ATLAN 142 – Die Abenteuer der SOL
Nr. 641 Die Gedankenwaffe von Horst Hoffmann Die Verwirklichung von Atlans Ziel, in ...
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ATLAN 142 – Die Abenteuer der SOL
Nr. 641 Die Gedankenwaffe von Horst Hoffmann Die Verwirklichung von Atlans Ziel, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn ihm wurde die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Um sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besorgen, folgt der Arkonide einer Spur, die in die Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Schließlich, gegen Ende des Jahres 3807 Terrazeit, muß die SOL den Sturz ins Nichts wagen, und sie gelangt dabei nach Bars-2-Bars, in die aus zwei miteinander verschmolzenen Galaxien bestehende Sterneninsel. Die Verhältnisse dort sind mehr als verwirrend. Doch die Solaner tun ihr Bestes, die Verhältnisse zu ordnen, indem sie die Völker der künstlichen Doppelgalaxis, die einander erbittert bekämpfen, zum Frieden zu bewegen versuchen. Anti-ES ist über die jüngsten Aktivitäten der Solaner in Bars-2-Bars informiert. Die Superintelligenz beschließt daher Gegenmaßnahmen, die nicht nur den Solanern und dem Generationenschiff schwer zu schaffen machen, sondern auch Atlan. Der Arkonide wird entführt durch DIE GEDANKENWAFFE ...
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide wird entführt. Walter von Bruchstein, Josty Falrog und Dentch Mokken - Sie und andere bringen eine neue Gefahr an Bord der SOL.
Cara Doz und Sternfeuer - Zwei Entführte kehren zurück. Twoxl-7 - Eine Komponente des Cpt’Kul handelt selbständig.
Logbuch der SOL – Eintrag vom 4. 3. 3808, Breckcrown Hayes: »Ein Satz kursierte in den letzten Tagen innerhalb der SOL: Irgendwann ist jener Punkt erreicht, an dem es für uns nicht noch schlimmer kommen kann. Für meine Begriffe haben wir diesen Punkt längst schon überschritten, und auf eine Besserung unserer verzweifelten Lage deutet aber auch gar nichts hin. Immerhin – die Mannschaft und die Abertausende von Unbeteiligten, die nicht im Brennpunkt des Geschehens stehen, haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Manchmal beneide ich die Männer und Frauen, die noch mit ihren kleinen Alltagsproblemen leben können. Das Schiff ist ihre einzige Welt. Krisen sind sie gewohnt. Sie verlassen sich oft blind darauf, daß ›wir an der Spitze‹ die Dinge schon wieder in den Griff bekommen. Ich gebe zu, daß mir das fast mehr zusetzt als das längst unüberschaubare Feld der Bedrohungen. Selten habe ich die Last dieser Verantwortung schwerer empfunden als gegenwärtig. Was wir mit der SOL zur Zeit tun, ist nichts anderes als ein zielloses Herumirren durch Bars-2-Bars. Es gibt keinen, der nicht auf den nächsten Anschlag des unheimlichen Gegners wartet, der so viele Gesichter hat. Anti-ES scheint immer noch neue Mittel und Wege zu finden, um aus der Namenlosen Zone heraus zu agieren. Dabei spielen seine Aktivitätsund Passivitätsphasen kaum noch eine bedeutende Rolle. Die Penetranz als ein Teil von ihm hat ihre Befehle und das Kommando über das Arsenal, dessen Führer nun Kerness Mylotta sein dürfte. Anti-ES hat über die Penetranz eine Truppe für sich rekrutiert, die wahrhaftig unschlagbar sein kann. Im Augenblick herrscht trügerische Ruhe, doch weder Atlan noch ich oder sonst einer der Verantwortlichen geben sich Illusionen hin. Jedes Mitglied des Arsenals ist mit den Gegebenheiten an Bord der SOL und unseren Bedürfnissen vertraut, denn sie alle gehörten zu uns oder hatten zumindest lange genug Kontakt mit uns. Was können wir tun? SENECA ist anscheinend wieder in Ordnung – anscheinend schreibe ich deshalb, weil ich inzwischen alles noch so sicher Erscheinende in ständige Zweifeln ziehen muß. Mit Mylotta ist die Bedrohung von innen scheinbar verschwunden. Doch wann taucht ein zweiter Mylotta auf? Haben wir das Arsenal vorläufig abgehängt, oder beobachtet es jeden unserer Schritte und wartet nur darauf, daß wir leichtsinnig werden? Bewohnte Welten anzufliegen, verbietet sich aus verschiedenen Gründen. Einer davon ist, daß eine vorhandene Zivilisation bei einer bewaffneten Auseinandersetzung unweigerlich in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Ein zweiter ist durch die immer noch chaotische galaktopolitische Situation gegeben.
Wir haben nach wie vor Funkkontakt nach Anterf, von wo uns gesagt wird, daß die Friedensbestrebungen der wichtigen Bars- und Farynt-Völker fortgesetzt werden. Die Anterferranter und Beneterlogen sind jedoch nur zwei Kräfte im unüberschaubaren Gebilde Bars-2-Bars, und auch der Einfluß der Prezzarerhalter endet da, wo kleinere Völker sich nicht oder nur schwer überzeugen lassen. Heute zwingt uns die Versorgungslage an Bord, Schiffe zu einem Planeten hinabzuschicken. Außerdem ist es höchste Zeit, den Buhrlos einen Weltraumaufenthalt zu gewähren. Er ist lange überfällig, und wir können nur hoffen, daß sie nicht bereits Schäden davongetragen haben. Die SOL steht, während ich dies schreibe, im Orbit um eine marsgroße Ödwelt. Die Rückkehr der Rohstoffbeschafferschiffe wird in etwa zwei Stunden erwartet. Dann werde ich meine Klause wieder verlassen und mir die endlosen Diskussionen über das weitere Vorgehen anhören. Noch unterstützt uns die große Mehrheit der Solaner, noch glauben sie an uns. Aber wie lange noch, bis weitere Demütigungen sie das Vertrauen in uns verlieren lassen? Hilfe haben wir nicht zu erwarten. Nicht bevor das Problem aus der Welt ist, das Bars2-Bars überschattet und erstickt: die Verzahnung von Tyar und Prezzar und damit der beiden Galaxien. Der von Atlan gelegte Keim des Friedens blüht zaghaft auf, aber er ist nur ein kleiner Schritt hin zu geordneten Verhältnissen. Was wir auch versuchen – den nächsten Schritt in diesem Spiel wird wieder AntiES mit seinen Werkzeugen tun. Wir können nur Augen und Ohren offen halten und versuchen, auf alles gefaßt und für alles gewappnet zu sein. Nur, wie macht man das bei Gefahren, die völlig unangekündigt aus dem Nichts auftauchen?«
1. Walter von Bruchstein hieß eigentlich Waltman Bryck und hatte sehr wenig Adeliges an sich. Er war Besatzungsmitglied eines Landeschiffs und verfügte infolge des seltenen Einsatzes seines Kreuzers über genug Freizeit, um sich ganz seinem Steckenpferd hinzugeben. Der ehemalige Pyrride hatte nach dem Ende der SOLAG-Herrschaft zu den ersten Technikern gehört, die sich der bis dahin blockierten Speicher der geschichtlichen Archive annehmen durften. Schon seit seiner Jugend ein verhinderter Held ohne Furcht und Tadel, war Bryck förmlich aufgeblüht, als er auf jene Daten und Bilder stieß, die sich mit dem terranischen Mittelalter beschäftigten. Manchmal nannte er sich auch Walter der Erste, das aber nur seinem langjährigen Kabinennachbarn gegenüber. Horl Quistell, der wegen seiner nie stillstehenden Zunge nur »Quassel« gerufen wurde, hatte einen heiligen Eid darauf leisten müssen, nie etwas aus Walters Privatsphäre auszuplaudern. Die Kabine war zu einem mittelalterlichen Museum ausgebaut worden. Wenn Walter danach war, durfte Quistell ihm seine selbsterdichteten Rittergeschichten vorlesen. An diesem vierten März 3808, am späten Abend, war dies anders. Walter und Quistell hatten sich fast wie Diebe aus dem Hangar in ihre Unterkunft geschlichen, und nun hockten sie beide ganz ehrfürchtig vor der goldenen Kugel. Von Bruchsteins hellblaue Augen leuchteten in einem vollbärtigen Gesicht, über das der Widerschein eines überweltlich anmutenden Farbenspiels huschte. Daß Quistell ganze fünf Minuten lang keinen Ton von sich gab, verriet seine Ergriffenheit – aber auch Zweifel. Er schüttelte endlich den Kopf und rutschte unruhig auf dem Boden hin und her. Dabei versank er fast in dem sackähnlichen Kleidungsstück, das Walter eigenhändig für ihn geschneidert hatte. Normalerweise mußte er es nur bei den »Burgfesten« tragen. Von Bruchstein war dann in ein silbrig schimmerndes Gewand gehüllt, hüftlang, mit Halskrause und breitem Gurt. Auf der Brust prangte ein etwas verunglücktes Löwensymbol. In einer langen Scheide steckte ein verziertes Schwert, das eine der Robotfabriken nach einem Spezialprogramm geliefert hatte. »Ich weiß nicht, Walter«, sagte Quistell. »Wir sollten es melden.« Von Bruchstein warf ihm einen strengen Blick zu. »Ich meine«, verteidigte sich der Knappe, »immerhin hatten wir ganz klare Anweisungen vom High Sideryt, als wir auf dieser Wüstenwelt landeten, oder? Hayes schärfte es jedem von uns ein, daß wir nur die benötigten Rohstoffe an
Bord nehmen sollten und sonst nichts. Wegen der unbekannten Gefahren für uns und die SOL.« »Pah!« machte der Rittersmann. »Unsere Gegner sind die Mächte des Dunkels, Quassel! Sieh dir die Kugel an, in welch erhabenem Licht sie erstrahlt. Ich glaube, ich weiß jetzt, was sie ist.« »Ja?« fragte Quistell vorsichtig. Walter nickte bedeutungsschwer. Er ging in den Schneidersitz und nahm die Kugel in beide Hände. Ihr Durchmesser mochte gut dreißig Zentimeter betragen. Sie wog schwer und strahlte nicht eigentlich golden. Die wechselnden Farben ließen sich nicht beschreiben. Sie war einfach aus Licht. »Ich nehme ihn, und ich sterbe nicht«, sprach von Bruchstein. »Sieh den Stein, Quassel! Sieh ihn dir lange genug an. Spürst du nicht die Kraft, die von ihm ausgeht?« Weshalb Stein? Quistell spürte nur, wie ihm die Augen schmerzten. Er drehte den Kopf zur Seite und schielte zum Interkomanschluß hinüber. Bisher war es relativ unproblematisch gewesen, Walters fixen Ideen zu folgen. Quistell war gerade 29 Jahre jung, der andere doppelt so alt. Quistell hatte gewisse Probleme mit dem anderen Geschlecht, und der andere besaß gewisse Kenntnisse im Zusammenbrauen von Liebeselixieren. Damit belohnte er seinen Knappen für seine Lesungen und die anderen Dienste, die er ihm leistete. Das Elixier wirkte tatsächlich. Ein Becher davon, und Quistell konnte seine Hemmungen vergessen und die tollsten Eroberungen machen. Jedesmal, wenn er die Nase von Walters Verrücktheiten voll hatte und sich eine andere Kabine anweisen lassen wollte, hielt ihn der Gedanke an alle die schönen jungen Frauen an Bord ab, die darauf warteten, von ihm betört zu werden. Aber nun? Was Walter getan hatte, unterlief Hayes’ ausdrückliche Befehle an alle Mitglieder der Landekommandos. Außerdem schien der edle Rittersmann nun endgültig den Verstand zu verlieren. Von Bruchstein hielt die Kugel über seinen Kopf. »Wie solltest du es auch wissen!« rief er pathetisch aus. »Parzival war auf der Suche nach ihm, des edlen Lancelots würdiger Sproß! So weiß es die Legende. Die Ritter der Artusrunde suchten ihn zu finden, und vielen von ihnen wurde es von den dunklen Fürsten mit dem Tode gedankt!« Wer, bei allen verzahnten Galaxien, war Parzival? Was eine Artusrunde?
Wenn da nicht ausgerechnet diese kleine Kybernetikerin wäre, die Quistell endlich für diesen Abend ein Treffen versprochen hatte! Es wurde ohnehin Zeit. Quistell sah Daliahs Gesicht vor sich. Wie würde es aussehen, wenn sie hörte, daß er seinen Freund an die Schiffsführung verraten hätte? »Höre, mein Freund und Knappe!« sagte von Bruchstein. »Legenden sind fromme Sagen, die jedoch auf einer tieferen Wahrheit beruhen – der Sehnsucht der Menschen nach dem Licht. Zu allen Zeiten schon lebten die Menschen im Zentrum von kosmischen Einflüssen, die sie in Ermangelung von präziserem Wissen in Mythen umsetzten. Wir aber, die Söhne und Töchter des vierten Jahrtausends, sind aufgeklärt genug, um uns einen größeren kosmischen Rahmen vorstellen zu können.« Aufgeklärt! Diesen Begriff auf Walter anzuwenden, war etwa so, als würde man einem Stuhl Intelligenz attestieren. Von Bruchstein brachte die Hände mit der Kugel ganz nahe vor seine Augen. Die Finger bebten leicht. Unter tiefen Atemzügen hoben und senkten sich die mächtigen Schultern des Silbergewandes. Wer nicht wußte, daß sie mit Schaumstoff ausgefüllt waren, hätte den Bärtigen wahrhaftig für einen Hünen halten müssen. »Der Goldene Gral!« rief von Bruchstein erhaben aus. »Manche sahen einen Kelch in ihm, andere ein flammendes Schwert. Von dieser Galaxis aus wirkte seine Magie auf die Aufrechten der Erde, Quassel! Von der Wüstenwelt, wo er auf die Menschen wartete, um ihnen in Zeiten äußerster Not die Rettung zu bringen! Ihn halte ich in meinen Händen, und aus diesen meinen Händen sollen ihn Atlan und Hayes erhalten, auf das ...« Quistell vergaß die Kybernetikerin, vergaß das Liebeselixier und seine Pflichten als Knappe. Er wußte plötzlich nur noch, daß sein Kabinennachbar psychiatrische Hilfe brauchte. Er sprang auf und wollte den Interkom aktivieren, als es hinter seinem Rücken aufblitzte. Starr vor Schreck, wagte er es noch nicht, sich nach Walter umzudrehen. Etwas fiel zu Boden. Das von den Wänden reflektierte Leuchten erlosch. Von Bruchstein stieß einen Schrei aus. Als Quistell den Mut fand, sich zu ihm umzudrehen, stand der Rittersmann mit gezogener Klinge da und schlug nach dem unförmigen kleinen Klumpen, der nur noch ein wenig mehr als die Hälfte des Kugeldurchmessers besaß. Die goldene
Schale lag stumpf und abgebröckelt darunter. »Teufelswerk!« schrie von Bruchstein. »Steh nicht so da, Quassel! Hilf mir lieber!« Das hörte sich nicht mehr sehr ritterlich an, schon gar nicht mehr andächtig. Walter machte seiner bitteren Enttäuschung über den Trug mit Hieben Luft. Der Brocken flog auf die Kabinentür zu und prallte ein-, zweimal heftig dagegen. Etwas schien ihn mit Gewalt auf den Korridor zu ziehen. Quistell war kein Held. Er hatte sich nie als solcher gefühlt. Jetzt aber packte ihn die nackte Angst. Er begriff, daß er und von Bruchstein etwas Unheimliches, Fremdes in die SOL eingeschmuggelt hatten. In der gegenwärtigen Lage des Schiffes konnte das nur eine neue Waffe von Anti-ES sein. Quistell fand seine Strahlwaffe im Wandschrank, riß sie aus der Halterung und feuerte auf den Brocken, der blitzschnell auswich. Mit dem ersten Schuß traf er nur Walters Schwert. Der zweite traf das fremde Ding voll. »Es frißt die Energien auf!« entfuhr es Walter. Er warf den Schwertstumpf fort und holte sich seine Energiewaffe. »Kreuzfeuer!« Die Strahlbahnen schlugen vor der Tür zusammen und brannte ein großes Loch in sie. Das Klumpengebilde tauchte hinein und schien sich an den Hochenergien geradezu zu laben. Als Quistell in seiner Verzweiflung alle Einstellungen des Kombistrahlers durchprobierte, war es bereits zu spät. Das Fremde schwebte durch das Loch in der Tür hinaus auf den Korridor. Quistell sah es nur noch um die nächste Ecke jagen, als er ihm nachzusetzen versuchte. Andere Türen öffneten sich, und bestürzte Solaner sahen Quistell in seinem Knappengewand und von Bruchstein in der Löwenrobe. »Kostümfest, wie?« kam es von einer älteren Frau. Andere Ausdrücke fielen, aber Quistell hörte sie nicht mehr. Daliah stand vor ihm, die Arme über der Brust verschränkt. Sie sah ihn an, drehte sich um und schritt erhobenen Hauptes davon. »Goldener Gral, so!« fuhr der Unglückliche Walter an. »Das reicht jetzt. Ich weiß nun, was ich zu tun habe!« * Es kam relativ selten vor, daß Buhrlos bei ihren Weltraumaufenthalten einmal etwas fanden. Geschah es doch, so waren es meistens kleine Asteroiden oder hin und wieder einmal die Einzelteile eines vor langer Zeit in den Orbit
geschossenen Satelliten. Um so wertvoller war ein Fund – und erst recht, wenn es sich dabei um ein so ungewöhnliches und faszinierendes Objekt handelte wie die goldene Kugel. Josty Falrog und die anderen Buhrlos seiner Familiengemeinschaft saßen gebannt um das strahlende Etwas herum. Kaum jemand redete. Die Gläsernen waren seit dem Augenblick wie verzaubert, in dem sie die Anziehungsquelle im Weltraum gespürt hatten. Die Magie der Kugel wirkte weiter. Unter normalen Umständen hätte Falrog keine Sekunde gezögert, Hayes von der Entdeckung zu berichten. Statt dessen hatten seine Leute und er die Kugel unter allen möglichen Umgehungen der Kontrollen in ihr Quartier geschmuggelt. Der Gedanke an eine Meldung in die Hauptzentrale war wie blockiert. »Es ist ein Sternenjuwel«, flüsterte Ktona, Jostys Schwester. »Wir haben es gefunden, und deshalb gehört es uns.« Falrog nickte zögernd. Nur ganz vage erinnerte er sich an Hayes’ ausdrückliche Warnungen, nichts ins Schiff mitzubringen. Man erwartete einen neuen Angriff des Arsenals. Doch was war schon eine dreißig Zentimeter große Kugel? Was die Solaner zu fürchten hatten, war Mjailam mit seinen teleporterähnlichen Fähigkeiten. Und solange die Paratronschirme hochgespannt waren, bestand auch diese Gefahr nicht. Auf zwei anderen Decks standen zwei andere Buhrlogruppen im Bann zweier ähnlicher Kugeln. Sie dachten alle das gleiche: Ein Sternenjuwel! Wir fanden es! Es gehört uns! Drei Solaner, die wie von Bruchstein auf dem Ödplaneten ihre Landeschiffe verlassen hatten, betrachteten mit leuchtenden Augen ihre Funde und hatten alle den einen Gedanken: Sie gehört mir! Sie geht keinen anderen Menschen etwas an! Das änderte sich erst in dem Moment, als die Kugelhüllen abgesprengt wurden und kleinere unförmige Brocken zum Vorschein kamen und es auf verschiedene Weise schafften, sich durch Türen oder Schächte blitzschnell tiefer ins Innere der SOL zu flüchten. In den meisten Fällen geschah es durch Schüsse der plötzlich zu sich gekommenen Finder, die damit den Objekten den Weg frei machten. Nur einmal verzögerte sich die »Flucht« um einige Minuten. Das war, als sich ein junger Biologe unvermittelt dem blaugrauen Klumpen gegenübersah und nicht wie die anderen gleich von der Waffe Gebrauch machte. Er holte den Strahler zwar hervor, zielte kurz auf das Ding vor der Tür und ließ ihn dann sinken.
Dentch Mokken fühlte wie die übrigen Finder zunächst Wut und Enttäuschung – eine nicht unbedingt logische Gegenreaktion nach der Euphorie. Im Gegensatz zu ihnen jedoch gewann bei ihm die Neugier rasch die Oberhand über das Gefühlsgemisch aus Angst, Haß und Zorn, das überall gleich war und erst später eine Erklärung finden sollte. Mokken wurde ruhig, setzte sich und sah dem Brocken zu, wie er immer wieder gegen die Kabinentür schwebte und prallte. Sein Gedanke war alles andere als wissenschaftlich, doch als ehemaliger SOLFarmer zog er auf Anhieb den Vergleich mit einer Riesenkartoffel. Das Anrennen des Objekts wurde immer wütender. Dabei registrierte Mokken, wie Wellen von Gefühlen auf ihn einströmten, die ihn wieder dazu verleiten wollten, auf das Etwas zu feuern. Es war nicht leicht, ihnen zu widerstehen, aber der Biologe schaffte es. »Du bist intelligent«, sagte er leise. »Du willst, daß ich schieße. Warum?« Es war kaum zu erwarten, daß der Brocken ihn verstand, Mokken beugte sich vor. Wie alle Finder von goldenen Kugeln glaubte er, als einziger einen Schatz entdeckt zu haben. »Was bist du?« fragte er, ungeachtet der wahnsinnigen Flugmanöver des Klumpens. »Ein Same vielleicht, der jahrtausendelang durch das Weltall trieb und dann von der Gravitation des Wüstenplaneten eingefangen wurde? Der durch die strahlende Hülle vor dem Vakuum geschützt war und sie erst jetzt abwarf?« Es war denkbar. Der Same einer auf einer fernen Welt entstandenen intelligenten Lebensform, die den Versuch gemacht hatte, sich auf diese ungewöhnliche Art und Weise im Kosmos auszubreiten. Er mußte dann von einem Planeten stammen, dessen Atmosphäre jener innerhalb der SOL glich. So war zu erklären, daß er die Schutzhülle auf der Ödwelt nicht abgesprengt hatte. »Hmm«, machte Mokken. »Was hältst du von einem Experiment? Gib deine Bemühungen auf, du kommst nicht in den Korridor.« Der Solaner stand auf und holte einige Geräte aus seinem Wandschrank. In seinen dienstfreien Stunden beschäftigte er sich oft mit eigenen kleineren Forschungen. Zu diesem Zweck hatte er sich ein regelrechtes »Heimlabor« angelegt. »Wahrscheinlich brauchst du Erde, um zu keimen, und suchst nach einem Gewächshaus in diesem Schiff. Sicher würdest du eines finden, aber dann buddelst du dich ein, und ich kann sehen, wo ich bleibe. Mein Freund, das machen wir ganz anders.« Mokken stellte eine tiefe Schale auf den Tisch und schüttete aus einem Plastiksack Humus hinein. »Zuerst wollen wir einmal feststellen, ob du wirklich pflanzlichen Ursprungs bist.« Das Klumpengebilde gab sein Anrennen gegen die Tür auf. Für zwei, drei Sekunden stand es still in der Luft. Zum ersten Mal fiel dem Biologen auf, daß sich auf seiner Oberseite ein schwach leuchtender Fleck und daneben zwei
Membranen befanden. Er hatte das Gefühl, von dem Fleck aus angestarrt zu werden. Dann drang aus der linken Membran ein qualvoll klingender Laut. »Du willst mir sagen, daß ich recht hatte, Freund?« Mokken nickte. »Du brauchst frische Erde, und zwar schnell? Also gut, dann setze ich dich erst ein und untersuche dich anschließend.« Der Solaner versuchte, den Klumpen mit beiden Händen zu fangen. Das Gebilde wich einige Male aus. Abermals ertönte der quäkende Laut, und als Mokkens Hände wieder knapp über ihm zusammenschlugen, griff es an. Der Biologe wurde vollkommen überrascht. Mit phantastischer Beschleunigung jagte der Brocken zweimal um ihn herum, um sich dann mit voller Wucht gegen den Mann zu werfen. Mokken wurde von dem Schlag gegen die Schulter aus dem Gleichgewicht gebracht und stürzte. Der nächste Angriff erfolgte, als er noch benommen am Boden lag. Schmerz durchflutete seinen Körper, als der Biologe an der Hüfte getroffen wurde. Aber jetzt wollte er es gerade wissen! Offenbar wollte das Wesen ihn nicht töten, obwohl es dies sicherlich konnte. Er sollte immer noch dazu gebracht werden, auf es zu schießen. Du bist zwar raffiniert! dachte Mokken. Aber ... Er sprang auf und griff wieder nach seinem Strahler. Sofort war der Klumpen bei der Tür und heftete sich wie ein Magnet an das Metall. Mokken ging mit vorgehaltener Waffe auf ihn zu, bis er nur noch einen Meter entfernt war. Er tat, als wollte er abdrücken, warf den Strahler blitzschnell fort und hatte den Brocken in den Händen. Das Wesen versuchte, sich zu befreien, doch Mokkens Muskelkraft war stärker als jene, die sich das Fremde zur Fortbewegung zunutze machte. »So, mein kleiner Freund. Nun in das Beet mit dir. Ich sagte doch, du kommst hier nicht heraus.« Der Biologe drückte den Klumpen tief in die Erde und spannte ein starkes Drahtgitter über die Schale. Er ließ erst los, als sich der Brocken nicht mehr rührte. »So ist es brav«, lobte er. »Und nun wollen wir sehen, wie du ...« Der Türmelder summte. Mokken stellte sich schnell vor die Schale. Er überlegte. Wenn jemand zu ihm wollte, der wußte, daß er in der Kabine war, machte er sich
durch Schweigen nur verdächtig. »W... wer ist da?« rief er zaghaft. »Ich, Sylvetta. Hör zu, Dentch, ich habe deinen Hund zwar in Verwahrung genommen, aber nur für die Zeit, die du auf dem Planeten warst. Das Biest raubt mir den letzten Nerv. Nun mach schon auf.« Ausgerechnet jetzt. Aber Sylvetta war nicht nur hübsch, sondern auch eine arge Schwatztante. Wenn er jetzt nicht öffnete, wußte bald das ganze Deck, daß er etwas bei sich verbarg. Mokken überzeugte sich davon, daß sein Körper die Schale verdeckte, zog den Impulsgeber aus der Tasche und entriegelte die Tür. Thunder, den der Biologe auf Chail an Bord geschmuggelt hatte, machte seinem Namen alle Ehre. Sein Freudengebell, als er sein Herrchen wiedersah, klang wie Donner. Er wetzte um Mokken herum und sprang anschließend mit einem Satz auf den Tisch. Alles geschah jetzt viel zu schnell, als daß Mokken noch etwas hätte verhindern können. Thunder war es gewohnt, daß sein Herrchen in einem der Freizeitparks Kunstknochen für ihn vergrub, und hielt das Etwas, das sich nun langsam aus der Erde hob, wohl auch für ein Spielzeug. Sylvetta bekam große Augen, als das Bellen von einem schrillen Ton aus der Schale noch übertroffen wurde. Thunders Krallen rissen am Drahtgitter, bis sich die Schale wie durch Zauberei selbständig machte. Sie schwebte an Mokken vorbei und krachte mit solcher Wucht gegen die nächstbeste Wand, daß sie zerbrach. Aus der herunterrieselnden Erde schwebte der Klumpen heraus, und ehe Mokken die Tür wieder schließen konnte, war er auf und davon. Sylvetta stemmte die Fäuste in ihre Hüften. »Kannst du mir vielleicht erklären, was das zu bedeuten hat, Dentch Mokken?« Thunder rannte laut kläffend hinter dem Klumpen her. Überall kamen Solaner aus ihren Kabinen. Mokken ließ sich in seinen Stuhl fallen und schlug sich die Hände vor das Gesicht. »Das hast du fein hingekriegt, Syl«, seufzte er. Was durch ihr Auftauchen und Thunders Überfall tatsächlich angerichtet worden war, das konnte Mokken allerdings nicht im entferntesten wissen. In der Hauptzentrale hingegen begannen einige Männer und Frauen in diesen Augenblicken zu ahnen, was da an Bord der SOL gekommen war.
