicht hindurch.“ Da halben sich alle tief gebückt, so, als sei dort wirklich ein Gebüsch. Ein anderes Mal rief er: „Wir kommen jetzt an einen Bach. Er ist sehr tief, und wir müssen hindurchschwimmen.“ Da haben sich alle auf den Bauch gelegt und so getan, als ob sie wirklich im Wasser wären. Das Schönste aber war, daß sogar ein paar Polizisten mitmachten. Die waren genauso lustig wie die Kinder.
Wie habe ich gelacht, als alle die Schuhe ausziehen sollten, weil man doch sonst schlecht schwimmen kann. Das war ein Spaß!
Anschließend haben alle getanzt. Sie stellten sich im Kreis auf, und dann ging es los, Erwachsene waren auch dabei. Traudel tanzte und Zwecke und die anderen. Sie müssen mich wohl gesehen haben; denn plötzlich kam Traudel zu uns und sagte: „Komm, Rudi, tanz doch mit.“ „Ich kann doch nicht tanzen“, meinte ich, aber Traudel faßte mich schon bei der Hand. „Komm nur! Ich zeig dir’s.“ Es war auch gar nicht so schwer. Nur beim Rheinländer stolperte ich ein bißchen, aber Traudel lachte. „Laß nur“, sagte sie. „Ich kann’s ja auch noch nicht richtig.“ Später haben wir andere Spiele gespielt. Beim Eierlaufen habe ich sogar einen Preis bekommen. Ich lief mit Zwecke. Aber der verlor unterwegs das Ei, und deshalb kam ich vor ihm bei Gert an. Dafür hat sich Zwecke aber eine Wurst geholt, von einer hohen Stange, auf die man hinaufklettern mußte. Von mir aus hätte es noch lange so weitergehen können. Aber auch der schönste Tag nimmt einmal ein Ende.
Eine schwere Entscheidung
Ich dachte, es sei nun alles zu Ende, und wir müßten nach Hause gehen. Aber es kam ganz anders. Als wir noch eine Weile vor dem Zelt saßen, erschien plötzlich die Frau mit der blauen Bluse. Sie gab erst der Tante und dem Onkel die Hand und dann mir. „Jetzt muß ich mich doch endlich einmal nach unserm Gast umsehen“, sagte sie. „Das ist Jutta, unsere Lagerleiterin“, flüsterte mir Zwecke zu. Sie fragte mich, ob es mir gefallen habe. Na so was, dachte ich. Alle fragten dasselbe. Als ob das nicht selbstverständlich wäre. „Am liebsten möchte ich immer hierbleiben“, sagte ich deshalb. „Na, dann bleib doch“, meinte sie. „Deine Freunde haben sicher noch Platz für dich.“ „Natürlich!“ haben alle gerufen, und Zwecke sagte: „Bei uns ist sowieso noch ein Bett frei. Günter ist doch mit seinen Eltern an die Ostsee gefahren. Du kannst dich zwischen Tschunke und mich legen. Dich Sprotte werden wir schon unterbringen.“ So bekam ich meinen Spitznamen. Seitdem hieß ich nur noch „Sprotte“, weil ich so lang und dünn bin. Ich sollte also im Lager bleiben. Heimlich hatte ich mir das den ganzen Nachmittag gewünscht. Aber nun wurde mir doch ein wenig bange. Was würden Onkel Walter und Tante Herta sagen? Ich wagte nicht, sie anzusehen. Onkel Walter dachte wahrscheinlich darüber nach; denn er schwieg eine ganze Weile. Erst nach ein paar Minuten äußerte er sich: „Ja, das ist so eine Sache. Von mir aus könnte Rudi
gern bleiben. Bei uns ist er immer allein, und hier hätte er seine Freunde. Aber – ja, ich weiß nicht, was der Otto – was sein Vater dazu sagen würde. Sie verstehen schon“, wandte er sich an die Lagerleiterin, „drüben im Westen wissen sie doch nicht, wie es wirklich bei uns ist.“ Vater würde bestimmt nein sagen, dachte ich. Er hat schon so lange überlegt, ehe er mich zu Onkel Walter fahren ließ. Es stand wirklich nicht gut für mich. Dabei wollte ich so gern bleiben. Jetzt wußte ich es ganz bestimmt, und deshalb suchte ich nach einem Ausweg. „Weißt du“, sagte ich zu Onkel Walter, „ich schreibe morgen früh einen Brief. Vielleicht erlaubt es Vater, wenn er liest, wie es hier wirklich ist…“ Als ich das sagte, habe ich tatsächlich daran geglaubt. „Und bis von ihm Antwort kommt – weißt du, solange bleibe ich schon hier.“ Das war mein Vorschlag. Onkel Walter schien aber nicht damit einverstanden zu sein. „Das sagst du so daher, Junge. Und wenn er nein sagt? Was machen wir dann?“ Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn. Wahrscheinlich konnte er auf diese Weise besser nachdenken. „Aber schließlich ist es ja kein Verbrechen, wenn du hierbleibst“, erklärte er dann. „Ich werde deinem Vater selber schreiben, gleich heute abend.“ „Und Rudi?“ hat Zwecke schnell gefragt. „Darf der nun bei uns bleiben?“ „Wenn ihr ihn bei euch aufnehmt und eure Leiterin nichts dagegen hat – dann soll er von mir aus bleiben. Mit seinem Vater werde ich schon fertig.“ Am liebsten wäre ich Onkel Walter um den Hals gefallen. Ich durfte bleiben, hurra! Onkel Walter hatte es gesagt. Ich durfte bleiben!
Weißenreuth, am 1. September 1951 Lieber Siegfried! Nun weißt Du, wie ich hinüber gekommen bin und was ich gleich in der ersten Woche erlebt habe. Aber meine Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Jetzt geht es eigentlich erst los. Ich kann nur nicht alles so schnell aufschreiben. Deshalb schicke ich Dir vorläufig einmal das, was ich bereits habe. Ja, lieber Siegfried, ich bin in einem richtigen Pionierlager gewesen. Es lag, wie ich Dir schon schrieb, auf einem Berg, ganz dicht am Wald, und hieß „Palmiro Togliatti“. Das ist der Führer der kommunistischen Partei Italiens. Du hast sicher schon einmal von Max Keimann gehört. Unser Lehrer nennt ihn einen Vaterlandsverräter, aber das stimmt nicht. Er sagt es, weil Max Reimann sich im Bundestag immer wieder und mit aller Kraft für die Einheit unseres Deutschen Vaterlandes einsetzt, weil er alles tut, um den Frieden zu erhalten. Ich finde das wunderbar, aber richtig verstehen lernte ich es erst bei Onkel Walter und im Pionierlager. Ja, und so ein Mensch ist auch Palmiro Togliatti. Unser Pionierleiter hat uns viel von ihm erzählt, von seinem Leben, wie er sich für die Arbeiter einsetzt und wie er für den Frieden kämpft. Wir haben uns vorgenommen, ihm nachzueifern. Wenn man vom Lager aus ins Tal geht, kommt man nach Einsiedel. Dort waren wir oft. Einmal haben wir auch im Kathaus gefragt, warum der Ort so heißt. Da erzählte uns ein Mann, daß hier früher ein Einsiedler gelebt haben soll. (Was ein Einsiedler ist, weißt Du doch? Das sind Leute, die ganz allein sein wollen und immer nur beten. Muß langweilig gewesen sein!) Nach so einem Einsiedler soll der Ort seinen Namen bekommen haben. Aber das ist nur eine Sage. Heute sieht Einsiedel nicht sehr schön aus. Es ist stark zerstört. Warum die Amerikaner dort Bomben abgeworfen
haben, weiß ich auch nicht; denn in Einsiedel gibt es nur Bauern und ein paar kleine Strumpffabriken. Es ist aber schon vieles wieder aufgebaut worden. Das mit dem Einsiedler hat uns gefallen. Zwecke sagte gleich: „Dann sind wir doch jetzt auch Einsiedler!“ Wir lachten alle und meinten, daß unsere Einsiedelei bestimmt viel vergnüglicher sei als die vor tausend Jahren. Das wäre vorläufig alles. Es grüßt Dich Dein Rudi Das andere schicke ich Dir in den nächsten Tagen.
Alltag im Pionierlager
Um sieben Uhr wurde jeden Tag geweckt. Ein Pionier blies auf der Trompete. Es hörte sich an wie: „Steht auf! Steht auf! Steht auf! Es ist schon Morgen! Ein neuer Tag beginnt! Steht auf! Steht auf! Steht auf!“ Wir sind gleich aufgestanden. Die meisten von uns waren sowieso schon lange wach. Nur Tschunke drehte sich jeden Morgen auf die andere Seite und brummte: „So kurz nach Mitternacht und schon wieder aufstehen!“ Aber wir haben ihm einfach die Decke weggezogen. Einer von unserer Gruppe – wir nannten ihn Schnäppi – wollte sich nicht richtig waschen. Vor allem den Hals nicht. Da haben wir ihn einmal im Hemd unter die Brause gestellt und festgehalten, bis er klatschenaß war. Wenn wir das Zelt aufgeräumt und gefrühstückt hatten, war Morgenappell, die Lagerfahne wurde gehißt. Das bedeutete: „Ein neuer Tag in unserem Ferienleben hat begonnen!“ Vormittags haben wir meistens Sport getrieben. Dabei konnten wir die Bedingungen für das Sportleistungsabzeichen der Jungen Pioniere erfüllen. Am schwersten war Hochsprung. Die meisten haben’s nur bis siebzig Zentimeter geschafft. Ich bin bis fünfundsiebzig gekommen. Tschunke wollte noch weiter. „Achtzig erreiche ich im Schlaf“, prahlte er. Wir haben ihm das natürlich nicht geglaubt. „Kriech lieber unten durch, Dicker“, neckte ihn Zwecke. Er versuchte es aber doch. Geschafft hat er es nicht Mitten auf der Latte saß er plötzlich, die ist gleich zerbrochen, und Tschunke saß wie ein Teddybär im Sand.
Nur drei oder vier sind beim erstenmal rübergekommen. Zwecke war auch dabei. Der springt wie ein Floh. Ab und zu hatten wir eine Bücherstunde, meistens am Nachmittag oder auch vor dem Essen. In unserer Lagerbibliothek gab es viele schöne Bücher. Ich glaube, es waren mehr als zweitausend. Die konnten wir uns holen und darin lesen, natürlich nicht alle auf einmal. Es gab Pioniere, die wollten nie ein Buch lesen. Die spielten am liebsten den ganzen Tag Fußball oder gingen baden. Deshalb ist Hilde – das war die Leiterin der Bibliothek – manchmal zu uns ins Zelt gekommen, um uns etwas vorzulesen. Das war immer sehr interessant. An einem Regennachmittag brachte sie das Buch „Die Vitalienbrüder“. In dem wird von Klaus Störtebeker erzählt. Das war ein Pirat, der gegen die hohen Herren gekämpft hat. Das Geld, das er ihnen wegnahm, hat er den Armen gegeben.
Als Hilde vorlas, war es ganz ruhig in unserm Zelt. Ich glaube, so ruhig war es sonst nicht einmal nachts.
An der Stelle, wo Vetter Hein so feige ermordet wird, knirschte Zwecke vor Wut mit den Zähnen, und ich ballte die Fäuste. Am liebsten wäre ich dazwischengefahren. Beim Kampf auf dem Eis war es noch spannender, da vergaß Egon Müller sogar, seine Brille hochzuschieben. Das tat er sonst immerzu. Und Tschunke saß da und guckte nach der Decke, sein Mund stand weit offen und war so rund, als wollte er immer „O“ sagen. Als Klaus Störtebekers Feind, Wulf Wulflam, sich schließlich ins Meer stürzte, da atmeten wir alle auf und freuten uns. Ich hatte noch gar nicht gewußt, daß es solche schönen Bücher gibt. Am nächsten Tag ging ich gleich hin und holte mir eins. Den meisten Spaß machte es, wenn wir Arbeitsgemeinschaft hatten. Ich wußte erst nicht, zu welcher ich gehen sollte. Schließlich habe ich mich für Segelflugmodellbau entschieden. Zuerst bauten wir nur Modelle aus Pappe. Die sind allerdings nicht sehr weit geflogen. Dann kam ein richtiges an die Reihe: Die Rippen waren aus Holz, und zum Schluß wurde alles mit dünnem Papier bespannt. Ich habe zusammen mit Zwecke und Traudel gebaut. Die verstanden es schon viel besser als ich, aber ich habe es auch bald gelernt. Oft waren wir den ganzen Nachmittag auf dem Berg und haben die fertigen Modelle fliegen lassen. Einmal, an einem Sonntag, ist dabei eine schöne Geschichte passiert. Wir hatten unsere Modelle ausprobiert, und alle waren gut geflogen. Nur eins hatte Bruch gemacht, das von Tschunke und Lothar Seifert. Dann wollte Hans sein Modell prüfen. Er hatte es selbst konstruiert und ganz allein gebaut. Sein Segelflugzeug flog noch viel besser als unsere und auch länger. Aber dafür war es ja größer. Hans ließ es erst ein paarmal aus der Hand heraus starten. Es flog in einer großen Kurve ins Tal hinab, und wir liefen
hinterher und holten es zurück. Einmal war es zwei Minuten und vierzig Sekunden in der Luft. Da brüllten wir alle vor Begeisterung. Aber Hans war noch nicht zufrieden. „Wir wollen mal einen Hochstart versuchen“, sagte er und holte einen Strick aus der Tasche. Das Modell hatte an der Gleitkufe einen kleinen Haken. Dort klinkte Hans den Metallring ein, der am Ende der Schnur hing. Gert, der auch dabei war, hielt das Flugzeug ganz leicht in der Hand, und Hans rollte den Strick aus. Wir waren gespannt, was nun kommen würde. Einen Hochstart hatte noch keiner von uns erlebt. Hans prüfte mit dem Taschentuch die Windrichtung, dann zog er den Strick an. „Los!“ rief er und rannte den Abhang hinunter. Gert rannte ein Stück mit. Aber nach ein paar Schritten hob sich das Modell aus seiner Hand und stieg steil in die Höhe. Wir hörten es pfeifen, so schnitt es durch die Luft. Der Strick hing noch immer daran. Er war ganz straff gespannt wie bei einem Drachen. Plötzlich blieb Hans stehen, lief ein paar Schritte zurück, der Strick wurde schlaff und fiel schließlich herunter. Das Modell aber flog hoch über uns. „Hurra!“ brüllten wir. So einen Flug hatten wir noch nie gesehen. Hans kam den Berg herauf gerannt und stellte sich zu uns. Das Modell zog ganz ruhig dahin. Es flog jetzt schon über Dittersdorf, und wir mußten scharf hingucken, wenn wir es noch sehen wollten. Hans hatte ein Fernglas mitgenommen. Da konnte er es besser beobachten. „Es Hegt genau im Wind“, sagte er. „Jetzt steigt es wieder.“ Dann nahm er das Glas von den Augen und wandte sich am. „Los, Rolf!“ rief er aufgeregt. „Wir müssen hinterher!“ Rolf war unser Wirtschaftsleiter. Er hatte genauso ein Motorrad wie Onkel Walter. Das stand jetzt hinter uns auf dem Weg. Er hatte wohl schon darauf gewartet; denn es verging
keine halbe Minute, da raste er bereits den Feldweg entlang. Hans war im letzten Augenblick hinaufgesprungen.
„Junge, haben die ein Tempo!“ rief Zwecke begeistert. Wir wußten gar nicht, wo wir hingucken sollten. Das Modell konnten wir kaum noch erkennen. Nur ein kleiner weißer Punkt war zu sehen, und dann war auch der verschwunden. Ein eifriges Raten begann. „Ob sie es einholen?“ fragte Traudel. „Das ist bestimmt schon drei Kilometer weit“, meinte Lothar. „Wenn es nun überhaupt nicht mehr runterkommt?“ erkundigte sich Tschunke. „Quatschkopf!“ Zwecke schüttelte den Kopf. „Es kann doch nicht ewig in der Luft bleiben.“ Wir warteten fast eine Stunde. Aber weder das Modell noch der Rolf und der Hans kamen zurück. Da gingen wir schließlich ins Lager. Wir waren ein wenig enttäuscht, weil wir
gar nichts mehr sehen konnten. Wenn sie nur bald wiederkämen, dachten wir. Fast zwei Stunden vergingen. Endlich hörten wir ein Motorrad den Berg heraufbrummen. Wir rannten gleich ans Lagertor. Sie waren es. Aber das Modell hatten sie nicht mit. „Bis hinter Dittersdorf konnten wir es noch gut sehen“, sagte Hans. „Aber dann kam ein Wald dazwischen. Wir haben überall gefragt.“ „Na und?“ Wir wollten nicht glauben, daß das Modell weg sein sollte. „Nichts. Niemand hat es gesehen.“ Keine Frage, das Modell war uns davongeflogen. Sicher war es irgendwo heruntergekommen. Vielleicht hing es in einem Baum oder lag auf einem Feld. „Wenn wir nun alle losgehen und suchen?“ schlug Zwecke vor. „Das hat keinen Sinn“, meinte Hans. „Wir wissen doch nicht, wo wir suchen sollen. Aber macht euch keine Gedanken, wir werden es bestimmt wiederkriegen.“ Sehr überzeugt waren wir davon nicht, aber wenn Hans meinte? Vielleicht war wirklich nicht alles verloren. Dann haben wir nur noch gestaunt. Hans ging mit Rolf in die Lagerleitung, und als er wiederkam, lachte er und sagte: „Kommt mal in den Klubraum, da werdet ihr gleich mehr hören.“ Wir gingen alle mit. Hans holte ein Schachbrett aus dem Schrank und setzte sich an einen Tisch. „Na, wer hat Lust?“ fragte er. Wir sahen uns an. Nun verstanden wir überhaupt nichts mehr. „Ich denke – was ist denn nun mit dem Modell?“ fragte Zwecke schließlich.
„Wartet ab“, meinte Hans und lachte wieder. Mehr sagte er nicht. Was sollten wir machen? Wir setzten uns in die Sessel und sahen zu, wie Hans Schach spielte. Aus dem Lautsprecher klang Tanzmusik. Wir hörten aber nicht hin; denn die Lautsprecher liefen ja den ganzen Tag. Plötzlich brach die Musik ab. „Achtung, Achtung! Wir bringen eine Durchsage“, sagte eine tiefe Stimme. Hans lehnte sich zurück und sah uns an. „Die Jungen Pioniere aus dem Pionierlager in Einsiedel bitten alle Einwohner der Dörfer südlich von Einsiedel um ihre Mithilfe. Ein Segelflugmodell des Lagers ist heute nachmittag in südöstlicher Richtung davongeflogen. Es trägt am hinteren Rumpfende die Aufschrift: Pionierlager ,Palmiro Togliatti’, Einsiedel. Wir bitten alle Hörer, bei der Suche nach dem Modell behilflich zu sein.“ Die Musik setzte wieder ein. Zwecke sprang auf und rannte zur Tür hinaus, gleich darauf kam er zurück. „Ist doch gar keiner drüben!“ rief er.
„Wo denn?“ fragten wir. „Na, im Funkzimmer!“ Da wußten wir erst, was er meinte. „Du hast wohl gedacht, das sei einer aus dem Lager gewesen?“ fragte Hans. „Na ja“, erwiderte Zwecke, „er hat doch so genau Bescheid gewußt!“ Hans lachte. „Vielleicht hat es ihm einer gesagt?“ meinte er. Wir sahen uns wieder an. „Also war es doch jemand aus dem Lager?“ fragte Lothar. „Nein“, sagte Hans. „Ich habe vorhin in Leipzig beim Rundfunk angerufen. Das ist das ganze Geheimnis.“ Da haben wir vielleicht gestaunt! Auf die Idee wären wir nie gekommen. Aber geholfen hat es. Zwei Tage darauf wurde telefonisch durchgesagt, daß ein Bauer das Modell auf seiner Wiese gefunden hatte. Hans und Rolf sind gleich hingefahren. „Zwölf Kilometer weit ist es geflogen“, sagte Hans, als er mit dem Modell zurückkehrte. „Eine großartige Leistung.“ Wir haben uns alle gefreut, und an den Rundfunk haben wir einen Brief geschrieben und uns bedankt. Ein paar Tage später wurde unser Segelflugzeug sogar in den Nachrichten erwähnt. Der Sprecher erzählte, das verlorengegangene Flugmodell sei wiedergefunden worden. Auch daß es zwölf Kilometer geflogen war, erfuhren die Leute am Radio. Da waren wir alle sehr stolz; denn es war ja unser Modell.
