Umschlaggestaltung: HAUPTMANN UND KAMPA
Werbeagentur, München - Zürich Andrea Glanegger unter Verwendung
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Umschlaggestaltung: HAUPTMANN UND KAMPA
Werbeagentur, München - Zürich Andrea Glanegger unter Verwendung
eines Bildes von ©photonica
ALS DIE BEIDEN JUGENDLICHEN BRÜDER William und Mack Burke 1897 in Alabama einen einsamen Reiter überfallen, wollen sie eigentlich nur etwas Geld erbeuten, um das erste Mal in ein Bordell gehen zu können. Der dilettantische Raub geht schief, und der Reiter, ein örtlicher Kaufmann mit politischen Ambitionen, wird versehentlich erschossen. Die Nachricht von dem Mord verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der Region. Und das ohnehin ange spannte Verhältnis zwischen der armen Landbevölkerung und den vermeintlich reicheren Städtern und Landbesitzern explodiert, als der Schwager des Ermordeten eine Bande ins Leben ruft und wie ein Racheengel das Land mit Terror und Tod überzieht. Wer sich der Bande nicht anschließt, muss fliehen. Wer auf der falschen Seite steht, wird grausam verfolgt. Der 60-jährige, müde gewordene Sheriff Billy Waite steht allein zwischen den Fronten und muss einem Bürgerkrieg Einhalt gebieten.
TOM FRANKLIN wurde in Alabama geboren; seine Eltern gründeten eine Kirche, in der wundersame Heilung en und Teufelsaustreibungen an der Tagesordnung waren; er studierte Englisch an der University of Arkansas, erhielt u.a. den »Edgar-Award« für seine Kurzgeschichten und lebt heute mit seiner Frau, der Schriftstellerin Ann Fennelly, in Oxford, Mississippi. Die Gefürchteten ist sein erster Roman.
TOM FRANKLIN
DIE
GEFÜRCHTETEN
ROMAN Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller
HEYNE‹
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Hell at the Breech bei William Morrow, New York
Redaktion: Dr. Uwe-Michael Gutzschhahn
Copyright © 2003 by Tom Franklin Copyright © 2005 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich Gesetzt aus der Chaparral Display Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
ISBN 3-4 5 3-01210-0 www.heyne.de
Für Beth Ann und für Claire
Hört ihr Pferdewiehern oder das Quietschen von gutem Leder, so schärfte man den Kindern von Mitcham Beat ein, dann lauft und versteckt euch.
»The Mitcham War of Clarke County, Alabama«
Harvey H. Jackson III,
in Zusammenarbeit mit
Joyce White Burrage und James A. Cox
Vorbemerkung des Autors
Obwohl es in den 1890ern in Clarke County, Alabama, einen Mitcham War gab, und obwohl die Gang existierte, die sich »Hell-at-the-Breech« nannte, und obwohl es eine Reihe von Mor den gab, von Mitgliedern der Gang wie auch von den sie bekämp fenden Männern, hat sich der Autor beim Schreiben dieses Romans doch große Freiheiten genommen. Jede Figur ist voll und ganz der Phantasie des Autors entsprungen und verkörpert in keinerlei Hin sicht irgendeine lebende oder tote Person. Wer mehr über die Ereig nisse erfahren will, dem sei das exzellente Buch The Mitcham War of Clarke County, Alabama von Harvey H. Jackson III, in Zusam menarbeit mit Joyce White Burrage und James A. Cox, empfohlen.
Ein Sack junger Hunde September 1897
Die Dämmerung kroch zwischen den Bäumen hervor und umriss mit jedem Stamm, jedem Knoten, jedem Blatt die Welt, die er die ganze Nacht versucht hatte zu begreifen. Was würde das Tageslicht bringen, außer der Illusion des Verstehens? Die Dun kelheit ersparte einem wenigstens die Heuchelei. Hinter ihm in der Hütte, in der er und William seit dem Tod der Eltern lebten, war das morgendliche Rumoren der Witwe Gates zu hören, das Poltern der Holzscheite, die sie im Kamin in Form eines Wigwams auf stellte. Er hätte aufstehen und ihr das abnehmen sollen. Ihre leise glucksende Stimme drang an sein Ohr. Redete sie etwa mit sich selbst? Nein, mit der Hündin, die gestern Abend Junge bekommen hatte. Ganz Hebamme, hatte sie der Hündin bei der Geburt beigestanden, hatte die Jungen mit einem feuchten Lappen abgerieben, damit die Mutter sich allein aufs Pressen und Winseln konzentrieren konnte. Gleichmütig ertrug die alte Frau das halbherzige Zwicken der vom Schmerz verwirrten Hündin. Er wandte den Kopf, damit er besser hören konnte. Vielleicht erzählte sie dem Hund etwas Vertrauliches. Doch sie sprach zu leise. Steh auf und geh rein, dachte er, hilf ihr beim Frühstückmachen. Tu so, als sei nichts passiert. Aber er stand nicht auf. Er blieb sitzen, mit den Füßen auf den Stufen. Und ringsum nahm die Erde Formen an, so wie sie es am Tag zuvor und am Tag davor und an allen Tagen getan hatte, an die er sich erinnern konnte. Als ob es eine Dämmerung wäre wie jede andere. Der Boden bewegte sich und zuckte von den schon munteren Spatzen. Erst wenn sie sich rührten, konnte man sie im Laub erkennen. Er beobachtete, wie sie herumhüpften auf Beinen, 9
die wie kleine Zweige aussahen. Das Treffen im Laden hatte er schon früher verlassen. Er erinnerte sich, dass er auf dem Heimweg mit zum Himmel gerecktem Gesicht die weiße Kugel des Mondes zwischen den Ästen gesucht hatte. Wie unähnlich sich die Welt in der Nacht sah, wenn die Bäume dunkel drohend und massig auf ragten und die Vögel des Tages wer weiß wohin verschwunden waren. Sein Kopf hatte zu schmerzen begonnen. Er beugte sich vor, legte die Handflächen auf die Ohren, schloss die Augen und stützte die Ellbogen auf die Knie. So saß er da, als ihre Beine neben ihm auftauchten. »Macky.« Er drehte den Kopf zur Seite und sah durch das Gitter seiner Fin ger ihre Fußknöchel. »Ich konnte nicht schlafen.« »Wo ist William?« »Weiß nicht.« »Ist wohl noch im Laden.« Sie stellte einen Jutesack neben sich auf die Veranda. Der Sack bewegte sich. Aus der Hütte, hinter der geschlossenen Tür, war ein kratzendes Geräusch zu hören. Und Winseln. »Wie lange bist du schon auf?«, fragte sie. Er konnte den Blick nicht von dem Sack abwenden. »Weiß nicht.« »Weiß nicht, weiß nicht!« »Wenn ich’s dir doch sage, Granny.« Mit einer schnellen Handbewegung schlug sie ihm den Hut vom Kopf. Er ließ ihn einfach liegen. »Komm mir nicht so, Junge, nicht nachdem ...« »Es tut mir Leid.« Seine Wangen glühten. Noch nie hatte sie ihn geschlagen. Sie streckte wieder die Hand nach seinem Kopf aus. Diesmal sanft. Doch er stand auf, machte einen Schritt nach unten und blieb auf der untersten Stufe stehen. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und betrachtete das frisch dampfende Grün, das sich vor ihnen 10
ausbreitete. Die Bäume waren jetzt nichts weiter als Bäume und die Spatzen nur Spatzen. »Wie viele hat sie bekommen?« »Sechs Lebende. Das Kleinste ist gestorben.« Sie stand da und hielt den Sack fest. Dann hob sie ihn hoch und hielt ihn dem Jungen hin. Er nahm ihn, spürte, wie die Hunde sich bewegten, hörte sie wimmern. »Ertränken geht am schnellsten«, sagte sie. »Ich weiß.« Er hörte, wie die Witwe mit ihrem Krückstock über die Veranda schlurfte und dann die Tür hinter sich schloss. Die Krallen der Hündin kratzten wie rasend auf den Holzbohlen. Als er wegging, fing sie an zu bellen. Seinen Hut hatte er vergessen. Er ging jetzt schneller, wobei er sich den Sack vom Körper hielt, damit er so wenig wie möglich von den Jungen spürte oder hörte. Am Fluss angekommen, kniete er sich auf den großen Schiefer felsen, von dem aus er und William immer angelten. Auf dem Was ser trieben Blätter vorbei. Der Fluss war tief, gut zum Tauchen und Schwimmen, wenn nicht die Mokassinschlangen und die Schnapp schildkröten gewesen wären. Einmal hatten sie eine Geierschild kröte gefangen, die war so groß wie ein Sattel gewesen. Sie hatten geglaubt, einen Baumstumpf am Haken zu haben, als sie sie he rauszogen. Dann lag sie am Ufer und glotzte sie an. Ein zum Leben erwachter Felsen, der Panzer knöchern, zerklüftet, moosig grün, der Kopf so groß wie eine Männerfaust. Während sie versuchte, rückwärts zu kriechen, bewegte sie den Kopf hin und her, wobei ihre schwarze, schleimige Zunge wie ein Wurm aus dem offenen Maul ragte. Sie konnten es sich nicht leisten, den Haken zu ver lieren, andererseits schien es unmöglich, ihn zurückzuergattern, solange die Schildkröte noch lebte. Nachdem sie sich beratschlagt hatten, drehten sie das Tier auf den Rücken und schnitten ihm sehr vorsichtig die Kehle durch. Dann zogen sie es weit vom Wasser weg und ließen es auf dem Rücken liegen. Als sie am nächsten Tag nachschauten, lebte die Schildkröte irgendwie immer noch. Die mit 11
Hornhaut überzogenen Beine stießen schwach gegen den Himmel, das Maul öffnete und schloss sich schwerfällig. Der Sack lag auf dem Boden und bewegte sich. Der Junge legte eine Hand darauf und fühlte unter dem Stoff einen zitternden Kör per, der nicht größer als der einer Feldmaus war. Beine, Schwanz, Kopf, Augen, die wahrscheinlich noch geschlossen waren, und die Schnauze, die die warmen purpurroten Zitzen der Mutter suchte. Die Hündin hatte schon viermal geworfen. Bis jetzt hatte die alte Frau diese Arbeit immer erledigt. Jedes Mal hatte sie ihnen erzählt, sie würde die Jungen zu einer Schwarzenfamilie bringen – bis zu jenem Morgen, als ihr die beiden Jungen heimlich zum Fluss folg ten und die Wahrheit entdeckten. Da hatte sie ihnen erklärt, dass sie sich zwar leisten konnten, einen Hund durchzufüttern, der sei ne Aufgabe erfüllte, aber für die Jungen reichte es nicht. Er blickte ins Wasser. Ein zweiter Mack Burke blickte ihm ent gegen. Sie sahen sich an, krempelten ihre Ärmel hoch und um schlossen mit ihren Händen die Öffnungen der Säcke. Er wandte den Blick von seinem Spiegelbild ab, drückte den Sack unter Was ser und lockerte den Griff, damit das kalte Nass hineinströmen konnte. Zwei volle Minuten hielt er den Sack unter Wasser, ließ ihn dann durch die offene Hand gleiten, packte ihn am unteren Ende und zog ihn heraus. Er schaute nicht auf das, was da leblos von dem träge fließenden Fluss fortgespült wurde. Mack stand auf. Sein Spiegelbild stand mit ihm auf, rollte wie er die Ärmel hinunter, drehte sich mit ihm um und war dann ver schwunden. Auf dem Rückweg wrang er den Sack aus. Wieder bei der Hütte, breitete er ihn auf der Veranda zum Trocknen aus. Er hob seinen weichen Hut auf. Als er die Tür öffnete, drückte sich die Hündin an seinen Waden vorbei, schoss über die Veranda hinunter in den Hof und scheuchte die Spatzen auf. Die Witwe kam zur Tür. Ihre Handgelenke und Hände waren weiß von Mehl. Zusammen beobachteten sie, wie die Hündin im Kreis herumlief und mit der Nase das Laub durchpflügte. Der Kreis wurde immer größer, bis sie schließlich den Hof verließ und Richtung Fluss lief. 12
Unnötig, ihr zu folgen. Er wusste auch so, dass sie ihre Suche erst am Ufer des Flusses einstellen würde. Sie würde den ganzen Tag und die folgende Nacht bis zu den Schultern im Wasser stehen, zittern und winseln, vielleicht sogar eines ihrer ertrunkenen Jun gen finden und zu einem warmen versteckten Winkel im Wald tragen, das kalte durchnässte Ding mit der Nase zu einer ihrer tröpfelnden Zitzen stupsen und dann warten, warten, warten, warten.
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»Er war bei uns« August 1898
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I
Zeit der Reife. Bis zur Ernte in drei Wochen wurde die Baumwolle sich selbst überlassen. Jetzt begannen die Tage des War tens, in denen die Männer ihre Ausrüstung in Ordnung brachten, ihren Maultieren und Frauen Zeit zum Ausruhen gaben und ihren Körpern die Ruhe, wieder gesund zu werden. An einem Freitagabend saßen Farmer Floyd Norris und seine drei Söhne in der Dämmerung unter dem niedrigen Verandadach vor ihrer Hütte. Der Mann, dem eine kalte Pfeife zwischen den Zähnen steckte, reparierte einen Zugriemen. Die Jungen beob achteten ihn dabei, wobei ihre Hände gelegentlich zuckten und unbewusst die Handbewegungen des Vaters nachahmten. Das Haus stand auf Sockeln aus aufeinander geschichteten, flachen Felsbrocken. Unter der Veranda in identischer Haltung die lan gen Schnauzen auf den Vorderpfoten − lagen zwei schlanke, schwarz gefleckte Hunde. Im Innern der Hütte saß Norris’ Frau auf einem Hocker, hielt im einen Arm ein fünf Monate altes Baby, das sie stillte, und bewegte mit dem andern den Stampfer des But terfasses auf und ab. Als sich eine Fliege auf dem kahlen Schädel des Jungen niederließ, blies sie sie weg. Kurz darauf hörte sie, wie unter der Veranda die Hunde kläfften. Sie reckte den Hals in die Höhe und schaute durch einen Spalt, wo ein Lehmklumpen zwi schen den Holzbalken herausgebrochen war, sodass dem Baby der Nippel aus dem Mund rutschte. Ärgerlich wedelte es mit den Armen, und die Frau schob den Kopf wieder an die richtige Stelle. Ihre Wange zuckte, als die Lippen den Nippel packten und das Baby von neuem zu saugen begann. Durch das Loch sah die Frau zwei der Kapuzenmänner durch die hüfthohe Baumwolle gehen. Sie achteten auf ihre Schritte, damit sie die Pflanzen nicht beschädigten. Das Baby hatte die 15
Augen geschlossen und nuckelte summend vor sich hin. Die Fliege hatte sich wieder auf der Stirn des Babys niedergelassen. Die Frau hörte auf zu stampfen, beugte den Kopf näher an die Wand und rief: »Alvin, Alfred, Arnold.« Die Jungen schauten erst ihren Vater an, dann zu den beiden näher kommenden Männern mit den weißen Kapuzen. »Geht rein«, sagte ihr Vater und legte die Zange und den Zug riemen zur Seite. Die Jungen gehorchten und standen auf. Sie schlugen nach den Fliegen, die auf ihren schmutzigen Hälsen saßen. Als sie in der Hüt te waren, sagte ihre Mutter, sie sollten auf dem Boden vor der Feu erstelle spielen, aber ja nicht den heißen Kessel anfassen. Sie selbst behielt das Auge am Loch in der Wand. Die Kapuzenmänner gingen durch den Schatten der Scheune, blieben vor dem Weg zum Haus zwischen den hohen, buschigen Baumwollreihen stehen und schauten die beiden knurrenden Hun de an. Sie hielten Schrotflinten im Arm, machten aber keine An stalten, sie zu benutzen. Beide trugen die gleichen Latzhosen wie Norris, allerdings ohne Hemden darunter. Die Haut auf ihren Schultern war schuppig und rot von der Sonne. Einer trug keine Socken, die weißen Knöchel schauten unter der Hose hervor. Die Kapuzen waren Stoffsäcke, auf denen verblasste blaue Buchsta ben zu sehen waren. Gezackte Löcher bildeten die Öffnungen für Mund und Augen. Der Stoff der Säcke, die am Hals mit einer Schnur zusammengebunden waren, war dunkel vom Schweiß. Die Hunde kamen auf sie zu. Die Breitseite ihnen zugewandt, mit aufgestellten Rücken- und Nackenhaaren, den Kopf tief, den Unterkiefer zitternd vom Knurren. Norris pfiff einen einzigen Ton, und beide Hunde rissen die Köpfe herum. Sie richteten sich auf und trotteten Seite an Seite zum Haus zurück, die Stufen hinauf, zu dem Punkt auf den Holzbohlen, auf den Norris mit dem Finger zeigte. »Sitz.« Sie setzten sich. Die Schwänze klopften auf das Holz, doch die Nackenhaare blieben aufrecht stehen. »Ruhig«, sagte Norris. 16
Die Kapuzenmänner gingen durch den Hof und blieben vor Norris stehen. Man hätte meinen können, sie wären auf Tauben jagd, so lässig lagen die Flinten in ihren Armen. »‘tschuldige die Verkleidung, Floyd«, sagte einer. Durch das Loch in der Kapuze waren seine Zähne zu sehen. Der andere blieb stumm. Nur der Stoff über seiner Nase zitterte leicht. Immer wieder zupfte er an der Kapuze. »Ach was«, sagte Floyd. »Braucht euch doch nicht zu entschul digen. Sind gefährliche Zeiten. Jeder muss sehen, wie er zurecht kommt. Wenn ich mich nicht um meine Jungs kümmern müsste, würde ich mitkommen.« »Du weißt, warum wir da sind.« Er nickte. »Was soll ich sagen?« »Nur, dass Lev und William morgen den ganzen Nachmittag hier bei dir waren. Dass die beiden Schnaps mithatten, dass ihr kräftig gesoffen und dabei auf der Veranda Domino gespielt habt.« »Wer hat gewonnen?«, fragte Floyd. »Lev. Wie hoch, daran kannst du dich nicht mehr erinnern.« »Keine gute Geschichte. Lev spielt beschissen.« Die Kapuzenmänner schauten sich an. »Und die Dominosteine hatten sie dabei«, sagte Floyd. »Ich hab nämlich keine.« Der Wortführer der beiden griff in die Gesäßtasche, holte eine Schachtel hervor und warf sie Floyd zu, der sie mit einer Hand auf fing. »Bring nichts durcheinander«, sagte der Mann. »Keine Angst«, antwortete Floyd. »Werd ich nicht.« Der Kapuzenmann nickte, dann drehten sich er und sein stummer Begleiter um und gingen zwischen den Baumwollpflanzen zurück. In der Hütte schob die Frau mit einem Finger das Baby von der Brust, legte es sich über die Schulter und klopfte ihm auf den Rücken. Bald darauf rülpste es. Sie legte das Kind auf den Boden, wo es an die Decke glotzte, mit den Armen wedelte und die Beine 17
in die Luft stieß. Zu den Brüdern des Babys sagte sie, dass sie auf hören sollten zu streiten, dann zupfte sie ihr Kleid zurecht und ging nach draußen. »Das waren sie«, sagte er und öffnete die Dominoschachtel. Zwischen den elfenbeinfarbenen Steinen lag ein Silberdollar. Er schaute flüchtig über die Schulter. »Wenn du sagst, was sie wollen, hängen wir alle mit drin in ihren dreckigen Geschichten«, erklärte sie. »Wenn nicht, wären wir schlechter dran.« Er schloss die Finger um den Silberdollar und schob ihn in die Tasche seiner Latzhose. »Kümmer dich jetzt ums Essen und schick die Jungs wieder raus.« Sie hielt die Hand über die Augen und schaute den Kapuzen männern nach, die zwischen den hoch stehenden Baumwollpflan zen fast nicht mehr zu erkennen waren. Hinter dem Feld, bevor sie in den Wald eintauchten, drehten sie sich noch einmal um und schauten zurück. Ihr wurde kalt. Sie dachte an die Witwe Gates, von der man sagte, dass sie Geister von lebenden Menschen unter scheiden könne und oft Menschen sehe, die sonst niemand sehen konnte. Die alte Frau zeigte einfach auf einen Punkt in einem Feld und sagte: Da ist einer. Die Kapuzenmänner waren inzwischen verschwunden. Einge taucht in die Wälder. »Was ist?«, sagte Floyd. »Mach dich endlich ans Essen.« Sie schaute auf seinen Hinterkopf. »Das wird dir nicht bleiben«, sagte sie und schaute dabei die Dominosteine an. Dann drehte sie sich um und ging in die Hütte, wo sie über das zappelnde Baby stieg und sich wieder ans Butterfass setzte.
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II
Joe Anderson ritt auf seinem Maultier im dunklen Schat ten der Bäume an einer Böschung entlang. Bei jedem Schritt sank das Tier tief in den weichen Sand. Es hatte erst vor kurzem kräftig geregnet, und die Welt wirkte jung und frisch. Lange Grashalme hingen vom Kamm der Böschung, aus der in schrägem Winkel jun ge Kiefern wuchsen. Man konnte sehen, wo Kinder an ihnen hoch geklettert waren und geschaukelt hatten. Das Seilende baumelte im Wind. Die Bäume ringsum ragten hoch auf. Sie waren so grün, dass man fast glaubte, es sei bewölkt. Spottdrosseln lärmten im Farn gestrüpp, und hoch oben flitzten Spatzen herum. Die Kiefernna deln warfen wie mit dem Pinsel gemalte scharfe Schattenmuster auf den Boden. Er hielt das Maultier an und blieb einen Augenblick still sitzen, schlang dann die Zügel um die Hand und zog so fest an, dass seine Finger dunkelrot wurden. Er schaute nach rechts, danach die Böschung hinauf. Dort oben standen zwei Gestalten und blickten zu ihm herunter. Friedlich lagen die Schrotflinten in ihren Armen. Einer der beiden trug eine weiße Kapuze, der andere sah aus wie ein Neger, wenn auch irgendwie merkwürdig unfertig. Erst jetzt dachte er an die Flinte Kaliber zwölf, die hinter ihm mit einem Seil am Sattel befestigt war. Als er jedoch die Hand vor sichtig dorthin bewegte, riss der schwarze Bursche kurz den Lauf seiner eigenen Flinte hoch. »Oh, oh.« Der mit der Kapuze ging aus der Hocke, stolperte mit ausge breiteten Armen balancierend den Abhang herunter und löste dabei eine kleine Lawine aus. Nach einem letzten Satz stand er auf der Straße. »Hidy, Mr. Anderson.« 19
Anderson schaute wütend auf ihn runter. »Ich mag keine Schrot flinten, die auf mich zielen«, sagte er. Der mit der Kapuze blickte nach oben zu seinem Begleiter, der noch in der Hocke saß. »Er mag nicht, wenn man auf ihn zielt.« Ohne Anderson aus den Augen zu lassen, beugte sich der oben Hockende nach vorn über die Böschung, und ein langer zäher Faden Tabakspucke dehnte sich von seiner Unterlippe herab. Er reckte das Kinn vor, und der Schleimbatzen riss ab. »Sag ihm, er soll absteigen.« »Du hast es gehört«, meinte der mit der Kapuze. »Runter. Und behalt die Hände oben, so, dass ich sie sehen kann.« Als Anderson mit erhobenen Händen vor dem Abhang stand, griff der dunkelgesichtige Mann nach einem der Bäume, die schräg aus der Böschung ragten, und bewegte sich mehr fallend als klet ternd durch raschelndes Laub und knackende Äste nach unten. Das Maultier hatte alles mit einem Ausdruck von Langeweile beobachtet. Ein Auge schloss und öffnete sich wieder, die Ohren schwenkten hin und her. Bösartig schnappte das Tier nach einer Bremse, entfernte sich dann probeweise ein paar Schritte und schaute sich um. Niemand versuchte es aufzuhalten, die Zügel schleiften über den Boden. Also verfiel es in eine Art Halbtrab und verschwand kurz darauf hinter einer Wegbiegung. Die Männer schauten dem Maultier und dem auf- und abwip penden Gewehrschaft hinterher. Der Dunkelgesichtige spuckte wieder aus. »Nicht gerade zu verlässig, was? Bisschen Ärger, und schon haut’s ab, das Viech.« Man konnte sehen, dass sich der Mann das Gesicht mit Asche geschwärzt hatte. Die Augen waren gespenstische weiße Löcher. Schweiß fraß sich durch das Schwarz auf seinen Wangen. Ein Ohr läppchen leuchtete am Rand. Anderson kniff die Augen zusammen. »Lev James?« Der Mann beugte sich weit zu ihm vor. »Ja«, flüsterte er. »Ich mag die Kapuzen nicht. Machen mich ganz fickerig.« 20
»Dauert nicht mehr lange, dann ziehen sie dir die Henkers kapuze über«, erwiderte Anderson. Er zeigte die Straße hinunter. »Für das Maultier und die Flinte krieg ich dich dran.« »Besser, du hältst dein Maul«, sagte James. »Wir könnten dich auf der Stelle umbringen, und keiner würde rauskriegen, dass wir’s waren. Tja, mein Kumpel und ich sind nämlich grade ganz wo anders und spielen Domino.« Er schaute den Mann mit der Kapuze an. »Wie viele Spiele machen wir heute Nachmittag?« »Schwer zu sagen.« »Und wer gewinnt?« »Ich.« »Mein Junge, warum erzählst du unserm Mann nicht, wer wirk lich gewinnt? Joe, wenn ich meinen Kumpel hier erschießen müss te, weil er mich anlügt, würdest du schwören, dass wir zusammen waren? Würdest du mir den Zeugen machen? Wir könnten sagen, dass wir auf Eichhörnchenjagd waren. Wir müssten natürlich los und wirklich welche schießen. Ist dann glaubwürdiger, die Ge schichte. Ich könnte die Eichhörnchen heute Abend bei euch vor beibringen, zum Essen. Und deine Frau könnte sie uns brutzeln. Und deine Älteste und ich könnten sie dann auf der Veranda ver putzen.« Er schnalzte mit der Zunge und lachte gackernd, wobei an den Mundwinkeln etwas von der Ascheschicht abbröckelte. Anderson war blass geworden. »Mit Abschaum wie dir würde ich meinen Esstisch nie besudeln.« James trat näher an ihn heran und schaute ihm in die Augen. Ihre Nasen waren nur Zentimeter voneinander entfernt. »Wer sagt dir eigentlich, dass ich dir nicht gleich hier die Sachen vom Leib reiß und dich über den Haufen schieße, he? Ich zieh mir deine Klamotten an, fang das Maultier ein und reite rüber zu deinem Haus. Und dann besudel ich nicht nur deinen Tisch, sondern gleich auch noch deine Frau und deine kleinen Mädchen. Was hältst du davon, he?« Er rammte Anderson den Lauf seiner Schrotflinte unters Kinn, sodass es aussah, als schaute sein Opfer gen Himmel. Dann stieß er ihn mit dem Rücken gegen die Böschung. Lose Erde 21
fiel Anderson auf Schultern und Haare, während James anfing, die Hosentaschen des älteren Mannes zu durchsuchen, und ihm dabei grinsend zwischen den Beinen herumgrapschte. »Hey, was ist das denn? So ein niedliches Hamsterschwänzchen. Der ist bestimmt nicht länger als dein kleiner Finger«, rief er sei nem Begleiter zu. »Und dicker auch nicht.« Der Mann mit der Kapuze lachte schrill. Es hörte sich merk würdig an. James zog eine Uhr aus Andersons Hosentasche, riss das Band ab und steckte sie sich selbst in die Tasche. Er fand noch ein Klapp messer, einen Münzbeutel und zwei Dichtungsringe aus Metall, die er über die Straße segeln ließ wie Kiesel übers Wasser. Dann trat er zurück und klopfte sich auf die Taschen. Wolken schoben sich vor die Sonne. Der Erdboden wurde dunkler, die Schatten der Männer verblassten und verschwanden. Die Veränderung trat so abrupt ein, dass alle drei innehielten und neugierig zum Himmel schauten. In den nackten Zweigen einer abgestorbenen Eiche, die ein Stück weiter am Straßenrand stand, begann sich ein Schwarm Krähen zu sammeln. Das Kreischen wur de immer lauter, während sie sich wie eine spiralförmige Wolke, wie ein Wirbelsturm auf den Baum senkten und ihn schwarz färbten. »Was wollt ihr?«, fragte Anderson. »Wenn ihr mich töten wollt, dann macht es in Gottes Namen. Ich bettel nicht um Gnade.« »Siehst du«, sagte James. »Ich hab’s dir gesagt. Mein Kumpel hier hat zehn Cents drauf gesetzt, dass du um Gnade bettelst.« Anderson nahm die Hände herunter und faltete sie vor der Brust wie zum Gebet. »Hey, Will«, sagte James zu seinem Begleiter. »Siehst du das? Erst bettelt er nicht, und dann nimmt er auch noch die Hände runter.« Der mit der Kapuze sagte nichts. Er beobachtete den Baum vol ler Krähen. Nachzügler besetzten die Zwischenräume, durch die 22
man noch ein kleines Stück Himmel hatte sehen können − ein end loser Sturm landender Vögel. »Du bist der junge Burke, oder?«, sagte Anderson. »Wenn du wirklich unter der Haube da steckst, dann bitte ich dich: Hört auf, mich zu beschimpfen, gebt mir meine Sachen zurück und lasst mich mein Maultier wieder einfangen. Du bist doch als Christ erzogen worden, was treibst du dich mit diesem Abschaum rum?« James schoss aus der Hüfte. Im selben Moment explodierte die Eiche. Die Krähen stoben davon und zogen für einen Augenblick die Umrisse des Baums mit sich. Andersons Hemd blähte sich auf und fiel wieder zusammen. Er wandte den Kopf nach rechts, hob den rechten Arm, schaute an seinem Körper hinab. Der Arm fing an zu zittern. Anderson stöhnte und presste die Schultern gegen den Abhang. Mehr Erde fiel auf sein Hemd, rieselte in die Brusttasche und beulte sie aus. Mit unglaublich lautem Gekrächz schossen die Krähen in den Himmel. Anderson setzte sich mühsam auf. Er atmete langsam aus. Plötzlich wurde der Boden unter ihnen heller, von ihren Füßen lösten sich Schatten und dehnten sich Richtung Osten. Das Grün der Bäume wurde leuchtender. James ließ die Schrotflinte sinken, kippte den Lauf nach unten und zog die rauchende Patronenhülse heraus. Er roch dran, schnippte sie mit den Fingern hin und her und schob sie in seine Jackentasche. Dann lud er nach, klickte den Verschluss zu und ging zu Anderson. Er kniete sich vor ihm auf den Boden und schaute auf die geschlossenen Augen. »Ich glaube, er macht einen auf ›toter Mann‹.« James griff nach unten, nahm eine Hand voll Sand und stopfte sie Anderson in den Mund. Die Lippen bewegten sich, blutige Zäh ne wurden sichtbar. »Hey«, sagte James und wedelte mit der Hand vor dem Gesicht des Farmers herum. Andersons Augen öffneten sich. Sie waren feucht und blauer als vorher. Er schaute auf den Baum, den die Krähen verlassen hatten. Der Sand auf seinen Lippen glänzte. 23
William Burke riss sich die Kapuze vom Kopf und schaute in die Richtung, in die das Maultier gelaufen war. »Du willst doch wohl nicht noch mal schießen, Lev, oder? Ist nicht weit weg, die nächste Farm.« »Nee.« James lehnte das Gewehr an die Böschung und kramte in seinen Taschen nach dem Klappmesser. Er drückte Andersons Stirn nach hinten und entblößte die Kehle. Mit einer Hand klappte er das Messer auf. »Hoffe zu deinem Besten, dass du das Flei schermesser hier immer schön scharf gehalten hast.« Dann schnitt er mit der Klinge in die Haut zwischen Adamsapfel und Kinn. Aus dem Spalt spritzte und sprudelte leuchtend das Blut. Binnen Se kunden war Andersons Hemdbrust rot. James betrachtete die weit aufgerissenen Augen. Sie schauten ihn an. Die Brust zuckte, aus ihrem Innern drang ein gurgelndes Geräusch. Der eine Arm löste sich vom Boden und stieß schwach nach seinem Peiniger. Als die Augen stumpf wurden, stach James die Klinge zum Säubern einige Male in den Sand, klappte sie ein und steckte das Messer in die Tasche.
24
III
Der Sheriff von Clarke County, Billy Waite, saß auf der Veranda vor seinem Haus und schälte einen großen grünen Apfel. Vor ihm auf dem Geländer lag eine dicke qualmende HavannaZigarre, daneben hatte er seine großen schmerzenden Füße hoch gelegt. In den Spitzen der gewienerten Stiefel spiegelte sich der leuchtend weiße Mond. Am anderen Ende der Veranda quietsch ten beruhigend die Ketten einer Schaukel. Die Zeit spätabends war ihm die liebste. Wenn seine Frau schon schlief und er endlich allein war. Auch die Jahreszeit war ihm am liebsten. Dieses friedliche Wetter, bei dem man zwar lange Ärmel, aber noch keine Jacke brauchte, die Kühle, die auf der Kopfhaut prickelte, bei der man aber noch nicht fror. Er dachte an diesem Abend über etwas nach, das ihn schon länger beschäftigte. Die mehr als dreißig Jahre als Hüter des Ge setzes hatten ihn so oft von seiner Familie getrennt, dass er sich von ihr entfremdet fühlte, besonders von seiner Frau. Sue Alma konnte den ganzen Tag dahinplappern und dabei nichts Bedeut sames von sich geben, zumindest nichts, was für ihn einen Sinn ergab. Wie fein das Muster auf der Tagesdecke gewebt war. Dass sie bei der Pastetenkruste zu viel Mehl erwischt hatte. Zu Hause, abends am Esstisch oder im Bett war er ein anderer Mensch. Er wusste, dass sie eigentlich gar nicht verstand, wer er wirklich war, sie kannte den Menschen nicht, der die Wege und Straßen entlangritt, um Zwangsräumungsbescheide anzuschlagen, und in Ausübung seines Amtes sechs Männer erschossen, sieben ver wundet und ein Dutzend weitere an den Galgen gebracht hatte. Er aber konnte sogar ihre vollen Namen und Todesdaten vorwärts und rückwärts aufsagen, und tat das auch, wenn ihm die Stunden im Sattel lang wurden und Schlaf wie ein Luxus der Jugend 25
erschien. Dass Sue Alma sein wahres Wesen nicht kannte, war allerdings seine eigene Schuld. Er hatte es nämlich für besser gehal ten, ihr nie von dem anderen Leben zu erzählen − von dem Blut und den Schmerzen, von den Forschungsreisen durch dunkle und weite Canyons, die das Herz so manchen Mannes durchzogen. Auch seines. Denn wann war er glücklicher? Hier auf der Veranda oder da draußen im Sattel? Nun, da sein Körper mit sechzig müde war und das Ende seiner Amtszeit als Sheriff bevorstand, fragte er sich, was sich die beiden Fremden in ihrem Haus zu sagen haben würden, wenn er den Stern erst mal abgegeben hatte. Eines Morgens letzte Woche, als er gerade über die Straße ging, war ihm ein Gedanke gekommen, der ihn abrupt stehen bleiben ließ. Wenn Alma sein wahres Wesen nicht kannte, war es gut möglich, dass auch er ihres nicht kannte, ein Wesen, das sich hinter Wänden entwickelt hatte, zum Geklap per von Geschirr und Besteck und dem Klang eines Kurbelgram mofons. Die Apfelschale kringelte sich in einem Stück fast bis auf die Holzbohlen hinunter. Ein Kunststück, auf das er stolz war, das ihm sogar mehr Vergnügen bereitete, als den Apfel zu essen, was ja nichts anderes als kauen und schlucken war. Das Gleiche mit der Zigarre, die er entzündet und anständig zum Glühen gebracht hatte, an der er aber jetzt nur noch selten zog. Erst wenn sie aus zugehen drohte, füllte er die Lungen mit einem tiefen Zug und blies die Wangen auf. Das hielt ihn auf Trab. Für Billy Waite gab es nichts, was es mit diesen kleinen Freuden der Kontrolle − einer einen Meter langen Apfelschale und einer Zigarre aus dem fernen Havanna, die er kurz vor dem Tod ins Leben zurücknuckelte − aufnehmen konnte. Ob Sue Alma wenigstens das wusste? Oder würde sie, wenn man sie fragte, nur abwinken und sagen, na ja, Billy mag eben Äpfel und Zigarren? Ein Stück die Straße hinunter schlug ein Hund an, der Köter, den der bescheuerte Kerl aus dem Futtermittelladen immer am 26
Verandapfosten festband. Zwei weitere Hunde fingen an zu bel len, die Waschbärenhunde des Leichenbestatters, die beide aus dem selben Wurf stammten. Was das bedeutete, war klar: Es kam jemand, auf einem Pferd. Ruhig schälte er weiter. Er hoffte, er würde fertig werden, bevor die Person ihn erreichte − sie kamen alle immer zu ihm. Die Schale kringelte sich jetzt auf dem Boden. Er nahm die Füße vom Gelän der, registrierte, dass die Zigarre nicht mehr brannte, und schaute über die Schulter zur Fliegengittertür. Sein erwachsener Sohn war schon außer Haus. Er hatte sich als Holzfäller im Nachbarbezirk verdingt, wo ein hart arbeitender Bursche zu etwas Geld kommen konnte, wenn er es nicht versoff oder für Frauen ausgab. Einen Augenblick sehnte sich Waite nach der vertrauten Reaktion seines Sohnes auf die bellenden Hunde. Der wäre sofort ohne Socken in die Stiefel geschlüpft und stünde jetzt schon hinter seinem Vater. Das schwarze Haar zerzaust, hinter sich in der Hose eine unsicht bare Pistole, einfach nur wartend, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte immer gehofft, Johnny-Earl würde sein Deputy werden wollen. Es lag an Waite, den Posten zu besetzen. Der Junge war zäh, selbständig, von Natur aus auf Zack, zuverlässig und auf richtig. Aber es hatte einige Zeit gedauert, bis Waite begriff, dass es nicht die Liebe zu Gerechtigkeit oder Frieden war, weshalb Johnny-Earl aus dem Bett sprang, zur Waffe griff und sich hinter ihm aufbaute, sondern allein die Liebe zu seinem Vater. Die Angst, ihn zu verlieren. Wenn Waite Äpfel schälte und den Zigarren beim Verglimmen zuschaute, ruhte er in sich. Wenn irgendein verrück ter Outlaw das Gebüsch um ihn herum mit Schrot voll pumpte und Pulverdampf in der Luft hing, duckte er sich hinter einen Baum und behielt einen klaren Kopf. Johnny-Earl dagegen empfand in so einem Moment nur Grauen. Während der Junge hartnäckig darauf beharrte, wegzugehen, hatte Waite ihm immer wieder zu erklären versucht, dass man als Deputy genau diese Nerven brauchte. Sie seien ein handfestes Werkzeug − wie eine Pistole oder ein Totschläger. Leichtsinn würde einen Mann des Gesetzes auf der 27
Stelle umbringen. Die Schlauen, die überlebten, wären die Vor sichtigsten, die, die mit der tagtäglichen Angst genau so umgingen, wie sie eine Waffe luden. Doch schon als er es sagte, wusste er, dass sein Argument nicht verfangen würde. Und Johnny-Earl wusste es auch. So kam es, dass sich vor zwei Sommern, als er neunzehn Jahre alt war, JohnnyEarls Willenskraft gegen die seines Vaters durchsetzte und er sich über seine Schuldgefühle hinwegsetzte und zusammen mit zwei Freunden und einem Päckchen von Sue Almas Mandelplätzchen den dampfenden Zug in Whatley bestieg. Der Besucher war inzwischen so nah, dass Waite das Pferd hören konnte. Die Hunde waren verstummt. Der Vorfall langweilte sie schon wieder, und sie warteten auf das nächste Ereignis, das in ihr Leben eindringen und Grund zum Bellen bieten würde. Waites Apfelschale fiel in einem Stück zwischen seine Stiefel. Er stand auf und legte den nackten Apfel und das Taschenmesser auf das Geländer neben die kalte Zigarre mit der drei Zentimeter langen Aschespitze. Er nahm seine Smith & Wesson, die unter einer Stoff serviette auf dem Tisch lag, und verschränkte die Arme, sodass man die Pistole nicht sehen konnte. »Und Sie sind sicher, dass das nicht bloß so eine Geschichte ist?«, fragte Waite. Er hielt die Zigarre, die er wieder angesteckt hatte, zwischen zwei Fingern und sah dem Rauch hinterher, der über das Geländer davonwehte. »Aus Mitcham Beat wirbelt’s Gerüchte wie Haare, wenn sich zwei Katzen fetzen.« »Das ist kein Gerücht«, sagte Ernest McCorquodale, der sich mit einer Zeitung Luft zufächelte. Er saß am anderen Ende der Veranda, das Pferd hatte er am Geländer festgemacht. Er war die zehn Meilen von Coffeeville, wo er einen Laden besaß, herüber geritten. »Hab’s von einem Farmer, der bei mir in der Kreide steht. Vertrauenswürdiger Bursche, guter Christ. War da, weil er was von seiner Rechnung abbezahlen wollte, hat gemeint, dass jeder Be scheid weiß. Sie haben Anderson am helllichten Tag aus dem Hin 28
terhalt überfallen, keine fünf Meilen von hier. Die armen Leute in der Gegend wissen nicht, was sie jetzt tun sollen.« Waite achtete nicht auf McCorquodales frömmelnd vorgereck tes Kinn und die schmalen zusammengekniffenen Lippen. Er nahm ihm übel, dass er ihm an diesem Abend solche Nachrichten brachte. Wie viele zerlumpte Farmer hatte der Ladenbesitzer in den letzten zwei, drei Jahren per Zwangsvollstreckung ruiniert? Als pflichtbewusster Überbringer des versiegelten Stücks Papier hatte Waite schon den halben Verwaltungsbezirk abgegrast. Und wäh rend ihn die schmutzigen Gesichter der hungrigen Familien anschauten, hatte ihn der Vater der Brut, weil er selbst nicht lesen konnte, fast jedes Mal gefragt, was denn drin stünde. McCorquo dale war es offenbar scheißegal, dass sie nicht wussten wohin. »Hat dieser Christ einen Namen?«, fragte Waite. McCorquodales Fächer hielt inne. »Ich musste ihm schwören, seinen Namen nicht zu nennen. Sie würden ihn umbringen, wenn sie es rausbekämen.« »Ich werde ja nicht gleich losreiten, Ernest, und deine Geheim nisse ausposaunen.« McCorquodale schaute hinaus in den Hof. »Ich hab ihm mein Wort gegeben, darum geht’s.« »Hat er was gesagt, ob der Friedensrichter irgendwelche Ver mutungen hat, wer der Schütze gewesen sein könnte? Diese Jungs vom Land handeln in der Regel ziemlich schnell. Am Ende reit ich hin, und die haben die Sache schon längst geregelt.« McCorquodale schnaubte. »Wahrscheinlich steckt der Frie densrichter mit denen unter einer Decke.« Waite schnippte die Asche von der Zigarre. Er hatte schon von den Gerüchten über Mitcham Beat gehört − eine Bande von Outlaws, die Kapuzen trug, raubte Leute aus und brannte Häuser und Scheunen nieder. Verjagte Schwarze. Der Friedensrichter Tom Hill war der Gewalt nicht Herr geworden, und so hatte Waite bereits auf den Augenblick gewartet, wann er würde selbst ein greifen müssen. 29
»Tatsache ist, dass das Ganze schon ziemlich außer Kontrolle ist«, sagte McCorquodale. »Als Bürger, der seine Steuern bezahlt, und als Christ liegt mir daran, dass endlich etwas geschieht.« »Schmeißen Sie immer so rum mit dem Wort.« »Mit welchem?« »›Christ‹«, sagte Waite. ›Steuerzahler‹ zählt doch viel mehr heut zutage, oder nicht?« Der Ladenbesitzer stand auf. »Also, Sheriff. Ich wünsche eine gute Nacht, hoffentlich war mein Besuch nicht umsonst. Wenn doch ...« Er beendete den Satz nicht, sondern ließ die Drohung wie einen Rauchring in der Luft hängen. Waite beobachtete, wie McCorquodale sein Pferd bestieg und in der Dunkelheit verschwand. Er hörte, wie die Hunde wieder zu bellen anfingen. Schließlich schaute er über die Schulter zur Tür, griff unter den Stuhl nach der Flasche, schraubte den Deckel ab, nahm einen Schluck und dann noch einen. Am Morgen würde er losreiten. Er hatte kaum geschlafen, als er sich im bläulichen, die Dämme rung ankündigenden Licht aufsetzte. Während er auf der Bettkante saß und darauf wartete, dass sich sein vom Steißbein bis zu den Hacken schmerzender Körper entspannte, hörte er hinter sich das leise Schnarchen seiner Frau. Schließlich stand er in Socken vor dem Nachtstuhl und wartete auf die letzten Urintropfen. In dem Durcheinander auf Sue Almas Regal suchte er zwischen Talkum puder und Eau de Toilette nach seiner Lesebrille und ging dann ohne sie. Er kritzelte seiner Frau noch schnell eine Notiz hin, die er selbst kaum lesen konnte, und nahm ein Pulver gegen den Kater. Auf der Veranda schnippte er die kalte Asche von der Zigarre, die er am Vorabend nur halb geraucht hatte, und steckte sie in die Jackentasche. Mit seiner Marlin Model 1893 in der Hand ging er langsam die glitschigen Stufen hinunter und durch das Weidegras zum Stall. Der achtjährige Wallach stand wiehernd in seiner Box, warmer weißer Atem dampfte aus seinen Nüstern. Waite gab King 30
ein paar alte Karotten, bürstete sein Fell und kämmte die Mähne. Dann warf er eine Filzdecke über den Rücken, legte den Sattel auf und das Zaumzeug an. Zuletzt schnallte er noch die eingerollte Schlafmatte, den Proviantbeutel und das rostbraune Lederfutteral fest, in das er das Gewehr schob. Seit er vor einem Monat einen Bigamisten bis nach Washington County verfolgt hatte, war er nicht mehr weg gewesen. Er musste zugeben, dass es ein gutes Gefühl war, im Morgengrauen draußen zu stehen, die Hitze des Tages vor sich, die Stiefel nass vom Tau, und die Morgenvögel zwitscherten in hellen Tönen. Einige wenige Sterne standen noch am Himmel, als er am großen Haus seines Cousins, des Nachlassrichters Oscar York, vorbeiritt. Er war überrascht, dass Oscar die Stufen zwischen den Säulen he runterkam und mit einem Gewehr im Arm auf ihn zuging. Offen bar hatte er im Dunkel der Veranda auf ihn gewartet. »Morgen, Billy.« Waite hielt das Pferd an. Die Fenster der anderen, von der Straße etwas zurückliegenden Häuser waren alle erleuchtet. Menschen traten heraus auf die Veranden und kippten das Wasser der ver gangenen Nacht in den Hof. Irgendwo krähte ein Hahn. Waite dehnte die Beine in den Steigbügeln und schaute nach unten. »Was treibt dich so früh aus dem Bett, Richter?« »Wollte mich gerade auf den Weg zu dir machen.« Waite schaute über Oscars Schulter und runzelte die Stirn. »Weiß gar nicht, warum ich überhaupt noch ins Büro geh.« »Wohin willst du?« »Hab was zu erledigen. Was soll das mit der Winchester?« Oscar schaute die Straße auf und ab. Er kam näher, King stand jetzt zwischen ihm und den Bäumen auf der anderen Straßenseite. Er kraulte dem Pferd das Kinn. »Wenn hier hinterrücks Leute umgebracht werden, muss man sich schützen.« »Das ist draußen auf’m Land, Osk, weit weg. So verrückt sind die auch nicht, dass sie sich mit ihrem Kram bis in die Stadt trauen.« 31
»Zehn Meilen sind nicht weit, Billy. Und Anderson war noch ein ganzes Stück näher.« Er schaute zu den Bäumen. »Ernest hat erzählt, dass er gestern Abend bei dir war. Er schläft im Gäste zimmer. Wette, du hast dein Leben lang noch nie jemanden so schnarchen hören.« »Ja, er war da. War schon fast halb zehn.« »Dann bist du also bereits auf dem Weg?« Waite rutschte etwas im Sattel zurück. »Ich lass mir nicht gern sagen, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe, Oscar. Nicht mal von dir.« »Keiner sagt dir, was du nicht sowieso schon weißt. Tatsache ist, dass mir die Leute seit der Sache mit Arch Bedsole die Bude ein rennen. Und alle sagen das Gleiche, Billy. Das heißt die, die stimm berechtigt sind. Sie sagen, dass du zu alt bist, um es allein mit so einer Bande aufzunehmen.« Waite verschränkte die Hände über dem Sattelknauf und wartete. »Wird’s nicht langsam Zeit, dass du dich nach einem Deputy umschaust?«, meinte Oscar. »Nach jemandem, der dir offiziell den Rücken freihält?« »Lass mich raten. Zufällig hast du den Richtigen schon bei der Hand.« »Wie wär’s mit Ardy Grant? Der ist jetzt fast einen Monat wie der zu Hause und sucht Arbeit. Und was das Schießen angeht ... Der Bursche holt mit der Pistole einer Mücke den Kopf runter.« Minuten später hatte Waite das geräuschvoll zum Leben erwa chende Grove Hill, den Hauptort des gleichnamigen Verwal tungsbezirks, hinter sich gelassen. Die brüllenden Arbeiter, die nach oben rasselnden Rollläden der Geschäfte, die dumpf polternden Stiefel auf den Holzveranden, die hungrig schnaubenden und wie hernden Pferde im Mietstall, die klappernden Pferdefuhrwerke auf der breiten Straße. Die Geräusche verstummten nach und nach, der Weg wurde steiler und schmaler, und die zitternden Blätter der Bäume, die sich über ihn neigten, störten seine Sicht. 32
Jetzt, da das morgendliche Knirschen der Knochen verschwun den war, fühlte sich Waite besser, und er zündete sich trotz der frühen Stunde die halbe Zigarre an. King hob den Kopf, verfiel in einen leichten Galopp und sprengte durch eine Pfütze. Die bläu lichen Rauchfahnen verloren sich hinter ihnen im Nebel. Pferd und Reiter kamen an der Baumwollentkörnungsanlage vorbei, wo schon ein Arbeiter die Waagen aufbaute und zwei Burschen mit einem Maultier kämpften, das störrisch auf seinem Hinterteil saß. Ein großer, kräftiger Farmer, der Waite kannte, winkte mit einem Schraubenschlüssel. Eine halbe Meile später kam dem Sheriff ein mit roher Baumwolle beladenes Maultierfuhrwerk entgegen, das von einem Schwarzen gelenkt wurde. Waite trieb King von der Straße und ließ den Wagen passieren. Oben auf der Baumwolle saßen zwei verschlafene Kinder, von denen eins am Daumen lutschte. Er winkte den beiden zu und ritt weiter. Sein Ziel Mitcham Beat lag zehn Meilen über schlechte Straßen östlich von Grove Hill. Es war ein Wahlkreis mit viel abgelegenem Farmland und einem Weiler namens New Prospect, der eigentlich bloß aus einem Laden an einer Kreuzung bestand. Links von dem Gebäude befand sich eine nur selten benutzte Schmiede, rechts da von eine Hütte, die als Lagerraum diente. Es gab dort auch einen Krocketplatz, wo sich die Leute trafen, wenn die Arbeit ihnen die Zeit ließ. Alles in allem lebten etwa zweihundert Wähler in dem Bezirk, die meisten weiß, die meisten Baumwollfarmer, alle arm. Waite war schon seit einem Jahr nicht mehr dort gewesen. Der Ritt zerrte an seinen Nerven und schüttelte sein altes Skelett durch. Tief im Innern hatte er gehofft, sich für den Rest seines Lebens nicht mehr um diese Gegend kümmern zu müssen. Doch das Blut in seinen Adern hatte gewusst, dass er eines Tages zurück kehren würde. Zu oft war das Land, das er in seinen Träumen durchstreifte, Mitcham Beat gewesen. Die ersten paar Meilen waren erträglich. Das würde sich ändern, sobald man die überdachte Brücke, die den Beginn des Bezirks mar kierte, passiert hatte. Zunächst musste man sich zwei Meilen durch 33
einen dichten Wald kämpfen, der Bear Thicket hieß. Dieses Stück oder besser: dieses Phantom einer Straße verlief parallel zu einem schmalen Fluss. Die Bäume und das Gestrüpp wuchsen so dicht, dass man stellenweise kaum den Himmel sehen konnte und der Erdboden in ewigem Halbdunkel lag. Versteckte Felsen bedeuteten eine ständige Gefahr für das Pferd, und oft musste man aus dem Sattel, um einen entwurzelten Baum aus dem Weg zu räumen. Damit nicht genug, ging es die ganze Zeit bergauf und bergab, was erklärte, warum man das Land nicht gerodet und urbar gemacht hatte. Einige der steileren Anstiege waren mit einem unerfahrenen Pferd sehr riskant. Mit King, den er als Fohlen bekommen und selbst aufgezogen hatte, fühlte sich Waite aber sicher. Der große Braune war zwar leicht x-beinig, aber zuverlässig, kräftig und nicht schreckhaft. Außerdem war er, wenn nötig, schnell und hatte ein sanftes Wesen. So ein Ausflug konnte allerdings jedem, Mensch wie Tier, die Laune verderben. Wenn die Baumwolle abtransportiert werden musste, brachten die Farmer sie ins südwestlich gelegene Coffeeville. Endlich ließ Waite das Dickicht hinter sich. Das Land vor ihm war wieder schön: ein gepflegtes Baumwollfeld nach dem andern, jedes Baumwollbüschel war so weiß wie die Augenbrauen eines Senators. Die unebenen, zur Bepflanzung ungeeigneten Flächen zwischen den Feldern bestanden aus tiefen, üppig bewaldeten Schluchten, auf deren Grund Wassereichen wucherten, aus Senken voller Kiefern und anderer immergrüner Bäume, von deren Ästen Virginiamoos, Efeu, Glyzinen und Geißblatt hingen, sowie aus Bächen, deren kühles Wasser die Oberfläche der großen weißen Felsen glatt wusch. Es war die perfekte Gegend zum Whiskey brennen. Der Farmer konnte sich um seine Baumwolle kümmern und zwischendurch in die Senke zu seinem Destillierapparat hinab steigen, um die Maische zu überprüfen. Was einer der Gründe war, die Gegend zu meiden. Waite lag nichts daran, die Schwarzbrenner zu stören, er war Whiskey trinker und hielt die Steuergesetze für ungerecht. Aber hin und wie 34
der schnüffelten hier Regierungsbeamte herum. Vor zehn Jahren war in der Gegend angeblich einer verschwunden. Da man jedoch nie eine Leiche fand, hatte nichts bewiesen werden können. Und Leute aus Mitcham Beat zum Reden zu bringen, war so schwer wie Baumstümpfe ausreißen. Waite war zwar der Sheriff für den ganzen Verwaltungsbezirk, doch hatte er es schon vor einiger Zeit aufgegeben, jeden Winkel im Auge zu behalten. Jahr für Jahr zogen neue Leute zu, und er hätte schon eine Armee gebraucht, um da noch den Überblick zu behalten. Immer wieder hatte er elendes Pech mit seinen Deputys gehabt. Es waren Säufer darunter gewesen, Männer, die sich gern schmieren ließen, oder solche, die beim ersten Anzeichen einer Aus einandersetzung die Nerven verloren. Inzwischen fand er es beque mer, einfach ein paar verlässliche Burschen auf Zeit zu ernennen, wenn es eng wurde. So erwartete er nicht zu viel und ersparte sich unverschämte Widerworte. Außerdem hatten die meisten der ent legenen Gemeinden für kleinere Dinge einen Friedensrichter und sorgten auf ihre eigene raue Art für Ordnung. Doch manche Gegenden, zum Beispiel Mitcham Beat, schienen einfach für Ärger ausersehen. Wenn der Boden nicht so fruchtbar gewesen wäre, hätte da außer Kriminellen ohnehin keiner leben wollen. Er zog an den Zügeln, hielt King vor der überdachten Brücke an und stieg langsam ab. Dann rückte er die Pistole zurecht. Gut so, bequemer. Die Sonne, die über den Baumspitzen stand, brannte auf seinen Rücken. Mit einem Auge nach Schlangen Ausschau haltend, führte er King die Böschung zum Fluss hinunter. Das lock te die Ochsenfrösche aus dem Gras, die sich wie Bogenschützen einer nach dem andern entlang dem Ufer postierten. Als King das Maul ins Wasser tauchte und trank, versanken die vorderen Fessel gelenke im Schlamm. Er schüttelte den Kopf, um die Insekten zu verscheuchen, die dicht über der Wasseroberfläche herumsausten. Waite nahm den Hut ab. Der Wald auf der anderen Seite des Flusses − der Anfang des Bear Thicket − war ein ineinander verschlungenes Gewirr aus Kletter 35
pflanzen, Bäumen und Gestrüpp. Plötzlich kam Waite die Vor stellung in den Sinn, er würde einen Esel oder Ochsen in das Gewirr jagen und zuschauen, wie das Tier abrutschte und ins Wasser stürz te. Der Weg wirkte noch stärker zugewachsen als beim letzten Mal. Damals hatte er den Mord an dem Ladenbesitzer Arch Bedsole untersucht, dessen Kandidatur für das Repräsentantenhaus des Bundesstaates Mississippi alle im Bezirk verblüfft hatte. Bedsoles Vater, der seit vielen Jahren in Mitcham Beat ansässig gewesen war, kannte jeden Mann und jede Frau, jedes Kind und jeden Hund inner- und auch außerhalb der Gegend. Bis ihm seine Beine wegen irgendeiner rätselhaften Krankheit den Dienst ver sagten und sich seine Gesundheit auch noch aus anderen, weniger offensichtlichen Gründen verschlechterte, waren er und Arch mit einem Maultierfuhrwerk im ganzen Bezirk von Farm zu Farm ge fahren. Mit ihrer »Wir-sind-welche-von-euch«-Leier zogen sie dann über die bekanntesten Landbesitzer der Gegend her und behaup teten, die würden sich doch nur um die Leute aus der Mittel- und Oberklasse kümmern und einen Scheiß um den so genannten klei nen Mann, den Baumwollfarmer, der sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang draußen auf dem Feld krumm machte und mit seiner Ware die gesamte Wirtschaft trage. Das Sharecropper-Sys tem, mit dem der Pachtfarmer das Saatgut durch einen Kredit bei einem Ladenbesitzer finanziere und den Kredit plus Zinsen mit sei ner Baumwollernte zurückzahle, mache es − so die Bedsoles − dem Farmer unmöglich, seine Lage je zu verbessern. Nach jeder Ernte stünde er mit einem noch höheren Schuldenberg da. Es werde behauptet, er könne beispielsweise mit acht oder neun Cents pro Ballen rechnen, doch wenn nach der Ernte die Baumwolle in die Entkörnungsmaschinen wandere, müsse er feststellen, dass der Preis auf sechs oder gar fünf Cents gefallen sei. Die Farmer gaben natürlich der Gier von Händlern wie McCorquodale die Schuld, doch Waite wusste, dass der Markt nicht von den Kreditgebern in Clarke County, sondern im Norden, in New York, gesteuert wurde. 36
Aber versuchen Sie das mal einem Farmer zu erzählen, dem man den Gewinn um fast die Hälfte gekappt hat, der seine Kinder wie der ohne Schuhe durch den Winter bringen muss und der die neuen Dachschindeln, den Traum fürs nächste Jahr, abhaken muss. Waite hatte immer gedacht, dass der Bedsole-Klan den Kauf leuten aus der Stadt enger verbunden war als den Baumwoll farmern auf dem Land. Doch Ed, Arch und der Rest der Familie hatten so lange in der Gegend gelebt und ihren Laden geführt, dass sie das Vertrauen der Farmer besaßen. Es gehörte zu Archs Wahl kampf, die Ärmel aufzukrempeln, raus auf die Baumwollfelder zu spazieren und persönlich Hand anzulegen − da war er ein guter Pflücker. Das hatte ihm den Spitznamen Strut eingebracht. Es hieß, dass die Bedsoles Whiskeybrenner kannten (oder selbst welche waren) und immer mit einem Krug Schwarzgebranntem bei den Farmern aufkreuzten. Wenn sich die Wahlkämpfer wieder verabschiedeten, hatte nicht selten ein Saufgelage den Kampf entschieden. Waite hatte keine Ahnung, wer die Wahl gewonnen hätte, und niemand sollte es je erfahren. Arch Bedsole war im August des ver gangenen Jahres nach einer Debatte mit dem Gegenkandidaten der Städter − einer Debatte, die vor dem Gerichtsgebäude stattgefun den und die Arch wohl gewonnen hatte − nach Hause geritten, als er etwa eine Meile von seinem Laden entfernt aus dem Hinterhalt erschossen wurde. Soweit Waite wusste, hatte man den Mörder immer noch nicht gefasst. Er zog am Zügel, doch King sträubte sich. Das Pferd würde weitersaufen bis zur Offenbarung. Schließlich ließ es sich aber doch erweichen und erlaubte Waite, es die Böschung hinauf zur Straße zurückzuführen. Waite stieg auf, und sie klapperten erst in die Dun kelheit der überdachten Brücke und tauchten dann in die Dun kelheit des Dickichts ein. Er war nicht sonderlich nervös. Niemand erwartete ihn, er glaubte sich nicht in großer Gefahr. Allerdings musste man auf dieser Route immer damit rechnen, beschossen zu werden. 37
Er schätzte, es war neun Uhr, als er durch das Tor des ziemlich weit läufigen Anwesens von Tom Hill ritt. Die ehemalige Plantage war mit Stacheldraht eingezäunt, eine Seltenheit hier draußen; die meisten Leute schnitten sich ihre Zaunlatten aus Bäumen. Alles sah genau so aus, wie Waite es in Erinnerung hatte. Hill züchtete Rinder, mehrere hornlose Hereford-Rinder standen am Zaun, als Waite vorbeigaloppierte. Dahinter konnte er das zweistöckige Haus sehen, das im gleichen Weiß gestrichen war wie seins. Und dahinter eine große Scheune und Nebengebäude, die früher als Sklavenquartiere gedient hatten. Waite war im letzten Jahr, während der Suche nach Bedsoles Mörder, hier gewesen und hatte sich mit Hill, dem Friedensrichter von Mitcham Beat, unterhalten. Hill war auf den Sheriff nicht gut zu sprechen, er hatte dessen Fragen als Misstrauensvotum gedeutet. Womit er Recht hatte. Hill hatte nur eine einzige Sache von Bedeutung berichtet: Laut Aussage eines Cousins von Arch Bedsole habe dieser kurz vor seinem Tod gesagt, der Schütze oder die Schützen wären »aus der Stadt« gewesen. Danach war Waite bei glühender Hitze von einem trostlosen Gehöft zum nächsten geritten. Ausgezehrte Kinder und schwan gere Frauen mit strähnigen Haaren hatten ihn angestarrt, während er mit durchschwitztem Hemd dastand und die Farmer von ihren Feldern ins Haus winkte, um sie über den Mord an Bedsole zu befragen. Die Männer hatten »Ich weiß nichts« oder »Hab gehört, dass es einer aus der Stadt gewesen sein soll« geantwortet, und er war zur nächsten Farm geritten, um sich dort genau den glei chen Mist wieder anzuhören. Kein Wunder: Diese Leute trauten dem Gesetz der Städter so wenig wie die Städter irgendwem vom Land − eher noch weniger. Waite stieg langsam ab, band King an einem Verandapfosten fest und schlug sich mit dem Hut den Staub von den Hosenbeinen. Dann beugte er sich kurz vor, um seinen Rücken zu entspannen, richtete sich danach wieder auf, ging die Stufen zur Haustür hoch und klopfte. Er erinnerte sich an die Zeiten vor vierzig Jahren, 38
damals hätte ihm ein schwarzer Diener Einlass gewährt. Das Trug bild verschwand, als ihm Hills pummelige, unfreundliche Frau öff nete. Hinter ihr tuschelten zwei Mädchen, die beide einen Pferde schwanz trugen. Sie bat ihn herein und ermahnte die Mädchen, still zu sein. Die Frau hielt ein leinengebundenes Buch in der Hand − wahrscheinlich war sie die einzige Person im Bezirk, die sich den Luxus leisten konnte, bei Tageslicht zu lesen. Waite sagte, er habe etwas Berufliches mit Tom zu besprechen. Sie antwortete knapp, er solle warten, und verschwand dann, mit den Mädchen im Schlepptau, durch eine Doppeltür. Auf einem Salontisch am Ende der Diele tickte eine achteckige Schrankuhr mit einem Gehäuse aus kunstvoll geschnitztem Walnussholz. Durch ein hohes Fenster fiel Licht auf den Glasdeckel, weshalb Waite nicht sehen konnte, wie spät es war. »Sheriff.« Hill war hinter ihm aus einem Zimmer getreten. Waite drehte sich um und folgte Hill nach draußen. Keiner der beiden hatte Anstalten gemacht, dem andern die Hand zu geben. Sie gingen die Verandastufen hinunter und dann zu der Scheune, in der sich Hills Büro befand. Der Richter war mit Anfang vierzig schon vollständig ergraut − inklusive Augenbrauen. Das Haar reichte ihm fast bis zum Kragen. Er trug Hausschlappen, die auf der Erde ein lispelndes Geräusch machten. Die Pferde, die in Boxen mit oben getrennt öffnenden Türen untergebracht waren, wieherten. In irgendeiner dunklen Ecke me ckerte eine Ziege. Waite verschränkte die Arme, während Hill auf einem als Stufe dienenden Holzklotz stand und das Vorhänge schloss an der Tür entriegelte. Waite betrat das Büro hinter Hill. An verschiedenen Haken hing Sattelzeug. Der schmale Raum schloss an der Oberkante der Wände nicht mit einer Decke ab, son dern war bis zum First des Blechdachs offen. Heiß im Sommer, kalt im Winter. Hier erledigte Hill seine Arbeit − schlichtete Streite, beurkundete Amtshandlungen, traute gelegentlich Paare. Hill bedeutete Waite, er solle sich von dem Schreibtisch, der den Vieh züchtergeschäften vorbehalten war, einen Stuhl nehmen. Dann 39
schob er das Fenster hoch, das er hatte verglasen lassen, ließ fri sche Luft herein und setzte sich. Er öffnete eine Schublade, nahm ein Dienstbuch heraus, wischte es am Hosenbein ab und legte es zwischen sich und Waite auf den Schreibtisch. »Sie können sich wahrscheinlich denken, warum ich hier bin«, sagte Waite. Er schlug die Beine übereinander, nahm den Hut ab und hängte ihn über die Stiefelspitze. »Fassen Sie es nicht als Belei digung auf, dass ich schon wieder in ihrem Zuständigkeitsbereich auftauche. Aber die Leute reden, sie machen mir Druck. Ich hoffe, wir können uns gegenseitig unterstützen.« Hill trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Waite zog Notizblock und Stift aus der Jackentasche und lehnte sich zurück. »Vorab: Gibt es irgendwas Neues in der Sache Arch Bedsole?« »Nein«, sagte Hill. »Soweit ich weiß, sind die, die ihn erschossen haben, immer noch dieselben, und er ist auch noch genauso tot.« »Sie glauben noch immer, dass es jemand aus Grove Hill war?« »Oder aus Coffeeville. Ist nichts passiert, was meine Meinung geändert hätte.« »Wer war das noch mal, der gesagt hat, dass es welche aus der Stadt waren? Sein Cousin, nicht?« »Tooch Bedsole. Der hat jetzt den Laden in New Prospect.« »Den Arch früher hatte?« »Gibt sonst keinen da draußen. In der selben Nacht, als man Arch umgebracht hat, ist Toochs Haus abgebrannt. Er ist dann in den Laden gezogen. Hat noch irgendeinen Jungen da.« Waite notierte Tooch Bedsole und unterstrich den Namen. »Und Sie?«, fragte Hill. »Haben Sie Ihre Kumpels gefragt, wo sie in der Nacht waren?« »Hab ich. Alle sauber. Mit vielen war ich in der Nacht sogar selbst zusammen.« Die beiden Männer schauten sich an. Schließlich sagte Waite: »Also weiter. Was haben Sie bis jetzt über den Mord an Anderson herausgefunden ?« 40
»Was ich herausgefunden habe, Sheriff, ist einfach: nichts.« Waite wartete, aber Hill hatte anscheinend alles gesagt, was er sagen wollte. »Haben Sie denn mit niemandem gesprochen?« »Natürlich hab ich mit den Leuten gesprochen. Glauben Sie etwa, dass ich meine Arbeit nicht tue?« »Das habe ich nicht gesagt, Hill. Gehen Sie doch nicht gleich in die Luft. Erzählen Sie mir bloß, was Sie bis jetzt ausgegraben haben.« »Nichts. Weil es da nämlich nichts auszugraben gibt. Keine Zeu gen. Und niemand hat einen Fremden gesehen, den ich hätte be fragen können. Gibt ein paar Leute, mit denen Anderson nicht so gut klarkam. Hab mit ihnen gesprochen, haben aber alle Alibis. Und zwar gute.« »Was ist mit dieser Bande, von der man jetzt dauernd hört? Die mit den Kapuzen?« »Hör auch dauernd von denen.« »Und?« Hill sah müde aus. »Bin mir nicht sicher, ob’s eine Bande ist, oder ob’s nur zwei Mann sind. Keiner hat bis jetzt mehr als zwei zu sammen gesehen. Wenn da irgendwas Organisiertes dahinter steht, dann weiß zumindest keiner, wer dazugehört und wer nicht.« Er klopfte auf sein Dienstbuch. »Ich hab eine ganze Reihe von Vor fällen untersucht. Einen Brand. Erschossenes Vieh. Eine Schweine rei in der Niggerkirche. Ein fliegender Händler, der verschwunden ist. Aber jedes Mal, wenn ein Verdächtiger auftaucht, gibt’s jeman den, der sagt, dass der, den wir haben, es nicht gewesen sein kann.« »Vielleicht gehört der, der das Alibi liefert, mit zur Bande. Viel leicht steckt der Kerl nächste Nacht selbst unter der Kapuze.« »Sheriff, die Männer, die das ausgesagt haben, die kenn ich schon mein ganzes Leben. Das sind Leute, die zur Kirche gehen, die hier Besitz haben. Da fang ich nicht gleich an, die Lügner zu nennen, bloß weil Andersons Scheune abbrennt oder irgendwer die Nigger ein bisschen springen lässt.« 41
Waite schaute an ihm vorbei durch das Fenster nach draußen, wo sich ein Bulle mit dem Schwanz gegen die Flanke schlug. Waite rieb sich den Nasenrücken, nahm den Hut und setzte ihn auf. Als er aufstand, bogen sich die Bodendielen unter dem Gewicht. Er ging zu dem Zaumzeug, das an der Wand von einem Nagel hing, und nahm es herunter. Eine Weile befühlte er das trockene Leder und wendete die Kandare mit den Fingern hin und her. »Also«, sag te er und warf das Zaumzeug in Richtung Friedensrichter, der es auffing. »Bis später dann.« Waite verließ das Büro und ging mit großen Schritten an den Pferden vorbei, stieg auf sein eigenes und ritt davon. Er war froh, dass er den Besuch hinter sich hatte. Hill würde es zwar bestrei ten, aber die Vorkommnisse wiesen etliche Parallelen auf, jeden falls die, von denen Waite wusste. Einer der abgebrannten Ställe hatte auf einer Pachtfarm gestanden, die einem Rechtsanwalt aus Coffeeville gehörte. Ein Haus, auf das man geschossen hatte, gehörte einem Banker aus Grove Hill − jahrelang hatte der ver sucht, es zu verkaufen, aber niemand aus der Stadt wollte so weit draußen wohnen. Dann der »Zwischenfall« in der Schwarzenkir che, der vor allem wegen seiner Merkwürdigkeiten auch in Grove Hill für Aufsehen gesorgt hatte. Irgendwer hatte das gesamte Mobiliar nach draußen geschafft und ein geschlachtetes Haus schwein über die Kanzel gelegt. Ein Schwarzer, der zufällig vor beikam, wurde gelyncht. Waite ritt weiter durch hohe Baumwolle Richtung Osten, bis sich das Land abrupt senkte und er in ein Wäldchen mit Wasser eichen eintauchte. Waite war froh um den Schatten. Wie ein Netz überzogen Efeu und andere Kletterpflanzen den Himmel. Als King in einen sumpfigen Tümpel stapfte, wurden sie sofort von einer Mückenwolke eingehüllt. Bis King auf die Sporen reagierte und in Galopp fiel, hatte sich Waite schon ein halbes Dutzend Blut flecken auf Hals und Handrücken geklatscht. Eine halbe Stunde später, wieder in der Sonne, schreckten sie am Rand eines Feldes einen Schwarm Wachteln auf. Sie warteten ab, bis sich die Vögel 42
zerstreut hatten, dann lenkte Waite das Pferd Richtung Nord westen und spürte schon bald, dass der Boden unter ihnen wieder anstieg. Er freute sich auf den nächsten Halt, wo er die alte Hebamme treffen würde, die jeder als Witwe Gates kannte. Ihr Gehöft ge hörte zu den schöneren der Gegend: drei Zimmer in einem klei nen, stabilen Holzhaus, in den Schatten von Pekanbäumen und Magnolien gebaut, davor, am Rand des Grundstücks, ein artesi scher Brunnen. Die alte Frau hatte die Gabe, dem Boden alles Mög liche abzugewinnen und jede Pflanze prächtig gedeihen zu lassen: köstliche saftige Kürbisse, riesige Gurken und Tomaten. Ihr Mais blühte früher als bei allen andern und schmeckte auch süßer. Keiner wusste, warum. Unterhalb ihres Besitzes verlief ein kleiner Fluss, in dem die beiden Jungen, die sie aufgezogen hatte, gern schwammen und angelten. In klarem, kaltem Wasser, das Waite an seine eigene Jugend erinnerte. Auch auf die beiden Jungen freute er sich. Nach dem Tod der Eltern hatte die alte Frau die zwei allein großgezogen. Waite wuss te, dass ihr der Ältere, William, oft eine Last gewesen war. Ab und zu hatte er sich selbst in Schwierigkeiten gebracht: sich in der Schule geprügelt, einmal hatte er sogar in McCorquodales Laden eine Mundharmonika gestohlen. Der Jüngere, Macky, erinnerte Waite dagegen an sich selbst, als er ein Junge war. Er war höflich und scheu und schien am zufriedensten zu sein, wenn er seinen Angel korken auf dem trägen Fluss auf und ab hüpfen sah. Gern half er der alten Frau im Garten oder wusch ihre Hebammenutensilien, wenn sie wieder ein Baby in die Welt befördert hatte. Immer wie der hatten sich Waite und die Witwe darüber gewundert, wie ver schieden Geschwister sein konnten, und Waite hatte ihr seinen Kummer gestanden, dass er nur einen einzigen Sohn besaß. »Seien Sie froh, dass Sie wenigstens den haben«, hatte sie gesagt, und er hatte ihr zugestimmt. Die Witwe hatte nämlich das Leben von Johnny-Earl und wahr scheinlich auch das von Sue Alma gerettet. Vor einundzwanzig Jah 43
ren war der Arzt aus Grove Hill zu einem Angeschossenen nach Coffeeville gerufen worden, kurz bevor Sues Fruchtblase platzte. Da sie zuvor schon drei Töchter geboren hatte, brachten sie die einsetzenden Wehen nicht eher aus der Ruhe, bis sie sich unter Krämpfen wand. Als sie aufstand, um ins Bad zu gehen, war die Rückseite ihres Kleides rot von Blut. Waite ritt los, um Hilfe zu holen, und fand die Witwe Gates auf der Main Street. Sie schaute sich gerade die Auslagen der Geschäfte an. Er konnte sein Glück kaum fassen. Eilig hob er sie hinter sich aufs Pferd, und sie krallte sich an seinem Hemd fest. Waite erinner te sich an das Weinen der drei Mädchen, als sein Cousin Oscar sie zum Drugstore scheuchte, damit sie sich dort eine Brause kauften. Waite erinnerte sich auch an sein Beten, das Schreien im Schlaf zimmer möge aufhören. Schließlich hatte ihn die alte Frau herein gerufen, um ihr zu helfen, und er hatte sich die Ärmel aufgekrem pelt. Was er sah, ließ jedoch das Blut in seinen Adern gefrieren. Er war in seinem Leben durchaus schon Zeuge von Blutströmen geworden, er hatte im Krieg abgerissene Gliedmaßen gesehen, hat te auch gesehen, wie ein Soldat, dem eine Kanonenkugel Kopf, Schulter und Arm weggeschossen hatte, stehen blieb, mit der ande ren Hand die Muskete festhielt und losfeuerte. Er hatte Männer durch sein Gewehr und sein Messer sterben sehen, aber all das war nichts, verglichen mit der Szene in seinem eigenen Schlafzimmer. Sue Alma lag schweißgebadet auf dem roten Laken. Oscars Frau Lucinda versuchte, Sue Alma aufs Bett zu drücken. Waite sah, dass seine Frau in ihrer eigenen blutigen und flüssigen Scheiße lag, und auch, dass die Hand der Hebamme ganz im Körper sei ner Frau steckte. »Er bewegt sich«, sagte die Witwe, während Sue schrie und mit den Beinen trat. Erst später, nach mehreren Drinks, wurde Waite klar, dass die Witwe das Geschlecht des Babys ertas tet hatte. Ohne dass man ihm Anweisung gegeben hätte, durch querte er den Raum und drückte die Schultern seiner Frau auf die Matratze, während ihre Fäuste auf seinen Rücken, seine Schultern, sein Gesicht einprügelten. »Pressen«, befahl die alte Frau, und Sue 44
presste und schlug dabei auf ihn ein. Jedes Mal, wenn sie presste, stülpte sich das Innere ihres Mastdarms wie der Kelch einer Blu- me nach außen. Immer mehr Blut floss aus ihr heraus, bis schließ lich die Witwe sagte, dass sie die Schädeldecke des Babys sehen könne. Obwohl das Baby noch nicht kam, wäre Waite vor Erleich terung fast ohnmächtig geworden. »Er dreht sich noch«, murmelte die alte Frau und wischte mit einem Handtuch Blut auf. »Ganz schön lebendig, der Kleine, aber wir müssen ihn jetzt rauskriegen, sofort.« Waite und Lucinda versuchten, Sue Alma zu beruhigen und forderten sie auf, weiterzupressen, während die Witwe Gates sie mit einem Messer aufschnitt. Sue schrie noch einmal, dann lag sie keuchend da, und die alte Frau hob das strampelnde blaue Baby in die Höhe, drückte es Waite in die Hände und machte sich schließlich daran, den Schnitt wieder zuzunähen. Später − Sue war inzwischen gewaschen und schlief, blass, aber am Leben, der Junge nuckelnd an ihrer Brust − ging Waite zu der alten Frau hinaus auf die Veranda. Er betrachtete seine zitternden Hände und sah das getrocknete Blut unter den Fingernägeln. Als die Töchter von Oscar und ihm um die Ecke bogen, verschwamm plötzlich alles vor Waites Augen. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich Ihnen nicht über den Weg gelaufen wäre«, sagte er zu ihr. »Was für ein Zufall, dass Sie gerade in der Stadt waren.« »Das war kein Zufall«, sagte sie. Obwohl er sie später noch viele Male danach gefragt hatte, sprach sie nie mehr davon. Sie hatte nur noch gesagt, dass der Junge Sues letztes Baby sein würde, dass ihre inneren Organe das nicht noch einmal durchstehen würden. Als er sie fragte, was sie bekäme, schien sie überrascht. »Die meisten Leute geben mir, was sie können.« Er hielt ihr fünf Silberdollar hin, die sie ziemlich lange anstarrte. Als ob deren bloße Existenz sie verwirrte. Dann hatte sie die Münzen genommen und in den Falten ihres Kleids verstaut. Ihr Haus war eines der höchst gelegenen im ganzen Bezirk. Die Far mer hielten das hügelige Land für minderwertig. Waite ritt auf das 45
schattige Grundstück und schaute hinauf ins Geäst der Pekan bäume, wo ein kreischendes Eichhörnchen von Ast zu Ast hüpfte. Jeden Augenblick müssten die Jungen herauskommen. Seit seinem letzten Besuch hatte er sie nicht mehr gesehen. Macky war damals abweisend und still gewesen. So ist das in diesem Alter, hatte Waite gedacht, als die beiden Jungen im Stall verschwunden waren, um sein Pferd zu versorgen. Er und die Witwe hatten in den Schau kelstühlen auf der Veranda gesessen und über das Wetter, die Ernte und den Mord an Arch Bedsole gesprochen. »Ich hab’s in derselben Sekunde gewusst«, hatte sie damals gesagt. »Was gewusst?« »Dass Arch tot ist. Ich weiß immer, wenn eins meiner Babys, eins, das ich in die Welt geholt hab, getötet wird. Wenn ich grad schlaf, schreck ich im Bett hoch. Krieg kaum noch Luft.« »Dann wissen Sie auch, wenn mein Junge stirbt?« »Ja«, hatte sie gesagt. »Wenn ich noch lebe.« An der Holztränke neben dem Brunnen stieg er ab und ließ das Pferd aus dem plätschernden Wasser saufen. An einem Holzzapfen hing ein Schöpflöffel, der aus einem Flaschenkürbis geschnitzt war. Waite tauchte ihn ein und trank das nach Schwefel riechende Wasser. Seine Zähne schmerzten, so kalt war es. Aber gut, ver dammt gut. Er tauchte den Schöpfer noch einmal ein und trank diesmal langsamer. Hügelabwärts, jenseits der Bäume, war das Land so baumwollweiß, dass man sich in eine tief verschneite Win terlandschaft in Kentucky oder einem anderen Staat weiter nörd lich versetzt glaubte. Er schaute sich auf dem Gehöft um. Eine Räucherhütte hinter dem Haus und, schon auf abschüssigem Gelände, ein Stall, an dem sich schwarze Magnolienwurzeln emporrankten. Das einohrige Maultier der Witwe glotzte ihn aus seiner Box an. Er ging zum Hühnerstall, der am Rand des Grundstücks lag. Die Hühner liefen zum Drahtgitter und schauten ihn an, als erwarteten sie Fut ter. Wie vermutlich fast jeder in der Gegend, wusste Waite kaum 46
etwas über die Witwe. Nur dass sie schon, so lange er sich erin nern konnte, hier lebte und, ob weiß oder schwarz, so ziemlich jedes Baby im Bezirk auf die Welt gebracht hatte. Sie kannte sich auch mit den Heilkräften von Pflanzen aus und hatte schon das Leben von so manchem Farmer gerettet. Er hörte etwas. Instinktiv zog er den Revolver und richtete ihn auf die Bäume. Im selben Augenblick trat die alte Frau hinter einem Hartriegelbusch hervor und zog sich die Röcke herunter. Hatte sie ihn bemerkt? Waite schaute weg und steckte die Pistole zurück ins Halfter. Als er sich wieder umdrehte, sah sie ihn an. Dann das Pferd. Wenn es ihr peinlich war, dass er sie bei ihrem Geschäft überrascht hatte, war es ihr jedenfalls nicht anzumerken. Ihr Hund schoss aus dem Unterholz und bellte King an. Das Fell unter seinem Bauch hing in nassen Fransen herunter. Als ob er im Uferwasser herumgestakst wäre. »Aus«, sagte sie. Der Hund verstummte. »Abend, Mrs. Gates.« Er nahm den Hut ab und ging auf sie zu. »Billy Waite«, sagte sie. »Auch mal wieder in der Gegend.« »Ja, Ma’am.« »Wie geht’s Ihrem Johnny-Earl?« »Ist ‘n erwachsener Mann. Holzfäller in Washington County. Das ist zumindest das Letzte, was ich gehört hab.« Sie lächelte. Ihr Haar war weißer als beim letzten Mal, die Augen blau und klein, das Gesicht wie gegerbtes Leder, die Falten so tief, dass sie aussahen, als könnte man ein Zehn-Cent-Stück hineinklemmen. Unter dem Umhang und dem Kleid trug sie eine Männerhose, die bis zu den Knöcheln aufgekrempelt war. »Wo sind Ihre Jungs?«, fragte er. Sie schaute an ihm vorbei. »Weg.« »Wohin?« Sie hob den Stock und zeigte nach Osten. »Einer arbeitet für War Haskew.« Dann zeigte sie nach Westen. »Der andere arbei47
tet im Laden.« Sie stützte sich auf den Stock und wandte sich zum Haus. Auch der Hund drehte sich um. Sie hielt sich am Veranda pfosten fest, stieg mühsam die drei Steinstufen hinauf und hum pelte über die Holzbohlen hinein. Er folgte ihr, bückte sich und betrat durch die niedrige Tür den Wohnraum. Es roch angenehm nach brennendem Holz und frisch gebackenen Biscuits, nach ge trockneten Kräutern und Sprösslingen, die von der Decke herab hingen. Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Bibel, und darauf saß ein Monarchfalter, dessen Flügel sich öffneten und schlossen. Über einer Waschschüssel aus Ton lehnte auf einem schmalen Wandbord ein Stück Spiegelglas. Vorsichtig setzte sie sich in einen Schaukelstuhl, der an der gegenüberliegenden Wand vor dem Fenster stand. Schnelle Schat tenstriche von grünen Kiefernnadeln wischten über die Scheibe. Der Hund legte sich neben die Witwe auf den Boden und behielt Waite im Auge. Nicht unfreundlich, der Schwanz klopfte auf die Holzbohlen. »Wohnen die Jungs noch hier?«, fragte er. »Nein«, sagte sie. »William ist neunzehn.« Sie machte eine flapsige Handbewegung, als wolle sie ihm damit die Anmaßung ver deutlichen, die in der Natur des Älterwerdens lag. »Wie alt ist Macky jetzt?« »Fünfzehn.« »Und er wohnt drüben im Laden? Bei Tooch Bedsole?« »Sein richtiger Name ist Quincy. Aber alle nennen ihn Tooch. Er wollte, dass Macky unsere Schulden abarbeitet. Bis das Konto wieder auf null ist. Hab ihm gesagt, er soll William nehmen. Der ist älter und kann kräftiger zupacken. Aber Tooch wollte den Kleinen. Hat gesagt, dass man sich einen Jüngeren besser ranziehen kann als einen Älteren. Meinte, nichts verdirbt einen guten Jungen schneller als die Zeit.« Die alte Frau hatte aufgehört zu schaukeln. Sie schaute ihn an und begann dann wieder zu schaukeln. Er beobachtete ihr Profil, das sich ins Licht des Fensters und danach wieder hinausbewegte. 48
Er sah, dass sie keine Zähne mehr hatte. Obwohl sie anscheinend nichts weiter sagen wollte, wartete Waite noch. Auf einem Bord über der Feuerstelle standen Schnupftabaksdosen aufgereiht. Die Lederscharniere der offenen Fenster quietschten. Ein Luftzug blähte die Vorhänge ins Innere und blätterte ein paar Bibelseiten um. In dem verschnürten Stoffbeutel, der an einem Nagel in der Wand hing, vermutete er ihre Instrumente für die Geburtshilfe. Als er die alte Frau wieder anschaute, schien sie überrascht, dass er überhaupt noch da war. »Ich dachte, Sie wären schon gegangen.« »Wie viel Schulden haben Sie?« Als ob das eine Antwort wäre, fing sie an, die Sachen aufzu zählen, die sie gekauft hatte. Nannte Daten und Preise. Sie wurde wehmütig und tat ihm Leid. Er hatte das Gefühl, er sollte öfter vor beischauen. Oder dafür sorgen, dass ihre Jungs öfter vorbei schauten. »Ich danke Ihnen«, sagte er und erhob sich. Er stand neben der Feuerstelle und klopfte sich die Asche von seinem Hosenboden. »Im August sind sie am besten«, sagte sie. »Die Pfirsiche. Drei für ‘n Penny.« Waite saß auf seinem Pferd vor Tooch Bedsoles Laden − Bedsole’s Dry Goods. Unter einem der beiden Fenster, die sich links und rechts der Tür befanden, stand eine Bank auf der langen Veranda. Er musste zweimal hinschauen, bevor er die Veränderung bemerkte. Dann fiel ihm auf, dass auf dem Holzschild mit dem Namen des Besitzers, das über der Veranda hing, das Wort Arch übermalt und durch »Quincy« ersetzt worden war. Akkurat und sauber gepinselte Buchstaben. Andere Läden, wie der von McCor quodale in Coffeeville, waren voll gepflastert mit Werbetafeln aus Blech oder Pappe, die regelmäßig ausgetauscht wurden. Auf den Veranden davor saßen alte Männer und erzählten die Lügen, die alte Männer eben erzählen, tranken und rauchten Fünf-CentZigarren. 49
Hier jedoch herrschte eine Abgeschiedenheit, die unnatürlich wirkte. Rechts vom Laden befand sich die Schmiede. Er konnte den Amboss sehen, einen Eimer mit schwarzem Wasser und den kalten Schmiedeofen. Links vom Haus war ein Stall mit Platz für ein Pferd und einen Wagen. Frische Spuren. Hinter Waite, auf der anderen Straßenseite, lag ein breites, tiefes Baumwollfeld, dahin ter, etwa hundert Meter entfernt, eine Insel aus Kiefern und dahin ter noch mehr Baumwolle. Er griff in die Tasche und zog seine Uhr heraus, ein Geschenk von Sue anlässlich eines Feiertags in früheren Zeiten. Kurz vor fünf. Verdammt. Eigentlich müsste doch jemand da sein. Er stieg ab und schlang die Zügel des Pferdes um das Geländer. »Ich hol dir ‘n Stück Zucker«, sagte er zu King, kraulte sein Kinn und rückte die Kandare zwischen den gummiartigen Lippen zurecht. Er legte die Hände aufs Kreuzbein und drückte den Rücken durch, bevor er die Verandastufen hinaufstieg. Schützend hielt er eine Hand über die Augen und lugte ins Innere. Nichts. Er pro bierte den Türgriff. Nicht abgeschlossen. »Hallo«, rief er und steckte den Kopf hinein. Über ihm schlug eine Glocke an. Er ließ sie bimmeln in der Hoffnung, sie würde jemanden aufscheuchen. Doch die Gänge zwischen den Regalen blieben leer. Die Sonne in Waites Rücken ließ die langen Bodendielen grell aufleuchten. Sein gestreckter Schatten durchmaß die gesamte Länge des Ladens. Er ging hinein und ließ hinter sich die Tür laut ins Schloss fallen. Wieder bimmelte die Glocke. Immer noch niemand. Er legte die rechte Hand auf die Pistole, schnippte den Riemen aus Rohleder vom Hahn und zog den Colt: Irgendetwas stimmte nicht. Langsam schritt er durch den Mittelgang. Die Waren in den staubfreien Regalen auf beiden Seiten waren ordentlich einge räumt; wer immer dafür verantwortlich war, machte seine Arbeit 50
gut. Im hinteren Teil befand sich ein Holzofen, eine Tür stand halb offen. Als Waite das schwache Knarzen einer Holzdiele hörte, blieb er stehen. Das Geräusch war aus einem parallel verlaufenden Gang gekommen. Er ging in die Knie, schob mit dem Pistolenlauf ein paar Packungen Natriumbikarbonat und eine größere Schachtel, deren Vorderseite dem Nachbargang zugewandt war, zur Seite. Jemand kroch auf Händen und Knien. Waite richtete sich auf und ging ohne Eile zurück Richtung Tür, als wollte er den Laden verlassen. Er pfiff sogar. Als er die Tür erreicht hatte, machte er einen Ausfallschritt und beugte sich in den anderen Gang. Vor ihm kniete Macky Burke. »Verdammt noch mal«, sagte er. »Was zum Teufel machst du da?« Während Macky aufstand, starrten sich die beiden an. Der Junge war inzwischen so groß wie Waite. Als Baby hatte er Macky im Arm gehalten, das kichernde Bündel in die Luft geworfen und unter den winzigen Armen wieder aufgefangen. Über die Jahre hatte er ihn wohl ein Dutzend Mal gesehen und mit ihm, seinem Bruder und der Witwe zu Abend gegessen. Macky hatte sich fast nass gemacht vor Lachen, wenn Waite seine Geschichten erzählte. Er hatte den Jungen Bonbons mitgebracht, hatte sie auf seinem Pferd reiten lassen und ihnen sogar an seiner ungeladenen Pistole Funktionsweise und Gefahren erklärt. »Alles in Ordnung?« Waite schob den Jackenaufschlag zurück und die Pistole ins Halfter. »Du siehst aus, als hättest du die Hosen voll.« Der Junge nickte. »Ja, Sir, Mr. Billy.« »Du hast die Hosen voll?« »Nein, Sir.« Als ob das irgendwas erklärte, zeigte er mit dem Daumen auf das Regal. »Alles okay. Und wie geht’s Ihnen?« »Geht so. War grad drüben bei euch, hab mit deiner Großmutter gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass du hier arbeitest.« »Ja, Sir.« »Wann warst du das letzte Mal bei ihr?« Macky dachte nach. »Schon eine Weile her.« 51
»Eine Weile?« Er nickte. »Sie hat mir erzählt, du arbeitest eure Schulden ab.« Macky nickte. »Und weißt du wenigstens, wie viel es ist? Kam mir so vor, als ob deine Großmutter sich schon nicht mehr erinnern könnte.« »Nein, Sir.« »Bedsole hat’s dir nicht gesagt?« »Nein, Sir.« »Wieso fragst du ihn nicht? Weiß ja nicht, wie das bei dir ist. Ich für meinen Teil glaub nicht alles, was die Leute mir erzählen.« »Ich werd ihn fragen«, sagte Macky. »Er soll’s dir zeigen. Schwarz auf weiß.« »Ja, Sir.« Plötzlich waren Wagengeräusche zu hören. Ein Pferd wieherte. Waite drehte sich um und sah einen dunkelhaarigen Mann die Stufen hinaufgehen. Der Wagen rollte rückwärts, als ob der Unbe kannte vergessen hätte, die Bremse festzustellen. Der Mann trat durch die Tür und brachte mit einer schnellen Handbewegung nach oben die Glocke zum Verstummen. Er ähnelte Arch, allerdings auf eine vernarbte, härtere Art, wie ein Bruder, der im Krieg gewesen war. Falten verliefen von den Augenwinkeln nach hinten, eine Ansammlung von Sommer sprossen und Leberflecken verdunkelte die Gesichtshaut. Buschi ger Schnauzbart, schmuddeliger Backenbart, unten ein fehlender Zahn. Kleiner als Waite und der Junge, aber ein Mann mit selbst bewusstem Auftreten. Der große Kopf ließ ihn größer erscheinen, als er war, um die Brust und die Schultern wirkte er allerdings etwas schwächlich. »Tooch Bedsole?«, fragte Waite. »Wer will das wissen?« »Billy Waite.« »Unser Sheriff«, sagte er, nahm seinen flachen Hut ab und legte ihn auf den Ladentisch. »Ich heiße Quincy Bedsole.« Er zog jeden 52
Finger einzeln aus den Lederhandschuhen, ehe er diese neben dem Hut ablegte. »Was können wir für Sie tun?« »Ich hab gerade mit Ihrem Gehilfen hier gesprochen«, antwortete Waite und deutete mit dem Daumen auf den Jungen. »Ich brauche ein paar Fünf-Cent-Zigarren und etwas Würfelzucker.« »Mack«, sagte Bedsole, worauf der Junge nickte und eilig nach hinten verschwand. »Ich würde Sie gern etwas fragen«, sagte Waite zu dem Laden besitzer. »Wenn Sie eine Minute Zeit für mich hätten.« »Sicher«, sagte Bedsole. »Gehen wir raus auf die Veranda.« Das Pferd, eine weiße Stute, hatte den Wagen einen knappen Meter zurückgeschoben. »Verdammt«, sagte Bedsole und ging die Stufen hinunter. Er stellte die Bremse fest, klopfte sich den Staub von den Händen und kam zurück. »Der Braune, den Sie da haben, macht ganz schön was her.« »Danke. Hab ihn als Fohlen bekommen und selbst aufgezogen.« »Wollen Sie ihn verkaufen?« Waite dachte den Gedanken weiter. Woher zum Teufel sollte Bedsole so viel Geld haben? »Nein«, sagte er. »Bin ganz zufrieden mit ihm.« Sie standen da und betrachteten die Baumwolle und die Kiefern dahinter. Wie verschmierte Schlieren hingen zwei Geier am Himmel. »Gute Ernte«, sagte Waite. »Haben Sie schon mal Baumwolle gepflanzt?« »Ein Mal.« »Bedauerlich, die Geschichte mit ihrem Cousin«, redete Waite weiter. »Wurde Strut genannt, nicht?« Bedsole lehnte sich an einen Pfosten und verschränkte die Arme. »Von seinen Freunden, ja.« »Soweit ich weiß, hat er Ihnen noch was gesagt, bevor er starb. Ist ja inzwischen Legende.« »Hat nichts mit Legende zu tun.« »Jeder hat mir seine Version erzählt. Ich würd’s ganz gern von Ihnen selbst hören.« 53
Der Ladenbesitzer nahm sich lange Zeit, bis er endlich anfing zu reden. Er sei zu Hause gewesen und habe gelesen, als er plötzlich Geräusche hörte. Geht also mit der Laterne nach draußen und sieht seinen Cousin im Hof liegen. Der blutet wie angestochen und ist schon fast tot. Er rennt zu ihm, und mit seinem letzten Atem zug flüstert der Sterbende ihm noch was ins Ohr. »Was?« »Er hat gesagt: ›Sie waren aus der Stadt.‹« »Wer?« »Was glauben Sie wohl? Die, die ihn umgebracht haben.« »Hat er gesagt, welche Stadt?« »Er meinte Grove Hill.« »Sicher?« Bedsole sagte nichts. Dann: »Ja, ganz sicher.« Waite drehte sich zu Bedsole um und rechnete damit, dass der seinen Kopf ebenfalls wenden würde, sodass sie von Angesicht zu Angesicht reden könnten. Aber der Ladenbesitzer rührte sich nicht, schaute weiter hinaus aufs Feld und zeigte dem Sheriff sein messerscharfes Profil. »Es gibt noch andere Städte«, sagte Waite. Bedsole sagte nichts. »Was ist mit Ihrem Haus? Hab gehört, es ist abgebrannt.« »Stimmt. Als Arch im Hof lag, hab ich die Laterne fallen lassen, und als ich wieder dran gedacht hab, hat die Bude schon gebrannt wie Zunder. Konnte nichts mehr machen als dastehen und zusehen.« Waite klopfte auf den Querbalken über ihren Köpfen. »Wohnen Sie jetzt hier im Laden?« Bedsole nickte. Er beugte sich vor und spuckte von der Veranda. »Da oben ist ein Zimmer«, sagte er und zeigte zum Dachboden. »Was dagegen, wenn ich Sie frage, wie Sie an das Geld für den Laden gekommen sind?« »Und Sie meinen, das geht Sie was an?« 54
»Wenn ich den Mörder Ihres Cousins und den von Joe Ander son finden soll, ja.« Bedsole drehte sich endlich etwas zu Waite um. »Archs alter Herr hat ihn mir verkauft. Mein Onkel Ed. Sie können die Papiere überprüfen. Sind hier in Grove Hill gemacht worden. Mit Rechts anwalt und allem.« »Was ist mit dem Jungen?« »Was soll mit ihm sein?« »Gehört der auch Ihnen?« Bedsole trat einen Schritt zurück. Jetzt standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Das ist eine geschäftliche Abmachung.« »So nennen Sie das? Bin mir nicht ganz sicher, aber ich würd’s anders nennen.« Die Tür ging auf, und der Junge erschien mit einer Hand voll Zigarren und einem kleinen Säckchen Würfelzucker. Er hielt sie Waite hin, der nahm sie. »Wie viel?«, fragte er Macky. »Fünfzig Cents.« Er zog seinen Münzbeutel heraus, gab dem Jungen das Geld und sah ihm hinterher, als er zurück in den Laden ging. Waite öffnete seine Jacke, sodass man den Sheriffstern auf seinem Hemd sehen konnte, und steckte sich alle Zigarren in die Brusttasche seines Hemds bis auf eine. Bedsole wandte sich wieder ab und schaute hinaus aufs Feld. Waite leckte die Spitze der Zigarre, biss sie ab und spuckte sie in den Hof. Dann zupfte er sich ein paar Tabakreste von der Zunge. Er griff wieder in die Tasche, zog eine Schachtel Streichhölzer hervor, nahm eins heraus und riss es am Fingernagel an. Als die Zigarre brannte, stieß er eine Rauchwolke aus, die ihnen die Sicht aufs Feld vernebelte. »Ich verrat Ihnen was, Bedsole«, sagte er. »Ein guter Sheriff muss Bescheid wissen, egal, ob’s dabei um irgendwas Geheimes geht oder nicht. Ist schon lange her, aber damals, als ich noch Ehr geiz hatte und Sie noch hinter Mädchen mit Zöpfen her waren, wusste ich so ziemlich über alles Bescheid, was hier in meinem 55
Bezirk ablief. Egal, wie delikat die Geschichte war: wann die Män ner ihren Stuhlgang, wann die Frauen ihre Tage hatten. Eine Fliege konnte sich auf keinen Haufen Pferdescheiße setzen, ohne dass ich’s erfahren hätte. Aber dann, mit dem Alter, wie das eben so ist, musste ich die Zügel ein bisschen schleifen lassen. Sie wissen schon. Heute sind mir die Gewohnheiten von Fliegen unbekannt, die Männer scheißen und die Frauen bluten unbeaufsichtigt. Tja, und jetzt gibt’s halt zwei, drei Ecken, wo ich nicht weiß, was da läuft. Und eine davon ist hier.« »Nette kleine Rede«, sagte Bedsole. Er nahm eine Zigarre aus der Brusttasche seines Hemds und steckte sie sich zwischen die Lippen. »Und was soll sie bedeuten?« »Dass ich vorhabe, manchen Dingen auf den Grund zu gehen.« »Freut mich zu hören. Wenn Sie das Schwein geschnappt haben, das meinen Cousin getötet hat, sagen Sie Bescheid. Ich komm dann vorbei und schau mir an, wie er baumelt.« »Sie erfahren ‘s als Erster«, sagte Waite. Er ging die Stufen hinun ter und drehte sich um. »Eins noch. Der Junge sollte sich mal wie der bei der Witwe blicken lassen. Gehört sich nicht, dass er sie nicht besucht. Wenn ich das nächste Mal vorbeikomme, möchte ich hören, dass er ab und zu da war.« Bedsole drehte sich um und ging in den Laden. Waite hörte das Klicken des Türschlosses. Bei Einbruch der Dunkelheit kniete Waite auf dem Grund einer Schlucht und füllte in einem kleinen Fluss seine Feldflasche auf. Er setzte sich auf die Wurzeln einer Magnolie, die aus dem Boden rag ten, packte einen von Sue Almas Biscuits aus und begann nach denklich zu kauen. Dabei beobachtete er die Schatten unterhalb der Wasseroberfläche. Er wusste, dass sie zu kleinen Forellenbar schen gehörten. Es war in etwa die Tageszeit, zu der sie anbissen. Er schnippte eine Brotkrume ins Wasser. Mehrere Fische stiegen auf und inspizierten den aufweichenden Teig. Plötzlich tauchten wie Lichtblitze Elritzen auf, und das Brot war weg. Im Schatten 56
eines Fächers aus Kiefernnadeln landete eine Mücke auf dem Was ser und glitt zusammen mit Waites Spiegelbild über die glatte Oberfläche. Dann ein plötzliches Kräuseln des Wassers, und das Insekt war weg. Er aß drei Biscuits und etwas gedörrtes Rindfleisch. Waite wünschte, er hätte sich eine Flasche Whiskey mitgenommen, und spielte mit dem Gedanken, sich nach einer Schwarzbrennerei umzusehen. Aber er ließ es bleiben. Schließlich nahm er King, der an einem Grasbüschel knabberte, den Sattel ab, schlang ihm die Fußfesseln um die Beine und legte sich zum Schlafen auf den Boden. Als er aufwachte, ging es seinem Kreuz so gut wie schon seit einem Monat nicht mehr. Lass dir das eine Lehre sein, dachte er. Gib den Stern ab, lass dich nicht mehr beschwatzen und setz dich auf deine Veranda. Schäl Äpfel, rauch Zigarren und hör dir Sue Almas Geplapper über Futterrinnen im Hühnerstall an. Als die Sonne den Horizont erreichte, war er bereits auf den Beinen. Gegen zehn schoss er mit seiner Pistole ein Kaninchen und briet es an einem Spieß, der auf zwei gegabelten Ästen lag. Er schaute in die Flammen des Feuers, machte Kaffee, trank ihn und aß das Kaninchen. Dabei achtete er auf jedes Geräusch und ord nete es ein: das Kreischen von Eichhörnchen, den Schrei eines Fal ken, den Flügelschlag eines Spechts, das Rascheln einer Diamant klapperschlange im Laub. Von Joe Andersons Witwe und den beiden Töchtern war nicht viel zu erfahren. Weil er irrtümlich bei zwei anderen Farmhäusern angeklopft hatte, war es schon Nachmittag, als er das Haus schließlich fand. Waite ging auf die offene Tür zu und traf die Fa milie in Trauerkleidung beim Packen an. Der Wagen im Hof war schon halb voll. Drei Jungen, die düster dreinschauten und gewal tige Ohren hatten, zerrten eine Mahagoni-Anrichte die Veranda stufen hinunter. Waite fragte Andersons Witwe, wohin sie wollten. Sie antwortete, nach Hause. 57
»Und wo ist das?« »Wilcox County.« Die Frau deutete auf den Tisch, der vor dem Fenster zum Hof stand. Darauf drängten sich eiserne Töpfe, Schüsseln und Platten mit Grünkohl, Erbsen und Mais, die ihnen Nachbarn gebracht hatten. Fliegen surrten durch das einfallende Licht. »Ist jetzt keiner mehr da, der das noch alles essen kann, bevor es verdirbt.« Auf Waites Bitte setzten sie sich alle zusammen auf die Veranda. Die Mutter bedeckte ihr Gesicht mit einem schwarzen Schleier, bevor sie ins Freie trat. Die Töchter, die etwa fünfzehn, sechzehn Jahre alt waren, setzten sich mit ausdruckslosen Gesichtern auf den Rand der Veranda und ließen die Beine baumeln. Behutsam stellte er seine Fragen. Hatten irgendwelche Männer mit Kapuzen sie besucht? Ja, sagte sie. Vor ein paar Wochen. Ob sie ihm Genaueres erzählen könne? »Es waren zwei. Sie sind auf die Veranda gekommen, haben die Hunde runtergejagt und gewartet, bis Joe rausgegangen ist. Er hat sein Gewehr mitgenommen, aber als er den Fuß raussetzt, war sofort einer hinter ihm, ein andrer ...« »Dann waren’s also drei?« Sie nickte. »Könnten noch mehr da gewesen sein? Welche, die Sie nicht gesehen haben?« Sie meinte, ja. Joe habe ein Papier unterschreiben sollen, mit Blut von seiner eigenen Hand. Wenn er es nicht täte, würden sie ihn kriegen. Kriegen, hatten sie gesagt. „Aber er hat nicht unter schrieben. Hat sich einfach geweigert. Die beiden mit den Kapuzen haben sich angeschaut.« Einen Moment hatte sie gedacht, dass sie ihn erschießen und ins Haus kommen würden. Sie schaute durch einen Spalt zwischen den Vorhängen, hinter ihr die beiden Mädchen, die sich aneinander klammerten. Sie konnte es nicht glauben. Die Männer richteten ihre Pistolen auf ihn, und er stand da und rezitierte Bibelverse. Die Sprüche Salomos, die waren ihm 58
schon immer die liebsten gewesen. In diesem Augenblick hasste sie ihn. Was war mit ihnen, seinen drei Frauen, das wollte sie gern wis sen? Außer dem Holz der Wände und dem Baumwollstoff ihrer Kleider war nichts zwischen ihnen und diesen Kapuzen. Zum Teu fel mit deinen Prinzipien, Joe Anderson, wollte sie ihm sagen. Unterschreib mit deinem Blut. Unterschreib, es kostet dich nur die paar Tropfen, die du zum Schreiben deines Namens brauchst. Womit wirst du später unterschreiben müssen? Mit meinem Blut? Mit dem Blut deiner Töchter? Doch schließlich waren die Kapuzenmänner wieder gegangen. Verließen ihn, Joe, dem der letzte Bibelspruch auf den Lippen erstarb, als sie ins Baumwollfeld eintauchten, kurz stehen blieben, seine Hunde erschossen und ihm zuriefen, dass er eine Woche Zeit hätte, um sich die Sache zu überlegen. »Und dann?«, sagte Waite. »Hat keine ganze Woche gedauert. Erst haben sie den Brunnen vergiftet. Dann haben sie einen Zaun niedergerissen und die Kuh rausgelassen. Fast hätten wir sie nicht wiedergefunden. Einmal sind sie nachts gekommen und haben ins Haus geschossen.« »Wo war Tom Hill, als das alles passiert ist?« »Er ist hergekommen. Geschaut hat er, das war alles. Hat sich die toten Hunde angeschaut, hat in den Brunnen geschaut, hat sich die Stelle im Zaun angeschaut, die Joe geflickt hat. Drei Nächte war er da und hat gewartet, aber in den drei Nächten ist keiner gekommen. In der Nacht drauf ist dann der Stall abgebrannt.« Waite kritzelte in sein Notizbuch. Hatte Joe Feinde, von denen sie wussten? Irgendjemand, der ihm schaden wollte? Der ihn tot sehen wollte? »Vielleicht dieser Lev James. Der schlechteste Mensch, den man sich vorstellen kann.« »Sonst jemand?« »Nein. Joe war Diakon, ein braver Kirchgänger. Er hatte die schönste Stimme, die Sie je gehört haben. Egal, ob Bass oder Tenor.« 59
Die drei barfüßigen und verdreckten Jungen mit den Riesen ohren wankten aus dem Haus. Sie kämpften mit dem Gewicht einer Standuhr, deren Pendel dauernd gegen die Glastür schlug. Waite ließ den Blick über die blühende Baumwolle schweifen. »Wer fährt die Ernte ein, wenn Sie weg sind?« »Mr. McCorquodale. Er ist der Pachtherr.« »Zahlt er Sie aus?« Sie meinte, sie wisse es nicht, aber sie würde drauf wetten, dass sie nichts bekämen. Wahrscheinlich würde McCorquodale sie betrügen. Um die geschäftlichen Dinge hatte sich immer Joe ge kümmert. Sie saßen stumm da. Die Frau und die beiden Mädchen schauten zu, wie ihre Habseligkeiten an ihnen vorbeigeschleift wurden. Anscheinend war es ihnen egal, wenn ein Bettpfosten auf dem Weg über die Stufen einen Kratzer abbekam. Sie schauten nicht einmal auf, als eine lange, flache Schublade aus einem Rollpult schoss und Papierkram über Veranda und Hof flog. Waite stand auf, ging schnell an den keuchenden Jungen vorbei und fing an, so viel wie möglich von dem Inhalt der Schublade wieder einzusammeln. Er scheuchte die Hühner im Hof auf und hetzte Briefen und Zeitun gen bis ins Baumwollfeld hinterher. Dann kam er zurück auf die Veranda und half den Jungen, einen Tisch zum Wagen zu tragen. Als der Tisch verstaut war, fragte er den ältesten Jungen nach seinem Namen. Der Junge zuckte mit den Achseln. »Was ist, habt ihr eure Zungen verschluckt?« Der Mittlere streckte ihm die Zunge heraus. »Wir sollen nicht mit Ihnen reden, wir sollen uns auch nicht anhören, was Sie sagen.« Waite fielen die stumpfen Augen des Jungen auf. Rotz verklebte seine Nasenlöcher. »Halt den Mund, Arnold«, sagte sein Bruder. »Wer sagt das, dass ihr nicht mit mir sprechen sollt?«, fragte Waite Arnold, wobei er dem andern mit erhobenem Finger bedeu tete, den Mund zu halten. 60
»Sie sind Sheriff«, sagte der Jüngste. »Und Sheriffs sind böse.« »Wer erzählt euch denn so was?«, fragte Waite. »Unser Daddy.« »Halt jetzt dein Maul«, schnauzte ihn der Älteste an. »Los, geh ins Haus.« Arnold stapfte hinter seinem jüngeren Bruder die Stufen hinauf. Er blieb kurz stehen und schaute einem der Mädchen auf die Beine. Sofort zog das Mädchen den Rock über die Füße. »Wer ist euer Vater?«, fragte Waite den Ältesten. »Muss ich Ihnen nicht sagen«, sagte der und folgte seinen Brü dern ins Haus. Waite hatte gute Lust, allen dreien eine Abreibung zu verpassen. Stattdessen setzte er sich wieder auf die Veranda und klopfte mit dem Fuß auf den Boden. »Was sind das für Rotznasen?«, fragte er. »Die Jungs von Floyd Norris. Der wohnt ein Stück die Straße runter.« Waite kannte Norris vom Hörensagen. Stand bei McCorquo-dale in der Kreide. Ließ sich von ihm das Saatgut finanzieren. War aber einer der besten Baumwollpflanzer in der Gegend, hatte etwa zweieinhalb bis drei Hektar Land. So viel wie Anderson. Nach allem, was man hörte, anständige Leute. Waite wartete darauf, dass die Jungen die nächsten Teile nach draußen trugen. »Die sind weg«, sagte Mrs. Anderson. »Weg? Woher wissen Sie das?« Er beugte sich vor und schaute durch die offene Tür bis zur Rückwand des Hauses. Die Hintertür war nur angelehnt. Er bemerkte, dass drei der Platten − darunter die mit den gebratenen Hühnchen − verschwunden waren. Du verlierst deinen Instinkt, Billy Waite, dachte er. Also lud er trotz seines schmerzenden Rückens die schwereren Sachen selbst auf den Wagen: einen großen mit Stoff bezogenen Schrankkoffer, der − so kam es ihm vor − scheinbar voller Ziegel steine war, einen aufgerollten Teppich, den er schulterte wie einen toten Mann, und schließlich ein merkwürdiges Stück Möbel 61
namens Napoleon Chair, dessen Name ihm nur deshalb bekannt war, weil auch in Oscars Büro so ein pompöser Sessel neben dem Kamin stand. Die Mädchen arbeiteten im Haus. Sie schlugen Gläser in Zeitungspapier ein und packten sie in Holzkisten, während die Mutter auf der Veranda vor sich hin schaukelte. Als Waite fertig war, stand er vor ihr und krempelte sich die Ärmel wieder herunter. Er betrachtete die verkohlten Überreste des Stalls. Seltsamerweise stand mitten in der Asche ein Melk schemel.
