WERNER HÖRNEMANN
Die gefesselten Gespenster Eine ziemlich komische Geschichte um sieben Jungen, zwei Tiere, ein Auto un...
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WERNER HÖRNEMANN
Die gefesselten Gespenster Eine ziemlich komische Geschichte um sieben Jungen, zwei Tiere, ein Auto und einen Spuk Mit Zeichnungen von Horst Lemke
© by Verlag Herder KG, Freiburg/Breisgau Lizenzausgabe mit Genehmigung der Verlag Herder KG, Freiburg im Breisgau für Bertelsmann, Reinhard Mohn OHG, Gütersloh den Europäischen Buch- und Phonoklub Reinhard Mohn, Stuttgart die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien. Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buchgemeinschaft C. A. Koch’s Verlag Nachf. Berlin – Darmstadt – Wien Gesamtausstattung: Horst Lemke Gesamtherstellung Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh Printed in Germany • Buch 8061
Damit Ihr Bescheid wißt: Diese Geschichte spielt am Mittelmeer, im sonnigen Süden. Karlchen Müller von nebenan, dem ich sie zuerst erzählte, weil er Fachmann für Geschichten ist – er macht nämlich oft genug welche –, schüttelte den Kopf, grinste wie ein Schaukelpferd und sagte: »So was Verrücktes passiert nicht alle Tage!« Genau deswegen habe ich sie aufgeschrieben. Von der großen Hafenstadt Marseille hat sicher jeder schon mal gehört. Dort fängt die Geschichte an. Dicht am Hafen liegt die Altstadt, und in der Altstadt, gleich wenn man ’reinkommt links, die Zwiebelstraße. Manche Leute behaupten, in der Zwiebelstraße wohnten nur finstere Gestalten. Ich bin anderer Meinung; erstens habe ich selbst eine Zeitlang da gewohnt, und zweitens wohnen dort die Jungens. Hier sind sie übrigens:
ANDRÉ BOURIAN, sechzehn Jahre alt, Schuhputzer vor dem Börsengebäude. Lang und dünn wie eine Bohnenstange. Behauptet mindestens zehnmal am Tag: »Ich kenne das Leben!« Stammt aus einer Armenierfamilie, die im Vorort St-Antoine wohnt. Bis vor einem Jahr arbeitete er in einer Seifenfabrik, dann machte er sich selbständig. Lieh sich von seinem Vater Geld und kaufte sich den Schuhputzstand. Weil er sehr fleißig war, verdiente er ganz gut; zahlte zuerst das geliehene Geld zurück und erwarb danach beim Althändler einen stinkvornehmen schwarzen Anzug, der ihm allerdings viel zu weit ist, und mietete schließlich bei Madame Achmed ein Zimmer. Bis dahin hatte er in einem leeren Bootsschuppen geschlafen. André ist sehr ehrgeizig und strebsam, will nicht Schuhputzer bleiben, spart eifrig und bemüht sich ebenso eifrig um Bildung. Er hat verschiedene Talente, unter anderen auch das, einem auf die Nerven zu fallen.
RENÉ FORGERON, achtzehn Jahre alt, Automechaniker. Sohn eines kleinen Bauern in Burgund. Mittelgroß, breitschultrig und stark wie ein Bulle; rundes, fleischiges Gesicht mit dunkelroten Borsten darüber. Wenn er in Wut gerät – und das geschieht oft, denn er hat ein Temperament wie Brausepulver –, läuft er rot an und rollt die Augen wie ein Gorilla. Behauptet jedoch ständig: »Ich bin der friedlichste Mensch, den ich kenne!« Sein robustes Herz schlägt für die Technik. Drei Jahre lang lernte er in Dijon, fuhr dann nach Süden und fand in Marseille, in Monsieur Camilles Werkstatt, eine Stelle. Wohnt bei Wassilies, einer Russenfamilie.
FILOU WACAMBO, fünfzehn Jahre alt, Neger, Tellerwäscher im Hotel »Ambassadeur«. Heißt natürlich nicht Filou, sondern irgendwie anders. Bloß wie, das weiß niemand. Sieht aus, als würde er im nächsten Moment mit lautem Knall platzen; seine schwarze Haut scheint nur mit Mühe den anderthalb Meter hohen und fast ebenso breiten Fettkloß zusammenzuhalten. Hersteller der berühmten Ambassadeur-Stullen, Besitzer eines Hundes namens Stinker und sehr musikalisch. Wohnt zusammen mit seiner Großmutter bei der Familie Quinquaille.
PIPIN HIERONYMUS WANG, fünfzehn Jahre alt, Chinese. Hat nur dann einen Beruf, wenn er unbedingt Geld braucht. Über seine Herkunft weiß man nichts, weil er wenig redet. Er trabt im Rikschastil und bei Quinquaille. SEPPE PALOTTI, fünfzehn Jahre alt, Italiener. Arbeitet überhaupt nicht, spielt aber gut Gitarre und stiehlt noch viel besser. Wird deswegen »König der Diebe« genannt, sieht jedoch aus wie ein Engel. Er hat wallende Schmalzlocken und rabenschwarze Augen, die genauso munter in die Welt blicken wie seine schmutzigen Zehen; seine Sandalen sind nämlich ein Bild des Jammers.
TISTA, Seppes fünfjähriger Bruder, ist eigentlich zweimal vorhanden, doch die zweite Ausgabe heißt Tonio, ist sein Zwillingsbruder und spielt nicht mit. Tista gehörte genaugenommen auch nicht dazu, aber – na, lassen wir das mal. Hat krause Locken, so dicht wie Putzwolle, und ist meistens unvorstellbar schmutzig, obgleich er zu Hause mit Inbrunst und Seife geschrubbt wird. Ißt gern gebratenen Fisch und kann kein »R« aussprechen. Seppe und Tista wohnen mit ihren Eltern und den fünf anderen Geschwistern bei Madame Achmed, wo auch André sein Zimmer hat.
Als letzter, weil erst seit kurzem in der Zwiebelstraße:
MAURICE DUPONT, neunzehn Jahre alt, Maler von Beruf. Sein Vater ist sehr reich, fabriziert in Lille, Nordfrankreich, die berühmten Dupont-Sicherheitsnadeln, »nur echt mit dem großen D«. Als einziger Sohn – Maurice hat noch zwei Schwestern – sollte er natürlich Kaufmann werden, wollte aber nicht. Lernte statt dessen in Paris Malen und Zeichnen. Vater Dupont versucht ihn dadurch zu bekehren, daß er ihm kein Geld schickt. Er rechnet damit, daß sein verwöhnter Sohn bald von dem harten Dasein eines jungen Künstlers genug hat. Bisher erwies Maurice sich als erstaunlich zäh- und hatte außerdem das Glück, André in die Hände zu fallen, der ihn mit AmbassadeurStullen fütterte und in seinem Zimmer schlafen ließ.
Maßgeblich beteiligt sind ferner: SASU. Von den vierzehn Katzen, die Madame Achmed besitzt, die schönste und kostbarste. Bereits fünfmal preisgekrönt, eng mit Tista befreundet.
STINKER – wie schon gesagt: ein Hund. Hängt sehr an seinem Herrn, dem Tellerwäscher Filou. Gehört zur Rasse der Schäferhunddackelterrier und hat ein trauriges Schicksal. So, und nun geht’s los!
Die Anzeige Die Cannebière, die Hauptstraße von Marseille, brodelte und kochte in der heißen Sonne Südfrankreichs. Menschen drängten sich auf den Bürgersteigen, redeten und lachten laut und ungezwungen. Grelle Plakate an den Hauswänden priesen Dubonnets Aperitif. Straßenbahnen bimmelten schrill, Autos flitzten beängstigend schnell durch das Gewühl, Straßenhändler boten kreischend ihre Waren an und ruderten dabei mit den Armen, als ob sie soeben den Verstand verloren hätten. Ein richtiger Hexenkessel! Im Schatten einer Palme stand Maurice. Er achtete nicht auf das bunte Bild vor seinen Augen, er hörte auch nicht auf das wogende Gebrodel der Hauptstraße, er hörte seinem Magen zu, denn der knurrte wie ein gereizter Kettenhund. »Verflixt!« murmelte er. »Alles geht schief. Sogar diese wunderbare Sache mit den Reklamesprüchen. Mist! Also doch wieder Ambassadeur-Stullen! Es ist zum… Na ja!« »Los, ’rüber!« befahl er sich selbst, nahm die Hände aus den Taschen seiner Manchesterhose, trabte über die Straße und steuerte die Grünanlagen vor der Börse an. Unterwegs dachte er: irgendwas muß geschehen. So geht es nicht weiter. »Morgen, André!« begrüßte er den Schuhputzer. »Ah, Maurice!« sagte André lächelnd und machte eine großartige Handbewegung. »Bitte, nimm Platz. Einen Augenblick mußt du dich noch gedulden. Mein Geschäft – nicht wahr, du verstehst?« säuselte er. »Ich habe nämlich jetzt Hochbetrieb!« Maurice grinste und nahm Platz, das heißt, er setzte sich schlicht auf die Steinplatten des Bürgersteigs neben Andrés »Geschäftseinrichtung«, bestehend aus einem vorsintflutlichen Armsessel mit einer abgeschrägten Kiste davor. Typisch André, dachte er, immer dieses gespreizte Gerede! ›Bitte, nimm Platz!‹ Haha! Eine Handbewegung wie ein Oberkellner! Aber der bringt’s noch zu was, das ist sicher. André stand mitten auf dem Bürgersteig, seine schlaksige, dünne Figur zu ganzer Höhe aufgerichtet, beide Arme in den Hüften. Er fischte nach Kunden, und dafür hatte er seine eigenen Rezepte. Ein junger Mann mit einem riesigen Fliederstrauß in der Hand näherte sich. André schoß auf ihn los. »Aber Monsieur! Haben Sie sich mal Ihre Schuhe angesehen?« fragte er ihn, geradezu väterlich mahnend. »So wollen Sie Ihrer
Braut einen Besuch machen? Aber kommen Sie, ich bringe das sofort in Ordnung!« Ehe der völlig Verdutzte sich äußern konnte, saß er bereits auf dem Holzsessel. Sogleich fiel André über seine Fußbekleidung her. Staubbürste, einkremen, harte Bürste, weiche Bürste, blauer Lappen, grüner Lappen. Und zum Schluß ein dunkelweißer. Zwischendurch ratterte Andrés Mundwerk: »Blitzblanke Schuhe, ich sage Ihnen, das hebt die Figur! So was von Glanz bringt nur der Fachmann fertig – bitte etwas die Ferse drehen – so –, und nun sehen Sie mal: glänzen wie ein Spiegel, Ihre Schuhe, nicht wahr? Jaja, gelernt ist nun mal gelernt! Macht zwanzig Centimes!« Der Kunde bezahlte und stand auf. »Vielen Dank, mein Herr! Bitte beehren Sie mich bald wieder!« André verbeugte sich ruckartig und machte eine Art Kratzfuß. Dann ging er zu Maurice hinüber. »Nun, was gibt es denn?« fragte er, wie immer jede Silbe deutlich betonend. »Wieder nicht geklappt?« Maurice seufzte nur, aber abgrundtief. André war zartfühlend genug, sich nicht über das allerneueste Mißgeschick des Malers lustig zu machen. Er sagte nur: »Ja, Geldverdienen ist gar nicht so leicht, wenn man es nicht gewöhnt ist!« Und schon nach erstaunlich kurzem Nachdenken setzte er hinzu: »Ich gehe doch nicht fehl in der Annahme, daß du Hunger hast, oder?« »Erraten!« sagte Maurice und lächelte trotz all seines Elends, denn Andrés Redeweise war nun mal zu komisch. Sie paßte genausowenig zu ihm wie sein viel zu weiter schwarzer Anzug. »Ja, ich kenne das Leben«, bemerkte der Schuhputzer weise, bückte sich und nahm aus der Holzkiste ein dickes Stullenpaket, das er Maurice reichte. »Da! Es ist noch genügend vorhanden. Möge es dir munden! Ich begebe mich derweil wieder ans Werk!« André machte eine kleine Verbeugung und ging zurück auf die Straße zum Kundenfang. »Alter Affe!« murmelte Maurice grinsend hinter ihm her. »Wenn du nicht so ’n netter Kerl wärst, na!« Dann widmete er sich den Ambassadeur-Stullen, die natürlich deshalb so hießen, weil sie aus dem Hotel ›Ambassadeur‹ stammten. Filou, der schwarze Fettkloß, war ihr Hersteller. Als Tellerwäscher war Filou zweifellos tüchtig. Am tüchtigsten
aber war er beim Abräumen der Teller und Platten, die aus dem Restaurant zurückkamen. Dann arbeitete der Schwarze mit einer Fixigkeit, die ihm niemand zugetraut hätte. Wie ein Hai stürzte er sich auf die Reste – und es blieb immer allerlei übrig –, nahm eine Scheibe Brot oder Toast und packte wahllos, wie es gerade kam, Braten, Fisch, Käse oder Wurst darauf, legte eine Scheibe darüber, rollte unheimlich schnell und geschickt eine Serviette um das Ganze und ließ die fertige Stulle in der Hosentasche verschwinden. Waren beide Taschen voll, dann flitschte er wie ein Aal in den Nebenraum, wo sein grauer Segeltuchsack hing, und packte aus. Man soll nichts umkommen lassen, was andere Leute gut brauchen können, meinte er, und schob jeden Morgen seinem Freund André, der im ›Ambassadeur‹ die Schuhe putzte, einen Armvoll Brote in die Kiste. Maurice kaute mit vollen Backen. Heute gab es Toast, hart wie eine Panzerplatte, mit Ochsenzunge, Ölsardinen und Schweizer Käse. Eine seltsame Mischung, aber Maurice schmeckte es. Schließlich war gleich Mittag, und er hatte nicht gefrühstückt. Das Frühstück hatte er sich mit der neuen Idee verdienen wollen, und daraus war dann wie üblich nichts geworden. Anfangs hatte er natürlich versucht, Bilder zu verkaufen. André hatte ihm Geld geliehen für Wasserfarben, Zeichenpapier und ein paar Pinsel. Aber seine Aquarelle wurde er nicht los. Nirgendwo. Nicht etwa, weil sie schlecht gewesen wären, nein, Maurice hatte kein Talent, sie in der richtigen Weise anzubieten. Er betrat die Kunsthandlung mit Zittern und Zagen, genierte sich unsäglich, und wenn er dann auf sein Gemurmel eine unwirsche Antwort bekam, verschwand er fluchtartig. Nach ein paar Mißerfolgen gab er die Sache auf und versuchte, auf andere Art Geld zu verdienen. Eines Abends hörte er Seppe auf seiner Gitarre klimpern und beschloß, eine Tanzkapelle zu gründen. »Das ist doch ’ne Sache, Jungens!« hatte er geschwärmt. »Seppe spielt Gitarre, Filou Akkordeon, ich übernehme das Schlagzeug. Krachmachen war immer schon meine Spezialität. Und Pipin – Pipin kann gar nichts. Schade. Na, der muß dann dirigieren!« Filou, der sehr musikalisch war, quetschte bloß hervor: »Hassen Akkordijon? Nee! Hassen Schlachzeuch? Nee! Kanns aber aum Kamm blasen, is auch ganz schön!« Aber schon bald war er wieder mit einer neuen Idee gekommen: »Was ganz Großartiges, Jungens!« hatte er strahlend verkündet. Doch die neue Idee war genauso unmöglich wie alle anderen. Das
heißt: an sich war sie ganz gut, bloß nicht für Maurice, der zum Dichter ebensowenig Talent hatte wie eine Kuh zum Radfahren. Es handelte sich nämlich um Werbung. Siegesgewiß lächelnd, einen Topf weißer Farbe und einen Pinsel in der Hand, war Maurice heute morgen losmarschiert. Als er das Geschäftsviertel erreicht hatte, war er schon weniger siegesgewiß. Zögernd schaute er die Straße entlang. Dann faßte er sich ein Herz und betrat den Laden des Möbelgeschäftes Cavaillon & Co. »Ich möchte Ihnen einen Reklamespruch an die Schaufensterscheibe malen«, sagte er zu Monsieur Cavaillon. »Meintwegen. Was kostet das?« Maurice machte es billig: »Nur einen Franken!« Dafür konnte er gerade das versäumte Frühstück nachholen. Als er jedoch vor der großen Scheibe stand, da wollte ihm nichts einfallen. Es sollte ein kurzer, wirkungsvoller Zweizeiler sein. Der Vers sollte sich leicht einprägen und auf die geradezu einmalige Qualität der ausgestellten Betten, Sessel und Couchen hinweisen. Nach langem Überlegen malte er fein säuberlich folgenden Spruch: Cavaillons Sessel sind apart, äußerst billig und nicht hart! Maurice war sehr stolz, nicht aber Monsieur Cavaillon. »Das ist ja ein haarsträubender Unsinn, Verehrtester! ›Nicht hart‹? Butterweich sind meine Sessel! Nein, schreiben Sie was anderes!« Auf ›butterweich‹ fand er trotz langen Nachdenkens keinen Reim, darum schrieb er: Die Möbel nur von Cavaillon, das weiß der kleinste Säugling schon! Wieder rief er den Besitzer heraus. Der las den Spruch und sagte wütend: »Wischen Sie den Unsinn ab und verschwinden Sie!« Tief enttäuscht schlich Maurice davon. Es war doch sehr schwierig, brauchbare Werbetexte zu dichten! Bei einem Süßwarengeschäft versuchte er sein Glück noch einmal. Er schrieb:
Und Kinder stehen hier mit großen Augen, die wollen gerne Bonbons saugen! »Völlig unbrauchbar!« sagte die Ladeninhaberin. »Nein, machen Sie den Stuß wieder ab.« Aber als sie Maurices Gesicht sah, das vor Kummer und Hunger ganz faltig geworden war, schenkte sie ihm eine Tüte saure Drops. Ja, so war das gewesen. Und jetzt saß er schon wieder bei André und aß Ambassadeur-Stullen. Eigentlich hatte er ja nie wieder welche essen wollen. Er war sie gründlich leid. Ganz gründlich sogar. Wenn das mit den Werbesprüchen geklappt hätte, dann wäre ein saftiges Steak fällig gewesen. Ich darf nicht daran denken, dachte er, dann läuft mir ’n Kubikmeter Wasser im Mund zusammen. Ewig diese Stullen! Was will man machen, wenn man nichts verdient! Es ist zum… Aber so geht das nicht weiter. Ich kann mich doch nicht von den Jungens durchfüttern lassen! Ich kann auch nicht dauernd bei André wohnen, ganz umsonst! André teilte nämlich sein Zimmer mit ihm. Er teilte es sogar im wörtlichen Sinne. André war nun einmal eine gute Seele. Bloß Unordnung konnte er nicht leiden. Schon am zweiten Tag sagte er zu Maurice: »Ich muß zu meiner Betrübnis feststellen, daß du ein Schlamper bist! Da wollen wir eine reinliche Trennung vollziehen, nicht wahr?« André vollzog, das heißt: er nahm ein dickes Stück Kreide und zog einen Strich mitten durchs Zimmer. »So«, sagte er dann zufrieden, »die eine Hälfte gehört dir, da kannst du machen, was du willst!« Und wenn nun Maurice mal einen Pinsel fallen ließ, der über den Strich in Andrés peinlich geordnete Zimmerhälfte rollte, dann nahm André ihn wortlos auf und legte ihn jenseits des Striches nieder. Anfangs hatte Madame Achmed, Andrés Wirtin, heftigen Krach gemacht und wollte nicht dulden, daß Maurice sich bei André einquartierte. Als Maurice jedoch der alten Frau ein Bild ihrer Lieblingskatze Sasu schenkte, da strahlte sie und ließ ihn seitdem in Frieden. Maurice seufzte und stand auf. Sicher, ich bin mal wieder satt, dachte er und wischte sich die Krümel von der Hose. Aber wie! André, der inzwischen drei Kunden bedient hatte, kam zu ihm heran, langte in die rechte Hosentasche, holte eine Zigarette hervor,
brach sie durch und gab dem Maler die eine Hälfte. »Du bist ein feiner Kerl, André!« Der feine Kerl tippte sich an die Stirn und begab sich wieder in den Strom der Passanten, um neue Kunden zu fangen. Maurice zündete den Stummel an, nickte André zu und schob ab. So geht es tatsächlich nicht weiter, dachte er. Nette Kerle, besonders André. Wenn auch ’n bißchen verrückt. Aber ich kann mich doch schließlich nicht von einem Tellerwäscher verpflegen und von einem Schuhputzer beherbergen lassen! Nein, so geht das nicht weiter! Irgendwie muß man doch Geld verdienen können! Nachdenklich schlenderte er über die Cannebière. Zum erstenmal in seinem Leben spürte er Neid. Er beneidete die Leute in den Cafés und Restaurants, die essen und trinken konnten, was sie wollten. Er beneidete alle, die ihm gut gekleidet oder fröhlich lachend entgegenkamen. Die haben’s alle besser als ich, dachte er. Die essen Schlagsahne, ich muß Ambassadeur-Stullen kauen! Aber ich könnte es ja genauso gut haben! Ganz genauso! Ich brauchte nur dem alten Herrn einen Brief zu schreiben. Ich brauchte bloß die Malerei an den Nagel hängen. Dann könnte ich im Auto durch die Gegend fahren. Und essen, was ich gern möchte. Jetzt zum Beispiel ein prima Steak. Hm, machte er genießerisch. Plötzlich blieb er stehen und betrachtete gedankenverloren einen der zahlreichen Blumenkarren. In Blecheimern standen nebeneinander dicke Büsche von Rosen, Chrysanthemen, Nelken, Tulpen und Veilchen. Minutenlang glitt sein Blick über die morgenfrisch leuchtenden Sträuße und blieb endlich auf einem Veilchenbund haften.
Toll, wie das Licht den Farbton veränderte! Dieses Blau müßte man malen können! Malen! Ach ja, malen! Das Malen aufgeben? In stickigen Büros sitzen? Mit Kunden feilschen? Nein! Nichts für mich. Ich muß malen! Aber zunächst muß ich Geld verdienen, um leben zu können. Um malen zu können. Vorläufig bringt die Malerei noch nichts ein. Also es muß irgendwas geschehen. Bisher hab’ ich Pech gehabt. Braucht ja nicht immer so zu bleiben. Irgendwas wird ja schließlich klappen. Langsam ließ er sich von der Menschenmenge weiterschieben. An der übernächsten Straßenecke traf er einen kleinen, ziemlich abgerissen aussehenden Chinesenjungen. Aha, dachte er, Nummer zwei. Der Gelbe trug einen Packen Zeitungen unter dem Arm und brüllte wie am Spieß: »Courrier du Midi! Courrier du Midi!« »Morgen, Pipin!« begrüßte ihn Maurice. »Ich traue meinen Augen
nicht: du arbeitest?« »Leider! Du weißt, Zeitungen verkaufen find’ ich widerlich, aber – ›Courrier du Midi‹ – aber Monsieur Wassilie, der Besitzer meiner fürstlichen Gemächer, drängt so unverschämt auf – ›Courrier du Midi!‹ – Bezahlung der Miete. So sind die Kapitalisten – ›Courrier du Midi!‹« Ein Mann, der es offensichtlich eilig hatte, kaufte eine Zeitung und wartete nervös auf das Wechselgeld, das er noch zu bekommen hatte. Unendlich langsam und umständlich veranstaltete Pipin eine Ausgrabung in seiner rechten Hosentasche. Alles mögliche förderte er zutage, nur kein Kleingeld. Bis es dem Käufer zu bunt wurde. »Ach, laß schon!« brummte er ärgerlich und verschwand in der Menge. »Warum nicht gleich so?« meinte Pipin grinsend. »Als ob unsereins nicht auch mal gern ein Trinkgeld bekäme!« »Den Bogen hast du prima ’raus!« Lachend klopfte Maurice ihm auf die Schulter und sagte: »Gib mal ’n Blatt!« Unter dem Stapel auf seinem linken Arm zog Pipin eine nur wenig zerlesene Morgenzeitung hervor und reichte sie Maurice. Für solche Blätter aus zweiter Hand hatte der Chinese eine ganze Reihe fester Abnehmer. Er verkaufte sie billiger, weil er sie umsonst bekam. Es waren nämlich liegengebliebene Zeitungen, die er am Platz d’Aix in den wartenden Autobussen und Straßenbahnen aufgesammelt hatte. Maurice setzte sich dicht an der Hauswand auf das Pflaster. Hier im Schatten, und dazu noch mit angenehm gekühlter Sitzfläche, war die Hitze auszuhalten. Er las. Erste Seite Politik. Die üblichen Schlagzeilen, aber nichts Aufregendes. Zweite Seite. Eisenbahnunglück in Malincourt. Hm. Ein Wasserrohrbruch. Reklame für irgendeine Zigarettenmarke. Schafsdämlich gemacht. Kein Blickfang. Man müßte hier… Ach, geht mich nichts an. Dritte Seite. Eine kurze Erzählung. Nicht schlecht. Das übliche Gedicht. Aber hier: Nachrichten von Kunstauktionen und Ausstellungen. Was? Der Jambon hat den ersten Preis gekriegt? Toll! Der ist nur zwei Jahre älter als ich. Wird Zeit für mich. Ich muß mich ’ranhalten. Ich muß ausstellen. Vierte Seite: Anzeigen. Maurices Augen überflogen die Spalten.
Interessiert mich nicht. Na – was ist das denn? Seine Augen blieben an einer groß aufgemachten Annonce hängen. Er las: Wer vertreibt einen Spuk? Schloß, aus dem Mittelalter stammend, wird seit langem von lästigen Spukerscheinungen heimgesucht. Internationale Fachleute bisher erfolglos. Für endgültige Beseitigung ist eine Belohnung von 3000 Franken ausgesetzt. Angebote an Chiffre 123J dieses Blattes. Donnerwetter! Allerhand Geld, bloß um einen Spuk loszuwerden! »Pipin! Pipin! Komm doch mal her! Lies mal! Hier, die Anzeige!« Der Gelbe las mit ungerührtem Gesicht. »Was ist das: Spuk?« fragte er dann. »Ungeziefer? Flöhe, Wanzen?« »Nein! Ein Geist, ein Gespenst, das im Haus herumrennt und Getöse macht.« »Geist? Gespenst?« Pipin schüttelte den Kopf. »Das gibt’s ja gar nicht!« Entrüstet ging er auf den Bürgersteig zurück. Maurice steckte die Zeitung sorgfältig ein und ging weiter. Dreitausend Franken ist eine Masse Geld, dachte er. Damit wäre allerlei anzufangen. Man könnte Farben kaufen und Leinwand. Und eine ganze Weile ordentlich essen. Und auch was für die Jungens tun. Man müßte sich die Sache tatsächlich mal überlegen. Man müßte sich wenigstens nach den genauen Einzelheiten erkundigen. Das kostet nur das Briefporto. Aber allein würde ich das nicht machen. Irgendeiner von den Jungen müßte mitgehen. Ich habe mich doch regelrecht an diese Kerle gewöhnt. Merkwürdigkeit! Spuk! Natürlich Unsinn, Pipin hat ganz recht. Muß sich doch feststellen lassen, was dahintersteckt. In Frankreich gibt’s keine Gespenster, und schon gar nicht hier am Mittelmeer, in dieser klaren, hellen Luft. In England vielleicht. Da ist es so neblig und düster. Nun ja, so einige alte Geschichten und Sagen gibt es auch hier. Aber wer glaubt schließlich an solche Ammenmärchen? Kein Mensch! Château d’If zum Beispiel! Da soll das Gespenst eines Gefangenen herumlaufen, den die Marseiller vor ein paar hundert Jahren schmählich verhungern ließen. Die Fremdenführer erzählen so was, das hebt das Geschäft. Machen sie sogar richtig spannend. Mit Flüsterstimme und scheuen Seitenblicken. Hat ausgesprochen
schlechte Manieren, das Gespenst. Kriecht angeblich nachts auf dem winzig kleinen Felsinselchen If herum und flucht schauerlich. Tat’ ich auch, wenn ich das letzte Boot verpaßt hätte. Dazu braucht man kein Gespenst zu sein. Alles Unsinn! Neulich war ein amerikanischer Reporter eine ganze Nacht auf der Insel und hat nichts gesehen und nichts gehört. Da hatte das Gespenst wohl zufällig Landurlaub. Nichts als Aberglaube. Deswegen meine ich, man könnte es ruhig mal versuchen. Wäre doch schön, wenn ich ’rauskriegte, was mit dem sogenannten Gespenst los ist. Wird eine ganz natürliche Ursache haben. Mäuse oder Ratten, die Krach machen. Oder irgendwo ist ein Sparren locker. Beim Haus oder beim Besitzer. Dreitausend Franken! Da brauche ich den Jungens nicht mehr auf der Tasche zu liegen! Davon könnte man eine ganze Weile leben, vielleicht so lange, bis es mit der Malerei klappt. Ich versuch’s mal. Ich schreibe jetzt sofort… ›Wer vertreibt einen Spuk?‹ Das war der Köder an der Angel. Der hungrige Fisch Maurice biß an. »Wozu hasse uns einglich hergelotst, Mensch?« stöhnte Filou und blickte Maurice mit seinen braunen Knopfaugen fragend an. Der Maler mußte unwillkürlich lächeln, denn der schwarze Fettkloß hatte eine unmögliche Aussprache. Er verschluckte die Hälfte aller Worte, und was dann übrigblieb, quetschte er so fett und schmatzend ’raus, daß man ihn kaum verstand. »Wartet noch einen Augenblick, bis Pipin und die andern da sind, ich muß euch was fragen. Was ganz Verrücktes!« »Letzteres hinzuzusetzen war unnötig. Von dir kennen wir nur Verrücktes, Maurice!« sagte André lächelnd, aber ein leichter Tadel war doch in seinen Worten zu spüren. Da erschien auch schon Pipin mit den andern Jungens. Der Gelbe hatte eine merkwürdige Art zu gehen: er winkelte die Arme an, beugte den Oberkörper weit vor und bewegte die Beine in einem leichten, lautlosen Trab, als ob seine sämtlichen Ahnen Rikschakulis gewesen wären. Seppe Palotti neben ihm schwang die langen, braunen Beine elegant und anmutig durch die Landschaft, was gar nicht zu seinen völlig ausgefransten Hosen paßte. René Forgeron dagegen rollte heran, anders kann man es nicht ausdrücken. Er drehte sich in den Hüften wie ein Preisboxer; unter seinem blauen Hemd sah man die Muskelpakete an- und abschwellen. Sein gedrun-
gener Rumpf steckte in einem total verdreckten Overall, seine Sommersprossen hatte er unter einer Lage Schmieröl geschickt getarnt. »Salut!« brummte René und nahm wohlig grunzend auf Andrés Schuhkiste Platz. Sofort verbreitete sich ein durchdringender Benzingeruch. Pipin ließ sich wortlos neben Maurice auf die Erde nieder und saß so herrlich asiatisch da wie Buddha persönlich. Nur Seppe tänzelte unentschlossen herum. »Setz dich, du Scheich!« forderte ihn René kurz und herzlich auf. Seppe grinste fröhlich und ließ sich in Andrés Armsessel fallen. Den Platz hatte André nämlich für sich reserviert. »Majestät geruhen freundlichst, von meinem schäbigen Mobiliar Gebrauch zu machen?« raunzte er den Italiener an und war drauf und dran, böse zu werden. »Aber André«, sagte Maurice verweisend, »du verlangst doch nicht im Ernst, daß der König der Diebe sich zu uns in den Staub setzt!« Die Ironie war mehr als deutlich. »Du traust mir also nicht zu, daß ich prima klauen kann?« fragte Seppe gekränkt, stand auf und blickte sich suchend um. »Dann paß mal auf!« sagte er. Dem Neuen wollte er es zeigen. Hinten kam ein Polizist heran. Er schwitzte jämmerlich in seiner blauen Uniform. Sein Gesicht loderte rotviolett, weil es so heiß war und weil er dreiviertel Liter Rotwein getrunken hatte. Seppes Augen wurden auf einmal ganz schmal und dunkel. Man sah richtig, daß er sein Lockenköpfchen anstrengte. Dann ging er los. Er hielt den Kopf gesenkt, torkelte wie benommen und döste so fest, daß er den Polizisten heftig anrempelte. Der Blaue wurde böse. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, daß ihm dieser Flegel den Bauch einrannte! Seppe entschuldigte sich wortreich und höflich. Schimpfend ging der Beamte weiter. Seppe machte kehrt und kam grinsend hinter ihm her. Kaum war der Polizist an der Gruppe vorbeigegangen, da hielt Seppe dem Maler schmunzelnd die Trillerpfeife des Schutzmanns unter die Nase. »Na?« sagte er. Maurice lachte. »Tatsächlich, du bist ein ganz gerissener Halunke! Von jetzt an werde ich auf meine Uhr aufpassen müssen!« »Um Gottes willen, Maurice! Den Kerl darfst du nicht loben! Sonst geht dieser verruchte Mensch morgen hin und stiehlt dem Herrn Polizeipräsidenten den Sessel unterm Po fort!« jammerte André. – »Gib dem Beamten die Pfeife zurück!« schnauzte er Seppe an.
»Klar«, sagte Seppe pikiert, »dachtest du, ich wollte das dumme Ding behalten?« »Bei dir weiß man nie genau, wo der Spaß aufhört! – Seit Jahr und Tag bemühe ich mich schon, aus diesem Früchtchen einen anständigen Menschen zu machen, aber ich sehe schwarz. Sehr schwarz!« meinte er, zu Maurice gewandt. »Du hättest Pastor werden sollen!« sagte Seppe und trabte hinter dem Hüter des Gesetzes her. Von all dem hatte Filou nichts gehört und gesehen. Er wartete sehnsüchtig auf Stinker. Stinker war sein ein und alles, sein Spielzeug, sein Freund, Ersatz für die ganze Familie und außerdem noch ein Hund. Er war Filou zugelaufen; das heißt: er hatte mehrmals von Filou Freßbares aus dem Segeltuchbeutel ergattert. Seine Dankbarkeit war grenzenlos, so daß er dem dicken Schwarzen nicht mehr von der Seite wich. Nur ins Hotel durfte er natürlich nicht. Anfangs heulte er stundenlang vor dem Hintereingang, durch den Filou nach herzzerreißendem Abschied verschwunden war. Aber das unterließ er bald, denn die erboste Nachbarschaft warf mit harten Gegenständen nach ihm. Später gewöhnte er sich an die Arbeitszeit seines Herrn. Jeden Morgen um Viertel vor acht verließ er mit Filou das Haus und begleitete ihn zum Hotel. Bis gegen zwölf streunte er dann in der Stadt umher. Punkt zwölf aber stand er am Hintereingang des ›Ambassadeur‹. Filou ließ ihn ein und fütterte ihn. Dann legten sich Herr und Hund in die Sonne und schliefen einträchtig nebeneinander. Bei Schlechtwetter verzogen sie sich in den Heizungskeller. Um zwei Uhr zokkelte Stinker wieder ab. Punkt sechs war er an der Hintertür und geleitete den Schwarzen nach Hause. Dem Namen Stinker hatte er anfangs alle Ehre gemacht. Kein Wunder, wenn man als alleinstehender armer Hund seinen Lebensunterhalt mühsam aus Mülleimern und Abfallhaufen zusammenscharren muß! Er stank jedoch schon längst nicht mehr, Filou badete ihn regelmäßig. Doch trotz guten Futters und trotz aller Pflege war Stinker geblieben, was er war: eine ruppige, struppige Promenadenmischung; Er war keine Schönheit, aber Filou liebte ihn. Einmal hatte André gesagt, der Hund müßte eigentlich UNO heißen, weil an ihm alle Rassen beteiligt seien, Da war Filou fuchsteufelswild geworden. Ganz hinten auf der Cannebière tauchte Stinker auf. Der Schwarze entdeckte ihn sofort, sein Gesicht erstrahlte in fettigem Glanz.
Die schwarzgefleckte Schnauze weit vorgestreckt, schnürte Stinker in seinem tapsigen Trab heran. Plötzlich bekam er den Geruch des Schwarzen in die Nase. Er hob den Kopf, schleuderte die Schnauze wie verrückt hin und her, jaulte jubelnd und fegte ab, so schnell seine Kälberpfoten nur konnten. Ohne zu bremsen, sprang er Filou derartig wuchtig in den Schoß, daß der Junge fast umkippte. Bei der nun folgenden Begrüßung spielte Stinkers lange, lachsrote Zunge die Hauptrolle. Immer wieder versuchte er, Filous Gesicht abzuschlecken. Endlich beruhigte er sich und machte es sich gemütlich, legte seine Quadratschnauze auf Filous Knie und blinzelte glücklich und zufrieden in die Gegend. Die Uhr vom Börsengebäude schlug zwölfmal. »Können wir jetzt endlich anfangen?« schimpfte Maurice, der unbedingt seine neue Idee loswerden wollte. »Laß gehen, Maurice!« sagte René, der immer gern den Stier bei den Hörnern packte. Merkwürdig, dachte er, während Maurice eine zerlesene Zeitung aus der Tasche zog. Merkwürdig! Bis jetzt hat dieser lange blonde Maler nur Mist fabriziert. Und trotzdem sind alle da, wenn er sie zusammenruft. Sogar bei dieser Hitze. Ist eben ein netter Kerl. Auf irgendeine Art imponiert er einem auch. Nicht, weil er ’n feiner Pinkel ist. Das imponiert nur André. Na, warten wir mal ab, was er jetzt wieder auf der Pfanne hat. »Erst will ich euch mal was vorlesen!« sagte Maurice. Es war die Anzeige ›Wer vertreibt einen Spuk?‹ Die Jungens ließen die Worte über sich ergehen wie einen Platzregen. Genauso gleichmütig und uninteressiert. René, Pipin und Seppe guckten ziemlich dumm drein. Filou noch mehr als dumm. »So«, sagte Maurice strahlend, »das war die Anzeige! Ich habe den Leuten geschrieben und Antwort erhalten!« Triumphierend zog er einen länglichen, vornehmen Briefumschlag aus der Tasche. »Na und?« sagte Seppe zerstreut. »Willste vielleicht Spuke fangen, die es doch gar nicht gibt?« »Warte doch mal ab, du Nachtwächter! Hier, das ist die Antwort! ›Sehr geehrter Herr Dupont!‹ Das bin ich! Grins nicht so dämlich, Filou! ›Bezüglich meiner Anzeige teile ich Ihnen die näheren Umstände
mit. Mein Besitztum Sankt Augustin bei Villeneuve, in dem sich die merkwürdigen Spukerscheinungen zeigen, ist eine alte Burg, die ich vor fünf Jahren gekauft habe. Es soll dort immer schon gespukt haben, aber seit zwei Jahren geschehen Nacht für Nacht unerklärliche Dinge. Geräusche aller Art vertreiben Gäste und Personal, ja selbst körperliche Angriffe fanden statt, was nicht zu verschweigen ich für meine Pflicht halte.‹ Na, tolle Sache, was?« Die Jungen schauten weniger interessiert als belustigt drein. »Körperliche Angriffe?« feixte René. »Boxen vielleicht? Über wieviel Runden geht denn so ’n Geist? – Das ist ’n Quatsch, was?« wandte er sich an André. »Rede doch nicht so ungebildet daher«, wies ihn der zurecht. »Ich kenne das Leben und weiß, daß es viele Dinge gibt, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. – Fahre fort, Maurice!« »›Eine Reihe von beherzten Männern hat bereits vergeblich versucht, das Geheimnis zu lüften. So ließ ich unter anderen aus England, wo man mit Gespenstern größere Erfahrung hat, den berühmten Mister Samuel Pumphoose kommen, der Fachmann für die Beseitigung von Geistern ist. Er richtete nicht das geringste aus und reiste kopfschüttelnd wieder ab. Ein derartig schwieriger Fall war ihm in seiner bisherigen Praxis noch nicht begegnet. Auch der amerikanische Gelehrte Wilson Washington Tuthorn war völlig ratlos.‹« Maurice blickte auf. »Scheint ein hartnäckiges Leiden zu sein, was?« »Und jetzt willst du…?« fragte André, der wie immer am schnellsten begriff. »Abwarten, abwarten!« unterbrach ihn Maurice und las weiter: »›Falls Sie der Meinung sind, zusammen mit Ihren sicherlich ausgezeichneten Hilfskräften‹« – Maurice blickte wieder auf und lächelte in die Runde – ›ausgezeichneten Hilfskräften Sankt Augustin von seinem Alpdruck befreien zu können, würde ich mich freuen, Ihre schriftliche Zusage zu erhalten. Selbstverständlich sind Sie und Ihre Mitarbeiter für die Zeit Ihres hoffentlich erfolgreichen Wirkens meine Gäste. In Erwartung Ihrer Antwort grüßt Sie mit vorzüglicher Hochach-
tung Ihr Alphonse Baharoff.‹ »Nun, was sagt ihr jetzt?« »Wen meint denn der mit den Hilfskräften?« fragte René, der mal wieder den sachlichen Kern erwischte. »Euch natürlich. Ich hab’ ihm geschrieben, ich hätte hier ein paar tüchtige Freunde, die mir helfen würden. Ich möchte nämlich gern, daß jemand von euch mitgeht, allein habe ich keine Lust!« »Dir hat’s wohl ins Gehirn geregnet, wie? Nee, ich hab’ was Besseres zu tun, als hinter ’nem Spuk herzulaufen, den es überhaupt nicht gibt!« Bei René kam der nüchterne Bauer zutage, dem alles Ungewohnte und Neue verdächtig ist. André drückte das auf seine Weise aus: »Was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht! Und du bist ein Bauer, wenn du auch entsetzlich nach Benzin stinkst. Ich finde es hochinteressant, diesem Ba-Ba-Bahnhof oder wie der heißt den Spuk wegzufangen! Maurice, das ist bis jetzt deine beste Idee! Meine Anerkennung!« Und sogleich geriet er ins Schwärmen: »Jungens! Meiner Meinung nach ist diese Sache goldrichtig! Da läßt sich eine Menge Geld verdienen – zweifellos ein wesentlicher Gesichtspunkt, nicht wahr? Stellt euch mal vor, was man damit anfangen könnte! Ich bin schlechthin entzückt! Und seine Gäste sind wir, hat er geschrieben, dieser Albatros!« »Baharoff!« »Meinetwegen, ist ja egal. Seine Gäste! Habt ihr gehört?« »Wir sind schließlich nicht taub!« warf Seppe ein, der sich bei all dem noch nichts denken konnte. »Ich möchte schon allein deswegen mitmachen«, fuhr André fort, ohne sich im mindesten stören zu lassen, »weil ich für mein Leben gern mal auf einem Schloß wohnen möchte! Das muß hinreißend vornehm sein! Mit Dienern und Schildknappen und…« »… und Zugbrücke, die rasselnd runtergelassen wird, wenn Ritter André klabaster-klabaster auf seinem edlen Roß angesprengt kommt. Und alles von Silber und Gold, sogar das Klopapier hat ein Goldrändchen, nicht wahr, André?« fuhr Maurice fort und lachte. Die Jungens gönnten dem für Vornehmheit schwärmenden André ein bißchen Spott. René brummte: »Ewig redet der einem so ’n Blech vor! Ich bin der friedlichste Mensch, den ich kenne, aber das kann einen fast auf die Palme bringen.«
Pipin sagte mit unbewegtem Gesicht: »Armer Irrer!« Seppe grinste infam und drehte die Daumen rasend schnell umeinander. Das tat er immer, wenn er sich besonders freute. Diesmal war’s ausgesprochene Schadenfreude, weil André, der ihn ständig schulmeisterte, auch mal eins drüberbekam. Filou grinste, weil die andern grinsten, und wußte im übrigen nicht, um was es sich handelte. Nicht einen Moment lang verlor André seine Würde. Er lächelte ein wenig gezwungen und setzte seine Rede fort; ja er hob sogar den rechten Zeigefinger und unterstrich damit noch, was er in seiner üblichen langsamen, mehr als deutlichen Sprechweise zum besten gab: »Nun, ich habe mich wohl etwas übertrieben ausgedrückt. Wie es auch immer auf einem solchen Schloß aussehen möge…« Hier prustete Maurice los, und René knurrte: »Kamel!« André schenkte ihm einen Blick voll Tadel und Verachtung und begann noch einmal: »Wie es auch immer auf einem solchen Schloß aussehen möge, ich möchte gern ein solches kennenlernen.« »Langer Rede kurzer Sinn: du machst also mit, André. Schön! Sonst noch wer?« fragte Maurice in die Runde. Doch so leicht ließ sich André den Faden nicht abschneiden. Wie ein Festredner legte er los: »Mein Vorschlag geht dahin, daß sich alle beteiligen sollten. Man könnte das quasi gewissermaßen als bezahlte Ferien betrachten. Indem daß nämlich für unser leibliches Wohl durchaus gesorgt wäre, da dieser Herr Basedow…« »Ba-ha-roff!« »Wenn ich mich nicht irre, sagte ich das auch, nicht wahr, Maurice? Da also dieser Herr Badehof…« Maurice stöhnte und griff sich an den Kopf. »Ba-ha-roff!« schrie er gequält. »Schon gut! Warum so heftig, Maurice? Ich sage doch dauernd Baseloff!« »Halt mich fest, René! Halt mich fest, sonst gibt’s ein Unglück!« knirschte Maurice wütend. »Der Kerl ist ja eine Nervensäge ersten Ranges!« »Maurice!« sagte André, ehrlich gekränkt, »ein gebildeter Mensch wie du…« »Mach weiter!« Maurice seufzte. »Mach um Gottes willen weiter! Was war mit Herrn Baseloff?« »Baharoff heißt der Mann, Maurice!« verbesserte jetzt André. »Das haut einen Eskimo vom Schlitten!« brummte René und roll-
te die Augen wie ein Gorilla. »Ich bin der friedlichste Mensch, den ich kenne, aber was diese dünne, magere Spitalsuppe sich da leistet…« In den folgenden Minuten hatte Maurice alle Hände voll zu tun, den drohenden Krach zu verhindern. Endlich sagte er: »Los, André! Aber faß dich bitte kurz, ja!« »Das tu ich immer, wie du bemerkt haben dürftest! Ich drücke mich immer äußerst knapp und präzise aus. Nun also: ich meine, wir sollten alle hinfahren, weil wir dort gewissermaßen bezahlte Ferien genössen, da doch dieser Herr…« »Baharoff!« fiel Maurice vorsichtshalber ein. »Ganz richtig! Eben dieser! Weil wir seine Gäste sind. Das kostet uns also keinen Pfennig. Ich werde mir für mein Geschäft einen Vertreter besorgen und mit dir fahren, Maurice. Vorausgesetzt, daß es dir recht ist, natürlich.« »Na, so eine Frage, Mensch! Wer sonst noch? Ich finde übrigens Andrés Vorschlag, daß alle mitfahren sollten, prächtig!« Und da sich die anderen Jungens nicht rührten, setzte er hinzu: »Oder habt ihr etwa Angst?« »Angst?« knarrte René. »Das meinst du doch nicht im Ernst, wie? Kann man vor ’nem Spuk, den’s nicht gibt, Angst haben? Das Ganze ist natürlich Blödsinn, aber ich hab’ ohnehin Urlaub zu bekommen, und warum sollte ich nicht mit euch fahren? Ist doch mal was anderes als ewig Marseille, nicht?« »Fein, René! Und du, Pipin?« »Ich mach’ mit«, sagte der Gelbe trocken, »der ›Courrier du Midi‹ wird mich entbehren können.« Und im stillen dachte er: wenn die Jungens wegfahren, bin ich wieder allein. Und ich möchte nicht mehr allein sein. Davon hab’ ich genug. »Seppe?« »Ich bin zu allen Schandtaten bereit«, sagte der Schmalzgelockte und lächelte süß wie ein Bonbon. »Und du, Filou?« »Wo ihr hingeht, geh’ auch ich hin«, quetschte der Schwarze hervor. »Krieg auch Urlaub. Hap noch nie Angs gehapp!« »Großartig, Jungens! Ich werde dem Schloßfritzen sofort schreiben, daß wir zu sechs Mann hoch angerückt kommen. Ich sage euch, das werden bestimmt ein paar nette Tage, ob wir den Spuk nun kriegen oder nicht!« Maurice freute sich offensichtlich, das endlich mal
eine seiner zahlreichen Ideen allgemein Anklang gefunden hatte. »Nicht kriegen?« meinte André. »Wir müssen ihn kriegen, das ist doch wohl der Sinn der Sache, nicht wahr? Es handelt sich hier um sehr viel Geld. Wenn wir die Ursachen dieses Gespenstertreibens ermittelt haben, dann teilen wir uns die Belohnung. Ich gedenke von dem Erlös einen Karren zu kaufen und mich im Blumenhandel zu betätigen. Ich nehme daher die Sache äußerst ernst und erwarte dasselbe auch von euch!« Der Kerl quatscht so hölzern wie ’n Gesetzbuch, dachte Maurice. Wo hat er das bloß her? Die Erklärung war ganz einfach: André hatte seinen Schuhputzladen in unmittelbarer Nähe der Börse. Seine Stammkunden waren daher in erster Linie Börsenkaufleute; aber auch viele Rechtsanwälte und Ärzte kamen morgens zu ihm, um sich vor Dienstbeginn schnell noch die Schuhe auf Hochglanz wienern zu lassen. Nach diesen »studierten« und daher ganz gewiß gebildeten Menschen richtete er sich. Jede Floskel, die er einmal gehört hatte, behielt er und benutzte sie bei den unmöglichsten Gelegenheiten. Die anderen Jungens lachten. Einesteils über Andrés geschwollene Ausdrucksweise, die eine ständige Quelle des Vergnügens war, was André selbst nicht zu merken schien, anderseits über die Idee, eine Spukjagd ernst nehmen zu wollen. »Ernst nehmen? Den Blödsinn? Du bist wohl nicht bei Trost, wie? Du bist imstande und machst ’ne Beerdigung aus der Geschichte!« erwiderte René aufgebracht. »Ich nehm’ das als ’ne ulkige Abwechslung, weiter nichts. Gerade das richtige für ’n Urlaub! – Übrigens«, fuhr er fort, mit klarem Blick den wurmstichigen Punkt der Sache entdeckend, »wie kommen wir denn dahin. Wo liegt das Schloß? Für weite Reisen hab’ ich kein Geld!« René hat recht, dachte Maurice, sagte aber vorsichtshalber zunächst mal nichts. Wie kommen wir nach Villeneuve? Wir können uns doch unmöglich das Fahrgeld schicken lassen, das sähe zu dumm aus. »Das vernünftigste wäre zweifelsohne«, begann André in seinem Schulmeistertone, »wenn wir uns zunächst mal erkundigen, wieviel die Bahnfahrt kostet. Das werde ich übernehmen. Und dann müssen wir eben sparen! Wir machen eine gemeinsame Kasse auf, und jeder bemüht sich, herbeizuschaffen, was er kann.« Ebenso feierlich wie befriedigt blickte er sich um. Renés Erwiderung hatte ihn nicht im mindesten beeindruckt. Er würde die Spuk-
jagd ernst nehmen, da konnte der ungebildete Bauer sagen, was er wollte. »Ich glaube, Andrés Vorschlag ist der einzig richtige«, meinte Maurice, »oder ist jemand anderer Ansicht?« Es erhob sich kein Widerspruch. Maurice blickte Pipin in die Augen und hatte den Eindruck, daß diese Augen lächelten. Seltsam, dachte er. Seltsamer Kerl, dieser Gelbe. Dann blickte er Seppe an. Der lächelte bestimmt, und zwar honigsüß. Er sagte nichts, weil er wußte, daß seine Meinung nicht viel galt. Filou schlief. Stinker auf seinem Schoß ebenfalls. Also schrieb Maurice Herrn Alphonse Baharoff, er käme mit seinen fünf Freunden und der Absicht, dem Spuk den Garaus zu machen.
Sparen und Spinne Sparen ist eine Beschäftigung für Leute, die wenig Geld haben. Wer viel Geld hat, braucht nicht zu sparen, wer überhaupt keines hat, kann nicht. Von den Jungens aus der Zwiebelstraße sparten zunächst nur zwei: André und René. Treu und redlich legten die jeden Franken, den sie erübrigen konnten, in die gemeinsame Reisekasse, zu deren Verwalter der gewissenhafte André ernannt worden war. »Dieser Beweis eures Vertrauens ehrt mich unmäßig!« gackerte André stolz und verbeugte sich gemessen. »Ich werde sofort ein Heftchen kaufen und genau Buch führen!« salbaderte er, von seiner Wichtigkeit überzeugt. Das tat er dann auch. Ständig trug er das Kontobuch bei sich, und wenn einer der Jungens auftauchte, zog er es hervor, rechnete mit sorgenzerfurchter Stirn darin herum, murmelte Zahlen vor sich hin und griff ab und zu nach dem langen Bleistift hinter dem rechten Ohr. Dabei waren erst vier ganz kleine Summen eingetragen, zwei von ihm selbst und zwei von René. »Dem schwebt ein unsichtbarer Kneifer auf der Nase«, meinte Maurice. Gar zu gern hätte sich auch Filou am Sparen beteiligt. Eines Abends quetschte er ebenso undeutlich wie unglücklich hervor: »Möchte micha woll beteiljen, geht nich weng Oma!« Todtraurig blickte er mit seinen großen Glupschaugen von einem zum andern. Die Jungens lächelten verständnisvoll, sie kannten seine Oma. »Macht nichts, Dickerchen«, tröstete ihn Maurice, »du stiftest den Reiseproviant, das ist dein Anteil, ja?« Filou nickte ein wenig erleichtert, aber es wurmte ihn, daß sein Name nicht in Andrés Buch stand. Ja, wäre Vater noch hier, dann sähe alles anders aus! Doch der war vor zwei Jahren nach Paris versetzt worden und hatte seine ganze Familie mit Ausnahme seines Ältesten, Filou, nachgeholt. Filou mußte bei der Großmutter bleiben, damit die alte Frau nicht allein war. Wenn Filou von seinem Vater sprach, glänzten seine Augen. Keiner hatte einen solchen Vater wie er. Zwei Meter und dreizehn Zentimeter groß, mit Schultern, so breit wie ein Kleiderschrank, und einer herrlichen, dunkelblauen Uniform mit silbernen Tressen. Und erst der lange Tambourstock – der Sergeant Wacambo war nämlich
Tambourmajor! Der Tambourmajor! Da gab’s keinen, der sich mit ihm hätte messen können. Das war beileibe nicht nur Filous Ansicht, sondern die Meinung von ganz Marseille. Filous Vater war der Liebling der Stadt und das Prunkstück der Polizeikapelle gewesen. Sooft die Kapelle ausmarschierte, kletterte Filou schon eine halbe Stunde vorher auf einen Laternenpfahl an der Cannebière, um ja nichts zu verpassen. Kaum war von Ferne das erste Rasseln der Trommel oder das Schmettern der Clairons zu hören, da strömten die Leute von allen Seiten herbei, stauten sich Kopf an Kopf; Autos blieben stehen, und der Verkehr stockte. Näher und näher kam die Musik, kalte Schauer liefen über Filous Rücken, er war außer sich vor Stolz und Begeisterung, denn alle Leute starrten auf den langen Tambourmajor, seinen Vater, der mit kraftvoll federnden Schritten vor der Kapelle marschierte, den fast zwei Meter langen Tambourstock in der rechten Faust und damit lässig-elegant den Takt angebend. Jedesmal lächelte der Vater, wenn er seinen Sprößling auf dem Laternenpfahl entdeckte, und zeigte dabei zweiunddreißig prachtvolle Zähne. Und nun kam der spannendste Moment: Filou schaute aufgeregt nach der linken Hand seines Vaters. Gleich würde er verstohlen ein Zeichen machen! Dreimal! Drei Finger hatte der Vater ausgestreckt, drei Saltos würde der Tambourstock schlagen! Jetzt! Eine kleine, ausholende Bewegung, und schon flog der Stab hoch in die Luft, drehte sich einmal, drehte sich noch einmal genau über dem Fahrdraht der Straßenbahn, drehte sich beim Absteigen ein drittes Mal – und landete, wie an einem unsichtbaren Faden gezogen, genau in Vaters Hand! Die Leute jubelten vor Begeisterung, sie klatschten in die Hände und riefen: »Bravo, Wacambo! Bravo, Wacambo!« Ja, mein Vater, das ist ein Kerl, dachte Filou, und wenn er noch da wäre, dann brauchte ich nicht alles abzuliefern, was ich verdiene. Jeden Monat nahm Oma auf Heller und Pfennig seinen gesamten Lohn in Empfang und ließ ihm nicht einen Sou Taschengeld. Und das nicht etwa, weil sie Filous Geld nötig gehabt hätte, um Lebensmittel zu kaufen oder Miete zu zahlen, keineswegs. Als Witwe eines Kolonialsoldaten bezog sie eine kleine Rente, die ihren bescheidenen Ansprüchen durchaus genügte. Sie rührte Filous Geld nicht an. Sie nahm es ihm ab, schloß es in den Schrank und sagte dabei: »Der schnöde Mammon verdirbt den
Charakter!« oder: »Alles Irdische ist eitel!« Dieselben Sprüche hatte Oma mehr als tausendmal von Josuah Pershing, einem englischen Kaufmann, gehört, in dessen Haus sie acht Jahre lang als Mädchen für alles tätig gewesen war. Aus dieser Zeit stammten ihre Ansichten und Lebensgewohnheiten, ihre Vorliebe für Bibelsprüche, angelsächsische Sprichwörter und schottischen Whisky. Oma war in einer schäbigen Negerhütte am Senegal geboren worden. Mit zwölf Jahren kam sie in den Bungalow von Mister Pershing, der den schwarzen Bauern und Jägern billigen, bedruckten Kattun zu enormen Preisen andrehte. Oma platzte fast vor Stolz, daß sie für den weißen Mann arbeiten durfte, und lernte begierig Zivilisation, indem sie einfach alles nachahmte, was der weiße Mann machte. Auf diese Weise lernte sie, mit Messer und Gabel umzugehen, Porridge zu kochen und schließlich sogar zu essen. Und sparsam zu sein. Mister Pershing war nämlich maßlos geizig. Noch heute aß sie jeden Morgen Porridge. Die ganze Zwiebelstraße lachte darüber und begriff nicht, wie man Haferbrei essen kann, wenn man völlig gesund ist. Filou wurde allgemein bedauert, weil er jeden Morgen einen Teller »englischen Leim« oder »Tapetenkleister«, wie die Leute sagten, herunterwürgen mußte. Filou hatte bei ihr kein Zuckerlecken. Um sechs Uhr morgens warf sie ihn erbarmungslos aus dem Bett, obgleich er ruhig bis sieben hätte liegenbleiben können, da sein Dienst erst um acht begann. Aber Oma war nun mal gewöhnt, den Tag um sechs Uhr morgens anzufangen. Einmal hatte Filou sich zu beschweren gewagt, da hatte sie entgegnet: »Der Vogel, der am frühesten aufsteht, fängt den ersten Wurm!« Das leuchtete Filou zwar ein, aber er fragte sehr richtig: »Und der arme Wurm! Der ist doch noch früher aufgestanden?« Sofort hatte er eine Maulschelle bezogen, die ausgesprochen nach Senegal schmeckte. Dennoch liebte Filou seine Oma. Sie sorgte rührend für ihn, und die beiden Zimmerchen, die sie bewohnten, waren die saubersten der Zwiebelstraße. Aber über Geld konnte man mit ihr nicht reden, genausowenig wie einst mit Mister Pershing. Keiner der Jungens hätte gewagt, für Filou ein gutes Wort einzulegen. Oma hieß in der Zwiebelstraße »das Pulverfaß«, und das war nicht nur als Anspielung auf ihre Figur zu verstehen.
Eine einzige Möglichkeit hatte Filou allerdings, Geld nebenbei zu verdienen: er konnte Stullen verkaufen. Gelegentlich hatte er das schon getan, der Drehorgelspieler auf der Rue de Rome zum Beispiel nahm immer welche. Zur Zeit ging auch das nicht, denn Maurice mußte ja durchgefüttert werden. Von Maurice erwartete übrigens niemand, daß er etwas beisteuerte. Wo sollte er es wohl hernehmen? Doch Maurice war zu stolz, um sich auch die Reisekosten von den Jungens schenken zu lassen. Er trabte los und versuchte nochmals, seine Bilder an den Mann zu bringen. Natürlich ohne Erfolg. Da griff André ein, ließ sich von Maurice eine Mappe mit Aquarellen geben und heftete acht davon an die Hauswand hinter seinem »Geschäft«. Wenn er jetzt seine Kundschaft bediente, sprach er nicht vom Wetter oder von seiner eigenen Tüchtigkeit, sondern pries die Bilder seines Freundes an, prahlte und lobhudelte wie ein Roßtäuscher, so daß Maurice, der neben seiner Freiluftausstellung stand, abwechselnd rot und blaß wurde. »Sehen Sie doch mal, Herr Doktor«, sagte er zu Dr. Roland, einem jungen Nervenarzt, »welch entzückende Marinade Meister Dupont hier gemalt hat! ›Springende Delphine‹ heißt dieses aufsehenerregende Werk! Wäre das nichts für Ihr Wartezimmer?« Der Arzt kaufte das Bild; es war das erste, das Maurice gegen Geld abgab. Strahlend wie eine Wunderkerze schob André seinem Freund fünf Franken hin: »Hier, Maurice! Fünf Franken, sicherlich nicht viel, aber es war ja auch nur ein kleines Bild!« »Behalt das Geld, André«, sagte Maurice, »tu’s in die Kasse. – Übrigens: mein Bild war ein Seestück oder, vornehm ausgedrückt:
eine Marine. Marinaden sind Fischkonserven! Schuß!« Weg war er und besuchte seine Ausstellung nie wieder. Der bietet meine Aquarelle an wie saures Bier, dachte er und schüttelte sich vor Entsetzen. Dennoch war er zufrieden, daß auch er – auf dem Umweg über den tüchtigen Geschäftmann André – einen Beitrag für die Kasse leisten konnte. Pipin tat zwei Tage lang gar nichts, bis André massiv wurde: »Höre mal, mein Lieber! Wenn du wirklich mitfahren willst, mußt du dich eines Gelderwerbs befleißigen! Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß du bisher schändlich gefaulenzt hast, oder?« Pipin brummte, zuckte mißmutig die Achseln und sagte: »Ich habe nichts Passendes gefunden!« »So! Nichts Passendes! Dann verkaufst du eben Zeitungen, nicht wahr? Glaubst du, ich halte das Schuhputzergewerbe für sehr passend? Mitnichten! Aber ich kenne das Leben, und deshalb weiß ich, daß man, wenn man was erreichen will, auch schon mal Dinge tun muß, die einem keine Freude machen. Du widmest dich hinfort dem ›Courrier du Midi‹, verstanden?« Pipin nickte und schnitt eine Grimasse, die seinen Widerwillen deutlich zeigte. Er war nicht eigentlich faul, aber auch nicht ehrgeizig wie André. Darum verdiente er sich immer nur gerade so viel, wie er zum Leben brauchte. Alle seine gelegentlichen Berufe machten ihm keinen Spaß, am wenigsten der des Zeitungsverkäufers. Nur eine einzige Arbeit tat er gern: kochen. Jeden Sonntag nahm er seiner Wirtin, Madame Quinquaille, den Kochlöffel aus der Hand und bereitete das Mittagessen. Viel besser, als Madame es je gekonnt hätte. Er brauchte drei Stunden dazu, und die Küche sah hinterher aus, als sei ein Wirbelsturm hindurchgebraust, das Essen jedoch war köstlich. Liebend gern hätte er Filous Stelle gehabt. Der würde in einem halben Jahr zum Kochlehrling befördert werden, wozu er weder Lust noch Begabung hatte. Um aber einen solchen Posten zu bekommen, mußte man eine Menge weißer Jacken, Schürzen und Mützen haben, und außerdem Empfehlungen. Die Arbeitskleidung hätte Pipin sich noch zusammensparen können, aber wer sollte ihn empfehlen? Er hatte keinen berühmten Tambourmajor zum Vater, der ihm helfen konnte; seine einzigen Bekannten waren die Jungen. Prächtige Kerle zwar, aber ebenso arm und unbedeutend wie er. Weshalb also noch ein Wort über die Sache verlieren? Er brummte – und verkaufte Zeitungen.
Seppe brummte nicht, aber er arbeitete auch nicht. Krampfhaft überlegte er, wie er auf andere Weise an Geld kommen könnte. Stehlen kam nicht in Frage, für so was hatte André eine untrügliche Witterung. Endlich, nach ein paar Tagen, hatte er eine geradezu geniale Idee! In Marseille gibt es einen ständigen Rummelplatz mit allem, was dazu gehört, mit Karussells, Schießbuden, Zuckerbäckern, Glücksspielen und so weiter. Dorthin pilgerte Seppe am nächsten Abend mit seinem kleinen Brüderchen Tista. Die beiden schoben sich durch die Menschenmenge bis zu einer Bude, wo Pferderennen gespielt wurde. Auf einem großen Tisch liefen dort zwölf buntlackierte, eiserne Pferdchen nebeneinander im Kreis herum. Sie trugen Nummern von eins bis zwölf; dieselben Nummern waren auf einem Pappschild in der Mitte des Tisches aufgemalt. Jeder der zwölf Mitspieler setzte ein Geldstück auf eine Nummer des Pappschildes, und dann konnte das Spiel beginnen. Der Besitzer läutete eine Glocke und drehte an einer Kurbel. Die Pferdchen begannen zu laufen, von einer Maschinerie unter dem Tisch in Bewegung gesetzt. Völlig willkürlich und unberechenbar stoppte das Getriebe die Pferde einzeln wieder ab. Der eiserne Renner, der dem Ziel am nächsten gekommen war, hatte gewonnen. Wer auf diese Nummer gesetzt hatte, konnte sich einen Preis aussuchen. »Tista«, sagte Seppe, »sieh dir die Geschichte noch mal an. Wo läuft Nummer eins?« »Ganz innen!« krähte der Kleine. Es hatte einige Mühe gekostet, ihm das Notwendige beizubringen. »Wo läuft Nummer zwei?« »Daneben, weita nach außen!« »Und Nummer drei?« »Wieda daneben!« »Und wo ist das Ziel?« »Wo das eisane – das eisana – Stück Eisen ist.« »Richtig! Fein, Tista! Komm mit!« Seppe schlängelte sich an die Bude heran, Tista versteckte sich hinter seinem Rücken, der Besitzer sollte ihn nämlich nicht sehen. Sobald Seppe dicht am Tisch stand, hob er vorsichtig den Segeltuchbehang an und spreizte die Beine. Wie ein Wiesel schlüpfte Tista hindurch und verschwand unter dem Tisch. Seppe ließ den Behang fallen, wartete einen Augenblick und setzte auf Nummer zwei. Zweimal trat er den kleinen Tista dorthin, wo der Rücken keinen
anständigen Namen mehr hat. Das Spiel begann. Nummer zwei lag schlecht im Rennen. Aber da! Der Gaul machte sich. Sieh mal an! Alle anderen stoppten, Nummer zwei lief langsam weiter und hielt erst kurz vor dem Ziel. Aus! Seppe hatte gewonnen. Er wählte ein Päckchen Zigaretten. Neues Spiel. Seppe setzte auf eins – und gewann. Setzte auf drei – und gewann wieder. Noch ein Sieg auf Nummer drei. Doch dann war Seppe in seinem Freudentaumel nicht ganz bei der Sache. Als er endlich sein Geldstück zückte, war auf den niedrigen Nummern bereits gesetzt. Nummer sieben war allein noch frei. Der Budenbesitzer und alle anderen Spieler schauten den erfolgreichen Seppe herausfordernd an. Er mußte setzen und setzte auch, aber mit saurem Gesicht. Siebenmal trat er dem kleinen Tista in die Rückseite. Das war zuviel! Bis vier konnte Tista schlimmstenfalls zählen, aber nicht bis sieben. Der Kleine geriet aus dem Häuschen. Er wußte nur: das ist eine hohe Nummer. Und je höher die Nummer, je weiter nach außen lief das Pferd, das hatte Seppe ihm mühselig genug beigebracht. Also griff er ins Gestänge und führte eins der äußeren Pferde glatt und sicher ins Ziel. Leider trug es die Nummer neun. Seppe ärgerte sich. So ’n Mist, dachte er. Das letzte Geldstück futsch! Er hob den Behang und signalisierte seinem Brüderchen: Rückzug! Tista kroch zwischen seinen Beinen hindurch ins Freie. »Komm, Tista, wir gehen nach Hause. Die Zigaretten verkaufen wir, und morgen machen wir weiter. Morgen mußt du genauso schön aufpassen wie heute, ja?« »Ijaha!« machte Tista und schüttelte ernsthaft seinen schwarzen Lockenkopf. »Ich will aba gebatenen Fisch!« »Kriegst du auch, Tista. Morgen!« Die Jungen warteten schon auf Seppe. Sie saßen auf dem Platz von Gregoriades. Es gibt bestimmt größere Plätze als diesen, denn er ist nicht größer als ein mittleres Wohnzimmer. Doch für die Zwiebelstraße ist das schon allerhand. Sie ist nämlich so eng, daß ihre Bewohner sich bequem über die Straße hinweg in die Fenster spuken können, wenn sie wollen. Meistens wollen sie aber nicht und sind friedlich, obgleich hier Menschen verschiedenster Rassen leben. Aber niemand achtet auf die Herkunft des anderen, wohl aber darauf, ob dieser andere ein guter Nachbar ist, mit dem man ein vernünftiges Wort reden kann. Außerdem ist die Zwiebelstraße krumm, so krumm wie die Beine
vom alten Achmed, in dessen Haus Seppe, Tista, André und Maurice wohnen. Alle Häuser sind zweistöckig und baufällig. Dennoch ist die Straße nicht langweilig. Wohl deswegen, weil über die Straße hinweg Leinen gespannt sind, an denen Wäsche trocknet. Natürlich sind die Leinen sehr hoch angebracht. Leute wie Seppe soll man nicht in Versuchung führen. Gepflastert ist die Zwiebelstraße eigentlich nicht. Hier und da sieht man zwar Steine, aber die sind von selbst dahingekommen. Außerdem sind diese Steine so groß und uneben, daß man besser um sie herumgeht, wie um andere Dinge auch. Zum Beispiel um die Teile eines alten Kinderwagens, mit denen im vorigen Jahr die Kleinsten der Straße gespielt haben. Die rostigen Fetzen sind schon fast ganz im Staub verschwunden, bald wird man an dieser Stelle wieder geradeaus gehen können. Am Haus von Gregoriades hat die Zwiebelstraße eine Beule, und das ist der Platz. Vielleicht ist es auch keine Beule, sondern eine Verbeugung der Zwiebelstraße vor Herrn Pylades Gregoriades, dem wichtigsten Mann weit und breit. Wichtig, weil er das einzige Geschäft der Straße besitzt. Bei ihm kaufen alle, oder doch fast alle, denn er verkauft auf Kredit. Und alle, oder doch fast alle, stehen bei ihm mehr oder weniger hoch in der Kreide. Uneingeweihte würden sein Geschäft verächtlich einen Kramladen nennen. Die Leute aus der Zwiebelstraße wissen es besser: Gregoriades hat ein Warenhaus. Was es bei ihm nicht gibt, das gibt es überhaupt nicht. Todsicher könnte man zu ihm gehen und sagen: »Bonjour, Monsieur Pill!« – so reden sie ihn nämlich an, sie sagen nicht einfach Pill, wie sie es zu jedem anderen sagen würden, der kein Geschäft hat – »Monsieur Pill, ich möchte gern ein Reiterdenkmal kaufen!« Sicherlich würde der schwere, fette Mann keine Miene verziehen, die Spitzen seines großen Schnurrbarts würden nicht zittern vor Wut, wie sie das tun, wenn man versucht, ihn übers Ohr zu hauen, sondern er würde ganz bestimmt sagen: »Bon. Aber du mußt die Hälfte anzahlen. Reiterdenkmäler sind dieses Jahr furchtbar teuer, und von dir habe ich ohnehin schon soundsoviel Franken zu kriegen!« Die Leute aus der Zwiebelstraße mögen Pylades Gregoriades nicht leiden. Nicht etwa deswegen, weil er Grieche ist, nein, weil sie Schulden bei ihm haben. Doch wenn der Alte mal auf den Platz hinauswatschelt und in die Sonne blinzelt, dann reißen sie schon von
weitem die Mützen ab und rufen: »Bonjour, Monsieur Pill! Wie geht’s, Monsieur Pill?« Und kaum ist Monsieur Pill wieder verschwunden, da sagen sie: »Dieser alte Gregoriades! Dieser elende Halsabschneider!« Die Jungen vertrugen sich recht gut mit dem Herrscher ihrer Straße. Gregoriades duldete es sogar, daß sie sich abends auf seine Ladentreppe setzten. Auch an diesem Abend, als sie auf Seppe warteten, saßen sie dort. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Italiener erschien, denn er mußte zuerst Tista und Tonio waschen, füttern und zu Bett bringen. Seine Eltern hatten ein paar Straßen weiter eine kleine Kneipe gepachtet, und weil abends dort immer Hochbetrieb herrschte, mußte Seppe die Rolle des Kindermädchens übernehmen, bis seine Mutter abkömmlich war. Seppe machte das großartig, er hing überhaupt sehr an seinen sechs jüngeren Geschwistern. Er sorgte für sie wie eine Glucke für ihre Küken, während es ihm selbst durchaus nicht bekam, daß seine Eltern ihn nicht beaufsichtigen konnten. Endlich erschien er, fröhlich pfeifend und anmutig die Beine schlenkernd. »Wo warst du so lange, Seppe?« fragte Maurice etwas ungnädig. »Geld verdient!« sagte der Schwarzgelockte und lächelte süß. »Is ja doll!« bubbelte Filou. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder!« Diesen Spruch hatte er natürlich von seiner Oma. »Solltest du tatsächlich gearbeitet haben?« André zog erstaunt seine dicken schwarzen Augenbrauen in die Höhe. »Ach wo«, wehrte Seppe bescheiden ab, »wer spricht denn von arbeiten?« »Du hast dich doch nicht etwa eines Diebstahls schuldig gemacht?« forschte der Schuhputzer argwöhnisch. »Was du immer hast! Ich kann zwar wunderbar klauen, aber ich hab’ dir doch gesagt, ich tu’s nicht mehr!« »Kein langes Hin und Her!« fuhr René barsch dazwischen. »Wieviel hast du?« »Eigentlich noch nichts, nur vier Schachteln Zigaretten. Pill wird mir Geld dafür geben, dann habe ich neues Betriebskapital. Und morgen, sollt ihr mal sehen, bring’ ich ’nen ganzen Sack!« »Geld?« »Nein, Zigaretten! Die verkaufen wir dann.« »Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, daß an dieser Sache etwas faul ist!« unkte André. »Ga-ga-ganz bestimmt nicht, André!« Seppe stotterte vor Eifer.