2. Horl Quistell erschien in normaler Bordkombination in der Zentrale, nachdem er bei seinem Interkomanruf noch im Sackkleid gesteckt hatte. Das Lachen darüber war Hayes, den Stabsspezialisten und den anwesenden Mitgliedern des AtlanTeams inzwischen vergangen. Offenbar von schlechtem Gewissen getrieben, hatten sich nach und nach drei weitere Solaner und Buhrlos gemeldet, die zugeben mußten, goldene Kugeln an Bord geschmuggelt zu haben. Das machte inzwischen vier. »Hinsetzen«, sagte Hayes knapp, als Quistell sich unsicher umsah. Die angespannte Haltung des High Sideryts verriet, daß er auf weitere Meldungen wartete. Die SOL flog mit Unterlicht am Rand des Sonnensystems, von dessen viertem Planeten die dringend benötigten Rohstoffe beschafft worden waren. Hayes hatten den Buhrlos mehr Zeit als zunächst vorgesehen für ihren lebensnotwendigen Weltraumaufenthalt gelassen. Hatte es Sinn, sich jetzt Vorwürfe zu machen? Wenn der Verdacht sich bewahrheiten sollte, wäre das Unheil so oder so an Bord gekommen. Sternfeuer wirkte von allen Versammelten am erregtesten. Immer wieder schüttelte sie den Kopf und schien sagen zu wollen: Das nicht! Eine junge Technikerin und ein Biologe riefen die Zentrale an und beichteten. Das machte fünf Teilstücke. Curie van Herling befahl die beiden zum High Sideryt. Als nach einer halben Stunde keine weiteren Meldungen kamen, ließ Hayes alle Mitglieder der Landekommandos und alle Buhrlos in einer Messe zusammenkommen. Bjo Breiskoll übernahm es, ihre Gedanken zu lesen. Als er zurückkehrte, begleiteten ihn eine Solanerin und ein Buhrlo. Hayes wechselte einen Blick mit Atlan, der mehr sagte als alle Worte. Nacheinander mußten alle Finder von goldenen Kugeln über die Umstände berichten, unter denen sie ihre Entdeckung gemacht hatten. Sie sagten alle das gleiche. Die vier Mitglieder der Versorgungsexpedition hatten die Kugeln in Bodenmulden gefunden, zu denen es sie »einfach hinzog«. Die Buhrlos hatten auf ähnliche Weise eine Anziehung gespürt. Wie sie die Kugeln durch die Kontrollen geschleust hatten, interessierte den High Sideryt weniger. Als Dentch Mokken als letzter mit seiner Beichte fertig war, stand er auf und stützte sich
schwer auf ein Pult. »Die Penetranz und damit Anti-ES hat nichts dem Zufall überlassen«, sagte er hart. »Sie verfolgt jeden unserer Schritte. Das Arsenal setzt sich aus Wesen zusammen, von denen zumindest einige wissen, wie es um unsere Versorgungslage bestellt ist. Mit diesem Wissen stellte Anti-ES uns die Falle. Mjailam kann keine Arsenalmitglieder in die SOL bringen, solange die Paratronschirme stehen. Also suchte es einen anderen Weg.« Er ballte die Fäuste. »Anti-ES rechnete sich aus, wann und wo wir Station machen mußten, um Rohstoffe aufzunehmen und die Buhrlos in den Weltraum gehen zu lassen. Der Gegner kalkulierte auch die Dummheit gewisser Besatzungsmitglieder mit ein!« Atlan ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du kannst sie nicht verantwortlich machen, Breck. Sie wurden psionisch beeinflußt und erlebten ihr böses Erwachen erst, als es schon zu spät war. Die sieben Komponenten verfügen normalerweise nicht über suggestive Fähigkeiten. Auf welche Weise die Penetranz sie damit versah, muß vorläufig dahingestellt bleiben. Sie brachten die Raumfahrer und die Buhrlos dazu, sie an sich zu nehmen. Keiner der sieben wußte, daß es auch noch andere Finder gab. Jeder hielt sich für den einzigen und sah in der Kugel einen Schatz. Die Komponenten manipulierten sie weiter, bis sie sich aus ihren Hüllen befreiten. Danach weckten sie Angst, Haß und Zorn in ihren Opfern, damit diese auf sie schießen sollten, und damit auf die verschlossenen Türen. Die Beeinflussung war nicht sonderlich stark, denn Dentch Mokken konnte ihr ja widerstehen.« »Was nichts daran ändert, daß der siebte Teil nun bei den anderen ist, falls sie nicht getrennt operieren.« Hayes drehte sich mit einem Ruck zu den Unglücksvögeln um, die seinem Blick auswichen. Nur Walter von Bruchstein alias Waltman Bryck versuchte ihm standzuhalten. »Goldener Gral!« fluchte Hayes. »Über deine Verrücktheiten unterhalten wir uns später, Edler von Bruchstein! Du kannst hoffen, daß wir dazu noch Gelegenheit bekommen!« »Ich ... ich verstehe das Ganze nicht«, beteuerte Walter errötend. Jeder starrte ihn an, und jeder wußte nun davon, was er in seiner Freizeit trieb. »Ich höre immer nur von Komponenten.« »Wenn du dich mehr um die reale Welt kümmern würdest, verstündest du ganz gut.« Hayes sah sich um. »Wer sagt es ihm?« Schweigen. Es war, als fürchteten alle, allein durch die Nennung des Namens das Chaos herbeizurufen. »Twoxl«, kam es dann von Sternfeuer. Sie schloß die Augen. »Wir haben Twoxl an Bord. Er war einer unserer treuesten Freunde – und ist jetzt der vielleicht
an Bord. Er war einer unserer treuesten Freunde – und ist jetzt der vielleicht gefährlichste Gegner.« * Während sich in der Hauptzentrale und vielen Nebenstationen eine fieberhafte Aktivität ausbreitete und die Suche nach dem Eindringling begann, lagen die sieben Teile Twoxls unter einer Unsichtbarkeitsglocke in einem dunklen Winkel einer ehemaligen Lagerhalle, die jetzt als Abstellraum für ausgediente Roboter fungierte. Selbst wenn ein Solaner hereingekommen wäre, hätte er nicht einmal über das unsichtbare Hindernis stolpern können. Er wäre glatt hindurch gegangen. Das verhüllende Feld hielt den Cpt’Kul genau genommen in einem Zustand zwischen den Dimensionen. Twoxls Sinne ragten weit genug in das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum herein, um ihm jede Orientierung und Beobachtung zu erlauben. Was diese Tarnung möglich machte, war ein kaum zwei Millimeter großes Gerät in einer Hautritze von Twoxl-1. Die Wirkung war auf eine Raumkugel von knapp zwei Metern beschränkt und auch zeitlich begrenzt. Twoxl dachte von seiner Waffe als dem Piong und wußte, daß es eigentlich nur ein verkümmertes Paz-Tay war. Die Penetranz hatte ihm auch erklärt, daß Atlan bereits einmal das Paz-Tay in die Hände bekommen und auch eingesetzt hatte. Das war während seiner Gefangenschaft in der Namenlosen Zone gewesen. Das Paz-Tay hatte nur einmal benutzt werden können. Das Pi-ong stand seinem Besitzer für genau 33,33 Minuten zur Verfügung, wobei es kürzere Unterbrechungen von maximal einer Minute geben konnte. Einmal aktiviert, unterlag es jedoch der Einschränkung, daß es nach genau einer Stunde in jedem Fall zu arbeiten aufhörte. Die Zeit drängte also. Was Twoxl zu tun hatte, mußte nun schnell geschehen. Das Pi-ong war wie das Paz-Tay eine Gedankenwaffe. Es gehorchte allein dem Willen desjenigen, auf den es durch Anti-ES geeicht worden war. Niemand außer Twoxl würde also etwas damit anfangen können. Die zeitliche Beschränkung war ein Grund dafür, daß Twoxl es nicht schon zum unbemerkten Eindringen in die SOL benutzt hatte. Seine Gehörmembrane fing den ununterbrochen wiederholten Rundruf auf, in dem jeder Mann und jede Frau an Bord der SOL dazu aufgefordert wurden, sich an der Suche nach dem Eindringling zu beteiligen. Twoxl wurde dabei sowohl als Gesamtheit als auch in seinen ganzen möglichen Erscheinungsformen bis hin zur einzelnen Komponente geschildert. Er kannte die Stimme. Sie gehörte Curie van Herling, der Chefin des Funk- und Ortungspersonals. Curie warnte ausdrücklich davor, auf den Cpt’Kul zu schießen, weil Twoxl jede Art von Energie mühelos zu neutralisieren vermochte. Statt
dessen sollte mit Drahtnetzen, Eisenkäfigen oder den bloßen Händen versucht werden, den Gegner zu fassen. Gegner ... Twoxl konnte sich jetzt keine Überlegungen leisten. Sie hätten auch nichts daran geändert, daß er zwar seine freien Gedanken behalten hatte, als er von der Penetranz rekrutiert wurde, jedoch nicht in der Lage war, sich ihrem Zwang und ihren Anordnungen zu entziehen. Es tat ihm weh, als Gegner der Solaner bezeichnet zu werden. Doch nichts konnte ihn daran hindern, seinem Auftrag voll nachzukommen. Einmal gegeben, beherrschte er sein ganzes Denken, sein ganzes Tun. Falsch oder richtig, das zählte nicht. Es mußte vollbracht werden! Twoxl-1 gab den Aufbruchbefehl an die anderen Komponenten. Sie waren nicht mehr unabhängig voneinander und selbständig. Um dem Arsenalmitglied Twoxl seine Effektivität nicht dadurch zu rauben, daß den Komponenten eigener Wille und somit mögliche Uneinigkeiten gelassen war, hatte Eins die absolute Befehlsgewalt über alle anderen. Genau drei Minuten nach Aktivierung des Piong durch einen Gedankenbefehl setzte sich das unsichtbare und nicht zu ortende Gebilde wieder in Bewegung. Es durchdrang massive Wände wie Luft. * Cara Doz brauchte zwar niemals Schlaf, aber hin und wieder einige Stunden der Ruhe, um nach ihrer oft kräfteraubenden Arbeit als Emotionautin wieder zu sich selber zu finden. Die Phasen innerer Einkehr häuften sich in letzter Zeit. Niemand machte mehr eine Bemerkung, wenn die Zweiundzwanzigjährige mit den weißblonden, strähnigen Haaren und der weißen Haut sich in ihre Wohnkabine in der Nähe der Hauptzentrale zurückzog. Jeder, der mit ihr zusammenarbeitete, wußte um ihre Probleme. Die seltsamen Dinge, die ihr zunehmend widerfuhren, machten ihr sicher zu schaffen. Breckcrown Hayes hatte angeordnet, daß die SOL sich nicht von der Stelle rühren sollte, bis Twoxl gefunden war. Cara wurde also vorläufig nicht benötigt. Die Hektik in der Zentrale setzte ihr zu. Die vielen Stimmen waren wie Nadelstiche, die aufleuchtenden Bildschirme und Kontrollichter taten ihren Augen weh. Diese innere Unruhe kannte sie nicht an sich. Sie weigerte sich jedoch, sie als etwas anderes zu akzeptieren als die wohl unvermeidliche Folge ihrer nervlichen Überlastung.
»Falls ihr mich braucht«, sagte sie im Aufstehen, »wißt ihr ja, wo ich zu finden bin.« Sie wandte sich zum Gehen. Atlan hielt sie am Arm fest. Sein Blick war todernst. »Ich halte es für besser, wenn wir hier zusammen bleiben, Cara«, sagte er. »Noch wissen wir nicht, wozu Twoxl von der Penetranz in die SOL geschickt wurde. Wir können nur hoffen, ihn zu stellen, bevor er seinen Auftrag ausführen kann.« »Und Gegenmaßnahmen treffen«, kam es von Hayes. »Etwa die Projektoren und alles andere schärfstens bewachen lassen, was zur Aufrechterhaltung der Paratronschirme dient. Ich könnte mir denken, daß Twoxl sie ausschalten soll, damit Mjailam uns den Rest der Bande bringt.« »Einleuchtend«, nickte Cara. »Aber was hat das mit mir zu tun?« »Ich nannte nur eine Möglichkeit. Ein zweites Ziel könnte es sein, das zu versuchen, woran das Arsenal schon einmal gescheitert ist.« Die Pilotin holte tief Luft. Die Lichter und durcheinanderredenden Stimmen. Oder war es etwas, das aus ihr selbst kam? Eine Ahnung unmittelbarer Gefahr? »Du solltest beseitigt werden, Cara«, sagte Hayes weiter. »Das Arsenal hätte auch Erfolg gehabt, wenn du dich nicht plötzlich in Luft aufgelöst hättest und dadurch dem tödlichen Schuß entgingst.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Fang nicht wieder davon an, Breck! Bitte!« »Ich versuche, dir klar zu machen, daß du der Penetranz nach wie vor ein Dorn im Auge und vielleicht der Grund für Twoxls Erscheinen bist.« »Er kann mir nichts tun. Twoxl hat keine Waffen. Seine besonderen Fähigkeiten sind rein passiver Natur. Außerdem bin ich in meiner Kabine ja nicht aus der Welt. Breck, ich muß hier heraus, wenigstens für eine halbe Stunde!« Hayes wechselte einen Blick mit Atlan. Der Arkonide wirkte unsicher. Einerseits schien er Cara zu verstehen, zum anderen verrieten die Sorgenfalten auf seiner Stirn, daß gerade ihre plötzliche Hektik ihn alarmierte. »Daß Twoxl keine Hände besitzt, mit denen er einen Strahler oder andere unangenehme Überraschungen halten kann, muß nicht mehr seine Harmlosigkeit bedeuten, Cara«, sagte er langsam. »Die Penetranz hätte ihn nicht geschickt, wenn sie sich keinen Erfolg versprechen würde.«
Die Pilotin stöhnte gequält, breitete hilflos die Arme aus und rief: »In Ordnung! Ich lasse mein Minikom auf Sendung geschaltet, reicht das? Ihr könnt jeden Atemzug hören, den ich mache. Verdammt noch mal, ihr tut gerade so, als sei ich die SOL!« »Laßt sie gehen«, sagte Sternfeuer aus dem Hintergrund. »Seht ihr nicht, in welchem Zustand sie ist?« Hayes nickte, bestand aber darauf, daß zwei schwere Kampfroboter vor Caras Kabine Wache hielten. Sie sah sich nicht um, fühlte sich frustriert, war zornig auf sich selbst und den High Sideryt – auf alle, die zugesehen hatten, wie sie betteln mußte. Notfalls werde ich mich wieder in Luft auflösen! dachte sie sarkastisch. Die Roboter trafen aus einer anderen Richtung gleichzeitig mit ihr vor der Unterkunft ein. Cara schenkte ihnen keinen Blick, öffnete und schloß die Tür hinter sich. Sie ließ sich schwer in einen Sessel fallen und starrte in einen Spiegel. Engel! So wurde sie manchmal genannt, weil sie an einem 25. Dezember geboren war. Wie ein Engel sah sie nicht aus, weder in ihrem Sackkleid, noch mit ihren dünnen Gliedmaßen, die ständig den Eindruck von Unterernährtheit vermittelten. Dazu kam nun noch der ungesunde Ausdruck in ihren Augen, kamen die Falten in ihrem bleichen Gesicht. »Wenn ich mich weiter verrückt mache, werde ich’s noch wirklich«, murmelte sie – und sie war sich darüber im klaren, daß in der Zentrale jeder mithören konnte. Sie schüttelte sich und wollte sich von dem Spiegelbild abwenden. Dann sah sie ein Flimmern darin. Es war wie ein verschwimmender Fleck auf einer Wand hinter ihr. Als Twoxl mitten in der Kabine sichtbar wurde, war es zu spät zum Schreien. Der zweite Grund dafür, sich zum Eindringen in die SOL nicht des Pi-ongs zu
bedienen, bestand für den Cpt’Kul in der Berechnung, daß Breckcrown Hayes die SOL nicht von der Stelle bewegen lassen würde, bis der Eindringling gefaßt war. Das bedeutete, Cara Doz war vorübergehend arbeitslos. In Berücksichtigung ihres leicht zu kalkulierenden Zustands hieß dies weiter, daß sie sich mit überwältigender Wahrscheinlichkeit in die Stille ihrer Kabine zurückziehen würde. Twoxls Rechnung war aufgegangen. Per Gedankenbefehl ließ er vom Pi-ong eine zwei Meter durchmessende Raumkugel aufbauen, die Cara Doz in ein privates Universum hüllte, ähnlich wie vorher ihn, aber sie blieb sichtbar. Da das Pi-ong nicht mehrere Funktionen auf einmal ausüben konnte, beraubte er sich damit seines Entdeckungsschutzes. Auch das war gewollt. Cara schrie lautlos in ihrem Gefängnis und versuchte, die unsichtbaren Mauern zu durchbrechen. Sie wand sich und brach schließlich entkräftet zusammen. Die Art des Feldes verhinderte sowohl einen Funkkontakt nach außen, als auch ein Sichauflösen. Sie war gefangen, das erste Ziel damit erreicht. Twoxl mußte jetzt nur noch warten. Allein die Zeit konnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Das Pi-ong war viereinhalb Minuten lang aktiviert gewesen, bevor der Cpt’Kul es für sechzig Sekunden ausschaltete. Jetzt arbeitete es wieder und mußte das so lange tun, bis auch der zweite Fisch im Netz war. * Die Erfolglosigkeit der Suche, die ganze unsichere Lage sorgten fast überall in der SOL für Auseinandersetzungen. Immer häufiger wurde die Forderung laut, Bars-2-Bars sich selbst zu überlassen und einfach zu neuen Ufern aufzubrechen. Wenn wir Anti-ES nicht mehr im Weg stehen, so wurde argumentiert, läßt es uns auch in Ruhe. Die große Mehrheit stand noch zum High Sideryt und zu Atlan. Doch auch hier gab es mehr und mehr Schwankende. In der Zentrale äußerte sich die Anspannung in einem kurzen, doch lautstarken Streit zwischen Sternfeuer und Breckcrown Hayes. Die sonst so besonnene Telepathin reagierte auch nicht auf Beschwichtigungsversuche Atlans oder ihres Zwillingsbruders Federspiel. »Sie ist ein Mensch, Breck!« warf sie Hayes vor. »Noch dazu ein junger, der
leben und dieses Leben selbst bestimmen will! Natürlich stimmt etwas nicht mit ihr. Aber müßt ihr ihr das auch noch so unter die Nase reiben?« »Sie ist in höchstem Maß gefährdet!« entgegnete der Schiffsführer ebenso hitzig. »Twoxl hat ...« Sie wischte mit der flachen Hand durch die Luft. »Twoxl! Ich kann ihn nicht als Feind ansehen! Wie sind die Kampfroboter programmiert? Mit Energiestrahlen oder Paralysatoren kommen sie ihm nicht bei! Haben sie den Befehl ihn niederzuknüppeln? Anstatt ein Monstrum in ihm zu sehen, sollten wir überlegen, wie wir ihn aus der Gewalt der Penetranz befreien können!« Sie drehte sich zum Arkoniden um. »Und du, Atlan? Was denkst du jetzt von Tyari? Sie gehört wie Twoxl zum Arsenal, und wie Mylotta, Sanny, Kik, Mata St. Felix. Beim Auftauchen töten?« »Ich denke nicht, daß du eine Antwort erwartest«, sagte Atlan kühl. »Sternfeuer, du brauchst keinem anderen vorzuwerfen, verletzend zu sein.« Sie starrte ihn an, dann Hayes. Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Zentrale. Federspiel wollte ihr folgen. Atlan hielt ihn zurück. »Laß sie. Es kann jeden von uns treffen, wenn wir nicht bald ...« Er ballte die Fäuste. Tyari! Er liebte diese Frau, die ihm so sehr glich. Was würde er tun, wenn sie ihn angriff – eine Marionette von Anti-ES? Wer befand sich in einem schlimmeren Konflikt – Sternfeuer oder er? Sternfeuers Gefühle für Twoxl waren ganz anderer Natur als die seinen für Tyari. Sie hatte auf dem Rückflug von Cpt halb im Scherz gesagt, daß Cpt’Carch im Grunde ihr seine Existenz zu verdanken gehabt habe. Als geistiger Impuls sei er auf sie gestoßen, als sie noch im Tiefschlaf lag. Was da genau geschehen war, wußte niemand. Es war auch nicht erwiesen, ob an der Geschichte tatsächlich etwas Wahres war. Sternfeuer schien daran zu glauben. Und aus Carch war Twoxl geworden. Konnte Sternfeuer eine Dummheit begehen? Die Telepathin ahnte nichts von den Überlegungen des Arkoniden, sie vorläufig durch Spionsonden beobachten zu lassen. Sie ging nicht in ihre Kabine, sondern in einen Aufenthaltsraum, der erwartungsgemäß verlassen war.
