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Buch: Als nach dem Unabhängigkeitskrieg George Washington hart blieb und sich weigerte, die Whiskysteuer abzuschaffen, schlug sich der Politiker Albert Gallatin auf die Seite der aufgebrachten Farmer. Der Präsident setzte 15000 Mann Bundestruppen gegen die Aufständischen ein – und erlitt eine vernichtende Niederlage. Washington wird in Philadelphia standrechtlich erschossen; Gallatin zum Präsidenten gewählt. Die Konföderation von Nordamerika wird gegründet, alle Steuer werden abgeschafft, dem Staat verboten, Geld zu prägen oder zu drucken. Diese Nahtstelle der amerikanischen Geschichte ist das Ziel von Zeitreisenden, die mit allen Mitteln die Weichen für eine Zukunft stellen wollen, wie wir sie aus der Geschichte kennen, doch die Agenten der Konföderation sind auf der Hut. Nur droht durch die Auseinandersetzungen alles aus den Fugen zu geraten und eine weitere Parallelwelt zu entstehen. Durch seinen munteren, fröhlich-frechen Stil, seine anarchistische Kaltschnäuzigkeit und ein Feuerwerk von Ideen hat Neil Smith frischen Wind in die amerikanische Science Fiction gebracht.
SCIENCE FICTION Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
Von L. Neil Smith erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: DAS GALLATIN-UNIVERSUM: Der Durchbruch 06/4250 Der Venus-Gürtel 06/4251 Ihrer Majestäten Kübeliere 06/4252 Der Nagasaki-Vektor 06/5253 Tom Paine Maru 06/4281 Die Gallatin-Abweichung 06/4282
L. NEIL SMITH
DIE GALLATINABWEICHUNG Sechster Roman aus dem Gallatin-Universum
Science Fiction
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4282
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE GALLATIN DIVERGENCE Deutsche Übersetzung von Irene Holicki Das Umschlagbild schuf Roy Michael Payne
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1985 by L. Neil Smith Copyright © 1986 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1986 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-31292-9
INHALT
Dem Andenken an Gordon Kahl gewidmet
»Sollte jemand den Versuch machen, diese Menschen zu unterdrücken, so wird, wie ich fürchte, die Frage nicht sein, ob Ihr nach Pittsburgh marschiert, sondern ob sie nach Philadelphia marschieren, sich auf dem Weg dorthin zusammenrotten und wie eine Sturzflut über die Ufer des Susquehanna quellen... Hugh Henry Brackenridge in einem Brief an Tench Coxe, August 1794
DANKSAGUNG Für den freundlichen Rat von Loise R. White aus Brownsville, Pennsylvania, ihres Sohnes Rick White, sowie Dr. Jim Hansens und für die Bemühungen von Leland D. Baldwin, dem Autor von ›Whiskey Rebels‹ (University of Pittsburgh Press, 1968) möchte ich meinen besten Dank aussprechen. Sollte ich bei der Ausmalung der Ereignisse von 1794 unabsichtlich das Andenken an John Baldwin, John Holcroft, David Bradford, Benjamin Parkinson oder einen ihrer Gefährten verletzt haben, möchte ich ihnen posthum mein Bedauern ausdrücken. An Hugh Henry Brackenridge, John Neville oder Alexander Hamilton habe ich keinerlei Entschuldigung zu richten.
1. Kapitel Geht der Tanz schon wieder los? EIN WENIG SPÄTER… »Unverschämtheit!« Ich schüttelte den Kopf und versuchte, meine Augen auf die verschwommene, aber bekannte Gestalt vor mir einzustellen. Sie war klein, nicht viel über fünf metrische Fuß, roch nach Lavendel, wog vielleicht fünfundneunzig Pfund und war triefend naß – ganz zu schweigen von der Pistole Kaliber .50, die bestimmt von ihrer Taille hing. Sie stammte aus San Antonio – war im Schatten eines Alamo geboren, wo die Texaner Santa Anna geschlagen hatten –, hatte sich aber in so verschiedenen Gegenden wie Kansas, Preußen, Antarktika und der Hauptstation Ceres, der riesigen Hauptstadt der Natürlichen Asteroiden, einen gewissen Schliff, einen bestimmten élan vital erworben. Und sie war zutiefst und großartig stocksauer. Mir kam es vor, als spähte ich durch eine beschlagene Fensterscheibe. Ein Stöhnen entfuhr mir, während ich meine Beine mühsam über den Rand der Liege schob, mich in eine aufrechte Stellung quälte und meine Latschen auf den Fußboden pflanzte. Auf meinen Fußsohlen führten die Ameisen einen Square-Dance auf. Ich verpaßte meinem Skalp eine gründliche Kratzmassage, dann bearbeitete ich meine Augenlider mit den Fäusten. In den Ecken meines Blickfeldes tanzten Phosphene. »Kannst du das nochmal abspielen lassen, Lucy? Ich bin in diesem Jahrhundert ein bißchen begriffsstutzig.« »Unverschämtheit habe ich gesagt, und Unverschämtheit habe ich auch gemeint! Heiliges Kanonenrohr, Winnie, wir waren noch nicht mal bei der Hochzeitsszene, da kamen so'n paar Schlägerty-
pen von Griswold's daher und haben mich, komplett mit Wasserpistole, Zwieback, Taschenlampe und Reissäckchen aus der Spätdoppelvorstellung rausgeholt! Ich dachte, es seien Gerichtsdiener, die es auf Konterbande abgesehen hatten, sonst hätte ich sie da festgenagelt, wo sie mit Velcro angeklettet waren!« Griswold's. Die älteste – und härteste – Sicherheitsfirma in der Konföderation. Das düsterte, texturierte Schottenkaro, das sie trugen, war schwarz auf schwarz, und sie schleppten mehr Schießeisen mit sich rum als Lucy. Ihr Motto war nicht direkt ›Keine Gnade‹, man hatte nur manchmal diesen Eindruck. Brrrr. Ich kniff meine Augenlider zusammen, bis die Wimpern voller Tränen hingen, blinzelte ein- oder zweimal – und konnte sehen. Und wünschte, ich hätte es nicht können. Lucille Gallegos Kropotkin stand vor mir, das graumelierte Haar zu einer verrückt krausen Afro-Mähne frisiert und mit etwas geschmückt, was alle Welt für Hühnerknochen halten mußte. Sie hatte sich Ringe unter die Augen gemalt und mit Make-up Schmisse bis zum Unterkiefer gezogen. Ihre Lippen waren weiß gefärbt, ihre Zähne rot getupft. Sie trug Netzstrümpfe, einen Spitzenstrumpfgürtel und eine schwarze, mit winzigen roten Schleifen aufgeputzte Korsage, die an einer kleinen alten Dame ihres offenbaren Alters ausgesprochen lächerlich aussah. Ihre Pfennigabsätze wirkten bei dem Zwanzigstel Schwerkraft, das wir hier hatten, noch alberner. Um ihre mageren Schultern lag eine abgewetzte Federboa und – ja! – die schwere Gabbet Fairfax Automatik hing, wie ich erwartet hatte, knorrig, knubbelig, bedrohlich in einem breiten Waffengurt aus Plastik, den sie schräg um ihre schmale Taille geschlungen hatte. Waren meine Fingerspitzen wirklich blau angelaufen, oder bildete ich mir das bloß ein? »Lucy, ob Clarissa nun geheilt ist oder nicht, ich schlafe weiter, bis sich die Damenmode wieder geändert hat!« Ich unterdrückte ein Gähnen und fügte hinzu: »In welchem verdammten Jahr sind
wir denn eigentlich?« »343, Schlafmütze, Anno Libertatis – A.D. 2119 für den Fall, daß du vor lauter Schlaftrunkenheit nur deine Muttersprache verstehst – es ist Samstag, der 13. Oktober, und später als du denkst, wie immer.« Unter dem dicken Make-up wechselte ihr Gesichtsausdruck von der höchsten Empörung, in der sie bisher geschwelgt hatte, zu einer ernsten Miene, die ich in all den Jahren – inzwischen Jahrhunderten – seit ich sie kannte, nur selten gesehen hatte. »Lucy, was ist los? Ist es…« Ein Frösteln überlief mich, das nicht von der Stasis kam, in der ich jetzt seit – mal überlegen – vierundvierzig Jahren gelegen hatte. Ich erinnerte mich: es ging um einen kleinen Prozentsatz von Sterblichkeit, der… »Ist es wegen Clarissa?« »Nein, ihr geht's gut. Sie schlummert immer noch, gleich neben der Stelle, wo du die ganze Zeit Zzzzz gemacht hast.« Sie räusperte sich, richtete sich auf und umgab sich mit einem unsichtbaren Mantel von Würde. »Winnie, ich muß das jetzt gleich hinter mich bringen: Clarissa ist nicht geheilt.« Große, kalte Hände schlangen ihre Finger um meinen Magen und drückten zu. »Was? Warum hast du mich dann…« »Deshalb hab' ich selbst die Genehmigung gegeben, dich zu wecken. Ich würd's dir nicht übelnehmen, wenn du mir eine auf die Nase gibst – oder dich umdrehst und weiterschläfst.« Sie atmete ein, blies die Luft durch die Nase aus und schlug sich mit einer dürren Faust in die Handfläche. »Die schlichte Wahrheit ist, wir stecken bös in der Klemme, und wir brauchen dich.« »Ein schönes Gefühl, wenn man unentbehrlich ist«, knurrte ich und schaute mich um. Ja, es war immer noch derselbe Vorbereitungsraum im Krankenhausstil. Genau. Ein großes Bildfenster in fleckigem Plastikrahmen zeigte eine sonnenbeschienene Wiese unten auf der Erde. Wahrscheinlich inzwischen eine Parzelle – oder ein Friedhof. Der dicke Plüschteppichboden wogte noch immer bis zur Wand gegenüber dem begehbaren Kamin mit seinem vierfüßigen Holzständer in Gestalt der armlosen Venus von
Milo. Um einen Tisch, der zu Heinrich VIII. – oder den Harlem Globetrotters – gepaßt hätte, standen Pfauensessel mit tiefen Polstern und ein Samtsofa im Kleopatrastil, auf dem ich halb saß und halb lag. Wie der Admiral zur Herzogin sagte, alles, was man treiben kann, kann man auch übertreiben. Ich war genauso gekleidet wie – zuvor. Und Komans Mitochondriasis war immer noch unheilbar. Viereinhalb Jahrzehnte waren vergangen, Lucys Haar war grau geworden, und das sollte alles sein? Ich kämpfte gegen den Vorhang der Angst an, der sich auf mich niedersenken wollte und rieb mir mit der Hand über mein noch gefühlloses Gesicht. »Na gut«, fragte ich. »Wer ist ›wir‹?« Sie zog ihren Hüftgürtel hoch und pflanzte sich neben mir auf das Sofa. »Die Konföderation natürlich. Das Sonnensystem. Die Bekannte Galaxis. Alle, Win, alle, die es gibt. Alle, die waren oder jemals sein werden. Was willst du denn noch, du Held, 'n Ei ins Bier?« »Aha! Win Bear rettet das Universum! Es ist nur ein Traum, ein gottverdammter…« Ich hielt plötzlich inne. »Mann, ich wußte ja gar nicht, daß man in Stasis träumen kann.« Lucy seufzte, streckte den Arm aus und schnippte mit dem blaulackierten Nagel ihres rechten Zeigefingers gegen meine Nasenspitze. Es tat weh. »Deine Hirnschale ist immer noch eingefroren, Winnie! Das ist kein Traum, obwohl ich bei Lysander wünschte, es wäre einer! Vielleicht sollte ich auch bei Albert Gallatin wünschen; das wär' 'n Haufen passender!« Albert Gallatin hatte im Jahre 1794 – C. Z. – das gegründet, was später die Konföderation von Nord-Amerika werden sollte. In dem Teil der Realität, aus dem ich kam, in den Vereinigten Staaten von Amerika, hatte er sich mit dem Posten des Finanzministers in Thomas Jeffersons Kabinett zufriedengegeben. Historisch gesehen, hatte das allein den Unterschied zwischen den beiden Universen ausgemacht. Aber was hatte es jetzt noch zu bedeuten? Vielleicht zum hun-
derttausendsten Mal, seit ich sie an einem sonnigen, kugelgesprenkelten Nachmittag des Jahres 1987 kennengelernt hatte, knurrte ich: »Wovon, zum Teufel, redest du eigentlich, Lucy?« »Parajektive Realität, Winnie – oder heißt es metajektive Realität? Man hat mir nicht genug Zeit gelassen, daß ich da so ganz durchgeblickt hätte.« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann schaute sie zu mir auf. »Ooloorie hat mich verhaften lassen und mir schnell ein paar Informationen in den Rachen gestopft, während du aufgetaut bist, und dann bin ich, prontissimo, hier rausgehetzt. Insgesamt vergangene Zeit von Tim Curry bis zu dir – und das ist keine Verbesserung, wie ich lauthals verkünden möchte – genau dreiundzwanzig Minuten!« »Dreiundzwanzig Minuten? Lucy? Der nächste Asteroid ist zwei Stunden von hier entfernt.« Diesmal dauerte das Schweigen lange. Dann nickte ich. »Vierundvierzig Jahre. Es hat Verbesserungen im Transportwesen gegeben, nicht wahr?« Nur schade, daß das nicht auch in der Medizin der Fall war. Sie grinste und erwärmte sich für ein Thema, das dem, was sie inzwischen als Herz benützte, nahestand: den Fortschritt. »Das kannst du nochmal sagen, mit Zusatzverbrennung! Junge, allmählich kann man überhaupt nicht mehr für sich sein! Zeit zum Weiterziehen…« Sie bremste sich unvermittelt. »Nur haben wir vorher noch dieses kleine Problemchen.« »Problemchen?« Die Frau, die ich liebte, starb Stück für Stück – das heißt, Molekül für Molekül –, und Lucille Gallegos Kropotkin, eine kleine, alte Dame, derentwegen es Pearson und Shaw noch leid tun würde, daß sie recht gehabt hatten, sagte, sie hätte ein Problemchen. »Es ist wegen diesen Hamiltonisten, Winnie.« »Hamiltonisten?« Bei Lucys finsterem Blick wäre milchlose Kaffeesahne sauer ge-
worden. »Ich glaube, ich sag' es dir lieber gleich, wo wir stehen: es hat in allen Transportarten Verbesserungen gegeben. Jetzt ist einer von diesen autoritären Schuften in der Zeit zurückgereist…… um Albert Gallatin zu ermorden!«
2. Kapitel Clarissa Bear, verstorben IRGENDWANN FRÜHER… Es war doch kalt. Man hatte mir versprochen, daß es nicht kalt sein würde. Man hatte mir erklärt, daß die Umgebungstemperatur nicht das geringste damit zu tun hätte. Man hatte mich auf die warmen Braun-, Orange- und Gelbtöne der Ausstattung hingewiesen, auf das knisternde Holo eines offenen Kamins, genau wie wir ihn zu Hause hatten – von diesem Holzständer abgesehen. Man hatte sogar das Unaussprechliche ausgesprochen (mit Rücksicht darauf, daß ich der Mann einer Heilerin war), daß nämlich der ganze Prozeß hier nur anfing. Wir sollten an einen kälteren Lagerplatz kommen, würden aber nicht mehr bei Bewußtsein sein, um das würdigen zu können, was man nicht mit dem Namen ›letzte Ruhestätte‹ bezeichnen würde. Aber kalt war es. Ich drückte meine letzte Zigarre aus, legte mich auf einen als Studiocouch getarnten Vorbereitungstisch und ignorierte das indoktrinierende Geschwätz aus dem Telekom auf der anderen Seite des Raumes genauso, wie ich den unechten Kamin, das unechte Bildfenster und die Rauhfasertapete ignorierte. Statt dessen konzentrierte ich mich auf Clarissa, das Licht meines Lebens, die Mutter meiner Kinder, den Mond meiner Sehnsucht – das kleine Mädchen, das ich zu einem grausigen Tod verurteilt hatte. MONTAG, 10. JUNI 299 A. L. »Koman-Virose«, hatte Clarissa unnatürlich gelassen konstatiert. Sie rief ein Bild von dem Neutrinomikroskop ab, das ich ihr letzte
Painenachten geschenkt hatte. Ich hatte immer gedacht, Viren seien rund oder zylindrisch, einfacher gebaut als Bakterien. Das Ding hier sah aus wie ein Zwicker von Groucho Marx. Eine Schande, wenn man von einer Neuheit aus dem Ramschladen um die Ecke gebracht wurde. »Hundert Prozent tödlich«, fuhr sie fort, »nicht ansteckend, in der Konföderation selten auftretend.« Ihr Kinn begann zu zittern, als sie aus der Rolle des distanzierten Berufsmediziners in die des Zukunftsprognostikers überwechselte. »Aber nicht selten genug!« brüllte ich. »Verdammt, wie konnte das gerade uns passieren?« Ich glaube, ich hatte sie immer für unverwüstlich gehalten. Eine Menge schlechter Schauspieler hatten uns beiden schon ans Leder gewollt – und sich blutige Nasen geholt. Jetzt war ich mit einer Mikro-Nemesis aneinandergeraten, neben der ein Stecknadelkopf wie der Mount Everest aussah, und mußte umdenken. Ich schüttelte das Gefühl der Sinnlosigkeit ab, das sich wie ein beschwertes Netz über mich senkte. Verdammt, ich wußte doch, daß sie noch so viel vor hatte. Das mußte sie jetzt alles aufschieben. Für immer. Bei einigem konnte ich ihr helfen: ›Verfügungen‹ müssen in aller Eile getroffen werden, wenn eine Krankheit, die man nicht einmal in der Konföderation von Nord-Amerika heilen kann, wie ein Präriefeuer durch den Körper rast. Komisch, wie sich Sprachgewohnheiten halten. Man sagte schon lange nicht mehr ›von NordAmerika‹. Es hieß jetzt ›Solare Konföderation‹, und sie war auf dem besten Wege, zur ›Galaktischen Konföderation‹ zu werden. Und ich hatte seit einem halben Jahrhundert keine Prärie mehr gesehen (geschweige denn so ein Feuer). Ich schüttelte den Kopf. Meine Gedanken wollten abschweifen, aber sie waren zu schwach, um sehr weit zu kommen. Ohne viel zu empfinden, schmiß ich den Kom-Block, auf den wir geschaut hatten, ein Hand-Terminal, das an das Haushalt-Abrufsystem (einschließlich Clarissas Mikroskop) angeschlossen war, auf ihren Schreibtisch in dem Büro-und-Praxis-Raum, den wir ihr Nähzim-
mer nannten, und setzte mich auf den Schreibtischstuhl. Der Raum war in einem sterilen Pastellgrün gehalten, überall an den Wänden standen Regale mit Instrumenten und Arzneimitteln, aber er wirkte doch feminin und war geprägt von ihrer Persönlichkeit – trotz des Geruchs nach Desinfektionsmitteln, der anscheinend so rituell notwendig ist wie der Weihrauch in einem buddhistischen Tempel. »Nicht ›wie‹, mein Schatz«, beantwortete ich meine eigene, rhetorische Klage, »sondern ›wo‹? Mit freundlichen Grüßen von der guten alten Interwelt-Station von Laporte.« Ich grunzte. Die Zyniker hatten recht. Keine gute Tat entgeht ihrer Strafe. Dieser Typ von Koman war Penetratorforscher gewesen. Einige Leute gaben sich damit zufrieden, zwischen bekannten Welten herumzureisen, divergierende Zivilisationen zu studieren, verbotene Früchte zu schmuggeln und gelegentlich eine Revolution zu schüren. Dieser Clown hatte herumgestochert und nach neuen Realitäten gesucht, nach Kulturen, die auf der gleichen, zeitlichen Stufe wie die unsere existierten, aber eine andere Geschichte, andere Triumphe und Katastrophen hatten… Der Wahrscheinlichkeitspenetrator von P'Wheet/Thorens war 194 A. L. entdeckt worden (entdeckt ist das richtige Wort: erfinden wollten sie einen Sternenantrieb). Das heißt, A.D. 1970 für Leute, die es nicht gewöhnt sind, ihren Kalender am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu orientieren. Ich war aus so einer Gegend gekommen, aus den von Wirtschaftskrisen geschüttelten Vereinigten Staaten von Amerika, wurde aber von Ooloorie Eckickeck P'Wheet bei früheren Experimenten am lebenden Objekt ›aufgesammelt‹. Ich war Beamter beim Morddezernat der Stadt- und Bezirksverwaltung von Denver gewesen. Mein Name ist Win Bear. 1987 war ein schlechtes Jahr für den Wein und auch für alles andere gewesen, Arbeitslosigkeit und Inflation waren weit in den zweistelligen Ziffern und strebten auf die dreistelligen zu. Es war noch offen, ob wir zuerst an der Umweltverschmutzung sterben oder verhungern würden. Alles war knapp, alles war rationiert,
besonders die Freiheit. Und das war im Jahre 211 A. L. für Leute und Gebiete, die nicht an die Vorstellung gewöhnt sind, daß alle Menschen dieselbe Religion haben müssen. Oder überhaupt eine Religion. Die Konföderation war so ein Gebiet gewesen, die Folge der Tatsache, daß der Whisky-Aufstand von Pennsylvania anders ausgegangen war – dank Albert Gallatin. Bei mir zu Hause war das die erste Gelegenheit, bei der die (damals in Philadelphia ansässige) Zentralregierung unter Präsident George Washington, Alexander Hamilton und einer brandneuen Föderalistischen Verfassung versucht hatte, Steuern einzutreiben. Die Besteuerten hatten zwischen verschiedenen, Hamiltons Steuereinnehmern vorbehaltenen Sitzungen mit heißem Teer und Federn wissen wollen, warum sie sich eine Generation vorher überhaupt die Mühe gemacht hatten, es mit England auszufechten. Beinahe wäre es zu einer zweiten Revolution gekommen. Hier in der Konföderation hatten die von der zweiten Revolution ihren Teer und ihre Federn von Pittsburgh bis in die ›Stadt der Brüderlichen Liebe‹ getragen und gesiegt. Washington hatte den Rauch seiner letzten Zigarette durch ein Dutzend Kugellöcher ausgehaucht. Hamilton war der Kugel mit seinem Namen darauf in Preußen begegnet – wohin er ausgebüchst war –, nicht durch den Abzugsfinger von Aaron Burr. Komans Welt (den Namen bekam sie, kurz bevor man sie für immer dicht machte) war eine weitere Alternative – von unendlich vielen verfügbaren – und nicht die einzige, wo die Menschheit ihre eigene Vernichtung bis zum Ende durchgeführt hatte. Es gab Hunderte von zu Asche verbrannten, radioaktiven Erden, andere, wo der Planet zu kosmischem Schotter zersplittert war, und einige, wo von Menschenhand – besser gesagt, von Regierungshand – gemachte Krankheiten die Dreckarbeit erledigt hatten. Komans Welt setzte allem die Krone auf. Die Schwierigkeit war, daß man dort noch nicht alles erledigt hatte. Clarissa war, mit einem Dutzend anderer Heiler, einem Ruf der ersten Forscher ge-
folgt. Ich kam natürlich mit. Der Ruf führte uns nach Neufundland, Belle Isle, ungefähr zwanzig Meilen von der ehemaligen Stadt St. John entfernt, an die einzige Stelle auf dem Planeten, wo sich noch etwas Ähnliches wie menschliches Leben erhalten hatte – hundert bedauernswerte Exemplare, die einheimische Neufundländer, Abkömmlinge kanadischer Truppen, Amerikaner, sogar Russen hätten sein können. Sie wollten nicht mit uns sprechen, nannten sich nur ›Die Sieger‹. Selbst wenn sie gewollt hätten, waren sie nicht in der Verfassung, uns mehr als das zu sagen. Ich hatte immer geglaubt, sie hätten deswegen kein Vertrauen zu uns, weil wir in Raumanzügen kamen. Und sie niemals auszogen. Ein ›Sieger‹ nach dem anderen erlag der Krankheit. Wir konnten nichts anderes tun, als ihre Leichen in den bleiernen Wassern der Conception Bay zu versenken und darüber nachzudenken, was für ein großartiger Ansporn ein weltweiter Antiatomvertrag für die Entwicklung der biologischen Kriegsführung gewesen war. Hinterher verbrannten wir unsere Raumanzüge. »Ich kann dir sagen, was es ist.« Sie kniete neben dem Stuhl nieder, auf dem ich saß und die gegenüberliegende Wand der Praxis anstarrte, ohne den Versuch des Möbelstücks zu beachten, mich durch Massage in eine bessere Stimmung zu versetzen. »Ja?« »Ein vereinfachtes Virus, das am Rande unserer besten Definitionen von Leben dahinzappelt…« – sie rief mit dem Kom-Block Mikrophotographien des Viruskomplexes ab »… und so angelegt ist, daß es die Mitochondrien des Menschen angreift. Technisch elegant, auf eine scheußliche Weise, da die Mitochondrien der restlichen Zelle fremd sind. Es gibt Überlegungen, sie seien einst unabhängige Organismen gewesen, wie die Chloroplasten in den Pflanzenzellen, und hätten sogar ihr eigenes, spezielles DNSKomplement besessen.« Es hat seine Vorteile, wenn man beim Morddezernat war. Das spezielle DNS-Komplement, das ich mein eigen nenne, spiegelte
ihre momentane Objektivität wider. »Elegant verheerend, da der Körper ohne Mitochondrien keine Energie erzeugen kann.« Ich hielt inne, nahm all meinen Mut zusammen. »Wieviel Zeit noch, Schatz?« Sie schaute weg, das Gesicht verzerrt von der Qual, die wir beide empfanden. Große Tränen rollten ihr die Wangen herunter, wozu sie sich in der fast nicht vorhandenen Schwerkraft reichlich Zeit ließen. Sie wollte sprechen, brachte aber die Worte nicht heraus. Na ja, ich hatte es ja auch nicht so verdammt eilig, sie zu hören. Ich hatte nicht erwartet, daß sie ewig leben würde, aber ich hatte mich an die wissenschaftlichen Leistungen meiner Adoptivkultur so sehr gewöhnt, daß ich mich betrogen fühlte. Ich war im Alter von achtundvierzig Jahren hier angekommen, mit allem geplagt, was zu den Vereinigten Staaten des zwanzigsten Jahrhunderts gehörte, dazu noch mit Magengeschwüren, Kahlköpfigkeit, verfaulten Zähnen, chronischer Müdigkeit und beginnendem Krebs als Dreingabe für ein Leben als Polizist. Ohne eine Regierung, die den Fortschritt unterdrückte – sie hatte sich nie davon erholt, daß man es ihr verwehrte, Steuern einzutreiben –, war die Konföderation weit voraus und hatte Mittel gefunden, den Alterungsprozeß rückgängig zu machen. Sogar meine Haare und meine Zähne hatte ich wiederbekommen. Clarissa war kein bißchen weniger schön als an jenem Tag vor achtundachtzig Jahren, als ich sie kennengelernt hatte. Sie sah reizend aus in ihrer pastellfarbenen Medizinerkleidung mit dem eingekreisten weißen Kreuz auf der Schulter. Ich hätte nie gedacht, daß es mich deprimieren könnte, meine Frau zu bewundern. Die Gedanken, die mir im Kopf herumgingen, hatten den stechenden Geruch von Zigarettenrauch in einem Badezimmer. »Drei Wochen«, sagte sie schließlich, »vielleicht etwas weniger. Oh, Win, was sollen wir…« »Drei Wochen?« Ich hatte ja gewußt, daß es schlimm war, aber es überraschte mich trotzdem. »Das ist vielleicht ein Virus! Und du sagst, es ist nicht ansteckend?«
Clarissa blinzelte. »Win, tausend andere Penetratorforscher hätten Komans Welt völlig gefahrlos öffnen können. Durch einen unglücklichen Zufall – zum Glück, da diese Warnung anderen das Leben rettete – hatte er jene seltene Empfänglichkeit dafür, die…« »Die du offenbar teilst.« »Die ich offenbar teile.« Sie erhob sich, durchquerte das Zimmer und begann, die Regale mit den Arzneimitteln umzuräumen. Lange Zeit sagten wir gar nichts. Ich zündete mir eine Zigarre an. »Nun ja, wenigstens werde ich nicht an Lungenkrebs sterben, wenn du nicht mehr da bist.« Ich tastete nach der großen Smith & Wesson unter meiner linken Achselhöhle. »Wirst du große Schmerzen haben?« Sie wirbelte herum und versprühte dabei Tränentropfen. »Krebs könnte ich heilen, verdammtes Pech! Ja, ich werde Schmerzen haben – aber dagegen kann ich etwas tun.« Sie beobachtete mich, bemerkte, wie ich mit der antiken sechsschüssigen Waffe herumspielte. »Liebster, bitte tu nichts… nun ja, Unabänderliches. Wer weiß, die Wissenschaft könnte ein Mittel finden, jeden…« Ein Schlag fuhr summend durch meinen Körper. »Warte mal einen Augenblick, Clarissa, willst du damit sagen, daß eines Tages irgend jemand…« Sie erwog die Frage aus der Sicht ihres Berufs. »Die Forschung schreitet ständig weiter, Liebling. Aber bei einer seltenen Krankheit wie dieser eben nur langsam.« Ihre Augenbrauen gingen hoch. »Ich weiß nicht, vielleicht macht sich irgendein Examenskandidat…« »Dann ist die Antwort einfach.« Ich stand auf und zog sie an mich. »Wir frieren dich ein.« Sie ließ den Unterkiefer herunterfallen, erstaunt, daß sie nicht selbst darauf gekommen war. Sie ist nicht auf den Kopf gefallen, aber sie hat ihre Grenzen. Zum Beispiel, wenn sie klar denken soll, während sie kurz vorm Abkratzen ist. Ich war ganz aufgeregt. »Wir nehmen alles, was wir haben, und investieren es zu hohen Zinsen, bis sich ein ausreichend großer Zuschuß angesammelt hat, daß ein
Heilmittel gefunden werden kann.« Sie lachte, erschrocken über meinen Ausbruch von Pragmatismus. »Das ist kein Einfrieren, Liebster. Es ist paratronische Stasis und wird auf subatomarer Ebene bei Raumtemp…« »Das weiß ich alles. Und ich komme mit dir…« »Was?« »Genau, mich frieren wir auch mit ein.«
3. Kapitel Mein Geschäft ist der Schutt Bei einer Beschleunigung von einer halben Schwerkrafteinheit brauchten wir vier Stunden bis zu Gary's Köder- und Treuhandgesellschaft. Clarissa und ich hatten uns auf einer dieser Myriaden von Kleinwelten angesiedelt, die dort um die Sonne kreisten, wo einmal ein Planet war. Als Welt war die Venus keine große Nummer gewesen, aber sie ergab einen verdammt guten Asteroidengürtel. Unsere zweite Tochter, EdWina, wurde hier draußen geboren. Die beiden Mädchen, sie und die auf Terra geborene Lucille, waren mit einer Konstellation von Pionierwerten aufgewachsen, die sie als Erwachsene noch weiter hinaustrieben, um die Sterne zu erforschen. Ich selbst gab mich damit zufrieden, mein eigenes Leben zu erforschen. Zu Hause waren wir, wie sich herausstellte, wo auch immer Clarissa ihr Diplom aufhängte. Nach der Übersiedlung von der Erde nach ›1939 Chandler‹ (die offizielle Bezeichnung für unseren Planetoiden) hatte ich mich als erster Privatdetektiv des Venusgürtels etabliert. Ich kann nicht schwören, daß ich der beste Privatdetektiv war, den die Konföderation jemals hatte, aber auch am Rande der Zivilisation gab es immer mehr Arbeit, als ich bewältigen konnte. Traditionellere, schwielenerzeugende Grenzlandtätigkeiten wie Landwirtschaft und Bergbau blieben uns erspart. Zum Teufel mit dem Vermessungsgutachten, wir nannten unseren Asteroiden ›Kleine Schwester‹ – zum Teil nach EdWina –, und das Haus, das wir dort bauten, ›Hohes Fenster‹. Als genügend steriles Gestein in Erde bakeriaformiert und unsere Atmosphärenhülle installiert war, und als ein von uns beauftragter Ingenieur (L. G. Kropotkin) erklärt hatte, wir hätten – gerade – genug Schwerkraft,
um einen Zierteich an Ort und Stelle zu halten, ahmte ich noch einen weiteren Plattfuß* aus einem meiner Lieblingsromane nach und ließ eine Kopie von Kopenhagens Kleiner Meerjungfrau bauen. Die Frauen in meinem Leben nannten sie ›Die Herrin im See‹. Es war ein kurzes Leben gewesen, aber ein kurzweiliges, und jetzt befanden wir uns, dank Komans Mitochondriasis, auf dem Weg zum Großen Schlaf. Lebt wohl, meine Schönen! Die Wahl literarischer Namen für Asteroiden war kein Tick, den wir Bears alleine aufgebracht hatten. Die Zivilisation umfaßte jetzt die Erde, den Mars, den Mond der Erde, die Natürlichen Asteroiden im Belt zwischen Mars und Jupiter (die sich als nicht natürlicher erwiesen hatten als die des Eigenbau-Gürtels, in dem wir lebten), so viele kleinere Satelliten, daß ich den Überblick verloren habe – und dazu die Unterabteilung aller Unterabteilungen, aus denen wir uns eine Ecke abgesteckt hatten… Nun, unserer sich schnell ausbreitenden Zivilisation waren die alten Götternamen schon lange ausgegangen. Selbst wenn sie ursprünglich dazu tendiert hätte. Andererseits hatte jeder Taschenbuchroman, jeder Cminus-und-höhere Film, jede erinnerungswürdige Gestalt, die konföderierte Geschichtenerzähler oder solche aus anderen Universen (aus denen Millionen von Flüchtlingen gekommen waren, wie auch ich einer war) geschaffen hatten, einen Namensvetter unter den Felsen, Felslein und Minifelslein, die wir Menschen, Tümmler, Gorillas, Schimpansen und ich weiß nicht was noch alles, Heimat nannten. Gary's Köder- und Treuhandgesellschaft kam dem, was unsere Gegend als Krankenhaus zu bieten hatte, am nächsten. Der geräumige Stasisschrank für Köder hatte als Ausrüstungslager für Leute mit Fischlöchern im Hinterhof angefangen und versprach weitere, gewinnträchtige Möglichkeiten. O ja, inzwischen war Gary's eine richtige Bank mit Kassenkäfigen, Korrekturmaschinen *
Flatfoot: Polizist im Streifendienst – Anm. d. Übers.
und äußerst freundlichen Kreditvermittlern. Aber es war immer noch ein richtiger Köderladen. Dort bewahrte man auch eine Ersatzbauchspeicheldrüse auf, wenn man daran gedacht hatte, sich rechtzeitig eine klonen zu lassen, oder zog einen Satz Hornhäute ab, wenn man diese dringend brauchte, es war also auch der passende Ort für unsere eigene ›Einlage‹. Wir parkten unseren Buick Beltmaster in der Kaugummipfütze, die auf 2323 Goldfinger (ebenfalls nicht der offizielle Vermessungsname und auch nicht die Nummer) als Landehafen diente. Die Schwerkraft des Asteroiden war ein mickriges Zwanzigstel Standard und die klebrige Pflasterung absolut notwendig. Der altmodische Klapperkasten, ein Exemplar aus einer großen Vielfalt von Personenfahrzeugen, die als Automobile für schwerkraftfreie Teile der Konföderation verwendet wurden, würde den Weg zur ›Kleinen Schwester‹ alleine zurückfinden. Das Haus hatten wir für die Dauer unseres Aufenthaltes – sechs Monate oder sechstausend Jahre – vakuumverpackt und dicht gemacht. Es hatte mehrere Tage gedauert und alle Computerkapazität erfordert, die wir besaßen, bis wir uns zu treuen Händen hinterlegen konnten. Wir hatten beide Kunden, die wir an andere Berufskollegen überweisen mußten. Da waren Botschaften an unsere Töchter aufzuzeichnen, die sich, Lichtjahre jenseits unmittelbarer Erreichbarkeit, an Bord des riesigen Sternenschiffes ›Tom Paine Maru‹ befanden. Und es galt, Freunde zu besuchen. Wie zum Beispiel Ed und Lucy. »Komans was?« Edward William Bear – nicht ich, sondern jemand anders – saß in der anderen Hälfte des Vorbereitungsraumes, durch eine Scheibe talentiertes, konföderiertes Glas geschützt. Vielleicht war Clarissa wirklich nicht ansteckend, aber Vorsicht schadet eigentlich nie. In seinem Fall machte ich mir keine wirklichen Sorgen. Wissen Sie, Ed hat meine Gene. Und den gleichen Geschmack in bezug auf Alkohol und Zigaretten, er hat den gleichen Beruf gewählt wie
ich, hat viele meiner persönlichen Gewohnheiten und Eigenheiten – und die gleichen Fingerabdrücke. Er war nicht mein Zwillingsbruder – selbst eineiige Zwillinge sollen angeblich verschiedene Fingerabdrücke haben – und er war auch nicht mein Klon. Eigentlich war er überhaupt nicht blutsverwandt mit mir – außer, daß er die gleiche Blutgruppe hatte, mit dem gleichen Rhesusfaktor und dem gleichen HLS-Muster. Wenn wir uns auch noch gleich angezogen hätten (ich hatte zu viele Jahrzehnte als Polizist in den Vereinigten Staaten verbracht, als daß diese Möglichkeit in der farbenfreudigen Konföderation allzu groß gewesen wäre – und weiße Socken sind einfach bequem, verdammt nochmal!), hätten uns nur zwei Personen auseinanderhalten können, nämlich meine Frau, die Ärztin, und Lucy, die… was immer sie eben war. Und bei Lucy bin ich mir nicht einmal so ganz sicher. Aber das bin ich schließlich nie. Irgendwo gibt es ein Universum, da hat Napoleon die Schlacht von Waterloo gewonnen. Jene Welt hatte, wie auch die unsere (in welcher man seinen Hut eben aufhängen will) ihren eigenen, privaten Napoleon – es gab genauso viele Napoleons wie Universen, in denen er auftrat. Das beißt sich in den Schwanz, ich weiß, aber das ist im wirklichen Leben eben so. Im Jahre 1815 (oder 39 A. L. ), als Napoleon in den beiden Universen, die ich kenne, seine letzte Schlacht verlor, war James Madison Präsident der Vereinigten Staaten. Und diesen Posten hatte auch Monsieur Edmond Genêt, der Bürger, eingewanderter Nachfolger Albert Gallatins – aus den Alten Vereinigten Staaten, die sich zur Konföderation von Nord-Amerika entwickelten. Als im Jahre 1939 (163 A. L. ) Adolf Schickelgruber seinen Servus unter einen höchst überflüssigen Nichtangriffspakt mit Josef Dschugaschwili setzte (und ihre Gegenstücke in diesem Nachbaruniversum sich nach einer anständigen Arbeit umschauten) schrieb mein Lieblingsautor in den USA sein erstes – und bestes – Buch. In der Konföderation von Nord-Amerika arbeitete ›derselbe‹ Knabe zusammen mit einem Burschen namens Hammett an ihrem für
zwei gebauten Meisterstück ›Nachtdomäne‹. Sie wissen schon, das, aus dem man 1957 während des Kriegs gegen den Zaren ein klassisches Holo machte. Und am 12. Mai wurde auch Edward William Bear in Denver, Colorado, USA geboren – und gleichzeitig wurde er in St. CharlesAuraria, N.A.K. geboren. Der Bear aus St. Charles-Auraria lehnte sich zurück, rauchte seine Zigarre und starrte mich durch das Glas an. Das Zeug war stark – granatensicher – und so elastisch wie eine Gummiplane. Es hätte ein Spiegel sein können, wenn er nicht darauf bestanden hätte, als Muster für seine Kleidung ein geblümtes, hawaiiartiges Design einzustellen, von dem ich meinen entsetzten Blick fast nicht losreißen konnte. Bei Limonengrün auf Leuchtrosa passiert einem sowas schon mal. »Und dann bist du also jünger als ich«, bemerkte er. »Wenn es zehn Jahre dauert, bis man ein Heilmittel findet, bin ich um ein Jahrzehnt gealtert, wenn sie dich aufwecken, und du nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Weil das auch noch einen Unterschied macht. Sieh uns doch an, wir sind beide mehr als hundert Jahre alt, und…« »Und die reinen Babies im Vergleich zu einigen von uns!« Lucy Kropotkin, Eds Frau und – buchstäblich – meine älteste Freundin, schnaubte, zog an ihrer Zigarre, blies einen Rauchring und steckte ihren Finger hindurch. Im Augenblick war sie jung und attraktiv, sie hockte auf seiner Sesselarmlehne, hatte einen Fuß auf dem Sitz neben Eds Schenkel und eine Hand gespreizt auf der Hüfte, wie eine George Sand im Gummianzug. Wenn George Sand Gefallen an gelbem Paisleymuster gefunden hätte. »Ich gehe auf die zweihundertfünfundzwanzig zu und habe vor, dabeizusein und mitzuhelfen, wenn sie euch Gören auftauen, und wenn es elfzig Millionen Jahre dauern sollte! War noch keinen Tag in meinem ganzen Leben krank«, log sie – sie erholte sich gerade von einer Strahlungsvergiftung im Industrieformat, als ich sie kennenlernte. »Hat-
te nie Zeit dazu!« Lucy war 75 A. L. (A.D. 1851) geboren und hatte schon mehrere farbenfrohe Lebensspannen hinter sich, genug für fünf Sterbliche. Sie hatte sich immer große Mühe gegeben, sie zugunsten jedes armen Teufels, der es nicht schaffte, ihre Finger von seinen Rockaufschlägen zu lösen, noch farbenfroher zu machen. Sie war öfter verheiratet gewesen, als sie in Erinnerung behalten hatte, meist mit abenteuerlustigen, jüngeren Männern, die sie dann überlebte, war Ingenieur, eine Art Rechtsanwalt, Politikerin – jedenfalls, soweit es das in der Konföderation gab – und war, wenigstens nach eigenen Aussagen, einmal – durch ein verzweifeltes Manöver in letzter Minute – mit knapper Not dem Schicksal entgangen, zum Präsidenten gewählt zu werden. Die meisten Leute entschieden sich bei den lebensverlängernden Kuren der konföderierten Altersmedizin dafür, in ihrem Aussehen ständig im gleichen Alter zu bleiben. Ich bevorzugte den Anschein des Mittvierzigers – gut fürs Geschäft. Lucy liebte es, sich radikal zu verjüngen, bis ins vorgerückte Alter zu gehen und sich dann wieder völlig zu regenerieren; sie behauptete, dadurch erlebe sie eine größere Bandbreite menschlicher Erfahrungen. Im Augenblick sah sie aus wie achtzehn, nicht direkt schön, aber nichts als dunkle Augen und rabenschwarzes Haar. Nur in den zehn Jahren nach Wiedererlangung der Jugend war jeweils ihr mexikanisches Erbgut zu erkennen. Meist sah sie aus wie irgendeine – jedermanns – kleine, alte Großmutter. Das heißt, wenn jedermanns kleine, alte Großmutter Zigarren rauchen und eine Automatikpistole Kaliber .50 mit sich herumschleppen würde. Ich glaube, sogar Ed mochte sie so lieber. Wenn ich darüber nachdachte, ich auch. Clarissa (die ihr Alter auf dreißig hielt) stand hinter mir, die Hände auf meiner Stuhllehne, und sprach übers Glas Lucy an. »Und wir werden uns beide freuen, dich zu sehen, meine Liebe, obwohl ich hoffe, daß es keine Million Jahre dauern wird. Unser Vertrag mit den Immobilienverwaltern läuft nicht so lange, und ich würde gleich nochmal eine Million Jahre brauchen, nur um mit meinen Zeitschriften wieder aufs laufende zu kommen!«
»In welcher Gefahr wir uns nicht befinden«, bemerkte Ed. Er schnippte seine Zigarrenasche ungefähr in die Richtung des Saugtabletts auf der anderen Armlehne seines Stuhls. Und traf daneben. »Ich möchte wetten, in den Zeiten des Neandertalers war das Detektivspielen auch nicht viel anders. Jetzt gibt es zwar bessere Informationstechnologien, wissenschaftliche Kriminologie und das alles, aber…« »Aber…«, stimmte ich zu, »es gab immer so ein armes Schwein in einem Trenchcoat aus Leopardenfell, das in einem verregneten Höhleneingang stand, um Mrs. Ungh und ihren Freund im Auftrag von Mr. Ungh im Auge zu behalten?« »Ich nehme keine Scheidungsfälle an«, erwiderte Ed. »Ich schon; ich brauche das Geld.« Ich hätte es jedenfalls getan, wenn es bei einer Scheidung in der Konföderation nicht einfach ›Geh weg, du störst mich‹ hieße. »Jedenfalls war es nett von euch beiden, bis von Triton herzukommen, um uns zu verabschieden. Was habt ihr denn die nächsten paar Jahrhunderte so vor?« »Nichts Umwerfendes«, antwortete Lucy. »Da draußen, bei den Kometen hinter Pluto, machen sie ein paar vielversprechende Felsen auf. Wird allmählich schwer, Schritt zu halten: ein Unternehmer mit Namen Wilson bietet zwei ganz anständige Halbplaneten mit Namen Mickey und Goofy an, aber wir machen unsere Pionierarbeit lieber selbst. Mann, wir sind noch nicht mal damit fertig, dieses System hier zu besiedeln, und da fangen sie schon mit dem Rest der Galaxis an! Vielleicht sparen wir auch unsere Kistendeckel zusammen und besorgen uns ein gebrauchtes Sternenschiff!« Sie steuerte ihre Zigarre durch die Luft und produzierte mit Lippen und Zunge ein unanständiges Geräusch, das mehr wie ein der Überholung bedürftiges Motorrad als wie ein Schneller-als-LichtAntrieb klang. »Wir bleiben aber am Ball und sind da, wenn sie euch aufwecken. Versprochen!« Wir nickten beide. Clarissa mußte die Tränen zurückhalten. Und so war jetzt der Lange Abschied fällig.
