Manfred Weinland
Die Geheime Macht Bad Earth Band 1
ZAUBERMOND VERLAG
Der Krieg zwischen CLARON und Jay'nac, der Ko...
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Manfred Weinland
Die Geheime Macht Bad Earth Band 1
ZAUBERMOND VERLAG
Der Krieg zwischen CLARON und Jay'nac, der Konflikt zwischen Dex und Satoga war gestern – in der Gegenwart werfen neue, noch unheimlichere Gefahren ihre Schatten voraus. Es beginnt damit, dass im Zentrumsgebiet der Milchstraße ein HAKAR der Foronen auf einen Planeten stößt, der ein Verderben bringendes Geheimnis birgt. Kurz darauf gerät auch die RUBIKON, unterwegs zu Boreguirs Heimatwelt Saskana, in den Sog uralter Geheimnisse. Sie begegnet einem mysteriösen Wesen namens Fontarayn und dessen goldenem Schiff. Wer sind die Unbekannten, die Fontarayn nach dem Leben trachten? Wer versklavt die Saskanen? Das Ende naht in Gestalt eines Molochs, der bereits Millionen Sonnen verschlungen hat …
Vorwort 45 mal BAD EARTH in Romanheftformat, 45 mal Aufbruch in unbekannte Gefilde des Alls, zu fremden Planeten und Sternen bis hin zu benachbarten Galaxien … So könnte es weitergehen. So hätte es weitergehen können. So wird es weitergehen. Leider nicht mehr im gewohnten Erscheinungsrhythmus und nicht mehr in der gewohnten Form. Die Käufer – oder sollte ich richtiger sagen: die Nichtkäufer – haben entschieden. Bad Earth konnte sich trotz des großen Engagements aller Beteiligten und begeisterter Stimmen der Leserschaft am Ende doch nicht am Markt behaupten, zumindest nicht in der ursprünglich gewählten Publikationsform. Nun hat die Heftserie eine neue Heimat in einem kleinen Verlag gefunden, der sich seit jeher liebevoll um »Stiefkinder« der Großverlage bemüht, sich ihrer annimmt. Bei Zaubermond. Meine persönlichen Kontakte reichen schon in Zeiten zurück, als an BAD EARTH noch nicht zu denken war. Damals, 1999, nahm sich Zaubermond meiner ebenfalls zunächst bei Bastei gestarteten DarkFantasy-Serie VAMPIRA an und veröffentlichte im späteren unter dem neuen Namen DAS VOLK DER NACHT insgesamt 17 umfangreiche Neuabenteuer, ehe die Serie ein rundes Ende fand. Darüber hinaus wurde die ursprüngliche Heftserie in so genannten ClassicAusgaben neu aufgelegt. Es gibt also gute Gründe, darauf zu vertrauen, dass dieser Verlag BAD EARTH in neuem Gewand – im Hardcover – zu neuer Blüte führen wird. Bewährte Autoren wie der Serienvater selbst, wie Susan Schwartz und anderen Stammautoren der Heftserie werden künftig vierteljährlich neue, packende Abenteuer um John Cloud, Scobee und wie die lieb gewonnenen Helden der Saga alle heißen mögen, in Buchstaben pressen. Ein dicker roter Faden wird alles verbinden, (gemeine) Cliffhanger sollen nicht die Regel sein, werden sich aber auch
nicht immer vermeiden lassen … Wie schon im Romanheft, wird auch im Buch ein großer kosmischer Rahmen gestrickt, die Bände bauen aufeinander auf und ergeben am Ende die Steine, aus denen sich das Puzzle als Ganzes zusammensetzt. Dabei zu bleiben lohnt sich also, versprochen. Schreiben Sie uns, wie Ihnen der Aurtaktband gefallen hat. Kritik ist uns ebenso willkommen wie Lob. Aus dem einen lernen wir, das andere motiviert uns noch stärker. Ad Astra Manfred Weinland Zweibrücken, im Winter 2004/05
Prolog Spätherbst 2252 (Erdstandard) im Orion-Arm der Milchstraße »Du erinnerst dich an den Aufenthalt der RUBIKON innerhalb der EXPANSION EINS?«, fragte Artas, während ihn Sonnen und Pulsare, Gasnebel und Galaxien durchströmten. »Wie könnte ich das jemals vergessen?«, erwiderte John Cloud, dessen Protopartikel mit der künstlichen Intelligenz des Raumschiffs, mit Sesha, kommunizierten und interagierten. »Nun«, in den fremdartigen Augen des Satoga blitzte es auf, »vielleicht, weil Vergesslichkeit ein gern genommener Makel bei euch Menschen ist?« Cloud wusste nicht, worauf der Freund anspielte. Er hatte das Gefühl, den Kosmos zu atmen, der die Zentrale der RUBIKON flutete, seit Artas' Wunsch entsprochen worden war, die Holosäule über den gesamten Raum auszudehnen. Seither schienen sie mitten im rauen, lebensfeindlichen All zu stehen. »Ich gebe zu, manchmal kann Vergessen auch etwas überaus Positives sein«, fuhr der Satoga fort, dessen Äußeres an eine aufrecht gehende Echse von humanoider Grundform erinnerte. Es war ihre erste Zusammenkunft nach Tagen. Tagen voller Anspannung, in denen die Verständigung mit den Jay'nac doch wieder zu scheitern drohte, letztlich aber doch gelang. Auf Bewährung, wie Artas es ausgedrückt hatte. »Man sollte es nur selbst beeinflussen können – nicht beeinflusst werden.« Seine Worte lenkten Clouds Gedanken unwillkürlich zu einem Toten. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, ich kann dir zustimmen. Aber das sind Allgemeinplätze. Wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass du nichts einfach nur dahinsagst. Also?«
»Unsere Mentoren entdeckten einen Fremdkörper an Bord eures Schiffes. Eine Art … Versteck.« »Hat es mit … Boreguir zu tun?«, fragte Cloud nun offen. Artas kannte den Saskanen flüchtig, war ihm im Virghstock begegnet und dabei gewesen, als der Gammablitz den Krieger umgebracht hatte. »Die Verbindung ist unstrittig.« »Kannst du mir die Stelle zeigen?« »Das wird nicht nötig sein. Sie existiert nicht mehr. Die Mentoren …« Die, von denen Artas sprach, waren für Cloud nach wie vor etwas Abstraktes, nicht wirklich Vorstellbares. »… haben sich darum gekümmert.« »Inwiefern?« Der RUBIKON-Kommandant fühlte einen Verdacht in sich aufkeimen; ein Verdacht, der ihm, ganz gleich, aus welchem Blickwinkel er ihn auch beleuchtete, nicht gefallen wollte. Gleichzeitig mischte sich noch eine andere Stimme in seine Gedanken ein, die fragte, welchen Status er eigentlich sonst noch hatte, außer dass er Kommandant war. Wem durfte, wem konnte er sich zugehörig … oder gar verantwortlich … fühlen in dieser Zeit? Er erkannte, dass dies herauszufinden eine der Herausforderungen der nächsten Zukunft sein würde. »Wir haben Helfer zu besagter Stelle entsendet und sie aus der Verborgenheit geholt.« »Helfer?« Artas ging nicht darauf ein. »Und Sesha hat das zugelassen?«, wunderte … nein, ärgerte sich Cloud. »Eure KI hatte keine Wahl.« Auch diese Behauptung ließ Artas im Detail unausgeführt. Cloud war jedoch überzeugt, dass er die Einzelheiten erfahren würde, wenn er darauf drängte. Inzwischen war das Vertrauen in Artas, in die Satoga allgemein, wieder stark angewachsen, und so konnte er sich leichten Herzens mit der von Artas praktizierten »Grobschilderung« abfinden. »Ich wusste nicht, dass Boreguir ein festes Versteck innerhalb der RUBIKON hatte – oder überhaupt, dass er Orte so präparieren konn-
te, dass sie sich dauerhaft der Entdeckung entzogen, selbst durch die Internerfassung unserer KI.« »Es handelt sich nicht um einen Ort.« »Aber du sagest doch gerade –« »Es handelt sich um ein Ding. Einen Gegenstand.« Ein Ding – auch das war Cloud neu. Dass der Saskane Objekte der Wahrnehmung anderer auch hatte entziehen können, ohne sich permanent darauf zu konzentrieren. Was er nach seinem Tod definitiv nicht mehr hätte leisten können, und Boreguir war zum Zeitpunkt des RUBIKON-Aufenthalts in der Tiefen Kammer bereits umgekommen gewesen. Hatte er demnach also auch die Möglichkeit besessen, Gegenstände so zu markieren, dass sie dauerhaft unauffindbar blieben … zumindest für alle, die nicht über die Möglichkeiten der Satoga verfügten? Cloud blickte Artas an, wartete auf den Fortgang der Erklärung. Der Freund war erst vor wenigen Minuten an Bord der RUBIKON gekommen, um sich persönlich zu verabschieden. Dann hatte er Cloud unvermittelt um ein Vieraugengespräch gebeten, und sie waren in dessen private Unterkunft gegangen, wo sie seither miteinander sprachen. »Um dies hier«, sagte Artas und zog etwas aus seinem togaähnlichen Gewand hervor. Es war zusammengerollt und ähnelte entfernt einem antiken Papyrus. Zusammengehalten wurde es von einem Ring aus kunstvoll verziertem Metall, der auch ein Armreif für eine Frau hätte sein können. Der Anblick erinnerte Cloud daran, wie wenig sie über Boreguirs Herkunft und Vergangenheit wussten. Hatte er eine Gefährtin auf Saskana besessen? »Darf ich?«, fragte Cloud und streckte die Hand aus. »Deshalb zeige ich es dir.« Artas reichte ihm die Rolle. Cloud wog sie sekundenlang in beiden Händen. Sie war schwerer als vermutet, aber wahrscheinlich lag dies an der sie zusammenhaltenden Klammer aus Metall. Er streifte sie vorsichtig ab … und staunte, weil der Ring leicht und der Papyrus schwer war.
Er schob den Reif zwischen Mittel- und Ringfinger und rollte dann den Bogen auseinander. Er erwartete Zeichen saskanischer Schrift, aber alles, was er fand, waren eingestochene Löcher, die ein wirres Muster bildeten. Der Papyrus – oder was immer es war – wies Dutzende, Hunderte dieser Einstiche auf. Cloud blickte ratlos davon auf … … und sah, dass Artas zwischenzeitlich einen zweiten Gegenstand aus seinem Gewand gezogen hatte, den er ihm jetzt entgegen hielt. »Was ist das?« Clouds Frage galt sowohl dem Papyrus, als auch dem, was der Satoga ihm zusätzlich offerierte. »Das hier …« Artas legte ihm den winzigen Würfel, der entfernte Ähnlichkeit mit der Black Box, seinem früheren Geschenk, hatte, in die hohle Hand. »… ist ein Speichermedium, das mit eurer Technik kompatibel ist. Eure KI kann den Inhalt problemlos auslesen.« »Was ist der Inhalt?« »Die Auswertung dieses Fundes. Es ist eine Karte.« »Eine Karte? Das hier?« Cloud wedelte ungläubig mit dem Papyrus, der sich wieder zusammengerollt hatte. Seine Skepsis wuchs. Er fragte sich, ob das eine Art von Scherz sein sollte, steckte den kleinen Würfel mit einem knappen Zentimeter Kantenlänge aber in seine Gürteltasche. Anschließend breitete er die Karte, wie Artas es nannte, erneut aus. Keines der Einstichlöcher war besonders hervorgehoben. »Wenn das eine Karte wäre, was würde sie zeigen?« »Sterne.« Artas trat neben ihn, um die Punkte mit ihm zu betrachten. »Sterne, wie sie sich dem Betrachter nur von einer einzigen Position eurer Milchstraße aus darstellen.« Plötzlich dämmerte ihm, worauf Artas hinauswollte. »Du denkst …?« »Es ist die wahrscheinlichste Erklärung, warum euer Gefährte so viel Aufwand betrieb, um sie vor fremdem Zugriff zu schützen.« »Das hieße, er hätte die Markierungen aus seinem Gedächtnis zu Papier gebracht.«
»Auch ich hätte keine Probleme, die Sternbilder wiederzugeben, die sich dem Betrachter von meiner Heimatwelt aus darstellen.« Cloud räumte ein, dass ihm das von den augenfälligsten Konstellationen wahrscheinlich auch möglich gewesen wäre. »Okay, das lasse ich gelten. Aber was die ›Auswertung des Fundes‹ angeht: Was genau meinst du damit? Du willst nicht ernsthaft behaupten, dass ihr diesen Wust an Markierungen einer real existierenden galaktischen Position zuordnen konntet.« »Das ist genau das, was ich behaupte. Wir haben die Milchstraße gescannt und jeden einzelnen Stern, jeden einzelnen Planetenkörper katalogisiert – unseren Rechnern war es danach ein Leichtes, sämtliche Simulationen durchzuspielen, die nötig waren, um die eine Koordinate herauszufiltern, von der aus dieses Firmament nachts sichtbar ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich dabei um Boreguirs Heimatsystem.« Boreguirs Heimat. Cloud hatte immer noch Schwierigkeiten, das Gehörte als Realität hinzunehmen. »Wir reden von Milliarden Sternen … und Abermilliarden hypothetischen Welten, die sie umlaufen …« »Du darfst es gerne weiterhin bezweifeln, wenn du dich dadurch besser fühlst«, entgegnete Artas in unverändert freundlichem, ja wohlwollendem Ton. »Fakt ist jedoch: Du hast die von uns ermittelte Position hiermit erhalten. Was du – und ob du etwas – daraus machst, bleibt nun ganz allein dir überlassen.«
Ganz allein mir überlassen …, echote es in Cloud, nachdem Artas schon längst gegangen war. Gegangen. Die Verabschiedung war von beiden Seiten mit großer Beherrschung über die Bühne gebracht worden. Und ein Geschenk war zurückgefordert worden. Der Würfel. Jenes absonderliche Spionagegerät der Satoga, mit dem sie über Lichtjahre hinweg alles an Bord der RUBIKON hatten einsehen können, selbst geheimste Daten in hochgesicherten Speicherbänken …
»Es würde euch doch immer nur an Zeiten erinnern, da wir euch hintergangen haben … hintergehen mussten …«, waren Artas' erklärende Worte dazu gewesen. Und Cloud hatte erwidert: »Immerhin wäre es eine Möglichkeit gewesen, wieder einmal mit euch in Kontakt zu treten – oder ihr mit uns.« Artas hatte eine Hand auf Clouds Schulter gelegt (eine Geste, die er sich bei den Menschen abgeschaut und offenbar wert befunden hatte, sie zu adaptieren) und gesagt: »Es wird ein Wiedersehen geben, irgendwann. Wenn wir es beide wollen. Daran glaube ich ganz fest.« »Das hieße, wir mussten mal eben nach Andromeda jetten … mit unserem primitiven kleinen Schiffchen …« Cloud hatte sich ein Grinsen nicht verkneifen können und auch nicht die Anspielung auf die sehr viel fortschrittlichere Satoga-Technologie. »Du weißt, dass das nicht wahr ist – primitiv ist anders. Euer Schiffchen, wie du es nennst, beherbergt noch einige Überraschungen, und wenn ihr seine wahren Möglichkeiten erst einmal durchschaut habt …« »Du meinst, es gibt Möglichkeiten, die wir noch gar nicht kennen? Du machst Spaß, oder? Just zu einem Moment, da ich mir einbilde, die RUBIKON endlich lückenlos zu beherrschen –« »Ich werde zu diesem Thema nicht mehr sagen.« »Warum nicht? Du machst hier Andeutungen, und dann –« Artas ließ sich nicht mehr auf das Thema ein. Danach wirkte er eigentümlich abweisend und fast so unnahbar wie damals bei ihrer ersten Begegnung. Im Grunde fühlte sich Cloud erleichtert, als der Erste Expanser der Satoga schließlich auf sein eigenes Schiff, die EXPANSION EINS übergewechselt war. Zusammen mit den anderen Besatzungsmitgliedern verfolgte er dann in der Bordzentrale den Aufbruch der gigantischen Satoga-Flotte, die von den Erinjij- und Jay'nac-Verbänden vor Beilegung des Konflikts zwar dezimiert worden war, aber immer noch weit über 90.000 Einheiten unterschiedlicher Größe umfasste.
Herz der Flotte waren die gigantischen Ellipsen – die Saatschiffe, wie Artas sie bezeichnet hatte. Auf ihnen lagerte unter der Obhut der kristallenen Mentoren eine gigantische Zahl von Eiern, aus denen der Satoga-Nachwuchs schlüpfen würde … sobald die aus dem Sculptor-System stammende Armada den Andromedanebel erreicht und geeignete Brutwelten ausfindig gemacht hatte. Der Gedanke an die Ausbreitung der Satoga über Andromeda beunruhigte Cloud, seit er von Artas' Plänen erfahren hatte. Es war nicht auszuschließen, dass die fruchtbaren Satoga dort in der anderen Galaxie auf neue Gegner, neue Feindschaften stoßen würden – vielleicht nur, weil sich angestammte Bewohner vom Expansionsund Vermehrungsdruck der Fremden bedroht fühlten … Wer könnte es ihnen verdenken? Cloud scheute sich nicht, sich einzugestehen, dass er froh über die Wahl der Satoga war, sich nicht um jeden Preis in der Milchstraße ansiedeln zu wollen. Das nicht einmal von den Satoga selbst gelöste Rätsel um ihre abnorme Vermehrungssucht musste über kurz oder lang zu Spannungen führen, selbst wenn andere Rassen über das spezifische Problem der Satoga informiert waren. Nein. Es ist besser, getrennte Wege zu gehen – vorerst zumindest. Die Jay'nac werden das ähnlich sehen. Die Jay'nac. Kaum waren die Satoga in den Weiten des Alls verschwunden, ging ein Funkspruch auf der RUBIKON ein, der nicht nur Cloud schmerzlich daran erinnerte, dass sie Abschied von noch einem weiteren Freund würden nehmen müssen. Einem weiteren außerirdischen Geschöpf … ohne dessen Bereitschaft, zwischen uralten Feinden zu vermitteln, wohl nicht zu verhindern gewesen wäre, dass die Satoga-Flotte vollständig von den Jay'nac und deren Verbündeten, den Erinjij, vernichtet worden wäre. »Darnok!«, rief Scobee erfreut, als das Abbild des Keelon in der zentralen Holosäule der RUBIKON sichtbar wurde. Darabim, wollte Cloud sie korrigieren, verzichtete dann aber darauf, weil das Wesen, das eine unheimliche Wandlung durchgemacht hatte, dies selbst in die Hand nahm.
Auf seine Weise. »Vergesst Darnok!«, zwitscherte ihnen schroff der Gefährte von einst entgegen.
Die Keelon … Erwachsen maßen sie im Schnitt etwa einsfünfzig bei einer Breite von einem knappen Meter. Grob skizziert erinnerten sie an einen gigantischen Herzmuskel, wobei die Extremitäten wie gekappte Adern aussahen. Die Haut war zumeist glatt, und über die gesamte Vorderseite des Körpers verteilten sich Dutzende von Augen, die kaum noch erkennbar waren, sobald ein Keelon die Lider schloss. Hier aber waren sie offen – und schienen nur Cloud anzublicken, die anderen im Rund der Kommandositze zu ignorieren. Dabei war dem Kommandanten der RUBIKON jedoch klar, dass Scobee, Jelto und wie sie alle hießen genau denselben Eindruck, nur jeweils auf sich selbst bezogen, hatten. Der Keelon schien jeden Einzelnen von ihnen anzusprechen und anzublicken, als gäbe es für ihn keine wichtigere Persönlichkeit an Bord des feindlichen Schiffes. Ja, Feinde, dachte Cloud, als wäre es gerade erst wieder in sein Bewusstsein gerückt. Das sind wir wohl aus Sicht der Erinjij und derer, die sie führen. Und verheizen. Bis heute war es ungeklärt, was aus der Masse der Keelon beim Untergang ihrer Heimatwelt Roogal geworden war. Hatte der von den Keelon-Verschwörern selbst initiierte Angriff der Erinjij alle nicht konspirierenden Keelon in den Untergang gerissen … oder hatten sie sich dank ihres Magoos und der damit verbundenen Fähigkeit, die vierte Dimension zu manipulieren, auf eine Zeitebene – irgendwo in sicherer Vergangenheit – retten können? Ein Sprung in die Zukunft hätte den Roogal-Bewohnern keine Rettung versprochen, denn dort existierte ihre Welt nicht mehr. Sie war unter den Gewalten der angreifenden Schiffe völlig zerborsten. Der Keelon Arabim hatte die damalige Verschwörung angeführt … und herrschte inzwischen auch über seine Mitverschwörer auf
der Erde. Er war der Master der Master gewesen, als Cloud ihm in seinem Residenzturm in der Metrop Washington gegenübergestanden hatte. Damals war Darnok, der einzige Freund unter den Keelon, den die Menschen jemals hatten, Arabims hilfloser Gefangener gewesen, eingekerkert in einem speziellen Käfig, der sein Magoo eindämmte und ihn so an einer Flucht in die Pfade der Zeit hinderte. Lange hatte Cloud – hatten auch Scobee und Jarvis – im Ungewissen über Darnoks Schicksal gelebt. Ihnen war die Flucht von der von den Keelon beherrschten Erde gelungen, Darnok nicht. Und nun sprach er zu ihnen, als hätte es ihre Freundschaft, ihre gemeinsamen Abenteuer und durchstandenen Gefahren nie gegeben. Er sprach zu ihnen aus einem Körper heraus, der nicht mehr ihm allein gehörte … ihm vermutlich am wenigsten. Die Jay'nac hatten Arabim und Darnok – zwei Individuen – zu einem einzigen Organismus verschmolzen. Hatten zwei Bewusstseine in einen Körper gepfercht, auf dass Arabim an Darnoks Wissen und seinen in den Tiefen des Alls gewonnenen Erfahrungen partizipieren konnte. Eine Zeitlang schien es Darnok gelungen zu sein, die Oberhand über das Zwittergeschöpf zu erlangen – gerade so lange, wie nötig gewesen war, um die Rolle des Vermittlers zwischen Organischen und Anorganischen – Satoga und Jay'nac – einzunehmen. Doch nun, nach vollbrachtem Werk, war ebenso offensichtlich, dass Arabim an die Oberfläche zurückgekehrt und dass er es war, der sich in diesem Moment bei ihnen meldete. Vergesst Darnok! Die Forderung hing im Raum, und niemand, der sie hörte, erkannte nicht die Drohung, die sich darin verbarg. Niemals!, dachte Cloud. Niemals werde ich denjenigen vergessen, ohne den wir längst nicht mehr am Leben wären! Und laut bat er, wobei er versuchte, die Bilder, die sich während seines Erdaufenthalts in ihm eingebrannt hatten, zu ignorieren – die Bilder, die von beispielloser Skrupellosigkeit der Master im Umgang mit den Menschen berichteten: »Lass mich noch einmal mit Darnok sprechen – mit seinem Anteil an dir – Darabim, ein letztes Mal, be-
vor sich unsere Wege für unbestimmte Zeit tren …« »Du sprichst mit Darnok«, fiel ihm der Keelon ins Wort. Worauf Cloud sprachlos war, sekundenlang. Scobee fing sich schneller. »Das glauben wir nicht«, sagte sie gepresst. »Darnok würde nie –« »So mit euch sprechen?« Die Augen schlossen sich kurz – alle zur gleichen Zeit … um sich ebenso synchron wieder aufzutun. »Fangt an, der Realität … der neuen Wirklichkeit ins Auge zu blicken! Ich bin nicht mehr der, den ihr kanntet. So wie Arabim von mir profitiert, so profitiere ich von ihm. Wir sind keine Einzelwesen mehr, nicht in dem Sinne, wie ihr uns noch immer unterscheidet. Nicht Darnok, sondern etwas in Darabim hat die Vorteile einer friedlichen Konfliktlösung zwischen den Satoga und den Schöpfern erkannt. Nur auf der Grundlage dieser rein der Vernunft folgenden Hinsicht habe ich mich entschlossen, euch und die alten Feinde aus dem Sculptor-System zu schonen. Sie haben sich an die getroffenen Vereinbarungen mit den Schöpfern gehalten und sind nunmehr unterwegs in eine andere Galaxie. Ihr wollt ihnen offenbar nicht folgen. Deshalb ein letztes Wort an euch – bevor auch ich mich mit den Schöpfern und den Erinjij-Verbänden aus diesem Gebiet zurückziehe: MEIDET UNS KÜNFTIG. Meidet die Sonne, die ihr Sol nennt und den Planeten, in dem ihr immer noch eure Heimatwelt sehen wollt … KEHRT NIE MEHR DORTHIN ZURÜCK, denn es wäre die Stunde eures Todes, den nichts in Darabim mehr gewillt wäre zu verhindern. Nichts. Unsere Wege trennen sich hier und jetzt, und sollten sie jemals wieder zusammenführen, wird es zu keiner Verständigung mehr kommen, nur noch zu kompromissloser … Gewalt. IHR SEID NICHT MEHR WILLKOMMEN AUF DER WELT ERDE – NIE MEHR! Meidet sie. Meidet die Streitkräfte der Menschen, die nicht mehr die sind, die euch nahe stehen. Vieles … alles hat sich verändert. In einigen Jahrzehnten werdet ihr tot sein, wenn ihr die Vernunft walten lasst und wenn euch das Schicksal gewogen ist. So lange aber werdet ihr Fremde in einer fremden Zeit bleiben. Etwas in mir hat euch in diese Fremde entführt, ein Zurück wird es nicht geben. Kein Keelon würde sich jemals dafür hergeben, euch in
eure Zeit zurückzubringen. Keiner. Wenn ihr darauf im Geheimen hofft, seid ihr wahrhaft Narren!« Schweigen. Stille. Für eine lange Weile wusste Cloud nicht einmal, ob er auf diesen wie auswendig gelernten und heruntergespulten Vortrag überhaupt antworten wollte. Schließlich sagte Jarvis mit Hilfe der Audiosysteme seines künstlichen Körpers: »Mich kannst du nicht belügen, Alter! Da ist mehr als nur ein Fünkchen des Darnoks, den wir kannten und schätzten. Mich kannst du nicht hinters Licht führen …« Er verstummte, als wäre damit alles gesagt, was es überhaupt noch zu sagen gab. Cloud hatte einen schalen Geschmack auf der Zunge, als er sich aus dem Sitz stemmte und seinen Körper teilweise in die holographischen Pixel, aus denen sich Darabims Abbild zusammensetzte, eintauchen ließ. »So können wir nicht auseinander gehen.« Er stockte kurz, fuhr dann fort, nachdem er sich mit der Zunge über die Oberlippe geleckt hatte. »Du hast schon einmal vermittelt, als es um ungleich mehr ging, als ungleich mehr auf dem Spiel stand. Tu es noch einmal, Darabim, vermittele noch ein letztes Mal.« Obwohl der Keelon-Zwitter zunächst nichts erwiderte, war zu spüren, dass er nicht verstand, worauf Cloud hinauswollte. »Zwischen wem vermitteln?«, fragte er schließlich. »Ich möchte einen Kontakt … einen unmittelbaren Kontakt zu den Jay'nac, die du eure Schöpfer nennst.« Trotz des klaren Mangels an einer für Menschen verständlichen Mimik strahlte die Gestalt des Körpers insgesamt eine fast greifbare Ratlosigkeit aus. »Warum?«, fragte Darabim. »Ich habe eine Bitte.« »Ihr habt bereits mehr erhalten, als euch eigentlich zustünde. Geh in dich, Mensch. Überlege, ob du nicht dankbar sein solltest, all dies noch erleben zu dürfen.« »Meine Bitte dreht sich nicht um mich.« »Sondern?«
»Um einen verlorenen Freund.« Ein Mensch hätte die Anspielung verstanden, davon war Cloud überzeugt. Darabim hingegen offenbarte nicht einmal einen Anflug von Begreifen. »Die Schöpfer dürfen nicht irgendwelcher Lappalien wegen belästigt werden. Akzeptiere das Unumstößliche. Und jetzt … leb wohl.« »Halt!« Für einen Moment sah es aus, als würde sich die Gestalt innerhalb des Hologramms destabilisieren, zu einem durchscheinenden Geist werden, um am Ende vollends zu verblassen. Doch dann wurden die Farben und Konturen noch einmal kräftiger. »Was ist denn noch?« »Die Bitte, von der ich sprach«, beeilte sich Cloud zu antworten. »Es geht dabei um … einen Teil von dir. Um Darnok. Was eure Schöpfer vereinen konnten, könnten sie sicherlich auch wieder trennen. Es wäre Darnoks Wunsch –« »Darnok! Du hast es immer noch nicht verstanden!«, grollte der Zwitter. »Dieser Darnok, von dem du sprichst, war zu Zeiten, als er noch ein autarkes Individuum war, ein Unfreier. Ein Gefangener. Er stand vor der Wahl, ewig gefangen zu bleiben. Oder zu sterben. Oder … oder eben zu dem zu werden, was er nun ist … gemeinsam mit dem Anderen, der nie ein Geknechteter war, immer nur Herr…«
Das gewaltige Schlachtschiff ROOGAL, in dem Darabim reiste – es erinnerte an einen futuristisch verbrämten Flugzeugträger des 21. Jahrhunderts, nur dass es keinen irdischen Ozean, sondern die unendlichen Tiefen des Alls durchkreuzte –, nahm Fahrt auf und steuerte das nahe gelegene künstliche Wurmloch an, in dem bereits ein Großteil der Erinjij-Einheiten verschwunden war. Diese Technologie hatten die Menschen von den Jay'nac übernommen, der Macht, auf die auch die Keelon zurückgingen, wie inzwischen bekannt geworden war. Deshalb nannten die »Meister der Zeit« sie auch ehrfurchtsvoll »Schöpfer« – genau wie Cys Volk, die Aurigen oder die
Virgh der Magellanschen Wolken waren auch die Keelon letztlich nur Züchtungen der Jay'nac, mit denen sie sich besseren Aufschluss über die Verhaltensweisen der und bessere Mittel gegen die Organischen hatten verschaffen wollen. Es war ihnen eindrucksvoll gelungen, wofür nicht zuletzt die Installation des stellar übergreifenden Packa-Netzes sprach, mit dem alle in seinem Einflussbereich befindlichen Organischen in eine Pararealität versetzt werden konnten, in der sie den Anorganischen, die dagegen immun waren, hilflos ausgeliefert waren. Vergangenheit, dachte Cloud. Vorbei. Die Virtusphäre war ebenso abgeschaltet worden wie die Türme, die den Ankömmlingen aus Magellan eine Kettenreaktion von explodierenden Sternen – Supernovae – im Orionarm der Milchstraße vorgegaukelt hatten. Vergangenheit. Vorbei. »Hattest du ernsthaft Hoffnung, ihn dazu bewegen zu können? Ihn – oder die Jay'nac?« Spätestens Scobees Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. »Ich hätte es mir nicht verziehen, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte.« »Verstehe.« Sie nickte. Ihr Gesicht kam ihm verändert vor, nicht wirklich gealtert, aber … nun, gereift. Keine normale Zwanzigjährige strömte so viel Selbstbewusstsein, so viel Charakter aus wie die in-vitro-Geborene, die in einem irdischen Labor geklont worden war, um eine perfekte Kriegerin gegen das Unbekannte zu sein, das man seinerzeit – seit dem Scheitern der ersten Marsmission 2019 – auf dem roten Planeten vermutet hatte. Auch Jarvis gehörte dieser neuen Spezies Mensch an, und im weitesten Sinne auch Jelto, obwohl seine Klon-Historie bereits aut die überlegene Technik der Master/Jay'nac zurückging. »Ich würde sagen, wir haben ein Problem.« Cloud verließ den inneren Kreis der Kommandosektion und machte ein paar Schritte in die Tiefe des kathedralenartigen Raumes. Hinter ihm erhoben sich die anderen. Nacheinander, als zöge er sie an einer unsichtbaren
Schnur hinter sich her. Niemand fragte, von welchem Problem er redete. Es war, als wüssten sie alle – selbst relativ frische Gefährten wie Algorian und Cy oder lange getrennte wie der Narge Jiim – intuitiv, worauf er hinaus wollte. Cloud wartete, bis sie zu ihm getreten waren. Dann sagte er: »Es ist eine Premiere, ich weiß. Zum ersten Mal, seit wir von Darnok in den Arm getreten und durch die Zeit gekickt wurden, gibt es kein nahe liegendes Ziel mehr für uns – eins, das uns Feuer machen und abhalten würde, auf dumme Gedanken zu kommen.« »Sieht verdammt aus, als hätten wir plötzlich jede Menge Urlaub bekommen«, grunzte es aus Jarvis' Nanosystemen. »Zum Henker, hab ich mit irgendeiner Silbe erwähnt, dass ich das will?« Sie alle fühlten sich von einem Moment zum anderen orientierungs- und ziellos. Endgültig wie Treibgut, das nicht wirklich in diese Zeit gehörte. Anachronismen. Selbst die, die hier geboren waren, wie Aylea, Jelto oder das Außerirdischen-Trio Jiim, Cy und Algorian. Letztere hatte man ihrer Wurzeln beraubt. Es gab für sie keinen Platz mehr, den sie hätten Heimat nennen können. Aber wenigstens trennt sie nur eine Strecke Raum, dachte Cloud … ehe ihm bewusst wurde, dass das so nicht stimmte. Es war mehr als das, eine mindestens ebenso unüberwindliche Kluft wie die Jahrhunderte, die ihn von seinem Zuhause trennten. Sie werden ebenso wenig je wieder heimkehren können wie ich. Und wenn sie es doch schafften, was außer dem sicheren Tod würde sie wohl erwarten? Es war müßig. Es war der ideale Moment, um den Papyrus hervorzuholen, den Cloud von Artas erhalten hatte. Boreguirs Vermächtnis. »Wenn schon Zwangsferien«, sagte er, »sollten wir sie vielleicht mit etwas Nützlichem verbinden. Ich kenne da jemanden, dem wir es vielleicht sogar schuldig wären …«
Er hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, und das noch bevor er den Freunden durch die primitive Sternenkarte des Saskanen enthüllte, dass dies der einzige Weg war, der ihnen blieb. Sie mussten sich beschäftigen. Oder diese Zeit, diese Situation würde sie über kurz oder lang zerbrechen. »Empfange Signal«, meldete Sesha in diesem Moment. »Was für ein Signal?« Cloud war sofort hellhörig, fürchtete immer noch eine Teufelei, einen Meinungsumschwung der Darabim-Hälfte, die ihnen nie sonderlich gewogen gewesen war. »Es kommt aus der Richtung, in der die ROOGAL verschwand – von dort, wo das Wurmloch positioniert war, in dem die Erinjij-Flotte verschwand. Es scheint sich um eine Art Leitstrahl zu handeln.« »Leitstrahl?«, echote Scobee. »Was sagt die Ortung?« »Die Ortung sagt«, antwortete die KI postwendend, »dass sich dort ein Objekt befindet. Ein Würfel …« »Nicht schon wieder ein Würfel!«, stöhnte Jarvis theatralisch eingedenk des zurückgeforderten Danaergeschenks der Satoga. »… mit einer Größe von rund sechs Meter Kantenlänge. Unbekannte Metalllegierung.« »Sechs Meter«, ächzte Jarvis erneut, als könnte ein Körper wie dieser unter Atemnot leiden. »Das ist eine bessere Pralinenschachtel!« Cloud enthielt sich eines Kommentars. »Vorsichtige Annäherung«, entschied er, an die KI gerichtet. »Enthält das von dir geortete Signal noch mehr als nur eine Peilhilfe?« Sesha verneinte. »Du willst es wirklich riskieren?«, fragte Scobee. »Das geht auf Arabims Konto, ich fühle es.« »Weibliche Intuition?«, fragte Cloud säuerlich. »Nenn es, wie du willst. Du weißt, dass von dem Kerl nichts Gutes zu erwarten ist.« »Es gibt aber auch noch den anderen ›Kerl‹, der durchaus Mitbestimmungsqualitäten besitzt, sonst hätte der Satoga-Jay'nac-Konflikt niemals diese Wendung nehmen können.« »Dann klär mich mal auf, wie Darabims letzte Worte zu verstehen waren – als schwarzer Humor à la Keelon?«
»Nein, sie waren ernst gemeint, todernst.« »Eben!« »Aber wenn sie uns hätten vernichten wollen, hätten sie dazu hundertfache Gelegenheit gefunden. Glaubst du, wir hätten auch nur den Hauch einer Chance gegen diesen massierten Auftritt von Erinjij und Jay'nac gehabt?« Scobee zögerte, schüttelte dann den Kopf. »Es gefällt mir trotzdem nicht.« Und damit sprach sie allen Versammelten aus dem Herzen, Cloud eingeschlossen.
»Wie hältst du davon?«, fragte das Mädchen. »Von dem Signal?« Jelto blieb stehen. Aylea ging noch drei Schritte weiter, ehe sie ebenfalls innehielt und missgelaunt fragte: »Was ist?« Manchmal kamen dem Florenhüter die Augen der Zehnjährigen groß wie Monde vor. Augen, in denen sich alles Erdenkliche spiegelte – ein Schmelztiegel an Gefühlen und Gedanken. Manchmal saßen sie sich minutenlang gegenüber, schweigend, und schauten sich nur gegenseitig in die Augen. Aylea behauptete, seine wären das Faszinierende, nicht umgekehrt. Er ließ sie in dem Glauben (den er nicht teilte), schon deshalb, weil er fürchtete, sie könnte sich sonst nie wieder mit zu diesen »Sitzungen«, diesen ganz privaten Zusammenkünften bereit erklären. Er mochte sie. Sie war die Jüngste, die Verletzlichste und Wehrloseste an Bord – neben ihm selbst. »Nichts ist. Du hast mich gerade gefragt, was ich von dem aufgefangenen Signal halte – und ich wollte dir nur darauf antworten.« »Können wir das nicht im Gehen erledigen?« »Hast du es so eilig?« Sie senkte den Blick. Schüttelte dann den Kopf. »Nein.« »Was ist los mit dir?« »Mit mir?« Sie sah auch jetzt nicht auf. »Ich habe schon länger das Gefühl, dass dich etwas bedrückt.
Manchmal glaube ich, wir beide verstehen uns blind, funken auf derselben Wellenlänge – dann wieder … nun, dann wiederum gibt es Tage, Stunden, in denen ich denke, du ziehst dich ganz in dich zurück, und niemand weiß, wie es dir geht, was in dir vorgeht. Verdammt, ich mache mir Sorgen!« »Brauchst du nicht.« Schon ihr betont gelangweilter Ton verriet, dass er auf einer Spur war, die so falsch nicht sein konnte. »Du kannst mit mir über alles reden.« »Weiß.« Sie scharrte mit dem Fuß. »Über alles, was dich bewegt, und dazu gehören auch die Dinge, die dir Kummer bereiten.« Jelto ließ nicht locker. Vielleicht, weil es ihm selbst oft nicht gut ging. Weil er zu ahnen glaubte, was dem Mädchen fehlte – unvorstellbar weit von dort entfernt, wo sie eigentlich hätte sein sollen. Genau wie er. »Können wir jetzt endlich weitergehen?« Jetzt sah sie ihn an. Ihre Augen glitzerten. Ihr Blick erschreckte ihn. »Kind …« »Nenn mich nicht Kind! Wie oft habe ich dir das schon gesagt?« »Oft.« »Eben!« Jelto setzte sich wieder in Bewegung, Aylea wartete, bis er auf gleicher Höhe war, dann drehte sie sich und trottete neben ihm her. Er spürte, wie es in ihr brodelte. Aber er wusste nicht, ob sie einfach nur von seiner Fragerei genervt war oder ob etwas anderes dahinter steckte. »Noch mal«, sagte er. »Was denkst du?« »Fängst du schon wieder an?« Sie konnte fauchen wie eine gereizte Katze. »Nein – diesmal meine ich die Sache mit Boreguir. Wie denkst du darüber?« Sie überlegte. Zumindest tat sie, als müsste sie sorgsam nachdenken, ehe sie antwortete. »Wär 'ne tolle Sache«, sagte sie schließlich. Und leiser: »Ich möchte auch mal …« Sie verstummte, biss sich auf die Lippe. »Du möchtest auch mal … was?«
»Gar nichts. Ist nicht wichtig.« Das bezweifelte er. Aber er sah auch ein, dass es unklug gewesen wäre, sie zu sehr in die Enge zu treiben. Wenig später erreichten sie Jeltos Reich. Den hydroponischen Garten, den er an Bord der RUBIKON angelegt hatte. Hier erwachte Aylea aus ihrer Lethargie. Der Florenhüter wertete es als gutes Zeichen, dass sie sich – wie eigentlich von Beginn an – für seine Gewächse interessierte. An diesem Tag schien ihm ihre Liebe zu den Pflanzen noch größer zu sein als sonst. »Sie mögen dich«, sagte er immer wieder, wenn sie vor einer Blume standen, deren Blüten besonders farbenprächtig waren oder deren Kelche besonders angenehm dufteten. In Wahrheit reagierten die Geschöpfe des Gartens wohl eher auf ihn, auf seine allgegenwärtige Aura, aber Aylea schien die Vorstellung zu gefallen. Speziell die schillerndsten Blumen betreffend fragte sie ihn bis in die kleinsten Details aus. »Ich suche noch ein paar hübsche Pflänzchen für mein Zimmer«, sagte sie. Sie nannte ihre Kabine immer »Zimmer«, vielleicht weil es sie an die Erde erinnerte, an … »Wir werden etwas finden, was genau so hübsch ist wie du«, lächelte er. Stundenlang streunten sie gemeinsam durch den Garten. Manchmal musste Jelto sich kurz entschuldigen, weil eine Pflanze seine Hilfe brauchte, aber er kehrte immer wieder so rasch es ging zu Aylea zurück. Ihr schien es nichts auszumachen, zwischenzeitlich auch allein umherzustreifen. Als er wieder einmal zurückkam, brachte er die Nachricht mit, dass ein Objekt aus dem All geborgen worden war – bei den Koordinaten, zu denen das empfangene Signal geführt hatte. Aylea zeigte wenig Interesse. Die Blume, vor der sie gerade stand, schien sie sehr viel mehr zu faszinieren. Entschlossen sagte sie: »Die hier. Wie wäre es mit der? Sie ist unglaublich schön.« Jelto erschrak ein wenig und erklärte ihr, warum das nicht ging. Sie hörte sich seine Argumente an – und verwies darauf, dass sie kein Baby mehr sei. Sie werde schon aufpassen, versprach sie. Sie
war so überzeugend. Und auch wenn sie erst zehn Jahre alt war, war ihr Verstand der eines Erwachsenen. Er konnte sich auf sie verlassen. Glaubte er. Und willigte deshalb schließlich, wenn auch widerstrebend, ein. Ohne zu ahnen, dass Aylea ihn nach Strich und Faden belog.
Sechs mal sechs mal sechs Meter. Die »Pralinenschachtel«, wie Jarvis es genannt hatte, schwebte vor der RUBIKON im All. Das Bild in der Holosäule vermittelte das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um das Objekt fassen und an Bord des Schiffes ziehen zu können. Auch in der Realität würde es nicht sehr viel schwerer sein, die Hinterlassenschaft Darabims (worum sonst sollte es sich handeln?) in einen Hangar zu befördern. Die tatsächliche Frage war immer noch: Wollten sie das riskieren? Will ich es riskieren?, dachte Cloud, dem Zweifel an der eigenen Theorie gekommen waren. Falls Arabim wieder die uneingeschränkte Oberhand über das Zwitterkonstrukt erlangt hatte, das die Jay'nac aus ihm und Darnok geformt hatten, war es absolut denkbar, dass er ihnen einen letzten Gruß schickte, ihnen eine Falle stellte, die sie endgültig für alle Zeit als latente Gefahr aus dem Verkehr ziehen würde. Vielleicht hatte er nur den Abzug der Schöpfer abgewartet, um sein »Geschenk« auszuschleusen – auf die Neugier der Menschen bauend, die selten widerstehen konnten, wenn sie Derartiges auf dem Tablett serviert bekamen … Ich trage eine Verantwortung der Crew gegenüber, dachte er. Vielleicht ist es einfach nur eine Kiste Müll, gefährlicher Müll, den irgendein ErinjijSchiff abgestoßen hat, ehe es ins Wurmloch eintauchte. Aber daran glaubte er nicht wirklich. Er glaubte daran, dass dieser Quader für sie dagelassen worden war – und dass es sich um keine Hinterlist, keine Heimtücke des Arabim-Anteils an Darabim handelte!
Aber konnte man auf Glauben, auf sein pures Bauchgefühl bauen, wenn so viele Leben auf dem Spiel standen? »Sesha?«, wandte er sich an die KI. »Neue Erkenntnisse?« »Das Objekt ist keinesfalls massiv, die Hülle ist allseits einskommadreisieben Meter dick, und es besitzt ein autarkes Energiesystem.« »Waffen? Könnte es … eine wie auch immer geartete Bombe sein?« »ja.« »Aber auch alles andere?« »Ja.« »Danke, du hilfst mir ungemein weiter!« Die KI schien geneigt, das vermeintliche Lob für bare Münze zu nehmen. Cloud überlegte, ob es Sinn machte, Sesha in die Feinheiten des menschlichen Sarkasmus einzuführen. Cloud suchte Scobees Blick, der aber nur zu sagen schien: Deine Entscheidung. Meine Meinung dazu kennst du. Er rang mit sich, wog Für und Wider, Chance und Gefahr ab … und entschied. »An Bord damit!«, wies er Sesha an. »Höchste Sicherheitsstufe!« Minuten später waren er, Scobee und Jarvis unterwegs dorthin, wo Sesha den Würfel deponiert hatte. Begriffe wie Trojanisches Pferd oder Büchse der Pandora geisterten durch Clouds Hirn. Er war froh, dass keiner seiner Begleiter zu merken schien, wie die Selbstzweifel, ob sein Entschluss gut und richtig für sie gewesen war, buchstäblich explodierten, während sie an das Objekt aus dunkelblauem Metall herantraten. Es ruhte scheinbar sicher hinter mehrfach gestaffelten Energiefeldern. Die aber nicht verhinderten, dass es sich in dem Moment, als Cloud und die anderen eine unsichtbare Distanz unterschritten, öffnete. Die Öffnung lag genau in der Mitte einer der Seitenschenkel und ihr unterer Rand etwa zwei Meter vom Hangarboden entfernt. Cloud blieb sofort wie erstarrt stehen. Scobee zog ihren am Gürtel befestigten Blaster. Jarvis hob seinen rechten Arm, an dessen Ende
sich die »Hand« in den Abstrahlpol einer mächtigen Waffe verwandelte. Und noch während Cloud fieberhaft überlegte, ob sich Pandoras Büchse soeben vor ihnen aufgetan hatte, um Unheil über Schiff und Besatzung auszuschütten, erschien in der entstandenen Öffnung eine wankende Gestalt. Es fiel ihr sichtbar schwer, sich auf den Beinen zu halten, aber es war definitiv keine mythische Plage oder etwas monströs Außerirdisches, sondern trug trotz des sichtlich lädierten Zustands vertraute Züge. Sie hob die Hand vor die Augen, als müsste sie sie gegen das ungewohnt gewordene Licht schützen. Als hätte sie zu lange in völliger Finsternis zugebracht. Das Gesicht spiegelte Entbehrungen wider, die sich über Tage oder Wochen gezogen haben mussten. Scharfe Linien hatten sich in eine Haut gegraben, die sowohl Cloud als auch Scobee um einiges glatter in Erinnerung hatten. Niemand, der die schlanke Frau dort oben … die Frau, die jetzt ungewohnt zaghaft zu ihnen herabwinkte … kannte – und davon gab es in dieser Zeit, verflucht wenige (eigentlich nur uns, dachte Cloud, mich, Scob und Jarvis…) –, hatte sie jemals in dieser Verfassung gesehen. Aber sie war am Leben. Nur das zählte. »Es könnte immer noch eine Falle sein«, zischte Scobee ihm leise zu. »Wir sollten weiter wachsam bleiben.« Cloud gab ihr Recht, so schwer es ihm angesichts des Bildes, das die Frau bot, auch fallen mochte. »Sesha – Scan!« Die KI reagierte sofort. »Keinerlei Anzeichen für biologische Gefahr«, erklärte sie. »Der Mensch ist in einem desolaten Zustand – aber nicht infektiös.« »John?« Jarvis' Stimme klang drängend. Klang, als könnte er es nicht mehr ertragen, irgendjemanden so jämmerlich dastehen und darauf hoffen zu sehen, dass man ihr endlich zu Hilfe eilte und sie aus dem Kerker herausholte, in dem sie, lebendig begraben, gestorben wäre, hätte man sie nicht aus der eisigen Ödnis des Alls gefischt.