Er machte ein Gesicht wie ein Bählämmchen, und seine schwarzen Augen glänzten wie reife Sauerkirschen. »Wir werden ja sehen!« schloß Maurice die Auseinandersetzung und fragte André: »Was kostet die Bahnfahrt, hast du dich erkundigt?« »Ja!« André legte sein Gesicht in bekümmerte Falten und wackelte mit dem Wasserkopf. »Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, daß diese Eisenbahnleute völlig verrückt sind!« Die anderen horchten auf, so herbe Worte hörte man selten aus seinem Munde. »Man fordert dort unsinnige Preise, die wir nie bezahlen können. Ich habe versucht, etwas herunterzuhandeln, aber da hättet ihr den Beamten mal sehen sollen! Dieser Mensch wurde unmäßig zornig! Er hätte keinen Saftladen, brüllte er, er wäre Beamter! Und bums! Haute er die Scheibe herunter.« André holte sein Kontobuch aus der Tasche, rechnete eine Weile darin herum, seufzte und stöhnte und machte ein Gesicht, als hätte er Essig getrunken. Schließlich sagte er, jede Silbe einzeln aussprechend: »Wir benötigen etwa das Zehnfache dessen, was wir bereits haben! Das schaffen wir nicht.« Maurice seufzte. »Schade«, meinte er, »ich hatte mich sehr darauf gefreut. Schade, war so ’ne schöne Idee!« Wenn es sich nicht um Malerei drehte, war er leicht zu entmutigen. Auch André war im Augenblick völlig ratlos, und das wollte schon etwas heißen bei einem Jungen, der das Leben kannte. Pipin schwieg und machte sich Vorwürfe, weil er nicht eher angefangen hatte, Zeitungen zu verkaufen. Vielleicht wäre dann so viel in der Kasse, daß man doch fahren könnte. Filou ärgerte sich abermals über Oma. Von mir ist noch kein Franken drin, dachte er. »Und dabei legt se alles inne Potzelanschüssel in Schrank!« fuhr er plötzlich laut fort. André blickte ihn fragend an und sagte: »Wie meintest du?« Filou schrak auf. Er hatte nicht gemerkt, daß er laut gedacht hatte. »Hö?« machte er. »Du sagtest doch etwas?« fragte André noch einmal, kribbelig geworden über so viel Begriffsstutzigkeit. »Nee, einglich nich.« Damit brach auch diese anregende Unterhaltung ab, und es wurde ganz still. Deutlich hörte man das röhrende Tuten eines ausfahrenden
Dampfers. In der Ferne spielte jemand Akkordeon. Fast alle Häuser der Zwiebelstraße waren schon erleuchtet. Es roch nach Abendessen. »Nu’ laßt mal nicht den Bart hängen! Sitzt da nicht ’rum wie erfrorene Nebelkrähen, Mann!« René suchte seine Freunde zu ermuntern. »Morgen ist auch noch ’n Tag«, fuhr er fort und stand auf. »Richtig!« meinte Filou und stemmte seine formlosen Massen ebenfalls in die Höhe. »Is genuch, daß jeglicher Tach seine eigene Plage habe«, bubbelte er. Schweigend und bedrückt standen sie noch eine Weile beieinander, doch keiner wußte ein erlösendes oder tröstendes Wort. Jeder von ihnen hatte sich auf den Ausflug gefreut, und nun schien es nichts zu werden. Schade, jammerschade. Sie nickten sich zu, wünschten sich gute Nacht und gingen auseinander. Seppe und Filou schlichen auf Zehenspitzen nach Hause. Der Schwarze wollte Oma nicht wecken, die immer sehr früh zu Bett ging.
Seppe wollte seine kleinen Geschwister nicht im Schlaf stören, darum machte er auch kein Licht. Er kleidete sich aus, wusch sich und tastete dann nach Tonio und Tista, den Zwillingsbrüdern. Natürlich, sie hatten mal wieder das ganze Bett beschlagnahmt! Vorsichtig rollte er sie ein wenig zur Seite, um Platz für sich zu bekommen. Die Kleinen murrten und knurrten im Schlaf, doch das half ihnen nichts. Zwei Handbreiten mußten sie weichen, gerade so viel, daß Seppe auf der Seite liegen konnte. Umdrehen durfte er sich nicht, dann fiel er ’raus. Aber Seppe drehte sich nicht mehr um, allzuoft war er schon auf dem Fußboden wach geworden.
Einen Moment lang horchte er. Von dem anderen Bett gegenüber tönten drei verschiedene Atemgeräusche. Die drei schlafen, dachte Seppe. Die neben mir auch. Und das Jüngste drüben im Waschkorb ist ruhig. Schläft also auch. Gut. Alles in Ordnung. Dann machte er die Augen zu. Am nächsten Abend zog Seppe wieder mit Tista auf den Rummelplatz. Tista war schlecht gelaunt. Mißmutig ließ er sich schleppen. Gestern schon hatte er Geld bekommen sollen für gebratenen Fisch. Und was war daraus geworden? Gaanix! Warum, hatte er nicht verstanden, obgleich es ihm Seppe mehrmals erklärt hatte. Und heute mußte er den ganzen Tag über bis fünf zählen lernen. Er war es leid. Und müde war er auch. Seppe begann wieder zu spielen. Der Besitzer musterte ihn unfreundlich, aber das machte Seppe nicht das geringste. Es klappte wunderbar, seine Taschen füllten sich mit Zigarettenschachteln. Ab und zu setzte er mal nicht, einmal verspielte er sogar absichtlich, um erstens die Sache nicht auffällig zu machen und zweitens die Mitspieler nicht zu verjagen. Trotzdem verzogen sich die Leute nach und nach. Es war einfach sinnlos, sein Geld zu riskieren, der schwarzgelockte Bengel hatte unheimliches Glück. »Hau ab!« murrte der Besitzer. »Du hast genug gewonnen! Du verdirbst mir mein Geschäft!« Seppe spielte eine Zeitlang nicht mit. Der Betrieb blühte zusehends auf. Endlich setzte er wieder. Der Besitzer schimpfte leise vor sich hin. Zweimal trat er Tista in die rückwärtige Verlängerung. Der Kleine war inzwischen selig entschlummert und erwachte, als Seppes Zehen ihn schubsten. Bevor er begriffen hatte, wo er war und um was es sich handelte, waren die Pferdchen ausgelaufen. Nummer zwei stand ziemlich weit vom Ziel, während Nummer acht dicht daran war. Auf einmal aber bewegte sich Nummer zwei wieder und machte am Ziel halt. Elf Spieler und der Budenbesitzer starrten entgeistert auf das Pferdchen mit der Nummer zwei. Es hatte doch schon gestanden! Und nun war es plötzlich weitergelaufen! Wie war das möglich? Seppe war blaß geworden, er fröstelte vor Schreck. Wenn nur nicht…. dachte er, da kam Leben in den Budenbesitzer. Er ahnte Böses, bückte sich und schaute unter den Tisch. Er sah gerade noch den durch Seppes Alarmtritte völlig erwachten Tista davonkrabbeln.
»Polizei! Festhalten! Festhalten! Diebe! Betrüger!« brüllte er und gebärdete sich wie rasend. Noch schlimmer waren die Mitspieler. Sie fühlten sich gemein betrogen und rannten hinter dem Brüderpaar her, um Rache zu nehmen. Seppe hielt Tista fest an der Hand und lief, so schnell Tista konnte. Und das war nicht sehr schnell. Aber um keinen Preis hätte er seinen kleinen Bruder im Stich gelassen. Die Verfolger kamen immer näher. Was tun? Seppe zerrte den Jungen um eine Hausecke herum. Da standen ein paar große Mülleimer. Kurz entschlossen hob er Tista mit einem Ruck hoch, öffnete den Mülleimer, steckte den Kleinen hinein und flüsterte ihm dabei zu: »Ich hol’ dich gleich wieder ab!« ließ den Deckel fallen und raste weiter. Nun sollten sie kommen! Jetzt fühlte er sich seinen Verfolgern gewachsen. Er hüpfte vor Freude, Tista in Sicherheit gebracht zu haben. Jetzt machte ihm die Jagd sogar Spaß! Innerhalb weniger Minuten hatte er die Männer abgeschüttelt. Er führte sie in die Irre und hängte sie ab wie ein Rudel dummer Dorfköter. Als er kurz darauf den Deckel des Mülleimers aufhob, sagte Tista: »Sind se wech?« »Ja. Komm ’raus.« »Stinkt seha da in! Hasse auch die Zihahetten noch?« »Natürlich! Morgen kannst du dir gebratenen Fisch kaufen.« »Na, Seppe, wie war denn heute das Geschäft?« begrüßten ihn die Jungens auf dem Platz. »Och ja, es ging. Vierundzwanzig Schachteln hab’ ich.« »Donnerwetter! Wunderbar!« staunte René. »Wenn du jeden Tag so viel bringst, kriegen wir das Geld doch noch zusammen, was meinst du, André?« André musterte Seppe, mißtrauisch wie ein Polizeihund. Doch bevor er etwas sagen konnte, gestand Seppe. »Nein, das geht leider nicht mehr. Wir sind aufgefallen!« »Also war mein Verdacht doch gerechtfertigt: es handelte sich um eine faule Sache!« meckerte André. »Wer ist übrigens ›wir‹?« »Tista und ich. Aber faul war die Sache eigentlich nicht!« beteuerte Seppe eifrig, denn er hatte eine Heidenangst, weil André und René ihn verprügeln wollten, falls er noch einmal beim Stehlen erwischt würde. »Ich hab’ bestimmt nicht geklaut! Ganz bestimmt nicht!« »Was denn?« »Glücksspiel!«
»Und was hat Tista damit zu tun?« »Tista? Ich – ich hab’ gespielt!« »Und Tista?« »Tista«, Seppe wedelte verlegen mit der Hand, »Tista war dem Glück ein bißchen behilflich!« »Du hast also betrügerische Machenschaften begangen!« pustete sich André auf und wollte eine Rede vom Stapel lassen. Doch René schnitt ihm mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab, packte den schmächtigen Seppe beim Schlafittchen, schob das Kinn drohend vor und sagte: »Noch so ’n Fall und du bist reif, klar?« Der König der Diebe wich den rotunterlaufenen Augen des Gorillas aus und murmelte: »Jaja!« »Stehln tun wer nich!« sagte Filou, mißbilligend seine schwarze Wolle schüttelnd. »Lieber gehn wer zu Fuß!« »Zu Fuß?« wiederholte André entrüstet und richtete sich bolzengerade auf. »Achtzig Kilometer?« »Bloß hin, Mensch!« Maurice griff begeistert Filous Vorschlag auf. Das war eine Möglichkeit, die Idee doch noch zu verwirklichen! »Vierzig Kilometer am Tag, das können sogar deine Plattfüße schaffen. Zurück fahren wir dann im Schlafwagen.« André schnaubte. In puncto Plattfüßen war er sehr empfindlich, er hatte nämlich tatsächlich welche. Und die Aussicht, damit achtzig Kilometer tippeln zu müssen, brachte ihn aus der Fassung. »So?« fauchte er. »Und falls sich dieses Gespenst von uns nicht fangen lassen will, dann auch achtzig Kilometer per pensum zurück, was?« »Per pedes! Lateinisch, bedeutet soviel wie zu Fuß!« verbesserte Maurice grinsend. »Ach, du blöder Spinner!« Wenn André richtig wütend wurde, sprang seine Vornehmheit ab wie Lack. »Hätten wir doch deinen idiotischen Quatsch gar nicht erst angefangen!« »Stopp mal, André! Nimm das Gas weg, wenn du dich in die Kurve legst!« René, der zu Anfang am wenigsten von der Spukjagd gehalten hatte, schlichtete den Streit. Ihm begann die Sache Spaß zu machen, gerade weil sie schwierig wurde. »Laßt den alten René mal nachdenken!« trompetete er fröhlich und nahm die ganze Schlauheit seiner achtzehn Jahre zusammen. »Moment mal! Moment mal! Ich hab’s! Na klar, das ist die Idee!« »’raus damit!« »Wenn die Eisenbahn zu teuer ist, dann fahren wir eben mit dem
Auto! Was sagt ihr nun?« »Wir sind natürlich hingerissen, du Hecht!« André war tüchtig in Fahrt. »Nun fängt diese Benzinlerche auch noch an zu spinnen!« schimpfte er. »Hast du etwa ein Auto?« »Noch nicht! Noch nicht!« René fuhr sich mit seiner öligen Pfote über die roten Borsten. Man hörte förmlich seine Gedanken kollern wie Erdklumpen. »Aber wir kriegen eins!« verkündete er dann siegesgewiß. »Ist nicht mehr ganz neu, versteht ihr? Wie soll’n wir schließlich an ’ne neue Mühle kommen? Aber ’ne alte tut’s auch. Auto ist Auto!« »Meinst du, mit einem Auto kämen wir billiger hin als mit der Eisenbahn?« fragte Maurice gespannt. »O ja! Wir brauchen doch bloß Benzin zu kaufen! Paß mal auf, cher ami!« legte er fachmännisch los. »Die Mühle schluckt, meiner Schätzung nach, fünfzehn Liter auf hundert Kilometer. Achtzig Kilometer sollen es sein, wie André sagte. Rechnen wir hundert auf der Landstraße. Macht also fünfzehn Liter hin, fünfzehn Liter zurück. Das müssen wir zusammenkriegen!« »Das müßte gehen, Jungens! Das ließe sich schaffen!« rief Maurice begeistert. Er war wie umgewandelt. »Öl kriege ich in der Werkstatt umsonst. Die Karre natürlich auch!« René grinste von einem Ohr zum anderen. »Ich habe da ein ganz bestimmtes Fahrzeug im Auge. Das muß Camille mir schenken!« »Camille? Du glaubst doch nicht im Ernst, daß Camille dir was schenkt!« André war noch nicht überzeugt. Er kannte nämlich Camille. Renés Chef war oft recht kleinlich und vor allem jähzornig und unberechenbar. Auch Pipin bezweifelte, daß Monsieur Camille ein Auto verschenken würde, und sagte: »Wenn du ihn darum fragst, geht er hoch wie ’n Knallfrosch! Nee, das ist ganz aussichtslos.« Klauen! Das Wort schoß Seppe durch den Kopf, er formte es sogar mit den Lippen, aber er wagte nicht, es auszusprechen. »Laßt mich nur machen!« meinte René. »Camille muß man richtig behandeln, dann spurt er schon. – Wer kann morgen früh um halb elf an der Ecke von ›Le Corsaire‹ sein?« Das war eine Kneipe in der Nähe von Camilles Werkstatt. Maurice und Seppe hatten nichts zu versäumen, sie wollten hinkommen. Auch Pipin wollte erscheinen, sobald er seine Zeitungen verkauft hatte.
»Aber laßt euch nicht blicken!« befahl René. »Erst wenn ich pfeife, klar?« Sehr früh erschien René am nächsten Morgen in der Werkstatt. Er krempelte die Ärmel hoch und begann, dabei ebenso fröhlich wie falsch ein Lied brummend. Er wühlte und schuftete, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Seine Kollegen kannten ihn zwar als emsiges Arbeitstier, aber so wie heute hatten sie ihn noch nicht arbeiten sehen. Sie standen um ihn herum und lachten ihn aus. René ließ sich nicht beirren. Zunächst mußte er Platz schaffen, denn der Wagen stand ganz hinten im Schuppen, von tausenderlei Gerümpel verdeckt. »Sur le pont…«, summte er schaurig unmelodisch und hob eine alte Kühlerhaube auf. »D’Avignon…« Krachend schmetterte er die Kühlerhaube in eine andere Ecke. »On y danse…« Ein zentnerschweres Differential wurde hochgewuchtet und beiseite geschleppt. »On y danse…« Zehn Minuten später war der Weg frei. René rollte den Wagen in den Hof und bockte ihn auf. Unter den haufenweise herumliegenden alten Reifen suchte er vier passende heraus, die noch brauchbar waren, machte vier Schläuche fertig und zog die Reifen auf. Sogleich wirkte das Fahrzeug manierlicher als vorher auf seinen Plattfüßen. Es war aber noch grausig genug. »Daß man so ’n Modell mal schön gefunden hat, ist einfach nicht zu verstehen!« meinte er kopfschüttelnd. Und jetzt begann der zweite Akt. Er schob den Karren auf die Hebebühne und schaltete die Preßluft ein. Langsam und majestätisch hob sich die Bühne mitsamt dem Ungetüm darauf. Da stand der Wagen nun, zwei Meter hoch über dem Boden. Wie auf einem Präsentierteller breitete er seine Schönheit aus.
»Kerl, René!« riefen die Kollegen Albert und Bernard. »Die Mühle ist ja zum Wimmern schön! Nein, was ’n Ding! Was willst du mit diesem Museumsstück?« René verzog keine Miene. Nun ja, schön war der Wagen nicht, das war ihm schon aufgefallen. Und außerdem noch alt. Eben ein Renault aus der glorreichen Zeit vor 1930. Ein großer offener Viersitzer, mit zerfranstem Klappverdeck, zersprungenen Windschutzscheiben und verbeulten Lampen. Farbe und hintere Kotflügel fehlten so gut wie ganz. »Laßt mich nur«, sagte René und wühlte pausenlos weiter. Mit dem Hammer klopfte er den zementharten Dreck der letzten zwanzig Jahre von den Achsen. Er mußte sich beeilen. Camille kam zwar selten vor halb elf, aber bis dahin war noch viel zu tun. Mit dem Schlauch spülte er gründlich das ganze Chassis ab. Nun nahm er die Preßluftpistole zur Hand und setzte die Staubbrille auf. Der starke Luftstrahl der Pistole fegte die letzten Dreckstäubchen fort und überzog gleichzeitig alle Teile mit einem dünnen, glänzenden Ölfilm. Eine Stunde arbeitete René wie besessen, dann machte der alte
Renault schon einen besseren Eindruck. Einen Teil seines früheren Glanzes hatte er wiedergewonnen. Wenigstens äußerlich, im Innern sah es noch schlimm aus. Da erschien endlich Camille. Er hatte wie üblich etwas zuviel »vin ordinaire«, billigen Rotwein, getrunken. Wie üblich, machte er sich Vorwürfe wegen der Gesundheit und wegen des Geschäftes. Die drei Strolche, seine Mechaniker, hatten bestimmt während seiner Abwesenheit keinen Finger gerührt. In dieser Stimmung bog er in den Hof ein. Er stutzte so heftig, daß sein schwerer Körper zu schwanken begann, blinzelte ein paarmal und wischte sich mit seiner haarigen Pfote die rotgeränderten, vorquellenden Augen. Was war denn das für ein Monstrum? »René!« belferte er. »Was soll das heißen?« René tat, als sähe er seinen Chef erst jetzt. Die Kollegen waren vor Angst in die Werkstatt geflüchtet, denn gleich würde der Vulkan ausbrechen. »Oh, bonjour, Patron!« sagte René freundlich. »Was – was ist hier los? Hä? Was soll das? Was ist das für eine Karre, hä?« René stellte die Spritzpistole ab und schob die Brille in die Stirn. Aufreizend ruhig und gelassen sagte er: »Ja, Chef, ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie der Wagen da im Schuppen so langsam verkommt. Ich hab’ ihn mal ’n bißchen frisch gemacht!« »Dich werd’ ich auch frisch machen, hä!« Mit einem Satz war Camille bei der Hebebühne, blaurot im Gesicht, seine Arme sausten durch die Luft wie Propeller, »’runter mit der Karre«, brüllte er, »’runter, sag’ ich! Bist du denn ganz und gar verrückt, hä? Bezahle ich dich dafür, mit meinem guten Geld, hä, daß du Wracks auf Hochglanz polierst? Gibt es denn keine andere Arbeit für dich, du Strolch, du Tagedieb? ’runter, sag’ ich! ’runter!« »Aber Chef! Man kann doch den Wagen nicht einfach verkommen lassen!« wandte René ein und legte gleichzeitig den Schalter um. Die Bühne sank langsam zur Erde. »Aus dem Wagen kann man noch allerhand machen?« Das war zuviel. Camille explodierte: »Hab’ ich hier einen Autofriedhof, oder was hab’ ich, hä? Steck’ ich mein Geld in solche Trümmerhaufen, hä?« Wütend trat er dem Renault in die Flanke.
»Weg damit, sag’ ich! Weg! Auf den Müll damit, aber dalli! Ich will das Ding nicht mehr sehen! Morgen lackiert ihr Strolche mir den Schrotthaufen und wollt dafür noch bezahlt werden! – Albert! Bernard! Hierher!« Die beiden kamen mit bleichen Gesichtern aus der Werkstatt. »Los, schiebt das Ding in die Müllgrube. Ich will mich nicht noch mal über die alte Dreschmaschine ärgern! Ab, sage ich! Auf den Müll damit!« Schimpfend und fluchend stemmte er sich gegen die häßliche Rückseite des Wagens und half mit bis ans Tor. Die drei Mechaniker schoben den Renault über die Straße. »Du bist ein Hammel, ein karierter!« meinte Albert unterwegs. René grinste vielsagend. »Weißt du das bestimmt?« Als sie an ›Le Corsaire‹ vorbeikamen, pfiff René auf zwei Fingern. Maurice, Pipin und Seppe drückten sich um die Ecke. »Da! Schiebt ihn nach Hause!« sagte René stolz. »Au Backe!« murmelte Maurice. »Jeijei! Ist das ’n Rolls-Royce?« »Meckert nicht lange, was Besseres hatten wir leider nicht auf Lager. Los, weg damit! Schiebt ihn auf den Platz!« »Das sage ich dir, Filou: der Teufel holt dich, wenn du auch nur ein Schräubchen verschlampst! Hier, das ist der Vergaser!« René gab ihm, in einen Lappen eingewickelt, einen Haufen Eisenteile in die Hand. Filous Gesicht war vor Beflissenheit, Aufregung und Schweiß pelzig wie ein nasser Fußball. »Jaja, ich paß schon auf!« quetschte er hervor. Vorsichtig, als trüge er Dynamit, ging er ein paar Schritte zur Seite. Auf Zeitungen ausgebreitet lag dort das ganze Innenleben eines Renaultmotors. André und Pipin saßen auf der Erde, der eine wienerte emsig die Kolben, als wären es Lackschuhe, der andere putzte gewissenhaft die Pleuelstange. Sogar Seppe arbeitete. Freiwillig hatte er die schmutzigste Arbeit übernommen: den Motorblock mit Rohöl zu reinigen. Natürlich hatte dieser Eifer seinen Grund. Seit seinem »Glücksspiel« war er von den Jungens recht kühl behandelt worden, und nun wollte er einen guten Eindruck machen. Aber während er mit dem Pinsel und ab und zu auch mit der Drahtbürste die Schmutzkrusten vom Gehäuse entfernte, stellte er zu seinem eigenen Erstaunen plötzlich fest, daß ihm die Sache ein wenig Freude machte. Er wollte sogar seine Arbeit so gut wie möglich erledigen. Teils, weil er einen mächtigen Bammel hatte vor René, teils aber auch, weil er sich für sein Stück verantwortlich fühlte. Fast so wie für
seine Geschwister. Der Gedanke beruhigte ihn geradezu, daß es vielleicht an ihm liegen könnte, wenn der Wagen später nicht lief und die Fahrt ausfallen müßte. Darum wandten seine schwarzen Augen keinen Blick von dem Gehäuse auf dem Holzblock, darum kratzten und scheuerten seine flinken braunen Finger so hingebungsvoll. André beobachtete ihn verstohlen – und wunderte sich. Filou hockte sich ebenfalls nieder und breitete noch eine Zeitung aus. Schnaufend vor Begeisterung, eine so wichtige Aufgabe bekommen zu haben, tunkte er sein Bürstchen in eine mit Benzin gefüllte Dose und begann die Vergaserteile zu säubern. Nur Maurice tat nichts. Es hatte sich schnell herausgestellt, daß er in technischer Hinsicht völlig unbegabt war. Er machte alles falsch oder arbeitete aus lauter Angst, etwas falsch zu machen, so langsam, daß René ihn kurzerhand ausrangiert hatte. Seit einer Stunde saß er auf einem umgestülpten Eimer und summte vor sich hin. René kroch im Wagen herum. Er mußte ungefähr dort sein, wo eigentlich das Getriebe hingehörte; seine Füße waren das einzige, was man von ihm sah. »Bring doch mal den Neunerschlüssel, Maurice!« tönte es jetzt aus dem Bauch des Renaults. »Ja, gern«, sagte Maurice und erhob sich, »bloß, welcher ist der Neuner?« »Der, auf dem eine Neun eingestanzt ist!« »Aha! Das ist praktisch«, sagte Maurice und puhlte mit spitzen Fingern im Werkzeugkasten herum. »Hier!« sagte er, strahlend vor Freude, doch nicht ganz unnütz zu sein. »Da hast du ihn!« und reichte den Schlüssel durch den Führersitz zu René hinunter. Leider ließ er etwas zu früh los, der Schlüssel fiel René auf den Kopf. »Au! Dämlack! Paß doch auf!« Maurice strahlte nicht mehr, sondern zuckte verlegen die Schulter. Kurz darauf schimpfte René schon wieder los. »Maurice! Du dreifach prämiertes Zuchtkalb! Das ist ja ein Sechserschlüssel!« »Es steht aber doch eine Neun drauf!« verteidigte sich der Maler. »Aber nur, wenn du verkehrt ’rum liest, du farbenklecksender Affe!« Beleidigt suchte Maurice den richtigen Schlüssel. Übrigens: Farben klecksen! Anstreichen müßte man die Karre, schoß es Maurice durch den Kopf. Jawohl, das müßte man. Das
würde ihr guttun. Und dann hätte er auch eine vernünftige Beschäftigung. Hm – ein drolliger Kasten! So hochbeinig. Streckt alle viere weit von sich. Wie ’ne Spinne sieht das Möbel aus. »Hört mal, Jungens! Wißt ihr, wie wir ihn nennen!« »Nee. – Wen?« »Den Wagen natürlich! Der muß Spinne heißen! Weil er so schön hochbeinig ist!« »Spinne is nich schlech!« meinte Filou, »ganschönen Namen!« »Von mir aus!« brummte René. »Der Kasus einer Taufe wäre in der Tat des Überlegens wert!« gackerte André. »Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, so möchte ich sagen, daß Maurice sozusagen in flagranti den richtigen Namen erwischt hat!« »Buh!« stöhnte René, »du solltest zum Zirkus gehen! Du bist das einzige Kamel, das lateinisch spricht!« André schnappte hörbar ein und wandte sich mit wütendem Eifer seiner Arbeit zu. So ungebildete Menschen wie René straft man am besten mit kalter Verachtung, dachte er. Seppe grinste schamlos und drehte die Daumen. Pipin lächelte und fragte dann sanft und harmlos: »Was heißt eigentlich ›in flagranti‹, André?« Prüfend blickte ihm der Schuhputzer ins Gesicht. Anscheinend meinte Pipin die Frage ernst, sein Gesicht jedenfalls war ernst. Daß Pipins Augen lachten, bemerkte nur Maurice. Doch er hielt sich heraus und schmunzelte. »In flagranti«, begann André und räusperte sich, »in flagranti – in flagranti…« »Nun?« ermunterte Pipin sanft. André würgte und stotterte. »… in flagranti heißt soviel wie zufällig!« »Stimmt das, Maurice?« fragte Pipin liebenswürdig. »Nein. Jemand in flagranti erwischen heißt soviel wie: ihn auf frischer Tat ertappen.« Pipin nickte und putzte weiter. »Fremdwörter sind eben Glückssache!« wagte Seppe zu bemerken und widmete sich der Ölwanne. André bekam einen roten Kopf und schwieg. Er schämte sich unsäglich. Das hat er nun davon, dachte Maurice. Da horchte er nun eifrig auf das, was die Juristen, Ärzte und Kaufleute sagen. Da liest er nun
kunterbunt durcheinander, was er erwischen kann: Schauerromane, Broschüren, billige Reisebeschreibungen. Überhaupt jeden bedruckten Fetzen. Und lernt sogar sein Lexikon auswendig, von A bis Z. Alles für die sogenannte Bildung. Und dann wirft er mit halbverstandenen Brocken um sich und blamiert sich natürlich. Eigentlich könnte er einem leid tun. Wenn man ihm helfen würde, käme er schnell auf den richtigen Weg. Dumm ist er ja nicht. Ich müßte ihm eigentlich helfen. Aber ich habe wirklich genug mit mir selbst zu tun. Ich möchte schließlich nicht ewig in der Zwiebelstraße hocken. Ich… Ich… Ich muß ihm jetzt erst mal aus der Patsche helfen und das Thema wechseln. Er hat sich lange genug geschämt, der arme Kerl. Maurice stieß André an, deutete mit dem Kopf auf Gregoriades’ Haus und sagte: »Der hat doch sicher Farbe, nicht wahr? Für den Wagen, meine ich.« »Ich nehme es an!« erwiderte André und stand sofort auf, froh, auf diese Weise den Ort seiner Niederlage verlassen zu können. »Ich werde mal zu ihm gehen.« Bei Gregoriades war André hoch angesehen, weil er als einziger bar bezahlte. Die Farbe aber wollte er nicht bezahlen, um die Kasse nicht zu schwächen. Der Grieche sollte sie stiften. Vor dem Laden überlegte der Schuhputzer einen Augenblick, dann stieg er die Stufen empor. »Monsieur Pill«, sagte er, »haben Sie Farbe?« Gregoriades blies Luft ab. »Ba-bu-ba-ba«, äußerte er sich recht unbestimmt. Was wollte der Junge schon wieder? War es nicht genug, daß er den Burschen erlaubt hatte, ihren Wagen auf seinem Grundstück unterzustellen? Dreißig Jahre schon wohnte er in der Zwiebelstraße, und nie hatte jemand seinen Hof betreten, den einzigen Hof in der ganzen Zwiebelstraße. »Monsieur Pill«, sagte André leise, seine Stimme klang fast ein wenig mitleidig. »Wir haben doch einen Maler dabei! Der wird Ihnen ein Bild malen, ja? Sie wissen schon, nicht wahr?« Der dicke Mann atmete geräuschvoll und schluckte schmatzend. Seine buschigen, stacheligen Brauen zogen sich zusammen, seine trüben Augen begannen zu flackern. »Bon!« sagte er. »Alors, komm mit!« Sie stiegen die enge, feuchte Treppe hinunter in den Keller. Ganz hinten in einem finsteren Gewölbe griff Pill in ein Fach und zog eine
rostige Büchse hervor. »Da«, flüsterte er, »nimm!« »Danke, Monsieur Pill. Aber die Farbe wird hart sein. Haben Sie nicht ein bißchen Leinöl?« André bekam eine halbe Flasche Leinöl und stürzte ins Freie. Er war froh, als die Hitze ihn wieder umgab wie weiche Watte. Froh, daß er den fetten, traurigen Mann nicht mehr anschauen mußte. Bei der Kühlerhaube fing Maurice an. Zuerst schmirgelte er die Blasen ab, dann begann er zu pinseln. Es war eine prächtige Farbe. Giftgrün! Nicht gerade das Übliche für Autos. Mit so was strich man in der Zwiebelstraße sonst nur Fensterläden an. Manchmal kam tatsächlich jemand auf die verrückte Idee, sein Haus derartig zu verschönern. »Kerl, André!« meinte René anerkennend, »wie hast du das geschafft, dem Alten die Farbe abzuluchsen?« »Ich habe ihm gesagt, Maurice mache ihm eine Zeichnung.« »Ach so!« brummte René halblaut. »Ich soll ihm ’ne Zeichnung machen? Wovon?« »Ja – öh – das haben wir dir noch nicht erzählt«, begann René. »Pill hat mal ’n Sohn gehabt. Ist schon lange her, so zwanzig Jahre.« »Na, und?« »Tja, ich weiß nicht, ob’s stimmt, aber hier in der Zwiebelstraße wird es so erzählt. Und die Leute haben ein gutes Gedächtnis für so was. Also eines Tages – der Gustave muß ein tolles Früchtchen gewesen sein –, eines Tages ist er ausgerückt. Ja. Und hat den ganzen Sparstrumpf vom Alten mitgenommen. Muß entsetzlich viel Geld gewesen sein, Pill war damals noch reicher als heute.« »Das war doch sicher ein schwerer Schlag für Gregoriades, was?« »Und ob! Der Alte muß mit einer wahren Affenliebe an seinem Sohn gehangen haben, hat ihn verwöhnt nach Strich und Faden. Und das war der Dank dafür. Aber Pill hätte ihm auch diesen Streich verziehen, wenn er bloß wiedergekommen wäre.« »Hat man denn nie was von ihm gehört?« »Doch, ja.« René räusperte sich laut und spuckte in hohem Bogen aus. Die anderen Jungens schauten auf. Sie kannten die Geschichte längst, weil sie sozusagen zum festen Bestand der Zwiebelstraße gehörte. Dennoch wurde immer wieder ihr Mitleid angerührt. »Tja, also eines Tages kriegte Pill was Amtliches vom Gericht. Sein Sohn sei bei dem Versuch, die Sparkasse von Nîmes auszurauben, erschossen worden.«
»Au, verflixt!« »Tja, allerdings.« »Was hat denn das mit der Zeichnung zu tun?« »Das ist so, Maurice«, fiel André ein. »Wir mußten doch den Wagen irgendwo unterbringen. Und welche Möglichkeiten haben wir außer Pills Hof? Deshalb habe ich ihm erzählt, wir trügen uns mit der Absicht, nach Nîmes zu fahren. Da hättest du sein Gesicht mal sehen müssen! ›Ihr dürft den Wagen auf den Hof stellen, Jungens, die ganze Zeit, solange ihr wollt! Aber ihr müßt mal auf den Friedhof gehen, in Nîmes, ja?‹ – Ich wußte, daß er das sagen würde. Seit Jahren will er schon hin, er kann aber nicht, weil er schwer krank ist. Deshalb möchte er, daß wenigstens jemand aus der Nachbarschaft das Grab besucht. Das kann man verstehen, nicht wahr?« »Und die Zeichnung?« »Vom Grab natürlich!« »Gut, das will ich gern machen.« »Brauchst du nicht mal, Maurice. Wir fahren nämlich gar nicht hin! Meinst du etwa, man könnte nach fast zwanzig Jahren das Grab eines Räubers ausfindig machen? Nein! Ich habe mich bei Staatsanwalt Molignac, einem alten Stammkunden von mir, genau erkundigt. Räuber und dergleichen Leute bekommen nur eine Nummer aufs Grab. Und nach zehn Jahren wird es eingeebnet. Kein Mensch in Nîmes könnte dir die Stelle zeigen, wo dieser Gustave seinerzeit bestattet wurde. Aber das kann man dem alten Mann doch nicht sagen!« »Sehr anständig finde ich das nicht.« »Doch, Maurice! Für Gregoriades ist es ein Trost, wenn er ein Bild vom Grab dieses Nichtsnutzes hat. Seit langem will er mich schon hinschicken, eine Photographie davon machen zu lassen. Ich habe mich immer gedrückt, denn wie sollte ich das machen. Woher sollte ich eine Grabplatte mit dem Namen nehmen? Wir hatten schon mal vor, eine zu kaufen, um sie dann auf irgendeinem andern Grab zu Photographieren, aber das war viel zu teuer. Wenn du ihm ein Bild malst, dann ist er mehr als froh, verlaß dich drauf!« »Die Faabe klebt aba fies!« Dieser Stoßseufzer kam aus Tistas grünverschmiertem Mund. Er hatte nur mal eben die halbfertig gestrichene Kühlerhaube besichtigt. »Ach, du liebes Bißchen!« stöhnte Seppe, »heute abend kann ich ihn mit Terpentin waschen! Verschwinde, du Dreckspatz!« Tista steckte die klebrigen Hände in den Staub und machte ein angewider-
tes Gesicht. Alles lachte und sah ihm zu. Nur einer nicht: Stinker. Er stand hinter dem Wagen auf drei Beinen, das vierte schwebte in der Luft. Wenig später zockelte er zurück in den Schatten, um den Rest des Sonntags ebenfalls zu verschlafen. Am Mittwochabend hatte Spinne ihre Eingeweide wieder vollzählig im Bauch. Nun kam ihre äußere Erscheinung an die Reihe. Das Verdeck ließ sich nicht mehr reparieren, also wurde es abgeschraubt und weggeworfen. Die Polstersitze bestanden nur noch aus Fetzen, Heu und Spiralfedern – ’raus damit! Einfache Bretter taten’s auch. Infolge dieser Verbesserungen wirkte Spinne maßlos schnittig. Schade, daß sie so altertümlich hochbeinig war, das störte. Über die fehlenden hinteren Kotflügel konnte man ohne weiteres hinwegsehen. »Ich weiß nicht«, sagte Maurice – er stand vor dem Kühler, die Hände in den Taschen, und wackelte mit dem Kopf –, »ich kann mir nicht helfen: das Biest hat einen ziemlich heimtückischen Gesichtsausdruck!« Das kam von den Lampen. René hatte sie zwar gerichtet, aber sie schielten trotzdem noch. Die giftgrüne Farbe tat ein übriges. »Jetzt kommt der spannende Moment! – Herr Kapellmeister, bitte, einen Trommelwirbel!« Stolzgeschwellt kletterte René hinter das Lenkrad, prüfte die Gangschaltung, jawohl, Leerlauf ist drin, Zündung einschalten, so! »Leiert mal an!« André packte die Kurbel mit dem Messinggriff. Die anderen waren neidisch, daß er als erster Spinne anwerfen durfte. Doch ihr Neid war voreilig. André orgelte sich die Seele aus dem Leib, und Spinne tat nicht den leisesten Pups. »Was ist denn los, verflixt? Der Kasten muß doch anspringen! Die Batterie ist frisch geladen, Benzin ist drin, die Zündung tut’s auch! Also los, kurbeln!« André kurbelte mit letzter Kraft. Spinne wippte auf und nieder, aber sonst geschah nichts. Seppe nahm die Kurbel. Schweißnaß trat er sie an Pipin ab. Dann bekam sie Filou. »Geht nich!« blubberte der Dicke schließlich. Maurice versuchte es auch. Als ihm die Puste ausging, hörte er auf. »Mann!« sagte er und hatte den Eindruck, daß Spinne ihn hämisch angrinse. Die scheelen Lampenaugen blinzelten vor Bosheit.
»Schieben!« befahl René. Spinne wurde bis an die Mauer zurückgerollt. Der Hof war nur etwa zwanzig Meter lang. Keinesfalls würde sie auf diesem kurzen Stück richtig in Schwung kommen, aber auf die Straße hinaus wollten sie nicht. Der Anblick von rund fünfzig höhnischen Gesichtern ist nicht gerade erfreulich. Sie hörten ohnehin schon genug liebenswürdige Gemeinheiten über Autowracks und deren Verwendung. Die Jungens schoben eine halbe Stunde lang. Jedesmal, wenn René den Gang einschaltete, bockte Spinne und machte fft-fft-buff. Aus. »Pause!« keuchte Maurice. Erschöpft hockten sie im Schatten nieder. René saß mit verzerrtem Gesicht hinter dem Steuer und heulte beinahe vor Wut. Grimmig knurrend, baute er zum siebenundzwanzigstenmal die Zündkerzen aus, wischte sie ab, prüfte den Abstand der Stifte, drehte den Motor mehrmals durch und schraubte die Kerzen wieder ein. Dann leierte er selbst noch einmal, bis er vor Erschöpfung taumelte. Die Lampen schielten tückischer denn je. Verzweifelt setzte er sich in den Wagen und ruhte eine Weile aus. Anschleppen müßte man die Karre, dachte er. Dann würde es gehen. Aber wer sollte sie anschleppen? »Als ob das Luder verhext wäre!« brüllte er plötzlich und trommelte voller Wut, Scham und Empörung auf dem Steuerrad herum. Krachend schaltete er den ersten Gang ein, sprang aus dem Wagen, lief nach vorn, stellte die Kurbel quer, heulte wie ein zorniger Gorilla und sprang mit beiden Füßen zugleich auf den Schwengel. Ein Wunder geschah! Spinne sprang an! Setzte sich sofort rasselnd in Bewegung und machte Miene, René zu überfahren. Es sah aus, als sei sie bloß deswegen munter geworden, um ihren Peiniger zu vernichten. René war so überrascht, daß er nur mit knapper Not zur Seite springen konnte. Spinne rollte an ihm vorüber, knatternd wie ein schweres Gewitter, eine dicke blaue Ölwolke ausstoßend. Wie ein Affe turnte René hinter das Steuer und brachte sie zum Stehen. Kräftig trat er auf das Gaspedal, gequält schrie Spinne auf, die Karosserie bibberte und schepperte wie toll. Längst standen die Jungens um den Wagen herum. Sie freuten sich, das sah man ihren Gesichtern an, aber von dem, was sie sagten, verstand man kein Wort. »Geht ein bißchen laut, nicht?« schrie Maurice René ins Ohr. »Kein Wunder! Schalldämpfer fehlt!« brüllte der zurück. »Probe-
fahrt!« Das Tor wurde aufgerissen, strahlend kletterten die Jungen auf die Holzsitze, und ab ging’s mit einem Höllenlärm, daß die Zwiebelstraße wackelte.
Eine Art Hindernisrennen… »Alles klar?« Ausgerechnet René stellte diese überflüssige Frage. Er allein verzögerte nämlich die Abfahrt, weil er immer noch etwas nachzusehen und zu überprüfen fand. Und ehe jemand antworten konnte, fuhr er fort: »Tja, ich muß doch mal eben…«, und öffnete den Deckel des Kofferraumes, wobei die rostigen Scharniere einen quietschenden Laut von sich gaben, als ärgerten sie sich über die dauernde Belästigung. Zum fünftenmal, dachte Pipin, und lächelte über Renés lampenfiebrige Geschäftigkeit. Muß wirklich aufregend sein für ihn! Er allein trägt die Verantwortung für den Wagen. Geht was schief, dann ist er mächtig blamiert. Passiert was, dann ist er schuld. Kein Wunder, daß er so aufgeregt ist. Hastig hob René die Werkzeugkiste heraus, wickelte die Schraubenschlüssel aus ihren Putzlappenhüllen, zahlte sie, wickelte sie wieder ein. Kramte das Flickzeug hervor, überzeugte sich zum endgültig allerletztenmal, daß Schere, Gummi und Gummilösung vorhanden waren, tastete nach dem Wagenheber und nach der Luftpumpe und packte wieder ein. Die Jungen rutschten seit einer halben Stunde auf den Holzsitzen herum und versuchten, durch eifriges Reiben Arme und Knie zu erwärmen. So heiß es am Mittelmeer tagsüber gewöhnlich ist, so kühl ist es nachts und frühmorgens. Sehnsüchtig warteten sie auf die Sonne, die gerade über die Berge kletterte. »Können wir nicht mal was anderes tun als frieren?« maulte André und warf dem Expeditionsleiter Maurice einen bösen Blick zu. »Was denn?« »Na, zum Beispiel abfahren! Wäre quasi gewissermaßen eine Abwechslung.« »Gleich, sofort!« brummte René. »Ich muß nur mal eben…« »Wenn du jetzt sagst: nur mal eben nachsehen, ob die Kolben wirklich drin sind, dann geh’ ich nach Hause und leg’ mich wieder ins Bett!« schimpfte jetzt auch Maurice und gähnte. Früh aufstehen schätzte er nicht, und heute war er sogar um fünf Uhr – »mitten in der Nacht«, wie er sich ausdrückte – von André geweckt worden. René faßte schnell noch mal in die Tasche seines Sporthemdes,
um festzustellen, ob die beiden Ersatzventile noch da seien. Als das tatsächlich der Fall war und er gerade das Zeichen zur Abfahrt geben wollte, öffnete sich bei Gregoriades das Küchenfenster. Stumm und traurig schaute der große alte Mann zu den Jungen hinüber, stopfte langsam und umständlich das Nachthemd in die Hose, knöpfte das rote Bördchen zu und winkte sie mit einer schwerfälligen Armbewegung zu sich heran. Alle sechs gehorchten wortlos und augenblicklich; und als sie unter dem Fenster standen, stieß Gregoriades zwischen zwei heiseren Schnaufern flüsternd hervor: »Kommt ’rein! Aber leise!« Sie gingen um das Haus herum, der Alte öffnete die Ladentür, mit der einen Hand die Klingel festhaltend, und führte sie in die kleine, schäbige Küche. Auf dem Tisch lagen sechs Tafeln Schokolade und zwölf Apfelsinen. Gregoriades atmete rasselnd und drückte schmatzend die Lippen aufeinander. Er wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Statt dessen machte er eine heftige Kopfbewegung zum Tisch hin und kramte aus der Hosentasche einige Geldstücke hervor, die er André in die Hand drückte. »Für die Fahrt. Für unterwegs!« keuchte er. Sein Schnurrbart zitterte ein wenig, und seine Augen gingen unruhig hin und her. Die Jungen bedankten sich und nahmen jeder ihr Teil. Der alte Pill pustete, keuchte röhrend und machte verlegene Handbewegungen. Als die Jungen sich zum Gehen wandten, ertönte draußen ein quietschendes Geräusch. Automatisch dachte Pipin: zum sechstenmal! Es erinnerte ihn unwillkürlich an die Scharniere des Kofferraumes. Die übrigen Jungen hörten das Quietschen nicht; Gregoriades’ schnaufende Erregtheit, die ungewöhnliche Geste des sonst so geizigen Mannes nahm ihre Aufmerksamkeit gefangen. Alle dachten dasselbe: Er will uns ermahnen, wir sollen an die Zeichnung denken. Als sie draußen waren, runzelte René die Stirn und machte: »Tete-te.« Seppe flüsterte grinsend: »Der könnte mit seinem Brustkasten ein ganzes Symphonieorchester ersetzen!« Und dann begann er so täuschend ähnlich Gregoriades’ Keuchen, Kollern, Fauchen nachzumachen, daß die anderen glucksten und leise prusteten; seinem Gesicht jedoch merkte man an, daß er es nicht aus Bosheit tat, sondern um den trüben Eindruck zu verscheuchen. »Sei froh, daß du kein Asthma hast«, sagte André, zwischen Lachen und Zorn schwankend, zählte das Geld – es waren zehn Franken – und steckte es in den Brustbeutel.
»Viel schlimmer, daß er keine Kinder hat und keine Enkel«, erwiderte Seppe, nun wieder ernst. »Armer Hund, der Alte!« »Können wir jetzt endlich losfahren, René?« Maurice wurde ungeduldig. »Klar! Ich bin schon längst soweit! – Filou, anwerfen!« Der Schwarze stellte die Kurbel quer und sprang mit der ganzen Wucht seiner hundertvierzig Pfund auf den Messinggriff. Das war und blieb die einzige Methode, Spinne in Gang zu setzen. Wie immer ließ sich das schielende Monstrum auf diese Weise überlisten, rächte sich jedoch durch geradezu sträflichen Lärm. Füllte die bis dahin totenstille Zwiebelstraße mit Schallwellen gröbsten Kalibers, so daß selbst der schwerhörige Achmed erwachte und sagte: »Tiens! Die Jungens fahren ab. Tiens!« Achmed trat ans Fenster und nickte der Familie Wassilie von gegenüber freundlich zu, die wie er und alle anderen Bewohner der Zwiebelstraße aus den Betten gesprungen war, um die Jungen zu verabschieden. Langsam setzte sich Spinne in Bewegung, der Lärm wurde ohrenbetäubend. »Viel Glück!« rief Achmed. »Macht’s gut!« Und seine Frau neben ihm streichelte eine ihrer vierzehn Katzen und sagte: »Die lieben netten Jungens! Hoffentlich haben sie viel Spaß!« Dabei war sie den Jungen sonst gar nicht grün, weil sie mal zu behaupten gewagt hatten, ihre Katzen verursachten den schlechten Geruch in der Zwiebelstraße. »Jaja!« trompetete Wassilie. »So is rrecht! Muß Juggend rraus! Muß sehen die Wält! Als ich noch jung gewesen«, setzte er an und blies stolz die Backen auf, sprach jedoch nicht weiter, denn plötzlich fiel ihm sein Rheuma ein, seufzte und legte sich wieder zu Bett. Signor Palotti winkte den Jungen so vornehm erhaben zu, als sei er König und die Jungen seine jauchzenden Untertanen. Monsieur Quinquaille, der am Abend vorher mal wieder über den Durst getrunken hatte, war anscheinend noch nicht ganz nüchtern, denn er warf die Arme in die Luft und brüllte: »Bravo! Hurra! Es lebe die Republik! Bravo!« Nur Oma fehlte. Es war erst viertel vor sechs, und wegen eines Autos stand Oma nicht eine Minute früher auf. Schade, daß die Jungen von den stolzen und gerührten Worten nicht das mindeste hören konnten. Sie sahen nur Mundbewegungen, freundliches Nicken und Winken. René machte vor Aufregung ein
ganz verbissenes Gesicht; André verbeugte sich gravitätisch nach allen Seiten; Maurice lächelte etwas dämlich in die Runde; Pipin grinste wie ein Schakal; Filou bleckte sein leistungsfähiges Gebiß und kämpfte mit Tränen. Seppe reckte die braune Nase hoch in die Luft, eichhörnchenflink glitt sein Blick von Fenster zu Fenster und kassierte begierig die dargebrachte Bewunderung ein. Nur Stinker fühlte sich nicht wohl. Spinnes Knallerei ging ihm nahe. Trostsuchend schob er seine Schnauze Filou ins Gesicht, und seine Augen fragten: ist das nicht furchtbar gefährlich? Der Dicke streichelte ihn, drückte ihn an sich und wiegte ihn wie ein Kind hin und her. »Arm Stinker so Angs!« Die Cannebière schlief noch. Ihre Leere und Stille wirkte seltsam und fast ein wenig feierlich. Ganz unfeierlich rief René plötzlich: »Maurice! Maurice, wo liegt eigentlich Villeneuve?« Darüber hatte sich noch niemand Gedanken gemacht! Hm, ganz schöne, mittelschwere Blamage, dachte der Maler. Wäre meine Sache gewesen, daran zu denken. Etwas betreten antwortete er: »Keine Ahnung. Ich dachte, so ’n Zündkerzenakrobat wie du wüßte darüber Bescheid. Aber wir können ja mal fragen.« Renés Blick entsprach einem ganzen Sack handfester Beleidigungen. Er fuhr einige hundert Meter weiter bis zu einer großen Tankstelle, stoppte den Wagen und stellte den Motor ab. »Kommt mal mit, da drüben hängt ’ne Karte.« Bis auf Pipin stiegen alle aus. Der Gelbe lächelte freundlich und machte es sich gemütlich. Ihm war es gleichgültig, wo das Nest lag, wenn man nur gemeinsam hinfuhr. In diesem Augenblick näherte sich langsam ein großer, viersitziger Sportwagen und hielt ein paar Meter seitwärts an einer der Benzinpumpen. Der Wagen war sicher nicht viel jünger als Spinne, sah jedoch entschieden besser aus. Der schwarze Lack glänzte in der Sonne, die Nickelteile funkelten nur so. René erkannte sofort, wen er da vor sich hatte: »Alter Sechszylinder-Buick, prima in Schuß. Der macht glatt noch hundertzwanzig Sachen. – Na, hier ist die Karte!« Auf vier Quadratmetern Blech war ganz Südfrankreich mit den angrenzenden Gebieten von Italien und Spanien aufgemalt. Zehn Augen suchten Villeneuve. Innerhalb weniger Minuten fanden sie ein halbes Dutzend Orte dieses Namens, denn Villeneuve gibt es in Frankreich ebenso viele wie die entsprechenden Neustadts in
Deutschland. In dem schwarzen Buick hatten drei Männer gesessen: ein junger, blonder am Steuer, neben ihm ein zierlicher, weißhaariger Alter. Obgleich die beiden zurückhaltend gekleidet waren – der junge Mann trug einen hellen Sportanzug, der alte einen schwarzen Tuchanzug und einen runden schwarzen Hut –, fielen sie doch irgendwie aus dem Rahmen des Alltäglichen. Der dritte dagegen machte durchaus den Eindruck, als sei er nicht weit vom Alten Hafen auf die Welt gekommen. Während der Tankwart den schwarzen Buick versorgte, stiegen die Männer aus und gingen ein paar Schritte beiseite. Der junge Mann zog die Brieftasche, entnahm ihr einige Scheine und reichte sie dem dritten. »Es stimmt wohl, nicht wahr? Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht, vielen Dank!« »Ich habe zu danken«, sagte der und führte grüßend zwei Finger an die Baskenmütze. »Bitte, empfehlen Sie mein Institut weiter«, machte eine Verbeugung und ging davon. Pipin hatte die Unterhaltung nicht verstehen können und sich auch nicht gerade viel um die Fremden gekümmert. Doch dem Davongehenden schaute er nach und dachte: den habe ich in den letzten Tagen schon öfter gesehen! Wer ist das? Ein Kriminaler? Die sehen auch immer so auffallend unauffällig aus. Na, egal. Der weißhaarige Alte betrachtete kopfschüttelnd das giftgrüne Fahrzeug der Jungens und murmelte: »Die motorisierte Unterwelt von Marseille!« »Rröh-hm!« räusperte sich der Blonde. »Es sitzt noch einer drin!« »Sehr wohl, Franz, ich sehe es. Und sogar ein Chinese! Ich bin entrüstet!« hauchte der Alte und rückte nervös an seiner Sonnenbrille. »Das ist nett von dir!« Der Alte setzte ein bekümmertes, verweisendes Gesicht auf, worin er offensichtlich beachtenswerte Übung hatte. »Setz dich bitte in den Wagen«, fuhr der Blonde fort, »ich fange jetzt an.« Die Jungen standen immer noch ratlos vor der Karte und unterhielten sich darüber, welches Villeneuve nun eigentlich das richtige sei. »Suchen die Herren etwas!« sagte eine freundliche Stimme. »Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?«
Fünf Gesichter wandten sich um, fünf Augenpaare starrten dem blonden Frank in die Sonnenbrille. »Kolossal liebenswürdig von Ihnen, Monisuer! Sehr verbunden! Wir hegen quasi gewissermaßen die Absicht, einen Ort namens Villeneuve aufzusuchen. Zu unserer Betrübnis mußten wir jedoch feststellen, daß es sieben Kaffs – hm, ich meine: Ortschaften – gibt, die so heißen.« Die Schultern von Monsieur Franz zuckten ein wenig vor verhaltenem Lachen, aber er verzog keine Miene, und das war eine Leistung, denn er war Andrés Redeweise schließlich nicht gewöhnt. »Da ist es natürlich nicht leicht, das Richtige zu finden«, erwiderte er. »In welchem Departement soll es denn liegen?« »Maurice, das mußt du wissen, du hast die Briefe geschrieben.« »Wart mal, Augenblick.« Maurice überlegte. »Var! Departement Var!« »Es soll achtzig Kilometer von Marseille entfernt sein, hat man mir bei der Eisenbahn gesagt, und besitzt ein Schloß, welches auf den Namen Sankt Augustin hört«, fuhr André fort. »Nun, das genügt, um das Nest zu finden.« Der Zeigefinger des Herrn Franz fuhr über die Blechkarte. »Hier, das ist es: Villeneuve bei Nîmes. Die Entfernung stimmt so ziemlich. Sie müssen über Salon nach Arles und von da nach Nîmes fahren. Dort fragen Sie dann am besten noch mal!« Die Jungen bedankten sich freudestrahlend und kletterten auf ihren giftgrünen Renner. Noch einmal sprang Filou auf die Kurbel, und schon ratterten sie davon. Der blonde Franz lächelte fröhlich hinter ihnen her. »In Geographie hatten sie alle ›mangelhaft‹«, sagte er zu seinem weißhaarigen Begleiter. Bereits in den Außenbezirken der Stadt stieg die Straße ziemlich steil an. Spinne offenbarte ihre Schwäche: sie zog nicht recht durch. Im ersten Gang kroch sie bergauf. Sobald es wieder abwärts ging, drosselte René den Motor, denn Spinne kochte und sprudelte wie ein Teekessel. Weit ausgebreitet lag nun das Rhônetal vor ihnen, eine unendliche Fläche, die sich im Dunst der Ferne verlor: mausgrau schimmernd unter der glühenden, dörrenden Sonne, eingesprenkelt gelbgrünliche Melonen- und Weinfelder; einzelne schwarze Lebensbäume wie riesige Ausrufezeichen; steile, grüne Pinien; breite Schirme von Zypressen und Kiefern; buschige Tamarisken mit roten Blüten; sil-
berglänzende, zierliche Olivenbäume in langen Reihen. Hier und da ein weißgrau gebleichtes Dorf auf einem Hügel. Links voraus funkelte und blitzte ein See. »Was ist das für ’n Teich?« fragte Seppe, sich weit vornüberbeugend. André warf sich in die Brust wie ein Spatz ins Staubbad. Endlich konnte auch er einmal sein Wissen an den Mann bringen. Und daß ausgerechnet Seppe, das schwarze Schaf, die Gelegenheit dazu gab, stimmte ihn milde gegen den König der Diebe. »Das ist der Étang de Berre«, verkündete er so feierlich, als sei ›Étang de Berre‹ ein Zauberwort. »Hat übrigens einen Ausgang zum Mittelmeer, wie du an den Hochseeschiffen dort sehen kannst.« »Soso. Ganz schön riesig, was? Und diese merkwürdigen weißen Felder, was ist das?« »Da wird Salz gewonnen.« »Ich dachte immer, Salz wird in Fabriken hergestellt?« »Stimmt nicht ganz. Die Felder dort sind quasi gewissermaßen eine Fabrik. Die Sonne ist die Dampfmaschine. Man läßt das salzige Meerwasser in diese Felder laufen und sperrt dann den Zufluß. Die Sonne bringt das Wasser zur Verdunstung, und das weiße Salz bleibt übrig, wie du siehst.« »Mächtig einfache Sache! Und so wie das Zeug da liegt, streuen wir’s auf die Tomaten?« »Nein, das schmeckt nicht, weil es noch nicht gereinigt ist. Da ist noch allerlei anderes drin, Kalium und Jod, wenn ich darin nicht fehl gehe, und dieserhalben schmeckt es so bitter. Jetzt bringt man es in eine richtige Fabrik, wo man die anderen Bestandteile daraus entfernt. Dann erst kann man damit die Suppe schmackhaft versalzen.« Sieh mal einer an, dachte Maurice. Das wußte ich nicht einmal! »Woher weißt du das alles?« »Mein Vater hat früher dort gearbeitet.« Auf der ebenen, breiten Asphaltstraße hielt sich Spinne ganz famos. Surrend und klappernd machte sie vierzig Stundenkilometer. Voller Stolz und längst frei von Lampenfieber blinzelte René durch die Sonnenbrille, breit und besitzergreifend lagen seine ausnahmsweise sauberen Pfoten auf dem Steuer. Übrigens glänzten alle Jungens vor Sauberkeit, nicht nur René in seinem nagelneuen, braunen Overall mit dem schicken Sporthemd darunter. André hatte seinen schwarzen Anzug gereinigt und gebügelt und sich zur Feier des Tages sogar Kragen und Schlips umgezwängt. Die Jungens titulierten
ihn deshalb »Herr Oberschuhreiniger«. Seppe und Pipin waren mit vereinten Kräften feingemacht worden. Ursprünglich hatten sie in ihrer Alltagskluft losfahren wollen; Seppe, weil er zu bequem war, auf seinen einzigen besseren Anzug achtzugeben; Pipin, weil er ungern eingestand, daß er nichts anderes besaß als das, was er am Leibe trug. Da war André energisch geworden. Seufzend hatte Seppe den Sonntagsanzug angezogen. Der Anzug war an sich recht gut, nur war Seppe seit mindestens drei Jahren für dieses prächtige und im wahrsten Sinne glänzende Kleidungsstück zu groß: die Ärmel endigten dicht unterhalb der Ellbogen, die Hosenbeine dicht unterhalb der Knie. Daraufhin befahl André ihm, den Rock auszuziehen, und lieh ihm einen ärmellosen Pullover. René mußte Pipin ein Hemd leihen, und Filou mußte ihm die Hosen flicken. Filou, dieser eitle Bursche, hatte nicht eher geruht, bis Oma ihm auf dem Flohmarkt zwar etwas abgetragene, aber dafür auch hellblaue Knickerbocker kaufte. Außerdem trug er ein vorläufig noch schneeweißes Hemd und eine Armbanduhr, die jedoch nicht ging. Sogar gegen den Wind duftete er nach Kernseife und Pomade. Maurice sah aus wie immer, bis auf die Baskenmütze, die er aufgesetzt hatte.
Spinnes gleichmäßiges Scheppern machte müde. Pipin schlief bereits tief und fest, Seppe döste; allein Filou, der zwischen beiden saß, war noch wach, aber auch nur deswegen, weil er ununterbrochen
futterte. Vor ihm stand eine halbmeterhohe Keksbüchse, darauf lag der berühmte Segeltuchsack aus dem Ambassadeur. Beide waren voller Stullen. André las mit gerunzelter Stirn in einem Buch, das er sich eigens für diese Fahrt gekauft hatte. Es hieß: »Der gute Ton in allen Lebenslagen oder Wie benehme ich mich?« Man kann doch nicht so mir nichts dir nichts in so ’n Schloß ’reinstolpern, hatte er überlegt, man muß sich vorbereiten. Immer wieder liest und hört man, wie schrecklich vornehm es auf Schlössern zugeht. Und da will man sich doch nicht blamieren! Die feinen Leute sollen an meinem Benehmen jedenfalls nicht merken, daß ich in Marseille dem Schuhputzergewerbe nachgehe. Ich werde denen einen – einen – Gent – le – man hinlegen, daß sie staunen. Ich schäme mich richtig für die anderen, vor allem für René, der ist so schrecklich gewöhnlich. Filou natürlich auch. Und das schlimmste ist, daß sie sich nicht mal bemühen, was zu lernen. Ich wollte ihnen aus dem »Guten Ton« vorlesen, da haben sie mich ausgelacht. Nun, dann sollen sie ’reinfallen, sollen sie sich gründlich blamieren! Hinter Salon wurde gehalten, weil verschiedene mal mußten. »Ist es nicht so, daß diese Gegend einen sehr merkwürdigen Eindruck macht?« salbaderte André. »Und wie still es hier ist!« »Stimmt. Hier fährt nicht mal ’ne Straßenbahn. Das ist nämlich die Crau, eine Steppe! Ein paar hundert Quadratkilometer groß. Schwemmland, wie du siehst. Nichts als Kieselsteine, bis zu Faustgröße, dazwischen ein bißchen dürres, hartes Gras. Kein Baum bis zum Horizont, bloß dahinten ein wenig Gebüsch.« »Warst du schon mal hier?« »Nein. Damit hat man uns in der Schule gepiesackt. Damals fand ich es blöd, so was lernen zu müssen, aber jetzt finde ich die Gegend ziemlich wundervoll. Man kommt sich richtig verloren vor in dieser unendlichen, trostlosen Weite.« »Ein bißchen verrückt sieht es hier aus, da haste recht«, meinte Seppe. »Aber schön ist es, sehr schön sogar.« René war anderer Meinung. Er spuckte auf die Steine und sagte: »Mist! Hier wächst weder Weizen noch Wein. Das soll schön sein? Nee!« Maurice zuckte die Achseln. »So darf man das wohl nicht betrachten. Schönheit ist nicht immer nützlich im alltäglichen Sinn. Immerhin, auch die Crau ist nicht ganz unnütz. Von diesem dürren, schäbigen Gras leben tausende von
Schafen und Kühen. Und an den Rändern, wo es Wasser gibt, wachsen Oliven, Melonen und Wein.« Während Maurice noch sprach, horchten die Jungen plötzlich auf. Spinne gab Geräusche von sich! »Uh, ah, uh!« machte der alte Karren und bewegte sich leise dabei. Was war denn das? Spukte es jetzt schon? War das Auto verhext? Jetzt hörte man auf einmal ganz deutlich: »Ich muß auch mal aus! Ich muß, ich muß ganz nötig!« Die Jungen standen wie erstarrt, Seppe machte einen Riesensatz und riß den Kofferraum auf. Ein Schrei, der von kläglichem Gewimmer abgelöst wurde: Tista erschien in der Öffnung des Koffers wie Venus in der Muschel. Nur wesentlich schmutziger. Seppe schimpfte maßlos, aber seine Wut war nicht echt. Er tat nur so, um die anderen zu besänftigen. Liebevoll hob er den Kleinen aus seinem finsteren, öligen Gefängnis heraus und führte ihn abseits. Die anderen standen betreten herum. Du liebe Güte, ein blinder Passagier! Und ausgerechnet Tista! Deswegen quietschten also die Scharniere zum sechstenmal, dachte Pipin. Hätte ich doch nur darauf geachtet! Der einzige, der den Dreikäsehoch freudig begrüßte, war Stinker. Er schlenkerte fröhlich die struppige Rute. »Was machen wir mit dieser schmutzigen Sardine?« Was konnte man schon tun? Am liebsten hätten sie ihn als Einschreiben nach Hause geschickt oder ihn in Jen nächsten Zug gesetzt, wie René vorschlug. Aber das ging wirklich nicht, man konnte den kleinen Kerl unmöglich allein reisen lassen. Und ihn durch Seppe nach Hause zu schaffen, kostete Geld, ganz abgesehen davon, daß Seppe ein Anrecht auf die Fahrt hatte. Schweren Herzens entschieden sie sich also, ihn mitzunehmen. Seppe hielt es für angebracht, seine Freude darüber nicht zu zeigen. Ich werde gleich eine Karte nach Hause schreiben, überlegte er, damit Mutter sich nicht ängstigt. Mutter wird heilfroh sein, daß sie den Kleinen für ein paar Tage vom Hals hat. Wo ich doch weg bin! Er überließ Tista seinen Platz neben Filou und setzte sich dahin, wo früher mal das Klappverdeck gewesen war. Nun hockte er zwischen den vier mit Stricken festgebundenen Ersatzreifen und dem Benzinkanister und ließ die Beine über die Straße baumeln. Vergnügt und stolz hopste Tista auf seinem Sitz herum.