Sie hatten mit Clarissa früher angefangen, wegen ihrer Krankheit. Vielleicht hatte sie sich auch etwas Bequemeres anziehen wollen. Es geht niemanden etwas an, was wir einander in unseren letzten paar gemeinsamen Stunden zu sagen hatten. Wenn man mich, ganz gleich in wie vielen Äonen, auftaute, würde ich an bestimmten, peinlichen Stellen immer noch wundgescheuert sein. Wenigstens würde sie gleich neben mir in einem Eiswürfelbehälter liegen. Wir hätten lieber etwas Behaglicheres gehabt, aber bei Gary's Köderund Treuhandgesellschaft ist man noch nicht bis zu Doppellagerstätten für die Ewigkeit vorgedrungen. Bankiers sind eben so konservativ. In der Luft klimperte etwas. Der Raum erschien mir kälter als vorher. Ich hoffte, daß ich zu Hause den Badewannenhahn abgedreht hatte. Vielleicht hatten, wenn man uns aufweckte, Räume wie dieser hier Spiegeldecken. Herzförmige Schwimmbecken. Superleitende, geschlossene Pornostromkreise. Unendliche Schrullen. Würde mich überhaupt nicht wundern. Das Licht wurde schwächer. Ich wünschte wirklich, ich hätte noch Zeit gefunden für eine letzte Ziga…
4. Kapitel Kaffee und Pistolen SAMSTAG, 13. OKTOBER 343 A. L. Lucy machte den Mund auf, um weiterzusprechen. Das Telekom jaulte. Eine Wand erhellte sich und zeigte das Bild einer Empfangstheke, an der eine Schimpansin saß und sich die Nägel feilte. »Mr. Bear, da ist noch eine Besucherin für Sie. Soll ich ihr sagen, Sie möchten nicht gestört werden?« Lucy winkte ab, noch ehe ich antworten konnte. »Sie soll sich hinten anstellen, Schätzchen – und sag ihr, sie ist mir noch einen Beutel Popcorn schuldig!« Das Kom-Bild löste sich auf und zeigte ein unordentliches Labor voller komplizierter Geräte, der Mittelpunkt war ein glänzender Apparat mit Rädern, der neun Fuß Tursiops truncatus – lateinisch für Meerestruthahn – trug. Ooloorie Eckickeck P'Wheet ruhte in einem Gefährt vor uns, das besser zu einem Fünftagerennen als in ein physikalisches Labor gepaßt hätte. »Lucille Gallegos Kropotkin, es ist erfreulich, deine Stimme wieder zu hören. Wir hatten vorher nicht genügend Zeit für eine richtige Begrüßung. Edward William Bear…« Sie warf einen zweiten Blick in Lucys Richtung, nahm das Korsett, das Make-up, die Hühnerknochen und die Strümpfe wahr. »Oh. Ist das da draußen immer noch im Schwange?« Ooloorie war die Delphinhälfte des P'Wheet/Thorens Penetratorerfinderpaares, und sie spezialisierte sich auf esoterische Mathematik. DJ. ihre Handlangerin, die das abscheuliche Ding tatsächlich konstruiert hatte, war seit langem in Richtung Sterne ausgewandert. Als ich zum letztenmal das zweifelhafte Vergnügen einer Unterhaltung mit dem Tümmler gehabt hatte, hatte sie von
ihrem Aquarium mit Zwischengeschoß in der Emperor Norton Universität von San Francisco aus kommiert – obwohl man wußte, daß auch sie schon gereist war –, sogar einmal hinüber zur Venus, gerade rechtzeitig, um die katastrophenartige Nutzung des Planeten zu überwachen. Es war auf eine schwachsinnige Art vernünftig, daß dieser Cetaceen-Einstein bis hinauf zu ihren stromlinienförmigen Gliedmaßen in allem mit drinsteckte, was mit Zeitreise zu tun hatte. Im Grunde war es schließlich nichts anderes, von einer Alternativwelt zur anderen zu hüpfen, nur daß es dabei seitwärts ging. Aber was ging das Lucy an – und einen defekten Detektiv, der sich in eine Eistüte verwandelt hatte, um den Rest des Vergessens mit der Mami seiner Töchter zu verbringen? »Hallo, Ooloorie«, antwortete ich. »Na, in letzter Zeit etwas Neues und Gefährliches erfunden?« Hinter den irreführenden Kuhaugen des Delphins an der Rückseite der glatten Rundung ihrer Stirn tröpfelte mehr pure Intelligenz, als ich mein ganzes Leben lang verwendet hatte – aber konnte sie auch kochen? Ihr ständiges Grinsen war ebenso irreführend wie der friedliche Blick. »Landwesen, alles, was sich zu erfinden lohnt, ist von Natur aus gefährlich. Ich habe vieles erfunden, seit ich dich zum letzten Mal gesehen habe – du weißt ja, für die meisten von uns ist es Jahrzehnte her. Wir haben jetzt nicht genügend Zeit für deine gewohnten Scherze. Hat dir Lucille Gallegos Kropotkin erklärt, was sich zugetragen hat?« »Tut sie das denn jemals?« Das trug mir einen giftigen Blick ein. »Jetzt macht aber mal Pause, ihr Schufte! Ich war gerade dabei, als du reingeschossen kamst, Schätzchen. Und wo du jetzt verfügbar bist, warum übernimmst du das nicht? Für mich würde es auch ein paar Lücken füllen.« Die Wissenschaftlerin schaute sich in dem Vorbereitungsraum um, aktivierte ihr Fahrzeug und rollte direkt aus der Wand heraus, die ich für einen Telekomschirm gehalten hatte. Sie schauderte einmal, wobei sie von einem Ende zum anderen wackelte. »Ist es hier drin nicht kalt?«
»Nicht, wenn man nach den Touristenprospekten geht. Lucy, wo ist hier ein Kom-Block? Sag ihnen, sie sollen den Thermostat höher drehen. Und organisiere uns Kaffee und Tabak. Besonders Tabak!« Sie griff mit zwei Fingern in ihr Korsett, zog ein paar Zigarren heraus und reichte mir eine. »Kom-Blöcke braucht man nicht mehr, Winnie. He, Telekom!« Die Wand – ich glaube jedenfalls, daß es eine Wand war – erhellte sich wieder. Die Affenempfangsdame hatte ihre Fingernägel fertig und nahm sich jetzt die Zehen vor. Sie blickte auf, verärgert über die Störung. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ja, Schätzchen, Frühstück und Kaffee für…« – sie musterte mich und kam zu dem Schluß, daß ich ausgemergelt aussah – »… sagen wir: fünf Personen. Und heiz den Ofen an, ja? Hier ist's kälter als im Scheißhaus eines Sibiriaken!« Die Nagelfeile erstarrte mitten im Strich. »Madame«, protestierte die Schimpansin, »ich versichere Ihnen…« »Untersteh dich verdammt nochmal nicht, mich ›Madame‹ zu nennen, wenn ich so angezogen bin! Paß du lieber auf deine Programmierung auf und schaff uns was zu futtern her, muy schnell – und unternimm was wegen der Wärme, sonst zünde ich die Möbel an! Kapiert?« Der Raum begann sich zu erwärmen. Augenblicke später öffnete sich die ›Tür‹ wieder, und man sah im Hintergrund die Küche eines Restaurants. Ein feuerwehrrot emaillierter Serviertisch schwebte auf einem Luftkissen herein. »Frühstück für fünf?« Ein schnoddriger Ton kam von dem an einem Ende mit einem Gelenk befestigten Periskop. »Aber hier sind nur drei denkende Wesen. Da muß jemand falsch programmiert…« Mit winselnden Servos machte der Tisch kehrt und wandte sich wieder der Tür zu. »Halt mal, Boris Cartoff!« Lucy schnellte hoch, eine Hand schlug auf ihr Halfter. »Wenn es etwas gibt, was mich noch mehr auf die
Palme bringt als hochnäsige Maschinen… Bring das Futter wieder her, sonst wühlst du bald in Goofopolis die städtische Kanalisation durch!« Der Karren blieb stehen, drehte sich aber nicht wieder um, ließ es darauf ankommen. »Glauben Sie, mir macht es Spaß, den Kellner zu spielen? Für mich ist es von wenig Interesse, Madame…« »Jetzt fängt er schon wieder an!« protestierte Lucy. Sie wandte sich an mich. »Ich muß wirklich sehen, daß ich aus den Klamotten rauskomme. Alle glauben, ich bin eine…« »Lucy«, unterbrach ich, »bitte setz dich und laß Ooloorie erzählen, was eigentlich los ist, ja?« Ich schaute die kalte Zigarre in meiner Hand an. »Und gib mir doch mal Feuer.« Der Tisch sah seine Chance und schnellte einen drahtähnlichen Chromfühler heraus; die Spitze flammte auf. »Feuer, Sir?« »Lade du das Frühstück ab und spar dir die Süßholzraspelei. Ich muß für ein halbes Jahrhundert nachessen.« »Ja, Sir.« »Und steh hier nicht rum und warte auf ein Trinkgeld! Mein ganzes Vermögen ist eingefroren.« »Das war noch komisch, Sir, als ich es die ersten tausendmal gehört habe.« »LUCY!« »Ich hab's dir ja gesagt, Winnie!« Sie zog ihre Gabbet Fairfax – die große Automatik mit dem starken Rückstoß sah aus wie ein Stück Eisenbahnschiene – und drückte mit dem Daumen den Hahn zurück, daß es schepperte. Die Maschine quiekte auf, knallte uns das Frühstück auf den Kaffeetisch und verschwand, wobei sie fast die Tür mitnahm. Ooloorie saß da und beobachtete das alles mit der charakteristischen Ungeduld, die sie allen Landbewohnern entgegenbrachte. Sie rollte ihren Wagen einen Schritt vor, rollte ihn wieder zurück und fragte dann in gereiztem Tonfall: »Edward William Bear, erinnerst du dich an den Menschen Hirnschlag von Ochskahrt?«
»Nee – hmmmm…« Ich hob den Deckel von einem dampfenden Teller mit grünem Chili. In stark gewürzter Sauce schwammen verkochte Fleischwürfel. Das Frühstück hatte sich in den letzten vierundvierzig Jahren anscheinend nicht allzusehr verändert. »Was für ein Ochsenkarren war das denn?« In meinem Beruf ist ein gutes Gedächtnis für Namen und Gesichter das wichtigste Kapital. Wenn ich mich an diesen Burschen von Ooloorie nicht erinnerte – und ich tat es nicht –, dann war er nie wichtig gewesen, weder für mich noch für einen meiner Klienten. »Ochskahrt.« Sie buchstabierte es. »Ein Assistent von uns – vor mehr als hundert Jahren. Kein Wunder, daß du dich nicht an ihn erinnerst, er war ein recht seltsamer, unscheinbarer Wicht, kahlköpfig, mit dicker Außenbrille…« Ich grinste. »Und einem Kopf wie eine Glühbirne?« Ich hatte dieses Subjekt nur auf dem Kom kennengelernt, aber Haarlosigkeit und eine Brille waren in der Konföderation so selten wie Hühner mit Zähnen. Noch seltener, als durch den Beginn der Gentechnologie Hühner mit Zähnen zu einer verkäuflichen Neuheit wurden. Kahlköpfigkeit war gewöhnlich die Folge einer unheilbaren, psychologischen Erkrankung. Auf diese Weise konnte man immer noch seine Mutter dafür verantwortlich machen. »Die einmalige Geschichte mit der verschwindenden Fliegenden Untertasse, nicht wahr?« Ich bezog mich auf einen Fall in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, in dem sich Ooloorie als hilfreich erwiesen hatte. »Der ist es. Ich hatte jahrzehntelang nichts von Hirnschlag von Ochskahrt gehört. Er war… nun ja, ein wenig ungeschickt, eine schlechte Eigenschaft in einem Versuchslabor. Ich hatte gar nichts dagegen, als er kündigte und ausschied, um sich selbständig zu machen.« »Als was? Für einen berufsmäßigen Trampel besteht keine große Nachfrage.« Ich öffnete das Ende eines Säckchens Orangensaft und drückte einen Schluck heraus. Sie schüttelte den Kopf. »Als Erfinder auf Bestellung, und er ar-
beitete außerhalb von Laporte. Das tat er auch noch, als er den Auftrag bekam, eine Zeitmaschine zu erfinden.« Ich hatte diese Worte schon gehört. Ich nahm Abstand davon, das Säckchen fallen zu lassen und konzentrierte mich statt dessen darauf, mit der Gabel ein Frühstückssteak, drei Eier und sechs Waffeln aus dem Serviergeschirr heraus und unter den Haltedeckel meines eigenen Tellers zu bringen. Lucy begann mit ähnlichen Ladeoperationen. Ooloorie fuhr fort: »Ein weiblicher Mensch, nach seiner ziemlich vagen Beschreibung nicht zu identifizieren, hat ihn darum gebeten. Etwas an ihr hat seinen Argwohn erregt, schon vor den späteren Ereignissen. Die Möglichkeit der Zeitreise war in der Physik des Penetrators natürlich schon immer enthalten. Während eures Falls mit der Fliegenden Untertasse haben wir viel mehr darüber erfahren. Ich habe sogar… Aber es hat keinen Sinn, näher darauf einzugehen. Auf jeden Fall war Hirnschlag von Ochskahrt ziemlich verzweifelt auf der Suche nach Kunden, und so hat er seine Bedenken zu Anfang in den Wind geschlagen und sich erst hinterher daran erinnert.« »Hinterher?« wiederholte ich, den Mund voller Hackbraten und Wurst. »Als sie ihn an eine Bank gefesselt zurückließ, mit dreiundzwanzig metrischen Pfund Plastiksprengstoff und einem Zeitzünder, der direkt neben seiner Erfindung vor sich hintickte. Da verstand er, was sie war und was sie plante. Wenn da nicht ein Becher Säure gewesen wäre, den er an diesem Vormittag unachtsamerweise auf der Bank verschüttet hatte – ich sagte dir ja schon, daß er ungeschickt war –, wäre er niemals freigekommen. Seine Maschine war zerstört. Fast gelähmt vor Panik nahm er Kontakt mit mir auf und…« »Warst du zu der Zeit drüben in San Francisco?« »Genauer gesagt auf Beta Centauri IV, ich nahm an einem Kolloquium über…« »Gütiger Himmel! Wie lange ist das…«
»Acht Tage.« Ich schaute Lucy an. »Es hat wirklich Verbesserungen im Transportwesen gegeben!« Sie nickte und stopfte sich weiter mit Pfannkuchen und roten Pepperoni voll, mit einer Versunkenheit, die ihr für sie untypisches Schweigen nicht völlig erklärte. Ich beließ es dabei. »Und was«, fragte ich, »soll ich in dieser Angelegenheit tun?« Statt einer Antwort streckte Ooloorie aus ihrem silbernen Gestell einen mechanischen Arm hervor. Der dreifingrige Manipulator hielt einen großen, münzenähnlichen Gegenstand fest, dem schäbigen Aussehen nach aus Bronze, ungewöhnlich für eine Kultur, die ihr Geld aus Platin, Gold, Silber und Kupfer machte. Mit einem dumpfen Klirren legte sie es neben meinen Teller. Ich hörte auf zu essen und fing an zu würgen. Vierundvierzig Jahre ohne Nahrung oder nicht, für diesen Vormittag war mir der Appetit vergangen. Lucy mußte mir mehrmals auf den Rücken klopfen und bestreute mich dabei über und über mit Make-up. Das Wort ›Hamiltonist‹ zu hören ist eine Sache. Deren Visitenkarte zum Frühstück überreicht zu bekommen ist wieder etwas anderes. Ich kannte dieses Ding nur zu gut. »Lucy, es sind wirklich Hamiltonisten!« »Hab' ich dir ja gesagt, Winnie. Aber du mußtest es ja selbst sehen.« Sie wandte sich an Ooloorie. »Möchtest du was von diesem Fraß hier, Schätzchen, bevor alles weg ist?« Ooloorie rollte nach vorne, fand einen Teller mit Bücklingen und begann, mein unvermitteltes Desinteresse am Essen wettzumachen. Wie der legendäre Planet Basketball ist die Konföderation ein friedlicher Ort. Ich war öfter dazu angeheuert worden, verlorene Haustiere zu suchen, als mich mit Fällen zu beschäftigen, in denen krumme Sachen eine Rolle spielten. Aber das hier war offenkundig ein krummes Ding. Die Münze war auf einer Seite glatt, bis auf das Datum christlicher Zeitrechnung, das die konföderierte Geschichtsschreibung mit der ›Verfassungsverschwörung‹ assoziiert, welche den Whisky-Aufstand auslöste, Hamiltons und Washingtons Pergamentsstaatsstreich im Jahre 1789. Auf der ›Kopf‹-Seite
war das ominöse ›Auge in der Pyramide‹ eingeprägt, das jeder USBürger von einer Dollarnote her kennen würde, dreizehn Stufen, genau wie bei einem Galgen. Unter diesem Markenzeichen waren in beiden Universen mehr üble Tricks abgezogen worden, als sich die Cosa Nostra jemals hätte träumen lassen. Ich täuschte eine Gelassenheit vor, die ich nicht empfand, warf das schändliche Zeichen in die Luft, fing es mit derselben Hand auf, schüttelte meine Faust und drückte die Münze fest. Vielleicht hoffte ich, sie würde so verschwinden, wie es mein Frühstück tat. Trotz der Zimmertemperatur schauderte Ooloorie noch einmal, als sie vom Tisch zurückrollte, eine Pistole winselte auf ihren Servos in einer Scheide an der Seite ihres Apparats. Dank der Aufmerksamkeit von Gary's Köder- und Treuhandgesellschaft befand sich mein eigenes Schießeisen da, wo es immer gesteckt hatte, nämlich unter meiner linken Achselhöhle. Ich hebelte es aus dem Federhalfter. Von Zeit zu Zeit hatte ich auch andere Waffen verwendet, aber wir beide, diese ramponierte, alte Smith & Wesson .41 und ich hatten viel miteinander erlebt. ›Militär- und Polizeimodell 58‹ hatten ihre Hersteller sie vor anderthalb Jahrhunderten genannt. Ohne Zierspeichen, einstellbares Visier oder sonstigen Unsinn. Wir hatten uns beide im Laufe der Jahrhunderte verändert. Ihr Lauf war von der Standardlänge von vier Zoll auf hüfttaschengeeignete drei gekürzt worden, und sie hatte Schlitze auf beiden Seiten des Korns bekommen, um die Rückstoßkräfte abzuleiten. Keine unwichtige Überlegung in diesem schwerkraftarmen Gürtel. Der Sporn des Hahns war gestutzt, um zu vermeiden, daß er sich verhakte, und ich hatte mir einen breiten, glatten Abzug für beidhändige Benützung einbauen lassen. Der Griff war auf K-RahmenGröße abgerundet, was für meine Wurstfinger bequemer war. Die ganze Waffe, anfangs schwarzblau, in späteren Jahren von grauer Patina überzogen, war so vernickelt worden, daß sie aussah wie rostfreier Stahl. Ich hoffte, ich würde sie nicht brauchen. Das war ein schlechtes Zeichen.
Die meisten der schauerlichen Abenteuer meines Lebens hatten damit angefangen, daß ich hoffte, ich würde das Modell 58 nicht brauchen. »Sie hat es bei Hirnschlag von Ochskahrt vergessen.« Ooloorie meinte das Medaillon und gab diese Erklärung durch ihr Blasloch ab, während ihr Mund mit meinem Frühstück beschäftigt war. »Und nach allem, was sie ihm erzählt hat, sieht es so aus, als habe sie vor…« »Albert Gallatin zu ermorden?« fragte ich und steckte die Magnum ein. »Du hast es ihm gesagt«, sagte Ooloorie zu Lucy. Die alte Dame kreuzte ihre dürren Arme vor der schmalen Brust. »Und du hast mir vorgeworfen, daß ich nie etwas erkläre. Was willst du eigentlich, 'ne Überraschung für Weihnachten aufsparen?« Und zu mir: »Winnie, wenn Gallatin ausgeschaltet wird, ehe er die Whiskyjungs zum Sieg führen kann, bleibt hier nichts mehr übrig, was wir kennen. Du willst doch hier sein, wenn Clarissa aufwacht. Na gut, wir haben 'ne Menge miteinander erlebt, ich will dir nichts vormachen: das wird eine gefährliche Sache. Möchtest du lieber riskieren, nicht mitzumachen bei dem Versuch, Albert Gallatins importierte Haut zu retten – und vielleicht die ganze Konföderation mit dazu?« Ich machte den Mund auf und wollte etwas sagen, bekam aber keine Gelegenheit dazu. »Oder möchtest du ins Bett zurück und nicht mehr existieren, wenn du in zehn Jahren aufwachst?«
5. Kapitel Rück Zublick SPÄTER AM SELBEN TAG… Zum erstenmal seit vierundvierzig Jahren stand ich auf. »Win«, sagte Ooloorie, während sie das letzte Stück Hering hinunterschluckte – es war, soweit ich mich erinnern konnte, das erstemal, daß sie mich beim Vornamen nannte. »Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest…« Gary's Köder- und Treuhandgesellschaft hatte gute Arbeit geleistet. Nirgends ein steifes Gelenk. Ich ging herum, wippte auf meinen Fußgewölben. Meine Füße taten immer noch weh. Für einen Exbullen war das normal. Ich drehte mich um und sah den Delphin an. »Und das wäre?« Ihr leerer Teller war dem von Lucy und mir in einen Schlitz im Tisch gefolgt. Jetzt zögerte sie. Das schienen mir die Leute gegenwärtig recht oft zu tun. Lucy beobachtete sie, und in den Augen der alten Dame war etwas, was mir nicht sonderlich gefiel. »Der Venusorbit«, bemerkte die Physikerin, »ist eine feindliche Umgebung. Ohne angemessene Technik würden wir innerhalb von Sekunden unser Leben aushauchen. Die Treuhandgesellschaft hält, wie jeder andere hier draußen, Luftdruck, Feuchtigkeit, ein erträgliches Helligkeitsniveau und…« »Und die notwendige magnetische Atmosphäre aufrecht«, beendete ich die Litanei an ihrer Stelle. »Damit dir deine Knochen nicht davonfließen«, fügte Lucy hinzu, »molekülweise.« Sie kramte in ihrem Dekollete und förderte noch zwei Zigarren zutage, von denen sie mir eine reichte. »Weiter«, sagte ich und zündete sie an, »das weiß ich alles. Du
hast die Temperatur vergessen…« Lucy schnaubte und warf der Kom-Wand einen giftigen Blick zu. »Ich glaube, das war nicht Ooloorie, die sie vergessen hat!« »Ja, die Temperatur. Und sie – die Treuhandgesellschaft, meine ich – erhalten auch das Milieu der Zeitgleichheit.« Hier hielt sie inne und wartete, daß ich etwas sagte. »Das was von was?« Ihr Tonfall wurde gereizt. »Es gibt eine Grenze der Anachronizität, Landwesen, für jede Kammer in dieser Einrichtung, und sie wird für jeden einzelnen Kunden gezogen, wenn er erwacht. In deinem Fall ist nichts zu sehen, was nicht vor 299 A. L. erfunden wurde, als du in Stasis gingst. Das ist eine der Dienstleistungen, zu denen die Gesellschaft verpflichtet ist. Schau dir deinen Vertrag an! Draußen haben sich die Veränderungen in geometrischer Progression angehäuft. Man bemüht sich, dich davor zu schützen…« Ich wollte etwas sagen. Lucy hob die Hand. »Wenn Winnie es überlebt hat, als erster Mensch durch einen Penetrator gequetscht zu werden, dann kann er auch ein bißchen Fortschritt verkraften. Wir haben keine Zeit, ihn so ganz gemütlich ins vierte Jahrhundert zu kitzeln. Ist auch egal, sobald wir im Jahre 1794 sind. Mann, jetzt habe ich die Chance, Al Hamilton persönlich den Hals umzudrehen, zehn Jahre vor seiner Zeit.« »Lucy!« Ooloorie war schockiert, und das nicht wegen der Zukunft. »Das kannst du nicht machen, genauso wenig, wie wir zulassen können, daß Albert Gallatin…« »Ja, ich weiß.« Sie seufzte. »Aber träumen darf ich doch noch, oder nicht?« Eigentlich hätte es mich nicht überraschen dürfen. Hamilton ist kein Name, den man in der Konföderation beschwört. Man kann auf dieser Seite der Realität überall Eier Benedict bekommen, aber von einem Brandy Alexander hat niemand je gehört. Der verstor-
bene Gründer der föderalistischen Partei und Erfinder der Staatsverschuldung hatte einfach kein Glück, wo es um Alkohol ging. Als er den Whiskyaufstand verlor, floh er nach Preußen, nur um sich dort von einem obskuren polnischen Adeligen namens Coveleskie erschießen zu lassen. (Nach dem man in der Konföderation einen guten Likör benannte.) Aber sein unappetitlicher Schatten (der von Hamilton, nicht etwa von Coveleskie) marschiert weiter. Wo ich herkomme, nennen die Europäer ein starkes Jagdgewehr eine ›Winchester‹. Hier werden alle, die glauben, besser zu wissen, wie andere ihr Leben führen sollten als diese selbst – Faschisten, Kommunisten, Republikaner – mit dem Oberbegriff ›Hamiltonisten‹ bezeichnet, ganz gleich, welchen besonderen Markennamen sie zu ihrer Rechtfertigung tragen. Von diesen Kunden Ochskahrts wußte ich nichts, aber mit dem ganzen Gezücht war ich besser bekannt, als mir lieb war. John Jay Madison zum Beispiel, und sein Handlanger Hermann Kleingunther. Oder Ab Cromney, die besonders üble Edna Janof und ihr Liebhaber Norrit Gregamer. Voltaire Malaise, die selbsternannte Stimme von den Sternen. Das ist nur eine flüchtige Auswahl der Bösewichte, mit denen ich mich im Laufe der Jahre herumgeschlagen hatte, und jeder war schlimmer als der vorhergehende, jeder war tot oder vermißt – ein ganz anständiger Prozentsatz durch mein Zutun – mit Ausnahme des guten alten Freeman K. Bertram, der gerade noch rechtzeitig die Seiten gewechselt hatte, um mir meine Lieblingshaut zu retten. Die Konföderation von NordAmerika, eine Gesellschaft ohne Kriege oder Verbrechen, war auch darin ungewöhnlich, daß sie ihre Kinder lehrte, diese Tugenden zu schätzen. Trotzdem schaffte es selbst in diesem freiheitsliebenden Land in jeder Generation eine kleine Minderheit von Geistesgestörten, unter ihren Steinen hervorzukriechen und eine Zeitlang alles zu tun, um uns übrigen das Leben schwer zu machen. Bis wir gezwungen waren, es ihnen unmöglich zu machen. Danach reichten wir dann die Schachtel mit den Heftpflastern herum, stießen einen riesigen, rauhen Seufzer der Erleichterung
aus und meinten, daß uns nun die Hamiltonistische Gesellschaft – oder ihre gegenwärtigen Nachahmer – endlich keine Schwierigkeiten mehr bereiten würden. Ha! Als ich erwacht war, trug ich den gummiartigen, silberfarbenen Allzweck-›Patentanzug‹ der Konföderation des dritten Jahrhunderts, der für die luftleeren Tiefen des Weltraums gedacht war. Er hatte sich auch in allen möglichen anderen Umgebungen bewährt und war mit der Zeit zur allgemeinen, zivilisierten Standardkleidung geworden – wie der graue Flanellanzug im Amerika von 1950. Standard war auch der leichte Umhang, den ich trug, und das Schulterhalfter darunter – aber meine alte, weltraumerprobte Smith & Wesson mußte seit dem ersten Tag, an dem ich sie in diesem Universum voller Laserpistolen, Miniaturmassenbeschleunigern und plasmaspritzenden Elefantentötern getragen hatte, ihr Quantum an seltsamen Blicken einstecken. Jetzt prunkte Lucy mit ihrem Straßenmädchenaufzug, Ooloorie mit ihrem Fahrrad und einem breiten Grinsen – ich fragte mich, wie sie ihre Haut feucht hielt, was doch für ihre Gattung lebensnotwendig war. Der Patentanzug schien, anders als die Konvention des Waffentragens, im strahlend neuen vierten Jahrhundert der Konföderation aus der Mode gekommen zu sein. Wenn wir ins achtzehnte Jahrhundert wollten, mußte wegen passender Kostüme etwas geschehen. Theoretisch war Ed schon unterwegs, um Vorbereitungen zu treffen. Von uns nahm sich jetzt niemand die Zeit, sich umzuziehen. »Ich glaube…« – die Physikerin nickte zur Tür hin –, »wir können eigentlich aufbrechen.« Ich nehme wenigstens an, daß es eine Tür war. Ohne weitere Anweisungen weitete sie sich erneut und gab den Blick auf das unordentliche Labor frei, und mit noch weniger Umständen betraten wir die Erde, wobei wir die fünfundzwanzig Millionen Meilen vom Venusorbit nach Terra Firma in einem unendlich winzigen Sekundenbruchteil hinter uns brachten. Als ich mich schlafen gelegt hatte, war es noch eine stramme
Zehntagesreise gewesen, selbst bei ständigem Schub mit Kernfusionsantrieb. Aber an Wunder gewöhnt man sich. Ich erkannte diesen Effekt hier als Erweiterung der Penetratortechnologie, die mich von den USA in die… »Vorsichtig, Winnie! Der erste Schritt ist groß!« Ich stolperte, als ich in die Schwerkraft trat, die das Zwanzigfache von der betrug, bei der ich erwacht war. Lucy packte mich am Ellbogen, Ooloories Extensoren taten das gleiche auf meiner anderen Seite. »Was du nicht sagst! Ihr könnt mich jetzt loslassen, meine Damen. Ich will versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen.« Ich kam mir vor wie ein Idiot. Dank meiner auf Erdbedingungen zugeschnittenen Gene und mit ein wenig Unterstützung durch die ›notwendige, magnetische Atmosphäre‹ fand ich bald mein Gleichgewicht wieder, aber es war wirklich lange her. Ooloorie mußte selbst eine Weile weggewesen sein: das Labor, in dem wir materialisiert waren, war völlig durcheinander, alles war mit Staub bedeckt – jedenfalls die Stellen, die nicht voll Ruß und winiwinziger, paratronischer Komponententeile waren. Als ich an schmutzigen Bänken und verbeulten Werkzeugspinden vorbeischaute, konnte ich sehen, daß wir nicht in San Francisco waren – Laporte liegt direkt in der Mitte des Kontinents, und die Rockies sahen genauso aus wie immer. Während der eineinviertel Jahrhunderte, die ich auf dem Gürtel gelebt hatte, hatte sich die Stadt bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Wir standen mit dem ganzen sabotagegeschädigten Gerümpel auf so etwas wie einer Waldlichtung, kein Gebäude war zu sehen, nicht einmal der ›Raum‹, in dem wir uns befanden, war ›eingewikkelt‹. ›Draußen‹, jenseits der eigentlichen Grenzen der physikalischen Fabrik waren zwischen Bäumen Fußgänger zu erkennen: Menschen, Gorillas, Schimpansen, Orangs, Tümmler und Mörderwale auf Rädergestellen. Die seltsamen Wesen, die zehn Fuß langen Spargelbündeln ähnelten – ganz zu schweigen von den haarigen Riesenkrabben –, verstörten mich ein wenig. Eine der letzteren winkte Lucy zu. Sie winkte zurück. Aus dem Hintergrund wehte immer wieder der traurige, weiche Klang eines Cellos in die Un-
terhaltung herein. Ooloorie beobachtete mein verständnisloses Gesicht, als ich über das Trümmerfeld hinwegstarrte. »Ja, sie kommen von anderen Planeten, die wir entdeckt haben. Die großen werden Gunjj genannt, die Arthropoden* sind Lamviin. Es gibt jetzt außerdem drei Gürtel im System, die Natürlichen Asteroiden, euren Venusgürtel und nun auch Neptun. Vier, wenn ihr den Kometenschweif mitrechnet. Mehr als hundert Millionen ›Planeten‹ in allen Größen, von ein paar hundert Metern bis…« Ich lauschte einen Augenblick lang dem Solospiel des unsichtbaren Cellos. Ohne mein Zutun begannen sich in meinem Geist Worte zu formen, aber nicht durch ein technisches Wunder: ›Orte gibt es, an die werde ich denken, mein Leben lang, mögen einige sich auch verändert haben…‹ Lennon und McCartney. Das paßte irgendwie. Muzak hatte sich verbessert. »Was, kein Ring um den Uranus?« »Wie bitte?« Jetzt war der Delphin an der Reihe, das Gesicht verwirrt in Falten zu legen. Das meine war schon dauerplissiert. »Nur die Paraphrase eines alten Werbespots. Verrückt, wie sich die Aussprache veränderte, als er im Fernsehen gebracht wurde.« Ich deutete mit einer Hand zu dem Dschungel hinüber, wo früher eine Stadt gewesen war. »Du wolltest mir erklären…« »Sie ist immer noch da, Landwesen, unterirdisch, außer Sicht. Wenn wir Zeit hätten, könnte ich dir dein altes Haus am Genêt Place suchen. Es gibt immer noch Straßen für Leute, die gerne fahren und Wege für Leute, die lieber zu Fuß gehen, aber der Penetrator…« »Übernimmt eigentlich alle Aufgaben der früheren Transportmittel?« Stolz klang in ihrer Stimme mit. »Neun Zehntel der denkenden Bevölkerung leben irgendwo anders als auf der Erde. Nach frühe*
Gliederfüßer – Anm. d. Übers.
ren Maßstäben ist jede Stadt hier auf dem Planeten eine Geisterstadt.« Lucy schnaubte. »Die Schwerkraft saugt! Niemand tut sich so etwas auf, wenn er…« »Und was wollen wir dann hier unten in D. J.'s alter Werkstatt, wenn wir da oben…« Die Physikerin unterbrach mich. »Aber Landwesen, das ist doch nicht…« Sie zeigte auf die am schlimmsten zerstörte Ecke des Bereichs. Von der ursprünglichen Zeitmaschine war nichts übriggeblieben. An ihrer Stelle – ich hatte diesen Leuten niemals begreiflich machen können, daß man mit Indizien vorsichtig umgehen muß – erhob sich eine funkelnde Konstruktion aus der Asche, die mich an die frühen Penetratorapparaturen erinnerte, nur war sie ungefähr viermal so kompliziert. Ooloorie hatte eine arbeitsreiche Woche hinter sich. Das Cellospiel brach ab. Jenseits der von der Explosion verwüsteten Lichtung schwang die versengte Seite eines der größeren Bäume auf. »Ich hoffe, ich komme nicht zu spät«, schluchzte eine hohe, männliche Stimme. »Hat irgend jemand an Tee gedacht?« Ein Kahlkopf mit dicken Brillengläsern trat, Bogen und Cello an die Brust gedrückt, auf die Lichtung, Tränen strömten ihm über die rundlichen Wangen. Er wischte sich die Augen, schluckte, neigte den Kopf. »Seien Sie bitte willkommen in meinem Haus.« Er hob das Cello und nickte zu dem geschwärzten Baum hin. »Ich, äh… das sieht unheimlich aus, ich weiß. Sehen Sie, meine Mutter… das heißt, ich…« Er errötete, und sein Gestammel verstummte sofort. »Seine Eltern wollten, daß er Physiker wurde«, erklärte Ooloorie. »Er mußte heimlich Cello üben und sich dazu in einem Schlafzimmerschrank verstecken. Jetzt ist das wohl leider der einzige Ort, an dem er spielen kann.« Sie nickte in meine Richtung. »Hirnschlag von Ochskahrt, das ist Edward William Bear, der berühmte Detektiv, von dem ich dir erzählt habe.«
»Ja, aber diese weibliche, bäuerisch-hinterwäldlerische Person habe ich noch nicht…« Er blinzelte, dann merkte er, daß der Standdorn seines Instruments auf seinem Spann ruhte und japste ein wenig. Schließlich ließ er seinen Bogen fallen, bückte sich, um ihn aufzuheben, und rannte mit seinem nackten Schädel gegen die Wirbel des Cellos. »Hinterwäldler?« rief Lucy aus. »Sag mal, Freundchen, erkennst du vielleicht eine Rose von San Antonio nicht, wenn sie vor dir steht?« Lucy schnüffelte verächtlich an der Laborkanne, die Ochskahrt dahergebracht hatte, genauso hatte sie vorher den angebotenen Plastikstuhl angestarrt, ehe sie ihn mit ihrer zerzausten Federboa abstaubte. Der Professor wollte nicht etwa die Rosen von San Antonio diskriminieren. Mir hatte man einen genauso unhygienischen Teebehälter gegeben. Hirnschlag von Ochskahrt hatte einfach keine sehr große Erfahrung als Gastgeber – und Geschirr hatte er auch nicht allzuviel. Im Wald regnete es jetzt, und ich bekam den ersten, richtigen Eindruck von dem, wovor Ooloorie mich gewarnt hatte. Von den Bäumen ringsum tropfte Wasser und sammelte sich bei unseren Füßen in Pfützen – aber irgendwie kam es nie so weit, daß etwas naß wurde. Milieu der Gleichzeitigkeit, wie? »Eine Frau«, quiekte Ochskahrt und rieb sich die von den Fesseln abgeschürften Handgelenke. »Viel über sie kann ich nicht erzählen. Solche Dinge bemerke ich in der Regel nicht. Sie hat mir Angst gemacht, aber das tun wohl alle Leute, leider. Und so eine große Menge Geld hat sie mir geboten…« Ich kramte in dem Durcheinander nach einem Haushalts-KomBlock und fand einen in einem Papierkorb, ein wissenschaftliches Gigakom-Modell, undurchsichtiges, weißes Plastik, so lang und breit wie ein Schreibbrett, aber nur drei Viertel Zoll dick – seit Jahrzehnten überholt, schon bevor ich es bei Gary's eingepackt hatte. Man drückte einen Knopf am Rand, um auf dem Bildschirm
eine Tastatur abzurufen. Ich hatte einige Schwierigkeiten, eine Akte zu eröffnen, die ich auf mein seit langem ruhendes, persönliches Konto belastete. Ich begann mir Notizen zu machen. »Hat sie Ihnen einen Namen angegeben?« Er schüttelte seinen Melonenschädel. »Keinen Namen. Nur Geld.« »Ich verstehe. Wie ist es mit einer Adresse oder Kom-Nummer?« »Tucker Circle, Nummer neunundachtzig. Ein großes, dunkles, altmodisches Haus mit richtigen Wänden, Glasfenstern und mit Brettern vernagelten…« »Das Hamiltonhaus«, unterbrach Lucy voller Abscheu. »Das hätte uns alles verraten, selbst wenn wir das Medaillon nicht gehabt hätten.« Sie hatte recht. Wir waren beide in den alten Zeiten ein paarmal mit Ed dort gewesen. Nie zu einem gesellschaftlichen Anlaß. Ich unterdrückte einen Schauder und gab auf dem Komblock die Adresse und zugleich eine Anfrage ans System ein. »Ich laß' mich registrieren und verschaff mir 'ne Lizenz!« sagte eine winzige Stimme. Ich schaute auf den Bildschirm in meinem Schoß. Ein Zeichentrickgorilla blinzelte zurück. »Das ist das erstemal seit…« Er hielt inne und dachte nach »… in neun Komma fünf mal zehn bis zur achtzehnten Nanosekunde. Für dich ungefähr dreißig Jahre, Nackiger. Bist du wirklich auf Handschaltung, du Veteran? Vielleicht ist das ein Nostalgie-Spleen, der ansteckt. Schön, wieder im Geschirr zu sein.« Veteran! »Spar dir die Witzeleien und gib mir die Informationen! Was meinst du mit ›auf Handschaltung‹?« »Ich meine, ehrenwerter Freund, daß heutzutage jeder das System mehr oder weniger so bedient wie ich – oder wie ich es getan habe.« Er seufzte. »Als Teil davon, mit dem Gehirnimplantat. Ich…« »Implantate?« Ich hielt inne und schaute der Reihe nach Lucy, Ochskahrt und Ooloorie an. Ich hatte mich schon gefragt, wie sie
damals im Gürtel diese Tür aufgemacht hatte, ohne – »Du meinst, jedermann…« Sie erwiderten meinen Blick, bemüht, das Thema Zukunftsschock nicht innerhalb einer halben Stunde zum zweitenmal aufs Tapet zu bringen. Ich atmete tief ein und fand mich damit ab. Lucy hatte recht. Ich bin dagegen immun. »Laß das jetzt mal!« Ich unterbrach meine Gedanken. »Sag mir, wer heutzutage der Besitzer des Anwesens Tucker Circle 89 ist.« »Du – wenn du willst. Es ist ein verlassenes Anwesen, an den Meistbietenden zu vergeben, wie die Hälfte aller Grundstücke im Umkreis von zehn Kilomeilen von hier. Wie wär's denn damit? Ich kann dich mit einer seriösen Registrierungsfirma verbinden…« Ich spielte mit dem Gedanken. Irgendwie wäre es ja ironisch, wenn ich… »Vergiß es! Wer war als letzter Besitzer eingetragen?« Der Gorilla blinzelte wieder. »Das ist lange her, 219 A. L. Der Name ist ›Hamiltonistische Gesellschaft von Groß Laporte (Norrit Gregamer Gedächtnisgruppe)‹.« »Aber Norrit Gregamer ist 217 A. L. gestorben«, wandte ich ein. Und das war auch ganz gut so. Er war in dieser Generation unter dem Stein hervorgekrochen und hatte angefangen, die Konföderation hamiltonisieren zu wollen, als Folge davon war ihm der Kopf weggepustet worden. Manchmal – Murphys Gesetz hin oder her – geht eben alles gut, was nur gutgehen kann. Der Zeichentrickaffe funkelte mich an. »Ich sagte ›Gedächtnis‹, oder nicht?« »Kein Grund, bissig zu werden. Vielleicht ist es eine alberne Frage, wenn Hamiltonisten im Spiel sind, aber gibt es irgendeinen einzelnen Besitzer in Verbindung…« »Sicher, Veteran – und du brauchst auch nicht bissig zu werden, siehst keinen Tag älter aus als neunzig. Als Präsident, Vizepräsident, Sekretär und Schatzmeister der H. G. G. L. (N. G. G. G. ) ist eine gewisse Edna Janof aufgeführt.« »Großartig«, sagte ich zu niemandem speziell. »Sie ist auch 217 gestorben.« Und ich mußte das eigentlich wissen.
»Ich habe sie selbst getötet.«
6. Kapitel Die Whisky-Jungs 16. JULI 1794 »Autsch! Du Sohn einer – Hirnschlag, warum sitzt du denn da?« In Buckskinimitat gekleidet stolperte Edward William Bear durch den azurblauen Penetratorkreis in die falsche Dämmerung eines Morgens des achtzehnten Jahrhunderts, beladen mit Kupfertöpfen und Pfannen, Pulverhörnern, zwei Steinschloßgewehren und mehr Messern, als auf eine Kuhhaut gingen. Sie fielen durcheinander, als er hüpfen mußte, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Hinter ihm verkleinerte sich der Kreis, schrumpfte und verschwand mit einem Plopp! Ochskahrt rieb sich eine schmerzende Stelle auf seinem Hintern und murmelte teutonische Entschuldigungen. Nachdem er im Labor beim Anblick von fünfzig Jahre alten Holos von Edna Janof entsetzt genickt hatte, war er jetzt – gegen besseres Wissen aller – mitgekommen, um die Übeltäterin persönlich zu identifizieren. »Tut mir leid, daß ich zu spät komme, Leute. Ooloorie hat alles versucht – wenn sie die Einstellung nicht zusammenkriegt, dann schafft es niemand.« Ed sammelte seine sperrige Last wieder ein und legte alles neben mir auf dem Boden aus. Dem beiläufigen Nicken, das er mir schenkte, hätte niemand entnehmen können, daß wir uns seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen hatten. »Wir hatten eine höllische Arbeit mit Hirnschlags Fabrikator – er war so programmiert, daß er nichts als Cellosaiten herstellte.« Jenseits der Lichtung errötete der ledergewandete Ochskahrt, als hätte Ed aller Welt von seiner geheimen Sammlung hochhackiger, weiblicher Fußbekleidung erzählt. Niemand hatte ihm ausreden
können, das Cello mitzunehmen. »Bitte meine Entschuldigung zu akzeptieren«, sagte der Physiker. »Daß meine Klientin das Gerät so sabotieren würde, daß die Zeitkoordinaten sich nach der Transposition löschten, das konnte ich nicht voraussehen.« Ich sagte: »Schon gut, Hirnschlag, das konnte niemand. Sie hat ihre Spuren gut verwischt, unsere Edna. Hoffentlich sind wir so hergekommen, daß wir als erste da sind.« »Das hoffe ich auch, Winnie«, stimmte Lucy zu, und Ed nickte, um ihr Gesellschaft zu leisten. Über uns tropfte von den Blättern Wasser, sammelte sich in meinem halbgegerbten Lederkragen und rann mir den Nacken hinunter. Meine Stimmung paßte dazu. Heute würde ein guter Mann sterben – wir durften nur zusehen –, und wir konnten, verdammt nochmal, nicht das geringste dagegen tun. Ich nahm den Vorderlader, den mein kosmischer Zwilling mir gereicht hatte, und mein Gesicht nahm ganz von selbst einen mürrischen Ausdruck an. Es war eine Sache, daß ich mir wünschte, mein Modell 58 nicht zu brauchen. Der Wunsch, daß ich es nie nötig haben möge, mich auf diesen Brocken längst überholter Schlosserarbeit zu verlassen, kam schon einem religiösen Erlebnis gleich. In diesem Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts hatte die linke untere Ecke von Pennsylvania – wo Pittsburgh, eine Metropole von tausend Einwohnern, wuchs und gedieh – den Ruf, eine der schönsten Gegenden der Welt zu sein. Schriftsteller jener Zeit, ich habe den Verdacht, sie waren Immobilienhändler, verglichen sie mit dem Tal von Kaschmir, dem Garten Eden der Heiligen Schrift, dem Paradies aus den Träumen eines Haschischrauchers. Ich wäre lieber in Philadelphia gewesen. Auch hier hatte es geregnet. Von überhängenden Bäumen fast verborgen, wand sich ein ausgefahrener Pfad durch die Hügel. Hin und wieder führte er auf einen freien, von geschwärzten Stümpfen oder eingeschnittenen und sterbenden Bäumen umgebenen Platz – verdammt, wenn die Alternative einen halben Tag Arbeit mit der Axt heißt, warum sollen sich die verdammten Dinger dann nicht selbst fällen? Die dar-
aus entstandene primitive Hütte aus unbehauenen Stämmen stellte das idyllische Heim eines Pioniers des achtzehnten Jahrhunderts dar – begleitet, wenn besagter Pionier wohlhabend war, von einem idyllischen, kleinen Anbau draußen im Hinterhof. Weit unten schlängelte sich der schlammige Chartiers Creek – laut Kropotkins Reiseführung – zwischen schützenden, in einen Mantel vielfarbig-grüner Schattierungen gehüllten Hügeln dahin. Wenn es der Monongahela gewesen wäre, hätte sich ein Prahm mit einem Bauernkarren auf dem Dach den gewundenen Fluß abwärts bewegt, auf die Gegend zu, die die Einheimischen Kaintuck nannten, beladen mit schreienden Haustieren und lärmenden, zerzausten Kindern. »Da wär' auch noch 'ne andere Ladung draufgewesen«, sagte sie. »Hunderttausend Gallonen Feuerwasser werden dieses Jahr in die Spanischen Territorien runtergluckern, Winnie. Fünfundzwanzig Prozent der Brennereien in Amerika befanden – befinden – sich im westlichen Pennsylvania, ziemlich genau die Hälfte davon im Washington County, genau da, wo wir jetzt stehen!« Wieder brach die Surrealität über mich herein. Auch wenn man eine Erziehung in den Vereinigten Staaten voraussetzt, die den Whiskyaufstand ignoriert, und dazu noch die Tatsache berücksichtigt, daß ich den größeren Teil eines Jahrhunderts mit Ooloories universenüberspringenden Spielsachen herumgemacht hatte, war es immer noch schaurig, in diesem triefendnassen Waldstück herumzusitzen und darauf zu warten, dem John Holcroft zu begegnen. Besser bekannt als Kesselflicker Tom. Da wir gerade von legendären Gestalten sprechen: Wie viele Filme, Fernsehsendungen, Comic-Hefte und Kaugummibildchen waren in meinem Heimatuniversum dem Urgroßvater aller Steuerverweigerer, Robert, dem Earl of Lockesly alias Robin Hood gewidmet? Oder Lady Godiva und ihren Süßen? Nimmt man noch Walt Disneys ›Vogelscheuchen‹-Abenteuer dazu, dann hat man eine Vorstellung von der zeitlosen Beliebtheit von Geschichten
über den Whisky-Aufstand am Telekom. Und ich stand hier mitten in einer gottverdammten historischen Ansichtskarte und wartete auf einen Kerl, der noch nicht einmal wußte, daß er der Held der ganzen Geschichte war. Außerdem bemühte ich mich – bisher ohne Erfolg – eine Bleikugel mit Leinenläppchen in den nicht gezogenen Lauf der Vorderladerpistole zu bringen, die Ed mir gegeben hatte. Die Kugel stand halb heraus wie eine unhöflich rausgestreckte Zunge. Angewidert ließ ich die halb geladene Pistole über ein Knie fallen. »Den Quatsch mit der Zeitreise könnt ihr vergessen«, murrte ich, während ich mir die Innenseite eines Schenkels massierte, wo die vom Nieselregen steifgewordenen Buckskins, die Ooloorie besorgt hatte, meine Epidermis durchscheuerten. Ich schien in keines der beiden Jahrhunderte zu passen, die ich besucht hatte, seit ich aufgewacht war. »Ich will in die Stasis zurück!« »Eddie, zeig ihm doch mal, wie er seinen Hautanzug einstellen soll, ja? Und laß mich diese Donnerbüchse sehen!« Ed kniete nieder, zog den Ärmel meines Davy-CrockettKostüms zurück und machte etwas mit der winzigen, auf meinen Unterarm gemalten Schalttafel. Die Tropfenfeuchtigkeit auf meinem Rücken verschwand. Ich verspürte Erleichterung, wo das Buckskin gescheuert hatte – Schluß mit dem Grenzlandwindelausschlag! Für Miß Lucy gab es keine Buckskins. Sie sah reizend aus in ihrem Pioniersonnenhut und den hundert Metern plissiertem Kaliko. In diesem Jahrhundert trug man die Röcke lang, und der Ausschnitt reichte bis an die Ohren. Ein eindrucksvolles Paar Galoschen aus hessischen Armeebeständen vervollständigte ihre Aufmachung. Es war um Längen besser als die Netzstrümpfe und das Korsett. Die Entwürfe für ihre Kleidung waren, wie auch die für die meinen und die aller anderen – einschließlich einer Cellohülle mit Lederfransen –, das hastige Ergebnis eines vorangegangenen Kampfs mit Ochskahrts verrücktem Materiefabrikator. Und so sah das Zeug auch aus. Lucy schob einen Ärmel zurück, packte die Pistole und zog an
einer Ecke des Leinenläppchens, bis die Kugel heraushüpfte. Die Ladung, die ich abgemessen hatte, schüttete sie sich in die Hand, ließ den Hahn zurück und das Schloß nach vorne schnappen und kippte das Pulver auf die Zündpfanne. Die Pistole entlud sich mit einem ungefährlichen ›Wusch‹. Um den Lauf erneut zu laden, spannte sie ein neues Läppchen über die Mündung und drückte dieselbe Kugel in dessen Mitte. Mit einem scharfen Schlag der Handfläche wurde die Kugel hineingetrieben und nahm den Lappen größtenteils mit. Ed beugte sich zu ihr und zog elf Zoll einer rasiermesserscharfen Stahlklinge aus der Scheide an seiner Hüfte. Lucy nahm die Klinge, die an einer Seite für genau diese Tätigkeit abgeschrägt war, und sägte Leinen ab, wo es um das Geschoß herum vorstand. Der Ladestock aus Hartholz rutschte aus seiner kleinen Rinne unterhalb des Laufs. Lucy stieß die Kugel an ihren Platz und setzte sie dabei auf frisches Pulver. Sie wischte die Pfanne ab, ließ das Schloß einrasten, senkte den Hahn und reichte mir das Ding zurück. »Das war's, Winnie. Heb dir das auf, falls die Indianer dich vergewaltigen wollen!« »Ich bin Indianer, weißt du das nicht mehr?« Es stimmte. Ed und ich waren Vollblut-Utes, aber das kam selten zur Sprache. Ich zeigte auf die Pistole. »Diese Operation ist ohnehin sinnlos. Ich werde niemanden erschießen, wenn ich dabei Gefahr laufe, die ganze Zukunft auszulöschen.« Ed, der noch immer dahockte, stellte an dem Gewehr, das er bei sich hatte, etwas ein, was wie ein Laufkeil aussah – ich wußte verdammt gut, daß er noch keine Zeit gehabt hatte, das Ding zu laden – und zielte auf ein Eichhörnchen in zwei Metern Entfernung, das dumm genug gewesen war, sich in den Regen hinauszuwagen. Er zog den Abzug durch. Nichts geschah… … außer, daß das Eichhörnchen von seinem Ast rücklings in einen Haufen Blätter fiel. Ich zählte mit angehaltenem Atem die Sekunden. Nach ungefähr zwanzig stand das Eichhörnchen wieder auf, schüttelte den Kopf, schnatterte uns an und huschte zurück
auf den Baum. Ed lachte. »Genau das ist es, o Häuptling der Plattfüße: Wenn wir die Rebellion unterwandern, wird man von uns erwarten, daß wir auch mitkämpfen. Du kannst nicht einfach hergehen und jemanden ohne den Krach und den Gestank, mit denen jeder rechnet, zu Boden werfen. Das würde die Vergangenheit auch verändern – dadurch, daß wir auf dem Scheiterhaufen verbrannt würden!« »Das macht man doch nicht mehr.« Ich wandte mich an Lucy. »Oder doch?« »Ein schöner, alter Brauch, Winnie, der in einigen Gebieten durchaus noch geachtet wird. Aber wir sind hier in Pennsylvania, nicht in Massachusetts, und diese Bleikugel ist so beschaffen, daß sie sich direkt an der Mündung auflöst. Der Hellereffekt wird durch Knall und Rauch kaschiert.« Der Hellereffekt: Wieder ein Sprung, der stattgefunden hatte, während ich Logarithmen sägte. Die gleiche Physik, die mich – und Clarissas Mitochondriasis – konservierte, wurde inzwischen auf Waffen angewandt. Zugegeben, die Nachfrage war nicht sehr groß – die Möglichkeit, sich ungeschoren und ohne auch nur Kopfschmerzen zu haben, von einem Schuß zu erholen, nahm dem Gedanken der Selbstverteidigung viel von seiner Abschrekkungskraft. Außerdem glauben die Konföderierten, daß es dem Baum der Freiheit eigentlich ganz gut tut, wenn er wohlüberlegt ein wenig gestutzt wird. Der Meinung bin ich übrigens auch. Hier und jetzt waren diese falschen Steinschloßgewehre, die Ed aufgetrieben hatte, jedoch fast genauso riskant – in bezug auf Veränderungen der Geschichte – wie echte. Man denke an den Schuß, der um die ganze Welt gehört wird! Wir hatten es aber mit einem Feind ohne Prinzipien zu tun, der keine Vorsichtsmaßnahmen treffen würde. Soviel wir wußten, würde Edna Janof eine anachronistische Gatling-Pistole mit Kernfusionszündung mit sich herumschleppen. Etwas brauchten wir einfach.
Unser ›Etwas‹ war nicht viel. Zusätzlich zur Pistole, zwei Fuß lang und etwa so schwer wie eine Straßenkampfwaffe Kaliber .12, hatten wir den 45er Sprungstab, den Ed gerade getestet hatte, nach dem Modell namens ›Kentucky‹ gebaut, aber in den Wäldern von Pennsylvania von ›dutchen‹ (man lese ›deutschen‹) Handwerkern aus der Alten Welt hergestellt. Mehr Feuerpotential konnten wir uns nicht leisten, weder im Hinblick auf den Erfolg der Mission, noch wegen des äußeren Anscheins. Ein langläufiges PennsylvaniaGewehr stellte damals ungefähr die gleiche Investition dar wie im zwanzigsten Jahrhundert ein Familienauto. Es machte uns zu Angehörigen einer Mittelschicht. Mit der Pistole dazu waren wir wohlhabend. Mit noch einem holzkohleverbrennenden Schießeisen wären wir im Gesellschaftsregister gelandet. Ed würde die Handwaffe tragen, ich das Gewehr. Er war, wie die meisten Konföderierten, nicht einmal an die Vorstellung von zweihändigen Waffen gewöhnt, ganz zu schweigen von ihrer praktischen Anwendung. Lucy versuchte, ihre im achtzehnten Jahrhundert übliche, weibliche Waffenlosigkeit dadurch auszugleichen, daß sie einen Maiskolben rauchte, bei dem jedem Moskito im Umkreis von einer Meile schlecht werden konnte. Sie trug einen kleinen Dolch mit Silbergriff am Körper versteckt, ramponiert und fleckig, als hätte ihn ein britischer Offizier während des Unabhängigkeitskrieges verlegt. In West-Pennsylvania lag noch eine Menge Ausschußware aus dem Krieg herum. Ed hatte bei der einschüssigen Pistole, die er mitzuführen gedachte, dasselbe Korrosionsverfahren angewendet, da Mitbringsel von Schlachtfeldern leichter zu erklären waren als Reichtum ohne Herkunftsangabe. Jeder von uns hatte eine Klinge, Ed das dolchartige ›Gewehrschützenmesser‹, das er in dem Reproduktionskatalog gefunden hatte, mit dem der Fabrikator betrieben wurde. Das moderne Bowie (oder ›Rezin‹, nach Jims kleinem Bruder, dem Erfinder), mit dem ich am besten vertraut war, würde erst eine Generation später entwickelt werden. Und deshalb trug ich das meine – das mein Ebenbild von ›Kleine Schwester‹ geholt hatte – so bei mir, daß es niemand sah. In einer Zeit, in der jeder sein
Besteck selbst machte, würde es bei einer Untersuchung durchgehen – solange kein Experimentator entdeckte, daß man mit der Stellit-Klinge eine Wagenachse durchschneiden und sich hinterher immer noch rasieren konnte. Es war gut ausgewogen und schwer genug zum Werfen, aber ich habe nie einen Sinn darin gesehen, dem anderen Kerl auch noch eine Waffe zuzuschmeißen. Hirnschlag von Ochskahrt hatte ein Beil bei sich. Mit vollkommen stumpfer Schneide. Wir alle behielten den ungeschickten Physiker scharf im Auge. Im Notfall konnte das Ding als Keule dienen. Jegliche Arbeiten im Lager, zu denen man richtiges Werkzeug benötigte, konnten mit meinem Zweipfünder-Rezin erledigt werden. Vor der Abreise hatte ich mich nach der wirklich neuesten Mode der Konföderation eingekleidet: in einen hauchdünnen Hautanzug. Ooloorie und Lucy trugen solche Anzüge schon ständig, ohne daß es mir aufgefallen wäre. Sie waren die Nachfolger des gummiartigen Patentanzugs, sahen auf dem Ballen eisgrau aus, waren am Körper unsichtbar und fast kugelsicher. Hoffentlich waren sie auch beilsicher. Wir vier lagen wartend am nordwestlichen Abhang eines Halbkreises von Hügeln, die sich in einer halben Meile Entfernung von Bower Hill erhoben, dem Wohnsitz von John Neville, dem hiesigen Haupteintreiber von Alexander Hamiltons Whiskysteuer. Neville hatte den ›Vierten Bezirk‹: die Gebiete Allegheny, Washington, Fayette, Westmoreland und Bedford. Im Chartiers Valley südwestlich von Pittsburgh sollte der erste Schuß der echten Rebellion abgefeuert werden. Wir hatten darauf geachtet, außer Reichweite zu bleiben. Der Regen hatte nachgelassen. Ich erhob mich, halb hinter einem kleinen Baum lehnend, und spähte hügelabwärts. Nevilles ›Herrenhaus‹ Bower Hill war ein zweistöckiger Holzbau, vierzig auf zwanzig Fuß, und stand auf dem höchsten Teil der Ferse des fußabdruckförmigen Hügels. Der Hügel selbst war eine halbe Meile lang, seine Zehe war nach Nordwesten auf einen schroffen Ab-
hang über dem Chartiers Creek gerichtet. Auf beiden Seiten des Spanns führten Schluchten zu einer flachen Senke hinter der Ferse. Von Nevilles Veranda aus hatte man einen großartigen Ausblick auf das Tal dreihundert Fuß weiter unten, und auf das wogende Land ringsum. Laut ›Enzyklopädie von Nord-Amerika‹, die ich noch konsultiert hatte, ehe ich das zweiundzwanzigste Jahrhundert verließ, hatte die Volkszählung von 1790 achtzehn Sklaven auf dem Besitz festgestellt. Außerdem mehrere weiße Dienstboten. Das Haus war, wie es hieß, ›bestens tapeziert und ordentlich möbliert‹, mit Teppichen, Spiegeln, einem Franklinofen, Bildern und Drucken, einer AchtTage-Uhr, importiertem Porzellan, Glas und Silberzeug. Es ist schwer, begreiflich zu machen, welchen Wohlstand das im Pennsylvania des achtzehnten Jahrhunderts darstellte. Neville war ein reicher Mann. Vielleicht hatte er drei Gewehre. Bei vierhundertfünfzig Dollar pro Jahr (das Mehrfache des Einkommens eines gutsituierten Farmers) war Steuereintreiben eine schöne Beschäftigung – wenn man drankam und sie hinterher verkraften konnte. Am südwestlichen Rand der Ferse zwischen uns und dem großen Haus befanden sich die Hütten der Neger; weiter oben in der Schlucht stand Nevilles eigene Brennerei, in pflichtschuldigem Gehorsam registriert. Im rechten Winkel dazu standen Scheunen und Ställe, alles zusammen bildete ein V, das das Herrenhaus schützte. Von Osten kam eine Straße, kreuzte den Spann und führte den Hügel hinunter weiter nach Woodville, dem Landhaus von Johns Sohn Presley – dem Oberst der dortigen Bürgerwehr –, das jenseits des Baches durch eine in den Wald gehauene Gasse zu sehen war. Die beiden Haushalte hatten ein Signalsystem für Notfälle. Und so ein Notfall war nun im Anrollen. Das war er schon eine ganze Weile. Am 22. Juni hatte der U.S. Marshall David Lenox die Landeshauptstadt Philadelphia mit vom Finanzminister im Mai ausgestellten Haftbefehlen gegen örtliche Unternehmer verlassen, die ihre Brennereien nicht registriert hatten.