»Schilde deaktivieren!«, wies Cloud die KI an. Und während Jarvis vortrat, sich streckte und die zierliche Gestalt dort oben behutsam umfasste, um sie herunterzuheben, rannen ihr die ersten Worte über die spröden, rissig gewordenen Lippen. »Da …«, stammelte Sarah Cuthbert, ehemals Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika und mächtigste Frau der Erde. »… da sind noch mehr. Kümmert euch … bitte … um sie … Es geht ihnen nicht … gut.«
Cloud war ein Kind des 21. Jahrhunderts. Einer Zeit, die nicht nur zivilisatorische Großleistungen hervorgebracht hatte, wie etwa auf dem irdischen Mond eine dauerhafte Kolonie einzurichten, die den Abbau von Bodenschätzen betrieb … oder die ersten Menschen zum Nachbarplaneten zu schicken, sondern in der es auch zu unglaublichen Auswüchsen gekommen war. Exzesse der Gewalt und Ausbeutung. Menschenhandel. Container, in denen hoffnungsvolle Flüchtlinge aus damals armen Ländern heimlich in die reicheren Staaten eingeschleust wurden, kannte er nur aus entsprechenden Dokumentationen, TV-Reportagen oder Berichten in den Printmedien. Hier und jetzt, Lichtjahrtausende von der Erde entfernt, fühlte er sich daran erinnert. Der Würfel der Erinjij, der Würfel, der auf Geheiß eines Keelon-Masters zurückgelassen worden war, weckte genau diese Assoziationen. An Elend und Menschenverachtung. An Zusammengepferchtsein auf engstem Raum, Dunkelheit, Mangel an Nahrung, Trinkwasser und hygienischen Einrichtungen … Die Sprachlosigkeit angesichts des Bildes, das sie im Innern des Quaders erwartete, erstickte lange Zeit jedes richtige Gespräch. Cloud ordnete an, dass die spinnenartigen Roboter der RUBIKON dabei halfen, die Befreiten mit allem Nötigen erstzuversorgen. Es waren insgesamt ein gutes Dutzend Menschen in den absonderlichsten Erscheinungsbildern. Was irritierte, aber niemand daran hinderte, ihnen zu helfen. Erst als alle geborgen und im Hangar mit Decken, Trinken und Nahrungskonzentraten versorgt waren, wand-
te sich Cloud an Sarah Cuthbert, um zu erfahren, wer all diese teilweise mehr als skurril aussehenden Menschen waren. »Sie waren Attraktionen eines Zirkus im Getto«, sagte die Ex-Präsidentin müde. »Ihr Direktor heißt Prosper Mérimée … der Weißhaarige dort drüben.« Cloud folgte ihrem ausgestreckten Arm – und erkannte verblüfft, dass der ältere Mann, von dem Sarah Cuthbert sprach, auf einem Stapel Bücher saß. Alte, ausnahmslos antiquarisch wirkende Bücher, die fast ebenso lädiert wirkten, wie der Mensch, der auf ihnen saß wie auf einem Thron. Er schaute nicht herüber, starrte dumpf zu Boden. Die Ex-Präsidentin nickte Cloud zu, als wüsste sie genau, was ihn stutzig machte. »Er ist ein Büchernarr – aber das ist eine andere Geschichte. Nicht einmal ich weiß, wie es ihm gelang, unsere Peiniger dazu zu bringen, ihm wenigstens einen Teil seiner Schätze zu überlassen …« Sie seufzte, zeigte auf die anderen. »Außer Mérimée sind da noch Sahbu, seine rechte Hand, Lydia, Paula …« Sie zählte etliche Namen auf, die sich Cloud auf die Schnelle gar nicht alle merken, geschweige denn zuordnen konnte, und schloss mit den Worten: »Es war ein verdammter Fehler, mich damals einfach so davonzustehlen und euch nicht beim Sturm auf die Master-Residenz zu begleiten.* Ihr, die ihr Sadako gefolgt seid, scheint es merklich besser getroffen zu haben.« Sie lächelte freudlos. »Das täuscht, wie Sie vielleicht inzwischen wissen, Madam President.« Es fiel Cloud schwer, in der Nähe dieser Frau nicht förmlich zu werden, also benahm er sich einfach so, wie er glaubte, sich benehmen zu müssen. Schon im irdischen Getto – dem ehemaligen Peking – waren sie einander begegnet, und er erinnerte sich schon gar nicht mehr, ob sie einander damals gleichwertiger begegnet waren. »Sadako ist tot. Auch wir sollten sterben, seiner Heimtücke zum Opfer fallen. Das konnte abgewendet werden, aber einen Sieg würde ich es nicht nennen, was wir erzielten. Wir waren froh, unsere Haut zu retten – dank der gnädigen Mithilfe der Foronen, die sich aber auch nicht unbedingt als unsere verlässlichsten und ehrlichsten *siehe Bad Earth-Heft 22: »Im Herzen der Macht«
Freunde entpuppten … Ich glaube, wir haben uns gegenseitig viel zu erzählen. Was mich vor allem anderen interessiert, ist jedoch, warum Darabim Ihnen und den anderen das angetan hat. Es sieht aus, als lägen Wochen oder Monate schlimmster Entbehrungen hinter Ihnen – nicht erst ein paar Stunden oder Tage. Aber länger können Sie hier noch nicht ausgesetzt gewesen sein.« »Darabim? Ich kenne keinen Darabim«, sagte Sarah Cuthbert. »Wir hörten von einem Master namens … Arabim. Meinen Sie den?« Cloud schüttelte den Kopf. »Sie sind ihm nie begegnet?« »Es ist nicht so leicht mit drei Sätzen zu erklären. Das Getto … wurde zerstört. Die Master nahmen Rache für … für das, was Sadako offenbar versuchte, aber scheiterte.« »Zerstört?«, wiederholte Cloud. »Sie meinen …?« »Es gibt keine Überlebenden außer uns …« Sie machte eine ausholende Geste hin zu all den jammervollen Gestalten, die auf dem Boden des Hangars saßen. »Es war wie ein Kreuzzug blindwütigen Hasses. Wir versuchten zu entkommen, indem wir zum verlassenen Hauptquartier der Omikronisten flohen. Die dortigen unterirdischen Tunnel … Sie wissen schon.« »Aber Sie schafften es nicht?« »Wir wurden im HQ empfangen. Von jemandem, den auch Sie kennen.« Noch während Cloud überlegte, fuhr sie fort: »Er hat uns das hier angetan, hat uns unter unmenschlichsten Bedingungen gefangen gehalten, Verhören unterzogen und … gefoltert. Bis er offenbar den Befehl erhielt, uns einzusammeln, auf ein Raumschiff zu schaffen und … Der Rest ist bekannt. Wir wurden in dieses Ding dort gesperrt und uns selbst überlassen. Wir wussten nicht einmal, dass wir aus dem Raumschiff hinausgeworfen wurden. Dieser Mann ist kein Mensch, auch wenn er es äußerlich zu sein scheint. Er ist schlimmer als jeder Master, denen er seine Seele verpfändet … und die ihn dafür mit einem Einfluss beschenkt haben, der nur Furchtbares gebären kann. Reuben Cronenberg war als Kopf des NCIA ein Bastard – und er ist es erst recht als Handlanger der Master geworden!«
1. Kapitel Sobald er mit seinem Steuersitz verschmolz … sobald alle Sinne seines biologischen Körpers fast unmerklich in die Sinne des kybernetischen Komplexes – des Schiffes – überglitten und er mit vielfach gesteigerter Potenz ins All hinaussah, hinauslauschte, hinausfühlte… wusste er, dass es sich gelohnt hatte, die Zeit zu betrügen. Sie zu überlisten im traumlosen Schlaf. Ohne die Stase wäre er längst zu Staub zerfallen und vergessen. Nach so vielen Jahrtausenden. Aber er lebte. Und atmete – nicht nur mit seiner immer noch geschätzten lebendigen Hülle, sondern auch mit den mikroskopischen Poren des HAKARs, die kosmische Strahlung, Licht, dunkle Materie und Energie, Gravitation und Vakuumkälte in sich einsogen, abschätzten und teilweise verdauten, dem Schiff als wertvollen Rohstoff verfügbar machten … Aaaaaaah! Der Seutzer fand nur in seinen Gedanken statt, und niemand war da, der darauf einging. Mecchit genoss das Alleinsein. Die Abgeschiedenheit des rundum geschlossenen Kommandositzes – einem von sieben. Die anderen sechs waren offen und verwaist, Relikte aus einer Zeit, da er und die anderen sechs Hohen noch das Septemvirat der Foronen gebildet hatten. Die Herrscher-Elite. Inzwischen war einer von ihnen – Mont – tot. Er hatte die Stase nicht überlebt. Und zwei weitere – Sobek und Siroona – galten als verschollen, seit sie mit dem originalen SHSHA-Raumschiff, aus dem sämtliche HAKARs hervorgegangen waren, den Sprung zur Alten Heimat, nach Samragh, gewagt hatten. Bis heute fehlte jedes Lebenszeichen, jede Nachricht von ihnen. Und Mecchit gehörte zu den Skeptikern, die glaubten, dass sie sich
auch nie mehr melden, nie mehr wiederkehren würden. Weil sie dem Urfeind in die Hände gefallen waren, den Virgh! Jenen grausamen Titanen, die die Foronenheimat einst überrannt und auch für alle anderen ansässigen raumfahrenden Spezies unbewohnbar gemacht hatten. Ortung! Die Stimme der KI brach in seine Gedanken- und Sinneswelt ein – bei aller Vehemenz mit der gebührenden Behutsamkeit, fast zärtlich, wie Mecchit ihr zugestehen musste. Details!, verlangte er auf gleicher Ebene. Die Kommunikation mit der Schiftsseele bedurfte keiner Lautsprache. Zwischen Foronen war die Verständigung auf beiden Ebenen möglich: Für intimeren oder dringlicheren Austausch bevorzugten sie den nonverbalen Austausch, für den alltäglichen Umgang oder die Weitergabe von Weisungen, die nicht aus der Norm fielen, den verbalen. Doppelsternsystem … (es folgten Zahlenkolonnen, die eine exakte Positionsbestimmung innerhalb des Gefüges dieser Galaxis erlaubten) Zweiter von insgesamt achtzehn Planetenumläufern weist sämtliche Charakteristika auf, die den geforderten Kriterien entsprechen. Empfehle Kursänderung und Orbitalanalyse. Mecchit brauchte nicht lange zu überlegen. Einverstanden. Kursänderung. Ankunftszeit? Die daraufhin von der KI übermittelte Angabe zeigte, dass ihm gerade genug Zeit blieb, um den Rest der Zentrale-Besatzung über das neue Ziel in Kenntnis zu setzen – und um Moaree einen Besuch abzustatten.
Mecchit verließ die Zentrale des HAKARs – SESHA-Kopie-47 – und ignorierte die Türtransmitter, die ihn bedeutend schneller an sein Ziel gebracht hätten, zu Moaree. Stattdessen stapfte er den Korridor entlang und strafte die ihm entgegen eilenden Foronen mit Nichtbeachtung. Erst an einer Kreuzung blieb er abrupt stehen. Das Innere eines HAKARs entsprach in seinen Ausmaßen einer Stadt, wobei, wie bei der Original-SESHA, der größte Teil hinter Dimensionswäl-
len verborgen lag. Von außen betrachtet wirkte das Gebilde dementsprechend fast unspektakulär. Menschen hätten in ihm etwas gesehen, das einem Manta-Rochen aus der irdischen Fauna ähnelte, bei einer ungefähren Länge von gut 250 Metern und einer Breite – von einer Schwinge zur anderen gerechnet – von rund dreihundert Metern. Die dickste Stelle maß fünfzig Meter. All dies, wie gesagt, war der äußere Anschein. Die Dimensionswälle ließen sich bei Bedarf jedoch abschalten, und dann explodierte der HAKAR buchstäblich zu seiner wahren Größe, die das Zehnfache der »unterdrückten« betrug. Gründe, die Dimensionsschranken zu deaktivieren, gab es jedoch selten. Und berücksichtigte man den zuschaltbaren »Schweif« des Rochens, an dessen Spitze sich der Projektor befand, mit dem die Kontinuumswaffe zum Einsatz gebracht wurde, dann potenzierte sich auch die eingedämmte Länge auf das Doppelte, auf einen halben Kilometer. Ein simpler Gedankenimpuls genügte, um Mecchits Rüstung – nur die Hohen des Septemvirats verfügten über diese Fabeltechnik – wachsen zu lassen. Hatte sie zuvor nur Rumpf, Arme und Beine bedeckt, so glitt sie nun auch über den knöchernen Schädel des Foronen, seine Hände und jede andere vorher bloß gelegene Stelle. Im nächsten Moment hieb die Faust des Hohen gegen einen mit Gefahrenfarbe markierten Sensor in der Korridorwand. Mit einem fauchenden Geräusch bildete sich eine siebeneckige Öffnung in der fugenlosen Wandverkleidung. Hinter einem Energieschirm, der dafür sorgte, dass der Korridor oder darin befindliche Foronen keinen Schaden nahmen, gloste es unheilvoll. Mecchit zögerte keinen Moment, sondern machte einen Schritt nach vorn und passte das Energieniveau seiner Rüstung dem des Schutzfeldes an, das die entstandene Öffnung versiegelte. Er glitt hindurch, ohne dass ihm spürbarer Widerstand geboten wurde. Und im nächsten Moment stand er im Innern einer Sonne.
Natürlich war es keine echte Sonne, die er durchschritt, erhaben wie
ein Gott. Aber die Temperaturen, die ihn umflossen, hätten mühelos mit einer solchen konkurrieren können. Mecchit beachtete nur beiläufig, wie das Zeitschloss die Wartungsöffnung hinter ihm wieder verschwinden ließ, als sei es eine blitzschnell heilende Wunde. All seine Sinne, all seine Konzentration richteten sich auf die Hölle, die er vorsätzlich betreten hatte und … genoss. Die ihn sich fühlen ließ wie ein Gott. Eine eigenwillige Abkürzung, mehr war es im Grunde nicht. Der Plasma gefüllte Kanal, in dem er stand, versorgte die Umweltgeneratoren des HAKARs mit der erforderlichen Energie, die in den gewaltigen Meilern im Herzen des Schiffes erzeugt wurde. Die Umweltgeneratoren wiederum hielten das fragile Gleichgewicht von Schwerkraft, atembarem Luftgemisch und »Wohlfühltemperatur« an Bord aufrecht. Sie steuerten die Wasser- und Fäkalaufbereitung. Und die Aufzucht und Hege von allem, was den Foronen als Nahrung diente. Ein HAKAR war ein Mikrokosmos, der sich binnen weniger Augenblicke in eine unbesiegbare Raumfestung verwandeln konnte. Hätten wir damals die Anzahl von SESHAs besessen, die heute existieren, dachte Mecchit, wir hätten die Virgh bis ans Ende des Universums gejagt! Es war seine feste Überzeugung. Aber es hatte Jahrtausende gebraucht, um Tovah'Zara wachsen zu lassen und damit die Voraussetzung zu schaffen, die Fluchtarche der Foronen zu duplizieren, wie jüngst geschehen. Und auch heute, Äonen nach der Flucht aus Samragh, hatte es eine riesige Sternenregion verödet, deren gesamtes Energiepotenzial aufgebraucht und gestohlen, um aus der SESHA-Arche baugleiche Kopien hervorzubringen, zu gebären. Baugleich? Mecchit wusste es besser. Aber auch wenn kein HAKAR an das Original heranreichte, war er immer noch jedem bekannten Schiffstypus überlegen. Eine Bastion. Jeder HAKAR barg das Potenzial in sich, die Kernzelle einer neu-
en foronischen Hochkultur zu werden. Und deshalb, um dies zu schaffen, war Mecchit, waren weitere 86 Kommandanten letztlich unterwegs im Dschungel fremder Sterne. Ihre Mission war von existenzieller Bedeutung für den Fortbestand ihres Volkes. Und niemand vermochte dies besser zu verstehen als Moaree, die wissenschaftliche Leiterin an Bord des HAKARs – und Mecchits Gefährtin. Der Forone durchquerte die Plasmaröhre in gemessenem Tempo. Seine Rüstung schützte ihn, ohne ihn in der Absolutheit von seiner Umgebung zu isolieren, die ihm auch den Genuss, den ein solches Trotzen gegen Urgewalt bedeutete, vorenthalten hätte. Als er auf der anderen Seite ankam und den Mechanismus der dortigen Wartungsöffnung auslöste, hatte er das Gefühl, eine Katharsis durchlaufen zu haben. Er fühlte sich gereinigt und befreit vom Ballast des Alltäglichen, der sich immer wieder aufs Neue unsichtbar auf seinen Schultern stapelte, bis er meinte, davon erdrückt zu werden. Dann brauchte er Befreiungsschläge wie diesen – wobei der Marsch durch eine Plasmaröhre zu den harmloseren Möglichkeiten gehörte. Nicht selten mündete Mecchits Unwohlsein in der Vernichtung einer hohen Zahl von Geschöpfen. Besatzungen fremder Raumschiffe. Bewohner fremder Planeten. Planeten … Er verließ den Schacht, registrierte mit Genugtuung, wie zufällig des Wegs kommende Foronen erschrocken vor ihm zurückwichen – erst recht, als sich seine Rüstung wieder zurückbildete und den charakteristischen Kopf des Hohen entblößte – und legte die Reststrecke zu Moarees Labor zurück. Sie war gerade in ein Projekt vertieft, das sie in Mecchits Auftrag betrieb – ein ebenso geheimes wie persönliches Projekt, von dem niemand sonst an Bord auch nur ahnte. Oder auf einem der anderen HAKARs. Oder, dachte Mecchit selbstgefällig, an Bord des SESHAOriginals, das sich noch immer irgendwo in Samragh herumtreiben mochte. »Bist du weitergekommen?«, begrüßte er die Frau, die noch andere seiner Geheimnisse kannte und mit ihm teilte, die Frau, die er
schon vor dem Gang in die Stase, eine kleine Ewigkeit zuvor, gekannt hatte. Ein Paar, von dem niemand wusste, dass es miteinander intim war. Dass seine Kontakte über das Offizielle und Öffentliche hinausgingen. Mecchit wollte es so. Noch. Aber er konnte sich auch – mehr denn je – eine Situation vorstellen, in der dieses Geheimnis von ihm selbst offenbart würde. Eine Welt für Foronen … eine ideale Welt für Foronen, wie sie sie vielleicht in Kürze betreten konnten, und er und Moaree würden dort – »Es ist … schwierig.« Der Klang ihrer Stimme, von der rötlichen Membran an der Vorderseite ihres Schädels erzeugt, riss ihn aus seinem kurzen Tagtraum. »Wäre es leicht, wäre es eine Bagatelle, hätte ich nicht dich damit beauftragt, sondern …« »Sondern?« »… es selbst getan.« »Vielleicht fiele es dir leichter als mir.« »Du warst schon immer zu bescheiden. Ich achte deine Fähigkeiten nicht nur, ich kenne sie offenbar auch weit besser als du selbst.« »Ich wollte, ich könnte deine hohe Meinung über mich rechtfertigen. Leider ist es jedoch –« »Wie ist der Status?«, unterbrach er sie ungeduldig. »Die meiste Zeit erforderte die Säuberung und Rekonstruktion des mir zur Verfügung gestellten Materials. Dies ist nun abgeschlossen. Die Zucht hat begonnen. Allerdings … nun, es gibt Schwierigkeiten, wie ich dir gerade begreiflich zu machen versuchte …« Mecchit trat näher an sie heran. So nah, dass sich ihre Arme streiften und Moaree unmerklich zusammenzuckte. Er spürte ihre Erregung und wusste, dass sie einander im Beisein anderer niemals so nahe kommen durften wie jetzt, weil sie sich sonst unweigerlich verraten hätten. Moaree zumindest hätte dies getan. Sie hatte sich nicht halb so gut unter Kontrolle wie Mecchit, was er ihr aber verzieh, da sie ihm we-
der, was ihre Herkunft noch was ihr effektives Lebensalter anging, auch nur annähernd gleichkam. Vor ihnen befand sich ein Tank, der Deckel glasklar, sodass zu erkennen war, was in der darin befindlichen, leicht trüben Flüssigkeit schwamm. Ein Embryo. Ein verwachsener Embryo. Entartetes Gewebe. Mutiert … Mecchit ließ sich seine Erschütterung nicht anmerken. Hätte es sich um einen beliebigen Foronenklon gehandelt, wäre seine Reaktion sehr viel schwächer ausgefallen. So aber … »Wie konnte das passieren?« Ihre Hand strich über den Deckel, als wollte sie ihn durchstoßen und hinabgreifen zu dem unglückseligen Geschöpf, es tröstend berühren … und ihm einfach den Hals umdrehen, um es davor zu bewahren, größer, älter und sich seiner bewusst zu werden. »Wenn ich das wüsste, hätte ich es im Vorfeld zu verhindern versucht, aber …« »Du tappst völlig im Dunkeln?« »Nicht … ganz.« »Dein Verdacht?« »Es muss mit … nun, es muss mit eurer speziellen Konditionierung zu tun haben, über die du nicht sprechen willst. Ich habe dich mehrfach danach gefragt, mehrfach darauf hingewiesen, dass es zu Problemen kommen könnte. Es gab immer wieder Fehlermeldungen während der Zellrekonstruktion, während der Herstellung des vollständigen Bauplans …« Bauplan. Das Wort missfiel Mecchit im Zusammenhang mit einem, der einmal gewesen war wie er. Einem Auserwählten. Einem Angehörigen der höchsten Elite, die sein Volk kannte … und mit allen Befugnissen ausstattete … Die Konditionierung, von der Moaree sprach, war das bestgehütete Geheimnis derer, die das Septemvirat bildeten. Nur Hohe wie Mecchit – oder Sobek, Siroona … wie sie alle hießen – hatten diese
Stählung des Körpers durchlaufen. Diese Schärfung der Sinne. Diese Aufhellung des Geistes. Von Moaree unbemerkt berührte er einen bestimmten Sensor seiner Nanorüstung, worauf ein »Bauplan« seiner selbst aufgerufen und vor sein geistiges Auge projiziert wurde. Es war eine dreidimensionale »Aufrissskizze« seines Körpers, so detailliert, dass sie selbst winzigste Nervenbahnen umfasste … und mehr noch. Ein weiterer Sensorbefehl, und Mecchit hatte das Gefühl, seine Hülle durch ein Rastermikroskop zu betrachten, auf sie zuzurasen, in sie einzutauchen – in den ganz speziellen Mikrokosmos seines Organismus. Vor ihm öffneten sich Zellen, ins Riesenhafte vergrößerte Moleküle, Aminosäuren … die Dreifachhelix, aus der sich das Erbgut zusammensetzte. Er schaltete ab. Moaree stand immer noch da. Abwartend. Ungeduldig. Und … sie versuchte nicht einmal, es zu verbergen … erzürnt. Mecchits Blick tauchte hinab in den Tank und sog jedes Detail des Embryos in sich auf. »Zeig mir die Simulation«, verlangte er. Sie wusste sofort, was er meinte und wandte sich mit entsprechenden Befehlen an die allgegenwärtige KI. Als sich das Hologramm über dem Tank aufbaute, traten sowohl Mecchit als auch Moaree zwei Schritte zurück, um es besser in Augenschein nehmen zu können. Zunächst stellte es nicht mehr dar, als ein – auch in der Größe – exaktes Abbild des Embryos, der in der Nährlösung schwamm. Doch schon Augenblicke später kam das von der KI initiierte Programm zum Tragen, und das Hologramm simulierte die rasante Reife des Klons. Bis hin zum voll ausgebildeten Geschöpf. Bis hin zum erwachsenen … Mont. Beziehungsweise bis zur Karikatur jenes Hohen, der den Gang in die Stase und die »Überwinterung« all der Jahrtausende nicht überlebt hatte. Der nackte Körper des aus unbekannten Gründen verstorbenen Foronenführers war mit Geschwulsten übersät; manche seiner Extre-
mitäten wirkten überlang, andere seltsam verstümmelt. Am nachhaltigsten ins Gedächtnis aber grub sich die gewaltige Ausbuchtung an seinem Hinterkopf, die fast wie ein zweiter, unvollkommen gebliebener Schädel wirkte, der mitten im Wachstum gebremst worden und schließlich verkümmert war. Vor ihnen, über dem Tank, schwebte eine Missgeburt, die Mecchit schließlich dazu veranlasste, sich selbst mit dröhnender Stimme an die KI zu wenden. »Genug! Simulation aus!« Das Hologramm verblasste. Moaree wusste, wann sie zu schweigen hatte, und nach einer Weile, in der die Stille sich wie ein heilendes Tuch über ihn zu senken schien, sagte er: »Es tut mir Leid. Ich hätte deine Einwände ernster nehmen müssen. Ich … werde dir alle nötigen Daten zur Verfügung stellen, um es beim nächsten Mal besser zu machen und … solche Entgleisungen zu vermeiden. – Besitzt du noch genügend Ausgangsmaterial?« »Für mindestens drei Versuche.« »Gut.« Er machte eine Geste der Zufriedenheit. »Dann töte dieses … Balg.« Für einen flüchtigen Augenblick glaubte er Entsetzen über seinen Befehl auf ihren Zügen lesen zu können – Züge, die nur Foronen untereinander zu lesen vermochten. Doch dann machte sie ihrerseits eine Bewegung, die rückhaltlose Zustimmung signalisierte. »Wann bekomme ich die Daten?«, fragte sie. »Du hast sie bereits in deinem Memoryspeicher – gehe achtsam damit um. Sie dürfen niemals – ich betone: niemals – in andere Hände fallen.« Sie bestätigte. Ihr war klar, dass selbst ein Hoher mit Konsequenzen hätte rechnen müssen, wenn bekannt geworden wäre, was er getan hatte. Zumindest Sobek gegenüber, der so etwas wie der ungekrönte König innerhalb des Septemvirats verkörperte, hätte er Rechenschaft für sein Tun ablegen müssen. Die Probe aus dem Körper des toten Mont war heimlich von Mecchit entnommen worden – ein Sakrileg aus foronischer Sicht, und nur Moaree allein war eingeweiht, was Mecchit damit bezweckte.
Es gab Spezies – und Foronen gehörten dazu –, bei denen sich aus geringsten Geweberesten nicht nur die Körper neu klonen ließen, sondern auch … Bewusstseins- und Gedächtnisinhalte. Es war Mecchit von Anfang an verdächtig vorgekommen, dass Sobek so rasch auf die Übergabe der sterblichen Reste des Hohen Mont ans All gedrungen hatte. Der Eindruck, dass Sobek etwas zu verbergen hatte, dass er Spuren in Hinblick auf Monts ominöses Dahinscheiden verwischen wollte, lag zumindest für den auf der Hand, der lange vorher schon hatte beobachten können, wie die Rivalität zwischen Sobek und Mont, Siroona betreffend, immer mehr ausgeufert war. Aber ohne eindeutige und unstrittige Beweise hätte Mecchit Mont niemals anklagen können, ohne sich selbst höchster Gefahr auszusetzen. Und auch wenn er darauf baute, dass Sobek wahrscheinlich nie mehr aus Samragh zurückkehrte, konnte er sich dessen erstens niemals völlig sicher sein. Und zweitens würde eine Bestätigung seines Verdachts, dass Sobek mit Monts Tod zu tun hatte, Mecchit selbst dann nützen, wenn die Original-SESHA für immer verschollen blieb. Es galt, Sobeks Nimbus zu zerstören. Seinen Ruf zu ruinieren … … und somit Tür und Tor zu öffnen dafür, dass er, Mecchit, in die Fußstapfen des Mächtigsten aller Foronen schlüpfen konnte … … selbst um den Preis, Mont dafür als Golem wiedererstehen zu lassen.
»Der Klon war nicht alleiniger Grund deines Kommens, habe ich Recht?« »Du kennst mich gut.« »Ich ehre und achte dich.« »Es gibt kein wichtigeres Kriterium, mich zu verdienen.« Er wusste, dass er so mit ihr reden konnte. Er wusste, dass sie ihn trotzdem ehren und achten und … lieben würde, bis ans Ende ihrer Tage. Moaree wandte sich ihm zu, hob die Hand, vergewisserte sich
noch einmal, dass sie auch tatsächlich allein im Labor waren – abgesehen von den allgegenwärtigen Augen und Ohren der KI, deren elektronische Lippen versiegelt bleiben würden – und berührte Mecchit dann, wie sie es sonst nur in den mehrfach gesicherten Wänden seiner oder ihrer Kabine wagte. Er sah es ihr nach, erwiderte die Zärtlichkeit sogar. »Unsere Zeit wird kommen«, versprach er leise. »Vorher aber müssen wir die perfekten Umstände schaffen. Deshalb kam ich. Wir nähern uns einer viel versprechenden Welt – der vermutlich viel versprechendsten seit Beginn unserer Suche.« »Ich werde dich in die Zentrale begleiten, wenn du denkst –« »Darum geht es nicht«, unterbrach er sie. »Nicht? Sondern?« »Ich liebe dieses Schiff so wie ich es auch verabscheue … wenn ich zu lange darin eingesperrt bin. Vielleicht war der Schlaf im Herzen Tovah'Zaras eine Idee zu ausgedehnt … Vielleicht ist es der Beginn einer klaustrophobischen Paranoia … wer weiß? Jedenfalls will ich wieder einmal die Strahlen einer echten Sonne, die Winde einer natürlichen Atmosphäre auf meiner Haut spüren. Die Schwerkraft eines Planeten soll an meinen Muskeln zerren, ich will sie bezwingen, ihnen zeigen, was ein Forone vermag … will als einer der Ersten … nein, als der Erste unserer Art überhaupt über die Oberfläche jener Welt schreiten, von der aus wir einst wieder als mächtiges Volk, als Macht zu den Sternen ausschwärmen werden. Zunächst zu den Sternen dieser Galaxis und dann, irgendwann einmal vielleicht, wenn das Schicksal es will, auch heim zu den Alten Orten, die uns gestohlen wurden …« »Du möchtest ein Außenteam anführen?« »Das will ich. Und du sollst mich begleiten – neben einigen anderen, die du bestimmen wirst.« »Ich danke dir für dein Vertrauen, aber –« »Es gibt kein Aber.« Er nannte ihr eine Zeit, zu der sie sich im Hangar einfinden sollte, in dem ein für ihr Unterfangen geeignetes Fahrzeug bereitstehen würde. Danach verabschiedete er sich – leidenschaftlich.
Moaree spürte ein tiefes Zutrauen zu Mecchit, wie sie es noch für keinen anderen Foronen jemals zuvor empfunden hatte. Es war geprägt von Achtung und Bewunderung, aber es ging noch darüber hinaus, mit jedem Aufeinander- und Zusammentreffen mehr. Sie erbebte innerlich, als er sie allein in ihrem Labor, allein mit dem geklonten Embryo, der der Vernichtung anheim fallen würde, zurückließ. Erst der Anblick der Missgeburt ernüchterte sie wieder so weit, dass sie anfangen konnte, sich Gedanken über die anderen Mitglieder des Teams zu machen, das an Mecchits Seite – und nach ihm – seinen Fuß auf eine Welt setzen sollte, die vielleicht wirklich halten konnte, was sie aus der Ferne versprach. Neue Heimat. Neues Zuhause für jene Foronen, die jetzt noch den HAKAR bewohnten und von den Virgh zu entwurzelten Sternzigeunern gemacht worden waren. Wie sehr sie hoffte, dass dieser Traum in Erfüllung gehen würde! Fast beiläufig öffnete sie den Deckel, fischte die unfertige Kreatur, den pervertierten Mont-Klon, aus der Flüssigkeit und schleuderte das zappelnde, zuckende Etwas, das sein gewaltsames Ende ahnte, in den nächstbesten Abfallentsorger.
Zurück in der Zentrale wohnte Mecchit von seinem Kommandositz aus dem Einschwenken des HAKARs in einen niedrigen Orbit um den Zielplaneten bei. Die KI hatte alles fest im Griff, der Part des Foronen beschränkte sich auf den eines interessierten Zuschauers, während ringsum andere Besatzungsmitglieder ihren Arbeiten nachgingen, den unmittelbaren Kommandobereich – das leicht erhöhte Podest mit den sieben Sitzen und der senkrecht nach oben ragenden Holosäule – aber mieden. Jeder wusste, was er zu tun hatte; die Aufgabenverteilung war von Mecchit zu Beginn ihrer Mission festgelegt worden, und Änderungen gab es allenfalls infolge schwerwiegender Erkrankungen … was wiederum so gut wie nie vorkam.
Aus der Schale des offenen Sitzes heraus wandte sich der Foronenführer an die KI. »Wie lange wird die vollständige Kartografierung in Anspruch nehmen?« Die Antwort missfiel ihm. »Geht es nicht schneller?« Es ging schneller, wie die KI einräumen musste – durch gezielten Einsatz des konventionellen Antriebs und indem sich der HAKAR nicht nur auf die Orbitalkraft verließ. Mecchit ließ sich die Bilder, die bereits technisch aufbereitet und von bestechender Qualität waren, direkt in die Holosäule legen. Bilder eines wunderbaren Sandparadieses, einer Wüstenwelt, die über genau jenes Quäntchen Wasser verfügte, das ideale Lebensbedingungen für Foronen versprach, die selbst von einer sehr trockenen, heißen Welt abstammten. Und diese Wüste erstreckte sich über den kompletten, mondlosen Planeten, selbst über die Pole, die schon seit ewigen Zeiten eisfrei sein mussten – falls sie jemals vereist gewesen waren. »Hinweise auf planetare Kultur?«, fragte Mecchit, der sich immer wieder Ausschnittsvergrößerungen geben ließ und bizarre geologische Formationen näher in Augenschein nahm. »Negativ«, antwortete die KI. »Bislang lediglich rudimentäre Spuren einheimischer Vegetation. Anspruchslose Gewächse, überwiegend Flechten, aber auch baumartige Strukturen, deren Wurzeln offenbar sehr tief ins Erdreich führen. Innerhalb dieser Wurzeln gibt es Reservoirs, in denen Wasservorräte gehortet werden. Auf diese Weise können offenbar auch lang anhaltende Hitzeperioden schadlos überstanden werden.« »Bilder!«, verlangte Mecchit. In einem Teilsegment der Holosäule erschienen die Beispiele planetarer Flora, von der die KI gesprochen hatte. Es waren teils regelrechte Wälder, wenn auch sehr licht und großräumig, die von den sonderbaren, sandfarbenen Gewächsen gebildet wurden. Kolonien, in denen sich nichts zu bewegen schien, nicht einmal die dicken, kurzen »Zweige« dieser Bäume. Einige von ihnen standen offenbar in voller Blüte. Mecchit konzentrierte sich auf die farbenprächtigen Kelche … und
befahl unvermittelt: »Ausschnitt! Vergrößerung mit Fokus auf …« Er markierte eine Stelle innerhalb des Hologramms mit Hilfe eines Lichtstrahls, der plötzlich aus seiner Rüstung hervorschoss. Die KI reagierte augenblicklich. Der gewünschte Zoom kam. Und Mecchit blickte auf ein Ding, wie er noch keines gesehen hatte. Es schien dicht über dem Zentrum der Blüte zu schweben, besaß aber weder Ähnlichkeit mit einem Insekt noch mit einem Vogel. Es schien ebenfalls pflanzlicher Natur zu sein, von wässrigem Grün und halb transparent, fast ätherisch. Wie es sich über der Blüte in der Luft hielt, war nicht ersichtlich, auch nicht, was genau es dort tat. Aber genau aus diesem Grund erregte es Mecchits wissenschaftliches Interesse … … das jäh von der KI gestört wurde. »Das solltest du dir ansehen, Herr.« Etwas überblendete den Bereich, in dem sich Mccchit mit der filigranen Lebensform auf der Oberfläche des Zielplaneten beschäftigt hatte. Ein weitgefasster Ausschnitt eines Gebietes ohne Bewaldung. Sand. Nichts als cremefarbener Sand, der Mecchit erzürnte. »Das willst du mir zeigen?« Er fühlte sich grundlos in seiner Studie gestört. »Seht bitte genauer hin, Herr. Orientiert euch an meiner Markierung.« Mitten in dem Ausschnitt materialisierte ein schwarzer Kreis. Mecchit richtete seine Aufmerksamkeit auf das Innere und sah … nun, er wusste nicht, was er sah. Noch nicht. Nur dass es dunkel war. Eine unauffällige Tönung des Sandes, als würde Schatten darauf fallen. Nur dass weit und breit nichts existierte, was diesen Schatten hätte werfen können. Auch keine Wolke. Der Himmel über der Szenerie war frei von Wolken, und den eingespielten Daten zufolge wehte kaum ein Lüftchen. Backofenhitze. Ein Paradies für Foronen. Ein Paradies mit … Schatten? Unaufgefordert zoomte die KI den markierten Bereich näher her-
an. Etwas Diffuses, Schleierartiges, Dunstiges rückte scheinbar auf Mecchit zu. Wie dunkler Nebel. Wie … »Was ist das? Gibt es eine Analyse?« »Negativ«, antwortete die KI. »Seine Fläche ist etwa so groß wie hundert HAKARs. Es setzt in Bodennähe ein und reicht bis zur Oberfläche hinab, berührt den Sand und lässt sich mit unseren Instrumenten nicht durchdringen. Das Beunruhigende aber ist …« »Ja?«, drängte Mecchit. »Das Wesentliche! Nur das Wesentliche!« Er hatte die KI selten so ausschweifend, regelrecht nervös erlebt. Und obwohl er sich dagegen sperrte, sprang ein Teil dieser Nervosität auch auf ihn über. »Wir haben dieselbe Stelle schon einmal bei einer Umrundung mit gescannt. Es ist keine Lerrg* her.« Das Bild verschwand, wurde von einem ersetzt, das unberührten Sand zeigte. »So sah es bei der ersten Erfassung aus. Zu diesem Zeitpunkt gab es die … Anomalie noch nicht.« »Was willst du mir damit sagen?«, fragte Mecchit, obwohl er die Antwort bereits kannte. »Es wächst«, antwortete die KI.
Ein normales planetares Phänomen, war Mecchit im ersten Moment geneigt, sich einzureden. Dagegen aber sprach, dass die hochentwickelten Instrumente des HAKARs daran scheiterten. Und das war zweifelsfrei alles andere als »normal«. Er ließ sich von der KI alle bisher ermittelten Daten in Bezug auf die Anomalie in konzentrierter Form darlegen. Demzufolge verdoppelte sich die betroffene Fläche jede halbe Lerrg. Immer weitere Umgebungsbereiche verschwanden hinter dem undurchdringlichen Nebel. Das Phänomen breitete sich kreisförmig aus. Mehrere entsendete Sonden kehrten nicht zurück, blieben verschollen und übermittel*Foronische Zeiteinheit, entspricht etwa einer Stunde
ten nach Eintritt in das Phänomen keine verwertbaren Daten mehr. Damit, dachte Mecchit, hat sich die Suche nach einem geeigneten Landeplatz für das Außenunternehmen erübrigt. Er verständigte Moaree über die Entdeckung. Sie war besorgt, aber – ebenso wie Mecchit selbst – auch begierig darauf, das unbekannte Phänomen zu erkunden. Als Mecchit wenig später den Hangar betrat, hatten sich die anderen Teilnehmer der Expedition bereits versammelt. Sie umstanden Moaree und trugen, seine heimliche Gefährtin eingeschlossen, ausnahmslos die silbrige Zweckkleidung, die sich als ideal für solche Erkundungen erwiesen hatte – schon zu Zeiten, als die Sterne um einiges jünger gewesen, viele noch gar nicht entstanden waren. Dass der Raum leer war, irritierte niemanden. Dies änderte sich in dem Augenblick, als Mecchit eintrat. Die KI hatte nur auf seine Ankunft gewartet. Im nächsten Moment schon löste sich etwas aus dem nur scheinbar festen und unveränderlichen Boden. Etwas, das eine ungefähre Höhe von drei Foronenlängen, eine Breite von sechs und eine Länge von zwölf hatte. Die Form ähnelte entfernt der des HAKARs, war jedoch um einiges schmäler, schnittiger. Und wendiger, wie Mecchit wusste. Er hatte die Konstruktion auf die Atmosphärebedingungen des Zielplaneten abstimmen lassen. Die KI benötigte nicht länger als ein paar Atemzüge, um das Resultat zu präsentieren, das sich aus den Nanoelementen des Mutterschiffs herausbildete. Es war nicht fernflugtauglich, aber für Einsätze aus dem Orbit heraus war es bestens geeignet. Mecchit gab den anderen Zeichen, sich ihm anzuschließen und stieg als Erster über die ausgefahrene Rampe an Bord des Zubringers, der kurz darauf startete, von keinem Geringeren pilotiert, als dem Hohen Mecchit persönlich. Das Shuttle jagte der gelbbraunen Welt wie ein Geschoss entgegen, nahm exakt Kurs auf die Anomalie, deren Geheimnis es zu lüften, deren eventuelle Gefahren es zu bannen galt, bevor überhaupt daran zu denken war, an neuen foronischen Lebensraum zu denken.
Jogara, wie Mecchit den Planeten in Hinblick auf einen legendären, lange verstorbenen Hohen taufte, der einst wegweisend Weichen für das foronische Volk gestellt hatte, präsentierte sich auch vom Boden aus als paradiesische Welt … mit Launen. Denn sobald der Blick nicht in Richtung des sich ausweitenden Phänomens ging, das wie eine riesige düstere Nebelbank über die wellige Sandebene kroch, änderte sich das Hoffnung weckende Bild dramatisch. »Es ist … unheimlich.« Unheimlich. Mecchit hatte das Wort lange nicht gehört. Es zählte zu den Randerscheinungen foronischen Sprachgebrauchs, denn Furcht und alles, was damit einherging, war in ihrer Kultur weitgehend unbekannt. Sie waren … Götter! Gewesen, korrigierte er sich selbst. Bis damals, als die Virgh kamen und uns unsere Grenzen aufzeigten. Im Nachklang zu diesem Gedanken überkam ihn die wenig erbauliche Vorahnung, hier und heute könnte sich die Erkenntnis wiederholen, an unüberwindliche Grenzen – Rätsel – zu stoßen. Auf Dinge zu treffen, an denen man besser nicht rührte. Aber genau das standen sie im Begriff zu tun. Und es gab auch kein Zurück. Er hätte sein Gesicht vor den anderen verloren. Auch vor Moaree, die ihn verehrte, weil er war, was er war. Einen Mecchit mit Schwächen hätte sie ebenso verachtet wie jedes andere Besatzungsmitglied des HAKARs. Er gab sich einen Ruck und schob alle Bedenken beiseite. Alle Warnungen seiner Intuition, die sich in so vielen Krisen bewährt hatte … Er aktivierte alle für seinen unbedingten Schutz relevanten Sektionen seiner Nanorüstung und gab einem der von Moaree ausgesuchten Wissenschaftlern das Zeichen, die Schleuse zu öffnen.
Der Mann gehorchte. Die Atmosphärenanalyse war abgeschlossen, schädliche Erreger nicht festgestellt worden, dennoch sorgten spezielle Projektionen dafür, dass die Luft gefiltert wurde, ehe sie Einlass in die Lungen des Teams fand. Mecchit stapfte hoch aufgerichtet die Rampe hinab, die sich ein Stück weit in den losen Sand gebohrt hatte. Hitze und ein sachter Windhauch empfingen ihn, keinerlei auffällige Gerüche. Woher hätten sie auch kommen sollen? Nirgends war Vegetation zu sehen. Der Boden war so heiß und ausgetrocknet, dass er schon einen Eigenduft hätte entwickeln müssen, um die flirrende Luft mit wahrnehmbaren Aromen zu sättigen. Mecchit erreichte das Ende der Rampe und verhielt kurz. Er wusste, dass sämtliche Blicke der Shuttlebesatzung aut ihm ruhten. Aber ihm war, als gäbe es noch andere Augen – unsagbar fremd, schaurig –, die sich auf ihn gerichtet hatten und deren Präsenz er fast schmerzlich zu spüren glaubte. Augen, die ausnahmslos aus einer Richtung starrten – von dort, aus dem undurchdringlichen, nachtfarbenen Nebel. Die Vorstellung bereitete ihm Sorge. In keiner Situation zuvor, nicht einmal während der um Haaresbreite gelungenen Flucht aus Samragh, zahllose Superdreizacke der Virgh auf den Fersen, hatte er sich dermaßen unwohl und … von etwas Undefinierbarem … bedrängt gefühlt. Er straffte sich und sprang von der Rampe in den lockeren Sand. Sein Gewicht, von der Rüstung nicht neutralisiert, führte dazu, dass er tief einsank. Dennoch obsiegten Kraft und Entschlossenheit. Wie ein Entdecker aus uralten Tagen entfernte er sich etliche Schritte von dem Shuttle in Richtung auf das herankriechende Phänomen. Eine Weile starrte er mittels seiner über das gesamte Gesicht verteilten Rezeptoren auf den Nebel, als könnte es ihm gelingen, woran selbst die HAKAR-Ortung gescheitert war … ihn durchdringen. Doch das vermochte er nicht. Das Phänomen verschlang weiter Sandkorn um Sandkorn, und Mecchit entschied, dass es Zeit sei, die
anderen nachkommen zu lassen. Er erteilte Moaree entsprechende Befehle und wartete, bis sie neben ihn getreten war. »Überlässt du die Vorgehensweise mir?«, fragte sie. Er bejahte. Worauf sich der Schimmer, den er so sehr liebte, über ihre Züge legte, sie sich umdrehte und einen der ihr unterstellten Wissenschaftler zu sich rief. Mecchit hörte mit Genugtuung, wie sie den Mann aufforderte, sich im Schutz seiner Einsatzkleidung in den wenige Gehminuten entfernten Nebel zu begeben und dort Messungen vorzunehmen. Der Wissenschattler erschrak so sehr, dass seine Schädelhaut fast weiß wurde. Doch er wusste, was auf Befehlsverweigerung stand: ein noch sicherer Tod als der, der ihn vielleicht im Nebel erwartete! Sichtlich bebend suchte er seine Ausrüstung zusammen und machte sich auf den Weg in eine Erfahrung, die nicht einmal Mecchit ihm neidete.
Bis zu diesem Moment war Elohan ein treuer Streiter des Hohen Mecchit gewesen – ein Forone, der für seinen Führer durchs Feuer gegangen wäre. Nebel jedoch … solch abnormer Nebel wie dieser hier … stellte seine Loyalität auf eine harte Probe. »Sei vorsichtig«, verabschiedete ihn Moaree ins Ungewisse. Auch die anderen Wissenschaftler gaben ihm aufmunternde Worte mit auf den Weg. Hinter all dem aber steckte vor allem die Erleichterung, nicht selbst die Bürde auf sich nehmen zu müssen, die Elohan trug. Die ihn beinahe um den Verstand brachte. Der Gedanke, in etwas einzutauchen, das sich mit keinem ihrer Instrumente erfassen und analysieren ließ, weckte mehr als nur eine dumpfe Furcht in ihm. Er stand kurz davor, in völlige Panik zu verfallen, und entsprechend schwer fiel es ihm, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich bin gewappnet, sprach er sich selbst Mut zu. Mein Anzug schützt
mich. Zugleich aber wusste er auch um die Grenzen seiner Schutzkleidung … und bedauerte, nicht eine ebensolche Rüstung wie der Hohe Mecchit zu besitzen, dem es ein Leichtes gewesen wäre, in den Nebel einzutauchen und unversehrt wieder daraus zurückzukehren. Eine leises, zaghaftes Stimmchen nutzte die Gelegenheit zu fragen, warum Mecchit es dann nicht tat? Warum er stattdessen leichtfertig das Leben eines Untergebenen aufs Spiel setzte …? Elohan erreichte den Grenzbereich. Vor ihm waberte hoch wie ein kleiner Berg das dunkle, nebelhafte Gebräu – hinter ihm, winzig klein in der Entfernung, beobachteten ihn die anderen und parkte das Shuttle, das sie zur Oberfläche gebracht hatte. Der HAKAR kreiste weiter unsichtbar im Orbit. Langsam und unaufhaltsam kam die Grenze auf ihn zu, die Wand. Elohan musste ihr nicht mehr entgegen gehen. Sie kam zu ihm. Rollte wie eine Springflut über ihn hinweg … … und versetzte ihn in ein Albtraumland.