Die Expedition
„Am Donnerstag gehen wir auf Expedition“, sagte Gert eines Abends, als er zu uns ins Zelt kam. „Au, fein!“ rief Zwecke und hüpfte wie ein Gummimännchen auf seinem Strohsack herum. Die anderen waren auch begeistert. „Ich hab’ schon mal eine mitgemacht“, erzählte Wolf, „zu Hause in unserer Pionierfreundschaft. Dreiundsechzig verschiedene Steine haben wir gesammelt.“ „Und wir haben neunzehn Frösche gefunden!“ rief Zwecke. „Soviel gibt es ja gar nicht.“ Da war Zwecke beleidigt. „Wenn ich’s dir sage! Neunzehn Stück. Alle von derselben Art, einer schöner als der andere.“ Für mich war das alles unbekannt. Ich hatte einmal ein Buch gelesen, da sind ein paar Männer nach Afrika in den Urwald gefahren. Das waren Forscher, und die haben alles, was sie fanden, mitgenommen. Auch das, was den Eingeborenen gehörte. Und weil die Eingeborenen damit nicht einverstanden waren und sich wehrten, haben sie einfach Soldaten geholt und die Eingeborenen umgebracht. Das sollte auch eine Expedition sein, aber sie hat mir gar nicht gefallen. Und jetzt sollten wir eine machen? Wir konnten doch nicht nach Afrika fahren. Das war ja viel zu weit, vor Weihnachten wären wir bestimmt nicht wiedergekommen. Das habe ich auch gesagt. „Nach Afrika will er!“ schrie Tschunke gleich los und konnte sich nicht mehr halten vor Lachen. „Nach Afrika!“
„Lach ruhig weiter“, sagte Zwecke, der immer auf meiner Seite stand. „Das ist gut für deine schlanke Linie.“ Da hörte Tschunke auf. „Nach Afrika fahren wir nicht“, erklärte Horst, unser Gruppenratsvorsitzender. „Wir werden das Land um unser Lager erforschen.“ Das kam mir dumm vor. Hier wohnten doch überall Menschen, und dem Förster war bestimmt jeder Baum im Wald bekannt. Was sollten wir da noch erforschen? Das sah sogar Tschunke ein und Schnäppi auch. „Sprotte hat recht. Gehen wir lieber baden“, meinten sie. Da lachte Gert und sagte: „Und was wißt ihr über die Greifensteine und über das Erzgebirge?“ Ich wußte natürlich ^nicht viel. Einmal hatte ich das Erzgebirge auf der Landkarte gesehen, die Herr Thiemer immer aufhängt, wenn wir Erdkunde haben. Aber die anderen wußten auch nicht viel mehr. Bloß Horst zählte gleich eine Menge Städte auf, mindestens ein Dutzend. Aber er ist auch der Beste in seiner Klasse. Das weiß ich von Zwecke. „Na, seht ihr“, meinte Gert, „das ist nun unsere Heimat, und ihr kennt sie genausowenig wie die Urwälder von Afrika. Ist das nicht eine Schande?“ Damit hatte er recht. Wir wollten also ein Stück des Erzgebirges erforschen. Dazu haben wir sogar einen Auftrag von der Regierung bekommen, unterschrieben von einem richtigen Minister. Unser Forschungsgebiet lag zwischen den Städten Thum, Ehrenfriedersdorf und Geyer, ungefähr fünfzehn Kilometer vom Lager entfernt. Mit den Vorbereitungen für die Expedition begannen wir am nächsten Vormittag. Als erstes werden zwei große Karten
gezeichnet. Auf der einen war unser Forschungsgebiet, mit den Städten und Dörfern, den Straßen, den wichtigsten Bergen und den Flüssen. Die hat der Zirkel I gezeichnet, daran war ich übrigens beteiligt. Harry, unser Zirkelleiter, war der beste Zeichner. Er hatte sogar eine Eins auf seinem Zeugnis. Deshalb wäre unsere Karte auch beinahe die beste von der ganzen Lagerfreundschaft geworden, wenn – ja, wenn die Sache mit Tschunke nicht passiert wäre. Tschunke hatte frisches Wasser zum Malen geholt, und gerade, als er das Glas auf den Tisch stellen wollte, ist er gestolpert. Ich glaube, daran war Schnäppi schuld. Der hat Tschunke ein Bein gestellt. Aber beweisen konnte ich das nicht. Jedenfalls ist Tschunke gestolpert und hat das ganze Wasser über die Zeichnung gegossen. Die sah natürlich gleich wie eine gescheckte Kuh aus. Alles ist durcheinandergelaufen. Wir waren wütend auf Tschunke. Soviel Mühe hatten wir uns gegeben, und nun war alles verdorben. Am meisten regte sich Zwecke auf, obwohl er nur die Städte rot ausgemalt hat. Aber die waren auch besonders schön ausgelaufen. „Du bist sogar zum Wasserholen zu dumm!“ brüllte er. Und plötzlich griff er nach dem anderen Glas und schüttete Tschunke das Wasser mitten ins Gesicht. „Da!“ Das hätte er nicht machen sollen. Tschunke stand erst wie ein begossener Pudel da. Die braune Brühe lief ihm wie Kaffee über das Gesicht. Aber dann ging er auf Zwecke los und langte ihm eine. Der schnappte nach Luft. „Du! Du!“ Mehr brachte er nicht heraus. Und dann packte er Tschunke. Das war uns nun doch zuviel. Harry sprang als erster auf die beiden los. Er faßte Zwecke am Arm und riß ihn von Tschunke los. Dabei mußte ihm Wolf helfen, so wütend war Zwecke. Horst hielt mit Egon zusammen Tschunke fest.
„Was denn? Prügeln wollt ihr euch?“ fragte Harry, und dabei hatte er erst Zwecke und dann Tschunke angesehen. „Ich laß mich doch von dem nicht schlagen!“ rief Zwecke wütend und wollte sich gleich wieder losreißen. Aber Harry hielt ihn fest. „Und ich laß mich nicht dauernd von dir beschimpfen!“ brüllte Tschunke und fuhr auf Zwecke los. So hatte ich unseren Dicken noch gar nicht gesehen. Sonst war er immer so langsam und zahm wie ein Lamm. „Das zahl ich dir noch heim, du! Warte nur!“ drohte Zwecke. Er hatte von der Ohrfeige einen ganz roten Fleck im Gesicht. Was sollten wir machen? Mit den beiden war jetzt nicht zu reden, dachten wir. Dazu sind sie viel zu aufgeregt. Bestimmt werden sie gleich wieder aufeinander losgehen. Aber irgend etwas mußten wir ja tun. „Wenn ihr durchaus eure Kräfte messen wollt“, sagte Harry endlich, „dann macht das auf eine ehrliche Art.“ Und zu uns meinte er: „Los, bildet einen Kreis. Das soll der Ring sein, und dann kann der große Ringkampf Zwecke gegen Tschunke losgehen.“ Wir waren gleich dabei. Aber die zwei haben sich nur dumm angeguckt. „Mit dem?“ sagte Zwecke. „Mit dem? Das mach ich nicht!“ „Feigling!“ rief Egon. „Sonst nimmst du immer den Mund voll, und jetzt willst du kneifen. Das möchte dir so passen. Hier kommst du nicht heraus. Zeig, was du wirklich kannst.“ Da blieb Zwecke nichts weiter übrig, er mußte ran, aber er hatte es nicht leicht. Tschunke wehrte sich tüchtig. Und wir feuerten die beiden an. „Los, Tschunke! Gib’s ihm!“ brüllte Harry. „Zwecke! Paß auf!!“ „Laß dich nicht auf den Rücken legen, Tschunke!“ „Faß ihn am Bein, Zwecke! Auf den Rücken! Los! Auf den Rücken!“
Aber dann lag auf einmal Zwecke auf dem Rücken und hatte verloren. Ganz kleinlaut stand er da. Das hatte er nicht erwartet, und wir eigentlich auch nicht. Schließlich ist er, ohne auch nur einen von uns anzusehen, davongegangen. „Laß ihn laufen, Sprotte“, sagte Harry zu mir, als er merkte, daß ich ihm folgen wollte. „Dem kannst du jetzt auch nicht helfen. Aber es schadet ihm nichts. Zwecke denkt immer, er dürfte sich über alle lustig machen!“ Wir hatten inzwischen längst vergessen, wie es zu dem Streit gekommen war. Erst Gert brachte uns wieder darauf. Gerade als Zwecke davonging, kam er von der Lagerleitung zurück. Natürlich merkte er sofort, daß etwas nicht stimmte. „Was war denn los?“ fragte er und blickte Zwecke nach. „Prügeln wollten sie sich“, antwortete Harry, und dann erzählte er, wie alles gekommen war. Gert sagte zuerst gar nichts. Er sah uns nur der Reihe nach an. „Euer Wettkampf ist doch weiter nichts gewesen als ‘ eine Prügelei“, sagte er. Wir standen ganz beschämt da. Gert hatte recht. Das sahen wir ein. „Und wegen der Zeichnung“, fuhr Gert fort, „spannt sie mal gleich straff auf den Tisch. Dann kann sich das Papier nicht verziehen, und der Schaden wird bald geheilt sein.“ Das haben wir sofort getan. Aber ein paar Flecke sind zurückgeblieben, und deshalb war unsere Zeichnung auch nicht die beste. Die andere Skizze zeigte den Anmarschweg. Als richtige Forscher wollten wir schließlich den Weg allein finden. Diese Karte haben Rolf und Horst mit dem Zirkel II gezeichnet.
Das waren aber nicht alle Vorbereitungen. Es gab noch viel zu tun. Die Biologen bastelten eine Sammelmappe und die Zoologen Behälter für die Tiere, die sie unterwegs fangen wollten. Aber wenn ich das jetzt alles erzählen würde, dauerte es viel zu lange. Ich will lieber gleich von der Expedition berichten.
Unterwegs
Am Donnerstagmorgen standen wir eine Stunde früher auf als gewöhnlich. „Wir müssen die Morgenstunden ausnützen“, sagte Gert, „dann ist es noch nicht so warm.“ Unsere Sachen hatten wir schon am Abend vorher zusammengepackt Wir wollten nur das Wichtigste mitnehmen: Verpflegung für den Marsch, Waschzeug und was man sonst beim Wandern braucht. Die Decken sollten mit einem Auto nachgebracht werden. Punkt sieben standen wir auf dem Appellplatz. Kurt, unser Freundschaftsleiter, überreichte jeder Gruppe den Forschungsauftrag. Darin standen alle Aufgaben, die wir lösen sollten. Wir hatten die Aufgabe erhalten, die Geschichte der Geyerschen Binge zu erforschen. Dann kam Doktor Keil, unser Lagerarzt. Zuerst fragte er, ob einer sich nicht wohl fühle und lieber im Lager bleiben wolle. Es hat sich aber niemand gemeldet. Dann ist er von einem zum andern gegangen, und die, die Turnschuhe anhatten, mußten vortreten; es war fast die halbe Freundschaft. „Das geht nicht“, sagte der Doktor. „Wer wandern will, braucht richtig feste Schuhe. Der Fuß muß einen Halt haben. Er leistet doch das meiste.“ Zuerst sagten alle, sie hätten keine anderen Schuhe und in Turnschuhen könnten sie auch viel besser laufen. Als aber der Doktor bestimmte: „Wer nur Turnschuhe hat, muß im Lager bleiben“, ist einer nach dem anderen im Zelt verschwunden, um seine Straßenschuhe anzuziehen. Nur acht oder neun sind
später mit dem Zug gefahren; bei einem war der Absatz ab, bei einigen hatten sich die Sohlen gelöst oder waren kaputt. „Herrlich lacht vom Himmelszelt die Sonne, grüner Wald ist heute unser Ziel; denn die Sommerszeit ist unsre Wonne? Kommt mit uns zu frohem Sport und Spiel!“
Jede Gruppe ging allein, unsere führte Horst. Er hatte eine Karte, damit wir uns nicht verlaufen konnten. Gert war natürlich auch dabei. Aber er lief nur neben uns her. Den Weg wollten wir allein finden. Zuerst kamen wir nach Dittersdorf. Ich guckte, ob Tante Herta zu sehen war, und als sie ans Fenster trat, habe ich gewinkt und gerufen: „Wir gehen auf Expedition!“ Dann sind wir durch den Wald gewandert. Egon wollte von jedem Strauch ein Blatt mitnehmen. „Du kommst schon noch zum Sammeln“, sagte Horst, „jetzt verbummeln wir nur die Zeit damit.“ Wir waren noch lange nicht in unserem Forschungsgebiet. Nach einer Stunde legten wir die erste Rast ein. „Kinder, ist das warm.“ Tschunke stöhnte. Er sah ganz rot aus. „Du kannst ja immer nicht genug mitnehmen“, sagte Harry. Tschunke hatte nämlich seinen großen Rucksack bis obenhin vollgepackt. „Ihr denkt wohl, ich will unterwegs verhungern? Wartet nur ab. Ihr kommt alle noch zu mir und wollt was haben.“ „Na klar“, sagte Egon schnell, „du bist doch unser Koch. Eigentlich könntest du jetzt auch mal den Kochtopf tragen.“ Wir wollten nämlich unterwegs selbst abkochen. Und als wir im Lager davon gesprochen hatten, war Tschunke aufgesprungen.
„Das mache ich“, hatte er gesagt. „Mein Onkel ist Koch in einem HO-Hotel.“ Aber den Kochtopf wollte Tschunke nicht tragen. „Ich habe schon den Rührlöffel“, wehrte er ab. „Den nehme ich jetzt“, sagte Harry. „Was Gruppeneigentum ist, muß jeder mal tragen.“ „Natürlich“, fiel da Zwecke ein, der seit dem Ringkampf Tschunke aus dem Wege ging. „Wolf und ich haben bis jetzt das Paket mit den Erbsen geschleppt.“ „Das nehmen wir, Sprotte“, sagte Horst zu mir. Jetzt konnte Tschunke nicht mehr ablehnen. Den hölzernen Rührlöffel hatte er nämlich nur als Stock benutzt. Zehn Minuten später wanderten wir weiter. Und dann ging es los. Schnäppi war der erste, der seine Schuhe auszog. „Ich kann damit nicht mehr laufen“, sagte er zu Gert. „Die drücken so.“ Schnäppi lief auch sonst fast immer barfuß. Und abends gab es meistens ein großes Theater, weil er nicht viel vom Füßewaschen hielt. Wenn Gert sich nicht jeden Abend darum gekümmert hätte, wäre bestimmt bald Gras auf seinen Füßen gewachsen. Schnäppi war also der erste, der seine Schuhe auszog. Ein paar Minuten später fing Wolf an zu stöhnen. „Wenn ich bloß was zu trinken hätte.“ Horst reichte ihm seine Feldflasche. „Trink aber nicht soviel“, sagte er dabei, „sonst schwitzt du zu sehr.“ Gert wußte noch etwas anderes. „Nimm ein wenig Salz dazu“, riet er. „Pfui!“ Wolf schüttelte sich. „Was soll ich denn mit Salz? Dann krieg ich nur mehr Durst.“ Ich hatte auch noch nie etwas davon gehört, daß man Salz essen muß, wenn man Durst hat. „Eigentlich soll man das schon vor dem Marsch tun“, erklärte Gert, während wir weiterwanderten. „Wenn du schwitzt, dann
scheidet dein Körper Feuchtigkeit aus. Deshalb bekommst du Durst. Dann trinkst du Wasser und fühlst dich gleich wieder frischer. Stimmt’s?“ Das war richtig. Sonst hätten wir ja nicht soviel getrunken. „Und wißt ihr auch, warum das so ist? Durch die Flüssigkeit arbeitet euer Herz schneller. Es muß sich anstrengen. Und dadurch wird es müde.“ „Stimmt!“ fiel Egon, unser Biologe, ein. „Wenn du mal gerannt bist, dann klopft das Herz stark, und du bist ganz kaputt.“ „Dann trinke ich eben wieder einen Schluck Wasser“, sagte Wolf. „Das frischt auf.“ „Nein, Wolf, da täuschst du dich“, sagte Gert. „Das ist immer nur für einen Augenblick. Wenn du aber ein bißchen Salz gegessen hast, ein ganz klein wenig nur, dann hält das Salz das Wasser fest, und dein Herz braucht nicht so schnell zu arbeiten.“ Da hatten wir gleich wieder etwas Neues gelernt. „Wo, ist denn eigentlich Tschunke?“ fragte Horst plötzlich. Er mußte doch als Gruppenleiter aufpassen, daß immer alle da waren. Wir sahen uns um. Von Tschunke war weit und breit nichts zu sehen. „Der frühstückt bestimmt schon wieder“, meinte Wolf. Wir warteten. Endlich sahen wir Tschunke in der Ferne auftauchen. Er hatte seine Schuhe ausgezogen und humpelte wie eine lahme Krähe. Den Kochtopf hielt er mit beiden Händen vorm Bauch. „Du siehst wie ein abgedankter Raubritter aus“, spottete Schnäppi, als er endlich heran war. Tschunke ließ sich wie ein leerer Sack zu Boden fallen. „Ich komm’ mir vor wie ein Beduine, der drei Wochen durch die Wüste gerannt ist“, stöhnte er.
„Schade, daß du kein Kamel bist“, murmelte Zwecke vor sich hin. Aber so, daß Tschunke es hörte. „Dann könntest du noch mal drei Wochen hinterhertrotten.“ „An Helmuts Gruppe hätten wir uns ein Beispiel nehmen sollen“, meinte Harry. „Die haben die ganze Schlepperei nicht.“ Helmuts Gruppe, die Jungen aus unserem Nachbarzelt, hatten sich nämlich in Einsiedel einen Handwagen geborgt und alles daraufgeladen. Wir hatten uns darüber lustig gemacht, aber jetzt sahen wir ein, daß sie die Klügeren waren. „Hat keinen Zweck, noch darüber zu reden“, meinte Harry. „Gib mal deinen Rucksack her, Tschunke. Ich habe nur meinen Brotbeutel.“ Da strahlte Tschunke. In einem kleinen Dorf rasteten wir zum zweitenmal. Wir blieben fast eine halbe Stunde. Dann mußten wir wieder weiter. Schließlich wollten wir ja nicht die letzte Gruppe sein. Horst ging immer ganz vorn. Er bestimmte den Weg. Straßen benutzten wir fast nie. Wir gingen durch den Wald, da war es
nicht so warm. Gegen Mittag kamen wir an eine Wegkreuzung. Horst zog seine Karte aus der Tasche und runzelte die Stirn. Es schien etwas nicht zu stimmen. Er suchte sehr lange, nahm sogar den Kompaß heraus. „Sag bloß, du hast dich verlaufen“, meinte Harry. „Das nicht, aber irgend etwas stimmt hier nicht.“ „Gib mal her!“ Wir stellten uns alle um ihn herum und sahen auf die Karte. „Hier ist das Dorf“, erklärte Horst, „und so sind wir gelaufen. Also müßten wir jetzt hier sein.“ Dabei zeigte er auf eine Wegkreuzung. „Oder da!“ Ein wenig weiter links war nämlich noch eine Kreuzung eingezeichnet. „Du hättest eher auf die Karte sehen müssen“, meinte Egon. Horst wurde ganz nervös. „Hättest! Hättest! Das hilft uns jetzt auch nicht weiter. Die richtige Kreuzung müssen wir finden.“ Ja, das war’s. Wir wußten nicht, wo wir uns befanden. Einfach losgelaufen waren wir. Wolf zeigte wieder auf die Karte. „Wenn wir hier sind, müßten wir bald an einen Bach kommen.“ „Schlauberger!“ meinte Horst. „Und hier bei der anderen Kreuzung? Da kommst du auch hin. Bloß ein paar Kilometer weiter Östlich.“ Das stimmte. „Also gehen wir erst einmal bis zum Bach“, schlug Harry vor. „Dort werden wir dann schon sehen, wie wir weiterkommen.“ Das ist wirklich die beste Lösung, dachten wir und liefen weiter. Nach einer Weile wurde der Weg immer schmaler. Eigentlich war es gar kein richtiger Weg mehr. Überall standen Büsche, und wir mußten uns manchmal geradezu hindurchzwängen.
„Ich glaube, wir sind wieder falsch“, sagte Egon. „Hier ist bestimmt seit der Eiszeit kein Mensch mehr gegangen.“ Wir blieben stehen. Horst sah auf die Karte. „Bis zum Bach kann es nicht mehr weit sein“, sagte er dann. Wir merkten aber, daß er sich nicht recht wohl fühlte. „Also weiter“, brummte Zwecke. „Wirklich, fast wie in Afrika.“ Tschunke keuchte. „Ein richtiger Urwald.“ Plötzlich standen wir am Bach. Wir atmeten auf. Jetzt konnte uns nicht mehr viel passieren. „Drüben ist ein Weg!“ rief Wolf als erster. „Da müssen wir weitergehen!“ Horst hatte schon wieder die Karte in der Hand. „Den Bach haben wir zwar nun“, murmelte er vor sich hin, „aber wenn wir nur wüßten, an welcher Stelle. Hier oder da?“ Das konnten wir ihm auch nicht sagen. Gert hatte die ganze Zeit über geschwiegen, weil wir den Weg allein finden sollten. Nun mischte er sich ein. „Schaut euch einmal den Bach genau an“, forderte er uns auf. Wir taten es. Aber was sollte da schon zu sehen sein? Ratlos blickte einer zum andern. „Ich hab’s!“ brüllte da Tschunke. „Auf der Karte ist eine Wassermühle eingezeichnet, und hier ist keine.“ Das war richtig, wir waren falsch gegangen. „Tschunke bekommt einen Orden!“ rief Zwecke. Er vergaß sogar, daß er eigentlich mit Tschunke böse war. „Dem Retter der Expedition – muß da drauf stehen.“ Das war natürlich Unsinn. Aber Tschunke hatte uns wirklich gerettet. Ohne ihn wären wir bestimmt noch länger umhergeirrt. Egon, der zum Wasser gelaufen war, kehrte jetzt zurück. „Alles ganz schön“, meinte er und schob seine Brille auf die Stirn. „Aber wie kommen wir auf die andere Seite?“ Der Bach
war zwei Meter breit, und eine Brücke war nicht da, nur ein paar verfaulte Pfosten standen noch im Wasser. Aber wir überlegten nicht lange, zogen die Schuhe aus und wateten durch das Wasser. Nur Schnäppi wollte es besser machen. „Da spring ich doch so hinüber“, protzte er.
Er ist auch gesprungen. Aber ins Wasser. Wir haben vielleicht gelacht. „Jetzt bist du wenigstens richtig gewaschen“, sagte Egon. Schnäppi mußte sein Hemd und seine Hose ausziehen, die waren nämlich vollkommen naß. Er suchte sich eine Stange^ hängte Hemd und tlose daran auf und trug sie über der Schulter. Das sah wie eine Fahne aus, allerdings nicht so schön. Die Mühle haben wir schnell gefunden. Sie war gar nicht weit weg. Von dort führte ein Weg direkt nach Jahnsbach. Wir konnten uns wirklich nicht mehr verlaufen.
In Jahnsbach
Das kleine Dorf Jahnsbach liegt am Rande unseres Forschungsgebietes. Dort wollten wir über Nacht bleiben. Als wir in Jahnsbach ankamen, waren die anderen Gruppen schon da. „Das ist bloß, weil du nicht aufgepaßt hast“, schimpfte Zwecke auf Horst. „Tschunke ist schuld!“ rief Schnäppi. „Auf den mußten wir doch immer warten.“ Tschunke aber war empört. „Ich soll schuld sein? Wenn ich nicht gewesen wäre, ständen wir vielleicht jetzt noch am Bach. Wärst du lieber nicht ins Wasser gefallen, dann hätten wir es schon geschafft!“ Einer schob es auf den anderen. Zum Schluß waren alle schuld. Als Quartier war uns die Turnhalle zugewiesen. Wir waren noch nicht lange dort, als ein Pferdewagen mit Stroh vorfuhr. „Los Sprotte“, sagte Zwecke zu mir, „komm mit auf den Wagen. Das gibt einen Spaß!“ Wir kletterten hinauf und warfen das Stroh im weiten Bogen hinunter. Die anderen trugen es in die Turnhalle. Als der Wagen halb leer war, haben wir uns erst einmal ausgeruht, das heißt: die anderen, Zwecke und ich nicht. Wir haben einen kleinen Turm gebaut und sind ins Stroh gesprungen. Immer mit dem Kopf vornweg. Zwecke hat sogar einen Salto gedreht. Aber ich bin bloß auf den Rücken gefallen. Als wir das Stroh abgeladen hatten, sind wir in die Turnhalle gegangen. Tschunke hatte sich schon einen Platz gesucht, und
Wolf und Schnäppi auch. „Meine Füße“, sagte Tschunke immer wieder. „Keinen Schritt kann ich mehr laufen.“ Dabei hatte er bloß eine kleine Blase an der Ferse, sonst nichts. Die pinselte der Sanitäter mit Jod. Tschunke zappelte wie ein Frosch und verzog das Gesicht. Aber geholfen hat es, er konnte wieder laufen. Zuerst waren wir sehr müde und haben uns ins Stroh gelegt. Dann ist einer nach dem anderen aufgestanden, und ein paar haben sogar Fußball gespielt, bis Gert gekommen ist und so obenhin fragte: „Wollen wir backen?“ War das ein Geschrei! Alle wollten mit, auch die von den anderen Gruppen, aber das ging nicht. Bis zum Bad war es nicht weit. Zwecke wollte gleich hineinspringen, aber Gert hat es nicht erlaubt. „Erst abkühlen“, sagte er, „sonst kriegt ihr einen Herzschlag.“ Wir haben uns tüchtig vollgespritzt. Auch Gert. Er ging dann aber nicht mit uns ins Wasser, sondern stand am Rand und paßte auf, daß keiner ertrinkt. „Den holen wir uns rein“, sagte Zwecke. Als wir aus dem Wasser kamen, trockneten wir uns ab und setzten uns mit Gert auf die Wiese. „Paßt auf“, flüsterte Zwecke plötzlich. „Los jetzt!“ Horst, Harry und Zwecke packten Gert an den Beinen und wir bei den Armen. Aber Gert hat sich tüchtig gewehrt. „Mich kriegt ihr nicht hinein“, sagte er und schüttelte uns immer wieder ab. Trotzdem sind wir ganz nahe ans Wasser gekommen, nur ein paar Meter fehlten. Wir strengten uns noch einmal richtig an und zogen mit aller Kraft. Plötzlich gab Gert nach. Wir konnten gar nicht so schnell loslassen. Zwei sind deshalb auch mit ins Wasser gefallen, Egon und Schnäppi.