»Eua Spinne fähat aba fein«, krähte er. »Soll ich mal auf ’n Motoa spingen, daß ea angeht?« Von diesem hochherzigen Angebot wurde kein Gebrauch gemacht. Maurice begab sich nach vorn, denn jetzt war er dran, auf die Kurbel zu »spingen«. Dicht hinter der Rhonebrücke in Arles zeigte André aufgeregt auf ein Schild und rief: »Da! Da! Nach Villeneuve 17 Kilometer! Linksabbiegen, René!« »Das kann nicht stimmen!« warf Maurice ein. »Wenn wir links abbiegen, fahren wir ja nach Süden! Unser Villeneuve soll aber bei Nîmes, also nördlich von hier, liegen. Laßt uns mal fragen!« »Ach Quatsch! So viel Villeneuves wird es hier auch nicht geben, daß man in jeder Richtung eins findet. Nee, das wird schon richtig sein«, meinte René und fuhr südwärts. Ich hätte mich wirklich um den Reiseweg kümmern müssen, dachte Maurice noch einmal. Wir verfahren uns todsicher und vergeuden kostbares Benzin. Wäre meine Sache gewesen, das Kaff ausfindig zu machen. Insgeheim haben sie es auch von mir erwartet, glaub’ ich. Statt dessen habe ich ziemlich untätig der Reparatur des Wagens zugeschaut. Wenn man Ansehen genießt als Intelligenzbestie, dann muß man dieses Ansehen rechtfertigen, sonst ist es bald aus damit. Na, das passiert nicht noch mal! Die sandige Straße schlängelte sich durch eine Landschaft, die ebenso erhaben einsam und öde war wie die Crau, ebenso kahl und flach, und doch ganz anders. Auch hier graubleiches Kieselgeröll und dürftiges Gras, kaum ein Baum, hier und da zähes Gebüsch. Zwischendurch jedoch immer wieder blausilbern blitzende Seen mit hohem, gelbem Schilf, fettgrün leuchtende Moräste, Tümpel und Sümpfe. Spinnes Geknatter scheuchte Scharen von Wildenten aus ihren Verstecken; Wasserhühner und rosarote Flamingos flüchteten nach allen Seiten; Haubentaucher flatterten auf; Fischreiher hoben sich gravitätisch in die Luft und zogen langsam große Kreise; Fasanen und Rebhühner flogen in dichten Schwärmen nach rechts und links davon. Die Jungen staunten und machten sich gegenseitig auf die fliehenden Tiere aufmerksam, von denen sie nicht einmal die Namen kannten. Sie freuten sich über die im Zickzack davonrasenden Kaninchen, jubelten über ein Rudel leichtfüßig abspringender Rehe, gerieten aus dem Häuschen über einen Fuchs, der ungerührt von allem Lärm am Rande eines Schilfbestandes gemächlich dahinschnürte.
»Der reinste Tierpark, was?« rief Maurice lachend. »In der Tat, so ist es. Wenn ich das gewußt hätte, würde ich mir noch ein Buch, und zwar eins über Tiere, gekauft haben. Dergleichen ist so belehrend! Dergleichen gibt es in der Stadt nicht.« »Toll, was?« Seppe drehte sich um und machte eine weite Armbewegung. »Tolle Gegend, wie?« brüllte er. »Das reinste Paradies für Jäger und Angler!« »Für Nichtstuer! Für Sonntagsjäger und Ausflügler«, knurrte René. »Nicht für Bauern!« »Jaja«, stöhnte Maurice ironisch bedauernd, »ich weiß: kein Weizen und kein Wein. Du elender Banause!« »Banause, meinetwegen. Aber was nützt die schönste Gegend, wenn sie nichts einbringt? – Im übrigen hab’ ich Hunger, ich möchte mal was essen. Falls Filou, den ich seit drei Stunden schmatzen höre, was übriggelassen hat.« »Ou-ja«, beeilte sich der Schwarze zu sagen. Seine Aussprache war noch undeutlicher als sonst, weil er den Mund voll hatte. Und als wenig später, dort, wo sich die Straße mit einem Feldweg kreuzte, eine Gruppe von drei Schirmkiefern auftauchte, steuerte René den Wagen in den Schatten der Bäume und stellte den Motor ab. Die Jungen sprangen von den Holzsitzen und dehnten und streckten erleichtert die durchgeschüttelten Glieder. Der bereits ziemlich geleerte Segeltuchsack wurde abgeladen, man machte es sich auf dem warmen Boden bequem und aß mit bestem Appetit Ambassadeur-Stullen, Schokolade und Apfelsinen. André zeigte während des Essens mit dem Taschenmesser in Fahrtrichtung und meinte: »Ich gehe doch wohl kaum fehl in der Annahme, daß diese Stadt dort vor uns Villeneuve ist, wie?« »Sieht ’n bißchen merkwürdig aus, findet ihr nicht?« meinte Seppe. »Ja. Scheint auf ’nem Berg zu liegen. Jedenfalls größer als ich dachte. Das alte Gemäuer links davon ist wohl Sankt Augustin?« Maurice zuckte die Achseln, die andern nickten, froh, dem Ziel so nah zu sein. Wenn sie die »Stadt« jedoch genauer und vor allem länger betrachtet hätten, würden sie gemerkt haben, daß sie sich allmählich und stetig veränderte. Aus der schlichten, kleinen Kirche wurde nach und nach eine riesige Kathedrale, aus Sankt Augustin in der gleichen Zeit ein amerikanisches Hochhaus. Die ganze »Stadt« wuchs und wuchs, wurde immer gewaltiger – und war mit einem Mal verschwunden. Was sie für Villeneuve gehalten hatten, war
nichts weiter gewesen als eine Luftspiegelung, eine Art optischer Täuschung aus Lichtreflexen, wie sie in dieser Gegend häufig sind. »Is ja wech!« stellte Tista als erster fest. »Nanu!« sagte René. »Was is ’n das für ’n Quatsch?« Maurice lachte: »Fata Morgana! Da sind wir aber schön ’reingefallen!« Er versuchte, die seltsame Erscheinung seinen Freunden zu erklären, kam jedoch nicht zu Rande damit, weil mit einem Mal der Boden zu zittern begann und ein dumpfes, grollendes Trommeln sich näherte. Die Jungens sprangen auf und schauten gespannt nach rechts. Eine wogende, donnernde Wolke von gelbem Staub und schwarzen und weißen Leibern toste heran, Tausende von Hufen stampften in rasendem Galopp den Boden: eine Riesenherde schwarzer Stiere mit breiten, ausladenden Hörnern. Seitlich voraus sieben, acht, neun Reiter, lange Stangen in der Hand, auf kleinen, langmähnigen, wieselflinken Schimmeln. Ein wirbelnd kochender Gießbach, ein polterndes, grollendes Unwetter, immer näher, immer lauter. »Da! Da!« schrie Maurice, zeigte mit der rechten Hand und drückte mit der linken heftig Andrés Arm. Der spürte nicht einmal den Schmerz, sprang von einem Bein aufs andere und brüllte: »Mensch! Mensch, so was! Mensch!« und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Ganz nah war die Herde jetzt, einen Moment sah es aus, als wollte sie die Jungen überrennen und zertrampeln. Filou quiekte wie eine Maus, machte einen Hechtsprung und nahm unter Spinne Deckung, zitternd verbarg er sein Gesicht in den Händen. Seppe riß Tista auf den Arm und war mit einem Satz hinter dem dicksten Baum. Der Kleine klammerte sich mit beiden Armen fest, drückte das Köpfchen an die Schulter des großen Bruders, schaute aber gebannt zu, mit weitoffenen Augen. So dicht prasselte und polterte die wilde Jagd an ihrem Rastplatz vorbei, daß sie den Stieren in die irrlichternden Augen, den Reitern in die dunkelbraunen, schweißigen Gesichter schauen konnten. Dichter Staubnebel überrollte sie, machte die Stiere zu grauen Schatten, dämpfte den ohrenbetäubenden Trommelwirbel, kratzte in der Kehle und biß in die Augen. Und dann war die Herde vorbei, das Poltern verebbte, grummelte in der Ferne wie ein abziehendes Gewitter. Der Staub zog langsam davon, folgte den Tieren wie ein Schleppe. »Boh!« sagte Tista aufatmend; die anderen schwiegen noch im-
mer. »Mordssache, was?« meinte Maurice leuchtenden Auges. »Das werd’ ich malen, irgendwann. Das war ein Bild, na!« Pipin nickte und atmete tief, Seppe stellte Tista auf den Boden und drehte rasend schnell die Daumen. André hatte sich so weit gefaßt, daß er sagen konnte: »Ich stelle fest, daß diese Sache mich noch mehr beeindruckt hat als jene merkwürdige Fata Morgana!« »Unsinn!« knurrte René. »Totaler Quatsch! Die Tiere werden ja nie fett, wenn man sie so durch die Landschaft jagt!« »Wer jagt die Tiere denn!« fragte da eine fremde Stimme. »Glauben Sie nur, den Gardians wäre es viel lieber, die Toros blieben friedlich auf der Weide! – Nichts für ungut, Jungens, daß ich mich einmische! Und guten Tag allerseits!« »Tag!« begrüßten sie den jungen Mann, der unbemerkt hinter ihnen aufgetaucht war, nun sein Fahrrad an den Baum lehnte und diensteifrig den Deckel seines kleinen Anhängers öffnete. »Möchtet ihr nicht etwas trinken?« sagte er und zeigte auf zwei in Eis gepackte Fäßchen. »Prima Wein, erstklassig und schön kalt. Tut gut bei dem Staub hier!« Maurice räusperte sich anzüglich und blickte André ganz unmißverständlich an, sagte aber keinen Ton. Die anderen leckten sich die Lippen und schauten ihn ebenfalls schweigend an. »Wein macht müde«, wehrte André ab, »und wir haben noch viel vor!« »Ich habe auch Traubensaft und Mineralwasser!« sagte der Händler und öffnete die rückwärtige Klappe des Anhängers. »Hier, ebenfalls eisgekühlt und prima!« Sieben Flaschen Traubensaft, dachte André. Wo kommen wir denn da hin? Aber etwas muß ich ihnen geben. Mensch, wie die mich angucken! Wie hungrige Kinder ihre böse Stiefmutter ansehen. Geht einem ja auf die Nerven! Schade für das Geld; wir haben ohnehin viel zuwenig. »Geben Sie mal drei Flaschen!« sagte er, und zu den Jungen gewandt: »Je zwei Mann eine Flasche. Seppe muß Tista was abgeben.« Das kühle, ein wenig herbe Getränk tat wohl. Wer getrunken hatte, stöhnte vor Begeisterung oder schnalzte mit der Zunge. Nur André trank nicht, das heißt, er nahm zwei ganz kleine Schlückchen und reichte die Flasche verschämt lächelnd an Seppe weiter. Manchmal ist André wirklich ein netter Kerl, dachte Seppe, nahm nur einen Schluck und gab die Flasche seinem Brüderchen.
»Macht ihr ’n Ausflug, Jungens? Wo soll’s denn hingehen?« Der Händler fühlte sich verpflichtet, seine Kunden zu unterhalten. »Nach Villeneuve. Aber sagen Sie mal, wo rannten denn die Ochsen eben hin?« wollte André wissen. »Wohin?« Der Mann lachte. »Wissen die selber nicht. Die rennen einfach los. Außerdem waren das keine Ochsen, sondern Stiere, Toros auf provenzalisch.« »Und warum rennen die überhaupt so?« »Schwer zu sagen. Vielleicht ist der Leitbulle von einer Bremse gestochen worden, vielleicht hat er ’n kleinen Hitzschlag gekriegt. Und dann rast er eben los, und die ganze Herde hinterdrein. Sie dürfen nicht vergessen, daß diese Tiere halb wild sind, keine zahmen Bauernkälbchen, Kampfstiere zum Teil.« »Ich hab’ mal davon gehört«, fiel Maurice ein, »hier gibt es also tatsächlich Stierkämpfe?« »Ja, das hat sich eingebürgert. Allerdings sind bei uns die Kämpfe nicht so wild und blutrünstig wie in Spanien, aber deswegen nicht weniger spannend oder weniger gefährlich.« »Hm. Sagen Sie, warum hielten die Reiter die Herde nicht einfach auf?« »Geht leider nicht! Wie sollen sie das machen? Man kann höchstens versuchen, den Leitbullen mit dem Dreizack abzudrängen. Das ist sehr gefährlich, weil man vor der Herde reitet. Stolpert nämlich eines dieser kleinen Pferdchen, etwa durch ein Karnickelloch, und der Gardian – so nennt man die Gauchos hier in der Camargue – wird abgeworfen, dann ist er unweigerlich geliefert und wird zertrampelt. Kommt zum Glück selten vor, weil die CamargueSchimmel – es gibt nur Schimmel hier – wirklich prima sind. Nicht nur flink und zäh, sondern auch klug. Kein Wunder, daß die Gardians mächtig stolz auf ihre Gäule sind und ihnen manchmal sogar richtige Grabsteine setzen.« »Gardians nennt man die Leute? Trugen so große Hüte und knallbunte Hemden. Und was machen sie mit den Lanzen?« »Damit dirigieren sie die Toros – wenn diese ruhig sind und es sich gefallen lassen. Die langen Stäbe sind aus prima Kastanienholz und tragen am Ende einen eisernen Dreizack. Aber was so ein Gardian alles können muß, das sieht man am besten auf einer Ferrado. Nun, ich rede wie ein Wasserfall und euch interessiert es vielleicht gar nicht!« »Doch, doch!« beteuerte Maurice eifrig. »Ich finde das toll! Hab’
ich noch nie was von gehört. Was sagten Sie? Ferrado? Was ist das denn?« »Die Kennzeichnung der Jungtiere mit dem Zeichen des Besitzers. Zugleich so ’ne Art Volksfest für die ganze Umgegend. Ich fahre übrigens mit meinem Laden zu einer Ferrado bei Mas Silvareal; habt ihr nicht Lust, mitzukommen? Das ist wirklich eine ganz prächtige und richtig aufregende Sache!« »Wie geht denn das vor sich, erzählen Sie mal!« »Man treibt die Tiere einzeln von ziemlich weit her – die Toros sollen nämlich etwas müde werden – in eine Art Arena, die aus Leiterwagen aufgebaut wird. Darauf – in Sicherheit also – sitzen die Zuschauer. Sobald der Stier in der Arene ist, sitzt ein Gardian ab, packt ihn bei den Hörnern und versucht ihn umzuwerfen. Das muß natürlich blitzschnell gehen, denn der Toro hat das nicht gern und wird leicht böse, zumal die schreiende Menschenmenge ihn aufregt. Gelingt die Geschichte, dann springen ein paar andere hinzu und halten den Stier fest, einer drückt ihm den glühenden Stempel auf den Po und dann ist er in Gnaden entlassen. Und der Gardian erhält von einem hübschen jungen Mädchen in provenzalischer Tracht ein buntes Tuch als Siegeszeichen.« »Und wenn es nicht gelingt?« »Dann wird es mitunter sehr komisch oder sehr gefährlich, je nachdem, wie der Toro die Sache auffaßt. Die Zuschauer lachen auf jeden Fall. – Wie ist es, wollt ihr nicht mit? Villeneuve ist ohnehin wie ausgestorben, heute ist überall Ferrado. Aber vielleicht wollt ihr Verwandte besuchen, und ich halte euch auf?« »Nee, dieses wiederum nicht. Wir hegen die Absicht, das Schloß Sankt Augustin aufzusuchen, wo wir geschäftliche Dinge zu erledigen haben.« »Schloß Sankt Augustin? Wo soll denn das sein? Hier gibt es weit und breit nur ein einziges Schloß, nämlich Schloß Avignon.« »Muß aber doch! Sankt Augustin bei Nîmes, Departement Var!« »Bei Nîmes? Sagten Sie Nîmes? Menschenskind, Nîmes liegt rund vierzig Kilometer nördlich von hier und außerdem nicht im Departement Var, sondern Gard! Var ist weit östlich von hier, die Gegend von Hyères, St. Raphael, St. Tropez.« »Was sagen Sie da? Gard? Sie irren sich, wir haben doch auf der Karte nachgesehen!« »Nein, ich irre mich auf keinen Fall, ich bin nämlich in Nîmes zur Schule gegangen! Habt ihr noch nie von dem berühmten Pont du
Gard gehört, von dem großen Aquädukt, den die Römer gebaut haben?« »Nein, da woll’n wir auch gar nicht hin!« »Bitte, wenn ihr mir nicht glauben wollt«, sagte der Händler beleidigt, »fahrt ruhig weiter nach Villeneuve und erkundigt euch dort. Eins steht jedenfalls fest: ein Schloß Sankt Augustin gibt es hier nicht, und Nîmes liegt im Departement Gard! – So, Wiedersehen! Ich muß zur Ferrado!« Maurice ahnte, daß der Mann recht hatte, sagte aber nichts, weil René sein bockigstes Gesicht aufgesetzt hatte. Schweigend stiegen sie ein und fuhren weiter. Zwanzig Minuten später waren sie in Villeneuve, und sehr bald bestätigte sich alles, was der Weinverkäufer behauptet hatte. Sie hatten sich also doppelt verfahren: ihr Villeneuve lag nicht bei Nîmes, im Departement Gard, sondern am Meer, im Departement Var, fast zweihundert Kilometer von hier. Monsieur Franz hatte sie in die genau entgegengesetzte Richtung geschickt. Dank Maurices Trägheit! Aber nicht einmal dieses falsche Villeneuve hatten sie erreicht. Dank Andrés Voreiligkeit und Renés Eigensinn! Rund neunzig Kilometer hatten sie zurückgelegt, völlig vergebens. Und nun mußten sie dieselbe Strecke zurückfahren, um an ihren Ausgangspunkt zu gelangen, dann erst waren sie auf dem richtigen Wege. Zwanzig Liter kostbaren Benzins sinnlos verschwendet, es wurde elf Uhr, und sie waren weiter vom Ziel entfernt denn je! Kein Wunder, daß die Gesichter der sechs Helden ziemlich düster aussahen. Maurice, André und René machten sich innerlich heftige Vorwürfe. Bloß Tista war vergnügt und erzählte unaufhörlich eine Geschichte, in der viele Kühe mit tausend Beinen vorkamen. »So, jetzt besorgen wir uns zunächst mal eine Karte, und dann wird haargenau der Reiseweg festgelegt. Solch eine Panne passiert nicht noch mal!« versprach Maurice. Einer der von René so verachteten Sonntagsjäger lieh ihnen eine recht gute, genaue Karte, auf der sie unweit von St. Tropez Villeneuve und sogar Sankt Augustin eingezeichnet fanden. Mit viel Mühe und Eifer begab sich Maurice daran, den kürzesten Weg zu ermitteln, schrieb sich die Straßen, die Abzweigungen und Entfernungen auf. René schüttelte den Kopf: »Falsch! – Tja, Maurice, wenn man größere Entfernungen zurückzulegen hat, ist der bessere Weg immer der kürzere und billigere! Bloß keine Nebenstraßen oder gar Feldwege, wie du da aufschreibst, selbst wenn’s auf der Autostraße zehn oder zwanzig Kilometer weiter ist. Alte Erfahrungstatsache! Auf schlech-
ten Straßen muß man langsamer fahren, muß mehr schalten und bremsen. Das kostet Benzin und Zeit. Nee, such ’ne anständige Chaussee, auf der man durchrollen kann. Und wenn es geht« – hier wurde er ein wenig verlegen-, »eine mit möglichst wenig Steigungen, ja?« »Woran sieht man denn, daß eine Straße gut ist? Die Steigung kann man an den Höhenzahlen ablesen.« »Nimm die, die am dicksten gemalt sind, die sind richtig.« »Gut! Dann fahren wir jetzt zurück über Arles nach Salon, von da nach Aix, dann über Brignoles bis Le Luc. Dort biegen wir nach Süden ab, Richtung St. Tropez, klar?« »Klar! – Los, steigt ein!« Kurz bevor Pipin auf die Kurbel sprang, knurrte André bissig: »Dieser blonde Quatschkopf, welcher uns in Marseille Auskunft gab, hat bestimmt in Geographie ›mangelhaft‹ gehabt!« Das kann ja noch feierlich werden, dachte René. Nix wie Berge! Wenn das so weitergeht – na! Noch so ’n Montblanc wie den eben, und Spinne ist sauer. Kaum dreiviertel Stunden hinter Aix. Schöne Bescherung. Und die alte Droschke säuft den Sprit nur so weg! – Kein Wunder, wenn man immer im ersten Gang fahren muß. Die sechs andern ahnten nichts von Renés Sorgen. Sie schliefen entweder wie Tista, der sich vertrauensvoll an den schläfrig dösenden Neger gekuschelt hatte, oder betrachteten die schöne Aussicht. Maurice hatte seine langen Beine auf den Kühler gelegt und es sich recht bequem gemacht. Daß es bergauf sehr langsam ging, trübte seine Stimmung keineswegs. Gelegentlich verlangte jemand von Filou eine Stulle; der Segeltuchsack war bereits leer. Eine Weile ging es mal wieder auf ebener Straße gut vorwärts. Ganz unerwartet setzte plötzlich der Motor aus. »Ist was kaputt?« »Ich glaub’ kaum«, erwiderte René finster. Er stieg aus, suchte sich eine dünne Gerte und stocherte damit im Benzintank herum. »Na, was ist denn?« »Leer!« »Was?« »Der Tank ist leer! Wir haben in diesen blödsinnigen Bergen mehr Benzin gebraucht als vorgesehen. Zehn Liter haben wir ja noch in Reserve, aber ob das langt?« »Nun, dann setzen wir eben das Geld, welches uns Gregoriades geschenkt hat, in Benzin um. Ich glaube, damit ist der Verlust, den
der Umweg verursacht hat, wieder ausgeglichen, nicht wahr?« »Du warst schon immer ’n kluges Kind, André! Daher steht dir auch der Wasserkopf so vorzüglich. Jetzt brauchst du uns bloß noch ’ne Tankstelle zu besorgen, dann machen wir dich zum Präsidenten von Frankreich!« André schwieg beleidigt und starrte Löcher in die Luft. René band den Kanister los und versuchte, den Verschluß abzuschrauben. Mit der bloßen Hand schaffte er es nicht, eine Zange mußte her. Er öffnete den Kofferraum – »Chchiih«, fauchte da etwas, und zwei glühende Augen starrten ihn an – sofort ließ er den Deckel fallen und sprang erschrocken zurück. Auf diesen Augenblick hatte Tista schon lange gewartet. »Zum Donnerwetter, was ist denn das schon wieder?« schimpfte René und hob – ein wenig vorsichtig allerdings – den Deckel zum zweitenmal. »Ach so, bloß ’ne Katze!« sagte er erleichtert. Es war aber nicht »bloß ’ne Katze«, sondern eine ganz bestimmte, sehr wertvolle, bereits fünfmal preisgekrönte Angorakatze: Sasu, Madame Achmeds Liebling und Tistas Freundin. Wenn es jetzt keine Prügel gibt, dann weiß ich’s nicht, dachte Tista. Es gab aber keine Prügel, und das kam so: Stinker witterte die Katze und sprang mit einem Wupps von Filous Schoß auf den Koffer und griff mit einem wütenden Bau-bau-bau seine Erzfeindin an. Susa riß aus, fegte querfeldein in ein Gebüsch, Stinker hinterdrein. Sein ungehobeltes »Bau-bau-bau« entfernte sich weiter und weiter. »Das hat uns ja wohl noch gefehlt! Sind wir eigentlich ’n fahrbarer Tierpark, oder was sind wir, he?« Die andern schwiegen betroffen. Tista allein hätte ihnen schon vollauf genügt, aber Tista und Sasu? O weh! »Wir fahren weiter! Dann sind wir das Viehzeug wenigstens los!« »Waas? Stinker hier lassen? Du biss wohl verrückt!« Wie ein Geldschrank wälzte sich Filou vom Wagen und schnaufte hinter seinem Köter her. Tista folgte ihm. »René, das können wir nicht machen! Wenn die Achmed erfährt, daß Sasu durch uns verlorengegangen ist, dann haben André und ich keine ruhige Minute mehr in ihrem Haus. Nein, das geht nicht, wir müssen diesen preisgekrönten Bohnerbesen wieder mitbringen, oder wir erleben unser blaues Wunder.« »Kommt nicht in Frage!« meinte auch André. »Das können wir der guten Frau nicht antun, das wäre unmenschlich. Für Maurice und
mich nämlich, denn die Dame verfügt über ein Mundwerk wie ein Reißwolf. Eilen wir also, das Tierchen zu suchen!« Für Sasu war das Gelände sehr ungünstig, es gab keinen Baum, auf den sie sich hätte retten können. Stinker hetzte sie von einem Gebüsch zum anderen. Die Jungen liefen seinem Gebell nach, etwa zweihundert Meter weit. Als sie ihn schließlich erreichten, kläffte und knurrte er wütend in ein Kaninchenloch hinein. Filou nahm ihn gleich beim Wickel und redete verweisend auf ihn ein. »Sasu is da im Loch!« verkündete Tista strahlend. »Soll’n wir sie vielleicht mit ’nem Frettchen ’rausjagen?« »Gaanich«, beruhigte Tista, »geht mal alle wech!« Der Kleine legte sich auf den Bauch und lockte das liebe Miezekätzchen in den süßesten Flötentönen, doch Sasu kam nicht. Gern wäre sie in Tistas Arme geeilt, wenn sie nur gekonnt hätte. Sie war besser genährt als so ein armseliges Wildkaninchen, für ihre Taillenweite war der Bau nicht berechnet. In ihrer Angst hatte sie sich ’reingezwängt, und nun konnte sie weder vorwärts noch rückwärts. Tista hörte ihr weinerliches Mau-maau und wußte Bescheid. »Sasu kann nicht!« rief er voller Angst und begann mit den Händen den Sand wegzuscharren. Die Jungen kamen heran und halfen ihm buddeln. Sie taten es ungern und schimpften, aber sie buddelten. Nach langer, mühseliger Wühlarbeit endlich ein Freudenschrei Tistas: Sasu war gefunden. Aber wie sah sie aus! In diesem Zustand wäre sie niemals preisgekrönt worden. Als sie zur Straße zurückkamen, sahen sie gerade noch einen schweren Wagen davonbrausen. Und dann stellten sie fest, daß Spinne auf vier Plattfüßen stand. »Ich werd’ wahnsinnig!« behauptete René. »Was ist denn das?« Jeder Reifen hatte ein tüchtiges Loch, anscheinend von einem Messerstich herrührend. Fassungslos tastete er an den Pneus herum. »Ist das nicht zum Heulen? Ist das nicht zum Verzweifeln? Was soll das heißen? Wer hat das getan?« »So eine Gemeinheit! Ich stelle mit tiefster Entrüstung fest, daß an unserem Gefährt inkognito eine Büberei verübt worden ist!« »Wer hat das wohl getan?« fragte auch Maurice. »Und warum?« Aber was nützte alles Jammern und Zetern: sie mußten weiter. Unter fürchterlichen Drohungen auf die unbekannten Attentäter flickte René einen Reifen nach dem anderen. Die Jungen pumpten sich die Seele aus dem Leib. Als sie weiterfahren konnten, war es bereits später Nachmittag. Spinne hatte sich inzwischen abgekühlt und
schnurrte dahin, daß es eine Freude war. Doch nicht lange, und es kamen wieder Berge. Und was für Berge! Da drehte Seppe sich um, sein Gesicht war vom zurückwirbelnden Staub fast so schwarz wie das von Filou. »René!« schrie er, »René, wir ziehen eine Spur hinter uns her!« »Was will der?« fragte der Fahrer, der außer seinem Namen nichts verstanden hatte. Filou übermittelte ihm die traurige Botschaft. Sofort hielt René und stieg aus. Tatsächlich, ein dünnes, feuchtes Rinnsal. Voll böser Ahnungen bückte er sich und schnupperte. »Benzin!« kreischte er. »Der Karren bringt mich noch um!« Voller Wut trat er Spinne in die Flanke, genau wie damals sein Chef Camille. Der Benzintank war ebenfalls von einem Messerstich angebohrt! Das Loch war nicht groß, der Brennstoff sollte nicht mit einem Male, sondern nach und nach ausfließen. Und das hatte er auch prompt getan, einige Liter kostbaren Sprits mußten schon verloren sein. Wie sollte man das Loch abdichten? Es war nicht rund, mit Holzpflöcken würde man den schmalen Schlitz nicht schließen können. Vorläufig hielt René mal den Finger drauf. Die unmöglichsten Vorschläge wurden gemacht. Seppe erbot sich sogar, während der Fahrt das Loch zuhalten zu wollen. »Da hab’ ich was für!« verkündete Tista und packte seinen Tascheninhalt auf den Kotflügel. Zuerst förderte er einen Tuchfetzen zutage, den man in sauberem Zustand Taschentuch zu nennen pflegte. Ferner: einen Bleistiftstummel, ein leeres Garnröllchen, vier Nägel unterschiedlicher Größe, einige zerknautschte Reklamebildchen und als letztes – einen ganz ansehnlichen Klumpen Fensterkitt. Den präsentierte er auf seiner schmutzigen kleinen Pfote: »Da!« René brummte Unverständliches, aber er nahm den Kitt und drückte ihn fest auf den Schlitz. André holte eine große, längliche Schachtel aus dem Wagen, auf der ein rotes Kreuz gemalt war. Darunter stand: »Erste Hilfe bei Unglücksfällen!« »Selbst daran hat dieser Pedant gedacht«, murmelte Maurice spöttisch, aber insgeheim doch bewundernd. André klebte umständlich einen Kreuzverband aus Heftpflaster über den Kitt. »So!« sagte er stolz. »Das wird halten.« Pipin hatte Renés und Andrés Hantierungen nachdenklich beobachtet. Nun nahm er regelrecht Anlauf – das tat er übrigens immer, wenn er vorhatte, einen ganzen Satz zu reden – und fragte: »Sag mal,
René, wie kommt es, daß wir das Loch im Tank nicht sofort bemerkt haben? Als wir die Reifen flickten, lief der Sprit jedenfalls noch nicht. Wie ist das möglich?« »Tja, darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach. Klar, der Sprit hätte fließen müssen. Dort, wo wir standen, mußte ’ne tüchtige Lache sein, die man nicht nur gesehen, sondern auch gerochen hätte. Hat aber nicht! Ist direkt ’n Wunder! – Warum lachst du so dumm, Maurice? Weißt du es etwa?« »Nein, ich weiß es auch nicht. Ich lache über was ganz anderes. Mir fiel eben auf, wie schrecklich nüchtern Pipin redet, wenn er sich tatsächlich mal herabläßt, das Maul aufzumachen. Und da hab’ ich mir vorgestellt, wie er eigentlich reden müßte. Schließlich ist er ein Sohn des Reiches der Mitte! Und das verpflichtet ihn, finde ich, sich etwa so auszudrücken: O sage mir, René, kühner Herrscher dieses feuerspeienden, Geld und Benzin verschlingenden Drachens, der du uns Unwürdige mit deiner erhabenen Kunst und staunenswerten Geschicklichkeit, die dir die Götter erhalten mögen, sicher durch Wüsteneien und Einöden führst, sage mir…« Hier konnte er selbst nicht mehr weiter und stimmte ein in das Gelächter der andern. »Glänzend machst du das«, sagte Pipin breit grinsend, so breit, daß die hintersten Backenzähne zum Vorschein kamen. Seine Augen funkelten vor Freude, daß er dazugehörte, daß man sich mit ihm befaßte, denn das war er nicht gewöhnt. »Aber du weißt mehr vom Reich der Mitte als ich. Ich war nie in China, ich kann kein Wort chinesisch. Aber falls es euch Spaß macht, will ich mich gern solch blumiger Redensarten bedienen. Ich kann’s ja mal versuchen!« »Tue solchermaßen, o Sohn des Himmels!« fiel André ein, der unbedingt seinen Senf dazugeben wollte. »Aber nun laßt uns dieses Gefährt besteigen, denn die Sonne neigt sich gen Abend.« »Ihr seid Motten«, brummte René, feixte und schüttelte seine roten Borsten. »Ihr habt alle ’n Vogel und wißt es nicht!« Insgeheim freute er sich sehr über »kühner Beherrscher« und »Kunst« und »Geschicklichkeit«, denn er wußte genau, daß in diesen Worten wirklich die echte Anerkennung der Freunde enthalten war, und daß sie aus Maurices Mund kam, freute ihn doppelt. Nicht etwa, weil er sich gern die Gunst des reichen Fabrikantensohnes erworben hätte, sondern weil Maurice mit Autos und Fahrern einige Erfahrung hatte, seine Leistung also beurteilen konnte. Das hat fein geklappt, dachte Maurice, als der Wagen anrollte. Die Stimmung ist gerettet. Ich muß mal mit René reden. Der soll
nicht immer so aufbrausen. Steckt die andern an und vermiest ihnen die Laune. Muß lernen, sich ein bißchen zusammenzureißen. Es passiert immer was, irgendwie kommt einem immer was dazwischen. Nach dem alten Motto: erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Knatternd fuhren sie durch ein kleines Städtchen. Die Bewohner saßen auf Stühlen vor ihren Haustüren, in Hemdsärmeln, eine Flasche Rotwein neben sich, rauchten und plauderten. In einer Ecke des Marktplatzes wurde von jungen Männern »Boule« gespielt, ein in ganz Südfrankreich sehr beliebtes Kugelspiel. Die Männer wogen ihre faustgroßen Eisenkugeln prüfend in der Hand, zielten bedächtig und ließen sich durch Spinnes Getöse durchaus nicht ablenken. Hinter dem Städtchen senkte sich die breite Asphaltstraße ein wenig ab und stieg dann wieder an. Aber wie! Sie schien geradewegs in den Himmel zu führen. Spinne keuchte, ächzte, zitterte, spuckte. Daß man ihr so was auf ihre alten Tage zumutete! Sie winselte, heulte, wimmerte in den höchsten Tönen und kroch wie eine Schnecke dahin. Auf halber Höhe hielt René an. »Aussteigen! Der ausgemergelte Rappelkasten schafft es sonst nicht.« »Aber ich muß sitzen bleiben«, sagte André. »Warum denn das?«
»Ich ziehe schon die ganze Zeit mit aller Kraft die Handbremse, damit wir nicht rückwärts ’runtersausen, wenn der Drachen plötzlich stehenbleibt.« »Du Trampeltier! Deswegen würgte der Wagen so!« René war fassungslos über so viel Unverstand. »Wenn Dummheit weh täte, dann würdest du den ganzen Tag vor Schmerzen jammern! Dich sollte man ausstopfen, Mensch, und ins Museum stellen. Du Schafsnase!« Wütend fuhr er ab. Ohne Belastung und ohne Bremse schaffte Spinne den Berg spielend. Im ersten Gang natürlich. Oben auf der Kuppe stiegen die Jungens wieder ein. So steil wie der Anstieg war, so steil war auch die Abfahrt. René brachte Spinne tüchtig in Schwung, denn da drüben war schon wieder ein Berg, flacher als der vorige, aber dafür war der Anstieg mindestens drei Kilometer lang. Einen Kilometer vor der Spitze streikte Spinne.
»Ich war nicht an der Bremse!« beteuerte André. »Schafsnase«, bellte René und öffnete die Kühlerhaube. Der Kitt auf dem Tank hatte gehalten, aber wie war’s mit dem Benzin? René schob das Stöckchen durch den Füllstutzen und zog es wieder heraus. Ganz unten an der Spitze war es ein wenig naß. »Da haben wir’s!« sagte er. »Sprit alle!« »Bestimmt?« »Ganz bestimmt! Jetzt kleben wir hier am Berg wie ’n Schwalbennest am Giebel. Ausgerechnet karierte Maiglöckchen!« »Wieso Maiglöckchen?« Maurice hatte nur halb zugehört; hingerissen betrachtete er die Landschaft. »Das muß ich doch eben…«, murmelte er. »Tista, hol mal Wasser!« »Wo denn? Hia is doch kein!« »Mensch, wir brauchen Benzin und kein Wasser!« »Nein, nein, mit Benzin geht’s nicht, vielen Dank. Ich brauche tatsächlich Wasser, weißt du. Aquarelle malt man komischerweise immer mit Wasser.« René rüttelte ihn an der Schulter. »Mann, begreifst du denn nicht: wir haben kein Benzin mehr, wir kommen nicht weiter!« »Na, das ist ja großartig, René! Dann kann ich ja malen. Hier ist es nämlich sehr hübsch, du hast eine herrliche Stelle ausgesucht, sehr nett von dir! Sieh doch mal die wunderbaren Farben auf dem Felsen, was? Das sind zehn verschiedene Arten Rot! Das kann einen umhauen! Ich muß das malen. Ich brauch’ Wasser, für die Farbe, René! – Sag mal, du hast doch heute morgen einen ganzen Eimer hier vorne ins Auto ’reingeschüttet, ist das schon alles verbraucht?« »Vorne ins Auto ’rein?« schnaubte René. »Das ist Kühlwasser, Mensch! Das ist jetzt heiß und dreckig!« »Du kannst ja nichts dafür«, beruhigte Maurice ihn liebevoll. »Die Straße war so staubig. Gib mir ein bißchen davon, ja?« Renés Gesicht zeigte zuerst blanken Zorn, dann wechselte der Ausdruck über grenzenlose Verblüffung zu milder Duldung. Armer Irrer, dachte er, solche Menschen darf man nicht reizen. »Hier, da haste Wasser. Nun mal dein Aquamarell!« Er reichte Maurice eine Konservendose, gefüllt mit einer dampfenden, trüben Brühe. »Sag mal, André«, fragte er leise. »Sind die Künstler eigentlich alle so verrückt wie der?« »Verrückt? Ich kenne das Leben, René, und deshalb kann ich dir sagen, daß Maurice keineswegs verrückt ist. Er ist nichts weiter als ein leidenschaftlicher Maler. Darüber vergißt er alles andere. Sieh
ihn dir an, wie er da auf dem Kühler sitzt und in die Landschaft stiert! Der ist richtig aus dem Häuschen, der muß jetzt malen. Und wenn du ihn nachher fragst, warum er diesen Felsen gemalt hat und nicht den daneben, dann guckt er ganz dumm aus der Wäsche und erzählt von Sachen, die unsereins nicht sieht. Von Motiv und Kontrast und Farbwerten – aber das verstehe ich nicht mal und du erst recht nicht.« »Gib nicht so an, du Napfkuchen! – Übrigens: wieviel Geld haben wir eigentlich noch?« André knöpfte sein Hemd auf, zog den ledernen Brustbeutel hervor und zählte. »Für zehn Liter Benzin würde es noch reichen. Aber was dann?« fragte René finster. »Kommt, wir gehn mal los. Wir müssen Benzin haben, hier können wir nicht länger hängenbleiben.« Sie gingen langsam bergan. Maurice und Sasu ließen sie beim Wagen, den Maler auf dem Kühler, die Katze im Kofferraum. »Bah, ist das heiß!« stöhnte André unterwegs. »Warum hast du dich in den schwarzen Frack gezwängt, anstatt dich luftig anzuziehen, du Angeber?« »Weil ich der Ansicht war, wir machten mit einem Auto eine Ferienreise! Statt dessen veranstalten wir mit deiner kümmerlichen Chausseewanze eine Art Hindernisrennen! Das konnte ich ja wohl nicht ahnen.« Ein solider Krach entwickelte sich zwischen den beiden, und kein Maurice war da, der es verhinderte. Hübsche Titel wie ›blöder Schuhwichser‹ und ›größenwahnsinniger Autoflicker‹ wurden ausgetauscht. Filou rang beschwörend die Hände und wollte schlichten. Er kam aber über das erste Wort nicht hinaus, denn sofort fielen die Kampfhähne gemeinsam über ihn her und beschuldigten ihn, zwei Drittel der Verpflegung selbst gegessen zu haben. »Ich ess’ gar nix mehr, gar-gar nix mehr!« stammelte der Schwarze mit Tränen der Empörung in den Augen. Das edle Brüderpaar verfolgte den Streit mit inniger Anteilnahme. Seppe feixte wie ein Heupferd, Tista bohrte selbstvergessen in der Nase. Nur Pipin verzog keine Miene. Er hatte die Arme angewinkelt und trabte im Rikschastil. »Da drüben ist übrigens ’n Haus«, sagte er, als sie die Kuppe erreicht hatten. Ungefähr zweihundert Meter von der Straße entfernt lag eine kleine, weißgekalkte Ferme, ein Bauernhaus. Schimpfend, grinsend,
nasebohrend bogen sie in den Feldweg ein, der dorthin führte. Als sie näher kamen, rottete sich vor dem Tor des Bauernhofes eine Horde Kinder zusammen, die vorher in der Umgebung gespielt hatten. Neugierig, mit weitaufgerissenen Augen, mindestens ein schmutziges Fingerchen im Mund, starrten sie den Ankömmlingen entgegen. Sie bekamen wohl selten Besuch. Zwei von ihnen flitzten in den Hof, um laut schreiend die Eltern zu benachrichtigen. »Das sind Italiener! Die sprachen italienisch, Jungens!« flüsterte Seppe aufgeregt. »Ja und?« meinte André. Malaien hätten ihm vielleicht imponiert. »Ich rede mit denen! Als Landsmann erreiche ich sicher was!« In der Haustür erschien der »Patron«, der Oberbefehlshaber des Anwesens und der Kinderscharen, ein älterer, mittelgroßer Mann mit einem unwahrscheinlich dicken Bauch. So kugelig prall wölbte sich sein Leib, daß es schien, als hätte der Mann einen Globus verschluckt. Mißtrauisch, wie die Bauern in der ganzen Welt nun einmal sind, blickte er unter seinem kreisrunden Strohhut hervor und musterte die Fremden. Seine untere Halbkugel steckte in einer verblichenen, geflickten Leinenhose, über die obere spannte sich ein weißes Netzhemd. Vier Jungens sagten: »Bon soir, Monsieur!« Seppe schmetterte, Tista zwitscherte: »Buona sera, Signore!« Sofort hellte sich das Gesicht des Dicken auf. Und dann sprudelte Seppe los, eine ganze Arie in wohlklingendem Italienisch. Der Bauer lächelte, strich Tista über den Kopf und gab schließlich allen die Hand. »Hat er Benzin?« fragte René ungeduldig. »Signore Tomasini hatte kein Benzin. Bloß Tomaten. Die züchtete er nämlich auf großen, künstlich bewässerten Feldern und verkaufte sie nach Marseille.« »Mein Freund Moretta und ich, wir besitzen zusammen einen kleinen Camion (Lastwagen), kleinen Camion, nicht wahr? Mit dem fahren wir jeden Morgen die Tomaten in die Stadt. Ja, in die Stadt. Jeden Morgen. Aber der Camion steht nicht hier, sondern bei Moretta«, sagte Tomasini in holprigem Französisch. »Außerdem ist mein Sohn Giacomo zusammen mit den Lümmeln von Moretta damit unterwegs.« »Wo wohnt denn der Moretta? Der kann uns doch sicher Sprit verkaufen, nicht wahr?« Herr Moretta wohnt acht Kilometer entfernt. »Nee, Herrschaften, da latschen wir nicht hin. Dann ist eben
Schluß für heute. Morgen ist auch noch ’n Tag.« René ging nicht gern zu Fuß, nicht einmal, um Benzin zu holen. »Kommt ’rein, Jungens, ihr werdet Hunger haben. Seid meine Gäste.« Monsieur Tomasini vollführte mit den speckigen Armen eine weltumfassende Bewegung. Als er »Gäste« sagte, brach seine Stimme schier vor Herzlichkeit und Rührung, und sein dicker Bauch zappelte und schwabbte unter dem Hemd. Über die ausgetretene, steinerne Schwelle führte er die Jungen wie ein Herold in die Küche. Am offenen Kaminfeuer saß die blinde Großmutter, neben ihr Herrn Tomasinis Gemahlin, nur wenig schlanker als er selbst, den jüngsten Sproß auf den Knien. Ein junges Mädchen arbeitete am Spülstein. Hinter den Jungen schob sich die ganze Meute der Tomasini-Nachkommen durch die Tür. Interessiert blickte sich André in dem dämmerigen Raum um. Das wäre was für Maurice, dachte er, der schwärmt für alte Häuser. Drolliger Fußboden: Fischgrätmuster aus flachen Kieselsteinen, die mit der Schmalseite in den gestampften Lehm getrieben sind. Und eine Pumpe, nein, wie rückständig! Und der Spülstein sieht aus, als hätten sie ihn selbst gebastelt. Gekalkte Wände. Ein Mordstrumm von Eichentisch, auch schon uralt, mit tiefen Rillen ’drin. Tomasini schleppte einen großen Krug mit Landwein herbei und stellte ihn auf den Tisch. »Eigenes Erzeugnis!« verkündete er. »Prost, Jungens!« Das Mädchen brachte auf einem großen Holzteller einen Klumpen Butter, Weißbrot, ein Fäßchen mit Salz und – Tomaten. Pralle, frische, blutrote Tomaten in Mengen. Endlich mal was anderes als die ewigen Ambassadeur-Stullen! Es schmeckte ihnen, sie aßen alle tüchtig. Filou fraß, nein, fressen ist fast noch zu milde ausgedrückt. Vor allem vertilgte er Tomaten. Der dicke Bauer freute sich, daß sein Produkt solchen Anklang fand, und ließ ihm immer wieder auftischen. Später mußte René mal ’raus. Als er wiederkam, sagte er: »Monsieur Tomatini – o Verzeihung – Tomasini, Sie haben ja einen Lastwagen. Hinter dem Schuppen steht doch einer!« »Ach, der«, sagte der Bauer. »Das ist ’n ganz altes Ding, hab’ ich von meinem Vorgänger geerbt. Ganz alt! Wir brauchen ihn nur einmal im Jahr, bei der Olivenernte. Wißt ihr, der hat nämlich gerade so die richtige Höhe für Olivenbäume. Das ist sehr praktisch. Sehr praktisch! Wir fahren einmal links und einmal rechts an den Bäumen vorbei, die Mädchen stehen auf dem Wagen und können ganz be-
quem pflücken. Und dann braucht man keinen Korb zu schleppen. Keinen Korb!« »Bitte leihen Sie uns den Wagen doch, Monsieur! Zum Abschleppen! Wir müssen unseren Karren von der Straße holen!« »Aber gern, aber gern, aber gern, Jungens!« sprudelte der Dicke. »Nur: Giacomo ist nicht da, der kann ihn in Gang bringen. Das ist nämlich nicht leicht! Gar nicht leicht nämlich!« »Ich kann das auch, Vater!« sagte ein spindeldürrer, etwa sechzehnjähriger Knabe aus der Menge der zuhörenden Bambinos heraus. »Ah, Luigi, du Nichtsnutz, du Nichtsnutz. Eh – gut – bon, versuch’s einmal, mein Sohn, versuch’s! Aber sei vorsichtig, hörst du, hörst du?« »Si, si«, stieß Luigi hervor und verließ sofort die Küche. Die Jungens folgten ihm. Allerdings, das war ein toller Karren! Spinne war direkt modern dagegen. Ein riesengroßer, vollgummibereifter Lastwagen, Baujahr 1915, eigentlich nur noch ein Chassis mit Rädern, Motor und Steuerrad. Die wichtigsten Teile waren also noch da. Nur unwesentliche Dinge, wie Führerhaus, Türen, die Seitenwände der Ladefläche, waren im Laufe eines langen Autolebens verlorengegangen. »Na«, sagte René, »das ist vielleicht ’n alter Schnapskocher!« Kopfschüttelnd und grinsend standen die Jungen vor dem Veteranen, auf dem Luigi behende wie ein Äffchen herumkletterte. »Kein Öl im Tank!« stellte er betrübt fest. »Auch im Schuppen ist keins mehr!« Traurig wiegte er seinen viel zu großen Kopf. »Ich hab’s!« rief er dann, rannte davon und kehrte Sekunden später mit einer Kanne voll Petroleum wieder. »Wenn das die Mami merkt, gibt’s Krach«, sagte er, füllte aber seelenruhig das Petroleum in den Tank. »Kann man denn mit so ’nem Zeug fahren, René?« »Tja, zur Not kann man schon«, brummte er, »es gibt nur leicht Ärger. Ich frag’ mich bloß, wie der den Karren in Gang kriegen will. Das ist nämlich ein Glühkopfdiesel. Da bin ich aber mal gespannt!« »So«, sagte Luigi, »jetzt müssen alle mitschieben«, und ging in die Küche, um die Familie zu holen. Luigi rief, und alle, alle kamen. Zwölf von den vierzehn Tomasini-Kindern, der Älteste war nicht da, der Jüngste konnte noch nicht laufen. Ferner Herr und Frau Tomasini. Sogar die Oma wollte helfen, man konnte sie nur mit Mühe davon abhalten. Luigi nahm auf-
geregt hinter dem Steuer Platz. »Wohin?« fragten die Jungen. »Auf die Straße, den Abhang ’runter.« Der dicke Bauer kommandierte »Hau-ruck«, und quietschend, knirschend setzte sich der Wagen in Bewegung. Aufgeregt gackernd stoben Hühner, Enten und Gänse darunter hervor, die sich plötzlich ihres Sonnenschutzes beraubt sahen. Filou trat versehentlich dem Schwein Marco auf den Bauch, das ebenfalls unter dem Wagen seinen Stammplatz hatte und ruhig liegengeblieben war. Auf der Chaussee wurde zunächst einmal haltgemacht. Luigi setzte eine Lötlampe in Betrieb, deren Flammen er auf den Glühkopf richtete. Als dieser endlich hellrot glühte, nahm er die Lampe weg, löschte sie und rief: »Jetzt geht’s los!« und setzte sich ans Steuer. Die Jungen sprangen auf, René und Filou quetschten sich neben Luigi auf die Bank, die andern stellten sich auf die offene Ladefläche. Die vereinigten Tomasinis gaben der Karre einen Schubs, und schon rollte sie bergab. Nicht sehr schnell. »Ich glaub’, die Bremse ist noch fest«, meinte Luigi, ergriff einen von den mächtigen Hebeln, die draußen angebracht waren, und bewegte ihn hin und her. Der Wagen lief deshalb weder schneller noch langsamer. »Keine gute Bremse«, sagte er. Doch nach und nach steigerte sich das Tempo, der Wagen kam in Schwung. »Achtung, jetzt wird es spannend!« verkündete der Fahrer. »Mit der Schaltung ist das nämlich so«, erklärte er, »man weiß nie, welchen Gang man erwischt. Bei den Vorwärtsgängen ist das nicht weiter schlimm, aber wenn man Pech hat und den Rückwärtsgang ’reinhaut, na, dann kann man was erleben! Jungens, haltet euch gut fest!« Die Jungen waren sehr gespannt. Sie schauten Luigi zu, der mit beiden Händen den Schalthebel packte und nach vorn schob. Es gab ein Geräusch, wie wenn eine Kreissäge auf Metall stößt. Der Wagen bockte fürchterlich und wurde langsamer. Dann knallte es mit einem Male schrecklich – und der Schnapskocher lief. Wuwuwuwu machte der Zweizylindermotor. In rasantem Tempo ging es jetzt bergab. »Hurra, hurra«, brüllte Luigi, »wir haben sogar den zweiten Gang erwischt!« René lächelte verstört, die eigenartige Fahrmethode hatte ihn ziemlich angegriffen.
Sie waren schon nahe an Spinne herangekommen. Luigi arbeitete wie ein Wilder an der Schaltung. »Abstoppen!« rief René. »Geht nicht! Krieg’ den Gang nicht ’raus!« »Tritt die Kupplung, Mensch, und hau sämtliche Bremsen ’rein!« Luigi versuchte es. »Die Kupplung tut’s nicht, und die Bremsen schon gar nicht!« Im Schnellzugtempo brausten sie an Spinne vorüber. Maurice, der längst aufgehört hatte zu malen, schaute ihnen entgeistert nach. Wie besessen arbeitete Luigi, schaltete, kuppelte, bremste – völlig vergebens. Der Wagen war nicht zu stoppen. »Wo wollt ihr denn hin?« riefen die andern von hinten herüber, und René schimpfte wie ein Heide. »Soll’n wir vielleicht so lange fahren, bis das Petroleum alle ist?« Das Städtchen, das sie vor einiger Zeit durchfahren hatten, kam bereits in Sicht. Immer noch saßen die Leute vor den Häusern, immer noch wurde Boule gespielt. Aber was Spinne nicht fertiggebracht hatte, das brachte der Lastwagen fertig: die Boulespieler schauten auf und horchten auf das herannahende Getöse. Wie ein Wirbelsturm sauste der Karren durch die engen Straßen, ein furchterregendes, knallendes, qualmendes Ungeheuer. Voller Entsetzen flüchteten die Leute in die Häuser. Im Handumdrehen sah man nur noch leere Stühle, umgestürzte Weinflaschen, verlassene Eisenkugeln. Ein Huhn zickzackte verrückt vor Angst, bis es sich in eine Toreinfahrt retten konnte. Der Marktplatz bot eine Chance. Jetzt oder nie, dachte Luigi, kurvte trotz großer Geschwindigkeit ein, steuerte geschickt zwischen den Bäumen durch und fuhr denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. An der Steigung wurde der Wagen bedeutend langsamer. »Du«, sagte Luigi, »unter deinem Sitz liegt ’n großer Schraubenschlüssel. Wenn du damit mal gegen den Kupplungsschenkel schlägst, dann tut sie’s wieder. Aber das ist natürlich im Fahren nicht ganz einfach.« »Her damit«, sagte René, nahm den Schlüssel und kletterte nach draußen. Es war ein halsbrecherisches Unternehmen, auf dem schmalen Trittbrett zu liegen und von dort aus die Kupplung zu bearbeiten. Aber René schaffte es. Zehn Minuten später stand Spinne vor Tomasinis Ferme, und das
Schwein Marco bezog wieder seinen Stammplatz unter dem Lastauto. René baute Spinnes Benzintank aus und legte ihn zum Austrocknen in die Sonne. »Keine schöne Arbeit«, maulte Filou und ließ die Hacke los, mit der er seit einer Stunde die harten, verfilzten Wurzeln eines Korkeichengestrüpps aus dem Boden zu lösen versuchte. Mißmutig zog er einen Flunsch, was ihm bei seinen dicken Wulstlippen außerordentlich gut gelang, und betrachtete seine vom warmen Wasser verwöhnten Hände. »Mensch, ich hab’ velleicht Blasen!« fuhr er weinerlich fort. »Das tut velleicht weh!« »Arbeit ist überhaupt nicht schön«, meinte Pipin und dachte gleich daran: Kochen ist schön. Kochen ist so schön, daß es gar keine Arbeit ist. Könnt’ ich wohl ewig tun. Aber das hier… Auch er rodete Gestrüpp. »Schlechte Laune?« fragte Maurice. »Ach, ich hab’ schlecht geschlafen. Mann, ich bin was gewöhnt, ich kann auf ’nem Nagelbrett schlafen wie in Abrahams Schoß, aber ich hasse es, wenn andere Leute mich ständig mit ihren ungewaschenen Füßen in die Magengrube treten.« »Wer war denn das?« Maurice lachte. »Ich etwa?« »Nee, du nicht. Der da!« Er zeigte auf Filou. »Ich?« Der Schwarze wurde verlegen. »Muß nich bös sein, nä, Pipin? Muß nich bös sein! Ich hab’ bloß geträumt. Dollen Quatsch! Ich hab’ geträumt, ich war’ Mittelstürmer vonne Natzjohnalmannschaft.« »Mensch, du hast mindestens acht Tore geschossen, das weiß ich bestimmt!« René hackte und wühlte so fleißig, als gelte es Siedlungsland für ganze Bauernvölker zu schaffen. Plötzlich unterbrach er seine Arbeit, stützte sich auf die Hacke und griff sich mit der linken Hand ins Kreuz. »Gestrüpp ausreißen, das sollte mir in Marseille einer zumuten! Wozu machen wir das eigentlich?« »Hier war mal ’ne Kirche, sagt der Professor. Vor rund tausend Jahren. Und die Kirche will er ausgraben – das heißt natürlich: die Fundamente«, antwortete Maurice. »Warum denn? Weshalb tut er das?« »Weil er Spaß daran hat. Es gibt Leute, die haben an alten Kirchen genausoviel Spaß wie du an Motoren.« Und wie ich am Kochen, ergänzte Pipin in Gedanken.