2. Kapitel Die RUBIKON strebte den Koordinaten entgegen, die Artas zufolge Boreguirs »Karte« zu entnehmen waren – zumindest, wenn man über Rechnerkapazitäten und Simulationsprogramme wie die Satoga verfügte. Für Cloud war es immer noch nahezu undenkbar, dass es Artas tatsächlich gelungen sein könnte, aus ein paar Nadelstichen eine galaktische Position festzumachen. Was ihn nicht daran hinderte, darauf zu hoffen, es könnte wider alle Wahrscheinlichkeit und menschliche Vorstellungskraft eben doch sein. Sesha, die Bord-KI, hatte für die Reise nach Saskana drei volle Wochen veranschlagt – zum einen, weil sie der Meinung war, dass das Rochenschiff nicht permanent an seiner Höchstleistung beansprucht wrerden sollte, und zum anderen, weil a) die Zeit nicht wirklich drängte (Boreguir war tot und würde tot bleiben, überdies wurde sein Körper perfekt konserviert) und b) ihre Reise durch völlig unbekanntes Terrain führen würde, noch dazu in Gefilde, wo die Sterndichte einen Wert erreichte, der neue, unbekannte Gefahren für die Navigation bergen mochte. Nach eigenen Angaben hatte Sesha die ehemalige Foronenarche noch niemals in Kernnähe einer Galaxie manövriert, wie sie die Milchstraße aufzuweisen hatte. Alles in allem waren dies mehr als ausreichend Gründe, um dem KI-Vorschlag zuzustimmen. Zumal die Gefährten und Neuankömmlinge, die von unterschiedlichsten Schicksalen an Bord der RUBIKON gewürfelt worden waren, eines ausnahmslos gebrauchen konnten: ein wenig Erholung. Eine Verschnaufpause nach all den kosmischen Eröffnungen, die ihnen von Artas zuteil wurde – und den Misshandlungen, die Reuben Cronenberg zu verantworten hatte. Die RUBIKON-Crew hatte tief in die Vergangenheit geschaut, dorthin, wo das Verhängnis und Missverständnis zwischen Satoga
und Jay'nac begann … und das seine Kreise bis ins Heute, bis hin ins irdische Sonnensystem, in den Aqua-Kubus, nach Nar'gog, Crysral … und wie die Schauplätze alle heißen mochten, gezogen hatte. Nein, es war definitiv Zeit für eine Pause. Eine, die Cloud zumindest jedoch nicht nur zu Müßiggang verwenden wollte, sondern auch darauf, seine neue und erweiterte Crew näher kennen zu lernen. Dementsprechend besuchte er in den ersten Tagen der Reise vor allem Jiim, Cy und Algorian – jenes Trio, das zuletzt zu ihnen gestoßen war. Auch Scobee beteiligte sich an diesen Besuchen, freundete sich insbesondere mit Sarah Cuthbert und Jiim an, mit dem sie schon auf Kalser, seiner Heimat, eine Art Seelenverwandtschaft verbunden hatte. Am meisten freute es Cloud jedoch, als er feststellte, dass auch die anderen Crewmitglieder, Jelto und Jarvis immer wieder den Weg zu den »Neuen« suchten und fanden. Nur Aylea tat sich spürbar schwer im Umgang mit den Außerirdischen, eigentlich erstaunlich, hatte sie doch auch zu Jarvis schnellen Zugang gefunden. Eine nahe liegende, aber offenbar auch nicht unproblematische Affinität entwickelte sich zwischen Jelto und dem Pflanzenwesen Cy. Beide fühlten sich ganz offenbar zueinander hingezogen, Cy zumindest aber hatte auch offenkundige Probleme, sich auf den Florenhüter mit seiner psionischen Begabung, sich in jedes Pflanzengeschöpf einzufinden, einzulassen. Die Zeit würde weisen, ob aus beiden durch nichts zu trennende Freunde … oder ein Problemfall erwachsen würde. Cloud erhoffte sich Ersteres, hielt sich jedoch mit Ratschlägen zurück. Außer dem Zwischenmenschlichen – sofern man dies bei Außerirdischen so nennen durfte – beschäftigten Cloud aber auch noch andere Dinge. Vor allem die Flucht der beiden Foronen Sobek und Siroona in den Wirren der Rückkehr zur heimatlichen Milchstraße waren Anlass zur permanenten Sorge. Er hatte speziell Sobek als jemanden kennen gelernt, der sich mit Niederlagen niemals abzufinden bereit war. Und der Verlust der
RUBIKON musste eine Niederlage sondergleichen für ihn darstellen. Falls er jemals die Mittel dazu in die Hand bekam, würde er nicht eher ruhen, als dass er die Diebe »seines« Schiffes gestellt und zur Rechenschaft gezogen hatte. Und Cloud traute ihm zu, dies unter für Sobek günstigen Umständen durchaus zu schaffen. Deshalb war ein weiterer Punkt auf seiner persönlichen Prioritätenliste, sich, wann immer es ging, mit Sesha über Möglichkeiten zu besprechen, die RUBIKON noch sicherer vor externem Zugriff zu machen. Dazu gehörte an vorderster Stelle ein tieferes und besseres Verständnis der KI selbst. Sie war der Schlüssel – der Schlüssel mit dem man möglichen Attacken von außen entweder einen Riegel vorschieben konnte … oder aber der Schlüssel für mögliche Angreifer wie Sobek. Die versuchen würden, Sesha für ihre Zwecke einzuspannen und zu missbrauchen … Es war der achte Tag ihrer Reise, als Cloud aus seinem Sarkophagsitz heraus wieder einmal mit der KI konferierte. Und dabei eine überraschende Erkenntnis gewann. »Du kannst was?«. Gerade hatte er in den Raum gestellt, wie vorteilhaft es wäre, wenn er auch nur vage wüsste, was seinerzeit aus den 87 Kopien geworden war, die aus der RUBIKON-Vorlage entstanden und sich dann mit unbekannten Zielen von ihr getrennt hatten, als diese nach Samragh aufgebrochen war. »Wenn du es wünscht, kann ich dir jederzeit die Standorte der HAKARs übermitteln.« »HAKARs?« »Die Internbezeichnung für das, was du Kopien dieses Schiffes nennst.« Cloud atmete einmal tief ein und wieder aus. Dann fragte er gefährlich ruhig: »Du weißt, wohin Sobek jeden einzelnen dieser … HAKARs beordert hat?« »Nicht nur das.« »Sondern?«
»Ich bin jederzeit über jede Bewegung der einzelnen HAKARs informiert – zumindest, so lange wir uns innerhalb der maximalen Reichweite meiner Sensoren, das heißt innerhalb dieser Galaxis, aufhalten.« Cloud glaubte immer noch zu träumen – beziehungsweise dem skurrilen Humor einer KI aufzusitzen. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« »Ich verstehe die Frage nicht.« »Und ich verstehe dich nicht! Wie konntest du mir diese elementar wichtige Information so lange vorenthalten?« »Du hast mich nie danach gefragt.« Cloud ließ sich tief in den Sitz einsinken, der ihm eine RUBIKON erschloss, wie sie außerhalb des Sarkophags nicht erlebbar war. Er konnte seinen Geist auf die Reise bis in den entferntesten Winkel des Schiffes schicken, konnte sowohl verbal, als auch rein geistig – wie immer es ihm beliebte – mit der KI kommunizieren. Er konnte die Steuerung übernehmen, die Waftensysteme … was auch immer ihm gerade notwendig erschien. Das Schiff war wie ein zweiter Körper, in den er hineinschlüpfen und den er perfekt handhaben konnte, indem er seinen eigenen zeitweise aufgab, im Sarkophag wie in einem Grab liegend … mit dem entscheidenden Unterschied jedoch, dass er jederzeit wieder in ihn zurückzukehren vermochte. Dauerhaft mit der RUBIKON verschmolzen zu sein, hätte er sich weder gewünscht, noch konnte er es sich vorstellen. Aber auch Jarvis hatte nicht darum gebettelt, seinen Körper aus Fleisch und Blut gegen einen aus Nanoteilchen einzutauschen. Die Umstände hatten es erzwungen. Konnte es also sein, dass andere Umstände auch ihn, Cloud, eines Tages vor die Wahl stellten, zu sterben oder … im Schiff aufzugehen? Er wusste es nicht. Außerdem war es allenfalls Zukunftsmusik. Die Gegenwart, in die es ihn verschlagen hatte, zählte – nichts anderes. Du hast mich nie danach gefragt. Manchmal waren Antworten so simpel, dass sie nicht weiter hin-
terfragt werden mussten. So wie in diesem Fall. »Es gibt eine Art Netzwerk, eine Verbindung zwischen sämtlichen Schiffen, ihren KIs?« »Ja.« »Dann … dann zeig mir, wo sie sind – all die Kopien, die im AquaKubus entstanden.« Vor Clouds geistigem Auge entstand eine dreidimensionale Darstellung der Milchstraße. »Das«, sagte eine Stimme, Sesha, aus dem Off, »sind wir.« Eine Markierung erschien. Sie zeigte gleichzeitig wie weit die Fahrt der RUBIKON Richtung Zentrum bereits fortgeschritten war. Wenn Cloud genau hinsah, die Markierung lange im Auge behielt, sah er, dass sie sich minimal voranbewegte. Von einem Moment zum anderen erschienen Dutzende neue Markierungen. Die RUBIKON-Kennzeichnung war rot, die der nun hinzukommenden blau. Cloud zählte die Blauen durch und kam auf 87. Sie verteilten sich über die gesamte Milchstraßenebene, den Halo und sogar die Kernregion, in die es Cloud und seine Gefährten gerade zog. Dort, zentrumsnah, operierte allem Anschein nach in diesem Moment ein HAKAR. Ein folgenschwerer Verdacht keimte in Cloud. »Wenn es dir möglich ist, mir dieses Netzwerk zu zeigen«, sagte er, »müsste es den HAKARs dann nicht ebenfalls möglich sein …?« »Natürlich.« So beiläufig die Antwort anmutete, so sehr jagte sie Cloud einen Schauer über die Haut. »Aber das heißt, dass die Foronen über die Rückkehr der RUBIKON … oder SESHA, wie sie sie nennen … informiert sind! Mehr als das: Sie kennen jederzeit ihren exakten Aufenthaltsort! Und wenn es Sobek und Siroona gelungen ist, auf einen dieser HAKARs zu flüchten, werden wir ihr bevorzugtes Ziel sein. Sie können die Jagd auf uns jederzeit eröffnen, und wir haben nicht den Hauch einer Chance, uns vor ihnen zu verstecken!« Für ihre Verhältnisse schwieg die KI ungewöhnlich lange, ehe sie
wieder das Wort ergriff. »Die HAKARs sind imstande, alle Positionen der anderen HAKARs einzusehen. Mit Ausnahme der RUBIKON. Die RUBIKON wurde bereits unmittelbar nach Verlassen aus dem Netzwerk herausgelöst. Es existierte ein vom damaligen Kommandanten autorisierter Befehl, der bislang nicht zurückgenommen wurde.« Sobek hat befohlen, die RUBIKON für die HAKARs unsichtbar zu machen? Warum? Nur Sobek selbst hätte diese Frage zu beantworten vermocht. Cloud war einigermaßen erleichtert, von der Sonderstellung der RUBIKON zu hören. »Wir wissen also stets, wo sie sich aufhalten – sie jedoch nicht, was wir gerade tun?«, vergewisserte er sich noch einmal. »Korrekt. Es sei denn, der Befehl, sich als Schatten im Netz zu bewegen, wird aufgehoben.« »Nein. Nein! Bewahre! Es bleibt dabei, um Himmels willen.« Ihm kam ein anderer Gedanke. »Aber hast du dank dieses Netzwerks nicht auch die Möglichkeit zu rekonstruieren, wohin Sobek und Siroona mit einer der RUBIKON-Kapseln geflohen sind? Von welcher Gegenstation sie aufgenommen wurden?« »Leider nein. Die Flüchtigen kannten sich gut genug in der Technologie aus, die sie zu ihrer Flucht nutzten, um sie dahingehend zu manipulieren, dass eine Nachverfolgung unmöglich ist.« Schade. Aber nicht zu ändern. Cloud befahl der KI, die Darstellung der Milchstraßen mitsamt der HAKAR-Verteilung in die Holosäule zu projizieren. Dann beendete er die Konferenz mit ihr, öffnete den Sarkophag … und blickte in Scobees kreidebleiches Gesicht, die sich gerade über ihn beugte und offenbar schon eine Weile versucht hatte, sich ihm in der Isolation des Sitzes bemerkbar zu machen. »Etwas Furchtbares ist passiert«, krächzte sie heiser, als hätte sie stundenlang nur geschrien. »Etwas absolut Unfassbares.« Er brauchte Sekunden, um sich in der Welt jenseits des Sarkophags wieder zurechtzufinden. »Was?« »Aylea liegt im Sterben.«
Sie sah aus wie der blühende Tod. Ihr noch nicht voll ausgereifter, kindlicher Körper war mit einem Schweißfilm überzogen, der sie aussehen ließ, als sei sie kurz zuvor in einen Pool gestürzt und im letzten Moment wieder an Land gezogen worden. Die langen blonden Haare klebten strähnig an ihrem Kopf. Ihre Augen waren geschlossen, sie atmete – sehr gequält jedoch und völlig unrhythmisch. Als Cloud ihre Kabine betrat, hatte er das Gefühl, ein Sterbezimmer zu betreten. Kerzen hätten das Ihrige dazu beigetragen, seinen Eindruck zu nähren, aber glücklicherweise hatte Sesha keinen Hang zum Morbiden. So gab es lediglich eine indirekte, gedämpfte Lichtquelle, die den Raum schattenlos erhellte. Und es gab Freunde, die sich bei Aylea versammelt hatten, deren Körper hinter einem leicht verzerrenden Energievorhang lag. Noch von der Zentrale aus hatte Cloud die KI aufgefordert, Sofortmaßnahmen für Aylea zu ergreifen, sie zu untersuchen und ihm die Diagnose zur Verfügung zu stellen, sobald er bei ihr eintraf. Die KI empfing ihn dementsprechend mit den Worten: »Sie leidet an einer Vergiftung.« Der Schreck darüber war im Mienenspiel eines jeden abzulesen, der sich im Quartier der Zehnjährigen versammelt hatte. Am Betroffensten wirkte Jelto. Cloud sah, wie er den Arm hob, als wollte er durch den Energievorhang hindurch nach Aylea greifen, ihn dann aber wieder sinken ließ. »Vergiftet«, echote Cloud. »Wer sollte sie vergiftet haben? Wenn, war es ein Unfall. Eine -« »Du willst sehen, wer es tat?« »Du weißt es?« »Auch die anderen wissen es bereits. Ich habe es ihnen gezeigt.« »Gezeigt?« »Ich zeichne alle Ereignisse im gesamten Schiff auf. Auch in den Privatkabinen – diese Aufzeichnungen werden wie abgesprochen in festgelegtem Turnus vernichtet, wenn sich kein Zwischenfall ereig-
net, der es erfordert, sie zu Rate zu ziehen.« Cloud erinnerte sich, exakt diesem Verfahren zugestimmt zu haben. »Okay.« Sein Blick wanderte von einem zum anderen. Dann sagte er: »Bevor du es mir zeigst: Wann wird sie wieder gesund sein? Scobee schockte mich mit der Aussage, das Mädchen läge im Sterben. Du hast sie genauestens untersucht. Wie lautet deine medizinisch fundierte Prognose?« »Sie liegt im Sterben.« Es gab Momente, in denen Cloud sich wünschte, dort zu stehen, wo all die anderen jetzt standen und zu ihm herüberblickten, als wäre er nicht nur der Commander, sondern auch für Wunder zuständig. »Das ist absurd«, brachte er schließlich hervor, als sein Blick wieder auf Aylea ruhte. »Eine Vergiftung, sagst du? Womit wurde sie vergiftet? Und wenn du bereits weißt, wodurch es geschah, musst du auch wissen, was dagegen zu unternehmen ist!« Fast hätte er hinzugefügt: Es wurde jetzt wirklich genug gestorben! Allmählich reicht es! Was er aber nicht tat. Auf dem Vorhang, der Aylea von ihnen trennte, entstand Bewegung. Sesha projizierte die Aufzeichnung darauf, von der sie gesprochen hatte. Innerhalb der Kabine entstand noch einmal ein verkleinertes Abbild der Kabine, perspektivisch verzerrt, aber ansonsten klar erkennbar. Ebenso klar wie das, was sich in dem Raum abgespielt hatte und nun noch einmal vor den Betrachtern ablief. Zunächst hielt sich nur Aylea selbst darin auf – und dabei blieb es auch. Eine Minute später hatte jeder Zuschauer begriffen, was die KI ihnen begreiflich machen wollte. Und einer stöhnte voller Inbrunst, sank zu Boden und hob die Fäuste nach oben, als wollte er zu einem Gott beten, den er gar nicht kannte. »Ich wusste es nicht, John, das musst du mir glauben«, stammelte
Jelto. »Wenn ich auch nur geahnt hätte, was sie vorhat …!«
Cloud erfuhr als Letzter, was geschehen war: dass Aylea sich in Jeltos hydroponischem Garten ein Gewächs besorgt hatte, von dem sie durch geschickte Fragestellung herausgefunden hatte, dass seine Blätter hochtoxisch bei oraler Einnahme waren – ihre Letalwirkung ließ sich, einmal in den Verdauungstrakt gelangt, laut Jelto durch kein Medikament mehr beheben. Und genau das hatte auch der Sesha-Scan bestätigt. Cloud wollte es dennoch nicht wahrhaben. Aylea sterben? Ohne dass sie das Geringste dagegen tun konnten? »Es muss eine Möglichkeit zur Entgiftung geben!«, wandte er sich an die KI. »Streng dich an. Es gab eine Zeit, da legtest du eine mordsmäßige Kreativität an den Tag, wenn es darum ging, Menschen ins Jenseits zu befördern. Wie wär's, wenn du zur Abwechslung mal auf der anderen Seite tätig würdest? Wenn -« »Niemand will es glauben. Wir sind alle mindestens so geschockt wie du, John.« Scobee trat neben ihn, legte ihre Hand in seinen Nacken … und erinnerte ihn daran, dass sie vor wenigen Tagen ein paar wundervolle Stunden verlebt hatten. Aber keine Erinnerung der Welt konnte aufwiegen, was aktuell an seiner Seele nagte! Noch jemand trat zu ihm, und als sich Cloud nach links wandte, sah er, dass Jelto sich wieder erhoben hatte, das Gesicht grimmig verzerrt, die Haut in einem Licht erstrahlend, das erahnen ließ, dass seine Aura kurz vor der explosionsartigen Fintfaltung stand. »Vielleicht gibt es doch einen Weg!«, keuchte er. »Es ist gefährlich. Es ist so gut wie aussichtslos. Aber ich werde es versuchen! John? Befiehl der KI, dass sie den Vorhang abschaltet.« Er blinzelte nervös. »Bitte.« Cloud schüttelte den Kopf. Eine vage Vorstellung dessen, was Jelto beabsichtigte, rumorte in seinem Hinterkopf. Niemals, dachte er. Es war schlimm genug, sich mit Ayleas baldigem Ableben abzufinden. Auch noch Jelto zu gefährden, kam nicht
»Bitte!« Er kehrte dem Mann, der auf der Erde eine riesige Parzelle außerirdischen Waldes gehütet hatte, den Rücken, fühlte aber weiterhin seinen Blick wie glühendes Eisen auf seiner Haut. »Okay«, sagte er. »Was kann schon passieren, außer dass wir noch ein Grab ausheben müssen? Versuch es.« Jeder, der ihn hörte, wusste, was er mit seiner drastischen Wortwahl bezweckte: Jelto sollte um Himmels willen nicht Kopf und Kragen riskieren, sondern, wenn es zu brenzlig für ihn zu werden drohte, aufhören. Aber niemand, der den Florenhüter sah, wie er kurz darauf neben Aylea niederkniete, die wie in einem Fiebertraum zuckend dalag, wie er ihr sanft über die Stirn strich und ihr Haar liebkoste, glaubte auch nur einen Augenblick lang, dass er sie aufgeben würde, so lange noch ein Funke Leben in ihm selbst glomm.
3. Kapitel »Er ist weg«, sagte Moaree. »Einfach … weg!« Sie stand da und verfolgte genau wie die anderen durch vor das Gesicht projizierte Linsen, wie Elohan von der »Wand« verschluckt wurde. Es sah aus, als wäre er davon aufgesogen worden. Kein langsames Hineingleiten, sondern … »In dem Moment, als das Phänomen ihn berührte«, sagte der Hohe an ihrer Seite, »an seiner Haut entlang leckte, da … nun, es war, als hätte er einfach aufgehört zu existieren. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht genau das passiert ist: Er ist weg. Ich bezweifle, dass er jetzt einfach nur da drin ist …« Im Grunde, dachte Moaree, spricht Mecchit genau das aus, was jedem durch den Kopf ging, der den Vorgang verfolgte. Die Erklärung, worum es sich bei dem Phänomen handelte, rückte damit in weitere Ferne denn je. »Es war ein sinnloses Opfer«, sagte einer der anderen Mitglieder des Außenteams. Die Kritik, die aus seinen Worten sprach, war unmissverständlich. Moaree ging jedoch nicht auf Konfrontationskurs, sondern pflichtete ihm insgeheim bei. Schweigend erwartete sie Mecchits nächste Entscheidung, während sie den Blick schweifen ließ, ihre Umgebung erfasste und analytisch betrachtete – nicht nur die Schreckenswand voraus, sondern auch die scheinbare Idylle, die sich in die anderen Himmelsrichtungen erstreckte. In diesem Moment spürte sie, dass sie einem furchtbaren Irrglauben aufgesessen waren. Niemals würde Jogara zur neuen Heimat und Keimzelle einer künftigen Foronen-Hochkultur in dieser Galaxie werden. Niemals. Das, wovon sie, wie bei einem Eisberg, wahrscheinlich nur die Spitze sahen – das Phänomen, das auf sie zukroch –, würde es ver-
hindern. Vor allen Dingen aber das, was es hervorrief. Als wahrscheinlichste Erklärung erschien es ihr, dass Jogara beileibe nicht so unbewohnt war, wie es nach außen hin wirkte. Womöglich verbarg der Sand, verbargen Massen von Erdreich all das, was eine Zivilisation zum Leben benötigte … nur dass sich dieses Leben eben unter der Oberfläche abspielte. War es so? Oder sah die Wahrheit völlig anders aus? Mecchit brach sein vorübergehendes Schweigen. »Wir werden Jogara nicht verlassen, ohne das Rätsel, auf das wir gestoßen sind, gelöst zu haben«, kündigte er an. »Was hast du vor, Hoher Mecchit?«, fragte Moaree. »Du weißt es«, erwiderte er kryptisch. Moaree sah ihn an und verstand. Ein Schauder kroch über ihre Haut. Sie machte eine Geste des Widerspruchs, die er nicht beachtete, geschweige denn kommentierte. Während er loslief – schnell wie ein für dieses Gelände geschaffenes Fahrzeug –, schloss sich seine Rüstung vollständig um seinen Körper. Er schien über den sandigen Boden hinwegzufliegen. Moaree wusste nicht, ob sie seinen Mut bewundern oder sein blindes Draufgängertum missbilligen sollte. Sie sah, wie Mecchit fast an derselben Stelle in den Nebel eintauchte, wo auch Elohan verschwunden war. Das Phänomen war inzwischen weitergewandert, nähergerückt. Die Wucht, mit der Mecchit eindrang, schien für einen flüchtigen Moment die Düsternis aufreißen zu lassen … doch dann war es so, als hätte es den Hohen nie gegeben. Moaree sah ihn verschwinden, und es dauerte mehrere Atemzüge, bis ihr Gehirn realisierte, was das bedeutete. Was sie … und die letzten Foronen gerade unwiederbringlich verloren hatten. Es erschreckte sie selbst, dass sie mit keiner Wiederkehr ihres Geliebten rechnete. Und noch mehr erschreckte es sie, als statt Mecchit urplötzlich Elohan wieder aus dem wabernden Dunst auftauchte. Schwankend, strauchelnd … und entsetzlich verändert.
Er war grau. Es war immer noch Elohan, unverkennbar (wirklich?) – aber er war … ölig grau. Moaree zoomte ihn heran. Seine Kleidung war vollständig zersetzt (wovon?), und aus seinem Körper bogen und wanden sich wurmartige Fortsätze wie Tentakel. Elohan schrie – zumindest pulsierte die Lautmembran in seinem entstellten Gesicht, als würde er die lautesten Schreie seines Lebens produzieren. In Wahrheit jedoch überwand kein einziger Ton die Kluft zwischen ihm und den anderen Mitgliedern der Außenmission. Es war gespenstisch. Unheimlich. Es trotzte jeder Beschreibung. In einem Bruchteil der Zeit, die Elohan benötigt hatte, um sich auf das Phänomen zu zu bewegen, kehrte er nun zurück, angetrieben von einem Willen, der ans Dämonische grenzte und … nicht der seine zu sein schien. »Stehen bleiben!«, fauchte Moaree ihm zu, als er schon ganz nah war. »Bleib sofort stehen, sonst zwingst du mich …« Aus der Nähe betrachtet, wirkte er noch absurder. Die vermeintlichen Tentakel oder Würmer entpuppten sich als Gegenstände eindeutig künstlicher Beschaffenheit. Technofortsätze. Winzige, roboterartige Ärmchen, die sich in Elohans Leib gebohrt hatten und nun damit beschäftigt waren, ihn unablässig zu drangsalieren. Nein, verbesserte sich Moaree selbst, sie peinigen ihn nicht nur, sie … zerpflücken ihn. Zerren ihm ganze Fetzen heraus … Elohan troff vor Blut, das bei Foronen aschfarben wurde, sobald der Organismus unheilbar geschädigt war und das Gehirn dies erkannt hatte. Dann begann es mit der Ausschüttung von toxischen Flüssigkeiten, die von speziellen Hirnanhangdrüsen produziert und sofort in den Blutkreislauf eingeleitet wurden. Sie sollten Schmerzen unterdrücken, das Sterben erleichtern. Gleichzeitig aber trübten sie
auch Bewusstsein und Verstand. Der Elohan, der da auf sie zuwankte – in unglaublichem Tempo, von einem sich noch ein letztes Mal aufbäumenden Willen gelenkt –, war nicht mehr bei Sinnen und hatte keine Überlebenschance mehr. Selbst wenn sämtliche mörderischen Elemente auf einen Schlag hin aus seinem Körper hätten entfernt und die Wunden versorgt werden können, ließ sich der toxische Prozess, den sein eigenes Hirn eingeleitet hatte, nicht mehr stoppen, geschweige denn rückgängig machen! Moaree lauschte in sich hinein, um herauszufinden, ob sie Mitleid mit dem Wissenschaftler verspürte. Sie fand nichts dergleichen. Er hatte ihr nie besonders nahe gestanden, sie jedoch mehrfach öffentlich wegen irgendwelcher Entscheidungen oder Projekte kritisiert, was letztlich dazu geführt hatte, dass sie ihn erstens in das von ihr geführte Team berufen und zweitens in den Nebel geschickt hatte. Als lebende Sonde. Als Versuchstier. »Bleib – stehen!«, rief sie ihm noch einmal, zum letzten Mal, zu, als er kaum noch zehn Schritte entfernt war. Er musste sie hören, vielleicht verstand er sie sogar, sicher jedenfalls war, dass er nicht vorhatte, ihr zu gehorchen. Moaree ließ noch einen Atemzug vergehen, dann hob sie den Arm, zielte über ihn hinweg und löste die Waffe aus, die sie sofort nach dem Wiedererscheinen des Foronen aus dem Nebel gezogen hatte. Ein haarfeiner, scharf gebündelter Strahl verließ den Abstrahlpol und stach in Elohans Brust. Der Forone taumelte weiter, und der Strahl folgte ihm, streifte dabei auch eines jener Objekte einer unbekannten Technologie, die aus dem Körper des Wissenschaftlers ragten … … mit der Folge, dass der Gegenstand eine Rückkopplung auslöste, die die Waffe in Moarees Hand kritisch werden ließ, überhitzte. Im letzten Moment konnte sie sie von sich schleudern. Noch im Flug explodierte die Atombatterie im Knauf und verwandelte den Strahler in eine grell aufblitzende, sofort aber wieder in sich zusammenstürzende und verlöschende Miniatursonne.
Geschockt fand Moarees Blick zu Elohan zurück, dessen Körper in ein eisiges, fahlgrünes Licht getaucht war, das seinen Ursprung in dem Objekt hatte, das zufällig vom Waffenstrahl gestreift worden war. Offenbar war dadurch eine verheerende Reaktion ausgelöst worden, die nacheinander auch auf die anderen »Ärmchen« übergriff. Am Ende sah es aus, als sei Elohan von einer blendenden Aura umgeben. Kein Bild von Dauer, denn schon kurz darauf wurde der Forone von gnadenlosen Kräften zerrieben. Letztlich mochte es für ihn eine Erlösung sein, jedenfalls regneten, als das Licht erlosch, graue Flocken zu Boden – mehr war von Elohan nicht geblieben. Die anderen Wissenschaftler des Teams, die wie Moaree Zeuge des Aktes mitleidloser Zerstörung geworden waren, wichen zur Shuttlerampe zurück. Moaree achtete gar nicht auf sie. Sie aktivierte den anzugeigenen Funk und versuchte, einen Kontakt zu Mecchit herzustellen, der in der Nebelwand verschwunden war. Und im Gegensatz zu Elohan nicht zurückkehrte. Noch nicht? »Mecchit? Hoher Herr …« Das scharfe Rauschen zeigte an, dass eine Verbindung gar nicht erst zustande kam. Zum einen konnte dies bedeuten, dass das Phänomen von Funkwellen nicht zu durchdringen war – zum anderen aber ebenso gut, dass der, den sie rief, gar nicht mehr antworten konnte, weil er aufgehört hatte zu existieren. Was ging in dem Nebelgebiet vor? Wie entstand es, wer erzeugte es, und was … verbarg es? Der Befall Elohans ließ kaum noch Zweifel, dass es das Produkt einer unbekannten Technologie war. Aber warum ging diese so rigoros und kompromisslos gegen die Foronen vor, die sich weder als Freund noch als Feind zu erkennen gegeben hatten? Der Gedanke, die Mentalität der Unbekannten, die all dies initiierten, könnte der foronischen ähnlicher sein, als ihnen lieb sein durfte, brachte Moaree nur kurz ins Grübeln.
Sie war nicht nur eine Frau des Geistes, sondern auch der Tat.
Er tauchte ein in den grauschwarzen Nebel. Der keiner war. Dahinter war Licht, war Weite, war schier Unglaubliches. Mecchit stoppte seinen von der Rüstung beschleunigten Lauf. Er hatte das Gefühl, eine immense Strecke zurückgelegt zu haben, misstraute aber diesem Empfinden, zumal die rüstungseigenen Elemente dies verneinten. Tatsächlich musste er sich unmittelbar hinter der Grenze des Phänomens befinden. Er hatte sofort gestoppt, als – Die Eindrücke überschwemmten ihn. Er fühlte sich auf einen anderen Planeten versetzt. Dies war ein anderer Planet. Etwas raste heran. Woher, vermochte Mecchit nicht zu ermitteln. Vielleicht regnete es einfach vom Himmel. Vielleicht stieß es aus dem Boden hervor. Oder es schoss durch die Luft, aus einer Richtung oder aus allen Richtungen zugleich. Er registrierte nur die Einschläge in seine Rüstung, welche die Attacke sofort analysierte, Not- und Gegenmaßnahmen einleitete. Vor Mecchit erstreckte sich weites, fruchtbares Land, das keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den kargen, Hitze flirrenden Sanddünen hatte, inmitten derer das Shuttle gelandet war. Er stand inmitten dunkelgrünen, saftigen Grases. Die Temperatur war gemäßigt, selbst der Himmel hatte sich verändert, Kumuluswolken dräuten dahin, dazwischen ein paar dunklere, Gewitter geladene Wolken. Die Wiese schien endlos zu sein. Dazwischen erhoben sich größere Pflanzengattungen. Getier huschte zwischen ihnen, und in den Lüften kreisten Geschöpfe mit ledrigen Schwingen … Mccchit war sicher, durch ein Portal gegangen zu sein. Einen Transfer erlebt und mitgemacht zu haben. Dies, oder … er halluzinierte. Etwas wirkte von außen auf seine Wahrnehmung ein, täuschte ihn und die Systeme seiner Rüstung.
Letzteres schien in diesem Ausmaß – und ohne dass die Rüstung Warnungen absonderte – völlig ausgeschlossen. Blieb der mutmaßliche Ortswechsel. Über Lichtwochen-, -monatoder -jahrdistanzen hinweg. Die anderen Umläufer des Doppelsterns schieden für ein solches Szenario aus. Es musste ein anderes System sein, über dessen Koordinaten sich nicht das Geringste sagen ließ … Die Vorstellung, hier gestrandet zu sein und nie mehr eine Möglichkeit zur Rückkehr an Bord des HAKARs zu finden, lähmte Mecchit nicht einen Herzschlag lang. Die Herausforderung, die er nicht bereit gewesen wäre, anzunehmen, gab es nicht. Musste erst erfunden werden! Wurde sie das gerade? Die Analyse der eingedrungenen Objekte war abgeschlossen. Zu fremd! Analyse gescheitert! Zuordnung unmöglich! Die Befunde der rüstungseigenen Cyberintelligenz widersprachen allem, was Mecchit jemals widerfahren war. Fremd? So fremd, dass die Analytik scheiterte? Nicht einmal Ansätze von Resultaten lieferte? Die Rüstung musste Schaden erlitten haben. Was ebenso unwahrscheinlich anmutete. Unwahrscheinlich, urteilte Mecchit kritisch, aber nicht unmöglich. Er drehte sich um exakt 180 Grad. Von dort war er gekommen. Aber dort … lag kein Nebel. Kein düsterer Schatten, zu einer Wand verdichtet, die langsam über den Boden kroch! Täuschung? Realität? Er wusste, dass er die Antwort nur erhalten würde, wenn … … er die eingedrungenen Fremdkörper wieder entfernen konnte und … … sofort den Rückweg antrat! Es war eine Chance, nicht mehr und nicht weniger. Seine von Na-
nogewebe ummantelten Hände packten zu, rissen die Geschosse … oder was immer es war … aus der Panzerung heraus. Der erste Fremdkörper, dessen er habhaft wurde, leistete Widerstand, zappelte wie etwas Lebendiges, aber Mecchit ertasste sofort, dass er es mit einer Art Maschine, einer Art Roboter zu tun hatte. Auch seine andere Hand schnappte zu, so dass er nun beide Enden des sich windenden Dings umklammert hielt, das sofort wieder versuchte, sich in ihn hineinzubohren, in seine Handflächen … Er nutzte die Kraft verstärkende Eigenschaft der Rüstung und riss das Objekt in zwei Teile. Sofort erlahmten die Attacken, erstarb jede Bewegung des Dings. Für Mecchit das Signal, sich dem nächsten zuzuwenden … in gleicher Weise mit ihm zu verfahren … dann dem dritten … vierten … Was ihn verwunderte, war, dass keine neue Angriffe erfolgten, dass sich nicht von irgendwoher – Himmel, Boden oder vor, neben, hinter ihm – weitere Schauer von Geschossen näherten, ihn neuerlich und umfassender schädigten und so den Todesstoß versetzten. Für einen Augenblick hielt er es für möglich, dass er gar nicht unbedingt vernichtet, sondern lediglich … getestet werden sollte. Er wischte den abstrusen Einfall hinweg, klaubte das letzte der Dinger aus sich heraus, zerfetzte es, schleuderte es ins Gras und stampfte zur Sicherheit noch einmal mit dem Absatz seines Stiefels darauf herum. Es wurde tief in den weichen Boden getrieben. Mecchit hatte die Richtung, aus der er gekommen war, bei alldem nie aus dem Blick verloren. Ohne sein Glück überzustrapazieren, rannte er los. Und je länger, je schneller er rannte, desto stärker wurde das Gefühl, von nichts und niemand aufgehalten werden zu können. Das alte Selbstbewusstsein, die grenzenlose Zuversicht (und Selbstüberschätzung) des Foronenführers kehrte zurück. Unvermittelt wallte vor ihm Nebel auf. Düsterer, rauchartiger Schatten. Ich muss ihn nur noch durchstoßen. Ich muss nur auf die andere Seite gelangen, dann …
Er schaffte es nicht. Etwas griff von hinten nach ihm. Stoppte ihn und hielt ihn fest. An Kopf- und Fußende zugleich. Und als die Gewalt zu zerren begann, dämmerte Mecchit, welches Schicksal ihm blühte. Er sollte auf dieselbe Art sterben wie die kleinen Roboter, die er eliminiert hatte …!
Moaree bestieg das Shuttle hinter allen anderen, ganz zuletzt, aber niemand hinderte sie daran, den Platz einzunehmen, den zuvor Mecchit inne gehabt hatte. Den Pilotensitz. »Wir fliehen?« »Was wird mit dem Hohen?« »Wir können doch nicht …« »… tot. Das Phänomen hat ihn umgebracht. Uns bleibt nur noch die Flucht …!« Diese und andere Ausrufe beachtete Moaree gar nicht. Sie startete den Antrieb – und belehrte all jene, die geglaubt hatten, sie würde den Rückzug zum HAKAR antreten, eines Besseren. Oder Schlechteren. Denn sie zog die Maschine nicht steil nach oben, sondern hielt sie horizontal und steuerte geradewegs in die Anomalie hinein. Als die Rufe der anderen verstummten und sich betroffenes Schweigen über die Kabine senkte, lehnte sich Moaree tiefer in den Sitz zurück, schloss kurz die Augen … … und gab dann Vollschub.
Es kam auf ihn zu. Es kam aus dem Nebel, der keiner war. Es rammte ihn! Wäre seine Rüstung nicht immer noch intakt gewesen, hätte ihn der Zusammenprall auf der Stelle getötet, zerquetscht, in eine inhomogene Masse aus Blut, Gewebefetzen und Knochenmehl verwandelt.
Doch die Panzerung, von der nur sieben an der Zahl existierten, jemals gefertigt worden waren, bewies ihre Qualitäten. Die eingebauten Schutzmechanismen griffen, bewahrten Mecchit vor dem totalen Desaster. Er fand sogar die Zeit zu ermitteln – und zu begreifen –, was da mit ihm kollidierte und ihn aus dem unsichtbaren Zerrgrift befreite, in den er geraten war. Aus dem er sich aus eigenem Vermögen nicht mehr hatte lösen können. Das hatte das Shuttle übernommen. Das Shuttle, an dem er immer noch klebte! Und das nun in engem Bogen schwenkte, kehrt machte, in den irrealen Nebel hineinsteuerte, mit ihm als wenig dekorative Figur auf der leicht gerundeten Spitze. Moaree, falls du das dort am Steuer sitzt … hast du einen Wunsch frei! Ganz gleich, welcher Wunsch es sein wird! In diesem Moment war er bereit, sein stummes Versprechen einzulösen – sobald sie in Sicherheit, sobald sie zurück auf dem HAKAR waren. Und dann durchstieß das Shuttle die unsichtbare Grenze, jagte über das vertraute Bild sandiger Dünen. Geschafft!, dachte Mecchit. Das Shuttle landete in respektabler Entfernung zur weitergewanderten Anomalie. Behutsam, als gelte es, auf einer Piste aus rohen Eiern aufzusetzen, ohne auch nur eine einzige Schale zum Zerplatzen zu bringen. Die Arretierungen, mit denen sich die Rüstung an die Außenhülle des Shuttles geheftet hatte, lösten sich. Mecchit rutschte zu Boden, richtete sich sofort auf und wartete bereits an der Luke, als sie sich öftnete und die Rampe ausgefahren wurde. Aus dem Stand heraus sprang er ins Innere der Schleuse, nutzte den Metallsteg überhaupt nicht. Hinter ihm schloss sich das Schott sofort wieder, und eine Stimme, die er mehr mochte, mehr akzeptierte als jede andere, rief ihm zu: »Schlechte Nachrichten!« »Schlechte Nachrichten?«, erwiderte er launig, während er sich nach vorn ins Cockpit bewegte, zwischen den verängstigt kauernden Teammitgliedern hindurch. »Dass ihr mich gerade noch retten
konntet?« »Hoher Herr, darüber solltest du keine Scherze machen!« Er spürte die Aufrichtigkeit, die aus ihr sprach. »Also, was ist es wirklich?« »Unser Mutterschiff meldet das Auftauchen einer unbekannten Flotte an der Grenze des Systems. Die KI rät, unverzüglich an Bord zurückzukehren und alle Vorkehrungen zu treffen, um -« »Sie rechnet mit einem Angriff?« »Sie verweist auf das zeitliche Zusammenfallen dessen, was uns hier am Boden nach dem Leben trachtete … und dem Erscheinen der Fremden.« »Sie hat Recht. Ein Zufall erscheint auch mir höchst unwahrscheinlich.« »Gut, dann starte ich jetzt und bringe uns -« Ihre Stimme versagte. »Was ist?« Sie überprüfte die Instrumente, aktivierte den Selbstcheck der Aggregate, beugte sich immer tiefer über ihre Konsole … … und lehnte sich irgendwann, wie von einer Feder angetrieben, ruckartig zurück. In ihrem Blick, den nur ein Forone zu deuten vermochte, weil er auf genau dieselbe augenlose Art sah, flackerte namenlose Furcht. »Wir werden …« Sie verstummte, nahm erneuten Anlauf. »Etwas hält uns fest!«
»Quelle!« Mecchit hatte sich als Erster wieder gefangen. Kühl zirkulierte das Blut durch sein Gehirn. Die ihn umgebende aufkeimende Panik, die in Hysterie verfallenden Expeditionsmitglieder … all das nahm er wie durch einen Filter wahr. Klar registrierte er nur die Gefahr – die Herausforderung – und Moarees überlegtes Handeln, die neben ihm die Einzige war, die sich nicht in einen Zustand treiben ließ, der kein logisches Handeln mehr zuließ. Wäre sie ihm nicht schon lange vorher aufgefallen, spätestens hier
und jetzt wäre er ihr verfallen. Sie spielte die ihr zur Verfügung stehenden Ortungsinstrumente virtuos, allerdings ohne greifbares Ergebnis. »Nicht feststellbar!«, antwortete sie bitter. »Wir waren bereits in der Luft, hatten bereits beschleunigt, als es uns einfing … als wären wir in das gigantische, aber unsichtbare Netz eines Arachniden geraten – wie ein Insekt, das festklebt …« Mecchit beugte sich neben ihr der Konsole entgegen, aktivierte zugleich die Schnittstelle, die seine Rüstung mit dem Bordcomputer verband, sodass ihm alle Informationen über den Shuttle-Status und die Kräfte, die auf ihr Fahrzeug einwirkten, binnen eines Augenblicks zuflossen. Er legte eine Hand beruhigend auf Moarees Schulter, und der Anzug, den sie trug, verhinderte, dass das verräterische Farbenspiel sichtbar wurde, mit dem sie auf die Berührung reagierte. »Vollschub!« »Längst geschehen«, gab sie zurück. »Wir stehen in der Luft, kommen nicht einmal mehr andeutungsweise voran!« Sie spannte sich an, und als sie weitersprach, war Mecchit bereits über die Neuentwicklung informiert. »Wir – sinken!« Ihre Membran flatterte, ihre Stimme holperte wie ein außer Takt geratenes Herz. »Du meinst«, sagte Mecchit, »wir werden gezogen! Es begnügt sich nicht damit, uns in dieser Lage zu halten. Es will uns in seine Fänge bekommen!« »Es? Bei den Greisen von Benloa, der Welt der Weisen – vom wem redest du, Hoher? Hast du sie gesehen? Was hast du in dem Nebel schauen können?« »Wenig – zu wenig. Ich weiß nicht, wer hinter alledem steckt – vielleicht finden wir Antwort bei den Schiffen, die aufgetaucht sind …« »Du willst dich ihnen stellen?« »Es ist müßig, darüber nachzudenken, so lange wir hier sind!« Das Shuttle sank. Die Kraft, die an ihm zerrte, neutralisierte den immer noch aktiven Antrieb so spielerisch, dass jeder Versuch, ihr
doch noch entkommen zu wollen, illusorisch wurde. Ein scharfer Zuruf Mecchits sowohl in Lautsprache, als auch auf mentaler Ebene brachte die wimmernden, kauernden Wissenschaftler, die sich hinter ihnen völlig ihrer Verzweiflung hingaben, zum Verstummen. Immerhin, dachte Mecchit, fürchten sie mich immer noch ein klein wenig mehr als was auch immer ihnen sonst nach dem Leben trachten könnte. »Wir brauchen Hilfe«, konstatierte Moaree. »Unterstützung!« Er verstand, worauf sie hinauswollte. Aber etwas in ihm sagte, dass das All, der Orbit, der momentan sicherste Ort war, selbst für den HAKAR, den er unter keinen Umständen gefährden wollte. »Verbindung!«, forderte er verbal, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, den Kontakt über die Schnittstelle selbst zu aktivieren. Moaree handelte augenblicklich. Die Hoffnung, dass er tatsächlich den HAKAR anforderte, um sie aus der Misere zu holen, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ich werde dich enttäuschen müssen, dachte Mecchit. Als die Phase stand, sagte er: »Kannst du aus dem Orbit heraus die Quelle orten, die uns zurück zum Boden zwingt?« Die Antwort der KI erfolgte unverzüglich. »Negativ. Aber ich kann sehen, wohin ihr gezogen werdet.« Das hatte Mecchit – im Gegensatz zu den Forschern im Hintergrund – längst erkannt. »In die Nebelzone«, sagte er, »ich weiß. Traktorstrahl aktivieren! Versuche die Kräfte, die von hier auf uns einwirken, zu übertreffen!« Eine Weile herrschte Stille. Am Sinkflug des Shuttles änderte sich nichts … außer dass es noch schneller nach unten zu gehen schien. »Negativ«, meldete die KI. »Das Feld, das euch hält, ist zu stark. Bodenkontakt … Nebel kontakt in …« Die KI unterbrach sich selbst. »Achtung: Neue Situation! Die georteten Schiffe haben einen synchronisierten Sprung vollführt. Sie sind damit eventuell bereits in Gefechtsnähe geraten. Unsere eigenen Waffen können sie noch nicht erreichen, aber es ist nicht auszuschließen –« Diesmal unterbrach Mecchit die KI. »Verstanden! Schilde aktivieren. Waffen gefechtsklar machen – sämtliche Waffen! Ich werde se-
hen, was ich tun kann. Wir müssen uns aus eigener Kraft hier rausbringen, oder …« Er ließ seine Stimme immer leiser werden, ließ sie einfach verebben. »Was wird mit uns geschehen?«, flüsterte Moaree neben ihm. »Der Nebel …« Kontakt!, meldeten die Systeme des Shuttles, als das Fahrzeug die ersten Ausläufer der Anomalie streifte. Mecchit grub die Finger seiner mit Nanogewebe ummantelten Hand so fest in Moarees Schulter, dass sie schmerzerfüllt aufschrie. »Es tut mir Leid«, gab er ebenso leise zurück, wie sie zu ihm gesprochen hatte. Es war ihr letzter gemeinsamer Moment, der von einer gewissen Intimität geprägt war – wenn auch anders, als sie es sich je gewünscht hatten. »Es tut mir so Leid, wenn du wüsstest, wie …« Mit diesen Worten löste er die Hand von ihr. Und ging.
Er materialisierte im Nichts. In eisiger Kälte und luftleerem Raum. Die Rüstung schützte ihn. Und die Frage, ob sie nicht auch noch eine zweite Person hätte schützen, transportieren können, würde Mecchit bis ans Ende seiner Tage quälen. Er hatte sie geopfert – anders konnte er es nicht ausdrücken. Er hatte sie der Idee, der Vision geopfert, in der er zumindest sich selbst an der Spitze einer neuen Foronenzivilisation sah. Und dazu musste er leben, überleben, die Geschicke weiterhin in eine Richtung lenken, die seinem Traum entgegenarbeitete … Nun trieb er im All, die Planetensichel Jogaras in Sichtweite, den HAKAR nicht. Er hatte versucht, direkt an Bord seines Schiffes zurückzuteleportieren, aber die Kräfte der Rüstung waren offenbar bereits vom Einfluss der Anomalie gestört worden. So war er irgendwo im Vakuum zwischen den Sternen gelandet. Die Reichweite der Rüstung war gering, sonst hätte er sogar in einer der nahen Sonnen rematerialisieren können …
… und dann hätte die Rüstung beweisen müssen, ob sie deren Energien tatsächlich zu neutralisieren imstande war. Mecchit vergeudete keine Zeit. Er nahm Kontakt zur KI des HAKARs auf und schickte ihr einen Peilstrahl. Kurz darauf spürte er, wie er von einem Traktorstrahl erfasst wurde … … und konnte nicht verhindern, dass er sich kurz vorstellte, dieser Zugstrahl könne nicht von seinem Schiff, sondern von der Oberfläche Jogaras kommen – – – Dann war er endlich an Bord, konnte die Rüstung wieder öffnen, konnte wieder die Luft atmen, die ihm wenige Lerrg zuvor noch abgestanden und fade erschienen war, jetzt aber köstlicher als alles in seinen Lungen prickelte, was er sich vorzustellen vermochte. Er erreichte die Zentrale binnen kürzester Zeit. Der Türtransmitter spie ihn aus, und er eilte mit raumgreifenden Schritten zu seinem Kommandositz, von dem aus er die Lage überblickte. Bereits unterwegs hatte er sich mit den neuesten Entwicklungen versorgen lassen. Und so wusste er, wie knapp es bereits war. Wusste, dass noch nichts gewonnen war (nur verloren – o Moaree …) und die eigentliche Bewährungsprobe wohl noch bevorstand. »Nachrichten vom Planeten?« Die KI schien nur auf diese Frage gewartet zu haben, so schnell kam die Antwort. »Negativ. Kontakt zeitgleich zu deinem Sprung abgerissen, Herr. Das Shuttle muss als verloren gewertet werden.« Das Shuttle. Und die Insassen? Mecchit spürte den Drang, mit der immer noch armierten Faust auf die Sitzlehne zu schlagen – und vielleicht schwerwiegende Schäden anzurichten. Er bezähmte sich, zwang sich – vorerst – nicht länger an Moaree zu denken. In der Holosäule entstand das Bild der sich nähernden Flotte. Erstmals sah Mecchit sie in ihrem wahren Ausmaß und Erscheinungsbild … … und Hitze stieg ihm in die Brust. Das sollte der Gegner sein?
Die Zahl der Schitfe war nicht zu unterschätzen – 27. Aber ihre Größe … »Du sagtest nicht, dass sie so winzig sind!« »Seit wann wäre Größe ein Kriterium?« Die KI klang ehrlich überrascht. Konnte seine Äußerung nicht nachvollziehen. Mecchit indes fühlte sich von einem heiligen Zorn und dem unbedingten Wunsch übermannt, Moarees Tod (war sie das überhaupt – tot?) nicht ungesühnt zu lassen. Vieles deutete darauf hin, dass die Ankömmlinge die Verantwortung für die Attacke trugen, dass sie etwas mit der Anomalie und mit allem anderen, was auf Jogara passierte, zu tun hatten. Und deshalb sollten sie büßen! Mehr pro forma, denn sein Entschluss stand bereits felsenfest, ließ er die KI Versuche starten, mit den Fremden in Kontakt zu treten. Sämdiche Funkrufe blieben unerwidert. Die sich stetig nähernden Schiffe waren nicht wesentlich größer als das verloren gegangene Shuttle. Der längliche Grundkörper wurde von einer Art Ring gekrönt, und regelrecht plakativ thronte ein Geschütz auf der Oberseite. Das Metall, aus dem die Schiffe gefertigt waren, schimmerte grünlich. Eine Fernanalyse, die Aufschluss über Material, Antriebsart und Waffensysteme geben sollte, scheiterte in vollem Umfang. Die Schiffe gaben ihre Geheimnisse nicht preis. Wie die Anomalie, durchgeisterte es Mecchits Hirn. Aufschluss über die Wehrhaftigkeit erhielt er denn auch auf anderem Wege. Die Fremden schwärmten aus, lösten ihren bislang starren Verbund auf … … und eröffneten warnungslos das Feuer.
Unbekannte Torpedos jagten dem HAKAR entgegen, schlugen in den Schmiegschirm ein. »Minimale Belastung«, meldete die KI. Der HAKAR wurde nicht einmal spürbar erschüttert. Die Andrucksneutralisatoren arbeiteten perfekt.
»Größenwahn muss bestraft werden«, entschied Mecchit. »Gegenschlag! Erstversuch mit Torrel!« Torrel war die heimtückischste Waffe, die je von Foronen entwickelt wurde. Sie durchdrang jeden bekannten Schutzschirm und wirkte auf die Psyche der Gegner ein, trieb sie dazu, Hand gegen sich selbst anzulegen, Selbstmord zu begehen! Es gab wenige Spezies, die eine natürliche Immunität gegen Torrel besaßen, weil sich ihre Denkstruktur eklatant von allem unterschied, was die meisten raumfahrenden Intelligenzen auszeichnete. »Torrel aktiviert.« Breit gefächert und überlichtschnell verließen die Torrel-Strahlen die Stellen der RUBIKON, wo sie unsichtbar in die Außenhaut integriert waren. Die KI nahm zunächst nur ein Ziel ins Visier – ein Probeschuss sozusagen. Und während die Strahlung lautlos das fremde Schiff umbrandete, wartete Mecchit auf das Resultat der Maßnahme. Ununterbrochen musste der HAKAR dabei selbst Treffer einstecken. Sie verpufften harmlos, was die Foronen mehr und mehr in Sicherheit wiegte, bis … »Was geschieht dort?« Mecchit markierte das von Torrel umtoste feindliche Schiff, dessen bislang unsichtbarer Schutzschild sich jäh zu einer rubinrot schimmernden Blase aufblähte und so enorm verdichtete, dass es aussah, als schwebte plötzlich eine gigantische Perle im All. Und im nächsten Moment – änderte sich alles. Torrel schlug zurück. Torrel reflektierte von dem hinter Rubinschimmer verborgenen Schiff … und wurde dorthin zurückgeschleudert, gespiegelt, von wo aus es gekommen war. Zum HAKAR, der plötzlich selbst im Brennpunkt der entfesselten psychogenen Gewalten stand! Mecchit realisierte die Gefahr ebenso schnell wie die KI. »Torrel-Abbruch!«, schrie er. »Eigengefährdung stoppen!« »Negativ«, meldete die KI. »Ne-ga-tiv?« Mecchit zerhackte die Silben mit seiner Schallmembran, als gelte es, ein unbekanntes Insekt mit einem Skalpell zu zerlegen.
»Waffensteuerung blockiert, gehorcht keinem meiner Befehle.« Mecchit hatte den brennenden Wunsch, endlich aus diesem Albtraum zu erwachen. Es konnte nicht wahr sein, was die KI ihm gerade zu verstehen gab. Wer oder was sollte die Steuerung einer ganzen Waffengattung dem Zugriff der Bord-KI entziehen? »Das ist indiskutabel!«, dröhnte er. »Deaktiviere sofort Torrel!« Er selbst spürte noch keine Mentalbeeinflussung, aber er hatte die Rüstung, die imstande war, ihr eigenes Schirmfeld aufzubauen – und genau diese Maßnahme hatte Mecchit sofort ergriffen, als er erkannte, was draußen geschah. Niemand außer den Foronen selbst kannte die exakte Zusammensetzung der Selbstmord-Strahlung, und zugleich waren sie die einzigen, die ihre Schilde so modifizieren konnten, dass sie die schädliche Strahlung filterten, nicht zum Tragen kommen ließen. Mecchits rüstungseigener Schirm war bereits entsprechend justiert. »Schmiegschirm auf Torrel abstimmen!«, befahl er nun der KI für den Fall, dass sie dies noch nicht selbst in die Wege geleitet hatte. Ihre Antwort ließ Mecchit zusammenzucken. »Negativ« »Wieso negativ?« »Der Schildgeneratorenzugang ist ebenfalls blockiert.« »Ein … Virus? Wurde ein feindliches Programm in dich eingeschleust? Wie auch immer …?« »Selbstscan läuft … Positiv. Virus lokalisiert. Er hat fast alle wichtigen Systeme befallen, reproduziert sich fortwährend selbst und überschwemmt die Steuerungen sämtlicher -« »Eliminieren! Gegenviren generieren – sofort!« »Das -« »Sag nicht, das sei unmöglich! Tu es!« Schweigen. Plötzlich, fast als Mecchit selbst nicht mehr damit rechnete, erlosch die Torrel-Bahn, die sich in der Holosäule abzeichnete. »Viren erfolgreich isoliert und aus System entfernt. Alle Programme normal. Wie lauten deine Befehle, Herr?« »Meine Befehle … hör gut zu … lauten: VERNICHTE DEN
FEIND. Schluss mit den Spielchen … AKTIVIERE DIE K-WAFFE!«
Die K-Waffe. Der Kontinuumverletzer! Die ultimative Antwort eines HAKARs auf schier ausweglose Situationen – wenn es beispielsweise einer gegnerischen Übermacht gelang, eine SESHA-Einheit einzukesseln und unter konzentriertes, gemeinschaftliches Feuer zu nehmen. Dies war hier nicht der Fall. Aber hier passierte Anderes, Undurchschaubareres … was Mecchit dazu bewog, sich für die K-Lösung zu entscheiden. Er war von einer kaum mehr zu bändigenden Vergeltungssucht erfüllt. Nach dem spektakulären Scheitern Torrels und dem Einschleusen gegnerischer Viren (Wie hatten sie das gemacht? Torrel als Trägerwelle, als Transportmedium benutzt?) wollte er kein weiteres Risiko mehr eingehen. Er bedauerte nur, nun nie zu erfahren, wer sich hinter den Gegnern verbarg, wer die winzigen Schiffe bemannte. Und er bedauerte, auf diese Weise die letzte Hoffnung zu zerstören, Moaree vielleicht doch noch einmal wiederzusehen, sie aus den Klauen der Unbekannten zu befreien, die dort aut dem Planeten ihrem rätselhaften Tun nachgingen. Es war denkbar, dass Moaree noch lebte. Aber es war unmöglich, dass sie den Einsatz der K-Waffe überstand. Zu nah war der Planet dem Schauplatz dessen, was gleich geschehen würde. »Systeme immer noch sauber?«, fragte Mecchit. »Oder kann es Elemente geben, die verborgen agieren?« »System sauber – definitiv«, antwortete die KI. Er war bereit, ihr zu glauben. »Dann generiere jetzt den Schweif. Bring die K-Waffe zum Einsatz!« So begann es. Das absolute Verderben.