Eine politische Gaunerei reinsten Wassers: eine der größten Klagen der Farmer von Pennsylvania war es, daß Gerichtsverfahren unter dem neuen Steuergesetz in der Hauptstadt abgehalten wurden. Bei der herrschenden Wirtschaftslage und dem Zustand der Straße hätten sie genauso gut auf dem Mond stattfinden können. Im April hatte der Kongreß auf Hamiltons Empfehlung hin Verhandlungen an den betreffenden Orten genehmigt. Aber die Haftbefehle, die er später ausstellte, bezogen sich auf das alte Gesetz – obwohl sie erst im Juli wirksam werden sollten. Es lief darauf hinaus, daß Hamilton überall im Lande erzählen konnte, wie nachsichtig er sei – indem er dieses häßliche Gesetz ändern ließ –, es aber trotzdem gegen jene einsetzte, die sich seiner Befehlsgewalt nicht beugen wollten. Am 24. Juni erreichte Lenox Pittsburgh und suchte Hugh Henry Brackenridge auf, einen prominenten Bürger und ein professionelles Großmaul. Jeder außer Hamilton wäre der Ansicht gewesen, daß die neue Steuer mehr Schwierigkeiten machte als sie einbrachte. Seine Helfer meldeten, daß sie überall in den Staaten ignoriert wurde. Kaum ein Cent war eingetrieben worden. Schon jetzt hatte sie die Regierung eine Menge an Prestige gekostet. Zeugen gegen Steuerverweigerer waren überfallen, sogar entführt worden, man hatte ihre eigenen Brennereien mit Kugeln durchlöchert (Holcroft – Kesselflicker Tom – hatte das ›Flicken‹ genannt und war so zu seinem Spitznamen gekommen) und ihre Scheunen niedergebrannt, trotz schwülstiger Drohungen von Präsident Washington und ausgesetzten Belohnungen im Werte von vielen hundert Dollar. Das Gesetz hatte auch zur Gründung ›demokratischer Gesellschaften‹ geführt, die sich später zu einer Partei – den Demokratischen Republikanern – vereinigen und sogar in meinem eigenen, überregierten Universum die Föderalisten um die Macht bringen sollten. Eine der ersten Gesellschaften war im Februar in Mingo Creek im Washington County entstanden. Im März waren Neville und seine Familie angepöbelt worden, als sie von Pittsburgh nach Hause ritten, und später wurde der Hauptsteuereinnehmer von einem Trupp sechzig wütender Steu-
erhinterzieher verfolgt. Man hatte an die Regierung appelliert, die korrupteren und übereifrigen Helfer Nevilles zu ersetzen. Örtliche Friedensrichter lehnten das Gesetz ab. Örtliche Föderalisten hatten die Armee um Schutz gebeten. ›Ehrbare‹ Bürger verhielten sich ganz still, unterstützten nach außen hin die Regierung – sie wollten Whisky an die Armee verkaufen – und ließen die kleineren Fische, die sich nur in die Gewalttätigkeit flüchten konnten, im Stich. Immer mehr demokratische Gesellschaften schossen aus dem Boden, sie verabschiedeten aufwieglerische Resolutionen und unterstützten lockere Reden über George Washington und Guillotinen. Ein alter, revolutionärer Brauch, das Aufstellen von ›Freiheitsstangen‹ lebte als nicht allzu subtile Warnung wieder auf. In dieser Pulverfaßatmosphäre wäre ruhiges Argumentieren angebracht gewesen, aber man hatte es hier mit einer Regierung zu tun. Am 15. Juli – gestern, für uns Zeitreisende – hatten Lenox und Neville William Miller von Peter's Creek mit einem von Hamiltons Dokumenten aufgelauert. Miller hatte gesagt, sie sollten schleunigst verschwinden. Da sie wußten, mit welchem Ende einer Schrotflinte sie es zu tun hatten, fügten sie sich. Aber als sie mitten im Verschwinden waren, feuerte eine Horde Nachbarn, die gekommen waren, um Miller moralische und ballistische Unterstützung zu geben, auf die beiden, und Lenox kam mit nassen Hosen nach Pittsburgh und Neville in ähnlichem Zustand hierher nach Bower Hill zurück. Sie hätten sich darüber klar sein sollen, daß jeder Bewohner dieser Gegend, der mit der üblichen, langläufigen Flinte bewaffnet war, jeden der beiden Beamten ins Jenseits hätte befördern können, wenn er hätte ernst machen wollen. Inzwischen befahl Dr. Absalom Baird, der Inspekteur der örtlichen Bürgerwehrbrigade, der die vereinzelten Gewalttaten satt hatte, sich ihres Ursprungs deutlich bewußt war und sehr scharf erkannte, wozu Bürgerwehren eigentlich da sind, Hamiltons Häscher zu verhaften, und er schickte einen Captain Pearsol nach Pittsburgh und Holcroft nach Bower Hill. Wir hielten das für den wahrscheinlich frühesten Zeitpunkt, zu dem Edna versuchen wür-
de, in der Geschichte herumzupfuschen. Kesselflicker Tom sollte bei Tagesanbruch eintreffen, in fünf Minuten, Freude im Herzen, ein Lied auf den Lippen – und Blut im Auge. Wir waren hier, um uns um Edna zu kümmern. Irgendwie freute ich mich darauf.
7. Kapitel Das Massaker von Bower Hill »Menschen«, kam die Warnung, »noch fünf Minuten.« Die kleine, nanoelektrische Stimme gehörte Ooloorie, sie drang durch einen Mikro-Penetrator zu uns, den die fischige Physikerin zu unserem Aufenthaltsort hin offen hielt. Ich konnte sie aus der Gegend meines Schlüsselbeins hören, auch ohne daß ich das Kopfteil meines Hautanzugs aufhatte. Das Ding war nützlich, mehr als bequem, aber man sah damit aus wie ein Strumpfhosenräuber, wenn man sich nicht die Mühe machte, die eigenen Gesichtszüge auf die Oberfläche zu programmieren. Oder die von jemand anderem. Eine zweite, gedämpfte Stimme: »Siehst du gut, Ooloorie? Ganz schicke Uniformen für 'ne Bande von Ostlern! Keine Spur von Edna, verdammtes Pech.« Lucy hatte den Hut abgenommen und die Kapuze über die Augen gezogen, um die Szene mit Vergrößerung zu beobachten, und ich spürte ihren Atem auf meiner Schulter, als wir oberhalb von Bower Hill im immer noch feuchten Gras lagen. Wenn Edna auch einen Hautanzug trug und eine Energiewaffe oder irgendein paratronisches Instrument bei sich hatte, mußte sie eigentlich auffallen wie der sprichwörtliche kaputte Finger. Trotz meines Anzugs schmerzten meine Knochen von der Feuchtigkeit. Ich war schon so eine edle Rothaut, die da in den Büschen lauerte und sich den Tod durch Lumbago holte. Lucy sah aus wie ein Frosch, der sich häutet. »Wirklich flott«, wiederholte sie für sich. »Nur schade, daß sie den falschen Baum anbellen.« Ich schaute sie an, nur um zu sehen, ob sie das wirklich gesagt hatte. »Lucy, ich verstehe nicht viel von Geschichte…« Sie grinste anzüglich. »Aber du weißt, was dir gefällt?«
»Grrrr! Die Leute da unten sind Westler. Lewis und Clarke ziehen ihre Schau erst in neun Jahren ab. Pittsburgh ist wildes Grenzland!« In einem Punkt hatte sie recht: Die Aktion in Bower Hill war eine Narrenjagd. Als man John ›Kesselflicker Tom‹ Holcroft als Anführer der Strafexpedition ausgewählt hatte, dachten alle, der Bürokrat, den sie wegen besonders schwerwiegenden Steuereintreibens gefangennehmen wollten, habe sich mit John Neville, seinem kriminellen Partner, nach Bower Hill zurückgezogen. Aber der Bürgerwehrkommandant von Mingo Creek war nicht dumm – man hatte einen zweiten Trupp nach Coal Hill oberhalb von Pittsburgh geschickt, um Lenox abzufangen, falls er der Hauptstreitmacht durch die Lappen gehen sollte. Daß wir im voraus wußten, was geschehen würde, hatte weniger Vorteile, als ich gedacht hatte. In der ganzen geschichtlichen Epoche ging es – wie in jeder anderen auch – nur darum, daß Amateurhelden täppisch versuchten, gegen die Amateurbösewichte die Oberhand zu gewinnen. Ich rieb mir meine schmerzende Schulter und brummelte vor mich hin, mehr über meine eigenen, finsteren Gedanken, als um Lucy zu antworten. Ich bekam vor Unbehagen Heimweh und wurde an Clarissa erinnert. Clarissa, die auf einem langen, weißen Tisch lag. Das war nicht das erste – und auch nicht das letzte – Mal, daß zur falschen Zeit und am falschen Platz Heldentum demonstriert wurde. Ein paar Generationen später würde sich Andy Jackson in der Schlacht von New Orleans mit Ruhm bekleckern (in meiner Welt: in der von Lucy und Ed hatte der Krieg von 1812 nicht stattgefunden), und das zwei Wochen, nachdem auf dem Pariser Friedensvertrag die Tinte getrocknet war. Jacksons Sieg würde nichts weiter bewirken, als Homer und Jethro mit Gedichttexten zu versorgen. Oder war es Jonny Horton? In der dämmerhellen Ferne donnerten gehetzte Pferde heran. Als Holcrofts Männer sich an der presbyterianischen Kirche von Mingo Creek versammelten, waren sie ermahnt worden, ›Widerstand mit Widerstand‹ zu vergelten. Wenn
auf sie geschossen wurde, sollten sie jedes Hindernis, das sich ihnen in den Weg stellte, vernichten. Ich fühlte mich zu steif in den Gelenken, um die Instrumente meines Anzugs zu Hilfe zu nehmen und bemühte mich daher, mit bloßem Auge durch die Bäume zu sehen. Man sagte, daß in dieser Zeit ein Eichhörnchen vom Atlantik bis zu den Großen Seen gelangen konnte, ohne den Boden berühren zu müssen. Ausnahmsweise stimmte einmal, was man sagte. Der Morgennebel verbesserte die Sicht auch nicht gerade. Unter uns wurde es plötzlich lebendig: die Reiter waren in Schritt gefallen und kamen auf beiden Seiten der Straße aus den Wäldern. Ich hatte bisher nicht gewußt, daß man es riechen kann, wenn sich ein Trupp Kavallerie nähert. Der Geruch ist nicht unangenehm, nur auffallend. Mit klirrenden Rangabzeichen saßen sie ab, eine Gemeinde von etwa vierzig Mann, nur wenige davon mit Schußwaffen. Dann zerstreuten sie sich wie Guerillas, die sie ja waren, und umzingelten das Haus. Sie hatten die Versammlung etwa um Mitternacht verlassen. Viel Geduld würden sie nicht aufbringen. Die große Vordertür des Nevillehauses stand offen, damit es drinnen abkühlte. Dafür hatte ich Verständnis: Ich war einmal von den hochgelegenen, trockenen Ebenen des östlichen Colorado gekommen und hatte Pennsylvania im Juli erlebt – eine Polizeiangelegenheit im Philadelphia des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Regen vom Vortag machte die Hitze heute noch schlimmer. Eine Gestalt im Nachthemd, vom Lärm aus dem Schlaf gerissen, stand, schwach sichtbar und bedrohlich, gleich hinter der Tür in deren schrägem Schatten. »Das ist General Neville!« flüsterte Lucy. »Er war gerade aufgestanden, als die Bürgerwehr anrückte!« Ich hatte das Gefühl, das sei die erste in einer langen Reihe von Bemerkungen zum Lokalkolorit. Lucy, Ed, sogar Ochskahrt – jeder, der in den letzten vierzig Jahren nicht den Einsatz von Rip van Winkle verdoppelt hatte – konnte jeden Augenblick den Computer auf seiner Gehirnrinde befragen und uns erzählen, was gerade passierte. Noch schlimmer war, daß Ooloorie mithörte, uns vier wachsam im Auge behielt und außerdem in Farbe und Stereo alles für die Nachwelt und den
Verkauf aufzeichnete. Gegen das letztere hatte ich nichts einzuwenden, aber ich mache meine Fehler lieber unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Telekom-Überwachung – und die daraus resultierenden Kommentare –, das war kein Fortschritt. Ich beschloß, etwas zu unternehmen, ehe uns die Sache über den Kopf wuchs. Inzwischen wollte ich lieber selbst beobachten, wie sich die Ereignisse entwickelten. »He da!« schrie ein Mann in schmutzigem Leder und zerknittertem Selbstgesponnenem. Nach einem langen Nachtritt hätte er sich bestens zum ›Vorher‹-Modell für eine Deodorantreklame geeignet. Ich war wieder einmal zutiefst dankbar für den Abstand zwischen uns und Bower Hill. Der Mann hatte graumeliertes Haar, das seinen Schädel spärlich polsterte, aber seine Schultern waren breit, und seine Unterarmmuskeln kräftig. Er war bewaffnet, stützte aber sein Steinschloßgewehr mit dem Kolben nach unten auf den Boden. Ein schwaches Zischen war zu hören. »Seid gegrüßt, Captain Holcroft!« flüsterte die halbverborgene Gestalt so leise, daß ich mich gezwungen sah, auf das Hörvermögen meines Anzugs zurückzugreifen. »Ihr seid weit geritten, um schon so früh am Morgen unbefugt hier einzudringen!« Ohne seine Aufmerksamkeit vom Haus abzuwenden neigte der Anführer der Bürgerwehr den Lauf seiner Waffe zu dem Mann, der neben ihm stand. Er legte die Hand über die Augen und spähte in die Türöffnung, trat dann einen Schritt nach vorne und sprach den Nachthemdträger an: »Ich entbiete Euch auch einen guten Morgen, Marshai David Lenox.« Als Detektiv habe ich den größten Teil meines Lebens das Gefühl, mitten in einen Film hineingeplatzt zu sein. Die Zeitreise änderte daran nichts – jetzt war es ein Film, den ich schon gesehen hatte, und ich bekam Kopfschmerzen davon. Selbst mir war bekannt, daß Holcroft einem historischen Irrtum erlegen war, als er Nevilles Stimme für die des Marshals gehalten hatte. Und ich kannte auch die darauffolgende, historisch verbürgte, sarkastische
Bemerkung: »Wir sind Freunde aus der Gemeinde Washington.« Das Amerikanische war noch nicht erfunden; jeder hatte einen anderen Akzent, Holcroft sprach mit leicht schottischer Färbung. »Wir kommen als Ehrengarde, um Euch in Sicherheit zu geleiten. Wollt Ihr heraustreten und mit uns verhandeln, Sir?« General Neville ließ sich auf nichts ein. »Tretet zurück, Kesselflicker Tom, tretet zurück, sage ich! Meine Frau ist bei mir im Haus, außerdem meine kleine Enkelin Harriet Craig und eine Dame, die mein Gast ist! Ich werde nicht zulassen, daß sie Schaden nehmen! Tretet zurück, oder Ihr bezahlt dafür!« Mit diesen Worten riß Neville, während Holcroft seinen Irrtum erkannte, eine versteckte Waffe mit braunem Lauf hervor. Man hörte Schreie, dazwischen ein Plopp! und sah einen funkensprühenden, orangefarbenen Blitz und eine graue Wolke Holzkohlenrauch. Der dumpfe, nicht krachende Donner einer Muskete erreichte uns einen Augenblick später. Der Mann neben Holcroft klappte zusammen, die Waffe seines Anführers fiel scheppernd auf seinen Körper. Um seine reglose Gestalt bildete sich eine rote Pfütze. Hinter mir gab es ein Geräusch. Ich drehte den Kopf. In Ochskahrts Gesicht stand Entsetzen. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Er hielt sich beide Hände vor den Mund und watschelte auf einen Busch zu, der ungeschickte, sanftmütige, kleine Kerl. »Oliver Miller«, murmelte Ed mit geschlossenen Augen. »Der Vater von William Miller. Der arme alte Mann wird noch vor Mittag tot sein, das erste Opfer des…« »Ed?« unterbrach ich. Seine Augen richteten sich auf mich. »Was ist?« »Halt den Mund!« Man hörte das gedämpfte Dröhnen von Gegenfeuer, dazwischen das Krachen gezogener Waffen und das Geräusch splitternden Glases. Im Haus schrie jemand. Jemand anders begann zu fluchen.
Als der nächste Windstoß den Rauch wegblies, hatte Bower Hill keine Fenster mehr. Die aufständische Bürgerwehr zog sich unter Feuerschutz zurück und schleppte Millers in Kürze leblosen Körper mit. Die Tür stand noch immer offen. Ich schüttelte meinen schmerzenden Kopf und wollte gerade eine Bemerkung über diesen taktischen Fehler machen, als mehrere Männer darauf zustürzten. Lucy beugte sich vor und schrie: »Er hat eine Drehbasse da drin!« Tatsächlich konnte ich das metallische Glitzern der kleinen Kanone sehen. Die Rebellen sahen es auch und warfen sich in den Dreck. Der General ließ sich Zeit mit dem Feuern, da er nicht darauf erpicht war, das Ding nachzuladen. Mit den kleineren Waffen wurde das Feuer fortgesetzt, kein geringer Anteil der Schüsse kam vom Haus her. Ich war schon im Begriff, meine Einschätzung von Nevilles Reichtum zu korrigieren, wenigstens, was Feuerwaffen anging, als ich merkte, daß jemand – die Frauen? – im Haus war und für ihn lud. »Wir müßten näher dran sein!« beklagte sich die kleine alte Dame. »Was ist, wenn einer von den Hamiltonisten da drin ist und alles verändert? Von hier aus könnten wir nichts dagegen tun!« »Still!« Ich weiß, ich hätte sie nicht anbrüllen sollen. Hinter seiner ansonsten besonnenen Ruhe war Ed genauso angespannt. »In dem Haus dort sind alle Hamiltonisten, Lucy, die ursprüngliche Marke. Selbst wenn wir wüßten, wann Edna ankommen soll, da drin passiert nichts, was sie vielleicht ändern möchte. Das ist eine Niederlage für unsere Seite.« »Keine endgültige«, beharrte Lucy. »Eine, in die wir uns nicht einmischen dürfen.« Dann, zu sich selbst: »Was könnte Holcroft mit einer Tachyon-Kanone nicht alles ausrichten!« »Ganz ruhig, Schätzchen!« Lucy wechselte die Seiten. »Wir sollen hier im Moment nur Anschauen ohne Anfassen üben. Edna wird auch keinen Frühstart hinlegen – nach der ersten, wirklichen Ver-
änderung, die sie auslöst, ist sie genauso im Blindflug wie alle anderen auch.« Sicher, niemand kennt alle Folgen seiner Handlungen, sei er nun ein Zeitreisender oder nicht. Pulverrauch trieb, nach Schwefel riechend, auf uns zu. Ich war selbst überrascht, weil auch ich eine Abart von Lucys und Eds Kampfeslust verspürte. Es war die Hölle, hier zu liegen und nichts zu tun. So ging es zwanzig Minuten lang weiter. Bäng! – nachladen – Bäng! – nachladen, Holcroft und Neville schrien Befehle, die Verwundeten brüllten sich die Seele aus dem Leib, und dann erscholl vom Haus her das klare Tuuut! eines Jagdhorns. Der Hof füllte sich mit schmutzigen Wolken, als Gewehrläufe durch die mit Pergamentpapier beschlagenen Fenster der Sklavenquartiere stießen, und als sie aufblitzten, klang es, als würde ein riesiges Laken zerrissen. Für die im Hof Zurückgebliebenen war es, als befänden sie sich in einem Mixer. Ich zählte nach der ersten Salve vier Tote. Niemand zögerte auch nur eine Sekunde länger. Männer und Pferde stoben in die Wälder. Jemand schrie sich sein Entsetzen oder seinen Schmerz aus den Lungen. Nicht Ochskahrt, er war zu sehr damit beschäftigt, seinen Magen zu entleeren. Auch meine übrigen Gefährten machten ziemlich ernste Gesichter. Meine Kopfschmerzen steigerten sich zu neuer Intensität. Das Gegenfeuer der Rebellen verklang, als sie ernstlich den Rückzug antraten. Die Flucht würde sie vier Meilen weit nach Süden zu einer verlassenen Stellung aus dem Indianerkampf führen. In späteren Jahren würden die Nevilles behaupten, Bower Hill sei von einem Hundert-Mann-Trupp mit sechzig Gewehren angegriffen worden. Nach dem Bericht des Generals gelang es ihm ohne Hilfe, mehrere der Angreifer zu verwunden und sie so zu entmutigen, daß sie abzogen. Mich brauchen Sie nicht zu fragen: Ich habe fünfzehn Rebellengewehre gezählt, die man mehr zur Schau denn mit ernsthaften Absichten mitgebracht hatte. Während des halbstündigen Scharmützels sah ich, wie sechs davon abgefeuert wurden, denn im
Pennsylvania des achtzehnten Jahrhunderts gab es nicht allzuviele Waffenschmiede. Wenigstens in einigen Dingen hatte Henry Ford recht. Inzwischen war die erste richtige Schlacht des Aufstandes vorüber, 5: 0 für die Amateurbösewichte. Auch für die Halbprofessionellen war es jetzt Zeit, weiterzuziehen. »Auf nach Couch's Fort!« Ich seufzte und versuchte, gegen das Hämmern in meinem Schädel anzugehen. »Angeblich werden die Nachrichten von jetzt an besser.« Ich wollte aufstehen – so lautete zumindest der Befehl, den ich meinen Händen und Füßen erteilte. Aber die Botschaft gelangte irgendwie nicht ans Ziel. Ich lag flach auf dem Bauch, Schwindel überwältigte mich, dann der Drang, es Ochskahrt gleichzutun, aber mein Magen verfügte nicht über genügend Koordination, ihm zu gehorchen. Ich war gelähmt.
8. Kapitel Der letzte Hamiltonist Die Dunkelheit überwältigte mich niemals ganz. Statt dessen erinnerte ich mich an Edna. Cheyenne, Wyoming, 217 A. L.: wir hoben ihr verletztes Opfer über die Türschwelle. Das war nicht einfach. Der Durchgang war schmal. Sein Kopf und seine Füße hingen vom Werkzeugkarren herunter. Die kleinen Räder schlitterten holpernd durch den Kies, und die ganze plumpe Konstruktion drohte jeden Augenblick umzukippen. Zum ersten Mal hatte ich mit der Dame anläßlich eines Angriffs auf mein Haus in Laporte Bekanntschaft geschlossen, als ich einen Klienten – den Burschen, den wir gerade trugen, beschützen wollte. Sie hatte auf mich und ein paar Nachbarn geschossen, meinen Klienten wegen Mordes verhaften lassen und sich auch sonst allgemein unbeliebt gemacht. Das war nur die Dreingabe, vorher hatte sie zwei gefesselte, hilflose alte Männer niedergemetzelt – mit einer Nagelschere, und mit den Augen hatte sie angefangen. Jetzt wartete draußen, gespickt mit Maschinengewehrständern und Luken für Kleinwaffen, ein großer, schwarzer Luftkissenkastenwagen mit offenen Heckklappen. Natürlich gehörte er Griswold's. Aber verglichen mit Edna Janof kannte man noch nicht einmal bei Griswold's die Bedeutung des Wortes Brrrr. Plötzlich raste eine gelbe Luftkissenmaschine mit offenem Verdeck um die Ecke, am Steuer Edna Janof mit wildem Blick, ihr Haar flatterte im Wind. Mit einer Hand hob sie ihre Stahlnadelpistole auf die Kante der Tür, der mülltonnengroße Lauf zeigte auf… KRAWUMM! KRAWUMM! KRAWUMM! KRAWUMM! KRAWUMM!
Stahlspäne prasselten rings um uns nieder. Jeder ging zu Boden und griff gleichzeitig nach seiner Artillerie. Der Karren kippte um, schüttete seinen Passagier aus, diente ihm aber auch als Schild. Ich tastete nach meiner .41. Ich möchte gar nicht den Versuch machen, darzustellen, wie es sich anhörte, als die ganzen Schießeisen auf einmal losgingen. Jemand im Kastenwagen ließ alles los, was er hatte, konzentrierte seine Feuerkraft auf den gestohlenen Sportwagen, der eine Schleife drehte und uns erneut beschießen wollte. Edna wußte nie, wann es Zeit zum Aufhören war. Eine Explosion riß den Plastikrand von der Kühlerverzierung bis zum Kofferraum auf, das Fahrzeug überschlug sich, Rauch und Flammen hüllten es ein. Das Ding krachte durch die leichte Wand eines verlassenen Lagerhauses. Ein Blitz erhellte alle Fenster, das Aufbrüllen zerreißenden Stahls und überhitzter Luft war zu hören. Die Wände wölbten sich nach außen, rissen an den Ecken des Gebäudes auf, die freiwerdende Energie legte innerhalb von hundert Metern alles flach. Ednas Leiche fanden wir nie… … Als ich das nächstemal das Bedürfnis verspürte, etwas wahrzunehmen, war ich, ohne es zu merken, auf einen großen Baum gestiegen. Neugierig spähte ich durch die Blätter und beobachtete Ed, Lucy und Hirnschlag, die wie Ameisen herumhasteten und sich bemühten, den steifen Körper einer Raupe zu bewegen. Das Problem war nur, die Raupe war ich. Irgendwie ganz interessant: Ed hatte meinen Ärmel hochgezogen und hämmerte auf Hautanzugknöpfe ein, während Lucy mir ins Gesicht schlug. Aus meinem Blickwinkel sah es so aus, als wäre ich dicker geworden – da mußte ich achtgeben. Er arbeitete in grimmigem Schweigen, sie rief immer und immer wieder meinen Namen (ihre Version davon). Ochskahrt ließ davon ab, ständig im Weg zu stehen, setzte sich und umarmte sein in ungegerbtes Leder gehülltes Cello.
Ich wollte hinunterrufen, um ihnen mitzuteilen, daß ich offenbar gerade Urlaub von meinem Corpus delicti nähme, aber Ed bellte ein scharfes Kommando. Ochskahrt rannte davon. An diesem Punkt wurde alles unscharf. Das überraschte mich: Als freischwebender Geist sollte man doch eigentlich selbst derjenige sein, der durchsichtig wird. Aber es war ganz anders. Alles um mich herum – Felsen, Büsche, Menschen – verlor an Substanz. Man konnte richtig hindurchsehen. Auch durch meine Eichensitzstange, was mich nervös machte – wenn das verdammte Ding entmaterialisierte, konnte ich hinunterfallen und mir mein Ektoplasma brechen. Ein geisterhafter Ochskahrt kam, mit Zügeln in der Hand, zurück. Am anderen Ende befand sich ein Pferd, das von Oliver Miller. Nun, er würde es nicht mehr brauchen. Ich spürte ein Ziehen, wie von einem Magneten. Wenn ich religiös gewesen wäre, wäre das ein gutes Zeichen gewesen. So hob ich von meinem Ast ab und schwebte auf die Wolkendecke zu. Als letztes sah ich, daß meine Freunde meine sterblichen Überreste über den Sattel kippten und sie, mit dem Pferd darunter, in die Richtung führten, in die auch die Rebellen gegangen waren. Ich stieg weiterhin durch den Kartoffelbrei nach oben: Tausend Fuß, zehntausend… als ich meine Höhe auf hundert Meilen schätzte, war der Himmel zu Samt geworden und meine Geschwindigkeit lag irgendwo bei Tausenden von Meilen pro Stunde. Ringsum leuchteten die Sterne in den kräftigsten Farben, um einige zogen Planeten vor fernen, schwarzleuchtenden Staubwolken und weit entfernten Spiralgalaxien ihre Kreise. Was immer sonst noch passierte, die Spezialeffekte waren grandios. Die Stimme von Bullwinkle dem Elch sagte ständig: ›Milliarden und Milliarden und Milliarden…‹ Die Sterne zogen sich zu Spindeln auseinander, eine hinter mir war leuchtend rot, eine zweite vor mir tiefblau. Die Dunkelheit schrumpfte zu einem Tunnel zusammen, in den ich mit immer höherer Geschwindigkeit hineinzurasen schien, auf ein aktinisches Leuchten zu, das sich zu einer in hellem Glanz erstrahlenden
menschlichen Gestalt auflöste. Ein krummbeiniger Bursche mit kurzen Haaren, dicken Augenbrauen und einem zweireihigen Anzug. »Darf ich Ihnen Edward William Bear vorstellen…«, leierte die Gestalt, als ich vorbeisegelte. Diese Stimme hatte ich schon irgendwo gehört, konnte sie aber nicht einordnen, »… der, im reifen Alter von hundertachtzig, der Meinung war, er habe noch nicht lange genug gelebt und an der Zeit selbst herummanipulieren wollte. Aber er wird gleich erfahren, daß er gar nicht ins achtzehnte Jahrhundert zurückgereist ist. Statt dessen trat er in die Zwielicht…« Da ich weiterschwebte, bekam ich den Rest nie zu hören. Allmählich wurde ich langsamer, fand mich in einem grell erleuchteten, nebelerfüllten Raum wieder, umgeben von den Gesichtern von Lucy, Ed und Ochskahrt – von meiner Frau, meinen Töchtern, sogar von Mama und dem Vater, den ich nie gekannt hatte. Clarissa, in ein fließendes Gewand gekleidet (Weiß war nie ihre beste Farbe gewesen), trat vor. »Geh zurück, Win!« flehte sie. »Ich brauche dich, Liebling. Dein Werk ist noch nicht vollendet.« Darüber hatte sie sich schon lange nicht mehr beklagt. Ich streckte eine Hand aus, konnte sie aber nicht erreichen. »Schätzchen, ich bin tot. Ich weiß nicht, was du, Ed und Lucy hier wollt, aber ich gehe jetzt mit meinem Papa fischen – frag doch mal Mama, wo sie dieses Paar Socken hingetan hat, das ich nach ihrer Beerdigung nicht finden konnte. Hallo, Mama!« Meine Mutter verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. Clarissa bettelte: »Aber, Win…« »Na, schön, ich soll also keine lavendelfarbenen Socken tragen. Aber du kannst zum Fischen mitkommen, wenn du willst.« Jetzt runzelten alle die Stirn. »Okay, Winnie«, brummte Lucy, »wenn du es nicht anders haben willst, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!« Ich raste wieder los, rückwärts diesmal, weg von dem Licht, auf das ominöse rote Ende des Tunnels zu.
»Wovor hast du mich gewarnt?« Ich drehte mich herum, um zu sehen, wo es eigentlich hinging. Vor mir befand sich eine gezackte Gebirgskette, die von Flammen erleuchtet wurde. Dort wartete, mit flatterndem grünem Umhang, die Arme weit geöffnet, ein gräßliches Grinsen auf dem Gesicht, während ich vorwärtsschoß, noch eine Gestalt, die ich kannte. Es war das Porträt von Edna Janof im Zentrum einer U.S.Zehndollarnote.
9. Kapitel Die Last des freien Mannes DONNERSTAG, 17. JULI 1794 Vom Tag seiner Geburt an machte er Schwierigkeiten. John Baldwin gab sich nie damit ab, ein Gewehr zu tragen. Wenn er auf jemand schießen wollte, stieß er die Kugel einfach mit seinem haarigen Daumen hinein. Im Augenblick überlegte er gerade… »Aber ihr versteht nicht, Freunde«, widersprach eine heisere Stimme, die sich gerade noch unterhalb der Hysterie hielt, »daß, als wir uns verabschiedeten, unser freundlicher Nachbar, der Steuerinspektor, einen Diener nach Pittsburgh entsandte mit der Bitte…« Eine zweite Stimme rief dazwischen: »Ihr meint, mit der Forderung!« »Wie Ihr wollt, Sir«, brummte die erste Stimme. »Mit der Forderung an Major Thomas Butler, zum Zwecke der Verteidigung von Bower Hill gegen weitere Klagen von General Nevilles unzufriedener Kundschaft einen Zug Blauröcke zu entsenden.« »Unsinn!« Das kam von einem autoritären Skeptiker, einem von der Sorte, die immer unrecht haben. »Butler ist unser Freund, auch wenn er die Garnison in Fort Fayette befehligt. Ich habe selbst an seiner Seite gegen Cornplanter und seine Wilden gekämpft. Er würde sich nie soweit erniedrigen, die Neville-Sippschaft zu verteidigen, gegen seine…« Ganz in der Nähe drang weiche, geheimnisvolle Musik aus einer leeren Getreidetonne. Ochskahrt hatte Anweisung erhalten, keine nach 1794 geschriebenen Kompositionen zu spielen, aber ich glaube nicht, daß das durchgedrungen war. Er spielte nämlich gerade ›Stardust‹.
Keine der streitenden Stimmen gehörte Baldwin. Er war ein Mann der Scholle, der kein Blatt vor den Mund nahm und sofort erkannte, wenn irgendwo Verwirrung herrschte. Und sich dann sorgsam heraushielt. Jetzt sprach jemand anders, einer der McFarlane-Brüder, James oder Andrew. Ich konnte noch nicht unterscheiden, welcher welcher war. »Inspektor Neville wird auch ein Dokument ausfertigen lassen mit der Anweisung an General Gibson und Brigadier Wilkins von Pittsburgh, ihre Bürgerwehr zusammenzurufen, damit sie mithilft, die unsere niederzuschlagen.« Mit dieser Bemerkung handelte er sich zustimmendes Gemurmel und sogar ironisches Gelächter ein. »Die werden ihrerseits«, meldete sich Ed unaufgefordert, »den Schwarzen Peter an den Sheriff weitergeben und ihn auffordern, ein Aufgebot zusammenzustellen.« Unheimliche Stille. Wäre schön gewesen, wenn er sich rausgehalten hätte. Wegen dieses Augenblicks hatte ich mir Sorgen gemacht. Wir waren Fremde hier – weit mehr als nur im geographischen Sinne. Im Augenblick traute keiner dieser Leute dem anderen, geschweige denn einem Fremden. Dann lachte der ältere der McFarlanes, James, glaube ich: »Den Schwarzen Peter weitergeben? Eine treffende Wendung, Freund Edward, die muß ich mir merken!« Allgemeines Gelächter. McFarlane, Major im Unabhängigkeitskrieg, war in der Nacht zuvor zum Anführer der Expedition gewählt worden – nachdem voller Begeisterung eine Menge Schwarzer Peter weitergegeben worden waren, ob man nun einen Namen dafür hatte oder nicht. Besser qualifizierte Leute schienen weniger bereit, ihren Namen mit einer Rebellion in Verbindung gebracht zu sehen. Er war von Pittsburgh hergeritten mit der Nachricht, daß der Sheriff alarmiert worden sei und daß sich siebzehn GIs von der Garnison Fayette nach Bower Hill begeben hätten. Einer der Weitergeber war John Hamilton, der örtliche Sheriff, gewesen. Kein Verwandter. Ein zahnloser Greis in einem verschossenen schwarzen Mantel mit vielen Knöpfen kam mühsam auf die Beine und hob flehent-
lich die Hände über seinen spärlich bewachsenen Skalp. »Meine Herren, ich sage mich los von Euch, bei den Eingeweiden von…« »Eingeweide?« Ed kam jetzt in Fahrt, und das machte mich nervös. »Oliver Miller liegt da mit einem Bauchschuß, und Ihr redet von Eingeweiden? Wer seid Ihr denn, alter Mann?« »Nun, das ist der alte John Clark, der Pastor der presbyterianischen Kirche von Bethel da drüben«, erwiderte McFarlane. Der Führer der Aufständischen deutete über die Lichtung und nickte dem geriatrischen Fall aufmunternd zu. »Sprecht nur, Pastor! Was wollt Ihr von uns?« Der Alte deutete mit zittrigem Finger auf McFarlane. »Ich möchte Euch abraten von diesem Unterfangen, ehe noch mehr Blut vergossen wird.« »Pastor, es ist schwierig«, sagte ein anderer Mann, der dem Major so ähnlich sah, daß er sein Bruder hätte sein können – und es auch tatsächlich war –, »die Position Eurer Kirche zu verstehen, hat sie doch den Unabhängigkeitskrieg in einem Maße unterstützt, daß der Tyrann George ihn nur noch als den ›Presbyterianischen Aufstand‹ bezeichnete. Hat der Klerus seine Freiheitsliebe verloren, wenn Whisky mit im Spiel ist?« Der Prediger, der, den Adern in seiner Nase nach zu urteilen, dem Whisky selbst nicht gerade abhold war, machte den Mund auf, sagte nichts und schloß ihn wieder. In diesem Moment, im Schein noch eines anderen Morgens danach, erkannten die Kämpfer des Minibataillons von Bower Hill, vergrößert um eine erstaunliche Streitmacht von fünf- oder sechshundert Mann – ›eine Expedition von mehr als dreihundert Gewehren‹, wie die Geschichtsbücher sagten –, die während der Nacht mobilisiert worden war, daß sie die Voraussetzungen für eine Revolution am Halse hatten. John Holcroft und sein Trupp würden sicher angeklagt werden, es sei denn, die Gemeinde ringsum unterstützte sie so weit, daß die Ereignisse in eine andere Richtung gezwungen wurden. Es gab eine ziemlich ausgedehnte Debatte. Einige, wie Pastor Clark, verlangten sanftmütige Unterwerfung, andere einen Kompromiß. Der massi-
ge Baldwin saß schweigend im Hintergrund, gegen eine Wand gelehnt, und zog eine riesige, grob geschmiedete Messerklinge an seiner Stiefelsohle ab. Vierundzwanzig Stunden vorher hatte es zu regnen aufgehört. Hier war es immer noch tropfnaß. Ich lag einen Meter von Baldwin entfernt am rauhen Steinfundament einer Palisade aus verfaulenden Balken, und das Atmen war jetzt nicht mehr ganz so schmerzhaft. Dank der unerwarteten Nachwirkungen von vierundvierzig in Stasis verbrachten Jahren war ich während der ganzen Nacht geschwächt und hilflos gewesen. Und vielleicht auch neidisch. Holcroft und seine Männer konnten ihre Befriedigung darüber pflegen, in einer Schlacht gewesen zu sein, auch wenn der Rückzug von Kesselflicker Tom zur Kirche von Mingo Creek kein bißchen weniger beschämend gewesen war als unser eigener nach Couch's Fort, einer vermodernden Festung gegen die Indianer, ungefähr vier Meilen nordöstlich von Nevilles Besitz. Ich war, allem Anschein nach, nur ein Opfer des zu langen Aufenthalts im nassen Gras geworden. Neben mir saß Ed, die andere Hälfte der ›Bear-Zwillinge‹, neun Freiwillige im Kampf gegen die Steuertyrannei, voller Kampfeseifer, gerade erst aus der Wildnis ›westlich von hier‹ gekommen. Irgendwo aus der Gegend von Cleveland, darüber äußerten wir uns nicht näher. Vorher hatten wir in Ochskahrts Labor überlegt, ob wir den Namen ›Bear‹ verwenden sollten, da Pennsylvania ja voll war von eingewanderten Deutschen, und es vielleicht Mißverständnisse geben könnte. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß wir jemandem über den Weg liefen, der mit einer Sprache umgehen konnte, die von uns keiner beherrschte, ließ uns diesen Gedanken streichen. ›Bear‹ ist ein englischer Name und konnte, wenn alles schief ging, andeuten, daß wir indianische Vorfahren hatten. Niemand, mit dem wir zusammenkamen – Albert Gallatin ausgenommen – hatte sich je um den Unterschied zwischen einem Ute und einem Waldhorn gekümmert. Es war ganz gut, daß wir in der Ruine von Couch's Fort gewesen
waren, wo die anderen, wie wir wußten, am nächsten Morgen auftauchen würden. Zusammenstöße der Teer-und-Feder-Sorte wegen der Steuer hatten sich seit 1791 gehäuft. Wir erzählten ihnen, wir hätten sogar im Hinterland von Ohio von Kesselflicker Toms Heldentaten gehört. Es war auch ganz gut, daß wir unsere eigenen Gewehre mitgebracht hatten, da diese Art von Werkzeug recht knapp war. Ich konnte noch mehrere Stunden nach Bower Hill keinen Muskel bewegen. Der Zustand verschärfte sich: Als ich das Bewußtsein wiedererlangt hatte, war mir sogar das Sprechen zuviel. Ich schwamm in einem roten Nebel, der so dicht war, daß ich nicht allzuviel spürte. Hin und wieder lichtete er sich. Dann nahm ich wahr, daß Ed, Lucy und Ochskahrt mich trugen, oder später, daß ich bäuchlings quer über einem Sattel lag. Die vier Meilen durch rauhes, fast wegloses Gelände hätten auf diese Weise recht unbequem sein müssen, aber sie waren es nicht. Erst später fragte ich mich, ob die Erben von Oliver Miller sein Pferd nicht vermissen würden, und dann waren so viele Leute um uns herum, daß ich nicht mehr danach fragen konnte. Wir hatten meine Krankheit mit einer kleineren Schußwunde erklärt, die ich mir angeblich mitten im größten Durcheinander bei Bower Hill zugezogen hätte. Lucy – die wir den Aufständischen als unsere zänkische Mutter präsentierten – hatte meinen Anzug unterhalb des Buckskins so eingestellt, daß er an meiner Seite eine blutunterlaufene Schramme vortäuschte. Sogar rosagefärbte Plasmaflüssigkeit, aus Körpersäften gewonnen, sickerte in den Leinenverband, den sie darübergewickelt hatte. Die Schußwunde hatte auch das Problem der Referenzen gelöst. Diese Leute waren Nachbarn, in vielen Fällen blutsverwandt oder verschwägert, und in Unternehmungen tätig, mit denen man der Regierung leicht eine Menge Geld aus der Tasche ziehen konnte. Jeder einzelne mußte entscheiden, auf welche Seite er sich stellen wollte und wem er vertrauen konnte. Aber wo es Verwundete gab fragte niemand aus den sonst so eng miteinander verbundenen Bevölkerungsgemeinschaften des Washington County, wer man
war oder woher man kam. Mit einer Verwundung bewies man seine Gefühle. Es kam, wie in jedem mit Menschen vollen Raum, der Zeitpunkt, zu dem niemand mehr etwas zu sagen wußte. Die Klänge von ›You Light Up My Life‹ wehten vom Pferdefutterplatz herüber. Baldwin stand auf, trotz seiner Größe geschmeidig wie ein Puma, die riesige Klinge schwang dicht neben seinem Knie. »Will denn niemand diesem Palaver ein Ende setzen?« Er ließ seinen zornigen Blick herumwandern, damit alle etwas davon hatten, und erklärte zwischen zusammengebissenen Zähnen: »Ich bin ja nur ein unwissender Farmer und kann keine schönen Reden halten wie so manche hier. Aber in meiner Brust hat das Gesetz der Überzeugung Wohnung genommen, um mich auf den rechten Weg zu führen. Es muß dafür gesorgt werden, daß Nevilles Name vor ein öffentliches Gericht kommt, er muß dem Spott eines Rechtsanwalts ausgesetzt, muß ein Gegenstand der Verachtung werden, auf den die Öffentlichkeit blicken kann – oder er muß wie ein toller Hund aus dem Wege geräumt werden –, sonst werden wir nie frei von seinen Schikanen leben können.« Sein Arm bewegte sich so schnell, daß er nur verschwommen zu erkennen war. Boing! In zwölf Fuß Entfernung hatte sich das Messer bis zur Hälfte der Klinge in die Wand gebohrt. Verrottete Holztrümmer fielen auf den Erdboden. »Hier, Leute, ich habe meine Stimme abgegeben!« Er preßte die Lippen zusammen und verschränkte trotzig die Arme. Mehr sagte er den ganzen Vormittag nicht mehr. Major McFarlane war nicht so wortkarg. »Äh – nach einigern Überlegen ist mir bewußt geworden, wie überstürzt dieses Unternehmen ist.« Dann schaute er Baldwin, der damit beschäftigt war, sein Schlachtmesser aus einem Balken zu ziehen – wieder ein überzeugender Grund, nie ein Messer zu werfen – direkt ins Gesicht. »Aber wir sind schon zu weit gegangen – wir können nicht mehr zurück. Die Bürgerwehr wird geschlossen nach Bower Hill marschieren und fordern, daß Neville als Steuerinspektor zurück-
tritt…« Es gab Gemurmel, Brummen, einige lachten. »Hört mich an! Sobald dieser Rücktritt erfolgt ist, werden wir den General als guten Bürger aufnehmen, und das Volk wird ihm wieder Vertrauen entgegenbringen!« Buhrufe und Pfiffe. Jemand beantragte, McFarlane durch Baldwin zu ersetzen. Der Major lachte und meinte, dagegen hätte er nicht das geringste einzuwenden. Baldwin errötete und schlug die Hände vors Gesicht. Die Demokratie hob ihren häßlichen Kopf: Es kam zu einer Abstimmung, sie schien Stunden um Stunden zu dauern, für diese Leute war auch dies eine Art der Entspannung. Ich kuschelte mich in eine Decke und fiel immer wieder in einen gesegnet traumlosen Schlaf. Jener letzte Alptraum hatte meinen Bedarf für das nächste Jahrhundert gedeckt. Irgendwann zwischen zwei Schlafperioden wurde Baldwins ›Plan‹, Neville aufzulauern und ihn zu ermorden, niedergestimmt und McFarlanes gemäßigterer Vorschlag angenommen. Und dann begingen sie ihren zweiten Fehler: Um alles für den Marsch vorzubereiten, ernannten sie ein – Komitee. Ich schauderte, drehte mich um und schlief zur beschwingten Melodie von ›Over at the Frankenstein Place‹ wieder ein. Ich glaube, das hat ihm Lucy eingegeben.
10. Kapitel Das Banner des Lügners »Wie fühlst du dich, mein Junge?« »Hm?« Ich schrak auf und packte Lucy am Arm. »Scht! Du solltest gar nicht hier sein, wenn andere…« Ich verstummte, denn sonst war niemand mehr da. Ich hatte der alten Dame die Hand auf den Mund gelegt. Die Augen funkelten gefährlich darüber hinweg. Die Männerwelt des achtzehnten Jahrhunderts war das dümmste, was mir je untergekommen war. Ich hätte alles darum gegeben, Clarissa bei mir zu haben. »Hm, entschuldige, Lucy.« Ich ließ sie los, stürzte mich auf meine Ellbogen und holte tief Luft. Sie kauerte sich neben mir nieder, ein verschmitztes Zwinkern trat an die Stelle des zornigen Funkeins. Ich rollte mich herum und streckte meine Arme, dann stand ich auf und begann, von Staunen und Freude erfüllt, alles andere zu strecken. Ich fühlte mich gut. Ich fühlte mich mehr als gut. »Was ist eigentlich los?« wollte ich wissen. »Was habt ihr mit mir gemacht? Ich könnte mein Gewicht in Steuerbeamten schlagen, mit einer Hand…« Sie zupfte an einem Ohrläppchen und sagte: »Wir haben gar nichts gemacht, Winnie, verdammt nochmal, überhaupt nichts!« Schritte zwangen mich, eine Erwiderung hinunterzuschlucken. Ed streckte erst den Kopf um eine Ecke und folgte ihm dann in den Hof. Hinter ihm stolperte Ochskahrt über die Torschwelle – und landete mit dem Gesicht im Dreck. Ed rückte das große Steinschloßgewehr in seinem Gürtel zurecht, schlurfte mit einem Mokassin und musterte mich von oben bis unten. »Deinen Instrumenten nach bist du kerngesund, Win. Wir haben eine Nachricht zu Ooloorie hinaufgeschickt, nur für den Fall der Fälle. Sie wird mehr herausfinden, wenn sie kann. Inzwischen ist das Wetter ja schön, was hältst du von einem Viermeilenritt?«
Ich schüttelte den Kopf und grinste. »Zurück nach Bower Hill?« Er nickte. Ich steckte das große Messer wieder in meinen Bund, bückte mich ohne das übliche Ächzen und packte das Gewehr, das an einer Wand lehnte. Ich machte gerade den Mund auf, um ihnen zu sagen, wie mich das entzückte… »Kommt, Jungs, wir verschwenden Tageslicht, und wir müssen noch einige ›federales‹ aus unserem Elend verschwinden lassen!« »Äh, Lucy…« Ed trat vor und flüsterte ihr zu, daß wir draußen wohl noch immer Gesellschaft hätten. »Bei der zweiten Schlacht von Bower Hill wurde nur ein Soldat getötet, und jeder, der…« Sie legte ihr ohnehin schon runzliges Gesicht in noch weitere Falten. »Spielverderber.« Dann sagte sie zu Ochskahrt und mir: »Schaffen wir unsere Kadaver hier weg, ehe er uns den Spaß noch ganz vermiest!« Sie hielt mich am Ausgang zurück, während die anderen weitergingen. »Freut mich, daß du wieder auf den Beinen bist, Winnie. Hast uns doch 'ne Weile Sorgen gemacht.« »Mir habe ich auch Sorgen gemacht!« Ich trat in den Mittagssonnenschein hinaus, und aus rauhen Kehlen brandete Jubel auf. Ich wandte den Kopf, um zu sehen, wem der ganze Rummel denn galt, dann merkte ich, daß er für mich war. Fünfhundert Mann waren mit ihren Pferden und ihrer Ausrüstung beschäftigt. Ganz schöne ›Gesellschaft‹. Ich grinste und winkte, dann sah ich mich nach meinem eigenen Pferd um. Komisch: Erst in diesem Augenblick ging mir auf, daß das alles Tote waren, die mir da zujubelten, weil ich verdammt knapp davorgestanden hatte, mich ihnen anzuschließen, und das ein paar hundert Jahre, bevor ich überhaupt geboren wurde. Ich bin sicher, daß sie sich alle lebendig fühlten und über ihr eigenes Schicksal – für mich veraltete, historische Fakten – ebenso im Ungewissen waren, wie ich über das meine. Ich hatte einmal einen Reisenden aus der fernen Zukunft kennengelernt, jenen Typ aus der Fliegenden Untertasse, über den ich mit Ooloorie Erinnerungen ausgetauscht hatte. Hatte der mich auch unter die schon Verstorbenen gezählt? Ich kletterte auf meinen gestohlenen Gaul und tat, was menschlich
ist: ich versuchte, nicht darüber nachzudenken. Meine Gefährten hatten sich Transportmittel beschafft. Der Marsch von Couch's Fort nach Bower Hill, ein vergnüglicher Ausflug, nachdem ich wieder selbst über mich verfügen konnte, war an jenem Nachmittag gegen fünf Uhr beendet. Die Pferde blieben bei einigen der Verwundeten oder Unbewaffneten. Man hatte auch mich in diese Gruppe stecken wollen, aber ich weigerte mich, mein Gewehr jemand anderem zu überlassen. Wir waren gekommen, um etwas Besonderes zu sehen, und es schien, als sei ich mit jedem Meter des Weges meiner vollen Gesundung nähergekommen. Die ganze Welt feierte mit mir, die Sonne schien, die Vögel sangen, die Grillen zirpten. Die Leute von der Bürgerwehr entschieden, daß das ein zeremonieller Anlaß sei und stellten sich unter Trommelgerassel, mit quiekenden Querpfeifen und stampfenden Füßen, eben mit allem, was Washington County an militärischem Pomp und Paradeseligkeit zu bieten hatte, um Nevilles kugeldurchlöchertes Herrenhaus auf. McFarlane und seine Offiziere bezogen Stellung auf einer Anhöhe nahe des Hauses, um die ›Belagerung‹ zu leiten, hatten aber vereinbart, es zuerst mit friedlichen Mitteln zu versuchen. Der dreiundvierzig Jahre alte Kriegsveteran war als Leiter der Operation nur dritte Wahl gewesen. Als Sheriff Hamilton, der reguläre Oberst der Bürgerwehr, sich geweigert hatte, bot man dem jungen Benjamin Parkinson aus Mingo Creek das Kommando an. Er hatte wegen unzureichender militärischer Erfahrung gepaßt. David Bradford und James Marshall aus Washington Town waren gedrängt worden, sich zu beteiligen, lehnten aber ab, Bradford aufgrund eines Interessenkonflikts – schließlich war er der örtliche Staatsanwalt. Niemand konnte leugnen, daß das ein ehrbarer Aufstand war. Der Lorbeer (oder der Schierling) wurde an McFarlane weitergereicht. Die Truppen schwärmten weiter aus. Wir vier blieben zurück und kauerten uns unter einen Baum, von wo aus wir das Gebäude von der Seite sehen konnten. Ochskahrt hatte sein Cello mitgebracht, an den Sattel geschnallt, und wir mußten es ihm ausreden,
das Ganze musikalisch zu untermalen. Tatsächlich, kurz bevor die Bürgerwehr anrückte, schlich sich der wackere General Neville, von den Freiwilligen unbemerkt, aus dem Haus und versteckte sich in einem nahegelegenen Dickicht, von wo aus er nun folgenden Konflikt beobachten konnte, ohne seine aristokratische Haut aufs Spiel zu setzen. »He!« schrie Ed hinter mir. »Laß die Pistole los, Eddie! Ich muß was unternehmen.« Lucy kämpfte um die Waffe, die Augen auf das hundert Meter entfernte Gebüsch geheftet, wo Neville seine Tapferkeit demonstrierte. Halb kniend drehte ich mich auf der Zehe herum. »Lucy, hast du den Verstand verloren? Wir sind hier, um zu beobachten. Das hast du selbst gesagt!« »Manchmal rede ich eben dummes Zeug!« Sie löste sich von Ed und wirbelte zu mir herum. »Niemand weiß, ob dieses Stinktier den ganzen Abend in den Büschen verbracht hat. Ich werde dafür sorgen, daß er den ganzen Rummel nicht genießen kann. Und jetzt hör' auf ältere Leute – rück' die Waffe raus!« Ich zuckte die Achseln und reichte ihr mein Gewehr. Verrückt, aber das war das erstemal in den hundert und noch was Jahren, seit ich sie kannte, daß ich sie ohne Waffe gesehen hatte. Außerdem ist sie einer der wenigen Menschen, denen ich die künftige Existenz von Clarissa – und des ganzen Universums – anvertrauen würde. Sie kurbelte den Hahn zurück – ein richtiger ›Hahn‹, ein kleiner Schraubstock mit einem Brocken Feuerstein in den Kiefern –, riß sich ein Tuch vom Hals und stopfte es hinter das Steinschloß. Mit einem bösen Blick auf uns hob sie die Waffe – so lang, wie sie groß war – und zog den Abzug durch. Im selben Augenblick schlug Ed das Gewehr beiseite. Der Hahn fiel mit einem geräuschlosen, unwirksamen Schlag herunter. Hirnschlag von Ochskahrt tat es ihm nach. »Da!« Lucy knallte mir das Gewehr in die Hände und funkelte meinen Zwillingsbruder an. »Siehst du, was ich wegen dir angestellt habe? Jetzt sieht er stundenlang Sternchen!«
»Du meinst«, bemerkte Ed, »du würdest Neville den Anblick vorenthalten, wie sein Haus…« »Halt die Fresse, Eddie! Verdirb mir die Überraschung nicht!« Sie hielt inne, dachte nach. »Mann, du hast recht, Liebling – ich hätt' es wirklich beinahe vermasselt, wie?« »Würde ich sagen.« Ihr Gatte schmollte. »Außerdem sollen wir für Ooloorie eine Theorie bezüglich des lieben Generals nachprüfen. Wie können wir das tun, wenn er bewußtlos ist?« »Das stimmt«, gestand die alte Dame zu. »Ich bin entsetzlich betrübt.« »Ich weiß, Lucy, aber über deinen Charakter wollen wir jetzt nicht reden.« Ehe sie zurückschlagen konnte, deutete er auf das Haus. »Da geht David Hamilton!« Da ich nicht der elektronischen Generation angehörte – kein Implantat –, hatte ich keine Ahnung, worüber sie gestritten hatten. Neville mit oder ohne eine nicht tödliche Waffe zu erschießen schien mir eine großartige Idee. Hamilton, der junge Vetter von Sheriff John – ebenfalls nicht mit dem Finanzminister verwandt –, hatte sich bereit erklärt, es mit Verhandlungen zu versuchen. Als er mit einer Waffenstillstandsfahne auf das Haus zustapfte, empfing ihn Major Abraham Kirkpatrick – hier schien jeder samt seinem Bluthund einen militärischen Titel zu haben –, ein Familienfreund der Nevillesippschaft, der herausgeritten war, um bei der Verteidigung mitzumischen. Hamilton – es gab so viele Hamiltons wie militärische Titel – verlangte mit Bühnenstimme, Neville solle das Haus verlassen und von seinem Posten als Steuerinspektor zurücktreten. Kirkpatrick teilte ihm, in gleicher Lautstärke, mit, daß Neville fort sei. Er, Kirkpatrick, sei hiergeblieben, um ›für den Besitz zu kapitulieren‹. Hamilton trottete zurück, um sich mit McFarlane zu besprechen, dann ging er wieder zum Haus. Wir wußten, daß er die Forderung stellen würde, sechs Bürger einzulassen, um nach Nevilles Referenzen als Steuerbeamter zu suchen, und daß diese Forderung abgelehnt werden würde.