»Kann ich mir nicht vorstellen, der ist sicher ’n bißchen verrückt. Na, mir soll’s recht sein, wenn er bloß bezahlt.« André lachte herzlich und warf Maurice einen Blick zu, der sein überhebliches Mitleid für den dummen René ausdrücken sollte. »Allah ist groß«, sagte er schmunzelnd, »und reichhaltig ist sein Tiergarten. Nein, was gibt es doch für Pannauser!« »Banausen«, verbesserte Maurice und biß sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Seppe und Pipin aber lachten ganz ungeniert. André wurde mal wieder rot und ärgerte sich. René kümmerte sich weder um Pannauser noch um Banausen, beobachtete Maurice eine Weile bei der Arbeit und sagte dann: »Du faßt die Hacke ganz verkehrt, Maurice. Sieh mal, so mußt du das machen! Wirste längst nicht so müde!« »Nett von dir, René! Ich hab’ noch nie ’ne Hacke in der Hand gehabt.« »So?« orgelte ein tiefer, männlicher Baß, Maurice drehte sich um, der Professor stand vor ihm. »Was sind Sie denn von Beruf?« »Maler.« »Was? Maler sind Sie? Kommen Sie doch mal mit. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Als Talentprobe sollte Maurice eine Skizze der umgebenden Landschaft anfertigen. Er setzte sich auf einen gefällten Baum, legte den Zeichenblock auf die Knie und betrachtete fast fünf Minuten lang sehr genau das kleine, fruchtbare Tal und den gestrüppüberwucherten Hügel, auf dem die Jungen arbeiteten. Mit wenigen, aber treffsicheren Strichen brachte er die Zeichnung zu Papier und reichte sie dem Professor. »Sehr gut! Vorzüglich gelungen! Sie können sogar was, Herr… wie war doch Ihr Name?« »Dupont.« »Richtig, Herr Dupont!« Maurice bekam Arbeit, die ihm weit mehr zusagte als Hacken: er mußte Fundskizzen und Lagezeichnungen von bereits freigelegten Gräbern, Urnen und Steinsärgen anlegen. Eifrig machte er sich darüber her. War ein guter Gedanke von André, dachte er, während er Striche zog. Einen Tag Arbeit kann man selbst in den Ferien vertragen. Außerdem der einzige Weg, Geld zu verdienen für Benzin. Nett von Tomasini, daß er uns in seiner Scheune schlafen läßt und daß er uns zu diesem Professor geschickt hat. Der möchte uns gerne behalten,
glaub’ ich. Kriegt nicht genug Arbeitskräfte in dieser abseitigen Gegend. Kommt aber nicht in Frage, schließlich haben wir ja Urlaub. Morgen fahren wir weiter. Und heute abend essen wir mal was anderes als Tomaten. Wir kaufen uns was. Nichts gegen Tomasini, der ist prächtig, gab eben, was er hatte: Tomaten und Butter und Brot. Darf man aber nicht ausnützen. Abgesehen davon: ich bin die Tomaten schrecklich leid. Sie arbeiteten von acht bis zwölf, machten die übliche Hitzepause bis vier, und arbeiteten dann weiter bis acht Uhr abends. Rechtschaffen müde gingen sie nach Hause zu Tomasinis Ferme. Unterwegs kassierte André von jedem den Lohn. Als Maurice ihm sein Geld gab, rief er staunend: »Tiens! Du hast ja genausoviel verdient wie wir fünf zusammen!« »Hm«, machte Maurice, »gelegentlich verdient sogar ein Maler was.« »Prima, Mensch!« René rieb sich strahlend die Hände und klopfte Maurice auf die Schulter. »Jetzt können wir wenigstens genug Benzin kaufen.« »Und was Anständiges zu essen!« meinte Seppe hoch erfreut. Maurice und seine Kunst stiegen erheblich im Ansehen. Alle nickten ihm glücklich lächelnd zu und dachten: sieh mal an, unser Maurice! Dem Maler wurde ganz seltsam warm, er räusperte sich verlegen und blickte zur Seite. Da blieb Stinker plötzlich stehen. Er knurrte, sein Nackenfell sträubte sich. Einen halben Meter vor ihm hob eine graugrüne Schlange ihren Oberkörper aus dem Gras, züngelnd und zischend pendelte ihr schmaler Kopf hin und her. Erschrocken verhielten die Jungen den Schritt. Einen Augenblick stutzte auch Filou, starr vor Schreck. Dann begriff er, daß sein Liebling in Gefahr war, machte einen Satz zu ihm hin, um ihm beizustehen. Das war verkehrt! Alles weitere war in weniger als einer Sekunde geschehen: Die Schlange fühlte sich bedroht, schnellte nach vorn, Stinker heulte auf, es raschelte ein wenig im Laub, weg war sie. »Der ist erledigt!« sagte Seppe. »Wer?« »Stinker. Das war ’ne Sandviper. Sie hat ihn in die Nase gebissen. Du brauchst mich gar nicht so anzugucken, ich hab’s genau gesehen. Ich kenn’ die Viecher, bei meinem Onkel auf der Ferme gibt es sie massenhaft. Sie sind nicht groß, so um einen Meter herum, manche
Sorten sind noch kleiner, aber sehr gefährlich. Auch für Menschen.« »Stinker geht doch nich – geht doch nich tot?« Der Hund leckte sich mit seiner lachsroten Zunge zwei kleine Blutströpfchen von der Quadratnase. Dann schickte er sein rauhes Bau-bau-bau hinter der Schlange her. Alle Jungen standen um Stinker herum, ihre Blicke gingen zwischen ihm und Filou hin und her. Wie sag’ ich ihm das, verflixt, dachte Seppe. Das wird ihn umhauen, wo er so an dem Tier hängt. Verdammt ja, und jetzt guckt er mich dauernd an, und die Augen fallen ihm beinahe vor Angst aus dem Kopf. Mensch, guck woanders hin, ich halt’ das nicht aus, das ist ja… Seppe schaute Maurice an: Hilf mir doch! flehte sein Blick. Sag du’s ihm, ich kann’s nicht! Doch Maurice schüttelte fast unmerklich den Kopf: Nein, ich bring’s nicht fertig. »Sag doch mal, Seppe? Stinker geht doch nicht…« »Ja, verflixt und zugenäht noch mal!« Seppe lief blaurot an, so würgte es ihn. »Ich hab’s dir doch gesagt!« schrie er. »Ich kann’s nicht ändern: der Köter geht ein, verdammt! Hör dir sein Bellen noch mal an, das ist seine letzte Amtshandlung. In zehn Minuten ist Beerdigung.« Sein Aufatmen war mehr ein Stöhnen; er knöpfte sein Hemd weiter auf, ihm war sehr warm geworden. Jammernd stürzte sich Filou auf seinen vierbeinigen Freund, nahm ihn auf den Arm und drückte ihn an sich. Es wurde kein Wort mehr gesprochen. Ehe sie Tomasinis Ferme erreichten, war Stinker schon im Hundehimmel. Sie begruben ihn unter dem Feigenbaum. Filou heulte die ganze Nacht. Am anderen Morgen gab es einen rührenden Abschied und Tomaten von Tomasini. Der Tank war geflickt, vierzig Liter Benzin hatte Moretta gebracht. Die Keksbüchse und der Segeltuchbeutel waren vollgestopft mit Weißbrot, Landbutter, dunkelblauen Muskatellertrauben, duftenden Melonen – und Tomaten, in rauhen Mengen. Knallend und puffend kam Spinne auf Totiren. Die vereinigten Tomasinis schwenkten die Taschentücher und riefen: »Arivederci! Arivederci!« Mit nassen Augen blickte Filou nach dem Feigenbaum, bis der hinter einer Wegbiegung verschwand. Dann drehte er sich um, schluchzte und aß Tomaten. Die Straße stieg und fiel in sanften Wellen. Spinne kroch und raste abwechselnd, wie es die Wellen gerade zuließen. Meistens kroch sie. Als sie gerade wieder einmal raste, weil es bergab ging, wurden sie von einem schweren, offenen Wagen überholt, der weit schneller
war als Spinne. Den kenn’ ich doch, dachte René. Wo hab’ ich den bloß schon gesehen? Na, vielleicht einer von Camilles Kunden. Eine Viertelstunde später näherten sie sich einem größeren Dorf. Bei den ersten Häusern stand ein Polizist mitten auf der Straße. Er beäugte den giftgrünen Renner wie ein bösartiges Insekt, hob die rechte Hand und rief: »Halt!« René hielt. »Los, zur Wache! Fahren Sie sofort zur Wache!« schnauzte er grob und stellte sich neben René auf das Trittbrett. »Fahren Sie, ich zeige Ihnen den Weg.« »Was haben wir denn verbrochen, Herr Sicherheitsrat?« fragte Maurice belustigt. »Das werden Sie besser wissen als ich!« Es gab Aufsehen im Dorf, die Leute strömten hinter Spinne her zum Marktplatz, wo die Polizeiwache war. Der Wagen wurde neben dem Eingang abgestellt, die Jungen ins Haus geführt. Der Polizist nahm hinter dem Schreibtisch Platz und befahl: »Stellt euch nebeneinander! Los! – Ihren Führerschein?« René reichte ihn hinüber; der Beamte legte ihn neben sein zerfleddertes, in Wachstuch gebundenes Notizbuch. Dann kurbelte er an einem vorsintflutlichen Telefon und schnatterte: »Wachtmeister Moustache! Herr Inspektor, kommen Sie doch bitte mal. Dicke Sache!« und hängte ein. Nun lehnte er sich weit in den Sessel zurück und musterte die Jungen der Reihe nach mit einem Blick, der durchbohrend sein sollte, jedoch keine andere Wirkung hatte als die, daß Tista den Finger aus der Nase nahm. Die andern – außer Filou, der völlig geistesabwesend war – prusteten und gnickerten vor unterdrücktem Lachen. »Sie werden bald ausgelacht haben!« schimpfte der Blaue. »Es ist Anzeige gegen Sie erstattet worden wegen Autodiebstahls.« »Waas?« sagte René und beugte sich vor. »Wie meinen?« »Das Auto, das Sie fahren, ist gestohlen! Gestohlen aus der Reparaturwerkstatt eines gewissen« – er blätterte in seinem Notizbuch – »aha, eines gewissen Vincent Camille, Marseille, 157, Rue du Maroc. Geben Sie das zu?« René wollte sich ausschütten vor Lachen. »Gestohlen? Der Schlitten? Wer den bei Nacht aus Versehen stiehlt, der bringt ihn bei Tage reumütig zurück. Machen Sie doch
keine Witze! Ich bin Mechaniker bei Camille, der Wagen stammt aus seiner Werkstatt, das stimmt. Aber Camille hat ihn weggeworfen, wir haben ihn uns geholt und für eine Ferienfahrt in Schuß gemacht. So liegt die Sache!« »Sie geben also zu, daß Sie den Wagen gestohlen haben?« »Sie haben ja ’n Knall!« »Sie! Wenn Sie frech werden, können Sie was erleben! Antworten Sie auf meine Frage: Haben Sie den Wagen gestohlen oder nicht?« »Hören Sie mal, ich bin der friedlichste Mensch, den ich kenne, aber Sie bringen mich auf die Palme!« schnaubte René. »Fragen Sie doch Camille! Rufen Sie ihn doch an, dann werden Sie’s ja erfahren.« Draußen knatterte ein Motorrad. Der Beamte stand auf, zog den Rock stramm und wartete. Kurz darauf betrat ein langer, schlanker Polizist die Wachstube, sagte freundlich »guten Tag« und blickte lächelnd die Reihe der sechseinhalb Schwerverbrecher entlang. Ah, der Herr Inspektor, dachte Maurice. Sieht ganz sympathisch aus, mit dem kann man sicher reden. Der Beamte erstattete seinem Vorgesetzten Bericht. »Soso! Und woher wußten Sie, daß der Wagen gestohlen ist? Soweit mir bekannt ist, liegt keinerlei Meldung darüber vor, oder doch?« »Nein, Herr Inspektor, kein Signalement. Ich machte Streife, da kam ein gewisser Leblanc mit seinem Wagen durch und bat mich, dieses grüne Fahrzeug sicherzustellen. Es sei vor einigen Tagen seinem Freund, dem Garagenbesitzer Vincent Camille in Marseille, gestohlen worden.« »Soso! Hm, hm! Haben Sie schon den Bestohlenen angerufen?« »Nein, noch nicht.« »Das hätten Sie als erstes tun sollen!« Der Polizeiinspektor meldete ein Ferngespräch an, ging dann langsam im Raum auf und ab und betrachtete die Jungen einen nach dem andern. Es klingelte, er nahm den Hörer und sprach mit Camille, nannte Renés Namen und legte ihm den Fall genau dar. Das Gespräch war nur kurz, und als er den Hörer auflegte, flüsterte er seinem Beamten zu: »Sie patentierter Trottel!« Alle Jungen hatten es gehört, selbst Filou grinste. »Sie können gehen«, sagte er lächelnd zu den Jungen, »oder vielmehr fahren. Das Telefongespräch hat ergeben, daß Sie den Wagen nicht gestohlen haben.« Er nahm Renés Führerschein zur Hand, wandte sich wieder an den Polizeibeamten und fragte: »Haben Sie
den Namen notiert?« »Jawohl, Herr Inspektor!« »Sie kriegen nämlich eine kleine Polizeistrafe«, sagte er zu René, »weil Sie ein ungültiges Nummernschild am Wagen haben.« »Oh«, hauchte René und tat sehr bestürzt, »das habe ich sicher in der Eile verwechselt. Pech!« »Kaum!« Der Inspektor grinste noch mehr. »Sie haben im Kofferraum noch ein halbes Dutzend ungültiger Nummern. Aber keine Sorge, dafür reißen wir Ihnen den Kopf nicht ab.« Einige Kilometer hinter dieser Ortschaft kamen sie an eine Steinbrücke, die über einen reißenden Wildbach führte. »Halt mal an, René!« rief Seppe. »Mitten auf der Brücke!« Der Wagen hielt, René drosselte den Motor und fragte: »Was ist denn?« Seppe gab keine Antwort, holte aus der Hosentasche ein zerfleddertes, in schwarzes Wachstuch gebundenes Notizbuch und warf es mit Schwung in den Bach. »Von wegen Polizeistrafe! Da sei Gott vor.« »Und der König der Diebe ist ihm dabei ein bißchen behilflich, was?« sagte André lachend und ahmte Seppes typisches Handwedeln nach. Gegen diesen Diebstahl hatte er ausnahmsweise einmal nichts einzuwenden. »Da steht schon wieder ’n Blauer!« »Wo?« »Da, an der Kreuzung! Ja, ja, wir stoppen schon; nur keine Bange. Es ist doch zum Auswachsen!« Der Beamte salutierte: »Meine Herren, die Straße ist leider gesperrt! Armeemanöver! Sie müssen einen kleinen Umweg machen.« »Kreuzbombenelement und Bimbamvallera! So ein Mist! Können die denn nicht woanders manövern? Wir haben ein Pech, das ist sagenhaft!« »Tut mir sehr leid, aber nichts zu machen. Stehe natürlich gern für alle Auskünfte zur Verfügung. Wo wollen Sie denn hin?« »Nach Villeneuve, Departement Var. Wie fahren wir da am besten?« »Ganz einfach! Ist sogar noch günstiger für Sie, wenn Sie hier rechts abbie…« »Kennen Sie dieses Villeneuve? Ist da auch eine Burg namens Sankt Augustin?« erkundigte sich André argwöhnisch. »Natürlich, kenne ich sogar sehr gut! Prächtiges altes Gebäude,
diese Burg! Also, Sie müssen hier rechts den Weg ’reinfahren. Der schlängelt sich so ’n bißchen. Und dann kommt ein Dorf, das heißt…« Der Beamte beschrieb es ihnen haargenau und wünschte ihnen freundlich gute Reise. »Ich kann mir nicht helfen«, sagte André und ließ seinen Wasserkopf pendeln, »der Polizist kam mir bekannt vor. Euch auch?« »Nee. Nie gesehen, den Kerl!« brummte René. »Mir kam er auch so bekannt vor! Außerdem fiel mir auf, daß er Marseiller Dialekt sprach«, meinte Maurice. »Das könnt ihr natürlich nicht merken, ihr sprecht ja genauso.« »Wir sprechen doch keinen Dialekt!« entrüstete sich André. »Zumindest ich nicht. Du sprichst Dialekt, Maurice. Wenn du den Schnabel aufmachst, weiß man sofort, daß du aus dem Norden bist.« »Verflixt und zugenäht!« schimpfte René. »Der Blaue war ja ’n netter Kerl, aber der Weg, den er uns angegeben hat, ist weit weniger nett. Merkwürdig, sollten wir uns mal wieder verfahren haben?« Seit einigen Minuten war der Weg kein Weg mehr, sondern eine Quälerei für Fahrzeug und Insassen. Eigentlich war es nur eine ausgefahrene Spur, verschönt durch Schlaglöcher und dicke Steinbrokken, und führte durch die reinste Wildnis. Rechts und links mehr als mannshohes, undurchdringliches Gestrüpp von Korkeichen oder Hex, darin verstreut einzelne, bizarr gewachsene Eichbäume, ab und zu Gruppen von Kiefern. Kein Dorf weit und breit, nicht einmal ein einzelnes Haus. Auf der Anhöhe kreuzte eine andere, ebensolche »Straße« ihren Weg. René stoppte den Wagen. »Jungens, wir haben uns verirrt, das steht fest. Ehe wir uns noch weiter in diese Einöde verrennen, fahren wir lieber zurück.« André hatte einen andern Vorschlag: »Villeneuve muß hier in der Nähe sein, das hat der Polizist doch gesagt! Wir haben uns bloß verfahren. Ich erlaube mir daher folgenden Vorschlag: drei Wege liegen jetzt vor uns, die wir einschlagen können. Drei Mann gehen los, einer geradeaus, einer links und einer rechts. Jeder läuft fünf Minuten und sieht zu, ob er ein Dorf, ein Haus, einen Menschen oder ’n Wegweiser findet. Irgendwas müssen wir ja finden.« »Na schön. Wer geht freiwillig?« Keiner. Also wurde geknobelt. André, Pipin und Filou traf das harte Los, zehn Minuten zu Fuß laufen müssen. André ging geradeaus. Er vertraute immer noch auf
den Blauen und versprach sich von dieser Richtung am meisten. Pipin ging nach rechts, Filou nach links. Der Schwarze war am schnellsten verschwunden, denn sein Weg führte steil bergab. Pipin war der erste, der zurückkam. »Nix gesehen«, sagte er lakonisch. Maurice hatte ihn in Verdacht, die zehn Minuten hinter dem nächsten Busch abgewartet zu haben. Dann kam André. Er hatte auch nichts gesehen und war darüber ziemlich verzweifelt. »Wo bleibt denn Filou?« »Vielleicht sitzt er unter einem Baum und heult sich eins. In unserer Gegenwart schämt er sich. Aber allein, da wird er sich richtig loslassen und jammern. Der arme Kerl! Schwerer Schlag für ihn!« meinte André mitleidig. »Quatsch, der hat höchstens Durchfall von den vielen Tomaten.« »Jetzt könnte er aber bald kommen.« Endlich hörten sie jemanden keuchen. »Da kommt er ja! Was schleppt er denn auf dem Rücken?« Es schien eine Art Galgen zu sein: ein dicker, vierkantiger Holzpfahl mit noch allerlei Drum und Dran. Stöhnend setzte der schwarze Fettkloß seine schwere Last ab. Es war ein Wegweiser. Zehn Sekunden völlige Stille. Aber dann platzte René: »Bist du wahnsinnig, Dicker? Hast du noch alle Tassen im Schrank? Was willste mit dem Ding?« Seppe krümmte sich vor Lachen und patschte sich auf die Knie. »Nee, so was! Nee, so was!« keuchte er. »Wolltest du ’n Andenken mitnehmen? Nee, so was Blödes!« Auch Maurice und André lachten herzlich, Pipin grinste von einem Ohr zum anderen, selbst Tista schüttelte die krausen Locken und kicherte. Aufgelöst, nach Luft japsend, umklammerte Filou mit dem rechten Arm den Stamm des Wegweisers, der dreimal so lang war wie er. Mit der linken Hand wischte er den immer wieder in dicken Perlen ausbrechenden Schweiß fort. Er war so erledigt, so ausgepumpt, daß er mit dem langen Balken hin und her schwankte. Seine Glupschaugen kugelten herum, zeigten das Weiße und wußten nicht, wohin sie blicken sollten. Vor Scham. René sprang vom Wagen und nahm ihm das schwere Holzgestell ab. »Gib her, Mensch!« sagte er, so weich, wie es ihm niemand zugetraut hätte, hob den Wegweiser hoch, als sei er eine Feder und legte
ihn der Länge nach über den Wagen. »Festhalten!« sagte er zu den andern, und zu Filou: »Setz dich, Dicker! Ruh dich aus!« Spinnes Federn knirschten, als Filou auf seinen Platz plumpste. Er öffnete sein ehemals schneeweißes Hemd und schnaufte wie eine Dampfmaschine. Die andern grinsten noch immer, das Bild war zu komisch gewesen. René strich sich über die roten Borsten und machte: »Te-te-te« und »Tja, tja«, drehte sich plötzlich um und fragte den Schwarzen: »Warum haste das eigentlich gemacht, Mensch? Warum haste das Ding herausgerissen und hier ’raufgewuchtet? Na?« »Ich-ich-ich«, stotterte Filou vor lauter Verlegenheit, »ich kann doch nich – kann doch nich lesen!« »Au Backe!« knurrte René. Maurice lachte plötzlich nicht mehr. André wieherte von neuem los und betrachtete herablassend das dunkle Häufchen Elend. Gottseidank, dachte er, ich kann lesen. Sogar so schwierige Bücher wie den »Guten Ton«. Nein, was für ein Banause, dieser Filou! Und so was fährt auf ein Schloß! Maurice boxte ihn in die Seite, um seine widerliche Lache zu stoppen. Gleichzeitig hob René seine behaarte Faust gegen den Schuhputzer und grunzte, so böse, wie man es von ihm noch nie gehört hatte: »Halt’s Maul oder ich hau’ dir eine ’rein! Ich bin der friedlichste Mensch, den ich kenne, aber ich kann nicht vertragen, wenn du den armen Kerl so eklig auslachst! Schließlich hat er für uns alle den schweren Apparat hier ’raufgewürgt. Weil er helfen wollte! Er hat es gut gemeint.« »Laß gut sein, René. Komm, reg dich nicht auf!« unterbrach ihn Maurice. »Du wärst gar nicht auf den Gedanken gekommen, dich für uns so anzustrengen, du eingebildete Spinatwachtel!« schimpfte René weiter. »Aus! Schluß!« Maurice wurde energisch. René dreht sich mit einem Ruck nach vorn und hatte irgend etwas am Armaturenbrett zu tun. Starr wie ein Denkmal saß André neben ihm, sein verstörtes Gesicht war bleich, seine dichten, schwarzen Augenbrauen hatte er bis unter den Haaransatz hochgezogen. Weshalb ist dieser grobe Bauernklotz auf einmal so empfindlich, dachte er. Und Maurice ergreift seine Partei? Was hab’ ich denn Schlimmes getan? Nichts! Ich hab’ gelacht wie alle anderen auch. Wo ist der Unterschied? Er spürte recht gut, daß da ein Unterschied war, wollte es aber nicht einmal vor sich selber zugeben. »Bist du nie zur Schule gegangen, Filou?«
Der Schwarze blickte Maurice verlegen an und schüttelte den Kopf. »Oma wollte nich. Sagte, war’ Quatsch. Sie könnt’ ja auch nich lesen. Und wenn Oma nich wollte, konnte auch Vater nix machen.« »Der hat’s gut gehabt!« meinte Seppe voller Neid. »Mann, was hab’ ich Schläge gekriegt!« »Das kann ich mir denken. Und ich glaube, nicht mal zu Unrecht, was?« Seppe grinste stolz: »Nee, immer ehrlich verdient!« »Filou, möchtest du wohl lesen und schreiben lernen?« »O ja! Ssehr gärn!« Das klang fast andächtig. Maurice schaute weg und räusperte sich. »Wollen mal sehen. Das kriegen wir schon hin.« Sie bogen links ab und fuhren den Berg hinunter, den Filou vorhin mit seiner Last auf dem Rücken bewältigt hatte. Unten im Tal trafen sie abermals auf eine Kreuzung, dort hatte der Wegweiser gestanden, dort pflanzten sie ihn auch wieder ein. Ob er richtig wegwies, konnten sie nicht beurteilen, daher blieben sie auf dem Weg, auf dem sie waren, weil er anscheinend häufiger benutzt wurde als der andere. Alle drei Jungen in der ersten Reihe machten nachdenkliche Gesichter, doch auf jedem der drei Gesichter sah die Nachdenklichkeit anders aus. René dachte an seine Schulzeit. Er war ungern zur Schule gegangen und hatte nur widerwillig gelernt. Bisher hatte er nicht gern daran zurückgedacht. Das Erlebnis mit Filou zeigte ihm die Schule in einem andern Licht. War doch ganz gut, mußte er zugeben. Kerl, nicht mal ’n Wegweiser lesen können! Oder ’n Straßenschild! Keine Rechnung und keinen Brief schreiben können? Kerl, da ist man aber aufgeschmissen. Für ’n Mechaniker ganz unmöglich. Erst recht, wenn man mal ’ne Werkstatt aufmachen will. »Au Backe!« flüsterte er vor sich hin und dachte mit freundlichen Gefühlen an seinen Lehrer, der es mit unermüdlicher Zähigkeit doch fertiggebracht hatte, ihm ein recht brauchbares Wissen in den harten, rothaarigen Schädel zu pflanzen. Kerl, nee, was hab’ ich Glück gehabt! Ich werd’ Vater ’ne Karte schreiben. Ich werd’ schreiben, er soll dem alten Knaben einen schönen Gruß von mir bestellen. ›Von seinem ehemaligen Schüler René‹. Mann, der kippt aus den Latschen! René lächelte wieder. André ging in sich. Der Anpfiff von René hatte nicht allzuviel Wirkung gehabt, weil René seiner Meinung nach ungebildet war, und solche Leute nahm er nicht für voll. Als aber Maurice – der
gebildete Maurice – lange Zeit schwieg und auf Andrés Versuch, ein Gespräch mit ihm anzufangen, nicht reagierte, da wurde er betroffen und begann nachzudenken. Sein ständiges Bemühen, zu lernen und vorwärtszukommen, verführte ihn leicht dazu, alle die zu verachten, die weniger wußten als er, und alle die zu überschätzen, die er für gebildet hielt. Maurice nahm er sehr für voll. Von ihm mit Verachtung gestraft zu werden, schmerzte ihn tief. Dabei strafte ihn der Maler nicht einmal, sondern war so in Gedanken versunken, daß er Andrés Annäherungsversuche nicht bemerkte. Wie seltsam, dachte André. Über diesen lächerlichen Vorfall sind sie einer Meinung. Nein, wie zartfühlend! Was hab’ ich denn schließlich verbrochen? Ich hab’ ein bißchen deutlich gezeigt, daß ich Filous Dämlichkeit verächtlich finde. Daß es lächerlich ist, nicht mal lesen und schreiben zu können. Oder ist es das etwa nicht? Ich bin überzeugt: Maurice denkt im Grunde genauso. Der war bloß gerissener und hat sich nichts anmerken lassen. Werd’ ich in Zukunft auch so machen. Ich glaube, dummen Leuten darf man nicht zeigen, daß man klüger und gebildeter ist, das ärgert sie. Kluger Bursche, dieser Maurice! Schön, ich werde nie wieder einen Dummen auslachen, das gibt bloß Ärger. Er hielt also Maurices Anteilnahme für Gerissenheit. Ein einziger Blick in das Gesicht seines Nebenmanns hätte ihm zeigen können, wie sehr er irrte. Du liebe Güte, ein Analphabet mitten unter uns, dachte Maurice. Nicht im entferntesten habe ich geahnt, daß es so was noch gibt! Das ist ja so ähnlich wie Blindsein. Von wieviel schönen Dingen ist so ein Mensch einfach ausgeschlossen! Ein ganzer Bereich des Lebens existiert für ihn nicht: Bücher sind nur für ihn ein Haufen Papier. Wie klein und eng muß Filous Welt sein. Und er spürt, daß es noch vieles gibt, woran er keinen Anteil hat, er möchte so gern lesen und schreiben lernen. Bestimmt würde sein Leben dadurch schöner. Dazu muß man ihm verhelfen. Nicht gesagt, daß er ausgerechnet ein geistiger Schwerathlet wird. Ist auch gar nicht nötig. Jedenfalls würde sein Dasein reicher werden, und er würde sich sicherer fühlen. Als Analphabet ist er ständig auf fremde Hilfe angewiesen. Schon allein, um das zu vermeiden, aus diesem rein praktischen, handgreiflichen Grund also würde sich die Mühe lohnen. Ich muß ihm helfen, denn das ist meine Sache. André wurde das lange Schweigen seiner Freunde ungemütlich. Er druckste herum und räusperte sich mehrmals. Angestrengt überlegte er, wie er die Sache wieder geradebiegen könnte. Endlich hatte
er’s! Griff in die Tasche, holte ein Päckchen Zigaretten hervor, das er vor langer Zeit mal geschenkt bekommen hatte, und bot sie René an. Der brummte und nahm eine. Ebenso Maurice. Nun drehte André sich um und bot Seppe eine Zigarette an. Der grinste erfreut und griff zu. Pipin und Filou dankten. Und da er sich einmal Mühe gemacht hatte, sich umzudrehen, und weil Filou gerade dasaß, sagte er etwas unsicher: »Sei mir nicht böse, Filou. Glaube mir, es war nicht so gemeint. Schließlich bist du doch ein netter Mensch!« »War nich schlimm, André! Laß nur!« stotterte der Schwarze. René kniff Maurice ein Auge zu, der Bann war gebrochen. Seppe öffnete im Fahren den Kofferraum, holte seine Gitarre hervor und spielte einen Schlager. »Darf ich dich darauf aufmerksam machen, René, daß wir uns einer Ortschaft nähern?« säuselte André. »Stimmt! Na, endlich!« Bei dem erstbesten Bauern erkundigten sie sich – und mußten feststellen, daß der nette Polizist an der Kreuzung sie in die Irre geschickt hatte. Bei dem Städtchen Brignoles erreichten sie die Hauptstraße wieder. In der Nähe des Marktplatzes hielt René den Wagen an. »Ich muß mal was trinken.« »Ich auch! Ich auch!« meldeten sich die andern. André machte ein sorgenvolles Gesicht und berechnete im Überschlag, was die Getränke wohl kosten würden. Ewig dieses Knausern um ein paar Groschen, ärgerte er sich. Na, wenn wir den Spuk gefangen haben, dann geht es uns ja wohl besser. Nicht, daß ich das Geld verjubeln möchte, beileibe! Aber jeden Franken zehnmal umdrehen zu müssen, das verdirbt einem die Freude. Es wurde gelost, wer auf Spinne aufpassen müßte. Pipin mußte dableiben. Ergeben nickte er und bat: »Bringt mir ’n Schluck mit, ja?« Maurice schlug vor, in ein Straßencafe zu gehen. Er liebte diese Art Lokale, wo man an kleinen Tischen mitten auf dem Bürgersteig sitzt und die vorüberschlendernde Menge beobachtet. »Kommt, wir gehen zur Hauptstraße, da ist sicher so was.« Es gab eine ganze Reihe solcher Cafés, auf das nächstgelegene steuerten sie los. Als sie bis auf zehn Meter herangekommen waren, blieb René plötzlich stehen und hielt die andern mit ausgebreiteten Armen zurück. Das Kinn vorgereckt, blickte er starr geradeaus, seine roten Borsten sträubten sich, seine Augen sprühten Feuer.
»Schon wieder ’ne Schlange?« fragte Tista seinen großen Bruder. »Pscht!« »Was ist denn?« fragte Maurice leise. »Da sitzt der Trottel!« knurrte René. »Wer?« »Der nette Polizist von der Kreuzung!« »Wo? Ich seh’ keinen Polizisten!« »Jetzt ohne Uniform, jetzt trägt er Zivil. Vielmehr so ’ne Art Livree. Seht ihr ’n nicht? Da vorn, am zweiten Tisch!« »Tatsächlich! Der Blaue mit dem Marseiller Dialekt!« »Mensch, Jungens«, rief André aufgeregt, »der blonde Quatschkopf aus Marseille, der uns den falschen Weg gezeigt hat, sitzt ja neben ihm!« »Tatsächlich!« sagte Maurice noch einmal. »Wirklich merkwürdig!« »Merkwürdig? Bloß merkwürdig? Kerl, mir geht ein Licht nach dem andern auf! – Los, zurück! Bevor sie uns entdecken! Ach, nee! Da drüben steht ja auch der schwarze Buick! Der SechszylinderBuick. Jetzt ist mir alles klar!« Gleich hinter der Straßenecke gingen sie in ein kleines Estaminet. Während sie ihren Durst löschten, polterte René: »Ganz üble Absicht war das alles! Abgekartetes Spiel! Erst hat uns der Blonde in Marseille den falschen Weg gezeigt. Das war morgens. Nachmittags, während wir Sasu ausbuddelten, haben sie uns die Reifen und den Tank kaputtgemacht. Entsinnt ihr euch noch an den schwarzen Wagen, der wegbrauste, als wir zurückkamen? Das war der Buick, der zusammen mit uns in Marseille an der Tankstelle stand. Dann haben sie uns einmal überholt, das weiß ich noch ganz genau. Und dann passierte die Geschichte mit der Polizei. Erst mit der richtigen. Als die uns nicht einlochte, spielte der Livrierte selber Polizei, sprach von Manöver und schickte uns in ’ne ganz wüste Gegend. Und jetzt sitzen sie da an der Hauptstraße und passen auf, ob wir vorbeikommen, um uns was Neues anzutun. So ist das ganz bestimmt!« »Ich glaube, du hast recht, René. Aber warum haben die beiden Männer das alles ausgeheckt? Was haben wir denen getan?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß bloß, daß ich die Nase voll habe von solchen Späßen!« »Ob die uns mit irgend jemand verwechseln?« »Mir egal. Verwechseln oder nicht: ich werde dafür sorgen, daß sie uns von jetzt an in Ruhe lassen!«
»Was willst du machen? Zur Polizei gehen?« »Nee, von denen hab’ ich heute schon zuviel gesehen. Nein, das machen wir anders. Die sollen mich kennenlernen! Kommt, trinkt aus, wir gehen zum Wagen.« René nahm aus Spinnes Werkzeugkasten einen Schraubenzieher, der wie ein Drillbohrer arbeitete, und vier, etwa drei Zentimeter lange Nägel mit flachen Köpfen. »Seppe, los, geh mit!« sagte er. »Du stehst Schmiere!« Harmlos und unauffällig machten sich die beiden an den schwarzen Buick heran. Als die Luft rein war, begann René zu bohren. »Du haust die Nägel nicht weit genug ’rein«, meinte Seppe. »Die Reifen halten ja noch Luft!« »Abwarten, abwarten! Einfach mit dem Schraubenzieher so lange bohren, bis es pfeift, wäre nicht richtige. Dann würden sie zur nächsten Reparaturwerkstatt gehen und sich die Dinger schnell flicken lassen – und wir hätten sie immer noch auf dem Hals. Nein! Die sollen mehr davon haben. Auf der Landstraße soll denen die Puste ausgehen, wenn die Nägel sich richtig ’reingedrückt haben. Dann müssen sie selber ’ran und sind ’ne Zeitlang nützlich beschäftigt.« Der Ersatzreifen jedoch wurde so lange angebohrt, bis die Luft mit leisem Pfeifen daraus entwich. René trat zurück und betrachtete sein Sabotagewerk mit gerunzelter Stirn. »So was hab’ ich noch nie gemacht«, brummte er, »geht mir gegen den Strich. Muß aber sein.« Vier Reifen mit kleinen Löchern, überlegte er, wie lange dauert es, bis die geflickt sind? Vielleicht zwei Stunden; wenn sie Übung haben, weniger. Falls zufällig ein Dorf in der Nähe ist, und sie bekommen Hilfe, dann noch weniger. Nein, das genügt immer noch nicht. Ich muß noch was tun. Aber was? Angestrengt überlegte er und blickte dabei den Wagen entlang. Der Tankverschluß fiel ihm in die Augen. »Ich hab’s!« Geradezu teuflisch grinsend ging er ein paar Schritte auf und ab, die Augen suchend an den Boden geheftet. Bald hatte er gefunden, was er suchte: ein Stückchen trockenes Holz. Immer noch grinsend zog er sein Taschenmesser und begann ein Pflöckchen zu schnitzen, nur wenig dicker als eine Stricknadel, sorgsam darauf achtend, daß die Rundung schön glatt wurde. Seppe schaute fragend zu, wagte aber nicht zu stören. Als das Hölzchen Renés Absichten entsprach, schnitt er vorsichtig der Länge nach eine Kerbe hinein und schlenderte dann zum Heck des Buick. Prüfend schaute er sich um. Niemand beachtete ihn. Der vernickelte Tankverschluß hatte in
der Mitte ein kleines, rundes Loch: da hinein steckte René das Pflöckchen, schlug es mit dem Handgriff des Schraubenziehers tüchtig fest und schnitt den überstehenden Rest sauber ab. »Komm!« Die andern standen um Spinne herum und warteten. »Was hast du denn so lange gemacht?« »Biesterei!« sagte René und setzte sich hinter das Steuer. »Das mit den Reifen genügte nicht, war nicht sicher genug. Ich hab’ auch noch den Tankverschluß verstopft.« »Warum das denn?« »Damit die Herren noch ’n bißchen Spaß haben unterwegs und uns in Ruhe lassen, Mensch!« »Wie wirkt denn das, Tankverschluß verstopfen?« »Ausgesprochen schön, kann ich dir sagen! Der Motor kriegt kein Benzin mehr. Wenn der Sprit nämlich aus dem Tank heraus in den Vergaser fließen soll, muß Luft dafür ’rein können. Deshalb ist kein Benzintank luftdicht verschlossen, sondern irgendwo ist ’n Loch, entweder auf dem Deckel oder am Füllstutzen. Und wenn du das zumachst, dann – prrt-prrt, aus!« »Hör mal, dann muß der Wagen doch ziemlich bald stehenbleiben? Womöglich noch hier, in der Stadt? Ich denke, gerade das wolltest du vermeiden, oder?« Wenn es sich um Schandtaten handelte, dachte Seppe erstaunlich schnell und folgerichtig. »Hab’ ich auch wohl vermieden!« René lächelte hinterhältig und tippte an seinen borstigen Schädel. »Mein Kopf ist ja nicht nur dazu da, den Friseur am Leben zu halten, Mensch! Ich hab’ nämlich ’ne Kerbe in den Stopfen geschnitten, etwas Luft, ein ganz klein wenig, kommt noch ’rein. Zunächst also wird’s gehen, vor allem beim Langsamfahren. Möglich, daß der Motor ’n bißchen bockt, aber das werden sie nicht tragisch nehmen. Sobald sie aber Vollgas geben, ist’s aus: der Karren fängt an zu niesen, bockt und steht schließlich. Dann werden sie den Vergaser ausbauen und reinigen – nützt natürlich nichts, haha! Kurz und klein: wir sind sie los!« Die Jungen lachten mit der eine zufrieden, der andere schadenfroh. »Falls sie überhaupt abfahren. Vielleicht bleiben sie auch im Café sitzen und warten, bis wir vorbeikommen, denn wir müssen ja über die Hauptstraße.« »Ziemlich unwahrscheinlich«, meinte René. »Nee, Maurice, ich nehme an, die haben schon mächtig Langeweile, müssen ja schon
Stunden dasitzen! Paß mal auf: gleich werden die Schufte losfahren, uns zu suchen. Es kommen ja höchstens zwei Straßen in Frage, und die haben sie mit ihrem schnellen Wagen bald abgegrast. Wir warten mal ’ne halbe Stunde, das können wir uns leisten.« Es war nicht einmal eine halbe Stunde vergangen, als Pipin zischte: »Da sind sie!« Ohne die Jungen und ihren Wagen zu bemerken, stiegen die Männer ein und fuhren davon. »Gute Reise!« knurrte René. »Und schönen Gruß von der Zwiebelstraße!« feixte Seppe. Bei einem richtigen Polizisten – der mißtrauisch gewordene Maurice ließ sich sogar den Ausweis zeigen – erkundigten sie sich noch einmal nach dem Weg. Die Auskunft des Beamten deckte sich genau mit dem, was Maurice aufgeschrieben hatte: weiter auf der großen Hauptstraße bis Le Luc, von dort aus nach Süden über Cogolin bis in die Nähe von St. Tropez. Schon zehn Minuten später entdeckten sie den schwarzen Buick. Die beiden Männer hatten die Röcke ausgezogen, die Ärmel hochgekrempelt und arbeiteten im Schweiße ihres Angesichtes. Der eine pumpte einen Reifen auf, der andere schraubte unter der hochgeklappten Motorhaube. »Seht ihr! Hab’ ich’s nicht gesagt! Der nimmt den Vergaser ’raus! Viel Erfolg, Kollege!« Lächelnd rasselten sie vorbei. Keiner der Schufte schaute auf.
Spuk und guter Ton »Ich möchte mir die Bemerkung erlauben, daß dieses Schloß recht klein und bescheiden aussieht. Es macht auf mich quasi gewissermaßen einen mickrigen Eindruck!« »Na, hör mal! Liegt doch richtig hübsch da oben auf dem Buckel! Rund herum Weinberge, auf dem ganzen Abhang. Was willst du denn mehr?« »Nun, meine Bemerkung war ja mehr in betreff des Gebäudes gedacht. Dieses ist doch recht klein und altmodisch, aber dennoch ganz nett«, meckerte André und nickte herablassend. Villeneuve schien ihm schon gar nicht zu gefallen. Naserümpfend betrachtete er die Fischerhäuschen und winzigen Geschäfte; selbst die von leuchtenden Blumenbeeten umsäumten oder unter Palmen und Kiefern versteckten Villen fanden keine Gnade vor seinen Augen. Seine lebhafte Phantasie hatte ihm alles märchenhaft und großartig ausgemalt, und nun erschien ihm die schöne Wirklichkeit nicht schön genug. Der schmale Asphaltweg stieg stärker an, machte eine Haarnadelkurve, noch hundert Meter, dann waren sie auf dem Berg, und vor ihnen lag Schloß Augustin. Eingehend musterte Maurice den von zwei Ecktürmen flankierten Bau. Der linke Turm war viereckig, der rechte rund. Zwischen beiden ein zweistöckiger Verbindungsbau, mitten davor eine große Freitreppe. »Ich kann mir nicht helfen, ich finde das alte Gemäuer sehr schön«, sagte er und nickte wohlgefällig. Am Fuß der Treppe stoppte René den Wagen; der Motor verröchelte fauchend, es klang, als ob er erlöst aufatme. »Mensch, Jungens! Endlich wieder am Meer! Ich war schon ganz krank vor lauter Bergen«, rief Seppe, sprang elegant von seinem Notsitz und blickte am Schloß vorbei, über das malerisch an den Hügel geschmiegte Villeneuve hinweg auf die blaue, unbewegte Wasserfläche. Die andern stellten sich neben ihn, blinzelten und zogen schnuppernd den lang entbehrten Salzgeruch ein. »Wunderbar! Prächtig!« Der Anblick begeisterte selbst André. »Fast so schön wie in Marseille!« »Anders«, sagte Maurice. »Das Meer hat eine andere Farbe. In Marseille ist es grünlicher, hier tiefblau wie Füllhaltertinte. Beides ist schön.« »Quatsch!« sagte René. »Ist ja bloß Wasser.«
»Das kennen wir schon, Mensch!« hänselte Seppe. »Kein Weizen und kein Wein, taugt also nicht. Du kannst einem leid tun.« »Wuhaha!« wieherte Filou auf einmal. »Wuhaha! Jungens, seht euch den an! Was ’n komischer Kerl! Wuhaha!« Auf der Freitreppe stand ein schmaler, alter Mann, der tatsächlich seltsam gekleidet war. Er trug einen kurzen, silberbestickten Rock, Kniehosen aus Samt, weiße Wadenstrümpfe und Schnallenschuhe. Und ein Gesicht machte der Mann! Das war schon kein Gesicht mehr, das war eine Beleidigung. Äußerst hochnäsig und geringschätzig musterte er die Jungen und quetschte im eisigsten Ton aus dem linken Mundwinkel hervor: »Sie wünschen?« »Ihnen einen recht guten Tag!« sagte Maurice ebenso freundlich wie ironisch und winkte lässig mit der rechten Hand. André boxte ihn dafür heftig in die kurzen Rippen, er war hingerissen von so viel Vornehmheit. »Wir mö – möchten zu Monsieur Baharoff! Haben wir vielleicht die Ehre…?« stotterte er mühsam und machte ruckartig eine Verbeugung, als wolle er sein dünnes Gestell zusammenklappen. »Kamel!« sagte Maurice vernehmlich. »Geht doch nichts über den ›Guten Ton‹! Melden Sie bitte Ihrem Herrn: Maurice Dupont aus Marseille und seine tüchtigen Freunde!« »Tüchtige Freunde!« murmelte der Betreßte, schnitt ein Gesicht, als hätte er Essig getrunken, und verschwand. Nicht ohne die Flügeltür gründlich hinter sich zu verschließen. »Der Alte kommt mir bekannt vor!« sagte Pipin, die Schlitzaugen nachdenklich zusammenkneifend. »Mir auch! Den hab’ ich irgendwo schon mal gesehen. Ich sehe in den letzten Tagen häufig Leute, die mir bekannt vorkommen«, sagte Maurice und runzelte die Stirn. »Geht es schon los mit den Gespenstern?« Da öffnete sich die Flügeltür wieder, und der »komische Kerl« trat heraus. Würdevoll stolzierte er bis an die oberste Stufe, blickte mit unsäglich hoheitsvoller Miene von einem zum andern und sagte näselnd: »Ich habe den Auftrag, Sie im Namen von Monsieur Baharoff – hm – willkommen zu heißen. Monsieur hat im Augenblick eine Besprechung und kann Sie deswegen erst in einer halben Stunde empfangen. Monsieur bittet die – hm – Herren« – an »Herren« kaute er herum wie an zähem Rindfleisch –, »bis dahin in der Halle zu war-
ten.« Statt der leichten Verbeugung, mit der er bei jedem andern Gast diesen Sermon beschlossen hätte, lieferte er jetzt nur die Andeutung eines Kopfnickens. »Na, denn ’rin in die Halle!« brüllte René. »Zeig uns mal den Schuppen, Opa!« Der Haushofmeister zuckte zusammen, als bekäme er unversehens einen Eimer Wasser in den Nacken. Als er die Augen wieder öffnete, puhlte Filou interessiert an den silbernen Fangschnüren, die vierfach um seine rechte Schulter gewunden waren. »Opa« warf einen Blick zum Himmel und stöhnte: »Ich darf wohl vorausgehen?« Grunzend vor Begeisterung ließen sich die Jungen in die tiefen Sessel plumpsen, räkelten sich betont behaglich und benahmen sich absichtlich besonders forsch, um ja nicht zu zeigen, daß das Schloß Eindruck auf sie machte. Nur André saß nervös auf der Kante und blätterte im »Guten Ton«, Abschnitt »Wie begrüße ich Fremde?«
»Monsieur hat mich angewiesen, den – hm – Herren Erfrischungen zu reichen. Was darf ich bringen?«
»Was haben Sie denn Gutes da?« erkundigte sich Seppe. ’ »Alles, was Sie wünschen!« »Ist ja prima! Also, ich will einen Cap Corse!« schmetterte er. »Dergleichen ordinären Aperitifs natürlich nicht. Darf es statt dessen ein Rossi sein?« »Meinetwegen, ich bin nicht kleinlich. Aber mit Eis und Zitrone, ja?« »Opa« staunte und dachte: der Kerl weiß tatsächlich, wie man Rossi trinkt! Er konnte nicht ahnen, daß Seppes Vater eine berühmte Kneipe besaß. »Und du, Tista? Was soll der Onkel dir bringen?« »Gebatenen Fisch.« Der vornehme Haushofmeister kriegte einen Hustenanfall. »Das haben sie hier nicht, nimm was anderes.« »Dann Eis.« »Müßte eigens für den Jungen gemacht werden«, erlaubte sich »Opa« zu bemerken. »Tun Sie das«, fiel Maurice ein, den das Benehmen des Dieners zu ärgern begann. »Für Tista ist nichts zu schade. Außerdem haben wir Zeit.« »Ich möchte Tee!« ballerte René. »Aber anständigen! So schwarz wie meine Füße, klar? Und ’n bißchen dalli, ich hab’ Durst.« André las fieberhaft in seinem Buch, Abschnitt »Welche Getränke, wann und wo?« Die Jungen sollten ruhig ordinäre Sachen bestellen und sich blamieren, so gut sie konnten, er wollte es richtig machen. Leider las er etwas zu flüchtig. Jetzt ließ er das Buch sinken, spreizte sich wie ein Pfau, machte eine elegant sein sollende Handbewegung und sagte mit spitzem Mund: »Mich gelüstet es nach einem Grog!« »Grog?« stieß der Haushofmeister hervor. »Grog? Jetzt, in dieser Jahreszeit? Bei dieser Hitze? Bi-bitte, wenn Sie durchaus wollen!« »Grog kann nie schaden«, sekundierte Maurice lachend. »Und was nimmst du, Pipin? Wie wär’s mit rotem Bordeaux?« »Einverstanden! Ich glaub’, das kann man trinken, wie?« »Na, und ob! Ich nehme auch ein Glas Bordeaux. Aber zunächst möchte ich mich gern waschen, rasieren und so weiter. Zeigen Sie mir bitte das nächste Badezimmer!« Mit einem Male hatten alle das Bedürfnis, sich erst zu säubern. »Opa« führte die »Herren« in einen großen Waschraum. Auf der Tür stand: »Bad für Domestiken«.
»Domestiken nennt man wohl die feineren Gäste, nicht wahr?« flüsterte André. »Nee!« Maurice schüttelte grinsend den Kopf. »Domestiken heißt soviel wie Hausangestellte.« Mit einer Miene, als litte er entsetzliche Zahnschmerzen, brachte der Diener sieben Handtücher, sieben Stück Seife und sieben Waschlappen. »Ich darf wohl die Katze in Verwahr nehmen?« fragte er sehr von oben herab. »Wo denken Sie hin!« entgegnete Seppe mit gut gespielter Entrüstung. »Das ist ein Dachhase edelster Zucht, so was vertraut man nicht jedem x-beliebigen Menschen an! – Tista, setz das Biest aufs Fensterbrett und zieh das Hemd aus!« Geradezu tierischer Lärm lockte den Haushofmeister wieder herbei. Vorsichtig schob er den Kopf durch den Türspalt. Ein grausiges Bild bot sich ihm! Seppe und Tista versuchten mit vereinten Kräften, Sasu das seidenweiche, aber dreckige Fell zu waschen. Sasu wollte von lauwarmer Brause nichts wissen, sie wehrte sich so gut sie konnte und kreischte wütend. Tista redete tröstend auf sie ein, Seppe sang schallend ein Lied, in dem vom traurigen Schicksal eines neapolitanischen Fischers die Rede war. Pipin, André und René trugen Badehosen und waren in eine heftige Wasserschlacht verwickelt. Mit nassen Waschlappen und mehr oder weniger gefüllten Eimern kämpften sie erbittert um den Besitz eines Schlauches, brüllten und juchhuten dabei wie angreifende Sioux. Wasserstand im Badezimmer: dreieinhalb Zentimeter, ständig steigend. Die beiden andern betätigten sich an den Waschbecken: Maurice rasierte sich in aller Gemütsruhe, Filou putzte sich langsam und hingebungsvoll die Zähne. Mit verstörten Augen blickte »Opa« auf das Getümmel. Und ich muß ruhig bleiben, dachte er, muß mir so was ansehen, muß mir so was bieten lassen! Weil Baharoff es will! ›Die Leute werden mit aller erdenklichen Zuvorkommenheit behandelt‹ hat er gesagt. O du meine Güte! Plötzlich aber schoß er vorwärts, watete auf Filou los und schrie: »Was erlauben Sie sich! Sie putzen sich mit meiner Zahnbürste die Zähne! Was fällt Ihnen ein!« Filou grinste verlegen und sprudelte weiße Blasen: »Oh, oh, verzeihen Sie bitte! Ich hap gedacht, die war’ für alle da!« Sorgfältig spülte er die Bürste aus und reichte sie dem Diener, doch der sprang
zurück wie vor einem bissigen Hund. Maurice prustete sein Spiegelbild an. »Wenn Filou gewußt hätte, daß die Zahnbürste Ihnen gehört, hätte er sie sicher nicht genommen«, sagte er doppelsinnig. Bis zur Unkenntlichkeit verschönt, saßen sie später in der Halle. Maurice betrachtete genießerisch den herrlichen, großen Raum. Schönes Haus, stellte er fest. Gebeizte Holzdecke, graue Seidentapete, riesengroßer, dunkelgrüner Teppich auf den Steinfliesen. Hm, macht sich sehr gut. Die geschnitzte Truhe dort drüben müßte man sich mal näher ansehen, scheint ein ganz altes Stück zu sein. Seine Augen glitten über den Wandteppich, der die gesamte Rückwand einnahm, betrachtete den Kamin, den großen Leuchter und die übrige Einrichtung. Angefeuert durch Maurices schweigende Bewunderung, stand André auf und beschaute mit hochgezogenen Augenbrauen die Waffen aus der Landsknechtszeit, die an den Wänden verteilt waren: Harnische, Piken, Morgensterne, Hellebarden, Schwerter und Degen, gekreuzt mit Krummsäbeln. Neben der Tür waren sogar zwei vollständige Ritterrüstungen aufgebaut. Davor blieb er stehen, fuhr mit dem Finger über den Brustpanzer, wackelte mit dem Wasserkopf und sagte: »Ich stelle fest, daß hier allerhand Blech zu putzen ist, nicht wahr?« Gemessenen Schrittes ging er zu einem Sessel zurück und las weiter. Sein Grog dampfte und er auch, jede Bewegung verursachte Bäche von Schweiß. Das Taschentuch, mit dem er sich ständig über das Gesicht fuhr, hätte er auswringen können. Endlich stolzierte der Diener herbei. Stocksteif verkündete er: »Monsieur erwartet Sie in der Bibliothek!« Das klang wie ein Befehl. André wurde sofort eifrig. »Kommt, wir dürfen Monsieur nicht warten lassen!« »Immer langsam voran, ich hab’ meinen Rossi noch nicht auf«, sagte Seppe pomadig. Tista wickelte Sasu aus dem Badetuch und brabbelte: »Das liebe Kätzchen is tocken! Und was hat das liebe Kätzchen wieda ’n schön weich Fellchen!« Sasu schnurrte vor Behagen. Tista nahm sie auf den Arm und streichelte sie zärtlich. Wie ein Pfahl stand der Diener da und blickte unbewegt geradeaus, André neben ihm trat von einem Bein auf das andere. Pipin trank sein Glas aus und erhob sich geschmeidig. Mit einem unbe-
stimmbaren Lächeln auf dem Gesicht näherte der sich dem Betreßten, nahm einen innerlichen Anlauf und sagte: »Der große Mann möge mir sein Ohr leihen!« »Bitte?« Das klang ein wenig verwundert. »Nicht, daß ich meckern wollte«, fuhr Pipin in seiner gewohnten Redeweise fort, »aber Sie sollen uns nicht für dämlich halten: der sogenannte Bordeaux war in Nordafrika gewachsen! Genauer gesagt: in Algerien!« Der Haushofmeister beherrschte sich wunderbar. »Oh! Ein Versehen! Entsetzlich peinlich. Wird nicht wieder vorkommen, ich werde gleich…«, stammelte er und dachte bestürzt: der hat’s tatsächlich gemerkt! Dieser Chinese! Doppelt schlimm, vor diesen Leuten aufzufallen. »Na, Jungens, dann wollen wir mal!« Maurice stand auf. Der Diener ging voran. Unterwegs hielt Maurice Pipin ein wenig zurück. »Mensch, ich hab’ nicht gemerkt, daß der uns angeschmiert hatte. Du scheinst ja von Wein ’ne ganze Menge zu verstehen, was?« »Füll du mal zwei Jahre lang Fässer ab! Da muß man schon sehr unbegabt sein, wenn man die Unterschiede nicht ’rauskriegt.« »Aha – ö – da sind Sie ja! Bitte – ö – treten Sie näher!« Hinter einem riesigen Schreibtisch erhob sich ein etwa zwei Meter großer, schwerer Mann. Eine eindrucksvolle Figur mit ebenso eindrucksvoller Totalglatze. Maurice bemerkte in Sekundenschnelle: dunkle, unruhige Augen; gelbliche Gesichtsfarbe, mächtiger Eierkopf; große Pratzen mit Goldringen. Alles in allem: nicht sehr sympathisch. »Ö – Baharoff!« »Dupont, Maurice!« Eine weite, ausholende Handbewegung: »Meine Freunde!« »Ö – hm, sehr erfreut, meine Herren!« Maurice drückte eine merkwürdig weiche Hand. »Das ist André Bourian, Fachmann für alle Dinge auf oder dicht über dem Erdboden, zum Beispiel Fußbekleidung.« »Hm – ö-, Armenier?« »Sehr wohl, Exzellenz, sehr wohl!« André verbeugte sich so ruckartig, daß er beinahe vornüberfiel. Er schwitzte vor Aufregung und Grog. Maurice machte eine Pause, um die »Exzellenz« ohne Lachkrampf zu verdauen.
»Das ist René Forgeron. Bearbeitet alle technischen Fragen mit bewundernswürdiger Präzision.« »Tach!« knurrte René und schüttelte Baharoff markig die Hand. »Giuseppe Palotti. Spezialität: Entfernung von Gegenständen aller Art.« Seppe verbeugte sich grazil, lächelte wie ein Malzbonbon und säuselte: »Bonjour, Monsieur!« »Filou Wacambo, der mutigste Mann Marseilles.« »Monsieur!« stammelte der Schwarze. »Pipin Hieronymus Wang. Ein Mann, dem man nichts vormachen kann.« Pipin grinste breit und reichte Monsieur seine magere, gelbe Kralle. »Tista, unser Kleinster«, sagte Maurice und strich dem Dreikäsehoch über den Kopf, »trotz seiner Jugend geradezu unentbehrlich, nicht wahr, Jungens?« Baharoff konnte sein Staunen nicht verbergen. Tista gab ihm das linke Händchen – mit der rechten hielt er nämlich Sasu fest –, verbeugte sich artig und krähte: »Ta-a-ach!« Beim Verbeugen aber passierte ihm ein Malheur: er gab ein unfeines Tönchen von sich. André wurde bleich wie die Wand und stöhnte. Maurice beherrschte sich mühsam, seine Nasenflügel zitterten. Wenn ich jetzt André angucke, ist es aus, dachte er und wandte keinen Blick von Baharoff. Der ließ sich nichts anmerken, sagte: »Bitte – ö – meine Herren, nehmen Sie doch Platz!« und drückte den Klingelknopf. Sofort erschien der Betreßte. »Jean-Baptiste!« Ein kurzer Wink mit der fleischigen Hand. Der Diener eilte zum Schrank und bot auf einem Tablett Zigarren und Zigaretten aller Sorten an. Maurice wählte mit Bedacht die beste Brasil. Wieder einmal wunderte sich Jean-Baptiste über den guten Geschmack der pöbelhaften Gäste. Die andern nahmen Zigaretten, nur Filou wackelte abwehrend mit seinem wolligen Schädel. Tista bekam von Seppe eins über die Finger, als er in die Silberdose grapschen wollte. Dafür aber konnte Seppe unbemerkt eine Handvoll Zigaretten verschwinden lassen. Doch nicht ganz unbemerkt: André schaute ihn ebenso strafend wie gequält an. »Jean-Baptiste!« Wieder ein Wink. »Sherry.« Und dann erzählte Monsieur Baharoff. »In großen Zügen wissen Sie Bescheid. Ich besitze das Haus seit
fünf Jahren, ö – vor zwei Jahren setzte der Spuk zum erstenmal ein. Ö – und wie! Und wie! Jean-Baptiste, den ich vom vorigen Besitzer übernahm, behauptet, es hätte früher auch schon gespukt, doch nur gelegentlich und längst nicht so heftig.« »Sehr wohl, Monsieur!« mischte sich der Lakai ein. »Ich bin fast fünfzig Jahre in diesem Hause tätig, aber etwas Derartiges, wie in den letzten zwei Jahren, habe ich noch nicht erlebt! Ich versichere, Monsieur, daß nur meine Anhänglichkeit mir die Kraft zum Aushalten gibt. Was ich jedoch erleide, geht über Menschenmaß!« Wie zufällig streifte sein Blick die Jungen. »ö – hm, es ist gut, Jean-Baptiste. Ich danke Ihnen, Sie können gehen.« Mit undurchdringlicher Miene schritt der Diener davon. »Ö – er hat recht. Nur er und der Chauffeur haben ausgehalten. Gaston wurde übrigens in der vorigen Woche vom Spuk verletzt, ich habe ihn zur Wiederherstellung seiner Gesundheit beurlauben müssen. Das andere Personal ist nicht zu bewegen, hier im Haus zu schlafen, und verschwindet abends um sieben nach Villeneuve.« »Was macht der Spuk eigentlich?« fragte Maurice. »Monsieur Dupont – ö, ich bin ein realistischer, nüchterner Geschäftsmann. Ich habe früher nie an dergleichen Unsinn geglaubt, doch ich bin längst soweit! Meine Nerven haben entsetzlich gelitten – ö!« Er strich sich mit seiner Pratze über das Gesicht. »Es ist abscheulich! Man kann es kaum beschreiben, man muß es mitgemacht haben. Ö – fürchterlich! Geräusche rauben einem die Nachtruhe. Das wimmert, stöhnt, ächzt, ö – schaurig, kann ich Ihnen sagen! Schläft man schließlich doch ein – man hat tagsüber sein gerüttelt Maß aufreibender Arbeit und braucht den Schlaf –, dann poltert es plötzlich, als ginge die Welt unter, das Bettzeug fliegt weg, von unsichtbaren Händen gezogen, man erschrickt zu Tode – ö! Schritte tappen durch das Haus, es quietscht, als würden Schränke gerückt, ein Totenschädel grinst durchs Fenster – ö – hm – entsetzlich! Entsetzlich! Oder es erscheint eine Schrift an der Wand, irgend etwas Orientalisches, was man nicht lesen kann. Bilder fallen herunter, ja – ö, was das Schlimmste ist: meine Sammlung wird auf das gräßlichste in Unordnung gebracht. Sie müssen wissen, ich bin begeisterter Sammler, ich besitze die größte und vollständigste Sammlung von Kragenknöpfen aller Völker und Zeiten!« »Kragenknöpfe?« Maurices Mundwinkel kräuselten sich spöt-
tisch. »Das ist sicher sehr interessant, nicht wahr?« »Ö – ja, ja. Interessant und ausgefallen. So etwas brauche ich. Hat mich ein mächtiges Stück Geld gekostet, deswegen hänge ich daran, wie Sie sich denken können. Und wenn man dann sehen muß, daß das beste Stück der Sammlung, ein Knopf aus Walfischschwanzknochen, englisch, sechzehntes Jahrhundert, wundervoll ziseliert, wenn man so ein Stück statt im seidenen Etui in einer schmählichen Situation, nämlich in einem vollen Aschenbecher findet, dann – ö –, dann…« Seine Stimme versagte. »Dann geht einem der Hut hoch!« ergänzte Seppe voller Mitgefühl. André bekam Zustände. »Richtig, der – ö – Hut! Richtig!« »Und welche Scherze treibt der Spuk sonst noch?« fragte Maurice, jeder Zoll ein kühner Gespensterjägerchef. »Scherze? Lieber junger Freund, in diesem Wort liegt ein Optimismus, der mich erwartungsvoll stimmt. Aber verzeihen Sie mir, wenn ich das Unwesen in diesem Haus nicht mehr als scherzhaft empfinden kann. Schaffen Sie mir diesen Geist vom Halse, ich bitte Sie! Sie sind meine letzte Hoffnung, nachdem die internationalen Fachleute versagt haben. Ich werde Sie reich belohnen. Nehmen Sie sich Zeit, bleiben Sie hier, solange es Ihnen gefällt, jeder Wunsch wird Ihnen erfüllt werden. Aber erlösen Sie mich von diesem Gespenst, ich kann nicht mehr, meine Nerven machen nicht mehr mit! – Und nun entschuldigen Sie mich bitte, das Erzählen hat mich sehr angegriffen. Jean-Baptiste wird Ihnen Ihre Zimmer zeigen.« »Eine wichtige Frage noch: hält sich der Spuk an eine bestimmte Zeit?« »Ö – nein, das ist ja das Schlimme! Zwischen zwölf und vier pflegt er zu wirken. Heute vielleicht um halb eins, morgen vielleicht um drei, kümmert sich also nicht um die sogenannte Geisterstunde.« »Hm, also von Mitternacht bis zum Beginn der Morgendämmerung! – Vielen Dank, Monsieur!« »Nein, Jean-Baptiste, keine Einzelzimmer! Wir müssen zusammenbleiben, wenn wir unsere Aufgabe erfüllen wollen. Ich sage Ihnen zum letztenmal: wir nehmen diese beiden. Zimmer hier! In jedes werden noch zwei Betten hineingestellt, und die Sache hat sich. Außerdem lassen Sie bitte die Verbindungstür öffnen.« Mit diesen energischen Worten beendete Maurice die Auseinandersetzung mit
Jean-Baptiste, der eine Viertelstunde lang mit großer Zähigkeit bemüht war, die Jungen zu Einzelzimmern zu überreden. »Sehr wohl, Herr Dupont! Ganz, wie Sie wünschen!« sagte er jetzt, machte ein verzweifeltes Gesicht und verschwand zögernd. Die Jungen standen am Fenster und beschauten die Landschaft. Leider konnte man nur ein Stückchen vom Meer sehen, denn der viereckige Turm, neben dem das Zimmer lag, sprang ein wenig vor. Da kam der Diener schon wieder. Zusammen mit dem Hausmädchen Luise begann er, Sessel und Stühle hinauszutragen, um Platz zu schaffen für die beiden zusätzlichen Betten. »Müssen Sie das selbst machen?« fragte Maurice. »Leider ja. Der Gärtner und der Hausknecht sind bereits fort. Sie schlafen aus begreiflichen Gründen nicht hier im Haus, sondern in Villeneuve. Und der Chauffeur ist beurlaubt, wie Sie wissen.« Woher weiß der alte Knabe, daß Baharoff uns das erzählt hat, dachte Maurice. Horcht wohl an der Tür? Das scheint so eine Art Sport für Diener zu sein. Na, mir egal, jedenfalls soll sich der alte Mann nicht unsertwegen abrackern. »Los, Jungens, anfassen! Soll etwa der Opa für uns die Möbel schleppen, und wir schauen zu? ’ran!« »Hände weg, Alterchen!« brüllte René voller Tatendrang, entriß Jean-Baptiste einen zierlichen, seidenbezogenen Stuhl und schwang ihn in abenteuerlichem Bogen auf die Schulter. Es klirrte, und die Lampe lag auf der Erde. »Benehmen ist Glückssache, und du wirst vom Unglück verfolgt!« kanzelte André ihn ab. »Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen!« erwiderte René treffend, und schon war mal wieder Krach zwischen den beiden. Jedenfalls verging durch die gegenseitigen würzigen Bemerkungen das Umräumen schneller; in knapp einer halben Stunde war es beendet. Nur im Blauen Zimmer – die Zimmer waren nach der Farbe ihrer Tapeten benannt – war man noch nicht einig. Die beiden zusätzlichen Betten waren zwar schon aufgeschlagen, das eine hatte bereits seinen vorgesehenen Platz links neben der Tür, doch das andere stand noch mitten im Raum, weil Seppe und Jean-Baptiste über den Aufstellungsort verschiedener Ansicht waren. Der König der Diebe, der zusammen mit Tista darin schlafen sollte, hätte es gern nach rechts, direkt neben die Tür gestellt. Jean-Baptiste wollte es unbedingt vorn unter dem Fenster haben. »Es sieht besser aus, Herr… hm…«, sagte er schon zum dritten-
mal. »Seppe!« »Herr Seppe! Wirklich, das ganze Zimmer wirkt doch freundlicher dadurch!« »Aber da am Fenster zieht es doch, Mann!« »Ich bitte Sie. In dieser Jahreszeit!« Seppe gab nach. Im Grunde war es ihm völlig einerlei, wo sein Bett stand. »Also schön. Bloß an den Schrank können wir nicht mehr ’ran.« Die ganze rechte Wand wurde von einem bis an die Decke reichenden dunkelbraunen Bücherschrank eingenommen. »Ihre Sachen müssen Sie ohnehin auf dem Flur im Wandschrank unterbringen, denn das ist ein Bücherschrank. Lesen werden Sie doch wohl kaum, wie?« »Kommt darauf an«, meinte Maurice und öffnete die Türen. »Wertvolle Sachen!« stellte er fest, nahm ein ledergebundenes Buch heraus und blätterte darin. »Der alte Graf war ein leidenschaftlicher Bibliophile«, äußerte Jean-Baptiste mit betontem Stolz. »Was hat dem Grafen gefehlt? Woran ist er gestorben?« fragte André. »Bibliophile war der, Bücherliebhaber! Von gestorben ist keine Rede.« Maurice stellte den Band wieder ein. »Doch«, sagte der Diener, »der alte Graf ist tot. Leider!« Er seufzte leise. »Und dann hat Baharoff das Schloß gekauft?« »Kurz vorher, Herr Dupont!« Maurice hatte den Eindruck, als trauere Jean-Baptiste immer noch um seinen früheren Herrn. Oder was besagte dieses Zucken um die Mundwinkel sonst? »Es hat Ihnen sicher leid getan, als dieses Haus, in dem Sie so lange tätig waren, in fremde Hände überging, nicht wahr?« Der Alte blickte zu Boden, seine Augen zwinkerten nervös. »Natürlich, Herr Dupont, man hängt an seiner Herrschaft. Doch – Monsieur Baharoff ist sehr gut zu mir. Ich verdiene sogar mehr als früher.« Sein Gesicht, das eben noch eine Spur von Trauer gezeigt hatte, wurde wieder zur höflich-nichtssagenden Maske. Maurice bedauerte, seine Frage gestellt zu haben. Wahrscheinlich hatte er, ohne es zu wollen, einen wunden Punkt berührt. Bevor er jedoch, um das Thema zu wechseln, eine belanglose Frage stellen
konnte, sagte Jean-Baptiste: »Monsieur Dupont, Sie und Ihre Freunde waren so liebenswürdig, mir die schwere Arbeit des Umräumens abzunehmen. Hm – darf ich Ihnen dafür einen gutgemeinten Rat geben?« Maurice nickte. René knurrte: »Schieß los, Opa!« Jean-Baptistes Gesicht bekam einen ängstlichen Zug. Geheimnisvoll flüsterte er: »Ich möchte Sie warnen, meine Herren! Vor dem Spuk! Sie versuchen Unmögliches und ahnen nicht, in welche Gefahr Sie sich begeben. Manch einer hat schon durch den Spuk körperliche Schäden davongetragen. Vorige Woche erst flog Gaston ein ganzes Kaffeegeschirr an den Kopf. Er hatte es gewagt, sich abfällig über die Spukerscheinung zu äußern!« Prüfend blickte er den Jungen in die Augen. Seine Worte hatten nur auf Filou Eindruck gemacht. »Sie sind ja nicht die ersten, die sich an dieser wahnwitzigen Aufgabe versuchen«, fuhr er eindringlich fort. »Welch eine Idee, einen Spuk beseitigen zu wollen! Kann man einen Geist abstellen wie eine schadhafte Wasserleitung? Ich bitte Sie allen Ernstes! Kein Wunder, daß bisher noch jeder Versuch gescheitert ist. Die meisten Ihrer Vorgänger mußte Monsieur Baharoff ins Sanatorium schicken. Nervenzusammenbruch! Sogar dieser wirklich hartgesottene Amerikaner gab endlich auf, nachdem drei der größten Blumenvasen des Hauses an seinem Kopf zerschellt waren.« »Sie meinen es sicher gut mit uns, Herr Jean-Baptiste«, begann André ein wenig herablassend. »Sagen Sie nur Jean-Baptiste, Herr Bourian, das gehört sich so.« »Und zu mir können Sie ruhig André sagen, ich bin an den Namen gewöhnt. Also, was wollte ich gleich sagen! Aha: vielen Dank für Ihren Rat, bester Jean-Baptiste. Solange der Spuk jedoch nur mit Porzellan um sich schleudert, geht es quasi gewissermaßen noch. Wir haben harte Köpfe.« »Wasserköpfe zum Teil!« warf René ein, der sich immer noch nicht ganz beruhigt hatte. André war vornehm genug, den Einwand zu überhören. Zumindest tat er so. Maurice blickte die Reihe seiner Freunde entlang und meinte gelassen: »Wir sind auf alles gefaßt und allerlei Kummer gewöhnt. Und Mut haben wir auch, nicht wahr, Jungens?« »Massenhaft!« protzte René. »Der Spuk soll sich wundern.« Sie lächelten verächtlich im Vertrauen auf ihr dickes Fell. Es müßte schon sehr hart kommen, um sie in die Flucht zu schlagen.
»Außerdem tut uns Monsieur Baharoff leid«, salbaderte André geschwollen. »So ein netter Mensch, dem muß man doch helfen!« Jean-Baptistes Gesicht wurde wieder zur Maske. »Wenn Sie meinen«, sagte er und entfernte sich. Die Jungen ließen sich auf die Betten fallen und nahmen die verschiedensten malerischen Stellungen ein. Seppe langte seine Gitarre vom Tisch und klimperte einen Schlager; die meisten summten mit. Draußen ging die Sonne unter, die Hitze ließ nach. Alle Farben der Landschaft glühten von innen her auf: Die blaue Stunde begann. Seppe spielte die ersten Takte eines italienischen Volksliedes, und ohne sich darüber verständigt zu haben, begannen die Palottis zu singen. Beide glockenrein und klangvoll, Seppe etwas schmalzig, die Übergänge dehnend, Tista gelegentlich schnaufend, weil es mit dem Atem noch nicht langte, aber dennoch wunderschön. Die andern schwiegen, sie hörten die beiden gern. Maurice war der einzige, der den Gesang als störend empfand: er dachte nämlich nach. Seitdem er seine Verantwortung als Anführer der Jungen erkannt hatte, kam das häufiger vor, als ihm eigentlich lieb war. Da sitzen sie nun, lassen sich von der Abendstimmung wegtragen und singen. Kein Mensch macht sich Gedanken über unsere Aufgabe. Das überlassen sie natürlich mir. Geht aber nicht. Das Lied war zu Ende. »Tut mir leid, Jungens, daß ich euch stören muß, aber wir müssen uns unbedingt mal über den Spuk unterhalten. Die Preisfrage lautet: Wer vertreibt einen Spuk? Was denkt ihr darüber?« »Was soll man darüber denken?« knarrte René unwillig. »Spuk ist Quatsch!« »Ja, mit dem Ausdruck bist du schnell bei der Hand. Bei dir ist alles Quatsch, was nicht nach Mist oder nach Benzin riecht. Sei nicht so engstirnig, René! Versuch mal, dich in so manchen ›Quatsch‹ hineinzuversetzen, vielleicht ist es dann plötzlich kein ›Quatsch‹ mehr.« René wurde rot und fuhr sich mit der Hand über die Borsten. »Was meinst du, André?« »Ich meine, daß wir ihn fangen müssen!« posaunte der forsch und blickte beifallheischend in die Runde. »Allein schon wegen dem Geld!« »Auch nicht gerade sehr klug! Jedenfalls bist du der Meinung, daß man einen Spuk fangen kann. Nun, sehen wir zunächst mal weiter. – Pipin?«
Der Gelbe nahm einen Anlauf: »Ja, weißt du, es ist ganz komisch: mir ist gar nicht wohl zumute mit diesem Spuk, irgendwas stimmt da nicht. Ich denke an das, was Baharoff und der Diener erzählt haben. Ich hab’ so das Gefühl, da steckt was hinter. Kann mich natürlich auch irren. Das mit den Kragenknöpfen zum Beispiel, ist das wirklich Spuk?« »Wirklich Spuk? Was soll’s denn sonst sein?« entrüstete sich André. »Ich kenne das Leben und…« »Das wissen wir«, unterbrach ihn Maurice, und zu Pipin gewandt, fuhr er fort: »Du traust einem Spuk so was nicht zu? Hm, kommt darauf an, was man unter Spuk versteht. Weißt du, es gibt die tollsten Sachen, die alle unter Umständen Spuk sein können. An richtige Gespenster glaube ich natürlich auch nicht, aber ich glaube auch nicht mehr, daß in diesem Haus bloß ein paar Dachpfannen wackeln. Vielleicht ist einer von den Bewohnern mondsüchtig und ahnt es nicht. Vielleicht Baharoff selbst, vielleicht Jean-Baptiste. Außerdem gibt es Orte und Häuser, die sind so stark geladen mit einer seltsamen Stimmung, daß sie in allen Menschen, die dafür empfänglich sind, bestimmte Vorstellungen erzeugen. Die Leute glauben dann, sie hätten dies oder jenes wirklich erlebt. Tatsächlich ist nichts Derartiges geschehen. Ihr wißt doch alle, daß indische Fakire es fertigbringen, einer beliebig großen Menschenmenge weiszumachen, vor ihren Augen wüchse ein Mangobaum. Das ist so was Ähnliches.« »Mir kann man nichts weismachen«, knurrte René. »Außerdem meine ich, wir sollten uns erst mal die ganze Bude zeigen lassen.« »Endlich ein vernünftiges Wort, René! Gut: morgen werden wir uns das Gebäude zeigen lassen, vom Keller bis zum Dachboden. Wir machen uns mit jedem Winkel vertraut, das ist die Grundlage.« »Ja, und ich meine, das Weitere könnten wir dann überlegen, wenn wir den Spuk richtig erlebt haben. So ins Blaue läßt sich nichts unternehmen.« Einmal angestoßen, war René nicht mehr zu stoppen. »Schön, warten wir ab. Punkt zwei wäre also: Erfahrung sammeln. Mehr wollte ich nicht von euch, ihr faulen Fische! Ihr sollt mitdenken und mitüberlegen! Dabei kommt bekanntermaßen mehr ’raus, als wenn nur einer seinen Kopf anstrengt. Übrigens: Filou und Seppe haben noch nichts gesagt!« »Ich weiß gar nix!« murmelte der Schwarze und lächelte schüchtern. Er hatte mal wieder an Stinker denken müssen. »Du hättest mich gleich fragen sollen«, protzte der König der Diebe, »ich hab’ sofort gewußt, was hier zu tun ist!« Das war natür-
lich nicht ernst gemeint, aber André plusterte sich mal wieder auf. Baharoff erwies seinen künftigen Befreiern die Ehre, mit ihnen zu Abend zu speisen. Einigen schmeckte es absolut nicht. Baharoff zum Beispiel, weil er mit Schrecken an die kommende Nacht dachte. André schmeckte es nicht, weil er zwar den »Guten Ton« auf den Knien, aber nicht im Kopf hatte. Er fürchtete ständig, sich zu blamieren, und warf scheue Blicke zu Maurice hinüber, um sich nach ihm zu richten. Dennoch verpaßte er kaum eine Möglichkeit, Unsinn anzustellen. Als er die Suppe aus der Silbertasse in den Kompotteller gießen wollte, wurde es Jean-Baptiste zu bunt. Mit kurzen, aber bestimmten Erklärungen wies er den Jungen zurecht: »Vorspeise ißt man von diesem Teller hier! – Nehmen Sie doch nicht so viel, es kommen ja noch fünf Gänge!« Oder, beim Weineinschenken: »Das andere Glas, bitte!« »Du«, flüsterte André seinem Nachbarn Maurice zu, »der Mestize wird frech!« »Mestize? Mestizen sind Mischlinge. Meintest du Domestike? Freu dich, daß er dir das Vornehmsein schneller beibringt als dein ›Guter Ton‹. Es ist übrigens keine Schande, wenn man mit den verschiedenen Tellern, Bestecken und Gläsern nicht zurechtkommt. Das kann nicht jeder, aber jeder kann den Mut haben zu fragen. Wirkt immer besser, als wenn man sich so lächerlich benimmt wie du.« André verging der Appetit vollends. René stemmte beide Ellbogen auf den Tisch. Ihm schmeckte es, das hörte man. Seppe futterte, daß die Fetzen flogen. Pipin aß genießerisch langsam und hätte sich am liebsten gleich nach dem Rezept für die köstliche Sahnesoße erkundigt. Tista hatte anfangs einige Schwierigkeiten. Man hatte ihm ein silbernes Schieberchen gedeckt, ein ihm völlig unbekanntes Gerät. Dreimal versuchte er, den Brei, den Seppe ihm zurechtgemacht hatte, daraufzuladen, dreimal rutschte der leckere Mischmasch wieder ’runter, ganz gleich, wie man das merkwürdige Ding auch hielt. Da gab er es auf und nahm den Dessertlöffel. Aber mit Befriedigung stellte er fest, daß der Schieber wie geschaffen war, entlegenere Körperstellen damit zu kratzen. Filou bedrückte der vornehme Speisesaal, die kunstvoll geschmückte Tafel, das lautlose Hantieren des Dieners. Auch machte ihm sein verdorbener Magen zu schaffen. Wie im Ambassadeur rollte er zwei Scheiben Ochsenzunge zusammen, pappte Weißbrot drumherum und schob das Ganze in den Mund. Geistesabwesend kaute er.
Da brachte Jean-Baptiste eine Platte herein, die mit geschnittenen Tomaten garniert war. Filou bekam Stielaugen, sein Gesicht wurde grau, er würgte. »Tom…«, keuchte er, hielt sich die Hand vor den Mund und verließ fluchtartig den Raum. »Mann, bin ich müde!« René gähnte wohlig satt. »War ’n prima Futter, wie? Aber jetzt ’rin in die Falle!« Während er sich auszog, brummte er: »Morgen zeigt er uns die Bude, na schön. Morgen beginnt also unser Dienst. Heute war’ ich auch zu müde, hu-ha!« Maurice gähnte ebenfalls. »Und wenn es in dieser Nacht schon spuken sollte? Wäre es nicht besser, wir stellten heute schon Posten auf?« Gleichzeitig dachte er: hoffentlich sind sie genauso müde wie ich und sagen nein. »Ach Quatsch!« tönte René großspurig. »Laß ’n spuken soviel er will. Ich muß erst mal ’ne tüchtige Strophe schlafen.« Seufzend rollte er sich in die weichen Kissen. Zehn Minuten später waren die Bewohner des Gelben und des Blauen Zimmers eingeschlafen. Was ist los? Wo bin ich? Filou fuhr hoch. Ach so, das Schloß. Was hab’ ich denn bloß gehört? Oder war das mein Magen? Der grollt und knurrt immer noch. Kein Wunder. Das bißchen, was ich gegessen hab’, mußte ich ja wieder ausspucken. Wegen der Tomaten. Brrr, Tomaten! Er schüttelte sich. Da! Was war das? Er horchte angespannt. War da nicht irgendwas? Oder? Man kann sich auch täuschen. René sägte Brennholz für eine ganze Woche. Es war so tröstlich, ihn schnarchen zu hören. Tista pustete leise und bildete mit Sasu ein unentwirrbares Knäuel. Obgleich das Bett zweischläfrig war, hatte Seppe sich aus alter Gewohnheit ganz auf die Kante gelegt. Seine schwarzen Locken glänzten ölig im Mondlicht. Im Schlaf umklammerte er das Kopfkissen, als wollte er sich nie wieder davon trennen. Durch die offene Verbindungstür hörte Filou die andern Jungen schnaufen. Warum konnte er nicht schlafen? Langsam wanderte die silbergraue Bahn des Mondlichts, ließ Seppes Bettzeug kalkweiß aufleuchten, malte lange, gelbe Streifen auf den Fußboden. In grauer Dämmerung lag das übrige Zimmer. Bis auf die Atemzüge der Schläfer war es ganz still. Ein kühler Lufthauch streifte Filou, er fröstelte.