Eis widersprach jedem Kodex, den Kontinuumverletzer in solcher Nähe zu einem Planeten zu aktivieren – selbst Foronen hätten in den meisten vorstellbaren Situationen davor zurückgeschreckt, solches Unheil über eine ganze Welt auszuschütten. Zumal es nur um eine vergleichbar geringe Zahl von Gegnern in alles in allem noch immer nicht übermächtig erscheinenden Schiffen ging. Aber in Mecchit schwelte mehr als nur der unbedingte Wunsch, die Unbekannten in ihre Schranken zu weisen. Er wollte ein Exempel statuieren. Ein Exempel der Rache, das zugleich jedem potenziellen Feind für jetzt und in alle Zukunft signalisieren sollte: Überleg es dir gut, ob du dich mit uns anlegen willst! Und Moaree, die vielleicht tatsächlich noch irgendwo dort unten auf Jogara lebte? Sie wandelte sich in diesen Momenten zur Märtyrerin. Erlangte den Nimbus einer Heiligen, der sie noch einmal eine Stufe über das erhielt, was sie im Leben und Alltag für Mecchit bedeutet hatte. Ein Gott und eine Heilige … Fast hätte er innerlich aufgelacht bei diesem tragikomischen Gedanken. Die Torpedos der grünmetallenen Schiffe detonierten nach wie vor in unbestimmter Folge und an unterschiedlichen Stellen des Schmiegschirm geschützten HAKARs. Sie richteten keine Schäden an dem darunter liegenden Schiffskörper an – und selbst wenn, hätte der HAKAR sich selbst wieder reparieren können, wenn die Beeinträchtigungen kein zu hohes Level erreichten. Nein, eigentlich waren es nur Nadelstiche, die die Flotte der Unbekannten den Foronen zufügte, nachdem sie ihr wirksamstes Pulver, das sabotierende Virus, aufgebraucht hatten. Mecchit traute sich zu, die Schiffe mit den Ringaufsätzen allein mit den konventionellen Laserkanonen des HAKARs besiegen zu können. Aber … das wollte er nicht. Nicht mehr. Die Emotionen gingen mit ihm durch. Selbst Hinweise der KI, die leise Zweifel an der Notwendigkeit des K-WaffenEinsatzes äußerte, schmetterte er auf die ihm eigene, schroffe Art ab.
»Jetzt!«, befahl er stattdessen, unmittelbar nachdem sich der Schweif manifestiert hatte, an dessen Ende sich die Projektionskugel befand. Und aus dieser Kugel zuckten nun Blitze, die scheinbar wahllos, in völligem Chaos hervorbrachen. Der Gegner mochte denken, dass ihm eine neue Form von Beschuss bevorstand – die Wahrheit war sehr viel düsterer. Denn die »Blitze« entluden sich keineswegs wahllos, chaotisch, sondern fanden auf vielerlei Umweg – zumindest hatte es optisch den Anschein, tatsächlich aber folgten die Blitze einer genau errechneten Spur – alle an einer Stelle zusammen. Und dort im Fokus, im Brennpunkt der sich vermählenden Energiezungen begann das All augenblicklich zu brodeln. Das sich zusammenbrauende Unheil war regelrecht zu spüren … musste es auch für die Unbekannten dort draußen sein. Ahnen indes, was sich tatsächlich vor ihnen – und wohl auch der von ihnen verteidigten Welt – anbahnte, konnten sie nicht. Dazu fehlte ihnen gewiss die Vorstellungskraft. Noch. Mecchit hatte dem Akt, der seinen unaufhaltsamen Fortgang nahm, bereits mehrfach in anderen Situationen beigewohnt – damals auf der Flucht des SESHA-Originals vor den Virgh war die KWaffe einige Male zum Einsatz gekommen. Aber sie hatte die Horden von Feinden stets nur aufhalten, niemals entscheidend schlagen können, der Arche nur die nötige Zeit verschafft, sich schließlich aus Samragh abzusetzen, Kurs auf Bolcrain zu nehmen – hierher, wo Mecchits HAKAR nun auf der Suche nach einer künftigen ForonenHeimatwelt kreuzte. Es dauerte nur kurze Zeit, bis das lautlose Brodeln von Blitzen durchzuckt wurde, die andersartig und andersfarbig waren als jene, die den Prozess eingeleitet hatten. Blitze, die aus einem anderen Kontinuum, einem fremden Kosmos und Universum herüberzüngelten – Vorboten des absoluten Untergangs. »Reaktionen?«, wandte sich Mecchit interessiert an die KI. »Bislang keine … Moment, doch: Sie stellen den Beschuss ein.« »Versuchen sie zu fliehen?« Hinter Mecchits Frage stand die perverse Lust, die ihn nun mehr und mehr vereinnahmte – die abnorme
Befriedigung, die er daraus zog, noch vor dem Feind draußen genau zu wissen, was den Schiften blühte. »Negativ.« »Negativ?« Mecchits Überraschung war echt. Der Sog aus dem fremden Kontinuum hatte bereits begonnen. Die Sensoren des HAKARs sprachen eine eindeutige Sprache. Selbst die SESHA-Kopie wurde davon erfasst, trieb noch langsam, aber zunehmend schneller werdend darauf zu. Jedenfalls bis Mecchit diese Drift stoppte. »Anker!«, befahl er. Und die KI projizierte die zweite Komponente, die zur K-Waffe gehörte – ohne die eine war die andere nicht denkbar, wäre die vorsätzliche Kontinuumverletzung einem Selbstmord gleichgekommen. Der HAKAR »warf Anker« – Gravitationsanker, die die Schiffsgeneratoren zwischenzeitlich fast an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit führten, solch enorme Energieaufwendung erforderten sie. Krallen aus purer Gravitation hakten in das unsichtbare Schwerkraftgefüge des Alls ein – abseits der aufgebrochenen Stelle, abseits des eruptierenden und rasend schnell wieder dem Kollaps entgegenstrebenden Tors in ein unbekanntes Universum, aus dem es keine Wiederkehr gab. Für nichts, was einmal davon verschlungen worden war. Es würde sich von selbst wieder schließen, dieses kurzzeitige Portal, die Wunde, die den ihnen bekannten Kosmos verletzte. Aber zuvor … »Anker drei, acht und vierzehn versagen.« Die Feststellung der KI erfolgte völlig nüchtern, emotionslos – löste in Mecchit allerdings einen Sturm der Gefühle aus. Er staunte. Er war erschüttert. Er … misstraute der Aussage … bis er sich mit eigenen Augen davon überzeugte: Drei von insgesamt zwanzig Ankerpunkten waren einfach erloschen. Dergleichen war bei den Anwendungen des SESHA-Originals nie
vorgekommen. Ein Fehler bei der Duplizierung? Hatte das Kopieren der SESHA-Vorlage nicht so einwandfrei funktioniert, wie Taurt es versprochen und vorbereitet hatte? Taurt, der aus Protomaterie geschaffene Ewige, der den Ausbau Tovah'Zaras überwacht und quasi als Bauleiter angeführt hatte, während die Arche der Foronen im Zentrum des Aqua-Kubus in Stase geruht hatte … Mecchit fühlte eine klamme Kälte in sich aufsteigen, als er an das verhasste Element Wasser zurückdachte, in dem sie sich eine halbe Ewigkeit vor den Virgh versteckt hatten. »Anker neu etablieren!«, wies er die KI an, obgleich er sich nicht vorstellen konnte, dass sie nicht genau dies bereits aus eigenem Eirmessen versucht hatte. Die Antwort bestätigte dies. »Versuch der Neuetablierung misslungen.« »Und der Grund?« Mecchits Stimme überschlug sich fast. »Blockade bestimmter Generatorbereiche.« Blockade … Mecchit spürte einen scharfen Stich im Herzen. Also doch! »Sofortiger Selbstscan!«, verlangte er. »Es müssen noch Virenreste vorhanden sein, die jetzt aktiv geworden sind. Ausschalten! Du musst sie sofort ausschalten, bevor -« »Anker fünf, sechs, zehn, zwölf, siebzehn und zwanzig erloschen.« Auch jetzt schwang nichts in der Stimme der KI. Nichts, was für Uneingeweihte das Ausmaß der sich anbahnenden Katastrophe hätte erahnen lassen. Mecchit bedauerte auf einer ihm selbst nicht bewussten Ebene, dass er zu den Eingeweihten gehörte – und sofort genau wusste, was drohte. »Scan!«, forderte er noch einmal mit allem Nachdruck. »Negativ. Sämtliche Systeme sind virenfrei.« Was Mecchit bezweifelte. Die Behauptung der KI besagte nur, dass die Viren intelligent genug waren, sich nunmehr nicht mehr aufspüren zu lassen. Das hieß, dass sie aus dem ersten vermeintlichen Säuberungsprozess gelernt und sich angepasst hatten. Er war sicher, dass der HAKAR mit ihnen verseucht war. Der fast zeitgleiche Aus-
fall so vieler Anker konnte unmöglich zufällig erfolgen, zumal sich die Generatoren einer Schadensermittlung entzogen und die Generierung neuer Anker blockierten. »Feindstatus?« Er hatte die Schiffe der Unbekannten kurzzeitig aus den Augen verloren, aus dem Sinn. Nun richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie, erwartete wenigstens diesbezüglich eine positive Aussage der KI, denn die kleinen Schiffe mussten längst vom Kontinuumriss aufgesogen worden sein. »Unverändert. Ihre Positionen haben sich nicht verschoben. Sie … kleben im All.« Szenen, die die KI in die Holosäule einspielte, belegten die Aussage: Hier der unheimliche Spalt im Kosmos, aus dem unglaubliche Gewalten, als »Blitz« sichtbar, hervorleckten. Dort die Einheiten des Gegners, die es längst in einem unheilvollen, alles an sich reißenden Strudel hätte durcheinander und ins Dunkel eines fremden Universums hätte absaugen müssen … … was aber nicht geschah. Unmöglich! Unmöglich? Sieh es ein: Ihre Anker funktionieren! Der Gedanke war völlig absurd. Dass diese winzigen Schiffe eigene, perfekte Möglichkeiten besitzen könnten, sich dem Sog eines Dimensionsrisses zu entziehen. Aber … eine andere Erklärung gab es nicht. WER SEID IHR? Mecchit fühlte ein Grauen, wie noch niemals zuvor – nicht einmal im Angesicht und in der direkten Konfrontation mit den Virgh, die ihm bis zu diesem Augenblick wie das personifizierte Grauen erschienen waren. Hier war eine neue Qualität des Schreckens zugange. Hier trotzte ein Gegner den Foronen, den sie nie auf der Rechnung gehabt hatten. WER SEID IHR? Diese Frage kreiste wieder und wieder in seinem Hirn, während sich draußen, jenseits der Hülle des HAKARs noch eine weitere Tra-
gödie anbahnte: Der Planet Jogara geriet ins Schlingern. Die Kontinuumverletzung störte zunächst seinen Bahnverlauf – störte ihn drastisch, so dass es auf seiner Oberfläche zu schwersten Stürmen, Beben und Vulkanausbrüchen kommen musste – und würde ihn schließlich zerbrechen, noch bevor er von dem Spalt aufgesogen werden konnte. Moaree … Zum ersten Mal wurde ihm wirklich bewusst, was er getan hatte. Und verstand es weniger denn je, dass er sich so von Unvernunft und Rachsucht hatte leiten lassen. Zu spät. »K-Waffe deaktivieren!«, wies er die KI an. Jogara würde davon nicht mehr zu retten sein, aber der HAKAR, das Wichtigste, was er besaß, wichtiger noch als Moaree – »Abschaltung unmöglich. Systemblockade.« Es war, als gewöhnte sich seine Psyche an den Schrecken. Die Worte der KI erschütterten ihn beileibe nicht mehr zu wie zu Beginn, als sich das Undenkbare abgezeichnet hatte. »Zusammenfassung der Ereignisse erstellen und als kodierten Spruch abstrahlen!« Die anderen HAKARs mussten gewarnt werden, gewarnt vor einer Macht, die sich hier nahezu spielerisch dem Stärksten widersetzten, was Foronen aufzubieten hatten. »Spruch … blockiert«, sagte die KI. Mecchit hieb mit seiner Faust so heftig auf einen Rüstungssensor, dass dieser fast zerbarst. Es war eine Art Notschalter, mit dem die Verbindung zwischen Rüstung und Schiff schlagartig unterbrochen werden konnte. Wenn es dafür nicht bereits zu spät ist. Wenn die Sabotageviren nicht bereits in seine Rüstung eingedrungen waren …
Die grün schillernden Schiffe der Fremden sahen aus wie bizarre Insekten, auch wenn sie sich nicht, wie geplant und erhofft, in das un-
wirkliche Licht stürzten, das abseitig aus dem anderen Kosmos zu ihnen herüberschien und sie eigentlich hätte in den Untergang hätte ziehen müssen. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre. Wenn die Welt noch Mecchits selbstgefälligem Bild entsprochen und nicht stattdessen gegen ihn und seine angeborene und anerzogene Arroganz rebelliert hätte. Zeigt euch, dachte er. Ich will euch sehen. Ich will wenigstens einmal in eure Fratzen blicken, bevor – »Sog nimmt Überhand«, meldete die KI. »Ankerverlust komplett. Sämtliche Generatoren blockiert. Wir nehmen unaufhaltsam und mit zunehmender Geschwindigkeit Fahrt auf. In weniger als …« Sie nannte ein Zeitmaß, das Mecchits Blut zu einem kalten Klumpen gerinnen ließ. »… werden wir verschlungen.« Mccchit spürte völlig unmotivierten Hass gegen die KI in sich aufflammen. Aber er hasste wohl nur das eigene Unvermögen, das sich in der Hilflosigkeit der Künstlichen Intelligenz seines HAKARs widerspiegelte. »Status«, verlangte er, während er sich aus seinem Sitz stemmte. Die Bilanz, die die KI daraufhin zog, war unmissverständlich. Und die Frist, die bis zur unausweichlich gewordenen Totalvernichtung blieb, war unglaublich kurz. Zumal auf die Türtransmitter kein Verlass mehr war. Die Verseuchung mit Sabotageviren hatte ein Ausmaß erreicht, das allenthalben Wirkung zeigte, wenngleich die Schädlinge selbst unauffindbar blieben. Mecchit verzichtete darauf, der KI zu erklären, was er als nächstes tun würde. Es war zu befürchten, dass ihr Dialog belauscht, abgefangen wurde … und dass die unsichtbaren Saboteure, wenn sie noch nicht selbst darauf gekommen waren, sofort darauf reagieren würden. Es war ohnehin nur noch eine theoretische Chance, nach allem, was bereits geschehen war. Nach der ganzen Demonstration von nie für möglich gehaltener Macht, mit der die kleinen grünen Schiffe aufgewartet hatten.
Plötzlich erschienen ihm die Fremden wie Zuschauer, die ihre Ränge eingenommen hatten, um der Zerstörung des HAKARs wie einem grandiosen Schauspiel beizuwohnen. Das war arrogant – Selbstherrlichkeit in Vollendung! Aber Mecchit bezweifelte, dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden würden. Von wem auch? Wer sollte ihnen gewachsen sein, wenn schon Foronen – noch dazu in solch erniedrigenderer Weise – scheiterten? Er verließ die Zentrale, ohne sich von seinen verwirrt umherirrenden Untergebenen zu verabschieden. Ohne sich ihnen zu erklären. (Er war ein Gott!) Kaum draußen, aktivierte er seine Rüstung, die ihn befähigte, um ein Vielfaches schneller als ein normaler Forone zu laufen. Und so jagte er kurz darauf wie ein Phantom durch den HAKAR, hielt geradewegs auf den Raum zu, der allein ihm noch Rettung bieten konnte. Eine Teleportation mittels der Rüstung hätte nichts bewirkt, gar nichts. Die Reichweite war zu gering, um ihn aus dem Anziehungsfeld des Dimensionsrisses zu befördern. Nein, der einzige Ausweg, der vielleicht noch offen stand, die Minimalchance, lag dort in diesem Raum. Den er jetzt betrat … … und hinter sich versiegelte. Ein Raum voller ovaler Kapseln, die niemals dafür gedacht gewesen waren, benutzt zu werden, um einem untergehenden HAKAR zu entkommen. Sie hatten dem Transfer zwischen zwei HAKARs gedient – oder zwischen einem Schiff und einer der planetaren Stationen, die noch aus der Zeit des Exodus stammten. Mecchit öffnete die nächstbeste Kapsel. Eine Luke bildete sich, und er wurde von der darin schlummernden Kraft förmlich ins Innere gezogen. (Wie der HAKAR in den Riss.) Darin angekommen schloss er den Zugang sofort und widmete sich den Kontrollen. Das System war autark. Nicht auf die KI des HAKARs, nicht auf dessen Energieversorgung und auch nicht auf seine Steuerelemente angewiesen. In Windeseile rief Mecchit eine Darstellung des Galaxis weiten
Netzwerks auf, das die überall verstreuten SESHA-Kopien bildeten. Von den aufblitzenden Markierungen wählte er eine beliebige aus. Es war vollkommen gleichgültig, es musste nur funktionieren. Und während außerhalb der Kapsel der Raum, in dem sie lagerten, sämtliche Räume, Korridore und Aggregate des HAKARs zu erzittern begannen, so nahe war das stolze Schiff bereits dem Nadelöhr gekommen, das ins Verderben führte, aktivierte Mecchit die Schaltung, die die Kapsel startete. Die sie dazu brachte, sich in das höher gelagerte Transportmedium einzufädeln, über das sie jede angewählte Gegenstation mit milliardenfacher Lichtgeschwindigkeit erreichen konnte. Es knisterte … und ruckte – und für eine quälend lange Zeit sah es so aus, als hätten die Fremden auch schon die Kapselstation übernommen. Auf die ihnen eigene unheimliche Weise. Doch dann war es, als platze ein Knoten, als reiße das Band – die Kette! –, das Mecchits Flucht vereiteln wollte, doch noch. Mecchit schaltete einen Sitz, der wie aus dem Nichts entstand und exakt auf foronische Bedürfnisse abgestimmt war. Nachdem er sich hatte hineinsinken lassen, dimmte er das Licht im Innern der Kapsel und aktivierte ein Hologramm, das ihm endgültig bewies, dass sich sein Fluchtvehikel aus dem HAKAR gelöst hatte und zielstrebig der ausgesuchten Gegenstation entgegenstrebte. Ein weiterer HAKAR ohne spezielle Kennung. Erst nach seiner Ankunft würde sich zeigen, von wem er kommandiert, von wie vielen Foronen er belegt war. Mecchit instruierte die Rüstung, ihm ein harmloses, aber wirkungsvolles Sedativum zu verabreichen, das ihn für die Dauer der Reise in einen leichten Schlaf versetzte. Sofort bei der Ankunft würde die Rüstung ihn daraus erwecken. Der letzte Gedanke, bevor er einschlief, galt nicht all den verlorenen Foronenseelen, die er ihrem Schicksal über- und damit allein gelassen hatte, sondern war: Es wäre ideal, wenn der HAKAR, auf dem ich strande, von keinem Hohen geführt würde – dann könnte ich ihn mühelos übernehmen und hätte sofortigen Ersatz für meinen Verlust gefunden… Er war schon immer ein Pragmatiker gewesen. Vor allem anderen.
Seine Liebe zu Moaree ausgenommen.
Erst als er wieder erwachte, wurde ihm schlagartig bewusst, was passiert war. Das volle Ausmaß dessen, was sich in Zentrumsnähe dieser Galaxie ereignet hatte. Ein HAKAR war der Zerstörung anheim gefallen – der völligen Zerstörung! Einer von insgesamt 87 – eine sehr überschaubare Flotte, wenn man sich in einer aus Abermilliarden Sternen bestehenden Galaxie aufhielt, hier operierte und sich eine ZUKUNFT aufbauen wollte! Ich habe versagt … Die Rüstung hatte ihn pünktlich geweckt. Die Holodarstellung unterstrich, dass die Kapsel nicht länger entlang der imaginären Linie unterwegs war, die den Weg von einem HAKAR zum anderen symbolisierte. Und sie verriet noch mehr: dass die Ausgangsstation nicht mehr existierte. Hätte Mecchit auch nur den leisesten Zweifel gehabt, sein Schiff könnte im letzten Moment davongekommen sein (ohne ihn), so wurde die größte vorstellbare Katastrophe, der Super-Gau, hiermit zur Gewissheit. Mecchit öffnete die Luke und glitt aus der Kapsel. Im Raum dahinter wartete ein bewaffneter Trupp, dessen Anführer sofort die Demutshaltung einnahm, als er den Ankömmling erkannte. »Wir wussten nicht …«, entschuldigte er. Mecchit wischte die Rechtfertigung beiseite. Ebenso wie alle Gedanken an seine eventuelle Mitschuld am Verlust der wertvollen SESHA-Einheit. »Wie heißt dein Kommandant?« Die Antwort des Foronen verblüffte – und erzürnte ihn gleichermaßen. »Ich bin nicht befugt, das zu sagen.« »Du scheinst den Verstand verloren zu haben!«, dröhnte Mecchits Membran.
In diesem Moment rückte der Trupp von einer unsichtbaren Kraft geteilt auseinander. Eine Gestalt tauchte vom Eingang zur Kammer her auf und trat Mecchit mit allem an Ausdruck entgegen, was nichts mit Demut gemein hatte. Und Mecchit schwindelte, verlor fast die Gewalt über sich, strauchelte, als fordere der durchlebte Horror mit einiger Verspätung nun doch noch seinen Tribut von ihm. »Du …«, vibrierte seine Membran, »du … bist zuriick?« »Ich kann mich irren«, sagte der Hohe Sobek, »nur … sieht Wiedersehensfreude normalerweise nicht etwas anders aus? Nun, ich glaube, du hast mir noch Einiges mehr zu erklären …«
4. Kapitel Sie lief über die Wiese. Die Sonne schien warm, ein Schmetterling torkelte vorbei, so groß und farbenprächtig, wie sie sich immer gewünscht hatte, einen zu sehen. Der Park war voller Menschen. Mum hatte eine Decke ausgebreitet und schmierte ein paar Brote … das hatten sie in einem alten Film gesehen und machten es nun nach, weil sie es sich so sehr gewünscht hatte. Mum war die beste Wünscheerfüllerin überhaupt. Neben ihrem Dad, versteht sich. Daddy ließ unweit einen Drachen steigen, den er selbst für sie gebaut hatte. Der Drache küsste die Sonne, die zwischen den Bäumen hervorlächelte. Plötzlich verfinsterte sich der Tag. Schatten fiel wie ein bleiernes Tuch über den Park. Für einen Moment war es so dunkel, dass man nicht mehr die Hand vor Augen sah. Menschen schrien. Männer, Frauen, Kinder. Mum und Dad. Sie selbst schrie, als hätte sich unter ihr ein bodenloser Schacht geöffnet, durch den sie nun für den Rest ihres Lebens stürzen würde. Ins Irgendwo. Ins Nirgendwo. Dann – schlagartig – kehrte das Licht zurück, und überall lagen Tote. Die Schreie hatten aufgehört. Eine Stille, ohrenbetäubend in ihrer Dichte, erfüllte die Luft, in der kein Laut, kein Insektensummen, kein Vogelzwitschern, kein Antrieb eines Gleiters … nichts mehr zu hören war. Die Finsternis hatte jeden Ton und alles Leben mit sich genommen. Dorthin, von wo sie gekommen war. Und wohin es den Blick jetzt wie magnetisch zog. Zu dem gewaltigen Turm, der die Bäume des Parks überragte, der jedes Bauwerk der Stadtsilhouette überragte … und der gerade noch nicht da gewesen war. Ein mächtiger, ein bizarrer Turm, der alles in den Schatten stellte, was Menschen je geschaffen hatten. Schatten. Dunkelheit. Sie war auch jetzt noch da, klebte an dem Monument, das wie der König aller umstehenden Bauten wirkte,
schlank und doch massig, massiv, dominant. Ein Ding bloß, und doch etwas, von dem jeder Betrachter instinktiv spürte, dass die, die es bewohnten, zum Herrschen geboren waren. Master. Ja, das Wort machte Sinn. Master. Sie regierten dort in dem Domizil. Sie waren gut zu den Menschen, den Lebenden und den Toten. Sie straften die Bösen und belohnten die Guten, rissen Familien auseinander, wann immer es notwendig wurde, um die Allgemeinheit, das Allgemeinwohl zu schützen – nur dann. Wenn es nötig war. Unabdingbar. Sie ging auf ihre tote Mum zu, dann auf ihren toten Dad. Sie lagen da wie Puppen, seltsam verdreht und mit leeren Augenhöhlen. Es war schwer zu glauben, dass sie jemals gelebt hatten. Auch sie selbst lag da, tot und mit verzerrtem Gesicht. Ein totes Kind. Ein verlassenes Kind. Das keinen Sinn mehr darin gesehen hätte, weiterzuleben, allein, selbst wenn es gedurft hätte. Allein. Sie fühlte sich so unsagbar … verlassen. Im Stich gelassen. Schon wieder. Sie – Ein Licht kam aus dem Nichts. Eine Hand strich durch ihr Haar. Eine Stimme sagte: »Ich wusste nicht, dass du es so verstehen könntest. Und es stimmt auch nicht. Du hast dich geirrt. Ich bin dein Freund. Ich bin für dich da. Ich werde dich niemals im Stich lassen. Du bist für mich wie … ein eigenes Kind!« Das Licht durchströmte von dort aus, wo die Hand sie berührte, ihren ganzen Körper. Es war hell, es war warm, es war … ehrlich. »Geh nicht. Gib dich nicht auf. Kämpfe darum, dass uns die Zeit bleibt, dir zu beweisen, wie aufrichtig ich es meine. Das Leben ist schön. Das Leben ist wertvoll und unersetzlich. Nichts, das man wegwerfen sollte …!« Vor kurzem noch hätte sie den, der solches sagte, ausgelacht. Hätte ihre eigene Wahrheit solcher Lüge vorgezogen. Aber etwas hatte sich verändert. Sie fühlte sich, als hätte sie den letzten Schritt getan, über die Schwelle hinweg, nach der es keine
Wiederkehr mehr gab … wäre aber dennoch umgekehrt. Hätte es geschafft, weil die Hand eines Freundes sich ihr entgegenstreckte, ihr half, sie führte – und nicht mehr losließ, bis sie wieder drüben war. Sie fühlte sich wie neugeboren. Und zu dieser Neugeburt gehörten Schmerzen. Höllische Qualen, die ihre Eingeweide zu zerfressen drohten. Die das Blut in ihren Adern zum Kochen und ihren Schädel zum Zerplatzen bringen wollten. Aber die Stimme hörte nicht auf, ihr zuzureden, sie zu trösten, Beistand zu leisten. Die Stimme war etwas, wofür sich zu kämpfen lohnte. Was habe ich nur getan? Wie konnte ich mich so gehen lassen? Die Stimme, das Licht liebkosten und umarmten sie. Sie war nicht allein. Sie sollte nicht sterben. Aber das Gift … »Hilf mir, dann kann auch ich dir helfen. Du musst es wollen, von Herzen wollen – leben. Dann schaffen wir es, gemeinsam!« Es war die schwerste Entscheidung ihres jungen Lebens. Und als sich die Toten erhoben und dort weitermachten, wo die Finsternis sie unterbrochen hatte, als ihr Dad wieder den Drachen steigen ließ und ihre Mum fortfuhr, Brote zu schmieren, wusste sie, dass sie den ersten und wohl auch wichtigsten Schritt gemeistert hatte.
Jelto wuchs über sich selbst hinaus. Während die RUBIKON weiter Lichtjahr um Lichtjahr den Sternenraum durchpflügte, hatte er darauf gedrungen, dass alle anderen Ayleas Kabine verließen. Nur er und sie blieben darin zurück, bestaunt von den Augen Seshas, die dergleichen, wie sich nun darin abspielte, nie erblickt hatte, so lange Foronen das Sagen an Bord gehabt hatten. Den Klon von der Erde kümmerte es nicht.
Jelto war einst dazu gemacht worden, mit jeder Art Pflanze paramental zu kommunizieren, auf sie einwirken, sie zu Wachstum und Blüte anregen – oder bei Bedarf zu heilen. Ganz gleich, ob das Gewächs auf der Erde oder auf einem beliebigen, von einer fremden Sonne beschienenen Planeten entstanden war. Die von Jelto genutzte Sprache war universell, kam ohne einen einzigen Laut aus, entströmte seinem inneren Kern und tiefsten Sein. Und berührte dabei fast beiläufig auch den innersten Kern, das tiefste Sein derjenigen, auf deren Wohl und Genesung er sich konzentrierte. Das eigentliche Ziel seiner Bemühung, seines Herantastens und Spürens aber war das, was Aylea gegessen hatte, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Blätter der giftigen Pflanze, die sie sich zuvor aus Jeltos Garten besorgt hatte – unter dem Vorwand, dass ihr die verführerisch in Knallgelb blühende Blume die Kabine verschönern wurde, die sie ganz allein bewohnte. Er hatte sich nichts dabei gedacht – natürlich nicht. Es hatte ihr nicht auf die Stirn geschrieben gestanden: ICH HABE ES SATT. ICH BRINGE MICH UM. Sie war völlig unauffällig gewesen. Introvertiert war sie ohnehin. Es war ihm nicht aufgefallen, dass sie sich an diesem Tag vielleicht noch ein wenig stärker in sich selbst zurückgezogen hatte als sonst. Bei allen Wäldern! Er musste es wiedergutmachen! Und so weitete er seine Körperaura aus. Durchströmte das fiebrige, albträumende Mädchen mit seinem Licht, das ihm die geheimsten Dinge enthüllte. Das ihn die halb verdauten Blätter erfühlen ließ, die immer noch giftige Substanz absonderten, Aylea immer noch mehr Schaden zufügten und sie, wenn nicht töten, so doch zumindest für den Rest ihrer Tage zu einem Krüppel und Pflegefall machen konnten. Zehn Jahre war sie erst alt, und niemand sollte so jung sterben. Niemand! Er war kein Telepath, nicht im eigentlichen Sinn jedenfalls, und es
überraschte ihn selbst, wie stark der Kontakt, der Zugang war, den er zu ihr fand. Nicht nur zu den im Säurebad zersetzenden Blattresten – auch zu ihnen, natürlich –, auch zu Ayleas Träumen, Gedanken, Ängsten, Sehnsüchten … Er sprach zu ihr. In seinen Gedanken. Und hoffte, dass er sie erreichte. Zugleich wirkte er auf die Pflanzenteile ein, die sich in ihr befanden. Auf das Gift, das sie bereits abgesondert und in ihr Blut entlassen hatten. Er sprach mit Bildern zu etwas, das kein Denken im menschlichen Sinne aufzuweisen hatte. Keine Seele. Kein Gehirn. Und das dennoch war. Lebte (starb). Und ihn hörte. Verstand. Reagierte. Es war wie zahllose Male davor – und doch völlig anders. Weil die Idee, die Bitte, das Flehen anders war als jemals zuvor. TÖTE SIE NICHT, wisperten die Bilder. TÖTE SIE NICHT. SIE HAT DEINEN LEIB NICHT ZERSTÖRT, ER EXISTIERT NOCH IMMER. DIE WUNDEN, DIE DER VERLUST EINIGER BLÄTTER H1NTERL1ESS, WERDEN HEILEN. DU BIST NUR EIN TEIL DESSEN, WAS WEITERLEBT. SIE WUSSTE NICHT, WAS SIE TAT, ALS SIE DICH VOR DER ZEIT TRENNTE. VERGIB IHR. TÖTE SIE NICHT … Er konnte nicht fordern. Er konnte die selbst zum Untergang verurteilten, teils schon abgestorbenen Pflanzenteile, die in ihr waren, nicht zwingen – nur bitten. Ihnen Bilder senden. Von anderem Leben. Das nicht gewusst hatte, was es tat. Das zu jung war, um jetzt schon zu gehen. Das keine Schuld auf sich geladen hatte, nicht wissentlich. Er konnte nur … hoffen. An Wunder glauben. An etwas, das mächtiger war als die elementare Kraft der Natur – außerirdischer Natur –, die sich in Aylea entfaltete. Und die nur von ihr selbst wieder zu stoppen war. Es glich einem Gebet, was Jelto tat. Der Ansprache an eine übermächtige, alles lenkende, alles ordnende Entität.
Aber es dauerte unendlich lange – zumindest nach Jeltos Gefühl –, bis sein Bemühen fruchtete. Bis Seshas Stimme in seine Trance schnitt, ihn wachrüttelte und in die Realität zurückführte. Eine Stimme, die rief: »Sie ist wach, Hüter! Es ist genug – was immer du tust oder getan hast, hör jetzt auf damit, denn es hat ganz offenbar … gewirkt!«
Ihr Lächeln war schwach, lag wie aufgemalt um ihre Lippen. Aber ihre Haut war nun trocken, ihre Wangen glühten nicht länger, und ihr Blick mochte matt scheinen – Erschöpfung von den zurückliegenden Strapazen spiegelte sich darin –, aber er war immerhin klar. Sie war vollkommen bei sich. »Was … ist passiert?« Das Leuchten, das sie berührte hatte, zog sich in Jelto zurück. Seine Aura verlosch, und er sah wieder aus wie ein junger Mann, dessen tiefgrüne Augen eine jeden berührende Melancholie verströmten. Beinahe jedenfalls, denn Aylea hatte keinen Sinn dafür, nicht in diesem Moment und nicht in dieser Verfassung. »Du wolltest sterben.« »Das weiß ich. Ich meine: Warum ist es misslungen?« »Weil es dumm und sinnlos gewesen wäre. Und weil deine Zeit noch lange nicht gekommen ist.« »Das sagt und bestimmt wer?« Da war so viel Trotz – zumindest vordergründig. »Das hast du selbst beschlossen.« »Du lügst! Ich hatte beschlossen, dass ich die Nase voll habe! Ich will nicht mehr! Würde das bitte mal jemand zur Kenntnis nehmen?« »Du redest vom Sterben. Nicht von einer x-beliebigen Entscheidung aus einer Laune heraus. Der Tod ist unumstößlich. Das ist eine Binsenweisheit, ich weiß. Aber mach es dir klar. Mach es dir richtig klar – und dann sprich mit jemandem, was dich so sehr bedrückt, dass du keinen anderen Ausweg mehr gesehen hast, als das. Sprich
mit mir!« »Weil wir Freunde sind.« Sie sah zur Seite. »Ich dachte zumindest, das wären wir.« »Das dachte ich auch, bis -« Sie biss sich auf die Lippe, wie sie es schon einmal getan hatte. Jelto erinnerte sich. Diesmal gab er sich nicht damit zufrieden. »Bis was?« »Interessiert dich doch gar nicht!« »Hör auf, mir vorschreiben zu wollen, was mich interessiert!« Sie sprachen miteinander wie zwei störrische Kinder. Aber offenbar war es genau die Sprache, die Aylea verstand – und akzeptierte. Das war so viel Verletztheit in ihrem Blick. So viel … Enttäuschung. Er wusste, dass er in ein Wespennest stach. Aber es gab keine andere Möglichkeit, wenn er wirklich an sie herankommen wollte. »Bis was?«, wiederholte er. Ihre Augen schwammen plötzlich in Tränen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sekundenlang schien sie einfach außerstande, sich zu artikulieren. Auszusprechen, was ihr solchen Schmerz zufügte und sie zu dieser Wahnsinnstat getrieben hatte. Doch dann brach es aus ihr hervor. Aus einem Mädchen von zehn Jahren. Einem Kind. »Es ist – Cy.« »Cy?« Sie nickte, und eine erste Träne rollte jetzt über ihre Wange. »Und du.« »Cy und ich?« Er gab sich Mühe zu verstehen. »Du hängst doch nur noch mit ihm rum! Seit er da ist … seit er da ist, bin ich … Ach, vergiss es!« Jelto sah sie eine Weile nur an. Er wollte die Hand auf ihren Kopf legen, ihr Haar sacht streicheln, wie er es oft getan hatte (vor Cy?), aber sie wich ihm aus. Die Erkenntnis, dass er schuld an ihrem Zustand war – nicht nur
deshalb, weil er ihr die Pflanze gegeben hatte, mit der sie sich umzubringen versucht hatte, nein, seine Schuld ging viel tiefer: Sie hatte sich das wegen ihm angetan! – machte ihn lange sprachlos. Aylea weinte lautlos vor sich hin. Endlich räusperte er sich. »Das ist doch …« »Unsinn?« »Ja! Oder sagen wir besser: ein schreckliches Missverständnis!« »Ach, dann bin ich wohl blind. Und taub. Cy interessiert dich gar nicht. Du verbringst gar keine Heidenzeit mit ihm, wimmelst mich nicht ab, wenn du und er etwas zu tuscheln habt. Und ihr trefft euch nicht andauernd in seiner Kabine, wo niemand sonst Zutritt hat, während ihr zusammen seid?« »Ich habe mir immer Zeit für dich genommen.« »Aber früher war es anders … Du verstehst es nicht. Ich wusste, dass du es nicht verstehst.« »Ich verstehe dich sehr gut. Ich hatte nur nicht bemerkt, dass du es so für dich verarbeitest, so … dramatisch. Du bist für mich nach wie vor die wichtigste Person hier an Bord. Wenn du es unbedingt wissen willst: Du bist der einzige Freund, den ich habe. So! Ich dachte nicht, dass ich das einmal sagen müsste. Ich dachte immer, das wäre dir und mir klar …« Sie hörte auf zu weinen. Sie sah ihn an. »Ist das wahr?« »Du musst wissen, ob ich dich in so etwas belügen würde.« »Nein. Würdest du nicht.« Er rang mit sich. »Cy bat mich darum, mit niemanden darüber zu sprechen … Ich meine, warum wir uns häufig treffen.« »Ihr habt ein Geheimnis.« »So könnte man sagen.« »Wenn wir ein Geheimnis hätten, wollte ich auch nicht, dass andere es erfahren.« Sie redete und benahm sich jetzt wieder wie das zehnjährige Mädchen, das er kannte und von Anfang an ins Herz geschlossen hatte. »Ja. Aber ich weiß, dass Geheimnisse bei dir gut aufgehoben sind. Und in Anbetracht der Umstände werde ich dir sagen, was Cy und mich verbindet, wenn wir zusammen sind. Dass du es erfährst,
bleibt dann unser Geheimnis. Okay?« Er sah, dass sie seine Offenlegung des Geheimnisses ebenso herbeisehnte wie fürchtete – weil sie nicht sicher war, ob es sie noch mehr schmerzen würde, wenn sie es erst kannte. Er hingegen war überzeugt, dass es dafür keinen Grund gab. »Cy hat sich mit einer großen Bitte an mich gewandt – über die er mit sonst niemand sprechen wollte.« »Auch nicht mit Algorian? Ich dachte immer, die beiden -« »Auch nicht mit Algorian.« »Was ist es?« »Du weißt, dass er erfahren hat, worauf seine Existenz zurückgeht.« Sie nickte. »Auf die Jay'nac – oder die Dex, wie die Satoga sie nennen. Die Aurigen, zu denen er zählt, sind Schöpfungen der Anorganischen.« »Organische Schöpfungen«, präzisierte Jelto, »Pflanzenwesen … mit einem anorganischen Kern. Alle Jay'nac-Züchtungen, das wissen wir inzwischen, haben diesen verborgenen Kern, der an ihre Schöpfer gemahnt.« »Und weiter?« »Und weiter? Nun, seit Cy dies weiß, hat er ein Problem damit. Ich hätte es in seinem Fall wohl auch.« »Verstehe.« Ihr Blick verriet nicht, ob sie das wirklich tat. Deshalb führte Jelto weiter aus: »Er hat mich gebeten, ihm dabei zu helfen, herauszufinden, wie dieser … Kern beschaffen ist. In welcher Art Verbindung das Anorganische mit dem Organischen steht. Und ob das Organische eventuell auch ohne das Anorganische existieren könnte.« »Er will es loswerden.« »Das ist der Hintergrund des Ganzen, ja.« »Aber könnte Sesha nicht viel eher …?« »Sesha konnte auch dir nicht helfen, schon vergessen? Es gibt Dinge … es wird sie immer geben … die eine Maschine nicht vermag. Menschen aber schon.« »Oder Außerirdische.«
»Oder Außerirdische.« Er schmunzelte. »Ich hatte fast vergessen, was für ein kluges Mädchen du bist.« »Und ich hatte ein wenig aus den Augen verloren, was für einen tollen Freund ich habe.« »Dann wären wir eigentlich quitt?« Ein Lächeln, ein richtiges Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Könnte man so sagen. Aber was ist jetzt?« Er sah sie fragend an. »Mit Cy! Konntest du ihm helfen?« »Noch nicht. Sein Fall ist … noch etwas komplizierter als die Blätter in deinem Bauch.« »Ach?« Sie grinste schelmisch. »Aber du wirst ihm helfen, ja?« Er beschloss, es gar nicht erst mit einer Wischiwaschi-Beruhigungspille zu versuchen. Sie wollte eine ehrliche Antwort, und die lautete: »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Die Jay'nac haben sich einiges einfallen lassen, um den anorganischen Kern vor Entdeckung zu schützen. Ich habe ihn bislang noch nicht aufspüren können. Und das ist die Grundvoraussetzung, bevor ich sagen könnte, ob eine Chance besteht, ihn davon zu befreien, ohne dass …« »Ohne dass er das verliert, was ihn ausmacht?«, fragte sie. »Den Cy, den wir kennen gelernt haben? Und den Cy, wie er sich selbst kennt?« Jelto nickte. »Du hast es verstanden. Ich sagte ja, es ist ein klein wenig komplizierter als hochgiftige Blätter in einem Mädchenmagen.«
Als Cloud von Ayleas wundersamer Heilung erfuhr, war er darüber ebenso unbändig froh und erleichtert wie jedes andere Mitglied der Crew, die das Mädchen ins Herz geschlossen hatte. Wenn Erwachsene starben, war es schlimm – wenn Kinder starben, eine Katastrophe. Niemand hielt Jelto seine Unvorsicht mehr nach, im Gegenteil, er war zum Helden geworden – als hätte er einen leibhaftigen Feind,
ein Monster und Ungetüm, besiegt. Was er in gewisser Weise ja auch tatsächlich getan hatte. »Ich weiß nicht, wie ich es ertragen hätte, die Kleine zu verlieren«, sagte Scobee, als sie kurz darauf mit Cloud alleine in der Bordzentrale Wache schob. Normalerweise wechselten sie einander ab, und eigentlich war Cloud an der Reihe. Aber Scobee hatte es sich nicht nehmen lassen, ihm Gesellschaft zu leisten. Cloud hatte nichts dagegen einzuwenden. Scobee und er – das war seit jeher ein ganz spezielles Thema. Anfangs hatte er nicht einmal einen echten, wahrhaftigen Menschen in ihr zu sehen vermocht. Die Art, wie sie entstanden, wie sie »optimiert« worden war, hatte ihn eher an eine Art Android denken lassen. Klone waren da, wo er herkam, nicht an der Tagesordnung gewesen, sondern einem vor der Öffentlichkeit komplett geheim gehaltenen Regierungsprogramm entsprungen. Cloud hatte sie als die perfekten Soldaten der Zukunft betrachtet, nicht mehr und nicht weniger. Sie waren »konstruiert« worden, um der unbekannten Gefahr zu trotzen, die man auf dem Mars vermutet hatte … und die sich sehr viel später, nach vielerlei Umweg, als eine uralte Station der Foronen entpuppt hatte. All das, was seit damals passiert war, all die Kämpfe, Intrigenspiele, Abenteuer und Wunder, die sie gemeinsam erlebt und gemeistert hatten, hatten sie zusammengeschweißt. Sie waren ein – fast – perfektes Team geworden, und mittlerweile war sie die einzige Frau im ganzen Universum, die annähernd die gleichen Wurzeln hatte wie er selbst. Und dass sie ein denkender, fühlender Mensch wie er selbst war, ganz gleich ob im Reagenzglas oder auf eher herkömmliche, »altmodische« Weise gezeugt, daran zweifelte er ohnehin nicht mehr. Trotzdem: Sie hatten beide noch immer, manchmal, Schwierigkeiten im Umgang miteinander. Weil sie eine Frau ist und ich ein Mann, dachte er, während er sie verstohlen im milden Licht betrachtete, das von der Holosäule gestreut wurde. Und weil wir beide wahrscheinlich auch öfter mal Probleme mit unseren Gefühlen haben, unseren geheimen und geheimsten Wünschen … Gott, natürlich – er war ein Mann. Er hatte
nicht nur einmal in den vergangenen Monaten mit dem Gedanken geliebäugelt, wie es sich wohl anfühlen mochte, Scobee ganz nah zu sein. Sie in einer Weise zu berühren, wie es nur zwei Menschen taten, die etwas Inniges verband … oder die beide auf schnellen Sex aus waren. Dabei hatte er gemerkt, dass beides nicht auf sie zutraf. Und wenn sie die letzte Frau des Universums gewesen wäre – oder er der letzte Vertreter des männlichen Geschlechts –, da war etwas, was einfach zwischen ihnen fehlte. Freunde waren sie geworden, Freunde, die füreinander durch dick und dünn gegangen wären, aber den nächsten Schritt, den Quantensprung hin zur Liebe oder auch nur Verliebtheit, hatten sie nicht geschafft. Und so etwas ließ sich auch nicht erzwingen. Um ihrer Freundschaft willen durften sie das niemals vergessen, niemals übergehen. Auch wenn er sich jetzt, in diesem Moment, wieder einmal ganz stark nach Nähe und Wärme und einer zärtlichen Frauenhand, heißen, gefühlvollen Küssen sehnte – es wäre falsch gewesen. Ein Fehler, der auch die Freundschaft gefährdet hätte. »Scob …?« Ein besserer Moment, um es mit ihr zu klären, würde nicht kommen. »Ja?« »Scob, kann ich … dir etwas sagen?« Sie sah ihn von ihrem Sitz aus, gleich links von ihm, an. Der Schimmer des Hologramms, in dem das Sternenmeer langsam vorübertrieb, zeichnete ihr Gesicht weicher, als es in Wirklichkeit war. Ihm fiel ein, wie es gewesen war, zum ersten Mal in dieses Gesicht zu blicken, das wie ein kleines Kunstwerk wirkte. Wie eines dieser alten japanischen Manga-Heldinnen-Gesichter, ein Eindruck, der durch die Tätowierungen, die Scobees Brauen darstellten, noch geschürt wurde. Ihre Augenfarbe war variabel, je nach Stimmung und Anforderung. Bei Bedarf konnte sie sogar im ultravioletten Bereich sehen, bei völliger Dunkelheit. Er wusste nicht, wie sie ihn gerade betrachtete, aber er bemerkte
ihre Neugier. »Natürlich. Du kannst mit mir über alles sprechen.« Ausgerechnet damit lähmte sie ihm die Zunge. Du Narr! Was ist, wenn sie in dich verliebt ist und sich einen Dreck darum schert, ob du es auch in sie bist? Was ist dann? Wie willst du da wieder raus kommen? Binnen einer Sekunde machte er einen Rückzieher. Und Sesha schien auf seiner Seite zu sein, ihn aus der Verlegenheit retten zu wollen. Sie sagte: »Es ist etwas passiert. Ich denke, es ist von Bedeutung.« Gleichzeitig verschwanden die Sterne aus der Holosäule. Sie wurde einfach dunkel, als sollte gleich ein neues Szenario entstehen. Sowohl Cloud als auch Scobee strafften sich, widmeten ihre ganze Aufmerksamkeit dem, was Sesha ihnen mitzuteilen hatte. »Gefahr?«, fragte Cloud. »Unwahrscheinlich.« »Was dann?«, mischte sich Scobee ein. Die enge Bordkombination, kobaltblau, unterstrich ihre eindrucksvollen Rundungen. Nein, befand Cloud, an mangelnder Attraktivität lag es nicht, wenn er … »Wir haben erst etwa die halbe Strecke zu den mutmaßlichen Saskana-Koordinaten zurückgelegt«, fuhr Scobee fort. »Hat es damit etwas zu tun? Gibt es bereits erste, verlässliche Scans der Position?« »Negativ. Die dortige Sterndichte ist viel zu hoch. Wir werden den betreffenden Bereich erst kurz vor Erreichen einsehen können.« »Also«, drängte Cloud, »was ist es dann? Was ist so Bedeutsames passiert, von dem nur du bislang etwas mitbekommen hast?« Übergangslos erschien die stilisierte Darstellung, die Cloud schon einmal präsentiert bekommen hatte. Das Netzwerk der SESHA-Kopien! Ein täuschend echt wirkendes Bild der Milchstraße, als würde man senkrecht auf sie blicken, hinterlegte die durch feine Linien miteinander verbundene Struktur. »Du machst es wirklich spannend«, seufzte er. »Rede endlich.« »Wie viele HAKARs waren bislang miteinander vernetzt?«, reagierte die KI mit einer Fragestellung. »Ich erinnere ausdrücklich dar-
an, dass die RUBIKON sich daraus ausgeklinkt hat.« Scobee sah Cloud an. Er hatte mit ihr über das Netzwerk gesprochen. Sie wusste Bescheid. Und wartete ebenso ungeduldig wie er auf die Erklärung Seshas. »Wenn es hilft«, knurrte Cloud. »Siebenundachtzig.« »Korrekt.« »Ist das ein Quiz?« Scobee schien nicht bereit, sich länger hinhalten zu lassen. »Es ist überholtes Wissen«, erklärte die KI. »Vor genau zwei Minuten und drei Sekunden ist eine der Markierungen erloschen.« »Und das heißt?« Cloud schüttelte den Kopf, überlegte, die KI einer grundsätzlichen Neuprogrammierung zu unterziehen, die sie etwas schneller auf den Punkt kommen ließ – die Crux war nur, dass er keine Vorstellung davon hatte, was eine KI eigentlich genau ausmachte. Woraus sie sich zusammensetzte und wie sie erzeugt wurde. »Da hat sich offenbar noch jemand … ausgeklinkt«, tippte Scobee ins Blaue hinein. »Unmöglich. Nur die Original-Arche vermag dies.« Die KI klang vollkommen überzeugt von dem, was sie sagte. »Die einzig vorstellbare Erklärung ist, dass der betreffende HAKAR aufgehört hat zu existieren.« »Du meinst«, fragte Scobee ehrlich verblüfft, »er wurde zerstört?« »Ich meine, dass er zerstört wurde. Ja.« »Das«, nickte Cloud, »klingt wahrhaftig spannend. Was kannst du uns noch darüber verraten?« »Nur, wie die letzte Position des HAKARs war, bevor seine Netzwerkkennung erlosch.« »Sag nicht: in Zentrumsnähe. Sag nicht: ungefähr dort, wo wir Saskana vermuten.« »Zentrumsnähe ist korrekt – aber relativ. Die Entfernung zu den mutmaßlichen Saskana-Koordinaten beträgt mehr als tausend Lichtjahre.« »Also nicht unbedingt das, was man als ›direkte Nachbarschaft‹ bezeichnen würde.« Scobee klang durchaus erleichtert. »Die Position des HAKARs war auf der anderen Seite des Super
Black Holes, das wir als Zentrumsmarkierung heranziehen«, sagte Sesha. »Ein Zusammenhang zwischen unserem Reiseziel und dem Vorfall ist eher unwahrscheinlich. Ich habe nur darauf hingewiesen, weil der Totalverlust eines HAKARs an sich schon ein absolutes Novum darstellt.« »Danke, dass du uns informiert hast«, sagte Cloud. »Ich verbuche es in der Rubrik ›gute Nachrichten‹ – erhebt irgendjemand Einwände?« Die KI schwieg. Scobee lächelte unschlüssig. Und auch Cloud fragte sich plötzlich, ob man den Tod Tausender Foronen, der mit der Zerstörung eines HAKARs einher gegangen sein musste, wirklich als »good news« feiern durfte …