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IV
Floyd richtete sich auf. Er stand neben dem Brunnen, aus dem er gerade Wasser nach oben holte, und beobachtete den Sheriff, der auf seinem großen Pferd aus der Baumwolle auftauchte. Waite hielt das Pferd an und dehnte die Beine in den Steigbügeln. Dann sagte er guten Abend, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. Die Hunde waren außer sich. Sie sprangen an Waites Beinen hoch und sabberten seine Hosenbeine voll. Er schlug mit dem Hut nach ihnen. Floyd pfiff und deutete auf die Veranda, worauf die Hunde die Stufen hinaufschlichen und sich hinlegten. Mit funkelnden Augen fixierten sie ihren Herrn. Der Sheriff verschränkte die Hände über dem Sattelknauf. »Sind ja mächtig gut erzogen, die Hunde, die Sie da haben, Norris.« Norris’ Frau lugte durch ein Loch in der Wand nach draußen und hielt dabei eine Hand hoch, damit ihre drei Jungen den Mund hielten. Das Baby fing an zu quengeln und mit den Armen und Bei nen zu zappeln. Um es ruhig zu stellen, machte sie ihr Kleid auf, ließ die Brust herausfallen und steckte dem Baby den Nippel in den Mund. »Würden Sie mir ein paar Fragen beantworten?«, fragte der Sheriff. Floyd hatte sich wieder umgedreht und den Eimer in den Brun nen hinuntergelassen. »Wenn ich kann.« »Das sicher. Wie viele Söhne haben Sie?« Floyd zog den Eimer aus dem Brunnen und kippte das Wasser in einen Waschzuber. »Als ich sie das letzte Mal durchgezählt hab, waren’s drei«, sagte er. »Und ein Baby.« 63
Der Sheriff betrachtete die hoch stehende Baumwolle. »Wann fangen Sie mit dem Pflücken an?« »Tja ...«Er schaute zum Himmel. »Nächste Woche vielleicht.« »Und die Jungs helfen mit?« Er nickte und ließ den Eimer wieder in den Schacht stürzen. Tief unten ein Platschen. »Und Ihre Frau? Hilft die auch?« Er nickte. »Was nehmen Sie als Dünger?« »Guano.« »Wo besorgen Sie sich das Zeug? Aus Bedsoles Laden?« »Nein. Ich hab das Land von McCorquodale gepachtet. Also muss ich auch die Waren bei ihm kaufen.« »Haben Sie Besuch gehabt in letzter Zeit? Von Fremden?« Floyd schüttelte den Kopf und griff mit einer Hand über die andere, um den Eimer nach oben zu ziehen. An seinen Unterarmen traten blaue Adern hervor. »Könnten Sie mir sagen, was Sie an dem Tag gemacht haben, als man Joe Anderson umbrachte?« Floyd hievte den vollen Eimer heraus, stellte ihn auf den Brun nenrand und runzelte die Stirn. Seine Augäpfel bewegten sich träge nach links. »Ja«, sagte er. »Domino gespielt. Mit Lev James und einem jungen Burschen, der William Burke heißt. Bisschen Whiskey ging auch rum.« »Domino.« Er nickte. »Wer hat gewonnen?« »Lev.« »Wo hatten Sie den Schnaps her?« Waite schaute sich um. »Sieht nicht so aus hier, als würd’s für so ‘n Luxus hier reichen.« »Tut’s auch nicht.« Er leerte den Eimer und ließ ihn wieder in den Brunnen fallen. »Hatten die beiden dabei.« »Wenn’s noch irgendwas gibt, was Sie mir sagen wollen, ver sprech ich Ihnen, dass Sie auf der sicheren Seite sind«, sagte der 64
Sheriff und schnippte Asche von seiner Zigarre. »In null Komma nichts würden gewisse Leute im Knast landen. Also keine Gefahr für Sie. Dann war Schluss mit diesem Kapitel, für euch alle hier in der Gegend.« Im Haus schüttelte die Frau den Kopf. Hielt der Sheriff sie für Vollidioten? Glaubte er, Floyd würde seine Freunde an den Galgen liefern? Und selbst wenn, wie konnte man sie alle einsperren, wenn man gar nicht genau wusste, wer sie waren? Oder wie viele? Vor Monaten hatte es eine Versammlung in der Kirche gegeben. Joe Anderson hatte gesagt, dass sie nur alles dem Sheriff zu er zählen brauchten. Dann ist es sein Problem. Und jemand anders hatte gefragt: ›Was denn erzählen? Wir wissen doch nicht mal, wer die überhaupt sind. Gut möglich, dass welche von denen genau jetzt hier sind.‹ Da waren sie alle ganz ruhig geworden. Hatten sich alle angeschaut. »Gibt aber nichts mehr«, sagte Floyd. Der Sheriff ließ den Blick über den Brunnen, die Wanne, die schiefe Scheune und die endlosen weißen Felder schweifen. Er machte einen ratlosen Eindruck. »Ihre Jungs haben merkwürdige Ansichten über Leute, die das Gesetz vertreten«, sagte er. Floyd zog unbeirrt an dem Seil mit dem Eimer. »Sie sagen, Sheriffs sind böse«, fuhr Waite fort. Floyd hielt inne, blinzelte zu ihm hoch und arbeitete dann weiter. Während Floyd am Seil zog, betrachtete Waite das nach unten gewandte Gesicht. Dann schaute er hinüber zum Haus, dessen Wände so grau wie ein Hornissennest waren. Falls er das Auge in dem Spalt zwischen den zwei Holzstämmen entdeckt hatte, ließ er sich zumindest nichts anmerken. »Bis später dann«, sagte der Sheriff und ritt davon. Hinter ihm stieg eine Staubwolke zum Himmel. Die Hunde kamen die Stufen herunter und beschnüffelten die Stelle, wo das Pferd gestanden hatte. 65
»Los, weg da«, sagte Floyd und klapperte mit den Zähnen. Die Hunde verschwanden sofort unter die Veranda. Im Haus legte die Frau den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Sie nahm sich vor, die von den Kapuzenmännern zurück gelassenen Dominosteine später einen nach dem andern in den Fluss zu werfen. Dort konnten sie Algen ansetzen und im Kies ver schimmeln, eine Versuchung nur noch für glupschäugige Brassen und backenbärtige Welse, die den Grund des Flusses absaugten.
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V
Nach dem Besuch bei Norris unterhielt sich Waite noch mit ein paar anderen Farmern und erfuhr nichts. Zu War Haskew und William Burke, die gerade Haskews Scheunendach ausbes serten, sprach er mit zurückgelegtem Kopf vom Sattel aus. William sagte er, dass er sich bei der Witwe blicken lassen solle, worauf der einen Flatschen Tabaksaft nach unten spuckte und es versprach. Waite fragte, ob sie wüssten, wo Lev James sei, was sie verneinten. Am frühen Abend traf er zufällig Massey Underwood, der so betrunken war, dass er von seinem Maultier fiel. Als ihn Waite fragte, was er über eine Bande von Kapuzenmännern wisse, grinste Underwood und sagte: »Ich weiß nur eins, Waite. Ich weiß, wie sie sich nennen.« Waite spürte ein Kribbeln. »Und wie?« »Hab gehört, dass sie sich Hell-at-the-Breech nennen.« »Wo hast du das gehört?« Underwood mühte sich, wieder auf sein Maultier zu kommen, das mit dem Schwanz nach ihm schlug. »Wo hab ich was gehört?«, fragte er. Das war alles, was er sagte. Vielleicht hätte ich mich zuerst mit dem alten Shorty unterhalten sollen, dachte Waite, als er abstieg, sein Gewehr aus der Scheide zog, eine Patrone in den Lauf drückte und den Hahn halb spannte. Jetzt, da er schon fast in Coffeeville war und Mitcham Beat bereits Meilen hinter ihm lag, fühlte er sich sicherer. Er schlang Kings Zügel um einen kräftigen Ast, kramte in seinem Proviant beutel nach einer Möhre und steckte sie dem Pferd ins lange war me Maul, wobei ihm die dicken Lippen seine Finger nass machten. 67
»Guter Junge«, flüsterte er. »Dauert nicht lange.« Weiter unten verlief der Fluss. Er hörte das Gluckern und nahm sogar den etwas fischigen Geruch wahr. Zwischen den Bäumen hindurch sah er das mattbraune Schimmern. Er war froh, hier zu sein, und konnte es gar nicht erwarten, seinen alten Freund wieder zusehen, den Whiskey zu schmecken und zu essen, was immer der alte Mann über seiner Holzkohle für ihn braten würde. Besonders für wild wachsende Pilze hatte Shorty ein Händchen − mit einem Schlag Schweinefett in einer Eisenpfanne konnte er aus einer Hirschkeule Göttliches herauskitzeln. Vorsichtig bewegte Waite sich die Böschung hinunter. In der einen Hand hielt er das Gewehr, mit der anderen krallte er sich an Ästen fest oder stützte sich an Bäumen ab. Ein Streifenhörnchen jagte ein anderes über einen flachen Felsen; als der Jäger Waite bemerkte, blieb er abrupt stehen, stellte sich auf die Hinterbeine und reckte den Kopf in seine Richtung. Von der Spitze eines hohen Baums war der Schrei eines Rotschwanzbussards zu hören. Als Waite wieder nach unten schaute, war das Streifenhörnchen ver schwunden. Kurz darauf kam er zum ersten Schild, ein mit weißen Buchstaben bemaltes Brett, das an eine Eiche genagelt war: STOP: WEITERGEHN VERBOTN. Andere Schilder folgten: BISSIGE HUNDE, AUFPASSN! Waite grinste. Ein paar Schritte weiter, nachdem er über einen umgestürzten, von Jakobskraut überwu cherten Baumstamm gestiegen war und ein Farngebüsch umrun det hatte, sah er in der Ferne die Hütte am Fluss. Da Shorty ihn nicht erwartete, hielt Waite es für angeraten, sich bemerkbar zu machen. »He, alter Junge!«, brüllte er. »Wie wär’s mit ‘m Schluck Kaffee für ‘n alten Kriegskumpel?« Keine Antwort. Er brüllte lauter. »Nennst du das Gastfreundschaft? Für ‘n Mann, der dir’s Leben gerettet hat?« Immer noch nichts. »Am Ende tut’s mir noch Leid.« 68
Vielleicht war Shorty auf dem Fluss unterwegs. Waite machte absichtlich viel Lärm, als er sich der Hütte näherte, stapfte durch Laubhaufen, pfiff und hustete. Er hielt den Lauf seines Gewehrs nach unten. Die Hütte sah verlassen aus. Er klopfte, noch machte er sich keine Sorgen, griff nach dem Riegel und zog die Tür auf. Um seinen Schatten herum fiel Licht auf den Boden der Hütte. Leer. Die Decke war niedrig. Wie sein Name schon andeutete, war Shorty ein schmächtiger Mann, und die Hütte hatte er nur für sich gebaut. In der Mitte immer noch derselbe Tisch. Darauf eine staubige Blechtasse, davor ein Stuhl; ein abgebrochenes Bein hatte er mit Efeu wieder festgebunden. Waite sah sich um, während er weiter in der Tür stand. Der Gewehrständer war leer. Entweder musste da eine Büchse oder eine Schrotflinte Kaliber 16 stehen. Normalerweise nahm Shorty nur eine von beiden mit. Am hinte ren Ende stand das wackelige, selbst gebaute Bett, auf dem Bezug lag eine zerfetzte Decke. Waite bückte sich und ging hinein. In einer Ecke flitzte etwas die Wand hoch. Es war verschwunden, bevor er erkennen konnte, was es gewesen war. Muffiger Geruch von kalter Asche. Er sah sich ein mal im ganzen Raum um, ging dann zum Fenster und stieß mit dem Gewehrlauf den Laden einen Spalt weit auf. Farn. Virginiamoos. Er und Shorty hatten sich vor zwanzig Jahren kennen gelernt. Ein paar Burschen aus Mitcham Beat hatten einen Laden über fallen, einem jungen Angestellten durch den Hals geschossen und waren dann ins Bear Thicket geflüchtet, von dem es schon damals hieß, dass da sogar eine Schlange nur eingeschmiert mit Schweine fett durchkam und die Käfer gleich die Straße nähmen. Shortys Ruf als Soldat im Krieg, als Kenner des Dickichts und als Experte im Spurenlesen hatten Waite veranlasst, ihn aufzusuchen. Er musste ihm allerdings zunächst die grausigen Einzelheiten des Mordes an dem Angestellten schildern, einem erst vierzehnjähri gen Jungen, bevor Shorty mitmachte. Shorty, Waite und seine drei Deputys hackten sich ins Dickicht, doch schon am ersten Tag klappten die Deputys an einem kleinen Fluss wegen irgendeiner 69
Krankheit zusammen und kotzten nur noch, schissen und schüt telten sich im Fieber. Waite und Shorty hatten allein weitermachen müssen. Sie saßen auf einer Lichtung am Lagerfeuer, die Hunde waren festgebunden und zerrten an einem Biberkadaver, da holte Shorty eine Flasche hervor, und sie erzählten sich Kriegsgeschichten. Begeistert stellten sie fest, dass sie beide ‘64 in Nashville gekämpft hatten, Shorty im 36. und Waite im 38. Regiment. Nach der Schlacht hatten sich die Überreste ihrer Regimenter getroffen. Sie hatten beide den gleichen Lieutenant kennen gelernt, einen Mann, der stotterte, was man aber nur in den ruhigen Augenblicken zwischen den Kämpfen merkte. Shorty machte den Mann verdammt gut nach, sodass sie beide lachen mussten. Danach saßen sie trübsinnig vor dem Feuer und sprachen über die Kugel, die den Lieutenant direkt unter dem rechten Auge getroffen und getötet hatte. Keiner von beiden wusste, wo er beerdigt war. Falls man ihn überhaupt beerdigt hat te. Ziemlich lange schwiegen sie. Um sie herum nur das Knacken und Zirpen der Nacht. Das Blätterdach sperrte die Sterne und den Mond aus. Als sie wieder anfingen zu reden, war die Flasche halb leer, die Hunde schnarchten. Sie versuchten sich gerade an den Namen des großen bärtigen Gefreiten zu erinnern, als die beiden Räuber sich aus der Dunkelheit auf sie stürzten. Waite riss das Messer aus dem Stiefel und brachte es gerade noch zwischen sich und einen der Männer, der sich durch sein eigenes Gewicht selbst tötete. Geräuschlos, nur Luft zischte zwischen sei nen Lippen hervor, brach er über Waite zusammen, zuckte noch ein-, zweimal mit den Beinen und war tot. Waite rollte ihn von sei nem Körper, warf sich auf den Rücken des anderen Mannes und packte den hoch erhobenen Arm, in dessen Faust im Licht des Feuers ein Messer glänzte. Waite hielt ihn fest, und Shorty schoss ihm in die Brust. Den Rest der Nacht verbrachten sie damit, den Whiskey auszutrinken. Einmal hatte Shorty gesagt: »Du hast mir den Hals gerettet, Waite, so was vergess ich nicht.« 70
Über die Jahre hatten sie sich vielleicht ein Dutzend Mal ge sehen. Shorty ließ sich hier draußen am Fluss nieder, brannte Whiskey, fing Fische und lebte, ohne Stadt, Menschen oder das Gesetz zu vermissen. Weil er wusste, dass der alte Mann für sich sein wollte, hatte Waite ihn in Ruhe gelassen. Wenn ihn sein Beruf in die Gegend führte, besuchte er ihn. Dann saßen sie eine Nacht auf der Veranda, tranken seinen Whiskey und erzählten sich immer wieder die gleichen Geschichten. Wie die von dem Sol daten aus Spanish Fort, der kein Pferd hatte und den sein großer Kumpel jedes Mal, wenn sie einen Fluss oder Bach überqueren mussten, auf den Schultern trug. Waite hatte immer Kopf schmerzen und einen ausreichenden Vorrat an Trinkbarem, wenn er wieder aufbrach. Jetzt ging er nach draußen und den Abhang zum Flussufer hinunter, um nachzuschauen, ob Shortys Boot da war. Es war nicht da. Er ging zurück in die Hütte, setzte sich aufs Bett und lehnte sich an die Wand. Minuten später war er eingeschlafen. Eine Hand verschloss Waite den Mund. Er schreckte aus dem Schlaf, die Arme schossen zurück und tasteten nach der Pistole. In der Hütte war es stockdunkel. »Billy.« Die vertraute, heisere Stimme. »Shorty?«, kam Waites gepresste Stimme. Die Hand ließ los. »Klar«, sagte die kratzende Stimme. »Wer sonst?« Waite setzte sich auf. Er roch seinen Freund, der vom Bett zurücktrat. Fisch und Schweiß. Er hörte die Schritte auf der nack ten Erde, sehen konnte er in der Dunkelheit nichts. »Woher hast du gewusst, dass ich hier drin bin?«, fragte Waite. Er blinzelte und schlug sich auf die Brust, um sein Hasenherz zu beschwichtigen. »Ich hab dein Pferd gesehen.« 71
Waites Hand umfasste den Pistolenkolben und zog die Waffe unter dem Kissen hervor. Er befühlte die Trommel, ob sie noch geladen war. »Was soll das?«, sagte Shorty. »Glaubst du, ich klau dir die Patronen aus der Pistole.« Waite atmete tief durch. »Schon gut, Shorty. Du hast mich ganz schön nackt erwischt.« Er schwang die Füße auf den Boden und stand auf, zog aber den Kopf ein, damit er nicht an die niedrigen Deckenbalken stieß. »Wie wär’s mit Feuer?«, fragte Waite. »Dann kann ich dein häss liches Gesicht sehen, und wir könnten uns was zum Trinken ein schenken.« Keine Antwort. Waite zerbrach sich den Kopf darüber, wo in der Hütte Shorty sein könnte. Ein unangenehmes Gefühl, im Stockdunkeln so auf dem Präsentierteller zu sein. Shortys Stimme kam von links, vom Fenster. »Gibt schon seit mehr als einem Monat kein Feuer mehr, Billy. Whiskey auch nicht.« Waite konzentrierte sich auf die Stimme. Draußen war es etwas heller als drinnen. Shortys Umrisse waren verschwommen zu er kennen, aber nur, wenn Waite links oder rechts knapp an ihm vorbeischaute. »Was ist los, Shorty?«, fragte er. »Ich bin im Krieg«, sagte Shorty. »Mit wem?« Keine Antwort, nur das Rascheln von Kleidung und der regel mäßige Atem. »Mit wem, Shorty?« Leises Scharren auf der Erde. Shorty bewegte sich. Waite wuss-te nicht, in welche Richtung. »Tja, würde ich selbst gern wissen.« »Und warum weißt du’s nicht?« »Weil die Kapuzen aufhaben.« »Dann hast du sie also gesehen.« 72
»Gesehen? Scheiße, ich schieß auf die und die, schießen auf mich. Die wollen, dass ich so ein Papier unterschreib und Loyalität schwör. Wenn ich’s nicht mache, kriegen sie mich. Sagen sie.« »Haben die Anderson umgebracht?« »Bin mir nicht sicher, wahrscheinlich. Schätze, er wollte auch nicht unterschreiben. Aber wahrscheinlich sind unsere Gründe so verschieden, wie sie nur sein können.« Waite stellte weitere Fragen, aber Shorty blieb stumm. Schließ lich sagte er nur: »Ihr Städter schwingt euch doch bloß in eure Wagen oder auf eure Pferde, wenn ihr schon anfangt durchzudre hen ohne Whiskey. Dann kommt ihr hier raus zu mir oder einem der andern. Oder ihr kommt, weil euch nach einer Nutte ist. Aber diese Burschen mit den Kapuzen wollen das Kommando hier drau ßen übernehmen. Die andern Schwarzbrenner haben sie schon alle im Sack. Die meisten Nigger haben sie zum Teufel gejagt. Die krie gen jede Menge Hilfe von Leuten, die nicht mit Kapuzen rumlau fen, aber das Gleiche denken. Ich bin einer von den wenigen, die sie nicht untergekriegt haben. Also kommen sie wieder, bis sie mich kriegen. Oder bis ich sie krieg.« »Was glaubst du, haben die vor?« Aber Shorty sagte nichts mehr. Und Waite wartete ziemlich lan ge auf eine Antwort, bis er merkte, dass Shorty gar nicht mehr da war. Er kramte in seiner Hosentasche nach einem Streichholz und zündete es an. Waite war allein in der Hütte. Sie sah bei Licht noch kleiner aus als im Dunkeln.
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Über den Graben
September 1897 bis Juli 1898
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Im Gebüsch am Straßenrand lagen Mack und William Ell bogen an Ellbogen auf ihren Bäuchen. Bedsoles Laden war nicht weit entfernt. Sie hatten Waffen dabei, die ihrem toten Vater ge hört hatten: William das lange einläufige Gewehr Kaliber 16 und Mack den Colt-Revolver, der sich klapperig anfühlte, dessen Schrauben nie fest angezogen schienen und dessen früher mal in winzigem Karomuster geriffelter Holzgriff sich jetzt in Macks Hand so weich anfühlte wie der Bast eines jungen Hirschgeweihs. Der Mond versteckte sich hinter einer Wand aus Wolken, die gähnende Dunkelheit verschlang sie − es war so dunkel wie das Innere einer Kuh, würde die Witwe sagen. Wahrscheinlich, dachte Mack, könnten sie in einer derart überwältigenden Nacht mit winkenden Armen auf die Straße springen und würden doch ge nauso unsichtbar bleiben wie in diesem ungesunden Gebüsch hier. Sie lagen jetzt schon so lange reglos da, dass eins seiner Beine anfing zu kribbeln. Aber er rührte sich nicht, sondern machte ein Spiel daraus, so lange wie möglich still liegen zu bleiben und sich vorzustellen, er sei tot, zerrissen von Geiern, in den Erdboden ver sickernd, pulsierend durch die Eingeweide von Regenwürmern, um schließlich auf luftigen Fährten davonzufliegen. Tief unten in den Windungen seiner Eingeweide spürte er ein Rumpeln, das sich in einem Furz entladen würde − da war er sicher. Was ihm nur passend erschien, da er gehört hatte, dass Tote furz ten. Als der Furz schließlich trötend an die frische Luft platzte, kam er ihm fast so laut vor wie ein Gewehrschuss. Weit entfernt in der Nacht gab eine Eule Antwort. Mack kicherte sich zurück unter die Lebenden, bis William ihm den Ellbogen in die Seite rammte. »Hey, hey. Siehst du irgendwen, der uns hören könnte, he?«, fragte Mack. 75
»Macky«, sagte William. »Halt dein Arschloch.« Er drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände unter dem Kopf. Wie so oft hatte er ihre Figur vor Augen. Aus jenen Nächten, wenn die Witwe wegen einer Geburt außer Haus war und sie sich verdrückten und im Mondschein erst zwei Meilen liefen und dann mit einem Boot bis zu einer Stelle am Rand des Sumpfes ruderten, von wo aus sie in die Fenster schauten, die von Kerzenschein erleuchtet waren. Auf ihre Bewegungen hinter den Scheiben, auf das glatte, über den Rücken fallende Haar, auf den nackten, weißen Hals. In den winzigen, sauberen Raum, auf das schlichte Kleid und die Dinge, die sich da abspielten, zwischen ihr und einem schnaufenden Mann, ihre Knie in der Luft, auf einer quietschenden Matratze. »Will?« »Was?« »Sie muss sich doch wundern, wo wir das Geld herhaben, oder nicht?« »Kümmert die einen Scheiß, Macky, Hauptsache wir haben’s. Wahrscheinlich tun die Hälfte ihrer Kunden das Gleiche, was wir auch gerade vorhaben ...« Entferntes Hufgetrappel ließ sie verstummen. Niemand, den sie kannten, konnte sich ein Pferd leisten. Es ging los. William packte Mack an der Schulter und flüsterte: »Und denk dran, was ich dir gesagt habe, Macky. Ich rede, du hältst den Mund.« Sie hörten das Klirren von Zaumzeug, das Quietschen von Sat telleder, das metallische Klacken von Hufeisen auf Stein. William erhob sich aus dem Gebüsch. Mack hielt den Atem an und tastete nach der Fackel und den Streichhölzern. Die Zeit kam ihm sehr lang vor, die Hufschläge waren schon fast über ihm, als Williams ruhige, verstellte Stimme sagte: »Halten Sie ihren Scheiß gaul an, Mister.« Der Reiter musste in Gedanken versunken gewesen sein oder hatte im Sattel gedöst, denn die Art, wie er nach Luft schnappte, 76
wirkte nicht ängstlich, sondern so, als ob er gerade aufwachte. Spä ter, als Mack im Bett lag, war das für ihn das erste Zeichen, dass es Ärger geben würde. Welcher Fremde würde schon halb im Schlaf oder gar entspannt durch diese Gegend reiten? Außer dem Atem des Pferdes war kein Geräusch zu hören. Dann: »Gaul?« Eine tiefe Männerstimme, voller Ironie oder mehr noch: offen belustigt. Dann das Wiehern und Stampfen des Pferdes. »Herrgott noch mal, wer ist da? Wie heißt du, Junge?« »Buck«, sagte William. »Und Jess«, kam Macks Stimmbruchpiepsen aus dem Gebüsch. »Ja, da soll mich doch ...«, sagte der Mann. »Könnt ihr Kindsköpfe nicht woanders Outlaw spielen?« Mack stand auf. Ihm wurde plötzlich schwindelig, das rechte, vollkommen taube Bein knickte unter ihm weg, und er fiel auf das linke Knie. Die große Pistole ging los, flammte auf, sprang ihm fast aus der Hand, entblößte die Welt mit einem Blitz. Dann wieder Dunkelheit. Ihm klangen die Ohren. Er bemerkte, dass die Grillen, die er schon gar nicht mehr gehört hatte, nicht mehr zirpten. Gewaltiger als der Ozean der Nacht war einzig das entfernte Trommeln der Hufe des flüchtenden Pferdes. Ein Augenblick der Erleichterung. Es war vorbei. Ein Fehlschlag, aber vorbei. Die Hure flimmerte ihm durch den Kopf, weit, weit weg. Er legte sich die Hand auf die Brust und spürte unter den Rippen sein hämmerndes Herz. »Macky? Alles in Ordnung?« Die Pistole hielt er immer noch nach oben gerichtet. Er ließ sie neben sich auf den Boden fallen. »Ja«, sagte er. »Glaub schon. Alles okay.« »Warum hast du die Fackel nicht angezündet? Und warum hast du geschossen?« »Ich wollte das nicht.« »Scheiße«, sagte William. »Wir verpissen uns besser nach Hause. Und zwar schnell. Gut möglich, dass der Bursche mit ein paar Freunden zurückkommt.« 77
Mack nickte und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme seines Bruders kam. Sein Fuß blieb an etwas Schwerem hängen, er stolperte und fiel auf alle viere. Mack krabbelte zurück, Hände und Knie klebrig und warm, stieß gegen William und hielt inne. Seine Schultern lehnten sich an das tröstlich feste Knie seines Bruders. William tätschelte seinen Kopf. »Gott Allmächtiger«, sagte er. Dann rannten sie. »Das hätte jedem passieren können!«, sagte William. »Was? Erschossen zu werden oder jemanden zu erschießen?« »Beides.« »Was tun wir jetzt?« »Nichts, Macky. Wir tun gar nichts. Wir stehen morgen früh auf und machen die Arbeit am Zaun fertig, als wenn nichts passiert wäre. Aus.« Sie lagen mit zurückgeschlagenen Decken im Bett. Immer noch kein Mond. Es schien nichts zu geben auf der Welt als ihre beiden Stimmen im Zimmer. »Wir könnten abhauen«, sagte Macky. »Du willst weg von Granny?« Die Antwort war Stille. Das Fenster stand offen, und das leise Zirpen der Nacht ging weiter, ungestört, unbeachtet. »Außerdem weiß dann jeder sofort, dass wir es waren. Warum sollte irgendwer auf uns kommen?« Mack stützte sich auf einen Ellbogen. »Was glaubst du, wer war der Kerl?« »Wahrscheinlich ein Fremder. Keiner aus der Gegend. Oder kennst du einen, der ein Pferd hat?« Mack legte sich wieder auf den Rücken. »Will?« »Was?« »Mr. Billy hat ein Pferd.« »Er war’s nicht.« 78
»Woher willst du das wissen?« William seufzte und sagte, was Mack sich schon selbst gesagt hatte − dass der Sheriff nicht oft in die Gegend kam. »Meinst du, wir sollen’s ihr erzählen?«, fragte Mack. »Es war ein Unfall, ich wollte ihn nicht erschießen.« »Nein, besser nicht. Töten ist Männersache. Und weißt du was? Du bist gerade über den Graben gesprungen, jetzt bist du ein rich tig ausgewachsener Mann.« »Hört sich ganz so an, als wenn du auch schon über den Graben rüber wärst.« »Schätze, du hast mich mit rübergezerrt.« Ein heißer Windstoß wehte vom Brunnen im Hof den Geruch schwefeligen Wassers und einen schnellen Gedanken an die Hure ins Zimmer. Aber genauso schnell hatte Mack sie auch wieder verges sen. Er schloss die Augen. Er öffnete sie. Er sah keinen Unterschied, als wäre er blind. Er lag lange Zeit da und grübelte nach, was es bedeutete, tot zu sein. Himmel oder Hölle − war es so einfach? Goldene Straßen, wie einem die Bibel versprach, und Singen wie in der Kirche? Oder züngelnde Flammen, die dir von grinsenden Teu feln bis ans Ende der Zeit ins Gesicht geschleudert wurden? Vielleicht kam aber auch gar nichts, man hatte seine Rolle in der Welt gehabt und aus, als ob man für immer in einer dunklen Kiefernholzkiste läge, als ob man sich schlafen legte und nicht mehr aufwachte. »Will?« »Was?« »Ich habe einen Mann getötet.« Das Geräusch, das sein Bruder machte, hörte sich wie Lachen an. »Da kannst du einen drauf lassen. Und jetzt schlaf.« Kurz darauf atmete William schon gleichmäßig, während Mack immer noch an die Decke starrte. Wie konnte Will nur so schnell einschlafen? Draußen auf der Straße lag die ausblutende Leiche eines Fremden, und hier drinnen lag der, der ihn getötet hatte, le bendiger denn je. Das Adrenalin tobte durch seinen Körper wie wil de Pferde auf der Flucht, als ob sich die Energie aus dem Blut des 79
Ermordeten auf den Mörder übertrüge. Er verschränkte die Finger hinter dem Nacken. In seiner Vorstellung kehrte er zurück zur Straße, setzte William an seine Stelle, drückte ihm die Pistole in die Hand und ließ ihn den Mann erschießen. Wie würde er sich dann fühlen? Mit dem Wissen, dass der eigene Bruder einen Mann erschossen hatte? Du wärst Kom plize, fast so schuldig wie der Schütze selbst, aber worin bestünde dann letztlich die Sünde? In der Loyalität? Nennt man das so? Du würdest nie deinen Bruder verraten. Niemand könnte das. Für den Bruder würdest du dem Sheriff Lügen erzählen, und die gleichen Lügen würdest du im Zeugenstand wiederholen, mit der Hand auf der Bibel. Deine Mutter würde das Gleiche tun, wenn sie noch lebte, auch dein Vater, wenn der noch lebte. Die Witwe genauso. Und Sheriff Billy Waite und Friedensrichter Tom Hill, jeder Geschworene und jeder in der Menge würde das Gleiche tun, alle würden es auch von dir erwarten. Deine einzige Sünde wäre, deines Bruders Hüter zu sein. Und das ist keine Sünde. Also schlief William den Schlaf des Gerechten, die Brust hob und senkte und hob sich, die Augen waren leicht geschlossen, der Mund geöffnet − als ob das, was in dieser Nacht geschehen war, ein sauber gepflügtes Feld wäre. Aber Mack ... Er schaute im Dunkeln zur Seite, wo sein Bruder gerade ange fangen hatte, leise zu schnarchen, und wusste, dass er und William im Augenblick des Schusses über zwei verschiedene Gräben ge sprungen waren. William würde mit der gleichen Lüge leben wie er, aber aus anderen Gründen. Williams Schuld würde ihn befreien, seine eigene Schuld würde ihn aus den dunkelsten Höhlen der Nacht anfallen. Jeden Moment konnten im Schein von Fackeln Gesetzeshüter oder Verwandte des Toten aus der Dunkelheit auf tauchen und ihn aus dem Haus zerren, ihm eine Schlinge um den Hals legen, sie festziehen und das andere Ende über einen Ast wer fen. Hände würden ihn hochziehen, seine Beine würden die Luft treten, das Gesicht würde blau anlaufen und der Stoff seiner Hose sich von Pisse verdunkeln. 80
Er setzte sich auf. War das der Preis dafür, wenn man einen Menschen tötete? Deine Nachtruhe? Dein Frieden? Ein Herz, so durchgeknetet und gestreckt, dass es seine Form veränderte? Mack verstand jetzt. Er hatte einen Menschen ermordet. Er mordet. Einen Menschen. Und damit hatte er sich selbst zu einem Leben in Wachsamkeit verurteilt. »Will?«, flüsterte er in die Dunkelheit. »Will?«
»Will?« Als sie am Morgen aufwachten, war die Witwe nicht da, und sie sahen sie auch den ganzen Tag nicht. Keiner von beiden wusste, warum. Allerdings war auch keiner von beiden überrascht, denn sie verschwand oft ungerufen zu Hebammeneinsätzen. Sie sah ein fach vom Abendessen auf, sagte: »Anna Bradford ist so weit«, ließ ihren halb vollen Teller stehen, durchquerte den Raum, nahm den Beutel mit den Instrumenten für die Geburtshilfe vom Nagel und ging. Als Kinder hatten sie sie begleitet, aber seitdem sie älter waren, mussten sie zu Hause bleiben. Frauen, sagte die Witwe, mochten es nicht, dass Jungen oder Männer, die nicht ihre Ehe männer waren, ihr Schreien hörten, wenn die Babys sich nach draußen kämpften in die luftige Welt. Die Hündin, die schwer an ihren Jungen trug, lag im Hof in der Sonne, während sie auf der Veranda saßen. Mack hatte nicht geschlafen. Die Haut unter seinen Augen fühlte sich an, als hinge ein Sandsack daran. »Sollen wir rüber zum Laden?«, fragte William. »Mal hören, ob’s was Neues gibt?« Bevor er antworten konnte, hob der Hund den Kopf und hievte sich knurrend auf die Beine. Es kam jemand. War Haskew. Auf seinem Maultier ritt er in den Hof und hielt eine Schrotflinte in die Höhe, als Satteldecke diente ihm ein Jute sack. Nachdem Haskew abgesessen hatte, trottete das Maul81
tier zum Saufen an den Trog, während er sich auf den Rand der Veranda setzte, den Kopf des Hundes kraulte und ihnen erzählte, dass man Arch Bedsole erschossen habe. Und dass Tooch, Archs Cousin, für heute Abend eine Versammlung im Laden einberufen habe. »Wer war’s?«, fragte William wie beiläufig. »Weiß kein Mensch.« Haskew schaute zu seinem Maultier. »Heißt, dass er sein Haus angezündet hat. Tooch, mein ich.« »Wieso das denn?« »Durchgedreht, schätz ich.« Haskew stand auf. »Also, bis heute Abend«, sagte er. »Tooch will jeden Mann.« William nickte. Beide beobachteten Haskew, wie er über den Hof ging, auf sein Maultier stieg und davonritt. Die Jungen warteten fünfzehn Minuten. Dann sagte William: »Gehen wir runter zum Fluss. Hier rumsitzen bringt auch nichts.« Sie saßen auf dem großen Felsen. Die Leinen zogen mit der Strö mung Richtung Süden. William spuckte ins Wasser. »Die wissen, dass ich es war«, sagte Mack. »Wie denn? Warum du, Macky? Du hast Arch genauso gemocht wie jeder andere auch.« »Und wenn sie mich fragen?« »Dann sagst du einfach, du weißt nichts über die Sache.« »Ich kann nicht so gut lügen wie du.« »Jetzt pass mal auf«, sagte William. »Der, auf den’s ankommt, muss dem Lügner die Lüge glauben. Dann ist es keine Lüge mehr. Dann ist es die Wahrheit. Für dich und mich ist Gottes Wahrheit von jetzt an, dass wir absolut nichts über den Mord an Arch Bed sole wissen.« »Was ist mit Tooch?« »Was soll mit ihm sein?« Macks Leine zuckte. Verwundert schaute er sie an. »Halt sie ruhig«, sagte sein Bruder. Er senkte die Spitze der Angelrute. Seine Armmuskeln waren gespannt, die Leine schlaff. 82
»Wart, bis er abhauen will«, sagte William. Kaum hatte er es ausgesprochen, schoss die Leine davon. Der Fisch steuerte das Unterwassergestrüpp am anderen Ufer an. Als sich die Leine straffte, riss Mack an, worauf die Rute sich scharf nach unten bog. Mack sprang auf, hob die Leine über Williams Kopf und fing an, die Uferböschung rückwärts hinaufzugehen. William warf seine Rute weg, stapfte bis zu den Knien ins Wasser und zog Hand um Hand an der Leine. Er holte den graublauen Körper eines etwa dreißig Zentimeter langen Schlammfischs an die Oberfläche und zog ihn auf den Ufersand. Dann stellte er sich mit einem nackten Fuß auf den Schwanz, packte den Fisch vorsichtig hinter dem Kopf und hob ihn hoch. Jetzt schoss Williams Leine ins Wasser. Mack ließ seine Angel rute fallen, packte die von William und zog einen noch größeren Fisch an Land. William schüttelte den Kopf und meinte, sein klei ner Bruder sei nicht nur ein Straßenräuber und Bedsole-Mörder, sondern auch noch ein verdammter Schlammfisch-Dieb. »Kaum hat ein Mann mal Mist gebaut, ist er schon völlig ver dorben«, sagte William, befestigte den ersten und dann den zwei ten Fisch an einer Leine und hängte sie ins Wasser. Danach wusch er sich die Finger und wedelte sie trocken. Sie spießten frische Köder auf die Haken und setzten sich wie der. Der heiße Wind kräuselte das Wasser, zupfte an den Leinen und ließ über ihnen die Blätter rascheln. Ein Platschen, und Mack sprang wieder auf. Die Schlammfische zupften an der Leine. »O Gott«, sagte er. Sein Atem ging flach, sein Mund war voll heißer Spucke. Plötzlich konnte er nicht mehr atmen. Er ließ die Rute fallen, die Spitze klatschte aufs Wasser. Er beugte sich vor. O Gott, er hatte Arch Bedsole getötet. Er würgte. Etwas musste aus ihm heraus. Er fing an zu schluchzen. William senkte den Kopf. Er legte sich seine Rute quer über die Oberschenkel, griff dann nach Macks, hob sie aus dem Wasser und legte sie auf den Boden. Er schaute hinter sich, dann stromauf 83
wärts, stromabwärts. Mack ließ sich auf den Rücken fallen und bedeckte mit beiden Unterarmen sein Gesicht. Er zitterte am gan zen Körper, drehte sich auf die Seite, weg von seinem Bruder, zog die Knie an den Körper und sagte: »Nein, nein, nein.« Er hörte nicht auf, es zu sagen. William starrte geradeaus. Dann sagte er: »Wein dich nur richtig aus. Dieses eine Mal. Jetzt und hier und dann nie mehr, hörst du?« Im Hof, auf der Veranda und auf dem Krocketfeld vor dem Laden standen Grüppchen von Männern. Jemand hatte Holzscheite unter einem der Schuppen hervorgeholt und ein Feuer gemacht. Einige der Männer standen drumrum, die Hände in den Taschen, mit hochgeschlagenen Kragen gegen den Wind. Tooch Bedsole schaute sie nicht an, als er auf seinem Pferd lang sam an ihnen vorbeiritt, sondern betrachtete das lange schmale Gebäude. Es war aus Baumstämmen und Weißblech gebaut, hatte an der Rückseite einen Steinkamin, Holzbalken als Stufen, die zur schiefen Veranda hinaufführten, und an der Vorderseite Glas fenster. Wie lahme Flügel hingen an beiden Seiten Schuppen, ein Fenster im Dachboden überblickte das Baumwollfeld. Lev James, ein stämmiger, untersetzter Mann mit Vollbart, er hob sich von seinem Platz auf den Stufen und packte das Pferd am Zaumzeug. »Tooch«, sagte er. Der Mann schwang sich aus dem Sattel und gab ihm die Zügel. »Alle da?« »Alle, denen du vertrauen kannst.« Tooch blinzelte in das verblassende Abendlicht und schaute nacheinander jedem der Männer ins Gesicht. Mit wenigen Aus nahmen waren es bettelarme Farmer, von denen einige ihre alters schwachen Büchsen oder mit Draht geflickten Schrotflinten mit gebracht hatten, einer sogar das verrostete Schwert eines Offiziers der konföderierten Armee, dessen Spitze abgebrochen war. Wahr lich eine traurige Truppe. 84
»Ich zähle fünfzehn«, sagte Tooch. »Mit dir, Lev.« »Mich kannst du zweimal zählen, so irre wie ich bin.« »Dazu kommen wir noch.« Als Tooch auf sie herabblickte, sah Mack die Blutflecken auf seinem weißen Hemd. In seiner Tasche sahen sie den Elfenbein griff eines Revolvers. Er war kein Baumwollfarmer. War nie einer gewesen. Sie drängten sich vor der Veranda zusammen. Mit den Handballen rieb sich Tooch die von Rauch und Schlaf losigkeit roten Augen. Er blinzelte und schien gerade etwas sagen zu wollen, als seine Augen William und Mack ins Visier nahmen. Beide waren bewaffnet, mit denselben Waffen, die sie bei ihrem Raubversuch getragen hatten. »William Burke«, sagte Tooch. »Wie alt bist du?« »Im Dezember neunzehn.« Tooch schaute Mack an. »Und du?« »Fast...« Seine Stimme piepste. »Fast fünfzehn.« »Du kannst bleiben«, sagte Tooch zu William. Zu Mack sagte er: »Du kannst abhauen. Das ist nichts für Kinder.« Der Junge senkte den Blick. »Also los, geh schon«, sagte Tooch. William boxte Mack in die Schulter. »Hast du nicht gehört, Macky?« Wie befohlen ging er, mit glühenden Wangen. Aber auf der dunk len sandigen Straße blieb er stehen. Er wartete, die Pistole in der Hand. Dann drehte er sich um, ging zurück und versteckte sich im Baumwollfeld. Auf Ellbogen und Knien kauerte er außerhalb des Lichtkegels, den das Lagerfeuer warf, und hörte, so gut es ging, mit. »Tooch«, sagte War Haskew. »Was willst du jetzt unternehmen?« Tooch sog an seiner Zigarre und blies den Rauch so langsam und so lange wieder aus, dass man glauben konnte, seine Inne reien stünden in Flammen und seine Lungen wären ein Blasebalg. 85
»Das ist dein Land hier«, sagte Huz Smith. »Egal, wer deinen Cousin getötet hat, er muss dafür zahlen. Wir helfen dir. So gut wir können.« »Wenn wir alle umbringen wollten, die schuldig sind«, sagte Tooch, »dann müssten wir die ganze Stadt abschlachten, ganz Grove Hill.« Die Männer schauten sich an. »Was zum Teufel soll das jetzt heißen?«, fragte Lev James. »Es heißt, dass die aus der Stadt Arch getötet haben. Jeder ein zelne von denen. Es heißt, die wussten alle, dass sich Arch zur Wahl stellen wollte, und das bedeutete, dass er vielleicht sogar gewonnen hätte. Wenn wir die fertig machen wollen, die für den Tod meines Cousins verantwortlich sind, müssen wir die ganze gottverdammte Stadt Grove Hill fertig machen.« Einen Augenblick herrschte völlige Stille. Dann schienen sich die für die Geräusche der Nacht Verantwortlichen − Grillen, Zikaden, Nachtschwalben, Eulen − wieder gefangen zu haben. »Wie soll man eine ganze Stadt fertig machen?«, fragte Floyd Norris. »Wir kennen uns jetzt schon ziemlich lange«, antwortete Tooch und schaute von Mann zu Mann. »Den meisten von euch vertraue ich. Und ich hoffe, ihr vertraut mir. Worüber ich jetzt reden werde, ist gegen das Gesetz. Deshalb soll jeder, dem irgendwie unwohl bei der Sache ist, gehen. Jeder, der Angst hat, etwas mit Mord zu tun zu bekommen, sollte auf der Stelle nach Hause gehen. Aber ich warne euch: kein Wort zu irgendjemandem.« Joe Anderson, einer der wenigen Unbewaffneten, hob die Hand und sagte, dass man mit Mord nur weitere Morde herausfordere, sonst nichts. Andere Stimmen wurden laut, zustimmende und ablehnende, und kurz darauf brüllten alle durcheinander. Das Brül len hörte erst auf, als Anderson und vier weitere Männer davon stapften. Kopfschüttelnd brummten sie vor sich hin, schauten sich noch mal um und sahen Tooch mit verschränkten Armen auf der Veranda stehen. 86
Die Männer, die blieben, drängten näher an die Veranda heran. Auch William. Tooch kam die Stufen herunter. Als der Mond auf ging und die Luft immer kühler wurde, tauchte plötzlich ein Krug auf, einer riss den Maiskolbenstöpsel heraus, und sie hockten sich ans Feuer, ließen den Whiskey kreisen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen über Dinge, die Mack wegen der rascheln den Baumwollpflanzen um ihn herum nicht verstand. Mit der Pis tole in der einen und dem Hut in der andern Hand lag er flach auf dem Bauch und versuchte durch die Pflanzenreihen näher heran zukriechen, um besser hören zu können. Als er jedoch schon fast zu nah dran war, hielt Tooch plötzlich inne, hörte auf zu reden und reckte den Kopf über die andern hinaus. Das Gesicht leuchtete weiß im Mondlicht, aber die Augenhöhlen waren schwarz wie Schlangenlöcher. Es sah aus, als schaute er genau in Macks Rich tung, der langsam wieder zurückrutschte. Unter den Bäumen hin ter dem Baumwollfeld setzte er den Hut auf, stand auf und klopfte sich die Kiefernnadeln und den Dreck von der Latzhose. Dann warf er noch einen verstohlenen Blick zurück. Die Feuerpunkte starrten ihn an wie leuchtende Augen aus einer Höhle. Er stopfte sich die Pistole in die Hosentasche und zwang sich, nach Hause zu gehen, nicht zu rennen. Im Morgengrauen ertränkte er den Wurf der Hündin. Binnen zwei Tagen: ein Mann und sechs junge Hunde, tot von seiner Hand. Die jungen Hunde, wenn sie am Leben geblieben wären, hätten ein normales Hundedasein geführt − auf den Veran den oder unter den Häusern von Menschen oder wild in den Wäl dern. Sie wären einen normalen Hundetod gestorben, unter den Rädern eines Wagens oder tollwütig mit Schaum vor dem Maul oder durch eine Kugel in den Kopf. Bei Menschen war es komplizierter. Vorbei war es mit den Aus wirkungen von Arch Bedsoles Leben, mit der Arbeit, die er sonst mit seinen Händen täte, den Dingen, die er verkaufen, den Tieren, die er töten, den Frauen, die er lieben, und den Kindern, die er zeu 87
gen, aufziehen, schlagen oder auch nicht schlagen würde. Er war tot, und es war unmöglich, ihn wieder lebendig zu machen. Diese Bürde würde Mack immer bleiben, er würde sie für immer in sich tragen müssen, egal, wie lang oder kurz er lebte. Das nächste Mal sah er Tooch Bedsole bei Archs Beerdigung. Ein Prediger, der im Krieg einen Arm und ein Bein verloren hatte, sprach von einem guten, in der Blüte seiner Jahre aus dem Leben gerissenen Mann, er sprach von Großherzigkeit und der Gefahr, dass andere Männer nun nach Vergeltung trachteten. Er sprach von Gerüchten, dass sich eine Gruppe von Männern organisiere, die Rache üben wolle, und er sprach darüber, dass Vergeltung nur dem Herrn, nur ihm allein zustehe, dass der Schuldige oder die Schuldigen sich eines schicksalhaften Tages würden verantworten müssen vor dem Allmächtigen, dass dann Arch an seiner Seite stän de und an diesem Tag die unvergängliche Gerechtigkeit zuschlagen würde mit der Kraft einer Diamantklapperschlange, deren Giftzähne so lang und so geschwungen seien wie der unendliche Horizont. Doch bis zu diesem Tag, warnte der Prediger, müsse man es den zu diesem Zweck berufenen Vertretern des Gesetzes über lassen, die Schuldigen vor ihren irdischen und gerechten Richter zu bringen. Sie sangen schon »Amazing Grace« und schauten zu, wie Erde auf die Kiste aus Kiefernholz geschaufelt wurde, als die Witwe Gates Mack zuflüsterte, Tooch wolle mit ihm sprechen. Er schaute an ihrem ausgestreckten Zeigefinger vorbei zu dem toten Baum, der weit hinter dem Zaun im Baumwollfeld stand. Tooch hatte die Zeremonie aus dem Schatten, den der Baum auf die Baumwolle warf, verfolgt. Jetzt winkte er den Jungen mit gekrümmtem Finger zu sich. Mack schaute die Witwe an. »Geh schon«, sagte sie und stieß ihn kräftig in den Rücken. Mack musste plötzlich daran denken, wie sie ihm den Sack mit den jungen Hunden gegeben hatte. Draußen im Feld verschränkte Tooch die Arme und wartete auf ihn. 88
Mack drückte sich den Hut fest auf den Kopf, vergrub die Hände in den Taschen und ging zwischen zwei Gräbern hindurch. Er konnte den Blick der Witwe spüren und fragte sich, woran sie gerade dachte. Schließlich öffnete er das Eisentor, schloss es leise wieder und ging auf der anderen Seite am Zaun entlang. Es war ein langer Weg den ansteigenden Hügel hinauf bis zu Tooch Bedsole. Ein Weg, auf dem er nichts dachte, auf dem er zu kaum mehr fähig war, als sein wild gegen die Rippen schlagendes Herz im Zaum zu halten. »Mack Burke«, sagte Tooch, als er näher kam. Tooch sprach mit leiser, rauer Stimme, so als spräche er nicht oft oder müsste sich räuspern. Die Leute hatten Recht, er sah Arch ähnlich, wenn auch auf eine verwitterte Art. Wie zwei baugleiche Pistolen, die sich nur entsprechend ihrer Nutzung unterscheiden. Die eine liegt geölt und glänzend in einer Vitrine, die andere wird ständig benutzt, steckt im Gürtel, kommt als Totschläger und Wurfgeschoss zum Einsatz und fällt gelegentlich auf den Boden. Etliche Schrauben sind schon ausgewechselt, und das geriffelte Karomuster auf dem Griff ist ganz glatt. Eine Waffe, von der man weiß, dass sie rostige Kugeln in die Herzen und Rücken anderer Menschen befördert hat. Eine Waffe, deren Geschichte kein Segen, sondern eine Bürde ist. Tooch hatte zwar wie Arch ein langes, nach unten spitz zulaufendes Gesicht, aber die Haut war runzelig und fleckig, und er hatte tiefe Ringe unter den hohlen Augen. Die Haut in den Mundwinkeln war rissig, er blinzelte fast ständig. War Arch immer glatt rasiert gewesen, so trug Tooch einen Schnauzer und einen schmuddeligen Backenbart. Als sei er die auf links gekrempelte Version seines Cousins, den man für irgendeine gespenstische Mission aus der Welt der Geister zurückgeschickt hatte. Tooch drehte sich um. »Also, mein Sohn, lass uns einen kleinen Spaziergang machen. Ich kann diese Friedhofsgeier da drüben nicht mehr sehen.« Mack zögerte einen Augenblick und schaute hinüber zu der Menschentraube, die den Eindruck erweckte, als schaute sie bloß 89
zu, wie man ein Grab zuschüttete. Die Witwe stand mit gefalteten Händen etwas abseits. William hatte seine Jacke ausgezogen und schaufelte zusammen mit anderen gebückten Männern Erde auf Archs Sarg. Niemand schien sich um Mack zu scheren. Als er sich wieder umdrehte, hatte Tooch schon fast den Waldrand erreicht. Er beeilte sich, ihn einzuholen. Während sie gingen, fischte Tooch eine Zigarre aus der Hemd tasche und zog sie durch die Vertiefung zwischen Nase und Ober lippe. Dann blieb er stehen und zündete ein Streichholz an, wobei er zum Schutz gegen den Wind die Hände vor die Flamme hielt. Auch Mack blieb stehen. Als Tooch die Zigarre in Brand gesetzt hatte, ging er weiter, Mack folgte. Sie gingen unter den Ästen einer Lebenseiche hindurch in den Schatten des Waldes. Die Tempera tur änderte sich, es wurde kühler. Den Zigarrenrauch hinter sich lassend, ging Tooch stetig voran. Er duckte sich unter Zweigen hin durch, umging Dorngestrüpp, stieg über Pfützen. Einmal griff er nach einem dünnen Zweig und riss ihn ab, zerbrach ihn beim Gehen in winzige Stücke und warf sie weg. Kurz darauf wurde es wieder heller, sie traten zwischen den Bäumen hervor und kamen in ein Baumwollfeld, das sie auf der gegenüberliegenden Seite wieder verließen, indem sie sich durch einen Zaun hindurchduckten. Nun gingen sie eine Zeit lang auf einer Straße weiter. Neben ihnen schoss plötzlich eine Wachtel henne in die Höhe. Sie sahen sie im Wind aufsteigen, dann inne halten und zum Boden zurückschlingern, nur um gleich wieder aufzusteigen und vielleicht einen Meter weit dicht über den Boden zu flattern. »Sie hat Junge«, sagte Tooch. Er blieb stehen. Deutete mit der Zigarre die Richtung an. »Da hinten in dem Gestrüpp. Sie versucht uns von ihnen wegzulocken.« »Wo gehen wir hin?«, fragte Mack. »Eins kannst du dir gleich merken«, sagte Tooch und setzte sich wieder in Bewegung. »Stell keine Fragen.« Hinter ihnen steuerte die Wachtel ihren Busch an. 90
Nach einer weiteren halben Stunde Baumwollfelder trug der Wind den Geruch von etwas heran, das brannte oder gebrannt hat te. Erkaltende Kohle. Plötzlich wusste Mack Bescheid. Es war das Haus, das Tooch angezündet hatte. Sie passierten ein Tor, keinen Zaun, nur die zwei Pfosten und das Tor, das Tooch für Mack aufhielt. Und da war es. Ein etwa quadratischer Haufen Asche und ein schiefer Kamin, der nach nicht mehr aussah als verschieden großen Steinblöcken, die man zur Höhe eines Hauses aufgeschichtet hatte. Aus dem Schutt schlängelten sich einige Rauchfahnen in die Luft, wo das Feuer Funken hingesprüht hatte, war der Boden versengt. Tooch setzte sich auf einen Balken, dahinter waren Schleifspu ren im Dreck zu sehen. Er streckte seine Beine in Richtung der Trümmer aus und schlug die Füße übereinander. So als hätte er das Haus angezündet, um es warm zu haben. Mack saß am anderen Ende des Balkens und umklammerte seine Knie. Tooch paffte an seiner Zigarre, die inzwischen zu einem Stummel geschrumpft war, dann schaute er sie an. Schließlich drückte er sie am Balken aus und schnippte sie in die Asche. »Du bist einer der Ersten, die’s erfahren«, sagte er. »Ich bin ge rade dabei, Bedsole’s Dry Goods zu kaufen. Von Ed Bedsole, meinem Onkel. Inklusive der Vermögenswerte und Verbindlich keiten.« Er schaute Mack an. »Weißt du, was das bedeutet?« »Ja, Sir.« »Gut«, sagte er. »Eine der größten Belastungen ist das Geld, das die Leute dem Laden schulden. Anschreibekonten. Als Erstes treibe ich die Schulden ein. Wohltätigkeit ist nicht meine Sache. Hab ich selbst auch nie kennen gelernt. Und das dickste Konto ist das deiner Großmutter. Schätze, Arch hatte einfach ein zu weiches Herz. Konnte einer alten Frau mit zwei Waisenbälgern kein Geld abknöpfen. Für Arch war der Laden wohl mehr Wohltätigkeits verein als Geschäft. Wollte wohl seine Wahlchancen damit ver bessern.« Er schaute Mack an. Dann redete er weiter. 91
»Das ist einer der Unterschiede zwischen mir und Arch, an die sich die Leute gewöhnen müssen. Also. Ich hab mit der Wit we gesprochen und ihr gesagt, was sie mir schuldet. Ein Teil der Schulden ist schon so alt, da warst du noch gar nicht geboren. Wir haben uns zusammen was überlegt, wie wir die Schulden aus der Welt schaffen. Hast du eine Ahnung, worum’s dabei gehen könnte?« »Um mich.« »Genau, um dich. Du wirst mein Gehilfe. Morgen in einer Woche fängst du an, morgens um sieben. Und zwar pünktlich. Du wohnst im Laden, im Hinterzimmer, und tust, was ich will. Zwei volle Jahre. Danach kannst du zur Witwe zurück oder sonstwas machen, ist mir egal. Essen und Klamotten kriegst du von mir. Ist nicht gerade neu, diese Art von Abmachung«, sagte er. »Gibt einen pompösen Ausdruck dafür. Arch und seine großen Worte. Also Arch hätte so was vertraglich vereinbarte Zwangsarbeit genannt. Weißt du, wie ich es nenne?« Mack schüttelte den Kopf. »Ich nenn es: Dein Arsch gehört mir.« Als William am nächsten Tag aus dem Haus kam und sich das Hemd in die Hose steckte, hackte Mack schon Zaunpfähle aus einem langen Hickorystamm, den er im Wald gefällt hatte. Zehn fast identische Pfähle lehnten an der Scheune. »Was soll das denn? Spinnst du?«, sagte William und rieb sich mit dem Handballen die Augen. »Die reichen ja für ein ganzes Fort.« Mack reagierte nicht. »Konntest du schlafen letzte Nacht?«, fragte William. »Nein.« William zog sich den Hosenträger über die linke Schulter und ging in die Scheune. Als er wiederkam, zog er einen Spaten hinter sich her. Er kratzte sich im Nacken, schaute Mack eine Zeit lang zu und fing dann an, ein Loch zu graben. 92
Wenig später kam die Witwe auf die Veranda. Mack hatte inzwi schen sein Hemd ausgezogen und arbeitete im Unterhemd. Die Hose war bis zu den Knien verdreckt, Schweißtropfen liefen ihm über den Rücken, die Schultern glänzten. Er schaute auf. Noch hing Nebel in der Luft, doch die Hitze fraß schon an ihm. Über dem Blechdach der Scheune, hinter den niedrigen Ästen der Eichen, stand die blassrote, vollkommen runde Sonne. Die alte Frau hatte ihre Schürze umgebunden. Sie ging die Holz stufen hinunter in den Hof, blieb beim Waschkessel stehen und betrachtete die beiden mehrere Minuten lang − die ganze Woche hatte sie ihnen in den Ohren gelegen, endlich den Zaun aufzustel len. Falls ihr in diesem Moment irgendein Kraftausdruck auf den Lippen lag, behielt sie ihn zumindest für sich. Sie besaß zwar selt same übersinnliche Kräfte, hatte sich aber selbst eingestanden, dass sie über die Zukunft ihrer beiden Jungs noch nie, auch früher nicht, das Geringste gewusst habe. Was bei Menschen mit seherischen Fähigkeiten oft vorkommt: Naheliegendes in der wirklichen Welt ist in der spirituellen Welt weit entfernt. Deshalb konnte sie in einem Laden einen Penny berühren und wissen, dass der Mann, der damit bezahlt hatte, binnen einer Woche sterben würde. Oder sie konnte das Geschlecht eines Babys voraussagen, wenn sie nur den Bauch der Schwangeren berührte. Aber wenn sie versuchte, in Mackys Zukunft zu blicken, war alles verschwommen, erklärte sie. So wie bei Traumbildern, an die man sich erinnerte, die aber vor beiflackerten, bevor der Verstand sie greifen konnte. Du weißt, da ist etwas, aber du weißt nicht, was. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie sich eine Mücke aus dem Gesicht schlug und dann zum Himmel schaute. Kurz darauf ging sie wieder die Stufen hinauf ins Haus. Mack stellte einen weiteren fertigen Zaunpfahl an die Scheu nenwand. Die unglückliche Hündin hatte der Arbeit gleichgültig zuge schaut, sie hatte nach den ersten Fliegen geschnappt und war dem wandernden Schatten gefolgt. Plötzlich stand sie auf und fing an 93
zu bellen. Der Holzhammer, den Mack hielt, verharrte auf Hüft höhe, und William schaute über den Griff des Spatens. Sie hörten es im gleichen Augenblick. Ein Pferd. Mack stellte sich hinter seinen Bruder. »Will?« »Sei still«, sagte er. »Kein Wort.« Die Tür knallte. Die Witwe stand auf der Veranda, sie hielt eine halb geschälte Kartoffel in der Hand. Ein Streifen Sonnenlicht fiel über ihren Körper. Dann ging sie die Stufen hinunter, blieb stehen und legte die Hand mit dem Messer schützend über die Augen. Der bellende Hund war hinter ihr die Stufen heruntergekommen. Ein Mann auf einem vertrauten braunen Pferd galoppierte den Hügel herauf in den Hof. Mack wäre fast ohnmächtig geworden. Es war Sheriff Waite. Er begrüßte die Jungen mit einem Tippen an seinen Hut. William winkte zur Antwort, Mack hob den Arm und schlackerte mit der Hand wie jemand, der an einer nervösen Stö rung leidet und dessen Arm sich wie von selbst auf- und abbewegt, mal zum Himmel, mal zu dem Ameisenhaufen vor seinen Füßen. Der Sheriff hielt an und stieg langsam von seinem großen Pferd. Unter seiner Jacke schaute der Elfenbeingriff der Pistole hervor. Mack hatte Waite seit mehreren Monaten nicht gesehen. Das Haar war grauer, er schien dünner geworden zu sein, und das Gesicht war von der Hitze gerötet. Im Schwanz des Pferdes hatten sich Kletten verfangen, und der von Staub verklebte, mit Schweißrinn salen überzogene Bauch erinnerte Mack an Landkarten, die er ein mal in einem alten Buch gesehen hatte. Die Karten hatten Gebiete des noch unvermessenen Westens gezeigt; riesige, leere, graue Flächen, in die ein Fluss eindrang, der an der Grenze zum bekann ten Teil wieder austrat; der Fluss exakt verzeichnet, ansonsten lee re, unerforschte Gebiete, unermesslich in ihren Möglichkeiten. »Na, Jungs, wie geht’s denn so?«, fragte Waite. »Alles bestens, Mr. Billy«, sagte William. Waite schüttelte die Hand, die William ihm hinhielt. Dann gab er auch Mack die Hand, der sich daran erinnerte, dass ihnen der 94
Sheriff vor Jahren beigebracht hatte, wie man jemandem die Hand schüttelte. »Nicht zu fest«, hatte er gesagt. »Ihr wollt ja keine knir schenden Knochen hören, oder? Aber auch nicht zu schlaff, soll ja keiner denken, dass er es mit einem kleinen Mädchen zu tun hat. Wie beim Kühemelken, das ist genau der passende Druck. Wenn einer zu fest schüttelt, heißt das, der Bursche will zu viel. Schlaff heißt, dass man dem Kerl nicht trauen kann.« Mack versuchte, Waite die Hand genau richtig zu schütteln und ihm dabei in die Augen zu sehen. Was nicht so einfach war ange sichts der Möglichkeit, dass der Sheriff sie in der nächsten Sekunde vielleicht beide verhaften würde. Mack schien es, als versuchte er unter Wasser die Augen zu öffnen. Aber anscheinend war Waite nicht wütend, er war gar nichts, nur alt. Trotzdem musste sein Kommen irgendetwas bedeuten. Waite wechselte die Zügel von einer Hand in die andere. »Was ist los, Macky, hat dir die Katze die Zunge abgebissen?« »Soll ich dem Pferd zu saufen geben?«, fragte William schnell. Waite gab ihm die Zügel und sagte, das war nett, aber auch, dass er ihm nicht zu viel geben solle. »Der säuft wie ein Jagdhund. « »Dürfen wir danach ein bisschen reiten?« Waite lächelte. »Besser nicht, ich hab ihn ziemlich hart range nommen heute, und wir haben auch noch was vor uns. Lasst ihn ausruhen, solange ich mit der Witwe rede.« Er blinzelte Mack zu und ging dann zur Veranda, wo die alte Frau mit verschränkten Armen auf ihn wartete. Die Kartoffel beul te ihre Schürze aus. Waite nahm den Hut ab, mit der anderen Hand drückte er sich unten auf den Rücken, dann ging er langsam, mit müden Schultern, die Stufen hinauf. Ihre Unterhaltung war düster, nicht wie sonst von sanften Sticheleien durchsetzt. Sie saßen Seite an Seite in den Schaukelstühlen, die die Witwe nach der Geburt von Joe Andersons Mädchen, den Zwillingen, bekommen hatte. Inzwischen führten die Jungen das Pferd zum Trog, wo es sein gummiartiges Maul ins Wasser senkte. 95
»Du verdammter Idiot«, zischte William von der anderen Seite des Pferdes. Mack zwang sich, King anzuschauen. Er strich über die drahtige Mähne, und Williams Finger glitten über den Gewehrschaft, der aus der Scheide herausschaute. William sah Mack über den Sattel hinweg wütend an. »Wenn du dich weiter so aufführst, als wärst du schuldig, merkt er bestimmt was.« Während das Pferd trank, beobachteten sie die alte Frau und den Sheriff, konnten aber nichts von dem verstehen, was die beiden sprachen. Kurz darauf hob das Pferd den Kopf. Sie führten es in die Scheune, nahmen ihm das Zaumzeug ab und gaben ihm aus dem Futtertrog des Maultiers Heu zu fressen. Dann setzten sie sich auf den Boden und beobachteten die Erwachsenen durch die Rit zen in der Scheunenwand. Weder die Witwe noch Waite lächelten. Sie schaukelten auf ihren Stühlen hin und her, hielten als Reaktion auf das vom andern Gesagte gelegentlich inne und fingen dann langsam wieder an zu schwingen. Mack drückte die Stirn gegen die warmen, groben Bretter und versuchte vergeblich, etwas zu ver stehen. Dabei kratzte er so lange an einem Splitter in der Holzwand herum, bis sein Finger anfing zu bluten und er das Blut ablecken musste. Neben ihm begann William zu schnarchen. Mack starrte seinen Bruder an wie ein Wesen, das er noch nie zuvor gesehen hatte, wie ein Ding, das da, wo das Gewissen sein sollte, nur eine Luftblase hatte. Als das Pferd genug gefressen hatte, trottete es zu Mack hinüber und rubbelte seine warme fleischige Nase an seinem Nacken. Mack schaute in die großen gelben Augen des Tiers und verzog das Ge sicht, als er den strengen Atem roch. »Na, mein Junge«, sagte er und kraulte ihn unter dem Kopf. King wieherte und pustete ihm durch die Haare. Als er wieder nach draußen schaute, war Waite aufgestanden und hatte sich den Hut aufgesetzt. Mack sprang auf und versetzte Wil liam einen Fußtritt. »Herrgott, Will«, sagte er. »Du würdest noch einschlafen, wenn sie dir grade die Schlinge um den Hals legen.« 96
Sein Bruder grinste. »Oder dir.« William legte dem Pferd das Zaumzeug wieder an, nahm die Zügel und führte das Pferd nach draußen, gerade als Waite die Verandastufen herunterging. Er kam ihnen entgegen. »Fertig zur Abreise?«, fragte er. »Ja, Sir, Mr. Billy«, antwortete William. »Getränkt und gefüttert, Sir. Ein paar von den Kletten haben wir ihm auch noch aus der Mähne gezupft.« Mack schaute ihn an − schon wieder eine Lüge. »Dank euch für alles.« Waite nahm William die Zügel ab, stieg in den Sattel und schaute auf sie herunter. »Ich hab sie nicht groß belästigt mit diesem ganzen Schlamassel um Arch Bedsole«, sagte er. »Die alte Dame braucht sich über so was nicht den Kopf zu zerbrechen, war hart genug das Leben, das sie bis jetzt hatte.« Er schaute erst den einen an, dann den andern. »Aber ihr zwei, ihr seid ja nun fast schon erwachsen, ich frag lieber euch. Von Mann zu Mann. Habt ihr irgendwas gehört, wo ich bei der ganzen Geschichte vielleicht einhaken kann? Irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte? Ich hab nicht den geringsten Hinweis, wo ich anfangen soll!« »Nein, Sir«, sagte William. »Wir kommen ja kaum mal weg von hier.« »Tja, da bin ich ein bisschen neidisch auf euch«, erwiderte Waite und schaute mit starrem Blick auf sie hinunter. Es schien, als wäre er in Trance verfallen und riefe sich die lange vergangenen Tage sei ner eigenen Jugend in Erinnerung. Dann blinzelte er und schaute Mack an. »Und? Was ist mir dir, Macky? Hast du was gehört, das mir in dem Durcheinander weiterhilft?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich war’s nicht«, sagte er. Für einen Augenblick spannte sich Waites Gesicht. Dann lächelte er. »Sicher, Junge. Weiß ich, weiß ich. Aber weißt du, wer’s war?« »Natürlich nicht«, sagte William. »Das Bürschchen weiß ja nicht mal seinen eigenen Namen.« 97
Ein paar Tage später war Mack in den Laden umgezogen und hatte sein neues Leben begonnen. An seinem letzten Abend zu Hause schickte ihn die Witwe in den Hof, um Holz zu hacken. Mit nacktem Oberkörper, die Axt in der Hand, hatte er vor dem Holzhaufen gestanden und eine Kröten echse angestarrt, die er gerade in der Mitte durchgehackt hatte − ein Unfall, er hatte die Echse erst gesehen, als sie schon in zwei Teilen durch die Luft flog. Im gleichen Moment sah er, wie die Witwe am Gemüsegarten vorbei zum Hühnerstall ging. An der niedrigen Tür bückte sie sich, klappte den Holzriegel hoch und betrat den Käfig. Dann ging sie, soweit ihr das als alter Frau mög lich war, in die Knie und sprach leise mit den Hühnern. Er mochte es, wenn sie das Gegacker als Sprechen bezeichnete, wenn sie ihnen antwortete und sie »meine kleinen Mädchen« nannte. Sie musste schon ein ganz bestimmtes Tier im Sinn gehabt haben, denn die, die ihr die Körner aus der offenen Hand pickten, wurden allesamt wieder weggescheucht. Erst als die große weiße Henne vorsichtig auf sie zugetrippelt kam, packte sie zu und trug das flatternde Tier am Hals über den Hof. Das Huhn flog in ihrer Hand auf und ab. Mack fragte sich, ob es mit der kleinen Frau nicht einfach davonfliegen könnte. Er stand da, die Axt auf Oberschenkelhöhe in der Hand, und sah, wie die Witwe hinter die Hütte ging. Er hörte, wie sie das Huhn tötete, und fragte sich, warum er sich, obwohl um ihn herum dauernd gestorben wurde, immer noch nicht dran gewöhnt hatte. Als das Holz an der Hauswand aufgestapelt war, ging er wieder ins Haus, wo die Witwe gerade das Huhn zerteilte, und schichtete ein paar Holzscheite in den Herd. »Deine Henkersmahlzeit«, sagte William. Vom Rupfen des Huhns hingen noch Federn an seinen Hemdsärmeln. »Sei still«, sagte die Witwe. Sie aßen schweigend. Als sie am nächsten Morgen kam, um ihn zu wecken, hatte Mack schon wach gelegen. »Es ist Zeit«, sagte sie. 98
»Ja, Ma’am.« Er stand auf. William schnarchte noch. Mack ging in die Küche. Sie machte ihm Eier und briet ihm sogar etwas Speck dazu. Der Duft weckte William, der ohne Hemd an den Tisch kam. Er rieb sich die Augen und streckte sich. »Wenn ich gewusst hätte, dass es so gutes Essen gibt, hätte ich dich schon viel früher weggeschickt«, sagte er und goss sich Kaffee ein. »Zieh dich an«, sagte die Witwe. Er stand mit der Kaffeetasse in der Hand auf und kam zurück, während er sich noch das Hemd zuknöpfte. Sie setzten sich zum Essen. Durchs Fenster sah Mack, wie über den Bäumen die Sonne aufging. Die ersten Tage im Laden waren lang, und Mack stellte sich immer wieder Situationen vor, die damit endeten, dass er getötet wurde. Nachts lag er auf der alten Matratze im winzigen Hinterzimmer, das auch als Lagerraum diente, und lauschte Toochs Schritten im Dachzimmer. Der Mann schien nie zu schlafen. Mack war besessen von der Vorstellung, dass Tooch Bescheid wusste, dass er ihn in seinem Laden haben wollte, um ihn am Ende umzubringen. Wenn Mack die Augen schloss, sah er Tooch mit einem Messer auf sich zukommen. Oder mit einem hölzernen Prügel. Aus dem Regal für das Zaumzeug holte er ein Seil, fesselte ihn, schleifte ihn durch den Laden und dann über die spitz vorstehenden Holzsplitter der Verandabohlen die Stufen hinunter. Jede Nacht lag er im Bett und dachte daran, aufzustehen und zu fliehen. Doch die letzten Worte der Witwe hielten ihn jedes Mal zurück. Was auch passiert, mach
ihn nicht wütend. Und Lev auch nicht. Tu, was sie dir sagen. Immer, verstanden? Daran hielt er sich. Zum Beispiel wusch er, ohne zu murren, Toochs Sachen. Vorbei an frischen Grabhügeln trug er das Wasch brett den steilen Abhang hinunter, kletterte danach wieder nach oben und holte den Wäschesack. Sein ganzes Leben hatte er die 99
Witwe die Wäsche machen sehen. Er wusste, wie es ging, aber er hatte nie daran gedacht, es jemals selbst zu machen. Nun machte er Feuer unter dem Waschkessel, schöpfte mit einem Eimer Wasser aus dem Fluss, kippte Lauge dazu und weichte die Sachen ein. Dann starrte er hinüber zum anderen Ufer − ein Katzensprung, kein Problem, falls er es je tun würde. Er würde erst eine Zeit geradeaus laufen, dann durch den Wald den Hügel hoch und danach in das Baumwollfeld, von dem er wusste, dass es dahinter lag. Aber er tat es nie. Stattdessen krempelte er die Ärmel auf, kniete sich auf den Boden und zog eins von Toochs nassen weißen Hemden aus dem Kessel. Er lehnte das Waschbrett gegen die Knie, schrubbte das Hemd und spülte es anschließend im Fluss aus. Und während die Seifenblasen träge flussabwärts trieben, hängte er das Hemd an einem Ast auf. Dann kam das nächste, dann eine Baumwollhose. Bald flatterten ein Dutzend Kleidungsstücke im leise flüsternden Wind. Ein Hemdärmel bewegte sich, als wolle er ihm etwas sagen, als wolle er ihm den Fluchtweg weisen. Als Mack fertig war, stand er auf, sammelte die Kleidungsstücke ein und stieg den bewaldeten Abhang wieder hinauf. Er pass-te auf, dass er nicht mit einem Hemd an einem Strauch hängen blieb oder an einem Baumstumpf eine Hose schmutzig machte. Hinter dem Laden hängte er die Sachen zum Trocknen auf die Leine. Dann ging er wieder zum Fluss und spülte die Seifenlauge aus dem Kessel. Und schaute noch einmal hinüber auf die andere Seite, bevor er den Abhang ein weiteres Mal hochkletterte. Im Allgemeinen sprach Tooch nicht viel, aber am ersten Tag sag te er zu Mack: » Quatschen gehört nicht zu deiner Arbeit. Du sagst nur was, wenn ein Kunde dich fragt. Und dann antwortest du so kurz wie möglich. Das heißt ja oder nein. Aber immer höflich.« »Ja, Sir.« Tooch schaute ihn an. »Willst du nicht wissen, warum?« Mack schüttelte den Kopf. »Gut. Du hast nicht zu fragen, sondern nur zu machen. Aber damit du dir ein Urteil bilden kannst, erzähl ich dir dieses eine Mal 100
trotzdem den Grund. In nächster Zeit passieren ein paar Dinge, von denen die Leute hier noch lange reden werden. Wir starten eine Mission, wie man in der Gegend noch keine gesehen hat. Woan ders auch nicht. Und du sitzt dabei mitten im Auge des Sturms. Wenn du mit jedem Idioten quatschst, der sich ‘n Stück Seife oder eine Fünf-Cent-Zigarre kauft, rutscht dir wahrscheinlich irgend wann mal was raus. Die Kraft eines Mannes kommt nur von innen. Deine Zeit hier, Mr. Mack Burke, wird verdammt einsam sein. Aber jeder Fluss hat auch ‘n andres Ufer, irgendwann ist auch für dich die einsame Zeit vorbei. Merk dir das, Junge.« Das erste offizielle Treffen fand statt, als Mack etwa seit einer Woche im Laden arbeitete. Es kamen die Männer, die geblieben waren an jenem Abend, als Tooch sie nach Archs Tod in seinem Laden zusammengerufen hatte. Die acht − Lev und Kirk James, Floyd Norris, Massey Underwood, Huz und Buz Smith, War Has kew und William − waren seit Einbruch der Dunkelheit nach und nach eingetroffen. Sofort ging ein Krug rum. Tooch sagte zu Mack, er solle in sein Zimmer gehen und die Tür schließen. Mack ließ sie jedoch einen Spalt offen, kniete sich auf den Boden, lugte in den dunklen Laden und lauschte. Er sah den Kreis der Männer, die Schultern und die gesenkten Köpfe mit den fadenscheinigen Hüten. Er hörte den leisen Regen. Die Zweige der Pekanbäume kratzten an der Rückwand des Hau ses. Er sah den Krug, der herumgereicht und auf- und zugemacht wurde, hörte das Seufzen, nachdem der Krug hochgehoben worden und sein Inhalt die Kehle hinuntergeflossen war. Er konnte sich vorstellen, wie das Brennen ihnen das Wasser in die Augen trieb und sich die Speiseröhre genüsslich zusammenzog; er wollte bei ihnen sein. Fast eine Stunde lang erzählten sie sich lachend Geschichten über Arch, allerdings unter einer Spannung, als wären sie beim Leichenschmaus für einen Mann, den niemand gemocht hatte. Was als ziemlich lose Runde begonnen hatte, rückte mit zunehmender Dunkelheit enger zusammen. Sie hockten jetzt dicht beieinander, sodass es Mack immer schwerer fiel, irgendwas zu 101
erkennen. Seine Knie schmerzten vom harten Boden. Die Männer sprachen leise, doch seine Ohren waren gut. Solange der Regen nicht stärker wurde, konnte er das meiste verstehen. Schließlich verlagerte Lev sein Gewicht von einer Hinterbacke auf die andere und sagte: »Also los, Tooch, kommen wir zur Sache.« Mack konnte Tooch genau zwischen den Schultern zweier Män ner, gelb angeleuchtet vom Schein des Herdes, sehen. Er hatte den Ladenbesitzer fast vollständig im Blick. Tooch fischte eine Zigarre aus der Brusttasche seines Hemdes und zog sie durch die Vertiefung zwischen Schnauzbart und Nase, biss an einem Ende die Spitze ab, riss am Stiefelabsatz ein Streichholz an und setzte schließlich die Zigarre in Brand. Danach stützte er die Unterarme auf die Knie, reckte das Kinn vor und zog an der Zigarre. Inzwischen war auch Macks winziges Zimmer erfüllt vom Geruch nach brennendem Holz, Tabaksaft, Zigarrenrauch, Whiskey und Schweiß. Er verla gerte das Gewicht von einem Knie auf das andere und machte die Tür etwas weiter auf. Tooch streckte den Arm aus und schnippte Asche in den Spuck napf. »Was wir machen, ist Folgendes«, erklärte er. »Wir gründen einen Bund.« »Einen Bund«, sagte jemand. Wer, konnte Mack nicht erkennen. »Was für einen Bund?«, fragte Lev. »Einen Geheimbund.« »Einen Geheimbund«, wiederholte Lev. »Er meint eine Bande«, sagte Kirk. »Wie die Freimaurer.« Lev schaute finster. »Geheim. Und wer soll davon wissen?« Tooch: »Nur die Mitglieder.« Lev verlagerte wieder sein Gewicht und spuckte aus. Mack sah ihn im Profil, das bullige Gesicht, den im Herdschein glänzenden kahlen Kopf. »Wofür soll ein Bund gut sein, den keiner kennt?«, fragte Lev. »Der Grund, dass wir uns zusammentun, soll ja wohl sein, dass wir dann größeren Schaden anrichten können, oder? Für die Städter sind wir doch eine größere Bedrohung, wenn jeder genau weiß, wie viele dabei sind und wer dazugehört.« 102
Tooch nickte und überlegte. »Zwei Sachen«, sagte er. »Erstens: Wenn keiner weiß, wie viele mitmachen, hat man immer einen Überraschungseffekt. Ein Geheimnis. Geheimnis bedeutet Macht. Wovor die Leute am meisten Angst haben, ist das Unbe kannte. Lass die Leute im Dunkeln, dann kontrollierst du das Dunkle.« Lev brummte. »Zweitens: Man hat ein wirkungsvolles Hilfsmittel. Alibis. Die Männer können sich gegenseitig schützen. Was, wenn wir McCor quodales Laden überfallen? Nehmen wir mal an, Lev, William, Kirk und Huz wären die Täter? Wenn ihnen das einer anhängen will, schwören die andern eben, dass alle vier zu der Zeit bei ihnen waren. Wenn dieser Waite auftaucht und einen von uns verhaf ten will, zwingen wir Leute aus der Gegend, uns zu decken. Und wenn sie nicht wollen, bestrafen wir sie. Wenn einer von euch damit ein Problem hat, dann geb ich ihm jetzt die letzte Chance«, sagte Tooch. »Geht nach Hause. Und zwar auf der Stelle.« Floyd Norris stand auf. »Tooch«, sagte er. »Scheint, als hättest du mit uns was vor, das uns leicht den Kopf kosten könnte.« Tooch überlegte. »Gut möglich.« Ohne einen der anderen anzuschauen, sagte Floyd: »Die Sache ist die. Keiner von euch hat Familie. Ihr seid alle junge Burschen, außer Kirk und Massey, aber die haben auch nichts, was sie auf halten könnte. Wenn du so was wie eine Armee aufstellen willst, Tooch, gut, kann ich verstehen. Ihr Jungs habt niemanden, für den ihr sorgen müsst. Aber ich hab Frau und vier Kinder. Wenn ich tot bin, ist keiner mehr da, der sich um sie kümmert. Also geh ich. Gute Nacht.« In seinem ganzen Leben hatte Mack ihn nicht so viel reden hören. Er, William und die Witwe hatten in den vergangenen Jah ren immer mit Floyd zusammen Baumwolle gepflückt. Nie hatten sie einen schweigsameren Menschen erlebt. Außer Buz Smith, der aber von Geburt an nicht sprechen konnte. 103
»Das verstehen wir«, sagte Tooch. »Aber kein Wort zu irgend jemandem.« Floyd nickte. »Ich schwöre.« Dann zuckte er mit den Achseln, drehte sich um, ging zwischen den langen Regalen hindurch, öff nete die Tür und schloss sie hinter sich. Sie lauschten seinen Schrit ten, als er die Stufen hinunterging, und lauschten auch noch, als sie schon nichts mehr hören konnten. »Was, wenn ich geschnappt werde?«, sagte Massey Underwood. »Was wird dann aus mir? Lasst ihr mich hängen?« »Nein, tun wir nicht«, sagte Tooch. »Als Erstes beschwören wir alle deine Unschuld, und außerdem schicken wir noch andre, die das Gleiche tun. Joe Anderson zum Beispiel, oder sonst jemanden, der einen guten Ruf hat. Wir könnten Floyd Norris schicken, der könnte sagen, dass ihr zusammen ein Schwein geschlachtet habt. Möglich, dass du mal eingebuchtet wirst, aber du kommst auf jeden Fall schnell wieder raus.« »Du sagst also, dass du dich ums Geld und ums Denken küm merst«, fasste Lev zusammen. »Und wir besorgen das Grobe, gehen aber sicher nie in ‘n Knast dafür?« »Richtig«, sagte Tooch. »Genau das sage ich.« Lev ließ die Hosenträger schnalzen. »Hört sich gut an. Ist mir auch lieber, wenn andre denken. Ich bin dabei.« »Eine Frage noch«, sagte War Haskew. Tooch nickte. »Wir alle haben Arch gemocht. Und wir sind alle wütend da rüber, was passiert ist. Aber eigentlich ist das ja dein Krieg. Wir helfen dir, klar, doch was springt bei deinem Verein für uns raus? Außer Gefahr und die ganze Zeit, die dabei draufgeht?« Er schau te in die Runde. »Ich weiß nicht, wie das bei euch ist, aber Zeit hab ich nicht viel zu verschenken. Ich muss mich um die Ernte kümmern. Und William hier, der arbeitet für mich. Der hat auch nicht viel Zeit zu verschenken.« »Erst mal bekommt ihr Kameradschaft«, sagte Tooch. »Und dann den Schutz, von dem ich gerade gesprochen hab. Glaubt ihr, 104
dass diese üblen Schweine aus Grove Hill hier raus kommen zu uns, wenn die wissen, dass hier eine Bande von noch übleren Schwei nen auf sie wartet? Die haben die Hosen voll, die setzen keinen Fuß mehr in den Bezirk hier, und wenn doch, dann pumpen wir ihnen die Ärsche mit Schrot voll. Wir packen das Gesetz an den Schultern und schütteln es mal kräftig durch, Jungs, wir bestimmen, was in unserem Bezirk läuft. Die korrupten Säcke in den Gerichten und im Kapitol können uns dann mal, wir machen unsere eigene Ordnung. Aber das sind nicht die einzigen Gründe. Das ist nur der Anfang. Das Geld, das wir einsacken, teilen wir unter uns auf. Wenn euch also die andern Gründe egal sind, wie wär’s dann mit Silberdollars? Und zwar jede Menge davon.« Es gab noch weitere Fragen, und das Treffen dauerte bis weit in die Nacht. Mack bekam nicht jede Einzelheit mit, aber am Ende hatte Tooch alle überzeugt und klappte sein Case-Taschenmesser auf. Mack zwang sich, Tooch zuzusehen, wie er die rechte Hand öffnete und sich mit der Klinge quer über die Handfläche fuhr. Danach gab er das Messer an War Haskew weiter, der es Tooch gleichtat. Das Messer wanderte von Mann zu Mann, bis sich jeder in die Hand geritzt hatte. Mit seinem Finger als Stift und seinem Blut als Tinte schrieb Tooch seinen Namen oben auf ein Blatt Papier. Dann gab er das Blatt Lev, der, da er nicht schreiben konnte, ein X malte und das Blatt an Kirk weitergab, der ebenfalls ein X machte. Dann William. Dann die Smiths. War Haskew. Massey Underwood. Der Krug ging herum, jeder schüttete sich etwas Whiskey in die Hand, ballte sie zur Faust, nahm einen Schluck aus dem Krug und gab ihn weiter. Als alle unterzeichnet hatten, nahm Tooch das Blatt Papier, stand auf, und die andern erhoben sich ebenfalls. Er blies auf das Blatt und las alle Namen laut vor. Dann sagte er: »Ihr habt euch unsrer Sache verschrieben. Das ist der erste Schritt.« Er wartete, bis der Krug wieder zu ihm zurückkehrte, dann verkündete er, dass der Name ihres Bundes Hell-at-the-Breech sei. 105
»Hell-at-the-Breech«, wiederholte War Haskew. »Was zum Teufel soll das bedeuten − Breech?«, fragte Lev. »Öffnung, Schlund«, sagte Tooch. »Wie bei einem Mädchen?«, fragte Lev grinsend. »Ja. Oder bei einem Grab«, antwortete Tooch. »Und das sind wir?« »Ja«, sagte Tooch. »Wir stehen am Schlund zur Hölle.« In den nächsten Tagen erfuhr Mack nichts Neues. Dann hörte er, dass man die Farm eines gewissen Lern Howze überfallen hatte. Das Haus war angezündet worden, und man hatte dem Farmer siebzig Dollar gestohlen. Scheune, Maisschuppen, Ställe und Außenabort waren ebenfalls in Brand gesteckt worden. So nahm der Bund seine Arbeit auf. Zu zweit oder dritt, mit weißen Kapuzen über den Köpfen, besuchten sie die Farmen weißer Familien und forderten jeden Mann auf, mit Blut das Papier zu unterzeichnen. Die meisten setzten nur zu gern ihren Namen oder ihr Kreuz auf die Liste − um Teil der Rache für Arch Bedsole zu sein und um unter der Hand ihre Wut zu bekunden. Man sagte ihnen, dass sie nichts zu tun hätten, außer vielleicht als Zeuge aufzutreten, und man sie dafür bezahlen würde. Sie hätten weder irgendeinen Schaden noch Gewalt zu befürchten. Und falls jemandem auf der Liste von einem Städter Unrecht geschähe, wür de Hell-at-the-Breech für ihn zuschlagen. Der Bund sei nun auch ihrer. Mack kamen Gerüchte zu Ohren, wer nicht unterzeichnen wür de, allen voran Joe Anderson. Dazu noch vier oder fünf andere. Zu denen schickte Tooch als Erstes ein paar Leute, die zum erweiterten Kreis gehörten. Sie sollten ihnen Vernunft beibringen, was bei allen klappte, nur nicht bei Anderson, einem Farmer namens Jonesy Gray und einem Schwarzbrenner namens Shorty Owen. Dann kam Gray eines Tages zum Laden. Mack hämmerte ne benan in der Schmiede an einem Hufeisen, Tooch, War Haskew und Lev saßen auf der Veranda. Gray, der ein großer Mann war, 106
stapfte die Stufen hinauf. Lev stand nicht mal auf. Gray packte den kleineren Mann, schüttelte ihn und brüllte, er wisse, dass es Lev gewesen sei, der seine Scheune niedergebrannt habe. Lev ließ sich durchschütteln und von der Veranda werfen. Er knallte auf den Boden, setzte sich wieder auf und wiegte den Kopf von einer Seite zur andern. Dann erhob er sich, klopfte sich den Staub ab und ging mit der Pistole in der Hand die Stufen hinauf. Er musste hoch springen, um Gray zu erwischen, und er sprang und schlug ihm mit der Pistole gegen die Schläfe. Er schlug ihn wieder und wieder, und als ihn Tooch und Haskew schließlich wegzerrten, sah Gray tot aus. Sie setzten sich die Kapuzen auf, banden ihn hinten an ein Maultier und schleiften ihn weg. Mack wusste nicht, wohin sie rit ten. Später hörte er, dass Gray überlebt hatte, dafür aber das Papier habe unterzeichnen müssen. Bis Mai hatten der gesamte Bezirk und die meisten der angren zenden Höfe klein beigegeben. Die wenigen schwarzen Familien waren vertrieben worden. Eine Geschichte, von der Mack hörte, besagte, dass mehrere Hell-at-the-Breech-Kapuzenmänner in die Kirche der Schwarzen eingedrungen waren, das komplette Mo bilar − Bänke, Kanzel, Altar − nach draußen geschafft und es dort genau so wieder aufgebaut hatten. Außerdem hatten sie das Schwein des Predigers eingefangen, geschlachtet, ausgeweidet und über die Kanzel gehängt. Daneben lag das Gesangbuch, aufge schlagen beim Lied »We shall not be moved«, wobei das Wort »not« mit Schweineblut durchgestrichen war. Anderen Schwarzen hatte man das ganze Geld gestohlen, einer war gehängt worden, weil er etwas Falsches gesagt hatte. Was diese Aktion sollte, verstand Mack nicht. Noch wurde er auf Distanz gehalten, in seiner Gegenwart sprach Tooch nie von den Dingen. Seit jener ersten Nacht kam Mack aber auch nicht mehr nah genug heran, um etwas zu hören, da der Bund seine Treffen nun auf der Veranda oder auf dem Kro cketplatz abhielt. Das waren Gelage, bei denen er in seinem Zim mer bleiben musste. Der Anlass waren erfolgreiche Überfälle, nach 107
denen das erbeutete Geld geteilt, Zigarren geraucht und schwer getrunken wurde. Trotzdem bekam Mack einiges von der Gewalt der Aktionen mit. Er arbeitete erst seit ein paar Monaten bei Tooch, als im Laden ein fliegender Händler mit einem Krug Schnaps auftauchte. Bald waren der Händler, Lev und Tooch betrunken. Sie erzählten sich Geschichten, die sich Mack durch das geöffnete Fenster anhörte. Tooch merkte schließlich, dass er lauschte, und forderte ihn auf, nach draußen zu kommen. Der Händler verteilte Fünf-CentZigarren und versorgte sie mit Neuigkeiten aus der Außenwelt. Als Lev etwas von einem großen Schluck Schwarzgebranntem aus dem Mundwinkel übers Kinn lief und er dann versuchte, sich eine Zigarre anzuzünden, fing sein Bart Feuer. Er schrie nicht oder fing an zu winseln, sondern biss bloß die Zähne zusammen, schloss das Auge auf der brennenden Seite und schlug sich mit der Hand auf die Wange. Tooch und Mack schauten mit ernstem Gesicht zu. Als das Feuer aus war, blutete seine Lippe, und er öffnete und schloss den Mund, um zu testen, ob seine Kinnlade noch funktionierte. »Knackt ein bisschen«, sagte er. Der Händler machte den Fehler zu lachen. »So was hab ich ja noch nie gesehen«, sagte er japsend. »Was ist so gottverdammt lustig daran?«, wollte Lev wissen. Der Händler schien die Gefahr zu spüren, denn er versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. Als er aber sah, wie ungleichmäßig Levs Gesicht wegen der einen fast ganz verbrannten Barthälfte aussah, fing er doch wieder an. »Scheiße«, sagte er und klopfte sich auf die Oberschenkel. »Soll ich dir meine Rasierklinge leihen, dann wär’n wir wenigstens den Gestank los.« Ruhig stellte Lev den Krug zur Seite, stand auf und ging die Ve randastufen hinunter zum Wagen des Händlers. Während er wei ter seine Kinnlade auf- und zuklappte, entwirrte er den Draht, mit dem eine Eisenzange außen am Wagen festgemacht war. Daneben 108
hingen andere Gegenstände wie Ochsengeschirre, Zugriemen und Waagen. Dann stapfte er mit der wie eine Krabbenschere geöffne ten Zange wieder die Stufen hoch. Der Händler erbleichte und stol perte rückwärts über die Veranda. Zigarrenasche fiel auf sein wei ßes Hemd. Lev ließ die Zange am Hals des Mannes zuschnappen. Mack rollte sich von der Veranda in Sicherheit, Tooch schaute mit dem Krug im Arm zu. Lev wirbelte den Händler im Kreis herum. Die Zange hatte den Hals des Mannes, der sich an die Zangenbacken klammerte, fest im Griff. Als Lev losließ, segelte der Händler von der Veranda, landete im Dreck des Hofes und rollte bis unter seinen Wagen. Dort blieb er stöhnend liegen. Mack kroch auf den Knien unter dem Haus vor bis zum Eckpfosten der Veranda. Er befand sich auf Augenhöhe mit dem Händler und sah, wie Levs Beine auf der anderen Seite des Wagens auftauchten. Der Händler schaute Mack direkt an, als er plötzlich von hinten unter dem Wagen hervorgezogen wurde. Er schrie und krallte die Finger in den Dreck. Wegen der Wagenräder konnte Mack nicht genau sehen, was dann passierte. Er hörte wieder Schreien, dann ein würgendes Geräusch, dann etwas, das sich wie ein feuchtes Knacken anhörte. Dann nichts. Levs Hand griff nach unten neben das Wagenrad und hob die heruntergefallene Zigarre des Händlers auf, schließlich gingen seine Beine wieder um den Wagen herum. »Du kannst jetzt rauskommen, Junge«, sagte er. Als Mack aufstand und sich die Knie abklopfte, kam Tooch mit einer Holzkiste aus dem Laden, warf sie zu ihm runter und sagte, dass er schon mal anfangen solle, den Wagen abzuladen. Während der Arbeit warf Mack immer wieder einen verstohle nen Blick auf den toten Mann. Der Kopf lag in einer Blutlache, die Augen waren geöffnet, im Dreck neben ihm lag ein schmutziger Klumpen: die Zunge, die er sich abgebissen hatte. Lev klappte jedes Mal den Mund auf und zu und zupfte sich ver sengte Barthaare aus dem Gesicht, wenn Mack mit der vollen Kis te an ihm vorbeiging. Hin und wieder hielt er den Jungen fest und 109
suchte sich etwas aus, das er brauchen konnte, unter anderem einen Sattelgurt, eine Ahle, eine verzinkte Waschwanne, einen Teekessel und eine Eisenbahnlaterne. Mack musste alles neben ihm auf stapeln. Als der Wagen leer war, tranken Tooch und Lev weiter und scha cherten ein bisschen um den Wert der Ladung. Da er den Händler beseitigt habe, behauptete Lev, gehöre alles ihm. Tooch argumen tierte, es gehöre ihnen beiden, da der Händler wegen ihm ange halten habe. Außerdem würde er, falls nötig, bezeugen, dass der Mann nie an seinem Laden Halt gemacht habe. Schließlich einigten sie sich − nachdem noch mehr Whiskey geflossen war − auf ein Verhältnis sechzig zu vierzig. Tooch zahlte Lev anhand der Inven tarliste, die sie in der Jackentasche des Toten gefunden hatten, die Hälfte des Großhandelspreises. Außerdem bekam Lev das Maultier und Tooch den Wagen. »Und was ist mit dir?«, fragte Lev. Mack war gerade wieder nach draußen gekommen und krempelte sich nach getaner Arbeit die Ärmel herunter. »Sir?« »Willst du keinen Anteil? Nicht dass du mir später zu unserm braven Gesetzeshüter rennst, weil ich dir nichts gezahlt hab?« Mack schüttelte den Kopf. »Mit Gesetzen kenn ich mich nicht aus, Mr. James.« Tooch und Lev wechselten einen Blick. »Gib ihm einen Dollar«, sagte Tooch. »Von deinem Anteil.« Lev griff in die Tasche und warf eine Münze in die Luft, die Mack auffing. »Wenn ich irgendwas hör, weiß ich ja, wo’s her ist«, sagte Lev. »Und du weißt, was das bedeutet, oder?« Mack nickte. »Also los«, sagte Tooch. »Schaffen wir den blutenden Scheiß haufen weg, bevor die Geier kommen.« Mack hob das Grab aus. 110
Ein Leben als Verkäufer von allem, was man im Haushalt so brauchte, konnte sich Mack gut vorstellen. Zu den vielen wun dersamen und bunten Dingen, die sich in den hohen Regalen hin ter dem Ladentisch stapelten und die er früher nur bei den Besu chen mit der Witwe hatte anschauen können, hatte er plötzlich jederzeit Zugang. Zu Vaseline und Terpentinöl, zu Borax und Dr. Walter’s Celebrated Eye Water, zu Desinfektionspulver, Bittersalz und Bonbons in einem Dutzend verschiedener Geschmacksrich tungen. Der Umgang mit den Produkten machte ihm Spaß, er las die Etiketten und sprach laut die fremden Wörter aus, die auf den Schachteln, Beuteln und Dosen standen. Tuberose-Schnupftabak. Orangenwein-Magenbitter. Sellerie-Malz-Stärkungstrunk. Zu gern schraubte er Deckel von Gläsern und Kappen von Flaschen und schnüffelte an den verschiedenen Pulvern und Flüssigkeiten. Alles hatte einen eigenen Duft, setzte sich aus eigenen wunderlichen Bestandteilen zusammen. Das eine erinnerte an grüne Kiefernzap fen, das andere an Katzenpisse oder reife Dattelpflaumen. Jedes für sich schaffte zuverlässig Abhilfe bei einem oder auch mehreren Leiden, jedes stellte die Verbindung zu einer Welt her, die er sonst nie kennen gelernt hätte. Woher kamen diese Dinge? Er stellte sich vor, wie irgendwo in weit entfernten, fremden Ländern Männer in Schürzen, mit Arbeitshandschuhen aus Leder und Schutzbrillen in Höhlen zwischen Kolbenrohren und Kupferleitungen, an blub bernden und spuckenden Hexenkesseln über spitzen Flammen standen. Er sah die Dinge im Frachtraum eines Schiffes gestapelt, attackiert von Wellen so groß wie Berge. Er sah eine Welt hinter den Baumwollfeldern und bewaldeten Senken, weit jenseits des braunen friedlichen Flusses und der Bäume. Die Welt war so weit entfernt, dass sie blau schimmerte. In den ersten Monaten stieß er fast jeden Tag, wenn er an den hohen Regalen entlangging oder die Trittleiter wieder einen halben Meter weiterschob, auf etwas Kurioses. Er zerbrach sich einen halben Tag lang den Kopf über eine kleine Schachtel mit harten, verschieden großen Gummischalen, bis ihm aufging, dass es sich 111
um Abschlusskappen für Krücken handelte. Eine merkwürdig ge schwungene und biegsame Röhre, die an einer Seite einen Trichter und an der anderen einen kleinen Schnabel hatte, war ihm eine Woche lang ein Rätsel. Bis er einen alten Mann sah, der den Schna bel in sein Ohr steckte und den Trichter vor den Mund eines ande ren Mannes hielt − ein Gerät, mit dem man besser hören konnte. Mack hatte den Gang auf- und abgeschaut − anscheinend war Tooch draußen − und sich dann den Schnabel ins Ohr gesteckt. Als er in den Trichter sprach, wäre er fast von der Leiter gefallen. Eine Stunde lang hatte er sich immer wieder den Finger ins Ohr gesteckt, um das Klingeln zu dämpfen. »Mach dich an die Arbeit«, sagte Tooch mindestens einmal am Tag, wenn er plötzlich aus dem Nichts auftauchte und ihn dabei überraschte, wie er oben auf der Leiter stand und mit einem Auge an den glänzenden Zacken einer Bügelsäge entlangschaute oder die verschlungenen Nähte eines Kalbslederhandschuhs bestaunte. Wenn Mack dann in Toochs grüne Augen sah, schien auch der das Wunder an Form und Handwerkskunst anzuerkennen. Als stünde er selbst als Junge oben auf der Leiter, griffe mit seiner Kinderhand tief hinein ins Regal und könne so noch einmal die eigene Vergangenheit berühren. »Was hast du jetzt schon wieder?«, fragte Tooch manchmal, ging auf ihn zu und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Einmal stieg Mack von der Leiter und gab ihm das schwere Ding, das er gefunden hatte. »Das ist ein Vorhängeschloss«, sagte Tooch und zeigte ihm, wie man mit dem Schlüssel, der dazugehörte, den Metallbügel auf schnappen ließ. Als Mack fragte, wofür man so etwas brauche, lächelte Tooch und sagte: »Allmächtiger, was für eine Unschuld. Zum Abschließen. Man kann damit Leute aus- oder einschließen.« »Wie im Gefängnis?« »Genau.« Dann hatte er Mack das Schloss weggenommen und war durch den langen Gang zurück zum Fenster gegangen, wobei er ihm über 112
die Schulter zurief, er solle aufhören zu träumen und endlich das Geld verdienen, das ihm, Tooch, noch zustehe. Ein andermal stieß Mack unter dem Ladentisch auf eine Zigar renkiste. Tooch stand draußen mit Floyd Norris zusammen. Sie schauten zum Himmel und rätselten über das für morgen zu erwartende Wetter. Mack zog das Gummiband von dem Karton. Als er ihn aufklappte und sie in einfachen braunen Papiertütchen daliegen sah, spürte er, wie sich seine Hose spannte. Obwohl er so was noch nie gesehen hatte, ja sich noch nicht einmal vorgestellt hatte, dass es so etwas gab, wusste er gleich, was es war. Er klappte den Karton zu und zog das Gummiband wieder drüber. Seine Wan gen glühten. Als er den Kopf hob, stand Tooch vor dem Ladentisch. Er grinste. »Sieht so aus, als hättest du die Pariser ausgegraben?« »Die was?« »Schon gut.« Mack lernte auch, dass man ein Bonbon aus dem Glas fischen, ein paar Minuten lutschen und es dann trocknen lassen und ganz unten wieder ins Glas stecken konnte. Und er hatte − außer den Geheimnissen, auf die er in den Rega len und unter dem Ladentisch stieß − in sich einen Sinn für Ord nung entdeckt. An einem Regal zu stehen, geduldig und sorgfältig zu zählen, Schachteln einzusortieren oder aufzuspüren, hätte Wil liam vor Langeweile wahnsinnig gemacht. Mack aber befriedigte diese Arbeit zutiefst. Wenn er es genau bedachte, hatte er die Liebe zur akkuraten Form schon immer in sich gehabt, auch wenn er sich dessen nicht bewusst gewesen war. Wie ordentlich er die Zaun pfähle zurechthackte, selbst das kleinste Ästchen häckselte er noch ab. Immer wieder hatte William ihn angeraunzt, warum er so lange brauche. Und wie gerade die Gemüsebeete waren, die er auf Anweisung der Witwe in dem kleinen Garten am Rand des Hofs gepflanzt, gejätet und abgeerntet hatte. Wie er einen Wurm auf dem Angelhaken auffädelte, bis man nichts mehr sah vom Haken, während William den Haken nur drei- oder viermal durch 113