Als Gert wieder auftauchte, lachte er. Da merkten wir, daß er sich nur so gesträubt hatte, um ein paar von uns mit hineinnehmen zu können. Das hat uns viel Spaß gemacht. Beinahe wäre es aber schlimm ausgegangen. Schnäppi konnte nämlich nicht schwimmen. Das haben wir nicht gewußt. Erst als Horst rief: „Schnäppi geht unter!“ wurden wir aufmerksam. Harry und Wolf sind gleich hinterhergesprungen. Aber Gert hatte Schnäppi schon gegriffen. Draußen legten wir ihn über eine Bank, mit dem Bauch nach unten, da mußte er das ganze Wasser wieder ausspucken. Das war Schnäppis zweites Bad an diesem Tage.
Am Lagerfeuer
Wenn die Kartoffelernte vorbei ist, brennen wir zu Hause immer kleine Feuer auf den Feldern ab. Oft sitzen wir den ganzen Nachmittag dort, und wenn wir noch ein paar Kartoffeln finden, legen wir sie in die Glut, bis sie gar sind. So ein Kartoffelfeuer zählte bisher zu meinen schönsten Erlebnissen. An diesem Abend versammelten wir uns auch um ein Feuer, aber ohne Kartoffeln. Das Holz hatten wir auf dem Heimweg vom Baden gesammelt. Und nun saßen wir auf dem Platz hinter der Turnhalle. Überall brannten kleine Lagerfeuer. Immer eins für zwei Gruppen. Wir waren mit Helmuts Gruppe zusammen. In der Dunkelheit ist so ein Feuer ganz anders als bei Tage. Da sieht man nur die Flammen. Wie kleine Schlangen züngelten sie aus dem Holzstoß hervor. Und auf den Gesichtern spiegelte sich ihr roter Schein. Zuerst sangen wir ein Lied. Dann trat Horst vor. „Junge Pioniere lieben ihre Heimat“, sagte er. „Wir sind heute hinausgezogen, um ein Stück unserer schönen deutschen Heimat kennenzulernen. Darum wollen wir jetzt auch von ihr erzählen.“ Er setzte sich wieder, und Harry stand auf. Er trug ein Gedicht vor. „Deutschland, du liebe Heimat!“ Nach ihm kamen andere, Wolf, Egon, Zwecke und auch Jungen von Helmuts Gruppe. Sie sagten Gedichte auf oder erzählten kleine Geschichten. Und alles war wie eine große Reise durch Deutschland.
Egon erzählte von Leipzig und der Messe, die dort jedes Jahr ist. Wolf ist in Berlin zu Hause, er hatte viel zu berichten; was er vergaß, holte Zwecke nach. Er ist auch Berliner. Ein Junge aus Gruppe sieben ist in Warnemünde an der Ostsee daheim. Dort werden viele Schiffe gebaut, und sein Vater arbeitet in so einer Fabrik, in einer Werft. Alle sprachen von ihrer Heimatstadt, von Dresden, von Görlitz, von Weimar, von Schwerin und auch von vielen Dörfern, wo die Bauern jetzt mit neuen Maschinen aus der Sowjetunion arbeiten. Ich sollte auch etwas erzählen. Das hatte mir Gert schon gesagt. Als ich aber die anderen sprechen hörte, wurde ich ein bißchen unsicher. So gut wie die konnte ich es bestimmt nicht. „Wir haben jetzt sehr viel von uns vernommen“, sagte Horst, als sich der letzte wieder gesetzt hatte. „Von unserer Republik haben wir berichtet, wie die Menschen darin leben und wie sie gemeinsam ein neues Leben aufbauen. Aber unsere deutsche Heimat ist nicht nur die Deutsche Demokratische Republik. Auch Westdeutschland gehört dazu. Wir sind gespannt, was Rudi aus seiner Heimat berichtet.“ Nun war es soweit. Ich mußte anfangen. Aber was sollte ich erzählen? Mir war ganz wirr im Kopf. Was sollte ich nur sagen! „Erzähl von dir daheim“, flüsterte mir Horst zu. „Von deinen Eltern, und wie ihr lebt.“ Das hatte Gert auch schon gesagt. Aber es war eben nicht so einfach. Die anderen sahen mich erwartungsvoll an. Dann begann ich: „Unser Dorf heißt Weißenreuth. Es liegt in Oberfranken. Das ist nicht weit von Hof entfernt. Früher haben wir im Dorf gewohnt, beim Reimschbauern auf dem Dachboden, direkt über dem Schweinestall. Das war 1945, als wir hinkamen. Damals hat Vater auf dem Hof geholfen, Mutter auch.
Später sind wir ausgezogen. Der Reimschbauer wollte uns nicht mehr haben. Hinter dem Dorf stehen ein paar alte Baracken. Früher waren Gefangene drin, jetzt wohnen wir dort. Wir haben nur zwei kleine Zimmer. Das eine ist nicht einmal so groß wie ein Zelt. Da schlafen wir. Und das andere ist unsere Küche. Ich habe auch Geschwister. Vier waren es, aber jetzt sind es nur noch drei. Der Franz ist gefallen. Er war erst fünfzehn Jahre alt, als sie ihn holten. Das war noch in Schlesien. Meine große Schwester ist im vorigen Jahr aus der Schule entlassen worden. Seitdem arbeitet sie beim Reimschbauer als Magd. Sie bleibt auch über Nacht dort. Nur sonntags besucht sie uns manchmal, wenn sie frei hat. Dann ist noch die Luise da und der Reinhard. Luise ist vier Jahre alt und Reinhard noch nicht einmal zwei. Auf den muß ich immer aufpassen, wenn die Mutter keine Zeit hat. Im Dorf sagen sie deshalb ,Kindermädchen’ zu mir. Aber daraus mache ich mir nichts. Wenn ich nicht auf die Kleinen aufpasse, gehe ich in die Schule. Da ist es aber nicht schön. Wenn ich nicht hinzugehen brauchte, wäre es mir lieber. Die Kinder aus dem Dorf können uns Barackenkinder nicht leiden. ,Ihr gehört nicht hierher’, sagen sie immer. ,Macht, daß ihr fortkommt.’ Und unser Lehrer gibt ihnen recht. Wenn einer von uns mal etwas nicht versteht, hänselt er uns: ,Na ja, was soll man von euch schon verlangen?’ Und wenn wir erklären, daß wir auch nicht schlechter sind als die aus dem Dorf, wird er wütend und brüllt uns an. Vater sagt, er sei so eklig zu uns, weil er von den Bauern immer Fleisch und andere gute Sachen bekommt. Deshalb gehe ich auch nicht gern zur Schule. Im Dorf sind fast alle gegen uns. Sogar der Pastor setzt uns auf eine besondere Bankreihe. Nur der Klopfer Arno und noch
ein paar sind anders. Von denen erzählen sie im Dorf aber auch, daß sie Kommunisten sind. Den Klopfer Arno haben sie sogar schon mal eingesperrt, weil er behauptet hat, die Amerikaner würden uns noch das Haus über dem Kopf anzünden. Ja, und dann ist noch die alte Ziegnern da. Die hat einen kleinen Laden, gleich neben der Schule. Dort kaufen wir ein. Die anderen borgen uns nämlich nichts, und wir haben nie Geld genug, weil Vater keine Arbeit hat. Bloß die Ziegnern, die schreibt alles in ein Buch, was wir holen. Und wenn Vater dann mal etwas verdient, geben wir’s ihr, und sie streicht uns wieder aus.“ Ich war am Ende. Mehr fiel mir nicht ein. Die anderen saßen still da. Nur das Holz im Feuer knackte. „Sind bei euch auch Amis?“ fragte endlich einer aus Helmuts Gruppe. Das hatte ich vergessen zu erzählen. „Die sind überall“, sagte ich. „Fast jeden Tag kommen welche durchs Dorf. Manchmal nur in Autos, aber häufig sind auch Panzer dabei. Die üben draußen auf den Feldern, daß oft die Fensterscheiben klirren. Und wenn sie vorbeifahren, laufen wir schnell weg. Im vorigen Jahre haben sie bei uns zwei Kinder überfahren, einen Jungen und ein Mädchen. Die nehmen auf nichts Rücksicht. Dem Selgbauer haben sie die Scheune kaputtgemacht. Mittendurch sind sie mit dem Panzer gefahren. Aber am nächsten Morgen – da stand überall ,Ami go home!’ Das war mit weißer Farbe gemalt.“ Ich setzte mich. Das Feuer war fast niedergebrannt. Gert legte ein paar Äste auf die Glut und stocherte mit einem Stock darin herum, bis die Flammen wieder hell aufloderten. Plötzlich stand Horst auf und trat vor mich hin. „Du hast uns sehr viel von deinem Leben erzähle“, sagte er. „Du hast es nicht so leicht wie wir,
aber du gehörst zu uns, und wir wollen mit dir zusammen für ein besseres Leben kämpfen. Willst du?“ „Ja“, antwortete ich. Weiter konnte ich nichts sagen. Ich wußte nicht, wie ich das machen sollte, mit ihnen zusammen kämpfen. Zwischen uns liegt doch die Grenze. „Du wirst es schwer haben“, fuhr Horst fort, „du wirst viel lernen müssen, auch wenn es dir in eurer Schule nicht gefällt. Wer etwas weiß, den kann nämlich niemand unterdrücken. Deshalb mußt du viel lernen, Rudi, genau wie wir. Aber wir wollen dir dabei helfen. Wir werden dir schreiben, wenn du wieder daheim bist, und dir von unserer Arbeit berichten. Und damit du weißt, daß du nicht allein bist, daß du zu uns gehörst, will ich dir mein Halstuch geben.“ Ich stand auf. Horst nahm sein blaues Tuch vom Hals und legte es mir um.
„So fest wie diese beiden Knoten soll unsere Freundschaft sein“, erklärte er feierlich, und wir gaben uns die Hand. Eigentlich hätte ich ja nun etwas erwidern müssen, aber ich konnte nicht. Ich war so glücklich, daß ich kein Wort hervorbrachte. Ich hatte ein blaues Halstuch! Ich bin Junger Pionier! Und darauf bin ich stolz.
Unser Auftrag
Am nächsten Morgen strahlte die Sonne. Wir brachen sehr zeitig auf. Diesmal wanderten wir auf der Straße; denn das war der kürzeste Weg. Nach einem Marsch von ungefähr einer Stunde tauchten die ersten Häuser von Geyer vor uns auf. Gert und Horst gingen zum Bürgermeister. Wir warteten inzwischen auf dem Markt, bis sie endlich wiederkamen. Ein Mann begleitete sie. Der sollte uns führen. Horst hatte ein dickes Buch unter dem Arm: die Chronik von Geyer. Nun konnte es losgehen. Zirkel I, also unsere Gruppe, hatte die Aufgabe, die Geschichte der Geyerschen Binge zu erforschen. Zirkel II sollte feststellen, welche Gesteinsarten es in der Binge gab und welche Pflanzen und Tiere dort zu finden waren. Zuerst sahen wir uns aber alle die Binge an. Das ist ein Berg, ein wenig südlich von Geyer. In der Mitte des Berges ist ein großes Loch, ein Krater. Über seine Entstehung haben wir eine Menge aus der Chronik erfahren. Zu sehen gab es nicht viel, und wir waren eigentlich ein bißchen enttäuscht. Aber wenn man gleich alles sieht, ist es ja auch nicht interessant. „Um zwölf treffen wir uns hier wieder“, sagte Gert zum Schluß. „Und nun geht an die Arbeit, Pioniere. Eure Aufgabe kennt ihr ja.“ Wir suchten uns eine Stelle, von der wir die ganze Binge übersehen konnten, und setzten uns im Halbkreis um Horst. Zuerst erzählte der fremde Mann, wie die Binge entstanden ist,
dann las Horst aus der Chronik vor. Dadurch haben wir noch viel erfahren, was für unseren Auftrag wichtig war. Ich will aber jetzt nicht erzählen, wie wir alles mühsam zusammensuchten. Nein, ich will lieber schreiben, was zum Schluß in unserem Forschungsbericht stand.
Die Geschichte der Geyerschen Binge Vor tausend Jahren war das Erzgebirge zum größten Teil noch mit dichtem Wald bewachsen. Nur am Rande gab es ein paar Siedlungen. Die Menschen fürchteten sich vor den finsteren Wäldern, weil sie glaubten, dort gäbe ei allerlei Geister. Das erfuhren wir aus den Sagen, die in der Chronik standen. Erst um 1125 drangen sie in den Wald ein, rodeten das Land, und es entstanden die Städte Thum und Ehrenfriedersdorf. Eines Tages entdeckte man in der Erde Zinn- und Silbererze, auch da, wo jetzt die Binge ist. Viele Leute kamen herbei, und so entstand 1395 die Stadt Geyer. Die drei Städte wurden schnell reich; denn die Erze waren sehr kostbar. Aber es waren in jeder Stadt nur eine oder zwei Familien, denen die Silberbergwerke gehörten. Die anderen mußten das Erz aus der Erde holen und durften nichts davon behalten. Sie erhielten nur ihren Lohn, und der war sehr gering. Am schlimmsten haben es Nikel Thilo und der damalige Bürgermeister von Chemnitz, Ulrich Schütz, getrieben. Sie konnten nicht genug kriegen. Fünfzehn Stunden und noch mehr mußten die Bergleute für sie arbeiten. Sogar Kinder schickten sie in den Schacht. Mit der Zeit wurde immer weniger Erz gefunden. Es enthielt auch nicht mehr soviel Silber und Zinn. Aber die Bergherren wollten trotzdem mehr verdienen und zwangen die Bergleute,
weiter in den Berg einzudringen. Dabei ließen sie ihnen nicht einmal Zeit, die Stollen – das sind die Gänge unter der Erde – richtig abzustützen. So kam es, daß oft ein Stollen einstürzte und auch Menschen unter sich begrub. Den Bergherren war das gleichgültig, und wenn die Bergleute sich dagegen wehrten, dann erhielten sie einfach keinen Lohn mehr. Ob die Bergleute verhungerten oder nicht, war den Bergherren gleichgültig. Manchmal holten sie auch ihre Knechte. Die mußten die Bergleute dann niederschlagen. Das trieben sie viele hundert Jahre so. Aber einmal ging es doch nicht mehr weiter. Das war im Jahre 1708. Da brach ein Teil des Berges zusammen, und etwa hundert Jahre später, 1803, noch einmal. Das muß so schlimm gewesen sein, daß die Stadt wie bei einem Erdbeben erschüttert wurde. So ist die Geyersche Binge entstanden. Der ganze Berg war innen hohl und ist in sich zusammengestürzt. Heute ist die Binge ein Naturschutzgebiet. So sah unser Forschungsbericht aus. Den haben wir aber erst später, als wir schon wieder im Lager waren, geschrieben, und alle haben dabei geholfen. – Als sich der Mann aus der Stadt von uns verabschiedete, sagte er noch: „Ja, ja, unsere Binge ist ein schönes Beispiel dafür, wohin grenzenlose Ausbeutung führt. Die Bergherren haben sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Nach dem Einsturz konnte nämlich überhaupt nicht mehr gefördert werden. So wird es allen gehen, die heute noch auf Kosten der Arbeiter reich werden wollen.“
Erbsen mit Salz
Es war inzwischen Mittag geworden. „Ich habe Hunger“, sagte Zwecke. „Eigentlich könnten wir was essen.“ Wir waren auch der Meinung, und als die anderen vom Zirkel II kamen, rief Schnäppi von weitem: „Was denn? Habt ihr noch nicht gekocht?“ Er warf einen Sack mit Steinen auf die Erde. „Wir schleppen uns mit dem Zeug ab, und ihr sitzt da und habt nicht mal was zu essen.“ „Erst müssen wir einen Herd bauen und Feuer anzünden“, erklärte Horst. „Los, beschafft mal ein paar große Steine. Und ihr, Tschunke und Wolf, geht bis zum nächsten Haus und holt Wasser.“ „Ich muß doch kochen“, wandte Tschunke ein. „Ohne Wasser kannst du sowieso nicht“, meinte Harry, und Zwecke sang: „Ohne Wasser, merk dir das, ist unsre Welt – ein leeres Faß!“ Da blieb Tschunke nichts anderes übrig, er mußte gehen. Wir trugen inzwischen große Steine zusammen. Die zu finden, war nicht schwer. Es lagen genug herum. „Im Wald dürfen wir aber nicht kochen“, sagte Gert, „sonst gibt es einen Waldbrand.“ Da hatte er recht. Wir suchten einen Platz, wo keine Bäume standen. Zur Vorsicht haben wir sogar mit einem kleinen Spaten die Grasnarbe abgezogen. Zwecke und Schnäppi suchten trockenes Holz. Sie brachten so viel, daß wir zu Hause acht Tage damit gereicht hätten.
„Geht weg“, sagte Schnäppi, als wir die Steine zu einem Herd übereinandergelegt hatten. „Jetzt mach’ ich Feuer an.“ „Komm bloß nicht so nahe mit dem Kopf ran“, mahnte ihn Zwecke. Schnäppi hatte nämlich rote Haare. „Und du rede nicht soviel, sonst ist zuviel Wind“, fuhr der ihn an. Schnäppi wurde immer wild, wenn ihn einer wegen seiner Haare neckte. Als Tschunke und Wolf mit dem Wasser kamen, brannte das Feuer schon lichterloh. „Ihr habt wohl erst einen Brunnen gegraben?“ fragte Schnäppi. „Hol’s doch selber, wenn es dir zu lange dauert“, brummte Tschunke und stellte mit einem Ruck den Topf auf den Herd. „Wo sind denn die Erbsen?“ fragte er. „Hier!“ Egon schob ihm die Schachtel hin. „Nun zeig mal, was du kannst!“ Wir setzten uns alle um den Herd, und Tschunke fing an zu kochen.
„Vergiß das Salz nicht“, erinnerte ihn Harry. Tschunke warf zwei Hände voll in den Topf. „Und den Speck! Hast du den schon geschnitten?“ „Gib her“, sagte Schnäppi, „ich schneide ihn.“ „Ach“, meinte da Egon, „bleib du bloß sitzen. Wasch dir lieber die Finger.“ „Dreck macht fett.“ Schnäppi hatte immer gleich eine Antwort bereit. „Aber nicht unsere Erbsensuppe“, sagte Horst. „Leg lieber Holz nach, sonst geht das Feuer aus.“ Tschunke rührte ununterbrochen im Topf herum. „Bist du noch nicht bald fertig?“ fragte Zwecke. Tschunke hörte auf zu rühren und sah Zwecke streng an. „Red nicht dazwischen. Jetzt kocht erst mal das Wasser.“ „Ach, du liebe Zeit!“ Zwecke stöhnte. „Ehe du die paar Erbsen gekocht hast, sind wir verhungert.“ Tschunke rührte weiter. Allmählich wurde uns das Zugucken langweilig. Wir legten uns ins Gras und dösten vor uns hin. „Jetzt rührt er schon zwanzig Minuten“, sagte Wolf nach einer Weile. Horst erhob sich und ging zu Tschunke. „Laß mich mal probieren.“ Er fischte mit dem Löffel ein paar Erbsen aus dem Topf. „Sind noch hart“, sagte er dann und spuckte sie wieder aus. „Gib her, laß mich mal.“ Nun rührte Horst weiter. Nach einer Viertelstunde löste ihn Harry ab, dann Egon und schließlich wieder Tschunke. Das Holz war fast verbrannt, und Wasser war auch nicht mehr im Topf, nur noch die Erbsen, und die waren hart wie Kieselsteine. „Laß dich mit deinen Erbsen einsalzen“, brummte Zwecke. Es war wirklich ärgerlich. Über eine Stunde kochte das Essen nun schon. Aber die Erbsen wollten und wollten nicht weich werden.