Das heißt, bis auf eine Ausnahme. Sie ertastete sich ein stark alkoholisches Getränk, allen Vorschriften zum Trotz. Sie hatte das Gefühl, diesen Schluck jetzt zu brauchen, setzte sich zu dem Mann am Tisch in der hintersten Ecke und knallte das leere Glas auf die Platte. Vor ihm standen gleich fünf von der gleichen Sorte. Eine Zeitlang schwieg sie und musterte ihr Gegenüber nur aus den Augenwinkeln heraus. Der Bärtige brummte andauernd etwas in seinen Gesichtsschmuck, das sich überhaupt nicht freundlich anhörte. »Sauer?« fragte sie ihn endlich. »Ich bin’s auch. Und weißt du, warum?« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser umkippten. »Weil ich nicht weiß, was ich tun soll! Aber ich will etwas tun!« Walter von Bruchstein holte zwei neue Gefäße und schob ihr eines zu. Beim Gehen schwankte er schon ganz beträchtlich. »Du hast gesehen, wie sie mich blamiert haben, Sternflamme«, knurrte er. »Du hältst mich auch für verrückt, oder? « »Erstens heiße ich Sternfeuer. Zweitens scheinst du tatsächlich in einer anderen Welt zu leben. Drittens halte ich ganz andere Leute für verrückt.« »Ha!« »Was heißt das, ha?« Walter beugte sich vor. Sein linker Ellbogen rutschte zweimal von der Tischplatte. Sein rechter Zeigefinger war wie ein Pistolenlauf auf die Mutantin gerichtet. Walters Augen wurden zu Schlitzen. »Das heißt, daß mir alle den Buckel herunterrutschen können! Ich lasse mich nicht als Idiot hinstellen. Ein Mann hat das Recht auf sein Privatleben. Andere züchten Schildkröten oder sammeln alles mögliche wertlose Zeug. Ich liebe das Heroische. Und ich stehe dazu. Du willst etwas tun, also tun wir es. Ich helfe dir dabei, ganz gleich, was es ist.« Für einen Moment spürte sie Erheiterung. »Du bietest mir deine Dienste als Ritter an, Walter? Paß auf, daß ich sie nicht annehme!« »Das kannst du ruhig tun! Sie sind hinter Twoxl her, von dem mir ein Teil entwischte. Ich weiß inzwischen genau, was er ist. Sie finden ihn nicht mit ihren neuzeitlichen Methoden. Also warum versuchen wir beide es nicht?«
Sternfeuer überlegte. Der Alkohol tat seine Wirkung, vor allem, weil sie ihn nicht gewohnt war. Twoxl suchen und finden. Es klang so einfach, aber warum denn nicht? Besser, sie redete mit ihm, bevor die anderen ... »Gemacht, Walter!« Sie reichte ihm die Hand. Mit festem Druck besiegelte er ihren Bund. »Also laß uns anfangen.« Wo und wie, das wußte sie nicht. Irgendwie hatte sie nur das Gefühl, daß es etwas zwischen Twoxl und ihr gab, das sie vielleicht zusammenführte. Alles andere mußte sich dann von selbst ergeben. »Warte«, hielt von Bruchstein sie zurück, als sie aufstehen wollte. »Auf einem Bein steht es sich schlecht. Besser, wir kippen vorher noch einen.« Ihre dumpfe Wut und der leichte Rausch ließen die mahnende innere Stimme nicht mehr zum Durchbruch kommen. Noch einmal stießen die beiden Solaner an. »Caras Kabine«, sagte Sternfeuer. »Da legen wir uns auf die Lauer.« * »Ich höre nichts mehr!« rief Curie van Herling. Atlan wußte sofort, was gemeint war, konnte es aber nicht begreifen. Die Stabspezialistin drückte Tasten und rief nach der Pilotin. Nach drei Versuchen machte sie eine resignierende Geste. »Sie antwortet nicht. Sie atmet nicht. Da ist – gar nichts mehr.« »Gar nichts mehr kann nicht sein«, sagte Hayes. Die Augenlinsen der Kampfroboter waren auf die Tür der Kabine gerichtet. Das herübergefunkte Bild zeigte sie so verschlossen, wie sie die ganze Zeit über gewesen war. »Dann ist Twoxl bei ihr!« rief Atlan. Bevor Hayes reagierte, griff er sich eines der bereitliegenden Metallnetze und rannte los. Er hörte den High Sideryt noch Befehle schreien, die im plötzlichen Stimmengewirr fast untergingen: Diesen ganzen Sektor hermetisch abriegeln! Gestaffelte Energiefelder! Alle Schotte dicht! Volle Leistung auf Paratronschirme! Was nützte das alles gegen ein Wesen, das offenbar durch stabile Wände dringen konnte! Der Arkonide ließ sich auf nichts ein und zerstrahlte das Schloß der Kabinentür noch im Laufen. Mit der
Schulter verschaffte er sich Zutritt – und sah die junge Pilotin zusammengesunken in einem Sessel. Ihre Augen waren geöffnet. Ihre Lippen bewegten sich, doch kein warnender Ruf drang an Atlans Ohren. Als er ihren Blick auf etwas hinter ihm gerichtet sah, war es zu spät. Twoxl, zu einer massiven Traube vereinigt, stieß in seinen Rücken. Die Wucht des Aufpralls ließ den Arkoniden auf Cara Doz zutaumeln. Im nächsten Moment war er vom Universum abgeschnitten. Twoxl drang selbst in das Feld ein, als die Kampfroboter und mehrere Solaner in die Kabine eindrangen, unter ihnen Hayes und Federspiel. Vom Atlan-Team tauchten Blödel und Hage Nockemann auf. Hayes schlug einem Mann die Strahlwaffe aus der Hand, wollte sich auf den Cpt’Kul stürzen und blieb abrupt stehen, als Twoxl dem Pi-ong befahl, die Feldstruktur geringfügig zu verändern. Die Außenbereiche der Raumkugel begannen rötlich zu flimmern und machten sie für jedermann sichtbar. Was nun folgte, geschah fast gleichzeitig. Atlan gewann seine Fassung zurück und versuchte, Twoxl zu packen. Er mußte seine bloßen Hände benutzen, denn das Netz war ihm entglitten. Twoxl teilte sich in seine sieben Einzelkomponenten, die den Arkoniden so schnell umschwirrten wie Elektronen einen Atomkern. Atlans Arme waren wie Windmühlenflügel, doch die Twoxl-Klumpen erwischten sie nie. Er schrie etwas zu Hayes und mußte sehen, daß kein Laut den High Sideryt erreichte. Für Twoxl kam es auf Sekundenbruchteile an. Sein zweites Ziel war erreicht. Die nächsten Schritte hatte er in Form eines Programms bereits an das Pi-ong gedacht. Er wußte, daß die Gedankenwaffe sie alle verwirklichen konnte. Wie sie das vollbrachte, war ihm unbegreiflich. Er wußte, daß sie es tat, und das reichte. Jetzt! befahl er. Das Kugelfeld erlosch für eine Hundertstelsekunde. Die unvorstellbaren Kräfte des Piongs richteten sich ins Innere der SOL und verursachten den Zusammenbruch der Paratronschirme. Das Feld baute sich wieder auf. Hayes winkte Raumfahrer herbei, die einfache Projektilwaffen trugen. Ihre winzigen Geschosse konnten das Feld durchdringen und waren von Twoxl nicht zu bremsen. Er vermochte nur Energien zu neutralisieren.
Die Männer zögerten. Die Komponenten waren viel zu schnell, und allzu leicht konnten die Metallbolzen Atlan oder Cara Doz treffen. Eine ganze Armee hätte in diesen Momenten nichts gegen den Eindringling und seine beiden Gefangenen ausrichten können. Atlan gab seine sinnlosen Fangversuche auf und brüllte: »Schluß damit, Twoxl! Du kannst nicht entkommen! Wir waren Freunde!« Der Cpt’Kul leistete sich nur eine Antwort: »Ich bin immer noch dein Freund, Atlan. Ein Teil von mir ist es noch. Aber die Freundschaft ist jetzt zweitrangig.« »Du bist wahnsinnig geworden!« Wieder brach das Feld für ein kaum meßbares Intervall zusammen. Das Pi-ong strahlte einen Impuls ab, der sein Ziel ohne Zeitverlust erreichte. Hayes und die anderen Verzweifelten nahmen es nur als schwaches Flackern der leuchtenden Kugelschale wahr. Als sie hofften, endlich eingreifen zu können, war das Feld wieder stabil. Erst jetzt heulte der Alarm durch das Schiff. Auf dem Interkomschirm leuchtete es in grellen Buchstaben auf: TOTALAUSFALL PARATRONSCHIRMPROJEKTOREN! »Bei allen Planeten!« entfuhr es Nockemann. »Du weißt, was das nur bedeuten kann, Breck?« Mjailam! Und wie viele Arsenal-Mitglieder brachte er mit? Diese unmittelbare Gefahr war das einzige, das der High Sideryt noch verstand. Wie auch immer Twoxl schier Unmögliches vollbrachte, es war nicht aufzuhalten. »Hier!« rief Federspiel, der unbemerkt davongerannt war. »Eine Druckluftpistole mit Narkosegeschossen! Vielleicht hilft es wenigstens, wenn wir Atlan und Cara betäuben können und womöglich einen der Twoxl-Teile erwischen!« Er legte an, aber kam nicht zum Schuß. Plötzlich war Sternfeuer da. Sie riß die Pistole an sich und schleuderte sie in eine Ecke des Raumes. Mit hochrotem Gesicht stellte sie sich wie ein lebender Schild vor die flimmernde Energie.
»Keiner greift Twoxl an!« schrie sie. »Walter, komm her und hilf mir!« Von Bruchstein machte seinem Wahlnamen alle Ehre und brach sich einen Weg durch die Menschenmauer im Eingang. Die Verwirrung war total, als Mjailam materialisierte. Aus weit aufgerissenen Augen sah Hayes, wie das Kugelfeld zusammenbrach. Der behaarte Hüne, gestaltgewordener Instinkt Prezzars, packte Atlan und Cara so schnell, daß Blicke seinen Bewegungen kaum folgen konnten. Nur ganz kurz war sein dumpfes Grollen zu hören, war die animalische Ausstrahlung des seltsamen Geschöpfs zu spüren. Dann befand sich dort, wo er mit dem Arkoniden und der Pilotin gestanden hatte, nichts mehr. Luft strömte mit einem dumpfen Knall in das entstandene Vakuum. Mit Mjailam und seinen Opfern war auch Twoxl verschwunden, der sich blitzschnell zusammengefügt und an den Hünen geheftet hatte. Bis auf eine Komponente. Die Solaner standen noch wie gelähmt da, als der klumpenförmige Körper zwischen Sternfeuer und von Bruchstein zur Ruhe kam, um erst dann ebenfalls zu verschwinden – mit ihnen. Das war alles. Hayes fühlte sich in einen Strudel gerissen, der ihn in einen finsteren Abgrund zog. Immer noch heulte der Alarm durch die SOL. Atlan vom Arsenal entführt! Er und Cara in der Gewalt der Penetranz – und damit von Anti-ES! Sternfeuer fort! Und ihr verrückter Bundesgenosse. »Aus«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. »Wenn wir ihnen wieder begegnen, werden sie zum Arsenal gehören.« * Logbuch der SOL – Eintragung vom 5. 3. 3808, Breckcrown Hayes: »Wir haben die bordinterne Lage wieder einigermaßen unter Kontrolle. Es ist zu den erwarteten Unruhen unter der Besatzung gekommen. Seltsamerweise scheinen diejenigen, die ihre Opposition sonst am lautstärksten vortragen, plötzlich still geworden zu sein. Sie wissen, daß Atlan entführt worden ist. So etwas läßt sich nicht verheimlichen. Es gab zu viele Zeugen. Außerdem könnten
wir nun keinen größeren Fehler machen, als unsere Leute zu belügen. Ich kann sie verstehen. Ich mußte an mir selbst feststellen, was unsere zum Zerreißen gespannten Nerven noch wert sind. Bald kann jeder kleinste Zwischenfall das Faß zum Überlaufen bringen. Schrieb ich gestern, der absolut denkbare Tiefpunkt sei überschritten? Ich werde es nicht streichen. Es soll dokumentieren, wie sehr wir im Irrglauben befangen sind, früher oder später käme uns wie von allein ein unbekannter Faktor, ein Helfer, ein gnädiges Schicksal hilfreich entgegen. Ich denke, daß dies der schwärzeste Tag seit meiner Amtsübernahme als High Sideryt ist. Der absolute Tiefpunkt jedoch kann nur die Vernichtung der SOL und der Tod aller ihrer Bewohner sein. Im Augenblick stehen dem Gegner alle Tore offen. Die Spezialisten haben die Schäden in den Paratronprojektoren lokalisieren und erfassen können. Die unverzichtbaren Aggregate sind nicht völlig hinüber. Mit unseren eigenen Mitteln können wir sie in rund zwanzig Stunden beheben – das versichern jedenfalls die Wissenschaftler und Techniker. Bis dahin jedoch haben wir einem Kommen Mjailams und des Arsenals nichts entgegenzusetzen. Es mag grausam klingen, und ich hasse mich für die Feststellung, daß vielleicht unsere einzige Chance darin liegt, was die Penetranz und ihre Sklaven mit Atlan, Cara, Sternfeuer und diesem Menschen vorhaben, von dem ich bis gestern nicht einmal den Namen kannte. Unsere Hoffnungen sind, daß Penetranz und Arsenal so viel mit den Entführten zu tun haben, daß sie keine Zeit für einen Angriff auf das Schiff finden werden. Ich habe meine Zweifel daran, daß der Arkonide übernommen werden kann. Ich kann es mir auch von Cara schwer vorstellen, schon eher von Sternfeuer und Bryck. Allerdings scheinen mir diese beiden eher rein zufällig mitgenommen worden zu sein. Also warten wir weiter. Also versuchen wir, die Paratronschirmprojektoren so schnell wie möglich wieder betriebsfertig zu machen. Ich weiß nicht, ob ich gut beten kann. Aber jetzt werde ich es tun. Für Atlan und Cara Doz. Für Sternfeuer und Bryck. Für unsere unterjochten Freunde. Und für uns.«
3. Der Planet war etwa erdgroß. Wer sie nicht genau maß, spürte keinen Unterschied der herrschenden Schwerkraft zur gewohnten. Es gab keine Städte und keine intelligenten Bewohner, die sie erbaut haben könnten. Dafür war die Natur um so üppiger. In den Äquatorzonen herrschten tropische Temperaturen, dort gab es unüberschaubare Urwälder, Savannen, Steppen und Sandwüsten. Weiter nach Norden und Süden hin kühlte es ab. In den Polarregionen waren die Meere zugefroren. Für nahezu jeden Breitengrad aber galt, daß nur das Geschöpf überlebte, das dem unglaublich harten Auslesekampf gewachsen war. Die ganze Welt war eine Arena. Jede Landschaft hatte die zu ihr passenden Pflanzen und Tiere hervorgebracht. Sie folgten dem Gesetz von Fressen und Gefressen-Werden. Es gab Ausnahmen, doch alles in allem gesehen, hätten sich jene keine geeignetere Geheimstation und Operationsbasis aussuchen können, die noch im verborgenen blieben. Irgendwo in einer Wüsteneinöde, weit abseits von Schauplätzen früherer Kämpfe: Atlan stand in der Glut einer sengenden Sonne, beide Füße bis zu den Knöcheln in weißbraunem Sand versunken. Sein Blick war noch dorthin gerichtet, wo Mjailam vor Sekunden verschwunden war. Mjailam und Twoxl – aber nicht Cara Doz. Sie war nicht mit materialisiert. Das konnte alles mögliche bedeuten. Nach dem, was der Arkonide von Twoxls phantastischen Möglichkeiten mitbekommen hatte, schloß er nicht aus, daß sie in dem Augenblick, als Mjailam ihn hier absetzte, bereits zum Hauptquartier des Arsenals abgestrahlt worden war. Dagegen mochte Mjailams deutlich zu spürende Unsicherheit sprechen, bevor er einen Gedankenbefehl zu empfangen schien. Genauso großes Gewicht konnte das Gegenargument haben: »Nun zeige deine Macht!« waren Mjailams Worte gewesen, bevor er sich mit Twoxl entstofflichte. »Du hast Zeit, viel Zeit. Aber um jede Minute sollst du kämpfen müssen!« Und zwar allein. Allein gegen eine ganze Welt. Atlan zweifelte keinen Moment lang daran, daß er sich auf dem geheimnisvollen Arsenalplaneten befand. War Cara jetzt in einer ähnlichen Situation wie er? Verlassen und auf sich selbst angewiesen? Wozu? Um sich zu bewähren? Wenn das Arsenal den Tod der beiden Entführten
gewollt hätte, hätte es dieses Ziel einfacher erreichen können. »Um jede Minute!« Mjailam hatte in seinem gewohnten Idiom gesprochen. Atlans Minitranslator arbeitete einwandfrei und übersetzte das gebrochene Benetisch gut genug. Die jetzige Rolle des »Neandertalers« paßte eher zu seinem wilden Äußeren als sein fast scheues Verhalten beim ersten Auftauchen auf Anterf. Er kannte keine Gnade und kein Erbarmen. Der Arkonide riß sich von dem Bild los. Er sah sich um. Die Sonne stand im Zenit. Das schien das einzige Gute an seiner Lage zu sein: es konnte nicht noch heißer werden. Ein Ende der Wüste war in keiner Richtung zu erkennen. Die erhitzte Luft flimmerte über dem Sand, aus dem nur hier und da ein dürrer Busch wuchs, eine einsame Kaktee oder ein Grasbüschel. Atlan schwitzte trotz der regulierenden und kräfteerneuernden Wirkung seines Zellaktivators. Nur konnte das Gerät ihn nicht vor dem Verhungern und Verdursten schützen, nicht vor den Gefahren, die mit Sicherheit hier auf ihn lauerten. Die SOL würde nicht kommen und den Verlorenen an Bord holen. Er besaß keinerlei technische Hilfsmittel zur schnelleren Fortbewegung. Er hatte nicht einmal eine Waffe. Ein hohles Lachen kam über seine Lippen. Er bückte sich, hielt eine Handvoll trockenen und heißen Sand in die Höhe und wartete, bis er einen warmen Luftzug spürte. Die Sandkörner rieselten durch seine Finger. Wohin sie getrieben wurden, dort lag seine Richtung. Sie war so gut und so schlecht wie jede andere. Der Arkonide begann einen so aussichtslos erscheinenden Marsch. Er bemühte sich, die Umgebung im Auge zu behalten, doch immer wieder sah er andere Bilder – sich neben Cara in der SOL, dann Mjailam, dann nur noch die Sonne und dieses tödliche Land. Sein linker Fuß blieb an etwas hängen, das im Sand verborgen war. Atlan wirbelte mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu behalten. Etwas zog ihm den Fuß mit einem Ruck nach hinten weg und brachte ihn endgültig zu Fall. Die Schlinge kam wie eine Schlange zum Vorschein, die sich krümmte. Ein Ende schnellte in die Höhe, und dann waren es vier, fünf, zehn farblose Ranken, die aus dem Untergrund brachen und mit winzigen Widerhaken nach ihm peitschten. Jede von ihnen war einen guten Meter lang. Sie verursachten singende Töne, und als sich der erste Widerhaken in die Kombination und das Fleisch des Arkoniden schlug, gab es ein knallendes Geräusch. Feiner Staub wurde aus der aufgeplatzten Ranke davongeweht. Atlan schrie vor Schmerz laut auf, riß sich
endlich den Fuß frei und versuchte auf allen vieren, den Pflanzen zu entkommen. Um jede Minute! Mjailam meinte es ernst! durchfuhr es ihn. Er meinte es verdammt ernst! Sie werden keinen Finger rühren, um mein Leben zu retten! Ich soll hier sterben! Vor ihm explodierte der Sand. Eine Ranke peitschte hoch und schlug sich um sein Armgelenk. * Die gleiche Welt, eine andere Szene: Nur allmählich schüttelte Sternfeuer ihre Benommenheit ab. In ihr wütete der Nachhall von tausend durchlebten Höllen. Die körperlichen Schmerzen ließen zwar nach, doch das Chaos in ihrem Kopf blieb. Sie war in Caras Kabine gewesen. Sie hatte Twoxl in tödlicher Bedrohung gewähnt und ihm helfen wollen. Was dann geschehen war, konnte sie nicht rekonstruieren. Es war wie ein Sturz in ein flammendes Universum, das seine grausamsten Foltern an ihr anwendete. Voraus ein schwaches Licht, dem sie folgte. Und dann nichts mehr. Sie atmete tief die kühle Luft ein, die voller fremder Gerüche war. Noch hielt sie die Augen geschlossen, aus Angst vor dem, was sie ihr zeigen würden. Das Rauschen in ihrem Schädel kam nicht nur von innen. Je mehr die Solanerin sich konzentrierte, desto deutlicher wurde dies. Es drang aus einer unbekannten Tiefe zur ihr herauf, und ja, es klang wie das Schlagen einer Brandung gegen Klippen. Irgendwo schrie ein Vogel, scharf, durchdringend. Dann waren es mehrere. Jemand stöhnte laut. Sternfeuer hatte auf dem Rücken gelegen. Jetzt richtete sie sich mit einem Ruck auf und schrie gellend, als sie sich wieder mitten in einem Nichts glaubte. Das Schwindelgefühl verflog. Sie saß auf einem Felsvorsprung. Instinktiv suchte sie im feuchten Gestein nach einem Halt. Ihre Füße baumelten über den Rand des Vorsprungs. In einem neuen Anflug von Panik schob sie sich zurück, bis ihre Schultern gegen ein massives Hindernis stießen. Sie blickte in die Höhe und sah die steile Felswand Dutzende von Metern hoch aufragen. »Oh, mein Kopf!«
Jetzt erst drehte sie sich und fand Walter von Bruchstein neben sich. Er schien gerade erst aus einer Ohnmacht zu erwachen, hing halb über dem Abgrund und griff sich mit beiden Händen an die Schläfen. Er rutschte schon. Gerade noch rechtzeitig konnte die Solanerin ihn packen und zurückziehen. Walters Gesicht war grau. Er war bei ihr gewesen. Der Alkohol. Der Entschluß, Twoxl auf eigene Faust zu suchen. Dann wieder Caras Kabine. Der Menschenauflauf davor, die Schreie von Hayes und anderen. Das Eindringen und ... »Himmel, Walter«, flüsterte Sternfeuer. »Was haben wir eigentlich getan?« »Ich weiß es nicht«, jammerte er. »Ich will es auch gar nicht wissen. Ich will nur wieder nach Hause.« »Du hast mich betrunken gemacht!« »Ich dich? Wo ... wo sind wir hier eigentlich? « »Nicht auf der SOL.« Sternfeuer hörte die scharfen Schreie wieder. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah drei, vier große Vögel über dem Felsvorsprung kreisen. Noch während sie hinblickte, wurden es mehr. »Dann träumen wir das nur«, fuhr von Bruchstein in seinem Klagelied fort. »Sicher träumen wir das. Sonst müßten wir das Raumschiff sehen.« »Welches Raumschiff denn?« Sie tastete nach etwas, das sich als primitive Waffe benutzen ließ, ohne den Blick von den Vögeln zu nehmen. Sie erinnerten sie an Möwen, waren aber fast doppelt so groß und besaßen lange und kräftige Schnäbel. Sie kamen tiefer. »Das Schiff, das uns hierher gebracht hat. Ein Kreuzer, eine Korvette, was weiß ich. Aber wenn wir nur träumen ...« In diesem Moment erfolgte der Angriff. »Steh auf, Walter!« rief die Telepathin. »Schnell, stell dich gegen die Wand! Hier!« Sie warf ihm einen der beiden großen Steine zu, die sie gefunden hatte. Den anderen wog sie in der Hand, holte aus und schleuderte ihn, als der erste Vogel mit ausgestreckten Krallen heran war.