den Wurm stach und dann ins Wasser warf. Wie Mack sich selbst dabei überraschte, dass er plötzlich anfing zu flöten, während er auf dem Waschbrett Hemden schrubbte. Wie akkurat seine Gräber waren. Die Welt drehte sich weiter. Der Frühling kam und ging. Der Hart riegel blühte, warf seine Blüten ab und wurde so grün wie jeder andere Strauch. Tooch brachte Mack nicht um, und als ein Tag nach dem andern verging, entspannte sich der Junge etwas. Manchmal wurde ihm bewusst, dass eine halbe Stunde vergangen war und er nicht einmal daran gedacht hatte, dass er ein Mörder war. Anfang Juni starb Archs Vater, Ed Bedsole. Mit dem Wagen des toten Händlers, der von Archs Pferd gezogen wurde, fuhren Mack und Tooch zur Beerdigung. Die vier dicken, dunkelhaarigen Schwestern von Arch waren von irgendwo außerhalb des Bezirks gekommen. Sie hatten ihre Farmer-Ehemänner mitgebracht und etwa zwei Dutzend Kinder, die alle gleich aussahen. Die Töchter starrten ihren Cousin Tooch zwar mit unverhohlenem Hass an, doch keine sprach ein Wort mit ihm. Die Mitglieder von Hell-at the-Breech erschienen ebenfalls, bewaffnet − allerdings wusste kei ner, dass sie es waren. Auch alle Farmer, die mit ihrem Blut unter schrieben hatten, waren da. Zusammen mit ihren Familien. Die Frauen trugen Kleider, die sie nur zum Kirchgang anzogen, die Männer, was sie auch bei der Feldarbeit anhatten. Nur dass die Sachen Mitte der Woche gewaschen und gebügelt worden und die weißen Hemden bis zum Hals zugeknöpft waren. Die Witwe saß auf einem Stuhl. Als Mack sie sah, winkte er, doch sie schien ihn nicht zu bemerken. Er hatte gehört, dass sie zuletzt bei Ed Bedsole gewohnt und ihn in seinen letzten Tagen gepflegt hatte. Wer wuss te schon, was in ihr vorging. Auf der langsamen Fahrt zurück zum Laden weckte ihn Tooch mit einem Stoß in die Rippen aus seinen Träumereien und gab ihm die Zügel. 114
Keine zwei Wochen später fuhren sie wieder zum Friedhof und begruben Archs Mutter. Die Beerdigung glich der von Ed aufs Haar. Die gleichen Leute, die gleichen Kleider, sogar das gleiche Wetter. Vielleicht waren auch die Worte des Predigers gleich. Aber Mack hatte nicht zugehört. Seit Tooch der Laden gehörte, hatte er nicht viel am Aussehen ver ändert. So hatte er auch das handgeschriebene Schild über dem Ladentisch unverändert gelassen. Arch hatte eine Vorliebe für ge stelzte Ausdrücke gehabt. Auf dem Schild stand: NICHT AUF DEN BODEN EXPEKTORIEREN. Mack konnte sich noch erinnern: In den ersten Stunden, nachdem das Schild hing, hatten alle Leute, die in den Laden kamen, Arch gefragt, was damit gemeint sei. »Was ist womit gemeint?«, habe Arch nachgehakt. »Mit dem Wort da?« »›Boden‹? Du stehst drauf, was soll die Frage? Er besteht aus Kiefernbohlen und wird von einer merkwürdigen Erfindung namens ›Nägel‹ zusammengehalten. Das sind so lange, spitze Din ger, die ...« »Das andere Wort.« »›Nicht‹?« »Nein, verdammt, nicht ›nicht‹. Das lange da.« So ging das den ganzen Nachmittag. Arch rückte nicht mit der Bedeutung heraus, und die Männer rätselten und hatten ihren Spaß. Einer meinte sogar, Arch würde bestimmt einen guten Politiker abgeben. »Pissen?« »Nein, würde ich dir aber auch nicht raten.« »Aufstampfen?« »Hinlegen?« Schließlich hatte einer die richtige Idee. »Spucken.« Und damit hatte die Gemeinde ein neues Zehn-Dollar-Wort, das eine Zeit lang m allen möglichen Zusammenhängen auftauchte. »Expektorier mir bloß nicht auf die Füße.« 115
»Und du expektorier nicht so große Töne.« Wenn Tooch Veränderungen vornahm, dann langsam. Er hatte den Laden schon zwei Monate, bevor er schließlich an einem ruhi gen Frühlingsnachmittag die Trittleiter herausholte und sich das Schild über der Veranda vornahm. Darauf stand in großen ver schnörkelten Buchstaben BEDSOLE’S DRY GOODS. Darunter in kleinerer, einfacherer Schrift EIGENTÜMER ARCHIE BEDSOLE. Tooch übermalte einfach Archs Namen und schrieb QUINCY darüber. Mack harkte den Hof und schaute ihm zu. Er fragte: »Warum haben Sie das nicht schon früher gemacht?« Tooch stieg von der Leiter und trat einen Schritt zurück, um das Schild zu begutachten. »Wenn man irgendwo neu hinkommt, ist es besser, man macht ganz langsam. Dann hat man nämlich schon Wurzeln geschlagen, wenn irgendwer einem dumm kommt. Merk dir das. Nichts schreckt die Leute mehr auf, als wenn was zu schnell geht. Und jetzt kümmer dich wieder um deine Arbeit.« An einem Sonntag etwa einen Monat später harkte er das Kro cketfeld, als eine Eichel aus dem Himmel auf seinen Hut fiel. Mack ließ die Harke fallen und schaute nach oben in den makellos grau blauen Himmel, an dem auf einer Seite die verwaschene Spät nachmittagssonne hing und auf der anderen der pergamentene Mond. Er schaute nach unten auf den Boden und sah zwischen seinen Füßen die Eichel liegen. Um ihn herum, überall, wo er gearbeitet hatte, sah er noch mehr. Er nahm den Hut ab, und von der Krempe rollte eine Eichel, die er auffing. Dann schaute er nach rechts zum Waldrand, der etwa zwanzig Meter entfernt war. Er runzelte die Stirn. Das schaffte kein Wind. Schließlich entdeckte er in dem Flickenteppich aus Sträuchern und Bäumen das Gesicht seines Bruders. Er schaute durch den gegabelten Stamm eines Mimosenbaums in seine Richtung. Mack hob die Harke auf und bewegte sich wie zufällig − er wuss te, dass Tooch ihn vom Laden aus sehen konnte − auf den Wald 116
rand zu und drückte sich mit der Schulter voraus in das dichte Geflecht aus Dornengestrüpp und Ranken. »Verdammt noch mal«, sagte William, »ich schmeiß jetzt schon seit zehn Minuten mit Eicheln. Du warst ja völlig weg. An was, zum Henker, denkst du die ganze Zeit?« »An was wohl?« William wandte den Kopf um und schaute den Abhang hinunter, von wo das Glucksen des Flusses zu hören war. »Wie oft soll ich’s dir noch sagen, Macky? Sprich nie wieder davon.« »Du hast leicht reden. Du musst ja auch nicht rumlaufen und immer dran denken, dass du ihn umgebracht hast und er nie wie der zurückkommt.« William erhob sich von dem Baumstumpf, auf dem er gesessen hatte, und stapfte mit seinem Krug im Arm durch das knöcheltiefe Laub hügelabwärts. »Warte noch.« Als William stehen blieb, hörte auch das papierene Rascheln der Blätter auf. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Wenn du noch ein Mal darüber sprichst, geh ich hier die Böschung runter und drüben wieder hoch und du siehst mich nie wieder. Ich hab dir ein paar Sachen zu erzählen, Sachen, die du wissen musst. Aber wenn du immer noch das gleiche Baby wie vor fünf Monaten bist, dann ver plemper ich erst gar nicht meine Zeit. Ich dachte, dass dir Tooch inzwischen ein bisschen Vernunft beigebracht hat.« Mack ging in die Hocke, die Harke hielt er wie ein Banjo. »Hat er ja auch. Los, komm zurück. Es war das letzte Mal.« »Schwöre.« Er schwor. William kehrte um und hockte sich neben Mack. Sein Bruder sah älter aus, das Haar war länger und hing strähnig an seinem Besicht herunter, auf den Wangen spross roter Flaum. William lächelte, streckte die Hand aus und packte Macks Schulter. Dann drückte er sie fest und schüttelte sie. 117
»Jedenfalls hat er dich noch nicht umgebracht, wie ich sehe.« »Noch nicht.« William hielt den Krug hoch. »Na, wie wär’s mit einem Schluck? Zaubert dir die ersten Härchen an deinen Pimmel. Was ist?« Mack nickte, trank und spuckte sofort wieder aus. Ein feiner Nebel sprühte Williams Gesicht ein. Macks Bruder lachte. »Das muss man lernen. Versuch’s noch mal. Aber langsam. Nur ganz kleine Schlucke am Anfang. Und gleich runterschlucken. Wenn du’s zu lange im Mund behältst, schmeckst du’s und kriegst es nie runter.« Mack folgte seinen Anweisungen und öffnete danach den Mund, um die Zunge zu kühlen. Seine Augen waren feucht. »Na also, geht doch.« William nahm ihm den Krug ab und trank, als machte er das schon sein ganzes Leben so. »Hat geschmeckt wie Scheiße am Anfang, aber wenn man dran glaubt, gewöhnt man sich.« »Da gewöhn ich mich nie dran«, sagte Mack. »Lass mich noch mal.« »Besser nicht. Am Ende torkelst du besoffen in Toochs Laden, und er zieht uns beiden das Fell über die Ohren.« William lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum. Macks Brust und die Mus keln, die hoch bis zum Hals reichten, taten weh, so sehr sehnte er sich danach, alles wäre wieder wie früher. Sie beide würden zum Fischen gehen oder mit der Witwe als Zuschauerin Krocket spielen, und Arch würde noch leben und auf seiner Veranda stehen, um eine von seinen üblichen Reden zu halten. »Hast du mal die Witwe besucht«, fragte William. »Nein, sie will nicht, dass ich komme. Du?« »Ja. Am Sonntagabend geh ich immer zum Essen hin.« »Wie geht’s ihr?« »Gut.« »Hat sie mal von mir geredet?« William schüttelte den Kopf. »Ich glaub, sie will nicht an dich denken. Wie ist Tooch zu dir?« 118
»Ganz okay, schätz ich.« »Schätzt du?« Er zuckte mit den Achseln. »Schlägt er dich?« »Nein.« »Was ist das Schlimmste?« Mack überlegte. »Wenn ich Knöpfe zählen muss.« »Was?« »Er hat eine Schachtel, da sind genau tausend Knöpfe drin. Wenn er irgendwo hingeht, steckt er sich ein paar in die Tasche und ich muss die andern zählen und ihm hinterher sagen, wie viele noch drin sind. Er sagt, das hält mich davon ab, dass ich aus’m Haus geh und Ärger krieg.« »Na dann, auf sein Wohl.« William nahm wieder einen Schluck und lachte. »Manchmal träum ich von ihm«, sagte Mack. »Dass er hinter mir her ist. Mit einer Axt oder einem Prügel Feuerholz. Einmal war es auch eine Schaufel.« »Junge, Junge. Bei dir im Kopf war schon immer mächtig was los. Kann mich noch dran erinnern an deine Träume. Bären, die hinter dir her waren. Dabei hast du in deinem ganzen Leben noch keinen einzigen gottverdammten Bären gesehen. Macht das viele Lesen. Und jetzt? Liest du auch bei ihm?« »Manchmal.« »Das ist das Problem. Du lässt die Worte in dich rein, und schon steckst du mitten drin im Schlamassel. Du musst dich mit andern Sachen beschäftigen.« »Zum Beispiel?« »Arbeit.« Er lächelte. »Huren.« »Hast du sie gesehen?«
Annie. »Gesehen? Macky Boy, ich hab sie gevögelt.« »Hast du nicht.« »O doch. Und nicht nur einmal.« 119
»Ist es so, wie wir drüber geredet haben?« »Willst du’s rauskriegen?« Mack nickte. »Dann schlag dir erst mal diesen Scheiß mit Arch aus dem Kopf. Konzentrier dich auf deine Arbeit. Ich red schon die ganze Zeit auf die andern ein, dass sie dich mitmachen lassen.« Mack sagte: »Ich weiß nicht, ob ich das will.« »Junge, Junge«, sagte William. »Ein Giftpilz hat von Gott mehr Verstand mitbekommen als du. Du machst dir dermaßen viel Sorgen wegen Arch, dass du nicht mehr richtig denken kannst. Wenn’s stürmt, wo bist du dann am sichersten?« »Im Haus?« »Nein, nicht im Haus. Und auch nicht in der Scheune, Macky. Der sicherste Platz ist im Auge des Sturms. Tooch hat ein paar große Sachen vor, und dafür brauchen wir frisches Blut, damit wir das alles schaffen, worüber er dauernd redet.« »Was für Sachen?« »Kann ich dir nicht sagen, mein Junge. Wir haben einen Treue schwur abgelegt. Wir alle. Und wer den bricht, der wird getötet.« Als der August nahte, spürte Mack, dass die Bande tatsächlich etwas Großes vorbereitete. Die Reifezeit bescherte den Baum wollpflanzern einige Wochen der Erholung von der normalen beschwerlichen Arbeit, und so versammelten sich die Männer fast täglich im Laden. Sie saßen nebeneinander auf der Bank oder auf dem Rand der Veranda, erzählten sich Geschichten und lachten, aßen Wild oder Rindfleisch und ließen den Krug herumgehen. Während Mack seinen üblichen Arbeiten nachging, bemerkte er an allen Mitgliedern Veränderungen. Statt der üblichen verschlis senen Latzhosen, an denen man vor lauten Flicken den ursprüng lichen Stoff nicht mehr sehen konnte, trugen sie jetzt Wollhosen, Chambray-Hemden und neue Hüte. Bis auf Lev, der für seine gro ßen Füße nichts Passendes finden konnte, hatten sie sich auch alle neue, glänzende Arbeitsstiefel gekauft. Aber sie waren nicht nur 120
besser gekleidet. Viele hatten sich auch bessere Waffen zugelegt. William schleppte nicht mehr die alte Schrotflinte ihres toten Vaters mit sich herum, seit kurzem hatte er ein neues doppelläufiges Par ker-Gewehr Kaliber zwölf mit Doppelhahn, dessen Metall blau glänzte. Das Gewehr war mit der Post gekommen, eingewickelt in Stroh und Papier, in einer langen Holzkiste. Beim Durchschauen der Brie fe und Pakete war Mack plötzlich Williams Name auf der Kiste aufgefallen. Später am Tag, als er gerade Pferdescheiße aus dem Stall schaufelte, kam William vorbei. »Ist Post für mich gekommen?«, fragte er. »Eine lange Kiste«, sagte Mack, ohne ihn anzusehen. Als er aufschaute, war William schon weg. Mack hörte, wie er die Verandastufen hinaufstapfte und die Ladentür ins Schloss fiel. Später kamen William und Tooch zusammen aus dem Haus und gingen auf die Straße, um das Schrotgewehr auszuprobieren. Tooch erläuterte William die exzellenten Eigenschaften der Waffe und beglückwünschte ihn zu seiner guten Wahl. Mack kniete hinter dem Wagen und beobachtete die beiden durch die Speichen. William klappte den Lauf seines neuen Gewehrs nach unten, schob zwei Patronen, die ihm Tooch aus einer unangebrochenen Schachtel spendiert hatte, in die beiden Läufe und ließ den Verschluss zuschnappen. Das Geräusch war so leise, dass Mack es kaum hörte. William hob das Gewehr an die Schulter. Er zielte lange. Mack schaute in die Schussrichtung und suchte nach dem Ziel. Auf einem Zaun etwa dreißig Meter entfernt saß ein Blauhäher. Als William abdrückte, explodierte der Vogel in einer Wolke aus blauen und weißen Federn, während das Echo des Schusses zwi schen den Eichen verhallte. Mack war gerade mit dem Ausmisten des Pferdestalls fertig, als sich William von hinten an ihn heranschlich und ihm den Gewehr lauf ins Kreuz drückte. »Ergib dich!« Er ließ seinen Bruder das Gewehr in die Hand nehmen und den Lauf öffnen. Die Messing kappen von zwei roten Patronen schoben sich etwa zwei Zenti 121
meter aus dem Verschlussstück. Das Gewehr hatte einen kunstvoll kariert geriffelten Schaft wie ein Pistolengriff und zwei Abzüge. Mack hob es an die Schulter und zielte über den Doppellauf. Als wollte er ihm Anweisungen geben, trat William dicht hinter ihn. »Man hat mich ausgewählt«, flüsterte er. »Wofür?« Mack hatte eine Spottdrossel im Visier, die sich gerade in einer Kiefer niederließ. Er senkte das Gewehr. »Für einen Überfall.« Am nächsten Sonntag war er wieder da und pfiff Richtung Stall, wo Mack gerade das Pferd fütterte. Mack schaute sich nur kurz um und lief dann schnell über das Krocketfeld, wobei er sich im Laufen das Stroh von den Armen wischte. Sie setzten sich in den Schattenstreifen einer hohen Kiefer. William hielt den unvermeid lichen Krug im Arm, sein Kopf hing nach unten. Er nahm einen langen Zug und schaute Mack durch die herabhängenden Haare an. Etwas an seinem Blick war anders. »Ich war dabei«, sagte er. »Wo dabei?« »Bei Joe Anderson.« Mack schaute zum Laden. »Hast du ihn getötet?« »Nein.« Er zupfte an seinem Hosenbein. »Lev hat’s getan.« Er erzählte, wie Lev Joe Anderson erschossen und ihm danach mit dessen eigenem Barlow-Messer die Kehle durchgeschnitten, wie er sich neben die Leiche gesetzt und den Fuß am Knöchel ange stupst habe und wie dann der Fuß umgeknickt sei. Wie er zu ihm gesagt habe: »Was meinst du, wie es wohl ist, wenn man tot ist?« Und: »Wo ich jetzt grade in seine Augen schau, fällt mir was ein. Es heißt doch, dass im Blut, na ja, dass da das Leben drinsteckt? Ich mein, man kann einem Kerl den Arm abhacken, und er lebt trotzdem noch zwanzig Jahre, man muss bloß früh genug das Blut stoppen. Mit’m Bein dasselbe. Hab mal einen gekannt, dem hat ten sie im Krieg direkt überm Knie das Bein abgesäbelt. Ist immer mit so ‘ner Krücke unterm Arm rumgehumpelt. Und hat mir er122
zählt, dass er mal nachts aufgewacht und aus’m Bett gesprungen ist und dabei glatt vergessen hatte, dass er nur noch ein Bein hat. Ist natürlich gleich auf die Schnauze gefallen. Und er hat mir auch gesagt, dass er das Bein, das sie ihm damals abgesägt haben, hätte aufheben sollen. Dann könnte er sich nämlich im Ganzen begraben lassen. Man kann so was in Salz einlegen. Ich glaub, er hat gesagt, dass das Bein in Georgia liegt.« William erzählte, wie Lev die Stiefelspitze des toten Mannes fast zärtlich mit zwei Fingern hin und her geschüttelt habe. So wie man einen schlafenden Freund aufweckt. Und wie er ihm dann, als die Trance von ihm abgefallen war, zugezwinkert und gesagt habe: »Mann, schau dir mal die schönen Stiefel an.« Und wie er ihm schließlich die Stiefel von den Füßen gezerrt habe. Die Jungen saßen auf dem Boden, und das von der Sonne be schienene Blätterdach warf ihnen Schattentupfer auf Arme und Beine. Als ein Kolibri vorbeischwirrte, hoben sie beide den Kopf. Dabei erinnerte sich Mack an etwas, das William ihm mal erzählt hatte. Dass nämlich Kolibris, wenn sie das Nest erst mal verlassen haben, nie mehr landen, sondern ihr ganzes Leben durch die Luft schwirren. Als Mack die Witwe gefragt hatte, ob das wirklich stim me, hatte die nur gelacht und gesagt: »So ein Unsinn. Wie soll das gehen, dass etwas nie aufhört, sich zu bewegen?« »Es musste sein«, sagte William und fuhr mit dem Finger um die Öffnung des Kruges. »Wir haben ihm jede Chance gegeben, bei uns mitzumachen. Er war eben ein sturer alter Schwachkopf.« Mack nickte. Dann schaute er William an. »Ich glaub, ich würde ganz gern mitmachen bei euch. Wenn sie mich fragen.« »Hab’s dir doch immer gesagt.«
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Drecksarbeit
August bis Oktober 1898
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I
Waite saß am Esstisch und ertrug das Schweigen seiner Frau, das ihm mehr sagte als ihr übliches Geplapper. Nebenan schlug die Uhr zwölf, und er horchte darauf, wie sich die Zahnräder und Scheiben aus Metall wieder justierten, ein Geräusch, das ihm inzwischen wie das Geräusch der Zeit selbst vorkam. Wenn er zu Hause war, hörte er die alte Uhr immer. Ob draußen auf der Veranda oder sogar im Schlaf, er hörte die schleifenden Geräusche von Metall auf Metall und das tickende Pendel und empfand Trost in der Tatsache, dass die Dinge so liefen, wie sie laufen sollten. Sue beugte sich vor, löffelte Bohnen auf seinen Teller und goss dünne Soße über den Kartoffelbrei. Er hob die Gabel und ver mischte beides, wobei die Zinken über den Teller kratzten. Die Konsistenz der Soße verwirrte ihn − Sue wusste, dass er sie gern dick mochte. Aber wenn er sie jetzt darauf ansprach, würde sie das nur zum Anlass nehmen, ihm zu erzählen, worüber sie so wütend war. Also sagte er nichts und hoffte, verschwinden zu können, bevor es aus ihr herausplatzte. Dann würde er lange arbeiten und erst nach Hause kommen, wenn sie bereits schlief, und konnte − sofern er es geschickt anstellte − schon wieder aus dem Haus sein, wenn sie am nächsten Morgen aufwachte. Frühstücken konnte er im Hotel, wo sich niemand um wichtigere Dinge als das Wetter scherte. Den Abend zuvor hatte er in Shortys Hütte ausgeharrt in der Hoffnung, sein Freund würde mit einem vollen Krug zurück kommen. Jedes Geräusch von draußen hielt er für das Knacken eines Zweiges im Laub, auf den ein Fuß trat. Eine Stunde vor Tagesanbruch spielten seine Nerven nicht mehr mit, und er ging zu seinem Pferd zurück. King war genau so nervös wie er, wahr scheinlich wegen der wilden Hunde, die sich in der Gegend he rumtrieben. Der Heimritt war lang und ungemütlich, ein schreck 125
haftes Pferd unter einem schreckhaften Reiter. Etwa zwei Stunden vor Mittag kam er nach Hause, wo ein Brief von Johnny-Earl auf ihn wartete. Der war zwar an ihn adressiert, aber Sue hatte ihn schon geöffnet. Waite schleuderte seinen Pistolengurt auf das Roll pult, worauf die Katze davonsprang und ihn von der Rückenlehne des Sofas aus anschaute, als sei er ein Mann, der in einem Wohnzimmer nichts zu suchen habe. Nachdem er gebadet und sich umgezogen hatte, setzte er sich hin, und Sue machte das Essen. Beim Baden war sie stumm um ihn herumgewuselt, hatte immer wieder heißes Wasser gebracht und missbilligend die Stirn gerunzelt über sein nach Rauch und Schweiß riechendes Hemd. Waite las Johnny-Earls Brief und gleich darauf noch mal. Der Junge hatte sich beim Fällen einer Wassereiche den Arm gebrochen und in der Praxis des Arztes, zu dem man ihn brachte, eine nette Krankenschwester kennen gelernt. Waite hatte von seinen drei Töchtern schon fünf Enkelkinder und fand die Aussicht auf noch mehr Enkel seltsam. In Gedanken legte er sich bereits einen Antwortbrief zurecht. Aber es sollte noch etwas dauern, bis ihm der Luxus vergönnt war, den Brief zu schreiben. Er hatte die Arbeit von zwei Tagen zu erledigen, doch nur einen halben Tag Zeit dafür. Ohne ihn anzu schauen, setzte sich Sue ihm gegenüber an den Tisch. Wenn er nur wegkäme, bevor sie anfing. Sie legte die Serviette in den Schoß, faltete die Hände und wartete. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, dass sie auf das Tischgebet wartete. Er räusperte sich, sprach das Gebet, das er seit vierzig Jahren sprach, und segnete das Essen sowie seine Frau und die Kinder und Enkelkinder, alle mit Namen. Waite aß schnell, während sie jede Bohne einzeln aufspießte und in den Mund schob. Er war schon fast fertig und hatte sich bereits, obwohl er noch nicht satt war, gegen einen Nachschlag und auch gegen den Nachtisch entschieden, als sie plötzlich sagte: »Der Rich ter war da.« 126
Waite hatte gerade die Hand nach seinem Teeglas ausgestreckt. Er hielt kurz inne, ehe er das Glas nahm. Sie nannte Oscar immer nur mit seinem Amtstitel, Oscars Frau nannte Waite dafür mit sei nem. Beide Frauen waren stolz auf die Stellung ihrer Ehemänner, und jede ließ es die andere ausgiebig wissen. Möchte der Richter noch ein Stück Kuchen? Passt dem Sheriff die neue Jacke? Jetzt, da er und Sue allein waren, fand er die Angewohnheit eher ärger lich. »Du meinst Oscar?« »Ja, Oscar. Natürlich Oscar.« Waite trank und stellte das Glas ab. »Schätze, ich seh ihn sowieso gleich in der Stadt.« Jetzt kannte er wenigstens ihr Problem. Oscar war vorbeige kommen und hatte offensichtlich erwähnt, dass ihr Mann allein nach Mitcham Beat reite. Über sie an ihn − diesen Weg hatte sein Cousin schon öfter eingeschlagen. Oscar wusste, dass Waite daran dachte, sich zurückzuziehen. Und er wollte, dass er diesen Idioten Ardy Grant zu seinem Deputy machte, damit der nach Waites Rückzug Sheriff würde. Er stand auf und bedankte sich für das Essen. Dann ging er um den Tisch herum, beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. Sie blieb steif sitzen. »Wird spät, du brauchst nicht aufzubleiben«, sagte er und schloss die Küchentür hinter sich. Er schaute im Gericht vorbei und überprüfte die Papiere, die den Verkauf des Ladens von Ed Bedsole an Tooch beurkundeten. Dann ging er zur Kanzlei des Rechtsanwalts, der das Geschäft abgewi ckelt hatte. Sein Name war Harry Drake. Er und Waite hatten ein paarmal bei County-Festen im Hufeisenwerfen eine Mannschaft gebildet und Oscar und dessen Partner geschlagen − ein Umstand, der seinen Cousin zutiefst traf und den Waite ebenso tief genoss. Er bewahrte die Pokale in seinem Büro auf, und wenn Oscar vor beischaute, tat er jedes Mal so, als ob er sie gerade polierte. 127
Laut Drake war der Verkauf von Bedsoles Laden sauber. Ed Bedsole sei zwar zu krank gewesen, um in die Stadt zu kommen, deshalb habe er auch nicht persönlich mit ihm gesprochen, aber er habe die Papiere in Toochs Auftrag aufgesetzt. »Dann hat Ed also völlig legal verkauft?« »Legal ja, aber Verkauf kann man das kaum nennen.« »Was soll das heißen?« Drake klopfte auf das Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Tooch Bedsole bezahlte die Summe von einem Dollar für das gesamte Geschäft, inklusive Gebäude, Inventar und Schulden, die die Leute auf den Anschreibekonten hatten. Ein Pferd war auch noch dabei.« »Einen Dollar?« »Bei Verkäufen innerhalb der Familie ist das nichts Besonderes«, sagte Drake und gab Waite die Urkunde. »Woher weißt du, dass Tooch Ed nicht zur Unterschrift gezwun gen hat? Gab es einen Zeugen?« »Ja, den gab es tatsächlich«, sagte Drake. »Die alte Hebamme.« »Die Witwe Gates?« Waite setzte seine Brille auf, suchte und fand die Unterschrift. Er sah sie zum ersten Mal. »Genau. Sie ist zusammen mit Tooch Bedsole gekommen.« Waite fühlte sich gleichzeitig hintergangen und verletzt. Er frag te sich, warum sie nicht wie sonst bei ihren unregelmäßigen Be suchen in Grove Hill auf einen Plausch bei ihm vorbeigeschaut hatte. Mehr als einmal hatte er ihr angeboten, dass sie bei ihnen übernachten könne, wenn sie in der Stadt sei. Und warum hatte sie ihm gestern nichts davon erzählt? »Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, Harry«, sagte er. Der Anwalt erhob sich hinter seinem Schreibtisch und machte die ausschwingende Armbewegung eines Hufeisenwurfs. »Was ist, bist du bereit?« Waite grinste. »Der Richter sucht immer noch einen neuen Part ner. Am Ende müssen wir womöglich gegeneinander spielen.« 128
Er traf Oscar und ein paar andere Männer auf der Veranda des Ladens. Ardy Grant war auch da. Er erzählte gerade eine von sei nen Reisegeschichten. Grant war ein gut aussehender Bursche An fang dreißig, der ein klein wenig zu stolz auf sein Äußeres war. Er trug Melone und rote Armbinden über den weißen Hemdsärmeln. Und weiße Oxford-Schuhe. Grant kam an keinem Fenster vorbei, ohne den Sitz seines Huts zu überprüfen. Sechs oder sieben Männer saßen auf den Bänken und hörten ihm zu. Einige rauchten Zigarre, andere Pfeife, Grant rauchte Zigarette, und nicht wenige kippten Coca-Cola. Der Laden hatte seit kurzem den ersten Cola-Ausschank der Stadt. Die meisten trugen Pistolen, bei einigen lehnte ein Gewehr am Bein. Eine Entwicklung, wie Waite beobachtet hatte, die mit Joe Andersons Tod angefangen hatte. Außer, dass man darauf warten konnte, wann es den ersten erwischte, war sie zu nichts nutze. Waite ging die Stufen hinauf, lehnte sich mit verschränkten Armen an einen Pfosten und wartete auf eine Gelegenheit, Oscar allein sprechen zu können. Die Männer nickten ihm alle zu, Grant unterbrach sogar für einen Augenblick seine Geschichte und tippte mit dem Finger an seinen Hut. Waite nickte zurück. »Der kam aus China«, erzählte Grant weiter. »Wir sind gerade in Nordkalifornien«, sagte er, um auch Waite an der Geschichte teilhaben zu lassen. »Ist schon ein paar Jahre her. Also, die meisten von diesen gelben Schlitzaugen rasieren sich die Schädel kahl, bloß hinten lassen sie so ‘n klitzekleines Pferdeschwänzchen stehen.« Oscar unterbrach ihn. »Das ist so vorgeschrieben in China«, sagte er. »Wenn sie jemals wieder nach Hause zurückwollen.« »Woher zum Henker weißt du das denn?«, fragte der Banker und Kriegsveteran Claudius Thompson. »Tja, ist eine von den Eigenschaften, die ich nun mal habe«, sagte er. »Nennt man Bildung, schon mal von gehört?« Thompson machte ihm eine lange Nase, und die Männer lach ten. 129
Grant wartete, bis sie fertig waren, und sprach dann weiter: »Also, dieser kleine Bursche aus meiner Geschichte würde jedenfalls nicht so bald nach Hause kommen. Das ist mal sicher. Am Unabhängigkeitstag hatten ich und ein Kumpel in einem Saloon ziemlich geladen, und mein Kumpel hat dem Bürschchen den Rattenschwanz abgeschnippelt. Dieser Chinesenzwerg war Schuhputzer, hieß Chang. Der ist völlig durchgedreht, aber machen konnte er nichts. Weil, Chinesen stehen vielleicht grad mal ‘n bis schen über Niggern und Indianern, deshalb blieb ihm nichts ande res übrig als zu warten, bis ihm das Ding nachwächst.« Er trank einen Schluck Coca-Cola und schnippte Asche von sei ner Zigarette. »Dieser Chang also, der hatte einen zahmen Vogel, eine Krähe, und der hatte er bestimmte Worte auf Chinesisch bei gebracht ...« »Einer Krähe kann man das Sprechen nicht beibringen«, meinte Oscar. »Einer kalifornischen schon. Die heißen Raben da drüben. Viel leicht ist das irgendeine andere Art, was weiß ich. Auf jeden Fall ist der Vogel immer auf den kleinen gelben Schädel von diesem Chang geklettert und hat Flüche geplärrt, die er in der Bar gehört hatte. Er war allerdings auch höllisch schnell, ruckzuck hat er sich verpisst, wenn mal einer der Besoffenen auf ihn schoss.« Waite hörte gleichgültig zu und schaute auf die andere Stra ßenseite zu dem Friseurladen, dessen Außentreppe in die Praxis des Zahnarztes führte. Grant erzählte weiter. Er und sein Kumpel hatten sich ein, zwei Tage ausgenüchtert und dann die Stadt verlassen. Sie kundschaf teten im Auftrag der Louisville & Nashville Railroad neues Land für die Regierung aus und vermaßen es. Eines Nachts fiel aus dem dunklen Herbsthimmel eine Klapperschlange in ihr Lager. Sie land ete neben Ardys Fuß und hätte ihn wohl gebissen, wenn sie von ihm nicht sofort ins Feuer gestoßen worden wäre. Dort ließen sie sie brutzeln und aßen dann einen Großteil des Fleisches. Da sie schon einiges getrunken hatten, kamen sie gar nicht auf die Idee, 130
über die himmlische Herkunft der Schlange nachzudenken. Erst am nächsten Tag sagt Ardys Kumpel: »Was meinst du, die Schlange letzte Nacht, wo kam die eigentlich her?« Ardy hört auf zu kauen und denkt nach. »Vielleicht«, sagt er, »ist sie von einem Baum run tergefallen. Oder irgend so ein Scheißkerl wollte uns erschrecken.« Es blieb ihnen zwar ein Rätsel, aber da sie in ihrem Leben schon merkwürdigere Dinge erlebt hatten, zogen sie weiter Richtung Oregon. In der folgenden Nacht fiel ihnen wieder eine Schlange vor die Füße, diesmal eine fette schwarze Mokassinschlange. Dabei hatten sie ihr Lager weit entfernt von jedem Baum aufgeschlagen. Sie schossen das fuchsteufelswilde Viech in Stücke. Um sich wieder zu beruhigen, machten sie eine Flasche Bourbon auf. Bald dachten sie nicht mehr an die Schlange, erzählten sich Geschichten und wurden immer betrunkener. Dann, zack, bumm, fällt die nächste Schlange vom Himmel. Fällt direkt auf den Hut von Ardys Kumpel, bleibt auf der Krempe liegen und rasselt mit dem Schwanz. Die beiden sind vorsichtig und tun nichts, was die Schlange reizen könnte. Jedes Mal, wenn Ardys Kumpel sich bewegt, zischt die Schlange. Ardy hebt vorsichtig den Kopf, schaut auf den Hut und sieht eine große lange Waldklapperschlange. Nichts zu machen, sie können nur warten. Schließlich, ein paar Stunden später, kriegt Ardys Kumpel einen Rappel und sagt, dass jetzt endlich Schluss sein muss. Er zieht sei nen sechsschüssigen Revolver und zielt auf den Hut. Er flennt, die Hand zittert ihm, und weil er sowieso ein schlechter Schütze ist, schießt er sich in die Stirn. Ardy sitzt da und ist wie gelähmt. Sein Kumpel kippt nach vorn, und die Schlange gleitet von der Hutkrempe und schlängelt sich davon. Dann hörte er fremdartige Worte, die aus dem Himmel kamen, Worte, die er nicht verstand. Erst dachte er, dass da irgendein böser Geist vor sich hin brabbelte, bis ihm aufging, dass das Chinesisch war, was er hörte, und dass dieser verdammte Vogel von dem Schlitzauge da oben in der Dunkelheit hin und her flitzte. Ardy 131
fängt an rumzuhüpfen, kreischt und will erklären, dass es der ande re war, der Tote da, der Chang seinen kleinen Zopf abgeschnitten hat. Dann fällt er auf die Knie und bettelt eine volle Stunde den Himmel um Verzeihung an. Zwischendrin segelt immer wieder was auf ihn runter: ein Ochsenfrosch, eine fette Ratte, vier oder fünf Maulwürfe, eine Gopherschildkröte und eine Tarantel. Bei Tagesanbruch, als er sich schon heiser geschrien hat und vom ewigen Wegducken vor fliegenden Tieren halb durchgedreht ist, fällt wieder was aus dem Himmel. Es sieht aus wie ein Schlange. Ardy sieht, dass das Ding genau in seine Richtung saust. Genau auf den Kopf zu. Und er schließt einfach die Augen, breitet die Arme aus und brüllt: »O allmächtiger Gott, nimm mich!« »Das Ding ist mir direkt auf den Nasenrücken geklatscht«, sagte Grant und tippte an seine Nase. »Und da hat’s dann geklebt. Meine Augen sind zu, ich wart drauf, dass mir die Giftzähne ins Fleisch schlagen, und halt den Atem an, aber nichts passiert. Die Schlange hängt einfach da. War winzig klein, hab gedacht, es ist eine Korallenschlange. Dann hab ich doch den Nerv gehabt und ein Auge aufgemacht. Und das, was ich seh, sieht überhaupt nicht wie ‘ne Schlange aus. Sondern irgendwie fusselig. Und dann hab ich das andre Auge aufgemacht ...« »Und da hast du den Scheißzopf gesehen«, sagte Oscar. Einige Männer fingen an zu lachen. »Wahre Geschichte«, sagte Grant. Da jeder die Geschichte als Schwindel bezeichnete, sprang Grant von seinem Stuhl auf, bat Waite, ihn mal kurz durchzulassen, und ging schnell die Stufen hinunter zu seiner ansehnlichen Stute. Er zog etwas aus der Satteltasche und kam zurück. Alle sahen, dass er eine kleine, graue, spröde Haarlocke zwischen den Fingern hielt. Er warf sie Oscar hin. »Pferdehaar«, erklärte der Richter und hielt sich die Locke unter die Nase. Dann wanderte sie von Hand zu Hand. Während debat tiert wurde, ob sie echt sei, fing Waite Oscars Blick auf und machte eine Kopfbewegung zur anderen Straßenseite hin. 132
»Das ist vielleicht einer«, sagte Oscar und kicherte vor sich hin, während sie zu seinem Büro gingen. Er hatte wie neulich seine Winchester bei sich. »Wohl wahr«, sagte Waite. Sie umkurvten einen Haufen Pferdescheiße. Waite schaute zu dem Mietstall, wo der Junge arbeitete, der dafür verantwortlich war, dass solcher Dreck nicht auf der Straße herumlag. »Hast du noch mal drüber nachgedacht, ob du ihm den Job gibst?«, fragte Oscar, als sie in eine andere Straße einbogen. »Eigentlich nicht. Hatte zu viel um die Ohren.« »Genau deshalb brauchst du ihn ja.« Sie gingen in östlicher Richtung durch die Court Street, vorbei an der Viehtränke, und erreichten das Gerichtsgebäude. Das kleine weiße Haus hatte grüne Fensterläden, eine überdachte Veranda und war von einem Zaun umgeben, der die Schweine fern halten sollte. Auf dem Grundstück unter einem großen Zürgelbaum stand King, der den Kopf durch die Zaunlatten nach draußen streckte und so viel Gras fraß, wie er erwischen konnte. Ein Teil des Gebäudes hatte vor ein paar Jahren gebrannt, stellenweise war das Holz noch schwarz. Sie stiegen die Stufen des Zaunübertritts hinauf und dann auf der anderen Seite wieder hinunter, durch querten den Vorgarten und gingen schließlich die Verandastufen hoch. Oscar hielt Waite die Tür auf und folgte ihm dann ins Haus. Das Büro des Bezirksrichters, der sich gerade im fünfzehn Meilen südlich gelegenen Jackson aufhielt, war verschlossen. Der Rechts referent des Verwaltungsbezirks, ein Mann Anfang dreißig mit eulenhaftem Gesicht und hochgeschobener Brille, saß hinter sei nem Schreibtisch. Er blickte mit gerunzelter Stirn auf ein Schrift stück und wollte Oscars Meinung dazu wissen. »Später«, sagte der Richter. Sie gingen in sein Büro, und Oscar schloss die Tür. Er lehnte sein Gewehr an den Kleiderständer, bedeutete Waite, sich zu setzen, ging hinter den Schreibtisch und ließ sich in seinem reich verzierten Bürosessel nieder. Der Sessel war mit dem Schiff von Paris nach Mobile und von da mit dem Flussdampfer weiter 133
nach Grove Hill transportiert worden. In die Unterseite der Sitz fläche hatte der französische Schreiner seinen Namen und das Herstellungsdatum eingeschnitzt. Wenn man wusste, wohin man schauen musste, konnte man Oscar dabei ertappen, wie er mit der linken Hand über das Holz neben seinem Oberschenkel strich und die Finger über den Namen des Handwerkers fuhren, als läse er Blindenschrift. Für sein Büro gönnte sich Oscar die feinsten Ein richtungsgegenstände. Das Haus war die Domäne seiner Frau, die ses Büro war seine. Er warf einen Blick auf die Standuhr aus Kirsch holz an der gegenüberliegenden Wand und faltete die rosafarbenen Hände. Dann schlug er die Beine übereinander. Hinter ihm stand ein Regal mit großen ledergebundenen Bänden der Rechtsliteratur. Die goldene Schrift auf den Buchrücken konnte Waite ohne Brille nicht lesen. »Eins vorweg«, sagte Waite. »Ich möchte nicht, dass du Sue Alma irgendwelche Sachen einredest. Deine Einmischung bewirkt nur, dass sich die Dinge verzögern und bei uns zu Hause furchtbare Stille herrscht.« Oscar kippte die Stuhllehne nach hinten. »Du bist mein Cousin, ich mache mir nur Sorgen um dich, das ist alles. Wenn sie dich auf einem deiner Ausflüge da draußen umbringen, erfahren wir das vielleicht erst eine Woche später. Wenn wir dann jemanden rüber schicken, haben sie dich wahrscheinlich schon in irgendeiner gott verlassenen Kuhle eingebuddelt, und ich hab dann den Ärger, wo ich einen neuen Sheriff herbekomme.« »Das willst du doch sowieso, oder? Deinen Liebling Grant auf meinen Stuhl setzen, damit er seine Geschichtchen erzählen kann.« Oscar lächelte. »Möglich. War sicher ganz angenehm, einen zu haben, den ich ein bisschen rumschubsen kann.« »Außerdem«, sagte Waite, »wenn ich schon dabei bin, dir auf die Zehen zu steigen. Ich wünschte, du würdest deine Winchester zu Hause lassen. Gibt kein gutes Beispiel. Man könnte glauben, die Yankees stehen vor der Stadt. Jeder schleppt neuerdings seine Scheißknarre mit sich rum.« 134
»Die hab ich nur zu meinem Schutz dabei, Billy. Genau wie die andern.« »Irgendwer legt dich mal um. Das ist alles, was du davon hast.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich. »Erstens: Du triffst sowieso nichts, du hast noch nie was getroffen. Zweitens: Man geht nicht mit seinem Gewehr irgendwo rein und stellt’s dann auf der andern Seite des Zimmers ab, wo man nicht sitzt. Wenn einer deiner Landsleute hier ballernd reinstürmt, solltest du das Ding wenigstens griffbereit haben.« »Punkt für dich.« Oscar stand auf, holte das Gewehr und stellte es neben seinen Stuhl. »Zufrieden?« Dann setzte er sich wieder. »Ja. Jetzt schlaf ich sicher besser.« »Also, bist du fertig mit deiner Strafpredigt? Dann erzähl mir, was du da draußen in der Wildnis ausgegraben hast.« Waite berichtete, was er in Mitcham Beat herausgefunden hatte − so gut wie nichts −, und schloss mit seinem Besuch in Drakes Kanzlei und der Tatsache, dass die Witwe den Verkauf des Ladens bezeugt habe. »Gaunerbande«, sagte Oscar. »Hört sich ganz so an, als ob die alle schuldig wären, sogar die alte Gates. Schon dass sie alle den Mund halten, ist Behinderung der Justiz.« »Wenn ich dir den ganzen Bezirk anschleppen soll, brauchst du ein größeres Gefängnis.« »Dieser Tooch«, sagte Oscar, »was hältst du von dem?« »Der steckt bis zum Hals drin. Sicher.« »Warum fängst du nicht mit dem an? Sperr ihn ein.« »Ich hab nicht genug in der Hand, Osk. Der ist schlau. Hat alles sauber und legal abgewickelt. Aber ich glaube, die Witwe, die weiß viel mehr, als sie sagt.« »Wieso? Ihr beide seid doch immer gut miteinander ausge kommen. Warum erzählt sie dir nichts?« »Tja, schätze, wenn’s drauf ankommt, sind ihr ihre Freunde da draußen wichtiger als ich. Ich vermute aber, dass Tooch sie irgend wie unter Druck setzt. Dieser Junge, der da wie ein Sklave für ihn 135
arbeiten muss, hat höllische Angst vor ihm. Und die alte Lady, na ja, ich glaube, die wird langsam ein bisschen wirr.« Oscar stand auf, ging um den Schreibtisch herum und schaute aus dem Fenster. »Weißt du, womit du schon immer deine Schwie rigkeiten hattest, Billy? Du bist einfach zu langsam. Du denkst zu viel. Manchmal muss man eben erst zuschlagen.« Er klatschte in die Hände. Ein lauter Knall in dem heißen, stillen Zimmer. »Ich besorg dir alle Papiere, die du brauchst, dann kannst du diesen Bedsole herschaffen und so lange festhalten, wie du willst. Wenn er von der Bildfläche verschwindet, vielleicht reden dann die Alte und der Junge.« Waite stand ebenfalls auf. »Oscar, ich hab dir schon mal gesagt, dass ...« »Dass ich dir nicht sagen soll, wie du deine Arbeit zu machen hast? Ich weiß. Aber es dauert nicht mehr lange, dann wird wieder jemand getötet. Diese Burschen glauben vielleicht, dass sie alles sauber im Sack haben, Billy, dass sie über dem Gesetz stehen. Aber da irren sie sich. Wenn sie auf die Art spielen wollen, dann spielen wir eben mit. Ich sag so was nicht oft, und außer dir würde ich es sowieso niemandem sagen, aber jetzt könnte der Zeitpunkt sein, wo man das Gesetz vielleicht mal ein klein bisschen umgehen sollte.«
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II
Auf einem Teil des polierten Verkaufstischs, der die gesamte Länge von Bedsoles Laden einnahm, lag eine Reihe reifer Äpfel. Die Morgensonne schien durch die beiden hohen verglasten Fenster, deren Läden schon geöffnet waren. Die Bodendielen leuchteten, die Schatten der Ritzen dazwischen traten deutlich hervor, die makellose Reihe Nagelköpfe glitzerte. Als Mack sich über die Apfelkiste beugte, sog er das Aroma ein, das ihn stets angenehm benebelte. Er nahm die letzte Frucht heraus und legte sie auf den Tisch ans Ende der Reihe. Wie üblich waren die, die ganz unten gelegen hatten, inzwischen mehlig und an einer Seite abgeflacht, so wie die weiche Stelle auf dem Kopf eines Babys. Diese Äpfel legte er in eine eigene gerade Reihe. Dann ging er am Ladentisch entlang die Reihe zurück, hob jeden ein zelnen Apfel hoch, drehte ihn und suchte nach Einschnitten, Druckstellen und Wurmlöchern. Das halbe Dutzend, das die Un tersuchung nicht bestand, klaubte er zusammen und trug sie zu der Holzkiste, die neben dem Hintereingang stand. Vorsichtig legte er die Äpfel hinein, damit sie nicht noch weiteren Schaden nah men. Hier hinten standen auch noch andere »Niggerkisten« − für trockenes Brot, eingedrückte Käselaiber, die mehr Schimmel als Käse waren, und Mehlsäcke, in die sich schon die Küchenschaben hineingewühlt hatten. Da jedoch seit Monaten kein Schwarzer mehr im Laden gewesen war, hatte nur einer aus den Kisten ge gessen, Mack selbst. Er krempelte die Ärmel hoch, blieb kurz vor der Wassertonne stehen, die er jeden Morgen auffüllte, nahm den Deckel herunter, tauchte den Schöpfer ein, trank und kippte sich den Rest hin ten ins Hemd. Dann hängte er den Schöpfer wieder an den Nagel, ging zum Laden zurück und duckte sich durch die niedrige 137
Tür in den kleinen Lagerraum, wo sein Bett stand. Laken und Decke waren in die Ecken gestopft. Er nahm ein Kännchen mit Lederol vom Regal. In einem Ständer an der Wand gegenüber dem Bett standen ein Dutzend Schrotflinten und Büchsen, darunter lagen auf einem schmalen Bord Schachteln mit Patronen und Kugeln und eine mit Wachstuch zugedeckte Schublade voller Pis tolen. Er schloss die Tür und wandte sich dem Sattelzeug zu, das an mehreren Wandhaken hing. Mit dem Fuß zog er einen niedrigen Melkschemel heran, setzte sich und schlug die Beine an den Knö cheln übereinander. Eine Stunde verging, die untergehende Sonne begann den Fensterrahmen auszufüllen und die Bodendielen bis zur Hintertür zu beleuchten. Tooch machte die Fensterläden immer zu, aber Mack mochte es, wenn ihm das Licht die zahllosen winzigen Teilchen offenbarte, die in der Luft herumflogen wie im Wasser aufwirbelnde Ablagerungen. Man hustete und sah, wie der Luftschwall alles verquirlte. Man wischte sich Blütenstaub von der Jackenschulter und sah, wie er in der Luft schwebte. Er hatte das gesamte Zaumzeug und fast alle Geschirre fertig eingefettet, als er das Bimmeln der Kuhglocke über der Ladentür hörte. Er schaute nach vorn und sah die Witwe Gates. Ihr dünnes graues Haar steckte unter einer Haube. Mack war verblüfft, sie hatte den Laden seit einem Jahr nicht mehr betreten. Unter dem langen grauen Rock und den Männerhosen schauten die Männerstiefel hervor, die sie von einem Farmer mit kleinen Füßen als Bezahlung für ihre Hebammendienste bekommen hatte. Die Leute bezahlten sie mit allem Möglichen, mit Arbeiten an ihrem Haus und abgezogenen Hasen, mit frischen Eiern und Milch. Das Einzige, was sie nicht bekam, war Geld. Ihr war es recht so. »Hallo, Granny«, sagte Mack und stellte das Ölkännchen neben einem Zaumzügel auf den Boden. Dann zog er einen Lappen aus der Gesäßtasche, wischte sich die Finger ab und stand auf. 138
»Sein Wagen steht nicht draußen«, sagte sie. »Er ist bei Lev.« »Besorgt sich Whiskey, was?« Mack schaute zur Seite. »Nein, Ma’am. Er bringt Dünger vorbei.« »Macky Burke«, sagte sie und humpelte am Stock auf ihn zu. »Wenn du lügst, um eine Frau nicht mit Dingen zu belasten, die ein anderer Mann tut, dann dauert’s nicht mehr lang, und du bist selbst ein Mann.« »Ja, Ma’am«, sagte er. »Danke.« »Das war kein Kompliment.« Sie stupste ihm mit dem Stockende gegen den Ellbogen und schaute ihn sich genau an. In den Monaten bei Tooch war er ge wachsen, er war jetzt über eins achtzig, ohne Schuhe. Nachts taten ihm die Knochen weh. Das bedeute, so Tooch, dass er immer noch wachse. Er hatte lange schlaksige Arme, einen riesigen Adamsapfel, und rötlicher Flaum lag auf den Wangenknochen. Ihr sehnsüchtiger Blick war ihm unangenehm. Er schaute durchs Fenster zu den hohen Baumwollpflanzen. Die Samenkapseln waren schon lange aus der grünen Schale geplatzt. Ein Schwarm Stare flog durch das Rot der niedrig stehenden Sonne, machte kehrt und ließ sich am anderen Ende des Feldes auf einer Lebens eiche nieder. »Mein Gott«, sagte sie und piekste ihm mit dem Stock zwischen die Rippen. »Er gibt dir nicht genug zu essen. Jetzt, wo du so wächst. Stimmt’s?« »Ich glaube, er denkt, dass ich nur wachse, um ihm eins aus zuwischen.« »Wenigstens gibt er dir was Anständiges zum Anziehen.« Mit zwei Fingern befühlte sie den Hemdärmel. Dann ließ sie den Stoff wieder los und öffnete ihren Proviantbeutel. »Ich hab dir was mit gebracht.« Sie holte vier hart gekochte, schon geschälte, in Wachspapier eingewickelte Eier hervor. So schnell sie sie auspackte, so schnell 139
schlang Mack sie hinunter. Er nahm sich erst gar nicht die Zeit zum Kauen. »Langsam. Willst du kein Salz?« Er schluckte. »Tooch kontrolliert alles.« Nach den Eiern holte sie noch sechs Buttermilchbrötchen, dick beschmiert mit selbst gemachter Muskatellermarmelade, und da nach einen Brombeerkuchen für ihn hervor. Als er fertig war − sie saßen inzwischen in den Schaukelstühlen am Fenster −, raffte sie den Saum ihres Rocks zusammen und wischte ihm damit Wangen und Mund ab. Die ganze Zeit hatte sie ihn nicht aus den Augen gelassen. »Hast du deinen Bruder gesehen?« Er rülpste. »Gestern war er da.« »Wie sieht er aus? Er ist schon fast einen Monat nicht mehr zu Hause gewesen. Lebt in der Scheune von dem Kerl, wie eine Ziege.« »Sieht aus wie immer. Hat sich ein neues Gewehr gekauft.« Sie wandte sich zum Fenster. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Fast sein ganzes Leben hatte er mit ihr zusammengewohnt, drei Meilen von hier. Seine Welt waren der winzige Hof gewesen, die Senken und Hügelkämme der Gegend, der träge Fluss in dem schmalen Tal hinter dem Haus. Er hatte zwar auch ein paar andere Orte gesehen, Coffeeville ein hal bes Dutzend Mal, Grove Hill ein Mal, aber eigentlich kannte er nur den Hof, die Wälder drumrum und die Häuser, in denen er mit ihr gewesen war, wenn man sie als Hebamme brauchte. Und den Laden samt Krocketfeld. Er erinnerte sich gern an die Zeit. In jenen Tagen spielten zuerst die Kinder, dann die jungen Burschen und zuletzt die erwachsenen Männer, die in Teams von je zwei Mann gegeneinander antraten. Oft dauerte ein Spiel drei Stunden. Jeder Schlag erforderte eine Diskussion über die Strategie, die von den beiden Männern flüs ternd hinter vorgehaltener Hand geführt wurde, als ginge es um Leben und Tod. Die Tage hatten gewöhnlich damit geendet, daß 140
Arch seinen Kirchenanzug anzog, unter vereinzeltem Klatschen die Veranda hinaufstieg und eine Rede hielt. Mack sah die Menge noch vor sich, sitzend oder stehend vor der Veranda, und Arch da oben, wie er sich mit dem Taschentuch über den Nacken fuhr, und, als sei der Boden unter ihm heiß, von einem Fuß auf den andern trat. Die Pachtbauern hörten zu, nippten an dem von Arch spendierten Whiskey, und die Frauen strickten oder kümmerten sich um ihre Babys. Mack und William waren mit ein paar anderen Jungen schon wieder zurück aufs Krocketfeld gelaufen und spielten eine von ihnen selbst erfundene Version, die darin bestand, die Bälle so weit wie möglich wegzudreschen − und zwar über den Spielfeld rand hinaus, manchmal bis unter den Laden, andere Male über die Straße hinein in die Baumwolle oder den Wald oder die Böschung hinunter bis zum Fluss. Und schließlich der lange Fußweg nach Hause, müde, satt, er an der einen und William an der anderen Hand der leise singenden Witwe, deren Zufriedenheit er wie ein Summen auf seiner Haut spürte. Damals und auch jetzt noch hatte er keine richtige Vorstellung davon, wie es anderswo aussah. Er hatte nie ein Gebirge oder das Meer gesehen. Für die Witwe waren Berge etwas, das ihr den Him mel verstellte, sonst nichts. Ihm und William gegenüber hatte sie einmal beiläufig erwähnt, dass sie die Smoky Mountains mit der Zeit einfach nicht mehr zur Kenntnis genommen habe. Über das Meer, das sie nur ein einziges Mal gesehen hatte − als Kind nach einer langen Bahnfahrt −, hatte sie dagegen anders gesprochen, da hatte sie vom weiten, gewölbten Horizont des Wassers geredet, von der Unendlichkeit der Strände: und das sechzig Jahre, nachdem sie es gesehen hatte, auf der Veranda vor sich hin schaukelnd, in der Schürze einen Berg geschälter Wachsbohnen. Mack und William hockten vor der untersten Verandastufe und spielten im Sand mit dem Klappmesser ihres toten Vaters Messerwerfen. Erste fiepende Fledermäuse vor den letzten Fetzen Rot am Himmel, blinkende Glühwürmchen an der Schwelle zur Dämmerung. In jenen war men, stillen Nächten legte sich eine Unruhe über die kleine Ve 141
randa, etwas, das Mack in seinen Nerven spürte, und von dem er glaubte, dass es die alte Frau auch spüre, denn nachdem sie ihnen geschildert hatte, wie einem die endlosen schaumigen Wellen des Golfs von Mexiko die Füße umspülten und alle möglichen fremd artigen Dinge auf den Strand warfen − pulsierende Quallen, durch scheinende steifbeinige Krabben und winzige weiße Muschel schalen, die binnen Sekunden im nassen, wie Glas reflektierenden Sand versanken −, verfiel sie in ein bedeutungsvolles, traurig sehn süchtiges Schweigen, in eine Stimmung, die ein Kind fasziniert erkennt als das erste, wie ein Sog wirkende, zaghafte Zupfen des eigenen älteren Selbst. Die Witwe schaute ihn an. Die Sonne leuchtete durch das Fens ter auf ihr Gesicht. Die Haut schien fast zu glühen. »Ich erinnere mich noch an die Nacht damals, als sie euch gebracht haben«, sagte sie. »William war noch ein kleiner Knirps und du ...« Sie berührte seine Wange. »Du warst nicht größer als ein Kätzchen. Halb tot, konntest kaum deine kleinen Beine bewegen. Fast hätt ich dich gar nicht gefunden in der feinen Decke.« Eine Geschichte, die er im Lauf der Jahre oft gehört hatte. Ihr Vater war im Feuer umgekommen, ihre Mutter hatte sie beide trotz schwerer Verbrennungen aus dem Haus geschafft. Der Rauch alarmierte einen Nachbarn, der die Jungen später zur Witwe brachte. Nach zweihundert Babys, die sie auf die Welt gebracht habe, erzählte sie jedes Mal, sei sie dem Weinen nahe gewesen, als sie auf einmal doch noch zwei eigene Kinder bekam. Die Freude verflog allerdings schnell, als sie sah, wie nah Mack dem Tod war. Wie eine Wahnsinnige rannte sie mit ihm zu einem benachbarten Farmer, der eine Milchkuh hatte. Dort schaute der weißhaarige Neger auf den Jungen hinunter und sagte: »Der schafft’s nicht mal durch die Nacht.« »Aber du hast es geschafft.« Das war immer der Schluss der Geschichte. »Dem Herrn sei Dank.« 142
Sie saßen noch eine Zeit lang zusammen. »Schätze, ich nehm ein paar Sachen mit«, sagte sie. »Damit meine alten Knochen den langen Weg nicht umsonst gemacht haben.« »Ja, Ma’am.« Er stand auf. Sie hielt ihm die Hand hin, und einen Augenblick wusste er nicht, was sie wollte. Dann faßte er sie an den Fingern und half ihr sanft auf. Es war kaum schwerer, als wenn man einen Mantel vom Stuhl nahm. Dann tappte sie mit Mack im Schlepptau durch die Gänge, nahm Dinge aus den Regalen und legte sie, ohne sich umzuschauen, in Macks ausgestreckte lange Arme. Einen Beutel Kaffee, ein Pfund Zucker, eine Schachtel Streichhölzer. Ein Gefühl von Bitterkeit und Wehmut überkam ihn, und er fragte sich, ob es ihr auch so ging. Wie sie sich intensiv auf jeden Artikel kon zentrierte, wie sie jede Packung inspizierte, als suche sie nach dem Schlüssel zu einem Rätsel, wie sie die hauchdünne Tränenschicht wegzublinzeln versuchte, begriff er: Ja, auch ihr ging es so. Sie reichte ihm zwei Pfund Mehl, eine Packung Salz, vier Dosen Schnupftabak, einen Zwei-Liter-Krug Melasse. Er fragte sich, wo sie im letzten Jahr eingekauft hatte. Ob sie sich auf den weiten Weg bis nach Coffeeville gemacht hatte? Und wie war sie dorthin gekommen? Hatte sie sich hinfahren lassen, oder hatte jemand anders für sie eingekauft? Er hätte sie einfach fragen können, das wusste er, aber es schien ihm nicht der passende Augenblick. Warum, wusste er auch nicht genau. Erst als er die Sachen einpackte und stumm die Preise zusammen zählte, ging ihm auf, dass sie bezahlen musste − bei Tooch gab es keinen Kredit. Während sie auf seine flinken Hände schaute, die die Schnur um das braune Papier wickelten, dachte er, dass sie im Kopf gerade selbst zusammenzähle, so wie sie es gemacht hatte, als hin ter dem Ladentisch noch Arch und neben ihr auf der anderen Seite Mack und William standen und an den Pfefferminzlutschern leck ten, die sie immer von ihm bekamen. Bei Arch hatte sie nie bezahlen müssen. Er spürte wieder die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens, das er begangen hatte. Indem er Arch Bedsole tötete, das wurde ihm 143
jetzt wieder klar, hatte er etwas vom Leben aller Menschen getö tet, mit denen Arch je zu tun gehabt hatte. »Macky?« Seine Hände rührten sich nicht. »Ja, Ma’am?« »Lass eine von den Schnupftabakdosen draußen. Für den Heim weg.« Er wusste nicht, was er sagen sollte. Außer: »Das macht einen Dollar achtzehn, Granny.« Sie hob den Kopf und schaute ihn über die in braunes Papier verpackten, mit grober Schnur umwickelten Päckchen hinweg eine Ewigkeit an. Im Verpacken war er inzwischen Meister. Salz zu Mehl, Kaffee zu Zucker. Akkurat gefaltetes Papier. Die Schnur so fest, dass kein Körnchen verloren ging. Sie sagte nichts, drehte sich nur um und ging zwischen den Rega len hindurch zur Tür. Die Sachen hatte sie vor ihm stehen lassen. »Granny«, sagte er. Ohne ihn anzuschauen, öffnete die Witwe die Tür und ging, begleitet vom schrillen Bimmeln der Glocke, über die Veranda. Vorsichtig stieg sie die Stufen hinunter und humpelte am Stock auf die matschige Straße zu. Mack raffte die Lebensmittel zusammen, rannte mit vollen Ar men Richtung Tür, ließ ein Päckchen fallen, hastete zurück, riss aus einer Holzkiste einen leeren, als Kapuze gedachten Mehlsack, stopfte die Sachen hinein und stürzte endlich zur Tür hinaus. Das Bimmeln der Glocke folgte ihm über die Baumwolle. Die alte Frau drehte sich um und hob den Stock, als wolle sie ihn abwehren. Ohne ihr in die Augen zu schauen, ohne zu wissen, was in ihrem Blick lag oder nicht, drückte er ihr den Sack in die Arme. Vom Haus aus beobachtete er, wie sie den Mehlsack durch den Dreck schleifte. Die Stirn ans Fenster gepresst, die Scheibe von Atem beschlagen, bis die Baumwolle sie verschluckte. Eine halbe Stunde später hörte er Toochs Wagen. Mack schaute aus dem Fenster und sah, wie er vom Bock sprang. 144
»Na, Junge«, rief Tooch, als er die Tür öffnete und die Glocke bimmelte. »Wie laufen die Geschäfte?« Mack saß über der Knopfschachtel. »Flau«, antwortete er, ohne den Kopf zu heben. »Keiner da gewesen?« »Nur Granny.« Tooch zog die Handschuhe aus und legte sie unter den Laden tisch. »Was hat sie gekauft?« »Paar Lebensmittel. Nicht viel.« Er zog die Geldschachtel unter dem Tisch vor und öffnete sie. »Wir hängen einfach eine Woche hinten dran«, sagte Tooch. »Ist ja wohl klar, oder?« Die Bodendielen knarrten unter den Stiefeln, als er zum Post schalter ans andere Ende des Ladentischs ging. Er verschwand hin ter der Trennwand und lugte durch einen der Briefschlitze zu Mack. Der Junge nahm eine Hand voll Knöpfe aus der Schachtel. »Geh nach draußen und lad den Wagen ab«, sagte Tooch. »Ich zahl dich nicht fürs Knöpfezählen.« Du zahlst mir überhaupt nichts, dachte Mack. »Das hab ich gehört«, bemerkte Tooch. Den Whiskey lagerten sie hinten im Laden in einem tiefen recht eckigen Loch, das mit mehreren herausnehmbaren Bodendielen abgedeckt war. Tooch hatte die Idee für das Versteck gehabt, Mack hatte es gegraben. Jetzt stemmte Mack die Dielen an den Enden mit einem Messer hoch und lehnte sie vorsichtig an die Wand. Dann zog er die Plane zurück, zündete ein Streichholz an und schaute hinunter in die Dunkelheit. Oft fiel eine Ratte, ein Opos sum oder irgendein anderes Tier, das unter das Haus gekrochen war, in das etwa grabgroße Loch und kam nicht mehr heraus. Dies mal war außer einem Spinnennetz in einer Ecke nichts zu sehen. Schwarze Witwe. Er hüpfte ins Loch, zündete ein weiteres Streich holz an und verschrumpelte die Spinne zur Rosine. Dann kletter te er wieder nach oben und klopfte sich den Staub ab. Sechsmal 145
ging er nach draußen und kam jeweils mit vier Krügen zurück. Als die vierundzwanzig Krüge verstaut und Plane und Holzdielen wie der an ihrem Platz waren, hatte Tooch schon einiges von dem Krug, den er oben behalten hatte, intus. Die Stunde der Abenddämmerung, die die Witwe immer Kerzen stunde nannte, war für Mack die schlimmste des Tages. Tagsüber hatte er jede Menge Arbeit und Aufgaben, er hechelte durch die Gänge, hatte immer irgendwelche Waren in der Hand und unter hielt sich mit jedem, der vorbeischaute. Kinder jagten zwischen den Regalen herum, und meistens saßen drei oder vier Männer auf der Veranda und erzählten sich irgendwelche Lügengeschichten. Doch um fünf klemmte sich Tooch die Kassenbücher unter den Arm und stieg die Leiter hinauf zu seiner Dachkammer, Mack blieb allein unten und ging auf die Veranda. Heute Abend sah es so aus, als hätte die Sonne, die hinter den Bäumen am Ende des Feldes untergegangen war, das Land dort in Brand gesteckt. In den Bodensenken flackerte das Licht. Mack saß auf dem Rand der Veranda und schaute in die hereinbrechende Nacht, schlug nach Mücken und schnitzte an einem Stück Holz herum. Gelegentlich reckte er den Kopf vor und spuckte zwischen den Knien hindurch auf immer denselben Punkt im Dreck. Das war so eine Art Plan von ihm, der Fleck ausgehöhlter Erde da unten würde immer nass bleiben. Wie in den Schauergeschichten, die die Witwe ihnen von Mordschauplätzen erzählt hatte. Von dem Blut, das man nie abschrubben konnte, Blut, das sogar dann wieder durchkam, wenn man die fleckigen Bodendielen entfernt und durch neue ersetzt hatte, wenn man die blutdurchtränkte Erde ausgeschaufelt und mit ganz frischer wieder aufgefüllt hatte. Er beugte sich abermals vor, spuckte und dachte daran, wie viel Blut in diesem Land schon geflossen war und wie viel mehr noch flie ßen würde. Er fragte sich, wie viel das Land vertragen konnte, bis es genug hatte und anfing, das Blut zurückzugeben. 146
Diese Abende waren einsam, doch der heutige war es besonders. Es war jetzt ein Jahr her seit Archs Tod. Um den Gedanken daran zu verscheuchen, suchte Mack nach anderem Stoff und verfiel auf die Nächte, als er und William sich im Bett aufsetzten, schon ange zogen, mit einem festen Plan im Kopf, die Bettdecken zur Seite stie ßen, die bestrumpften Füße auf den Boden setzten, in die Schuhe schlüpften und sich im Dunkeln mit den Schnürsenkeln abplagten. Kurz darauf waren sie auf der Straße, und der Hund trottete gehorsam wieder zurück. Bis zum Fluss waren es zwei Meilen. Sie rannten den ganzen Weg, wobei sie kaum ein Wort sprachen. Ich liebe sie, hatte Mack vor so vielen, vielen Nächten, als seine Füße über die Straße gestampft waren, gedacht. Und er fragte sich jetzt, da sich der Horizont orange färbte, ob er sie tatsächlich geliebt hatte, ob man jemanden, mit dem man nie gesprochen hat te, überhaupt lieben konnte, eine Frau, die man nur mitten in der Nacht aus seinem sicheren Versteck durchs Fenster gesehen hatte. Muss man wohl, dachte er sich, denn das, was sogar heute noch in seiner Brust saß, musste ja einen Namen haben. Die Jungen blieben am weichen, matschigen Ufer stehen, hielten sich nach Luft schnappend an Baumranken fest, warteten und lauschten dem düster murmelnden Wasser, seinen alterslosen Fin gern, die übers Ufer strichen, seinem Bauch, der sich durch das hauchdünne Bett wälzte, dem Plotsch eines Fisches, der sein Maul durch die Wasseroberfläche steckte, dem Schrei eines Nachtvogels. In dem glänzenden Band des Flusses und am Himmel selbst konn ten sie Sterne und Sternbilder erkennen. Den Großen Bären. Den Kleinen. Es dauerte nur ein paar Minuten, da hatten sie das alte, von ihnen selbst versteckte Kanu gefunden, von seinem Ankerplatz aus Ranken und Gestrüpp befreit und umgedreht. Kurz hielten sie inne, als rechts neben ihnen, sehr nah, etwas Großes ein schlürfendes Geräusch machte. Bald darauf knieten sie auf dem feuchten Boots boden und paddelten mit langen gekonnten Schlägen. Mack sah den vorgebeugten Schatten seines Bruders, dessen Bewegungen sie 147
der anderen Seite entgegentrieben. Als sie das Kanu an Land zogen, konnten sie schon die erleuchteten Fenster sehen. Sie schlief nie, so schien es zumindest. Annie. Bei jedem von Williams und Macks Besuchen waren ihre Fenster erleuchtet gewesen, jedes Mal sah man, wie sich ihr Schatten bewegte. Manchmal blieben sie fast bis zum Morgengrauen, in der kühlen Luft halb schlafend, halb wachend, und rasten dann wie wahn sinnig nach Hause. Manchmal sahen sie in Annies Hütte Männer, deren große Silhouetten sich immer wieder an ihrer kleineren vorbeischoben. Und manchmal saßen zwei oder drei Kerle auf der Veranda, tranken und fluchten und bollerten an die Wand, um den gerade Beschäftigten zur Eile zu treiben. Nur einmal hatten William und Mack gesehen, dass sie einen Mann abwies. Der brüllte, drohte und hämmerte gegen die Tür, bis sie schließlich öffnete und ihn mit einer abgesägten Schrotflin te über die Veranda die Treppe hinuntertrieb. Als der Zurückge wiesene brummelnd und fluchend um das Haus herumstapfte und Steine auf das Blechdach warf, zogen sie sich tiefer ins dichte Unter holz zurück. Einmal war Mack nur einen Meter von ihm und seiner gewaltigen Wolke aus Körpergeruch, Holzqualm und Whiskey entfernt. Schließlich gab der Mann auf und ging. Allerdings erst, nachdem er etwas gemacht hatte, was William wie Mack scho ckierte. Er ließ die Hosen runter, die weißen Hinterbacken glänz ten im Mondlicht, ein Arm machte sich an die Arbeit, bis der ganze Körper schließlich erbebte und sich der Kerl direkt neben dem Haus erleichterte. In einer anderen Nacht war ein Stuhlbein aus ihrem Fenster geflogen, sie hatten das laute Toben eines Mannes gehört, dann klatschende Geräusche, als würde jemand geschlagen, dann ihr Brüllen. Danach ein Schuss. Mack folgte William durch das hohe Gestrüpp bis zur Veranda, als plötzlich die Tür aufflog, weshalb sie beide seitwärts abtauchten − William nach links, Mack nach rechts. Sie rollten sich unter die Veranda und sahen, wie ein Mann mit nacktem Oberkörper, winselnd, beide Hände zwischen die Bei 148
ne gepresst, die Treppenstufen herunterfiel. Er rappelte sich auf und stürzte wieder, das Blut auf seinen Händen und Oberschen keln sah im Schein des Mondes schwarz aus. »Du hast mich umge bracht! «, kreischte er. Die Jungen hörten über sich die Bohlen knar ren, als Annie zum Rand der Veranda ging. »Geh nach Hause, du Schlappschwanz«, sagte sie. Dann hörten sie, wie das Schloss einer Schrotflinte einschnappte, und das Klicken des Hahns, der ent spannt wurde. Mack und William sahen den Mann wegkrabbeln. Ein paar lange Minuten später ging Annie wieder ins Haus. Sie hatten nie herausgefunden, was mit dem Mann passiert war, Annie jedenfalls ging, als die beiden einen Monat später wieder hinfuhren, wie immer ihrer Arbeit nach. Sie verkrochen sich in das hohe Gestrüpp, hinter ihnen plätscherte der Fluss, und über ihnen versprühte der Himmel seine Sterne. Annie arbeitete jetzt für Tooch. Mack wusste allerdings nicht, ob sie ihm auch Geld schuldete oder er einfach eine Vereinbarung mit ihr getroffen hatte. Wenn man heute zu ihr wollte, musste man erst zu Tooch und sich das Losungswort besorgen. Ohne ließ Annie keinen ins Zimmer. Und jeder wusste von ihrer abgesägten Schrotflinte Kaliber sechzehn. Mack schaute nach unten. Das Stück Holz hatte er fast weg geschnipselt. Er hörte, wie hinter ihm die Tür geöffnet wurde. Tooch kam heraus. In der Linken hielt er den Krug, mit der Rechten drückte er unten gegen sein Kreuz und streckte sich. »Hast du das Zaumzeug eingefettet?«, fragte er. »Ja, Sir.« »Morgen gehst du als Erstes runter und wäschst die Klamotten.« »Ja, Sir.« Tooch blieb noch einen Augenblick stehen, drehte sich dann um, setzte sich auf die Bank und zog den Stöpsel aus dem Krug. Er hak te den Daumen in den Henkel, hob den Krug in die Ellbogenbeuge, trank mit hüpfendem Kehlkopf und setzte danach den Krug auf dem Knie ab. Eine Zeit lang saßen sie da und beobachteten die matt 149
glimmenden Leuchtkäfer und Sterne. Das einzige andere Licht war das Schimmern der Laterne aus dem Ladeninnern. Schließlich sag te Tooch: »Hast du gewusst, dass Arch und ich gleich alt waren?« Mack wusste nicht, ob er antworten sollte. Er wartete. »Gleich alt«, sagte Tooch. »Im selben Haus aufgewachsen, zu sammen zur Schule gegangen. Mit zwanzig hat er den Laden hier geführt, war Landbesitzer, Postmeister, Bezirksbeauftragter und auf dem Sprung zum Politiker. Und ich, ich war Pachtbauer, sonst nichts.« Sie saßen da. Dann fragte Mack: »Warum?« Tooch sagte nichts und nahm einen Schluck. Mack fürchtete schon, er hätte etwas Falsches gesagt, da fing Tooch plötzlich an zu erzählen − dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben sei, dass die Witwe Gates die Blutungen nicht hatte stoppen können und das Blut schon die Matratze aufgeweicht hatte und auf den Boden tropfte, als endlich der Arzt aus Coffeeville kam. Aber Tooch − sein richtiger Name war Quincy, nach seinem Vater − über lebte. Die Witwe brachte ihn zum Bruder seines Vaters, wo er die nächsten drei Jahre lebte. Vielleicht waren das gute Jahre. Tooch sagte, er könne sich nicht mehr erinnern. Onkel Ed und Tante Cla rabel hatten eigene Kinder, drei Mädchen und einen gerade gebo renen Jungen, Arch, den die Witwe Gates vier Monate vor Tooch ohne Probleme in die Welt geholt hatte. »Ohne Probleme«, wiederholte Tooch. Er und Arch hatten zusammen in einer Krippe geschlafen, hat ten beide die gleiche Brust bekommen. Als er drei war, entschieden Ed und Clarabel Bedsole jedoch, dass der kleine Quincy ins Haus seines leiblichen Vaters zurückkehren solle. Quincy senior, so glaubten sie, hätte nun genug Zeit gehabt, sich von seiner Trauer zu erholen, obwohl man mit der ihn umgebenden Schwermut einen ganzen Raum hätte verdunkeln können. Von der Zeit zu Hause, sagte Tooch, könne er sich nur an den Tag erinnern, als sein Vater verschwunden sei. Wie an jedem Mor gen erhob er sich mit nacktem Oberkörper von seinem durchge 150
legenen Bett. Die schwarzen langen Haare fielen ihm ins Gesicht und verdeckten die Augen. Für den Jungen sahen sie aus wie die Schwanzfedern einer Krähe. Ohne ein Wort mit dem Jungen zu sprechen oder ihn anzuschauen, zog sich der Vater an jenem Tag an. Er knöpfte sein schweißgelbes Hemd zu, krempelte die Ärmel bis zum Bizeps auf und zog sich dann etwas über die Füße, das durch Gebrauch und Alter so weich war, dass es eher einem Haufen Schmutzwäsche glich, der erst durch Füße und Knöchel die aufrecht stehende Form von Stiefeln annahm. Er nahm seinen gestaltlosen Hut von dem Holzknopf an der Wand, zerknüllte ihn zwischen den Fingern und ging über den nackten Boden in die Ecke, wo sein Gewehr stand. Dann zog er mit dem Lederstreifen den Türriegel nach oben und ließ den Morgen in die Hütte. Bevor er die Tür hinter sich zuzog, stieß er den Lederriemen ins Innere und schloss sich so aus. Während er an seinem Stück Holz herumschnitzte, sah Mack den verdreckten kleinen Quincy auf seinem Strohsack vor sich. Bei den Hebammenbesuchen mit der Witwe hatte er die ärmlichsten Pachtbauernhütten gesehen, er konnte sich alles gut vorstellen. Der Kleine, der sich wegen der Läuse am Kopf kratzte. Die Ringel flechte im Gesicht und unter den Armen. Wie dünn er war wegen der Würmer. Die Entzündungen an Ellbogen und Knien, in denen die Fliegen herumkrabbelten, die er verscheuchte, die aber gleich wieder zurückkamen. Mister?, sagt Tooch. Den ganzen Tag läuft er in der Hütte herum und wartet darauf, dass sein Vater zurückkommt. Er schaut den schlaff herunterhän genden Lederstreifen an und weint leise, dann laut, die Backen brennen vom Salz der Tränen, die Stimme wird heiser, er würgt, kotzt sich auf die Knie. Am wandernden Licht, das durch die Rit zen zwischen den Holzbalken fällt, verfolgt er den Stand der Son ne. Er schläft auf dem Strohsack. Wenn es dunkel wird, steht er auf, Pisse brennt auf den Oberschenkeln, zwischen den Beinen, Scheiße verklebt ihm den Hintern. Er kriecht auf dem nackten 151
Boden herum, kümmert sich nicht mehr um die Fliegen, die über den Kopf und die entzündete Haut krabbeln, schlägt nur noch nach ihnen, wenn sie den Augen zu nahe kommen. Mack lauschte und sah ihn vor sich. Tooch lugt durch das Loch über dem Lederriemen. Die Nacht draußen ist hell, heller als im Innern. Die wilden Hunde, die er dauernd hört, rotten sich vor der Hütte zusammen. Jetzt löst sich einer aus dem Rudel, bewegt sich auf die Tür zu, den Rumpf schräg, den Kopf tief unten, die Rückenhaare aufgestellt, die Augen leuchtend. Tooch sieht die von schwarzer, gummiartiger Haut umgebenen gelben Zähne. Tooch hört sein eigenes Wimmern, weiß, dass sie deshalb da sind. Er schlägt sich die säuerlich riechende Hand auf den Mund, Fliegen schrecken auf. Leises Kratzen an der Tür, schnelles Atmen. Geräu sche, die nicht aufhören wollen. Dann fangen die Hunde an zu heu len und zu kläffen, umkreisen die Hütte, recken die Mäuler dem Mond entgegen, schicken ihren Gesang durch die Wolken in den Sternenhimmel. Das ist das Einzige, sagte Tooch, woran ich mich erinnere, als ich vier Jahre alt war. Später erzählte man ihm, dass die Hunde nicht in der Hütte waren. Dass einen oder zwei Tage später − er wusste es nicht mehr − Ed vorbeigekommen war und ihn unter dem Bett gefunden hatte, halb verhungert, im Schock. Dass er fast einen Monat, nachdem Ed und Clarabel ihn wieder zu sich geholt hatten, kein Wort sprach und dass sie die Witwe Gates ins Haus geholt hatten, die ihn wieder aufpäppeln sollte. Sie befreite ihn von den Würmern, flößte ihm ihre bitteren Kräuterarzneien ein und mach te ihm Breiumschläge, die die Läuse abtöteten und die Entzün dungen heilten. Um diese Zeit fingen sie an, ihn mit dem Spitz namen Tooch zu rufen. Der Name käme daher, erzählte man ihm später, dass er beim Spielen immer mit der Hand wie mit einer Pis tole auf Arch gezielt und dabei gerufen habe: »Tooch, tooch, tooch!« Der Name blieb ihm. Woran sich Tooch aus der Zeit nach der Geschichte mit den wil den Hunden erinnerte, waren belanglose Dinge. Wie er und Arch, 152
als sie sechs waren, hinter Leuchtkäfern her jagten, die schweben den Insekten mit klatschenden Händen fingen, wegen der leuch tenden Haut kreischten und dann weiter] agten und sich das sül zig, klebrig leuchtende Zeug ins Gesicht, an den Hals, auf die nackte Brust schmierten. Wie er mit Onkel Ed und Arch am Teich fischen war und die Mücken so dicht über die Wasseroberfläche glitten, dass ihre Beine die ihrer Spiegelbilder fast berührten − unterirdische Mücken, die unterhalb der sonnenbeschienenen Erd oberfläche lauerten wie ein dunkler böser Traum, vom Tageslicht vergessen, aber doch da, immer da. Dann Erinnerungen an Nächte, in denen er neben dem tief schlafenden Arch im Bett lag und in weiter Ferne, von einem Hügel mitten in den Wäldern, das Heulen eines Hundes hörte. Oder an den Morgen, als Onkel Ed ihn unter dem Bett fand, die Oberschenkel nass von der eigenen Pisse, und ihn durch die Küche nach draußen trieb, und wie er durch den Dreck stolperte − das Nachthemd klebte ihm am Hintern −, vor wärts geschoben von Onkel Eds Hand im Nacken; er erinnerte sich auch noch an den im Vorbeigehen vom Baum gerissenen Ast und an seine eigenen Beine, die voller roter Striemen waren. Damals gehörte der Laden Ed. Zwanzig Jahre vorher hatte er mit einer Quersäge die Bäume gefällt, mit Hilfe von Quincy senior und einem Maultier die Wurzeln ausgerissen, die Eckbalken zusammengefügt und die Zwischenräume mit Matsch und roher Baumwolle verkleistert, dann hatte er mit flachen Steinen den Kamin hochgezogen, mit gekauften Schindeln das Dach gedeckt und mit den gefrästen Holzdielen einen perfekt ebenen Boden ver legt. Für den ersten Warenbestand hatte er sich von einem Mann aus Coffeeville zweihundert Dollar geliehen, danach hatte er sich mit den fliegenden Händlern in ihren klappernden Wagen immer gut gestellt, hatte gekämpft und überlebt. Gute Zeiten für einen Neffen, bessere für einen Sohn. Auch wenn Tooch sich von seinem Onkel und seiner Tante immer geliebt und bei ihnen immer sicher gefühlt hatte, gab es doch Unter schiede, wie sie ihn und Arch behandelten. Die Strümpfe, die er und 153
die anderen Kinder zu Weihnachten geschenkt bekamen, waren nicht die gleichen. Seine waren aus anderem, billigerem Garn, auch fehlte, anders als bei Arch und den Mädchen, der mit roten Buch staben eingestickte Name. Archs Mundharmonika war teurer als die von Tooch, Archs Apfel größer, die Orange weicher. Als die Jun gen zwölf waren und mit der Post die Enzyklopädie kam, war es Arch, der die schwere Holzkiste mit einem Stemmeisen öffnete, das erste Buch herauszog, aus dem braunen Papier wickelte, durch die Seiten des Bandes blätterte und mit dem Finger über die Zeich nungen von einer Kobra, einer Anakonda und einer Python strich. Irgendwie hatte Tooch immer das Gefühl, er müsse Arch erst fra gen, bevor er einen Band aus dem Kirschholzregal nahm, das neben dem Kamin stand. Als die Jungen einmal aus dem Laden ein Stück Kautabak klau ten, bekam Tooch seine Prügel hinter der Scheune als Erster. Ed hielt den Kopf gesenkt und schlug mit dem Lederriemen so fest zu, dass ihm der Hut vom Kopf fiel. Danach schleppte sich Tooch mit versteinertem Gesicht an einer Egge vorbei um die Ecke der Scheu ne, nickte Arch zu, der zurücknickte und ging, um sich seine Hiebe abzuholen. Tooch kauerte sich in die Scheune, lugte zwischen den Holzlatten durch und zählte jeden Schlag. Er war nicht überrascht, dass sein Cousin nur halb so viele bekam, mit nur halb so viel Wut. Vielleicht war es der gestohlene Tabak, der nach anderen, harm loseren Jungenstreichen Ed veranlasste, die beiden zu trennen und nicht mehr wie bisher zusammen im Laden arbeiten zu lassen. Sie waren jetzt fünfzehn und hatten die Schule hinter sich. Eines Abends im März, als alle anderen bei einer Kirchenversammlung mit Brathühnchen und Baseball waren, sprach Ed mit Tooch. »Also, mein Junge«, sagte Onkel Ed. »Es ist an der Zeit, dass du zu deinem Unterhalt in der Familie etwas beiträgst. Du bist wie ein Sohn für uns«, sagte er. »Aber im Laden ist nicht genug Arbeit für zwei junge Burschen, deshalb habe ich entschieden, dich an Isom Walker auszuleihen. Er kann Hilfe auf seinem Feld gebrauchen. 154
Isom wird dir einen guten Lohn bezahlen, mit dem du die Familie, die dich großgezogen hat, sicher gern unterstützen wirst.« Tooch war einverstanden. Wie ein Sohn. »Du bist ein guter Junge«, sagte Ed. »Deine Tante und ich wissen das. Du hast kein bisschen was von deinem Vater.« Danach war Tooch vier Jahre lang Hilfsarbeiter bei einem Baumwollfarmer. Weil die Farm vier Meilen entfernt lag, hatten Walker und Ed vereinbart, dass Tooch in der Sattelkammer schla fen sollte, die in der Scheune war, oder, wenn es zu kalt würde, im Haus auf dem Boden vor dem Kamin. Die Wochenenden sollte er zu Hause verbringen und von dem Geld, das er verdiente, nie einen Cent sehen. Alles aus dieser Zeit, sagte Tooch, würde er am liebsten ver gessen. Die Mahlzeiten mit Walker und seiner frömmelnden Frau, bei denen am Tisch aus der Bibel gelesen wurde. Den Trampelpfad, den er sich zwischen Hintertür und Scheune durchs Gras gebahnt hatte. Die Euter, die er jeden Morgen melkte. Die mit Scheiße besprenkelten Eier, die er einsammelte. Die Erde, die er pflügte, den Dünger, den er ausstreute, die Saat, die er setzte, dabei immer die fliegenumschwirrten Hinterbacken von Walkers giftigem Maultier vor Augen. Die Angewohnheit, am Himmel nach Anzeichen fürs Wetter zu suchen. Bei Sonnenaufgang das Baumwollfeld zu be treten und es im Dunkeln wieder zu verlassen. Das Bücken beim Hacken und beim Pflücken. Die viel zu kurzen Tage mit seinem Onkel, seiner Tante, Arch und den Cousinen. Den einen Band der Enzyklopädie, den er sich jede Woche auslieh, bei Kerzenlicht in der Scheune las und so Buchstabe für Buchstabe die Welt erforschte. Isom Walker war ein Mann, der jeden Jungen »Sohn« rief. Tooch hasste das. Er fing an sich vorzustellen, dass er niemandes Sohn sei, nicht der von Walker, nicht der von Ed Bedsole, nicht mal der seines eigenen Vaters. Eines Abends las Mrs. Walker aus der Bibel die Geschichte vom verlorenen Sohn vor. Tooch war kein verlorener Sohn. Sollte er jemals verschwinden, würde kein Vater seine Abwesenheit betrauern. 155
Als die beiden Jungen neunzehn waren, führte Arch den Laden, und sein Vater kümmerte sich um die vier oder fünf Farmen, die ihm ganz oder teilweise gehörten. Es dauerte nicht lange, da wurde dem Bedsole’s Mercantile auf dem Schild über der Veranda das in akkuraten weißen Buchstaben gemalte MR. R. ARCHIE »ARCH« BEDSOLE, MANAGER hinzugefügt. Arch konnte mit Menschen umgehen, das war sein Talent. Er erinnerte sich an ihre Namen, an die Namen ihrer Kinder, an die Namen ihrer Maultiere oder daran, ob sie gern ein Schlückchen von dem Rachen putzer-Whiskey aus seinem Hinterzimmer hatten. Ungefragt wusste er, wann er unter den Ladentisch greifen und einem Burschen eins von diesen in braunes Papier gewickelten Verhütungsmitteln oder einer Frau eine Dose Tuberose-Schnupftabak zuschieben muss te. Weil er begriff, dass er um seinen Laden erfolgreich zu führen, auch Schwarze brauchte, behandelte er sogar sie mit Respekt. Sie wussten zwar, dass sie an die Hintertür zu kommen hatten, um ihre Bestellungen aufzugeben, aber Arch gewährte ihnen den glei chen Kredit wie seinen weißen Kunden, und er kannte auch von ihnen jeden beim Namen. Mit seines Vaters Segen eröffnete er schon bald einen Post schalter, eine kleine Holzkabine, die er gleich hinter der Ladentür einbaute. Zweimal die Woche kam aus Coffeeville die Post. Wer nicht lesen konnte, dem las er den Brief vor. Die Menschen ver trauten ihm, weil er nie über den Inhalt ihrer Briefe sprach, egal, ob sie gute oder schlechte Nachrichten enthielten. Er hatte am Schalter auch immer einen Stapel mit dicken, ausgiebig bebilderten Katalogen von Sears Roebuck and Company, J. H. Whitney, E. Butterick und Montgomery Ward ausliegen. Man konnte darin blättern und dann etwas bestellen. So wurde aus Bedsole’s Mercantile jedermanns Verbindung zur Außenwelt. Für fünf Cents servierte Arch Käse mit Crackern, für zehn Cents Austern mit Crackern. Zur Kundenpflege bestellte er bei Sears Roebuck das Krocketspiel, das das kleine Dorf in den nächsten zehn Jahren mit Leidenschaft spielte. 156
»Und ich?«, sagte Tooch und setzte den Krug auf seinem Knie ab. »Ich bin weg von Walker und hab auf eigene Rechnung ge arbeitet. Als Pachtbauer, erst für Onkel Ed, dann für Arch. Zehn Jahre lang«, sagte er. Und dann sagte er plötzlich: »Weißt du, wo ich in der Nacht war, als man Arch getötet hat?« Mack wusste es, aber er fragte: »Wo?« »Hab in derselben Scheißhütte gesessen, in der meine Mom gestorben ist. Hab in der Enzyklopädie gelesen, im Band R. Über diese Redwoodbäume, die sie in Kalifornien haben. Schon mal davon gehört?« »Nein«, antwortete Mack. »Das Einzige, was in der Hütte drin war, war ein Klappergestell von Bett, in dem einem dauernd das Kreuz wehtat. Nicht mal einen Tisch für meine Lampe hatte ich. Hab mir dann aus einem Stück Kiefernholz einen Tisch gemacht. Jede Nacht bin ich auf dem Bett gesessen und hab gelesen. Arch hat mir die Bände geliehen, einen nach dem andern. Es waren immer noch seine Bücher. Der einzige Unterschied bestand darin, dass wir jetzt erwachsen waren. In der Nacht, als er gestorben ist, hab ich auf die Bilder von den Redwoodbäumen geschaut und dann auf meinen kleinen Holz tisch. Hab gedacht, da drüben in Kalifornien gibt’s so große Bäume, da stellt sich ein Mann in die Wurzeln rein und lässt ein Bild von sich malen. Und hier in Mitcham Beat gibt’s diese kleinen Weihrauchkiefern, und da macht man Möbel draus. Verstehst du?« »Glaub schon.« »Mein ganzes Leben lang hab ich Arch beneidet.« Er schaute Mack an. »Das weiß keiner sonst. Das hab’n nur zwei Leute gewusst. Der eine bin ich, der andre war Arch, und der ist jetzt unter der Erde.« Er erhob sich und stand schwankend vor der Bank. Die Holzbohlen ächzten unter dem Gewicht. Die Laterne im Haus war ausgegangen, und die Baumwolle, die vor ihnen lag, sah verwaschen blau aus im Schein der Sterne. Tooch ging unsicher über die Veranda, lehnte sich an einen Eckpfosten und rutschte langsam daran herunter, bis er auf dem Boden saß. Im Dunkeln 157
berührten sich seine und Macks Schultern. Toochs warmer Whis keyatem brannte dem Jungen auf der Haut. »Wenn ich dich für mich arbeiten lasse, Mack, dann muss ich dir vertrauen können«, sagte er. »Kann ich dir vertrauen, Junge?« »Ja, Sir.« »Ja, Sir, was?« »Sie können mir vertrauen. Ich sage niemandem, was Sie mir erzählen.« »Wenn du’s tust, dann weißt du, was passiert, oder?« Die Haut in seinem Nacken kribbelte. »Sie töten mich.« »Exakt, mein Junge. Ich würde es nicht gern tun. Aber hätte ich eine Wahl, wenn du mich betrügst? Du hast mir gegenüber so ehr lich zu sein wie ein Prediger gegenüber seinem Gott oder Jesus Christus oder wem auch immer. Hast du das verstanden?« »Ja, Sir.« »Zwischen uns darf es keine Geheimnisse geben. Ich meine, ob du schmutzige Gedanken hast oder dir in die Hose scheißt, will ich nicht wissen, aber wenn was Wichtiges passiert, sagst du’s mir bes ser. Und zwar bevor du’s in einem Stoßgebet zum Allmächtigen raufschickst. Ist das klar, mein Junge?« »Ja, Sir.« Eine Zeit lang sagte keiner ein Wort, und Mack glaubte schon, Tooch wäre eingeschlafen. Er atmete gleichmäßig und tief. Doch dann sagte er: »Ein Teil von mir hat sich gefreut, als Arch tot war. Weißt du, warum?« Mack überlegte. »Weil Sie jetzt am Drücker sind.« »Richtig.« Mack schaute Tooch an. »Bei den Büchern, da fehlt eins. Das R.« Tooch nickte. »Ist mit der Hütte verbrannt. In der Nacht, als Arch starb. Mit dem Redwoodbild und allem.« Sie saßen da. Tooch nahm wieder einen Schluck aus dem Krug. »Du hast deinen Vater auch nicht gekannt, oder?« »Nein, Sir.« Er hielt sein Messer hoch, damit Tooch die im Schein der Sterne glänzende Klinge sehen konnte. »Das Messer hier 158
hat ihm gehört. Hat mir die Witwe gegeben. Das und die Pistole, William hat die Schrotflinte bekommen.« Tooch saß da und hielt den Krug fest. Weit entfernt bellte ein Hund. Tooch wartete, bis das Bellen verklungen war. »Erzähl mir auch eine.« »Sir?« »Eine Geschichte. Erzähl mir eine Geschichte.« »Ich weiß keine.« »Als du ein Kind warst. Bei der Witwe. Um die Witwe muss es doch tausend Geschichten geben. Schließlich hat sie uns alle aus den Bäuchen unsrer Mütter rausgezogen. Schätze, sie hat jeden von uns nackt gesehen. Gibt den Frauen ‘n kleinen Vorsprung, stimmt’s?« Mack schaute hinauf zu den Sternen. Er wusste eine Geschichte. »Ich hatte als Kind Asthma«, sagte er. »Richtig schlimm. Die Witwe hat mir erzählt, dass ich als Baby jede Woche zweimal kurz vorm Sterben war. Bin immer ganz blau geworden. Im Gesicht und die Lippen. Konnte nicht mehr atmen. Sie ist mit mir im Zimmer rumgelaufen und hat mich dabei mit dem Kopf nach unten an den Beinen gehalten. Sie hat gesagt, dass sie das erste Jahr von meinem Leben kein bisschen geschlafen hat. Als ich älter wurde, wurde es dann besser. Tagsüber war alles okay, solange ich nicht rumgelaufen bin oder mir sonst wie zu heiß war oder ich zu viel Staub eingeatmet hab. William und ich haben immer Messerwerfen gespielt. Auf dem Boden vor den Veranda stufen. Wenn’s dann dunkel wurde, ist es losgegangen. Wegen der Nachtluft, hat die Witwe gesagt. Wenn dann der Mond rauskam, hab ich angefangen zu pfeifen. Die ganze Nacht sitz ich aufrecht da, weil ich im Liegen keine Luft bekomme. Sitz da und japse. Und die Witwe war immer bei mir. Ist jede Nacht aufgeblieben. Später hat sie gesagt, dass sie’s gern gemacht hat, dass sie damals das Gefühl hatte, ihr ganzes Leben vorher − also bevor William und ich da waren − verschlafen zu haben. Sie tat Zucker in Whis 159
key und ließ mich dran nippen. Sie selbst hat auch manchmal dran genippt. Und wir haben geredet. Sie hat mir alles Mögliche erzählt. Als sie ein kleines Mädchen war in Tennessee, wie sie einmal am Meer gewesen ist, was es alles für Sachen gibt im Wald, und welche Pilze und Blätter für Krankheiten gut sind. Sie hat von ihrem Mann erzählt, dass er im Krieg gestorben ist, dass sie ihn bei Pea Ridge in Arkansas an einer Bockbrücke aufgehängt haben. Eigentlich hab ich nur die Hälfte mitgekriegt, ich hatte genug damit zu tun, dass ich Luft kriegte. Aber die Stimme hat mir geholfen. Auf der bin ich von einem Atemzug zum nächsten gesegelt. Ich erinner mich noch, wie wir immer auf Geräusche von draußen gehorcht haben. Von Vögeln oder Insekten. ›Hörst du das?‹, hat sie gefragt. Und ich: ›Ja, Ma’am.‹ Dann sie: ›Das ist eine Heuschrecke. Und das?‹ Und ich hab gesagt: ›Ja, ich hör’s‹, und dann sie: ›Das ist eine Nachtschwalbe.‹ Und die ganze Zeit nhat sie mir die Brust mit diesem heißen Zeug eingeschmiert, das sie selbst gemacht hat, und mir mit einem warmen Lappen den Kopf abgerieben und mir den Whiskey mit Zucker zu trinken gegeben.« Mack hatte aufgehört, an dem Stück Holz herumzuschnitzen. Er sagte: »Dann gab’s da noch diesen Zwerghahn, der gehörte einem Schwarzen, der ungefähr eine Meile entfernt nach Osten wohnte. Wir haben immer die Ohren gespitzt, wann er anfing zu krähen. Wenn wir ihn dann gehört haben, hat die Witwe gesagt: ›Ist fast Morgen, mein Kind, du kannst jetzt wieder atmen.‹ Und dann wusste ich, dass ich gleich einschlafen würde.« »Was ist passiert?«, fragte Tooch und rülpste. »Du atmest doch ganz normal. Jedenfalls brauchst du nachts keinen mehr zum Be muttern.« »Tja, das ist das Merwürdige an der Geschichte«, sagte Mack. »Das war Arch. Einmal, als die Witwe mit mir und William im Laden war, hat Arch ihr erzählt, dass er was über so einen winzig kleinen, ganz besonderen Hund aus Mexiko gelesen hätte, und dass 160
der Hund es schaffen würde, das Asthma aus jedem Menschen rauszukriegen. Der Hund muss nachts mit dir zusammen schlafen, irgendwann geht dann das Asthma von dir auf den Hund über.« Tooch schnaubte. »Als wir einen Monat später wieder im Laden waren, hat Arch gesagt, dass er eine Überraschung für uns hat. Und dann hat er einen Karton auf den Ladentisch gestellt. Wir haben reingeschaut, und es war die hässlichste kleine Ratte von Hund drin, die man sich vorstellen kann. Sie heißen Chihuahua, hat Arch gesagt. Ganz gelb mit großen Augen und großen Ohren. Die Witwe fing an zu weinen. Das war, glaub ich, das einzige Mal, dass wir gesehen haben, wie sie weint. Sie hat Arch umarmt. Dann sind wir nach Hause, und sie hat mir den Hund die ganze Nacht auf die Brust gedrückt. Ich weiß noch, dass ich gehört hab, wie das Herz von dem Hund schlug. An den Atem kann ich mich auch noch erinnern. Er hat gerochen wie ein Fisch. Ich wollte das eigentlich nicht. Dass der kleine unschuldige Hund meine Krankheit bekommen soll. Aber wenn man so viele Nächte keine Luft gekriegt hat und kurz vorm Abkratzen war, macht man es eben. Wir durften ihm keinen Namen geben, das hatte uns die Witwe verboten. Es hätte keinen Sinn, hat sie gesagt, dass wir anfingen, ihn zu mögen. So ging das ein paar Wochen, und dann ist der Hund krank geworden.« »Du lügst.« »Nein, es stimmt. Er ist ganz nervös und zittrig geworden. Man konnte ihn husten hören. So kleine Huster. Dann hat er aufgehört zu fressen, und wenn man nicht aufgepasst hat, hat er einen gebis sen. Und dann, eines Morgens, bin ich aufgewacht und er war tot. Ganz steif. Ein kleiner Blutfleck war auf meinem Nachthemd. Die Witwe hat zu mir gesagt, ich soll nach Norden schauen und in die grünen Tabakblätter husten, die sie mir hingehalten hat, und dann hat sie den Hund in die Blätter gewickelt und begraben.« Eine Nachtschwalbe schrie, eine andere antwortete. 161
»Und das soll ich glauben?«, sagte Tooch. Mack atmete ganz tief ein, hielt die Luft an und blies sie wie der aus. Tooch lächelte, aber Mack war nicht mehr nach Reden zumute Er starrte den Mond an, der gerade über die Baumlinie hinter dem Feld stieg, und fragte sich, ob es der Mond aus den Nächten war, als er keine Luft bekommen hatte, oder ein anderer, der auf der glei chen Bahn unterwegs war. Vielleicht kam ja jede Nacht ein neuer Mond vorbei, aus einem unerschöpflichen Vorrat oder − Mack runzelte die Stirn − aus einem begrenzten Vorrat, wie bei einem gen, der einen Stein nach dem andern über einen Teich wirft. Bald würden ihm die Steine ausgehen, oder sein Arm ermüdete, oder es war Zeit zum Abendessen, und dann wäre der letzte Stein über der Teich geflogen. Oder ein Straßenräuber mit einem Messer würde aus dem Wald kommen, sich von hinten an den Jungen anschleichen, ihm den Kopf an den Haaren so weit zurückziehen, bis sich die Haut am Hals spannte, und ihm dann die Kehle aufschlitzen worauf der Junge zu Boden fiele und ihm die Steine aus der Hand kullerten. »Dieses Bemuttern die ganzen Nächte durch, das hat dich weich gemacht«, sagte Tooch. »Kann sein.« Mack beobachtete weiter den Mond. »Arch hat einfach zu viele Almosen verteilt«, sagte Tooch. »Ohne die Almosen könnte ich nicht atmen.« Tooch nahm wieder einen Schluck. »Jedenfalls ist es eine gott verdammte Schande, dass einer ihn umgebracht hat, stimmt’s?« Dann zog er sich am Pfosten hoch und schwankte ins Haus.