5. Kapitel Mecchit sah sich einem Tribunal gegenüber, das er so niemals erwartet hätte – schon gar nicht in den Nachwehen seiner Flucht von Bord des eigenen HAKARs. Außer Sobek, das wurde rasch klar, befand sich auch Siroona in der SESHA-Kopie, die seine Kapsel aufgenommen hatte. Sobek und Siroona waren aus Samragh zurück? Wieso hatte er nichts davon erfahren? Sie bewegten sich, als wären sie nicht erst vor ein paar Lerrg hier eingetroffen, sondern schon beträchtlich länger. Nachdem Sobek ihn in die Zentrale des hiesigen HAKARs geleitet hatte, wo auch Siroona wartete, wurde Mecchit von beiden mit unverhohlenen Vorwürfen überschüttet, und die Fragen, mit denen sie ihn bezüglich der in einer Katastrophe geendeten Vorkommnisse im Zentrum der Galaxis bombardierten, wirkten sicher nicht nur zufällig wie ein beständig schärfer geführtes Verhör. Schließlich platzte Mecchit der Kragen. Sie waren allein in dem hohen, weiten Raum, Sobek hatte die Normalbesatzung bis auf weiteres hinausgeschickt. Sie waren völlig unter sich – aber genau das war es, was Mecchit mit zunehmendem Unbehagen erfüllte. Er wusste, dass er seine geheimsten Gedanken verbergen konnte – auch vor seinesgleichen. Dennoch bedeutete es puren Stress für ihn, sich ausgerechnet demjenigen gegenüberzusehen, dessen Platz innerhalb der Führungsriege der Foronen er einzunehmen trachtete. »Ich habe euch alles über die Geschehnisse, die zum Totalverlust des HAKARs führten, erzählt. Jetzt wäre es an der Zeit, dass ihr mir schildert, was seit eurem Aufbruch nach Samragh geschah – warum ihr euch hier und nicht an Bord des SESHA-Originals befindet … und was aus ihm geworden ist!« Obwohl sie es zu verschleiern suchten, spürte er, dass es ihm gelungen war, sich aus der Enge, in die sie ihn gemeinschaftlich getrie-
ben hatten, zu befreien und die Ankläger unvermittelt selbst in die Rolle Angeklagter zu drängen. Eine Weile hatte es den Anschein, als wollte Sobek ihm genau die Rechenschaft verweigern, die er gerade von ihm eingefordert hatte. Dann aber besann sich der – noch! – charismatischste Angehörige des alten Septemvirats. Er lehnte sich weit in dem Kommandositz zurück, auf dem er neben Siroona Platz genommen hatte, die mehr denn je den Eindruck vermittelte, seine Gefährtin zu sein. »Du hast Recht – wir sollten mit gegenseitigen Schuldzuweisungen vorsichtig sein. Es könnte sein, dass unser uneingeschränkter Zusammenhalt schon bald mehr gefragt sein wird, als jemals zuvor. Dein Bericht gibt Anlass zur Besorgnis. Der Gegner, auf den du gestoßen bist, ist uns völlig unbekannt – und bislang gesichtslos. Es wird unser vordringlichstes Bestreben sein müssen, ihm ein Gesicht zu verleihen und alles über seine Motive sowie seine Stärke und Herkunft herauszufinden. Du wirst ein neues Schiff erhalten. Du wirst deine Erfahrungen in die Jagd nach der unbekannten Macht einbringen, sie kann uns von unschätzbarem Wert sein … Und natürlich hast du ein Anrecht darauf zu erfahren, was seit unserer Trennung geschah. Es sind Dinge von weitreichender Konsequenz geschehen, Dinge, die so kein Forone voraussehen konnte. Wir haben den Grund unserer damaligen Vertreibung durch die Virgh erfahren und kennen nun die wahren Drahtzieher, denn die Virgh selbst sind und waren nichts anderes als willfährige Soldaten, vom wahren Feind nur gezüchtet und gegen uns geführt, um aus unserer teuren Heimat ein Bollwerk zu machen, das die Dex – so nennen sich die hier ansässigen Anorganischen, die all dies zu verantworten haben – gegen Feinde schützen sollte, die sie einst aus ihrer Heimat vertrieben …« Mecchit lauschte ebenso konzentriert wie verblüfft den Ausführungen Sobeks, die immer wieder von Einwürfen Siroonas ergänzt wurden. Mecchit bildete sich ein, spüren zu können, wenn er belogen wurde – selbst wenn der Lügner eine Position wie Sobek einnahm. Aber bei allem Unglaublichen, was er hörte, kam ihm angesichts der Lei-
denschaft und Vehemenz, mit der die beiden anderen Hohen ihm berichteten, niemals auch nur der Hauch eines Zweifels, dass sie ihm die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit auftischten. So erfuhr er von den Dex und den Satoga, von Mara Forna, der Heimat der Dex-Feinde … und deren Einflug in diese Galaxis, wo sie … das alles war gerade erst passiert und hatte ebenfalls noch nicht Eingang in Mecchits Wissensstand gefunden … in eine Falle der Dex geflogen waren. »Für eine Weile sah es aus, als würde eine der beiden Parteien, die Schuld an unserer Vertreibung trägt, von der anderen aufgerieben werden. Sie war hoffnungslos unterlegen. Aber dann wendete sich das Blatt. Diejenigen, die – ich gebe es zu – ich selbst unterschätzte … diejenigen, die ich selbst an Bord der Arche nahm, um ihnen die Wunder der alten Heimat zu zeigen … und was die Virgh davon übrig ließen – sie nutzten eine Attacke gegen alles Foronische, um die Macht an Bord zu übernehmen. Danach waren wir …« Er stockte, gab sich aber einen Ruck, wobei er bemüht schien, keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Phase seiner Schwäche längst wieder überwunden war. »… Gefangene an Bord unseres eigenen Schiffes. Bis uns, zurück in dieser Galaxis, die Flucht auf einen HAKAR gelang. Auf diesen.« »Warum wusste ich nichts davon?«, fragte Mecchit zurückhaltend. »Wie lange ist das her?« »Noch nicht lange«, sagte Siroona in einem Tonfall, als wollte sie kein weiteres Wort auf dieses Thema mehr verwenden. »Wir wollten unsere Rückkehr erst verbreiten, sobald wir uns selbst ein genaues Bild von der neuen Lage hier gemacht hätten. Doch es kam anders. Wir werden umgehend alle Schiffe, alle Foronen über die Dinge in Kenntnis setzen, die wir erfahren haben – und über die Dinge, die du erfahren hast.« »Ihr habt SESHA verloren«, sagte Mecchit dumpf, als dämmere ihm erst jetzt, was aus Sobeks und Siroonas Schilderung als Quintessenz geblieben war. »Ihr habt die Mutter aller HAKARs … an Menschen verloren …!« »Wir werden die Arche wiedergewinnen. Sie werden sich nicht
lange in ihrem Scheinsieg sonnen können!« Sobek hieb mit der Faust auf die Lehne seines Sitzes. Seine Haltung … alles an ihm verriet, dass es nicht nur unklug, sondern gefährlich gewesen wäre, ihm jetzt zu widersprechen – oder den Finger noch tiefer in die offensichtliche Wunde zu legen. Selbst für einen Hohen wie Mecchit. Sein Status – das wusste er spätestens seit Mont – schützte nicht vor einem verfrühten Ableben … Er fühlte die Blicke Sobeks auf sich ruhen, und täuschte er sich, oder war der große Kontrahent gerade kurz zusammengezuckt? Habe ich meine geistige Deckung vernachlässigt? Habe ich zu stark an Mont gedacht – und daran, was ich über seinen Tod denke? Er wich den Blicken der zahllosen, über Sobeks Gesichtsfläche verteilten Sinnesrezeptoren nicht aus, fand aber keinerlei Bestätigung für seine Befürchtung. Auch verbal gab Sobek nicht zu erkennen, ob er aufgrund einer Nachlässigkeit einen Zipfel von Mecchits geheimsten Gedanken erhascht hatte. Was definitiv mein Todesurteil wäre. Er würde es nie hinnehmen, dass ich Mont zu rekonstruieren versuche – inklusive all seiner Erinnerungen. Ein für immer gescheitertes Unterfangen. Mit dem HAKAR war sämtliches genetische Material von Mont unwiederbringlich verloren gegangen. Und Moarees Tod tat ein Übriges, Mecchits diesbezüglichem Ehrgeiz einen mehr als nachhaltigen Dämpfer zu verpassen. »Was hast du vor?«, wandte sich Mecchit an Sobek, der ihm gegenüber wie ein Fels in der Brandung saß. »Zunächst einmal«, antwortete der Mann, der seit jeher eine Sonderstellung innerhalb des Septemvirats eingenommen hatte, »werden wir die anderen Hohen auf den aktuellen Wissensstand bringen. Ich werde eine Zusammenkunft einberufen, bei dem nur kurz über die Vergangenheit gesprochen wird. Wichtig ist die Gegenwart, ist die Zukunft. Satoga und Dex mögen sich geeinigt haben, die uralte Fehde beizulegen. Wir aber sind die Opfer, die zwischen ihren Fronten zerrieben wurden. Unsere Zeit wird kommen. Es gibt viele Wege, den Tätern, die uns auf dem Gewissen haben, zu scha-
den. Kein Dex wird von nun ab mehr sicher sein – ebenso wenig wie ein jeder, der mit ihnen Bündnisse eingeht. Die Namen haben sich geändert – Virgh, das war gestern, von heute ab bekriegen wir die Schöpfer dieser unseligen Brut!« »Es ist unwahrscheinlich, dass die Zerstörer des HAKARs etwas mit den Dex zu tun haben. So mächtig sind sie euren Schilderungen zufolge nicht – sonst hätten ihre Züchtungen das Bollwerk Samragh besser gegen die anstürmenden Satoga verteidigen können.« »Du sprichst weise«, bestätigte Siroona. »Vielfältige Aufgaben warten auf uns: Zum einen die Rückgewinnung der Original-Arche, die mehr ist als ein Schiff – sie ist ein Symbol, das für die Stärken unseres Volkes steht. Dafür, wozu es selbst in aussichtslos scheinender Lage noch fähig ist. Darüber hinaus werden wir Wege finden, den Dex zu schaden, ihnen das heimzuzahlen, was sie uns antaten. Wir werden nichts überstürzen und keinen offenen Krieg gegen sie führen – das wäre Narretei. Nein, wir müssen lernen, unsere Stärke realistisch einzuschätzen und uns auf Strategien besinnen, die andere für uns arbeiten lassen. Der Friedensschluss zwischen Dex und Satoga muss nicht von Bestand sein. Es könnten Dinge geschehen … Dinge dazwischen funken, an die jetzt und im Überschwang der Gefühle auf beiden Seiten noch niemand denken mag. Aber wir alle wissen, wie brüchig Abkommen sein können. Wie wenig es bedarf, um Misstrauen und Feindschaften neu zu schüren. Dazu wird es nötig sein, den Satoga nachzureisen. Herauszufinden, wohin genau sie sich aus dem Einflussgebiet der Jay'nac zurückziehen. Sobek hat all dies frühzeitig bedacht. Ein HAKAR hat sich an die Fersen der Satoga-Armada geheftet. Sie ist zur nächsten Großgalaxie aufgebrochen, nach Mocarail* …« Sie schwieg kurz. Die Haut, die sich um ihre knöcherne Physiognomie spannte, schien zu knistern, und die ganze Ausdruckskraft, mit der Siroona sprach, erinnerte Mecchit daran, wie einzigartig ihr Auftreten seit jeher war. In vielem war sie Sobek fast ebenbürtig. Wenn ich irgendwann wahrhaftig seinen Platz einnehmen will, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sie ist mir dann so treu erge*Foronenname für die Andromeda-Galaxie (M31)
ben wie heute noch ihm, oder … oder sie muss mit ihm verschwinden! Er wusste, dass es wahrscheinlich auf Letzteres hinauslaufen würde. »Und außerdem«, fuhr Siroona in diesem Moment fort, ohne ein einziges Mal von Sobek unterbrochen, korrigiert oder gemaßregelt zu werden, »ist da nun noch das dritte Schlachtfeld hinzugekommen. Die große Unbekannte, mit der du eine erste Berührung hattest, Mecchit. Wer anders als du hätte das Maximum an Motivation, die Herkunft dieser neuen Bedrohung aufzudecken? Die Heimat dieser Wesen ausfindig zu machen, damit wir Schritte gegen sie einleiten können … Aber darüber sollen alle entscheiden, sobald wir uns zusammengefunden haben. – Wie denkst du darüber?« »Ich denke«, sagte er langsam und mit Bedacht, »dass es ein guter Tag war, an dem ihr zurückgekehrt seid, Siroona … Sobek … Die Fülle eurer Erkenntnisse wird das Fundament bilden, auf dem wir unser neues Reich aufbauen!« Innerlich übergab er sich fast. Innerlich fühlte er sich ausgebrannt und alt und kaum mehr fähig, den Anblick der beiden zu ertragen. Aber auch das überstand er. Auch diese Prüfung würde er bewältigen. Es war im Kleinen so, wie Siroona es für den künftigen Krieg gegen die Dex zur Parole erhoben hatte: Er würde nicht offen gegen sie kämpfen, er würde andere für sich arbeiten – intrigieren! – lassen. Es würde Mittel und Wege geben, die Loyalität, die beide noch zusammenschweißte, zu untergraben, das Misstrauen gegeneinander keimen und wachsen zu lassen. Eure Tage sind gezählt, dachte er dumpf und sich nur noch nach einem sehnend: nach traumlosem Schlaf, in dem er alles vergessen, alles von sich schieben und abladen konnte, was passiert war. Er war so unendlich müde …
6. Kapitel Tage später »Ich wusste es!«, schnappte Jarvis. »Oder sagen wir: Ich habe es befürchtet!« Sie hatten die Koordinaten erreicht, die ihnen von den Satoga zur Verfügung gestellt worden waren. Das All außerhalb der RUBIKON war so ungewohnt hell, dass die Lichtflut des Sterngewimmels immer wieder jeden Blick auf sich zog. Selbst Jarvis in seinem Kunstkörper konnte sich von der Faszination der Sonnenfülle nicht freimachen, auch wenn er in sehr verfremdeter Weise sah. »Das klingt, als wolltest du Artas des vorsätzlichen Betrugs bezichtigen.« Cloud hatte ihm gegenüber den Platz eingenommen, den er immer wählte – den Sarkophagsitz, der einmal Sobek gehört hatte. Sobek. Was mochte aus ihm geworden sein? Die Spur des Foronen und seiner engen Vertrauten Siroona verlor sich in den Wirren der Konfrontation mit den Jay'nac. Die beiden Angehörigen des Septemvirats, von den Vaaren des Aqua-Kubus als »Hirten« verehrt, hatten die Konfusion unmittelbar nach der Abschaltung der Virtusphäre dazu genutzt, aus ihren Kabinen auszubrechen, wo sie unter Arrest gehalten worden waren. Auch Sesha hatte nicht rekonstruieren können, wohin sie in einer der Transportkapseln der RUBIKON geflohen waren – geschweige denn es verhindern können. Auch die KI war vom Einfluss der Virtusphäre betroffen gewesen, obwohl sie ein rein mathematisches Konstrukt, ein Programm war, und die Sphäre laut Darabim ausschließlich Organisches manipulierte, es in eine falsche, eine Pararealität versetzte …
Dieser Umstand führte Jarvis einmal mehr vor Augen, wie wenig sie über Sesha tatsächlich wussten. Und obwohl er »die Seiten gewechselt« hatte, inzwischen selbst, rein körperlich betrachtet, etwas Lebloses und Anorganisches geworden war, fiel es ihm dadurch um keinen Deut leichter, die KI zu begreifen. Sie stellte ihn, wie jeden anderen an Bord, immer wieder vor neue Rätsel. Erst recht, seit sie ihm das Angebot unterbreitet hatte, ihm einen neuen biologischen Körper aus dem an Bord befindlichen Leichnam seines alten zu »bauen«. Einen Klon klonen … Das hätte spaßig klingen können, hätte sich nicht so viel bitterer Ernst dahinter verborgen. Scobee hatte bewiesen, dass man Klone klonen konnte. Sie war eine Matrix, kein simpler GenTec wie er einer gewesen war. Dass es technisch möglich war – vor allem mit den Mitteln dieses Schiffes –, daran zweifelte Jarvis auch keine Sekunde. Was ihn zögern ließ, das Angebot Seshas anzunehmen, war die Warnung der KI, dass es zu Problemen kommen könne, wenn er aus dem Nanokörper, der einmal die Rüstung des Hohen Foronen Mont gewesen war, in ihn transferierte. Laut Sesha war nicht auszuschließen – sogar hochwahrscheinlich –, dass der aus Jarvis' Erbgut neu gezüchtete Körper bereits besetzt war … mit einem eigenen Bewusstsein. Oder mit einer Seele – falls man den religiös-ethischen Standpunkt vertrat. Und einen leisen Vorgeschmack, was es hieß, einen Körper mit einem zweiten Bewusstsein teilen zu müssen, hatte Jarvis bereits erhalten, als er diesen Kunstkörper vorübergehend mit Mont hatte teilen müssen … Nein, es war keine einfache Entscheidung, nichts, was er übers Knie brechen wollte, und so hatte er sie denn auch bis auf weiteres vertagt. »Betrug ist ein zu hartes Wort«, wiegelte er ab. »Aber es bestätigt mich darin, dass die Satoga wohl doch ein klein wenig unter Selbstüberschätzung leiden.« Er hob einen seiner Arme, die er bei Bedarf in tödliche Waffen verwandeln konnte, und zeigte damit auf die ho-
lographische Wiedergabe des Weltraums, durch den die RUBIKON mit nur mehr zwanzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit »schlich«. »Ich könnte nicht einmal sagen, dass ich darüber nicht auch ein bisschen erleichtert bin. Ihr habt sie nicht im Virghstock erlebt …« »Aber hier an Bord«, warf Scobee ein. Er überging es, glaubte nicht, dass es vergleichbar war mit den Erfahrungen, die er im Kampf der Satoga, ihrer Magnetmeister und Artas an der Spitze, hatten sammeln können. »… als sie den Wissenspool dieser Monstren anzapften. Als sie -« »Schon gut«, unterbrach ihn Cloud. »Wir haben erlebt, wie sie die Ghosts aus der PERSPEKTIVE zauberten. Wie sie uns vor den hereindrängenden Virgh retteten. Wie sie die bis dato als kaum besiegbar eingestuften Superdreizacke der Jay'nac-Züchtungen ausschalteten … Also sag nicht, wir wüssten nicht, von wem du redest.« Jarvis ließ den Arm wieder sinken. »Dann wisst ihr jetzt, dass sie auch irren können. Es ist traurig für Boreguir, aber meinem eigenen Selbstwertgefühl tut es durchaus gut, dies zu wissen.« »Sei nicht so selbstsüchtig«, feixte Aylea. Sie nahm einen der anderen Sitze, genau zwischen Scobee und Jelto ein. Die übrigen drei waren von Jiim, Cy und Algorian belegt. Früher hatte auch Jarvis einen davon für sich beansprucht – bis die Crew Zuwachs bekommen und er von sich aus angeboten hatte, sich »zwischen allen Stühlen«, wie er es scherzhaft ausdrückte, niederzulassen. Er konnte seinen Nanokörper mittlerweile fast nach Belieben formen, und es bereitete ihm keinerlei Mühe, es aussehen zu lassen, als gäbe es plötzlich einen achten Kommandositz, mit dem er verschmolzen war. Sobald er »aufstand«, gruppierten sich die Nanoelemente um und modellierten seinen Körper neu, sodass er wieder zum stilisierten Humanoiden wurde, dessen Aussehen dem Jarvis von einst, jenem aus Fleisch und Blut, nachempfunden war. Zu acht also umringten sie die Holosäule, in die Sesha sämtliche relevanten Daten des Ankunftsgebietes eingeblendet hatte – zusätzlich zu der technisch aufbereiteten Umgebungsdarstellung, aus der das hervorging, was Jarvis zu seinen Bemerkungen veranlasst hatte. Die Ortungssysteme der RUBIKON hatten einen Radius von etwa
fünfzig Lichtjahren aufgerastert, in dem sich das Rochenschiff momentan bewegte. In dem es unermüdlich Daten sammelte, scannte, auswertete. Und immer wieder zu demselben Schluss kam: Die Satoga hatten sich geirrt. Hier existierte weit und breit kein Stern. Hier gähnte eine Leere, wie sie niemand so zentrumsnah erwartet hatte. Wo immer Boreguirs Heimat auch liegen mochte, hier war es nicht. Der Papyrus stellte entweder keine Himmelskarte dar – oder Artas hatte die Möglichkeiten seines Volkes überschätzt. »Dann sind wir also den ganzen weiten Weg umsonst gekommen«, keckerte Jiim, von den Chips in ihren Köpfen übersetzt. »Ich wollte es nicht vorschlagen, so lange es darum ging, einem Toten die verdiente Ruhe in heimischen Gefilden zu ermöglichen, nun aber … Guma Tschonk, mir läge viel daran zu wissen, wie es daheim auf Kalser inzwischen aussieht. Ob es den letzten meines Volkes noch gut geht, oder …« Er senkte das Haupt. Seine Flügel waren am Rücken zusammengefaltet. Sein Gesicht, so fremdartig es auch sein mochte, wirkte kindlicher als das von Aylea. Und dazu passte sein Gemüt. Er war eine Seele von einem Nargen. Und es gab kaum jemanden, der ihm einen Gefallen hätte abschlagen können. Hier und jetzt aber, gerade erst angekommen, wollte sich Cloud kein diesbezügliches Versprechen abringen lassen. Er war ebenso enttäuscht wie die anderen über die ersten Ortungsergebnisse, aber deshalb gleich die Flinte ins Korn werfen … nein! »Ich habe schon eine Weile erkannt, dass du dich nach Kalser zurücksehnst, Jiim, alter Freund. Und sobald das hier erledigt ist, wird sich sicher eine Gelegenheit finden, auch dir gerecht zu werden – immerhin ist Kalser nicht die Erde und wird nicht wie diese von einer kriegslustigen Flotte abgeschottet. Wir werden also irgendwann in nächster Zukunft dorthin Kurs nehmen. Aber erst, wenn wir sicher sagen können, dass es nicht nur darum geht, eine winzige Diskrepanz zwischen den Satoga-Daten und der Wirklichkeit zu bereinigen. Saskana mag nicht exakt dort liegen, wo es uns vorausgesagt wurde – aber möglicherweise liegt Boreguirs Heimat, kosmisch gesehen, trotzdem nur einen Katzensprung entfernt. Lasst uns ein we-
nig mehr Zeit investieren. Lasst uns auch die etwas weitere Umgebung genau in Augenschein nehmen. Uns drängt – abgesehen von verständlichem Heimweh – niemand. Es macht nichts aus, ob wir ein paar Tage mehr oder weniger darauf verwenden, ein Grab für unseren toten Gefährten zu finden – eine ihm angemessene letzte Ruhestätte … Irgendjemand anderer Ansicht?« Es gab keine Wortmeldung. Auch nicht von Jiim. Und so nahm die Erkundung der Umgebung ihren Fortgang. Stunden- und tagelang. Stunden und Tage, in denen Saskana weiter unauffindbar blieb, die Welt, die etwas so Phantastisches wie den Krieger mit der Gabe des Vergessens hervorgebracht hatte. Wo mochte sie liegen? Oder anders gefragt, dachte Cloud, als die Hoffnung auf einen Erfolg mehr und mehr sank, existiert sie überhaupt noch?
»Wie lange war Boreguir überhaupt auf der Marsstation? Hat er je mit dir darüber gesprochen, Jarvis?« »Du kanntest ihn, John – zumindest in dem Maße, wie er es zuließ. Er redete nicht viel. Aber er war auch ohne viele Worte eine starke Persönlichkeit.« »Dann sind wir uns einig.« Auf Jarvis' anthrazitfarbenen, groben Zügen erschien eine Grimasse, an der er noch üben musste. Das wusste er. Aber es hinderte ihn nicht, Gesichter zu schneiden, wann immer er es für geboten hielt. »Nein, er hat nie mit mir über die Dauer seines Aufenthalts auf dem Mars gesprochen. Ich habe ihn ein einziges Mal entgegen seiner Natur in Plauderlaune erlebt – im Virghstock. Kurz bevor er …« Das starb verließ die Audiosysteme seines Körpers nicht. Es war auch nicht nötig. Cloud wusste, was im Virghstock vorgefallen war. * »Hat er dir verraten, unter welchen Umständen er an eine Foro*siehe Bad Earth-Romanhefte 44 und 45
nenkapsel gelangte, die ihn dann zum Mars entführte?« »Auch das nicht.« Jarvis schüttelte den Kopf, was er ebenso wie zu nicken mittlerweile perfekt beherrschte. Es sah dennoch gewöhnungsbedürftig aus. »Ich weiß«, fuhr Jarvis fort, »es klingt, als wüssten wir gar nichts von ihm. Als könnte das Wenige, was ihn uns nahe brachte, niemals genügen, ihn als Freund zu bezeichnen, aber … du weißt selbst, wie er war. Man fand schwer Zugang zu ihm. Er entstammte einer Kultur, die keinerlei technische Kenntnisse besitzt. Er war ein Krieger. Darin lagen seine Fähigkeiten – und seine beeindruckendste Gabe machte ihn beinahe unüberwindlich. Beinahe …« »Ich weiß, wie er war, ja«, sagte Cloud. »Wie er im Umgang mit uns und der Situation war, in die es ihn verschlagen hatte. Worüber wir nichts, rein gar nichts wissen, ist, wie er sich dort gab, wo er zuhause war – und wie dieses Zuhause beschaffen ist. Seine Welt, nach der wir gerade forschen. Er erwähnte einmal Stürme, die darüber hinweg tosen. Aber nicht einmal, was das angeht, wissen wir, ob es sich um permanente Unwetter oder periodische Ereignisse handelt. Wir wissen, wie gerade gesagt, nichts.« »Und jetzt liegt auch vor uns ein Nichts … Leere – Artas hat sich vertan. Niemand kann es ihm vorwerfen, es war eine Geste der Freundschaft, als er uns die vermeintlichen Daten der ›Karte‹ überließ.« »Du glaubst, wir liegen vollkommen falsch?« »Ich spreche lediglich über die Fakten – aber wie du schon sagtest, John, niemand erwartet uns daheim. Das mag daran liegen, dass ein paar gottverfluchte Keelon sich seit zwei Jahrhunderten Realzeit als die Herren der Menschheit aufspielen … Egal. Tatsache ist, dass man uns ›Hausverbot‹ erteilt hat. Darnok existiert nur noch rudimentär. Das, wozu er wurde, diese Verschmelzung mit Arabim, hat uns unmissverständlich zu verstehen gegeben, was uns erwartet, wenn wir das nächste Mal an der Pforte zum Sonnensystem anklopfen … oder es gar wagen sollten, der Erde einen Heimatbesuch abstatten zu wollen … Nein, wir alle können ein wenig Ruhe gebrauchen. Lass uns ein wenig in der Gegend herumgondeln, am Rand
der Lücke, auf die wir hier statt auf Saskana gestoßen sind, und wenn wir …« Er verstummte. Algorian stürmte in die Zentrale. Die Bewegungen des dürren Außerirdischen, der einem Mitgliedsvolk der Allianz CLARON angehörte, wirkten durch die Hast ungewohnt linkisch. Dicht hinter ihm wuselte Cy heran. Und während Letzterer umständlich auf das kleine Podest kletterte, auf dem die Kommandositze angeordnet waren, verlangte die Erhebung dem Aorii mit der telepathischen Begabung nur einen weiteren Schritt ab. »Können wir reden?« Der schlaksige Extraterrestrier, der mit Cy einst sogar Nar'gog, die Zentralwelt der Jay'nac besucht hatte, wartete, bis sein Freund, der Aurige, zu ihm aufgeschlossen hatte. Selten hatte Cloud ein exotischeres Paar gesehen. Wirkte der Aorii noch entfernt menschlich, so erinnerte Cy einfach nur an ein Gebüsch, das von einer Laune der Natur mit dem Geschenk der Mobilität bedacht worden war. Cloud verließ den Sitz und trat zu den beiden Ankömmlingen. »Natürlich. Ihr stört nicht. Jarvis und ich haben nur ein wenig die aktuelle Lage erörtert. Es gibt noch keine neuen Erkenntnisse. Die RUBIKON klappert nach und nach jedes System am Rand der Leere ab, das Planeten vorzuweisen hat. Sesha koordiniert die Suche. Sobald die Sensoren etwas Auffälliges orten …« »Ich sage es ungern«, unterbrach Algorian. »Aber normalerweise sollte ein Normalsterblicher nicht klüger als eine KI sein – oder?« »Normalerweise nicht, nein. Worauf spielst du an?« »Auf ihn hier …« Er zeigte eine Etage tiefer – auf Cy, der ihm nur ungefähr bis zur Körpermitte reichte. »Auch Cy und ich haben unsere Lage diskutiert – und das unerwartete Problem, auf das wir gestoßen sind.« »Mit welchem Ergebnis?«, mischte sich Jarvis ein, der nun ebenfalls zu ihnen trat. »Wie ich sagte: Eigentlich hätte Sesha darauf kommen müssen. Es liegt nahe. Es geht um das Netzwerk der HAKARs, von dem die KI
sprach und das sie uns auch zeigte.« »Weiter«, drängte Cloud. »Was haben die RUBIKON-Kopien mit der Unauffindbarkeit Saskanas zu tun?« »Das müssen wir die KI fragen – ich behaupte nicht, dass wir die Lösung haben. Ich sage nur, dass mir Cys Gedanke wie eine Möglichkeit erscheint, die hohe Chancen in sich birgt, Boreguirs Welt – so sie überhaupt hier irgendwo in der Nähe kreist – lokalisieren zu können.« »Wie?« Algorian verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich Cy zu. »Das, finde ich, sollte Cy selbst vorbringen. Es war seine Idee. Ich will keine Lorbeeren ernten, die ich nicht -« »Cy?« Auch Cloud wandte sich jetzt dem Pflanzenwesen von der Spore Auri zu, das durchaus in der Lage war, sich selbst zu artikulieren. »Es ist … nur eine Idee. Ich weiß nicht, ob sie zutrifft oder uns weiterhilft«, flötete der Aurige. »Algorian meint, es wäre -« »Spuck's endlich aus, bevor ich dir die Knospen massiere!«, grollte Jarvis, der seine Geduld offenbar noch stärker als Cloud strapaziert fühlte. Cy wich erschrocken zurück … … und kullerte vom Podest. Algorian warf Jarvis einen giftigen Blick zu und eilte zu seinem Freund, um ihn wieder aufzurichten. »Geht man so mit eindeutig Schwächeren um?« »Wenn sie einem eindeutig auf den Senkel gehen und es darauf anlegen, dass einem der Geduldsfaden reißt – ja!« »Schon gut«, wandte sich Cloud nach einem langen Blick zu Jarvis an Cy. »Er entschuldigt sich für sein Benehmen. Er hat es nicht so gemeint, nicht wahr, Jarvis?« Jarvis ließ eine »Krokodilsträne« aus seinem linken Auge rinnen … Nanomaterie, die sich auf dem Weg über die Wange wieder mit der Hülle vereinte, als versickere sie unterwegs. »Absolut richtig. Ich entschuldige mich, Cy, alter Knabe, wird nie wieder vorkommen. Aber ich wäre dir überaus verbunden, wenn du nun endlich -«
»Grobian!«, keuchte Algorian. Cy sagte: »Es ist eine theoretische Überlegung. Ich habe bislang nur mit Algorian darüber diskutiert. Entscheide du, ob sich etwas damit anfangen lässt, du bist der Kommandant dieses Schiffes.« »Sesha hört uns – du kannst deine Idee direkt an sie herantragen.« Cy schwieg kurz, und Algorian trippelte nervös neben ihm auf und ab. Schließlich begann der Aurige: »Sesha, du bist in der Lage, sämtliche HAKARs über die Milchstraße verteilt anzumessen. Korrekt?« »Korrekt«, bestätigte die Stimme der KI, die aus dem Nichts zu kommen schien. »Wie verhält es sich mit den Stationen, die deine Erbauer, die Foronen, überall in dieser Galaxis hinterlassen haben, damals als sie von der Großen Magellanschen Wolke kommend hier eintrafen und den Aqua-Kubus in Angriff nahmen? Gibt es ein vergleichbares Netzwerk auch für diese Stationen?« Cloud begann zu verstehen, worauf Cy hinauswollte. Worauf der Aurige spekulierte. Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Respektive: Wieso ist Sesha nicht mit dem Vorschlag an uns herangetreten …? Die Antwort der KI dämpfte alle Hoffnungen. »Negativ.« Algorian verzog das Gesicht. Cy war die wahrscheinliche Enttäuschung nicht anzusehen. »Moment mal, ich finde den Ausgangsgedanken nicht so verkehrt. Auch wenn keine Vernetzung der Stationen existiert, wie es bei den HAKARs der Fall ist – auf Saskana muss es eine Foronenstation geben, sonst wäre Boreguir niemals in eine ihrer Kapseln geraten und auf dem Mars gestrandet. Sesha … du hast doch sicher Mittel und Wege, eine Foronenbasis ausfindig zu machen – über spezielle Energiemuster, die sie ausstrahlt oder was auch immer.« Obwohl die KI keine messbare Zeit benötigte, um selbst komplizierteste Berechnungen auszuführen, dauerte es erstaunlicherweise mehrere Sekunden, ehe eine Antwort von ihr erfolgte. »Ich empfange keine derartigen Echos.« Cloud ließ nicht locker. »Gibt es sonst eine Möglichkeit … von mir
aus auch eine normalerweise nicht unbedingt übliche oder effektive … um eine eventuelle Basis zu erkennen?« »Unter Umständen.« »Unter welchen Umständen?« »Es wäre ein Experiment, bei dem, sollte es scheitern, der Verlust einer wertvollen Schiffskapsel nicht auszuschließen ist.« »Ein Experiment …« Cloud grinste Cy, Algorian und Jarvis der Reihe nach an. »Das hört sich doch gut an. Ehrlich gesagt bin ich momentan für alles zu haben, was ein wenig Abwechslung von der gepflegten Ruhe verspricht, die trotz der vielen neuen Besatzungsmitglieder Einzug auf unser Schiff gehalten hat. Irgendwelche Einwände?« Niemand meldete sich, worauf die KI sich anschickte, den Versammelten das geplante Vorhaben zu erläutern, das verlässlichen Aufschluss darüber bringen sollte, ob sich in dem als »leer« postulierten Gebiet eben doch »etwas« befand. Verrückt, dachte Cloud. Wir benehmen uns vollkommen unlogisch und haben damit jetzt sogar schon Sesha angesteckt. Gäbe es den Papyrus nicht … Nein, ohne Boreguirs Hinterlassenschaft und ohne Artas' so felsenfeste Überzeugung, ihn verlässlich entschlüsselt zu haben, hätten sie sich wahrscheinlich niemals ernsthaft darauf versteift, eine foronische Basis ausgerechnet dort zu suchen, wo nichts – absolut gar nichts – darauf hindeutete, dass auch nur irgendetwas existierte. Der Weltraum in dem fraglichen Gebiet – dem Bereich, in dem laut Papyrus-»Übersetzung« Saskana liegen sollte – war bar jeden Objektes. Eine Gegend, die allein durch ihre Leere in der ansonsten ungeheuer hohen Sternendichte auffiel. »Der Preis für die Gewissheit, die ihr sucht«, sagte Sesha, »könnte der Totalverlust einer der Bordkapseln sein. Bist du bereit, diesen Verlust zu riskieren, John Cloud, Commander?« Cloud blickte in die Runde. Er sah niemanden, dem ein Stück Technik wichtiger gewesen wäre, als Boreguir nun, da sie schon einmal die Reise auf sich genommen hatten, ein Grab in heimatlicher
Erde zu ermöglichen, Kapsel hin oder her. Die verbleibenden hätten bei der geringen Zahl von Crewmitgliedern in einem Notfall immer noch gereicht, jedem Einzelnen die Chance auf Rettung zu bieten, auch nach dem Zuwachs, den Sarah Cuthbert, Prosper Mérimée und dessen Ensemble darstellten. »Was genau hast du vor?«, fragte Cloud. »Ich kann die Kapsel so programmieren, dass sie eine maximale Reichweite von zwanzig Lichtjahren hat – das würde eine Toleranz für kleinere Fehler in der Umsetzung der Papyrusdaten durch die Satoga einschließen – gleichzeitig aber auch verhindern, dass irgendeine Basis oder ein HAKAR der Foronen innerhalb der Milchstraße angesteuert wird.« »Das heißt, wenn eine Station in dem vermuteten Umkreis existiert, wird die gestartete Kapsel dort andocken.« »Ja.« »Und falls nicht?« »Ist sie verloren.« »Das heißt?« »Wie gesagt: Ich werde die zur Verfügung stehende Transportenergie beschränken. Ohne Gegenstation würde die Kapsel sich im übergeordneten Raum, der als Reisemedium dient, verlieren, auflösen, Bestandteil dieser Dimension werden und unwiederbringlich verloren sein.« »So funktioniert das?« »So funktioniert das.« Cloud nickte nachdenklich. »Dann lass es uns tun.«
Der Raum steckte voller Erinnerungen – von hier aus waren Cloud und Scobee einmal aus der RUBIKON geworfen worden, fast wortwörtlich, vom damaligen Herrn über die Foronenarche, von Sobek. Und hier hatte Resnicks und Jarvis' Odyssee über die Welt der Luuren bis hin zum Mars … und schließlich wieder zurück an Bord des Rochenschiffes begonnen. Und wenn dieser Ort mir schon diese unguten Geschehnisse ins Ge-
dächtnis zurückruft, wie muss er sich dann erst fühlen? Er – das war Jarvis, der ebenso mitgekommen war wie Scobee, Cy, Algorian und Jiim. Jelto und Aylea fehlten. Der Florenhüter hatte sich des Mädchens angenommen. Sie brauchte Zuspruch, brauchte den Freund, den sie verloren geglaubt hatte … und der in gewisser Weise sie ebenso brauchte. Zwischen den beiden, das hatte Cloud schon häufig beobachtet, herrschte eine Art Symbiose. Der Eine partizipierte vom jeweils anderen. Sie stammten beide von der Erde und hatten einander von Anfang an gestützt. Der gewaltige Altersunterschied tat dem keinen Abbruch. Es war Sympathie, ehrliche Zuneigung, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Was sie vor allem anderen auszeichnete, war, dass sie einander auch ohne Worte verstanden. Sie konnten, mussten aber nicht in einem fort reden, um sich einander begreiflich zu machen. Ein stummes Einverständnis verband sie, derselbe Sinn für Werte … Was auch immer. Etwas verband sie jedenfalls. Und Cloud, dem die Verletzlichkeit von Ayleas Seele erst nach ihrem Selbstmordversuch so richtig bewusst geworden war, hoffte, dass sie entweder lernen – schnell lernen – würde, auch mit Enttäuschungen umzugehen. Oder dass sie so bald nicht mehr in einem Maße enttäuscht wurde, das ihr vermeindich keinen anderen Ausweg mehr offen ließ als den Freitod. Ihn schauderte kurz, dann konzentrierte er sich wieder auf das Vorhaben, dessentwegen sie sich hier eingefunden hatten. »Sesha?« »Ich höre.« »Du bist sicher, dass uns keine Gefahr droht, wenn wir dem Kapselstart innerhalb des Raumes beiwohnen? Scob und ich haben da schon andere Erfahrungen gemacht, damals, als Darnok herauszufinden versuchte, wohin es Resnick und Jarvis verschlagen hat …« »Ich schalte ein Energiefeld, das euch vor dem Startsog der Kapsel schützt. Ihr setzt euch keinerlei Gefährdung aus. Das würde ich nicht zulassen.« Es klang geradezu verführerisch glaubwürdig – aber auch mit der
KI hatten Cloud und die anderen schon zu vieles erlebt, um jegliches Misstrauen ausblenden zu können. Sie tauschten Blicke, kommentierten es aber nicht weiter. »Okay, es kann losgehen«, sagte der Commander der RUBIKON. »Starte sie wie besprochen.« Aus einer der Reihen, die sich rechts und links des Raumes erstreckten, löste sich fast unspektakulär eine der Kapseln, die Platz für maximal vier, fünf Personen von Menschengröße boten. Es sah aus, als würden ihre Konturen unschärfer, verschwimmen, als würde die Luft an der betreffenden Stelle vor Hitze kochen, dann wieder abkühlen, sich beruhigen … … und plötzlich gab es eine Lücke in der Phalanx der Kapseln. »Gestartet«, meldete die KI das Offensichtliche. »Wie lange braucht die Kapsel für den eigentlichen Transfer?«, wollte Scobee wissen. »Laut Sesha für die eingestellte maximale Entfernung höchstens eine Minute«, erwiderte Cloud. »Also müssten wir, ihren Kurzaufenthalt auf der erhofften Basis eingerechnet, in wenigen Minuten Klarheit darüber haben, ob dort draußen entgegen unserer Ortungen tatsächlich eine alte Station der Foronen existiert …« Das nervenaufreibende Warten begann. Die Anspannung unter allen, die für Boreguir hofften, dass das Experiment einen positiven Ausgang nahm, wuchs. Und dann, gerade einmal vier Minuten, nachdem sie entstanden war, schloss sich die Lücke in der Phalanx auch schon wieder wie durch Zauberhand. Die Kapsel war, vollkommen unversehrt, zurück. Und damit laut Sesha der unanfechtbare Beweis erbracht, dass da draußen etwas war – auch wenn es sich von keinem der Sensoren erfassen ließ. Die Kapsel hatte daran festgemacht … und die unsichtbare Basis benutzt, um sich, wie programmiert, wieder auf die RUBIKON zurückzukatapultieren. »Ich kann mich täuschen«, sagte Scobee, »aber erinnert die ver-
meintliche Leere, das vermeintliche Nichts da draußen außer mir noch jemanden an unseren verstorbenen Freund … und seine spezielle Fähigkeit?« »Daran«, räumte Cloud ein, »habe ich auch schon gedacht. Aber das würde voraussetzen, dass die Saskanen ihren gesamten Planeten samt Sonnen und einschließlich anderer mutmaßlicher Umläufer vergessen machen und der Wahrnehmung entziehen würden … Das widerspräche allem, was wir uns bislang über Boreguirs Volk vorstellen konnten. Warum sollten sie ein ganzes Sonnensystem verstecken, obwohl sie keinerlei Vorstellung von den Gefahren haben, die ihnen aus dem All drohen könnten?« »Wer sagt, dass sie das nicht wissen?«, hielt Scobee dagegen. »Vielleicht haben sie irgendwann unliebsame Erfahrungen gemacht. Oder ihre Gabe entfaltet sich ohne ihr Zutun und irritiert sowohl unsere Sinne, als auch unsere Instrumente. Ein Saskane verstand es bereits, uns alle samt Sesha zu narren, welches Potenzial muss da erst eine ganze Planetenbevölkerung besitzen?« Cloud zuckte die Achseln. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« »Und der wäre?« »Weshalb sind wir gekommen?« Sie verstand – und nickte. »Aber auch wenn dieses Kapselexperiment dem Anschein nach erfolgreich war, werde ich keine unnötigen Risiken eingehen. Bevor wir Boreguirs Heimführung in Angriff nehmen, will ich mehr über die Verhältnisse ›auf der anderen Seite‹ wissen.« »Ich erkläre mich bereit, die Verhältnisse auf der Station auszukundschaften«, sagte Jarvis. Seine Nanoaugen blickten, unsichtbar für jeden normalen Beobachter, in die Runde. Cloud nickte, warnte aber: »Wir wissen nicht, was dich dort erwartet. Saskanen, die wir erst von unseren lauteren Absichten überzeugen müssen … Vielleicht gibt es auch noch überlebende Foronen von einst auf der Station! Oder unbekannte Lebensformen, die uns feindlich gesinnt sein könnten – erinnern wir uns an die Tiefseestation auf der Erde, an die dort in Stase gelagerten Chinesen der Han-
Dynastie … Auf Saskana könnten die Foronen noch ganz andere Jagden zu Studienzwecken betrieben haben … Es ist mehr als gefährlich, besonders für einen allein.« »Ich werde mich ausgesprochen vorsichtig verhalten«, versprach Jarvis. »Er ist die Idealbesetzung für ein Vorauskommando«, sagte Scobee. »Jarvis kann von uns allen wohl am besten auf sich selbst aufpassen.« Jarvis wartete geduldig auf die Entscheidung. Schließlich nickte Cloud. »In Ordnung«, erklärte er. »Erkunde die Station. Deine Aufgabe ist es, herauszufinden, ob dort für uns verträgliche Bedingungen herrschen. Du siehst dich um – und kehrst, sobald du dir einen genügenden Eindruck verschafft hast, unverzüglich zur RUBIKON zurück.« Jarvis bestätigte. »Verstanden. Ich werde prüfen, wie die Bedingungen auf der Station sind, ob es dort irgendeine Form von Leben gibt, die uns gefährlich werden könnte – und ob sie tatsächlich auf einem Planeten liegt. Danach komme ich unverzüglich zurück zur RUBIKON.« Kurz darauf durchschritt Jarvis die von Sesha geschaltete Strukturlücke innerhalb des schützenden Energiefelds. Cloud blickte ihm nach, bis er in der für ihn bereitstehenden Kapsel verschwunden war. Der bereits bekannte Vorgang wiederholte sich. Erst wurde das Transportmittel unscharf, dann verblasste es vollends. Jarvis war unterwegs. Aber würde er auch wiederkehren? Wie würde sich ihm die Situation »vor Ort« darstellen? Was erwartete den ehemaligen GenTec außerhalb der Kapsel, in der uralten Station der Foronen?
Da war – fast unerwartet – Licht, als Jarvis die Kapsel verließ. Da war Luft – abgestanden, aber für die in den Startlöchern stehenden Besucher atembar und verträglich, wie eine Schnellanalyse mittels körpereigener Mittel ergab.
Und es herrschte eine Temperatur, die an eine heiße Wüstengegend der Erde erinnerte. Auf Dauer gesehen, mochte dies eine weder für Menschen noch Aorii oder Nargen paradiesische Umgebung sein, aber mehr hatten sie nicht erwarten dürfen. Dies war ein Ort, den vor langer Zeit Foronen für sich erbaut hatten. Damals hatte es auch auf der Erde noch keine wie auch immer geartete Hochzivilisation gegeben. Die alten Ägypter hatten noch nicht an ihre Pyramiden gedacht, nicht einmal das Reich Sumer in Mesopotamien, allgemein als »die Wiege der Menschheit« betrachtet hatte existiert. Die menschliche Art hatte sich auf kleine Gemeinschaften von Männern, Frauen und Kindern beschränkt, die gerade mal begannen, die Vorzüge primitiver Werkzeuge zu erkennen. Die gerade mal begannen, den Wert eines Zusammenhalts mehrerer Individuen zu erkennen, erste Siedlungen gründeten … Was auch immer. Zu jener Zeit hatten die Foronen ihre Blüte bereits hinter sich gelassen, ihr Reich, das eine ganze Kleingalaxie – die Große Magellansche Wolke – umspannt hatte, verloren. Als Flüchtlinge, Exilanten, waren sie in die Milchstraße gekommen und hatten hier mühsam begonnen, sich Basen zu schaffen, von denen aus sie wieder Fuß zu fassen versuchten. Sie hatten davon geträumt, irgendwann nach Samragh zurückzukehren und die Virgh von der dortigen Bühne zu fegen – so wie sie selbst von dort vertrieben worden waren. Der Ort, den Jarvis nun betrat, atmete all dies aus. Die Fantasie des Kundschafters reichte aus, sich vorzustellen, wie diese Station einmal vor Leben pulsiert haben musste, wie sie von einer Vielzahl Foronen besetzt gewesen war … Jetzt herrschte hier völlige Stille. Was immer an Aggregaten auch nach so langer Zeit noch seinen Dienst verrichtete, es tat dies lautlos. Aber Jarvis empfand die Stille als angenehm. Und den Ort, an dem die Kapsel angedockt hatte, als vage vertraut. Offenbar waren sämtliche Foronenbasen nach einem mehr oder weniger gleichen Muster errichtet worden. Das kam ihm gelegen. Er streckte die Fühler seiner Sensoren aus und verschaffte sich ein
Bild der Umgebung, die entfernt an einen Bahnhof erinnerte. Nur gab es hier keine Züge, sondern ausschließlich Vorrichtungen, in denen Kapseln parken oder starten konnten. Außer der, mit der er gekommen war, stand noch eine weitere in einiger Entfernung. Sie wirkte ebenso makellos und unversehrt. Der Zahn der Zeit hatte nicht an ihr genagt – auch nicht an der übrigen Station. Es ist, als wären sie gestern erst gegangen, dachte er. Aber wohin? Und warum? Haben sich damals alle an Bord der Arche und in den Aqua-Kubus zurückgezogen? Ich dachte immer, die Basen wären besetzt geblieben. Dann hätten sich die Besatzungen vermehren und eigene Keimzellen einer neuen Zivilisation bilden können … Er stockte, weil er begriff, dass er viel zu wenig gesehen hatte, um genau dies ausschließen zu können. Vielleicht lebten die Foronen friedfertig mit Saskanen zusammen, teilten sich eine Welt … Glaubst du das wirklich? Friedfertig … Gab es je ein Wort, das weniger zu den Foronen gepasst hätte? Er machte sich auf den Weg, hielt sich nicht auf dem »Bahnhof« auf, sondern entwirrte das Labyrinth der Gänge, die davon abzweigten. Bald darauf fand er den Weg ins Freie.
Das Heulen des Windes drang an seine Sensoren. Staubwirbel glitten heran und hüllten ihn, kaum dass er vor die Station getreten war, ein. Die Luft beinhaltete keine Gerüche, die ihn zur Vorsicht mahnten. Der heftige Sturm, der hier tobte, erfasste ihn wie mit zornigen Klauen. Er stemmte sich mühelos dagegen. Jarvis ließ seinen Blick schweifen. Hügel und Täler, Felsen, die Wälder überragten. Er nahm eine dichte Vegetation wahr. Die Bäume sahen aus wie eine Mischung aus Korallen und Pflanzen. Eine fremde Welt, die sich dem Blick des Betrachters zeigte. Ein scharfer Wind wirbelte Staub auf. Beklemmung wollte nach Jarvis greifen. War es eine lebensfeindliche Welt, die vor ihm lag? Es gab zumindest Vegetation. Die Analyse der Atmosphäre ergab, dass sie für Menschen ver-
träglich war. Er setzte sich langsam in Bewegung und ging auf den ›Wald‹ zu, dessen ›Bäume‹ sich zum Himmel reckten. Sie verfügten über dichtes ›Geäst‹. Die Kronen schillerten in allen Farben. Alles wirkte unwirklich und geheimnisvoll. Der Wind brach sich an den Stämmen. Das Orgeln und Jaulen mutete an, als meldeten sich längst vergangene Stimmen dieses Planeten. Unwillkürlich bildete Jarvis einen Blaster am Ende seines rechten Armes aus. Sein Blick sprang in die Runde, bohrte sich zwischen die alten Stämme, glitt über die hinter ihm liegende, von korallenartigem Material überkrustete Station hinweg, und er fragte sich, ob es sich bei dem Planeten tatsächlich um Saskana, der Heimat Boreguirs, handeln mochte. Die für das bloße Auge von außen fast nicht erkennbare Station, so viel hatte er festgestellt, war verwaist. Und wie ausgestorben lag auch das Terrain hier draußen vor Jarvis' Blick. Dennoch fühlte er sich von tausend Augen beobachtet. Mechanisch setzte er einen Schritt vor den anderen. Unter seinen Sohlen knirschte Staub. Seine Füße sanken fast bis zu den Knöcheln ein. Er erreichte die ersten Bäume. Sie muteten irgendwie bedrohlich an. Das Unterholz war dicht. Der Wind rauschte in den Wipfeln und ließ die Stämme knarren. Irgendetwas hielt Jarvis zurück, den Wald zu betreten. Er umrundete ihn und erklomm einen Hügel. Selbst für ihn war es mühsam, durch den tiefen Staub zu stapfen. Manchmal war es, als hielte er ihn fest wie ein Magnet. Er erreichte die Hügelkuppe und schaute in die Ferne. So weit das Auge reichte nur Wüste. Ob es hinter den weiter entfernten Bergen genauso aussah, konnte er nicht sagen. Aber sein Auftrag lautete, festzustellen, ob auf dem Planeten verträgliche Bedingungen herrschen. Das würde er bejahen können. Er drehte sich um. Die Schatten, die die Bäume warfen, waren lang. Im Westen ballten sich drohende Wolkenmassen zusammen. Sie wurden von einem heftigen Sturm näher geschoben. Jarvis lief den Abhang hinunter. Wie ein dunkler Strich zog sich seine Spur durch den Staub. Aber innerhalb weniger Minuten würde sie verweht sein.