„Holen wir frisches Wasser“, schlug Horst vor. „Komm, Harry!“ Sie rannten davon. Mit einem Krug voll Wasser kamen sie wieder. Den Krug hatten sie sich geborgt. „Nicht zuviel“, sagte Tschunke. „Sonst kocht es nicht mehr.“ Wir warteten. Zwecke lag auf dem Bauch und schlief. Wolf baute aus kleinen Steinen einen Turm, und Egon ließ eine Raupe immer wieder über einen kleinen Zweig kriechen. Tschunke war ganz niedergeschlagen. Fast zwei Stunden rührte er schon, und die Erbsen waren noch immer nicht weich. „Ich kann nichts dafür“, sagte er schließlich und ließ sich auf einen Stein fallen. „Das liegt an den Erbsen.“ Horst probierte wieder. „Ein bißchen weicher sind sie bereits“, verkündete er. „Ich kann nichts dafür“, wiederholte Tschunke immer wieder. Er sah richtig krank aus. „Nun hör endlich auf“, fuhr Wolf ihn an. „Daß du nichts dafür kannst, wissen wir. Aber ob wir endlich essen können, hast du uns noch nicht gesagt.“ „Noch länger zu warten, hat keinen Zweck!“ rief Egon. „Was ist los?“ brummte Zwecke und fuhr hoch. Ganz verschlafen sah er aus. „Was soll denn los sein?“ fragte Horst. „Habt ihr mich nicht gerufen?“ Wir mußten lachen. „Es hat keinen Zweck, hab’ ich gesagt“, wiederholte Egon. „Und ich hab’ Zwecke gehört. Ist das Essen nun endlich fertig oder nicht?“ „Fertig?“ Horst krauste die Nase. „Na ja. Aber wir essen jetzt“, entschied er. Damit waren wir alle einverstanden. Sollten die Erbsen sein, wie sie wollten. Wir hatten Hunger. „Los, Tschunke, teil aus!“ rief Schnäppi. Der guckte dumm. „Wo denn hin?“
Wir hatten vergessen, unsere Schüsseln mitzunehmen. „Dann müssen wir alle aus dem Topf essen“, sagte Harry. Wir stellten den Topf in die Mitte und fingen an, das heißt, wir wollten anfangen. Zwecke merkte es zuerst. „Pfui Teufel!“ rief er und verschluckte sich. „Das Zeug ist ja angebrannt. Und zuviel Salz ist auch dran!“ Er hatte recht. Selbst wenn wir uns die Nase zuhielten, brachten wir keinen Bissen hinunter. „Du bist vielleicht ein Koch!“ „Nicht mal Erbsen kannst du kochen!“ „Der hat die ganze Zeit über geschlafen!“ „Vergiften will er uns!“ Alle schrien auf Tschunke ein. Der sank immer mehr in sich zusammen. „Ich – ich kann doch nichts dafür“, stammelte er zum zwanzigsten Male. „Ihr habt gesagt, daß ich Salz hineintun soll. Und gerührt habe ich auch immer.“ Er hatte wirklich keine Schuld. Aber die Erbsen konnten wir trotzdem nicht essen. „Wo ist eigentlich Gert?“ fragte Wolf plötzlich. Wir sahen uns um. Gert war nicht da. „Der ist vorhin in den Wald gegangen“, meinte Egon. „Schon lange?“ „Vor einer halben Stunde.“ „Hoffentlich ist ihm nichts passiert?“ „Bin schon wieder da!“ rief es da hinter uns. Gert trat aus dem Wald. „Ich habe nur einen kleinen Spaziergang gemacht. Na, und wie steht’s bei euch? Schmeckt’s?“ Wir sahen uns an. „Das Zeug fressen nicht mal die Schweine“, murmelte Zwecke schließlich. „Sind wohl nicht weich geworden, eure Erbsen?“ fragte Gert. Und dabei lachte er. „Das liegt am Salz.“
„Siehst du“, fuhr Zwecke auf Tschunke los. „Ich hab’ es doch gleich gesagt, daß zuviel Salz dran ist.“ „Am Zuviel liegt es nicht“, meinte Gert. „Aber denkt mal daran, was ihr vorgestern gesagt habt, als wir über das Abkochen sprechen wollten. ,Können wir doch alles’, habt ihr gesagt. Na, das ist nun der Beweis!“ Als wir die Expedition vorbereiteten, wollte uns Gert nämlich erzählen, wie man Erbsen kocht. Aber wir meinten alle, es sei schade um die Zeit. „Wieso soll das Salz schuld sein?“ wollte Horst wissen. „Ihr habt das Salz gleich am Anfang ins Wasser geschüttet. Stimmt’s? Und das war falsch. Das Salz bildet dann eine Schicht um die Erbsen und läßt sie nicht weich werden. Außerdem legt man Erbsen schon eine oder zwei Stunden vorher ins Wasser, damit sie aufquellen. Das habt ihr auch nicht getan.“ „Das hättest du gleich sagen können“, meinte Zwecke. „Wollte ich doch. Aber ihr wußtet wieder einmal alles besser.“ Was half die ganze Rederei? Das Essen war und blieb verdorben. Schade um die Erbsen und den schönen Speck, dachte ich. Damit hätten wir zu Hause zwei Wochen lang gereicht. „Ja, und was machen wir nun?“ fragte Wolf. Das wußten wir auch nicht. „Wenn ich schlecht wäre, würde ich euch jetzt hungern lassen“, meinte Gert. „Aber der Spaß hat schon lange genug gedauert. Unten im Gasthaus wartet ein großer Topf Nudeln auf euch.“ „Hurra!“ brüllten wir und wollten gleich davonstürmen. Aber Gert ließ es nicht zu.
„Immer langsam“, sagte er. „Wollt ihr etwa hier alles liegenlassen? Sogar das Feuer brennt noch! Zwei müssen vorläufig hierbleiben, als Wache.“ Wir sahen uns wieder an. „Ich bleibe hier“, erklärte Horst endlich. „Und ich auch“, sagte Tschunke. Das ist ihm bestimmt sehr schwergefallen; denn beim Essen war er doch immer der erste. „Nein, ich!“ riefen nun Harry und Egon und noch ein paar andere. Ich auch. Aber Gert entschied: „Horst und Tschunke haben sich zuerst gemeldet. Wer von euch als erster mit dem Essen fertig ist, löst die beiden ab.“ „Rühr die Erbsen gut um, Tschunke“, sagte Zwecke noch, als wir gingen. Aber Tschunke hatte sich schon wieder erholt. „Die schenke ich dir zu Weihnachten!“ rief er ihm nach.
Max und Moritz Max und Moritz waren zwei junge Katzen. Max hatte ein gelbbraun-gestreiftes Fell wie ein Tiger, und Moritz war schwarzweiß-gescheckt. Am Nachmittag haben wir sie gefunden. Zirkel II sollte doch feststellen, welche Pflanzen und Tiere es im Forschungsgebiet gibt. Pflanzen hatten sie eine ganze Schachtel voll, aber keine Tiere. Nur ein paar Käfer und eine Eidechse, das war soviel wie gar nichts. Als wir gegen Abend nach Jahnsbach zurückwanderten, sahen wir kurz hinter Geyer Max und Moritz. Gleich neben der Straße stand ein einzelnes Haus mit einem Garten. „Seht mal!“ sagte Wolf plötzlich, „dort kommt ein Tiger!“ Es sah auch wirklich fast so aus. Mitten im Gras stand eine kleine Katze und sah uns neugierig an. „Miez! Miez!“ lockte Egon und raschelte mit der Hand im Gras. Das Kätzchen spitzte die Ohren, duckte sich und – schwupp – kam es gesprungen. „Haha!“ lachte Zwecke. „War ja keine Maus.“ Aber das Kätzchen wollte auch keine Maus fangen. Es wollte nur spielen. Da haben wir alle im Gras geraschelt, und es wußte gar nicht mehr, wo es hinspringen sollte. „Dort ist noch eine!“ rief Harry plötzlich. Zwischen den Zaunlatten kroch ein zweites Kätzchen hervor und gleich darauf noch ein drittes. „Das ist ja eine ganze Katzenfamilie“, sagte Wolf, als schließlich noch eine große Katze dazukam. „Miez! Miez!“ riefen wir immer wieder.
Wir konnten nicht genug kriegen. Das Spiel gefiel uns genausogut wie den Katzen. Dabei merkten wir nicht einmal, daß eine Frau aus dem Haus getreten war. Erst als sie uns schon eine ganze Weile zugeguckt hatte, sahen wir sie. „Gehören die Ihnen?“ fragte Egon. „Ja“, antwortete die Frau. „Wir hatten noch zwei. Die haben wir weggegeben.“ „Ach, so eine kleine Katze möchte ich auch einmal haben“, sagte Tschunke. Er hatte die schwarz-weiß-gescheckte auf den Arm genommen und streichelte sie. „Wenn ihr wollt, könnt ihr euch eine mitnehmen“, meinte die Frau. „Ach ja!“ riefen wir alle. „Fein! Wir nehmen eine mit ins Lager. Dann haben wir eine Lagerkatze.“ „Und die anderen werden Augen machen“, sagte Wolf. „Ich werde sie dressieren“, verkündete Schnäppi. „Die muß alle Fliegen im Zelt fangen.“ „Eine Katze ist doch kein Fliegenfänger“, meinte Zwecke herablassend. „Ich werde ihr ,Männchen machen’ und ,auf zwei Beinen gehen’ beibringen.“ Wir waren uns einig, eine Lagerkatze mußte sein. „Aber welche?“ fragte Harry. „Die hier?“ fragte Tschunke. Er meinte die schwarz-weiß-gescheckte. „Nein, die!“ rief Zwecke. Er hatte die braungestreifte Katze gefangen.
„Nein, meine nehmen wir mit“, beharrte Tschunke, und Zwecke blieb dabei: „Die braune wird unsere Lagerkatze.“ „Na, dann nehmt alle beide“, sagte schließlich die Frau. Das war sicher die beste Lösung. Nur Horst wollte nicht. „Was sollen wir denn mit zwei Katzen? Eine ist ganz schön, aber zwei?“ „Ach, laß nur“, meinte Egon. „Wenn es für uns zuviel wird, geben wir Zelt sieben eine oder den Mädchen.“ „Ja, den Mädchen!“ brüllte Schnäppi. „Wir packen die Katze in eine Decke, und wenn die Mädchen dann die Decke aufmachen, springt sie ihnen ins Gesicht.“ Dabei rieb er sich vor Freude die Hände. „Schinder!“ Egon sah ihn böse an. „So ein kleines Tier den ganzen Tag in eine Decke wickeln!“ „Dich werden wir in einen Sack stecken“, sagte nun auch Wolf. Schnäppi zog sich zurück. „War ja bloß Spaß“, meinte er kleinlaut. Damit war die Sache also entschieden. Wir wollten beide Katzen behalten. Nur zwei Namen mußten wir noch finden. „Molly“, schlug Tschunke vor. „Das würde besser auf dich passen“, murmelte Zwecke vor sich hin. „Nennen wir sie Schnurzel.“ „Peter!“ „Putzi!“ Jeder wußte einen anderen Namen. Aber dann sagte Harry: „Nennen wir sie doch Max und Moritz!“ Das gefiel allen. „Natürlich Max und Moritz!“ riefen wir. Und Zwecke fing gleich an: „Ach, was muß man oft von bösen Katzen hören oder lesen! Wie zum Beispiel hier von diesen, welche Max und Moritz hießen.“ Das ist von Wilhelm Busch. Aber eigentlich heißt es „Kindern“ und nicht „Katzen“.
Ein Unfall
Eigentlich war es gar kein Unfall, aber es hätte leicht einer sein können. Als wir nämlich mit unseren Katzen ein Stück weitergegangen waren, sprang plötzlich die eine – es war der Max – von Zweckes Arm herunter und lief davon. Wir natürlich hinterher. Aber Max war schneller. Immer, wenn einer von uns dachte, er hätte ihn, war Max schon wieder weg. Und dann saß er plötzlich auf einem Bäum. „So ein Biest!“ riefen wir. „Was sollen wir nun machen?“ Da drängte sich Zwecke nach vorn. „Geht weg! Ich klettere hinauf.“ Die anderen machten ihm Platz. „Ich helfe dir“, sagte Wolf. Er stellte sich an den Baum und hielt Zwecke seine Hände hin. Da sollte er hineinsteigen. Max saß ganz ruhig auf dem Ast und sah zu. Jetzt steigen die meinetwegen noch auf die Bäume, mag er wohl gedacht haben. Mal sehen, ob sie das besser können als ich. Zwecke konnte gut klettern. Er stieg auf Wolfs Schultern und griff nach einem Ast. Genauso wie damals bei dem Segelflugmodell. „Der Ast ist zu schwach!“ rief ihm Gert zu. Aber Zwecke hörte nicht. Da war es auch schon geschehen. Zwecke hatte kaum die Füße von Wolfs Schulter genommen, da knackte es, und er fiel wie eine reife Pflaume auf die Erde. „Au!“ brüllte er und wälzte sich hin und her. „Au!“ Gerd kniete neben ihm nieder.
„Hast du dir was gebrochen?“ fragte er. „Wo tut es denn weh?“ Da hörte Zwecke auf zu brüllen und sagte frech: „Nirgends!“ Der Angeber! Wir waren richtig böse auf ihn, weil er uns so einen Schreck eingejagt hatte. Aber im Grunde genommen war es natürlich besser, daß nichts passiert war. Übrigens, Max brauchten wir nicht mehr herunterzuholen. Der kam von ganz allein. Vielleicht hat ihm Zwecke leid getan. Das war aber noch nicht der Unfall, von dem ich erzählen wollte, der kam erst später. Zwecke mußte sich bei dem Sturz doch ein bißchen den Fuß geprellt haben. Als wir weitergingen, hinkte er nämlich. Kurz vor Jahnsbach – es ging gerade bergab – brüllte Zwecke plötzlich wieder wie am Spieß. Wie blieben stehen. Zwecke saß auf einem Baumstumpf und hielt seinen Fuß. „Au, au!“ brüllte er, schlimmer als beim erstenmal. Gert kniete schon wieder vor ihm und drückte an dem Fuß herum. „Der gibt bloß wieder an“, brummte Harry, und wir dachten dasselbe. „Mach nicht solchen Quatsch“, sagten wir. Schließlich beruhigte sich Zwecke auch. Nur aufstehen konnte er nicht. Er ist gleich wieder zusammengebrochen, als er es versuchte. „Ich kann nicht auftreten“, sagte er. Wir sahen uns ratlos an. Was sollten wir machen? „Komm, wir stützen dich“, meinte Horst schließlich. Er legte Zweckes Arm um seinen Hals. Den anderen nahm Harry. Es ging aber trotzdem nicht. Zwecke konnte und konnte nicht auftreten. „Wenn wir nur eine Trage hätten“, meinte Egon. Eine Trage! Natürlich, das war’s, wir mußten eine Krankentrage bauen. Vor der Expedition hatte uns Gert gezeigt, wie man das macht. Wir brauchten nur zwei Stangen und ein paar Meter Strick.
„Ich hole die Stangen“, sagte Wolf und wollte in den Wald rennen. „Halt!“ rief Gert. „Wir werden keine Trage bauen.“ Erstaunt sahen wir ihn an. Wozu hatte er uns dann gezeigt, wie man eine baut? „Wir müßten zwei kleine Bäume abschlagen. Im Notfall könnten wir das tun. Aber die kurze Strecke bis Jahnsbach wird es auch so gehen. Unser Wald ist sehr kostbar, das wißt ihr. Wir wollen ihn schonen. Ich werde euch eine andere Möglichkeit zeigen.“ Er zählte sechs von uns ab und stellte immer zwei gegenüber. Die mußten die Hände über Kreuz legen und festhalten, das war genau wie eine richtige Trage. Zwecke freute sich. Das Bein schien ihm gar nicht mehr wehzutun. Und als wir ungefähr dreihundert Meter gelaufen waren, sagte er: „So, jetzt kann ich wieder.“ Und wirklich, es ging. Er hatte uns zum zweitenmal genarrt. „Diesmal war ich schuld“, sagte Gert. „Ich wollte einmal sehen, was ihr tun würdet, wenn sich wirklich einer das Bein gebrochen hätte.“ So war Gert. Er ließ uns immer alles allein machen. Aber dadurch haben wir viel gelernt. Wir fuhren mit dem Zug zurück. Eigentlich wollten wir zu Fuß gehen. Aber Doktor Keil sagte: „Das kommt nicht in Frage. Ihr seid genug gelaufen. Jetzt wird gefahren.“ Es war auch gut so. Wir waren nämlich wirklich sehr müde, die meisten haben im Zug geschlafen.
Drei Briefe
Den ersten erhielt ich, als wir am Nachmittag von der Expedition zurückkehrten. Gert brachte ihn. Er war von Mutter. Sie schrieb: „Lieber Junge! Was machst Du uns für Sorgen. Walter Jahn hat geschrieben, daß Du in einem Lager bist. Ich komme bald um vor Angst. Wenn Dir nur nichts passiert! Mit Vater war gar nicht zu reden. Er hat getobt. Am liebsten wäre er sofort hingefahren und hätte Dich geholt. Aber ich meinte, er sollte erst mal warten. Es wird Dir schon nichts passieren. Vielleicht ist es besser, wenn Du gleich nach Hause kommst. Vater möchte es auch. Du kannst ja sagen, daß ich krank bin. Vielleicht lassen sie Dich dann wieder heraus. Es ist ja so schrecklich. Wie konntest Du das nur tun? Deine Mutter“ Das war Mutters Brief. Zuerst wußte ich nicht, was ich denken sollte. Warum hatte sie nur solche Angst? Mir ging es doch gut. Es war mir noch nie so gut gegangen wie jetzt. Aber dann fiel mir ein, daß sie gar nicht wissen konnte, wie schön es im Pionierlager ist. Und daß ich selbst früher Angst hatte, fiel mir auch ein. Da verstand ich erst, was Mutter meinte, und wurde ganz traurig.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte mich Zwecke. „Ist jemand gestorben?“ Aber ich wollte nicht darüber reden. Ich schämte mich ein bißchen. Deshalb stand ich auf und schlich aus dem Zelt. Den anderen Brief hatte Vater geschrieben. Das erfuhr ich, als Onkel Walter gegen Abend ins Lager kam. Er hatte schon mit Jutta, unserer Lagerleiterin, darüber gesprochen, und sie rief mich zu sich. „Da haben wir uns eine schöne Suppe eingebrockt“, sagte Onkel Walter und zeigte mir den Brief. Der war über vier Seiten lang. Ich glaube, einen so langen Brief hat Vater in seinem ganzen Leben noch nicht geschrieben. Und was erst alles drin stand! Das kann ich gar nicht erzählen. An Onkel Walter war kein gutes Haar mehr. Er hätte sein Vertrauen mißbraucht, schrieb der Vater. Das sei der reinste Kinderraub. Und so ging es weiter. Am schlimmsten aber war, daß ich sofort nach Hause kommen sollte. „Wie Du das machst, ist mir gleich“, schrieb Vater. „Aber wenn der Junge in der nächsten Woche nicht daheim ist, hole ich ihn selbst.“
„Da siehst du, was wir angerichtet haben“, sagte Onkel Walter. Jutta schüttelte den Kopf. „Mir tut Rudi leid“, sagte sie und legte ihren Arm um mich. „Der Vater kann einem auch leid tun“, fuhr Onkel Walter auf. „Wie kann ein Mensch nur so verbohrt sein? Ich habe ihm alles bis ins kleinste beschrieben. Er brauche keine Angst zu haben, habe ich geschrieben, dem Rudi passiert nicht das geringste. Nur erholen wird er sich. Und nun diese Antwort!“ „Die Menschen drüben glauben eben nicht, daß es uns gut geht“, sagte Jutta. „Sie wollen es nicht glauben.“ „Ich werde es ihnen schon erzählen“, preßte ich heraus und war so niedergeschlagen, daß mir die Tränen übers Gesicht liefen. Vielleicht war es auch vor Wut. Ja, bestimmt, ich hatte richtige Wut auf die Hetzer bei uns. Vater kann nichts dafür, sagte ich mir, und Mutter auch nicht. Sie dürften eben nur nicht glauben, was die anderen, wie der Alfons zum Beispiel, ihnen vom Osten erzählten. Doch das half alles nichts. Ich mußte nach Hause fahren, und zwar sofort. „Es tut mir leid“, sagte Onkel Walter zu Jutta. Was ihm leid tat, sagte er nicht. Wahrscheinlich ich. Wir gingen zum Zelt, um meine Sachen zu holen. „Ich muß wieder nach Hause“, sagte ich zu den anderen. „Was ist denn los?“ fragte Horst. „Du hast vorhin schon so komisch ausgesehen.“ „Rudi muß euch wieder verlassen“, sagte nun auch Onkel Walter. Da ist Zwecke aufgesprungen. „Was, Rudi soll wieder weg? Das gibt’s nicht! Damit bin ich nicht einverstanden.“ „Ich will es ja nicht“, sagte Onkel Walter. „Aber sein Vater will es.“ Und er erzählte, was Vater geschrieben hatte.
„Das ist eine Gemeinheit!“ Harry war ganz aufgeregt. „Rudi hat doch so gut zu uns gepaßt.“ „Kommt gar nicht in Frage!“ rief Zwecke wieder. „Was meinst du, Tschunke? Lassen wir Rudi fort?“ „Wegen mir – aber wenn sein Vater nun -.“ „Quatschsuse!“ unterbrach ihn Zwecke. „Wenn man dich schon mal nach deiner Meinung fragt! Na und ihr?“ wandte er sich an die anderen. „Was sagt ihr dazu?“ Die schwiegen. „Wenn wir ihn einfach hierbehalten“, meinte Horst schließlich, „dann sagen die drüben, bei uns könnten die Menschen nicht machen, was sie wollen. Soll Rudi selber entscheiden.“ „Aber Rudi will doch hierbleiben“, sagte Harry. Es schien, als fände sich keiner mehr zurecht. „Ich möchte gern bei euch bleiben“, sagte ich. Es war wieder still. Tschunke kaute nervös an seinen Fingernägeln, und Egon schob seine Brille zum zehnten- oder zwölftenmal hoch. Plötzlich schnellte Zwecke in die Höhe. „Ich hab’s!“ rief er und lachte. „Wir schreiben dem Alten – ich meine dem Vater von Rudi – einen Brief.“ „Na und?“ murmelte Tschunke. Aber Zwecke ließ sich nicht stören. „Am besten, Horst schreibt ihn, und wir setzen unsere Namen darunter.“ Tschunke betrachtete seine Fingernägel. „Das ist schon was“, meinte er dann. „Wenn wir alle schreiben, kann es vielleicht helfen.“ „Natürlich.“ Zwecke sprang vor Begeisterung von einem Bein aufs andere. „Wir werden ihm richtig die Meinung sagen.“ „Und dann kommt er und schreibt dir die Antwort hinten drauf“, unterbrach ihn Harry.
„Natürlich schreiben wir höflich“, verbesserte sich Zwecke. „Aber er soll wissen, wie wir darüber denken.“ „Worüber?“ wollte Tschunke wissen. Zwecke vergaß vor Staunen den Mund zuzumachen. „So dumm kannst nur du fragen“, sagte er dann. „Worüber? Na, über uns und das Lager und daß er unseren Freund Rudi einfach hier wegholen will. Verstanden?“ Tschunke nickte. Onkel Walter hatte die ganze Zeit über nichts gesagt. „Der Vorschlag ist nicht schlecht“, meinte er nun. „Ihr wißt, daß ich auf eurer Seite stehe. Aber wir dürfen Rudis Vater nicht unnötig ärgern. Von seinem Standpunkt aus hat er sogar recht. Paßt auf, was ich euch sage. Rudi soll doch nächste Woche zu Hause sein. Heute ist Sonnabend. Wenn ihr den Brief gleich abschickt, am besten als Eilbrief, könnt ihr am Mittwoch schon Antwort haben.“ Mir wurde etwas leichter. Onkel Walter war in Ordnung; der fand stets einen Ausweg. „Und wenn sein Vater dann immer noch darauf besteht, daß Rudi nach Hause kommt?“ fragt Horst. „Ja, dann…“ Onkel Walter zog die Augenbrauen hoch. „Aber wir wollen erst einmal abwarten. Ich werde auch noch einen Brief schreiben. Vielleicht haben wir Glück.“ Viel Hoffnung hatte ich nicht. Ich kannte Vater. Aber daß die anderen so für mich eintreten wollten, freute mich. Vielleicht – dachte ich. Mehr wagte ich nicht. Sie haben den Brief dann sofort geschrieben. Das heißt, Horst schrieb ihn, und die anderen halfen dabei. „Was soll denn oben drüber?“ fragte Egon. „Sehr geehrter Herr Kowarz!“ „Nein! Wir schreiben: Lieber Herr Kowarz!“ sagte Harry. „Das klingt besser. Dann merkt er gleich, daß wir seine Freunde sind.“
„Aber wenn Rudi nachher doch weg muß“, versicherte Zwecke, „dann hört die Freundschaft auf, das sage ich euch!“ „Das mußt du auch schreiben“, meinte Schnäppi und lachte. Endlich war der Brief fertig. Zum Schluß las ihn Horst noch einmal vor. „Genehmigt!“ sagte Zwecke. „Und jetzt gehen wir zur Post und geben ihn als Eilbrief auf.“ Das machten wir auch. Die ganze Gruppe ging mit, sogar Gert. Die Post war schon geschlossen, als wir hinkamen. „Wartet mal.“ Zwecke hatte eine Klingel entdeckt. TELEGRAMME – stand darunter. Zwecke drückte auf den Knopf. Gleich darauf kam ein Mann heraus. „Wir wollen einen Brief aufgeben“, sagte Zwecke. „Die Klingel ist nur für Telegramme“, erwiderte der Mann und machte dabei ein strenges Gesicht. „Briefe könnt ihr in den Briefkasten werfen.“ Er wollte die Tür wieder schließen, aber Zwecke schlüpfte schnell unter seinem Arm ins Haus. „Wir haben aber einen Eilbrief“, erklärte er. „Das ist fast wie ein Telegramm.“ „Ein Eilbrief ist kein Telegramm“, sagte der Mann. Er war aber schon ein bißchen freundlicher. „Es ist bloß wegen Rudi“, mischte sich Horst ein. „Wenn der Brief nicht schnell genug abgeht, muß Rudi nach Hause fahren.“ „Und er will doch gern bei uns im Lager bleiben“, fügte Tschunke hinzu. Der Mann blickte von einem zum anderen. „So ist das also?“ fragte er. Jetzt war er schon ganz freundlich. „Na, dann gebt mal her. In diesem Fall ist ein Eilbrief wirklich fast ein Telegramm.“ Wir waren froh. „Paß auf, die Sache klappt“, sagte Wolf auf dem Heimweg zu mir.