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III
Über die Hügelkuppe klapperte ein leichter Wagen. Da ran baumelten hunderterlei Werkzeuge, Pfannen, Töpfe, Trichter, Schöpfer und Eimer, in denen das Sonnenlicht blitzte. Der Händler kauerte auf dem Bock unter einem gelben Schirm, zog die ver kohlten Blätter von einem Maiskolben, zupfte dann einen nach dem andern die trockenen Seidenfäden ab und schnippte sie sich von den Fingern. Als er die Körner abgenagt hatte, warf er den lee ren Kolben zu den andern auf den staubigen Wagenboden, wo sie zwischen seinen Füßen auf ihre spätere Verwendung warteten. Nämlich auf den Augenblick, wenn − was mehrmals täglich vor kam − der dünnflüssige, von unversehrten Maiskörnern durch setzte Stuhlgang des Händlers ins Freie drängte. Mehr als einmal war er vom Wagen gesprungen und hatte seine inzwischen schon gar nicht mehr zugebundene Hose gerade noch rechtzeitig he runterzerren können. Danach biss er sich auf die wenigen noch verbliebenen Zähne, drehte einen Maiskolben zwischen seinen bei den Hinterbacken durch, sprang wieder auf, zog die Hose hoch und hastete hinter dem Wagen her, weil das Maultier einfach weitergetrottet war. Zurück auf dem Bock, stellte der Händler sich vor, wie hinter ihm in unregelmäßigen Abständen Büschel von Maisstängeln sprossen und eine gedüngte Spur durch den gesam ten Südwesten Alabamas zogen. Keine Sekunde dachte er an die abgesägte Schrotflinte, die gela den neben seinem Sitz lehnte, als ihm plötzlich der Fremde auf dem eleganten Braunen entgegenkam. Er vertraute Männern auf guten Pferden. Mit den Fingern kämmte er sich die paar hängen geblie benden Maiskügelchen aus dem Bart und drückte sich die Melone auf den Kopf. Man konnte nie wissen, wann man etwas verkaufte. Der Wagen unter seinem Hintern hatte so ziemlich alles auf 163
Lager, was ein menschliches Wesen brauchen konnte. Von der Axt bis zum Zaumzeug, jedes Teil seines Sortiments hatte er im Kopf. Wenn der Preis stimmte, gab es nichts, was er nicht verkaufen würde − den Wagen, das Maultier und die neuen Arbeitsschuhe, die ihm seine Schwester geschenkt hatte, eingeschlossen. Und sogar den Holzkasten, den er von einem Säufer aus New Orleans bekommen hatte. In dem Kasten, der neben ihm auf dem Bock stand, räkelte sich eine hübsche Frau auf einer reich verzierten Chaiselongue − eine nackte Frau, eine vollkommen nackte Frau. Der Händler nannte sie Matilda. Zwei Tage zuvor hatte er McCorquodales Laden in Coffeeville verlassen, hatte bei mehreren Farmen Halt gemacht und den abgemagerten Männern den Kasten gezeigt, aber keiner hatte den einen Cent gezahlt, um einen schnellen Blick in sein Inneres zu werfen. Der Letzte, der einen Blick hineingeworfen hatte, war der alte Spießer McCorquodale gewesen. Mit gerunzelter Stirn war er den Anweisungen des Händlers gefolgt. Er hatte den Kasten am Fenster gegen das Licht gehalten, eine angemessene Zeit hinein geschaut und ihn dann wieder abgestellt. »Lass den Jungen mal einen Blick reinwerfen«, schlug der Händler vor. Der Junge namens Carlos stand mit umgebundener Arbeitsschürze am Ende eines Ganges. »Da kommt er bloß auf dumme Gedanken«, sagte McCorquodale. »Wenn ich in seinem Alter so was gesehen hätte, hätte ich einen Schock fürs Leben bekommen.« »Tu ihm was Gutes«, sagte der Händler. »Das ist Erziehung. Gehört zu den Sachen, die ihm keiner mehr nehmen kann. Tradi tion, Blut, gesunder Menschenverstand ...« Er hatte noch mehr auf der Liste, aber McCorquodale ließ ihn nicht ausreden. »Ich erziehe meinen Sohn auf meine Weise«, sagte er. »Deinen Guckkasten brauchen wir nicht, und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir das Ding jetzt aus den Augen schaffst.« 164
»Deine besseren Kunden würden für einen Blick auf so ein Weib vielleicht einen harten Penny springen lassen«, sagte der Händler. »Die lassen ihre Pennys woanders.« In deinen Taschen, hatte der Händler gedacht. Er hatte den Rest von McCorquodales Bestellung notiert und sich dann zu Bedsoles Laden in New Prospect aufgemacht. Der bereitete ihm allerhand Sorgen, war doch erst vor ein paar Monaten der frühere Händler für diese Route samt Waren, Wagen und Maultier verschwunden. Eine der Anweisungen, die der jetzige von seinem Boss mit auf den Weg bekommen hatte, lautete, so viel wie möglich über das Rätsel herauszufinden. Der Friedensrichter vor Ort, ein Mr. Hill, war auf dem Postweg informiert worden und hatte zurückgeschrieben, dass der Bursche überhaupt nicht in der Gegend gewesen sei. Er hätte überall herumgefragt, aber niemand hätte ihn auch nur von weitem gesehen. Das überraschte den Händler nicht. Die ganze verdammte Gegend stand im Ruf, sich nicht viel um Gesetze zu scheren. Es war also sehr wahrscheinlich, dass sein Vorgänger Stra ßenräubern zum Opfer gefallen war und seine Waren sich in alle vier Winde zerstreut hatten. Der Mann auf dem guten Pferd hatte ihn fast erreicht. Der Händler hob die Hand zum Gruß, auch der Mann hob seine. Sie hielten beide an und standen sich jetzt gegenüber. Dann lenk te der Mann sein Pferd an den Straßenrand und neben den Wagen, was der Händler als Zeichen von Stil wertete. Der Mann war elegant gekleidet, Anfang dreißig und hatte noch all seine Zähne. Sein Lächeln war freundlich, für den Haarschnitt hatte er offensichtlich bezahlt. Das Gesicht war rasiert. Er trug ein festes grünes Baumwollhemd mit feinen Goldstickereien und silbernen Knöpfen. Für solche Details hatte der neue Händler ein Auge. Feine Lederstiefel, dazu passender Ledergürtel. Gut eingefetteter Sattel, der Gewehrschaft, der aus der Scheide herausschaute, ohne Kratzer. Eine gepflegte Waffe. Hier hatte er einen Gentleman vor sich, den es möglicherweise nach einer nackten Matilda auf einer Chaiselongue gelüsten könnte. 165
»Guten Tag, mein Herr«, sagte der Händler und zog den Hut. »Guten Tag«, sagte der Mann. Seine Finger, die in feinen Kalbs lederhandschuhen steckten, lagen verschränkt auf dem Sattel knauf. »Herrlicher Tag heute«, meinte der Händler und zollte dem Himmel mit einem flüchtigen Blick nach oben Tribut. »Ja, herrlich«, sagte der Mann. »Und unter dem Schirm, wie ist es da?« »Die Sonne lässt zwar die Baumwolle sprießen«, sagte der Händler. »Aber sie lässt eben auch die Haut rot werden. Ich ziehe den Schatten vor.« Wenn der Bursche einen Schirm wollte, unter der Kiste mit den Schaufeln hatte er noch einen Karton mit einem halben Dutzend. Und für achtzig Cents extra könnte er ihm sogar eine Halterung für den Sattel anbieten. Das Pferd des Mannes erzitterte, hob den Schwanz und drückte einen großen grünschwarzen Batzen Scheiße nach dem andern heraus. Der Händler war neidisch auf die Festigkeit. Sollte der gut gekleidete Mann bemerkt haben, womit sein Pferd beschäftigt war, so hatte er Stil genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Die Klum pen klatschten dumpf auf die Straße. »Eine Frage«, sagte der Händler und warf einen schnellen Blick über die Schulter. »Haben Sie vielleicht Interesse an einem ... nun ja, sagen wir, an einem etwas exotischen Stück, Mister ...?« Der Mann sagte ihm nicht seinen Namen. »Was soll das für ein Stück sein?« Der Händler klopfte auf den Kasten, der neben ihm auf dem Bock stand. »Im Innern dieses eigentümlich aussehenden Utensils ruht etwas von ausgesuchter Schönheit und seltener Anmut. Eine Dame, nun ja, sagen wir, ein Vogel der Nacht. Ich nenne sie Matilda, Sie können sie aber nennen, wie Sie wollen.« »Soll das heißen, Sie haben da das Bild einer Frau drin?« »Sie sind ein aufmerksamer Zuhörer, muss ich sagen.« Die guten Manieren und die gute Garderobe, die akkurate Frisur und das edle Pferd − der Kerl musste Geld in den Taschen 166
haben. Der Händler stellte sich vor, wie der Mann in seinem ele ganten Putz davonritt, das Gesicht nach oben gerichtet, den Kas ten vor Augen, die nackte Frau für immer sein − wenn er den Kasten nicht bei einem anderen Händler für ein anderes exotisches Stück eintauschte. Genau so stellte sich der Händler die sinnvoll eingerichtete Welt vor. Gute Männer erwerben Qualitätsware, und er macht seinen fairen Schnitt dabei. In seinen Eingeweiden gurgelte es. Das Pferd wandte den Kopf. Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich. »Waren Sie das?« Der Händler war etwas enttäuscht. Höflich wäre gewesen, das Geräusch zu ignorieren. »Mein Magen ist nicht ganz in Ordnung«, sagte der Händler. »Würden Sie mich wohl kurz ...« Schamesrot, um sein Geschäft fürchtend, griff er sich einen Maiskolben und sprang vom Bock. In der Eile vergaß er völlig die Schrotflinte und die kleine Geldkassette unter dem Sitz. Er hastete um das Pferd herum, verschwand mit schon halb herunterge lassener Hose zwischen ein paar Kiefern und schiss etwas, das sich anfühlte wie heißes Wasser. Als er wieder auf die Straße trat, saß der Mann auf dem Wagen unter dem Schirm und hielt sich den Kasten vors Gesicht. Seine Züge lagen bis auf den Mund im Schat ten. Er grinste. »Normalerweise kostet das einen Penny«, sagte der Händler. »Wird natürlich vom Kaufpreis abgezogen.« »Wie viel?«, fragte der Mann, ohne die Augen von dem Kasten abzuwenden. Die Lieblingsfrage des Händlers. »Für Sie einen Silberdollar.« »Ich bin jetzt Ihr Partner, da muss ich so was wissen«, sagte der Mann. »Partner?« »Ardy Grant«, sagte der Mann und nahm den Kasten herunter. »Erfreut, Sie kennen zu lernen.« 167
IV
Mack hatte den ganzen Tag damit verbracht, in der Senke hinter dem Laden ein Grab zu schaufeln. Zwischen den weißen Wurzeln, die sich über den Boden des Lochs schlängelten, hatten sich ein paar Zentimeter Wasser gesammelt. Das Loch war inzwi schen schulterhoch, als Toochs Schatten auf ihn fiel. Einen Augen blick erwartete Mack den Aufprall der Kugel, grub aber einfach weiter. »Das reicht jetzt, Mack«, sagte Tooch und streckte ihm die Hand entgegen, damit er aus dem Loch herauskam. Sie standen da und schauten auf die rechtwinkligen Kanten herunter. »Respekt, Junge, du bist wirklich ein harter Arbeiter. Geh nach oben und ruh dich erst mal aus.« Er saß auf der Veranda und beobachtete eine Krähe, die auf dem Krocketfeld eine Pekannuss vergrub. In letzter Zeit wollte kaum noch einer spielen. Mack fehlte das. Während er die Krähe beobachtete, stellte er sich verschiedene Schläge vor, die er machen würde. Immer erzählten sie einem, dass Krähen schlau seien. Wenn er sich die hier beim Dreckpicken anschaute, kamen ihm Zweifel. Dieser bescheuerte Vogel hatte sich den härtesten Untergrund im ganzen Bezirk ausgesucht. Jahrelang hatten Füße und Schuhe von Menschen, die Krocketbälle von Bogen zu Bogen und Pfosten zu Pfosten trieben, das Spielfeld hart und glatt getrampelt. Zudem buddelte der Vogel sein Versteck direkt vor seinen Augen. Die Krähe hielt inne und schaute von der Seite mit einem Auge zur Straße, die Richtung Norden führte, riss dann den Kopf herum und schaute mit dem anderen in die gleiche Richtung. Dann machte sie ein paar Hüpfer, sprang ohne die Nuss in die Luft, stieg schnell auf, drehte eine Runde über dem Laden, stieß ein paar hei sere, nasale Schreie aus und ließ sich in der Eiche nieder, die im 168
hintersten Eck des Hofes stand. Mack schaute die Straße hinunter. Es kam jemand. Zuerst sah er Lev James und dessen langen schwarzen Bart, der in zwei geflochtenen Zöpfen auf das früher mal blaue Hemd herunterhing. Inzwischen war es so verschwitzt, dass es schon schwarz aussah und an seinem Körper klebte wie eine zweite Haut. Er führte ein Maultier hinter sich her. Die rechte Hand hielt den Doppellauf seiner Schrotflinte, der Schaft lag auf seiner Schulter. Die Art, wie er das Gewehr hielt, vermittelte den täuschenden Ein druck, als wäre er nicht zum Kampf bereit. Aber Lev James war immer zum Kampf bereit. Mack erinnerte sich an das längste Krocketspiel, das je im Bezirk stattgefunden hatte. Das war vor einigen Jahren gewesen, während der Aussaat. Das Wetter war gut, und alle waren bester Laune gewesen, als sie im Laden zusammenkamen. Es war ein Samstag abend gewesen. Das erste Spiel machten sechs Männer, die schon einiges von dem Whiskey intus hatten, den Arch spendierte. Drei Teams: Tooch Bedsole und Lev James, die Cousins waren, die Brü der Huz und Buz Smith und zwei Schotten, die von der anderen Seite des Flusses stammten. Sie waren zwei von fünf Brüdern, die im Laden nach Whiskey gefragt hatten und eingeladen worden waren. Das Spiel begann damit, dass die Männer ihre verschiedenfar bigen Kugeln zum Zielpfosten schlugen, um zu bestimmen, welches Paar anfangen durfte. Die Leute versammelten sich am Spielfeld rand. Unter ihnen Archs Vater Ed, der selbst gern bei den Spielern gewesen wäre, wenn seine Beine noch mitgemacht hätten. Er saß in einem Rollstuhl, rauchte Pfeife und trank aus seinem Krug. Vor jedem Schlag berieten sich die beiden Spieler eines Teams unter einander und mit Ed. Oft dauerte es zehn, fünfzehn Minuten, um die beste Strategie festzulegen, und dann noch mal ein paar Minu ten, um die Beschaffenheit des Bodens zu diskutieren und wohin man die Kugel schlagen solle und so weiter und so fort. Bei sechs Spielern zog sich das Spiel bis in den Abend und in die Nacht hinein. 169
Arch holte Laternen aus dem Laden, mit denen die Jungen − auch Mack und William − das Spielfeld beleuchten mussten. Um kurz nach neun − es lief die sechste Stunde − traf einer der Stewart-Brüder mit einem weiten Bogenschuss Lev James’ rote Kugel. Ein Glückstreffer. Der Schotte ließ seinen Siegesschrei los, Kikeriki, den Lev sich an diesem Abend schon ein paarmal zu oft hatte anhören müssen. Wetten waren abgeschlossen worden, und Lev hatte zehn Dollar gegen einen der Schotten gesetzt. »Was ist, zahlst du jetzt aus?«, fragte der Schotte. Lev kochte und flüsterte Tooch etwas zu. Der Stewart, der Levs Kugel getroffen hatte, ging zu der Kugel, legte seine grüne Kugel daneben, stellte seinen Fuß drauf und jagte Levs Rote quer über den Platz und über den Spielfeldrand hinaus. Die Kugel schoss knapp an Eds Rollstuhl vorbei, durch die Hütte neben dem Haus und rollte schließlich von da unter den Boden des Ladens. Der Schotte ließ wieder seinen Schrei los und veranstaltete ein kleines Tänzchen. Der Whiskey tat seine Wirkung. Arch hatte sich inzwischen an einen der Brüder gewandt und ihm gesagt, er hielte es für unklug, einen betrunkenen Lev James gegen sich aufzubringen − oder auch einen nüchternen. Aber die Stewarts waren Schotten, sie hörten nicht. Lev schickte Mack unter den Laden, um die Kugel zu holen. Als der sie gefunden hatte und verdreckt und voller Spinnweben wie der unter dem Haus hervorkroch, hatte der Kampf schon ange fangen. Die Männer feuerten Lev und den Schotten an, die sich im Staub wälzten. Sie warfen einen Tisch samt halb aufgegessenem Obstkuchen um und rollten dann unter einem Wagen hindurch, den darauf das aufgeschreckte Maultiergespann trotz angezogener Bremse bis ins Baumwollfeld zog. Mack hielt seine Laterne hoch, und schnell wurde ihm und den anderen bewusst, dass hier kein Kampf, sondern ein Massaker im Gange war und der letzte Schlag des Stewart-Burschen oder irgendein anderer Hinweis, ob er noch atmete, schon eine ganze Zeit zurücklag. Da war nur noch Lev, der schlug und trat, mit Eil 170
bogen und Knien rammte, würgte, in die Augen stach und an den Haaren riss, kratzte und biss und schließlich auch noch mit einem Krocketpfosten prügelte. Alles binnen zwei, drei Minuten. Zwei der Stewart-Brüder rannten zu ihren Maultieren, um ihre Pistolen zu holen, doch Tooch hatte seine schon in der Hand und hielt sie auf. Der Sieger solle im fairen Kampf bestimmt werden. „Was ist daran fair?«, schrie ihn einer der Schotten an, doch der Kampf ging ungehindert weiter. Keiner zweifelte daran, dass Lev den Bruder der Stewarts umge bracht und Tooch dabei zugeschaut hätte. Bis Arch meinte, es sei jetzt genug. Tooch sagte den Schotten, sie könnten, wenn sie woll ten, die beiden trennen, dass er sie aber erschießen würde, sollte einer von ihnen eine Pistole oder ein Messer anfassen. Zwei der Brüder packten Lev an den Beinen, zwei unter den Armen. Damit war der Kampf beendet. Lev riss sich los und fing an zu lachen, sein Gegner blieb regungslos liegen. Die Stewarts wuchteten ihren Bruder quer über dessen Maultier und ritten davon. Das Spiel wurde ohne die Kugeln der Stewarts fortgesetzt, und Lev und Tooch hatten Huz und Buz Smith kurz nach Mitternacht besiegt. Das war allerdings noch nicht das Ende der Geschichte. Damals gab es eine Fähre über den Fluss, die außer Menschen, Pferden, Wagen und Waren auch Nachrichten transportierte. Mehrere Wochen nach dem Spiel überbrachte der Fährmann die Nachricht, dass sich einer der Stewart-Brüder das Genick gebrochen habe und gestorben sei. Sein Pferd hatte ihn abgeworfen. Ein paar Monate nach der Beerdigung kam der nächste in den Flammen seines Hauses ums Leben. Die Kerosinlampe muss explodiert sein, lautete eine Theorie. Ein halbes Jahr darauf war der Dritte dran. Schlangenbiss, zweimal. Man fand ihn unter seinem Bettzeug mit zwei Mokassinschlangen, die sich um seine kalten Füße ringelten. Wenige Monate danach ertrank einer, als sein Boot kenterte. Inzwischen reagierten die Leute auf die Neuigkeiten anders. Sie warteten auf die Meldung vom nächsten verstorbenen Stewart in 171
etwa so, als warteten sie auf die Nachricht, wen man zum Gou verneur gewählt habe. Der letzte Bruder, der, der gegen Lev gekämpft hatte, bekam es immer mehr mit der Angst. Man erzählte sich, ihn habe Levs Daumen ein Auge gekostet, und dass er wegen der verpfuschten Behandlung eines Beinbruchs das rechte Bein nachziehe. Eine Fin gerkuppe fehle, abgebissen. Er habe Narben im Gesicht, und von den vielen Schlägen auf den Kopf zitterten ständig seine Hände. Jedes Mal, wenn einer die Geschichte erzählte, wurde die Liste län ger. Er habe sich, so berichtete der Fährmann, mit all den Waffen seiner toten Brüder im Haus verschanzt und warte auf Lev und Tooch. Aber sie kamen nie. Er wartete weiter. Sie tauchten nicht auf. Schließlich konnte er vor Angst nicht mehr schlafen und wur de verrückt. Seine Frau nahm die Kinder und floh. Und er blieb zurück, lugte durch die Fenster nach draußen und schoss auf alles, was sich bewegte. Die Prozession, die den Laden ansteuerte, kam näher. Mack konnte jetzt erkennen, wer mit gefesselten Handgelenken auf dem Maultier saß, das Lev führte − Shorty Owen, ein Schwarzbrenner. Der Mann, auf den das offene Grab wartete. Hinter dem Maultier ging War Haskew. Er humpelte, seine Hose war unterhalb des linken Knies blutig. War war ein gut aussehen der Bursche. Gerade weiße Zähne, glatt rasiert, volles blondes Haar. Neben ihm ging Kirk James, der seine und Wars Schrotflinte trug. Kirk war ein paar Jahre älter als Lev, hatte aber keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Bruder. Während Lev ein Baum von einem Mann war, kantig und knorrig, war Kirk ein winziges schmächti ges Bürschchen. Mickrig. Eins sechzig. Dünne Arme, dünne Beine, schmaler Rumpf. Runde Schultern, große Ohren und eine Nase wie das Blatt einer Axt. Als Kinder hatten William und Mack ihn Geier genannt. Kirk und Lev waren die Kinder einer Prostituierten, deren Sprösslinge fast alle von verschiedenen Vätern stammten. Einer war getürmt, als sie mit Lev, ein anderer, als sie mit Kirk schwanger war. Es gab noch andere Geschwister. Manche lebten 172
ganz in der Nähe, andere hatten sie nie gesehen. Es ging das Ge rücht, dass Lev und Kirk ihre Mutter aufgehängt hätten, weil sie eine Hure war. Am Ende, hinter allen anderen, ging Macks Bruder. William zog eine schmutzige Decke hinter sich her, auf der mehrere Krüge mit je einer Gallone schwarzgebranntem Whiskey lagen. Er sah Mack auf der Veranda, fing an zu grinsen und hob eine Hand. Die Prozession aus Maultier und Männern kam vor Mack zum Stillstand. Shorty Owens zerschlagenes Gesicht hing herunter, die Schultern waren wegen der hinter dem Rücken gefesselten Hände zurückgezogen. Die Männer standen jetzt nebeneinander vor der Veranda. »Junge«, sagte Lev im Befehlston. »Sag Tooch Bescheid.« »Ja, Sir«, sagte Mack und drehte sich zur Tür um. Tooch stand schon da und schaute durch das rostige Fliegen gitter auf seine Männer. »Na, wen haben wir denn da?«, fragte er und machte eine verächtliche Handbewegung in Richtung Owen. »Den Mann, der unser Angebot abgelehnt hat. Der lieber mit unserm erhabenen Sheriff freundlich tut als mit seinen eigenen Leuten.« Mack drückte sich langsam an der Hauswand entlang zum Ende der Veranda. Tooch hatte sich inzwischen War Haskew zugewandt, der sein blutiges Bein begutachtete »Hat er dich erwischt, War?« »Nur ein Kratzer«, sagte Haskew. »Nichts Schlimmes.« »Du hättest dich an uns halten sollen, Shorty«, sagte Tooch. »Jetzt kannst du deinen Selbstgebrannten nicht mehr genießen.« »Du auch nicht«, sagte Owen. »Das ist extrastarker Stoff, das Rezept ist nirgendwo aufgeschrieben.« »So eine Brennerei kriegen wir auch noch zum Laufen«, sagte Lev. Er ging die Stufen hinauf, stellte sich neben Tooch und setzte sich dann auf den Rand der Veranda. Seine Flinte legte er neben sich. Das Gesicht war mit Asche eingerieben. »William«, sagte er. »Bring mal einen her.« William machte das Seil los, mit dem die 173
Krüge zusammengebunden waren, und brachte Lev einen. Der zog den Stöpsel heraus und schnüffelte an der Öffnung. Seine Miene entspannte sich. »Mais«, sagte er. »Das weiß ja inzwischen jeder«, sagte Owen. »Ich nehm schon seit Jahren keine Kartoffeln mehr.« Lev schloss die Augen und nahm einen kräftigen Schluck. Er ließ ihn im Mund hin und her schwappen, legte danach den Kopf nach hinten und ließ dann den Whiskey langsam durch die Kehle rin nen. »Du tust Zucker rein, stimmt’s?«, sagte Lev, als er wieder atmen konnte. Seine Augen waren feucht, als er sie wieder öffnete. »Ist das das Geheimnis, Shorty?« Owen schien nervös zu werden. »Ach was«, sagte er. »Da ist schon noch ein bisschen mehr dabei.« Sogar Mack merkte, dass er log. »Sieht ganz so aus, als hätten wir einen wahren Künstler im Whiskeybrennen unter uns«, meinte Tooch. »Gib mir auch mal ‘n Schluck, Lev.« Während Tooch probierte, fing Lev an, direkt vor Owens Augen aus einem Seil eine Schlinge zu knoten. Es wurde dunkel. Die Sonne warf ihre letzten zähen Strahlen über die Felder. »Tja, wisst ihr was, Jungs?«, sagte Owen und schaute dabei Tooch an. »Ich hab meine Meinung geändert. Ich nehm dein Angebot doch an. Mein Gewehr gehört dir. Die beiden Brennereien auch. Also dann, Krieg dem Gesetz oder wem auch immer, der euch auf die Nerven geht.« »Deine drei Brennereien gehen an mich«, sagte Tooch. »Und dein Gewehr und alles, was wir in deiner Hütte sonst noch so finden. Das Maultier da auch. Und die Hühner samt Eiern, die sie rausscheißen. Wenn du jemals eine Frau gehabt hättest, wär sie jetzt meine Konkubine, wie’s in der Bibel so schön heißt.« »Tja, hört sich fair an«, sagte Owen. »Ihr habt mich geschafft. Ich steh in euren Diensten.« 174
»Lev«, sagte Tooch und Lev ging mit der Schlinge in der Hand auf Owen zu. Mack drückte sich an die Wand, er machte keinen Muckser. Das war weit mehr als alles, was sie ihn bis jetzt hatten sehen lassen. Sein Herz krampfte sich auf merkwürdige Art zusammen − gleich würde er sehen, wie Shorty Owen aufgeknüpft in der riesigen Eiche hing, in der noch immer die Krähe saß und die halb vergrabene Pekannuss im Auge behielt. »Mack«, sagte Tooch. Lev hielt inne. Sogar Shorty Owen schaute ihn jetzt einen Augenblick an. Die Rippen zogen sich zusammen vor Erleichterung und Ent täuschung. Er senkte den Kopf, als er einen Schritt vortrat. »Sir?« »Los, rein mit dir.« Mack drehte sich um, warf einen letzten Blick auf die Krähe, öff nete die Fliegengittertür und schloss sie dann hinter sich. Jetzt schaute er sich nicht mehr um, sondern er ging zwischen den Re galen hindurch zu seinem Zimmer. Er schloss auch diese Tür und setzte sich aufs Bett. Ihm gegenüber standen die Gewehre im Stän der. Er nahm eine Winchester Model 94, klappte den Bügelhebel nach unten, hörte das ratschende Geräusch. Dann zielte er auf die Deckenbalken und ließ den Hahn zuschnappen, klick. Danach ließ er sich, das Gewehr fest an die Brust gepresst, rückwärts aufs Bett fallen. Kurze Zeit später hörte er Schritte. Tooch. Er kam ohne anzu klopfen herein. Mack stand auf. »Los«, sagte er. »Ich hab Arbeit für dich.« Mack kam sich klein vor, als er hinter Tooch durch den Laden, über die Veranda und dann die Stufen hinunterging. Die Männer standen um Shorty Owens Körper herum, der in seiner schmutzi gen langen Unterhose auf dem Boden lag. Der Rest seiner Sachen befand sich auf einem dreckigen Haufen neben ihm. Obwohl sie zu klein für ihn waren, hatte sich Lev schon die Schuhe genommen. 175
Er löste die Schlinge, während die anderen den Krug herumgehen ließen und tranken. Mack schaute sich den Toten an. Der Hals war rot, die Unterhose nass. Er stopfte die Hände in die Taschen. »Hol die Schaufel«, sagte Tooch und deutete beiläufig auf den Körper. »Du weißt, was du zu tun hast.« Mack nickte und rannte los. Die Schaufel hing an einem Haken in der Hütte neben dem Pferdestall. Das Pferd hörte ihn kommen, trottete aus dem Schatten nach vorn und steckte das Maul mit den gelben eckigen Zähnen durch die Bretter. Vom Rand der Senke warf er die Schaufel mit der Schippe voraus den Abhang hinunter. Sie schlitterte durchs Laub und klapperte über die Steine bis ganz nach unten. Dann lief er zurück zu der Leiche, die nun allein im Hof lag. Die Männer saßen auf der Veranda und tranken. Tooch ließ War Haskew von dem Überfall, der Schießerei und Owens Kapitulation erzählen. Der tote Mann lag unverändert auf dem Bauch. Mack packte ihn an einem Knöchel, hob das Bein an und war überrascht, wie schwer es war. Dann schleifte er den Körper über den Hof. Am Waldrand ging ihm die Kraft aus, und er merkte, dass er die Luft angehalten hatte. Er ließ den Fuß auf den Boden fallen und stützte sich auf die Knie. Ihm war schwindelig. Bevor einer von der Veranda etwas merkte, hatte er sich erholt, packte wieder den Fuß und zog den Toten ins Gebüsch. Auf der Veranda zündeten sie sich gerade mit einem Stück Feuerholz ihre Zigarren an. Mack machte sich daran, Owen die steile Böschung hinunter zurollen − eine leichtere Arbeit als das Ziehen und Zerren über die flache Erde. Zweimal blieb der Alte an einem Baumstumpf hängen, aber Mack bekam ihn mit dem Fuß schnell wieder frei. Kurz darauf lag Owen neben seinem Grab. Jetzt war es Zeit, ein paar Worte zu sprechen. Mack hatte nur selten mit Shorty Owen zu tun gehabt, aber der Mann war ihm in angenehmer Erinnerung. Vor Jahren, anlässlich eines KrocketSamstags, schenkte er Mack genau hier vor dem Laden ein Hirsch geweih mit vier Enden, das er im Flussbett gefunden hatte. Als 176
Mack ihn nach den winzigen Kratern fragte, die in das Horn ein gefressen waren, hatte ihm der alte Mann erklärt, dass es als Nah rung für Mäuse und andere kleine Schädlinge diene und das Geweih, wenn er es nicht zwischen den Blättern entdeckt hätte, bald völlig aufgefressen gewesen wäre. Mack suchte nach einem passenden Bibelvers, erinnerte sich aber nur an einen, wo es darum ging, dass alles seine Zeit hatte. Es gab eine Zeit zum Steinesammeln, eine, um sie wegzuwerfen, eine zum Sterben. Leise, damit man oben seine Stimme nicht hörte, sagte er auf, woran er sich aus der Aufzählung erinnerte. Doch die Verszeilen erschienen ihm leer und nicht angemessen, um neben einer Leiche gesprochen zu werden. Alles hat seine Zeit. Was bedeutete das? Er suchte nach etwas anderem. Aber es fiel ihm nichts ein. Also nahm er die Schaufel, klemmte sie unter Owens Körper und stemmte ihn in das Loch, dessen Grund mit Schlamm bedeckt war. Er blieb mit dem Gesicht nach oben liegen. Ein Arm fiel auf den Körper, der Mund stand offen, aber die Augen waren geschlossen. Mack war froh darüber. Er schaute sich Owen genau an. Im Halbdunkel sah der Mann nicht wie ein Toter aus, eher wie ein Schlafender. Einmal bewegte sich sogar ganz leicht seine Brust. Tooch hatte gesagt, dass sich Tote oft noch bewegen. Der Schwanz wurde hart, ein Fuß konnte noch zucken, ein Finger sich krümmen. Während Mack Erde in das Grab schaufelte, begannen die grü nen Schattenwolken der immergrünen Bäume und die grauen Pfäh le der Platanenstämme zurückzuweichen. Wie das steigende Wasser einer Flut umspülte die Nacht Macks Füße und schwappte den Hügel hinauf. Bei einbrechender Dunkelheit hatte er immer das Gefühl, er säße in der Falle. Bevor es so dunkel wurde, dass er nichts mehr sehen konnte, kletterte er die Böschung hinauf, überquerte das Krocketfeld und ging auf der Veranda an den lachenden, betrun kenen Männern vorbei, um aus dem Laden eine Laterne zu holen. »Hast du ihn immer noch nicht unter der Erde?«, sagte Lev. »Hast ihm wohl vorher noch dein Ding reingesteckt, was?« 177
Alle lachten, William am lautesten. Während Mack im Laden die Laterne mit Öl füllte, hörte er, wie Lev den Witz von einem Mann erzählte, der es gern mit toten Mädchen machte. Der Kerl war laut Lev so hässlich, dass er nie eine Lebende erwischt hatte. Nicht mal eine Hure, so viel Geld gab’s auf der gan zen Welt nicht. Einmal hatten sogar zwei tote Mädchen, mit denen er schon zugange war, mittendrin versucht abzuhauen, sagte Lev unter dem Gelächter der Männer. Der Kerl hatte immer wieder bei Beerdigungen von Mädchen zugeschaut, und wenn die Trau ergäste gegangen waren, hatte er sich durch den Dreck gebuddelt, wenn’s noch ging, und dann über die Mädchen hergemacht, wenn’s bei denen noch ging. »Einmal waren die Beine ganz steif gefroren«, erzählte Lev. »Hat ‘ne Ewigkeit gedauert, bis er die Beine auseinander hatte.« »Du musst es ja wissen«, sagte War Haskew, und alle brüllten von neuem los. Als Mack zum Grab zurückkam, war etwas anders. Eine Hand ragte aus der Erde. Mack starrte sie an. Eiskalt kroch es ihm durch die Eingeweide, als ob Owens Geist durch seinen Körper führe. Er drehte sich um und schaute nach oben, wo vor dem letzten, ver blassenden Glanz des Himmels die Silhouetten der Bäume dämo nische Formen angenommen hatten und mit ausgestreckten Armen und knochigen Fingern auf ihn deuteten. Gelächterfetzen. Er drehte sich wieder um, hielt die Laterne hoch und sah, dass sich die Hand noch einmal bewegt hatte. Jetzt öffnete sie sich. Und schloss sich. Mack hielt den Atem an, als sich der Arm aus der Erde löste und am Ellbogen abknickte. Dann kam auch der zweite heraus. Schließ lich fingen beide Hände an, die Erde über Shorty Owens Gesicht wegzukratzen. Die dicken Lippen kamen zum Vorschein, dann das ganze dreckschwarze Gesicht. Er hustete und spuckte. Rieb sich mit beiden Handballen die Augen, setzte sich auf und schnippte den Dreck von den Fingern. 178
»O Gott«, flüsterte Mack und streckte die Hände nach dem Schaufelstiel aus. Owen machte den Mund auf und zu. Er drehte den Kopf und fasste sich mit beiden Händen an den Hals, als wolle er sich selbst würgen. Dann sah er Mack, und die Erinnerung kehrte zurück. »Komm schon, Junge«, krächzte er. »Hilf mir hier raus.« Mack schüttelte langsam den Kopf. Er fühlte sich wie festge kettet zwischen Laterne und Schaufel, als ob er nur deshalb lebe, weil er Dinge hochhalten könne. »Brauchst mir nur den Stiel von der Schaufel hinzuhalten, dann zieh ich mich selbst raus.« Owen streckte die Arme hoch. »Erfährt kein Mensch. Ich verpiss mich auf der Stelle. Und zwar aus der gan zen Gegend hier. Brauchst keinem was zu sagen. Schippst einfach das Loch zu. Gib mir ‘ne Sekunde zum Verschnaufen, dann helf ich dir sogar dabei. Herrgott noch mal.« Er versuchte aufzustehen, knickte dabei aber ein und fiel auf die Knie. »Mann, das war knapp«, sagte er. »Die Jungs da oben sind so dicht, die können einen nicht mal anständig aufhängen. Dabei sollte man meinen, dass sie das doch im Schlaf draufhaben.« Er versuchte, sich auf Hände und Knie zu stützen. Dabei schaute er zu Mack hoch. Ein gequälter Glanz lag in seinen Augen. »Ich glaub, ich hab mich voll geschissen«, sagte er. »Gehört sich nicht, dass ein Junge einen Mann so sieht. Ich war im Krieg, hab tapfer gekämpft, hab sogar einmal zwei Yankees geschnappt. Reich mir jetzt mal die Schaufel runter, na, komm schon.« Mack schaute nach oben. Das Gelächter schwappte zu ihnen in die Senke. Er konnte die Umrisse des Baums sehen, an dem sie Owen aufgehängt hatten. Er hatte schon andere hier unten begra ben − noch einen Schwarzbrenner und den Händler, der von Lev umgebracht worden war. Manchmal war er beim Graben auf die Hand oder das Gesicht eines der beiden anderen Toten gestoßen. »Jetzt mach schon, Schätzchen«, krächzte Shorty Owen vom Boden des Grabes. »Zieh mich raus. Ich hol mir ja den Tod hier unten.« Er beugte den Kopf vor, würgte und übergab sich. Seine 179
Unterhose war schwarz vor Dreck. »Seh ziemlich beschissen aus heute«, sagte er dann und wischte sich einen Schleimfaden vom Kinn. »Na ja, schätze, ein Mann, der dem Höllenfeuer entkommen ist, sollte nicht groß drüber jammern, wie er erlöst worden ist, stimmt’s?« Er lächelte. Dann hievte er sich auf die Knie und stützte die Hände auf die Oberschenkel. »War glatt gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich mich jetzt nicht besser fühle. Haarscharf am Tod vorbei ist auch nicht groß anders als ‘n ganz normaler Kater.« Mack wurde die Laterne schwer. Er senkte den Arm, und der Lichtkegel, der sie beide beleuchtete, schrumpfte. Owen hatte ange fangen zu husten. Mack drehte sich wieder um und schaute nach oben. Ein gewaltiger Rülpser samt Echo schallte herüber. Als sich Mack wieder umschaute, versuchte Owen gerade aufzustehen. Wie er sich an den Wurzelschlingen, die aus den Wänden des Grabes herausragten, emporhangelte, erinnerte er Mack an ein Baby, das sich an allem hochzieht, was es zu fassen kriegt. Und Babys hatte Mack viele gesehen, als er in seiner Kindheit die Witwe begleitete, lebend geborene und tot geborene. Schließlich schaffte es Owen auf seine Füße und stützte sich an den Wänden des Lochs ab. »Ganz schön tiefes Loch, das du da gegraben hast.« Er strich mit einem Finger über die Kante. »Erstklassige Arbeit. Du hast Zukunft als Totengräber, das ist mal sicher. Als Mann, der von den Toten auferstanden ist, kann ich mich für deine Arbeit verbürgen.« Mack wurde schwummrig. Er ging in die Knie, hielt die Schaufel und die Laterne aber weiter fest umklammert. Owen versuchte aus dem Loch zu klettern. Er streckte Mack die Hand hin. »Es geht nicht«, sagte Mack. »Wenn ich Sie laufen lasse, kommen Sie wieder. Lind dann kommt alles raus.« Der alte Mann hustete und rieb sich den Hals. Die Ellbogen lagen auf dem Rand des Grabs. »Ich komm nicht wieder, ganz sicher. Scheiße, wer würde sich nach so was noch mal hier blicken lassen?« 180
Mack schaute die Böschung hinauf. Niemand kam. Er schaute wieder den Alten an. Dann streckte er beide Hände aus, und Shorty Owen packte sie. Mack stemmte sich mit den Füßen gegen die Wurzeln einer Magnolie und wurde fast selbst ins Loch gezogen, während er Owen herauszerrte. Schließlich lagen der stinkende Alte und Mack einen Augenblick keuchend nebeneinander. Owen setzte sich auf. »Jetzt könnte ich meine Schuhe gebrau chen«, sagte er. »Ich kann unmöglich barfuß gehen auf dem harten Boden.« Mack schüttelte den Kopf. »Verschwinden Sie, los. Die bringen uns beide um.« Shorty nickte und fasste sich dabei an den Hals. »Schon klar, mein Junge. Ein Mal hängen am Tag reicht.« Mack schaute den Abhang hinauf und erwartete, Tooch oben stehen zu sehen. Aber er sah nichts, und als er sich wieder um drehte, war auch Shorty Owen verschwunden. Mack bückte sich, fing an, wie ein Wahnsinniger zu schaufeln, und schaute zwischen durch immer wieder den Hang hinauf.
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V
Mit dem Händler als Führer verbrachte Ardy Grant ein paar Tage in Mitcham Beat und lernte so die Landschaft, die mit ten in der Ernte steckenden Bewohner und die Gerüchteküche kennen. Thema Nummer eins war natürlich die in der Gegend ope rierende Bande. Er hörte von abgefackelten Häusern, bedrohten Menschen, getöteten Hunden. Von zerschossenen Fenstern, vergifteten Brun nen, niedergerissenen Zäunen. Er hörte, was sie mit der Schwar zenkirche angestellt hatten. Und wie sie Joe Anderson aufgelauert und ihn ermordet hatten. Aber man erzählte ihm auch unbedeutendere Geschichten. Dass sich die Leute ihm und dem Händler gegenüber all dies von der Seele redeten, fand er merkwürdig, weil er wusste, wie verschwiegen sonst Leute vom Land waren. Er wusste es, weil auch sein Vater und seine Mutter vom Land stammten − nicht aus Mitcham Beat, eigentlich aus keinem bestimmten Landstrich, denn sie waren umherziehende Farmer gewesen. Ein Paar, das Jahr um Jahr unterwegs war und immer an dem Ort blieb, wo ein wohlhabender Mann die beiden mit Geld und Naturalien ausstattete. Im Tausch für ein Maultier, Saatgut, Dünger, Werkzeuge und Unterkunft lieferten sie Arbeit. Sie rodeten, pflügten, säten, stutzten, pflückten und karrten schließlich die Ernte auf den Markt. Sie blieben ein Jahr, vielleicht zwei, aber immer geriet sein Vater mit dem Grundbesitzer oder dem Gesetz in Konflikt, und dann flohen sie mitten in der Nacht und ließen jedes Mal Schulden zurück. Eines Frühjahrs − wieder mal auf der Flucht − waren sie in einem Ort nahe Grove Hill gelandet. Ardy, der damals drei Jahre alt war, hatte keine Erinnerung mehr an diese Zeit. Die Familie kam zu Fuß an, mit nichts als ihrer Kleidung am Leib, ein paar Habseligkei182
ten, die der Vater trug, und Ardy, den die Mutter trug. Neben einer Hütte am Rande eines Feldes machten sie Halt. Zwischen den Holzbrettern, aus denen die Wände zusammengezimmert waren, klafften große Lücken, die meisten Dachschindeln hatte der Wind weggeblasen. Ardys Vater, so die Geschichte, hatte die Familie schließlich dort zurückgelassen, um nach Essen oder Arbeit oder beidem zu suchen. Lebend sahen sie ihn nie wieder. Der Besitzer der Hütte und des ganzen Landes drum herum brachte ihn am gleichen Abend zurück − tot. Er hatte ihn für einen Dieb gehalten und erschossen. Er habe Ardys Vater in seinem Räucherhaus überrascht, als der − so der Landbesitzer − einen Schinken stehlen wollte. Ardys Mutter war eine attraktive Frau mit einer guten Figur und Augen, die so grün waren, dass die Leute stehen blieben, wenn sie sie sahen. Wer weiß, was für Gedanken sie hatte und wie sie durch einander gerieten oder wie sie sie wieder in Ordnung brachte, sodass es ihr möglich war, nur sechs Monate später den Mann zu heiraten, der ihren Ehemann getötet hatte. Damals wusste er das nicht, aber Ardy war in dem Haus des Mannes aufgewachsen, der seinen Vater ermordet hatte. Er sprach den Mann mit Mr. Carter an, genau wie seine Mutter. Sie trugen jetzt bessere Kleidung, hat ten genug zu essen und schliefen in der flackernden Hitze von Mr. Carters Kaminen, die sich in jedem der großen hohen Räume des zweistöckigen Hauses fanden. Direkt unter den Decken verliefen Bilderleisten, an denen Porträts von Mr. Carters Vater, seiner Mutter und den grauhaarigen Onkel hingen. Mr. Carter war ein durch und durch anständiger, wenn auch zurückhaltender Mensch. Es konnte passieren, dass er Ardy eine Woche nicht anschaute oder einen ganzen Monat kein Wort mit ihm sprach. Anweisungen ließ er dem Jungen oft durch die Mutter ausrichten. »Sag ihm, dass er Holz holen soll.« Dann stand Ardy auf, noch bevor seine Mutter die Anweisung wiederholen konnte. Die Mahlzeiten nahmen sie schweigend ein. Niemand sprach, außer Mr. Carter das Tischgebet, in dem er immer Gottes Segen 183
erbat für sich, sein Land, seine Pachtbauern und am Schluss für sei ne Frau. Jedoch nie für Ardy, der schon als Kind die Vorstellung hatte, dass Gott ihn nicht beachte. Denn wie konnte ein so großes und weit entferntes Wesen wie Gott ihn beachten, wenn schon Mr. Carter es nicht tat? Allerdings kam jeden Abend, nach jeder Missachtung, wenn Carter zu einem seiner Pachtbauern unterwegs war, Ardys Mutter für ein, zwei Stunden in sein Zimmer. Jeden Abend lag sie vor sei nem Bett auf den Knien, umklammerte ihn und betete in panischem Flüsterton zu Gott, bitte, bitte, bitte ihren kleinen Ardy zu beschüt zen. Ihre Liebe fasste er als Fürsprache bei Gott auf. Dabei drückte sie ihn so sehr, dass er dabei an den Unterarmen blaue Flecken bekam, und hatte die Augen so fest geschlossen, dass er glaubte, sie hätte Schmerzen. Er sah, dass die Konzentration während der gezischten Gebete die Schönheit aus ihrem Gesicht vertrieb, und er begriff intuitiv ihre Angst, Gott würde ihr vielleicht nicht zuhö ren. Entsprechend deutete er die ruhige Selbstgewissheit Carters beim Tischgebet so, dass Gott ihm immer zuhörte. Was war von einem Jungen zu halten, der ohne Gottes wachende Blicke aufwuchs? Ardy wusste nicht, dass andere Familien anders lebten, bis ihm später ein befreundeter Junge nicht nur erzählte, wie merkwürdig es im Hause Carter zuging, sondern auch, was außer Ardy jeder wusste: dass nämlich Mr. Carter seinen richtigen Vater getötet hatte. Als Ardy seine Mutter nach einem ihrer Ge bete danach fragte, verkrallte sie in ihrer Inbrunst die Finger so fest in seine Arme, dass er blutete. »Red nie wieder davon, hörst du? Nie wieder!« Und er gehorchte. Obwohl er auf die Frage, warum seine Mutter den Mörder ihres Mannes geheiratet hatte, nie eine Antwort erhielt, stellte er sich selbst auch nie die Frage, warum er im Alter von sechzehn Jahren Mr. Carter tötete. Warum er sich von hinten anschlich, als Mr. Car ter sich in den Brunnen beugte, um das Seil zu entwirren, das Ardy heimlich verknotet hatte, warum er sich hinkniete, die Knöchel sei nes Stiefvaters packte und ihn in den Schacht stieß? Carter schrie 184
wie ein kleines Mädchen, als er kopfüber nach unten ins Wasser fiel. Dort angekommen, rührte er sich nicht mehr. Als sie ihn raus zogen, stellten sie fest, dass er sich das Genick gebrochen hatte. Sheriff Waite kam. Auf dem Weg, der hinter dem Haus ent langlief, ging er mit Ardy so weit weg, bis man sie nicht mehr sehen konnte. Im trüben Schatten der Weißeichen standen sie sich gegen über. Waite schob den Jackenaufschlag zurück, legte die rechte Hand auf seinen Pistolenkolben und sagte: »Also, Junge, hast du deinen Stiefvater umgebracht?« Ardy sagte: »Nein, hab ich nicht.« Und er fügte hinzu: »Warum sollte ich?« Waite musterte ihn. Schaute ihm in die Augen, die so grün waren wie die seiner Mutter. »Weißt du, wie dein richtiger Vater gestor ben ist?« »Mr. Carter hat ihn erschossen.« Abermals musterte Waite ihn. »Wie hast du’s erfahren?« »Das weiß doch jeder.« Der Sheriff schaute ihn an, er schaute zurück. Und da erkannte Ardy, dass Waite die Wahrheit ahnte, sie aber nie würde beweisen können. Was bedeutete, dass Ardy gewonnen hatte. Nach einer Weile sagte er: »Kann ich jetzt gehen?« Seine Mutter und er erbten alles, und sie fing an, Stück für Stück Carters Land und die Häuser darauf zu verkaufen. Das Geld brachte sie auf die Bank von Grove Hill. Eines Abends kam Ardy von einem Ausritt mit Carters Pferd, das er jetzt als sein eigenes betrachtete, nach Hause zurück und fand sie im Schaukelstuhl neben dem Kamin. Sie schaute ihn im Halbdunkel an. Seine Mutter hatte sich angewöhnt, vor dem Zubettgehen ein Glas Buttermilch zu trinken. Sie drehte das Glas in ihren Händen hin und her. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen und glaubte auch nicht, dass sie seines sehen konnte. »Hast du ihn in den Brunnen gestoßen?«, fragte sie. »Ja, Ma’am«, sagte er. »Warum?« 185
»Er hat meinen Vater getötet.« »Du hast deinen Vater gar nicht gekannt.« Und mit gleicher Stimme fuhr sie fort: »Ich hab nichts gemacht, was dich dazu hätte bringen können, so etwas zu tun. Etwas anderes hat dich dazu gebracht. Etwas, das aus dir selbst kommt.« »Vielleicht hab ich das von ihm.« »Von wem?« »Von Vater.« »Ja«, sagte sie. »Vielleicht.« Sie sprachen nie wieder über Carter. Ardys Mutter lebte kom fortabel, blieb unverheiratet und unternahm Zugreisen nach New York und an die Golfküste. Ardy machte sich im Alter von zwanzig Jahren mit einer Tasche voll Geld auf, um sich vom Rücken seines Pferdes aus den Westen anzuschauen. Als er erfuhr, dass sie gestorben war, kehrte er zurück. Zehn Jahre waren vergangen, er war inzwischen ein vollkommen anderer Mensch. Saß auf einem neuen Pferd, ließ den Blick über das wenige Carter-Land schweifen, das sie nicht verkauft hatte, und begriff, dass er nichts fühlte angesichts ihres Todes. Er ritt nach Grove Hill, um nachzufragen, wie viel Geld noch da war, und fand heraus, dass sie fast alles aus gegeben oder der Methodistenkirche gespendet hatte. Übrig waren nur das Haus und genug für ihre Beerdigung. Es war ihm egal. Während seiner Abwesenheit war Billy Waite dünner geworden. Winzige rote Adern zogen sich über die Wangenknochen, die Nase war größer und roter, und in den Augen des alten Mannes sah Ardy, als er ihm am vierten oder fünften Tag nach seiner Rückkehr auf der Veranda vor dem Hutmacherladen begegnete, dass der Sheriff immer noch glaubte, er, Ardy, habe Carter getötet. »Soso«, sagte Waite. Er verschränkte die Arme. Hinter ihm auf der Straße klapperte ein leichter Einspänner vorbei. »Wieder zu Hause.« »Hmm.« »Irgendwelche Pläne?« »Eigentlich nicht.« 186
Der alte Mann atmete aus. Sein Atem stank. »Dann könntest du mir leicht einen Gefallen tun. Verschwinde wieder. Erledige, was du zu erledigen hast, aber dann verschwinde. Okay?« Ardy lächelte. »Bin mir noch nicht sicher, was ich tun werde, Sheriff. Trotzdem vielen Dank für den Rat.« Der alte Mann ging weiter. Die Holzbohlen der Veranda ächzten unter seinem Gewicht. Eine Woche später traf Ardy im Friseurladen zufällig Oscar York. Auf dem Gesicht des Richters lag ein Handtuch, und der große bebrillte Friseur zog das glatte Rasiermesser über den ledernen Streichriemen. »Richter«, sagte Ardy. Oscars Hand zog das dampfende Stofftuch vom Gesicht. Seine Backen glühten rot. Einen Augenblick schaute er verwirrt, dann änderte sich sein Gesichtsausdruck. »Na, wenn das nicht Ardy Grant ist«, sagte er. »Wieder zu Hause?« »Ja, Sir.« »Mein Beileid«, sagte der Richter, der zwar aufstand, den Fri sierumhang aber anbehielt. »Hat mir sehr Leid getan, der Tod deiner Mutter. Wir alle haben uns immer wieder gern ihre Geschichten über den hohen kalten Norden angehört. Ich hab die Lobrede am Grab gehalten, hast du das gewusst? Deine Mutter und meine Lucinda waren sich so ähnlich wie ein Ei dem andern. Die haben zusammen so viel Tee getrunken, dass die Chinesen ihnen eigentlich ein Denkmal setzen müssten.« »Ist mir nicht leicht gefallen, so lange weg zu sein«, sagte Ardy, der sich kurz fragte, was seine Mutter den Leuten als Grund für die Abwesenheit ihres Sohnes erzählt hatte. »Tja, schätze, war wohl Reisefieber oder Fernweh oder so was«, sagte er. Als der Richter ihn freundlich nickend anschaute, entspannte sich Ardy. Er hätte es eigentlich wissen müssen, dass seine Mutter nie über hässliche Familiengeschichten reden würde, sondern immer nur gut über ihn gesprochen hatte. 187
»Das braucht ein Mann«, sagte der Richter. »Reisen, seinen Horizont erweitern. Ich war in Tuscaloosa im College. Als Junge gegangen, als Mann wiedergekommen.« Er zwinkerte. »Ja, Sir.« »Wie alt bist du jetzt, Ardy?« »Dreißig, Sir.« Oscar setzte sich wieder in den Stuhl und ließ sich rasieren, wäh renddessen plauderten die beiden, und der Richter fragte Ardy, ob er darüber nachdächte, in Grove Hill zu bleiben. Ardy entschied die Frage in derselben Sekunde und sagte, ja, er würde bleiben. Der Gedanke, dass Waite ihn immer noch verdächtigte, erregte ihn. In der nächsten Sekunde hatte er schon die Einladung zum Abend essen im Hause York angenommen, und um die Zeit, als sich die Grillen und Zikaden schon warm gesungen hatten, saßen er und der Richter, zwischen sich einen kleinen Korbtisch, auf der Veranda des Richters, tranken Limonade, und Ardy erzählte Geschichten aus Kalifornien, Idaho und Montana. Während er redete, hörte er sich selbst sagen, dass er in Wyoming als Deputy gearbeitet habe, er erfand Geschichten von eingesperrten Outlaws und schlüpfte selbst in die Rollen anderer. Schließlich spielte er sogar den Trauernden, als er von dem »einzigen Mann« erzählte, den er notgedrungen habe töten müssen, einen Burschen, der jünger als er, aber − und hier senkte er die Stimme − ein Vergewaltiger gewesen sei, der sein Recht auf Leben verwirkt hatte. »Die Welt ist verdorben«, sagte der Richter. »Nur zu oft seh ich es ja selbst. Diese Burschen vom Land sind wirklich brutal. Ist ein hartes Leben, wenn man andre Menschen verurteilen muss.« »Muss nicht so sein, Sir«, sagte Ardy. »Wir brauchen nur die richtigen Leute am Ruder. Das ist die einzige Chance, die wir haben.« »Darf ich fragen«, sagte der Richter und beugte sich zu Ardy vor, »ob du schon genauere Pläne hast, jetzt, wo du wieder zu Hause bist?« 188
»Zu Hause«, wiederholte Ardy. »Tja, da ich nun mal einige Erfahrungen als Gesetzeshüter habe, hatte ich gehofft, Sheriff Waite könnte vielleicht etwas Hilfe gebrauchen. Ich könnte die Zel len sauber machen oder ihm bei der Büroarbeit ...« »Ach was, da finden wir was Besseres«, sagte Oscar. »Lass mich nur machen. Auf unseren standhaften Sheriff hab ich etwas Ein fluss.« Er zwinkerte. »Wir sind Cousins.« Während des Abendessens bezirzte Ardy Mrs. York und ertrug ihre Geschichten über seine Mutter. Als er kurz nach neun das Haus verließ, machte er sich pfeifend auf den Heimweg. Er ritt zu Mr. Carters verstaubtem Haus, setzte sich im ersten Stock mitten zwischen die Spinnweben auf den Balkon, trank eine gute Flasche Sour Mash Whiskey und staunte darüber, welche Fäden das Schicksal sponn, wo sie begannen und wo sie endeten. Er erinnerte sich an Waite und seine Frage, ob er seinen Stiefvater getötet habe. An die Handschrift seiner Mutter. An das schwarze Mädchen, das er in Minnesota vergewaltigt, und den kleinen Buchhalter, dem er in Memphis in den Hals geschossen hatte. An ein gutes Stück Rindfleisch, das er in New Orleans gegessen, an ein Buch, das er gelesen, und daran, wie er in Dallas einen Rechtsanwalt um den erstklassigen Colt Peacemaker betrogen hatte, der ihm nun im Halfter schwer auf die Rippen drückte. Er erinnerte sich an ein brennendes Hotel und an eine Zaubervorführung, er erinnerte sich und erinnerte sich und erinnerte sich und erinnerte sich. Und all das unter einem dunkel gesprenkelten Himmel, von dem er − kurz bevor er volltrunken vom Stuhl kippte − einen Stern fallen sah. In diesem Moment sagte er sich, dass er schon bald Sheriff von Clarke County sein werde. Eine Woche später traf Oscar York Ardy im Speiseraum des Cun ningham Hotels und bat um ein privates Gespräch. In seinem Büro, hinter verschlossenen Türen, sagte der Richter zu ihm, Billy Waite wolle keinen Deputy. Aber Waite würde älter, und er brauchte dringender denn je Hilfe. 189
»Aus irgendeinem Grund ist er dir gegenüber voreingenommen«, sagte der Richter. »Weißt du, warum?« »Nein, Sir.« »Tja, er sagt nicht, warum oder warum nicht, er mag einfach den Gedanken nicht. Oder es hat mit dir gar nichts zu tun. Vielleicht will er überhaupt keinen und glaubt, er wird schon mit allem allein fertig.« Dann stand der Richter auf, schenkte ihnen Kaffee ein und erzählte Ardy über die Vorgänge in einer Gegend namens Mitcham Beat. Dass jeder da draußen immer ein Alibi habe. »Verdammt«, sagte der Richter. »Wenn’s diese Burschen schon im Paradies gege ben hätte, die hätten alle ausgesagt, dass Eva die Schlange nicht mal gesehen hat. Dann würden wir heute noch alle nackt rum laufen, und mit der Bibel war schon nach der Genesis Schluss gewe sen.« Er trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. »Wie würdest du das anpacken, wenn du Sheriff wärst?« »Nun ja, dazu will ich lieber nichts sagen«, sagte er. »Das könnte sich respektlos anhören. Gegenüber Sheriff Waite, meine ich. Wer bin ich, dass ich seine Methoden anzweifeln darf? Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag, Richter.« Er holte Tabak und Papier aus der Jackentasche und fing an, sich umständlich eine Zigarette zu drehen, um etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. »Nehmen wir an«, sagte er, »ich reite da unter anderer Flagge raus. Als Privatdetektiv. In Billings, Montana, hab ich das hin und wieder gemacht. Bin beim Besten überhaupt in die Lehre gegangen. Der Bursche hieß Chip Hurdle. Mal von ihm gehört, Richter? Macht nichts. Jedenfalls hat er mir alles über Detektivarbeit erzählt, was er wusste.« Ardy musste sich zusammenreißen, damit er nicht anfing zu grinsen. Der echte Chip Hurdle war ein Mann gewesen, dessen Frau starb, als er gerade unterwegs war, um ein paar Ziegen einzukaufen. Als die Frauen der Gemeinde die Beerdigung vor bereiteten und der Leiche das Kleid und die Unterwäsche auszo gen, stellten sie fest, die Frau war ein Mann gewesen. Als Hurdle nach Billings zurückkehrte, hängte man ihn auf. 190
Der Richter tippte sich ans Kinn. »Und was würdest du machen, als Detektiv?« »Nichts Ungesetzliches natürlich. Mich da draußen rumtreiben und etwas rumschnüffeln. Von denen kennt mich keiner. Vielleicht kann ich ein paar Fakten ausgraben, an die der Sheriff nicht ran kommt.« »Die sind ziemlich einsilbig. Halten zusammen. Und sie sind gefährlich.« »Wie man einen Menschen dazu bringt, dass er sich verrät, Rich ter, damit hab ich so meine Erfahrungen. Die fang ich mit ihrer eigenen Hinterlist. Und ... ich will ja nicht prahlen«, sagte er, klappte sein Revers zurück und ließ Oscar den Kolben seiner Pistole sehen. »Aber vor ein bisschen Gefahr ist mir nicht bange.« An seinen ersten beiden Abenden in Mitcham Beat − das war gegen Ende August − hatten er und der Händler sich mit dem Wagen bei Sonnenuntergang auf irgendeinen Hof gestellt. Dann warteten sie, bis die Familie vom Baumwollpflücken nach Hause getrottet kam. Ardy erzählte den Farmern den ganzen Abend seine Geschichten und fragte schließlich sanft nach den Vorgängen in der Gegend. Er holte so viel wie möglich über die Ereignisse und die Leute selbst heraus. Nie drängte er, die Einzelheiten setzten sich von selbst zusammen und formten ein Bild. Am vierten Abend stellten sie sich an den Rand eines Feldes neben einen leeren Maisspeicher. Nirgendwo ein Haus. Ardy sagte dem Händler, er solle dem Pferd und dem Maultier die Fußfesseln anlegen, er selbst lehnte sich zurück, hob den Kasten hoch und schaute hinein. Da es schon zu dunkel war, konnte er nichts sehen und warf den Kasten zur Seite. Später sah er, wie der Händler ins Maisfeld ging und die Früchte von den Stängeln riss. Der Mann zog die Blätter herunter und zupfte die Seidenfäden ab, spießte die Kolben auf einen ange spitzten Stock und röstete sie über dem offenen Feuer. Es roch so gut, dass Ardy es ihm nachmachte. Dann nahm er sich eine Fla 191
sche aus der Kiste Bourbon, die der Händler dabeihatte, trank und hörte den Nachtschwalben und Eulen zu. »Macht ‘n Dollar«, sagte der Händler und zeigte auf den Whiskey. »Setzen Sie es auf die Rechnung.« Sie saßen da. »Was zum Teufel wollen Sie hier draußen eigentlich rauskrie gen?«, fragte der Händler. »Das braucht Sie nicht zu kümmern«, sagte Ardy. »Ich dachte, wir sind Partner.« »Betrachten Sie mich als stillen Teilhaber.« Ardy streckte die Stiefel zum Feuer und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. »Eins ist sicher, mein Lieber. Je schneller ich finde, was ich suche, desto schneller ist unsere Partnerschaft beendet.« Der Händler dachte darüber nach. »Wir sollten uns mit Massey Underwood unterhalten«, sagte er. »Der Mais hier ist seiner.« Ardy wiederholte den Namen. »Warum glauben Sie, dass er uns irgendwas Neues zu sagen hat?« »Na ja, es heißt, dass er säuft wie ein Loch. Großes Thema hier in der Kirchengemeinde. Wenn Sie eine von den Flaschen mitnehmen und ihm ein paar Schlückchen ...« »Wir fahren morgen.« Der Händler sprang so ruckartig auf, dass Ardy instinktiv die Pistole zog. Dann sah er das blasse Gesicht des Händlers und ließ sie wieder sinken. »Der Darm?« Der Mann nickte. Ardy wedelte mit der Hand in Richtung der Bäume am Rand des Feldes. »Okay, okay.« Der Händler schoss davon und fing schon im Laufen an, die Hosen runterzulassen. Ein paar Sekunden später ertönte in der Dunkelheit seine Stim me. »Wie wär’s, wenn Sie mir ein paar von den abgenagten Mais kolben rüberwerfen?« 192
Sie trafen Massey Underwood in seiner Scheune, wo er Stroh vom Heuboden in einen Wagen rechte. Hinter einem armseligen Fleck chen Land mit Grünzeug stand sein Haus, das nicht mehr als ein Verhau aus schiefen Brettern war, die durch aufgeschichtete Felsbrocken am Umfallen gehindert wurden und auf denen ein ros tiges Blechdach saß. Mit der Heugabel in der einen Hand und einer langläufigen Pistole in der anderen kam Underwood aus der Scheune. Er trug eine zerrissene Latzhose ohne Hemd. Das schlaffe Ding auf seinem langen schmalen Kopf mochte früher mal ein Hut gewesen sein. Der Händler und Ardy, die nebeneinander auf dem Bock saßen, winkten. Ardys Pferd war hinten am Wagen angebunden. Under wood erwiderte den Gruß, indem er die Heugabel hochhob. Er steckte sich die Pistole hinten in die Hose und kam ihnen entgegen. »Na, was gibt’s Neues aus der Außenwelt?«, fragte er den Händ ler. »Das musst du ihn hier fragen«, sagte der. Underwoods Haut dünstete Alkohol aus. Wenn man im Wind stand, konnte man sich einen Rausch holen. Ardy griff zwischen die Beine nach unten. Als die Hand mit der Flasche wieder auf tauchte, schaute Ardy in Underwoods Pistolenlauf. »So betrunken bin ich auch wieder nicht«, sagte er. »Langsam, Kumpel«, meinte Ardy und hob die Hände. In der Linken hielt er den Whiskey. »Nur ein kleines Schlückchen zum Gurgeln.« Underwood lächelte und steckte die Waffe wieder weg. »‘tschul digung, Jungs. Bin ein bisschen kribbelig in letzter Zeit.« Er steckte die Heugabel in den Boden. »Ja, ja, sind harte Zeiten«, sagte Ardy und warf ihm die Flasche zu. Underwood fing sie mit beiden Händen auf. »Und wer ist nun dieser großzügige junge Bursche hier?«, fragte er, lehnte sich an den Wagen und zog den Korken aus der Flasche. 193
»Mein Partner«, sagte der Händler. »Was du nicht sagst.« Als Underwood an der Flasche schnüffelte, wurden seine Augen wässrig. »Ah, was für ein Geruch. Ich liebe das Zeug.« Er leckte sich die Lippen, schmatzte und trank. »Die Sache ist die«, sagte Ardy. »Die Firma, die wir vertreten, schickt jetzt mit jedem ihrer Repräsentanten einen von uns Inspektoren mit. Um ein Gespür für das Land zu bekommen.« Underwood setzte die Flasche ab und schnappte nach Luft. »Verdammt gute Idee«, sagte er dann. Er nahm noch einen kräf tigen Schluck, steckte den Korken wieder in die Flasche und gab sie dem Händler zurück. »Hätten Sie wohl etwas Zeit für uns?«, fragte Ardy. »Wir haben ein paar Fragen.« »Ich hab jede Menge Arbeit. Oder gehört die Flasche da auch zum Geschäft?« »Nein«, sagte der Händler. »Er meint Folgendes«, sagte Ardy und öffnete seine Jacke so, dass Underwood den Kolben seiner Pistole nicht sehen konnte, der Händler aber sehr wohl. »Er meint, dass er in seinen Wagen ver schwindet und Inventur macht, während wir beide uns ein bisschen unterhalten.« Dann nahm er den Whiskey, reichte ihn Underwood und sprang vom Wagen. »Geben Sie mir den Kasten«, sagte er zu dem Händler. Underwood zog die Heugabel aus dem Boden und ging zurück in den Schatten der Scheune. Der Händler reichte den Kasten mit der Lady herunter. »Wie lange sind wir noch ... Partner?« »Ich sag Ihnen Bescheid.« Er schaute Ardy hinterher, der auf dem Weg in die Scheune einen Blick in den Kasten warf. Dann kletterte der Händler vom Wagen und fing an, in seinen Sachen herumzukramen. Er öffnete und schloss Holzkisten, klappernd stießen Eimer und Töpfe aneinan der. In der Scheune war es kühler. 194
»Was ist das, was Sie da haben?«, fragte Underwood. Er war schon in die Hocke gegangen, so wie es unter den armen Leuten auf dem Land üblich war: die Knie auf Ohrenhöhe, die Arme zwischen den Beinen. Die Flasche stand vor ihm auf dem Boden. Ardy fiel auf, dass sich Underwood mit dem Rücken zum Heu wagen und dem Blick nach draußen niedergelassen hatte. Er setzte sich neben den Farmer, sodass auch er freie Sicht nach draußen hatte. »Hier, schauen Sie mal rein.« Ardy gab ihm den Kasten. Underwood drehte ihn hin und her. »Sie schauen durch das Loch da und halten das andere Ende gegen das Licht.« Underwood nahm einen Schluck und stellte die Flasche neben eine Laterne auf den Boden. Hinter ihm schaute ein ausgemergel tes Maultier durch die schlampig zusammengenagelten Bretter sei ner Box. Mit dem Wind wehte Schweinegestank herein. Under wood hob den Kasten mit beiden Händen hoch und schaute mit herunterhängendem Mund sehr lange hinein. Als er den Kasten wieder absetzte, grinste er. »Wie viel wollen Sie für das Ding?« »Das ist eine Prämie«, sagte Ardy. »Für den Menschen mit den hilfreichsten Informationen. Sind Sie ein hilfreicher Mensch?« »Und ob. Das sagen alle.« Underwood hob den Kasten wieder hoch. »Dann könnte heute Ihr Glückstag sein«, sagte Ardy. »Ich greif jetzt in die Jackentasche, nur dass Sie’s wissen und nicht gleich wieder ihre Pistole ziehen. Noch ‘n Schreck wie eben verträgt mein Magen nämlich nicht.« »Ach was, da gewöhnt man sich dran, wenn man hier draußen lebt«, sagte Unterwood, während er wieder in den Kasten schaute. Ardy zog zwei der Fünf-Cent-Zigarren des Händlers aus der Tasche, steckte sich eine zwischen die Lippen und hielt Underwood die andere hin. 195
»Gern«, sagte Underwood. »Besten Dank.« Er nahm auch das Streichholz, das Ardy ihm hinhielt, und riss es an seinem Finger nagel an. Dann rauchten sie, unterhielten sich und ließen den Kas ten und den Whiskey hin- und hergehen. Jedes Mal, wenn Under wood die Flasche nahm, sagte er: »Mit Ihrer Erlaubnis.« Und dann trank er. Danach nahm er wieder den Kasten, hob ihn vor sein Auge und pfiff. Wenn Ardy die Flasche ansetzte, nahm er zwar einen kräftigen Schluck, ließ das meiste aber wieder zurück in die Flasche laufen. Er fing mit Allerweltsfragen an, was Underwood alles anpflan ze − hauptsächlich Mais, von Baumwolle verstehe er zu wenig; wel chen Dünger er verwende − Guano; ob ihm die Farm gehöre oder nicht − ja, aber er habe seine Ernte verpfändet, weil anders ein Far mer in diesen drückenden Zeiten nicht überleben könne. »Kommen wir mal zu andern Sachen«, sagte Ardy schließlich. »Erzählen Sie mir von dem Bezirk hier. Hat sich ja ganz schön einen Namen gemacht.« »Kann man wohl sagen.« »Händler verschwinden einfach so. Einer von uns ist hier in die Gegend gefahren, den hat man nie wieder gesehen. Die hätten mich fast nicht fahren lassen. Sie sagen, es war lebensgefährlich hier draußen.« »Ach ja?« »Lebensgefährlich. Genau das haben sie gesagt.« Underwood dachte darüber nach. Er schaute in den Kasten, als hoffte er, dort Antworten zu finden. »Warum sind Sie trotzdem gekommen?« Ardy zuckte mit den Achseln. »Ich persönlich, na ja, irgendwie finde ich diese Jungs bewundernswert. Ist nicht gerade populär die Meinung, da, wo ich herkomme. Können Sie sich ja vorstellen. Aber ich bin selbst auf dem Land aufgewachsen. Ich weiß, wie die Scheißstädter mit den einfachen Farmern umspringen. Hab ich selbst gesehen, als ich noch ein Kind war, und später in meinem Job auch. Fünfzig Wochen im Jahr bin ich draußen und rede mit 196
den Leuten. Anständige Leute, die hart arbeiten. Ich hab keinen Posten, wo man Strippen zieht oder Stimmzettel türkt.« Er schaute fast schüchtern. »Sagen Sie’s keinem weiter, aber wenn’s nach mir ginge, würde ich den Jungs ein paar Drinks spendieren.« Underwood hatte die Flasche schon angesetzt. Er senkte sie wie der. »Ich sag Ihnen was, Cowboy. Sie sind gerade dabei.« »Wie meinen Sie das?«, sagte Ardy. Underwood zwinkerte. »Ich sag’s nur ein Mal, und wenn Sie’s weitererzählen, bring ich Sie um. Aber ich trau Ihnen, mein Freund. Also ... ich bin einer von der Hell-at-the-Breech-Bande.« »Von was?« »So heißen wir. Das wissen aber nicht viele.« Ardy ließ einen Augenblick verstreichen. Dann sagte er: »Ich glaube, Sie haben sich gerade die Prämie verdient, Mr. Under wood.« »Sie können Massey zu mir sagen.« Als eine Stunde später Ardy die Scheune verließ und sich die Hand schuhe anzog, klemmte der Kasten unter seinem Arm. In der Ge säßtasche steckte Underwoods Pistole. Der Farmer lag halb unter dem Wagen, bewusstlos, der flache Bauch hob und senkte sich gleichmäßig. Die Flasche neben seinem Kopf war fast leer. Ardy schaute in den Hof. Der Wagen des Händlers und das Maultier waren verschwunden. Die Spuren führten nach Osten. Na, so was, dachte Ardy. Ohne sich zu verabschieden. In weniger als einer Stunde hatte er den Händler eingeholt. Der Feuerwechsel war kurz. Er fand einen Tümpel, der grün vor Algen war, beschwerte den Körper mit einem Mehlsack voller Steine und beobachtete, wie sich der Algenteppich über dem Händler schloss. Wie um einen Schlusspunkt zu setzen, stieß noch einmal eine Hand durch die Wasseroberfläche. Ardy befürchtete bereits, dass er ins Wasser waten und die Hand wieder nach unten drücken müsste. Er dachte sogar schon daran, jeden Finger einzeln abzu schießen, als die Hand plötzlich wieder verschwand. Er blieb noch 197
eine Zeit lang und beobachtete die hin und wieder aufsteigenden Luftblasen. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit war Ardy mit Maultier, Wagen und Pferd wieder auf Underwoods Farm. Mit ein paar Ket ten und Schlössern aus dem Sortiment des Händlers fesselte er Underwood und wuchtete den schnarchenden Bewusstlosen auf den Wagen. Dann verschwand er klappernd in der Nacht.