Jarvis kehrte um. Er ging am Waldrand entlang. Plötzlich wurde das Fauchen und Jammern des Windes von einem anderen Geräusch unterbrochen. Es war Gekläffe wie von Hunden. Jarvis hielt an und lauschte. Es kam aus dem Wald. Jarvis begann zu laufen. Das Kläffen näherte sich. Die Station, über die er den Planeten betreten hatte, der sich den Sensoren der RUBIKON entzog, erschien ihm plötzlich endlos weit entfernt. Der Untergrund schien seine Füße zu umklammern und ihn festzuhalten. Wie genau das vonstatten ging, fanden die Sensoren nicht heraus. Dann sah er das Rudel. Er war noch zehn Schritte von der Kapsel entfernt. Wölfe? Zumindest sahen sie entfernt aus wie solche, waren allerdings deutlich größer als die Exemplare, die Jarvis irgendwann einmal gesehen hatte, und ihre Köpfe waren nackt, haarlos, die Augen pendelten auf langen Stielen hin und her, standen weit vom Kopf ab, sodass sie wohl in alle Richtungen zugleich zu blicken vermochten. Ihr Gebiss mutete monströs an, lange, spitze, tückisch gebogene Hauer ragten heraus – die ihm allerdings kaum etwas würden anhaben können. Mir nicht – aber den anderen, wenn sie mir folgen. Ihr Selbstbewusstsein schien Jarvis' Glaube an die eigene Unverletzlichkeit jedoch nicht im geringsten zu beeinträchtigen. Sie jagten heran. Auf sechs, statt auf vier Beinen, die sich extrem geschmeidig, extrem wohl koordiniert bewegten. Das heisere Gekläffe trieb ihm wie eine Botschaft von Untergang und Tod entgegen. Durch die Staubwirbel waren die Tiere bald nur noch wie ineinander fließende Schemen auszumachen. Jarvis streckte den rechten Arm aus und richtete ihn auf das Rudel. Der Abstrahlpol seiner Waffe glomm auf. Ein grüner Lichtstrahl zischte aus der Mündung und traf eines der Tiere. Es überschlug sich. Sofort fielen seine Artgenossen darüber her und zerfetzten es. Zwei, drei der Tiere beteiligten sich nicht. Sie schlichen auf Jarvis zu; geduckt, mit glitzernden Augen und geöffneten Fängen, das ehrfurchtgebietende Gebiss gebleckt. Jarvis schoss. Eines der Tiere legte sich auf die Seite und schlug
mit den Läufen. Dann lag es unvermittelt still. Jarvis wandte sich wieder der Station zu, kam aber nur langsam voran. Eines der Tiere stieß sich ab und landete auf seinem Rücken. Jarvis warf sich zu Boden, um es auf diese Weise abzuschütteln. Er wälzte sich durch den Staub. Das Tier wurde vom Gewicht des Nanokörpers erdrückt. Jarvis stand wieder auf und verlor keine Zeit. Unbehelligt erreichte er die korallenüberwucherte Station, betrat sie und verschloss sie hinter sich. Danach begab er sich auf dem schnellsten Weg zur Kapsel. Auch wenn die Begegnung mit den »Wölfen« ihn nicht wirklich ernsthaft in Bedrängnis gebracht hatte, war er irritiert über die Art und Weise, wie der Staub des Bodens ihn daran hatte hindern können, seine volle Kraft zur Entfaltung zu bringen. Es wäre unklug gewesen, diese Welt und ihre Risiken zu unterschätzen. Andererseits hatte die kurze Zeit ausgereicht, ihn mehr als neugierig auf Saskana zu machen. Eine Faszination, die er mit Worten nicht hätte ausdrücken können, ging von dem Planeten aus – der seine wahren Geheimnisse verborgen gehalten hatte. Während er die Kapsel startete, schwor sich Jarvis, wiederzukommen. Mit Boreguir, der – das spürte er – hier einst gelebt hatte. Und nun von einem Freund heimgebracht werden sollte. Von mir. In dem Moment, da er das dachte, wusste er, was ihn drängte, noch einmal wiederzukommen. Was bei dieser ersten Erkundung gefehlt hatte und was er unbedingt noch finden wollte: Saskanen. Boreguirs lebende Brüder und Schwestern …
»Die Foronenstation ist verwaist. Es gibt nur Staub, Wald, Gebirge und Tiere, die an irdische Wölfe erinnern. Saskanen oder andere Wesen – außer den erwähnten Wolfsgeschöpfen – habe ich nicht ausmachen können. Möglicherweise hausen sie in den korallenartigen Wucherungen. Oder die Station steht in einem völlig unbe-
wohnten Gebiet – was aber nicht erklärte, wie Boreguir einst hineingelangte.« »Wie sind die Bedingungen?«, wollte Cloud wissen. »Für Menschen geeignet. Sauerstoffhaltige Luft. Es herrschen normale Temperaturen. Die Korallenstrukturen bilden einen regelrechten Wald. Ich habe darauf verzichtet, mich in ihn hinein zu begeben.« »Was denkst du, handelt es sich um Saskana?« »Vieles spricht dafür.« »Dann bringen wir Boreguirs Leichnam auf den Planeten, suchen den friedlichen Kontakt zu den Saskanen und übergeben ihnen Boreguirs sterbliche Überreste«, sagte Cloud. »Sie wissen am besten, wie ihm die gebührende letzte Ehre zu erweisen ist.« »Wer geht hinunter?«, fragte Scobee. »Ich kann seinen Leichnam in meiner Nanohülle aufnehmen, wie ich es schon einmal tat«, sagte Jarvis. »Ich bin auf jeden Fall dabei.« »In Ordnung«, sagte Cloud. »Scobee, Algorian, Jiim werden dich begleiten. Scob führt das Team an. Und wenn es zum Kontakt mit Boreguirs Artgenossen kommt, lasst die gebotene Vorsicht nicht außer Acht. Sie kennen uns nicht – wir wissen nichts über sie, ihre Bräuche oder Gepflogenheiten. Wir wissen nicht einmal allzu viel über unseren verstorbenen Freund. Er wäre lebendig ein guter Mittler zwischen unseren grundverschiedenen Kulturen gewesen. Tot allerdings …« Niemand musste dazu noch ein weiteres Wort verlieren. Sie alle verstanden, was Cloud ihnen mit auf den Weg zu geben versuchte.
7. Kapitel Handelte es sich nun tatsächlich um Saskana oder waren sie doch auf einem völlig anderen Planeten gelandet? Das war die Frage, die sich das Quartett stellte, das sich jetzt in der Foronenstation befand. Klagend strich der Wind um die Wände der Station. Die drohenden Wolken am westlichen Horizont hatten sich aufgelöst, und der Himmel erstrahlte in einem blutigen Rot. So weit das Auge zu blicken vermochte, erstreckte sich der »Korallenwald«, der nur die Station aussparte – und diese wiederum passte sich kuppelförmig so chamäleonartig ihrer Umgebung und dem Untergrund an, dass sie schon aus geringer Distanz fast unsichtbar wurde. Ein sonderbarer Anblick. Stellenweise waren die Kronen der Bäume so dicht ineinander verflochten, dass kein Lichtstrahl sie durchdrang. Zwischen den Stämmen herrschte Dämmerlicht. Dort, wo der Sonnenschein hindurchsickerte oder durch große Öffnungen in den Wald fiel, wechselten am Boden Helligkeit und Schatten. Eine düstere, eine unheimliche Welt, die nichts Gutes verhieß. Mit gemischten Gefühlen verließ das Team die Foronenstation, von der aus es den Planeten erkunden wollte. Jarvis zeigte den Gefährten den Platz, wo er von den Wolfsähnlichen angegriffen worden war. Nichts mehr erinnerte an seine Auseinandersetzung mit diesen Kreaturen. Selbst der blutige Staub war längst verweht, das Rudel hatte sich offenbar wieder in den Wald zurückgezogen. Jarvis ging voraus. Ihm folgte Scobee, dann kam Algorian, den Schluss bildete Jiim, dessen Flügel auf dem Rücken zusammengefaltet waren. Sie erreichten eine Hochebene. Hier war der Sturm besonders intensiv, der Boden felsig. Der Wind hatte den Staub, der Jarvis nach wie vor beeinträchtigte, sich auf die anderen aber offenbar gar nicht auswirkte, über die Abhänge getrieben.
Die Sonne stand im Westen. Die Schatten, die die vier Besucher warfen, waren lang. Rötlicher Schein lag auf dem Terrain. Keiner konnte sagen, wo die Sonne aufging und wo sie unterging. Gab es auf diesem Planeten überhaupt Tag und Nacht? Es war sinnlos, sich Fragen zu stellen, auf die es – noch – keine Antworten gab. Sie mussten erst die hiesigen Zustände erkunden. Sie alle standen unter einer immensen Anspannung, so weit ihr Innerstes ein solches Gefühl zuließ. Ein jeder spürte es: Die Gefahr war allgegenwärtig. Von wem sie nun ausging, war unerheblich. Der Tod konnte in den weitläufigen Wäldern, aber auch hinter jedem Hügel und jedem Felsen lauern. Die Hochebene zog sich weit. Als Scobee sich einmal umdrehte, war die Foronenstation längst ihrer Sicht entschwunden. Am Ende der Hochebene erhoben sich Felsen, deren unteres Drittel mit dem hier typischen Wald bedeckt war. Darüber reckte sich nur noch nackter Fels zum Himmel. »Wir sollten mal versuchen, in einen der Wälder einzudringen«, schlug Scobee vor. »Vielleicht gibt es irgendwelche Spuren, die auf die Anwesenheit von Saskanen hindeuten.« Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Also bogen sie nach Norden ab, wo sich dichter Korallenwald erstreckte. Er mutete undurchdringlich an, stand wie eine dunkle Wand am Rand der Hochebene. Das Rütteln des Windes an den dünnen Stämmen des Unterholzes täuschte huschende Gestalten vor, das Wechselspiel von Licht und Schatten verstärkte diesen Eindruck. Sie waren noch zehn Schritte vom Waldrand entfernt. »Nicht gerade einladend«, meinte Jarvis, der es schon bei seinem ersten Besuch auf dem Planeten vermieden hatte, den Wald zu betreten. »Es nützt nichts«, versetzte Scobee. »Wir müssen hinein, wenn uns daran liegt, Boreguir nicht einfach nur zu verscharren. Es wäre besser, ihn seinesgleichen zu übergeben. Sie könnten ihn nach ihren Riten bestatten. Das wäre der letzte Dienst, den er von uns erwartet hätte.« »Was sagen deine Technosinne, Jarvis?«, keckerte Jiim. »Orten sie
etwas, das auf intelligentes Leben hindeutet?« »Nichts«, erwiderte der Angesprochene. »Der Wald ringsum beeinträchtigt meine Ortungssysteme gravierend. Die Frage wäre wohl besser an Algorian gerichtet. Algorian?« Der telepathisch begabte Aorii gab sich seit Betreten der fremden Welt noch wortkarger als sonst. Direkt angesprochen, erwiderte er nun: »Ich empfange … mentale Schwingungen. Aber ich vermag weder zu sagen, ob sie intelligenten Ursprung haben, noch wie weit entfernt und in welcher Richtung sich die Quelle befindet. Diese Umgebung … beeinträchtigt auch mich.« Sie blieben kurz stehen und lauschten. Tatsächlich war zwischen den Stämmen ein unablässiges Huschen, Schaben und Kratzen zu vernehmen. Einmal kläffte in der Ferne eine der Wolfsgestalten, von denen Jarvis angefallen worden war. Plötzlich zog etwas eine flirrende Bahn durch die Luft. »Achtung!«, rief Jarvis. Aber das Wurfgeschoss senkte sich einige Schritte vor den Gefährten zur Erde, schlug mit hartem Klirren auf und rollte durch den Staub. Ein Speer … Der Trupp hatte angehalten. Sofort griffen sie nach ihren Waffen. Jarvis hob die Arme und richtete sie in den Wald hinein, seine Hände verwandelten sich … Die Gefährten hielten den Atem an. Ihnen wurde bewusst, dass sie dastanden wie auf dem Präsentierteller. Auf ein knappes Kommando Scobees hin rannten sie los, stoben auseinander, als wäre eine Granate zwischen ihnen eingeschlagen. Sie suchten hinter den Bäumen Deckung. Nichts geschah. Scobee, die das Kommando hatte, machte eine Handbewegung in Algorians Richtung. Dieser bestätigte, löste sich von dem Stamm, der ihm Deckung bot, und rannte ein Stück weiter in den Wald hinein. Und sofort ging er wieder in Deckung. Das leise Wispern zwischen den Bäumen wurde vom Wind ausgelöst. Dennoch mutete es gespenstisch und schauerlich an. Jemand
befand sich in der Nähe, jemand, der den Besuchern nicht freundlich gesinnt war. Das stand fest. Den Speer konnte nur ein Mensch oder anderes intelligentes Lebewesen geschleudert haben. Die fünf Gefährten waren sich darüber im Klaren, in welcher Gefahr sie schwebten. Ihnen wurde bewusst, dass das unbekannte Wesen einen von ihnen auch hätte töten können. Und höchstwahrscheinlich war es nicht allein in dem diesem Irrgarten aus Korallen. Algorian sicherte nach vorn. Er winkte. Scobee sprintete los. Sie schlug Haken wie ein Hase. Ein Pfeil schwirrte heran, verfehlte sie aber. Er prallte gegen einen der Stämme und bohrte sich mit trockenem Klang in das Material hinein, aus dem der Baum bestand. »Im Wald wimmelt es wahrscheinlich von Angreifern!«, rief Scobee und drängte sich eng an den Baumstamm. In der Rechten hielt sie den Blaster. »Wir müssen zurück!«, entschied sie. »Wenn es zu einem Kampf Mann gegen Mann kommt, reiben sie uns auf.« »Wie sollen wir von hier fort kommen?«, fragte Jarvis besorgt. »Uns fehlt jegliche Ortskenntnis. Vielleicht laufen wir ihnen genau in die Arme.« »Wir müssen versuchen, außer Wurf- oder Bogenschussweite zu gelangen«, erwiderte Scobee. »Wie es scheint, verfügen sie nicht über Schusswaffen.« »Ich bin dafür, dass wir weiter gehen!«, gab Jarvis zu verstehen. »Wenn nötig, kämpfen wir uns durch den Wald. Umzukehren erscheint mir gefährlicher zu sein.« »Was meinst du, Algorian?«, fragte Scobee. »Ich bin auch dafür, dass wir weitergehen. Vielleicht gelingt es uns, mit den Wesen, die uns bedrohen, Kontakt aufzunehmen und sie von unserer friedlichen Absicht zu überzeugen. Wenn es sich um Saskanen handelt, dürfte der Leichnam Boreguirs als Beweis für unsere lauteren Absichten genügen.« »Das kommt darauf an, wie begreiflich wir uns ihnen machen können – es wäre auch möglich, dass sie uns verdächtigen, einen der Ihren umgebracht zu haben. Lasst uns verdammt vorsichtig sein. Außerdem ist noch keineswegs sicher, ob sie überhaupt bereit sind, mit uns zu reden«, wandte Jarvis ein. »Boreguir war in dieser Hinsicht
auch nicht ganz einfach …« »Was hältst du für besser, Jarvis?«, fragte Scobee. »Umkehren oder weitergehen?« »Ich bin auf jeden Fall dafür, dass wir weitergehen«, gab Jarvis zu verstehen. »Womit ich überstimmt wäre«, resümierte Scobee. »Okay. Dann also weiter.« Sie pirschten sich voran. Etwas Beklemmendes lag in der Luft: Tod und Unheil. Es war beinahe körperlich zu spüren. Wachsame, angespannte Stille. Jeder Zug ihrer Gesichter – Jarvis ausgenommen – verriet Anspannung. Die schweißnassen Hände hatten sich an den Knäufen der Blaster regelrecht festgesaut. Sie waren von einer Gefahr umgeben, die sie nicht einzuschätzen vermochten. Das Schwirren von Bogensehnen war zu vernehmen. »Deckung!«, brüllte jemand. Die Pfeile pfiffen durch die Luft. Jarvis und Algorian feuerten. Wo der Strahl aus ihren Blastern einschlug, flogen Steintrümmer durch die Luft. »Soll ich mal über das Terrain hinwegfliegen?«, fragte Jiim, an Scobee gewandt. »Wahrscheinlich kann ich von oben mehr erkennen als von hier unten.« »Das ist anzunehmen«, erwiderte Scobee. »Aber ich will nicht, dass wir uns trennen. Das ist mir angesichts unserer Gegnerschaft zu gefährlich.« »Aber …« »Kein Risiko.« Ihre Stimme duldete keinen weiteren Widerspruch. Hinter einem der Stämme sprang eine Gestalt hervor. Breitbeinig stand sie da und schwang ein Beil. Jarvis trat hinter seiner Deckung hervor. Das Beil wirbelte auf ihn zu. Scobee und er schossen gleichzeitig. Die Gestalt wurde umgerissen. Sofort zeigten sich zwei Arme, die sie packten und in den Schutz der Bäume zurückzerrte. Und dann pfiffen wieder Pfeile heran und zwangen das Kundschafterteam in Deckung. »Wir kommen hier nicht durch!«, rief Scobee. »Rückzug. Wir ziehen uns zurück. Auf die freie Fläche hinaus werden sie nicht wagen, uns zu folgen.«
Jeden Schutz ausnutzend, der sich ihnen bot, traten sie den Rückweg an. Von ihren Gegnern war fast nichts zu sehen. Nur hin und wieder ein huschender Schemen, der mit der Düsternis unter dem Korallendach verschmolz. Jarvis stieß plötzlich gegen einen der Bäume. Einige tiefhängende Zweige brachen knirschend. Splitter bohrten sich in den Rücken seines Kunstkörpers, durchdrangen das Nanogewebe seiner Haut, als böte es keinerlei oder nur schwachen Widerstand. Absurd! Er strauchelte, war irritiert. Plötzlich registrierte er, dass die von den Splittern getroffenen Nanozellen ausfielen. Sie waren … abgestorben? Der Versuch einer sofortigen Selbstreparatur scheiterte. Jarvis war zutiefst beunruhigt. Er stieß die abgestorbenen Nanozellen aus dem Verbund seiner Hülle aus, um auszuschließen, dass sie schädlichen Einfluss auf das sie umgebende Gewebe ausübten. Was mag passieren, wenn solche Splitter erst einen lebenden Organismus verletzen?, überlegte er. Wirken sie auf den Menschen tödlich? Diese Frage beschäftigte Jarvis. Er durfte aber die Gefahr, die von ihren Gegnern ausging, nicht vernachlässigen. Und so zog er sich hinter einen Baum zurück, spähte in die Richtung, aus der die Verfolger kamen, konnte aber nichts entdecken. Dann war der Wald zu Ende. Scobee rief: »Algorian, wir beide geben Jiim und Jarvis Feuerschutz. Zieht euch so weit zurück, dass ihr außer Bogenschussweite seid. Und dann gebt uns Feuerschutz.« Algorian hob zum Zeichen dafür, dass er verstanden hatte, die linke Hand. »Vorwärts, Jiim, Jarvis!« Die beiden setzten sich in Bewegung. Pfeile folgten ihnen. Scobee und Algorian schossen, was das Zeug hielt. Und es gelang ihnen, ihre Gegner in Deckung zu zwingen. Jiim und Jarvis rannten durch den knöcheltiefen Staub. Ihre Füße rissen Staubfontänen in die Luft, die der Wind erfasste und davontrug. Hin und wieder wurden sie von Staubwolken eingehüllt und für Sekunden unsichtbar. Dann waren Sie etwa hundert Schritte gelaufen. Ihre Füße waren
schwer wie Blei, als sie sich in eine Bodenmulde warfen. Unter ihrem Feuerschutz rannten Scobee und Algorian zurück. Gestalten zeigten sich am Rand des Waldes. Sie drohten mit den erhobenen Fäusten. Jiim und Jarvis stellten das Feuer ein. Die Sonne versank hinter den Felsen im Westen. Die Schatten lösten sich auf. Nach wie vor lag der rötliche Schein auf dem Land, denn im Widerschein der untergegangenen Sonne erglühte der westliche Horizont. Von Osten her stieg amberfarben die Dämmerung herauf. Es war fast wie auf der Erde. »Wir gehen weiter nach Westen«, gab Scobee zu verstehen. Sie schritten in die angegebene Richtung. Als die Dunkelheit hereinbrach, waren die Berge kaum nähergerückt. Der westliche Horizont hatte sich lila verfärbt. Wolken standen über den Felsschroffen. Am Himmel traten die ersten Sterne hervor. Da geschah es. Dröhnen wie von Motoren war zu vernehmen. Es kam von Osten und versetzte die Gefährten in Alarmbereitschaft. Eine ganze Armada von Luftfahrzeugen näherte sich. Wie riesige Vögel muteten sie an. Und plötzlich zuckten Lichtblitze zu Boden. Laudos griffen die gebündelten Strahlen der Laserkanonen nach den Bäumen des Korallenwalds. Wenn sie auftrafen, flogen Gesteinstrümmer wie Geschosse durch die Luft. Auch nach den Gefährten tasteten sich die Schüsse. Sie rannten, versuchten kein Ziel zu bieten. Dann waren die Flugobjekte über sie hinweg und flogen auf die Berge zu, verschwanden aus dem Blickfeld. »Was war das?«, presste Algorian atemlos hervor. »Jedenfalls keine primitiven Saskanen«, antwortete Scobee. Sie marschierten weiter. Es dauerte nicht lange, dann kehrten die Luftfahrzeuge zurück. Die Gefährten warfen sich zu Boden, weil sie erwarteten, wieder unter Feuer genommen zu werden. Aber die riesigen stählernen Objekte zogen über sie hinweg und ließen sie ungeschoren.
Die Nacht war mehr als finster. Sie lagerten in einer Bodenmulde. Es war kalt. Eng waren die Gefährten zusammengerückt. Algorian hielt
die erste Wache. Nach zwei Stunden sollte ihn Jarvis, der trotz seines Kunstkörpers mehr und mehr Anzeichen von Schwäche zeigte ablösen, danach war die Reihe an Jiim, zuletzt an Scobee. Nach acht Stunden Ruhe wollten sie wieder aufbrechen. Egal ob die Nacht endete oder nicht. Sie hatten keine Ahnung, wie lange Tag und Nacht jeweils auf diesem Planeten dauerten. Scobee fand keinen Schlaf. Sie erhob sich. Algorian saß ein Stück weit vom Lagerplatz entfernt auf einem Felsbrocken. Über der Hochebene funkelten Myriaden von Sternen. Über einen Mond verfügte dieser Planet nicht. Scobee erhob sich. Sie ging zu Algorian hin. »Wir gehen bis zum morgigen Abend«, sagte sie. »Wenn wir bis dahin nicht auf eine Ansiedlung gestoßen sind, kehren wir um.« »Jiim könnte vorausfliegen und das Gebiet vor uns erkunden«, meinte Algorian. »Ihm können diese Wilden mit ihren vorsintflutlichen Waffen wenig anhaben.« »Nein. Wir bleiben beisammen. Dass es hier auch andere Waffen gibt, haben die Fluggeräte bewiesen. Du kannst dich hinlegen, Algorian. Ich kann nicht schlafen und übernehme deine Wache.« »Das will ich nicht. Morgen liegt ein anstrengender Tag vor uns.« »Ich habe mit Jarvis gesprochen«, sagte sie, ohne auf Algorians Worte einzugehen. »Er hat sich an einem der Bäume verletzt. Er musste daraufhin abgestorbene Zellen seines Nanokörpers abstoßen. Wie – denkst du – würde wohl der Körper eines Lebewesens darauf reagieren?« »Auf diesen Versuch wollen wir es lieber nicht ankommen lassen«, gab Algorian zurück. »Vielleicht handelt es sich um ein schnell wirkendes Gift …« Scobee ging weiter. »Du fragst dich, wer die Angreifer mit den Fluggeräten waren, nicht wahr?«, rief ihr der Aorii nach. »Ja. Von ihnen geht auch Gefahr für uns aus. Sie haben uns unter Feuer genommen.« »Vielleicht haben sie uns mit Eingeborenen verwechselt.« »Der Grund für ihre Feindseligkeit hat untergeordnete Bedeutung. Sie gefährden unsere Mission. Und sie halten die besseren Trümpfe
in der Hand als wir. Wir haben nur in den Korallenwäldern eine Chance gegen sie. Dort aber stecken die Saskanen.« »Bist du mittlerweile davon überzeugt, dass es Saskanen sind?« »Ich gehe davon aus, obwohl sie … anders scheinen als Boreguir. Nicht äußerlich, aber … na ja, sie setzen ihre Fähigkeiten nicht ein. Wir kämen in ernsthafte Schwierigkeiten, wenn sie es täten. Aber es ist merkwürdig, dass sie dieses einzigartige Talent nicht gegen uns verwenden, meinst du nicht?« Scobee entfernte sich von Algorian, verschmolz mit der Dunkelheit. »Geh nicht so weit weg«, warnte der Aorii. »Die Finsternis ist mit meinen Augen kaum zu durchdringen. Und auch wenn du anders … besser zu sehen vermagst, wir wissen nicht, was alles darin lauert.« Algorians Stimme wurde immer leiser, je weiter sich Scobee entfernte. Zudem orgelte der Wind. Scobee fragte sich, wann – und ob – er einmal nachlassen würde. Nach einer Weile ergebnislosen Umhergehens kehrte sie um. Sie dachte an Cloud, verdrängte die Gedanken an ihn aber rasch und versuchte, sich auf ihre Mission zu konzentrieren. »Warum marschieren wir eigentlich nicht in der Nacht?«, überlegte sie laut. »Die Dunkelheit wäre eine gute Verbündete. Ich könnte uns führen. Auch Jarvis findet sich darin, bei aller sonstigen Beeinträchtigung, traumwandlerisch sicher zurecht.« »Aber sie wäre wohl auch eine Verbündete der Saskanen«, gab Algorian zu bedenken. »Während wir uns über die sternenbeschienene Hochebene bewegen, können sie die Deckungsmöglichkeiten des Waldes ausnutzen. Ich halte es für keine gute Idee, in der Nacht zu marschieren.« Irgendwo in der Dunkelheit kläffte eine Wolfskreatur. Es endete in einem langgezogenen Heulen. Der Wind brachte das Geräusch heran und trug es auch wieder fort. Die Luft war voll feiner Staubpartikel. Sie drangen unter die Kleidung und scheuerten auf der Haut. »Leg dich wieder hin«, forderte Algorian Scobee nun noch eindringlicher als zuvor auf. »Selbst wenn du nur die Augen schließt und abschaltest, wirst du es morgen positiv verbuchen können.«
Scobee lachte. »Du bist so besorgt um mich.« »Wir brauchen eine Anführerin, die auf der Höhe ist«, erwiderte der dürre Aorii. Scobee legte sich wieder in die Mulde. Der Wind fuhr darüber hinweg. Irgendwann übermannte sie tatsächlich die Müdigkeit. Sie schlief ein. Algorian erhob sich von dem Stein, auf dem er die ganze Zeit gesessen hatte. Er ging um das Lager herum. Seine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Eine Windböe trug eine Staubwolke heran. Der Aorii fühlte sich trotz seiner Begleiter einsam, dachte an Cy, mit dem er so vieles erlebt und gemeistert hatte … und auch an Rofasch, seinen Hassbruder, der nicht mehr lebte, weil er sich gegen die Jay'nac geopfert hatte. Diese Wunde würde nie ganz heilen. Sie waren Zwillinge gewesen, und auch wenn Rofasch ihn nie als gleichwertig betrachtet hatte, so gab es doch Bande, wie Algorian von Tag zu Tag mehr feststellen musste, die weit über den Tod hinaus Bestand hatten … Er schüttelte die Erinnerungen an den verlorenen Bruder ab. Sie waren von Feinden umgeben. Und immer wieder stellte er sich die Frage, ob dieser Planet, just da sie ihren Fuß darauf gesetzt hatten, von einem Krieg heimgesucht wurde. Aber falls ja, wer kämpfte hier gegen wen? Algorian entfernte sich immer weiter vom Lager. Die Runden, die er drehte, wurden von einem zum anderen Mal größer. Manchmal blieb er stehen, um zu lauschen. Nicht nur mittels seines Gehörs, auch mit Hilfe seiner Parasinne. Aber er fand keine Hinweise auf eine unmittelbare Gefahr. Dennoch waren sie plötzlich da! Die Nacht selbst schien sie auszuspeien. Ohne Vorzeichen wurde er zu Boden gerissen. Harte Hände hielten ihn fest. Der Blaster wurde ihm abgenommen. Sein Mund klaffte auf zu einem Schrei. Doch etwas Spitzes, Scharfes wurde gegen seinen Hals gedrückt. Der Ruf erstickte im Ansatz. Gestalten huschten durch die Finsternis. Algorian überwand seine Verblüffung und stieß trotz der Speerspitze an seiner Kehle einen gellenden Laut aus,
um die anderen zu warnen. Sofort wurde es im Lager lebendig. Lichtstrahlen zuckten durch die Finsternis und rissen für Bruchteile von Sekunden huschende Gestalten aus der Nacht. Algorian wurde gepackt und fortgeschleppt. Er wehrte sich dagegen, warf sich hin und her, bäumte sich auf, strampelte mit den Beinen, hatte aber keine Chance. Plötzlich tauchte eine hohe Gestalt auf. Schüsse jagten aus dem Abstrahlpol einer Waffe. Zwei … drei Gegner, die ihn gepackt hielten, brachen zusammen. Algorian stürzte zu Boden. Der vierte Angreifer suchte sein Heil in der Flucht und wurde von der Finsternis aufgenommen. Ebenso plötzlich wie er begonnen hatte, war der Spuk auch wieder vorbei. Algorian erhob sich. Zu seinen Füßen lagen drei reglose Gestalten – und sein Blaster. Er hob ihn auf, dann rief er: »Ich bin hier!« Aus der Dunkelheit schälten sich die Konturen seiner Gefährten. Scobees Stimme erklang: »Das war knapp. Vielleicht können wir endlich mit den Saskanen sprechen, uns ihnen als friedfertige Besucher zu erkennen geben, sobald sie aufwachen. Die Waffen waren auf Betäubungsmodus gestellt. Es kann höchstens ein paar Stunden dauern, bis sie zu sich kommen … Wir fesseln sie, damit sie nicht noch einmal auf dumme Gedanken kommen.« So geschah es. Aber als der neue Morgen dämmerte, waren die Gefangenen verschwunden. Spurlos. Niemand hatte bemerkt, wie sie befreit worden waren oder sich selbst befreit hatten. Wieder war eine Chance zur möglichen Verständigung vertan.
Sie verließen den Ort, der ihnen beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Die Sonne stieg höher und höher. Der Wind schien im Vergleich zur Nacht etwas nachgelassen zu haben. Der Himmel war wolkenlos. Die Gefährten fühlten sich wie gerädert. Die Nacht auf
hartem Fels zu verbringen waren sie nicht gewohnt, zumindest diejenigen von ihnen nicht, die aus Fleisch und Blut waren. Irgendwann, als sie schon lange marschiert waren, blieb Algorian stehen. »Was ist?«, fragte Scobee. Auch sie und die anderen hielten an. Der telepathisch veranlagte Aorii hob die Hand und legte den Kopf ein wenig schief. »Ich spüre etwas …« Er brach ab und konzentrierte sich. Plötzlich schüttelte er den Kopf. »Nichts«, murmelte er. »Doch nur mentales Hintergrundrauschen. Diffus. Nicht verwertbar. Ich dachte schon, ich hätte endlich etwas Verwertbares erspürt … Vielleicht liegt es an der Umgebung, die auch Jarvis zusetzt, dass sich meine Kräfte nicht wie gewohnt entfalten können.« Er ging weiter. Die anderen schlossen sich ihm an. Gegen Mittag erreichten sie eine Ruinenstadt. Die ehemals einstöckigen, an geduckt kauernde, verängstigte Tiere erinnernde Häuser waren teilweise völlig zerstört und Ruß geschwärzt. »Sieht nicht nach natürlichem Zerfall aus«, konstatierte Scobee. »Hier hat ein Angriff stattgefunden. Das Dorf wurde gewaltsam zerstört.« Sie sahen sich um. Am Rand der zerstörten Ansiedlung stießen sie auf eine Reihe von Grabhügeln. Bei dem einen oder anderen stellte sich Beklemmung ein. »Ich denke, dass die Saskanen von einer anderen intelligenten Rasse unterdrückt werden«, ergriff Jiim das Wort. »Und sie denken wahrscheinlich, dass wir zu den Unterdrückern gehören. Die Saskanen fürchten sich vor uns. Darum verkriechen sie sich in den Wäldern oder attackieren uns blindwütig.« »Wäre möglich«, räumte Scobee ein. »Viele Lebewesen reagieren aggressiv, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen. Bei den Saskanen ist es vielleicht der reine Selbsterhaltungstrieb.« Sie verließen das zerstörte Dorf. Die Berge im Westen rückten näher. Der Wald im Norden reichte bis an das Massiv heran, das sich von Süden nach Norden erstreckte. Der Boden wurde sandiger, die korallenartige Vegetation auf der Ebene dichter. Dann lag vor den
Gefährten wieder Wald. Sie blieben in sicherer Entfernung stehen und beobachteten den Waldrand. Die Zweige der Bäume bewegten sich. Das Unterholz verhinderte den freien Blick zwischen den Stämmen hindurch. Dieser Wald unterschied sich in nichts von dem im Norden. Er schien die selben Geheimnisse zu bergen. Tödliche Gefahren. »Ich gehe voraus«, bot sich Jarvis an. »Wartet ihr erst einmal hier. Wenn die Luft rein ist, kommt ihr nach.« »Und wenn nicht?«, fragte Scobee. »Dann werdet ihr auch wissen, was zu tun ist.« »Du meinst umkehren?« Sie schüttelte den Kopf. Besorgt musterte sie Jarvis, der nicht nur körperlich beeinträchtigt, sondern auch geistig … verändert wirkte. Was hatte die »Verletzung«, die es so gar nicht hätte geben dürfen, bei ihm bewirkt? Wie konnte sich die Technologie der Foronen von einem simplen »Ast« in diesem Maße »verletzen« lassen? Kopfschüttelnd sagte sie: »Abgelehnt. Jiim übernimmt das. Sollte sich Gefahr anbahnen, kann er den Saskanen durch die Luft entkommen. Hast du gehört, Jiim?« Der Narge bestätigte. Seine Schwingen falteten sich auseinander. Flügelschlagend erhob er sich in die Lüfte. Er wurde schnell kleiner. Der Wind trug ihn davon.
Jiim erreichte den Fuß des Felsmassivs und landete auf der Krone eines Baumes. Durch ein Loch im Geäst schaute er in die Tiefe. Er konnte nichts entdecken, was ihn beunruhig hätte. Dennoch stieg er nicht hinab sondern flog zu einer anderen Stelle, wo ihm ebenfalls der Einblick in den Irrgarten ermöglicht wurde. Auch hier nichts Besonderes. Jiim startete noch einmal. Er ließ sich in die Öffnung gleiten. Weit unter sich sah er den Boden, aus dem die Korallenbäume wuchsen. Lautlos schwebte er darüber. Sein Nabiss erleichterte ihm jedes Manöver – und schützte ihn zugleich. Dann landete er. Seine Flügel falteten sich zusammen. Er schaute sich um. In der Hand hielt er sei-
nen Blaster. Er rechnete damit, blitzartig reagieren zu müssen. Da vernahm er ein scharfes Surren und glitt gedankenschnell zur Seite. Eine Lanze bohrte sich in den Baum, vor dem er stand. Mit zitterndem Schaft blieb sie stecken. Hinter einigen Stämmen stürmten Saskanen hervor, die an Boreguir erinnernden Gesichter verzerrt, Fanatismus in den Augen. Sie schwangen Schwerter und Knüppel. Mit gezielten Schüssen gelang es Jiim jedoch, sie in ihre Deckungen zurückzutreiben. Eine der Gestalten heulte auf. Jiim schwang die Flügel. Pfeile zischten heran, prallten vom Nabiss ab. Der Narge erhob sich in die Luft. Vermutlich bannte das Schauspiel die Saskanen dermaßen, dass sie vergaßen, ihm noch mehr Pfeile und Speere hinterher zu schicken. Vielleicht aber wollten sie ihn auch gar nicht töten, nur vertreiben. Er wusste es nicht. Er flog zurück zu seinen Gefährten. »Im Wald wimmelt es von Saskanen«, berichtete er. »Wie kommen wir über den Felsen?«, grübelte Scobee. »Wir müssen den Umweg nach Süden oder Norden in Kauf nehmen, und den Berg umrunden«, sagte Jiim. »Das nimmt einen zusätzlichen Tag und eine Nacht in Anspruch«, wandte Jarvis matt ein. Das stimmte. Aber es hinderte sie nicht, genau diesen Weg zu gehen.
Sie gingen nach Süden. Nach einigen Stunden Marsch endete das Hochplateau. Der Rand fiel steil nach unten. Und unten erstreckte sich – Wald. So weit das Auge reichte – Wald. Er stellte sich in allen Farben dar: rot, grün, gelb … An der Felswand gab es Simse und Vorsprünge, Risse und Spalten. Hier und dort, wo sich Erdreich gefangen hatte, klebte ein Strauch an der Wand. Es ging etwa hundert Meter abwärts. Scobee richtete den Blick nach Westen, wo noch immer das unüberwindlich anmutende Riem den Weg versperrte. Im schneidenden Wind flatterten ihre Haare. »Wir folgen dem Rand des
Plateaus«, erklärte sie. »Irgendwo gibt es sicher eine Abstiegsmöglichkeit.« Sie bewegten sich wieder nach Westen. Der Wald im Osten schien zu leben. »Warum beerdigen wir Boreguir nicht an Ort und Stelle?«, wollte Jiim wissen. »Dann könnten wir unverzüglich umkehren.« »Wir wollten ihn seinem Volk übergeben«, erinnerte sie den Nargen. »Außerdem wollen wir diesen Planeten erkunden – er birgt Rätsel, die mir Sorgen bereiten.« Jiim gab sich mit der Antwort zufrieden. Die Sonne stand im Süden. Es war warm. Der Wind kühlte nicht. Der Boden am Fuß des Steilhanges, dem sie folgten, stieg an. Schließlich betrug der Höhenunterschied nur noch fünfzig Meter. Die Felswand fiel nicht mehr ganz so steil ab, und dann stießen die Gefährten auf einen natürlichen Pfad, der sich nach unten schlängelte. Er war von Felsblöcken gesäumt. Geröll bedeckte ihn. Ein halsbrecherischer Abstieg. Jiim verzichtete demonstrativ darauf, den Höhenunterschied mit Hilfe seiner Flügel zu überwinden, solidarisierte sich. Er betrat den Pfad als erster. Ein kopfgroßer Stein löste sich und polterte in die Tiefe. Er nahm andere Steine mit sich. Jiim stieg vorsichtig nach unten. Hinter ihm ging Scobee, dann kam Jarvis, schließlich Algorian. Der Weg war beschwerlich. Sie mussten aufpassen, dass sie keine Gerölllawine lostraten, die sie alle in die Tiefe riss. Jeder von ihnen testete den Halt des Untergrundes, ehe er fest auftrat. Immer wieder kullerten Steinbrocken nach unten und zerschellten irgendwo auf dem Fels. Sie kamen heil unten an. Schweiß perlte auf Scobees Stirn. Der Abstieg hatte selbst sie Kraft gekostet, obwohl sie zwei- bis dreimal leistungsfähiger war als ein normaler Mensch. Ihre Augen glänzten wie im Fieber. Ihre Lippen waren trocken und rissig. Sie nahm ihre Wasserflasche und trank einen Schluck. Hier unten war es fast windstill. Sonnenlicht sickerte stellenweise durch das Zweiggeflecht der Bäume und malte gelbe Kringel auf
den Boden. Zögernd setzten die Gefährten ihren Fuß in den Wald. Ein Labyrinth von dicken Stämmen … Sie konnten sich nur noch am Stand der Sonne orientieren. Jarvis' und Algorians gewohnte Fähigkeiten waren kaum einsetzbar. Im Wald war es still. Hatte es in jenem Wald, der ihnen fast zum Verhängnis geworden wäre, von Leben gewimmelt, so mutete dieser wie ausgestorben an. Die Stimmung war gedrückt. Sie marschierten wieder nach Südwesten. Ihr Bestreben war es, das Felsmassiv zu erreichen und an seinem Fuß nach Süden zu ziehen, bis sich ein Pass fand oder eine andere Möglichkeit, diese natürliche Bastion zu überqueren. Sie gerieten auf eine Lichtung. Plötzlich weiteten sich Scobees Augen. Zwischen den Stämmen war Bewegung wahrzunehmen. Ein tiefes Grollen ertönte. Und dann sahen sie, was auf sie zukam. Es war ein bärenartiges Ungetüm. Es ging aufrecht und war an die drei Meter hoch. Seine kleinen Augen waren auf die Gruppe gerichtet. Und dann zeigte sich ein zweites dieser Raubtiere, ein drittes und viertes … Und sie kamen von allen Seiten. Die Gruppe war eingekreist. Gefährliches, unheilvolles Brüllen ertönte. »Zurück!«, rief Scobee. Sie zog den Blaster und wandte sich um. Aber der Rückweg wurde ihnen ebenfalls von diesen riesigen Tieren versperrt. Scobee feuerte, ihre Waffe war auf tödlichen Modus umgeschaltet. An eine ausreichende Wirkung von Paralyse bei diesen Ungetümen wollte sie nicht glauben, sich nicht verlassen. Der Strahl bohrte sich in den Leib eines der »Bären«. Sein Maul klaffte weit auf. Gewaltige Zähne wurden sichtbar. Dann stürzte er. Ein unkontrolliertes Zucken durchlief den Körper. »Wir müssen uns den Weg frei schießen!«, stieß Scobee hervor und drückte erneut ab. Das zornige Brüllen der Bären wurde immer Ohren betäubender. Sie kamen tapsig näher. Jiim, Algorian und Jarvis feuerten jetzt ebenfalls. Mit jedem Schuss töteten sie eines der Tiere. Aber immer neue drängten aus dem Wald. »Das ist ein ganzes Nest!«, rief Scobee und drückte ab. Aus dem
Abstrahlpol ihrer Waffe zuckte der fingerdicke Strahl und fällte einen Bären. Scobee rannte los. Sie hatten eine Bresche in den Kreis der Raubtiere geschossen. Durch diese flohen sie jetzt. Sie erreichten den natürlichen Pfad, auf dem sie in die Tiefe gestiegen waren … Zuerst machte sich Jiim an den Aufstieg. Als er etwa drei Meter hinter sich gebracht hatte, drehte er sich um und feuerte auf die nachdrängenden Bären. Er tötete einige von ihnen. Algorian kam auf seine Höhe und schob sich an ihm vorbei. Auch er feuerte auf die Raubtiere, die sich Scobee, die noch am Beginn des Pfades stand, genähert hatten. Jarvis stieg schnell den Pfad empor, mobilisierte sämtliche noch zur Verfügung stehenden Möglichkeiten seines Körpers. Über ihn zuckten die Blasterstrahlen seiner Kameraden hinweg. Scobee feuerte ebenfalls. Rückwärtsgehend bewegte sie sich jetzt den Pfad nach oben. Der Wald schien das Brüllen der Ungetüme aufzusaugen. Und plötzlich flogen von oben Lanzen in die Tiefe, Pfeile schwirrten vorbei. Die Gefährten blickten in die Höhe. Am Rand des Abbruchs waren einige Männer zu sehen. Saskanen. Aber sie zielten mit ihren Lanzen nicht auf das Team von der RUBIKON, sondern auf die Raubtiere. »Wir können nicht hinauf!«, rief Scobee. Sie schloss zu den anderen auf und verhielt. »Ich versuche, mit den Saskanen zu verhandeln«, rief Algorian. »Nein, das übernehme ich«, gab Scobee zu verstehen. »Haltet ihr uns die Bären vom Leib.« Aber die Raubtiere hatten von selbst die Verfolgung aufgegeben. Sie verschwanden im Wald. Das wütende Gebrüll verstummte. Einige Bären blieben zurück, reglos lagen sie am Boden. Scobee verstaute ihre Waffe im Gürtel. Dann stieg sie nach oben. Sie hatte keine Angst, nur dumpfe Beklemmung erfüllte sie. Ahnungslos, was sie genau erwarten mochte, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Einige Saskanen hatten sich über den Felsrand gebeugt und starrten sie an. Scobee hob beide Arme und zeigte ihnen die Handflächen. »Wir kommen in Frieden«, verfiel sie in das Idiom, das sie von Boreguir erlernt hatte.
Wortlos schleuderte einer der Saskanen seine Lanze. Scobee wich blitzschnell aus. Die Waffe prallte gegen Fels und schlitterte in die Tiefe. »Warum wollt ihr mir nicht glauben?« Einige der Kerle zielten mit Pfeil und Bogen auf Scobee. Entweder hatten sie nicht verstanden, was sie gesprochen hatte, oder es interessierte sie nicht. Sie ging in Deckung. Die Pfeile verfehlten sie. Aber sie begriff, dass sie von den Saskanen dort oben nur Tod zu erwarten hatte. Sie steckten in einer Sackgasse. Aber da erhob sich Jiim in die Luft. Flügelschlagend stieg er kerzengerade in die Höhe. Einige Pfeile folgten ihm, zischten aber an ihm vorbei. Jiim feuerte schließlich aus sicherer Entfernung mit seinem Blaster auf die Saskanen, die den oberen Rand der Felswand belagerten. Und es gelang ihm, die Krieger in die Flucht zu schlagen. Er landete auf dem Hochplateau und schaute den Saskanen hinterher, die über die Ebene rannten und dem Wald zustrebten. Dann ging er zum Rand der Ebene und rief nach unten: »Ihr könnt heraufkommen. Sie sind geflohen.« Nach einiger Zeit kamen die Gefährten oben an. »Ich begreife das nicht«, murmelte Scobee. »Weshalb benehmen sie sich so feindselig? Ob sie uns wirklich mit den Zerstörern gleichsetzen?« Niemand wusste eine Antwort darauf. Sie folgten wieder dem Rand des Plateaus. Jeder Schritt brachte sie dem Felsmassiv näher. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, waren sie am Ziel. Vor ihnen lag Wald, der den unteren Teil des Riems überwucherte. Oben lagen die nackten Gipfel und Bergsättel im gleißenden Sonnenlicht. Der Niveauunterschied des Plateaus zum tiefer gelegenen Gelände im Süden betrug noch immer gut zwanzig Meter. Aber dort unten lauerte das Unheil in Gestalt riesiger Bärenwesen. »Ich gehe voraus«, sagte Scobee, »und erkunde. Ihr haltet Abstand. Wir müssen über diesen Berg. Sowohl der Weg nach Süden als auch der nach Norden ist uns verbaut. Zurück zur Station können wir nicht, weil uns die Saskanen den Rückweg abschneiden
würden. Uns bleibt also nur der Marsch nach vorn, nach Westen.« Ohne eine Antwort abzuwarten setzte sich Scobee in Bewegung. Die anderen folgten ihr in der befohlenen Distanz, ohne zu ahnen, welchem Verhängnis ihre »Vorhut« entgegen schritt.
8. Kapitel »Mir ist nicht wohl bei der Sache«, gestand Cloud dem Geist ein, dem er seine geheimsten Gedanken anvertrauen konnte, weil er sich sicher sein durfte, dass er sie niemals weitergegeben hätte. »Auch wenn der Transport einmal geklappt hat, mit Jarvis allein – wer gibt mir die Gewähr, dass die Kapsel auch beim zweiten Transfer andocken konnte. Dass nicht das mit ihr und ihren Insassen passiert ist, wovor du eindringlich gewarnt hast. Verwehte Atome in einer übergeordneten Dimension, unvergänglich, aber auch nie wieder zu dem zusammenfügbar, was sie wertvoll machte … Im Extremfall hieße das, wir haben Scob, Jarvis, Jiim und Algorian verloren. Und wofür? Um einen Toten heimzubringen. Um Boreguir dorthin zurückzubringen, von wo er einst durch widrige Umstände entführt wurde … Das hätten wir auch einfacher haben können, mit weitaus weniger Risiken behaftet. Wir hätten Jarvis Boreguir schon bei seinem ersten Aufbruch nach Saskana ›mitgeben‹ können – er hätte ein Grab für ihn ausgehoben, ihn hineingelegt und wäre danach zu uns zurückgekehrt. Dieser Weg wäre eines Schiffskommandanten würdig gewesen. Nicht das sinnlose in Gefahr bringen gleich mehrerer Crewmitglieder!« »Du vergisst deine Zusatzintention«, erwiderte Sesha mit ruhiger, feminin gefärbter Stimme. »Die da wäre?«, fragte er gereizt. Die Dunkelheit und Abgeschiedenheit des Sarkophags umfing ihn. Er war Teil des Schiffes, Teil des Stahls, den auch die KI beseelte. Er fühlte sich ihr ganz nah. »Du wolltest einen Kontakt zu den Saskanen herstellen. Boreguir nicht einfach nur in irgendein Loch verfrachten und verscharren, sondern ihn seinen Leuten übergeben. Sie wissen am besten, wie ein Saskane würdig und ehrenvoll zur letzten Ruhe gebettet wird. Jarvis allein wäre dafür denkbar ungeeignet. Die Saskanen würden in ihm vieles sehen … Gottheit … Dämon … aber nicht unbedingt das, was
er ist: ein friedlich gesinnter Besucher. Dies zu vermitteln sind die anderen prädestinierter. Vertraue ihnen und ihren Fähigkeiten. Scobee ist kampferprobt. Algorian ist ein leistungsfähiger Telepath. Jiim hat sein Nabiss. Sie werden die Mission mit Bravour meistern. Und wahrscheinlich nachhaltig freundschaftliche Kontakte zu den Saskanen knüpfen, die eines späteren Tages von Nutzen sein könnten. Zumal nur dieser Weg verspricht zu erfahren, warum die Welt der Saskanen hinter einem fast perfekten Schleier des Vergessens verborgen liegt. Boreguir hat davon niemals etwas erwähnt.« »Er sprach insgesamt sehr wenig«, erinnerte Cloud – er wusste nicht, zum wie vielten Male in den letzten tagen bereits. »Das muss nichts zu bedeuten haben.« »Aber es könnte. Könnte heißen, dass der Vorhang sich erst nach seiner Verschleppung zum Mars senkte. Und dafür muss es triftige Gründe geben – die auch für uns von Interesse wären. Die möglicherweise mit unserer Beobachtung zusammenhängen könnten, dass die Foronen einen ihrer HAKARs verloren haben.« »Hunderte Lichtjahre von dieser Position entfernt.« »Ja. Aber eine Hochrechnung ergab, dass eine ebenso hohe Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenhang spricht wie gegen einen solchen.« Cloud zeigte seine Überraschung unverhohlen. »Die Kriterien, nach denen ein solches Ergebnis zustande kommt, musst du mir aber erst einmal aufschlüsseln. Ich kann nicht glauben -« Er erfuhr Seshas Rechenexempel nicht mehr. Die KI wechselte abrupt das Thema und beendete damit das »Teestündchen«, wie Cloud die Plauderei unter zwei Augen insgeheim nannte. »Verdächtige Energieentfaltung in relativer Nähe zu unserer Position. Drei Lichtjahre.« »Drei Lichtjahre«, spottete Cloud. »Ein Katzensprung. – Präzisiere ›verdächtige Energieentfaltung‹!« »Wahrscheinlich ein Gefecht.« »Innerhalb oder außerhalb der scheinbaren Leerzone?« »Außerhalb.« Sesha machte Cloud die Details, die von belang wa-
ren, via Rastermuster zugänglich. Cloud zögerte nur kurz. »Machen diese drei Lichtjahre für die Kapsel, wenn sie die Rückkehr antreten will, einen Unterschied?« Sesha verneinte. »Eine unwesentlich längere Reisedauer zur Andockstation an Bord. Vernachlässigbar.« Cloud wusste nicht, ob er dieser Aussage trauen konnte. Für die KI ging es wahrscheinlich in erster Linie um die Kapsel, für ihn um die Insassen. Ein keineswegs kleiner, feiner Unterschied – und schon gar kein vernachlässigbarer. Dennoch entschied er sich dafür, der georteten Emission auf den Grund zu gehen. »Okay, wir nehmen Kurs. Achtzig Prozent Maximalgeschwindigkeit.« Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als er den Sarkophag auch schon öffnete, sich herausstemmte und alles veranlasste, um auch die restliche Crew über die Entdeckung und seine Entscheidung in Kenntnis zu setzen. Da hatte die RUBIKON schon Fahrt aufgenommen und jagte den Zielkoordinaten entgegen – milliardenfach schneller, als ein Lichtstrahl dies vermocht hätte.