»Ah!« Der Schwarze zuckte zusammen, als hätte er sich auf einen Nagel gesetzt. Neben der Tür stand eine weiße, phosphoreszierende Gestalt! Filou drückte die schwarze Faust zwischen die Zähne, einen Moment setzte sein Herz aus. Er wollte schreien, da breitete die weiße Gestalt die Hände ein wenig aus, und eine Serie von bläulichen Blitzen spritzte hin und her. Und jetzt brüllte der Spuk: »Ach Quatsch! Laß ’n spuken, soviel er will!« Mit Renés Stimme! Genau das hatte er gesagt! Ein fürchterliches, schrilles Gelächter folgte diesen Worten. Zähneklappernd verschwand der mutigste Mann Marseilles unter der Bettdecke und schrie um Hilfe. Doch keiner hörte ihn. Die andern schliefen, Filou war allein auf der Welt. »Maurice!« schrie er in die Kissen. »Maurice!« Nicht lange, da wurde ihm die Steppdecke weggerissen, der Geist wandelte damit durchs Zimmer und warf sie aus dem offenen Fenster. Denn drehte er sich um, wieder ertönte überlaut Renés Stimme: »Ach Quatsch! Laß ’n spuken, soviel er will!« Wieder flogen die elektrischen Funken, jetzt machte der Geist einen Buckel und kroch knurrend und drohend auf Filou zu. Halb wahnsinnig vor Angst, sprang Filou mit einem Riesensatz hinüber auf das andere Bett und landete unsanft auf Renés Bauch. »René!« kreischte er. »René!« und rüttelte ihn in wilder Verzweiflung. Schlaftrunken maulte René: »Mach, daß du wegkommst! ’raus aus meiner Garage, los! Wo ist meine Decke? Gib mir meine Decke wieder, du Schuft!« »René! Der Spuk, René! René!« »Was ist? Spuk?« René rieb sich die Augen. »Wo ist der Spuk?« Der Spuk war weg. »Er war da, René! Ganz bestimmt! Ganz weiß, und – und die Knochen – die Knochen ham geleuchtet.« »Quatsch! Wo ist er denn?« »Jetzt is er weg, aber er hat unsere Decken aus’n Fenster geschmissen, hat Funken geblitzt und mit deine Stimme gesprochen, furchtbar laut!« »So ’n Unsinn, Mensch! Mit meiner Stimme! Ich hab’ doch geschlafen, meine Stimme kann sich doch nicht selbständig machen!« René überzeugte sich davon, daß die Steppdecken tatsächlich auf
dem Hof lagen. Und die aus dem Gelben Zimmer ebenfalls. Er gähnte heftig und taumelte vor Schlaftrunkenheit wie benommen. Mühselig versuchte er, seine Gedanken zu ordnen, schaltete angestrengt, aber die Gedankenkupplung versagte. Müde, ach so müde! Sein Atem ging flach wie der eines Schlafenden. Nur eines war ihm völlig klar: auf keinen Fall hole ich die Decken wieder! Auf keinen Fall! Im Schlaf tastete Seppe nach seiner verschwundenen Verpackung. Er war es gewöhnt, daß ihm irgendeiner seiner Brüder das Bettzeug wegriß, suchte es automatisch hinter sich. Doch dieses Mal war Tista völlig unschuldig. Wärmesuchend schmiegte sich der Kleine noch enger an Sasu. Seppe zog ihm das Kopfkissen fort, deckte ihn damit zu und wickelte sich selbst in den Bettvorleger. Was Besseres fiel seinem dämmrigen Gehirn nicht ein. Filou versuchte Maurice zu wecken. Auch der war so schläfrig, daß er selbst durch starkes Rütteln nicht völlig wach wurde. »Komisch«, murmelte der Schwarze, »die Kerle schlafen wie die Säkke!« Was nun passierte, drang sogar in Renés schlafvernebelte Sinne: ein fürchterliches Geschrei, als würde ein Mensch grausam gequält. Sofort danach brüllte es ganz laut, anscheinend auf dem Korridor: »Und Mut haben wir auch, was, Jungens?« Mit Maurices Stimme! »Massenhaft! Der Spuk soll sich wundern!« Das mit Renés Stimme! Ein schreckliches Hohngelächter folgte. Dann war es still.
René war für einen Moment hellwach. Der Schwarze hatte also doch keinen Blödsinn geredet. »Affenkram«, fauchte er und taumelte in das Gelbe Zimmer. »Was sagst du dazu, Maurice?« Der brummte vor sich hin und drehte sich auf die andere Seite. René wickelte sich in das Bettlaken und schlief wieder ein. Wenig später wurde er unsanft geweckt: durch eine schallende Ohrfeige. Beim Frühstück am nächsten Morgen erzählte Filou von der schaurigen Begegnung mit dem blitzesprühenden Spuk. Die bloße Erinnerung genügte, um sein Gesicht grau werden zu lassen. René saß mit finsterer Miene dabei, auf seiner rechten Backe glühten vier rote Streifen. Maurice konnte sich an nichts erinnern und machte sich daher über Filou lustig. Er wollte verhindern, daß der schwarze Angsthase die andern ansteckte. »Alles Einbildung!« sagte er. »Laßt euch nicht bange machen. Filou hat schlecht geschlafen und phantasiert. Das kommt davon, wenn man so unmäßig Tomaten frißt!« »Red doch keinen Quatsch!« fiel René böse knurrend ein. »Guck
mal meine Backe an! Feuerrot! Der Geist schreibt vielleicht ’ne saftige Handschrift, alles dran. Nee, nee, Filou hat recht. Ich hab ’n zwar nicht gesehen, aber gespürt und gehört. Das Luder hat tatsächlich mit unseren Stimmen gebrüllt. ›Und Mut haben wir auch, was, Jungens?‹ Genau das, was du gesagt hast, mit deiner Stimme! Und dann hat er mit meiner Stimme geblökt: ›Massenhaft! Der Spuk soll sich wundern!‹ Hab’ ich ja auch gesagt, glaub’ ich.« »Kerl, René! Du bist doch sonst ganz vernünftig, wie kannst du nur auf so was ’reinfallen? Mit unseren Stimmen! Du hast geträumt, weiter nichts. Das kommt daher, weil Baharoff so viel davon erzählt hat.« »Und meine Backe? Hat die vielleicht auch geträumt? Mann, der hat mir eine gezündet, daß die Karosserie wackelte! Wenn ich den kriege, der kann sich vorsehen! Heute nacht hab’ ich ’n Knüppel neben mir, und dann gibt’s Saures!« »Haha! Du glaubst doch nicht etwa, daß man einen Geist verhauen kann, du Armleuchter!« André beugte sich vor und lachte geringschätzig. »Geist oder was anderes, mir egal. Wer so feste Knochen hat«, brummte René und zeigte auf seine Backe, »daß man sie noch am anderen Morgen abgebildet sieht, auf dem kann man auch mit ’nem Knüppel Harfe spielen. Ich bin zwar der friedlichste Mensch, den ich kenne, aber schlagen lasse ich mich nicht!« André lachte wieder, doch Maurice fand Renés Überlegung durchaus folgerichtig. Pipin blickte den nachdenklich gewordenen Gespensterjägerchef an und meinte spöttisch: »Wohl so ’ne Art Mangobaum, wie? Pure Einbildung?« »Nein, das nun gerade nicht.« Maurice zog die Stirn kraus und stützte das Kinn in die Hand. »Zum Einbilden würde sich René bestimmt was anderes aussuchen als Ohrfeigen.« »Maurice, Maurice!« Filou rutschte seit einigen Minuten unruhig auf dem Stuhl herum, weil ihm etwas eingefallen war, das er unbedingt loswerden wollte. »Maurice: die Decken! Glaups du, ich hap se ’rausgeschmissen? Nä!« »Richtig, Mensch, die Decken!« fiel René ein. »Hat dieses Trampeltier von Spuk ’rausgeschmissen!« »Sag doch nicht immer so was! Du weißt doch, der hört alles!« flehte Filou und rollte seine Augen angstvoll hin und her. »Laß ’n ruhig hören! Ich hab’ noch nie Angst gehabt und hab’ auch jetzt keine. Meine Handschrift ist ebenfalls nicht von Pappe,
das wird er schon merken.« André setzte sich in Positur und verschränkte die Arme. »Ich möchte mir erlauben, euch einen Vorschlag zu unterbreiten«, gackerte er. »Schieß los! Aber red endlich mal wie ’n vernünftiger Mensch, dein dämliches Getue geht einem ja auf die Nerven.« »Erlaube mal!« André zog die Augenbrauen empor und maß René von oben bis unten mit entrüsteten Blicken. »Ich bin der Meinung, daß ich nicht nur vernünftig, sondern auch gebildet rede. Doch von Bildung hast du ja keinen Schimmer, und deswegen ärgerst du dich darüber.« »Ja, der Meinung bist du tatsächlich.« Maurice verzog ein wenig den Mund und wandte sich an René: »Laß ihn um Himmels willen weiterreden, sonst sitzen wir beim Abendessen, und er hat seinen Vorschlag immer noch nicht ausgepackt. Los, André!« »Also, ich meine, wir sollten von heute an tagsüber schlafen und nachts wach bleiben!« Triumphierend blickte er sich um. »Zwar glaube ich nicht, daß man ein Gespenst verprügeln kann, da es ja reellerweise nicht vorhanden ist. Aber vielleicht könnte man es besänftigen, und falls desfallsige Maßnahmen versagen sollten, müßte man es vertreiben.« »Filou, hast du nicht ’n Onkel in Afrika, der Medizinmann ist? Schreib ihm ’ne Postkarte, er soll sofort kommen! Wird dringend für ’ne prunkvolle Geisterbeschwörung gebraucht.« Filous Beteuerung, er habe keinen Onkel in Afrika, ging im Gelächter der Jungen unter. Maurice schüttelte, halb belustigt, halb bekümmert über Andrés wildwuchernde Phantasie, den Kopf und fuhr fort: »So ein Unsinn, André! Wir sind doch keine Zauberer! Aber dein Vorschlag, wach zu bleiben, war schon ganz richtig.« »Hätte auch ’n noch Dümmerer sagen können«, knurrte René. Gerade wollten die beiden Streithähne übereinander herfallen, da erschien Baharoff im Turmzimmer. »Ö – guten Morgen, ö – meine Herren! Wünsche guten Appetit! Nun, ö – Herr Dupont, was sagen Sie zu den Scherzen?« »Guten Morgen, Herr Baharoff!« Seiner Rolle als Gespensterjägerchef getreu, setzte Maurice ein ernsthaftes Gesicht auf und tönte großspurig: »Ich habe mir die verschiedenen Berichte geben lassen und war gerade bei der Auswertung. Nun ja, ganz hübsch für den Anfang! Das muß man sagen. Doch wir lassen uns natürlich nicht aus der Ruhe bringen.«
»Sehr gut! Sehr gut – ö! Berichte – ö! Sehr gut! Ich habe wieder eine entsetzliche Nacht hinter mir. Entsetzlich, entsetzlich – ö! Ich gehe nie vor zwei Uhr zu Bett – bis zwei ist es meistens besonders schlimm. So lange warte ich immer in meinem Arbeitszimmer, das glücklicherweise ziemlich schalldicht ist. Und wenn man wach ist, wirkt das Getöse glücklicherweise nicht ganz so nervenaufreibend. Ja – ö, was wollte ich sagen – ö? Sie sehen, ich bin bereits völlig konfus – ö! Ach ja! Stellen Sie sich vor, lieber Herr Dupont! Ich steige ins Bett und spüre irgendwas. Etwas Hartes! Ich steige wieder aus und schalte die Deckenbeleuchtung ein. Was sehe ich? Ö – entsetzlich!« »Na, ö – was denn?« fragte Maurice und merkte nicht, daß Baharoffs Redeweise bereits auf ihn abzufärben begann. »Es ist entsetzlich und empörend zugleich: ich lag auf Kragenknöpfen! Meine berühmte Sammlung, von der man in Paris, in New York und Buenos Aires mit höchster Achtung spricht, fand ich in meinem Bett! Bitte, stellen Sie sich das vor! Ö – entsetzlich!« »Ö – entsetzlich«, echote Maurice. »Ich lese die Stücke sorgfältig auf und packe sie in ihre Etuis. Was sehe ich weiter?« »Nun?« »Zwei meiner originellsten Stücke, beide amerikanischer Herkunft, 20. Jahrhundert, das eine mit eingebautem Kreiselkompaß, das andere mit elektrischem Blinkfeuer, befinden sich im Mundglas! Neben meinem Gebiß – ö! Unter Wasser! Entsetzlich!« »Wie gemein!« sagte Maurice und konnte sich vor Lachen kaum halten. »Das ist wirklich ein herzloser Zug von diesem Gespenst! Wo Sie so an den teuren Sachen hängen.« André schnaubte sich die Nase, um Renés Prusten zu übertönen. »Es kommt noch schlimmer, Herr Dupont! Wo – ö, glauben Sie, finde ich den Rest?« Der Dicke ächzte, seine linke Hand zitterte wie ein Lämmerschwanz, die rechte strich unruhig auf dem Eierkopf herum. »Nun?« »Im Nachttopf!« »Nein! Das ist ja unerhört!« entrüstete sich Maurice und lief blau an, doch keineswegs vor Zorn. Andrés Schnauben klang wie die Trompeten von Jericho. Seppe war anscheinend ein Tier ins Auge geflogen, er rieb sich die Lider und wischte mit dem Taschentuch einige Tränen fort. Pipin kroch unter dem Tisch herum und tat, als ob
er etwas suche. Filou hustete wie ein grippekranker Wolf. René weinte, seine Schultern zuckten stoßweise, Tränen liefen über sein Gesicht. Nach dem Frühstück, eine Stunde später, zeigte ihnen Baharoff sämtliche Räume des Schlosses. Zuerst die im Mitteltrakt, dann die Turmräume nacheinander. Die Jungen sahen sich gehörig um und versuchten, sich die Lage der einzelnen Zimmer zu merken. Endlich standen sie auf dem vorkragenden Wehrgang des vierekkigen Turmes, der fast zwei Meter breit war und um die ganze Spitze herumführte. Dahinter erst erhob sich das stumpfe, viereckige Schieferdach. Die Jungen drängten sich an die Brüstung, um einen Blick in die Gegend zu werfen, doch Maurice rief sie zusammen und sagte zu Baharoff: »Sie gestatten, Monsieur, daß wir erst ein wenig Hausorientierung treiben? Sonst nützt nämlich die ganze Führung nichts!« »Bitte – ö, bitte sehr!« »Wer kann mir beschreiben, wie die Räume liegen, die wir gesehen haben?« »Ich nicht, ist zu schwer«, meinte René. »Es sind quasi gewissermaßen sehr viel Zimmer, und…« »Ist gar nicht schwer«, sagte Maurice. »Die Halle ist der Mittelpunkt des Hauses, davon müßt ihr immer wieder ausgehen. Was liegt links neben der Halle, also in Richtung auf den viereckigen Turm, auf dem wir jetzt sind? – Na, André?« »Monsieurs Bibliothek!« »Richtig. Was folgt dann?« »Das kleine Arbeitszimmer mit den Ledertüren und dann das Schlafzimmer.« »Sehr gut. Seht ihr, das war das Erdgeschoß des Mitteltraktes. Und was liegt genau darüber? – René?« »In der ersten Etage? Na, unsere Buden doch!« »Wo genau?« »Das Blaue Zimmer hier direkt neben dem viereckigen Turm, daneben das Gelbe Zimmer, wo du drin schläfst. Und dann noch so ’n paar Zimmer.« »Wieviel?« »Ich glaub’ vier.« »Drei! Alle unbewohnt. Die fünf Zimmer der zweiten Etage ebenfalls.«
»Richtig, Seppe! Und was liegt neben dem letzten Fremdenzimmer?« »Der runde Turm da drüben!« »Gut, jetzt die Türme. Zuerst der viereckige. Welcher Raum liegt im Erdgeschoß?« »Der Speisesaal!« scholl es im Sprechchor. »Das wissen alle, wie merkwürdig!« Maurice lächelte. »Und darüber, im ersten Stock, liegt…?« »Das Frühstückszimmer!« Wieder ein Sprechchor. »Sieh mal an! – Und im dritten Stock?« »So ’ne Art Waffenkammer«, sagte Pipin. »Wird nicht benutzt.« »Gut. Und im Erdgeschoß des runden Turmes?« »Musikzimmer! Die beiden andern darüber sind leer.« »Gut, Seppe. Was ist hier im Anbau?« »Oben Küche, Vorratsraum und Dienerwohnungen, darunter…« René unterbrach Pipin und fuhr fort: »Garage!« »Jetzt ist aber Filou mal dran! Wo gibt es Keller und wo nicht?« »Nur unten, hier oben gar nich!« bubbelte der Schwarze lachend. »Seit wann machst du Witze, Dicker?« Maurice war sehr erstaunt. »Witze und Gläubiger kommen am besten unangemeldet«, entgegnete der Schwarze. »Nicht ungeschickt! Ist das ein Spruch von Oma?« »Ja! Die schimpft nich immer!« nahm Filou das »Pulverfaß« in Schutz. »Also Kellers«, fuhr er sachlich werdend fort. »Unter die Türme sind welche und unter das Haus dazwischen. Unter die Karasche sind keine!« »Sehr gut! Vergeßt bitte den Kram nicht, möglicherweise brauchen wir ihn. – So, jetzt ist die schöne Gegend an der Reihe.« »Ich finde die Aussicht in der Tat imposandig! Welch ein weitschweifiger Blick über das Meer! Und dann diese enorme Küste!« André warf beide Arme in die Luft, verdrehte die Augen und flötete entzückt: »Ach, das ist ja hümmlisch schön!« René beugte sich zu Maurice vor, grinste und deutete mit dem Daumen auf André: »Soll’n wir ’n ’runterschmeißen?« »Bloß nicht! Der hat doch unser ganzes Geld am Busen treu geborgen! – Manchmal ist er wirklich widerlich, nicht wahr? Jetzt spielt er sich auf, weil Baharoff dabei ist. Man müßte ihm mal gründlich den Marsch blasen.« Seppe hob Tista auf die Mauer und hielt ihn eisern fest. Filou trat in eine der zugemauerten Schießscharten, hievte schnaufend sein
Schwergewicht in die Höhe und ließ die Augen rollen. Pipin stützte den Kopf in die Hände und blinzelte umher, die Schlitzaugen zu einem schmalen Spalt zusammengezogen. »Herr Baharoff, ist das Cannes dort drüben?« »Nein, das ist Antibes. Cannes ist nicht zu sehen von hier, ö – liegt in einer Bucht. Ganz hinten, das Weiße, das ist Nizza. Spätnachmittags und abends kann man sogar die Berge von Korsika erkennen.« René setzte sich auf die Brüstung und ließ die Beine baumeln. Er schaute überallhin, sein Kopf drehte sich wie eine Wetterfahne. »Was ist denn nun eigentlich Tolles hier zu sehen? Ich seh’ nix!« Maurice stellte sich neben ihn. »Sehr, sehr viel, man muß nur richtig hingucken! Zum Beispiel der Himmel. Sieh doch mal: klar wie eine Glasglocke, völlig reines, wolkenloses Blau. Dann das Meer, auch blau, aber ganz anders, tiefer, satter im Ton. Und der Wind, der uns so angenehm um die Nase bläst, der spielt damit, zieht weiße Rippenmuster darüber, immer neue, immer andere – siehst du?« »Sicher seh’ ich das! Sind ganz kleine Wellen.« »Hier an der Küste ändert sich die Farbe des Wassers, das Tintenblau wird immer lichter. Da liegen Felsen unter Wasser, da leuchtet es flaschengrün. Dort drüben ist eine Sandbank, da ist es hellgrün. Gefallen dir diese klaren Farben nicht?« »Doch, doch. Aber das ist wohl mehr was für Maler.« »Durchaus nicht. Jeder kann sich daran freuen, der offene Augen hat. Schau mal, dort links die Riffs: steil und strahlend weiß ragen sie aus dem Wasser. Ganz anders die Felsennase rechts: rostrot. Oben drauf, wie ein dicker Pelz, immergrünes, stacheliges Gestrüpp. Überall am Küstensaum entlang verstreut, hier, da und da, kleine Häuschen, weiß oder ockergelb. Schau mal, die ducken sich regelrecht in den Schatten der Palmen, Zypressen und Kiefern. Als ob sie Angst hätten vor den fast senkrecht ’runterschießenden Sonnenstrahlen!« »Mensch, du hast recht, sieht nett aus! Die Weinreben hier am Berg haben wieder ’ne andere Farbe, so mehr nach Gelb. Wirkt toll, da unten, wo sie unter den Bäumen verschwinden. Richtig schön! Seh’ ich eigentlich zum erstenmal. – Mensch! Mensch! Da unten fährt ’n ganz neuer Ford! Das neueste Modell! Schick, wie?« Maurice lächelte. Trotz des neuen Ford-Modells. Vielleicht würde René in Zukunft einmal weniger »Quatsch« sagen.
André kam heran und faßte René an der Schulter: »Du! Du bist zwar mein Freund nicht, aber – naja! Hops nicht wegen eines dämlichen Autos so auf deiner Kehrseite ’rum, sonst liegst du unten! Komm lieber ’runter, ich geh’ furchtbar ungern hinter ’nem Leichenwagen her.« »Bist du krank? Du sprichst so vernünftig!« René riß erstaunt die Augen auf. Was soll man von dem Kerl bloß halten, dachte er. »Ö – hm, öh!« Baharoff brachte sich in Erinnerung. »Ö – ja, Sie werden verstehen, daß ich an Sankt Augustin hänge. Hier wollte ich in Ruhe arbeiten. Aber« – er stieß ein gequältes Lachen hervor -»von Ruhe ist wirklich keine Rede! Sie sollen mir dazu verhelfen, ö – meine Herren!« Er blickte zu Maurice hinüber, doch der hatte seine Worte nicht gehört. Der »Chef« starrte mit trunkenen Augen in die Landschaft und genoß die glühenden Farben, vor deren Gewalt er die Augen einkniff. »Oha«, seufzte er. Kein Maler der Welt könnte das jemals einfangen.
Baharoff wurde ungeduldig, seine rechte Pratze klatschte mehrmals auf das graubraune, von der Sonne durchwärmte Mauerwerk. »Ja – ö, Sankt Augustin ist wunderbar. Verschlingt allerdings eine Menge Geld, fortwährend ist irgendwas instand zu setzen. Aber es macht Eindruck auf meine Kunden, und das brauche ich. Ich brauche den Rahmen, weil er das Geschäft hebt. Früher hat Sankt Augustin nicht so großartig ausgesehen, ich habe erst etwas daraus gemacht. Der alte Graf hatte nicht einmal elektrisches Licht, keine Wasserleitung, keinen Aufzug, überhaupt keinerlei Komfort. Rosen hat er gezüchtet, rund um das Haus herum.« Lässig wies er mit der Hand über die Brüstung. »Ich habe das Zeug ausreißen lassen und Kakteen gepflanzt. Die tollsten Sachen, die es auf diesem Gebiet gibt! Müssen Sie sich mal
ansehen. Es sind Sorten dabei, die habe ich aus Mexiko mit dem Flugzeug kommen lassen. Steht übrigens dran, auf kleinen Täf eichen. Ausgefallene Sachen: das zeugt von Reichtum, das macht Eindruck.« Maurice blickte auf das sauber abgezirkelte Prunkstück von Kakteensammlung herunter. Kalte Pracht, dachte er, lieblose Geldprotzerei. Er versuchte sich vorzustellen, wie zauberhaft die Hügelkuppe in der gräflichen Rosenzeit ausgesehen haben mußte. Schade, der hat kein Gefühl; tauscht Schönheit gegen Rarität. Nun, hat eben nicht jeder. Sankt Augustin ist für ihn bloß Rahmen? Mehr nicht? Dann verdient er es nicht. Gewaltsam zwang er sich in seine Rolle zurück. »Ist das eine Ruine, am Ende des Küchengebäudes?« »Dieses runde Ding? Ö – ja, das ist der Rest eines Turms. Das Schloß hatte ursprünglich vier Flügel, die den offenen Innenhof umgaben. Sie verstehen, ö – nicht wahr? Drüben an der Küche ein runder Turm, dann wieder ein Mitteltrakt, genau wie dieser, der jetzt noch steht, dann wieder ein viereckiger Turm – der ist bis auf die Fundamente ganz verschwunden – und dann wieder ein Verbindungsbau dort zu dem Rundturm hinüber.« »Ja, man sieht noch ganz deutlich, wie das mal war. Es steht eigentlich nur noch die Hälfte der alten Anlage.« »Na, mir genügt’s! Das halbe Schloß kostet mich schon gerade genug. Allein an Dachreparaturen könnte man arm werden.« »Wann sind denn die andern Teile zerstört worden?« »Ö – weiß ich nicht. Irgendwann im Mittelalter. Fragen Sie JeanBaptiste, der hat die ganze Geschichte im Kopf. Die alte Burg war jedenfalls eine wichtige Festung, und das ist ja immer mit Arger verbunden.« »Und was ist das, da unten, mitten im Hof?« »Der Brunnen. Ich habe ihn mit Brettern zudecken lassen. Der Graf hat ihn noch benutzt.« »Nettes Häuschen, da hinten am Abhang!« »Ja, ö – sehr nett. Das gehörte früher auch zum Schloß. Habe ich verkauft, sogar sehr günstig!« Er rieb sich seine fleischigen Hände. »Da wohnt jetzt ein junger Mann, der eine Art Spielzeug herstellt.« Geringschätzig den Mund verziehend, fuhr er fort: »Hat ohne zu handeln bezahlt, was ich forderte.« Er hält alle für dumm, die er übers Ohr hauen kann, dachte Maurice. Das Häuschen auf dem Abhang, etwa hundertzwanzig Meter ent-
fernt, war aus dem gleichen graubraunen Bruchstein gebaut wie das Schloß. Es sah sehr gepflegt und sauber aus. Der kleine Garten, der es umgab, war bis zu Baharoffs Drahtzaun mit hochstämmigen Zuchtrosen bepflanzt. »Ö – wünschen Sie noch irgendeine Auskunft? Mir wird es hier oben zu heiß.« Maurice drehte Baharoff sein schmales Gesicht zu. Er war nicht bei der Sache, das sah man deutlich. »Nein, ich glaube nicht.« Er raffte sich zusammen. »Und wenn noch eine Frage…« Ungeduldig fiel ihm Baharoff ins Wort: »Ich stehe jederzeit zur Verfügung. Jean-Baptiste ebenfalls.« Dicke Schweißtropfen standen auf seiner weißen, fleischigen Stirn. Er wandte sich um und ging die ausgetretenen, engen Steinstufen hinunter. Die Jungen folgten ihm wortlos. Die Treppe führte auf den Flur des obersten Turmgeschosses. Baharoff drückte einen Knopf, der elektrische Aufzug summte herauf. Die Jungen benutzten die Treppe. Maurice marschierte als letzter, langsam und nachdenklich. André, der hinter Seppe herging, schob sich unbemerkt an dessen linke Seite, und mit den Worten »Was klappert denn da?« griff er dem König der Diebe in die Hosentasche. Zwei silberne Kaffeelöffel kamen zum Vorschein. Klatsch! Andrés Handschrift war nicht von schlechten Eltern. Schmerzverzerrt rieb Seppe seine rechte Wange. »Hast du redlich verdient! Mann, du bringst uns ja in Verruf!« Noch nie hatten die Jungen Maurice so wütend gesehen. Sonst hatte er doch immer gelacht, wenn Seppe was angestellt hatte! Wie seltsam. »Warum tust du das eigentlich? Warum mußt du immer lange Finger machen?« Seppe probierte ein Lachen, um damit die Situation zu entspannen, gab es aber schnell auf. Keiner lachte mit, er hatte sie alle gegen sich. Schweigend blickte er vor sich hin. »Du legst die Löffel auf den Anrichtetisch, unter Andrés Aufsicht. Diesmal sollst du mit ’nem blauen Auge davonkommen, aber erwischen wir dich noch mal, prügeln wir dich aus dem Schloß hinaus, und du kannst sehen, wo du bleibst. Verstanden?« Die andern nickten beifällig. Seppe blickte zu Boden, blutübergossen. »Was machen wir jetzt?« »Ich geh’ zum Wagen, guck’ mir mal die Kupplung gründlich an.
Das muß man doch hinkriegen, daß der Karren besser zieht! An den ausgeleierten Zylindern kann’s allein nicht liegen. – Zwei von euch könnten mitgehen, Wagen waschen!« »Ich geh’ mit«, sagte Pipin sofort. »Na, noch einer? – Filou?« »Nein, Filou bleibt hier«, sagte Maurice. »Ich«, flüsterte Seppe. Reichlich belämmert, mit hängenden Schultern, schob er mit den beiden andern ab. »Was hast du vor, André?« »Sozusagen nichts Besonderes. Ich wollte etwas lesen.« »Bring doch bitte für mich einen Brief zur Post, ja?« »Recht gern, Maurice. Ich hege ohnehin die Absicht, mir Villeneuve anzusehen.« Im Gelben Zimmer gab Maurice ihm den Brief; interessiert schaute André auf die Andresse. »Marcel Dupont, ist das dein Vater?« »Ja.« »Komisch.« »Du meinst, weil ich ihm lange Briefe schreibe, obgleich er mir kein Geld schickt? Ich find’ das nicht komisch. Er meint es ja nicht böse, ganz im Gegenteil! Weißt du, das ist ein fanatischer Kaufmann, und im Grunde seines Herzens versteht er gar nicht, daß nicht alle Menschen Kaufleute sind. Daß er mir gegenüber – sagen wir mal: besonders kritisch ist, kann ich ihm nicht verdenken. Er glaubt, in mir wäre ein Kaufmann verborgen, bloß verdeckt durch den vorübergehenden Malerfimmel. Und den Kaufmann will er retten für seine Firma, die er sich in jahrzehntelanger Schufterei aufgebaut hat. Damit der Name Dupont, ›nur echt mit dem großen D‹, erhalten bleibt.« »Ziemlich Pech für ihn, wie?« »Allerdings, aber ich kann es nicht ändern. Eines Tages wird er das auch einsehen. Wenn er nämlich feststellt, daß ich was leiste. Denn vor Leistungen hat er, wie alle Leute, die selbst was auf die Beine gestellt haben, die allergrößte Hochachtung. Besonders, wenn man damit auch noch Geld verdient, und das hab’ ich ernstlich vor.« Mensch, ich müßte an deiner Stelle sein, dachte André, und machte sich auf den Weg. Maurice kramte einen Skizzenblock und einen dicken Bleistift hervor und sah Filou aufmunternd an: »Na, Dicker? Wie war das mit dem Lesen- und Schreibenlernen? Willst du immer noch?«
»Jaa, gärn!« »Ist aber ein bißchen anstrengend!« »Macht nix, Maurice. Velleicht – velleicht bin ich aber zu dumm?« »Das wird sich ja herausstellen. Hol dir einen Stuhl und setz dich hier an den Tisch.« Schnaufend vor Eifer kam der Schwarze heran. »Paß mal auf, Filou: es gibt vierundzwanzig Buchstaben.« »Viernzwanzich Buchstam!« »Ja. Aus diesen vierundzwanzig Buchstaben werden alle Worte gemacht, die es gibt. Alle!« »Alle«, bestätigte Filou kopfnickend. »Wir lernen jetzt zuerst die leichten Buchstaben. Das ist ein ›i‹, das ist ein ›o‹, das ist ein ›u‹!« Maurice malte sie groß und deutlich. »Ha, wie komisch!« Maurice fiel ein, daß er damals, als er schreiben lernte, auf liniertem Papier geübt hatte und daß es bestimmt sinnvoll, wenn auch sehr schwierig gewesen war, die Buchstaben richtig auf die Linien zu setzen. Er nahm ein neues Blatt, zog dünne Linien darüber und schrieb ein Muster – »o«. Dann gab er Filou den Zimmermannsbleistift und führte die schwarze Faust. »Siehst du, das ist ein schönes ›o‹ geworden! Aber du mußt den Bleistift viel lockerer fassen und nicht so stark aufs Papier drücken. Komm, noch einmal! – Und nun kannst du’s schon allein, mach mal genauso ein ›o‹ wie dieses hier!« Filou schob die Zunge zwischen die dicken Lippen und malte keuchend, immer wieder auf den Musterbuchstaben blickend, ein etwas krummes, eiförmiges Gebilde. Maurice lobte ihn über den grünen Klee und forderte ihn zu weiteren Wiederholungen auf. Der Schwarze strahlte, schwitzte und malte. Während André den Berg hinunter nach Villeneuve ging, dachte er noch einmal: ich müßte an Maurices Stelle sein! Viel Geld haben, Ansehen genießen – wie kann man so etwas verschmähen? Sehr dumm von Maurice. Müht und schindet sich und wird vielleicht nie reich. Ganz selten, daß ein Maler viel Geld verdient. Als Kaufmann muß man auch schwer arbeiten, muß man auch tüchtig sein, ganz gewiß. Aber es gibt viel mehr reiche Kaufleute als reiche Maler. Kommt eben quasi gewissermaßen mehr dabei ’rum. Schon allein deswegen werde ich Kaufmann, langsam, aber sicher. Und das Geld, das Baharoff uns geben wird, wenn wir den Spuk gefangen haben, soll mich ein gutes Stück weiterbringen.
Ohne rechts und links zu schauen, folgte er der Asphaltstraße und hing seinen Gedanken nach. Dreitausend Franken geteilt durch sechs, macht fünfhundert. Ganz hübsches Sümmchen! Dafür kaufe ich eine Karre, eine gebrauchte natürlich. Ich werde mal zu Katchourian in der Rue des Mauvestis gehen, der hat immer welche. Dann lass’ ich mir Konzession geben. Und dann verkaufe ich Blumen. Ist besser als Obst, wird mehr dran verdient. Wenn man geschickt ist natürlich, denn das Risiko ist größer. Ich werd’ schon aufpassen! Ich werd’ morgens der erste sein auf dem Großmarkt. Ich werde als erster in die Stadt rennen und mir den besten Platz sichern. Meine Blumen sollen die schönsten und frischesten sein. Drei, vier Jahre, dann miete ich einen Laden. Zunächst in einer Nebenstraße, und dann… Glückstrahlend und plattfüßig latschte er weiter. Plötzlich rutschte er aus, überkugelte sich und blieb vor einem Drahtzaun liegen. Was ist denn nun? Was ist passiert? Er stand auf und bewegte Arme und Beine. Der Schrecken steckte ihm in allen Gliedern. Nein, glücklicherweise heil geblieben, nur die Schulter tut ein bißchen weh. Entgeistert blickte er sich um. »Ach so!« Die Straße hatte einen Knick gemacht, er war geradeaus weitergegangen und an der abschüssigen Böschung zu Fall gekommen. Was liegt denn da? Ach ja, der Brief! An Maurices Vater. Er nahm ihn auf und ging weiter. Eigentlich könnte ich meinem Vater auch mal schreiben. Hat schon lange von mir nichts gesehen und gehört. Viel zu lange. Ansichtskarte? Was soll ich denn schreiben, warum ich hier bin? Quasi gewissermaßen unmöglich, ihm den Grund meines Hierseins verständlich zu machen. Schriftlich wenigstens, mündlich ging’s. Soll ich schreiben: geschäftlich? Das glaubt mir Vater nicht. Er ist so furchtbar genau und macht sich dann unnötige Gedanken. Oder: zum Vergnügen? Dann sagt er: ›Schade um das Geld!‹ Nein, besser nicht. Sobald wir wieder in Marseille sind, gehe ich mal hin und erzähle ihm alles. Bei den ersten Häusern von Villeneuve fragte er eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich her schob, nach dem Postamt. »Postamt? Nein, das gibt’s hier nicht. Aber wenn Sie ein paar Minuten weitergehen, finden Sie auf der linken Seite eine kleine Wirtschaft. Da hängt ein Briefkasten. Und in der Wirtschaft können Sie Briefmarken kaufen.« Gerade als André in die Wirtschaft hineingehen wollte, öffnete
sich die Tür, und heraus kam ein Betrunkener. Der Mann war etwa vierzig Jahre alt, mittelgroß und recht stämmig. Er trug eine blauleinene Arbeitshose und ein schmutziges, dunkelrotes Hemd. »Guck – guck mal da«, stammelte er, taumelte hin und her und rieb sich mit der Hand über das rote, verquollene Gesicht, daß man die Bartstoppeln rauschen hörte. Haltsuchend lehnte er sich gegen den Türrahmen und blickte André mit seinen glasigen Augen erstaunt an. »Guck mal an! Da-da kommt ja eine von d-den Marseiller Blüten, d-die der Alte sich geholt hat. Na – hick – kommt ihr gut zurecht mit Monsieur Baharoff? Hick. M-mit diesem Lumpen?« »Punaise!« rief von drinnen eine wütende Stimme. »Mach, daß du nach Hause kommst!« »Ich g-gehe – hick – w-wann ich will! – Na, was sagt denn der gute B-Baharoff, hm? Ist er…« »Punaise, red keinen Blödsinn daher!« Der Wirt erschien und gab dem Betrunkenen einen wütenden Schubs. »Hau endlich ab, oder du kriegst nie wieder bei mir einen Tropfen! – Hören Sie nicht auf den Mann«, wandte er sich an André, »der ist stockbetrunken und weiß nicht, was er redet.« Punaise machte einige schwankende Schritte, dann drehte er sich um: »Ich w-weiß genau, was ich rede, jawoll! Aber ich d-darf ja nicht reden. D-darf nicht!« Er schüttelte so heftig den Kopf, daß er ins Schwanken geriet. Als er wieder einigermaßen sicher stand, hob er die Hand und zeigte zum Schloß hinauf: »V-von da oben könnt’ ich ’ne ganze Menge erzählen, a-aber ich darf nicht!« »Verschwinde! Geh zum Teufel!« schrie der Wirt. »Bin sch-schon unterwegs!« André kaufte eine Marke und warf den Brief ein. Der Wirt versicherte ihm mehrmals, das Gerede des Betrunkenen sei völlig haltlos. Punaise habe früher auf dem Schloß als Verwalter gearbeitet, sei aber wegen Trunkenheit entlassen worden. Daher sein Zorn. André schlenderte noch ein wenig durch den Ort und machte sich dann auf den Rückweg. Unterwegs dachte er wieder an das, was er mit dem zu erwartenden Geld anfangen wollte, und legte sich einen genauen Plan zurecht. Überlegte, wieviel er für den Karren ausgeben wollte, wieviel für die ersten Blumen, wo er sich billige Blecheimer beschaffen könnte. Das Erlebnis vor der Wirtschaft hatte er bereits vergessen. Zufrieden mit sich selbst und seiner glücklichen Zukunft, trat er in das Gelbe Zimmer.
»Ah, Maurice kümmert sich um die geistig Armen!« »Ja. Verhalt dich noch ’n Moment ruhig, du bist gleich an der Reihe.« Verblüfft ließ sich André auf den nächsten Stuhl sinken. Ich? Gehöre ich denn auch zu denen? Einen Augenblick lang zweifelte er an seinen geistigen Reichtümern, dann sagte er sich: Maurice hat sich gewiß einen Scherz erlaubt. Er atmete auf und ging hinüber ins Blaue Zimmer, öffnete den Bücherschrank und begann zu kramen. Endlich fand er ein Buch, das ihm zusagte, setzte sich auf Renés Bett und las. Filou malte noch zwei Reihen »u«, dann hatte er die erste Unterrichtsstunde überstanden. »Schluß, Dicker! Hast du wirklich fein gemacht. Sollst mal sehen: in ganz kurzer Zeit kannst du lesen!« »Ja? Meinste?« »Sicher! Morgen früh machen wir weiter.« Filou schwitzte und strahlte. Er druckste und wollte sich bedanken, doch Maurice ließ es nicht dazu kommen: »Nun hau ab!« Stolz wie ein Spanier walzte der Schwarze hinaus. Maurice wischte sich den Schweiß von der Stirn. Strengt mächtig an, dachte er, hätte ich nie geglaubt. Also, das war die Unterstufe, jetzt die Fortgeschrittenen. Ich Riesenroß hab’ mir was eingebrockt! Er ging hinüber ins Blaue Zimmer. »Was liest du denn da?« André blätterte den Titel auf und zeigte ihn Maurice: »Untersuchungen über Interferenzen an schwingenden Festkörpern.« »Du hast ja ’n Klaps, Mensch!« »Wieso? Ich bitte dich, Maurice! Das ist gewiß ein äußerst interessantes und lehrreiches Werk!« »Mag sein, für einen Physiker, aber nicht für dich! Davon verstehst du nicht die Bohne!« »Aber natürlich verstehe ich das, Maurice! Es befinden sich äußerst gebildete Worte darin.« »Ja, Worte! Da haben wir’s schon: du verstehst einzelne Worte, aber nicht den Inhalt. Mann, das ist ein schwieriges, wissenschaftliches Buch, nur für Fachleute, das kannst du nicht verstehen! Lies doch Dinge, die du verstehen kannst, von denen du auch was hast! Was du da tust, ist Unsinn, glatte Zeitverschwendung.« André machte ein gekränktes Gesicht und schwieg. Maurice ließ sich seufzend auf Seppes Bett nieder. Unkraut jäten ist schwieriger
als junge Bäume pflanzen, dachte er. »Was hast du denn bisher gelernt? Erzähl mal! Warst du in der Schule?« »Klar! Ich hab’ sogar ein sehr gutes Abgangszeugnis.« »Schön. Und was hast du dann gemacht?« »Gearbeitet, wenn ich Zeit hatte gelesen. Du wirst es vielleicht nicht glauben: ich habe zu Hause eine Liste, auf der sind über dreihundert Bücher notiert, die ich bisher schon gelesen habe«, fuhr er, eifriger werdend, fort. »Die Liste habe ich deswegen gemacht, weil es vorgekommen war, daß ich ein Buch zum zweiten Mal las, ohne es gleich zu bemerken.« »So, so! Ein sehr schlechtes Zeichen! Du liest eben nicht richtig. - Nun zieh nicht wieder ein Gesicht wie eine beleidigte Leberwurst! Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: ich will dir helfen. - So, wie du es jetzt machst, wirst du nämlich nie zum Ziel kommen.« André zog erstaunt die Augenbrauen empor. Also doch geistig arm? »Bücher liest man entweder gründlich, und dann behält man das Wesentliche, oder man liest sie überhaupt nicht. Das heißt also: man sucht sich das, was man lesen will, sorgfältig aus. Was interessiert dich denn eigentlich?« »Eigentlich – eigentlich alles. Weißt du, ich will Kaufmann werden, und da kann man doch nicht genug wissen.« »Stimmt. Aber was wird denn gerade ein Marseiller Kaufmann am dringendsten brauchen? Na?« »Sprachkenntnisse. Man müßte Italienisch und Englisch, vielleicht sogar Spanisch sprechen.« »Stimmt auffallend! Das kannst du am besten in der Abendschule lernen. Wenn du mal ein bißchen mehr verdienst, wirst du dir das leisten können. Und was wäre wohl das Nächstwichtigste?« »Ja, ich meine, man müßte ein bißchen von den Ländern wissen, mit denen Marseille hauptsächlich Handel treibt, nicht wahr?« »Richtig. Das wären also die übrigen Mittelmeerländer, Afrika und natürlich Nord- und Südamerika.« »Ganze Menge Zeug!« André rieb sich verzweifelt das Kinn, auf dem sich der erste spärliche Bartwuchs zeigte. »Nicht so schwierig, wie’s aussieht, wenn man’s nur richtig anfaßt! Wie macht man das, wenn man so einen Berg Stoff vor sich
sieht? Man fängt beim Nächstliegenden an und bohrt sich allmählich weiter. Das heißt also in unserem Falle: du kaufst dir einen brauchbaren Atlas, dabei werde ich dir helfen. Und dann gehst du zur Stadtbücherei und bittest den Bibliothekar, er solle dir ein leicht faßliches Erdkundebuch über Italien geben. Und das arbeitest du an Hand des Atlas gründlich durch.« André war ganz Ohr, kein Wort entging ihm, man sah förmlich, wie sein Kopf arbeitete. Eine bedauernde Grimasse zuckte um seinen Mund: »Wird das nicht zu teuer? Die Bücherei, der Atlas?« »Nein. Wir kaufen einen gebrauchten Atlas, der kann nicht teuer sein, und ein Buch zu leihen kostet genausoviel wie einmal Schuhe putzen.« »Oh, dann geht’s!« André strahlte über beide Backen. »So werd’ ich’s machen. Maurice. Genau so! Ein Land nach dem andern auswendig lernen und nur noch Erdkundebücher lesen!« »Das ist auch wieder falsch! Es gibt noch viele andere Dinge, die auch zur Bildung gehören. Du kannst ruhig zwischendurch einen guten Roman lesen…« »Romane?« unterbrach ihn André erstaunt. »Dergleichen habe ich bisher verabscheut. Daraus kann man doch nichts lernen, das ist doch alles nicht wahr!« »Darauf kommt’s nicht an. Lies erst mal einen – ich werde dir mal ein paar gute aufschreiben –, und dann unterhalten wir uns darüber. Du wirst staunen, was man aus einem einzigen Roman lernen kann. Und weiß du: ein Lexikon ist nicht zum Auswendiglernen da, sondern zum Nachschlagen!« André wurde rot. Der hat es also gemerkt! Und ich war schon bei »D«, Dauerlauf bis Dynamo. Während Maurice noch sprach, wurde der Mittagsgong zum erstenmal angeschlagen. Wenig später lautes Getrampel auf dem Flur. Munter und dreckig strömten die andern zur Tür herein. Den ganzen Nachmittag verbrachten sie am Strand. Das Wasser war noch klarer, noch durchsichtiger als in Marseille. Bis zu zehn, zwölf Metern Tiefe konnte man jeden Felsbrocken, jeden Fisch und glücklicherweise jeden Seeigel genau erkennen. Seeigel sind nämlich gerngesehene Tiere! Die einen sehen sie gern, um nicht mit nackten Füßen in ihre Stacheln zu treten, denn das kann böse Entzündungen geben. Die andern sehen sie gern – um sie zu essen. René und Filou zum Beispiel suchten die Stacheltiere mit großem Eifer. Zu Dutzenden fingen sie die dunkelbraunen Meeresbewohner und setzten sie
auf eine Steinplatte, von wo sie natürlich auszukneifen versuchten. Die Stacheln abwechselnd zusammenziehend und spreizend, marschierten sie seewärts, Geschwindigkeit etwa drei Meter in der Stunde. Damit konnten sie ihr Leben nicht retten, denn die beiden Jungen zückten nun ihre Taschenmesser. »Was macht iha da?« erkundigte sich Tista neugierig. »Die Seeigel haben sich heute morgen nicht rasiert, Tista! Und das geht doch nicht, Ordnung muß sein«, ulkte René und packte einen Seeigel vorsichtig bei den Stacheln. Tista riß den Mund auf und staunte, vergaß ganz das geliebte Nasenbohren. »Du machs den ja kaputt!« empörte er sich, denn René schnitt das arme Stacheltier mitten entzwei. Vorsichtig hielt er die beiden Hälften waagerecht, um nichts von der weißlichen Flüssigkeit zu verschütten und um sich nicht zu stechen, schlürfte erst die eine Hälfte aus, in der ein brauner, dotterartiger Kern schwamm, und dann die andere, die nur Flüssigkeit enthielt. »Hm!« machte er genießerisch. »Willst du auch mal, Tista?« Der Kleine nickte begierig. Er kostete – und verzog das Gesicht. »Bih!« sagte er und spuckte. »Bih!« »Du weißt eben nicht, was gut schmeckt!« Aber er wußte, wie man Krebse fängt, von denen alle möglichen Abarten zwischen den Steinen herumflitzten. Er grapschte sie geschickt mit seiner ewig schwarzen Pfote, zerrte sie sogar aus ihren Verstecken hervor und setzte sie Filou auf die Badehose oder auf die dicken Beine. Der Schwarze, der auf dem Bauch lag und mit dem Finger immer neue Reihen »i«, »o« und »u« in den Sand malte, schrie jedesmal jämmerlich auf, wenn er die ekelhaft kalten Tiere an sich herumkrabbeln fühlte. Er hatte eine unbezähmbare Furcht vor diesen seltsamen Vierfüßlern, die so rasend schnell seitwärts laufen konnten. Todmüde vom Schwimmen, Tauchen, Sonnenbaden, Buchstabenmalen, Krebsesuchen und Seeigelfangen, trabten sie zum Schloß zurück. Eigentlich hatten sie, nach Andrés Vorschlag, schlafen wollen, doch erstens war es windstill und daher selbst am Wasser viel zu heiß gewesen, und zweitens hatten sie die See so lang entbehrt, daß sie sich erst einmal gründlich austoben mußten. Diesmal aßen sie ohne Baharoff zu Abend, diesmal schmeckte es allen, dennoch aß Maurice zunächst wenig. Er sparte seinen Hunger für den Nachtisch: eisgekühlte Melonen mit Schlagsahne. Für Melonen hatte er nämlich
eine erhebliche Schwäche. »War ja ganz ordentlich, Jean-Baptiste«, lobte René und schnallte seinen Gürtel drei Löcher weiter, »wie wär’s für morgen denn mal mit Bouillabaisse, na?« »Aber gern, ich werde sofort den Koch verständigen!« Die Jungen gingen in die Halle, wo es immer am kühlsten war, um noch etwas zu trinken. Draußen gab jetzt der Boden die tagsüber aufgespeicherte Hitze ab. Faul und müde räkelten sie sich in den bequemen Lehnsesseln. Selbst André war träge. Er hatte ein Buch vor sich liegen – es war nicht mehr der »Gute Ton«, sondern ein italienischer Reiseführer, den Jean-Baptiste ihm aus den Beständen des seligen Grafen geliehen hatte –, aber er brachte es nicht fertig, mehr als zwei Seiten zu lesen. Dann begannen die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen, und er kam trotz aller Anstrengungen nicht weiter. Er rieb sich die Augen und gähnte. Kurz darauf gähnten alle, denn die Gähnkrankheit ist ansteckend und greift schnell um sich. In wenigen Minuten nahm das Mundaufreißen und Japsen ungewöhnliche Formen an, steigerte sich zu einem mehrstimmigen Chor, wuchs sich aus zu einer Epidemie, an der sämtliche guten Vorsätze zuschanden wurden. Maurice blickte mit halbgeschlossenen Augen auf seine Armbanduhr. Seltsam, erst zehn nach neun! Und so maßlos schläfrig. Seltsam! »Kinder«, sagte er mühsam, »laßt uns nach oben gehen und pennen, bis der Spuk kommt. Hu-ah, wir legen uns angezogen aufs Bett, damit wir sofort eingreifen können.« Bald darauf hörte man aus dem Gelben und Blauen Zimmer mehrstimmiges Schnarchen und Schnaufen, natürlich wieder im Chor. Tista wurde plötzlich wach, weil Sasu sich kräftig bewegte. Er öffnete die Augen. Sasu stemmte die Vorderpfoten auf seine Brust, streckte den runden Kopf vor und lauschte in das mondbeschienene Zimmer hinein. Er folgte ihrem Blick, sah aber nichts. Irgend etwas mußte es jedoch geben, was sie aufmerksam gemacht hatte. Sicha das Spuk, dachte er und fürchtete sich ein wenig. Da wurde der Katzenkörper mit einem Male ganz straff, ganz gespannter Muskel. Der Kleine hielt den Atem an. Ein leises, schlurfendes Geräusch, dann ein schwacher, kühler Luftzug. Vorsichtig drehte er den Kopf
nach rechts zur Tür hinüber. Das Spuk! Wahaftig! Sofort entspannte sich der Tierkörper. Was dort stand, war weder Maus noch Ratte, noch Hund, also uninteressant für Sasu. Sie nahm ihre Pfoten von Tistas Brust und kuschelte sich wieder an ihn. Der Kleine hatte nun schon erheblich mehr Angst. Sasu spürte sein Zittern, unruhig rieb sie ihr langes, seidiges Fell an seiner schmalen Brust. Das Gespenst im Auge behaltend, versuchte er, seinen großen Bruder zu wecken. Vergebens, Seppe war nicht wach zu kriegen. Er wechselte nur den Schnarchton von Moll zu Dur. Inzwischen hatte das Gespenst Filou und René die Decken weggerissen und aus dem Fenster geworfen. Jetzt schlich es lautlos zu Renés Bett zurück, drehte den tief und fest schlafenden Jungen in die günstigste Lage und haute ihm eine saftige Ohrfeige ’runter. René knurrte, rieb sich die Backe, wurde aber nicht einmal durch den Schlag völlig wach. Tista verhielt sich mucksmäuschenstill und beobachtete die furchterregende, phosphoreszierende Gestalt aus den Augenwinkeln. Jetzt kommen wia dan, dachte er und zitterte noch mehr. Unhörbar näherte sich das weiße Gespenst dem Bett, in dem Seppe schnarchte und Tista vor Angst bebte; jetzt streckte es langsam eine grünlich schimmernde Knochenhand aus. Tista glaubte, es ginge ihm an den Kragen, warf sich herum und brüllte wie besessen. Da griff Sasu ein! Sie sprang den Spuk mit einem mächtigen Satz an, gelbes Feuer sprühten ihre Augen, erbittert fauchend fiel sie mit ihren scharfen Krallen über den seltsamen Gegner her. Vor Katzen scheinen Gespenster Angst zu haben. Der Geist schrie erschrocken und flüchtete, unterwegs Sasu abschüttelnd. Weg is ea! Tista atmete auf. Mit einem weichen, eleganten Sprung kehrte Sasu zurück. Der Kleine drückte seine tapfere Freundin heftig an sich und streichelte sie zärtlich mit zitternden Fingern. »O Sasu«, murmelte er dankbar und wühlte seinen Kopf in das seidige Fell. »Sasu is so bav, Sasu gaakein Angst! O Sasu!« Lange blieb er nach diesem aufregenden Erlebnis wach. Er hörte den Geist noch an verschiedenen Stellen rumoren, aber ins Blaue Zimmer kam er nicht mehr. Trotz aller Aufregung schlief Tista doch endlich wieder ein. Sasu paßte auf, beruhigte er sich, besser als Seppe.
Überraschungen »Kinder, das ist eine tolle Blamage! Statt uns um den Spuk zu kümmern, schlafen wir wie die Murmeltiere! So geht das nun wirklich nicht weiter.« Ärgerlich schüttelte Maurice den Kopf. Ungewaschen und ungekämmt saßen die Jungen im Blauen Zimmer auf den Betten. Eben waren sie wach geworden, und sogleich hatte Tista sein nächtliches Abenteuer erzählt. »Mir hat er wieder eine geklebt, sagst du?« »Ijaha! Das Spuk hat dich sogaa um-umgedeht, und dann hat es gehauen, feste!« »Man sieht’s, René, die rechte Backe ist wieder hübsch rot. Wie war das mit dem Knüppel?« »Mann, wenn ich doch wach geworden war’, der hätte was erleben können, das steht fest!« Wütend rieb er seine rechte Wange. »Tista, hast du gesehen, wo das Gespenst herkam?« »Gaanich!« »Wo ist es denn hin, als Sasu ihn gekratzt hatte?« »So wech!« Der Kleine deutete unbestimmt in eine Richtung zwischen Tür und Bücherschrank. »Ist es durch die Tür gegangen?« »Nein!« Das klang sehr überzeugt. »Auf einmal wa ea wech.« »Wie höchst merkwürdig!« sagte André. »Doch andererseits auch wieder nicht. Geister können quasi gewissermaßen durch die Wand gehen. Schlimm ist nur, daß wir mal wieder nichts erreicht haben! Was sagen wir Monsieur Baharoff nur? Wie machen wir dem Ärmsten klar, daß wir noch immer nicht weitergekommen sind?« »Ach, das ist das wenigste. Wir müssen eben zunächst Erfahrungen sammeln, dafür wird er Verständnis haben. Und das geht nicht von heute auf morgen. Nein, merkwürdig ist was anderes.« »Na, was?« »Als der Geist vorige Nacht hier im Zimmer war, hat er auch Seppe und Tista die Decke weggerissen, aber die Katze hat sich nicht gerührt! Wie kommt das?« »Vielleicht wäre dieses dermaßen zu erklären, daß Tista nicht wach wurde, demgemäß auch keine Angst hatte. Da war ihr die Geschichte gleichgültig.« »Möglich, André, möglich! Doch warum wird immer nur einer
von uns wach? In der vorigen Nacht Filou, letzte Nacht Tista. Und wir andern schlafen so fest, daß wir selbst durch Rütteln und Ohrfeigen nicht zu wecken sind. Da stimmt doch was nicht!« Später, im Waschraum, klagte Filou über Kopfschmerzen. Er zog einen Flunsch und rieb sich die fleischige Stirn: »Hier tut’s mich weh! Hap ich doch nie gehapp!« »Nun, ich kann auch wohl ohne Übertreibung behaupten, daß ich mich ein wenig benommen fühle«, quengelte André, »mir ist so nebelhaft zumute!« »Mit andern Worten: du hast ’ne Mattscheibe«, rief René zwischen Prusten und Abspülen herüber. »Aber das ist ja nichts Neues.« Maurice, der sich gerade abtrocknete, hielt plötzlich inne und pfiff durch die Zähne. »Sieh mal an! Dann könnte der Gedanke, der mir vorhin schon kam, doch nicht ganz abwegig sein. Normalerweise schläft man nämlich nicht so fest wie wir in den letzten Nächten. So schläft man nur, wenn man starke Schlafmittel eingenommen hat!« »Schlafmittel?« »Ja! Filous Kopfschmerzen und Andrés Mattscheibe bestärken mich in dieser Annahme.« Er rieb sich schnell trocken und legte sich das Handtuch zusammengerollt um den Hals. »Paßt mal auf: gestern nacht wurde Filou wach. Er hatte nur wenig gegessen oder sogar rückwärts gegessen. Und gerade er wurde wach! Um die Möglichkeit auszuschalten, daß wieder einer von uns nicht mitaß, hat man gestern abend das Zeug in den Rotwein getan. In der berechtigten Annahme: Durst werden sie alle haben! Tista bekam von Seppe ein Gemisch zurechtgemacht, das aus sehr wenig Wein und viel Mineralwasser bestand. Tista bekam also nur eine geringe Menge Schlafpulver mit – und wurde wach. In der Nacht vorher dagegen hat er tief und fest geschlafen, samt Sasu, die er von seinem Teller gefüttert hatte.« »Aber, aber, Maurice!« André lächelte geringschätzig und ließ den Wasserkopf pendeln wie eine Boje im Sturm. »Seit wann arbeiten Geister mit Schlafmitteln? Dergleichen Unsinn glaubst du doch wohl selbst nicht! Was du da erzählt hast, ist beileibe noch kein Beweis, daß wir etwas intakt hatten.« »Intus!« verbesserte Maurice, »soviel wie: innen oder im Leibe. – Natürlich, ich kann meine Annahme nicht beweisen, aber sie hat so einiges für sich, das mußt du zugeben. Falls sie stimmen sollte, dann hat das Spuken noch eine weit natürlichere Ursache, als ich annahm: dann steckt nämlich ein Mensch dahinter, der es absichtlich macht!« »Ganz meine Meinung, Maurice!« bellte René. »Schlafmittel oder
nicht: absichtlich, sage ich! Schon zum zweitenmal. Guck bloß meine Backe an! Der sogenannte Geist soll sich vorsehen! Wenn ich den erwische, den schlag’ ich bunt und blau.« »Erwischen: ein wahres Wort, René! Und um den Spuk zu erwischen, dürfen wir heute abend nichts von dem essen und trinken, was man uns vorsetzen wird. Wir lassen uns Eier kochen und trinken Mineralwasser, damit kann man uns nicht bemogeln. Die Flaschen werden wir uns sogar selbst öffnen.« »Eier? Kommt nicht in Frage! Mann, ich hab’ Bouillabaisse bestellt, glaubst du, die laß ich stehen und esse Eier? Nee, ich nicht! Ich esse Bouillabaisse, da bringen mich alle Spuks der Welt nicht von ab.« Ausgerechnet René, der die berühmte Fischsuppe in Marseille erst kennengelernt hatte, weigerte sich hartnäckig. Seine Mutter hatte niemals Bouillabaisse gekocht, daher war er anfangs nicht zu bewegen gewesen, das unbekannte Gericht zu essen. Spaßeshalber probierte er dann doch einmal: seitdem war und blieb Bouillabaisse sein Leibgericht. Und darauf sollte er nun verzichten? »René, du stellst unser ganzes Unternehmen in Frage und riskierst noch eine dritte Ohrfeige!« »Egal, Maurice! Morgen will ich hungern, wenn’s sein muß, aber heute abend ess’ ich Suppe, das steht eisern fest! Hoffentlich tun sie tüchtig Knoblauch ’rein, das mag ich gern.« Nach dem Frühstück sollte, wie nun schon üblich, gearbeitet werden. »Ich geh’ wieder ’runter zum Wagen«, sagte René. »Zwei Mann müssen mir helfen, das Getriebe ausbauen und reinigen. Aber mal andere als gestern!« »Ich werde dir behilflich sein.« »Du?« René musterte argwöhnisch seinen Widersacher André. »Meinetwegen. Den schwarzen Frack ziehst du aber aus, klar? In der Garage hängt ’n alter Monteuranzug. – Hopp, noch einer!« »Ich«, sagte Maurice. »Nee, Quatsch, du nicht! So war das nicht gemeint.« René wurde ein wenig rot und lächelte verlegen. »Auf keinen Fall, Maurice!« ereiferte sich André. »Nein, das gibt es nicht!« »Wieso denn, Mensch? Ich will mich nicht drücken!« »Ach, davon ist ja gar keine Rede!« René wurde noch verlegener und fuhr sich wiederholt über die roten Borsten. Er wollte etwas
sagen, fand aber die richtigen Worte nicht. »Ja, weißt du…«, setzte André an, kam aber auch nicht weiter, weil er es schwierig fand, das auszudrücken, was er fühlte und dachte. Für Maurice wurde die Sache durchaus nicht klarer, daß ihn André, René, Pipin und Seppe seltsam lächelnd ansahen, abwehrende Handbewegungen machten, die Köpfe schüttelten und alle zu gleicher Zeit auf ihn einredeten: »Nee, nee, laß nur!« – »Ach wo, Mann! Nicht nötig!«- »Das machen wir schon!« – »Bleib du oben, ist besser!« Maurice dämmerte es jetzt, doch gerade deshalb fragte er betont lustig: »Hab’ ich mich denn beim letztenmal so dämlich angestellt, daß ich ganz unbrauchbar bin?« »Nein, nicht direkt dämlich, aber darum geht es ja nicht. Du…« René stockte schon wieder. Pipin machte eine leichte Kopfbewegung zu Filou hinüber und fuhr fort: »Du kannst hier was Besseres tun.« »Richtig! Das mein’ ich auch!« – »Stimmt! Ein Auto reinigen, das kann quasi gewissermaßen jeder, aber…«-»Was viel Besseres, kann man wohl sagen!« Maurice blickte den vier Jungen in die Augen. Noch nie hatte sich darin so offen so viel Zuneigung und Achtung gespiegelt. Die strahlen ja förmlich vor Gefühl, dachte er. Und es gilt mir, zum Donnerwetter! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock. Weshalb eigentlich? Weil ich mich um die beiden kümmere, die es am nötigsten haben? Weil ich mich um alles ein bißchen mehr kümmere? Er räusperte sich und schluckte heftig. Dann sagte er: »Schön, wenn ihr meint!« »Meinen wir!« brummte René und boxte ihn freundschaftlich in die Seite. Jetzt werd nur nicht weich, Bursche, ermahnte Maurice sich selbst und blickte angespannt zum Fenster hinaus. Was hab’ ich denn schon getan? Keine Heldentat, die ich mir hoch anrechnen könnte, gewiß nicht. War eigentlich ganz selbstverständlich. Man kann doch nicht Jungen wie Filou und André sich selbst überlassen, wenn man in der Lage ist, ihnen zu helfen. Und dann: was haben die Jungen nicht schon alles für mich getan! René legte sich halb über den Tisch und fixierte den König der Diebe. »Na?« meinte er auffordernd. »Ich geh’ freiwillig, du brauchst nicht so zu gucken wie ’n kurzsichtiger Thunfisch! Ich geh’ für Maurice!« Für Maurice! Für mich, schon wieder mal. Sie waren vom ersten
Tag an nett zu mir. Nun, ich mag sie auch gut leiden, alle, jeden in seiner Art, und nicht erst seit heute. Doch im Grunde hab’ ich keinen an mich ’rangelassen, nur an meine Sorgen gedacht. Daß sie auch Sorgen haben könnten, ist mir nie in den Sinn gekommen. Ja, verflixt, ja: so wie’s jetzt ist, ist’s schöner! Zu spüren, daß man dazugehört, daß man gut aufgehoben ist. Fast wie zu Hause. Verflixt schönes Gefühl, ich möcht’s nicht mehr missen! Er blickte die Reihe seiner Freunde entlang und räusperte sich noch einmal, diesmal ärgerlich, weil er nicht verhindern konnte, daß er rot wurde, als sie ihm lächelnd zunickten. »Ja, – rröh, hm – schön. Aber meine Arbeit dauert höchstens anderthalb Stunden, mehr hat im Anfang keinen Zweck, dann komme ich ’runter und lös’ dich ab, Seppe!« »Quatsch!« polterte René. »Erstens hab’ ich keine Sehnsucht, nachts Ohrfeigen und tagsüber Schraubenschlüssel an den Schädel zu kriegen, und zweitens dachte ich, du wärst Maler! Ich hab’ dich noch nie malen sehen! Was glaubst du wohl, wozu wir dich in so ’ne tolle Gegend gefahren haben, wie? ’ran, Kerl, du bist hier nicht zur Erholung!« »Erholung – hähähä!« meckerte André, legte den Kopf schief und klopfte René ironisch-wohlwollend auf die Schulter. »Charmanter Plauderer, unser René, nicht wahr?« »Macht, daß ihr ’rauskommt, ihr scheußlichen Salatschnecken!« rief Maurice lachend. André sprang auf. »Kommt, höchste Zeit: Maurice wird gewöhnlich.« Er verbeugte sich vor René, mit großartiger Geste beide Arme weit zur Seite führend: »Ohne allerdings dich im mindesten erreichen zu können. René Forgeron, der Name bürgt für Qualität: konkurrenzlos gewöhnlich!« Die Keilerei ging auf dem Flur weiter. Filous zweite Unterrichtsstunde begann mit der Wiederholung des gestrigen Pensums. Allmählich wurden die Striche des Schwarzen sicherer und schneller, und die Gebilde, die er hervorbrachte, zeigten tatsächlich schon eine gewisse Ähnlichkeit mit Buchstaben. Den Rest der Zeit verwandte Maurice darauf, ihm »a« und »e« beizubringen. Als auch das einigermaßen klappte, riß Maurice aus seinem Skizzenblock fünf Seiten heraus, linierte sie und schrieb in die linke obere Ecke je einen der fünf Buchstaben. »So, Dicker, du schreibst jetzt die Seiten voll! Also eine Seite o, eine Seite i und so weiter. Hast du das verstanden?«
»Na klar!« »Fein, und wenn du fertig bist, kommst du rauf auf den Turm und zeigst mir alles, ja?« Filou nickte und begann mit einem Eifer ohnegleichen zu malen. Wie am Tage vorher saßen sie nach dem Abendessen in der Halle. »Wirst du müde?« fragte Maurice den Bouillabaisseliebhaber René. »Keine Spur! Du etwa?« »Natürlich nicht. Na, warten wir mal ab! Kommt, wir machen einen Gang um das Haus.« Die Hände in den Hosentaschen, trotteten sie zufrieden über den Kiesweg. »Ich möchte mir die Bemerkung erlauben, daß ich diese Kakteenzucht großartig finde«, sagte André und stocherte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. »Rosen sind nichts dagegen, Rosen gibt es nämlich allenthalben, aber wer hat schon so große und vor allem so seltene Kakteen?« »Kann ich nicht finden!« widersprach Maurice. »Rosen züchtet man, mit viel Liebe und Ausdauer; um Kakteen braucht man sich fast nicht zu kümmern. Und selten sind sie nur in solchen Mengen und solchen Ausmaßen. Wenn du statt großartig protzig, auffällig sagst, dann stimmt’s. Ist ja auch auf Wirkung berechnet. Ich finde, sie verschandeln den Hügel. Das Ding sieht jetzt aus wie ’ne Glatze mit Warzen.«
»Aber ich bitte dich! Sieh doch mal diesen hinreißenden Kaktus hier…« »Faß den nicht so rauh an! Das ist ’ne Agave, die fleischigen Blätter brechen leicht ab.« »Jaja, Agave, schön. Aber sieh doch mal: alle möglichen Sorten! Höher noch als mein ausgestreckter Arm, lang und schmal wie ’ne
Gaslaterne! Und diese drolligen Kugeln hier am Boden!« »Hm, wie Fußbälle mit Stacheln.« »Es gibt auch welche ohne Stacheln – da zum Beispiel! Und die Farben! Das müßte dich doch begeistern? Und dort diese bizarren, faltigen Arten, sehen die nicht aus, als wären sie aus dunkelgrünem Gummi geschnitzt? Ich kann mir nicht helfen, ich finde die Anlage großartig!« »Sicher, jedes Stück für sich genommen ist ganz hübsch. Ich habe ja auch nichts gegen Kakteen, aber einiges gegen Protzerei. Am schönsten finde ich doch die Blüten.« Maurice bog einen langen, dünnen Blütenstengel zu sich heran und betrachtete die zinnoberroten, kolbenartig angeordneten Kelche. »Na ja«, brummte er und fühlte vorsichtig über die flauschige Innenseite der Blume, betrachtete aufmerksam den rußschwarzen Strich, der schnurgerade auf den Fruchtstand führte, und ließ den Stengel wieder los. »Mir sind nun mal Rosen lieber.« Im Hof setzten sie sich auf den abgedeckten Brunnen. Die Erde hatte ihre Hitze verströmt, es war angenehm kühl. In einer Stunde würde man ohne Rock frösteln. Tista fiel plötzlich etwas ein: »Hia hab’ ich heut nachmittag was gehöat!« Keiner hielt das, was er gehört haben wollte, für bedeutend, keiner ging darauf ein. Enttäuscht blickte der Knirps von einem zum andern: die großen Jungen beachteten ihn nicht. Aus dem Küchenfenster drang Geschirrklappern, sonst war es ganz still. »Ich hab’ was gehöat!« beharrte Tista. »Bumm-bumm hat’s da unten gemacht!« »Wird ’n Frosch gewesen sein«, tröstete ihn der große Bruder. »Und jetzt mußt du ins Bett.« »Ich will aba nich!« »Seppe bleibt bei dir, du brauchst keine Angst zu haben.« »Hab’ ich auch gaanich, Sasu paßt bessa auf als du!« »Ja, Sasu ist brav. Nun komm schön!« Alle gingen mit. Im Gelben Zimmer fragte Maurice noch einmal den Bouillabaissefanatiker: »Bist du müde?« »Absolut nicht! Was ’n Glück, daß ich nicht so dumm war und Eier gegessen habe! Ihr tut mir richtig leid.« »Vielleicht liegt es daran, daß wir heute nachmittag am Strand etwas geschlafen haben.«
»Das mit dem Schlafpulver war also Blödsinn, ich habe es ja gleich gesagt, ich kenne eben das Leben. Wie steht es, Maurice, hast du einen Schlachtplan für diese Nacht?« »Hab’ ich! Ich denke, wir erwarten den Besuch aus dem Geisterreich hier im Zimmer – wach natürlich! Einer von uns streift ständig im Haus herum. Und falls der Spuk auftaucht, versuchen wir, ihm den Weg abzuschneiden.« »Richtig! Und dann gibt’s Saures!« René streichelte liebevoll den handlichen Eichenknüppel, den er sich beschafft hatte. »Meinetwegen. Ich bin mal gespannt, wie weit wir mit unseren Absichten kommen.« Dumpf wummernd schlug die Standuhr in der Halle elfmal, dann war es still im Schloß. Bedrückend still sogar. Manchmal knackte und knisterte es irgendwo, unwillkürlich zuckten die Jungen jedesmal zusammen und horchten. »Ich meine, wir fangen an. Wer geht zuerst?« »I-ich!« sagte der mutigste Mann Marseilles schnell, denn vor Mitternacht war der Geist noch nie aufgetreten, die Zeit bis dahin mußte man ausnutzen. »Gut, Filou!« Maurice lächelte verständnisvoll. »Wer löst ihn ab?« Nach einiger Überlegung sagte André forsch: »Mach’ ich!« »Treffpunkt halb zwölf in der Halle.« Filou preßte die dicken Lippen zusammen und erhob sich. Mit einem rührend ängstlichen Blick nahm er Abschied. Natürlich erschien der Geist nicht, während er die Runde machte. André ging, um ihn abzulösen. Als der Schwarze wieder ins Gelbe Zimmer trat, fiel mit einem Schlage die Angst von ihm ab, die ihn mit Zentnerschwere bedrückt hatte. Die Erleichterung löste ihm die Zunge, er schnatterte wie ein ganzer Entenstall. Selbstverständlich nicht davon, daß er keinen Schritt ohne Zittern und Zagen getan hatte, daß das Ticken der Standuhr, das Knacken der Dielen, ja sogar der Hall seiner eigenen Schritte ihm lebensgefährlich vorgekommen waren. Zweimal trabte André über sämtliche Korridore beider Etagen des Mittelbaues. In den fremden, totenstillen Räumen war ihm etwas beklommen zumute, aber Angst, richtige Angst hatte er nicht. Es ging um sein Geld, da war Angst Luxus. Vor der Standuhr in der Halle blieb er stehen. Erst Viertel vor zwölf, noch Zeit also. Das Gespenst erscheint immer zwischen zwölf und vier Uhr. Es müßte endlich mal was geschehen, überlegte er. Maurice faßt
die Sache nicht scharf genug an, wir vergeuden quasi gewissermaßen bloß Zeit. Ich möchte zu meinem Geld kommen, zum Donner! Und Monsieur Baharoff will schließlich Erfolg sehen, der wird sicher allmählich ungeduldig. Es muß was geschehen! Aber was? Soll ich nicht? Klar, ich müßte allein mal was unternehmen! Klar, allein! Der Ge- . danke berauschte ihn geradezu. So sehr, daß er ein feines Summen, wie von einem elektrischen Gerät, völlig überhörte. Ein leises Knacken – das Summen hörte auf. Wenn ich Glück habe und fange den Spuk allein – dann – dann müßten sie mir doch mehr Geld geben! Das heißt: von Rechts wegen stände mir die ganze Belohnung zu! Jawohl! Wenn ich den Spuk allein vertreibe oder wenn ich allein die Ursache feststelle, gehört mir auch das Geld allein. Natürlich, ich würde den Jungens etwas mitgeben, so bin ich ja nicht. Aber dann brauchte ich nicht erst Blumenhändler zu werden, dann könnte ich gleich einen Laden mieten. Mensch, das ist die Sache, die Idee überhaupt! Das Geld allein verdienen! Daß ich nicht eher darauf gekommen bin! Aber wie? Der Spuk ist nicht ganz ungefährlich. Teilt Ohrfeigen aus und wirft mit allen möglichen Dingen. Man müßte sich irgendwie schützen und ihn dennoch beobachten können. Suchend blickte er sich um. Mit einem Male leuchtete sein Gesicht wie der Vollmond. Halt, ich hab’s! So geht’s! Prima sogar! Im Gelben Zimmer unterhielten sich die Jungen leise. Maurice saß auf dem Fensterbrett und blickte in den kristallklaren Sternenhimmel. Tista schlief, die Glieder genießerisch ausgebreitet. Noch nie hatte er ein Bett für sich allein gehabt. »Klirrte da nicht was?« fragte René und faßte seinen Knüppel fester. Sie horchten, aber es blieb still. Filou plapperte weiter von Stinker. Mit rauher, kehliger Stimme gab er eine Heldentat nach der andern zum besten. Ja, Stinker war ein prächtiger Köter gewesen, und in Filous Erzählungen wurde er noch viel, viel prächtiger. »Da bummst tatsächlich was!« sagte nun auch Maurice und sprang vom Fensterbrett. René wollte zur Tür laufen, doch Maurice hielt ihn zurück. »Abwarten, René! Langsam voran.« Er öffnete die Zimmertür einen Spalt weit, und jetzt hörte man es ganz deutlich: schweres, näherkommendes Stampfen, Klirren, Rasseln, zwischendurch lautes Stöhnen.