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VI
Am Morgen des 25. August stand Mack unten am Fluss und schürte das Feuer unter dem Waschkessel. Als wollten die Wäl der die Nacht nicht loslassen, klammerten sich letzte Schattenfle cken an den Boden. Am Rand der Senke tauchte Tooch auf und rief ihm zu, er solle in den Laden kommen. Mack kletterte die Böschung hinauf, rieb die Hände gegenei nander, um die Asche abzuwischen, überquerte das Krocketfeld, ging die Stufen hinauf und in den Laden. Er war überrascht, dass außer Tooch auch Floyd Norris da war. »Mack«, sagte Tooch. »Ich hab’s nicht gern gemacht, aber ich hab dich eben ausgeliehen.« Mack schaute Floyd an, der ihn kritisch betrachtete. Wahr scheinlich dachte der Farmer an die Zeit, als der Junge schon ein mal für ihn Baumwolle gepflückt hatte. Auch Mack dachte daran − es waren die längsten zwei Wochen seines Lebens gewesen. »Floyd braucht Hilfe bei der Ernte«, sagte Tooch. »Du kennst dich aus, sagt er, also hat’s dich getroffen.« Plötzlich erschien ihm Wäsche waschen wie eine paradiesische Arbeit. Aber Mack war schlau genug, sich nicht zu beklagen. »Ja, Sir. Wann?« »Sofort«, sagte Floyd. Er wandte sich an Tooch. »Dank dir.« »Wenn du nicht zufrieden bist«, meinte Tooch, »sag einfach Bescheid.« Floyd nickte, setzte den Hut auf und ging zwischen den Regalen hindurch zur Tür. Tooch stieg schon die Leiter hinauf. Mack sah, wie seine Stiefel in der Decke verschwanden, sah dann zu Floyd, der schon auf der Veranda war, und ging eilig hinter ihm her. Bis zu Floyd Norris’ Farm waren es zwei Meilen. Sie gingen die ganze Strecke, ohne zu reden. Mack graute vor der Arbeit. Ein 199
Baumwollpflanzer kannte fast nur Arbeit. Arbeit, die Ende Februar begann, wenn es morgens noch frostig kalt war. Mit der Sense vernichtete man die Überreste der Vorjahresernte, hackte grimmig auf das trockene Gestrüpp ein und kratzte es aus der Erde. Es war, als rasierte man das Gesicht eines Toten. Dann, wenn die Märztage länger wurden, war das Aufbrechen des Bodens dran, das Pflügen, das einem fast das Kreuz brach. Hinter einem oder zwei Maultieren her, die Zugriemen festgebunden an den Schul tern, im Kreis den Umrissen des Feldes folgend, sich mühsam zum Zentrum vorarbeitend, als würde man in ein Abflussrohr gesogen. Nach dem − wie man hoffte − letzten Frost kam dann das Aussäen, eine präzise, nur mit dem Auge gemessene Menge, dann der Dünger, der durch einen Trichter zwischen die aufgeworfenen dunklen Reihen rieselte, und dann mit der Hacke Tag um Tag das Wenden der Erde. Danach das erste Warten, die vielleicht härteste Zeit. Fünf Tage vielleicht oder zwei Wochen, wie Gott und der Boden und das Wet ter es wollten. Wenn man späten Frost bekam, fing man wieder vorn an. Wenn nicht, wenn sich die ersten Zentimeter der Pflanze zeigten, kamen die Wochen der Pflege, des Beschneidens, des zärt lichen Umhegens der Pflanzen, auf dass sie sich, feingliedrig wie Spitzentaschentücher, aus dem Dreck erhoben und entfalteten und wuchsen, während man das Unkraut weghackte und wartete und hackte und wartete. Und schließlich die Zeit der Reife, die langen sechs Wochen, in denen man nichts tun konnte, als sich sorgen, beobachten und warten, die Pflanzenreihen sauber halten, Werkzeuge, Dächer und Zäune reparieren. Und dann die Ernte. Dabei hatten Mack und William vor Jahren für ihn gearbeitet. Die Witwe auch. Sie hatten das Geld gebraucht, und Floyd hatte ihnen für je zwei Pfund, die sie pflückten, einen Penny versprochen. Und so hatten sie alle gearbeitet. Die Jungen hechelten vor Hitze und schlugen nach Mücken, rissen die verfluchte Baumwolle ab und stopften sie in die Beutel. Aber immer unter dem wachsamen 200
Auge der Witwe. »Ruht euch aus, geht in den Schatten.« Doch sie selbst gönnte sich keine Minute Ruhe, sie nicht, und auch Floyds Frau nicht oder Floyd selbst, der klein und verloren im Dunst des Feldes, in der prallen Sonne, seine Baumwolle pflückte und pflück te und pflückte. Die Finger der beiden flinken Hände wuselten zwi schen den Blättern herum, zwei flinke Hände, die farblich dem Bauch eines Reptils glichen und sich auch so anfühlten, flink zupfende Finger mit stumpfen schwarzen Nägeln und dicken Knö cheln. Die Augen unter dem schmalen Schattenstreifen, den Floyds Hut warf, waren wegen ihrer vollkommenen Leblosigkeit ein Wunder für Mack. Sie waren wie zwei Pfützen, in denen sich ein leerer Him mel spiegelte. Oder gar kein Himmel. Floyd Norris ging langsam mit gebeugtem Rücken durch die Reihen seines Feldes, öffnete und schloss die Finger und fütterte und fütterte den langen, schweren, dreckigen Sack, der an seiner linken Schulter klebte und mit jeder Sekunde dicker und dicker wurde. Sekunden, die kurz, aber auch schnell waren, Sekunden, die zu Minuten, zu Stunden und dann zu Tagen, Wochen und Monaten wurden: Baumwollsamenkapseln, die sich so sicher vermehrten, wie die Zeit verrann, Zeit, deren Verstreichen er erst wahrnahm, wenn sie schon vergangen und von ihr nichts mehr übrig war als ihre Auswirkung und die Erinnerung an eine Hoffnung. Die Hoffnung auf Geld. Es hieß, dass Floyd Norris allein fast dreihundert Pfund Baum wolle pflücken könne, dreihundert Pfund von dem Augenblick, wenn er im Morgengrauen das Feld betrat, bis zu dem Augenblick, wenn er es, lange nachdem die Sonne den Himmel im Westen ver glüht hatte und verschwunden war, wieder verließ. Er verfiel in eine Art Trance. Wenn seine Frau ihn rief, weil er eine Mokassin schlange töten oder einem der herumstrolchenden Jungen eine Tracht Prügel verpassen sollte, hörte er sie nicht. Wenn sie mit den drei Jungen zum Mittagessen ins Haus ging, blieb Floyd allein in der brennenden Hitze auf dem Feld, mit pflückenden Fingern und toten Augen, der Beutel rund und runder und eine immer tiefer 201
werdende glatte Spur im Dreck hinter sich herschleifend. Und dann hoben sich seine gebückten Schultern, er ging steif und den Rücken dehnend zum Wagen und kippte ohne ein Gefühl von Stolz oder Zufriedenheit den Inhalt des großen Beutels aus. Er schüttelte ein fach den Beutel, bis er leer war, und sprang wieder vom Wagen, rollte den Kopf von einer Seite zur andern, nahm den Deckel von der Wassertonne, senkte das leere Gesicht und soff wie ein Hund. Kaute einen trockenen Biscuit. Dann zurück ins Feld, wo er war, wenn seine Familie wieder aus dem Haus sprudelte. Die Mutter, die das Baby im Arm hielt und mit den Jungen schimpfte, die sich aus den Augenwinkeln verschwörerisch anschauten und deren Köpfe schon wieder Pläne schmiedeten, in denen Matschklumpen flogen und große Raupen in Hemdkragen verschwanden. Und wenn die Mutter Floyd beschwor, einem der Jungen oder gleich der ganzen Brut eins überzuziehen, dann blieben Floyds Augen regungslos, während seine Finger weiter pflückten und pflückten und pflückten. Als sie sich dem östlichsten seiner Felder näherten, schlüpfte Floyd plötzlich in den Wald. Mack folgte ihm schweigend. Sie gingen jetzt langsamer, und Mack begriff, dass sie sich an jemanden anschli chen. Er wusste, dass sich Floyd wegen seiner Familie nicht dem engsten Kreis der Bande angeschlossen hatte. Mack fragte sich, an wen sie sich heranmachten und wo Floyds Waffe war. Vom Waldrand aus überblickten sie das halb abgeerntete Feld. Der Wagen auf der gegenüberliegenden Seite sah winzig aus in der flirrenden Hitze. Floyd schaute angestrengt in eine Richtung, Mack sah in die gleiche. Schließlich erkannten sie beide die drei blonden Köpfe seiner Söhne. »Verdammt«, brummte Floyd. Die Jungen arbeiteten nicht. Sie hockten mit gesenkten Köpfen zusammen und waren mit irgendetwas anderem beschäftigt. Floyd verließ gebückt den Wald, wobei er von einer jungen Eiche einen Zweig abriss, der etwa die Dicke seines Daumens hatte. Er schlich 202
sich durch eine noch nicht abgeerntete Reihe und wechselte dann in eine andere. Mack folgte ihm. Ihm graute schon jetzt. Kurz danach hatten er und Floyd die Jungen erreicht, die offensichtlich ein verletztes Kaninchen quälten. Als sich Floyd aufrichtete, hob einer der Jungen den Kopf. Auch die anderen schauten jetzt auf. Der Jüngste fing an zu weinen. Sie standen zusammen auf und hakten alle gleichzeitig ihre zerrissenen Latzhosen auf. Dann drehten sie sich um, ließen die Hosen fallen und entblößten ihre roten, nackten Hinterteile. Floyd schaute Mack an. »Hol dir einen Beutel vom Wagen und fang da drüben schon mal an«, sagte er und deutete mit der Gerte die Richtung an. Mack gehorchte und machte sich schnell davon, damit er sich nicht die Schläge und das Schreien der Jungen anhören musste. Als er seinen letzten Beutel ausleerte, war er so müde wie noch nie in seinem Leben. Der Mond färbte den unteren Rand des Himmels gelb, und die ersten blassen Sterne zeigten sich. Macks Arme waren so lahm, dass er sie fast nicht mehr spürte. Die Finger waren blutig und schmerzten, wenn er sie krümmte. Trotzdem half er noch Floyds Jungen, ihre mühsam angeschleppten letzten Beutel aus zuleeren. Sie sprachen kein Wort und schauten ihn auch nicht an. Er sah die Striemen auf ihren Schultern und Nacken. Floyd kam mit seinem letzten Beutel zum Wagen und setzte ihn ab. Er spannte das Maultier an und fuhr mit dem Wagen zum Spei cher zwei Felder weiter. Mack und die Jungen trotteten hinterher. Sie luden die Baumwolle ab und wogen sie, wobei die Jungen im Stehen einschliefen. »Du kannst jetzt zurück zu Tooch«, sagte Floyd, als sie fertig waren. »Kurz vor Sonnenaufgang bist du wieder hier.« Tooch wartete auf ihn. Er saß auf der Veranda und rauchte eine Zigarre, als sich Mack die Stufen hochschleppte. »Wie war’s?« 203
Mack erzählte ihm von den Jungen, dem Kaninchen und den Prügeln. »Läuft schlecht im Moment für Floyd«, sagte Tooch und deutete auf die Verandastufen. Mack setzte sich. »Warum?« »Seine Frau ist gestern gestorben. Deshalb braucht er ja Hilfe.« Mack war zu müde, um erschüttert zu sein. Allerdings erinnerte er sich an sie, eine unförmige Frau mit gewaltigen Brüsten. Er dachte auch an die Geschichte, als ihr drittes Kind geboren wurde. Die Witwe hatte ihm erzählt, Floyds Frau habe länger als einen Tag in den Wehen gelegen, und es hätte den Anschein gehabt, als würde das Baby nie kommen, so als wüsste es, was für ein Leben es erwartete und als wollte es lieber nicht daran teilhaben. Es war Erntezeit, Floyd hatte den ganzen Tag gepflückt und war schließ lich ins Haus gegangen in der Erwartung, das Baby gewickelt und nuckelnd vorzufinden. Als er aber sah, dass die Frau immer noch schwitzend unter dem Fliegennetz im Bett lag, schaute er sie nur wütend an. Ist ein Spätzünder, Floyd, hatte die Witwe gesagt. Sieht so aus, hatte Floyd geantwortet. Die Wehen dauerten auch noch die folgende Nacht an, und Floyd schlief mit den beiden Jungen auf der Veranda, damit sie das Stöhnen nicht hören mussten. Als er am nächsten Morgen hereinkam, schaute er seine Frau wieder böse an. Verdammt, sagte er, und die Witwe meinte, dass man nie wissen könne, wann ein Baby kommt. Geh und trink einen Schluck Wasser, sagte Floyd. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie noch einen Blick auf die Frau, die jetzt Floyd anschaute. Eine Minute später kam Floyd wieder raus, ging wortlos an ihr vorbei, hinaus aufs Feld, und begann sein Tagwerk. Die Witwe ging hinein, und sie schwor, dass das Baby eine halbe Stunde später da gewesen sei. »Wie ist sie gestorben?«, fragte Mack. »Einfach umgekippt, mitten auf dem Feld«, sagte Tooch. Mack lehnte den Kopf an den Verandapfosten. Er konnte seine Arme nicht bewegen. Sekunden später war er eingeschlafen. 204
Bald darauf weckte ihn Toochs Stimme: »Iss lieber was und schlaf in deinem Bett. Du hast morgen noch einen Tag. Und übermorgen noch einen.«
Der August ging langsam zu Ende, und der September fing lang sam an. Alfred erzählte Mack, wie ihre Mutter zwischen den Baumwollpflanzen zusammengebrochen war, wie Floyd gemerkt hatte, dass sie nicht mehr arbeitete, zu ihr hingestapft war und auf sie heruntergeschaut hatte; wie er sich hingekniet, eine Hand auf ihre Brust gelegt und dann ein Ohr an ihre Lippen gehalten hatte, als könnte sie ihm das Geheimnis verraten, wie man von hier ver schwände. Dann hatte er sich mit den flachen Händen auf dem Boden abgestützt und eine Zeit lang so dagehockt. Insekten wusel ten um sein Gesicht herum. Krähen kreischten und krächzten am Himmel, ließen sich nebeneinander auf den Ästen der Bäume nie der und schauten nach unten, als wüssten sie, was passiert war, als hätten sie schon immer Bescheid gewusst. Dann hatte sich Floyd ruckartig aufgerichtet und war weggegangen, ohne sie noch einmal anzuschauen, hatte sie liegen lassen, wo sie umgefallen war, während die drei Jungen hocken blieben, an ihrem Kleid zupften und Insekten von ihrer Zunge schnippten, bis Alfred den Jüngsten, Arnold, zu dem kreischenden Baby schickte, das am Ende der Pflanzenreihe auf dem Boden lag. Floyd sagte Arnold, dass er auf das Baby aufpassen, und den andern, dass sie wieder pflücken soll ten. Und auch er pflückte wieder. Als es dunkel wurde, Floyd seinen letzten Beutel ausgeleert und seinen Söhnen bei ihren letzten geholfen hatte, ging er schließlich zu ihr, hob sie hoch und trug sie ins Haus. Alfred, der versuchte, das Baby zu beruhigen, und die bei den anderen Jungen folgten ihm. Im Haus zog er ihr das andere Kleid an, das weiße, in dem sie geheiratet hatte, und wusch ihr den Dreck von Gesicht, Händen, Ellbogen und Füßen. Dann ging er hinters Haus, grub ein Loch, legte sie hinein und blieb lange in dem Loch. Die Jungen stießen sich gegenseitig an, aber keiner traute sich nachzuschauen, was er so lange machte. Schließlich tauchte eine 205
Hand aus dem Grab auf, dann die zweite und dann die roten Augen ihres Vaters. Er sagte ihnen, sie sollten schlafen gehen, ihre Mama sei gestorben. Er selbst hatte dann das Baby weggebracht. Sie hatten es seitdem nicht mehr gesehen. »Was glaubst du, wo er es hingebracht hat?«, fragte Mack. Sie standen am Wagen, leerten ihre Beutel und behielten dabei immer Floyds auf- und abhüpfenden Hut im Auge. »Schätze, er hat’s getötet«, sagte Alfred. Mack sah den blonden Jungen an. »Getötet?«, wiederholte er. Alfred schaute zum Feld. »Er guckt.« Mack hatte geglaubt, Einsamkeit bedeute, in Toochs Laden zu arbeiten. Aber die wahre Einsamkeit, schien ihm, war hier inmitten der Baumwolle, wenn er auf den Knien von Pflanze zu Pflanze kroch, eine Samenkaspel nach der andern zupfte, unter einer Sonne, die so heiß war, dass ihm die Erde vorkam wie Asche aus einer glühenden Feuerstelle. Anfangs hatte er sich an den Baumwollschalen die Fingernägel eingerissen, doch jetzt waren die Finger schon ganz verschwielt und die Hände kamen ihm völlig verändert vor, zäh wie seine Fußsohlen im Sommer, wenn kein Kind in Mitcham Beat Schuhe trug. Am Abend, bei Tooch, fiel es ihm dann ein. »Er hat das Baby zur Witwe gebracht.« Tooch grinste ihn an. »Dein Ersatz.« Manchmal vergingen beim Pflücken zwei Stunden, ohne dass er Floyd oder einen der Jungen zu Gesicht bekam, und manchmal leerte er zusammen mit Arnold, Alvin, Alfred oder Floyd seinen Beutel aus. Manchmal stand er neben Floyd hinter dem Wagen und tauchte den Kopf in die Wassertonne und manchmal stand er allein und tauchte den Kopf ein. Die Jungen bekamen jede Woche einoder zweimal Prügel, gewöhnlich weil sie gespielt statt gearbeitet hatten. Das Knallen von Floyds Rute und die winselnden Schreie waren nur weitere Geräusche, die es zu überhören galt. Sie bedeu teten nicht mehr und nicht weniger als das Brummen einer Heu 206
schrecke, das nervöse Rascheln einer Vipernnatter im trockenen Laub, das dauernde Trällern der Vögel. Die Tage flössen ineinan der, die Nächte verloren sich im Gedächtnis. Wie in Trance ging er abends zum Laden zurück, wo Tooch allein auf ihn wartete oder mit Lev zusammensaß, mit War Haskew und William oder mit Huz und Buz. Tooch hatte jetzt immer eine Mahlzeit für ihn auf dem Ladentisch stehen. Einen Blechteller voll Bohnen oder Biscuits mit Marmelade, Austern mit Crackern oder Sardinen aus der Dose. Mack schlief wie ein Toter oder Ungeborener. Während jener Arbeitstage geschah wenig, woran er sich später erinnerte. Abgesehen von einem merkwürdigen und verstörenden Vorfall an einem Nachmittag, als Floyd außer Sichtweite pflückte und die Jungen sich nach einer weiteren Abreibung reuig zwischen den Pflanzenreihen versteckt hielten. Mack hatte gerade das Ende der Reihe erreicht, die Schlaufe des fast vollen Beutels schnitt ihm in die Schulter, als er aufschaute und im Schatten einen Mann stehen sah, der ihn beobachtete. Im Land der Latzhosen, Arbeitsstiefel und dreckschwarzen Strohhüte stand jemand vor ihm, der gute Hosen, lederne Beinschützer, ein feines Chambray-Hemd und einen noch neu wirkenden Filzhut trug. Die Pistole steckte in einem merkwürdigen Halfter, der wie ein Gürtel um den Körper geschlungen war. Über einem Unterarm hing ein Staubmantel. Das Gesicht lag im Schatten. »Hidy«, sagte er. »Hidy«, sagte Mack. Er zog die Schlaufe des Beutels über den Kopf, stand auf und streckte sich. Das tat gut. »Wie heißt du?«, fragte der Mann. Mack antwortete. Im nächsten Augenblick bereute er es. »Bist du der Bursche, der drüben im Laden arbeitet?« Er nickte. »Warum lässt er dich diese Niggerarbeit machen?« Mack zuckte mit den Achseln und kam näher, damit er das Gesicht sehen konnte. Der Mann sah gut aus, war glatt rasiert, aber seine grünen Augen hatten etwas Beunruhigendes. Mack wusste, 207
dass manchmal Leute von der Steuer in die Gegend kamen und nach Brennereien suchten. »Ich würde nicht hier draußen arbeiten«, sagte der Mann. »Um diese Jahreszeit pflücken sie alle«, sagte Mack. »Und dein Boss? Toochie?« Eine lustige Variation des Namens. Mack musste fast grinsen. Der Mann bemerkte es. »Toochie Coochie«, sang er. Mack versuchte, nicht zu grinsen. Er schaute zur Seite. »Soll ich dir was zeigen?«, flüsterte der Mann. Er schaute sich um, als hätten die Baumwollpflanzen Ohren. Dann nahm er den Mantel vom Arm, und ein Holzkasten kam zum Vorschein. Er lockte Mack mit dem Zeigefinger näher heran und ließ ihn in ein schwarzes Loch schauen. Im Innern sah er eine Frau, die nichts anhatte. Von den vielen Hebammenbesuchen, bei denen er die Witwe begleitet hatte, kannte Mack Brüste, und er hatte auch schon die haarige Stelle gesehen, durch die die Babys in die Welt kamen, aber das hier, das war etwas vollkommen anderes. Es war, als ob sie nur für ihn da wäre. Sie lag in einem dunklen Raum auf einem Sofa mit Rüschen oder so. Das rechte Knie hatte sie angewinkelt, und ihre Hüften waren leicht nach vorn geneigt, sodass man den dunklen Fleck unter ihrem kleinen Bauch sehen konnte. Man konnte auch beide Brüste sehen, die groß waren und makellos runde Nippel hatten. Sie ... Der Mann nahm den Kasten wieder weg, und die Sonne stach Mack ins Auge. Er blinzelte. »Wenn du mir sagst, was ich wissen will«, meinte der Mann, »kannst du weiter schauen.« Mack wollte weiter schauen. Mehr als alles andere. »Was wollen Sie wissen?« »Ich will wissen, wann das nächste Treffen von eurer kleinen Bande ist. Und ich will wissen, was Toochie Coochie plant.« »Wer sind Sie?«, fragte Mack. »Einer von der Steuer?« Der Mann grinste. »Ich bin der Teufel, mein Junge. Und du erzählst mir besser, was du weißt, sonst stoß ich dich runter in die 208
Hölle.« Dann packte er Mack zwischen den Beinen und drückte zu. Der Junge krümmte sich keuchend und fiel in den Dreck. Der Mann stürzte sich auf ihn, packte ihn mit beiden Händen am Hals und presste ihm die Luft ab. Mack zerrte an den Handgelenken des Mannes, doch der Griff war eisenhart. Er versuchte, ihm das Knie in die Eier zu rammen, so wie William es ihm mal beigebracht hat te, doch er konnte seine Beine nicht bewegen, da der Mann sie mit seinen fest auf den Boden drückte. Währenddessen verstärkte sich der Würgegriff, und Mack spürte, dass er bald bewusstlos werden würde. Doch plötzlich konnte er wieder atmen. Der Mann war ver schwunden, als hätte ihn eine Windbö weggeblasen. Mack öffnete die Augen. Arnold tauchte zwischen den Baumwollpflanzen auf und sah, wie Mack sich aufrappelte. Der stechende Schmerz hatte sich in einen dumpfen Schmerz in der Magengrube verwandelt, der lang sam in seine Oberschenkel hinunterkroch. »Ich sag Papa, dass du ein Nickerchen gemacht hast«, meinte der Junge. Mack hustete. Das Wasser stieg ihm in die Augen. Er spürte sei nen wunden Hals und musste an Shorty Owen denken. Er saugte Luft durch die brennende Gurgel und betrachtete den zerlumpten Jungen, der vor ihm stand. »Wenn du was sagst«, zischte er, »brech ich dir deinen kleinen Hals.« In der Zeit danach behielt er immer die Enden der Reihen und die dunklen Flecken zwischen den Bäumen im Auge. Doch es soll ten mehrere Wochen vergehen, bis er den Teufel wiedersah. Als er eines Abends zum Laden zurückkam, waren sie alle da. Bis auf Massey Underwood, den seit Wochen keiner mehr gesehen hatte. Als Mack näher kam, verstummten sie und schauten ihn an. Ein paar Gewehrläufe bewegten sich langsam in seine Richtung. Er spürte, wie seine Wangen heiß wurden, und vergaß seine Müdig keit. Es war das erste Mal, seit der Mann ihm den Kasten gezeigt und ihn gewürgt hatte, dass er wieder sein Hirn benötigte. 209
Er ging die Stufen hoch. Kirk schaute ihn amüsiert an. »Hat Tooch dich befördert?«, fragte er, und die Männer fingen an zu lachen. Mack bewegte sich langsam durch den Zigarrenrauch und Whiskeygestank. Bevor er im Laden verschwinden konnte, sagte Tooch: »Hol dir dein Essen, Junge, und komm wieder raus.« Mack war zu aufgeregt, um zu essen. Er setzte sich neben William, der ihm mit dem Ellbogen in die Seite stieß und zuzwin kerte. Dann spießte er eine Sardine auf, steckte sie sich in den Mund und schluckte sie hinunter. Bald war der Teller leer. Als der Krug bei ihm ankam, nahm er ihn und trank einen Schluck. William hatte Recht, er hatte sich schon dran gewöhnt. Sie debattierten über Underwoods merkwürdiges Verschwinden. Die Smith-Brüder und War Haskew hatten sich Floyd Norris’ Jagdhunde ausgeliehen und sie an einem von Masseys Hemden schnüffeln lassen. »Hat gestunken wie die Pest«, sagte War. »Sogar ich hätte die Fährte aufnehmen können.« Die Hunde führten sie zu einer alten Scheune, in der sie im Kreis herumliefen, und dann weiter zu einem Tümpel, der ganz hinten auf Masseys Grundstück lag. Die Hunde wateten bis zu den Schul tern ins Wasser, blieben stehen und fingen an zu heulen. Die Män ner konnten nichts sehen, da an der Wasseroberfläche eine dicke Algenschicht schwamm. Sie stiegen hinein, doch fiel der Boden sehr schnell steil ab. Dann wandte sich das Gespräch einem Ochsenfrosch zu, den sie am Ufer gesehen hatten. »Der war so groß wie ein Waschkessel«, sagte War Haskew. »Buz hat ihn mit einem Stock angestupst, und das Scheißvieh hat das Ding abgebissen, ungelogen.« »Wer’s glaubt«, meinte William. »Los, erzähl’s ihnen«, sagte War. »War ein richtiges Monster«, erzählte Huz. »Die Geschichte mit Massey ist jetzt wichtiger«, sagte Tooch. »Danach kommen die Monsterfrösche dran.« 210
»Was meint ihr, ob er im Suff in den Tümpel gestolpert ist?«, fragte War. »Aber die Pampe war so zäh − um da zu ersaufen, hätte er sich reinbuddeln müssen.« »Vielleicht ist er einfach bloß saufen«, sagte Huz. »War nicht das erste Mal. Wenn er meint, er müsste mal wieder so richtig saufen, taucht er ganz gern in die Wälder ab. Mag’s nicht, wenn ihn einer dabei stört.« Buz schüttelte den Kopf. Er schaute seinen Bruder an und bewegte die Schultern und Hände so, als holte er ein unsichtbares Seil ein, streckte dann die Arme aus und senkte sie über den Bauch und die Hüften bis zu den Oberschenkeln. Dann hob er die Augenbrauen. »Was sagt er?«, fragte Tooch. »Dass der gute alte Massey auf dem Grund von dem Tümpel liegt. Und dass Norris’ Jagdhunde schlauer sind als jeder von euch.« Sie schauten sich an. »Die Witwe meint, wenn man mit einer Kanone übers Wasser schießt, kommt jede Leiche hoch«, sagte William. »Tooch, wo hast du deine Kanonen versteckt?«, kicherte Huz. »Vielleicht hat ihn ja der Frosch verputzt«, entgegnete War Haskew. Der Krug landete wieder bei Mack. Er trank einen Schluck und reichte ihn weiter. Wenn sie endlich mit dem Thema Massey fertig wären, meinte Tooch, könnten sie ja zum nächsten Punkt der Tagesordnung kommen. Ein paar Nigger von außerhalb ernteten Joe Andersons Feld ab, und zwei Weiße mit Pferden überwachten die Arbeit, Aufseher mit Gewehren. Lev schlug vor, die beiden aus dem Hinterhalt zu erschießen und die Nigger fortzujagen. Kleine Botschaft an die Städter. »Schwierig, sie aus dem Hinterhalt zu erwischen«, sagte Tooch. »Damit rechnen sie ja. Ich hab sie mir angeschaut. Egal, wie heiß es ist, die bleiben immer in der Mitte vom Feld. Sitzen auch nicht 211
auf den Pferden. Hocken einfach auf dem Boden, mittendrin zwi schen den Niggern. Die Nigger machen den Schutzwall. Schwierig, da einen zu treffen. Und wenn du einmal vorbeischießt, ist die Sache gelaufen.« »Dann schießen wir eben nicht vorbei«, sagte Lev. »Und auf dem Weg zur Entkörnungsmaschine?«, fragte War Haskew. »Wir warten einfach, bis sie kommen.« Sie beschlossen, die Angelegenheit später noch einmal zu bespre chen. Lev hasste Verzögerungen. Er sagte, dass er schon lange nie manden mehr getötet habe. Gegen Ende Oktober hatten Mack, Floyd und die Norris-Jungen die Ernte fast eingebracht. Als Mack am letzten Tag des Monats um die Mittagszeit neben dem vollen Wagen stand, fühlte er so was wie Stolz. »Du kannst jetzt wieder zurück«, meinte Floyd zu ihm. »Die kurzen Reihen schaffen wir allein.« Mack zögerte. Warum, wusste er nicht. »Wiedersehen«, sagte er. Aber Floyd hatte sich schon umgedreht und ging zum Haus. Mack konnte den Erdhügel sehen, wo Norris’ Frau begraben lag. Das einfache Kreuz, das am Kopfende in der Erde steckte, bestand aus zwei kleinen Ästen. Respektvoll nahm er den Hut ab, das Schweißband war ganz nass. Er schaute zu der Stelle, wo der Kerl aufgetaucht war, der ihm die nackte Lady in dem Kasten gezeigt hatte. Dann schaute er auf seine Hände, Hände, die männlich geworden waren, Hände eines Mörders, aber auch eines Menschen, der vergeben hatte, Hände, die Shorty Owen, der jetzt irgendwo da draußen war, das Leben geschenkt hatten. In einer Woche würde er sechzehn Jahre alt werden. Er setzte den Hut wieder auf und machte sich auf den Weg zum Laden.
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In den Schlund November 1898
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I
Waite war in Coffeeville, weil er etwas Geschäftliches mit McCorquodale besprechen wollte. Er ging die Stufen hinauf. Carlos, McCorquodales Sohn, stand mit einem Besen in der Hand im Laden, keinen Meter von der Tür entfernt. Vor ihm lag ein kleiner kreisförmiger Haufen aus Staub, Asche und anderem Abfall, den er gerade zusammengefegt hatte. Als Waite die Tür öffnete und wieder schloss, blies ein Luftzug zwischen seinen Beinen ins Innere. »‘tschuldige«, sagte Waite und deutete mit dem Kinn auf den Boden. »Da draußen stürmt’s vielleicht, gibt sicher bald Regen.« Carlos trug eine makellos weiße Schürze. »Macht nichts«, sagte er und kehrte den Dreck wieder zusammen. Waite hielt kurz inne. »Wann geht’s ab ins College?« »Wenn das Geschäft ruhiger wird«, antwortete der Junge. »Ei gentlich sollte ich schon im August weg, aber mein Vater braucht mich noch.« Waite nickte, obwohl er die Antwort merkwürdig fand. McCor quodale legte Wert darauf, dass jeder Vorgang in seinem Laden und jede seiner Pachtfarmen so genau wie möglich beaufsichtigt wurden. Er hatte Obbie, einen Schwarzen, der hier bei ihm im Laden arbeitete, und noch ein paar andere Burschen auf der Lohnliste. Sah nicht so aus, als brauchte er da auch noch Carlos, ganz zu schweigen davon, dass er ihn von der Schule abhielt. Waite hatte den Jungen nie etwas anderes tun sehen als fegen. »Ist dein Vater da?«, fragte Waite. »Ja, im Büro.« Waite ging zwischen zwei Regalen hindurch bis zu einer Glastür. Dahinter beugte sich McCorquodale gerade über seinen Schreibtisch und schlug nach einer Fliege. Waite klopfte, McCor 214
quodale hob den Kopf und winkte ihn herein. Die Ablagefächer des Rollpults quollen über von Papieren und Quittungen. Dagegen war Waites Büro so ordentlich, dass der Zustand schon zum Dauerwitz zwischen Oscar und ihm geworden war. Waite betrat das Büro, schloss die Tür, verschränkte die Arme und wartete. McCorquodale trug Zahlenkolonnen in sein langes grünes Rechnungsbuch ein und hielt einen Finger hoch, damit Waite nicht anfing zu reden und er die Zeilen durcheinander brachte. Schienen höllisch viele Zahlen zu sein, die für höllisch viel Geld standen. Als der Ladenbesitzer am Ende der Spalte angelangt war, legte er den Stift zur Seite, nahm die Brille ab und widmete seine Aufmerksamkeit Waite. »Tag, Sheriff.« »Tag, McCorquodale«, erwiderte Waite. »Ich will Sie nicht lange aufhalten. Wollte nur fragen, was Sie wegen Joe Andersons Witwe unternehmen werden.« »Unternehmen?« »Ja. Soviel ich weiß, war Andersons Baumwolle gerade reif, als die Witwe mit ihren Töchter weg ist. Die Ernte müsste doch so gut wie drin sein. Und geht dann ja wohl auf den Markt.« »Stimmt, ist fast abgeerntet.« McCorquodales Blick fiel auf ein Stück Papier, das neben seinem Stuhl auf dem Boden lag. Er hob es auf, setzte seine Brille auf und runzelte die Stirn, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. Die Fliege flog wieder über seinen Schreibtisch, er schlug mit dem Handrücken nach ihr. »Und?« Waite lehnte sich an die Tür. »Was ich wissen möchte, ist nur, ob die Witwe ihren Anteil vom Gewinn kriegt oder nicht. Hat ziemlich gut ausgesehen, die Ernte.« Das Stück Papier bereitete McCorquodale Kopfzerbrechen. Dann schien ihm wieder einzufallen, dass Waite im Raum war. »Was? Nein, nein, Sheriff. In meinen Pachtverträgen steht, dass der Kreditnehmer oder der Nutznießer seines Gewinnanteils verlustig geht, wenn er vor Ernteende das Land verlässt. Ist Standard.« »Die Umstände, scheint mir, waren aber alles andere als Stan dard«, sagte Waite. »Anderson wurde ermordet.« 215
McCorquodale hob den Kopf. Dann lehnte er sich nachdenklich in seinem Stuhl zurück. »Wenn ein Bursche, sagen wir, jemanden getötet, das heißt, demjenigen in den Kopf geschossen hätte, nur mal angenommen, aber er hätte ein paar wirklich gute Gründe dafür, würden Sie ihn dann laufen lassen? Würden Sie das Gesetz ein bisschen beugen?« Er hielt inne. Dann sagte er: »Nein, das würden Sie natürlich nicht tun. Und ich kann’s auch nicht. Es ist doch so: Ich musste mir ein paar Schwarze besorgen, die die Ernte einbringen. Und zwar schnell. Musste hier aus meinem Büro raus und ein Chaos ordnen, das eigentlich gar nicht meine Sache ist. Und musste einen Haufen Leute bezahlen, die ich sonst nicht hätte bezahlen müssen. Denen ich sogar mehr zahlen musste als normal, weil ich nämlich keine Wahl hatte und weil die obendrein Angst hatten, da in der Nähe zu arbeiten, wo diese Sache mit der Schwarzenkirche passiert ist. Musste also auch noch zwei von meinen Aufsehern rausschicken, mit Gewehren. Die sind jetzt gerade da draußen. Was glauben Sie, woher das ganze Geld kommt?« »Warum ziehen Sie nicht einfach die Kosten vom Anteil der Wit we ab? Dann kriegt sie wenigstens etwas. Die Frau hat ihren Mann und die Mädchen haben ihren Vater verloren.« »So wie ich die Sache sehe, Sheriff, wäre Anderson nie getötet worden und wir brauchten diese Debatte hier überhaupt nicht zu führen, wenn Sie Ihre Arbeit erledigt und diese Bande unschädlich gemacht hätten.« Waite stieß sich von der Tür ab. »Also gut«, sagte er. »Wenn Sie sich so verdammt berufen fühlen, mir meinen Job zu erklären, dann lassen Sie mich ein paar Worte zu Ihrem sagen. Sie sollten ein bisschen nachsichtiger sein mit den Leuten, besonders jetzt, in diesen harten Zeiten.« »Ach ja? So sollte ich mich also verhalten?« »Nur ein kleiner Tipp, Ernest.« Waite drehte sich um. »Warten Sie«, sagte der Ladenbesitzer. »Wenn Sie schon da sind, ich hab auch einen für Sie. Floyd Norris. Er ist im Rückstand. Hab 216
die Papiere schon beglaubigen lassen, sind morgen oder übermor gen bei Ihnen auf dem Schreibtisch.« Waite konnte es nicht glauben. Einen Augenblick war er sprach los. Dann sagte er: »Klar. Mach ich ihm halt die Bude dicht. Schnell raus mit der nächsten Familie. Der Kerl hat zwar grad erst seine Frau verloren und musste sein Baby aus’m Haus geben. Aber klar, mach ich doch, ich jag ihn runter von seinem Land.« McCorquodale nahm wieder seine Brille ab. »Sheriff«, entgegnete er. »Sie halten mich vielleicht für einen Schurken, aber das bin ich nicht. Ich bin nur ein Geschäftsmann, der auch zurechtkommen muss. Und zwar im Rahmen der Gesetze, die Sie zu schützen haben. Ich habe auch meine Verbindlichkeiten ...« Aber Waite war schon gegangen. Das Glas zitterte noch, so fest hatte er die Tür zugeschlagen. Er saß halb betrunken auf der Veranda. In der einen Hand hielt er seine Pistole, in der andern eine kalte Zigarre. Eine Flasche Bour bon stand neben dem Stuhlbein. Zum dritten Mal kam Sue Alma nach draußen und schaute ihn an. »Billy.«
»Billy.« Einen Augenblick blieb sie noch stehen. Sie war zwar wütend, aber noch mehr machte sie sich Sorgen, das wusste er. Sie erlaubte nicht, dass man in ihrem Haus oder auf ihrer Veranda trank, erst recht nicht, wenn sie in Sichtweite war, Gott bewahre. Und nun saß er da und tat es so, dass es die Nachbarn sehen konnten. Sie hatte immer gewusst, dass er gelegentlich etwas trank, aber sie hatten sich an das unausgesprochene Abkommen gehalten, dass er es nicht öffentlich tat und sie vorgab, nichts davon zu wissen. Manche Männer hatten Frauen, die sie besuchten, er hatte seinen Whiskey. »Billy.« Er schaute auf das versiegelte, vom Dreck in seiner Jackentasche verschmutzte Dokument, das auf dem kleinen Tisch neben seinem 217
Stuhl lag. Er hätte es Floyd Norris längst aushändigen müssen, hat te es aber verschoben. Seit zwei Tagen schon. Verschoben. In all den Jahren, seit er zu diesem Stern gekommen war, hatte er so etwas noch nie getan. Dieser gottverdammte Sheriffstern. An das Gewicht unter seiner Jacke hatte er sich nach und nach gewöhnt, er war sich des Sterns inzwischen so wenig bewusst wie der Exis tenz eines inneren Organs, das still seine Arbeit tat. Und wie ein pflichtbewusstes Organ steuerte der Stern einen Teil von ihm, tat bestimmte Dinge für ihn, die er sonst nicht getan hätte. Als hätte sein Gewissen den Sheriffstern überwuchert und dessen Form angenommen. Wie bei Baumstämmen, die Waite gesehen hatte, deren Rinde über angenagelte Metallschilder gewachsen war, die dann genauso zu dem Baum gehörten wie Blätter und Wurzel. »Billy«, sagte sie. Er steckte die Zigarre in die Tasche, griff nach der Flasche, hob sie an die Lippen und trank. Sue Alma presste die Hand auf den Mund und machte ein Geräusch, das nicht zu ihren normalen Geräuschen gehörte − eine Art verletztes Keuchen −, drehte sich dann um und ging ins Haus. Sie knallte nicht die Tür zu. War das das erste Mal gewesen, dass er unter ihren Augen eine Flasche angesetzt hatte? Er schaute zur Tür. Er nahm es an. Man sollte meinen, ein solcher Meilenstein würde einem Mann zu denken ge ben − wenn man seine Frau auf eine möglicherweise nicht mehr wieder gutzumachende Weise beleidigte. Und es stimmte ja: Er hät te die Hand erheben und ihr mitten ins Gesicht schlagen können, sie wäre davon weniger verletzt gewesen als durch sein schamloses Whiskeytrinken. Doch inzwischen war ihm das scheißegal. Seine Jacke mit dem innen festgesteckten Stern hing neben der Tür. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn als Sheriff spürte er das Stück Metall als ein Organ, das verrottet war, als eine verfettete Leber, als verhärtete Nieren, als ein flatterndes Herz mit blockierten Blut strömen. Er nahm noch einen Schluck. 218
Er wusste nicht, wann er bewusstlos geworden war, aber als er auf wachte, ging gerade die Sonne auf, er saß noch auf dem Stuhl, die Pistole lag im Hof. Sein Hals tat weh, und sein Schädel pochte, wenn er ihn bewegte. Er stand langsam auf, ließ die leere Flasche auf dem Boden liegen, holte seine Pistole und ging ins Haus. Sue lag angezogen auf der Couch neben dem Fenster und schlief. Noch eine Premiere. In ihrem grauen Gesicht waren die Abdrücke des groben Damaststoffes der Couchpolsterung zu sehen. Das Min deste, was er tun konnte, war, wieder nach draußen zu gehen, die Flasche aufzuheben und sie auf der anderen Straßenseite ins Gebüsch zu werfen. Fast alle Felder waren abgeerntet. Es war der große Samstag, an dem die Baumwolle entkörnt wurde und die Bauern nach Grove Hill strömten. Die Wagen blockierten die Kreuzungen, und die Straßen stanken nach Pferde- und Maultierscheiße. Der Regen machte es noch schlimmer. Er verwandelte alles in Schlamm. Eifri ge Händler hatten Bretter über die Seitenstraßen gelegt, um des Schlammes einigermaßen Herr zu werden. Vergeblich. Ein Laden angestellter hatte von einem breiten Schrubber den Stiel abge schraubt und den Schrubber mit den Borsten nach oben auf die Veranda genagelt, damit sich die Leute den Dreck von den Schuh sohlen kratzen konnten, bevor sie eintraten. Mit hochgeschlagenem Kragen ritt Waite im Schritt die Straße entlang. Männer grüßte er mit einem Nicken, Frauen mit einem kurzen Tippen an die Hutkrempe. Im Süden der Stadt staute sich eine lange Wagenreihe. Weiße und schwarze Farmer standen um sie herum, redeten miteinander und verbeugten sich gelegentlich oder spuckten aus, während die Entkörnungsmaschine entkörnte. Weil ein Riemen ausgewechselt werden musste, ging eine Zeit lang nichts mehr. Mehrere weiße Farmer schauten dem brav seine Arbeit verrichtenden Schwarzen auf die Finger und gaben ihm Rat schläge. Der unterbrach jedes Mal seine Arbeit, bedachte jeden ein zelnen Rat und versuchte sogar manchen in die Tat umzusetzen, 219
nur, um schließlich seine Arbeit doch so zu tun, wie er es schon Dutzende Male zuvor getan hatte. Er setzte die Maschine auch bald wieder in Gang, und die Wagenschlange rückte in dem leichten Regen langsam weiter vor. Während Waite die Szene vom Sattel aus beobachtete, gingen zwei Burschen auf ihn zu. Er wusste, dass er sie kannte, aber ihm fielen die Namen nicht ein. »Morgen, Sheriff«, sagte der erste und schnalzte mit seinen Hosenträgern. Sie sahen neu aus. »Morgen, meine Herren«, sagte Waite. »Sie sollten mal die Waage von dem Dreckskerl kontrollieren«, meinte der zweite. »Die ist einwandfrei«, sagte Waite. Die Männer schauten sich an, drehten sich um und stapften durch den Matsch zu ihren Wagen zurück. Sie sagten etwas zu einem anderen Farmer, der zu Waite hinüberschaute und dann den Kopf schüttelte. Waite wusste, dass er nach Whiskey roch. Er wünschte, er säße mit Shorty stumm auf irgendeiner Veranda und wartete darauf, dass es Mittag würde und er wieder einen trinken könnte. Es donnerte, und er schaute nach oben. Ein paar Minuten später hatte er alles für rechtens befunden und schlängelte sich durch das Durcheinander der Wagen zum Hotel zurück. Dort stieg er ab, hielt sich an einem Pfosten fest und versuchte, sich den Dreck von den Stiefeln zu kratzen. Hinter ihm fuhr ein schneller Einspänner vorbei und spritzte ihm Wasser in den Rücken. Wütend fuhr er herum, um den Schuldigen herunterzuputzen, doch die beiden, ein Mann und eine Frau, die ziemlich glücklich aussahen, waren schon zu weit weg. Mit der Wut verließ ihn auch seine Kraft. Er sackte zurück gegen den Pfosten. Obwohl sein Schädel immer noch pochte, wollte er nur eins: einen Drink. Er schaute auf seine Taschenuhr. Halb elf. In der ver schlossenen Schublade in seinem Büro hatte er eine Flasche. Er machte sich auf den Weg. 220
Als er gerade vom Gehweg auf die Straße treten wollte, kam ihm Floyd Norris entgegen. Im Schlepptau staksten seine drei Jungen durch den Matsch, ihre Füße zu riesigen Lehmklumpen ange schwollen. Norris wich Waites Blick aus und wäre an ihm vor beigegangen, wenn der Sheriff ihn nicht angesprochen hätte. »Norris. Eine Minute.« Er blieb stehen und wartete, schaute aber weiter die Straße hinunter. Jeder der Jungen hielt einen Pfefferminzlutscher, die so spitz geleckt waren wie Eispickel. »Ich hab ein Schriftstück für Sie«, sagte Waite, der froh war, dass er es heute Morgen eingesteckt hatte. Gib ihm das Papier und pass auf, dass er’s versteht, und dann geh ins Büro zu deiner Flasche, sagte er sich. Er gab dem Farmer das Schriftstück, der faltete es zusammen und steckte es in die Tasche. »Können Sie lesen?«, fragte er Norris. Der Farmer schaute seine Jungen an. »Geht zu der Ecke da vorn und wartet dort.« Sie schlurften auf dem Gehweg davon. Der Kleinste − der Pfef ferminzlutscher steckte ihm im Mund − drehte sich noch einmal um und winkte Waite zu. Waite fand, dass die Welt schrecklich war. Ganz einfach schrecklich. »Können Sie lesen, Norris?«, fragte Waite noch einmal. »Sagen Sie mir einfach, was drinsteht«, entgegnete der Farmer, der zur anderen Straßenseite schaute. Dort lagen in einem Schau fenster Holzbauklötzchen, auf die Buchstaben gemalt waren. »Da steht, dass Sie vor Gericht erscheinen müssen, weil Sie McCorquodale die Pacht nicht bezahlt haben.« Der Farmer blinzelte. »Ich hab bezahlt«, sagte er. »Soll ich etwa noch mal bezahlen?« »Tja, was im Kleingedruckten steht, weiß ich auch nicht. Aber hier steht, dass Sie nicht bezahlt haben. Er hat sich’s beglaubigen lassen.« Norris biss die Zähne zusammen. »Dieser gottverdammte Lüg ner.« 221
Waite machte Norris mit einer Kopfbewegung auf die schwarze Familie aufmerksam, die sich ihnen auf dem Gehweg näherte. Der Vater führte seine sechs Kinder an einem Seil hinter sich her. Norris schaute sie nicht an, als sie an ihm vorbeigingen. »Morgen, Sheriff«, sagte der Mann. »Guten Morgen«, erwiderte Waite. »Das ist eine gottverdammte Lüge«, sagte Norris wütend. Ein paar der Kinder drehten sich um. »Das ist nicht meine Entscheidung«, erklärte Waite. »Aber wenn ich Sie wäre, würde ich kommen. Die stellen sonst sofort einen Haftbefehl aus.« Ohne Waite auch nur einmal angeschaut zu haben, ging Norris weiter. Waite lief hinter ihm her und verstellte ihm den Weg. Jetzt schaute Norris ihn an. »Geben Sie mir Ihre Pistole«, sagte Waite. Norris starrte ihn an. »Glauben Sie etwa, ich reit rüber nach Coffeeville und erschieß ihn?« »Gut möglich«, sagte Waite und dachte, dass er es ihm nicht ver übeln würde. Er streckte die Hand aus. »Na los, Sie bekommen sie später zurück. Bei mir ist sie sicher.« Norris wollte um ihn herumgehen, doch Waite hielt ihn an der Schulter fest. Es entstand ein Gerangel, und beide stürzten vom Gehweg, mit dem Gesicht nach unten in den Matsch. Sofort lie fen Zuschauer zusammen, von denen aber keiner den Drang ver spürte, einzugreifen und sich selbst schmutzig zu machen. Wäh rend des kurzen Kampfes war sich Waite bewusst, dass er sich in Scheiße wälzte. Dann packte jemand Norris am Kragen und zog ihn weg. Waite stand hastig auf. Er japste nach Luft, rutschte aus und fiel wieder hin. Keuchend schaffte er es auf die Knie. An der Ecke standen Norris’ Jungen und schauten zu. Jemand fragte Waite, ob alles in Ordnung sei, Waite nickte, unfähig zu sprechen. Die Pistole in seiner Hand war nur ein formloser Klumpen Matsch. Norris schäumte. Er riss sich von dem Mann, der ihn weggezerrt hatte, los, sprang auf und schüttelte sich den Schlamm 222
von den Fingern. Dann brüllte er jedem Flüche ins Gesicht. Waite ließ ihn. »Die können Sie sich später wieder abholen«, sagte er schnau fend. Waite drehte sich um und ließ sie stehen. Der Matsch klebte ihm in den Augenwinkeln und behinderte seine Sicht, aber er wischte ihn nicht weg. Ihm war zum Kotzen. Oscar und Harry Drake stan den neben dem Mietstall und schauten ihm mit offenem Mund hinterher. Er beachtete sie nicht. Die Verhandlung fand eine Woche später im Gerichtsgebäude statt. Oscar hatte sich für befangen erklärt, den Vorsitz führte der Bezirksrichter. Waite saß in der zweiten Reihe und brütete über die vergangene Woche nach. Kein Wort von Oscar, immer noch Schweigen von Sue Alma und drei ausgewachsene Räusche. Jemand hatte auf McCorquodales Aufseher und die schwarzen Baumwollpflücker geschossen, aber niemand war verletzt worden; McCorquodale hatte noch mehr Männer angeheuert und den Antrag gestellt, Waite zu feuern. Zweimal hatte Sue gepackt und gesagt, dass sie zu ihrer Schwes ter ginge, aber beide Male unter Tränen wieder ausgepackt und das Essen für ihn gemacht, das sie schließlich schweigend gegessen hatten. Er rechnete ständig mit Oscar, der aber glücklicherweise noch nicht gekommen war. Waite saß auf seinem Stuhl im Gerichtssaal und hoffte, dass nie mand ihn ansprechen würde. Vor einer Stunde war Floyd Norris in sein Büro gekommen und hatte gefragt: »Kann ich meine Pistole wiederhaben?« Waite war hinter seinem Schreibtisch sitzen geblieben. »Nach der Verhandlung können Sie sie haben.« Norris drehte sich um, als hätte er genau diese Antwort erwartet, und ging zur Tür. »Norris.« 223
Der Mann blieb stehen, schaute sich aber nicht um. »Nachher da drin, tun Sie sich selbst einen Gefallen«, sagte Waite. »Bleiben Sie ruhig. Ich weiß, dass Sie einen Scheiß auf das Ganze geben, aber ...« Jetzt drehte sich Norris um. Seine Augen waren schmal. »Woher, Billy Waite, wollen Sie wissen, worauf ich einen Scheiß gebe? Ich bin hier, oder? Hab ich etwa nicht den ganzen Weg hierher gemacht? Wenn ich einen Scheiß auf Ihr Gericht geben würde, war ich dann hier?« »Schon gut«, sagte Waite. »Tut mir Leid, wenn ich Sie falsch eingeschätzt haben sollte.« »Ist wohl nicht das letzte falsche Urteil für heute. Das wissen wir doch beide, oder?« Nachdem Norris gegangen war, nahm Waite die Pistole aus der verschlossenen Schublade. Er hatte den Matsch abgeschrubbt und die Trommel geölt. Ein einfacher, billiger, sechsschüssiger Revolver, bei dem eine Seite des Holzgriffs fehlte. Der Gerichtssaal war voll. Nach der Kühle draußen war die Wärme angenehm. Der Richter kam herein, ein dicker Mann mit Backenbart, der Jagdjacke und Hut trug. Waite mochte ihn, sie waren gelegentlich zusammen auf Hirschjagd gewesen. Der Richter setzte sich hin, nahm den Hut ab, zog eine Brille aus der Jacken tasche, die er vor sich auf den Tisch legte, und die Sache nahm ihren Lauf. McCorquodale sagte im Zeugenstand einfach, Norris sei in geschäftlichen Dingen immer ein leidlich zuverlässiger Farmer gewesen, aber diesmal habe er ihm das Geld zu dem im Vertrag genannten Termin nicht bezahlt. Norris sei schon fünf Tage in Ver zug gewesen, als er, McCorquodale, dann die Papiere ausgefertigt habe. Und inzwischen sei er ja noch länger im Rückstand. McCor quodales Anwalt, Harry Drake, stellte noch ein paar Fragen, die McCorquodale beantwortete. Da Norris keinen Anwalt hatte, wurde der Ladenbesitzer aus dem Zeugenstand entlassen. Drake bat Norris nach vorn. Norris stand auf. Er trug eine Latz hose mit Flicken und musste ermahnt werden, den Hut abzuneh 224
men. Nachdem er vereidigt worden war, fragte ihn Drake, ob er Ernest McCorquodale kenne. Norris verschränkte die dünnen Arme und lehnte sich lässig zurück. »Beantworten Sie die Frage, Mr. Norris«, sagte der Richter. »Sie wissen alle verdammt gut, dass ich ihn kenne.« Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch. Die Brille hüpfte. »Ich dulde keine lästerlichen Worte in meinem Gerichts saal, Mr. Norris. Noch ein Fluch und ich belange Sie wegen Miss achtung. « »Sie belangen mich wegen Missachtung?« Waite senkte den Kopf und rieb sich den Nasenrücken. Er hatte Norris’ Pistole dabei. Vorsichtig zog er sie aus der Tasche, klickte die Trommel aus und ließ die Patronen in seine Hand gleiten. Es waren nur vier. Der Richter schaute Norris wütend an. Dann wanderte sein Blick zu Oscar, der den Kopf schüttelte. »Fahren Sie fort, Mr. Drake«, erklärte der Richter. »Danke, Euer Ehren«, sagte Drake. Und zu Norris: »Haben Sie sich von Mr. McCorquodale Geld geliehen, um das Saatgut für Ihre Baumwolle zu finanzieren.« »Ja.« »Haben Sie Mr. Corquodales Aussage gehört?« »Lügen.« »Ich habe nicht vor, mir diese Anschuldigungen anzuhören, Euer Ehren. Sollte es sich um Lügen handeln, so wird sich das im Lauf der Verhandlung herausstellen.« »Richtig«, sagte der Richter. »Sie werden die Fragen beantworten, Mr. Norris, und Invektiven in Richtung Mr. McCorquodale unterlassen.« »Invektiven«, sagte Norris verächtlich. Er schaute zu McCor quodale. »Wissen Sie, was man unter ›Invektiven‹ versteht, Mr. Norris?«, fragte Drake. 225
»Ich kann’s mir denken.« »Was der Vorsitzende meint, ist ...« »Ich kann’s mir denken, hab ich doch gesagt.« »Dann wiederhole ich meine Frage von vorhin: Haben Sie Mr. Corquodales Aussage gehört?« »Ich hab schon gesagt, dass ich sie gehört hab.« »Sie haben also seine unter Eid gemachte Aussage gehört, Mr. Norris, die besagt, dass der Kredit von Ihnen nicht zurückgezahlt wurde.« »Ich hab’s gehört.« »Und Sie haben gehört, dass er bei Entgegennahme einer Geld summe immer eine Quittung ausstellt und auch seine Angestell ten − falls erforderlich, wird das einer bezeugen − angewiesen sind, Quittungen auszustellen. Können Sie als Beweis für Ihre Behaup tung eine Quittung vorlegen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil er mir keine gegeben hat.« »Er hat Ihnen nie eine gegeben, sagen Sie?« Drake wandte sich mit dramatischer Geste ans versammelte Publikum. »Die meisten von uns haben schon geschäftlich mit McCorquodale zu tun gehabt. Wir haben in seinem Laden in Coffeeville Lebensmittel eingekauft oder Zaumzeug oder ...« − er zwinkerte ins Publikum − »... eine Prise Schnupftabak. Ich möchte an Sie alle folgende Frage stellen: Hat irgendwer jemals eine geschäftliche Transaktion mit Ernest oder einem seiner höheren oder niederen Angestellten getätigt, ohne eine Quittung dafür bekommen zu haben?« Die Leute schauten sich an. Aber niemand sagte, dass er keine bekommen hätte. »Ich habe ein Exemplar hier«, sagte der Anwalt, ging zu seinem Tisch, öffnete eine Mappe und holte gleich Dutzende von Zetteln heraus. Aus dem Haufen griff er sich eine Hand voll und reckte den Arm gegen die Decke, wobei ihm zwei oder drei aus den Fin gern rutschten und zu Boden segelten. »Ich bin wie ein Hamster«, 226
sagte der Anwalt. »Ich schmeiß nie was weg, sehen Sie ja. Macht meine bessere Hälfte wahnsinnig.« Gelächter. »Das hier sind alles Quittungen aus Ernest McCorquodales Laden. Die hier, schauen wir mal, ist vom 4. August 1889, ein paar Arbeitsstiefel, ein halber Dollar. Ein halber Dollar?« Er gab den Empörten. »Na ja, niemand hat je behauptet, dass unser guter Ernest billiges Zeug verkauft.« Wieder Gelächter. Sogar McCorquodales Kinn ließ ein unter drücktes Grinsen erkennen. »Die hier ist vom letzten März. Fünf Pfund Mehl und ein Sack Zucker. War wahrscheinlich, als mir mein Leckermäulchen Dar lene diesen roten Geburtstagskuchen gemacht hat.« Er klopfte sich auf den Bauch, der sich unter den Hosenträgern spannte. »Da lagern wahrscheinlich jede Menge Zucker-und-Mehl-Quittungen.« Diesmal kicherte sogar der Richter. Waite beobachtete Norris. Ihm war der Gedanke gekommen, dass Norris vielleicht eine ande re Pistole dabeihaben könnte. »Aber Sie, Mr. Norris«, sagte Drake und hielt Norris die Quit tungen vor die Nase, »Sie behaupten, von McCorquodale nie eine Quittung bekommen zu haben.« Norris sagte scheinbar gelassen: »Was dagegen, Herr Richter, wenn ich jetzt meine Geschichte erzähle? Oder darf der da weiter seine schmierige Zirkusnummer abziehen?« Der Richter nickte. »Fangen Sie an, Mr. Norris. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben. Einverstanden, Herr Anwalt?« »Absolut, Euer Ehren, ich bestehe darauf.« Er winkte mit der Hand voller Quittungen dem Publikum zu, schüttelte komödian tisch den Kopf und erntete dafür noch einen kleinen Lacher. Dann ging er zu seinem Platz, setzte sich und tupfte mit einem Taschen tuch seine Stirn ab. Norris wartete, bis es ganz ruhig im Raum war, dann begann er zu reden. Draußen bellte ein Hund. 227
»Ich bin zu McCorquodale, weil ich bezahlen wollte. Es hat geregnet. Und kalt war’s. Ich geb ihm das Geldbündel und seh, wie er’s zählt. Er sagt, dass er morgen einen Nigger mit der Quittung zu mir rüberschickt. Hab nie einen Nigger gesehen, nur den Sheriff da, der mir sagt, dass ich von meinem Hof runter muss, wenn ich nicht bezahle.« Der Richter brauchte fünf Minuten, um zugunsten McCorquo dales zu entscheiden. Norris stand auf, und man sagte ihm, er solle sich wieder setzen. Er setzte sich. Man sagte ihm, dass er ab Datum des schriftlichen Gerichtsbeschlusses dreißig Tage Zeit habe, McCorquodale zu bezahlen oder die Farm zu verlassen. »Und noch etwas«, sagte der Richter. »Ich würde Ihnen raten, auch den Verwaltungsbezirk zu verlassen.« Norris drehte sich um, noch bevor der Richter seine Ausfüh rungen beendet hatte. Er suchte und fand Waites Blick und starrte ihn so lange an, bis Waite zur Seite sah. Die Patronen in seiner Hand waren so heiß, dass er glaubte, sie könnten jede Sekunde explodieren. §§§
228
II
An seinem Geburtstag lag Mack auf einem Jutesack unter dem Wagen und schmierte die Achse − sicher die widerlichste Arbeit auf Gottes weitem Erdboden. Vorne konnte er die Beine der Stute sehen, die hin und wieder einen Huf hob, aufstampfte und wieherte. Die Luft vibrierte und leuchtete merkwürdig, als steckte in ihr die Energie eines aufziehenden Sturms. Er drehte sich auf die Seite und schaute hinaus. Die Farben der Dinge schienen um eine Schattierung verrutscht zu sein, als ob die Sonne heute Morgen zu schnell aufgegangen wäre und die Erde überrascht hätte. Die Blätter, die in der spätherbstlichen Kühle noch an den Zweigen hingen, machten raspelnde Geräusche. Die abgefallenen wehten scharrend über das Krocketfeld, durch die Tore oder um sie herum und dann über die Straße auf das abgeerntete Feld, das in dem seltsamen Licht einem Ort glich, an dem tausende von Männern ihr Blut vergossen und den Tod gefunden hatten. Er hatte gehört, wenn man auf bestimmten Schlachtfeldern stand, konnte man die Tode, die dort erlitten worden waren, spüren, so wie die Witwe spürte, wenn ein Geist im Zimmer war. Wenn man einen Menschen getötet hatte, kam einem dieses unwirkliche Licht viel leicht normaler vor, vielleicht gelangte über die Fußsohlen über natürliche Energie in den Körper und der Tod wurde durch die Knochen nach oben gesaugt. Vorn kam jemand die Stufen hoch. Er hörte die Schritte auf der Veranda, dann wie die Tür geöffnet wurde und gleichzeitig die Glo cke bimmelte. Aber es ging niemand ins Haus, stattdessen trat Tooch heraus. »Howdy, Floyd«, sagte er. »Willst du hier draußen stehen bleiben? Los, komm rein.« Floyd sagte: »Okay.« 229
Die Tür ging wieder auf, und sie traten hinein. Mack kroch unter dem Wagen vor und zog sich an den Seitenbrettern hoch. Er wischte sich die Hände ab, verschloss sorgfältig das Fässchen mit dem Schmierfett und rollte es an seinen Platz neben dem Am boss. Er nahm das Pferd am Kopf und bugsierte den Wagen rück wärts an seinen Platz. Dann spannte er das Tier aus, führte es in seine Box an der Rückwand des Stalls und fing an es abzubürsten. Der Wind wehte eine erste unsichtbare Regenbö herein und besprühte ihm Wangen und Handrücken. Das Fell der Stute stellte sich auf. Er versuchte, sie zu beruhigen. Er redete mit ihr, sagte, dass alles in Ordnung sei, und kratzte ihr über den Widerrist. Dann stellte er ihr einen Eimer Hafer hin und machte die Boxentür zu. Bevor er ins Haus ging, blieb Mack kurz auf der Veranda stehen. Etwas früher an diesem Nachmittag hatte Tooch ihm sein Taschenmesser gegeben und ihm aufgetragen, beide Klingen zu schleifen. Warum, hatte er ihm nicht verraten, aber Mack ahnte den Grund. Als sich der Sturm über dem Feld jenseits der Bäume zusammenbraute, hatte er eine Stunde auf den Verandastufen gesessen, das Messer geölt und mit einem Ledertuch gereinigt. Dann hatte er den neuen Feuerstein aus der Schachtel unter dem Ladentisch geholt und dem Messer eine nie da gewesene Schärfe verpasst. Er hielt es gegen den sich eintrübenden Himmel und stellte sich vor, dass es durch Stein schnitte wie durch eine Kartof fel oder den Lauf eines Gewehrs zu dünnen Dichtungsringen zer häckselte. Schließlich ging er hinein und sah, dass Floyd hinten im Laden leise mit Tooch redete. Beim Bimmeln der Glocke schauten sie bei de auf. Aber er hatte inzwischen gelernt, seiner Arbeit nachzuge hen, als wäre ihm die Anwesenheit anderer Menschen im Raum überhaupt nicht bewusst. Er spitzte die Ohren, hörte jedoch nichts außer zischelndem Geflüster. Ohne dass ihn jemand aufgefordert hätte, begann er eine halbe Stunde später in der Ecke, wo sich der Postschalter befand, die Knöpfe zu zählen. Es regnete inzwischen heftig. Ein stetes Trom 230
meln, unterbrochen von Böen, die das Wasser wie aus Eimern gegen die Fensterscheiben schleuderten. Mit dem Sturm und der hereinbrechenden Nacht war es dunkel geworden im Laden. Der dumpf bollernde Ofen und der gelbe Lichtschein einer Laterne, die auf dem Ladentisch stand, waren die einzigen Lichtquellen. Wäh rend er zählte, schaute Mack immer wieder nach draußen, wo die Blitze Bäume, Straße und die nackten Stängel auf den Baumwoll feldern aufscheinen ließen. Wieder eine Schattierung des Unna türlichen, ein kurzer Einblick in eine Unterwelt oder Traumland schaft. Als er bei einem dieser Einblicke den durchnässten Lev von seinem triefenden Maultier steigen sah, wirkten beide, Lev und das Tier, als würden sie so einer Sphäre entstammen. Als der nächste Blitz Lev auf den Verandastufen einfing − er hielt sich den Mantel am Hals mit einer Hand zu −, hob er den Kopf und sah, dass Mack ihn beobachtete. Wie elektrisiert, als hätte ihn ein Geist berührt, stellten sich dem Jungen die Nackenhaare auf. In einem Windwirbel stapfte Lev durch die Tür. Ohne Mack auch nur anzuschauen, knöpfte er sich den Mantel auf, zog ihn aus und hängte ihn zum Trocknen an den Kleiderständer. Dann knöpfte er die Träger seiner Latzhose auf. Er stand bereits in einer Was serlache. »Verdammte Scheiße«, sagte er. »Das schüttet nicht aus Kübeln, da kippt einer’s Meer aus.« In kurzen Abständen kamen auch die andern, genauso nass. Nur Massey Underwood, der immer noch verschwunden war, kam nicht. Anfangs wurde nur über den Sturm geredet. Mack blieb auf seinem Posten. Nach einer halben Stunde war es so weit. William saß auf einer Apfelkiste und versuchte, aus nassem Papier und Tabak so etwas wie ein Zigarette zu drehen. Neben ihm saß War Haskew und rieb mit einem öligen Lappen seine Remington Lever Action trocken. Er pfiff The Rose of Alabama und klopfte mit dem Fuß den Takt dazu. Es schien, als wäre er der Einzige, dem das Wetter nicht die 231
Laune verdorben hatte. Huz Smith saß auf einem Stuhl neben dem Ofen, sein Bruder lehnte am Ladentisch und rauchte eine Zigarette. Lev wanderte zwischen den Regalen herum. Tooch klappte den beweglichen Teil des Ladentischs hoch, duckte sich etwas und kam nach vorn. Im Arm hielt er einen Tonkrug, auf dem die plumpe Zeichnung einer Mokassinschlange zu sehen war. Er warf Kirk den Krug zu. Der zog den Stöpsel heraus, der an einer Schnur am Krug baumelte. Dann nahm er einen stattlichen Schluck und gab den Krug an William weiter. Tooch ging zum Ofen, bückte sich, nahm das Yankee-Schwert und stocherte damit in den Kohlen herum. Das Schwert war nur zu diesem Zweck da, eine Gepflogenheit, mit der vor langer Zeit Arch begonnen hatte. Tooch stellte das Schwert wieder in seine Ecke und richtete sich gerade rechtzeitig auf, um noch den Krug zu fangen, den William ihm zuwarf. Er wog ihn in der Hand, nahm sich einen Becher von einem hölzernen Haken an der Wand und schüttete sich einen kleinen Schluck ein. Dann nippte er dran und drehte sich um. »Wir haben einen Gast heute Abend«, sagte er. »Wie ihr ja schon alle bemerkt habt. Freut uns, dass du wieder dabei bist, Floyd.« Alle folgten Toochs Blick und schauten in den hinteren Teil des Ladens. Floyd kam nach vorn. Den Hut hielt er sich mit beiden Händen vor den Bauch. Lev schaute ihn an, als fühlte er sich durch Floyds trockene Klamotten beleidigt. Jemand warf Floyd den Krug zu. Er fing ihn auf, legte ihn sich in die Armbeuge, steckte den Dau men durch den kleinen Henkel, hob an und trank. »Besten Dank«, sagte er. »Nimm noch einen Schluck«, sagte Tooch, und Floyd trank. Stühle und Hocker wurden nach hinten gerückt, sodass sich Floyd in den Kreis um den Holzofen einreihen konnte. »Floyd hat mir vorhin eine Geschichte erzählt«, sagte Tooch. »Ich will, dass auch ihr sie euch anhört. Und dann will ich, dass wir entscheiden, was wir unternehmen.« Er nickte dem kleinen Farmer zu. 232
Floyd nahm noch einen gewaltigen Schluck und fing schließlich an, mit leiser Stimme zu erzählen: dass er, wie sie ja alle wüssten, mit Ernest McCorquodale eine gute und schon lange bestehende Geschäftsbeziehung gehabt habe, fünf Jahre, und dass sie, trotz Höhen und Tiefen, mehr oder weniger gut miteinander ausge kommen seien. Aber jetzt, sagte Floyd und schaute dabei auf den Boden, sei etwas passiert. McCorquodale, erzählte er, jage ihn mit Hilfe des Gerichts von seinem Land. Er lasse ihn Zwangsräumen. »Ist ungefähr eine Woche her«, sagte Floyd. Er zog eine Mais kolbenpfeife aus der Hosentasche, steckte sich den leeren Stiel in den Mund und kaute darauf herum. »Hat geregnet an dem Abend. Nicht so schlimm wie heute, normal halt. Aber meine Pacht war fällig, und ich hab mir gedacht, wenn ich dem Scheißkerl das Geld nicht bringe, am Ende haut er mir noch was auf die Zinsen drauf. Bin also nach Coffeeville marschiert, klopf an die Tür, und er macht auf und sagt: ›Komm nach hinten!‹, und schmeißt mir die Tür vor der Nase wieder zu.« »Er hat dich zur Hintertür kommen lassen?«, fragte War Haskew. »Klar«, sagte Lev. »Wie einen Scheißnigger.« »Erzähl fertig«, sagte Tooch. Mack hörte, wie Floyd beschrieb, dass er durch den Matsch ums Haus herumging und dann vor der Hintertür wartete. Ein, zwei, drei Minuten. Der Mantel ist durchnässt, von der Hutkrempe läuft ein dünner Wasserstrom, so wartet Floyd an der Hintertür, wartet, bis McCorquordale schließlich wortlos aufmacht, nicht mal Guten Abend sagt und die Hand ausstreckt. Floyd gibt ihm den Packen feuchter Geldscheine, seine gesamte Schuld, McCorquodale nimmt das Geld und macht die Fliegengittertür wieder zu. Er leckt sich den Daumen, zählt das Geld, zählt noch mal, und die ganze Zeit steht Floyd draußen im Regen. Als er sicher ist, dass die Summe stimmt, sagt McCorquodale, dass er zu Hause keinen Quit tungsblock hat, die sind alle drüben im Laden, und dass Floyd 233
sobald wie möglich eine bekommt. Dann macht er die Tür zu. Floyd steht noch einen Moment da, wartet, zieht den Mantelkra gen zusammen, dreht sich um und geht nach Hause. Und dann, eine Woche später, Floyd ist in der Stadt, um den Jungen Schuhe anpassen zu lassen, da läuft er nichts ahnend dem Sheriff über den Weg, und der gibt ihm ein Papier. Der Sturm hatte sich etwas gelegt, es donnerte nicht mehr. Im Raum war es still. Nur ein leises Plätschern auf dem Dach. »Warum bist du nicht zuerst zu uns gekommen?«, fragte War Haskew. »Ich wollte es ordentlich machen, nach dem Gesetz«, sagte Floyd. »Wollte euch nicht in meine Angelegenheiten mit reinziehen.« »Das tust du jetzt aber«, sagte Lev. Tooch hatte sich eine Zigarre angezündet. »Seine Angelegen heiten sind unsere Angelegenheiten, Lev. Er hat schließlich unser Papier unterschrieben, oder etwa nicht? Mit Blut.« Tooch sah Floyd an. »Du bist einer von uns. Auch wenn du am Rand gestan den hast. Bis jetzt.« »Ich kann nicht mehr«, sagte Floyd. »Die wollen mich aus meinem Haus verjagen. Von dem Land, wo ich meine Frau ...« Er sprach nicht weiter und schaute starr geradeaus. »Und meine Jungs wollen sie auch verjagen. Ich bin jetzt zehn Jahre hier. Hab’s fast geschafft, bin fast schuldenfrei. Und da ...« »Du bist immer fleißig gewesen«, sagte Tooch. »Der Fleißigste von uns allen. Jeder hier weiß das.« Er stand von seinem Hocker auf, ging zwischen den dunklen, verrauchten Körpern der mur renden Männer hindurch und schnurstracks hinter den Ladentisch. Zurück kam er mit einer Dose Bill-DurhamPfeifentabak. Er hielt sie Floyd hin. »Nein«, sagte Floyd. »Trotzdem, vielen Dank.« Tooch packte Floyds Handgelenk, drehte die Handfläche nach oben und drückte ihm die Dose in die Hand. »Ich hab kein Geld«, sagte Floyd mit gesenktem Blick. 234
»Brauchst du nicht«, sagte Tooch. Floyd drehte und wendete die Dose hin und her. Dann hob er den Kopf. »Ich will abdrücken«, sagte er. Im Lichtschein des Ofens glänzten seine Augen. »Und einer von euch muss aussagen, dass wir zusammen waren. Dass wir Domino gespielt haben. Ich hab gewonnen.« Tooch kniff die Augen zusammen und dachte darüber nach. »Nein«, sagte er. »Bei McCorquodale fällt der Verdacht sofort auf dich. Du brauchst also eine verdammt gute Geschichte. Wir bestimmen noch, wer McCorquodale tötet.« »Ich mach’s«, sagte Lev. »Ich hasse den Dreckskerl.« »Gibt’s irgendeinen Städter, den du nicht hasst?«, fragte Huz. Der Krug drehte eine weitere Runde. Floyd stopfte seine Pfeife, und jemand gab ihm ein Streichholz. Er riss es an der Seitenwand des Ofens an und brachte den Tabak zum Glühen. Der Rauch rahmte sein Gesicht ein. Der Regen hatte eine Pause eingelegt. Es war jetzt vollkommen still. »Wir haben die Organisation gegründet, weil wir ein Werkzeug brauchten, um Arch zu rächen«, sagte Tooch. »Weil wir diesen fet ten Großkotzen in Grove Hill an den Kragen wollten. Bis jetzt haben wir’s langsam angehen lassen. Wir haben ein paar Dollar eingesammelt. Aber jetzt, Kameraden, ist die Zeit reif für einen gro ßen Schlag. Für einen kühnen Schlag. Einen, der unsere Absichten deutlich macht.« Zustimmendes Gemurmel. »Für so was Großes brauchen wir aber noch ein paar Männer«, sagte War Haskew. »Wenn wir das wirklich machen wollen. Wir haben ja auch Massey nicht mehr.« »Zwei haben wir heute Abend schon hier«, sagte Tooch. »Die sind bereit.« Alle schauten Floyd an. Der nickte. »Ich bin bereit«, sagte er. »Ich hätte schon früher mitmachen sollen. Ihr wisst, warum ich’s nicht gemacht hab. Aber jetzt ist alles anders.« 235
»Wer ist der andre?«, fragte Lev. Und dann schauten er und die andern Männer zu Mack, der dasaß mit den Händen voller Knöpfe, die einer nach dem andern in die Schachtel fielen. »Los, Junge«, sagte Tooch. »Komm rüber.« Mack ging über die knarrenden Bohlen. »Wie alt bist du, Junge?«, fragte Tooch. »Sechzehn.« »Seit wann?«, fragte Lev. »Seit heute.« War Haskew begann Happy Birthday zu pfeifen, aber niemand lachte. Lev schien nicht besonders glücklich zu sein, sagte aber nichts. »Dein Bruder hat sich mächtig für dich ins Zeug gelegt«, erklärte Tooch. »Er sagt, du weißt, wie du dich zu verhalten hast. Und nach der Arbeit, die ich in dem Jahr von dir gesehen hab, bist du ein zäher und verlässlicher Bursche. Bist du bereit, dich uns an zuschließen?« »Ja, Sir«, sagte Mack. Die Männer umringten Mack und Floyd. Mack spürte, wie je mand sanft seinen Rücken berührte. William. Die Laterne wurde ausgeblasen. Tooch trat in die Mitte des Kreises und schaute die Männer an. Er stellte seinen Becher ab und klappte die längere Klin ge des Case-Taschenmessers auf, das er in der Uhrentasche seiner Hose trug. Er hielt Mack das Messer hin, der es ohne zu zögern nahm. Mack hätte es unter tausend ähnlichen Messern blind wieder erkannt. Die Klinge berührte die Spitze seines rechten Zeigefingers. Er wusste noch nicht, ob er einen waagrechten oder einen senk rechten Schnitt machen sollte. Daran hatte er noch nicht gedacht. »Langsam, Junge«, sagte Tooch. Mack wollte die Männer anschauen, wollte ihre dunklen Gestal ten sehen, konnte aber den Blick nicht von dem Messer und sei nem Finger losreißen. »Wenn du diese Verpflichtung unterschrieben hast, kannst du sie nicht wieder auflösen«, fuhr Tooch fort. Väterlich legte er ihm 236
die Hand auf die Schulter und drückte sie, bis Mack ihn anschaute. »Bist du bereit, die Verantwortung zu übernehmen, die wir dir aufbürden?« »Ja, Sir«, sagte er. Tooch schaute Floyd an. »Ja«, sagte der. »Bist du bereit zu töten, falls man dich dazu auffordert?« »Ja. Sir.« »Verdammt, ja.« »Und zu sterben, falls nötig?« »Ja, Sir.« »Denke schon.« »Als Gegenleistung erhaltet ihr Schutz durch den inneren Kreis in diesem Raum und den erweiterten Kreis draußen. Der Mord an Arch war der Grund für dieses Bündnis, das Ziel war, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Wenn wir nebenher noch reich werden, auch gut. Wenn du etwas weitererzählst von dem, was du hier erfährst, bezahlst du mit deinem Leben. Jeder von uns wird dich dafür töten. Verstehst du das, Mack?« »Ja, Sir.« »Floyd?« »Kapiert.« Mack schaute auf den Boden. Er spürte Williams Blick im Rücken. Plötzlich sitzen er und sein Bruder unterhalb des Hauses der Witwe am sandigen Flussufer, die Füße im Wasser, die Leinen zur Mitte des Flusses gespannt, von der langsamen Strömung nach Süden gezogen. William ist vierzehn, Mack zehn. Die Brassen fürs Abendessen zappeln an der im Wasser hängenden und am Ufer festgemachten Leine. Die Brüder sind zufrieden, weil die Witwe sie loben wird. Als sie die Jungen ruft − es dämmert und lange Schat ten kriechen die Böschung hinunter −, freut sich Mack schon auf das Schuppen der Fische, darauf, wenn beim Kratzen gegen den Strich die winzigen durchsichtigen Splitter in die Luft fliegen und 237
im Gesicht oder in den Haaren hängen bleiben. Er und William versuchen immer, sich gegenseitig die Schuppen in den Mund zu schnippen. Sie lachen, und die Witwe schaut ihnen zu und lacht auch. Doch als sie die Leine ans Ufer ziehen, kommt sie ihnen schwerer vor, als sie eigentlich sein sollte. Eine Mokassinschlange hat sich in die Fische verbissen, hat einen schon ganz, einen zwei ten halb geschluckt. Sie sind elektrisiert und erschrocken zugleich, während sie die Leine an Land ziehen und die Schlange, die den Fisch loswerden und zurück ins Wasser will, mit Steinen bewerfen. Die Schlange zischt und windet sich, während die Brüder immer mehr Steine ausgraben und lachend werfen. »Schwöre Treue«, sagte Tooch. Mack hob den Kopf. »Ich schwöre.« Seine von Schweiß klebrigen Finger umklammerten das Messer. Auch Floyd schwor. Zustimmendes Gemurmel der Männer. Eine Sekunde lebten die Gesichter im Schein eines Blitzes auf. Weit entfernt donnerte es. Wie das Trommeln von Pferdehufen. »Also dann«, sagte Tooch. »Ihr wisst, was jetzt kommt.« Mack hielt den Atem an. Die Klinge berührte den Finger. »Warte«, sagte War Haskew. »Mach’s lieber in der Handfläche. Beim Finger kommt nicht genug Blut. Das reicht nicht für den Namen, du musst dann ein X hinmalen.« »Was soll der Scheiß? Was ist falsch an einem X?«, fragte Lev. War sagte nichts darauf, sondern warf Lev den Krug zu. Der fing ihn auf, zog den Stöpsel heraus und setzte ihn an. Er schüttete sich den Whiskey in den Mund, schluckte und rülpste. »Aaah.« Als Mack gerade das Messer ansetzen wollte, landete der Krug wieder bei ihm. »Hier, Junge«, sagte Kirk. »Lass es erst mal von innen brennen.« Mack nickte und legte das Messer weg. Er nahm den Krug, zog den Stöpsel heraus, steckte den Daumen durch den Ring und setz te den Krug so an, wie er es bei den andern gesehen hatte. Er trank 238
und schluckte. Seine Augen fingen an zu tränen. In der Brust brannte es. Das Abendessen, das wie ein heißer Ball durch den Hals nach oben wanderte, würgte er wieder hinunter. Er glaubte, auf Sandkörner zu beißen, als hätte der Whiskey lange abgelagerten Kies nach oben gepumpt. Vielleicht hatte er das ja auch. Vielleicht war er dafür da. »Immer ruhig«, sagte Tooch. Jemand erlöste ihn von dem Whiskey. Mack nahm das Messer, öffnete die rechte Hand so weit, dass sich die Haut spannte, und fuhr mit der Spitze der Klinge eine der Handlinien nach. Er fühlte keinen Schmerz. So wie man beim Schuss auf einen Hirsch den Knall nicht hörte und den Rückstoß des Gewehrs nicht spürte. »Das reicht«, sagte Tooch. »Nicht dass du dir noch den Wund brand einfängst, dann nutzt du uns gar nichts.« Er zog das Papier aus der Brusttasche seines Hemds, faltete es vorsichtig auf und leg te es zwischen sich und Mack auf den Ladentisch. »Schreib.« Das Papier war eine halbe Zeitungsseite, auf der die kurze Geschichte über den Mord an Arch abgedruckt war und wo die Männer in zwei großen Spalten mit Blut ihre Namen geschrieben hatten. Außerdem befanden sich mehrere Kreuz- oder X-Zeichen auf dem Papier von denen, die nicht schreiben konnten. Mack tunkte den linken Zeigefinger in die gekrümmte Hand fläche, die sich wie ein Tintenfass gefüllt hatte, und schrieb seinen Vornamen an die freie Stelle, auf die Tooch deutete. Als er den Fin ger noch einmal ins Blut tauchte, um den Nachnamen zu schrei ben, spürte er, dass ihn Toochs Hand an der Schulter stützte. Er war froh, als er das Messer an Floyd weitergeben konnte, der sich ohne zu zögern in die Hand schnitt und sein X aufs Papier malte. Unter allgemeinem Gelächter klopften die andern den beiden auf die Schultern. Als man ihm den Krug in die gesunde Hand drückte, sah Mack Sterne vor Augen. »Willkommen bei Hell-at-the-Breech«, sagte Tooch.
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Mack saß auf seinem Hocker und hörte den Männern zu. Nach dem sie den Abend des Erntedankfests − ein Yankeefeiertag, den zu begehen der Ladenbesitzer beharrlich verlangte − für die Ermor dung McCorquodales festgesetzt hatten, mussten sie nur noch ent scheiden, wer gehen sollte. Tooch stieg auf den Dachboden und kam mit einem prall gefüllten, schweren Sack zurück. Krocket kugeln, wie Mack sofort erkannte. Da Lev sich schon freiwillig gemeldet hatte, um McCorquodale zu töten, bestimmte Tooch ihn zum Anführer der Operation. Allerdings hielten sie noch zwei wei tere Männer für nötig, einen, der mit Lev ging, und einen, der die Hintertür absicherte. »Ich hab hier sechs Kugeln«, sagte Tooch. »Lev ist der Anführer. Floyd kann nicht gehen. Bleibt der Rest. Huz, die Grüne. Buz ist Rot. Du hast Blau, War. William Orange. Kirk hat Schwarz. Und Mack, unser noch unerfahrener Neuling, die gelbe.« Tooch hielt den Beutel hoch, schüttelte ihn und setzte ihn dann wieder ab. Schließlich steckte er eine Hand hinein und holte zwei Kugeln heraus, orange und gelb. »Die Brüder Burke«, verkündete War Haskew. »Eine richtige Familienangelegenheit.« Wieder wurde Mack auf die Schulter geklopft. Später am Abend trieb sie der Rauch- und Schweißgestank nach draußen auf die Veranda, wo die Welt noch frisch und kühl zu sein schien, wie gewaschen. Der Mond schien so hell, dass er den Dunst einer Wolke durchdrang. Die Männer beredeten weiter den Über fall auf McCorquodale. Da es für ihn das erste Mal war, bekam Mack die leichtere Aufgabe. Er sollte die Hintertür absichern. Später stand er auf und ging schwankend die Verandastufen hinunter. Als er sich die Hose aufknöpfte, tauchte Tooch neben ihm auf, der ebenfalls seine Hose öffnete und anfing zu pissen. »Du bist jetzt einer von uns«, sagte er, während sein Wasser auf die Blätter klatschte. »Du hast einen heiligen Schwur getan, mein Junge. Und du hast mit Blut unterschrieben. Es gibt kein Verspre chen, das einen fester bindet. Das weißt du doch, oder?« 240
Mack sagte Ja. »Gut. Ich stell dir jetzt eine Frage, und ich will eine ehrliche Ant wort. Da du gerade deinen Schwanz in der Hand hältst, schwör mir darauf.« »Ja, Sir«, sagte er. Der Drang zu pissen war plötzlich ver schwunden. »Angenommen, Oscar York kommt zur Hintertür raus«, sagte Tooch. »Schießt du auf ihn?« Mack überlegte. »Ich bin froh, dass du nicht sofort antwortest«, sagte Tooch. » Der Mann, der zu schnell antwortet, ist einer, der nicht genau nachdenkt.« »Ich schieße«, sagte er. »Bist du sicher?« »Ja, Sir.« »Warum bist du so sicher?« Mack gab auf und knöpfte die Hose wieder zu. »Wenn ich’s nicht tue, tötet mich Lev.« Tooch pisste noch. »Stimmt. Aber Angst ist so gut wie jeder andere Grund. Und ich sag dir noch was. Auch wenn du’s diesmal aus Angst machen würdest, beim nächsten Mal brauchst du die Angst gar nicht mehr als Grund. Weil nämlich jedes Mal, wenn du was machst, egal, ob du eine Krocketkugel schlägst oder einen Fisch fängst, es beim nächsten Mal leichter geht. Und am Ende wirst du richtig gut beim Fischefangen oder beim Krocketspielen − oder beim Töten. Irgendwann bist so weit, dass du’s tun kannst, ohne nachzudenken.« »Ja, Sir«, erwiderte Mack. »Und jetzt«, sagte Tooch, schüttelte seinen Schwanz und machte sich die Hose zu, »hab ich einen Auftrag für dich.« »Wie heißt du?«, rief sie. »Burke.« Hinter ihm wieherte Toochs Pferd. Er hatte es am Pfosten angebunden. Den ganzen Weg war er geritten, ohne die 241
schöne weiße Stute zwischen seinen Beinen richtig wahrzunehmen. Nicht mal auf der Fähre war er abgestiegen. »Wer schickt dich?« Er senkte seine Stimme. »Tooch.« Bewegungen im Innern, dann ihr Schatten unter der Tür. »Das Losungswort.« »Hell-at-the-Breech«, sagte er. Die Tür öffnete sich. Sie hatte eine Pfeife im Mund. Der Hund musterte ihn, trottete zurück zu seinem Platz neben dem Ofen, drehte sich ein paarmal im Kreis und legte sich hin. »Wie alt bist du?« Sie schaute ihm amüsiert in die Augen. »Sechzehn.« Ihre Haare waren blonder, als er gedacht hatte, ihre Augen blau. Sie trug ein gelbes Kleid mit grünen und blauen Blumenstickereien auf der Brust und Plisseefalten unterhalb der Taille. Sie war bar fuß. Kleine schmutzige Füße, ein Zeh verbunden. »Ich nehme an, du kennst die Abmachung«, sagte sie. Er hatte den Dollar parat. Den ganzen Weg hatte er ihn in der schweißnassen Hand gehalten. Er streckte ihr die Münze hin. Sie nahm sie und rieb sie mit Daumen und Zeigefinger. »Also dann.« Die Beine verschwanden unter ihrem Kleid, als sie sich vor ihn hinkniete und ihm die Hose öffnete. Er verdrehte die Augen und fragte sich, wohin der Dollar verschwunden war. Jeden Augenblick, glaubte er, würden seine Knie einknicken. Grob bear beitete sie seinen Schwanz. Ihm war klar, dass er eine Prüfung absolvierte, aber Allmächtiger, es fühlte sich gut an. »Ist es das erste Mal, Schätzchen?« »Weiß nicht.« Ihm war schwindelig. »Okay, okay.« Sie stand auf, schaute ihm freimütig in die Augen und betrachtete sein Gesicht. Dann ging sie quer durchs Zimmer und zog sich dabei das Kleid über den Kopf. Darunter war sie nackt. Auf dem breiten Hintern zeichneten sich blaue Flecke in Form von Händen ab, auf den dicken Waden wuchsen dunkle Haare. 242
Bevor sie unter die Bettdecke schlüpfte, sah Mack die gewaltigen schlaffen Titten und den schwarzen Haarbusch zwischen den Bei nen. Er schaute an sich herunter und merkte, dass er sich die Hose wieder zugemacht hatte. Sie bewegte die Beine unter der Stepp decke. Ein winziger schwarzer Punkt − eine Fliege − landete auf seinem Handrücken und schoss gleich wieder davon. »Los, Mack, komm her«, sagte sie. »Woher weißt du meinen Namen?« »Ich weiß so manches.« Er zog seine Jacke aus, hängte sie über eine Stuhllehne und zog dann die Hosenträger herunter. Sie baumelten an seinen Ober schenkeln, während er sich mit den Knöpfen seines Hemds he rumplagte. »Langsam, mein Junge«, sagte sie. »Das erste Mal gibt’s nur einmal.« Er zwang sich, das Hemd in angemessenem Tempo zu öffnen. Er ermahnte sich, auf jede Einzelheit zu achten, damit er sich später an alles erinnern konnte. Er stellte sich vor, wie er es William erzählte. Wusste aber auch, dass er das nie tun würde. Das Hemd war unten, doch plötzlich übermannte ihn ein Anfall von Schüchternheit. Als hätte sie sofort begriffen, drehte Annie sich auf die Seite und blies die Lampe am Bett aus, sodass er sich im matten Lichtschein des Ofens ausziehen konnte. Er schnürte die Schuhe auf und zog sie aus. Dann die Hose, die zusammengeknüllt auf den Schuhen landete. Der Haufen sah aus, als ob ein Geist Macks Körper direkt durch die Sohlen seiner alten Arbeitsstiefel in die Unterwelt gerissen hätte. Nackt bis auf Hut und Socken, kroch er aufs Bett. Die Matratze war weich, aber er spürte auch Sand unter den Knöcheln. Sie fasste ihn am Nacken und zog ihn zu sich. Die Berührung ihrer Knie mit seinen Schultern und der süßlich-moderige Geruch von etwas, das er noch nie zuvor gerochen, aber sofort erkannt hatte, versetzte ihn in solche Er regung, dass er, ohne sie zu berühren, das Laken zwischen ihren Beinen nass machte. 243
»Scheiße«, sagte er und griff schnell nach unten. Zu spät. Als er wieder losließ, war seine Hand klebrig. Auf eine rührende Weise war er am Boden zerstört. Und er hatte einen Krampf im Fuß. Sie kicherte. »Macht nichts, mein Schatz. Ist ja kein Wunder, wenn man so gebaut ist wie du.« Sie stieß ihn mit den Knien an. »Komm, leg dich hier neben mich. Wir reden ein bisschen. Dauert höchstens eine Viertelstunde, dann geht’s wieder. Du hast doch noch einen Dollar dabei, oder?« Während sie sich ihre Pfeife stopfte, lag er regungslos neben ihr. »Sei jetzt bloß nicht sauer auf mich«, sagte sie. »So viele gut aussehende Burschen mit einem so schön sauberen Schwanz wie deinem kriege ich hier selten zu sehen.« Sie bewegte sich und drückte sich an ihn. »Gott, du bist ja steif wie ein Brett.« Und sie strich mit den Fingern an seinem Oberschenkel entlang, auf und ab. »Entspann dich, mein Schatz. Mach die Augen zu und atme langsam ein und aus.« Er atmete den schweren Duft ihres Ta baks ein. »Nimm den Hut ab.« Er nahm ihn ab. »Häng ihn da an den Bettpfosten.« Er hängte ihn an den Pfosten. »Und zieh die alten Socken aus.« Er zog sie aus. Sie hatte ihn die ganze Zeit gestreichelt, und plötzlich wurde er in ihrer Hand hart. »Holla«, sagte sie. »So schnell war noch keiner wieder da. Hast wohl ziemlich was nachzuholen, was?« Sie behielt die Pfeife im Mund, als sie sich rittlings auf ihn setzte. Der Rauch, der die dunkle Ecke mit dem Bett eingenebelt hatte, machte Mack schwindelig. Es würgte ihn fast. Ihre Zunge lugte aus dem Mundwinkel, als sie sich zwischen die Beine griff, ihn mit geschickten Fingern einführte und sich mit einem schlürfenden Geräusch ganz auf ihm niederließ. Er hatte es sich etwas enger pas244
send vorgestellt, aber gut. Die Hitze in seinem Becken loderte, er vergaß zu atmen. Die Sprungfedern quietschten, während sie zuckte, sich auf- und abschob und dann etwas machte, bei dem sich ihr Körper fest um seinem Schwanz zusammenzog. Seine Ein geweide verkrampften sich, er hörte, wie sie schneller atmete, spürte, wie ihm der Rauch in den Augen brannte. »Gut so?« »Ja, Ma’am.« Später lag er unter ihr und spürte, wie sich beim Atmen ihr Wanst auf seinem flachen Bauch auf- und abbewegte. Er war schon schlaff, steckte aber noch in ihr drin und wollte auch noch drin bleiben. Sie schien das zu spüren und bewegte sich nicht. Er starrte sie von unten an, ihr Gesicht war dem Ofen zugewandt. Da lag er nun, und sie lag auf ihm und atmete durch den offenen Mund, aus dem sie das Gebiss herausgenommen hatte. »Ich liebe dich«, sagte er. Sie kicherte. Dann setzte sie sich auf, legte sich auf seine Oberschenkel und stellte ihre Füße auf seine Schultern. Es fühlte sich an, als lägen sei ne und ihre Mitte in einer warmen Wasserpfütze. »Ich liebe dich«, sagte er noch einmal. »Gott, du bist wirklich süß«, sagte sie und kicherte wieder. Plötzlich war er wütend und zog die Beine an, um sie von sich herunterzustoßen. Dann fing der Hund an zu bellen. »Verdammter Hund«, sagte sie und wälzte sich von Macks Kör per. Seine entblößte Mitte war plötzlich ganz kalt. Er setzte sich auf und tastete nach der Decke. Ein Klopfen an der Tür. »Was ist?«, rief sie und tappte mit den Füßen nach ihrem Kleid. Der Hund legte sich wieder hin. Gelächter. »Tooch schickt mich.« Williams Whiskeystimme. »Hell-at-the-Breech.« »Hell-at-the-Breech hat uns alle hergeschickt«, sagte eine andere Stimme. Lev. 245
Es folgte ein lauter Streit darüber, wer als Erster hineindürfe, dann ein Handgemenge. Dann Williams Stimme: »Okay, okay, ist gut, kannst loslassen.« »Immer langsam, Schätzchen«, sagte Annie zu Mack, der ver suchte, sich die Hose über die Schuhe zu ziehen. »Die sollen ruhig noch etwas rumbrüllen.« Als Mack mit zerzaustem Kopf die Tür öffnete, fingen sie an zu gröhlen. William drückte ihm den Whiskeykrug in die Hand und gab ihm einen Klaps auf die Wange. Lev feuerte mit seiner Schrot flinte in die Luft. Buz Smith pisste von der Veranda, grinste ihn zahnlos an und zuckte mit seinen buschigen Augenbrauen. Annie kam zur Tür, fuhr mit einem Lappen zwischen ihren Beinen herum und sagte: »Gott, wenn ihr euch sehen könntet?« Die Luft, die nach Kiefern duftete, war kalt. Er ging den Hügel hinauf und kratzte sich an den Armen, die von Mückenstichen übersät waren. Sie waren alle auf dem Fußboden eingeschlafen, am Nachmittag war er aufgewacht. Seine Geschlechtsteile waren wund und brannten. Als sie gegangen waren, hatte William sich über seinen etwas o-beinigen Gang lustig gemacht. Komm mit, hatte Mack seinen Bruder gebeten, aber der hatte Nein gesagt, er ginge mit Lev, weitertrinken. Wann hast du sie zuletzt gesehen?, hatte er seinen Bruder gefragt. Sie will uns nicht sehen, hatte William geantwortet. Warum? Aber William hatte ihm nicht sagen wollen, warum, und da war Mack allein losmarschiert. William hatte das Pferd genommen. Es würde bald dunkel werden. Die Witwe würde Feuerholz auf schichten und das Abendessen machen, einen Grünkohleintopf vielleicht. Machte sie überhaupt noch Abendessen? Wie sah ihr Leben aus, seitdem die Jungen aus dem Haus waren? Ein Bild tauchte vor seinen Augen auf: Sie stand morgens auf, setzte das Wasser für ihren geliebten Tee auf und vergaß dann, ihn zu trin 246
ken. Sie ging hinaus auf die Veranda, setzte sich in den Schaukel stuhl und starrte über das Tal vor ihrem Haus. Der Hund hatte sich davongemacht, weil sie nicht nur selbst aufgehört hatte zu essen, sondern auch den Hund nicht mehr fütterte. Unter ihrem Kleid und der Männerhose waren nur noch Knochen, und einzig der schlotternde Stoff verhinderte, dass der Wind sie davonwehte. Er ging schneller. Als er die schwefelige Luft roch, blieb er stehen. Wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen, im Haus seiner Kindheit, bei der alten Frau, die sich dafür geopfert hatte, ihn und William groß zuziehen? Als er ein Baby war, wie viele Nächte hatte sie ihn da herumgetragen, wie viele Nächte hatte sie durchgewacht, als er nicht atmen konnte, wie viele Stunden mit ihm geredet, ihm Geschichten erzählt, das Meer beschrieben? Und wie hatte er es ihr vergolten? Er hatte einen Mann getötet. Mack versuchte, sich Arch Bedsoles Gesicht vorzustellen, doch es gelang ihm nicht. Er sah nur Tooch vor sich, als versperrte der ihm die Sicht auf Arch. Sobald Mack vom Haus aus zu sehen war, sprang der Hund von der Veranda und lief ihm entgegen. Vielleicht hatte er den Gang oder den Geruch erkannt. Mack fiel auf die Knie und ließ sich Gesicht und Hals ablecken. Er konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Es war ein Lachen, das er kaum wiedererkannte, das Lachen eines Jungen. Wie konnte die Hündin vergessen haben, wunderte er sich, dass hier der Kerl hockte, der erst vor einem Jahr ihre sechs Jungen getötet hatte? Als er sie schließlich wegschob, sah er die alte Frau auf der Veranda stehen. Sie hielt etwas in den Armen. »Granny«, rief er. Obwohl er am liebsten losgerannt und ihr um den Hals gefallen wäre, versuchte er, wie ein Erwachsener weiterzugehen. Dann sah er, was sie im Arm hielt. Das Baby. Er hatte es vergessen. »Macky«, sagte sie. »Granny.« 247
»Du bist wieder da.« »Ja, Ma’am. Glaub schon.« Sie schauten sich an. Er spürte, wie sich in seiner Brust ein Loch öffnete, vom dem er wusste, dass es sich nie wieder ganz schließen würde. »Tooch hat mich gehen lassen«, fing er an. »Und ich hab mir gedacht ...« »Die Zeiten sind hart«, sagte sie. »Was meinst du damit, Granny?« »Das Baby ist krank.« Sie schaute dem Baby in die Augen. »Hast du was zu essen mitgebracht? Oder Geld für Essen?« Seine Wangen wurden rot. Die zwei Dollar von Tooch hatte er für Annie ausgegeben. »Ich hab kein Geld«, sagte er. »Hat’s Spaß gemacht bei der Hure?« Er schaute überrascht auf. Beschämt. Dann schaute er zur Seite zu den vertrauten Bäumen − auf welchen war er nicht geklettert? Der Hund schnüffelte an seinem Oberschenkel, Mack tätschelte ihm abwesend den Kopf. Die alte Frau konnte er nicht anschauen. Er spürte, dass er überhaupt nichts wusste, dass es in der Welt, in die er sich hineingetötet hatte, keine Gewissheiten gab, nichts, auf das man zählen konnte. Er war rücksichtslos und verrottet. Sie schaukelte das Baby. Aus der Decke tauchte eine Hand auf und patschte ihr an die Nase. »Ich muss dir was erzählen«, sagte er und starrte dabei dem Hund in die Augen. Sein Spiegelbild schaute ihn an, es war so win zig wie das Gesicht auf einer Münze. »Macky Burke«, sagte sie. »Ich bin schon zu spät dran, das Baby muss gefüttert werden.« »Es ist wichtig.« »Ein Baby zu füttern ist auch wichtig.« »Ja, Ma’am.« »Geh zurück zum Laden. Und wenn du wiederkommst, dann bring was mit.« 248
»Ja, Ma’am.« Er drehte sich um. Seine Augen brannten. Seine Kehle war zusammengepresst, als würde er von innen gewürgt. Während er ging, der Hund neben ihm, war er sich sicher, dass die Witwe ihn rufen und er sich umdrehen und zurücklaufen würde, dass sie sich in die Augen schauen würden und sie ihm mit einem warmen Lächeln vergäbe. Das Wetter war umgeschlagen. Die Wolken, aus denen es eine Woche lang geregnet hatte, waren endlich nach Süden abgezogen. Die Temperaturen waren im Lauf des Tages langsam und stetig gefallen und lagen jetzt, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, bei ein bis zwei Grad. Auf den Hügelkämmen im Westen hoben sich die toten Lebenseichen nackt und schwarz wie gesplitterte Knochen gegen die untergehende Sonne ab. Am unteren Rand des Himmels hingen Streifen von dunklen, rot eingefassten Wolken. Er ging hinter Lev und William die Steigung hinauf, als er ganz oben auf einem Ast ein Fuchshörnchen sah, dessen Schwanz sich in die Höhe schraubte und das sich wie ein Hund mit dem Hinter bein kratzte. Als es sie bemerkte, verschwand es. Er blieb stehen, legte die Schrotflinte in die Beuge seines linken Arms, blies sich in die Hände und rieb sie warm. Dann sog er fri sche Luft in seine ausgetrocknete Kehle, betrachtete mit blinzelnden Augen die alte Landschaft, die auf einmal wie neu wirkte, zog sich die Hutkrempe tiefer ins Gesicht und folgte den andern auf den Kamm des Hügels. Abgesehen vom Rauschen der Baumwipfel, war die Welt still. Die Blätter auf dem Boden waren glitschig und blieben an seinen Schuhen kleben. An einem flachen Stein kratzte er erst die eine, dann die andere Sohle ab. Sein Atem dampfte in der bläulichen Dunkelheit, die von den Rändern der Wolken nach unten und vom Boden nach oben vorzudringen schien und dazwischen den trüben roten Streifen des Horizonts einschloss. Das Auge der Welt schloss sich. 249
Er holte William und Lev ein, als sie unten in der nächsten Senke Halt machten. Sie standen neben einem Tümpel, in dem Blätter trieben. William ging in die Hocke, stützte sich mit dem Ge wehrkolben ab und berührte eine Fährte, die die Form einer Blume hatte. »Rotluchse. Dann könnt ihr beiden ja morgen jagen gehen«, brummte Lev. Seine Hände kramten in den Taschen seiner weiten Baumwollhose, tauchten aber leer wieder auf. »Hat einer was zu kauen dabei?« William griff in die Innentasche seiner Jacke, holte einen Klum pen Kautabak heraus und reichte ihn Lev. Lev zückte das Messer, das er Joe Anderson abgenommen hatte, schnitt ein großes Stück ab und stopfte es sich in die Backe. Während die Zunge langsam zu arbeiten begann, klappte er das Messer zusammen und fixierte Mack. William nahm den Tabak von Lev zurück, biss selbst ein Stück ab und warf Mack den Rest zu. Der knetete, was übrig war, zu einer Kugel und stopfte sie sich mit dem Daumen in den Mund. Der Tabak verteilte sich entlang der Zähne und brannte angenehm auf dem Zahnfleisch. »Weißt du noch, was du tun musst, Junge?«, fragte Lev. Mack nickte, schaute ihn aber nicht an. »Dann sag’s mir. Los.« Sein Atem dampfte, als Mack noch einmal aufzählte, was er zu tun hatte. Er würde leise, gegen den Wind, um McCorquodales Haus herumgehen, sich irgendwo verstecken, von wo er die Hintertür sehen konnte, und dann das vereinbarte Signal geben. Wenn vorn die Schießerei anfing, würde er auf jeden schießen, der hinten herauskam. Außer auf weiße Frauen und Kinder. »Wenn von euch das Signal kommt, laufe ich runter zum Fluss hinter Toochs Laden«, schloss er. »Und wenn du Scheiße baust, Junge, dann bekommst du’s mit mir zu tun«, entgegnete Lev. »Kein Gott, kein großer Bruder, nicht mal Tooch kann mich aufhalten. Kapiert?« 250
»Ja.« William beugte sich vor und spuckte in den Tümpel. »Der schafft das, Lev. Der Kleine ist der geborene Killer.« Lev machte den Stoffbeutel los, der an seinem Gürtel hing. Er zog die Schnur auf, steckte zwei Finger hinein und fing an, sich Asche auf die Backen zu schmieren. Auch Mack und William rieben sich Gesicht, Hals und Handrücken ein. William trug norma lerweise eine Kapuze, Mack hatte es gar nicht erwarten können, auch eine zu bekommen. Aber Lev sagte, wenn er das Kommando bei einem Überfall führe, gehe jeder so wie er. Als sie fertig waren, begutachteten sie sich gegenseitig und deu teten auf einen letzten weißen Fleck an Nase oder Ohr. William drehte Mack um und betupfte die noch weißen Stellen am Haar ansatz im Nacken. Lev brummte zufrieden und spuckte aus. Da nach rieb er mit dem Jackenärmel den Doppellauf seiner Reming ton trocken. Zum dritten Mal in einer halben Stunde klappte er den Lauf herunter und betastete die roten Patronen. Das Schwarz der Finger stach gegen das Metall ab. Dann schloss er das Gewehr leise und legte es in die Armbeuge. Er zog den langen Colt-Revolver heraus, der hinten unter der Jacke im Gürtel steckte, drückte mit dem Daumen die Trommel heraus und ließ sie durchdrehen. Das schnelle, präzise Klicken klang laut und deplatziert in der von Nebelschwaden verhangenen Senke. Es waren sechs Kugeln in der Trommel, Lev hatte keine Kammer zur Sicherheit frei gelassen. Befriedigt steckte er den Revolver zurück und schaute zu, wie Wil liam seine neue Parker Kaliber iz und Mack die Kaliber 16 von seinem Vater kontrollierten. Dann liefen sie weiter. Im Gänsemarsch ging es den nächsten Hang hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. Die verschiedensten Grauschattierungen ließen das Gelände sanfter erscheinen. Bäume, Hügelkamm und Himmel flössen in einander. Die beiden stummen Gestalten schwankten und hüpf ten vor Mack her wie bewegliche, aus der Landschaft herausge 251
trennte Elemente; wie eine primitive Kraft, bebend in Bewegung gesetzt von äonenlanger Erosion oder der Schwerkraft oder den steigenden Wassern einer Flut, die aber gleichzeitig planvoll agier te; eine Kraft, die Teil der Erde, aber gleichzeitig auch von ihr los gelöst war, so wie ein Fluss oder ein herabstürzender Felsbrocken zur Bedrohung werden kann. Bei West Bend hatte der Regen den Fluss derart anschwellen las sen, dass seine alten Lehmufer verschwunden und sich neue, lose aufgeworfene Uferstreifen gebildet hatten. Als wären die Bäume einen Schritt zurückgetreten und hätten die Wälder, wie Mack fand, auf eine verdächtige Art verändert. Vor sich hin brabbelnd, stapfte Lev am Ufer auf und ab. Den alten Fluss hatte man an manchen Stellen leicht überqueren können, ein kräftiger Anlauf und hopp. Jetzt hieß es, durch das schnell fließende, brusthohe Wasser zu waten oder nach einer anderen Stelle zu suchen. Seit Lev in seiner Kindheit einmal fast ertrunken wäre, konnte er Wasser nicht ausstehen. Er ging weiter stromaufwärts. William folgte ihm, und Mack folgte William. Viel zu lange gingen sie am Fluss entlang. Das Wasser reißend, jede Menge hinterhältiger Blasen, tote Blätter, die sich mit der Strömung im Kreis drehten, vorbeitreibende Äste, der Fluss schwarz im grauen Dämmerlicht, der Grund unsichtbar. Kurze Zeit später, hinter einer Biegung, schälte sich ein waag recht über dem Wasser liegender Baumstamm aus dem dämmeri gen Dunst. Irgendein fleißiger Flussüberquerer hatte die grüne, pas send große Weihrauchkiefer perfekt gefällt und sauber beschnitten. Der Stamm hing etwas durch, aber alle störenden Äste waren ent fernt, und die grobe Rinde bot genug Halt. Zehn, zwölf schnelle Schritte, und man war drüben. Lev blieb stehen und fuhr sich mit seinen schwarzen Fingern übers Kinn. William stand neben ihm. »Hiermit taufe ich dich, Baum, auf den Namen Lev James Natural Bridge«, sagte er und klopfte mit dem Lauf seines Gewehrs auf das Holz. 252
Lev streckte den Kopf vor und begutachtete den Stamm. »Nee«, sagte er. »Wir suchen weiter. Am Ende fällt einer rein, dann ist unsere ganze Tarnung im Arsch.« »Wir hätten Kapuzen nehmen sollen«, sagte William. »Zum Teufel mit deinen Kapuzen«, sagte Lev. »Los jetzt, weiter.« »Die Zeit wird knapp, Lev«, entgegnete William. Er legte sein Gewehr wie ein Soldat gegen die Schulter. »Wir müssen da rüber. Sonst schaffen wir’s nicht.« »Scheißwetter«, grummelte Lev und schaute durch die Dreiecke und Trapeze der Äste in den immer dunkler werdenden Himmel. Mack hätte selbst nicht sagen können, warum er es tat, aber er ging ruhig an William vorbei und stieg forsch auf den Baum. Mit ausgebreiteten Armen balancierte er über den Stamm und schaute ein paar Sekunden später vom Nordufer des Flusses hinüber zu seinem Bruder und Lev James. William legte mit Schwung los, kam in der Mitte etwas ins Rudern, fing sich wieder, griff nach Macks schwarzer Hand und trat an Land. Jetzt schauten sie beide hinüber zu Lev, den man in der Dun kelheit kaum noch sehen konnte. Er hatte seinen breiten Kopf auf die Seite gelegt und fixierte den Stamm wie eine Mokassin schlange. »Los, Lev, komm schon«, rief William und deutete mit seinem Gewehr nach Westen. »Wir müssen weiter.« »Eher fahr ich zur Hölle«, brummte Lev. Dann schaute er fluss aufwärts, flussabwärts und sogar himmelwärts − als suchte er einen Baum, um sich an einer Liane hinüberzuschwingen. Er nahm den Hut ab, und der weiße kahle Fleck leuchtete so blass wie der Mond. »Der alte McCorquodale wartet nicht«, rief William. »Was ist? Sollen Mack und ich die Sache allein erledigen, und wir treffen uns hinterher wieder hier?« »Scheiße«, sagte Lev. Er setzte den Hut auf, holte tief Luft, als wollte er ins Wasser springen, und tastete wie ein Blinder mit einem 253
Fuß nach dem Baumstamm. Dann zog er den Fuß wieder zurück und schien sich die Sache noch einmal zu überlegen. Andere Bilder vom fliegenden Lev James schossen Mack durch den Kopf: als er aus einem Boot gefallen war, von einem Felsvorsprung, kopfüber von einem Heuboden. Was außer seinem Hals hatte sich Lev James noch nicht gebrochen? William stieß Mack mit dem Ellbogen in die Rippen, als wollte er sagen: Du weißt, dass er fällt, ich weiß, dass er fällt, und er weiß,
dass er fällt. Wichtig ist nur eins: Wenn es passiert, nicht lachen. Mack schaute flussabwärts. Als er den Kopf wieder umwandte, schob Lev gerade einen Fuß auf den Stamm. Er schaute zu ihnen hinüber, als hätte er gute Lust, sie beide zu erschießen. Dann mach te er den ersten Schritt, weit vorgebeugt wie ein Affe. Die Finger krampften sich um die Flinte. Mack musste an den Händler den ken, den Lev getötet hatte. Wie der mit dem Gesicht nach unten im Grab lag, mit Erde auf Nacken, Händen und Rumpf. Lev machte wieder einen Schritt. So weit, so gut. Noch einen. Er hatte immer noch nicht geatmet. Dann passierte es. Der linke Fuß setzte schief auf und rutschte leicht ab. Als er fiel, fiel er schnell. Ein Spiegelbild aller anderen Stürze, die ihm ein Leben voll grausamer Schwerkraft beschert hatte, eine friedliche Kapitulation, die vielleicht einzige Gnade, die ihm zuteil wurde: zu stürzen, ohne gegen seine perverse Existenz ankämpfen zu müssen, Arme und Beine regungslos, der Körper entspannt, die Lippen ein verärgerter Strich und mit weißen schmalen Augen auf das Gelächter lauernd, das Mack und William sich verkniffen. Er ging unter und tauchte sofort wieder auf. Bis zur Brust stand er im Wasser. Mit einer Hand hielt er den Hut fest, mit der andern die trockene Schrotflinte. Mack war beeindruckt, das Gewehr hatte er immer über Wasser gehalten. Lev stemmte sich gegen die Strömung, und die Brüder streckten ihm die Arme entgegen, um ihn herauszuziehen. Als er es schließlich ans Ufer geschafft hatte, 254
hätte Mack um ein Haar gelacht. Lev schüttelte sich wie ein Hund, wobei ihm die schwarze Farbe vom Hals über den blauen Hemd kragen lief. Aus dem Colt, den er aus dem Hosenbund zog, lief Wasser. »Scheißglatt«, brummte er. Mit unbewegtem Gesicht reichte William ihm einen Lappen. Lev riss ihm den Fetzen aus der Hand und drückte Mack die Flinte in die Hand. Fluchend rieb er sich die Asche aus den Augen. An den Wangen blieben schmutzig weiße Flecken zurück. Er faltete das Tuch zur Räubermaske und verknotete es im Nacken. Dann nahm er sein Gewehr zurück und stapfte davon. Schon bald marschierten die drei in flottem Tempo unter den glitschig grauen Virginia moos-Bärten hindurch. Einmal schaute sich William um. Die Augen lagen im Schatten des Hutes. Das Gesicht war kaum erkennbar, aber dennoch beru higend. Dann schaute er wieder nach vorn. An den geschmeidigen Bewegungen, mit denen er den Hügel hinaufstieg, erkannte Mack seinen Bruder. Die runde Form der Schultern mit dem eingezoge nen Kopf, der Gang fast wie auf Zehenspitzen, die Sorgfalt, mit der er darauf achtete, nicht an einer Kletterpflanze oder einem Ast hängen zu bleiben, damit sich nicht das Wasser, das in den Bäumen hing, über ihn ergoss. In manchen Bewegungen erkannte Mack sich selbst wieder. Er erinnerte sich an einen Nachmittag in einem Laden in Coffeeville, als er in einem Spiegel einen anderen Spiegel mit seinem Profil gesehen hatte. Der zweite Spiegel hatte in genau passendem Winkel an einer anderen Wand gehangen. Verwirrend fand er nicht nur, dass er zum ersten Mal seine Seitenansicht in voller Breite sah, sondern auch den Gedanken der arrangierten Spiegelbilder: wie ein Mensch von seiner eigenen Erscheinung so gefesselt sein konnte, dass er statt einem zwei Spiegel brauchte. In der Hütte der Witwe stand auf dem schmalen Bord über der Waschschüssel nur ein halber Spiegel. In seiner Kindheit hatte sich Mack nur selten selbst angeschaut. Wozu? Was konnte ein Junge in seinen eigenen Augen schon Überraschendes entdecken? 255
Er spuckte aus und wischte sich mit dem Handrücken über die trockenen Lippen. Der Wald lag jetzt hinter ihnen, und sie über querten ein Feld mit abgestorbenen Maisstängeln. Außer Sicht weite des Waldes und der weit entfernten Straße gingen sie gebückt zwischen den hohen feuchten Stängeln hindurch. Mack hielt das Gewehr nach unten, damit die Mündung des Laufs nicht nass wurde. Dann ging es wieder in einen Wald, wo sie aufrecht gehen konnten. Erst bergab, dann auf ebenem Untergrund. Die Bäume standen jetzt nicht mehr so dicht, und sie befanden sich schon außerhalb der Gemeindegrenzen. Der Himmel wurde noch dunk ler, zum ersten Mal seit Tagen sah man wieder Sterne. Dann ein Stacheldrahtzaun, den Lev für die Brüder auseinander hielt, danach William für Lev. Sie überquerten einen verschlammten Holzfäl lerweg, William trat in Levs, Mack in Williams Fußstapfen, und sie betraten eine Schonung mit Weihrauchkiefern. Weiche braune Nadeln unter den Schuhen. Unten an die Stämme waren Holz kästen genagelt, die das Harz auffingen. Eins von McCorquodales Nebengeschäften. Der Saft lief zähflüssig aus der eingeschnittenen Rinde der Kiefern. Jeden Montag schickte McCorquodale ein paar Neger hinaus, die die Kästen ausleerten. Aber bestimmt nicht am nächsten Montag: Lev blieb vor dem ersten Kasten stehen und schaute den Stamm hinauf, als wollte er ihn dafür bestrafen, dass einer seiner Artgenossen ihn in den Fluss katapultiert hatte. Schließlich ging er einmal um die Kiefer herum, hob den Fuß und zertrat den vollen Kasten. Aus dem Stamm rag ten nur noch zwei verbogene Nägel, und das Harz sickerte in den nassen braunen Nadelteppich. Dann wandte er sich der nächsten Kiefer zu, dann der übernächsten und immer so weiter. Hin und wieder trat er daneben, zweimal wäre er beinahe gestürzt. Einmal fiel er flach auf den Rücken, sprang aber gleich wieder auf und machte weiter. Das Harz verklebte seinen Stiefel, Rinde, Holz splitter und Nägel hingen an der Sohle fest und ließen den Stiefel immer weiter anschwellen, bis Lev schließlich humpelnd seinen Klumpfuß zum nächsten Baum schleppte. Der Schweiß zog weiße 256
Linien über seine Stirn. Anscheinend wollte er jeden einzelnen Kas ten zertrümmern. Mack schaute seinen Bruder an. Er machte sich Sorgen wegen des Lärms, aber William schien mit einer Ruhe gesegnet, die den meisten Menschen wohl unbegreiflich erschiene. Trotzdem war es auch ihm irgendwann genug, sie hatten schließ lich eine Aufgabe zu erledigen. Er ging zu Lev und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir müssen weiter«, sagte er und schaute Lev in die Augen. Dann drehte er sich um und marschierte los in Richtung McCor quodales Haus. Mack folgte seinem Bruder, wobei er einen großen Bogen um Lev machte, der mit einem Stock an seinem Stiefel herumstocherte. Als Mack das Wäldchen verließ, war der vor sich hin brummende Lev schon wieder an ihm vorbei. Schließlich holte er auch William ein und blieb dann stehen. Der Harzgestank war zum Erbrechen. Levs Stirn war gestreift, als hätte er Kriegsbemalung aufgelegt. Er sprach mit gedämpfter Stimme und starrte dabei aus geröteten Augen Mack an. »Also, Junge«, sagte er. »Denk dran, ziel auf den Bauch. Spiel bloß nicht den Meisterschützen und versuch ‘n Kopfschuss.« Er stach ihm mit dem Finger in den Bauch. »Dahin, kapiert?« »In den Bauch«, sagte Mack mit tonloser Stimme. William nickte Mack zu und drückte ihm die Schulter. Dann verschwand er im Laufschritt zwischen den Bäumen. Mack brauchte fast eine halbe Stunde, bis er sich hinter dem Haus in Stellung gebracht hatte. Er musste leise sein und sich mit dem Wind von vorn anschleichen, um nicht McCorquodales Hund aufzuschrecken. Als er schließlich etwa fünfzehn Meter von der Hintertür entfernt unter den weichen nassen Ranken einer Trauerweide Position bezog, war es stockdunkel. An den hell er leuchteten Erdgeschossfenstern und dem Dach, das eine Spur dunkler war als der Himmel, konnte er die Umrisse des zweistö ckigen Hauses erkennen. Er ging in die Hocke, legte das Gewehr quer über die Knie und spannte den Hahn. Er hörte das Klicken, 257
als die winzige, feine Metallfeder einrastete. Der Wind wehte ihm den Geruch von Rauch und gebratenem Fleisch zu. Er hatte das Innere des Hauses nie betreten und würde es wahrscheinlich auch nie. Es hieß, dass es Wasserleitungen gab. Mit Blei versiegelte Was sertanks im Speicher und Tonnen auf dem Dach, die das Regen wasser auffingen. Im Wohnzimmer ein Klavier. Mack stellte sich die perlenden Töne vor. Er hatte nur zweimal in seinem Leben ein Klavier gehört, beide Male, als sie zur Messe in die Stadt gefahren waren. Dann streckte er den Kopf vor. Eine Gestalt lief an einem der Fenster vorbei. Ein Mädchen, das das Haar zu einem Knoten gebunden hatte. Sie ging ein zweites Mal vorbei. Diesmal trug sie etwas. McCorquodale hatte vier Töchter und einen Sohn, Carlos, der nie mit Mack gesprochen hatte. Verwöhnte Kinder, die für Leute vom Land nichts übrig hatten. Durch die Bäume und den Rauchschleier aus dem Kamin schaute er zum Himmel. Plötzlich wusste er, dass er zu spät dran war. Scheiße! Er hielt sich die gewölbten Hände vor den Mund und ließ seinen Eulenruf los, der aber viel zu schrill ausfiel. Falls sich im Haus ein vorsichtiger oder misstrauischer Kopf befand, würde er jetzt mit der Gabel auf halbem Weg zum Mund innehalten und mit der anderen Hand nach der Pistole greifen. Mack wartete und horchte. Nichts. Einen Augenblick später hörte er, wie aus den Wäldern jenseits des Hauses Williams Eule antwortete. Mack wartete. Sein Herzschlag dröhnte. Er beugte sich vor und ließ, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, einen Batzen Tabakspucke von der Unterlippe tropfen. Dann änderte er seine Position. Er stützte sich mit einem Knie auf den nassen Boden, auf dem andern platzierte er seinen Ellbogen und richtete das Gewehr auf die Hintertür. Er versuchte, sich mit der Vorstellung zu be ruhigen, dass ihn das schwarze Gesicht und der Vorhang der Trau erweide mit der Nacht verschmolzen hätten. Im Gefühl seiner Unsichtbarkeit, seiner Unbesiegbarkeit entspannte er sich. Der 258
Holzschaft drückte gegen die Schulter, er war Herr über das Blei, der Bote des Todes. Als das Mädchen wieder auftauchte, diesmal um die Flamme der Lampe höher zu drehen, folgte er ihr mit dem Korn des Gewehrlaufs. Sein Finger berührte den Abzug und tes tete den exzellenten Widerstand. Ich bin der Engel. Er schloss das linke Auge.