Zelt 14
Bis jetzt habe ich immer nur von unserer Gruppe erzählt. Es gab aber auch noch andere. Zum Beispiel die, in der Traudel war, Zelt 14. Mit Zelt 14 hatte es gleich in der ersten Woche Streit gegeben. Schnäppi und Fritz waren abends noch einmal aus dem Zelt gegangen. Sie hatten zuviel Kirschen gegessen. Als sie zurückkamen, ist Schnäppi über eine Zeltleine von Zelt 14 gestolpert. Er ist wirklich nur gestolpert, aber die Mädchen behaupteten einfach, er wollte ihr Zelt einreißen. Woher sie wußten, daß es einer von uns war, haben wir nie erfahren. Jedenfalls hat Schnäppi bei seinem Sturz so sehr an der Zeltleine gerissen, daß die eine Seite des Zeltes zusammenfiel. Am nächsten Morgen gab es den ersten Krach. Gert fragte, wer das Zelt eingerissen hätte. Lotte, die Pionierleiterin von Zelt 14, stand neben ihm. Wir wußten es nicht. Wirklich nicht. „Gestern abend waren alle da“, sagte Horst. Er hatte nicht gemerkt, daß Schnäppi und Fritz noch einmal fortgegangen waren. Aber Gert wußte es besser. „Nach der Lagerruhe waren von euch noch welche draußen“, behauptete er. „Davon weiß ich nichts“, antwortete Horst. „Aber wenn es so ist, dann sollen sie sich melden.“ Es meldete sich keiner. Nur Schnäppi hatte es plötzlich furchtbar eilig. Er hielt die Hände vor den Bauch und murmelte: „Ich komme gleich wieder…“ Und weg war er. „Es hat also keiner von euch nach neun Uhr das Zelt verlassen?“ fragte Gert wieder.
Wir sahen uns an. „Nun meldet euch schon“, drängte Harry. „Wenn es einer von uns gewesen ist, dann muß er jetzt den Mut aufbringen, es einzugestehen.“ Es blieb still. Auch Gert sagte nichts mehr. Nachdem er noch eine Weile gewartet hatte, wandte er sich ab und ging mit Lotte weg. Für einen Augenblick, aber wirklich nur für einen Augenblick, war es ganz ruhig bei uns. „Hier stimmt was nicht“, sagte Horst dann plötzlich laut. „Ohne Grund fragt Gert nicht.“ „Vielleicht ist das Zelt von allein eingefallen?“ vermutete Tschunke. „Von allein fällt kein Zelt ein“, brummte Wolf. „Gestern abend war es doch so windig“, meinte Egon. „Vielleicht waren die Leinen locker?“ Das war natürlich möglich. „Gert erklärte aber, die Mädchen hätten gehört, daß jemand am Zelt war“, sagte Harry. Das stimmte. „Die haben bloß Geister gesehen.“ Zwecke kicherte erst leise und lachte dann laut. „Nein“, sagte Wolf plötzlich. „Was heißt nein?“ fragte Harry. „Ob Zwecke manchmal Geister sieht, weiß ich nicht“, fuhr Wolf fort. „Aber eins weiß ich. Von uns waren gestern abend noch zwei draußen.“ Das wirkte, als habe jemand auf den Tisch geschlagen. „Woher weißt du das?“ wollte Horst wissen. „Weil ich es gesehen habe“, gab Wolf zu. „Und warum hast du das nicht gleich gesagt? Vorhin, als Gert fragte?“ Wolf schwieg. „Also, wer war draußen?“ fragte Horst zum letztenmal. „Raus mit der Sprache!“ Da stotterte Fritz noch eine Weile herum und erzählte dann schließlich alles. „Feiglinge seid ihr!“ sagte Harry.
Und wir waren der gleichen Meinung. Doch damit war die Sache noch nicht aus der Welt geschafft. Nun mußten wir sofort zu Gert gehen. Und zu den Mädchen auch. „Aber Schnäppi muß mit“, verlangte Fritz. „Der ist über die Leine gestolpert. Allein löffle ich die Suppe nicht aus.“ Schnäppi war nicht da. „Den holen wir“, meinte Wolf. Wir rannten hinaus und suchten. Doch Schnäppi war nirgends zu finden. Endlich erkannten wir ihn hinter den Zelten im Wald. Er schien uns auch gesehen zu haben; denn plötzlich sprang er auf und lief davon. Aber es half ihm nichts. Horst hatte ihn gleich eingeholt. „Wo warst du gestern abend?“ fragte er. Schnäppi wußte nicht, wo er hingucken sollte. „Ich? Wo ich -? Hast wohl schon alles erzählt?“ fuhr er plötzlich auf Fritz los. „Laß Fritz in Ruhe“, wies Harry ihn ab. „Der hat wenigstens den Mut aufgebracht, die Wahrheit zu sagen. Wenn es auch ein bißchen spät war. Aber du?“ „Was ist denn schon dabei“, unterbrach ihn Schnäppi. „Natürlich war ich mit ihm draußen. Wird er ja schon erzählt haben.“ „Und das mit dem Zelt?“ fragte Horst. „… ist nicht wahr!“ rief Schnäppi. „Ich habe das Zelt nicht eingerissen.“ „Aber über die Leine bist du gestolpert.“ „Ja. Das war aber auch alles. Daß das Zelt davon eingefallen ist, dafür kann ich nichts. Mit Absicht habe ich es nicht getan.“ „Und das sollen wir dir jetzt glauben?“ fragte Harry. „Wenn ihr’s nicht glaubt, laßt ihr’s eben bleiben.“ Schnäppi wurde wütend. „So ein Theater!“
„Das Theater machst du“, erklärte Horst. „Aber wenn wir dir glauben sollen, dann mußt du jetzt sofort mit uns zu den Mädchen gehen und ihnen alles erzählen.“ „Was denn noch alles?“ rief Schnäppi entrüstet. „Vielleicht soll ich vor ihnen auf den Knien herumrutschen?“ „Mach keinen Quatsch!“ fuhr Harry ihn an. „Entweder du gehst jetzt mit, oder du bist für uns erledigt. Denkst du vielleicht, daß wir deinetwegen die schlechteste Gruppe werben wollen?“ Schnäppi sah uns an. Er glaubte wohl, es würde ihm einer beistehen. Aber er hatte sich getäuscht. Wenn Schnäppi wirklich nicht mehr schwindelt, dachten wir, dann soll er uns das beweisen und mit den Mädchen sprechen. „Gut! Ich gehe“, sagte Schnäppi nach einer Weile. „Aber bildet euch nichts darauf ein. Ich wäre auch so gegangen.“ Die Mädchen saßen in ihrem Zelt. „Schnäppi wird euch jetzt erzählen, wie das gestern abend war“, sagte Horst zu ihnen. Schnäppi erzählte. Aber die Mädchen glaubten ihm kein Wort. „Das habt ihr euch jetzt ausgedacht“, behauptete Sigrid. „Warum habt ihr denn vorhin so getan, als ob ihr nichts wüßtet?“ erkundigte sich Traudel. „Weil wir es wirklich nicht gewußt haben“, sagte Harry. „Ach! Und nun wißt ihr es auf einmal ganz genau?“ riefen da alle durcheinander. „Sucht euch nur ein paar Dümmere als uns. Wir glauben euch kein Wort.“ Soviel wir auch redeten, die Mädchen waren nicht zu überzeugen. Nur Traudel meinte einmal: „Vielleicht wollten die Jungen das Zelt wirklich nicht einreißen.“ Aber die anderen schrien dagegen und sagten, unsere ganze Gruppe sei schlecht. Da hatten wir genug. „Ihr albernen Puten!“ rief Zwecke. „Das mit Schnäppi ist unsere Sache, und das werden wir auch unter uns ausmachen.
Aber unsere Gruppe lassen wir von euch noch lange nicht verspotten.“ „Spannt eure Zeltleinen nicht mitten über den Weg!“ wetterte nun auch Schnäppi. „Dann kann keiner darüber stolpern. Wenn ich mir nun etwas dabei gebrochen hätte?“ „Ja, wenn er sich nun etwas gebrochen hätte!“ riefen wir alle. Und dann sind wir gegangen. Wir waren wütend. Aber nicht auf Schnäppi. Der hatte ja bewiesen, daß er das Zelt nicht mit Absicht eingerissen hatte. Auf die Mädchen waren wir wütend. Und seit damals gab es immer etwas zwischen unseren beiden Gruppen. Fehlte den Mädchen einmal ein Strumpf, dann schickten sie gleich Lotte zu uns oder kamen auch selbst. Und wenn einer durch unseren Zeltgarten gelaufen war, dann sagten alle: „Das waren die von Zelt 14.“ Gert und Lotte gaben sich viel Mühe, um uns wieder zu versöhnen. Aber immer, wenn es fast soweit war, passierte etwas. Dabei hatten wir nicht einmal Spaß daran. Im Gegenteil. Wir hätten viel lieber mit den Mädchen zusammengehalten. Aber sie wollten ja nicht. Und eines Tages gab es einen großen Krach, da passierte die Sache mit Moritz, unserem schwarzweiß-gescheckten Kätzchen. Dabei hatten wir es nur gut gemeint. Wir wollten den Mädchen eine Freude machen und den Streit beenden. Traudel hatte Geburtstag. Das hätte uns sonst wenig gestört, aber wir suchten schon lange eine Gelegenheit, den Mädchen zu beweisen, daß wir nicht so schlimm waren, wie sie dachten. Traudels Geburtstag kam uns gerade recht. „Wißt ihr was“, sagte Tschunke zwei Tage vorher, „wir schenken ihr den Moritz.“ „Dir ist wohl was weggekommen?“ fragte Zwecke und tippte sich an die Stirn. „Der will sich bloß bei ihr anbiedern“, stichelte Wolf.
Aber die anderen fanden den Vorschlag gut. So oft hatten wir schon gesehen, daß die Mädchen mit unseren Katzen spielten. Warum sollten wir ihnen nicht eine schenken und auf diese Weise den Streit endlich begraben? „Traudel war damals die einzige, die für uns gesprochen hat“, sagte Harry. „Ja, und die Katze werden wir auch gleich los“, platzte Schnäppi heraus. Moritz hatte ihm nämlich einmal ein Stück Wurst weggetragen. Seitdem konnte Schnäppi ihn nicht mehr leiden. Es dauerte gar nicht lange, da waren wir einig. Nur eins wußten wir nicht: Sollten wir den Max oder den Moritz schenken? Schließlich einigten wir uns auf Moritz, und damit es Spaß gab, dachten wir uns noch etwas Besonderes aus. Wir wollten die Katze nicht einfach übergeben, nein, wir wollten es viel besser machen. In der Frühe des Tages, an dem Traudel Geburtstag hatte, schlichen wir schon vor dem Wecken zum Zelt 14. Tschunke trug Moritz unterm Arm. Wir hatten der Katze eine große Schleife um den Hals gebunden und ein Schild daran gehängt.
„Mit den besten Wünschen zum Geburtstag – von Zelt 6“, stand darauf. Tschunke hatte dazu schreiben wollen, daß wir uns mit den Mädchen nicht mehr streiten würden. Aber Harry meinte, das sei überflüssig, das verstünde sich von selbst. Im Zelt 14 war es noch, ganz ruhig. „Sie schlafen noch“, flüsterte Egon. Wir schlichen um das Zelt. Vor den beiden kleinen Fenstern, also hinter dem Zelt, stellten wir uns auf. „Heb die Klappe hoch“, flüsterte Tschunke. Wir drängten nach vorn. Jeder wollte sehen, wie Tschunke den Moritz durch das Fenster steckte. Heimlich freuten wir uns schon darauf, was dann passieren würde. Dabei müssen wir aber wieder unvorsichtig gewesen sein. Ich hörte noch, wie Schnäppi flüsterte: „Paß auf! Du stößt mich doch!“ Da war es auch schon geschehen. Tschunke hatte Moritz eben durch das Fenster gesteckt, da fiel die eine Seite des Zeltes in sich zusammen. Wir guckten uns dumm an. Im Zelt war es zuerst ganz still. Aber dann ! Die, denen das Zelt auf den Kopf gefallen war, wollten sich befreien. Sie zogen und zogen und zerrten, so daß schließlich auch die andere Seite ins Wanken geriet. Das war ein Gequieke! Und dann kamen sie heraus. Zuerst Moritz und hinter ihm die Mädchen. „Jetzt haben wir euch aber erwischt!“ schrien sie, als sie uns sahen. „Diesmal könnt ihr nicht wieder erzählen, ihr wär’t es nicht gewesen!“ Wir sagten überhaupt nichts, sondern guckten nur das Zelt an. Dann haben die Mädchen den Moritz gesehen und das Schild. „Mit den besten Wünschen zum Geburtstag“, las Helga vor. „Eine schöne Geburtstagsüberraschung habt ihr euch ausgedacht. Das sieht euch ähnlich.“ „Ihr könnt weiter nichts als Zelte einreißen!“
Das war zuviel für uns. „Putzt euch erst einmal die Zähne!“ rief Zwecke. „Dann redet ihr auch nicht solchen Unsinn!“ „Und wenn Ostern und Weihnachten auf einen Tag fallen – euch schenken wir nichts mehr!“ rief Wolf. Inzwischen waren die Pioniere in den anderen Zelten wach geworden. Überall steckten sie die Köpfe heraus. „Nimm den Moritz, Tschunke, wir gehen“, sagte Harry. Wir waren froh, daß wir endlich wegkamen. Dafür gab es aber bei uns im Zelt noch mal Krach. „Ein Esel kann sich nicht dümmer anstellen als du“, sagte Egon zu Schnäppi. „Was kann ich denn dafür, wenn mich der Otto stößt“, verteidigte sich der. „Weil ihr immer wie eine Horde wilder Affen seid!“ schrie uns Horst an. Er war wütend. So hatten wir ihn noch nie gesehen. Zum Schluß haben wir uns aber alle wieder beruhigt. Auch Horst. Schnäppi konnte diesmal wirklich nichts dafür, und zu ändern’ war es sowieso nicht mehr. Doch mit den Mädchen wollten wir nichts mehr zu tun haben, und daran änderte sich auch nichts, als Lotte zu uns kam und Gert zu den Mädchen ging.
Klopfzeichen in der Nacht
Eines Abends, als wir vom Waschen kamen, sagte Gert zu uns: „Legt euch noch nicht hin. Heute werdet ihr sicher erst sehr spät schlafen können.“ Das war noch nie vorgekommen. Sonst drängte er immer, damit wir nicht die letzten waren. Es mußte etwas vorgefallen sein. Wir fragten ihn. Aber er wußte anscheinend auch nichts. „Es ist möglich, daß ihr heute abend noch einen wichtigen Auftrag erhaltet“, meinte er nur. „Mehr kann ich euch nicht sagen.“ Es blieb uns nichts weiter übrig als abzuwarten. In den anderen Zelten wurde es allmählich still. Wir saßen gespannt auf unseren Betten. Nur Zwecke schob von Zeit zu Zeit seinen Kopf durch den Zelteingang nach draußen und hielt Ausschau. Endlich hörten wir Schritte. Es war Kurt. Er flüsterte Gert etwas ins Ohr und gab ihm einen Brief. Gert riß den Umschlag auf und zog einen Zettel heraus. Beim Schein seiner Taschenlampe überflog er ihn. „So, Jungen“, sagte er, „es ist soweit. Hier ist unser Auftrag.“ Und dann las er uns alles vor. Die Volkspolizei hatte eine Gruppe von Agenten entdeckt. Einigen davon war es gelungen, zu fliehen. Einer Meldung nach sollten sie sich jetzt in der Nähe unseres Lagers im Wald versteckt halten. Die Volkspolizei wollte die Verbrecher noch in dieser Nacht festnehmen, und wir sollten ihr dabei helfen. Im ersten Augenblick lief es mir eiskalt über den Rücken. Jetzt, mitten in der Nacht, sollten wir in den Wald gehen? Wenn sich nun einer von uns verlief? Oder wenn einer von den Verbrechern kam?
Den anderen schien es genauso zu gehen wie mir. „Das wird eine gruslige Geschichte“, murmelte Egon vor sich hin. „Und ich bin so müde“, sagte Tschunke. „Ich glaube, ich schlafe beim Laufen ein.“ „Du kannst ja hierbleiben, wenn du Angst hast“, meinte Wolf. „Ich gehe jedenfalls mit.“ Und Harry sagte: „Wir wären schöne Feiglinge, wenn wir nicht helfen wollten.“ Da hatte er recht. Wir mußten den Volkspolizisten helfen. Vielleicht war es auch gar nicht so schlimm, wie wir dachten. Wir kannten doch die Gegend um das Lager. Und außerdem waren wir sechzehn Mann. Da sollte nur einer kommen! Auf dem Zettel stand noch etwas über den Weg. Wir sollten vom Lagertor aus etwa 800 Meter nach Marschrichtungszahl 51 gehen. Bei einer alleinstehenden Kiefer würden wir eine andere Gruppe treffen, die uns Hinweise für den weiteren Weg geben könnte. „Und das ist alles?“ fragte Wolf. „Vorläufig ja“, meinte Gert und lachte verschmitzt. „Aber paßt auf, daß ihr die andere Gruppe findet. Ich gehe nämlich nicht mit.“ „Du hast wohl auch Angst?“ fragte Zwecke. „Wir passen schon auf dich auf.“ Da lachten wir. Jetzt wußten wir, daß das mit den Agenten nur erfunden war. Aber wir wollten trotzdem so tun, als wüßten wir’s nicht. Schließlich konnte es ja wirklich einmal so kommen. Verlaufen würden wir uns jedenfalls nicht, das stand fest. Bei Tage hatten wir uns immer zurechtgefunden, warum sollte es in der Nacht anders sein? Wir gingen also los. Horst übernahm die Führung. Am Lagertor holte er den Kompaß aus der Tasche und suchte die Marschrichtungszahl. Es war genau der breite Weg, der durch den Wald auf die Höhe führte. Und da sollten wir uns
verlaufen? Wir waren beinahe beleidigt, weil es so leicht schien. Harry und Tschunke hatten ihre Taschenlampen mitgenommen. Wir brauchten sie aber vorläufig nicht. Der Mond schien so hell, daß wir den Weg gut erkannten. Die alleinstehende Kiefer haben wir sehr schnell gefunden. Sie stand nicht weit vom Weg entfernt auf einer kleinen Anhöhe. Die andere Gruppe war noch nicht da. Deshalb setzten wir uns ins Gras und warteten. Es dauerte nicht lange, da hörten wir, wie auf der gegenüberliegenden Seite Schritte durchs Gebüsch brachen. „Die stapfen wie die Elefanten“, schimpfte Zwecke. „Und das nennen sie anschleichen.“ Da hatte er recht. Bei solchem Krach mußten uns die Agenten schon von weitem hören. Plötzlich flüsterte Egon: „Das sind wohl Mädchen?“ Wie versuchten etwas zu erkennen. Doch wir konnten nur die dunklen Gestalten sehen. Aber da! Jetzt hatte ich es auch gesehen. Die eine Gestalt hatte Zöpfe. Wir waren enttäuscht. Was sollten wir bei so einem Auftrag mit Mädchen anfangen! „Paßt auf! Die bleiben mitten im Wald stehen und heulen“, weissagte Zwecke. Zu allem Unglück aber waren es auch noch die Mädchen von Zelt 14. Die haben uns gefehlt, dachten wir und wären am liebsten allein weitergegangen. Aber ein Auftrag ist schließlich ein Auftrag, da darf man sich nicht von kleinen Streitereien leiten lassen. Außerdem wußten wir auch nicht, wie wir weitergehen sollten. Das stand doch auf dem Zettel der Mädchen. Horst hatte sich inzwischen von Sigrid den neuen Auftrag geben lassen. Jetzt las er ihn leise vor. Dabei mußte Tschunke die Taschenlampe halten.
„Biegt bei der alleinstehenden Kiefer von dem Weg, den Gruppe 6 gekommen ist, in einem Winkel von 90 Grad in westlicher Richtung ab und geht bis zum Punkt L, von dort etwa 200 Meter in nordöstlicher Richtung bis zum Punkt C und dann in nördlicher Richtung bis zu einer Wegkreuzung. Von hier aus besetzt ihr, in der gleichen Richtung fortlaufend, den Waldrand zu beiden Seiten des Weges auf eine Entfernung von etwa 100 Meter. Sobald Klopfzeichen ertönen, brecht ihr in einer breiten Kette in den Wald ein, immer auf die Klopfzeichen zu.“ „Die Kreuzung kenn’ ich!“ rief Zwecke gleich. „Das ist die, an der wir vorbeikommen, wenn wir zur Wetterwarte wollen.“ „Wo es nach dem Goldenen Hahn geht, ist aber auch eine“, meinte Wolf zweifelnd. „Das ist jetzt gleich“, sagte Zwecke. „Erst müssen wir den Punkt L finden. Die Kreuzung kommt doch viel später.“ Das war richtig. Wir gingen weiter. Und weil der Weg breit genug war, liefen wir alle durcheinander. Aber Horst meinte, das sei falsch. Da gingen wir wieder in Touristenreihe, immer ein Junge, dann ein Mädchen und wieder ein Junge und so fort. Den neuen Punkt fanden wir genauso schnell wie die Kiefer. Mitten auf dem Weg lag aus Steinen zusammengesetzt ein großes L. Horst nahm seinen Zettel wieder zur Hand. „… von dort etwa 200 Meter in nordöstlicher Richtung bis zum Punkt C“, las er leise vor. „In nordöstlicher Richtung?“ fragte Wolf. „Zeig mal den Kompaß.“ „Wozu denn?“ erwiderte ein Mädchen. „Das finden wir auch so. Dort oben ist der Polarstern. Also müssen wir in dieser Richtung gehen.“ Sie zeigte auf einen schmalen Weg, der in das Gebüsch hineinführte. „Stimmt“, sagte Harry. Er hatte auch den Himmel angeguckt.