René war kaum zu halten. »Warte doch, Kerl! Mal sehen, wo der Spuk hinläuft!« Die Standuhr in der Halle schlug zwölfmal. »Geisterstunde«, flüsterte Seppe aufgeregt und machte große Augen. Maurice blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. »Die Uhr in der Halle geht eine Minute nach, aber der Geist hat pünktlich angefangen, der arbeitet wohl mit Radiozeit.« Seppe lief es kalt über den Rücken, ihm war nicht nach Scherzen zumute. Sämtlicher Mut sank ihm in die Hosen, als nun das Gespenst stampfend und klirrend immer näher kam. Einige Meter vor der Zimmertür machte der Spuk halt, stöhnte schaurig und kratzte anscheinend an der Wand herum. Dann hörte man eine Tür gehen und wieder ins Schloß fallen. »Los, Mann, sonst ist er weg!« Maurice stieß die Zimmertür auf, mit einem Satz waren die beiden Jungen auf dem Gang. Seppe schielte vorsichtig um die Ecke. Der Gang war leer. Kein Gespenst weit und breit. »Verflixt!« schimpfte René. »Das hast du davon! Schon weg!« Plötzlich begann irgendwo in der Wand ein dumpfes, wütendes Rumoren. Mit gezücktem Knüppel rannte René zu der Stelle hin, Maurice und Seppe folgten ihm. Filou blieb im Gelben Zimmer. »Es mu-muß do-doch einer auf Ti-Ti-Tista aufpassen«, flüsterte er zu seiner eigenen Entschuldigung. Die Geräusche schienen aus einem der großen, bis auf den Boden reichenden Wandschränke zu kommen, die es im Flur gab. »Da drin geht’s ja hoch her!« flüsterte René und deutete mit dem Daumen auf den Schrank, der trotz seiner altfränkischen, soliden Bauart in allen Fugen krachte. »Seppe, du machst die Tür auf, und ich nehme ihn in Empfang. Na warte, du Biest!« René hob den Knüppel, Seppe faßte die Klinke und stellte sich so auf, daß die geöffnete Tür ihn schützen konnte, falls… Auf Renés Wink drückte er die Klinke herunter – weiter brauchte er nichts zu tun, denn die Tür sprang von selbst auf. Heraus plumpste ein großes, dunkles Etwas und fiel klirrend der Länge nach auf den Boden. Wie ein Wilder machte sich René darüber her, prügelte, daß die Funken stoben. Bei jedem Hieb schepperte und dröhnte es wie in einer Schmiede. »Du Hund, du verflixter! Hab’ ich dich endlich! Na, dir wird das Spuken ausgetrieben, da kannst du den alten René für ansehen! Ich werd’ dir Anstand beibringen, du Biest!« Auf je zwei Worte ein wuchtiger Schlag mit dem Eichenknüppel.
»Halt mal! Hör auf, René! Die Ritterrüstung brauchst du nicht kaputtzuschlagen. Hör doch auf, Mensch!« Tatsächlich: das Gespenst trug eine Ritterrüstung! Die Jungen knieten nieder, Maurice versuchte den Helm abzuziehen. Das ging nicht ohne weiteres, weil entweder der Helm selbst oder das heruntergeklappte Visier irgendwo klemmte. Maurice zog mit beiden Händen, der Geist stöhnte zum Steinerweichen. »Soll ich ’n Büchsenöffner holen?« fragte Seppe grinsend. Seine Angst war wie weggeblasen. Endlich war es soweit, vier Augenpaare blickten gespannt auf den zum Vorschein kommenden Kopf! André! Er hielt die Augen geschlossen, blutete an der Stirn und am Mund und stöhnte: »Ha-uh! Ha-uh!« »André?« rief René erschrocken. »Ja, ist denn das die Möglichkeit! Au Backe, haben wir den armen Kerl verdroschen!« »Kommt, zieht ihm den Klempnerladen vom Körper«, drängte Maurice voller Sorge. Bald darauf trugen sie den Schuhputzer ins Blaue Zimmer und legten ihn aufs Bett. Seine Augen waren nun offen, er drehte sie hin und her und lallte blöde. René wischte ihm das Blut ab und legte ihm ein nasses Taschentuch auf die Stirn, dann rüttelte er ihn und brüllte: »Nun red schon!« Nur zu deutlich spürte man durch die Grobheit hindurch seine Angst. »Laß ihn, René, er wird schon zu sich kommen.« Immer noch stöhnte André: »Ha-uh, ha-uh!« Dann sagte er: »Hauh! Jungens, mein Schädel, ha-uh!« »Na, endlich! Der Herr Ritter geruhen, das Maul aufzumachen. Wie geht’s denn, Euer Merkwürden?« »Ha-uh! Oh-a!« »René, zieh den armen Kerl nicht noch auf. Schlimm genug, daß du ihn so verprügelt hast.« Maurice hatte Mitleid, dennoch mußte er lachen. »Ich möchte verflixt gern wissen, was die Exzellenz mit der Rüstung im Wandschrank wollte! So was Dämliches hab’ ich noch nicht erlebt!« Als André sich ein wenig erholt hatte, begann er: »Kinders, mein Kopf summt und brummt, ich verstehe quasi gewissermaßen mein eigenes Wort nicht.« »Was wolltest du mit dem knitterfreien Anzug? Wolltest du uns erschrecken?«
»Ach wo! Ich wollte – ich wollte…« »Na, los!« »Ich wollte das Ding quasi gewissermaßen – nur mal anziehen. Die Eisenschuhe, die Beinschienen und der Brustpanzer paßten auch ganz gut. Es dauerte natürlich eine gewisse Zeit, bis ich – ha-uh – ’raus hatte, wie man dergleichen Gerätschaft anzieht und festmacht. Als ich schließlich alles am Leibe hatte, paßte der Helm leider nicht. War – hm – ein wenig zu klein.« »Kein Wunder! Ritter haben keine Wasserköpfe. Weiter!« Alle lachten, nur Pipin schaute André ernst und unentwegt ins Gesicht. »Ich wollte ihn aber unbedingt aufsetzen, also schlug ich mit der Faust recht heftig oben drauf. Dadurch aber klappte das Visier ’runter und – und klemmte mir aufs gemeinste Mund und Nase. Ich bekam eigentlich recht wenig Luft, und es tat zudem scheußlich weh. Sehen konnte ich quasi gewissermaßen nichts, indem daß der Helm viel zu hoch hängenblieb.« »Das hast du aber fein hingekriegt, du Trampeltier!« René lachte schallend. »Und dann?« »Nun, ich bemühte mich sehr, mich des Helmes zu entledigen, welches jedoch nicht ging, weil es unerträglich schmerzte. Deswegen wollte ich hinauf zu euch, ihr solltet mir helfen. Aber nein, war das eine Tour! Ich gehe wohl kaum fehl in der Annahme, daß die Eisengelenke alle rostig sind, da sie sich dermaßen schwer bewegen ließen. Es war sehr mühselig, das könnt ihr mir glauben, kaum Luft und so schlechte Sicht. Nun also, den Rest wißt ihr: statt hier im Zimmer landete ich irrtümlicherweise im Wandschrank. Diese blöden Kästen haben leider von innen keine Klinke, so daß ich mich regelrecht in der Falle befand.« Natürlich lachte alles, und André dachte: schon wieder über mich! »Und als die Mausefalle plötzlich geöffnet wurde, da bist du rückwärts ’rausgekippt, und dann hat’s gehagelt, nicht wahr?« »Ja, und wie!« piepste André kleinlaut. »Ich konnte den Mund nicht aufkriegen, ich konnte euch nicht…« »Hat’s arg weh getan?« »Ach ja, eigentlich schon, besonders am Kopf. Manche Schläge hab’ ich auch nicht gespürt, der Panzer hat viel abgehalten.« Allmählich wurde ihm besser, aufstehen konnte er jedoch nicht. Er torkelte wie betrunken, klagte über Kopfschmerzen und Schwindelgefühl.
»Bleib liegen, Alter!« René wurde fürsorglich. »Das verträgt eben nicht jeder, so ’n Eichenknüppel rumms auf die Gedächtnishalle! Komm, bleib schön liegen, morgen ist es bestimmt besser.« Irgendwo im Hause begann lautes Toben, Schreien, Knallen. »Jungens, ich glaub’, der richtige Geist ist da! Pipin, willst du bei André und Tista bleiben?« Der Gelbe nickte stumm. »Gut, dann gehen wir mal los. Kommt!« René, Seppe und Filou folgten Maurice über den Flur. Das Toben hatte aufgehört, ebenso plötzlich wie es angefangen hatte. Es war unheimlich still. Leise schlichen die Jungens die Treppe hinunter und gingen in die Halle. Einige Minuten standen sie schweigend herum, aber es blieb still. Mit einer Handbewegung forderte Maurice sie auf, sich zu setzen. Im Blauen Zimmer lag André auf Renés Bett, wälzte sich von einer Seite auf die andere, um eine Stelle zu finden, wo es nicht so sehr weh tat, und stöhnte gelegentlich leise. Er tastete über seine Oberlippe, sie wurde dick, das Blut klopfte und pulste darin. Mann, das ist aber herrlich schiefgegangen, dachte er. Nein, ich glaube, allein kann man dergleichen doch wohl nicht. Welch ein Glück, daß die andern nichts gemerkt haben. Das wäre eine erhebliche Blamage geworden. Sie haben ohnedies schon wieder über mich gelacht. Seltsamerweise lacht man sehr oft über mich. Pipin saß auf einem Stuhl am Fenster. Immer noch betrachtete er André, sein Gesicht schien gleichmütig wie immer, nur seine Augen wirkten anders als sonst. Jetzt nahm er Anlauf, noch weiteren als sonst, und fragte: »Hast du eigentlich keine Eltern mehr, André?« Der war etwas überrascht über die Frage, die ihn aus seinem Nachdenken riß. »Doch«, sagte er zögernd, »mein Vater lebt noch. Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben. Warum fragst du?« »Warum?« Pipin wußte sehr wohl, daß Andrés Vater draußen in St. Antoine wohnte, er hatte die Frage nur gestellt, um Andrés Gegenfrage hervorzulocken. Das war also fehlgeschlagen. »Warum? Weil du so wenig nach Hause gehst.« Eigentlich hatte Pipin das nicht sagen wollen, er wollte nicht aufdringlich erscheinen, aber nun mußte er sich irgendwie aus der Affäre ziehen. »Ja, weißt du, Vater arbeitet tagsüber in der Fabrik und abends im Garten. Man sieht ihn wenig. Meistens ist nur meine Schwägerin da, und im Haus brüllen die Kinder, keiner hat richtig Zeit für mich. Die sind auch alle so anders wie ich, weißt du? Ich interessiere mich
nicht für Gemüse, wie mein Vater, und auch nicht für Fußball, wie mein Bruder. Und wenn ich mal was erzähle, dann sagen sie: Immer erzählst du bloß von dir, und was wir machen, das interessiert dich nicht. Nein, ich gehe nicht allzugern heim.« »Hm, hm. Ich will dir mal ’ne Geschichte erzählen von ’nem kleinen Chinesenjungen, soll ich?« Pipin grinste breit, doch der Ausdruck seiner Augen paßte nicht zu seinem Grinsen. André zog erstaunt die Brauen empor. Seit wann erzählt denn der Geschichten? Sagt doch sonst kaum einen Ton? »Bitte, erzähle nur!« Pipin nahm den weitesten Anlauf, den er je genommen hatte. »Meine Mutter hab’ ich nie gekannt, starb bei meiner Geburt. Übrigens: geboren bin ich in Frankreich, in der Gegend von Lyon. Das kam so: mein Vater war schon zwanzig Jahre als Koch bei Monsieur Péricault, als der pensioniert wurde und nach Frankreich zurückging. Monsieur Péricault war bei der Botschaft in Peking, vielleicht war er auch selber Botschafter, ich weiß es nicht. Jedenfalls, als er nach Hause ging, nahm er meine Eltern mit. Nicht lange nach der Ankunft in Frankreich wurde ich geboren, und meine Mutter… Als ich sechs Jahre alt war, starb auch mein Vater. Ich hab’ nur noch ganz schwache Erinnerung an ihn.« André zog ein bedauerndes Gesicht und wackelte mit dem Kopf. Er begriff nicht, warum Pipin ihm Dinge erzählte, über die er bisher beharrlich geschwiegen hatte. »Dann nahm sich Monsieur Péricault meiner an, das heißt, annehmen ist ein bißchen viel gesagt. Ich bekam einen Hauslehrer – stinkvornehm, was? Und wurde auch getauft, auf Pipin Hieronymus sogar. Diese Namen sind bei den Péricaults Tradition, und deshalb nehme ich an, der Alte wollte mich adoptieren. Leider hat er’s vergessen, wie er mich überhaupt wochenlang vergessen hat über seinen chinesischen Vasen und all dem Kram, von dem das ganze Haus voll war.« »Wärst ja beinahe ein reicher Mann geworden, was?« meinte André bewundernd. »Ja, beinahe. Weißt du, der alte Péricault war nicht übel, aber trotzdem war’s keine schöne Zeit für mich. Ich glaube, ich hab’ viel geheult, es war nämlich keiner da, der mich gern hatte, und keiner, den ich so richtig gern hatte. Den Alten hab’ ich kaum gesehen, der Lehrer tat nur, was er mußte, die Köchin auch. Du kannst das wohl nicht verstehen« – Pipin lächelte und zuckte die Schulter –, »aber ich fühlte mich so schrecklich allein und verlassen. Aber noch Gold
gegen das, was dann kam! Ich war gerade zwölf, da starb auch der Alte. Schon am nächsten Tag erschienen die Erben und setzten mich vor die Tür. Heute weiß ich, warum sie mich so gemein behandelten: sie wußten, daß ich eigentlich den ganzen Krempel erben sollte.« »Und du hast nichts gekriegt, keinen Pfennig?« »Nein. Sie gaben mich in die ›Lehre‹, zu einem Weinhändler. In die Lehre, Mensch, und ich war doch erst zwölf! Das wurde feierlich, kann ich dir sagen! Ich schlief in einem Dreckloch, vorher hatte ich ’n eigenes Zimmer und ’n Hauslehrer. Und kriegte mehr Schläge als zu essen.« »Na, hör mal!« »Ja, so war’s! Der Weinfritze und seine Frau hatten ständig Krach. Nur darüber waren sie sich einig: daß ich eine faule gelbe Bestie sei. Von morgens sechs bis abends neun, zehn Uhr mußte ich schwere Fässer wälzen und Flaschen abfüllen. Aber nicht mit ’ner Abfüllmaschine, sondern mit ’nem Schlauch! Das heißt also: ich bekam immer, ob ich wollte oder nicht, Wein in den leeren Magen. Da ist es dann öfters passiert, daß ich einschlief, und der Wein lief aus. Und dann hinkte ich gewöhnlich eine Woche, so wurde ich geprügelt.« »Mann, Pipin! Wie lange hast du das denn mitgemacht?« »Gut zwei Jahre, dann riß ich aus, als wieder mal hinken fällig war. Vor lauter Angst bin ich nur nachts gelaufen, tagsüber hab’ ich mich versteckt. Hab’ auf den Feldern Melonen, Weintrauben und Tomaten geklaut und bin weitergerannt. In Valence landete ich bei einem Fuhrunternehmer. Der versprach mir goldene Berge, wenn ich bei ihm blieb. Nun, das Essen war tatsächlich besser, aber geschunden hat er mich genauso. Ich mußte arbeiten, daß mir die Schwarte krachte, und statt Geld kriegte ich bloß Versprechungen und manchmal Schläge. Ein halbes Jahr lang hat er mich hingehalten, dann bin ich wieder ausgekniffen und nach Marseille getippelt. Mit dicken Schwielen an den Händen und auf dem Rücken und großer Angst vor allen Menschen.« »Aber in der Zwiebelstraße ging’s dir doch besser, oder?« »Ich bin nicht direkt zur Zwiebelstraße. Die Polizei kriegte mich am Kragen und brachte mich ins Obdachlosenheim, Rue de Forbin. Das war mein Glück, denn ich war am Ende, todkrank. Das Heim war prächtig, die Johannis-Brüder ausgesprochen prima – ich hab’ sie angestaunt wie ’n Weltwunder, glaub’ ich, als sie mir nicht die
Jacke auszogen, um mich zu prügeln, sondern um mich zu baden. Vier Monate bin ich da gewesen, es war wie im Himmel! Ich wurde gepflegt, bekam zu essen, wurde nicht angeschrien und nicht verhauen. Als ich gesund war, hab’ ich ’n bißchen geholfen. Ich hätte dableiben können, aber – nee, weißt du, so ’n Obdachlosenheim, wo im Jahr mehr als zehntausend Menschen durchgehen, das ist nichts. Ich wollte ’ne Art Zuhause haben, ich kriegte vom Heim ’ne Stelle vermittelt als Zeitungsjunge, und sogar das billige Zimmerchen bei Madame Quinquaille haben sie mir besorgt. Seit ’nem guten halben Jahr bin ich jetzt in der Zwiebelstraße, das weißt du ja, und ich muß sagen, seit einigen Wochen fühle ich mich auch ganz wohl dort.« Bei den letzten Worten blickte er André eindringlich an und dachte: ob er es merkt, warum ich ihm die ganze Sache erzählt habe? Ob er es merkt? Der hat nun eine Familie, und weiß nichts damit anzufangen; hat Freunde, und ist drauf und dran, sie zu verlieren. Wegen einem bißchen Geld, denn darauf lief doch diese dumme Masche mit der Ritterrüstung hinaus, das hab’ ich doch gemerkt. Er weiß eben nicht, wie gut er’s hat und wie miserabel es ist, mutterseelenallein dazustehen. Was ist da schon Geld? Ich bin jedenfalls heilfroh, daß ich ’n paar prima Freunde gefunden habe. André dachte: Warum hat er mir das erzählt? Warum guckt er mich so komisch an? Da ist doch was bei? Aber er kam nicht darauf, denn schon bald hatte ihn sein Lieblingsgedanke wieder: wie ziehe ich mit meinem Anteil an der Belohnung den Blumenhandel auf? Noch einmal schoß ihm flüchtig der Gedanke durch den Kopf: was hätte man mit dem ganzen Geld anfangen können? Doch mit einem leisen Seufzer legte er diesen kühnen Gedanken zu den Akten, er war Realist; allein würde er das Geld nie bekommen, das sah er nun ein. Die andern Jungen warteten noch immer in der Halle. Immer noch war es völlig still, so beängstigend still, daß während der ganzen Zeit niemand ein Wort gesprochen hatte. Maurice, der das Warten leid war, stand auf und winkte. Wortlos erhoben sich die andern und folgten ihm die Treppe hinauf. Nur noch wenige Schritte waren es bis zum Gelben Zimmer, da ging es los! Sie hatten Schlimmes erwartet, waren wach und vorbereitet, dennoch erschraken sie furchtbar. Sie erstarrten, wo sie gingen und standen, Schrecken und Angst rieselten wie Schauer über den Rücken, im nächsten Moment drängten sie sich schutzsuchend an die Wand. Mit einem hohen, hohlen Pfeifen fing es an, das noch hinter dem Blauen Zimmer, im Turm anscheinend, begann; steigerte sich beim
Näherkommen zu einem infernalischen Kreischen, schoß ihnen entgegen. Die Jungen zogen die Köpfe zwischen die Schultern und starrten nach oben. Gellend pfiff es über sie hinweg – es war nichts zu sehen – die Treppe hinunter, immer noch lauter werdend, immer noch schrecklicher, schien in tausend klirrende Scherben zu zerspringen und klang aus in einem krachenden Donner, der die Fensterscheiben erzittern und das Licht flackern ließ. Es war wieder still, gemein still. Maurice schluckte, sein Mund war trocken und rauh. »Da bleibt einem wirklich die Spucke weg!« flüsterte er. Der Eichenknüppel zitterte in Renés Hand wie der Zeiger eines Kilometerzählers. Filou stöhnte tief, dann begann sein Reklamegebiß Morsezeichen zu klappern. Seppe war trotz seiner Bräune kreideweiß, seine Augen blinzelten nervös. »Kommt!« keuchte Maurice und drückte sich mit schweißnassen Händen von der Wand ab. Kaum waren sie in der Nähe der Treppe, als es von neuem losging. Ein widerliches, blechernes Gelächter begann irgendwo in einer Ecke der Halle, kam näher, steigerte sich zu einem gruselerregenden Gewieher, glitt kichernd und keckernd in alle Gänge, schwoll an und erstarb plötzlich. Wieder donnerte es, wieder erlosch das Licht, bläuliche Blitze zuckten irgendwo, man sah nur ihren Widerschein. Jetzt flackerte die gesamte Beleuchtung der Halle und des Treppenhauses auf, erlosch wieder. Krachend fiel die zweite Ritterrüstung um, wieder ein rollender Donner, dann hörte man oben, im zweiten Stockwerk, laut und deutlich Renés Stimme sagen: »Wehe, wenn ich den erwische, den schlag’ ich bunt und blau!« Ein schrilles Hohngelächter, dann ein tappendes, leiser werdendes Gescharre, und es war wieder still. Ruhig, als wäre nichts gewesen, brannte die Beleuchtung. Die Gesichter der Jungen waren verzerrt, das Herz schlug ihnen bis zum Hals, dennoch näherten sie sich dem Treppengeländer und schauten in die Halle. »Verdammt! Mau-Maurice, was sagst du da-dazu? Mit-mit-mit meiner Stimme!« René stotterte vor Erregung, faßte haltsuchend das eiserne Treppengeländer – und sank mit einem leisen »Ah« in die Knie.
»Was ist?« Der Junge rappelte sich auf, schluckte mühsam und sagte: »Mann, elektrischer Schlag! Ich hab’ einen gewischt gekriegt, der war nicht von Pappe!« »Komisch!« Vorsichtig berührte Maurice das Geländer, zunächst mit einem Finger, dann mit der ganzen Hand. »Du spinnst! Schau, ich fass’ das Ding an und kriege keinen!« »Wirklich komisch«, sagte René und faßte noch einmal an das Geländer, das Maurice soeben losgelassen hatte. Und ging wieder mit »Ah« in die Knie. Filou ebenfalls, der sich neugierig vorgebeugt und Renés nackten Arm berührt hatte. »Verdammter Kram!« René rieb sein rechtes Handgelenk. »Weiter in die Halle!« Maurice ging voran. Stufe für Stufe, lang-
sam und vorsichtig stiegen sie die Treppe hinunter. Unten blickten sie sich um. Die Halle sah aus wie immer, bis auf die am Boden liegende Ritterrüstung. Dumpf summend schlug die Standuhr einmal. Maurice seufzte, sogar die Uhr wirkte unheimlich. Da flüsterte und wisperte es auf einmal in allen Ecken: »Mann, elektrischer Schlag! Ich hab’ einen gewischt gekriegt, der war nicht von Pappe!« Das, was René eben gesagt hatte, mit seiner Stimme! »Komisch! – Du spinnst! Schau, ich fass’ das Ding an und kriege keinen!« Das, was Maurice kurz vorher gesagt hatte! Die beiden Wisperstimmen mischten sich, lösten sich ab, tönten von oben, raunten und zirpten aus den Ecken und gingen in einem grauenvollen Stöhnen schließlich unter. Maurice bekam eine Gänsehaut nach der andern. Er blickte René an, der mit weitaufgerissenen Augen wie verzaubert um sich schaute. Seine rechte Hand mit dem Knüppel darin hing schlaff herab. Ich muß mich setzen, das war ein bißchen viel! Maurice ging zur Truhe hinüber und ließ sich seufzend darauf nieder. Filou folgte ihm auf dem Fuße, blickte ihn an, sagte jedoch kein Wort. Seine bebenden Lippen drückten alles aus, was er hätte sagen können: Angst, Angst, Angst! René stand immer noch bei der Uhr am Treppenaufgang. Seppe postierte sich neben die Truhe und trat unruhig von einem Bein auf das andere. Wieder erlosch das Licht. In der Bibliothek jaulte und wimmerte es, hoch und klagend, ein Tappen und Gescharre, im Treppenhaus blitzte und krachte es, fahle Helligkeit zuckte von oben in den Raum und beleuchtete schemenhaft den wie gebannt dastehenden René. Etwas flog durch die Luft und zerschellte an der Wand; es klatschte schallend, und René schrie: »Au-hu!« Ein winselndes, meckerndes Gelächter, das aus keiner menschlichen Kehle zu kommen schien und da – da hob sich hinter René ein grünlich leuchtendes Knochengerüst in die Höhe, fuchtelte mit den Armen, die dürren Knochen klapperten, rot schimmerten die leeren Augenhöhlen – weg war das Gespenst! Das Licht flackerte noch eine Weile, dann brannte es ruhig. René stand immer noch neben dem Treppenaufgang. Er rieb sich die rechte Wange. Maurice ging zu ihm hinüber. »Was ist?« »Schon wieder ’ne Knallzigarre, und was für eine!« Prüfend bewegte er seine Kiefer. »Mann, ich dachte, der Kopf fliegt weg.«
»Und der Knüppel?« René zuckte hilflos die Achseln. Seppe schob mit dem Fuß die Scherben einer großen Vase aus dem Weg. »Die war wohl für mich bestimmt! Da ist sie hingeflogen!« Er zeigte auf die Wand neben der Truhe. Einige Minuten lang blieb es ruhig. Die Tür zur Bibliothek öffnete sich, und Monsieur Baharoff erschien in einem wunderschönen, dunkelroten Seidenmantel. »Nun – ö, meine Herren, was sagen Sie dazu? Nehmen Sie das immer noch scherzhaft, Herr Dupont?« »Hm, scherzhaft? Herr Forgeron hat bereits seine dritte Ohrfeige bezogen. Das waren schon recht derbe Scherze. Und was wir sonst erleben durften, war ebenfalls recht eindrucksvoll! Der Spuk ist erheblich in meiner Achtung gestiegen.« »So? Ö – ja, Sie wollen doch nicht aufgeben? Ö – kommen Sie bitte in mein Arbeitszimmer, wir trinken einen Cognac. Das wird Ihnen guttun!« Keiner lehnte die angebotene Stärkung ab. »Ist Ihnen was geschehen, Monsieur?« »Nein, nicht das geringste!« »Auch der wertvollen Sammlung nicht?« »Ö – ich habe noch nicht nachgesehen, glaube aber kaum, habe nichts bemerkt. Es spukte hauptsächlich in der Halle.« Baharoff ging schwerfällig zur Schlafzimmertür und öffnete sie. Die Jungen folgten ihm. Kaum hatte er einen Blick in den Raum geworfen, als der große Mann blitzschnell nach vorne schoß, sich bückte und einen Zipfel des Teppichs in die Höhe riß, so daß die daraufliegenden Kragenknöpfe durcheinanderkollerten. Dennoch hatte Maurice gesehen, daß die Kragenknöpfe das Wort »Lump« gebildet hatten. Jeder Buchstabe war aus zehn ganz berühmten Stükken zusammengesetzt gewesen. Im Blauen Zimmer hockten André und Pipin trübselig auf Renés Bett. Tista war zu beneiden, er schlief immer noch. »Wie war’s denn bei euch?« »Hier war das Biest natürlich auch. André behauptet sogar, ein Totenkopf hätte durch’s Fenster geguckt…« »Hat auch!« »… aber das hab’ ich nicht gesehen. Doch auch ohne das war’s ein toller Rummel! Es hat geschrien, gelacht und gedonnert, eure Stimmen haben was geflüstert, erst deine, René, dann auch deine, Maurice. Nee, alles dran!« Pipin lächelte melancholisch. »Was habt
ihr denn erlebt? Bei euch war’s sicher noch schlimmer, was?« »Danke der Nachfrage, ich bin bedient!« René rieb seine Backe. »Es war verflixt grausig, das kann ich euch sagen. Ich glaube, wir haben uns die Sache ein wenig zu leicht vorgestellt.« Mutlos ließ sich Maurice auf den Stuhl fallen. »Nix Mangobaum?« Pipin feixte den Maler an und dachte: er läßt mal wieder die Flügel hängen. »Nee, nix Mangobaum! Alle die Dinge, von denen ich annahm, sie könnten die Ursache sein, treffen hier nicht zu. Mein Latein ist zu Ende.« »Sollen wir nicht lieber aufgeben, Jungens?« Seppe schob den Kopf vor wie eine Spitzmaus. »Den Spuk kriegen wir nie! Nie! Ich will lieber mit heilen Knochen nach Haus kommen als mit ’nem Knacks, lieber arm und gesund als…« »Waas? Arm und gesund? Aufgeben? Entschuldige mal, ich glaube, du hast einen Vogel! Wir dürfen nicht aufgeben, ich muß das Geld haben, verstehst du? Nun, von morgen an bin ich dabei, und ich kenne das Leben, ich werde schon Rat wissen!« »Aufgeben? Nee, du Armleuchter!« René lief rot an und rollte die Augen wie ein Gorilla. »Nee, jetzt hat er mich wütend gemacht, jetzt will ich den Burschen kriegen, der mir schon zum drittenmal eine gepappt hat! Das Geld kann mir meinetwegen gestohlen werden, aber ich will dem ein paar wiedergeben, daß er Freude dran hat. Drei saftige Ohrfeigen, das ist zuviel! – Willst du etwa auch aufgeben, Maurice?« »Nein, ich will nicht. Du brauchst übrigens nicht so geschwollen daherzureden von gestohlen werden, René! Das Geld stünde uns allen sehr gut zu Gesicht. – Nein, ich möchte nicht aufgeben, aber ich weiß nicht weiter!« »Mach dir nicht allzuviel Sorgen, Maurice, wir gucken uns die Geschichte morgen noch mal an. Nicht gleich die Flinte ins Getreide schmeißen!« Pipin lächelte ihm tröstend zu. »Ihr habt lange warten müssen, das zermürbt. Ihr habt den ganzen Kram schlimmer empfunden, als er vielleicht ist. Ich glaub’ nämlich immer noch nicht so recht dran, trotz allem, was passiert ist. Sieh mal: René bezieht Ohrfeigen und hat am andern Morgen noch ’ne rote Backe…« »Wehe, wenn ich den kriege!« »… ja, der Spuk drehte ihn sogar um, wie Tista erzählte! Das ist eigentlich hochinteressant!« »Und ob! Ich hab’s gespürt!«
»Kann denn ein Spuk so was? Ein Geist hat doch keinen Körper, also auch keine Kraft!« »Keine Kraft?« empörte sich René. »Red doch nicht immer dazwischen!« blies Maurice ihn an. »Weiter, Pipin!« »Ich meine, ein Geist hat keine Kraft und kann einen Menschen nicht umdrehen. Und dann: René kriegt seine Ohrfeigen immer auf die rechte Backe. Du, ich glaub’, unser Geist ist Linkshänder!« »Linkshänder!« André schüttelte sich in komischem Entsetzen. »Wie der alte Gregoriades, was? Bitte, nimm’s mir nicht übel: du hast auch einen Vogel! Hähähä!« »Stimmt, André! Du bist der einzige von uns, der keinen hat!« »Sag mal, Pipin«, begann Maurice zögernd, »die Schlafpulvergeschichte würde ganz gut dazu passen, nicht wahr?« »Ja, hab’ ich auch schon gedacht.« »Trotzdem: es war toll, einfach grauenhaft! Ich weiß noch nicht, wie’s weitergehen soll.« Sehr nachdenklich ging Maurice zu Bett. Der nächste Morgen verlief wie üblich: Frühstück, anschließend Filous Schreibunterricht. Während der Schwarze seine »Hausaufgaben« machte und René eine kleine Probefahrt veranstaltete, kletterte Maurice auf den viereckigen Turm. Mit Zeichenblock, Farbkasten und einem Glas Wasser. Tista krabbelte eifrig hinterher, mit Sasu. Ganz langsam folgte André, mit nichts weiter als einem versonnenen Gesicht. Maurice hockte sich auf die Brüstung des Wehrgangs und breitete seine Malgeräte aus. »Nein, Tista, hier darfst du nicht ’rauf! Auf einmal fällst du ’runter, und dann haben wir keinen Tista mehr. Nein, nein, bleib schön unten!« »Ich will aba auch was sehn!« »Da kommt André, der kann dich festhalten.« »Los!« kommandierte Tista. André setzte den Kleinen auf die Mauer und umklammerte ihn mit beiden Armen. »Auto!« brüllte Tista. »Huhu!« Er winkte eifrig der Taxe zu, die von Villeneuve heraufschnurrte und vor dem Portal hielt. Baharoff stieg ein und fuhr ab. »Huhu, Opa!« rief Tista, doch Jean-Baptiste, der über den Hof ging, kümmerte sich nicht darum, öffnete ein Tor im Drahtzaun und verschwand zwischen den Rosen am Abhang. Maurice blickte ihm nach. Was wollte der Opa dort?
Seppe erschien auf dem Turm, blickte sich scheu um und ging sofort wieder. »Ich will wieda runta!« Schöne Aussicht fand Tista ausgesprochen langweilig. Er tappelte zu Sasu, die zusammengerollt in einer sonnigen Ecke schlief. Brabbelnd setzte er sich auf den warmen Steinboden und nahm die Katze auf den Schoß. In der entgegengesetzten, schattigen Ecke ließ sich André nieder. Sein Kopf brummte immer noch, leise stöhnend fuhr er über das Pflaster an der Stirn und über die geschwollene Oberlippe. Da hab’ ich mir was eingebrockt! Dergleichen passiert den andern nie. Und man lacht recht häufig über mich, auffallend häufig. Ich geb’ mir Mühe, ich strenge mich an, um voranzukommen, und da kann natürlich mal was schiefgehen. Dann lachen die andern. Die tun ja nichts, denen passiert auch nichts. Die sind zufrieden mit dem, was sie haben. Ich nicht! Ich will vorankommen, Blumenhändler werden, ein Geschäft aufmachen. Ist das was Schlimmes? »Maurice, ist das was Schlimmes, wenn man vorankommen möchte?« »Vorankommen? Du meinst: wenn man ehrgeizig ist? Nein, an sich nicht. Aber Ehrgeiz verdirbt oft den Charakter.« »Bitte erkläre mir, wie du das meinst!« Maurice blickte mit zusammengezogenen Augenbrauen seitwärts, von dem frisch eingetunkten Pinsel tropfte die Farbe auf seine Hose. »Hm – ja, Ehrgeizige haben es oft mit dem Vorwärtskommen sehr eilig. Und wenn es dann nicht schnell genug geht, vergessen sie manchmal, daß es außer ihnen noch andere Menschen gibt, und vor allem: daß es wichtigere und schönere Dinge gibt als Geld, Ehre und Ruhm. Kurz gesagt: Ehrgeizige machen leicht Fehler.« André nickte heftig zustimmend mit dem Kopf, so heftig, daß es ihm weh tat. Doch er hatte Maurice völlig mißverstanden. Für einen Fehler hielt er seinen Versuch, den Spuk allein zu fangen, deshalb, weil er nun einsah, daß diese komplizierte Aufgabe durch einen einzelnen nicht zu lösen war. War in der Tat ein Fehler, dachte er, aussichtslose Sache. Hätte ich mir vorher überlegen müssen, hätte ich mir sparen können. Weiter dachte er nicht. Tista schlief. Sasu sprang von seinem Schoß, machte einen Bukkel, ihr seidiges Fell glänzte in der Sonne. Mauzend streckte sie sich, ihr langer, dicker Schwanz malte merkwürdige Zeichen in die Luft, dann leckte sie sich das Brustfell. Jäh unterbrach sie ihre Schön-
heitspflege und lauschte. Langgestreckt, wie von der Nase gezogen, schlich sie zu einem Loch in der Mauer. Forschend blickten ihre Augen in die ungefähr zwei Fäuste große Öffnung. Hopps, ein kleiner Sprung. Sasus weiße Schwanzspitze verschwand in der dunklen Mauerlücke wie das Schlußlicht eines Zuges in einem Tunnel. »Sasu! Sasu!« Tista suchte den Wehrgang ab, zerrte Maurice am Hosenbein: »Hasse Sasu nich gesehn?« »Nein, Tista.« »Du auch nicht, Andé?« »Nein, leider nicht, mein Kleiner! Ich habe etwas geschlafen.« »Dann isse sicha unten, Sasu mußte sicha mal.« Eilig stiefelte er die Treppe hinunter, suchte die Katze auf dem Hof, in den Schlafzimmern, in der Küche. Von überallher hörte man sein »Sasu! Sasu!« Dann trappelte er wieder die Treppe herauf und zerrte Maurice zum zweitenmal am Hosenbein: »Sasu is wech!« »Ach wo, Tista! Sie macht ’nen kleinen Ausflug oder ist auf Jagd. Wird schon wiederkommen!« Traurig und ungläubig schüttelte der Kleine seine schwarzen Lokken. »Sie kommt sons imma sofoat. Nee, Sasu is wech!« Seine Unterlippe schob sich vor, die ersten Tränen kamen. »Warte nur, heute mittag ist sie wieder da! Woll’n wir wetten?« »Nee, nee!« Heulend zog er ab, rannte den Hügel hinunter an den Strand, hin zum großen Bruder. Seppe versuchte ihn zu beruhigen, doch ohne Erfolg. Tista bestand darauf, daß Seppe mitging und suchen half. Sie durchstöberten das ganze Schloß, auch den Garten bis zum Drahtzaun. Sasu war nirgends zu finden. Wem Tista begegnete, vor dem baute er sich auf, legte den Kopf in den Nacken und fragte: »Hasse Sasu nich gesehn?« Doch weder Jean-Baptiste noch Louise, weder der Koch noch der Gärtner hatten die berühmte Katze gesehen. Jeder sagte dem Kleinen ein paar tröstliche Worte, selbst JeanBaptiste. Aber Tista wollte nicht Trost, er wollte Sasu. Gerade als Maurice seine Malgeräte einpacken wollte, kletterte Filou zum Turm hinauf. Vor der kurzen Steintreppe, die zum Wehrgang führte, machte er halt und legte die beiden Melonen, die er in den Händen gehabt hatte, vor sich auf die Stufe. Dann zog er aus dem Halsausschnitt seines Hemdes einen Teller, den er bruchsicher am nackten Bauch geborgen hatte, griff in die rechte Hosentasche und holte zwei Handvoll Streuzucker hervor. Las säuberlich die Flusen heraus, die sich eingeschlichen hatten, nahm aus der linken
Hosentasche ein Messer und einen Kaffeelöffel und legte sie auf den Teller. Packte die Melonen auf den linken Arm, faßte den Teller mit der rechten Hand und balancierte vorsichtig und langsam aufwärts. Ohne Unfall gelangte er bis zu Maurice. »Da!« sagte er strahlend, das Gesicht schweißnaß vor Anstrengung und Aufregung. »Für dich! Mel-lohnen machse doch gärn, nich?« »Rröh-hm, ja, ja, sehr gern sogar, Filou! Vielen Dank!« Maurice war überrascht, verlegen und gerührt zugleich. »Vielen Dank, Mensch! Nett von dir! Aber, sag mal, wie kommst du an das Zeug?« »Och, ganz einfach! Gestern hap ich gehört, wie der Koch mit Jean-Baptiste schimpfte, weil so viel Geschirr zum Spülen war’ und Louise hätt’ Ausgang und er könnt’ das nich allein. Bin ich hingegangen und hap geholfen. Der Koch hat sich vielleicht gewundert, daß ich so gut spülen kann! Hat er mir Mellohnen geschenkt heute, und Zucker gegeben und Teller und alles.« Maurice grinste und drohte mit dem Finger: »Hat er dir wirklich Melonen angeboten oder was anderes? Ehrlich?« »Och! Erst wollter mir Torte geben oder Eis, Mellohnen hatter nich. Aber heute hatter. Ich kann noch mehr ham!« Pünktlich um Mitternacht begann das Rumoren und Toben im Treppenhaus, in der Halle und im Keller. Tista erwachte und jammerte nach Sasu. Seppe schimpfte leise vor sich hin; es war so schwierig gewesen, den Kleinen zum Schlafen zu bewegen ohne die Katze im Arm. Im Haus wurde es wieder ruhig. »Los, Jungens, ’runter! ’ran an den Feind!« Obgleich ihm nicht danach zumute war, suchte Maurice Stimmung zu machen, doch selbst der gewalttätige René hatte ziemliche Scheu vor dem, was nun kommen mußte. Filou fürchtete sich ausgesprochen. Seine Zähne klapperten zwar noch nicht, aber das war nur eine Frage der Zeit. »Kommt, ab!« Maurice ging zur Tür. »Seppe und Filou bleiben bei Tista.« »Na-in!« schrie der Kleine. »Ich bleib’ nich hia!« Gutes Zureden half nicht: ohne Sasu hatte Tista gräßliche Angst, wollte auf keinen Fall im Blauen Zimmer bleiben, sondern aufstehen und mitgehen. »Na, schön, soll er. Zieh ihn an, Seppe!« Vollzählig marschierten sie in die Halle, wo sämtliche Lampen brannten. Die Standuhr tackte, die Stille wurde dadurch nur noch fühlbarer. Die Jungen setzten sich in die Sessel und auf die Truhe.
Keiner sagte ein Wort. Tack. Tack. Tack. Tack. Langsam und stetig, in gleichmäßigen Zwischenräumen, fiel der Geräuschtropfen. Tack. Tack. Tack. Das schläferte ein, entrückte. Die Körper schienen ihre Schwere zu verlieren, man spürte sich nicht mehr. Aus Angst, gespannter Erwartung und aus der tackenden Stille wurde etwas Neues: ein lähmender Zauber, der die Sinne benebelte und die Brust beklemmte. Die Uhr gab einen Schnarchton von sich – die Jungen fuhren erschrocken auf – und schlug dumpf summend einmal. Bomm! Hallend kam der Schall von überall her zurück. Verflixt, dachte Maurice, das ist Zermürbungstaktik, genau wie gestern. Erst lockt er uns ’raus, und nun läßt er uns warten. Warten macht einen fertig. Ich muß dagegen angehen, sonst sind meine Helden gleich völlig ungenießbar. Er klatschte in die Hände und rief mit gemachter Munterkeit: »Kinders, sitzt nicht so trübselig ’rum! Macht den Mund auf, erzählt mal was!« Auffordernd blickte er sich um. Niemand rührte sich, alle starrten finster vor sich hin. Da richtete sich Seppe in seinem Sessel auf, kniff Maurice ein Auge und machte so täuschend ähnlich den Schnarchton der Uhr nach, daß die andern Jungen noch einmal aufschraken. Als René merkte, daß er angeführt worden war, blickte er den König der Diebe wütend an und schüttelte stumm die Faust. Wenn der Spuk doch bloß kommen wollte! Seufzend rutschten sie in den Sesseln herum. Eklige Warterei, schon über eine Stunde. Zwölf Minuten nach ein Uhr ging es los. Endlich! Es war geradezu eine Erlösung. Wieder fing es mit einem hohlen Pfeifen an, das von oben kam, durch das Treppenhaus herunterschoß und klirrend in der Halle zersprang. Verflixt, au verflixt! Ich dachte, man könnte sich dran gewöhnen, ich dachte, heute wär’s nicht mehr so schlimm! Aber es ist genau wie gestern, genau! Maurices Hände tasteten nervös über den gerippten Stoff seiner Hose. Seppe schubste Tista unter die Truhe. »Bleib da unten, Tista, bleib schön da unten«, flüsterte er, »da kann dir nichts passieren!« Es blitzte wieder, heulte, johlte, jammerte, krachte. Die Beleuchtung erlosch, eine Serie Kaffeetassen sauste durch die Luft und zerschellte an den Wänden. Das Licht flackerte: an, aus, an.
In höchster Eile, auf allen vieren kriechend, verließ Tista sein Versteck, raste zu Seppe hinüber und kroch zu ihm in den Sessel. »Seppe!« schrie er atemlos. »Hinta mia hat ea was gesagt!« »Wer hat was gesagt, Tista?« »Das Spuk!« »Was hat er denn gesagt?« »Weiß ich nich meha.« Die Geräusche wurden leiser, versickerten im Keller, verflüchtigten sich im Dachgeschoß. Nun hörten sie alle den Spuk reden: »Mach dir nicht allzuviel Sorgen, Maurice!« Das, was Pipin gestern abend gesagt hatte, mit seiner Stimme. Immer wieder, immer von neuem: »Mach dir nicht allzuviel Sorgen, Maurice! Mach dir nicht allzuviel Sorgen, Maurice! Mach dir nicht…« Laut und leise, wispernd, zischend, dann wieder brüllend laut, in der Halle, auf dem Flur, im Treppenhaus. André zog die Augenbrauen bis unter den Haaransatz und sperrte den Mund auf. »Grausig, wie?« meinte er mit zitternder Stimme zu Pipin. »Hm«, machte der Gelbe und nickte zustimmend, »grausig, aber auch interessant. Ich höre meine Stimme zum erstenmal, hab’ gar nicht gewußt, daß ich so singe. Na, ich geh’ mal ’n bißchen.« Geschmeidig erhob er sich und trabte über den Gang davon, Richtung Speisesaal. Im Rikschastil. »Angeber!« murmelte André hinter ihm her. »U-unsereins hat-hat die Hose voll, und der s-sagt, iiinteressant!« Aus Baharoffs Bibliothek drang schauderhaftes Stöhnen, es hörte sich an, als läge ein Mensch in den letzten Zügen. »Los, hin!« rief Maurice. »Vielleicht ist ihm was zugestoßen!« sprang auf und lief durch die Halle zur Bibliothek. Die Jungen folgten ihm wie die Küken der Henne. Als er eben auf dem Gang war, ertönte ein blechernes, widerliches Gelächter. Maurice stutzte einen Moment erschrocken, dann öffnete er die Tür zur Bibliothek. Der Raum war leer! Das Stöhnen hatte aufgehört, statt dessen flüsterte eine Stimme ununterbrochen und monoton: »Lump! Lump! Lump! Lump!« Maurice durchquerte die Bibliothek und öffnete die Tür zum angrenzenden Arbeitszimmer. Dort saß Baharoff auf einem Stuhl, dicht vor dem offenen Fenster, und schaute in die Nacht. »Monsieur!« rief Maurice. »Monsieur!« Baharoff rührte sich nicht. Maurice ging zu ihm hin und rüttelte ihn an der Schulter. Mit
einem Schrei fuhr Monsieur herum, nahm die Wachsstopfen aus den Ohren und sagte: »Ö – Sie sind es, Herr Dupont! Entschuldigen Sie, ich bin sehr mit den Nerven ’runter.« »Ist Ihnen was geschehen?« »Nein – ö, nein, bisher nicht.« In der Halle herrschte gerade mal wieder Ruhe. Sie gingen zurück, René voran. Kaum hatte er die Bibliothek verlassen und war ein paar Schritte gegangen, da setzte wieder das Gelächter ein, überfiel ihn unerwartet wie ein Strauchritter. Erschrocken blieben die Jungen stehen. Nach einigen Sekunden endete das Lachen ebenso jäh, wie es begonnen hatte. Kopfschüttelnd setzten sich André und Seppe in Marsch, gingen wenige Meter weit, als auch sie das blecherne Lachen überfiel. Sie zuckten zusammen und rannten in die Halle. Tista hatte in der Bibliothek noch schnell »Sasu« gerufen und war dadurch von seinem großen Bruder getrennt worden. Als das Gelächter begann, klammerte er sich schnell an die Hosenbeine des Nächstliebsten, und das war für ihn Maurice. Sobald der abscheuliche Lärm aufgehört hatte, rannte er hinter Seppe her. Maurice folgte ihm langsam mit Filou. Die beiden legten nur wenige Schritte zurück, da lachte das Gespenst erneut. »Merkwürdig!« murmelte Maurice und wartete, bis der Geist aufhörte, dann ging er zurück zur Bibliothek. Wieder begann die Lache! »Verflixt merkwürdig!« Gerade setzten die Jungen sich in die Sessel. »Seppe, komm doch bitte mal hierher!« rief Maurice. Bereitwillig erhob sich Seppe, Tista wollte ihn begleiten. »Nein, ohne Tista.« Der Kleine blieb in der Halle, wenn auch höchst ungern. Seppe näherte sich. Nur drei Meter noch trennten ihn von Maurice, der vor der Bibliothekstür stand, da ging das Gelächter wieder an. Maurice schüttelte den Kopf: »Merkwürdig! Merkwürdig!« »Was soll ich?« fragte Seppe. »Abwarten! Tista, jetzt kannst du kommen!« Wie ein Wiesel flitzte der Kleine durch die Halle, über den Flur hin zum großen Bruder. Die Lache blieb aus. »So, jetzt könnt ihr zurückgehen. Aber einzeln!« Seppe begriff zwar nicht, aber er tat, was Maurice wollte. Nach
wenigen Schritten begann das Gelächter. Als es vorbei war, durfte Tista zurück in die Halle. Der blecherne Spektakel erhob sich nicht. René ging zu Maurice in den Flur. Schrill und blechern lachte das Gespenst von neuem. »Komisch!« brüllte er Maurice während des Getöses ins Ohr, »für Tista scheint der Spuk ’ne Schwäche zu haben, was? Bei dem Kleinen schreit er nicht wie abgestochen!« »Hm, ja. Scheint so. Bleib mal hier stehen, René!« Ganz langsam ging Maurice über den Flur in Richtung auf die Halle. Ganz langsam, Schrittchen für Schrittchen. Am Ende des Flurs, ungefähr einen Meter vor der Stelle, wo er in die Halle mündete, begann die blecherne Lacherei. Sofort ging Maurice ein Stück zurück. Als das Lachen aufhörte, trat er wieder ein Stückchen vor. Augenblicklich brüllte das Gespenst los! Vor Überraschung schüttelte Maurice den Kopf, daß seine langen Haare flogen. Wieder war es still. Wieder bewegte Maurice sich ein Stück vor. Und schon brüllte die Lache wieder! »Nanu«, sagte Maurice, »nanu!« Sein Gesicht entspannte sich. Lächelnd ging er zur rechten Flurwand und suchte sie genau ab. In Brusthöhe fand er ein kleines Loch, nicht größer als eine Erbse. Die Öffnung war recht geschickt angebracht: in einer Ecke der Täfelung. Kaum hörte das Gespensterlachen auf, da hielt Maurice den Finger auf das Loch. Das Gespenst wieherte und lachte blechern. Aufgeregt winkte Maurice die Jungen heran. Sobald es wieder still war, sagte er strahlend: »Kinder, ich hab’ eine Stelle entdeckt, wo der Spuk kitzelig ist! Paßt mal auf!« Noch einmal hielt er den Finger auf die Öffnung in der Täfelung. Prompt begann der Geist zu wiehern. Aber nur ganz kurz, dann brach die häßliche Lache ruckartig ab. Von nun an konnte Maurice so lange den Finger auf das Loch halten, wie er wollte, konnte die Jungens auf dem Flur hin und her schicken: das Lachen, das widerliche, blecherne Lachen ertönte nicht mehr. Statt dessen donnerte es jetzt im Treppenhaus, schepperte und rasselte es im Keller, schauriges Getöse allenthalben. Vasen flogen durch die Luft, Geschirr aller Art kollerte die Treppe herunter, Flüsterstimmen zischelten, Schritte tappten. Das alles rührte Maurice
nicht mehr. Er saß in seinem Sessel und hörte sich den Aufruhr lächelnd an. »Der Geist ist furchtbar böse! Der hat es nicht gern, wenn man ihn kitzelt. Jungens, ich glaub’, wir haben eine wichtige Entdeckung gemacht!« »Bist du etwa der Meinung, das Loch in der Wand hätte etwas mit dem Spuk zu tun?« zweifelte André. »Allerdings! Ich habe da so meine Vermutungen!« erwiderte Maurice. Seine fröhliche Sicherheit übertrug sich auf die Jungen. Zwar beeindruckte sie der Zauber noch immer, aber sie schlotterten nicht mehr vor Angst, selbst Filou nicht. Wenn es mal wieder ganz toll wurde, dann blickte er Maurice ins Gesicht und war getröstet. André blieb skeptisch. Weiß der Teufel, was Maurice wieder hat, dachte er und wackelte mit seinem ramponierten Wasserkopf. Diese Maler haben eine Phantasie, unglaublich! Zur selben Zeit schlich Pipin durch das Haus. Im Rikschastil. Quer durch den Speisesaal, über den Flur in den Anrichteraum. Von da in die Küche und zurück in den Flur. Fast unhörbar tappte er auf nackten Füßen die Nebentreppe zum ersten Stockwerk empor. Niemand begegnete ihm, kein Mensch und auch kein Geist. Pipin verfolgte mit seiner einsamen Wanderung kein bestimmtes Ziel. Er fühlte nur, daß etwas nicht stimmte, und sagte sich, daß es vielleicht aussichtsreicher sei, allein und unbeachtet auf die Suche zu gehen. Angst hatte er gerade so viel, daß er sie spürte wie einen Kragen, der eine Kleinigkeit zu eng ist. Ein wenig Überwindung hatte es ihn schon gekostet, diesen Streifzug auf eigene Faust zu unternehmen, aber er dachte: falls ich irgendwas erreichen könnte, wäre uns allen geholfen! War’ schön, wenn ich was tun könnte für den komischen Verein in der Halle. Feine Kerle, allemal! Noch behutsamer als bisher trabte er über den Korridor. Hier, über den Küchenräumen, lagen die Zimmer der Angestellten. Niemand zu sehen. Alles still und leer. Leise schlich Pipin weiter. Quer durch das Frühstückszimmer, das dem Speisesaal darunter entsprach, und war nun im Flur des Mittelbaues, vor dem Blauen Zimmer. Er warf einen Blick hinein. Aha, die Steppdecken sind mal wieder weg! Da hörte er in der Halle das blecherne Gelächter des Spuks, blieb stehen und horchte. Als das Gespenst ausgelachten hatte, trabte er weiter, am Gelben Zimmer vorbei. In der Nähe der großen Treppe verhielt er plötzlich den Schritt. Unten in der Halle unterhielten sich die Jungen. Aber sprach da nicht noch jemand? Natürlich! Oben, anscheinend in der zweiten Etage, flüsterte eine
Stimme! Pipin drückte sich an die linke Wand und schob vorsichtig an ihr entlang. Bückte sich und schaute um die Ecke nach oben, ins Treppenhaus. Schade! Von hier aus sah man bloß den Treppenabsatz. Er glitt ein Stück zurück und lief dann, dicht an der rechten Wand entlang, möglichst weit von der Treppe entfernt, durch die Diele. Trabte weiter über den Flur bis zu dem runden Turm. Hier begann eine eiserne Wendeltreppe. Auf allen vieren kroch Pipin hinauf, unendlich vorsichtig. Da war die Tür, die auf den Korridor des zweiten Stockwerks führte. Pipin blickte durch das Schlüsselloch. Seine Augen begannen zu glitzern, aber er verzog keine Miene. Im Hocksitz öffnete er leise die Tür, gerade so weit, daß er bequem durch den Spalt beobachten konnte. Einige Minuten später erhob sich Pipin, ging auf den Flur hinaus und trabte die große Treppe hinunter in die Halle. Im Rikschastil. Lächelnd näherte er sich den Jungen: »Kommt doch mal mit!« Auf dem Flur der zweiten Etage, links neben der Treppe, blieb der Gelbe stehen, legte den Finger auf den Mund und flüsterte jedem ins Ohr: »Nichts sagen und nichts anfassen!«, bückte sich und drückte auf eine Leiste der Wandtäfelung. Kaum hörbar surrend sprang eine Holzplatte zurück und gab den Blick frei auf eine Nische, etwa so groß wie ein Reisekoffer. »Ah!« machte René überrascht, trotz Warnung. Pipin drohte ihm wütend. Zwölf Augen bestaunten: ein Telefon mit vielen Hebeln daran, eine Menge großer und kleiner Schalter, auf denen rote Kontrollämpchen brannten. Ferner: einen kleinen Lautsprecher, Steckbuchsen mit seltsamen Aufschriften und säuberlich an der Wand aufgehängte Verbindungsschnüre. Wieder drückte Pipin auf die Leiste, die Holztäfelung schloß sich surrend. Noch einmal legte er den Finger auf den Mund, Schweigen fordernd, dann winkte er und ging voran, die Treppe hinab. Unten in der Halle öffnete er die große Flügeltür und führte die Jungen ins Freie. Auf dem Brunnendeckel sank Pipin in seinen asiatischen Hocksitz und sagte lächelnd: »So, jetzt könnt ihr reden!« »Tja, nun sag mal, Pipin, was ist das für ’ne Nische und wie hast du das Ding entdeckt?« platzte René sofort los. »Die hübsche Nische gehört unserm Spuk! Und gefunden hab’ ich sie ganz einfach. Ich bin im runden Turm die Wendeltreppe ’rauf
und hab’ durchs Schlüsselloch geschaut. Wen seh’ ich eifrig telefonieren? Was meint ihr?« »Sag schon!« »Jean-Baptiste!« »Nein!« »Doch, ganz bestimmt! Als der sogenannte Geist unten bei euch gerade mal wieder lachte, hab’ ich die Tür aufgemacht und zugeschaut. Er hat nichts gemerkt.« »Wer?« »Jean-Baptiste natürlich. Hängte das Telefon ein, ging zur Treppe und guckte durch das Geländer in die Halle ’runter. Dann hast du irgendwas gesagt, Maurice, was ihm gar nicht paßte. Der sogenannte Geist lachte wieder, im selben Moment raste der Diener zu seinem Kasten, fummelte an einem Schalter, und das Lachen hörte sofort auf. Dann telefonierte er noch mal, hängte ein und bewegte ein paar Schalter. Daraufhin donnerte und polterte es überall. Schließlich machte er den Laden dicht – ich hab’ mir genau angesehen, wie -und haute ab. Aber mit Vollgas. Ja, und dann hab’ ich euch geholt.« Maurice pfiff durch die Zähne. »Sieh mal an! Sieh mal einer an! Der gute Jean-Baptiste!« »Glaubst du, daß Jean-Baptiste der Spuk ist?« fragte André. »Das wäre aber sehr häßlich von ihm, seinen armen Herrn so zu quälen!« »Das wäre aber sehr häßlich von ihm!« ahmte René ihn nach. »Du mit deinem blöden Baharoff-Fimmel! Wir haben den Spuk so gut wie sicher, das ist viel wichtiger! Mensch, Jungens, haben die uns einen vorgezaubert! Mensch! Einen künstlichen, technischen Spuk haben die uns vorgesetzt! Jetzt brauchen wir bloß noch ’rauszukriegen, mit wem der Diener telefoniert hat, dann haben wir unser Geld verdient. Jungens, das kriegen wir auch noch hin.« »Moment mal, René, nicht so wild! Das mit dem technischen Spuk stimmt, und wir haben Grund, uns über Pipins Entdeckung zu freuen. Aber du sagtest selbst ganz richtig, wir brauchen ›bloß‹ noch ’rauszukriegen, mit wem Jean-Baptiste telefoniert – ja, was hast du denn, Tista?« unterbrach sich Maurice ein wenig ärgerlich, denn der Kleine schluchzte laut. »Seid doch mal still«, flehte Tista, »seid doch mal still!« »Warum denn?« »Ich hab’ Sasu gehöat!« »Ach, Unsinn, Tista! Du bist übermüdet. Gleich kommst du ins Bett!« Seppe wollte den Kleinen zu sich heranziehen, aber der
sträubte sich energisch und bettelte wieder: »Seid doch mal still! Mauhice, laß se doch mal still sein!« »Also schön, eher werden wir ja doch keine Ruhe kriegen. Seid mal einen Augenblick still!« Ein paar Sekunden lauschten sie. Dann hörten sie leise, aber ganz deutlich Sasus weinerliches Ma-au, mau! Tista überschlug sich förmlich: »Sasu! Sasu! Wo bisse denn? Sasu! Sasu!« »Verflixt!« schimpfte René und sprang vom Brunnendeckel herunter. »Wie kommt der preisgekrönte Dachhase in den Brunnen? Was macht der Bohnerbesen da unten? Frösche fangen, wie?« »Kaum«, meinte Maurice, »los, hebt mal den Deckel an!« Tista beugte sich über den Brunnenrand und stammelte zärtliche Lockworte in den schwarzen, hallenden Schacht. Laut klagend antwortete Sasu: Ma-oo! Ma-oo! »Holen gehn! Mauhice, holen gehn! Sofoat! Sofoat!« Er stampfte mit dem Fuß auf und zerrte wild an Maurices Manchesterhose. »Holen gehn! Arm Sasu! Sofoat holen gehn!« »Ist gut, Tista! Wir holen deinen Kater!« So viel rührende Anhänglichkeit stimmte selbst René weich. »Is kein Kater! Is ’ne Katze! Sofoat holen, Ené, ja?« »Jaja, sofort, Tista! In der Garage ist ’ne lange Leiter. Hoffentlich ist der Brunnen nicht so arg tief.« Die Leiter reichte aus. René zog sein Feuerzeug aus der Tasche und kletterte abwärts. Flackernd beleuchtete die kleine Flamme die mehr als zwei Meter weite Brunnenröhre. René war noch nicht ganz unten, da hörten die Jungen ihn leise sagen: »Ich werd’ verrückt! Nee, so was!« Er leuchtete mit dem Feuerzeug seitwärts, besah sich irgend etwas und murmelte dabei. Mit Sasu im Arm kehrte er zurück. Überglücklich nahm Tista seine Freundin in Empfang. »Jungens«, sagte René, seine Stimme war heiser vor Erregung, »bald werden wir wissen, mit wem der Opa telefoniert hat!« »Wieso?« »Geht mal ’runter! Ihr staunt vielleicht, sage ich euch! Da unten sind zwei Gänge! Gemauerte Gänge! Kreuzen sich hier im Brunnen! Einer läuft so!« René zeigte vom Küchengebäude bis zur Ruine gegenüber. »Der andere läuft so!« Er zeigte vom Mittelbau über den Brunnen hügelwärts. »Sasu war nicht im Brunnen, sondern im Gang. In dem zum Mittelbau hin. Da liegen übrigens allerhand Kabel an
der Decke!« »Ach nee!« Wieder einmal pfiff Maurice durch die Zähne. »Wir brauchen Lampen, René! Oder Kerzen!« »Kerzen gibt es in der Halle genug. André, Filou, kommt mit!« Mit einem Stoß bester gelber Wachskerzen kamen sie zurück. »Das reicht für ’ne ganze Prozession! Seppe, du bleibst bei Tista. Du auch, Filou!« »Immer ich!« maulte Filou, der mit einem Male keine Angst mehr kannte. Vier Jungens stiegen in den Brunnen, die brennenden Kerzen in der Hand. Die Leiter stand so, daß sie den Gang zum Mittelbau gut erreichen konnten. Sie krochen hinein und leuchteten ihn ab. Er war fast mannshoch, gut einen Meter breit und aus großem Bruchstein gemauert. »Tatsächlich! Ein dickes Kabel!« »Soll ich’s durchschneiden?« fragte René. »Auf keinen Fall! Es braucht niemand zu merken, daß wir die Gänge entdeckt haben. Wo führt das Kabel hin? Das ist nämlich viel interessanter!« Es führte aus dem Gang heraus, um den Brunnenschacht herum und verschwand in der jenseitigen Fortsetzung, die hügelab verlief. »Ich ahne Böses!« flüsterte Maurice, kletterte auf die Leiter zurück und leuchtete dem Kabel nach. »Dacht’ ich’s mir doch schier!« sagte er lächelnd. »Da drüben liegt so eine Art Brücke. Die sogenannte Geisterbrücke! Pipin, willst du mit André den Gang zum Haus ’rüber verfolgen? Seht doch mal nach, wo er endet und was sonst mit ihm los ist. Ich gehe mit René dem Kabel nach, ja?« »Ist gemacht, Maurice!« sagte Pipin ruhig. Er spürte, daß dieser Auftrag eine Auszeichnung war, fühlte deutlich, daß er in den Augen der Jungen erheblich Ansehen gewonnen hatte durch seine Entdekkung. Maurice und René stiegen hinüber auf die andere Seite. Da lag die Brücke: ein Steg aus dicken Bohlen, ungefähr einen halben Meter breit, auf einer Seite sogar mit einem Eisengeländer versehen. Sie lief über Rollen und ließ sich fast mühelos über den Brunnenschacht schieben. Langsam und möglichst geräuschlos gingen sie weiter vor. Die Luft war modrig und feucht. »Sieh mal, Maurice«, flüsterte René, »elektrische Beleuchtung
sogar!« Nach etwa dreißig Metern führte der unterirdische Tunnel leicht abwärts. Aha, der Hügel, dachte Maurice. Ich glaube, ich weiß jetzt schon, wo wir landen werden. Noch rund neunzig Meter legten sie zurück – sie kamen ihnen endlos vor –, dann standen sie vor einer festen, ziemlich neuen Tür. Ohne Klinke und ohne Schloß! »Wie kommen wir da ’rein?« wisperte René. Maurice zuckte die Achseln. Die Nische, die Pipin entdeckt hatte, fiel ihm wieder ein. Vielleicht gab es hier auch eine Leiste, auf die man nur zu drücken brauchte. Seine Augen suchten. Oben links, am äußersten Rand der Türfüllung, fand sich eine Stelle, die aussah wie angestückt. Maurice drückte darauf – sie wich nach innen, klick – die Tür öffnete sich. Der Raum dahinter war dunkel. René hob den Knüppel und wollte vorstürmen. Doch Maurice hielt ihn zurück und untersuchte die Türfüllung. »Hier, siehst du das Loch?« flüsterte er. »Genau wie das in der Halle, da, wo der Spuk kitzelig war. Wenn wir durchgegangen wären, hätte es todsicher Alarm gegeben.« »Ja, und jetzt?« Maurice lachte leise. »Durchkriechen, Mensch! Unter dem Loch vorbei. Nimm mal die Kerze!« Bückte sich und kroch auf allen vieren in den Raum, ließ sich beide Kerzen geben, damit René nachkommen konnte. Dann richteten sie sich auf und hielten die Kerzen hoch. Sie befanden sich in einem etwa sechs Meter langen und vier Meter breiten Kellerraum, in dem mehrere seltsame Tische standen. An der niedrigen, weißgekalkten Decke entlang liefen viele Kabel und Leitungen, in der rechten, hinteren Ecke erhob sich eine einfache hölzerne Stiege. Maurice näherte sich ihr. »Ziemlich sicher, daß da oben der Herr Spuk wohnt, was?« brummte René, so leise er konnte. Maurice nickte und stieg die Stufen empor. Der Aufgang war durch eine lukenartige Falltür verschlossen. Auch hier suchte er die bewegliche Leiste, fand jedoch keine. Ein paar Minuten lang horchte er angestrengt – nichts zu hören. Er ging wieder hinab und schaltete das elektrische Licht ein: starke Birnen erleuchteten den Keller. Rundherum an den Wänden, auf dem Boden, auf den Tischen unzählige technische Apparaturen. »’ne richtige Hexenküche!« brummte René. Maurice trat an einen der Tische und schaute verwundert auf die schräge Platte aus dickem
Milchglas. »Ob das ’ne Abhöranlage ist?« Er betrachtete die Zeichnungen und Inschriften auf der Glasscheibe. »Alle Zimmer sind drauf. Halle, Bibliothek, Baharoffs Schlafzimmer«, las er leise. »Toll, was?« René rollte die Augen; man sah ihm an, daß er sich keinen Vers drauf machen konnte. »Doch, ist sicher eine Abhöranlage!« meinte Maurice, als er keine Antwort bekam. »Guck: Mi, M2, M3 – das sind bestimmt die Mikrophone! In der Halle sind sogar sechs auf einmal, in den Zimmern zwei bis höchstens vier. Die blaue Schraffierung und die Pfeile geben die Reichweite an. Ich entsinne mich, so was Ähnliches schon mal auf technischen Zeichnungen gesehen zu haben.« René rollte die Augen und verstand Käsekuchen. »Und hier: Li, L2, L3 und so weiter: das sind die Lautsprecher, mit denen sie uns bange gemacht haben. In jedem, aber auch in jedem Raum eine Unmasse! Hier sind rote Striche dran, die bedeuten sicher, wie weit man das einzelne Ding hören kann, bei einer bestimmten Einstellung natürlich. Toll, was?« René grinste verständnislos. Er war zwar Techniker, aber das da ging zunächst mal über seinen Horizont. Für jedes Zimmer fanden sie auf der Platte zwei Kippschalter, einer mit einem blauen M, der andere mit einem roten L gekennzeichnet. Nach einigem Zögern legte Maurice in dem Kästchen ›Baharoffs Schlafzimmer‹ den Schalter M um. Der Zimmergrundriß leuchtete in blauer Farbe auf – und über sich hörten sie die Atemzüge des schlafenden Baharoff. Überrascht schauten sie zur Decke: das riesige, kreisrunde Ding war also ein Lautsprecher! »Hörst du ihn, René? Das ist der ›arme‹ Baharoff!« Feixend schaltete er aus und legte den Hebel M im Kästchen ›Blaues Zimmer‹ um.