Es war tatsächlich ein Gefecht. Als die RUBIKON die Raumkoordinaten erreichte, bot sich Cloud und denjenigen Besatzungsmitgliedern, die in die Bordzentrale gekommen waren, um der Ankunft beizuwohnen – es waren dies vor allem Cy, Jelto und Aylea … und Sarah Cuthbert in Begleitung Prosper Mérimées, der etwas scheu gefragt hatte, ob sie auf zwei der freien Kommandositze Platz nehmen dürften –, ein erstaunliches Bild. Ein halbes Hundert grüner »Davids« kämpfte gegen einen einzigen »Goliath« in gleißendem Gold! »Situationsbericht!«, verlangte Cloud. Sein Sitz war offen wie der der anderen und so gedreht, dass er zur Mitte des Kreises blicken konnte, den die sieben Plätze bildeten. In der Holosäule tobte eine
Schlacht, bei der sich für den neu angekommenen Betrachter nicht unterscheiden ließ, wer der ursprünglich Angegriffene und wer der Verteidiger war. Zwei Parteien, die eine aus besagten gut fünfzig kleinen Schiffen bestehend, deren Außenhüllen matt grünlich glänzten; die andere ein Gigant aus Gold, Kugelform, Durchmesser ein knapper Kilometer! Sämtliche »Kleinen« hätten mühelos von dieser Kugel aufgenommen werden, ihre Beiboote sein können … Die Form der Schwarm-Einheiten war auffällig: ein länglicher Körper – der Scan erbrachte erste Werte, die die kleineren Fahrzeuge größenmäßig in die Nähe alter XB-55-Bomber rückte, wie sie zu Clouds Zeiten bei der US Airforce zum Einsatz gekommen waren –, der von einem Ring gekrönt wurde. Fast wie nachträglich aufgesetzt auf diese Konstruktion wirkte das Geschütz, mit dem jede dieser Einheiten immer wieder ein Strahlengewitter gegen das Kugelschiff schleuderte, über dessen Außenhülle zahllose Blitze wie über einen Faradayschen Käfig züngelten. »Schweres Gefecht«, bestätigte Sesha, was ohnehin alle Augen sahen. »Es hat den Anschein, als würde die Kugel massiv angegriffen und beschränke sich ausschließlich auf die Defensive. Die Flotte der kleineren Einheiten wiederum attackiert massiert.« »Auswirkungen an der Kugel?« »Nicht einschätzbar. Die sichtbaren Effekte lassen keinen Rückschluss zu, ob sie ernste Schäden hinnehmen muss oder deshalb das Feuer unerwidert lässt, weil die Attacken sie nicht weiter gefährden.« »Oder weil sie keine Waffen hat«, warf Prosper Mérimée ein. Cloud sah ihn kurz erstaunt an, musste aber eingestehen, dass dieser zunächst eher unwahrscheinlich anmutende Gedanke ebenso gut der Realität entsprechen konnte. »Was werden wir tun?«, fragte Sarah Cuthbert. »Zuschauen und abwarten, ob die Kleinen dem Großen tatsächlich nicht schaden können, oder …?« … oder eingreifen?
Der eigentliche Kern ihrer Frage hing unausgesprochen im Raum. »Wie weit sind wir von den Geschehnissen entfernt?«, zirpte Cy. »Gut hunderttausend Kilometer«, las Jelto die Holoeinblendung ab. »Und wie ich John einschätze, liegen wir unter voller Tarnung. John?« Cloud nickte nur dazu. Der Schmiegschirm umgab die RUBIKON lückenlos. Er arbeitete in dem Modus, in dem sie sich vor längerem auch unbemerkt ins irdische Sonnensystem eingeschlichen hatten, an Raumforts und Unmengen von Erinjij-Schiffen vorbei. Der Schild bot bei Bedarf nicht nur Schutz vor direkten Treffern, sondern funktionierte wie eine Tarnkappe aus irgendwelchen Märchen. Lautlos spielte sich das Kampfspektakel vor ihnen im Vakuum des Alls ab. Der Schwarm hatte die Kugel regelrecht eingekesselt, und dennoch machte sie keinerlei Anstalten, das Feuer zu erwidern, sich aus der Umzingelung zu befreien. War es tatsächlich so, wie Mérimée es zur Diskussion gestellt hatte? Konnte der riesige Ball aus Gold sich gar nicht zur wehr setzen? Handelte es sich überhaupt um ein Raumschiff – oder war es eine Station? Es waren nicht nur keine Waffensysteme erkennbar, sondern auch kein Antrieb. Es war einfach eine Kugel, Blitze umwabert! »Ich tippe auf Goliath«, krähte Aylea unaufgefordert. »Inwiefern?«, hörte Cloud Jelto fragen. »Als den Guten. Das Opfer«, sagte sie. Cloud wünschte, es wäre tatsächlich so klar gewesen. Und was dann? Würdest du dann den Befehl zum Eingreifen geben, nach dem Sarah gefragt hat? Die Antwort wurde, wie so oft, extern gegeben. Plötzlich versank die Holodarstellung des Angriffs in Kaskaden grellen Lichts. »Man hat uns entdeckt«, sagte Sesha. »Mehrere Einheiten haben direkten Kurs auf uns genommen und damit begonnen, uns zu beschießen.«
»Ich dachte, wir lägen unter Tarnung?« Cys Einwurf war berechtigt. Das dachte ich auch!, rann es kalt durch Clouds Gehirnwindungen. »Sesha?« »Tarnung offenbar unwirksam. Der Kurs der Einheiten lässt keinen anderen Schluss zu. Ebenso die Genauigkeit, mit der ihre Kampfstrahlen uns treffen.« »Gibt es auch gute Nachrichten?«, knurrte Cloud. »Die Treffer fordern unseren Schild bislang mit weniger als fünf Prozent. Es besteht keinerlei Gefahr.« »Willst du damit andeuten, sie sind nur … lästig?« »Das wäre eine zutiefst menschliche Darlegungsweise der Gegebenheiten.« »Aha.« Cloud grinste zu Sarah Cuthbert hinüber, die dem Dialog zwischen ihm und der KI leicht fassungslos folgte. »Na dann …« Er hatte kaum ausgesprochen, als sich alles änderte. Cloud sah es Sekunden vor der Katastrophe anhand des ständigen Datenflusses, der in die Holosäule eingespielt wurde. »Sesha! Bist du …« … des Wahnsinns!, hatte er rufen wollen. Weil Ungeheuerliches eine vermeintlich kontrollierte Situation plötzlich in das genaue Gegenteil umkehrte. Sesha hatte die Schilde der RUBIKON abgeschaltet? Und schon brandeten die ersten Treffer gegen die entblößte Außenhülle!
Cloud handelte, noch ehe die KI sich rechtfertigen konnte. Er schloss den Sarkophag! Völlige Abschottung … völliges Aufgehen in der RUBIKON! Was auch bedeutete, dass er es wie persönliche Verletzungen empfand, als sich die Kampfstrahlen der unterschätzten Kleinraumschiffe in die Hülle bohrten. Verdammt! Sesha! Die Verbindung zur KI glitt automatisch auf telepathisch. Warum antwortete Sesha dann aber nicht? Warum tat sie etwas so Wahnwit-
ziges, wie den Schmiegschirm inmitten einer Gefechtssituation abzuschalten? Cloud war eins mit der RUBIKON. Die Protopartikel, die seit Tovah'Zara in seinem Blut kreisten, ermöglichten die perfekteste Verschmelzung, die ein Mensch sich überhaupt vorzustellen vermochte. Und so erkannte er fast im selben Moment, als er sich noch über die KI entsetzte, was wirklich geschehen war. Wie viel schlimmer als seine schlimmste Befürchtung die Realität tatsächlich war! Sesha reagierte nicht, weil das Schiff in weiten Bereichen … fremdbeeinflusst, fremdgesteuert wurde? Etwas ist in die Systeme eingedrungen – von außerhalb! Waren die vermeintlichen Strahlgeschütze der Angreifer in Wahrheit sehr viel mehr? Dienten sie nicht nur der offensichtlichen Zerstörung, sondern waren zugleich so etwas wie »Leitstrahlen«, über die etwas auf das Ziel übertragen wurde? Cloud fand untrügliche Hinweise auf Virenbefall. Auf Sabotageprogramme, die damit begonnen hatten, sich die Kontrolle über die RUBIKON unter den Nagel zu reißen! Erst kürzlich hatte er das Szenario eines Vireneintritts in die Schiffssysteme mit Sesha durchgespielt. Und Gegenmaßnahmen befohlen, die die KI aber offenbar bereits nicht mehr selbst einleiten konnte. Cloud handelte ebenso schnell wie entschlossen und kompromisslos. Über seine Sarkophagkontrollen rief er die neuerstellten Cleaner, wie er es nannte, auf … … und wohnte in der Folge einem erbitterten, auf zwei Ebenen geführten Kampf bei. Dem, den die Kleinschiffe von außen führten und mit dem sie der RUBIKON zwar noch geringe, aber zunehmend umfassender werdende Schäden zufügten – und zum anderen dem, der in den Systemen stattfand. Und der letztlich sogar dazu führen konnte, dass der Gegner die Selbstvernichtung des Rochenschiffes initiierte. Dazu aber kam es nicht. Die prophylaktisch erstellten Subroutinen griffen. Die Säuberungswelle raste durch das Schiff, eliminierte die tücki-
schen Angreifer und grenzte die fremde Einflussnahme mehr und mehr aus. Fast unmerklich glitt die RUBIKON wieder unter Clouds volle Kontrolle. Und kaum war dies geschehen, handelte er auch schon, eröffnete das Feuer auf die heimtückisch agierenden Ringschiffe, die in lodernde Energien gehüllt wurden … … aber erstaunliche Widerstandskraft demonstrierten. Sie gingen selbst aus konzentriertestem Beschuss mit konventionellen Waffen unbeschadet hervor. Als würden sie darum betteln, dass ich die wirklich schweren Geschütze auffahre, durchzuckte es Cloud. Aber das konnte er nicht. Nicht so lange auch die goldene Kugel innerhalb der Reichweite der K-Waffe, des ultimativen Mittels der RUBIKON, Feinde zu bezwingen, war! In diesem Augenblick registrierte Cloud eine ungeheure Energieentladung in nächster Nähe zur RUBIKON. Und fast zeitgleich erklang erstmals wieder Seshas Stimme: »Kugelschiff von Schwarm zerstört. Schwarm ordnet sich neu.« Die Enttäuschung legte sich wie eine Klammer aus Metall um seine Brust. Zerstört. Wer oder was war von den Fremden in ihren Ringschiffen gerade feige ermordet worden? Wir werden es wohl nie erfahren … Weil nun der RUBIKON drohte, selbst zum Ziel aller Schwarmeinheiten zu werden, und dann … »Schwarm zieht ab«, meldete Sesha überraschend. »Bist du sicher?«, knirschte er. »Schwarm verschwunden«, antwortete die KI mit einer weiteren Statuserklärung. Verschwunden. »Einfach … so …« »Einwurf berechtigt«, sagte Sesha. »Es wurden keinerlei Antriebsemissionen angemessen.«
»Scanne mit allem, was dir zur Verfügung steht. Stelle sicher, dass sie tatsächlich weg sind!« »Verstanden. Scan läuft … Fund!« Also doch, dachte Cloud – und machte sich auf einen Fortgang des Kampfes ums nackte Überleben gefasst. Die KI wurde jedoch rasch konkreter. »Fundobjekt befindet sich in den Trümmern des Kugelschiffes. Eine Art Kapsel. Sie sendet ein Signal.« »Sie sendet ein Signal?« »Es ist … ein Hilferuf«, sagte Sesha.
9. Kapitel Scobee betrat den Wald. Ihre Augen passten sich der herrschenden Düsternis an. Den Blaster hielt sie schussbereit. Ein echsenähnliches Lebewesen huschte zwischen die Bäume. Das klägliche Wimmern des Windes umgab sie. Irgendwo kreischte ein Tier. Scobee wusste nicht, was sie erwartete. Feindlich gesinnte Saskanen, Bären- oder Wolfskreaturen. Vielleicht auch eine andere, schreckliche, noch unbekannte Tierart. Sie schaute sich um. Von den Gefährten war nichts mehr zu sehen. Die dichtstehenden Bäume verwehrten ihr die Sicht auf die Hochebene. Scobee glaubte, neben dem Geräusch, das der Wind verursachte, Scharren und Kratzen zu vernehmen. Dann das Brechen eines Zweiges. Sie blieb stehen, ihre Hand mit der Waffe beschrieb einen Halbkreis. Nichts! Spielten ihr ihre überreizten Sinne einen Streich? Gaukelten sie ihr Dinge vor, die es gar nicht gab? Scobee gab sich einen Ruck und ging weiter. Sie mochte schon etwa hundert Meter in den Wald vorgedrungen sein, als die Saskanen plötzlich da waren. Sie traten hinter den Stämmen hervor und zielten mit Pfeil und Lanzen auf Scobee. Sie erwiderte die Drohgebärde, in der Faust den schussbereiten Blaster. Sie hielten sich gegenseitig in Schach. Scobees Miene war wie versteinert. Ihre Hand mit dem Blaster pendelte über die Gruppe der Saskanen hinweg. Einem jähen Impuls folgend senkte Scobee jedoch die Waffe und sprach die Saskanen erneut in deren ureigenem Idiom an: »Wir sind in friedlicher Absicht auf diesen Planeten gekommen. Bei uns befindet sich der Leichnam Boreguirs. Er war ein Freund, und wir wollten, dass er auf seinem Heimatplaneten die letzte Ruhe findet.« Die finsteren Gesichter hellten sich nicht auf. Einer der Saskanen sagte grollend: »Boreguir verschwand vor vielen Jahren. Das Volk
der Saskanen hat sich gespalten. Es gibt die Westsaskanen und die Ostsaskanen. Mögen die Westsaskanen Boreguir verehren und ihm ein besonderes Andenken bewahrt haben. Für uns Ostsaskanen ist er der schlimmste Verräter, den unser Volk jemals hervorbrachte – er ließ die Seinen schmählich im Stich!« »Er wurde entführt …« »… und hat mit unseren Feinden gemeinsame Sache gemacht. Auch ihr seid unsere Feinde. Ihr wolltet einige von uns grausam töten, aber sie konnten sich befreien. Du bist unsere Gefangene. Wir bringen dich in unser Dorf. Packt sie!« Scobee leistete keinen Widerstand, wohl aber Widerspruch: »Hätten wir sie töten wollen, wäre uns das ganz gewiss gelungen. Wir haben sie nur betäubt – sie haben uns mit Tötungsabsicht angegriffen. Wir setzten uns nur zur Wehr. Das sollten sie bestätigen können …« Auf ihre Richtigstellung erfolgte keine Reaktion, erst recht kein Meinungsumschwung. Einer der Krieger nahm ihr den Blaster weg. Die Arme wurden ihr auf den Rücken gedreht und die Hände gefesselt. Einer der Männer legte ihr einen Strick um den Hals. Dann marschierten sie los. Scobee baute auf ihre Gefährten, musste das Gehörte aber erst einmal verarbeiten. Das Volk der Saskanen war in zwei Lager gespalten. Damit hatte sie nicht gerechnet, hatte sie nicht rechnen können. Handelte es sich bei denen, in deren Gewalt sie sich befand, um Abtrünnige? Oder ging die Trennung von den Westsaskanen aus? Waren sie die Rebellen? Scobee stand vor einem Rätsel. Der Marsch ging durch den Dschungel. Mit traumwandlerischer Sicherheit bewegten sich die Saskanen. Scobee befand sich ungefähr in der Mitte der Krieger. An Flucht war aus eigener Kraft nicht zu denken. Längst hatte sie die Orientierung verloren und konnte nur hoffen, dass die Gefährten sie nicht aus den Augen verloren, sondern nur eine günstige Gelegenheit abwarteten, um sie zu befreien. Der Wald schien die Welt der Ostsaskanen zu sein. Sie schienen hier jeden Weg und Steg zu kennen. Schweigsam folgten sie den
Windungen zwischen den riesigen Bäumen, diesen versteinert anmutenden, korallenartigen Gewächsen, die wahrscheinlich seit Urzeiten hier gediehen. Dann erreichten sie das Dorf. Es war auf einer Lichtung erbaut worden. Die Häuser waren aus Bruchsteinen errichtet, die Dächer bestanden aus dünnen Stämmen, deren Fugen mit Erdreich verstrichen waren. Wahrscheinlich eine lehmartige Masse. Es gab hier Männer, Frauen und Kinder. Einige Wolfskreaturen, von den Saskanen offenbar gezähmt, lagen in den Schatten. In der Mitte des Dorfes befand sich ein Brunnen. Das Leben hier mutete erwartet primitiv an. Scobee wurde auf den Dorfplatz gebracht. Neugierig bildeten die Saskanen einen Kreis um sie herum. Murmeln und Raunen hing in der Luft. Von irgendwo her drang das Weinen eines Kindes an Scobees Ohr. Wahrscheinlich standen die meisten der Saskanen zum ersten Mal einem Lebewesen gegenüber, das von einer anderen Welt stammte. Eine Gruppe von Männern erschien. Der Anführer der Horde, die Scobee gefangen genommen hatte, erstattete Bericht. Dann wandte er sich an Scobee und sagte: »Das ist der Dorfälteste.« Er wies auf einen Mann mit einem langen, weißen Bart und nackenlangen, ebenfalls weißen Haaren. »Sein Name ist Kesar. Er und der Ältestenrat werden über dein Schicksal befinden.« »Sag ihm, was uns auf diesen Planeten geführt hat. Sag ihm auch, dass unsere Absichten friedlicher Natur sind. Und sag ihm, dass Boreguir kein Verräter war. Ich kann es natürlich auch selbst übernehmen …« Der Krieger musterte sie verächtlich von oben bis unten. Dann redete er leise auf den Weißhaarigen ein. Dieser nickte wiederholt, dann sprach er mit einer Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu erteilen: »Wer immer ihr seid, Fremde, du und deine Begleiter, wir glauben nicht, dass ihr in friedlicher Absicht auf unseren Planeten gekommen seid. Seit vielen Jahren werden wir von Fremden – von wo sie kommen wissen wir nicht – terrorisiert. Ich denke, dass ihr zu ihnen gehört. Ihr seid gekommen, um unsere Welt auszukund-
schaften, um strategisch wichtige Orte auszumachen, um die Voraussetzungen für eine alles entscheidende Invasion zu schaffen.« »Du weißt, warum wir gekommen sind«, erwiderte Scobee. »Und dass wir nichts mit euren Peinigern gemein haben!« »Boreguir … Wir glauben dir nicht. Wahrscheinlich hat uns Boreguir verraten. Und sein Verrat hat euch zu uns geführt. – Von welcher Welt kommst du?« »Der Name des Planeten wird dir nichts sagen. Er ist unfassbar weit entfernt. Du irrst dich, wenn du annimmst, dass Boreguir ein Verräter war.« Kesar winkte ab. »Sperrt sie ein.« Er schaute noch einmal zu Scobee. »Wir werden aus dir herausbekommen, was der wirkliche Grund deines Hierseins ist. Erst gestern haben die Fremden wieder einen Angriff auf unseren Wald geflogen. Hast du das zerstörte Dorf auf dem Plateau gesehen? Dort lebten wir, ehe wir überfallen wurden. Die Fremden haben unsere Kultur zerstört.« Kesar wandte sich ab. Die anderen Männer, die ihn begleiteten, folgten ihm. Scobee wurde gepackt und davon gezerrt. Die Krieger brachten sie zu einem Haus mit kleinen, schießschartenähnlichen Fenstern und einer soliden Tür aus armdicken Stämmen. Sie wurde hineingestoßen, hinter ihr schloss sich die Tür. Ein Riegel wurde in die Halterung geschlagen. Scobees Augen passten sich der Dunkelheit an. Es gab einen Tisch, zwei Stühle, eine Liegestatt. Durch die beiden schmalen Fensteröffnungen, durch die kein Mensch gepasst hätte, fiel in schräger Bahn das Tageslicht herein. Staubpartikel tanzten in den Lichtbahnen. Scobee ging zu einem der Stühle und setzte sich. Die Sorge um ihre Gefährten nagte in ihr. Andererseits wünschte sie, dass Algorian, Jarvis und Jiim bald kamen, um sie zu befreien. Die Geräusche des Dorfes drangen ins Innere der Hütte. Kinder lärmten. Ein Tier bellte. Auf Saskana herrschten mittelalterliche Zustände. ›Die Fremden haben unsere Kultur zerstört‹, hatte Kesar gesagt. Was meinte er damit? Hatte man sie mit Gewalt auf dieses primitive Niveau zurückversetzt? Hatte eine außersaskanische Macht das
Volk unterjocht und ihm die Errungenschaften einer höheren Zivilisation geraubt? Nein, Boreguir hatte nie den Eindruck vermittelt, einer technisierten Gesellschaft zu entstammen … Es hielt Scobee nicht auf dem Stuhl. Sie ging zu einer der Fensteröffnungen und schaute hinaus. In dem Dorf herrschte wieder der Alltag. Die Menschen gingen ihrer Arbeit nach. Frauen holten Wasser vom Brunnen. Ein Wagen, vor den zwei ochsenähnliche Tiere gespannt waren, rollte holpernd und rumpelnd vorüber. Was hatten die Saskanen mit ihr vor? ›Wir werden aus dir herausbekommen, was der wirkliche Grund deines Hierseins ist‹, hatte Kesar gedroht. Würde man sie foltern? Die Saskanen waren misstrauisch und glaubten ihr kein Wort. Sich auf Boreguir zu berufen war offenbar ein Fehler gewesen.
Vor ihnen lag das Dorf, in dem Scobee gefangen gehalten wurde, das Dorf, zu dem sie ihr unbemerkt gefolgt waren. Jarvis, Algorian und Jiim zählten an die fünfzig Häuser. Kinder spielten. Erwachsene gingen ihrem Tagwerk nach. Da waren aber auch Bewaffnete. Krieger! Sie trugen Lanzen, Schwerter, Pfeil und Bogen sowie Keulen, die mit Eisenzinken versehen waren. In einem der Häuser wurde Scobee festgehalten. In welchem? Sie hatten es nicht verfolgen können. Das dichte Unterholz schützte die drei Gefährten vor Entdeckung. Algorian schaute nach dem Stand der Sonne. »Uns bleibt im Moment nur, das Dorf zu beobachten, um herauszufinden, wo Scobee gefangen gehalten wird. Um sie zu befreien, müssen wir die Nacht abwarten.« »Ich gehe mal um das Dorf herum«, sagte Jarvis. »Wahrscheinlich wird Scobee bewacht. Vielleicht kann ich etwas herausfinden.« Ohne eine Antwort abzuwarten setzte er sich in Bewegung. Er bewegte sich vorsichtig. Immer wieder bog er das dichte Zweiggespinst auseinander, um besser sehen zu können. Und mehr als ein-
mal wünschte er sich seine sonstige Kraft, sein hier völlig unterdrücktes Potenzial zurück. Lag es an der »Verletzung«… oder an dem allgegenwärtigen Staub, dass er so maßlos eingeschränkt agieren musste? Junge Frauen trugen auf dem Dorfplatz einen Haufen Reisig und Holz zusammen. Vermutlich sollte dort nach Einbruch der Nacht ein großes Feuer entzündet werden. Jarvis sah vor einer der Hütten zwei Posten stehen. Die Tür war geschlossen, der Riegel lag in der Halterung. Er hatte ganz offenbar das Gefängnis Scobees ausgemacht. Die Hütte lag mitten im Dorf. Es würde nicht einfach sein, Scobee dort herauszuholen. Jarvis gab sich keinen Illusionen hin. Er kehrte zu seinen Gefährten zurück und berichtete von seiner Entdeckung, woraufhin sie das halbe Dorf umrundeten und schließlich den Platz erreichten, von dem aus sie die Hütte sehen konnten. Die beiden Wachposten stützten sich auf ihre Lanzen und beobachteten das Treiben um sie herum. An ihren Gürteln hingen Schwerter und Dolche. Unter den Saskanen schien es eine klare Hierarchie zu geben. Wenn Krieger des Weges kamen, wichen die anderen Saskanen ehrfurchtsvoll aus. Und die Männer schienen den Frauen übergeordnet zu sein, denn es waren die Frauen, die die schwere körperliche Arbeit verrichteten. »Wovon die Saskanen wohl leben?«, fragte Jiim. »Von der Jagd«, gab Algorian zurück. Von nun an schwiegen die Gefährten. Sie beobachteten, dass ein Trupp von Kriegern das Dorf verließ. Wahrscheinlich waren sie ausgesandt worden, um nach ihnen, Algorian, Jarvis und Jiim, zu suchen …
Die Dunkelheit nahm zu. Auf dem Dorfplatz wurde der Holzhaufen in Brand gesetzt. Sitzgelegenheiten waren aufgestellt worden. Die Krieger bauten sich rund um den Dorfplatz auf. Hinter ihnen versammelten sich Männer und Frauen. Der Dorfälteste und der Ältestenrat erschienen, in
weiße Gewänder gehüllt, die bis zu den Knöcheln reichten. Es waren insgesamt sieben Männer, die Platz nahmen. Lichtreflexe, vom Feuer verursacht, zuckten über sie hinweg. Scobee wurde herbeigeführt. Sie war gefesselt. Zwei Krieger hatten sie zwischen sich genommen. »Woher kommst du?«, fragte Kesar. »Von einem Planeten, der Erde genannt wird«, antwortete Scobee. »Er befindet sich in einem anderen Sonnensystem, viele, viele Lichtjahre von Saskana entfernt.« »Auch wir Saskanen verfügten einmal über eine hohe Kultur«, sagte Kesar. »Wir flogen zu anderen Planeten und waren eine starke Macht. Dann aber kamen die Fremden. Sie zerstörten alles, was wir geschaffen hatten. Und sie trieben einen Keil zwischen die Saskanen. Mein Stamm wurde ausgestoßen, in die Wälder verbannt.« »Wir sahen gestern Flugobjekte, die den Wald unter Feuer nahmen. Sind das die Fremden, die eure einstige Hochkultur, von der du sprichst, auf dem Gewissen haben?« »Ja. Sie lassen uns ihre Allmacht immer wieder spüren. Du und deine Gefährten – ihr gehört zu ihnen. Was hat euch hergetrieben?« »Ich sagte es bereits. Wir bringen den Leichnam Boreguirs, damit er würdig bestattet wird. Und wir wollen so viel wie möglich über euch, eure Art zu leben und eure Welt erfahren.« »Meine Späher haben nicht berichtet, dass ihr einen Toten mit euch führt.« »Den Leichnam trägt einer meiner Gefährten in sich. Es ist schwer zu erklären …« »Lügnerin!«, peitschte das Organ eines der Ältesten. »Wir glauben dir kein Wort. Den Westsaskanen, unseren Feinden, könntet ihr mit dieser Geschichte vielleicht Sand in die Augen streuen. Uns aber kannst du nichts vormachen.« Der Sprecher richtete den Blick auf Kesar. »Ich bin dafür, dass wir sie zum Tod verurteilen und das Urteil unverzüglich vollstrecken.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich. »Du hast es gehört, Fremde«, sagte Kesar. »Hast du sonst noch etwas zu sagen, ehe wir uns beraten?«
»Ihr begeht einen furchtbaren Fehler«, sagte Scobee. »Wir …« »Schweig!«, donnerte Kesars Stimme. »Soll ich ihnen den Leichnam zeigen?«, fragte am Waldrand Jarvis seine Gefährten. »Nein«, lehnte Algorian ab. »Sie sind Boreguir feindlich gesonnen und halten ihn für einen Verräter. Es würde sie nur in ihrem Glauben bestärken, dass wir ihre Feinde sind.« »Aber wir können doch nicht zusehen, wie sie Scobee …« »Wir werden auch nicht zusehen«, schnitt ihm Algorian das Wort ab. »Jetzt aber sollten wir zunächst einmal abwarten.« Die Dorfältesten hatten die Köpfe zusammengesteckt und besprachen sich leise. Einige von ihnen gestikulierten heftig, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Scobee stand fünf Schritte vor ihnen. Ihr Gesicht verriet nicht, was sie dachte, was in ihr vorging, ob sie darauf vertraute, dass ihre Gefährten sie aus ihrer misslichen Situation befreiten. Kesar erhob sich. »Der Beschluss ist einstimmig«, rief er. »Das Urteil lautet: Tod! Wachen, führt sie weg und vollstreckt das Urteil.« Scobee wurde von zwei Männern gepackt. Zwei weitere zündeten am Feuer Fackeln an. Hocherhobenen Hauptes ging Scobee zwischen ihren Henkern. Sie führten sie in den Wald hinein. Der Zug entfernte sich vom Dorf. Eine kleine Lichtung, ein ganzes Stück entfernt, sollte die Richtstätte sein. Scobee musste sich niederknien. Einer der Wächter trat mit dem Schwert in der Faust hinter sie. Er hob die Klinge … Da durchschnitt ein Lichtstrahl die Finsternis. Der Krieger bäumte sich auf und kippte nach hinten. Auch der andere wurde von einem grellen Strahl getroffen. Fast im selben Moment zuckten Lichtfinger auf die beiden Fackelträger zu. Sie brachen zusammen. Die Fackeln fielen auf den Boden, gingen aber nicht aus. Algorian, Jarvis und Jiim traten auf die Lichtung. Algorian half Scobee, sich zu erheben. »Ihr seid in letzter Sekunde erschienen«, sagte Scobee. »Ich sah meine letzte Stunde schon gekommen.« Algorian löste die Handfessel Scobees. »Verschwinden wir«,
drängte er. »Der Blaster war nur auf Betäubung gestellt. Niemand weiß, wie lange die Paralyse anhält.« Während sie sich mit Hilfe der Fackeln durch den Dschungel einen Weg suchten, erzählte Scobee, was sie in Erfahrung gebracht hatte. »Das heißt, diese Fremden haben den Saskanen jegliche Technologie genommen«, sagte Algorian, als Scobee geendet hatte. »Sie sind auf eine steinzeitliche Stufe zurückgefallen. Wie kann man einem Volk so etwas antun?« »Wenn man ein Volk versklaven möchte, funktioniert das am einfachsten, indem man es sämtlicher technischer Errungenschaften beraubt«, antwortete Scobee. »Die Fremden haben sie in ein Entwicklungsstadium zurückversetzt, wie es die Erde vor tausend oder noch mehr Jahren erlebt hat. Sie haben aber nicht bedacht, dass sich die Saskanen so stark widersetzen würden – zumindest Teile von ihnen. Sie zogen sich in die Wälder zurück, die ihnen offenbar gewissen Schutz bieten.« »Das ist eine Theorie, aber sie klingt durchaus plausibel«, meinte Algorian. Er schritt neben Scobee. Jiim ging mit einer Fackel voraus. Jarvis folgte, ebenfalls eine Fackel in der Hand. Das Licht tanzte über den Boden. Riesige, verzerrte Schatten ihrer Gestalten wurden auf den Boden geworfen. Die Fackeln waren verräterisch, aber ohne sie wären sie verloren gewesen. Sie stießen auf die Spur, die die Saskanen-Krieger hinterlassen hatten, als sie Scobee zum Dorf brachten, und folgten ihr. Dann erreichten sie den Platz, an dem Scobee überwältigt worden war. Von hier aus wandten sie sich wieder nach Westen. Irgendwann verloschen die Fackeln. Die Finsternis zwischen den korallenartigen Bäumen mutete fast greifbar an. Sie konnten nicht mehr weiter. Die Gefahr, sich an einem Baum zu verletzen, war zu groß. Sie wussten nicht, wie lebender Organismus auf das Material reagierte, aus dem die Gewächse bestanden. Die Auswirkungen auf Jarvis Nanokörper vor Augen, als er sich an einem der Bäume irreparable Schäden zuzog, wollten sie kein Risiko eingehen.
Also kampierten sie zwischen den Urwaldriesen, deren Kronen ein Dach über ihnen bildeten, so dass vom Sternenhimmel nichts zu sehen war. Die Gefahr, die von den Saskanen ausging, war noch nicht gebannt. Eine Gruppe von ihnen streifte sicher auf der Suche nach Scobees Gefährten durch die Wälder. Und im Dorf hatte man gewiss längst festgestellt, dass die Delinquentin entkommen war. Aber die Nacht verlief ohne Zwischenfall. Scobee, die die letzte Wache übernommen hatte, weckte die Gefährten, als der Morgen herauf dämmerte. Außerhalb des bizarren Waldes wurde es Tag. Unter den Baumkronen aber herrschte ewiges Zwielicht. Das Gelände begann nun mehr und mehr von der Talsohle auf anzusteigen, und es gab schon vereinzelt Bewuchs zwischen den Felsen. Er war ebenso korallenartig wie die Bäume des Dschungels, der hinter ihnen lag. Sie hatten die Basis des Massivs erreicht, das sich von Norden nach Süden erstreckte. Es galt jetzt, einen Weg zu finden, auf dem sie diese Felsbastion überwinden konnten. Sie stiegen den Steilhang hinauf und erreichten die Baumgrenze. Von dort aus wandten sie sich nach Süden. Steile Bergflanken wuchsen vor ihnen in die Höhe und zwangen sie zu Umwegen. Schließlich lag der Wald mit den bärenartigen Geschöpfen unter ihnen. Aber so hoch kamen diese Untiere wohl nicht. Höher und höher stiegen sie. Ein brettharter Wind zerrte an ihrer Kleidung. Sie mussten die Hände zu Hilfe nehmen. Scharfes Gestein riss ihre Haut auf. Sie gelangten auf einen Bergsattel. Zu beiden Seiten ragten die felsigen Gipfel in ein Meer von Wolken hinein. Vor ihnen schwang sich ein Steilhang nach oben, der bei einer Felswand endete, die sich wie ein Gürtel um den Hang zog. Sie war etwa zehn Meter hoch. Sie erklommen den Steilhang. Außer Atem kamen sie oben an. Dann wandten sie sich am Fuß der Steilwand nach rechts. Bei einem klaffenden Riss in dem Felsen hielt Scobee, die an der Spitze ging, an. Ein Pfad führte nach oben. Regen und Schmelzwasser hatten ihn ausgewaschen.
»Da hinauf«, befahl Scobee und ging mit gutem Beispiel voran. Der Untergrund war glatt. Die drei Gefährten folgten Scobee. Algorian rutschte aus und stieß sich das Knie an. Der Schmerz entlockte ihm einen abgerissenen Laut. Leicht hinkend bewegte er sich weiter. Der Pfad machte einen Knick. Die Felswände zu beiden Seiten rückten zusammen, und es blieb nur noch ein enger Durchlass. Sie zwängten sich hindurch. Und dann befanden sie sich auf dem oberen Rand des Felsens. Von hier aus genossen sie einen ungehinderten Ausblick über das Terrain, das hinter ihnen lag. Bis jetzt hatten sie allen Gefahren und Unbilden getrotzt. Aber wie würde sich der weitere Weg gestalten? Sie hatten keine Vorstellung von dem, was sie noch alles erwarten mochte. Hinter ihnen lagen Tod und Schrecken. Und mit Grauen dachten sie daran, dass sie dieses Gebiet noch einmal durchqueren mussten, um zurück zur Foronenstation zu gelangen …
Eine majestätische Bergwelt umgab sie. Immer höher ging es hinauf. Mit jedem Schritt, den sie weiter nach oben kamen, schien es kälter zu werden. Der scharfe Wind jagte die grauen Wolken über den Himmel. Hier oben schien es kein Leben zu geben. Die Gefährten schwiegen. Jedes Wort hätte sie Kraft gekostet – Kraft, die sie für den Aufstieg benötigten. Selbst Scobee zeigte Ermüdungserscheinungen. Die Schatten der Erschöpfung auf ihrem schmalen Gesicht ließen die Backenknochen stärker hervortreten. Ihre Füße waren schwer wie Blei. Da mischte sich etwas in das Heulen des Windes, das sie anhalten und die Gesichter heben ließ. Es kam aus der Luft – ein heiseres Krächzen. Und da sahen sie auch schon den riesigen Schatten, der von einem Felsgipfel herunter in ihre Richtung schwebte. Ein riesiger Vogel. Eine Art Flugsaurier – einem Pteranoton ähnelnd, mit einer Flügelspannweite von gut und gerne acht Metern und einem langen, spitzen Schnabel … Das RUBIKON-Team zog seine Blaster und beobachteten das riesige Tier, das über ihnen Kreise zog. Und da löste sich von dem Felsen
im Osten ein weiterer Pseudo-Pteranoton. Es handelte sich um ein Pärchen, das sich von den Eindringlingen bedroht fühlte oder das in dem Eindringen in diese Region eine Revierverletzung sah. Plötzlich sackte der Flugsaurier über ihnen in die Tiefe. Sein Krächzen wurde intensiver. Er hatte die Flügel ausgebreitet und glitt auf dem Wind dahin. Der Riesenvogel wischte über die Gruppe hinweg und schlug mit den Flügeln, als er sich wieder in die Lüfte schwang. Mit seiner Attacke wollte er die Eindringlinge wohl nur warnen, sie einschüchtern und erschrecken. Aber er kam zurück. Und jetzt griff auch der andere Geflügelte an. Wieder strichen sie im Tiefflug über die Gruppe hinweg, kamen zurück, schlugen mit den Schnäbeln nach den Eindringlingen. Scobee feuerte. Auch Jarvis und Algorian schossen. Aber die Flugsaurier wichen den Schussbahnen geschickt aus, zogen einen Kreis, und stürzten sich wieder in die Tiefe. Jiim faltete seine Flügel auseinander und hob – unterstützt von seiner goldenen Rüstung – vom Boden ab. »Überlasst sie mir!«, schrie er, aber der Wind riss ihm die Worte von den Lippen und trug sie fort. Er flog den Vögeln entgegen. Ihr wütendes Gekrächze erreichte sein Gehör. Er feuerte mit dem Blaster, als er nahe genug war. Einer der Flugsaurier wich aus. Jiim zielte auf den anderen. Und jetzt traf der Strahl. Der Saurier bäumte sich in der Luft auf, schlug verzweifelt mit seinen Flügeln, geriet in Schräglage und stürzte zu Boden. Er verschwand in einer der Schluchten, die den Fels spalteten. Der andere Flugsaurier griff noch wütender an. Die Gefährten am Boden beobachteten fasziniert das Schauspiel, das sich ihnen bot. Geschickt wich der Saurier einem Schuss Jiims aus. Er flog einen Bogen und griff Jiim von hinten an. Aber dieser konnte sich noch rechtzeitig in der Luft wenden. Ein Flügelschlag brachte ihn höher. Der Angreifer verfehlte ihn und flog unter ihm pfeilschnell dahin. Jiim schoss in die Tiefe. Er verletzte den Sauroiden am Flügel. Dieser wankte in der Luft. Weit klaffte sein gefährlicher Schnabel auf. Er drehte ab und floh.
Jiim jagte noch ein Stück hinter ihm her. Dann kehrte er um. Er flog zurück. Da wirbelte etwas über den Berg heran. Eine Windhose – zumindest erweckte dieses Gebilde diesen Anschein. Es schien nur aus dunklen Schatten zu bestehen. Entsetzt beobachtete Scobee die Erscheinung, die auf sie zuraste. »Sehr ihr das auch?«, rief sie alarmiert. Fasziniert und verblüfft zugleich nahmen auch Algorian und Jarvis die ›Windhose‹ wahr. Die Hände mit den Waffen waren nach unten gesunken. Was war das, was da durch die Lüfte heranwirbelte? »Vorsicht, Jiim!«, schrie Scobee und gestikulierte heftig. Jiim entging ihr sonderbares Verhalten nicht. Er drehte sich in der Luft – und sah das wirbelnde Schattengebilde auf sich zurasen. Und ehe er reagieren konnte, war es heran. Es hüllte ihn ein. Er fühlte sich von einem Luftwirbel, dem er nichts entgegenzusetzen hatte, erfasst und wurde herumgeworfen. Dann wurde er hochgeschleudert. Verzweifelt mit den Fittichen schlagend versuchte er, sich aus dem Wirbel zu lösen, aber die Erscheinung war stärker und hielt ihn fest. Die Gefährten standen dem hilflos gegenüber. Ohnmächtig mussten sie zusehen, wie Jiim zum Spielball dieses vernichtenden Elements wurde. Sein Blaster fiel zu Boden. Jiim überschlug sich, wurde herumgeschleudert, in die Höhe gewirbelt, und – plötzlich löste sich das Schattengebilde auf. Mit Jiim, der verschwunden blieb, als hätte es ihn nie gegeben! Scobee, Algorian und Jarvis hatte es die Sprache verschlagen. Das, was ihnen gerade widerfahren war, übertraf alles auf Saskana Erlebte bei weitem. »Wo ist Jiim?«, rann es über Scobees Lippen, als sie ihre Fassungslosigkeit überwunden hatte. Algorian und Jarvis waren ratlos. Sie drehten sich in alle Richtungen. Da war nur erhabene Bergwelt, durch die der ewige Wind pfiff. »Suchen wir die Umgebung ab«, gebot Scobee. »Vielleicht wurde er irgendwo hin geschleudert und ist besinnungslos.« Die Zuversicht, die in ihren Worten lag, entsprang nicht ihrem Innersten. Sie
selbst wusste, wie unwahrscheinlich diese Möglichkeit war. Jeder hatte es sehen können: Jiim hatte sich zusammen mit den wirbelnden Schatten in Nichts aufgelöst. Hatte ihre Mission das erste Opfer gefordert? Es sah fast so aus. Scobee spürte den eisigen Schauer, der ihr über den Rücken rann. Sie suchten die Umgebung ab, schauten in Schluchten und Felsspalten. Vergeblich … Die Gefährten gaben ihre Suche auf und trafen wieder aufeinander. »Damit konnte niemand rechnen«, meine Scobee. »Gegen Gegner aus Fleisch und Blut konnten wir uns wehren. Dagegen aber waren wir machtlos. Und wir müssen damit rechnen, dass der geheimnisvolle Wirbel auch uns -« Sie brach ab, als wieder das Krächzen des Pseudo-Pteranotons ertönte. Er griff erneut an. Mit angelegten Flügeln stürzte er auf die Gefährten herab – und diese sprangen auseinander. Im letzten Moment. Der Riesenvogel hätte sie mit seinem Anprall von den Beinen gerissen, vielleicht sogar getötet. »Diese Kreatur der Unbarmherzigkeit!«, schrie Algorian – und schoss. Der Sauroide hatte die Flügel ausgebreitet und stieg höher. »Verschwinden wir!«, stieß Scobee hervor. Sie rannten über den Bergrücken und erreichten eine Gruppe von Felsen, die ihnen Sicherheit vor dem Flugsaurier bot. Mit zornigem Krächzen zog er hoch über ihnen seine lautlosen Bahnen. »Was nun?«, wandte sich Jarvis an Scobee. »Denkst du etwa daran, umzukehren?« »Nein. Auf keinen Fall.« »Als dieses Schattengebilde auftauchte …«, murmelte Algorian versonnen, »… verspürte ich etwas. Empfindungen. Ich bin mir ganz sicher. Es waren keine Gedanken. Und es kam nicht von Jiim. Es ging von dem schattenhaften Wirbel selbst aus …« »Was für Empfindungen?«, fragte Scobee. »Ich kann es nicht beschreiben. Es entzieht sich meinem Verstand. Aber es war da.« »Was immer es auch war«, sagte Scobee. »Es meldet sich vielleicht
wieder. Dieser Planet birgt ein Geheimnis. Wir können davon ausgehen, dass es uns nicht freundlich gesinnt ist. Das bedeutet, dass wir abwarten müssen. Jiim jedenfalls werden wir nicht verloren geben.« Scobee holte sich die Waffe des Nargen. Dann setzten sie ihren Weg fort. Ihr Marsch führte sie über den Hügelrücken hinweg. Sie erwarteten, von dem Sauroiden erneut attackiert zu werden. Doch er blieb verschwunden. Wie es schien, hatten die Gefährten sein Revier verlassen. Sie machten sich an den Abstieg. Stellenweise war er halsbrecherisch, manchmal beschwerlicher als der Aufstieg. Einmal rutschte Algorian aus und schlitterte ein ganzes Stück weit einen Hang hinunter. Im letzten Moment konnte er sich an einem Felsvorsprung festkrallen, ehe er in die Tiefe stürzte. Aber sie schafften es. Bei Einbruch der Dunkelheit waren sie unten angelangt. Vor ihnen lag wieder Wald. Zwischen dem Bergmassiv und dem Wald befand sich ein etwa fünfhundert Meter breiter Streifen Wüste. Der Wind hatte Dünen aufgehäuft. Straubwirbel glitten über die Ebene. Es gab weder Baum noch Strauch in diesem sandigen Bereich. »Was der Wald wohl an Überraschungen birgt?«, kam es von Scobee. »Wir überqueren den Wüstenstreifen noch heute. Das Licht reicht noch aus.« »Du hast recht«, sagte Algorian. »Hier können wir die Nacht nicht verbringen. Dieser verdammte Staub …« »Wir könnten unser Nachtlager zwischen den Felsen aufschlagen«, gab Jarvis zu verstehen. »Wie du schon sagtest, Scobee: Wir wissen nicht, was im Wald an Überraschungen für uns vorbereitet wird. Und in der Dunkelheit sind wir sowohl den Saskanen als auch wilden Tieren unterlegen. Uns ist das Gebiet fremd …« »Wir gehen weiter«, entschied Scobee. Sie ging voraus. Tief sanken ihre Füße in den Sand ein. Es war mühevoll. Algorian und Jarvis stapften hinterher. Der Wald auf der anderen Seite des Wüstenstreifens mutete bedrohlich an. Scobee fragte sich, ob das Gebirgsmassiv die Grenze zwischen Ost- und Westsas-
kanen war. Scobee hoffte, dass die Westsaskanen weniger feindlich eingestellt waren als die Ostsaskanen. Sie waren wohl verloren, wenn auch mit den Westsaskanen keine Verständigung möglich sein würde. Sie dachte an Jiim. Was war das für eine Macht, die ihn mitgenommen hatte. Wo befand er sich? Hatte das schattenhafte Wesen – dass es sich um ein solches handelte, hatte die Wahrnehmung Algorians bestätigt –, mit Jiim einen Zeitsprung vollführt? Würde sich das Wesen noch einmal zeigen und vielleicht einen weiteren ihrer Kameraden entführen? Vielleicht sogar sie selbst? Unsicherheit und Ungewissheit erfüllten Scobee. Ihre Zuversicht, zurück zur Foronenstation zu gelangen und von dort aus die RUBIKON zu erreichen, war plötzlich nicht sehr groß. Ein Gefühl der Verlorenheit wollte sich einstellen. Scobee verdrängte es. Nur nicht aufgeben!, durchflutete es sie. Plötzlich hielt Scobee an. Vor ihr war eine Vertiefung im Sand. Sie erinnerte an einen Trichter. Sand rieselte in den Wänden dieses Trichters nach unten. Und plötzlich begann sich unter ihren Füßen der Boden vom Rand der Vertiefung abzulösen. Sie verlor den Halt, ruderte mit den Armen, aber da war nichts, woran sie sich klammern konnte. Und dann stürzte sie in das Loch. Es war wie ein Strudel, der sie erfasste. Sie wurde herumgewirbelt. Sand drang in ihre Nase, ihre Augen, in ihren Mund. Mit unwiderstehlicher Gewalt wurden ihre Beine nach unten gezogen. Algorian hatte sich auf den Bauch geworfen, kroch auf den Trichter zu, erreichte den Rand und streckte Scobee den rechten Arm entgegen. »Halt mich fest, Jarvis!«, rief der Aorii. Er erwischte Scobees Hand. »Ziehen!«, schrie Algorian. Jarvis zerrte an seinen Beinen. Es gelang Algorian nicht, Scobee aus dem Sandstrudel zu ziehen. Aber er konnte verhindern, dass sie tiefer hinein gezogen wurde. »Bewege dich nicht, Scobee«, mahnte er. Er setzte alle Kraft ein, und es gelang ihm, Scobee ein kleines Stück aus dem verschlingenden Sand zu ziehen. Es war eine Anstrengung, die Algorians gesamten Willen erforderte. Jarvis hielt ihn an beiden Beinen fest und zog. Und unter Einsatz
ihrer schwindenden Kräfte gelang es ihnen gemeinschaftlich, Scobee aus dem Loch zu ziehen. Erschöpft lagen sie danach im Sand. »Das war knapp«, keuchte Scobee. »Sicher gibt es noch weitere solcher Sandstrudel«, äußerte Jarvis. »Das sind tödliche Fallen. Ich bin dafür, dass wir den Morgen abwarten, ehe wie weitergehen.« »Wir marschieren jetzt weiter«, entschied Scobee. »Hier zu bleiben ist nicht minder gefährlich. Jetzt bewegen wir uns im Schutz der Dunkelheit. Wissen wir denn, wer am Waldrand auf der Lauer liegt?« Der Marsch ins Ungewisse ging weiter. Sie kamen ohne weiteren Vorfall am Waldrand an. Hier beschlossen sie, das Morgengrauen abzuwarten. Sie schliefen tief und traumlos. Die Strapazen der vergangenen beiden Tage, die sie sich nun auf dem Planeten befanden, machten sich bemerkbar – selbst Jarvis' Geist versank in traumlosen Tiefen. Schließlich erschien ein heller Streifen über dem östlichen Horizont und kündete vom neuen Tag. Nach und nach zeigte der Himmel die ganze Skala seiner leuchtendsten Farben. Scobee wurde wach. Sie schaute sich um. Zwischen den Bäumen war nichts festzustellen, was Anlass zur Besorgnis gegeben hätte. Sie erhob sich. Im Morgenlicht glitzerten feine Kristalle im Staub der Wüste, die sich bis zu dem Felsmassiv im Osten dehnte. Der Dschungel war zum Leben erwacht. Mit dem Sonnenlicht hatte das Land seine vielfältigen Farben zurück erhalten. Alles mutete friedlich und beschaulich an. Aber Scobee ließ sich nicht täuschen. Dieser Friede konnte trügerisch sein. Die Ruhe vor dem Sturm … Scobee weckte Algorian. Einen Augenblick schaute der Aorii sie mit dem törichten Ausdruck des Nichtbegreitens an, dann aber stellte sich die Erinnerung ein, und er richtete sich auf. »Es ist Tag«, murmelte er. »Wollten wir nicht im Morgengrauen …« »Es ist in Ordnung«, sagte Scobee. Die drei Gefährten standen am Waldrand und blickten in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Vor ihnen lag das tückische Stück Wüste, das sie in der Nacht durchquert hatten. »Weiter«, sagte Scobee.