Der Engel aus der zweiten Reihe, der für die Absicherung des Hintereingangs. Vor dem Haus fing der Hund an zu kläffen. McCorquodales sagenhafte Wachhündin. Mack kannte sie von seinen wenigen Ausflügen nach Coffeeville. Wenn er sich dem Laden näherte, war sie mit aufgestellten Nackenhaaren hochgesprungen und hatte ihn angeknurrt. Die Leute sagten, sie begleite McCorquodale jeden Tag zum Laden, trotte neben seinem Pferd her, gehorsam, abgerichtet. Die Schnauze auf den Pfoten, läge sie den ganzen Tag im Schatten der Veranda und ginge erst nach Einbruch der Dunkelheit mit ihrem Herrn zurück nach Hause. Jetzt hörte er die Stimme eines Mannes: Wer zum Teufel ist da? Dann die einer Frau. Der laute Knall, die Antwort des Schrotgewehrs, klang so nah, dass Mack fast selbst abgedrückt hätte. Er schloss das linke Auge, biss sich auf die Unterlippe und zielte auf die Tür. Presste die Zäh ne zusammen, damit sie keinen Lärm machten. Kommt bloß nicht
raus, bleibt drin. Bleibt bloß drin. Niemand kam. Der Hund bellte. Eine Frau schrie. Schreiende Mädchen. Eine Tür knallte. Dann ein zweiter Schuss. Der Hund hörte auf zu bellen. Mack stand auf, behielt aber die Tür im Visier. Er hatte den Kau tabak verschluckt. Ihm war übel, der Mund war voll warmer Spu cke, die Augen brannten feucht. Der Kamin spie glühende Kohle funken, die durch die Nacht wirbelten. Mack trat zwei Schritte zurück, blinzelte, senkte das Gewehr, konnte kaum atmen. Dann hallte Williams Eulenschrei durch die Bäume, Mack drehte sich 259
um, entspannte den Gewehrhahn, würgte, lief gebückt los, hob den Arm und kotzte beim Laufen unter dem Arm durch. An den Weg konnte er sich später nicht mehr erinnern, erst wie der an den Treffpunkt, der sich etwa eine Meile von Toochs Laden in einer Senke am Fluss befand. Trotz des Wetters hatten Lev und William ein ziemlich kräftiges Feuer in Gang gebracht. Die beiden lachten und wuschen sich die Asche aus dem Gesicht. Das Harz an Levs Stiefel blubberte vor Hitze, es roch nach verbranntem Zucker. Lev stand auf, als Mack kam. Sein geschrubbtes Gesicht sah im Feuerschein orangefarben aus. »Wo zum Teufel hast du so lange gesteckt, Junge? Wir haben schon gedacht, du hast die Nerven ver loren und bist nach Hause zur Witwe.« »Ich war nur leise und vorsichtig«, sagte Mack und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Wie Tooch gesagt hat.« Er zog ein Taschentuch aus der Jacke, bückte sich, machte es nass und fing an, sich die Asche abzureiben. Lev schaute ihn ärgerlich an. »Ich hab schon Krämpfe in den Beinen von der Warterei«, fluchte er. William wischte sich mit einem Tuch den Nacken ab. Sein Hut lag neben ihm auf dem Boden, die schweißnassen Haare glänzten. »Verdammt noch mal, Lev, du hast den Scheißkerl doch erwischt und dazu die Hälfte der Scheißkästen für sein Harz. Jetzt lass end lich Macky in Ruhe.« Lev starrte William an, dann begann er zu lachen und drückte Mack einen Whiskeykrug in die Arme. »Ich hab den alten McCor quodale erledigt, und dein großer Bruder hier hat der großmäuli gen Töle das Maul gestopft.« William lächelte. »Konnte dich doch nicht die ganze Arbeit allein machen lassen, oder?« Mack hob den Krug hoch und zog den Stöpsel heraus. Später bei Tooch, als er schon betrunken war, hörte er Lev die Geschichte wieder und wieder erzählen. Ernest McCorquodale war mit einer Stoffserviette in der Hand auf die Veranda gekommen, wo 260
ihn Levs erster Schuss traf. Dabei bekam auch McCorquodales Frau etwas ab, die gleich hinter ihrem Mann mit einer Laterne aus dem Haus gekommen war. Die erste Schrotladung hatte McCor quodales Brust, Bauch und Hals getroffen, die Laterne war explo diert, und sein Hemd hatte Feuer gefangen. McCorquodales Frau floh zurück ins Haus, wobei sie sich einen Arm hielt. McCorquo dale taumelte nach links an die Hauswand und schlug dabei auf seinen Ärmel. Lev schoss wieder. McCorquodale wurde herumge rissen und sprühte Funken, bevor er umkippte. Brennend lag er da. Dann schoss William. Der Hund knickte ein, kroch einmal im Kreis herum und blieb liegen.
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III
Carlos McCorquodale saß hinter ihm auf dem Pferd, als Waite halb betrunken in ziemlich scharfem Tempo durch die Court Street ritt. In den Fenstern leuchteten gelbe Lampen, und die Umrisse von Köpfen waren zu sehen, die nach draußen schauten. Die Menschen hatten begriffen, dass etwas nicht stimmte. Carlos japste nach Luft und hielt sich die in Krämpfen zuckende Seite. Er hatte gesagt, dass man seinen Vater auf der Veranda erschossen habe. Dass irgendwer einfach abgedrückt und sich dann aus dem Staub gemacht habe und sein Vater jetzt tot sei. Er, Carlos, sei auf eins der Pferde gesprungen und losgeritten, um Waite zu holen, sei aber eine Meile vor Grove Hill abgeworfen worden und den Rest des Weges gelaufen. Der Junge in Waites Rücken zitterte, als hätte er Schüttelfrost. Schließlich begriff Waite, dass Carlos weinte. Sie ritten an der Schmiede und den geschlossenen grünen Fens terläden von Simmons General Store vorbei. An der Ladentür hing ein Stechpalmenkranz. Es hatte geregnet, und King schleuderte halbkreisförmige Schlammbatzen in die Luft. Auf einmal geriet er ins Rutschen, fing sich jedoch wieder und protestierte leise wie hernd. Waite beugte sich vor und klopfte ihm auf den Hals. Die ganze Zeit dachte er darüber nach, wie er dem Jungen Trost spen den könnte. Dass sein Vater vielleicht gar nicht tot sei, dass viel Blut gar nichts zu bedeuten habe, dass es oft viel schlimmer aus sehe, als es in Wirklichkeit war. Aber Oscar hatte ihm, Waite, durch den Jungen ausrichten lassen, er solle kommen, und wenn Oscar sagte, dass McCorquodale tot war, dann war er tot. Als sie noch etwa eine halbe Meile von McCorquodales Haus entfernt waren und Waite an einer Biegung etwas langsamer rei ten musste, ließ Carlos sich nach hinten vom Pferd gleiten. Waite 262
zog die Zügel an, blieb stehen und drehte sich im Sattel um. Der Junge stand im Matsch der Straße und schaute ihn an. »Carlos?« »Ich komm gleich nach.« Waite schaute in Richtung der hohen Bäume, die links und rechts der Straße dunkel und bedrohlich aufragten. »Nicht ganz ungefährlich.« »Reiten Sie nur weiter, Sheriff«, sagte der Junge. »Bitte!« »Du kommst aber sofort nach.« »Ja, Sir. Sofort.« Waite nickte, drückte King mit den Unterschenkeln in die Rippen und ließ Carlos auf der mondbeschienenen Straße zurück. Oscar stand auf den Stufen und wartete auf ihn. In einer Hand hielt er seine große goldene Taschenuhr, als wollte er festhalten, wie lange Waite gebraucht habe. In der andern Hand hielt er seinen Colt. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, auf der weißen Hemdbrust waren Blutflecke. Das ergrauende, normalerweise sorgfältig nach hinten gekämmte Haar hing ihm in Strähnen ins Gesicht. Er ging die Stufen hinunter und hielt das Pferd am Zügel, bis Waite abgestiegen war. Sein Atem dampfte in der kühlen Luft. Waite nahm die Zügel und machte sie geschäftsmäßig an einem Pfosten fest. Dann schaute er sich um. Das Licht aus den Fenstern des großen Hauses fiel in zitternden, länglichen Rechtecken in den Hof. Als er sich Oscar zuwandte, schaute ihn dieser mit ent schlossenem Blick an. »Ich hab’s dir gesagt.« Waite reagierte nicht darauf. »Also, was ist passiert?« »Brauchst du einen Kaffee? Damit du wieder nüchtern wirst?« »Geh mir nicht auf die Nerven, Oscar.« »Was passiert ist? Verdammt, Billy. Ein Überfall, Heckenschüt zen, das ist passiert.« Er machte eine Kopfbewegung und stakste an der Veranda entlang und um die Hausecke herum. Waite folgte ihm durch das hohe nasse Gras, vorbei am Birnbaum, hinein in ein dunkles Loch der Nacht. Waite sah etwas Weißes auf dem Boden, erkannte aber erst nach ein paar Sekunden, dass es ein 263
Hund war. Er ging in die Hocke und berührte mit den Fingerknö cheln den kalten Hals. »Die haben den Hund erschossen?« »Ja. Ich hab ihn hierher geschleift. Damit er aus dem Weg ist.« Waite schaute hinaus in die Nacht. »Warum zum Teufel haben sie das gemacht?« »Wahrscheinlich hat’s ihn versehentlich erwischt. Mich beschäf tigt allerdings mehr die Tatsache, dass sie Ernest erschossen haben.« Waite hatte Blut an den Händen. Bevor er wieder aufstand, wischte er sich die Handfläche und den Handrücken im Gras ab. »Allmächtiger«, sagte Oscar. »Auf seiner eigenen Veranda. Und seine Frau stand neben ihm. Meine Schwester, Billy.« Oscar betrachtete die Waffe in seiner Hand und kratzte sich am Kopf. Er schaute zur anderen Straßenseite, wo sich in der Dunkelheit Bäu me verbargen. »Die waren da drüben«, sagte er und zeigte die Richtung mit der Pistole an. »Haben einfach gewartet. Gottver dammte Heckenschützen.« »Du warst hier, als es passiert ist, richtig?«, sagte Waite. Oscar nickte. »Erzähl. Von Anfang an.« Sie waren gerade beim Abendessen gewesen. Oscar saß am einen Tischende, Ernest am andern. Sie redeten über die Bande in New Prospect und darüber, dass keiner mehr sicher sei, seit sie Joe Anderson erschossen hatten, als plötzlich der Hund zu bellen anfing. Die Mädchen plauderten noch über eine Tanzveranstaltung. Der Hund hörte nicht auf zu bellen. Ernest knallt die Gabel auf den Teller, reißt sich die Serviette aus dem Kragen und steht auf, um nachzuschauen, was der Grund für den Aufruhr ist. Er hatte schon den ganzen Abend üble Laune, fast hätte er sogar das Tischgebet vergessen, wenn Ulrica ihn nicht erinnert hätte. Ernest geht also raus auf die Veranda, ist sicher eine Minute draußen und brüllt: »Wer ist da?« Dann steht auch Ulrica auf und geht hinaus. Sie nimmt noch die Kerosinlampe mit und fragt: »Was ist los, Ernest?« 264
»Ich schwöre bei Gott«, sagte Oscar. »Ich hab gedacht, da treibt sich ‘n Fuchs, Waschbär oder so was rum. Warum bin ich bloß nicht mit rausgegangen. Ich hätte es wissen müssen. Das musste ja passieren.« »Weiter«, sagte Waite. Als Oscar den ersten Schuss hörte, sprang er auf und befahl den andern, sich auf den Boden zu werfen. Die Mädchen kreischen und halten sich die Ohren zu. Das schwarze Dienstmädchen schreit auch und verschwindet. Oscars Frau Lucinda wird ohnmächtig. Ulrica kommt wieder ins Haus gerannt. Sie hält sich mit einer Hand ihren Unterarm. Blut tropft zwischen den Fingern hindurch auf ihr Kleid. Sie schreit wie am Spieß. Oscar robbt auf Knien und Ellbogen zu ihr, reißt sie runter auf den Boden und hält ihr den Mund zu, um sie zu beruhigen. Seine Pistole steckt vorn in der Jacke, in der Diele neben der Haustür. Er kriecht Richtung Diele und brüllt, dass alle unten bleiben sollen. Dann ein zweiter Schuss, kurz danach noch einer. Danach ist Ruhe. In der Diele reißt er den Ständer samt Jacke um und greift sich die Pistole. Geht in die Hocke, lugt über den Fenstersims und sieht Ernest im Dunkeln auf der Veranda liegen. Ein Ärmel brennt. Unter seinem Körper breitet sich eine schwarze Lache aus. »Wie spät war es?« Er überlegte. »War gerade erst dunkel geworden. Halbe Stunde vielleicht.« Oscar seufzte. »Du kriegst ihn doch, oder?« Waite verschränkte die Arme. Es war kälter geworden, Nebel hing in der Luft. Eine Nachtschwalbe, die über ihnen in einem Baum saß, schrie. Waite schaute zum Himmel und spürte die Brise auf seinen Wangen. Er musste an eine Geschichte denken, als er und Oscar noch Kinder waren. Oscars Vater hatte seinem Sohn gesagt, er solle einen kleinen streunenden Hund erschießen, der sich unter ihrem Haus eingenistet hatte. Ständig zitterte der krät zige graue Köter und fletschte die Zähne, aber nicht weil er bös artig war, glaubte der kleine Waite, sondern aus irgendeinem 265
andern Grund. Vielleicht aus Angst. Aber Oscars Vater, der Rechts anwalt war, glaubte, dass er möglicherweise die Tollwut hätte, und außerdem sei er sowieso wild. Er gab Oscar einen riesigen Dragoon Colt und sagte, er solle den Hund unter dem Haus vorholen und dann irgendwo töten. Warte erinnerte sich, wie sie sich beide hin knieten und den Hund riefen. Wie alt war Oscar damals gewesen? Neun? Zehn? Er steckte sich die Pistole in den Gürtel wie ein Schwert, sie hätte ihm fast die Hose heruntergezogen, so schwer war sie. Die Mündung hing bis zu den Waden runter. In säuseln dem Singsang versuchten sie, den bibbernden Hund aus seinem Versteck zu locken. Schließlich holten sie einen großen Schinken knochen, der das Tier endlich dazu bewegte, unter den Stufen der Hintertür vorzukriechen. Als er herauskam, bepisste er sich, und der Sabber lief ihm aus dem zitternden Maul. Er folgte ihnen hin ter den Mietstall und vorbei an der Koppel mit den Stuten, unter die sich auch ein Esel mit bläulichem Fell gemischt hatte, der ihnen sein la-la-la hinterherkreischte, die gelben Zähne fletschte und dauernd das Fell auf seinem Hintern zucken ließ, um die riesigen schwarzen Pferdebremsen zu verscheuchen. »Oder?«, sagte Oscar. »Schätze schon.« »Soll ich noch ein paar Leute zusammentrommeln?« Waite schüttelte den Kopf. »Ein Mob ist das Letzte, was wir jetzt brauchen. Wenn die da reinreiten und losballern, dann haben wir einen ausgewachsenen Krieg am Hals, und das auf ihrem Gebiet.« Oscar sah ihn an. »Den haben wir jetzt schon.« Links von ihnen raschelte etwas. Oscar riss den Arm mit der Pis tole hoch. »Ich bin’s nur«, sagte Carlos. Er schlug ein strammes Tempo an, als er durch die Felder ritt, bog dann jedoch, weil er seine Ruhe wollte, von der Straße ab und ritt auf einem abgelegenen Weg weiter, den er von einem seiner früheren Besuche in der Gegend kannte. Er vertraute King und dös 266
te im Sattel vor sich hin. Träume geisterten durch seinen Kopf, was ungewöhnlich für ihn war. Ein brennendes Haus. Sein Haus? Sein vor dreißig Jahren verstorbener Vater, der auf dem Fahrrad neben ihm herfuhr und ihn beobachtete. Als er aufwachte, war das Pferd stehen geblieben und rieb seinen Kopf an der bemoosten Rinde eines Amberbaums. Das Gelände fiel steil ab. Vom Grund der Senke hörte er das Gurgeln eines Flusses. Er brauchte nicht lange, bis ihm klar war, dass er sich verirrt hatte. Das war ungewöhnlich für ihn. Schnell hatte er eine Stunde damit verplempert, den widerwilligen King an einer Reihe steiler glit schiger Böschungen entlangzuführen, sich unter niedrigen Ästen hin-durchzuducken und mit dem Kinn schlüpfrige Spinnweben zu zerfetzen. »Nie wieder vertrau ich einem Pferd«, grummelte er und klopfte King freundlich auf die Mähne. Bei jedem von Kings Fehl tritten spürte er seine Lebensjahre einzeln im Kreuz. Zweimal stieg er ab, um zu pinkeln, aber als er dastand und wartete, kam nichts. Gott, was gäbe er jetzt für einen Schluck Whiskey. Nach einer weiteren Stunde hatte er seinen Orientierungspunkt immer noch nicht gefunden − eine große umgestürzte Eiche, die ein paar Trottel hatten zersägen wollen. Die Quersäge schaute noch halb aus dem Stamm, der Griff war schon lange abgerissen. Ent weder hatte jemand das Holz oder die Schrauben gebraucht oder einfach nur seine Wut an dem Baum ausgelassen. Wäre er der Ver sager gewesen, hätte er, damit niemand von der Peinlichkeit eines nur halb durchgesägten Stamms erführe, die Säge zerstört und ver schwinden lassen. Doch vielleicht, dachte Waite, hatte, wer immer dort zu Werke gegangen war, genau das versucht. Oder er hatte geglaubt, den Stamm als Ganzes wegschaffen zu können. Waite stieg ab und stand, die Hände in die Seiten gestützt, auf dem sump figen Boden. Er sah seinen und Kings Atem. Schließlich zerrte er das Pferd weiter, das mehr als einmal auf einem Stein ausrutschte und fast den Halt verlor. Waite hatte alle Hände voll zu tun, das Tier zu beruhigen. Es blies, schnaubte und rollte mit den Augen, 267
als lauerten überall Klapperschlangen. Waite war inzwischen stinksauer. Er stolperte durchs Gebüsch und schnitt sich in Gesicht und Hals, an seinen Stiefeln klebte dick der Schlamm, und die Jacke war durchnässt vom Regenwasser, das sich immer wieder aus den Bäumen über ihn ergoss. Als hätte jeder verdammte Kiefernzweig ein Maul voll kalter Spucke für ihn aufgehoben. »Verrückt«, murmelte er. King wieherte zustimmend. Während Waite so dahinstolperte, ging ihm der streunende Hund nicht aus dem Kopf, den der kleine Oscar vor so vielen Jah ren erschossen hatte und der ihnen unwissend zu seiner Verabre dung mit dem Tod gefolgt war. Die blutig gekratzten Stellen auf dem Fell, das wie geschrumpft aussah, als wäre es zu eng für den Hund, der darunter steckte; die Rippen, die man zählen konnte; das Zittern, als sei ihm immer zu kalt; das Schwanzwedeln, als er ahnungslos hinter ihnen herzockelte. Ahnungslos wie die Jungen auch. Waite sah, dass sich Oscar wichtig vorkam wie ein Erwach sener, ein Mann, der für die Erschießung eines Hundes verant wortlich war und eine Pistole trug, die den Eindruck erweckte, als wäre sie fast so groß wie er selbst. Und doch hatte Waite zugeben müssen, dass von der Waffe etwas ausging. Kann ich mal die Pis tole tragen?, hatte er schließlich gefragt. Nein, sagte Oscar. Daddy hat sie mir gegeben, ich bin der Boss. Wo willst du ihn erschießen?, fragte Waite. Dahinten, hinter der Kurve. Und wie? In den Kopf, sagte Oscar. Patsch, genau zwischen die Augen. Warum nicht ins Herz?, fragte Waite. Wo steckt ‘n das? In der Schulter, du Idiot. Der Dragoon Colt war zu schwer für Oscars Arm gewesen, also hatte er beide Hände genommen. Er zielte aufs Herz, wie Waite annahm, und schoss, traf aber stattdessen den Hintern. Die hin tere Hälfte des Hundes fiel zusammen, als wenn irgendwas im Boden sie nach unten gerissen hätte. Der Hund bellte, es hörte sich 268
fast an wie das Kreischen eines Mädchens. Er fing an, im Kreis he rumzukriechen, schleifte die lahmen Hinterbeine hinter sich her, zog eine gezackte Spur aus Blut in den Dreck, und der blutige Dreck verklebte das Fell. Oscar schoss noch einmal, mit einer Hand, panisch, diesmal fast einen Meter daneben, der Rückstoß riss die Pistole fast senkrecht nach oben. Er schoss noch ein weiteres Mal. Wieder daneben. Der Hund schlug jetzt einen geraden Weg ein und zog seine nutzlose Hälfte unter einem Zaun hindurch in ein Baumwollfeld, das in strahlend weißer Blüte stand. Stumm sahen die Cousins hinterher. Die Bewegungen der Samenkapseln und das Schreien des Hundes wiesen ihnen den Weg. Halbherzig nahmen sie die Verfolgung auf, immer den grell roten Klecksen an der wei ßen Baumwolle nach, gaben aber Minuten später, als sie das Feld durchquert hatten und am Waldrand standen, auf. Den Hund sahen sie nie wieder. Waite musste Oscar versprechen, nie etwas zu erzählen. Und daran hatte er sich auch gehalten. In Form einer schmalen Wagenspur erwischte ihn das Glück schließlich doch noch. Das Gras wuchs fast kniehoch zwischen den tiefen schlammigen Furchen. Dann die Eiche mit der Säge. Er ging zu ihr hin und berührte sie dankbar. Sandiger Rost blieb am Daumen hängen. Er schnaufte noch etwas durch und stieg danach wieder in den Sattel, beugte sich vor, flüsterte dem Pferd ins Ohr und tätschelte die Seite des langen nassen Tierkopfes. Ja, King, bra ver Junge. Ich weiß, etwas Zucker und ein paar Karotten hätte ich mitnehmen sollen. Und warum, zum Teufel, hatte er für sich keine Flasche eingesteckt? Was für eine Wohltat das jetzt wäre. Aber hier draußen zu trinken, wäre sowieso Wahnsinn. Er nahm den Hut ab, schüttelte das Wasser heraus, setzte ihn wieder auf und ritt los. Eine Hand lag auf dem Kolben der Marlin, die in der Sattelscheide steckte. Das Land war ihm jetzt wieder vertrauter, selbst bei Mond schein. Schon bald spitzte King die Ohren, weil er zwei Hunde bel len hörte. Waite schnalzte mit der Zunge, kurz darauf sprengten 269
Pferd und Reiter durch die im Wind rauschenden Baumwollstän gel, ließen ein abgeerntetes Feld nach dem andern hinter sich und erreichten schließlich die Kuppe eines Hügels, von wo man in der Mitte des nächsten Baumwollfeldes die dunkle primitive Hütte von Floyd Norris sah. Sterne und Mond standen hoch und weiß am Himmel und tauchten den Hof in ein matt und surreal glänzendes Licht. Westlich davon zwei Nebengebäude, Hütten, mögliche Verstecke. Waite zog das Gewehr aus der Scheide und drückte eine Patrone in die Kammer. Er stand jetzt vor der Veranda, zwischen der Hütte und den bei den Nebengebäuden, und rief: »Floyd Norris! Komm raus!« Norris war es nicht, was da geräuschlos unter der Veranda her vorschoss, sondern zwei Hunde, die ihn auf seinem Pferd anspran gen. Waite teilte Fußtritte aus, schoss in die Luft und trieb sie so unters Haus zurück. Obwohl er es wusste, seit Carlos keuchend vor seiner Veranda gestanden hatte, kam ihm erst jetzt in Wort und Bild zu Bewusst sein, was er gleich tun würde. Er würde, sobald Floyd Norris durch die Tür getreten war, das Gewehr anlegen, auf die Brust zielen und abdrücken. Dann, das Gewehr noch an der Schulter, würde er wie der durchladen und, noch bevor die ausgeworfene Patronenhülse den Boden berührte, erneut schießen, wenn nötig so lange, bis das Gewehr leer geschossen war. Er wartete. Die Hunde heulten. Die Chance, dass er Norris auf faire Weise töten würde, bestand immer. Norris konnte schießend auf die Veranda stürmen und damit seine Schuld beweisen, oder er konnte versuchen zu fliehen. Waite hielt das jedoch für unwahrscheinlich. Sein Amt auf die andere Weise auszuüben, als offizieller Attentäter, wie schon ein mal, beunruhigte ihn. Aber Oscar hatte Recht. Manchmal musste man das Gesetz umgehen. Nichts passierte. Floyd Norris öffnete weder friedlich die Tür, noch stürmte er um sich schießend auf die Veranda, noch stürzte er sich wie ein Indianer mit dem Messer vom Dach. 270
Scheiße, sagte Waite leise. Er stieg ab und stand neben dem Pferd. Mit einer Hand hielt er die Marlin, mit den Fingern der anderen fuhr er King durch die Mähne. »Ruhig, mein Junge«, flüs terte er und meinte damit auch sich selbst. Er wagte nicht, seine Laterne anzuzünden und auf diese Weise Norris einen gezielten Schuss zu ermöglichen. Wahrscheinlich lag der Mann mit einem Krug im Arm hinter ihm im Farngestrüpp. Oder in einer der Nebengebäude. Konnte man ihm nicht verdenken, aus dem Haus stank es wie die Pest. Dass Norris’ Frau auf dem Feld gestorben war, hatte Waite gehört, er konnte sich aber nicht dran erinnern, sie jemals gesehen zu haben. Sein Kreuz schmerzte. Er wippte von einem Fuß auf den andern und horchte. Das Gewehr hielt er in der Linken, als er an der Vorderseite des Hauses entlangging. Die knurrenden Hunde liefen unter der Veranda neben ihm her. Er wollte gerade um die Ecke biegen und zur Rückseite der Hütte gehen, um durch die Hintertür reinzugelangen, als er das Knarren einer Tür hörte. Waite schwang das Gewehr in Richtung des Geräuschs und sah eine kleine Hand mit gespreizten Fingern. »Daddy ist nicht da«, sagte eine Jungenstimme. Waite behielt die Waffe oben. »Komm raus«, rief er. Er traute Floyd Norris durchaus zu, zur Ablenkung seine Kinder vorzu schicken. »Daddy hat gesagt, dass wir nicht rausdürfen.« »Wenn du nicht rauskommst, komm ich rein und hol dich.« Einer der Jungen tauchte auf. Sein Gesicht war braun vor Dreck. Die beiden andern folgten. Jeder war kleiner als der Junge vor ihm, wahrscheinlich waren sie alle weniger als zwei Jahre auseinander. Und dünn. Die beiden ältesten trugen identische Latzhosen. Zerschlissene Hemden, keine Schuhe. Der kleinste trug nur ein langes Hemd und rieb sich mit den Fäusten verschlafen die Augen. »Wo ist euer Daddy?«, fragte Waite. »Sag ich Ihnen nicht.« 271
»Dann muss ich euch ins Gefängnis stecken.« »Auf der andern Seite vom Fluss«, sagte der mittlere. Der lang same. An die Namen konnte sich Waite nicht erinnern. Als sich der älteste zu seinem Bruder umdrehte und ihm in die Rippen boxte, sah Waite das riesige Bowie-Messer, fast ein Schwert, das an der Hose des Jungen herunterhing. »Also, mein Junge«, sagte Waite. »Du machst jetzt besser den Mund auf, oder ich muss euch alle verhaften. Wo auf der andern Seite?« Wieder sprach der langsame. »Er hat gesagt, dass er sich was gönnen will.« »Und was heißt das?« Eine Zeit lang war es still. Dann knickte der älteste ein. »Dass er zu der Nutte ist.« Annie. Der jüngste fing an zu heulen, worauf sich der älteste umdrehte und ihm mit der Faust gegen die Schulter schlug. »Ihr geht jetzt in den Hof«, sagte Waite. »Da rüber zum Brunnen. Und du«, meinte er zum ältesten, »du legst das Schlachter messer auf den Boden und sagst den Hunden, sie sollen da unten rauskommen.« Der Junge ging in die Hocke, zog das Messer aus dem Gürtel und hieb es in die Verandadielen. Auf seinen Pfiff rutschten die Hunde auf den Bäuchen unter dem Haus hervor und blieben dann liegen. Die drei Brüder umkurvten im Gänsemarsch das riesige Messer, gingen dann die Stufen hinunter und über den Hof zum Brunnen. Die Hunde erhoben sich und trotteten hinter ihnen her. Die Jungen stellten sich hinter dem Wassertrog auf und starrten Waite an. Ihre Gesichter glänzten im Mondschein. Waite schlich sich zu der vom Brunnen am weitesten entfernten Hausecke, hielt den Atem an und drückte sich an der Seitenwand entlang. Nur das Kratzen seines Mantels auf dem Holz war zu hören. Unter seinen Füßen abgestorbene Baumwollpflanzen. Er duckte sich unter ein Fenster mit geschlossenen Läden, drehte sich 272
zur Wand und schaute nach oben. Es roch nach Urin, als pisste jemand durchs Fenster nach draußen. Er nahm den Hut ab und ließ ihn mit dem Kopfteil nach unten auf die Baumwollreste fallen. Mit dem Gewehrlauf klappte er erst die eine Hälfte des Fensterladens auf, dann die andere, und blickte hinein. Er sah eine Feuerstelle mit glühender Asche. Kein Floyd Norris. Nur flache Holzscheite, die auf dem Boden zu einem Viereck aufgeschichtet waren. Ein Fort, das die Jungen gebaut hatten. Er nahm seinen Hut und bewegte sich langsam weiter zur Rück seite des Hauses. Als er die Hintertür berührte, fiel sie nach innen und knallte auf den Boden. Waites störrische Blase hätte sich fast gehen lassen. Er stieß den Lauf des Gewehrs ins Innere des Hauses und trat auf die Tür, die nur aus ein paar zusammengenagelten Brettern bestand. Dann zündete er ein Streichholz an und schaute sich um. Ein Tisch. Ein durchgelegenes dreckiges Bett. Das Fort. Das Feuer war fast ausgegangen. Er warf ein Holzscheit in den Kamin und schob es mit dem Gewehrlauf in die Mitte der Glut. Schließlich ließ er die Tür liegen, wie sie war, und ging nach drau ßen. Dort blieb er zwischen den abgestorbenen Baumwollpflanzer stehen und schaute hinauf zu den Sternen. Die mit Wasser voll geso genen Stiefel waren schwer. Der Rücken pochte. Auf dem Feld bewegte sich etwas. Niedrig und schnell. Er hielt sein Gewehr in die Richtung. Es waren nur die Hunde, die das Haus umkreisten. Waite rief nach den Jungen, bekam aber keine Antwort. Der Brunnen lag verlassen da. Das Messer steckte nicht mehr in der Veranda. Er ließ sich noch auf Hände und Knie nieder und schaute untei das Haus, dann durchsuchte er die beiden Nebengebäude. Er stöberte ein verschlafenes Schwein auf und eine Fledermaus, bei deren Flattern ihm fast das Herz stehen geblieben wäre. Schließlich stieg er wieder aufs Pferd, schüttelte den Kopf und dachte: Verrückte Idee, überhaupt herzukommen, allein, mitten in der Nacht. Ver dammtes Wunder, dass du noch lebst, Billy Waite. 273
Etwas schlug hinten auf seiner Schulter auf. Dann klatschte ein kaltes, glitschiges Ding auf seine Wange. Er riss das Gewehr hoch, hielt aber mitten in der Bewegung inne und begriff. Matschklum pen. Die Jungen hatten sich hinter der Veranda versteckt und feu erten stumm, warfen, duckten sich, warfen wieder. »Verdammte Brut!«, brüllte er, als sie ihn am Nacken trafen. Er beugte sich vor, machte sich klein und gab dem Pferd die Sporen. Die Marlin Model 1893 hielt er noch in der Hand, während er auf den Fluss zuhielt und der Dreck wie Kugeln an seinen Ohren vor beizischte. Die Jungen lachten. Die Fähre ging erst am nächsten Morgen. Als sie schließlich wieder von Bord gingen, musste er das ungebärdige Pferd über die gewölbte Planke ziehen und beruhigend auf King einreden. Waites Laune war inzwischen noch übler geworden. Auf dem Boot hatte das Tier versucht, ihn zu beißen, und er hatte die Faust geballt und schon zurückgeschlagen, ehe er wieder bei Sinnen war. Welcher Idiot schlägt schon sein eigenes Pferd? Seine Kleidung war nass, schwer, von Matsch verklebt, und für einen Schluck Whiskey hätte er alles getan. Wieder an Land, drehte er sich bei der Suche nach Annies Hütte irgendwie im Kreis. Ein alter Schwarzer, der auf einem riesigen Stück Zuckerrohr herumkaute und sein klappriges Maultier mit der Peitsche antrieb, hatte ihm einen verwirrenden Weg gewiesen. Als er schließlich aus dem Sattel stieg und im Schlamm des Hofes stand, Kings Leine um das Geländer der Veranda schlang und die zwei krummen Holzbalken hinaufging, stand die Sonne bereits eine Zeit lang über den Bäumen. Er schaute sich den Hof an. Maultierspuren. Frische. Im Haus fing ein Hund an zu bellen. »Wer ist da?«, rief Annie, noch ehe er klopfte. »Der Sheriff.« 274
Hinter ihm, jenseits des Feldwegs, lagen dichte Wälder. Der ver glühende Tau hing dampfend über dem Boden. Es war mehr ein Frühlingsmorgen als ein Tag mitten im Winter. Waite nahm den durchnässten Hut ab und rieb sich den Schädel. Er fuhr sich mit den Fingern über die stoppeligen Wangen. Sein Rücken schmerzte. »Ist keiner da«, rief sie. Waite zog an dem Lederstreifen, der als Türgriff diente, und betrat den morgenhellen Raum. Die Fenster standen offen, die Vorhänge waren zurückgezogen. Sie trug ein Hauskleid und saß auf einem Rohrstuhl am Tisch, wo sie Bohnen in kleine Stücke zer rupfte, die sie anschließend in einen Eimer vor ihr auf dem Boden fallen ließ. Auf dem Tisch lag eine Pfeife. Hinter ihr an der Wand lehnte ihre kurze Schrotflinte. Er hob die Augenbrauen zum Gruß, doch sie rupfte weiter ihre Bohnen. Die Beine waren über dem Eimer gespreizt, das Kleid war bis zu den Knien hochgezogen. Er sah weiße Haut und blaue Adern. Wie alt war sie inzwischen? Fünfzig? Die Haare waren allerdings so blond wie immer. »Tja«, sagte er. »Willst du was Bestimmtes?«, fragte Annie. Sie schaute ihn nicht an, sondern rupfte weiter. »Wir haben geschlossen.« Der Hund lag mit erhobenem Kopf neben dem bollernden Holz ofen. Waite ging um den Tisch herum, nahm den anderen Stuhl und setzte sich. Er legte den Hut auf den Tisch und schlug die Beine übereinander. »Setz dich doch«, sagte sie. Er rieb sich den Nasenrücken. »Was würdest du für ein paar Spiegeleier mit Würstchen verlangen?« »Das ist keine Pension hier.« »Für ‘n Dollar gehst du mit einem Fremden ins Bett, aber für’n Viertel Dollar machst du einem Staatsbeamten kein Frühstück?« Die Bohnen klatschten jetzt lauter auf den Boden des Eimers. »Fahr zur Hölle«, sagte sie. »Und bitte tu mir den Gefallen und fahr auf direktem Weg hin, Billy High Sheriff Waite.« 275
»Hast du wenigstens was zu trinken da?« Sie schaute ihn an. »Nein, ich hab überhaupt nichts da.« »Hör zu«, sagte er. »Ich will keinen Ärger machen. Egal, was du mir erzählst, du hast nichts zu befürchten. Aber ich muss drin gend ein paar Sachen wissen. Es ist wirklich wichtig.« Er schaute sie an. »Okay?« »Okay. Also los.« Er schaute an ihr vorbei durch das Fenster, das nach hinten ging. Dann schaute er wieder sie an. Ihre Augen. »Hattest du Besuch letzte Nacht?« »Besuch?« »Kunden.« Sie hörte auf, Bohnen zu rupfen, wischte sich an ihrer Schürze die Hände ab und steckte eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Warum willst du das wissen?« »Erst die Antwort.« »Du bist auch mal hier gewesen«, sagte sie. »Als Kunde.« »Kann mich nicht erinnern.« »Gott, oh Gott, das war ein Bild. Wie das reiche Jungchen aus der Stadt, das sich im Wald verläuft. Noch ganz feucht hinter den Ohren. Bist hier reinmarschiert mit einem Dingeling, dass es dir fast die Hose weggesprengt hat. Und dein Cousin, Oscar York, gleich hinterher.« Waite nahm an, dass es sich mit der Vergangenheit eines Man nes verhielt wie mit der Art und Weise, in der er, Waite, einen Apfel schälte: Sie wurde nie abgeschnitten, sondern kringelte sich einfach weiter und weiter. »Schätze, dass jeder Junge im Umkreis von zehn Meilen mal hier war«, sagte er. »Jetzt interessiert mich nur, ob letzte Nacht jemand da war.« »Es war jemand da.« »Wer, Annie?« Sie schaute ihn an. »Du kannst mir vertrauen, das weißt du. Hab ich dir jemals was Schlechtes getan?« 276
»Du hast mir auch noch nie was Gutes getan.« Er lehnte sich zurück. »Nun ja, wenn du meine Fragen nicht beantworten willst, werde ich dir wohl doch mal was richtig Schlechtes antun müssen. Und zahlen tu ich übrigens auch nichts für deine Antworten.« »Er droht mir«, sagte sie zu dem Hund. Waite zog den Totschläger aus dem Gürtel und legte ihn auf den Tisch. »Jubal«, sagte sie. Ein Ohr des Hundes zuckte. Ein Auge öffnete sich. »Töte!« Das Auge schloss sich wieder. »Annie«, sagte Waite ruhig. »Normalerweise gibt’s in der ganzen Gegend keinen gutmütigeren Burschen als mich, aber heute, da hab ich ganz ekelhafte Laune. Ich hatte eine wirklich beschissene Nacht.« Er griff nach dem Totschläger und drückte den schweren Sand darin zusammen. »Floyd Norris«, sagte sie schließlich. »Wann ist er gekommen?« »War schon fast dunkel.« »Wie lange ist er geblieben?« »Die ganze Nacht.« »Kommt er regelmäßig?« »Nein. War das erste Mal. Seine Frau kann von Glück reden, dass sie tot ist.« »Ist er irgendwann zwischendrin weggegangen? Ich muss das genau wissen, Annie. Rausgegangen und dann wiedergekommen? Oder hat er mit irgendwem gesprochen?« »Er ist nur raus auf die Veranda, wenn er pissen oder furzen musste. Ich erlaube nicht, dass hier im Raum gefurzt wird.« »Ich werde mich zusammenreißen, Annie. Ist irgendwer vor beigekommen? Hat er mit wem geredet?« »Nein. Er ist praktisch die ganze Nacht nicht von mir runter gestiegen. Hat mich ganz wund gerammelt.« 277
Waite hob die Augenbrauen. »Hat er irgendwas Ungewöhnliches gesagt? Irgendwas, wo du gedacht hast, da könnte vielleicht irgendeine krumme Sache laufen?« Sie schüttelte den Kopf. »Manche Kerle, die plappern einfach weiter, wenn sie zugange sind. Der nicht. Er hat vergessen, dass ich überhaupt da war. War einer von denen, die’s nur für sich selbst machen. Dein Cousin Oscar ist auch so einer.« Waite überhörte das. »Wann ist er gegangen?« »Oscar?« »Norris.« »Ist gerade erst weg. Keine halbe Stunde, bevor du angeklopft hast.« Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. »Man riecht’s ja noch.« »Wie viel hat er bezahlt?« »Das Übliche für die ganze Nacht.« »Einen Dollar?« »Für eine ganze Nacht? Was glaubst du eigentlich, wie billig ich bin, Billy Waite?« »Kann ich nicht sagen. Also, wie viel?« »Vier und ‘n Viertel Dollar.« Er hob wieder die Augenbrauen. »Würdest du das, was du mir gerade erzählt hast, auch vor einem Richter aussagen?« »Vor welchem?« »Egal«, sagte er. »Vor jedem.« »Schätze schon. Wenn du mir die Pistole auf die Brust setzt. Aber vor Oscar York nicht. Der ist auch danach noch gekommen«, sagte sie. »Nicht nur das erste Mal damals mit dir.« »Ich hab nur noch eine Frage, dann geh ich«, sagte er und behielt sie genau im Auge. »Was weißt du über Tooch Bedsole? Über seine Bande? Was die nachts so treiben? Was macht der im Moment?« »Tooch?« »Ja.« Sie schüttelte den Kopf. »Über den weiß ich nichts.« 278
Er wusste nicht, ob sie log oder nicht. »Hat Norris seinen Namen erwähnt?« »O ja. Als er auf mir drauf gelegen ist. ›Tooch, Tooch, ooooh Tooch.‹« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen und klatschte sich auf die Knie. Er stand auf, nahm den Hut vom Tisch und ging zur Tür. Dort blieb er noch einmal stehen und schob den Totschläger in den Gürtel. Sie schaute ihn herausfordernd an. Ihre Knie standen gut und gern sieben, acht Zentimeter weit auseinander. Zu alt für eine Versuchung, dachte er. Aber vergessen konnte er die Nacht, die schon so lange zurücklag, auch nicht. Es war kurz vor seiner Hochzeit gewesen. Er hatte getrunken gehabt. Oscar hatte ihn mitgenommen, auf einem Wallach, Spot hatte der geheißen. Tatsache war, dass es nie wieder so schön gewesen war. Vielleicht spürte sie, woran er dachte; vielleicht war es aber auch nur, weil sie eine Frau war. »Verrat mir eins, Billy«, sagte sie und bedachte ihn mit einem winzigen Lächeln. »Was glaubst du, bin ich gut oder schlecht gealtert?« Er setzte den Hut auf. »Wir altern alle schlecht, Annie.« Dann ging er nach draußen und schloss hinter sich die Tür. »Aber ja, du bist mein Allerbester«, hörte er sie zu dem Hund sagen. Vor Waites Haus stand Oscars Kutsche. »Das auch noch«, sagte Waite. Einen Augenblick blieb er noch im Sattel sitzen und rieb sich die müden Augen, ehe er abstieg und gemächlich die Zügel am Verandapfosten festmachte. Eine un ebene Stelle auf dem Sattel stach ihm ins Auge. Irgendjemand hatte das Leder eingeritzt, ein etwa fingernagelgroßes Stück war herausgekratzt. Oscar saß steif auf dem Sofa. Beide Füße standen fest auf dem Boden. Neben ihm auf dem kleinen polierten Beistelltisch stand eine Tasse Kaffee mit einem Zierdeckchen darunter, über ihm hing die Daguerreotypie mit Waite und Sue Alma. Obwohl es warm war im 279
Zimmer, hatte er seinen Mantel an. Die Winchester lehnte am Sofa, am Gürtel trug er eine Pistole und ein Jagdmesser in einer Scheide. Sue Alma saß im Schaukelstuhl, schaukelte aber nicht. Sie schau te ihn erleichtert an, beendete jedoch noch den Satz, bei dem es anscheinend um neue Gesangbücher für die Kirche ging. Sie hielt eine Kaffeetasse in der Hand − so wie die andere aus Porzellan. Für Oscar nur das Beste. Waite schloss die Tür und putzte sich die Schuhe ab. Er hängte die Jacke und den Hut an den Kleiderständer aus Hirschgeweih, den ihnen Sues Vater mal zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Dann schnallte er den schweren Pistolengurt ab und warf ihn direkt neben der Katze aufs Sofa. Kreischend sprang sie davon. »Wie konntest du nur wegreiten, ohne eine Nachricht zu hinter lassen?«, sagte Sue. Mit einer Hand öffnete er den obersten Hemdknopf. »Kein Grund zur Sorge. Reine Routine.« Oscar beobachtete ihn. Dann schaute er ungeduldig zu Sue, dann wieder zu Waite, der sagte: »Würdest du mir wohl ein paar Eier in die Pfanne hauen, Sue? Sechs mindestens, und etwas Speck.« Sie schaute ihn an, als wollte sie ihn zum Teufel jagen, wandte sich aber schließlich nur an Oscar. »Für dich auch was?« »Nein, danke, mein Schatz. Der Kaffee reicht mir.« Er klopfte sich auf den Bauch. »Hat da drin ein bisschen rumort heute Morgen.« Sie ging zwischen den beiden hindurch in die Küche. Die Tür schwang hin und her, schließlich hörte man sie ärgerlich mit den Töpfen klappern. Oscar stand auf und nahm das Gewehr. Waite hob die Hand. »Ich hab ihn nicht gefunden, Oscar.« »Scheiße«, zischte der. »Ich hab jeden gottverdammten Quadratzentimeter abgesucht.« »Also los. Du und ich und wen wir sonst noch auftreiben können, reiten jetzt los, dann haben wir ihn bis heut Abend.« »Ich glaub nicht, dass das eine gute Idee ist.« »Wieso?« 280
Waite zupfte an dem verkrusteten Dreck, der an seinen Hosen beinen hing. »Er hat ein Alibi.« »Ein Alibi.« Oscar hob die Hände und wackelte mit den Fingern. »Na, wenn das keine Überraschung ist.« »Tja, das ist ein bisschen anders als bei den andern.« Waite senkte die Stimme und erzählte ihm von Annie. Auch Oscar sprach jetzt leiser. »Was soll das? Du glaubst doch nicht etwa so ‘ner Ein-Dollar-Hure? Herrgott, Billy, die steckt wahrscheinlich mit drin.« »Hörte sich so an, als ob du hin und wieder auch mal bei ihr reinschaust«, sagte Waite leise. »Ich würde sie nicht grundsätzlich für eine Lügnerin halten und ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Damit würde ich erst gar nicht anfangen − wenn du verstehst, was ich meine. Du musst schließlich an deinen makellosen Ruf denken. Norris, du oder ich, wir alle sind Annie völlig egal. War ziemlich kompliziert, irgendwas auf den Weg zu bringen, bei dem sie wahrscheinlich gar nicht mitmachen würde. Schätze, da haben wir eine Chance verpasst.« Oscar setzte sich wieder hin. »Du meinst, du hast eine verpasst. Wenn du nicht halb besoffen wärst, hättest du ihn wahrscheinlich schon geschnappt. Du stinkst wie ein Whiskeyfass, Billy. Glaubst du etwa, in der Stadt wird nicht darüber geredet? Meinst du, die sind alle blind?« Waite atmete tief ein und hielt die Luft an, als Sue durch die Tür kam und ihm eine Tasse schwarzen Kaffee hinhielt. Er nahm sie. »Wie geht’s Mrs. McCorquodale?«, fragte er Oscar. »Was glaubst du? Sie ist völlig aufgelöst. Doc Moore ist bei ihr, er hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Wenn sie sich nicht infizieren, sagt er, sind die Verletzungen nicht so schlimm.« »Die Arme«, meinte Sue. »Ich werde ihr gleich eine Suppe kochen.« Sie verschwand wieder durch die Schwingtür. »Los, wir fahren rüber zu McCorquodales Haus«, sagte Waite. »Vielleicht finden wir was.« 281
Sie fuhren in Oscars Kutsche nach Coffeeville. Für November war es ein warmer Tag. Als sie die alte Sikes Bridge überquert hatten, beugte sich Waite vor, zog seine Jacke aus und legte sie über seine Knie. Unterwegs erzählte Oscar, dass er am Morgen eine Stunde im Telegrafenamt verbracht hatte, um McCorquodales Verwandte zu benachrichtigen, die im Norden bei Birmingham lebten. In Pell City. Er habe alles aus eigener Tasche bezahlt. Carlos saß auf den Verandastufen und starrte seine Füße an. Er sah aus, als hätte er eine Woche nicht geschlafen. »Hallo, Carlos«, sagte Waite. Oscar klopfte ihm auf die Schulter. »Alles okay, Carlos?« »Ja, Sir.« »Mach dir keine Sorgen, mein Junge«, sagte Oscar. »Wir schnappen die Burschen. Versprochen.« »Ja, Sir.« »Ich schau mal nach deiner Mutter.« Oscar warf noch einen Blick zu den Bäumen auf der anderen Straße und verschwand dann ins Haus. Sein Gewehr nahm er mit. Waite blieb auf der Veranda. Er betrachtete den Blutfleck, der wie ein dicker Farbklecks aussah. Das Blut war durch die Spalten zwischen den Holzdielen gelaufen. Der Fleck würde nur schwer wieder weggehen. Es war viel Blut. Verdammt viel Blut. Oscar hatte gesagt, dass Ernest schon tot war, als er das Feuer an seinem Arm erstickt hatte. Und dass man noch immer das verbrannte Fleisch riechen könne. Carlos sah von den Stufen zu, wie Waite die Wand untersuchte. Im Holz steckten ein paar Schrotkugeln aus Blei. Waite ging ins Haus und war froh, dass er niemanden traf. Von oben hörte er leise Stimmen. In der Küche nahm er aus einer Schublade ein altes Obstmesser. Sein Blick fiel auf eine verschlossene Tür, hinter der er die Leiche vermutete. Als auf sein leises Klopfen niemand ant wortete, ging er hinein. McCorquodale lag unter einem blutdurchtränkten Laken auf dem Boden. Waite ging neben dem Körper in die Hocke und zog 282
das Laken zurück. Wo zum Teufel bleibt der Leichenbestatter? Waite krempelte sich die Ärmel hoch und fing an, McCorquodales Hemd aufzuknöpfen. Merkte sich, wo die Kugel eingetreten war und in welchem Winkel. Packte den Körper an den Schultern und hob ihn hoch. Darunter lag ein altes Tischtuch, ebenfalls blutrot. Keine Austrittswunde. Was ihm viel über die Entfernung der Schützen verriet: Wahrscheinlich hatten sie auf der anderen Stra ßenseite zwischen den Bäumen gelegen. Vor zehn, sogar noch vor fünf Jahren hätte ihn bei so einem Fall die Wut gepackt. Jetzt war er nur müde. Er stützte die Hände auf die Knie und stand auf. Carlos schaute ihm zu, als er das Bleischrot aus der Wand pulte. Jedes einzelne unförmige Kügelchen drehte er zwischen Zeige finger und Daumen, bevor er es in die Brusttasche seines Hemds fallen ließ. Schon jetzt konnte er sehen, dass manche Kugeln Reh posten waren und manche von kleinerem Kaliber: Achter oder, wahrscheinlicher, Sechser. Zwei Schrotflinten. Sie hatten es also mit zwei Killern zu tun. Mit mindestens zwei. Waite nahm die Brille ab und schob sie in die Tasche. Er atmete tief durch und setzte sich neben Carlos auf die Stufen. »Und, geht’s schon wieder?«, fragte er. »Ja, Sir.« »Wie alt bist du, Carlos?« »Siebzehn.« »Siebzehn.« Waite kratzte sich das stoppelige Kinn. »Ich war vierzehn, als mein Vater starb«, sagte er. »Ein Maultier hat ihn abgeworfen, er ist mit dem Kopf auf den Amboss geschlagen. In der Schmiede. Ist eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.« Carlos sagte nichts. »Ich wollte es erschießen, das verdammte Viech«, erzählte Waite. »Ehrlich.« »Und? Haben Sie es getan?« Waite bückte sich und hob einen glatten Kieselstein auf. »Nein, nein. War nicht gerade sinnvoll gewesen. Später, bei der Toten wache, ist mir eine andere Geschichte mit dem Maultier eingefal 283
len. Einmal nachts, ich war schon im Bett, ist das alte Klapper gestell irgendwie aus seinem Stall rausgekommen und rüber zum Haus getrottet. Hat seinen dummen Schädel bei meinem Bruder und mir ins Fenster gesteckt und angefangen, gottserbärmlich zu schreien. Meinen Bruder Butch hat’s einen halben Meter aus’m Bett gehoben, und ich hätte fast ins Bett gepinkelt. Butchy war ‘n ziemlicher Hitzkopf, ist sofort aus’m Bett gesprungen, hat sich die Schrotflinte von meinem Vater geschnappt und ist raus in den Flur.« Waite lächelte bei der Erinnerung. »Meine Mutter kommt aus’m Schlafzimmer und sagt: ›Was willst du mit der Flinte, Junge?‹ Und Butchy sagt: ›Das Scheißvieh abknallen.‹ Und meine Mutter dreht sich um und schreit zu meinem Vater rüber: ›Jetzt tu doch was!‹ Aber mein Vater liegt im Bett und sagt bloß ›Scheiße, warum? Soll er das Drecksvieh doch erschießen.‹« Carlos lächelte. »Wenn Butch das Vieh damals erschossen hätte, hätte mein Vater länger gelebt. Aber so kann man das nicht sehen.« Er schnippte den Kiesel in den Hof. »Man kann nicht sagen, wenn ich das oder das gemacht hätte, war das oder das anders gelaufen. Dann dreht man durch. Tatsache ist, Dinge passieren, und keiner weiß, warum.« Sie saßen da und schauten auf die Straße. Im Schlamm waren die Reifenspuren vom Wagen des Doktors zu erkennen. »Carlos«, sagte er, »hast du irgendwas gesehen oder gehört, das mir bei der Sache weiterhelfen könnte.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Es war dieser Floyd Norris, Sheriff«, sagte er. »Tja, das scheint die gängige Meinung zu sein«, antwortete Waite. Er verschränkte die Hände über den Knien. »Und wenn ich eins in meiner langen Zeit als Sheriff gelernt hab, dann das: Der ver meintlich Schuldige ist es meistens auch wirklich. Meistens, aber nicht immer. Manchmal, nur ab und zu, sind die offensichtlichen Dinge zu offensichtlich. Jeder weiß, welchen Grund Norris gehabt hätte. Die Zwangsvollstreckung. Dein Vater hat ihn und seine Fami 284
lie von seinem Land vertrieben. Was ich von dir möchte, Carlos, ist Folgendes: Denk genau nach, ob dir jemand einfällt, der ebenfalls einen Grund gehabt haben könnte, deinen Vater zu erschießen.« »Hab ich schon«, sagte Carlos. »Aber von Geschäften erzählt uns ... hat mein Vater uns kaum was erzählt. Wir haben fast nichts davon mitbekommen.« »Nicht mal dir?« »Na ja, wahrscheinlich hat er mir noch am meisten erzählt. Was aber auch nicht viel war. Vielleicht noch Onkel Oscar. Meine Mut ter hatte überhaupt keine Ahnung. Sie hat immer gesagt, Gott hat die Welt denen zugedacht, die Hosen tragen.« »Tatsache ist, dass man’s in Hosen leichter hat«, sagte Waite. »Weißt du was? Wir fahren jetzt rüber in euren Laden und schau en uns mal seine Papiere und Unterlagen an. Vielleicht ist was dabei, das uns weiterhilft.« Oscar kam mit seinem Gewehr in der Hand wieder nach drau ßen. Er machte leise die Tür zu. »Ich komme mit, wenn ihr nichts dagegen habt.« »Wie geht’s ihr?« »Sie schläft jetzt.« Als sie zum Laden kamen, stand Obbie, ein Schwarzer mittleren Alters, der bei McCorquodale arbeitete, auf den Verandastufen und wartete auf seinen Chef. Obbie hielt den Topf mit seinem Essen in der Hand. Er war der einzige Schwarze mit einer Brille, den Waite kannte. »Morgen, Sheriff«, sagte er. »Guten Morgen, Mr. Carlos und Richter York.« »Morgen«, sagte Waite. Carlos nickte ihm zu. Oscar stieg vom Wagen. »Alles klar, Obbie?« »Ja, Sir, danke. Alles bestens.« Oscar nickte, ging die Stufen hoch und kramte in seinen Taschen nach dem Schlüssel. Er schloss die Tür auf und ging hinein. Carlos folgte ihm mit gesenktem Kopf. 285
»Wie geht’s, Sheriff?« McCorquodales Angestellter kam die Stu fen herunter und nahm die Zügel des Pferdes. Waite stieg aus, wobei er darauf achtete, dass er nicht mit dem Pistolengurt an der Bremsstange hängen blieb. »Mr. McCorquodale ist erschossen worden«, sagte Waite und schaute die Straße hinunter. »Erschossen? Was meinen Sie damit, Sheriff?« »Er ist tot.« Der Schwarze schaute ihn mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. »Schlimme Zeiten«, sagte er. Waite nickte. »Tja. Schätze, du kannst ganz normal deine Arbeit machen«, erklärte er. »Sperr den Laden auf, mach alles wie immer. Nach dem, was ich von McCorquodale weiß, hätte er es wohl auch so gewollt.« Waite ging ins Haus und am Ladentisch vorbei zu dem mit Glas abgeteilten Büro. Oscar saß hinter dem Schreibtisch und sah sich das Rechnungsbuch an. Carlos schaute zu. Unterwegs nahm Waite einen großen roten Apfel aus einer Holztonne, schaute nach, ob er braune Stellen hatte oder wurmstichig war, und rieb ihn am Ärmel sauber. In der Bürotür blieb er stehen, lehnte sich an den Rahmen und polierte weiter den Apfel. Er hörte, wie Obbie die Ladentür aufschloss, kurz darauf mit dem ersten Kunden sprach und die Neuigkeit von McCorquodales Tod erzählte. Schlimme Zeiten. »Dieser Gauner«, sagte Oscar. Waite hatte gerade in den Apfel beißen wollen. »Was gefunden?« Ein Schrei, und eine Sekunde später liefen sie alle ins Hinter zimmer. Obbie starrte auf eine Stelle in der Wand, wo mehrere Bretter fehlten. Jemand hatte eingebrochen. Waite tat der Kopf weh. Es war der Tag nach McCorquodales Be erdigung. Er hatte zu viel getrunken und schlecht geschlafen. Jetzt stand er in McCorquodales Büro und betrachtete seinen Cousin, 286
der hinter dem Schreibtisch saß, und Carlos, der ihm mit weißem Gesicht gegenübersaß. »Keine Chance, das deiner Mutter auf die schonende Art bei zubringen«, sagte Oscar zu Carlos. »Eure Familie ist pleite. Das Geschäft deines Vaters stand schon seit ein paar Jahren gefährlich auf der Kippe, und jetzt, wo er nicht mehr da ist, werden sich seine Schuldner wie eine Horde ausgehungerter Jagdhunde über den Nachlass hermachen. Wir wissen nicht mal, wie viel Bargeld aus dem Safe gestohlen wurde. Vermutlich eine beträchtliche Summe, es muss jede Menge Baumwollgeld drin gewesen sein. Den Banken hat dein Vater nicht getraut.« Oscar schaute Waite, der an der Fensterbank lehnte, nicht an. Die warme Sonne schien ihm auf die Schultern. Der Richter hatte eine Art, die einem das Gefühl gab, als ob man gar nicht im Raum wäre. Waite drehte sich um und schaute aus dem Fenster nach drau ßen. Zwei schwarze Männer traten vom Gehweg auf die Straße, um eine weiße Frau vorbeizulassen. Die Frau ignorierte sie, und die beiden ignorierten die Frau, ein einfacher und alltäglicher Vorgang. Waite rieb sich die Schläfen. Das Leben jenseits der Fensterscheibe ging weiter, egal, wie vernichtend der Schlag für Carlos sein musste, dessen Vater erschossen worden war und dem man gerade die Finanzlage der Familie offenbart hatte. Die Uhr tickt weiter, und die Welt da draußen ist die gleiche wie zu der Zeit, als man noch nicht alles verloren hatte. »Die ganze Zeit hab ich mir den Kopf über eine mögliche Lösung zerbrochen«, fuhr Oscar fort und schaute dabei Carlos an. »Meiner Meinung nach könnt ihr nur das Haus verkaufen. Ein paar Sachen von der Einrichtung, das Klavier, zum Beispiel, kann man versteigern. Dann ist da noch das Inventar des Ladens. Unterm Strich müsste es für ein kleineres Haus reichen. Wenn ihr, deine Mutter und du, einverstanden seid, war ich bereit, bei dem Laden als Teilhaber einzusteigen.« Der Junge, der vor seinem Onkel auf einem Stuhl saß, trug Anzug und Fliege, in seinem Schoß lag ein Hut. 287
Du musst jetzt erwachsen werden, Carlos, dachte Waite. Deine Kindheit ist zu Ende. Das Feuer im Kamin brannte, es war warm im Büro. Waite stieß sich von der Fensterbank ab und zog seine Jacke aus. In den Taschen klimperten Patronen. Er durchquerte den Raum, hängte die Jacke neben Oscars an den Kleiderständer neben der Tür und ging zurück zum Fenster. »Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich heute mit dir sprechen wollte«, sagte Oscar zu Carlos. Der Richter stand auf, ging zum Fenster und schaute über Waites Schulter nach draußen. Carlos blickte seinen Rücken an. »Ich hab drüber nachgedacht, was wir wegen des Mordes an deinem Vater unternehmen sollen. Und ich hab auch schon mit Billy drüber gesprochen.« Waite rieb sich den Nasenrücken. Er und Oscar hatten in McCorquodales Rechnungsbuch nach einer Summe gesucht, die in etwa der von Norris bezahlten entsprach. Sie hatten nichts gefunden. Oscar meinte, das sei der Beweis. Waite sagte, es beweise gar nichts. Wie viele seiner eigenen Geschäfte, hatte er Oscar ge fragt, könne er denn schriftlich belegen, und Oscar hatte geant wortet, jedes einzelne. Dann sei er die Ausnahme, erklärte Waite. Oscar drehte sich um und schaute den Jungen an. »Dein Vater hat schon einige Farmen zwangsvollstrecken lassen. Er glaubte wie ich an gewisse Regeln, an die sich die Menschen zu halten hätten. Männer wie dein Vater und ich tragen Verantwortung gegenüber den hart arbeitenden Landbesitzern. Das Wenige, das uns die Nordstaatler gelassen haben, müssen wir bewahren. Wir müssen uns daran klammern oder, wie es in der Bibel heißt, in Treue dazu stehen. Diese Farmer muss man im Auge behalten und auf eine eindeutige Art behandeln. Man darf ihnen keine Almosen geben, sonst verlassen sie sich drauf. Und die, die ihre Farmen verlieren wegen falscher geschäftlicher Entscheidungen, wegen eines Unglücks oder auch nur wegen allgemeiner trauriger Umstände, sind, da waren dein Vater und ich einer Meinung, besser dran, wenn sie woanders hinziehen.« 288
Oscar ging zu seinem Stuhl zurück. »Die Sache ist die, Carlos. Manchmal blockiert sich das Gesetz selbst, sitzt fest, kann sich nicht rühren. Amtsschimmel, Papierkrieg, Bürokratie eben. Und dann liegt es in der Verantwortung guter Bürger, Leuten wie dir und mir, dass sie ihrem Gewissen folgen. Und da Billy der Meinung ist, dass ihm in dieser Sache die Hände gebunden sind, hab ich auf eigene Faust etwas unternommen. Ich hab einen Burschen ange heuert, einen Privatdetektiv, der sich nun schon eine Weile da draußen in Mitcham Beat umhört. Den ich selber bezahle. Der wird uns die Beweise liefern, die wir brauchen, um nicht nur Floyd Norris zu überführen, sondern gleich die ganze Bande.« Waite hatte genug. Er riss seine Jacke vom Haken und ging. Zum Teufel mit Richter York.
289
IV
Eine Horde Schuljungen lag auf dem Bauch, das Kinn auf die verschränkten Arme gestützt, unter den Holzbohlen von McCorquodales Veranda und beobachtete die Menge. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten«, sagte der Auktio nator. »Das nächste Stück wird besonders die anwesenden Damen interessieren.« Der Mann stand mit aufgekrempelten Ärmeln hin ter einem Schreibtisch, den man aus dem Laden auf die Veranda geschoben hatte. Um ihn leichter zu machen, hatte man die Schub laden mit den schweren Messingknöpfen herausgezogen. In der linken Hand hielt der Auktionator einen Klauenhammer, mit dem er auf die Platte schlagen und den Zuschlag erteilen konnte. An dem Hammer hing noch das Preisschild. Nach dem ersten oder zweiten Schlag war Richter York aufgestanden, hatte in die Menge gegrinst und einen Holzbalken unter den Hammer geschoben, damit der Schreibtisch nicht vollends ruiniert würde. Der Auktio nator nickte, und zwei Schwarze trugen einen Garderobenständer nach draußen. Sie stellten ihn neben den Schreibtisch, traten zu rück und blieben nebeneinander stehen. Unruhig scharrten sie mit ihren großen Füßen auf dem Holzboden. »Danke, Jungs«, sagte der Auktionator. »Das hier ist ein OriginalGarderobenständer aus Ulrica McCorquodales Salon. Aus dem Salon im ersten Stock, steht hier. Und auch, dass er aus einer Galerie in Mobile stammt. Ein elegantes Stück Handwerkskunst, finden Sie nicht?« Er machte eine Pause, beugte den Oberkörper zurück und schaute an dem hoch aufragenden Teil empor. »Einige von Ihnen werden es sicher schon mal auf einer Party bei den McCorquodales gesehen haben«, fuhr er fort. »Was mich betrifft, so bin ich leider nie auf einer dieser Partys gewesen, was natürlich den Wert des Stückes nicht schmälert.« 290
Gelächter. Dem Richter, der etwas seitlich saß, schien das Lächeln gefroren zu sein. Billy Waite saß hinter der Menge auf der Ladefläche eines Wagens und schälte einen Apfel, der ihn mehr zu interessieren schien als die Versteigerung. Sein Gewehr lehnte neben ihm. »Ich eröffne mit einem Preis von, sagen wir, fünfzehn Dollar.« York streckte zweimal alle zehn Finger gespreizt in die Luft. »Stopp, der Richter sagt Nein, wir fangen mit zwanzig an.« »Ich biete zehn«, rief jemand von hinten. Alle lachten. »Nein, nein, mindestens zwanzig. Sie haben den Richter gesehen.« Der Ständer ging für zehn Dollar weg. »Das nächste Stück auf der Liste ist etwas, das einige von Ihnen ziemlich lange begutachtet haben«, erklärte der Auktionator. Er trat hinter dem Schreibtisch hervor, hielt den Hammer locker in der rechten Hand und ging zum anderen Ende der Veranda. Dort stand, zugedeckt mit einem Laken, das Klavier. Behutsam zog er das Laken herunter und gab es einem der beiden Schwarzen, der nicht recht wusste, was er damit anfangen sollte. Das auf Hoch glanz polierte Klavier glänzte in der Sonne. »Das ist ein Prachtstück, was?«, meinte der Auktionator. Zu stimmendes Gemurmel aus der Menge. Er steckte sich den Hammer hinten in die Hose und klappte den Deckel hoch. Um zu zeigen, dass es auch funktionierte, drückte er auf ein paar Tasten. »Reverend Washington Ethridge, darf ich Sie bitten, mal kurz hier raufzukommen«, sagte er dann. Die Menge teilte sich und ließ einen sehr dünnen Mann in Arbeitskleidung vortreten. »Kommen Sie doch bitte auf die Veranda, Reverend.« Der winkte ab. Nein, danke. »Also, Leute, macht ja nichts, er bleibt also hier unten stehen. Ist wohl nicht das passende Publikum, was? Tatsache ist, dass er wahrscheinlich gleich anfangen würde zu predigen, wenn er erst mal hier oben stünde. Hab ich Recht? Nun ja, mir persönlich reicht’s eigentlich einmal die Woche.« 291
Ethridge drohte ihm grinsend mit dem Finger. »Also dann. Unser guter Reverend würde das Klavier gern für seine Kirche haben. Und so hat der Richter verfügt, dass ich für das Klavier mit einem Mindestgebot von siebenundzwanzig Dollar fünfzig anfange. Ein Schnäppchen. Und zufällig ist mir zu Ohren gekommen, dass unser Reverend hier das erste Gebot abgeben will. Richtig, Reverend?« »Siebenundzwanzig Dollar und fünfundsiebzig Cents«, rief Ethridge. »Hör ich achtundzwanzig?«, sagte der Auktionator und legte mit dramatischer Geste die Hand ans Ohr. »Nein? Zum ersten, zum ...« »Achtundzwanzig«, brüllte jemand von hinten aus der Menge. Alle schauten sich um. York stand auf und stellte sich auf die unterste Verandastufe, um besser sehen zu können. Waite hatte aufgehört zu schälen. Es war Lev James. Er saß verkehrt herum, einen Fuß unter den Oberschenkel des anderen Beins geklemmt, auf seinem Maultier. Als Sattel diente ihm eine piekfeine Decke, hinter ihm hing eine Satteltasche. Aus seiner Hose schaute ein Pistolengriff. »Achtundzwanzig ein Viertel Dollar«, sagte Ethridge und schaute dabei Oscar an, als hätte der ihn übers Ohr gehauen. »Neunundzwanzig«, brüllte Lev. Er beugte sich vor und spuckte aus. »Ach was, zum Teufel damit. Dreißig.« Der Richter warf die Hände in die Luft und wandte der Menge den Rücken zu. Wütend schaute er den Auktionator an, der nur mit den Achseln zuckte. »Hör ich einunddreißig?« »Nein«, rief der Sheriff. Mit dem Gewehr in der Hand rutschte Waite vom Wagen und legte den Apfel auf das Geländer. Falls er die Kinderhand sah, die nach oben griff und den Apfel nahm, sagte er zumindest nichts. Stattdessen suchte er den Blickkontakt mit Lev James, der sich auf dem Maultier herumgedreht hatte, um Waites Anmarsch verfolgen zu können. 292
»Einunddreißig«, sagte Lev James. Er lächelte Waite an. Drei gelbe Zähne stachen aus dem Dickicht seines dunklen, zu zwei Spitzen geflochtenen Bartes heraus. »Erwarten Sie etwa, James, dass wir das ernst nehmen?«, sagte der Sheriff. »Klar erwarte ich das. Ich soll Sie ja auch ernst nehmen, oder?« »Eins können Sie mir glauben, James«, erwiderte Waite. »Ich nehme Sie sehr ernst.« Er hatte sein Gewehr mit der rechten Hand auf Hüfthöhe gehalten. Jetzt bewegte er den Unterarm auf die linke Hand zu. »Haben Sie überhaupt das Geld, mit dem Sie da bieten?«, fragte er. »Oder wollen Sie uns nur unser kleines Fest rui nieren?« Aus den Augenwinkeln schaute er über die Menge. Frauen legten schützend die Arme um ihre Kinder und eilten davon, Männer rückten zusammen, schauten sich von der Seite an und demons trierten Mut. »Nettes Fest«, feixte James. »Bis jetzt schon. Und Sie machen sich besser aus dem Staub.« »Ich hab jede Menge Geld dabei, Billy Waite. Das können Sie mir ruhig glauben.« Waite hob das Gewehr und zielte auf James’ rechte Schulter. »Fünfzig Zeugen hab ich hier«, sagte er gelassen. »Ein Zucken in Richtung Waffe, und Sie liegen neben Ihrem Maultier im Dreck.« James warf einen kurzen Blick auf die Menge. Die ganze Zeit hatte er nicht aufgehört zu lächeln. Langsam hob er die Hände. »Der lässt mich nicht mitbieten, Leute«, rief er. »Da komm ich schon mal in eure alte prächtige Stadt, doch weil ich ‘n armer Bauer vom Land bin, will mich der Sheriff gleich wieder rausschmeißen.« Langsam griff er in seine Tasche und zog ein dickes Geldbündel raus. »Na, Billy Waite. Das ist mehr, als Sie im ganzen Monat verdienen.« Waite ließ das Gewehr sinken. James grinste ihn an. Dann schaute er wieder zum Auktionator. »Fünfunddreißig Dollar«, rief er. »So ‘n Klavier macht sich sicher prächtig bei mir auf der Veranda.« 293
Lev ritt auf seinem Maultier durch die menschenleere Straße. Nur ein paar Wagen und kleine Kutschen standen am Straßenrand. Über den Baumwipfeln stieg der Rauch der Flussdampfer auf. Er beugte sich vor, spuckte aus und lächelte die pummelige Lady an, die gerade aus einem Geschäft kam. Erschrocken verschwand sie gleich wieder in dem Gebäude. Er ritt genau in der Mitte der Stra ße. Als er anhielt, um auf die Holzbohlen des Gehwegs zu spucken, sah er im Schaufenster eines Ladens sein Spiegelbild und das seines Maultiers. Er rückte sich den Hut zurecht. Dann ritt er langsam weiter die Straße hinunter. Der Balkon des Hotels war leer. An zwei Ketten hing ein Schild, das hin und her pendelte. Was darauf stand, wusste er nicht. Er hielt an, schwang ein Bein über den Hals seines Reittiers und sprang ab. Als er den Boden berührte, knickte er mit einem Fuß um und landete im Dreck. Überrascht saß er auf der Straße neben dem Tier und schaute sich um, ob ihn jemand beobachtet hatte. Niemand zu sehen. Er zog den Fuß zu sich heran und untersuchte den Stiefel. Der Absatz war abgebrochen und lag jetzt in Levs großer dreckiger Hand. Humpelnd führte er das Maultier zu einem Pfosten und schlang die Zügel darum. Dann schaute er die Straße hoch und runter und sah an einem Haus ein Holzschild baumeln, in das die Umrisse eines Damenschuhs eingebrannt waren. Der Schuster, ein Mann namens Wilkins, polierte gerade ein Paar Arbeitsstiefel, als Lev hereinkam. Überall standen Regale mit Schuhen, an einer Wand lagen nur Socken aus. »Was kann ich für Sie tun, Sir?«, fragte Wilkins lächelnd und stellte den Stiefel vor sich auf den Ladentisch. Auf seiner langen Nase klemmte eine runde Brille. Lev stapfte durch das Geschäft. Sein Körper bewegte sich auf und ab wegen der unterschiedlich hohen Stiefel. Schließlich blieb er vor dem Ladenbesitzer stehen, schaute auf ihn hinunter und leg te den ramponierten Absatz auf den Ladentisch. 294
»Der Stiefel muss repariert werden«, sagte er. »Natürlich, Mr. ...?« »Meinen Namen brauchen Sie nicht.« »Sicher. Könnten Sie mir, äh, den Rest von dem Stiefel geben?« Lev starrte den Mann einen Augenblick an und überlegte, ob der ihn auf den Arm nehmen wollte. Schließlich entschied er sich für Nein, bückte sich, zog den verdreckten Stiefel aus und stellte ihn neben den Absatz. Der Stiefel war so alt, dass er wie ein Stofflappen in sich zusammenfiel. »Den tragen Sie sicher schon ein Weilchen«, sagte Wilkins und schaute, als hätte man ihm eine tote Beutelratte auf den Ladentisch gelegt. »Was soll das heißen?« »Dass Ihnen dieses Exemplar sicher gute Dienste geleistet hat.« »Können Sie ihn reparieren oder nicht?« »Ich kann’s versuchen. Als Schuster hab ich mich bisher noch jeder Aufgabe gestellt.« Er nahm den Stiefel und ging durch einen Vorhang nach hinten. Ein paar Sekunden später kam er wieder nach vorn. Der Absatz klemmte zwischen den Backen einer Zange. »Wird wahrscheinlich ein paar Minuten dauern.« Dann verschwand er wieder. Lev stützte seine Hände links und rechts von dem schmutzigen Stiefelabdruck auf den Ladentisch. Ihm tat die Hüfte weh, entwe der vom schiefen Stehen oder vom Sturz. Er humpelte zu einem Stuhl, der neben einer Kiste mit Schuhleisten stand, setzte sich und zog auch den anderen Stiefel aus. Die Socken waren nach vorn gerutscht. Er zog sie hoch und runzelte die Stirn, als er die Löcher an den Fersen sah. Nicht gerade passend für einen Klavierbesitzer, dachte er, schau te hinüber zu der Auswahl neuer glänzender Schuhe und dann auf den verschrumpelten Lederhaufen neben sich. Er stand auf, ging zur Tür und blickte nach draußen. Sein Maultier stand vor dem Pfosten, an dem er es festgebunden hatte, der Krug hing an 295
der Seite. Gerade wollte er hinausgehen, als sein Blick am Regal links von der Tür hängen blieb. Sie waren prachtvoll. Ein Paar schwarze, auf Hochglanz polierte Dom-Pedro-Arbeitsschuhe, das ganz allein auf dem Holzgestell stand. Auf eine kleine Tafel darunter war mit Kreide der Preis geschrieben: $ 1.35. Der Preis $ 1.42 war durchgestrichen. Er nahm den linken Schuh in die Hand, hielt ihn an die Nase und sog den Geruch von neuem Leder ein. Ohne auch nur kurz nach dem Vorhang zu schauen, hinter dem der Schuster verschwunden war, stellte er den Schuh neben seinen linken Fuß auf den Boden. Schien zu passen, auch die ziemlich ausladende Breite. Er nahm den Leisten heraus und wollte gerade den Fuß hineinstecken, als ihm einfiel, dass man derart feinem Schuhwerk nicht seine alten Socken zumuten konnte. Der Schuster kam zurück und hielt einen Holzstab in der Hand, auf dem der alte Stiefel steckte − sauber, poliert, der Absatz ange nagelt und waagrecht gefeilt. Aber der Laden war leer. Der Schus ter schaute sich um und sah, dass auf dem Gestell für das Son derangebot anstatt der Arbeitsschuhe der dreckige Zwilling des altersschwachen Stiefels stand, den er in der Hand hielt. Aus dem Stiefel schauten ein Paar Socken, die aussahen, als hätte man sie aus einem Schlammloch ausgegraben. Die beiden Leisten der Dom Pedros lagen auf dem Boden. Er schaute durchs Fenster. Der Dieb stand neben seinem Maul tier und trank aus einem Krug. Die Arbeitsschuhe, die aus den graubraunen Latzhosenbeinen herausschauten, glänzten unwirk lich. »Ich sehe, Sie haben sich zu etwas Besserem entschlossen«, sagte der Schuster in Levs Rücken. »Ich hab was?«, fragte Lev, ohne sich umzudrehen. »Die Schuhe, die Sie anhaben. Eine gute Wahl, und einen bes seren Preis bekommen Sie hier in der Gegend wirklich nicht. Ich hoffe, sie passen. Wenn nicht, wir haben so ziemlich jede Größe da. Falls nicht vorn im Laden, dann hinten.« 296
Lev machte die Leine seines Maultiers los und stieg auf. »Das macht dann, na, sagen wir einen Dollar fünfundachtzig zusammen«, sagte der Schuster. Lev riss an der Leine, um das Maultier in Längsrichtung zur Veranda zu drehen. »Für die neuen Schuhe, die Socken und die Reparatur«, sagte Wilkins. »Ich hab schon bezahlt.« Lev schnalzte mit der Zunge, und das Maultier setzte sich in Bewegung. »Sir«, rief der Schuster. »Ich hol den Sheriff.« Lev hielt das Maultier an, drehte sich um und fragte: »Warum?« »Sie haben nicht bezahlt, Sir.« Lev rutschte vom Maultier, riss Wilkins den alten Stiefel aus den Händen und schlug so schnell damit zu, dass der Schuster bereits bewusstlos war, als er den Boden berührte. Lev prügelte weiter mit dem schlaffen Stiefel auf Kopf, Gesicht und Hals ein. Als er sah, dass der Absatz wieder abbrach, verstärkte das noch seinen Zorn, als gösse die schlampige Handwerksarbeit nur noch mehr Öl ins Feuer seines Herzens.
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IV
Ardy hatte fast eine halbe Stunde am Rand des Feldes gewartet. War Oscar vielleicht woanders hingefahren? Er hatte von Oscars schlechtem Orientierungssinn gehört, es war also möglich, dass der Richter an einer anderen Stelle stand. Allerdings hielt Ardy es auch für möglich, dass Oscar ihn nur ein bisschen warten lassen wollte. Aber der Mann zahlte nun mal gut, bar und pünktlich. Ardy saß mit dem Rücken zum Wald im Schatten einer großen Pappel, zerrupfte Zweige und ging im Geist noch einmal Oscars Anweisungen und ihr Treffen von vor zwei Tagen durch. Oscar hatte gesagt: »Sie könnte doch einfach aus der Gegend ver schwinden.« Und dann hatte er gesagt: »Ich will nicht, dass du ihr etwas antust.« Und weiter: »Ich will sie bloß nicht mehr in meiner Nähe haben. Verstanden?« Sie saßen sich an einem kleinen Feuer, das Ardy entfacht hatte, gegenüber. Einen Topf Kaffee hatte er auch gemacht. Schließlich hatte er gesagt: »Sie wollen also, dass ich sie verjage.« »Ja, und zwar für immer, ist das klar? Nicht mal für ‘n Besuch darf sie zurückkommen oder für ‘n Hurenkongress, wo sie ihr ‘n Orden umhängen wollen. Wenn sie jemals wieder hier auftaucht, heißt das, du hast deine Arbeit nicht gemacht.« »Was haben Sie sich vorgestellt, dass ich tun soll, damit sie mitmacht?«, fragte Ardy. »Soll ich sie bezahlen oder ihr Angst machen?« »Ist das die Wahl, die ich hab?« Oscar klopfte sich mit dem Fin ger ans Kinn. Dann schaute er in die Blechtasse mit dem schwar zen Kaffee. Er hatte nur einen Schluck genommen und dann kei nen mehr. »Also gut«, sagte er. »Ich will auf keinen Fall, dass ihr 298
irgendwas zustößt. Glaubst du, dass sie für fünfundzwanzig Dol lar abhaut?« »Nein, Sir, glaube ich nicht. Sie lässt das Haus zurück. Ihren Besitz. Freunde. Sie hat ihr Leben lang da gelebt. Trinken Sie Ihren Kaffee nicht?« Oscar schaute die Tasse an. »Sie hat keine Freunde. Die Frauen nehmen nicht mal ihren Namen in den Mund, und die Männer schauen sie nur an, wenn sie auf ihr drauf liegen.« Er nippte am Kaffee. »Also, wenn Sie mich fragen«, sagte Ardy, »ich glaub kaum, dass Sie sie für weniger als fünfzig Dollar von hier wegkriegen. Und eine Zugkarte.« »Eine Zugkarte?« »Ja, nach New Orleans. Dort kann sie nämlich leicht ihr Gewerbe weiter betreiben. Da gibt’s alles: Alte, Junge, Jungfrauen, Niggerund Mischlingsweiber. Was Sie wollen.« Oscar trommelte mit den Fingern auf seinem Knie. »Jungfrau en?« Er schaute an Ardy vorbei in den Wald. Dann schaute er zum Himmel hinauf. »Ich komm einfach nicht oft genug raus«, überlegte er. Ardy sagte: »Einverstanden?« Oscar beugte sich vor und kippte den Rest seines Kaffees in die Glut. »Ihr darf nichts passieren, da mach ich nicht mit. Ist das klar? Ich will, dass du sie bezahlst.« Dann hatten sie sich für heute an diesem Ort verabredet, damit Oscar ihm das Geld geben konnte. Ardy stand auf und folgte mit den Augen der Fährte eines Hir sches. Man konnte sehen, ob die Abdrücke von einer Kuh oder ei nem Bock stammten. Wegen des zusätzlichen Gewichts durch die massigen Schultern, die das Geweih zu tragen hatten, drangen die Vorderhufe des Bocks tiefer in den Boden ein. Oft ging eine Hirsch kuh hinter einem Bock her und trat dabei in seine Hufabdrücke. Etwas tiefer im Wald wieherte sein Pferd. Er drehte sich um, schaute durch die Blätter und fragte sich, ob vielleicht ein Hirsch in 299
der Nähe war. Als er hergeritten kam, hatte er ein Stück weiter hinten eine Stelle auf dem Boden gesehen, wo das Laub und das Gras weggekratzt waren. Jäger nennen das Plätzstelle. Ein brüns tiger Bock hatte mit den Hufen den Dreck weggescharrt und auf den Boden gepisst, eine Liebesbotschaft an eine Kuh. Ardy holte den Zuckersack aus seiner Jackentasche und faltete ihn auseinander. Hirschböcke taten noch etwas anderes während der Brunftzeit. Sie wetzten ihr Geweih an niedrigen Bäumen, fetzten dabei die Rinde herunter und ließen an den Stämmen nackte Stellen zurück. Auf dem Feld schoss eine Wachtel zwischen den abgestorbenen Maisstängeln in die Höhe: Oscars Kutsche kam. Ardy faltete den Zuckersack einmal, dann noch einmal. Dann steckte er ihn wieder in die Tasche, stand auf und hob zur Begrü ßung die Hand. »Abend«, sagte Oscar, als er nah genug war. Ardy nickte. »Abend, Richter.« Er schaute zu der Reihe Eichen, die hinter dem abgeernteten Feld aufragten. Oscar hielt an und blieb mit den Zügeln in der Hand im Schatten des Verdecks sitzen. Elegante Sitzpolster, samtig-roter Plüsch, warmer Farbton. Passend für eine Landpartie mit einer Dame. Auf jeder Seite der Sitzbank Laternen und schicke polierte Schutzble che für die großen Räder. An den Speichen klebte roter Schlamm. Oscar nahm die Zügel in eine Hand und zog mit der andern eine zusammengefaltete Zugfahrkarte, in der ein paar Geldscheine steckten, aus der Innentasche seiner Jacke. Ardy nahm beides ent gegen, ohne es anzuschauen. Er machte den obersten Knopf seiner Jacke auf und schob Fahr karte und Geld unter den Kragen. Dann machte er den Knopf wieder zu. »Wo ist dein Pferd?«, fragte Oscar. Ardy zeigte in den Wald. »Bin weiter drinnen über eine Plätz stelle gestolpert.« Oscar schaute unter ein paar niedrigen Ästen hindurch und fragte sich offensichtlich, was zum Teufel eine Plätzstelle war. 300
»Also dann«, sagte er. »Das Treffen hat wie immer nicht statt gefunden. Ich bin unterwegs zu Ulrica, mal sehen, wie’s ihr geht. Die Auktion ist gerade vorbei. Hätte dir das Herz gebrochen. Einer von diesen Dreckskerlen aus Mitcham Beat hat den Reverend überboten; ging um ein Klavier. Vielleicht kennst du den Burschen ja.« »Einen Reverend überboten?« Ardy war beeindruckt. »Wie hat der Kerl geheißen?« »Lev James. Kennst du den?« »Hab von ihm gehört. Und ihn auch mal gesehen, von weitem. Aber das Vergnügen, ihm die Hand zu schütteln, hatte ich noch nicht.« Oscar rutschte nervös auf seinem Sitz herum. »Also, was hast du da draußen rausgefunden?«, fragte er. »Jetzt erzähl schon.« Ardy schaute an der Kutsche vorbei ins Leere. »Der Grund, Richter, warum Sie mich angeheuert haben, ist doch, dass Sie mit dem ganzen Dreck nicht in Berührung kommen wollen. Und in Mitcham Beat steht der Dreck so hoch wie überall sonst. Und je mehr Sie nicht wissen, desto besser. Aber bald hab ich was für Sie.« Oscar nahm die Zügel. Es schien, als wollte er noch etwas sagen, könnte es aber nicht in Worte fassen. Schließlich schnalzte er mit der Zunge, die Kutsche fuhr ruckartig an und rollte auf ihren großen Rädern davon. Ardy trat zurück in den Schatten der Bäume. Er zog die Zug fahrkarte heraus und zählte das Geld. Fünfzig Dollar. Er zählte noch einmal nach und stopfte die Scheine in verschiedene Taschen. Als er zurück durch den Waid ritt, kam er an der Plätzstelle vor bei, hielt das Pferd an, stieg ab und pisste auf den feuchten Fleck im aufgekratzten Erdboden. Die Hure lag keuchend unter ihm, ihr weicher Bauch hob und senk te sich mit seinen Bewegungen, ihr Atem drang wie aus weiter Ferne durch den dicken Stoff seiner Kapuze. 301
Als er fertig war und sie mit vor Schweiß klebriger Haut auf einander lagen, flüsterte sie: »O Mann, seit ich ein junges Mädchen war, hat’s mir keiner mehr so besorgt.« Sie griff nach oben und befühlte mit zwei Fingern den zerschlissenen Stoff der Kapuze. Das um den Kapuzenhals geschlungene Stück Galgenstrick hing vorn wie eine Krawatte herunter. »Na«, sagte sie. »Krieg ich jetzt zu sehen, wer von euch da drunter steckt?« Er bewegte den Kopf unter der Kapuze. »Rat.« Sie kicherte. »Also gut.« Dann fuhr sie mit den Händen an seinem Rücken auf und ab, strich mit den Fingern über die Wirbel und die Wölbung seines Hinterns. Sie nahm beide Arschbacken in die Hände, drückte sie, fuhr mit den Händen wieder nach oben und ließ sie auf den Schultern liegen. »William bist du jedenfalls nicht«, sagte sie. »Er ist größer als du. Der andere Junge auch. Und War Haskew bist du auch nicht.« Jetzt legte er die Lippen an ihr Ohr. Er konnte sie durch den dicken Stoff spüren. »Woher weißt du das?« »Eine Frau weiß das.« »Mein Schwanz ist größer.« Sie gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Hintern. »Beneh men Sie sich, Mr. Hell-at-the-Breech.« »Bis jetzt hast du Recht«, sagte er und bewegte die Hüften. »Von denen bin ich keiner. Rat weiter.« »Buz auch nicht, der redet nicht. Außerdem riechst du besser als die Smith-Brüder.« Sie hob den Kopf und schaute über seine Schul ter. »Und du hast keine Narben, die beiden haben jede Menge davon.« Er schüttelte den Kopf. »Richtig, keiner von beiden.« »Lev auch nicht. Du bist dünner. Und Lev redet auch nicht. Der will bloß, dass ich daliege, als wenn ich tot war.« »Was?« »Ich muss ein Kleid anziehen und einfach mit offenen Augen daliegen. Wenn er kommt, schaut er erst durchs Fenster und sieht 302
mich eine Zeit lang an. Dann klettert er rein, schiebt das Kleid hoch, und wenn er’s dann macht, tut er so, als ob ich grade gestor ben war oder so.« Ardy lag auf ihr und atmete schwer unter seiner Kapuze. Sie schaute an ihm herunter. »Hey, du bist ja schon wieder so weit.« »Sei still«, sagte er, nahm ihre Hände von seinem Nacken und drückte sie hinter ihrem Kopf aufs Kissen. Durch die Löcher in seiner Kapuze sah er, dass ein Schatten auf ihr Gesicht gefallen war. »Das ist jetzt nicht mehr lustig«, entgegnete sie. »Los, sag schon. Wer bist du?« Er stand auf und ließ sie auf dem Bett liegen. Sie schaute sich seinen Körper genauer an. »Du bist keiner von denen.« Sie setzte sich auf und zog die Steppdecke hoch über die Brust. Er drehte sich um, durchquerte das Zimmer und ging nach drau ßen auf die Veranda. Bis auf den Zuckersack und die Socken war er nackt. Die Haut prickelte vor Kälte, und der Atem hing ihm wie warmer Nebel vor den Augen. Die Nippel waren hart, sein Glied zeigte steil nach oben. Zitternd drehte er sich zur Hauswand um. An einem Nagel hing zur Dekoration ein Sechsender zwischen den beiden Fenstern. Er nahm das Geweih herunter, ging schnell zu rück ins Haus und zog die Tür fest hinter sich zu. Sie war noch im Bett. Die Steppdecke hielt sie sich vor den Kör per. Sie war blass geworden. »Wer bist du?«, fragte sie. »Woher kennst du das Losungswort?« Er hob das Geweih hoch und ging auf das Bett zu. »Was soll das? Was willst du damit?«, fragte sie. Vor dem Bett blieb er stehen und fing an, mit den Geweihenden das Holz der Bettpfosten zu zerkratzen. »Hör auf damit«, sagte sie. »Das Bett hat schon meiner Mutter gehört.« »War sie auch eine Hure?« 303
Sie griff neben sich unter das Bettlaken und riss die abgesägte Schrotflinte hervor. Der Lauf war so kurz, dass sie aussah wie eine lange Pistole. Annie hob den Lauf. »Also los. Nimm die Kapuze ab.« Er schaute sie an, zuckte mit den Achseln, öffnete die Hals schlinge, als öffnete er einen Krawattenknoten, ließ sie auf den Boden fallen, griff dann nach der Spitze der Kapuze und zog sie herunter. Sein Glied schrumpfte. »Wer zum Teufel bist du?«, fragte sie. Die Steppdecke rutschte herunter und entblößte eine Brust. Sie griff nach der Decke, ließ dabei für eine Sekunde den Lauf der Schrotflinte sinken, worauf er ihr die Kapuze ins Gesicht schleu derte und sich auf den Boden warf. Sie schoss zweimal. Zu hoch, beide Male in die Wand. Der Hund bellte. Ardy stand mit dem Geweih in der Hand wieder auf. Er sprang aufs Bett, riss ihr das Gewehr aus der Hand, warf es auf den Boden, hob ihr das Geweih an den Hals und nagelte sie ans Kopfbrett des Bettes. Danach ritt er direkt zu Carters Haus. Er sattelte die Stute ab, füt terte sie und gab ihr zu saufen. Dann ging er in den ersten Stock und machte im Schlafzimmer, wo seine Mutter und Carter geschla fen hatten, Feuer. Danach ließ er sich ein Bad ein, saß rauchend in der Wanne und betrachtete die abgesägte Schrotflinte, die er auf den Kaminsims gelegt hatte. Er seifte sich Gesicht und Hals ein, rasierte sich, starrte im Spiegel seine glatten Wangen an und wusch sich die Haare. Dann ging er ins Bett und schlief fünfzehn Stunden durch. Am nächsten Morgen ritt er nach Grove Hill. Nachdem er im Speiseraum des Hotels Eier, Schinken und Mais brei gefrühstückt hatte, trat er vor die Tür, grüßte mit einem Fin gertippen an seinen Hut eine Frau in einem langen grünen Kleid, überquerte die Straße und ging ins Gerichtsgebäude. Oscar hörte sich an, wie Ardy Massey Underwood dazu gebracht hatte, ihm seine Mitgliedschaft in einer Geheimgesell schaft namens Hell-at-the-Breech zu gestehen. Dann zählte er die Mitglieder der Bande auf, und Oscar schrieb sich die Namen auf. 304
»Wie hat das mit der Hure geklappt?« »Hat sich das Geld geschnappt und ist abgehauen.« Oscar schaute auf seine Hände, die flach auf der polierten Schreibtischplatte lagen. Als er sie hochhob, dauerte es einen Au genblick, bis auch die feuchtwarmen Abdrücke verschwanden. Er atmete langsam aus. »Gute Arbeit, Ardy. Dieser Massey Under wood, wird der aussagen?« Ardy schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, er hat sich schon aus dem Staub gemacht.« »Ach ja?« »Um ehrlich zu sein, ich hab ihm dringend dazu geraten. Hab ihm gesagt, seine Kumpels würden es sicher nicht nett finden, dass er sie alle verpfiffen hat.« Oscar schaute auf die Uhr. Dann aus dem Fenster. »Bist du sicher, dass du ihn nicht mehr herschaffen kannst? Billy kann ihn einsperren, wir kriegen ihn sicher dazu, ein Geständnis abzulegen.« »Schätze, er ist jetzt schon in Mississippi. Oder in Louisiana.« »Du hättest ihn herbringen sollen.« Ardy sagte nichts. Der Ton des Richters gefiel ihm nicht. Er dachte daran, ihn gleich hier zu erschießen. Dann sagte er: »Tut mir Leid, Richter. Sie haben natürlich Recht.« »Was soll’s. Ich hab eine neue Aufgabe für dich.« »Floyd Norris töten?« Der Richter schaute ihn lange an. »Ja«, sagte er. »Aber ich will, dass du meinen Neffen mitnimmst.« »Was?« »Er ist weich. Was ja okay ist, wenn er aufs College gegangen wäre, wie sein Vater es mit ihm vorhatte. Aber jetzt muss er hier bleiben. Ich will, dass du ihm ein bisschen Härte beibringst.« »Richter«, sagte Ardy. Doch Oscar rief schon den Jungen herein. Sie hörten Schritte, dann öffnete sich die Tür. Oscars Neffe trat ein. Er trug eine Cordjacke, Jeans und Stiefel. Carlos war ein zarter Junge, er hatte lange feingliedrige Finger und lange Wimpern. 305
Dünne Handgelenke. Ardy hatte ihn vom ersten Augenblick an nicht gemocht. »Richter«, sagte er noch einmal. Oscar schüttelte den Kopf. »Da gibt’s keine Diskussion«, sagte er. »Ich will nur eins von dir. Die Garantie, dass ihm nichts passiert. « Ardy schaute den Jungen an, dann dessen Onkel. »Nichts pas siert«, wiederholte er. Sie jagten die Pferde so schnell über Hügel, durch Wälder, über sau ber abgeerntete Baumwollfelder, dass es ihnen fast den Atem nahm. Damit sie nicht so viel Lärm machten, hatte Ardy den Pferden die Hufeisen herunterreißen lassen. Gelegentlich hob er die Hand, das Zeichen, sofort von der Straße zu verschwinden und in den dichten Wald einzutauchen. Sie sprangen gleichzeitig aus dem Sattel, Carlos nahm die Pferde und führte sie tiefer in den Schatten hinein, während Ardy sich im Schutz des Blättervorhangs so nah wie möglich an die Straße legte. Schließlich stieß der Junge zu ihm, legte sich daneben, und beide beobachteten die Straße. Ardy nannte das Drill. »Wenn’s zum Kampf kommt, darf man keine Fehler machen«, sagte er. »Sonst ist es nämlich der Feind, der im Gebüsch steckt, und dann nimmt er deinen Schädel aufs Korn.« Sie erreichten Mitcham Beat vor Einbruch der Dunkelheit und schlugen ihr Lager tief im Wald auf, etwa hundert Meter von der Straße entfernt. Ardy beobachtete den Jungen, der die Pferde ver sorgte: An einem Tümpel mit dreckigem Wasser ließ er sie saufen, dann legte er ihnen die Fußfesseln an, sattelte sie ab und striegelte sie. Eine Stunde später schlichen sie sich zu Fuß, mit dem Wind von vorn, durch ein Baumwollfeld auf Floyd Norris’ Haus zu. Der hoch am Himmel stehende Mond schien hell. Als sie nur noch hundert Meter entfernt waren, krochen sie mit dem Gewehr voraus bäuch lings weiter. »Er hat zwei Hunde«, flüsterte Ardy. 306
»Was wollen wir hier überhaupt?«, fragte Carlos. »Den Mann töten, der deinen Daddy getötet hat, was sonst?« Erst ein paar Meter weiter merkte er, dass Carlos nicht mehr neben ihm war. Ardy kroch rückwärts. »Verdammt, Junge, was ist los?« »Ich bin mir nicht sicher, ob Onkel Oscar das will.« »Und ob er das will. Hat er mir selbst gesagt.« »Mir nicht.« Ardys Hand kroch über den Boden zu Carlos’ Hals und packte zu. Die Finger krampften sich um die Luftröhre. Ardy spürte den Widerstand des Jungen. Er drückte fester zu. »Stell mich nie wieder in Frage, Junge.« Carlos’ Finger öffneten und schlossen sich in den Resten der Baumwollpflanzen wie Mottenflügel in Spinnweben. Bei seinem Hassausbruch, dessen Wucht ihn selbst überraschte, erkannte Ardy, dass die Angst den Jungen völlig willenlos machte und er keinen Finger zur Selbstverteidigung rühren, sondern sich nur winden würde. Ardy ließ los. »Was bist du doch für ein erbärmliches kleines Mädchen.« Carlos japste nach Luft. »Carla. So werde ich dich ab sofort nennen, bis du dir den Män nernamen verdient hast. Also, mein Mädchen, kommst du jetzt, können wir unsere kleine Fehde begraben, oder willst du hier in der Scheiße liegen bleiben und heulen.« Carlos sagte nichts. »Mach, was du willst.« Ardy kroch weiter. Dann bog er nach rechts ab, achtete aber weiter darauf, dass ihm der Wind ins Gesicht blies. Die Hunde waren dunkle unförmige Klumpen auf der Veranda. Er bewegte sich leise und war froh, dass Carlos keinen Lärm machen und die Hunde aufwecken konnte. Er erreichte die Rückseite, ohne dass ihn jemand gesehen oder gehört hatte. Durch einen Spalt im Fensterladen sah er die dunklen Umrisse von Kindern, die auf dem Boden vor der Feuerstelle schlie 307
fen. Durch einen anderen Spalt sah er einen Mann, der in einem Schaukelstuhl saß und hin- und herwippte. Der hochgereckte Kopf schien genau in Ardys Richtung zu schauen. Doch er schaukelte auch dann noch weiter, als Ardy zwei langsame geräuschlose Schritte zurücktrat, dabei mit einer Hand den knarrenden Laden öffnete und gleichzeitig mit der anderen Hand den Lauf seines Gewehrs ins Fenster schob. Bevor sich Norris bewegen konnte, drückte Ardy ab. Norris’ Kopf wurde zurückgerissen, der Schau kelstuhl kippte nach hinten über, und Norris’ Beine flogen in die Luft. Ardy steckte den Kopf durchs Fenster, die aufgescheuchten Jungen beachtete er gar nicht. Er schaute nur den Mann an, der auf dem Bauch lag. Dann griff er innen in seine Jacke, zog die Pistole heraus, streckte den Arm ins Haus und feuerte sechs Ku geln in den Körper. Bei der ersten zuckte der Leib noch, bei den folgenden schien er sich schon aufgegeben zu haben. Als Ardy den Arm zurückzog, blieb er an einem Nagel hängen, der ihm den Stoff der Jacke und des Hemdes aufriss und den Bizeps anritzte. »Schei ße«, sagte er. Er stellte das Gewehr an die Hauswand und fummelte an seinem fest sitzenden Ärmel herum, bis er plötzlich die Hunde hörte. Er hörte, dass sie sehr nah waren. Überhastet griff er nach dem Gewehr, stieß es um, dann sprangen die Hunde ihn an. Oh, oh, Carla, dachte er. Wenn ich wieder bei dir bin, mein kleines Mädchen, dann gibt’s was auf den Arsch. Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Rückweg zur Stadt. Die Hunde hatten sich in Ardys Beine verbissen gehabt. Einen hatte er schließlich erschießen können, der andere war ihm ent kommen. Er hatte sein zweites Hemd in Streifen gerissen und die Blutungen gestoppt. Trotzdem war er wegen der zerrissenen Hose immer noch sauer. Carlos lag quer über seinem Pferd. Er hatte ein Loch zwischen den Augen, eins in der rechten Schulter, ein drittes im Bauch. Das Pferd war blutrot. Sie waren jetzt ein stilles Duo, sodass Ardy den singenden Reiter schon früh hörte und reichlich Zeit hatte, die Pfer 308
de in den Wald zu führen. Er schwang sich aus dem Sattel, kippte Carlos auf den Boden, führte die Pferde in ein Kiefernwäldchen und legte ihnen schnell die Fußfesseln an. Der Wind trug das Lied des Reiters mal leiser, mal lauter an sein Ohr. Ardy hastete zurück zur Straße, schleifte den toten Jungen hinter einen verrotteten Baumstamm und legte sich daneben. Genau vor sich sah er jetzt die leichte Vertiefung, durch die die Straße führte; ein schmales Rinnsal lief von einer Seite zur andern. »Ich setz ‘n halben Dollar, dass das Pferd oder das Maultier von dem Kerl da vorn stehen bleibt«, sagte Ardy und deutete mit seiner Winchester auf das Rinnsal. Seine Kinnladen kneteten den Tabak durch. Dann spuckte er aus und schaute zu Carlos, der im Schatten zweier Sumpfeichen auf dem Bauch lag. »Hältst du dagegen?« Er wartete kurz und antwortete schließlich selbst für den Jun gen. »Ich wette nicht«, sagte er mit Falsettstimme. »Was?« Die gleiche Mädchenstimme: »Das ist Sünde.« Er schaute Carlos an. »Wie zum Teufel soll ich einen Mann aus dir machen, wenn du dich aufführst wie eine Betschwester?« Er hielt ihm die Hand hin. »Los, schlag ein.« Der Junge lag tot da. Ardy packte die kalte Hand, drückte fest zu und ließ wieder los. Die gelblichen zusammengequetschten Finger fielen herunter. »Also dann, abgemacht. Wenn das Scheißvieh da vorn an dem Bach stehen bleibt, krieg ich einen Dollar.« Er schaute die Straße hinunter. Vögel jagten sich gegenseitig und schossen kreuz und quer über die Straße. Die Luft vibrierte von ihrem Gezwitscher. Ein Schatten fiel auf die Erde, Ardy schaute nach oben und sah eine große Krähe, die ihren Kurs änderte, sich auf der Spitze einer kahlen Sumpfeiche niederließ und auf ihn herunterschaute. »Schlechtes Zeichen für einen, der abergläubisch ist, stimmt’s?«, sagte Ardy. Er bewegte das Gewehr über den Baumstamm, beug-te 309
die Schulter nach unten und nahm die Krähe ins Visier. »Schau dir das an«, redete er weiter. »Der kleine Wichser da oben weiß genau, dass ich nicht schieße.« Er beobachtete die Krähe. Ihr weißer Atem wurde vom Wind davongetragen. Dann sah er den Mann. Er ritt in der Mitte der Straße, mal im Schatten, mal in der Sonne, und trällerte ein Lied. »Ruhig jetzt«, sagte Ardy zu Carlos.