Auch dieses schwarzumrissene Rechteck leuchtete blau auf, doch über ihnen blieb es still. »Keiner zu Hause! Damit haben die Schufte unsere Gespräche abgehört, auf Tonband aufgenommen und uns später wieder vorgespielt.« »Ah, soo!« In Renés »Gedächtnishalle« begann es zu dämmern. »Tja, jetzt kapier’ ich. Die können hier alles hören, was im Haus gesagt wird, und können auch wieder zurücksprechen oder sonst ’n Quatsch machen, nicht?« »Klar!« Gerade wollte Maurice ausschalten, da knarrte es im Lautsprecher, und Andrés Stimme ertönte: »Nein, wie raffiniert, Pipin! Ich kenne zwar das Leben, aber eine Geheimtür im Bücherschrank habe ich noch nicht gesehen! Hierdurch ist also der Spuk ins Zimmer gekommen? In der Tat höchst interessant. Warum machst du denn zu? Ach! Ich muß meinem Erstaunen abermals Ausdruck verleihen, daß man die Geheimtür auch von dieser Seite öffnen kann. Wie raffiniert! Und man sieht nicht das geringste. Zeig doch mal, wie du das gemacht hast. Wie? Bloß auf dieses Hölzlein drücken! Das…« »Nun halt endlich die Klappe André! Du redest einem Löcher in
den Bauch!« sagte Pipins wütende Stimme. Lächelnd schaltete Maurice ab. »Unser sonst so mundfauler Pipin scheint ja allerhand entdeckt zu haben!« »Scheint so. Kerl, Maurice, in was für ’ne Bude sind wir hier geraten? Geheimgänge, Geheimtüren, geheime Lautsprecher und Mikrophone, spukende Diener, und Baharoff soll ’n Lump sein – was ist hier bloß los? Gibt es denn hier keinen vernünftigen, ehrlichen Menschen?« »Ich weiß nicht, René. Wir werden ja bald erfahren, was in Sankt Augustin gespielt wird. Komm, wir verschwinden!« Maurice knipste das Licht aus und zog die Tür sorgfältig ins Schloß. »Soll’n wir nicht lieber Rabatz machen und den Spuk unsanft wecken?« »Das wäre so ziemlich das Verkehrteste, was wir tun könnten. Nein, nein, komm nur, der soll überhaupt nicht merken, daß er Besuch hatte.« Als sie aus dem Brunnen stiegen, war es bereits taghell. Kaltblau schimmerte der Himmel. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, doch der östliche Horizont leuchtete schon rötlichgelb. Maurice und René fröstelten, denn im Schacht war es modrig-warm gewesen. Ein sachter, kühler Windhauch kam vom Meer herüber. Da kam Pipin mit André. »Na, Pipin, wie viele Löcher hat dir André in den Bauch gefragt?« »Was? Wieso? Woher weißt du…?« Maurice erzählte vom Abhörtisch. »Jungens, das ist doch von höchster Interessantheit! Erzähl mal, wie war’s da unten?« André war völlig aus den Fugen, denn das Geld hatten sie ja nun so gut wie sicher. »Später, André. Pipin soll zuerst erzählen. Los, Pipin!« »Ja, viel ist da nicht zu erzählen.« »Doch«, unterbrach ihn André, »eine ganze Menge!« »Laß ihn erzählen, Mensch!« »Ja, also, der Gang endet im Keller. Nicht in dem, den wir kennen, sondern noch ein Stockwerk tiefer. Ja, und das drollige ist: da sind noch zwei Treppen! Wir sind beide mal ’raufgeklettert. Die eine ist im viereckigen Turm und geht bis oben hin. Die andere ist im runden Turm und geht nur bis zur zweiten Etage. Da ist ’ne Geheimtür, die geht auf die Wendeltreppe.« »Das ist total verrückt, Jungens! So was von Geheimtür! Das ist
’n richtiges Stück gemauerte Wand. Und das Stück dreht sich, wenn man die richtige Stelle erwischt!« »Muß komisch aussehen!« meinte Seppe. »Ist das denn nicht schwer zu bewegen?« »Ach nee, geht ziemlich leicht.« »Weiter, Pipin!« »Ja, und da, wo die Geheimtür ist, da fängt ein neuer Gang an, der waagerecht läuft. In der vorderen Wand vom Mittelbau, vom runden Turm bis zum viereckigen!« »Wie breit ist der Gang? Die Wand muß doch furchtbar dick sein?« »Breit ist er nicht, schmal. Man kann sich nur so seitwärts durchschieben. Und im viereckigen Turm stößt der Gang auf die Geheimtreppe, die bis oben hin geht. Ja, und von dieser Treppe aus kann man in das Blaue Zimmer kommen!« »Das hörten wir schon.« »Stellt euch mal vor: da ist eine Mauerlücke, da muß man ’reinfassen und einen Hebel umlegen. Und dann kann man die Tür bewegen! Und wo kommt man ’raus? fragte ich. Im Bücherschrank. Das heißt, quasi gewissermaßen neben dem Bücherschrank. Auf der andern Seite von der Geheimtür ist nämlich ein Stück von dem Bücherschrank draufgemacht und dreht sich mit.« André platzte fast vor Begeisterung. Mein Geld, dachte er, die Blumenkarre! »Merkst du was, Seppe? Weißt du jetzt, warum dein Bett am Fenster stehen mußte?« »Na klar!« »Weiter!« »Auf dieselbe Art kommt man in das Turmzimmer, neben dem Blauen Zimmer. Genauso auch in den Speisesaal darunter und in Baharoffs Arbeitszimmer.« »Sieh mal an! Hätte man dem alten Bau gar nicht zugetraut! Noch was, Pipin?« »Nein. Kabel und Fußspuren natürlich.« »Hast du mal in den Quergang ’reingeschaut, der vom Brunnen bis zur Küche und bis zur Ruine führt?« »Das haben wir gleich zu Anfang gemacht. Die sind beide verfallen; man sieht auch, daß da niemand durchgegangen ist.« »Sehr gut, Pipin!« Maurice nickte ihm erfreut zu. Wie zuverlässig und gewissenhaft Pipin arbeitet, dachte er. Wirft sich seit einigen
Tagen mächtig ins Geschirr! »Jetzt mußt du aber erzählen, was war bei euch los?« Maurice berichtete. »Großartig, Maurice! Meine Anerkennung! Die Spukzentrale wäre also entdeckt, die Brüder sind geliefert!« André legte die Hände auf den Rücken und machte ein Gesicht, als hätte er soeben einen Orden bekommen. »Die Sache hätten wir hervorragend gelöst!« »Nun schnapp bloß nicht über, Mensch!« deckelte ihn René. »Überführt ist der Herr Spuk noch nicht!« »Hm, allerdings. Ich erlaube mir die Frage, warum ihr nicht gleich weiter vorgestoßen seid und den Spuk ausgehoben habt. Wenn es sein mußte, mit unserer Hilfe, das heißt also: mit Gewalt! Wir müssen doch ’rauskriegen, wem der Keller gehört und wer hinter dem ganzen technischen Kram steckt. Jean-Baptiste traue ich das nicht zu!« »Ich auch nicht. Da ist noch jemand beteiligt, der sehr viel von Physik versteht. Aber mit Gewalt – nein, das hat keinen Sinn. René hat schon recht: wir müssen den Spuk überführen. Auf frischer Tat ertappen! Seine physikalische Majestät der Spuk soll uns in die Falle gehen!« »Wie willste das machen?« fragte Seppe. »Das weiß ich noch nicht, aber wir haben ja Zeit. Uns wird schon was einfallen. Bis dahin darf das sogenannte Gespenst nicht das geringste merken, ist das klar?« »Natürlich! Sonst geht er uns durch die Lappen!« »Richtig! Und dazu ist nötig, daß im Haus nicht ein Tönchen laut wird über unsere Entdeckungen. Alles, was wir sagen, wird abgehört, denkt daran! Achtet gegenseitig auf euch! Und du, Seppe, du nimmst Tista ins Gebet. Er darf keinesfalls davon sabbeln, daß wir die Katze aus dem Brunnen geholt haben!« »Wird gemacht, Maurice.« »So, und jetzt ins Bett! Ich bin müde wie ein Hund.«
Die Falle »Da kommt einer!« flüsterte Filou, zum Hügel hinaufblickend. Vorsichtig hoben die Jungen ihre Köpfe über die Weinstöcke, zwischen denen sie sich verborgen hielten. Gegen den helleren Nachthimmel zeichnete sich eine dunkle, näher kommende Gestalt ab. »Ja, Pipin«, bestätigte René, »so komisch geht nur Pipin.« Jetzt erst hörte man seine Schritte, Pipin trug Espadrilles: leichte Stoffschuhe mit Strohsohlen. Nun hatte er die Jungen entdeckt, die wie schwarze Klumpen am Boden hockten. »Jean-Baptiste ist weg!« sagte er leise. »Ganz sicher?« fragte Maurice. »Allerdings!« Der Gelbe zeigte grinsend die Backenzähne. »Ich hab’ mich auf den Brunnen gesetzt. Wenn er nämlich durch den Geheimgang abhauen wollte, mußte ihm vorher jemand die Brücke ’rüberschieben, und das hätte ich gehört. Wenn er aber oben ’rum ging, mußte er über’n Hof. So war’s denn auch! Als es halb zwölf schlug, machte er in seinem Zimmer das Licht aus. Kurz darauf kam er leise aus der Hoftür, guckte sich um und ging schnell ’runter zum Drahtzaun – ich natürlich hinterher – und verschwand in dem kleinen Häuschen am Abhang, drüben auf der anderen Seite.« »Gute Idee, Pipin! Besser noch, als sich im Flur zu verstecken. Fein gemacht!« Anerkennend nickte Maurice ihm zu. »Jungens, zu den Waffen!« Sieben Eichenknüppel wurden geschwungen, denn sogar Tista war bewaffnet. Er hatte Seppe so lange in den Ohren gelegen mit seinem »Ich will auch das Spuk vahauen!«, bis der ihm eine dünne Gerte abschnitt. Sieben Jungen setzten sich in Bewegung, hügelaufwärts. Seit einer halben Stunde hatten sie im Weinberg unterhalb des Schlosses in Bereitschaft gelegen. Es hatte keine vierundzwanzig Stunden gedauert, einen gemeinsamen Schlachtplan zu entwickeln. Den ganzen Nachmittag über war am Strand der »Film« eingeübt worden, der nun abrollen sollte. Die erste Szene spielte in der Halle, dorthin waren sie unterwegs. Träger der Hauptrolle: Seppe Palotti, ein Star, ein Meister seines Fachs! Mindestens ebensogut wie stehlen konnte Seppe Geräusche und Stimmen nachahmen; auf diese Fähigkeit allein gründete sich der Schlachtplan, stand und fiel also mit seiner Leistung. Das schwarzgelockte Bählämmchen war dementsprechend stolz und aufgeregt. Tista war sein Partner – schauspielerisch hochbegabt
Tista war sein Partner – schauspielerisch hochbegabt übrigens – und machte begeistert mit. Laut trampelten sie in die Halle. Maurice beugte sich zu dem Kleinen herunter und flüsterte: »Los, Tista, fang an!« Tista zog sein braunes Stumpfnäschen kraus und nickte spitzbübisch. »Seppe«, knutterte er, »ich hab’ so Angst! Gleich kommt das Spuk wieda!« Seppe beruhigte ihn mit seiner natürlichen Stimme, sprang dann blitzschnell ein paar Schritte seitwärts, um aus einer andern Richtung mit einer andern Stimme zu sprechen. Täuschend ähnlich ahmte er Maurices dunklen Bariton nach, traf genau den nordfranzösischen Tonfall und sagte: »Komm mal her, mein Kleiner, ich erzähl’ dir eine schöne Geschichte!« »Nee, nee, Mauhice«, antwortete Tista prompt und warf dem echten Maurice einen schelmischen Blick zu, »ich bleib’ bei Seppe! So Angst!« Die Jungen lächelten und nickten zufrieden. Maurice winkte ab, die Knüppelgarde schlich auf leisen Sohlen davon. Die Sache scheint zu klappen, überlegte Maurice, während sie die Kellertreppe hinuntergingen. Die Gebrüder Palotti ersetzen uns vollkommen. Wenn wir etwas Glück haben, merkt der Herr Spuk sicher nicht, daß wir ganz woanders sind. In dem von Pipin entdeckten zweiten Keller postierten sie sich neben dem Eingang des Geheimschachts. René leuchtete mit einer Kabellampe, die er im oberen Keller eingestöpselt hatte. Die Lampe stammte aus der Garage, ihre Zuführungsleitung war am Nachmittag vorsorglich um das Doppelte verlängert worden. Nun drückte er sie Filou in die Hand und brummte ihm ins Ohr: »Also, wenn ich ›sst‹ mache, knipst du an, klar?« Filou nickte. »Gut, mach aus!« Es war zehn Minuten vor zwölf Uhr. »Und wenn nun hier doch ’ne Abhöranlage ist?« wisperte Pipin dem neben ihm stehenden Maurice zu. »Was dann?« »Daran denk’ ich die ganze Zeit schon! Aber ich sagte ja, soweit ich mich entsinne, waren auf dem Abhörtisch nur zwei Kellerräume aufgemalt: der Weinkeller und der daneben, in dem sich der elektrische Zähler befindet. Das tiefere, zweite Kellergeschoß, in dem wir jetzt sind, war überhaupt nicht drauf – meine ich wenigstens. Na, wir werden ja sehen!«
Gespannt und erregt warteten sie in der lautlosen Finsternis. Es war abgemacht, daß kein unnötiges Wort gesprochen werden sollte. Als um zehn Minuten nach zwölf feststand, daß der Spuk heute nicht, wie an den Tagen vorher, pünktlich zur Geisterstunde ein Vorspiel geben würde, flüsterte Maurice: »Hinsetzen!« Kniegelenke knackten, die Jungen hockten nieder. Unendlich langsam verstrich die Zeit. Alle drei bis vier Minuten schaute Maurice auf die Leuchtzeiger seiner Uhr. Das Warten war qualvoll. Daß der Spuk ausgerechnet heute so spät kommen muß! Kann unter Umständen noch Stunden dauern, bis… Oder -sollte er was gemerkt haben? Vielleicht hat Seppe nicht richtig gespurt, vielleicht ist hier doch ein Mikrophon, und man weiß längst Bescheid? Er schnaufte aufgeregt. Ein fernes Rumpeln und Bollern. »Auf!« zischte Maurice. »Achtung!« Und in einem Anfall von nervöser Lustigkeit flüsterte er kichernd: »Das war Tistas BummBumm! Die Brücke!« Leises Trappen und Scharren kam näher, wurde lauter. Noch lauter schienen ihre Herzen zu klopfen; sie standen sprungbereit, die Köpfe geduckt. Ein Lichtschein drang durch den Türspalt. Hoffentlich klappt alles! Hoffentlich klappt alles! Hoffentlich gehen sie uns nicht durch die Lappen, hoffent… Da wurde die Tür geöffnet, der Strahl einer Taschenlampe fiel in den Raum. Zwei Männer! »Sst!« machte René. Knips! Die Kabellampe verbreitete blendende Helligkeit. Erschrocken zuckten die beiden Männer zurück und suchten in den Schacht zu entkommen, doch René und Pipin standen bereits mit geschwungenen Knüppeln vor dem Eingang, und Maurice und André hielten sie fest. Der eine der beiden war Jean-Baptiste. Ergeben in sein Schicksal, drehte der alte Mann sich um, knickte in die Knie, seine Arme baumelten, als gehörten sie ihm nicht; sein Gesicht verfiel, wurde rissig und faltig wie alte, ausgetretene Schuhe. Er seufzte. Wer war der andere? Er trug ein weites, weißes Kostüm, das den Kopf verdeckte, und hatte einen Totenkopf unter dem linken Arm. »’n Abend, Herr Spuk!« sagte René bissig, faßte den Zipfel seines weißen Gewandes und zog es dem Träger vom Körper. »Ich werd’ wahnsinnig!« sprudelte er überrascht hervor. »Der falsche Polizist von der Kreuzung! Der livrierte Chauffeur! Und der
Herr Kollege spukt im Nebenberuf? Nein, wie fleißig! Und das hübsche Totenköpfchen extra mit Leuchtfarbe angepinselt?« »Hör auf, René! Dafür haben wir jetzt keine Zeit.« Zu den Männern gewandt, die beide stumm – der eine traurig, der andere haßerfüllt – zu Boden blickten, fuhr Maurice fort: »Wir müssen Sie für eine Weile kampfunfähig machen, aber ich verspreche Ihnen, daß wir Sie so bald als möglich erlösen werden.« Auf seinen Wink zogen die Jungen Stricke, Schnüre und Tücher aus den Taschen und fesselten die Männer an Händen und Füßen. Maurice machte Knebel und schob sie den beiden in den Mund. »Bekommen Sie genügend Luft?« Jean-Baptiste nickte bekümmert; man merkte, daß ihm die Situation äußerst würdelos vorkam. Der falsche Polizist wackelte erbittert, aber bejahend mit seinem runden, fleischigen Schädel. »Ich möchte bloß wissen, ob mir einer von denen hier die Ohrfeigen verpaßt hat!« sagte René und durchbohrte die Gefesselten mit bösen Blicken. »Später, René!« »Ich möcht’ es aber verflixt gern wissen!« »Komm, wir haben keine Zeit zu verlieren! – Achte gut auf unsere Schützlinge, Filou! Falls sie sich mucksen: ein Pfiff aus der Trillerpfeife genügt! – Ich rate Ihnen jedoch, sich ruhig zu verhalten, meine Herren«, redete Maurice den Gefangenen gut zu, »sonst werden wir unangenehm!« »Sehr unangenehm!« brummte René und betrachtete liebevoll seinen Eichenprügel. Filou blieb als Wächter bei den gefesselten »Gespenstern« zurück, Maurice, André, René und Pipin verschwanden im Gang. Lautlos schlichen sie über die Brücke, über den Gang bis zur Tür.
Das war die zweite Szene, dachte Maurice. Hat über Erwarten gut geklappt. Und nun die dritte und letzte, die wir selbst noch nicht kennen. Was wird sie bringen? Wer sitzt hier hinter dieser Tür? Er reckte sich und drückte auf die Leiste in der linken oberen Ecke. Klick! Maurice schob den Türflügel beiseite, verhielt im Eingang und blickte in den hell erleuchteten Raum. Neben ihm drängten sich die übrigen Jungen. Zwischen den Tischen, mit dem Rücken zu ihnen, saß ein junger Mann. Er trug Kopfhörer, knipste auf dem linken Tisch Schalter und Relais ein, drehte verschiedene Knöpfe, schob dann die Kopfhörer hoch, drückte auf dem Abhörtisch rechts den Knopf M im Rechteck »Halle« und hörte vergnügt seinem eigenen Zauber zu, der aus dem Lautsprecher ertönte: Heulen, Pfeifen, Stimmengetöse. Maurice blickte den drei Jungen ins Gesicht, sie nickten ihm zu, ihre Augen blitzten. Auch sie hatten den Mann erkannt: es war der Blonde, der ihnen in Marseille die falsche Auskunft gegeben hatte. Rachelüstern zuckte Renés erhobener Knüppel. Wieder schaltete der Mann, die Geräusche hörten auf. Jetzt drückte er den Kippschalter und rief: »Methusalem! Methusalem! – Warum meldet der sich nicht? – Hallo, Methusalem! – Wo bleibt der?« »Das können wir Ihnen sagen!« meinte Maurice und trat einen Schritt vor. Entsetzt fuhr der Blonde herum, starrte die vier Jungen entgeistert an. Zehn Sekunden lang fiel kein Wort. Der Mann wurde blutrot und sofort danach schneeweiß. Immer noch starrte er. Dann riß er die Kopfhörer von den Ohren und stand auf. »Aus!« Er seufzte wie Jean-Baptiste.
»Sie haben großartig gearbeitet, alle Achtung!« Er versuchte ein Lächeln, zündete sich eine Zigarette an und machte ein paar tiefe Züge. Die Jungen schauten ihm schweigend zu. Ganz wohl war ihnen nicht zumute, obgleich sie doch hätten triumphieren können, aber das tat nicht einmal André. Er dachte zwar an sein Geld, das nun endgültig verdient war, und freute sich, doch die Niedergeschlagenheit, die sich auf dem Gesicht des Ertappten malte, blieb auch auf ihn nicht ohne Eindruck. »Das war also der Spuk«, sagte Maurice. »Ja, das war er! Ich glaube, ich bin Ihnen einige Erklärungen schuldig für mein oder – besser gesagt – unser merkwürdiges Verhalten. Bitte, setzen Sie sich doch, so gut es hier geht! Wollen Sie die Güte haben, mir fünf Minuten Gehör zu schenken, ehe Sie Baharoff Ihren Sieg melden?« René ließ sich auf einen Hocker fallen und brummte mißtrauisch: »Schmieren Sie uns bloß nicht wieder an!« »Nein, diesmal gewiß nicht, René! – Nicht wahr, Sie sind doch René? Ich erkenne Sie an der Stimme«, fügte er erklärend hinzu. »Übrigens: Was haben Sie mit Jean-Baptiste und Gaston gemacht?« »Gefangen«, erwiderte Maurice lakonisch. »Hol sie her, René, und bring’ die andern Jungen mit.« »Gut, warten wir so lange. – Sie haben mich hübsch hinters Licht geführt, alle Achtung vor Ihrem Imitator in der Halle! Der Mann ist Geld wert.« Er schaltete auf dem Abhörtisch noch einmal »Halle« ein. Im Lautsprecher hörte man »André« sagen: »Wir können jetzt quasi gewissermaßen mal was anderes tun als warten, nicht wahr, Maurice?« Und »Maurice« antwortete: »Werd nur nicht ungeduldig!« Dann hörte man »René« wütend drohen, er werde sich für die drei Knallzigarren fürchterlich rächen. »Toll!« sagte der richtige André. »Seppe ist in der Tat ein Pännemen…« »Phänomen«, verbesserte Maurice. »Eben, das sagte ich ja. – Und wie ist das möglich, daß man dieses hier so gut hört?« »Sehr einfach: durch Mikrophone! Hier, hören Sie sich mal Baharoff an, der hat Besuch von einem sogenannten Rechtsanwalt.« Der junge Mann drückte den Knopf M in »Arbeitszimmer«. »… was Sie sagen wollen, lieber Grimard – ö!« schallte es aus dem Lautsprecher. »Natürlich, es ist eine Bande schmutziger Straßenjungen, aber – ö, was sollte ich machen? Die teuren Fachleute
haben versagt – ö, total versagt! Niemand anders meldete sich als diese Bande, mußte ich nicht wenigstens den Versuch machen? Den letzten Versuch – ö? Sollen sich ruhig eine Zeitlang im Schloß herumtreiben – ö, wenn sie nur den Spuk beseitigen, dann will ich sie gern noch eine Weile ertragen – ö. Mut haben sie nämlich, wie -ö –, wie – ö – Löwenbändiger!« Ein boshaftes Kichern, dann eine fremde Stimme: »Haben ja auch nichts zu verlieren.« »Sehr richtig – ö! Sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben, werde ich sie ’rauswerfen. Marseiller Gesindel – ö! Sogar Farbige: ein Chinese, ein Neger! Und dann dieser dreckige Armenier – ö! Sieht aus, als ob er Läuse hätte – ö – entsetzlich! Nachher bin ich den Spuk los und habe Ungeziefer dafür eingetauscht.« »Wäre schon möglich, hihihi!« »Zum Glück sind sie dumm, diese Burschen – ö! Dumm wie Bohnenstroh, haben keinerlei Vertrag mit mir! Beseitigen sie den Spuk wirklich, drücke ich ihnen ein Trinkgeld in die Hand, keineswegs die versprochene Summe – ö, versteht sich! Und dann fliegen sie ’raus, hähä!« Maurice winkte, der Lautsprecher wurde ausgeschaltet. »Netter Mensch, dieser Baharoff, was?« Seine Mundwinkel kräuselten sich verächtlich. »Prima Kerl!« schnaubte Pipin aufgebracht. »Er hat recht, der Gute: geschäftlich sind wir nicht auf der Höhe. Bevor wir ihm irgendwas verraten, machen wir einen Vertrag, das dürfte klar sein! – Vielen Dank übrigens«, fuhr Maurice, an den Jungen Mann gewandt, fort. »Ihre komische Anlage hat auch entschieden gute Seiten! Monsieur gedachte also, uns zu betrügen! Na, den Spaß werde wir ihm verderben! Und was er sonst noch von uns denkt, das kann uns Wurscht sein, nicht wahr?« Er blickte Pipin an, der seine braunen Hundeaugen zu ihm aufschlug und wie immer gleichmütig lächelte. »Oder was meinst du? Bist du beleidigt, weil dieser Schuft dich wegen deiner Hautfarbe verachtet?« »Och.« Pipin hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich bin Franzose. Daß ich gelb und schlitzäugig ausgefallen bin, dafür kann ich nicht. Wozu soll ich mich darüber aufregen, wenn ihm meine Tapete nicht gefällt? Ich will sie ihm ja nicht verkaufen.« »Und was meinst du?« André antwortete nicht sofort. Mit hochrotem Kopf schaute er vor sich hin. Das ist also der »arme Baharoff«, wie ich ihn immer ge-
nannt habe! Ein gemeiner Mensch, wollte uns das schwerverdiente Geld nicht geben. Welch ein Glück, daß wir sein Gespräch belauscht haben! Mir wurde ganz schwach, als er sagte, er wollte uns nur ein Trinkgeld geben. Nein, Maurice ist wirklich kein Kaufmann. Drekkiger Armenier hat er mich genannt, dieser Frechling, dieser Betrüger! Dabei wasche ich mich zweimal täglich! Läuse! Nie gehabt. So etwas von Gemeinheit spottet jeglicher Beschreibung. Dreckiger Armenier! »Nun red mal endlich, André, und mach dir vor allem nichts draus!« »Tue ich auch keineswegs. Ich zähle mich ebenfalls zu den Franzosen! Ich erblickte in Marseille das Licht der Welt, welches amtlich feststeht. Daß mein Vater aus Armenien geflohen ist, weil damals die Armenier wegen ihres christlichen Glaubens von den Türken verfolgt wurden, gibt Herrn Baharoff keineswegs das Recht, mich zu verachten. Ich möchte einmal die Frage gewissermaßen aufwerfen, ob die vielen tausend Franzosen armenischer Herkunft etwa schlechter sind als andere?« »Bestimmt nicht, André!« fiel der junge Mann ein. »Wer einen Menschen deswegen verachtet, weil er einem andern Volk angehört, beweist damit nur dünkelhaften Hochmut. Alle Menschen sind Brüder und Schwestern einer einzigen Familie. Das heißt nicht, daß man die Unterschiede übersehen soll, wohl aber, daß man in jedem Menschen, ganz gleich wie er aussieht und wo er herkommt, seinen Verwandten sehen und ihn dementsprechend behandeln soll.« »Eben! Und der Name Baharoff klingt auch nicht astrein französisch!« grollte André. Jean-Baptiste, Gaston und die restlichen Jungen kamen herein. »Du«, sagte René und zeigte auf Gaston, »das ist Baharoffs Chauffeur, der im Sanatorium liegt! Alles Schwindel hier, nix wie Schwindel!« »Das mußten wir so einrichten, René! Wo Sie zu sieben Mann aufkreuzten, brauchten Jean-Baptiste und ich Unterstützung. Also wurde Gaston vom Spuk verletzt! – Darf ich Sie nun bitten, mir in das Wohnzimmer zu folgen?« Während Maurice die Stiege hinaufging, überlegte er, wo er Gaston, den Chauffeur mit dem unverkennbaren Marseiller Dialekt, früher schon gesehen habe. Bereits neulich, als Gaston den Polizisten an der Kreuzung spielte, war er ihm bekannt vorgekommen. Die große, kräftige Figur, der runde Schädel, die hellgrauen Augen –
woher kannte er diesen Mann? »Bitte, nehmen Sie Platz!« Das Zimmer war eng und niedrig, nicht mit denen des Schlosses zu vergleichen, aber es wirkte gemütlich und anheimelnd. Die Jungen setzten sich, Jean-Baptiste und Gaston blieben stehen. Die Gesichter der beiden waren noch immer tief bekümmert. »Bitte, Methusalem, bring uns was zu trinken!« sagte der Blonde und lächelte dem alten Diener aufmunternd zu. »Sehr wohl, Herr Graf!« antwortete Jean-Baptiste mit Betonung. Sein Gesicht verlor die Kummerfalten und wurde dienstlich, sein Körper straffte sich. »Graf?« staunte André. »Ach so, Sie wissen noch nicht, wen Sie gefangen haben: ich bin Franz Graf von St. Augustin und Trayas.« »Der Sohn von dem Alten, der das Schloß verkauft hat?« platzte Seppe heraus. »Ganz richtig! Damit wären wir schon bei dem, was ich erzählen wollte. Gaston«, unterbrach er sich, »setzen Sie sich doch! Unser Besuch beißt sicher nicht.« »Nee, nicht unsere Angewohnheit. Komm her, Kollege!« brummte René und rückte auf der Couch ein wenig beiseite. »Ja, also«, fuhr der Graf fort, »damit Sie verstehen, um was es geht, muß ich so ziemlich bei Adam und Eva anfangen.« »Wie? Was? So lange wohnen Ihre Vorfahren hier schon?« staunte André und nahm gleichzeitig Seppe das silberne Feuerzeug aus der Hand, mit dem der König der Diebe spielte, setzte es mitten auf den Tisch und blickte Seppe drohend an. Der wurde rot und steckte die Hände unter den Tisch. »Nein, so lange nun gerade nicht«, erwiderte der junge Graf schmunzelnd, »aber immerhin seit fast vierhundert Jahren.« »Oh!« André war tief ergriffen. Das war richtige Vornehmheit! Was anderes als so ein hergelaufener Baharoff. »Die Sache begann vor rund acht Jahren damit, daß eines Tages ein Häusermakler auftauchte, der meinem Vater das Schloß abkaufen wollte. Der Mann bot einen guten Preis, aber mein Vater dachte nicht daran, zu verkaufen. So alten Familienbesitz gibt man nun einmal nicht her.« »Da haben Sie recht!« brummte René. »Unser Hof zu Hause ist nicht groß, und reich kann man da auch nicht werden, aber seit 1687
sitzen die Forgerons drauf. Meinen Sie, mein Vater tat’ den verkaufen? Nie!« Der junge Mann nickte zustimmend. »Sie verstehen das also! Nun, reich konnte man auf St. Augustin auch nicht werden. Es ging sogar recht knapp bei uns zu, was, Methusalem?« »Allerdings, Herr Graf!« »Mach doch keinen Zauber, Alter! – Sonst sagt er nämlich Franz zu mir, und das finde ich viel schöner. Als ich geboren wurde, war Jean-Baptiste schon sechsundzwanzig Jahre bei uns. Prost, altes Familienübel! Prost, Jungens!« »Prost, Herr Graf! – Komm, Opa, trink auch einen, im Keller war’s verteufelt kühl.« »René fließt mal wieder über vor Güte, nicht wahr?« meinte André und grinste überlegen. Der Graf trank ihnen lächelnd zu. »Nun, es ging recht bescheiden her bei uns«, fuhr er fort. »Wir mußten vom Ertrag unserer Weinberge leben und das Schloß erhalten. Als Verwalter hatten wir einen tüchtigen Winzer, die übrigen Arbeiten machten wir so ziemlich selbst. Rebenschneiden, zum Beispiel, und Düngen haben mein Vater, Jean-Baptiste, Gaston und ich zusammen mit dem Verwalter Punaise gemacht. Nur bei der Weinlese stellten wir tageweise ein paar Leute ein.« »Es war eine herrliche Zeit!« schwärmte Jean-Baptiste. »Das Arbeiten in frischer Luft war so gesund, nicht wahr, Gaston? Du warst damals viel schlanker!« Der Chauffeur knurrte nur. »Die beiden sind ebenso nett zueinander wie Sie, André und René«, sagte der Graf, »zanken sich ewig! – Wo waren wir denn?« »Bei Punaise«, erinnerte Jean-Baptiste. »Hm, Punaise.« Das Gesicht des jungen Mannes wurde ernst. »Ein halbes Jahr später mußten wir den Mann entlassen. War bis dahin tadellos gewesen, nun fing er mit einem Male an zu trinken, tat nichts mehr, wurde frech und unausstehlich. Vier Monate später stürzt der neue Winzer, ein junger Mann aus dem Dorf, morgens zu meinem Vater und schreit: ›Die Reben sind kaputt!‹ Man hatte uns über dreitausend Rebstöcke abgehackt!« »Eine Büberei, eine Schandtat!« entrüstete sich André. »Das war doch sicher dieser Punaise, nicht wahr? Ich bin ihm neulich mal begegnet.« »Wir haben natürlich auch sofort gedacht: ein Racheakt von Punaise! Aber der Mann hatte eine Reihe Zeugen dafür, daß er in der
fraglichen Nacht in Marseille gewesen war. Es kam nie heraus, wer die Reben abgeholzt hatte.« »Manchmal ist die Polizei wie vernagelt.« Seppe grinste verschmitzt, er schien einige Erfahrungen zu haben. Wieder blickte André ihn drohend an. Der Lümmel blamiert die Innung, dachte er. »Na, um es kurz zu machen: unsere Existenzgrundlage war hin, wovon sollten wir jetzt leben? Geld für neue Weinstöcke hatten wir nicht. Mein Vater war verzweifelt. Eine Woche später erschien Baharoff, sagte, er hätte in der Zeitung von der Geschichte gelesen, machte großes Theater und tat furchtbar empört über die ›ö – entsetzliche Tat‹. Und dann bot er freiwillig Geld an zu sehr günstigen Bedingungen. Einen so verdienten Mann wie meinen Vater – der alte Herr war Vorsitzender der Landwirtschaftskammer und Präsident von allen möglichen Vereinen – könne man doch nicht sitzenlassen, meinte er.« »Kannte Ihr Vater Herrn Baharoff?« fragte Maurice. »Ganz flüchtig. Auf irgendeiner Tagung hatten sie sich mal gesehen. Deswegen wollte er das Geld zunächst nicht nehmen, sondern bemühte sich um einen Bankkredit. Aber er bekam keinen. Überall hörte er nur Ausflüchte, die Zeiten seien schlecht, die Sicherheit nicht ausreichend, Weinberge in dieser Gegend nicht genügend ertragreich und so weiter. Seit längerer Zeit schon wissen wir, daß Baharoff überall Gerüchte ausgestreut hatte über unsere enormen Schulden und unsere großen Ansprüche, da gab uns natürlich niemand was! Schließlich war also Vater gezwungen, Baharoffs Geld zu nehmen, dreißigtausend Franken, zu ganz geringen Zinsen. In dem Vertrag stand, daß Baharoff das Darlehen nur kündigen könne, wenn er selbst in Schwierigkeiten gerate. Klingt überaus menschenfreundlich, nicht wahr? Doch gerade das hätte meinen Vater stutzig machen müssen, aber der war viel zu anständig, um einen Schwindel zu vermuten.« »Schwindel? Ich finde in der Tat, daß Monsieur Baharoff großzügig gehandelt hat!« »Warten Sie nur ab, André, es geht weiter! – Die Summe, dreißigtausend Franken, wird Ihnen ziemlich hoch vorkommen, aber wir brauchten ja nicht nur neue Reben, sondern mußten schließlich auch leben, bis die neuen Stöcke trugen, und das dauert bekanntlich drei Jahre. Außerdem sollte ich studieren. Nun, unser Hügel wurde neu bepflanzt, ich fuhr nach Paris, zur Universität. Es waren noch keine zwei Jahre vergangen, da erschien Baharoff wieder, jammernd und
wehklagend, in Sack und Asche sozusagen.« Der junge Graf machte eine Pause und blickte mit düsterer Miene vor sich hin. »Und?« brummte René auffordernd. »Ja, unser guter Baharoff gestand weinend, daß er ein armer Mann geworden sei! Das Schicksal hatte ihn schwer getroffen, die schriftlichen Beweise dafür hatte er gleich mitgebracht. Eine Fehlspekulation hatte ihn sein Barvermögen gekostet; ein Schiff, das ihm zum Teil gehörte, war untergegangen; eine Aktiengesellschaft hatte mit seinem Gelde Pleite gemacht! Traurig, nicht wahr? Fehlte nur noch, daß seine Kragenknöpfe vom Blitzschlag getroffen worden wären.« »Und dann?« »Und dann« – der Graf machte eine bedauernde Handbewegung – »dann mußte er, so schwer es ihm auch fiel, das Darlehen kündigen. Wegen persönlicher Notlage! Er brauchte das Geld leider selbst, um sich eine neue Existenz aufzubauen.« »Ich gehe wohl kaum fehl in der Annahme, werter Herr Graf, daß Sie Monsieurs Angaben wenig Glauben geschenkt haben, nicht wahr?« »Wenig Glauben? Na, hören Sie mal weiter! Mein Vater bemühte sich wieder um einen Kredit, lief sich die Hacken ab. Aber die Zeiten waren immer noch schlecht, keiner von seinen Freunden hatte soviel Geld flüssig, und die Banken gaben ihm nichts. Hoffnungslos! Was blieb ihm anderes übrig, als schließlich das Schloß mit den Weinbergen drum herum zu verkaufen?« »Das war hart, wie?« »Hart? Als mein Vater hier ausziehen mußte, war er ein Wrack. Eine Maklerfirma aus Nizza kaufte St. Augustin für einen Pappenstiel: für zehntausend Franken! Mindestens das Zehnfache wäre angemessen gewesen, aber es fand sich kein anderer Käufer. Mein Vater zog nach Fréjus zu einem Freund und starb dort, knapp ein Jahr später. Ich stand kurz vor dem Examen damals.« »Und das Schloß?« »Drei Monate blieb es leer, dann wurde es einen Monat lang renoviert. Und wer zog ein?« »Baharoff?« »Ja! Der plötzlich arm gewordene Baharoff war ebenso plötzlich wieder reich genug, das Schloß zu kaufen und herzurichten!« »Das gibt allerdings zu denken!« André rieb sich das Kinn. »Ziemlich dicker Hund!« brummte René.
»Nicht wahr? Ich nahm mir den geschicktesten Marseiller Rechtsanwalt…« »Etwa Monsieur Delattre?« »Ja, kennen Sie ihn?« »Allerdings! Einer meiner Stammkunden.« André faltete die Arme vor der Brust und setzte eine bedeutsame Miene auf. »Delattre tat, was er konnte, mußte jedoch bald feststellen, daß rechtlich nichts zu machen war. Baharoffs Angaben stimmten anscheinend; es war ihm nicht nachzuweisen, daß er das Ganze inszeniert hatte, um sich in den Besitz des Schlosses zu setzen. Dennoch blieb ich mißtrauisch.« »Glauben Sie, daß Baharoff die Reben abholzen ließ?« fragte Maurice, lebhaft interessiert. »Ich möchte nichts behaupten, was ich nicht beweisen kann! Gut möglich, daß er nur die Lage ausnutzte, daß die Tat ihm sehr gelegen kam. Er hatte nun mal ein Auge auf St. Augustin geworfen; er war es auch, der vor acht Jahren den Grundstücksmakler zu meinem Vater schickte, das hat mein Detektiv inzwischen herausbekommen.« »Sie glauben also keinesfalls an Baharoffs plötzliche Armut und an sein ebenso plötzliches Wiederreichwerden, obgleich Ihr Anwalt feststellen mußte, daß seine Angaben richtig waren?« »Nein, Maurice, daran kann ich nicht glauben und Rechtsanwalt Delattre auch nicht! Baharoff hat das alles nur vorgetäuscht, aber er ist so raffiniert, daß man ihn nicht packen kann.« »Das ist Ihre Meinung, Herr Graf! Einen Beweis dafür haben Sie jedoch nicht, oder?« fragte André etwas spitz. »Keinen, der vor Gericht schlüssig wäre – das stimmt. Doch genügend, um zu wissen, daß Baharoff uns betrogen hat! Erst hat er auf normalem Weg versucht, St. Augustin zu bekommen – das beweist sein Interesse. Und wer kaufte schließlich das Schloß? Ich sagte vorhin: eine Firma aus Nizza. Und wer gab den Auftrag dazu? Natürlich nicht Baharoff – so dumm ist er nicht –, sondern Herr Grimard, den Sie eben im Lautsprecher hörten. Grimard, ein Rechtsanwalt ohne Zulassung, eine trübe Figur, die Baharoff gelegentlich als Strohmann benutzt! Außerdem besitzt der Mann, nach meinen Erkundigungen wenigstens, überhaupt keine zehntausend Franken, sondern hat mehr Schulden als ein Jagdhund Flöhe! Und dann die Sache selbst! Die riecht ja förmlich nach Betrug!« Der Graf hatte sich in zornigen Eifer geredet! »Nun ja, sie ist zweifelsohne etwas verdächtig«, meinte André,
zog die Augenbrauen empor und wackelte mit dem Wasserkopf. »Doch ich kenne das Leben, und ich muß sagen, mir sind Fälle von schnellem Reichtum bekanntgeworden. Warum sollte er nicht? Baharoff ist sicherlich ein guter Geschäftsmann.« »Sogar ein so guter, daß er uns um die Belohnung betrügen wollte!« fuhr Pipin boshaft fort. Andrés Augenbrauen rutschten nach unten, sein Gesicht wurde finster. »Und dann haben Sie gespukt? Sie wollten ihn wohl ’rausekeln, was?« fuhr Pipin grinsend fort. »Nein, damit begann ich erst später. Ich machte zunächst Examen…« »Was haben Sie denn eigentlich studiert?« fragte Maurice. »Physik, Spezialgebiet Hochfrequenztechnik.« »Aha!« »Ich bekam eine Stelle beim Rundfunk und lernte ein Jahr lang Geräusche mischen und sonstige akustische Spaße.« »Aha! Wir können Ihnen bestätigen, daß Sie gut aufgepaßt und viel gelernt haben!« »Danke schön, Maurice!« Der Graf lächelte ein wenig bekümmert. »Sagen Sie das dem Chefingenieur von Radio Paris, wenn Sie ihn mal sehen! Der raunzte mich nämlich zuweilen an, wenn ich nicht ganz bei der Sache war. Kein Wunder: ich dachte ständig darüber nach, wie ich das Schloß wiederkriegen könnte. Irgendwann, als ich mal eine Geräuschkulisse aufnahm, kam mir damals schon die Idee zu spuken. Doch ich ließ den Gedanken gleich wieder fallen, kam mir nicht ganz anständig vor – und auch wohl ein bißchen verrückt. Nein, anfangs versuchte ich es auf geradem Weg.« »Wie denn? Da bin ich aber gespannt!« »Ich kündigte und fuhr hierher. Durch Jean-Baptiste – ich wollte Baharoff überhaupt nicht sehen – kaufte ich dieses Häuschen, in dem zu Zeiten meines Vaters der Gärtner wohnte. Der Bau steht übrigens auf dem Sockel eines ehemaligen Außenforts, daher auch der unterirdische Gang. Und dann begann ich zu arbeiten. Zuerst stellten wir Lehrmittel her für Physikunterricht in Schulen, später auch technisches Spielzeug.« »Ach, lohnt sich das denn?« André war ganz Ohr. »Sicher, wenn man besser und origineller ist als andere! Wir waren fleißig und verdienten recht gut.«
»Wer ist ›wir‹?« »Jean-Baptiste, Gaston und ich. Die beiden halfen mir in jeder freien Minute, außerdem hatte ich zwei Leute aus dem Dorf. Wenn ein Gerät besonders gut einschlug, haben wir es durch eine Fabrik herstellen lassen. Kurzum: Innerhalb von zwei Jahren hatte ich zehntausend Franken zusammen – war nicht mein Geld allein, JeanBaptiste und Gaston hatten mir ihre Ersparnisse gegeben, und ein paar Freunde hatten mir etwas geliehen. Mit diesem Geld schickte ich einen Freund zu Baharoff, das Schloß zurückzukaufen.« »Und?« »Er lachte ihn aus und sagte, für das Zwanzigfache würde er vielleicht verkaufen!« »Sie sind aber naiv!« meinte André vorwurfsvoll. »Wo der Mann so viel angelegt hat, Aufzug, Kakteen, Wasserleitung…« »Ich weiß, ich weiß! Sie müssen das Gartenhäuschen hier in Rechnung stellen, das hatte ich ja bereits gekauft, und damit dürften die Neuanlagen abgegolten sein. Aber selbst wenn noch ein Rest geblieben wäre – den hätte ich auch noch bezahlt. Doch das Zwanzigfache! So viel Geld kann ich in absehbarer Zeit selbst beim besten Willen nicht verdienen.« »Da haben Sie eben gespukt, nicht?« »Ja, ich wußte mir keinen andern Rat. Ich wollte ihm das Haus so verleiden, daß er es eines Tages verkaufte.« »Beinahe hätten Sie es geschafft, wenn wir Sie nicht überlistet hätten!« André kreuzte stolz die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Der Graf nickte stumm. Eine Zeitlang blieb es still. Tista schlief auf Seppes Schoß, die- Katze an sich gedrückt. Maurice gähnte verstohlen und blickte auf die Uhr. Der Graf schien noch etwas sagen zu wollen, räusperte sich jedoch nur und rückte seine Krawatte zurecht. Jean-Baptiste erhob sich feierlich zu ganzer Länge. »Wenn ich Sie um etwas bitten dürfte«, sagte er mit flatternder Stimme, »wenn Sie so nett sein wollten, den Namen des Grafen nicht zu nennen, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar! Baharoff würde sicher zur Polizei gehen und Bestrafung fordern, und das wäre zuviel, wo schon… nicht wahr?« Er schluckte heftig und blickte von einem zum andern. »Sie zeigen ihm die Mikrophone und Lautsprecher und sagen ihm, es würde nie wieder spuken, wollen Sie das tun?« »Natürlich, Jean-Baptiste! Wird gemacht!« Maurice stand auf. Irgendwie war die Sache verflixt peinlich. Ob der Alte für sich selbst
so inständig bitten würde? »Vorausgesetzt, daß Baharoff damit zufrieden ist! Andernfalls sehen wir uns quasi gewissermaßen gezwungen…« »Ach, hör doch auf, Mensch! Nee, das machen wir dem schon plausibel, verlassen Sie sich drauf, Opa!« René winkte ihm väterlich beruhigend zu. Jean-Baptistes Anhänglichkeit schien den dickfelligen René zu rühren. »Jungens, drei Uhr durch! Kommt, höchste Zeit, daß wir ins Bett kommen!« Alle standen auf; Tista wurde wach und knutterte. »Wir sagen Ihnen morgen Bescheid«, fuhr Maurice fort, an den Grafen gewandt. »Ich bringe Sie ’raus, meine Hunde laufen draußen frei herum.« Filou wurde munter, Hunde interessierten ihn viel mehr als Schwindeleien oder Geld. Vor der Tür pfiff der junge Mann, gleich darauf tauchten aus dem Dunkel drei Hunde auf: ein großer, zottiger, gefolgt von zwei gleichartigen kleineren. »Ablegen!« Gehorsam legten sich alle drei auf den Boden. »Oh!« seufzte Filou, als er die Tiere sah. »Gute Nacht!« »Gute Nacht, Jungens!« Die Stimme des Grafen klang ziemlich bedrückt. Allerlei Gedanken schossen Maurice durch den Kopf, während sie den Hügel hinaufstiegen. Beim Brunnen blieb er stehen und hielt die Jungen an. »Hört mal, für ’n langes Palaver sind wir jetzt alle zu müde, aber ich bitte euch, das, was ihr heute abend gehört habt, noch einmal genau zu überlegen. Wollt ihr?« »Ich weiß zwar nicht, was noch zu überlegen wäre, aber wenn du willst, werde ich mir noch ein paar Gedanken machen«, flüsterte André. Pipin grinste breit und nickte Maurice zu. Die andern brummten oder sagten: »Ja, ist gut!« Was ist mit Pipin, dachte Maurice. Hat der schon geschaltet? Andrés erstes Wort am nächsten Morgen war: »Wann gehen wir zu Baharoff? Wir dürfen keinesfalls vergessen, sofort einen Vertrag mit ihm zu schließen, habt ihr gehört?« Er hatte nachgedacht, jedoch nur darüber, ob er sich mit seinen Blumen an der Cannebière oder an der Rue de Rome aufstellen solle. »Warte doch ab, Kerl!«
Kaum hatten sie gefrühstückt, da stand Maurice auf und sagte: »Kommt, wir gehen an den Strand! Dein Unterricht wird später nachgeholt, Filou!« »Aber Maurice, was sollen wir denn am Strand? Wir gehen zu Baharoff, auf daß wir unser Geld bekommen!« »Nein, André! Wir müssen uns zunächst mal über verschiedenes unterhalten, und das machen wir am besten am Strand, da sind wir ungestört.« »Nun, wenn du unbedingt willst!« murrte André und dachte: Was der wieder hat? Mit dem ist ständig was anderes los. »Maurice, ich komme sofort nach, geht ihr schon ruhig vor«, sagte Pipin. »Meine Espadrilles sind rechts ein bißchen geplatzt, und wenn ich die nicht sofort flicke, gehn die Dinger total aus dem Leim. Ich lauf durch den Weinberg ’runter, dann bin ich schneller unten.« »Gut. – Kommt!« In diesem Augenblick erschien Jean-Baptiste, um abzuräumen. Sein Gesicht sah aus wie immer; man konnte sich nicht vorstellen, daß er gestern abend gefesselt und geknebelt im Keller gestanden hatte. Er grüßte äußerst höflich und machte sogar eine kleine Verbeugung. Unten am Wasser suchten sie sich eine Felsenecke, wo man bequem im Halbkreis sitzen konnte. Kaum waren sie soweit, da erschien auch Pipin, im Rikschastil natürlich. »Nun denn, Maurice, was gibt es noch zu besprechen? Soweit ich sehe, ist alles sonnenklar!« »Hm, ja, mal sehen! – Was haltet ihr von der Geschichte? Könntet ihr euch vorstellen, daß Baharoff die ganze Sache eingefädelt hat, um das Schloß zu bekommen?« »Was wir uns vorstellen können oder nicht, lieber Maurice, das steht doch gar nicht zur Debatte! Wir haben den Spuk gefangen, jetzt kriegen wir das Geld, basta!« Maurice ging auf Andrés Entgegnung nicht ein, sondern wandte sich an René: »Was meinst du?« »Tja, vorstellen könnte ich mir das schon. Sieht fast so aus, als ob der Graf recht hätte!« »Was geht uns das an?« fuhr André dazwischen, doch Maurice winkte energisch ab. »Und du, Seppe?« Der König der Diebe grinste, seine Augen glänzten vor Bewunderung wie reife Sauerkirschen.
»Junge, der Baharoff hat da ’n dickes Ding gedreht, na! Von dem könnte man was lernen – aber ich will ja so was nicht mehr machen«, fügte er ernst werdend hinzu. »Filou?« »Der Chraf hat unbedink recht!« bubbelte der Schwarze. Er hatte ebenfalls nicht nachgedacht, die Sache war ihm viel zu kompliziert, doch der junge Mann war ihm schon deswegen sympathisch, weil er Hunde besaß – daher glaubte er ihm ohne weiteres. »Pipin?« »Baharoff ist ’n Lump, und was für einer! Ich bin sogar überzeugt, daß er den Wein abhacken ließ, um das Schloß in seine Hand zu kriegen!« »Pipin! Diese Verdächtigung auszusprechen hat selbst der Graf nicht gewagt!« »Hör auf, Mensch! Irgendwie weiß ich, daß es so ist. Für so was hab’ ich ’n feinen Riecher.« »André, du bist noch mal dran. Bitte, beantworte meine Frage und nichts weiter!« André hatte gespannt und mit steigender Erregung das Frage-undAntwort-Spiel verfolgt. Was war hier los? Was hatte Maurice vor? Das wurde ja langsam bedrohlich! Sorgfältig überlegte er sich seine Antwort. »Nun, was der Jüngling erzählte, klang – hm – sagen wir: einigermaßen glaubhaft, hatte quasi gewissermaßen den Schein des Rechts für sich.« Er hob den rechten Zeigefinger und stocherte aufgeregt in der Luft herum. »Den Schein des Rechts, sage ich! Nicht das wirkliche Recht, wenn er das hätte, könnte er zum Gericht gehen und brauchte nicht zu spuken. Außerdem weiß ich nicht, was die Frage bedeuten soll.« »Ganz einfach: wenn man davon überzeugt ist, daß Baharoff Unrecht getan hat – und ich bin der Ansicht –, dann darf man ihm auf keinen Fall helfen! Dann dürfen wir den sogenannten Spuk überhaupt nicht fangen, dann müssen wir auf das Geld verzichten!« »Waas? Auf das Geld verzichten?« schnaubte René. »Jawohl!« rief Pipin laut. »Aber Maurice! Bist du des Wahnsinns Beute? Auf das so mühselig erworbene Geld verzichten? Du bist verrückt, mein Lieber! Wir verzichten keineswegs!« André sprang auf und fuchtelte wild mit beiden Armen. »Reg dich erst mal wieder ab und setz dich hin. So!«
Das wird ein schweres Stück Arbeit, dachte Maurice. Na, zunächst die weniger hartnäckigen Fälle. »Hör mal zu«, wandte er sich an René, »du sagtest doch eben, du könntest dir vorstellen, daß Baharoff das Schloß ergaunert hat?« »Tja, schon. Aber was geht mich der Graf und sein dummes Schloß an? Ich will mein Geld, ich will mich möglichst bald selbständig machen. Pöh, was hab’ ich mit diesen Leuten zu schaffen!« »So einiges! Stell dir mal vor, Baharoff würde auf die gleiche Art und Weise euern Bauernhof ergaunern, auf dem deine Vorfahren schon seit 1789 sitzen…« »Seit 1687, Mann!« »Meinetwegen. Stell dir vor, eure Reben würden abgehackt – ihr habt doch sicher Wein?« René nickte finster. »Oder eure Weizensaat würde vernichtet, Baharoff liehe deinem Vater Geld, um ihn dann zu vertreiben und euren Hof billig zu kaufen. Was würdest du tun? Würdest du Baharoff helfen?« »Helfen? Den würde ich mit der bloßen Faust zu Brei hauen!« René winkelte die Arme an und rollte die Augen wie ein gereizter Gorilla. »Sieh mal an! Aber jetzt willst du ihm helfen! Wo ist denn da der Unterschied? Ist das denn gleichgültig, was einem andern Menschen geschieht?« »Nee, du hast recht, so leid es mir tut«, knurrte René ärgerlich. »So ’nem Schuft darf man wirklich nicht helfen, von so ’nem Halsabschneider nehm’ ich kein Geld! Mann, wenn ich mir vorstelle, das wäre uns passiert! Ich kriegte zuviel!« »Bravo, René! – Und du, Seppe?« Der zuckte die Achseln und lächelte schmerzlich! »Ehrlich gesagt: ich hätte die Moneten gern gehabt! Ich hab’ noch nie ’n bißchen Geld in der Tasche gehabt, muß ’n tolles Gefühl sein! Weißt du, meine Eltern geben mir nie was, die sparen jeden Sou für ’ne eigene Kneipe. Ich glaub’, dadurch bin ich ans Klauen gekommen, ich glaube, Eltern sollten ihren Kindern ’n bißchen Geld geben, sonst lernen sie nicht, damit umzugehen, und machen vielleicht Mist wie ich. Also, ich hätt’s mächtig gern gehabt, aber wenn du sagst, es ist nicht anständig, dann nehm’ ich’s nicht. Ich will nichts mehr tun, was nicht anständig ist.« Maurice blickte ihn ein paar Sekunden verwundert an, dann nickte er ihm strahlend zu. »Gut, Seppe, du bist schon in Ordnung!«
André rutschte voller Angst auf der Steinplatte herum. Maurice ist ein Heimtücker, ein abscheulicher! Einen nach dem andern macht er fertig! »Filou? Willst du auf das Geld verzichten, damit der Graf Baharoff ’rausekeln kann?« »Na, klar!« erwiderte der Schwarze schlicht. Geld bedeutete ihm nicht allzuviel, er hatte keine Sorgen und keine Pläne. Und wenn Maurice dafür war, hatte die Sache bestimmt ihre Richtigkeit, zumal der Graf ihm gefiel. »Soller weiter blitzen un Krach machen!« »Mich brauchst du gar nicht erst zu fragen«, meinte Pipin, als Maurice ihn anblickte. Er holte tief Luft und nahm einen tüchtigen Anlauf. »Ich hab’ schon genug Baharoff s erlebt, um solche Leute nicht gründlich zu hassen. Ich weiß auch, wie das ist, wenn man vor die Tür gesetzt wird. Ich hab’ zwar nur zwölf Jahre in einem Haus gelebt, das meine Heimat war, aber ich hab’ dran gehangen, und es war scheußlich, als ich ’raus mußte. Wieviel scheußlicher muß das für den alten Grafen gewesen sein! Der Mann könnte noch leben, wenn dieses Scheusal von Baharoff nicht ’n ›Rahmen‹ für seine Geschäfte gebraucht hätte! – Ich weiß, was du sagen willst, André! Aber davon bringst du mich nicht ab: dieser glatzköpfige Schakal, dieser Schuft hat den alten Mann auf dem Gewissen! Jawohl! So ’nem Gauner helf ’ ich nicht, mit dessen Geld mach’ ich meine Finger nicht dreckig! Ich bin auch ’n armer Teufel, ich könnte auch ’n bißchen Geld mehr als gut gebrauchen. Ich wollte mir für das Geld was zum Anziehen kaufen – ihr seht ja: meine Lumpen fallen mir bald vom Leib. Doch lieber wickl’ ich mich von oben bis unten in Zeitungspapier, ehe ich so ’nem Kerl helfe!« Maurice nickte heftig. Ich wollte Farbe kaufen, dachte er, ich hätte das Geld ebenfalls gern gehabt, aber… Er hob den Kopf und schaute auf die Felswand gegenüber. Es war ganz still. Eine Eidechse kam aus einem Spalt, verharrte reglos und blickte mit glänzenden Augen unverwandt auf die Menschengruppe. Tista entdeckte das Tierchen, krabbelte mühselig und langsam in seine Nähe. Als er die Hand ausstreckte, huschte es davon. Pipins lange Rede hatte André zunächst betroffen gemacht. Einen Augenblick lang dachte er daran, ebenfalls zu verzichten. Es paßte ihm nicht, daß er der einzige war, der unbedingt das Geld haben wollte. Doch dann fiel ihm ein, daß er der einzig Zielstrebige war, der einzige, der vorwärtskommen wollte. Die haben leicht großzügig sein, dachte er. Wenn ich die Beloh-
nung nicht kriege, das bedeutet für mich zwei Jahre länger Schuhputzer sein. Nein, ich werde nicht verzichten, und wenn sie sich auf den Kopf stellen! Für mich eine einmalige Gelegenheit, einen tüchtigen Schritt vorwärts zu tun. Ich bin doch nicht blöd! Nein, das lasse ich mir nicht entgehen, ich denke nicht dran. Aber ich muß es schlau anfangen, sie sind alle gegen mich. Und es ist schwierig, denn wahrscheinlich hat der Graf recht. Nein, nein, er hat nicht recht. Er darf nicht recht haben, und er hat auch nicht. »Nein, das alles kann mich keineswegs überzeugen«, sagte er laut und entschieden. »Ihr habt euch von diesem blonden Quatschkopf mal wieder einwickeln lassen. Denkt doch mal an Marseille! Wer gab uns die falsche Auskunft? Der Herr Graf! Wer zerschnitt uns die Reifen? Der Graf! Wer verleumdete uns bei der Polizei? Der Graf! Wer so was tut, der hat einen schlechten Charakter! Dem Menschen also schenkt ihr Glauben? Ich nicht! Was der Graf behauptet, ist schlechthin gelogen, sage ich euch! Baharoff dagegen ist ein Ehrenmann, das beweist allein schon seine Hilfsbereitschaft. So leicht bietet niemand einem Fremden sein Geld an, wer so mitfühlend ist, der hat einen guten Charakter! Ferner: der Graf sagte selbst, daß rechtlich nichts zu machen ist. Ja bitte! Wollt ihr gerechter sein als die Gerichte? Wollt ihr mehr von den Gesetzen verstehen als der berühmte Rechtsanwalt Delattre? Oh, ihr Leichtgläubigen! Ihr einfältigen Schwärmer! Mich legt so ein gerissener Liederjan wie dieser junge Graf, der gewiß das Geld seines Vaters durchgebracht hat, mich legt der nicht ’rein! Denn ich kenne das Leben, ich durchschaue ihn, und deshalb verzichte ich nicht auf mein Geld.« »Du hättest Rechtsanwalt werden sollen«, sagte Maurice schnell, weil er merkte, daß Andrés listige Verteidigung nicht ohne Eindruck geblieben war. »Möglich, daß ich zu einem solchen Beruf einige Fähigkeiten habe«, meinte André stolz. »Hast du bestimmt! Du kannst nämlich schwungvoll eine Sache vertreten, an die du selbst nicht glaubst, bloß weil Geld dabei herausspringt!« »Aber Maurice!« »Hör auf! Was du da gesagt hast, war Unsinn, und das weißt du sehr gut. Daß der Graf uns unterwegs Schaden zugefügt hat, gehört überhaupt nicht hierher. Das waren reine Kampfmaßnahmen. Gespenst gegen Gespensterjäger! Außerdem haben wir dafür schon
angemessene Rache genommen. Und Baharoffs sogenannte Hilfsbereitschaft kannst du schon gar nicht ins Feld führen. Der Graf hat ja Beweise, daß Baharoff durch Ausstreuen von Gerüchten andere Geldgeber kopfscheu machte. Nette Hilfsbereitschaft! – André, mach dir doch um Himmels willen nichts vor, du warst doch sonst immer ’n gerader Kerl!« »Das bin ich heute noch! Nein, ich kann diesem blonden Jüngling keinen Glauben schenken, er unterrichtet uns einseitig. Ich erlaube mir daher folgenden Vorschlag: wir unterbreiten Baharoff die Sache, damit er von seinem Standpunkt aus darlegen kann, was sich zugetragen hat. Erst dann können wir gerecht entscheiden!« »Das geht doch nicht, Kerl! Der weiß doch sofort, woher der Wind weht, und wir bekämen weder Geld, noch könnten wir dem Grafen helfen. Nein, so ’n Unsinn! – Paß mal auf, André: überleg dir alles noch mal gründlich. Du hast Zeit bis zum Mittagessen. Ich hätte gern, wenn wir diese Entscheidung einstimmig träfen, ich möchte nicht, daß wir dich fünf zu eins überstimmen müßten!« André wurde mit einem Schlag blaß und preßte die Lippen aufeinander. Fünf zu eins überstimmen? Er blickte die Jungen der Reihe nach an, seine Augen glitzerten kalt. Dann stand er auf. »Gut! Ich werde es mir noch einmal überlegen, aber dazu muß ich allein sein. – Bis nachher!« Langsam ging er am Strand entlang davon. »Du, Maurice«, sagte Pipin, als André außer Hörweite war, »der macht Mist, der hat was vor!« »Was soll er schon vorhaben? Ach wo, der will tatsächlich allein sein, der Verzicht fällt ihm mächtig schwer. Ist ja auch kein Wunder.« »Nein, ich hab’ ihn doch beobachtet: der will uns ’reinlegen! Der will zu Baharoff! Der will uns vor vollendete Tatsachen stellen!« »Wie kannst du so was sagen, Pipin! Das ist nicht schön von dir!« »Maurice, ich weiß, daß es so ist! Ich spür’s einfach, wieso weiß ich selbst nicht. Aber es ist so, glaub mir!« »Unsinn! Du bist doch kein Hellseher.« »Manchmal schon. Gebt mal acht: wir rennen jetzt schnell durch den Weinberg ’rauf zum Schloß, und dann werde ich euch beweisen, daß André uns ’reinlegen will! Er will den Grafen verraten, ich hab’ richtig gesehen, wie ihm der Gedanke kam!« »Ich trau’ ihm das nicht zu, André tut nichts Unrechtes. Oder, was meinst du, René?«
Der Gorilla fuhr sich über die roten Borsten. »Man hat schon Pferde Rollschuh laufen sehen«, meinte er.
»Wo Geld im Spiel is, da legt der Teufel ein Ei!« bubbelte Filou. »Kommt, kein langes Gerede! Höchste Zeit!« Pipin wurde richtig böse. »Ziemlich sicher, daß er die Asphaltstraße nimmt. Wenn wir durch den Weinberg laufen, sind wir vor ihm oben. Kommt, ich beweise euch, daß ich recht habe! Wir machen noch mal einen ›Film‹, Baharoff ist nämlich nicht da – das ahnt der gute André nicht! Aber ich hab’ ihn wegfahren sehen! Kommt doch! Wenn ich ihm unrecht getan habe, dürft ihr mich windelweich prügeln!« »Meinetwegen! Der Versuch kann zumindest nicht schaden.« Maurice stand auf. »Los, ab!« So schnell sie konnten, rannten sie auf dem schmalen Weg zwischen den Reben den Berg hinauf. Pipin vorneweg, im unvermeidlichen Rikschastil. Am Schluß Filou, fauchend wie eine Lokomotive, ein Stück vor ihm René mit Tista auf dem Rücken. Keuchend langten sie im Hof an. Die andern verschnauften und gingen im Schritt, Pipin rannte weiter bis in die Halle. »Jean-Baptiste!« schrie er laut. »Ja?« hörte man von weitem die Stimme des Dieners, der nun eilig herankam. »Was gibt es denn? Wo brennt’s?« »War André schon hier?« »Nein, soll ich was…?«
»Baharoff ist weg, nicht wahr?« »Jawohl!« Die andern Jungen waren inzwischen herangekommen. »Los, kommen Sie mit! In Baharoff s Schlafzimmer!« Jean-Baptiste setzte ein verwundertes, fragendes Gesicht auf, doch Pipins Forderung klang so entschieden, daß er wortlos mitging. »Ziehen Sie die Vorhänge zu und öffnen Sie bitte die Tür zum Ankleidezimmer!« Der Diener tat, was Pipin wünschte. »Dürfte ich vielleicht wissen…«, begann er dann zaghaft. »Sie sollen sogar! – Jungens, setzt euch alle auf das Bett! – JeanBaptiste, gleich wird André kommen und zu Baharoff wollen. Sie sagen ihm, der alte Gauner – das heißt: alter Gauner dürfen Sie natürlich nicht sagen!« meinte Pipin grinsend. »Sie sagen ihm also, Baharoff läge mit starken Kopfschmerzen zu Bett. André darf auf keinen Fall zu ihm hinein, sondern muß durch die offene Tür mit ihm sprechen, verstanden?« »Hm – nicht direkt! Monsieur ist doch nicht da?« »Nicht nötig, haben wir selbst! Sie brauchen nur André zu bestellen, er dürfe nicht…« »Soweit habe ich begriffen!« sagte der Diener, mit einem Male sehr eifrig. »Ich werde sagen: ein Migräneanfall! Dabei verdunkelt man nämlich. Doch wozu…« »Später, später! Jetzt gehen Sie schnell auf Ihren Posten, bitte! Meinetwegen können Sie sich die Abhöranlage einschalten lassen und mithören. Gehen Sie schon ab mit Rückenwind!« Pipin schob den alten Mann mit sanfter Gewalt zur Tür hinaus. Jean-Baptiste wurde es nicht einmal bewußt, daß man ihn ziemlich respektlos behandelte. Selig lächelte er vor sich hin, als er in die Halle marschierte. »Alter Gauner«, murmelte er. Das war Musik in seinen Ohren. »So, jetzt seid ihr dran«, wandte sich Pipin an die Jungen. »Ihr seid mucksmäuschenstill, klar? Du auch, Tista! Leg den Finger auf dein dreckiges Mäulchen und nimm’s erst wieder ’runter, wenn ich es sage, ja?« »I-jaha!« »Bloß du mußt reden, Seppe! Du kannst doch Baharoff nachmachen?« »Ö – entsetzlich!« quäkte Seppe, so täuschend ähnlich, daß die Jungen zu prusten begannen.