„Bleibt dicht hintereinander“, meinte Horst, „sonst verlieren wir uns.“ Der Weg war wirklich sehr schmal. Überall standen Büsche. Aber das war nicht das Schlimmste. Viel schlimmer war, daß es immer dunkler wurde. Der Mond verschwand hinter einer Wolke, und die Büsche waren so verflochten, daß kaum ein Lichtschein hindurchschien. Vor mir ging Traudel, hinter mir Sigrid, dann Tschunke. Ich »konnte Traudel fast nicht mehr erkennen. Es war unheimlich. Endlich wurde der Weg ein wenig breiter. „Hier ist das C“, hörte ich Horst sagen. Hinter mir blitzte Tschunkes Taschenlampe auf. „Mach aus!“ rief Harry. „Du verrätst uns doch damit!“ Tschunke gehorchte. „Ich wollte ja nur…“, stotterte er. Er hat Angst, dachte ich, und ich auch. Wir drängten uns zusammen. „Wenn wir hier weitergehen, kommen wir genau an die Kreuzung“, sagte Zwecke. „Ich habe es doch gewußt.“ „Das stimmt“, meinte auch Harry. „Kommt! Wir wollen weitergehen, sonst wird es zu spät.“ „Wenn doch wenigstens der Mond wiederkäme“, flüsterte ein Mädchen neben Traudel. Sicher sollte es niemand hören. „Es ist so gruslig hier.“ Wir hatten es aber alle gehört. „Geht nach Hause, wenn ihr Angst habt“, schimpfte Zwecke. „Habe ich es nicht gleich gesagt! Die bleiben mitten im Walde stehen und fangen an zu heulen.“ Das war nicht schön von ihm. Die Mädchen hatten sich bis jetzt wirklich sehr tapfer gehalten. Sigrid gab auch gleich die richtige Antwort. „Du Angeber“, sagte sie. „Hast ja selber Angst.“ „Ich und Angst?“ Zwecke lachte laut auf. „Von mir aus könnte – könnte –.“
Was, hat er aber nicht gesagt. Wahrscheinlich wußte er das selbst nicht. „Sei endlich still“, wies ihn Horst zurecht. Und zu dem Mädchen neben Traudel sagte er: „Komm! Gib mir deine Hand.“ Der Weg war jetzt so breit, daß wir zu zweien nebeneinander laufen konnten. Nach fünf Minuten kamen wir an die Kreuzung. Es war inzwischen wieder ein wenig heller geworden. Die Wolke, die sich vor den Mond geschoben hatte, war verschwunden. „Harry“, flüsterte Horst, „komm, leuchte mal.“ Sie legten sich auf die Erde. Harry leuchtete mit seiner Taschenlampe auf das Papier. Dabei hielt er seine Hand vor die Linse, damit nur ein schmaler Lichtstreifen herausfiel. ‘. „Wir müssen jetzt zu beiden Seiten des Weges den Waldrand besetzen“, erklärte Horst. „Und wenn wir die Klopfzeichen hören, gehen wir in einer breiten Kette darauf zu.“ Wir verteilten uns. Ich legte mich hinter einen Baum. Wir warteten. Ringsum war alles still. Nur manchmal knackte es irgendwo in den Ästen, oder ein Vogel flog auf. Dann erschraken wir. Aber bald hatten wir uns auch daran gewöhnt. Plötzlich hörten wir Schritte. Traudel schien sie auch bemerkt zu haben; denn sie richtete sich ein wenig auf und lauschte. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Wenn nun wirklich Verbrecher hier im Walde stecken, dachte ich, oder Wilddiebe? Und wenn das einer war, und er fand uns? Angestrengt starrte ich in die Finsternis. Die Schritte kamen näher. Es mußten mehrere Leute sein. Das hörte ich nun heraus. Wenigstens zwei oder drei. Da waren sie auch schon zu sehen. Auf dem Weg von rechts kamen zwei Gestalten. Sie gingen bis zur Kreuzung. Dort blieben sie stehen. Die eine Gestalt beugte sich zu der anderen und sagte etwas. Ich konnte aber nichts verstehen. Dann
gingen sie ein Stück weiter, kehrten um und blieben wieder stehen. Plötzlich hörte ich von der anderen Seite ein Zischen. „Ssst!“ Die beiden Gestalten zuckten zusammen und blickten sich um. „Sssst!“ Wieder zischte es. Und dann das war doch Gerts Stimme? „Gruppe 6?“ „Ja“, antwortete es leise von dort, wo es vorher „Sssst“ gemacht hatte. War ich froh. „Kommt heraus!“ rief Gert leise. Wir standen auf. „Wie kommt ihr denn hierher?“ fragte Lotte, als wir alle auf der Kreuzung standen. Sie war die andere Gestalt. „Wir sind genau nach dem Zettel gegangen“, anwortete Horst. „Zeig mal“, sagte Gert und las: „Bis zum Punkt C in nordöstlicher Richtung und dann weiter in nördlicher Richtung. Ihr Helden! Und was habt ihr gemacht?“ Wir überlegten. Aber keiner kam darauf. „So sind wir doch gegangen“, sagte Horst. „In nördlicher Richtung?“ Da griff sich Harry an den Kopf. „Den anderen Weg hätten wir gehen müssen, den, der nach links abbog. Und wir sind nach Nordosten weitergelaufen!“ Das war ein schöner Reinfall. „Daran bist du schuld“, fuhr Horst auf Zwecke los. „Du mit deiner Kreuzung.“ Er ärgerte sich, weil er uns falsch geführt hatte. Zwecke sagte gar nichts. „Und was machen wir nun?“ fragte Sigrid schließlich. „Wir müssen eben noch einfnal zum Punkt C zurückgehen“, meinte Horst kleinlaut. „Richtig“, sagte Gert. „Aber ich will euch helfen. Geht den Weg entlang, den wir gekommen sind. Dann erreicht ihr die
richtige Kreuzung. Ihr müßt euch aber beeilen, sonst kommt ihr zu spät.“ Das wollten wir nicht. Wir rannten los, und es war wirklich höchste Zeit. Gerade als wir bei der Kreuzung eintrafen, hörten wir es vor uns im Wald klopfen. „Da! Die Zeichen!“ rief Harry. Im gleichen Augenblick wurde es um uns herum lebendig. Überall waren Pioniere. Wir stürmten los, das heißt, wir wollten. Aber wir kamen kaum vorwärts. Ein Wald war das, richtiger Urwald! Harry und Tschunke hatten ihre Taschenlampen angeknipst. Die anderen auch. Und dann gab es eine große Überraschung. Die Agenten hießen Kurt und Jutta, und ein paar andere von der Lagerleitung waren auch dabei. Haben wir gelacht! „Gut gemacht“, lobte uns Jutta. Aber wenn Gert und Lotte nicht gewesen wären, hätten wir noch immer an der falschen Kreuzung gehockt und alles verpaßt. Wir sagten nichts davon, Gert und Lotte auch nicht. Ich glaube, die waren genauso froh wie wir, daß sich unsere beiden Gruppen wieder vertragen haben; denn an die Streitereien dachte wirklich kein einziger mehr.
Eine Überraschung
So schön es auch im Lager war, ich mußte immer wieder an Vater denken. Unseren Brief wird er ja nun erhalten haben, überlegte ich. Was wird er bloß dazu sagen? Ob er schimpft? Sicher. Aber was wird er tun? Und herzklopfend wartete ich jeden Mittag auf die Post. „Wenn Rudi bis zur nächsten Woche nicht zu Hause ist, komme ich selbst und hole ihn“, hatte Vater an Onkel Walter geschrieben. Ich wußte, daß er das wahrmachen würde. Aber ich hoffte auch, daß er es sich anders überlegte, wenn er unsern Brief las. Und dann kam er doch. Die Woche war schon fast vorbei. Es war, glaube ich, am Freitag. Wir hatten am Vormittag gebadet. Als wir mittags ins Lager zurückkehrten, forderte mich die Wache auf, gleich zur Lagerleitung zu gehen. Sicher ist ein Brief von Vater gekommen, dachte ich. Ich rannte die Lagerstraße entlang, stürzte in Juttas Zimmer – und blieb wie erstarrt stehen. „Vater“, rief ich. Mehr brachte ich nicht heraus. In dem Sessel neben dem Schreibtisch saß mein Vater. Ich schloß die Augen. Es konnte doch nicht wahr sein. Aber als ich sie wieder öffnete, saß Vater noch immer dort. „Vater“, stotterte ich. Ich konnte es nicht fassen. „Du scheinst dich nicht sehr zu freuen“, sagte Vater, erhob sich und trat auf mich zu. „Du willst mich holen?“
Vater stand ganz allein mitten in der Stube. Seine Arme hingen schlaff herab. Er sah mich an. „Ja, ich wollte dich holen“, sagte er langsam. Aber es klang nicht böse, eher ein wenig traurig. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Es wäre mir vielleicht lieber gewesen, er hätte mich angeschrien. Dann hätte ich gesagt: Ich gehe aber nicht mit! Ich will bei meinen Freunden bleiben. Doch er schrie mich nicht an. Er fragte nur: „Wie geht es dir, Junge?“ Da tat er mir plötzlich leid, und ich fiel ihm um den Hals. Vater strich mir immerzu über die Haare, dann schaute er mich an. „Gut siehst du aus, Junge“, sagte er. „Man erkennt dich kaum wieder.“ Dabei lachte er sogar ein wenig. „Glauben Sie nun, daß es mein Junge ist?“ fragte er plötzlich und wandte sich zur Seite. Ich folgte seinem Blick und sah in der Ecke einen Volkspolizisten sitzen. Den hatte ich bis jetzt gar nicht bemerkt. Nun stand er auf. „Wir haben es Ihnen immer geglaubt“, sagte er und kam auf uns zu. „Aber Sie müssen uns verstehen. Wir können nicht nur glauben, wir müssen wissen.“ Er griff in seine Tasche und holte ein Blatt Papier heraus. „Ich erklärte Ihnen schon, daß Sie selbst wählen können. Hier ist eine Aufenthaltsgenehmigung bis zum 30. August. Wenn Sie wollen, können Sie solange als Gast in unserer Republik bleiben.“ Er unterbrach sich und faltete das Papier auseinander. „Entschuldigen Sie, wenn ich Gast gesagt habe“, fuhr er dann fort. „Es ist eigentlich Unsinn. Sie sind genauso Deutscher wie wir. Aber die Umstände sind leider nicht anders. Sie können also bei uns bis zum 30. August bleiben. Wenn Sie wollen, können Sie allerdings auch sofort mit Ihrem Jungen nach Hause fahren. Es wird Sie niemand daran hindern.“
Ich sah den Vater fragend an. Jetzt mußte es sich entscheiden. Würde er...? „Ich werde vorläufig bei Walter Jahn bleiben“, antwortete er da schon. Am liebsten hätte ich laut hurra gerufen. Aber ich traute mich nicht, weil die anderen dabei waren. „Das ist schön“, sagte der Volkspolizist. „Hoffentlich gefällt es Ihnen bei uns. Ich glaube bestimmt.“ Er reichte Vater den Schein, dann gab er jedem die Hand, auch mir, und ging. Jutta stand neben uns. „Entschuldigen Sie, Herr Kowarz, wenn ich vorhin ein wenig hart zu Ihnen gesprochen habe“, sagte sie. „Aber was ich bisher von Ihnen hörte, war nichts Gutes.“ „Ich wußte ja auch nichts“, antwortete Vater. Er war ganz benommen. Das merkte ich gleich. „Ich habe mir das alles anders vorgestellt, und so ganz glaube ich es auch jetzt noch nicht.“ Ich wußte zwar nicht, was er meinte, aber ich sagte schnell: „Du kannst es ruhig glauben, Vater. Wenn Jutta es sagt, dann stimmt es schon.“ Da haben sie beide gelacht.
Vater blieb den Nachmittag über im Lager, und ich zeigte ihm alles. Zum Schluß saßen wir mit den Freunden vorm Zelt. „Ich habe gleich gewußt, daß Sie nicht so sind“, sagte Zwecke und warf sich in die Brust. „Das mit dem Brief habe ich nämlich vorgeschlagen.“ „Ihr seid schon eine Bande“, brummte Vater und lachte. „Schreibt mir einfach einen Brief. Na, früher hätte es so was nicht gegeben.“ „Aber geholfen hat es doch“, meinte Horst, und wir freuten uns, daß wir den Brief geschrieben hatten. Am meisten habe ich mich aber gefreut. Nun durfte ich im Lager bleiben, und Vater hatte nichts mehr dagegen.
Vater erzählt
Wie es dazu gekommen ist, daß Vater im Lager erschien, erfuhr ich noch am gleichen Abend. Wir waren nach Dittersdorf gegangen zu Jahns. Onkel Walter war schon zu Hause, als wir das Zimmer betraten. Ich durfte bis acht Uhr bleiben. Ich hätte natürlich auch die ganze Nacht dableiben können. Aber das wollte ich nicht. Nach dem Abendessen machten wir es uns bequem. Ich setzte mich mit Vater aufs Sofa. Onkel Walter hatte eine Flasche Schnaps aus dem Schrank geholt, und Tante Herta brachte für mich einen großen Teller voll Kekse. „So“, sagte Onkel Walter, nachdem er sich eine Zigarre angebrannt hatte. „Und nun erzähl uns mal, wie du herübergekommen bist.“ Vater hatte auch eine Zigarre. Daheim rauchte er nur Zigaretten. Und wenn auch dazu das Geld nicht mehr reichte, dann suchte er in sämtlichen Taschen nach Tabak und drehte sich eine Zigarette mit der Hand. „Ja, was soll ich da schon erzählen“, begann er. „Das ist eine lange Geschichte.“ Er blies ein paarmal den Rauch vor sich hin und tat, als ob er überlege. „Als dein erster Brief eintraf, Walter, war ich wütend“, fuhr er nach einer Weile fort. „Beinahe hätte ich mich damals schon auf den Weg gemacht. Aber Trudel hat es mir immer wieder ausgeredet. Und dann kam der Brief von den Kindern. Ich habe natürlich nicht geglaubt, daß sie ihn allein geschrieben hatten. ,Den hat ihnen bestimmt einer diktiert’, hab’ ich zu Trudel gesagt.“ Da lachte Onkel Walter.
„Du mußt uns aber wirklich für sehr schlecht halten, Otto!“ „Das klang eben alles so sicher, was in dem Brief stand“, meinte Vater. „Sag doch selbst, Walter, hättest du als Junge so einen Brief geschrieben?“ „Bestimmt nicht“, gab Onkel Walter zu. „So etwas hätten wir nicht fertiggebracht. Aber das ist ja gerade das Gute, unsere Kinder können heute mehr als wir. Darüber solltest du dich freuen, Otto. Doch erzähle weiter. Ich bin gespannt darauf, was du alles erlebt hast.“ Vater zog an seiner Zigarre. „Ja, da war also der Brief gekommen. Ich habe gleich zu Trudel gesagt: ,Jetzt geh ich und hole ihn!’ Sie wollte es mir immer noch ausreden. ,Du kommst nicht über die Grenze’, hat sie gesagt. ,Wenn sie dich nun erschießen?’ Und dann hat sie geheult. ,Sollen sie vielleicht den Rudi umbringen?’ habe ich gefragt. Die Heulerei machte mich richtig nervös. Die ganze Nacht haben wir nicht geschlafen. Und am nächsten Morgen habe ich meine Sachen genommen und bin gegangen.“ Daß Vater und Mutter sich soviel Sorgen machen würden, daran hatte ich nicht gedacht. Nun schämte ich mich und legte dafür meinen Kopf an Vaters Schulter. „Bis zur Grenze habe ich mich so durchgeschlagen“, erzählte Vater weiter. „Mal bin ich ein Stück mit einem Lastauto gefahren und dann wieder gelaufen. Für die Bahn besaß ich doch kein Geld. Im letzten Dorf habe ich mich genau erkundigt und in der Nacht bin ich über die Grenze gegangen. Aber ich bin nicht weit gekommen. Sie haben mich gleich geschnappt und auf die Wache gebracht.“ Onkel Walter schmunzelte. „Das hast du dir wohl nicht träumen lassen“, meinte er. „Ja, unsere Volkspolizei paßt auf, da kann einer sagen, was er will.“
„Von mir aus hätte sie ruhig mal nicht so aufzupassen brauchen“, erklärte Vater. „Dann hätte ich nämlich nicht einen ganzen Tag und eine Nacht im Kittchen gesessen.“ Da mußten wir lachen, obwohl es eigentlich nicht zum Lachen war. „Aber sie waren alle sehr anständig zu mir“, fuhr Vater fort. „Darüber habe ich mich gewundert. Ich mußte ihnen erzählen, warum ich über die Grenze gegangen bin. Zum Glück hatte ich den Brief von den Kindern mit. Sonst wäre ich sicher gleich zurückgeschickt worden. Aber so sagte der Kommissar, daß er alles nachprüfen würde. Und wenn die Sache stimmte, würde er mir sogar helfen. Da habe ich wieder ein bißchen Mut gefaßt.“ „Na, und deine Wut?“ fragte Onkel Walter. „Die war wohl völlig verflogen?“ „Laß du dich mal von der Polizei einsperren. Dann bist du froh, wenn du überhaupt wieder rauskommst.“ „Trinken wir auf unsere Volkspolizei“, sagte Onkel Walter lachend und schob Vater ein Glas hin. „Früher hätte ich das ja nicht getan“, erwiderte Vater. „Aber weil der Kommissar so freundlich war – meinetwegen.“ „Wenn alle Polizisten so wären wie der“, setzte er das Gespräch fort, „aber die meisten hören gar nicht richtig zu, wenn man etwas zu ihnen sagt, und schnauzen gleich herum.“ „Da kennst du unsere Volkspolizei schlecht“, meinte Onkel Walter. „Oder hat dich einer angeschnauzt?“ „Gib mir erst mal Feuer“, sagte Vater darauf. „Ich kann schon gar keine Zigarre mehr rauchen.“ Und dann meinte er: „Nein, ich will gerecht sein. Sie waren alle freundlich. Wenn sie nur keine Bolschewisten wären.“ Da wurde Onkel Walter auf einmal ganz böse. „Was stellst du dir denn eigentlich unter einem Bolschewisten vor?“ fragte er. „So was wie einen Menschenfresser, wie? Diese verfluchten Lügner! Da, schau
mich doch an. Ich bin auch so einer, den sie bei euch Bolschewisten nennen. Ja, weil ich daran glaube, daß es bei uns vorwärtsgeht! Weil ich besser arbeite als früher, damit es uns allen in Zukunft besser geht, uns und euch und allen Arbeitern! Deshalb bin ich ein Bolschewist, wie du sagst. Aber ich bin stolz darauf. Das kannst du mir glauben. Und wenn sie uns beschimpfen wollen, dann tun sie das nur, weil sie vor uns Angst haben.“ Er war richtig aufgeregt. Aber gleich darauf wurde er ruhiger. „Entschuldige bitte, wenn ich so heftig geworden bin. Wir werden uns vielleicht später einmal darüber unterhalten, wenn du dich bei uns ein bißchen umgesehen hast. Jetzt erzähle erst mal weiter.“ „Du kannst ruhig schimpfen“, sagte Vater nach einer Weile. „Mir ist heute alles gleich. Vielleicht hast du sogar recht, das weiß ich nicht. Ich habe soviel gesehen, was ich mir ganz anders vorgestellt habe. Das fing schon bei eurer Polizei an. Ich saß einen ganzen Tag und eine Nacht in der Zelle. Aber sie haben mir Zeitungen gegeben, vor allem illustrierte. Und das Essen war auch gut. Da konnte man’s aushalten. Wenn nur nicht die Sorge um den da gewesen wäre.“ Dabei zeigte er auf mich. „Ich wollte dir doch gar keine Sorgen machen“, sagte ich. „Na, ist schon gut“, meinte Vater. „Ich habe es überstanden. Am nächsten Morgen kam der Kommissar selbst zu mir. Er habe alles überprüft, erklärte er. Im Pionierlager Einsiedel gäbe es einen Rudi Kowarz, und ich sollte mit einem Polizisten hinfahren. Da war ich froh. Bloß der Polizist hat mir nicht gepaßt. Trotzdem bin ich ganz gut mit ihm ausgekommen. Er hat mir viel von euch erzählt.“ „Und es klang anders als das, was du drüben bei euch gehört hast, nicht wahr?“ fügte Onkel Walter hinzu. „Ja, Otto, vor sechs Jahren hätte ich das auch nicht geglaubt. Aber heute –
na, ich war nicht schlecht erstaunt, als du plötzlich bei uns im Werk auftauchtest.“ Das hatte ich noch nicht gewußt. Vater war, ehe er ins Lager kam, erst bei Onkel Walter im Betrieb gewesen. Und da hatte Onkel Walter erklärt, daß er Vater solange bei sich aufnehmen würde, wie er bei ihm bleiben wollte. „Nun bist du bei uns, Otto, und du wirst es nicht bereuen“, sagte Onkel Walter zum Schluß. „Wenn bloß Trudel Bescheid wüßte“, sagte Vater. „Die sitzt nun daheim und heult sich womöglich die Augen aus.“ „Daß ich daran noch nicht gedacht habe!“ rief Onkel Walter erschrocken und sah auf die Uhr. „Es ist gleich acht. Rudi muß zurück zu seinen Freunden. Wenn es dir recht ist, bringen wir ihn hin. Auf dem Rückweg gehen wir dann bei der Post vorbei und geben ein Telegramm auf.“ Damit war Vater einverstanden. „Es ist nur, damit sie sich keine unnötigen Sorgen macht“, wiederholte er. Dann gingen wir zusammen nach Einsiedel.
Großeinsatz
Die Lagerzeit ging ihrem Ende zu. Als Vater kam, blieben noch genau fünf Tage. Am Montag sagte Kurt beim Fahnenappell: „Pioniere! Ich habe heute noch einen wichtigen Auftrag für euch.“ Wir hörten gespannt zu. Kurt erzählte, daß sich neun Bauern von Dittersdorf zu einer Produktionsgenossenschaft zusammengeschlossen hätten. Was das war, wußte ich nicht. Aber die anderen haben es auch nicht richtig gewußt. Das war nämlich etwas ganz Neues. „Die Bauern haben heute morgen mit der Getreideernte begonnen“, erklärte Kurt. „Sie stehen im Wettbewerb mit einer anderen Produktionsgenossenschaft. Wollen wir ihnen helfen?“
Das war eine ganz dumme Frage. Natürlich werden wir ihnen helfen, dachten wir alle. Das ist doch klar. „Wir werden es so einteilen“, fuhr Kurt fort, „daß die Gruppen eins bis acht jetzt gleich hinausgehen. Die anderen werden dann nachmittags eingesetzt.“ „Aaaach!“ machten die von den anderen Gruppen enttäuscht. Und wir freuten uns. „Das wird großartig“, meinte Wolf, und Zwecke verkündete: „Ich fahre auf einem Traktor mit!“ „Aber jetzt bist du erst mal ruhig“, sagte Horst. „Beim Appell wird nicht gesprochen, das weißt du.“ Wir konnten es kaum erwarten. Gleich nach dem Appell gingen wir los. Als wir auf der Höhe ankamen, hörten wir schon das Bullern der Traktoren. Tuck-tuck-tuck! Und dann sahen wir sie auch. Sieben Traktoren zogen über die Felder, immer zwei hintereinander, auf dem einen Feld sogar drei. Und überall wimmelte es von Menschen. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Wenn bei uns daheim gemäht wurde, dann fuhr der Bauer mit der Mähmaschine hinaus und schnitt das Getreide. Die Mägde kamen immer erst später, und es waren auch nicht so viele. Die Bauern mit weniger Land mußten sogar alles allein machen und das Korn mit der Sense schneiden. Unsere Aufgabe war es, die Garben zusammenzutragen, die der Mähbinder auswarf, und sie zu Puppen aufzustellen. Kurt verteilte die einzelnen Gruppen. Unser Feld lag gleich neben dem Weg nach Dittersdorf. Mit Gebrüll stürmten wir den Rain entlang. Die Leute winkten uns zu. „Da kommen ja die Heinzelmännchen“, rief eine Frau. „Paßt auf, gleich ist die Arbeit getan.“ „Wo habt ihr denn eure Zipfelmützen?“ fragte eine andere.