Sie verfehlte ihn um Zentimeter. Blitzschnell ging sie in die Hocke. Krallen und Schnabel prallten knapp über ihrem Kopf gegen den Fels. Mit gräßlichem Gekreisch und flügelflatternd rutschte das Tier daran herunter und war über der Mutantin, bevor sie sich wieder aufrichten konnte. Sternfeuer warf sich auf dem viel zu schmalen Vorsprung herum und versuchte, den Nacken mit den Armen zu schützen. Die Fänge krallten sich in ihrer Schulter fest. »Walter!« Von Bruchstein stand wie gelähmt da, warf seinen Stein ungezielt in die Schar der Räuber und konnte dann selbst nicht fassen, daß er getroffen hatte. Vielleicht war es dieses Erfolgserlebnis, das den Helden in ihm wieder weckte. Er hatte sich dies in seinen kühnsten Phantasien bestimmt niemals ausgemalt. Jetzt aber konnte er gar nicht anders, als sich in den Kampf zu stürzen. »Hah!« schrie er. »Wartet nur, Bestien! Ihr sollt euch die falschen Opfer ausgesucht haben!« »Bei allen Planeten, halte keine Reden!« Sternfeuer kauerte sich zusammen. Sie konnte einem Schnabelhieb entgehen, nicht aber den Schlägen der kräftigen Flügel nach ihrem Gesicht. Von Bruchstein packte das Tier am Hals, riß es zurück und schmetterte es mit dem Kopf gegen die Wand. Es zuckte und flatterte noch, als er es mitten in die anfliegende Schar seiner Artgenossen hinein schleuderte. »Da!« schrie er. »Freßt eure eigene Dämonenbrut!« Und das Wunder geschah. Die Raubvögel ließen von den beiden Menschen ab und stürzten sich gierig auf die leichtere Beute. Sie verschwanden mit ihr in der Tiefe, jeder darum bemüht, den größten Fleischbrocken zu erhaschen. Walter legte sich auf den Bauch und schob den Kopf gerade so weit über die Kante, daß er noch sehen konnte, wie der Kampf auf tiefer gelegenen Klippen fortgesetzt wurde, über die schon die schäumende Brandung fuhr. Ihm wurde übel. Er übergab sich, als ihm klar wurde, was er getan hatte. Sternfeuer kam auf die Beine. Sie blutete aus einigen Schulterwunden. Noch taumelnd, ließ sie sich gegen die Felswand fallen. »Wir müssen fort von hier, Walter«, brachte sie heiser hervor. »Hier sind wir nur Zielscheiben. Wir hatten mehr Glück als Verstand.«
Aber wo waren sie? Ein weiteres Stück verdrängter Erinnerungen wurde schlagartig in ihr frei. Der Interkomschirm. Die Leuchtschrift: TOTALAUSFALL PARATRONSCHIRMPROJEKTOREN! Dann gab es nur eine Erklärung. Mjailam war in der SOL materialisiert und hatte sie hierher gebracht. »Wir müssen klettern, Walter. Hinter dieser Steilwand kann Land sein. Vielleicht sehen wir über uns auch nur den Gipfel einer Klippennadel, aber wir haben gar keine andere Wahl.« Sie mußte ihm aufhelfen. Er sah noch erbärmlicher aus als vorher. »Ich ... habe das wirklich getan?« stammelte er. »Eine Bestie getötet?« »Und mir das Leben gerettet. Sieh später zu, wie du deine Heldentat verarbeitest. Jetzt hilf mir!« Es gab schmale Leisten in der Steilwand, Vorsprünge und Löcher genug, um mit einer guten Portion Glück den Aufstieg zu schaffen. Um jedoch den ersten Halt zu erreichen, mußte sie auf Walters Rücken steigen. »Bück dich, Rittersmann. Dort.« Er sagte nichts mehr, sondern gehorchte einfach. Sternfeuer bekämpfte die Schmerzen. Wenn sie eine Vergiftung davongetragen hatte, brauchte sie Hilfe – und die konnte sie nur jenseits der Klippen finden. Es mußte dort eine Siedlung geben. Sie klammerte ihre ganze Hoffnung daran, daß Mjailam sie nicht hatte töten wollen. Andernfalls wären sie und Walter nicht hier auf dem Vorsprung gelandet, sondern direkt im Meer. Ihre Hand lag bereits auf von Bruchsteins Rücken, als sie etwas entdeckte. Eine Ecke des Vorsprungs war mit grünem Moos bewachsen. Jemand hatte etwas hineingekratzt. Es war nicht leicht, die Schriftzeichen zu identifizieren. Mit einiger Phantasie aber las die Solanerin daraus: Helfer! Sollte das ein makabrer Scherz Mjailams sein?
Sternfeuer verließ sich nicht darauf, in dieser Wildnis einen Freund zu haben. Mehr unbewußt versuchte sie, auf telepathischem Weg Federspiel zu erreichen. Daß sie keine Antwort erhielt, konnte an einer ungeheuren Entfernung zwischen hier und der SOL liegen, vielleicht auch noch am Alkohol, der ihre psionischen Sinne lähmte. »Wie lange soll ich noch so stehenbleiben?« kam es von Walter. »Mein Kopf und mein Magen ...« Sie gab sich einen Ruck und schob sich auf ihn. * Atlan rang mit den Pflanzenpeitschen. Er warf sich herum und legte alle Kraft in den Ruck, der seinen Arm befreien sollte. Die Ranke ließ nicht los und schnitt sich in sein Fleisch. Zwei weitere schoben sich um seinen Leib, dann lag die nächste ihm um den Hals. Er lag flach auf dem Rücken und atmete schwer. Jede Bewegung bedeutete nun Selbstmord. Dünn und mit den messerscharfen Widerhaken besetzt, würde die Schlinge sich ihm durch die Kehle ziehen. Es war aus. Die Falle war endgültig zugeschnappt. Im Grunde konnte er nur zwischen dem schnellen Tod wählen und dem durch die glühende Hitze der Sonne und des Sandes. Das Gestirn brannte grell auf ihn herab. Um ihn herum hoben die Ranken sich weiter aus dem Sand heraus. Ihm wurde klar, daß es sich nicht um einzelne Gewächse handelte, sondern um die Fangarme eines einzigen Organismus, dessen Schlund sich genau unter ihm verbergen mochte. Und der nur darauf wartet, daß ich genug geröstet bin! dachte er mit verzweifeltem Galgenhumor. Vorher wird etwas geschehen, meldete sich sein Extrasinn. Das Vorgehen des Arsenals muß einen Sinn haben! Du hast schon erkannt, daß es deinen Tod nicht will – oder noch nicht. Seine Mitglieder sind Anti-ES hörig, aber nicht pervertiert! Sie sind nicht zu Bestien geworden, die dich qualvoll sterben sehen wollen! Konnte er sich dessen sicher sein? Er war es nicht mehr, als er nach einer Stunde, von zwanzig Ranken gefesselt, noch immer unter der mörderischen Sonnenglut lag. Seine Zunge war trocken. Die Lippen begannen aufzuplatzen. Die Augen tränten. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Mit der Flüssigkeit verlor
sein Körper kostbares Salz, das auch der Zellaktivator nicht aus dem Nichts wiederbeschaffen konnte. Warum zogen die Ranken ihn nicht in den Sand? Gehorchten sie einem fremden Willen? Sollten sie ihn hier nur festhalten? Alles mögliche ging ihm durch den Sinn, während er gegen die zunehmende Schwäche ankämpfte. Durch die geschlossenen Lider sah er rote Schatten tanzen, Reflexe des gnadenlosen Lichtes. Nach weiteren Stunden war er soweit, daß er kaum noch klare Gedanken fassen konnte. Kein Lufthauch ging mehr, bis auf einmal ... Der Schatten brachte ihm Linderung. Er wußte, daß jemand vor ihm stand, auch ohne die Augen geöffnet zu haben. Als er es tat, sah er zuerst nur eine Gestalt, deren Konturen durch weißes Geflirre undeutlich waren. Nur langsam wurde das Wesen erkennbar. Sanny hatte in der rechten Hand einen kleinen Strahler, in der linken eine Schale. Die zwergenhafte Molaatin wurde nicht von den Fangarmen angegriffen, als sie näher trat. Mit wenigen Schüssen zertrennte sie sie. Die verbleibenden Enden verschwanden so schnell wieder im Sand, wie sie herausgepeitscht waren. Sanny machte rasch wieder einige Schritte zurück und stellte die Schale ab. Klares Wasser schwappte über ihren Rand. Sanny lächelte. »Du kannst aufstehen, Atlan«, sagte sie. »Und trinken.« Er bewegte die Lippen und hatte dabei das Gefühl, sie müßten an einem Dutzend Stellen zugleich aufreißen. Er schaffte es, die Arme anzuziehen, sich auf die Ellbogen aufzurichten, auf die Seite zu legen und auf die Knie zu kommen. Auf allen vieren kroch er auf die Schale zu. Als seine Finger sie fast schon berührten, zog er die Hand langsam zurück. Schwindel ergriff ihn. Die Umwelt verschwand für Sekunden hinter Tausenden von schwarzen Punkten. Dann stand Sanny immer noch an der gleichen Stelle. »Trink, Atlan. Du weißt, daß du es tun mußt – oder sterben.« »Bist du ... frei?« zwang er sich zu fragen. Sie lächelte wie ein unschuldiges Kind, als sie den Kopf schüttelte. »Ich muß die Befehle befolgen, die mir die Penetranz gibt. Trink!« »Und was ist der Preis dafür?«
»Daß du zu uns kommst und mit uns kämpfst, Atlan. Freiwillig.« Warum machte die Penetranz soviel Aufhebens? Wenn dies also der Grund für seine und Caras Entführung war – sie zu unterjochen und dem Arsenal einzufügen –, warum griff sie nicht selbst nach seinem Bewußtsein? »Wo ist Cara?« wollte der Arkonide wissen. Er bewegte sich vorsichtig, um wieder ein Gefühl für seine Glieder zu bekommen. Der Aktivator arbeitete. Es gab keine Anzeichen einer Vergiftung durch die Ranken. Die Wunden heilten bereits halbwegs zu. Sanny antwortete nicht. Ihr Lächeln verschwand. »Dort ist die Schale. Trink jetzt. Komm zu uns, und du wirst Wasser und Nahrung in Hülle und Fülle erhalten.« »Nein!« Atlan stieß mit dem Fuß nach der Schale. Sie kippte um und ihr kostbarer Inhalt versickerte schnell im Sand. »Es tut mir leid, Atlan«, sagte Sanny. »Aber du wirst zur Vernunft kommen. Ich hätte dir weitere Qualen ersparen können.« Mjailam materialisierte und nahm ihre Hand. Sie verschwanden wie ein Schemen. Nur die Schale blieb zurück als Beweis dafür, daß Atlan keiner Halluzination zum Opfer gefallen war. Er stand auf. Nach einigen weiteren Bewegungsübungen fühlte er sich in der Lage, den Weg fortzusetzen. Er hob die Schale auf und leckte die Innenseite ab. Stolz! schalt ihn der Extrasinn. Du hättest das Wasser trinken und dich dann erst weigern sollen! Aber es wäre einer Kapitulation gleichgekommen. Dem Eingeständnis, dem Gegner schon jetzt unterlegen und ausgeliefert zu sein. Sanny hatte ihm mit ihren Schüssen demonstriert, wie leicht sie mit etwas fertig wurde, das für ihn unüberwindlich gewesen war. Er sollte gedemütigt werden, zermürbt – für eine Übernahme bereit. »Sie werden es nicht erleben«, flüsterte der Arkonide. Die Schale zerbrach in seinem Griff in zwei Hälften. Sie bestand aus einem dünnen, aber sehr harten Plastikmaterial. Die Kanten an der Bruchlinie waren scharf.
Atlan schleppte sich durch die Wüste. Jeder Schritt fiel schwerer. Bald bereitete es ihm Mühe, die Füße aus dem Sand herauszuziehen. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont entgegen, doch die Luft über dem endlosen Weiß flimmerte immer noch. Ein großer Kaktus stand in etwa fünfhundert Metern Entfernung. Atlan hatte es längst aufgegeben, sich nach einer bestimmten Richtung zu orientieren. Er erreichte den Kaktus, als die Sonne unterging, fiel gegen den drei Meter hohen und mannsdicken Stamm und trieb eine der beiden Schalenhälften mit der Spitze hinein. Die ausdringende Flüssigkeit war dicklich und schmeckte ekelerregend. Für einen Verdurstenden jedoch war sie wie Wein. Atlan vergrößerte das Loch und saugte daran, bis der feuchte Strom erlosch. Das wird reichen, um die Nacht zu überstehen, dachte er, als er sich am Stamm des Wüstengewächses in den Sand sinken ließ. Und dieser erwachte zum Leben, als die Dunkelheit anbrach.
4. Twoxl glaubte jedesmal, wenn die Stimme der Penetranz in ihm aufklang, daß es sich jetzt nur noch um Sekunden handeln konnte, bis eine schreckliche Strafe ihn traf. Der Ableger von Anti-ES wandte sich nicht nur an ihn. Angeklagt war auch Mjailam, und alle hörten den mentalen Vorwurf: Ihr habt versagt! Ihr habt nur Atlan gebracht! Wo ist Cara Doz? »Ich weiß es nicht!« antwortete der Hüne. Er sprach laut, doch gleichzeitig dachte er die Worte an die Penetranz, und über diese wurden sie allen verständlich, die sein gebrochenes Idiom nicht oder nur kaum verstanden. »Ich finde keine Erklärung dafür! Als wir in der SOL entmaterialisierten, war sie noch bei uns. Wir müssen sie verloren haben!« In der SOL? Während der Auflösung? »Ganz bestimmt nicht«, verteidigte sich der stellvertretende Arsenalführer. »Ich hätte es gespürt, so wie ich spüren konnte, daß sie mit uns entstofflichte.« Schweigen. Twoxl wartete voller Angst darauf, daß die Penetranz nun die Frage stellte. Sie kam nicht. Statt dessen erging die Aufforderung an alle Mitglieder der ehemaligen BANANE-Besatzung: Sucht nach ihr! Falls ein noch unbekannter Einfluß Cara Doz im Augenblick der Wiederverstofflichung von Twoxl, Mjailam und Atlan trennte, werdet ihr sie finden! Ihr müßt es! Nehmt die Beiboote der ARSENALJYK dazu! Die Raumfahrer schritten wie Roboter mit monotonen Bewegungen davon. Twoxl fühlte ein wenig Erleichterung, ein wenig Hoffnung. Es hatte tatsächlich den Anschein, als habe die Penetranz noch nichts gemerkt. In der Zwischenzeit hältst du dich bereit, Kerness Mylotta! Der ersten Versuchung vermochte Atlan noch zu widerstehen. Er hatte nur gegen die Schwäche und Schmerzen des Körpers zu kämpfen. Wenn aber sein Geist in Gefahr ist, wird er sich nicht mehr sträuben! »Und wenn doch?« fragte der Arsenalführer. »Ich kenne ihn. Sein Wille ist härter als Eisen.« Er wird brechen. Bevor die Sonne noch zweimal auf- und untergegangen ist, wird er einer von uns sein. Ihr wißt, ich habe noch andere Mittel!
Twoxl fragte sich, warum sie nicht eingesetzt wurden. Die Penetranz schwieg. Alles Nötige war gesagt. Und die eine Frage hatte sie nicht gestellt. Der Cpt’Kul schwebte davon, als auch die anderen in ihre Unterkünfte zurückkehrten oder zu irgendwelchen Beschäftigungen. In einem steinigen, von den verschiedenartigsten Schlingpflanzen überwucherten Gelände teilte er sich. Die einzelnen Komponenten blieben eng beieinander. Die Kommunikation unter ihnen war nur annähernd mit Telepathie zu vergleichen, wenn sie es nicht vorzogen, von ihren Sprechmembranen Gebrauch zu machen. Sie machte im Grunde Twoxls Denken aus und bestand eher aus Gefühlsäußerungen, deren Grad Absichten, Botschaften und Fragen ausdrückte. Vielleicht war dies der Grund, dafür, daß die Penetranz Twoxl nicht längst durchschaut hatte. Er verbarg etwas vor ihr. Er stand nach wie vor ganz in ihrem Bann und befolgte jeden Befehl, den sie gab. Er tat es ohne Widerspruch, obwohl er im Denken ebenso frei geblieben war wie die anderen Rekrutierten. Nur gab es für sie keine moralischen Maßstäbe mehr, kein Empfinden von Gut oder Böse. Deshalb war es die Wahrheit gewesen, als Twoxl sich als Atlans Freund bezeichnete. Und dennoch – hätte die Penetranz ihm jetzt befohlen, den Arkoniden zu töten, wäre er der Aufforderung ohne Zögern nachgekommen. Was er zu verbergen hatte, lag jenseits von Gut und Böse. Es hatte nur mit der Angst zu tun, von der Penetranz bestraft zu werden. Bestraft für einige kurze Augenblicke der Unaufmerksamkeit. Die Penetranz hatte ihm nicht befohlen, es zu melden. Keines der anderen Arsenalmitglieder hatte die Veränderung bemerkt und die Entdeckung weitergegeben. So schwieg Twoxl über das Fehlen seiner siebten Komponente – und über noch etwas. Sein Auftrag hatte gelautet, das Pi-ong nach der Rückkehr auf den Arsenalplaneten einfach abzuwerfen, weil es wertlos geworden war. Die Penetranz fragte ihn nicht danach, ob er den Befehl auch befolgt hatte – also bestand für ihn kein Grund dazu, ihr von sich aus eine Mitteilung zu machen.
Sein lautloser Ruf nach Twoxl-7 blieb auch diesmal unbeantwortet. Das war nach der Angst vor Strafe sein zweites großes Problem: Er wußte nicht, wie lange er ohne eine Komponente überhaupt leben konnte. Einen Menschen an seiner Stelle hätte man als Krüppel bezeichnet. Noch besaß er seine ganze Kraft, aber es gab niemanden, der ihm hätte sagen können, wann sich das vielleicht änderte. * Als Sternfeuer und Walter von Bruchstein den Wald erreichten, schienen die Sterne von einem fremden Nachthimmel. Die Strapazen des Aufstiegs hatten ihre Spuren hinterlassen. Beide hatten Schrammen und Beulen. Vor allem jedoch quälten sie Hunger und Durst. Immerhin, als sie oben auf der Klippe angekommen waren, hatten sie sich nicht auf einem einsamen Felsen im Meer gesehen, sondern nur noch vor einem sanft aufsteigenden, bewachsenen Hang. Der Rest des Weges war im Vergleich zum Zurückliegenden fast ein Kinderspiel gewesen. Hinter einer sanften Kuppe breitete sich fruchtbares Land aus. Nur ihre Hoffnung, eine Siedlung von intelligenten Wesen vorzufinden, hatte sich nicht erfüllt. Sternfeuer setzte sich zwischen die verzweigenden Äste eines riesigen Laubbaums. In der niedrigen Gabel war Platz genug für ihren Begleiter. Von Bruchstein winkte ab, als sie ihn einlud. »Ich suche uns etwas zu essen«, sagte er. »Und außerdem brauchen wir Waffen.« »Erwartest du, ein Munitionsdepot zu finden? Oder eine Schatztruhe mit Dolchen. Schwertern und ...« »Bitte!« sagte er. »Mach jetzt keine Witze. Wir waren beide nicht bei Verstand, als wir uns betranken und dann Twoxls Beschützer spielen wollten. Ich habe mir dies hier nicht ausgesucht.« Sie nickte. Mit einer Hand fuhr sie sich über die Schultern. Das Blut war verkrustet. Zum Glück war noch nichts von einer Entzündung zu spüren. Nur die Schmerzen blieben. Mit der Zeit konnte sie sie ertragen. Anderes war schlimmer. »Du lägst jetzt lieber in deiner Kabine und erschlügst im Traum Drachen und Dämonen.« »Dämonen erschlägt man nicht«, knurrte Walter. Er zog an einem herabhängenden, zweifingerdicken Ast und prüfte ihn auf seine Härte. »Die treibt
man aus.« Was sollte er mit ihr darüber streiten? Sie mußte wahrscheinlich reden und spötteln, um ihre eigene Unsicherheit zu verbergen. Walter kannte das. Er hatte sich schließlich auch mit der Psychologie der alten Ritter beschäftigt, die sich ebenfalls mit lauten Beschimpfungen vor dem Kampf Mut machten. Walter hatte auf dem erschöpfenden Marsch hierher Zeit gehabt, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Da war er in eine fremde Welt hineingeworfen worden wie in eiskaltes Wasser. Sicher, einige Heldentaten hätte er schon immer ganz gerne vollbracht, aber eben nach seinem Wunsch und Geschmack. Natürlich hatte er am Anfang gräßliche Angst gehabt. Die steckte ihm auch jetzt noch in den Knochen. Allerdings erging es der erfahrenen Mutantin nicht viel anders. Was also unterschied ihn von den Männern und Frauen um den High Sideryt und um Atlan, die so oft in brenzligen Situationen mit heiler Haut davongekommen waren? Ein einfacher Solaner hätte sicherlich nicht die Geistesgegenwart besessen, die Raubvögel zu verjagen und Sternfeuer zu retten. Und je länger er darüber nachdachte, um so mehr kam ihm der Verdacht, daß er tatsächlich Ritterblut in den Adern haben mußte. Inkarnation? Wiedergeburt? Jedenfalls erschien es ihm jetzt nicht mehr wie ein Zufall, daß er sich so zu den glorreichen alten Zeiten hingezogen fühlte. »Das Schicksal hat seine Hand im Spiel«, murmelte er. »Wenn eine dämonische Macht Sternfeuer entführen wollte, so hat es ihr mich zur Seite gestellt, auf daß ich mich bewähre und sie beschütze.« Er nickte. So mußte es sein. Gegen die eigene Angst kämpfen! Die Prinzessin so lange vor allem Ungemach behüten, bis Hilfe kam. (Bewußt oder unbewußt rechnete er nach wie vor ganz fest damit, daß Hayes längst schon Suchtrupps in Bewegung gesetzt hatte.) Walter ließ einige Äste zurückschnellen, bis er zwei fand, die seinem kritischen Blick genügten. Er brach sie ab, ging zur Telepathin und reichte ihr den etwas kleineren. »Das soll fürs erste genügen. Später können wir sie vielleicht mit einem scharfen Stein anspitzen. Holzspeere sind besser als gar keine.« Sternfeuer nahm die »Waffe« und legte sie sich über die Knie. Sie sah sich um. Aus dem Wald kamen Geräusche, die nichts Gutes verhießen. Einmal meinte sie, im Unterholz zwei glühende Augen zu sehen.