Es dauerte länger, als ich gedacht hatte. Mir schliefen die Füße ein, wie ich da so unter dem Baum kauerte und mich bemühte, ein Auge auf die Vorgänge zu haben, ein zweites auf Neville, der wie ein Exhibitionist in den Büschen lauerte, und ein drittes auf den bewußtlosen Ochskahrt. Endlich gab ich es auf – für drei Augen war ich einfach nicht vergeistigt genug – und konzentrierte mich auf das Haus. Hamilton zog von der Veranda ab, gleich darauf folgten ihm zwei Frauen in Petticoats und eine Schar verängstigt aussehender Kinder. Das war das Zeichen dafür, daß man den Krieg erklärt hatte. Hamilton geleitete die nicht am Kampf Beteiligten vom Schlachtfeld weg. Einer der verbundenen Pferdehüter führte sie in Richtung… »Winnie! Ed! Eine von den zwei Frauen trägt einen Hautanzug!« Lucy zeigte auf die Straße nach Woodville, dem Besitz von Presley Neville, wo der Geleitzug gerade hinter einem Berg verschwand. Ich nickte, wollte hinter ihnen her – und geriet in einen Kugelhagel. Es hatte nicht auf einmal angefangen. Von den Belagerern wurden zögernde, ungezielte Schüsse abgefeuert. Dann ertönte ein Freudenschrei. Da ich Edna nicht verfolgen konnte, drehte ich mich um und sah, wie die Nebengebäude des Hauses in Brand gesteckt wurden – ein hinterhältiger Trick, aber Krieg ist eben Krieg. Verbranntes Pulver und heißes Blei kamen als Erwiderung aus dem Herrenhaus. Bald wurde auf beiden Seiten aus allen Rohren geschossen. Diesmal waren die Aufständischen besser gerüstet. Nachdem die Bürgerwehr tags zuvor eine harte Lektion über Querschüsse aus den Sklavenquartieren hatte schlucken müssen, postierten sich die Kämpfer, wo immer sich auf dem Gelände des Herrenhauses Deckung bot, sie flüchteten sich hinter Bäume und kauerten sich unterhalb der Hügelkante nieder. Die Offiziere standen im Osten, nahe an der Straße, die die Senke am rückwärtigen Teil der Ferse von Bower Hill kreuzte. Der Trupp hatte noch nicht sehr lange gekämpft, als das Ge-
wehrfeuer aus dem Haus verstummte. Aus einem Fenster wurde eine weiße Fahne geschwenkt. Ich sah zu, wieder hilflos und voll Unbehagen, wie James McFarlane hinter einem Baum hervortrat und Atem holte, um seinen Männern zu befehlen, das Feuer einzustellen. Bäng! Eine Rauchwolke stieg von den Büschen auf, hinter denen Neville lag. McFarlane griff sich mit beiden Händen an den Unterleib und stürzte zu Boden. Wenn es wirklich geschieht, ist es überhaupt nicht komisch. Die Femoralarterie. Er verschied binnen Sekunden. Von Zorn erfüllt, über den ich mich in der Eile überhaupt nicht wunderte, wirbelte ich herum, drückte mit dem Daumen den Hahn der langen Flinte zurück und senkte sie, als das Visier über das Gebüsch glitt, aus dem der tückische Schuß gekommen war. Diesmal war mir kein Tuch im Weg. Die Pfanne spuckte Feuer, die Waffe bäumte sich im Rückstoß. Ed griff nach dem Gewehr – zu spät diesmal. Keiner von uns sprach ein Wort. Ed warf mir eine komplizierte Serie giftiger Blicke zu. Lucy klopfte mir auf den Rücken. Ochskahrt hätte geschnarcht, wäre seine Molekularbewegung nicht zum Stillstand gebracht worden. Als wir die Stelle erreichten, an der Neville gelegen hatte, fanden wir nichts als zerdrücktes Laub und eine geliehene französische Militärmuskete. Vor kurzem abgefeuert. Von neuem donnerten Schüsse und hallten von den Hügel ringsum wider. Es wurde allen Ernstes weitergekämpft. Man konnte Leute fluchen und schreien hören, vor Entsetzen oder weil sie verwundet waren. Auch ich schrie und fluchte laut. Ich beobachtete, wie Angehörige der Bürgerwehr die Sklavenhütten anzündeten, aus denen Nevilles Arbeiter wieder auf die Eindringlinge schossen. Als Fackeln auf das große Haus geworfen wurden, hörte man einen Schrei. Kirkpatrick hatte sich entschlossen, mit seinen Leihsoldaten herauszukommen und sich zu ergeben. Unter den feindseligen Blicken der Bürgerwehr wurden die Berufssoldaten von Fort Fayette – bis auf den einen, dessen Leiche
man im Haus gelassen hatte – nacheinander entwaffnet, ihre Waffen abgefeuert und zurückgegeben. Das war schon ein sonderbarer Krieg. Man würde ihnen gestatten, zu gehen, wohin sie wollten. Aber plötzlich kam es zu einem Handgemenge. Aus dem Haufen von Kriegsgefangenen tauchte Andrew McFarlane auf und hielt Kirkpatrick am Schlafittchen. Kirkpatrick trug den blutbefleckten Uniformrock des getöteten Berufssoldaten. »Er wollte sich unter die Soldaten mischen und entkommen, ehe er erkannt wurde!« schrie der Bruder des gefallenen Rebellenführers. Ich erinnerte mich, daß Santa Anna denselben Trick versucht hatte, nachdem er, in meiner Geschichtslinie, die Schlacht von San Jacinto verloren hatte. Damals hatte es auch nicht funktioniert. »So leicht kommt Ihr mir nicht davon! Wo sind die übrigen?« knurrte Andrew McFarlane. »Welche übrigen?« fragte der Offizier ungehalten. »Wir wissen, daß Ihr siebzehn Blauröcke hier hattet. Jetzt zählen wir nur noch acht!« Gemurmel entstand. Männer blickten sich im dämmrigen Hof um und schwangen ihre Gewehre. Der arrestierte Major blinzelte. »Tja, soviel ich weiß, sind heute morgen sechs weggegangen, Andrew McFarlane, wenn es Euch etwas angeht, und einer wurde im Haus niedergestreckt, ermordet von Eurem…« Der trauernde Bruder schlug Kirkpatrick mit dem Handrücken ins Gesicht. »Und die anderen zwei?« »Fort«, winselte der Major. »Desertiert, glaube ich.« Später würde Major Butler drei Verwundete melden. Zwei wurden in der Tat vermißt, und man hörte nie wieder von ihnen. Außer McFarlane war noch einer der Rebellen getötet worden. Inzwischen zerschlugen in der immer tiefer werdenden Dunkelheit wütende Männer im Haus Möbelstücke und steckten alles in Brand. Wertgegenstände wurden beschlagnahmt – mit der Begründung, das sei nur fair, und da der ältere McFarlane tot war, wer, zum Teufel, war befugt, es zu verbieten? Nevilles Pferde wurden erschossen, was mir leid tat, dabei mag ich Pferde nicht einmal. Aus
dem Keller wurde Alkohol gebracht und verteilt. Sogar das Getreide und die Zäune fielen der allgemeinen Vernichtung anheim. Von den etwa zwölf Gebäuden auf dem Grundstück blieb nur das Räucherhaus verschont. Nevilles Neger machten geltend, daß es ihre einzigen Nahrungsmittel enthielte. Neville war entkommen. Später würde er in einem Brief an Tench Coxe die Verluste auf dreitausend Pfund beziffern, ein Vermögen in jenen Zeiten. Er hatte es armen Farmern aus der Tasche gestohlen oder stehlen wollen, sic semper tyrannis. Als die Nachricht kam, daß Presley Neville und Marshai David Lenox gefangengenommen worden waren, wurde mir schon fast nicht mehr übel. Schmutzig und voller Rußflecken traf ich bei dem Baum, der in unausgesprochenem Übereinkommen unser Stützpunkt geworden war, wieder mit meinen Freunden zusammen. Ich hatte einen langen Spaziergang gemacht. Edna Janof war, soweit ich sagen konnte, nicht in der Nähe von Woodville oder sonst irgendwo im Staate Pennsylvania. Der Rauch war dicht, und es war dunkel, aber noch ehe ich den Treffpunkt erreichte, hörte ich ›Do You Really Want To Hurt Me?‹ und wußte, daß Ochskahrt wieder auf den Beinen war. Na, prima!
11. Kapitel Versammlung in Mingo MITTWOCH, 23. JULI 1794 Der Nieselregen war auch durch die Bäume gedrungen. »Hier liegt Captain James McFarlane«, hatte Reverend Clark deklamiert. Ich habe Begräbnisse immer gehaßt. Seine Worte klangen mir noch im Ohr. »Aus Washington County, Pennsylvania, er schied am 17. Juli 1794 im Alter von dreiundvierzig Jahren aus diesem Leben…« Hunderte von wilden Gestalten in Buckskins hatten sich um das frisch ausgehobene Grab versammelt, darunter auch wir vier, alle drängten sich im kalten Regen aneinander, der genau rechtzeitig zur Feier eingesetzt hatte. Noch jetzt, als ich daran dachte, dampften die Balkenwände der Kirche, weil sich das Gebäude durch das Gedränge der vielen Körper erwärmte. »Er kämpfte im Krieg«, hatte Clark weitergesprochen, »mit unerschütterlichem Mut verteidigte er die amerikanische Unabhängigkeit gegen die gesetzlosen, despotischen Übergriffe Großbritanniens. Schließlich fiel er durch die Hand eines prinzipienlosen Schurken…« – bitteres Murren folgte diesen letzten Worten. Ich bemerkte, wie zufrieden Benjamin Parkinson dreinschaute, der ja versucht hatte, den Klerus zu überzeugen, daß der Aufstand ein gerechter Kampf sei –, »… um zu unterstützten… äh, was er für die Rechte seines Landes hielt, ein zahlreicher und ehrenwerter Kreis von Bekannten beklagt seinen Tod.« Dieses Zögern gefiel Parkinson weniger. Der Geistliche hatte seine Rede beendet und war froh, einen Tanz auf dem Seil gut hinter sich gebracht zu haben.
In den tief eingemeißelten Buchstaben lag noch Granitstaub, und die Erde auf dem Grab war noch frisch, als wir einige Tage später zusammenkamen. Die Burschen, die den Aufstand leiteten, waren einfach verrückt auf Versammlungen. Man konnte es ihnen nicht verübeln: das Leben im Grenzland konnte man nur als öde bezeichnen, und die Demokratie war ein brandneues Spielzeug. Wenn sie es endlich müde sein würden, damit zu spielen – jedenfalls in meinem Universum –, würden sie daran festkleben und nicht wissen, wie sie aus der verdammten Schweinerei, die ›vox populi, vox dei‹ immer anrichtet, wieder herauskommen sollten! In der presbyterianischen Kirche von Mingo Creek war, fast eine Woche nach Bower Hill, der erste Punkt der Tagesordnung ein zorniger Brief von Presley, John Nevilles kleinem Jungen, der dem Schriftführer von seinem Empfänger, dem karottenköpfigen Parkinson, dem Vorsitzenden der Demokratischen Gesellschaft, präsentiert wurde. Ed und ich quetschten uns in das winzige Gebäude und ließen uns hinten, wo man uns nicht sah, im Schatten nieder. Lucy war wohl irgendwo draußen – das war hier eine Männerdomäne, Eintritt für Hunde und Frauen verboten – und hörte über den Anzug ihres Mannes zu. Nachdem wir eine Woche lang in den verregneten Wäldern kampiert hatten, waren wir schmutzig und hatten keine Lust mehr, mit der Demokratie oder sonst etwas herumzuspielen. Ich wurde ständig von lüsternen Gedanken an heiße Duschen gequält. Sogar meine Stasisröhre bei Gary's erschien mir als ein gemütliches Plätzchen, zu dem man heimkehren konnte. Von den Tausenden, die letztlich beteiligt waren, kamen nicht mehr als ein halbes Dutzend Rebellen aus der ziemlich zahlreichen deutschen Bevölkerungsgruppe des südwestlichen Pennsylvania. Ochskahrt saß eingezwängt neben uns in der Dorfkirche, hielt den Mund und tat so, als sei er einer von ihnen. Da er an zivilisierten Komfort gewöhnt war, fühlte er sich in dieser Umgebung genauso elend wie wir übrigen zusammen, und er hatte Lucy noch immer nicht verziehen, daß sie auf ihn geschossen hatte. Presleys Brief, den einige Städter mitgebracht hatten, war eine Notiz in der Pittsburgh Gazette vom 19. Juli vorangegangen, die ver-
schiedene Schuldscheine, die bei der Zerstörung von Bower Hill verlorengegangen waren, für ungültig erklärte – das Äquivalent zum Sperren eines Schecks. Das machte die Aufständischen richtig wütend: Man nannte sie Vandalen und Diebe, und dabei waren sie doch nur enttäuschte Bürger, die Mißstände abgeschafft haben wollten. Parkinson hatte den Brief nicht gelesen, aber er empfahl der Gruppe, Presley sei ein anständiger Kerl, den man anhören sollte. Craig Ritchie las den Brief vor. Neville und der Marshall waren nach Philadelphia ausgebüchst – trotz ihres Versprechens an die, die sie gefangengenommen hatten, nicht zu fliehen. Der jüngere Neville verteidigte Major Kirkpatricks ›unerschrockenen Widerstand‹ in Bower Hill (d. h. er hatte erst kapituliert, als ihm der Gedanke gekommen war) und prahlte, daß die Rebellen zwar seinen eigenen Wohnsitz Woodville niederbrennen konnten, wie vorher den seines Vaters, daß er aber doch über genügend Besitz verfüge, der für die armen Farmer nicht erreichbar sei, um durchzukommen. Mit einem mürrischen Ausdruck auf seinem sommersprossigen Gesicht nahm Parkinson den Brief von Ritchie zurück und steckte ihn schnell in seinen Hosenbund. »Ihr wißt alle, was in Wahrheit geschehen ist«, sagte Parkinson zu der Menge, einem ziemlich aromatisch duftenden Haufen: Man hat erst gelebt, wenn man einmal mehrere Stunden in einem kleinen, geheizten Raum voll feuchter Wollwäsche und schlammigem Leder verbracht hat. Mindestens noch einmal zweihundert Leute drängten sich wie die Sardinen draußen um die Vordertür und die Fenster und hörten zu. »Wir, die wir es getan haben, möchten wissen, ob es richtig oder falsch war, und ob man uns in dieser Angelegenheit unterstützt oder uns selbst überläßt!« Damit ließ er sich in einen hochlehnigen Stuhl an dem großen Brettertisch nahe dem Kanzelende des Raumes fallen. Er streckte seine langen Beine in den hochschäftigen Stiefeln aus und faltete die Arme über der Brust. Sein Freund James Marshall schüttelte den Kopf. »Die Frage ist
nicht, was geschehen ist, Mr. Parkinson, sondern, was in Zukunft geschehen soll.« Parkinson stimmte mit einem übellaunigen Nicken zu. Überall im Raum wurde beifällig gemurmelt. Der örtliche Staatsanwalt David Bradford, klein, dunkelhaarig und nervös, erhob sich von einer Kirchenbank gegenüber dem Tisch und begann, auf und ab zu gehen. Der kleine Mann war um keinen Dollar reicher als irgendeiner seiner Nachbarn, aber er trug aufwendige Kleidung, importiert, sauber und gebügelt. Ich grinste vor mich hin. Er kam mir vor wie ein zahmer, siamesischer Kampffisch: Aufgeputzt, farbenfroh ließ er sich im gefährlichen, schlammigen Wasser mitreißen, begierig, sich allem zu stellen, was ihm die Strömungen zutreiben mochten. »Ich kann nur für mich selbst sprechen«, stellte er fest, »aber mein Gewissen unterstützt, was geschehen ist. Ich zolle diesen Patrioten, die jetzt als Aufrührer bezeichnet werden, Beifall, und verlange, daß die hier Anwesenden darüber abstimmen, ob sie es ebenfalls billigen und sich verpflichten wollen, jene zu unterstützen, die das Haus des Inspektors zerstörten.« Das war eine Aufforderung, das Geschirr zu dem Zweck zu verwenden, zu dem es gedacht war, oder die Finger davon zu lassen, und sie wurde mit völligem Schweigen aufgenommen. Marshall räusperte sich. »Der ehrenwerte George Robinson, Erster Abgeordneter von Pittsburgh, ist unter uns, auf Einladung von David Hamilton. Außerdem Colonel William Semple, Mr. Peter Audrain, Mr. Josiah Tannehill und Mr. William H. Beaumont. Dürften wir, ehe wir zu dieser Abstimmung schreiten, ihren Sprecher, Mr. Hugh Henry Brackenridge, bitten, uns zu unterrichten, welche Ansichten darüber in Pittsburgh herrschen und welches seine eigene Meinung in dieser Sache ist?« Der Vorstand hielt das für eine großartige Idee. In Pittsburgh war die öffentliche Meinung auf seiten der ›Unzufriedenen‹. Das wußte jeder, einschließlich der Stadtvätertypen, deren Interessen bei der föderalistischen Regierung lagen. Ein schwaches, höhni-
sches Zischen erfüllte den Raum, als Anwalt Brackenridge seinen massigen Körper in die Senkrechte hievte. Unter dem Zwang, eine Meinung zum besten zu geben, glich er einem Tier in der Falle. Ich kannte ihn nicht gut genug, um zu begreifen, daß das bei einem Mann, der gewohnt war, auf beiden Seiten des Spiels gleichzeitig mitzumischen, normal war. Er blickte nach rechts und links, die Augen des Publikums zogen ihn an und stießen ihn auch ab, dann watschelte er in den Mittelgang und ging auf den Vorsitzenden zu. Die Führer der Aufständischen am Kopfende des Raumes machten finstere Gesichter. Er begann: »Ich begrüße Colonel Edward Cook – ich sollte Euch lieber als ›Herr Vorsitzender‹ ansprechen. Den jungen Mr. Craig Ritchie gleichermaßen als ›Herr Schriftführer‹. Mr. James Marshall…« – bitterer Sarkasmus war in der Stimme des Anwalts zu hören – »meinen freundlichen Gesprächspartner. Außerdem Staatsanwalt David Bradford und den achtbaren John Canon aus Canonsburg. Ich kenne Euch alle als gesetzte, vergleichsweise konservative Bürger, Freunde der Ordnung und einer guten Regierung, und Ihr überrascht mich und meine Pittsburgher Mitbürger durch Eure Anwesenheit hier.« Das Lachen, das Ed bisher unterdrückt hatte, brach sich in einem Schnauben Bahn. »Er überrascht sich selbst! Er hat die Einladung am Montag erhalten und hatte soviel Angst vor dem Aufstand, daß er sie zerrissen und unten in einen Schrank geworfen hat. Aber dann hat er sie wieder zusammengesetzt wie ein PuzzleSpiel und zu Presley, der ihn drängte, herzukommen und auch diese ›führenden Bürger‹ als Zeugen zum Mitkommen zu überreden, gesagt…« Vor uns saß ein unrasierter Bürger in grober Kleidung, drehte sich um und blickte uns wütend an. Ed verstummte. »Das erinnert mich…« – Brackenridge zögerte, wie in Gedanken – »an den Iren, der, als er seinem Priester eine Menge abscheulicher Verfehlungen beichtete, gefragt wurde, ob ihm nicht auch eine gute Tat einfiele, zum Ausgleich für soviel Schlechtigkeit.« Gemurmel kam auf, aber es klang noch nicht richtig wütend. Diese
Leute wollten Antworten hören, keine Anekdoten. Ich fand, er sei ein Idiot, daß er das nicht begriff. »Der Ire zögerte, schien nachzudenken. ›Halt!‹, sagte er dann. ›Einmal habe ich einen Steuereinnehmer getötet!‹« Brackenridge wartete darauf, daß gelacht wurde. Aber es kam nur ein tonloses Nichts. Er schüttelte den Kopf, als wolle er aus einem bösen Traum aufwachen. »Ich wollte, ich könnte«, versuchte er es wieder, »ein Porträt davon malen, mit welcher Hast John Nevilles Schwiegersohn Major Isaac Craig das Papier herunterriß, mit dem das neue Steuerbüro in Pittsburgh beschildert war – das als Ersatz für das Haus des Inspektors eröffnet wurde und jetzt, in Vorwegnahme Eurer Forderungen, geschlossen wird. Es ist, als habe der Major die Geschichte von dem Iren gehört.« Wieder Nichts. Der Holzboden knarrte unter seinem Gewicht. »Nun gut denn…« Die Worte kamen quiekend heraus. Brackenridge fing noch einmal an, zwei Oktaven tiefer. »Ich möchte nun ernsthafter auf die Frage eingehen, die Mr. Parkinson gestellt hat, ob nämlich jene, die an der Zerstörung des Hauses beteiligt waren, damit recht oder unrecht gehandelt haben.« Jetzt bekam er seine Reaktion, allgemein wurde gemurmelt: »Wird auch Zeit!« Brackenridge hob seine schwabbelige Hand. »Meine Kollegen und ich können darüber nicht abstimmen, wie es Mr. Bradford hier verlangt. Wir wurden nicht hergeschickt, um über irgendeinen Antrag abzustimmen, sondern um zu berichten, was sich in der Stadt ereignet hat, damit Ihr zufriedengestellt seid und einseht, daß es unnötig ist, eine Streitmacht vom Lande hereinzuschicken, um dieses Steuerbüro niederzureißen.« Drei oder vier Hurrarufe ertönten, gedämpft und kurzlebig. »Aber wenn wir auch nicht befugt sind, darüber abzustimmen, so steht es uns doch, wie allen, um das Wohl des Landes besorgten Mitbürgern frei, einen Rat zu geben…« »Wovon Ihr«, schrie Ed, »mit einem reichlichen Überschuß versehen seid!« Wieder drehte sich der Kerl vor uns um und musterte
uns finster. Ochskahrt fuhr auf, als hätte ihn etwas gestochen. Brackenridge ignorierte die Unterbrechung, die von Cook mit dem Hammer geahndet wurde. »Um auf die Frage zurückzukommen, die in Bower Hill geschehenen Taten mögen vielleicht moralisch berechtigt gewesen sein – ich sage ›vielleicht‹! –, vom Standpunkt des Gesetzes aus waren sie Unrecht! Streng ausgelegt waren sie Hochverrat – und bei diesem Verbrechen gibt es keine Mittäter, nur Hauptschuldige. Diese Taten sind für den Präsidenten ein Grund – ja, es ist jetzt sogar seine Pflicht geworden –, die Bürgerwehr zu alarmieren.« Das fuhr wie ein elektrischer Schlag durch die Zuhörer. Brackenridge hatte nun die volle Aufmerksamkeit. Er stieg auf sein Surfbrett, bog die haarigen Zehen über den Rand und machte sich daran, auf den Wogenkamm zuzusteuern. »Nun ist es richtig, daß sich der Präsident über die Schwierigkeit Gedanken machen wird, die Bürgerwehr in Marsch zu bekommen. Eure Nachbarn aus den mittleren Bezirken und den oberen Teilen von Maryland und Virginia, die selbst der Steuer abhold sind, werden nicht gerade begeistert gegen Euch zu Felde ziehen. Wahrscheinlich wird es notwendig sein, Soldaten von New Jersey und den unteren Teilen der Staaten herbeizurufen. Die Exekutive wird, aus denselben Gründen, wie sie im Philadelphiaaufruhr von 1779 gegeben waren, geneigt sein, Euch… eine Amnestie anzubieten.« Dabei ließ er es für den Augenblick bewenden. Ich schüttelte in widerwilliger Bewunderung den Kopf. Der Aufstand hatte gerade erst angefangen. Woher, zum Teufel, kam die Idee einer Amnestie? Das war ja, als ziehe man schon an der Reißleine, noch ehe das Flugzeug richtig abgehoben hatte. »Aber um diese Amnestie zu erlangen«, fuhr der Anwalt fort, »wäre es schicklicher, wenn ein Antrag an die Exekutive von den Nichtbeteiligten gestellt würde. Es ist nicht in Eurem Interesse, uns hineinzuziehen – laßt uns bleiben, was wir sind, damit wir als Mittler für Euch bei der Regierung tätig werden können.« »Ich habe an diesem Tage«, unterbrach Parkinson mit hochrotem
Gesicht, »voreilig Presley Neville gelobt, anläßlich des von ihm erhaltenen Briefes. Und jetzt versucht dieser… dieser nur auf sein eigenes Wohl bedachte Anwalt, unsere Versammlung von einem Treffen gekränkter Nachbarn, die auf Gerechtigkeit pochen, zu einer Zusammenkunft verschüchterter, sich duckender Verbrecher umzuformen. Ich…« Er hielt inne, sprachlos vor Zorn. Eine ruhige Stimme zog alle Aufmerksamkeit auf sich. »Mein Bruder starb von der Hand eines solchen Schurken«, stimmte Andrew McFarlane zu. Er ging, einen schwarzen Schal um den Arm, durch die Menge. Brackenridge erbleichte und machte einen Schritt nach rückwärts. »Ich schlage vor«, meldete sich Bradford zu Wort, »die Abgeordneten von Pittsburgh mögen, um ihre normale Lebensspanne zu erreichen, ihre ehrenwerten Hinterteile als Vermittler mit ihren Sätteln verbinden – das Eure, Brackenridge, wäre ein hübsches Ziel für Kesselflicker Tom!« Alles lachte. Brackenridge wurde rot; die Abgeordneten blickten ihn an, als wollten sie sagen: »Da hast du uns ja wieder schön in die Klemme gebracht.« Aus praktischen Gründen war dies das Ende der Sitzung. Brackenridge hatte den Rebellen klargemacht, worauf sie sich einließen. Die Pittsburgher wollten Bradfords Rat folgen und nach Hause gehen. Der Anwalt war dazu nur ungern bereit: Irgendeine Seite – Aufständische, Föderalisten, Stadtbewohner oder ihre selbsternannten Führer – könnte ja seinen Rückzug als Beweis dafür werten, daß er nicht gleichzeitig auf jedermanns Seite war. Die Versammlung löste sich in kleine Grüppchen auf, die über die Sache diskutierten. Die Delegation von Pittsburgh machte sich praktisch heimlich davon, zu einem nahegelegenen Gehöft, das sie hier als Stützpunkt benützte. Brackenridge schlich sich später wieder in die Kirche zurück, aber zu spät, um noch irgendwelche Entscheidungen mitzubekommen: Man hatte eine neue Konferenz einberufen, zu Parkinson's Fähre – einem Unternehmen von Benjamins älterem Bruder – am 14. August. Wie ich schon sagte, diese Leute waren ganz
verrückt nach Versammlungen. Wir schlurften hinaus, voll überquellender Vorfreude auf eine weitere unbequeme Nacht auf unzulänglichen (aber, Mann, echt waren sie!) Bettzeugrollen auf dem harten, feuchten Boden. Ochskahrt zupfte mich am Lederärmel. Ich achtete nicht auf ihn, sondern wandte mich Ed zu, der genauso glücklich aussah, wie ich mich fühlte. »Hast du den Typen vor uns gesehen?« Er machte den Mund auf, legte das Gesicht in Falten und nieste mich an. »Großartig! Prima! Wunderbar! Tja, jedenfalls hab' ich ihn gesehen, und er kam mir verdammt bekannt vor.« »Bekannt? Wie, in Lysanders Namen, könnten sie dir… – warte mal! Du hast recht! Laß den Bart weg und die Waschbärmütze, und was bleibt dann übrig?« quetschte er mit verstopfter Nase heraus. »Edna Janof!« platzte Ochskahrt laut flüsternd hervor. Ed schniefte. »Mann, Lucy wird vielleicht sauer sein!« Ich fragte: »Warum denn? Früher oder später mußte sie doch aufkreuzen?« Er meinte: »Weil wir nicht dachten, daß sie gerade hier sein würde, verkleidet als…« Aber ich war schon weg, noch ehe er fertiggesprochen hatte, drängte mich, wie in einem Sturzbach gegen den Strom schwimmend, zur Kirche zurück. Ich überprüfte meine Gewehrzündung: Es gab eine Möglichkeit, mit dem ganzen Unsinn Schluß zu machen – wenn man Edna erschoß, würde das die Geschichte nicht verändern! Als ich die Tür erreichte, prallte ich gegen David Bradford. »Hoppla! Verzeihung, Mr. Bear. Bleibt doch einen Augenblick stehen, ja? Ich habe da eine Idee, die ich mit Euch und Eurem Bruder durchsprechen muß!« Der Bantamgockel von einem Staatsanwalt hätte mich eigentlich überhaupt nicht kennen dürfen. Dadurch, daß ich mich nach einer falschen Schußverletzung wieder vom Krankenbett erhoben hatte, war ich offenbar zu einem
größeren Helden geworden, als ich gedacht hatte. Ich erhaschte noch einen Blick auf Edna, dann verlor ich sie aus den Augen. »Aber ich…« »Kommt, Mann, Ihr habt doch wohl keine Eile, Euch wieder unter diesen Pöbel zu mischen – Ihr müßtet nur Brackenridge noch einmal zuhören. Seht Ihr, er hat sich diesen Grenzlandmann mit dem seltsamen Bart geschnappt. Was ich zu sagen habe, sollte Euch mehr interessieren.« Kribbelig vor Enttäuschung wollte ich mich losmachen, aber er hatte mich seinerseits eisern im Griff. Die Menge strömte weiter aus dem Gebäude, wie die zwölf Clowns im Zirkus, die aus ihrem winzigen Auto steigen. Ich litt Höllenqualen, während ich zwischen buckskinbekleideten Schultern hindurch immer wieder Edna im Gespräch mit Brackenridge erblickte. Wir wurden von der Menge auf den Kirchhof hinausgeschoben. »Also gut, Bradford, was wollt Ihr von uns?« Er blickte sich um – albern, wir waren schließlich von Menschen umringt –, beugte sich zu mir, stellte sich auf die Zehen und flüsterte: »Ihr sollt uns bei der Post von Pittsburgh nach Philadelphia helfen, übermorgen!« »Euch helfen?« Eine vage, historische Erinnerung regte sich aufreizend im Hintergrund meines Gedächtnisses. Ein angenehmes Gefühl hatte ich nicht dabei. »Uns helfen«, erwiderte der Hitzkopf von einem Staatsanwalt. »Wir werden sie ausrauben!«
12. Kapitel Überfall auf eine Schnecke 26. JULI 1794 Ein großartiger Tag für einen Raubüberfall. Der Morgen des fünfundzwanzigsten war mit den sprichwörtlichen guten und schlechten Nachrichten herangekommen: Wir brauchten die Post der Vereinigten Staaten doch nicht an dem Tag zu überfallen, den Bradford vorgeschlagen hatt; wir mußten bis zum Tag danach warten. Und das war heute. Wenn ich sage, daß ich mir Sorgen machte, dann wäre das untertrieben. Genauso, als ob ich sagte, daß ich in meinen bäuerlichen, braunen Wildlederschuhen zitterte. Mir gefiel diese Idee nicht. Als vielfach runderneuerter Expolizist war mir wohler, wenn ich auf der anderen Seite des Gesetzes stand – so es mich ließ. Da ich nie ein Fan von Adam Ant gewesen war (ich dachte immer ›Stehenbleiben und raus damit‹ sei die Art, wie Strauße ihre Eier legten), lernte ich dieses Straßenräubergeschäft auf die harte Tour – durch Ausbildung am Tatort. Über die Landschaft konnte ich mich nicht beklagen. Es wehte eine angenehme Brise. Die Sonne schien, als müßte sie ein zusätzliches Quantum Sauerstoff verbrauchen. Die Vögel sangen hoch in den belaubten Zweigen über mir, was ihre winzigen Lungen hergaben. Ein kleines, graues Kaninchen hoppelte herüber und wollte sehen, was ich denn mit diesem weichen, weißen Papier auf der hübschen Rolle machte. Ich scheuchte es weg. Manchmal will man eben nicht gestört werden. Die Verzögerung war durch drei unvorhergesehene Faktoren bedingt worden. Erstens hatte ich an jenem Abend auf dem regen-
durchweichten Lagerplatz, den sich unsere konföderierte Delegation in nebelbegrenzter Sichtweite der Kirche von Mingo – für meinen Geschmack allzu günstig zum Friedhof gelegen – abgesteckt hatte, noch einen Anfall des Nachstasisgrauens gehabt. Nichts Unheilbares, man fühlte sich wie bei einer Grippe. Zweitens hatte David Bradford, gesetzloser Staatsanwalt, seinerseits einen schweren Anfall erlitten – berufliche Gewissensbisse. Es schickte sich doch wohl kaum für den Ankläger des Staates, wenn man ihn als Anführer bei einem bewaffneten Raubüberfall sah. Oder? Er versuchte, den Begriff ›Interessenkonflikt‹ zu erfinden. Jedenfalls seilte er sich ab, ließ uns mit dem krummen Ding, das er selbst ausbaldowert hatte, im Stich, und bot gleichzeitig seinen Vetter William Bradford als Ersatz an. David Hamilton – ich weiß nicht, was er für einen Anfall bekommen hatte – schickte ebenfalls seinen Vetter, einen Burschen, den er uns als John Mitchell vorstellte. Gertrude Stein und William Shakespeare zum Trotz, vielleicht haben Namen doch etwas zu bedeuten. Der grobschlächtige, zuverlässige John Baldwin schickte seinen nächsten Verwandten – sich selbst. Ich spielte kurzzeitig mit dem glücklichen Gedanken, meinen ›Vetter‹ Ed an meiner Stelle zu schicken, aber es stellte sich heraus, daß er ähnliche Vorstellungen in bezug auf mich hegte. Außerdem würden wir an diesem Tag beide zu tun haben – wir mußten mit Vetter Bradford, Vetter Mitchell und dem schlichten, titellosen John Baldwin die Post ausrauben. Jetzt konnte ich, ein Dutzend Meter entfernt, hinter einer dichten Baumreihe das Wiehern unserer Pferde und die leisen Stimmen meiner Mitverschwörer hören. Ich blieb unter einer Sykomore hocken und genehmigte mir eine Zigarette. Das Kaninchen kam wieder. Ich jagte es von neuem weg. Ich weiß nicht, was ich an mir habe, aber der hl. Franz kann so viel davon bekommen, wie er nur will. Der dritte Grund für die Verzögerung war, daß keine PittsburghPhiladelphia-Post zum Ausrauben dagewesen wäre, wenn wir uns
für den 25. Juli entschieden hätten. Weder Regen, noch Hagel, noch die Dunkelheit eines leeren Slogans konnten die Räder, die Ben Franklin in Bewegung gesetzt hatte, aufhalten, auch dann nicht, wenn sie durch die Wildnis von Pennsylvania rollten. Jede zweite Woche. Jemand hatte – ziemlich typisch für Amateurrevolutionen – die Fahrpläne durcheinandergebracht; wir erfuhren erst in letzter Minute von unserer Gnadenfrist. Ich erhob mich, behängte meinen Körper mit Kleidungsstücken und Waffen und hinkte von meinem siebzigsten Ausflug in die Büsche an diesem Nachmittag an der Straße zu unserem Stelldichein mit der Geschichte zurück. Ich kam gerade mitten in einen Streit hinein. »Das kannst du mir nicht antun, Eddie!« schrie Lucy Ed an, während Ochskahrt verlegen sein Gesicht verbarg. Die Pferde mampften sich schnaufend durch zartes Grünzeug, das der Regen der letzten Tage herausgelockt hatte. Unsere aufständischen Verbündeten waren weiter vorne auf Kundschaft. Wir waren noch nicht nahe genug an Greensburg, um die Post abzufangen, aber Vorsicht schadete nie. »Ein Liebesgeplänkel?« fragte ich mit einem freundlichen Lächeln, das ich nicht ehrlich meinte, und legte mein Gewehr über den Sattel, während ich überlegte, warum es so lange dauerte, bis ich lernte, ein Pferd zu besteigen. Lucy warf mit einem Schuh nach mir. Ich war dankbar, daß es der Mokassin ihres Gemahls war, nicht einer ihrer hessischen Armeestiefel oder ein verlorenes Hufeisen. Ed lehnte barfuß, einen Strohhalm zwischen den Zähnen, an einem sonnenwarmen Felsen. »Strategiediskussion«, erklärte Huckleberry Bear und spuckte ein Stück Stroh aus. »Wir unterhalten uns gerade über das, was anliegt, Winnie.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und streckte das Kinn vor. »Sieh mal, ich wollte immer schon 'nen richtigen Überfall abziehen. Ich will verdammt sein, wenn ich mich da ausbooten lasse.« »Lucy, willst du damit sagen…« – ich versuchte immer noch,
meinen Fuß in den Steigbügel zu bekommen –, »daß wir über etwas gestolpert sind, was du noch nicht gemacht hast?« Ich unterbrach das Kavallerietraining und grinste. »Hirnschlag, ich glaube, sie wird alt. Ich habe noch niemanden kennengelernt, der sie abhalten konnte, wenn sie etwas wollte – oder erlebt, daß sie darüber diskutierte.« Der zweite Mokassin folgte dem ersten und traf mich an der Nase. Ich duckte mich hinter mein Pferd, als ihre Hand nach der Bratpfanne griff, die sie an ihren Sattel gebunden hatte, und in der am Lagerfeuer gesalzener Speck und weiße Bohnen zubereitet wurden. Mein Pferd beteiligte sich an der Sache, indem es den Kopf herumriß und mich zu beißen versuchte. Mit Ed war bei dieser Diskussion nicht viel anzufangen. Er wälzte sich lachend auf dem Boden. »Glaubst du wirklich, jemand könnte sie aufhalten, wenn sie nicht selbst lieber die Finger davon lassen wollte?« keuchte er. »Komm, Lucy, spuck's aus, damit wir nicht mehr in der dritten Person von dir reden müssen!« Die alte Dame funkelte ihn an, funkelte mich an, und schloß sogar Ochskahrt ein, der sich hinter der Cellohülle verkroch. »Zum Henker mit euch beiden, ihr seid mir auf die Schliche gekommen! Jetzt, wo Edna hier ist, gibt's was anderes zu erledigen, und das ist meine Sache!« Ed nickte. »Dann sind wir uns einig. Du nimmst bei der nächsten Gabelung den westlichen Ast; wir reiten nach Greensburg weiter, in östlicher Richtung. Du schießt besser als jeder andere hier, und damit du siehst, daß ich es ehrlich meine, schau mal, was ich dir mitgebracht habe!« Er griff hinter sich und streckte ihr ein in Wildleder gewickeltes Paket hin. Lucy löste die Riemen, ihre dunklen Augen leuchteten auf wie bei einem Kind, das Geburtstag hat. »Zwei Pfefferstreuer! Für mich? Eddie, das hättest du nicht tun sollen!« Sie konnte wegen der verrücktesten Dinge sentimental werden. Ich dachte schon, sie würde in Tränen ausbrechen. Auf dem gelbbraun gefärbten Leder glänzten zwei seltsam aussehende
Steinschloßpistolen, jede mit vollen sieben Läufen und mit der Aufschrift ›H. Nock, London‹ in den Kringeln, die auf den Schloßplatten eingraviert waren. Nicht das, was man hochtechnisches Schießgerät nennen würde – man mußte für jeden Schuß die Zündpfanne laden –, aber trotzdem beeindruckend für die Zeit gleich nach dem Unabhängigkeitskrieg. Sie hob ihren Rock und suchte nach Strumpfbändern, um sie hineinzustecken. »Sei vorsichtig damit«, bemerkte ihr Gatte. »Sie sind echt – Anachronismen, die man erst in fünf oder sechs Jahren erfinden wird. Ooloorie hat sie heute morgen rübergeschickt, ehe wir aufbrachen, auf meine Bitte hin. Wir brauchen die Schlagkraft – wenn wir Edna Janof töten, wird die Geschichte nicht verändert.« »Darauf kannst du deine Turteltäubchen verwetten!« sagte Lucy, gab es auf, nach Strumpfbändern zu suchen und steckte die beiden Waffen in ihren Rockbund. »Aber im Augenblick steht zwischen Albert Gallatin und einem dreckigen, hamiltonistischen Anschlag nur noch…« Wir wurden von Hufgeklapper unterbrochen. Baldwin kam zu uns zurückgeritten, eine Minute später folgten ihm Mitchell und Hamilton zu zweit auf einem Pferd. Pferde waren – wie Gewehre – Artikel, die in diesem Jahrhundert knapper waren, als es im Kino dargestellt wird. Mitchell war, anders als sein Namensvetter aus dem zwanzigsten Jahrhundert, ein kleiner Mann, drahtig und dunkel und von einer verkrampften Nervosität, die alle anderen in Unruhe versetzte. Er war einer der Leute, deren Rasiergewohnheiten schwer zu durchschauen sind: Wenn er sich nie rasierte, warum war dann sein Bart nicht länger? Und wenn er sich rasierte, warum war dann sein Gesicht ständig voller Haare, die einen Viertelzoll zu lang waren, um noch Stoppeln genannt zu werden? Er rauchte eine Zigarre – ich hatte nicht gewußt, daß man das im Jahre 1794 schon tat –, die mit seinem Bart viel gemeinsam hatte. Wenn er sich nie eine neue anzündete, warum ragte dann unweigerlich eine zweizöllige Kippe aus seinem Gesicht hervor? Und wenn er es tat, warum war sie nie
länger als zwei Zoll? Hamilton wiederum sah aus wie alle seine Vettern, groß, blond und massig. Anstelle des üblichen Kentuckygewehrs mit gezogenem Lauf trug er eine doppelläufige Schrotflinte, ungefähr Kaliber acht. Wenn man im Streit auf ihn losgegangen wäre, hätte man fast das Gefühl haben können, in zwei Mülltonnen zu starren. Ich war damit einverstanden. Wir bestiegen unsere geländegängigen Transportmittel. Die Straße vor uns war frei. Der Kundschaftertrupp hatte eine Strecke ausgesucht, auf der man die Stadt und jegliche Gehöfte in der Gegend mied. »Etwas möchte ich doch fragen«, sagte ich zu Baldwin, der vor mir ritt. »Wenn wir schon Straßenräuber spielen, womit wollen wir uns dann maskieren?« Baldwin drehte seinen baumähnlichen Rumpf im Sattel und brachte dabei sein Pferd zum Stolpern. »Wozu sollen wir uns denn maskieren, Freund Edward?« »Ich bin ›Freund William‹. Edward ist mein Bruder dort drüben. Masken sind doch üblich, wenn man einen Überfall machen will, jedenfalls habe ich gehört, daß das im Augenblick auf dem Kontinent Mode ist.« »Grrrr!« meldete sich Mitchell. »Wir haben unseren eigenen Kontinent, außerdem wollen wir nicht wie die Engländer sein und unser Gesicht verstecken, wenn wir die Freiheit verteidigen!« Hamilton nickte beifällig. Ich zuckte die Achseln und zitierte falsch: »Masken? Was brauchen wir stinkende Masken?« Ed grinste, hielt aber den Mund. Ich wollte gerade die Teeparty von Boston erwähnen, bei der Indianerkostüme Vorschrift gewesen waren, aber da erreichten wir die Gabelung, von der Ed gesprochen hatte. Lucy parierte ihr Pferd zum Stehen. »Ich glaube, ich laß' euch Jungs jetzt lieber allein bei eurem Räuberspiel. Ich hab' drüben bei Mr. Gallatin was zu erledigen.«
»Ja, Mutter«, erwiderte Ed, was ihm einen giftigen Blick eintrug. »Und erschieß niemanden, den ich nicht auch erschießen würde.« Diesmal war ich der Vernünftige. »Seid brav, Jungs. Und wenn ihr in der Post was Interessantes findet, vergeßt nicht, es eurer Tante Ooloorie mitzuteilen. Sie gibt es dann weiter.« Wir nickten, und dann trennten sich unsere Wege. Ochskahrt trieb sein Pferd gallatinwärts hinter ihr her, wobei sein rustikaler Instrumentenkasten ständig gegen seinen Oberschenkel stieß. Minuten später fanden wir, unter den nachklingenden Tönen von ›Ich kam nach Pennsylvania mit 'nem Cello auf dem Knie‹ eine banditengeeigneten Platz, wo der Weg sich zu einer Furt in einem Bach hin krümmte, und stellten uns dort für den Hinterhalt auf. Dann warteten wir. Und warteten. Noch ein paar Jahrhunderte, dann hörte man aus der Ferne das Geräusch von Pferden, aber das dichte Laub verdeckte sie noch. Mit dem Junior WoodchuckVerfahren kam ich offenbar nicht zurecht. Als der Postreiter um die Biegung kam, sah ich überrascht, daß er einen zweiten Gaul mitführte, dessen Hufschlag ich von dem des ersten nicht hatte unterscheiden können. Vernünftig war das ja. Das alte römische System, der Pony-Expreß mit frischen, wartenden Gespannen, war noch nicht wiedererfunden. Aber meine Überraschung war noch größer, als ich sah, daß der Postmensch unbewaffnet war. Bradford und Mitchell hatten sich auf beiden Seiten der ausgefahrenen Straße diesseits der Biegung aufgestellt. Als Reiter und Pferde vorbeikamen, traten sie dahinter in die Spur. Baldwin, der sich mit Ed auf der anderen Straßenseite versteckte – von mir aus gesehen –, nahm das als Stichwort. Er erhob sich und trat, nur mit dem Messer bewaffnet, das er in der Scheide an seiner Taille stekkenließ, ins Freie. »Guten Tag, Postreiter. Welch neue Kunde bringt Ihr wohl der Welt aus der Stadt Pittsburgh?« Der Reiter parierte sein Pferd, das mitgeführte prallte mit der Nase auf den Schwanz des Reittiers. »Keine so kurzweiligen, daß eine Behinderung der Post der Vereinigten Staaten gerechtfertigt
wäre, Mr. Baldwin!« Der große Mann zuckte zusammen, als er sich von jemandem erkannt sah, den er selbst nicht kannte. Hinter dem Reiter war ein dreifaches, metallisches ›Klack!‹ zu hören, als Mitchell und Bradford die Hähne ihrer Waffen zurückzogen. Baldwin seufzte. »Gebt mir Euren Beutel, Reiter, und setzt Euren Weg fort! Sagt den Behörden in Philadelphia, Kesselflicker Toms Leute hätten Euch Eure Last abgenommen!« Der Postreiter saß da und überlegte. Er war noch sehr jung, siebzehn vielleicht, hatte einen blonden Schnurrbart und trug dieselben Buckskins wie alle anderen. Dann sackten seine Schultern mit den Lederfransen herunter. Er drehte sich im Sattel um, zog das Ersatzpferd heran wie einen Dorsch an der Angel und streckte sich, um nach dem Beutel zu greifen. Als er sich wieder zurückdrehte, blitzte Metall in seiner Faust. Kraaaach! Ein smaragdgrüner Strahl, blitzend und massiv wie aus Stahl, fuhr auf Baldwin los. Etwas explodierte, begleitet von purpurnem Nebel. Der kopflose Körper des markigen Waldläufers brach in die Knie und stürzte blutend nach vorne in den Staub.
13. Kapitel Taberna est in oppidum Platsch! Ed feuerte seine Waffe ab. Ich spürte, wie das betäubende Kribbeln des Hellerfeldes an meinem linken Ellbogen vorbeistrich. Eine nach Schwefel stinkende Wolke Schwarzpulverrauch wogte über die Straße auf mich zu. Bradford schrie: »Im Namen Gottes!« Er konnte seinen entsetzten Blick genauso wenig wie Mitchell von Baldwins zerstörter Gestalt lösen. Wumm! Trotzdem wurde ich überrascht. Bradfords zweiläufige Schrotflinte sprach, als sich der Reiter der von Entsetzen erfüllten Stimme zuwandte. Die Schrotladung traf den Botenjungen in den Unterarm und warf ihn beinahe aus dem Sattel. Er schrie vor Schmerzen. Dann ging alles ganz schnell. Wo auf der vorderen Kopfseite das offene Gesicht eines Bauernjungen zu sehen gewesen war, entstand jetzt ein grausiger Wirbel. Unsere Gefährten aus dem achtzehnten Jahrhundert stöhnten auf. Der Reiter schrie wieder, als ein Krachen und Knistern an seinem verletzten Handgelenk zusammen mit einem aufsteigenden Rauchfaden verkündete, daß der Hautanzug aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert den Dienst versagte. Geblendet zog der Reiter seine Kopfbedeckung aus Thermoplastik ab und enthüllte das haßerfüllte Gesicht von Edna Janof, ihres Zeichens Hamiltonistin. Sie beugte sich vor und zischte mich mit zusammengebissenen Zähnen an: »Du konföderierter Hundesohn!« »Vorsicht, Win!« Das war Ed, der damit beschäftigt war, seine Pistole nachzuladen. Die Frau ignorierte ihn, schaute mir direkt ins Gesicht und legte
ihren Laser an, während ich mühsam meine schwerfällige Flinte in Position brachte. Ehe ich das Visier auf ihr ungeschütztes Gesicht richten konnte, brüllte Bradfords mächtige Waffe erneut auf. Die Schrotsäule verfehlte die Janof, lenkte aber doch den Laser ab. Der Strahl sprang mit einem Kraaaach! heraus. Hinter mir ging ein Baum in Flammen auf. Ihr Pferd stieg, machte einen Satz und raste, das Ersatztier hinter sich herzerrend, den Weg hinunter. Ich kam mit einem Ruck aus der Zeitlupe. Eds Gewehr ging los. Mitchells Flinte krachte. Das zweite Pferd taumelte und schlitterte, eine Wolke von Rauch und Straßenstaub, ein Durcheinander aus herzzerreißenden Schreien, herumfliegendem Leder, um sich schlagenden Beinen. Die Männer schrien aufeinander ein und rannten herum wie aufgescheuchte Ameisen. Ednas Rücken wurde immer kleiner, bis mein Messingkorn sie endlich erfaßte. Es hatte keinen Sinn. Ich ließ den Abzug los. Das verletzte Pferd lag blutend auf dem Boden und warf den Kopf hin und her. Ich konnte es nicht länger mit ansehen und ›erledigte‹ das Tier mit falschem Gewehrfeuer und einer großzügigen Dosis Stasissaft. Edna war natürlich längst fort. Wir bekamen eine Pause zum Atemholen, Blinzeln und Nachladen. »Gütiger Himmel, was für eine Schweinerei!« Ich stand auf und wischte mir die Hände an den Buckskinhosen ab. Die Dame von meiner chemischen Reinigung würde nie wieder ein Wort mit mir reden. Wer es auch war – Gilbert Roland oder Ed Sullivan –, der einmal feststellte, daß das Los eines Polizisten nicht das glücklichste ist, er kannte nicht einmal die Hälfte davon. Ich hatte noch nie zuvor einem Pferd die Kehle durchschneiden müssen. »Hier, Mitchell. Wollt Ihr nicht essen, was Ihr geschossen habt?« Der arme Kerl wurde grün und wandte sich ab. Die Rehpostenlöcher, die Bradfords Schrotflinte in die Flanke des Tieres gestanzt hatte, wären nicht so schlimm gewesen, aber Mitchells in Leinen gewickelte .45er Kugel hatte haargenau die zweitempfindlichste Stelle des unglücklichen Hengsts getroffen.