„O weh“, sagte Zwecke und sah dabei aus, als wollte er gleich anfangen zu weinen. „Die haben wir in unserer Hütte hinter den sieben Bergen gelassen. Nun werden wir gar nicht arbeiten können.“ Da lachten alle. Die Frau aber nahm eine Zeitung und rollte sie zu einer Tüte zusammen. „Komm her, du vergeßliches Zwerglein“, sagte sie. „Ich mache dir eine Mütze aus Papier.“ Und setzte Zwecke die Tüte auf den Kopf. Zwecke drehte sich stolz nach allen Seiten. Dann sprang er in die Höhe und rief: „Auf, Brüder! An die Arbeit! Laßt die Pantöffelchen klappern, ehe es tagt, muß die Arbeit getan sein.“ „So ein Spinner“, murmelte Egon. Wir stürzten uns auf die Garben. Die Traktoren waren inzwischen ein ganzes Stück vorausgefahren. Der erste hatte schon das Ende des Feldes erreicht. „Mal sehen, wer sie zuerst einholt!“ rief Wolf. Wir arbeiteten immer zu dreien. Ich war mit Zwecke und Tschunke zusammen. Die Arbeit fiel mir nicht schwer. Ich habe in Weißenreuth oft beim Puppenaufstellen helfen müssen. Auch Zwecke war sehr flink. Nur Tschunke kam nicht mit. Schon bei der dritten oder vierten Puppe stöhnte er: „Ist das warm.“ „Zieh dein Hemd aus“, sagte Zwecke. Dabei zog er seins schon über den Kopf. Auf der anderen Seite des Feldes kehrten die Traktoren bereits zurück. „Die fahren ja auch viel zu schnell“, sagte Tschunke. „Und wir sind zu langsam“, meinte Zwecke. Wir liefen schneller. „Paß auf“, schimpfte Zwecke, als Tschunke seine Garbe schief anlehnte. „So fällt doch alles ein.“
Tschunke keuchte wie eine alte Dampfmaschine. Aber er machte nicht schlapp. Als die Traktoren zum viertenmal die Längsseite des Feldes entlangfuhren, lagen wir nur noch knapp zwanzig Meter hinter ihnen. „Guck mal, dort!“ sagte Zwecke plötzlich und zeigte über das Feld. Auf dem Weg, der zum Dorf führte, stand ein Mann. Es war mein Vater. Ich winkte ihm zu. „Hallo!“ rief ich, so laut ich konnte. „Hallo! Vater!“ Er legte die Hand an die Augen und sah zu uns herüber. „Vater!“ rief ich noch einmal. Da erkannte er mich und winkte auch. „Na, lauf schon mal hin zu ihm“, sagte Zwecke. Ich wollte aber nicht. Dann fehlte doch einer, und Zwecke und Tschunke wären wieder zurückgeblieben. Doch gleich darauf standen die Traktoren am Ende des Feldes still, und ein Bauer rief: „Pause!“ Da setzten wir uns alle zusammen und packten das Frühstück aus. Vater kam gleich zu uns herüber. „Was macht ihr denn hier?“ fragte er. „Ach, wir helfen bloß ein bißchen“, antwortete Zwecke. „Müßt ihr denn das?“ Zwecke machte ein dummes Gesicht und sagte: „Ja, das müssen wir, sonst kriegen wir nichts mehr zu essen.“ „Mach nicht solchen Quatsch“, fuhr ihn Harry an. „Gar kein Quatsch“, verteidigte sich Zwecke und lachte. „Wenn das Korn nicht rechtzeitig eingefahren werden kann, haben wir im Winter kein Brot.“ „Das macht uns doch Spaß“, sagte ,ich nun zu Vater. „Hast du nicht gesehen, wie schnell wir die Puppen aufgestellt haben?“ „Das ist wohl Ihr Junge?“ fragte eine Frau. Vater nickte.
„Feine Kerle sind das“, meinte der Bauer, der „Pause“ gerufen hatte. „Da kannst du stolz drauf sein.“ Er sagte ganz einfach du zu Vater, als ob sie sich schon lange kannten. „Hast ihn wohl besucht?“ fragte der Bauer weiter. „Ja, ich habe ihn besucht“, murmelte Vater. Er war ein bißchen verlegen. „Machst du Urlaub?“ Der Bauer schmunzelte. „Na, dieses Jahr wird es bei mir auch mal klappen. Sonst gab es so was für uns Bauern nicht.“ „Das könnte dir so passen, jetzt Urlaub machen“, sagte eine Frau. „Sei schon gut, Martha“, meinte der Bauer. „Jetzt will ich doch gar nicht. Das Korn wartet nicht gern.“ „Ich habe das ganze Jahr über Urlaub“, murmelte Vater. Dabei machte er ein finsteres Gesicht. Der Bauer sah ihn erstaunt an. „Was denn? Bist du krank?“ Da lachte der Vater. Aber es klang nicht froh. „Krank? Ich bin kerngesund. Keine Arbeit habe ich. Arbeitslos!“ „Mach keine Witze“, sagte der Bauer ungläubig. „Das gibt es doch bei uns nicht. Wo bist du denn her?“ Vater schwieg. Er wußte wohl nicht, ob er es dem Bauern erzählen sollte, daß wir aus Westdeutschland kamen, deshalb antwortete ich für ihn. „Das hättest du gleich sagen sollen“, meinte der Bauer. „Ja, dann kann ich’s verstehen. Aber was machst du jetzt? Willst du hier bei uns bleiben?“ Vater schüttelte den Kopf. „Ich habe doch meine Familie drüben.“ „Ist ein Kreuz mit dem Hüben und Drüben“, brummte schließlich der Bauer. „Wäre alles nicht nötig. Schmeißt die Amis raus, dann ist gleich Schluß damit. Aber jetzt wollen wir weitermachen.“
Er stand auf. „Kommt! Bis Mittag haben wir den Streifen geschnitten.“ „Wenn du nichts dagegen hast, helf ich hier bei meinem Jungen ein bißchen mit“, sagte Vater plötzlich. „Was sollte ich schon dagegen haben?“ fragte der Bauer. „Wir können jetzt jede Hand gebrauchen.“ Von da an haben wir zu viert gearbeitet: Zwecke, Tschunke, Vater und ich, und wir haben natürlich schnell aufgeholt. „Das ist Schiebung!“ riefen die anderen. Aber Horst meinte: „Hauptsache, wir schaffen es bis zum Mittag. Wir sind doch ein Kollektiv!“ Wir haben es auch geschafft. Als die Traktoren den letzten Streifen Getreide mähten, stand die Sonne gerade über uns. „Ihr seid Kerle“, sagte der Bauer, als wir die letzte Garbe aufgestellt hatten. „Ohne euch wären wir bestimmt noch nicht soweit.“ Da waren wir stolz und wären am liebsten nachmittags wieder hingegangen. Aber Kurt war dagegen. „Die anderen Gruppen wollen auch mithelfen. Außerdem wird es für euch zuviel. Tschunke hat bestimmt ein halbes Pfund abgenommen. Stimmt’s?“ „Nein“, antwortete Tschunke. „Stimmt nicht. Bloß zweihundertneunundvierzig Gramm!“
Lagerzirkus
Die Wochen im Pionierlager waren wie im Fluge vergangen. Viel zu kurz erschienen sie uns jetzt, wo das Ende nahte. Für den letzten Tag bereiteten wir ein großes Fest vor mit vielen Spielen und einem richtigen Lagerzirkus. Darauf freuten wir uns besonders. Jede Gruppe sollte sich etwas dafür ausdenken. Natürlich konnten sich nicht alle beteiligen. Dann wären wir bestimmt erst drei Tage später fertig geworden. Nur die besten Darbietungen sollten gezeigt werden. Wir hatten uns auch verschiedenes überlegt. Zwecke wollte als dummer August auftreten, und Egon wollte zaubern. „Kannst du denn überhaupt zaubern?“ fragte Wolf. Egon schob seine Brille hoch und sagte: „Noch nicht, aber ich kann es lernen.“ Das ging natürlich nicht. Auch Zweckes Plan wurde abgelehnt. Dumme Auguste gab es im Lager genug. Sicher in jeder Gruppe einen. Nein, wir wollten uns etwas Besonderes ausdenken. Die ganze Gruppe sollte sich beteiligen, und nicht nur zwei oder drei. „Ich hab’s“, sagte Harry am vorletzten Abend. „Wir bilden eine Riesenschlange.“ „Alte Sache“, brummte Zwecke. „Das kannten schon die alten Römer.“ „Denkste! So eine Schlange haben die hier noch nie gesehen. Kommt mal ein bißchen näher, dann erzähle ich euch, wie ich mir das vorstelle.“ Nun waren wir doch neugierig. „Also, paßt auf“, begann Harry geheimnisvoll. Und dann beschrieb er uns genau, wie er sich das mit der Riesenschlange
dachte. „Fein!“ rief Schnäppi. „Das habe ich noch nie gehört. Wenn man vorn…“ „Still!“ unterbrach ihn Wolf schnell. „Mußt du gleich wieder alles in die Welt hinausschreien? Wie wir das machen, braucht vorher keiner zu wissen.“ Das war klar. Sonst gab es ja keine Überraschung mehr. Nur Gert und Kurt erzählten wir alles. Das mußten wir; denn Kurt stellte das Programm auf und wählte die besten Darbietungen aus. „Das ist gut“, sagte er zu uns. „In einen richtigen Zirkus gehören vor allem Tiere. Eure Nummer wird bestimmt großartig.“ Der Zirkus sollte in einer Ecke des Sportplatzes aufgebaut werden. Dort konnten wir die Terrassen als Sitze verwenden. Für die Artisten wurde ein großes Zelt zum Umziehen eingerichtet. Und vor dem Zelt bauten wir Kisten auf, immer eine neben die andere, so daß ein großer Kreis entstand. Das sah wie eine richtige Manege aus. Zwei Scheinwerfer hatten wir auch. Der eine stand auf der Bühne und der andere am Abhang. Die brauchten wir unbedingt; denn die Vorstellung sollte erst am Abend stattfinden. Wir waren sehr aufgeregt. „Hoffentlich klappt alles“, sagten wir immer wieder. Horst war der Zirkusdirektor. Er konnte gut reden und brauchte nicht einmal einen Zettel dazu. Endlich war es soweit. Punkt sieben trafen sich alle, die im Zirkus auftraten, vor der Lagerleitung. Wir wollten vorher noch einen großen Umzug machen. Das gehörte dazu. Ganz vorn marschierte eine Kapelle. Das waren Mädchen, die auf dem Kamm bliesen. Wolfgang, der stellvertretende Lagerleiter, war Dirigent.
Die andere Kapelle bildete den Schluß. Das waren die Jungen aus Zelt 3. Sie hatten dem Koch sämtliche Töpfe weggetragen und schlugen nun mit Löffeln darauf. Wir zogen also erst einmal durch das Lager und dann auf den Sportplatz. Dort hatten sich die Zuschauer schon eingefunden. Als wir ankamen, schrien sie vor Begeisterung und klatschten in die Hände. Unsere Gruppe war erst in der zweiten Hälfte des Programms an der Reihe. Deshalb setzten wir uns vor die Manege, um zu sehen, was die anderen zeigten. Die Kapellen spielten einen Tusch. Sie mußten es aber noch zweimal tun, ehe es still wurde. Und dann erschien Horst.
Er hatte einen schwarzen Anzug an, mit grünen Streifen an den Ärmeln und auf der Hose. Im Knopfloch steckte eine große weiße Blume, und an seinem Hals hing eine rote Fliege. Einen Zylinder hatte er auch. Horst trat mitten in die Manege, verbeugte sich nach allen Seiten und begann: „Mein hochverehrtes Publikum! Im Namen unserer großen Künstler begrüße ich Sie auf das herzlichste zu unserer heutigen Premiere.“ Wir klatschten, und er verbeugte sich.
„Ich habe die große Ehre, Ihnen unseren berühmten Zirkus vorzustellen. Es ist der größte, den es auf der Erde und den benachbarten Planeten gibt. Beispiellose Erfolge begleiten uns überall…“ In diesem Augenblick kam ein August herausgesprungen. Er preßte seine Hände an die Backe und wimmerte jämmerlich. „Was hast du denn, August?“ fragte Horst. „Mein Zahn, mein Zahn“, wimmerte der August. „Jedesmal, wenn du denselben Unsinn erzählst, krieg’ ich fürchterliche Zahnschmerzen.“ „Hahaha!“ lachte Zwecke los, und die anderen fielen ein. Horst gab dem August einen Klaps und jagte ihn fort. „Lassen Sie sich nicht von ihm beeinflussen“, sagte er dann zu uns. „Man darf ihm nichts glauben. Doch ich will Ihnen unsere großen Schätze der Zirkuskunst nicht länger vorenthalten. Kapelle! Tusch!“ Zwölf Pferde kamen in die Manege gelaufen. Es waren Mädchen mit Steckenpferden. Sie stellten sich immer zu zweien nebeneinander und tanzten. Dann wurden Gewichte gebracht. Nicht solche, wie sie der Kaufmann auf die Waage legt. Nein. Es waren Stangen mit großen Scheiben rechts und links. Ein Pionierleiter von der zweiten Freundschaft trat heraus. Er hatte nur eine Trainingshose an, und wir konnten seine Muskeln sehen. „Das ist Heinrich, der beste Gewichtheber der Welt“, stellte Horst ihn vor. Heinrich trat nun an die Gewichte heran. Eins nach dem andern stemmte er in die Höhe. „Hat der Kraft!“ Tschunke staunte. Jetzt stand er vor dem letzten Gewicht. Er holte tief Luft, spuckte in die Hände. Er konnte und konnte es nicht heben. Immer wieder versuchte er es. Wir hielten den Atem an. Würde er es schaffen?
Da brach Heinrich plötzlich zusammen. Wie tot lag er da. Horst ging zu ihm und fühlte seinen Puls. „Schlägt noch“, verkündete er. „Er hätte vorher noch eine Käseschnitte essen sollen.“ Wir lachten laut. Das mit dem Käse verstanden wir sofort. Wir erhielten nämlich jeden Abend außer der Wurst noch einen halben Käse. Horst winkte. Zwei Zirkusleute kamen, faßten Heinrich bei den Armen und schleiften ihn beiseite. Dann sprang ein kleiner August aus dem Zelt, blickte erst auf den zusammengebrochenen Heinrich und sah dann die Zuschauer an. Schließlich ging er zu dem Gewicht, hob es hoch, klemmte es wie einen Besen unter den Arm und lief hinaus. Wir schrien vor Begeisterung. „Das war doch Zwecke“, sagte Wolf plötzlich. Wir guckten uns um. Zwecke war nicht mehr da. „So ein Gauner!“ rief Egon. „Und er hat keinen Ton gesagt.“ Wir waren ihm aber deshalb nicht böse. Er hatte seine Sache wirklich gut gemacht. Die Vorstellung ging weiter. Immer neue Nummern begeisterten uns. Großen Spaß hatten wir bei dem Wunderpferd „Lux“. Das führte ein Junge aus Zelt 1 vor. „Wieviel ist zwei und drei?“ fragte er. Das Pferd hob den Schwanz und ließ fünfmal etwas fallen. Aber es wußte noch viel mehr. Nach den Rechenaufgaben wurde es von dem Jungen um die Manege herumgeführt. Vor einem anderen Jungen blieb es von ganz allein stehen. Es beugte sich herunter und schnupperte an seinen Beinen. Dann hob es den Kopf, schnaubte und schnupperte schließlich wieder. „Wann hast du dir zum letztenmal die Füße gewaschen?“ fragte der, der das Pferd führte, den Jungen.
Der wurde rot. Er schwieg. „Lux“, fragte der aus Zelt 1, „wieviel Tage hat er sich die Füße nicht gewaschen?“ Das Pferd schnupperte noch einmal, dann ließ es dreimal etwas fallen. Da merkte ich, daß Schnäppi davonkroch. Er flüsterte etwas, was ich nicht genau verstand, und schon war er weg. Sicher hatte er sich seine Füße auch nicht gewaschen. Als das Pferd wieder im Zelt verschwunden war, sagte Harry: „Kommt, wir sind gleich dran.“ Wir schlichen gebückt hinter ihm her. „Wo sind die Decken?“ fragte Wolf. Den Körper der Schlange hatten wir nämlich aus Decken zusammengenäht. Wir krochen hinein. Draußen verkündete Horst: „Und nun, meine Herrschaften, sehen Sie das größte Wundertier unserer Breitengrade – eine Riesenschlange.“ „Hast du alles?“ fragte Harry. „Ja“, antwortete Wolf. Er war der Schwanz der Schlange. „Dann los!“ Unter dem Jubel der anderen rannten wir in die Manege. Wir liefen erst einmal rundherum und blieben dann in der Mitte stehen.
„Öffnen Sie Ihre Augen“, rief Horst. „Nie in Ihrem Leben werden Sie wieder so etwas zu sehen bekommen. Eine Riesenwunderschlange, wie es noch keine gegeben hat. Ihre Ausmaße sind ungeheuer. Vom Kopf bis zum Schwanz mißt sie 20 Meter.“ Lautes Klatschen unterbrach ihn. „Aber es ist nicht ein Wundertier wie jedes andere“, fuhr Horst voller Würde fort. „Nein! Unsere Riesenwunderschlange ist mehr. Sie kann alles! Geben Sie gut Obacht, meine Herrschaften! Ich habe hier eine zerbrochene Kaffeetasse. Die gebe ich der Schlange zu fressen.“ Er hielt die Scherben vor den Schlangenkopf. Harry nahm sie und steckte sie in einen Beutel. „Los! Bewegt euch“, flüsterte er uns zu. Wir hatten die ganze Zeit gebückt dagestanden. Nun richtete sich einer nach dem andern auf und bückte sich gleich darauf wieder. Dadurch entstand eine Wellenlinie, und es sah aus, als wandere die Tasse durch den Leib der Schlange. Horst war inzwischen nach hinten gegangen. Er hielt sein Taschentuch auf, und Wolf ließ eine neue Tasse hineinfallen. Die hielt Horst hoch und rief: „Meine Herrschaften! Meine Herrschaften! Sehen Sie? Die Tasse ist wieder heil!“ Es dauerte eine ganze Weile, bis die anderen das begriffen. Aber dann brüllten sie los. „Mehr! Mehr!“ schrien sie. „Hier ist ein Knäuel Wolle“, sagte Horst, als es ruhiger geworden war. „Ich werde jetzt…“ Es ging genauso wie vorher. Nur daß diesmal ein Pullover herauskam. Dann gab Horst der Schlange eine Handvoll Graupen zu fressen. Eigentlich hätte er ja Roggenkörner nehmen müssen. Aber wir hatten keine, und Graupen taten es schließlich auch. Gleich darauf fiel hinten ein Brot heraus. Dann sind wir noch einmal um die Manege herumgelaufen und im Zelt verschwunden.
„Das hat geklappt“, sagte Zwecke. „Und wie sie gequiekt haben!“ Wir legten die Decken zusammen und gingen wieder hinaus. Es sollte nämlich gleich die große Sensation kommen – eine tolle Sache. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Ohne die Scheinwerfer hätten wir nichts mehr sehen können. In der Mitte der Manege war eine große Kanone aufgebaut: ein Faß auf einem Handwagen. Die Öffnung war schräg nach oben auf die Krankenbaracke gerichtet. „Sie sehen jetzt, wie ein lebender Mensch durch die Luft geschossen wird“, verkündete Horst. „Schreckhafte Bewohner dieses stillen Winkels mögen sich die Ohren zuhalten. Es gibt nämlich einen Knall.“ Der Mensch, der durch die Luft geschossen werden sollte, war ein Pionierleiter. Er stand neben der Kanone und verbeugte sich nach allen Seiten. Dann stieg er in das Faß. „Bitte, bleiben Sie auf Ihren Plätzen!“ rief Horst. „Es ist völlig ungefährlich. Aber halten Sie bitte den Atem an. Schon der geringste Luftzug kann den Artisten aus seiner Flugbahn werfen.“ Wir blickten gespannt auf die Kanone. Unwillkürlich hielten wir wirklich den Atem an. Ein Streichholz flammte auf. Irgend etwas glimmte. Und dann gab es einen lauten Knall, und eine Rakete schoß in die Höhe. Im selben Augenblick schwenkten die Scheinwerfer von der Manege ab und warfen ihr Licht auf das Dach der Krankenbaracke. Mir blieb vor Staunen der Mund offenstehen. Wenn ich alles erwartet hatte, aber das nicht! Oben auf dem Dach verbeugte sich der Pionierleiter. Wir konnten es ganz deutlich sehen, das rotkarierte Hemd, die blonden Haare und die Brille. Es stimmte genau. Ringsum war es still. Alle guckten und guckten. „Da bist du platt“, hauchte Zwecke. „Richtig durch die Luft geflogen!“
„Das ist überhaupt nicht möglich“, meinte Tschunke, und wir nickten. Aber wir hatten es doch gesehen. Oder nicht? Die ganze Nacht dachten wir darüber nach, wenigstens bis wir einschliefen. Aber dahintergekommen sind wir nicht. Am nächsten Morgen hat es uns Gert verraten. „Damit ihr nicht vor lauter Grübeln umkommt“, sagte er und schmunzelte. „Der auf dem Dach war ein anderer. Er hatte nur dasselbe an.“ Da haben wir uns erst dumm angeguckt und dann laut gelacht. Nur Tschunke wollte es noch immer nicht glauben. „Aber wo ist der geblieben, der in das Faß gestiegen ist?“ „Wo habt ihr denn hingeguckt, als die Rakete losging?“ fragte Gert. „Na, auf das Dach“, sagte Wolf. „Ihr hättet lieber auf das Faß aufpassen sollen! Dann wüßtet ihr nämlich jetzt, wo er geblieben ist.“
Zum letztenmal
Der Zirkus war zu Ende. „Jetzt ist noch Lagerappell“, sagte Gert. In der Mitte des Sportplatzes hatten wir einen großen Holzstoß errichtet. Dort versammelten sich alle Gruppen. Ein Mädchen mit einer brennenden Fackel trat vor den Holzstoß. Es war Monika, die Vorsitzende des Rates der drei Lagerfreundschaften. „Junge Pioniere!“ rief sie. „Zum letztenmal haben wir uns hier zusammengefunden. Zum letztenmal singen wir heute gemeinsam unsere Lieder. Zum letztenmal reichen wir uns die Hände. Einundzwanzig schöne Tage liegen hinter uns. Sie haben uns viel Freude gegeben. Sie sollen Ansporn sein bei unserer Arbeit in der Schule. Mehr und besser wollen wir lernen, damit wir immer so fröhlich sein können wie hier.“ Sie hielt die Fackel an den Holzstoß. Die Flammen fraßen sich in das trockene Holz. Hell leuchtete das Feuer durch die Nacht. „Zum letztenmal brennt heute unser Lagerfeuer“, sprach Monika weiter. „Zum letztenmal. Wir wollen seinen Schein in uns aufnehmen und in die Welt hinaustragen. Es ist das Feuer des Friedens.“ Einer stimmte ein Lied an. Wir fielen alle ein: „Jugend, Jugend, in der Weltgeschichte stehst du als ein neues Morgenrot. Jugend sei für alle Weltgerichte eine Friedensflamme, die für immer loht.“
Die Flammen schlugen zum Himmel empor. Wir hatten uns bei den Händen gefaßt und sangen. Es war sehr feierlich. Zum letztenmal, ich wurde ein bißchen traurig. Aber dann dachte ich, alle sind meine Freunde! Nicht nur jetzt, immer, und sie werden es auch bleiben. Da war ich glücklich.