»Du hältst die erste Wache«, sagte von Bruchstein. »Ich habe Früchte gesehen.« »Walter, du ...« Er streckte ihr abwehrend die freie Hand entgegen. »Schon gut. Du ruhst dich jetzt aus, später ich.« Er ging und kam nach einer Minute mit drei kürbisartigen Bällen zurück. Sternfeuer hatte ihm zugesehen, wie er sie abriß. Bei allem Heldenmut war von Bruchstein immer darauf bedacht gewesen, nicht aus ihrer Sichtweite zu kommen. »Die Schale ist hart«, stellte Walter fest, »aber um so besser. Das deutet auf reichlich Flüssigkeit hin.« Mit seiner Lanze gab er sich daran, ein Loch in die erste Frucht zu stoßen. Beim dritten Versucht gelang es. Eine Saftfontäne spritzte ihm bis ins Gesicht und verklebte den Bart. »Dämonisch«, meinte Sternfeuer. »Wirklich dumm.« Sollte sie sticheln, wenn es ihr guttat. Als einer, der wußte, wie man sich einer Dame gegenüber verhielt, trank von Bruchstein den ersten Kürbis leer, bevor er ihn weiter zerstückelte und von dem braunen Fruchtfleisch aß. Es ließ sich kauen, und wenn man gegen den Brechreiz ankämpfte, konnte man es sogar herunterwürgen. »Genießbar«, stellte er fest. »Hier.« Sternfeuer nahm die geöffnete zweite Frucht, sah sie skeptisch an und trank und aß schließlich. Dann sagte sie: »Jetzt fühle ich mich schon besser. Und was nun?« Die Geräusche kamen näher. Äste knickten. Schwere Körper schienen sich durch das Dickicht auf die beiden Menschen zu schieben. »Ich habe gelesen, wie man in der Wildnis ein Feuer macht«, sagte Walter. »Das soll uns die Bestien vom Leibe halten.« Sternfeuer legte die Stirn in Falten. Sicher wäre ein Lagerfeuer nützlich, auch gegen die zunehmende Kälte. Es konnte auch mögliche intelligente Bewohner des Planeten anlocken. Doch falls sie wirklich erschienen – würden sie Freunde oder Feinde sein? Es war die Frage, die sie seit ihrem Erwachen in dieser Umgebung quälte. Wenn
tatsächlich Mjailam in der SOL erschienen war und sie hierher entführt hatte – konnte dies dann der mysteriöse Arsenalplanet sein? Es erschien logisch, doch vieles sprach auch dagegen. Die Entführung hätte nur einen Sinn gehabt, wenn Mjailam sie und Walter zur Penetranz gebracht hätte. Und wo waren Atlan und Cara Doz in dem Fall? Helfer! Irgendwo erscholl ein markerschütterndes Geheul. Dumpfe Schritte waren nun von ganz nahe vernehmbar. Und da waren sie, die glühenden Augen im Gehölz. Sternfeuer schob ihre Zweifel beiseite. Die unmittelbare Gefahr lauerte hier, nicht irgendwo in der Ferne. Vielleicht war ein Helfer nur angekündigt worden, und sie mußte von sich aus etwas tun, um ihn zu rufen. Sie sah Walter dabei zu, wie er trockene Zweige holte und aufschichtete. Mit dem Speer trieb er ein kleines Loch in einen armdicken Ast und nahm einen kleineren zwischen die Handflächen. Mit ihm rieb er so lange, bis die ersten Rauchwölkchen aufstiegen, dann winzige Flammen. Walter machte das Feuer, als hätte er jahrelang in der Wildnis gelebt. Insgeheim leistete sie ihm Abbitte für ihren Spott. Als die Flammen meterhoch aufschlugen und die trockenen Brennhölzer knackten und Funken sprangen, machten sich einige der nächtlichen Beobachter hörbar davon. Andere blieben, doch die funkelnden Augen zogen sich etwas zurück. Von Bruchstein rieb sich die Hände und zwängte sich neben der Mutantin in die Astgabel. »Das hätten wir auch«, stellte er zufrieden fest. Seine Augen glänzten im Widerschein des Feuers. Er lächelte. »Wer sagt, daß die modernen Menschen alles verlernt haben, was ihre Vorfahren einmal beherrschten? Schade, daß Quassel nicht bei uns ist. Er könnte uns einige Geschichten vorlesen.« Sternfeuer dankte dem Schicksal dafür, daß Quistell nicht mit von der Partie war. »Schlafen können wir natürlich nicht«, tat von Bruchstein kund. »Also machen wir Pläne für morgen. Ich ...« Er verstummte. Sie sahen es beide. Einer der unbekannten Sterne am Himmel bewegte sich und wurde heller.
»Ein Raumschiff!« entfuhr es Walter. »Da! Sie kommen, um uns zu holen!« Sie wollte ihn festhalten. »Walter, es ist nicht, was du glaubst. Ich würde ...« Er sprang aus der Gabel und rannte vom Wald fort auf das freie Gelände, streckte die Arme in die Luft und schrie: »Hier! Hierher!« Und wenn es die ARSENALJYK war! Wer immer dort herangeflogen kam, er hatte das Feuer gesehen. Sternfeuer ließ sich vom Baumstamm gleiten und überlegte, wie sie Walter noch zur Vernunft bringen konnte. Sie fand nur eine Möglichkeit. Als sie ihm einen schweren Ast über den Schädel schlug, waren die Positionslichter des Fahrzeugs schon zu erkennen. Sie zerrte Walters Körper zurück in den Wald, ins Unterholz, fort vom Feuer. Gerade rechtzeitig konnte sie sich noch neben ihm zu Boden werfen, als die Moskito-Jet schon aufsetzte. Mit heftig klopfendem Herzen schob sie einige Zweige auseinander und sah, wie sich eine Luke öffnete und drei Menschen ausstiegen. Sie kamen mit vorgehaltenen Waffen auf das Lagerfeuer zu, zwei Männer und eine junge Frau. Sternfeuer erkannte sie wieder, als ihr Gesicht von den Flammen beschienen wurde. Also doch! dachte sie bitter. Henny Lupino, die mit der BANANE unter Mata St. Felix in Xiinx-Markant zurückgeblieben war! Mit dem Raumer, der jetzt als Kampfschiff des Arsenals diente! »Sie muß hier gewesen sein!« rief Henny ihren Begleitern zu. »Gebt Nachricht an die Penetranz! Alle Boote, die unterwegs sind, sollen hierher kommen. Wir riegeln den ganzen Bereich ab!« * Atlan sah zunächst nur, wie sich der Sand langsam senkte und hob. Dann bemerkte er, daß es in vielen Wellenringen geschah, die sich auf ihn und den Kaktus zuschoben. Er hatte wieder genug Kraft, um aufzuspringen. Schnell schätzte er die Entfernung ab. Mit einem guten Satz mußte es ihm gelingen, über die kräuselnde Fläche hinwegzusetzen. Noch als er die Muskeln spannte, gab der Untergrund nach. Der Arkonide schrie auf. Er fiel wie ein Stein in das entstandene Loch, unter dem sich ein Hohlraum
befand. Dabei konnte er gerade noch sehen, daß die vermeintlichen Sandwellen aus lauter winzigen Tieren bestanden, und als er auf dem Boden des Hohlraums landete, zweifelte er an seinem Verstand. Die Wände wurden aus Millionen von Kleinstinsekten gebildet, deren Chitinpanzer in der Dunkelheit golden schimmerten. Ihm blieb keine Zeit, sich auf die neueste Situation einzustellen oder überhaupt etwas zu tun. So schnell, daß er es erst begriff, als es schon geschehen war, lösten die Wände sich auf. Die Insekten schoben sich wie ein dicker Teppich über ihn und bildeten eine lebende Schale um seinen Leib. Alle Versuche, sie zu sprengen, scheiterten an ihrer ungeheuren Elastizität. Nur sein Gesicht blieb frei. Dann drang ein ätzender Geruch in seine Nase. Ein Atemzug nur reichte aus, um das Gift in seine Lungen gelangen zu lassen und ihn zu lähmen. Der Zellaktivator schaffte es nicht, den ständig neuen Zustrom zu neutralisieren. Atlan blieb bei Sinnen. Er sah, fühlte und hörte alles, was mit ihm geschah, konnte aber keinen Finger mehr rühren. Die Insekten transportierten ihn tiefer in ein Stollen- und Höhlensystem unter der Wüste hinein, dessen Wände wiederum von Milliarden anderen gebildet wurden. Wie lange das so ging, vermochte er nicht abzuschätzen. Schließlich aber lag er in der größten aller Höhlen, inzwischen eingesponnen in einen Kokon aus lauter hauchdünnen, weißen und klebrigen Fäden. Seine Augen, die Nase und der Mund blieben weiterhin frei. Er sah die Chitinwände, die fast zwei Meter hoch waren. Die Decke mochte fünf mal fünf Meter messen. Doch das registrierte er nur am Rand. Die Käfer zogen sich von ihm zurück. Vor ihm tauchte ein Geschöpf auf, das nur einem Alptraum entsprungen sein konnte. Ihre Königin! durchfuhr es ihn. Sie war zwei Meter lang und stand auf zehn mehrfach gegliederten Beinen. Ihr Kopf nahm ein Drittel des Körpers ein. Die Oberseite bestand aus einem freiliegenden, monströsen Gehirnklumpen. Darunter schillerten vier mächtige Facettenaugen, die wie flache Kuppeln schräg über zwei großen Beißzangen und einem aufgerollten Rüssel lagen. Der eigentliche Körper wirkte verkümmert unter dem flachen Chitinpanzer. Hinter einer fast durchsichtigen Haut waren pulsierende Organe und strömendes Blut zu erkennen. Was Atlan bevorstand, ließ sich unschwer erraten. Die Königin brauchte Nahrung, die ihre Millionenheere ihr zu beschaffen hatten. Sie hatten ihr vielleicht den dicksten Fisch seit Jahrzehnten gebracht. Die Beißzangen zuckten bereits. Alles im Arkoniden sträubte sich gegen diesen Gedanken. Verzweifelt versuchte er, seine Arme und Beine zu bewegen. Das Gift wirkte weiter auf ihn.
versuchte er, seine Arme und Beine zu bewegen. Das Gift wirkte weiter auf ihn. Die Penetranz will dich zermürben! sagte der Extrasinn. Denke daran! Denke an Sanny! Aber er hatte der Versuchung widerstanden. Die Penetranz wußte das. Lebendig wäre er ihr ein unendlich wertvoller Bundesgenosse. Aber tot war er Anti-ES mindestens ebenso lieb. Alle Hoffnungen, daß auch jetzt ein Arsenalmitglied auftauchen und ihm Rettung gegen Überlaufen anbieten würde, schwanden dahin, als die Insektenkönigin sich über ihn schob und den Rüssel ausrollte. Was er für ein Sauginstrument gehalten hatte, erwies sich jetzt als etwas völlig anderes. Am Ende des Rüssels saßen feine Tastfäden. Sie berührten Atlans Stirn – und dann drang etwas unsagbar Fremdes in sein Bewußtsein. Er hatte das Gefühl, als ob ein Feuer in seinem Gehirn wütete und Flammenfinger seinen Geist umkrempelten. In kaltem Entsetzen begriff er, welche Art Gier aus den starren Augen der Königin sprach. Sie wollte vielleicht auch sein Fleisch, doch vor allem sein Wissen! Ein Bewußtseinsvampir! Seinen lautlosen Schrei hörte nur das Monstrum. Der Tastrüssel zuckte zurück und blieb pendelnd über Atlans Gesicht hängen. Der Arkonide wagte es kaum, neue Hoffnung zu schöpfen. Im nächsten Moment klebten die Tasthaare wieder an seinem Kopf. Der psionische Würgegriff war so stark, daß er jeden bewußten Gedanken auslöschte. Atlan konnte nur noch passiv fühlen, und das war die Hölle. Der Extrasinn schrie in stummer Qual. Er versuchte, Barrieren gegen das zu errichten, was den Arkoniden innerhalb kürzester Zeit als ein geistloses, ausgebranntes Wrack zurücklassen würde. Sie brachen unter den Angriffen eines nichtmenschlichen Willens, dem Produkt eines ins Monströse mutierten Gehirns. Ganz plötzlich ließ der Druck nach. Atlan kam erst allmählich zu sich. Als er die Wahrnehmungen seiner Sinne wieder einigermaßen verarbeiten konnte, sah er einen unförmigen Klumpen über sich schweben. Die Insektenkönigin war wie zu einer skurrilen Skulptur erstarrt. Aber der Klumpen war ein Teil von Twoxl! Atlan war sich nicht sicher, wie er nun reagieren würde, wenn Twoxl ihm das gleiche Angebot wie Sanny machen würde. Nur das konnte sein Erscheinen ja bedeuten. Er wußte nicht, ob er noch einmal die Kraft hatte, zu widerstehen. Die Twoxl-Komponente ließ sich auf seiner Brust nieder. Er konnte sie nur zum
Teil sehen. Aus der Sprechmembrane zirpte es: »Du hast nicht viel Zeit, Atlan. Ich konnte dir nur einmal helfen, denn meine Kraft ist fast erschöpft. Das Arsenal wird dich weiterhin jagen.« Er spürte, wie die Lähmung von ihm abfiel. Er probierte die Arme aus und konnte den Kokon an einer Stelle zerreißen. »Ist das ein neuer Trick?« fragte er. »Sobald ich frei bin, soll ich aus Dankbarkeit zu euch überlaufen?« Ein Blick auf die Königin. War sie tot? Aber wie konnte Twoxl das anstellen? Wo waren überhaupt seine sechs anderen Teile? »Frage jetzt nicht, Atlan!« beschwor der blaugraue Klumpen ihn. »Ich muß fort. Du kannst fliehen, solange die Insekten und ihre Königin betäubt sind. Ich kann dir nichts erklären. Die anderen brauchen mich genauso dringend! Fliehe durch die Stollen! Folge der Richtung, in die du bisher gegangen bist. Dort ist die Wüste bald zu Ende!« »Du gehörst zum Arsenal!« »Nein! Nein, ich ... glaube nicht. Ich nicht mehr. Twoxl ja. Ich bin der siebte Teil und ...« Es war, als spürte der Klumpen eine nahende Gefahr. Noch einmal rief er: »Fliehe jetzt!« Dann hob er ab und jagte aus Atlans Gesichtsfeld. Ungläubig lag der Arkonide da. Er konnte den Kopf drehen. Die Wände wirkten wie verkrustet. Unheimliche Stille hatte sich ausgebreitet. Atlan traute dem Frieden noch nicht. Es mußte eine Falle sein. Narr! meldete sich der Extrasinn. Die schwache Intensität der Botschaft machte deutlich, wie geschwächt er noch war. Du hast eine Chance! Ergreife sie! In dem Moment, als der Arkonide den Kokon sprengen wollte, materialisierten Mjailam und Mylotta in der Höhle. Diesmal begriff Atlan blitzschnell. Er ließ den Kopf zurückfallen und stieß gleichzeitig mit einem Fuß nach zwei Beinen der Königin. Das Rieseninsekt kippte starr nach vorn. Sein Tastorgan landete genau auf Atlans Stirn. Er dachte jetzt nicht über Glück und Fügung nach. Er hielt die Augen weit offen und tat so, als leide er Höllenqualen unter dem geistigen Sog des Insekts. Er spielte mit hohem Einsatz, mit dem höchsten überhaupt – seinem Leben und seiner Freiheit.
Nun kam alles darauf an, daß Kerness Mylotta nicht zuviel gesehen hatte. Nur eine Sekunde lang mußte er zittern. Dann schoß der ehemalige SPARTACChef. Sein Energiestrahl aus dem dritten Auge durchbohrte den Leib der Königin. Mjailam stieß sie mit einer Hand fort. »Befreie ihn!« befahl Mylotta dem Hünen. Atlan spielte weiter mit. Mjailam riß den Kokon auf. Atlan blieb liegen, stöhnte und mimte den Mann, der nur langsam zu sich selbst fand. »Kannst du mich hören?« fragte Mylotta. Atlan nickte zaghaft. »Schön«, lobte der Arsenalführer. »Du hast wieder gesehen, daß du ohne unsere Hilfe verloren bist. Nun? Hast du dir unser Angebot überlegt? Komm zu uns, und du wirst mächtig sein.« »Und wenn nicht?« »Es gibt nicht nur diese eine Königin. Wir ...« »Verschwinde!« Atlan sprang den Solaner an, bekam ihn in der Körpermitte zu fassen und versuchte ihn mit sich zu Boden zu reißen. Mit einer Hand drückte er Mylottas Kinn nach oben, so daß ihn kein Paralysestrahl aus dem dritten Auge treffen konnte. Mjailam packte ihn von hinten und schleuderte ihn gegen eine Insektenwand. Mylotta kam fluchend auf die Beine, schnitt eine Grimasse und drohte mit der Faust. »Sei froh, daß ich nicht ohne die Zustimmung der Penetranz handeln darf, Narr! Du hast es nicht anders gewollt! Nun sieh zu, wie du dir selbst hilfst!« Atlan, von blindem Zorn überwältigt, wollte sich wieder auf ihn stürzen. Er sprang ins Leere. »Und ihr bekommt mich nicht!« schrie er. Nur die auf so unbegreifliche Art und Weise gelähmten Insekten hörten ihn vielleicht. Wütend versetzte der Arkonide der toten Königin einen Fußtritt. Wäre Mylotta vor zwei, drei Minuten mit seinem Angebot erschienen ...
Atlan wollte nicht mehr daran denken. Das war vorbei. Weitere Gefahren lauerten auf ihn. Vor allem mußte er aus dem Stollensystem heraus. Er fand den Weg und arbeitete sich mühsam nach oben. Als er wieder vor dem Kaktus stand, wirkte die Wüste so leblos wie vorher. Die Richtung, in die du bisher gegangen bist! Es hatte viele gegeben. Twoxl-7 konnte nur seinen Erschöpfungsmarsch zum Kaktus gemeint haben. Hatte er ihn beobachtet? Atlan konnte sich nicht vorstellen, wie es geschehen sein sollte. Doch wenn er zwei und zwei zusammenzählte, mußte die Komponente tatsächlich eine Möglichkeit gefunden haben, sich aus dem Bann der Penetranz zu befreien. Es erschien dennoch fast unvorstellbar. Früher als mir vielleicht lieb ist, sagte sich der Arkonide, werde ich auf alles eine Antwort erhalten. Er fand seine Scherbe und trieb einen tiefen Schnitt in das Riesengewächs. Noch einmal trank er von seinem dicklichen Saft, wischte sich den Mund ab und ging los. Wer waren die anderen, von denen Twoxl-7 gesprochen hatte? Atlan konnte nichts von dem wissen, was unmittelbar nach seiner und Caras Entführung noch in der SOL geschehen war. So reimte er sich zusammen, daß die Komponente nur die anderen Twoxl-Teile meinen konnte.
5. Eine weitere Moskito-Jet war gelandet, daneben etwa ein Dutzend Männer und Frauen der ehemaligen BANANE-Besatzung mit Flugaggregaten. Die Umgebung war von starken Scheinwerfern in taghelles Licht getaucht, das Feuer längst erloschen. Die Arsenalmitglieder durchkämmten den Wald und schwärmten bis zu den Klippen aus. Zweimal schon hatte sich Sternfeuer unmittelbar vor der Entdeckung gesehen. Doch als ob sie für die Jäger unsichtbar gewesen wäre, waren sie an ihr vorbeigegangen – so nahe, daß sie ihren Stiefeln ausweichen mußte. Sternfeuer verstand gar nichts mehr. Sie konnte nur flach liegen bleiben, keinen Laut von sich geben und hoffen, daß ihr das unverschämte Glück weiterhin hold blieb. Inzwischen hatte Mata St. Felix bei den abgestellten Jets das Kommando. Fast ununterbrochen kehrten Raumfahrer zu ihr zurück und schüttelten ihre Köpfe. »Weitersuchen!« befahl sie. »Wir finden sie, und wenn wir den ganzen Wald abbrennen müssen!« Das würde das Ende bedeuten. Sternfeuer suchte verzweifelt nach einem Ausweg, als Walter neben ihr das Bewußtsein wiedererlangte. Sie legte ihm eine Hand auf den Mund und flüsterte: »Bleib still. Nicht bewegen. Es sind nicht unsere Leute.« Erst als er durch ein Nicken bekanntgab, daß er verstanden hatte, ließ sie ihn los. Er kroch einen halben Meter vorwärts, bis auch er die gespenstische Szene übersehen konnte. »Sie werden den Wald in Brand setzen«, flüsterte Sternfeuer. »Wir müssen von hier verschwinden, aber sobald wir aufstehen, sehen sie uns.« Von Bruchstein fragte nicht nach dem Grund seiner Ohnmacht. Die schmerzende Beule am Hinterkopf sagte ihm genug. Sternfeuer hatte also noch immer kein volles Vertrauen zu ihm. Und prompt waren sie in Schwierigkeiten geraten. Was tun? überlegte er sich. Die aufgestellten Scheinwerfer und die Lichter der Moskito-Jets erschienen ihm wie die Feuer von Belagerern und glühenden Augen von mächtigen Drachen. Die menschlichen Gestalten davor waren die fremden Barbaren, die in das Land eingefallen waren und seine Festung zu stürmen
gedachten. Schlimm war, daß der Feind die Burgmauern bereits überwunden hatte. Es blieb also nur noch der Ausfall, aber wie machte man ihn, wenn keine geheimen Gänge vorhanden waren? Er hatte eine glorreiche Idee. Da ihm eine Beule genügte, weihte er Sternfeuer erst gar nicht in sein Vorhaben ein, sondern handelte. Als einer der Fremden das Dickicht durchstöberte und dabei nahe genug kam, war er bereit. Er wollte ihn blitzschnell betäuben, ihn ausziehen und in seine Kleider schlüpfen. Dann noch eine Rüstung für die Telepathin, und unerkannt konnten sie die Reihen der Feinde durchstoßen. Sternfeuer konnte den Aufschrei nicht mehr unterdrücken, als Walter neben ihr aufsprang und dem Solaner den Arm um die Kehle legen wollte. Ein Zurückhalten war nicht mehr möglich. Sternfeuer sah die Scheinwerfer und Waffen der Jäger schon auf sich gerichtet, doch es geschah nichts. Walters Arme fuhren durch den Mann hindurch! Er sprang zurück, riß die Augen weit auf und brüllte: »Ha! So seid ihr nicht aus Fleisch und Blut, Diener der Finsternis! Doch wartet! Meine geweihte Klinge wird euch schon lehren, dem ehrenhaften Kampf auszuweichen!« Er hob seinen Holzspeer auf und fuchtelte damit vor dem Solaner herum, der weiterging und nichts zu sehen und nichts zu hören schien. Er stieß ihn in ihn hinein! Sternfeuer gewann ihre Fassung zurück. Sie riß den Wackeren am Arm herum, schlug ihm blitzschnell mit der flachen Hand links und rechts ins Gesicht und zog ihn mit sich zu Boden. »Bist du denn wahrhaftig von allen guten Geistern verlassen! Jetzt haben sie uns!« »Aber ...« »Halt endlich den Mund!« Diese Demütigung war zuviel für ihn. Sternfeuer beachtete ihn nicht weiter, sah zu den Jets hinüber und faßte es nicht. Der angegriffene Mann ging zu Mata und schüttelte nur den Kopf. Er hatte nichts gemerkt! Niemand hatte die Schreie gehört!