»So! Von mir aus kann er kommen! – Was du zu sagen hast, Seppe, werde ich dir ins Ohr flüstern.« Ein leises metallisches Klingen, dann ein Knacken, und die Stimme des Grafen sagte: »Guten Morgen, Jungens! Ich dachte, ihr wärt mal vorbeigekommen?« »Morgen, Herr Graf!« antwortete Pipin aufgeregt. »Wir kommen schon, aber machen Sie jetzt bloß keinen Lärm! Es geht um die Wurst!« Jean-Baptiste ging mit tänzelnden, graziösen Schritten durch die Halle, ein kupfergetriebenes Gießkännchen in der Hand. Begoß Blumen und Topfpflanzen, zupfte hier und da ein welkes Blättchen aus und betrachtete liebevoll neue Knospen. »Alter Gauner«, murmelte er zufrieden vor sich hin. Die große Flügeltür öffnete sich – André kam herein, bleich wie eine Kellerassel. »Guten Morgen, Jean-Baptiste! Ist Herr Baharoff zugegen?« »Guten Morgen, André! Herr Baharoff ist vorhin wegen eines Migräneanfalls wieder zu Bett gegangen.« »Oh – das tut mir aber leid! Hm, ja – ist er nicht zu sprechen? Ich hätte ihm etwas sehr Wichtiges mitzuteilen!« »Ich müßte mal nachhören. Wollen Sie einen Augenblick Platz nehmen?« André setzte sich in den nächsten Sessel, der Diener verschwand. Ich tu’s, ich tu’s, wenn er zu sprechen ist. Ich will vorwärtskommen. Einmalige Gelegenheit. Ich bin Kaufmann, ich lasse mich nicht von gefühlsduseligem Geschwafel einlullen. Später werden sie mir alle dankbar sein. Ich… Jean-Baptiste kam zurück, seinem Gesicht war nicht das geringste anzumerken. »Monsieur bittet Sie, im Ankleidezimmer Platz zu nehmen und durch die Tür mit ihm zu sprechen. Monsieur kann bei Migräne kein Licht vertragen.« André nickte und folgte dem Diener. Im Ankleidezimmer wies Jean-Baptiste auf einen Stuhl und ging zur offenen Tür. »Herr Bourian ist anwesend!« sagte er und stolzierte würdevoll hinaus. »Bitte – ö, was gibt es denn, mein Lieber?« tönte es aus dem Schlafzimmer. Mein Lieber sagt er jetzt, und gestern abend hat er gesagt: dreckiger Armenier! Ach, ganz egal. Ich will Geld. »Ja – hm, Monsieur, ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges zu sa-
gen…« »Nun, ö – was denn?« »Wir haben den Spuk entdeckt, wir könnten ihn beseitigen…« »Wie – ö? Wirklich? Es wird – ö nie wieder spuken?« »Nie wieder, wenn Sie uns vertraglich die versprochene Summe zusichern!« »Ö – Sie machen mich sehr glücklich, lieber Herr Bourian – ö! Ich habe ja immer gesagt – ö, diese tüchtigen Jungen schaffen es noch! Ganz besonders zu Ihnen hatten wir – ö, hatte ich größtes Vertrauen. Natürlich bekommen Sie Ihren Vertrag, das – ö ist doch – ö selbstverständlich. Ich möchte Sie beglückwünschen – ö! Bitte, kommen Sie herein und ziehen Sie den Vorhang beiseite!« André stand auf, ging ins Schlafzimmer und zog die schweren Übergardinen fort. Blendendhelles Tageslicht flutete herein. Dann drehte er sich um. Er zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen. Fünf Jungen blickten ihn an, stumm und voller Verachtung. Er wurde blutrot, schlug die Augen nieder und krampfte die Hände zusammen. Mit einem Male wurde sein Gesicht eisig und hart, er hob den Kopf wieder und blickte finster und frech geradeaus. »Ich hab’s bis zum letzten Moment nicht glauben wollen«, sagte Maurice langsam. »Tja, das haut einen um! Unser lieber Freund André! Mann, ich bin der friedlichste Mensch, den ich kenne…« »Herr Graf?« »Ja, bitte?« klang es aus den Lautsprechern. »Haben Sie fünfhundert Franken übrig, um einen Verräter zu bezahlen?« Bei dem Wort Verräter zwinkerte André mit den Augen, sein Mund wurde noch verbissener. »Natürlich! Kann einer von euch eben herkommen?« Pipin erhob sich und ging hinaus. Kurze Zeit später kehrte er zurück und übergab Maurice fünf Hundertfrankenscheine. Der Maler stand auf, ging zu André, der ihn bockig und böse anblickte, stopfte ihm das Geld in die Tasche und sagte: »Da! Und nun verschwinde, so schnell du kannst!« »Denk dran, daß in deinem Brustbeutel noch Geld ist, das zum Teil uns gehört!« mahnte Seppe. Wortlos drehte André sich um und ging hinaus. Filou seufzte abgründig dumpf. »Ehrgeiz un Flöhe hüpfen gärn
inne Höhe!« Geführt von Jean-Baptiste, gingen sie den Abhang hinunter zum Häuschen des Grafen. Der lange Diener tänzelte und scharwenzelte freudestrahlend vor ihnen her. »Guck dir den Alten an«, brummte René grinsend, »der hopst wie ’n drei Tage altes Karnickel!« Maurice nickte belustigt und wandte sich an Filou: »Du, Dicker, aus unserem Unterricht wird heute nichts werden.« »Nich schlimm! Hap heut schon viel gelärnt«, erwiderte der Schwarze ernsthaft. Graf Franz und Gaston standen an der Tür, ebenso vor Freude strahlend wie der Diener. Beide bedankten sich herzlich, JeanBaptiste zerdrückte maßvoll gerührt eine Träne. Als sie im Wohnzimmer Platz genommen hatten, überreichte der Graf jedem Jungen fünfhundert Franken. »Sie sollen durch Ihre Anständigkeit keinen Schaden haben. Bitte, nehmen Sie doch Platz! Diese Nacht konnte ich Ihnen kein Geld anbieten, das hätte nach Bestechung ausgesehen.« Die Jungen brachten vor Überraschung kein Wort heraus und starrten auf die Scheine, die vor ihnen auf dem Tisch lagen. »Schade, daß André umgekippt ist!« sagte Maurice endlich. »Jammerschade! Nun-nun kriegen wir auch Geld, und ohne…Eigentlich prächtig, nicht wahr? So ganz unerwartet – prima!« »Ja, schade, daß André… Hab’ ich nicht gedacht! Wo er sonst doch immer so moralisch ist!« In Windeseile steckte Seppe das Geld in die Hosentasche, seine Hände zitterten vor Aufregung. Tolles Gefühl, so ’n Haufen Geld zu haben, wirklich! »Das Zeug hat ihn fertiggemacht!« Pipin hielt seine Scheine in die Höhe und breitete sie aus wie ein Kartenspiel. »Geld kann manchmal auch ’n anständigen Menschen fertigmachen. Gelegenheit macht Diebe.« »Sagt Oma auch immer.« »Nichts gegen den Zaster! Aber – ich meine: es gibt noch was Besseres, nicht?« Lächelnd blickte Pipin seinen Freunden in die Augen. Seppe feixte zu Filou hinüber: »Wie sagtest du vorhin so schön! ›Wo Geld im Spiel ist, da ist der Teufel…‹?« »Ich?« bubbelte Filou. »Soll ich gesach harn? Nä!« Er rollte sein Geld zusammen, als wäre es eine Ambassadeur-Stulle, und gab es Maurice zur Aufbewahrung. »Nä! Ich hap gesach: Gesundheit ohne
Geld is halbes Fieber!« Schallendes Gelächter. Jean-Baptiste lachte mit vorgehaltener Hand. André hätte das bestimmt für Vornehmheit gehalten, aber der Diener hatte nur Angst, sein Gebiß zu verlieren, so schüttelte es ihn. »Ein reizender Schelm«, keuchte er. »So ein Witzbold! Huhuhu!« »Beginnt seinem Spitznamen Ehre zu machen, nicht wahr?« Maurice war ein wenig stolz. Wenn Filou Witze machte, dann mußte er sich sicherer fühlen als sonst, mußte sein Selbstbewußtsein gewachsen sein. Und daran war Maurice nicht ganz unbeteiligt. »Was haben Sie jetzt vor, Maurice?« »Ich werde gleich zu Baharoff gehen und ihm mitteilen, daß wir die Sache aufgeben. Und dann fahren wir nach Hause.« »Wollen Sie nicht noch ein paar Tage bei uns bleiben? Ich lade Sie alle herzlich ein! Natürlich ist es bei uns viel weniger bequem als oben im Schloß. Als Schlafgelegenheiten zum Beispiel kann ich Ihnen nur auf dem Boden ausgebreitete Matratzen anbieten, aber ich fände es sehr nett, wenn Sie noch etwas bleiben würden!« »Wenn ich mich dieser Bitte anschließen dürfte«, sagte JeanBaptiste, »auch mir würde es eine Freude sein.« »Wollt ihr, Jungens?« fragte Maurice sein Häuflein. »Klar!« brummte René. »Mein Urlaub ist noch nicht um!« Die andern nickten zustimmend. »Fein!« rief der Graf. »Mögt ihr Kuchen?« »Und ob! – Was ’ne dämliche Frage! – Was dachten Sie denn?« »Los, Methusalem, her damit! – Wir haben nämlich eine zünftige Kuchenschlacht vorbereitet!« »Übrigens, lieber Franz: eine kleine Schwierigkeit hat die Sache«, begann Jean-Baptiste mit leicht gerunzelter Stirn, »wir müßten eine Köchin haben. Für so viele Leute kann ich natürlich nicht sorgen, gelegentlich muß ich mich ja auch um den alten Gauner da oben kümmern.« »Köchin? Ich kann ’n bißchen kochen, wenn ihr’s mit mir mal versuchen wollt?« »Großartig, Pipin! Gut, Sie übernehmen die Küche.« Mitten in der Kaffeeschlacht, nach einem Bissen, an dem jeder andere erstickt wäre, fragte René: »Sagen Sie mal, Herr Graf, wie haben Sie die vielen Kabel, Lautsprecher und Mikrophone eigentlich anbringen können? Man sieht doch reineweg nichts davon!« »Für einen Fachmann eine Kleinigkeit! Baharoff ist manchmal tagelang nicht zu Hause, also Zeit und Gelegenheit genug. Die Apparate liegen natürlich unter den Tapeten und Wandbespannungen
rate liegen natürlich unter den Tapeten und Wandbespannungen verborgen.« »Ich habe auch eine Frage!« »Bitte, Maurice?« »Diese merkwürdigen kleinen Löcher in der Wand und in der Türfüllung, was bedeuten die?« »Ah, Sie meinen die Stelle, wo das Gespenst ›kitzlig‹ war, wie Sie sagten. Genau dieselben Anlagen habe ich an manchen Türen angebracht, ganz richtig! – Das sind Selenzellen!« »Wie funktioniert so was?« »Selen ist ein chemisches Element mit einer ungewöhnlichen Eigenschaft: es leitet Elektrizität bei Belichtung besser als im Dunkeln. Diese Eigenschaft macht man sich zunutze. Ich habe zum Beispiel in die linke Seite der Türfüllung eine Selenzelle eingebaut und in die rechte eine Lichtquelle, die einen Strahl genau auf die Zelle schickt. Geht nun jemand durch die Tür, dann wird der Strahl für einen Augenblick unterbrochen, die Selenzelle also einen Augenblick lang nicht beleuchtet, und läßt weniger Strom durch. Die angeschlossene Alarmanlage ist nun so gebaut, daß sie sofort in Tätigkeit tritt, wenn der aus der Selenzelle kommende Strom schwächer wird. Und dann schellen die Klingeln – oder das Gespenst lacht!« »Aber man sah doch keinen Lichtstrahl, wenn es mal dunkel war in der Halle?« »Es gibt auch Licht, das man nicht sehen kann! Infrarote Strahlen, zum Beispiel, mit solchen arbeiten meine Geräte.« »Sie sind verflixt schlau!« brummte René bewundernd. »Hat mir alles nichts genützt, ihr wart noch schlauer!« »Und die scheußlichen Geräusche, die haben Sie alle mit dem Mikrophon gemacht?« »Nein, mit den Lautsprechern. Mit den Mikrophonen haben wir eure Unterhaltungen abgehört, haben Teile davon auf Magnetophonband aufgenommen und euch dann später wieder vorgespielt.« »Das war vielleicht schaurig, kann ich Ihnen sagen! Und die Blitze, wie haben Sie die gemacht?« »René, frag nicht soviel, iß lieber noch was! Von ’nem halben Quadratmeter Torte kannst du unmöglich satt sein.« »Mann, das ist doch mächtig spannend!« »Die Blitze zu machen, war noch einfacher«, fuhr der Graf bereitwillig fort. »Ihr kennt doch sicher die Blitzlichtgeräte der Photographen?«
»Ach, Sie meinen die schweren Kästen, die man so über die Schulter hängt? Mit denen die Presseleute ausgerüstet sind, ja?« »Richtig! Die Kästen enthalten die Batterien, den Zerhacker und so weiter. Wenn man nun den Faden der Blitzlichtbirne nicht wikkelt, sondern streckt, dann ist er immerhin fast vierzig Zentimeter lang. Und das ist doch ein ganz ansehnlicher Blitz, nicht wahr? Zeig mal das Ding, Gaston!« Der Chauffeur stand auf und legte seine »Spukausrüstung« an. »Hier«, zeigte der Graf, »das ist die Blitzlichtröhre! Sonderanfertigung für Spuk & Co. Mit dem rechten Ende ist sie an Gastons rechtem Handgelenk befestigt. Wenn er blitzen will, berührt er mit dem Kontakt am linken Handgelenk das linke Ende der Röhre.« »Sind Sie etwa Linkshänder?« fragte Pipin, unmerklich lächelnd. »Ja«, sagte Gaston und tat, was der Graf beschrieb. Ein greller, bläulichweißer Blitz zuckte auf und biß in die Augen. »Sie!« knurrte René und rollte die Augen wie ein wütender Gorilla, »Herr Kollege, wenn Sie geblitzt haben, dann waren Sie auch derjenige, der mir die drei Ohrfeigen gescheuert hat!« »Allerdings, das war ich!« »So! So! Und weshalb? Und weshalb immer ich?« »Weil Sie den Tankverschluß verstopft haben. Oder waren Sie das etwa nicht?« »Doch! Ja, das war ich. Und was haben Sie gemacht? Reifen kaputtgestochen und den Tank auch!« »Das war meine Idee«, warf der Graf ein. »Ich wollte verhindern, daß Sie überhaupt hierherkamen. Als ich von Jean-Baptiste hörte, daß eine halbe Fußballmannschaft aus Marseille käme, um den Spuk zu fangen, da bekam ich allmählich Angst. Je mehr Gegner wir haben, um so schwieriger wird natürlich die Sache für uns, weil man nicht alle beobachten und sich danach richten kann. Mein Detektiv erzählte…« »Das war wohl der mit der Baskenmütze, in Marseille an der Tankstelle, wie?« meinte Pipin. »Ja. Der erzählte mir, ihr wärt sehr knapp bei Kasse. Daher beschloß ich, euch soviel Schaden zuzufügen wie möglich, damit ihr eure Absicht aufgeben müßtet, aber ihr wart verteufelt zäh! Den Schaden werde ich selbstverständlich ersetzen.« »Darum geht es gar nicht, sondern um die Ohrfeigen. Der komische Benzinkutscher hatte keinen Grund, mich zu verhauen!« »Nun ja, Grund – ich hatte eine Mordswut auf Sie«, verteidigte
sich Gaston. »Jedesmal wenn ich Gas gab, blieb der Wagen stehen. Dreimal habe ich den Vergaser ausgebaut, einmal sogar die ganze Zuleitung. Hat alles nicht geholfen! Drei Stunden habe ich geschuftet und geschwitzt und mußte mich schließlich doch abschleppen lassen. So eine Blamage! Hat mich maßlos geärgert, daß ich alter Autofuchs auf so ’n Kniff ’reingefallen bin!« René grinste schadenfroh. »Na, ich will mal nicht so sein«, grummelte er und klopfte Gaston großmütig auf die Schulter. »Jetzt müssen Sie aber mal sagen, was Sie angestellt haben, damit unser Sprit nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit auslief!« Nun war Gaston an der Reihe, schadenfroh zu grinsen. »Ganz einfach! Eine ordentliche Portion Gummilösung ’rausdrücken und trokken werden lassen…« »Ich weiß schon«, unterbrach ihn René. »Damit haben Sie das Loch verschmiert. Der Sprit hat das Zeug aufgelöst, und dann lief er aus. Gute Idee!« »Bitte, Filou, geben Sie dem Hund nichts! Wenn man einen Hund bei Tisch füttert, erzieht man ihn zum Betteln. Der Lümmel soll sich in die Ecke legen zu den andern.« »O – ja, nein«, stammelte der Schwarze. Stinker konnte so herrlich betteln. Er brauchte einen nur anzusehen, dann aß man selbst lieber nichts. Filou seufzte. »Geh, Castor! Leg dich!« Gehorsam schlich der zottige kleine Neufundländer in die Ecke. »Merkwürdig, sonst nimmt er von Fremden nichts!« Gegen sieben Uhr abends kam André in Marseille an; er hatte einen Bummelzug benutzt, um den Zuschlag zu sparen. Geradewegs ging er in die Rue des Mauvestis zu Katchourian. Der drahtige Alte, Armenier wie er, witterte sofort ein Geschäft und bat ihn freundlich, auf der Bank Platz zu nehmen. Sein dunkelbraunes Gesicht, zerklüftet wie die Berge seiner Heimat, verriet keinerlei Neugier, seine hellgrauen, lebhaften Augen aber lagen auf der Lauer. Eine halbe Stunde lang unterhielten sie sich ausführlich über das Wetter, vor allem über den Mistral von voriger Woche, und über die Weinpreise – das beste Zeichen, daß Katchourian André für einen ernsthaften Kunden hielt. Einen, der »nur mal hören wollte«, hätte er kurz und sachlich abgefertigt. André kannte die händlerischen Gepflogenheiten genau und wußte, daß er seine Ungeduld bezwingen und zunächst über gleichgültige Dinge reden mußte. Am liebsten wäre er mit der Tür ins Haus gefal-
len und hätte gefragt, ob eine für ihn brauchbare Karre vorrätig sei und was sie koste. Aber dann würde ihn der Alte für schlecht erzogen und für einen noch schlechteren Kaufmann halten. Endlich waren sie beim Thema. Der Alte wurde noch ruhiger, seine Worte kamen noch langsamer, noch überlegter, denn jetzt begann das große Spiel. Handeln war für ihn das schönste und aufregendste Spiel der Welt! Und Katchourian spielte mit Ausdauer und Leidenschaft. »Du hast Glück«, sagte er gedehnt, »es sind ein paar Wagen da. Erstklassig natürlich! Für dich wie geschaffen.« »Kann ich mal sehen?« Der Alte nickte, erhob sich gemächlich und schloß die Werkstatt auf. André musterte sorgfältig die Auswahl. Unter den acht Karren, die teils schon hergerichtet, teils noch reparaturbedürftig herumstanden, fand er zwei, die seinen Wünschen entsprachen: große Ladefläche und dennoch leicht, mit Gummibereifung. Der größere gefiel ihm besonders gut. Eingehend prüfte er Federn und Bereifung, nahm die Deichsel in die Hände und schob den Wagen hin und her. Sehr gut! Lief wunderbar leicht. Er ließ die Deichsel fahren, setzte ein verächtliches Gesicht auf und sagte: »Tinnef! Wertloses Gerümpel!« Katchourian zuckte gleichmütig die Schultern, im Herzen sehr zufrieden, daß André das Spiel richtig einleitete. »Was soll dieses wurmstichige Möbel kosten?« meinte André beiläufig. »Zweihundert Franken!« Der Alte war seelenruhig. »Zwei…?« André lachte schallend und schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. »Hab’ ich recht gehört? Zweihundert? Hahaha! Hör mal, Katchourian, ich geb’ dir freiwillig zehn, weil du’s bist. Eigentlich solltest du froh sein, wenn ich dir den elenden Krempel da kostenlos fortschaffe!« Statt einer Antwort ging der Alte zur Tür. André sprang zurück zum Wagen, bückte sich, rüttelte an den Federn, bis der ganze Wagen wackelte und – natürlich – leise quietschte. »Hier!« rief er, scheinbar aufgebracht. »Hör dir bloß an, wie diese rostigen, brüchigen Federn schreien!! Auf welchem Schrotthaufen hast du die aufgelesen?« Er schoß hoch und wies mit großartiger Empörung auf das Rad. »Und dieses Vollgummizeugs da, vollkommen bröckelig und porös! Schieb den Karren bis zur nächsten Straßenecke, und das Zeug bricht auseinander wie Zunder! – Ich will dir was sagen: Ich geb’ dir zwanzig, weil du ein alter Freund meines Vaters bist und aus demselben Dorf stammst wie er. Aber keinen
Sou mehr, nicht einen einzigen!« Er verschränkte die Arme, reckte das Kinn in die Luft und stand da wie eingerammt. Seine Entschlossenheit war härter als Granit. Selbstverständlich waren die Federn nicht rostig, sondern fast neu, ebenso wie die Reifen. »Soso!« machte der Alte, innerlich hocherfreut, denn das Spiel schien spannend zu werden. Er hatte sich in André nicht getäuscht: der Junge würde ihm einen heißen Kampf liefern. »Und ich sage: hundertneunzig! Ein Preis unter Brüdern! Ich will dir großzügig entgegenkommen, ich will dir helfen! Sicher willst du ein Geschäft eröffnen, denn du bist ein strebsamer Junge, aber du wirst nicht viel Geld haben. Gut! In Ordnung, der alte Katchourian hilft. Hundertneunzig, billiger könnte ich sie meinem eigenen Sohn nicht lassen. Natürlich« – er breitete die Arme aus und schnitt ein Gesicht, so kläglich wie ein Säugling, dem man den Schnuller fortgenommen hat –, »mein Verdienst ist hin! Einen einzigen Franken weniger, und ich setze zu!«
So ging das geschlagene drei Stunden weiter. Viermal tat André so, als ob er gehen wollte, und ging doch nicht; elfmal machte er sein allerletztes Angebot. Für neunzig Franken bekam er die Karre schließlich, jammernd und wehklagend, an einen solchen Halsabschneider wie Katchourian geraten zu sein. Der Alte haderte mit seinem traurigen Geschick, einen so schönen Wagen weit unter Selbstkostenpreis verschleudern zu müssen. Kaum aber war der Händedruck vollzogen, da strahlten beide zufrieden. André, weil er den Preis unter hundert hatte drücken können; Katchourian, weil es ein selten schönes Spiel gewesen war. Außerdem hatte er noch fünfzig Franken verdient.
Als André in die Zwiebelstraße einbog, war es halb elf. Schon längst saß niemand mehr vor der Haustür; alle Fenster waren dunkel, denn in der Zwiebelstraße ging man früh zu Bett. Er war froh, daß ihm niemand begegnete und daß er keine Fragen zu beantworten brauchte. Leise schlich er in sein Zimmer. Als er Licht machte, sah er den Trennungsstrich auf dem Boden und in der Ecke Maurices Strohsack. »Diese Dummköpfe!« murmelte er erbost, nahm einen Lappen und wischte den Strich aus. »Der soll jetzt schlafen, wo er will, nur nicht bei mir. Der Oberdummkopf, der gemeine! Gut, daß es so gekommen ist. Die hinderten mich ja bloß, waren ein Klotz am Bein für mich. Allein komm’ ich jedenfalls viel besser voran. Verräter, ha! Ich hab’ jedenfalls mein Geld!« Am nächsten Morgen ging er leise die Treppe hinunter und versuchte, sich an Madame Achmeds Küche vorbeizudrücken. Doch es war viel leichter, aus einem Gefängnis auszubrechen als ungesehen an Madame vorbeizukommen! Sie schoß herbei wie ein Polyp. »Wo ist Sasu?« kreischte sie. »Wo ist der Lümmel, dieser Palotti? Oh, meine teuerste Katze, mein Liebling!« Sie faßte André beim Rockzipfel und zerrte ihn zornig hin und her. Der Junge beteuerte, daß es Sasu gutgehe und daß sie bestimmt bald wieder dasein werde. Kaum hatte sich die Frau ein wenig beruhigt, da kam die erwartete peinliche Frage: »Warum bist du allein zurückgekommen? Wo sind die andern? Habt ihr euch gezankt?« André drehte und wand sich wie ein Aal. Schließlich mußte er zugeben, daß etwas vorgefallen sei, aber was, das wollte er nicht sagen, riß sich los und rannte hinaus. Auf der Straße lief er Frau Quinquaille in die Arme. »He, André! Wo ist Pipin? Wo sind die andern? Bist du allein zurückgekommen?« »Ich hab’ keine Zeit!« rief André und lief weiter. Frau Wassilie und Frau Palotti, die seine Stimme erkannt hatten, eilten an die Tür und stellten dieselben Fragen. André winkte ab und begann zu rennen. Alle Fenster öffneten sich, fragende, verwunderte Gesichter schauten ihn an, es war das reinste Spießrutenlaufen. »Scheußlich, verflixt!« schimpfte er vor sich hin. »Ich werd’ mir ’n anderes Zimmer nehmen.« Auf der Cannebière besuchte er seinen Stand. Eben hatte er seinem Vertreter guten Tag gesagt und erkundigte sich, wie das Ge-
schäft in seiner Abwesenheit gewesen war, als er auch dort die peinlichen Fragen hörte. »Das geht dich nichts an!« erwiderte er unwirsch und ging zum Rathaus, die Konzession zu beantragen. Dort mußte er ein Formular ausfüllen, dann sagte man ihm, er solle in einer Woche wiederkommen. Anschließend trabte er zur Markthalle, wo er sich ebenfalls anmelden mußte. Auf dem Rückweg – es war inzwischen halb zwölf – besuchte er eine winzige Garküche am Alten Hafen, wo er gelegentlich zu Mittag aß. Der Inhaber begrüßte ihn freudig und fragte sogleich nach René, der hier Stammkunde war. André antwortete ausweichend und so brummig, daß man ihn bald in Frieden ließ. Lustlos kaute er an seinem ölgebackenen Thunfisch herum und dachte: ich muß mir ein anderes Eßlokal suchen. Zu blöd, alles kann ich aufgeben wegen dieser Dummköpfe. Aber es hilft nichts, ich will keinen von denen mehr sehen. Verräter, ha! Daß ich nicht lache! Ich hab’ nichts Böses getan, ich wollte nur mein Geld. Und daran haben sie mich hindern wollen, wie sie mich schon immer behindert haben. Ich will aber vorankommen! Kurz vor zwölf Uhr übernahm er seinen Schuhputzstand wieder und rechnete mit seinem Vertreter ab. Die Cannebière lag verlassen in der mittäglichen Hitze. André trug seinen Armsessel in den Schatten und setzte sich. Unwillkürlich schaute er nach den Jungen aus, die sich um diese Zeit bei ihm zu treffen pflegten. Filou mit Stinker, René im benzinduftenden Overall, Pipin mit einem Packen Zeitungen über dem Arm. Ja, und Maurice mit Skizzenblock und Farbkasten. »Unsinn!« murmelte er ärgerlich. »Ich will sie gar nicht mehr sehen!« Aber es war langweilig und ungemütlich, so ganz allein. Er war froh, als der Betrieb wieder losging, die tote Zeit überstanden war. Eifrig warf er sich in den immer stärker werdenden Strom der Passanten und fischte nach Kunden. Doch die Arbeit machte ihn nicht glücklicher, trotz aller Emsigkeit fühlte er sich unbehaglich; seine überrumpelnde Forschheit wirkte gequält, seine Redensarten klangen falsch und hohl. Kein Wunder, daß das Geschäft schlecht war, dadurch wurde seine Laune nur noch übler. In den Pausen zwang er sich, an den künftigen Blumenhandel zu denken, doch immer wieder sprangen seine Gedanken ab. Er konnte nicht denken, nur fühlen: ein stetiges, dumpfes Ziehen, eine Art Trauer, die ihn manchmal schwer atmen ließ. Als es dunkel wurde, ging er nicht nach Hause, sondern lief planlos der Corniche, der Strandstraße entlang und stieg sogar, staksig
und langsam, den Karmelberg hinauf. Er hatte Angst vor der Zwiebelstraße, ohne es sich einzugestehen. Sehr spät, gegen elf Uhr, machte er sich auf den Heimweg. Die Zwiebelstraße war finster und still. Nur noch wenige Schritte waren es bis zu Achmeds Haus, da rief eine Stimme: »Er kommt!«, und hinter einer Hausecke stürzte ein Rudel Menschen hervor und versperrte ihm den Weg. Alle Bewohner der Straße hatten ihm aufgelauert: Seppes und Tistas Eltern, Oma, Achmeds, Quinquailles, Wassilies und noch viele andere. Ein Stück abseits stand schnaufend und fauchend der alte Gregoriades. Männer und Frauen hielten André fest, redeten in erregtem Durcheinander auf ihn ein und forderten genaue Auskunft.
André mußte erzählen, ob er wollte oder nicht. Wenn er stockte, schüttelte eine kräftige Faust die Worte aus ihm heraus. Worüber er mit Redensarten hinweggehen wollte, das klärten eindringliche Fra-
gen; was er verschwieg, das ließ sich in Gedanken ergänzen. Je länger er sprach, desto stiller wurden die Leute. Endlich wußten sie genug und ließen ihn los. Als er am nächsten Morgen die Treppe hinunterging, schoß ihm abermals wie ein Polyp Madame Achmed in den Weg. »Sie! Am Fünfzehnten ist für Sie der Erste, haben Sie mich verstanden?« »Selbstverständlich«, erwiderte er, so kühl und spitz er konnte. »Ich hegte ohnehin die Absicht, mir ein anständiges Zimmer zu suchen!« »Sie!« fauchte Madame und stemmte die Arme in die gutgepolsterten Seiten, aber André war schon zur Tür hinaus. »›Sie‹ sagt sie zu mir!« knurrte er. »Ha, als wenn sie mich damit treffen könnte! Es paßte mir von Anfang an nicht, daß sie mich schlankweg duzte.« Im stillen aber ärgerte er sich doch. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er schlecht geschlafen, er war matt und zerstreut. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er keine Lust zu arbeiten. Doch er mußte, die Stammkunden wollten bedient sein. Als erster erschien Dr. Roland und erkundigte sich, während André sein Schuhwerk bearbeitete, nach Maurice. Er brauche noch ein Aquarell, sagte er. Maurice solle mal zu ihm kommen. André versprach, es auszurichten, und atmete erleichtert auf, als der junge Arzt ging. Schon der nächste Kunde erinnerte ihn von neuem: Rechtsanwalt Delattre. André war so zerfahren, daß er mehrmals die Bürste verlor. Pünktlich fünf Minuten vor neun erschien wie üblich Monsieur Faidherbe, Mitinhaber eines großen und angesehenen Handelshauses. Während André am Boden hockte und den Lappen wirbeln ließ, kam ihm ein Gedanke. »Verzeihen Sie, Monsieur, darf ich Sie etwas fragen?« »Bitte!« »Kennen Sie einen gewissen – hm – Monsieur Baharoff?« Faidherbe machte eine Bewegung, als wische er Schmutz von seinen weißen, gepflegten Händen. »Kennen ist zuviel gesagt. Immerhin: der Mann ist ebenfalls an der Börse zu finden.« Er sprach langsam und leidenschaftslos. »Würden Sie – würden Sie mit ihm ein Geschäft machen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergäbe?« Faidherbe musterte den aufgeregten Jungen mit einem leicht spöttischen Blick. »Wir sind ein seriöses Unternehmen«, sagte er, und als er merkte, daß André ihn nicht verstanden hatte, fügte er hinzu: »Ein Kaufmann hat etwas sehr viel Wertvolleres zu verlieren als Geld:
seinen guten Ruf – guten Morgen, André!« Der schlanke, elegant gekleidete Mann stieg gelassen die Stufen zur Börse empor. André blickte hinter ihm her und schnitt ein ausgesprochen dummes Gesicht. »Was sehr viel Wertvolleres?« Er sah sich selbst plötzlich bei der Beratung am Strand, sah die Jungen um sich herum, hörte Wortfetzen. Das dumpfe Gefühl in ihm wurde stärker. Dann riß er sich zusammen und straffte sich. »Der hat gut reden! Was nützt einem der beste Ruf, wenn man kein Geld hat?« In der Abenddämmerung ging er nach Hause. Die Leute von der Zwiebelstraße saßen vor ihren Haustüren und unterhielten sich. André grüßte sie, doch niemand grüßte zurück. Sie starrten an ihm vorbei, als ob er unsichtbar wäre. Am nächsten Morgen fühlte er sich noch elender als am Tag vorher. Die Verachtung, die ihm von allen Seiten entgegenschlug, verwundete ihn; das ständige Alleinsein war öde und bedrückend. Es gab keine Freude mehr; keine Freude an der Arbeit, keine Vorfreude auf ein Zusammensein mit den Jungen in der Mittagspause oder nach Feierabend. Selbst der Gedanke an die erfolgreiche Zukunft war ihm widerwärtig. In der Pause versuchte er zu lesen, doch jede Zeile erinnerte ihn an Maurice. Der würde ihm nie wieder helfen, würde ihm keinen Atlas kaufen und nicht mit ihm zur Bibliothek gehen. Er steckte das Buch fort und versuchte zu schlafen. Auch das ging nicht. »Wird vorübergehen«, suchte er sich selbst zu beruhigen, »in ein paar Tagen ist alles vergessen.« Am Spätnachmittag stand mit einemmal sein Vater vor ihm, in Arbeitskleidern, so wie er von der Fabrik gekommen war. »Ich wollte mal sehen, wie es dir geht! Du warst so lange nicht zu Hause.« André begrüßte ihn überschwenglich; glücklich, endlich einen Menschen zu haben, der ihn noch leiden mochte und mit dem er reden konnte. Er sprudelte die Worte nur so hervor, lachte krampfig und strampelte erregt mit Händen und Füßen. Jäh stockte er. Beinahe hätte er von seinem Geld erzählt. Voller Stolz und Besitzerfreude wollte er gerade von seinem Karren berichten und von seinem Aufstieg zum Blumenhändler. Mit einem Schlag wurde ihm klar: das konnte er ihm nicht erzählen! Vater würde nie einem Schuft helfen und sich dadurch mitschuldig machen, würde niemals Vertrauen mißbrauchen, wie er. Mit schreckhafter Deutlichkeit sah er plötzlich, was er vorher nicht sehen wollte. Alles, was er sich zu seiner Rechtfertigung eingeredet hatte, alle die hübsch zu-
rechtgelegten Gründe waren verflogen wie Nebel. Nichts mehr, wohinter er sich verkriechen konnte; kraß und eindeutig war das Unrecht übriggeblieben. Er schwieg bestürzt und blickte zu Boden. Vater, der ihn von Kind an zu absoluter Ehrlichkeit angehalten hatte, würde tief enttäuscht sein und ihn nie mehr sehen wollen, wenn… Dann war er ganz allein! »Was ist denn? Erzähl doch weiter!« Doch André brachte kein Wort über die Lippen, keine Ausrede fiel ihm ein, er war wie gelähmt. Der alte Mann fragte ihn besorgt und eindringlich, was ihm fehle. André schüttelte den Kopf und wich seinen Augen aus. »Hast du was angestellt, sag mal?« »Nein, nein!« stotterte André. »Wieso, weshalb soll ich…?« »Ich meine nur, weil du auf einmal so merkwürdig bist. Aber ich weiß ja: du tust nichts Böses, du bist ein anständiger Junge, nicht wahr?« André nickte mir hochrotem Kopf. Sein Vater blickte ihn forschend an. Er fühlte, daß irgend etwas nicht stimmte, fragte jedoch nicht weiter, weil er wußte, daß es viele Dinge gibt, die man allein tragen muß, bei denen nicht einmal ein Vater helfen kann. »Komm Sonntag mal ’raus! Ich werde Elise sagen, sie soll einen Kuchen backen.« Er gab André die Hand und ging davon. Der blaue Arbeitsanzug schlotterte um seinen dürren Körper, der krumme Rücken wölbte sich, die viel zu langen Arme schlenkerten ein wenig müde. Doch der graue Kopf hob sich aufrecht und frei. Am liebsten wäre André hinter ihm hergelaufen und hätte sich wie früher, wenn er sich beim Spiel die Knie zerschunden hatte, heulend an ihn geklammert, um sich von der rissigen Hand streicheln und trösten zu lassen. Kaputte Knie heilen, dachte er, kaputtes Vertrauen nicht. Das Geld im Brustbeutel drückte ihn mit Zentnerschwere. Ich werde alles rückgängig machen, jaja, das muß ich tun! Ich werde das Geld zurückschicken, ich kann das elende Geld nicht mehr sehen! Wenn man es doch ungeschehen machen könnte! Aber das ist – das ist unmöglich. Leider. Ich wollte vorwärtskommen, Erfolg haben um jeden Preis! Jetzt hab’ ich Geld, Erfolg und keine Freunde mehr. Und keine Ruhe mehr. Und alle verachten mich. Der Preis ist zu hoch! Faidherbe hatte recht: der gute Ruf ist mehr. Alles hin, alles zum Teufel!
Er stand neben seinem Armsessel und blickte in das Gewühl, ohne etwas zu sehen. Reue quälte ihn. Hätte ich doch…. wäre ich doch nicht…! Allein und unbeachtet saß er am Abend auf Gregoriades’ Ladentreppe und grübelte. Der Kummer wühlte in ihm, die Einsamkeit machte ihn krank. Am nächsten Morgen war es nur noch schlimmer. Er konnte es kaum abwarten, bis er seine Stammkunden bedient hatte. Kurz nach neun packte er seinen Kram zusammen und lief zu Katchourian und zum Rathaus, machte Kauf und Konzessionsantrag rückgängig. Auf dem Heimweg fühlte er sich ein wenig erleichtert. Da faßte ihn jemand am Arm und hielt ihn fest. Punaise, schon am hellen Vormittag betrunken! »He! W-wohin denn so eilig? Na, w-wieder zurück? Hupsassa!« Er schwankte und stützte sich schwer auf den Jungen. »Hat – hat euch der schäbige Lump ’r-rausgeschmissen? M-mich schmeißt er immer ’raus! Jawoll!« André versuchte sich zu befreien, doch Punaise packte um so fester zu. »Komm, geh mit! Spendier mal ’nem alten Freund ’ne Lage! Komm, bloß ’n Liter Roten! Oder ’n h-halbes Liter, nur ’n Schluck! Komm, sei kein Frosch!« »Ich denke nicht dran! Lassen Sie mich gefälligst los!« André befreite sich mit einem Ruck und rannte weg. Den restlichen Vormittag überstand er trübselig neben seinem Sessel. Zum Kundenfang fehlte ihm jeglicher Schwung. Kam freiwillig ein Kunde, machte er sich lustlos und stumm an die Arbeit. Gegen fünf Uhr nachmittags, als er schon fest entschlossen war, nach Nordafrika auszuwandern, um nur keinem von seinen früheren Freunden mehr begegnen zu müssen, durchzuckte ihn ein ganz anderer Gedanke. Er reckte sich wie eine Zaunlatte, sein Gesicht wurde gespannt - und konzentriert. Punaise! Er schlug sich vor den Kopf. Ich hätte ihn ausfragen sollen! Der weiß doch irgendwas. Irgendwas! Mit einmal war er quicklebendig. Hastig packte er seine Sachen zusammen, obgleich noch längst nicht Feierabend war, und brachte sie, wie üblich, dem Portier der Börse zur Aufbewahrung. Dann rannte er los, so schnell seine Plattfüße und das Gewühl es zuließen. Es ist zwar ein Unding, dachte er unterwegs, in den zahllosen Kneipen jemand zu suchen. Quasi gewissermaßen dasselbe, wie in einem
Heuhaufen nach einer Stecknadel zu stöbern, aber dennoch! Er ging systematisch und gründlich vor. In der ersten halben Stunde durchsuchte er achtzehn Kneipen, in der nächsten halben Stunde brachte er es auf einundzwanzig. Die dreiundfünfzigste war die »Bar Saadi« und lag mitten im Araberviertel, dort fand er ihn. Punaise lehnte in einer Ecke, den Kopf weit im Nacken, und schnarchte. André weckte ihn und grinste ihn freundlich an. »Na, ausgeschlafen, altes Spundloch?« »Wo kommst du denn her?« erkundigte sich der Mann gähnend. »Zufällig hier ’reingeschneit quasi gewissermaßen. Ich verspürte ein wenig Durst. Sie trinken doch wohl ein Gläschen mit, wie? Heute morgen war ich ein wenig grob, nicht wahr? Nehmen Sie mir’s bitte nicht übel, ich war geschäftlich unterwegs. Wir trinken einen Versöhnungsschluck!« »Red nicht so lange, laß ’n Eimer Roten kommen!« Der Kerl ist unangenehm nüchtern! Wird allerhand Geld kosten, bis ich ihn vernehmungsfähig habe, dachte André, während er die Bestellung aufgab. Der Wirt brachte eine Flasche und zwei Gläser und schenkte ein. »Sehr zum Wohle!« André verbeugte sich im Sitzen. Punaise brummte, goß das Glas in einem Zug ’runter und füllte sofort nach. Der Junge bekam Stielaugen. Als die zweite Flasche zu Ende ging, spielte André beschwipst, klopfte Punaise vertraulich auf die Schulter und duzte ihn. Geschickt leitete er zum Thema über, indem er den Wein lobte. »Ah, da hättest du mal meinen Wein trinken sollen, den ich früher beim Grafen gezogen habe! Unterschied wie Tag und Nacht! Na, vorbei, vorbei! – Prost!« André bohrte und fragte weiter. Punaise antwortete zunächst widerwillig, offenbar sprach er nicht gern über seine Tätigkeit auf St. Augustin. Allmählich aber geriet er in Erregung, und das hatte André erreichen wollen. Nun brauchte er das Gespräch nur noch vorsichtig zu lenken. Schließlich war auch das nicht mehr nötig: Punaise erzählte hemmungslos. Die dritte Flasche war noch nicht leer, da wußte André, daß Punaise die Reben abgeholzt hatte. Baharoff hatte ihn auf hinterlistige Weise dazu gezwungen, und zwar so: Jedesmal, wenn Punaise nach Marseille kam, um eine Ladung Wein zu verkaufen, machte sich Grimard an ihn heran und bot ihm viel Geld für ein Fünfzig-Liter-
Fäßchen St. Augustiner. Eines Tages ließ Punaise sich überreden, füllte heimlich ein Fäßchen ab und verkaufte es ihm. Nun hatte der Mann ihn in der Hand. Mit der Drohung, er werde ihn beim Grafen anzeigen, erpreßte Grimard immer neue und immer größere Lieferungen. Punaise, dem die Sache unheimlich wurde, suchte sich dadurch aus der Schlinge zu ziehen, daß er sich beim Grafen durch ständige Trunkenheit und Nachlässigkeit so unbeliebt machte, daß man ihn entlassen mußte. Kündigen wollte er nicht; niemand – vor allem seine Familie nicht – hätte verstanden, warum er eine so gute Stelle aufgab. Doch so leicht konnte man Baharoff nicht entwischen. Jede neue Stelle, die Punaise annahm, verlor er bald darauf wieder, weil Baharoff seinen Arbeitgeber »aufklärte« über seine fortgesetzten Unterschlagungen, die er auf St. Augustin begangen hatte. Schließlich stellte ihn niemand mehr ein, seine Familie geriet in große Not. Da endlich erschien Baharoff persönlich und versprach ihm eine neue Stelle, wenn er die Reben des Grafen abholzte; wenn nicht, wolle er ihn ins Gefängnis bringen. Drei Nächte lang hackte er die Stöcke ab, die er früher sorgsam und liebevoll gepflegt hatte. Die Zeugen, die ihn in Marseille gesehen haben wollten, hatte Baharoff bestochen. André zahlte und schleppte den Betrunkenen nach Hause. Mühselig bugsierte er ihn die Treppe hinauf und legte ihn auf Maurices Bett, schloß die Tür ab und legte den Schlüssel unter sein Kopfkissen. Vor lauter Aufregung konnte er kein Auge schließen, Punaise dagegen schlief wie ein Klotz. Kaum wurde es hell, da sprang der Junge aus dem Bett, wusch sich und zog sich an. Noch einmal überdachte er seinen Plan, den er gestern abend in Windeseile entwickelt hatte. Ja, er war richtig, er hielt allen Überlegungen stand. Er weckte Punaise. »Los, stehen Sie auf! In einer halben Stunde geht unser Zug!« »He? Ha? Was für ’n Zug?« »Nach Villeneuve! Sie werden dem Grafen dasselbe erzählen, was Sie mir gestern abend erzählt haben.« »Ich? Was hab’ ich denn erzählt?« »Eine ganze Menge höchst interessanter Dinge! Falls Sie aber keine Lust haben sollten, mit mir zu verreisen, werde ich schnurstracks zur Polizei gehen und Sie anzeigen! Tun Sie jedoch, was ich verlange, bleibt die Polizei aus dem Spiel, das verspreche ich Ihnen.« Punaise fluchte wie ein Türke, doch als André ihm nochmals ver-
sprach, daß ihm nichts geschehen werde, folgte er ihm zum Bahnhof. Es war halb eins, als sie vor der Tür des Gartenhäuschens standen und André die Klingel zog. Graf Franz und die Jungen hatten sich gerade zum Mittagessen niedergesetzt, da schellte es. Gaston öffnete. Verblüfft schaute er zwischen André und Punaise hin und her, dann winkte er stumm und führte sie ins Wohnzimmer. »Bi-bitte mehrmals um Entschuldigung, daß ich wiedergekommen bin«, stotterte André, seine Augen irrten im Zimmer umher, »es ist nicht meinetwegen, sondern in Behuf des Schlosses: Punaise möchte was erzählen!« »Möchte ist gut!« brummte der Mann, der sich vor Verlegenheit und Scham nicht zu lassen wußte. »Aber jetzt ist alles egal«, fuhr er nach einem tiefen Atemzug fort. »So?« Der Graf sprang auf und zeigte auf die beiden Sessel am Rauchtisch. »Setzen Sie sich bitte dorthin! Ich bin sofort wieder da!« Als er wenige Minuten später zurückkam, zog er ein Kabel hinter sich her und stellte ein Mikrophon vor Punaise auf den Tisch. »Nun?« Stockend und ohne Zusammenhang begann Punaise zu erzählen, André mußte ihm auf die Sprünge helfen. Allmählich faßte er sich; beschönigte nichts und verschwieg nichts, seine Beichte war rückhaltlos und vollständig. Niemand unterbrach ihn, alle hörten gespannt zu. Als er geendet hatte, stand er auf und fragte leise: »Kann ich jetzt gehen?« André erhob sich ebenfalls. »Ich habe ihm versprochen, daß er nicht angezeigt wird!« »In Ordnung!« Der Graf schaute unbewegt geradeaus. Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild, das er sich oft ausgemalt hatte: er hißte auf dem Turm wieder die Fahne, die seit Jahrhunderten über St. Augustin geflattert hatte! Jetzt war es bald soweit! »Ich wollte noch sagen, Herr Graf«, fuhr Punaise bedrückt fort, »es tut mir furchtbar leid, daß ich, ausgerechnet ich die Reben…« Er machte eine hilflose Bewegung mit der Schulter und ging hinaus. Keiner achtete auf ihn, alle schauten den Grafen an, dessen Gesicht sich nun langsam rötete. André hatte unterdessen den Brustbeutel hervorgenommen und fünf Hundertfrankenscheine auf den Tisch gelegt. »Hier! Ich will das Geld nicht, es – es macht mich krank!« Ausgerechnet in diesem Moment platzte René die Geduld. Er hat-
te wie alle andern den Grafen angeschaut und darauf gewartet, daß irgend etwas erfolgte, ein Freudenschrei oder ein Ausruf. Als aber nichts Derartiges geschah, der Graf nur mit rotem Kopf vor sich hin lächelte, da konnte er sich nicht länger beherrschen und ballerte: »Mann, jetzt fliegt er aber ’raus! Hochkantig! Ich bin der friedlichste Mensch, den…« »Ich geh’ schon!« sagte André mit bebender Stimme. »Mich braucht keiner ’rauszuwerfen!« »Ach, du doch nicht, du Pfeifenkopf!« Doch André war schon unterwegs. Pipin sprang auf und hielt ihn an. »Du siehst schlecht aus«, sagte er lächelnd. Er sprach leise und ganz ohne Anlauf, seine Stimme sang vor lauter Herzlichkeit noch mehr als sonst. »Vielleicht solltest du mal was essen? Ich gehe doch wohl kaum fehl in der Annahme, daß du Hunger hast, wie? Du ahnst nicht, was es heute gibt: Kalbsbraten mit Preiselbeeren! Doch quasi gewissermaßen dein weitaus zweitliebstes Leibgericht, oder? Filou ist bereits fort, dir einen Teller zu holen!« André zog die Augenbrauen bis unter den Haaransatz und staunte, als hätte er einen Marsmenschen vor sich. Grinsend wuchtete sich Filou in die Höhe und walzte in die Küche. »Na, komm schon, du alberne Bohnenstange!« fuhr Pipin munter fort. »Geniert sich wie ’ne Zicke am Strick!« brummte René, rollte heran wie ein Preisboxer und verpaßte André einen wuchtigen linken Geraden. »Au! – Bin – bin ich denn kein Verräter mehr?« »Haste sonst noch ’ne kluge Frage?« meinte René, reichte ihm die Hand und drückte so fest zu, daß André zum zweitenmal »Au!« schrie. »Nein, André!« sagte Maurice und reichte ihm ebenfalls die Hand. »Jeder macht mal ’n Fehler, du hast deinen wiedergutgemacht und sicher was dabei gelernt. – Schön, daß du wieder da bist! Du hast uns richtig gefehlt.« Filou, der eben mit dem Besteck hereinkam, bubbelte: »Wenn der Teufel dich ’n Bein stellt, fallste hin. Aber du darfs nich liegenbleiben!« »Sie haben die Scharte glänzend ausgewetzt!« sagte der Graf und schüttelte André lange die Hand. »Und das Geld stecken Sie nur schnell wieder ein, es gehört Ihnen jetzt wirklich!«
André blinzelte nervös, seine Lippen zuckten. »Ja, wie? Was? Ich…« Er kam so schnell nicht mit. »Setz dich, du Rübe!« brummte René und schubste ihn rauh, aber herzlich auf einen Stuhl. »Erzähl mal, wie du das mit Punaise gedreht hast, Mensch!« Kurz und knapp berichtete André, dann wurde endlich gegessen. Obgleich sein Lieblingsgericht vor ihm stand, brachte er keinen Bissen über die Lippen. Die Aufregung der letzten Tage wirkte sich aus, ihm wurde entsetzlich übel, seine Hände zitterten, und in den Ohren rauschte und dröhnte es. Die Jungen packten ihn auf die Couch und deckten ihn zu, denn er fror trotz der Hitze. Wenige Minuten später schlief er tief und fest. Zum erstenmal seit vier Tagen war sein Gesicht zufrieden und entspannt. »Was haben Sie jetzt vor?« fragte Maurice. »Jetzt können Sie den alten Gauner doch ’raus werfen, nicht wahr?« Der Graf antwortete nicht sogleich, nickte nur und stocherte geistesabwesend in seinem Essen herum, was ihm einen verweisenden Blick von Pipin eintrug. »Klar, Baharoff ist geliefert! Der Beweis ist ja wohl ausreichend für jedes Gericht. Ich möchte am liebsten gleich zu ihm, ich möchte ihn am liebsten noch heute an die Luft setzen – aber das wird kaum gehen!« »Wieso?« »Ich habe nicht genug Geld! Keine Zehntausend.« »Ich denke, Sie hatten das Geld vor zwei Jahren schon zusammen?« »Ganz recht! Aber das geliehene Geld habe ich natürlich zurückgegeben, und mein eigenes steckt fast ganz im Betrieb.« »Sie kriegen mein Sparbuch! Heben Sie alles ab!« »Vielen Dank, Gaston! Jean-Baptiste wird mir seine Ersparnisse ebenfalls leihen, aber…« »Selbstverständlich geben wir alle unser Geld zurück!« »Auf keinen Fall! Sehr liebenswürdig, Maurice, doch davon wird der Kohl nicht fett, behalten Sie nur Ihr Geld. Ich werde gleich versuchen, mir etwas zu leihen, doch ob ich genügend zusammenbekomme, ist fraglich.« Sofort nach dem Essen ging er in sein winziges Arbeitszimmer und führte mehrere lange Telefongespräche. Dann setzte er sich in den schwarzen Buick und fuhr davon. Gaston und die Jungen ließen sich vor der Haustür im Schatten nieder und warteten auf Jean-
Baptiste. André schlief immer noch. Der Alte kam, um wie üblich seine Mittagspause beim Grafen zu verbringen. Die Jungen erzählten ihm, was vorgefallen war. Kaum hatte er sich ein wenig beruhigt, da schlich er auf Zehenspitzen ins Haus – Gaston hinterher. Beide kamen mit ihren Sparbüchern zurück. René fuhr sie mit Spinne zur Bank nach St. Tropez. Eine knappe Stunde später waren sie wieder da. Durch Spinnes Getöse erwachte André und kam heraus. »Hört mal, ich hab’ einen Kohldampf, welcher nicht von Pappe ist!« sagte er und gähnte. »Muß auch nich Pappe essen!« meinte Tista vorwurfsvoll. »Nee, das mußt du auch nicht«, stimmte Pipin feixend zu. »Komm mit, ich geb’ dir was anderes. – Willst du auch was, Tista?« »J-jaha! Gebatenen Fisch!« »Hab’ ich nicht! Maurice hat doch heute nichts gefangen!« Der Maler war nämlich an den Tagen vorher mit Gummiflossen, Tauchbrille und Harpune auf Unterwasserjagd gewesen, und sogar mit Erfolg! René behauptete hinterher, die Fische hätten vor Lachen nicht wegschwimmen können, als sie Maurices O-Beine sahen; Maurice hätte sie mit der Hand gefangen und nachträglich auf die Harpune gespießt. Tista aber trug jeden Mittag stolz und hungrig einen Zwei- oder Dreipfünder in die Küche. Gegen sechs Uhr kam der Graf zurück, Jean-Baptiste und Gaston übergaben ihm sogleich ihr Geld. »Wieviel?« fragte Maurice lakonisch. »Knapp vier! Ich habe einen Bankkredit bekommen. Bekannte haben mir was geliehen, dazu die Ersparnisse der beiden. Mitzuzählen wäre noch der Betrag für die vernichteten Reben – denn die muß er ja ersetzen. Also noch rund tausend. Meine Freunde sind alarmiert und wollen sehen, was sie in den nächsten Tagen zusammenkriegen, doch mehr als zweitausend erwarte ich von dieser Seite nicht. Ich habe noch erhebliche Guthaben bei Kunden, aber ich kann mich nicht restlos verausgaben, ich brauche schließlich Betriebskapital!« Der junge Mann machte ein sorgenvolles Gesicht. »Im Höchstfalle komme ich also auf siebentausend.« »Rest dreitausend!« André wiegte seinen Wasserkopf. »Schwere Menge Holz!« Ein Wagen kam heran und hielt. Rechtsanwalt Delattre stieg aus und rief erstaunt: »Was machen Sie denn hier, André? Ich habe Sie heute morgen vermißt!«
André verbeugte sich. Daß man ihn vermißte, ging ihm ’runter wie Honig. Eine halbe Stunde besprach der Graf mit Delattre den vorbereiteten Kaufvertrag, dann ließen sie sich durch Jean-Baptiste bei Baharoff anmelden. Begleitet von den guten Wünschen aller, machten sie sich auf den Weg. »Wenn er pampig wird, rufen Sie mich! Den heb’ ich aus den Textilien!« knurrte René und trommelte mit den Fäusten auf seine Brust wie ein Gorilla. Kaum waren die Männer fort, da sagte Maurice: »Gaston, habt ihr ’ne Fahne? Ich meine, ’ne gräfliche?« »Klar! Mit ’nem schwarzen Löwen im roten Feld!« »Holen Sie das Ding! Wird sofort gehißt! Die Regierungsübernahme muß schließlich gefeiert werden!« Das Stichwort »feiern« zündete augenblicklich. Nichts lieber als das! Ameisenhafte Geschäftigkeit brach aus: Gaston, René und Seppe schleppten alle überflüssigen Möbel aus dem Wohnzimmer hinaus und einen zweiten Tisch hinein. Stellten zwölf Stühle drum herum. Seppe übernahm das Tischdecken, Filou schmierte Unmengen Brote, Pipin richtete eifrig leckere Gabelbissen an, Tista wirkte mit demselben Eifer als Verkehrshindernis. Maurice malte ein großes Schild: »Herzlich willkommen!« Und darunter: »Es lebe Graf Franz der einundzwanzigste!« Dann holte er einen Hammer, Nägel und eine Leiter, um das Schild über der Türe anzubringen; schlug erst auf seinen Daumen und dann auf die Nägel. Die drei Neufundländer lagen in der Ecke und betrachteten den Aufruhr mit philosophischer Ruhe. »Gastong, harn Se kein Akkordijon?« fragte Filou. »Nee, aber ’ne Trompete!« »Ho, Trompete allein is schlecht!« »Ich hol’ ein Akkordeon!« versprach Gaston, setzte sich in den Wagen, fuhr ins Dorf und kam mit einer wunderschönen Ziehharmonika wieder. Um Viertel vor neun war alles fix und fertig. Gaston hatte seine Feiertagslivree angezogen, die Jungen sich so festlich wie möglich gemacht. Sie standen vor der Tür und stritten sich über die Begrüßungsmusik. Gaston kannte fast nur Opern- und Operettenstücke, Filou fast nur Schlager und Volkslieder. Das heißt: es gab doch so einige Überschneidungen. So kannte der Schwarze zum Beispiel den Brautmarsch aus »Lohengrin«, aber der wurde allgemein als unpassend empfunden. Gaston dagegen erinnerte sich an den Schlager, der
»Eselsserenade« hieß – das war noch unpassender! Schließlich einigten sie sich auf den Marsch »Alte Kameraden«.
»Sie kommen!« hieß es da auch schon. Filou zählte aufgeregt bis drei, dann schmetterten sie los. Seppes Gitarre war natürlich kaum zu hören, aber er glänzte vor Begeisterung. Filous Fettmassen wabbelten, seine Finger tanzten über die Tasten; am liebsten hätte er vor Begeisterung gebrüllt. Gaston blies, daß die Halsadern hervorquollen, und nicht immer richtig, aber das machte nichts aus. René schlug auf einem leeren Benzinfaß den Takt. Der Graf schaute auf die Kapelle, auf das Schild und auf die Fahne und hatte vollauf zu tun, die Fassung zu bewahren. Rührung und Freude machten ihn richtig schwindelig. Kaum war der Marsch zu Ende, da fragte Maurice wie aus der Pistole geschossen: »Wie war’s? Was hat der alte Gauner gesagt?« »Das Gesicht hättet ihr sehen müssen! Zuerst versuchte er natürlich alle möglichen Faxen, aber schließlich hat er doch unterschrieben. Was blieb ihm auch anderes übrig?« »Na, prima, Mensch! Jetzt haben Sie Ihren Schuppen ja wieder!« röhrte René und schlug dem Grafen derb auf die Schulter. Das war so seine Art, Glückwünsche auszusprechen. Alle drängten sich um den neuen Besitzer von St. Augustin, strahlten, lachten und juchhuten und zerrten ihn ins Wohnzimmer. Jean-Baptiste kam atemlos herbeigelaufen und streckte dem Grafen beide Hände entgegen. »Lieber Franz! Der schönste Tag meines Lebens!« sagte er mit ergriffenem Bibbern. »Ich habe gekündigt!« Maurice hielt eine schöne Rede und ließ alle auf das Wohl des Grafen trinken. Monsieur Delattre hielt eine Rede, und wieder wurde
getrunken. Jean-Baptiste hielt eine Rede, und der Graf hielt eine Rede, und jedesmal wurde getrunken. Und da entdeckte Filou seinen Mut und wollte auch eine Rede halten. Er stand auf und öffnete schon den Mund, da schlug Seppe ihn mit der flachen Hand in die Kniekehle, so daß er wie vom Blitz getroffen auf den Stuhl zurückplumpste. Tista redete die ganze Zeit und warf schon zum zweitenmal seine Limonade um. Es war wunderbar! »Und nun?« fragte Maurice. »Wann zieht Baharoff aus?« »Nicht eher, bis das Geld restlos bezahlt ist! Wir werden tüchtig arbeiten müssen. Ich müßte den Betrieb vergrößern, noch ein paar Leute einstellen.« Der Graf blickte die Jungen der Reihe nach an. »Könnten Sie nicht«, begann André und räusperte sich, »könnten sie nicht einen Reisevertreter gebrauchen? Mit Wagen und Chauffeur sogar? Beides strebsame junge Leute! Wir würden zunächst auf jegliche Provision verzichten, bis der alte Gauner ’raus ist, nicht wahr, René?« »Wie? Was? Ich? Mit dir! Was ’ne Zumutung! – Na klar, wir arbeiten fürs Essen, bis Baharoff ’raus ist! Ich wollte mich sowieso verändern.« »Gut! Versuchen Sie ’s mal! Eigentlich eine prächtige Idee! Wenn Sie tüchtig sind, könnten Sie viel Geld verdienen. – Später brauchte ich auch einen Koch, Pipin! Haben Sie keine Lust zu bleiben?« »Ist gemacht!« Der Gelbe zeigte grinsend die Backenzähne. »Brauchen Sie nicht noch einen Lehrling, Herr Graf?« »Sie wollen doch nicht etwa umsatteln, Maurice?« »Nein, Seppe möchte gern was Vernünftiges lernen! Hat sehr geschickte Finger!« Seppe nickte eifrig. »Einverstanden! Wie ich meinen Werkstattleiter kenne, wird Seppe was lernen! Und Sie bleiben selbstverständlich auch, Maurice. Zu essen haben wir immer, und zu malen gibt es ja hier reichlich.« Filou schniefte und zog einen Flunsch. »Alle bleim se hier, bloß ich muß weck, Mann! Weng Oma!« »Zum Trost dürfen Sie sich einen von den beiden Junghunden aussuchen!« »Wirklich?« Der Graf nickte ihm lächelnd zu. Filou sprang auf, lief in die Ecke und kam mit Castor auf dem Arm zurück. »Is der nich schön? Guck mal, wie der guckt! Genau wie Stinker!« »Diesmal aber rasserein! Gehen Sie häufig mit ihm an die See, Filou! Neufundländer schwimmen sehr gern.« »Jeden Tach!« versprach der Schwarze, setzte den Hund auf den
Boden und tobte seine Freude mit Hilfe der Ziehharmonika aus. Sein Lieblingslied ertönte, voll weicher Schwermut und strömender Wärme. Von so belebten Händen war das einfache Instrument noch nie gespielt worden. Filou vergaß seine Umgebung und verlor sich in die Musik. Seine Augen waren zur Decke gekehrt und sahen nichts, sein Kopf rollte von einer Seite auf die andere, seine Körperbewegungen waren Töne, seine Atemzüge Rhythmen. Nach dem letzten Ton erwachte er, seufzte fett und alltäglich und blickte sich erstaunt um. »Bravo!« rief der Graf und klatschte begeistert. »Bravo!« riefen auch die andern und machten ein schreckliches Getöse. Selbst JeanBaptiste schlug die langen weißen Hände zusammen und sagte in einem fort: »Ganz außerordentlich! Ganz außerordentlich!« Alle tranken dem Schwarzen zu, der vor lauter Verlegenheit sein Glas in einem Zug leerte. Seppe stand auf, winkte Tista und stellte sich neben Filou. »Los, ›Quel mazzolin di fiori‹!« Sie spielten die Einleitungstakte, dann begannen die Palottis zu singen. »Hätte ich nie gedacht, daß diese Jungen…«, murmelte JeanBaptiste, »nie!« Später, als alle schon einen kleinen Schwips hatten, beugte sich Gaston zu Maurice hinüber und fragte: »Sagen Sie mal, Sie wohnen tatsächlich in der Zwiebelstraße?« »Ja, warum nicht?« »Ach, nur so!« Er zögerte einen Moment. »Ich kenne da jemanden, weiß allerdings nicht, ob er noch lebt. Ist schon lange her, seit…« Er stockte wieder. Maurice hatte den Eindruck, als habe der Mann etwas auf dem Herzen. »Wer ist es denn? Vielleicht kennen wir ihn?« Gaston gab sich einen Ruck. »Pylades Gregoriades!« »Na klar kennen wir den!« ballerte René, der mitgehört hatte. »Monsieur Pill, ganz alter Freund von uns! Sollen wir ’n Gruß bestellen?« »Nein, nein, lassen Sie nur«, erwiderte Gaston hastig. »Er wird sich meiner nicht mehr entsinnen.« Gregoriades? Gregoriades? Maurice schaute den Mann aufmerksam an. Der war ihm doch von vornherein aufgefallen! Die Figur, der runde Schädel, die buschigen Augenbrauen. Und Marseiller Dialekt. Linkshänder! – Na, dachte er, na! Ist doch nicht möglich! Ausgeschlossen! In Gedanken malte er Gaston einen Schnurrbart an,
und da war die Sache völlig klar. Verflixt und zugenäht! Verflixt, was ’n Ding! Maurice wartete einen Moment, dann blickte er Gaston fest in die Augen und sagte: »Gustave! Ihr Vater würde außer sich sein vor Freude, wenn Sie nach Hause kämen!« Der Chauffeur zuckte zusammen und wurde blaß. »Gustave?« fragte der Graf. »Er heißt doch Gaston!« »Nein, Herr Graf! Ich bin Gustave Gregoriades. Ich habe Sie und Ihren Vater beschwindelt, jahrelang.« Und dann erzählte er seine Geschichte, berichtete von seinen Streichen und schließlich vom Raub der väterlichen Kasse. »Ich bin nicht weit gekommen damit. In Nîmes wurde mir alles gestohlen. Ich wagte mich nicht mehr nach Hause und schlug mich kümmerlich durch. Eines Tages las mich Ihr Vater auf, Herr Graf. Er ahnte, daß ich was ausgefressen hatte, aber er hat nie gefragt. Er vertraute mir und machte mich zu seinem Chauffeur. Ich glaube, ich habe ihn auch nie enttäuscht; ich war so dankbar, daß er mir eine Chance gegeben hatte. Wer weiß, was sonst aus mir geworden wäre!« »Ich denke, Sie wurden erschossen?« platzte Seppe heraus. »Was? Ich?« »Ja«, sagte Maurice, »Ihr Vater hält Sie für tot. Er bekam aus Nîmes Nachricht von der Polizei, Sie wären beim Überfall auf die Sparkasse erschossen worden.« »Schrecklich! Ich als Räuber erschossen! Da hat mein Vater aber was… Das war ich natürlich nicht, wahrscheinlich der, der meine Brieftasche gestohlen hat. Aber nun – nun kann ich doch erst recht nicht mehr nach Hause!« »Quatsch! Tun Sie das dem Alten nicht an! Wir sollten ihm ’ne Zeichnung mitbringen von Ihrem Grab. Er kann sich nämlich nicht beruhigen, daß Sie komischer Paradiesvogel nicht mehr vorhanden sind. Aber so, Mann! – Das müssen wir dem Pill schonend beibringen, Kinders! Der kippt uns aus den Pantinen!« »Gustave!« Zum erstenmal sagte der Graf Gustave! »Wir fahren morgen früh alle zusammen nach Marseille, und ich werde Ihren Vater vorbereiten, einverstanden?« »Ja, ja, bitte! Ja! – Sie sind mir nicht böse, Herr Graf?« »Unsinn! Als Gustave sind Sie mir genauso lieb wie als Gaston. Prost, verlorener Sohn!« René sorgte dafür, daß keinerlei trübe Gedanken aufkamen. Er schlug Gustave auf die Schulter und brüllte: »Prost, Kollege!
Mensch, die Welt ist doch ’n kleiner Hühnerstall, überall trifft man die komischen Hühner aus der Zwiebelstraße. Komm, trink, Mensch! Dein Alter – ich sag’ jetzt du zu dir, denn du bist ja mein Nachbar – also dein Alter fällt uns hundertmal um den Hals, wenn wir dich mitbringen. Ich kenne doch meinen Freund Pill!« Das Fest wurde noch ausgesprochen rauschend. Den dicksten Rausch hatte Jean-Baptiste, weil er sich so sehr freute. Er nahm schließlich sogar Seppes Gitarre und begann zu singen, woraufhin die drei Neufundländer geschlossen das Lokal verließen. »Die hams gut!« seufzte Filou hinter ihnen her.