Sie wandten sich um und – erstarrten. Sie sahen sich einigen Dutzend kriegerischer Gestalten gegenüber, die mit Lanzen und Pfeilen auf sie zielten. Rein äußerlich unterschieden sie sich nicht von den Saskanen, in deren Händen sich Scobee befunden hatte. War das das Ende? Sie schauten in grimmige Gesichter. Scobee stieß die Luft durch die Nase aus, hob die rechte Hand und sagte: »Wir kommen in friedlicher Absicht …« Und dann schilderte sie in knappen Sätzen, warum ihr Weg sie nach Saskana geführt hatte. Sie wusste nicht, ob es ein Fehler war, Boreguir zu erwähnen. Bei den Ostsaskanen war dies ein schwerer Fehler gewesen. Ob es sich bei den Kriegern, die einen Halbkreis um sie herum bildeten, um Ost- oder Westsaskanen handelte, war nicht zu erkennen. Dennoch setzte Scobee alles auf eine Karte …
»Wo befindet sich der Leichnam, von dem ihr sprecht?«, fragte einer der Krieger mit misstrauischem Unterton. Jarvis gab ihn frei. Der Tote lag langgestreckt am Boden. Er sah noch so unversehrt aus, als würde er lediglich schlafen. »Endlich«, sagte der Krieger ergriffen. »Endlich ist der große Boreguir nach Hause zurückgekehrt!« Scobee und ihre Gefährten atmeten auf. Scobee sagte: »Ihr seid Westsaskanen, nicht wahr?« Der Sprecher der Gruppe nickte. »Ja. Wie habt ihr es geschafft, ungeschoren durch das Gebiet der Ostsaskanen zu gelangen?« »Wir hatten einen Zusammenstoß mit ihnen, es gelang uns aber zu fliehen.« »Sie sind unsere Feinde. Wir haben sie aus unserem Volk ausgestoßen. Es war wegen Boreguir. Kesar bezeichnete ihn als Verräter. Das konnten wir nicht hinnehmen. – Folgt uns in unser Dorf. Ihr seid willkommene Gäste. Dort werdet ihr erzählen, was vorgefallen ist.« Zwei der Krieger hoben den Leichnam auf. Dann setzte sich der
Trupp in Marsch. Scobee, Jarvis und Algorian gingen inmitten der Gruppe. Während sie dahinschritten, erklärte der Sprecher der Krieger, sein Name war Helmar, dass es viele, viele Jahre her war, seit sich das Volk der Saskanen gespalten hatte. Er selbst war noch nicht geboren gewesen. Er wusste das meiste nur vom Hörensagen, aus Überlieferungen … »Völlig überraschend wurde eines Tages unser Planet von Fremden angegriffen«, erzählte er. »Kesar verstand es, Gift in die Herzen zu sähen. Er predigte die Parole, dass der Angriff auf den Verrat Boreguirs zurückzuführen sei. Bei einer ganzen Reihe von Saskanen fiel diese Saat auf fruchtbaren Boden. Es gab einen Aufstand Kesars und seiner Anhänger. Kesar wollte sich an die Spitze des Volkes schwingen und alles, was an Boreguir erinnerte, ausmerzen. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, Kesar und seine Getreuen wurden verbannt. Sie verschwanden über die Berge. Auf der anderen Seite führen sie ein Leben in Armut. Geblieben ist der Hass auf uns, die wir uns nicht als Westsaskanen, sondern einfach nur als Saskanen betrachten.« »Die Fremden bedrohen den Planeten immer noch«, sagte Scobee. »Wir haben einen ihrer Angriffe aus der Luft erlebt …« »Sie kommen von Zeit zu Zeit. Wir verstecken uns vor ihnen in den Wäldern. Aber sie verfügen über unvorstellbare Mittel und können unsere Dörfer aufspüren. Darum haben wir unterirdische Bunker errichtet. Dorthin ziehen wir uns zurück, wenn sie unsere Siedlungen bombardieren.« »Besteht die Chance, dass sich das Volk der Saskanen wieder vereint?« »Ich weiß es nicht. Solange die Ostsaskanen Boreguir für einen Verräter halten, wird es keine Versöhnung geben.« »Ich werde mit eurem Dorfältesten sprechen. Meine Gefährten und ich können Kesar gegenüber als Garanten dafür auftreten, das Boreguir sein Volk nicht verraten hat. Er wurde auf einen Planeten namens Mars fernab dieser Welt entführt und als Gefangener gehalten. Ich werde versuchen, euren Anführer zu überreden, mit den Ostsaskanen über einen Frieden zu verhandeln.«
»Du kannst es versuchen«, murmelte der Krieger. »Ob Surgion bereit ist, mit den Abtrünnigen Saskanen Verhandlungen aufzunehmen, bleibt abzuwarten.« Die Unterhaltung wurde nur noch sporadisch geführt. Gegen Mittag erreichten sie das Dorf. Scobee hatte von dem Krieger erfahren, dass es auf dem ganzen Planeten solche Dörfer gab. Früher lebten die Saskanen in Städten. Diese aber waren von den Fremden in Schutt und Asche gelegt worden. Und ebenso wie die Westsaskanen über den halben Planeten verstreut waren, waren es auch die Ostsaskanen auf der anderen Seite des Felsmassivs. Es teilte den Planeten sozusagen in zwei Kontinente. Alles, was in dem Dorf zwei Beine hatte und laufen konnte, fand sich ein. Scobee und ihre Begleiter wurden zum Dorfältesten Surgion gebracht. Er lud sie in sein Haus ein. Dort setzten sie sich. Der Saskane bot Speise und Trank an. »Wir haben bereits einiges von Helmar erfahren«, erklärte Scobee, nachdem sie sich und ihre Gefährten vorgestellt und den Grund ihres Hierseins erklärt hatte. »Wir kennen die Gründe der Trennung des Volkes der Saskanen, und wir wissen, dass ihr von Fremden terrorisiert werdet. Woher kommen sie?« »Das wissen wir nicht. Sie haben uns alles genommen. Unsere Wissenschaftler und Techniker wurden verschleppt oder ermordet, viele unserer Brüder und Schwestern entführt und versklavt. Sie haben alles zerstört. Wir, die ihnen entkommen sind damals bei der ersten Invasion, müssen uns in den Wäldern verstecken. Aber wir sind wieder erstarkt. Eine zweite Invasion hat nicht stattgefunden. Die Fremden wagen es sich nicht mehr, auf Saskana zu landen. Wahrscheinlich fürchten sie, große Verluste hinnehmen zu müssen. Von Zeit zu Zeit fliegen sie Angriffe und bombardieren uns.« Surgion machte eine kurze Pause. Dann sprach er weiter: »Wir sind euch zu Dank verpflichtet, dass ihr Boreguirs letzten Wunsch erfüllt und seinen Leichnam nach Hause gebracht habt. Boreguir wurde vor einem halben Saskanenalter entführt.« Surgion schaute Scobee an. »Für viele unserer Frauen und Männer, die Boreguir selbst nicht mehr erlebten, ist er zur Legende geworden.«
Aus diesen Ausführungen entnahm Scobee, dass Saskanen etwa zweihundert Jahre alt wurden, da Boreguir vor etwa hundert Jahren – irdischer Zeit – aus seiner Welt fortgerissen worden war. Sie sagte: »Ihr braucht uns dafür nicht zu danken. Für uns war es selbstverständlich, Boreguir war uns ein Freund geworden. Aber es hätte ihn traurig gemacht, sein Volk geteilt zu sehen. Ihr habt die Saskanen, die jenseits des Gebirges leben, ausgestoßen. Was meinst du, Surgion, ist es nicht an der Zeit, Frieden zu schließen?« Surgion starrte nachdenklich vor sich hin. Das Schweigen dauerte an. Schließlich war es Algorians Stimme, die die Stille sprengte. Er sagte: »Wir haben einen Gefährten verloren. Er wurde von einem Wirbelsturm erfasst. Aber so hatte es nur den Anschein. Es war ein schattenhaftes Wesen. Es erfasste ihn und verschwand mit ihm. Kannst du uns sagen, welches Geheimnis sich dahinter verbirgt?« Surgion schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß nicht, was es ist, das euren Gefährten entführt hat. Ich habe keine Ahnung.« Seine Worte zerstörten den letzten Funken Hoffnung, Jiim jemals wiederzusehen. Scobee schluckte den Kloß hinunter, den die Trauer um den Freund hatte entstehen lassen. Sie wandte sich an Surgion. »Was ich nicht verstehe … was mir immer wieder bei unseren Begegnungen mit Saskanen aufgefallen ist … keiner von euch hat, seit wir hier sind, seine Gabe angewandt.« »Gabe?«, fragte Surgion verständnislos. »Wir kennen sie von Boreguir. Er war in der Lage, sich … vergessen zu machen.« Sie erklärte, was darunter zu verstehen war. »Aber hier, bei euch … nun, ich hätte bei etlichen Gelegenheiten erwartet, dass ihr diesen Trumpf ausspielt. Ihr hättet ihn auch gegen die Invasoren einsetzen können, dann wäre eure Knechtschaft vielleicht längst beendet. Oder es wäre nie zu diesem Niedergang eurer Kultur gekommen. Ihr … Erkläre es mir. Ich verstehe es nicht. Ein solches Talent – es wiegt vieles auf, was der Feind euch entgegenzusetzen hätte …« »Ich fürchte«, sagte Surgion, »ich verstehe dich nicht. Vergessen …
Was soll das sein? Eine Gabe? Ich habe nie von etwas Derartigem gehört! Boreguir soll sie beherrscht haben? Entweder du irrst, oder …« »Oder?« »Er war stets etwas Besonderes. Der geborene Führer. Er hätte uns eine goldene Zukunft geschenkt. Wir werden es nie verwinden, ihn verloren zu haben …« Plötzlich erhob sich draußen lautes Geschrei. Männer und Frauen schrien durcheinander. Surgion sprang auf und lief zum Ausgang, verschwand nach draußen. »Die Fremden kommen wieder!«, rief er, als er in die Hütte zurück kam. »Folgt mir. Wir müssen uns verstecken.« Er rannte wieder hinaus. Scobee, Algorian und Jarvis folgten ihm. Wie aufgescheuchte Hühner hetzten die Dorfbewohner scheinbar kopflos zwischen den Häusern hindurch. Scobee schaute nach Osten und sah die die dunklen Punkte am Himmel. Mehrere Dutzend … Die Saskanen rannten in den Wald, einige schleppten irgendwelche Dinge mit sich, die sie beim Bombardement der Fremden nicht verlieren wollten. Auch Surgion lief vor den Gefährten her in den Wald. Er führte sie einige Zeit durch das Dickicht, dann standen sie vor einer Höhle. Zu beiden Seiten steckten an den Wänden Fackeln in Halterungen, die bereits von den anderen hierher geflohenen Saskanen entzündet worden waren. Sie drangen in die Höhle ein. Der Boden war abfallend. Tief stiegen sie in den Bauch der Erde hinab. Die Saskanen hatten regelrechte Luftschutzbunker angelegt. Kein Laut drang bis zu ihnen vor. Sie hörten weder die Luftfahrzeuge kommen, noch waren die Explosionen zu vernehmen, die die Häuser der Saskanen und Teile des Waldes zerstörten. »Bevor wir diese unterirdischen Gänge anlegten«, sagte Surgion, »blieben bei derartigen Angriffen viele Tote und Verletzte zurück. Ziel der Fremden ist es, uns auszurotten.« »Darum muss sich euer Volk einig sein«, versetzte Scobee. »Gemeinsam seid ihr stark. Verbünde dich mit den Ostsaskanen, Surgion. Ihr müsst wieder ein Volk werden, eine Einheit. Nur so seid ihr
stark genug, den Fremden die Stirn zu bieten.« Scobee ging davon. Sie begab sich zum Höhleneingang. Das Dröhnen von Motoren drang an ihr Gehör. Es krachte, zischte, splitterte. Die Fremden schossen mit Strahlgeschützen. Bäume zerbarsten unter den Treffern und entzündeten sich. Es war ein Bild der sinnlosen Zerstörung, das sich Scobee bot. In ihrer Nähe pflügte ein Laserstrahl den Boden. Steinbrocken und Erdklumpen flogen durch die Luft. Äste wurden von den Stämmen gerissen. Brandgeruch stieg in Scobees Nase. Der Lärm war Ohren betäubend. Immer wieder flogen die Flugkörper über das Dorf hinweg, kehrten um und nahmen es erneut unter Feuer. Schließlich aber drehten die Maschinen ab. Scobee trat hinaus ins Freie. Sie ging bis zum Rand der Lichtung, auf der das Dorf errichtet worden war. Viele der Häuser waren zerstört. Die Dächer brannten. Qualm und aufgewirbelter Staub vermischten sich und trieben nebelhaft zwischen den Gebäuden. Nur noch ganz schwach war das Brummen der Antriebe zu hören. Nach und nach kamen die Dorfbewohner wieder aus ihren Verstecken. Auch Surgion fand sich ein. Er begutachtete die Zerstörungen, die die Fremden angerichtet hatten. »Hast du es dir überlegt, Surgion?«, fragte Scobee. »Willst du den Ostsaskanen Frieden anbieten?« Er nickte und erwiderte: »Ja, ich habe darüber nachgedacht. Was du gesagt hast, ist nicht von der Hand zu weisen. Kesar und sein Volk wären uns eine willkommene Verstärkung. Wann macht ihr euch auf den Weg, um zu eurem Raumschiff zurückzukehren?« »Heute noch«, antwortete Scobee. »Wir sind längst überfällig, vielleicht hat man uns schon abgeschrieben. Warum fragst du?« »Ich und eine Abordnung aus unserem Dorf kommen mit euch. Wir werden mit Kesar verhandeln. Und wenn er vernünftig ist, kommt es zwischen seinem Volk und unserem wieder zu einer Versöhnung. Wenn dies gelingt, sind wir euch auch in dieser Hinsicht zu Dank verpflichtet. Dann hat eure Ankunft auf unserem Planeten bewirkt, dass sich die Kluft, die das Volk der Saskanen über viele,
viele Jahre hinweg spaltete, nun bald wieder schließt.«
Sie verließen das Dorf. Ein Dutzend Männer begleitete sie, unter ihnen Surgion. Sechs Krieger und sechs Männer aus dem Ältestenrat. Sie mussten wieder über das Felsmassiv, das ihnen auf dem Weg nach Westen so viel abverlangt hatte. Es ging durch das Reich der Flugsaurier, über Bergkuppen und Steilhänge hinunter und in die Wälder, in denen die Ostsaskanen ihr Unwesen trieben. Sie marschierten die halbe Nacht hindurch und am folgenden Tag, um die Mittagszeit, wurden sie von einer Gruppe Ostsaskanen eingekreist. Surgion rief: »Wir kommen aus dem Westreich und sind in friedlicher Absicht hier. Führt uns zu Kesar. Wir wollen mit ihm über einen Frieden verhandeln. Sein Volk und mein Volk gingen lange genug getrennte Wege. Es ist an der Zeit, sich zu vereinen.« Die Ostsaskanen gaben ihre kriegerische Haltung auf. Die Soldaten, die Surgion begleiteten, wurden entwaffnet. Dann marschierten sie durch den Wald. Als der Abend kam, erreichten sie Kesars Dorf. Feuer brannten. Ein Bote war voraus gelaufen und hatte die Ankunft der Gesandtschaft aus dem Westreich gemeldet. Kesar und der Ältestenrat empfingen Surgion und dessen Begleiter auf dem Dorfplatz. »Viele Jahre sind vergangen …«, sagte Surgion. »Es ist viel geschehen. Ich bin gekommen, um mit dir über den Frieden zu verhandeln, Kesar.« »Es ist wahr«, erwiderte Kesar. »Viel Zeit ist vergangen. Ich habe meinen Zorn längst in mir begraben. Kommt in mein Haus, du und die Ältesten deines Volkes. Wir wollen verhandeln.« »Meine Freunde …« Surgion wies auf Scobee und ihre beiden Begleiter,»… sind auf dem Weg zurück zu ihrem Raumschiff. Sie haben versprochen, auf Saskana zurückzukehren und uns im Kampf gegen die Fremden zu unterstützen.« Scobees Blick kreuzte sich mit dem Algorians, dann schaute sie
Jarvis an. In den Gesichtern zuckte kein Muskel. Scobee hatte plötzlich Zweifel, ob sie ihr Versprechen würde einhalten können. Die Entscheidung würde bei Cloud liegen. Aber sie behielt ihre Zweifel für sich. »Bitte, Kesar, sorge dafür, dass unsere Freunde dein Land unangefochten durchqueren können«, hörte sie Surgion sagen. Kesars Blick heftete sich auf Scobee. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Wir haben euch schlecht behandelt. Und beinahe hätten wir dich …« Er brach ab. Scobee reichte ihm die Hand. »Auf Wiedersehen, Kesar. Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, eure Völker einander wieder näher zu bringen. Ich freue mich ehrlich.« Dann verabschiedete sie sich von Surgion. Auch Jarvis und Algorian taten dies. Dann machten sie sich auf den Weg zur Foronenstation. Ihrer Rückkehr zur RUBIKON stand nichts mehr im Wege …
10. Kapitel »Es ist ein Hilferuf …« Diese Worte Seshas kreisten unablässig in Clouds Kopf, während er den Hangar betrat, in den die KI das geortete Fundstück gezogen hatte. Der Funkspruch war in einem für die KI verständlichen Syntax abgestrahlt worden und beinhaltete nicht mehr als die dringende Bitte um Bergung. Und darauf habe ich mich eingelassen … Manchmal wunderte sich Cloud selbst, dass er noch lebte. Dass er all die zurückliegenden Abenteuer überstanden hatte. Aber oft genug hatte es auf Messers Schneide gestanden. Oft genug hatte er Entscheidungen getroffen, die für andere – und manchmal sogar ihn selbst – kaum nachvollziehbar waren. Auch jetzt hatte er wieder grenzenlose Naivität walten lassen, wie er selbstkritisch vermerkte. Das Ding dort konnte alles Erdenkliche sein. Genau wie der »Container«, den ihnen ganz offenbar der Darnok-Anteil in Darabim zum Abschied hinterlassen hatte, alles Erdenkliche hätte beinhalten können … Aber wäre ich alleinigem Sicherheitsdenken gefolgt, würden Sarah, Mérimée und wie sie alle heißen längst nicht mehr unter den Lebenden weilen! Gleichzeitig war ihm bewusst, dass jede Strähne einmal ein Ende haben musste. Ob Glück oder Pech. Und Ersteres hatten sie im Verlauf der vergangenen Monate eindeutig überstrapaziert. »Sämtliche befohlenen Vorkehrungen wurden getroffen«, sagte Sesha aus dem Off. Immerhin, dachte Cloud, hat auch meine Blauäugigkeit ihre Grenzen. Die Verfahrensweise war wie bei dem Würfel, in dem sich die ExPräsidentin und Mérimées Ensemble befunden hatten. Das geborgene Objekt lag hinter einer energetischen Abschirmung, die im Falle
eines Falles Schlimmeres verhindern sollte. »Haben deine Kommunikationsversuche inzwischen gefruchtet?« »Negativ«, sagte die KI. »Allerdings hat das Objekt seine Sendung eingestellt, als es vom Traktorstrahl erfasst wurde. Momentan ist es völlig stumm.« Das Objekt war ein Zylinder von zwei Metern Länge bei einem Durchmesser von etwa siebzig Zentimeter. Es bestand aus nichts, was Sesha kannte. Und somit auch aus nichts, was Cloud oder irgendein anderes Besatzungsmitglied kannte. »Immer noch keine Analyse möglich?«, fragte Cloud unbehaglich. »Wie viel hält dein so genanntes Schutzfeld eigentlich aus, falls das hier gar nicht aus dem goldenen Schiff stammt, sondern von den kleinen Grünen hinterlassen wurde? Wenn es eine Bombe wäre …« »Das käme auf die Natur der Bombe an«, wich Sesha aus. Cloud war bereit, die KI weiter in Erklärungsnot zu bringen, aber in diesem Moment veränderte sich der Zylinder … … und wurde vor ihren Augen – binnen eines Lidschlags – zu einer Gestalt. Einem Humanoiden. Der eben noch dalag, im nächsten Moment aber stand und mit volltönender Stimme sagte: »Ich danke euch. Mein Name ist Fontarayn.«
»Fontarayn …«, rann es über Clouds Lippen. Er blickte zu denen, die ihn in den Hangar begleitet hatten: Jelto und Cy. Sie schienen völlig auf die Gestalt fixiert zu sein, die sich vor ihnen aus dem Zylinder herausgebildet hatte. Die der Zylinder war – nur ummoduliert. »Sag uns, wer du bist, Fontarayn … Stammst du aus der goldenen Kugel? Warum haben die Fremden euch attackiert? Bist du der einzige … Überlebende?« Die Fremdartigkeit, die Fontarayn allein schon deshalb ausstrahlte, weil er gerade noch ein Ding gewesen war, nichts, was Cloud als Wesen betrachtet hätte, ließ ihn das Wort »Überlebende« nur schwer
über die Zunge bringen. »Ja«, bestätigte Fontarayn emotionslos. »Aber nur, weil ich der Einzige an Bord des Tenders war.« »Tender?« »Was du gerade ›goldene Kugel‹ nanntest.« »Allein …«, zirpte Cy. Sein Erstaunen war verständlich. »Du willst sagen, dass dieser einen Kilometer durchmessende ›Tender‹ nur dich beherbergte?« »Zweifelst du an meiner Aufrichtigkeit?« »Ich erlaube mir nur, mich zu wundern«, erklärte Cloud. Nach einer kurzen Pause fragte er: »Wie hast du das gerade gemacht?« »Wovon sprichst du?« Cloud hob den Arm und zeigte auf Fontarayn. Der Fremde war nackt, was ihn aber nicht weiter zu stören schien, zumal auch keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale an ihm erkennbar waren. Er wirkte bei aller Veränderung seltsam perfekt. Irgendwie künstlich. Androgyn. Er war völlig unbehaart, und seine Haut glänzte schwach golden, seine Augen sahen vollkommen wie aus Gold gegossen aus, es gab keine Abstufungen zwischen Iris und Pupille, und selbst bei genauem Hinsehen war nicht erkennbar, ob dieses Wesen atmete. »Von deinem Morphen. Als wir dich aus dem Raum gefischt haben, warst du … zylindrisch. Gerade aber hast du dich zu einem Humanoiden verformt. Bist du ein Roboter?« Erstmalig verzogen sich Fontarayns markante Züge zu einem Lachen. »Ein Roboter? Nichts weniger als das! Ich könnte es als Beleidigung auffassen, aber ich bin euch gewogen. Ihr seid meine Retter. Ihr seid mehr als das. Dank euch gibt es Hoffnung.« »Kannst du dich klarer ausdrücken?« Cloud schüttelte den Kopf. »Noch einmal: Wer bist du? Woher kommst du? Wer sind die Besatzungen der Schiffe, die dich und uns angriffen – und warum haben sie dein Schiff zerstört? Hast du ihnen Anlass für diese Aggression gegeben?« »Habt ihr ihnen Anlass gegeben, euch anzugreifen?« »Lass uns zuerst von dir reden. Ich finde, du bist uns ein paar Ant-
worten schuldig – wer oder was immer du bist.« »Schuldig …«, echote Fontarayn, streckte den Arm aus und berührte den Schild, den Sesha nach wie vor wie eine Glocke um ihn gelegt hatte, mit seiner sechsgliedrigen Hand. Sofort umtanzten Blitze seine Finger. Es gab einen dumpfen Knall – dann brach der Schild zusammen. Cloud wich alarmiert zurück. Ein Ruf lag ihm auf den Lippen. Fontarayn seufzte schwer. Wie ein Vater es tat, wenn sein Kind wieder einmal zu viel wissen wollte, was es eigentlich noch nicht wissen durfte. Weil es noch zu klein war. Weil es die Antworten gar nicht verstanden hätte … »Ihr denkt, uns bliebe Zeit für langes Reden?«, fragte er. »Wenn ihr meint, es wäre überstanden, täuscht ihr euch gewaltig.« »Was willst du damit sagen?«, fand Cloud seine Sprache wieder. Statt einer Erwiderung verwandelte sich Fontarayn erneut – und dieses Mal noch radikaler. Aus einem gerade noch festen Körper wurde … Licht. Goldenes Licht, das augenblicklich im Hangarboden zu verschwinden begann, als würde es einsickern! Wenige Sekunden später war es verschwunden. Und bevor Cloud Sesha auffordern konnte, ihm etwas über den Aufenthalt Fontarayns zu sagen, erklärte die KI: »Der Schwarm ist zurückgekehrt. Er nimmt Kurs auf uns. Seine Zahl hat sich verdoppelt.« Wenn ihr denkt, es wäre überstanden, täuscht ihr euch gewaltig. In diesem Moment wurde klar, wie das Menetekel des Goldenen zu deuten war. Der RUBIKON stand die nächste, alles entscheidende Schlacht bevor. Gegen einen Gegner, wie er unheimlicher nicht sein konnte. Gegen den vielleicht sogar ein Geschöpf wie Fontarayn verblasste …
Im Eiltempo ging es zurück zur Bordzentrale.
Indessen nahm die RUBIKON Fahrt auf, versuchte, die Ringschiffe abzuschütteln. Noch unterwegs im Gewirr der Gänge ließ die KI erneut von sich hören, meldete leidenschaftslos die Rückkehr der nach Saskana entsandten Kapsel. »Scobee und die anderen sind zurück – na, wenigstens eine gute Nachricht«, brummte Cloud, gefolgt von Jelto und Cy. »Wobei sie sich keinen denkbar schlechteren Moment hätten aussuchen können. In Boreguirs Heimat wären sie um einiges sicherer gewesen, als hier … Ist alles mit ihnen in Ordnung, Sesha? Wenn ja, schick sie sofort zur Zentrale. Wir treffen uns dort.« Die nächsten Worte der KI brachten ihn ins Straucheln. »Von den vier entsandten Personen sind nur drei zurückgekehrt, und diese drei -« »Nur drei?«, fiel ihr Cloud ins Wort. »Wer ist nicht zurückgekommen?« »Der Narge.« »Jiim … Aber …« Er stockte. »Vielleicht gibt es eine harmlose Erklärung. Wir müssen erst hören, was auf Saskana geschah. Später. Aber ich hatte dich unterbrochen. Und diese drei …? Was wolltest du sagen?« »Sind kontaminiert«, sagte die KI. »Klartext!« »Eine unbekannte Staubform haftete an allen Rückkehrern. Ich veranlasse gerade, dass sie davon gesäubert werden. Die Partikel scheinen insbesondere Jarvis in seinen Funktionen zu beeinträchtigen. Bei den anderen konnten keine Auswirkungen diagnostiziert werden, aber eine genauere Untersuchung folgt.« »Dann schickst du sie besser nicht in die Zentrale, sondern stellst sie erst einmal unter Quarantäne. Bis alles geklärt ist. Sobald wir den Ringschiffen entkommen sind, kümmere ich mich um sie … Wie ist der Status der Verfolger?« »Holen unaufhaltsam auf«, sagte Sesha. »Es ist nur noch eine Frage von Minuten, bis wir in Reichweite ihrer Geschütze gelangen.« »Höchstgeschwindigkeit!«, befahl Cloud, bevor er sich in den vor ihm auftauchenden Transmitter warf.
Die Antwort erreichte ihn, als er bereits den Fuß in die Zentrale setzte. »Wir fliegen bereits Höchstgeschwindigkeit.« Erste Torpedos, von den Ringschiffen abgefeuert, schlugen in den Schmiegschirm ein.
»Wir schaffen es nicht! Wir können ihnen nicht entkommen, sie sind schneller als wir! Und wohin sollten wir uns auch wenden, es gibt nirgends Schutz …« Es war Prosper Mérimée, der dies proklamierte – und deprimierenderweise vollumfänglich recht mit seiner Prognose hatte. Cloud hatte seine Kommandoposition eingenommen. Die Holosäule zeigte die Hundertschaft von Verfolgern. Den Schwarm, der sich schalenförmig um die RUBIKON zu schließen begann. Kein Entkommen … zu schnell … kein Schutz, nirgendwo …! Das war die Lage auf den Punkt gebracht. Sesha sagte: »Leistungsschub.« »Leistungsschub?« Immer heftigere Salven hämmerten in den Schmiegschirm. Der noch hielt. Bevor die KI antworten konnte, hatte Cloud das Gefühl eines Schwindels, der ihn jäh überfiel. Es lag an der Holosäule. An der Szene, an der sich sein Blick festgesogen hatte. Die Verfolgerschar, die immer deutlicher darin sichtbar wurde … und urplötzlich abrückte, sprunghaft zurückwich, kleiner wurde … »Was ist passiert?«, rief er. »Leistungszuwachs«, antwortete die KI. »Unbekannte Quelle. Energiemeiler und Triebwerkssektionen betroffen. Unbekannte Quelle, unbekannte Energieform. Bewirkt rapiden Leistungs-, rapiden Geschwindigkeitszuwachs. Distanz zum Schwarm wächst.« Cloud spürte Hoffnung in sich keimen – aber ebenso spürte er das zunehmende Entgleiten der Kontrolle. »Kann es sein, dass wir immer noch unter Virusbefall leiden?«
»Negativ.« »Wie schnell sind wir genau?« »Wir fliegen ein Fünffaches der normalen Maximalgeschwindigkeit.« »Ein Fünffaches …«, rann es ihm fassungslos über die Lippen. »Können wir das auch … stoppen?« »Negativ.« »Was heißt das?« »Ich habe keinen Einfluss mehr auf den Antrieb.« »Worauf hast du sonst noch keinen Einfluss mehr?« Die Antwort kam prompt. »Auf den Kurs. Kurs wurde soeben geändert.« »Von wem? Und mit welcher Maßgabe? Wohin fliegen wir?« »Initiator unbekannt. Der Kurs führt ins Zentrum.« »Ins Zentrum? Wohin genau?« »Ich fürchte«, sagte Sesha, die dies rein rhetorisch meinte, wahre Furcht überhaupt nicht kannte, »genau das könnte schwerwiegende Folgen haben.« »Wohin?« »Nach allen mir zur Verfügung stehenden Daten genau in das dortige Super Black Hole hinein.« Eisiger Schrecken schien nicht nur die Stimmbänder, sondern alles Denken der Versammelten zu lähmen. Die RUBIKON raste dem riesigen Schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße entgegen – mit einem x-fachen der normalen Geschwindigkeit und ganz offenkundig fremdgesteuert. Von wem? Konnte Fontarayn dahinterstecken? Wenn, dachte Cloud, der die klamme Kälte abzuschütteln versuchte, die ihm alle Kraft aus dem Körper zog, muss er ein Selbstmörder sein! Allein der Umstand, dass er jeden anderen Eindruck von dem androgynen Wesen gewonnen hatte, nur nicht diesen, bewirkte, dass in Cloud ein letzter Hoffnungsfunke glomm. Und dann meldete Sesha auch noch: »Erneute Leistungsexplosion.
Bei gleichbleibender Beschleunigung erreichen wir Schwarzes Loch in wenigen Minuten.« Cloud wollte etwas erwidern. Hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn er nicht sofort in den Dialog mit der KI trat und wenigstens versuchte, einen Rettungsplan auszuarbeiten. Da aber wurde es schlagartig dunkel in der Zentrale. Die Holosäule sank in sich zusammen, erlosch. Sämtliches Gerät hörte von einem Moment zum anderen auf zu arbeiten. Stille. Finsternis. War das bereits der Einfluss des Super Black Holes? Hatte der Antrieb erneut nie für möglich gehaltene Grenzen überschritten? Oder, und selbst dieser Gedanke barg kaum noch Trost, geschweige denn Hoffnung in sich, hatte Fontarayn damit begonnen, sämtliche für ihn verzichtbaren Systeme abzuschalten, die wertvolle Energie fraßen? Systeme, zu denen gewiss auch jene zählten, die ein Leben und Atmen an Bord der RUBIKON für Geschöpfe aus Fleisch und Blut oder Pflanzengewebe erst möglich machten. Kurz darauf wurde es tatsächlich merklich kälter. Und die Finsternis schien noch schwärzer zu werden, noch an Dichte zu gewinnen. Die ehemalige Arche der Foronen hatte sich in einen Sarg verwandelt, der mit aberwitziger Geschwindigkeit der Singularität eines Schwarzen Loches entgegenstrebte. Fontarayn musste vollkommen wahnsinnig sein! Die RUBIKON war verloren. Cloud räusperte sich. »Steigt in die Kapseln!«, befahl der Kapitän des dem Untergang geweihten Schiffes. ENDE
Anhang Die Romanheftserie BAD EARTH bei Bastei Eine Handlungszusammenfassung von Ralf König Die erste Marsexpedition war nicht der erwartete Erfolg. Die Mission ging verloren, alle Beteiligten gelten seither als verschollen. Zwanzig Jahre später, macht sich der Sohn des damaligen Kommandanten, John Cloud, an Bord der RUBIKON zusammen mit einer Gruppe so genannter GenTecs auf die Reise zum Mars. Sie sollen das Schicksal der ersten Expedition klären. In der Begleitung Clouds befinden sich viele weitere GenTec, die meisten im Tiefschlaf. Von den menschlichen Besatzungsmitgliedern erreicht allerdings nur einer den Mars, und das ist John Cloud selbst. Kurz bevor das Schiff den Mars erreichen kann, brechen plötzlich viele andere Schiffe aus dem entarteten Jupiter hervor. Das schwarze Loch, das der Jupiter darstellt, entpuppt sich als Transportmittel, aus dem Raumschiffe in Äskulapform hervorbrechen. Diese Raumschiffe verlieren keine Zeit, die Erde in ihren Besitz zu nehmen und mit einem schwarzen Schattenschirm vollständig abzuriegeln. John Cloud und drei seiner Begleiter stranden auf dem Mars, wo sie von einem der Äskulapschiffe aufgenommen werden. Gemeinsam fliegen sie durch das Wurmloch, das aber nicht nur eine räumliche, sondern vor allem auch eine zeitliche Komponente zu haben scheint. Und so stranden sie 200 Jahre in der Zukunft. Sie begegnen Darnok, der ihnen die Geschichte dieser Zeit und der bösen Erde erzählt. Die Erinjij, wie die Menschheit genannt wird, hat sich zu einer Geisel der Galaxis entwickelt. Ein Bund organischer Völker namens CLARON kämpft gegen sie. Es gibt aber auch noch eine dritte Gruppe, die Jay'nac, eine Rasse anorganischer Lebewesen auf Siliziumba-
sis. CLARON möchte gerne mit den Jay'nac eine Allianz eingehen, denn die Geißel der Menschheit ist für alle gefährlich. John Cloud hingegen ist entsetzt über die Untaten der Menschheit. Zusammen mit Scobee, einer GenTec, und ihren beiden Begleitern Jarvis und Resnick, die ebenfalls geklonte Wesen sind, lernen sie Jiim kennen, der auf einer Welt lebt, die in einer Eiszeit erstarrt scheint. Von dieser Welt kommen ursprünglich die Äskulapschiffe, wie sie erkennen müssen. Aber als die Erinjij erneut angreifen, bleibt Darnok nur die Flucht. Und er nimmt die Menschen mit ins Innere von Tovah'Zara, einer gewaltigen Anlage, die vollständig mit Wasser geflutet ist. Die Kantenlänge dieses Wasserwürfels beträgt mehrere Lichtmonate. Im Kampf gegen die Wesen im Aqua-Kubus lernen sie auch die Legende der sieben Hirten kennen. Und als sie ins Zentrum des Kubus fliehen müssen, finden sie einen wasserfreien Bereich, in dem sich ein Raumschiff befindet. An Bord des Schiffes sind die Körper von sieben Wesen, die mit den Hirten der Legende der Kubus-Bewohner identisch sind. John Cloud wird von dem Raumschiff als neuer Kommandant akzeptiert und fortan fliegt er mit der RUBIKON II, wie er das Schiff nennt, weiter durch das Weltall. Unterdessen enthüllt Darnok seine Vergangenheit und berichtet von seinem Volk und dessen außergewöhnlichen Fähigkeiten. Leider sind die Keelon ausgerottet worden. Und zwar von den Erinjij. Daher erklärt sich auch der Hass des Keelon auf die Menschheit. Jarvis und Resnick werden von den anderen getrennt und fliegen mit einer Raumkapsel auf eine Welt, auf der sie näheres über die Vergangenheit erfahren. Zu diesem Zeitpunkt wissen sie das aber noch nicht. Darnok erklärt inzwischen John und Scobee, dass die geklonten Körper der beiden Gen-Tec einen genetischen Defekt haben, der ihre Lebenserwartung sehr verkürzen wird. Scobee ist davon nicht betroffen. Sie hat bereits zuvor zugegeben, dass sie keine GenTec ist, sondern eigentlich eine Matrix, aus der andere Klone erzeugt wurden. Damok trennt sich von den Menschen. Er will sie erst auf der Erde wiedertreffen. Die RUBIKON II fliegt ins Sonnensystem. Die Menschen wollen
dort erfahren, was sich verändert hat. Im Sonnensystem muss Cloud aber erkennen, dass er das Schiff noch lange nicht so beherrscht, wie er sich das vorstellt. Der inzwischen erwachte Sobek übernimmt das Kommando. Hinter dem Schattenschirm gibt es nach wie vor die Erde, die für die dortigen Bewohner ein Paradies zu sein scheint. Allerdings auf Kosten anderer Völker, wie Aylea erkennen muss. Das Mädchen spielt ein faszinierendes Computerspiel, das allerdings mit realen Figuren gespielt wird, Wesen fremder Welten, die über einen Traumchip gesteuert werden. Als Aylea dahinterkommt wendet sie sich vertrauensvoll an ihre Eltern. Die allerdings nichts besseres zu tun haben, als sie weiter zu melden. Fremde Menschen kommen ins Haus und bringen sie weg. Sie landet im Gebiet des ehemaligen Peking. Dort befindet sich ein Getto, das entstanden ist, weil der damalige Kaiser von China einen gelungenen Angriff auf eines der Schiffe verübte. Das Schiff explodierte und verseuchte die Umgebung in weitem Umkreis. Am Standort dieser Tat befindet sich heute ein Getto, in dem all jene verschwinden, die dem Regime unangenehm geworden sind. Auch Aylea soll dort verschwinden, aber sie kann rechtzeitig fliehen und taucht im Getto unter. Erst dort muss sie aber erkennen, dass das Getto gefährlich ist. Als die Situation ausweglos erscheint, wird sie von John Cloud gerettet, der inzwischen auf der Erde eingetroffen ist. Nach seiner Ankunft findet John Cloud einen merkwürdigen Dschungel voller fremdartiger Pflanzen vor, den er in einem Tunnel unterqueren kann. Dabei werden John und Scobee von einem merkwürdig amorphen Gebilde verfolgt, das sich als Schutz für John erweist. Und sie begegnen Jelto, ebenfalls einem Klon, der auf die Pflege von Pflanzen hin optimiert gezüchtet wurde. Jelto schließt sich ihnen an und als sie das Getto erreichen, finden sie einen Nachfahren des damaligen Kaisers als Befehlshaber einer Untergrundbewegung. Shen Sadako will einen der Türme, zu denen die Äskulapschiffe geworden sind, angreifen und den Erfolg des Vaters wiederholen.
Scobee wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, als sie in Stasetanks die Körper von sehr bekannten Menschen vorfindet. Neben der damaligen US-Präsidentin, findet sich auch den damaligen Geheimdienstchef Cronenberg, der so etwas wie ihr Chef gewesen ist. Und nicht nur das, er war und ist auch ein persönlicher Alptraum. Sie befreit ihn aus seiner Lage und entwickelt sich in seiner Nähe sofort zu einem folgsamen Kätzchen. Genetisch bedingt, muss sie ihm aufs Wort gehorchen. Und so wird sie zum Verräter an John Cloud und ihren Freunden. Was John nicht ahnen kann. Beim Angriff auf die Türme erfährt John dann aber die Wahrheit. Sadako hatte nie eine Chance, obwohl er Unterstützung aus einem der Türme hatte. Der wahre Beherrscher der Erde aber wusste sehr genau, dass es eine Verschwörung gab und so lässt er den Verschwörer und alle Rebellen töten. Auch John, Scobee und Cronenberg werden gefangen gesetzt. Die Hintermänner entpuppen sich als Keelon, die Darnok in ihre Gewalt gebracht haben. John und Scobee können im letzten Augenblick fliehen, müssen aber Darnok zurücklassen. Offiziell ist das das Ende des ersten Handlungsabschnitts, der bis Band 25 reichte. Sobek und John versuchen noch eine Rettungsmission für Darnok, aber die misslingt. Der Keelon begegnete zuvor bereits Cy und Algorian, zwei Wesen, die im Auftrag der Allianz CLARON Kontakt mit den Jay'nac aufnehmen sollten. Das gelang zwar, aber die übernahmen nur die Bewusstseinsinhalte der sechs CLARON-Herrscher, die Kopien in Cy platziert hatten, als Geste des guten Willens für die Verhandlungen. Die Jay'nac rauben aber die Bewusstseine und wollen sie in geklonte Körper einsetzen. Bei dieser Gelegenheit wurde auch Darnok von den anderen getrennt und schließlich von den Erinjij gefangen. Auf dem Mars begegnen sie Jarvis und Resnick wieder, die unterdessen einen neuen Freund auf ihrer langen Odyssee gefunden haben. Boreguir, der Saskane, hat mit ihnen zusammen die Flucht versucht und dabei ein Lager voller Wesen in Stase gefunden. Unter den Opfern ist auch Johns Vater, der aber über die lange Zeit hinweg seinen Verstand verloren zu haben scheint. In einer der Fallen
der foronischen Station verliert Resnick sein Leben. Jarvis wird bei den Kämpfen schwer verletzt. Als sie in das Schiff geholt werden, ist er fast tot, aber noch nicht ganz. Die Rüstung, das amorphe Wesen, das John lange Zeit begleitete, wirft sich auf den GenTec. Anschließend ist er tot, es sieht aus, als hätte ihn die Rüstung getötet. Die Foronen erweisen sich als technisch sehr fortschrittlich. Als sie das Sonnensystem verlassen, zeigt ihnen aber Boreguir, dass auch rückständigere Wesen über interessante Fähigkeiten verfügen können. Er vergisst sich und damit kann ihn niemand mehr sehen. Die erste Station der SESHA, wie Sobek das Schiff nennt, ist der AquaKubus. Der Forone kehrt dorthin zurück und repliziert das Schiff. 87 weitere Schiffe derselben Bauart entstehen scheinbar aus dem Nichts. Dafür erlöschen viele Sonnen in einer spontanen Supernova, die ihre Energie auf einmal abgeben mussten, damit die Transformation gelingen konnte. Sobek teilt sein Volk auf, das sich in Tiefschlafkammern in der SESHA befindet, die größer ist, als man annehmen sollte. Große Teile sind aber in den Hyperraum ausgelagert. Zusammen mit Siroona, einer Foronin, die einst seine Geliebte war, will er mit der SESHA und den Menschen an Bord in ihre Heimat, die Große Magellansche Wolke fliegen. Dort will er feststellen, was aus ihrem alten Feind, den Virgh, geworden ist. Von den sieben Hirten sind allerdings nur noch sechs übrig. Einer die sieben anderen Hirten namens Mont starb, woran Sobek nicht ganz unschuldig war. Aber wenigstens Jarvis hat den ersten Zyklus doch überlebt, und zwar als Bewusstsein im Körper des amorphen Wesens. Da sein Körper ohnehin gestorben wäre, hat ihm Sobek eine Chance gegeben. In der Folge reisen sie in die Große Magellansche Wolke. Auf dem Flug dorthin müssen sie eine Reihe von Abenteuern bestehen. In der GMW finden sie auch die Virgh, die noch immer dort sind. Auf den ehemaligen Planeten der Foronen haben sie sich ausgebreitet, ihre Brut ist dort zu finden. Sie begegnen auch einem weiteren außerirdischen Volk. Die Satoga unter ihrem Anführer Artas behaupten, aus der kleinen Magellanschen Wolke zu stammen und helfen den
Freunden gegen die Virgh, als sie in Gefahr geraten. Dann trennen sie sich von der Gruppe um Cloud. Sie lassen einen Sender zurück, mit dem die Freunde jederzeit Kontakt zu ihnen aufnehmen können. Cloud und die SESHA, die nun wieder RUBIKON II heißt, entdecken weitere Taten der Virgh, die tatsächlich so gnadenlos sind, wie Sobek immer behauptete. Der ist seit einem Abenteuer im Leerraum nicht mehr Kommandant des Schiffes. Der Angriff fremder Mächte hat seine Gehirnstruktur so verändert, dass er vom Schiff nicht mehr als kommandobefugt anerkannt wird. Seither ist Cloud wieder der Kommandant. Er findet nicht nur heraus, dass die Virgh tatsächlich noch aktiv sind. Er findet auch einen Stock, in dem sich die Virgh aufhalten. Als er gegen eine Übermacht des Feindes ankämpfen muss, verschlägt sie die eigene Kontinuumwaffe in ein fremdes Universum, in denen sie den Foronen begegnen, die in dieser parallelen Welt niemals aus ihrer Heimat fliehen mussten. Und sie entdecken außerdem, dass Mont noch lebt. Er ist ebenfalls als Bewusstsein noch im Körper des amorphen gefangen. Da der Herrscher dieses Kontinuums kein anderer als Mont ist, der die anderen sechs Hirten schon vor langer Zeit eliminiert hat, erhält er eine zweite Chance von dem Wesen, sich an Sobek zu rächen. Aber diese nutzt er nicht, sondern verhilft den Menschen zur Flucht. Dabei kommt er endgültig ums Leben. Als die Gruppe um John Cloud wieder zurück im Standarduniversum ist, sehen sie sich den Virgh gegenüber. Sie wollen in die Station gelangen, das erweist sich aber zumindest als schwierig. Jarvis wird für diese Aktion benutzt, der sich in eines der Virgh-Schiffe teleportiert und von diesem in den Stock getragen wird. In der Milchstrasse hat sich unterdessen vieles verändert. Die Allianz CLARON ist von den Klonen der Jay'nac unterwandert und an diese gefallen, die Keelon erweisen sich ebenfalls als von den Jay'nac beeinflusst. Und so treffen Cy und Algorian in einer Jay'nac Station auf Jiim. Dabei stellt Cy fest, dass auch er eine Schöpfung der Jay'nac ist. Denn eben jene Spore, die seine Heimat ist, ist die Station der
Jay'nac. Mit einem Bewusstsein dieser anorganischen in sich, kehren sie auf deren Hauptwelt zurück, wo sich herausstellt, dass dieses Bewusstsein noch Verwendung für sie hat. Und so werden sie in den Stock der Virgh transferiert. Der Satoga Artas erklärt den Menschen inzwischen, dass die Virgh Züchtungen eines Volkes sind, mit dem sie schon lange im Krieg liegen. Bei dem Krieg geht es vor allem um Welten voller Luminium, wie die Satoga das Material nennen, mit dessen Hilfe ihre Raumfahrt funktioniert. Um diesen Rohstoff haben sie schon früher Kriege geführt. In der Großen Magellanschen Wolke haben ihre alten Feinde eine Art Bollwerk errichtet und dass die Foronen und alle anderen Völker entweder vertrieben oder vernichtet wurden, geschah aus der Notwendigkeit heraus, sich den Rücken freizuhalten. Die Virgh sind dabei genauso künstliche Geschöpfe, wie es zum Beispiel die Keelon sind. Denn der alte Feind ist mit den Jay'nac identisch. Nach dem Sieg in der Wolke wollen die Satoga, die natürlich auch nicht aus der kleinen Magellanschen Wolke stammen, in die Milchstrasse fliegen und den Feind endgültig besiegen. Aber das geht schrecklich schief und plötzlich sind alle Satoga keiner Bewegung mehr fähig. Einheiten der Erinjij haben sie quasi gelähmt. Bis auf John und seine Freunde, die dem fremden Einfluss widerstehen können. Cloud erfährt von den Jay'nac beziehungsweise den Keelon in Vertretung derselben schließlich die ganze Wahrheit. Das Luminium ist nämlich die Brut der Jay'nac und verständlicherweise mochten die anorganischen gar nicht, dass die Satoga ihre eigenen Kinder als Antrieb für ihre Schiffe benutzten. Nachdem den Satoga das klar wird, erklären sie sich zu Verhandlungen bereit. Und so kann der Konflikt in der Milchstrasse gerade noch beigelegt werden …
Glossar 28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Scobee Weibliche in-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Jarvis Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert: ca. 1,85 m groß, schmales, energisches Gesicht, angedeutete streichholzkurze »Haare«. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze – ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffenden Affinität zu John Cloud
Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütet eine gewaltige Parzelle Wald, der das Getto umgibt und – wie sich herausstellt – offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt … Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsene 10jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennen lernt und ins so genannte »Getto« abgeschoben wird, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON. Aqua-Kubus Ein legendenumwobener Ort: ein gigantischer Würfel, dessen Kantenlänge eine Lichtstunde beträgt. Er ist vollständig mit Wasser gefüllt und treibt durchs All. In seinem Innern »schwimmen« ganze Planeten und andere Körper. Die herrschende Spezies sind die Vaaren, die über psionische Kräfte verfügen und den Kubus in ihren Jadeschiffen bereisen. Der Kubus wird von den Bewohnern selbst Tovah'Zara genannt. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« – Name, den die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen gaben. Die galaktische Position der Erde war den Außerirdischen lange Zeit unbekannt – mit einer Ausnahme: Der Keelon Darnok kannte die Koordinaten und ermöglichte Cloud und Scobee so erst die Heimkehr ins Sonnensystem. Die Erinjij beherrschen als einzige bekannte Spezies die so genannte »Wurmlochtechnik« – über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelan-
Protomaterie
Jupiter
Spore Auri
Die Jay'nac
gen sie zu ebenfalls in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Basen, von wo aus sie ihre aggressiven Vorstöße koordinieren. Verbündet sind die Erinjij mit den Jay'nac. Geführt werden sie von den so genannten Mastern aus dem Volk der Keelon. Neben den Vaaren leben auch die Luuren im Aqua-Kubus; sie sind eine Art »Gesundheitspolizei«, sie sammeln alles tote Organische ein und bereiten es zu einer Art Urstoff auf, auch Protomaterie genannt. Die speziellen geistigen Fähigkeiten der Luuren ermöglichen es, aus diesem Stoff alles herzustellen, was in Tovah'Zara gebraucht wird – auch hochwertige »Technik« wie etwa die Jadeschiffe. Protopartikel kreisen auch in John Cloud. Nicht zuletzt deshalb wurde er von Sesha, der Künstlichen Intelligenz der RUBIKON, als neuer Herr des Schiffes anerkannt. Ehemals größter Planet des irdischen Sonnensystems; verwandelte sich 2041 durch äußere Einwirkung in ein Wurmloch, das von den Keelon und später den Erinjij als Einstein-Rosen-Brücke verwendet wird. Das künstliche Wurmloch ist stabil. Heimat des Aurigen Cy, eines Pflanzenwesens. Die Spore Auri treibt in einem Gasring, der die Heimatsonne Cys ähnlich umkränzt wie wir es von den Ringen des Saturn kennen. Dass in dieser Zone Leben möglich ist, geht auf Artefakte zurück, die dort von den Jay'nac »installiert« wurden. Die Aurigen sind Schöpfungen der Anorganischen. Volk aus Anorganischen. Führte Krieg gegen alle Organischen der Milchstraße, fegte über die Allianz CLARON hinweg und entpuppte sich am Ende auch als die Drahtzieher, die einst die Foronen aus ihrer Heimat, der Großen Magellanschen Wolke, verdrängten, sodass sie Exil in der Milch-
straße suchten. Bei den Keelon handelt es sich um eine zeitreisende Rasse, die vom Planeten Roogal stammt. Dieses Volk von ehemals friedlichen Forschern wurde scheinbar von den Erinjij ausgelöscht. Darnok begriff sich lange Zeit als einziger Überlebende seiner Art. Inzwischen aber wurde bekannt, dass es sich bei der vorgeblichen Vernichtung der Keelon um eine Finte handelte, um jeden Verdacht gegen sie abzulenken. In Wirklichkeit residieren sie auf der Erde in 500 Meter hoch aufragenden Bauwerken, den Residenzen, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben. Die Keelon werden Master genannt und sind die Führer Erinjij. Das Septemvirat der Foronen Die Führer des aus der Großen Magellanschen Wolke (Samragh) vertriebenen Foronenvolkes – ihre Namen lauten Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona; die beiden letzt genannten sind weiblich. Sie waren die Götter der im Aqua-Kubus beheimateten Vaaren. Die Keelon
Vorschau Hinter dem Horizont von Susan Schwartz Findet der lange Weg der RUBIKON im Zentrum der Milchstraße sein jähes Ende? Wird der Moloch, der bereits Millionen Sonnenmassen verschlungen hat, auch das Schicksal der Gefährten besiegeln? Wer ist Fontarayn – und wer seine Jäger, die das goldene Schiff zerstörten? Woher kommt er, welche Motive leiten ihn? Und – was wurde aus Jiim? Fragen, denen sich der kommende Band der großen, von Manfred Weinland erdachten SF-Saga annimmt. Und der verblüffende Antworten bereit hält, fulminant von Susan Schwartz in Szene gesetzt!