Von dort hatte sie durch die Eingeweide und das Zwerchfell gepflügt und war in den Brustkorb eingedrungen, wo sie die rechte Lunge durchbohrte und vor ihrem blutigen Wiederaustritt ein Sortiment Knochen zerschmetterte. Wobei sie das Herz knapp verfehlte. »Erstklassige Schützenkunst!« bemerkte ich zu Ed – wenn Mitchell wirklich dorthin gezielt hatte, und wir fragten nicht nach. »Genauso würde man einen laufenden Elch nehmen.« »Die Pest über solche Schützenkunst!« Bradford tobte wie ein entzündetes Furunkel – eine angemessene Redewendung, wenn man bedachte, daß er und Mitchell nun weiterhin zu zweit auf einem Pferd reiten mußten. »Und was, sagt mir bitte, ist ein Elch?« Ich räusperte mich und grinste Ed an. »Ein ziemlich großes Vieh mit Hörnern, einem Maultier nicht unähnlich, das es bei uns in Cleveland gibt?« schlug mein Partner vor. »Ja«, stimmte ich zu. »Wir jagen sie mit großen Stöcken, die man ›Elk's Club‹ nennt.« Ed warf einen Blick auf mein rotgerändertes Bowie und dann auf meine Körpermitte. Bradford und Mitchell schauten sich an und zuckten die Achseln. Wenn man ein Zwilling war, machte einen das eben verrückt. Die Straßenräuberei wird überschätzt. Wir brauchten alle vier unsere ganze Kraft, um fluchend den euthanasierten Tierkadaver wegzuwälzen, damit wir an die blutdurchtränkte Posttasche gelangten, die sich bis halb zum Indischen Ozean in den Dreck gegraben hatte. Es war ein peinlicher Augenblick, als Eds sich selbst auflösende Pistolenkugel es nicht schaffte, das Messingschloß zu zertrümmern. Ich hielt immer weniger von unseren Maßnahmen auf dem Sektor Bewaffnung, die Erinnerung an den Versuch, eine blutrünstige, hautanzuggeschützte Hamiltonistin mit praktisch nicht mehr als Captain Videos Lärmstrahl aufzuhalten, war noch zu frisch. Mein ›Zwillingsbruder‹ entschuldigte sich recht lahm damit, er habe die Kugel zum Einsatz gegen Menschen und aus Sparsamkeitsgründen aus sprödem Zinn gegossen. Ich verkniff mir eine Bemerkung darüber, wie wir die Dinge in Cleveland handhab-
ten. Die anderen waren so erschüttert, daß sie den Gag schluckten. Ich stemmte die Tasche mit demselben Bowie auf, mit dem ich das Pferd erledigt hatte, und bemühte mich dabei, die gehärtete Legierung der Haspe nicht glatt durchzuschneiden. Als sich die anderen dann allmählich erholten und sich zu ihrem tollkühnen Raubüberfall am hellichten Tage gratulierten, stapfte ich angewidert hundert Meter weit zurück, um meine Unterarme und mein Messer im Bach zu säubern. Und um einiges rauszukotzen. Diesmal kam kein kleines, pelziges Kaninchen, um mir dabei zuzusehen. Irgendwie vermißte ich es. »Eins, zwei, drei!« »Oh, Scheiße! Vorsicht, der Steigbügel!« Wamm! Bradford taumelte, er war zwar dem Steigbügel ausgewichen, dafür aber vom Stiefelabsatz des Toten direkt auf die Schädeldecke getroffen worden. Wenigstens hatte er noch eine Schädeldecke zum Draufschlagen. Das Pferd scheute, und der kopflose Körper kippte in den Dreck. Ich stieß mit Ed zusammen, als wir hinter dem Tier herjagten. Dann war die Reihe an John Mitchell, sich die Hände vor den Mund zu halten und zum Bach zu stürzen. Bradford war gleich nach mir drangewesen. Empfindliche Mägen hatten diese Leute aus den Kolonien! Die Überreste des armen, mutigen Baldwin über den Sattel seines Pferdes zu binden war, wie sich herausstellte, eine ebenso grausige Arbeit wie das Ersatzpferd zu erledigen und wegzuwälzen, um an die Post zu kommen. Verdammt, der Mann war mir sympathisch geworden. Sein Pferd protestierte weiterhin, und als Mitchell zurückkehrte, hörte ich, wie er Bradford zumurmelte, Baldwins Tod sei das Werk des Teufels gewesen. Jemandem, der noch nie einen Laser gesehen hatte, mochte es wohl so vorkommen. Wenn Edna die Absicht gehabt hatte, die Geschichte der Konföderation zu ändern, so war sie auf dem besten Weg dazu. Bei diesem Tempo würden wir jeden Augenblick wieder im finsteren Mittelalter sein.
Von den Postsachen ließen wir alles bei dem Pferd zurück, das sie getragen hatte – tote Briefe in mehr als einem Sinne –, bis auf jene höchst wichtigen Päckchen von Washington und Pittsburgh, nach denen man uns ausgesandt hatte. Dann ritten wir in gedrückter Stimmung das kurze Stück nach Canonsburg. Ed informierte dabei Lucy und Ochskahrt über die neuesten Ereignisse. Ich selbst würde den letzten Klatsch erst später hören, da ich nach dem Zusammenstoß mit Edna nicht gern Gefahr laufen wollte, daß jemand meinen Anzug sah. Erst in diesem Augenblick fiel mir ein, daß ich ja mit ihnen hätte reden können, während ich mich am Bach wusch. Aber ich war anderweitig beschäftigt gewesen. Wie vorher vereinbart, wartete Benjamin Parkinson an der Straße nach Canonsburg auf uns. Seine Aufgabe – man hatte die Aufgaben nach dem alten Brauch zugeteilt, der verlangt, daß jedes Mitglied eines Lynchtrupps einmal das Seil berührt – war, unsere unrechtmäßig erworbene Beute dem Staatsanwalt David Bradford zu überbringen. Gestohlenes Gut in Empfang zu nehmen belastete sein feines Gefühl für Berufsethik nicht. Mit ihm trafen wir uns dann auf dem Parkplatz von Canonsburgs einziger Schenke. »Ihr habt euch gut und tapfer gehalten, Männer«, stellte der Anwalt fest. »Die Geschichte wird den blutigen Dienst rechtfertigen, den Ihr heute auf Euch genommen habt. Im Augenblick müßt Ihr mit Mr. Westbays Keller und den Erzeugnissen seiner Brennerei zufrieden sein.« John und William nickten zum Zeichen, daß sie ein oder zwei Imperiale Gallonen – für den Anfang – als angemessene Entschädigung für das ansahen, was sie durchgemacht hatten. Ed und ich folgten ihnen einen halben Takt später. Jetzt waren wir sechs, eine gerade Zahl, die an der geheimen Verschwörung beteiligt waren: Ed, Mitchell, Bradfords Vetter, Parkinson, der Staatsanwalt und ich. Die Begriffe ›nahtlose Geheimhaltung‹ und ›unbedingt wissen müssen‹ sollten erst noch erfunden werden und würden in der Konföderation nie so Wurzeln fassen, wie sie es in meiner Zeitlinie getan hatten. Die ›Stadt‹ Canonsburg bestand aus einem halben Dutzend baufälliger Gebäude, die sich eng um das Nachtlokal des Ortes dräng-
ten, vor dem wir uns mit Bradford getroffen hatten. Kurz darauf kam James Marshall dazu, den wir in Mingo Creek kennengelernt hatten, der mürrische Alexander Fulton und ein Mr. Lochry, dem wir vorgestellt wurden. Die Individualisten dieses Aufstandes befanden sich wieder auf vertrautem Boden, da sie das Anfangsstadium noch eines weiteren Komitees erreicht hatten. Wir neun (neun!) gingen gemeinsam auf die Vordertür der Black Horse Schenke (Eig. Henry Westbay – und mit ihm waren wir zehn) zu, um als offizielle Kriegshandlung die Post nach Philadelphia zu öffnen, in der erhabenen Gegenwart des örtlichen Patriarchen John Canon (elf) und seines Komagnaten Thomas Speer (zwölf – und wenn jetzt noch ein Clown auftauchte, würde ich mich absetzen). Der Eig. empfing uns an der Tür. Statt uns in die dunkle, verräucherte Schenke zu bitten, die sich zu dieser Nachmittagsstunde allmählich füllte und nach dem Bier und dem Bärenfett der letzten Nacht roch, winkte uns Westbay, der dickste Mann, den ich jemals gesehen habe, zu. Wir folgten ihm nach hinten in eine Weinlaube, wo Sonnenscheinsprenkel durch die Blätter auf einen schmutzigen, ungestrichenen Tisch fielen. Ein nicht sehr ansehnliches Mädchen, das schon jetzt versprach, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten, brachte uns Erfrischungen in unsauberen Bechern auf einem dazu passenden, nicht gesäuberten Tablett. Ed drehte das verletzte Schloß vom Postsack ab. In dem abgenützten Lederbeutel befand sich ein Bündel von Briefen. Lochry, ein Mann mit rauher Stimme und dem Gehabe eines Schiffskapitäns im Ruhestand, packte den Sack an den Ecken und stülpte den Inhalt auf den Tisch. Ein paar Dutzend Dokumente fielen heraus. David Bradford zog ein übel aussehendes Klappmesser aus seinem Stiefel, hebelte die Klinge heraus und begann, die Siegel zu erbrechen. Der Inhalt war interessant. Ich war nicht sicher, inwieweit man das Zeug zur Gegenspionage verwenden konnte. Presley Neville, dieser große, kleine Briefschreiber, hatte in kühn gerundetem Kursiv einen Meckerbrief über die hochnäsige, undankbare Haltung der nichtsteuerzahlenden Bauern an seinen
Schwiegervater General Daniel Morgan geschrieben. Ein anderer General, John Gibson, brachte ähnliche Empfindungen gegenüber Gouverneur Thomas Mifflin zum Ausdruck. Protonotar James Brison (was immer, bei allen Teufeln, ein Protonotar sein mochte) versuchte ebenfalls, sich per Fernwirkung das lange Ohr des Gouverneurs zu dem brisanten Thema der Flüssigmachung von Vermögenswerten und der bisher nicht existierenden Steuern daraus geneigt zu machen. Major Thomas Butler von Fort Fayette brachte seine Klagen beim Kriegsminister Henry Knox vor. Der letzte Brief, aber Parsecs davon entfernt, der unwichtigste zu sein, war unsigniert – Bradford mutmaßte, das Gekritzel könne von jemandem namens Edward Day stammen – und an Alexander Hamilton adressiert. Ich war überrascht, welches Entsetzen die Erwähnung dieses Namens auslösen konnte. Zum erstenmal gingen unter den Verschwörern unausgesprochene Zweifel bezüglich der Klugheit und Ehrenhaftigkeit der Handlungen dieses Nachmittags um. Ich schauderte selbst, weil ich an meinen Fiebertraum außerhalb meines Körpers dachte und daran, wie er geendet hatte. Day, wenn er es wirklich war, riet Hamilton, so viele Truppen zu schicken, wie er nur anmustern konnte, und Verstärkung folgen zu lassen. Er warnte, daß selbst eine Verzögerung von vierundzwanzig Stunden auch für den Fortbestand der Republik sich als katastrophal erweisen könnte, und daß auch am Ort Maßnahmen ergriffen würden, um die Lage von dieser Seite her zu sichern, durch die Verhaftung, faire Aburteilung und unverzügliche Hinrichtung der Anführer. Nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge. Ich blickte Ed an und wünschte inbrünstig, ich hätte mich einer Implantatoperation unterzogen oder heute nachmittag die Gelegenheit genützt, mit ihm alleine zu sprechen. Albert Gallatin, der, soweit ich wußte, bisher noch keinen Finger gerührt hatte, stand ganz oben auf der Liste. Selbst Lucy mochte Schwierigkeiten haben, den Angriff abzuwehren, den dieser Brief ankündigte. Und für mich sah die Handschrift aus wie die von Edna Janof.
David Hamilton drängte natürlich zu sofortigem Aufstand. Ich fragte mich, wen er wohl diesmal als Ersatz für sich auffahren würde, wenn es soweit war. Vielleicht war ich unfair, aber es kann einem schon an die Nieren gehen, wenn man zusehen muß, wie ein guter Mann stirbt. Oder wenn man einem Pferd die Kehle durchschneiden muß. Oder wenn man seine Helden aus der Nähe sieht. Hamilton (David, nicht Alexander) hätte es jedoch besser wissen müssen. Wir sturen Individualisten hatten unsere eigene Verfahrensweise. Noch ein Treffen der Bürgerwehr wurde für den Nachmittag des 30. Juli anberaumt, gleich außerhalb von Pittsburgh, an einem Ort namens Braddock's Field – der Stelle, wo im zwanzigsten Jahrhundert ein gleichnamiger Vorort von Pittsburgh lag, im Augenblick gehörte das betreffende Grundstück einem Mann namens George Wallace, einem loyalen Föderalisten. Alle hielten das für einen großartigen Witz. Mir gefiel es auch irgendwie, bis ich herausfand, warum man es Braddock's Field nannte. Der berühmte britische General war während des Siebenjährigen Krieges dort gewesen. Und hatte eine katastrophale, blutige Niederlage erlitten.
14. Kapitel Der Geist von '94 31. JULI 1794 »Besteuerung ist Diebstahl!« Das Indianerpony tänzelte, stellte sich auf die Hinterbeine und schnaubte gefühlvoll, wenn nicht philosophisch zustimmend, während sein Reiter mitten auf Pittsburghs einziger gepflasterter Straße einen federgeschmückten Tomahawk schwenkte. »Nicht nur das Steuergesetz muß weg!« brüllte der Reiter. »Das ist nicht alles, was ich will, nein, da fehlt's weit! Eure Bezirks- und beigeordneten Richter müssen weg, samt ihren hohen Ämtern und Gehältern. Ich hab' noch gar nicht richtig angefangen. Es muß noch 'ne Menge mehr passieren! Tod den Föderalisten! Tod und Vernichtung!« Auf den hölzernen Gehsteigen wichen konventionell gekleidete Passanten an die Ladenfronten mit ihren importierten Glasfenstern zurück. Matronen kreischten, packten ihre Kinder und drückten die zappelnden Kleinen gegen die Falten ihrer umfangreichen Röcke. Hie und da hörte man vereinzelt einen Hurraschrei. Wenn sich die Leute umdrehten und hinstarrten, war der Schreier verschwunden. Ein junges Mädchen klimperte mit den Wimpern und fiel in Ohnmacht, um ihrem Kavalier einen rein medizinischen Anlaß zu bieten, ihr die Handgelenke zu reiben oder sich andere, gewagtere Freiheiten herauszunehmen. »Denkt an Alamo – hm, ich meine, an Bunker Hill! Komm, Tony, wir verdrücken uns!« Der buckskingekleidete Eindringling zeigte das gelbe Armband, das man allmählich als Zeichen des Aufstandes erkannte, riß den Pinto herum, galoppierte die Straße hinauf und wiederholte dort seine Vorstellung vor einem neuen,
dankbaren Publikum. Hier wurde Geschichte gemacht. Heute war der erste Tag der Zweiten Revolution. Noch hundert Jahre später würde kein Historiker ihren bäuerlich gekleideten Herold benennen können. Nicht einmal eine Silberkugel hatte sie zurückgelassen. Neben mir auf dem Brettersteig stand Hugh Henry Brackenridge und schauderte. »… es soll also in der Tat eine Revolution werden, nach jakobinischen Prinzipien organisiert und geleitet. Mein Freund…« – er wandte sich dem einzigen, nicht in Gedanken versunkenen Gesicht in der Menge – dem ihres sehr ergebenen Dieners – zu – »… ich habe vor kurzem, zum Spaß, ein paar Knittelverse verfaßt, zum Andenken an die Ereignisse in Frankreich, und sie begannen: ›Louis Capet verlor sein Köpfchen – Capet caput…‹« Die gerade stattfindende Französische Revolution war hier wie überall in den Vereinigten Staaten der letzte Schrei. Frankreichs bürgerlicher Gesandter Edmond Genêt befand sich auf einer triumphalen Vortragstour durch zahlreiche Städte – später würde man ihn zu seiner eigenen Guillotinierung nach Hause bitten, und er würde Amerikas erster Bewerber um politisches Asyl werden. Brackenridge blickte die Straße hinauf, wo der Reiter mit dem Tomahawk Schüsse in die Luft gefeuert hatte – sieben an der Zahl – und verschwunden war. Er betastete seinen Stiernacken. »Die Verse wurden in der ›Pittsburgh Gazette‹ veröffentlicht. Ich muß gestehen, daß ich es jetzt kaum mehr ertragen kann, auch nur einen Absatz mit Nachrichten aus Frankreich zu überfliegen.« Ich schlug ihm lachend auf den Rücken. »Ihr wißt doch, wie es ist, Hugh Henry: ›Der Schuldige flieht, wird er auch nicht verfolgt.‹« Die Kinnlade fiel ihm herunter, und er starrte mich an. Ich nahm ihm die Zigarre aus der Hand, setzte damit die Tonpfeife wieder in Brand, die ich in einem der hiesigen Warenhäuser erstanden hatte, gab ihm die Zigarre zurück, drehte mich auf dem Absatz um, tauchte in der Menge unter und ließ den Burschen, der wirklich der ursprüngliche Prototyp für alle Ausdrücke über ›Anwälte aus Philadelphia‹ war, in meinem Kielwasser zitternd zurück.
In der nackten Stadt gab es tausend Geschichten. Ich schlich mich auf Mokassins den Brettersteig entlang, die Kalebasse in der Hand, Augen und Ohren weit geöffnet. Modisch aufgeputzte Bürger mieden jede Berührung mit meiner speckigen Lederkleidung. Ich kam mir vor wie Marion Brandos Motorradmechaniker. Ich war hier in Pittsburgh, um das zu tun, wofür ich am besten geeignet war: Detektivspielen. Ooloorie hatte uns gebeten, für ihre akademischen Klienten einer Verleumdungsgeschichte nachzugehen, die besagte, daß man unter den ›Aufständischen‹, die sich in Braddock's Field versammelten, britische Soldaten erkannt hätte. Wir konnten es nicht ablehnen: diese Klienten bezahlten unsere Expedition. Die Nummer mit dem Pony und dem Tomahawk war vorgeschlagen worden, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf eine bestimmte Stelle zu lenken. Das Gerücht war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Früher, zu Anfang der Rebellion, waren allgemein Überlegungen angestellt worden, ob man sich nicht dem Empire wieder anschließen sollte. Die Briten hatten Außenposten westlich der Appalachen. Man konnte sich jederzeit Waffen und Munition von freundlich gesinnten Kanadiern beschaffen, und so weiter und so fort. Aber es war nur dummes Gerede, mehr ironisch gemeint – ›Wozu haben wir eigentlich überhaupt Revolution gemacht‹ –, als irgendwie ernst. Diese Leute aus dem Grenzland waren amerikanischer eingestellt als die anglophile Bande, die sich verschworen hatte, um die Steuergesetze durchzubringen. Übrigens war die Rede davon gewesen, einen neuen Staat zu gründen, aber wozu das gut sein sollte, wo es um eine landesweite Steuer ging, das ging über meinen Verstand. Ich hatte so meine eigenen Gedanken über dieses Gerücht. In Richtung Philadelphia dräute der böse Geist von Alexander Hamilton wie ein Gespenst. Diese Geschichte roch, als hätte er die Finger im Spiel. Da ich zum Zeitvertreib die ›Federalist Papers‹ studiert hatte, die der Minister und seine Kumpane verfaßt hatten, um die unblutige Konterrevolution zu rechtfertigen, die die Verfassung ja darstellte, wußte ich, daß die Reintegration durch die Krone eine
Bedrohung war, die durch eine starke Zentralregierung ausgeschaltet werden sollte. Hamiltons propagandistische Schriften erwähnten auch Räubereien durch die Ureinwohner Amerikas, Krieg zwischen den Staaten (den die Verfassung in meiner Zeitlinie nicht hatte verhindern können), Uniformen, eine zuverlässige Währung – ein tödlich makabrer Witz – und falls Invasionen durch außerirdische Raumschiffe zum Wortschatz des achtzehnten Jahrhunderts gehört hätten, hätte er die auch noch angeführt. Schwarze Männer waren etwas, womit Hamilton vertraut war, er war schließlich lange Zeit selbst einer gewesen. Ich schlenderte durch die Menge, nichts als einer von vielen Touristen, die die böse Stadt besichtigen wollten. Einheimische beklagten sich, daß Fremde auf den Straßen herumlungerten und in Fort Fayette herumschnüffelten wie Spione. Es war tatsächlich, als sei der Zirkus in der Stadt. Eine beeindruckende Zahl von Landbewohnern brachten ihre Erzeugnisse auf den Markt und boten sie im Austausch gegen Feuersteine und Pulver günstig feil. Eine Menge Schmiede machten plötzlich Bombengeschäfte mit der Reparatur alter Gewehre. Ich blieb bei einem Holzindianer stehen, zündete meine Pfeife an der Kerze im Glaszylinder an, die er hielt, und begann, nach einem Ort Ausschau zu halten, wo ich ungestört war. Ich habe noch nie eine Pfeife in Gang halten können, und in einer Kultur, die noch keine Streichhölzer erfunden hatte, wurde es allmählich lästig. Zwanzig Minuten später summten mir Fliegen um den Kopf, während ich auf einem überteuerten, vom Komfort her ungenügenden Plumpsklo hinter Pittsburghs einziger öffentlicher Badestube hockte. Ich rutschte in dem stickigen Halbdunkel, das durch eine halbmondförmige Belüftungsöffnung hergestellt wurde, auf den Brettern herum und überlegte dabei, ob diese traditionelle Verzierungsform wohl tiefliegende antimuslemische Tendenzen in der christlichen Kultur widerspiegle. »… und noch dazu die Tatsache, daß die Öffentlichkeit wie üblich nicht mitspielen will. Man kommt sich vor wie ein Theaterproduzent, der in der Pause im Foyer herumschleicht, während das
Publikum nur darüber reden will, was gestern abend im Fernsehen lief.« Auf dem Bildausschnitt, den mir mein Hautanzug lieferte, schwebte das trügerisch lächelnde Gesicht von Ooloorie Eckikkeck P'Wheet, übertragen von der Emperor Norton Universität in San Francisco oder jedenfalls dem, was das zweiundzwanzigste Jahrhundert davon noch übriggelassen hatte. »Dann sag mir doch wenigstens, was du nun herausfinden konntest, Landwesen.« »Sicher.« Ich ignorierte die dahinterstehende Anspielung auf meine Unfähigkeit. So war sie eben: Jedes Wesen, das mit Fingern und Zehen versehen war, brauchte nicht zu denken, konnte unmöglich die intellektuellen Fähigkeiten auch nur einer Meeresschnecke besitzen. »In den Straßen wird viel geklatscht, such dir aus, was du haben willst, meistens geht es um die neueste Mode, die bedrückend zugeknöpft ist; darum, was in Paris passiert, nämlich körbeweise Enthauptungen; um den Preis für landwirtschaftliche Erzeugnisse, der nie hoch genug ist, um die Farmer zufriedenzustellen; und, wie immer, wer zusammen unter eine Decke kriecht.« »Miteinander.« »Schon gut, wenn du pingelig sein willst. Was ich aus der Gerüchteküche Brauchbares herausgefiltert habe, läuft auf folgendes hinaus: Erstens: Keine Rede von britischen Soldaten, von der Gründung eines neuen Staates oder von einer Invasion vom Mars…« »Invasion vom Mars?« Ooloorie paddelte mit ihren Flossen im Wasser und runzelte die Stirn, etwas, das sie von den Menschen übernommen hatte. Ich mußte in meiner verdreckten Buckskinhülle den Drang unterdrücken, mich die nächsten Stunden unablässig zu kratzen. »War nicht so wichtig. Zweitens: Ein Mann namens James Ross versucht, zusammen mit anderen ›klardenkenden‹ Bürgern, David Bradford und James Marshall, die man jetzt als die führenden Aufständischen ansieht, zu überreden ›Pittsburgh zu verschonen‹, im
Austausch dafür will man Abraham Kirkpatrick, Presley Neville, General John Gibson, James Brison, Edward Day und Thomas Butler sozusagen ins Exil schicken. Am nächsten Tag wollen die Stadtbewohner dann nach Braddock's Field hinausmarschieren, um ihre Solidarität mit den Rebellen zu demonstrieren.« Ooloorie seufzte. »Menschen.« Geistesabwesend fing sie einen vorbeischwimmenden Hering und mampfte ihn hinunter. »Wieviel von dieser Solidarität gibt es denn tatsächlich?« »Ooloorie, außerhalb der Stadt sind Tausende von bewaffneten Aufständischen versammelt. Die selbsternannten Bürgerführer von Pittsburgh tun so, als machten sie gemeinsame Sache mit den Rebellen, während sie weiterhin mit den Steuergesetzen der Regierung sympathisieren. Der Durchschnittsmensch vergräbt seine Ersparnisse, das Silber und die Familienerbstücke in seinem Hinterhof – aber vor wem er sie schützen will, das weiß er, glaube ich, selbst nicht einmal genau.« Sie gab mitfühlende Geräusche von sich. »Ich erinnere mich, davon gelesen zu haben.« »Tja«, sagte ich, »das ist eine alte Geschichte. Mir war nur nicht klar gewesen, wie alt genau. Diese Amnestie von Brackenridge zum Beispiel. Irgendwie ist diese Revolution um- und umgekehrt worden, und jetzt steht Volk gegen Volk, anstatt daß das Volk sich gegen den wirklichen Feind von Frieden, Fortschritt und Wohlstand überall stellt. Werde du daraus schlau, wenn du kannst.« »Machenschaften an der Spitze?« »Das ist es ja gerade, was ich herausfinden sollte. Tut mir leid, ich kann es von hier aus einfach nicht sagen. Aber wenn nicht jemand schnell etwas unternimmt, ist der Aufstand verloren, ehe er überhaupt angefangen hat – was in meiner heimischen Zeitlinie ja geschehen ist.« »Und dieser Jemand muß wohl Albert Gallatin sein«, meinte Ooloorie.
Und damit wanderten meine Gedanken zu Ed. Während Lucy und ich in Pittsburgh anderweitig beschäftigt waren, hatten er und Ochskahrt den Schweizer Landedelmann beschattet, der zusammen mit fünf- oder sechstausend weiteren Einwohnern dem Ruf der Bürgerwehr nach Braddock's Field gefolgt war. »Ed kann jederzeit zuschlagen, Ooloorie, aber nach unserem Plan sollen wir dem alten Knaben noch nicht begegnen – ich stelle ihn mir immer noch als alten Knaben vor, vermutlich wegen der Bilder auf den Münzen, obwohl er im Augenblick erst dreiunddreißig Jahre alt ist. Wir wollen lediglich seinen Rücken unauffällig im Auge behalten.« Die Wissenschaftlerin nickte. »Wenn alles gut geht, wird er nie erfahren, daß es geschieht. Wenn es schiefgeht«, fügte der Tümmler zynisch hinzu, »wird er es ebenfalls nie erfahren.« Ich blickte auf meine Armbanduhr, entdeckte, daß sie in diesem Jahrhundert nicht vorhanden war, und entschied, daß es sich nicht lohnte, mich mit den Instrumenten meines Hautanzugs herumzuplagen, um die genaue Zeit festzustellen. Ich stand auf. »Vielen Dank für das Vertrauensvotum. Ich werde mir jetzt den Weg durch die Menge bahnen, die zu dem Ende der Stadt unterwegs ist, das Braddock's Field am nächsten liegt. Ich bin schon spät dran. Jetzt muß ich auf das Baby aufpassen, während Ed für dich Philip Marlowe spielt.« Wir unterbrachen die Verbindung. Ich zog meine Kapuze herunter, stopfte sie mir in den Hemdkragen, öffnete die Tür und trat durch die summenden Fliegen wieder in den Sonnenschein hinaus. Ich traf Lucy, genau wie verabredet, unten an der Straße, als sie gerade wegen eines Pferdes verhandeln wollte. »Jetzt paß mal auf, du eingebildeter Kephaloplektiker!« Mit einer Hand hielt sie ihre zusätzlichen Rockstoffmeter zusammen, die andere dürre Faust schüttelte sie drohend, das Gesicht hatte sie zur Mitte hin zusammengekniffen, so daß es aussah wie ein vertrockneter Apfel. Es war heiß in dem primitiven Bretterschuppen, die
Luft war über einem olfaktorischen Baß aus Pferdeäpfeln von einem Bariton aus brennendem Hartholz und einem Tenor aus heißem Metall erfüllt. Im Augenblick schwieg jedoch die Abteilung der Schlaginstrumente – der Schmiedehammer. Der Schmied hatte andere, wesentlich dringendere Geschäfte zu erledigen. Lucy sagte: »Die Rechnung wird beglichen, hier und jetzt, macho a macho, oder ich erfahre, warum!« Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt wieder das Gewand einer Frau aus dem achtzehnten Jahrhundert. Im Moment war sie erfolglos darum bemüht, die Leihgebühr für das Pony auszuhandeln. Der Stallbesitzer, ein verschwitztes Exemplar mit übertriebenen Muskeln und angesengtem Pferdeschwanz, hatte seine oberschenkeldicken Arme über seiner schmierigen Lederschürze gefaltet, auf seinem unrasierten Gesicht lag ein grimmiger, unnachgiebiger Ausdruck – gemischt mit einem gierigen Glitzern in seinen kleinen Schweinsäuglein: Er polterte: »Geschäft ist Geschäft, Madame.« Ich legte Lucy eine Hand auf die Schulter und fragte: »Kephaloplektiker?« Sie fuhr zusammen, drehte sich dann zu mir um. »Jemand, der vom Hals aufwärts gelähmt…« Sie wirbelte wieder zu dem Schmied herum. »Und untersteht Euch ja nicht, mir nochmal mit dem ›Madame‹-Gerede daherzukommen, Ihr Bastard von einem Eisenbieger. Wir hatten etwas ausgemacht, normale Tagessätze: Was ich mit dem Pferd gemacht habe, geht Euch 'nen feuchten Kehricht an, solang ich es gesund zurückbringe!« Die Augenbrauen des Pferdeverleihers schossen in die Höhe. Er griff in seine Schürzentasche, lächelte, zog den gefiederten Tomahawk hervor und hielt ihn zur Begutachtung hoch. »Aber seht Ihr, Madame, ich muß einen zusätzlichen Preis verlangen, wegen öffentlichen Aufruhrs, zahlbar an die Behörden – falls der Verräter seinen Pflichten nicht nachgekommen ist.«
15. Kapitel Bind ein gelbes Band Der Schmied machte einen Schritt nach vorne und einen zweiten zur Seite und streckte seine pummelige Hand nach dem Hammer aus, der quer über dem Amboß lag. Ich leckte an meinem Daumen, fuhr damit über das Korn meines Gewehrs, hob die Waffe schräg nach oben und sagte schleppend: »Das würde ich mal lassen, mein Freund.« Ich weiß nicht, was man mit dieser Nummer erreichen will, aber sie macht einen guten Eindruck. Mit einem Blick auf Lucy fügte ich hinzu: »Da wird'n Mann schon wütend, wenn man seine Mutter mit'm Hammer auf die Hand schlägt.« »Und's hinterläßt auch bei ihr 'nen schlechten Eindruck«, fiel sie ein und zog ihren Rock hoch. Darunter befand sich eine Überraschung – eine vierzehnfache – für den Stallbesitzer, wenn sie drankam. Ich erhaschte am Rande meines Blickfeldes ein metallisches Aufblitzen. Sie hielt die beiden siebenschüssigen auf ihn gerichtet. Der diebische Pferdehändler schwenkte seinen Hydrantenhals und schaute von einem von uns zum anderen. Er entschied, daß wir es ernst meinten, begann, sein verschmiertes Gesicht in zornige Falten zu legen und schaltete dann auf eine resignierte Miene um. Er ließ seine tennisschlägergroße Hand sinken und entfernte sich nach rückwärts von dem Amboß. Kein Waffenstillstand, nur eine Feuerpause. Ich trat seitlich von der Tür weg an eine Wand, da ich nicht gern ohne Rückendeckung bin. Gerade, als ich das tat, verdunkelte sich die Türöffnung. Ich senkte mein Gewehr und ließ es auf dem geschwungenen Rückstoßpolster aus Messing ruhen. Lucys Pistolen verschwanden. Zwei gutgekleidete Pittsburgher traten ein und unterbrachen unsere geschäftliche Besprechung mit der Bitte, man
möge die Pferde, die sie hier eingestellt hatten, für einen Ritt nach Braddock's Field bereit machen. Der ungepflegte Besitzer nickte, spielte das Theater mit und begann, Befehle zu brüllen. Ein unterernährter, pickeliger Knabe erschien, um sie auszuführen. Er schnappte sich zwei Armvoll hinternpoliertes Lederzeug und schleppte es nach hinten zu den Boxen. Der Chef stand herum, trat gegen das Stroh und tauschte knurrend Gemeinplätze mit der Kundschaft – während er über ihre Schultern hinweg meine alte Mutter argwöhnisch im Auge behielt. Welche wiederum kochend vor Wut, aber sprachlos dastand. Inzwischen hatte ich Zeit zum Nachdenken gefunden. In meinem Hosenbund steckte noch so ein Tuch wie das, das der geheimnisvolle Tomahawkschwinger getragen hatte. Ich zog es unter meinem selbstgesponnenen Zeug heraus und knüllte den billigen Stoff in meiner Hand zusammen. Während ich so tat, als interessiere ich mich für ein Pferdegeschirr an der Wand, beobachtete ich den Besitzer, dessen Aufmerksamkeit zwischen Lucy und seinen Kunden geteilt war, in einem spiegelnden Trensenwappen. Als er sich umdrehte, um seinen Gehilfen brüllend zu größerer Schnelligkeit anzutreiben, stopfte ich das gelbe Band unten in einen Futtersack, der das Brandzeichen des Hauses trug. Ich drehte mich um. Man hatte Pferde herausgebracht. Die Kunden wurden bedient. Jetzt hatte der Besitzer wieder Zeit für uns. Lucy wartete nicht, bis die anderen fort waren, ehe sie wieder ans Feilschen ging. »Das ist Erpressung, und das wißt Ihr auch!« Der Schmied lächelte und ließ dabei schwarze Lücken in seinen braunen Zähnen sehen. »Madame, seid doch so freundlich und sprecht leise, wenn Ihr nicht wollt, daß die Anklage gleich hier und jetzt erhoben wird, womit niemandem gedient wäre.« Er warf einen Blick auf seine Kunden, die soeben auf ihre Tiere stiegen. Mit dem Gewehr in der Hand trat ich auf ihn zu. »Paßt auf, Stallhüter, Erpressung ist eine Zweibahnstraße.« »Eine Zweibahnstraße?« Seine von der Esse geschwärzten Züge furchten sich verständnislos. »Sagt mir doch bitte, welche Straße
nicht zweibahnig ist. Wie kommt Ihr nur auf eine solch sonderbare Wendung?« Ich schnaufte durch die Nase, stellte das Gewehr auf den Boden, legte einen Hand auf den Griff meines Bowie und fing noch einmal an. »Ich meine, mit Aufruhr ist es wie mit der Hexerei. Jeder kann jeden anderen beschuldigen, und zwar so, daß der Vorwurf hängen bleibt. Laßt Euch das von einem Exbullen… äh… von einem früheren Konstabler sagen, und… wie meinst du, Lucy? Na ja, gut, zur Hölle damit, dann eben von einem Town Marshai.« Ich hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen. Die Augen des Mannes waren bei dem beiläufigen Fluch groß geworden, was meine Meinung über die hiesigen Schmiede nicht gerade verbesserte. »Meine Mutter hat Euch bezahlt, was sie schuldig war. Nehmt es, solange Ihr noch könnt.« Er wollte mich unterbrechen. Ich ließ es nicht zu. Ich knuffte ihn bei jedem Wort auf die empfindliche Stelle zwischen den Schlüsselbeinen und warnte: »Wenn Ihr irgend jemandem ein Wörtchen flüstert, dann werde ich einen unwiderlegbaren Beweis dafür erbringen, daß Ihr selbst einer von Kesselflicker Toms Männern seid.« »Nur zu!« höhnte er. »Es gibt keinen solchen…« »Ich weiß, daß es Indizien gibt«, sagte ich. »Ich habe sie hier versteckt, während Ihr mit der zahlenden Kundschaft beschäftigt wart.« Er öffnete den Mund. Dann machte er ihn aber gleich wieder zu. Wir gingen. Braddock's Field lag acht Meilen außerhalb der Stadt, eine offene Ebene am Osterufer, unterhalb der Stelle, wo der Turtle Creek in den Monongahela mündete. Um hierher zu gelangen hatte die Bürgerwehr aus dem Hinterland eine Furt überquert, die auch Braddocks unglückliche Armee benutzt hatte, und war durch Schneisen aufgestiegen, die von britischen Pionieren für ihre fahrbaren Geschütze geschlagen worden waren. Im Jahre 1794 wurde der Platz als Pferdeweide genützt. Weiter vom Fluß entfernt war
das Gelände hügelig, von Schluchten durchzogen und bewaldet. Fünftausend unmilitärische Geschöpfe lagen hier zusammengedrängt, Wange an Wange, bildlich gesprochen, auf einer Fläche, die nicht viel größer war als ein Fußballstadion. Überall sah man Segeltuch – die Zeltschnüre waren eine echte Bedrohung für jegliche Navigation – und einen ständigen Bodennebel aus Lagerfeuerrauch, um den wir im Laufe der Zeit wegen der immer größer werdenden Zahl ungewaschener Menschen und ihres massenhaften Durchmarsches zu Pferde, beziehungsweise wegen der Straßenverschmutzung, die diese Tiere hinterließen, froh waren. Das ganze Spektakel ähnelte einem kompletten, schlecht organisierten Pfadfindertreffen mit zu großen Jungen und schlecht qualifizierten Betreuern. Exerziertrupps mit allen möglichen Feuerwaffen und Kleidungsstücken marschierten eins-zwei, eins-zwei über Berg und Tal, angeführt von freiwilligen Captains mit Generalssternen in den Augen. Die schlampigen Reihen rannten oft direkt ineinander, wie probende Abteilungen der Keystone Kops. Desorganisation und Verwirrung waren die Regel, genau wie momentan in Pittsburgh, aber im Lager von Braddock's Field spielte sich das ganze auf einem ehrgeizigeren Niveau ab. Die beiläufigen Gespräche auf den Straßen waren ein weiterer Unterschied: Alexander Hamilton – wozu er den Präsidenten überreden würde – war unausgesprochen das Thema jeder Unterhaltung. Lucy und ich brauchten eine Stunde, um den konföderierten Truppenteil zu finden. Als wir sicher in unserem Zelt saßen, berichteten wir Ed, der meinen Platz in der Stadt eingenommen hatte, die Neuigkeiten aus dem Lager. Ochskahrt war in seinen Schlafsack eingeschnürt und spielte ›Beautiful Dreamer‹. »… riel Blakeney«, sagte ich in mein Anzugsgesicht hinein und gab damit ein Stück Klatsch weiter, das wir aufgeschnappt hatten. »Und William Meetkirk, prominente Bürger, außerdem auch Absalon Baird – das war der Kerl, der die Verhaftung von Lenox angeordnet hat – haben sich bereit erklärt, die Bedingungen der Aufständischen an die Stadtversammlung von Pittsburgh zu übermitteln, die einberufen wurde, um sich mit dem Notstand zu befassen.
Sie werden das Angebot von Pittsburgh annehmen, die Föderalisten ins Exil zu schicken, und die Post zurückgeben, die wir mit soviel Aufwand gestohlen haben.« »Schscht!« protestierte Lucy. »Die Wände haben Ohren.« Sie hielt inne und kratzte sich unter den kurzen Rippen. »Oder so was jedenfalls.« »… üble Haken«, übermittelte Ed uns auf telepathischem Wege, er hatte gerade seine Herumlauferei unterbrochen, um bei dem Holzindianer, mit dem auch ich schon Bekanntschaft geschlossen hatte, schnell einen Bissen Trockenfleisch zu sich zu nehmen, »… ist, daß sie auf diese Seite von Wallace, Brackenridge und John Wilkins junior – den führenden Zaungästen von Pittsburgh – verhört werden sollen, in Anwesenheit von Presley Neville und unter dem Vorsitz von John Gibson.« Er zögerte einen Augenblick. »Ach ja. Es gibt noch eine weitere Entwicklung. Es wird verkündet, daß ein ›Komitee der Einundzwanzig‹ die Stadt übernommen hat, für die Dauer…« Er schwenkte seine optischen Sensoren die Straße entlang, damit wir einen Überblick bekamen. Ausrufer verkündeten die Botschaft, andere nagelten gedruckte Zettel an. Die Leute kicherten: schon wieder ein Komitee. »Ein sonderbarer Staatsstreich«, kommentierte mein Ebenbild, »bei dem die gleichen Rathausfaulenzer an der Macht bleiben wie am Tag zuvor – nur anders organisiert, damit keiner der Herren als einzelner die Verantwortung für das zu übernehmen braucht, was als nächstes kommt, nämlich die Aufforderung an die Herren Kirkpatrick, Brison, Day und alle übrigen, sich ›zum Wohle aller zu entfernen‹. Niemand bringt so recht den Mut auf, von Gibson und Presley zu verlangen, sie sollen verschwinden.« Ein unheimliches, elektronisches Glucksen kam über sein Implantat. »Es wird gemunkelt, daß man ihnen die Lage nicht einmal andeutungsweise erklären wollte – bis Henry Purviance, ein Komiteemitglied, darauf bestand.« Er lachte. »Das Komitee hat eine Menge Zeit damit verbracht, eine großartig klingende Resolution für Braddock's Field
anzunehmen, die sowohl als Zeitungsanzeige wie auch als Handzettel gedruckt werden soll. Sie ist schon überall durchgesickert.« »Hier auch«, meldete sich Lucy. »John Scull von der ›Pittsburgh Gazette‹ legt einen Zynismus an den Tag, von dem ich nicht wußte, daß er sich in diesem Beruf schon so früh entwickelt hatte, und plant, die Nacht durchzuarbeiten, um die heuchlerische Verlautbarung des Komitees, man habe sich gegen die Steuer verschanzt, zu setzen.« »Du solltest Brackenridge hören: ›Pittsburghs aufständische Söhne werden am Morgen auf Braddock's Field vertreten sein‹.« Ed schnaubte. »Und sie wollen auch zu Parkinson's Fähre kommen!« Ich lachte. Draußen steigerte sich der allgemeine Tumult, was mich veranlaßte, mir die Kapuze vom Gesicht zu ziehen und durch die Zeltklappe ins schwindende Licht hinauszuspähen. Querpfeifen, Trommeln, und das ›tapp, tapp, tapp-tapp‹ von Füßen, die nicht im Takt stampften. Zwischen den Zelten hindurch, die schlammigen Wege auf und ab exerzierte David Bradford, in eine bunte, maßgeschneiderte Generalissimo-Uniform samt schiefsitzendem Federhut und so vielen Messingknöpfen gekleidet, daß man eine kleine Kanone daraus hätte gießen können, mit seinen Truppen eine Reihe von Drills. Ich hatte noch gar nicht gewußt, daß Bezirksstaatsanwälte Truppen hatten. Waren denn in diesem Jahrhundert alle verrückt? Nicht ganz. Als ich mein Gesichtsteil wieder aufsetzte, beobachtete Ed gerade eine junge Pittsburgher Familie draußen im Hof. Mama hielt eine Lampe und schlug die Motten weg, die davon angezogen wurden. Papa werkte mit einer Schaufel – die Kinder waren damit beschäftigt, einen Handzettel zu entziffern, der an einem ihrer Bäume klebte und Frieden in unserer Zeit versprach – und vergrub ihre Wertsachen.
16. Kapitel Schreckensregen 2. AUGUST 1794 »Haaaatschschschiiiii!« Eine altvertraute Spannung knotete mir die Eingeweide zusammen, wie ich so im mitternächtlichen Nebel kauerte, eine ölige Satteldecke verschwamm um mich herum zu Suppe, ohne mich vor dem Nieselregen zu schützen. Ich hatte einen Anfall von Übernächtigungszittern, der mir sagte, daß das die Nacht der Nächte war. Ich unterdrückte ein zweites Niesen, stützte mich leicht auf mein Gewehr und überprüfte den Sitz des rohledernen Mündungsschoners. Und zum zehntausendstenmal die Zündpfanne. Da lernte man das 19. Jahrhundert und seine schußfertigen Metallpatronen schätzen. Was hätte ich nicht für einen .45er Peacemaker oder eine Winchester mit Repetierhebel gegeben. ›Halt dein Pulver trocken‹, das war im achtzehnten Jahrhundert mehr als eine beiläufige Wendung; es war eine Lebensversicherung. Hoffentlich. Ich zitterte, sehnte mich nach einer Zigarre, die ich nicht haben konnte – die Glut würde mich verraten, und außerdem war es zu naß –, und wünschte, ich könnte meine Nerven zurückgeben und auf Garantie neue verlangen. Irgendein Ereignis stand unmittelbar bevor. Nach den Tausendfüßlern zu urteilen, die sich in meinem Nacken abseilten, würde es nichts Schönes sein. Es war wirklich eine dunkle, stürmische Nacht, bedeckt und ohne Mond. Gelegentlich schenkte mir ein drittklassiges Wetterleuchten tachistoskopische Eindrücke endloser, unordentlich aufgestellter Zeltreihen, die sich über die schlammige Ebene bis an den Monongahela erstreckten. Mit Rücksicht auf meine gerade überstan-
dene Krankheit hatte Ed mir eingeschärft, ihn zu wecken, wenn es ernsthaft zu schütten anfangen sollte, aber ich hatte es nicht getan. Jeder Mann hat so eine Ader, die bewirkt, daß es ihm unangenehm ist, wenn man ihn mit Feigheit in Verbindung bringt. Es ist einfach nicht würdevoll, sich in einer Situation auf Leben und Tod krank zu melden, so umsichtig es auch sein mag. Jetzt jedoch, als die Kälte immer tiefer drang und die Furcht sich, ohne einen erkennbar vernünftigen Grund – außer meiner langen Erfahrung als Büttel des Gesetzes – in mir anstaute, bereute ich es allmählich, daß ich ihn nicht rausgeholt hatte. Na ja, in etwa einer nassen Stunde mußte er mich sowieso ablösen. Sollte das arme Schwein doch schlafen. Vielleicht hatten er und Lucy eine Stelle gefunden, wo es noch trocken war. Verstehen Sie mich nicht falsch. An diesem Ort, der sich mit Höchstgeschwindigkeit zur Schlammstadt entwickelte, herrschte auch Fröhlichkeit, es wäre eine lärmende, vom Whisky befeuerte Feier geworden, wäre das Wetter nicht gewesen. Am Nachmittag, vor dem Regen, waren atemlose Berichte von Ausbrüchen gegen die Steuer im Shenandoah Valley eingetroffen. Kirkpatrick und Brison hatten sich, wie man beobachtet hatte, schmollend aus Pittsburgh davongestohlen, die ersten, verbannten Föderalisten, die das taten. Der Geheimdienst (Ed, der in der Stadt herumstocherte) deutete an, daß General Wilkins einen Eilbefehl von Gouverneur Mifflin erhalten hatte, uns Aufständische schnell und hart der Gerechtigkeit zuzuführen. Ich hätte gedacht, das sei Thomas Butlers Sache – mit dem Protokoll war ich noch nie klargekommen. Jedenfalls hatte Wilkins prompt und entschlossen gehandelt – und den Befehl versteckt. Sein Vater, ein Kaufmann aus Pittsburgh, würde am nächsten oder übernächsten Tag herauskommen, um uns davon abzubringen, sein Unternehmen niederzubrennen. Fein. Niemand hatte das vorgehabt, bis er uns auf die Idee brachte. Der Aufstand schien voranzugehen. Warum also war ich so zappelig? Zum einen, weil ich auf die Toilette mußte – eine Meile über das regendurchtränkte Feld zum
Fluß, und dann noch eine Meile in der Dunkelheit flußabwärts, um die Hygiene zu wahren. Es würde noch eine lange Stunde dauern, bis Ed kam und mich von der Angel ließ. Zweitens steckte ich, während alle anderen Matratzenhorchen spielten, hier im Regen fest, bewachte Albert Gallatins Zelt, versuchte, nicht aufzufallen, und war irgendwie wütend, weil Edna nicht den Anstand besessen hatte, aufzutauchen. Bis jetzt. Und drittens… »Monsieur?« »Huch!« Ich sprang drei Fuß hoch, als sich die Hand in meine Schulter krallte und wirbelte, meine eigenen, schweißigen Greifer auf dem Griff meines Bowie, mit hämmerndem Herzen herum. Ich tastete mich an dem Arm, der mich belästigte, nach oben und spürte ein spitzenverziertes Handgelenk, einen in Seide gehüllten Unterarm und einen eleganten Ellbogen… Am anderen Ende hing ein ordentliches, klein gebautes, vornehm aussehendes Exemplar der Gattung Mensch mit zwinkernden, grauen Augen hinter dikken Brillengläsern, einem ironisch verzogenen Lächeln und noch weniger Haaren, als es selbst Ochskahrts Gewohnheit entsprach. Er hatte sogar daran gedacht, einen Schirm mitzubringen. »Verzeiht mir, Monsieur Bear, daß ich Euch erschreckt habe…« Ich glotzte ihn an: er reichte mir mit der zweiten Hand eine dampfende Tasse Kaffee. »… aber, mon ami, ich wollte mich erkundigen, ob Ihr, da Ihr es Euch zur Aufgabe gemacht habt, über mein Leben zu wachen, nicht wenigstens hereinkommen wollt, wo es warm und trocken ist…« – er hielt das Regendach über meinen durchnäßten Schädel. Ich nahm dankbar einen tiefen Schluck von der fast kochend heißen Flüssigkeit – »… und mir sagen könntet, warum, zum Teufel, Ihr das tut?« Öllampen flackerten und warfen groteske Schatten auf das Zelttuch. Jemand würde die Spannseile lockern müssen, wenn – und falls – das Wetter aufklarte, sonst würde sich das ganze Zelt selbst in Stücke reißen. Ich goß mir noch eine Tasse Kaffee ein, befühlte meine lange,
wollene Unterwäsche an den Manschetten, um zu sehen, ob sie an der Leine, die wir zwischen zwei Stangen aufgespannt hatten, trocknete, und sah auch nach den Buckskins, die wir, um Grenzlandschrumpfung zu vermeiden, weiter weg vom Feuer, nahe am Zelteingang aufgehängt hatten. Todmüde ließ ich mich auf ein zusammenklappbares Armeefeldbett nieder. Ich hatte gar nicht gewußt, daß es schon erfunden war – von den Römern. Mein Hautanzug bewährte sich recht gut und wärmte mich unter der farbenfrohen, für meine Kleidung eingetauschten Decke auf, die ihn verbarg. Mit der Zeit würde er die Säuren der Erschöpfung aus meinen schmerzenden Muskeln filtern. Es gelang ihm sogar, meinen Flüssigkeitshaushalt so zu korrigieren, daß der Druck auf meiner Blase im Augenblick nachgelassen hatte. Unsere Sicherheit wurde durch mein Kentucky-Gewehr mit Hellereffekt gewährleistet, das blankgeputzt und mit einer trockenen Pfannenladung Pulver am Rahmen des Feldbettes lehnte. Mein Gastgeber zog zwei Reiterpistolen vor, und außerdem verfügte er über die guten Dienste eines gewaltigen Negers, der mit einer Schrotflinte – wohl Kaliber zwei – auf dem Schoß gleich innerhalb der Türklappe saß. Der Diener, er wurde mir als Cato vorgestellt, half mir dabei, den Kaffeebestand noch weiter zu reduzieren. Schon jetzt hatten wir brutzelnden Speck, Schiffszwieback mit Specksauce und etwas, was an Chutney erinnerte, gegessen. Nach der Kälte draußen fühlte ich mich wie im Paradies. Wenn Ed lieber weiterschlafen wollte, war das sein Pech. Der Chef hielt eine Hand mit der Handfläche nach außen hoch, als ich ihm anbot, ihm auch seine Tasse aufzuwärmen. Ich schüttelte den Kopf und grinste über die Kürze meiner Amtszeit als unauffälliger Leibwächter. Im Gegensatz zu den meisten Präsidenten hatte Gallatin den Lauf der Geschichte nicht dadurch verändert, daß er dumm und einfallslos war. Natürlich war er noch nicht Präsident; vielleicht machte das einen Unterschied. Was immer der Grund war, er hatte mich da draußen im Regen überrascht – aus dem Nieseln war ein Wolkenbruch geworden, der Mann, den ich am Leben erhalten
sollte, hatte also wahrscheinlich mir das meinige gerettet. Als wir miteinander sprachen, überraschte er mich immer mehr. »Mais oui, sicher habe ich Eure Fortschritte und die Eurer Gefährten beobachtet – Euren Freund, der aussieht wie Ihr, die Dame, die nicht Eure Mutter ist, und den Mann mit dem Violoncello, der für einen ›Deutschen‹ aus Pennsylvania den falschen Akzent hat – seit Ihr im Washington County angekommen seid.« Was sollte ich darauf sagen? Ich blickte dorthin, wo meine Uhr hätte sein sollen – Ed verspätete sich immer mehr – und gab die einzig passende Antwort, nämlich überhaupt keine. Gallatin lächelte. »Täuschung ist an der Tagesordnung. Ihr seid nicht die einzigen Fremden hier, die sich verstellen, mein Freund.« Er lehnte sich zurück und streckte ein in Bundhosen gekleidetes Bein aus. Seine Knickerbocker gingen nicht in Strümpfe und Schuhe mit Silberschnallen über, sondern in schwere Stiefel mit umgenähten Schäften. Er schlug seinen Mantel mit den vielen Knöpfen auf, fischte in einer Westentasche und zog ein Bündel Papier heraus. »Habt Ihr diese Handzettel gesehen, die unter unseren Bataillonen verteilt wurden, um den Durchschlupf für das ›Komitee der Einundzwanzig‹ schmieren?« Es war schwer zu sagen, ob es Absicht gewesen war. Er schien immer ein gallisches Zwinkern in den Augen zu haben, das, noch lange vor seinem Jacques-Cousteau-Akzent, verriet, woher er stammte. Seine Metaphorik gefiel mir. Die Expedition aus Pittsburgh hatte die Stadt etwa um zehn Uhr am Morgen zuvor verlassen, unter dem Getöse von Querpfeifen und Trommeln, von dem hier alles begleitet wurde. Als sie zwei Stunden später Braddock's Field erreicht hatte, Handzettel hin oder her, war es ihr gelungen, genau im entgegengesetzten Sinne Aufsehen zu erregen, wie sie es sich erhofft hatte. »Wir ›Rebellen‹ lassen uns nicht zum Narren halten.« Gallatin zündete sich eine lange Tonpfeife an. Cato hatte selbst eine Pfeife. Ich grub eine feuchte Zigarre aus. »Ein Bekannter hat mich informiert, daß Monsieur Brackenridge, dieser… dieser Anwalt, der sich
einbildet, zu den literati zu gehören, schon jetzt für ein Buch, das er zu schreiben gedenkt, unsere historische Zusammenkunft skizziert…« Wenn ich hier etwas hätte sagen sollen, so wußte ich nicht, was, daher hielt ich den Mund und konzentrierte mich darauf, meine Blase unter Kontrolle zu halten, die sich schon wieder bemerkbar machte. »Er wird sagen…« – der frühere Harvardprofessor, Wirtschaftler, Historiker, Philosoph, Linguist, Ethnograph, künftige Finanzminister (in einem anderen Universum) und künftige Präsident (in diesem) lachte –, »… daß wir unwissenden Grenzlandbewohner ›… unsere Klagen in der halb stummen, halb profanen Sprache des gemeinen Mannes vorbrachten…‹« Ich schüttelte den Kopf. »Er hält sich für einen Angehörigen der Aristokratie.« »Einer neuen Aristokratie«, erwiderte Gallatin, »von Anwälten.« Er wollte nun doch Kaffee und goß sich die letzten paar Tropfen ein. »Haben wir denn nichts mehr zu trinken, Cato?« Der Schwarze ließ die Augen nicht von dem Spalt zwischen den Zeltklappen. »Ich muß neues Wasser holen, Mr. Gallatin. Soll ich das tun?« Gallatin sah mich an. »Sir, bisher seid Ihr meinen Fragen ausgewichen, aber bei Cato solltet Ihr das nicht tun. Haltet Ihr es für gefährlich, wenn er Wasser holt?« Ich grinste – in Gallatins Gegenwart gewöhnte man sich das an. »Für ihn vielleicht nicht. Für Euch schon. Nur zu, Cato, wir haben genügend Schießeisen, um uns ein paar Minuten schützen zu können.« Gallatin schlug sich auf den Schenkel. »Nachdem ich die Unterhaltung jetzt in Gang gebracht habe, sollte sie sich auch fürderhin als aufschlußreich erweisen. Beeil dich, Cato, wir wollen auch deine Meinung noch hören!« Cato schob mit der Schulter das Zelttuch beiseite und ging gebückt, die emaillierte Kaffeekanne in einer
Hand und die monströse Schrotflinte in der anderen, in die Sintflut hinaus. Gallatin betrachtete mich mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Nun, Monsieur?« Ich erzählte ihm die bereinigte Fassung ohne das zweiundzwanzigste Jahrhundert, die Zeitreise und die Laserpistolen. Ed, Lucy und ich glaubten, daß er der Mann sei, der dieses Durcheinander in klare Bahnen lenken könne. Wir wüßten auch, daß die Opposition der gleichen Meinung sei und dazu neige, etwas Häßliches dagegen zu unternehmen. Ich faßte mich kurz: wenn man den futuristischen Schnickschnack wegließ, gab es nicht viel zu erzählen. Außerdem sorgte ich mich um meinen Partner – und der Kaffee rumorte. Ich wünschte, Cato würde zurückkommen und seinen Chef im Auge behalten, so daß ich einen Spaziergang unternehmen konnte. Hin und wieder warf mir Gallatin einen sonderbaren Blick zu. »Minister Hamilton mag ich nicht. Und seine Politik genauso wenig. Das weiß er – ich wurde in die nationale Gesetzgebung gewählt und dann von seinen, wie sagt Ihr? Kumpanen? hinausgedrängt. Wegen einer Formalität – der Länge meiner Ortsansässigkeit.« Ich nickte. Es hatte einen ziemlichen, öffentlichen Skandal gegeben. »Jetzt sagt Ihr, ich müsse die Führung eines Aufstandes übernehmen! Mon dieu! Sie hatten aus ihrer Sicht ja recht damit, mich auszuschließen. Ich bin ein Fremder an diesen Gestaden, da ich ja erst vor neun Jahren hierher kam. Ich habe nicht im Unabhängigkeitskrieg mitgekämpft, obwohl ich diejenigen bewundere, die es taten – deshalb kam ich ja her. Ich kenne das Land und seine Zivilisation zu wenig – es gibt Dinge, die ich nicht verstehe…« »Die versteht keiner, Mr. Gallatin.« Ich zündete meine Zigarre wieder an; sie war noch feucht und ging dauernd aus. »Was versteht Ihr denn nicht?« »Nun, zum Beispiel…« Er kramte in seinem Gepäck und fand ein abgegriffenes Buch. »Die Worte von Thomas Jefferson: Er-
weist sich die Regierung als nicht zufriedenstellend, so sollte sie ersetzt werden – durch ›neue Wächter über unsere künftige Sicherheit‹, da sie nicht geführt wurde nach der ›einstimmigen Billigung der Regiereten‹.« Das letzte Wort sprach er viersilbig aus. »Sicher«, stimmte ich zu. »Die Unabhängigkeitserklärung. Was verwirrt Euch daran?« Er hielt mir das Buch hin. »Seht her!« Es war in deutscher Sprache gedruckt und in Genf erschienen. Gallatin beherrschte alle vier Sprachen seines Heimatlandes und dazu noch, wie Lucy sagen würde, 'n Haufen andere. »Wenn dieses eine, kleine Wort nicht wäre… ich habe hier eine neue Heimat gefunden, wurde von Menschen willkommen geheißen, die dieses Land hier aufbauten. Aber, wie Ihr hier sagt, an mir naget dieses eine, kleine Wort…« Zwei Silben diesmal: na-get. Ich glaubte zu wissen, was er meinte. Aber es war besser, wenn er sich selbst darüber klar wurde. Wenn ich recht hatte, war das nicht der Augenblick, um dazwischenzupfuschen. »Und welches Wort ist das?« »›Einstimmig‹ – ›… die einstimmige Billigung der Regiereten.‹ Hamilton schwört, das sei nur eine bedeutungslose Phrase. Jefferson behauptet, es sei Sache des Kongresses, der es ratifiziere. Ich kenne das Wort. Dieses Lager hier ist ein Beweis dafür, daß die Einstimmigkeit nicht besteht, nicht jedenfalls, wo es um Steuern geht.« »Hört sich für mich ganz legal an. Was sagen die Anwälte?« »Meine Sorgen seien frivol. Unpraktisch. Unter solchen Zwängen könne der Staat niemals etwas erreichen.« Er runzelte die Stirn. »Aber vielleicht ist genau das der Grund, warum das Wort eingefügt wurde!« Ich lachte. »Es schließt von vorneherein die Tyrannei aus, die Philadelphia uns aufzwingt!« »Monsieur, die Anwälte, die ich hier am Ort kenne, sind aus Pittsburgh. Sie kommen, sie gehen in unserem Lager herum, sie lügen uns etwas vor über ihr Engagement für unsere Sache. Nachdem sie heute niemanden überzeugen konnten, beschließen sie am
Abend, mit der Ausrede, sie hätten keine Lebensmittel mitgebracht, nach Hause zurückzukehren.« Diesmal lachte er. »Der ängstliche Brackenridge redete ihnen dieses durchsichtige Geständnis aus. Er glaubt, wir beabsichtigen die Stadt zu zerstören – einige wenige Rebellen wollen das auch, aus Neid auf den Reichtum der Bürger – und nachdem das Komitee unsere Stärke abgeschätzt hat, möchte es nun nach Hause gehen, um sich gegen den Ansturm zu wappnen.« Eineinhalb Anstürme. Die Schätzungen der Größe der Versammlung reichten, wie ich wußte, von Gallatins fünfzehnhundert – anderthalbmal so viel wie die Bevölkerung von Pittsburgh – bis zu Wilkins' fünf- oder sechstausend. Vielleicht hatte er recht, als Mann des Militärs hatte er Erfahrung darin, die Stärke des Feindes abzuschätzen. Bei dem Wetter und der Unordnung war es unmöglich, das genau festzustellen. Brackenridge, der unter jedem Bett Kesselflicker Tom sah, bezifferte die Anzahl auf siebentausend. Ich war wirklich froh, daß ich nicht seine Träume haben mußte. Gallatin grübelte, während ich mich fragte, wo, zum Teufel, Ed blieb – und ob Cato wohl jemals zurückkommen würde. Ich bin beeinflußbar, wenn es um gewisse Dinge geht – und der Regen trieb mich zum Wahnsinn. »Ich danke Euch, Monsieur Bear«, sagte Gallatin schließlich, »für Euren unschätzbaren Rat. Ich habe einen Entschluß gefaßt.« Er klopfte auf seine Brusttasche. Papier knisterte. Ich spürte, wie über mein Rückgrat ein Schauer hinunterkroch. »Ich habe einen Vorschlag ausgearbeitet… jetzt werde ich ihn vorlegen, gleich mor…« Draußen gab es einen dumpfen Schlag. Die Zeltklappen wurden von einem rollenden Geschoß geteilt. In unsere Mitte purzelte ein zehnpfündiges, hölzernes Pulverfaß, die schnell verglimmende Zündschnur war bis auf die letzten zwei Zoll abgebrannt!
17. Kapitel Bomben im August Ich tat das einzige, was ich tun konnte. Die Zündschnur wurde ausgelöscht. Mehr will ich dazu nicht sagen. Gallatin und ich rafften Waffen zusammen und steckten vorsichtig die Köpfe aus dem Zelt. Der Wolkenbruch war zum Platzregen geworden (wenn da noch ein Unterschied besteht) und die Sicht war auf etwa drei Fuß herunter. Ich stolperte über etwas – oder es stolperte über mich. »Krrrr!« »Edward William Bear, nehme ich an«, sagte der schlammbedeckte Klumpen, »so was, wie kommst du denn hierher?« »Selbst Edward William Bear«, antwortete ich, ebenfalls mit flüssiger Ackerkrume lackiert. »Wir müssen damit aufhören, uns ständig so zu begegnen – wo in Dreiteufelsnamen bist du denn gewesen?« Er schaute mit einem nicht zu erkennenden Gesicht zu mir auf und zischte: »Was, beim Kongreß, meinst du damit, wo ich gewesen bin? Du hast doch nach mir geschickt und mir sagen lassen, ich solle dich bei Bradfords Zelt treffen, und deshalb bin ich…« »Edna.« Wir sagten es gleichzeitig. Gallatin beugte sich über uns, die Pistole in der einen Hand, den Schirm in der anderen, seine zweite Pistole ruinierte den Bund seiner klassischen Kniehosen. »Meine Herren! Meine Herren!« Er schwenkte die Arme. »Ich bitte Euch! Cato müßte schon lange wieder zurück sein! Helft mir bitte, nach ihm zu suchen.« Lucy fand ihn schließlich, nachdem Ed mit ihr und Ochskahrt per Implantat Kontakt aufgenommen hatte. Unsere Gruppe stolperte irgendwie durch das mit Zelten vollgestellte Feld. Als wir auf ihren wütenden, paratronischen Schrei antworteten, kam er von flußabwärts. Cato lag am schlammigen Ufer, die nicht abgefeuerte
Schrotflinte neben sich. Kein Zeichen von der Kaffeekanne, jemand hatte sie durch ein Messer aus rostfreiem Stahl ersetzt. Das ihm aus dem Rücken ragte. »Nicht bewegen!« Lucy schrie immer noch, um sich über den Regen hinweg verständlich zu machen. »Ich weiß nicht, wie, aber er lebt noch.« Sie beugte sich vor, machte etwas mit den Taschen ihres Anzugs, legte dann die Hand um den Griff der Waffe. Von der Klinge war nichts zu sehen. Gallatin trat vor. »Nicht…« Ich nahm seinen Arm. »Habt Vertrauen, Sir. Sie weiß, was sie tut.« Mit einem Ächzen zog sie das Messer heraus, tat etwas über die Wunde, legte eine Hand auf Catos Stirn und schloß die Augen. Es muß ausgesehen haben wie eine Wunderheilung. »Okay.« Sie stand auf und winkte uns übrigen, wir sollten ihr helfen. »Jetzt können wir ihn wegbringen – aber vorsichtig!« »Was für ein sonderbares Messer«, bemerkte Gallatin. Jemand mußte uns Feuerschutz geben, während wir durch die Last behindert waren. Diese Ehre war ihm und Lucy zugefallen. Ed nahm Cato an den Schultern, Ochskahrt und ich packten die Füße. Gallatin hatte die Waffe von Lucy entgegengenommen und betrachtete sie, während er neben uns einherschritt und mit einem Auge die Gegend beobachtete. Der Metallgriff bestand aus zwei parallelen, hohlen Stäben, jeder mit einer Reihe von Zierlöchern, die mit einem Scharnier am unteren Teil der Klinge befestigt waren. Eine Verriegelung am Knauf hielt die Stangen zusammen. Lucy nahm das Messer, schnickte mit dem kleinen Finger die Verriegelung herunter und gab dem ganzen Ding einen anmutigen, kreisförmigen Schwung. Die drehbare Fünf-Zoll-Klinge schien zu verschwinden, rutschte zwischen die Griffhälften. Mit einem Druck gegen den Schenkel schob sie den Riegel zu, um den Mechanismus geschlossen zu halten.
»Ein Balisong«, erklärte ich dem künftigen Präsidenten. Lucy hatte mich überrascht. Schmetterlingsdolche waren eine versteckte Verteidigungswaffe, die zu erfinden die pistolennärrische Konföderation nicht für nötig gehalten hatte. »Sie werden in Amerika erst in…« »Win!« Ich verrenkte mir den Hals, um Eds zornigen Blick zu erwidern. »Was willst du?« »Deine Hilfe. Paß auf, wo du hintrittst! Sehen wir zu, daß wir Cato unter ein Dach bringen.« Diesen Moment suchte sich Ochskahrt aus, um auszurutschen und mit dem Gesicht voraus hinzufallen, und damit waren wir drei gräßliche SchlammMenschen. Dank Gallatins besorgten Eifers, Catos angeborener Zähigkeit und der Ersten Hilfe des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts überlebte der schwarze Mann. Es ist schwerer, jemanden mit einem Messer zu töten, als die Leute glauben – deshalb sind Morde durch Erstechen ja auch so grausig. Man stößt einem sein Pfadfinderklappmesser in den Bauch, und das Opfer zappelt weiter herum und schreit. Der eine Stich verlangt nach einem nächsten, und ehe man weiß, was eigentlich geschieht, ist man einer dieser VierundsiebzigStichwunden-Killer, von denen die Leute dann so schaudernd in der Regenbogenpresse lesen. Jawoll! Der nächste Morgen dämmerte klar und hell. Gallatin ließ Cato in Lucys Obhut und traf sich mit den vereinigten Häuptlingen dieser chinesischen Feuerwehrübung, mit der erklärten Absicht, noch ein weiteres Komitee zu bilden. Ich hatte das Wort mehr als satt. Diese spezielle Körperschaft, völlig von Bockmist umgeben, würde aus je drei von jedem Freiwilligenbataillon zu wählenden glücklichen Seelen bestehen. Ihr Ziel würde sein, einen Aktionsplan für diesen Tag anzunehmen. Für diesen Tag! Führte man so eine Revolution?
Pittsburgh wurde von Wilkins, Captain John M'Masters und Hugh Henry Brackenridge vertreten, der den Antrag stellte, das Komitee möge sich ein Stück weit in die Wälder begeben, ›damit es in seinen Überlegungen ungestört bleibe‹. Ein großartiger Eröffnungszug, aber er funktionierte nicht. Sobald die Komiteemitglieder anfingen, über das Feld zu schlendern, folgte ihnen eine Menge von neugierigen Mannschaftsgraden, die die Nachtigallen trapsen hörten. Es wurde eine richtige Parade. Einmal angekommen, wurde Edward Cook zum Vorsitzenden gewählt und verlangte, Nichtmitglieder sollten sich gefälligst verziehen. Einige waren so höflich, darauf einzugehen. Andere, zynischere Typen, nahmen bald ihren Platz ein. Unsere ›Geheimkonferenz‹ wurde schließlich vor einem Galeriepublikum aus den radikalsten und argwöhnischsten Brummbären im ganzen Lager abgehalten. Lucy hätte sich richtig zu Hause gefühlt. Jede Stunde langten neue Bataillone in Braddock's Field an. Sobald sie sich etabliert hatten, schickten sie weitere Delegierte – und Galeriebesucher minderer Sorte. Bradford eröffnete die Sitzung mit der Feststellung, der Zweck, nicht dieses Komitees, sondern des ganzen Trubels draußen auf dem Feld sei, Einzelpersonen zu identifizieren und zu bestrafen, die der Steuer freundlich gesinnt seien. Das war neu für jene, die hergekommen waren, um gegen die Steuer selbst etwas zu unternehmen. Um Beispiele zu liefern, las Bradford die Briefe vor, die wir erbeutet hatten und erwähnte Major Isaac Craig, John Nevilles Schwiegersohn, den er beschuldigte, er habe die Absicht, in seinem eigenen Haus ein Steuerinspektionsamt zu eröffnen, als Ersatz für dasjenige, welches in Pittsburgh geschlossen worden war. Das stritten die Pittsburgher ab. Nun kam die Reihe an Brackenridge. Er versuchte, den Zorn der Aufständischen vom Major abzulenken, indem er sich über ihn lustig machte. Als er das letztemal mit Craig zusammengetroffen sei, habe er ein (soeben erfundenes) Gerücht weitergegeben, die Rebellen hätten alte Kanonen auf dem Grund des Flusses gefunden, die Braddock dort zurückgelassen habe, und zögen sie nun
herauf, um das Fort damit zu beschießen. Brackenridge zog einigen Gewinn aus der Beschreibung der Panik, in die der Major daraufhin geriet, aber nicht genug, um etwas an den Vorgängen auf der Lichtung zu ändern. Bradford wurde ungeduldig. »Genug mit Euren Possen, Sir! Ich sage Euch, die Leute sind hergekommen, um etwas zu unternehmen, und sie müssen etwas unternehmen. Aus diesem Grunde schlage ich vor, wir entscheiden über die Männer, die wir mißbilligen, indem wir sie uns einzeln vornehmen.« Damit waren alle einverstanden. Da Butler und Craig Armeeoffiziere waren, wollte man vom Kriegsminister ihre Entlassung verlangen. Gibson und Presley sollten verbannt werden. Und so weiter und so weiter. Ochskahrt saß jenseits der Lichtung auf dem Boden und wiegte sein geliebtes Cello zwischen den Knien. Ed und ich suchten uns am Rand des sich ständig verschiebenden Zuschauerkreises zwischen einem Dutzend Gewehrschützen, die sich auf ihre Waffen stützten und zuhörten, einen umgestürzten Baum, der nicht zu feucht war. Wir sahen uns an, schüttelten die Köpfe und zuckten die Achseln. Wir hatten beide Erfahrung mit Politik. Und das hier sah auch nicht anders aus. Während sich der Rhetorikunterricht hinschleppte, beobachtete ich, wie Ed immer unruhiger wurde. Er stand auf, drängte sich durch die Daniel-Boone-Imitatoren und trat nach vorne. »Meine Herren, wir ›einfachen Leute‹ verstehen nicht, warum Ihr Euch unter Ausschluß der Öffentlichkeit beratet. Unternehmt rasch etwas! Sonst gehen wir hin und tun es allein.« Damit erregte er einige Aufmerksamkeit. Die Delegierten bekamen so etwas Ähnliches wie einen Schock. Gütiger Himmel, wenn sich die Bataillone entschlossen, ohne offizielle Richtlinien loszumarschieren, nicht auszudenken, was dann geschehen würde. Zum Beispiel, wenn sie Pittsburgh erreichten. Diese Gedanken konnte man auf Brackenridges schwammigem Gesicht lesen. Um die Führung wieder an sich zu bringen, öffnete David Bradford den Mund. Und machte ihn gleich wieder zu. Gallatin hatte
sich erhoben und wollte sprechen. »Meine Freunde, ich zögere, die Nachbarn zu kritisieren, die einem Fremden an diesen Gestaden Zuflucht gewährten. Und deshalb war ich auch lange Zeit nicht willens, an den Ereignissen teilzunehmen, die uns hier zusammenriefen.« Von den Zuschauern kam Gemurre. Für sie hörte es sich wie noch mehr Gerede an. »Aber die Frage wurde gestellt. Ich muß mit aller mir zu Gebote stehender Offenheit antworten. Würde ich weniger tun, ich erwiese jenen guten Nachbarn einen schlechten Dienst.« Er blickte David Bradford an. »Die Männer von Kesselflicker Tom, meine Freunde, waren von Anfang an im Irrtum, denn sie machten sich auf allen Seiten Feinde durch ihre Drohungen, was geschehen würde, sollte jemand sich der Steuer fügen oder sich nicht an der Rebellion beteiligen.« Er starrte Brackenridge über den Rand seiner Brille an. »Nun wird, als eine Folge davon, die Behauptung aufgestellt, jeder in diesem Aufstand erhebe sich nur aus Angst vor allen anderen! Und so entsteht der bizarr falsche Eindruck, wir rebellierten nicht gegen die Steuer und die Regierung, sondern weil unsere Nachbarn Scheusale sind – und wir selbst Feiglinge!« Zorn und Verwirrung bei Komitee und Zuschauern gleichermaßen. Gallatin gelang es, sie niederzuschreien, mit dünner Stimme und starkem Akzent: »Betrachtet doch Monsieur Brackenridge, mes amis! Wenn im Falle einer Niederlage er und die anderen ›Zaungäste‹ Hamilton mitteilen, sie seien aus Angst um ihr Leben nach Braddock's Field gekommen, so kann man sie vernünftigerweise nicht gerichtlich belangen, weil sie versucht hätten, den Staat zu stürzen.« Er kramte in seiner Jacke herum. »Ich habe ein Dokument vorbereitet, das Grenzen ziehen wird zwischen jenen, die der Regierung in dieser Angelegenheit Widerstand leisten und jenen, die sie darin unterstützen, indem sie ihre Nachbarn unterdrücken. Darüber hinaus…« Mehrere Unterbrechungsversuche. Viele Anwesende wollten nicht, daß diese Grenze gezogen wurde. »Darüber
hinaus, auch wenn ich keine Vergleiche zum Beispiel zur Magna Charta oder zur Unabhängigkeitserklärung ziehen möchte – nicht einmal zu der Verfassung, die uns in diese Lage gebracht hat –, wird, wie ich glaube, dieses Dokument sicherstellen, daß etwas dergleichen niemals mehr geschehen kann. Und so, mes amis, beantrage ich, Abraham Alfonse Albert Gallatin, folgendes: Einen neuen Vertrag zwischen den einzelnen Bewohnern des Kontinents von Nord-Amerika…« Gemurmel aus der Menge. Gallatin rückte seine Brille zurecht. »Wir, die Unterzeichneten, Zeugen der Lektion, die uns die Geschichte erteilt – daß nämlich keine Form politischer Regierung zuverlässig die Rechte des Einzelnen auf Leben, Freiheit oder Besitz zu sichern vermag –, wollen hiermit gewisse Grundprinzipien aufstellen und formulieren, an denen unser Verhalten untereinander und gegenüber anderen gemessen werden kann.« Neben mir murmelte einer der Männer: »Was soll das, im Namen dessen, was ein Bär im Wald macht, bedeuten?« »Daß die Demokratie nicht funktioniert hat«, flüsterte Ed, »und Gallatin etwas anderes versuchen will.« »Ach so.« »Erstens«, fuhr Gallatin fort, der das Geflüster nicht gehört hatte, »wollen wir fürderhin anerkennen, daß jedem Individuum allein und ausschließlich die Verfügungsgewalt über seine oder ihre Existenz und über alle Produkte dieser Existenz zusteht, und wir wollen keinerlei bindende Verpflichtungen unter diesen Individuen zulassen, abgesehen von solchen, denen sie freiwillig und ausdrücklich zustimmen. Zweitens«, sagte Gallatin, »wollen wir unter keinen Umständen irgend jemandem das Recht zuerkennen, als erster Gewalt gegen eine andere Person anzuwenden, statt dessen wollen wir das unveräußerliche Recht des Einzelnen verteidigen, sich Zwängen mit allen Mitteln, die nach seiner Beurteilung dazu notwendig sind, zu widersetzen.«
Der Waldläufer ließ nicht locker. »Na, Sokrates, was soll das denn jetzt heißen?« »Wenn Ihr etwas nicht tun wollt…« – kam ich Ed zuvor, was mir einen finsteren Blick eintrug –, »einschließlich Steuern zahlen – soll niemand die Macht haben, Euch dazu zu zwingen.« »Drittens wollen wir jene Beziehungen unter den Menschen als unverletzlich erklären, die völlig freiwillig sind, umgekehrt aber soll jede Beziehung, die nicht auf einem derartigen beiderseitigen Übereinkommen beruht, als inhaltslos und ungültig betrachtet werden.« »Was das bedeutet, weiß ich!« rief unser bukolischer Gefährte. »Keine Alarmierung der Bürgerwehr mehr!« Neben ihm fragte ein zweiter Gewehrträger: »Aber was ist mit den Indianern?« Ich antwortete: »Die werden auch keine Alarmierung der Bürgerwehr mehr erleben.« Gallatin ackerte weiter. »Viertens wollen wir beachten, daß Rechte dem Wesen nach weder kollektiv noch additiv sind – zwei Menschen sollen nicht mehr Rechte haben als einer, auch nicht zwei Millionen oder zweitausend Millionen –, auch soll keine Gruppe irgendwelche Rechte besitzen, die über die Rechte ihrer einzelnen Mitglieder hinausgehen.« Der buckskingekleidete Grenzlandbewohner machte ein verständnisloses Gesicht. Ich öffnete den Mund. »Keine Alarmierungen mehr«, sagte Lucy, »ganz gleich, wie viele Leute Euch durch Abstimmungen dazu bringen wollen!« Sie schaute mit bedeutungsvoll wackelnden Augenbrauen zu einem Baum hinüber, an dem der dick verbundene Cato lehnte und mit einem stolzen Grinsen seinem Arbeitgeber zuhörte. Lucy zuckte die Achseln. Es ging noch weiter: »Fünftens wollen wir festlegen, daß diese Prinzipien ohne…« – er erwiderte das Lächeln des Schwarzen – »… ohne Rücksicht auf die Rasse, die Nationalität, das Geschlecht,
die sexuellen Gewohnheiten, das Alter oder die Glaubenszugehörigkeit einer Person gelten, und daß alle Wesen und jede wie auch immer zusammengesetzte Gemeinschaft von Wesen, die so handeln, daß sie gegen diese Prinzipien durch Anwendung von Gewalt verstoßen, ihr Existenzrecht verwirkt haben sollen.« Ich spürte, wie mich jemand an der Schulter berührte. Diesmal wartete ich, bevor ich den Mund aufmachte, und tatsächlich sagte eine Stimme hinter dem Gewehrträger: »Er meint, wir haben diese idiotische Regierung lange genug ertragen und uns von ihr ausplündern lassen, es ist Zeit, etwas Vernichtendes dagegen zu unternehmen!« Als sich der Waldläufer umdrehte, sah er noch so ein kahlköpfiges, bebrilltes Individuum, das zu ihm aufschaute, aber dieses wakkelte mit seinem Cellobogen. »Meine Freunde«, sagte Gallatin, »ich nähere mich dem Ende: Nach einstimmiger Billigung durch die Mitglieder oder Bewohner jeglicher Gemeinschaft oder jeglichen Territoriums innerhalb des Kontinents von Nord-Amerika vereinbaren wir weiterhin, daß diese Übereinkunft alle existierenden, bisher gültigen Dokumente oder Gepflogenheiten der Regierung aufhebt, daß besagte Verfassungen, Satzungen, Verfügungen, Gesetze, Statuten, Vorschriften oder Verordnungen, die dem in dieser Übereinkunft ausgedrückten Ziel zuwiderlaufen oder ihm abträglich sind, für null und nichtig erklärt werden, und daß dieser Vertrag, der ja das Eigentum derer ist, die ihn verfaßt und unterzeichnet haben, keiner Interpretation unterworfen sein soll, ausgenommen da, wo diese damit einverstanden sind.« Schweigen. Gallatin legte das Papier nieder, nahm seine Brille ab und räusperte sich. »Im Einklang mit diesen Gedanken müssen wir, glaube ich, all jene entlassen, die möglicherweise nicht aus echter Überzeugung hier anwesend sind. Ich kann für niemand anderen sprechen; ich will es auch nicht. Aber für ihre sichere Rückkehr nach Pittsburgh, oder wohin auch immer sie gehen möchten, garantiere ich mit meinem Leben.« Das Schweigen
schlug um in Tumult. Man hörte Schreie, Flüche, ein allgemeines Stimmengewirr. »Gleichermaßen…« Der Lärm zwang Gallatin, einen Augenblick innezuhalten. »Gleichermaßen, mes enfants.« Der Lärm verstummte. »Gleichermaßen müssen wir uns verpflichten, allen Besitz – ausgenommen den der Steuereinnehmer, der verwirkt ist – unberührt zu lassen. Sonst werden wir das, was unsere Feinde sind, und verlieren den Krieg kampflos.« Bei diesem Ansinnen ging der Radau wieder los, aber etwas zurückhaltender. Gallatin wartete, bis die Leute sich ausgetobt hatten, ehe er fortfuhr. »Unsere Absichten liegen in schriftlicher Form vor. Falls keine Korrekturen verlangt werden, möchte ich alle Teilnehmenden bitten, diesen Vertrag zu unterzeichnen, ihr Zeichen vor Zeugen zu machen, oder sich, ohne Schaden oder Groll von seiten jener befürchten zu müssen, die unterzeichnen, zu entfernen.« Andrew McFarlane nahm den Federkiel und lachte: »Unbedingt, Messer Gallatin, verschont nur Kirkpatricks Besitz. Aber ich warne Euch alle – sagt ihm das, wenn Ihr ihn seht –: Sollten er und ich uns jemals begegnen, so wird einer von uns sterben!« Nachdem er den Mörder seines Bruders so gewarnt hatte, unterzeichnete er. »So möge es sein«, antwortete Gallatin und schwieg dann kurz, um seinen eigenen Namen unter das Dokument zu setzen. »Monsieur Bradford hat den Vorschlag gemacht, wir sollten Pittsburgh niederbrennen. Monsieur Brackenridge möchte andererseits, daß wir unsere Revolution in eine harmlose Parade umwandeln. Es gibt noch eine dritte Alternative, mes amis. Laßt uns in der Tat durch Pittsburgh marschieren um zu demonstrieren, mit welcher Disziplin wir unsere Überzeugungen vertreten, und laßt unsere Zahl noch weiter anschwellen – dann auf nach Philadelphia!«
18. Kapitel Schluß mit dem Schwindel Die Kopie eines Philippinoschnappmessers aus Nippon. Eine halbwasserfeste Zündschnur, die in einem Platzregen im achtzehnten Jahrhundert zum Brennen gebracht werden konnte, wahrscheinlich mit einem Laser aus dem zweiundzwanzigsten. Ein Anachronismus zieht den nächsten mit sich. Und so kam es, daß ein müder Detektiv aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert unter den Unterzeichnern von Gallatins ›Neuem Vertrag‹ war, der etwa ein Jahr später das Rückgrat der ›revidierten Artikel der Konföderation‹ werden sollte – welche wiederum die verhaßte Verfassung der Föderalistischen Partei ersetzten. Das sind belegte Tatsachen! Ed, Konföderierter von Geburt an und ein Opfer von sozialwissenschaftlichen Studien in der Kindheit, hatte immer angenommen, dieser ›Edward William Bear‹, der seinen Namen unter das revolutionäre Dokument des Jahres 1794 gesetzt hatte, sei ein nicht mit ihm verwandter Namensvetter. Da ich nicht in der Konföderation aufgewachsen war – und mich mehr für die Unabhängigkeitserklärung interessierte (die das ›eine kleine Wort‹ Gallatins enthielt, das in meiner Welt tragischerweise fehlte) –, hatte ich den ›Zufall‹ nie bemerkt. Ich nahm den Federkiel und unterschrieb für uns beide. Lucy unterzeichnete mit verschwindender Tinte, von Ooloorie bereitgestellt, und reichte die Feder an Ochskahrt weiter. In unserem Jahrhundert würden ihre Namen immer noch zu sehen sein, wenn man sie mit der genau richtigen Mischung aus Terpentin, saurer Milch und Papageienkot besprühte. Während sich andere herandrängten, um ebenfalls ihr Zeichen unter das Dokument zu setzen, sickerte die Nachricht ins Lager zurück. Bald zog sich eine Reihe von
Möchtegern-John-Hancocks durch die Wälder und über das mit Zelten bedeckte Feld. Gallatin verlangte, daß eine Mönchsgruppe – bestehend aus mehr Pergament, Tinte und Staffeln von Leuten mit anständiger Handschrift – den Vertrag so abschrieb, daß er vollständig auf einer Seite stand. Endlich kam der Federkiel zu Brackenridge. Das Großmaul aus Pittsburgh beugte sich über den improvisierten Tisch, Schweißperlen auf der Stirn. Mit der Feder in der Hand wandte er sich an die Menge. »J-ja, unbedingt… obwohl ich gestehe, daß ich immer noch einen einfachen Marsch befürworte – nur mit dem Ziel, der Exekutive zu beweisen, daß bei uns strengste Ordnung herrscht und kein Schaden angerichtet wird.« Buhrufe und Zischen, unbeeinträchtigt von irgendwelchen Höflichkeitsbegriffen, die eine spätere Epoche vielleicht verlangt hätte. Der professionell Unabhängige hörte es nicht und redete, von einer inneren Stimme geleitet, weiter. »Genau, das ist es, wir werden durch die Stadt marschieren, abbiegen und wieder auf der Ebene des Monongahela herauskommen. Dort werden wir mit den Einwohnern ein wenig Whisky probieren – ihr Jungs trinkt doch alle gern Whisky – und über den Fluß setzen.« Gallatin legte eine Hand auf die von Brackenridge und nahm ihm die Feder weg. »Ihr seid zu nichts verpflichtet, Monsieur.« Benjamin Parkinson packte den Anwalt an den Kragenaufschlägen, sein sommersprossiges Gesicht war rot vor Zorn, der zwischen zusammengebissenen Zähnen herausquoll. »Ihr habt Glück, daß Mr. Gallatin die Angelegenheit in christlicher Nächstenliebe beigelegt hat. Ansonsten hätte man sich Eurer angenommen, Ihr… Gentleman. Wenn wir nach Pittsburgh gehen, Sir, dann gehen wir nicht wegen Whisky hin!« Brackenridges Hände flatterten wie aufgeschreckte Vögel. »Aaber ich wollte doch nur sagen, daß wir miteinander trinken sollen, und das war absolut nicht als Beleidigung gemeint! Mr. Parkinson, es würde mich wirklich sehr treffen, wenn eine unbeabsichtigte Bemerkung von mir die Harmonie stören und der Sache schaden
sollte.« Ein Augenblick der Erstarrung. Parkinson warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen. Das Gelächter begann ringsum widerzuhallen, bis Brackenridge, so rot im Gesicht wie vorher Parkinson, sich zum Rand der Lichtung davonschlich. »Hurra für Kesselflicker Tom!« Neben mir hängte ein zerlumpter Gewehrträger seinen abgetragenen, fleckigen Hut über den verbeulten Lauf seiner Waffe. Dann wirbelte er ihn hoch und schrie: »Auf ins reiche Sodom! Jetzt habe ich einen schlechten Hut, aber bald kriege ich einen besseren!« Gallatin schritt durch die Menge, packte das Gewehr und warf es zu Boden. »Schämt Euch! Nicht wir sind die Diebe, sondern die Steuereinnehmer. Unterzeichnet den Vertrag, schwört auf seine Bestimmungen, oder, beim gütigen Gott, packt Euch!« Es war das erste Mal, daß ich ihn zornig sah. Während die Überraschung über den ungewohnten Ausbruch sich durch die Menge fortpflanzte, merkte ich, daß Brackenridge verschwunden war. »Er versucht, den Pittsburgher Haufen zusammenzutrommeln.« Ed hatte wieder Kontakt mit der Enzyklopädie in seinem Kopf aufgenommen. »Ich werde ihm folgen!« »Du wirst den Teufel tun!« sagte ich. »Behalte Gallatin im Auge! Sag Lucy Bescheid!« Ich war schon fort, ehe er etwas einwenden konnte. Bald war ich zwischen den Bäumen und von der Lichtung aus nicht mehr zu sehen. Ich blickte mich um und blieb stehen, um meine Kleider auszuziehen. Ich hatte noch nicht viel Gelegenheit gehabt, mit meinem Hautanzug herumzuexperimentieren, aber da ich mit seinen Vorgängern vertraut war, spielte ich an den eingelassenen Knöpfen herum. Muster jagten über die Oberfläche, Karos, Tupfen und Paisley. Nach einigem Herumprobieren zeichneten die lichtempfindlichen Schichten auf, was sich hinter mir befand – Bäume und Büsche – und übertrugen es nach vorne. Inzwischen sendete die Vorderseite das, was sie sah, nach hinten. Ich wurde nicht vollständig, aber optisch ein Teil des Waldes,
durch den ich mich bewegte. Unsichtbar. Ich tarnte mich als das Prachtstück für den Tag des Baumes, in dessen Nähe ich mich zufällig gerade befand und blieb, als Fliedergebüsch verkleidet, nahe am Rand des mit Zelten übersäten Feldes stehen. Weiter im Nordosten stand ein weißgetünchtes Holzbauernhaus, in dem das Komitee tagte. Ich legte mich draußen direkt unter ein verglastes Fenster und täuschte vor, ich sei die Erweiterung eines geschwärzten Baumstumpfs. Nachdem ich eine Fingerspitze als Periskop auf das Fenstersims gelegt hatte, verstärkte ich meine Wahrnehmungsorgane. Auf der Innenfläche meiner Kapuze erschien das Bild eines Raums. Mein durch den Anzug gesteigertes Hörvermögen war ohne Übertreibung phänomenal – und was ich, nur durch beiläufiges Schnüffeln, von meiner Umgebung erfahren konnte, hätte ganze Enzyklopädien gefüllt. Ich verringerte die Audiokapazität meiner Anzugrezeptoren und schaltete die – was, Riechkapazität? – herunter, soweit es ging. Hatte einfach nicht das Geruchszentrum, um das auszuhalten. Hugh Henry war im Haus und schickte gerade Leute aus, um den Rest des Komitees zu suchen. An der improvisierten Sitzung sollten alle Pittsburgher teilnehmen, die man eben auftreiben konnte. Brackenridge befand sich in einer Stimmung, die über seinen üblichen Schiß noch hinausging, und bestand darauf, einen völlig neuen Handlungsplan auszuarbeiten, um sich mit Gallatins philosophischer Bombe zu beschäftigen. Schnell. Da er paradoxerweise überzeugt war, die Rebellen seien unzivilisierbare Tiere – und gleichzeitig einen presbyterianischen Widerwillen gegen die Fleischtöpfe von Pittsburgh hegte –, wurden einige Mitglieder bestimmt, die Whisky auftreiben und ihn zu der Ebene östlich der Stadt bringen sollten, um die Truppen zu ›erfrischen‹. Jeder Laden, jede Schenke sollte geschlossen werden – niemand durfte an die Rebellen Whisky verkaufen. Inzwischen wollte man einzelne Städter ermutigen, aus ihren Vorräten zu spenden. Auf diese Weise würden die Rebellen keine Entschuldigung dafür
haben, wenn sie aus der Reihe ausbrachen und durch die Straßen der Stadt strolchten. »Die Aufständischen sind in einer häßlichen Stimmung«, behauptete Brackenridge. »Für mich gibt es keinen Zweifel, daß sie vorhaben, die Stadt zu plündern. Ich weiß aus bester Quelle, daß eine große Anzahl von Rebellenfrauen in Coal Hill darauf wartet, daß sie vernichtet wird, und ihren Männern dabei helfen will.« John Wilkins sen. fragte: »Und was ist das für eine Quelle, Hugh Henry?« »Tja, äh… das ist unwichtig, Sir! Die kleine Edna…« – der Anwalt hielt inne – »… ich meine, meine Informantin hat mir versichert, daß dem so ist.« Ich grinste vor mich hin. Coal Hill beherbergte neben anderen hervorragenden Eigenschaften auch das, was Pittsburgh in puncto Amüsierviertel aufzuweisen hatte. Kurzes, verlegenes Schweigen entstand. Die Erwähnung seiner Informantin löschte mein Grinsen jedoch noch im Ansatz aus. Erst ein gewöhnlicher Waldläufer, dann ein Postreiter, und jetzt maskierte sich Edna als Köder für die Sittenpolizei. Ich betätigte Knöpfe an meinem Arm, um Kontakt mit Ed oder Lucy aufzunehmen, aber noch ehe mir das gelang, setzte das Gespräch im Farmhaus wieder ein. »Na gut«, sagte Wilkins, der Minimagnat. »Wenn dem so ist, so möge die Last auf die einzelnen Haushalte fallen, nicht auf die hier vertretenen Interessen.« Ein Summen zynischer Zustimmung war die Antwort darauf. Was noch wichtiger war, man beschloß, weder Gallatins aufrührerischen, anarchistischen Vertrag zu unterzeichnen (dafür bestanden ohnehin keine großen Chancen, und die tatsächlich verwendeten Ausdrücke lauteten ›republikanisch‹ und ›jakobinisch‹), noch zu gestatten, daß er in der Stadt verbreitet wurde. Wer sagte doch noch: »Wer abstimmt, ist mir egal, solange das Nominieren mir überlassen bleibt?« Einige Komiteemitglieder entschuldigten sich, beunruhigt und nervös angesichts einer bevorstehenden Invasion, und machten sich auf den Weg in die Stadt, um die Papiere und Wertsachen zu
verstecken, die sie nicht schon beiseite geschafft hatten. Sie luden Hugh Henry ein, mitzukommen. Er versicherte ihnen, er habe schon Befehl gegeben, seine eigenen Schrankskelette über den Fluß ins Haus eines Freundes schaffen zu lassen und erbot sich, weiterhin Leben und Gesundheit aufs Spiel zu setzen, um ein verantwortungsvolles Auge auf das Rebellenlager zu haben. Ein besser als die übrigen informierter Witzbold erwähnte die unwiderstehliche Anziehungskraft der ›kleinen Edna Klute von Coal Hill, dem pennsylvanischen Spezialvergnügen‹. Hrrm! Schnorch! Pfft! Nachdem der gedemütigte Brackenridge, Anwalt und allseits bekannter Familienvater, mit seiner Major-HoopleNummer fertig war, scheuchte er die anderen hinaus, sperrte die Tür zu und watschelte in die Schlafräume an der Rückseite des Hauses. Wo ihn jemand erwartete – jemand, den ich gut kannte. Sie drückte gerade eine Zigarette in einer Zinnuntertasse aus, als es mir gelang, um die Ecke zu schleichen und mich unter dem passenden Fenster niederzulassen. Ein Haufen Teekisten ergab eine gute Jagdtarnung. »Mein Liebchen Hugh Henry!« schnurrte sie mit einer schwülen, durch einen unechten Akzent gefilterten Stimme. »Bist du endlich fertich mit den langweilichen Männer, Lieplink?« »Ähm, hm, harrum…« Brackenridge war vorübergehend seiner Beredsamkeit beraubt. Edna legte sich auf der Steppdecke eines großen Messingbetts zurück, ihren Reisemantel und andere Kleidungsstücke hatte sie daneben auf einen Stuhl geworfen. Der Schaden an ihrem Hautanzug mußte verheerend gewesen sein. An seiner Stelle trug sie jetzt eine schwarze Strumpfhose, Legwarmers, und darüber ein rotschwarz gestreiftes Trikot. Diese Kleidung hatte augenblicklich sichtbare Auswirkungen auf den Sitz von Hugh Henrys innerer Hosennaht. »Komm, mein Schatzkästlein«, sagte sie, ohne eine Antwort abzuwarten, »setz dich neben mich und erzähl' mir alles über deine Sitzung! Du weißt ja, wie sehr ich mich für Politik interessiere.« Der Anwalt gehorchte und verstreute Jacke, Schuhe, Weste und
Kniebundhosen hinter sich auf dem Fußboden. Männerunterwäsche sieht in jedem Jahrhundert echt schlimm aus und gibt den Mann schonungslos der Lächerlichkeit preis. Die seine war keine Ausnahme. Während sie ihn bearbeitete, faßte er die Ereignisse zusammen und antwortete gelegentlich auf eine Frage. Sie behandelte ihn wie eine von Dr. Skinners Ratten, belohnte Antworten und hielt die Belohnung raffiniert zurück, wenn sie mehr wissen wollte. »Ausgezeichnet, Knödelchen, mit unseren Plänen läuft alles gut. Hör jetzt gut zu, wenn Edna dir erzählt, was zu tun ist!« Es war klar, daß er sich lieber um andere Dinge gekümmert hätte, aber er gehorchte. »Ich habe dir ja gesagt, daß ich aus der Zukunft komme – einer Zukunft, die nicht eintreten darf. Wir müssen hier und jetzt die Ereignisse so verändern, daß eine andere Zukunft geschaffen wird. Hast du das verstanden?« »Nun ja…«, antwortete Brackenridge. »In gewissem Sinne.« »Sehr schön, in gewissem Sinne verstehst du vielleicht auch, daß in dieser Zukunft, aus der ich komme, eine Menge Fortschritte im technologischen Bereich gemacht wurden – ›im mechanischen‹, wenn du das andere Wort nicht verstehst. Wir können Dinge tun, die in deiner Zeit nicht möglich sind. Verstanden?« »Nein.« »Macht nichts. Wenn wir diesen Gallatin und seine Freunde aus meinem Jahrhundert einmal aus dem Weg geschafft haben, kann ich das einsetzen, was ich weiß, um den Lauf der Ereignisse zu lenken. In einigen Universen wird ein zweiter Krieg mit England geführt werden. In diesem Universum, das wir gemeinsam schaffen, wird England verlieren. Kanada wird von den Vereinigten Staaten geschluckt, und innerhalb eines Jahrhunderts wird dieses Land das Zentrum eines Weltreichs sein, das die gesamte bekannte Galaxis umfaßt – mit mir als Kaiserin. Bin ich zu schnell für dich?« »Nicht schnell genug, mein Liebling«, erwiderte der frustrierte Brackenridge, der nicht wußte, wohin mit seiner Latte, »aber du wirst immer die Kaiserin meines Herzens sein.« »Wie nett.« Der Akzent war jetzt verschwunden, aber das schien
dem dicken Anwalt nicht aufzufallen. »Wir müssen nur diese Rebellion niederschlagen, ehe sie ins Rollen kommt. Glaubst du, das kannst du für mich schaffen?« Er nickte, und das nahm sie als Stichwort, um ihn zu belohnen, indem sie seinen Kopf dorthin führte, wo es ihr am angenehmsten war. Sie fuhr ihm mit einer Hand durch das Haar, zündete sich noch eine Zigarette an und genoß so zwei Laster gleichzeitig. »Sehr gut«, sagte sie zu Brackenridge, der bei seiner Intimpflege nichts hörte. »Schneller, wenn's geht!« Lieber Leser, es gibt Augenblicke, da muß man den Schleier der Diskretion über die nachfolgenden Ereignisse breiten – sonst müßte man nämlich kotzen. Ich habe Sex nie für einen Zuschauersport gehalten, und bei diesem Pärchen hätte ich mir lieber einen guten Horrorfilm angesehen. Als es endlich vorüber und auch er auf seine Kosten gekommen war, begannen sie sich anzuziehen und brachen in verschiedene Richtungen auf, Brackenridge nach Braddock's Field, und Edna zurück nach Coal Hill. Eine der Teekisten zersplitterte, und ich fiel sechs Zoll weit hinunter. Drinnen erstarrte Edna und wirbelte, Eisen in der Hand, herum. Überrascht riß ich die Arme hoch. Ein Energiestrahl. Dunkelheit. Bewußtlos war ich nicht. Mein Anzug bewältigte, wie ich glaube, auf diese Weise die Überladung durch den Laserschuß. Als ich die Kapuze vom Kopf bekam, war das Äußere silbrig wie ein Spiegel. Mit der Pistole in der Hand spähte ich wieder durchs Fenster. Der Raum war leer. Das Haus auch. Ich hatte kein Verlangen, mich mit jemandem zu besprechen, ehe ich alles durchdacht hatte. Vielleicht konnte man sich Ednas auf der Straße nach Coal Hill annehmen – einen von uns losschikken, um sie zu erledigen. Aber Leibwächter und Detektiv sind zwei verschiedene – und sich gegenseitig ausschließende – Spiele. Das erste verlangt, seinem Klienten nicht von der Seite zu weichen, das zweite genau das Gegenteil. Ich kam ständig wieder zu denselben verdammten Schlüssen: wir waren zu wenige, um auch nur eine
anständige Überwachung durchzuführen. Wir konnten nicht einmal die freundlichsten Einheimischen für uns einspannen, sie wären nicht fähig gewesen, mit paratronischen Aufklärungsgeräten und Energiewaffen fertig zu werden, schon gar nicht mit der Tatsache, daß wir überhaupt existierten; es ging uns darum, Gallatin am Leben zu erhalten, nicht etwa, Räuber und Gendarm zu spielen; Edna hatte so eine Art, einem durch die Finger zu schlüpfen – nachdem sie wußte, daß man sie hier gesehen hatte, konnte niemand garantieren, daß sie nach Coal Hill zurückkehren würde; aber – eine gute Nachricht, glaube ich – irgendwann würde sie zu uns kommen. Als ich schließlich zur Lichtung zurückgestolpert kam, hatte ich diese Beobachtungen den anderen schon mitgeteilt. Gallatin und die anderen Führer saßen um den groben Brettertisch, an dem immer noch vereinzelte Vertragsunterzeichner vorbeikamen, und berieten. Das Komitee der Einundzwanzig war nach Hause gegangen. Jetzt schlug Gallatin vor, Bradford zusammen mit einem halben Dutzend Freunden des Kommandanten von Fort Fayette loszuschicken, um dem alten Knaben zu versichern, daß unsere Truppen unterwegs seien – aber nicht die Absicht hätten, das Fort in Unruhe zu versetzen. »Ich möchte, daß Ihr ihn auffordert«, erklärte er dem aufgeputzten Staatsanwalt, »uns den Vorbeimarsch zu gestatten. Das Fort dient zum Schutz gegen die Indianer. Uns geht es nichts an.« Trotz seines Eifers zögerte sogar Bradford, voreilig einen Konflikt heraufzubeschwören. »Im Fort lagert eine Menge Pulver und Schrot, von dessen Gebrauch wir profitieren könnten. Wir könnten das Fort einnehmen, mit Verlusten, aber nicht, ohne daß es in Gefahr ist, zerstört zu werden.« Gallatin stimmte zu. »Ich habe den Wunsch, alles zu vermeiden, was Monsieur Brackenridges niedrige Meinung von uns bestätigen könnte.« »Brackenridge ist nicht mit dem Komitee zurückgekehrt«, meldete ich mich zu Wort. »Ich glaube, er ist irgendwo im Lager.«
Gallatin nickte wieder. »Dann wollen wir ihn bitten, mitzukommen. Er wird hoffen, daß es zum Schlimmsten kommt. Werdet Ihr mitgehen, Monsieur Bear, um dafür zu sorgen, daß das nicht eintritt?« Ich schaute Ed und Lucy an. Er zuckte die Achseln, und sie hob die Faust zum Radikalengruß. Zehn Minuten später machte ich Gene Autry nach. Es war einer jener glücklichen Zufälle der Geschichte, der Bradford, fast erst nachträglich, auf die Idee brachte, eine Kopie des Vertrages mitzunehmen. Fort Fayette war in besserem Zustand als Couch's Fort, aber es bestand genauso aus angehäufter Erde und Palisaden. Das Tor war offen. Männer in irgendwelchen Uniformen lungerten herum. Butler kam ans Tor und forderte uns auf, einzutreten, dann hörte er uns an und überflog das Dokument. Er war ein untersetzter Mann mit rotem Gesicht, runden, glänzenden Backen und einem stahlwollenen Backenbart unter der weißen Perücke. Er behielt das Pergament und bat, ihn eine halbe Stunde zu entschuldigen, damit er überlegen könne. Wir setzten uns auf den ungepflasterten Boden im Hof, umringt von Soldaten, und fürchteten, jeden Augenblick verhaftet zu werden. Es war eine lange halbe Stunde. Butler kehrte in voller Galauniform zurück. »Mr. Brackenridge, ich bin überrascht. Seid Ihr auch auf der Seite dieser verräterischen Hunde?« Ich dachte, da haben wir den Salat. Mein Gewehr war zwar neben mir, aber andere Augen ruhten darauf. Ich legte meine Hand auf mein Messer. Der Anwalt blickte von einem seiner Rebellengenossen zum anderen – dazwischen reservierte er sich noch einen Blick für den gewaltigen Säbel des Majors in seiner polierten Scheide – und schwitzte. »Nein, Sir, ich vertrete verantwortliche Interessengruppen, deren Wunsch es ist, ihre aufrührerischen und zerstörerischen Neigungen in Grenzen zu halten.« Er ging über den Hof, um an der Seite des Majors Zuflucht zu suchen.