»Also schön«, rief die Buhrlo. »Alle Mann zu mir zurück! Wir äschern den Wald ein, dann wird sie sich ergeben müssen!« Sternfeuer versuchte nicht mehr, noch irgend etwas zu verstehen. Sie begriff nur eines: Falls es eine geheimnisvolle Barriere gab, die verhinderte, daß die Gegner sie und Walter wahrnahmen, konnten sie ihnen und den Flammen entkommen. Es war schierer Wahnsinn, aber das einzige, das sie überhaupt retten konnte. »Auf, Walter«, sagte sie laut. »Bleib dicht hinter mir und stelle jetzt keine Fragen.« Er gehorchte widerspruchslos. Sie machte die ersten Schritte noch vorsichtig. Hinter und neben ihr kehrten Solaner aus dem Wald zurück und sammelten sich bei den Fahrzeugen. Unter Sternfeuers Füßen knackten Zweige. Niemand sah herüber. »Jetzt rennen wir, Walter!« Sie lief los, auf das freie Gelände und an den Arsenalmitgliedern vorbei. Nur Walters keuchender Atem verriet ihr, daß er noch bei ihr war. Sie sah sich nicht um, bis sie etwa einen Kilometer zurückgelegt hatten. Das war genau der Moment, in dem die Flammenwerfer in Aktion traten. Menschliche Gestalten schwebten hoch über den Bäumen und eröffneten den Beschuß aus mehreren Positionen. Thermostrahler fraßen rasch ganze Breschen in Wipfel und Unterholz. »Ich bin wahnsinnig, meinst du?« sagte von Bruchstein. »Was sind denn diese Verrückten dort! Wie können sie erwarten, daß sich jemand ergibt, den sie vorher verbrennen!« Sternfeuer konnte nur den Kopf schütteln. »Sie wollten uns also gar nicht lebend haben«, zürnte Walter. Uns? Sternfeuer zweifelte plötzlich daran, daß die Suche ihr und von Bruchstein galt. Sowohl Henny Lupino als auch die Buhrlo hatten in der Einzahl gesprochen – von einer Gejagten. Cara Doz? Aber dann müßte auch Atlan hier sein. »Komm, Walter«, sagte sie. »Wir verlieren den Verstand, wenn wir nach Antworten suchen. Wir können nur eines tun. Rennen und nochmals rennen, bis wir so weit wie möglich von hier fort sind.« Sie umliefen den brennenden Urwald in weitem Bogen. Die Flammen schlugen hoch in den Nachthimmel, und das Feuer setzte sich an fernen Hügeln hinauf fort. Was Sternfeuer für eine kleinere Vegetationsinsel gehalten hatte, schien nur die
Zunge eines gewaltigen Gebiets zu sein, das zu den Bergen reichte, deren Felsgipfel erst jetzt in der rotgelben Glut erkennbar wurden. Niemand folgte ihnen. Nach einer knappen Stunde außer Puste, verfielen sie in langsameren Schritt. Sternfeuers Schulter machte sich wieder bemerkbar. Das Blut hämmerte unter den Wunden. Von Bruchstein fluchte und beschwor irgendwelche mystischen Mächte. Schließlich setzten sie sich zwischen eine Steingruppe, mittlerweile in einem Geröllfeld vor der Kulisse der Steinberge, und ließen erschöpft die Schultern hängen. »Und was jetzt?« fragte Walter. Sternfeuer blickte zum roten Feuerschein hinüber. Sie schüttelte den Kopf. »Bald muß die Sonne aufgehen. Raubvögel können uns angreifen, und unsere Blessuren zeigen sehr deutlich, daß wir in dieser Welt so real sind wie alles andere auch. Aber die Arsenalmitglieder sehen und hören uns nicht. Finde du einen Reim darauf, Walter. Ich versuche zu schlafen.« »Du willst ... was tun?« Sie ließ sich zu Boden sinken. Die zwei Meter hohen Felsbrocken waren fast kreisförmig angeordnet und sollten wenigstens etwas Schutz vor weiteren Überraschungen bieten – zumindest bis zum Tag. Walter seufzte, nahm seinen Speer in beide Hände und kletterte auf einen Stein, der die anderen noch um einen Meter überragte und sich genau in der Mitte der Konfiguration befand. Für ihn war er sein Wehrturm, der mächtige Bergfried der Felsenburg, von wo aus jeder anmarschierende Feind schon lange vor seinem Eintreffen zu erspähen war. Sternfeuer schlief im Schutz der Schildmauern. Vor Walters geistigem Auge entstanden Wassergräben, Zugbrücken, ein Palast und die Unterkünfte des Gesindes. Er lachte rauh, drehte den Speer mit der Spitze nach unten und stützte sich mit Händen und Kinn auf das Ende des Schafts. Natürlich wußte er um seine Einbildungen. Es war diese unwirkliche Welt, die ihm die Bilder aufzwang. Überhaupt war nichts echt. Sicher träumte er doch, und wenn er erwachte, sah er Quassels einfältiges Gesicht vor sich. Aber auch in Träumen galt es sich zu bewähren. Schlafe, kleine Sternenprinzessin. Schlafe nur ruhig. Dein Ritter wacht über dich. Achtlos trat er nach dem Stein, den er vorher nicht auf seinem Turm gesehen hatte. Der doppelt faustgroße Klumpen fiel herunter und hüpfte fort. Aber das sah
von Bruchstein nicht mehr. * Entweder ruhte die aggressive Natur dieses Planeten sich vor einem neuen Schlag aus, oder die Penetranz war sich über die nächsten Schritte gegen ihn noch nicht im klaren. Mittlerweile glaubte Atlan fast, daß sie die Pflanzen und Tiere ebenso beeinflußte wie ihre Sklaven. Daß der ganze Arsenalplanet ihr Werkzeug war. Wer würde als nächster kommen, um ihn zu versuchen, wenn er wieder am Boden zerstört war? Der Arkonide hatte das Ende der Wüste im Morgengrauen erreicht. Dahinter lag zwar noch kein Paradies, aber es gab kleine Rinnsale, aus denen er seinen Durst stillen konnte. Dürren Sträuchern folgten Grasflächen, schließlich blühende Büsche und Bäume. Als die Mittagssonne wieder brannte und immer noch nichts geschehen war, setzte Atlan sich auf einen Stein im Schatten einer hohen Pflanze mit riesigen, breiten Blättern, die ihm Schatten spendeten. Seine Füße ragten in den Wasserlauf, dem er bis hierher gefolgt war. Irgendwo schrien Vögel. Bunte Schmetterlinge tanzten über dem Wasser, und Grillen zirpten. Alles wirkte so friedlich, daß es nicht echt sein konnte. Atlan hatte Zeit gehabt, sich einen Plan zurechtzulegen. Ohne technische Hilfsmittel war er zwar nicht unbedingt verloren, solange die Penetranz hoffte, ihn am Ende doch noch gewinnen zu können. Aber er war zur Passivität verurteilt und hatte überdies keine Lust auf immer wieder neue Torturen. Die Arsenalmitglieder kamen nicht mit Gleitern oder Beibooten der ARSENALJYK, sondern wurden von Mjailam gebracht und wieder zurücktransportiert. Ihre Operationsbasis konnte nur mit dem Hauptquartier des Arsenals auf diesem Basisplaneten identisch sein. Sobald wieder einer der Unterjochten auftauchte, mußte er in der Lage sein, blitzschnell zu handeln – nicht seinen Versucher angreifen, sondern Mjailam. Sich so fest und so lange an Mjailam zu ketten versuchen, bis dieser mit ihm entmaterialisierte. Gewiß war er ohne Waffen dem Arsenal unterlegen. Sicher würde man ihn gefangensetzen. Seine ganze Hoffnung bestand darin, daß die Penetranz ihn tatsächlich nicht unter ihre Kontrolle zu bringen vermochte. Das Spiel, das sie mit ihm trieb, deutete darauf hin. Sicher konnte er sich dessen allerdings nicht sein. Die Chancen mochten fünfzig zu fünfzig stehen oder auch
zehn zu neunzig. Doch auch nur ein Prozent war noch besser als das ungewisse Schicksal hier in der Wildnis. Jeden Augenblick konnte etwas eintreten, das seine bösen Befürchtungen von vorhin wahr machte – daß die Penetranz ihn sterben ließ, wenn der Erfolg ausblieb. Er wartete noch eine Stunde darauf, daß etwas geschah. Dann setzte er seinen Weg am Flußlauf entlang fort, der diese Bezeichnung erst verdiente, als er als eines von vielen Rinnsalen in einen Strom mündete, an dessen Ufern die Vegetation nun bereits wild wucherte. Trotz seiner Überlegungen suchte der Arkonide die Gefahr nicht blind. Mit spitzkantigen Steinen schlug er zwei Dutzend junge, gerade Baumstämme und band sie mit Lianensträngen zu einem einfachen Floß zusammen. Das Wasser war seicht. Einzelne im Strombett liegende Steine ließen sich leicht umschiffen. Atlan ließ sich von der Strömung treiben. Mit einem langen Stab half er nach, wenn es nötig wurde, oder verjagte angriffslustige Fische. Es war nicht schwer, und je länger er unangefochten in Richtung der untergehenden Sonne trieb, desto stärker wurde das Gefühl, in einer einzigen riesigen Falle zu stecken. Der dritte Anschlag der Penetranz ließ auch noch auf sich warten, als für den Arkoniden die zweite Nacht auf der Arsenalwelt anbrach. Er konnte nichts gegen den Hunger tun, ohne ein Ufer ansteuern zu müssen. Doch das kristallklare Wasser stillte erneut seinen Durst. Atlan saß im Schneidersitz in der Mitte des Floßes, die Stange quer über die Beine gelegt, als es begann. Zuerst führte er das leichte Verschwimmen der Sterne vor seinen Augen auf Nervenüberreizung zurück. Sie wurden zu milchigen Punkten am Firmament, dann wieder klar, dann erneut schwächer. Einige leuchteten in anderen Farben – grün, blau, rot, orange. Das ruhige Wasser des Stromes wurde zu einer glitzernden Fläche aus lauter phantastischen Mustern. Atlan atmete heftiger, schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen, versuchte den Spuk durch Konzentration zu verscheuchen. Er blieb. Zwischen den Sternen spannten sich leuchtende Fäden zu einem Netz, das von Horizont zu Horizont reichte. Der Himmel wurde zu einem erhabenen Baldachin. Die Uferpflanzen begannen wie von innen heraus zu strahlen. Überall glaubte der Arkonide plötzlich Gestalten in den Farben zu erblicken. Sie winkten und lockten mit säuselnden Stimmen:
Komm nur, Atlan! Komm zu uns! Wir warten auf dich! Sie waren am Himmel und im Wasser, überall, wohin er schaute. Gesichter von alten Freunden, Stimmen von Menschen, die längst tot waren. Fartuloon, sein früher Lehrmeister. Chrysalgira, Crest. Viele, viele andere, die in seinem Leben kleine und große Rollen gespielt hatten. Komm! Warum zögerst du? »Nein!« schrie er und sprang auf. Mit der Stange versuchte er, sie zu vertreiben. Was geschieht mit mir? Extrasinn! Ich bin mentalstabilisiert! Das Wasser! Eine Reihe von Molekülen, zu bestimmten Ketten angeordnet, erzeugt von der Penetranz; Mikroorganismen, an sich harmlos ... Die Gesichter erfüllten seine Welt. Ihr Ausdruck veränderte sich. Sie lächelten nicht mehr. Ihre Hände hörten zu winken auf. Finger richteten sich fordernd auf ihn. ... aufgenommen mit dem getrunkenen Wasser, in die Nervenzentren des Gehirns eingedrungen; eingenistet und ihre Wirkung entfaltet! Komm! »Verschwindet!« schrie er. »Laßt mich in Ruhe!« Seine Beine gaben ihm keinen Halt mehr. Er fiel und rollte auf die Seite. Die Gesichter rückten noch näher. Dann müssen wir eben zu dir kommen! Und sie drangen in ihn ein. Sie sprengten sein Gehirn. Er sah sich wie durch die Augen eines über ihm schwebenden Beobachters. Das farbige Leuchten erfüllte seinen Körper bis in die letzte Zelle. So etwa mußten die Mystos-Abhängigen auf der SOL und die Rauschgiftsüchtigen früherer Jahrhunderte sich und ihre Umwelt gesehen haben. Er war keine Einheit mehr. Jede Zelle lebte aus sich heraus und trachtete danach, sich aus dem Gesamtgefüge zu befreien. Atlan hatte keine Stimme mehr, um sein Entsetzen herauszuschreien, als er sich in Milliarden einzelner Teile auflöste, die als strahlende Staubwolke auseinandertrieben. Mit dem Körper verwehten seine Gedanken. Es gab Millionen Atlan-Splitter über dem Fluß, zwischen denen elektrische Ströme hin und her fuhren. Ihre Gesamtheit erzeugte die lautlos klagende Stimme, die bis an die Grenzen des Universums zu hören war.
Ein Körper lag scheinbar leblos auf dem dahintreibenden Floß. Neben ihm bildeten sich aus dem Nichts heraus zwei andere. Mjailam blieb aufrecht stehen, als Kerness Mylotta sich über den Arkoniden beugte. Der Arsenalführer injizierte dem Körper etwas, das die Molekülketten in seinem Gehirn auflöste. Er blickte Atlan ins Gesicht, als dieser die Augen aufschlug. »Nun?« fragte er. »Bist du nun überzeugt?« Er hielt die Ampulle in die Höhe. »Ohne diese Droge hättest du nie mehr zu dir zurückgefunden. Was deinen Geist auflöste, lebt im Wasser des Flusses und aller anderen Flüsse oder Seen weiter, die du vielleicht noch erreichen könntest. Dies ist unser letztes Angebot. Komm zu uns und kämpfe mit dem Arsenal. Tue es nicht, und ...« Er machte eine weit ausladende Geste über den Strom. Zeit! dachte der Arkonide, noch nicht wieder Herr seiner Sinne. Er mußte jedes Wort einzeln überlegen und in seine Fragen einfügen: »Wenn ich zu euch käme, wer wäre dann Arsenalführer?« Mylotta hinhalten. Die Schmerzen des Körpers besiegen. Die wirbelnden Funken des Geistes ordnen. Die Glieder unter Kontrolle bringen. Das Erlebnis war so echt gewesen. Einen weniger starken Charakter hätte es zerstört. Luft! Zeit! Kraft! »Der Anführer bin ich«, sagte Mylotta zögernd. »Aber letztlich bestimmt die Penetranz darüber. Du kannst schon wieder Pfeile verschießen, Arkonide? Sie treffen mich nicht.« Sie taten es doch. Die Unsicherheit in Mylottas Stimme sagte genug. »Wir würden darum kämpfen müssen.« »Vielleicht«, gab Mylotta zu. »Ist das deine Antwort? Du gibst also auf?« Luft holen. Die letzten Schleier vertreiben. Das Ziel ins Auge fassen, und ... »Ich komme zu euch, aber ich gebe nicht auf!« Atlan sprang aus dem Liegen. Bevor Mjailam ausweichen konnte, hatte er ihn umschlungen. Der Hüne stieß ein wütendes Grollen aus. Seine Fäuste landeten auf den Schultern und Armen des Arkoniden, doch der hing an ihm wie eine Klette.
»Laß ihn!« befahl Mylotta. »Wir haben ihn ja.« Mjailam entmaterialisierte mit beiden Männern. * Als Sternfeuer aufwachte, fielen die ersten Sonnenstrahlen schon durch die Lücken zwischen den Steinen. Die Luft war rein und kühl. Von Bruchstein stand wie ein Denkmal auf seinem Fels und nickte ihr zu. »Einen herrlichen guten Morgen, teuerste Gefährtin. Du kannst ganz beruhigt sein. Die Suchtrupps sind kurz vor dem Morgengrauen abgezogen. Der Wald ist bis in die Berge hinein abgebrannt, und kein Boot hat sich mehr blicken lassen.« Sie lächelte. »Danke, Walter.« Er hatte also tatsächlich die ganze Nacht über dort oben Wache gehalten. Das war schon fast rührend. Wenn er nicht gerade seine verrückte Phase hatte, war er bestimmt ein ganz lieber Mensch. Aber das änderte nichts an ihrer Lage. Sternfeuer konnte sich kaum noch an die Flucht erinnern. Sie war von einem Moment auf den anderen fest eingeschlafen, als sie erst einmal lag. Sie stand auf. Ihr Magen knurrte. Sie hatte Durst. Zum Glück war von den Verwundungen kaum noch etwas zu spüren. Ihre Furcht vor der Infektion schien unbegründet gewesen zu sein – was sie wohl nur der kalten und relativ keimfreien Luft in dieser Region zu verdanken hatte. Walter kletterte von seinem »Turm« herunter und stellte die übliche Frage: »Und was machen wir jetzt?« Einer der herumliegenden kleineren Steine ersparte ihr eine Antwort. Der Klumpen hob sich in die Höhe und schwebte genau auf sie zu. Sternfeuers erste Reaktion war ein Ausweichen. Von Bruchstein schrie auf und schickte sich an, dem Stein mit dem Speer zu Leibe zu rücken, als die Mutantin voller Unglauben erkannte, was sie da vor sich hatte. »Nicht, Walter! Das ist ein Teil von ... von Twoxl!« Er kniff die Augen zusammen. Und ja, jetzt erkannte auch er das Ding wieder, das
ihm in seiner Kabine entwischt war. »Du meinst ...?« »Dein Goldener Gral, ja. Oder eine andere Komponente.« Sie setzte sich und streckte die Arme aus. Der blaugraue Klumpen ließ sich in ihren offenen Händen nieder. »Twoxl! Aber wo sind die anderen Teile?« »Vorsichtig«, warnte von Bruchstein. »Oder hast du vergessen, daß er zum Arsenal gehört?« Sie konnte es einfach nicht glauben, daß von diesem Wesen eine Gefahr für sie ausging. Sie starrte den Klumpen an, der sich noch nicht rührte. Vor ihrem geistigen Auge entstand das Bild des Felsvorsprungs an der Klippe mit der Schrift im Moos. »Wo ist der Rest, Twoxl? Willst du uns helfen, oder ...?« Endlich antwortete er. Die zirpende Stimme aus der vibrierenden Membrane klang unsicher und gequält: »Ich wollte früher kommen, Sternfeuer, viel früher. Ich hatte solche Angst, daß das Pi-ong euch nicht lange genug schützen könnte. Aber ich mußte mich um Atlan kümmern, der auch jetzt noch in großer Gefahr ist. Vielleicht hätte ich ihm noch einmal helfen können, aber du bist mir ...« Er sprach nicht zu Ende. Sternfeuer wechselte einen hilflosen Blick mit Walter. »Ich bin allein«, fuhr die Komponente fort. »Ich weiß noch nicht, ob ich wirklich frei bin. Ich bin der siebte Teil, wie ihr sagt, Twoxl-7. Ich weiß noch so wenig, aber ganz sicher sind die anderen sechs Komponenten noch in der Gewalt der Penetranz.« Also das, was eigentlich als Twoxl anzusehen war. Sternfeuer versuchte, einen Sinn in das Gehörte zu bringen. Twoxl-7 frei, der Rest weiterhin versklavt? »Von vorne, Sieben«, sagte die Telepathin. »Ihr habt Atlan, Cara Doz, Walter und mich hierher entführt? Mjailam und du?« »Mjailam und Twoxl, Sternfeuer. Twoxl erhielt von der Penetranz den Auftrag, Atlan und die Emotionautin mit Hilfe des Pi-ongs aus der SOL zu holen. Ich kann auch nicht erklären, wie es dazu kam, daß ich mich plötzlich loslösen konnte.« Die Komponente schwebte von Sternfeuers Händen auf ihre Schulter. »Doch ich glaube, ich weiß es. Ich wollte zu
dir. Ich ... konnte nicht gegen dich kämpfen.« »Und ich nicht gegen dich«, war alles, was sie darauf sagen konnte. »Es war in uns allen, aber in mir am stärksten. Die anderen Teile versuchten sich auch zu wehren. Irgendwie floß ihr Trotz auf mich über und machte mich ... anders. Es ist alles so neu und kompliziert. Ich konnte in der SOL nur an dich denken, aber noch war der Befehl der Penetranz stärker. Vielleicht hätte ich es gar nicht geschafft und auch dich entführt, wenn die Penetranz es mir aufgetragen hätte. Aber dann kamst du in die Kabine, und ... Es ist so furchtbar kompliziert, Sternfeuer!« »Kompliziert, jawohl«, mischte sich Walter ein. »Das ist genau das richtige Wort. Wer ist jetzt Twoxl, und wer Twoxl-7? Bist du Twoxl, oder ist es der andere, der Twoxl-Rest? Und bei Wilhelm dem Schrecklichen, was ist ein Pi-ong?« »Sicher kein Pingpongball, Walter«, fauchte Sternfeuer ihn an. Sie schloß die Augen. »Entschuldige, aber jetzt laß den Kleinen reden.« Sie nickte Sieben zu. »Du sahst, daß Walter und ich in Caras Kabine kamen und uns zwischen euch und die Solaner stellten?« »Ja. Und in dem Augenblick war es, als ob ein Band zerreißen würde. Ich wußte, daß du uns helfen wolltest, daß aber die Gesamtheit nichts tun konnte. Ich nahm blitzartig die Restenergien des Pi-ongs in mich auf, ohne sie zu neutralisieren und wieder abzustoßen. Erst hinterher konnte ich mir erklären, daß ich die Energien speicherte und mit ihnen ein zweites Feld um dich und diesen Mann da schuf. Als Mjailam entmaterialisierte, blieb für Sekundenbruchteile so etwas wie ein paraphysischer Sog, und in den brachte das Piong uns. Ich befahl es ihm.« Von Bruchstein stöhnte herzzerreißend, sagte aber nichts mehr. Die Mutantin verstand noch weniger als vorher. »Warum sagst du nichts, Sternfeuer?« zirpte die Komponente. »Twoxl, kannst du mir das Pi-ong so erklären, daß ich es begreife?« Er versuchte es. Er sagte ihr alles über die Gedankenwaffe, was er selbst darüber wußte. »Also blieb noch etwas Zeit bis zu seiner Desaktivierung – und damit ein Energierest, Sternfeuer. Ich trennte mich ab, kurz bevor Mjailam mit Atlan, Cara und den anderen Komponenten verschwand. Ich fuhr zwischen euch beide, wollte aber nur dich mitnehmen. In Mjailams Sog kamen wir hier an.« »Auf dem Arsenalplaneten.«
»Ja.« »Wir sollten nicht entführt werden, Walter und ich. Warum hast du es dann doch getan?« Sieben hob wieder ab und ging in eine Kreisbahn um den Kopf der Solanerin. »Um dich aus der SOL fortzubringen. Du sollst nicht an Bord eines Schiffes sein, das früher oder später untergeht.« Die zirpende Stimme war schrill, die Membrane verfärbte sich leicht. »Ich weiß, wie mächtig das Arsenal ist. Noch mächtiger die Penetranz! Die SOL fliegt in ihren Untergang, Sternfeuer. Du sollst nicht mit den anderen sterben.« Sie hielt die Luft an, starrte auf Twoxl-7, schob ihn dann mit einer Hand weg und sprang auf. »Bist du noch ganz richtig im ... in deiner Kruste, Sieben? Noch ist das Schiff nicht verloren. Noch sind Abertausende von Menschen bereit, um ihr Leben und ihre Freiheit zu kämpfen! Wie kommst du auf den Gedanken, mein Platz wäre jetzt irgendwo anders als bei ihnen!« »Aber ich ...!« setzte der Klumpen zur Verteidigung an. Sternfeuer wischte mit der Hand durch die Luft. »Nein, du bist still! Die SOL ist auch meine Welt. Sie ist meine Heimat, so wie der Planet Cpt für dich. Meine Freunde brauchen mich, auch wenn ich vielleicht nicht viel tun kann. Daß ich da bin, wenn sie in Gefahr sind, darauf kommt es an! Und was hast du dir von meiner Versetzung hierher überhaupt versprechen können? Ist dir nicht klar, daß ich über kurz oder lang auch das Opfer der Penetranz werden muß? Daß sie Walter und mich ebenso umkrempelt wie euch und ihrem Arsenal einverleibt? Oh, Sieben, einen schlechteren Gefallen hättest du mir wirklich nicht tun können!« Die Komponente fiel wie ein Stein und blieb zwischen den Felsen liegen. Von Bruchstein legte der Telepathin ritterlich einen Arm um die Schulter. »Einen schönen Helfer haben wir da«, knurrte er. »Da verlasse ich mich lieber auf mich selbst. Dieses Pi-ong. Wenn ich vorhin alles richtig verstanden habe, hätte Twoxl damit die SOL aus dem Universum fegen können.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Walter, dann hätte er es bestimmt auch getan. Die räumliche und zeitliche Einschränkung ließ das nicht zu. Aber ich darf nicht daran denken, welche Waffen
unsere Gegner nun noch besitzen. Ein millimetergroßes Gerät, das allein auf einen Willensbefehl hin wirklich fast alles bewirken kann. Alles, was man nur wünscht, Walter!« Sie schauderte. Twoxl-7 hüpfte vor ihren Füßen aufgeregt hin und her. Sie bekam Mitleid mit ihm und ärgerte sich schon über ihre harten Worte. »Wenn es alles kann«, überlegte von Bruchstein, »und noch nicht ganz erschöpft ist – könnte es uns dann nicht auch zur SOL zurückbringen? Ich meine, soweit ich verstehe, hält es doch noch das Feld aufrecht, durch das wir von der Umwelt irgendwie abgeschnitten sind.« Nicht von der Außenwelt, dachte Sternfeuer. Nur von allem, das der Aura der Penetranz anhaftet. Sie versuchte nicht, es wirklich zu begreifen, aber das war die einzige mögliche Erklärung. Die Seevögel hatten sie angreifen und verwunden können. Walter und sie hatten von den Früchten des Waldes gegessen. Das waren reale Kontakte gewesen. Nur als die Arsenalmitglieder auftauchten, waren sie wie in einer anderen Welt gewesen. Sie konnten selbst sehen und hören, was um sie herum vorging, umgekehrt aber waren sie nicht zu erkennen, zu hören und zu fassen gewesen. »Stimmt das, Sieben?« fragte sie. »Zum Teil, vielleicht«, kam es leise von dem Teilwesen. »Indem ich die Restenergie des Pi-ongs aufsaugte und speicherte, war die zeitliche Wirkungsbeschränkung aufgehoben. Sie galt nur für das Pi-ong als Gerät. Es käme letzten Endes darauf an, wieviel Energie noch übrig ist, und ob wir einen Sog finden, in dem wir zur SOL könnten.« »Das heißt?« Sieben stieg auf und schwebte in ihre Armbeuge. Er drückte sich hinein wie ein Kind, das Schutz suchte. Seine Stimme war dumpf: »Mjailam müßte sich noch einmal zur SOL versetzen. Ich würde es dann spüren und könnte dem Pi-ong in mir den entsprechenden Befehl geben. Aber es müßte auch sehr bald geschehen, denn indem das Feld um euch aufrechterhalten wird, verbraucht sich die Energie.« »Dann hebe es auf«, sagte von Bruchstein. »Ihr beide wärt im gleichen Augenblick im Bann der Penetranz.« Es schien keine Hoffnung zu geben. Mjailam würde nicht zur SOL springen, nur weil Sternfeuer sich das wünschte. »Ich wollte nicht, daß wir hier materialisieren«, klagte Sieben. Fast hörte es sich an wie ein Weinen. »Ich wollte, daß du aus der SOL heraus und in Sicherheit
kämst – auf irgendeinem anderen Planeten vielleicht. Ich hatte ja keine Zeit, lange zu überlegen. Da war doch nur dieses Gefühl, daß du ...« Sie schluckte, als ihr klar wurde, welches Gefühl er meinte. Was die ganze Zeit zwischen seinen Worten angeklungen war. Konnte ein so exotisches Wesen wie dieser blaugraue Klumpen sie, die Solanerin, lieben? »Und was jetzt?« fragte von Bruchstein stereotyp. »Warten«, sagte die Mutantin. »Bis Sieben etwas von Mjailam spürt. Bis das Feld zusammenbricht, weil keine Pi-ong-Energie mehr da ist. Bis ...« Wozu das aussprechen, woran sie um nichts in der Welt denken wollte?