Als die Flammen langsam kleiner wurden, trat Jutta auf die Bühne. „Pioniere!“ rief sie. „Zum letztenmal wollen wir unsere Lagerfahne einholen.“ Und dann sank sie herab, die blaue Fahne mit den drei roten Flammen über dem JP. „Junge Pioniere!“ rief Jutta. „Für Frieden und Völkerfreundschaft – seid bereit!“ „Immer bereit!“ riefen wir zurück. Es klang wie ein Schwur.
Abschied
Am nächsten Morgen fuhren alle nach Hause. Schon am Tage vorher waren viele unbekannte Pionierleiter gekommen, um ihre Pioniere abzuholen. Wir hatten unsere Sachen zusammengepackt und vor das Zelt gelegt. „Wirst du uns einmal schreiben?“ fragte mich Zwecke. „Natürlich, das mußt du!“ meinten auch die anderen. „Wir werden dir auch schreiben“, sagte Horst. „Und den Jungen Pionier werden wir dir jede Woche schicken.“ Darüber freute ich mich. Ich hatte die Zeitung der Pioniere gern gelesen. Es standen so schöne Geschichten drin, von der Schule, von der Pionierarbeit, und auch viel Lustiges. „Du mußt deinen Freunden von uns erzählen“, sagte Harry. Ja, das wollte ich. „Euer Auto wird ohne euch fahren!“ rief Gert. „Kommt, die anderen sind schon längst eingestiegen.“ Wir reichten uns noch einmal die Hände. „Mach’s gut, Sprotte!“ sagte Zwecke. „Mach’s gut!“ riefen auch die anderen, als sie schon in dem großen Autobus saßen. „Mach’s gut! Und komm wieder!“ Der Autobus rollte durch das Lagertor. Ich sah ihm nach. Erst als er längst verschwunden war, ging ich zu unserem Zelt zurück. Ich nahm meine Sachen, verabschiedete mich von Gert und Jutta, und dann wanderte ich über den Berg hinüber nach Dittersdorf zum Vater.
Wieder in Dittersdorf
Eigentlich hatte ich mich gefreut, daß ich nun ein paar Tage mit Vater zusammen bei Onkel Walter und Tante Herta sein konnte. Ich hatte gedacht, daß wir dann gemeinsam Spazierengehen würden. Aber es kam anders, und ich war nicht einmal böse darüber. Vater arbeitete nämlich. Nachdem wir bei der Ernte geholfen hatten, war er noch einmal zu dem Bauern gegangen, der sich damals mit ihm unterhalten hatte. „Ich hab’ das Herumsitzen satt“, sagte er zu ihm. „Hast du nicht für ein paar Tage Arbeit für mich?“ „Arbeit haben wir jetzt genug“, antwortete der Bauer. „Und Leute können wir auch gebrauchen. Es ist nur…“ „Ach, du meinst, weil ich von drüben bin?“ fragte der Vater. „Nein.“ Der Bauer schüttelte den Kopf. „Den Unterschied kennen wir nicht. Aber weißt du, ich kann das nicht entscheiden. Wir sind doch eine Produktionsgenossenschaft. Da arbeitet keiner mehr für sich allein. Wir besprechen alles gemeinsam. Deshalb muß ich erst mit den anderen reden. Es ist auch wegen des Lohns. Warte mal bis heute abend. Dann gebe ich dir Bescheid.“ Er ist auch am Abend gekommen. „Kannst bei uns anfangen“, sagte er. „Gleich morgen früh, wenn du willst.“ Und dabei ist es auch geblieben. Vater hat mit in der Produktionsgenossenschaft gearbeitet, und als ich aus dem Pionierlager zurückkehrte, hatten die Bauern von der Genossenschaft schon das ganze Getreide gemäht. „Morgen fangen wir an zu dreschen“, sagte Vater am Abend zu mir. „Darf ich mitkommen?“ fragte ich gleich.
„Ich weiß nicht, aber wenn du nicht im Wege herumstehst, werden die anderen sicher nichts dagegen haben.“ Da freute ich mich, daß ich doch mit Vater zusammen sein konnte. Am nächsten Morgen gingen wir schon um fünf Uhr los. Vater sagte allerdings, ich solle erst später nachkommen. Aber ich wollte nicht. Auf einem Platz mitten im Dorf standen zwei Dreschmaschinen. Als wir hinkamen, waren schon ein paar Bauern dort. Der Bauer, mit dem der Vater gesprochen hatte, war auch dabei. „Morgen, Otto!“ rief er, als er uns sah. „Na, hast du deinen Sprößling wieder?“ „Morgen, Richard!“ rief der Vater zurück. „Ihr habt doch nichts dagegen, wenn der Junge aufpaßt?“ „Soll er nur“, meinte Richard, und zu mir sagte er: „Kannst dann deinem Lehrer davon erzählen.“ In diesem Augenblick fuhren zwei Wagen die Straße herunter. Sie waren bis obenhin mit Getreide beladen. „Sie kommen!“ riefen alle und winkten mit den Kopftüchern. Die Männer winkten natürlich mit den Hüten. Sie hatten ja keine Kopftücher.
Eine einfache Sache
In diesen Tagen wurde sehr viel über die Produktionsgenossenschaft gesprochen. Abends erschienen die Bauern aus dem Dorf und sahen denen von der Genossenschaft beim Dreschen zu. „Paß auf, was ich dir sage“, meinte Richard einmal, als wir nach der Ablösung noch eine Weile auf dem Platz standen. „Von denen dort kommen bald noch mehr zu uns. Ohne Grund stehen sie nicht jeden Abend hier.“ „Du meinst, daß sie in die Genossenschaft eintreten wollen?“ fragte der Vater. „Ist doch klar. Schau mal, allein können sie mit uns nicht Schritt halten. Wir schaffen jetzt schon schneller als irgendein anderer. Das weißt du doch selbst. Aber im nächsten Jahr wird es noch besser. Die vielen kleinen Felder werden verschwinden, und dann kommen Maschinen; Maschinen, sage ich dir, wie du sie noch nie gesehen hast.“ „Aber ihr könnt doch nicht alles mit Maschinen machen“, sagte Vater. „Ich kann mir das nicht vorstellen.“ „Du wirst dich wundern. Es gibt jetzt schon derartige Maschinen auf unseren Maschinen-Traktoren-Stationen. Andere Produktionsgenossenschaften arbeiten bereits damit. Die hat uns die Sowjetunion geschickt. Menschenskind, Otto, ich hätte es auch nicht für möglich gehalten. Da wird alles auf einmal gemacht: gemäht und gedroschen. Gleich auf dem Feld. Du brauchst das Korn bloß noch abzufahren.“ Vater verzog das Gesicht, daß ich nicht wußte, ob ihm was weh tat oder ob er grinste. „Kaum zu glauben!“
„Nicht wahr“, meinte Richard, „das klingt wie ein Märchen. Aber wir haben uns nun einmal in den Kopf gesetzt, daß aus diesem Märchen Wirklichkeit wird. Kommt nur mal mit zu mir. Du solltest mich ja schon längst besuchen. Ich habe ein paar Bilder von diesen Maschinen. Die mußt du dir ansehen.“ Vater wollte erst nicht. Aber Richard hat ihn dann doch überredet. Richard Flames Hof war nicht weit von dem Druschplatz entfernt. In der Küche trafen wir seine Tochter Helga beim Aufwaschen. „Das Mädel hilft jetzt tüchtig mit“, sagte Richard. „Während der Ernte geht’s nicht anders. Später wird auch das besser. Dann arbeiten wir täglich acht Stunden in der Genossenschaft und haben Feierabend wie jeder andere Arbeiter.“ Ich kannte Helga schon. Auf dem Druschplatz hatten wir uns zum erstenmal gesehen. Wir waren oft zusammen aufs Feld gefahren, um beim Aufladen zu helfen. Helga war auch in einem Pionierlager gewesen. Wir hatten von unseren Erlebnissen erzählt; ich von Zwecke und Tschunke und den anderen und Helga von dem großen See, an dem ihr Ferienlager war. „Fein“, sagte sie, als wir in die Stube traten, „fein, daß du uns mal besuchst, Rudi. Ich bin gleich fertig.“ Richard holte einen Stoß Zeitungen aus dem Schrank und wühlte darin herum. Endlich hatte er gefunden, was er suchte. „Da, schau mal! Das ist so ein Mähdrescher.“ Er legte ein Blatt mit vielen Bildern vor uns auf den Tisch. „Siehst du, hier vorn ist die Mähmaschine. Das Getreide wird geschnitten und wandert dann in den großen Kasten. Das ist die Dreschmaschine. Und hier an der Seite kommt das Korn heraus. Der Lastwagen braucht nur nebenher zu fahren. Das Stroh wird gleich zu Ballen gepreßt. Ist das nicht großartig?“
Vater schaute immerzu auf die Bilder. Dabei rieb er die linke Hand am Hosenbein. „In der Sowjetunion arbeiten sie schon seit Jahren damit“, sagte Richard. „Die sind ja in allem viel weiter als wir.“ Vater sah noch immer auf die Bilder. „Hmm“, brummte er langgezogen, und auf einmal blickte er den Bauer an, als sei jemand aus der Familie gestorben. „Sei mir nicht bös, Richard“, meinte er, „ich will das bei euch nicht schlecht machen; aber solche Mähdrescher gibt es bei uns schon eine ganze Weile.“ Der Richard machte große Augen. Doch gleich darauf kniff er sie listig zusammen. „So? Gibt’s bei euch auch? Na, dann kaufst du dir wohl bald einen, he?“ Vater schüttelte den Kopf. „Was soll ich damit? Ich bin kein Bauer. Außerdem kostet so ein Mähdrescher ‘ne Masse Geld. Ist nur was für die Großen; wir Kleinen können solche Maschinen nie kaufen.“ „Bei uns schon“, erwiderte Richard seelenruhig. Vater hielt den Kopf schief und sah Richard prüfend an. „Du denkst wohl, mir könntest du das aufbinden?“ fragte er. „Bauer bleibt Bauer, und von euch hier im Dorf kann keiner ‘nen Mähdrescher bezahlen; soviel habe ich schon gesehen.“ Da lachte Richard. „Einer oder zwei können das natürlich nicht“, meinte er. „Ich habe zwölf Hektar Land. Damit kannst du keine großen Sprünge machen. Nicht mal für ein Pferd hat es gereicht. Aber alle zusammen, verstehst du, alle Bauern aus einem Dorf, die bringen schon etwas fertig.“ Das begriff sogar ich. Wenn wir uns daheim mit den Kindern aus dem Dorf einmal prügelten, hielten wir auch zusammen, weil wir dann stärker waren. Das habe ich gesagt. Da lachte Richard wieder und meinte: „Siehst du, Otto, dein Junge hat es begriffen. Genauso ist es bei uns.“
Ich war ganz stolz, weil ich nun wußte, warum eine Genossenschaft mehr leisten konnte als jeder für sich allein.
Der letzte Tag
Den Tag unserer Heimreise schoben wir immer weiter hinaus. Erst wollte Vater gleich fahren, nachdem ich aus dem Pionierlager kam. Dann sagte er: „Wenn wir mit dem Dreschen fertig sind.“ Aber schließlich sind wir noch fast eine Woche länger geblieben. Als das Getreide gedroschen war, luden die Bauern die Säcke auf und fuhren damit nach Chemnitz. Ihre Wagen hatten sie prächtig geschmückt. Ich saß neben Richard Flame und Helga. „Heute ist der schönste Tag für unsere Genossenschaft“, meinte sie. „Wir liefern das erste Getreide an den Staat ab.“ Die Produktionsgenossenschaft von Dittersdorf hatte übrigens den Wettbewerb gewonnen. Die andere Genossenschaft war erst einen Tag später mit dem Dreschen fertig geworden. „Das haben wir euch zu verdanken“, sagte Richard Flame zu mir. „Wenn ihr uns damals nicht geholfen hättet, wären wir bestimmt noch nicht soweit.“ Das war natürlich übertrieben. Aber ich freute mich doch. Ein klein wenig hatten wir bestimmt auch dazu beigetragen. Für die Bauern war damit die Arbeit nicht beendet. Zuerst mußte das Getreide abgeliefert werden. Es konnte doch nicht in der Turnhalle liegenbleiben. Und dann ging die Ernte auch weiter, und die Felder mußten für den Winter hergerichtet werden. Vater arbeitete jetzt nicht mehr in der Genossenschaft. Er wollte ein wenig mit mir zusammen sein, und Onkel Walter nahm sogar ein paar Tage Urlaub.
Am letzten Tag gingen wir alle noch einmal hinüber nach Einsiedel ins Pionierlager. Jutta freute sich sehr, als sie mich sah. Ich erzählte ihr, was ich inzwischen erlebt hatte. „Wozu solch eine Reise manchmal gut sein kann“, sagte sie lächelnd zu Vater. Der wußte gar nicht, wo er hingucken sollte, so verlegen war er. „Ich konnte nicht wissen, wie das hier bei Ihnen ist“, sagte er. „Sonst wäre ich ja nicht gekommen.“ „Erinnerst du dich an unsern alten Doktor?“ fragte da Onkel Walter. „Der sagte immer: ,Wer einen Schnupfen hat, soll sich ins Bett legen und richtig schwitzen. Das hilft immer.’ Na, geschwitzt hast du nun bei uns, und geholfen hat es hoffentlich auch.“ Da mußten wir alle lachen. Auf dem Heimweg sind wir in ein HO-Geschäft gegangen. Vater hatte seinen Lohn erhalten. Für Mutter suchte er ein Wolltuch aus und für Tilde, meine große Schwester, ein Paar Strümpfe. Mir kaufte Vater eine neue Hose und für Luise ein Jäckchen. Dem Reinhard nahm er einen Teddybär mit. Onkel Walter hat dann auch verschiedenes gekauft: mir einen Füllfederhalter und für die Luise einen Ball. Am Abend saßen wir noch einmal bei Onkel Walter in der Stube. Er hatte die Schnapsflasche wieder aus dem Schrank geholt und auch die Zigarren. „Ja, morgen fahren wir nach Hause“, sagte Vater. Es war gerade so, als ob ihm nichts Besseres einfalle. Onkel Walter sah ihn an. „Und…“ sagte er. „Es ist vielleicht dumm, wenn ich jetzt frage: Wie hat es dir gefallen? Ich meine, hast du es bereut, daß du hiergeblieben bist?“ Vater sagte zuerst gar nichts. Er drehte seine Zigarre zwischen den Fingern und starrte sie an, als wolle er sie verhexen. „Du willst bestimmt hören, daß ich alles, was ich bei euch gesehen habe, über den grünen Klee lobe“, meinte er dann.
„Ich soll dir sagen, daß bei euch der Himmel auf Erden ist und daß…“ „Nein!“ unterbrach ihn da Onkel Walter. „Du hast mich falsch verstanden. Das will ich nicht. Wir haben keinen Himmel auf Erden bei uns. Ich will nur wissen, ob es dir gefallen hat.“ „Wenn es mir nicht gefallen hätte, wäre ich längst abgefahren“, sagte Vater. Onkel Walter lachte. „Na, siehst du, das ist wenigstens ein Wort.“ Er sah eine Weile vor sich hin. „Du hast mich einmal gefragt, Otto, wo ich das alles her habe“, fuhr er dann fort und zeigte auf die Sessel und die Möbel im Zimmer. „Das habe ich mir hier bei uns geschafft, mit meinen Händen geschafft. Und ich werde mir noch mehr schaffen.“ Er schwieg wieder. „Es war nicht immer leicht, Otto“, sprach er dann weiter. „Wir haben gehungert, gehungert, daß wir dachten, es ginge nicht mehr weiter. Du weißt, wie wir hier angekommen sind. Das, was wir auf dem Leibe hatten, war unser ganzer Besitz. Und keiner hat uns gekannt Wir waren allein. Aber siehst du, wir sind nicht lange allein geblieben. Sie haben mir Arbeit gegeben. Schwere Arbeit war es, aber nicht schwerer als für jeden anderen auch. Da haben wir Mut gefaßt; wir haben eine neue Heimat gefunden, und die möchte ich nie wieder aufgeben.“ Da sah ich, daß Vater eine Träne im Auge hatte. Er fuhr verlegen mit der Hand über das Gesicht. „Wenn alles wahr wäre, was man hier bei euch hört“, er sprach ganz langsam, „Walter, wenn es wahr wäre.“ „Es ist wahr“, sagte Onkel Walter. „Du hast doch bei uns gearbeitet, Otto, und ich glaube, du hast dabei mehr gesehen, als ich dir erzählen könnte. Ja, und dann schau dir doch deinen Rudi an. Laß dir von ihm erzählen, war er erlebt hat. Er lügt nicht. Und dabei ist unser Leben heute erst ein Anfang. Denk
mal darüber nach wenn du wieder zu Hause bist. Es lohnt sich, Otto, wirklich.“ „Jetzt schenk nur endlich mal ein“, sagte da Tante Herta. „Otto wird sich schon seinen Teil denken. Er hat doch Augen im Kopf.“ „Hast recht, Herta“, meinte Onkel Walter vergnügt. „So jung kommen wir nicht wieder zusammen!“ Er goß die Gläser voll. „Na, und du, Sprotte?“ fragte er mich. „Willst du auch einen haben?“ „Junge Pioniere trinken keinen Alkohol“, sagte ich. „Haha!“ platzte Onkel Walter heraus. „Schau mal einer an. Deine Sprotte hat schon etwas gelernt, Otto. Aber wir sind nicht mehr ganz so jung, wir können schon mal ein Glas trinken, wie? Also prost!“ Es wurde sehr spät an diesem Abend. Onkel Walter erzählte von seinem Betrieb, und manchmal konnten wir tüchtig lachen. „Weißt du, Walter“, hat Vater schließlich gesagt, „wenn du von deiner Arbeit und von deinem Leben hier bei euch geschrieben hast, dann habe ich dir kein Wort geglaubt. ,Der hat seine Arbeit’, hab’ ich zu Trudel gesagt, ,da muß er ja so reden!’ Aber jetzt – Walter, ich könnte dich beneiden.“ „In den Schoß gefallen ist uns das alles nicht“, sagte Onkel Walter. „Und es wird auch euch nicht in den Schoß fallen. Da müßt ihr schon selbst etwas tun. Erzähl deinen Bekannten, was du hier bei uns gesehen hast. Wenn wir den Hetzern erst einmal das Maul gestopft haben, ist schon viel gewonnen.“ „Du hast sicher recht“, erwiderte Vater nach einer Weile. „Aber du darfst auch nicht vergessen, daß wir es nicht ganz so leicht haben wie ihr.“ „Das wissen wir“, meinte Onkel Walter. „Und wir helfen euch auch, wo wir nur können. Gemeinsam werden wir es bestimmt schaffen.“
Da mußte ich wieder an die Sache mit der Produktionsgenossenschaft und mit den Jungen aus unserem Dorf denken. Das war der letzte Abend. Am nächsten Morgen sind wir nach Hause gefahren. Weißenreuth, am 7. September 1952 Lieber Siegfried! Das war meine Geschichte. Nun bin ich fertig. Hoffentlich kannst Du Dir ein Bild davon machen, wie meine Reise war. Ich habe mir viel Mühe gegeben. Vater hat mir auch ein bißchen dabei geholfen. „So was muß man doch ordentlich aufschreiben“, meinte er. Mutter hat sich sehr gefreut, als wir wieder nach Hause kamen. „Junge!“ sagte sie immer wieder. „Daß du wieder da bist!“ Und dabei hat sie mich gestreichelt. „War es sehr schlimm?“ hat sie Vater gefragt. Da lachte er und antwortete: „Was soll denn schon gewesen sein? Erholt hat er sich, und zehn Pfund zugenommen.“ Vater ist überhaupt ganz verändert, seitdem wir wiedergekommen sind. Manchmal sitzt er eine halbe Stunde am Tisch und redet kein Wort. Aber dann fängt er plötzlich an und erzählt Mutter ganz genau, was er alles gesehen hat. „Ich kann mir nicht helfen, Trudel“, sagt er zum Schluß, „denen da drüben geht es gut. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es ist natürlich nicht wie im Märchenland. Aber wenn es bei uns so wäre wie bei denen, dann säßen wir bestimmt nicht mehr in dieser elenden Baracke.“ Im Dorf hat er das übrigens auch schon erklärt. Als Mutter davon hörte, war sie erschrocken und sagte: „Sie werden dich noch einsperren, wenn du soviel redest!“
„Was recht ist, muß recht bleiben!“ rief er. „Kann ich was dafür, wenn die die Wahrheit nicht vertragen können?“ Den anderen Kindern habe ich auch von meinen Erlebnissen berichtet. Die haben es gar nicht glauben wollen. „Schwindelst du auch nicht?“ fragte mich Ossi Schombeck. „Ehrenwort!“ habe ich geantwortet. Da glaubten sie es, und Ossi meinte: „Dann fahre ich im nächsten Jahr auch dorthin.“ In der vorigen Woche begann wieder die Schule. Bei Euch auch? Es geht alles den alten Trott. Ich will mich jetzt hinsetzen und lernen, damit ich nicht schlechter bin als meine Freunde aus dem Pionierlager. Wenn der Alfons aber wieder anfängt zu hetzen, dann stehe ich auf und sage ihm Bescheid. Schreibe bald einmal, wie es Dir geht. Bis dahin grüßt Dich Dein Freund Rudi