»She’ll be driving six white horses when she comes, when she comes, she’ll be driving six white horses when she comes, when she comes, she’ll be driving six white horses she’ll be driving six white horses she’ll be driving six white horses when she comes.« »Schau dir an, wie der auf seinem Maultier hängt«, flüsterte Ardy. »Der ist rattendicht, der Kerl. Das is ‘n Kinderspiel, Junge. Los, spann den Hahn.« » We will all have chicken and dumplings when she comes, when
she comes ...« Carlos rührte sich nicht. »Spann den verdammten Hahn.« Der Junge blieb regungslos liegen. Ardy behielt die noch weit entfernte Gestalt im Auge, tastete mit der Hand zur Seite und zog langsam den Hahn von Carlos’ Schrotflinte nach hinten. » We will kill the old red rooster when she comes, chop, chop, chop ...« Er sah jetzt, dass auf dem Maultier Lev James saß und passend zum Lied mit einer Hand die Luft zerhackte − chop, chop, chop. Ardy hatte das Gefühl, als durchströmte ihn helles, warmes Licht. Damit wären schon drei erledigt, fast die halbe Bande. Er packte Carlos’ Schulter und flüsterte: »Schau hin, schau hin ...« James kam näher, war jetzt fast in Schussweite, noch etwa fünfzig Meter entfernt, da wehte dem Maultier der Geruch von Wasser in die Nüstern. Es hob den Kopf und schlug mit dem Schwanz. »Na los, komm schon«, flüsterte Ardy. »Steck deinen dummen Schädel ins Wasser.« 310
Das Maultier trottete auf das Rinnsal zu und blieb stehen. James hörte auf zu singen. Ardy biss sich auf die Unterlippe. »Trink schon.« Das Maultier senkte den Kopf und fing an, Wasser zu schlabbern. »Jawoll, macht einen Dollar«, sagte Ardy leise zu Carlos. »Zahlen kannst du später. Du darfst jetzt schießen, wenn du willst.« »Aber ich kann nicht«, flüsterte er mit weinerlicher Kleinmäd chenstimme. »Ich bin doch nur ein kleines Mädchen, Mister Ardy, und ich hab so viel Angst.« Vielleicht hatte Lev James ihre Anwesenheit zu diesem Zeit punkt schon gespürt − was angeblich auch Hirschböcke können. Vielleicht hatte er etwas für seine Ohren Ungewöhnliches gehört. Vielleicht hatte er aber auch einen Pakt mit dem Teufel geschlos sen, was möglicherweise die wachsame Krähe erklärte. Jedenfalls ließ er mit gleich bleibend blasiertem Gesichtsausdruck und ohne ein Zeichen von Panik oder Hektik − die einzig wahrnehmbare Veränderung war die Haarlocke, die ihm in die Augen fiel − den Krug in den Sand fallen, griff gleichzeitig mit der Rechten hinter den Rücken und zog eine langläufige Pistole aus dem Hosenbund. Während sie noch an seiner rechten Hüfte vorbei nach vorn schwang, spannte er schon mit der andern Hand den Hahn, wie Ardy es einmal für zehn Cents Eintritt bei einem Kunstschützen in Hattiesburg, Mississippi, gesehen hatte. Dann übergab er die Waffe mit rasend schneller Leichtigkeit an die linke Hand, hob den rechten Unterarm waagrecht vor die Augen, legte die Pistole da rauf und spähte über den Lauf. Er wirkte jetzt kleiner. Mit zuammengezogenen Schultern duck te er sich hinter den Kopf des Maultiers. Der Krug rollte über die Straße und blieb liegen. Ardy hatte es mit seinem ersten Schuss nicht eilig. Er bewegte das Korn seiner Winchester auf James’ Brustbein. James hatte noch nicht geschossen, er suchte noch immer das Gebüsch auf irgend welche Bewegungen ab, als Ardy abdrückte. James wäre einen 311
schnellen Tod gestorben, hätte nicht das Maultier den Kopf geho ben. Einen Augenblick später kotzte es Blut und Zähne. James wurde zurückgerissen, fiel, hielt die Pistole im Fallen fest umklammert, landete im Dreck, blieb flach liegen und rührte sich nicht. Das schreiende, japsende Maultier knickte in den Knien ein, kippte auf die Seite, rappelte sich wieder auf. Dann stürzte es wie der um, zuckte, trat um sich. James krabbelte nach rechts außer Reichweite der Hufe, blieb aber in Deckung. Einmal schoss er, und über Ardys Kopf zerfetzte ein Blatt. Guter Mann, dachte Ardy, wenn man ihn im Kampf auf seiner Seite hat. Carlos hatte sich natürlich die ganze Zeit nicht gerührt. James schoss noch zweimal, beide Male zu hoch. Ardy wartete ab, er wollte seine gute Stellung nicht aufgeben. »Wer zum Teufel schießt da?«, brüllte James. Das Maultier war auf der Seite liegen geblieben. Die Beine zuck ten, es schrie durch die zerfetzte Schnauze. Blut lief in den Staub. Die Lache wurde größer und näherte sich immer mehr James’ Ellbogen. Ardy sah, dass James’ Hintern etwas in die Höhe ging, der Kerl wollte weg da und versuchte, erst mal das Maultier als Deckung zu nutzen. Genau, was auch Ardy getan hätte. Er erhob sich auf Ellbogen und Knie. Ardy schoss, James’ rechter Ärmel blähte sich, der Outlaw heulte auf wie ein Tier, fasste sich an die Schulter. Trotzdem krabbelte er mit fliegenden Knien und Ellbogen los. Ardy lud nach, schoss und traf James am linken Fuß. Ein Schrei, James fiel und lag wieder hinter dem Maultier, das immer noch kreischte und gerade erneut aufzustehen versuchte. Bis James ihm in den Kopf schoss. »Hey!«, rief Ardy. »Bist du immer noch nicht tot?« James lugte über den Tierkadaver. »Mit Töten bin heute ich dran«, rief er. Dann tat er etwas Überraschendes. Er stand auf. Hemd und Hose waren vollkommen rot. Ob es sein eigenes Blut war oder das des Tiers, wusste Ardy nicht. Die Pistole geradeaus gestreckt, humpelte er auf Ardy und Carlos zu. Er hatte nach geladen und rückte auf sie vor. Dann schoss er einmal, zweimal. 312
Ardy behielt den Kopf unten. Eine Kugel bespritzte ihn mit Dreck, eine andere traf einen Baum. Eine traf Carlos’ weißes Gesicht. Sie zerfetzte die Nase und warf den Kopf herum. Der schaute jetzt Ardy an. Guter Schuss. Dann nichts mehr. Ardy hob den Kopf. James kam weiter auf sie zu, zielte, drückte ab, klick, klick, klick. Die Pistole war leer. Er ging weiter, war jetzt noch etwa sechs Meter vom Waldrand entfernt. Fünf Meter. Er schleuderte die Pistole nach ihnen. Sie landete genau vor Carlos’ erstarrtem Gesicht. Dann fiel er auf die Knie. Erst dachte Ardy, er hätte jetzt endlich genug, aber auf einmal sah er, dass James Steine aus dem Straßendreck buddelte. Der Kerl stand wieder auf. Die rechte Hand war voller Steine, mit der Lin ken warf er. Er lief jetzt schneller. Ardy erhob sich auf ein Knie und zielte auf den Bauch. Ein Stein traf ihn an der Schulter. Es tat weh, aber nicht sehr. Ardy war froh, dass es keine Kugel war. Dann schoss er. James blieb nicht stehen, und Ardy schoss noch einmal. Jetzt knickte der Mann ein. Er fiel über den Baumstamm, zwischen Ardy und Carlos. Der Eisengeruch des Bluts hing in der Luft. James schlug auf und rührte sich nicht mehr. »Ganz schon zäh, du Hurensohn«, verkündete Ardy. Um sicherzugehen, dass er auch wirklich tot war, nahm Ardy Carlos’ Schrotflinte, fuhr mit dem Lauf unter James’ Haarschopf und presste die Mündung gegen den Schädelansatz. Dann drückte er ab, und der Kopf zerplatzte wie eine Melone. Ardy stand da und horchte. Was für eine stille Welt. Er schaute nach oben, in die Welt hinein. Er fühlte sich, als wäre er von irgendetwas der Mittelpunkt. Die Krähe war weggeflogen, sonst hätte er auch sie erschossen.
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VI
Waite saß in seinem Büro und dachte nach. Die Sonne schien durchs Fenster und erwärmte die Kristallfigur, die Sue Alma ihm als Briefbeschwerer geschenkt hatte. Aber bei ihm lagen nie Papiere darunter, er verwahrte seine Sachen lieber ordentlich, hef tete sie ab und schloss sie weg. Doch er hatte die Figur − einen Meeresfisch, einen Tümmler − gern in der Hand. Er mochte das Gewicht und wie glatt sie war. Wenn er sie anhauchte, beschlug sie, und ihm gefiel der Anblick, wenn sich die feine Dunstschicht wieder verflüchtigte. Als junger Mann hatte er gern geangelt, mit seinen Töchtern in einem kleinen Ruderboot, das er selbst gebaut und nach seinen beiden Ältesten Clara Neil genannt hatte. Er musste lächeln. Vor einigen Jahren war ihm Johnny-Earl in den Ohren gelegen, er wolle sein eigenes Boot haben, die John Earl, und Waite hatte ihm zu Weihnachten das Holz dafür geschenkt. Der Junge hatte fast eine Woche lang hart gearbeitet, jede Hilfe von Waite abgelehnt und ihn auch nicht in die Scheune gelassen, damit er mal einen Blick auf das aufgebockte Stück werfen konnte. Als er fertig war, führte er Waite, Sue Alma und die drei Mädchen feierlich in die Scheune, zog mit pompöser Geste das Bettlaken herunter und enthüllte das Boot. Anstatt John Earl hatte er es Sue Alma genannt, was seine Mutter zu Tränen rührte und Waite mit Stolz erfüllte. Er schüttelte den Kopf, als wollte er die Gedanken verscheuchen. Neben dem Briefbeschwerer lag der unförmige Absatz von Lev James’ Stiefel, mit dem der Kerl − daran gab es für Waite keinen Zweifel − den armen Clarence Wilkins halb tot geschlagen hatte. Nachdem es Lev gelungen war, zu verhindern, dass die Methodist Church zu einem neuen Klavier kam, hatte er zwei Männer ange heuert, die ihm das Klavier nach Mitcham Beat schafften − über Coffeeville, man konnte das Klavier unmöglich durchs Unterholz 314
des Bear Thicket schleppen. Waite musste nach Mitcham Beat und James wegen des Angriffs auf Wilkins festnehmen. Davor graute ihm. Er wusste genau, dass James nicht freiwillig mitkommen würde. Und das bedeutete, dass er Lev James würde erschießen müssen. Während er vor sich hin grübelte, nahm er den Stiefelabsatz in die Hand. Da war etwas an der Trittfläche. Gleichgültig kratzte er mit dem Fingernagel dran herum und hoffte, dass es nicht die zusammengepresste Pferdescheiße eines ganzen Jahres war. Er nahm seine Brille, setzte sie auf und betrachtete stirnrunzelnd das klebrige, zähflüssige Zeug. Irgendwie kam es ihm bekannt vor. Er hob den Absatz an die Nase, wobei ihm klar war, dass jemand, der zufällig ins Zimmer käme oder durchs Fenster schaute, ihn beim Schnüffeln an Lev James’ Stiefelabsatz erwischen würde. Kiefernharz. Er machte die Papiere fertig, mit denen er James wegen Mordes an McCorquodale verhaften konnte. Dann wartete er auf Oscars Rückkehr für die Unterschrift. Er öffnete eine Schublade seines Schreibtischs und holte die Liste heraus, auf der er notiert hatte, wen er schon mal als Deputy angeheuert hatte. Einer war inzwi schen gestorben. Er strich den Namen und dachte über die ande ren nach. Wenig später hörte er leise Schritte im Flur. Wer immer es war, er blieb stehen, ging weiter, blieb stehen. Offenbar las er die Schil der an den vier Türen. Waite legte die Liste beiseite, nahm die Füße von der obersten Schublade und rückte die Pistole in Reichweite. Als er schließlich sah, wer da durch die Tür kam, machte er die Schublade zu. »Tag, Shorty.« Sein Freund sah unfassbar heruntergekommen aus. Wie ein Mann, den ein Taifun auf eine Insel geschleudert hatte. Er hatte eine viel zu große Hose an und eine Damenbluse mit kunstvollen Gänse blümchenstickereien auf den Ärmeln. Sein Bart war dreckverklebt, 315
wegen der vielen Schrammen und wunden Stellen sah seine Ge sichtshaut rot gesprenkelt aus, am Hals hatte er rote Striemen. Warte stand auf, um ihn sich ganz anzuschauen. Die Hosenbeine waren unten zerfetzt, statt Schuhen trug er Stofflappen um die Füße gebunden. Ein großer Zeh mit gelbem Fußnagel lugte hervor wie der Kopf einer Schildkröte. Fauliger Verwesungsgestank hüllte die beiden Männer ein. »Schon der Geruch reicht aus, um dich einzubuchten«, sagte Waite. »Billy«, antwortete Shorty. Als wollte er den Hut ziehen, hob er die Hand zum Kopf, doch außer einem schlammverkrusteten Haarpanzer war da nichts. Also ließ er die Hand wieder herun terfallen. »Das da interessiert mich«, sagte Waite und deutete auf die Strie men am Hals. »Die haben mich gehängt.« »Wer?« Shorty schaute zum Fenster hinaus. »Ich erzähl dir jetzt ein paar Sachen, Billy, die ich dir schon letztes Mal hätte erzählen sollen. Damals hab ich mich noch an was gehalten, das man wohl falsch verstandene Loyalität nennt. Tja, hier steh ich nun, zerlumpt, zurück aus’m Hades und bereit zur Beichte.« Waite hielt sich sein Taschentuch vor die Nase. »Aber zuerst steigst du in die Wanne. Und schmeiß die Weiberklamotten weg. Kinder, die dich so sehen, werden ja ihre Albträume ein Jahr nicht mehr los.« Shorty saß auf County-Kosten in der Wanne eines Hotelzimmers. Ohne seine Garderobe, die jetzt in einem säuerlich riechenden Haufen auf dem Boden lag, wirkte er schon fast wieder wie ein Mensch. Die Wunden sahen allerdings auf der saubereren, weiße ren Haut schlimmer aus, vor allem die infizierten Striemen am Hals. Waite hatte nach dem Doktor geschickt, der jeden Augen blick kommen musste. 316
»Hast du ihren Vertrag unterschrieben?« Shorty setzte sich auf und schnippte Zigarrenasche in die Sei fenschale. Das Badewasser war fast schwarz. »Nein, Billy. Sie sind zu dritt in meiner Hütte gewesen. Haben gesagt, dass sie’s aufs Gerichtsgebäude abgesehen haben, dass sie da mal ‘n bisschen frisches Blut reinbringen wollten. Die haben sich gedacht, wenn sie so viele Städter umbringen, wie sie zu fassen kriegen, müssten ja mal ein paar gute Männer nachrücken.« Shorty begutachtete seine Zigarre. »Bin mir nur nicht sicher, ob sie dann noch welche finden, Billy.« »Du meinst, wenn die braven anständigen Leute vom Land alle ermordet haben, die jetzt im Amt sind, sind für ‘ne neue CountyRegierung nicht mehr genügend anständige Städter übrig?« Shorty streckte einen Fuß mit gelblicher, sich abschälender Haut aus dem Wasser und tauchte ihn wieder unter. »Was meinst du, ob die noch ‘n bisschen heißes Wasser haben?« Waite ging auf den Flur und schaute über das Geländer hinunter in die Lobby. »Jimmy, kannst du Mr. Owen noch etwas heißes Wasser bringen?«, rief er dem Angestellten zu. Waite ging zurück ins Zimmer und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. »Weiter.« »Sie wollten meine Brennereien. Ich sollte Teilhaber werden. Ich sag, das heißt dann, dass ich die Arbeit mache und ihr kriegt euern Anteil, und sie sagen, genau, so ungefähr läuft das dann.« »Und?« »Ich hab Nein gesagt. Und von da an gab’s Feuer unterm Arsch.« »Waren das die, die dich aufgehängt haben?« Er nickte. »Ich brauche Namen, Shorty. Und ich brauche dein Versprechen, dass du aussagst.« »Ich geb dir die Namen, Billy, aber dann verschwinde ich aus der Gegend. Ich hoffe, du kannst mir was zum Anziehen besorgen. Du willst ja wohl nicht, dass ich als aufgetakelte Frau durch dei317
ne Stadt ziehe. Ich sag dir, wer mitmacht, und als Bezahlung greifst du mir etwas unter die Arme. Zugkarte und ‘n bisschen Taschen geld reicht.« »Ich könnte dich festnehmen, Shorty, und ins Gefängnis ste cken.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Wir wissen doch beide, Billy, dass du das nie tun würdest.« Er hatte Recht. »Okay, die Namen.« Dann erzählte Shorty die Geschichte seiner Hinrichtung. Drei Männer mit Kapuzen hatten ihm bei einer seiner Brennereien auf gelauert und das Feuer eröffnet. Er schoss zurück und erwischte einen am Bein, aber er saß hinter seinen großen Fässern in der Falle. Sie fingen an, drauf zu schießen, und schon bald regnete der Whiskey auf ihn herunter. Sie riefen, dass als Nächstes eine Fackel käme und alles in Flammen aufgehen würde. Also kapitulierte Shorty. Sie verprügelten ihn ein bisschen und nahmen ihm seine Schuhe ab. Zur Demonstration hob er einen seiner grässlich gelben Füße aus dem Wasser. »Weiter«, sagte Waite. Dann schilderte er den Versuch, ihn aufzuhängen. Als sie ihre Kapuzen abnahmen und ihre Gesichter entblößten, wusste er, dass er ein toter Mann war. Als Letztes erinnerte er sich daran, wie er mit der Schlinge um den Hals verkehrt herum auf seinem Maultier saß und Lev James so stark auf den Hintern des bemitleidens werten Tiers einprügelte, dass Staubwolken aufstiegen. Aber es rührte sich nicht vom Fleck. »Muss dann wohl doch noch losge laufen sein«, sagte Shorty. »Mehr weiß ich nämlich nicht.« »Wie bist du abgehauen?« »Das ist der merkwürdige Teil der Geschichte«, sagte er. »Die waren alle rattendicht von dem Whiskey, den sie mir gestohlen hat ten. Guter Stoff, übrigens. Also, wahrscheinlich waren sie so voll, dass sie mich zu früh runtergeschnitten haben. Ich hatte Glück, mein Genick war nicht gebrochen. Und den kleinen von den bei 318
den Burke-Brüdern haben sie zum Beerdigen verdonnert. Die Erde lag schon auf mir drauf, als ich wieder zu mir gekommen bin. Hat sich fast in die Hose gemacht, der Junge. Aber er hat mich laufen lassen.« »Warum?« »Ich glaub nicht, dass er dazugehört. Schätze, der arbeitet da nur und tut halt, was die andern ihm sagen.« »Und der Ältere von den Burke-Jungs?« »Der? Der hat sich fast in die Hose gepisst vor Lachen, als Lev versuchte, das Maultier zum Laufen zu kriegen.« »Du hast gesagt, dass sie irgendwas planen. Dass sie’s aufs Gerichtsgebäude abgesehen haben. Weißt du was Genaueres drüber?« »Als sie Arch Bedsole erschossen haben, hat Tooch alle zu einer Versammlung eingeladen. In den Laden. Er wollte, dass die ganze Gegend hinkommt. Hat gesagt, dass er uns allen was Wichtiges zu erzählen hätte. Also bin ich hin. So Treffen sind immer gut, weil man da gut ‘n bisschen Whiskey losschlagen kann. Haben aber alle ziemlich schnell gemerkt, dass er uns bloß irgendwelches kompli ziertes Zeug erzählen wollte. Dass die ganze County-Regierung korrupt sei und dass er was dagegen tun wolle und so. Ein paar sind gegangen, ich auch. Hatte kein Interesse, bei irgendeiner Al lianz oder so mitzumachen. Hab mein ganzes Leben lang allein gearbeitet, warum sollte ich’s auf einmal anders machen?« Er schaute Waite an. »Und dabei bleibt’s auch. Ich bin also nicht bei der Verfolgung dabei, und ich marschier auch nicht ins Gericht und zeig mit’m Finger auf die Burschen. Ich erzähl dir bloß, wer’s ist, dann kannst du da rausreiten und die Schuldigen erschießen. Und die andern lass einfach in Ruhe, okay?« Waite schaute sich die Namensliste an. Keine Überraschung. »Was ist mit Floyd Norris?« Die Tür öffnete sich, und die beiden Männer schauten dem An gestellten zu, wie er zwei dampfende Eimer hereintrug. Um die Henkel hatte er Lappen gewickelt. 319
»Besten Dank«, sagte Shorty, dem die Brillengläser beschlugen, als der Angestellte das Wasser in die Wanne kippte. Der Angestellte warf Waite einen genervten Blick zu, dann ging er mit den klap pernden Eimern hinaus. »Weiter«, sagte Waite. »Soweit ich weiß, hat Floyd Norris nie dazugehört. Hat wahr scheinlich unterschrieben, wie jeder andere auch. Wenn nicht, hat te man schlechte Karten.« Plötzlich hörten sie eilige Schritte die Treppe hochkommen. Die beiden schauten zur Tür, dann schaute jeder den andern an. Waite zog seine Pistole, Shorty tauchte unter. Die Tür ging auf. Der Ange stellte. »Sheriff!« Er war außer Atem. »Sie haben gerade Carlos McCorquodale in die Stadt gebracht. Man hat ihn erschossen.« Waite stürzte nach draußen in die grelle, kalte Sonne. Die Men schen liefen auf das blutüberströmte Pferd zu, über dessen Sattel der Junge lag. Ardy saß abseits auf dem hölzernen Gehweg. Er hielt den Hut in den Händen, sein Blick war leer, die Beine blutig, die Hosenbeine zerrissen. Drei Männer standen bei ihm und stellten ihm Fragen. Einer hatte ihm eine Feldflasche gegeben. »Die haben ihre gottverdammten Hunde auf mich gehetzt«, sagte er. Waite und der Doktor erreichten gleichzeitig das Pferd. Ein paar Männer hoben Carlos gerade herunter und legten ihn flach auf den Boden. Die Leiche war von Kugeln durchsiebt. Waite zählte die Einschüsse, die er sehen konnte: Stirn, Nase, Bauch, Schulter, Knie scheibe. Dann hörte er auf und schaute zum Himmel. Jemand führte das Pferd weg, damit es nicht versehentlich auf den Jungen trat. Eine Frau wandte sich schluchzend ab. Der Dok tor befahl den Leuten zurückzutreten, ging in die Hocke und hielt Carlos zwei Finger an den Hals. Dann legte er eine Hand flach auf die Brust. Oscar York stand dem Doktor gegenüber. Waite hatte 320
sein Gesicht noch nie so weiß gesehen. Schließlich sagte der Dok tor zu Oscar: »Der Junge ist tot.« »Also, erzähl«, sagte Waite. Ardy Grant saß ihm gegenüber. Er hatte Jacke, Weste und Hand schuhe ausgezogen und ließ mit ruhigen Fingern Tabak ins Papier rieseln. Er drehte den Tabak fest ein, fuhr mit der Zunge über das Papier, steckte die fertige Zigarette in den Mund und zündete sie an. Waite verschränkte die Arme. »Jetzt red schon, Grant. Oder ich steck dich ins Gefängnis.« »Ich hab schon alles dem Richter erzählt.« »Dann erzählst du’s dem Sheriff eben noch einmal.« Er zog an der Zigarette und blies eine schlanke Säule Rauch ins Licht. »Also, der Junge und ich waren in Mitcham Beat...« »Weshalb?« Die Tür ging auf, und Oscar kam herein. Waite stand auf und schob seinem aschfahlen Cousin den Stuhl hin. Oscar setzte sich. Der Sheriff lehnte sich an die Kante seines Schreibtischs. »Grant wollte mir gerade erzählen, was passiert ist.« »Er hat’s mir schon erzählt«, sagte Oscar. »Er und Oscar sind in einen Hinterhalt von dieser Hell-at-the-Breech-Bande geraten.« »Macht’s dir was aus, Oscar, wenn ich mich nach den Einzel heiten erkundige? Ich will wissen, was der Junge überhaupt da draußen wollte.« »Ich hab ihn da rausgeschickt.« »Du?« Der Richter nickte. Er rieb sich den Nasenrücken. »Ich wollte, dass Ardy ihm zeigt, wie’s im richtigen Leben zugeht. Er sollte ihm ein bisschen Härte beibringen.« Oscar machte eine wegwerfende Handbewegung. Er hatte Ränder um die geröteten Augen. »Mach nur weiter, Billy, frag nur. Klar, warum auch nicht. Warum nicht noch mehr Zeit verschwenden. Und morgen erschießen sie mich. 321
Oder dich. Und vielleicht gibt’s ja ‘n Überfall als Weihnachts überraschung.« »Oscar ...« »Nein, Billy.« Oscar stand auf. Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Du hattest deine Chance. Scheiße, mehrere Chancen. Und was hast du getan? Gewartet und Bourbon getrunken. Wir organisieren gerade ein Treffen. Ich schick Ardy los, dass er die Leute zusammentrommelt. Wir stellen eine Freiwilligentruppe auf die Beine, reiten da raus und machen dem Spuk ein Ende. Wenn du willst, komm mit. Wenn nicht, auch egal.« Er stand auf und ging. Grant humpelte hinterher. Die Tasse Kaffee stand unangetastet vor ihm auf dem Tisch. Er saß im Speiseraum des Hotels und beobachtete, wie sie in die Stadt rit ten. Sie kamen den ganzen Morgen, die Gewehre quer über den Knien, die Pistolen an den Oberschenkeln festgebunden, zu zweit oder zu dritt, Grundbesitzer aus Thomasville, Coffeeville, Fulton, Dickinson, Whatley, sogar aus Jackson. Manche waren die ganze Nacht durchgeritten. Die vom Kot der erschöpften, schwitzenden Pferde verdreckte Main Street erinnerte Waite an Mobile. Männer standen in Gruppen zusammen und begutachteten ihre Waffen, schwarze Jungen hatten alle Hände voll zu tun, genügend Wasser für die öffentliche Tränke herbeizuschleppen. Ab und zu nahm er den Zuckerlöffel und drehte ihn weiter, damit er in die gleiche Richtung deutete wie der Minutenzeiger auf der großen Uhr über dem Kamin. Es war kurz vor eins. Die Frau des Hotelbesitzers kam herein, nahm den kalten Kaffee und stellte ihm einen frischen hin. Sie war besorgt, weil so wenig Gäste da waren, normalerweise herrsche um diese Zeit der meiste Betrieb. »Haben die keinen Hunger?« »Warten Sie’s ab. Wenn der Richter mit seiner Rede fertig ist, geht der Sturm los.« Einen Block weiter vor dem Gerichtsgebäude hatten sich bewaff nete Männer versammelt. Der Zaun, der das Gebäude umgab, war 322
dicht besetzt mit schaulustigen Jungen. Von Süden näherte sich zu Fuß eine andere Gruppe Männer, die Pferde brachte. Ein Wagen mit bewaffneter Eskorte war ebenfalls zu sehen. Gewehre, dachte Waite. Oscar bahnte sich einen Weg durch die Menge, stieg auf den Zaunübertritt und hob die Arme, um die Männer zu beruhigen. Waite, der die Szene durchs Fenster beobachtete, ging auf die Ve randa, damit er zuhören konnte. »Wir werden jetzt beenden, was wir schon vor einem Jahr hätten beenden sollen. Keiner gibt irgendwem die Schuld dafür«, rief Oscar. »Das Ganze hat draußen auf dem Land angefangen, und niemand konnte ahnen, dass das alles so schnell auf die Stadt über greifen würde − obwohl einige von uns sich deshalb schon früh Sorgen gemacht haben. Was ich euch jetzt sage, ist Folgendes: Bei Gott, bis morgen Abend die Sonne untergeht, ist Schluss damit.« Mit rechtschaffenem Grollen stimmten die Männer zu. Einige kannte Waite, allesamt anständige Geschäftsleute. Männer mit Frau und Kindern. Der Besitzer des Mietstalls. Die Besitzer der Bank. Ein Schmied. »Mein junger Freund hier«, sagte Oscar und bedeutete Grant, sich neben ihn zu stellen, »ist in Wyoming Deputy gewesen. Aber er stammt von hier. Einige von euch kennen noch seine Mutter, Bess Carter. Eine gute Christin. Ardy ist vor kurzem zurückgekommen, um sich um Bess’ Nachlass zu kümmern. Für die, die ihn nicht ken nen: Ihr könnt mir vertrauen, wenn ich sage, er ist ein guter Mann. Ich habe ihn raus nach Mitcham Beat geschickt, damit er ein paar Nachforschungen ...« »Und was macht Billy?«, rief einer. »Saufen«, rief ein anderer. Allgemeines Gelächter. »Schätze, er stößt später dazu«, sagte Oscar. Die Frau des Hotelsbesitzers stand neben Waite auf der Veranda. Er spürte, dass sie ihn anschaute. »Ich muss euch allen jetzt etwas gestehen«, fuhr Oscar mit lei serer Stimme fort. »Und ich hoffe, dass ihr mir vergebt. Mit Ardy 323
hatte ich auch meinen Neffen Carlos nach Mitcham Beat geschickt. Der Junge sollte sich ein bisschen abhärten, und ich habe geglaubt, dass ihm das gut tun würde. Aber dann sind Ardy und Carlos da draußen überfallen worden. Die Kerle haben ihre Hunde auf sie gehetzt, das Weitere kennt ihr ja. Mit Carlos’ Tod werde ich den Rest meines Lebens zurechtkommen müssen. Der Doktor hat mir vorhin gesagt, dass die Kugeln, die den Jungen getötet haben, aus mindestens drei verschiedenen Waffen stammen.« Warum wurde Grant nicht getroffen?, fragte sich Waite. Er knöpfte sich die Jacke zu, trat von der Veranda und ging zwischen zwei Pferden hindurch. Die Frau schaute ihm hinterher. Als er sich von dem Mob entfernte, kamen ihm auf der Straße zwei Burschen entgegengelaufen. »Wo ist die Versammlung?«, fragte einer. »Immer dem Krach nach«, sagte Waite. Waites Vorteile gegenüber dem Mob: Erstens kannte er die Gegend besser als Oscar, obwohl die Möglichkeit bestand, dass Grant die Gegend noch besser kannte als er. Zweitens konnte er allein, ohne Dutzende von Männern und Pferden, schnell agieren; so wie jetzt, als er geduckt im Sattel saß und King die Sporen gab. Und schließ lich bot der Mob viele Ziele, Waite nur eins. Das Bear Thicket war seine einzige Chance, hatte er sich überlegt. Die Route über Coffeeville wäre ein zu großer Umweg. Trotzdem kam ihm der Weg jetzt länger denn je vor. Die Wälder, durch die er ritt, zogen sich, Kings Hufe trommelten auf den Boden, und der Dreck spritzte unter ihnen weg, als wären Ross und Reiter die Spitze eines Tornados, der über das Land hinwegzog. Als Waite aus der überdachten Brücke herausritt, blies ihm der Wind den Hut vom Kopf. Er hielt nicht an, schaute sich nicht einmal um, ob der Hut am Straßenrand liegen blieb oder ins träge fließende Wasser segelte. Er duckte sich tiefer. Das Dickicht lag schon ziemlich lange hinter ihm, als er etwa hundert Meter vor sich mitten auf der Straße das tote Maultier lie 324
gen sah. Er riss die Zügel an, und King blieb schliddernd stehen. Waite saß im Sattel und hielt nach irgendwelchen Bewegungen Ausschau. Der Wind, der von vorn kam, blies ihm einen starken Geruch nach Blut in die Nase. King stampfte nervös mit den Hufen. Waite stieg ab, führte King von der Straße und durch den Graben zwischen die schützenden Bäume. Er flüsterte ihm in die aufgestellten Ohren und band ihn an einem waagrechten Ast fest. Dann zog er sein Gewehr aus der Scheide und schlich sich näher an den Maultierkadaver heran. Er hatte immer seinem Instinkt vertraut, jetzt sagte er ihm, dass hier niemand mehr lebte. Trotzdem ging Waite leise weiter und setzte jeden Schritt auf den mit Blättern bedeckten Waldboden, als wartete Bedsoles Bande nur darauf, ihn abzuknallen. Er blieb stehen. Da lag ein Mann. Waite ging in die Hocke und hob das Gewehr. Er konnte die Bei ne und den Rücken erkennen. Er beobachtete die Schultern des Mannes. Sie bewegten sich nicht. Tot? Langsam bewegte er sich weiter. Mausetot. Der Kopf war eine gestaltlose, zerfetzte Masse, doch Waite erkannte den Mann an den neuen Schuhen. Lev James. Der Sheriff trat näher heran und schaute sich vorsichtig um. Mit dem Fuß drehte er James auf den Rücken und runzelte die Stirn, als er sah, dass der Tote auch noch an anderen Stellen getroffen war: Brust, Schulter und Schienbein. An der rechten Hand fehlte die Hälfte eines Fingers. Die linke Hand war zur Faust geballt. Waite ging in die Knie und bog die Finger zurück. Ein Stein. Seltsam. Er schaute nach oben. Schon bald würden Geier den Himmel verdunkeln, auf trägen Flügeln tiefer gehen und mit ihren krum men Hälsen und unbehaarten Köpfen in den Bäumen hocken. Ein weiterer Flügelschlag, und sie würden auf dem Boden stehen, sich umschauen und dann auf James und das Maultier zuwatscheln. Sekunden später würden ihre Köpfe in den toten Leibern von James und seinem Maultier stecken, sie würden lange rote, gummiartige 325
Eingeweidefetzen herauszerren, die Schnäbel in die Luft recken und ihre Mahlzeit runterschlucken. Waite richtete sich auf. War Lev James während des Überfalls auf Grant und Carlos bei der Bande gewesen? Kaum, sonst hätten die andern ihn mitgenommen und begraben. Was hieß, dass je mand anderes James getötet hatte. Logisch betrachtet, kam nur Grant in Frage, aber warum hatte er nichts davon gesagt? Waite klemmte sich das Gewehr unter den Arm, schleifte James aus dem Wald und ließ ihn auf der Straße neben dem Maultier liegen. Wenn er Glück hatte und Oscars Mob diesen Weg nahm, würde die Leiche sie vielleicht stutzig machen und ihm mehr Zeit geben. Viel leicht würden sie sogar Grants Geschichte in Frage stellen. Er schaute auf die Uhr. Fünf. Es würde bald dunkel werden. Er holte King, hievte sich in die SteigbügeJ und ritt weiter. Waite war froh, den Toten hinter sich lassen zu können, und fragte sich, wie viele noch würden sterben müssen, bevor Mond und Sonne das nächste Mal die Plätze tauschten. Die Dunkelheit hüllte ihn ein. Er ritt jetzt leise, war plötzlich ner vös, wenn er an Bedsoles Bande dachte. Noch war er nicht über die Hand voll Burschen gestolpert, die aus dem Gebüsch auf jeden schossen, der nicht ihr Blutsbruder war. Wenn das kein Wunder war. Halb hatte er damit gerechnet, dass es vor Bedsoles Laden von Pferden wimmeln und die Bande bereits auf ihn warten würde. Aber anscheinend war der Laden geschlossen. Er lag ruhig da, und außer dem Rauch und den Funken über dem Kamin bewegte sich nichts. Waite näherte sich über ein abgeerntetes Baumwollfeld − auf Händen und Knien. Könnte ziemlich heikel werden, dachte er. Es gab zwar keine Hunde, die anschlagen konnten, aber mindes tens zwei Leute warteten drinnen, und Bedsole konnte problemlos das Feuer eröffnen. Als er die Baumwolle hinter sich hatte, atmete er tief durch. Er war schweißnass und verdreckt, Jacke und Hose waren mit Dor326
nen und Kletten übersät. Einen Moment wartete er und überprüfte Gewehr und Pistole. In der Dachkammer brannte kein Licht. Also los, sagte er sich, stand auf und ging mit schnellen Schritten über die Straße und dann die Stufen hinauf. Er schaute durchs Fenster und sah nur den Jungen, der am Ofen auf einem Hocker saß und in einem Buch las. Der Tür war nicht abgesperrt, also trat Waite ein. Das Gewehr hielt er auf Hüfthöhe. Als die Glocke bimmelte, schaute Macky auf und klappte das Buch zu. »Tooch ist nicht da«, sagte er. »Wo ist er?« »Drüben bei War Haskew.« »Dann könnten wir beide es ja schaffen, noch ‘n bisschen wei terzuleben.« Er deutete mit dem Gewehr zur Tür. »Los, komm mit.« Der Junge gehorchte, machte aber einen weiten Bogen um Waite. Das Buch hatte er noch in der Hand. Macky ging durchs Baumwollfeld, dahinter Waite, der ihm den Gewehrlauf ins Kreuz drückte. »Wohin gehen wir?« »Braucht dich nicht zu kümmern. Geh einfach.« »Erschießen Sie mich?« »Nein, Junge, natürlich nicht. Aber andere könnten’s versuchen.« Am Rand des Feldes − sie wollten gerade in den Wald eintauchen − hörten sie einen Wagen. Sie knieten sich auf den Boden. Tooch Bedsole fuhr vorbei, stellte den Wagen in den Schuppen rechts vom Haus und stieg vom Bock. Er rief nach Mack. Als er keine Antwort erhielt, zog er die Pistole aus der Jacke und ging in den Laden. »Weiter«, flüsterte Waite und zog den Jungen zwischen die schützenden dunklen Bäume. 327
Anstatt noch weiterzureiten und King umzubringen, verkrochen sich Waite und der Junge im Heuboden einer alten Scheune. Waite war vorsichtig genug, kein Feuer zu machen. In der kalten Luft spannte sich ihre Gesichtshaut, und später in der Nacht wurden allmählich die Fingerspitzen und Zehen taub. Das Kratzen irgend eines kleinen Tiers, das sich in der Scheune herumtrieb, machte sie so nervös, dass Waite zweimal auf seinen wunden Knien herum rutschte, um es zu verscheuchen. Ein Waschbär oder eine Beutel ratte, vermutete Waite, zu Gesicht bekam er das Tier allerdings nie. Wenigstens hatte er Decken mitgenommen. Ein Großteil des Dachs fehlte. Über ihren Köpfen wurde der Himmel immer dunkler und verschwand schließlich ganz. Von Mondschein keine Rede. Verwundert mussten sie mit ansehen, wie durch die Ritzen zwischen den Holzbohlen schlaff wabernder Nebel aufstieg, wie er sich auch durch die Löcher im Dach auf sie herabsenkte und die beiden in kalten Dunst hüllte. Während Waite es mit ein paar leisen Worten kommentierte, sagte der Junge nichts. Er zog die Decke über dem Kopf zusammen und ließ nur die Augen frei. Es sah aus, als würde er aus einer Höhle lugen. Sein Gewehr hatte Waite an einen Querbalken ge lehnt. Regelmäßig schaute er aus der Luke nach draußen, ob ihnen auch niemand gefolgt war. Die Pistole lag neben seinem Ober schenkel im Heu. Unten scharrte das Pferd, wieherte und war danach ruhig. Wenn der Sheriff nach draußen sah, murmelte er manchmal etwas vor sich hin. Er schraubte die Feldflasche auf, nahm einen kleinen Schluck und hielt sie dann Mack hin. Mack hatte Durst, glaubte aber ablehnen zu müssen, ohne genau zu wissen, warum. Er schaute die Scheunenwände an, die aus breiten, grob zusammengefügten Brettern bestanden. Er wusste, wo sie waren. Wenn er sich umdrehte, würde er durch die Ritzen in der Wand die Überreste einer abgebrannten Hütte sehen. Aus dem eingefallenen Kamin schossen jetzt quirlige Rauchschwalben, 328
die sich mit blitzschnell in die Tiefe stoßenden Fledermäusen ver mischten. Tooch Bedsoles Haus. Das er selbst angesteckt hatte. »Sicher, dass du keinen Schluck willst?«, fragte der Sheriff. »Die Nacht wird lang.« Mack schüttelte den Kopf und hörte, wie die trockene Decke hinter seinem Kopf an der Holzwand scheuerte. Alles an dieser Nacht kam ihm verzerrt vor, intensiver, an den Seiten dehnte sie sich aus, von oben und von unten rückte sie näher an ihn heran. Sie lauschten einer Schleiereule, und Mack fragte sich, ob sie sie von ihrem angestammten Platz unter den Dachbalken oder der Traufe vertrieben hatten. Die Jungtiere nannte man Eulchen. Das hatte er in einem von Toochs Büchern gelesen. »Ich will dir erst gar nicht irgendwelche Lügen auftischen«, sagte der Sheriff. »Ein Mob ist unterwegs, der wird morgen hier sein. Deine Kumpels werden wahrscheinlich alle erschossen oder landen am Galgen. Ein Kerl, der hier in der Gegend rumspioniert hat, hat dem Mob Namen besorgt. Ich weiß nicht, welche Namen oder woher er sie hat, ich weiß nicht mal, ob die Leute überhaupt was mit der Bande zu tun haben. Aber ich hab so eine Ahnung, dass bis morgen Abend außer den Schuldigen auch jede Menge Unschuldige leiden werden.« Sie setzten sich beide auf. »Ich hab selbst ein paar Namen, mein Junge. Ich frag dich erst gar nicht, ob sie stimmen. Du brauchst nichts zu sagen. Ich glaub dem Mann, der sie mir gegeben hat. Und willst du wissen, warum ich dem Kerl traue?« Mack zuckte mit den Achseln und schlang sich die Decke enger um den Körper. Er wünschte, sie würden nach unten gehen und Warte würde Feuer machen. Seine Zehen waren wie abgestorben. Er wür de seine Füße ins Feuer halten, bis die Schuhe anfingen zu brutzeln. »Ich traue ihm, weil der Bursche von den Toten auferstanden ist. Und ein Mann, der die Hölle geschmeckt hat, hält sich mit Kin dereien wie Lügen nicht mehr auf.« 329
Langsam sickerten die Worte in Macks Hirn. Er hob den Kopf. »Ganz genau«, sagte Waite, als hätte er Macks Gedanken gelesen. »Ich wette, du hattest keinen Schimmer, dass Shorty Owen und ich alte Freunde sind. Wir waren zusammen im Krieg. Nicht dass wir uns damals schon gut kannten. Wir waren halt kurz vor Kriegs ende, als alles den Bach runterging, zufällig am selben Ort«, sagte er. »Am Ende von ‘nem Krieg will keiner auf der Verliererseite stehen, das kannst du mir glauben.« Er verstummte und schaute durch das zerfetzte Dach zum Him mel. »Shorty hat Namen genannt«, sagte er dann. »Tooch Bedsole war euer Anführer. Das hatte ich mir gedacht. War Haskew war mit dabei. Lev James. Kirk James. Die verrückten Smith-Brüder. Massey Underwood. Tja, und dein großer Bruder. Das hat mir weh getan, wirklich. Aber Shorty glaubt nicht, dass du dabei warst. Du hättest nur im Laden gearbeitet, sagt er. Ich bin gekommen, um dich zu holen. Zurück nach Hause.« Er machte eine Pause. »Was dagegen, wenn ich dich was frage? Nicht, dass ich glaube, du wirst mir ‘ne Antwort geben. Scheiße, ich hab schon seit einem Jahr kei ne Antwort mehr von dir bekommen. Trotzdem: Warum?» »Warum?« »Ja. Warum hast du Shorty laufen lassen?« Mack musste an die abgebrannte Hütte nebenan denken. Plötz lich ging ihm auf, dass Waite und er auf dem Weg hierher an der Stelle vorbeigekommen sein mussten, wo er Arch Bedsole erschos sen hatte. Sie hatten genau denselben Weg genommen wie Arch damals in der Nacht, als er sich blutend bis zu Tooch geschleppt hatte. Den ganzen Weg bis hierher. Ein langer Weg, wenn man blu tete. Um in den Armen seines Cousins zu sterben. »Ich wollte was gutmachen«, sagte Mack. Waite schaute ihn an. »Was soll das heißen?« Macks Gesicht lag versunken in den Falten der Decke, als er anfing zu erzählen. Er erzählte eine lange Geschichte von einer sehr dunklen Nacht, in der zwei Jungen, die niemanden verletzen oder töten wollten, Straßenräuber spielten, um sich das Geld für eine 330
Hure zu besorgen. Eine Geschichte, die von einem Mann auf einem Pferd erzählte, von einer alten Pistole, die fast wie aus eigenem Antrieb losging, und von einem Pferd, das reiterlos in die Nacht sprengte. Von zwei Jungen, die nebeneinander auf einen toten Körper hinunterschauten, die über einen Graben in eine Welt gesprungen waren, in der es schwarz war wie unter einer Kapuze. Er brauchte lange für die Geschichte, und als er fertig war, war das kleine Tier wieder da und kratzte an der Wand.
»Du hast Arch Bedsole erschossen«, sagte Waite. Sein Gehirn spulte zurück zu dem Tag vor einem Jahr, als er die Witwe und die Jungs besucht hatte. »Ich war’s nicht«, hatte Mack gesagt. Er dachte an den Besuch im Laden, als der Junge sich ver steckt hatte. Es stimmte. »Wer weiß es noch?« »Nur William.« »Die Witwe nicht?« »Ich glaube nicht. Am Anfang dachte ich, Tooch wüsste Bescheid. Und dass er mich nur deshalb im Laden haben wollte, um mich irgendwann umzubringen, wenn die Gelegenheit günstig war. Aber das stimmte nicht. Später haben sie mich dann aufgenommen. « »Dann hast du auch dazugehört?« »Aber ich hab keinen mehr umgebracht.« Waite war todmüde. »Du hast dir also gedacht, wenn du Shorty laufen lässt, sind die beiden Waagschalen wieder im Gleichge wicht.« »So ungefähr.« »Tja, bei einer Waage vielleicht«, sagte Waite. »Aber es gibt noch eine zweite Waage.« Während er seine Geschichte erzählt hatte, war ihm die Decke wie eine Kapuze der Hell-at-the-Breech-Bande vorgekommen. Man war unbekannt, unsichtbar, konnte tun oder sagen, was man wollte, und nichts davon hatte irgendwelche Auswirkungen. Sein 331
Geständnis hatte sich so leicht aus der Dunkelheit gelöst wie von der Schwerkraft befreite Gesteinsmassen, wie eine Luftblase, die vom Grund eines Flusses ans Licht drängte. Die ganze Zeit, wäh rend er daraufgewartet, damit gerechnet, ja fast gehofft hatte, dass man ihn erwischte, hatte er sich mehr und mehr wie jemand gefühlt, dem man ein Loch in den Bauch gegraben und die Einge weide herausgeschaufelt hatte, als wolle man ein Grab aus ihm machen, als sei die übrig gebliebene Hülle nichts weiter als ein Tun nel, durch den kalte Luft von einer Welt in eine andere gelenkt würde. Als ob der Junge, der Arch Bedsole getötet hatte, in jener Nacht verschwunden sei und statt seiner selbst einen Platzhalter zurückgelassen habe. Der Macky Burke, der er vor so langer Zeit gewesen war, schien nun wieder in diesen kalten vermummten Körper einzuziehen. Er stieg in seine Beine, schlüpfte in seine Schultern und streifte sich seine Arme über wie die Ärmel einer Jacke, passte seinen Kopf in den Schädel ein und schaute durch dessen Augenhöhlen wieder mit seinen eigenen Augen auf ein Land der Lebenden, in dem auch er wieder lebte, war froh, seine Finger dehnen zu können und dabei das kaum wahrnehmbare Knirschen der Knochen zu hören, war froh um den Nebel, den er in seine Lungen saugen konnte. Er schlug die Decke auf und zog sie von seinen Schultern. Nie wieder, dachte er, würde er sein Gesicht verstecken. Und wenn sie ihn gefesselt die Stufen zum Galgen hinaufführten, würde er ihnen nicht erlauben, ihm eine dunkle Kapuze überzustülpen. Er würde sie sehen, die strahlende Welt, während man sie ihm wegnahm. Dunkelheit sollte nicht das Letzte sein, was er sähe. Der Sheriff öffnete die Augen. Sie schauten sich an. Waite fühlte sich betrogen. Aber er fühlte auch noch etwas anderes. Als Kind hatte er in der Kirche einmal einen Silberdollar aus dem Klingel beutel gestohlen. Niemand hatte es gesehen. Er hatte die Münze in der Tasche, als der Klingelbeutel weiter durch die Reihe wan derte, dann in die Reihe hinter ihm gereicht wurde, dann in die 332
nächste Reihe und weiter bis nach hinten zu denen, die den Inhalt zählten. Die Männer, die in den Klingelbeutel griffen, das Geld he rausholten und zählten, erfuhren nie, dass eine Münze fehlte. Er war davongekommen. Aber sofort hatte er sich schuldig gefühlt. Sein Gewissen lastete schwer wie Eisen auf ihm. Zu Hause hatte er die Münze in einem Socken versteckt. Die ganze Woche versuchte er, sie zu vergessen. Aber manchmal holte er sie hervor und schaute sie an. Eines Nachmittags nahm er sie heraus, ging zu einem Teich und holte aus, um sie ins Wasser zu werfen. Doch er tat es nicht. Dann kam der nächste Sonntag, und er warf sie heimlich zurück in den Klingelbeutel. Es klimperte laut, aber niemand drehte sich um. Sein Vater und seine Mutter schauten zur Kanzel, sie sangen Higher Ground. Doch weil er nicht bestraft worden war, litt er weiter. Die Last seines Gewissens bedrückte ihn so sehr, dass er später, als sie wieder zu Hause waren, mit Tränen in den Augen zu seinem Vater ging und alles beichtete. Sein Vater hatte gelächelt und gesagt: »Du bekommst keine Strafe, mein Junge, schätze, du hast schon genug gelitten.« Waite schaute Mack Burke an. Das Gesicht eines Kindes. Die Eule hatte keine Ruhe gegeben, und die Augen des Jungen schauten nach oben und suchten sie. Waite versuchte sich vorzustellen, wie der Richter − also Oscar − den Jungen verurteilte. Er versuchte sich vorzustellen, wie man ihn hängte. Und Waites Aufgabe wäre es, ihm die Kapuze über den Kopf zu stülpen und ihn aufzufangen, wenn die Beine nachgaben. Waites Gesicht wäre das Letzte, was der Junge sähe, und ihm, dem Sheriff, würde immer das Gesicht des Jungen vor Augen stehen. So wie jedes andere Gesicht, dem er die Kapuze übergezogen hatte. »Ich muss dich mitnehmen«, sagte er. Macky nickte. »Ich weiß, Mr. Billy.« Er blinzelte. »Glauben Sie, dass die mich aufhängen?« Waite zuckte mit den Achseln. Eine Lüge. »Kommt auf den Richter an.« 333
»Richter York?« »Kommt drauf an.« Sie saßen sich gegenüber und schauten sich an. Dann wandte Waite den Blick ab und schaute nach draußen in die Dunkelheit. Er hatte noch Fragen und fing an, sie im Geiste zu formulieren. Aber als er sich umdrehte, war der Junge schon wieder einge schlafen. Der Hals war verrenkt, der Kopf lag in unmöglichem Winkel auf der Schulter. Wie bei einem Baby. Waite begriff, dass der Junge seit dem Augenblick, als er mit der Pistole seines toten Vaters einen anständigen Mann getötet hatte, nicht mehr so gut geschlafen hatte. Waite schlief nicht. Er glaubte, nie mehr schlafen zu können. Als es Stunden später dämmerte, musste er Macky wachrütteln. Wenige Minuten später waren sie unterwegs. Waite war froh, dass durch seine Arme und Beine, die sich anfangs wie Holzknüppel anfühlten, wieder Blut pumpte. Er hatte darüber nachgedacht, Richtung Osten zu marschieren und den Bezirk zu umgehen, aber das hätte Tage gedauert. Um Fluchtgedanken erst gar nicht auf kommen zu lassen, legte er dem Jungen Handschellen an und ging hinter ihm, in einer Hand das Gewehr, in der anderen Kings Zügel. Er war noch nie so müde gewesen. Die Haut um seine Augen fühlte sich an wie wund gescheuert. Die Straße erschien ihm nicht sicher genug, Oscar könnte Kundschafter ausgeschickt oder Posten aufgestellt haben. Sie saßen hintereinander auf dem Pferd. Wo Wald war, nutzten sie ihn, kamen dann aber nur langsam vorwärts, über die Felder jagten sie im Galopp, wobei Waite den Horizont ständig nach irgendwelchen Bewegungen absuchte, jedes Mal froh um etwas Nebel. Als sie auf ein Waldstück stießen, das sich an einer Straße ent langzog, entschied sich Waite für die Deckung, auch wenn es eine Plackerei war, sich zu zweit auf einem missmutigen Pferd zwischen taunassen Bäumen hindurchzuschlängeln. Nebelschwaden hingen in den Bäumen wie zum Trocknen aufgehängte Bettlaken. Jetzt 334
sehnte sich Waite nach der Sonne, sie könnte die Nässe weg brennen. Der Junge ging vor ihm, das Pferd hinter ihm. King war so übellaunig, dass Waite fürchtete, das Tier könne ihm einen Bis sen Fleisch aus dem Hals reißen. Eins verspreche ich dir, mein Alter, dachte Waite. Wenn wir jemals aus dieser Scheißgegend rauskommen, brauchst du nie mehr hierher zurück.
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VII
William Burke und War Haskew saßen schon den ganzen Nachmittag auf zwei Kiefernstümpfen hinter Wars Hütte, tranken Whiskey, beobachteten, wie der frische Wind ihre Atemwölkchen da vonwehte, und debattierten über die gerade volljährig gewor dene Tochter eines Farmers namens Jed Finch. War behauptete, dass er schon mit einem halben Finger bei ihr drin gewesen sei, was William als dreiste Lüge bezeichnete. Da aber das Thema nun mal angesprochen war, beschlossen sie, auf einen Sprung bei Annie vorbeizuschauen. Keinen von beiden störte, dass der Hund nicht bellte, wie er es normalerweise tat. Sie gingen die Stufen hinauf. War würde als Erster hineingehen, was vorher nicht extra hatte diskutiert werden müssen. Es war eben so. Er war der Ältere und außerdem Williams Arbeitgeber. William setzte sich auf den Rand der Veranda. War warf ihm den Krug zu und klopfte mit seinem Gewehrlauf gegen die Tür. Als Annie nicht antwortete, klopfte er lauter. Als immer noch keine Antwort kam und auch der Hund sich nicht rührte, gingen sie rein. Drei Stunden später hielt Wars Wagen vor Toochs Laden. Tooch kam heraus. »Wo zum Teufel ist Annie?«, rief War. Tooch legte den Kopf auf die Seite. »Was?« »Annie. Wir war’n grad bei ihr, aber sie ist nicht da. Der Hund auch nicht.« Sie stiegen vom Wagen. War warf Tooch einen Zuckersack mit Löchern für Mund und Augen zu. »Was zum Teufel ist das?«, fragte Tooch. »Lag bei Annie«, sagte William. 336
Tooch schaute sich die Kapuze an. »Und noch was«, sagte War. »Sie hat auf jemand geschossen. Und jetzt ist es so ruhig wie aufm Friedhof.« Tooch schaute nach links. Die Straße war leer. Nach rechts, das Gleiche. Hinter dem Baumwollfeld nur Bäume. »Sieht ganz so aus, als will uns jemand anhängen, wir hätten Annie getötet.« »Wo ist Macky?«, fragte William. Tooch faltete den Zuckersack zusammen. »Das wollte ich euch fragen.« War und William schauten sich an und dann wieder Tooch. »Irgendwas geht hier vor«, sagte der. »Los, wir rufen alle zusam men.« Er schickte William mit Wars Wagen zu den Smiths und War mit dem Pferd zu Lev und Kirk. Es war schon eine Weile dunkel, als War mit Kirk hinter sich auf dem Pferd zurückkam. William mit Huz und Buz auf der Ladefläche kehrte noch später zurück. Von der Veranda aus fragte Tooch: »Wo ist Lev?« »Zu ‘ner Auktion nach Coffeeville«, sagte Kirk. »Hab ihn seitdem nicht mehr gesehen.« »Wir dachten, dass er vielleicht schon hier war«, meinte War. Tooch nahm den Hut ab. »Schätze, auf Lev können wir nicht mehr zählen«, antwortete er. »Entweder haben sie ihn erschossen, oder er sitzt im Gefängnis.« »Ist Macky zurück?«, fragte William dazwischen. Tooch schüttelte den Kopf. Im Laden standen sie nebeneinander vor den Fenstern zur Stra ße und schauten hinaus in die Dunkelheit. Dichter Nebel kam auf und stülpte dem Laden eine weiße Kapuze über. Jeder der Männer hielt ein Gewehr in der Hand. Nur Tooch nicht. Als erwartete er, dass der Feind sich in Form von Schattengestalten aus Nacht und Nebel zeigen würde. Als ein sechsköpfiges Double, eins für jeden aus der Hell-at-the-Breech-Bande. Aufgestiegen aus irgend einer Unterwelt, stünden sie nebeneinander auf der Straße. Viel leicht trügen sie sogar Kapuzen, um ihre dämonischen Gesichter 337
zu verbergen. Niemand sprach. Niemand erwähnte die Möglich keit, dass es sich um Zufall handeln konnte, dass es vielleicht eine logische Erklärung gab. Als Erster sprach Tooch wieder. »Zwei Teams«, sagte er. »War, du gehst mit Kirk und William Richtung Osten, ihr schlagt einen großen Bogen und kommt bis Sonnenaufgang hierher zurück. Huz, du und Buz, ihr geht nach Westen Richtung Stadt. Haltet euch nah bei der Straße. Ihr geht bis zur Brücke und kommt dann wieder.« »Wonach suchen wir?«, fragte William. Buz deutete nach draußen und tippte sich schließlich mit dem Zeigefinger unter das rechte Auge. Alle schauten Huz an. »Er sagt, dass wir’s schon merken werden, wenn wir’s sehen.« Sie sollten sich aus den Regalen zu essen nehmen, sagte Tooch. Und genügend Munition einpacken. Und wenn sie sich dadurch besser fühlten, auch noch eine zweite Pistole. Möglich, dass es jetzt richtig losgehe. Genauso gut könne aber auch gar nichts passieren. Egal, besser, man sei vorbereitet. Alle befolgten Toochs Anwei sungen. Sie gingen in Macks Schlafkammer, suchten sich in der Schublade unter dem Regal einen Colt aus und stopften sich die Taschen mit Patronenschachteln voll. Bevor William als Letzter den Raum verließ, warf er noch einen kurzen Blick auf das ordent lich gemachte Bett seines Bruders. Auf der Veranda sagte Tooch düster Lebwohl und blickte ihnen hinterher, als sie nacheinander die Stufen hinuntergingen. Dann ging er zurück ins Haus und schloss leise hinter sich die Tür. William, Kirk und War winkten den Smith-Brüdern zu, die wink ten zurück. Dann verschwanden die beiden Teams in entgegenge setzten Richtungen im dunklen Nebel.
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Hufschlag und das Quietschen von gutem Leder 29. und 30. November 1898
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Um fünf Uhr dreißig morgens trafen sich die Freiwilligen an der First Methodist Church in Grove Hill. Die Truppe zählte siebenundvierzig Mann, zweiundfünfzig Pferde und Ponys und ein halbes Dutzend fertig beladene Packesel. Viele der Männer trugen dicke Jacken und Hosen und hohe Reitstiefel. In der Kirche stand Oscar York unter der Kanzel, schrieb mit seiner akkuraten Schrift die Namen der Männer und ihrer Frauen oder − bei den Unverheirateten − die der Mütter in einen linierten Block und nummerierte sie durch. Einem halben Dutzend ent täuschter Jungen unter achtzehn gratulierte er zu ihrem Bürgersinn und schickte sie wieder nach Hause. Als sie die Straße entlang schlurften, gerieten sie aneinander und fingen an, sich zu prügeln. Ardy Grant ging von Mann zu Mann und kontrollierte jede Waffe. Er öffnete die Schlösser von Schrotflinten und einschüssigen Büchsen, legte an und zielte über den Lauf, überprüfte die Mecha nik der Repetiergewehre. Um sechs Uhr fünfzehn wechselte die Gruppe für ein kurzfristig arrangiertes Frühstück ins Hotel. Dort lauschten Oscar und die Männer, ihre Hüte in den Händen, dem Gebet des Methodistenpfarrers um sicheres Geleit. Und um Barm herzigkeit. Nachdem sie gegessen, die Servietten aus den Kragen gezogen und die Waffen geladen hatten, posierten sie vor dem Hotel für ein Foto, bestiegen dann ihre Pferde und Ponys und paradierten die Straße hinunter, vorbei an stumm blickenden Schuljungen und alten Männern, Frauen und kleinen Kindern. Vor der Stadt gaben sie den Pferden die Sporen. Unter den Rei tern waren zwei weißbärtige Veteranen namens Thompson, die ihre grauen Konföderiertenuniformen und lange Säbel trugen. Einem fehlte ein Arm, der Uniformärmel war in seiner Jacken tasche festgenäht. Beide rauchten Apfelholzpfeifen. Außerdem wa 340
ren dabei der Anwalt Harry Drake in grasgrüner Segeltuchjacke und Eisenbahnermütze, der Leichenbestatter mit seinen beiden schlaksigen Söhnen und der Assistent des Zeitungsverlegers, der über die Ereignisse einen Artikel schreiben wollte. Einige Stimmen hatte er bereits in seinem Notizbuch notiert.
Die Geschichte geht jetzt schon viel zu lange. Diesen Leuten muss man beibringen, dass das hier ein zivilisiertes Land ist, dass da kein Platz ist für solche Sachen. Keine Ahnung, was uns da draußen erwartet. Hab gehört, dass das ‘ne richtige Armee ist, die diese Farmer da aufgestellt haben. Wenn’s erst mal losgeht, möchte ich nicht zu denen gehören. Mehr als einer hatte Oscar gefragt, wo Sheriff Waite eigentlich sei. Oscar hatte nur gesagt: »Ist wohl schon vorgeritten. Kund schaftet die Gegend aus.« »Brauchen wir ihn nicht hier?« »Wahrscheinlich stößt er da draußen zu uns. Außerdem ...«Er zeigte auf Ardy Grant. »Euer nächster Sheriff, meine Herren, ist hier. Er war schon da draußen und hatte bereits Kontakt mit dem Feind. Heute wird er uns beweisen, was er kann.« Alle Blicke richteten sich auf Grant. Die Männer sahen die Fle cken, wo das Blut den Stoff seiner Hosenbeine durchtränkt hatte. Sie sahen die scharf geschnittenen Gesichtszüge eines Mannes, der Dinge gesehen hatte, über die er lieber nicht sprechen wollte. »Ich werde mein Bestes geben«, sagte er. »Es ist eine Ehre für mich, mit Richter York und mit Männern wie Lieutenant Virgil Thompson und seinem Bruder Lieutenant Claudius Thompson zu reiten, die im Krieg unter dem Kommando von General Nathan Bedford Forrest so manchen Yankee getötet haben.« Die Brüder nickten. »In der Tat verfügen wir über einige Erfahrung«, sagte Claudius Thompson. Er stopfte die Pfeife seines Bruders mit Old-SettlerTabak, gab sie dem einarmigen Virgil und stopfte dann seine eigene. 341
Oscar und Ardy Grant ritten vorn und bestimmten das Tempo. Grant hatte vorgeschlagen, in lockeren Zweierreihen zu reiten wie bei der Kavallerie. Hinter ihnen saßen die Brüder Thompson aufrecht auf zwei edlen, gescheckten Wallachen, die wie ein Ei dem andern glichen, und dahinter ritt Drake neben einem schweig samen Barbier namens Walters. »Vielleicht sollten Sie etwas weiter hinten reiten, Richter«, sagte Grant, als sie sehr langsam um eine scharfe Kurve bogen. »Sie sind der Erste, auf den die schießen.« Mit seinem Lederreitmantel, den Reithandschuhen und dem Stetson auf dem Kopf gab Oscar York eine ziemlich stattliche Figur ab. Er trug zwei identische Colt-Revolver, mit denen er noch nie geschossen hatte, und am Sattel hing seine Winchester Bolt Action Kaliber 30. 06. Die Stiefel waren frisch poliert und das Kinn frisch rasiert. Sein Pferd war gestriegelt. »Nein«, sagte er. »Bei Gott, ich werde diese Truppe mit meinem Beispiel anführen.« »Amen, Richter«, sagte Claudius Thompson. In leichtem Galopp bewegte sich die Truppe auf der zerfurchten Straße vorwärts. Aufmerksam behielten die Männer das bedroh lich wirkende tote Efeugestrüpp und Buschwerk links und rechts der Straße im Auge. Seine Angst behielt jeder Reiter für sich. Man duckte sich weit vor, um ein möglichst kleines Ziel abzugeben, und trieb sein Pferd zur Eile. Sie tauchten in eine Nebelbank ein, ritten hindurch, tauchten in die nächste ein. Schlammfetzen flogen in die Luft, wirbelten herum, fielen zu Boden. Dumpf trommelten die Hufe über die Straße. Als sich der Wald lichtete und schließlich verwüsteten Feldern voller Baumwoll- und Maisstrünke Platz machte, atmeten die Männer wieder gleichmäßiger. Nach einer halben Stunde trafen sie auf sieben Männer aus Dickinson. Die hatten von der Freiwilligentruppe gehört und waren die ganze Nacht durchgeritten. Sie glaubten, dass morgen noch mehr Männer dazustoßen würden. 342
Oscar hieß die Neuen willkommen, dann ritten sie weiter. Nach einer Stunde erreichten sie den Hof eines Pachtbauern von McCorquodale, eines Christen mit anständigem Ruf. Doppelreihig nahmen sie im Halbkreis vor dem Haus Aufstellung. Einige der Pferde rissen eine Wäscheleine herunter und begruben einige auf geregt gackernde Hühner unter den Hemden. Mehrere Männer hoben das Gewehr und zielten auf die Tür, als der dünne Farmer mit erhobenen Händen herauskam. Er hatte einen Stoppelbart, trug verdreckte Latzhosen und zwei verschiedene Schuhe. Oscar stand in den Steigbügeln, die Hände lagen verschränkt auf dem Sattelknauf. Er verkündete dem Farmer ihre Mission und sag te ihm, er solle sich Hut und Jacke holen, falls er so etwas besäße, und das Tier satteln, das er zum Reiten benutze, falls er eines habe, und das alles solle er schnell tun. »Ich glaube, ich sollte besser hier bleiben, Sir«, sagte der Farmer und zuckte etwas zusammen, als von hinten ein barfüßiges Kind mit dreckigen Wangen und entzündeten Stellen im Gesicht und an den Armen seine Knie umfasste und zwischen seinen Beinen hindurchschaute. Eine dünne Frau kam nach draußen und zog das Kind wieder ins Haus. »Falsch«, sagte der Richter. Er schaute die Männer zu seiner Linken, dann die zu seiner Rechten und schließlich wieder den Pachtbauern an. »Sie haben keine Wahl, Mister. Sie sind hiermit rekrutiert, mit uns eine üble Plage auszumerzen, die diesem Land die Seele herausreißt. Land, das Sie bepflanzen und beackern. Mit dem Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen. Was erwarten Sie? Dass wir die Drecksarbeit machen für Sie? Diese Schweinehunde da drau ßen muss man aufhalten, und, bei Gott, Sie werden uns dabei hel fen. Wenn Sie sich weigern, ist das Mindeste, womit Sie rechnen müssen, dass Sie nie mehr in dieser Gegend Land bestellen werden.« Als sie weiterritten, saß der neue Rekrut zum ersten Mal in sei nem Leben auf dem Rücken eines Pferdes. Sein Maultier, behaup tete er, habe ihm sein Grundbesitzer weggenommen. Kurz disku tierten sie, ob sie den Mann bewaffnen sollten oder nicht, bis Ardy 343
Grant erwähnte, dass der Bursche ja selbst ein Mitglied der Bande sein könne. Man wisse ja nie. Als sie auch noch ihre Witze darüber machten, ob sie ihn nun erschießen oder aufhängen wollten, und daraufhin der Mann ganz weiß im Gesicht wurde, sagte Oscar, er bürge für ihn, er kenne ihn als anständigen Menschen. Einer machte den Vorschlag, ihn vorn reiten zu lassen. Wenn sie aus einem Wald oder Haus beschossen würden, sollte die Bande als Erstes wenigstens einen von ihren eigenen Leuten erwischen. Sei dieser Trupp hier denn etwa nicht zum Wohl der Landbevölkerung unterwegs? Dann solle die Landbevölkerung ihn auch schützen. Vier weitere Farmen erbrachten sechs weitere Pachtbauern und vier ausgezehrte Maultiere. Der Zug der Männer fühlte sich nun hinter dem Schutzschild aus nervösen Einheimischen sicherer. Die Stimmung war bestens, es wurden jede Menge Witze erzählt, der Whiskey flog in Flachmännern zwischen den Reitern hin und her. Nach zwei Stunden erreichten sie die überdachte Brücke, die die westliche Grenze von Mitcham Beat markierte. Die Männer hörten auf zu reden und stiegen ab, um zu pissen, sich die Beine zu vertreten und den Pferden etwas Ruhe zu gönnen. Manche führ ten ihre Pferde hinunter ans Wasser und ließen sie saufen, andere schauten nur ängstlich zu den Bäumen auf der anderen Seite des breiten grünen Flusses. Das war das Land, das jeder unter dem Namen Bear Thicket kannte. Einer sagte, dass sie das Dickicht einfach anzünden sollten. Das Feuer würde sich dann schon seinen Weg bis zu Toochs Laden bah nen. Anzünden und einfach den Flammen hinterher. Denen mal zeigen, was Hölle, was ein wirklicher Höllenschlund ist. Zu feucht, warf Ardy Grant ein. Oscar war auf dem Pferd sitzen geblieben. Der kalte Wind ver wehte die Atemwölkchen vor seinem Mund und schnitt in seine Wangen. Die Beine lagen unter dem langen Mantel. Er nahm die Kappe von seinem Fernrohr, zog es auseinander, hielt es sich vor ein Auge und schaute lange hindurch. Dann beratschlagten er, Ardy Grant und die Thompsons über das weitere Vorgehen − ob 344
sie durch das Dickicht reiten sollten, wo die Gefahr von Überfällen größer war, oder ob sie den Weg über Coffeeville nehmen und damit das Überraschungsmoment aufs Spiel setzen sollten. Sie ent schieden sich für den Weg durchs Dickicht und dafür, die Farmer vorzuschicken. Oscar ließ aufsitzen, kurz darauf donnerten die Hufe über die Brücke. Die Pferde kamen gut voran, und doch hatten die Männer den Eindruck, als sei das Bear Thicket hundert Meilen lang. Sie glaub ten, bei Nacht durch einen Canyon zu reiten. Hohlwege, zu beiden Seiten stockdunkel, wo Männer mit Gewehren lauern konnten, jedes Astloch ein pervers grinsendes Gesicht, jeder vorstehende schwarze Ast ein Gewehrlauf. Alle Reiter waren sich nur zu be wusst, dass jederzeit ihr Kopf oder ihre Brust ins Visier eines dieser todsicheren Schützen und niederträchtigen Bauern geraten konnte, Schurken, die schossen und, noch bevor der Qualm sich verzogen hatte, tief im Wald verschwunden waren, um woanders wieder aufzutauchen und wieder zu schießen. Witze waren jetzt nicht mehr zu hören, und mehr als nur einmal schoss ein nervöser Reiter ins verschlungene Unterholz und scheuchte doch nur eine Spottdrossel oder einen Fink auf. Oscar ließ anhalten und Ardy Grant ein paar ernste Worte an die Männer richten, dass sie, zum Henker, erst dann schießen sollten, wenn sie wüssten, worauf sie schossen, und dass dieses nervöse Geballere dem Feind nur ihre Position verrate. Dann ritten sie lärmend weiter. Waite und Macky ruhten sich aus. Sie saßen am Waldrand vor einer Senke, neben ihnen erstreckte sich ein abgeerntetes Baumwoll feld. Sie konnten nicht weit sehen, schienen aber die einzigen Lebe wesen zu sein. King wieherte, irgendetwas hatte ihn erschreckt. Sein Atem sah wie Nebel aus. Waite erhob sich von dem Baumstumpf und schau te hinunter in die Mulde, sah aber nichts. Kein lästiges Unterholz, soweit er erkennen konnte, nur abschüssiges, von nassen Blättern bedecktes Gelände. Alle paar Meter Bäume, zwischen denen sich 345
hellbraune ineinander verschlungene Kletterpflanzen spannten. Waite nahm das Pferd am Kopf und stieg langsam in die Senke hinunter. Sie entfernten sich immer weiter von der Straße. Er schätzte, dass sie inzwischen zwei Meilen hinter ihnen lag. Jede Meile mehr erhöhte ihre Chancen, lebend davonzukommen. Sogar sein Rücken fühlte sich inzwischen etwas geschmeidiger an, und so erschien es ihm wie ein besonders bitterer Zug des Schicksals, dass gerade, als sie unten in der Senke ankamen, zwei Männer aus dem Nebel auftauchten. Die beiden schienen keine dreißig Meter entfernt zu sein. Für einen langen bizarren Augenblick glaubte der Sheriff, dass ihm seine Augen einen Streich spielten − die Männer wirkten wie ein und derselbe Mann oder ein einzelner Mann mit seinem Spiegel bild. Sie trugen identische Latzhosen und Strohhüte, die gleichen bräunlichen Barte hingen wie Matten aus Virginiamoos auf ihre Baumwollhemden herunter. Sie hoben identische einschüssige Büchsen an die Schulter, beide mit der linken Hand, und jagten beide je eine Kugel an beiden Seiten von Waites Kopf vorbei. Er und Macky warfen sich flach auf den Blätterboden und kro chen hinter einen Sandhügel. Auch das Pärchen ließ sich auf den Boden fallen und schickte weiter eine Kugel nach der andern in ihre Richtung, wobei sie die einschüssigen Gewehre mit einer furchterregenden Geschwindigkeit nachluden. Waite gab ein paar Schüsse ab, hörte dann aber widerwillig auf. Er konnte es sich nicht leisten, Munition zu verschwenden. King!, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Das Pferd war verschwunden, wahrscheinlich war es während der Schießerei geflohen. Der Wald schien auf einmal sehr still zu sein, selbst der Tau tropfte nicht mehr. Waite schaute sich um. Der Nebel verzog sich − Pech. Er allein gegen zwei, da hätte er etwas mehr Deckung gut gebrauchen können. Er ließ seinen Blick langsam über das vor ihm liegende Gelände schweifen. Alles war ruhig, nichts, was ein Ziel hätte abgeben können. 346
»Mack Burke!« Eine Stimme von weiter unten. Näher, als Waite geschätzt hatte. »Bist du es?« »Mund halten«, flüsterte Waite. Er schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, sah aber nichts. Nur braune, mit Laub gefleckte Erde und Bäume. Dann glaubte er eine Bewegung zu sehen. Atemluft, die sich fast schon wieder verflüchtigt hatte. Hinter einem Baum. Er wartete. Einer der Kerle sprintete los, an einer Seite der Senke hinauf. Waite zielte, doch gerade als er abdrücken wollte, hechtete der Mann hinter einen schräg aus dem Boden ragenden Baum. Waite hielt das Gewehr weiter auf die Stelle gerichtet, aber dann sah er den Mann ein paar Meter weiter links. Er suchte eine passende Position, um sie ins Kreuzfeuer nehmen zu können. Sie saßen in der Falle, ganz einfach. Er veränderte seine Lage, um den sich bewegenden Mann im Schussfeld zu behalten. Gleich zeitig achtete er auf den zweiten, der sich, so seine Annahme, noch hinter dem Baum befand. Wieder sah er den Läufer, etwa zehn Meter weiter oben. Er schoss zweimal, traf aber nur Blätter und Bäume. Dann war der Mann weg. Etwas Spitzes stach ihm in die Wange. Erst glaubte er, getroffen worden zu sein, doch dann sah er, dass es nur Baumrinde war. Die Kugel war ganz in der Nähe eingeschlagen. Der Mann hinter dem Baum hatte Waites Position ausgemacht. »Wer ist das?«, flüsterte Waite. Der Junge lag auf dem Boden, schaute in die Ferne und zerrte an seinen Handschellen. »Huz und Buz Smith«, sagte er. »Gehören die zu Toochs Bande?« Macky nickte. Dann schüttelte er den Kopf. »Was jetzt?« »Ich weiß es nicht.« Waite flüsterte dem Jungen zu, den Kopf unten zu halten und sich nicht zu bewegen. Er selbst rollte sich zwischen einen umge stürzten Baumstamm und die Wurzeln eines Baums. Seine Ellbogen steckten in faulig stinkendem Wasser. Er war mit der Stelle zufrie 347
den, ein strategisch günstiger Punkt. Wenn sie keinen Angriff ver suchten. Es war auch besser, wenn zwischen ihm und Macky ein bisschen Abstand lag. Wenn sie angreifen sollten, würde er einen erwischen, da war sich Waite sicher. Die Truppe ließ das Dickicht schließlich hinter sich und ritt an einem Zaun entlang einen Hügel hinauf. Die ersten Reiter, die die Kuppe erreichten und auf der anderen Seite hinunterschauten, sahen den Klecks einer winzigen schiefen Hütte in der Landschaft. Der aus dem Kamin aufsteigende Rauch sah aus wie eine in den Himmel gezeichnete Linie. Also los, rief Oscar, worauf sie ihren nervösen Pferden die Peitsche gaben. Dreck spritzte durch die Luft, als sie dem Hof entgegensprengten. Drei Hunde liefen auf sie zu, einer wurde niedergetrampelt, die beiden andern machten sich mit eingezogenem Schwanz davon. Ohne dass jemand Befehl dazu gegeben hätte, preschten die besten Pferde als Erste in den Hof. Männer sprangen aus den Sätteln und marschierten mit gezogenen Pistolen über die Verandabohlen. Der Bruder des Schusters Wil kins trat die Tür ein. Sekunden später schleifte er einen kleinen kahlköpfigen Mann am Hosenboden hinter sich her. Der Schmied schlang ihm ein Seil um die nackten Knöchel und band das andere Ende am Knauf seines Sattels fest. Der Kerl saß im Dreck seines Hofes und schrie, dass er unschul dig sei. Ein Arm lag in einer Windel, die zur Schlinge umfunktio niert war. Zum Zeichen, dass er den Mund halten solle, hob Oscar eine Hand und fragte ihn nach seinem Namen. Er stotterte ihn hervor. Butch Reed. »Ardy«, sagte Oscar. »Als du dich hier draußen umgehört hast, was hast du da über einen Butch Reed herausgefunden?« »Er ist einer von ihnen«, sagte Grant und schob sich mit einem Finger ein Stück Kautabak in die Backe. Dann zog er den Finger aus dem Mund, wischte ihn am Hals seines Pferdes ab und zog den Handschuh wieder an. »Eins der übelsten Mitglieder der Hell-at the-Breech-Bande.« 348
»Das ist eine Lüge«, stammelte Reed und wedelte mit seinem gesunden Arm. Grant sprang blitzschnell vom Pferd, zog sein Messer aus dem Gürtel und drückte es dem Mann an die Kehle. »Sag noch einmal, dass ich lüge, und du erlebst deine eigene Hinrichtung nicht.« Oscar stieg ab und legte eine Hand auf Grants Schulter. Grant stieß Reed zu Boden. »Bist du ein Mitglied dieser gesetzlosen Bande?«, fragte Oscar. »Nein, Sir, nein.« »Hast du ihr Papier unterschrieben?« »Ich hab nie ein Papier unterschrieben, Sir.« »Und was ist hiermit?«, fragte Grant und zog ein schmutziges Stück Zeitungspapier aus der Jacke. Langsam faltete er es aus einander. »Hier steht’s: Butch Reed.« Das Gesicht des Mannes wurde noch weißer. »Ja, ich hab unterschrieben«, sagte er. »Ich musste, ich hatte keine Wahl. Sie hatten Gewehre und Pistolen, sie haben gesagt, dass sie mein Haus und meine Scheune anzünden und dass sie mir in den Bauch schießen.« Weinend redete er weiter. Sie hätten auch andere gezwungen zu unterschreiben, sie hätten sich in die Hand schneiden und mit dem Blut ihren Namen schreiben müssen. Viele in der Gegend seien für die Bande, aber nicht alle. Manche wollten einfach nur eine gute Ernte für ihre Familie. »Dieser Tag wird in Erinnerung bleiben als der, an dem sich die Gerechtigkeit durchgesetzt hat«, sagte Oscar und drehte sich um. Er stieg auf sein Pferd. »Diese Bande wird mit all ihren Mitgliedern ausgemerzt werden. Und Sie, Sir«, sagte er zu Reed, »Sie haben mit Ihrer Lüge Ihr Schicksal besiegelt.« Grant stieg auf. Sie gaben ihren Pferden die Sporen, und die Schreie des durch den Dreck geschleiften Reed gingen im Donnern der Hufe unter. Nur einige wenige, die am Schluss ritten und sich noch einmal umschauten, sahen, wie eine schwangere Frau und zwei kleine Mädchen auf die Veranda traten und hinter ihnen herschauten. 349
Sie ritten über ein Feld und hielten nach einem zum Galgen tau genden Baum Ausschau, sahen aber keinen und bogen nach links in einen schmalen nassen Weg ein, der zwischen zwei anderen Fel dern hindurchführte. »Ich glaube, wir sind falsch abgebogen«, rief Drake, der Anwalt. »Wir landen noch in Illinois.« Sie fanden einen mittelgroßen Amberbaum, der genau in der Mitte eines Feldes stand. An einem Ast hing eine Kinderschaukel. Ein paar Stare, die auf den höheren Ästen saßen, flogen davon. Der Baum sah aus, als ob er stabil genug für das Gewicht eines Mannes wäre. Doch als sie sich in den Dreck knieten, um dem Mann die Schlinge um den Hals zu legen, stellten sie fest, dass er schon tot war. Ein Pferdehuf hatte ihm den Schädel eingetreten. Sie hievten ihn trotzdem in den Himmel und ließen ihn da hängen. Als Zeichen für das, was noch kommen sollte. Einer der Männer fing an zu brüllen und zeigte auf einen Rekruten, der im Galopp zu fliehen versuchte. Er trat dem Pferd, das man ihm gegeben hatte, mit aller Kraft in die Seiten. »Der warnt die andern, dass wir kommen«, sagte Virgil Thomp son. »Ardy«, sagte Oscar. »Ja, Sir.« Er stieg vom Pferd und zog sein Gewehr aus der Scheide. »Nicht schießen«, sagte einer der anderen Farmer. Er hüpfte von seinem Maultier. »Das ist der Cousin von dem, den ihr gerade auf gehängt habt.« Als habe er nicht gehört, schlug sich Grant den Hut vom Kopf, setzte ein Knie auf den mit hohem Farngestrüpp überwucherten Boden, spannte den Hahn und zielte. Er hielt kurz inne, wischte sich einen Schweißtropfen von der Wange und zielte erneut. Der fliehende Mann schien außer Schussweite zu sein. Grant schoss. In der Ferne ging ein Ruck durch den Körper des Reiters, dann kippte er seitlich vom Pferd. Die Beine stießen einmal in die Luft, danach hatte das Feld den Mann verschluckt. Zwei Männer wur 350
den losgeschickt mit der Order, das Pferd einzufangen und den Mann liegen zu lassen. Dann drängten sie weiter. Bald lag das flache Ackerland hinter ihnen, und sie ritten einmal mehr an einem Kiefernwald entlang durch ein Gelände, das anstieg und wieder abfiel. Sie ließen den Wald hinter sich, durchquerten weitere Felder und stießen schließlich auf eine winzige Hütte. Daneben stand eine Speisekammer, die über eine Wasserquelle gebaut war, dahinter ein eingezäunter Schuppen. Die Hütte war leer, aber die Asche im Kamin war noch warm und die Kaffeekanne halb voll. Sperrt die Augen auf, sagte Oscar. Die sind noch in der Nähe. Schaut in die Bäume. Zwei Männer wurden mit der Anweisung zurückgelassen, jeden festzunehmen, der vorbeikam. Der Rest ritt weiter. Genau eine halbe Stunde später sah Ardy Grant ein reiterloses Pferd auf sie zugaloppieren. Er hob die Hand, und die Menge der vorwärts drängenden Männer und Pferde kam wie ein bremsender Zug nur langsam zum Stehen. Als das Tier immer weiter auf sie zulief, sagte Oscar plötzlich: »Mein Gott, das ist Billys Pferd.« Grant gab dem Richter die Zügel seines eigenen, stieg ab und ging langsam auf das verschreckte Tier zu, das schräg auf der Stra ße stand und mit dem Schwanz schlug. Er sprach leise, hob die Hand und bewegte sie ganz langsam auf Kings Kopf zu, nahm die herunterhängenden Zügel und rückte die Kandare zurecht. Wäh rend er dem Pferd über die Mähne strich, eine Karotte aus seiner Tasche holte und sie ihm ins Maul steckte, hörte er nicht auf zu reden. Ein paar Sekunden später führte er das Pferd zu Oscar und sagte: »Wir müssen davon ausgehen, dass sie den Sheriff umge bracht haben.« Oscar senkte den Kopf. Dann hob er ihn wieder. Während die Neuigkeit nach hinten weitergegeben wurde, rich tete sich jeder Reiter im Sattel auf. Manche nahmen den Hut ab. Stumm schauten sie sich an, stießen Flüche aus und bestätigten sich gegenseitig, dass sie im Recht waren mit dem, was sie hier drau 351
ßen taten. Sie sagten, das Unheil müsse jetzt endlich ein Ende haben. Heute noch. So könne man kein neues Jahrhundert be ginnen. Grant hatte sich wieder in den Sattel geschwungen, und mit Waites Pferd im Schlepptau galoppierten sie eilig weiter. Sie kamen zu einem Haus, Grant ritt sofort auf die Veranda zu und fing an, durch die Fenster zu schießen. Eine Frau schrie. Dann ein Mädchen. Die Thompson-Brüder rissen den Zaun nieder, ritten ums Haus herum und warteten an der Hintertür, wo Sekunden später die Familie ins Freie stürzte. Claudius Thompson zielte mit seiner langen Pistole auf den Farmer, der noch Rasierschaum auf den Wangen und am Hals hatte, und schoss ihm in die Brust. Seine Frau warf sich schreiend auf ihn. Mehrere barfüßige Kinder krabbelten unter die Veranda. Ein älterer Junge − er war vielleicht vierzehn oder fünfzehn − rührte sich nicht vom Fleck. Virgil Thompson zog eine blitzende Schrotflinte aus der Scheide, die am Widerrist seines Pferdes hing. Der Junge trat zurück an die Hauswand. Er schüttelte den Kopf. Einhändig ließ Thompson das Verschlussstück aufschnappen und überprüfte die Patronen. Dann ließ er das Gewehr wieder zuschnappen, hob es mit einer Hand an die Schulter und schoss dem Jungen in den Kopf. Ein Großteil der Truppe war schon unterwegs zur nächsten Farm, die am Horizont zu sehen war, als Oscar es schließlich schaffte, sein verschrecktes Pferd bis hinters Haus zu zerren. Er schaute zu dem toten Mann und dem toten Jungen und dann zu den Thompson-Brüdern. Niemand sprach. Die Frau schrie immer noch. Sie stürzte sich auf Oscars Pferd. Oscar stieß sie weg und sagte etwas zu ihr, das niemand verstand. Dann ein Gewehrschuss aus dem Innern des Hauses, die Kugel zer fetzte Virgil Thompsons leeren Ärmel. Die beiden Brüder hoben die Pistolen und feuerten in das Fenster, das nach innen explodierte. Sie gaben ihren Pferden die Sporen, ritten zur Seitenwand des Hauses und blieben schräg neben den Fenstern stehen. 352
»Schick jemanden rein«, sagten sie im Befehlston. Grant rutschte vom Pferd und rannte mit gezogener Pistole zur Seitenwand. Geduckt und grinsend − Oscar konnte es genau se hen − schlich er an der Wand entlang bis zur Hausecke und sprin tete dann zum Vordereingang. Er trat die Tür ein und ging schie ßend hinein. Eine Sekunde später war er wieder da. »Alles klar«, sagte er. Rauch quoll aus den Fenstern. Als sie sich wieder aufmachten, um den Rest der Truppe einzuholen, schlugen die ersten Flammen aus der Haustür, und die Kinder krochen hustend unter der Veranda hervor. Auf der anderen Seite des Feldes hatten einige Reiter der Truppe ein halbes Dutzend Kugeln in einen Mann gefeuert, mehrere abgemagerte Hunde erschossen und die Frau des Mannes und eine andere Frau in den Schweineverschlag getrieben. Es hatte leicht angefangen zu regnen. Eine der Frauen hielt ein schreiendes Baby im Arm. Oscar, dessen Gesicht inzwischen aschfahl war, ließ anhalten. Er stieg ab und gab Drake die Zügel seines Pferdes. Er schien etwas unsicher auf den Beinen zu sein. Schließlich schaute er auf den Mann herunter, der mit dem Bauch im Matsch lag und nichts in der Hand hatte als eine Zange. Er schaute zu den beiden Frauen, die im Schweineverschlag knieten. Das Baby schrie ohne Unter brechung. »Schaff einer die Frauen da raus«, sagte er. Der Barbier schob seine Pistole in die Hosentasche und ging los, um den Befehl auszuführen. Als er sich aber dem Verschlag näherte, schreckten die Frauen zurück und umklammerten sich und das Baby. »Bevor ihr einen Mann erschießt, müssen wir ihn verhören«, sagte Oscar. »Ich will kein Massaker unter meinem Kommando.« »Das hast du schon«, sagte Virgil Thompson. »Im Krieg«, fügte Claudius Thompson hinzu, »ist so etwas manchmal notwendig.« 353
Oscar schaute Grant an. »Zeig mir mal die Liste, Ardy, mal sehen, ob der hier draufsteht. Wenn nicht ...« Weiter kam er nicht. Östlich von ihnen wurde geschossen. Viel leicht eine halbe Meile entfernt. Grant wandte sein Pferd in die Richtung und stieß einen Schlachtruf aus. Andere brüllten ebenfalls. Oscar schaute wieder die Frauen in dem Verschlag an. Beide weinten, das Baby war mit Schlamm bespritzt. »O mein Gott«, sagte er. Die Straße schlängelte sich in einen Wald. Der Trupp ritt etwa eine Viertel Meile hinein. Die Gewehrschüsse wurden lauter, sie kamen aus Norden. Grant ließ anhalten, suchte sich drei junge Männer aus und befahl den anderen, sich im Fünfzehn-MeterAbstand die Straße entlang aufzustellen. »Erschießt jeden, der rauskommt«, sagte er. Der Nebel war verschwunden, trotzdem konnte Mack außer Bäumen nichts erkennen. Waite starrte angestrengt ins Gelände, hob gelegentlich das Gewehr, schoss und schaute dann, ob er etwas getroffen hatte. Sie hörten andere Gewehrschüsse, von Westen. Waite schien sie aber nicht richtig wahrzunehmen. »Mack!«, rief Huz Smith. Die Stimme kam von unten. Er wollte antworten. »Alles in Ordnung, Junge? Hat er dir ‘n Knebel in ‘n Mund ge stopft?« »Kein Wort«, zischte Waite. Mack schaute nach oben zum Rand der Senke. Ihm war ein Licht aufgegangen. Mit dem Geständnis gegenüber Waite hatte er sich zwar von seinen Schuldgefühlen befreit, aber jetzt war er gefangen, waren seine Hände gefesselt, war er auf dem Weg zum Galgen. Nach einem Jahr der inneren Qualen war ihm die Aussicht darauf fast wie eine Erlösung erschienen. Doch nun flogen ihm die Kugeln um die Ohren, und er wusste auf einmal, was er am aller wenigsten wollte − sterben. Egal, ob durch eine Kugel, den Strang 354
oder sonst was. Er wollte leben. Was wäre passiert, fragte er sich, wenn er Tooch die Wahrheit erzählt hätte? Schlimmstenfalls hätte er ihn getötet. Das besorgten jetzt die Städter. Sicher, vielleicht hätte Tooch ihn getötet, gut möglich aber auch, dass er die Sache ganz anders gesehen hätte. Tooch betrachtete die Dinge oft anders als die meisten Men schen. Mack begann sich zu fragen, was wohl passierte, wenn Waite erschossen würde. Hier. Jetzt. Ob Macks Geständnis dann mit ihm starb. Ardy Grant und seine drei Männer schlugen sich in den Wald. Sie gingen in einer Reihe den Hang hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. Den unregelmäßigen, lauter werdenden Gewehr schüssen entgegen. Grant meinte, dass es sich um zwei, vielleicht sogar drei Schützen handele. Das nasse Laub unter den Füßen dämpfte ihre Schritte, wegen der dunklen Kleidung waren sie nur schwer auszumachen. Als das Schießen aufhörte, blieben sie ste hen. Als es wieder anfing, gingen sie weiter und sahen kurze Zeit später einen Mann in Latzhose, der hinter einem Baumstamm lag. Er hatte den Hut abgenommen, der jetzt neben seinem Ellbogen im Laub lag. Grant hob das Gewehr, zielte auf den Rücken und drückte ab. Auch die anderen Männer schossen. Der Kerl zuckte und lag dann still da. Als er noch einmal zuckte, schossen sie wieder. Nachdem das Echo verhallt war und sich der Rauch verzogen hatte, rief Grant: »Wer ist da?« »Sheriff Billy Waite«, kam die Antwort. »Mit einem Gefangenen.« »Alles klar, Sheriff«, rief Grant. »Wir haben den Dreckskerl für Sie erledigt. Ich bin’s, Ardy Grant.« »Hinter mir ist noch einer«, rief Waite. Grant gab Anweisung, zwei seiner Begleiter sollten den Sheriff und seinen Gefangenen zur Truppe zurückbringen, mit dem drit 355
ten Begleiter würde er sich auf die Jagd nach dem andern Mann machen. »Wir laufen jetzt durch«, rief er Waite zu. »Nicht schießen.« Waite war erleichtert und besorgt zugleich, als er sich durch Brombeer- und Heidelbeersträucher den Weg zur Straße bahnte. Er konnte schon die Bewegungen und Farben von Männern auf Pferden sehen, konnte leise Stimmen hören, das Quietschen von Leder, wiehernde und schnaubende Pferde. Einer Klemme war er entkommen, doch jetzt steckte er in der nächsten − der heikleren, weil er es nun mit Freunden zu tun hatte. Bei Feinden wusste man wenigstens, auf wen man zielen musste. Die beiden jungen Männer, Parvin, der Assistent des Zeitungs verlegers, und ein Landvermesser namens Brady, schleiften Huz Smiths Leiche an den Armen durch den Wald. Waite trug Smiths Gewehr, seine beiden Pistolen und ein Bowie-Messer. Mack ging neben Waite, die Hände gefesselt, so schweigsam wie immer. Damit die wahrscheinlich nervösen Männer oben auf der Straße nicht gleich das Feuer eröffneten, machte sich Waite schon von weitem durch lautes Rufen bemerkbar. Mehrere Männer stiegen ab, als sich Waite und die beiden Städ ter die langen, scharfen Dornen aus Kleidung und Haaren zupften und die Ärmel abklopften. Waite zog sich einen braunen Dorn aus dem Unterarm. Mack sah verängstigt aus, er kümmerte sich nicht um das Gestrüpp und die Blätter, die an seiner Kleidung und in seinen Haaren hingen. Als Waite ihn so sah, musste er daran denken, was die Alten immer sagten: Triffst du einen Menschen mit Blättern oder Zweigen in den Haaren, könnte er ein Gespenst sein. Mehrere Männer standen um Huz Smiths Leiche herum. Sein Hemd war aus der Hose gerutscht, ein Schuh fehlte. Parvin und der Landvermesser erstatteten Oscar und den ande ren Bericht. Dieser Mann hier tot, ein weiterer geflohen, Sheriff samt Gefangenem befreit. 356
Waite hätte sich jetzt gern irgendwo hingesetzt, tat es aber nicht. Er schaute in die verbissenen Gesichter von Oscars Männern. Viele kannte er, er plauderte mit ihnen auf der Straße, saß in der Kirche neben ihnen oder hatte beruflich mit ihnen zu tun. Der Leichen bestatter, ein Angestellter, der Apotheker. Sogar der Zahnarzt war dabei. Waite graute es. Das war keine rechtmäßig rekrutierte Trup pe von Deputys, sondern ein wütender Lynchmob. Oscar kam zu ihm, und die beiden schauten sich an. Waites Jacke war zerrissen, das Gesicht verschrammt und schmutzig, Hose und Schuhe nass, an den Ellbogen klebte Matsch. Oscar schaute ihn besorgt an. Waite war überrascht, dass seinem Cousin diese hochdramatische Geschichte keinen Spaß zu machen schien. Irgendetwas musste passiert sein. »Tag, Oscar«, sagte er und schüttelte ihm die Hand. »Ziemlicher Auftrieb.« »Ich bin froh, dass es dir gut geht, Billy«, antwortete sein Cousin. »Wir haben schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Dein Pferd ist uns zugelaufen, ein Stück weiter hinten. War völlig erledigt.« »Ich bin froh, dass ihr King eingefangen habt. Der ist genau so erleichtert wie ich, wenn wir endlich aus dieser Scheißgegend raus kommen.« Oscar sah enttäuscht aus. Er schaute sich kurz zu den Thomp son-Brüdern um. Waite hatte die beiden viele Jahre bewundert. Im Krieg hatten sie es bis zum Lieutenant gebracht, jetzt waren sie Miteigner der Bank. »Meine Herren«, sagte er. »Freut mich, dass Sie und Ihre Säbel dabei sind.« »Sheriff«, sagte Claudius. »Billy«, sagte Virgil. »Wir dachten, du kommst mit uns«, sagte Oscar. »Wir brauchen deine Erfahrung.« Waite schaute an seinem Cousin vorbei zu den Männern. Man che saßen im Sattel, einige standen neben ihren Pferden, andere behielten argwöhnisch die dunklen Bäume im Auge, wieder andere 357