6. Atlan stieß sich in dem Augenblick von Mjailam ab, als er mit ihm materialisierte. Er hatte gewußt, daß er in einer ihm vollkommen fremden Umgebung herauskommen würde, umgeben von neuen Gefahren und ganz sicher zwischen den Mitgliedern des Arsenals. So kam es nur zum Teil. Mjailam blieb dort stehen, wo er stofflich geworden war, Mylotta neben ihm. Beide schienen einer geistigen Stimme zu lauschen. Atlan machte noch einige Schritte zurück, bevor er sich umdrehte. Twoxl schwebte dort, bei genauem Hinsehen nur sechs Teile. Sie schienen bewußt so gruppiert zu sein, als wollte der Cpt’Kul das Fehlen seiner siebten Komponente verbergen. Bei ihm war Sanny, waren Mata St. Felix und etwa ein Dutzend der ehemaligen BANANE-Besatzung. Sie machten keine Anstalten, sich ihm zu nähern. Er war weiträumig umringt, aber ganz offensichtlich befand er sich nicht im Hauptquartier des Arsenals. Nur im Horizont waren einige einfache Unterkünfte schwach zu erkennen. Das Gelände hier war ein Geröllfeld, karg, unfruchtbar, abweisend. Konnte dies ein weiteres Indiz für eine Unsicherheit der Penetranz sein? Atlan wehrte sich gegen alle Spekulationen und konzentrierte sich nur auf das, was er sah. Erleichtert stellte er fest, daß Tyari nicht anwesend war. Man hatte ihn also hier erwartet. Mjailam und Mylotta schienen immer noch auf Befehle zu lauschen. Dann aber trat der Arsenalführer vor. »Du kannst immer noch freiwillig zu uns kommen«, sagte er. »Es würde dir einiges ersparen, glaube mir. Entscheide dich jetzt. Was danach mit dir geschieht, hängt ganz allein von deiner Antwort ab.« »Ihr kennt sie!« Atlan suchte in den Blicken von Sanny und Mata nach einem winzigen Zeichen von Unsicherheit. Es war sinnlos. »Wenn die Penetranz mich haben will, so muß sie mich unterwerfen!« »Das wird sie tun.« Ohne weitere Worte zu machen, handelte Kerness Mylotta. Der große, dunkelblaue Fleck seines dritten Auges leuchtete kurz auf und verschoß einen
Paralysestrahl. Der Arkonide brach gelähmt zusammen. Mjailam kam und drehte ihn auf den Rücken. Danach verschwand er wieder aus Atlans Blickfeld wie alle Arsenalmitglieder. Es war unheimlich still. Ein leichter Wind wehte. Kein Tier schien sich hierher zu wagen. Atlan wußte nicht, wie lange er so gelegen hatte, als etwas am Himmel erschien und sich, näher kommend, auf eine Höhe von einem Meter herabsenkte. Als es genau über ihm war, erkannte er einen eiförmigen Körper, der ihn im ersten Moment an Chybrain erinnerte. Dieses Gebilde, ein Meter lang und sechzig Zentimeter dick, besaß jedoch eine gleichmäßig glatte Oberfläche, die ganz von dünnen, etwa fünf Zentimeter langen Flaumhaaren überzogen war. Diese Hülle leuchtete dunkelblau bis violett. Die Intensität veränderte sich wellenartig. Extremitäten waren keine vorhanden. Die Penetranz! durchfuhr es den Paralysierten. Instinktiv versuchte er geistige Barrieren in sich aufzubauen, denn er ahnte, was nun kommen würde. Die mentale Stimme sprengte alle Mauern. Sie war Ausdruck einer unglaublichen Kraft, mit der sie den Geist des Arkoniden zu unterwerfen suchte. Aber sie schaffte es nicht! Atlan spürte, daß er noch frei war. Das betraf nicht nur einige Gedanken, sondern seinen ganzen Willen. Etwas in ihm verhinderte, daß er in den Bann der Penetranz geriet und zum willenlosen Werkzeug wurde. Genau das mußte die Penetranz geahnt und befürchtet haben. Atlans Entschluß war wie ein plötzlicher Impuls. Er wußte noch nicht, inwieweit die Penetranz seine Gedanken erfassen und feststellen konnte, daß ihr kein Erfolg beschieden war. Er spielte mit. Er dachte von sich als einem wehrlosen Diener dieser Wesenheit. Er lieferte ihr noch für kurze Zeit geistige Scheingefechte, bevor er den vorgetäuschten Widerstand aufgab. Der Druck in seinem Bewußtsein ließ nach, und als das Ei von ihm fortschwebte, mußte er sich beherrschen, um seinen Triumph nicht zu zeigen. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Arsenalmitglieder wollten offenbar
abwarten, bis die Paralyse nachließ. Die Penetranz konnte ihn nicht rekrutieren. Er war also geistig frei, und das eröffnete ihm unverhoffte neue Möglichkeiten. Mit etwas Glück konnte er hier, beim Zentrum der Macht des Gegners, Überraschungsstreiche führen und vielleicht sogar die Penetranz selbst ausschalten. Dazu brauchte er Zeit. Er konnte nur auf einen Erfolg hoffen, wenn er den Gegner wirklich unvorbereitet traf. Eine zu frühe Aktion würde ihm nur die nächste Paralyse oder den Tod durch Mylottas drittes Auge einbringen, oder durch die Strahlwaffen der anderen Beeinflußten. Mitspielen und so tun, als sei er »überzeugt«. Abwarten, bis er im Arsenalhauptquartier war und einen Guerillakampf beginnen konnte. Bis er in einem unbeobachteten Augenblick, nachdem auch der letzte Gegner ihn akzeptiert hatte und ihm traute, einen einzelnen entwaffnen konnte. Dann als erste Mylotta und Mjailam ausschalten. Twoxl. Die Raumfahrer von der ARSENALJYK. Sanny. Tyari ... Als er sich wieder bewegen konnte, neigte sich auch dieser Tag auf dem Arsenalplaneten bereits seinem Ende zu. Mylotta und Mjailam waren noch bei ihm. Die anderen hatten sich vermutlich in ihre Unterkünfte zurückgezogen. Der Arkonide stand auf. Er nickte dem Arsenalführer zu. »Ich bin bereit«, sagte er. »Welche Pläne habt ihr?« Mylotta verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln. »Du wirst dich noch früh genug bewähren können«, sagte er. »Zuerst gegen uns.« »Ich verstehe nicht ganz«, meinte Atlan verwundert. »Weshalb gegen euch, wenn wir für die gleiche Sache kämpfen? Ich dachte ...« »Hast du deinen Ehrgeiz schon vergessen? Du wolltest mich damit verunsichern, daß du vielleicht Arsenalführer werden würdest. Nun steht dir dies offen. Es ist der Wille der Penetranz, daß wir darum kämpfen. Betrachte es als einen Test, dem wir uns alle zu unterziehen haben. Mjailam und ich gegen dich, Atlan. Hier und jetzt. Der Arsenalführer und sein Stellvertreter gegen den Herausforderer.« Das paßte gar nicht in Atlans Pläne. Er schüttelte den Kopf. »Hör zu, Kerness, ich lege keinen großen Wert darauf, euer Anführer zu sein. Von mir aus kannst du ...« »Was du willst, interessiert nicht«, unterbrach Mylotta ihn wieder. »Die Penetranz bestimmt. Und sie hat den Test befohlen.« Atlan sah ein, daß weiteres Reden
keinen Zweck hatte. »Bekomme ich eine Waffe?« »Deine Intelligenz und deine Klugheit sind deine Waffen«, sagte Mylotta. »Wir geben dir einen Vorsprung von einer Stunde. Verstecke dich oder stelle uns Fallen, ganz wie du willst. In einer Stunde kommen wir.« Er mußte das überstehen. Vielleicht bot sich eine Gelegenheit, den Arsenalführer von hinten zu fassen und ihn schon jetzt auszuschalten. Mylotta hatte nicht nur seine Körperwaffe, sondern dazu einen Verbündeten, der ihn zu jeder Zeit an jeden beliebigen Ort bringen konnte. »Eine Frage noch«, wagte der Arkonide einen vorsichtigen Vorstoß. »Cara Doz hat diesen ... diesen Test auch über sich ergehen lassen müssen?« Mylottas Miene verfinsterte sich. Er streckte den Arm aus und wies in die Richtung, die den Unterkünften gegenüberlag. »Geh jetzt. Eine Minute ist schon vorbei.« * Das Geröllgelände bot nicht viel Platz für Verstecke, Hinterhalte, Überraschungsangriffe. Atlan hatte etwa zwei Kilometer zwischen sich und die Gegner gebracht, dabei an zwei verschiedenen Stellen eine Falle aufzubauen versucht und festgestellt, daß er kaum eine echte Chance besaß. Wo er jetzt stand, war es für ihn ebenso günstig und ungünstig wie überall. Vor ihm waren einige mannshohe Felsbrocken, zwei Meter hinter ihm klaffte ein Erdriß, anderthalb Meter breit, zwei Meter tief. Die Stunde war so gut wie vorüber. Der Arkonide konnte sich überhaupt nur eine minimale Aussicht auf Erfolg ausrechnen, wenn er die Initiative nicht den anderen überließ. Er konnte Mjailam und Mylotta als Punkte in der Ferne sehen. Sie hatten sich nicht gerührt. Es gab viele Unsicherheitsfaktoren. Wußte die Penetranz von seiner Absicht? Spielte sie in Wirklichkeit mit ihm? Was war mit Cara Doz geschehen, und welche Rolle spielte Twoxl? Er verbarg das Fehlen seiner Komponente ganz offensichtlich vor der Penetranz und den anderen Arsenalmitgliedern. Weil auch in ihm Widerstand aufkeimen konnte? Atlan verließ sich auf nichts. Auch die
Frage nach seiner Unbeeinflußbarkeit blieb ohne Antwort. Hatte sie etwas mit einer bestimmten Aura zu tun, die er sich während des Aufenthalts bei den Kosmokraten oder in der Namenlosen Zone erworben hatte – eine »Aura der Kosmokraten«? Es konnte sein, konnte auch nicht sein. Jetzt galt es, das Beste aus seiner Lage zu machen. Der Arkonide kletterte auf einen der Felsen, winkte mit den Armen und schrie: »He, Kerness! Mjailam! Ich bin hier!« Hören konnten sie ihn über die Entfernung kaum, bestimmt aber sehen. Er sprang von dem Stein herunter und ließ sich in die Spalte gleiten – und das keinen Moment zu früh. Er hörte das Geräusch verdrängter Luft, hatte schon die Beine angespannt und schnellte sich in die Höhe, als er Mylottas Rücken über sich sah. Mit einer Hand riß er dem Arsenalführer die Beine unter dem Leib weg, mit der anderen versuchte er, seinen Hals zu fassen. Mylotta schrie auf. Aus den Augenwinkeln heraus sah Atlan, wie Mjailam heranstürmte. Er betäubte Mylotta mit einem Faustschlag gegen die Schläfe, kam ganz in die Höhe und wandte sich dem zweiten Gegner zu. Das Gebrüll des dunkelbehaarten Hünen war wie das eines urzeitlichen Tieres. Atlan duckte sich unter Mjailams erstem Hieb, sprang zur Seite und suchte nach einer verwundbaren Stelle. Mjailam hatte nichts Unbeholfenes mehr an sich. Er reagierte so schnell, daß Atlan dem zweiten Faustschlag nicht mehr ganz ausweichen konnte. Er wurde zu Boden geschleudert und sah fast im gleichen Moment den Körper des Gegners auf sich fallen. Instinktiv zog er die Beine an und stieß ihn zurück. Mjailam wurde von der Wucht des Trittes nach hinten geworfen und prallte mit dem Rücken gegen einen der Felsen. Seine dunklen Augen unter den stark hervortretenden Brauenwülsten rollten. Für Sekunden standen die beiden Kämpfer sich gegenüber. Jeder suchte nach einer Schwäche des anderen. Sie drehten sich in gebückter Haltung um einen gedachten Mittelpunkt. Mjailams lange Arme schlenkerten und berührten fast den Boden. »Komm!« lockte der Arkonide. »Komm doch!«
Mjailam ließ sich nicht noch mal bitten. Mit wütendem Aufschrei warf er sich nach vorne. Atlan erahnte die Bewegungen, wich aus und ließ ein Bein stehen. Mjailam fiel. Bevor er aufschlug, traf ihn die Handkante des Arkoniden im Nacken. Der Hüne blieb reglos liegen. Atlan wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. »Diese Runde scheint wohl an mich gegangen zu sein«, murmelte er. Aber er hatte noch keine Waffe. Mylotta war wie Mjailam ohne Bewußtsein. Er mußte einen Strahler in die Hand bekommen, bevor sie erwachten. Doch auch dann blieben sie gefährlich. Atlan war klar, daß er jetzt die Chance besaß, beide zu töten. Nur dann konnte er vor Überraschungen sicher sein. Doch dies war nicht seine Art zu kämpfen. Er lief, jede Deckung ausnutzend, in die Richtung der Unterkünfte. Seine Menschlichkeit wurde ihm schlecht gelohnt. Nicht nur er wußte sich zu verstellen. Kerness Mylotta hob den Kopf, richtete sich auf und stützte sich mit beiden Händen auf einen Felsbrocken. »Du wirst niemals unser Anführer, Atlan«, knurrte er. »Du hast nicht wie ich etwas von Anti-ES. Und mir gibt es die Macht.« Sein drittes Auge erfaßte das Ziel. Atlan war noch nicht zu weit weg. Der Paralysestrahl fuhr aus dem Stirnfleck und traf. * Twoxl-7 fühlte sich so elend wie niemals zuvor. Er konnte nichts tun, als Sternfeuer und ihren Gefährten zu begleiten. Daß das Schutzfeld um die beiden Solaner noch existierte, konnte er nach dem Ablauf eines weiteren Tages kaum noch glauben. Aber es mußte so sein, denn sonst hätte die Penetranz die beiden aufgespürt und ihre Sklaven geschickt. Die Komponente machte sich jetzt die heftigsten Vorwürfe. Sternfeuer schwieg über seine Tat. Jeder Blick jedoch, den sie zum Himmel warf, drückte ihr Verlangen aus, in diesen Stunden dort zu sein, wohin sie gehörte: an Bord der SOL. Wohin gehörte er? Er vermißte den Rest von Twoxl nicht. Vielleicht war er tatsächlich anders als die übrigen Teile, vom Augenblick seiner »Geburt« an immer aufsässig und eigenwillig. Natürlich sorgte er sich um Rest-Twoxl, um seine Brüder, Freunde –
wie sollte er sie denn überhaupt nennen? Brauchte er sie, um zu existieren? Oder waren aus Cpt’Carch sieben unabhängige, allein überlebensfähige Einzellebewesen geworden, die nur dem Irrtum nachhingen, ein Wesen zu bilden? Die noch befangen waren in der Erinnerung an Carch, der sich in sie verwandelt hatte. Oder vermehrt? Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte. Am Ende stand immer wieder der Gedanke an Carch – und an Sternfeuer! Er sah den Impuls Cpt’Carch, als Retter seiner Welt ausgeschickt, verzweifelt durch die grenzenlosen Einöden von Raum und Zeit jagen. Alle großen Hoffnungen waren längst verflogen. Carch existierte nur noch vor sich hin, gefangen in der eigenen Einsamkeit. Bis er die SOL fand. Bis er von einem harmonischen Pol in dem fremden Schiff wie magnetisch angezogen wurde. Bis er auf Sternfeuers schlummerndes Bewußtsein traf und vom bloßen Impuls in ein stoffliches Wesen verwandelt wurde. Das hatte er nur ihr zu verdanken, Sternfeuer. Dafür liebte er sie, wie ein denkendes Wesen ein anderes lieben konnte. Das hatte nichts mit der körperlichen Liebe der Menschen untereinander zu tun. Es war einfach die Sehnsucht danach, in der Nähe von Sternfeuer zu sein, sie zu sehen, zu hören, zu spüren. So liebten Kinder vielleicht ihre Mutter, dachte Sieben manchmal. Er wußte nicht, was das war – eine Mutter oder ein Vater. Er war aus Cpt’Carch hervorgegangen, einem Cpt’Nok. Er war das Ergebnis einer komplizierten Metamorphose und bis auf viele Jahre der einzige Cpt’Kul in diesem ganzen Universum. Er und die anderen sechs Komponenten waren allein. Irgendwann würden sich auf Cpt wieder Cpt’Kuls entwickeln – aber dann hatte er schon ein weiteres Stadium der Metamorphose erreicht. Er konnte nie darauf hoffen, Freunde zu haben, die so waren wie er. Wie oft hatte er sich insgeheim schon gewünscht, niemals so geworden zu sein. Und wie oft hatte er Carchs Geburtssehnsüchte verwünscht. Nein, den anderen Twoxl-Teilen gegenüber brauchte er sich keine Vorwürfe zu machen. Er wollte bei Sternfeuer sein. Dieser Wunsch war mit der Zeit so stark geworden, daß er über den Willen der Penetranz dominierte. Es blieb lange unausgesprochen. Erst am zweiten Tag in der Gebirgshöhle, in der die kleine Gruppe ein vorläufiges Versteck gefunden hatte, schien Sternfeuer das Schweigen nicht länger ertragen zu können. Sie winkte die Komponente zu sich, als Walter von Bruchstein gerade neues Holz für ihr Feuer holen ging.
»Du hast mir einmal gesagt, daß Carch aus mir oder durch mich zu dem geworden sei, als was wir ihn kannten, Sieben«, sagte die Telepathin. »Ich wußte nicht genau, ob ich das glauben sollte.« »Es war aber so«, antwortete er zaghaft. »Und deshalb ...« Sie suchte nach Worten. »Sieben, was siehst du in mir? Was ... bin ich für dich?« »Eine ... Freundin?« zirpte er unsicher. »Nein, Sternfeuer. Du bist mehr.« »Du hast ein sehr starkes Gefühl für mich? Du willst bei mir sein? Mich beschützen? Mich vielleicht ... besitzen?« »Besitzen nicht, aber ...« Das reichte ihr. Auf seine Art liebte Sieben sie. Es war in ihm stärker, aber auch die anderen Teile von Twoxl mußten dann so empfinden. Die Konsequenz daraus, verbunden mit den jüngsten Ereignissen, war erschütternd und hoffnungsverheißend zugleich. In Sieben hatte sich diese Art Liebe konzentriert. Er, der Trotzige, hatte sie in sich geschürt. »Weißt du, was das bedeutet, Kleiner? « fragte die Mutantin erregt, »Sieben, wenn die Liebe die Macht ist, die über das Böse siegen kann, wie es sich in Anti-ES und der Penetranz manifestiert, dann kann sie unsere Waffe sein! So seltsam sie uns auch erscheinen mag, sie ist stärker als die Kräfte des Verderbens.« »Seltsam?« »Du weißt, wie ich das meine.« Sternfeuer fing den blaugrauen Klumpen aus der Luft und drückte ihn an sich. Auch ihr wurde dabei ganz merkwürdig zumute. Sieben gab nie gehörte Laute von sich – fast wie eine Katze, die schnurrte. Es war nicht die Zeit für philosophische Betrachtungen. Sternfeuer hatte vielleicht etwas entdeckt, das unerhört wichtig in der Auseinandersetzung mit Anti-ES und seinen Helfern war. Dann mußte Breckcrown es wissen! Auf der anderen Seite: Was konnte er damit anfangen? Wie in den Arsenalmitgliedern eine solche Liebe erzeugen? Und abgesehen davon – wie stand es um Tyari? Sie liebte Atlan doch, und er liebte sie. Weshalb brachte sie es dann nicht fertig, sich aus dem Bann der Penetranz loszulösen? »Bring uns zur SOL zurück, Sieben«, flüsterte Sternfeuer. »Wenn es irgendwie geht, bringe uns zurück.«
Er antwortete nicht. Von Bruchstein kehrte von draußen zurück, genug Reisig in den Armen, um das kleine Feuer viele Stunden lang brennen zu lassen. »Es sieht nach einem Unwetter aus«, brummte er. »Eigentlich Zeit, daß die SOL uns bald holt, oder? Bei Kuno dem Starken, allmählich bin ich das Leben ohne elektrisches Licht, Antigrav, Videounterhaltung und meine Kabine leid.« Er warf das Reisig auf den Boden und breitete die Arme weit aus. »Na, eben ohne unsere ganze schöne Technik! Mit ihr läßt es sich viel leichter Ritter sein.« Eine Stunde später regnete es draußen in Strömen. Gewitterdonner rollte durch das Gebirge. Das Feuer prasselte und spendete wenigstens Wärme. Von Bruchstein zog die Beine an seinen Körper und begann schon wieder, selbsterdichtete Heldensagen zu erzählen. Sternfeuer hörte nicht zu. Sieben lag in ihrem Schoß. Sie war in Gedanken ganz woanders. Suche die SOL auf, Mjailam! dachte sie. Aber warte nicht mehr lange damit! * Atlan lag so verrenkt, daß er die Datumsanzeige auf seinem Armbandgerät ablesen konnte. Siebter März 3808. Einen halben Tag lang war er also schon wieder von Mylotta gelähmt. Sobald er glaubte, wieder ein Gefühl für den Körper zu bekommen, paralysierte der Arsenalführer ihn erneut. Er hatte in dieser Zeit viele Stimmen gehört. Arsenalmitglieder kamen und gingen, unterhielten sich über ihn und andere Dinge, mit denen er leider nicht viel anfangen konnte. Nur einmal fiel der Name Cara Doz, in Verbindung mit einer erfolglosen Jagd. Es weckte eine winzige Spur von Hoffnung in ihm. Sein Plan, im Alleingang Zug um Zug das Arsenal zu schwächen, war kaum noch zu verwirklichen. Offenbar hatte die Penetranz ihre Pläne geändert. Wie sollte es sonst zu deuten sein, daß sie ihm durch Mylotta seine Bewegungsfreiheit nehmen ließ? Daß sein Spiel durchschaut war, konnte er nicht glauben. Mit Sicherheit wäre er in dem Fall schon tot. War Anti-ES das Risiko, ihn in seinen Reihen zu haben, am Ende doch zu groß geworden? Er konnte nur abwarten, sonst nichts. Immerhin schien es auf der Gegenseite Pannen zu geben – Cara Doz und Twoxl. Von dem Cpt’Kul war keine Hilfe zu erwarten. Er stand nach wie vor unter dem Bann der Penetranz, das ging
ebenfalls aus den Unterhaltungen hervor. Es blieb ein Rätsel, weshalb er das Fehlen seiner Komponente verschwieg. Wußte er, daß sie frei war? Auf ihr Eingreifen zu hoffen, war illusorisch. Sie hatte sich nicht mehr gezeigt, also schien sie sich den »anderen« zugewandt zu haben, von denen sie andeutungsweise gesprochen hatte. Sich darüber auch noch den Kopf zu zerbrechen, war sinnlos. Das Warten wurde zur Qual. Lediglich von Tyari war die ganze Zeit über nichts zu sehen und zu hören gewesen. Einzig dafür war Atlan dankbar. Es war gegen Mittag, als er wieder das Nachlassen der Paralyse spürte. Er rechnete mit einer weiteren Verlängerung durch Mylotta. Als der ehemalige SPARTAC-Chef ihn dann mit dem Fuß anstieß, ahnte er, daß eine Entscheidung gefallen war. »Aufstehen!« herrschte Mylotta ihn an. »Und mitkommen!« Atlan gehorchte. Sanny, Twoxl und etwa zwanzig Raumfahrer umringten ihn. Es war fast wie schon einmal. Nur Mjailams Fehlen fiel auf. Henny Lupino, für Atlan keine Unbekannte, senkte den Blick, als er sie ansah. Er bekam einen Stoß in den Rücken und setzte sich in Bewegung. Twoxl schwebte voraus. Auf die Unterkünfte des Arsenals zu. Sie bestanden aus einfachen Bauten mit kahlen Wänden und Dächern und standen auf einer Fläche aus riesigen Steinquadern. In den Fugen wuchs bläuliches Gras. »Stehenbleiben«, befahl Mylotta vor dem größten Bauwerk, genau in der Mitte zwischen den anderen. »Die Penetranz wird dir ihre Entscheidung selbst bekanntgeben. Aber ich könnte mir denken, daß du ganz gerne deine Bewegungsfreiheit besäßest, wenn es ...« Er biß sich auf die Unterlippe, als hätte er schon zuviel angedeutet. Die Raumfahrer richteten wie zu einer Exekution ihre Strahlwaffen auf den Arkoniden. Der Rest des Arsenals kam aus den Unterkünften und reihte sich bei ihnen ein. Sie alle schienen ein großes Schauspiel zu erwarten. Nur Tyari ließ sich auch jetzt noch nicht blicken. * Mjailam stand im Haus des Arsenalführers vor der Penetranz. Der eiförmige Körper mit den dunkelblau flimmernden Haaren schwebte etwas in die Höhe und sendete: Er ist jetzt da. Seine Schwäche, als er dich und Mylotta verschonte, hat mich zu einer neuen Prüfung bewogen, die über sein Leben entscheidet. In jedem
Fall wird der Faktor Atlan nun keine negative Rolle in der Auseinandersetzung um Bars-2-Bars mehr spielen. Daher muß unsere ganze Konzentration der SOL und ihrer Besatzung gelten. Twoxl konnte mit Hilfe des Pi-ongs die Paratronschirmprojektoren zum Ausfall bringen, Mjailam. Es ist wichtig zu wissen, ob dieser Zustand noch anhält. Versetze dich zur SOL. Stelle fest, ob sie noch ohne Paratronschutz ist. Falls du eindringen kannst, suche nach einer Spur von Cara Doz. Versuche weiterhin, etwas über die unbekannte Kraft herauszufinden, die zugunsten des Feindes wirkte – ob sie erneut wahrgenommen wurde oder nicht. Auf keinen Fall lasse dich blicken. Der Zweimeterhüne verstand. Er löste sich in Nichts auf und stand nur zwei Sekunden später wieder dort, von wo er gerade verschwunden war. »Sie haben die Schäden behoben«, berichtete er mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sein Körper war unnatürlich verkrümmt. »Die Paratronschirme sind hochgeschaltet. Ich kann sie nicht durchdringen.« Nach kurzem Schweigen hörte er von der Penetranz: Das wird unseren Sieg nur verzögern. Ohne Atlan ist die Besatzung kopflos. Die Penetranz schwebte aus der Unterkunft. Mjailam folgte ihr nur zögernd. Es war weniger der Nachhall des schmerzhaften Erlebnisses, in den Paratronenergien der Schutzschirme zu materialisieren und jäh zurückgeschleudert zu werden, der ihm zu schaffen machte. Vielmehr konnte er sich das Gefühl nicht erwehren, nicht allein gewesen zu sein, als er Raum und Zeit überbrückte. Mjailam! Er trat ins Freie. Die Penetranz wollte, daß alle ihre Diener anwesend waren. Unsinn, sagte er sich dann. Selbst falls tatsächlich jemand oder etwas den Sprung mitvollzog – es wäre wie ich zurückgestoßen worden. Die Penetranz schwebte in einem Meter Höhe vor Atlan, der noch einen gefaßten Eindruck machte.