»Abtrünniger!« Bradford sprang auf. »Benedict! Judas! Ihr würdet Eure eigene Mutter an die Seite verraten, von der Ihr am meisten profitieren könnt!« »Ich glaube, ich stimme Euch zu, Herr Ankläger!« sagte Butler. Er deutete zuerst auf Brackenridge, dann auf ein Balkenende, das hoch oben aus der Wand des Forts herausragte, und befahl: »Hängt mir diesen Hund!«
19. Kapitel Heraus mit dem Faß Brackenridge blieb, gelähmt und sprachlos, stehen, während zwei zerlumpte Blauröcke ihren Kameraden die Musketen reichten, an seine Seite traten und ihn an den Armen packten. Bradford, der offizielle Anführer der Expedition, wollte nach vorne stürzen, dann blieb er stehen, drehte sich um und sah mich an. »Wenn von euch Männern jemand mithelfen will«, er zuckte die Achseln, »diese Tat hätte schon längst vollbracht werden sollen.« Zwei Rebellen erhoben sich und folgten der Aufforderung. An einer Ecke des Forts, wo oben auf der Mauer ein Wachturm aufragte, hatte man einen der Balken drei Fuß länger belassen als die übrigen. Auf seiner Oberseite war eine tiefe Furche ausgefräst. Ein Soldat warf ein Hanfseil darüber und schnellte es so lange hin und her, bis es sich in die Furche legte. Ein Ende machte er an einer Messingklampe fest, die besser auf das Dollbord eines Prahms gepaßt hätte. Das andere Ende band er zu einer Schlinge. Ein schweres Whiskyfaß wurde aus einem Lagerschuppen herausgerollt und unter das vorstehende Balkenende gestellt. Man hatte Brackenridges Handgelenke hinter seinen rundlichen Körper gezogen und sie mit einem Riemen gefesselt. Er hatte die Sprache wiedergefunden und begann zu protestieren. Bradford ergriff die Gelegenheit, ein spitzenbesetztes Taschentuch aus seinem Ärmel zu ziehen und es dem Anwalt in den Mund zu stopfen. Dann wandte er sich an mich. »Wißt Ihr, das wollte ich schon machen, seitdem ich ein Junge war.« Eine Vierereskorte aus zwei Soldaten und zwei Rebellen schleifte Brackenridge auf das umgedrehte Faß zu, wobei dessen Fersen zwei parallele Furchen im Dreck hinterließen. Die Schlinge schwang über unseren Köpfen in der stillen Luft hin und her. Ich wußte nicht, was ich machen sollte – oder ob ich überhaupt etwas
machen sollte –, und so lachte ich, legte dann Butler eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas in sein haariges Ohr. Er nickte. »Halt!« schrie der Major und schritt über den Hof. Mit einem seinem mittleren Alter angemessenen Ächzen beugte er sich hinunter und kippte das Faß um. Brackenridge weigerte sich, auf das Schnapsfaß hinaufzusteigen. Ich hatte ohnehin meine Zweifel, ob es ihn aushalten würde. Auf Befehl des Majors zogen die Soldaten Stachelbajonette aus den Gürtelschlaufen, befestigten sie an ihren Musketen, drehten die Waffen um und begannen, sie Millimeter vor den Zehen des Anwalts in den Boden zu stechen. Er rührte sich noch immer nicht von der Stelle. Frustriert zog Butler seine Pistole und hebelte das Schloß zurück. »Jetzt steigt hinauf, Sir! Steigt hinauf, sonst erschieße ich Euch auf der Stelle!« Mit hängenden Schultern stieg Brackenridge auf das Faß. Es schaukelte von einer Seite auf die andere und drohte, unter ihm wegzurollen. Man streifte ihm die Schlinge über den Kopf. Sie straffte sich. »Eine großartige Idee, Mr. Bear!« sagte Bradford. Er schrie über den Hof: »Rechtsanwalt, Ihr seid doch ein Mann, der an Mäßigung und Ausgewogenheit glaubt, das habt Ihr mir tausendmal gesagt. Jetzt seht zu, ob Ihr hier das Gleichgewicht eine Weile halten könnt!« Die Männer, Soldaten wie Rebellen, lachten. In den Augen des Anwalts war oberhalb des Taschentuchs, das ihm aus dem Mund herausragte, das Weiße zu sehen. Er drehte und wand sich bei dem Versuch, sich auf dem Faß zu halten. »Das…«, verkündete Major Thomas Butler und deutete mit dem Daumen nach hinten auf Brackenridge, »war meine letzte Tat als Föderalist.« In diesem Moment verlor der Pittsburgher fast das Gleichgewicht, seine Füße rollten unter ihm weg. Ein Stöhnen drang durch den Stoff. Er hüpfte und zuckte, und irgendwie gelang es ihm, das Faß unter seinen Fersen wieder zur Ruhe zu bringen. Ohne auf den Kampf auf Leben und Tod hinter sich zu achten,
entfaltete der Kommandant eine wohlbekannte Pergamentrolle, packte mich an der Schulter und drehte mich um. Ich spürte, wie er auf meinem Rücken als Unterlage etwas kritzelte. »Das«, verkündete der Bürger Thomas Butler, »ist meine erste Tat als Gallatinist!« Er reichte Bradford das Papier und hatte in diesem Augenblick als erster eine politische Bezeichnung gebraucht, die im Lauf der nächsten zweihundert Jahre jede bestehende Obrigkeit auf der Welt hinwegfegen sollte. Seinem Stellvertreter überreichte er die Rücktrittserklärung, die er während der halben Stunde des Überlegens geschrieben hatte. Am Tor zögerte er, dann zog er seinen Offizierssäbel aus der stählernen Scheide. Ächzend brach er die Klinge über seinem Knie entzwei und warf die Stücke zur Seite. »Mr. Bradford, ich bitte Euch um die Erlaubnis, sofort als einfacher Soldat in Mr. Gallatins Revolutionsarmee eintreten zu dürfen. Ist das durchführbar?« Bradford schaute auf das Pergament hinab, als habe er plötzlich eine Karte zu einem verborgenen Schatz in der Hand. Dann blickte er den Major wieder an. »Das ist es, Sir, und es ist auch schon geschehen!« Hinter den beiden brauste Jubel auf. Der obere Rand der Mauer war mit Soldaten gesäumt, die ihre Hüte schwenkten. Einige feuerten mit ihren Musketen in die Luft. Wir Aufständischen mit unserer prominenten Neuerwerbung winkten zurück und wollten unsere Pferde besteigen, während Butlers Leute, sein ehemaliges Kommando, immer noch zusahen. Dann kam ein aufgeregter Schrei: »Wartet, wartet noch einen Augenblick, Sir. Wir bitten Euch sehr, bleibt!« Die Köpfe verschwanden von den Mauerscharten. Von unserem Standort aus konnten wir das Summen von Stimmen hören, einige davon ziemlich laut. Dann wieder Jubel. Und Schweigen. Innerhalb von fünf Minuten war die ganze Anlage menschenleer, sechs oder sieben föderalistische Dissidenten hängten sich ihre Musketen über die blauberockten Schultern und verzogen sich ins umlie-
gende Gebiet. Die übrigen, insgesamt achtzehn oder neunzehn, kamen durch das Tor, stellten sich an, um unter dem Namen ihres früheren Kommandanten ihre Unterschrift unter den Vertrag zu setzen und übergaben im Namen Gallatins das Fort an Bradford. Wir waren jetzt dreimal so viele wie vorher; diejenigen, die Pferde hatten, sattelten auf und setzten sich auf der Straße nach Braddock's Field in Marsch, um sich dem Haupttrupp der Rebellen anzuschließen. Selbst wenn man diejenigen abzog, die die Bürgschaft des Schweizer Philosophen in Anspruch genommen und ihre Zelte abgebrochen hatten, würde dieser Trupp mehrere tausend Mann umfassen. Der Zuwachs, den wir bekommen hatten, war zahlenmäßig nicht besonders beeindruckend, aber wir wußten – ob wir das nun zum erstenmal erlebten wie Butler und Bradford, oder ob wir in Geschichtsbüchern darüber gelesen hatten –, daß Gallatin seinen ersten wirklichen Sieg errungen hatte. Und Brackenridge? Nach allem, was ich weiß, ist er immer noch dort und schwankt als einziger Insasse von Fort Fayette auf seinem Whiskyfaß herum. Ich ritt ans Ende der Reihe und riskierte es, einen Augenblick Zwiesprache mit meinem Anzug zu halten, um mich über die neuesten Ereignisse zu informieren. Die Verkleidung, die ich auf die Kapuze programmiert hatte, war zufällig mein eigenes Gesicht, komplett mit dem authentisch blöden Ausdruck. »Das ist eine gute Nachricht«, begeisterte sich Ed, »obwohl wir natürlich wußten, daß es so kommen würde.« Ohne auf die Streitfrage zwischen Determinismus und freiem Willen einzugehen, die er damit in meinem Kopf auslöste, beobachtete ich – durch die Augen ihres Gatten – wie Lucy den ihren schüttelte. »Wegen der Geschichte mit dem Whiskyfaß bin ich gar nicht so zuversichtlich, Winnie.« Ich grinste unsichtbar unter meiner Kapuze. Sie war im Zwiespalt, hin- und hergerissen zwischen den ethischen Prinzipien der Zeitreise und der Tatsache, daß sie
das, was geschehen war, komisch fand. »Ich kann mich nicht erinnern, daß da mal was mit Hängen war.« Ed lachte. »Wenn Win das Universum zerstört hat, dann hat es sich wenigstens gelohnt! Ich wünschte, ich hätte dabei sein können!« »Dann sieh dir die Übertragung an!« sagte ich. »Ich habe alles aufgezeichnet.« Ich schaltete auf Informationstransfer. Während sie sich die Krawattenparty anschauten, warf ich verstohlen einen Blick auf meine wirkliche Umgebung. Der Zug trottete dahin wie vorher. Mein kleines Werk erhielt schwärmerische Kritiken. Ich hatte gar nicht gewußt, daß sie so viel Spaß an Killerfilmen hatten. Wahrscheinlich lag es an dem künstlerischen Dreh, mit dem ich zum Schluß alles in der Schwebe gelassen hatte. Auf Braddock's Field hatte die Antisteuer-Bürgerwehr mit Querpfeifengequäke und Trommelwirbel ihren Achtmeilenmarsch nach Pittsburgh angetreten. Recht geordnet für einen Haufen Anarchisten. In einer zweieinhalb Meilen langen Reihe stellten sich bewaffnete, gefährliche Männer in Reih und Glied auf. Vor Gallatin waren sie nur bewaffnet gewesen. Wir sollten sie dort einholen, wo Braddock's Field Road sich mit der Fourth Street kreuzte, an dem Marsch durch den Rest der Stadt und zurück zum Monongahela teilnehmen – wo alle verfügbaren, schwimmfähigen Transportmittel von einem Komitee zusammengeholt wurden, dem zu vertrauen wir keinen Anlaß hatten – und dann über den Fluß und weiter nach Philadelphia ziehen. Wenn wir zu spät kamen, würden wir das Boot versäumen. »Aber es ist noch mehr Politik betrieben worden«, warnte Ed. Er ritt neben Lucy und Ochskahrt und genoß den Ausflug. »So?« Ich spähte unter der Kapuze hervor, um mich zu vergewissern, daß ich nicht von meinen eigenen Gefährten beobachtet wurde. »Ja, die Unterschriftsverweigerer aus Gewissensgründen – eine Minderheit, die in die Hunderte geht – haben ihre Absicht angekündigt, aus verschiedenen Gründen in dem kommenden Kampf
neutral bleiben zu wollen…« Lucy unterbrach ihn entrüstet. »Es gibt sogar eine Minderheit innerhalb der Minderheit, Winnie. Föderalisten, die drohen, sich dem Aufstand entgegenzustellen…« »Nach einer Anstandsfrist«, vollendete Ed an ihrer Stelle. »In Wahrheit haben sie sich von uns übrigen mehr als herzlich verabschiedet.« Ich schüttelte den Kopf. »Wie am letzten Tag in West Point unmittelbar vor dem Bürgerkrieg. Die Sache hat keinen einzigen Tropfen Blut weniger gekostet, nur weil man sie gentlemanlike angefangen hat.« »Gallatin hat ihnen freies Geleit versprochen«, beharrte Ed, »und sie haben sich zerstreut.« »Ich wünsche ihnen alles mögliche«, höhnte Lucy. »Nur nichts Gutes!« Der Tag schritt fort. Wir kamen zu spät zu unserem Treffen mit den übrigen, aber nicht unwiderruflich zu spät, denn wir holten sie mitten in Pittsburgh auf der Market Street ein. Ein großartiger Anblick waren wir nicht. Ungefähr ein Drittel von ›Gallatins Armee‹, wie Butler sie genannt hatte, war beritten – aber wir hatten ja auch nie behauptet, die aufständische Kavallerie zu sein. Noch weniger als ein Drittel hatte Gewehre, und ein recht ordentlicher Prozentsatz trug nicht einmal Schuhe. Sie würden Napoleons Rat (immer noch ein paar Jahre in der Zukunft) folgen und eben nur mit ihrer ›Courage‹ marschieren müssen. Edward Cook, der unvermeidliche, ewige Vorsitzende, war zusammen mit David Hamilton zum Oberstkommandierenden ernannt worden, Gabriel Blakeney war Offizier vom Dienst. Für mich hatte da ein Komitee die Hand im Spiel gehabt. Gallatin ritt die Reihe auf und ab und flehte die Leute an, ihn nicht ›General‹ zu nennen. Andrew McFarlane war an der Spitze – Verzeihung, ›er kommandierte die Vorhut‹. Er sah immer noch rot und wollte Kirkpatrick als erster in die Finger kriegen. Niemand konnte ihm das ausreden.
Aber wir bekamen Kirkpatrick nicht zu Gesicht. Das war eine dieser guten und zugleich schlechten Nachrichten. Als der Zug klipp-klapp in Pittsburgh einzog, wurde seinen Kommandanten, dem diensthabenden Offizier, der Vorhut und dem Generalissimo wider Willen die wirkliche Einstellung der Städter drastisch vor Augen geführt. Zwischen dem späten Vormittag und dem Nachmittag hatten sich die Leute gegen das Komitee erhoben und ihre Stadt wieder in ihre Gewalt gebracht. Sie waren nicht so barmherzig vorgegangen wie Thomas Butler – die Market Street war gesäumt mit den Leichen von Komiteemitgliedern, die mit gebrochenem Genick hin und her schwangen. Beim Durchreiten und weiter, auf dem langen Weg zur Hauptstadt, ertönte immer wieder der Schrei: »Auf nach Philadelphia – dort wollen sie uns haben, sagten sie! Jetzt sollen sie uns bekommen!« Gallatin hatte noch weitere Probleme. In letzter Minute, kurz bevor die ersten Boote zu Wasser gelassen wurden, erfuhr er von einem Komplott, die Stadthäuser der Nevilles, Edward Days, John Gibsons und James Brisons in Brand zu stecken. Gallatin erledigte dies geschickt in seinem Hauptquartier in Wilkins' General Store. Er ließ die Verschwörer zu sich kommen, plauderte ein wenig mit ihnen, und das war es auch schon. Kein Brand, wenigstens nicht zu dieser Zeit. Ein Captain Maximilian Riddle, gewählter Anführer der in gelben Jagdhemden auftretenden ›Riddle's Raiders‹, den man für den aktivsten der Aufständischen hielt, steckte jedoch um neun Uhr abends Kirkpatricks Stadthaus in Brand. Das war nicht der einzige derartige Zwischenfall. Es wurde gemeldet, daß man im Westmoreland County einen Steuereinnehmer namens Reagan geteert und gefedert hatte. Das Haus seines Verbrechergenossen Benjamin Wells war völlig niedergebrannt worden. Steuereinnehmer John Webster wurde in Bedford County angegriffen. Im Morgengrauen lastete noch einiges weitere auf Gallatin. Die Leute hatten aufgehört, ihn ›General‹ zu nennen, und fingen jetzt an, ihn mit ›Mister President‹ zu titulieren. Außerdem war Andrew McFarlane nirgendwo zu finden. Er holte uns ein, als die letzten von uns auf der anderen Seite des Flusses aus den Booten stiegen,
mit Schweiß und Ruß bedeckt und nach Walöl stinkend. Das letzte, was wir von Pittsburgh sahen, war eine Rauchwolke, die jenseits des Flusses von Kirkpatricks brennender Scheune aufstieg.
20. Kapitel Das soll George machen MORRIS HOUSE, PHILADELPHIA, PA. SONNTAG, 3. AUGUST 1794 PERSONEN DER HANDLUNG: GEORGE WASHINGTON, Präsident der Vereinigten Staaten ALEXANDER HAMILTON, Finanzminister THOMAS MIFFLIN, Gouverneur von Pennsylvania WILLIAM BRADFORD, Generalanwalt der Vereinigten Staaten ALEXANDER JAMES DALLAS, Minister des Commonwealth* THOMAS MCKEAN, Oberrichter von Pennsylvania WASHINGTON: »Freunde, ich möchte diese Sitzung damit eröffnen, daß ich die Aufmerksamkeit auf die Schwere der gegenwärtigen Krise lenke. Wir im Osten beobachten die Entwicklungen im Monongahela-Gebiet mit wachsender Besorgnis. Ich muß entschieden betonen, daß die energischsten und strengsten Maßnahmen notwendig sind, um zu verhindern, daß die Verfassung und die Gesetze zu Fall gebracht werden.« HAMILTON: »Meine lieben Freunde, wir wollen uns in offiziellen Zu jener Zeit Bezeichnung für die US-Staaten Kentucky, Massachusetts, Pennsylvania und Virginia – Anm. d. Übers. *
Kreisen keinen Illusionen über die Bedeutung dieser Krise hingeben. Welch schönere, besser zu rechtfertigende. Möglichkeit könnte uns denn bei unserem Bemühen, Macht und Ansehen unserer Regierung aufzubauen, geboten werden als diese vom Himmel geschickte Rebellion im Westen? Wenn wir überleben wollen, müssen die Demokraten aus der Welt geschafft werden. Und um dies wirkungsvoll zu tun, bietet es sich an, das System der öffentlichen Gelder mit aller Kraft durchzusetzen.« WASHINGTON: »Genau. Ihr formuliert sehr treffend meine Entschlossenheit, bis an die Grenze dessen zu gehen, was Verfassung und Gesetze zulassen. Im Augenblick nicht weiter. Aber die Handlungen der Generalregierung erfolgen notwendigerweise langsam, da sie abwarten muß, bis die Justizbehörden feststellen, daß die Unruhen außer Kontrolle geraten sind. Ich frage Euch, ob es keine Möglichkeit gibt, wie das Commonwealth uns durch den Beschluß von Präventivmaßnahmen zu Hilfe kommen könnte.« MIFFLIN: (verlegen) »Sir, das erinnert mich… an die Prophezeiung, die Bundesregierung würde im Laufe der Zeit die Staaten schlucken. Ich kann nicht umhin, diesen Vorschlag als einen Schritt in jene Richtung zu interpretieren.« BRADFORD: »Also wirklich, Mifflin, das ist doch Unsinn! Wir kennen alle, nicht wahr, das Gesetz von 1783, das den Gouverneur dieses Commonwealth ermächtigt, bei plötzlichen Notfällen, die Bürgerwehr zu alarmieren.« DALLAS: »Ha! Und ich möchte Euch darauf hinweisen, Mr. Bradford, daß dieses Gesetz, bei dem Ihr so dankbar Zuflucht sucht, während seiner Gültigkeit stark überstrapaziert wurde und schon seit langem außer Kraft gesetzt ist!« (zum Präsidenten gewandt) »Als Antwort auf die Frage an Mr. Bradford, Euer Exzellenz, sehe ich mich gezwungen, meine aufrichtige Meinung kundzutun, daß unser Gouverneur, genau wie Ihr selbst, verpflichtet ist, eine gerichtliche Feststellung abzuwarten, ehe er ermächtigt werden kann, die Bürgerwehr zu
alarmieren. Es tut mir leid, Sir, aber so ist die Lage.« WASHINGTON: (gereizt) »Aber so wird sie nicht lange bleiben, Mr. Dallas. Ich möchte ganz klar meine Absicht zum Ausdruck bringen, mit militärischen Mitteln gegen die Aufrührer vorzugehen.« MCKEAN: »Und ich, Sir, möchte Euch so eindeutig wie nur irgend möglich versichern, daß die Gerichtsbarkeit der Aufgabe, diese Aufstände zu unterdrücken und zu bestrafen, mehr als gewachsen ist. Der übereilte Einsatz von militärischen Kräften wäre zu diesem Zeitpunkt genauso schlimm wie alles, was die Aufrührer bisher angerichtet haben – und außerdem wäre er verfassungswidrig und ungesetzlich.« HAMILTON: »Die Pest über die Verfassungstreue! Ich will keine Zeit damit vergeuden, die gefeierten Gründe für die Unzufriedenheit im Westen noch einmal herzusagen. Sie sind endlos und werden auch nicht über Nacht verschwinden. Wie ein treuloser Liebhaber hat der Westen unsere Liebkosungen verschmäht, und aus diesem Grunde stimme ich mit unserem Präsidenten überein und bestehe darauf, der Krise durch den sofortigen Einsatz von Waffen zu begegnen!« DALLAS: (die Hände ausbreitend) »Ich möchte dazu nur bemerken, daß nach Ansicht von Richter Alexander Addison von Pittsburgh Gewalt nur den Widerstand gegenüber dem fördert, was unvermeidlich als ein Versuch betrachtet werden muß, das Volk in die Unterwürfigkeit zu zwingen.« HAMILTON: »Addison? Dieser schreckliche Mensch ist doch selbst einer der hinterhältigsten Förderer der Opposition! Seht mich nicht so an! Mein vorläufiger Bericht an den Präsidenten enthält viele Einzelheiten über das aufwieglerische Verhalten von Richter Addison.« Ich wette, Sie wundern sich jetzt, wie, zum Teufel, wir diese Aufzeichnung in die Hände bekamen. Landesvater und so weiter. Es ist eine lange Geschichte. Ich werde noch darauf kommen – in den
Grenzen plausiblerweise abzustreitender Umstände. Washington hatte die Sitzung in seinem Wohnsitz an der Market Street von Philadelphia einberufen, kurz bevor die Nachricht von dem Marsch der Rebellen durch Pittsburgh am Tag zuvor die Hauptstadt erreicht hatte. Neben dem Präsidenten waren die meisten hohen Tiere der Regierung des Bundes und des Staates Pennsylvania anwesend, darunter die, die das obige Gespräch führten, dazu Außenminister Edmund Randolph und Kriegsminister Harry Knox. Zusätzlich zum Gouverneur, dem Oberrichter und dem Staatsminister als Vertreter des wichtigsten Staates saß auch noch dessen Generalstabsanwalt Jared Ingersoll dabei. Und sagte kein einziges Wort. Eine paratronische Unterredung mit Ooloorie hatte zu der für alle unangenehmen Entscheidung geführt, daß nun, da die Rebellion gut voranging, einer von uns seine Aufmerksamkeit auf die andere Seite richten und im Auge behalten sollte, was die Bösewichte ausheckten. Die hiesigen Bösewichte. Lucy und Ed hatten Coal Hill durchkämmt, ohne eine Spur von Edna zu finden. Ich hatte den Verdacht, daß einer von ihnen beim Strohhalmziehen gemogelt hatte, konnte es aber nicht beweisen. Außerdem wurde mir so der lange Marsch mit den Truppen erspart. Und daher fing alles mit einem weiteren, unvergeßlichen Abend in Pittsburgh an. Die Nacht war dunkel, und der Mond war gelb – ich will nicht einmal darüber nachdenken, was wegen des Standortes alles heruntergepurzelt kam. Ich war ja dagegen, aber es gab nur eine Möglichkeit, wie man als Fremder in dieser Menge einmal ungestört sein konnte. Eine Hand zur Vorsicht auf dem Griff der Pistole, für die ich Ed das Gewehr gegeben hatte, stolperte ich durch die dunklen Schatten einer Gasse voller Sachen, die eines Tages teure Antiquitäten sein würden – im Augenblick waren sie nur Gerümpel – und versuchte, den winzigen Schuppen zu finden, den ich vor ein paar Tagen mein eigen genannt hatte. In der Nacht sah die Gasse ganz anders aus. Nichts schien mir vertraut. Die Mülltonne aus galvani-
siertem Stahl war noch nicht erfunden, auch der Telefonmast nicht, und genausowenig das Automobil, aus dem man stehengelassene Kolosse und Stapel mit abgefahrenen Reifen gestalten kann. Kurz, die typische amerikanische Gasse war noch nicht zu der Kunstform erhoben, die sie später einmal werden sollte. Ich hatte mich verlaufen. Auf beiden Seiten von mir herrschte hinter zugeknöpften Häusern und Ladenfronten ein tolles Durcheinander, ein Städtchen mit tausend Einwohnern versuchte, Platz für die fünffache Anzahl zu schaffen. Sicher, die Fremden hatten ihre Zelte und Bettzeugrollen mitgebracht. Aber das Problem war, genügend Fläche zu finden, wo sie sie ausbreiten konnten. In einer Ein-Pferd-Stadt kam es nicht einmal in Frage, in einer Krippe zu schlafen. Irgendwo jodelte ein Kater den indianischen Liebesruf. Ich schnüffelte. Die Kühle des Abends hatte das anheimelnde Aroma ein wenig gedämpft, aber da war sie ja, die ländliche Telefonzelle, von der aus ich vor kurzem mit Ooloorie gesprochen hatte. Ich schlich mich hinein, ganz behutsam, für den Fall, daß eine verzweifelte Seele dieses Örtchen als Schlafstätte entdeckt hatte. Leer. Ich verriegelte die Tür mit dem Halbmond hinter mir und sagte mir dabei, daß es ohne die Fliegen einfach nicht dasselbe war. Ich drückte auf meine Ärmelknöpfe: »Kirk an ›Enterprise‹, beamt mich hoch!« Ein teuflisch blauer Punkt hing in der Dunkelheit. »Landwesen, du wirst noch auf deinem Sterbebett schlechte Witze machen.« Der Punkt erweiterte sich, aber die Ränder blieben schmerzhaft hell. Ich stieg hindurch und war im San Francisco des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts und in der Emperor Norton Universität. Auf allen Seiten umgaben mich komplizierte, vor aufgestauter Energie vibrierende Geräte. Alle vier Wände des weiß gefliesten Raums waren durchsichtig, eine zeigte eine atemberaubende Stadtansicht – die Golden Gate Bridge war hier nie gebaut worden, aber die breite, mit Luftkissenfahrzeugen bedeckte Seestraße, die ihre Stelle einnahm, war immer noch mit schaumspritzenden Glüh-
würmchen bedeckt, die, wie die Straßenbahnen, als Teil der historischen Atmosphäre erhalten wurden. Auf den anderen drei Flächen – und, der Himmel schütze mich, auch auf der Decke – schwappte Salzwasser, in dem eine gleichermaßen salzige, silbergraue Gestalt schwamm, ohne Arme und Beine, anderthalbmal so lang wie ein Mensch, mit doppelt soviel zur Schau gestellter Intelligenz (jedenfalls im Vergleich zu mir) und einem Viertel des Sinns für Humor. Ich befand mich, aus ihrer Sicht, in einem Luft-Becken. »Sei gegrüßt, Ozeanwesen, hast du in letzter Zeit Heringe eingelegt?« Der Tümmler schlug mit dem Schwanz. »Bei surrealistischen Gesprächen kommt nichts heraus, Edward William Bear. Es ist uns gelungen, Ankunftskoordinaten für das Philadelphia des achtzehnten Jahrhunderts zu bestimmen. Ich speise die Werte über eine direkte Gedankenverbindung in die Maschinerie ein, um sicherzustellen, daß sie genau stimmen.« Ooloorie, die nicht zu einer mit Fingern ausgestatteten Gattung gehörte, mißtraute allen Geräten und den Leuten, die sie bedienten. Sie sah nur selten einen Anlaß, ihr feuchtes Kloster zu verlassen – obwohl das mit einem Hautanzug leicht möglich gewesen wäre –, sie bevorzugte es, den Wissenschaften und der Mathematik rein zerebral nachzugehen. Ein Rascheln und Zischen erregte meine Aufmerksamkeit. Ich schaute zu einer leeren Ecke des Raumes hin. Durch den ansonsten massiv wirkenden Boden stieg, wie Zahnpasta, ein kleiner Stapel Informationschips aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. »Du kannst nicht ohne fortgeschrittenes Wissen im alten Philadelphia auftreten«, sagte Ooloorie. »Da du kein Implantat hast, werden wir deinen Anzug mit diesen Daten füttern.« Ich nickte, wollte aber nur ungern etwas überstürzen. Dieser Raum war so ein angenehmer Aufenthaltsort im Vergleich zu dem, den ich gerade verlassen hatte – und das galt übrigens für das gesamte achtzehnte Jahrhundert. »Großartig. Wann soll ich zurück?« »In ungefähr fünf Minuten. Wir sind in diesem Zeitreisegeschäft noch neu. Ungenügende Genauigkeit in der Kalibrierung. Sonst
würde ich dich eine Nacht ausschlafen lassen und dich dann in die Minute zurückschicken, in der du Pittsburgh verlassen hast. Laß mir noch einmal zehn Jahre Zeit, dann habe ich bestimmt solche Kunststücke in der Hand.« »Aber liebe Ooloorie«, widersprach ich, während ich die Informationschips durch einen Schlitz in meinem Ärmel einführte, »du hast doch gar keine Hände.« Sie wühlte mit ihrem Schwanz das Wasser auf. »Du stellst meine Geduld auf die Probe, Mensch. Ich bin nicht verpflichtet, mir solchen Unsinn gefallenzulassen.« Mit einem ärgerlichen Schwanzschlag schwamm der Tümmler in die trübe Ferne. »Was ist denn mit dir los, zwicken dich die Entenmuscheln?« Ich kannte die Wissenschaftlerin jetzt seit mehr als einem Jahrhundert. Die Seele einer Party war sie nie gewesen. »Oder bist du sauer, weil du nicht vor Hirnschlag die Zeitreise erfunden hast?« Sie schwieg lange, dann sagte sie: »Schlimmer, Landwesen, wenigstens von meinem Standpunkt aus.« »Schwimmpunkt«, korrigierte ich, dann tat es mir leid. »Entschuldige.« »Schon verziehen, Win – aber das ist es auch, was an mir nagt. Das, und was du über ›Hände‹ gesagt hast. Es geht um meine Tochter, Leelalee, kennst du sie?« Ich erinnerte mich an einen Brief, den ich vor langer Zeit von einem meiner Mädchen bekommen hatte – vielleicht war es auch Koko Featherstone-Haugh – von der ›Tom Paine Maru‹. »Sie ist doch Kapitän auf einem Sternenschiff oder so etwas?« »So etwas. Sie hat die letzten paar Jahrzehnte unter Menschen und Affen gearbeitet. Jetzt hat sie sich entschlossen, bei der Kolonisation eines vor kurzem entdeckten Meeresplaneten mitzuhelfen.« »Das ist schlimm, oder?« »Leelalee ist zu der Ansicht gekommen, daß sie sich ein Paar Hände wachsen lassen muß.«
»Hmmmm.« Ich blinzelte. »Wußte noch gar nicht, daß das geht. Trotzdem…« Jenseits des Raums vollzogen sich von selbst Korrekturen an den Penetratorgeräten. Ich sah das höchst ungern. Ich genoß meinen Miniurlaub in einem Jahrhundert, das ich verstand. Ooloorie fuhr fort: »Genetische Manipulation somatischen Gewebes. Was würdest du empfinden, wenn deine Töchter zu dem Entschluß kämen, sich einer religiösen Sekte anzuschließen? Oder Hamiltonistinnen zu werden? Oder sich ein Elchgeweih wachsen zu lassen? Lach nicht – für mich ist das so, Win! Ein Tümmler braucht so dringend ein Paar Hände wie…« »Wie ein Fisch ein Fahrrad«, vollendete ich. »Manipulatorische Organe sind etwas für weniger begabte Intelligenzen. Die Bessergestellten sollten die reine Erkenntnis zu schätzen wissen, über die sie verfügen.« Ich war an Ooloories beiläufige Kränkungen gewöhnt. Sie war eben so. Jetzt hörte ich Bitterkeit in ihrer Stimme. Professor DJ. Thorens war für den Tümmler wie eine Tochter gewesen – aber auch sie war ausgewandert. Hatte sie es getan, um nicht weiterhin als zweitrangiger Nachwuchs angesehen zu werden? Ich machte den Mund auf, aber in Anbetracht der faulen Ausrede, die ich ihr statt echter Anteilnahme bieten wollte, war es gut, daß die Wissenschaftlerin mich unterbrach, ehe ich noch zu Wort gekommen war. »Ich habe die Hauptmoebiusspule zurückgeschickt, Edward William Bear. Es tut mir leid, daß die Apparatur so schwerfällig zu bedienen ist. Nach dem, was Edna Janof mit Hirnschlag von Ochskahrts Geräten angestellt hat, blieb nicht mehr viel übrig, was man noch verwenden konnte.« »So lange es mich nicht im Hyperraum aussetzt…« – ich klopfte auf die Pistole in meinem Gürtel – »oder irgendwo in grauer Vorzeit, bei den Dinosauriern.« »Ich muß dir noch etwas zeigen.« Durch den Fußboden stieg ein kahler Schädel, gefolgt von dem zornigsten Paar rotgeränderter Augen, das ich jemals gesehen habe. Darunter befand sich ein
Knebel, und dann erschien ein Körper in der Kleidung des achtzehnten Jahrhunderts – bis auf die Handschellen, Bauchketten und Fußeisen. Wenn ich im Geschichtsunterricht aufgepaßt hatte, war das niemand anderes als Jared Ingersoll, der Generalstaatsanwalt des Staates Pennsylvania. »Was für eine Obszönität!« rief Ooloorie. »Das Stasisfeld ist zusammengebrochen – es war auf zehn Stunden eingestellt!« Ich ging zu dem Gefangenen hinüber. Er schaute wütend zu mir auf, als ich ihn ansprach. »Ihr habt mein Mitgefühl, Kumpel, ich weiß, wie es ist, wenn man per Penetrator gekidnappt wird.« Zu Ooloorie gewandt fragte ich: »Was hast du jetzt mit ihm vor?« Der Delphin schauderte. »Ich werde ihn wohl irgendwo aussetzen – die Paradoxa…« Ich schüttelte den Kopf. »Leg ihn auf Eis, bis die Operation vorüber ist! Ich habe für mein ganzes Leben genug Morde gesehen. Versprochen?« »Landwesen, das kann ich nicht. Vielleicht müssen wir noch mehr Hamiltonisten in unsere Gewalt bringen, um dir Verkleidungen zu beschaffen. Ich war mit anderen Dingen beschäftigt. Ich kann nur versprechen, von jetzt an vorsichtiger zu sein.« Die Unterhaltung interessierte Ingersoll nicht. Er zerrte an seinen Fesseln, als ich auf die Penetratoröffnung zutrat. Das letzte, was ich von ihm sah, während ich meinem Anzug Anweisung gab, sein Gesicht zu imitieren, waren jene vor Angst wahnsinnigen Augen.
21. Kapitel Bewährungsprobe für menschliche Sohlen 23. AUGUST 1794 Die Kultur liegt im Auge des Betrachters. Die Stadt der Brüderlichen Liebe sah für mich genauso aus wie Pittsburgh, nur die Gebäude waren höher und tiefer. Was wußte ich schon? Diese Ansammlung antiker Kolonialarchitektur war dreißigmal so groß wie die kleinere Stadt im Westen, ja, sie war die größte Siedlung im ganzen Land. Sie hatte mehr Straßen, und mehr davon waren gepflastert. Es gab mehr Häuser, Läden, Pferde, Menschen… Von denen hielt mich jetzt einer an und fragte mich, wie spät es sei. Ich sah in meiner Verkleidung als ehrenwerter Geschäftsmann so aus, als müßte ich das wissen. Jared Ingersoll hatte ich beim Verlassen von Morris House abgestreift. Ich tat so, als zöge ich eine Taschenuhr heraus, die ich gar nicht besaß, und hielt dabei den Ellenbogen dicht am Körper. Der reich verzierte Zeitmesser samt Kette war ›aufgemalt‹, ein Dekor, das von meinem Anzug erzeugt wurde. Die Innenseite dieses Anzugs sagte mir, wieviel Uhr es war. Der große, dunkle Herr nickte und ging weiter. Und… woran hatte ich doch noch gedacht? Ach ja – keine einzige Verkehrsampel besaß dieses Philadelphia, keinen Feuerhydranten, keinen Taco-Stand und keine Hamburger-Gaststätten. Es gab keine Lichtspieltheater, keine Schwulenbars, keine Autowaschanlagen und keine Telefonhäuschen. Der Kerl hatte keine blasse Ahnung, daß er beschattet wurde. Ich gab dem Minister einen Block Vorsprung. Ich konnte mir recht gut vorstellen, wohin er wollte: zu einem großen Haus in einer Gegend, die schon bessere Tage gesehen hatte. Er war, über
ein Gewirr von Geschäftsverbindungen, der Besitzer. Schließlich war er der Bursche, der Chase Manhattan erfunden hatte. Er ging hinein; ich ließ ihm ein paar Minuten Zeit. Ich brauchte sie ja auch. Mit einsachtundsechzig und zweihundert Pfund ist es nicht gerade meine höchste Lust, auf Regenrinnen rumzuklettern. In der Kutsche, die gerade vorfuhr, würde niemand den unregelmäßigen Ziegelbrocken bemerken, der aus dem dritten Stock eines heruntergekommenen Privathauses herausragte. Zwei Minuten vergingen. Durch das Schlafzimmerfenster konnte ich sehen, wie Edna hereinkam, ihren Umhang abwarf und etwas in das Zimmer nebenan schrie. Sie begab sich hinter einen Zierwandschirm, löste Verschlüsse und warf Kleidungsstücke obendrüber. Darunter trug sie dasselbe gestreifte Kostüm mit den Legwarmers, aber diesmal würde es nicht so sein wie in Braddock's Field. Sobald ich freies Schußfeld hatte, würde ich Edna endgültig kalt machen. Aus dem Nebenzimmer erschien Hamilton – und ich hätte fast losgelassen. Er war so angezogen wie Lucy, als ich sie damals bei Gary's Köder- und Treuhandgesellschaft zum erstenmal gesehen hatte: Korsett, schwarze Netzstrümpfe, Knopfohrringe und Federboa. »Oh, meine kleine Edna«, sprudelte er heraus. »Du hättest meine Gefühle nicht so ausnützen und dich ohne mein Einverständnis in meine Zuneigung einschleichen sollen.« Sie rümpfte die Nase. »Was?« »Aber«, fuhr er fort, »da wir ja gegenüber denen, die wir lieben, im allgemeinen nachsichtig sind, werde ich nicht anstehen, dir deinen Betrug zu vergeben. Nun verhilf uns eilends zu dem Vergnügen, an dem wir uns erfreuen wollen.« Er breitete die Arme aus und rückte einen Schritt vor. Sie trat einen zurück. »Aber, beachte es wohl, à la francaise, nicht à l'américaine.« Sie wich einen zweiten Schritt zurück, aber dann versperrte ihr eine Kommode den Weg. Er packte sie und drückte sie an seinen Busen. »Kälte, wo es um Geschäfte geht«, er schmiegte sich brünstig an sie und schmierte ihr dabei sein Make-up auf die Schulter, »aber
Wärme in meinen Freundschaften, das möchte ich dir mehr durch Taten als durch Worte beweisen. Ich hatte einst einen anderen Freund, einen klugen Burschen. Wir kannten unsere Gefühle, unsere Ansichten waren die gleichen. Leider lieben alle Männer den Egoismus – adieu, Gott segne ihn! –, er hatte mehr von den Schwächen der menschlichen Natur als andere. Wir kämpften Seite an Seite, um Amerika zu befreien. Er konnte Schwert und Kampf nicht aufgeben, um es Hand in Hand glücklich zu machen.« Edna hatte selbst zu kämpfen, um Platz zum Atmen, und brachte schließlich einen Arm zwischen sich und ihn. »Ich glaube, ich verstehe.« Sie griff hinter sich auf die Kommode. Ein ›Klatsch‹ war zu hören, als sie die Lederpeitsche schwang, die sie dort deponiert hatte. »Du bist ein schlimmer Junge, Alex, du mußt bestraft werden!« Hamilton warf sich auf die Knie, die Hände flehentlich gefaltet. »Du hast meine Unzufriedenheit entwaffnet, meine Liebe, und durch ein einziges Zeichen der Aufmerksamkeit den Streit beigelegt!« Tränen der Freude strömten ihm über das Gesicht, als er schluchzte: »Deine Ungeduld ist wohl angebracht. Ich bekenne meine Sünden; ich war in meiner Zuneigung erschreckt und in meiner Eitelkeit verletzt. Geliebte, laß Freundschaft zwischen uns mehr sein als nur ein Wort. Sei Zeugin der letzten Erfüllung!« Ich bin ja wirklich nicht engstirnig, aber was sie dann taten, das hatte ich nicht einmal für möglich gehalten. Ich muß zu meiner Schande gestehen, ich vergaß völlig, daß ich Edna ja ermorden wollte. Und ich werde nie wieder einen Stiefelknöpfer ansehen können, ohne rot zu werden. Als es vorüber war und sie sich anzogen, legte ich meine Steinschloßpistole auf den oberen Fensterflügel, richtete das Visier auf Ednas Torso aus… »Sagt, was treibt Ihr da oben eigentlich?« »Waaaaa!« Der Fensterflügel entglitt mir, ich ließ beinahe die Pistole fallen und griff nach der Dachrinne. Mörtelbrocken fielen in die Gasse hinunter, wo ein mit einer doppelläufigen Schrotflinte bewaffneter Mann zu mir heraufblickte. Man hatte ihn auch im
Haus gehört. Ich wandte noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie Edna in ihren Kleidern nach ihrer Pistole suchte. Hamilton kauerte in einer Ecke und bemühte sich, sein Korsett mit den Händen zu verdecken. Ich schoß. Rauch und Flammen fauchten durch das zerbrochene Fenster. Die Kugel – keine von der sich auflösenden Sorte – zerschmetterte, Zentimeter vor der Nase des Ministers, eine Öllampe. Er kreischte: »Die Rebellen!« warf beide Arme in die Luft und brach ein hamiltonförmiges Loch durch die Schlafzimmertür. Ich hatte keine Hand frei, um die Pistole zu spannen. Edna legte ihre Plasmawaffe auf mich an. Ich ließ die Steinschloßpistole fallen, schlug auf diverse Knöpfe und trat über den Rand, mein Anzug war starr wie Stahl. Ich landete auf dem Schrotflintenträger und wartete, bis sich mein Anzug entspannt hatte, dann packte ich meine Pistole und besprühte das Fenster über mir mit HellerStrahlung. Hamilton rannte, immer noch im Korsett, den Rest seiner Kleider in den Armen, aus der Tür. Ich riß die Schrotflinte an mich und schoß beide Läufe ab, als er vorbeikam. Er brüllte, als die Druckwelle ihn mit dem Kopf voraus in Ednas Kutsche warf und die Pferde durchgingen und die Straße hinunter verschwanden. Ich roch an den Schrotflintenläufen und sah, daß sich an beiden Mündungen weißes Pulver abgesetzt hatte. Steinsalz. Der andere Bursche lebte noch. In seiner Brieftasche stand, er hieße Liam Griswold und sei Privatwachmann. Brrrrr. Als ich meine fünf Sinne wieder beisammen und die Haustür eingeschlagen hatte, war niemand mehr zu Hause. Auf dem Rückweg durch die sonntäglich stillen Straßen der winzigen Metropole duckte ich mich mehrmals in Gassen und schattige Nischen, um meine paratronische Identität zu wechseln, und bei jeder Veränderung stieg ich auf der Leiter des gesellschaftlichen Ansehens eine Stufe tiefer, vom distinguierten Kaufmann bis zum namenlosen, heim-
lich abgeheuerten, europäischen Matrosen, der in den Untergrund gehen und dort bleiben wollte. Dann endlich, trautes Heim, Glück allein. Im Philadelphia des achtzehnten Jahrhunderts war es nicht möglich, sich so etwas wie ein Zimmer zu nehmen. Meine Konsumwünsche waren noch mindestens zweihundert Jahre lang unerfüllbar. Ich hätte mit dem Bostoner Postreiter, einer Abteilung die Stadt besuchender Blauröcke samt ihren Marketenderinnen und einer polnischen Einwandererfamilie, die weder zu meinem, noch zu sonst jemandes Schutz jemals entseucht worden war, ein Bett teilen müssen. Mit Geschäftsräumen sah es schon anders aus. Das ›Holiday Inn‹ war es nicht; es war nicht einmal Motel Nr. 6. Mein Wohnsitz war im Augenblick ein überteuerter, rattenverseuchter Speicher über einem Lagerhaus, den ich gegen eine exorbitant hohe Monatsmiete im voraus – nur gut, daß Kautionen noch nicht erfunden waren – an der schäbigsten Seitenstraße eines ohnehin schon schäbigen Stadtteils bekommen hatte. Die Trockenfäule gab es gratis dazu. Dort sann ich über die ›guten alten Zeiten‹ des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts nach und mampfte unaufmerksam und unbefriedigt ein altbackenes Brot aus ungesäuertem Sägemehl und eine Wurst in mich hinein, die eigentlich in die Rohmaterialtonne eines Schuhreparaturunternehmens gehört hätte. Die Holos von dem letzten, hektischen Treffen in der Market Street und von Hamiltons gesellschaftlicher Verabredung danach hatte ich – ein dutzendmal so schnell, wie mein Anzug sie ursprünglich aufgenommen hatte – schon überspielt. Am Ende der Übertragung bat ich Lucy, Ed und Ochskahrt an einem Anschluß der Konferenzschaltung und Ooloorie am anderen um Kommentare. Was ich bekam, war eine unlogische Schlußfolgerung: »Hier steht, Pennsylvania sei der Größe nach der dreiunddreißigste Staat in dem, was mal die Union sein wird, Winnie, Quebec nicht mitgerechnet. Aber das könntest du bei den Karbunkeln auf dem Hintern dieses Freiwilligen nicht beweisen. Ich werde mit Gallatin drüber reden – ich glaube, diese Armee marschiert im
Kreis!« Ich fragte: »Tun sie das nicht alle, Lucy?« Ooloorie bemühte sich, Lucys falsche Vorstellungen in bezug auf Geographie zu korrigieren. Ich versuchte das erst gar nicht. Die Kropotkin mochte in ihrem Universum vielleicht sehr tüchtig gewesen sein, aber ihre Kenntnisse über das meine schienen oft sehr oberflächlich. Die letzten paar Tage waren interessant gewesen – wie der Chinesische Fluch. In Philadelphia hatten Washington und Hamilton obsiegt und General Light-Horse Harry Lee, einen berühmten Revolutionär – einen Vorfahren des Mannes, der später einmal grauuniformierte Rebellen einer anderen Konföderation anführen würde – zusammen mit fünfzehntausend Mann ungefähr in die Richtung der Dissidenten geschickt, mit der Anweisung, jeden zu erschießen, der sich nicht ergeben wollte, und jeden zu hängen, der es tat. Inzwischen rollte die Buckskinarmee durch die Commonwealth-Staaten, ohne auf formelle Strategie oder Taktik zu achten, aber voll närrischen Vertrauens darauf, daß der antirepublikanische ›Feind‹ hinweggefegt werden würde, wenn nicht durch Waffengewalt, dann durch Jeffersons Unabhängigkeitserklärung und Gallatins logische Erweiterung davon. Die Vorhuttruppen trafen sich in der Gegend von Harrisburg. Ich konnte den Zusammenstoß nicht persönlich miterleben. Als Lees Streitkräfte und die größere Rebellenarmee anlangten, hatte ich schon ein paar aufregende Wochen lang bei Washington und Genossen den Geist gespielt. Um ehrlich zu sein: viel gab es nicht zu sehen. Beide Seiten wußten, was geschehen würde, als das Ereignis eintrat, schwenkte jemand, der sich hinter einem schönen, dicken Baum versteckt hatte, eine weiße Fahne. Eine zweite antwortete darauf. Die beiden Fahnenschwinger trafen sich tief in den Wäldern von Pennsylvania und tauschten Grüße von ihren jeweiligen Führern aus. »Der General«, erklärte ein älterer, unrasierter Offizier der unteren Ränge mit beschmutztem Rock und matten Uniformknöpfen, »würde gern an einem beiden Seiten genehmen Ort seine
Bekanntschaft mit Dr. Gallatin erneuern.« Seiner Kleidung nach gehörte er zum Virginiaregiment, er war schmutzig und müde von dem langen Marsch an die Front, genau wie die Rebellen auch. Gallatins lederbestrumpfter Abgesandter gluckste. »Ich habe den Auftrag, Sir, Eurem Kommandanten dieselbe Nachricht zu übermitteln. Es geht hier um gewichtige Angelegenheiten, über die nicht leichthin verhandelt werden sollte. Wärt Ihr bereit, herüberzukommen, damit wir die Sache über einem Krug mit dem Stoff besprechen können, um den es bei diesem ganzen Krieg geht?« Der ungepflegte, marschmüde Lieutenant lachte. Die Krieger schlurften zögernd durch eine Schicht Laub vom letzten Jahr auf ein paar prallgefüllte Satteltaschen zu, die am Fuße eines Baumes lehnten. Die Taschen wurden geöffnet. Die gluckernden Feldflaschen darin ebenfalls. Pause. Noch eine Pause. Der Offizier wischte sich den Mund ab und stellte eine Frage: War sein Gegenüber ermächtigt, Zeit und Ort für Gallatin zu vereinbaren? Während er sprach, zeigte er Anzeichen von Unruhe, was den Abgeordneten der Rebellen veranlaßte, um sich herum in den Wald zu spähen und sich einen Augenblick lang darüber Sorgen zu machen, wie weit wohl seine Pistole entfernt sei. »Ja, ich besitze die Ermächtigung und das persönliche Vertrauen dieses Herrn. Darf ich mich erkundigen, warum Ihr so voller Unruhe seid? Liegt es am Whisky?« Der Abgesandte der Aufständischen machte mit seinen Fingern ein Zeichen, das ihm und gewissen anderen Leuten bekannt war. Nicht freimaurerisch. »Ich versichere Euch«, fuhr er fort, »daß ich alleine hier bin, wie vereinbart – und ich würde auch nicht so undiplomatisch sein, Euch zu fragen, ob auch Ihr Euch wirklich an die Vereinbarung gehalten habt.« »Zum Teufel mit Euch!« schrie der stoppelbärtige Offizier und erwiderte das Zeichen, ehe er seinen verschossenen Uniformrock auszog. »Diese primitive Täuschung war nicht meine Idee, und ich bin sie auch verdammt leid! Ich bin Harry Lee, mein Sohn, der Teufel selbst! Und jetzt laßt uns in ungezwungener Kameradschaft und Offenheit Zeit und Ort für diese Verhandlungen bestimmen!«
Ed Bear brüllte vor Lachen. Wie Gallatin es ihm gesagt hatte, entrollte er eine neue Abschrift des Vertrages – zur Übermittlung an General Lee bestimmt. »Was habt Ihr hier, Sohn, ein Ansuchen um günstige Bedingungen?« Ed lachte wieder. Der General nahm einen Zug aus der Flasche, überflog das Dokument, las es noch einmal und gab dabei prustende Geräusche von sich. Als er sich das Pergament auf ein Knie legte und noch einen tiefen Schluck Whisky nahm, schwieg er eine Weile, dann sagte er: »Der Besitzer von Morris House hat sich sehr deutlich ausgedrückt, mein Junge – mit dem Schild oder auf dem Schild – dieser verdammte Illuminat und sein westindischer Bastard!« Er erhob sich, steckte sich das Pergament in den Gürtel, nahm seinen Uniformrock wieder an sich und warf ihn sich über die Schulter. Hinter ihm scheuten die Pferde. »Ich werde, verdammt nochmal, keines von beiden tun! Sagt Gallatin, wir sollten sofort zusammenkommen – dieser Ort hier ist so gut wie jeder andere –, aber richtet ihm aus, unter anderen als den vorher gestellten Bedingungen.« Ed straffte sich. »So?« »Ja, in der Tat! Bruder, seid so gut und erkundigt Euch bei ihm, welchen militärischen Rang er mir geben würde, wenn ich mich seiner Rebellion verpflichte. Hier auf diesem aufrührerischen Papierfetzen geht es um eine Sache, die ich mit meinem Leben verteidigen möchte.« Damit schwang sich der General in den Sattel und galoppierte davon. Gallatin hatte seine zweite wichtige Bekehrung gemacht, und, wie bei der ersten, war er nicht einmal anwesend, als es geschah. Der Tag und die Schuhe aller schleppten sich weiter. Ich kannte Ed seit Jahrzehnten. Keine zwei Individuen waren sich jemals näher. Als ich so in meinem Speicher saß, fragte ich ihn mit einem verletzten Unterton in der Stimme nach seinem Treffen mit General Lee: »Also, Bruder, was sollte das komische Getue mit den Fingern?«
»Komisches Getue?« Selbst aus hundert Meilen Entfernung merkte ich, daß seine Harmlosigkeit nicht echt war. »Komisches Getue – warst du die ganze Zeit, seit ich dich kenne, in einer Geheimloge und hast nie etwas davon gesagt? Ich dachte, solche Sachen wären etwas für die Bösewichte.« Ich spürte, wie er den Kopf schüttelte. »Wenn ich es dir erzählt hätte, wäre es nicht mehr geheim gewesen. Mehr kann ich nicht sagen, Win, außer… – nun, die meisten alten Logen wurden gegründet, um die Freiheit zu verteidigen. Nur haben das die meisten davon vergessen. Ich gehöre zufällig einer an, die es nicht vergessen hat.« Und das war alles. Zufällig – oder auch nicht, Gallatin hätte es wohl energisch bestritten – kümmerte sich der bekehrte General Lee hinfort um die militärischen Einzelheiten, ohne Gallatin zu fragen und ohne daß der ihn gebeten hätte, diese Aufgabe zu übernehmen. Am selben Tag, an dem er mit dem Philosophen zusammentraf, sammelte er seine Truppen um sich, las ihnen den Vertrag vor, forderte die Soldaten auf, freiwillig mit ihm überzulaufen und schickte alle anderen nach Hause. Diejenigen, die gehen wollten. Die aufständischen Truppen, jetzt um zwölftausend Mann verstärkt, zogen noch mehr Leute an, als sie durchs Land marschierten, und wurden allmählich mehr als eine Armee. Sie waren eine marschierende Nation. Ich sah von meinem Speicher aus zu, wie die Horde in die Hauptstadt strömte, zwanzig-, dreißig-, fünfzigtausend Mann stark, ohne auf Widerstand zu treffen, siegesfreudig wie bei einem Triumphzug im alten Rom. In das Herz der Stadt marschierten sie, und ich folgte ihnen, ohne viel Hoffnung zu haben, Lucy und Ed in dem Gedränge zu finden, trotz aller Telekommunikation. Hunderttausend Tritte erschütterten die Gebäude. Philadelphia stand weinend und jubelnd am Straßenrand, alle schwenkten Hüte und hielten Kinder in die Höhe, damit diese wiederum ihren Kindern erzählen konnten, was sie an jenem Tag erlebt hatten. Viele schlossen sich den immer noch anschwellen-
den Massen an, die an jeder Kreuzung die Durchgangsstraßen überfluteten. Da ich wußte, wo sie hin wollten und viele von ihnen nicht, richtete ich es so ein, daß ich zuerst dort war und alles für Ooloorie aufzeichnete, wobei ich den Hinweisen des Delphins in bezug auf Kamerawinkel und Beleuchtung folgte. Ich brauchte Gesellschaft, auch wenn es nur die ihre war. Der Blick auf die anrückenden Massen aus der Perspektive der Regierung erschreckte sogar mich ein wenig. Auf dem Wogenkamm dieses menschlichen Tsunami schritt Gallatin vor das Portal von Washingtons Amtssitz. Die Menge blieb zurück, aus Respekt oder aus Angst, als der Gelehrte vortrat, die einzige Waffe hob, die er trug – seinen Spazierstock – und an die Tür des Herrenhauses in der Market Street hämmerte. Es wurde nicht sofort geöffnet. Drinnen kauerten die Bewohner an den Fenstern und umklammerten Militärmusketen, die sie nicht einzusetzen wagten. Hamilton, ihr wirklicher Führer, sollte in Nord-Amerika nie wieder auf der Bildfläche erscheinen. Gallatin klopfte ein zweites Mal. Eines muß ich George lassen: Die Tür schwang auf, und da stand er, wie eine unverheiratete Tante mit seinem schneeweißen Pagenkopf und einem Mund, als lutsche er eine Zitronenscheibe, und begrüßte seinen Rivalen wie einen geladenen Gast. Er streckte eine Hand aus und winkte Gallatin hinein. »Bloß nicht, Bertie!« schrie eine Stimme, die ich erkannte. Ich unterbrach die Verbindung mit dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert und begann mich vorne an den Massen vorbei zu Lucy durchzuarbeiten. Auf der Veranda blieb der Anführer der Dissidenten eine Weile ins Gespräch vertieft stehen. Washington nickte, ließ sich von einem nicht in Erscheinung tretenden Diener seinen Mantel geben und trat mit Gallatin auf den Gehweg. Die Menge verstummte. »Meine Freunde, der Präsident und ich sind uns einig. Es gibt nur eine echte Möglichkeit, diese Sache beizulegen, ohne daß es zu einem Blutbad kommt.«
Washington nickte. »Dr. Gallatin und ich werden die Angelegenheiten zwischen uns austragen. Sagt mir nur, wer die Pistolen stellen wird.« In dem hektischen Durcheinander, das nun folgte, holte ich Lucy ein. Ich mußte mich wieder mit Ooloorie in Verbindung setzen. Das war das Werk der alten Dame. Ich hatte gehört, wie sie erklärte, das sei der einzige Weg, einen Krieg zu führen – »macho a macho«. Sie hatte Gallatin in meiner Abwesenheit bearbeitet. Ed hatte keinerlei mäßigenden Einfluß ausüben können. Der Hundesohn war ja der gleichen Meinung. Ich packte Lucy mit der linken Hand an der Schulter und drückte mit der rechten auf die Knöpfe an meinem Ärmel. »Ooloorie, wir haben ein Problem – verdammt, Lucy, halt still! Wir müssen miteinander reden!« Sie wirbelte herum, Tränen patriotischer Freude oder so was strömten ihr über das runzlige Gesicht. Sie wollte etwas schreien, aber die Menge machte zuviel Lärm. Ed und Ochskahrt standen neben ihr. »Ooloorie?« Keine Antwort. Eine Vorahnung des Verhängnisses umklammerte eiskalt meine Eingeweide. Ich versuchte es auf einer anderen Frequenz, dann auf einer dritten, immer mit demselben, unbefriedigenden Ergebnis. »Ooloorie! Schalt ein! Ich muß… ich kann dich nicht verstehen, Lucy, warte! – Ooloorie?« Keine Antwort. Und es würde auch nie wieder eine kommen. Mein Gesprächspartner und ich waren kosmisch getrennt worden. Die Leitung war tot, und wir auch, gestrandet in der primitiven Vergangenheit. Washington und Gallatin hatten nie ein Duell ausgefochten, weder in meinem Universum, noch in dem von Lucy. Wir hatten die Zukunft zerstört.
22. Kapitel Ein Ochskahrt im Getriebe »Meine Herren, macht eure Waffen bereit!« Weit in der Ferne polterte Donnergrollen durch die Berge. Ein lautes, zweifaches ›Klack!‹ war zu hören, als zwei verschnörkelte Spannhähne von ihren Besitzern zurückgezogen wurden, bis sie in die jeweiligen Schnapper einrasteten. Schweigen erfüllte die ansonsten leere Straße. »Auf mein Wort tretet ihr vor«, sagte der Schiedsrichter, ein antiföderalistischer Richter, der für beide Seiten akzeptabel gewesen war. »Ich warne euch, euch erst umzudrehen und mit euren Waffen zu zielen, wenn man euch das Kommando dazu gegeben hat!« Niemand zweifelte daran, daß er es ernst meinte: Unter seinem Richtermantel trug er selbst eine bescheidene Pistole, doppelläufig, zweimal so groß wie die der Duellgegner, der nicht gezogene Lauf war vollgepackt mit Pulver und Teppichnägeln. »Meine Herren!« fuhr der Schiedsrichter fort, »da ihr euch weigert, das Duell zu widerrufen, so möget ihr denn auf mein Signal – und erst auf mein Signal – hin eure Waffen heben, aufeinander zielen und sie abfeuern.« In gewissem Sinne stand Gallatin, der künftige Begründer der Konföderation von Nord-Amerika, seinem Erzrivalen – nicht nur in politischem, sondern, wie es schien, jetzt auch in metaphysischem Sinne – gegenüber. Präsident und General George ›Vater des Vaterlandes‹ Washington ragte in der düsteren Durchgangsstraße hinter dem Philosophen auf, den unteren Teil seines aristokratischen Rückens gegen die gebeugten Schulterblätter des anderen gedrückt, die Läufe der beiden Pistolen waren in den dunklen, unheildrohenden Himmel gerichtet. In wenigen Augenblicken nur würden beide einen Spaziergang machen – zehn Schritte weit, nicht mehr – und nur einer würde zurückkommen.
Es hatte nicht lange gedauert, bis alle Vorbereitungen getroffen waren. Die Menge, durch die jüngsten, unangenehmen Erfahrungen mit den Briten mit Narben bedeckte, schreckensgewohnte Veteranen – sogar ein paar Überlebende aus dem Siebenjährigen Krieg (Washington war einer davon) –, die um Morris House versammelt war, hatte den Gedanken, daß zur Abwechslung einmal ihre Führer sich ducken und zurückzucken sollten, unterstützt. Bei vielen lieferten Stümpfe, Haken und Augenklappen den Beweis dafür, daß das auch schon eine Generation früher hätte eine gute Idee gewesen sein können. Man machte einen Platz auf dem Gehsteig frei. Ein feuchter Wind kam auf und zupfte an Perücken und Frackschwänzen. In meiner Welt würden Duelle erst in einem Jahrzehnt öffentlich geächtet werden, infolge der öffentlichen Entrüstung über eine ähnliche Übung zwischen Alexander Hamilton und Aaron Burr. In der Konföderation waren sie nie verboten worden. Bei meiner oberflächlichen Lektüre historischer und literarischer Werke war ich nie ganz aus dem Staunen darüber herausgekommen, wie gering die meisten Menschen in dieser Epoche ihr eigenes Leben achteten – Washington hatte einmal geschrieben, er finde es ›reizend‹, wenn die Kugeln über seinen Kopf hinwegpfiffen. Und den hatte man zum Präsidenten gewählt! Aber jetzt überraschte es mich doch, daß die Beteiligten, jeder Kombattant auf jeder Seite, ganz gleich, was er zu gewinnen oder zu verlieren hatte, damit einverstanden waren, daß gewichtige, prinzipielle Dinge – Besteuerung oder keine Besteuerung – von dem fast zufälligen Ausgang einer Schießerei zwischen einem altersschwachen General und einem freundlichen, aber entschlossenen Schullehrer entschieden wurden. »Tja, Jungs, jetzt geht's uns dran«, sagte eine Stimme neben mir, da wir gerade von altersschwach und entschlossen sprechen. Ich nickte, ein mürrischer Ausdruck legte mein Gesicht passend zum Ausdruck meiner Gefährten in Falten. Irgendwie wußte ich, daß Lucy nicht vom Wetter sprach.
Ed schüttelte den Kopf. »Nun hat Edna doch ihren Willen durchgesetzt, wie?« Er hatte recht. Lucy, Ed – ja, sogar Ochskahrt – und ich waren in die Vergangenheit gekommen, um genau so etwas zu verhindern. Jetzt standen wir beieinander, unbesiegt von unseren Feinden, aber geschlagen durch die nackte, dumme Gewalt der Ereignisse. Die Tatsache, daß wir in diesem Jahrhundert ausgesetzt, für unser eigenes auf ewig verloren waren, stand nicht an erster Stelle in unseren Gedanken. Nicht einmal in den meinen. Ich glaube, ich war so weit gekommen, daß ich lieber sterben als noch einmal alles im Beinahe-Tod der Stasis hinausschieben sollte. Ich blickte hinunter auf die unechte Steinschloßpistole, die meinen Ledergürtel ausdehnte. Die komplizierte Kopie wäre für einen unfreiwilligen Pionier völlig unbrauchbar. Ich mußte mir etwas Authentischeres beschaffen. Es wurde jetzt jeden Augenblick dunkler. Blitze zuckten, gefolgt von Donnerschlägen. Die ganze, absurde Katastrophe war unsere Schuld. Wir hatten uns die Hände noch weiter beschmutzt, indem wir uns als Gallatins Sekundanten zur Verfügung stellten. Ich hatte selbst einmal ein Duell ausgefochten: meine sechsschüssige .41er gegen eine maßgefertigte Luger. Als praktisches Volk haben die Amerikaner solche Ereignisse immer in einer Weise gehandhabt, die von wohlerzogenen Europäern mißbilligt wurde, und pragmatischere Schießeisen, Ladungen und Kaliber ausgesucht als die Spielzeuge, die die überzivilisierten Kontinentalen bevorzugten. In allen Fragen bis auf diese hier anglophil eingestellt, hatte Seine Kaiserliche Präsidentschaft, um die Chancengleichheit zu wahren, darauf bestanden, daß er, der professionelle Militarist und erfahrene Schütze, die Hälfte des reichverzierten Paars Duellpistolen benützte, die einer seiner Lakaien in einem aufwendigen, hölzernen Geschenkkasten herausbrachte. Wenn es nach dem General ging, konnte Monsieur Gallatin bis auf eine Howitzer verwenden, was er wollte. Viel fehlte nicht dazu. Lucy schwang die Pulverflasche, die Kugel
und den feuergehärteten Ladestock, als hätte sie von Geburt an nichts anderes getan, und half dem schluchzenden, tränenblinden Cato, die von Gallatin ausgesuchte Waffe, eine der gewaltigen Reiterpistolen, die er nach Braddock's Field mitgebracht hatte, zu laden. Keine leichte Aufgabe, die Zündpfanne zu füllen. Jedenfalls wenn der Wind so stark war wie jetzt. Ed, Ochskahrt und ich stellten uns davor und versuchten, der Geschützmannschaft Deckung zu geben. Im Unterschied zu Washingtons vornehmer Pistole hatte die von Gallatin grobe, aber zweckmäßige ›Eisen‹-Visiere – eine Messingkimme glänzte im schwächer werdenden Dämmerlicht über dem Lauf, eine V-förmige Kerbe war in ein gebogenes Eisenstück gefeilt, wo der Verschluß in den Holzkolben eingelassen war. In der zugigen, gepflasterten, von den ersten, zögernden Regenschauern feuchten Straße öffnete Washingtons Sekundant den eingelegten Kasten voll Besitzerstolz einen Spaltbreit und gestattete so dem General, seine Wahl zu treffen. Ochskahrt war neben mir, als ich durch die Blitze schritt, um Gallatins Waffe zur Inspektion zu präsentieren. Und so kam es zu dem Unfall. Donner brüllte auf! »Mr. Bear, Herr von Ochskahrt – aufpassen!« Ich hatte den lockeren Pflasterstein unter unseren Füßen nicht bemerkt. Ochskahrt schon – auf die harte Tour. Seine Zehenspitze verfing sich am Rand, als er darübergehen wollte. »Hoppla – Scheiße!« Es blitzte! Er stolperte. Schreiend und um sich schlagend gelang es ihm, einen dämlichen Sturz in eine ausgewachsene Lawine zu verwandeln, indem er mir einen Fuß stellte, so daß ich gegen den Föderalisten fiel, der, in vergeblichem Bemühen, sein Gleichgewicht wiederzufinden, den Pistolenkasten in die Luft warf. »Gebt auf die Pistolen acht!« Wir waren wie eine Reihe von umfallenden Dominosteinen. Mit einem Aufschrei stolperte der Sekundant gegen Washington, der sich, den Schiedsrichter mit sich reißend, auf etwas niedrigerem Niveau auf dem nassen Pflaster zu uns gesellte. Die Menge unter ihren Zeitungen und Bettzeugrollen bedachte die kurze, unvorher-
gesehene Vorstellung mit Beifallsgebrüll, wobei Lucys Stimme am lautesten von allen war. Gallatin blieb stehen. Er schaute auf ein zerzaustes Durcheinander von Männern und Waffen hinunter. »Meine Herren«, sagte der Schweizer Financier. »Wenn Ihr Euch nun alle bekannt gemacht habt…« Das setzte der formellen Amtshandlung ein Ende. Eine verlegene Pause folgte, während sich das Publikum wieder in die Gewalt bekam. Mit einem mißlaunigen Knurren kam Washington mühsam auf die Beine, griff sich eine Pistole aus dem zerbrochenen Kasten, den Ochskahrt aufgehoben hatte, überprüfte die Pfanne und murmelte, man solle zusehen, daß man vorankomme. Gallatin hob seine Reiterpistole auf, die ich fallengelassen hatte, und nickte. Und jetzt wurde es still. Während Ochskahrt und ich unsere Habseligkeiten zusammensuchten, uns aus dem potentiellen Schußfeld entfernten und zu Lucy gingen, die am Randstein stand und sich Tränen des durch die Erregung ausgelösten Gelächters aus den Augen wischte, klopfte sich der verärgerte Schiedsrichter eingebildeten Schmutz von seinem Umhang und begann, Anweisungen zu geben. Die Party sollte gleich losgehen. »Eins!« Der Himmel öffnete seine Schleusen. Im Platzregen trennten sich die beiden Männer voneinander. Da ich niemanden ablenken wollte, verkniff ich es mir, mich zu säubern. Ich war mit Straßenschmutz bedeckt, meine Nase juckte, und, wie gewöhnlich bei schwerwiegenden Ereignissen, mußte ich auf die Toilette. »Zwei!« Vier wolkenbrucherfüllte Meter erstreckten sich zwischen Gallatin und Washington. Mir kam es vor wie vierzig. Das Duell, in dem ich gekämpft hatte, hatte drinnen stattgefunden, unter Regeln, die Unterschiede im Können der Gegner ausgleichen sollten. Bei diesem Wetter war ich einfach nicht sicher, ob so etwas noch von großer Bedeutung war. »Drei!« Lucy biß das Mundstück ihrer Pfeife entzwei. Sie spuckte zerbrochene Teile aus, dann blickte sie verlegen um sich. Sie hätte sich keine Gedanken zu machen brauchen. Niemand achtete auf sie.
»Vier!« Ed zappelte herum, trat von einem Fuß auf den anderen. Nun ja, er hatte meine Fingerabdrücke, warum also nicht auch meine Blase? »Fünf!« Ich spürte ein leichtes Zupfen an meinem Ärmel und schlug die nasse, aufdringliche Hand weg. Die Kombattanten hatten den Weg zum Ende des schlammigen Schlachtfeldes zur Hälfte zurückgelegt, zehn durchnäßte Meter lagen zwischen ihnen. Jeder trug seine Steinschloßpistole mit dem Lauf nach oben, die Zündpfanne dicht an der Brust, eine Hand über der Mündung, Washington schritt einher wie auf einer sonnenbeschienenen Parallele, Gallatin ging ganz einfach. »Sechs!« Da war wieder das Zupfen, hartnäckig. Regenwasser strömte über die polierten Konturen von Ochskahrts Schädel, er schaute mich durch seine beschlagene Brille flehentlich an, Bestürzung verzerrte seine Züge bis zur Unkenntlichkeit. Vielleicht mußte er auch auf die Toilette. »Acht!« Von Ochskahrt abgelenkt, hatte ich eine Zahl versäumt. Ich schaute ihn stirnrunzelnd an. Er schnitt wieder eine Grimasse, deutete auf meine Körpermitte. Ich blickte hinunter – o nein! »Neun!« »Halt!« Ich hörte mich schreien. Gallatin drehte sich um. »Zehn!« Beide Pistolen gingen gleichzeitig los. Gallatins großkalibriges ›Bumm!‹ war deutlich über dem Tenor-›Bäng!‹ von Washingtons Waffe zu vernehmen. Eine Kugel prallte winselnd von der Ziegelmauer eines mehrere Meter entfernten Gebäudes ab. Die Szene war sekundenlang von einer Wolke weißen, übelriechenden Rauches verhüllt. Dann durchschlugen Regentropfen den Schleier, und er verschwand. Blitze zuckten über Washingtons Haupt, er war totenbleich im Gesicht. Zwanzig Meter von ihm entfernt ließ Gallatin die schwere Pistole aus seinen Fingern gleiten, sackte auf das Pflaster und regte sich nicht mehr. Washington warf seine Pistole zu Boden. Sie fiel spritzend in eine Pfütze, drehte sich auf irgendeinem Vorsprung und kam zur Ruhe.
Der Tumult war überwältigend, und er kam aus menschlichen Kehlen. Wie beim hektischen Ansturm auf die Torpfosten am Ende eines Spiels füllte sich die Straße mit Menschen. Viele von ihnen würden mit Prellungen nach Hause gehen – einer sicher mit einem gebrochenen Arm –, eine Folge meines hastigen Drängeins. Als ich an Gallatins Seite kam, war Lucy schon da. »Er ist tot!« schrie sie und zeigte auf das schwarzumrandete Loch in der Hemdbrust des reglosen Gelehrten. Gallatin hatte die Beine an den Knöcheln übereinandergeschlagen; sein Gesicht war ausdruckslos. Die tödliche Wunde hatte schon zu bluten aufgehört. »Albert Gallatin ist tot!« wiederholte sie, der Hysterie so nahe, wie ich sie noch nie erlebt hatte. »Das darf doch nicht sein! Er soll erst in achtundfünfzig Jahren sterben!« Ich machte den Mund auf – was, zum Teufel, gab es denn noch zu sagen? Cato trat mit grimmigem Gesicht zu uns, gleichzeitig kam Ed. Der Schwarze mußte andere Stimmen und das Wetter überschreien. »Leute, wir müssen ihn von der Straße wegbringen.« Cato weinte jetzt nicht. Er hatte keine Zeit dazu. Das verletzte Faktotum hatte noch eine letzte Pflicht zu erfüllen, ehe es sich seinem Kummer ergeben konnte. Ich auch. »Okay, Ed, nimm seine Füße! Hirnschlag, du faßt ihn an den Schultern, ja? Ich habe noch etwas zu erledigen.« Mit Karateschlägen bahnte ich mir den Weg durch die sich lichtende Menge bis dorthin, wo der Präsident gestanden hatte. Ein Souvenirjäger bückte sich gerade mit dem Rücken zu mir nach der Waffe, mit der Gallatin getötet worden war. Ich trat mit jedem Gramm Energie, das ich noch hatte, zwischen seine Beine. Er erhob sich, stürzte, blieb liegen und spritzte sein Frühstück über die Ziegel. Ich hob die Pistole auf, schob einen Fingernagel unter die Verschlußplatte auf der anderen Seite und öffnete sie, um die erleuchtete Scheibe im Inneren zu inspizieren. Ich zog Washingtons nicht abgefeuerte Duellpistole aus dem Gürtel, wohin ich sie nach unserer Slapstickaufführung gesteckt hatte. Dann wartete ich einen Donnerschlag ab, schoß sie in ein
schon undichtes Regenfaß hinein leer und warf sie dann dem mit sich beschäftigten Möchtegernsammler zu. Ich hatte mich richtig erinnert. Als ich die Waffe zum letztenmal benützt hatte, war sie auf niedrigste Intensität eingestellt gewesen. Ooloorie und das gesamte Universum mochten verloren sein, aber dank der Tatsache, daß es einmal existiert hatte, hatte Gallatin trotz seiner tödlichen Schußverletzung noch dreiundzwanzig Minuten zu leben. Ein Blitz zuckte auf. Der Donner folgte ihm wie ein Echo.
23. Kapitel Die große Starre Ich drehte die Scheibe, so weit es ging. Dann klopfte ich den zur Tarnung dienenden Messingdeckel wieder darauf und schritt über die regennasse Straße auf meine Freunde zu, die sich über den gefallenen Staatsmann beugten. »Tretet zurück, Leute!« Lucy und Ed blickten auf, als ich den Hahn nach hinten schwenkte. Ochskahrt war überwältigt von Kummer und nicht in der Lage, wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Ich richtete die Pistole auf Gallatins Kopf. »Was fällt dir eigentlich ein, verrückter weißer Mann?« Cato ergriff die Pistole und drehte sie mir in der Hand herum. »Laß ihn in Ruhe, er weiß schon, was er tut!« Das war Ed, und er hatte recht. Cato schaute ihn an, dann trat er zurück. Ich zielte erneut und ließ den Hahn fallen. »Diese Pistole wurde vor dem Duell mit der von Washington vertauscht«, erklärte ich jetzt, wo ich Zeit dazu hatte. »Er ist getroffen – das Ding war mit einer richtigen Kugel geladen – aber die Kugel hatte noch keine Zeit, ihn zu töten.« Dank dieser zweiten Dosis hatte Gallatin jetzt vierundzwanzig Stunden Zeit, bis seine Wunde ein Problem wurde. Der Vorgang konnte wiederholt werden, solange die Batterien durchhielten. Und konföderierte Batterien halten lange. Ich warf die Pistole beiseite und setzte mich in den Dreck. Die Nacht war hereingebrochen, ohne daß es jemand bemerkt hatte. Der Aufstand – dieser jedenfalls – war vorüber. Ochskahrt blickte auf. »Wir haben es versucht. Wenigstens haben wir es versucht.« »Das haben wir sicher, Hirnie.« Lucy schniefte, um die Tränen zurückzuhalten. In ihren Augen war ein sonderbares Funkeln. Ich konnte mich nicht erinnern, sie jemals weinen gesehen zu haben. Allen Grund hatte sie ja dazu.
Auch Ed bemerkte das seltsame Leuchten. Er erhob sich und stützte sich auf meine Schulter. »Win!« »Was ist?« »Win, ich denke…« »Also bin ich«, vollendete ich an seiner Stelle. »Jetzt ist wirklich keine Zeit zum Rumalbern. Schau mal, was hinter dir los ist!« Ich drehte meinen Kopf noch weiter herum. Ein winziger, strahlend heller Stecknadelkopf war aufgeblüht und hatte ihren Augen den unheimlichen Schimmer verliehen, den ich für beginnende Senilität gehalten hatte. Ein Schauer der Erregung durchlief mich. Auf Ochskahrts Gesicht breitete sich Erstaunen aus. Cato wurde angesteckt und begann zu lachen. Der Stecknadelkopf öffnete sich zu einem azurblau geränderten Kreis, durch den ein nichtmenschliches Gesicht zu sehen war. Ein wunderschönes, graues, nichtmenschliches Gesicht. »Landwesen, beeilt euch! Ich muß diese Öffnung über drei Jahrhunderte und einen Wirrwarr von Weltlinien hinweg offenhalten.« Ich stand auf und packte den im Koma liegenden Gallatin bei den Schultern. »Wir nehmen ihn mit! Cato, wir gehen… anderswo hin. Mr. Gallatin ist nicht tot. Wenn du mitgehen willst, dann hilf mir!« Ich weiß nicht, was sich der Mann bei alledem dachte, aber er packte Gallatins schmutzige Stiefel und zerrte sie vom Boden hoch. »O nein, das werdet ihr nicht tun!« Ich ließ Gallatins Schultern in den Schlamm zurücksinken. Eine schlanke, weibliche Gestalt war aus dem Regen aufgetaucht. Edna Janof, immer noch in ihrem abartigen Kostüm, hielt ihren Laser in einer Hand. Sie fuchtelte damit herum, von mir zu Lucy, von Ed zu Ochskahrt. Cato und den am Boden liegenden Gallatin beachtete sie gar nicht. »Ich gehe als erste durch! Dann könnt ihr hier alle warten, bis die Hölle zufriert. Ich sprenge die Apparatur auf der anderen Seite in tausend Stücke!« Meine Finger fanden den Griff des Rezin. Während ich es am Fingerschutz aus der Scheide kitzelte, beobachtete ich, wie Edna rückwärts auf den Durchbruch zuging, einen Fuß über die tödliche Kante hob.
Ich bekam den hinteren Rand des Bowie zu fassen… Und warf! Die schwere Klinge wirbelte wie ein Kreisel auf Edna zu und grub sich in ihren Unterleib. Sie stolperte, ließ den Laser fallen. Die Kante des Durchbruchs schnitt sie entzwei, als sie hineinstürzte. Der Durchbruch brach nicht ganz zusammen; eine gedämpfte Explosion spuckte Teile von ihr über die ganze Straße. Ich stand auf, wühlte mit dem Fuß den Schutt durch und fand mein Messer. Ich wischte es an den Fetzen eines rotgestreiften Hemdes ab und ließ es in die Scheide zurückgleiten.
Am Ende sind wir immer allein. Ich zog widerwillig ein letztes Mal an meiner centaurischen Importzigarre, drückte sie in einem selbstreinigenden Aschenbecher aus und gestattete, daß sich die Couch meinen Umrissen anpaßte. In dem warm tapezierten Raum war es immer noch kalt. Diesmal bemerkte ich es kaum. Ich war zu sehr damit beschäftigt, über mein sonderbares Leben nachzudenken. Auf meine übliche, desorganisierte Weise war ich Zeuge von dreieinhalb Jahrhunderten konföderierter Geschichte geworden, angefangen hatte es im Jahre 1987 mit einem schaurigen, spektakulären Sprung mittenhinein, dann hatte ich ganz konventionell weitergelebt bis zum Ende – meinem, nicht dem der Konföderation – und hatte schließlich am Anfang der Geschichte aufgehört, auch wenn das eine apokryphe, nicht autorisierte Version gewesen sein mag. So wie es aussah, würde Albert Gallatin ein noch seltsameres Leben führen, ehe er fertig war. Es war schon für mich verwirrend, ganz zu schweigen von einem überholten Philosophen. Er war nicht der Gallatin, der in dem Universum, aus dem ich kam, unter Jefferson als Finanzminister amtiert hatte. Er war auch nicht der Gallatin, der Präsident der Konföderation geworden war. Er war ein dritter Gallatin, der, vor allem um das Prinzip bemüht (genau wie die beiden anderen), im Jahre 1794 bei einem Duell mit einem Spesenkonto-General gestorben
war – und den Zeitreisende gerettet und ins Leben zurückgeholt hatten. In allen drei Fällen war es ihm gelungen, den mittleren Teil dessen, was er in Gang gesetzt hatte, auszulassen. Jetzt mußte er sich an den Spaß gewöhnen, im letzten Teil zu leben, den zu versäumen mein Schicksal war. Er hatte mir, kurz bevor ich die Tür zurück zum Venusgürtel gefunden hatte, einen Besuch abgestattet. »Mon ami, man sagte mir, ich lebe im zweiundzwanzigsten Jahrhundert.« Er sah komisch aus in seinem Hautanzug. Ich hatte mich so daran gewöhnt, ihn immer in Kniehosen vor mir zu sehen. Er hatte noch weitere Besucher mitgebracht. Für Lucy war diese neue Erde ebenso fremd wie für Gallatin und mich. Sie und Ed waren jahrzehntelang Pioniere gewesen. Jetzt hatten sie sich für einen Bergwerksplanetoiden entschieden, »wo die Diamanten so groß sind wie Häuser, Winnie!« und waren begeistert davon, wieder in den endlosen Himmel zurückzukehren. Ochskahrt war am glücklichsten von uns allen. Er hatte eine harte Zeit hinter sich. Seine Nerven waren futsch. Er war vorbeigekommen, um sich zu verabschieden, ehe er auf die ›Tom Paine Maru‹ ging – und zu meinen Töchtern in der Flotte. Sie kannten zwar ihren alten Herrn, würden aber doch überrascht sein, was er diesmal wieder angestellt hatte. Ich schickte ihnen durch Ochskahrt die besten Grüße. Er hatte vor, sich in eine fest etablierte, zivilisierte Kolonie zu begeben, auf einem Planeten-der-Reaktionäre, -durch-die-Reaktionäre und -für-dieReaktionäre. Zweifellos hatte er sich einen Planeten mit genügend Schränken ausgesucht und ohne Physiklabors. Ooloorie wollte ihn begleiten, wenigstens bis zum Sternenschiff. Sie war zur Zeit noch griesgrämiger als gewöhnlich. Das kommt davon, wenn man sich ein neues Paar Hände wachsen läßt. Für uns, Clarissa und mich, hieß die Losung ›weiter in Stasis‹. Ich hoffte, sie würden auch eine Heilung für Gefrierbrand gefunden haben, wenn sie uns aufweckten. »Ja, Sir«, antwortete ich Gallatin schließlich. »Das zweiundzwanzigste Jahrhundert, und Ihr seid verantwortlich für seinen Frieden und seinen Wohlstand.«
»Sei dem, wie es wolle, mein Freund – ich muß alle diese Bücher lesen, denn ich erinnere mich nicht daran, daß ich sie geschrieben habe. Was ist, wenn ich schließlich zu der Ansicht komme, daß ich nicht damit übereinstimme?« Ich lachte. Wahrscheinlich würde er an dem Punkt weitermachen, an dem ein früherer Gallatin den Geist aufgegeben hatte, und noch zweihundert Jahre Revolution auslösen. Nur schade, daß ich das versäumen würde. Aber wenn wir Glück hatten, würde Clarissa gesund werden, und wir würden wieder mitten hineinspringen, genau wie damals, und sehen, was er bewirkt hatte. Es gibt schlimmere Aussichten
Anhang
Kurzer historischer Abriß des Gallatin-Universums* Im Jahre 1796 C.Z.** beantragte der erfinderische Thomas Jefferson einen neuen Kalender, der auf Gallatins Anregung hin 1776 als das ›Jahr Null‹ festsetzte. Daten, die vor der Unabhängigkeitserklärung liegen, werden weiterhin wie früher gezählt, gefolgt von ›C.Z.‹, wo angebracht auch von ›v. Chr.‹ 100 Erdenjahre entsprechen auf Sodde Lydfe 116, auf Vespucci 132 Jahren. Wissenschaftler seien gewarnt: Es entstehen Mehrdeutigkeiten bei der Katalogisierung von Ereignissen in alternativen Zeitlinien (es gibt offenbar nur eine Konföderation, dagegen sind einige Varianten der Vereinigten Staaten bekannt), auf verschiedenen Planeten oder in Fällen, wo der Verdacht besteht, daß Zeitreisen eine Rolle spielten. Zeit ca. 3001 v. Chr.
ca. 948 v. Chr.
ca. 499 v. Chr.
Ereignisse Erfindung der sumerischen Keilschrift; Berichte von Haushunden in Ägypten überliefert; Yamaguchi W523 verläßt Hauptzeitlinie; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Sca. Salomon baut Jahve-Tempel in Jerusalem; Attika von athenischen Königen geeint; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Obsidia. Perikles geboren; Tarquinius Superbus von röm. Revolutionären besiegt; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Vespucci.
Zusammengestellt aus der Enzyklopädie von Nord-Amerika, TerraNovaCom Kanal 485-A von Edward William Bear aus Denver, mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber. ** C.Z. = Christliche Zeitrechnung *
ca. 159 v. Chr.
0 345 1592 1732 1743 1757 1761 1776
A.L. 0 7
C.Z. 1776 1783
11
1787
3.Periode der chinesischen Literatur; in Rom Erfindung der Wasseruhr; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Hoand; auf Sodde Lydfe beginnt mit dem Tod der Gemarterten Dreiheit die geschichtlich belegte Zivilisation. Beginn der Christlichen Zeitrechnung (C.Z.) Nach Konstantins Tod setzt Verfall des Römischen Reiches ein; auf Sodde Lydfe gründet Neoned der Aggressor Groß Foddu. Nobunaga-Periode; Japan ›gibt das Gewehr auf‹; ›OMA 789 George Herbert‹ von Zeitbanditen in Tokio entführt. George Washington in Virginia geboren. Thomas Jefferson in Virginia geboren. Alexander Hamilton auf den Westindischen Inseln geboren. Albert Gallatin in der Schweiz geboren. Beginn der neuen Zeitrechnung (A.L.*) im GallatinUniversum. Ereignisse Beginn des Unabhängigkeitskrieges (Revolution)**. Vertrag von Paris (3. September); Ende des Unabhängigkeitskrieges (Revolution). Föderalisten unter Führung von Hamilton, Jay und Madison treffen sich in Philadelphia, stimmen illegalerweise einer neuen ›Verfassung‹ zu, die eine starke Zentralregierung schafft.
A.L. = anno libertatis (Jahr [nach] der Befreiung) In den USA wird der Unabhängigkeitskrieg gegen England als ›Revolution‹ bezeichnet. – Anm. d. Hrsg.
*
**
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1788
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1803
Ratifizierung durch den neunten und letzten notwendigen Staat (New Hampshire). Verfassung in Kraft; Hamilton Finanzminister unter George Washington. Hamiltons Verbrauchssteuer bewilligt; wütende Farmer aus Pennsylvania versammeln sich in Brownsville und leiten Gegenschlag ein. In Pittsburgh Versammlung der gegen die Steuern eingestellten Kräfte; Washington verkündet Warnung; Farmer teeren und federn Steuereinnehmer. ABZWEIGUNG DES GALLATIN-UNIVERSUMS VON ›UNSEREM‹ USA-UNIVERSUM. 15.000 Mann Bundestruppen gegen Farmer eingesetzt; Albert Gallatin schließt sich der Rebellion an; Washington in Philadelphia standrechtlich erschossen; Verfassung für ungültig erklärt; Gallatin zum Präsidenten ausgerufen; Hamilton verschwindet. Geschäftsführende Regierung gebildet; Gallatin ruft allgemeine Amnestie aus; alle Steuern wieder abgeschafft; Föderalisten und Tories bekommen Eigentum und Rechte zurück. Gallatin vom Kongreß bestätigt; verlangt neutrale Haltung zwischen England und Frankreich, humane Indianerpolitik und Revision der ›Artikel‹. Neue ›Artikel‹ ratifiziert; Betonung auf bürgerlichen Rechten und Wirtschaftsrechten; Landurkunden für Nordwestgebiete tilgen Kriegsschulden; ansonsten ist es den Regierungen verboten, Geld zu prägen oder zu drucken. Gallatin wiedergewählt (zweite Amtszeit); Maße und Gewichte nach Jefferson eingeführt. Gallatin und Monroe vereinbaren Erwerb von Louisiana, borgen von privaten Geldgebern gegen Grundbesitz.
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Gallatin wiedergewählt (dritte Amtszeit); Hamilton in einem Duell in Preußen getötet; Stevens erfindet Dampfschiff. England versucht, Schiffsverkehr einzuschränken; Gallatin beauftragt Freibeuter, amerikanische Schiffe zu beschützen. Franzosen verteidigen Seerechte der Amerikaner; Chesapeake vertreibt britische Kriegsschiffe; Forsyth erfindet System der Aufschlagszündung für Feuerwaffen; Engländer ächten Sklavenhandel; Jefferson beginnt Kreuzzug gegen Sklaverei. Hunderte von britischen Schiffen durch amerikanische Privatmarinetruppen gekapert oder versenkt, Tausende von englischen Seeleuten desertieren; erstes hochseetüchtiges Dampfschiff ›Confederation‹ (Stevens) versenkt britisches Kriegsschiff; Gallatin wiedergewählt (vierte Amtszeit). Jefferson bei Attentatsversuch verwundet, tötet Attentäter. Gallatin verkündet seinen Rücktritt; Edmond Genêt zum Präsidenten gewählt. Klage der Freibeuterliga stürzt die Doktrin der Immunität von Souveränen. Gallatin veröffentlicht ›Prinzipien der Freiheit‹, systematische Behandlung der philosophischen Schriften von Paine und Jefferson. Freibeuteradmiral Jean Lafitte prangert öffentlich Sklaverei an. Genêt wiedergewählt (zweite Amtszeit); beantragt Abschaffung der Sklaverei; Entschädigung der Sklaven durch Landschenkungen im Westen. Sklaverei für alle nach A.L. 44 geborenen Kinder abgeschafft.
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Gallatin veröffentlicht ›Regel der Vernunft‹, tritt darin für nicht bindende, voluntaristische Gesetzgebung ein; in England glaubt man, Explosion im Parlament am Guy Fawkes Day sei durch Gallatins Werke heraufbeschworen; britische Regierung gestürzt. Collier-Shaw-Revolver mit Aufschlagzünder; Patentsystem bricht unter Gallatins Kritik an der Durchsetzung von Monopolen durch die Regierung zusammen. Jefferson zum Präsidenten gewählt; Sklaverei völlig abgeschafft; Jefferson weist öffentlich Angebot zurück, Präsident auf Lebenszeit zu werden, droht mit Rücktritt. Mexiko garantiert amerikanischen Siedlern Land in Texas. Monroe entwirft ›Jeffersondoktrin‹: politischer Isolationismus; Abschaffung von Handelsbeschränkungen; moralische Unterstützung für Kolonien, die ›Grundrecht‹ auf Abfall vom Mutterland geltend machen. Jefferson wiedergewählt (zweite Amtszeit); Verbrennungsmotor erfunden, erste mechanische Rechenmaschinen; anderswo Gründung der Republik Vespucci. Jefferson stirbt im Amt; Monroe übernimmt Präsidentschaft. Monroe gewählt. Erste Dampfeisenbahn (Philadelphia). Monroe stirbt im Amt; John C. Calhoun übernimmt Präsidentschaft. Calhoun gewählt; Nathan Turner erster schwarzer Abgeordneter im Kongreß; England experimentiert mit gallatinistischem Gesetzgebungssystem; Calhouns neue Indianerpolitik von Gallatin angeprangert.
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England schafft Sklaverei ab, Irland davon ausgenommen; englische Regierung stürzt. Colt entwickelt doppelläufigen Revolver; in Georgia Gold gefunden. Gallatin kehrt zurück und besiegt Calhoun; Texaner erklären sich unabhängig; Santa Anna bei San Antonio besiegt und getötet. Philip und Joseph Webley errichten in Birmingham, Alabama, Feuerwaffenmanufaktur. Gallatin tritt wieder zurück; Sequoyah Guess zum Präsidenten gewählt. Mexiko erklärt Alten Vereinigten Staaten sowie Republik Texas den Krieg. US-Streitkräfte in Mexiko; Sequoyahs Gallatin›Lesung‹ in Buena Vista löst massive Desertionen bei den Mexikanern aus; Mexiko City ergibt sich; Sequoyah von Heckenschützen getötet; Osceola übernimmt Präsidentschaft. Osceola gewählt; Trapper Antoine Janis steckt in ›Colona‹ am Cache la Poudre einen Claim ab. Jonathan Brownings Waffenfirma in Nauvoo, Illinois, gegründet. Revolution in Kalifornien; Hamiltonistische ›Republik‹ unter ›Kaiser‹ Joshua Norton ausgerufen. Erste geschlossene Revolverpatronen. Goldfunde in Kalifornien; in ganz Europa gallatinistische Aufstände; Jefferson Davis zum Präsidenten gewählt. Gallatinistische Revolution in Kanada. Gallatinistische Revolutionen in Mexiko und China. Nachricht von Pogromen gegen Gallatinisten in Kalifornien; Klimaanlage erfunden; Lucille Gallegos in San Antonio geboren.
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Albert Gallatin stirbt; weltweite Trauerfeiern, Gerüchte von Freudenfesten in Preußen und Kalifornien; Gifford Swansea zum Präsidenten gewählt. Erstes Dampfschiff ganz aus Stahl überquert Atlantik. Arthur Downing zum Präsidenten gewählt. Gallatinistischer Aufstand in Indien niedergeschlagen; englische Regierung stürzt. Gemeinsames Thesenpapier zur Evolution von Darwin und Wallace. Downing stirbt im Amt; Präsidentin Harriet Beecher befürwortet Alkoholverbot; John Provost, Antoine Janis, zwei Brüder und ihre indianischen Frauen gründen Stadtfirma in Colona. Lysander Spooner zum Präsidenten gewählt; gallatinistische Aufstände in italienischen Staaten; chinesische Gallatinisten stürzen Hamiltonisten in Kalifornien. Große Nordpazifische Eisenbahn nimmt transkontinentalen Betrieb auf, eröffnet Nebenstrecke in Republik Kalifornien hinein. Siedlung Colona in ›Laporte‹ umbenannt. Spooner wiedergewählt (zweite Amtszeit); automatische Pistole von Moray erfunden. Schauspieler John Wilkes Booth von unbekanntem Rechtsanwalt aus Illinois ermordet. Mexiko und Vereinigte Staaten verhandeln über Konföderation. Elisha Gray erfindet Telefon; rauchloses Schießpulver; Alaska von texanischem Konsortium erworben. Spooner wiedergewählt (dritte Amtszeit); beantragt gallatinistische Gesetzgebung in Vereinigten, Staaten;
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Fernmeldesystem von Atlanta nach Philadelphia eingerichtet. Aufgrund eines Rechtsstreits Wahlrecht für Frauen eingeführt; gallatinistische Gesetzgebung angenommen, ›Artikel‹ revidiert. Großbrand in Chicago; offizielle Erklärung in der Presse verlacht, Vorläufer von Griswoods Sicherheitsdienst gegründet. Brrr. Spooner wiedergewählt (vierte Amtszeit). Erste elektrische Straßenbahn (Chicago). Hundertjahrfeier; riesige ›Gallatinstatue‹ in Lake Michigan aufgestellt; Spooner wiedergewählt (fünfte Amtszeit). Thorneycroft erfindet Luftkissenfahrzeug; A. G. Bell erfindet mechanischen Kehlkopf für Schimpansen. ›Manhattankrieg‹ zwischen privaten Schutzfirmen. Admiral/General Wm. Lendrum Mitchell in USVariante und in Konföderation geboren. Spooner tritt zurück; Jean-Baptiste Huang zum Präsidenten gewählt. ›Bewegliche Bilder‹ werden populär; Huang wird wiedergewählt (zweite Amtszeit). Kanada schließt sich Verhandlungen zwischen Vereinigten Staaten und Mexiko an. Geronimo, Nationalmexikaner, wird erster Abgeordneter im Kongreß, der andere, aber nicht sich selber vertritt; erstes drahtloses Telefon; Wahlrecht für Primaten. Großer Blizzard im Osten; erste elektrisch beheizte Straßen (Edison); Frederick Douglass zum Präsidenten gewählt.
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Erste transatlantische Funkverbindung überträgt Wetten bei amerikanischen Pferderennen; Manfred von Richthofen (J. J. Madison) in Schlesien geboren. Benjamin Tucker zum Präsidenten gewählt. Konföderation von Nord-Amerika schließt Alaska, Kalifornien, Kanada, Mexiko, Neufundland, Alte Vereinigte Staaten und Texas ein. Erster motorisierter Schwerer-als-Luft-Flug (Lilienthal); britische Gallatinisten beantragen Konföderation mit NordAmerika; britische Regierung stürzt. Tucker wiedergewählt (zweite Amtszeit); Erfindung des lenkbaren Luftschiffes. Captain Forsyth in Oklahoma City, N.A.K. geboren. Hauptstadt in die Mitte des Kontinents verlegt; Tucker wiedergewählt (dritte Amtszeit); Hugh GabbetFairfax führt großkalibrige ›Mars‹-Automatik ein Bericht der königl. Marine stellt fest: »Niemand, der diese Pistole abfeuerte, wollte ein zweitesmal damit schießen.« Erstes Flugzeug überquert den Kontinent. Lenkbares Luftschiff ›City of Akron‹ fliegt nonstop der Länge nach über den Kontinent und zurück; erster Tonfilm (Ragtime Dance), Premiere in New Orleans. Tucker wiedergewählt (vierte Amtszeit); Nicaraguakanal. Erdbeben in San Francisco, Großbrand. Marion Michael (›Mike‹) Morrison, Filmstar der Konföderation, geboren. Tucker wiedergewählt (fünfte Amtszeit). Erstes Flugzeug überquert Atlantik; erstes lenkbares Luftschiff überquert Pazifik; ›Teeparty von Sidney‹: alle Regierungsbeamten ins Hafenbecken geworfen.
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Geoffrey Couper, Gründer der neoimperialistischen Partei, geboren. Albert Jay Nock zum Präsidenten gewählt. Preußen greift angrenzende Länder an; Kontinentalkongreß erklärt Neutralität; konföderierte Freiwillige rüsten Flug der ›Tausend Luftschiffe‹ aus. Nock wiedergewählt (zweite Amtszeit). Goddard-Raketen dezimieren preußische Luftstreitkräfte; durch starke Verbreitung von Gallatins Werken über Funk Aufruhr ausgelöst. Grippeepidemie; Flotte von lenkbaren Luftschiffen verteilt Versuchsimpfstoff rund um die Welt. Edward Bear, Vater von Edward William Bear, am 1. April in Denver/St. Charles Auraria geboren. Nock wiedergewählt (dritte Amtszeit). Erster Atommeiler vorgeführt (Chicago). Nock wiedergewählt (vierte Amtszeit). Fernsehen; Verständigung mit Delphinen; erstes Kraftwerk nach dem Prinzip der Kernspaltung (Chicago); Edna Cloud, Mutter von Edward William Bear, am 9. August in Los Angeles geboren. Falsche Ernährung als hauptsächliche Krebsursache erkannt; H. L. Mencken zum Präsidenten gewählt; erste Laser. Erstes Kraftwerk nach dem Prinzip der Kernfusion (Detroit); Ooloorie Eckickeck P’wheet irgendwo im Pazifik geboren; Familie Meep baut Restaurantkette auf; Herz-Lungen-Maschine. Düsenflugzeug; lenkbare Luftschiffe mit Fusionsantrieb; Mencken wiedergewählt (zweite Amtszeit); Olongo Featherstone-Haugh geboren. Mencken ermordet; Kontinentalkongreß wählt F. Chodorov zum Nachfolger; Cetaceen (Wale und
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Delphine) schließen sich der Konföderation an; erste Herztransplantationen. Gallatinistische Revolution in Spanien; Chodorov gewählt. Erster künstlicher Satellit im Süden von Mexiko gestartet. Altruistische Schutz-Enklave für Primaten in Stanford gegründet. Edward William Bear in Saint Charles Town, N.A.K. und in Denver, USA, geboren. Rose Wilder zur Präsidentin gewählt. Erster Primat in der Umlaufbahn liest Werke von Gallatin, spielt Schach mit Tümmlern an der Emperor Norton Universität (verliert); hamiltonistischer Staatsstreich in Hawaii; 3D-Fernsehen. Wilder wiedergewählt (zweite Amtszeit); F. K. Bertram in Boston geboren. US-Atombombe zerstört Nagasaki; Norrit Gregamer geboren. Clarissa MacDougall Olson in Laporte geboren; T. W. Sanders in den Vereinigten Staaten geboren. Wilder wiedergewählt (dritte Amtszeit); Regeneration von Gliedmaßen demonstriert. Mondexpedition errichtet Kolonie; Dardick entwikkelt Pistole mit offenem Magazinschacht; Laservisiere für Pistolen. Jennifer Ann Noble (Vorsitzende der Partei der Eigentumsrechtler in den Vereinigten Staaten) in Ithaca, New York, geboren; Profibeschützer GmbH gegründet. A. Rand gewählt, reist als erster Präsident zum Mond.
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Gallatinistische und hamiltonistische Revolutionen erschüttern Afrika. Jennifer Ann Smythe in Ithaca, N.A.K. geboren (Stasisverzögerung). Eugene Guccione erfindet Energiezelle. Russen schießen auf antarktische Kolonisten; Kontinentalkongreß spricht Warnung aus; Zar erklärt Krieg; Rand wiedergewählt (zweite Amtszeit); anderswo beginnt die Kommunistische Reformation. Russen greifen Alaska an, unterstützen Hamiltonisten in Hawaii, marschieren in Japan ein; Admiral Heinlein erringt entscheidenden Sieg in der Beringstraße; Russen erleiden riesige Verluste in Antarctica, Japan und Hawaii. ›Operation Sequoyah‹: starkes Aufgebot von Funk und Fernsehen; Tonnen von schriftlicher Propaganda gegen russisches Mutterland eingesetzt. Mondkolonisten strahlen ständig Sendungen nach Rußland; Regierung bricht zusammen; Zar verschwindet. Hamiltonisten versuchen Staatsstreich auf dem Mond, Überlebende werden ›in den Weltraum gestoßen‹; Robert LeFevre zum Präsidenten gewählt; Neova Luftkissenfahrzeug entwickelt; Sicherheitstechnik GmbH gegründet. Hirnschlag von Ochskahrt in mehreren US-Varianten geboren. LeFevre wiedergewählt (zweite Amtszeit); Laporte Paratronics GmbH gegründet; Dora Jayne Thorens in San Francisco geboren. Francis W. Pololo in Pine Barrens, N.A.K. geboren. Marskolonie im Coprates Canyon; Couper gründet neoimperialistische Partei; ›Keiner der Obigen‹ gewinnt die Wahl.
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Penetrator bei der Suche nach Schneller-als-LichtAntrieb entdeckt. In den Vereinigten Staaten gründet D. Nolan Fraser Partei der Eigentumsrechtler. John Hospers zum Präsidenten gewählt; Kolonien auf Asteroiden errichtet; Terraformung von Ceres durch Harriman, Taggert und Hill. Gründung der Cheyenne Energieversorgung und Klimakontrolle; erster stabiler Durchbruch in Parallelwelt. Zweihundertjahrfeier; Antiparlamentarische Partei; Hospers wiedergewählt (zweite Amtszeit). Erfindung der Basset-Spulen; erste ›große Ausgabe‹ eines Durchbruchs. John Jay Madison gründet in Laporte HamiltonGesellschaft. Hamiltonisten verlieren letzten Stützpunkt in Uganda. Hospers wiedergewählt (dritte Amtszeit); Einweihung des Vergnügungsparks Pellucidar Gardens in Ceres Central; extrasolare Funksignale entdeckt; Gründung von Turner Vendicom. Koko Featherstone-Haugh geboren. Jennifer A. Smythe zur Präsidentin gewählt; in den Vereinigten Staaten organisieren Anti- AbtreibungsTerroristen das ›Aktionskommando Recht auf Leben‹; Bundessicherheitspolizei (Sipo) in aller Stille gegründet; chinesisch-russische Konfrontation führt zu sichtbarer Beschädigung des Mondes; Dornaus und Dixon beginnen mit Lieferung von Bren Ten. Erster Kontakt mit Menschen (V. Meiss) auf der anderen Seite des Durchbruchs; G. Howell Nahuatl geboren.
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Malaise beginnt Dokumentarfilmreihe über die Asteroiden; Agot Edmoot Mao auf Sodde Lydfe geboren; ERSTER MENSCH KOMMT DURCH DEN DURCHBRUCH AUS EINER USA-PARALLELWELT INS GALLATIN-UNIVERSUM (E. W. BEAR, DENVER); hamiltonistische Verschwörung; Siebter (und letzter?) Kontinentalkongreß zusammengetreten; systematische Unterminierung der Vereinigten Staaten durch die Konföderation beginnt. Smythe wiedergewählt (zweite Amtszeit); T. W. Sanders kommt in die Konföderation; ›Patentanzüge‹ erstmalig bei der Erkundung des Weltraums eingesetzt; durch Neuralimplantationen an Cephalopoden (Kopffüßern) bekommen die Cetaceen ›Hände‹; genetische Konstruktionen von Einhörnern; der Stützpunkt ›Navigation Rock‹ im Asteroidengürtel wird errichtet. Malaise verlegt Nachrichtenhauptquartier nach Ceres Central. D. Nolan Fraser zum Bürgermeister von Denver, USA, gewählt. In US-Variante Ermordung von Blocky Yocks; Zusammenbruch des Beil-Systems. Olongo Featherstone-Haugh wird der erste nichtmenschliche Präsident der Konföderation. Bau der Interwelt-Station Laporte begonnen; entführte ›OMA 789 George Herbert‹ gelangt durch Zufall in die Konföderation; Mastodons aus gefrorenen Gewebeteilen (aus Sibirien) geklont; Erfindung von Plasmawaffen. Featherstone-Haugh wiedergewählt (zweite Amtszeit); zum erstenmal werden Massenentführungen von Frauen aus den Vereinigten Staaten bemerkt.
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Erste nanoelektronische Gehirnrindenimplantate bei denkenden Wesen entdeckt; Tormount-MalaiseVerschwörung; geheime hamiltonistische Flotte flieht aus dem Sonnensystem. Asteroid 9656 Bester aus dem Nomadenhaufen kollidiert mit der Venus und schafft zweiten Asteroidengürtel; ›Keiner der Obigen‹ gewinnt die Wahl in der Konföderation; D. Nolan Fraser zum ersten Eigentumsrechtler-Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt; Lucille Olson-Bear in Laporte, N.A.K. geboren. Edwina Olson-Bear als erstes Kind (auf 1939 Chandler) im Venusgürtel, Solare Konföderation, geboren; Erfindung der Quarkotopie. ›Keiner der Obigen‹ wiedergewählt, Mymysiir Offe Woom auf Sodde Lydfe geboren. Ochskahrt (US-Variante) entdeckt Zeitreise; Ochskahrt-Gedächtnisakademie in Ziolkovsky auf Luna errichtet; in der Konföderation wird ›Keiner der Obigen« zum ›Präsidenten auf Lebenszeit‹ gewählt; Enson Sermander auf Vespucci geboren. Bau der Tom- und der Bobflotte begonnen unter der Voraussetzung, daß man den Schneller-als-LichtAntrieb entdecken wird; Einfall von Komans Viroiden in die Konföderation. MacDougall Olson-Bear auf Vermessungsschiff ›Gordon Kahl‹ geboren. YD-038 auf Vespucci geboren. Konföderation entwickelt trägheitslosen Schnellerals-Licht-Tachyonen-Antrieb; erster ›Kontakt‹ mit den Gunjj. Auf Sodde Lydfe führt der KübelierUntersuchungsbeauftragte Agot Edmoot Mav seine erste Mordermittlung durch.
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Die ›Tom Paine Maru‹ (TPM) entdeckt erste, intelligente Fremdlebewesen (die Lamviin von Sodde Lydfe); 11-D3 auf Vespucci geboren; Lucille Olson-Bear von Wilden ›getötet‹, kommt in Stasis. Entdeckung von Obsidia. Elsie Nahuatl in Cody, N. A. K. geboren. Endkrieg auf Vespucci geht zu Ende. Entwicklung von Waffen nach dem Prinzip des Heller-Effekts; die TPM entdeckt Vespucci; erste Kolonie verirrter Hamiltonisten, die den Schneller-alsLicht-Antrieb wiederentwickelte. Clarissa Olson-Bear erkrankt an Mitochondriasis und wird in Stasis versetzt. Win Bear erwacht aus Stasis; Konföderation entdeckt Zeitreise. Bernard M. Gruenblum in Oklahoma City, Texas, US-Variante geboren. Gruenblum besteht Abschlußprüfung der OchskahrtGedächtnisakademie. Ochskahrt-Gedächtnisakademie ›entdeckt‹ intelligentes Leben in der Region von Yamaguchi W 523; Dornaus und Dixon beginnen mit Lieferung von Bren Ten Magazinen.
ÜBER DEN AUTOR L. Neil Smith, Berater für Selbstverteidigung und früher Reservist bei der Polizei, hat auch schon als Waffenschmied und Berufsmusiker gearbeitet. Er wurde 1946 in Denver geboren, kam als Luftwaffen›göre‹ weit herum und wuchs in einem Dutzend verschiedener Gegenden der Vereinigten Staaten und Kanadas auf. 1964 kehrte er in seine Heimat zurück, um Philosophie, Psychologie und Anthropologie zu studieren und erreichte schließlich – seiner Aussage nach – die vielleicht niedrigste durchschnittliche Punktzahl in der Geschichte der Universität des Staates Colorado. Neil hat vor kurzem seine zweite Amtszeit im Nationalen Wahlprogrammausschuß der ›Libertarian Party‹ hinter sich gebracht. 1978 kandidierte er als Libertarianer für einen Sitz in der Gesetzgebenden Versammlung seines Staates, wobei er gegen einen alteingesessenen Republikaner bei einem totalen Ausgabenetat von 44.000 Dollar fünfzehn Prozent der Stimmen errang. Jetzt ist er hauptberuflich SF-Schriftsteller, Mitbegründer und Vorsitzender des ›Prometheus Committee‹, und lebt mit seiner Frau Cynthia und vier Katzen in Fort Collins, Colorado.