schauten feindselig den Gefangenen an. Zwei gingen auf den Jun gen zu, der stumm am Rand des Abhangs stand. Mack hielt den Kopf gesenkt. Harry Drake stand jetzt dicht vor ihm und redete auf ihn ein. »Ich muss mal eben da rüber«, sagte Waite, nickte Oscar und den Thompson-Brüdern zu, ging über die Straße und legte seine Hand auf Drakes Schulter. »Na, Partner, was liegt an?« »Hab noch nie einen Toten gesehen, der auf seinen zwei Beinen steht«, sagte Drake. Waite fiel das Gewehr in der Hand des Anwalts auf. Die Pistole steckte im Hosenbund. »Na ja, noch ist er ja nicht tot«, sagte er aufgeräumt. »Erst mal bring ich ihn in die Stadt, ihr könnt ja inzwischen eure Arbeit hier draußen erledigen. Übrigens, der Junge könnte einen guten Anwalt gebrauchen. Kennst du einen?« »Billy«, sagte Virgil Thompson in seinem Rücken. »Du weißt, dass wir ihn nicht gehen lassen können.« Waite drehte sich zu dem alten Mann um und trat dabei wie zufällig zwischen Drake und den Jungen. »Osk«, sagte er ruhig. »Der Junge ist verhaftet, er steht unter meiner Bewachung. Ich bin jetzt für ihn verantwortlich. Ich hab ihm mein Wort gegeben. Was auch immer das für eine Arbeit ist, die du hier mit deinen Leuten erledigst, bring sie von mir aus zu Ende, aber versuch nicht, mich von meiner abzuhalten.« »Sheriff«, sagte Virgil Thompson. »Wie heißt der Bursche?« Waite sagte nichts. Er schaute Oscar an und versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Irgendetwas beunruhigte seinen Cousin. »Wie heißt er, Billy?«, wiederholte Virgil Thompson in fast sanf tem Ton. »Der Teufel soll mich holen, bevor ich euch den Namen sage.« »Billy.« Oscar beugte sich vor und flüsterte Waite ins Ohr: »Das Ganze ist außer Kontrolle geraten. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte, aber wir haben schon ein paar Unschuldige erschossen.« 358
»Das hast du zu verantworten, Osk. Und wenn sie den Jungen da erschießen, ist es noch einer mehr.« Ein Stück die Straße hinunter raschelte es. Drei Dutzend Ge wehre gingen in die Höhe. »Achtung, nicht schießen«, brüllte Ardy Grant. »Wir kommen jetzt auf die Straße.« Das Gewehr an den Körper gedrückt, stapfte er aus dem Gebüsch und schlug sich das stachelige Gestrüpp von den Ärmeln. Ein junger Mann trat direkt hinter ihm ins Freie. Während sie auf die Männer zugingen, zupften sie sich die Kletten von der Kleidung. »Morgen, Sheriff«, sagte Grant und blieb neben Oscar stehen. Quer über der Wange hatte er einen Schnitt. Das Blut war schon getrocknet. Waite nickte ihm knapp zu. »Nicht nötig, dass Sie sich dafür bedanken, dass wir Sie da raus geholt haben«, sagte er und schaute sich um. »Sie stecken wohl schon wieder in der Klemme, was?« »Hast du den andern erwischt?«, fragte einer. »Scheiße, nein. Der ist weggerannt wie ein gottverdammtes Huhn. Wir haben ihn nicht mal zu sehen gekriegt, nur gerochen haben wir ihn.« Er schaute sich den Toten an. »Na ja, wenigstens hab ich den erwischt.« Grant sah jetzt, dass hinter Waite Mack stand. »Ja, wen haben wir denn da? Wenn das nicht Macky Burke ist, Tooch Bedsoles kleiner Hausnigger.« Gemurmel, Hälse reckten sich in die Höhe. Schnell hatte der Name auch den letzten Mann erreicht. Burke. Sie fingen an, sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufzustellen und die Gewehre klarzumachen. Die noch im Sattel saßen, stiegen ab und stellten sich auch in die Reihe. Waite wurde flau im Magen, als er sah, wie sich das Exekutionskommando aufbaute. »Also dann«, sagte Grant. »Und verbindlichsten Dank, dass ihr auf mich gewartet habt.« Er griff in die Jacke und zog seinen Revolver hervor. 359
Waite blickte in die Gesichter der Männer und suchte den Augenkontakt mit jedem, den er kannte. Die meisten wichen sei nem Blick aus und schauten Grant an. Der ging jetzt zu den auf recht in ihren Sätteln sitzenden Thompson-Brüdern, hob den Kopf und sprach leise mit ihnen. Oscar schien etwas durcheinander zu sein. Er schaute zu Waite und Mack Burke. Waite griff in die Innentasche seiner Jacke, holte den Schlüssel für die Handschellen heraus und drückte ihn unbemerkt dem hin ter ihm stehenden Mack in die Hand. Während die Thompson-Brüder abstiegen, hielt Grant die Pferde am Kopf, dann gab er dem Burschen, der neben ihm stand, die Zügel. Die drei gingen zu Waite. »Schönen Dank, dass Sie uns den mitgebracht haben«, sagte Grant und gestikulierte mit der Pistole, dass Waite auf die Seite gehen solle. »Wir kümmern uns jetzt um ihn.« »Das kann ich nicht zulassen, Grant«, sagte Waite. »Was zum Teufel ...« Grants Augen traten fast aus den Höhlen. Er hob die Pistole, zielte neben Waites Schulter und schoss so dicht an ihm vorbei, dass Waite einen Augenblick nichts hörte. Waite zog seine Pistole aus dem Halfter und drückte Grant den Lauf in den Bauch. Grant blickte nach unten. Er wusste sofort, was passieren würde. Die Haut spannte sich über den Gesichtsknochen und zog die Ohren nach hinten. »Nicht«, sagte er. Dann drückte Waite ab. Mack hörte nichts. Es gab eine Explosion, und er wurde halb herumgeschleudert. Der Junge versuchte, den Arm zu bewegen, aber es ging nicht. Eine Kugel hatte ihn getroffen, das war ihm klar. In die linke Schulter. Er hatte Angst davor, den Arm anzuschauen, tat es aber trotzdem. Der Arm blutete, Mack war vollkommen taub. Zwar spürte er seine Hand nicht, aber er wusste, dass die Finger den Schlüssel noch festhielten. Er hörte jemanden stöhnen und fragte sich, ob er es selbst war. Dann setzte er sich auf die Straße. 360
Das Nächste, was Waite bewusst wahrnahm, war, dass er auf Grant hinunterschaute. Der lag im Sand der Straße, hielt sich den Bauch, hustete und übergab sich würgend. Er schaute mit verwirrten Au gen zu Waite hoch, das Blut lief ihm aus den Mundwinkeln. Dann krümmte er sich wieder würgend zusammen, fiel zurück auf den Rücken und wälzte sich wie von religiöser Ekstase befallen. Er bog den Rücken durch, trat mit den Hacken in die Erde und schob sei nen Körper bis auf die andere Straßenseite. Betreten schweigend machten die Männer Platz. Einige hatten die Waffe gezogen für den Fall, dass Grant nicht allein abtreten wollte. Die meisten schienen Waite und den Jungen völlig vergessen zu haben. Waite hielt zur Sicherheit die Pistole auf die Thompson-Brüder gerichtet. Die beiden starrten Grant an, der jetzt auf dem Bauch lag und einen steten Strom an Flüchen ausstieß. »Scheiße, gott verdammte Scheiße ...« Als er sich wieder auf den Rücken wälzte, leuchtete die gesamte Hemdbrust knallrot. Er hielt jetzt eine andere Pistole in der Hand, eine Derringer, die Waite in dem Augenblick sah, als Grant sie aus dem Stiefel zog. Bevor Grant sie auch nur in seine Richtung bewegen konnte, schoss Waite. Grants linkes Auge verschwand in einem schwarzen Loch. Er lag still da. Oscar schaute auf ihn hinunter. Die linke Gesichtshälfte war blutrot. »Herrgott, Billy.« Als hätte sein Gehirn einen Aussetzer gehabt, zog Oscar erst jetzt einen seiner beiden Revolver und hielt ihn schief in Richtung Bäume. Es kostete Waite Willenskraft, seine Finger zu entkrampfen. Die Pistole war zwar schwer, aber sein Arm fühlte sich so leicht an, als könnte er von allein davonschweben. Die Spannung löste sich allmählich. Waite fiel ein, dass der Junge getroffen war. Er schaute sich um. Macky saß mit den Beinen über kreuz auf dem Boden. Er war wie betäubt. Eine Schulter blutete. Waite schaute wieder nach vorn zu den Männern, die in einer langen Reihe auf der anderen Straßenseite standen. Er wusste, dass er nur wenig Zeit hatte, um das Heft in die Hand zu nehmen. 361
»Ihr wisst jetzt genau, was passiert, wenn noch einer versuchen sollte, den Jungen zu erschießen«, rief Waite. »Das gilt auch für euch, Virgil und Claudius. Auch für dich, Harry. Und für dich, Oscar.« Mehr Namen fielen ihm nicht ein, sonst hätte er jeden einzelnen Mann mit seinem Namen angesprochen. Er zeigte ein fach nacheinander auf jeden und sagte: »Und für dich und dich und ...« Oscar ging neben Grant in die Knie und durchsuchte seine Taschen. Vorsichtig, damit er sich nicht mit Blut besudelte. Er fand etwas, das aussah wie eine Zugkarte, und das er ziemlich lang anstarrte. »Was ist das?«, fragte einer. »Nichts«, sagte Oscar und steckte die Karte schnell ein. Er suchte weiter und zog schließlich das Blatt heraus, von dem Grant die Namen abgelesen hatte. Er faltete es auseinander und zerknüllte es gleich wieder. »Da steht kein einziger Name drauf«, sagte er. »O Gott, Billy. Was habe ich getan?« Sie standen abseits von den andern. »Ein paar Leute getötet, die vielleicht unschuldig waren«, sagte Waite. »Nein«, sagte sein Cousin. »Der erste Kerl hat gesagt, dass er das Papier unterzeichnet hat. Und Ardy, der hatte das Papier ...« »Osk«, sagte Waite. »Du hast später noch jede Menge Zeit, das alles zu sortieren. Vergiss das jetzt erst mal. Im Moment ist was anderes wichtig: Halt den Mob da in Schach, sonst passiert noch Schlimmeres.« »Das kannst du besser«, sagte Oscar. »Dir vertrauen sie. Den Respekt vor mir, den haben sie verloren. Kann ich ihnen nicht ver denken.« Waite wusste, dass er es konnte. Er konnte sie umstimmen und dazu bringen, nach Hause zu reiten. Und wenn er noch jemanden dafür erschießen musste. 362
Aber wie viele waren noch da draußen, wie viele Mitglieder der Hell-at-the-Breech-Bande gab es noch? Wahrscheinlich würden sie auf den Tod von Lev James und dem einen Smith-Bruder mit noch tollwütigeren Rachegelüsten antworten. Vielleicht kämen sie in die Stadt oder warteten − wie bei Anderson − an der Straße auf Opfer. Wer weiß, wen sie noch alles erschießen würden. Vielleicht ihn oder Sue Alma. »Einverstanden«, sagte er zu Oscar. »Ich habe jetzt das Kom mando. Du tust genau, was ich sage.« Sein Cousin nickte. »Danke, Billy.« »Wir reiten jetzt zu Bedsoles Laden und holen uns Tooch Bed sole. Dann kümmern wir uns um die andern. Aber wir erledigen das nicht im Stil eines Mobs. Keine Lynchjustiz, verstanden?« »Sag mir einfach, was ich tun soll.« Waite stand auf der Straße, ließ jeden Mann die rechte Hand heben und schwor sie alle als Deputys ein. Er sagte, sie dürften nur auf seinen Befehl schießen oder wenn sie selbst beschossen wür den. Dann sagte er ihnen die Namen der Männer, von denen er wusste, dass sie schuldig waren, und erklärte, dass sie sich um diese Männer und nur um diese kümmern würden. Und schließlich sagte er ihnen noch einmal, dass er den Mann, der Macky Burke anrühre, erschießen werde. Bevor sie losritten, sorgte er noch dafür, dass Mackys Schuss wunde versorgt wurde. Sie war nicht schlimm, Grant hatte ihm nur ein kleines Stückchen Fleisch aus der Schulter geschossen. Waite frag te Mack, ob er sich gut fühle, und er antwortete: Ja, schätze schon. »Danke«, sagte er. »Damit würde ich noch ein bisschen warten«, meinte Waite. Schließlich stiegen sie auf, formierten sich und setzten sich Rich tung Osten zu Tooch Bedsoles Laden in Bewegung. War Haskew, Kirk James und William Burke hatten eine elende Nacht im Wald hinter sich. Der Versuchung von Kirks Krug hat ten sie lange widerstanden, erst als ihnen zu kalt wurde, machten 363
sie sich über ihn her. Schließlich fanden sie auch noch ein trocke nes Plätzchen, wo sie sich auf den Boden setzen und den Morgen abwarten konnten. Als die ersten Sonnenstrahlen anfingen, den Nebel aufzulösen, hatten sie wider besseres Wissen ein kleines Feuer gemacht und waren auf bestem Wege, betrunken zu werden. Sie stritten sich, was sie als Nächstes tun sollten. War Haskew wollte zum Laden zu rückgehen, Kirk wollte abhauen. Nur weg. Jeder auf eigene Faust. William schwankte, je nachdem, wer gerade das Wort führte. Als zwei Ponys zusammenstießen und ihre Reiter abwarfen, muss te die Truppe eine Pause einlegen. Sie befanden sich auf einem wei ten Feld, das von dichtem Kiefernwald umgeben war. Eins der Ponys hatte sich ein Bein gebrochen und musste erschossen wer den, einer der Reiter hatte sich die Schulter ausgekugelt. Während zwei Männer versuchten, das Gelenk wieder einzurenken, meldete einer der Wachposten, dass jemand kam. Es waren vier, alle bewaffnet. Ein Pferd und drei Maultiere bewegten sich im Schritttempo am Waldrand entlang. Der Anfüh rer saß auf einem edlen Rotschimmel und hatte ein weißes Taschentuch an den Lauf seines Gewehrs gebunden. Feiner kalter Regen fiel in winzigen Perlen auf die Schultern der Männer. »Sie wollen verhandeln«, sagte Virgil Thompson, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Oscar nahm die Kappe von seinem Fernrohr, zog es auseinander und schaute hindurch. Dann gab er es Waite. »Der vorn, das ist Tom Hill«, sagte er. »Wer sind die andern?« »Kenne ich nicht.« Waite sagte, sie sollten sich nicht vom Fleck rühren, ritt allein los und traf in der Mitte des Feldes mit Hill zusammen. »Billy Waite«, sagte Hill. »Was zum Teufel treibt ihr hier? Ihr wütet wie die Reiter der Apokalypse, ihr bringt unschuldige Men schen um.« 364
»Wenn man uns nicht dazu zwingt, wird es keine Toten mehr geben«, sagte Waite. »Ich habe jetzt das Kommando. Die Leute da hinten sind meine Deputys, wir werden der Hell-at-the-BreechBande den Kopf abschlagen. Ich weiß, wer dazugehört und wer nicht.« Er zog die Pistole und richtete sie auf Hills Kopf. »Wie hei ßen die drei Männer?« Hill richtete sich im Sattel auf. Er schaute sich zu den dreien um, deren Schrotflinten in ihre Richtung zeigten. Dann hob er die Hand, um sie zurückzuhalten. Schließlich nannte er Waite die Namen. Waite ließ die Pistole sinken. »Keiner steht auf der Liste. Und Ihr Name auch nicht, Richter. Wenn ihr wollt, könnt ihr mit uns reiten.« Hill schaute an Waite vorbei zur Truppe, die wie eine vibrierende schwarze Rauchwolke aussah. »Mit euch reiten?« Hill schaute ihn ungläubig an. »Nach allem, was ihr in unserm Bezirk angerichtet habt?« »Ja«, sagte Waite. »Entweder seid ihr für uns oder gegen uns.« Als die Truppe sich wieder auf den Weg machte, Bedsoles Laden entgegen, hatte der Regen aufgehört, und sie waren vier Mann mehr. Mack ritt außen neben dem Sheriff, am Rand des Mobs. Er war etwas benommen, aber der Schlüssel lag fest in der rechten seiner gefesselten Hände. Die Männer ritten mit den Gewehren und Schrotflinten in der Hand, ihre Blicke schweiften argwöhnisch über die Felder. Den Gesprächsfetzen, die Mack aufschnappte, entnahm er, dass die Männer erwarteten, von den Bäumen her beschossen zu werden. Auch er schaute zu den Bäumen, allerdings fürchtete er, dass Toochs Männer keine Chance hätten, wenn sie diese Taktik wählten. Der Nebel, der dicht über dem Boden schwebte, sah aus wie Rauch, der aus dem schwelenden Herz der Erde aufstieg. Mit seinem Gewehr, aber ohne Munition, kletterte Buz Smith den glit schigen Hang hinauf und schaute vom Waldrand zum Laden hinun 365
ter. Der Kamin rauchte, sonst war nichts zu sehen. Er lief über das Krocketfeld, vorbei an den vom Wind umgewehten Toren, und ging durch die Hintertür ins Haus. Tooch stand vorn am Fenster und schaute hinaus. Als er sah, dass Buz allein war, runzelte er die Stirn. »Wo ist dein Bruder?« Buz zuckte mit den Achseln. Er war tropfnass, überall hatte er Schrammen. Er nahm den Hut ab, ging zum Ofen und hielt die Hände drüber. Das Gewehr behielt er unter dem Arm. »Was ist passiert?«, fragte Tooch. Buz gestikulierte, wie Tooch es schon hundertmal gesehen hatte, und trotzdem verstand er nichts. »Verdammt, was soll das heißen?«, fragte er. Der Stumme wackelte mit den Händen, fuchtelte mit den Ar men, stampfte mit den Füßen, zählte mit den Fingern. »Haben sie Huz geschnappt?« Buz nickte und zuckte dann mit den Achseln. »Du weißt es nicht?« Er nickte. »Wer war das?« Achselzucken. »Wie viele?« Achselzucken. »Hast du den Jungen gesehen?« Nicken. »Wo?« Er zeigte nach Westen. So ging es eine Zeit lang weiter. Buz trat schließlich zum Post schalter, nahm ein Blatt Papier und einen Stift und malte ein Strichmännchen mit einem Stern auf der Brust. »Tom Hill? Der Friedensrichter?« Kopfschütteln. »Billy Waite?« Nicken. Er malte ein kleineres Strichmännchen. »Mack?« 366
Nicken. Er malte noch zwei Figuren, deutete auf sich selbst und dann auf eins der Männchen. »Du und Huz?« Ja. Er malte, wie sie beide im Wald waren, und dann drei andere Männer, die sich von hinten an sie heranschlichen. »Wer war das?« Achselzucken. Tooch schaute wieder aus dem Fenster. »Wenn’s nur drei sind, kein Problem. Aber wenn’s mehr sind. Glaubst du, dass noch mehr da draußen sind?« Achselzucken. Tooch hatte auf dem Ladentisch mehrere Pistolen bereitgelegt. Er nahm eine Winchester und überprüfte die Patronen. Dann ging er wieder zum Fenster. Er fragte Buz, ob er Hunger habe. Buz nick te. »Nimm dir was«, sagte Tooch und deutete auf ein Regal. Buz legte seine Pistole auf den Ladentisch, holte sich erst Patronen, die er in Sechserhaufen daneben legte, und schnitt sich dann akkurate Käsevierecke zurecht, die er auf Cracker schichtete. Tooch ging zwischen den Regalen auf und ab. »Wo zum Teufel sind War und die andern?«, fragte er. Buz kaute und zuckte mit den Achseln. »Verdammt, ich hab gesagt, sie sollen bis zum Morgengrauen zurück sein. Und jetzt ist es schon ewig hell.« Er ging wieder nach vorn. Ein paar Minuten später drehte er sich abermals um und hol te eine Dose Bartwichse aus einem Regal. Er schraubte den Deckel ab, steckte zwei Finger hinein und fing an, die Spitzen seines Schnauzbarts zu zwirbeln. Dann stieg er die Leiter zu seinem Dach zimmer hinauf. Als er wieder nach unten kam, trug er ein sauberes weißes Hemd. Er holte sich einen Lappen und eine Dose Schuh creme, setzte sich ans Fenster und fing an, seine Stiefel zu wienern. Dabei schaute er mehr nach draußen als auf die Stiefel. Die Uhr hatte gerade zehn geschlagen, als er wieder auf die Straße blickte. Dann senkte er den Blick, schaute aber sofort wieder nach drau 367
ßen. Als er gesehen hatte, wie viele es waren, stand er auf. Er nahm eine Pistole vom Ladentisch und legte sie wieder hin. Dann schaute er Buz an. »Tja«, sagte Tooch. Buz schüttelte den Kopf und deutete zur Hintertür. »Ich lauf nicht weg«, sagte Tooch. »Sie haben nichts in der Hand. Wenn wir abhauen, wissen sie, dass wir schuldig sind, und kriegen uns.« Buz winkte zum Abschied, ging langsam zwischen den Regalen hindurch, nahm die Patronen und seine Pistole und verschwand immer noch kauend durch die Hintertür nach draußen. In der Ferne tauchte der Laden auf. Vielleicht hatten sie eine ganze Armee von Toochs Anhängern erwartet, was sie sahen, war aber nur der Laden, aus dem Rauch in den Himmel paffte. Mack hoffte, dass Tooch sich abgesetzt hatte, dass alle sich abgesetzt hatten. Ihm war bewusst, dass sein Bruder schon tot sein konnte, doch verdrängte er diesen Gedanken. Waite zog die Zügel an, blieb stehen und stellte sich mit seinem Pferd quer zur Straße, als Barriere zwischen dem Laden und seiner Truppe. Er schaute sich um. Die Männer wischten ihre Gewehre ab und überprüften die Patronenkammern ihrer Pistolen. Ein Klicken und Klacken, unterlegt vom Schnauben und Wiehern der Pferde. Einige der Männer krempelten die Ärmel auf, andere nahmen den Hut ab. Die Thompson-Brüder saßen Seite an Seite auf ihren Pferden, regungslos wie Soldatendenkmäler, die die Freitreppe eines Königspalasts flankieren. Der Apotheker hinter ihnen schien zu beten, andere starrten einfach geradeaus. Oscar steckte mit eingezogenen Schultern unter seinem wehenden Mantel, seine Gesichtszüge waren verbissen. Er schaute Waite an, als wäre er wieder ein kleiner Junge. »Alles hört auf meinen Befehl«, rief Waite. Er zog seine Pistole. »Ich dulde kein Massaker. Wenn einer aus der Reihe tanzt, egal wie, erschieß ich ihn eigenhändig. Habt ihr das verstanden?« 368
Zustimmendes Gemurmel. »Also los«, sagte er und wendete sein Pferd. Im Galopp ging es durch aufspritzenden Matsch zu Toochs Laden. Sie nahmen vor der Veranda Aufstellung. Ein Teil der Män ner stieg ab und schlich sich in die Schuppen zu beiden Seiten des Ladens oder lief ums Haus herum zum Hintereingang. Die anderen zielten auf die Vordertür, mit Gewehren und Pistolen, mancher hatte eine in jeder Hand. Tooch saß in der Falle. Wieder musste Mack an William denken. Hoffentlich war er in Sicherheit, hof fentlich war er unterwegs zu irgendeinem Ort außerhalb von Mit cham Beat. Er selbst und die Witwe könnten ihn später treffen und nach Westen gehen. Sich das flache Land im Mittelwesten anschauen, dann weiterziehen über die Berge und durch die Wüste bis zum warmen und ewigen Ozean, vom dem die Witwe ihm immer erzählt hatte. Während sie alle vor der Veranda warteten, standen er und Waite für einen Augenblick nebeneinander. »Mach einfach gar nichts«, sagte der Sheriff. »Schau nicht hin. Es dauert nicht lange.« Während die Männer gebannt auf den Laden starrten, versuchte Mack, mit Daumen und Zeigefinger den Schlüssel ins Schloss der Handschellen zu stecken. Waite bewegte King ein paar Meter weiter, stellte sich vor die Reihe der Männer und forderte mit lauter Stimme Tooch Bedsole und seine Männer auf, mit erhobenen Händen aus dem Haus zu kommen. Wenn sie sich nicht ergäben, würde das Haus in Brand gesteckt. Waite rief, sie hätten zehn Sekunden. Noch neun. Acht. Links und rechts vom Haus zündeten Männer die ersten Fackeln an. Sechs Sekunden, rief Waite. Dann passierte ein paar lange Sekunden nichts. Jede Sekunde hing schwer in der Luft und ging vorüber. Dann öffnete sich die Tür, und Tooch kam heraus. Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer. Sie hielten den Atem an, 369
dann stießen sie ihn wieder aus. Leder quietschte, Sporen klirrten, Metall klickte. Tooch hatte keine Pistole in der Hand und trug keine Jacke. Jeder konnte sehen, dass er unbewaffnet war. Mack fragte sich, warum er so vor die Tür trat. Warum er nicht geflohen war. Warum er mit verschränkten Armen fünfzig Gewehren und Pistolen gegenübertrat. Mit glänzenden Augen musterte Tooch entspannt, fast freundlich jedes Gesicht hinter jeder Mündung. Als wollte er sich die Ereignisse rund um seinen eigenen Tod genau einprägen. Die handelnden Personen. Als er zu Waite kam, zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht. Mack schenkte er nicht mehr und nicht weniger Aufmerksamkeit als jedem anderen. Der Sheriff trieb sein Pferd vorwärts, es machte ein paar Schrit te und blieb direkt vor der Veranda stehen. »Tooch Bedsole«, sagte er. »Mein Vorname ist Quincy«, sagte Tooch. »Wir wissen, dass Sie der Anführer einer Bande namens Hell-at the-Breech sind«, sprach der Sheriff weiter. »Unter Ihrem Kom mando standen Leute wie Lev James. Wir wissen, dass Sie Raub überfälle und andere Verbechen begangen haben. Wir wissen, dass Sie für die Morde an Joe Anderson und Ernest McCorquodale und den versuchten Mord an Shorty Owen verantwortlich sind.« »An wem?« Außer einer gehobenen Augenbraue bei der Nen nung von Shorty Owens Namen blieb Toochs Gesicht reglos. »Das ist ein Freund von mir«, sagte Waite. »Er befindet sich in meiner Obhut. Mit ein paar Schrammen am Hals und einer wahn witzigen Geschichte.« Aus schmalen Augen betrachtete Tooch die Männer, die vor ihm standen. Mack musste an das andere, längst vergangene Treffen denken und begriff, dass Tooch verloren hatte. Er wunderte sich, dass Tooch das anscheinend nicht begriff. »Leugnen Sie, etwas über diese Vorfälle zu wissen?«, fragte Waite. »Ja, das tue ich«, sagte Tooch. 370
»Sie leugnen, etwas über den Tod von Joe Anderson zu wissen?« »Ja.« »Sie leugnen, etwas über den Tod von Ernest McCorquodale zu wissen?« Tooch machte einen entspannten Eindruck. Er sagte: »Ich bin unschuldig. Keiner der Vorwürfe stimmt, und wenn Sie noch ande re haben, stimmen die auch nicht. Ich bin Ladenbesitzer und ein gesetzestreuer Bürger, nichts weiter. Ich kenne niemanden, der gegen Gesetze verstoßen hat. Über den Tod von Ernest McCor quodale weiß ich nichts. Er hatte genug Feinde, der Dreckskerl, so viele Familien, wie der auf die Straße gesetzt hat. Wird wohl ein paar Leute geben hier draußen, die ganz froh sind, dass es ihn erwischt hat. Aber außer was Sie grade gesagt haben, weiß ich nichts. Über Joe Andersons Tod weiß ich nur, was man so redet. Und bei Shorty Owen kann ich nur sagen: nie gehört.« Gemurmel unter den Männern. »Lügner«, wurde gerufen. »Mörder.« »Du bist tot.« »Sie brauchen nur die Leute hier in der Gegend zu fragen«, sagte Tooch. »Dann wissen Sie, was für einen Ruf ich habe. Sie werden keinen finden, der was Schlechtes über mich sagt. Ich bin froh, dass sogar ein paar hier sind. Die können mich gleich verteidigen.« Er schaute Tom Hill an. »Unser rechtschaffener Friedensrichter zum Beispiel«, sagte Tooch. »Dem Wort dieses Mannes werdet ihr sicher glauben, Leute. Los, Tom, sag’s ihnen. Sag ihnen, was für einen Ruf ich habe.« »Ich kann dich weder für schuldig noch für unschuldig erklären«, sagte Hill. »Ich versuche hier bloß, unschuldige Menschen zu schützen und dafür zu sorgen, dass diese Mörder keine Kinder mehr umbringen.« Als ob er gar nicht zugehört hätte, schaute Tooch jetzt den Rie sen Jonesy Gray an, dessen Füße auf beiden Seiten seines Maul tiers fast den Boden berührten. »Sag’s ihnen, Jonesy. Hast du jemals gesehen, dass ich was gegen das Gesetz getan hab?« 371
Gray sagte nichts, sondern schaute nach unten auf seine Hände. Auf seinen Wangen leuchteten knallrote Flecken. Tooch wandte sich an einen der rekrutierten Farmer. »Lou«, sag te er. »Sag den Leuten, dass ich unschuldig bin.« Der Mann senkte den Kopf. »Du«, sagte Tooch zu einem andern. Und noch einem. Keiner trat für ihn ein. Dann rief er: »Mack Burke.« Alle Blicke fielen auf den Jungen. »Du hast über ein Jahr lang hier im Laden mit mir gearbeitet. Los, sag’s den Männern: Hast du gesehen, dass hier auf diesem Grundstück auch nur ein Verbrechen begangen wurde.« Macks Ohren glühten, er spürte den Schweiß unter seinen Augen. »Der Junge schweigt und spricht damit das Urteil«, sagte Waite. Mack schrie: »Nein.« Seine Stimme war schrill wie die eines Kin des. »Ich hab nie gesehen, dass er was Böses getan hat.« Mack wusste nicht, warum er das sagte, und er würde es sich später immer wieder fragen. Tat er es aus Mitleid, Schuld, Treue − oder schenkte er Tooch am Ende das Einzige, was er ihm geben konnte, nämlich den Beweis, dass dieser Mann immer noch Macht hatte, Menschen für sich einzunehmen? Waite schaute sich um. Die Lippen waren geschürzt, und die Augenbrauen krochen die Stirn hinauf. Die Verwunderung ließ sei ne Züge weicher erscheinen. Einer lachte, dann noch einer, und schließlich lachten sie alle − außer Mack, Waite und Tooch. Dann hörte es auf. Tooch sagte wieder etwas. Seine Augen lösten sich von Mack und wanderten weiter. Er fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. Als er fertig war, machte er es weit auf und ent blößte seine Brust. Nackt und flach. Schmal. Sehr weiß. »Ihr wagt es nicht, auf mich zu schießen«, sagte er. »Ihr alle repräsentiert das Gesetz. Ein Friedensrichter. Ein Sheriff. Und ohne jeden Beweis.« 372
Die Männer schauten zu Waite und warteten auf seine An weisungen. Die Büchsen, Schrotflinten und Pistolen waren bereit. Mack kam der Sheriff auf einmal sehr müde und alt vor. Er und Mack waren die Einzigen, die keine Waffe auf Tooch Bedsoles blas sen weißen Oberkörper hielten. Waite ließ sein Pferd langsam rückwärts trippeln und schob King zwischen zwei hinter ihm stehende Pferde. Tooch schüttelte den Kopf. Er hob einen Fuß, als wollte er einen Schritt zurück machen. »Feuer«, sagte Waite. So ein Geräusch wie von zwanzig, dann dreißig, dann fünfzig schießenden Gewehren und Pistolen hatte Mack noch nie gehört. Die Luft schien aufzuleuchten, zu glühen vor Feuer und Kordit, der Krach schien aus dem Innern seines Kopfes zu kommen. Toochs Hände schossen nach vorn, als wollte er ein Kind erschre cken. Im selben Augenblick fing er an zu zittern, als führte er irgend einen zappeligen Tanz auf. Der Mund stand offen, die Augen waren weit aufgerissen, die Hände immer noch ausgestreckt. Ein Finger verschwand, dann noch einer, in den Handflächen leuchteten grell rote Kreise auf, dann wurde er plötzlich wie von einem Windstoß nach hinten gerissen. Die Luft um ihn herum war roter Dunst. Die Arme zitterten. Die Fensterscheiben explodierten. Hemd und Hose flatterten, als steckten sie voller Fledermäuse, aus den Hosentaschen wirbelnde Papierfetzen schwebten zu Boden. Er stolperte nach hin ten gegen die Tür, taumelte schon fast tot wieder nach vorn in die Wand aus Kugeln und schwankte wieder zurück. Dann brach er zusammen. Die Männer schossen weiter. Schwarze Löcher klafften in seinen Fußsohlen, Papierschnipsel flatterten im Qualm. Aus den Holzdielen sprühten Funken, wenn die Kugeln auf Nägel trafen. Das Holz der Hauswand war zerfetzt, Glasreste hingen im Fens terrahmen. Der Kreis aus grell leuchtendem Blut um Toochs Kör per dehnte sich schnell aus, er zuckte nur noch, weil eine Kugel nach der andern in ihn einschlug. Etwas pfiff dicht an Macks Ohr vorbei. Vielleicht ein Querschläger. 373
Sie waren auf der Straße in östlicher Richtung gegangen und noch etwa eine halbe Meile vom Laden entfernt, als sie das Ge räusch trommelnder Pferdehufe hörten und abrupt stehen blie ben. William warf den leeren Krug weg. Sie stürzten sich ins schüt zende Gebüsch am Straßenrand, und im nächsten Augenblick donnerten mehr Pferde an ihnen vorbei, als sie jemals zuvor ge sehen hatten. Sie sahen Richter Oscar York, sie sahen den Sheriff, und sie sahen Mack Burke und dessen kalte, erschrockene Augen. »Was zum Henker ...?«, sagte War Haskew. Keuchend schlugen sie sich durch den Wald, warfen sich schließ lich am Rand des leeren Baumwollfelds auf den Boden und sahen von dort die Menge der Reiter und dahinter den Oberkörper von Tooch. Er stand knapp fünfzig Meter von ihnen entfernt auf der Veranda und sprach zu dem Mob. »Dein Bruder gehört zu denen«, sagte War Haskew verächtlich. »Nein«, sagte William und zeigte mit dem Finger. »Da, er hat keine Waffe, die müssen ihn geschnappt haben.« »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte War Haskew. »Abhauen, sofort«, sagte Kirk. »Gegen die Riesenhorde haben wir keine Chance.« »Der redet sich raus, wetten?«, sagte War Haskew. »Nein«, sagte Kirk. »Diesmal nicht.« Dann sahen sie etwas Merkwürdiges. Tooch knöpfte sein Hemd auf. »Was zum Henker ...?«, sagte Kirk wieder. Dann sahen sie, wie sich Toochs Lippen bewegten. Hören konnten sie nichts. Und dann fingen die Reiter an zu schießen. Tooch riss die Hände hoch, tanzte, taumelte zurück, knallte gegen die Tür, stolperte wieder nach vorn. Sie hörten nicht auf zu schießen. »Gott verdammt«, brüllte War Haskew und hob sein Gewehr an die Schulter. »Nicht«, sagte Kirk, aber War hatte schon geschossen. 374
Sie sahen Tooch nicht mehr. Die Pferde und die Männer auf den Pferden versperrten ihnen die Sicht. Auch William schoss jetzt. »Pass auf, dass du nicht Mack triffst«, brüllte er War zu. Kirk hatte sich schon aus dem Staub gemacht. »Feuer einstellen!«, schrie Waite denen zu, die, weil ihre Gewehre klemmten, später angefangen hatten zu schießen, und denen, die das Gewehrfeuer brauchten, um sich Mut zu machen. Eine Kugel pfiff an seinem Ohr vorbei. Waite schaute sich um und sah auf der anderen Seite des Feldes Rauch. »Wir werden beschossen«, brüllte er und zeigte in die Richtung. Er versuchte umzudrehen, stieß dabei jedoch mit King gegen ein anderes Pferd. Gerade hielt er nach dem Jungen Ausschau, als neben ihm mit einem dumpfen Geräusch eine Kugel in den Boden einschlug. Er wollte auf den Punkt jenseits des Feldes anlegen, aber King drehte sich wieder um. Auch andere Männer begriffen jetzt, dass sie beschossen wurden, und versuchten, ihre wiehernden Pferde in die andere Richtung zu lenken. Panik machte sich breit, beim Nachladen fielen ihnen immer wieder die Kugeln aus den Händen. Ein Mann, den Waite nicht kannte, schrie auf, fiel in den Dreck und umklammerte seine Schulter. Tom Hill und seine Freunde machten sich davon. Andere zogen eine zweite oder dritte Waffe und schossen wild in die Luft und in Richtung der Bäume. Die beiden Thompsons führten eine Attacke über das Feld an. Claudius feuerte mit seiner langen Pistole, der einarmige Virgil ritt mit gezogenem Schwert und den Zügeln zwischen den Zähnen neben ihm her. Waite hatte alle Hände voll zu tun, King zu beruhigen. Das Schie ßen hatte aufgehört. Die Thompson-Brüder warteten am Waldrand auf Verstärkung und nahmen dann die Verfolgung auf. Als Waite sein Pferd im Griff hatte, schaute er zu Oscar hinüber. Der starrte noch immer auf den in einer roten schmierigen Lache liegenden Tooch. Ohne dass Waite ihnen den Befehl gegeben hatte, steckten die Männer mit den Fackeln das Haus in Brand. Die Flammen fraßen 375
sich die Holzwände empor und erreichten das Dach. Aus dem Schornstein quoll Rauch. Etwas im Innern des Hauses zerplatzte, dann explodierte ein Fenster. Oscar stieg ab und versuchte, sein Pferd wegzuziehen. Er nahm den Hut ab und betrachtete das brennende Haus. »Mein Gott«, sagte er. Jetzt hatten auch die letzten Männer ihre Pferde wieder unter Kontrolle und ritten auf die andere Straßenseite. Der Zahnarzt kümmerte sich um einen Angeschossenen. Er schrie ihn an, dass er stillhalten solle. Ein anderer, den Waite nicht kannte, lag auf dem Rücken im Dreck. Anscheinend tot. Er hatte eine Wunde am Hals. Im Schritt bewegte er sich mit King auf den Rand des Feldes zu, wo die Män ner in den Wald vorstießen. Er schaute sich um. Nach Osten, dann nach Westen. »Macky«, sagte er. William und War Haskew hatten ihre Gewehre leer geschossen, bevor die Männer auf der anderen Seite des Feldes überhaupt merkten, dass sie angegriffen wurden. Ruhig luden sie nach. »So schlecht habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht geschossen«, sagte War Haskew. »Was?«, fragte William. Er hörte nichts mehr. Sie hoben die Gewehre für die nächste Salve. War Haskew kon zentrierte sich ausschließlich auf Sheriff Waite, der in ihre Rich tung deutete. Die Pferde des Mobs bäumten sich auf und bockten. Der Mann neben Waite fiel vom Pferd. William hatte zum dritten Mal nach geladen und fing wieder an zu schießen, als War Haskew ihm sanft eine Hand auf die Schulter legte. »Sie kommen«, sagte er. »Los, Junge, wir müssen weg.« »Wohin denn?«, brüllte William. Ein paar Männer zeigten in ihre Richtung, wo dichter Pulver dampf hing. William wedelte wie wild mit den Armen, um die Rauchschwaden vor seinem Gesicht zu vertreiben. 376
»Wenn wir jetzt nicht abhauen«, schrie War Haskew, »dann nie mehr.« Die Männer sammelten sich zur Attacke. Zwei alte Soldaten mit langen Haaren hatten das Feld schon halb überquert. Kugeln zer fetzten die Blätter und pfiffen durch die Äste. William hielt nach Mack Ausschau, konnte ihn vor lauter Rauch aber nicht finden. Vielleicht hatte sich sein Bruder ja auch absetzen können. William und War Haskew rannten zurück in den Wald. »Wir trennen uns«, rief War. William nickte, lief nach links einen sanft abfallenden Hang hinunter und steuerte den Teil des Waldes an, wo das Unterholz dichter war. Der Hut flog ihm vom Kopf. Die Füße machten klat schende Geräusche auf den Blättern. Als der Boden wie bei einer Treppe plötzlich steil abfiel, trat er ins Leere, stürzte und schlid derte auf Händen und Knien in einem Wirbel aus Blättern bis ganz nach unten. Er sprang auf und hastete weiter. Dicke gebogene Gestrüpparme ragten ihm in den Weg und schnappten nach seiner Kleidung. Die Pistole hatte er bei dem Sturz verloren. Er konnte sich darum jetzt nicht weiter kümmern. Der Weg verlor sich im Nichts. Er schlug sich durch einen Vor hang aus Virginiamoos, dessen Fäden sich wie wilde Lebewesen an ihn klammerten. Er lief weiter. Winzige Stacheln und Dornen steckten in seinen Wangen und im Hals. Ein Ast hatte ihm ins rechte Auge geschlagen, es blutete, er sah nur noch verschwommen. In der Seite spürte er einen stechenden Schmerz. Kalte Tränen zogen Linien durch den Schmutz auf seinen Wangen. In diesem Gelände waren die Pferde im Nachteil, und mit etwas Glück könnte er es ins Bear Thicket schaffen, wo sich keiner hineintraute, wenn er nicht unbedingt musste. Im Laufen, während er sich unter Zwei gen wegduckte und Schlingpflanzen auswich, versuchte er, sein Gewehr zu laden. Ein paar Männer waren bei Toochs Laden geblieben. Einige ver suchten, ihre blockierten Waffen wieder in Gang zu setzen, ande377
re hielten ihre Hüte in den verkrampften Händen und schauten nur ins Feuer. Zwei waren auf dem Baumwollfeld hinter einem ver schreckten Pony her. Oscar hatte seinen langen Mantel ausgezogen. Danach zerrte er sich auch noch die Handschuhe von den zit ternden Händen und ließ sie auf den Boden fallen. Als er sich den Hut in den Nacken schob, sah Waite, dass seine Haare schweiß nass waren. Waite machte sich an die Arbeit. Er kniete sich neben den Mann mit der Halswunde und suchte am Handgelenk nach dem Puls. Als er keinen fand, zog er ihm die Jacke aus und deckte ihn damit zu. Dem Mann, dem der Zahnarzt gerade die Oberschenkelwunde abband, drückte er die Arme auf den Boden. »Glück gehabt«, sagte Waite zu dem sich sträubenden Mann. »Die Schlagader ist nicht getroffen.« »Auf das Glück könnte ich gut verzichten«, stieß der Mann zwi schen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Schau mal, ob du irgendwo eine Flasche Whiskey findest«, sagte Waite zu Oscar. Zwei andere Zuschauer schickte er los, Bedsole von der Veranda zu ziehen, bevor ihn die Flammen erreichten. Sie banden sich Tücher gegen die dicken Qualmwolken vors Gesicht und gingen die Stufen hinauf. Waite sah, wie sie die Knöchel pack ten und anzogen und wie dann einer der beiden rückwärts stolperte und auf den Hintern fiel, weil das Bein, das er gepackt hatte, am Knie abriss. Der Mann schaute den nackten ausgefransten Unter schenkel an, dessen Fuß noch in Strumpf und Schuh steckte. Er hielt das Bein wie ein Stück Holz in der Hand, warf es schließlich zur Seite und glotzte Waite an. Der andere Mann ließ den Knöchel, den er in der Hand hielt, fallen und bückte sich vor. Erst glaubte Waite, dass ihm übel sei. Dann sah er, dass er ein blutgetränktes Papierbündel aus Bedsoles Tasche zog. »Das ist Geld«, rief er. »Du Scheißkerl«, sagte Waite, ging die Stufen hinauf und stieß den Kerl von der Veranda. Der Mann landete im Dreck, rappelte sich auf und schaute ihn wütend an. Dann stieg er auf sein Pferd 378
und ritt hinter den anderen her. Oscar kam auf die Veranda. Wegen der Hitze kniffen sie beide die Augen zusammen und starrten die Leiche an. Ganze und halbe Finger lagen herum, ein Stück Ohr lag neben dem Kopf, die Brust war eingefallen. Tooch Bedsole hatte kein Gesicht mehr, es war nur noch eine Masse aus Knochen, Haa ren und blutigem Matsch. Schleimige Fetzen, wahrscheinlich die Überreste seines Gehirns, klebten auf den Holzdielen. In der Schuhsohle des einen noch übrigen Fußes waren vier Löcher. Über all war Blut, sie standen mittendrin. So viel Blut, wie Waite noch nie gesehen hatte, grellrotes Lungenblut, fast schwarzes Blut aus den Eingeweiden, Blut in allen Rottönen. Das Blut verdorrte in der Hitze und warf Blasen. Oscar fing an zu würgen, so sehr stank es. Er kramte nach seinem Taschentuch und hielt es sich vor den Mund. Dann hörten sie Schüsse aus dem Innern des Hauses. Oscar sprang von der Veranda, doch Waite wusste sofort, dass es das Munitionslager war. Er ging die Stufen hinunter und knöpfte sich die Jacke auf. War Haskew rannte durch den Wald. Die Äste rissen an seiner Klei dung. Kugeln bohrten sich links und rechts von ihm in die Bäume und hinterließen kreisrunde Löcher in Blättern, an denen er gerade vorbeihastete. Er sah einen entwurzelten Baum, warf sich dahinter auf den Boden und schoss sein Magazin so schnell leer, wie seine Arme und der Bügelhebel es zuließen. Die Verfolger gingen in Deckung, und nach seiner letzten Kugel war der Wald einen Augenblick völlig still. Dann hörte er wieder ihre Pferde. Sah eine Mähne, ein Gebiss. Er sprang auf und rannte weiter, kramte im Laufen nach Patronen. Ein Knacken, und der Schaft seines Gewehrs zersplitterte. Sie waren jetzt auch vor ihm. Er konnte die Männer nicht mehr von den Bäumen unterscheiden. Sein Gewehr fühlte sich klebrig an. Er blickte auf seine Hand und sah, dass sie voll Blut war. Er löste sie langsam vom Schaft und hielt sie in die Höhe. Genau durch die Handfläche geschossen. Er wandte sich nach 379
Westen, in die Richtung, aus der er gekommen war. Pferde. Qualm. Wieder Schüsse. Dann sah er, wie direkt vor seinen Augen Blätter vom Boden aufwirbelten. Kirk James saß in einer Weihrauchkiefer, als sie ihn fanden. Er hatte sein Gewehr in der Hand und schrie, wenn sie ihn runter klettern und am Leben ließen, würde er nicht schießen. Er sagte, dass er einen Prozess wolle. Er sagte, dass er Amerikaner sei. Er ließ seinen Blick über die etwa zwanzig Pferde schweifen, die um den Baum herumstanden. »Einen oder zwei von euch nehm ich mit«, sagte er und zielte nach unten. »Ich hab mir schon zwei ausgesucht.« Mehrere Männer ließen ihre Pferde ein paar Schritte zurück treten und verrenkten die Hälse, um besser sehen zu können. Einer sagte, dass er sich vorkäme wie auf Waschbärenjagd. »Warum hat er eigentlich noch nicht geschossen?«, fragte ein Mann. »Wahrscheinlich hat er sein Gewehr nicht dabei«, mutmaßte ein anderer. »Oder er hat keine Munition mehr.« Sie zogen den Kreis enger. Dann schoss Kirk. Claudius Thompson saß aufrecht auf seinem Pferd und schaute verwundert. »Claudius«, sagte Virgil. Claudius fiel rückwärts vom Pferd und blieb tot liegen. »Ich hab’s euch gesagt«, rief Kirk. Die Männer fingen an zu schießen. Kiefernnadeln und Äste fie len auf sie herunter. Oben kniff Kirk ein Auge zu, leckte sich mit der Zunge über die Lippen und richtete sein Gewehr auf Virgil Thompson. Virgil Thompson fiel. Dann ein Geräusch wie explodierende Feuerwerkskörper. Die Luft füllte sich mit Rauch. Noch mehr Kiefernnadeln und Äste fie len herunter. Dann klapperte ein Gewehr mit dem Lauf nach unten durchs Geäst und blieb senkrecht im weichen Waldboden stecken. Ein Schuh fiel hinterher. 380
Bei der Jagd auf William benutzten sie zwei Hunde. Die Männer ließen sie los und beobachteten, wie sie in einem dunklen Loch unter einer Kiefer verschwanden, deren Stamm vor Urzeiten der Wind gespalten hatte. Die Männer schickten drei junge Freiwillige, alle neunzehn Jahre alt, in das vertrackte Geflecht aus Schling pflanzen. Unterholz, das so dicht war, dass den Jungen schon bald die Kleidung in Fetzen von den blutigen Gliedern hing. Als nach ein paar hundert Metern der erste Hund William erreichte, er-schoss er ihn. Wenig später erschoss er den zweiten. Die drei Verfolger, halb blind vom Gestrüpp und den Zweigen, die ihnen ins Gesicht schlugen, krochen auf den Knien vorwärts und kamen schließlich in Sichtweite des ebenfalls kriechenden William. Sie schossen, er erwiderte das Feuer. Aus zehn, fünfzehn Metern Entfernung lieferten sie sich ein halbstündiges Gefecht, bis ihnen die Munition ausging. William fragte sich, warum sie sich nicht verteilt und ihn ins Kreuzfeuer genommen hatten. Wenn er es bis zur anderen Seite schaffte, könnte er lebend davonkommen, überlegte er. Ardy Grant wachte auf. Er konnte sich nicht bewegen und nur mit einem Auge sehen. Das andere schien nicht mehr da zu sein. Über ihm ein hoher weißer Himmel, in den Äste mit Kiefernnadeln hineinragten, die im Wind schaukelten. Er hörte ein Brummen. Weit entfernt Gewehrfeuer. Er blinzelte, als eine Fliege über seinen Augapfel krabbelte. Er versuchte sich zu erinnern, wer auf ihn geschossen hatte. Oder warum. Nichts. Dann fiel es ihm ein: She riff Waite. Er fühlte nichts bei dem Namen. Er hatte keine Angst, was ihn beruhigte. Er hatte keinen Geruchssinn. Er schien weder Hände noch Finger zu haben. Keine Füße. Er hatte eine schwache Ahnung von seinen Zähnen, und er hatte großen Durst. Das war alles. Er würde schon wieder werden, dachte er. Er brauchte nur etwas Geduld. Ein Schatten fiel auf sein Gesicht, und er öffnete das Auge zum zweiten Mal. Es hätte eine Minute oder ein Tag vergangen sein 381
können. Er konnte sich nicht erinnern, diesen Jungen schon mal gesehen zu haben. Sommersprossen, etwa zehn Jahre alt, blondes Haar, das aussah, als hätte man es mit einem stumpfen Feuerstein gestutzt. Das Gesicht war dreckig, und er hatte noch zwei andere Jungen dabei. Der erste bückte sich und blies eine Fliege aus Ardys Auge und stupste ihm mit dem Finger gegen die Wange. »Spür’n Sie das?« Ardy versuchte, ihm mit dem Auge zu sagen, dass er nichts spürte. »Die hab’n Sie ganz schön fertig gemacht«, sagte der Junge. Er schüttelte den Kopf, allerdings nicht vor Trauer. Dann verschwand er kurz, und Ardy hörte wie von weit weg seine Stimme. »Ich stech Ihnen mit’m Messer ins Bein. Jetzt. Spür’n Sie das? Mann, das geht richtig tief rein. Fast bis zum Griff. Schätze, das Harte ist der Knochen.« Grinsend tauchte er wieder in Ardys Blickfeld auf. Anscheinend war viel Zeit vergangen, der Himmel war jetzt dunkler. »Hier«, sagte der blonde Junge und wedelte mit einem blutigen Ding vor Ardys Gesicht. »Das ist Ihr Schwanz. Hab ich grad abge säbelt.« Er hielt ihn so, dass Blut in Ardys Auge tropfte. Es schloss sich von selbst. Als er es das nächste Mal öffnete, sah er ein verschwommenes, matt glänzendes Sternenmeer. Plötzlich war ein Hund da, er spür te den Atem. Anscheinend leckte er ihm über die Wange. Dann Rufen und Fackelschein. Die blonden Jungen waren wie der da. Kichernd zogen sie ihn weg. Später bildeten sie einen Kreis um ihn und machten sich an ihn heran. Abwechselnd taten sie sei nem Körper etwas an und erzählten ihm, was sie taten. Er wusste, was es hieß, ein Junge zu sein. Er war selbst mal einer gewesen, vor langer Zeit, und er wünschte, er wäre jetzt einer von den Jungs und hätte ein so perfektes Opfer wie ihn vor sich. Er hatte seinen Namen vergessen. Und als er das nächste Mal sein Auge öffnete, hatte er vergessen, was es hieß, ein Junge zu sein. All seine Erinnerungen waren weggespült, er war nichts weiter als der 382
Himmel voller Sterne, den er über sich sah. Immer wieder tauchten die grinsenden, blutgestreiften Gesichter auf und machten merk würdige Geräusche. Der Himmel schrumpfte, wurde an den Rän dern dunkler, sein Auge klappte zu und auf und zu, und der Lärm wurde plötzlich lauter als vorher und verschwand dann ganz. Mack versteckte sich. Er versteckte sich den ganzen Abend in einem hohlen, umgestürzten Baumstamm, in den er sich hinein gezwängt hatte. Wenn er sich zu ruckartig bewegte, das war ihm klar, würde das Gehäuse zu Spänen und Staub zerfallen. Tausende von Milben und Ameisen würden aus ihrem Winterschlaf gerissen und sich bei Temperaturen, die sie noch nie erlebt hatten, über seine Haare und Kleidung hermachen. Er versuchte sich an ir gendetwas zu erinnern, auf das er sich konzentrieren konnte, doch ihm fiel nichts ein. Dann kam ihm der Brunnen ins Gedächtnis. Er dachte an den Brunnen vor dem Haus der Witwe. An den Schwefelgeruch und daran, wie kalt das Wasser war. Wie er und William immer mit dem ganzen Kopf untertauchten und dann mit blauem Gesicht wieder auftauchten, japsend, die Haare platt am Schädel, mit blinzelnden Augen. Wie sie fast keine Luft mehr be kommen hatten. Er öffnete die Augen und sah durch das runde Loch das gewohn te Bild. Er konnte ziemlich weit sehen, etwa fünfzig Meter. Der Stamm lag ganz unten in einer Senke. In was für einem Baum er steckte, wusste er nicht. Er hatte nicht darauf geachtet, als er das verrottete, wie gelber Dreck aussehende Holz aus dem Stamm kratzte, das erst nass, dann trockener und schließlich ganz trocken war. Schließlich hatte er sich hineingezwängt. Anscheinend war der Baum von weiter oben heruntergerollt. Mack stellte sich das Zittern des Bodens vor, als der Stamm aufschlug. Er stellte sich den Blitzschlag vor, der ihn umgestürzt hatte. Oder den gewaltigen Wind. Oder die Männer, denen der Schweiß von Kinn und Ell bogen tropfte, während sie sich über die beiden Enden der Quer säge beugten und das Sägeblatt wie bei einem rhythmischen Tau 383
ziehen durch das Holz zogen. Und wie sie dann den Stamm von beiden Seiten mit der Axt attackierten und immer wieder aufhör ten und an dem gewaltigen Stamm hinaufschauten, der bis in höhere Sphären des Waldes vorstieß. Im Frühling oder Sommer hätten sie die Spitze nicht sehen können, und wenn doch, dann hätten sie behaupten können, sie hackten an einem der Pfeiler, auf denen der Himmel ruhte. In seinen Gedanken waren es er und William, die sich über die Säge hinweg zulächelten. Ihre Gesichter blutrot, während sie das Blatt immer tiefer ins Holz trieben. Der Baum knarzte, die Zweige hoch oben knackten, die Blätter säuselten. Er schlief. Als er aufwachte, war es Nacht. Er richtete sich auf, und der Stamm zerbröselte und zerbröckelte. Er schüttelte sich und wisch te sich den groben Staub aus den Augen. Die steife Schulter tat weh, blutete aber nicht mehr. Er schaute durch die Bäume hoch zu den Sternen und wusste, dass es nur noch eine Meile bis nach Hause war. Er ging los. Als er seinen tiefen Pfiff ausstieß, fuhr der Hund sofort hoch, schoss von der Veranda, durch den Hof und leckte ihm wie in Ekstase das blutige Gesicht ab. Die Hündin hatte nicht gebellt, trotzdem wusste die Witwe, dass er da war. Und er wusste, dass sie es wusste. Nach und nach erloschen die Kerzen in den Fenstern, wurden die Lampen ausgeblasen. Das Haus lag dunkel da, als die Tür aufging. Er spürte, dass sie es war, die da stand. Er war am Ende einer langen Reise angekommen, die mit ihnen dreien ange fangen hatte: dem Mörder, der alten Frau, dem Hund. Und jetzt war noch das Baby da. Sie hielt es im Arm. »Hallo?«, rief sie. Der Hund sprang ständig an seinem Oberschenkel hoch, wäh rend Mack schnell über den mondbeschienenen Hof ging, dann die Stufen hinaufstieg und auf sie hinunterschaute. »Dein Gesicht«, sagte sie. Sie sah die Schulter. »Du bist verletzt.« »Granny«, flüsterte er. »Tooch ist tot. Sie haben ihn erschossen. Sie haben nicht aufgehört zu schießen.« 384
Sie senkte den Kopf. »Ich weiß, mein Kind«, sagte sie. »Komm jetzt rein.« Sie setzte ihn auf einen Stuhl am Fenster und legte das Baby in eine Krippe, die aus Holzscheiten bestand und mit Kletterpflanzen zusammengeschnürt war. Dann kramte sie in einer Schachtel herum, öffnete Flaschen und roch daran. Sie mischte eine Arznei zusammen, als sie plötzlich innehielt und den Raum durchquerte. Sie bewegte sich so behände, dass von den Bodendielen nicht das geringste Knarzen zu hören war. Schließlich verschwand sie im Schlafzimmer, kam zurück und gab Mack eine Flasche Whiskey mit Steuerbanderole. Als sie seinen Blick sah, sagte sie: »Weißt du, was einer deiner größten Fehler ist, Macky Burke? Du lässt dich immer noch davon überraschen, was in der Welt so vor sich geht.« Am Fenster war der Mond hell genug. Erst kümmerten sich ihre Hände um seine Schulter, dann um die Schnittwunden und Krat zer. Währenddessen trank er gegen die Schmerzen den Whiskey. »Huz haben sie auch erwischt.« »Trink nicht die ganze Flasche aus.« Sie schmierte einen Brei aus Eiern und etwas Braunem, das sie hineingebröckelt hatte, auf den tiefen Riss unter seinem Auge. Er hatte keine Ahnung, wie das passiert war. Der Brei roch wie Hundescheiße und brannte. »Du hast schon alles gewusst, oder? Dass es Huz erwischt hat. Und Tooch.« Sie nickte. In seinen Augen brannten Tränen. Nicht wegen Tooch oder Huz oder sonst wem, sondern wegen ihm selbst. Weil ihm ihre Finger auf seinen Wunden gefehlt hatten. Und die Dinge, die sie zerbrö ckelte. Und die Biscuits. Und das Geheimnisvolle an ihr. Wann hatte sie zuletzt sein Gesicht berührt? »Ruhig, mein Junge«, sagte sie. »Überlass das Weinen dem Klei nen da drüben.« »Ich kann nicht«, sagte er. Seine Schultern zuckten. »Noch so ‘n Fehler von mir.« 385
»Du scheinst ja jede Menge Fehler zu haben.« Sie wischte ihm mit einem Waschlappen die Tränen weg. »Granny?« »Hmm?« »Ist William tot?« Sie räumte die Sachen wieder in die Schachtel. »Noch nicht.« Später würde er sich nicht mehr daran erinnern, dass er − was er auch gar nicht vorgehabt hatte − in sein altes Zimmer gegangen und eingeschlafen war. Ein paar Stunden später, mitten in der Nacht, schreckte er in seinem Bett auf. Es roch genau wie immer, nach Kernseife. Federmatratze, Federkissen. Er war steif, sein Kör per fühlte sich an, als hätte man ihm die Haut abgezogen. Wenn er sich bewegte, wurde er fast ohnmächtig von dem stechenden Schmerz in seiner Schulter. Allerdings ließ der Schmerz auch schnell wieder nach. Vorsichtig setzte er sich auf, umfasste mit den Armen seinen Oberkörper und beugte sich vor, um in die schwarze Nacht hinauszusehen. Er schob das Fenster hoch und roch den Schwefelgeruch, den der Wind hereinwehte. Seine Schulter hatte sich etwas entspannt. Er stand auf und rieb sich über die Haut. Ihm wurde schwindelig vor Anstrengung. Er lehnte sich an die Wand, bis er sich wieder besser fühlte. Dann zwang er das linke Bein, einen Schritt nach vorn zu machen, danach das rechte. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dun kelheit gewöhnt. Er ging nach vorn. Sie saß mit gefalteten Händen im Schaukelstuhl, ohne zu schau keln, und schaute nach draußen. Neben ihr stand die Krippe. Er hörte den Atem des Babys. »Eine Hauskatze«, sagte sie. »Wenn du mal ein Geschenk suchst für mich, eine Katze. Ich glaube, ich möchte eine Katze im Haus.« »Granny«, sagte er. »Wenn ich die Nacht überlebe, kauf ich dir ein ganzes Dutzend.« »Eine reicht, mein Junge, eine einzige.« »Sie kommen bestimmt bald«, sagte er. 386
»Er kommt. Ich hoffe, dass er noch bis Sonnenaufgang wartet.« »Ich geh dann wohl besser.« Im Halbdunkel konnte er ihre Gesichtszüge nicht erkennen. Er humpelte zu ihr durch den Raum, wollte ihr Gesicht berühren. Wollte, dass sie ihn berührte. Als hätte ihre Hand einen eigenen Willen, fuhr sie hoch, nahm seine und drückte sie an die Wange. Ihre Haut war warm und so weich wie eine Decke aus Baumwolle. »Granny«, sagte er. »Es tut mir Leid, was alles passiert ist.« »Ruhig, mein Junge«, sagte sie und drückte seine Finger, bis sie ihm wehtaten. Der Hund fing an zu bellen. »Er wartet nicht, bis es hell wird«, sagte sie. William kroch durch endlose Dunkelheit. Er machte die Augen zu, damit nichts in sie hineinstechen konnte. Als er sich hinlegte, um etwas auszuruhen, und die Augen öffnete, kam ihm die Nacht dunk ler vor als die Dunkelheit in seinem Kopf. Er hörte die Männer, die ihn verfolgten. Ihnen waren genauso die Kugeln ausgegangen wie ihm. In seinem Kopf herrschte Chaos: Gewalt, brennende Häuser, Gewehrfeuer; Joe Andersons Kehle, aus der das Blut quoll und den Hemdstoff unter seinem Kinn dunkel einfärbte; die Schwarzen familie, die sie aus ihrem brennenden Haus schleiften und zwan gen, sich das Wüten des Feuers anzuschauen. Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen, und kroch weiter in die Richtung, wo er den westlichen Rand des Bear Thicket vermutete. Waite schwang sich aus dem Sattel und blieb kurz neben dem Pferd stehen. Er war etwas benommen, denn er hatte zu wenig Schlaf bekommen. Der Hund der Witwe kam zum Rand der Veranda. Das Bellen ging in ein tiefes Knurren über. Der Mond schien so hell, dass Waites große gebückte Gestalt und das Pferd Schatten war fen. Waite ließ King mitten im Hof stehen und näherte sich mit langsamen Schritten der Veranda. Er drückte eine Patrone ins Ge wehr und hörte, wie eine andere Patrone ins Gras fiel, eine schar387
fe Patrone − das Gewehr war schon geladen gewesen. Er atmete durch und ging die Stufen hinauf. Der Hund schlich mit angelegten Ohren und gesenktem Kopf zur Seite. Der Geruch war ihm ver traut, sein Knurren nur noch eine Frage. Waite zog an dem Leder riemen. Nicht verschlossen. Er öffnete die Tür. Drinnen war es dunkler als draußen. Er wartete zwischen drinnen und draußen, bis er die Umrisse der alten Frau erkannte. Sie saß mit dem Baby im Schoß schaukelnd am Fenster. »Ist er da?«, fragte Waite und trat ein. »Nein.« Er schloss leise die Tür. »Ich bin sicher, dass er kommt, Mrs. Gates. Wo sollte er sonst hin?« »Er war hier«, sagte sie, ohne aufzuhören zu schaukeln. »Ich hab ihn wieder weggeschickt.« »Warum?« Er ging an der Wand entlang. »Das passt gar nicht zu Ihrem Charakter.« »Was wissen Sie schon von Charakter, Billy Waite?« Er durchsuchte schnell das Haus und blieb dann vor der Feuer stelle stehen, da, wo er bei ihren Unterhaltungen immer gesessen hatte, wenn es draußen zu kalt war. Langsam ließ er sich auf die Steine nieder. »Mrs. Gates«, sagte er. »Seit man Arch Bedsole er schossen hat, ist mein Charakter öfter in Zweifel gezogen worden als in meinem ganzen Leben zuvor. Ich weiß nicht genau, warum das so ist, aber dieses ganze Chaos ist wie ein böser Traum für mich. Für Sie auch, das weiß ich. Kommt mir so vor, als wenn wir die beiden Unschuldigen sind, die man in diesen Krieg rein gezerrt hat.« »Wenn Sie glauben, dass Sie unschuldig sind, dann sind Sie entweder ein Heiliger oder ein Dummkopf.« »Dummkopf«, sagte er. »Ich setz ‘n Dollar auf Dummkopf.« Sie schaute ihn an. Das Baby hustete. Weil er nicht wusste, was er sagen oder tun sollte, legte er sein Gewehr auf die Knie, zog eine Zigarre aus der Brusttasche seiner Jacke, biss das Ende ab, drehte sich um und spuckte es in die Feu 388
erstelle. Auf den Steinen riss er ein Streichholz an und hielt es an die Zigarre, bis sie glühte. Dann hielt er das Streichholz in die Höhe und betrachtete die schaukelnde Witwe, die sich wieder dem Baby widmete. Es fing an zu schreien, und sie sang leise ein Lied, das er nicht kannte. Waite wollte mir ihr reden, hatte aber keine Ahnung, worüber. Er drehte sich um und versuchte, Asche in die Feuerstelle zu schnippen, obwohl noch gar keine an der Zigarre hing. Das Baby hörte nicht auf zu weinen. »Was dagegen, wenn ich Licht mache?«, fragte er. Sie sang weiter. Er stand auf und zündete an der Glut seiner Zigarre den Ker zenstummel auf dem Tisch an. Mit der Kerze in der Hand ging er neben der Witwe in die Hocke und schaute in ihre blauen Augen. »Wenn Sie wissen, wo der Junge ist, sagen Sie es mir bitte. Ich verspreche Ihnen, dass ich ihn sicher ins Gefängnis bringe. Ich wer de nicht zulassen, dass dieser Mob ihn in die Finger kriegt. Dafür ist zu viel passiert.« Dann sagte er, was er eigentlich gar nicht hatte sagen wollen. »Er hat mir erzählt, dass er Arch Bedsole getötet hat. Ich muss ihn also festnehmen, damit ich ihn befragen und Licht in die Sache bringen kann. Das wird die Hölle, wenn ich wieder zurück bin in der wirklichen Welt. Da wollen die Leute wissen, warum ich was gemacht hab. Die schicken sicher jemanden aus Montgomery, aus dem Büro des Gouverneurs.« »Das hier ist die wirkliche Welt, Billy Waite«, sagte sie. »Es ist meine wirkliche Welt. Sie ist so wirklich wie jede Nacht, die ich in ihr verbracht habe.« Das Baby hatte sich beruhigt. Waite schaute nach unten. Es beobachtete ihn. »Ein hübsches Baby«, sagte er. »Ein krankes Baby«, erwiderte die Witwe und zog die Decke enger zusammen. »Es ist kalt hier drin«, sagte Waite und stand auf. »Soll ich Holz holen? Ich schür uns ein kleines Feuerchen.« »Ich will kein Feuer«, antwortete sie. 389
Die Witwe hatte Mack erzählt, dass Babys im Mutterschoß die Stimmen ihrer Väter erkennen können. Sie hätte gesehen, wie Babys sich umdrehten, wenn die Väter zu sprechen anfingen. Man hätte es am Bauch der Mutter gesehen, an den Bewegungen der Haut. Sie hatte ihm auch erzählt, dass ganz frisch geborene Babys bei den ersten Worten des Vaters sofort den Kopf in seine Rich tung drehten. Gerade jetzt, als er sich auf Sheriff Waites Worte konzentrierte, musste er daran denken. Er verdrehte ein wenig den Kopf auf dem Kissen, das seine Arme bildeten, um so die gedämpf te Stimme besser verstehen zu können. »Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe, Billy Waite?« »Ist Ihnen nicht kalt?«, fragte Waites Stimme. »Mir ist immer kalt«, sagte die Stimme der Witwe. »Nur ‘n kleines Feuerchen.« Sehr langsam hob Mack den Kopf. Sie hatte auf den Kamin gezeigt und gesagt, er solle in den Schornstein klettern. Was ihm unmöglich erschienen war, dann aber doch irgendwie geklappt hat te. Ganz oben sah er ein Stück Nacht. Es war weniger schwarz als alles andere, was er sah, doch unerreichbar weit entfernt. Er ver suchte sich vorzustellen, wie hoch der Schornstein von außen aus sah, schaffte es aber nicht. »Und jetzt?«, sagte Waites gedämpfte Stimme. »Hell-at-the-Breech«, sagte sie. Und dann hörte er sich an, was sie zu erzählen hatte. Die Geschichte, wie die ihr von Gott gesandten Adoptivsöhne William und Macky im August 1897 Arch Bedsole erschossen. Bei dem stümperhaften Versuch eines Raubüberfalls. Was sich ein törichtes Kind so unter Spaß vorstellte. Sie wusste es, weil ihr die Gabe des Wissens gegeben war, sie wusste es in der Sekunde, als in jener seltsam kühlen, längst vergangenen Augustnacht Archs Lippen und Nase ihren letzten Atemzug taten. Aufrecht hatte sie im Bett gesessen und im Rücken einen stechenden Schmerz gespürt, genau zwischen den Schulterblättern. Die Jungen lagen nicht in ihren Betten, sagte sie. Sie waren weder im Haus noch im Umkreis 390
des Hauses. Obwohl sie die Hand vor Augen nicht sehen konnte, humpelte sie mit Stock und Öllampe hinaus in die Dunkelheit und suchte das Grauen, auf das sie bereits gefasst war. Sie hatte sich schon zusammengereimt, dass ihre beiden Jungen die Täter waren. Sie wusste, dass sie im Dunkeln das Haus verlassen hatten, na ja, sie waren eben Jungs. Sie selbst sei auch mal jung gewesen. Sie erinnerte sich an den ersten Jungen, für den sie extra ihren Hut aufgesetzt hatte. Fünfzehn war sie da gewesen, und sie hatten sich immer in einer zerfallenen Scheune getrof fen, am Rand einer Stadt in Tennessee, von der Waite sicher noch nie gehört habe. Während sie knutschten, stand jeder von ihnen auf seiner Seite einer Boxentrennwand, weil man ihr erzählt hat te, dass sie ein Kind bekommen würde, wenn man sich an den Hüften berührte. Und wenn es so gekommen wäre, sagte sie, wenn dieser süße Junge solch magische Hüften besessen hätte, dass eine Berührung sie geschwängert und sie diese Gegend hier nie gesehen hätte, sodass ihr Leben ein vollkommen anderes geworden wäre? Dann wäre sie vielleicht die Mutter eines Bastards geworden oder sogar von hundert Bastarden, aber nicht die Mutter von Mördern. »Ich hab gedacht, sie wollten zu Annie«, sagte sie. »Und weil sie dafür kein Geld hatten, hab ich mir gedacht, dass sie ihre Lust schon irgendwie anders loswerden würden. Dass sie rennen wür den, bis sie müde waren, durch den Fluss schwimmen oder sich an Onans Lösung halten würden. Nicht im Traum hab ich dran gedacht, dass sie jemand überfallen würden und das Opfer Arch Bedsole sein könnte.« Sie hatte sie nämlich kommen hören, sagte sie, hinterher auf der Straße, als sie, nach dem Mord, auf dem Weg nach Hause waren. Sie hatte die Lampe ausgemacht und im Dunkeln neben der Straße gestanden, so nah, dass sie den Luftzug spüren konnte, als sie vorbeigingen, und dass sie genug hatte verstehen können, um zu wissen, dass einer von ihnen ein Mörder war. Als sie außer Sichtund Hörweite waren, zündete sie ihre Lampe wieder an und ging 391
weiter. Sie entdeckte ein paar Blutstropfen auf der Straße und folg te ihnen wie ein Jäger seinem Hirsch, bis sie schließlich das Licht des Feuers sah. Es war die Hütte, in der Tooch geboren war und in der er gelebt hatte. Sie stand in Flammen, und im Schein des Feu ers sah sie Arch Bedsoles blutigen Körper tot daliegen, und Tooch saß daneben auf dem Boden und hielt die Pistole mit dem weißen Griff, die Arch immer dabeihatte, wenn er unterwegs war. Sie ging auf ihn zu. Er bemerkte sie erst, als sich ihr Schatten zwischen ihn und das Feuer schob. Granny, sagte er, denn er war auch eins von ihren Kindern. Tooch, sagte sie. Du hast gewusst, dass er tot ist, stimmt’s?, sagte er. Ja, Tooch. Du hast schon immer alle möglichen komischen Sachen gewusst, Granny. Wie ist er gestorben? Er schaute sie an. Schätze, das weißt du schon. Oder nicht? Er schaute an ihr vorbei zum Feuer. Ich war im Haus, sagte er, hab in einem von den alten Lexikonbänden gelesen, die Arch als kleiner Junge bekommen hat. Ich durfte mir immer einen auslei hen. Ich sitz da und denk an diese wirklich großen Bäume, die sie in Kalifornien haben, da hör ich von draußen ein Geräusch. Ich mach das Licht aus, nehm das Gewehr und geh raus. Ich konnte nichts sehen. Hast du schon mal so ‘ne pechschwarze Nacht erlebt, Granny? Also geh ich noch mal rein, mach die Lampe wieder an und geh zum zweiten Mal raus. Und dann hab ich ihn gesehen. Arch. Schleppte sich in den Hof, war voller Blut. Ich lass die Lampe fallen, glaub ich zumindest, und renn hin zu ihm. Und merk gar nicht, dass die Lampe die Veranda ansteckt. Sie sah ihn an. Er saß da, das Gesicht orange im Schein des Feu ers, das Haar schweißglänzend von der Hitze, auf dem Hemd getrocknetes Blut. Er deutete mit der Pistole die Stelle an. Als ich auf den Gedanken kam, dass ich das Feuer vielleicht noch löschen könnte, war’s schon zu spät, sagte er. Und Arch war tot. 392
Ich hab’s gewusst, weil das Feuer ihn angeleuchtet hat. Das Blut ist nicht mehr aus seiner Brust rausgeblubbert, deshalb hab ich’s gewusst. Dann hab ich ihn bis hierhin gezogen, weg vom Feuer. Seitdem sitz ich hier. »Hat er irgendwas gesagt?«, fragte Waite. »Ja, er hat was gesagt.« »Was?« Du weißt es selbst, Granny, sagte Tooch. Du weißt genau, wer ihn getötet hat. Sonst wärst du nicht hier. Das stimmt nicht, sagte sie. Aber es stimmte. »Und wollen Sie die Wahrheit wissen, Billy Waite? Ich weiß nicht, ob er gesagt hat, dass Macky es war, oder ob ich es gesagt habe. Und je mehr ich drüber nachdenke, was ich in den letzten Tagen und Nächten dauernd getan hab, desto mehr glaub ich, dass Tooch mich dazu gebracht hat, es zu sagen, dass er nämlich, als er Arch gefunden hat, selbst keine Ahnung hatte, wer ihn erschossen hatte, und dass Tooch Bedsole, seine schwarze Seele sei verflucht, mich reingelegt hat und ich ihm gesagt hab, was er noch gar nicht wusste. Aber Arch Bedsole lag da. Tot. Zweimal getroffen. Einmal von hinten, einmal in die Brust.« Was willst du jetzt machen mit meinen Jungs?, fragte sie Tooch. Er dachte lange nach. Dauernd warf er Gras und Blätter ins Feuer. Du weißt schon, was, sagte er dann. Ich will’s von dir hören, Tooch. Jetzt. Glaub ich nicht. Tooch. Sie töten, sagte er. Das ist meine Pflicht. Ich muss meinen Cousin rächen. Du hast ihn immer gehasst, sagte sie. Tooch starrte sie an. Jawoll, sagte er, stimmt. Du hast wirklich schon immer die komischsten Sachen gewusst, Granny. Ein Teil des Daches stürzte ein. Etwas zerplatzte. 393
Sie zog die Pistole hervor, die sie immer unter ihrem Rock hatte. Du wirst meine Kinder nicht töten, Tooch Bedsole, sagte sie. Er hob den Blick und schaute in den Lauf der Pistole. Dann stand er langsam auf. Archs Körper lag zwischen ihnen. Sie hielt die Pistole in der ausgestreckten Hand. Sie versuchte, sie ruhig zu halten. Ihr Finger berührte den Abzug. Sie brauchte nur abzudrücken. Abdrücken, nach Hause gehen und ihre Jungs holen. Mit ihnen wieder zurückkommen und Tooch ins Feuer werfen. Die Hölle konnte ihn ruhig jetzt schon haben. Ich kann nicht zulassen, dass du meine Kinder umbringst, sagte sie. Granny, sagte Tooch, ich bin auch eins von deinen Kindern. Oder nicht? Und hier, mein toter Cousin, der auch. Und fast alle andern Männer und Frauen, die hier auf den Baumwollfeldern hungern. Wir alle sind deine Kinder. Du wirst doch nicht eins von denen erschießen? Oder, Granny? Er hob die Hand und bewegte sie auf die Pistole zu. Wie kannst du mich erschießen, Granny? Ich bin auch Waise, sitzen gelassen vom eigenen Vater, der mich zu einem Leben als Pachtbauern verdammt hat. Er machte einen Schritt über den Körper hinweg. Sie schnappte nach Luft über die Rohheit dieser Tat, und währenddessen nahm Tooch ihr sanft die Pistole aus der Hand. Er entspannte den Hahn, drückte die Trommel heraus und schüttelte die Patronen auf den Boden. Sie glänzten im Schein des Feuers. Dann gab er ihr die Pis tole zurück. Ich werde sie töten, wiederholte er. Mit meinen eigenen Händen. Ich hab keine Wahl. Alle mochten Arch. Aber warum, Tooch? Warum willst du sie töten?, bettelte sie. Sie sind dumme Jungs. Sie haben einen Fehler gemacht. Sie haben Straßenräuber gespielt. Sie hatten keine Ahnung, dass es Arch war, den sie überfielen. Warum willst du drei Leben ruinieren, du rui nierst auch meins. Willst du das, wegen zwei dummen Jungen? Sie sind alles, was ich habe, Tooch. 394
Doch Tooch blieb unnachgiebig. Sein Gesicht leuchtete im Schein des wütenden Feuers. Hinter der Witwe verzehrten die Flammen das Holz des Hauses, die Hirschfelle an den Wänden, die Wespennester unter den Dachgesimsen, den trockenen Mörtel zwischen den Balken, die Holzplatte mit dem Lexikonband R. Ihr Rücken wurde heiß, und als ihr Kleid anfing zu qualmen, ging sie ein paar Schritte vom Feuer weg. Als er im Hof herumging und Sachen aufhob, die er ins Feuer warf, folgte sie ihm und bettelte weiter um das Leben ihrer Kinder. Sie bot ihm alles Geld, was sie besaß, bot ihm ihr Haus an, ihr altes Maultier, jeden Dienst, den er von ihr wollte. Wenn sie jünger gewesen wäre, hätte sie ihren Rock gehoben und sich selbst angeboten. Was für eine Verschwendung, sie zu töten, wo sie doch so viel zu geben hätten. Was hätten sie mir denn zu bieten?, fragte er. Die Witwe dachte nach. In ihrem Kopf nahm ein Plan Gestalt an. Plötzlich war er da, ein Geschenk des Teufels. Fast wäre sie ohnmächtig geworden, so brillant, so ungeheuerlich war er. Tooch, sagte sie. Hör zu, hör genau zu ... Und dann legte sie ihm den Plan auseinander. Die letzten Worte des sterbenden Arch wären gewesen, dass Leute aus der Stadt ihm aufgelauert und auf ihn geschossen hätten, damit ich nicht an der Wahl teilnehmen kann. Das würde einen Krieg auslösen, und dafür brauchte man den richtigen Mann, den richtigen General an der Spitze. Der richtige Mann könnte die Farmer von Mitcham Beat hinter sich versammeln, er könnte es schaffen, dass sie die Waffen erhöben gegen ihre Unterdrücker. Er könnte eine Ver änderung bewirken ... Tooch sagte lange kein Wort. Das Feuer schickte Rauchfahnen und sprühte Funken in die Nacht. Er ging ganz nah an das bren nende Haus heran, öffnete die Hose und pisste so lange direkt vor ihren Augen in die Flammen, dass der Boden vor seinen Füßen dampfte. Dann drehte er sich um und knöpfte sich, während er auf 395
sie zuging, die Hose zu. Schließlich blieb er stehen und schaute auf sie herunter. Sie schaute zu ihm hoch. Weiter, sagte er. Erzähl weiter. Sie saßen Seite an Seite auf einem Holzbalken, den Tooch vom Haus weggeschleift hatte, und schauten ins Feuer. Arch lag hinter ihnen, die Augen dem Himmel zugewandt, als läge die Zukunft offen vor ihm. »Wir haben die ganze Nacht geredet«, sagte die Witwe zu Waite. »Zusammen haben wir uns die Hölle ausgedacht.« Waite saß lange stumm da. Das Baby schlief wieder, und das ein zige Geräusch war das Knarzen des hin- und herschwingenden Schaukelstuhls. »Wie ist Tooch an den Laden gekommen?«, fragte Waite schließ lich. »Wie in der Bibel, als Rebekka Isaak getäuscht hat. Als Ed Bed sole im Sterben lag, habe ich ihn gepflegt. Er war schon nicht mehr bei Verstand. Tooch hat sich Archs Sachen angezogen und Archs Hut aufgesetzt. Er sah ihm so ähnlich, und auch seine Stimme klang wie die von Arch, sodass Ed alles unterschrieben hat, was Tooch ihm vorlegte. Ed hat geglaubt, dass er wieder mit Arch spricht. Im Büro des Anwalts habe ich gelogen, Gott möge mir ver geben, und gesagt, dass Ed Bedsole bei vollem Verstand war, als er Tooch den Laden verkauft hat. Tooch hätte auch die Farmen von Ed kriegen können, aber mit Baumwolle wollte er nichts zu tun haben. Er wollte nur den Laden.« Sie schwiegen lange. In einem Schornstein hing ein Mörder, und um den Mörder zu retten, erzählte eine Frau all die dunklen Geschichten, die sie so lange in ihrem Herzen verschlossen hatte. »Billy«, sagte sie. »Ja?« »Da ist noch was.« Er wartete. Auch Mack wartete. »Als ich wieder zu Hause war, war es fast schon Tag. Die Jungen lagen in ihren Betten. William schlief, und Macky tat so, als 396
ob er schlief. Ich wollte wissen, wer es gewesen war, also hab ich mir ihre Waffen angeschaut. Mit Williams Schrotflinte war nicht geschossen worden. Aber mit Mackys Pistole. Ich wusste, wie viele Patronen drin gewesen waren. Kugeln sind teuer, ich weiß genau, wie viele im Haus sind, und ich hab ihnen beigebracht, dass man sparsam damit umgehen muss. Mit der Pistole war einmal geschos sen worden.« »Haben Sie nicht gesagt, dass man zweimal auf Arch geschossen hat?«, sagte Waite. »Ja. Einmal von hinten, die Kugel ist vorn wieder rausgekommen. Und einmal von vorn, in die Brust.« »Und was wollen Sie mir damit sagen, Mrs. Gates?«, fragte Waite. »Ich glaube nicht, dass der erste Schuss Arch getötet hat. Da war nicht genug Blut. Der Schuss ging von hinten in die Schulter oder in die Seite. Ich glaube, dass Arch sich auf den Hof geschleppt hat, und da hat Tooch die Gelegenheit erkannt und ihn erschossen. Hat seinen eigenen Cousin erschossen. Und dann hat er die Lampe ins Haus geworfen und einfach zugeschaut, wie’s abgebrannt ist.« Mack stellte sich vor, wie die Witwe regunglos im Schaukelstuhl am Fenster saß, das Mondlicht im tief zerfurchten Gesicht, die Augen schwarze Löcher unter leuchtend weißem Haar, das schla fende Baby in ihren winzigen Händen auf dem Schoß. Dann sagte sie: »Ich hab Macky heut Nacht wieder weggeschickt, weil ich im letzten Jahr angefangen hab, ihn zu hassen. Ich hasse ihn dafür, dass er und sein Bruder mich verlassen haben, dass er mir gewisse Dinge angetan hat, dass er mich belogen hat. Die letzten Monate hab ich nur mit Lügen und Hassen überstanden.« Das Baby in ihrem Schoss bewegte sich. Es hustete. Ein Arm tauchte aus der Decke auf, und die winzige Hand öffnete ihre win zigen Finger. Sie schienen nach etwas zu greifen. Und als sie ins Leere griffen, fing das Baby an zu weinen. Die alte Frau reagierte nicht, sondern schaute Waite an. »Das ist alles, was ich zu sagen habe. Würden Sie jetzt bitte gehen, Sheriff?« 397
Er hatte so lange auf dem Kaminrand gesessen, dass er sich kaum bewegen konnte. Im Haus war es noch kälter geworden. Die Welt draußen war stumm. Er dehnte seine Finger, stand auf und verzog das Gesicht, weil sein Bein schmerzte. Er schaute die alte Frau an und fragte sich, ob sie log oder die Wahrheit sagte. Hinter ihm rieselte Ruß aus dem Schornstein. Er drehte den Kopf und schaute in die Kaminasche und sah nicht, dass die Witwe eine Pistole unter der Decke hervorzog. Die Babyhand griff nach dem Lauf, worauf sie die Hand weiter aus streckte. Ohne sie anzuschauen, ging Waite zur Tür. »Wir suchen weiter nach dem Jungen. Wenn er nur ‘n bisschen Verstand hat, ist er jetzt schon fast in Louisiana. Wenn er allerdings hier wieder auftaucht, dann könnte das übel ausgehen für ihn.« Er drehte sich zu ihr um. Falls er die Pistole sah, die auf sein Herz gerichtet war, sagte er jedenfalls nichts. »Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Granny Gates.« Dann sagte er laut, um das Weinen des Babys zu übertönen: »Ich glaube nicht, dass ich Sie so bald wieder belästigen muss.« Er öffnete die Tür, ging nach draußen, schloss die Tür und schaute hinaus in die Nacht. Der Hund beobachtete ihn. Er schlug mit dem Schwanz auf die Verandadielen. Drinnen schrie das Baby. Mit dem Gewehr in der Hand ging Waite die Stufen hinunter, stieg auf und gab King die Sporen. Im Trab ging es leicht hangabwärts, vorbei an der Tränke, in deren gerahmter Wasserfläche sich der gleichgültige Mond spiegelte. Waite schaute hoch zu ihm und dem Himmel voller Sterne. Mit jedem Atemzug blies er weißen Dampf in die Luft. Waite ließ ein mondbeschienenes Feld nach dem andern hinter sich und kam zu dem brennenden Laden. Er hielt an. Das einge stürzte Dach glühte noch, und es loderten noch Flammen in den Himmel. Waite saß im Sattel und betrachtete die Funken, die wie Musiknoten in der Luft schwebten. Tooch Bedsole war zu einem Haufen Asche geschrumpft, der auf den Überresten der Veranda 398
lag. Einer der Männer, die man als Wache zurückgelassen hatte, ging auf Waite zu und fragte ihn, ob er eine Flasche Whiskey dabei hätte. Waite sagte Nein, und der Mann ging wieder. Waites Gesicht fing an, vor Hitze zu glühen, und King trippelte von sich aus ein paar Schritte zurück. Doch Waite reagierte nicht und schaute wei ter ins Feuer. Der schon immer schiefe Kamin kippte verschämt zur Seite und verstreute seine glühenden Steine über den Boden. Da die Hitze den Grund ausgedörrt hatte, flammten um die Steine, die wie pulsierende, zur Erde gestürzte Himmelsobjekte aussahen, kleine Brände auf. Einer der Männer trat sie aus. Als würde ein Bann von ihm genommen, rieb sich Waite plötz lich den Nasenrücken, drehte King um und ritt davon. Er ritt unter dunklen Bäumen hindurch, über pechschwarze Felder und kam auch an der Stelle vorbei, wo er auf Ardy Grant geschossen hatte. Grant war von der Straße verschwunden, einen Augenblick mach te sich Waite Sorgen, dass er überlebt haben könnte. Doch dann nickte er im Sattel ein und wachte erst wieder auf, als King scheute, weil er das Blut von Lev James’ totem Maultier roch. Waite ritt an brennenden Häusern vorbei, vor denen Familien oder deren Überreste im Dreck lagen. Er blieb nicht stehen, um nachzu schauen, ob sie tot waren oder nur schliefen. Das Baby hatte aufgehört zu schreien, als Mack sich durch den Schornstein nach unten zwängte und mit den Füßen voraus wie der aus dem Kamin auftauchte. Er setzte sich auf den Boden und schaute die Witwe an, die das Baby schaukelte, und sie schaute ihn an. Der Schmerz in seiner Schulter war erträglich. Es gab Dinge, die er ihr erzählen wollte, aber er sagte nichts. Auch sie sagte nichts. Dann musste er niesen, nieste noch einmal und konnte einfach nicht aufhören. Aus Angst, das Baby könnte wieder anfangen zu weinen, stand er auf und ging in sein altes Zimmer. Von Kopf bis Fuß verrußt, stand er am Fenster und schaute hinaus. Hinter der Scheibe begann die Welt, die er sich anschauen würde. Und zwar bald. Sobald er sich bückte, das Fenster hochschob und durch die 399
Läden hinaus in die Nacht schlüpfte. Er schaute seine Handrücken an. Er drehte die Hände um und betrachtete die Innenseite. Auch schwarz. Gleich würde er gehen, der Plan nahm schon in seinem Kopf Gestalt an. Er würde zum Fluss laufen, zu dem alten Kanu, mit dem er und William immer auf die andere Seite gepaddelt waren, um Annie zu sehen, würde sich den Ruß abwaschen, über den Hof gehen, dann die Stufen hinauf ins Haus und würde sie überreden, mit ihm nach Louisiana zu gehen, wo sie heiraten wür den, leben, arbeiten, schlafen, sterben. Nebenan hustete das Baby. Vorsichtig wegen seiner Schulter, schob er das Fenster hoch. Seine Finger hinterließen rußige Abdrü cke auf den Fensterläden, als er nach draußen schlüpfte. Ansons ten verriet nichts, dass er gegangen war. Nicht mal der Hund, der schlafend auf der Veranda lag, hörte etwas. Als William aufwachte, lag er mit der Wange auf dem Boden. Seine Zähne klapperten. Er hörte kratzende Geräusche, ganz nah. Er hob den Kopf. Ein Blatt blieb wie ein Blutegel an seiner Wange hängen, Blut verklebte die immer tieferen Furchen in seinem Gesicht. Drei Männer mit lüstern aufgesperrten Mäulern robbten auf ihn zu. Einer hatte ein Beil in der Hand, ein anderer ein Messer. Sie grinsten. Er kroch weiter, die Männer hinter ihm her. Bald sah er schwa ches Licht durch das Gestrüpp. Wenig später brach er durch die letzten Sträucher des Dickichts und warf sich, ohne zu schauen, was ihn erwartete, in den kalten Fluss. Auf der anderen Seite war teten in Abständen von etwa fünfzig Metern die anderen Männer. Sie pfiffen und deuteten auf ihn, he, da kommt er ja, und liefen alle zu der Stelle, wo er schließlich ans Ufer kletterte. Er war halb nackt, zitterte und war vom Blutverlust geschwächt. Sie zerrten ihn ans Ufer und wickelten ihn in fünf Pfund Seil ein. Dann kommentier ten sie mit sarkastischem Humor, wie die drei Verfolger aus dem Dickicht krochen und ins Wasser sprangen. Als die auf der ande ren Seite wieder herausstiegen, gingen sie gleich auf William los. Sie 400
traten auf die eingewickelte, zerknautschte Gestalt ein, bis die anderen sie wegzerrten. »Waite will ihn lebend«, sagte Oscar. Er hatte rot geränderte Augen und trug eine Decke um die Schultern. Die ganze Nacht hat te er getrunken. Zwei Männer hoben William hoch und warfen ihn über ein Pferd. Als Waite später am Morgen zu ihnen stieß, stellten sie William auf die Füße und lehnten ihn im Innern der überdachten Brücke, die sie für die Nacht zu ihrer Kaserne gemacht hatten, an die Wand. Eins von seinen Augen war nach einem Fußtritt zugeschwollen. Die ungestalte andere Gesichtshälfte war gelb und blau geschlagen. Einer sagte, er sähe aus wie ein Amboss. Der verkrustete Dreck wurde von seinem eigenen Blut aufgeweicht. Waite sagte zu Oscar und den andern, er müsse kurz allein mit William sprechen. Die Männer zogen sich zurück. »William Burke«, sagte er, als sie allein waren. Der schien zu begreifen, dass jemand seinen Namen aus gesprochen hatte. Er hob den Kopf und legte ihn dann wie eine Puppe auf die Seite. »Mr. Billy? Sind Sie das? Ich kann nicht mehr so gut sehen.« Keine Zähne mehr. Das Zahnfleisch blutiger Brei. »Ja, William, ich bin’s.« »Hängen die mich auf?« »Ja.« Er senkte den Kopf. »Schätze, Sie haben keine Wahl.« »Nein. Du hast dich mit den Falschen eingelassen, Junge.« »Sagen Sie der Witwe, dass es mir Leid tut.« »Das weiß sie.« »Wo ist Macky?« Waite schaute zur Öffnung der Brücke. Die Männer, die dort herumlungerten, verdrückten sich. »Er ist in Sicherheit.« »Wirklich?« »Ja. Er wird schon wieder.« 401
»Ich bin stolz auf ihn. Er hat sowieso nie irgendwas gemacht. Nicht absichtlich, nie. Aber wir, wir andern, wir haben ...« Er schien die passenden Worte vergessen zu haben und sackte gegen die Wand. Waite ging hinaus ins Licht. Er fühlte absolut nichts. Er sagte Oscar, dass sie sich mit dem Aufhängen beeilen sollten, bald wäre nichts mehr da, was sie aufhängen könnten. Zwei Männer schleif ten William an losen Seilenden nach draußen. Waite sagte, wenn sie nicht wollten, dass er ihnen in den Arsch träte, sollten sie ihn tragen. Das taten sie. Den Rest schaute sich Waite nicht an. Er holte sein Pferd, zog den Sattelgurt straff und stieg auf. Oscar stand neben dem Pferd. »Billy.« Er hielt ihm eine Flasche Whiskey hin, es war nur noch ein Schluck drin. Waite nahm die Flasche und trank sie aus. Dann warf er die Fla sche die Uferböschung hinunter, gab King die Sporen und ließ sei nen Cousin, den Richter, im Schatten der Brücke stehen. Er trieb das Pferd zum Galopp an. Der Wind zerzauste ihm die Haare. Nach einer Stunde wurde die Straße breiter, links und rechts erstreckten sich Felder, und ein haarfeiner, kalter Regen setzte ein. Waite hatte das Tempo gedrosselt, sie bogen im Schritt um eine Kurve, als sich ihm ein merkwürdiges Bild bot: ein vierrädriger Wagen, gezogen von zwei Ochsen, zu Fuß begleitet von sechs stäm migen schwarzen Männern, gelenkt von einem alten weißhaarigen Schwarzen. Auf der Ladefläche ein prachtvolles, mit Seilen und Ketten festgezurrtes Klavier. Bei jeder Unebenheit der Straße schlugen die Klaviersaiten an und machten ein Geräusch, das nicht wie Musik klang, sondern wie etwas anderes, wie ein dumpfes, auf wühlendes Donnern − wie die Stimme der Gewalt. Er lenkte sein Pferd um den Wagen herum, sagte ihnen aber nicht, dass Lev James, der neue Besitzer des Klaviers, tot war. Für ihn, das wusste er, war dieser Krieg vorbei. Aber für die andern würde er seinen Rauch noch bis ins nächste Jahrhundert 402
tragen. Der Schlund der Hölle hatte sich geöffnet. Bis er sich wie der schloss, wenn er sich überhaupt schloss, würde viel Zeit ver gehen. Noch Jahre würden die Geschäftsleute aus Grove Hill und Coffeeville hinter jedem Baum und in jedem Schatten zwischen den Bäumen Heckenschützen vermuten. Und noch wenn Billy Waites Zeit längst vorbei wäre, würde man die Kinder von Mitcham Beat mit dem Spruch ermahnen: Wenn ihr donnernde Hufe hört und
das Quietschen von gutem Sattelleder, dann lauft und versteckt euch, dann ist der Mob wieder da. King spürte, dass sie unterwegs nach Grove Hill waren. Er verfiel in Trab. Die Felder zu beiden Seiten waren grau wie der Himmel. Waite hoffte, dass Sue Alma zu Hause wäre und ihm zuhören würde, wenn er ihr all das erzählte, was er ihr zu erzählen hatte. Und dass Kaffee auf dem Herd stand. Er hoffte, dass Johnny-Earl die Krankenschwester, die ihm den Arm gerichtet hat te, umwerben, lieben und heiraten würde, und dass sie beide an Weihnachten zu Besuch kämen. Es dauerte nicht lange, da war er im Sattel eingenickt. In den letzten wachen Momenten wünschte er sich, mal einen kleinen Jungen namens Billy Waite in Händen halten zu können, einen Jungen, der zum Mann heranwachsen und die Gesetze der Menschen befolgen und ertragen würde, der stark genug wäre, sich durchzusetzen in der Welt, wie immer sie werden würde.
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Danksagungen
Dieser Roman verdankt sehr viel der Arbeit von Harvey H. Jackson III, der, zusammen mit Joyce White Burrage und James A. Cox, das Buch The Mitcham War of Clarke County, Alabama geschrieben hat. Vielen Dank, dass ihr mich ermutigt und unter stützt habt. Für Hilfe und Rat in den verschiedenen Entstehungsphasen des Manuskripts danke ich Monica Berlin, Barry Bradford, Robert Gatewood, William Gay, Hardy Jackson, Michael Knight, Jamie Kornegay, Roy Parvin, Sidney Thompson und Timm Waller. Dank auch an alle bei William Morrow: Lisa Gallagher, Michael Mor rison, Jen Pooley, Sharyn Rosenblum und meine Lektorin Ciaire Wachtel. Ich danke auch meinem Agenten und Freund Nat Sobel für sein nie nachlassendes Vertrauen und die sorgfältige Lektüre des Manuskripts. Mein Dank gilt ebenso den folgenden Institutionen, deren groß zügige finanzielle Unterstützung großen Anteil am Entstehen dieses Buches hatte: der University of Mississippi, die mich mit der John-and-Renee-Grisham-Writer-in-Residency unterstützten; der John Simon Guggenheim Memorial Foundation; dem Knox College; der MacDowell Colony; der Sewanee Writers’ Conference; der University of the South; der Tennessee Williams Fellowship in Fiction; dem Stadler Center for Poetry an der Bucknell University für die Philip Roth Residency in Creative Writing. Ich danke auch Walt Darring, meinem ersten Lehrer in Creative Writing. Danke an meine Eltern Gerald und Betty Franklin für ein Leben voller Unterstützung und Liebe. Und meiner Frau Beth Ann, die dieses Manuskript viele Male in vielen Versionen las, deren exaktes Dichterauge jede Zeile prüf404
te, die zuhörte und riet, und die immer an mich glaubte, kann ich nur sagen: Noch mal vielen Dank, BA, für all die Dinge, die nur du kennst. Dieses Buch und mein Glück gäbe es nicht ohne dich. Mehr als Freunde, jetzt und für immer.
Zentaur 2005-08-13
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