Mjailam ahnte, wie schnell sich das ändern würde.
7. Twoxl-7 hatte keine Hoffnungen mehr gehabt. Er hatte gefühlt, wie sich die Restenergien des Pi-ongs in ihm immer mehr abbauten. Es war nur noch die dunkle Glut eines erlöschenden Feuers gewesen. Und doch war er es Sternfeuer und ihrem Begleiter schuldig gewesen, auch ohne Hoffnung bis zuletzt auf die Chance zu warten. Solange auch die Glut nicht vollständig erloschen war, hatte er die Gedankenprogrammierung aufrechterhalten. In dem Augenblick, in dem er Mjailams Entmaterialisieren spürte, sollte die Gedankenwaffe das Schutzfeld zu stützen aufhören und dafür alles, was sie noch herzugeben vermochte, in den Transporter leiten. Als das nicht mehr Erwartete geschah, brauchte er nicht einmal einen Befehl zu denken. Er kam nicht dazu, Sternfeuer eine Warnung zuzurufen. Die Restkraft des Pi-ongs strukturierte sich innerhalb einer Nanosekunde um, entstofflichte Sternfeuer, von Bruchstein und Sieben und schleuderte sie in Mjailams parapsychischen Sog hinein. Sie reichte nicht aus. Twoxl-7 fand sich in einer neuen Umgebung wieder. Es war nicht die Höhle, aber auch nicht in der SOL. Er schwebte noch für zwei, drei Sekunden über dem braunroten Moosteppich einer endlos erscheinenden Ebene, bevor der Schock ihn traf und wie einen Stein fallen ließ. Er war allein! Er schrie nach Sternfeuer. Die Panik kam wie eine Flutwelle über ihn. Jene Kräfte, die ihn von jeder Schwerkraft unabhängig machten, gerieten außer Kontrolle und ließen ihn wilde Zickzacksprünge vollführen, nach den Seiten, in die Höhe und wieder tief in das trockene Moos. Samenkapseln öffneten sich und gaben Wolken von silbern glitzernden Sporen frei. Sie setzten sich in Siebens Hautfalten und begannen augenblicklich durch seine Körperfeuchtigkeit zu keimen. Jucken und beißende Schmerzen brachten die Komponente fast endgültig um den Verstand. Für Sekunden konnte Sieben die Katastrophe vergessen und dachte nur daran, wie er sich von den Parasiten befreite. Nur wenige Erhebungen durchbrachen die Monotonie der Ebene. Sieben katapultierte sich instinktiv auf eine davon zu, denn nur dort wuchs das Moos nicht. Es waren bis zu zehn Meter hohe, exakt kreisförmige Kegel, aus denen
bläuliche Dämpfe aufstiegen. Der Gepeinigte schwebte in diese hinein. Sein Schrillen zerriß die geisterhafte Stille der Ebene. Die Dämpfe verbrannten seine Haut – aber töteten die Sporen schnell ab. Sieben ließ sich auf dem Rand des Kegels nieder. Die Dämpfe kamen aus einem winzigen Krater in seiner Mitte und erreichten ihn hier nicht. Er war benommen. Erst nach Minuten konnte er wieder klar sehen, und die Schmerzen ließen wenigstens etwas nach. Sternfeuer! Er konnte keine Antwort bekommen, nicht jetzt und nicht später. Etwas hatte Sternfeuer, von Bruchstein und ihn in dem übergeordneten Kontinuum auseinandergerissen. Vielleicht hatten sie es tatsächlich bis zur SOL geschafft. Dann wäre es die allerletzte Aufgabe des Pi-ongs gewesen, eine Lücke in den Paratronschirmen zu erzeugen, falls diese wieder standen. Die Gedankenwaffe konnte das. Aber warum nicht ich! Er glaubte, sich noch auf dem Arsenalplaneten zu befinden, bis er die blutrote Sonne am Himmel sah. Wie ein gigantisches Auge schien sie ihn anzustarren und mit ihrer Hitze verbrennen zu wollen. Ich bin auf einer Höllenwelt gelandet! Unter ihm platzten die Samenkapseln auf. Sieben schoß in die Höhe, um sicher vor den silbernen Sporen zu sein. Das Moos schien genau zu wissen, wo er gerade war. Sobald er sich wieder etwas herabsinken ließ, entstanden die Samenwolken. Twoxl-7 wurde zum Gehetzten. Er wollte nicht wahrhaben, was so offensichtlich war. Daß dieses Moos, daß die gesamte Ebene ein einziger halbintelligenter Organismus war – und vielleicht dieser ganze Planet. Abermals schaltete die Panik alle bewußten Gedanken aus. Sieben floh vor dem tödlichen Staub. In mehr als hundert Metern Höhe jagte er über die Ebene. Immer wenn er glaubte, ein Ende zu sehen, fand er sich getäuscht. Die rote Sonne brannte unbarmherzig. Landen konnte er nicht. Blieb er aber in der Luft, so würde die Gluthitze ihn innerhalb kurzer Zeit regelrecht austrocknen. Endlich erblickte er einen Saum am Horizont, doch die vermeintlich rettende andere Landschaft entpuppte sich als ein riesiger Pilzwald. Unter lautem Knall wurden noch viel größere Sporenwolken nach ihm geschleudert. Er mußte noch höher steigen und weiterfliegen, immer weiter. Irgendwann, als er jeden Sinn für Zeit und Entfernung bereits verloren hatte und seine Kräfte versiegen fühlte, tauchten die steinigen Hügel auf. Mit letzter
Anstrengung konnte die Komponente noch soviel Raum zwischen sich und den Pilzwald bringen, daß die Samen ihn nicht erreichten. Er sank in eine Mulde und blieb liegen. Überstehende Felsen spendeten ihm Schatten. Sternfeuer! Twoxl! Nur langsam nahm seine Haut aus der Luft die Feuchtigkeit auf, die er brauchte, um seinen Körperhaushalt wieder einigermaßen ins Gleichgewicht zu bringen. Er hatte geglaubt, allein zu sein. Erst jetzt lernte er die wirkliche Einsamkeit kennen. Er glaubte plötzlich zu wissen, was ihn von Sternfeuer und ihrem Begleiter getrennt hatte. Sein Gefühl für sie war so stark, daß er unbewußt dem Pi-ong den Befehl gegeben hatte, im Notfall zuerst die beiden Solaner in die SOL zu transportieren, und erst dann auch ihn. Entweder war es so geschehen, oder Sternfeuer und von Bruchstein waren im Nichts gestrandet und tot. Dann wollte auch er nicht mehr leben. Er besaß keine Möglichkeit, auf irgendeine Weise einen Kontakt herzustellen – weder zur SOL noch zu den anderen TwoxlTeilen. Beide mochten sich viele tausend Lichtjahre entfernt befinden. Was erwartete ihn noch? Für einige Sekunden, vielleicht Tage, konnte er hier überleben. Doch es würde ein ständiger Kampf gegen die Sporen und andere, noch unbekannte, Gefahren sein. Am Ende stand ein qualvoller Tod. Und jede Minute würde voller Martern sein, Gedanken an Sternfeuer, an Twoxl, an ein Leben, wie es hätte sein können. Nein! Sieben wartete, bis er sich wieder stark genug fühlte, um seiner sinnlos gewordenen Existenz ein schnelles Ende zu bereiten. Dann jagte er steil in die Höhe, wollte bis in den Weltraum vorstoßen und dort in Kälte und Vakuum sterben. Der Blick zurück, der der letzte sein sollte, zeigte ihm die Stadt. Er hörte zu steigen auf, einer Revolution von Gefühlen ausgesetzt. Dort mußten Menschen leben, oder wenigstens menschenähnliche Wesen, die eine Technik besaßen. Die vielleicht über Fernfunkgeräte und eine Weltraumfahrt verfügten.
Die sich vor den Sporen und den Strahlen der schrecklichen Sonne zu schützen vermochten. Twoxl-7 schöpfte noch einmal Hoffnung. Er gab sich keinen Illusionen hin, dazu war er zu oft und zu sehr enttäuscht worden. Vielleicht fand er doch noch Hilfe. Selbstmord konnte er immer noch begehen. Aber vielleicht ... * Die Penetranz schwebte bis auf zwei Meter an Atlan heran. Er zwang sich dazu, sie anzusehen und so zu tun, als verstünde er überhaupt nichts. Allzu schwer fiel es ihm nicht. Auch Mjailam erschien. Alle waren da, die einmal auf seiner Seite gestanden hatten – alle außer Tyari. Du hast versagt! hallte es in seinem Bewußtsein. Du solltest um die Rolle des Anführers kämpfen. Statt dessen hast du dich nur verteidigt. Wer in den Diensten von Anti-ES steht, muß auch bereit sein, bis zum letzten zu gehen. Also wirst du noch einmal kämpfen. Dein Gegner hat den Befehl, dich unter keinen Umständen zu schonen. Er wird dich töten, wenn du ihm nicht zuvorkommst! Eine Bewährungsprobe, eine Strafe – oder mehr? Atlan sah sich um. Sanny. Twoxl. Mjailam. Mylotta. Kik. Die vierzig Raumfahrer. Wer sollte auf ihn angesetzt werden? Dein Gegner wird seine Waffen selbst wählen dürfen. Ihm steht alles zur Verfügung, was das Arsenal besitzt. Du wirst wie gegen Mjailam und Kerness Mylotta nur auf dich selbst angewiesen sein. Es kam seinem Todesurteil gleich. Das war schizophren! Anti-ES hatte mit ihm die Waffe gegen die SOL in der Hand – jedenfalls mußte es das glauben. Warum ihn dann umbringen wollen? Traute es der Penetranz nicht mehr? Dominierten seine Rachegefühle über die eiskalte Logik? Aus der Botschaft war zu folgern, daß Mylotta und Mjailam diesmal nicht seine Gegner sein würden. Wer aber dann? Wie konnte er gegen Sanny oder Kik kämpfen? Er würde immer nur seine alten Freunde in ihnen sehen, seine Hand würde gelähmt sein, selbst falls er einen Vorteil erringen konnte. Und erst Tyari! Er dankte dem Schicksal dafür, daß sie offenbar gerade jetzt an einem anderen Ort mit einer anderen Aufgabe betraut war. Gegen sie um sein Leben kämpfen zu müssen, war eine grausamere Vorstellung als alles andere, das er sich in Gedanken schon ausmalte. Hast du mich soweit verstanden, Atlan? Dein Gegner hat den Tötungsbefehl. Er
wird keine Rücksicht darauf nehmen, daß du ihn nicht umbringen willst. Wenn du eine Schwäche zeigst, bist du für das Arsenal ungeeignet. Wenn du ihn nur kampfunfähig machst, töten die anderen dich. Du hast nur die Wahl zwischen der Bewährung und dem Tod. Die Antwort genau überlegen! Zusagen! Ich kann meinen früheren Plan nicht verwirklichen, dazu ist die Penetranz zu mißtrauisch. Aber zum Schein ein Teil des Arsenals sein und auf die Gelegenheit warten, die SOL zu warnen! »Ich habe verstanden und werde kämpfen.« Ein lautloses Lachen drang in sein Bewußtsein. Du hoffst noch immer auf einen Ausweg, Atlan? Wir werden es sehen. Tod oder Loyalität! An wen denkst du? Sanny, die kleine Molaatin? Kik? Twoxl? Ihnen wärst du vielleicht körperlich überlegen. Die Penetranz drehte sich in der Luft um etwa neunzig Grad. Eines der langen Enden des Eikörpers war auf eine der Unterkünfte gerichtet. Die Tür wurde von innen aufgestoßen, Tyari trat heraus und blieb neben der Penetranz stehen. »Wir sind bereit«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. »Wir werden in der Höhle neben den Unterkünften beraten, wer gegen Atlan kämpft.«
Epilog Sternfeuer ließ das Schott hinter sich zufahren. In diesem Bereich der SOL war es ruhig. Hier wohnte niemand. Verätzungen an den Wänden waren die einzige Erinnerung an das Kristallmonstrum, das vor Jahren einmal das ganze Schiff, vor allem aber das ehemalige Hauptquartier der längst aufgelösten Basiskämpfer, bedroht hatte. Von Zeit zu Zeit trafen sich einige von Sternfeuers einstigen Kampfgefährten hier noch, um in Nostalgien zu schwelgen. Und manchmal, wenn sie eine Abwechslung brauchte, kam auch sie. Kabinenfluchten, dann eine der großen Hallen der sogenannten Verbotenen Zonen. Unter Breckcrown Hayes waren diese Regionen des Schiffes gründlich entgiftet worden. Die meisten dienten heute Solanern als Wohnraum. Diese nicht. Sternfeuer lächelte schwach, als sie die an eine Wand gesprühte Schrift las: RAUS MIT DECCON! Das war vorbei. So vieles war vorbei und fast vergessen. Die Mutantin ging an eine Art altertümliche Bar, eine Theke mit einer Reihe von leeren Containern entlang, und setzte sich auf einen Hocker. »Bedienung!« Einer der Container öffnete sich. Ein anderthalb Meter großer Roboter kam heraus, gegen den Blödel noch als das Werk eines begnadeten Künstlers betrachtet werden konnte. Die Maschine auf zwei kurzen Beinen und mit vier zehnfach gewinkelten Armen rollte heran und blickte im Dreivierteltakt. Das Licht in der Halle wurde schwächer. Filter schoben sich vor einige Scheinwerfer und tauchten die Szene in ein intimes Rot. »Du wünschst?« plärrte der Robot. Sternfeuer zielte mit dem Zeigefinger auf eine Reihe von Flaschen. »Von dem, von dem, und zwei Teile von dem.« »Sofort!« Eigentlich wollte sie nur allein sein. Andererseits wünschte sie sich, einer der alten Gefährten würde ausgerechnet jetzt erscheinen und sie von allem ablenken, was ihr so schwer auf der Seele lag. Und vor allem, daß jemand kam und ihr sagte, was eigentlich mit ihr geschehen
war! Sie trank. Es war sicher dumm von ihr, zu glauben, ein tüchtiger Schluck würde die verlorene oder blockierte Erinnerung wieder in Gang setzen. Daß sie jetzt dort wieder anfangen könnte, wo es mit Walter einmal begonnen hatte. »Wenn du dich ausweinen willst«, sagte der Robot, »ich bin ein guter Zuhörer.« »Verdammtes Ding.« Sie lächelte etwas weniger verkrampft. »Wie die uralten Barmiezen, was?« Ivor Chan hatte ihn programmiert, Juka-Do-Meister und so temperamentvoll und korpulent wie ein gewisser Reginald Bull, der den meisten Solanern heute nur noch ein Begriff aus einer Legende war. »Aber gut. Paß auf. Stell dir vor, du hast zwar eine Menge Wut im Bauch, aber sonst nichts Schlechtes im Sinn. Du weißt, daß ein alter ... alter Freund in der SOL wiederaufgetaucht ist, der aber nicht mehr unbedingt dein Freund sein muß, eigentlich ein Gegner. Du willst ihn aber beschützen oder ihm helfen. Was tust du also?« »Ihm helfen«, schnarrte es. »Nach meinen Möglichkeiten.« Sternfeuer lachte trocken und schob den Ellbogen über die Theke. »Helfen, genau. Dazu findest du einen Verbündeten. Du gehst hin und siehst, daß schon ein großes Theater im Gang ist. Dein alter Freund bedroht zwei Leute. Andere bedrohen ihn mit Waffen. Du gehst hin, um ihn zu schützen, und ...« »Und die anderen Freunde schießen.« Sternfeuer winkte ab, orderte ein neues Mixgetränk und sagte dann erst: »Ivor hat zuviel Phantasie in dich einfließen lassen, Blechmann. Sie schießen nicht, aber dafür bist du plötzlich ...« Sie blies die Backen auf und entließ die Luft mit einem Knall. »Plupp. Weg.« »Sternfeuer!« Sie drehte sich um. Aus dem roten Halbdunkel tauchten Ivor Chan, Dan Jota und Malcish auf, der ehemalige Meisterdieb. In gespielter Verärgerung fuhr die Telepathin den Robot an, was er sich dabei denke, die alte Mannschaft ohne ihr Wissen zusammenzutrommeln. Dann lagen sie sich in den Armen. »Sternfeuer!« rief Hirvy, der junge Rebell, der inzwischen zu einem ansehnlichen Mann herangewachsen war. »Endlich bist du wieder da! Wie lange haben wir
darauf gewartet, daß du dich wieder einmal blicken läßt!« »Hirvy.« Sie ließ sich umarmen und küssen. Es war wie das Bad in einem Jungbrunnen. Für so wertvolle Augenblicke fühlte sie sich der Realität entrissen. »Aber du siehst schlimm aus«, sagte Dan Jota dann. »Was ist los? Braucht die SOL uns wieder?« »Robot, eine Lage!« bestellte Hirvy. Sternfeuer prostete den anderen zu. Endlich konnte sie befreit lachen. »Die SOL braucht euch. Sie braucht uns alle, Dan. Aber nicht als eine Neuauflage der Basiskämpfer. Ihr wißt so gut wie ich, worum es in diesen Tagen geht.« »Wir haben uns integriert«, nickte Hirvy. »Wir haben Hayes als High Sideryt akzeptiert und tun für ihn, was wir können. Anti-ES und die Penetranz. Das Arsenal.« »Das Arsenal«, sagte die Mutantin gedehnt. Dann berichtete sie von Twoxls Erscheinen, von ihrem Zusammentreffen mit Walter von Bruchstein, von Caras Kabine und dem, was sich dort zugetragen hatte. Ihre Erinnerung hörte dort auf, wo sie schützend vor Atlan, Cara und Twoxl stand. »Ich war fort«, sagte sie heftig. »Einfach weg. Jedenfalls sagt Breckcrown das, und Federspiel hat es bestätigt. Ich war fast vier Tage lang nicht an Bord der SOL. Dann fanden mich einige Buhrlos in einem der Hangars liegend.« Sie breitete die Arme aus. »Ich habe keine Ahnung, was in diesen vier Tagen mit mir geschehen ist, und von Bruchstein weiß auch nichts. Aber Atlan ist fort. Hayes sagt, daß Mjailam erschienen sei und ihn und Cara entführt habe – und natürlich auch Twoxl, der das alles in die Wege leitete. Sicher stimmt das. Aber was war in der Zwischenzeit!« »Du weißt wirklich gar nichts?« fragte Jota verwundert. »Nichts, Dan! Ich war weg und – paff! – wieder da. Vier Tage sind eine lange Zeit. Ich muß an einem anderen Ort gewesen sein und etwas erlebt haben. Aber was? Woher hatte ich meine Wunden?« Niemand wußte eine Antwort darauf. Sternfeuer blieb noch zwei Stunden. Dann trieb die Unruhe sie zur Zentrale zurück. Hayes und die Stabsspezialisten behandelten sie schonend. Jeder wußte um ihren Zustand. Auch Cara Doz wurde
nicht mit Fragen belästigt. Sie, ebenfalls verschwunden, war nur zwei Stunden später wieder an Bord gefunden worden. Auch sie konnte sich an nichts erinnern. Bei ihr jedoch konnte man das Verschwinden und Wiederauftauchen wenigstens noch in die Kette der geheimnisvollen Ereignisse um sie einreihen. »Von Bruchstein«, sagte der High Sideryt, »hat einen neuen Kabinennachbar. Der Mann ist schon jetzt mit den Nerven fertig. Walter hat offenbar eine neue Geschichte erfunden. Sie handelt von Rittern, die das Pingpongspiel entdeckt haben.« Pingpong? Pi-ong? Da war irgend etwas, doch viel zu schwach, als daß Sternfeuer einen Anhaltspunkt gefunden hätte. Sie konnte nicht wissen, daß mit der letzten Kraftentfaltung des Pi-ongs eine Löschung aller Informationen bei Personen verbunden gewesen war, die nicht das Siegel der Penetranz trugen. Sie konnte nichts von Twoxl-7 und von Atlan wissen. Nur ein Gefühl schnürte ihr den Magen zu. »Ich glaube, Breck«, sagte sie leise, »daß die glorreichen alten Zeiten, nach denen Walter sich zurücksehnt, verdammt schlechte Zeiten für die Menschen waren. Aber frage mich jetzt, ob ich das, was auf uns zukommt, nicht gegen diese alten Zeiten eintauschen wollte. Vielleicht würde ich es tun.«
ENDE
Weiter geht es in Band 143 der Abenteuer der SOL mit: Ticker von Kurt Mahr Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt