Merkwürdige Dinge geschehen im Haus von Gouverneur Welles. Türen verschließen sich von selbst, eine Uhr zieht sich von ...
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Merkwürdige Dinge geschehen im Haus von Gouverneur Welles. Türen verschließen sich von selbst, eine Uhr zieht sich von alleine auf und die Heizung fällt von einer Sekunde auf die andere aus. Die neuen Mieter des „Geisterhauses“, Ginger und ihre Mutter, stehen vor einem Rätsel. Schon bald macht Clark Kent, den Ginger zu Hilfe gerufen hat, eine grausige Entdeckung: Im Keller des Hauses befindet sich das einbetonierte Skelett eines kleinen Kindes. Und im nahe gelegenen Maisfeld ist ein riesiger Meteorit gelandet, der für das Verschwinden mehrerer Einwohner von Smallville verantwortlich zu sein scheint. Wie hängen die Ereignisse zusammen? Die Spur führt Clark in die Vergangenheit und bringt ihn in tödliche Gefahr...
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Nancy Holder
Die Gehetzten Aus dem Amerikanischen von Thomas Ziegler
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Erstveröffentlichung bei DC Comics 2002 Titel der amerikanischen Originalausgabe: Smallville – Hauntings Smallville and all related characters, names and indicia are trademarks of DC Comics © 2003 Das Buch »Smallville – Die Gehetzten« entstand parallel zur TV-Serie Smallville, ausgestrahlt bei RTL © 2003 Warner Bros. Television © RTL Television 2003. Vermarktet durch RTL Enterprises
© der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH, Köln 2003 Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Anja Schwinn Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Printed in Germany ISBN 3-8025-3243-0
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Dieses Buch ist für Dal Perry... natürlich.
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Prolog SO WIRD GESCHICHTE GEMACHT, dachte Janice Brucker. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum durchatmen konnte. In den Tiefen ihres Labors in Metropolis verfolgten Janice und ihr Mann George mit feuchten Händen und hämmernden Herzen, wie die Partikelbeschleuniger ihre Arbeit verrichteten. Ruhm und Geld rückten in greifbare Nähe. Ein Laie hätte dabei nichts Aufregendes bemerkt. Die großen Beschleuniger waren recht leise; nur die Ventilatoren, Wasserrohre und die kryogenische Ausrüstung, die die Funktion der Geräte unterstützte, verursachten etwas Lärm. Eine große Anzahl an Ionenimplantbeschleunigern, Zyklotronen, Betatronen und elektronischen Linearbeschleunigern war auf einen spezialisierten Strahlenstopper, den sie und George konstruiert hatten, gerichtet. Es handelte sich um einen elliptischen Reflektor mit dünnen Röhren, durch die flüssiges Helium lief, um die Hitze der zerstreuten Partikel auf einem akzeptablen Niveau zu halten. Der Laboraufbau sah... interessant aus, wie George gern sagte, aber ihm mangelte es an Aufsehen erregenden Effekten. Es gab keine Funken und kein Knistern und auch keine wilden, stürmischen Nächte wie bei Frankenstein. George, der einst davon geträumt hatte, Schauspieler zu werden, hatte Janice einmal bei einem Rendezvous gestanden, dass die Labors aus den alten Horrorfilmen ihn dazu veranlasst hatten, Nuklearphysik zu studieren. »Ich stand vor der Wahl: entweder der Nobelpreis oder der Oscar«, hatte er gelacht. Er hatte eine »Jakobsleiter« bauen wollen – eine dieser knisternden, knatternden elektrischen Türme aus Frankensteins 6
Braut – aber Janice hatte den Vorschlag abgelehnt; sie wollte auf keinen Fall, dass man sie und ihren Mann für verrückte Wissenschaftler hielt. Was sie hier unter Ausschluss der Öffentlichkeit taten, war schon verrückt genug. Die Bruckers versuchten, ein chemisches Element selbst herzustellen. Das war an sich nichts Neues. Die meisten Laien wussten es nicht, aber vom Element 92 bis zur Nummer einhundertzwanzig des Periodensystems waren alle Elemente von Menschen geschaffen. Wie zum Beispiel die kleine Kostbarkeit Americum 241, Ordnungszahl 95 im System, das die ionisierte Strahlung für den Einsatz in Rauchmeldern erzeugte. Oder Californium, Ordnungszahl 98 – eine hervorragende tragbare Neutronenquelle für die Aktivierungsanalyse von Gold oder Silber. Viel von dem, was zwischen den Elementen 93 und 120 entdeckt worden war, war nutzlos – ohne jeden wissenschaftlichen oder kommerziellen Wert. All diese Elemente waren eher zufällig entdeckt worden. Das lief so ab: Ein Isotop wurde mit Ionen und Neutronen bombardiert, und die Wissenschaftler sahen zu, was passierte, wie Kinder, die gerade eine Knallerbse geworfen hatten. Sie hatten diverse Tests durchgeführt, eine Entdeckung mitgeteilt, und dann begannen die Diskussionen über den Namen. Nicht so Janice und George. Das Element, das sie erschaffen wollten, war nicht besonders interessant – ein relativ stabiles, schweres Element, das sie an die LuthorCorp verkaufen wollten, wo es in der Pestizidforschung als Quelle ionisierender Strahlung eingesetzt werden sollte. Aber es war der Prozess – der kalkulierte Entwurf eines neuen Elements und die Produktion von genau diesem Element 7
–, der wichtig war. Janice hatte ein sorgfältiges Konzept erarbeitet, nach dem sie Neutronen, Elektronen und Ionen hinzufügten. Der Prozess der Justierung des Atomgewichts war wie eine Art Spiel, bei dem es zwei Schritte vor und einen zurück ging und an dem eine Reihe von sorgfältig aufeinander abgestimmten Partikelbeschleunigern beteiligt waren. Wenn es funktionierte, hatten sie es geschafft: Dann würde ihnen sicherlich eine steile Karriere und ewiger Ruhm bevorstehen. Das Paar stand in einem Arbeitsbereich des mit Blei verkleideten Labors. Die Beschleuniger erzeugten verschiedene Arten von Strahlung, von denen viele einen Menschen umbringen konnten, wenn er ihnen ungeschützt ausgesetzt wurde. Deshalb waren die beiden sehr darauf bedacht, nicht in die Todeszone zu geraten. »Start«, flüsterte George, und Janice nickte. Ein leichter Schauder durchlief Janice, als sie die Taste am Computerkeyboard drückte, um die Endsequenz zu starten. Blitzschnell aktivierten die Silikonschaltkreise daraufhin die Partikelbeschleuniger und füllten ihren Tiegel mit einer Vielzahl geladener Teilchen. Ein anderes Display zeigte den Strahlungspegel des Tiegels und eine grafische Darstellung der Temperatur. Auf einem dritten Display wurde das Atomgewicht des Elements, an dem sie arbeiteten, angezeigt. Alles funktionierte einwandfrei. George sah zu ihr hinüber und grinste. »Was ist das für ein Gefühl, die Natur zu beherrschen?« Janice lächelte etwas gequält zurück. »Das werde ich dir sagen, wenn wir fertig sind.« Er lachte leise. »Wir werden es schaffen, Schatz, du und ich. Wir haben schon immer das erreicht, was wir uns vorgenommen haben.«
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Sie lächelte erneut, unverkrampfter diesmal. George lieferte das Fundament, auf dem sich ihre Theorien aufbauten. Er war ein Meistertüftler und, was noch wichtiger war, ein Genie im Umgang mit Menschen. Er war es gewesen, der ihnen, nach einem Treffen mit Lionel Luthor persönlich, die finanzielle Unterstützung der LuthorCorp gesichert hatte. Janice hatte sich während des Gesprächs im Hintergrund gehalten. Irgendetwas an dem Milliardär hatte sie gestört. Er hatte eine unterschwellige Aggressivität ausgestrahlt, eine Aura, die sagte: »Leg dich nicht mit mir an.« George hatte die Verhandlungen geführt und dabei seine wahren Absichten verschwiegen. Er hatte auf der Hälfte der Mineralrechte des neuen Elements bestanden, ohne damit zu rechnen, irgendwelche Rechte zugestanden zu bekommen, und sich am Ende mit Luthors Gegenangebot begnügt: mehr Geld und sämtliche Veröffentlichungsrechte. Offenbar war Luthor nicht der Gedanke gekommen, dass jemand die Rechte an der Methode und nicht das Produkt selbst haben wollte. Erstaunlich, wenn man seinen Ruf als harten Verhandlungspartner und gerissenen Investor bedachte, aber so war es passiert. Und jetzt war das Produkt fast fertig. Janice überprüfte die Instrumente: Es würde nur noch ein paar Sekunden dauern. Ein metallischer Piepton signalisierte, dass der Vorgang abgeschlossen war, und Janice warf einen Blick auf die Messwerte. Atomgewicht: 275. Relativ hohe ionisierende Strahlungsemissionen. Isotopstabilität: gut. Sie hatten es geschafft! Sie jubelten, küssten und umarmten sich. Dann verließen sie den Kontrollraum und näherten sich dem Tiegel, um sich das Resultat ihrer Arbeit anzusehen. Sie blickten in den Spiegel, den sie in der Nähe des Strahlenstoppers platziert hatten. Das 9
Spiegelbild zeigte das Isotop; ein grauweißes Metall, das sie erschaffen hatten. Abgesehen von ihrem Hochzeitstag und dem Tag, an dem ihre Tochter Ginger geboren worden war, war dies der bedeutendste Moment in ihrem gemeinsamen Leben. Aufgeregt trat George noch näher heran. Janice holte Luft. »Schatz, sei vorsichtig.« Da die Maschinen abgeschaltet waren, gaben sie keine Strahlung mehr von sich, doch von dem Isotop, das sie geschaffen hatten, ging immer noch eine nicht gering einzuschätzende Gefahr aus. Doch er winkte ab und grinste sie an. Sie waren jetzt seit sechzehn Jahren verheiratet, und trotzdem konnte das Grinsen auf seinem markant geformten Gesicht einen Sturm in ihrem Herzen entfesseln. Gott, sie liebte ihn. Er war so außergewöhnlich. Nur wir beide konnten das zusammen bewerkstelligen, dachte sie stolz. »Hör auf, dir Sorgen zu machen, Liebes. Ich will nur nachsehen, wie schwer es ist.« George näherte sich ihrer Schöpfung und ergriff den Tiegel mit einer Zange. Er hob ihn hoch und blickte verwirrt drein. »Es kommt mir irgendwie leicht vor.« Das war natürlich ein Scherz. Das Atomgewicht hatte nichts mit dem normalen Gewicht zu tun. »Wir werden es Janisium 16 nennen«, sagte er liebevoll zu ihr. »Nein, nach Ginger«, gab sie zurück. Es war eine alte Kabbelei, denn natürlich würde es ihr zu Ehren benannt werden. Tränen der Freude traten in ihre Augen. Wir werden in die Geschichtsbücher eingehen, sagte sie sich wieder. Und dann zerfiel alles in Stücke. Der Strahlungsalarm heulte auf. »Warnung: Instabilität gemessen – Spaltung/Gamma in eins Komma zwei.« 10
George starrte sie schockiert an. Mit aufgerissenen Augen starrte sie zurück. Das kann nicht sein, dachte sie entsetzt. Der Computer irrt sich. Es sollte einen leichten Betazerfall geben. Wenn wir tatsächlich Gammastrahlen und eine spontane Spaltung haben, werden wir in die Luft fliegen... George sah sie an. »Lauf!« Ohne zu zögern, packte er den Tiegel mit seinen bloßen Händen, drückte ihn an sich und rollte sich dann wie ein Fötus auf dem Boden zusammen. Damit hatte er sich selbst umgebracht. Selbst wenn der Computer sich irrte, war die Strahlung des Isotops dennoch tödlich. Und wenn der Computer Recht hatte, hatte er ihr im besten Fall ein paar Sekunden verschafft. All das ging ihr durch den Kopf, mit einer Klarheit, die durch den Albtraum um sie herum geschärft wurde; sie war Wissenschaftlerin, sie konnte durch Nachdenken einen Weg aus jeder Notlage finden... Dieses Mal nicht. Schreiend stürzte Janice zum schützenden Kontrollraum. Spaltung in einskommazwei. Das Einzige, was George blieb, war ein letzter Aufschrei. Im Kontrollraum verlor Janice ihr Bewusstsein. Als die wunderschöne Frau, die Clark Kent gegenübersaß, lächelte, tauchten um ihre Augenwinkel herum ein paar Fältchen auf dem sonnengebräunten Gesicht auf. Sie trug ihre Haare offen, ihre Augen leuchteten vor Glück. Sie hob ihre Kaffeetasse zu den Lippen und sagte: »Dies ist das perfekte Ende eines perfekten Abends.« Martha Kents adoptierter Sohn lächelte sie an und sah dann zu seinem Dad hinüber. Es war Muttertag, und die beiden Kent-Männer hatten Martha zum Essen ins Smallville Steak House ausgeführt und sie dann ins Talon gebracht, um sich noch einen Nachtisch zu genehmigen und Kaffee zu trinken. 11
Nun war es an der Zeit, das Geschenk, das die beiden für sie gekauft hatten und jetzt im Schoß von Clarks Vater Jonathan lag, zu überreichen. Sie hatten sich lange Zeit den Kopf darüber zerbrochen, was sie ihr schenken sollten. Was sie tagtäglich für sie tat, konnte mit keinem noch so großen Geschenk aufgewogen werden, aber sie wollten ihr danken. »Hi. Soll ich nachschenken?«, fragte Lana Lang, die mit einer Kaffeekanne in der Hand zu ihnen trat. Sie sah betrübt aus, als sie das glückliche Trio am Tisch musterte. Muttertag muss für Lana schwer zu ertragen sein, dämmerte es Clark. Ihre eigene Mutter war in dem Meteorsturm, der Clark vor Jahren zur Erde gebracht hatte, ums Leben gekommen. Der schreckliche Unfall war für immer festgehalten worden: Das tränenüberströmte, entsetzte Gesicht der kleinen Lana hatte damals die Titelseite des Time Magazines geschmückt. Jetzt lebte Lana mit ihrer Tante Nell zusammen, die sie sehr liebte. Aber es war doch etwas anderes, als mit der eigenen Mutter aufzuwachsen. Clark konnte das gut verstehen. Wie Lana war auch er adoptiert worden – Jonathan und Martha Kent hatten es ihm erzählt, als er noch sehr klein war. Aber im Gegensatz zu Lana hatte er keinerlei Erinnerung an seine leiblichen Eltern. Ohne die Enthüllung der Kents, dass er aus dem Weltraum gekommen war, hätte Clark angenommen, dass seine Superkräfte und sein Röntgenblick durch die Meteoriten ausgelöst worden waren. Doch das Raumschiff auf dem Dachboden ließ keine Zweifel zu. In diesem Moment trafen sich Clarks und Lanas Blick, und sie sah ihn so durchdringend an, als könnte sie seine Gedanken lesen. Mit ihren großen Augen und ihrer schimmernden Haut war sie das schönste Mädchen in Smallville. Und die schönen Mädchen waren meistens mit den begehrtesten Sportlern der Schule zusammen. Lana war die Freundin des Starquarterbacks
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der Smallville High, Whitney Fordman. Das Klischee erfüllt sich also, dachte Clark bitter. »Danke. Ich hätte gern noch etwas Kaffee«, sagte Martha zu Lana. »Er schmeckt fantastisch. Du musst ein Geheimrezept haben.« Lana lächelte, wobei sich ihre Grübchen zeigten. »Oh ja, das habe ich.« Sie zögerte. »Aber wenn ich es Ihnen verraten würde...« »Wäre es kein Geheimnis mehr«, beendete Martha den Satz. »Du bist eine gute Geschäftsfrau, Lana.« Lana errötete und sagte: »Das werde ich garantiert in meinen Monatsbericht für Lex... äh, meinen Geschäftspartner schreiben.« Sie wusste, dass Clarks Eltern – jedenfalls sein Vater – Lex nicht mochten, und sensibel wie sie war, achtete Lana peinlich genau darauf, Lex nicht in Jonathan Kents Gegenwart zu erwähnen. Dann beugte sich Lana nach vorn und flüsterte Clarks Mom zu: »Ich gebe einen Teelöffel Zimt in jede Kanne.« »Danke.« Martha lächelte. Es war offensichtlich, dass sie Lana sehr mochte, und das machte Clark glücklich. Er stellte sich vor, wie er mit Lana an seiner Seite auf der Farm aß, während seine Mom für alle mit Zimt gewürzten Kaffee machte. Dann riss er sich aus seinen Träumereien. Ein derartiger Abend war für Whitney Fordman Alltag, für ihn würde er wohl immer ein Wunsch bleiben. Lana lächelte die drei erneut an, dann ging sie anmutig davon. Die Türglocke bimmelte und Lanas Tante Nell kam mit zwei anderen Frauen herein; alle fächerten sich mit Theaterprogrammen Luft zu. Eine von ihnen winkte zum Tisch der Kents hinüber und Martha winkte zurück. »Wir sind in Metropolis im Ballett gewesen«, rief die Frau. Hinter ihnen trat Lex zur Tür herein. Er hatte sie zum Ballett gefahren, dachte sich Clark. Zum Muttertag. Lex’ Mutter war ebenfalls tot, genau wie seine und Lanas. 13
Das Quartett ließ sich an einem Tisch am Fenster nieder, und Lana eilte zu ihnen. Ihre Tante begrüßte sie herzlich, und sie schwatzten eifrig miteinander, als sie nach den Speisekarten griffen und besprachen, was sie bestellen sollten. »Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir nach Hause fahren«, sagte Jonathan ein wenig abrupt. »Dad, das Geschenk«, flüsterte Clark. Jonathan Kent blickte verlegen drein, dann nickte er seinem Sohn zu. »Natürlich.« Er nahm die in Geschenkpapier eingewickelte Schachtel von seinem Schoß und überreichte sie seiner Frau. »Frohen Muttertag, Martha.« »Frohen Muttertag, Mom«, fügte Clark hinzu. Marthas Augen weiteten sich überrascht. Clark konnte die Gelegenheiten nicht zählen, bei denen er sie so gesehen hatte. Immer, wenn er mit einem seiner zahllosen Bastelprojekte nach Hause gekommen war – zum Beispiel einer Vogelfütterungshilfe aus klebrigen Kaffeerührern, oder einer schiefen Schüssel aus Ton, hatte sie so ausgesehen. Ebenso, als er im dritten Schuljahr in der Aufführung von Jack und die Bohnenstange die Hauptrolle des Bohnenverkäufers bekommen hatte. Es war der Gesichtsausdruck, der wohl allen Müttern zu Eigen ist. Er sagt: Ich liebe es, deine Mom zu sein, und ich werde dich immer lieben, selbst wenn ich nicht mehr hier bin. Eifrig öffnete sie die Schachtel und hielt ein feines silbernes Armband in ihren Händen. An dem Armband befanden sich silberne Anhänger in Form von Gartenwerkzeugen – ein winziger Spaten, eine Schaufel, eine fragile Gartenschere, die sich sogar öffnen und schließen ließ. Und in der Mitte war eine rot emaillierte Rose mit einem Diamanten – eigentlich war es nur ein Splitter. »Wir wissen, dass du auch praktische Dinge magst«, erklärte Clark, bevor sie eine Chance hatte, etwas zu sagen. Jonathan
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nickte zustimmend. »Aber wir wollten dir nichts Praktisches schenken, sondern einfach etwas, das dir gefällt...« »Es ist perfekt. Ich kann mir kein besseres Muttertagsgeschenk vorstellen«, unterbrach sie ihn und lächelte zuerst ihren Sohn, dann seinen Vater an. »Vielen Dank, ihr beide.« Sie streckte einen ihrer kräftigen, sonnengebräunten Arme aus, damit Clark ihr das Armband anlegen konnte. Dann sagte sie: »Und jetzt sollten wir uns die Rechnung geben lassen, Jonathan. Morgen wartet eine ganze Menge Arbeit auf uns, ganz gleich, was heute ist.« Daraufhin rief Jonathan Lana zu sich, die die Rechnung bereits fertig gemacht hatte. Nachdem Jonathan bezahlt hatte, sprang Clark hastig auf und rückte den Stuhl seiner Mutter vom Tisch, eine Geste, die von den drei Frauen an Lex’ Tisch beifällig zur Kenntnis genommen wurde, und die Kents verließen das Restaurant. Als sie ihren Truck erreicht hatten, stiegen sie ein und fuhren los. Sein Vater saß am Steuer, seine Mutter in der Mitte, und Clark hatte sich auf den Beifahrersitz gezwängt. Während er zu den Sternen aufblickte und sich fragte, von welchem er wohl stammte, unterhielten sich seine Eltern über die Farm. Die Maisfelder flogen an ihnen vorbei. Clark hörte dem Gespräch seiner Eltern nur mit halbem Ohr zu – den Dünger abholen, einen neuen Kostenvoranschlag für die Reparatur der Häckselmaschine besorgen –, als plötzlich etwas Weißes aus den Reihen der Maisfelder schoss und zur Mitte der Straße rannte... direkt auf ihren Truck zu. »Dad!«, schrie Clark. Jonathan gab einen überraschten Laut von sich, als Clark die Tür öffnete und aus dem Truck sprang. »Clark!«, rief seine Mutter. Er bewegte sich mit Supergeschwindigkeit, legte eine Hand an die Stoßstange und bremste so das Fahrzeug ab, während er 15
gleichzeitig die rennende Gestalt um die Hüfte packte und aus dem Weg riss. Die beiden rollten an den Straßenrand. Der Kerl schrie und wehrte sich gegen Clark, der ihn daraufhin schnell losließ. Als der hoch gewachsene, dünne Kerl aufzustehen versuchte, musterte Clark ihn hastig. Er konnte seine Kräfte noch immer nicht genau einschätzen, und wollte sichergehen, dass er den Jungen nicht verletzt hatte – oder sich selbst. »Ich bin frei!«, brüllte der Junge. Clark erkannte ihn nun; es war Joel Beck von der Schule. Er sah verängstigt aus. »He«, sagte Clark und streckte beruhigend die Hand aus. Joel wirbelte zum Maisfeld herum. Dann erstarrte er zitternd und drehte seinen Kopf hin und her. »Es hat funktioniert! Ich kann nicht fassen, dass es funktioniert hat!«, schrie er. »Ich muss es Holly erzählen.« Nach diesem Ausbruch sank er auf die Knie und barg sein Gesicht in den Händen. »Geht es ihm gut?«, fragte Jonathan besorgt. Clarks Eltern waren mittlerweile näher gekommen. Martha kniete sich neben dem verängstigten Jungen nieder. »Bist du verletzt?«, fragte sie sanft. »Sollen wir dich ins Krankenhaus bringen?« Joels Schultern zuckten. Er atmete langsam ein und senkte die Hände. Dann antwortete er Martha: »Nein. Ich muss in eine Nervenheilanstalt.« Er sah die Kents an. »Ich bin in der Hölle gewesen und jetzt bin ich zurück!« Als er vor dem Haus der Becks anhielt, betrachtete Jonathan im Rückspiegel die beiden Jungen auf der Ladefläche. Joel stieg langsam von der Fläche herunter und bedeutete Clark mit einer Handbewegung, ihm nicht zu folgen. Jonathan sagte zu Martha: »Du bleibst hier, okay?« Dann trat er zu Joel auf den rissigen, von Unkraut überwucherten Weg, der zur Haustür führte.
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Die Tür wurde aufgerissen. Ein Mann in Dockers und Kambrikhemd stand auf der Veranda. Er sah wie ein Collegeprofessor aus. Wie ein sehr betrunkener Collegeprofessor, dachte Jonathan missbilligend. Er sagte: »Guten Abend, Mr. Beck. Ich bin...« »Wo zum Teufel bist du gewesen?«, bellte Joels Vater, ohne Jonathan zu beachten. Er schwankte und roch stark nach Alkohol. Als Joel näher trat, stürzte sich der Mann auf ihn und schlug ihm gegen die Stirn. »Drogen, nicht wahr?«, schrie er. »Du hast dich mit irgendwas voll gepumpt.« Er kniff die Augen zusammen und wandte sich an Jonathan. »Sind Sie vom Jugendamt?« »Nein, Sir«, erwiderte Jonathan. Er hatte Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Joel ist ein Freund meines Sohnes. Wir haben ihn nur nach Hause gebracht.« Joel warf Jonathan einen dankbaren Blick zu. Beck schnaubte. »Der Junge ist in der vierten Klasse sitzen geblieben. Meine Begabung! Und er fällt durch.« »Mr. Beck«, begann Jonathan, aber Joel wehrte ab. »Ist schon okay, Mr. Kent«, sagte er unglücklich. »Es ist okay? Nichts an dir ist okay!«, lallte Beck. »Jetzt geh endlich rein!« Jonathan wurde immer aufgebrachter, als er verfolgte, wie der Mann das Handgelenk seines Sohnes packte, ihn über die Schwelle zerrte und Jonathan dann die Tür vor der Nase zuschlug. »Du bist ein nichtsnutziger Versager! Wage es nie wieder, mich so zu demütigen!«, hörte er Beck von drinnen brüllen. Kochend vor Wut wandte sich Jonathan ab und stapfte zurück zu seinem Truck. Clark stieg von der Ladefläche und ging auf seinen Vater zu: »Wir können ihn nicht hier lassen, Dad!« 17
Jonathan zuckte hilflos die Schultern. »Wir müssen es tun, Clark.« Clark seufzte. »Kein Wunder, dass er ausgerissen ist.« »Er wird es wieder tun«, murmelte Jonathan. »Fahren wir nach Hause.« »Ich habe ihn getötet. Ich habe ihn getötet«, murmelte Janice Brucker im Schlaf. »George, lass mich gehen. Lass mich gehen.« Ich hasse das, dachte Ginger, als sie durch den Flur zum Schlafzimmer ihrer Mutter tappte. Mindestens drei Nächte pro Woche, manchmal jede Nacht, wurde ihre Mutter von Albträumen gequält. Manchmal weinte sie und rief, wie jetzt, dass sie ihren Mann getötet hatte. Was ist im Labor passiert, Mom?, hätte Ginger sie so gerne gefragt. Wie ist Daddy gestorben? Hattest du wirklich etwas damit zu tun? Aber das waren Fragen, die sie ihrer Mutter niemals stellen würde. »Mom«, flüsterte Ginger, als sie ihre Mutter sanft schüttelte. »Mom, wach auf!« Sie sah, wie ihre Mutter die Augen öffnete und langsam in die Wirklichkeit zurückkehrte. Sie befanden sich in ihrem Hochhausapartment in Metropolis, in dem Zimmer, das sich Gingers Eltern vor dem Tod ihres Vaters geteilt hatten. Jetzt schlief Janice allein, und in ihren Träumen wiederholte sich jede Nacht der Unfall. Ginger hatte sich daran gewöhnt, sie zu wecken. Die beiden hatten seit Monaten nicht richtig durchgeschlafen. »Danke«, sagte Janice matt und abwesend. Sie wischte ihr Gesicht ab; an ihren Fingerspitzen hingen Tränen. »Es tut mir Leid.« »Es ist okay.« Das sagten sie immer zueinander, Nacht für Nacht. Aber in dieser Nacht wagte Ginger einen Vorschlag. 18
»Ich denke... Mom, ich denke, wir sollten doch nach Smallville ziehen. Ich denke, du solltest diesen Job annehmen.« Sie blickte sich im Raum um. Janice hatte das Schlafzimmer seit dem Tod ihres Mannes nicht verändert. Seine Sachen waren noch immer überall – seine Uhr auf der Kommode, seine Schuhe im Schrank. »Ich denke, wir sollten... mit der Vergangenheit abschließen und versuchen, an die Zukunft zu denken...« Ginger schluckte. Tränen traten in ihre Augen. Eine andere Mutter hätte ihre verzweifelte Tochter daraufhin in die Arme genommen und sie getröstet. Aber Janice tat es nicht. Sie war schon immer ein wenig unnahbar gewesen, aber seit dem Tod ihres Mannes hatte sie sich völlig verschlossen. Und das brachte Ginger, die so viel Trost, Kontakt und Hoffnung brauchte, fast um. »Schon gut«, sagte Janice halbherzig. »Es ist schon gut. Alles wird wieder gut werden.« Nein, das wird es nicht, dachte Ginger bedrückt. Es wird nie wieder gut werden. Aber zu ihrer Mutter sagte sie nur: »Ich weiß.« Und wie in vielen anderen Nächten im Apartment der Bruckers schienen der Schmerz und die Nacht nie enden zu wollen. Am Rand des Maisfelds auf der Straßenseite gegenüber dem alten Welles-Haus standen ein Junge und ein Mädchen. Der Junge hielt ein aufgeschlagenes Zauberbuch in den Händen. Sie gaben einen merkwürdigen Gesang von sich und zündeten Kerzen an. Der große Meteor in der Nähe stabilisierte und kontrollierte das Geschehen. Und in seinem Innern schrie ein kleiner Junge... ... er schrie laut genug, um die Toten wecken zu können.
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... das Mädchen flüsterte dem Jungen zu: »Ich fühle es. Es wird stärker.«
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1 MUTTERTAG FIEL IMMER AUF EINEN SONNTAG, was bedeutete, dass der nächste Tag Montag und somit ein Schultag war. Auch wenn Clark den Sonntag damit verbracht hatte, mit Martha und Jonathan Muttertag zu feiern und noch ganz nebenbei Joel Beck vor dem Tod bewahrt hatte – er hätte eigentlich einen Geschichtsaufsatz schreiben müssen. Doch als sie zu Hause angekommen waren, war er zu überdreht gewesen, um an Geschichtsaufsätze zu denken und wünschte sich, er hätte, wie seine Mutter vorgeschlagen hatte, am Freitag nach der Schule schon damit begonnen. In der Nacht konnte er kaum schlafen. Immer wieder musste er an Joel denken. Als er und seine Eltern Joel nach Hause gefahren hatten, hatte Clark mit Joel auf der Ladefläche gesessen, weil in der Kabine nicht genug Platz für sie alle war. Joel war lange Zeit still gewesen und hatte darauf beharrt, dass er über das, was passiert war, nicht sprechen wolle. Je näher sie seinem Zuhause kamen, desto stärker konnte Clark Joels Angst spüren, er gab ein paar gemurmelte Bemerkungen über »meinen alten Herrn« von sich. Clark hörte unbehaglich zu. Er wusste, dass es Familien gab, in denen alles verkorkst war, und er machte sich Sorgen, was – oder wer – Joel zu Hause erwartete. Außerdem wollte er wissen, was Joel in dem Maisfeld gesehen hatte... aber Joel schien von dem, was er erlebt hatte, so mitgenommen zu sein, dass seine Äußerungen keinen Sinn ergaben. Als sie das Haus erreichten, ein heruntergekommenes Reihenhaus in den Außenbezirken der Stadt, fing Joel heftig an zu zittern. Er starrte Clark an und sagte: »Ich habe es gesehen, Mann. Ich habe es wirklich gesehen.« »Was gesehen?«, fragte Clark, aber in diesem Moment wurde die Vordertür des Beck-Hauses aufgerissen und ein 21
Mann in weiten Jeans und einem fleckigen Hemd stapfte auf die Veranda. »Joel!«, donnerte er. »Wo zum Teufel bist du gewesen?« »Hi, Mr. Beck«, hatte Clarks Vater freundlich gesagt. Clark verfolgte, wie sein Dad die Initiative übernahm und versuchte, den aufgebrachten Vater zu beruhigen. Doch Mr. Beck ließ sich nicht besänftigen. Als er hörte, dass Joel von irgendetwas »erschreckt« worden war und dann fast überfahren worden wäre, schnaubte Irving Beck und verdrehte die Augen. »Er ist genau wie seine Mutter«, fauchte er und befahl Joel dann, in sein Zimmer zu gehen, als wäre er sechs Jahre alt. Es war für alle Anwesenden peinlich, und Clark glaubte, dass Joel sich gänzlich erniedrigt gefühlt hatte, als die Clarks wegfuhren. »Mann, ich bin froh, dass ich bei euch gelandet bin«, sagte Clark zu seinen Eltern, als sie alle wieder im Truck saßen. Die Schule am nächsten Tag war eine ziemliche Katastrophe. Er hielt Ausschau nach Joel, doch er war nirgends zu sehen, und Chloe und Pete waren auch nicht da, weil sie einen Ausflug zu irgendeiner politischen Veranstaltung machten. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Clark Lana zu sehen bekam, hatte sie immer Whitney im Schlepptau, und die beiden hatten nur Augen füreinander. Und dann... konnte er keinen Geschichtsaufsatz vorweisen. Sein Lehrer, Mr. Cox, war wütend und gab ihm einen Tag Schonfrist, sich »im besten Fall eine Zwei zu verdienen«, und erklärte, dass er für jeden weiteren Tag Verspätung seine Zensur um einen Punkt herunterstufen würde. Nach der letzten Stunde entschloss sich Clark, anstatt den Bus zu nehmen, lieber durch die Maisfelder zu laufen, und so vielleicht herauszufinden, was Joel derart erschreckt hatte. Er schlenderte an den Tafelglasfenstern des Talon vorbei und versuchte so unauffällig wie möglich festzustellen, ob Lana 22
dort schon eingetroffen war, um die Nachmittagsschicht zu übernehmen, als er hörte, wie jemand seinen Namen rief. »He, Clark.« Lex stand vor einem seiner vielen Porsches, einem Modell mit dunkler Graphitlackierung. Lex war das sprichwörtliche arme reiche Kind mit einer Menge Spielzeug, aber ohne Liebe. Sein Vater hatte sich bei den Einwohnern von Smallville nicht gerade beliebt gemacht, als er Mitte der ’80er eine Düngemittelfabrik gebaut und eine Farm nach der anderen aufgekauft hatte. Das Misstrauen der Einwohner Smallvilles hatte sich auf den Sohn des Übeltäters übertragen, als Lex vor einem Jahr hierher geschickt worden war, um die Fabrik zu leiten. Sicher, Lex war irgendwie merkwürdig – ob dies nun eine Folge der Erziehung durch Lionel Luthor oder das Ergebnis von jahrelangem Managementtraining war, wusste Clark nicht. Aber er konnte schwerlich mit dem Finger auf Lex zeigen, weil er Geheimnisse zu haben schien, während er selbst mindestens genauso viele hatte. Wie lautete noch einmal die Redensart? »Wenn du auf jemand zeigst, zeigen drei deiner Finger auf dich.« Clark hatte nicht damit gerechnet, dass er einen Freund gewinnen würde, als er Lex im vergangenen Jahr vor dem sicheren Ertrinken gerettet hatte. Zuerst hatte er gedacht, dass Lex sich lediglich schuldig fühlte und wieder gutzumachen versuchte, dass er zu schnell durch die Carlan Road gefahren war und das Geländer der Old Mill Bridge durchbrochen hatte. Bei dem Unfall waren Lex’ Autoreifen vom Stacheldraht zerfetzt worden. Wozu die Geschwindigkeit nicht unwesentlich beigetragen hatte. Doch nach einer Weile hatte Clark begriffen, dass es Lex wirklich Spaß machte, mit ihm herumzuhängen. Die beiden verband noch etwas anderes, nicht Fassbares – am besten konnte er es als ein Gefühl der Ausgeglichenheit beschreiben, 23
wenn sie zusammen waren. Lex beneidete Clark um sein enges Verhältnis zu seinen Eltern, und die Kents hätten etwas von den Unsummen gebrauchen können, die Lex für schicke Autos, Kleidung und Fechtunterricht verschleuderte. Trotz ihrer harten Arbeit war es in diesen Tagen schwer, sich mit einer Farm den Lebensunterhalt zu verdienen. Jetzt, an einem ganz normalen Montag, trug Lex ein weißes Seidenhemd und einen hellgrauen Mantel, der aussah, als wäre er erst vor wenigen Momenten gebügelt worden. Er sah makellos und elegant wie immer aus, alles passte von Kopf bis Fuß zusammen. Sein kahler Kopf glänzte im Licht der Nachmittagssonne. »Hast du einen Moment Zeit?«, fragte Lex. Geschichtsaufsatz, mahnte sich Clark. Hausarbeiten. Dann beruhigte er sein Gewissen. Ich habe etwas Zeit. Schließlich kann ich mich mit Supergeschwindigkeit bewegen. Nicht jeder Farmjunge kann in wenigen Sekunden die Hühner füttern, das Heu einbringen und die Kühe tränken. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es wohl wäre, ein normaler Teenager auf einer Farm zu sein. Die Arbeit, die er in wenigen Minuten verrichten konnte, würde sich dann über Stunden hinziehen und ihn erschöpfen, sodass er wahrscheinlich zu müde sein würde, um nach Einbruch der Dunkelheit den Himmel mit seinem Teleskop abzusuchen. Es hatte zweifellos einige Vorteile, diese Fähigkeiten zu haben. »Klar, was ist los?«, unterbrach er seine abschweifenden Gedanken. Clark blickte unauffällig zur Vordertür des Talon hinüber und versuchte ein letztes Mal zu erkennen, ob sich Lana im Innern befand. Lex schüttelte grinsend den Kopf. »Sie ist nicht da, Clark. Nell sagte mir, dass sie noch in der Schule ist und an einem Projekt für die Fackel arbeitet.« 24
Clark sah Lex mit hochgezogenen Brauen an. »Kannst du jetzt Gedanken lesen, Lex?« Der junge Luthor lächelte erneut. »Nein, ich kenne dich nur ganz gut.« Er schwieg. »Aber es wäre eine nützliche Fähigkeit bei Aufsichtsratssitzungen – vor allem, wenn mein Dad daran teilnimmt.« Ein leichter, kaum erkennbarer Schatten huschte über Lex’ Gesicht. Clark behielt seine Gedanken für sich. Er war sehr froh, dass er ein derart gutes Verhältnis zu seinem Dad hatte. Unwillkürlich musste er an Joel Beck denken. Er wollte gerade Lex von dem unangenehmen Zwischenfall erzählen, als Lex wieder das Wort ergriff. »Ich habe gleich eine Verabredung mit einer neuen Mitarbeiterin. Sie ist gerade mit ihrer Tochter nach Smallville gezogen und möchte ein Haus in der Nähe eurer Farm mieten. Das alte Welles-Haus. Kennst du es?« Clark nickte. »Sicher.« Das Haus war ein riesiger alter Kasten, groß wie eine Scheune. Er war ein paar Mal daran vorbeigekommen, und als er und Pete zehn gewesen waren, hatten sie versucht, dort einzudringen. Pete hatte behauptet, dass es ein Spukhaus war. »Willst du mitkommen?« Lex wartete und warf dann den Köder aus. »Ich lasse dich auch fahren.« Pflichten, mahnte er sich. Hausarbeiten. Dennoch, der Gedanke, Lex’ neuesten Wagen auszuprobieren, war verlockend. Er warf dem Wagen einen Blick zu und dachte an das Auto, das Lex ihm hatte schenken wollen, weil er ihm das Leben gerettet hatte, doch Jonathan hatte Clark gezwungen, es zurückzugeben. Ohne ein weiteres Wort warf Lex Clark etwas ungeschickt die Schlüssel zu. Die Schlüssel segelten durch die Luft, an Clark vorbei. Er reagierte sofort. Während er sich konzentrierte, schien sich alles um ihn herum zu verlangsamen, aber mit seinen 25
Fähigkeiten konnte er Dinge in Zeitlupe sehen und sich trotzdem mit voller Geschwindigkeit bewegen. Die Schlüssel flogen funkelnd und sich überschlagend durch das Sonnenlicht, und er griff nach ihnen, drehte seinen Oberkörper und fing sie mit den Fingern, als sie vorbeisegelten. Lex zog die Brauen hoch. »Gute Leistung. Ich bin noch immer überrascht, dass du nicht mehr spielst.« Clark hatte eine kurze Karriere als Mitglied des Footballteams gehabt, doch wegen seiner Kräfte waren Mannschaftssportarten immer eine knifflige – wenn nicht sogar gefährliche – Angelegenheit gewesen. Seine Fähigkeiten brachten auch Nachteile mit sich. Die beiden gingen zu Lex’ Wagen hinüber, einem Porsche, den Clark vorher noch nie gesehen hatte. Was nicht weiter ungewöhnlich war. Lex hatte mehr Autos als andere Leute Teller oder Besteck. Aus der Nähe wirkte das Äußere des Wagens japanisch, niedrig und windschnittig. Die Konturen waren viel stromlinienförmiger als dies bei Lex’ anderen Autos der Fall war. Die Scheinwerfer traten nicht hervor, sondern waren von Plastik umhüllt, und die seitlich angebrachten Blinker ließen die runden, an Augen erinnernden Lampen aussehen, als würden sie Tränen vergießen. Obwohl der Wagen am Straßenrand stand, wirkte er wie ein Auto in extremer Kurvenlage. Der dunkle Lack wies metallische Flecken auf und die Sitze bestanden aus dunkelgrauem Leder. Schön. Clark war beeindruckt. Als sie in den Wagen stiegen und Clark hinter das Lenkrad schlüpfte, zählte Lex ein paar der Leistungswerte auf. »911 Turbo. Er soll 280 Kilometer pro Stunde schnell sein.« Er grinste Clark an. »Aber aus Sicherheitsgründen bin ich noch nie schneller als 225 gefahren.« Clark schüttelte den Kopf, teils aus Bewunderung für das Auto, teils über die Risiken, die sein Freund einging.
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»Er hat sechs Gänge, du musst also beim Schalten etwas aufpassen.« Clark nickte. Er holte tief Luft und drehte den Schlüssel im Zündschloss herum; der Motor sprang an und das tiefe, kehlige Brummen wies nicht die geringste Disharmonie auf. Er klang wie ein zufriedener Gepard. Wow. Clark kriegte sich gar nicht mehr ein. Vorsichtig fuhr Clark los und ließ das Talon hinter sich zurück. Lex lachte leise. »Die Geschwindigkeitsbegrenzung liegt bei vierzig, Clark. Du fährst nur zwanzig.« Clark spürte, wie er errötete, während er die Maple Street hinunterrollte und sich der Carlan Road näherte. Sobald er die Stadt hinter sich gelassen hatte, gab er etwas mehr Gas. Er war dermaßen fasziniert von dem Wagen, dass er fast vergaß, nach den Leuten zu fragen, die sie treffen würden, oder warum Lex gewollt hatte, dass er ihn begleitete. Er wusste Lex’ Angebot zu schätzen, doch obwohl sie gute Freunde waren, war ihm klar, dass Lex selten etwas Nettes tat, ohne dass auch für ihn etwas dabei heraussprang. »Also: Warum wolltest du, dass ich mitkomme, Lex?« Clark genoss die Aussicht aus dem Cockpit – in einem Wagen wie diesem konnte man es schwerlich anders bezeichnen – während er auf Lex’ Antwort wartete. Der weite, offene Himmel von Kansas hatte heute ein tiefes Blau, durchsetzt von weißen, flauschigen Wolken, die wie Wattebäusche über ihm verteilt waren. Die Felder mit dem Winterweizen waren noch immer grün und der Wind strich durch seine Reihen und wiegte ihn hin und her. Für die Maisaussaat war es noch etwas zu früh, aber es würde nicht mehr lange dauern. Die Augen auf die Straße, ermahnte sich Clark. Clark richtete seine Aufmerksamkeit aufs Fahren. Er wollte keinen Unfall bauen, wenn Lex mit im Wagen saß. Clark 27
wusste, dass er nicht verletzt werden würde, aber das würde womöglich schwer zu erklären sein. Lex hatte seit dem Tag, an dem Clark ihm das Leben gerettet hatte, schon genug Fragen an ihn. Die weit voneinander entfernten Straßenpfosten entlang der Carlan Road huschten vorbei. Es sah aus, als würde ein Gartenzaun die Straße säumen. Clark hatte es nie geschafft, seine Geschwindigkeit zu messen, wenn er sich mit größter Schnelligkeit bewegte, aber wenn der Tacho ein Anhaltspunkt war, dann konnte er mühelos schneller als die hundert Stundenkilometer laufen, denen er sich jetzt näherte. Cool. Lex wirkte leicht gekränkt, als Clark ihm jetzt einen Blick zuwarf, der verdeutlichte, dass er die Beantwortung seiner Frage erwartete. »Was ist, Clark? Kann ich dich nicht einfach zu einer Spazierfahrt einladen?« Lex wollte es also nicht sagen. Kein Problem. Er würde es noch früh genug erfahren. »Sicher, Lex. Warum nicht?« Lex seufzte und gab nach. »Sagen wir einfach, dass die Familie, die wir besuchen, eine harte Zeit hinter sich hat. Ich dachte mir, ein freundliches Gesicht würde helfen, dass sie sich willkommen fühlen. Und wenn ich etwas sicher von dir weiß, Clark, dann, dass du freundlich bist.« Clark grinste. Vor ihnen lag die Abzweigung zum WellesHaus. Sie würden bald dort sein. Das hab ich wohl vermasselt. Und zwar richtig. Ginger Brucker blickte hinaus auf die grünen Felder, die das riesige Haus, in das sie einzogen, umgaben. Es war unheimlich. Sie erwartete ständig, dass jemand mit einer Sense aus den grünen Reihen kam. 28
Doch da die Pflanzen – sie sahen wie Weizen aus, nur dass sie grün waren – gerade einmal sechzig Zentimeter hoch waren, würde es kein sehr großer Mann sein. Trotz allem musste sie leise lachen. Die ganze Atmosphäre hier hatte etwas. Wahrscheinlich nichts, über das Stephen King in absehbarer Zeit schreiben würde, aber wenn er hierher kam und sich umschaute, würde er zumindest die Inspiration fühlen. Mom sprach noch immer mit der Maklerin, einer nett aussehenden Frau mittleren Alters namens Robin. Ob das Haus überhaupt Kabelanschluss hatte? Sie glaubte nicht, dass sie ohne Kabelanschluss leben konnte. Die Maklerin wusste es nicht, aber ihre Mom war bereits überzeugt. Ginger kannte die Stimmungen und Gesten ihrer Mutter. Wenn sie auf diese Weise mit dem Finger gegen ihr Kinn klopfte, bedeutete es, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte und nur noch die Einzelheiten ausarbeitete. Ginger schauderte. Dieses Haus ist schrecklich. Und diese Farmkinder... Ich dachte, Smallville wäre ein neuer Anfang, keine Sackgasse... Oh, Daddy, wenn du doch nur nicht gestorben wärest... wenn alles doch nur noch so sein könnte, wie es einmal war... Sie schniefte ein wenig und unterdrückte ein Schluchzen. Es half nicht viel; sie hatte bereits einen Kloß im Hals. Wo waren die verdammten Taschentücher? Sie wühlte in ihrer Handtasche, bis sie sie fand und putzte sich die Nase. Erinnerungen überwältigten sie, während sie den Weizen betrachtete. Sie war in der Schule gewesen, als sie vom Tod ihres Vaters erfahren hatte. Es war zunächst ein schöner Tag für sie gewesen; sie hatte für ein Porträt, das sie gemalt hatte, eine Eins bekommen, und Mrs. High, die Kunstlehrerin, hatte sie für ihre jüngste Serie von Kohlezeichnungen gelobt. Dann hatte Mr. Dellafaire, der stellvertretende Direktor, den Kopf ins Klassenzimmer gesteckt und Mrs. High zu sich 29
gerufen. Ginger hatte ahnungslos dagestanden, lächelnd, sie hatte das Lob vor den anderen Schülern genossen. Und ihr Dad war zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen. Im Nachhinein war es ihr so falsch vorgekommen, dass sie diesen Moment genossen hatte. Sie hätte es wissen müssen. Mrs. High war mit einem seltsamen Gesichtsausdruck zurückgekommen – Ginger hatte noch nie zuvor einen derartigen Ausdruck gesehen und sie hatte im Kunstunterricht schon Dutzende von Gesichtern studiert. Sie sah irgendwie traurig und müde aus. Diesen Ausdruck sah Ginger jetzt jeden Tag. Immer, wenn sie in den Spiegel blickte. Ginger war Mr. Dellafaire ins Büro der Direktorin gefolgt. Mrs. Regan hatte ihr das Telefon gegeben. Ihre Mutter war am anderen Ende. Mom hatte sich ganz sachlich gegeben, knapp und präzise. »Ginger? Ich muss dir etwas sagen.« Und dann folgte das Unfassbare: Ihre Mutter hatte angefangen zu weinen. Unter heftigem Schluchzen berichtete sie: »Es geht um deinen Vater. Oh, mein Gott, es hat einen Unfall gegeben, oh, was sollen wir nur tun? Er ist... er ist fort. Oh, Ginger... es war meine Schuld...« Ginger war ein paar Momente lang wie betäubt gewesen. Sie hatte zu verstehen versucht, was passiert war. Sie hatte ihre Mutter noch nie weinen gesehen. Daddy war von beiden der emotionale Typ. Er weinte sogar bei Bambi. Wenn Mom also weinte... wenn Mom völlig aus der Fassung war, konnte dies nur eins bedeuten: Mein Vater ist tot. Etwas Schreckliches war geschehen; das Leben, das sie bisher gekannt hatte, war vorbei.
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Und jetzt war sie hier, stand vor einem heruntergekommenen Farmhaus und wartete darauf, dass ihre Mom das Geschäft mit der Maklerin abschloss. Exil in einem fremden Land, alles im Namen eines Neuanfangs, und sie, Ginger, hatte es auch noch vorgeschlagen. Jetzt begriff Ginger, wie töricht dies gewesen war. Sie und ihre Mom wären besser in der Nähe ihrer Freunde geblieben, in der Nähe der alten, vertrauten Orte, an denen Daddy in gewisser Hinsicht noch immer bei ihnen war... Er hätte sie nicht hierher gebracht. Noch während sie dies dachte, war es, als würde sie plötzlich die Stimme ihres Dads hören. Komm schon, kleines Mädchen, hörte sie ihn sagen. Es wird schön werden. Manchmal muss man die Zitronen nehmen, die das Leben einem gibt, und sie bis zum letzten Tropfen auspressen. Du sagst, du wirst Limonade daraus machen? Wirklich? So ist es richtig! Sie lächelte bei der Erinnerung an seinen unverwüstlichen Optimismus, und tupfte sich die Augen mit dem Taschentuch ab. Sie ging zu ihrer Mom und der Maklerin zurück. Er ist immer noch bei mir, dachte sie, und ein wenig Hoffnung keimte in ihr auf. Solange ich mich an ihn erinnere, ihn in meinen Gedanken am Leben halte... Sie fühlte sich besser. Vielleicht hatte die Maklerin eine Tochter, jemand, der vielleicht wusste, was man in dieser Stadt unternehmen konnte. Als sie sich den beiden Frauen näherte, hörte sie in der Ferne ein Auto näher kommen. Aber kein gewöhnliches Auto. Der Motor gab ein kehliges Brummen von sich, wie es für Sportwagen typisch war. Ginger sah zur Straße hinüber. Ein schwarzer, lang gestreckter, stromlinienförmiger Schatten raste über die Landstraße.
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Nun, vielleicht ist es hier draußen in Smallville doch nicht so langweilig, überlegte sie. Der Wagen kam direkt auf sie zu und wurde langsamer. Der Fahrer achtete darauf, keine Staubwolke hochzuwirbeln, als er an den Straßenrand fuhr und anhielt. Ginger hielt in Gedanken die Szene in einer Zeichnung fest – ein strahlender, sonniger Tag, Licht, das die metallgraue Lackierung des Wagens zum Glänzen brachte, ein dunkelhaariger Typ am Steuer. Die Türen öffneten sich und zwei junge Männer stiegen aus. Einer war älter, wahrscheinlich Anfang zwanzig. Allerdings war er schwer einzuschätzen, da er keine Haare hatte. Er war gut gekleidet und hatte attraktive Gesichtszüge. Doch sein Lächeln wirkte argwöhnisch, was den Gesamteindruck zerstörte. Der andere Junge schien ungefähr in ihrem Alter zu sein. Er gefiel ihr auf den ersten Blick. Er hatte volles schwarzes Haar, das ein Gesicht mit hohen Wangenknochen und ausdrucksvollen grünen Augen umrahmte. Oder waren sie blau? Es war in diesem Licht schwer zu erkennen. Ohne zu überlegen trat Ginger näher, um besser sehen zu können. Das Gesicht behielt seine Schönheit auch bei näherer Betrachtung. Eine kräftige, aber nicht zu große Nase und volle Lippen über einem kantigen Kinn und ein durchtrainierter Körper vervollständigten den überwältigenden Gesamteindruck. Wenn es in Smallville noch mehr von dieser Sorte gibt..., dachte sie enthusiastisch. Der Kahlköpfige ging mit ausgestreckter Hand direkt auf ihre Mutter zu. »Was halten Sie davon?« »Es ist schön, Mr. Luthor«, erwiderte Mom. Erst jetzt konnte sie den Blick von Clark lösen. Lex Luthor? Hier? Ihre Mom hatte zwar erzählt, dass sie für ihn arbeiten würde, aber die Vorstellung, direkt neben einem 32
Milliardärssohn zu stehen, war irgendwie einschüchternd. Sie war froh, dass sie sich die Nase geputzt hatte. »Ginger?«, sagte ihre Mutter. »Das ist mein neuer Arbeitgeber!« Ginger trat vor und schüttelte Lex die Hand, während ihre Mutter sie einander vorstellte. Mr. Luthor sagte: »Und das ist Clark Kent. Er lebt auf einer Farm in der Nähe und wollte mitkommen und Sie willkommen heißen.« Clark – sein Name war also Clark! – warf Lex einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. Irgendetwas ging zwischen den beiden vor. Dann sah Clark sie an. »Hi«, sagte er und schüttelte mit einem freundlichen Gesichtsausdruck ihre Hand. »Hallo«, antwortete sie und versuchte, ihn nicht anzustarren. »Ich muss mit deiner Mom über ein paar geschäftliche Dinge reden«, sagte Lex zu Ginger. »Vielleicht könnte Clark dir ein wenig die Umgebung zeigen?« Ehe sie reagieren konnte, fügte er hinzu: »Ist dir das recht, Clark?« Clark nickte lahm. »Sicher, Lex.« Er schwieg einen Moment, dann fügte er mit etwas mehr Begeisterung hinzu: »Soll ich den Wagen nehmen?« Lex beugte sich zu ihrer Mom. »Er fährt sehr vorsichtig, keine Sorge. Ich bin auf dem Weg hierher fast eingeschlafen.« Clark errötete leicht, und Ginger war von dem Farbenspiel auf seiner Haut fasziniert. Vielleicht erlaubt er, dass ich ihn male, dachte sie, doch dann rief sie sich zur Vernunft. Wahrscheinlich hatte er eine Freundin. Sie gingen zum Wagen und ließen ihre Mom und Lex allein, damit sie die geschäftlichen Angelegenheiten regeln konnten. Smallville gefiel Ginger allmählich besser. Janice Brucker verfolgte, wie ihre Tochter zusammen mit dem jungen Mann in den Wagen stieg. Clark. So hieß er. 33
Er wirkte recht harmlos. Janice kannte die Männer gut genug, um den Unterschied zwischen Gefährlichkeit und Unschuld zu erkennen. Und Unverdorbenheit. Clark sah so aus, wie Lex gesagt hatte: wie ein Pfadfinder. Das bedeutete, dass er vorsichtig war. Dass er ein guter Fahrer war. Sie konnte fast hören, wie ihr Mann lachte und sie damit aufzog, dass sie ihr Leben nach dem Wenn-Dann-Prinzip führte. Gott, wie sie ihn vermisste. Der Schmerz drohte sie zu überwältigen. Wenn ich es doch nur ungeschehen machen könnte, dachte sie verzweifelt. Der Unfall war allein meine Schuld. Als Lex Luthor sie angerufen und ihr angeboten hatte, in seiner Düngemittelfabrik in Smallville zu arbeiten, hatte sie sofort zugesagt. Die LuthorCorp hatte ihr Labor in Metropolis finanziert, und nach der Untersuchung des Unfalls – es war kein Verschulden ihrerseits festgestellt worden und man hatte sie finanziell großzügig entschädigt – war sie sicher gewesen, nie wieder von ihr zu hören. Die meisten Firmen dieser Größe hielten sich fern von jedem, der mit solchen Unfällen in Verbindung gebracht wurde. Hinzu kam, dass sie und George ihre privaten Forschungen geheim gehalten hatten. Niemand wusste, was ihnen fast gelungen war. Erschöpft und voller Gram hatte sie kündigen wollen. Sie trauerte sechs Monate, dann wurde sie unruhig. Ihr Steuerberater hatte ihr geraten, den Rest ihrer Abfindung zur Seite zu legen, damit sie nicht zu hoch besteuert würde. Ginger besuchte jetzt ein hervorragendes College und war gut genug, nach ihrem Abschluss zur Universität zu gehen. Und es war Ginger gewesen, die sehr daran interessiert gewesen war, nach Smallville zu ziehen. Janice fragte sich jetzt, als sie sich umschaute, warum. Es war sehr provinziell hier. Nett, aber definitiv kein Ort, von dem sie erwartet hätte, dass Ginger dort leben wollte. 34
»Okay«, sagte Lex und wandte sich ihr zu. Im Stillen nannte sie ihn Lex. Sie war alt genug, um seine Mutter sein zu können – wenn sie ihn in sehr jungen Jahren bekommen hätte. Lex bedeutete Janice, ihn zum Haus zu begleiten. Robin sagte daraufhin: »Ich werde jetzt in mein Büro zurückfahren.« Sie lächelte Janice an. »Geben Sie mir bitte Bescheid...« »Wir nehmen es«, unterbrach Janice sie, und ihr wurde bewusst, dass sie sich in genau diesem Moment entschieden hatte, hierher zu ziehen. »Wundervoll.« Die Frau lächelte erfreut. »Ich werde alle Papiere vorbereiten und Sie dann anrufen.« Sie schenkte auch Lex ein Lächeln. »Danke!« Er lächelte zurück, sagte aber nichts. Die Frau stieg in ihren Toyota Camry und brauste in einer Staubwolke davon. Lex blieb einen Moment neben Janice stehen und sah dem Camry hinterher. Dann drehte er sich zu ihr um. »Sind Sie zufrieden?«, fragte er freundlich. »Ja«, sagte sie. Sie würden es nur so lange mieten, bis sie ein besseres – oder zumindest moderneres – Haus fanden, aber fürs Erste würde es genügen. Es war vollmöbliert, was den Ausschlag gegeben hatte. Lex hatte ihr angeboten, bis auf weiteres ihr Apartment in Metropolis zu bezahlen, während sie versuchte, ihr Leben wieder in den Griff zubekommen. Sie hatte im Moment keine Zeit, mit all ihren Sachen umzuziehen. Zumindest redete sie sich das ein. Die Wahrheit war, dass sie es nicht ertragen konnte. Nach fast einem Jahr hatte sie es noch immer nicht übers Herz gebracht, Georges Sachen auszusortieren. Sie gingen durch den großen Hausflur. Dielenbretter knarrten, Schritte hallten. Das Haus sah aus wie eine Kulisse aus der Addams Family, nur dass es nicht so staubig war. Während sie weitergingen, dachte sie über Lionel Luthors Sohn nach. Da sie bis jetzt für Luthor senior gearbeitet hatte, 35
hatte sie es ein wenig irritiert, als sie das Angebot von seinem Sohn erhalten hatte. Sie war überzeugt davon, dass er nichts über ihre Forschung wusste, aber natürlich blieb sie misstrauisch. Außerdem hatte er einen gewissen Ruf, den sie allerdings ignoriert hatte, als sie sein Angebot angenommen hatte. Niemand wollte etwas Schlechtes über ihn sagen, doch unter ihren Kollegen war bekannt, dass es ihm um unorthodoxe Ergebnisse ging, die auf unorthodoxe Weise erzielt wurden. Sie hatte ein paar ihrer Kollegen ausgefragt, die davon geredet hatten, dass Lex »Abkürzungen« nahm, um Ergebnisse zu bekommen. Worauf sich diese »Abkürzungen« bezogen, wollte allerdings niemand sagen. Wenn sie wirklich an Düngemitteln arbeiten sollte, besorgten derartige Bemerkungen sie nicht. Aber wenn Lex ihr eine größere Herausforderung anbieten würde – wenn er wusste, dass sie und ihr Mann kurz vor einem bahnbrechenden Erfolg gestanden hatten – sah die Sache anders aus. Sie erreichten das Wohnzimmer. Ein riesiges Sofa stand dort, das mit einem weißen Laken abgedeckt war. Janice nahm es herunter und setzte sich. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu sprechen, Dr. Brucker. Ich weiß das wirklich zu schätzen.« Bisher war nichts an ihm auszusetzen gewesen, er hatte stets höflich und unverbindlich mit ihr gesprochen. Aber sie spürte unterschwellig, dass er darauf aus war, etwas zu bekommen... aber was? »Wissen Sie viel über Smallville?« »Bitte, nennen Sie mich einfach Janice. Jedes Mal, wenn Sie ›Dr. Brucker‹ zu mir sagen, habe ich das Gefühl, Ihre Professorin zu sein.« Lex lächelte und wartete, da er auf seine Frage noch keine Antwort erhalten hatte. Wieder spürte sie die Ungeduld hinter seiner scheinbar ruhigen Fassade.
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»Meteoriten«, warf sie in den Raum, und spürte sofort, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Lex nickte. »Offenbar haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht.« »Ich bin Wissenschaftlerin«, erinnerte sie ihn. Lex fuhr fort: »Vor zwölf Jahren wurde Smallville von einem Meteoritensturm getroffen. Ein Teil der Stadt wurde dabei zerstört. Es gab zwei Tote.« »Ich weiß.« Lex griff in seine Manteltasche und zog eine kleine Schachtel hervor. Darin lag ein Kristall mit einer hellgrünen Tönung. Sie war so intensiv, dass es aussah, als würde er leuchten. »Dies ist ein Bruchstück der Meteoriten, die an jenem Tag niedergingen. Ich habe seit dem Meteoritensturm die Wirkung dieser Steine auf die Menschen studiert.« Er warf ihr einen Blick zu. »Denn es gibt Wirkungen. Eine Menge.« Sie war interessiert. »Aber damals müssen Sie erst...« »Zwölf gewesen sein.« Er zuckte die Schultern. »Und ich begann damit, zuerst mich zu studieren.« Er griff sich an den kahlen Kopf. »Ich hatte früher mehr rote Haare, als Sie sich vorstellen können. Vor dem Meteoritensturm, wohlgemerkt. Danach sind mir plötzlich alle Haare ausgefallen. Sie sind nie mehr nachgewachsen. Und ich werde, wenn überhaupt, nur noch selten krank.« »Die Meteoritenfragmente...« »Die Reaktionen beruhen auf Strahlung«, erwiderte er. Als sie erschrocken zurückwich, fügte er hinzu: »In den meisten Fällen muss man ihr über längere Zeit ausgesetzt sein, bis irgendetwas passiert.« Die beiden schwiegen einen Moment. Sie hatte den Eindruck, dass er es aus Respekt vor den Toten tat. »Sie könnten eine Menge Gutes tun«, sagte er dann. Sie schluckte. »Wie?«
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»Ich möchte, dass Sie einen Weg finden, die Strahlung, die von den Meteoriten abgegeben wird, künstlich zu erzeugen.« Er legte den Kopf zur Seite. »Es ähnelt dem, was Sie für meinen Vater zu tun versucht haben.« Aha! Er wusste es also. Sie holte Luft und fragte sich, wie viel er wirklich wusste. »Die Düngemittelforschung ist also...« »Ein Vorwand.« Er sprach darüber, als wäre absolut nichts dagegen einzuwenden. »Sie würden im Forschungslabor der Fabrik arbeiten. Es liegt direkt neben dem Hauptgebäude. Ihr Gehalt würde ich natürlich verdoppeln und die Erhöhung würde ich aus meiner eigenen Tasche bezahlen.« Um keine Spuren zu hinterlassen, dachte sie. »Ihr Mann ist eines schrecklichen Todes gestorben«, räumte er ein, »aber er hat an seine Arbeit geglaubt. Das macht es etwas weniger schlimm, meinen Sie nicht auch?« Er sah sie durchdringend an, als wollte er so ihre Zusage erzwingen. »Er würde nicht wollen, dass Sie Ihre Träume aufgeben, Janice. Die Träume, die Sie beide geteilt haben. Darum geht es bei der Wissenschaft. Um Entdeckungen.« Sie sagte nichts. Tränen traten in ihre Augen, und sie senkte den Kopf. George würde wissen, was zu tun ist, dachte sie, aber ich nicht. Ich bin hier überfordert. »Wenden Sie sich an die Forschungsabteilung, wenn Sie morgen in die Fabrik kommen«, erklärte er. »Man wird Sie dann zu Ihrem ›richtigen‹ Labor bringen. Ich werde eine entsprechende Anweisung geben.« Die beiden standen auf, schüttelten sich die Hände und besiegelten so die Abmachung. Habe ich gerade meine Seele verkauft?, fragte sie sich, immer noch zweifelnd. Sie schlenderten zur Vorderseite des Hauses. Wie aufs Stichwort konnte Janice den Motor von Lex’ Wagen in der Ferne hören.
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»Klingt so, als kämen Clark und Ginger zurück. Hervorragendes Timing.« Er drehte sich zu ihr um und lächelte wieder. »Willkommen in Smallville, Janice, und willkommen im Team.« Janice lächelte unsicher zurück, als sie das Haus verließen. Hinter ihnen im Haus, im vorderen Flur, öffnete sich die Standuhr und beide Uhrgewichte – das für die Glocken und das für die Hemmung – stiegen in die Höhe. Das Pendel in der Uhr, das mit einem großen goldenen Medaillon versetzt war, schwang nach links, während die Hemmung klickte. Tick-Tack-Tick-Tack. Das Zifferblatt der Uhr öffnete sich und die Zeiger drehten sich, um die Zeit einzustellen. Als sie die Halbstunden- und Stundenmarkierungen passierten, drang Glockengeläut durch das leere Haus. Die Uhr stand schon seit Jahrzehnten in dem Farmhaus. Als Robin, die Maklerin, sie bei der Inspektion des Anwesens gesehen hatte, war sie der Meinung gewesen, dass sie ihm etwas Gemütliches gab, und hatte sie reinigen und ölen lassen. Sie hatte keine Ahnung, dass sie jeden Tag, seit sechzig Jahren, von Geisterhand aufgezogen wurde. Die Zeit war eingestellt und das Haus wartete darauf, dass seine neuen Bewohner einzogen. Die letzten Echos der läutenden Glocken verklangen in der einsetzenden Dunkelheit. Durch die Felder rauschte der Wind.
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2 GINGER WANDERTE DURCH DIE KORRIDORE der Smallville High, und das Gefühl, den ersten Schultag in der neuen Stadt vor sich zu haben, flößte ihr Unbehagen ein. Das Gebäude war für eine derart kleine Stadt recht modern. Sie hatte alte Holzverkleidungen und verblasste Fotos von Farmkindern erwartet. Stattdessen fand sie eine Modellschule vor, von Spinden gesäumte Korridore und frisch gebohnerte, glänzende Fußböden, alles sauber und sorgfältig gepflegt. Das einzig Ungewöhnliche waren die zahlreichen Plakate, die Sportereignisse ankündigten. »Los Crows!«, »Die Crows werden am Samstag fliegen!« und »Seht am Samstag, wie die Crows die Griffins fertig machen!« waren nur einige von vielen Postern, die sie auf dem Weg von der Toilette zum Wasserspender sah. Entweder herrschte an der Schule ein ausgeprägter Sportsgeist oder es gab in dieser Stadt nichts anderes zu tun. All die üblichen Fragen gingen ihr durch den Kopf: Würde sie hierher passen? Würde sie einen guten ersten Eindruck machen? Würde man sie mögen? Sie hatte vorher schon einige Male die Schule gewechselt, aber immer zu Beginn des Schuljahrs. Dass sie in der Mitte des Jahres dazu stieß, machte es schlimmer. Es richtete einen Scheinwerfer auf sie und veranlasste die Leute, nach dem Warum zu fragen. Sie wollten sicherlich ihre Geschichte hören. Die sie keinem erzählen wollte. Mit Direktor Kwan hatte sie darüber sprechen müssen. Er hatte ihre Unterlagen durchgesehen, mitfühlend genickt und sie dann in die Kurse eingeteilt. Dabei hatte es einige Überraschungen gegeben. Sie hatte alle Kunstkurse belegen wollen. Aber es wurde hier nur ein einziger Zeichenkurs angeboten, und so hatte sie ihn 40
genommen. Allerdings wurden hier mehr Sprachen angeboten als an ihrer alten Schule, was sie erstaunte. Ihre alte Highschool Northridge, eine vorbildliche Lehranstalt mit fünfhundert Schülern, bot nur Französisch, Deutsch und Spanisch an. Die Smallville High kam auf vielleicht zweihundert Schüler, trotzdem standen Französisch, Deutsch, Spanisch, Latein und vor allem Griechisch auf dem Lehrplan. Sie hatte sich entschieden, mit Französisch weiterzumachen, weil es schon immer ihr Traum gewesen war, nach Paris zu fahren, um sich die großen Kunstmuseen anzusehen. Im nächsten Jahr würde sie dann vielleicht Latein dazunehmen. Der größte Hammer war der Schreibmaschinenkurs. Ein halbes Jahr wurde nicht als Leistungsnachweis akzeptiert. Wenn sie den Schein haben wollte, musste sie das Jahr abschließen. Es war dumm, aber sie brauchte den Schein, und so hatte sie den Kurs belegt. Nun war es Zeit für die erste Unterrichtsstunde. Showtime. Nervös kehrte sie zu ihrem Spind zurück, um sich zu vergewissern, dass sie die Kombination nicht vergessen hatte. 36, dann rechts 42, dann links 16... Sie zog am Griff, aber die Tür öffnete sich nicht. Verdammt! Ich weiß, dass das die richtige Kombination ist, dachte sie verärgert. »Du musst dagegen schlagen. Warte, ich zeig’s dir.« Ginger blickte auf und sah direkt in das Gesicht eines Mädchens in ihrem Alter. Sie hatte lange dunkle Haare und eine hohe Stirn. Ihr Mund war breit und ausdrucksstark, und wenn sie lächelte, so wie jetzt, zeigten sich Grübchen auf ihren Wangen. Ihre Lippen waren voll und dezent geschminkt. In Smallville schien es offenbar nur schöne Menschen zu geben. Wie die meisten Mädchen ihres Alters verglich sich Ginger mit der Konkurrenz. Die andere Schülerin ahnte nichts davon, 41
als sie den Griff gegen das Metall des Spindes drückte, direkt über dem Schloss. Sie zog daran und der Riegel löste sich problemlos. »Ich hatte diesen Spind letztes Jahr«, sagte das Mädchen freundlich. »Ich heiße Lana Lang.« »Ginger Brucker. Schön, dich kennen zu lernen.« Der Name kam Ginger bekannt vor. Nach ein paar Sekunden erinnerte sie sich. Sie hatte im Web einige Nachforschungen über Smallville angestellt, bevor sie Metropolis verlassen hatten. Es handelte sich um das Mädchen, das mit ansehen musste, wie seine Eltern an dem Tag des Meteoritenschauers starben. Es waren die beiden einzigen Menschen gewesen, die durch ihn umgekommen waren. Das konnte kein Zufall sein. Kwan hatte sie auf sie angesetzt! »Danke«, sagte sie kurz angebunden und wandte sich ihrem Spind zu. Aber Lana ging nicht. »Entschuldigung – habe ich etwas Falsches gesagt?« Ginger sah sie wieder an und bemerkte, dass sie ehrlich überrascht wirkte. »Hat Direktor Kwan dich geschickt, um mit mir zu reden?« Lana schüttelte den Kopf. »Sollte er?« Ihre Stimme war melodisch und hell. Ginger errötete. Sie wollte auf keinen Fall jemanden vor den Kopf stoßen. »Nein. Ich bin wohl diejenige, die sich entschuldigen sollte. Ich habe die falsche Schlussfolgerung gezogen.« Sie seufzte, als ihr dämmerte, dass sie jetzt über das reden musste, was sie am liebsten für immer in ihrem Inneren begraben hätte. Hätte sie doch nur den Mund gehalten. »Meine Mom und ich sind gerade erst von Metropolis hierher gezogen – mein Dad, er, äh...« Sie konnte es nicht sagen. 42
»Mein Dad war ein...« Sie versuchte fortzufahren, aber sie konnte es nicht. Ihre Kehle schnürte sich zusammen und ihr kamen die Tränen. Doch Lana verstand es. »Du hast die Zeitungsartikel über mich gelesen«, sagte sie. »Über den Meteoritenschauer.« Ginger nickte, dankbar dafür, dass sie nicht sprechen musste. »Du dachtest, weil meine Eltern – und dein Dad – gestorben sind, hat Kwan mich gebeten, mit dir zu reden?« Ginger nickte unglücklich. Sie starrte in ihren Spind; jemand hatte die Rückwand von der oberen linken Ecke des Regalbereichs bis in die untere rechte zerkratzt. Sie sah den Kratzer an und wünschte sich, sie könnte in den Spind steigen und die Tür hinter sich verschließen. »He, Ginger, es ist okay«, sagte Lana sanft. »Es kommt immer noch vor, dass ich darüber nachgrübeln muss, und es ist jetzt dreizehn Jahre her.« Lana schwieg einen Moment. »Manchmal fühle ich mich schuldig, zum Beispiel, wenn es mir gut geht.« Ginger nickte. Ihr erging es genauso. »Und manchmal mache ich mir Sorgen, dass... dass ich sie vergessen werde.« Ginger wandte sich wieder Lana zu und sah sie direkt an. Da bemerkte sie ihn, den Ausdruck, den sie auch bei Mrs. High gesehen hatte, die Müdigkeit, die Traurigkeit. Und die Furcht. Und sie wusste, dass Lana ihn auch bei ihr sehen konnte. »Aber ich werde es nicht. Sie vergessen. Ich bemühe mich wirklich sehr. Denn ich habe nicht so viele Erinnerungen an sie...« »Du warst noch ganz klein«, sagte Ginger. Sie schwiegen einen Moment, und Ginger war es, als könnte sie fast die Geister der Toten in der Nähe spüren.
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Die Klingel unterbrach den Moment der Stille. Ginger hörte Schritte hinter sich, und sie drehte sich um. Lana, die vor ihr stand, hatte bereits gesehen, wer es war – und ihr Gesicht leuchtete auf. »He, Clark. Komm her, ich möchte dir Ginger vorstellen«, sagte sie. Es war der Junge mit dem Porsche, der auf sie zueilte, ein wenig zerzaust und außer Atem. Ginger errötete und schenkte ihm ein viel strahlenderes Lächeln, als sie es noch vor ein paar Minuten zu Stande gebracht hätte. Er sah noch immer so unschuldig wie ein Kind aus. »Wie gewöhnlich verspätet«, stichelte Lana. »Ginger, Clark ist...« »Wir haben uns schon gestern kennen gelernt«, unterbrach Ginger sie. Sie hörte den Besitzanspruch in ihrer Stimme, was ihr sofort peinlich war. »Hi. Noch einmal«, sagte Clark zu ihr. Dann fügte er hinzu: »Ihre Mom arbeitet für Lex«, als würde das erklären, warum sie sich kannten. Ginger glaubte, bei Lana eine leichte Verunsicherung zu spüren. Oh-oh, ist sie seine Freundin?, fragte sie sich bange. Dann kam ein anderer Junge hinzu, ein Blonder in einer Sportjacke, und legte seinen Arm um Lana. Clark verlangsamte seine Schritte, sodass Lana und der andere Junge einen Meter vor ihnen gingen. Aber seine Augen ruhten noch immer auf Lana und sein süßes Lächeln verblasste langsam. Ginger zog ihre Schlüsse aus seiner Körpersprache: Clark war das Anhängsel – nicht der Freund. Also war für sie der Weg frei. Clark sah Whitney Fordman und Lana nach und wünschte sich, woanders zu sein. Es war nicht fair. Whitney musste nur er selbst sein und konnte seine Ziele verfolgen, ohne sich zurückhalten zu müssen.
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Clark hingegen musste sich beherrschen, um nicht zu riskieren, andere mit seinen Kräften zu verletzen. Und so fügte er sich, verbarg seine Fähigkeiten, lehnte sich zurück und beobachtete, wie Lana Lang, das Mädchen, das er schon sein ganzes Leben lang begehrte, sich von Whitney Fordman, dem Kapitän des Footballteams, umgarnen und beeindrucken ließ. Es war ganz und gar nicht fair. Fair ist nur der Tod, Sohn. Sein Dad hatte das so oft zu ihm gesagt, dass er immer die Stimme Jonathans hörte, wenn ihm dieser Satz ins Gedächtnis kam. Er versuchte sich cool, locker und unbeeindruckt zu geben und wandte seinen Blick von Lana ab. Freundlich sah er Ginger an. Sie lächelte ihn strahlend an, und er fühlte sich seltsamerweise unbehaglich dabei. Whitney hatte sich nun ebenfalls zu Ginger umgedreht und Lana ergriff das Wort. »Ginger, das ist Whitney Fordman. Mein Freund.« Zu Whitney fügte sie hinzu: »Das ist Ginger. Sie hat heute ihren ersten Tag hier.« »Ich bin aus Metropolis«, warf Ginger ein. »Was hast du angestellt?«, fragte Whitney, und alle lachten verkrampft. »Ihre Mom arbeitet für Lex«, erklärte Clark, und die anderen blickten höflich interessiert drein. »Das tun eine Menge Leute«, meinte Whitney. »Nun, ich muss los. Muss mit dem Coach über das Nachmittagstraining reden.« Er gab Lana einen Kuss, bevor er den Korridor hinuntereilte. Clark sah ihm nach. Wer will schon mit dem Coach reden, wenn er mit Lana reden kann? Clark spähte in den nächsten Klassenraum und setzte seinen Röntgenblick ein, um einen Blick auf die Uhr werfen zu können. Wie gewöhnlich hatte er sich beeilen und durch die 45
Felder laufen müssen, um pünktlich zur Schule zu kommen. Es war ein kleines Wunder, dass er es rechtzeitig geschafft hatte. »Clark, Lana! Und wer ist das?« Pete tauchte vor ihnen auf, charmant wie stets. Clark stellte sie einander vor. »Ginger Brucker, das ist Pete Ross. Pete, Ginger.« »He«, sagte Pete und lächelte bewundernd. Ginger wirkte geschmeichelt. »Lana«, fügte er hinzu, »ich muss dich etwas fragen...« Aber bevor er fortfahren konnte, tauchte Chloe auf. »Wie ich sehe, findet hier eine spontane Redaktionskonferenz der Fackel statt«, erklärte sie. »Das trifft sich gut, denn ich habe eine großartige Story.« Pete nickte. Dann sagte er: »Chloe, das ist Ginger. Sie ist neu.« »Hi.« Chloes Lächeln war warm und aufrichtig. »Du wirst es hier hassen.« Zu den anderen gewandt fügte sie hinzu: »Ich habe euch beim Mittagessen einiges zu erzählen.« Sie zog die Brauen hoch. »Also kommt auch.« »Chloe ist die Herausgeberin der Schülerzeitung«, erklärte Lana Ginger. »Ja, sie ist immer auf der Suche nach einer tollen Story«, meinte Pete. »Was bedeutet, dass wir aus erster Hand über alle Merkwürdigkeiten in Smallville informiert werden.« »Wärest du vielleicht damit einverstanden, wenn ich dich interviewe?«, fragte Chloe Ginger. Sie lachte. »Nicht, dass ich dich für merkwürdig halte. Aber ich denke, es wäre für unsere Leser interessant, Smallville einmal mit den Augen einer Außenstehenden zu sehen.« Ginger blickte zu Clark hinüber und zog eine Braue hoch. Clark schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. Ginger lachte daraufhin und Chloe sah sich um. »Willst du dich mit der Presse anlegen, Clark?« Diesmal lachten Lana und Pete. 46
»Was hast du als Erstes?«, fragte Chloe Ginger. »Porträtmalerei«, antwortete Ginger. Sie suchte nach dem Stundenplan, den Direktor Kwan ihr gegeben hatte. Als sie ihn gefunden hatte, warf Chloe einen Blick darauf. »Sperry. Raum 210.« Sie zeigte auf eine Tür, die sich ein Stück den Korridor hinunter befand. »Da musst du hin.« »Oh. Danke.« Ginger lächelte sie schüchtern an. »Komm doch zum Mittagessen in die Cafeteria«, sagte Chloe freundlich. »Dort werden wir dir mehr über die Merkwürdigkeiten von Smallville erzählen.« »Okay«, nickte Ginger und versuchte, nicht Mitleid erregend dankbar zu klingen. Dann schloss sie sich dem Strom der Schüler an, die versuchten, ihre Klassenräume zu erreichen, bevor es zum letzten Mal klingelte. »Wow, sie ist ein Knaller«, hörte sie Pete sagen. Sie errötete und grinste von Ohr zu Ohr. Ich frage mich, ob Clark auch dieser Meinung ist?, überlegte sie, während sie das Klassenzimmer betrat. Mittagessen. Seit Lana im Talon arbeitete, sah sie die Dinge mit anderen Augen. Dass sie den Geschäftsplan erstellt hatte, mit dem es ihr gelungen war, Lex von der Idee zu überzeugen, das alte Kino zu renovieren, hatte ihr geholfen, die Regeln der Gastronomie besser zu verstehen. Da war zum Beispiel die Cafeteria, voll von Schülern, von denen einige vermutlich noch nicht gefrühstückt hatten und deshalb verdammt hungrig sein mussten. Aber nur sehr wenige von ihnen standen in der Schlange, um sich das heutige Tagesgericht zu holen, das aus Butterhuhn, Reis und grünen Bohnen aus der Dose bestand. Die meisten von ihnen würden sich wahrscheinlich Nachos kaufen oder sich einfach etwas am Automaten ziehen.
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Sie müssen wirklich das Essen verbessern, dachte sie. Sicher, es ist schwer, für so viele Leute zu kochen, aber ich habe ein paar tolle Websites mit fantastischen Rezepten für Großküchen entdeckt. Wir könnten vielleicht sogar eine Burgerbar haben. Sie überlegte flüchtig, ob sie Direktor Kwan einen entsprechenden Vorschlag machen sollte, verwarf den Plan dann aber. Sie hatte einfach nicht genug Zeit. Durch das Talon, Whitney und ihre Schularbeiten hatte sie kaum noch Freizeit. Was auch der Grund dafür war, dass sie Whitney wegen seinem vollen Terminplan keine Vorwürfe machte. Wann immer er konnte, verbrachte er seine Zeit mit ihr. Sollten sich die anderen ruhig ihr Maul zerreißen; sie führte ihr eigenes Leben und ihr Freund auch. Und vielleicht tue ich ein bisschen zu wenig dafür, dass wir uns häufiger sehen können, dachte sie und warf Clark einen verstohlenen Blick zu. »Hast du Lust, für die Fackel zu arbeiten?«, fragte Chloe Ginger, als sie sich setzten. »Vielleicht«, sagte Ginger. »Braucht ihr Illustrationen?« Schüchtern fügte sie hinzu: »Ich kann gut zeichnen – mit Schreiben habe ich nicht viel am Hut. Zu Hause... ich meine, in Metropolis habe ich die Schülerzeitung illustriert.« Pete warf ein: »Nun, wie heißt es so schön: Bild schlägt Text!« Für ihn war das Thema damit erledigt und er wandte sich Lana zu. »Lana, du weißt doch, dass ich für die HiramWelles-Kampagne arbeite?« Chloe runzelte ungeduldig die Stirn. »Hört zu, Leute. Ich habe einen Hammer! Joel Beck hat einen Geist im Maisfeld gesehen.« Lana war verdutzt. Sie kannte Joel flüchtig. »Was?« »Wartet, wartet«, unterbrach Pete. »Ich habe etwas Wichtiges mit Lana zu besprechen. Danach können wir uns wieder den unglaublichen Fällen der Chloe Sullivan zuwenden. 48
Lana, der Gouverneur will für seine Helfer vor Ort ein Fest veranstalten. Eine Art Wiedersehensfeier – er ist seit langer Zeit nicht mehr in Smallville gewesen.« Für Ginger fügte er erklärend hinzu: »Gouverneur Welles ist hier aufgewachsen. Er bewirbt sich für die Wiederwahl.« Dann wandte er sich wieder an Lana: »Er ist früher immer ins Talon gegangen, als es noch ein Kino war.« »Und Joel flippt völlig aus«, fuhr Chloe trotzig fort. »Er ist die ganze Woche nicht zur Schule gekommen.« »Wow, und wir haben schon Dienstag«, sagte Pete gedehnt. »Wie hast du von Joel erfahren?«, fragte Clark. Irgendwie tat Joel ihm Leid. Er hatte das Gefühl, dass diese Angelegenheit privat bleiben sollte. »Talon«, beharrte Pete, um Lanas Aufmerksamkeit kämpfend. »Gouverneur. Wiederwahl. Viele Tassen Kaffee. Gute Werbung. Geld. Name des Lokals in der Zeitung.« Lana überlegte. »Klingt nach einer tollen Idee. Ich werde Nell fragen. Mal sehen, was sie dazu meint.« »Solltest du dich nicht besser zuerst mit Lex absprechen?« Diese Frage kam von Chloe und klang ein wenig scharf. »Wie meinst du das?«, fragte Lana verwirrt. »Nun, schließlich gehört das Talon jetzt ihm. Vielleicht will er mitbestimmen, wenn es um die Unterstützung politischer Veranstaltungen geht.« Danke, Chloe. Das ist genau das, an was ich ständig erinnert werden will, dachte Lana traurig. Es fiel ihr schwer, das Talon nicht als ihr Eigentum zu betrachten – es hatte ihrer Tante gehört, seit Lana ein Baby war, und es war ein Teil ihres Zuhauses gewesen, als sie aufwuchs. Der Gedanke, dass sie jemand außer Nell fragen musste, wenn es ums Talon ging, war ungewohnt. Aber Chloe hatte ja Recht! »Ich denke, ich werde es tun«, erklärte sie.
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Chloe, der Lanas trauriges Gesicht nicht entgangen war, blickte zerknirscht drein. »Es tut mir Leid, Lana. Das war eine überflüssige Bemerkung.« Lana lächelte ihr leicht zu, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Clark und Ginger zu. Er erklärte ihr gerade, dass Lex dazu neigte, die Leute gegen sich aufzubringen. »Und ich würde sagen, es stimmt. Sein Dad hat die Maisfabrik meiner Familie zerstört«, sagte Pete. »Maisfabrik?«, wiederholte Ginger. Pete lachte und erklärte: »Tut mir Leid, ich hätte Buttermaisfabrik sagen sollen. Smallville war früher die Buttermaishauptstadt der Welt – bevor die Meteoriten runterkamen.« »Hör mal, Pete«, sagte Ginger, »was ich schon immer wissen wollte – ist in Buttermais wirklich Butter drin?« »Das hängt vom Rezept ab«, warf Clark ein. »Meine Mom tut welche hinein.« »Mein Dad hat jahrelang versucht, Martha Kent das Rezept zu entlocken, um unseren Konservierungsprozess zu verbessern«, erklärte Pete. »Aber sie beharrte darauf, dass es ein Familiengeheimnis ist und auch bleiben soll.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn wir es bekommen hätten, hätte Lionel Luthor uns vielleicht nicht aufkaufen können...« Clark schlug ihm so heftig auf die Schulter, dass er fast von seinem Stuhl fiel. »Ach, komm schon, Pete.« Lana beobachtete Clark, während er sich mit Pete kabbelte. Sie mochte es, mit ihm zusammen zu sein. Sie mochte es, wenn er hier war. Das Problem war nur, dass er so gut wie nie wirklich hier bei ihnen war. Er schien immer etwas erledigen zu müssen oder tief in Gedanken versunken zu sein. Er hatte ihr in diesem Jahr so oft geholfen, hatte ihnen allen geholfen. Wenn er doch nur nicht so oft körperlich und geistig abwesend und einfach nur er selbst sein würde... Was dann, Lana?, fragte sie sich. 50
Doch ihr fiel keine Antwort darauf ein. Sie wurde in ihrem Gedankengang unterbrochen, als ein großer, rothaariger Junge an den Tisch trat und sagte: »Chloe? Der Scanner funktioniert nicht.« Chloe verdrehte die Augen. »Oh Mann! Ich liege Kwan ständig in den Ohren, dass die Fackel einen neuen Scanner braucht. Dazu meint er nur, dass das reiner Luxus wäre. Aber das Footballteam hat natürlich gerade eine zweite volle Garnitur Gewichte für den Trainingsraum bekommen.« »He, Gewichte sind wichtig«, warf Pete ein. »Sie brauchen sie wirklich.« Chloe schnaubte. »Genau. Weil Gewichte sich abnutzen.« Bevor Pete noch etwas sagen konnte, stand sie auf. »Okay, ich werde euch später von dem Geist erzählen. Haltet euch schon mal einen Termin frei.« Sie aßen und wandten sich anderen Themen zu. Ginger fiel es schwer, ihnen zu folgen, aber sie bemühte sich, an der Unterhaltung teilzunehmen. Dann signalisierte die Klingel das Ende der Mittagspause, und es war Zeit, in den Unterricht zurückzukehren. »Bis später«, murmelte Ginger Clark zu, der sie anlächelte, als er seine Bücher einsammelte. Sie ging mit Lana davon. Lana sah, wie Ginger noch mehrmals in Clarks Richtung blickte, und war überrascht, dass sie dabei einen Stich fühlte. Ginger fragte Lana: »Stimmt es, dass Clark Lex Luthor das Leben gerettet hat?« Lana nickte. »Lex ist mit dem Auto von einer Brücke gestürzt. Clark ist hinterhergesprungen und hat ihn aus seinem Wagen gezogen, bevor Lex ertrinken konnte.« »Wow. Kein Wunder, dass Lex ihn seinen Porsche fahren lässt.«
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Lana versuchte sich vorzustellen, wie Clark mit einem von Lex’ Sportwagen durch die Straßen raste. Der ruhige, zurückhaltende Clark Kent. Unmöglich, dachte sie. »Das hätte ich gerne gesehen.« Ginger lachte. »Er war ein wenig nervös, aber er ist trotzdem gut gefahren.« Lana konnte es sich noch immer nicht vorstellen. Und der Gedanke, dass Ginger mit Clark in einem Porsche durch die Gegend gefahren war, versetzte ihr erneut einen Stich. Sie erreichten das Klassenzimmer, in dem Gingers nächster Kurs stattfand, und sie ging hinein. Dann drehte sie sich um und sah Lana an. »Danke, Lana. Für... alles. Ich bin froh, dich kennen gelernt zu haben.« Lana lächelte. Es war schön, das gesagt zu bekommen, und sie stellte überrascht fest, dass auch sie froh war, Ginger kennen gelernt zu haben. Jemand zu treffen, der verstand, wie es war, ohne Eltern aufwachsen zu müssen... »Wenn du dich einsam fühlst, ruf mich zu Hause an. Ich lebe mit meiner Tante zusammen, Nell Potter. Ich werde dir meine E-Mail-Adresse geben.« Sie lächelte, als sie sie hastig auf ein Blatt von ihrem Notizblock kritzelte und es dann Ginger gab. »Bleib nach der Schule noch etwas hier, wenn du Zeit hast, okay? Die Busse fahren immer verspätet ab. Wir können uns dann noch Chloes Geistergeschichte anhören, sonst ist sie gekränkt.« »Wir werden uns die Geistergeschichte anhören«, erwiderte Ginger, aber diesmal lächelte sie nicht. Ich muss sie irgendwie verletzt haben, dachte Lana. Was habe ich Falsches gesagt? »Wir sehen uns später«, fügte sie hinzu, und diesmal lächelte Ginger zurück. »Ich freu mich schon darauf«, sagte sie aufrichtig. 52
3 ICH BIN HIER. Joel Beck stand am Rand des Maisfelds und öffnete sein Zauberbuch. Meins und Hollys, korrigierte er sich. Er konnte nicht fassen, dass er es getan hatte. Er hatte endlich die Verbindung hergestellt. Aber Holly war nicht in der Stadt. Er war gestern zu ihrem Haus gegangen, doch sie waren wieder auswärts gewesen. Ihre Mutter hatte ihr kleine Rollen verschafft, und sie waren viel unterwegs. Sie wird ausflippen. Genau wie ich, dachte er aufgeregt. Er erinnerte sich, am Muttertag nach Einbruch der Dunkelheit zum Feld gerufen worden zu sein, so, wie er oft gerufen wurde. Er war so voller Zorn gewesen; sein Dad hatte den Tag ruiniert und seine Mutter zum Weinen gebracht. Statt den Feiertag friedlich mit der Familie zu verbringen, hatte sich sein Vater schon vormittags betrunken. Joels Mom hatte so getan, als würde sie es nicht merken. Das war ihre Art, damit umzugehen, und es machte Joel noch zorniger. Dann, als er seiner Mutter das Geschenk gegeben hatte, hatte sein Vater ihn angesehen und gesagt: »Es war die Nabelschnur. Der Arzt war so dämlich, dass es ihm gar nicht aufgefallen ist. Du wärest fast erstickt. Hu. Konntest nicht mal richtig geboren werden.« Dann war sein Vater in die Küche gewankt, wo er seinen Scotch aufbewahrte. Und Joel hatte vor Wut gekocht, weil sein Vater so gemein sein konnte, und hatte das Haus verlassen, damit er nicht etwas tat oder sagte, was seine Lage noch verschlimmerte. So kletterte er aus dem Fenster, wie er es oft tat, und ging zu Holly Pickerings Haus hinüber, um sich wieder zu beruhigen. Er durfte sie besuchen, wann immer er wollte. 53
Aber es war keiner zu Hause. Er fand in der Küche eine Nachricht von Holly: »Tut mir Leid, Joel, wir sind in der Stadt! Ich habe einen Gig bekommen!« Er lungerte noch eine Weile im Haus herum, sah fern und überlegte, wie er dieses Schuljahr überstehen konnte. Sein Vater trank immer mehr. Seine Mom zog sich zurück, sei es aus Furcht oder Verdrängung oder beidem. Für ihn bedeutete das aber, dass er mit seinem alten Herrn allein fertig werden musste. Er hasste ihn. Wenn er Hollys Mom Karen fragen würde, ob er bei ihr wohnen könne, bis er achtzehn wurde, würde sie wahrscheinlich Ja sagen. Aber er war sich nicht völlig sicher. Wenn er sie fragte und sie Nein sagte... Dann gäbe es keine Hoffnung mehr. Er würde den Gedanken nicht ertragen können, weiter bei seinem Dad leben zu müssen. In diesem Moment überwältigte ihn die wirkliche Wut; er war in seinem ganzen Leben noch nie so zornig gewesen. Er hatte es satt zu hören, dass er ein Versager war; er hatte es satt, Angst davor zu haben, jemand nach Hause einzuladen; er hatte es satt, dass seine Mutter sich verkroch und so verängstigt und alt und bedrückt aussah... Plötzlich glaubte er, eine Stimme aus dem Feld zu hören, die ihn rief; und ohne zu wissen, was er machte, hatte er das Zauberbuch genommen und war wie ein Schlafwandler von Hollys Haus zum Feld getrottet. Er konnte kaum noch klar denken. Er war wütend, so schrecklich wütend. Zitternd schlug er das Buch auf. Und er sagte die Zauberformel auf... woraufhin eine Art riesiger grüner Wirbel direkt vor ihm Gestalt annahm. Er schrie auf und wich zurück. Der Wirbel umtoste ihn wie ein Tornado,
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als er sich zur Flucht wandte; dann verschluckte er ihn und trug ihn zu irgendeinem anderen Ort... einem grausigen Ort. Er war vom Nichts umgeben, von endlosem Grau. Er hatte solche Angst, dass er schrie. Dann kam etwas auf ihn zu; um ihn herum war eine grün leuchtende Masse, die sich zunächst in ein Skelett verwandelte und dann materialisierte sich die Gestalt eines Mannes. Schreie des Entsetzens und glühenden Zorns gellten wie in einem schrecklichen Albtraum und quälten Joels Trommelfelle. Die Gestalt kam näher und näher... die Schreie wurden lauter... Und Joel war gerannt... und gerannt und gerannt... in irgendeinem fremden, irrealen Land, einer öden, farblosen Zwischenzone, in der das Grauen lebte und sich bewegte und Fleisch geworden war... ... es wollte ihn töten. Es wollte ihn unbedingt töten. Das späte Nachmittagslicht bedeckte die Maisfelder der Familie Kent mit warmen Orange. Der Geruch frisch umgegrabener Erde vermischte sich mit dem Duft von etwas, das im Ofen gebacken wurde. Endlich zu Hause. Der einzige Ort auf der Welt, wo Clark einfach nur er selbst sein konnte. Er musste nicht schauspielern, sich nicht zurückhalten. Clark lächelte, als er die dekorative Fliegentür des Hintereingangs zum Haus öffnete. Er ging hinein, wobei er sorgfältig seine Schuhe abtrat und schloss die Tür hinter sich. Er ging zum Esszimmertisch und warf seinen Rucksack auf einen der Windsorstühle. Geschichtsaufsatz, mahnte er sich, während die Welt der Schule in den Hintergrund trat, mit all ihren Hausaufgaben und ihrem Klatsch und den Dingen, die wichtig schienen, wenn er dort war. Jetzt waren sie es nicht. Er musste nur ein Ereignis aus der Geschichte Smallvilles auswählen – »aber nicht den Meteoritenschauer«, hatte der 55
Lehrer die Themenauswahl eingeschränkt – und bei seinen Nachforschungen auf ein paar lokale Quellen zurückgreifen. Er würde damit keinen Pulitzer-Preis gewinnen, doch wenn er ihn heute Abend nicht schrieb, würde er höchstens noch eine Vier bekommen. Das Problem war, dass er schon im Verzug war und sich nicht an den Aufsatz herantraute. Und je länger er ihn vor sich herschob, desto schwieriger wurde es für ihn. Chloe würde so was in weniger als einer Stunde erledigen, sagte er sich. Pete auch. Dann kam ihm eine Idee. He, wahrscheinlich hat sie alle Unterlagen, die ich brauche, an ihrer »Wand der Merkwürdigkeiten« hängen. Und für ein paar Extrapunkte könnte ich Ginger Brucker bitten, meinen Aufsatz zu illustrieren. Ja, Kent. Das ist die Lösung! Schritte unterbrachen seine Gedanken. Es war seine Mom, die eine eingetopfte Minzepflanze in den Händen hielt. Sie zog am Küchenfenster Kräuter auf. »Hi, Schatz«, sagte sie warm. »Ich habe dich gar nicht hereinkommen gehört.« »He.« Clark grinste und umarmte sie. Wie immer achtete er darauf, sie nicht zu fest an sich zu drücken. Martha Kent tätschelte den Rücken ihres Sohnes, stellte den Topf zu den anderen ins Sonnenlicht und ging zum Kühlschrank. Sie entnahm ihm ein großes weißes, in Papier eingewickeltes Päckchen und legte es auf die Anrichte. Dann beugte sie sich wieder zum Kühlschrank hinunter, um weitere Zutaten herauszuholen. »Wie war die Schule?« »Gut«, sagte er einsilbig. Er dachte noch immer über seinen Aufsatz, über Joel Beck und die Ankunft des neuen Mädchens nach. »Der Gouverneur kommt in die Stadt. Pete will deshalb für einen Abend das Talon mieten.« »Pete Ross?« Während seine Mom sprach, öffnete sie das Päckchen, das sie aus dem Kühlschrank genommen hatte. 56
Darin lag ein großes Stück Fleisch, das wie Schweinebraten aussah. Hmm. Er war am Verhungern. Clark ging zu ihr hinüber, um ihr seine Hilfe anzubieten. »Er macht bei seinem Wahlkampf mit.« Sie zerkleinerte Zwiebeln und Pfeffer auf dem großen Schneidebrett am Herd. Auf dem Herd stand bereits ein großer Topf. Im Kent-Haus war die Küche das Zentrum aller Dinge. Ein riesiger Abzug aus rostfreiem Stahl hing über dem Herd und die holzverkleidete Insel zwischen dem Esszimmer und der Küche enthielt Hunderte von Gewürzen sowie Flaschen mit aromatisiertem Öl und Marthas Töpfe mit frischen Kräutern. Dunkelbraun karierte Vorhänge umrahmten die hauchfeine Gardine am Fenster hinter der Spüle. Die Sonne von Kansas schien durch das Fenster und tauchte die ganze Küche in weiches Licht. Überall im Raum fanden sich Möbelstücke, die eine lange Geschichte erzählen konnten. In der Ecke stand ein altmodischer Holzofen, den Clarks Dad in kalten Winternächten anmachte. Er befand sich schon seit über drei Generationen im Besitz seiner Familie. Ein TiffanyLampenschirm hing über dem Esszimmertisch. Clark und Jonathan hatten ihn in einem Antiquitätengeschäft im Stadtzentrum gefunden und ihn seiner Mutter zum vierzigsten Geburtstag geschenkt. Clark hatte immer gedacht, dass eine Küche genauso aussehen sollte, vor allem auf einer Farm. Hier wurden die Erzeugnisse wie Eier und Fleisch, für die sie so hart arbeiteten, auf Qualität und Schmackhaftigkeit »getestet«. »Ich mag Hiram Welles nicht besonders«, sagte Martha schließlich, während sie zur Seite trat und dankbar nickte, als er ihr das Messer abnahm und die Zwiebeln klein hackte. »Er hat etwas an sich...« Sie verstummte. »Er vertritt nicht immer die Interessen der Farmer. Und seine Umweltpolitik ist Mist.«
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»Dann wird Luthor sicherlich für ihn stimmen«, sagte Jonathan Kent, der das Zimmer betrat. »Clark«, fügte er grüßend hinzu. Clark wartete darauf, dass sein Vater fortfuhr. Er hatte sich offenbar über irgendetwas aufgeregt. Als Jonathan nichts mehr hinzufügte, sagte er: »Hi, Dad.« Clark hatte das Gefühl, ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern zu haben, aber je älter er wurde, desto schwieriger wurde es für ihn, mit ihnen über bestimmte Dinge zu reden. Das betraf vor allem seinen Dad. Sie sprachen zwar noch immer über Probleme, doch die Herangehensweise war eine andere geworden. Aus: »He, Clark, lass uns reden« war ein »Sohn, willst du mir bei diesem Motor helfen?« geworden. Dann, nach und nach, redeten sie über das, was sie bedrückte. Bevor Clark fragen konnte, tat es Martha. »Was ist los?« Jonathan trat an die Spüle und wusch sich die Hände. »Erinnert ihr euch an den Jungen, den wir fast überfahren hätten?« »Wir haben beim Mittagessen über Joel gesprochen«, erzählte Clark seinen Eltern. »Er ist nicht zur Schule gekommen.« Er fügte hinzu: »Chloe möchte ihn interviewen.« »Das dürfte im Moment schwierig sein«, erwiderte Jonathan, als er sich an einem Küchenhandtuch die Hände abtrocknete und dann das Handtuch wieder an den hölzernen Handtuchhalter hing. »Er wird vermisst. Seit Sonntagnacht hat ihn niemand mehr gesehen.« Martha blickte verwirrt drein. »Aber wir haben ihn nach Hause gebracht. Am Muttertag. Das ist erst zwei Tage her.« »Sein Vater sagte, er hätte gegen Mitternacht in sein Zimmer gesehen. Da war er bereits weg.« »Wenn ich einen derartigen Vater hätte, würde ich auch weglaufen«, meinte Martha. Sie nahm Clark das Messer wieder aus der Hand und hackte die Zwiebeln energischer als zuvor. 58
Clark war entsetzt. »Ich sollte nach Joel suchen«, erbot er sich. »Du musst deine Hausaufgaben machen«, sagte Martha schnell, während sie nach einer anderen Zwiebel griff und sie zerhackte. Sie war sehr aufgebracht. »Mom«, protestierte Clark, »ich könnte schneller als jeder andere suchen.« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Du bist kein Detektiv, Clark. Du hast gewisse Fähigkeiten, die andere nicht haben, das stimmt, aber du bist nicht allmächtig«, unterstützte er Martha. »Du kannst morgen in der Schule nach ihm fragen.« Sie haben Angst. Um mich. Aber warum? Bei mir besteht wohl kaum die Gefahr, dass ich von zu Hause weglaufe. Martha sah ihren Mann an. »Haben Joels Eltern bei seinen Freunden nachgefragt?« Jonathan schüttelte den Kopf. »Seine Eltern kennen seine Freunde nicht. Sie haben keine Ahnung, wo sie nach ihm suchen sollen. Wie er seine Zeit verbringt, wo er sich herumtreibt. Nichts. Und du, Clark, hast Hausaufgaben und Hausarbeiten zu erledigen«, fügte sein Vater streng hinzu. »Genug, dass du den ganzen Abend hier beschäftigt sein wirst.« »Aber...« Seine Eltern sahen ihn streng an. Er konnte fast die Stimme des Wettermannes in den lokalen Smallville-TV-Nachrichten hören: »Eine geschlossene Gewitterfront nähert sich. Wir sollten alle zu Hause bleiben und den Sturm meiden.« »Ich muss einen Geschichtsaufsatz schreiben«, gestand er. »Und das Heu einholen«, fügte sein Vater hinzu. Er bedeutete seinem Sohn mit einem Nicken, ihm zu folgen. »Und da ist noch ein Zaun...« Clark seufzte und drängte sich an seiner Mom vorbei, die inzwischen die Kartoffeln schälte. Plötzlich streckte sie eine Hand nach Clark aus und sagte zu ihm: »Sei vorsichtig.« 59
»Ja, das Heu ist gefährlich«, scherzte er. »Man weiß nie, wann es über einen herfällt.« Zu seiner Überraschung traten Tränen in ihre Augen. Sie murmelte heiser: »Geh und hilf Dad.« Clark blinzelte. »Okay«, sagte er verwirrt und folgte seinem Vater aus dem Haus. Nach der Schule hatte sich Ginger Chloes Geschichte angehört, die sie sehr an den Film Düstere Legenden erinnerte. Jemand, den Chloe kannte, hatte mitgehört, wie die Mutter dieses Joel jemand anderem erzählt hatte, dass ihr Sohn einen Geist in einem Maisfeld gesehen hatte und kurz darauf verschwunden war. Und auf dem Rücksitz seines Wagens saß plötzlich jemand, der vorher nicht da war, dachte sie sarkastisch. Jetzt ging sie zu dem Bus, der sie nach Hause bringen würde, und sprang mit ihrer Büchertasche in der Hand hinein. Der Tag war immer besser geworden, und inzwischen dachte sie recht positiv über den Umzug nach Smallville. Sicher, es war klein, aber die Menschen hier waren nett und die Klassen übersichtlicher, was bedeutete, dass sie von ihren Lehrern mehr Aufmerksamkeit bekommen würde, als sie gewohnt war. Mrs. Owen, die Kunstlehrerin, war mit ihrer Arbeit in der Klasse zufrieden gewesen und hatte ihr vorgeschlagen, eine Mappe zusammenzustellen. »Man kann gar nicht früh genug damit anfangen, verstehst du?«, hatte sie gemeint. Die Busfahrerin, eine ältere Frau, musterte Ginger eingehend, als sie in den lärmenden Bus stieg. »Ich glaube, ich kenn dich nicht«, sagte sie. »Wo musst du raus?« Einen Moment lang befand sich nur Leere in ihrem Kopf und Panik stieg in ihrer Brust hoch. Aber dann fiel es ihr wieder ein. 60
»Ah... die Maklerin hat es das Welles-Haus genannt.« »Oh.« Die Fahrerin war sichtlich überrascht. »Hu. Na so was.« Sie riss sich zusammen und lächelte Ginger an. »Ich bin Dorothy. Einige der Kinder nennen mich Mom. Willkommen in Smallville.« »Danke«, sagte Ginger und hielt nach einem Sitzplatz Ausschau. Dorothy murmelte: »Diese Guitierrez-Zwillinge kommen immer zu spät.« An Ginger gewandt fügte sie hinzu: »Viel Glück in diesem alten Haus. Seit Jahren hat dort niemand mehr gewohnt.« »Oh.« Die Frau nahm ein Klemmbrett vom Armaturenbrett und zog einen Kugelschreiber hinter ihrem Ohr hervor. Sie überprüfte etwas und steckte das Klemmbrett zwischen ihren Sitz und der Fahrertür. »Ich fahr ohne sie los«, grummelte sie. »Jetzt hör mir mal zu: Rauchen, essen oder trinken ist verboten, ebenso fluchen oder mit Sachen herumwerfen. Wenn du dich daran hältst, werden wir prima miteinander auskommen.« Sie schenkte Ginger ein Lächeln und hupte ungeduldig. »Ich fahr ohne sie los«, grollte sie. Ginger drehte sich um und blickte in ein Meer aus fremden Gesichtern. Sie war enttäuscht, dass sie weder Lana noch Clark entdecken konnte. »Hier«, sprach ein Mädchen ein paar Reihen weiter sie an. Es hatte kurze dunkle Haare und ein Grufti-Make-up; es rutschte ans Fenster, damit Ginger sich setzen konnte. »Mach’s dir bequem.« »Danke.« Ginger freute sich über die freundliche Geste. Hinter ihr stürzten noch zwei dunkelhaarige Jungen von etwa sechzehn Jahren in den Bus. Dorothy fauchte sie an, weil sie wegen ihnen hatte warten müssen. Dann entfernte sich der Bus von der Schule, und Ginger wurde ganz von der 61
wunderschönen Umgebung gefangen genommen. Sie würde die Landschaft in einem Bild festhalten. Das bot sich geradezu an. Die riesigen Maisfelder, hier und da von einem Baum durchbrochen, wogten ruhelos im Wind und standen im scharfen Kontrast zum blauen Himmel. Man hatte ihr erzählt, dass es am Stadtrand einen Wald gab, und sie dachte daran, ihn zu erkunden, wenn sich die Gelegenheit bot. Aber nicht heute. Sie fuhren an einem ausgedehnten Maisfeld vorbei. Die Pflanzen bewegten sich im Wind und die Schülerin an Gingers Seite drückte plötzlich ihr Gesicht ans Fenster und sang leise etwas in einer fremden Sprache. Dann sah sie Ginger an und sagte: »Das ist ein Schutzzauber. Ich habe ihn für Joel gesprochen. Und für mich«, fügte sie gedämpft hinzu. »Oh?« »Das Maisfeld ist verflucht«, fuhr das Mädchen fort. »Es hat ihn verschluckt.« Ginger sah an ihren ernsten, dick geschminkten Augen vorbei zu den im Wind wogenden Maispflanzen. Sie hat wohl zu viele schlechte Horrorfilme gesehen, dachte Ginger. »Ich kann ihn zurückholen«, sagte das Mädchen. »Auf dieselbe Weise, wie er verschwunden ist. Mit Magie.« »Das ist... interessant«, erwiderte Ginger, wobei sie sich bemühte, glaubhaft zu klingen. Aber das Mädchen verengte die Augen und schürzte die Lippen. »Du glaubst mir nicht«, fauchte sie. »Aber das ist mir egal.« »Äh, warum?«, fragte Ginger. »Niemand glaubt mir.« Wie aufs Stichwort hin hielt der Bus an und das GruftiMädchen stand auf. Sie funkelte Ginger an und sagte: »Ich muss hier raus. Lässt du mich vorbei?« Ginger erhob sich und das Mädchen drängte sich an ihr vorbei. Die Türen das Busses öffneten sich und schon war sie 62
fort, rannte über die staubige Straße zu einem fernen, von noch mehr Mais umgebenen Farmhaus. Der Bus fuhr wieder an. Bei jedem Halt stiegen weitere Schüler aus, und Ginger fragte sich allmählich, ob sie der letzte Fahrgast sein würde. Das frühe Aufstehen hatte sie müde gemacht und der warme Sitz des Busses, das leise Pfeifen des Windes am offenen Fenster und das Brummen des Motors lullten sie fast in den Schlaf. »He, Schätzchen, wir sind am Welles-Haus angelangt.« Die Stimme der Busfahrerin riss sie aus ihrer Trance. Sie stand auf und stolperte leicht auf dem Weg zum Ausgang. Es saßen noch immer ein paar Kinder im Bus. Es war jetzt fast dunkel. Lange Fahrten. Das gehört auch zum Farmleben, dachte sie beim Aussteigen. »Pass auf dich auf«, sagte Dorothy. Sie wirkte besorgt. »Danke.« Ginger stieg aus dem Bus, und mit lärmendem Motor fuhr er los, noch abgelegeneren Farmen entgegen. Sie war daheim. Als sie sich dem Haus näherte, nahm sie an einem der Fenster eine Bewegung wahr – ein Vorhang, der im ersten Stock flatterte. Ist Mom zu Hause? Hat es auf der Arbeit Schwierigkeiten gegeben?, fragte sie sich. Aber die Haustür war abgeschlossen. »Mom?« Sie bekam keine Antwort. Entspann dich, Ginger. Es ist alles in Ordnung. Du bist bloß müde. Sie ging die Treppe hinauf zu dem Zimmer, das sie sich ausgesucht hatte. Es handelte sich um einen riesigen Raum, der so groß wie das ganze Wohnzimmer ihres Apartments in Metropolis war. 63
Sie hatte ihre Mutter gefragt, ob sie Daddys Schreibtisch haben konnte, und Janice war einverstanden gewesen. Mit einem Anflug von Melancholie legte Ginger ihre Bücher auf das wertvolle Möbelstück, das aussah, als wäre es einem Charles-Dickens-Roman entsprungen. Als sie die Schreibtischschublade aufzog, hörte sie ein Geräusch. Es kam von unten. Vielleicht von der alten Uhr. Vielleicht. »Mom?«, rief sie, und der Klang ihrer eigenen Stimme ließ sie zusammenzucken. »Bist du hier?« Sie erhielt keine Antwort. Ginger eilte die Treppe hinunter. Die Schatten des Geländers warfen Gitter an die Wand, und sie war ein wenig nervös. Es war wirklich ein großes altes Haus; vielleicht hatte eine Ratte oder ein Waschbär hier Zuflucht gesucht. Oder etwas Größeres, dachte sie schaudernd. Dann rief sie sich zur Vernunft: Hör auf damit, Ginger. Alles ist in Ordnung. Am Fuß der Treppe zögerte sie und versuchte sich an das Geräusch zu erinnern. Vielleicht war es der Wind. Vielleicht haben wir vergessen, ein Fenster zu schließen..., beruhigte sie sich weiter. Sie ging ins Wohnzimmer. Eine offene Bibel lag auf dem Boden. Ich wusste gar nicht, dass wir eine Bibel haben, wunderte sie sich. Mit einem Hauch von Besorgnis betrachtete Ginger das dicke, in Leder gebundene Buch. Es war aufgeschlagen, als hätte jemand auf dem Boden gelegen und darin gelesen. In der Mitte der Seite hatte ein Wassertropfen die Zeilen eines der Verse befleckt. »Exodus 23: Kommt ihr aber ein Schade daraus, so soll er lassen Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.« 64
Wow. Das nannte man wohl ausgleichende Gerechtigkeit. Sie berührte den Wasserflecken. Er war feucht. Verdutzt sah sich Ginger im Zimmer um. Das Fenster war geschlossen und es gab keine Anzeichen, die für die Anwesenheit irgendwelcher Tiere sprachen. Sie trug die Bibel zurück zum Regal und steckte sie zwischen einen Roman mit dem Titel Von Magie nicht zu unterscheiden vom Lieblingsautor ihres Vaters, Robert Forward, und einer Biografie des Physikers Richard Feynman. Noch immer verunsichert sah sie sich erneut im Raum um und das Gefühl, dass sie lieber woanders sein wollte, beschlich sie. Draußen werde ich mich wohler fühlen, dachte sie. Aber vor allem muss ich irgendetwas tun. Sie ging im Eiltempo hinauf zu ihrem Zimmer und nahm einen Kasten Buntstifte, ein paar Kohlestifte und einen Zeichenblock mit. Als sie wieder unten war, holte sie sich noch schnell eine Diät-Cola aus dem Kühlschrank und sprang dann durch die Hintertür hinaus. Eine Reihe von alten Steinen bildeten eine Veranda; der Hof war bis zu den Rändern der Steine gut gepflegt, wo ein paar hölzerne Gartenstühle in den wuchernden Gras- und Unkrautbüscheln lagen. Diese Stühle sehen toll aus, dachte sie begeistert. Unglücklicherweise waren sie sehr schwer. Nach größerer Anstrengung schaffte sie es, einen von ihnen unter eine verblichene Markise zu zerren. Dann blickte sie hinaus auf die Felder hinter dem Haus. Ein benachbarter Farmer hatte einen Teil des Grundstücks gepachtet, auf dem das Haus stand. Dort baute er Weizen an. Sie legte ihren Zeichenblock auf ihren Schoß und starrte hinaus aufs Feld. Zeichnen, hatte sie gelernt, war vor allem ein analytischer Prozess. Unter Tausenden mochte es ein paar Naturtalente 65
geben, die von Anfang an die Natur so wiedergeben konnten, wie sie tatsächlich aussah, aber die meisten mussten zuerst lernen, wie man Dinge betrachtete und die Beziehung zwischen den Objekten ermittelte, um dann diese Beziehung aufs Papier zu übertragen. Bei den Maisfeldern zum Beispiel war vor allem der Gesamteindruck wichtig. Wenn sie versuchte, genau das zu zeichnen, was sie sah, würde sie dem Allgemeineindruck nicht gerecht werden. Stattdessen beobachtete sie den Rhythmus des Windes und verfolgte, wie er die Felder so teilte, dass ein Welleneffekt entstand, der sich über die einzelnen Pflanzen hinweg bewegte. Sie nahm einen Kohlestift und machte eine Schwarzweißskizze, um die Umrisse festzulegen. Das Bild lieferte so keinen Maßstab, und deshalb entschied sie, einen der Gartenstühle hinzuzufügen. Das bedeutete, dass sie einen weiteren Stuhl holen musste, um zu sehen, wie er vor dem Hintergrund des Feldes wirkte. Nachdem sie ihn angeschleppt hatte, skizzierte sie ihn und wählte dabei einen kleinen Maßstab, um die riesige Größe des Feldes zu unterstreichen. Sie fügte ein paar Bäume hinzu, was dem Bild mehr Tiefe gab. Dann, ohne genau zu wissen warum, nahm sie sich wieder den Stuhl vor. Es kam ihr irgendwie falsch vor, dass niemand darauf saß und so wie sie über das Feld blickte. Sie konzentrierte sich auf den Stuhl in der Skizze und versuchte sich vorzustellen, dass eine Person auf ihm saß. Ohne bewusste Anstrengung tauchte vor ihrem geistigen Auge eine Gestalt auf. Sie kam ihr so real vor, als würde er oder sie ihr tatsächlich Modell sitzen. Sie arbeitete schnell, skizzierte in groben Zügen und malte die Person auf dem Stuhl, ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern oder nachzudenken.
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Ihre Arbeitsweise widersprach fast allem, was ihr Kunstlehrer ihr beigebracht hatte: Orientiere dich bei der Arbeit stets am Leben, an der Natur. Aber es fühlte sich richtig an. Sie zeichnete schneller und brach einen der Kohlestifte ab, weil sie zu fest drückte. Sie hielt einen Moment inne, schärfte einen neuen an einem Stück Sandpapier und machte sich wieder ans Werk. Nach ein paar Minuten hatte sie das Gefühl, dass sie fertig war. Sie nahm einen Perspektivenwechsel vor, verwandelte sich von der Schöpferin in die Betrachterin und sah sich an, was sie vollbracht hatte. Es war ein Junge, der auf dem Stuhl saß und über die Felder blickte. Er sah schwer krank aus. Wehmütig blickte er hinaus auf die Felder, als wünschte er, dort draußen zu sein. Er hatte eins seiner Beine angezogen und den Fuß auf den Gartenstuhl gestellt. Der Stuhl sah kleiner aus, als sie beabsichtigt hatte. Kleiner und verzerrt. Der Junge war blass und kniff die Augen im hellen Sonnenlicht zusammen, als wäre er nicht daran gewöhnt. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Haus, schoss ihr durch den Kopf. Bevor sie begriff, was sie tat, zeichnete sie wieder. Für die zweite Gestalt, die nun am Entstehen war, hatte sie einen größeren Maßstab gewählt. Es war ein hoch gewachsener Mann, breitschultrig und mit geröteter Haut. Er trug einen Overall ohne Hemd und hatte eine große Nase. Dichte Brauen überschatteten kleine Augen und mächtige Hände umfassten eine große Sichel. Offensichtlich handelte es sich um einen Farmer, der den Betrachter anfunkelte. Sein Blick war furchtsam und zornig zugleich, seine Haltung aggressiv.
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Ginger warf unwillkürlich den Zeichenblock auf den Boden. Sie sprang vom Stuhl auf und wich ein paar Schritte zurück. Die Augen des Farmers schienen sie zu beobachten. Ängstlich sah sie über ihre Schulter und öffnete zögernd die Hintertür. Sie versuchte, nicht an die Bibel zu denken, die vom Bücherregal gefallen war. Sie versuchte, nicht auf die Augen des Farmers zu achten, als sie den Zeichenblock draußen liegen ließ und die Küche betrat. Plötzlich hörte sie ein anderes Geräusch und schrie erschrocken auf. Es war diesmal lauter. Sie konnte es spüren. In ihren Zehen. Es kommt aus dem Keller, durchfuhr es sie. Gänsehaut überzog ihre Arme und den Rest ihres Körpers. Was oder wer war im Keller? Von der Küche aus konnte Ginger die Kellertür sehen. Der Schlüssel dazu hing an einem Haken. Sie griff danach. Wenn das ein Horrorfilm wäre, wäre das keine gute Idee. Aber das war es nicht. Sie war hier in Smallville, einer ganz normalen, langweiligen Kleinstadt. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und öffnete die Kellertür. Sie blickte in ein schwarzes Loch, das nach dem hellen Nachmittag noch finsterer wirkte. Im verblassenden Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, sah Ginger den Schalter an der Innenwand des Kellers und legte ihn hastig um. Eine Reihe von gelblichen Glühbirnen leuchteten auf und erhellten die Kellertreppe. Nichts rührte sich. Es gab keine Geräusche, keine Erschütterungen, nichts. Sie konnte von ihrem Standpunkt aus die gesamte Treppe überblicken, nur nicht das, was hinter ihr lag. Sie holte tief Luft und stieg vorsichtig eine Stufe hinunter. Ein lautes, gespenstisches Knarren erklang, und sofort zog sie ihren Fuß zurück. Ihr Herz hämmerte wild.
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Okay, ich hab nachgesehen. Hier ist nichts. Ich hab’s überprüft. Mir reicht’s. Eine der Glühbirnen explodierte. Weiße Glassplitter regneten zu Boden. Ginger sprang zurück über die Schwelle und schlug die Tür heftig zu. Ihre Hand zitterte, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, ihn drehte und einen weiteren Schritt von der Tür zurückwich. Ka... wumm! Es war ein anderes Geräusch, lauter und direkt unter ihr. Es kam... aus dem leeren Keller. Ginger fuhr zusammen. Ihr Herz sprang fast aus ihrer Brust. Sie musste Mom anrufen! Das war der einzige Gedanke, zu dem sie noch fähig war. Ihre Mutter hatte ihr noch nicht die neue Telefonnummer ihres Büros gegeben, aber sie hatte ihre Handynummer. Ginger stürzte zu dem schnurlosen Apparat neben dem Herd und wählte hastig die Nummer. Ihre Mutter meldete sich sofort: »Hallo?« Wissenschaft, die sich von Magie nicht unterscheiden lässt, murmelte sie wie ein Mantra vor sich hin. Alles Mögliche kann passieren... Die Standuhr läutete. Sie erschrak und schrie »Mom?« in das Telefon. »Ginger? Was ist los?« »Äh...« Was sollte sie sagen? Wie sollte sie es erklären, wo es ihr doch selbst allmählich lächerlich vorkam? »Kommst du bald nach Hause?«, fragte sie deshalb nur. »Warum? Bist du okay?« »Mir geht’s gut... es ist nur so, dass es hier ein paar unheimliche Geräusche gibt...« Ihre Mutter schwieg und Ginger hatte das unheilvolle Gefühl, dass sie sie nicht ernst nahm. »Was für Geräusche?« 69
»Klopfen, poltern, die üblichen Spukhausgeräusche...« Noch während sie es sagte, merkte Ginger, wie lächerlich es klang. Ihre Mutter am Telefon zu haben war, als würde sie Licht und Vernunft ins Haus bringen; es gab kein Klopfen und kein Poltern mehr und alles schien wieder normal zu sein. »Ginger, ich habe gerade angefangen, mir mein neues Labor anzusehen. Aber wenn du möchtest, dass ich jetzt nach Hause komme, werde ich kommen.« Sicher, damit ich ihr den ersten Tag im Job verderbe. Auf keinen Fall, dachte Ginger. Außerdem war jetzt alles ruhig. »Nein, es ist schon okay.« Sie lachte nervös. »Ich muss mich nur an das neue Haus gewöhnen. Weil es, nun ja, ein altes Haus ist.« Sie dachte daran, einen Scherz über ihr »neues« altes Haus zu machen, überlegte es sich dann aber anders. »Gut.« Ihre Mutter klang geistesabwesend. Desinteressiert. »Warte einen Moment.« Eine Pause trat ein. »Ginger, ich werde eine Weile keine Anrufe entgegennehmen können. Wenn du mich nicht erreichen kannst, wähle einfach die Nummer der Zentrale. Man wird mich dann anpiepen.« »Sicher. Mach dir keine Gedanken. Ich werde schon klarkommen, Mom.« Sie verabschiedete sich und legte auf. Aus dem Arbeitszimmer drang ein Poltern. Ginger fuhr zusammen. Sie holte tief Luft, blieb wie angewurzelt stehen und wünschte sich von Herzen, sie hätte darauf bestanden, dass ihre Mutter sofort nach Hause kam. Sie ging zur Tür des Arbeitszimmers und versuchte, dabei so leise wie möglich zu sein, bereit, sich gegen... was auch immer zu verteidigen. Die Bibel lag wieder auf dem Boden.
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Und selbst aus weiter Entfernung konnte sie etwas Rotes auf der Seite erkennen. Etwas, das wie Blut aussah. Die Uhr läutete erneut. Ginger rannte zum Telefon in der Küche und wählte 411. »Telefonauskunft«, meldete sich eine freundliche Stimme. »Welche Nummer wünschen Sie bitte?« Zitternd hielt sie das schnurlose Telefon mit beiden Händen und sagte: »Das Haus der Langs bitte. Nell. Und Lana«, fügte sie atemlos hinzu.
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4 EIN WENIG GENERVT beendete Janice Brucker das Telefonat mit ihrer Tochter. Sieht ganz so aus, als hätte Ginger mehr Probleme mit diesem Umzug, als ich erwartet habe. Und mir geht es genauso. Diese Gedanken gingen Janice durch den Kopf, als sie ihr Handy in ihre Handtasche steckte. Sie sah den Wachmann an, der ihr soeben mitgeteilt hatte, dass sie sich unter die Erde begeben musste. Lex hatte ihren Gesprächstermin um einen Tag verschoben. Den gestrigen Tag hatte sie damit verbracht, in ihrem neuen Haus ihre Sachen einzuräumen und E-Mails von Kollegen zu beantworten. Selbst nach all dieser Zeit musste sie noch immer Stillschweigen über den Laborunfall bewahren. Sie versuchte nach Kräften, die gemeinsame Arbeit mit George geheim zu halten, aber wenn all die Regulierungsbehörden, die den Vorfall untersuchten, ihre Unterlagen miteinander verglichen, war sie nicht sicher, ob sie ihr ihre Version des Geschehens abkaufen würden. Sie befürchtete noch immer, dass sie nur hier war, weil Lex alles herausgefunden hatte und nun wollte, dass sie eine neue Versuchsreihe startete. Sicherlich war die Tatsache, dass sie wieder für die LuthorCorp arbeitete, wenn auch in einem anderen Werk in einer anderen Stadt, der wissenschaftlichen Gemeinschaft und den Politikern und Beamten, die ihre Arbeit beaufsichtigten, nicht verborgen geblieben. Jetzt bin ich hier, knietief im... Mist, dachte sie mit grimmigem Humor. In der Düngemittelfabrik Nr. 3. Hätte sie nicht gesehen, wie die Lastwagen der LuthorCorp auf dem riesigen Werksgelände mit den kuppelförmigen Lagertanks vorfuhren, hätte sie gar nicht gewusst, wo sie sich befand. Ein kleiner Granitobelisk mit dem purpurnen und 72
schwarzen LuthorCorp-Logo war alles, was auf die Identität der Fabrik hindeutete. Lex hielt sich wohl gerne bedeckt. Sie musste zugeben, dass das klug war. Bei der modernen Düngerproduktion wurden eine Vielzahl toxischer Stoffe eingesetzt: Die Säuren, Gase und anderen Katalysatoren, die bei der Verarbeitung benutzt wurden, waren schon schlimm genug – doch die Nebenprodukte waren viel schlimmer. Janice hatte ein generelles Unbehagen bei den Leuten gespürt, mit denen sie über die Fabrik gesprochen hatte. Ihre Existenz so weit es ging im Verborgenen zu halten, war ein kluger Schachzug. Die Düngemittelproduktion war eine der Schlüsselbranchen der modernen Wissenschaft. Das Haber-Bosch-Verfahren, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden war, hatte der Menschheit die Möglichkeit gegeben, stickstoffreichen Dünger herzustellen. Das Ergebnis war eine Bevölkerungsexplosion gewesen, da Flächen, die zuvor nicht landwirtschaftlich genutzt werden konnten, plötzlich Nationen ernährten. Jetzt stammte ein Drittel der Weltproteinproduktion von gedüngten Feldern. Die Menschheit hatte ein Fließband in Gang gesetzt, das sie nicht mehr stoppen konnte; ohne Dünger würden große Teile der Bevölkerung verhungern. Die Langzeitfolgen für die Umwelt hingegen waren katastrophal. Die globale Erwärmung, hervorgerufen durch den Treibhauseffekt, war unter anderem auch auf den exzessiven Einsatz von Düngemitteln zurückzuführen, die von den Feldern nicht aufgenommen wurden. Ein Teil der ungenutzten Nährstoffe spaltete sich auf und gelangte in Form von Stickstoffoxid in die Atmosphäre – ein Gas, das extrem schädlich für die Umwelt war. Obwohl es im Vergleich zu den anderen Treibhausgasen wie Kohlendioxid oder FCKW keine akute Gefahr darstellte, waren die Folgen unberechenbar. Die Menschheit konnte unmöglich 73
auf den Einsatz von Dünger verzichten, doch niemand konnte wissen, welchen Schaden die Stickstoffoxide in den nächsten Jahren anrichten würden. Und man konnte niemand verhungern lassen, um die Umwelt zu schützen. Janice hatte ihren Wagen kurz zuvor auf dem Hauptparkplatz hinter den vier kuppelförmigen Silos unweit der Einfahrt der Fabrik abgestellt. Sie war ausgestiegen, hatte ihre Aktentasche und den Computer genommen und war auf den Eingang zugegangen. Als sie das Gebäude betrat, hatte sie überall das LuthorCorp-Logo, das geometrische schwarze »L« mit dem purpurnen, scharfkantigen »C«, gesehen. Hinter der Rezeption hing das Motto der LuthorCorp: »Wir sorgen für Wachstum.« Dabei war ihr durch den Kopf geschossen, dass die vielen Firmen, die Lionel Luthor aufgekauft und zerschlagen hatte, oder die vielen Milliarden Insekten, die von seinen Pestiziden getötet worden waren, sicherlich ein anderes Motto bevorzugt hätten: »Wir expandieren ohne Rücksicht auf Verluste.« Schnell verdrängte sie den Gedanken. Hör auf, Janice, es zahlt sich nicht aus, die Hand zu beißen, die dich füttert, schalt sie sich. Als hochkarätige Wissenschaftlerin hatte sie im Lauf ihres Lebens für einige fragwürdige Arbeitgeber gearbeitet. Dabei hatte sie nie etwas Illegales getan, aber die Motive einiger Unternehmen, für die sie gearbeitet hatte, waren nicht gerade von ethischen Gesichtspunkten bestimmt gewesen; das Profitdenken überschattete alles. Als Wissenschaftlerin ignorierte sie all das. Wichtig war nur die Suche nach neuen Erkenntnissen, die Fähigkeit, zu verstehen, wie sie die Welt beeinflussen konnte. Oder um es ganz grob auszudrücken, mit Georges und ihren Worten: Ruhm, Reichtum und ein Platz in den Geschichtsbüchern... 74
Als Mutter hatte sie gelegentlich Probleme mit einigen Forschungen gehabt, um die sie gebeten worden war. Allerdings hatten die meisten fragwürdigen Projekte keine Ergebnisse geliefert, sodass sie nie gezwungen gewesen war, eine Entscheidung zu treffen, und sie hoffte, dass sie nie in eine solche Lage kommen würde... Es war viel einfacher, sich auf Ergebnisse zu konzentrieren, als zu versuchen, noch einen Schritt weiter zu gehen und die Auswirkung ihrer Forschungen und die ethischen Konsequenzen vorherzusehen. Der Wachmann an der Rezeption – mit seinem Funkgerät und seinem durchtrainierten Körper handelte es sich zweifellos um einen Wachmann – war höflich gewesen. »Hallo, Dr. Brucker«, hatte er gesagt, bevor sie sich vorstellen konnte. Dann drückte er eine Taste an einem Keyboard hinter dem Empfangspult, das mit einem schicken schwarzen Flachbildschirm ausgestattet war, und ein kleiner Drucker in der Nähe warf eine laminierte Karte aus. Er befestigte einen Federclip an der Karte und gab sie ihr. Die Karte war mit einem Foto von ihr versehen, das erst in dem Moment aufgenommen worden war, als sie die Tür passiert hatte. Im Hintergrund zeigte sich der blaue Himmel über Kansas. Sie blickte hinter das Empfangspult und entdeckte die Minikamera, die sie gefilmt hatte. Sie fragte sich, wie die Ausweise der Leute wohl an Tagen mit schlechtem Wetter aussahen. Janice hatte den Ausweis an das linke Revers ihres Jacketts geheftet und gewartet. In diesem Moment hatte Ginger angerufen und der namenlose Wachmann hatte ihr gesagt, dass ihr Handy wahrscheinlich nicht funktionieren würde, wenn sie gleich ihren Rundgang machte. »Möchten Sie noch andere Anrufe tätigen?«, fragte er höflich. Janice schüttelte den Kopf. 75
Daraufhin nahm er einen Hörer ab und drückte einen Knopf. Sekunden später tauchte ein Mann in einem eleganten Anzug und einem Funkgerät auf. Er war wie der Erste groß und muskulös, und Janice dachte bei sich, dass die beiden durchaus in einem eleganten Etablissement als Rausschmeißer tätig sein konnten. Wachmann Nr. 2 lächelte und sagte: »Hier entlang bitte, Dr. Brucker. Mr. Luthor erwartet Sie.« Janice folgte ihm durch einen langen Korridor. »Hier gibt es ziemlich strenge Sicherheitsmaßnahmen, Mr....« »Wilcoxen.« Er nickte ihr freundlich zu. »Ich bin Jim Wilcoxen, Dr. Brucker.« Dann tippte er an seinen Ausweis, der am Revers seines Anzugs befestigt war. »Er ist mit einem Smartchip versehen, auf dem Ihre Zugangsberechtigung gespeichert ist. Die Dinger helfen uns, Sie zu finden, wenn Sie sich... verirren.« Janice nickte. »Verstanden.« Sie gingen weiter durch den Korridor. Ihre Absätze klapperten auf den Fliesen. Janice dachte an die vielen Male, die sie zusammen mit George eine neue Stelle angetreten hatte. Sie hatten den ersten Tag immer genossen, sich den Betrieb angeschaut und ihre neuen Räume zugewiesen bekommen. Und die Mission definiert, wie George es immer genannt hatte. Der Schmerz in ihrer Brust rührte sich, war aber kein Grund zur Beunruhigung. Ihr Herz war gebrochen. Es war so schwer, ohne ihn neu anzufangen. Sie hatte einen Teil von sich verloren; und da er fehlte, würde sie nur mit halber Kraft arbeiten können. Das Leben ohne ihn war noch schwerer, als sie es sich ohnehin vorgestellt hatte, und gleichzeitig fiel es ihr so unglaublich leicht, sich die ganze Schuld an seinem Tod zu geben.
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Sicher, George hatte es kaum erwarten können, sich dem neuen Isotop zu nähern; es war riskant gewesen und das hatte er gewusst. Aber hätte er nicht so darauf vertraut, dass ihre Berechnungen richtig waren, hätte er ihr nicht so vertraut, wäre er vielleicht vorsichtiger gewesen. Und sie hatte ihm auch noch gesagt, dass sie ruhigen Gewissens anfangen konnten. Lionel Luthor war wegen ihrem Mangel an Fortschritten besorgt gewesen und hatte angedeutet, dass ihre Arbeit am Ende doch nicht kosteneffizient sein würde. »Ich muss das Saldo im Auge behalten«, hatte er George erklärt. »Die LuthorCorp gibt riesige Summen für Forschung und Entwicklung aus, und ich muss meinen Aktionären etwas für ihre Investitionen bieten.« Das Gespräch mit Lionel Luthor hatte sie beide beunruhigt; sie hatten hervorragende Arbeitsbedingungen bei der LuthorCorp und konnten weiter an ihrem Geheimprojekt forschen, ohne den Verdacht ihres Arbeitgebers zu erregen. Sie waren beide der Meinung gewesen, dass sie Dampf machen mussten. Aber ich hatte ein schlechtes Gefühl dabei. Ich wollte, dass wir uns Zeit lassen, aber ich wollte George auch nicht enttäuschen. Er hat an mich geglaubt. Deshalb ist er gestorben. Diese Vorwürfe machte sie sich jeden Tag. Sie hoffte, dass sie leisten konnte, was Lex von ihr verlangte. Sie musste sich rehabilitieren, sowohl beruflich als auch gefühlsmäßig. Die Schuld der Überlebenden. Die Schuld der Mutter. Wenn ich Ginger anschaue, sehe ich, wie sehr sie ihn vermisst. Wie sehr sie sich quält, dachte sie besorgt. Die Wahrheit war, dass sie sich Sorgen machte. Mehr als nur Sorgen – sie hatte Angst. Wenn sich ihre Theorie als falsch erwies, konnte es Jahre dauern, die Strahlung der Meteoriten zu replizieren. Schlimmer noch, was war, wenn sie etwas 77
entwickelte – und es instabil war, wie beim letzten Mal? Und es implodierte? Sie seufzte erneut auf und drückte ihre Aktentasche an sich. Lex war klug und er war reich. Sie würde ihn bitten, Sicherungen einzubauen und Sicherungen für diese Sicherungen. Und außerdem musste sie nicht in Konkurrenz zu jemandem treten. Sie holte tief Luft und spulte innerlich ihr persönliches Glaubensbekenntnis ab, das sie vor Jahren erfunden hatte, um sich zu beruhigen: Gehe deterministisch, objektiv und empirisch vor. Das waren die fundamentalen Prinzipien der Wissenschaft, in einem Satz vereint. Alles hatte eine Ursache, und meist konnte die Wirkung vorhergesagt werden. Das war Determinismus. Alle ermittelten Resultate konnten wiederholt werden. Das war Objektivität. Und was den Empirismus anging: Die Sammlung von Daten durch systematische Beobachtung ermöglichte es, Theorien zu überprüfen und sie so zu bestätigen oder zu verwerfen. Die Worte beruhigten sie und machten sie zuversichtlich, dass sie erneut die Antwort auf die Fragen finden würde, die sie suchte. Ich werde es für dich tun, George, nahm sie sich vor. Und vielleicht würde es ihr dadurch endlich gelingen, sich von ihrer Schuld zu befreien. Jim, der hoch gewachsene Wachmann, blieb stehen und öffnete eine massive Metalltür mit der Aufschrift »Medienraum«. Sie traten ein. Der Raum war groß, vielleicht sieben Meter breit und vierzehn lang, mit einem riesigen, sorgfältig polierten Kirschholzkonferenztisch in der Mitte. Flachbildschirme standen auf dem Tisch und alles war in gedämpften Grautönen 78
gehalten. An der Wand, die dem Tisch am nächsten war, hing eine große weiße Filmleinwand. Ein an der Decke befestigter Projektor war auf die Leinwand gerichtet. Lex Luthor und ein anderer Mann saßen am Tisch. Lex schlürfte Kaffee aus einer Tasse, auf der »Talon« stand, und der andere Mann trank aus einem elegant geformten Glas. Auf einem kleinen japanischen Lacktablett standen Pellegrino- und Perrier-Flaschen und wunderschön arrangierte Früchte, Kekse und Käsehäppchen bereit. Beide Männer erhoben sich, als Janice und ihr Begleiter hereinkamen. Lex trat vor. »Tut mir Leid wegen der Verzögerung«, erklärte er. »Es ist etwas dazwischen gekommen.« »Meine Zeit ist ihre Zeit«, erwiderte sie ruhig. Der junge Mann nickte zufrieden. Der andere Mann kam ihr bekannt vor, und Janice versuchte sich zu erinnern, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Es handelte sich um einen Farbigen, der vielleicht in den Fünfzigern war. Er sah aus, als hätte er schon bessere Jahre erlebt, und er hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Vielleicht kann ich es spüren, weil es mir genauso ergeht, dachte sie unwillkürlich. Lex wies auf den Fremden. »Dr. Brucker, das ist Dr. Steven Hamilton.« Hamilton! Natürlich! Sie wusste sofort, als sie den Namen hörte, um wen es sich handelte. Schon in der Mittelschule hatte sie seine Werke gelesen. Er hatte jahrelang im Institut für Astromaterialien des Johnson Space Centers gearbeitet und Proben von Mondgestein, Meteoriten und anderen Artefakten aus dem Weltraum identifiziert und analysiert. Das Institut war ein gegen Feuer, Hurrikane, Tornados und Diebstahl gesichertes Gebäude, in dem verschiedene Sammlungen von extraterrestrischen 79
Materialien zur Untersuchung aufbewahrt wurden. Seine Erkenntnisse über die Wirkung des Sonnenwindes auf Mondgestein und die Nutzung seiner potenziellen Energie für zukünftige Raumflüge hatten sie begeistert. Sie konnte sich allerdings nicht erinnern, dass in den letzten Jahren in irgendeiner der wichtigen wissenschaftlichen Zeitschriften seine Arbeiten erwähnt worden waren. Da war etwas vorgefallen. Richtig, fiel ihr ein, es hatte vor ein paar Jahren einen Skandal gegeben, irgendetwas an der Metropolis University... Was hat das zu bedeuten?, fragte sie sich besorgt. »Dr. Brucker!« Hamilton kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Sie ergriff seine Hand und schüttelte sie. »Dr. Hamilton, ich bin ein Fan Ihrer Mondgesteinarbeiten von früher.« Sie lächelte und er lächelte irgendwie abweisend zurück. »Ah ja, die guten alten Zeiten.« Sein Lächeln war noch immer sehr kühl, als er hinzufügte: »Und jetzt sind wir Kollegen.« »Oh?« »Dr. Hamilton und ich teilen ein gemeinsames Interesse«, sagte Lex leichthin. »Er untersucht schon seit einiger Zeit die Smallville-Meteoriten.« Bevor Janice eine Frage stellen konnte, fügte er hinzu: »Wir haben für Sie eine Präsentation vorbereitet, die Sie vielleicht interessant finden werden.« Er wies zum Konferenztisch. »Bitte. Setzen Sie sich.« Sie ließ sich auf einem Stuhl nieder, der aussah, als entstamme er einem italienischen Designstudio, und stellte überrascht fest, dass er bequem war. Dr. Hamilton nahm eine silberne Fernbedienung vom Tisch und drückte einen Knopf. Die Lampen im Raum wurden dunkler und die Leinwand wurde hell. Das Bild eines Schildes 80
wie jenes, das sie auf der Fahrt nach Smallville gesehen hatte, erschien auf der Leinwand. »Willkommen in Smallville, Buttermaishauptstadt der Welt«, stand auf dem Schild. Hamilton drückte einen anderen Knopf und aus waffeldünnen Lautsprechern drang eine Stimme. Es war seine eigene. Sie klang ruhig und gleichzeitig leidenschaftlich. »Vor zwölf Jahren veränderte sich Smallville.« Ein anderes Bild ersetzte das Schild. Dieses zeigte dasselbe Feld mit den verbrannten Überresten des Schildes. »Der Meteoritenschauer von Smallville war das bedeutendste Meteoritenereignis in der Geschichte der Vereinigten Staaten.« Eine Montage aus anderen Bildern folgte, Einschlagkrater in Maisfeldern, ausgebrannte Autos, zertrümmerte Bürgersteige. Dann folgte das berühmte Titelbild des Time Magazines mit dem verängstigten kleinen Mädchen. Als Nächstes kamen digital bearbeitete Amateurvideoaufnahmen der Meteoriten, die durch die Atmosphäre rasten, begleitet von Überschallknallen und lauten, zischenden Geräuschen. Das Krachen, mit dem sie einschlugen, ließ sie zusammenzucken. Mir ist nie klar gewesen, wie schlimm es war, dachte sie. Mein Gott. Es sah so aus, als wäre der Himmel eingestürzt. Als könnte er ihre Gedanken lesen, erklang wieder Dr. Hamiltons Kommentar. »Es wurden über dreihundert Flugbahnen von Objekten beobachtet, die später gefunden und als Meteore identifiziert wurden. Außerdem wurden nach dem Ereignis – mit anderen Worten, nach den Einschlägen – weitere Bruchstücke entdeckt, bei denen es sich ebenfalls um Meteoriten handelte.« Eine Computergrafik verdeutlichte seine Worte. Zuerst war ein Sternenmeer zu sehen, mit hunderten von grün leuchtenden Punkten und Koordinaten. In der oberen rechten Ecke standen die Worte »AUFGEZEICHNETE FLUGBAHNEN 300, KORRIGIERT AUF +5%.« 81
Dann erschien eine Karte von Smallville, auf der sich hunderte weitere leuchtende Pixel befanden. Der Titel lautete »FUNDORTE BIS HEUTE, VERSION 27.3, LUTHORCORP/HAMILTON.« »Dank der fast geröllfreien Erde der Großen Ebenen ließen sich die Funde mühelos identifizieren«, sagte Dr. Hamilton laut an Janices Seite. Die Leinwand zeigte hunderte von etikettierten Meteoriten auf sauberen Laborregalen. Ein paar Momente lang wurde die Leinwand dunkel und dann wieder hell. Mehrere Fotos von Zeitungsschlagzeilen tauchten auf. »Mann wächst Finger an linker Hand«, lautete eine. Darunter war der Schnappschuss einer Männerhand zu sehen, neben deren Daumen sich ein zusätzlicher Zeigefinger bildete. »Farmer erntet rechteckige Wassermelonen«, lautete eine andere Schlagzeile, die ebenfalls der Lokalzeitung The Smallville Ledger entnommen war. Eine dritte Schlagzeile meldete: »Junge trägt Schwester durch Feuerwand!« Dr. Hamilton setzte seinen Kommentar fort. »Nach dem Meteorschauer bemerkten die Menschen hier einige seltsame Dinge.« Das unscharfe Video eines jungen Mädchens erschien auf der Leinwand. Ein Interviewer stellte ihr ruhig einige Fragen. »Und was hast du dann gesehen?« Die Augen des Mädchens waren groß. Ihr Pferdeschwanz wippte, als sie antwortete. »Er ist einfach gesprungen, als wäre er eine riesige Heuschrecke! Zehn oder mehr Meter über die Bäume, den Zaun, alles! Und er machte diese Geräusche...« »Was für Geräusche?« »Als wäre er ein Käfer! So ein raschelndes, kratzendes Geräusch! Es war schrecklich!« Sie fing an zu weinen.
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Ein weiteres Videofenster öffnete sich. Dieses war von etwas besserer Qualität als das erste. Wieder wurde ein Interview geführt. »Erzählen Sie mir von den Autos.« Der Angesprochene blickte unbehaglich drein. Er war ein Deputy Sheriff mittleren Alters, der es offensichtlich nicht gewöhnt war, vor einer Kamera zu stehen. »Als wir am Tatort eintrafen, war in dem Haus alles still. Wir hatten eine Meldung über einen möglichen Fall von häuslicher Gewalt vorliegen und wollten deshalb nicht ohne Verstärkung reingehen.« »Und was ist dann passiert?« Die Augen des Mannes weiteten sich. »Dann war da dieses rauschende Geräusch. Dinge geschahen... Autos kippten wie Spielzeuge um und ich sah...« »Sprechen Sie weiter, Officer.« »Ich kann es noch immer nicht glauben.« Er schüttelte den Kopf. »Dieser Junge... er konnte nicht älter als sechzehn gewesen sein... er stemmte einen der Streifenwagen hoch und warf ihn auf das Dach des Hauses.« Auf dem Band trat kurz Stille ein. »Und was haben Sie dann getan?« »Was denken Sie?« Der Mann lachte, aber sein Gesicht war voller Furcht. »Ich bin wie der Teufel weggerannt.« Eine Grafik mit einer Zeitskala formte sich auf der Leinwand. Auf ihr waren die letzten dreizehn Jahre verzeichnet. Zahlen tauchten entlang der Zeitachse auf, die erste im Jahr 1990, eine Nummer »1«. Die Zahlen wurde mit jedem folgenden Jahr höher. »Während ich die Daten des Meteorschauers analysierte, entwickelte ich die Theorie, dass sie die Umgebung, in der sie landeten, beeinflussten.«
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Die flache Linie verwandelte sich plötzlich in eine exponentielle Kurve, die die Anzahl der merkwürdigen Zwischenfälle in den vergangenen Jahren grafisch darstellte. »Ich gelangte zu der Schlussfolgerung, dass die Meteoriten die Menschen auf eine Weise beeinflussten, die wir bisher nur aus Filmen, Büchern oder Comicheften kannten.« Dr. Hamilton stoppte kurz die Präsentation. »Dr. Brucker, ich entwickelte daraufhin eine Hypothese. Sie wissen, was ich als Nächstes zu tun hatte.« Fast flüsternd erwiderte Janice: »Sie mussten sie überprüfen.« Hamilton nickte mit einem Leuchten in den Augen, das sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Er drückte wieder einen Knopf an der Fernbedienung und die Präsentation wurde fortgesetzt. Diesmal war ein Saatkorn in einer kleinen Glasschüssel zu sehen. Neben der Schüssel stand eine kleine Digitaluhr. Eine Hand griff ins Bild und legte einen Meteoriten daneben. »Bei dem Saatkorn, das Sie sehen, handelt es sich um den Samen der ehemals ausgestorbenen Nikodemusblume. Sie wurde auf Grund der halluzinogenen Eigenschaften des Blütenpollens für Unruhen verantwortlich gemacht, die sich vor über hundert Jahren im Stadtgebiet von Smallville ereigneten.« In einer Zeitrafferaufnahme rasten die Stunden vorbei, und plötzlich wies das Saatkorn einen Riss auf. Ein winziger grüner Trieb wuchs aus dem Samen und ein Blatt entfaltete sich. Die vermeintlich ausgestorbene Blume war soeben zu neuem Leben erwacht. Wow! Janice war beeindruckt. Ein weiteres Videofenster öffnete sich und zeigte einen riesigen höhlenartigen Raum, von künstlichem Licht erhellt. Der Boden des Raumes war von Erdstreifen bedeckt. Es sah wie eine Farm im Innern eines Gebäudes aus. 84
»Es wurden auch andere Experimente mit dem Meteoritengestein durchgeführt. Diese Erde wurde mit einem hohen Anteil von Meteoritengestein gedüngt, das als Basis für eine Standardnährstoffmischung aus Stickstoff, Kalium und Phosphor diente.« Janice verfolgte, wie sich ein Mann in einem weißen Anzug an den Erdstreifen entlangbewegte und alle paar Zentimeter etwas in den Boden drückte. Er pflanzt irgendetwas, wurde ihr klar. Als er das Ende der ersten Reihe erreichte, war das erste Saatkorn bereits aufgegangen. Janice starrte geschockt auf die Leinwand. Nichts wuchs so schnell. Sie sah genau hin, konnte aber kein Anzeichen dafür entdecken, dass das Video geschnitten worden war. Derselbe Mann nahm sich jetzt die zweite Reihe vor. Ein zweiter Mann gesellte sich zu ihm, wahrscheinlich um die Sache zu beschleunigen. Ein feiner Wassernebel ließ die Männer leicht verschwimmen; eine Berieselungsanlage an der Decke bewässerte die Pflanzen und gab ihnen binnen wenigen Minuten das Wasser, das sie normalerweise in Wochen oder Monaten verbrauchten. Die Männer fuhren mit der Saat fort. Als sie mit der zweiten Reihe fertig waren, konnte sie erkennen, was sie gepflanzt hatten. Mais! Ein weiteres Videofenster erschien auf der Leinwand. Sieben Mäuse waren in einem Drahtkäfig zu sehen, in dem auch zwei Maiskolben lagen. Der Mais hatte einen seltsamen Gelbton mit einen leichten Stich ins Grünliche. »Die bemerkenswerte Geschwindigkeit des Maiswachstums hatte einige ungewöhnliche Nebenwirkungen.« Eine der Mäuse biss in einen der Maiskolben. Sie sah zufrieden aus, während sie nagte und kaute.
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Ein paar Momente später hörte sie auf zu fressen und stand einen Moment stocksteif da. Das änderte sich rasch. Sie begann zu zucken, als würde sie unter unglaublich starken Anfällen leiden. Die Maus biss erneut in den Mais, und ihre Geschwindigkeit war dabei so hoch, ihre Zuckungen waren so schnell, dass der Kolben davonflog, als sie ihn berührte. Mein Gott, dachte Janice entsetzt. Wie es aussah, bewirkte der schnell wachsende Mais auch eine Beschleunigung, wenn man ihn zu sich nahm. Dr. Hamilton drückte einen Knopf und die Lichter gingen wieder an. Die Präsentation war vorbei. Sie sah Lex an. Er lächelte. »Wir planen, ein Resümee hinzuzufügen, sobald wir genau wissen, wie alles funktioniert.« Dr. Hamilton ergriff wieder das Wort. »Unsere Vorgehensweise wird sein, die Strahlungsemissionen zu kontrollieren, damit wir die Vorzüge mit wenigen oder keinen der negativen Nebenwirkungen nutzen können.« Janice nickte, aber ihr Herz hämmerte. Ich habe mein Kind hierher gebracht, dachte sie besorgt. Was habe ich getan? Und jetzt, wo wir hier sind... sind wir den Einflüssen bereits ausgesetzt gewesen? Wie kann ich es wissen? Wichtiger noch, was kann ich dagegen tun? Oh, mein Gott, George, habe ich es schon wieder getan? Uns einer Gefahr ausgesetzt? »Für mich ist dieses Projekt kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um meine Ziele zu erreichen«, erklärte Lex. »Wir müssen versuchen, diese Energie zu beherrschen, und herausfinden, wie man sie nutzbringend einsetzen kann. Die Meteoriten sind zu wertvoll, um sie zu verbrauchen – wenn wir einen Weg finden, dieselbe Strahlung zu erzeugen, können wir unsere Theorien ausarbeiten, ohne das vorhandene Material zu verschwenden.« 86
Sie sah Lex an und wünschte sich, George wäre jetzt hier. Sie war entsetzt, verängstigt... und gleichzeitig fasziniert. Dr. Hamilton ergriff wieder das Wort. »Wir scheinen es hier entweder mit einem hybriden Typ ionisierter Strahlung – keine Gamma-, Beta- oder Alphastrahlung, sondern vielmehr eine Mischung – oder mit etwas völlig Neuem zu tun zu haben.« Er maß Janice mit einem durchdringenden Blick. »Ich weiß, dass Sie Angst haben«, sagte er sanft. Sie schluckte. Sie konnte es nicht abstreiten. »Wir alle haben Angst. Aber das hier...« Er wies auf die Fernbedienung. »Es ist bereits passiert. Es ist hier. Wir brauchen Sie.« Lex wartete einen Moment. Nach kurzem Zögern nickte sie. Ihre Entscheidung war gefallen. »Ja«, sagte sie. »Sie brauchen mich wirklich.«
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5 IM VERBLASSENDEN LICHT trottete das Grufti-Mädchen mit einer schweren schwarzen Samttasche in den Armen über den Feldweg. In ihr befanden sich mehrere Meteoriten und einige Ritualzutaten – Kerzen, Räucherstäbchen. Was fehlte, war das Zauberbuch, das sie und Joel zusammen geschrieben hatten. Vor ihr lag das Maisfeld, und sie atmete tief ein. Sie hatte sehr, sehr große Angst davor. Aber ich muss es tun, dachte sie. Für Joel. Ihr Name war Holly Pickering und Joel Beck war ihr bester Freund. Es hatte alles vor langer Zeit angefangen. Im ersten Schuljahr hatte Alexis Catalano sie Holly Pickelgesicht genannt, und alle hatten den schrecklichen Spitznamen übernommen. Holly, mit ihrem funkelnagelneuen Erster-Schultag-Kleidchen und ihren funkelnagelneuen Ghostbusters-Rennschuhen und ihrer großen Alf-Vesperbox, war schluchzend aus dem Schulbus geflohen. Joel war mit ihr aus dem Bus gestiegen. Sie wusste noch immer nicht, ob dies seine ursprüngliche Absicht gewesen war, denn die nächste Haltestelle lag näher an seinem Haus. Sie hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt; weinend hatte sie sich im Kreis gedreht und erwartet, dass ihre Mom da war, aber sie war es nicht, und der große Junge hatte sie angesehen und gesagt: »Harter Tag, was?« Dieser Moment war die Geburtsstunde ihrer Freundschaft. Sie hatte ihm von diesem furchtbaren Tag erzählt, angefangen von der Tatsache, dass sie nicht an einem der neuen Pulte sitzen durfte bis hin zu dem furchtbaren neuen Spitznamen. Mit vollkommener Freundlichkeit hatte er sich ihre Tirade der Enttäuschung und Frustration angehört. Ihr ganzes Leben lang 88
hatte sie darauf gewartet, alt genug zu sein, um wie die großen Kinder zur Schule gehen zu dürfen, und dann hatte es sich als eine einzige Katastrophe entpuppt. Als sie fertig und aus purer Erschöpfung verstummt war, hatte er traurig den Kopf geschüttelt. »Beachte sie gar nicht, Holly. Ignoriere sie, und sie werden dich in Ruhe lassen.« Er hatte zusammen mit ihr gewartet, bis ihre Mutter sie abgeholt hatte, und in diesem ersten Jahr von Zeit zu Zeit nach ihr gesehen, hauptsächlich im Bus. Ihre Mom mochte ihn und war froh, dass er auf sie aufpasste. Sie machten Spaziergänge und suchten alle Kinderspielplätze in der Stadt auf. Er zeigte ihr die Bücherei und sie gingen oft dorthin; er war es, der sie mit Susan Cooper und J. R. R. Tolkien vertraut machte. Die Bücher spielten in alternativen Welten voller Legenden und Magie, und sie floh in sie wie Alice durch den Spiegel. Als Holly herausfand, dass Joels Dad Alkoholiker war, dämmerte ihr, dass er gesehen hatte, wie verletzt und ohnmächtig sie gewesen war, und dass er sich dadurch zu ihr hingezogen fühlte. Sie hatten so vieles gemeinsam... aber ihr frühes Kennen lernen sorgte dafür, dass sie nie mehr als gute Freunde sein würden. In gewisser Hinsicht war Holly dankbar dafür. Es machte ihre Beziehung dauerhaft. Als sie ins dritte Schuljahr kam, fingen sie an, zu dem Maisfeld zu gehen, und das hatte das Band zwischen ihnen gestärkt. Zuerst gingen sie hin, weil sie die Geschichten über den Fluch gehört hatten, der auf dem Maisfeld lasten sollte. Sie nahmen Sandwichs und Süßigkeiten mit und Joel las ihr Edgar Allan Poe vor. Dann bemerkten sie, dass dort etwas war – eine Präsenz, eine gespenstische Macht, wie immer man es auch nennen wollte. Sie waren sich dessen sicher. Holly konnte es spüren und Joel auch. Sie verbrachten nach der Schule lange Nachmittage mit dem Versuch, Verbindung mit dieser Macht 89
aufzunehmen, und Holly war begeistert. Sie entwickelten alle möglichen kleinen Rituale, kleine »Geheimclub«-Sachen, die hauptsächlich Holly erfand. Etwas reifer geworden dämmerte ihr, dass Joel zuerst nur mitgemacht hatte, um ihr einen Gefallen zu tun. Er hatte ihr geholfen, ein paar der Meteoriten aufzusammeln, die sie auf dem Feld gefunden hatten, und sie zu Ritualkreisen angeordnet. In seinem schwarzen Pullover hatte er mittelalterliche Beschwörungszauber rezitiert und für sie im Internet nach weiteren Zauberformeln gesucht, bis er ihr beigebracht hatte, wie man sich einloggte. Er hatte nie andere eingeladen, sie zu begleiten, und ihr kam nie der Gedanke, dass sie andere hätte einladen können... Sie blieben Außenseiter. Joel war zwar wundervoll und süß und klug, doch er irrte sich, was die Schule anging. Es stimmte nicht, dass die Rowdys das Interesse an ihr verloren, wenn man sie ignorierte. Obwohl sie die gemeinen Mädchen nicht beachtete, wurden sie mit jedem Jahr gemeiner. Es war, als hätten sie ihr am ersten Schultag ein Brandzeichen in Form eines großen »V« auf die Stirn gedrückt. Eine Weile wehrte sie sich gegen das Außenseiteretikett, aber dann nahm sie es an. So wurde sie ein Grufti. Und es war seltsam, denn sobald sie den Beweis dafür hatten, dass sie nicht war wie sie, ließen sie sie in Ruhe. Aber die Wahrheit war, dass es ihr nicht gefiel, eine Außenseiterin zu sein, und sie vermutete, dass viele der anderen Gruftis genauso dachten. Sie kannte Gravers und Tribals, edwardianische Gruftis und Cybergruftis, und obwohl es niemand zugab, hatten alle einen wehmütigen Unterton, wenn sie über die beliebten Jugendlichen sprachen. Obwohl sie die Konformität verspotteten und sich schworen, dass sie lieber sterben würden, als so zu sein, hatte sie das Gefühl, dass sich alle danach sehnten, beliebt zu sein.
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Doch Hollys Leben veränderte sich. Holly hatte im vergangenen Jahr in der Mittelschule in einem Theaterstück mitgespielt und ihre Lehrerin Mrs. Jeret hatte Hollys Mom zur Seite genommen und ihr gesagt, dass Holly schauspielerisches Talent hatte. Auf Mrs. Jerets Vorschlag hin hatte Hollys Mom sie vom Metropolis Talentmanagement unter Vertrag nehmen lassen, und Holly bekam erste Engagements als Sprecherin in Werbespots. Da die beiden nun sehr oft unterwegs waren, hatte Joel die Zweitschlüssel für ihr Haus bekommen. In ihrer Abwesenheit goss er die Pflanzen und kümmerte sich um die Post – und im Gegenzug hatte er einen Ort, an den er sich zurückziehen konnte, wenn sein Vater ihn zu sehr nervte. Jetzt war sie nicht sicher, ob sie ihre Freunde behalten würde. Sie hatte ihre Sprecherrollen vor den anderen Gruftis geheim gehalten und Joel gebeten, dass er es auch tat. Er war überzeugt, dass sich ihre Freunde für sie freuen würden, aber sie war sich dessen nicht so sicher. Was war, wenn sie sie um ihren Erfolg beneideten? »Ist dir so wichtig, was die anderen von dir denken?«, hatte Joel gestichelt. Oh ja. Das war kein Geheimnis. Joel wusste, was in ihr vorging. Sie wusste, dass er bis gestern Nacht hier gewesen war. Als sie an diesem Morgen nach Hause gekommen waren, hatte sie angenommen, dass er heimgegangen war, aber alle in der Schule erzählten, dass ihn seit Sonntag niemand mehr gesehen hatte. Und dann bemerkte sie, dass ihr Zauberbuch verschwunden war. Jetzt, in der Dämmerung, spießten sich Schatten auf den hohen Maisstauden auf, die wie lange, dünne Stacheln hin und her wogten. Sie schauderte, befeuchtete ihre Lippen und wiederholte den Schutzzauber, den sie im Bus intoniert hatte.
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Dieses blöde Mädchen hat mich angesehen, als wäre ich verrückt oder so. Ich war eine Idiotin, dass ich versucht habe, nett zu ihr zu sein. Sie sagte sich, dass sie alles getan hatte, was möglich war, um sich zu schützen, und setzte einen Fuß auf die Erde des Feldes. Ganz gleich, was ich tun muss, dachte sie, ich werde ihn zurückholen. Auf der Farm der Kents arbeiteten Clark und sein Vater mindestens eine Stunde schweigend, doch Clark sagte sich, dass es an der Häckselmaschine lag. Mit seinen Superkräften riss er einige alte, abgestorbene Bäume aus dem Boden und zerkleinerte sie, und sein Dad gab sie in den Häcksler. Die Maschine brummte und stotterte, und beide starrten sie an, als würden sie sie im Stillen bitten, nicht kaputtzugehen. Clark wusste nicht mehr, wie oft sie schon repariert worden war. Danach mussten sie einige Zaunpfosten aufstellen und anschließend die Kühe melken. Wie jeder andere Farmjunge saß er auf einem Schemel und melkte alle drei mit der Hand – Supergeschwindigkeit oder Superkraft half beim Melken gar nichts – während er beobachtete, wie sein Vater seine eigenen Aufgaben erledigte. Obwohl Clark so schnell wie möglich arbeitete, brach die Dunkelheit schnell herein, und er fragte sich, wann sie fertig werden würden. Das Farmleben ist hart, dachte er. Aber dann holte er Luft und betrachtete all die Dinge, die seine Eltern anbauten, und er dachte: Hart, aber es ist die Mühe wert. Nach dem Melken blieb es doch noch eine Weile hell, und er und sein Dad fuhren zum Heufeld. Inzwischen war es fast dunkel, und am fernen, dunkelblauen Himmel ging der Mond auf.
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Sie hatten alles Heu bis auf ein paar Haufen, um die sie sich am nächsten Tag kümmern würden, zu Ballen verarbeitet. Jetzt mussten sie die Ballen nur noch in die Scheune transportieren. Clark übernahm es, sie auf den Truck zu wuchten, und sein Dad verstaute die großen Würfel auf der Ladefläche. Mit seiner Zange packte Clark jeden der Ballen und warf ihn auf die Ladefläche – eine Arbeit, die kein normaler Mensch vollbringen konnte, und erst recht nicht mit solcher Leichtigkeit. Sein Vater schüttelte beeindruckt den Kopf und schob Ballen an Ballen zusammen. Sie arbeiteten schweigend und hatten schließlich bis auf ein paar Ballen in der Nähe der Scheune alles Heu auf dem Feld eingebracht. »Was ist, Dad?«, fragte Clark besorgt. »Habe ich zu heftig geworfen?« Die Stimmung war ernst, beide Kents waren tief in Gedanken versunken. Clark musste immer wieder an Joel Beck denken, und er wünschte sich, er könnte nach ihm suchen. Worüber sein Vater nachgrübelte, wusste er allerdings nicht. »Nein, du hast sie nicht zu heftig geworfen.« Jonathan lächelte matt. »Ich musste nur daran denken, was für ein Glück wir haben, dass du diese Kräfte besitzt.« Er wischte sich mit seinem Lederhandschuh die Stirn ab, wies auf das Heu und fügte hinzu: »Ein normaler Kerl wie ich hätte Stunden dafür gebraucht.« Clark lächelte zurück, aber innerlich zuckte er zusammen. Ich bin ein normaler Kerl, wollte er seinen Vater erinnern. Aber natürlich stimmte es nicht. Manchmal will ich einfach nur dein Sohn sein. Dein richtiger, leiblicher Sohn. Er sprach den Gedanken nicht laut aus. Sein Dad kletterte von der Ladefläche und stieg ins Fahrerhaus. Clark folgte ihm; sie fuhren nun zurück, um die Ballen, die sich in der Nähe der Scheune befanden, aufzuladen. Jonathan hatte sie absichtlich bis zum Schluss aufgespart,
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damit sie sie nicht beim Einbringen der anderen Ballen behinderten. »Es wäre schön, wenn wir eine Maschine dafür hätten«, fügte Jonathan in dem Versuch, Konversation zu machen, hinzu. Jetzt war Clark an der Reihe, matt zu lächeln. Andere Männer träumten von schicken Autos; sein Dad wünschte sich einen schicken Heustapler. Er dachte an den fantastischen schnittigen Wagen, den Lex ihm hatte schenken wollen, nachdem Clark ihm das Leben gerettet hatte, und er fragte sich, ob sein Vater auch von ihm verlangt hätte, ihn an Lex zurückzugeben, wenn es ein Stapler gewesen wäre. »Ich werde dir eine zum Vatertag schenken«, scherzte Clark. Die beiden lächelten sich an. Heustapler waren so teuer, dass die meisten Farmer im County sie nur mieten konnten. Heutzutage kämpften die lokalen Farmer an allen Fronten... was es ihnen noch schwerer machte, den Kaufangeboten der Luthors zu widerstehen. »Nun, was Mom betrifft«, begann Jonathan, und Clark wusste, dass sie endlich bei dem Thema waren, das ihnen beiden durch den Kopf ging. »Du weißt, dass sie mit der Suche nach Joel Recht hatte, Clark. Es gibt andere Leute, die dafür besser geeignet sind als du. Profis. Du musst nicht alles selbst tun, Sohn.« Er sah ihn sehr ernst an. »Du kannst nicht jeden retten.« »Aber Mom war so aufgebracht«, warf Clark ein. »Sie hat Angst um dich.« Clark blinzelte. »Um mich?« Sein Vater nickte. »Die Welt ist sehr gefährlich, Sohn. So vieles kann dir zustoßen. Wenn deine Mutter und ich gründlich darüber nachdenken würden, würden wir wahrscheinlich beide verrückt werden.« »Aber ich habe meine Kräfte, Dad. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«
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Sein Vater legte den ersten Gang ein; als er in den Rückspiegel sah, wurde seine Stimme ein wenig sanfter und auch ein wenig trauriger. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sehr wir uns bemüht haben, ein Baby zu bekommen. Weißt du, als wir geheiratet haben, haben wir uns nie gefragt, ob wir Kinder haben könnten. Wir gingen einfach davon aus. Es gehört einfach zum Leben dazu. Aber es war uns nicht vergönnt. Sie ist fast daran zu Grunde gegangen. Schließlich hat sie es sich immer von Herzen gewünscht. Sie fühlte sich so verraten... von ihrem eigenen Körper. Eines Tages sagte sie: ›Ich habe meinen Glauben an die Gerechtigkeit verloren, Jonathan. Netten Leuten können schlechte Dinge zustoßen, und das ohne jeden Grund. Einer von uns könnte morgen sterben. Alles Mögliche kann uns passieren.‹« Er schwieg und sah Clark an. »Dann schlugen die Meteoriten ein.« Clark wurde blass. Die Meteoriten waren meine Schuld. Sie kamen mit mir zur Erde... »Und all der Tod und die Zerstörung, die sie mit sich brachten, schenkten uns das, was wir uns am meisten wünschten«, fuhr Jonathan fort. »Einen Sohn.« Gerührt schluckte Clark. »Es ist...«, begann er. Es ist hart, so sehr gewollt worden zu sein. Mom muss oft davon geträumt haben, wie ihr Sohn oder ihre Tochter sein würde. Ich weiß nicht, ob ich ihren Erwartungen gerecht werde. Und sie hat gewiss nicht davon geträumt, ein Baby von einem anderen Planeten zu adoptieren, dachte er bei sich. »Deshalb haben wir Angst«, erklärte sein Dad. »Angst, dass dir etwas zustößt. Angst, dass jemand die Wahrheit über dich herausfindet und versucht, dich uns wegzunehmen.« »Aber...« Clark verstummte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
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»Aber du musst erwachsen werden«, sagte sein Dad. Er seufzte. »Es ist schwer für uns, das zu akzeptieren. Doch wir versuchen es.« »Ich weiß.« Clark nickte. »Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber abgesehen von der Tatsache, dass ich nicht Football spielen darf, leistet ihr großartige Arbeit.« »Das glaube ich auch, Sohn«, erwiderte Jonathan. »Das glaube ich auch.« Er sah stolz aus, und Clark spürte eine Welle der Liebe, die ihn vom Kopf bis zu den Zehen durchlief. »Sieh mal. Da ist deine Mutter.« Jonathan wies zum Haus, wo Martha Kent auf der Veranda stand und ihnen zuwinkte. »Ich verhungere. Wie ist es mit dir?« »Mir geht es genauso«, stimmte Clark zu. Sie fuhren weiter und Jonathan sagte, dass sie die Ballen morgen abladen konnten. Clark folgte Jonathan, blieb dann neben dem Haus stehen und pflückte ein paar Sonnenblumen. Dann ging er hinein und sah seine Mutter, wie sie einen Korb mit frisch gebackenen Keksen auf den Tisch stellte. Er küsste sie auf die Wange und gab ihr die großen Blumen. »Oh, Clark«, sagte sie warm, »wie aufmerksam von dir. Sie sind wunderschön.« Sein Dad kam in den Raum, sah die Blumen und zwinkerte seinem Sohn erfreut zu. Clark sagte: »Ich werde den Tisch decken, Mom. Du setzt dich hin!« Dann rückte er einen Stuhl vom Tisch und wartete darauf, dass sie Platz nahm. »Muttertag war schon am Sonntag«, scherzte sie. »Ich übe für das nächste Jahr.« Er wandte sich ab, um das Abendessen zu holen. Lana war gerade von einer sehr anstrengenden Schicht im Talon nach Hause gekommen, als Ginger Bruckers Anruf sie erreichte.
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»Es tut mir Leid, dass ich dich störe«, sagte Ginger mit bebender Stimme. »Aber ich... ich bin allein im Haus und, nun ja, es gehen hier unheimliche Dinge vor.« Lana zog alarmiert die Brauen hoch. »Was für unheimliche Dinge? Ein Einbrecher?« Ginger zögerte. »Vielleicht.« »Ginger, deine Zähne klappern!« »Ich bin vorne im Garten«, erklärte Ginger. »Ich habe Angst, ins Haus zu gehen.« Sie zögerte. »Ich habe leider kein Auto oder so... äh...« Lana verstand. Sie sagte sanft: »Ich bin gleich bei dir. Bleib, wo du bist, okay?« »Kein Problem.« Ginger lachte unsicher. »Ich werde auf keinen Fall allein hineingehen.« Lana legte auf und sah ihre Tante bedauernd an, die die letzte Stunde damit verbracht hatte, Karottensuppe mit Kümmel zuzubereiten, ein wundervolles Gericht, das Lana für die Speisekarte des Talons in Erwägung zog. Ihre Tante warf Lana einen fragenden Blick zu, als sie die Küche durchquerte, um in ihr Zimmer zu gehen und einen Mantel zu holen. Ich werde auch meine grüne Jacke mitnehmen, für Ginger, dachte sie. Zu ihrer Tante sagte sie: »Dieses neue Mädchen, Ginger... sie ist allein zu Hause und ziemlich nervös.« Ihre Tante runzelte die Stirn. »Das arme Ding. Bring sie doch her. Wir können zusammen Suppe essen.« »Iss du schon mal allein«, wehrte Lana ab. »Ihre Mom ist wahrscheinlich schon auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Ich bleibe nur so lange bei Ginger, bis sie eintrifft.« »Du bist ein liebes Mädchen.« Nell löste den Serviettenring von ihrer lavendelfarbenen Serviette und legte sie auf ihren Schoß. »Ich werde die Suppe für dich aufwärmen, wenn du zurückkommst.« »Danke.«
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Lana holte den Mantel und die Jacke, winkte ihrer Tante kurz zu und verließ das Haus. Sie stieg in ihren Truck, legte den ersten Gang ein und fuhr los. Zu ihrer Linken huschte die Kent-Farm vorbei. Im Esszimmer des Farmhauses brannte Licht. Wahrscheinlich nahmen sie gerade eine exzellente Mahlzeit ein. Sie kannte die Kochkünste von Martha Kent. Ich muss Clarks Mom bei Gelegenheit nach dem Rezept für ihre Maisfischsuppe fragen, dachte Lana. Sie mag ihr Buttermaisgeheimnis nicht preisgeben wollen, aber vielleicht ist das mit der Fischsuppe etwas anderes... Auf der Landstraße gab es keine Laternen wie in der Stadt. Nur die Scheinwerfer des Trucks erhellten Lanas Weg, als sie weiterfuhr und daran dachte, was Chloe ihnen über Joel Beck erzählt hatte. So viele seltsame Dinge geschahen in Smallville; sie hoffte nur, dass es für Joels Verschwinden eine harmlose Erklärung gab. Vielleicht hatte er sich mit seinen Eltern gestritten und war bei seinen Freunden untergetaucht, bis er sich wieder beruhigt hatte.. Sie schaltete das Radio ein, um sich nicht so einsam zu fühlen. Ihre Tante hatte das Radio auf einen Classic-RockSender eingestellt, und Lana musste bei der Vorstellung, wie sich ihre Eltern diese Musik anhörten – The Clash, die Stones lächeln – und drehte weiter auf. Dann wurde ihr bewusst, dass sie sich über das Lenkrad beugte und es fest umklammerte. Ein Blick nach rechts verriet ihr, warum sie sich so verkrampft hatte: Sie näherte sich dem Maisfeld, aus dem Joel geflohen war. In dem er einen Geist gesehen hat. Zumindest hat er das behauptet. Lana versuchte, nicht auf die im Mondlicht liegenden Stauden zu achten, aber sie konnte dem Drang, immer wieder hinüberzuschauen, nicht widerstehen. Eine Art Schatten schien das Licht zu verdüstern und es zu verschlucken. 98
Nach ein paar Sekunden lag das Feld hinter ihr. Sie entspannte sich und konzentrierte sich aufs Fahren. Sie wusste nicht genau, wo das Welles-Haus lag, und Gingers Beschreibung war ein wenig vage gewesen. Endlich sah sie das verwitterte Schild mit der Aufschrift Waitley Lane. Die Straße war alt und der Truck rumpelte über einige Schlaglöcher. Dort war es: Ein großes Farmhaus mit einem schrägen Dach, ein paar Lichtern in einigen der Zimmer und einem Mädchen, das ein Stück davor stand. Ihre Silhouette war vor dem Mond deutlich zu erkennen, und selbst aus der Ferne sah sie verängstigt und sehr, sehr einsam aus. Sobald Ginger Lana entdeckt hatte, winkte sie und lief dem Truck entgegen. Lana bremste und hielt an. Sie nahm ihren Mantel und die Jacke, öffnete die Tür und sprang auf den Boden. »Hi. Vielen Dank, dass du gekommen bist«, sprudelte Ginger hervor. »Oh Gott, Lana, ich habe solche Angst.« Sie biss auf ihren Daumennagel, fuhr sich dann mit beiden Händen durchs Haar und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Du hältst mich wahrscheinlich für verrückt...« »Nein«, erwiderte Lana freundlich. »Ich kann dich verstehen, wirklich.« »Ich kenne sonst niemand. Nun, vielleicht Clark, aber...« Lana gab Ginger die Jacke. »Es ist kühl heute Nacht.« Sie blickte zum Haus hinüber. »Das ist ein großer Kasten. Wahrscheinlich könnte jemand einbrechen, ohne dass du es bemerkst.« Ginger zögerte. Sie sagte: »Ich... ich glaube nicht, dass jemand eingebrochen ist. Ich denke... jemand war bereits in dem Haus, bevor Mom und ich eingezogen sind.« Sie holte tief Luft und kniff die Augen zusammen, als müsste sie ihren ganzen Mut zusammennehmen. »Lana, ich glaube, im Haus spukt es.«
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Lanas Magen zog sich zusammen. Sie legte den Kopf zur Seite und Ginger fügte hastig hinzu: »Wir haben eine Bibel... Ich wusste nicht, dass wir eine haben, meine Eltern sind nicht religiös. Sie fiel vom Bücherregal. Sie fiel einfach herunter und schlug auf der Seite auf, auf der steht, dass man seine Feinde schlagen soll oder so ähnlich.« Sie holte erneut tief Luft. »Beim ersten Mal habe ich mir noch nichts dabei gedacht, aber dann ist das Gleiche ein paar Minuten später noch mal passiert.« »Oh.« Lana wollte Ginger nicht in Panik versetzen; sie war ohnehin schon aufgewühlt genug. »Alte Häuser haben manchmal ein Eigenleben...« »Das hier ist etwas anderes.« Die Augen Gingers weiteten sich immer mehr. »Lana, da war Wasser auf der Seite, und ich schwöre, dann sah es aus wie Blut. Beim zweiten Mal, meine ich. Zuerst Wasser und dann Blut. Und alle in der Schule haben über diesen Jungen geredet, der einen Geist gesehen hat...« Ihre Schultern sackten nach unten. »Ich frage mich, ob derselbe Geist hier sein Unwesen treibt...« Die beiden sahen sich an. Lana fröstelte unwillkürlich in der Kälte... zumindest redete sie sich ein, dass es an der Kälte lag. Aber ihre Schädeldecke prickelte, als würde jemand einen Satz Zahnstocher in ihren Kopf bohren. Ihre Wangen hingegen glühten. Gingers Blick wanderte von Lana zu ihrem Truck. »Möchtest du mit zu mir kommen?«, bot Lana ihr an, als sie es bemerkte. Doch Ginger schüttelte den Kopf. »Meine Mom müsste jede Sekunde hier eintreffen. Ich habe dauernd versucht, sie übers Handy zu erreichen, aber ich konnte nicht durchkommen, nicht einmal eine Nachricht hinterlassen.« Lana versuchte sie zu beruhigen. »Dann warten wir zusammen auf sie. Wir können uns ins Auto setzen, die Heizung aufdrehen und Radio hören.« 100
Ginger schien der Vorschlag zu gefallen, aber sie sah zögernd über ihre Schulter zum Haus hinüber. »Aber ich will nicht, dass meine Mom dort reingeht, ohne dass ich wenigstens versucht habe herauszufinden, was vor sich geht«, sagte sie. »Meine Mom hat eine Menge durchgemacht. Sie war... sie war dabei, als mein Dad starb.« Ihr Blick wurde ernst und sie sah zu Boden. »Sie wird sich Sorgen machen, wenn sie nach Hause kommt und ich nicht da bin.« Sie liebt ihre Mom wirklich, dachte Lana gerührt. »Was ist...« Ginger holte tief Luft. »... was ist, wenn es mein Dad ist und er...« Ihre Augen wurden feucht und sie starrte auf ihre Hände. Nach einem Moment sagte Lana: »Du denkst, dein Dad ist im Haus? Glaubst du, dass er versucht, Kontakt mit dir aufzunehmen?« Ginger blickte nicht auf, als sie nickte. Lana wartete darauf, dass Ginger weitersprach, und als sie schwieg, fügte Lana hinzu: »Aber das wäre doch eine gute Sache, nicht wahr? Wenn dein Dad hier wäre.« »Ich bin mir nicht sicher«, flüsterte Ginger. Als sie schließlich zu Lana aufblickte, war ihr Gesicht schmerzverzerrt. »Lana, es könnte sein... dass er vielleicht sehr wütend ist. Weil er an das Diesseits gefesselt ist. Die Bibel war bei einem Vers über Rache aufgeschlagen.« Eine einzelne Träne rann über ihre Wange. »Ich glaube, dass meine Mom etwas damit zu tun hatte...« Ginger barg ihr Gesicht in den Händen. »Oh, Lana, ich habe seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen! Mom hat diese schrecklichen Albträume. Sie spricht im Schlaf und sagt zu ihm, dass es ihr schrecklich Leid tut... dass sie ihn getötet hat.« Lana war geschockt. »Willst du damit sagen, dass du denkst, dass sie...?« »Ihn getötet hat?«, stieß Ginger hervor.
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»Oh, mein Gott!« Lana schlug die Hand vor den Mund und nahm Ginger dann in die Arme. »Oh, nein, Ginger, du irrst dich bestimmt!« Ginger brach in Tränen aus und schluchzte heftig an Lanas Schulter. »Es ist, als ob er sie in ihren Träumen verfolgt. Sie ist so verändert, seit es passiert ist. So abweisend.« »Dein Vater würde dir niemals etwas antun«, versicherte ihr Lana. »Ich bin sicher, dass er dich sehr geliebt hat. Und ich bin ebenso sicher, dass deine Mom nichts damit zu tun hatte. Sie fühlt sich einfach nur schuldig, weil sie noch lebt und er sterben musste.« Kaum hatte Lana das ausgesprochen, bereute sie ihre Worte. Sie klangen so hart. »Was ich meine, ist...« »Ich weiß, was du meinst.« Ginger wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Aber jetzt wirst du verstehen, warum ich nicht will, dass meine Mom allein reingeht.« »Also gut. Versuchen wir herauszufinden, was hier los ist.« Lana zog ihre Augenbrauen hoch und hob gleichzeitig ihre Schultern, als eine Art nonverbales Fragezeichen, und steckte ihre Hände in die Taschen. Ginger seufzte, dann sagte sie: »Okay.« Das Haus ragte drohend vor ihnen auf, als sie näher darauf zutraten. Das schräge Dach sah wie eine riesige Stirn aus, die zornig nach vorn geneigt war. Die Veranda war ein kantiges Kinn und die Tür... ein Maul. Die Fenster waren grimmige Augen... Und ich habe zu viele Horrorfilme gesehen. Es sind bloß Fenster, rief Lana sich zur Vernunft. Und all die grün leuchtenden Steine in der Stadt sind bloß Steine. Sie gingen Seite an Seite. Als sie auf die Veranda stiegen, verlangsamte Ginger unbewusst ihre Schritte. Lana war nervös; sie fragte sich, ob Ginger eine Ahnung von den seltsamen Vorfällen in dieser ländlichen Kleinstadt hatte. Wären sie in 102
einer anderen Stadt gewesen, hätte diese Geisterjagd sie eher mit Ehrgeiz als mit Furcht erfüllt. Aber sie waren in Smallville, und so konnte alles Mögliche im Welles-Haus vor sich gehen. Der Wind frischte auf, raschelte in den Büschen und rauschte durch ein nahes Maisfeld. Es war kalt für eine Mainacht, und Lana fragte sich, ob es an den gespenstischen Vorgängen lag. Jemand musste als Erster das Haus betreten. Lana nahm all ihren Mut zusammen und stieß die Tür auf. Sie konnte spüren, dass Ginger zögerte. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, um Ginger zu beruhigen, Dann ging sie hinein und gelangte ins dunkle Foyer. Da war eine Standuhr; sie konnte ihr Ticken hören. Der Mond wurde von den Wänden reflektiert und warf längliche Rechtecke aus Licht auf den Boden. Wie Zähne, dachte Lana unbehaglich. Nichts geschah. Ginger stand an der Tür, sehr unsicher wirkend, und beobachtete sie. Nach ein paar Sekunden kam sie ins Haus und schloss die Tür. »Das ist ein wunderschönes altes Haus«, sagte Lana begeistert. »Um die Jahrhundertwende erbaut.« »Heute baut man nicht mehr wie früher«, erwiderte Ginger, offensichtlich in dem Versuch, einen Scherz zu machen. Aber ihre Stimme bebte. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Sie hatte wirklich große Angst. »Ich möchte dir das Bild zeigen, das ich gemalt habe«, sagte Ginger. »Es liegt auf meinem Bett.« »Wo ist dein Zimmer?«, fragte Lana mit bemühter Munterkeit. Ginger wies zur Treppe. Jetzt war Lana an der Reihe, sich unsicher zu fühlen. Sie legte keinen gesteigerten Wert darauf, nach oben zu gehen, so weit entfernt von dem rettenden Ausgang, falls sie fliehen mussten...
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»Wie wäre es mit einer Tasse Tee?«, schlug sie deshalb vor und rieb sich fröstelnd die Arme. »Wir können in der Küche auf deine Mom warten. Es ist kalt hier, weißt du?« Ginger biss sich auf die Unterlippe und drehte ihren Kopf nach links, wo sich, wie Lana annahm, die Küche befand. »Da... da war ein Geräusch. Im Keller. Die Tür zum Keller ist in der Küche.« »Okay. Dann können wir...« Ein Poltern ertönte. Es klang, als wäre jemand gestürzt, und es klang weit von ihnen entfernt. Ginger blickte entsetzt drein. »Das war im Arbeitszimmer«, flüsterte sie. Als sie stirnrunzelnd in die Richtung sah, aus der der Lärm kam, fügte sie ängstlich hinzu: »Die Bibel fällt dauernd vom Regal.« »Vielleicht ist das Regal schräg«, vermutete Lana. »Wo ist das Arbeitszimmer?« »Ich will da wirklich nicht reingehen«, protestierte Ginger. »Bitte, Lana.« Sie zog die grüne Jacke enger um ihre Schultern. »Lass uns wieder nach draußen gehen.« »Gut«, nickte Lana. »Wir können von hier verschwinden. Deine Mutter wird es verstehen.« Ginger war hin und her gerissen. »Ich kann sie nicht übers Handy erreichen. Ich kann ihr nicht mal eine Nachricht hinterlassen.« Sie seufzte tief. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie wird bestimmt glauben, dass ich mir alles nur ausgedacht habe...« »Wir können ihr eine Nachricht hinterlassen.« In diesem Moment erschütterte ein lautes Poltern den Boden unter Lanas Füßen. Sie schrie auf und sprang unwillkürlich zur Seite... da folgte dem ersten Poltern eine Sekunde später ein zweites. »Raus«, befahl sie Ginger, während sie ihre Hand um den Knauf der Haustür legte... ... er ließ sich nicht drehen! »Oh!«, rief Lana erschrocken. 104
Ginger eilte ihr zu Hilfe und drehte ebenso erfolglos am Türknauf. Sie starrte Lana an. »Ich habe sie nicht abgeschlossen. Sie hat sich selbst abgeschlossen«, schrie sie. Lana legte beide Hände um den Türknauf und rüttelte daran. Sie stemmte ihr ganzes Gewicht dagegen. Er bewegte sich keinen Millimeter. »Oh, mein Gott«, rief Ginger, allmählich in Panik geratend. »Lana, wir sind hier mit einem Geist eingesperrt!« »Okay, okay«, sagte Lana beruhigend, obwohl sie Mühe hatte, ihre eigene Angst zu unterdrücken. »Es ist ein altes Haus. Das Schloss ist irgendwie eingerastet. Das Poltern... habt ihr einen Boiler?« »Ich weiß es nicht!«, heulte Ginger. »Du sagst das alles nur, damit ich keine Angst bekomme!« »Hast du einen Hammer? Vielleicht können wir...« »Lana. Wir müssen hier raus!« Lana kapitulierte. »Du hast Recht. Gibt es eine Hintertür?« Ginger schloss die Augen. »Wir müssen durch die Küche, um nach hinten zu gelangen.« »Das schaffen wir«, sagte Lana nachdrücklich. »Das schaffen wir.« Sie streckte ihre Hand aus. Ginger ergriff sie. Sie sahen sich kurz an und gingen zusammen in die Küche. Ginger machte Licht, dann eilten sie über das hellgrüne Linoleum. Lana sah sich um, als sie sich der Hintertür näherten. Es war eine normale, recht freundliche Küche mit grün-gelb karierter Tapete und einem grünen Fliesenboden. Altmodisch, aber gemütlich. Eine ganz normale Farmhausküche... Das Poltern erklang erneut. Es kam eindeutig aus dem Keller. »Boiler«, murmelte Lana vor sich hin. Sie versuchte sich zusammenzureißen und nicht in Panik zu geraten. Ginger stand kurz davor, die Nerven zu verlieren, und sie mussten hier raus. »Boiler.« 105
Dann sank plötzlich die Temperatur in der Küche. Zunächst war es kühl, dann eisig. Lana konnte ihren Atem sehen. Ginger erreichte die Hintertür und rüttelte am Knauf. Sie brach in Tränen aus und schrie: »Sie ist auch abgeschlossen!« Lana hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf gekippt. Sie sagte: »Wir werden Hilfe rufen.« Aber als sie in ihre Manteltasche griff, um ihr Handy herauszuziehen, fiel ihr ein, dass sie es in ihrer Handtasche gelassen hatte... und die befand sich im Truck. Kaum noch eines klaren Gedankens fähig, stürzte Ginger zum schnurlosen Telefon und nahm es aus der Halterung. Sie starrte Lana an und sagte: »Ruf Clark an.« »Wir sollten den Sheriff alarmieren«, schlug Lana stattdessen vor. »Ruf Clark an!«, beharrte Ginger. Lana nickte, nahm den Hörer und wählte seine Nummer. Clark war auf dem Heuboden, sah durch sein Teleskop und sehnte sich nach einer Zeit zurück, an die er sich nicht erinnern konnte... an seine Kinderjahre. So viele Sterne glitzerten am Himmel; welche davon hatten seine leiblichen Eltern gesehen, wenn sie hinauf zum Himmel geblickt hatten? Hatten ihre Augen dieselbe Farbe wie seine? Hatten sie überhaupt Augen? Hatten sie ihm menschliche Gestalt gegeben, damit er hier leben konnte? Er wurde vom Klingeln des Telefons aus seinen Gedanken gerissen. Er hatte das schnurlose Telefon mit nach oben genommen; seine Mom musste sich für einen ihrer Abendschulkurse einen Film ansehen und sein Dad hatte angeboten, ihr dabei Gesellschaft zu leisten. Clark hatte versprochen, alle Anrufe entgegenzunehmen, damit sie in Ruhe fernsehen konnten. Er nahm den Hörer ab, drückte den Empfangsknopf und sagte: »Hallo?« 106
»Clark, oh, Gott sei Dank!« Es war Lana. Sein Herz machte einen kleinen Sprung; dann sprudelten ihre nächsten Worte so schnell hervor, dass er sie kaum verstehen konnte. »Wir sind in Gingers Haus eingesperrt. Das Welles-Haus, du weißt. Etwas... etwas stimmt hier nicht, Clark.« »Ich bin schon unterwegs«, sagte er und wollte schon auflegen. Dann nahm er den Hörer wieder zum Ohr und fragte: »Deshalb hast du mich doch angerufen, oder?« »Ja, ja!«, rief sie. »So schnell du kannst. Weißt du, wo es ist?« »Ich war mit Lex dort«, erklärte er. »Ich werde es schon finden.« »Beeil dich bitte!« Sie klang verzweifelt. »Bin schon unterwegs«, sagte er wieder. Als er auflegte, dachte er: Wenn ich laufe, werde ich schneller da sein. Aber es ist zu gefährlich. Jemand könnte mich sehen. Er stürzte ins Haus. Der Geruch von Popcorn hing in der Luft, und er fand seine Eltern auf der Couch vor... aber sie sahen sich nicht den Film an. Sie küssten sich. Er räusperte sich und sie schreckten wie schuldbewusste Teenager hoch. Seine Mom strich sich ihr Haar glatt. »Clark«, sagte sie ein wenig zu fröhlich. »Mom, Lana hat angerufen. Sie und Ginger haben im Welles-Haus irgendwelche Probleme.« »Haben sie den Sheriff informiert?«, warf Jonathan mit skeptischer Miene ein. Clark holte tief Luft. Er musste vorsichtig sein, damit sie ihm nicht wieder einmal befahlen, sich aus dieser Sache herauszuhalten. Und diesmal war es Lana, die in Schwierigkeiten steckte. »Ich weiß es nicht, Dad. Ich weiß nur, dass sie mich angerufen und um Hilfe gebeten hat.«
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Seine Eltern sahen besorgt aus. Sie wechselten einen Blick. Angesichts ihrer zögerlichen Mienen erklärte er: »Ich muss diesmal hin, okay? Ich muss es wirklich!« »Okay.« Seine Mom nickte und warf seinem Vater einen Seitenblick zu; er seufzte und nickte ebenfalls. »Die Schlüssel für den Truck hängen in der Küche am Haken.« »Danke, Mom. Dad.« Er rannte mit Supergeschwindigkeit zum Schlüsselhaken und dann hinaus zum Truck. Erst da bemerkte er, dass dieser noch immer mit Heuballen beladen war. Das wird eine Höllenfahrt, dachte er und trat aufs Gaspedal. So schnell der überladene alte Truck fahren konnte, raste er los. Clark hatte ein seltsames Déjà-vu-Gefühl, als er über den Highway schoss. Er musste daran denken, dass seine Eltern und er hier fast Joel Beck überfahren hatten. Da war das Maisfeld, wo es passiert war... He, dachte er, als er vorbeirollte, da ist jemand im Feld. Etwas flackerte – ein Feuer, eine Taschenlampe, er konnte es nicht genau erkennen... aber er konnte nicht anhalten. Campiert Joel dort draußen? Ich werde nachsehen, sobald ich weiß, dass mit Lana alles in Ordnung ist, beschloss er. Er bog rechts in eine Straße, deren Schild er nicht lesen konnte, doch er erkannte den zerschrammten Briefkasten von seiner ersten Fahrt mit Lex wieder. Was würde ich jetzt dafür geben, am Steuer des Porsches zu sitzen, dachte er wehmütig. Als er an dem Luthor-Anwesen vorbeifuhr, sah er einen großen schwarzen Wagen zur Straße rollen. Clark nahm sich die Zeit für einen Blick und sah, dass Lex ausging. Er fährt nicht seinen Porsche. Was hat er vor?, fragte er sich.
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Er versuchte noch mehr Gas zu geben, doch der Truck war alt und müde wie ein klapperiges Zugpferd, und er tat sein Bestes, um geduldig zu bleiben. Dann platzte der Vorderreifen. Nein, dachte er entsetzt. Nein! Er stieg aus, warf einen Blick auf den Reifen, dachte kurz daran, ihn zu wechseln, entschied sich aber dagegen. Lana war in Schwierigkeiten. Er konnte den Truck später reparieren. Er rannte mit Supergeschwindigkeit über die Landstraße. In der Nacht konnte er mit seinen Kräften etwas weniger vorsichtig sein, vor allem, wenn hier momentan kein Verkehr herrschte. Die meisten Leute würden glauben, dass sie sich nur etwas eingebildet hatten. Er würde sich seine Schuhe ruinieren; bei den ersten Malen, als er auf Supergeschwindigkeit beschleunigt hatte, hatte er sich die Sohlen abgewetzt, als er scharf abgebogen war. Unglücklicherweise konnte er die Reibung und die Fliehkraft nicht mit seinen Kräften kompensieren. Er wollte Lana oder Ginger nicht erklären müssen, warum seine Schuhe rauchten... Deshalb wurde er langsamer, wich den vielen Schlaglöchern im Straßenbelag aus und bog ab. Es war jetzt nicht mehr weit. Ein Fahrzeug brummte in der Ferne; es sah wie ein Lieferwagen aus. Er näherte sich mit ziemlich hoher Geschwindigkeit dem Welles-Haus, aber Clark würde schneller sein – es bestand also keine Gefahr, dass er gesehen wurde. Er konnte jetzt das Welles-Anwesen erkennen – das große, umzäunte Haus, das schräge Dach. Es brannten so gut wie keine Lichter. Und dann hörte er einen Schrei. Lana!, war das Einzige, was er denken konnte. Sofort erhöhte er seine Geschwindigkeit. Als er sich dem Haus näherte, sah er alles deutlich vor sich. Er konnte den heranrasenden Lieferwagen sehen, die 109
Fensterläden des Hauses, durch die von innen Licht fiel, die nahen, im Wind schwankenden Bäume. Und dort – aus einem großen, eingeschlagenen Fenster – stürzten Lana und Ginger aus dem Haus. Sie schrien, es elektrisierte Clark auf eine Weise, die er nicht erklären konnte. Ihre Schreie erfüllten ihn mit dem unwiderstehlichen Drang, sie zu beschützen. Die beiden Mädchen sahen völlig verängstigt aus; sie flohen von dem Haus und rannten zur Straße, die sie in ein paar Sekunden erreichen würden. Um direkt vor den Lieferwagen zu laufen. Lana!, war wiederum sein einziger Gedanke. Sein Herz schlug plötzlich schneller und Entsetzen packte ihn. Zu seinen größten Ängsten gehörte, dass er eines Tages, jemand, den er liebte, mit seinen Kräften nicht würde retten können. Es gab so viele Dinge, die er nicht verhindern konnte – einen Herzanfall oder Krebs. Aber mit einem heranrasenden Truck konnte er fertig werden. Falls er ihn rechtzeitig erreichte. Lana und Ginger stolperten auf die Straße, noch immer völlig in Panik. Sie hatten den Truck noch nicht einmal bemerkt. Es würde knapp werden. Clark nahm seine ganze Kraft zusammen und wurde noch schneller. Die Szene schien für ihn stillzustehen, als wäre die Zeit eingefroren. Lana und Ginger hatten den Truck endlich gesehen und schrieen wieder, diesmal, weil sie die neue Gefahr endlich bemerkt hatten. Clarks Problem war jetzt, dass er mit extremer Geschwindigkeit auf den Truck zuraste. Er musste seinen Schwung bremsen, aber er wusste nicht genau wie. Manchmal schien sich die Welt um ihn herum zu verlangsamen. Als hätte er alle Zeit der Welt, um jedes Detail 110
seiner Umgebung in sich aufzunehmen und sorgfältig seine weiteren Schritte zu überdenken. Jetzt war eine dieser Gelegenheiten. Er blickte zu dem Truck hinüber, einem riesigen Vehikel mit flacher Front, einer großen Windschutzscheibe und den Buchstaben M-A-C-K über dem Kühlergrill. Der Fahrer schien in Panik zu sein; er drückte auf die Hupe. Das Dröhnen durchdrang die eingefrorene Szene. Clark prallte gegen die Front des Trucks und bremste ihn auf eine neutrale Geschwindigkeit ab. bevor er die beiden Mädchen packte. Wenn er sie schon bei der hohen Geschwindigkeit ergriffen hätte, hätte er sie verletzen können. Sobald er sie im Griff hatte, sprang er zum Straßenrand, und alle drei fielen zu Boden. Wahrscheinlich hatte sein Aufprall eine Delle im Kühler des Trucks hinterlassen, aber das war egal. Die Szene beschleunigte sich, die Töne wurden wieder normal, und Clark sah sich einer sehr überraschten Lana Lang und Ginger Brucker gegenüber. »Clark? Wie bist du hierher gekommen? Der Truck...!« Clark tätschelte beiden die Schulter. »Es ist okay. Aber ihr scheint ziemlich gefährlich zu leben. Ihr solltet euch nicht mit einem Lieferwagen anlegen.« Ginger warf sich in seine Arme und rief: »Im Haus spukt es! Es hat versucht, uns zu töten!« »Wow.« Er fragte sich, was sie damit meinte, und versuchte sich von ihr lösen, als Lana einwarf: »Irgendetwas geht dort drinnen vor.« Sie keuchte vor Anstrengung; ihre Wangen leuchteten rosig in ihrem bleichen Gesicht. Sie blickte ihn ängstlich an und zitterte. »Es hat uns eingeschlossen«, fügte sie hinzu. »Es wollte uns nicht mehr rauslassen.« »Ich werde es mir mal ansehen«, erbot sich Clark, und Ginger rief sofort: »Nein!« 111
Sie wusste ja nicht, was er mit ansehen meinte. Unter seinen Arbeitsstiefeln knirschten Kiesel und Unkraut, als er das Haus mit seinem Röntgenblick untersuchte. Wow, dachte er wieder. Etwas war in dem Keller und es leuchtete in dem vertrauten grünen Schein der Meteoriten, die ihm seine Kräfte raubten und ihn töten konnten, wenn er ihnen über längere Zeit zu nahe kam. Das kann noch nicht dort gewesen sein, als ich mit Lex in dem Haus war... sofern ich nicht auf irgendeine Weise vor den Effekten abgeschirmt wurde. Er versuchte sich zu erinnern. Habe ich etwas anderes getragen? Etwas gegessen? Oder ist es wirklich erst kürzlich aufgetaucht? Stammt es von einem Meteoriten, der soeben niedergegangen ist oder ausgegraben wurde? Was wird es mit mir machen? Ist es das, was die Mädchen meinten, als sie sagten, dass es in diesem Haus »spukt?« »Könnte es ein Einbrecher gewesen sein?«, fragte Clark Lana, die von den beiden Mädchen den kühleren Kopf bewahrt hatte. »Jemand, der sich im Haus aufhält?« Lana schüttelte den Kopf. »Es war... nichts Derartiges«, erwiderte sie bedächtig. Ginger ergriff wieder das Wort. »Es war ein Geist. Er hat ständig Bücher von den Regalen geworfen... unsere Bibel, und er hat die Türen versperrt. Und er hat dieses schreckliche Geräusch gemacht.« Lana nickte zustimmend. »Sie hat Recht.« Sie blickte über ihre Schulter zu dem Haus hinüber und schauderte. »Irgendetwas ist da drinnen, Clark.« Sie sah ihn an. »Was könnte es sein?« Ich bin mir nicht sicher, ob ich hineingehen kann. Wenn das, was ich gesehen habe, ein Meteorit war, muss ich mich fern halten, überlegte er. Er trat einen Schritt auf das Haus zu. 112
Lana stieß hervor: »Clark, bitte, lass uns von hier verschwinden. Wir können unterwegs darüber reden, okay?« Ich will nicht einfach davonlaufen, dachte er, aber beide Mädchen starrten ihn mit verängstigten Gesichtern an. Er dachte einen Moment nach. Dann sagte er zu Lana: »Wir werden Chloe davon erzählen. Das ist definitiv ihr Gebiet. Jetzt werde ich euch erst mal zu mir nach Hause fahren.« Er errötete, insgeheim begeistert von der Vorstellung, dass Lana mit zu ihm kam, und fügte dann hinzu: »Oder zu dir, ganz wie du willst. Aber ich werde euch nicht hier zurücklassen.« »Okay«, nickte Lana. »Du musst uns glauben. Im Haus spukt es«, sagte Ginger. Er suchte erneut mit seinem Röntgenblick das Haus ab. Das grüne Leuchten war noch immer da, und außerdem bewegte sich irgendetwas von Zimmer zu Zimmer, bis es sich schließlich ganz auflöste. Clarks Nackenhärchen richteten sich auf. »Ich glaube euch«, sagte er.
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6 LEX LUTHOR SAß ZU HAUSE in seinem Arbeitszimmer und stützte seine Ellbogen auf die verstellbaren Armlehnen seines Sessels. Auf dem Bildschirm seines PowerBooks waren die Zahlen des monatlichen Geschäftsberichts der Fabrik zu lesen. Und die sahen gut aus. Als er nach Smallville gekommen war – oder vielmehr, als er hierher verbannt worden war –, war das ganz anders gewesen. Die Düngemittelfabrik Nummer drei hatte sich am Rand des Ruins befunden, sie warf wenig ab, kostete viel und in der Öffentlichkeit wurde sie gehasst. Lex hatte sie ebenfalls gehasst. Seine Versetzung nach Smallville war für ihn eine Bestrafung gewesen. Sein Dad hatte es allerdings so hingestellt, als wolle er seinem Sohn damit helfen, seine Ängste zu überwinden. Er sollte Verantwortung zu übernehmen und »ein echter Luthor« werden. Außerdem hatte er mit Smallville eine äußerst unangenehme Erinnerung verbunden – als er neun war, hatte er seine Haare bei dem Meteoritenschauer verloren. Seine Haare waren damals auf der Stelle in großen Büscheln ausgefallen, sehr zum Missvergnügen Lionel Luthors. Sein Vater war von Lex’ haarlosem Kopf abgestoßen gewesen und hatte seine Abscheu mit Geschenken überspielt... und mit Reisen zu Kliniken im ganzen Land. Aber nichts hatte geholfen, keine Implantate, nicht einmal ein sehr exklusiver Haarclub für Männer – mit zehn war Lex als jüngstes Mitglied aufgenommen worden. Aber auch das hatte nicht geholfen. Der Spott seiner Klassenkameraden und die Kombination aus Mitleid und Abscheu, mit der ihn sein Vater behandelte, den er
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nie zufrieden stellen konnte, egal, was er tat, waren seine ständigen Begleiter gewesen. »He, Glatzkopf! He, Chemo-Boy! He, Billardkugel!« »Warum bist du kein Luthor, Sohn?« Aber er war daran gewachsen. Da er niemand hatte, dem er seine Not und seine Ängste anvertrauen konnte, hatte er etwas gelernt: Er konnte sich nur auf sich selbst verlassen. Er war körperlich nie besonders stark gewesen und hatte auch nie Hilfe zu erwarten gehabt gegen die Klassenkameraden, die ihn quälten. Und so hatte er in der Öffentlichkeit klein beigegeben – und sich seine Feinde vorgeknöpft, wenn sie allein waren. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass er schon in frühen Jahren einen Selbstverteidigungskurs besuchte, und dies kam ihm bei seinen Rachefeldzügen zugute. Nach einer Weile respektierten ihn sogar diejenigen, die er nicht hatte besiegen können. Allerdings hielt er all das vor seinem Vater geheim. Er hatte einen Großteil seiner Zeit darauf verwendet, an dem Bild des verwöhnten, reichen Jungen zu arbeiten. Es war die einzige Waffe, die er hatte, die einzige Trumpfkarte, die er ausspielen konnte. All das tat er, um nicht die LuthorCorp übernehmen zu müssen. Sein Vater, ein Mann, der sich nach oben gekämpft hatte und nun über ein viele Milliarden Dollar schweres Chemiefabrikimperium herrschte, hatte bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Aufsässigkeit bekämpft. Er hatte Lex angetrieben, ihm Vorträge gehalten, ihm gedroht und immer wieder versucht, ihn nach seinen eigenen Vorstellungen zu formen. Er hatte sogar andere Jungen in Lex’ Alter engagiert, die sich mit ihm anfreunden und ihn manipulieren sollten. Aber Lex hatte widerstanden.
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Das Resultat war, dass er nach all den Jahren des Drucks stärker geworden war – nur nicht auf dieselbe Weise wie sein Vater. Lionel war offensiv, er übernahm andere Firmen, feuerte Leute, kämpfte mit seinen Konkurrenten um Aktienoptionen. Er war abhängig von dem Ziel, das er verfolgte, und attackierte mit erhobenen Fäusten. Manchmal änderte er seine Taktik und wartete ab, doch am Ende entschied er sich stets für den Frontalangriff und genoss die fiebrige Erregung des Sieges. Lex war kühler, berechnender. Er wich Konfrontationen aus, überlistete seine Gegner, stellte sich ihnen aber nie zum offenen Kampf, wenn er es vermeiden konnte. Seine Wege waren verschlungener als die seines Vaters, aber sie funktionierten genauso gut. Doch sein Vater konnte nicht akzeptieren, dass er anders war. Angeblich hatten seine Probleme in Metropolis den Ausschlag dafür gegeben, dass er hierher geschickt worden war, doch Lex wusste es besser. Sein Dad übte mal wieder Druck auf ihn aus, um zu sehen, ob er sich bemühte, seine Interessen zu vertreten. Es war ein Test, ob er würdig war, das Luthor-Erbe anzutreten. Fast hätte Lex aufgegeben. Er hatte genug von seinem Vater, genug von den Spielchen. Aber Smallville hatte ihn inspiriert, wenn auch nicht so, wie es sein Vater beabsichtigt hatte. Statt zu versuchen, dem schrecklichen Ort, an dem er fürs Leben gezeichnet worden war, zu entkommen, hatte er eine neue Strategie entwickelt. Der Grund waren die Menschen, die hier lebten, gewesen. Er hatte noch nie erlebt, dass man so offen gegen seinen Vater opponierte wie hier in Smallville. Das war für ihn eine ganz neue, erfrischende Erfahrung, obwohl sie auch ihm misstrauten, weil sie ihn mit Luthor senior identifizierten. Lionel Luthors Methoden waren allen Einwohnern Smallvilles bekannt: Behandle deine Angestellten wie Dreck 116
und lass sie ihn fressen. Dieselben Praktiken hatte er bei der Erziehung seines Kindes eingesetzt. Deshalb konnte Lex mit den Leuten von Smallville sympathisieren, er konnte ihre Wut verstehen. Und seine Position erlaubte es ihm, etwas dagegen zu tun. Er hatte Veränderungen in der Fabrik vorgenommen – Weiterbildungsprogramme gestartet, den Lohn erhöht und die Arbeitszeit reduziert. Dass dadurch trotzdem die Produktion gesteigert wurde, war ein positiver Effekt, mit dem er nicht gerechnet hatte. Sein Versuch, die Pläne seines Vaters zu durchkreuzen, hatte ihn zu einem erfolgreichen Geschäftsmann gemacht. Wider Erwarten gefiel es ihm. Aber vor allem gefiel ihm, dass er es nicht mit den Methoden seines Vaters erreicht hatte, sondern mit seinen eigenen. Was hältst du davon, Dad?, dachte er grimmig. Seine vollständige Verwandlung hatte er den Meteoriten zu verdanken. Sie hatten ihm in seiner Kindheit schreckliche Albträume bereitet und dafür gesorgt, dass er in jedem Schultheaterstück den Caliban spielen musste. Doch schließlich hatte er ihr Potenzial erkannt. Die seltsame Strahlung der Steine konnte demjenigen, der sie zu nutzen vermochte, unglaubliche Macht geben. Und er hatte die notwendigen Mittel dazu. Mit den Steinen... wer wusste, was er erreichen konnte? Außerdem hatte er ein persönliches Interesse an ihnen – er wollte herausfinden, warum und wie sie ihn verändert hatten. Welche anderen Effekte ihrer Strahlung lagen noch im Verborgenen? Jetzt, da er zwei Spitzenwissenschaftler an Land gezogen hatte, die für ihn an dem Problem arbeiteten, hoffte er, in Kürze die ersten Resultate zu sehen. Die Erzeugung eines künstlichen Isotops oder, besser noch, einer Maschine, die die Strahlung 117
replizieren konnte, würde ihm die Möglichkeit geben, weitere Experimente durchzuführen, um zu sehen, wie er die Strahlung optimal einsetzen konnte. Was vielleicht auch seinem Vater nutzen würde – oder auch nicht... Er lächelte grimmig, mit zusammengekniffenen Lippen, und stellte sich vor, wie sein Vater reagieren würde, wenn Lex nach Metropolis zurückkehrte, aber nicht als Botenjunge, der seinem Vater auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, sondern als erfolgreicher Unternehmer, bereit, die LuthorCorp aufzukaufen und zu leiten. Davon träumte er schon seit langem. Das Handy auf seinem Schreibtisch klingelte und riss ihn abrupt aus seinen Tagträumen. Es war nicht das normale Handy, das er immer bei sich trug, sondern ein billigeres, das er für einen einzigen Zweck gekauft hatte. Lex nahm es und drückte die Empfangstaste, während er gleichzeitig mit einem Schalter an seinem Schreibtisch eine Anti-Abhör-Vorrichtung aktivierte. »Hallo?« »Hallo, Mr. ...« »Keine Namen!«, unterbrach er den Anrufer scharf. Obwohl die Verbindung scheinbar nicht überwacht wurde, wollte er keine Risiken eingehen. Wenn es etwas gab, das Lex in der Geschäftswelt gelernt hatte, dann das. »Haben Sie sie?«, sagte Lex. »Ja, wir haben sie. Aber Sie haben mir noch keinen Preis genannt...« Sie redeten ein paar Minuten, feilschten und einigten sich schließlich. Der Anrufer nannte Lex einen Ort und eine Zeit und Lex versprach zu kommen.
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Er beendete die Verbindung und warf das Handy quer durch den Raum in den riesigen Steinkamin. Das Plastik zersplitterte an dem harten Stein. Lex fuhr seinen Computer herunter und erhob sich von seinem Stuhl. Er musste Vorbereitungen treffen und mit einigen Leuten reden. Lex trottete durch seine große Garage und passierte seine nicht zu verachtende Sportwagensammlung. Da standen Ferraris, Lamborghinis und Porsches – die Letzteren waren Lex’ Lieblingsautos für Ausflüge in die Stadt. Er hatte mehrere davon, darunter einen 959, den er illegal gekauft und am Zoll vorbeigeschmuggelt hatte, und einen Ruf CTR2, den schnellsten Serienwagen der Welt. Außerdem gab es noch eine beachtliche Auswahl an Targas, Turbos und Cabriolets. Hinten in der Ecke stand das Prunkstück seiner Sammlung: ein McLaren F1 GT, von dem nur drei gebaut worden waren. Der 6,1 Liter-V12-Motor in dem schnittigen silbernen Flitzer erzeugte nicht weniger als 629 Pferdestärken und hielt den Geschwindigkeitsrekord für Serienwagen – er brauchte nur 3,4 Sekunden, um auf 100 km/h zu beschleunigen. Seine Höchstgeschwindigkeit betrug 360 Kilometer pro Stunde; nur der Vector Avtech war mit 378 km/h schneller. Es war eine Spezialanfertigung mit Sitzen, die seinen Körpermaßen angepasst worden waren. Jedes Auto stand im Lichtkreis einer Halogenlampe, angestrahlt wie ein Kunstwerk in einem Museum. Einige waren mit Planen abgedeckt, während jene, die er häufiger fuhr, ungeschützt dastanden. Lex liebte Autos. Am wichtigsten waren für ihn Effizienz und Kontrolle. Normale Autos waren für normale Menschen. Das hier waren hochgezüchtete Rennmaschinen für Experten.
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Ja – Experten, die von Brücken stürzen, dachte er sarkastisch. Er verzog bei der Erinnerung das Gesicht. Was konnte er dafür, dass ein vorbeifahrender Truck eine Rolle Stacheldraht auf der Straße verloren hatte? Niemand hätte das vorhersehen können. Er konnte mit keinem dieser Wagen zu dem geplanten Treffen fahren. Er brauchte einen Lastgaul, kein Rennpferd. Einen Wagen, mit dem er Fracht transportieren konnte und der weniger Aufmerksamkeit erregte als die Sportwagen. Weiter hinten befanden sich die Nutzfahrzeuge – Limousinen, Trucks und andere. Lex ging an einigen abgedeckten Vehikeln vorbei und blieb vor einem großen, klobigen Gebilde stehen, das mit einer weißen Plane abgedeckt war. Er zog die Plane ab und enthüllte einen schwarzen Hummer H1. Das Fahrzeug war viertürig und hatte schwarz getönte Scheiben. Silberne Radkappen funkelten an den großen Reifen. Der H1 war für das Militär entwickelt worden, um Personen und Fracht über raues Terrain zu transportieren, und genau für diesen Zweck würde er ihn heute Nacht benutzen. Obwohl er bezweifelte, dass er auf 50 Zentimeter hohe senkrechte Mauern stoßen würde, konnte er sie ebenso mühelos überwinden wie 70 Zentimeter tiefes Wasser. Er stieg ein und legte einen Aktenkoffer voller Geld auf den Beifahrersitz, bevor er die Hände um das schwarze Lenkrad legte. Lex ließ den starken Diesel an und schaltete die Scheinwerfer ein. Analoge Instrumente leuchteten auf und zeigten ihm alles, was er über die Leistung des Motors wissen musste. Er legte den ersten Gang ein, rollte an und hatte das Gefühl, einen Panzer zu fahren. Bei einem Gewicht von über dreieinhalb Tonnen war der Vergleich gar nicht so weit
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hergeholt. Der Wagen war schwerfällig, aber genau das brauchte er. Er hatte ihn von einem professionellen Sicherheitsunternehmen namens Ibis Tek mit mehreren interessanten Features ausstatten lassen, darunter kugelsicheren Scheiben und Kevlarpaneelen in den Türen. Es war der perfekte Wagen für ein Treffen mit einem Schwarzmarkthändler, vor allem, wenn man keine Begleitung hatte. Und die Tatsache, dass es sich bei der Ware, die er kaufen wollte, um radioaktive Isotope handelte, die von der Regierung streng überwacht wurden, machte die Sache für ihn noch interessanter. Er lächelte. Hier war er, Lex Luthor, ein Millionär, der sich hinaus in die Nacht schlich, um Schwarzmarktisotope für ein Hobbyprojekt zu kaufen, die er genauso gut legal erwerben konnte – über die Fabrik. Aber wenn er die Isotope ganz normal erwerben würde, hatte dies zwei Folgen. Erstens hätte er viel Zeit darauf verwenden müssen, sie zu finden, die Genehmigungen einzuholen und sie zu verschiffen. Es hätte einen Berg aus Papierkram gegeben, was zu dem zweiten Problem geführt hätte: Er hätte sein Vorhaben nicht geheim halten können. Er wollte auf gar keinen Fall, dass sein Dad erfuhr, was er machte, denn dieser würde sich sofort einmischen und die Bedingungen der Forschung diktieren wollen. Und natürlich war auch noch die Schadenskontrolle zu bedenken. Wenn bei dem Projekt etwas schief ging, wenn es zum Beispiel einen Laborunfall gab, musste er in der Lage sein, alles abstreiten zu können. Den Stecker ziehen, seine Doktoren auszahlen und alles leugnen. »Wieso, ich weiß nichts von einem Geheimprojekt. Sie können sich natürlich gern die Unterlagen ansehen.« Er hatte alles genau geplant und bedacht. 121
Jetzt, da es in Smallville so gut lief und die Leute anfingen, ihn zu akzeptieren, wollte er kein Risiko eingehen. Ethisch hatte er damit keine Probleme – niemand würde dabei zu Schaden kommen. Die Möglichkeiten, die sich mit seiner Forschung für ihn und die Menschheit eröffneten, überwogen seiner Ansicht nach bei weitem die Risiken. Natürlich konnten die Behörden das anders sehen. Er machte sich ohnehin keine großen Sorgen, was die Sicherheit betraf. Er war überzeugt, dass Dr. Brucker nach ihrem Unfall in Metropolis umfassende Sicherheitsmaßnahmen treffen würde. Nach einem solchen Vorfall waren die Menschen immer vorsichtiger – deshalb war es zum Beispiel auch sicherer, nach einem Flugzeugabsturz zu fliegen: verstärkte Sicherheitsmaßnahmen. Nach Stunden des Brütens und Theoretisierens, »Alphazerfall« hier und »Betaanlagerung« da, hatte Dr. Brucker ihm eine vorläufige Liste des Materials gegeben, das sie für ihre Experimente benötigte. »Ich weiß, dass es wahrscheinlich ein paar Wochen dauern wird, alles zu besorgen«, hatte sie geseufzt, es offenbar kaum erwartend, endlich anzufangen, »aber so haben wir genug Zeit, die Geräte zu tunen.« Lex hatte die Liste aufmerksam studiert, einige der Metalle, die sie anforderte, erkannt – der Vorteil einer wissenschaftlichen Ausbildung – und den Kopf geschüttelt. »Ich glaube, es wird etwas schneller gehen, als Sie denken«, hatte er gesagt. »Ich bin von dem Projekt begeistert, Janice, und ich werde alles tun, was ich kann, um Ihnen diese Dinge zu besorgen.« Sobald er sie verlassen hatte, hatte er die Liste seinen Kontaktleuten in Metropolis übergeben. Und da er niemandem vollständig trauen konnte, musste er die Ware selbst abholen. Es gab einfach keinen Menschen, an den er die Aufgabe delegieren konnte. 122
Der H1 dröhnte über die dunkle Landstraße und erreichte die Hundert, die Höchstgeschwindigkeit in Kansas. Wenn man ihn auf dem Weg nach Metropolis anhielt, wäre das nicht weiter schlimm. Mit der Rückfahrt war das anders. Geheimnisse belasteten Lex nicht. Mit ihnen umzugehen hatte er schon in seinen frühesten Jahren im Luthor-Haushalt gelernt. Für jemanden, der ständig von Bediensteten umgeben war, die seinem Vater jeden seiner Schritte meldeten, von Freunden der Familie, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren, und einem Vater, der ihn stets kritisch beäugte, waren Geheimnisse ein wertvolles Gut. Vielleicht war dies ein weiterer Grund dafür, dass ihn Smallville so stark ansprach. Die Stadt war voller Geheimnisse, guter und böser. Sogar sein Freund Clark Kent war von Geheimnissen umgeben. Er war im Alter von drei Jahren adoptiert worden, ohne seine Eltern gekannt zu haben und war mit der seltenen Gabe gesegnet, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Lex wusste einfach, dass in Clark mehr steckte, als sein unschuldiges Äußeres vermuten ließ. Das war aber kein Problem; er respektierte seinen Freund und fand seine natürliche Ehrlichkeit und Offenheit erfrischend. Clark war einer der wenigen Menschen, die ihm nicht skeptisch gegenüberstanden, weil er der Sohn des verhassten Lex Luthor war; das hatte ihn am meisten erstaunt. Es war fast komisch, dass Jonathan Kent nicht wollte, dass sein Sohn mit Lex herumhing. Lionel Luthor würde wahrscheinlich nicht anders reagieren und seinem Sohn verbieten, sich mit einem mittellosen Farmer anzufreunden. Wenn sein Dad an so etwas wie Freundschaft glauben würde. »Luthors haben keine Freunde, Lex«, hatte er einmal gesagt, »nur Verbündete oder Feinde.« Vor ihm tauchte ein Schild auf – »Metropolis 15«. Er kam schnell voran. 123
Lex griff nach einem tragbaren Ortungs-Gerät, das er zu diesem Zweck gekauft hatte, und überprüfte seine Position. Er drückte die »Richtungen anzeigen«-Option der gespeicherten Straßenkarte. Die Ausfahrt, die er nehmen musste, lag direkt vor ihm. Er war jetzt nicht mehr weit vom Treffpunkt entfernt. Sein Ziel war eine alte Brauerei, die geschlossen worden war, als das Unternehmen seine Geschäfte nach Osten verlagert hatte. Er erinnerte sich, dass vor einer Weile darüber diskutiert worden war, das Gebäude in ein Museum umzuwandeln, aber niemand hatte das Geld dafür aufbringen können. Jetzt war es höchste Zeit, dass er seine Vorbereitungen traf. Lex hatte schon des Öfteren derartige Geschäfte gemacht, und sein Schlüssel zum Erfolg war, stets auf alles vorbereitet zu sein. Blind darauf zu vertrauen, dass sich jeder an die Abmachungen hielt, war dumm. Diese Leute waren Kriminelle. Und Kriminelle waren nicht vertrauenswürdig. Langsam lenkte er den Wagen an den Straßenrand und öffnete den Aktenkoffer mit dem Geld. Auf den verschnürten Geldscheinbündeln lag sein Laptop. Er nahm ihn heraus und fuhr ihn hoch. Das Licht des Monitors warf seinen Schatten nach oben und erleuchtete sein Gesicht von unten, als wäre er Darsteller in einem Horrorfilm. Mit dem eingebauten Funkmodem stellte er eine Hochgeschwindigkeits-Internetverbindung her und wählte eine militärische Website an. Dort loggte er sich mit Codes, die er ebenfalls gekauft hatte, in einen Kontrollserver ein, der Zugriff auf einen Satelliten hatte. Die Codes hatten ihn fast so viel wie die Isotope gekostet, aber die Investition würde sich lohnen, vorausgesetzt, sie funktionierten. Was der Fall war.
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Sobald er sich eingeloggt hatte, erschien ein Optionsmenü, das ihm die Kontrolle über den Satelliten gab. Über ein Navigationsmenü peilte er nun die Brauerei an. Er musste nur ein paar Tasten drücken, um sie heranzuzoomen. Sobald sie in der Zielerfassung war, hatte Lex mehrere Optionen für die bildliche Darstellung. Zuerst wählte er einen allgemeinen Überblick, der ihm die Laderampe an der Rückseite des Gebäudes, wo er die Verkäufer treffen sollte, aus der nächtlichen Vogelperspektive zeigte. Ein paar Straßenlaternen erhellten die Szene. Alles wirkte verlassen. Mal sehen, ob dem tatsächlich so war. Eins der wichtigsten Kaufargumente für die Codes, die er erworben hatte, war die Wärmebilddarstellung, zu der der Satellit angeblich fähig war. Lex aktivierte diese Funktion und die Szene veränderte sich schlagartig. Die Infrarotstrahlung zeigte verschiedene Wärmequellen in der nächtlichen Szene an, und Lex konnte plötzlich alles sehen, was ihn interessierte. Wie es schien, waren die Verkäufer bereits eingetroffen und warteten auf ihn. Lex zoomte mit der Kamera heran und identifizierte mindestens drei verschiedene Wärmequellen in der Nähe des Parkplatzes. Eine befand sich auf der Laderampe, die zweite weit rechts in einem Müllcontainer und die dritte auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes. Interessant, denn das Treffen sollte erst in einer Stunde stattfinden. Bedeutete es Ärger? Oder wollten die Verkäufer nur sicher sein, dass sie nicht betrogen wurden? Lex benutzte mehrere der Kamerafunktionen, um die Zahl der Personen festzustellen, mit denen er es zu tun hatte. Er sah, dass sich zwei auf der Laderampe, einer im Müllcontainer und einer auf der anderen Seite des Parkplatzes befanden. Die Auflösung der Kamera war bei Tageslicht so gut, dass er die Etiketten ihrer Anzüge hätte lesen können, aber nachts waren 125
die Bilder weniger scharf. Er konnte erkennen, dass sie Waffen zu tragen schienen, aber identifizieren konnte er sie nicht. Das ärgerte ihn. Ehe er sich wieder ausloggte, suchte er sich in einer Ecke des Parkplatzes einen Abstellplatz für den H1 aus, weitab von dem Dreieck, das die drei Personen bildeten. Wenn sie vorhatten, ihn zu betrügen, würden sie es so schwerer haben. Er schaltete den Laptop aus, schob ihn unter den Sitz und fuhr dem Treffen entgegen. Lex steuerte den H1 auf den Parkplatz und näherte sich der entlegenen Ecke, die er ausgewählt hatte. Von dieser Position aus bildeten zwei der drei Wärmequellen, die er identifiziert hatte, eine Linie und die dritte war rechts von ihm und nicht hinter ihm. Ein guter Blickwinkel. Er stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Ihm blieb noch immer eine Menge Zeit bis zu dem Treffen und er wollte nicht, dass die versteckten Verkäufer bemerkten, dass er sie entdeckt hatte. Und so wartete er. Obwohl er sicherlich viel besser vorbereitet war als die Leute, mit denen er verabredet war, durchlief ihn ein leichter Schauder. Sofort zwang er sich, ruhig zu bleiben. Die Minuten verstrichen, und als die vereinbarte Zeit näher rückte, fuhr ein weißer Ford-Transporter auf den Parkplatz und blieb mitten auf der weiten Fläche stehen, im Zentrum der Schusslinien der Männer, die Lex mit dem Satelliten identifiziert hatte. Sein Magen zog sich leicht zusammen. Er war sich nicht sicher – aber dennoch sah das Ganze mehr und mehr nach einem Hinterhalt aus. Er war überzeugt, dass er krimineller Natur war, da er nirgendwo eine Spur von der Polizei entdeckt hatte, doch es gab nur einen Weg, es herauszufinden.
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Lex griff nach dem Aktenkoffer und sprang aus dem H1. Er landete mit einem lauten Poltern auf dem Asphalt und wartete, was als Nächstes passieren würde. Ein Mann, wahrscheinlich in den Fünfzigern oder Sechzigern, stieg aus dem Transporter. Aus der Entfernung war er nicht deutlich zu erkennen, doch Lex machte einen Bart und eine kleine runde Brille aus. »Kommen Sie her«, rief der Mann Lex zu. »Das erleichtert die Übergabe.« »Nein, danke«, rief Lex zurück. »Mein Platz gefällt mir. Ich habe das Geld dabei.« Er öffnete den Aktenkoffer und nahm ein Geldscheinbündel heraus, mit dem er herumwedelte und es dann in Richtung des Transporters warf. Das Bündel landete vor den Füßen des Fahrers. Er bückte sich hastig und hob das Geld auf. »Okay, wie Sie wollen! Ich komme zu Ihnen.« Aber anstatt sich wieder in den Transporter zu setzen, trat der Mann ans Heck, öffnete es und nahm einen schwer aussehenden Werkzeugkasten heraus. Er schleppte den Kasten zu Lex’ H1 und blieb dicht vor dem Wagen stehen. »Ich würde jetzt gern den Rest sehen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte er. Lex zuckte die Schultern. »Doch, ich habe etwas dagegen. Lassen Sie mich zuerst die Ware sehen.« Der Mann seufzte und klappte den Kasten auf. Er war in Fächer unterteilt. Der Fahrer nahm eine kleine LEDTaschenlampe aus der Tasche und richtete sie auf die Isotope. »Sieht gut aus«, meinte Lex. Der Mann lächelte. »Mr. Luthor, es gibt eine kleine Änderung der Pläne.« Lex’ Magen zog sich zusammen. Er hatte es erwartet, aber es war trotzdem beängstigend.
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»Wir überlegen, ob wir Ihnen das Zeug vielleicht doch nicht verkaufen sollten.« Lex wich zu seinem Wagen zurück. Er hörte, wie der Hahn einer Waffe gespannt wurde – es war der Mann in dem Müllcontainer – und der Mann neben ihm hob eine Hand. »Das Geld bitte, Mr. Luthor!« Ohne zu zögern, stellte Lex den silbernen Aktenkoffer auf dem Boden und schob ihn zu dem bärtigen Mann hinüber. Dieser lächelte wieder, klappte den Koffer auf und pfiff beim Anblick der Geldscheinbündel. »Leute, wartet nur, bis ihr das seht.« Lex nutzte ihre Ablenkung und senkte abrupt den Arm. Eine schwarze Fernsteuerung rutschte aus seinem Ärmel und er fing sie mit der Hand auf. Schnell drückte er einen großen runden Knopf an dem Gerät und wartete, was passieren würde. Wenn die Männer klug waren... Lex musterte das Gesicht des Mannes. Obwohl es nicht so interessant war wie das, was sich, wie Lex hoffte, hinter ihm abspielen würde, war es wichtig, auf seine Reaktion zu achten. Hinter ihm rollte ein speziell konstruiertes Dachpaneel des H1 zurück und eine scherenförmige Hebevorrichtung aktivierte sich, die das Maschinengewehr Kaliber 50 ausfuhr, das er im Fond des Wagens über dem Dach versteckt hatte. Ivis Tek war auf derartige Fahrzeuge spezialisiert, die für den Schutz von Konzernmanagern gebaut wurden. Lex richtete die Fernsteuerung auf den Fahrer und drückte einen anderen Knopf. Er hörte, wie hinter ihm ein Elektromotor surrte, als sich das Maschinengewehr an dem hellen Rubinlaserfleck orientierte, den er auf den Fahrer projizierte. Der Mann stand da, den Mund überrascht aufgerissen. Lex hörte Flüche von den Männern, die sich immer noch auf der Laderampe und in dem Müllcontainer versteckten. 128
»Die Pläne scheinen sich heute Nacht oft zu ändern«, sagte er. »Ich denke, ich werde diesen Kasten jetzt an mich nehmen.« Der Fahrer stand einfach nur da und rührte sich nicht. Lex drückte einen anderen Knopf, und in der stillen Nacht war ein lautes Klicken zu hören. »Es wird schießen«, sagte Lex. »Wollen Sie es sehen?« Der Mann schüttelte den Kopf und schob den schweren Kasten zu Lex hinüber. »Jetzt verschwinden Sie von hier, Sie alle«, befahl Lex. »Behalten Sie das Geld, wie es vereinbart war, und gehen Sie. Sie beide und Sie auch«, sagte er und zeigte auf die versteckten Männer. In den Augen des Transporterfahrers leuchtete so etwas wie Bewunderung auf. Sie huschten wie die bösen kleinen Ratten, die sie waren, in das Fahrzeug und fuhren davon, sich bewusst, dass Lex’ Maschinengewehr jeder ihrer Bewegungen folgte. Lex wartete, bis alle fort waren, ehe er den schweren, bleiverkleideten Kasten mit den Isotopen in den Kofferraum wuchtete. Sobald er das erledigt hatte, sprang er in den Truck und fuhr das Maschinengewehr wieder ein. Er war froh, dass die Männer vernünftig geblieben waren. Wenn nicht, hätte er ihnen wahrscheinlich das Geld überlassen. Er war kein Mörder. Glücklich und erleichtert über den Ausgang des Deals ließ Lex den Motor seines Wagens an und machte sich auf den Rückweg nach Smallville. Dr. Brucker würde zufrieden sein.
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7 GINGER WOLLTE NOCH IMMER NICHT den Vorgarten des Welles-Farmhauses verlassen, solange sie keine Verbindung mit ihrer Mutter aufnehmen konnte. Clark und Lana sahen sich an, als Ginger zum wiederholten Male störrisch die Handynummer ihrer Mutter wählte, aber sie erreichte sie einfach nicht. Clark wollte sie nicht unter Druck setzen, aber Lana bestand darauf, dass sie entweder zu ihr nach Hause oder zu Clark fahren sollten. »Es ist kalt, dieser Ort ist gefährlich und wir sollten von hier verschwinden«, sagte Lana nachdrücklich zu ihr. Ginger sah Clark an. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?« »Hör auf Lana«, riet er aufrichtig. »Sie hat Recht.« Ginger ließ sich schließlich umstimmen. Lana holte ihre Handtasche aus dem Truck, riss ein Blatt von ihrem kleinen Notizblock ab und fand auch einen Kugelschreiber mit der Aufschrift Talon und der daneben gedruckten Telefonnummer des Lokals. Der Zettel war sehr klein, was Ginger bemängelte, aber sie mussten sich damit begnügen. Clark erbot sich, ihn an der Haustür zu befestigen – keins der Mädchen wagte sich in ihre Nähe. Als er die Verandatreppe hinaufgestiegen war, vergewisserte er sich, dass die Mädchen sehen konnten, was er machte, riss einen der hölzernen Verandapfosten aus und befestigte mit ihm den Zettel an der Tür. Dr. Brucker musste blind sein, wenn sie ihn nicht bemerkte. Lana schlüpfte hinters Lenkrad. Ginger stieg als Nächste ein und als Letzter Clark, der die Frage stellte, warum ein Geist in dem Haus spuken sollte.
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»Wollen sie nicht immer etwas ganz Bestimmtes?«, überlegte er. »Ich glaube nicht, dass es hier irgendwelche alten indianischen Grabstätten gibt...« Er brach ab. »Aber eine Menge Meteoriten«, sagte Lana leise. »Und eine Menge Geister.« Sie murmelte: »Oder vielleicht nur zwei.« Keiner sagte etwas Sie denkt an ihre Eltern, wurde Clark plötzlich klar. Ich frage mich, ob diese Sache sie aufwühlt. Ginger, die zwischen den beiden eingezwängt war, zappelte nervös, als könnte sie noch immer nicht glauben, dass sie in Sicherheit war. Und sie könnte damit vielleicht Recht haben, dachte Clark. Vor ein paar Tagen gab es noch keinen grün leuchtenden Meteoriten, dann war er plötzlich da, und auch Joel hat etwas gesehen... es könnte durchaus sein, dass dieses Wesen zu uns auf den Wagen gesprungen ist. Er unterdrückte einen Schauder. »Vielleicht... vielleicht können wir in Erfahrung bringen, warum er hier ist, und ihm helfen, Frieden zu finden«, warf Ginger ein. Die beiden anderen sagten nichts. Dann räusperte sich Lana. »Wir könnten... eine Séance abhalten«, schlug sie vor. Clark beugte sich vor und starrte Lana an. Sie errötete und wich seinem Blick aus. Er brauchte keinen Röntgenblick, um ihre Körpersprache zu verstehen. Sie wollte ihnen etwas erzählen, was sie lieber für sich behalten würde. »Versprecht mir, dass ihr mich nicht für verrückt halten werdet«, begann sie. Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. Clark nickte. Er würde Lana fast alles versprechen. »Vor einer Weile... hatte ich diese Idee, dass ich vielleicht Kontakt mit meinem Dad und meiner Mom aufnehmen könnte.« Oh, Lana, dachte Clark, erneut von dem Drang überwältigt, sie zu beschützen. Ich wünschte, ich könnte diese Wunde in
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deinem Herzen heilen. Ich wünschte... meine Gefühle für dich könnten dir helfen. Wir sind uns so ähnlich, du und ich. Wir beide sind Waisen und wir beide können uns an unsere Eltern nicht erinnern. Aber ich habe so viele Fragen, die du dir nie stellen wirst... im Gegensatz zu mir weißt du, dass sie dich liebten und dich wollten und niemals daran dachten, dich wegzuschicken... »Also habe ich mir ein Buch über Séancen gekauft«, fuhr Lana fort. »Und ich... habe es versucht. Sie zu sehen. Mit ihnen zu sprechen.« Ihre Stimme bebte, und Clark sah sie vor sich, mit Kerzen und vielleicht einigen Räucherstäbchen, wie sie verzweifelt versuchte, Kontakt herzustellen. »Es hat nicht funktioniert.« Ihre Stimme klang gepresst. »Aber ich habe das Buch noch immer. Wenn wir uns zusammentun, könnten wir versuchen, mit dem... mit demjenigen im Haus Kontakt aufzunehmen.« Sie sah Ginger an. »Falls es so etwas wirklich in dem Farmhaus gibt.« Clark sah noch etwas anderes in Lanas verlegenem Gesichtsausdruck: Hoffnung. Er verstand. Wenn es im Welles-Farmhaus einen Geist gibt und wir Kontakt mit ihm aufnehmen können, dann wird es ihr vielleicht auch gelingen, Kontakt mit ihren Eltern aufzunehmen. »Eine Séance im Farmhaus«, murmelte Ginger. Sie schluckte hart. »Die Vorstellung ist... ziemlich beängstigend«, sagte sie und wechselte mit Lana einen Blick, der Clark einen Augenblick lang das Gefühl gab, nicht eingeschlossen zu sein. »Ja, das ist es«, stimmte Lana zu. »Ziemlich beängstigend.« Ginger sagte zu Lana: »Aber wenn... wenn wir dadurch Antworten auf ein paar Fragen erhalten...« Lanas wunderschöne Augen glänzten verdächtig, aber sie hielt sich zurück. Dann sagte sie: »Ich kann für nichts garantieren, okay? Ich meine... es hat schon einmal nicht funktioniert. Vielleicht funktioniert es auch dieses Mal nicht.« 132
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, warf Clark ein, der sah, wie nervös beide Mädchen waren. »Ihr beide seid völlig verängstigt. Ich schätze, dieses Haus ist der letzte Ort, an dem ihr sein wollt.« Ginger öffnete den Mund. Dann seufzte sie und sagte: »Du hast Recht.« Sanft berührte Lana Gingers Arm. »Lass uns zu mir nach Hause fahren. Wir können dort auf deine Mutter warten und weiter überlegen.« Sie rumpelten die Straße hinunter und näherten sich der Gegend, in der Clark und Lana wohnten. Der Mond schien sie zu jagen; er stand niedrig am Nachthimmel von Kansas und hatte ein leuchtendes Rot angenommen. Plötzlich blitzten hinter ihnen Scheinwerfer auf. Lana runzelte leicht die Stirn, während Clark in den Seitenspiegel sah. Er lächelte kurz und sagte: »Es ist Chloe.« Lana hielt an und Chloe folgte ihr, stellte den Motor ab und stieg aus. Die kurzhaarige Blondine war mit Aktenmappen und Notizbüchern beladen und sagte: »Clark, ich habe dir ein paar Unterlagen für deinen Aufsatz mitgebracht.« »Oh, Mann, mein Aufsatz.« Clark schüttelte den Kopf. »Jetzt kann ich höchstens noch eine Vier kriegen.« »Kein Grund zur Sorge.« Chloe blickte triumphierend drein. »Ich habe hier genug Geschichtsmaterial für ein ganzes Jahrhundert. Was bedeutet, dass du auch ein Jahrhundert brauchen wirst, um alles zu lesen.« Sie übergab alles Clark. Dann sah sie Ginger an und sagte: »Hi. He, bist du okay? Du siehst aus, als hättest du gerade einen...« Sie kniff die Augen zusammen und musterte Lana. »Was ist passiert?« »Bei mir zu Hause spukt es«, erklärte Ginger. Chloes Augen weiteten sich und ein entzücktes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Lana nickte, um die Aussage zu 133
bekräftigen, während Clark betont gleichmütig die Schultern zuckte. »Kein Witz?«, quiekte Chloe. »Im Ernst?« Ginger hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich... ich...« Chloe schien nicht zu bemerken, wie aufgewühlt Ginger war. »Zuerst Joel Beck und jetzt das. Ich würde sagen, wir haben es hier mit einem weiteren Fall für die ›Wand der Merkwürdigkeiten‹ zu tun.« Auf Gingers verwirrten Blick hin erklärte sie: »In Smallville passieren die seltsamsten Dinge. Kerle, die anderen Leuten die Wärme aussaugen; Kerle, die sich in Insekten verwandeln...« Sie grinste und wurde dann wieder ernst. »Meine Theorie ist, dass alles auf die Steine zurückzuführen ist. Die Meteoriten. Du hast doch von dem großen Schauer gehört, nicht wahr?« »Oh, ja«, bestätigte Ginger leise und warf Lana einen flüchtigen Blick zu. »Ich habe davon gehört.« »Ich habe alle möglichen Artikel über Mutationen und seltsame Zwischenfälle gesammelt – komm einfach mal in das Fackel-Büro und sieh dir die Ausschnitte an. Ein Spukhaus passt meiner Meinung nach sehr gut zu den übrigen Merkwürdigkeiten.« »Oh.« Ginger blinzelte Clark an und Lana nickte zustimmend. »Ich hatte keine Ahnung.« »Nun, eine Menge Leute wollen es nicht glauben«, sagte Chloe. »Aber für uns liegt es auf der Hand. Aber wir sind bloß...« – sie malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft – »Teenager.« Sie rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Wollt ihr versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen? Mit diesem Gespenst oder Geist oder was auch immer es ist?« Ginger verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht.« Chloe verlagerte ihr Gewicht, während ihre Augen aufgeregt funkelten. »Wir sollten es tun, solange das Ektoplasma noch heiß ist.« Sie lachte. »Oder was auch immer.«
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Lana bremste ihren Tatendrang: »Vielleicht sollten wir es langsam angehen lassen.« Ginger nickte. Dann sagte sie zu Lana: »Wir sollten vorher wenigstens einen Blick in das Buch werfen.« »Ein Buch?«, wiederholte Chloe. »Über die Kontaktaufnahme mit toten Leuten?« »Über die richtige Durchführung einer Séance«, warf Clark ein. Chloe musste dies erst einmal verarbeiten. »Ein SéancenHandbuch!« Sie sah zu Lana hinüber und sagte: »Bitte Lana, lass uns mal reinschauen. Vielleicht können wir dabei noch was lernen. Zum Beispiel, wie man Geister richtig beschwört.« »Beschwören ist nicht mehr nötig«, murmelte Ginger. »Sie sind bereits hier.« Lana sagte: »Ich werde das Buch holen. Kommt bitte mit rein.« »Ich habe nichts dagegen. Es ist kalt für eine Mainacht«, bemerkte Chloe und folgte Lana eilig ins Haus. »Merkwürdig.« Sie klapperte mit den Zähnen. »Aber hier ist es schön warm.« Lanas Tante hatte Suppe für sie gekocht und auf dem Esszimmertisch Kuchen und einen Zettel hinterlassen: »Bin einkaufen und bald wieder zurück. Ich hoffe, deiner Freundin geht es gut.« Lana ging in ihr Zimmer, während die anderen herumstanden. Clark spürte, wie hungrig er war – die Suppe roch gut – und er fragte sich, ob seine Eltern etwas von dem Popcorn übrig gelassen hatten. Sofern sie überhaupt etwas davon gegessen haben. Vielleicht haben sie sich die ganze Zeit nur geküsst. Lana kam mit einem überdimensionalen Buch mit schwarzem Einband zu ihnen. Sie blätterte, um eine bestimmte Seite zu finden. »Okay! Wir brauchen sechs Kerzen. Und etwas Käse. Und etwas Brot.«
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»Weiß oder grau?«, fragte Chloe und griff nach Lanas Kuchenstück. Während die drei Mädchen die Utensilien für die Séance einpackten, ging Clark nach Hause, um Sperrholzbretter für das zerbrochene Fenster zu holen und seinen Eltern von dem Unfall zu erzählen. Der Film seiner Mom war zu Ende und sie beugte sich gerade über ein Lehrbuch. Sein Dad reinigte einige Maschinenteile des Traktors. Beide blickten sehr besorgt drein, als er ihnen von dem geplatzten Reifen erzählte. Jonathan legte die Kurbelwelle zur Seite und Martha senkte ihr Buch. »Ich gehe mit Lana wieder zu Ginger hinüber«, fügte Clark hinzu. »Ich werde sie bitten, mich zu dem Truck zu fahren, und dann repariere ich ihn und komme nach Hause.« »Ich wusste, dass dieser Reifen ausgewechselt werden musste«, sagte Jonathan und verzog entschuldigend das Gesicht, als er zuerst ihn, dann Martha ansah. »Es tut mir Leid, dass er dir geplatzt ist.« Er fügte hinzu: »Ich hoffe, du bist nicht zu schnell gefahren!« »Nein«, flunkerte Clark. »Ich komme mit und helfe dir«, erbot sich Jonathan und erhob sich halb von seinem Stuhl. »Nein, ist schon gut, Dad.« Er lächelte und spannte demonstrativ seine Bizepse an. »Ich komme allein klar.« Seine Mutter runzelte die Stirn. »Wirklich, Mom. Kein Problem.« Er lächelte die beiden eine Spur zu fröhlich an. Sie lächelten nicht zurück. Kurz darauf fuhren sie alle wieder zum Welles-Haus; Chloe saß allein in ihrem Wagen, während Lana, Ginger und Clark Lanas nahmen. Als sie der Waitley Lane folgten, versteiften sich beide Mädchen sichtlich. Lana murmelte Ginger zu: »Es wird alles gut.« Clark räusperte sich. »Hört mal, wir müssen das nicht tun.« 136
Ginger richtete ihren Blick auf das Haus. »Ich glaube... ich glaube, wir müssen es doch tun.« »Und du wirst es nicht allein tun«, fügte Lana hinzu. Dann waren sie dort. Das Haus ragte drohend vor ihnen auf und die drei versanken in Schweigen. Während Clark begann, das zerbrochene Fenster von draußen zuzunageln, versuchte Ginger erneut, ihre Mutter zu erreichen. Sie hatte auch diesmal kein Glück. »Also tun wir’s«, drängte Chloe und rieb sich die Hände. »Ich will mit den Geistern reden.« Clark bestand darauf, zuerst das zerbrochene Fenster mit den Sperrholzbrettern zu verschließen, die er auf der Kühlerhaube von Chloes Wagen festgebunden hatte. Ginger war von seiner Umsicht beeindruckt – er hatte einen Hammer und Nägel mitgebracht. Bei all ihren Komplimenten wurde er sogar ein wenig verlegen. Chloe grinste in sich hinein. Dann gingen sie hinein, wobei sich Lana und Ginger sichtlich zurückhielten, während Chloe forsch über die Schwelle trat und Licht machte. »Das ist also der Tatort, was?«, fragte sie munter. Sie marschierte von Raum zu Raum, nicht im Geringsten eingeschüchtert. »He, Geist!« »Mach keine Witze darüber«, sagte Ginger unbehaglich. »Tut mir Leid.« Chloe hatte die anderen drei in einen Salon geführt. Der Raum war klein und lag neben dem Wohnzimmer. Er sah aus, als wäre er früher als Büro genutzt worden. Dunkle Walnussbücherregale, die meisten leer, säumten die Wände. Ein paar enthielten dekorativen Nippes, der direkt aus dem viktorianischen Zeitalter zu stammen schien. Die hohen Fenster gegenüber waren mit dicken grünen Veloursvorhängen versehen. Sie wurden von hellgoldenen Seilen mit Troddeln zusammengehalten, die auch das Talon hätten schmücken können, als es noch ein Kino gewesen war. Weiße Gardinen vervollständigten das Bild. 137
In der Mitte stand ein runder Tisch mit einer alten, bestickten Tischdecke, deren Muster fernöstlich wirkte. Chloe zog die Brauen hoch und sah Lana an, die nickte. Ihr Verhalten hätte unterschiedlicher nicht sein können – Chloe freute sich auf ein neues Abenteuer, während Lana und Ginger mit den Nerven am Ende zu sein schienen. »Es ist perfekt«, bestätigte Lana. »Kreise sollen sehr wichtig sein, wenn man Geister beschwört.« Sie öffnete den Matchbeutel, den Clark noch aus ihrer Cheerleaderzeit kannte. Darin befanden sich sechs Kerzen und etwas Brot und Käse. Während sie alles auspackte, erklärte sie, dass Geister von dem Licht und der Wärme der Kerzen angelockt wurden. Natürliches, wohlriechendes Essen sollte sie angeblich ebenfalls anziehen. Nach Lanas Buch Geistermedien und wie man dazu wird brauchten sie jetzt nur noch eine gute, harmonische Atmosphäre und Unvoreingenommenheit. Die Séance konnte beginnen. Clark sah sich im Zimmer um und suchte mit seinen empfindlichen Sinnen nach irgendeinem Anzeichen des Übernatürlichen. Nichts. Er konnte auch kein grünes Leuchten wahrnehmen. Merkwürdig, um mit Chloe zu sprechen. »Ich glaube, es ist wirklich wichtig, dass wir es jetzt tun, solange die paranormale Aktivität noch anhält«, fuhr Chloe fort. Als sie Clarks nicht gerade begeisterten Gesichtsausdruck bemerkte, sagte sie: »Sieh mal, es hat in Smallville eine Menge seltsame Zwischenfälle gegeben. Es führt zu nichts, wenn wir so tun, als wäre nichts passiert.« Ginger meldete sich zu Wort: »Wenn... wenn das mein Dad ist, will ich es wissen.« Sie nahm Lana eine der Kerzen ab und stellte sie auf den Tisch. »Ich denke, wir beide wollen es wissen.« Lana nickte. 138
Hätte jemand Clark an diesem Morgen gesagt, dass er noch am selben Abend an einem von Kerzen erleuchteten Tisch sitzen und mit drei Mädchen Händchen halten würde, hätte er denjenigen für verrückt erklärt. Dass er hier saß, mit Ginger zu seiner Linken, Lana zu seiner Rechten und Chloe vor ihm, und die Toten beschwor, war peinlich und aufregend zugleich. Clark war nicht sicher, ob er wirklich unvoreingenommen sein konnte – natürlich, er hatte in seinem Leben eine Menge seltsame Dinge gesehen und er hatte vorhin sogar irgendetwas in dem Haus beobachtet. Aber ein echter Geist? Würden sie wirklich Kontakt mit den Toten aufnehmen? Er konnte fast sehen, wie seine Mom und sein Dad die Augen verdrehten. »Okay, versuchen wir erst einmal Kontakt aufzunehmen«, schlug Lana vor, während sie in das Buch blickte, das offen zu ihrer Rechten lag. »Das Buch sagt, dass es dafür mehrere Methoden gibt. Mal sehen... wenn jemand den Drang verspürt, etwas zu zeichnen oder auch zu schreiben, sollte er es tun.« »Schreiben?«, wiederholte Ginger. »Es nennt sich automatisches Schreiben«, warf Chloe ein. »Deine Hand schreibt als wärest du ferngesteuert, wenn du verstehst, was ich meine.« »Schade, dass das nicht bei meinem Geschichtsaufsatz funktioniert«, meinte Clark in dem Versuch, die Spannung zu mildern. Chloe lachte leise. Ginger und Lana verzogen keine Miene. »Einen Moment«, sagte Ginger. »Ich will meine Zeichnungen holen.« »Ich gehe mit dir«, erklärte Clark und schob seinen Stuhl zurück. »Okay, wir gehen alle«, sagte Chloe, die plötzlich nervös wirkte. Sie verließen den Raum, wobei Clark sie anführte. Ginger zeigte auf die Treppe und sagte: »Mein Zimmer ist dort oben.« 139
»Was eine schnelle Flucht unmöglich macht«, murmelte Chloe. Ihr amüsierter Tonfall war Beklommenheit gewichen. Clark stieg die Treppe hinauf, dicht gefolgt von den anderen. Er suchte nach irgendwelchen verräterischen Anzeichen dafür, dass sich ein Meteorit in der Nähe befand, aber bis jetzt ohne Erfolg. In Gingers Zimmer befand sich ein Bett mit vier Pfosten, ein antiker Schreibtisch und ein dazu passendes Bücherregal. An den Wänden hingen mehrere gerahmte Kreuzstiche und das Ölgemälde einer grünen Vase mit großen pinkfarbenen Rosen. »Wir haben das Haus möbliert gemietet«, erklärte Ginger, sich halb entschuldigend, als sie ans Bett trat. »Dieses Stillleben ist schrecklich.« Sie griff nach einem dicken Blatt Papier und zeigte es den anderen drei. »Unheimlich«, meinte Chloe beim Anblick der Zeichnung des Farmers. Clark war beeindruckt. Ginger konnte wirklich zeichnen. Er hatte sein ganzes Leben lang auf Weizen- und Maisfeldern gearbeitet, und sie hatte die Stimmung, die Essenz, mit wenigen Strichen eingefangen. »Gute Arbeit«, lobte er. »Es ist okay«, sagte sie. »Aber ich wollte euch das hier zeigen.« Sie wies mit dem Finger auf die Figuren in der Zeichnung. »Als ich die hier gezeichnet habe, war es fast so, wie Chloe vorhin gesagt hat. Ich wusste nicht, was ich tat, es... strömte einfach aus mir heraus.« Die beiden Gestalten, die sie gemalt hatte, waren von einer brennenden Intensität. Der traurige Ausdruck des kleinen Jungen und der bedrohlich wirkende Farmer verstärkten das Unbehagen noch, das sie alle empfanden. »Noch immer skeptisch, Chloe?«, fragte Lana sanft.
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Chloe schob ihr Kinn nach vorn, als würde sie in einen Sturm marschieren. »Das gehört zu meinem Job.« Clark sah sich im Zimmer um, kniete nieder und spähte unter das Bett, öffnete die Schranktür und schaltete das Licht ein. »Hier ist nichts«, informierte er sie. »Okay.« Chloe musterte die anderen, als sie die Zeichnungen aufhob und an ihre Brust drückte. »Sollen wir es jetzt tun?« Lana und Ginger nickten. Clark übernahm wieder die Führung, und sie gingen nach unten. »Mir gefällt die Treppe noch immer nicht«, murmelte Chloe. Sie betraten den Salon im Erdgeschoss und setzten sich. »Okay.« Lana überflog ein paar Seiten. »Normalerweise werden bei einer Séance ausschließlich Ja- oder Nein-Fragen an den Geist gestellt, mit dem man Kontakt aufnehmen will. Der...« Sie blickte zu den anderen auf und befeuchtete ihre Lippen. »Der Tisch könnte wackeln oder wir könnten Klopfzeichen hören, wenn der Kontakt hergestellt ist!« »Oder den Lärm des gesamten Kellers, der versucht, die Treppe heraufzukommen«, warf Ginger ein. »Wow, war es wirklich so?«, fragte Chloe. »Ja«, antworteten Ginger und Lana gleichzeitig. »Wow«, wiederholte Chloe und sah über ihre Schulter. Lana las aus dem Buch vor. »Bei fortgeschritteneren Medien kann es passieren, dass der verblichene Geist durch einen der Teilnehmer spricht.« »Auf keinen Fall«, stieß Ginger hervor. »Zeichnen vielleicht. Sprechen niemals!« Lana blätterte eine Seite zurück. »Abgesehen vom Schreiben oder Zeichnen... gibt es noch die Sache mit dem Tischklopfen. Dreimal Klopfen bedeutet gewöhnlich Ja und einmal Nein.« Chloe blickte verwirrt drein. »Woher wissen die Geister das?«
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»Ich schätze, wir werden es ihnen sagen müssen«, schlug Lana vor. Sie sah nervös aus. »Eins und drei – das macht es etwas klarer«, warf Clark ein. »Wenn es nur ein- und zweimal klopft, könnte man es womöglich verwechseln. Die Teilnehmer der Séance erkennen dann vielleicht nicht, wie die Antwort lautet.« »Das klingt vernünftig«, meinte Chloe. »Stellen wir also Jaund Nein-Fragen und warten, was passiert.« Lanas Augen waren weiter auf das Buch gerichtet. Ihre Hände zitterten und ihre Stimme bebte. »Wenn wir eine Frage stellen, die eine längere Antwort erfordert, können wir den... den Geist bitten, auf das Alphabet zu reagieren, und dann jeden Buchstaben vorlesen und auf die Klopfzeichen warten.« »Klingt so, als könnte es eine lange Nacht werden«, bemerkte Clark. Chloe lächelte. »Hast du noch was anderes vor, Clark?« Er zuckte die Schultern. »Ein Geschichtsaufsatz wartet auf mich.« Und so zündeten sie die Kerzen an, stellten das Essen in die Mitte des Tisches und dämpften die Lichter. Nachdem sich alle hingesetzt hatten, fassten sie sich an den Händen. »Wir sollten alle an etwas Beruhigendes denken, etwas, das uns entspannt. Damit wir uns öffnen.« »Wir sollen uns entspannen?«, wiederholte Ginger mit schriller Stimme. Clark tat sein Bestes, um sich zu entspannen, dachte an Gingers Zeichnungen, den Frieden und die Ruhe der Felder von Kansas. Gingers Hand umklammerte seine und Lanas war feucht vor Nervosität. Es war bemerkenswert, wie gut sie sich anfühlte. Nicht zu groß, nicht zu klein, sondern genau passend für seine Hand. »Du hast starke Hände, Clark«, sagte Ginger. Er konnte spüren, wie er errötete, und war dankbar für das gedämpfte Licht. 142
»Ach, das liegt an der vielen Arbeit. Das macht die Haut härter.« »Still, ihr beide. Konzentriert euch«, mahnte Chloe. Sie saßen einige Sekunden reglos da. Clark wurde sich des Tickens der Standuhr bewusst, das er vorher nicht bemerkt hatte. Es hing wie ein Metronom über dem Tisch. »Sag etwas«, forderte Chloe Ginger auf. Ginger saß unschlüssig da und sah Lana an. »Geist des Hauses«, intonierte Lana, aus dem Buch vorlesend, »wir bringen dir Geschenke vom Leben in den Tod. Sprich mit uns, oh Geist, und fahre in uns.« Ein Wispern schien durch den Raum zu gehen, dann schien die Temperatur um mindestens zehn Grad zu fallen. »Oh mein Gott«, murmelte Chloe glücklich. Clarks Augen weiteten sich, als er spürte, wie sich der Tisch vom Boden hob. Sein Gehör und seine Augen schärften sich, und ein Schauder lief ihm über den Rücken. Er hörte Lana schlucken und sah, wie sich Chloes normalerweise ruhiges Gesicht verkrampfte. Clark konzentrierte sich darauf, möglichst entspannt zu bleiben. Es hatte keinen Sinn, in Panik zu geraten und Gingers oder Lanas Hand versehentlich zu fest zu drücken. Er suchte den Raum mit seinem Röntgenblick ab und hatte den Eindruck, als würden bleiche, gespenstische Bänder den Tisch hochhalten, wie eine Art Seil. Wenn sie von den Meteoriten stammen, spüre ich jedenfalls noch nicht die Effekte, dachte Clark. »Bist du der Geist des Hauses?«, fragte Lana atemlos. Der Tisch ruckte. Einmal. Gleichzeitig drang von einem der Bücherregale ein lautes Klopfen. Ginger schrie auf und presste dann die Lippen zusammen. Chloe flüsterte: »Bleibt ruhig.« Clark sah Lana an. Sie starrte mit aufgerissenen Augen zurück und umklammerte seine Hand noch etwas fester. 143
Lana hielt seine Hand. Selbst in dieser Situation genoss er es. Wieder wackelte der Tisch, gefolgt von einem Klopfen. Diesmal kam es von dem Bücherregal auf der anderen Seite des Raumes. Und dann folgte ein zweites Klopfen, begleitet von einem etwas schwächeren Wackeln des Tisches. »Was war das?«, fragte Chloe. »Hat es einmal oder zweimal geklopft?« »Sollen wir weitermachen?«, flüsterte Clark der Gruppe zu. Lana und Ginger reagierten nicht, sie waren wie erstarrt. Aber Chloes Nicken wurde von dem Tisch bekräftigt. Er wackelte einmal. »Also gut«, keuchte Lana. Sie atmete ein, bevor sie fortfuhr. »Hat irgendjemand etwas... Falsches... in diesem Haus getan?« Der Tisch sprang ein paar Zentimeter in die Höhe, sodass die Kerzen schwankten und Clark einen Moment befürchtete, dass sie umkippen und die Tischdecke in Brand setzen würden. Aber sie blieben stehen. Was auch immer den Tisch in die Luft beförderte, es stützte auch die Kerzen. Aus irgendeinem Grund machte dies den Geist noch realer. Dann sprang der Tisch erneut in die Höhe und Clark hörte zwei Klopfzeichen – nicht nacheinander, wie von einer einzigen Hand, sondern gleichzeitig, wie von zwei Händen. »Wirst du uns sagen, was passiert ist?«, fragte Chloe. Dann brach plötzlich das Chaos aus. Der Tisch fiel krachend zu Boden und das Salonfenster flog unvermittelt auf. Die weißen Gardinen flatterten nach innen – aber es war nicht der Wind, der sie bewegte – es war, als würde eine Gestalt in den Falten stecken, eine hoch gewachsene menschliche Gestalt, die sie bauschte. Die Gardinen sahen jetzt so aus, als würde eine Tasche von innen gegen sie drücken. Dann zeichneten sich die Umrisse einer Hand oder eines Gesichts ab oder beides – vielleicht handelte es sich auch um mehr als eine Person. 144
Ein lautes Poltern ertönte und die Bücher auf dem obersten Regal hinter Lana kippten nacheinander um. Die Zimmertür sprang auf, schloss sich wieder, öffnete sich, schloss sich, flog immer wieder auf und zu. Der Klang von Schritten ertönte um den Tisch herum. Ginger schrie: »Hört auf damit! Hört auf!« Sie ließ Clarks und Chloes Hände los. Alles hörte abrupt auf. Die Tür stand offen. Es waren keine Schritte mehr zu hören. Die Gardinen fielen senkrecht nach unten und rührten sich nicht. »Mir reicht’s«, murmelte Ginger. »Lasst uns von hier verschwinden und...« Auf dem Regal richteten sich die umgekippten Bücher von allein wieder auf, während der Tisch erneut in die Luft sprang. Er wackelte heftig. Einmal. Zweimal. Dreimal. Von der anderen Seite des Zimmers drang dreimaliges Klopfen. Drei bedeutet Nein, rief sich Clark ins Gedächtnis zurück. Clark setzte erneut seinen Röntgenblick ein. Gespenstische grüne Stränge schwebten durch die Luft, streckten sich und zogen sich wieder zusammen. Sie sahen unheimlich aus, wie längliche Schatten von Fingern, die über die Wand strichen... und zu den vier Jugendlichen krochen, als wollten sie sie packen. Können die Mädchen sie sehen?, fragte sich Clark. Plötzlich wurden aus den Strängen ein großer Ball... nein, es waren zwei Bälle, ein größerer und ein kleinerer. Sie stießen zusammen und der Tisch polterte wieder zu Boden und schlug gegen sein Schienbein. Wäre er ein normaler Junge gewesen, hätte er aufgeschrieen. Aber so war er froh, dass nicht eins der Mädchen getroffen worden war.
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Dann flogen alle Bücher von den Regalen und fielen polternd zu Boden. Die Gardinen bauschten sich, bis sie wie Wimpel flatterten. Ginger schluchzte vor Entsetzen. Lana griff sich an die Brust und Chloe schien im Geiste die Geschichte ihrer gesamten Karriere zu schreiben. Ohne sich abzusprechen rannten die vier aus dem Haus, über die Veranda und in den Vorgarten. Ginger weinte jetzt heftig; sie warf sich in Clarks Arme und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Er drückte sie an sich und sah über ihren Kopf Lana und Chloe an. Lana blickte ernst, aber Chloe wirkte eher aufgeregt als verängstigt. Sie sagte: »Wir müssen den Vorfall besprechen und ich muss nach Hause. Also lasst uns auf dem Heimweg ins Talon gehen und reden, okay?« Als sie das Haus verließen, wollte Ginger die Vordertür abschließen. Chloe hielt sie davon ab. »Wenn jemand dumm genug ist, hier einzubrechen, wird er oder sie es schnell bereuen.« »Die Tür wird sich dann wahrscheinlich von allein abschließen«, sagte Lana schaudernd. Ginger lachte nervös, und die vier stiegen die Verandatreppe hinunter. Lana stolperte und Clark fing sie hastig auf. »Bist du okay?«, fragte er. Sie lächelte ihn dankbar an und wich dann einen Schritt zurück. Bildete er es sich nur ein oder bedauerte sie es, dass sie es tun musste? »Äh, ja, schon gut. Es war bloß – es war so real.« Clark verstand. Es war eine Sache, an ein Leben nach dem Tod zu glauben, aber den Beweis dafür zu erhalten, war etwas völlig anderes. »Kannst du fahren?«, fragte sie. »Ich zittere zu stark.« »Sicher«, nickte er. 146
Sie gab ihm die Schlüssel und er glitt auf den Fahrersitz. Lana stieg auf der Beifahrerseite ein, erst dann schien ihr zu dämmern, dass Ginger ebenfalls einsteigen wollte. Offenbar wollte sie mit ihnen fahren. Chloe signalisierte, dass sie abfahrbereit war. Clark ließ den Motor an. In dieser Woche war er ziemlich oft gefahren. Zuerst mit Lex’ Porsche und jetzt mit Lanas und Nells Truck. Er hatte oft davon geträumt, mit Lana durch die Gegend zu fahren. Jetzt war es nicht ganz so, wie er es sich vorgestellt hatte, aber wie sein Dad zu sagen pflegte: Manchmal musste man nehmen, was man bekommen konnte. Er legte den ersten Gang ein und bog in die Waitley Lane. Die Gangschaltung war etwas schwerer zu bedienen als die des Trucks seiner Familie und er musste aufpassen, dass er das Getriebe nicht ruinierte. Das würde Eindruck auf Lana machen, aber keinen guten. Clark ließ das Welles-Haus hinter sich zurück und sah über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass Chloe ihnen folgte. Was ein Glück war. Denn als er den Kopf der Straße zudrehte, nahm er auf dem Feld am Rand der Straße eine verschwommene Bewegung wahr. Eine Sekunde später, und er hätte sie verpasst. Jemand rannte dort. Und diese Person würde binnen Sekunden vor dem Truck auftauchen. Oh, nein! Die Zeit schien sich zu verlangsamen, wie es gewöhnlich geschah, wenn er unter extremem Stress stand. Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte. Wenn er mit Supergeschwindigkeit aus dem Wagen sprang, würde er sein Geheimnis verraten und riskieren, dass er Lana und Ginger verletzte, vielleicht sogar tötete. 147
Wenn er zu hart auf die Bremse trat, riskierte er, dass Chloe ihn rammte; wenn er von der Straße bog, würde sie mit dem Läufer kollidieren. Die Gedanken rasten durch sein Gehirn, schneller und schneller, verschiedene Optionen drängten sich auf. Während er die Alternativen überdachte, erkannte er den Läufer. Es war Joel! Der Junge, der verschwunden war, war wieder aufgetaucht – auf dieselbe Weise wie beim letzten Mal. Nur dass es diesmal so aussah, als würde er wirklich überfahren werden. Die Gedanken, die durch Clarks Gehirn zuckten, waren nicht ganz ausgereift, aber er hatte keine Zeit mehr – er musste sofort handeln. Die Mädchen kreischten auf und Clark scherte nach links aus, dann wieder nach rechts und trat so schnell auf die Bremse, dass der alte Truck ein wenig ins Schlingern geriet. Der alte Chevy schoss auf den rechten Straßenrand zu, als Clark bremste und wieder ausscherte, diesmal nach rechts, und an Joel vorbeirutschte... der jetzt außerhalb der Gefahrenzone war. Sobald der Wagen hielt, wandte sich Lana an ihn. »Oh, mein Gott, Clark! Wer ist das? Wir hätten ihn fast überfahren!« Clark stieg aus dem Truck und rannte zu Joel, der ihm entgegenlief. Inzwischen hatte auch Chloe den Jungen auf der Straße entdeckt. »Ist das nicht Joel?«, rief sie, als sie mit ausgestreckter Hand zu ihm eilte. »Hi, Chloe Sullivan von der Fackel.« Er starrte sie nur an. Dann wandte er sich wieder Clark zu. »Bring mich weg von hier«, bat er ihn. Seine Stimme war leise, fast nicht zu hören. »Sofort.« 148
8 ICH VERMISSE DICH, SAGTE ER. Ich will dich wieder berühren. Ich will zu dir zurück... Und dann strichen seine Fingerspitzen über ihre Stirn... Die Tränen rannen über ihre Wangen, als Janice ihre Augen öffnete und feststellte, dass sie in ihrem neuen Labor eingeschlafen war. Sie richtete sich auf, sah sich um und erkannte, dass sie allein war. Nur ein paar Personalcomputer auf hellgrauen Konsolen, eine Menge Pappkartons und ihr leerer Kaffeebecher leisteten ihr Gesellschaft. Anscheinend hatte niemand sie vermisst. Habe ich noch keinen Smartchip in meiner Ausweiskarte oder respektieren sie meine Privatsphäre?, fragte sie sich. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, sah, dass seit Gingers Anruf Stunden vergangen waren, und wurde von mütterlichen Schuldgefühlen überwältigt. Ihre eigene Mutter – Gingers Großmutter – sagte immer zu Janice: »Warum hast du überhaupt ein Baby bekommen? Du kümmerst dich kaum um Ginger. Sie ist immer bei irgendwelchen Babysittern.« Aber das stimmte so nicht. Ginger war ein glückliches Baby gewesen, und vor allem George hatte oft zu Hause gearbeitet, um bei ihr sein zu können. Sicher hatten sie auch Tagesmütter und Babysitter angestellt, aber Ginger hatte ihres Wissens nicht darunter gelitten. Doch Janices Schuldgefühle ließen niemals nach, denn Janices Arbeit erforderte viele Überstunden in den Labors... und deshalb konnte sie nicht bei ihr sein. Und zu diesen Schuldgefühlen kamen jetzt noch die, an Georges Tod beteiligt zu sein. Hätte sie irgendwelche freie Zeit übrig, würde sie diese wohl in einer Therapie verbringen. Sie streckte sich, rieb sich benommen das Gesicht... und erinnerte sich plötzlich an den Traum. An seine Berührung, seine Stimme. Ihre Kehle zog sich zusammen und sie hatte 149
Schwierigkeiten zu schlucken. Er war so real gewesen, als hätte George tatsächlich versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Wunschdenken, dachte sie bekümmert. Mein Herz trauert sogar, während ich schlafe. Ihr fiel ein, dass sie noch immer nicht über ihr Handy erreichbar war, und sah sich nach einem Telefon um, damit sie ihre Tochter anrufen konnte. Sie fand keins. Das Labor war noch nicht fertig eingerichtet. Sie probierte ihr Handy aus, doch wie erwartet funktionierte es nicht. Ginger hatte ihr auch keine Nachricht hinterlassen... oder es war ihr nicht möglich gewesen. Janice war sicher, dass sie es zumindest versucht hatte. Doch sie konnte nicht einmal ihre Mailbox abfragen. Schließlich entdeckte sie eine Wechselsprechanlage an der Wand und drückte den Rufknopf. Niemand antwortete. Sie blinzelte und versuchte es erneut. Noch immer keine Antwort. »Verdammt«, stieß sie hervor. Hektisch drückte sie immer wieder auf den Knopf. Muss ich etwa die Nacht hier verbringen?, dachte sie, und Panik stieg in ihr hoch. Joel war völlig abwesend; er schien nicht ansprechbar zu sein. »Du musst uns erzählen, was passiert ist«, drängte ihn Chloe. Er nickte. »Ich kann nicht glauben, dass ich es wirklich zweimal getan habe. Es ist, als hätte ich keine Kontrolle über mich. Als würde mich jemand dazu zwingen...« Er ballte die Fäuste. »Ich war so... wütend...« Als ihn die anderen erwartungsvoll ansahen, deutete er hinter sich und sagte: »Hier ist irgendetwas.« Dann fügte er hinzu: »Bringt mich weg von hier.« »Du musst uns sagen, was los ist!«, insistierte Chloe. 150
»Nicht hier. Es ist nicht sicher hier«, erwiderte er. »Bringt mich zu Hollys Haus!« Clark sah ihn fragend an. »Holly?« »Eine Freundin von mir«, erklärte Joel. »Sie wohnt nicht weit von hier. Ich weiß nicht mal, ob sie zu Hause ist. Sie ist oft außerhalb der Stadt unterwegs. Jedenfalls können wir hier nicht bleiben.« »Okay, okay«, sagte Chloe besänftigend. »Clark, wir folgen dir.« Sie bedeutete Lana und Chloe mit einem Wink, mit ihr zu kommen. Sie taten es und ließen Joel und Clark in Lanas Truck zurück. »Wir könnten sogar zu Fuß hingehen, es ist nicht weit«, sagte Joel. Doch Clark ließ den Wagen an und folgte Joels Anweisungen. Kurz darauf hielten sie vor einem kleinen, einstöckigen, gelb getünchten Haus an. Alle Fenster waren dunkel. »Kein Auto«, murmelte Joel enttäuscht. »Sie müssen noch immer in Metropolis sein.« Was jetzt?, dachte Clark, sagte aber nichts. Während die beiden schweigend dasaßen, stieg Chloe aus ihrem Wagen und fragte: »Niemand da?« »Ich gehe nicht nach Hause«, sagte Joel scharf. Chloe sah Clark an. »Lana hat ein paar Sachen im Talon vergessen. Was hältst du davon, wenn wir wie geplant hinfahren?« Clark blickte zu Joel hinüber, der sagte: »Ist mir egal. Okay.« Chloe kehrte zu ihrem Wagen zurück und Clark ließ wieder den Motor von Lanas Truck an. Als sie losfuhren, starrte Joel aus dem Fenster und murmelte: »Ihr habt keine Ahnung. Oh, mein Gott, ich dachte, ich wäre tot. Ich dachte, dieses... Ding... würde mich töten.« Clark nickte, als würde er verstehen, aber er verstand gar nichts mehr. Zuerst die Séance und jetzt das. 151
Es muss an den Meteoren liegen, überlegte er. Als Clark Joel einen kurzen Seitenblick zuwarf, rumpelten sie gerade über ein Schlagloch, das es schon gab, so lange Clark zurückdenken konnte. Aber Joel keuchte und klammerte sich an die Armlehne, als hätte er so etwas noch nie erlebt. Er ist mit den Nerven völlig am Ende, dachte Clark. Was in aller Welt ist ihm zugestoßen? Clark fuhr weiter und behielt den Rückspiegel immer im Auge. Der Mond leuchtete noch immer rot am Himmel. Joel murmelte: »Heute Nacht ist der Mond voller Blut. Irgendjemand ist gestorben. Irgendetwas geschieht.« Einen Moment lang herrschte Schweigen. Da er jetzt über den Tod anderer Menschen sprach, entschied Clark, Joel weitere Informationen zu entlocken. »Joel, woher weißt du das? Hast du gesehen...« »Ich spüre es.« Er ballte die Faust und schlug gegen seine Brust. »Ich spüre es hier drinnen, okay?« Seine Stimme wurde schrill und bebte. »Ist ja schon gut«, sagte Clark beruhigend. »Du bist nicht mehr allein. Wir alle werden dir helfen.« »Ich bin mir nicht sicher, ob mir überhaupt jemand helfen kann«, sagte Joel verzweifelt. Sie hatten sich kaum in der abgeschiedensten Nische des Talons niedergelassen, als es aus Joel herauszusprudeln begann. Ginger, Lana und Clark beugten sich nach vorn und saugten jedes Wort in sich auf. »Dort in dem Maisfeld ist schon immer etwas gewesen. Holly und ich haben es beide gespürt.« Joel legte seine Hand an die Stirn. Sie zitterte heftig. »Wir wollten herausfinden, was es war. Deshalb haben wir es mit Magie versucht.« »Magie?«, wiederholte Chloe ungläubig. »Was ist der Unterschied zwischen Magie und einer Séance?«, sagte Ginger, Joel verteidigend. »Was ist der 152
Unterschied zu deinem ›Wand der Merkwürdigkeiten‹-Zeug, von dem du dauernd redest?« »Tut mir Leid, tut mir Leid«, entschuldigte sich Chloe hastig. Eine Kellnerin trat an den Tisch und strahlte Lana an, als könnte sie es kaum erwarten, ihre beruflichen Fähigkeiten zu demonstrieren. Alle bestellten Kaffee und die Kellnerin ging sichtlich zufrieden mit sich davon. Joel hatte die Unterbrechung genutzt, um sich zu sammeln. »Wir haben es den ›Geist im Maisfeld‹ genannt.« Er sah die Gruppe ruhig an. »Und genau das ist es auch.« »Erzähl weiter«, bat Clark. »Vor einer Weile haben sich die Dinge verändert. Wir hatten schon lange versucht, Kontakt herzustellen, was uns nie gelang. Aber dann... kamen wir durch. Wir spürten es beide. Es gibt so viel Zorn dort...« Ginger keuchte. Lana legte ihre Hand auf Gingers Unterarm; keins der Mädchen sagte ein Wort. »Dann, am Muttertag, war ich total sauer. Mein Vater...« Er biss die Zähne zusammen und legte die Hände auf den Tisch. »Es sollte ein fröhlicher Abend werden. Für meine Mom, versteht ihr? Aber er...« Er schloss die Augen. »Jedenfalls hatte ich die Nase voll. Ich ging zum Feld. Ich sprach die Zauberformel. Und diese riesige grüne... Säule...« Er brach ab und suchte nach den richtigen Worten. »Es war wie ein Whirlpool, der sich auf die Seite drehte. Im Innern schienen Energien zu toben...« Er schauderte. »Ich wollte weglaufen, aber es... es verschluckte mich.« Chloe griff nach ihrer Tasse. Clark wusste, dass sie sich im Geiste Notizen machte. »Dann war ich in seinem Innern. Alles um mich herum war grau und düster. Ich glaubte, im Jenseits zu sein. Oder in der Hölle. Dann sah ich plötzlich zwei grün leuchtende Wesen. Es sah aus, als würden sie weit entfernt laufen. Eine war groß, die 153
andere klein wie ein Kind. Das Kind schien den Großen zu verfolgen. Ich starrte sie wie hypnotisiert an. Ich fragte mich, ob ich träumte. Ich konnte all diese Wut und Angst spüren...« Ginger sagte leise: »Nein.« Joel hatte ihren Kommentar nicht gehört. »Dann blieb der Kleine stehen. Er drehte sich um und sah mich an. Und ich weiß nicht warum, aber ich hatte plötzlich mehr Angst als je zuvor in meinem ganzen Leben. Ich fuhr herum und rannte weg. Ich glaube, ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so schnell gelaufen.« Er atmete scharf aus und sah Clark an. »Und dann rannte ich vor deinen Truck.« »Was?«, rief Chloe erstaunt. »Das hast du uns nicht erzählt, Clark. Ich habe beim Mittagessen darüber gesprochen und du hast kein Wort dazu gesagt!« Clark errötete, erwiderte aber nichts. »Warum bist du zurückgegangen?«, fragte Lana Joel. »Wenn es so schrecklich war...« »Ich weiß es nicht.« Er barg sein Gesicht in den Händen. »Ich konnte nichts dagegen zun. Es war nicht meine Entscheidung.« Chloe dachte darüber nach. »Hast du dann wieder dasselbe erlebt? Dass sich die Gestalten gejagt haben und dann hinter dir her waren?« »Chloe, lass ihm etwas Zeit«, mahnte Ginger. »Nein, es ist okay«, wehrte Joel ab und starrte dann Ginger an, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Nachdenklich sagte er: »Ich kenne dich nicht!« »Ich komme aus Metropolis«, antwortete Ginger. »Aber meine Mom hat hier einen Job angeboten bekommen... ausgerechnet hier... und ich habe sie überredet, ihn anzunehmen.« Sie bemerkte, dass er ihr sehr konzentriert zuhörte und war dankbar für seine Aufmerksamkeit. 154
»Meine Mom ist eine bekannte Wissenschaftlerin. Da war dieser Unfall in ihrem Labor... im Labor meines Dads... und mein Dad...« Sie schüttelte den Kopf. »Sie träumt die ganze Zeit von seinem Tod. Ich denke, sie...« Chloe hob beschwichtigend ihre Hand. »Das ist ganz normal, sie fühlt sich schuldig, weil sie überlebt hat.« Jetzt senkte Lana den Blick, und Clark wurde von Schuldgefühlen überwältigt. Er stellte sich Lanas Entsetzen vor, als sie mit angesehen hatte, wie ein Meteorit den Truck ihrer Eltern getroffen und beide getötet hatte. »Erzähl weiter«, sagte Ginger zu Joel. »Bitte.« Er sah sie sanft und freundlich an. »Diesmal war ich in einem dunklen Raum oder so. Es gab einen Fußboden, keine Erde. Vielleicht war er aus Ziegelstein. Ich konnte Gelächter hören. Es klang sehr grausam. Ich wusste, dass ich von dort verschwinden musste. Ich wusste, dass ich in Gefahr war.« »Du wurdest aber nicht gejagt?«, fragte Chloe. »Ich habe nichts gesehen. Es war zu dunkel. Aber ich hatte wieder Angst und rannte los und dann konnte ich dieses Gelächter hören... plötzlich geriet alles durcheinander. Ich hörte Klopfen und Stimmen, und dann war ich wieder auf dem Feld. Und dann kamt ihr.« Er vergrub sein Gesicht in den Händen. »Oh mein Gott. Ich weiß nicht, was da passiert ist.« Langes Schweigen folgte. Die anderen mussten das Gehörte erst verarbeiten. Lana murmelte: »Ich glaube, du hast irgendwie unsere Séance mitbekommen.« Ginger meldete sich erneut zu Wort. »Da war ein Mädchen im Bus. Ein Grufti. Sie hat für dich einen Schutzzauber gesprochen.« Clark warf ein: »Ich schätze, das war Holly.« Joel nickte und wischte sich das Gesicht ab. »Wir haben uns wahrscheinlich einfach vermisst. Sie und ihre Mom fahren 155
ständig nach Metropolis. Sie reden sogar davon, dorthin zu ziehen.« »Im Haus war es ganz anders«, sagte Ginger. Sie wandte sich an Joel und erklärte: »Wir haben eine Séance abgehalten.« Als sie seinen überraschten Gesichtsausdruck sah, erklärte Chloe: »Bücher sind von den Regalen gefallen. Türen haben sich von allein abgeschlossen. Und dann diese schrecklichen Geräusche. Ich hielt es für einen Poltergeist«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. »Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, dass es etwas derart Harmloses war.« »Mein Erlebnis habe ich jedenfalls nicht als harmlos empfunden«, sagte Joel. »Ich unseres auch nicht«, murmelte Ginger. »Vielleicht ist es jemand, der von einem Meteoriten erwischt wurde«, warf Lana ein. »Erwischt?«, wiederholte Ginger. »Beeinflusst«, verbesserte Chloe. »Wir haben es hier mit Wissenschaft plus ›Magie‹ zu tun, wobei ich damit so meine Probleme habe«, erklärte sie. »Magie ist für mich, wenn Dinge passieren, für die es keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Joel, du hast hier in Smallville Zauber gewirkt...« Sie zog eine Braue hoch. »Und wenn es in der Nähe einen Meteoriten gibt, der diese Energie, all diesen Zorn, den du empfindest, aufgenommen und in irgendwelche Bilder oder Eindrücke umgewandelt hat...« »Oder sie verstärkt hat«, fügte Lana hinzu. »Vielleicht haben wir die Séance in der Nähe eines Meteoriten abgehalten.« »Ich wette, es gibt zwei«, sagte Chloe. »Einen auf dem Maisfeld und einen im Haus.« »Du sagtest... du sagtest, dass sich die Dinge vor einer Weile verändert haben.« Ginger sah Joel durchdringend an. »Wie lange ist das her?« Er dachte einen Moment nach. »Etwa sechs Monate. Warum?« 156
Ginger schluchzte laut auf und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Ihre Schultern bebten. »Vor sechs Monaten, Lana!«, stieß sie hervor. »Er hat mit jemand Kontakt bekommen, der vor sechs Monaten sehr wütend war! Oh, Gott!« Sie geriet in Panik. »Wo ist meine Mutter? Warum geht sie nicht ans Telefon?« »Komm schon«, sagte Lana sanft und half Ginger auf die Beine. Zu Clark sagte sie: »Ich gehe mit ihr auf die Personaltoilette. Gebt ihr ein bisschen Zeit.« »Lana, kannst du mir dein Handy leihen?«, fragte Clark. »Sicher.« Sie nahm es aus ihrer Handtasche, gab es Clark und zog Ginger dann aus der Nische. Als sich die beiden entfernt hatten, sagte Joel: »Warum ist es für sie so wichtig, dass alles vor sechs Monaten angefangen hat?« »Ihr Dad ist zu diesem Zeitpunkt gestorben«, erklärte Chloe mit grimmigem Gesicht. Clark gab eine ihm sehr vertraute Nummer in das Handy ein und wartete. »Clark«, hörte er Lex’ Stimme am anderen Ende der Leitung. »Was ist los? Es ist spät. Nun, für mich nicht«, fügte er schnell hinzu. »Du weißt, dass du mich jederzeit anrufen kannst.« »Lex, du wirst es nicht glauben...«, begann er und sah dann, wie Chloe ihn dazu drängte, zum Thema zu kommen. »Ginger Brucker ist auf der Suche nach ihrer Mom«, erklärte er. »Sie ist noch nicht nach Hause gekommen und ihr Handy funktioniert nicht.« »Dann wird Janice in ihrem Labor sein«, sagte Lex ruhig. »Hat Ginger in der Zentrale angerufen? Der Sicherheitsdienst ist natürlich noch im Haus.« »Wir haben eine Menge Nummern ausprobiert«, erwiderte Clark. »Ohne Erfolg.« »Okay«, unterbrach Lex. »Ich kümmere mich darum.«
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»Danke, Lex«, seufzte Clark. »Ich hatte mir schon überlegt, einfach hinzufahren, aber Ginger wollte ihre Mom nicht in Verlegenheit bringen.« »Verstanden«, entgegnete Lex. »Richte Ginger bitte aus, dass sie sich keine Sorgen machen soll.« »Falls du ihre Mom erreichst, gib ihr bitte Lanas Nummer«, sagte Clark. »Wenn ich sie erreiche, werde ich es tun«, versicherte Lex. Dann schwieg er einen Moment und sagte: »Alles klar mit dir, Clark?« »Ja.« Clark errötete. Er wollte seinen Freund nicht belügen. Aber er tat es. Er war keinesfalls hundertprozentig okay. »Ich werde sie schon finden!« Damit legte Lex auf. In der Personaltoilette weinte Ginger sich lange aus, dann beruhigte sie sich ein wenig. Sie muss vollkommen erschöpft sein, dachte Lana. Sie schleppt diese Furcht und Sorgen schon so lange mit sich herum und hat dabei kaum geschlafen. Schließlich sagte Ginger: »Ich dachte, hier wäre es so friedlich, irgendwie normal, verstehst du?« »Oh, das kann es auch sein«, versicherte Lana, und beide mussten lachen. »Eigentlich ist Smallville eine völlig langweilige Kleinstadt, Ginger. Ehrlich. Es ist nur so... na ja, die Meteoriten haben für eine Menge merkwürdiger Zwischenfälle gesorgt. Wenigstens glaubt Chloe das.« »Und was glaubst du?« Ginger ging in die Kabine und nahm sich etwas Toilettenpapier. Als sie zum Waschbecken zurückkehrte, drehte sie das Wasser auf. »Ich glaube, sie hat Recht.« Lana legte den Kopf zur Seite. Ginger prüfte die Wassertemperatur und wusch sich dann das Gesicht. Sie blickte in den Spiegel und schnitt eine Grimasse. »Ich sehe schrecklich aus«, murmelte sie. »Typisch für mich, dass ich kein Make-up aufgetragen habe, wenn ein Junge, für 158
den ich mich interessiere, in der Nähe ist.« Sie lächelte matt. »Hat Clark eine Freundin? Bei meinem Glück bestimmt.« Lana öffnete schon den Mund, um zu antworten, aber sie war nicht sicher, was sie sagen sollte. Die Wahrheit? Clark hat keine Freundin... aber er wünscht sich, ich wäre seine Freundin, und wenn ich nicht mit Whitney zusammen wäre... Sie fühlte sich schrecklich schuldig wegen dieses Gedankens. Es war, als würde sie Whitney und Clark betrügen, obwohl sie Clark keine Rechenschaft schuldig war. Der Grund dafür war, dass sie versuchte, Clark zu behalten, obwohl er ihr gar nicht gehörte. »Also«, begann Lana zögernd. Die Tür öffnete sich. Chloe steckte den Kopf herein. »Bist du okay?«, fragte sie Ginger. Als Ginger nickte, entspannte sich Chloe sichtlich. Sie lächelte freundlich. »Das ist gut. Lana, Whitney ist gerade aufgetaucht.« »Oh.« Lana errötete und fühlte sich noch schuldiger. »Danke.« Chloe nickte ihr zu, schloss die Tür wieder und ließ die beiden allein. »Nein«, sagte Lana nachdrücklich zu Ginger. »Er hat keine Freundin.« Gingers Augen leuchteten auf. »Cool!« Sie gingen hinaus und holten Chloe ein. Whitney kam ihnen entgegen. Seine Haare waren feucht und er roch frisch und gut. »Ich war beim Training«, erklärte er. »Was ist los? Arbeitet ihr an irgendeinem Gruppenprojekt?« Lana seufzte. Wo sollte sie anfangen? »So könnte man es ausdrücken.« Wie gewöhnlich musste Chloe die Neuigkeit sofort an den Mann bringen. »In dem Haus, in das Ginger und ihre Mutter eingezogen sind, spukt es.« Sie hielt kurz inne. »Es geht um das Welles-Anwesen.« »Im Ernst?« Whitney wirkte erstaunt. »Das Spukhaus?« 159
Ginger zog die Brauen zusammen. »So nennt man es hier?« Er nickte. »Einige Leute tun es. Sogar meine Eltern fürchten sich vor diesem Haus. Man erzählt sich darüber üble Geschichten.« »Clark«, sagte Chloe ironisch, »das wäre doch ein prima Thema für dich.« »Mein Aufsatz«, meinte er nachdenklich. »Oh je.« Lana erklärte Whitney: »Clark hat seinen Aufsatz über die Geschichte Smallvilles noch nicht abgegeben.« Whitney schnitt eine Grimasse. »Alter, Mr. Cox reduziert mit jedem Tag Verspätung die Zensur um einen Punkt.« »Ich weiß«, sagte Clark seufzend. »Und ich muss heute Nacht noch den Truck meiner Eltern holen.« An Whitney gewandt fügte er hinzu: »Ein Reifen ist geplatzt. Ich habe den Wagenheber und die anderen Werkzeuge im Wagen.« »Er ist in der Nähe des Maisfeldes geplatzt«, warf Chloe betont ein. »Auf dem es spukt. Ein Zufall? Wohl kaum!« »Ich kann dich hinfahren«, bot Whitney an. »Ich habe noch eine Besprechung im Haus des Trainers.« »Danke, aber...« Clark sah die anderen an. Lana war gerührt, dass er sie nicht allein lassen wollte, und ein bisschen sauer, weil Whitney keine Probleme damit hatte. Ginger legte eine Hand auf Clarks Unterarm. Röte überzog ihre Wangen. Sie sagte: »Ich würde mich besser fühlen, wenn du bleiben würdest. Es war so nett von dir, dass du überhaupt gekommen bist.« He, ich bin auch gekommen, dachte Lana. Und ich musste allein hineingehen. Und ich habe das Fenster eingeschlagen. Er ist bloß dazugekommen. Oh, mein Gott. Ich bin eifersüchtig auf sie! Whitney schien es nicht zu bemerken – oder kümmerte es ihn nicht? Er hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Du bist okay, richtig? Es tut mir Leid, aber wir machen diese
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Mitternachtssache...« Er blickte verlegen drein. »Es ist eine alte Tradition in Smallville.« »Wie bitte?«, fragte Chloe neugierig. »Was für eine Sache? Willst du es mir nicht für die Fackel erzählen?« »Es ist ein Geheimritual«, erklärte Whitney verlegen. »Oh, du meinst, euer Coach steckt wieder irgendwelche Dinge in Brand?«, fauchte Chloe zurück. »Sei ruhig, Chloe«, mahnte Clark. »Mir geht’s gut«, schaltete sich Lana ein. Sie wünschte sich, dass sie zu zanken aufhörten. Aber sie war gekränkt, weil Whitney gehen wollte. Sie hätte ihn jetzt gebraucht. Dann sag es ihm, hörte sie eine Stimme in ihrem Inneren. Aber was wäre, wenn er trotzdem nicht blieb? »Gut.« Er küsste sie erneut. »Ich will später alles über diese Sache hören«, fügte er hinzu. Dann küsste er sie wieder. Direkt vor Clark. »Bis nachher.« Sie lächelte weiter, aber im Grunde war ihr nicht nach Lächeln zu Mute. Wir sind eben beide sehr beschäftigt. So ist es nun einmal. Und ich kann ganz gut damit umgehen, auch wenn es für die anderen so aussieht, als wären wir kein richtiges Paar. »In Ordnung«, sagte sie zu Whitney. Er löste sich von der Gruppe und wandte sich zur Tür... als Pete hereingestürmt kam. Die beiden Jungen nickten sich knapp zu. Dann verschwand Whitney nach draußen, während Pete aufgeregt zu den anderen eilte. »Lana, deine Tante sagte, dass du hier bist... Hör zu, ich habe mit Gouverneur Welles’ Berater gesprochen und...« »Welles«, stieß Ginger hervor. »Ich wusste doch, dass ich diesen Namen von irgendwoher kenne. Leute, das ist sein Haus!« »Welles. Natürlich«, sagte Clark und nickte ihr zu. »Wusstest du das nicht?«
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»Wessen Haus?«, fragte Pete und musterte ihre Gesichter. »Wovon redet ihr?« »In dem Haus, in dem Gouverneur Welles aufgewachsen ist, spukt es«, informierte Chloe ihn. »Ginger ist gerade dort eingezogen, und sie hat dort ein paar merkwürdige Sachen erlebt.« »Und wir auch«, fügte Lana hinzu. Pete blickte verwirrt drein. »Mal langsam. Wovon zum Teufel redet ihr?« »Gouverneur Welles’ Farmhaus. Es ist verflucht«, sagte Chloe bedächtig, als würde sie zu jemandem sprechen, der geistig nicht ganz auf der Höhe war. »Oder es ist vielleicht ein Poltergeist, aber ich bezweifle das, je länger ich darüber nachdenke. Dafür... spukt es zu sehr.« Pete starrte sie an. »Soll das ein Witz sein?« »Warte nur, bis du es selbst erlebst.« Sie warf Clark, Lana und Ginger einen Blick zu und wies dann auf Joel. »Er war auf einem Maisfeld gefangen.« »Gefangen...«, wiederholte Pete. Er sah alle der Reihe nach an. Als er Joel näher betrachtete, leuchtete Erkennen in seinen Augen auf. »Du bist der Junge, der von zu Hause weggelaufen ist, nicht wahr?« Joel fuhr zusammen. Ginger beugte sich nach vorn und sagte: »Es ist viel komplizierter.« »In einem Maisfeld gefangen.« Petes skeptischer Ton war nicht zu überhören. »Komm schon, Pete. Du hast eine Million merkwürdige Dinge hier in Smallville gesehen«, schalt Chloe ihn. »Das ist nicht merkwürdiger als die anderen Merkwürdigkeiten. Es ist nur viel unheimlicher.« Sie runzelte die Stirn. »Na ja, vielleicht ist unheimlicher nicht ganz das passende Wort. Ein Footballtrainer, der mit seinen Gedanken mein Büro in Brand setzt, ist auch ziemlich unheimlich.« Sie wandte sich an Lana.
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»Und wenn die Spieler um Mitternacht irgendeinen Voodoozauber durchführen... gefällt mir das auch nicht.« Pete gestikulierte. »Also gehört meinem Kandidaten angeblich ein Spukhaus.« »Du kannst das angeblich weglassen«, warf Ginger ein. Pete lächelte Chloe an. »Für dich muss ein Traum wahr geworden sein.« Sie schenkte ihm ein schräges Grinsen. »Trotz des Schreckens, der mir in die Glieder gefahren ist, ist mir nicht entgangen, dass dies die Story meines Lebens sein könnte.« Pete wirkte nicht erfreut. »Eine Story, die dem Gouverneur höchst wahrscheinlich nicht gefallen wird.« »He, es ist öffentlich bekannt, dass seiner Familie ein Spukhaus gehört«, sagte Chloe indigniert. Pete schüttelte den Kopf. »Niemand konnte das je beweisen.« »Bis jetzt vielleicht nicht«, fauchte Ginger zurück. »Aber wir haben alles live miterlebt.« Einen Moment lang herrschte Schweigen. Lana dachte an das Haus und welche Angst sie gehabt hatte... aber auch ein anderer Gedanke ging ihr nicht aus dem Kopf: Whitney hatte ihr vor ein paar Minuten einen Kuss auf die Lippen gehaucht und sie gefragt, ob sie okay war. Dann war er gegangen, ohne sich großartig Gedanken um sie zu machen. Okay, er hatte sie zweimal geküsst. Aber nur sehr kurz. Was wäre passiert, wenn wir ihn statt Clark angerufen hätten?, fragte sie sich. Hätte er mir gesagt, dass er zu beschäftigt ist, um zu kommen? Pete sah aus, als wollte er etwas sagen, schloss dann den Mund und atmete aus. Chloe warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Was?«, fragte sie. Pete seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich euch das überhaupt erzählen soll. Ich werde wahrscheinlich gefeuert werden...«
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»Du bist ein Freiwilliger«, erinnerte ihn Ginger und zog dann die Schultern hoch. »Aber ich schätze, sie könnten dich bitten zu kündigen.« »Nun erzähl schon«, befahl ihm Chloe ungeduldig. »Nun, die LuthorCorp hat vor einer Weile etwas Geisterforschung betrieben. Nach dieser Sache mit dem Mädchen, das Lex die Armbanduhr und andere Sachen gestohlen hat. Sie benutzten dabei diese Wärmebildkamera und ähnliche Geräte, wie in den Filmen. Sie haben nach – wie sagt man noch gleich? – Ektoplasma gesucht.« Chloe verdrehte die Augen. »Das überrascht mich nicht!« Dann runzelte sie die Stirn. »Und warum weißt du davon und ich nicht?« »Es war zu der Zeit keine große Sache«, sagte Pete. »Wir beide saßen irgendwann mal im Talon. Er hatte einen Mann bei sich und sie sprachen darüber, einen Teil der Ausrüstung selbst zu bauen.« »Du hast gelauscht?«, rief Chloe. »He, dies ist ein freies Land«, gab Pete zurück. »Ich... habe bloß einiges aufgeschnappt.« »Ich bin so stolz auf dich«, fügte sie grinsend hinzu. Dann wandte sie sich an Clark. »Vielleicht könntest du Lex fragen, ob wir seine Geräte für die Untersuchung des Hauses ausleihen können. Das könnte ziemlich aufregend werden und Lex mag aufregende Sachen.« Sie lächelte schief. »Wartet, wartet.« Pete hob die Hände. »Ich glaube nicht, dass mein Kandidat seine Erlaubnis für eine Geisterjagd geben wird.« »Wir haben dort bereits ohne seine Erlaubnis eine Séance abgehalten«, sagte Chloe herausfordernd. Sie hob ihr Kinn. »Vielleicht sollten wir einfach den National Enquirer anrufen und sie die Sache untersuchen lassen.« »He, einen Moment.« Pete sah sie stirnrunzelnd an. »Das kannst du nicht machen.« 164
In diesem Moment klingelte Lanas Handy. Es ist Whitney, dachte sie glücklich. Er will hören, wie’s mir geht. »Hallo?«, sagte sie erwartungsvoll in den Hörer hinein. »Äh... ich versuche meine Tochter Ginger zu erreichen. Lex Luthor hat mir diese Nummer gegeben.« Obwohl Lana enttäuscht war, sah sie Ginger lächelnd an. »Sie ist hier. Ich gebe sie Ihnen.« Sie hielt ihr das Telefon hin. Ginger nahm das Handy. Sie konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte. »Ginger?« »Mom?« Ihre Stimme klang schrill. »Wo bist du?« »Ach Ginger, es ist eine dumme Sache passiert«, erwiderte sie. »Ich bin in meinem neuen Labor eingeschlossen worden. Irgendwie muss ich eingeschlafen sein, und als ich aufwachte, waren alle anderen wohl schon nach Hause gegangen. Lex kam gerade und ließ mich raus.« Sie lachte unbehaglich. »Es war unheimlich.« »Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Ginger. Sie wusste, dass ihre Mutter die Ironie in ihrer Stimme nicht bemerken würde. Es war schon komisch, dass ihre Mutter sich gefürchtet hatte, weil sie in einem schönen, sicheren, sterilen Labor eingeschlossen worden war. Sie hatte ja keine Ahnung, was sie zu Hause erwartete. »Wo bist du? Wem gehört das Handy?« »Mom«, sagte Ginger, ihre Worte sorgfältig wählend, »mit unserem Haus stimmt etwas nicht. Wir haben ein großes Problem.« »Oh, toll. Sind es die Rohrleitungen? Ich hatte das Gefühl...« »Mom, es... etwas stimmt nicht mit dem Haus«, wiederholte sie verlegen. Eine Pause trat ein. Ginger konnte fast sehen, wie das Wissenschaftlergehirn ihrer Mutter fieberhaft arbeitete, um zu verstehen, was ihre Tochter damit meinte. 165
»Ginger...«, begann sie. »Du kannst mit Lana sprechen. Oder Clark. Sie waren dort«, erwiderte Ginger. »Ich kenne diese Leute nicht. Wir sind gerade erst eingezogen, Ginger. Also, was ist los? Warum bist du nicht zu Hause geblieben?« »Mom, Mom...« »Ich weiß, dass dieser Umzug schwierig für dich ist...« »Umzug?«, fragte Ginger schrill. Chloe nahm ihr sanft das Telefon aus der Hand und sagte: »Dr. Brucker? Ich bin Chloe. Ich habe Ginger in der Schule kennen gelernt. Wir denken...« Sie sah die anderen an und kreuzte im Geiste die Finger. »Wir denken, dass vielleicht jemand ins Haus eingedrungen ist.« »Oh, mein Gott. Habt ihr den Sheriff gerufen?« Die Frau schrie so laut, dass alle am Tisch mithören konnten. »Nein...« Chloe war verlegen. Sie sah die fünf an, als wollte sie sagen: Daneben gegangen. Tut mir schrecklich Leid. »Gib mir Ginger.« Ginger nahm erneut das Telefon. »Ich rufe den Sheriff an. Wo bist du jetzt?« »Im Talon. Das ist ein Café«, erklärte Ginger. »Bist du dort sicher? Die Leute, mit denen du zusammen bist... sind irgendwelche Erwachsenen in der Nähe?« »Ja, Mom«, sagte Ginger pflichtschuldig. »Bleib dort. Ich rufe dich wieder an, wenn ich zu Hause bin.« »Nein...«, schrie Ginger auf, aber ihre Mutter hatte bereits aufgelegt. Sie sah die anderen an. »Sie fährt zu dem Haus. Und ich soll hier bleiben.« Clark verstand sofort. »Wir müssen sie im Vorgarten abfangen«, erklärte er. Sie nickte.
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Schnell gingen sie nach draußen auf den Parkplatz. Joel, Ginger und Lana gingen voran, Clark und Chloe folgten ihnen. Pete bildete das Schlusslicht. Ihm missfiel die ganze Sache sichtlich. »Ich glaube, Joel mag Ginger«, sagte Clark. »Sie ist ein nettes, hübsches Mädchen.« Chloe legte den Kopf zur Seite. »Aber ich weiß nicht, ob er eine Chance hat. Sie mag jemand anderen.« Als er die Anspielung nicht verstand, schüttelte sie leicht den Kopf und sagte: »Dich, Clark. Sie hat ein Auge auf dich geworfen.« »Auf mich...?« Er verfolgte, wie Ginger in den Wagen stieg, ihm einen kurzen Blick zuwarf und dann Joel höflich anlächelte, der zu ihr trat. Er war überrascht und auch ein wenig geschmeichelt. Irgendwie taten ihm die beiden Leid. Keiner weiß besser als ich, wie es ist, in so einer Lage zu sein, dachte er. Es gibt nur einen kleinen Unterschied: Lana weiß, dass ich ihr Freund sein möchte. Aber ist es besser, dass sie es weiß und ich trotzdem nicht ihr Freund bin? Ich fühle mich gewiss nicht besser. Chloe sagte: »He, bist du eifersüchtig auf ihn?« »Auf wen?«, fragte er verblüfft. »Komm«, sagte sie, »wir nehmen meinen Wagen.« Sie stiegen ein, bedeuteten Pete mit einem Wink, sich ihnen anzuschließen, und folgten Lanas Truck. Als sie das Maisfeld passierten, sagte Clark: »Ich glaube, ich bin diese Strecke heute Nacht öfter gefahren als in meinem ganzen Leben.« »Clark«, sagte Chloe, »sie kann nicht in dem Haus bleiben. Was machen wir, wenn ihre Mutter heimkommt? Wird das, was sich in dem Haus befindet, ihre elterliche Autorität respektieren?« Er seufzte. »Keine Ahnung.« »Hört auf, Leute«, stöhnte Pete. »Ich komme mir vor wie in einem schlechten Film.« 167
»Du bist nicht dabei gewesen«, fauchte Chloe ihn an, »also halte dich da raus!« Zu Clark fügte sie hinzu: »Wir müssen herausfinden, was vor sich geht. Vielleicht liegt es doch nur an den Meteoriten. Irgendeine Anomalie.« Sie blickte nachdenklich drein. Clark behielt Lanas Truck im Auge, während er bremste und um den Truck seiner Eltern bog. »Gibt es nicht einen Film darüber?« »Eine Menge«, antwortete Chloe. Clark blickte aus dem Fenster. »Ich habe etwas gesehen, als ich vorhin zu Gingers Haus gefahren bin. Im Mais.« Pete räusperte sich. »Es muss Joel gewesen sein. Vielleicht ist er ein Schlafwandler. Oder er nimmt Drogen. Wir wissen doch nichts über ihn.« Chloe schnaubte und Pete verstummte, lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und gähnte. Dann ragte das Haus vor ihnen auf. Clark spürte, wie eisige Finger sein Rückgrat hinaufkrochen. Da war das eingeschlagene Fenster, das Ginger ihrer Mutter erklären musste. Und da war die Haustür... sie stand weit offen, wie ein zorniges, hungriges Maul. »Es ist so unheimlich hier«, murmelte Chloe. »Kann man wohl sagen«, stimmte Clark ihr zu. Pete drängte sich an ihnen. Lana verließ auf ihrer Seite den Truck und Joel war gerade auf der anderen Seite ausgestiegen und hielt Ginger wie ein Gentleman die Tür auf. Sie stieg aus und zuckte sichtlich zusammen, als sie zu dem Haus hinübersah. Dann flammten hinter ihnen Lichter auf... Autoscheinwerfer. Zwei Paar – wobei eins zu einem Streifenwagen des Sheriffs gehörte und hinter dem anderen Janice Brucker auftauchte, die gerade aus ihrem Jeep Cherokee ausstieg. Sie stürzte zu Ginger und fragte: »Geht es dir gut?«
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Clark verfolgte besorgt, wie Ginger zurückwich. Er sah den Schmerz auf ihrem Gesicht, hörte das Zögern in ihrer Stimme, als sie sagte: »Eigentlich nicht, Mom.« Dann rief der Deputy: »Dr. Brucker, Ma’am? Würden Sie bitte herüberkommen?« Sie wandte sich von Ginger ab und ging zu dem Sheriff, der vor dem Fenster stand, das Clark mit Brettern vernagelt hatte. »Es ist ein böser Traum«, murmelte Ginger. »Ich werde gleich aufwachen.« Lana trat zu ihr und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, aber ihre Augen blieben ernst. Alle waren nervös – Clark eingeschlossen. Der Deputy öffnete die Haustür. Janice Brucker folgte ihm hinein. »Nein«, stöhnte Ginger. »Mom, geh da nicht rein!« Er musste sie zurück auf die Veranda geschickt haben; sie trat wieder durch die Tür, während der Deputy das Haus durchsuchte. Clark verfolgte, wie er in jedem Zimmer Licht machte. Schließlich kam er wieder heraus und sprach ein paar Worte zu Gingers Mutter; und dann gingen die beiden zu Clark und den anderen. Der Deputy war ein junger Mann mit sandbraunen Haaren und Sommersprossen. Er sagte ruhig: »Ich weiß, dass es nachts auf dem Land unheimlich sein kann. Aber in Ihrem Haus scheint sich kein Einbrecher zu befinden.« Ginger öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und warf Clark einen Blick zu, der besagte: Es hat keinen Sinn, es ihnen zu erklären. »Ich habe deiner Mutter vorgeschlagen, dass ihr beide die Nacht am besten in einem Hotel verbringt, nur zur Beruhigung«, fuhr der Deputy fort. »Würdest du dich dadurch etwas besser fühlen?« »Oh ja«, stieß Ginger hervor. »Danke.« 169
Er schloss halb die Augen und lächelte zufrieden. »In Ordnung. Jetzt möchte ich, dass ihr jungen Leute nach Hause geht. Ich werde mich noch eine Weile in der Umgebung umschauen. Okay, Ginger?« »Das ist toll«, sagte sie erschöpft.
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9 SEHR ZU CHLOES ENTTÄUSCHUNG – es gab noch so viel zu besprechen! – fuhr Lana Clark nach Hause, während Joel Chloe und Pete begleitete, da ihre Häuser dicht beieinander lagen. Joel sah ein, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. »Auch wenn ich lieber in dem Maisfeld festsitzen würde«, sagte er, und Clark wusste, dass es kein Scherz war. Jetzt setzte Lana Clark ab. Sie hatte die ganze Fahrt über nicht viel gesprochen und sah müde und verängstigt aus. Sie versprachen einander, dass sie auf sich aufpassen und versuchen würden zu schlafen, dann betrat Clark sein Zuhause. Seine Eltern saßen in der Küche und warteten auf ihn. Seine Mutter trug ein Nachthemd und sein Vater hatte einen Bademantel über eine Jogginghose und ein T-Shirt gestreift. »Was war los?«, fragte seine Mutter beunruhigt. Clark zögerte. Als seine Mutter die Brauen hochzog, sagte er: »Ich... wir haben Joel gefunden.« Seine Eltern entspannten sich merklich. »Und im Welles-Haus ist etwas passiert. Wir haben...« Er errötete. »Wir haben eine Séance abgehalten. Und... na ja, einige Bücher sind von den Regalen geflogen. Und andere Dinge...« Er verstummte. Seine Eltern starrten ihn an. »Und du hast nicht daran gedacht, uns anzurufen?« Seine Wangen röteten sich. Okay, das wäre auch eine Möglichkeit gewesen... »Es tut mir Leid. Ich war zu beschäftigt.« Jonathan schien damit nicht zufrieden zu sein. Er sagte: »Wir unterhalten uns darüber auf dem Weg zum Truck.« Dann schnitt er eine Grimasse. »Allerdings ist der Wagen deiner Mom in der Werkstatt.«
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»Dad, ich werde ihn holen. Kein Problem.« Clark gähnte, im gleichen Moment merkte er, dass sein Vorschlag dadurch nicht gerade überzeugend wirkte. »Wir lassen den Truck bis morgen stehen«, sagte Jonathan widerwillig, »und ich werde mich von Nell oder Lana hinfahren lassen.« Er hob einen Finger, um Clarks Protest im Keim zu ersticken. »Es ist spät, und dort draußen gibt es offenbar zu viele bizarre Aktivitäten.« »Ganz meine Meinung«, stimmte seine Mutter zu. »Hört mal, gebt mir einfach das Handy mit, und ich werde anrufen, wenn es ein Problem gibt.« Martha schüttelte den Kopf. »Was ist, wenn dieser ›Geist‹ eine Art Energiefeld oder... oder Meteorit oder wer weiß was ist? Was ist, wenn er auf deine DNS programmiert ist und dich sucht?« »Mom, was für einen Film hast du dir mit Dad angesehen?«, fragte er sanft. »Akte X?« Sie seufzte, und er wusste, dass er sie ein wenig beruhigt hatte. »Außerdem möchte ich noch kurz nach Ginger und ihrer Mom sehen und mich vergewissern, dass es ihnen gut geht.« Jonathan öffnete den Mund, um zu protestieren. Clark sagte schnell: »Handy.« »Ich gebe zu Protokoll, dass ich dagegen bin«, sagte Martha. Sie ging zum Herd und schaltete die Platte unter dem Wasserkessel ein. »Und ich werde nicht zu Bett gehen, bis du sicher und gesund wieder zu Hause bist.« Sein Vater trat an den Küchenschrank und nahm eine Dose mit Teebeuteln heraus, während Martha gleichzeitig nach zwei Teetassen griff. Manchmal verhalten sie sich, als wären sie ein und dieselbe Person, dachte er. Ich frage mich, ob ich je eine derartige Beziehung haben werde. Das heißt, wenn ich überhaupt eine Frau finden kann, die auch dann noch mit mir zusammen sein 172
will, wenn sie erfährt, dass ich nicht... nicht aus dieser Gegend bin. »Ruf uns an, sobald du den Truck erreichst«, sagte Martha und kehrte an den Tisch zurück. Neben ihrem Stuhl lag ihre Handtasche auf dem Boden. Sie durchwühlte sie und zog ihr Handy heraus. Mit einem Kuss auf seine Wange gab sie es ihrem Sohn. »Ich werde vorsichtig sein«, versprach er erneut. Wieder rannte er schnell wie der Wind über die dunklen Straßen und blieb vor dem liegen gebliebenen Wagen stehen. Blitzschnell bockte er ihn auf und begann, den Reifen zu wechseln. Dann drehte er sich um und betrachtete das Maisfeld. Die Stauden rauschten im Wind; der Mond schien auf die schmalen Blätter und dicken Maiskolben und warf seltsame Schatten. Ein Käuzchen pfiff klagend, und aus dem Maisfeld drang ein Rascheln. Dann hörte er ein Knacken, als wäre jemand auf einen Zweig getreten. »Ist jemand da?«, rief er leise. Das Handy klingelte und ließ ihn zusammenzucken. »Hallo?« »Ich bin’s, Mom.« »Ich wollte dich gerade anrufen«, versicherte er, obwohl er es in Wahrheit vergessen hatte. »Ich bin schon dabei, den Ersatzreifen zu montieren. Er hat noch genug Profil«, fügte er in der Hoffnung hinzu, sie abzulenken. »Clark, Joel hat gerade angerufen«, sagte Martha. »Seine Freundin Holly ist verschwunden.« »Sie ist in Metropolis«, erwiderte er verwirrt. »Nein. Sie sind gestern zurückgekommen. Mrs. Pickering ist jetzt bei den Becks. Sie ist hinübergegangen, um zu fragen, ob Joel weiß, wo sie ist.« 173
»Ich werde sie suchen.« Er blickte hinaus aufs Maisfeld. »Nein. Ich will, dass du nach Hause kommst. Und zwar sofort. Nimm diesen Truck auf deinen Rücken, wenn es nötig sein sollte.« »Mom«, protestierte er. »Was ist, wenn sie hier draußen ist?« »Der Sheriff ist schon unterwegs.« Tatsächlich hörte er eine Sirene. Es war wahrscheinlich der Deputy, der das Welles-Haus durchsucht hatte. »Ich höre die Sirene«, sagte Martha in das Telefon. »Wechsle den Reifen auf die herkömmliche Weise und fahr nach Hause, Clark.« »In Ordnung, Mom.« Er beendete die Verbindung. Dann trat er an den Rand des Feldes. »Holly?«, rief er. »Bist du hier?« Nur das Rascheln des Mais antwortete ihm. Er machte ein paar weitere Schritte in Richtung des Feldes und hielt nach Joels Zauberbuch Ausschau. Und dann sah er etwas auf dem Boden liegen und bückte sich. Kerzen. Streichhölzer. Und... Er brach in Schweiß aus und sprang zurück. Meteoriten. Chloes Theorie, dass das unheimliche Geschehen mit den Meteoriten zusammenhängt, scheint offenbar richtig zu sein. Mit geschärften Sinnen wechselte er den Truckreifen. Der Deputy traf ein, überprüfte, wer er war, und durchsuchte dann das Maisfeld nach dem verschwundenen Mädchen. Janice und Ginger verbrachten die Nacht in einem Hotel im Stadtzentrum von Smallville. Beide schliefen unruhig. Gegen Morgen gaben sie sich geschlagen. Sie befanden sich zusammen im Hotelzimmer und konnten sich nicht aus dem Weg gehen. So wuchs die Spannung zwischen ihnen. Ihre Mutter schien sich größere Sorgen 174
darüber zu machen, dass Lex Luthor von Gingers neuem Freund »belästigt« worden war, indem er ihn zu Hause angerufen hatte, als über die Tatsache, dass etwas in ihrem Haus ihre Tochter zu Tode erschreckt hatte. Sie glaubt mir nicht, dachte Ginger. Sie denkt, dass ich mich mit einer Bande unreifer Teenager eingelassen und wir uns gegenseitig mit Geistergeschichten geängstigt haben. Das kränkte sie zutiefst. Ihre Mutter blieb weiter auf Distanz, und Ginger ertappte sich dabei, wie sie die Geschehnisse immer wieder in Gedanken durchspielte. Was ist, wenn es Daddy ist? Was ist, wenn Joel seine Energie mit seiner Magie in dieses Haus geleitet hat und sie von den Meteoriten verstärkt wurde? Was ist, wenn er mir sagen will, wie er gestorben ist? Ihre Fragen blieben ohne Antworten, während die Sonne aufging. Nach einer Weile eröffnete ihr Janice, dass sie ins Labor musste. Ginger versuchte zu verbergen, dass sie verletzt und gleichzeitig erleichtert war. Ihre Mom bot Ginger halbherzig an, dass sie »zu Hause« bleiben konnte, wenn sie das wollte. Doch Ginger machte einen anderen Vorschlag: Sie würde ein paar Stunden schlafen, dann in der Schule zu Mittag essen und den Nachmittagsunterricht besuchen. Ihre Mutter wirkte erleichtert, und Ginger entschied, nicht zu erwähnen, dass ihr die Schule im Moment völlig egal war. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter sich sorgte. Außerdem wollte sie mit den anderen über die Vorfälle der vergangenen Nacht reden. Es war acht Uhr morgens. Lex war schon seit Stunden wach. Er hatte bereits das hinter sich gebracht, was andere einen vollen Arbeitstag nennen würden, und dann mit seinem Privatcoach Ira trainiert, der wie gewöhnlich die 175
erstaunlichsten Schuhe trug. Der Mann war von zwei Dingen besessen: körperlicher Fitness und allen Sorten von Schuhen – Sportschuhe, Straßenschuhe, exotische Sandalen. Das faszinierte Lex. Gerade telefonierte er mit Clark, als auf der anderen Leitung ein Anruf von Janice Brucker einging. Er bat Clark, kurz zu warten, und nahm Janices Anruf entgegen. Beide wollten mit ihm über dieselbe Angelegenheit sprechen. »Meine Tochter hat sich gestern Nacht zu Tode geängstigt«, erzählte sie ihm. »Vermutlich war ein Einbrecher in dem Farmhaus. Wir haben die Nacht in einem Hotel verbracht.« »Ich weiß«, erwiderte Lex. »Das Büro des Sheriffs hat mich angerufen. Es tut mir schrecklich Leid.« Sein beruhigender Tonfall schien sie zu besänftigen. »Die Teenager, mit denen sie zusammen war, schienen überzeugt zu sein, dass... etwas im Haus herumspukt.« Ihre Stimme veränderte sich. »Vielleicht war es eine Art Partikelemission«, sagte sie abwesend. »Nun ja.« Dann riss sie sich zusammen. »Wir sind im Smallville Arms.« »Bitte bleiben Sie dort, so lange Sie wollen«, sagte Lex. »Wir werden eine andere Unterkunft für Sie finden.« »Gut. Dann ist da noch die Sache mit der Miete...« »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Ich werde Robin vom Maklerbüro anrufen und mich um alles kümmern.« Er lächelte in das Telefon und fügte hinzu: »Es tut mir schrecklich Leid, Janice, aber ich habe noch einen Anrufer auf der anderen Leitung. Was halten Sie davon, wenn wir zusammen zu Mittag essen und dabei alles besprechen?« »Das wäre schön.« Sie holte Luft. »Sie werden verstehen, wenn ich Ihnen sage, dass ich sehr gemischte Gefühle habe, was meine Stellung angeht.« »Natürlich. Ich wäre überrascht, wenn es anders wäre.« Er machte sich allerdings keine Sorgen, dass sie kündigen würde. 176
Er hatte sie durchschaut – sie war in erster Linie Wissenschaftlerin. Alles andere war für sie zweitrangig. Genau wie mein Vater. Er ist in erster Linie ein unbarmherziger Geschäftsmann. Dass er auch ein Mensch ist, spielt für ihn keine Rolle, dachte er grimmig. »Treffen wir uns doch in meinem Büro, sagen wir gegen Mittag«, fuhr er fort. »Dann können wir in Ruhe über diese... Partikelemissionsidee und alles andere sprechen, was Ihnen auf dem Herzen liegt.« Er wusste, dass die Erwähnung der Partikelemission einen Reiz auf sie ausübte, dem sie sich nicht entziehen konnte. »Einverstanden.« Als Lex das geklärt hatte, wandte er sich wieder Clark zu. »Okay, der Tisch hat sich also in die Luft erhoben«, sagte er, das Gespräch dort wieder aufnehmend, wo es unterbrochen worden war. »Und die Bücher sind von den Regalen geflogen. Da war dieses Klopfen. Habe ich die Schritte schon erwähnt?« »Das hast du. Und auch, dass Joel aus dem Maisfeld gerannt kam.« Er berührte seinen kahlen Kopf. Eine Menge seltsame Dinge erscheinen und verschwinden in den Maisfeldern von Smallville. Ob das irgendetwas mit der Partikelemission zu tun hat?, fragte er sich. »Ja. Und Pete sagte, du hättest all diese, äh, Geräte, um Geister aufzuspüren...« »Tatsächlich?« Lex nahm sich vor, in Zukunft vorsichtiger zu sein, wenn er in der Öffentlichkeit über geschäftliche Dinge sprach. »Er arbeitet für den Gouverneur, nicht wahr?« »Ja.« »Und du meinst, dass es in dem Haus, in dem der Gouverneur aufgewachsen ist, spukt?« »Irgendwas in der Art.« Clark zögerte. »Lex, irgendetwas geht dort vor. Etwas Seltsames.« 177
Lex überlegte. Gouverneur Welles bewirbt sich für die Wiederwahl und er ist ein Freund der Familie. Vielleicht gefällt ihm die Publicity einer Geisterjagd... sofern er keine Leiche im Keller hat... Wenn er Stillschweigen darüber bewahren will, ist es sowieso zu spät. Neuigkeiten verbreiten sich in Highschools schneller als der Blitz. Und wie ich Chloe Sullivan kenne, wird noch gestern ein Artikel in der Fackel darüber erscheinen. »Lex?«, drängte Clark. »Bist du noch dran?« Janice Brucker hat ein persönliches Interesse an der Untersuchung dieses Falles, überlegte er weiter. Ich sollte sie und Dr. Hamilton darauf ansetzen, bevor das Haus mit etwas Schlimmerem als Teenager und Séancen konfrontiert wird. »Okay, Clark, einverstanden«, sagte Lex unvermittelt. »Du kannst meine Stereoanlage haben.« Als eine Pause eintrat, fügte Lex hinzu: »Kleiner Scherz. Aber da wir beide keine Brüder haben, mit denen wir üben können, ist er ein wenig flach geraten.« »Danke, Lex«, sagte Clark erleichtert. »Dafür werde ich dich all meine Comics lesen lassen!« Jetzt grinste Lex. Clark hatte den Scherz also doch verstanden. Unterschätze niemals Clark Kent, dachte er. »Hör zu, Gingers Mutter ist sehr aufgebracht. Ich möchte, dass du ihre Tochter aus dieser Sache heraushältst.« »Okay. Natürlich. Es ist deine Ausrüstung«, versicherte Clark ihm. »Warum kommst du nicht nach der Schule in die Fabrik?«, schlug Lex vor. »Ich werde gleich in Metropolis anrufen und die Geräte aus dem Lagerhaus holen und hierher transportieren lassen.« »Das wäre toll. Aber ich muss zuerst meine Eltern fragen. Wie du weißt, habe ich diverse Arbeiten auf der Farm zu erledigen«, sagte Clark mit einer solchen 178
Selbstverständlichkeit, dass es Lex einen Stich versetzte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er seinem Vater jemals freiwillig erzählt hatte, was er mit seiner Zeit anfing, und er hatte Lionel Luthor erst recht nie gebeten, ihn von irgendwelchen Aufgaben zu entbinden. »Okay, Farmjunge«, scherzte Lex, seinen Neid verbergend. »Wir treffen uns in der Fabrik. Ich werde einen Besucherausweis für dich am Empfang hinterlegen.« Eine kurze Pause trat ein. »Nebenbei, ich habe meine gesamte Sicherheitsabteilung gefeuert. Niemand wird Dr. Brucker noch einmal über Nacht in ihrem Labor einsperren.« »Ich wusste, dass diese Kerle Ärger bekommen.« »Großen Ärger«, bestätigte Lex. Sie werden nie wieder für irgendeinen Sicherheitsdienst arbeiten, dachte er grimmig. »Das wäre damit geklärt«, sagte Lex, um zum Ende zu kommen. Er hätte gerne noch länger mit Clark geplaudert – aber er hatte eine Aufgabenliste, auf der nichts von einem Plauderstündchen stand. »Ja. Danke, Lex.« Clark beendete die Verbindung und lächelte Pete, Chloe und Lana an, die mit ihm vor dem Schuleingang standen. In der Smallville High wurden Drogen, Waffen, Pieper und Handys nicht toleriert. Chloe richtete ihren Daumen nach oben und Lana lächelte ihn unsicher an. Pete schien von den dreien am wenigsten begeistert zu sein, doch Clark konnte trotzdem erkennen, dass er so begierig wie die anderen darauf war, ein Teil des offiziellen Geisteruntersuchungsteams zu sein. »Ginger darf nicht mitmachen«, sagte Clark. »Sie hätte es wahrscheinlich sowieso nicht gewollt«, meinte Chloe. »Lex nimmt diese Sache also ernst.« »Ja«, bestätigte Clark.
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»Cool.« Chloe lächelte ihn an. »Wo wir gerade von Ginger sprechen. In etwa zwei Minuten fängt der Unterricht an, und von ihr keine Spur. Und Joel ist auch nicht aufgetaucht.« »Ich bin sicher, dass Joel am Rande des Nervenzusammenbruchs ist«, sagte Pete. »Und... oh, hallo Joel!« Joel, der gerade um die Ecke bog, fragte knapp: »Wo ist Ginger?« »Wir haben sie noch nicht gesehen«, informierte Lana ihn. »Aber ihr geht’s gut«, fügte Clark beruhigend hinzu. »Lex hat gerade mit ihrer Mom gesprochen. Über das Haus und...« Joel wandte sich ab und ging davon. Lana sah Clark besorgt an, als Chloe Joel nachrief: »Joel? Interview beim Mittagessen?« Er reagierte nicht. »Er ist nicht gerade der umgänglichste Typ«, murmelte Chloe. »Ach, lass ihn doch«, mahnte Lana, während sie der davongehenden Gestalt nachsah. Clark bemerkte, wie sie die herumwirbelnden Schüler betrachtete, und dachte: Kein Whitney. Nach ihm hält sie Ausschau. Aber er ist nicht hier. Ich schon. Wie gewöhnlich hatte er gemischte Gefühle gegenüber Whitney. Der Kerl hatte viele Probleme – einen kranken Dad und erst kürzlich sein Sportstipendium verloren – aber andererseits schien er seine Beziehung mit Lana für selbstverständlich zu halten. Ich würde das nie tun. Ich wäre der glücklichste Junge der Welt und würde sie auf Händen tragen, dachte er unglücklich. In diesem Moment richtete sie ihre großen dunklen Augen auf ihn und sagte: »Wir sollten alle in den Unterricht gehen.« Sie klang so traurig, dass der kleine Triumph, den er wegen 180
Whitneys Versagen als Freund empfunden hatte, im Nu verpuffte. Mit diesen Worten trennte sie sich von der Gruppe und ging davon. Clark blieb mit Chloe und Pete zurück. Chloe legte den Kopf zur Seite und sagte: »Whitney ist dämlich, nicht wahr, Clark?« »Anscheinend nicht dämlich genug«, erwiderte er. Sie lachte leise und sagte zu Pete: »Noch einmal Danke für den Tipp mit der Ausrüstung.« Er zuckte die Schultern. Offenbar war er hin und her gerissen, was den Plan anging. Nach der ersten Unterrichtsstunde hatte er Geschichte. Mr. Cox sagte Clark, er solle den Aufsatz vergessen und sich mit einer Sechs abfinden. Dann kam die Mittagspause. Ginger tauchte nicht auf. »Geisterjagd«, sagte Chloe, als sie sich an ihren Stammtisch setzten. »Lasst uns darüber reden.« Pete blickte skeptisch drein. »Das könnte aus meinem Kandidaten eine Witzfigur machen.« »Wenn jemand auf seine Kosten lachen möchte, muss er sich nur seine Umweltpolitik ansehen«, konterte Chloe. »He, der Gouverneur hat hart gearbeitet, um die Umwelt zu schützen«, sagte Pete. Chloe verdrehte die Augen. »Du plapperst doch nur die Parteipropaganda nach!« »Wir brauchen keine Parteipropaganda«, schoss Pete zurück. »Seine Leistungen sprechen für sich.« »In deinen Träumen vielleicht.« Sie stritten sich weiter. Aber Clark hörte nicht mehr hin. Er wurde von etwas anderem abgelenkt. Auf der anderen Seite der Cafeteria hatte Lana beide Arme um Whitney gelegt. Der glückliche Ausdruck auf ihrem Gesicht machte es noch schöner, als es ohnehin schon war. Diese Wahl werde ich nie gewinnen, dachte er verzweifelt. 181
Clark erledigte seine Aufgaben zu Hause in Windeseile, durfte deswegen früher gehen und fuhr mit dem Truck zur LuthorCorp. Dort bekam er seinen Ausweis, und Lex fragte ihn, ob er sich Dr. Bruckers Labor ansehen wollte, während seine Kuriere die Geisterdetektorausrüstung aus dem Kurierwagen der LuthorCorp luden. Daran war Clark sehr interessiert, und Lex führte ihn durch ein Labyrinth steriler Korridore in ein modern ausgestattetes Laboratorium. »Wow, das sind ja komplizierte Maschinen«, staunte Clark, von der Einrichtung des Labors beeindruckt. »Du siehst eine einzigartige Kombination aus Partikelbeschleunigern, Ionenimplantoren, Zyklotronen und Betatronen, die von einer Software zu einem großen Isotopensimulator zusammengeschaltet werden«, erklärte ihm Dr. Brucker. »Oder, um es für das Laienpublikum verständlicher zu machen, wir haben hier coole Sachen im Wert von mehreren Millionen Dollar«, sagte Lex lächelnd. »All dieses Zeug... es soll dieselbe Art Strahlung erzeugen, die von den Meteoriten ausgeht?« Clark verzog bei dem Gedanken das Gesicht. »Haben wir nicht schon genug Meteoriten in Smallville? Vielleicht sogar ein paar zu viel?« Lex lachte leise. »Ich will herausfinden, warum sie diese seltsamen Auswirkungen haben, Clark. Um sie zu neutralisieren, wenn ich kann. Oder sie vielleicht für einen guten Zweck zu nutzen.« »Besser gesagt: Für das, was du als gut empfindest«, sagte Clark. »Genau!« »Okay, wir müssen alle hinter die Abschirmung treten«, erklärte Dr. Hamilton. »Wir überprüfen jetzt die Strahlungskondensatoren.« 182
Janice Brucker sah plötzlich sehr blass aus. Sie sagte: »Nicht solange... Leute im Raum sind, die mit dem Projekt nichts zu tun haben!« Sie hat Angst, erkannte Clark. Vielleicht ist bei einem solchen Versuch ihr Mann getötet worden... »Ich würde gern bleiben«, sagte Lex. »Ich bestehe darauf.« Sie sah ihn ruhig an und fügte, als Dr. Hamilton vorbeiging, um die Messwerte auf dem Hauptmonitor zu überprüfen, fast unhörbar hinzu: »Denken Sie an das, was wir besprochen haben.« »Sicherungen.« Er nickte und klopfte Clark auf die Schulter. »Das ist unser Stichwort. Ich habe Dr. Brucker versprochen, dass ich vorsichtig mit diesem Zeug umgehen werde.« Er lächelte sie an. »Dass wir alle vorsichtig sein werden.« Sie erwiderte standhaft seinen Blick, aber nicht sein Lächeln. Kein Wunder, dass Ginger Angst hatte, sie wütend zu machen. Sie ist eine harte Frau, ging es Clark durch den Kopf. Er folgte Lex aus dem Labor in den Korridor. Lex zog ihn beiseite und sagte: »Wir haben heute zusammen zu Mittag gegessen. Sie macht sich große Sorgen wegen dem, was in Smallville vor sich geht. Und in diesem Haus.« Er grinste matt und fügte hinzu: »Sie hat außerdem erwähnt, dass ihre Tochter auf dich ›steht‹.« Clark errötete. »Das liegt wohl am exotischen Flair des Farmlebens.« Lex schüttelte den Kopf. »In dir steckt eine ganze Menge, Clark. Wenn du dich nur nicht selbst blockieren würdest. Lana ist nicht das einzige Mädchen auf der Welt. Ginger ist sehr süß. Und sie muss mindestens so klug sein wie ihre Mom... sonst hätte sie nicht sofort ein Auge auf dich geworfen.« »Zu schade, dass Dr. Brucker zu alt für dich ist«, konterte Clark in dem Versuch, Lex zu necken. Lex zuckte gleichmütig die Schultern. »Sie ist nicht zu alt.« Clark öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. 183
Da wurde ihr Gespräch jäh von einer donnernden Explosion im Labor unterbrochen. Sie erschütterte die Wände des Korridors. Der Boden schwankte. Rote Lichter flammten auf und Alarmsirenen heulten. Die Freunde zögerten nicht, sie wirbelten herum und rannten zurück zum Labor. Clark musste sich beherrschen, um nicht auf Supergeschwindigkeit zu beschleunigen; dies war ein öffentlicher Ort und Lex ein Augenzeuge. So gab er sich damit zufrieden, mit Lex Schritt zu halten. Eine Gruppe von Wachmännern stieß zu ihnen, als Lex den Türkode in einen Monitor eingab. Als die Tür aufglitt, versperrte einer der Männer Lex den Weg und sagte: »Sie können nicht reingehen, Sir, bis wir uns vergewissert haben, dass keine Gefahr droht.« »Aus dem Weg!«, schrie Lex. In dem allgemeinen Durcheinander rannte Clark an den Wachmännern vorbei in das Labor. Hier herrschte ein einziges Chaos. Dr. Brucker und Dr. Hamilton lagen auf dem Boden; irgendetwas rauchte und der Raum... Clark taumelte und fiel hin. Der Raum war von einem schwachen grünen Leuchten erfüllt... und er spürte die Auswirkungen. Er keuchte vor Schmerz auf, konnte sich kaum bewegen oder atmen. »Strahlungsleck«, brachte Dr. Brucker hervor. Clark kroch zu ihr und zog sie an sich. Dann, mit ungeheurer Mühe, warf er sie wie ein Feuerwehrmann über die Schulter und richtete sich schwankend auf. So schnell er konnte – was ganz und gar nicht schnell war – stolperte er zur Tür, wo sich Lex mit einem Wachmann stritt. Seine Kollegen rannten an Clark vorbei zu Dr. Hamilton, der versuchte, auf die Beine zu kommen. »Clark«, sagte Lex. »Mein Gott.«
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Schweiß rann über Clarks Gesicht. Lex nahm ihm Dr. Brucker ab und schrie: »Wir brauchen sofort einen Arzt!« Von seiner Last befreit, lehnte sich Clark an die Wand. »Ich bin okay«, sagte er zu Lex. »Mir ist nichts passiert.« Aber als Dr. Brucker und Dr. Hamilton weggetragen wurden, begleitet von mindestens sechs oder sieben Ärzten und Sanitätern, hielten der Schmerz und die Schwäche an. Sie hielten auch noch an, als Lex ihn in einen Rollstuhl setzte und nach draußen brachte. Clark war alarmiert. Was ist, wenn ich einen dauerhaften Schaden davontrage?, fragte er sich. Was ist, wenn ich der Strahlung jetzt so oft ausgesetzt gewesen bin, dass ich mich nicht mehr hundertprozentig erhole?
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10 AM NÄCHSTEN MORGEN SPÜRTE CLARK die Auswirkungen noch immer. Seine Fähigkeiten waren ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen worden. Seine Kraft war nur etwas größer als die eines normal starken Mannes, und was die Schnelligkeit anging – momentan würde er sicherlich keinen Rekord aufstellen. »Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, zum Footballteam zu stoßen«, sagte er beim Frühstück betont scherzhaft zu seinem Vater. Dieser bemühte sich tapfer, auf Clarks Tonfall einzugehen. »Wenn das bis zum Sommertraining anhält, bekommst du meinen Segen.« Aber man sah und hörte ihm an, dass er sich Sorgen um Clark machte. Nach dem Frühstück warteten seine alltäglichen Aufgaben auf ihn. Clark erledigte sie langsam und unter großen Anstrengungen, bis schließlich sein Vater aufs Feld kam, wo er gerade dabei war, einen Zaun zu reparieren, und ihn anwies, sich für die Schule fertig zu machen. Auf dem Weg zur Dusche bekam er mit, wie sich seine Eltern über ihn unterhielten. Sie waren in ihrem Schlafzimmer und die Tür stand einen Spalt weit offen. Obwohl sie leise redeten, konnte Clark jedes Wort verstehen, und schockiert bemerkte er, dass seine Mutter weinte. »Was ist mit ihm passiert, Jonathan? Er sieht schrecklich aus. Was ist, wenn seine Kräfte nicht mehr zurückkehren? Was ist, wenn es etwas noch Schlimmeres bedeutet?« Schlimmeres?, fragte sich Clark. Was könnte schlimmer sein? »Er wird sich schon wieder erholen«, erwiderte Jonathan. Aber er klang nicht sehr überzeugt. »Es liegt bloß an diesen
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verdammten Meteoriten. Wer weiß, was Lex Luthor in dieser Düngemittelfabrik treibt.« »Ich habe Angst.« Die Worte seiner Mutter klangen gedämpft; Clark vermutete, dass sie sich an Jonathans Brust schmiegte und er seine Arme um sie gelegt hatte. »Ich auch.« Jonathan sprach ebenfalls leise. Dann schwiegen sie. Voller Furcht ging Clark ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Er sah tatsächlich schrecklich aus. Seine Haut war wie von einem Sonnenbrand gerötet und seine Wangen eingefallen. Seine Augen waren blutunterlaufen. Wenn er sich früher aus der Reichweite eines Meteoriten entfernt hatte, waren seine Auswirkungen auf ihn unmittelbar danach verschwunden. Diesmal war es nicht der Fall. Er inspizierte sein Gesicht im Spiegel. Was geschieht mit mir? Hat es etwas mit dem Maisfeld und dem Haus zu tun? Sterbe ich? Vielleicht kann Dr. Brucker mir helfen, wenn sie mehr über die Meteoritenstrahlung herausfindet. Soll ich es wagen, ihr die Wahrheit über mich zu erzählen? Wenn ich dadurch mein Leben retten kann? Joel verließ die Schule. Er wanderte durch die Straßen der Innenstadt, erstaunt, dass, nach allem, was ihm passiert war, und nach Hollys Verschwinden das Leben seinen gewohnten Gang nahm. An jedem Schaufenster müsste ein Steckbrief mit ihrem Foto hängen, dachte er. Das Büro des Sheriffs müsste überall nach ihr suchen. Er ging ins Talon zum Münztelefon und rief erneut Hollys Mutter an. Sie war verzweifelt. »Der Sheriff will erst dann etwas unternehmen, wenn sie noch einen weiteren Tag verschwunden bleibt«, berichtete sie ihm. 187
»Ich werde sie finden«, versprach er ihr. »Verlassen Sie sich darauf.« Als er Platz nahm, kam Ginger Brucker durch die Tür. Sie sah genauso aufgelöst aus wie er. Er winkte ihr zu und sie setzte sich an seinen Tisch. »He«, sagte sie knapp. Sie wirkte müde. »Schlechte Nacht gehabt. Ich weiß nicht, ob ich heute zur Schule gehe. Ich kann es einfach nicht ertragen.« Sie legte den Kopf zur Seite. »Wie ist es mit deinem Dad gelaufen?« Joel schluckte. »Er faselte was davon, dass ich mich nicht mit einer ›kleinen Spinnerin‹ einlassen, sondern mir eine Freundin in meinem Alter suchen sollte. Er hat außerdem Karen – das ist Hollys Mom – gesagt, dass er sie verklagen wird, wenn sie mich noch einmal bei ihr übernachten lässt, ohne ihn zu informieren.« Er schnitt eine Grimasse. »Wegen was er sie verklagen will, weiß ich nicht. Wahrscheinlich weiß er es selbst nicht. Er war betrunken, als er es sagte. Natürlich.« »Oh, das tut mir schrecklich Leid.« »Holly ist nicht meine feste Freundin«, erklärte er. »Wir sind schon seit unserer Kindheit befreundet. Ich mochte sie, weil sie als Einzige zu mir aufblickte. Dann wurde sie ein Grufti, und eine Weile war es mir peinlich, mit ihr gesehen zu werden.« Er sah traurig aus. »Aber dann wurde mir klar, dass mit mir ohnehin niemand befreundet sein wollte.« Er lachte. »Ich jammere.« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das sehr gut. Und... ich bin froh, dass du mir diese Dinge erzählst.« Er lächelte sie dankbar an. »Holly war immer für mich da.« Seine Stimme bebte. »Ich konnte immer zu ihr gehen, wenn ich Streit mit meinem Dad hatte.« Er sank erschöpft in sich zusammen. »Ich würde gern zu dem Feld zurückkehren und sehen, ob ich sie finden kann. Aber...« Seine Miene verdüsterte sich. »Ich habe Angst, Ginger.« Sie sahen sich an. 188
Ginger nickte. »Auch das kann ich gut verstehen. Ich habe ebenfalls Angst. Aber...« Sie straffte ihre Schultern. »Ich werde mit dir gehen, wenn du willst.« Er musterte sie. »Zum Maisfeld? Das würdest du tun?« »Ja.« Beide standen gleichzeitig auf. Joel griff nach seiner Brieftasche und legte das Geld für die Tasse Kaffee, die er nicht angerührt hatte, auf den Tisch. Da keiner von ihnen ein Auto hatte, fuhren sie mit dem Bus zu dem Feld. Kurze Zeit später standen sie auf der Landstraße. Es ist, als würde es auf uns warten, dachte Joel beklommen. Er nahm Gingers Hand. Sie ließ es zu. Es war später Nachmittag; die Schatten, die der Mais warf, wurden länger, Joel war völlig verspannt; er sagte: »Ich will, dass du hier wartest.« »Auf keinen Fall!« Sie hob ihr Kinn. »Ich gehe mit dir, Joel.« Er seufzte, und sie schüttelte den Kopf. Sie würde mitkommen. Sie überquerten die Straße und umgingen die Risse im Boden, die vom Regen und Schnee entstanden waren. Die Reihen der Stauden neigten sich und wogten wie das Weizenfeld hinter Gingers Haus an dem Tag, als sie den kleinen Jungen und den Farmer gezeichnet hatte. Joel ging langsam auf den Rand des Feldes zu, ließ Gingers Hand los und bedeutete ihr mit einem Wink, hinter ihm zu bleiben. Sie war gerührt. Er befeuchtete seine Lippen und rief leise: »Holly?« Nur das rhythmische Wogen der Stauden antwortete, aber während sie schweigend dastanden, bekam Ginger eine Gänsehaut. Als würden sie leben. 189
Als würden sie atmen. Ginger wollte weg von hier, aber sie wollte auch nicht, dass Joel glaubte, das Schicksal seiner Freundin wäre ihr egal, und so sagte sie: »Ich glaube, hier ist niemand.« Joel betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die wogenden Stauden. Dann zeigte er nach unten. Im Gras vor seinen Füßen lagen schwarze Kerzenstummel und einige Meteoriten. »Sie war hier«, sagte er. Dann drehte er sich zu ihr um und erklärte: »Ich werde sie zurückholen, Ginger. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.« »Ich werde dir helfen«, versprach sie. Er sah auf sie hinunter – er war viel größer als sie –, und sie spürte ein Prickeln vom Kopf bis zu den Zehen. Er murmelte: »Du bist sehr mutig... und süß.« »Ich bin nur ich«, flüsterte sie kaum hörbar. »Ich... ich mag dich, wie du bist!« Ihr Gesicht brannte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte... sie mochte diesen Jungen ebenfalls. Und ich dachte, ich würde auf Clark Kent stehen. Aber Joel ist für mich da. Und er mag mich auch. »Wir sollten von hier verschwinden«, sagte Joel. »Schauen wir mal bei Hollys Mom vorbei. Ich bin sicher, dass sie etwas Gesellschaft gebrauchen kann.« »Okay.« Sie hielten sich an den Händen, als sie sich von dem Maisfeld entfernten. Dann fuhr ein Auto an ihnen vorbei. Joel konnte es nicht richtig erkennen; aber es hielt am Straßenrand an und der Fahrer hupte kurz. Joel und Ginger liefen hin. Es war Chloe. Durch das offene Beifahrerfenster sagte sie: »Äh, ich dachte, ihr würdet nicht kommen.« Die beiden sahen sie an. Joel fragte: »Wohin?« 190
»Ups.« Chloe biss sich auf die Lippe. »Nicht weiter wichtig. Ich muss los.« Aber so einfach ließen sie sich nicht abspeisen. Die letzten Strahlen der Sonne verblassten auf den grünen Feldern rund um das Welles-Farmhaus. In den Schatten trafen die Geisterjäger ihre letzten Vorbereitungen. Clark, Lana und Pete saßen auf den leeren Kisten, in denen die Ausrüstung, die Lex ihnen geschickt hatte, verstaut gewesen war. Sie hatten die Kisten draußen aufgestellt, denn sie wollten das Basislager außerhalb der Gefahrenzone errichten. Lex hatte einen Zettel beigelegt, auf dem stand: »Behaltet alles so lange, wie ihr wollt, und viel Glück.« Die letzte Stunde hatten sie damit verbracht, die Ausrüstung auszupacken, die Bedienungsanleitungen zu lesen und sich auf das Hauptereignis vorzubereiten. Obwohl Ginger auch schon tagsüber die paranormalen Aktivitäten bemerkt hatte, stand in allen Handbüchern, die sie zusammen mit der Ausrüstung erhalten hatten, dass es besser war, nachts auf Geisterjagd zu gehen. Chloe war bei ihren Nachforschungen zu demselben Schluss gelangt. Die Technologie war im Konzept nicht revolutionär, aber ihre Anwendung grenzte an Genialität. Zu den traditionellen Geisterjagdwerkzeugen gehörten Kameras, Tonbandgeräte, Thermometer und elektromagnetische Feld- oder EMDetektoren. Sie wurden alle eingesetzt, um die Präsenz eines Geistes zu registrieren, indem sie seine Energie oder die Veränderungen maßen, die er in seiner Umgebung erzeugte. Die Techniker der LuthorCorp hatten Systeme gebaut, die viele Funktionen dieser Geräte kombinierten, und sie zusammengeschaltet. Die Einheiten sahen sehr surrealistisch und futuristisch aus, und jedes Stück war mit dem LuthorCorpLogo versehen.
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Zunächst einmal waren da die Sensoreinheiten. Es handelte sich um kleine, eiförmige Geräte – Breitbandsensoren für Hitze, Bewegung und elektromagnetische Felder. Eine LaptopBasisstation sammelte alle Informationen über ein drahtloses Funknetzwerk. Die Daten wurden dann mit einer speziellen Übertragungssoftware verarbeitet, die ein dreidimensionales, auf den GPS-Positionen der ferngesteuerten Einheiten basierendes Gitter erzeugte, um die paranormalen Aktivitäten räumlich darzustellen. Die Software konnte so programmiert werden, dass sie die Daten der einzelnen Sensoren anzeigte. Das gesamte System konnte zwölf Stunden laufen, ohne in dieser Zeit aufgeladen werden zu müssen. Außer der Basisstation und den Sensoreinheiten gab es zwei tragbare Lokatoreinheiten. Sie waren mit kleinen Flachbildschirmen ausgerüstet, auf denen die Daten des Laptops übertragen wurden, sodass ein Geisterjäger seine Position im Verhältnis zu den anderen Datenquellen bestimmen konnte. Sie duplizierten nicht nur die Funktionen der Sensoreinheiten, sondern verfügten auch über hoch empfindliche EM-Detektoren, die selbst schwache elektrische Felder von drei Volt pro Meter registrieren konnten – sie spürten sogar die meisten Lebewesen hinter einer Wand auf. Zwei-Wege-Funkgeräte verbanden die Basisstation mit den Lokatoroperatoren und die Operatoren miteinander. Nun kam die Probe. Pete ging tapfer ins Haus, während die anderen draußen blieben. Da er das Ganze hier nicht selbst erlebt hatte, empfand er keine Angst. Im Gegensatz zu den anderen. »Es funktioniert«, erklärte Clark kurz darauf. Er konnte Pete durch die Wand orten. Aber als Clark an der Reihe war und er, nicht ganz so tapfer, hineinging, konnte Pete ihn nicht lokalisieren, was Clark ziemlich nervös machte, da er anscheinend von den 192
wissenschaftlichen Instrumenten nicht erfasst wurde. Pete schien sein Unbehagen nicht zu bemerken; er war zu sehr damit beschäftigt, die Bedienungsanleitungen zu lesen, um herauszufinden, warum es nicht funktionierte. »Hier steht, dass eine Person manchmal keine elektrische Ladung hat«, erklärte Pete, während er umblätterte. »Du musst deine Schuhe an dem Teppich reiben, Clark.« Das löste sein Problem. »Cool! Es ist, als könnte ich durch die Wand sehen!« Clark lächelte matt. Wenn du wüsstest, Pete, dachte Clark bei sich. Das Prinzip hinter dem Einsatz der EM-Detektoren war, dass jede messbare physikalische Manifestation Energie benötigte – sogar die bloße Bewegung der Luft. Die EM-Detektoren konnten sie registrieren und bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen, selbst wenn sie vom menschlichen Auge nicht wahrgenommen werden konnte. Die tragbaren Lokatoreinheiten waren für den Einsatz in Gebieten ohne Sensoren entwickelt worden. Zwei Jäger, die mit ihnen ausgerüstet waren, konnten sich von der Basisstation entfernen und die Position der Energiequelle berechnen, wenn sie das überwachte Gebiet verließ. Die Einheiten waren lange, mit Pistolengriffen ausgestattete Stäbe aus poliertem Chrom, die über schwarze Kabel mit Rucksäcken verbunden waren. Der Rucksack enthielt die Batterien, die Sender und einen Teleskoparm, an dem der Flachbildschirm befestigt war. Der Arm ragte nach vorn, sodass der Benutzer im Gehen die Messwerte lesen konnte. Aus rätselhaften Gründen konnten die Lokatoreinheiten auch ionisierte Strahlung orten. Außer der Geisterjagdausrüstung hatte Lex ihnen mehrere Taschenlampen und zusätzliche Walkie-Talkies geschickt, damit sie miteinander in Verbindung bleiben konnten.
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Lana hatte die Vermutung geäußert, dass die LuthorCorp die Geräte entwickelt hatte, um Geister in Atomkraftwerken aufzuspüren. »Warum hätten sie sonst einen Geigerzähler eingebaut?«, scherzte sie und warf ihre Haare zurück. »Lana, was auch immer ihre Gründe gewesen sind, es war nett von Lex, uns die Geräte zu leihen«, hatte Clark geantwortet, als er sich wieder zu den anderen im Vorgarten gesellte. Pete verdrehte die Augen. »Du versuchst dauernd, die gute Seite der Luthors zu sehen, Clark. Nicht mehr lange, und du wirst ihnen einen Heiligenschein verpassen.« Dann hellte sich seine Miene auf, als er erneut die Geräte betrachtete. »He, Leute, ich kann nicht abstreiten, dass es cool ist. Wir sind Geisterjäger. Ghostbusters!« Pete hatte Recht. Die Geräte erinnerten an die Ausrüstung, die in dem Film verwendet wurde. Clark hatte ihn vor Jahren zusammen mit Pete gesehen, als er einmal die Nacht im Haus seines Freundes verbracht hatte. Er und Pete hatten stundenlang gespielt und so getan, als würden sie Geister jagen. Sie hatten sich so in die Sache hineingesteigert, dass sie Angst gehabt hatten einzuschlafen. Petes Mom und ein Anruf von seiner eigenen Mom waren nötig gewesen, um sie wieder zu beruhigen. »Es gibt keine Geister, Clark«, hatte seine Mutter zu ihm gesagt. »Und jetzt geh schlafen.« Nach der vergangenen Nacht hatte Clark allen Grund, anders darüber zu denken – zumindest hier gab es offensichtlich welche. Dann tauchte Chloes Wagen auf, und Clark war überrascht, Ginger und Joel im Wageninneren zu sehen. Die drei stiegen aus und Chloe sagte entschuldigend: »Ich habe zwei Anhalter aufgegabelt. Buchstäblich.« »Chloe hat uns erzählt, was ihr vorhabt«, erklärte Joel. »Wir sind dabei.« 194
Clark schüttelte den Kopf. »Ich habe Lex versprochen...« Lana kam zu ihnen herüber. »Es wird ein wenig kühl. Ich habe etwas Kaffee aus dem Talon mitgebracht. Möchte vielleicht jemand eine Tasse?« »Das ist klasse«, lobte Ginger. »Ich nehme eine.« »Ich habe auch Buttergebäck. Und Maismuffins«, fuhr Lana lächelnd fort und zeigte dabei ihre Grübchen. »Natürlich müssen wir irgendetwas aus Mais haben. Schließlich leben wir in der Welthauptstadt des Mais.« Ginger und Joel wechselten einen Blick, den Clark nicht einordnen konnte. Er versuchte, sich auf die Bedienung der Lokatoreinheit zu konzentrieren, aber er musste immer wieder bewundernd zu Lana hinüberblicken, die Ginger Kaffee einschenkte und das Gebäck aus einem Korb nahm, den sie wie die Kanne aus ihrem Café mitgebracht hatte. Das Team traf die letzten Vorbereitungen: Sie aktivierten die Sensoren und schulterten die Rucksäcke. Clark und Pete trugen die schweren Lokatoreinheiten, während Chloe wie selbstverständlich die Bedienung der Basisstation übernommen hatte. »Ich kann mit dem Computer am besten umgehen«, sagte sie dazu. Lana, Ginger und Joel bildeten das Unterstützungsteam. Wenn irgendetwas schief ging, würde einer von ihnen Hilfe herbeirufen. Sie würden außerdem Hilfe holen, wenn jemand verschwand oder verletzt wurde. Die Sensoreinheiten, die Zwei-Wege-Funkgeräte und die eingebauten GPS-Transponder in den Lokatoren stellten jedoch sicher, dass niemand plötzlich verschwinden konnte. Auch Whitney hatte ursprünglich versprochen, ihnen zu helfen, aber er musste im Kaufhaus seines Dads bei der Inventur mitarbeiten. Die Mattigkeit, die Clark seit dem Unfall plagte, war noch immer nicht verschwunden. Auch sein Sonnenbrand war nach 195
wie vor da. Das hatte seine Mutter sehr beunruhigt, die im Web nach Informationen über die Auswirkungen von Strahlen gesucht hatte. Sein Röntgenblick hingegen funktionierte noch und seine Wahrnehmung war nach wie vor superschnell, doch seine Schnelligkeit war noch nicht zurückgekehrt. Seine Stärke betrug lediglich die Hälfte des normalen Wertes. »Also Clark, tun wir’s«, befahl Chloe vom Basislager aus. In Gedanken versunken hatte Clark nicht bemerkt, dass die letzten Sonnenstrahlen auf den Maisfeldern erloschen waren. Es war Zeit für die Geisterjagd. Zwei Stunden später hatte sich noch immer nichts getan. Clark und Pete gingen zum wiederholten Male um das Haus herum und spielten mit den LED-Taschenlampen, die Lex ihnen geliehen hatte. Die Luxeon Star II-LEDs waren strahlend hell und die beiden Jungen hatten ihren Spaß damit, die Umgebung des Hauses auszuleuchten. Über Kopfhörer gab Chloe erneut die Information durch: »Temperaturwerte der Einheit Eins sind normal. Keine Bewegungen, die Aurasensoren registrieren nichts.« Chloe schwieg einen Moment. »Clark, sag mir bitte, dass ich nicht verrückt bin. Wir haben doch gesehen, was wir gesehen haben, nicht wahr?« Lana und Ginger mischten sich ein. »Wir alle waren Zeugen«, versicherte Ginger. »Keine Frage«, stimmte Lana zu. Clark warf ein: »Wenn du verrückt bist, Chloe, dann sind wir es alle.« Joel fügte hinzu: »Glaubt mir, nach dem, was ich in dem Maisfeld erlebt habe, halte ich alles für möglich. Selbst über ein UFO würde ich mich nicht mehr wundern.« Clark richtete die LED-Lampe auf die Sterne und verfolgte, wie ihr bläulicher Strahl den Nachthimmel zerschnitt. Seitdem er erfahren hatte, dass er von seinen »Eltern« in einem 196
Raumschiff gefunden worden war, hatte auch er keine Probleme mehr damit, an Ufos zu glauben. Er fragte sich, ob es ihm je gelingen würde, die Aufschrift auf dem winzigen Raumschiff im Sturmkeller der Farm zu übersetzen und herauszufinden, von welchem Stern er gekommen war. Und warum. Nach einer kurzen Pause ergriff Chloe wieder das Wort. »Es sieht ganz so aus, als hätte Lex an der Ausrüstung gespart, Leute. Eine der Sensoreinheiten funktioniert nicht. Ob es an den Batterien liegt?« Clark war verwirrt. Er hatte die leistungsstarken NickelMetallhydrid-Batterien an diesem Nachmittag mit einem ultraschnellen Ladegerät aufgeladen, bevor sie die Einheiten aufgestellt hatten. Er trat näher und sah ihr über die Schulter. »Welche Einheit ist es?« Sie wies auf den Schirm. »Nummer sieben.« Clark warf einen Blick auf die Flachbildschirmanzeigen und identifizierte den fehlenden Punkt in dem Gitter. Nummer sieben befand sich oben im Dachboden, im zweiten Stock. Er blickte an dem Haus hoch und richtete seine Augen auf den zweiten Stock. Sein Röntgenblick zeigte ihm die Sensoreinheit, genau wie er sie zurückgelassen hatte. Dann sah er es: Die kleine Klappe an der Rückseite war offen und die Batterie fehlte. Mist! Er überprüfte die nähere Umgebung und sah die Batterie auf der anderen Seite des Raumes auf dem Boden liegen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie dorthin gelangt war. »Ich gehe nach oben und schaue nach«, sagte er und ging entschlossen auf die Haustür zu. »Du willst allein nach oben?«, fragte Lana entsetzt. 197
»Ich komme schon klar, Lana«, erwiderte er. »Mach dir keine Sorgen.« »Ich begleite dich«, bot Joel an. Mutig, dachte Clark beeindruckt. Nach allem, was er durchgemacht hat, ist es erstaunlich, dass er überhaupt hier ist. Aber auch noch mit mir nach oben zu gehen... »Es ist okay«, wehrte er ab. »Bleib besser bei Ginger und Lana, okay?« Clark stieg langsam die Treppe hinauf. All seine Sinne waren geschärft. Er überprüfte die Werte auf dem Flachbildschirm und bewegte beim Gehen den Detektorstab hin und her. Immer noch nichts. Aber etwas musste die Batterie herausgenommen haben. Wieder spähte er mit seinem Röntgenblick nach oben. Keine Spur von dem grünen Schleim, den er beim letzten Mal gesehen hatte. So weit, so gut. Er ging weiter. Die Stufen der Treppe knarrten, als er den ersten Stock passierte. Das Haus war hier oben weniger gut gepflegt, und dem alten Holz war sein Alter deutlich anzusehen. Das Haus war die perfekte Kulisse für einen Horrorfilm. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für solche Gedanken, wies er sich zurecht. Wahrscheinlich wäre er nicht so besorgt gewesen, wenn ihn die Laborstrahlung nicht geschwächt hätte. Endlich erreichte er die Tür am Ende der Treppe und drehte den Knauf. Noch ehe er sie ganz geöffnet hatte, spürte er, wie er in den Raum gezogen wurde. Dann schlug die Tür zu und das Schloss rastete ein. Panik durchströmte ihn. Chloe empfing die Messwerte seines Lokators. »Clark, es sieht so aus, als wäre irgendetwas bei dir! Alles in Ordnung mit dir?« 198
Er wurde zu Boden gedrückt... oder er hatte einen weiteren Teil seiner Kraft eingebüßt. Während er versuchte, seine Furcht niederzuringen, verlangsamte sich die Zeit wie gewöhnlich, aber diesmal wurde er mit ihr langsamer. Er hatte das Gefühl, als würde er in einem Morast feststecken. Jede noch so kleine Bewegung fiel ihm schwer. »Clark? Clark?« Lana rief nach ihm, oder war es Ginger? Er wusste es nicht genau. Die Furcht steckte so tief in seinen Knochen, dass er eine Sekunde lang nicht sprechen konnte. »Die Messwerte sprengen die Skala«, schrie Chloe aufgeregt. »Pete, du musst ihm helfen!« »Ich komme mit!«, bot Joel an. War es ein Geist?, fragte sich Clark benommen. Was immer es auch war, es hatte jedenfalls die gleiche Wirkung auf ihn wie die Meteoriten. Clark wurde mit jeder Sekunde schwächer. Schmerz durchzuckte ihn, und er brach in Schweiß aus. Dann packte ihn etwas von hinten und warf ihn gegen die Wand. Seltsamerweise fühlte er sich sofort besser. Es ist weg. Was auch immer hier war, es ist verschwunden, dachte er und atmete auf. Er stellte fest, dass er relativ unversehrt war, und konnte endlich wieder sprechen. »Hier war irgendetwas. Aber mir ist nichts passiert.« Chloe antwortete. »Es scheint die Treppe herunterzukommen. Gerade hat es die Sensoren sechs und fünf passiert.« »Pass auf, Pete! Aaaaah!« Das war Lanas Stimme. Clark lief zur Tür und rüttelte daran. Sofort zog er seine Hand wieder zurück. Die Erscheinung – oder was auch immer es gewesen war – hatte etwas an dem Türknauf hinterlassen. Es war schleimig und brannte wie ein Meteorit, als er es berührte. 199
Er wischte seine Hand an der Wand ab und suchte nach einem anderen Ausweg. Er musste hier irgendwie herauskommen! »Es hat mich gerade gestoßen!«, schrie Pete. Clark rannte zum Mansardenfenster an der Seite des Hauses und riss es auf. Das alte Holz knarrte laut, weil es wahrscheinlich zum ersten Mal im neuen Jahrhundert bewegt wurde. Er sah aus dem Fenster und brach die Videoübertragung von seinem Lokator ab, bevor er sprang. Die Landung war zwar hart, aber da er noch immer über die Hälfte seiner Kraft verfügte, nicht schlimm. »Clark?« Es war Chloe. »Laut den GPS-Sensoren bist du gerade aus dem Fenster im zweiten Stock gesprungen. Sag mir, dass das nicht stimmt.« »Ich bin noch im Haus, Chloe«, erwiderte Clark. »Es muss ein Messfehler sein.« Er stürzte ins Haus und rannte die Treppe hinauf. Für ihn fühlte es sich an, als würde er Jahre brauchen. Als er oben ankam, sah er Pete auf dem Boden liegen. Ginger und Lana beugten sich über ihn. »Seid ihr okay?«, fragte er. Da drang aus seinem Kopfhörer erneut ein Schrei. »Es hat mich erwischt!« Joel, dachte Clark. »Raus mit euch!«, brüllte Chloe. Clark stürmte nach draußen und fand Chloe unversehrt vor. Sie fuchtelte mit den Händen und zeigte in Richtung Waitley Lane, wo Joel gerade verschwunden war. Dann kam Ginger aus dem Haus und rief nach Joel. Als sie an Chloe vorbeirannte, versuchte Chloe, sie an ihrem Arm zu erwischen, leider ohne Erfolg. »Ginger, nein!«, schrie sie. Clark keuchte. Ich bin außer Atem, dachte er erstaunt. »Auto!«, war alles, was er hervorbringen konnte. 200
Chloe nickte und sie rannten zu ihrem Wagen. Sie glitt hinter das Lenkrad, während er auf den Beifahrersitz schlüpfte, noch immer von der schweren Ausrüstung auf seinem Rücken behindert. Er beugte sich nach vorn zum Armaturenbrett und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, endlich loszufahren. Nun lief Ginger auf sie zu und bat sie gestikulierend, auf sie zu warten. »Bleib hier!«, befahl Chloe ihr durch das geschlossene Fenster. Clark wusste, dass Ginger sie nicht hören konnte, aber Chloe schien zu aufgeregt zu sein, um es zu bemerken. Ihre Hände zitterten, als sie den Schlüssel ins Zündschloss steckte. Dann ließ sie den Motor an und drückte das Gaspedal durch... und vergaß in ihrer Aufregung, dass der Rückwärtsgang eingelegt war. Der Wagen schoss durch den Vorgarten und landete in einem Graben. Die Hinterräder drehten durch und wirbelten Erdreich hoch. Ginger rannte vorbei, gefolgt von Lana. Chloe sagte nichts, sondern sprang aus dem Auto und stürmte zum Heck. Vergeblich stemmte sie sich dagegen und drückte. Clark half ihr, doch sie konnten den Wagen nicht befreien... zumindest nicht rechtzeitig. Und deshalb rannte er. Die Schmerzen in seiner Seite und die heiße, stechende Trockenheit in seiner Kehle brachten ihn fast um, aber er lief trotzdem so schnell er konnte. Chloe, die sich ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte, musste sich bald geschlagen geben. Sie blieb stehen und legte die Hände an ihre Oberschenkel, während sie nach Luft schnappte. Clark wusste nicht, wie er es schaffte weiterzurennen, doch er tat es.
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Vor ihm erstreckte sich das Maisfeld. Während Clark weiterlief, sah er, wie Joel den Rand des Feldes erreichte. Ginger war dicht hinter ihm. »Nein!«, schrie Clark, doch seine Worte kamen als krächzendes Flüstern heraus. Mit seinen scharfen Augen konnte er sehen, dass Joel und Ginger direkt auf die große Ballung der grünen Strahlen zurannten, die er bereits während der Séance gesehen hatte. Sie gingen von einem Zentrum aus und schienen einen großen Kreis zu bilden. Wie ein Tor, ging es ihm durch den Kopf. Er rannte noch schneller und wünschte sich, dass er eine andere Fähigkeit als seine Schnelligkeit verloren hätte. Verzweifelt sah er sich mit seinem Röntgenblick um und suchte nach irgendetwas, mit dem er die beiden am Weiterrennen hindern konnte. Joel und Ginger hatten den Kreis jetzt fast erreicht. Er sah die transparenten Umrisse ihrer Körper und auch ihrer Knochen. Sie kamen dem ringförmigen Tor immer näher. Und dann bemerkte er den dünnen Strang, einen grünen Fühler, der von der Rückseite des Tores ausging. Und zum Haus führte. Clark sah nach rechts und fand die Stelle, wo der Strang seinen Weg kreuzte. Er stürzte sich regelrecht darauf, aber seine Hände gingen durch den grünen Fühler hindurch. Wie konnte er ihn greifen? Was hatte er...? Er schaltete den Geigerzähler ein, dann den EM-Detektor und richtete zu guter Letzt sogar seine Taschenlampe auf den Strang. Irgendetwas davon musste funktioniert haben, denn plötzlich löste sich der grüne Strang auf. Dann hörte er Joels Aufschrei. Joel und Ginger waren endlich stehen geblieben.
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Der grün leuchtende Ring, der Joel und Ginger fast verschluckt hatte, verblasste fast zur gleichen Zeit. Clark holte sie schließlich ein. Joel lehnte sich an Ginger. Sie hatte ihre Arme um ihn geschlungen. »Ich bin froh, dass es euch gut geht«, sagte Clark. Dann wurde er ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, fühlte er sich schwächer als zuvor. Lana kniete über ihm. »Clark?«, sagte sie besorgt. »Ja?«, murmelte er benommen. »Lana, was ist passiert?« Sie befanden sich noch immer im Maisfeld. »Clark, kannst du dich aufsetzen?«, fragte sie. »Ja.« Er lachte unsicher, um sein Unbehagen zu überspielen. Hier liegt irgendwo ein Meteorit. Und ich bin ihm zu nahe gekommen. Dann beugte sich Chloe über ihn. »Clark, mein Gott! Bist du okay?« »Ja. Ich bin über irgendetwas gestolpert und habe mir dabei den Kopf aufgeschlagen«, log er. »Aber mir geht’s gut. Ehrlich.« »Du hast wirklich eine harte Landung hingelegt«, sagte sie. »Es wäre eine tolle Leistung gewesen, wenn du einen gegnerischen Quarterback gerammt hättest. Mit einem Helm auf dem Kopf«, fügte sie lächelnd hinzu. »Mein Kopf ist ziemlich hart«, erwiderte er. »Das ist mir gelegentlich schon aufgefallen.« Jetzt grinste sie breit. »Weißt du was?« Er sagte: »Oh je, du hast diesen Gesichtsausdruck. Als hättest du einen Knüller gelandet.« Ihre Augen funkelten. »Oh, ja. Das habe ich, Clark. Es ist eindeutig ein Fall für die »Wand der Merkwürdigkeiten«! Wir haben einen riesigen Meteoriten genau dort gefunden, wo du
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hingefallen bist. Er steckt fast ganz im Boden und ist der größte, den ich je gesehen habe.« Das dachte ich mir schon. Kein Wunder, dass es mir so schlecht geht, durchfuhr es Clark. Und dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Sind wir einem echten Geist begegnet, der irgendwie durch die Meteoritenstrahlung in unsere Welt gelangt ist? Ist das der Grund, warum sich das grüne Leuchten durch das Haus und dann hinaus aufs Feld bewegt hat? »Du glaubst also, dass das, was wir erlebt haben, auf den Meteoriten zurückzuführen ist?«, fragte er, während er sich langsam aufrichtete. Ihm war noch immer schwindlig. »Genau das glaube ich.« Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Die anderen näherten sich ihnen. »Pete ist über die Entdeckung des Meteoriten nicht besonders glücklich. Er denkt nicht, dass es dem Gouverneur für seine Kampagne nützt.« »Für unsere Wirtschaft wird es wahrscheinlich auch nicht förderlich sein«, sagte Pete und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie viele Leute sind eurer Meinung nach bereit, Mais zu essen, der in der Nähe von großen leuchtenden Steinbrocken gewachsen ist?« »Willst du damit etwa andeuten, dass wir diese Information für uns behalten sollen?«, fragte ihn Chloe anklagend. Pete hob sein Kinn. »Ich will damit nur andeuten, dass die Farmer in dieser Gegend auch ohne schlechte Presse schon genug Sorgen haben.« Schwindel übermannte Clark, gefolgt von Frösteln und Übelkeit, und ihm dämmerte, dass er die Auswirkungen der Meteoritenstrahlung spürte. Ihr Einflussbereich scheint sich ständig zu verändern. Oder nähert sich uns ein strahlenverseuchter Geist? Die Härchen in seinem Nacken richteten sich bei dem Gedanken auf. Lana streckte besorgt die Hand nach ihm aus. »Bist du okay?«, fragte sie ihn. 204
Er nickte. Ihm gefiel ihre Besorgnis. Sie gefiel ihm sogar sehr. »Mir geht’s gut – bin nur etwas unsicher auf den Beinen.« Und darauf erpicht, so schnell es geht so viel Distanz wie möglich zwischen diesen Meteorit und mich zu bringen. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Du bist ohnmächtig geworden, Clark. Und du siehst blass aus. Vielleicht solltest du zu einem Arzt gehen.« »Es wird schon wieder. Ich habe nur... nicht gut geschlafen. Ich bin todmüde.« Das schien Lana noch mehr zu beunruhigen, und so fügte er hinzu: »Ich bin erschöpft, das ist alles. Ansonsten geht’s mir gut.« Er zeigte in die Richtung des Meteoriten und sagte: »Ich denke, wir sollten von hier verschwinden. Es ist dunkel und heute Nacht sind eine Menge merkwürdige Dinge passiert.« Die anderen nickten ernst. Clark übernahm die Führung, als müsste er allen, einschließlich sich selbst, beweisen, dass es ihm gut ging. Dabei entfernte er sich so schnell er konnte von dem Geist oder der Strahlung oder was auch immer ihn beeinflusste. »Wir müssen noch Lex’ Ausrüstung einsammeln und morgen früh in die Kisten packen«, fuhr er fort und wies in die Richtung des Farmhauses. »Ich melde mich freiwillig dafür.« »Ich werde dir helfen«, bot Pete an. Joel legte seinen Arm um Ginger und sagte: »Ich bringe sie zu ihrer Mom. Wir brauchen jemand, der uns zurück in die Stadt fährt. Ich... ich werde in Hollys Haus übernachten.« Er schob das Kinn nach vorn und presste die Lippen zornig zusammen. »Ich werde nicht zu meinen Eltern zurückgehen, jedenfalls nicht heute Nacht.« »Kein Problem«, sagte Chloe. »Ich werde euch fahren.« »Danke, Chloe«, seufzte Ginger und schmiegte sich an Joel. Dann, als die beiden davongingen, fuhr Chloe herum und formte mit dem Mund lautlos die Worte: Du hast es vermasselt. 205
Clark zuckte die Schultern. Vielleicht, dachte er gleichgültig, aber ich stehe neben Lana. Sie sah ihn an, als könnte sie seine Gedanken lesen. Er lächelte sie unschuldig an. »Verstauen wir die Ausrüstung«, sagte Pete. »Dieses Haus ist mir unheimlich.« »Mir auch«, erwiderte Clark. Der Schwindel und die Übelkeit ließen langsam nach. Weil ich weiter von dem Meteoriten entfernt bin oder weil sich das, was sich uns näherte, wieder entfernt hat? Ist es hinter uns her?, fragte er sich beklommen. Und an einem anderen Ort... zu einer anderen Zeit... rannte Holly Pickering schreiend... über einen Boden aus Ziegelsteinen und durch ein Feld aus Mais... ... und sie schrie, als der betrunkene Mann den Jungen anbrüllte: »Erschieß sie!« ... und obwohl sie Angst hatte, umbrauste sie der Zorn wie ein heißer, schneidender Wind... ... so viel Zorn über das Böse und den Schrecken und den Mord... Holly rannte um ihr Leben. ... das sie, wie es schien, in Kürze verlieren würde.
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11 CLARK WURDE ES VORERST ERSPART, über die Vorfälle im Farmhaus und auf dem Maisfeld zu sprechen, denn seine Eltern besuchten eine Veranstaltung für die Wiederwahl von Gouverneur Welles im Gutshof. Am Morgen verschlief er, sodass sein Dad ihm erneut bei seinen Arbeiten half. Dabei fand er einfach nicht den richtigen Moment, um das Thema zur Sprache zu bringen. Er fühlte sich schlecht dabei. Es war nicht seine Art, Jonathan und Martha irgendwelche Dinge zu verschweigen. Heute Abend werde ich mit ihnen darüber reden, entschied er. Seine Mom gab ihm einen schönen Präsentkorb für die Bruckers mit – »da ich noch keine Gelegenheit hatte, sie willkommen zu heißen« –, und Clark wurde klar, dass sie nicht wusste, dass Ginger und ihre Mutter im Smallville Arms untergekommen waren. Noch so etwas, über das er sie informieren musste. Lana holte ihn ab und sie fuhren zu dem Farmhaus, um noch vor Schulbeginn die Ausrüstung in die Kisten zu packen. Er lächelte schüchtern, als er in ihren Truck stieg. Sie trug ein türkisfarbenes Oberteil und einen langen, wallenden, türkisund lavendelfarbenen Rock. Sie sah umwerfend aus. »Hi. Wie geht’s dir?«, fragte sie, seine Verlegenheit nicht bemerkend. »Gut. Obwohl es ganz schön gespenstisch war«, gab er zu. Sie atmete aus. »Finde ich auch. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Clark. Ich frage mich ständig, ob wir es wirklich mit Geistern zu tun haben? Oder liegt es an den Meteoriten? Leiden wir alle an Wahnvorstellungen?« Er legte den Kopf zur Seite. »Schwer zu sagen!«
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»Denn wenn es Geister sind...« Sie lächelte traurig. »Du weißt, an wen ich denke.« »An deine Eltern.« »Ja«, erwiderte sie leise. Sie sah in den Seitenspiegel und bog auf die Hauptstraße. Es war ein wunderschöner Tag in Smallville mit einem herrlich blauen Himmel. Sonnenblumen wuchsen entlang der Straße. Sie fuhren schweigend weiter. Kurze Zeit später blinkte Lana, um in die Waitley Lane zu biegen. Der Truck wurde langsamer, die Bremsen quietschten. Klingt so, als müsste der Belag der linken hinteren Bremse erneuert werden, dachte Clark. Er sah kurz mit seinem Röntgenblick nach hinten. Die Karosserie des Trucks wurde für ihn schichtweise sichtbar. Er betrachtete den Boden der Kabine, den Unterboden und die Bremsschläuche, die zum Heck des Fahrzeugs führten. Er folgte einem der Schläuche am Reifen vorbei zur Felge und zur Radnabe, bis er die Oberfläche der Bremsbacke erkennen konnte. Wie er vermutet hatte, musste der Belag erneuert werden. Ich muss mir etwas einfallen lassen, um es ihr unauffällig beizubringen. Er streckte sich. Noch immer fühlte er sich schwach. Es war seltsam, so langsam zu sein, wenn er seine Aufgaben auf der Farm erledigte. Normalerweise dachte er nicht oft darüber nach, doch die Tatsache, dass er plötzlich den Zeitrahmen verändern konnte – sodass fallende Objekte in der Luft zu schweben schienen, als wäre es ein Hollywood-Spezialeffekt – war ihm so vertraut, dass es zu einem Teil seines Lebens geworden war, den er kaum beachtete. Noch immer konnte er Dinge in Nullzeit sehen. Er hatte nur seine Schnelligkeit eingebüßt. Er überprüfte seine Wahrnehmung und blickte hinaus auf die grünen Weizenfelder, die im schwachen Morgenwind erstarrt zu sein schienen. Der 208
Truck stand ebenfalls still, während er in der Kabine saß und die gelbe Morgensonne betrachtete, die Vögel, die über ihm im Flug eingefroren waren und scharfkantige Schatten auf die Kühlerhaube des Trucks warfen. Aber wie gestern Nacht auf dem Dachboden war er ebenfalls erstarrt. Er konnte sehen, sich aber nicht bewegen. Unheimlich, dachte er fröstelnd. Clark kehrte in die Echtzeit zurück, als sie sich dem WellesHaus näherten. Er setzte seinen Röntgenblick ein, um nach dem großen Meteoriten zu suchen, der ihm im Maisfeld das Bewusstsein geraubt hatte. Dort war er. Er leuchtete unweit der Mitte des Feldes. Er sah wirklich groß aus. Nun suchte er das Erdreich in der Umgebung des Hauses ab. Er hielt Ausschau nach weiteren großen Steinen. Nach den Ereignissen der letzten Nacht wollte er kein Risiko eingehen. Da die Erde von Kansas fast geröllfrei war, ging das sehr einfach. Dasselbe hatte er schon auf der Kent-Farm gemacht, um die Gefahr in seiner nächsten Umgebung einschätzen zu können. Es war seltsam, dass ihm der Zusammenhang nicht schon früher aufgefallen war – aber die Steine hatten eine stärkere Wirkung auf ihn gehabt, als auch seine Kräfte stärker geworden waren. Er konnte in der Umgebung des Hauses nur die üblichen Objekte ausmachen – alte Werkzeuge, Münzen und so weiter. Er wandte sich der rechten Seite des Hauses zu und streifte dabei den Keller. Er nahm nicht an, dass es dort unten viele Steine gab, denn das Haus war wahrscheinlich vor über hundert Jahren erbaut worden, aber er sah dennoch hin. Da war ein großer Ofen in der Mitte des Kellers, alte Kisten, gefüllt mit wer weiß was. Als sein Blick über die Kisten zu
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einer der Wände wanderte, die aussah, als wäre dort einst Feuerholz gestapelt geworden, sah er es. Oh, mein Gott. Ein Skelett lag dort. Es war menschlich und lag im Boden vergraben, in einem Teil des Kellers, der nicht mit Ziegelsteinen ausgelegt war. Könnte das unser Geist sein? Seine Gedanken überschlugen sich. Er sah Lana an und wollte gerade mit dem herausplatzen, was er gesehen hatte, als ihm einfiel, dass er ihr nicht erklären konnte, wieso er davon wusste. Es war wie mit ihrem Bremsbackenbelag – wie konnte er ihr es sagen? Das war einer der Nachteile dieser Fähigkeit. Niemand würde ihm glauben, dass er einfach durch den Boden in den Keller gesehen und ein Skelett entdeckt hatte – man würde ihn in eine Gummizelle sperren, sobald er es ausgesprochen hätte. Schlimmer noch, wenn man ihm glaubte, würde ihn die Regierung wahrscheinlich einsperren. Er hatte Der Feuerteufel gesehen – und die Vorstellung, dass es ihm ähnlich erging, gefiel ihm ganz und gar nicht. Seit er gelernt hatte, seine Kräfte bewusst einzusetzen, hatte er ein paar Mal sein Wissen getarnt, indem er Vermutungen aussprach. Die Tatsache, dass er überdurchschnittlich oft Recht hatte, erfüllte seine Freunde mit Respekt vor seiner Intuition – nicht mit Angst vor seinen unheimlichen Fähigkeiten. Das Komische war, dass er sich jedes Mal, wenn jemand anders eine Ahnung hatte, die sich als richtig herausstellte, fragte – war es wirklich eine Ahnung oder war derjenige wie er und verbarg nur seine Fähigkeiten? Lana hielt mit quietschenden Bremsen an und stieg aus. »Ich denke, du solltest deine Bremsen mal überprüfen lassen«, sagte er zu ihr. »Ja. Ich weiß. Meine Tante nimmt am Nachmittag den Truck und lässt ihn überprüfen«, erwiderte Lana. Dann wies sie zum 210
Haus. »Sieh mal. Ginger ist auch hier. Du kannst ihr den Fresskorb deiner Mutter gleich geben.« Es war warm, und deshalb trug Ginger nur ein knappes TShirt, Jeans und schwarze Plateauschuhe. Sie sah sehr süß darin aus. Sie, Joel und Pete waren dabei, die Sensoreinheiten in die mattgrauen Kisten mit dem LuthorCorp-Aufdruck an der Seite zu packen. Ginger winkte ihnen zu und Lana winkte zurück, während Clark den Präsentkorb an sich nahm. An dem Griff war mit einem rosa Bändchen ein kleines Schild mit dem KentÖkofarm-Logo befestigt. Auf die Rückseite des Schildes hatte Clarks Mom geschrieben: »Willkommen in Smallville! – Martha Kent.« Der Korb war mit vielen Leckereien gefüllt: Äpfel aus ihrem Obstgarten, Tomaten, Fruchtsaftkonzentrat und natürlich Mais. Alles ökologisch angebaut, alles auf der Farm gewachsen. »Hi, Leute«, begrüßte Pete die beiden, als sie näher kamen. »Was habt ihr da?« Clark hielt Ginger den Korb hin. »Von meiner Mom«, erklärte er. Sie nahm den Korb gerührt entgegen. »Wow, Mais – mein Lieblingsgemüse! Man stelle sich vor, hier in Smallville Mais geschenkt zu bekommen. Das muss ein ganzer Scheffel sein.« Sie lachte leise. »Alter Familienwitz. Mein Dad hat einmal an einem Straßenstand Mais gekauft und sagte dem Mann, dass er ein Scheffel haben wollte. Er wusste nicht, wie viel das wirklich war. Der Mann war so glücklich, dass mein Dad ihn nicht enttäuschen wollte, und wir haben wochenlang Mais gegessen.« Clark lachte ebenfalls. Ein Scheffel Mais entsprach etwa 56 Pfund – weit mehr, als jeder normale Mensch innerhalb mehrerer Monate essen konnte, von Wochen ganz zu schweigen.
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Sie stellte den schweren Korb ab. »Das war wirklich nett von deiner Mom. Sie hat sich viel Mühe gemacht.« »Sie macht das gerne«, erwiderte Clark. »Wie geht’s dir?« Wie kann ich euch nur klarmachen, dass eine Leiche im Keller vergraben ist?, dachte er verzweifelt. »Ganz gut soweit«, sagte Ginger. »Aber dies hier ist sicherlich kein Ort, an dem ich mich wohl fühle, ganz gleich, ob es Mitternacht oder helllichter Tag ist.« »Ganz meine Meinung«, warf Joel ein. Er sah erschöpft und mitgenommen aus. »Hollys Mom und ich haben den Sheriff endlich davon überzeugt, mit der Suche nach Holly zu beginnen. Wir haben zusammen ein Flugblatt entworfen.« Er ging zu seinem Rucksack und nahm einen Stoß bedruckter Blätter heraus. Er reichte je eins Clark und Lana. Oben, in großen Buchstaben, stand: »HOLLY WIRD VERMISST.« Direkt darunter befand sich das Foto eines Mädchens, das in Schwarzweiß eingescannt worden war. Sie sah sehr gruftimäßig aus. Clarks Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Was ist, wenn es sich bei dem Skelett um Holly handelt?, schoss ihm durch den Kopf. Während die anderen das Flugblatt lasen, spähte er mit seinem Röntgenblick erneut in den Keller. Das Skelett war klein. Es gehört zu einem Kind, wurde ihm klar. Er wusste nicht, ob ihn das erleichterte oder nicht. »Wir werden sie finden«, versicherte Ginger Joel. Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann legte Pete das Flugblatt weg und griff nach den Walkie-Talkies. »Chloe hat heute Morgen angerufen und Bescheid gesagt, dass sie für die Schülerzeitung arbeiten muss. Ich habe ihr versichert, dass sie nicht kommen muss, um uns zu helfen.« Er blickte unbehaglich drein. »Ich hoffe nur, sie bauscht die Vorfälle von gestern Nacht nicht unnötig auf«, murmelte er vor sich hin. Lana betrachtete die Kisten. 212
»Es gibt nicht mehr viel zu tun«, warf sie ein. »Whitney hat heute Morgen Training. Wenn ihr mich nicht braucht...« »Wir kommen schon allein klar«, unterbrach Pete. Lana strahlte. Sie wandte sich an Clark: »Ich nehme dich gerne mit zur Schule.« »Nein, ist schon okay. Ich werde hier noch ein bisschen helfen.« Er hob einen der Chromstäbe auf und wickelte das Kabel um ihn. »Ich werde ihn mitnehmen«, sagte Pete zu Lana. »Okay. Toll.« Sie lächelte die vier an, machte auf dem Absatz kehrt und ging schnell zu ihrem Wagen zurück. Joel und Ginger wandten sich ab, um eine der Kisten auf die anderen zu stapeln. Dabei sahen sie sich verliebt an. Muss ein schönes Gefühl sein, dachte Clark wehmütig. »Du hättest sie haben können«, sagte Pete, der Clarks Blick gefolgt war. »Ginger war zuerst an dir interessiert. Aber ich denke, sie hat geahnt, dass es eine unschlagbare Konkurrentin gibt. Weibliche Intuition!« »Ach Quatsch«, brummte Clark, doch er wusste, dass Pete Recht hatte. Er war froh, dass sich Ginger und Joel gefunden hatte. Er hätte Gingers Gefühle nicht verletzen wollen. Sie war ein süßes und nettes Mädchen, aber sie war eben nicht Lana. Deshalb war es gut, doch seine Traurigkeit verging nicht ganz. Joel sagte etwas zu Ginger und sie lachte... lachte, obwohl das Farmhaus ganz in der Nähe war. Wirklich gut, dass... ich... noch immer keine Freundin habe. Sie erreichten pünktlich die Schule und Clark ging seinen Pflichten als Schüler nach. Aber die Entdeckung des Skelettes hatte ihn aufgewühlt. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war so in seine Gedanken versunken, dass er fast an Pete und Chloe vorbeigegangen wäre, die sich gerade auf dem Korridor stritten. 213
»Ich sage dir, mach es nicht!« Pete konnte seine Stimme nur mit Mühe dämpfen. Doch Chloe ließ sich nicht einschüchtern. Sie hielt den Kopf hoch und die Schultern gestrafft. »Auf keinen Fall, Pete! Das ist eine Sensation!« »Leute, was ist los?« Clark trat zu ihnen. Pete starrte Chloe finster an. »Natürlich ist genau das los, was ich befürchtet habe.« Er breitete die Hände aus, als würde er eine Zeitung aufschlagen. »›Geburtshaus des Gouverneurs ist eine Spukzentrale!‹« Chloe lächelte Clark an. »Bestimmt kannst du verstehen, was es bedeutet, dass der mögliche nächste Präsident in einem Spukhaus aufgewachsen ist?« Er war wachsam. »Und was bedeutet es deiner Meinung nach?« »Es bedeutet, dass die Öffentlichkeit wissen muss, wie er zu Geistern steht! Wenn er sagt, dass es keine gibt – zu was für eine Art Politiker macht ihn das? Wir wissen, dass es sie gibt.« »Und...?«, fragte Clark verständnislos. Was auch immer Chloe sagen wollte, es musste warten, denn es klingelte zur nächsten Unterrichtsstunde. Die drei trennten sich; Clark und Pete gingen in den Umkleideraum der Jungen und Chloe in den der Mädchen. Der muffige Geruch von alten Turnhosen und -hemden wurde nur unzulänglich von dem Duft der Deodorants der vorherigen Klasse übertüncht. Pete und Clark öffneten zwei Spinde in der Mitte des Raumes und nahmen ihre Turnsachen heraus. Clark streifte seine Schuhe ab, während Pete redete. »Du musst mir doch Recht geben, Clark! Chloe muss immer das letzte Wort haben.« »Sie hat aber auch schon oft Recht gehabt«, sagte Clark nüchtern. »Das stimmt, aber das heißt nicht, dass sie immer Recht hat.«
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»Warum bist du so aufgebracht?« Clark zog hastig seine Turnhose an. Der Coach mochte es gar nicht, wenn man zu spät kam – zehn Runden um die Turnhalle zu drehen, würden ihn zwar nicht umbringen, waren aber peinlich. »Ich weiß, dass ich mich nicht so aufregen sollte, aber ich finde, dass ein Gouverneur, der aus Smallville stammt, unsere volle Unterstützung verdient hat.« Pete zog seine Hose an und Clark schlüpfte aus seinem Hemd. Er zuckte leicht zusammen, als er es über seinen Nacken streifte. Dort war die Verbrennung besonders ausgeprägt. Petes Augen weiteten sich. »Wow, Clark! Was hast du gemacht? Mit einem Bügeleisen gerungen?« »Es ist bloß ein Sonnenbrand«, erwiderte Clark und streifte ein Hemd mit der Aufschrift »Eigentum der Smallville Highschool« über. »Sicher, von einem Ofen!« Oder einem Strahlungsleck, dachte er. »Mir geht’s gut, Pete«, versicherte er ihm. »Bleib beim Thema! Wie war das mit deinem Nationalstolz?« Pete schüttelte den Kopf. »Wir leben in einer winzigen Stadt, die kaum für etwas bekannt ist – höchstens für Buttermais und Meteoriten. Ich bitte dich!« Die beiden Jungen schnürten ihre Schuhe zu und machten sich auf den Weg zur Turnhalle. Sie würden nicht die Letzten sein, aber sie waren knapp davor. »Und die Vorstellung, dass einer von uns – jemand aus Smallville – große Dinge vollbringt, den Staat regiert und vielleicht sogar das Land, macht mich irgendwie stolz.« Sie durchquerten den Umkleideraum und eilten zum Ausgang. »Ich würde seinem Beispiel gern folgen.« Pete sah ihn an, in Erwartung einer Antwort. Clark nickte. »Das wäre nicht schlecht«, meinte er. 215
Sie erreichten das Basketballfeld, und der Sportlehrer hatte bereits mit dem Unterricht begonnen. Leise schlüpften sie hinter eine Gruppe Jungen, bemüht, nicht aufzufallen. »Kommt schon, Jungs, wir müssen Muskeln aufbauen!«, schrie er. »Ihr da! Perry und Comb! Zehn Runden!« Hinter ihm rollte der Assistenztrainer, Mr. Caton, der auch Werklehrer war und dem an der linken Hand mehrere Finger fehlten, einen großen Kasten mit roten Gummibällen herein. Pete sah zu Clark hinüber und nickte. Sie wussten, was das bedeutete. Bombardement! Sofort trennten sie sich und stellten sich rechts und links neben einen anderen Jungen, einen Kerl namens A.J.. Er musterte sie argwöhnisch, nicht sicher, was sie vorhatten. Als der Coach ihnen sagte, dass jeder zweite hervortreten sollte, wusste er Bescheid. Es war ein alter Trick, um dafür zu sorgen, dass sie in derselben Mannschaft waren. Ein Trick, den auch die meisten anderen Mitglieder des Footballteams kannten, wie sich herausstellte, als sich die beiden Gruppen trennten. Wieder einmal hieß es: Die Sportskanonen gegen die Streber. Clark und Pete gehörten nicht der ersten Gruppe an. Auch der Coach kannte den Trick und grinste. Er befolgte die uralte Trainerregel: Was dich nicht umbringt, macht dich härter. Und wenn es nicht wehtat, nutzte es überhaupt nichts. Er glaubte, dass er den schwächeren Kindern damit einen Gefallen tat. »Mal sehen, wie lange ihr durchhaltet«, murmelte er mit einem Blick zu Petes und Clarks Mannschaft. Das Spiel begann. Die Regeln waren einfach – die roten, hohlen Gummibälle wurden als Geschosse gegen das andere Team eingesetzt. Die beiden Mannschaften waren durch die Mittellinie des Basketballfeldes getrennt. Niemand durfte sie überqueren. 216
Wenn man von einem Ball getroffen wurde, war man »draußen« und ging ins »Gefängnis«, ein Bereich an der Wand hinter dem Feld. Wenn jemand aus dem eigenen Team einen Ball fing, konnte eine Person das Gefängnis verlassen. Das Ballwerfen dauerte so lange, bis eine Mannschaft »ausgelöscht« war. Es war kein politisch korrektes Spiel, aber es gefiel dem Coach sehr. Normalerweise wurde es zum Aufwärmen vor den eigentlichen Übungen eingesetzt, aber manchmal verbrachten sie die gesamte Unterrichtsstunde mit der »Vorbereitung auf den Überlebenskampf«, wie der Trainer es ausdrückte. Im Lauf der Jahre hatte Clark gelernt, gut zu spielen, ohne dass es irgendwem auffiel. Er war sich der Mahnung seines Vaters, vorsichtig zu sein, wenn er mit anderen Jungen spielte, sehr bewusst, was bedeutete, dass er nur defensiv agierte, die Bälle fing und seine Teamkameraden damit aus dem Gefängnis holte. Aber selbst dabei musste er ab und zu einen Ball absichtlich fallen lassen, um nicht den Eindruck zu erwecken, ein talentierter Fänger zu sein. Denn dann konnte es sein, dass er aufgefordert wurde, in die Mannschaft einzutreten. Dieses Problem hatte er heute allerdings nicht. Seine Koordination war erbärmlich, und er hätte fast den ersten Ball fallen lassen, der in seine Richtung flog. »Fast hättest du’s verpatzt, Kent!« »Komm schon, Clark!« Die Bälle pfiffen rechts und links an ihm vorbei. Das für ihn normalerweise leichte Spiel war kompliziert geworden. Es liegt an meiner fehlenden Schnelligkeit. Ohne sie habe ich Probleme mit der Koordination, dachte er bedrückt. Es wurde nicht besser. Clark war häufiger, als er wollte, gezwungen, den Bällen auszuweichen – und fing sie nur selten. »Gib mir neue Munition, Clark!«, schrie Pete.
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Die Sportskanonen hatten den Großteil der Gummibälle längst abgefangen und warteten auf den besten Zeitpunkt, eine Großoffensive zu starten. Wenn sie gleichzeitig angriffen, würden sie mehr Leute mit einer einzigen Salve ausschalten, als sie es mit Einzelschüssen tun konnten. Normalerweise reichte Clark seine gefangenen Bälle an Pete weiter, doch heute konnte er nur einige wenige abfangen. Da kam ein niedriger geflogen. Er schaffte es, ihn in der Luft zu fangen, bevor er ihn traf, und holte so Andrew Alvsted – »Doppel-A« für jene, die ihn wegen seiner guten Zensuren verspotteten – aus dem Gefängnis. »Gut gemacht, Clark!«, rief Chloe von der anderen Seite der Turnhalle. Die Mädchen spielten dort Volleyball und sie hatte den Fang gesehen. Clark war abgelenkt, und Mike Harrop und Doug Tomko, beides Footballspieler, nutzten die Gelegenheit, um zwei Bälle nach ihm zu werfen. Zwar gelang es ihm, den ersten zu fangen und den zweiten fast abzublocken, aber er traf ihn trotzdem so hart am Kopf, dass er zu Boden ging. »Auuuu, Kent!«, rief der Coach. »Das muss wehgetan haben. Besser, du legst nach dem Unterricht etwas Eis drauf.« Kaum hatte Clark sich wieder aufgerappelt, wurde er von zwei weiteren Bällen getroffen. Er musste ins Gefängnis. Ohne ihn hielt die Mannschaft nicht mehr lange durch. Einigen seiner Mannschaftskameraden gelangen ein paar gute Würfe – Pete schaltete sogar drei Mitglieder des Basketballteams aus – aber am Ausgang des Spieles hatte von vorneherein kein Zweifel bestanden. Nach dem Spiel drehten sie ein paar Runden um das Gebäude und dann auf der Hindernislaufbahn. Clark war erschöpfter als sonst, und er fragte sich erneut, ob der Schaden irreparabel war.
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Erst als sie wieder im Umkleideraum waren und sich umzogen, konnten sich Clark und Pete noch einmal über den Gouverneur unterhalten. »Aber warum machst du dir Sorgen wegen Chloe? Sie hat doch keinen Einfluss.« »Ja, aber wenn sie ihm die Medien auf den Hals hetzt, könnte es ihm schaden.« Pete sah ihn ernst an. »Wenn er mit einer Geistergeschichte in Verbindung gebracht wird, schadet es ganz Smallville.« »Ach Pete, du siehst Gespenster.« Clark kicherte. Dann fing er sich wieder. »Eine Highschoolreporterin wird keine Wahl ruinieren. Aber«, fuhr er fort, »ich habe eine Frage an dich.« Pete forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf weiterzusprechen. »Was ist – was ist, wenn bei dieser Sache etwas herauskommen sollte, das den Gouverneur in ein schlechtes Licht rückt?« »Du meinst, abgesehen von der Peinlichkeit einer Geisterjägerstory?«, sagte Pete bedächtig. Er blickte misstrauisch drein. »Zum Beispiel?« Clark zuckte die Schultern. »Ich sage ja nicht, dass er etwas angestellt hat. Ich frage mich nur, wenn er wirklich in irgendeine zwielichtige Sache verwickelt ist, möchtest du dann noch immer, dass er Smallville repräsentiert?« Pete schwieg eine Sekunde lang. »Natürlich nicht, Mann. Falls er etwas Falsches getan hat, was ich nicht annehme.« Clark nickte. »Sollte dann nicht jemand derartige Dinge überprüfen? Zum Beispiel die Presse?« Pete warf die Hände hoch. »Okay. Du hast mich erwischt, Clark! Dieser Argumentation habe ich nichts entgegenzusetzen.« Er schwieg einen Moment. »Aber sag das bloß nicht Chloe.« Sie machten sich auf den Weg in den Unterricht. 219
Lana stürzte ins Talon. Sie hatte ihren Kursplan so organisiert, dass sie die letzte Stunde frei hatte, und sich die Erlaubnis geholt, die Schule zu verlassen, damit sie früh genug im Restaurant sein konnte, um der Tagesschicht bei der Vorbereitung auf den Ansturm nach der Schule zu helfen. Die Säulen im abgedunkelten Innern des ehemaligen Kinos waren mit Goldsternen, Monden und Planeten geschmückt, und Akanthusblätter im Art-deco-Stil zierten die Säulen an der Treppe. Rote Tischtücher lagen auf den kleinen runden Tischen, an denen ein paar Nachmittagsgäste saßen. Mr. Eckerman, der Postbote, und Mr. Chirrick, einer der Deputys des Sheriffs, hatten zwei von ihnen belegt. Wie immer, wenn Lana das Gebäude betrat, empfand sie Glück und Stolz. Sie empfand es umso stärker, weil sie aktiv an der Rettung des alten Kinos beteiligt gewesen war. Ursprünglich hatte sie sich dafür eingesetzt, weil sie den Ort, an dem sich ihre Eltern kennen gelernt hatten, erhalten wollte, aber inzwischen hatte es sich auch in vielerlei anderer Hinsicht gelohnt. Das Erfolgsgefühl, das sie verspürt hatte, nachdem sie ihren Geschäftsplan an Lex verkauft hatte, gehörte zu den positiven Effekten, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Dass sie den abgebrühten Geschäftsmann aus eigener Kraft überzeugt hatte – Lex hatte klar gemacht, dass es ihre Argumente waren, die ihn zu der Renovierung veranlasst hatten, und nicht seine Freundschaft zu Clark – stärkte ihr Ego und brachte ihr einigen Respekt von ihrer Tante Nell ein. Die erste Woche, in der das Projekt Gewinn gemacht hatte, hatte ihr erneut ein Glücksgefühl verschafft. Nachdem sie das Geld gezählt und es Nell und Lex berichtet hatte, hatte sie sich wie die Königin der Welt gefühlt.
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Sie wusste nicht, wem sie mehr zu Dank verpflichtet war – Clark oder Lex. Clark hatte sie ermutigt, ihr die Unterstützung gegeben, die sie bei der Verwirklichung ihrer Träume brauchte, und ihr auch bei dem Geschäftsplan geholfen. Aber Lex hatte ihr ermöglicht, das Projekt zu verwirklichen – weil er die Idee für gut genug hielt, um sein Geld zu investieren. Diesen beiden verdankte sie, dass ihr Traum Wirklichkeit geworden war, nicht Whitney. Natürlich zahlte sie für den Erfolg auch ihren Preis. Sie hatte weniger Zeit für die Schularbeiten, für Whitney und ihre Freunde. Wäre sie nicht schon vor der Eröffnung des Talons aus der Cheerleadertruppe ausgetreten, hätte sie es spätestens dann tun müssen. Während das Talon gedieh, verlor ihre alte Arbeitsstätte, das Beanery, immer mehr Kunden und musste Personal entlassen. Sie hatte daraufhin ihren alten Boss vom Beanery eingestellt – den Mann, der sie gefeuert hatte, weil sie angeblich ihren Job nicht gut genug gemacht hatte. Das hatte ihr gefallen. Sie hatte Lex davon erzählt, und er hatte gelächelt. »Du bist keine Geschäftsfrau, Lana. Nur die Starken überleben.« Lex’ Sichtweise war ein wenig hart, aber sie nahm an, dass jemand, der als Sohn eines Milliardärs aufgewachsen war, einen anderen Standpunkt als sie haben musste. Sie überprüfte die Milch- und Kaffeevorräte und vergewisserte sich, dass alle Maschinen eingeschaltet waren. Buttergebäck, vorhanden. Biscotti, vorhanden. Kakaoespressobohnen, vorhanden. Alles war in Ordnung. Lex hatte Recht – sie führte das Café mit dem besten Angebot in Smallville, vielleicht sogar in Lowell County, und das Lokal hatte ein Management, das wirklich auf die Gäste einging. Sie grinste. Und ich habe ein Ego von der Größe Texas’.
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Sie wünschte nur, ihre Eltern könnten sie sehen. Nell hatte Lana oft von der Rede ihrer Mutter bei deren Schulentlassungsfeier im Jahr 1977 erzählt. Der Satz: »Ich habe hier nicht viel bewirkt, aber vielleicht werden es meine Kinder tun«, würde ihr für immer im Gedächtnis bleiben. Ich habe ein Wahrzeichen gerettet und das beste Café in Smallville gegründet, Mom. Das war schon etwas. Lana schloss ihren Rundgang ab, vergewisserte sich, dass das Personal bereit war, verharrte dann einen Moment und dachte an das, was im Welles-Haus passiert war. Es war beängstigend und aufregend zugleich gewesen. Dass die Geister sie verfolgt hatten, war extrem beängstigend gewesen, doch die Erkenntnis, die sie daraus gewonnen hatte – dass es wirklich Geister gab und die Menschen nicht einfach starben und verschwanden – tröstete sie irgendwie. Und jetzt hatten sie die Beweise dafür. Überzeugend genug, um vielleicht sogar Dr. Brucker dazu zu bringen, den Fall zu untersuchen. Zwar würde wahrscheinlich niemand von ihnen einen Fuß in das Haus setzen. Sie hatte es bestimmt nicht vor. Aber trotzdem, wenn es dort ein Gespenst gab... Seht ihr mich jetzt, Mom? Dad? Wie oft hatte sie sich diese Frage schon gestellt? Lautes Lachen riss sie aus ihren Gedanken. Die ersten Schüler waren hereingekommen. Die wenigen Erwachsenen, die noch hier waren, verließen das Café; sie würden am Abend oder vielleicht morgen zurückkehren. Sie hatte die Ebbe und Flut des Geschäfts, eine stille Woge aus Hausfrauen und Handwerkern, die am späten Nachmittag den Highschoolschülern weichen musste, schon oft miterlebt. Da kamen Chloe, Clark, Pete und die anderen Geisterjäger herein. Lana bemerkte, dass Ginger und Joel Arm in Arm
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gingen, und stellte überrascht fest, dass es Erleichterung bei ihr auslöste. Ginger war nicht mehr an Clark interessiert. Aber was geht dich das an, Lana? Sie verdrängte die unangenehme Frage und eilte zu ihren Freunden. »Hi, Leute. Wie geht’s?« Veronica, eine der Tagesschichtkellnerinnen, kam auf Lanas Wink hin herüber. »Wollt ihr das Übliche?«, fragte sie. Alle nickten. Es hat definitiv Vorteile, die Managerin zu sein. Dafür sorgen zu können, dass deine Freunde zuvorkommend bedient werden, ist einer davon. Chloe hatte sich schon heiß geredet: »Es passt alles zusammen. Geist. Großer Meteorstein. Muss ich noch mehr sagen? Wir brauchen jetzt nur noch den Anfang, und die Story ist da.« »Die ›Wand der Merkwürdigkeiten‹ bekommt eine neue Schlagzeile«, warf Ginger ein. »Jetzt müssen wir die Leiche finden«, sagte Chloe unvermittelt. Alle starrten sie an. »Denkt drüber nach«, fuhr sie fort. »Die Meteoriten laden die Dinge auf – es muss eine Leiche geben, zu der der Geist gehört, irgendwo in der Nähe des Hauses. Sie liegt wahrscheinlich schon jahrelang dort. Und seit 1989 hat sich der Geist aufgeladen.« Lana zog fröstelnd die Schultern hoch. »Wir müssen nur anfangen zu graben«, schloss Chloe. Sie stand auf und zog ihre Brauen zusammen. »Gouverneur Welles wird das nicht gefallen«, meinte Pete. »Hallo, Pete, das ist ein freies Land«, schoss Chloe zurück. »Niemand kann mich an meinen Recherchen hindern!« »Oh. Recherchen.« Pete blickte unbehaglich drein. »Dagegen habe ich nichts einzuwenden.« 223
Chloe musterte ihn amüsiert. »Graben! Du hast gedacht, ich meine es wörtlich. Ich muss sagen, das ist die beste Idee, die du heute hattest, Pete!« »Auf keinen Fall, Chloe«, sagte er entgeistert. »Wir werden in seinem Haus nicht herumgraben.« Während die beiden sich stritten, sah Lana zu Ginger hinüber, in deren Augen plötzlich Tränen schimmerten. »Bist du okay?«, fragte sie. Joel legte seinen Arm um sie. Ginger antwortete schluchzend: »Ich glaube schon. Ich habe nur gehofft... gehofft, dass es sich bei dem Geist vielleicht um... aber das kann nicht sein, wenn Chloe Recht hat...« Sie weinte leise. »Und der Keller ist irgendwie unheimlich. Vielleicht ist der Keller...« Sie brach ab. Arme Ginger, dachte Lana voller Mitgefühl. Sie hat die ganze Zeit gehofft, dass der Geist ihr Vater ist. Und das kann nach wie vor sein. Schließlich ist Chloes Theorie nur eine Möglichkeit von vielen, auch wenn sie gut zu ihrer »Wand der Merkwürdigkeiten« passen würde. Chloe beendete das verlegene Schweigen. »Sag mal, Clark, du lebst doch auf einer Farm – habt ihr nicht zufällig ein paar Schaufeln übrig?«
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12 SMALLVILLE WAR EINE KLEINE, und so hatte sich im Ort die Nachricht schnell verbreitet, dass Lex Luthors’ neueste Mitarbeiterin und ihre hübsche Tochter im Smallville Arms und nicht in dem erst kürzlich angemieteten Farmhaus wohnten, das ihnen zur Verfügung gestellt worden war. Robins Kollegen im Maklerbüro wollten den Grund dafür wissen. Auf Lex’ Anweisung hin beantwortete sie die Fragen nur vage, indem sie darauf verwies, dass es mit dem »emotionalen Wohlergehen« Gingers zusammenhing –, obwohl es Robin Leid tat, dem jungen, hübschen Mädchen die Schuld geben zu müssen. Und so hieß es bald, dass Ginger Brucker mit ihrem Umzug von Metropolis nach Smallville Probleme hatte, was dazu führte, dass einige Teenager sie besser leiden konnten und andere weniger. In der Highschool haben die meisten Schüler mit sich selbst mehr als genug zu tun. Nur selten kam es vor, dass ein Heranwachsender einem anderen eine helfende Hand reichte. Die Situation behagte Robin nicht. Außerdem kam es ihr komisch vor, dass ihr niemand den wahren Grund für den überstürzten Auszug der Bruckers aus dem Welles-Haus verraten wollte. Sie war in Smallville aufgewachsen; sie kannte die Geistergeschichten, die sich um das Welles-Haus rankten, seit sie alt genug gewesen war, um bei ihren Freunden zu übernachten. Warum konnten sie es nicht einfach zugeben? An diesem Tag verließ sie das Büro früh und fuhr in ihrem Camry hinunter Richtung Waitley Lane. Das Farmhaus mit dem Schrägdach bot im Licht der hellgelben Sonnenstrahlen einen kitschigeren Anblick als Kansas im August. Sie betrachtete es mit geübtem Auge und stellte sich neue Läden an den Fenstern und eine Verlängerung der Veranda rund um das Gebäude vor. Eine Terrasse an der 225
Südseite. Vielleicht Verandatüren. Es steckte Potenzial in dem Haus. Aber derartige Umbauten waren nicht billig, und der Immobilienmarkt hier in der Stadt florierte nicht besonders. Es war nun mal nicht so, dass die Leute scharenweise nach Smallville zogen, um dann nach Metropolis zur Arbeit zu pendeln. In gewisser Hinsicht war Smallville eine Stadt, die von der Zeit vergessen worden war... und bis jetzt hatte sie sich noch immer nicht an sie erinnert. Mit der Renovierung des Hauses für die neuen Mieter war sie nicht besonders zufrieden gewesen. Sie hätte am liebsten den Dachboden im zweiten Stock mit einem Mopp und etwas Farbe behandelt, bevor Mutter und Tochter eingezogen waren. Aber sie war nicht dazu gekommen. Ein Vogel zwitscherte. Es war so ein wunderschöner Tag. Sie nahm die Schlüssel für das Haus aus ihrer Handtasche. Trotzdem sie weit draußen auf dem Land war, wo kaum das Risiko bestand, entdeckt zu werden, wollte sie nicht, dass jemand mitbekam, wie sie ohne Erlaubnis das Grundstück eines Klienten betrat. Das war unprofessionell und darüber hinaus illegal. Aber ihre Neugier war stärker. Ihre hochhackigen Schuhe klapperten auf der hölzernen Veranda; sie waren neu und sie rutschte fast aus, hielt sich aber rechtzeitig an einem Pfosten fest und gewann ihr Gleichgewicht zurück. Sie wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als sie glaubte zu hören, wie sich jemand im Innern bewegte. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr hoch. Sie warf die Schlüssel zurück in ihre Handtasche und zögerte einen Moment. Wenn sie nicht gesehen worden war, konnte sie vielleicht die Treppe hinunterschleichen, in ihren Camry steigen und davonfahren, ohne klüger geworden zu sein. Aber wenn sie gesehen worden war, konnte sie klingeln und sich eine Ausrede für ihren Besuch ausdenken. 226
Schließlich bin ich die Maklerin, dachte sie. Ich sage ihr einfach, dass ich mich vergewissern wollte, ob es ihr gut geht. Sie wartete und verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein, während sie festzustellen versuchte, ob sich wirklich jemand im Haus befand. Dann sah sie auf ihre Armbanduhr. Sie hatte eigentlich keine Zeit mehr. Eine weitere Familienfarm wurde verkauft und die Eigentümer wollten mit ihr über den Wert des Hauses reden. Eigentlich war Simon Jackson dafür zuständig; sie musste daran denken, dass so viele Träume der Farmer geplatzt waren... Sie hatte nicht erwartet, eines Tages als geschiedene Maklerin zu enden. Sie wollte in die große Stadt und Schauspielerin werden... Wehmütig schüttelte sie den Kopf, machte auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe hinunter. Dieses Mal hörte sie das Poltern im Haus ganz deutlich. »O...kay«, sagte sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich ein wenig; trotz der Wärme des Tages waren ihre Hände feucht. Sie grinste. Ich habe Angst. All diese alten Geschichten über dieses Haus... mal überlegen, welche hat mich am meisten beeindruckt? Die von der verrückte Frau, die sich die Treppe hinuntergestürzt hat? »Dr. Brucker?«, rief sie laut und klingelte, um sich aus ihren Träumereien zu reißen. »Sind Sie zu Hause?« Als sie durch das Glas der Vordertür spähte, huschte ein Schatten an der Rückwand des Foyers entlang. »Oh«, keuchte sie und wich abrupt zurück. In diesem Moment klingelte ihr Handy. Sie fuhr zusammen, trat einen weiteren Schritt zurück und hielt dann das Handy an ihr Ohr. »Hallo?« »Ich bin’s, Janice Brucker«, sagte die Anruferin. »Ich habe mich gefragt, ob die Schlösser im Farmhaus in der letzten Zeit
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ausgewechselt worden sind. Oder ob vielleicht sonst noch jemand die Schlüssel hat.« Im Innern des Hauses bewegte sich der Schatten immer noch. »Oh!«, sagte Robin wieder und schüttelte dann den Kopf. »Es tut mir Leid. Die Schlösser sind neu, Dr. Brucker. Auf Mr. Luthors Anweisung hin.« Ein zweiter Schatten gesellte sich zu dem ersten. »Ist Ihre Tochter bei Ihnen?«, fragte sie schrill in das Telefon. Vielleicht sind es irgendwelche Kinder, die mir einen Streich spielen... »Wie bitte?«, fragte Janice Brucker. »Ich meine...«, Robin holte tief Luft. »Es dürfte niemand Zugang zu dem Haus haben. Abgesehen von mir«, fügte sie leise hinzu. »All unsere Sachen sind noch dort drinnen, verstehen Sie?«, fuhr Dr. Brucker fort, ohne Robins Frage zu beantworten. »Natürlich. Wissen Sie was...« Der große Schatten verfolgte den kleineren Schatten... sie hatten menschliche Gestalt... Robin riss sich zusammen, so gut sie konnte, und sagte: »Ich werde vorbeifahren und nachsehen, ob alles gesichert ist.« »Das würde mich freuen«, erwiderte Janice. »Kann ich... gibt es sonst noch etwas, das ich für Sie tun kann?«, fragte Robin mechanisch. »Nein, das dürfte fürs Erste genügen. Vielen Dank, Robin.« »Keine Ursache, Dr. Brucker.« Der größere Schatten ballte die Fäuste, während der kleine Schatten mit ausgestreckten Armen zurückwich. Der große Schatten kam näher. Robin sah gebannt zu. Sie war wie gelähmt, konnte den Blick nicht abwenden. Ihr Herz schlug so hart, dass es gegen ihre Rippen hämmerte. Sie rang die Hände und bohrte die Fingernägel in ihr Fleisch. Oh, mein Gott, er wird den Kleinen schlagen, dachte sie entsetzt. 228
Ohne den Blick abzuwenden öffnete sie ihre Tasche und tastete erneut nach den Schlüsseln des Hauses. Sie musste dem ein Ende machen, was immer es auch war... Die beiden Schlüssel hingen an einer dünnen Plastikkette; sie steckte den einen ins Schloss, drehte ihn schnell um, stieß die Tür auf und rannte ins Foyer... im selben Moment brach der kleine Schatten zusammen. »Nein!«, schrie sie und streckte beide Hände aus, als sie, von ihrem eigenen Schwung getragen, auf die Wand zurutschte. Der große Schatten ragte drohend vor ihr auf, blickte auf sie hinunter, als könnte er sie sehen, und hob wieder die Fäuste... Chloe hatte so lange auf Clark eingeredet, bis er mit ihr zu Mr. Cox’ Büro ging. Jetzt stand er beschämt vor dem Schreibtisch des Lehrers. Er mochte es nicht, in Geschichte zu versagen, aber er mochte es noch weniger, um gute Zensuren zu betteln. Trotz Chloes forscher Versicherung, dass sie »alles regeln« würde, bezweifelte er, dass Mr. Cox ihm eine weitere Chance geben würde, den Aufsatz zu schreiben, da er schon den letzten Termin nicht eingehalten hatte. Aber Chloe war in ihrem Element... und meistens nahmen Sachen, für die sie sich einsetzte, einen guten Ausgang, dachte Clark besorgt. Meistens. »Mr. Cox«, sagte sie strahlend, »ich habe einen Vorschlag für Sie.« Sie beugte sich zu ihm vor und lächelte. »Wie es scheint, gibt es ein Rätsel in Smallville. Schon wieder!« Sie starrte ihn so durchdringend an, als könne sie bis in sein Innerstes sehen. »Chloe, das... das wird nicht funktionieren«, murmelte Clark gepresst. Mr. Cox hörte ihn. Natürlich. Er war ein Lehrer. Lehrer hörten immer Dinge, die sie nicht hören sollten. »Lassen Sie bitte mich das beurteilen, Mr. Kent«, erwiderte Mr. Cox. Er lehnte sich zurück und faltete seine Hände vor der 229
Brust, und einen Moment lang dachte Clark, dass er aussah wie ein Leichnam, der für sein Begräbnis zurechtgemacht worden war. Oh mein Gott, reiß dich zusammen!, wies er sich zurecht. Chloe sagte ohne Vorwarnung: »Irgendwo auf dem Grundstück des Welles-Hauses ist eine Leiche vergraben.« Clark erwartete, dass sich die Augen des Lehrers weiten und seine Kinnlade nach unten fallen würde. Aber er legte nur ein wenig den Kopf zur Seite, sah Chloe an und sagte: »Wirklich? Und wir wissen das, weil...?« »Wir verraten Ihnen die Einzelheiten in dem Sonderaufsatz, den wir gemeinsam schreiben werden«, erklärte sie triumphierend. Mr. Cox sah flüchtig zu Clark hinüber, der leicht errötete. Aber es gelang ihm trotzdem, große Augen und ein unschuldiges Gesicht zu machen. »Sie brauchen keinen Sonderaufsatz, Chloe«, entgegnete Mr. Cox. »Um genau zu sein, haben Sie schon so viele gute Zensuren eingeheimst, dass Sie eine Eins plus sicher haben, ganz gleich, was Sie den Rest des Schuljahres machen.« Sie strahlte. »Bei Mr. Kent ist das natürlich anders.« Er schnalzte mit der Zunge. »Und das ist ebenfalls ein großes Rätsel, denn Sie haben dieses Schuljahr stark begonnen, Clark. Was ist passiert?« Clark dachte über die Worte des Lehrers nach. Für ihn klangen sie ironisch. Er hatte dieses Schuljahr stark begonnen... und jetzt war er schwächer als die meisten Jungs im Sportunterricht. »Sie werden es trotzdem tun, wie ich Sie kenne«, sagte der Lehrer zu Chloe. »Im Interesse der Story.« Er grinste Chloe an und fügte hinzu: »Unser unerschrockenes Reportermädchen.«
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»Das ist sexistisch, Mr. Cox«, erwiderte Chloe gekränkt. »Kommen Sie. Bei Clark liegen mildernde Umstände vor. Dieses neue Mädchen, Ginger, sie war...« »Hüten Sie sich vor den Frauen, Clark«, unterbrach Mr. Cox und drohte Clark mit dem Finger. »Sie werden Ihnen nur Ärger einbringen. Von diesem Mal vielleicht abgesehen.« Er seufzte und schüttelte resignierend den Kopf. »Wenn Sie gut recherchieren und etwas Bedeutendes in der Geschichte Smallvilles entdecken, werde ich Mr. Kent eine Zwei für seinen fehlenden Aufsatz geben.« Clark seufzte erleichtert. »Aber... keine gute Recherche, keine Zwei«, fügte der Lehrer hinzu. »Haben wir uns verstanden?« »Es ist fast so, als wären wir telepathisch miteinander verbunden«, scherzte Chloe. »Richtig, Clark?« Clark nickte. »Danke, Mr. Cox.« Der Lehrer lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück und faltete die Hände vor seiner Brust. »Hüten Sie sich nur vor den Frauen, Clark. Sie werden sonst Ihr Ruin sein.« Nachdem sie den Nachmittag damit verbracht hatten, überall in Smallville Flugblätter aufzuhängen, saßen Joel und Ginger Seite an Seite auf einem mit Chintz bezogenem Plüschsofa in der Lobby des Smallville Arms. Wie gewöhnlich machte ihre Mutter Überstunden. Hinter ihnen stand ein mit Gardinen verhangenes Fenster offen. Inzwischen war es endlich Sommer geworden; die warme Sommerluft war vom Zirpen der Laubheuschrecken und Grillen erfüllt. Joel trank Eistee, Ginger eine Limonade. Sie hatte Joel gesagt, dass er bestellen konnte, was er wollte. »Lex Luthor bezahlt für alles.« Joel trank einen weiteren Schluck. »Er muss deine Mom wirklich mögen.« 231
»Er mag die Arbeit meiner Mom«, konterte sie. »Meine Eltern sind... mein Dad war ein angesehener Wissenschaftler und meine Mom ist noch immer eine.« Sie fuhr zusammen. »Das klingt schrecklich.« »Du vermisst ihn.« Joel berührte ihre Wange. »Sehr sogar.« Das war zu viel für sie. Ginger stellte ihre Limonade ab und sank in seine Arme. Sie schluchzte heftig. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich ihn vermisse. Ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken. Und ich werde es auch niemals, denn... denn dann wäre er...« Sie verstummte. »Fort«, beendete Joel für sie den Satz. »Du willst nicht, dass er fort ist!« Er legte seine Arme um sie und wiegte sie hin und her. Nach einer Weile sagte er: »Er wird nicht fort sein, solange du dich an ihn erinnerst. Das wird ihn am Leben halten, Ginger, mehr als die Trauer es kann.« »Aber was ist, wenn ich ihn vergesse?«, fragte sie heiser. »Was ist, wenn ich ihn loslasse und ich mich besser fühle?« »Ich werde nicht zulassen, dass du ihn vergisst. Erzähl’s mir.« Einen Moment herrschte Schweigen. Sie hob den Kopf. »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Erzähl mir von ihm. Wie er war.« Er lächelte sie zärtlich an. »Erzähl mir seine wahre Geschichte.« Sie war zutiefst gerührt. Sie sah ihm in die Augen und sagte: »Er hat gerne wissenschaftliche Dinge auf fantasievolle Weise erklärt. Er sagte mir, dass Glühbirnen leuchten, weil Feen in ihnen leben.« »Und wenn sie durchbrennen?«, fragte er. »Dann hat die Fee die Glühbirne verlassen und ist ins Feenland zurückgekehrt.« Sie lächelte bei der Erinnerung. »Im Feenland gibt es keinen Tod. Alle leben ewig.« Ein Moment der Stille folgte, in dem sie sich sammelte; dann sagte Joel: »Danke, dass du mir das erzählt hast.« 232
Sie schniefte. »Danke, dass du mir zugehört hast.« Sie lächelten sich matt an. Dann sagte Joel: »Erzähl mir eine andere Geschichte.« Sie dachte einen Moment nach und sagte dann: »Karamellbonbons. Mein Vater liebte Karamellbonbons...« Janice eilte in die Lobby des Hotels. Sie fühlte sich wieder einmal schuldig, weil sie so lange im Labor geblieben war. Doch heute Nacht hatte sie einen guten Grund dafür gehabt. Lex hatte ihr einen Laptop gebracht und sie gebeten, einige Daten zu analysieren. Sie hatte nur Sekunden gebraucht, um zu begreifen, das sie es mit einer Art von Meteoritenaktivität zu tun hatte... und weiterhin, dass sich die Emissionen auf sehr sonderbare Weise manifestierten. »Kommt Ihnen das nicht auch gespenstisch vor?«, hatte er sie unverblümt gefragt. »Sie klingen wie meine Tochter«, hatte sie geantwortet. »Glauben Sie, Sie könnten diese Art von Aktivität replizieren?«, fragte er sie begeistert. »Das ist die Frage«, erwiderte sie, während sie die Sinusund Kosinuskurven betrachtete, die sich im unteren Teil des Schirmes überlagerten. »Das sind sehr ungewöhnliche Muster... ich habe so etwas noch nie gesehen. Als kämen sie aus einer anderen Welt, von einem anderen Planeten.« »Ich glaube, dass Sie damit die Lösung des Problems gefunden haben.« Er lächelte sie an. »Ja, aber von welchem?«, fragte sie und studierte erneut die Werte. Während sie die Wellen betrachtete, murmelte sie: »Ich schätze, das ist der Grund, warum Sie mir dieses hohe Gehalt zahlen. Damit ich es herausfinde.« »Das ist tatsächlich der Grund«, bestätigte er. Vier Stunden lang hatte sie diese Muster angestarrt, und jetzt, als sie die Hotelhalle betrat...
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... sah sie ihre Tochter mit einem Jungen auf dem Sofa des malerischen Hotels, und Janice wurde mit einem Schlag bewusst, dass sie an einem Großteil des Lebens ihrer Tochter nicht teilgenommen hatte. Es war George gewesen, der eine Brücke zwischen der Welt des kleinen Mädchens und der der überlasteten Mutter geschlagen hatte, und nun, da er fort war gab es keine Brücke mehr. Oh, Schätzchen, es tut mir so Leid, leistete Janice ihrer Tochter im Stillen Abbitte, und eilte zu ihr. Ich werde es in Zukunft besser machen. Aber als ihre Tochter sie in der Lobby entdeckte, konnte Janice keine Freude auf Gingers Gesicht entdecken, nur Erleichterung. Vielleicht ist das alles, was ich verlangen kann. Wahrscheinlich habe ich es auch nicht besser verdient, dachte sie schuldbewusst. Der Junge rutschte schüchtern von Ginger weg, als Janice näher kam. Etwas Trauriges umgab ihn, er wirkte wie ein verletzter Vogel. »Hi«, sagte Ginger, und es klang ein wenig vorwurfsvoll, als sie hinzufügte: »Langer Tag im Büro?« »Ja.« Janice lächelte unbehaglich. »Viel zu tun.« »Das ist Joel«, stellte Ginger vor. »Hallo Mrs. Brucker!« Joel klang etwas verspannt. »Hallo!«, erwiderte sie knapp. Offenbar verwechselte er ihre Wortkargheit mit Ablehnung, denn er stellte seinen Tee ab und stand auf. »Ich sollte dann wohl nach Hause gehen. Beziehungsweise zu den Pickerings.« Janice verstand nicht, was er meinte. Abwesend sagte sie: »Gute Nacht, Joel.« Ihre Worte schienen nicht bis zu Joel vorgedrungen zu sein. Er hatte nur Augen für ihre Tochter. Errötend warf Ginger ihrer Mutter einen Seitenblick zu und sagte dann: »Ich bring dich zu deinem Wagen.« 234
Sie sind so jung und genießen die erste Liebe..., dachte Janice wehmütig. Sie hörte sich sagen: »In warmen Nächten wie dieser, daheim in Indiana, als wir noch auf der Universität waren, hat dein Vater gerne Zitronenbaiserkuchen gegessen.« Ginger sah sie verblüfft und gleichzeitig fasziniert an. »Das wusste ich nicht.« »Eine Erinnerung«, sagte Joel. Er wechselte einen Blick mit Ginger, die ihn anlächelte. Die drei standen einen Moment wortlos zusammen. Sie schwelgten in der Erinnerung an bessere Zeiten, die das bittersüße Glück, das die Nostalgie mit sich brachte, kurz heraufbeschwor. Als er vorbei war, nickte Joel Janice zu. Dann durchquerten die beiden Teenager die Lobby und verschwanden durch den Ausgang. Janice, deren Stimmung sich etwas gebessert hatte, beobachtete sie durch das Fenster, wie sie Hand in Hand gingen. Sie konnte fast George und sich selbst sehen, wie neben den beiden schritten, die Geister der jungen Liebenden, die sie einmal gewesen waren. Mit einem tiefen Seufzer, der allem galt, was sie verloren hatte, trat sie an das Empfangspult und fragte: »Ist die Küche noch geöffnet? Ich hätte gern zwei Stücke Zitronenbaiserkuchen.« Er liebte ihn mit Eistee, fiel ihr ein. »Und zwei Gläser Eistee.« Ich werde ihr erzählen, wie wir einmal Angeln gegangen sind. Er hatte solches Mitleid mit den Fischen, dass er sie alle zurück ins Wasser geworfen hatte. Oh, und wie wir einmal im Sommer in der Universitätsbuchhandlung gearbeitet haben und er dabei erwischt wurde, wie er ein paar gebrauchte Lehrbücher an diesen armen Studenten aus Nicaragua verschenkte. Der Manager wollte ihn feuern, aber die anderen Angestellten drohten mit ihrer Kündigung, wenn er es tat.
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George war zwar der Künstler in der Familie gewesen, aber ich werde für sie ein Bild von ihm malen... mit Geschichten von ihm. Sie blieben die ganze Nacht wach, Mutter und Tochter, und schwelgten in den Erinnerungen an den Mann und Vater, den sie so sehr vermissten. Janice erzählte Ginger eine Geschichte nach der anderen über ihren Vater und Ginger war so dankbar darüber, als hätte Janice ihr etwas unglaublich Kostbares und Wundervolles geschenkt. Im fahlen, rosigen Licht der Morgendämmerung schlief Ginger schließlich mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein. Janice saß an ihrer Seite, streichelte ihr Haar und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie ließ sich von dem Kummer überwältigen, den sie bisher immer für den Schlaf aufgespart hatte. Sie trauerte um George, wie sie noch nie zuvor um ihn getrauert hatte. Und in dieser Nacht schlief sie tief und traumlos. Renn, Robin, renn! Die Maklerin war gerannt, fort von den Schatten an der Wand und dem Poltern im Keller; fort von der drohenden Gestalt, die von einem grünen Leuchten umhüllt war... Sie rannte die Waitley Lane hinunter und in das Maisfeld. Sie konnte gar nicht mehr aufhören... ... zu rennen. Sie war in einem Feld aus Grau gefangen, das zu atmen schien. Jeder Atemzug flach und schrill pfeifend, jeder Atemzug eine ungeheure Anstrengung. In ihren Ohren hallte das schrille Geräusch wider. Es war wie das extrem verstärkte Geräusch eines Menschen mit Atemproblemen. Wie jemand mit...
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»... Asthma«, beendete Chloe triumphierend ihren Satz, als sie auf die eingescannte Kopie des Smallville Ledgers deutete. Die Ausgabe war über sechzig Jahre alt, aber das vergilbte Papier war nach dem Einscannen digital aufgehellt worden. Noch etwas, das diese Stadt Lex zu verdanken hat, dachte Clark, aber sie werden wahrscheinlich nie erfahren, dass er das gesamte Grafiksystem gesponsert hat. Sie waren in der Stadtbibliothek. Wenn Mr. Cox seinen Problemschüler in der Bücherei hätte sehen können, hellwach und zur frühen Stunde, hätte er wahrscheinlich selbst Atemprobleme bekommen. »Der Gouverneur hatte Asthma.« Sie überflog den Artikel. »Bis er sieben oder acht war. Dann ging es ihm besser. Oooh. Hör dir das an. Ein Farmer ist etwa zu der Zeit gestorben, als sich Gouverneur Welles’ Gesundheitszustand verbessert hat. Hier ist ein Bild von ihm.« Sie warf Clark einen ihrer typischen »Ist das nicht merkwürdig?«-Blicke zu und wartete auf seine Reaktion. »Okay«, sagte Clark sanft. »Ein Mann ist gestorben und das Asthma des Gouverneurs wurde geheilt.« »Richtig.« Ihr Lächeln wurde breiter. Ihre blendend weißen Zähne zeigten sich. »Chloe, das ist ein Zufall. Und selbst wenn nicht, wir müssen erst mal beweisen, dass es einen Zusammenhang gibt. Falls es einen gibt«, fügte Clark nachdrücklich hinzu. »Ich bin sicher, dass es einen gibt.« Chloe wandte sich wieder der Tastatur zu und tippte weiter. Es war Samstag. Janice hatte vorgehabt, heute ins Labor zu gehen – es war nichts Ungewöhnliches für sie, jeden Tag zu arbeiten, sieben Tage die Woche –, doch stattdessen fragte sie Ginger, einem Impuls folgend, ob sie Lust hatte, nach Metropolis zu fahren.
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Dort gab es jemand, mit dem sie von Angesicht zu Angesicht sprechen wollte. »Ich muss ein paar Dinge in der Universität erledigen«, sagte Janice. Sie hatte dort einen Lehrauftrag, doch nach Georges Tod hatte sie sich für ein Jahr beurlauben lassen. Sie hatte noch immer viele Freunde und Kollegen in Metropolis, die sie kannten und vermissten. »Du kannst Joel einladen mitzukommen, wenn du willst, und ihm die Universität zeigen«, fügte sie hinzu. Ginger war von dem Angebot begeistert, und nachdem sie Joel abgeholt hatten, fuhren sie Richtung Norden in die Stadt. Ginger saß zusammen mit Joel im Fond, und sie unterhielten sich während der ganzen Fahrt. Janice trug es mit Fassung, dass sie ignoriert wurde, obwohl es ihr einen kleinen Stich versetzte. Mein Baby ist erwachsen geworden, ohne dass ich es gemerkt habe... und es ist gut, dass sie mehr Zeit mit ihren gleichaltrigen Freunden verbringt als früher. Janice nahm sie zum Mittagessen in die Fakultätskantine mit. Es war ein wunderschöner, holzgetäfelter Raum mit einem großen Speiseangebot, sehr traditionsbewusst mit alten Rüstungen und Gemälden ehemaliger Universitätspräsidenten und Studenten an den Wänden. Natürlich hingen dort auch Bilder der Luthors. »Ich wünschte, ich könnte auf eine Uni wie die hier gehen«, sagte Joel, und Janice dämmerte überrascht, dass er annahm, eine derartige Universität sei für ihn unerreichbar. »Wie ist dein Zensurendurchschnitt?«, fragte sie, und als er 1,89 sagte, erkundigte sie sich nach dem Ergebnis seines Eignungstests für die Uni, das ebenfalls hervorragend war. »Es gibt keinen Grund, warum du nicht auf diese Uni gehen könntest«, sagte sie. »Du kannst es jedenfalls versuchen.« »Es liegt am Geld«, murmelte er. »Es gibt Stipendien«, antwortete sie.
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Er blickte interessiert auf. Sie beugte sich nach vorn und fragte: »Was würdest du mit einem Collegeabschluss tun?« Ohne zu zögern, sagte er: »Helfen!« »Helfen.« Sie lächelte leicht. »Wem helfen?« »Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll«, gestand er. »Aber ich würde versuchen, etwas zu bewirken.« Ginger berührte seine Hand und sagte: »Das hast du bereits.« Janice dachte einen Moment nach. Sie waren beide Oberstufenschüler und das Schuljahr war bereits zu weit fortgeschritten für eine Bewerbung für das Wintersemester. Als Tochter eines Fakultätsmitglieds würde Ginger sicherlich im Herbst hier aufgenommen werden. Janice hatte eine Menge Freunde in hohen Positionen... »Wenn du deine Bewerbungsunterlagen zusammenstellst, werde ich sie für dich einreichen«, sagte sie spontan. »Möglicherweise wirst du bis zum Frühjahr warten müssen, doch wir werden sehen. Und ich werde dir helfen, etwas Geld aufzutreiben. Aber du wirst wahrscheinlich neben dem Studium noch arbeiten müssen. Irgendetwas. Und es wird nicht einfach sein.« »Oh, Mom«, rief Ginger aufgeregt. »Mom, das wäre wahnsinnig cool!« Joel blickte völlig verblüfft drein. Dann sah er auf seinen Teller und sagte: »Ich... danke Ihnen, Dr. Brucker.« Sie war über sich selbst überrascht. Derartige Aktionen waren für George typisch gewesen, aber nicht für sie. Anscheinend werde ich die Familientradition fortsetzen, dachte sie. Nach dem Mittagessen bot Ginger Joel an, ihm die Fachbereiche Sozialarbeit, Pädagogik und Psychologie zu zeigen – »um dir die Entscheidung zu erleichtern, welches Hauptfach du belegen willst«. Janice versprach, in ein paar Stunden fertig zu sein.
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Beschwingt überquerte sie den Hof, vorbei an den im gotischen Stil gehaltenen Hallen der altehrwürdigen Universität, passierte dann das Luthor Building – in dem der Fachbereich Betriebswirtschaft untergebracht war – und erreichte schließlich einen älteren Teil der Universität, der weit weg von den Hauptgebäuden der angesehenen Institution lag. In ihm befand sich der Fachbereich Philosophie, geleitet von Rafael Alcina, einem alten Freund von ihr und George. Er hatte außerdem viele Abende in ihrem Apartment verbracht und mit ihnen über Kohl, Könige und das Innenleben des Individuums diskutiert. Aber die Erinnerung an das Gespräch, das sie bei einer der hervorragenden Mahlzeiten, die George zubereitet hatte, geführt hatten, war der eigentliche Anlass ihres Besuchs gewesen. Er hatte damals über Die Fliege geplaudert – ein Film, in dem die Ansicht vertreten wurde, dass eine Person, die aufgelöst und an einen anderen Ort transportiert wurde, noch immer dieselbe Person war. »Was ist, wenn so etwas tatsächlich passieren würde?«, hatte er das Paar gefragt. »Wenn sich unsere Körper zwar auflösen, unsere... sagen wir, spirituellen Moleküle... sich aber an einem anderen Ort wieder zusammenfügen?« »Wie bei einem Geist«, hatte George begeistert eingeworfen. »Ja, wie ein Geist«, hatte Rafael bestätigt. »Oder einer Seele, die ins Jenseits kommt.« »Wie erklärst du dir den Transport des Bewusstseins?«, warf Janice ein. »Nach heutigem Wissensstand ist das, was wir als Bewusstsein bezeichnen, nur die Verdrahtung des Gehirns«, hatte Rafael argumentiert. »Wir sind weit mehr ›sequenziell‹ als organisch. Die Frage ist: Wenn man die Essenz einer Person nach dem Tod wieder zusammensetzen kann, warum nicht auch ihr Bewusstsein?«
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Er hatte Recht – warum nicht? Und wenn man dann noch eine Art Energie hinzufügte, damit es für die »Lebenden« sichtbar wurde? Wie die Energie der Meteoriten? Vor ihr tauchte jetzt Rafaels Bürotür auf, dunkle Holzpaneelen mit einem bronzenen Türklopfer in der Mitte. Der Klopfer war wie das Gesicht eines Harlekins geformt. Sie hatte ihn schon immer ein wenig unheimlich gefunden. Er schien sie anzustarren und aufzufordern, ihn in Ruhe zu lassen und zu verschwinden. Als sie klopfte, drang aus dem Innern Rafaels vertraute Stimme: »Herein.« Sie trat ein und er sprang auf und nahm sie in die Arme. »Janice! Willkommen daheim!« Er löste sich von ihr und betrachtete ihr Gesicht. »Deshalb bist du doch hier, oder? Um wieder an die Arbeit zurückzukehren?« Die Umarmung fühlte sich gut an. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie es vermisste, einfach nur berührt zu werden. Ich muss Ginger mehr umarmen. Falls sie mich lässt, nahm sie sich vor. »Bedauerlicherweise nein«, erwiderte sie, als er sie losließ. »Oh, nein«, sagte er ziemlich theatralisch. »Dann hast du mich wohl gar nicht vermisst.« Sie holte tief Luft. »Rafael, mein Arbeitgeber möchte, dass ich einige Daten analysiere. Es handelt sich dabei offenbar um den visuellen Beweis für eine Art paranormale Manifestation.« Sie verstummte und schlug verlegen die Augen nieder. »Und da fiel mir ein Gespräch ein, das wir vor langer Zeit geführt haben.« »Paranormale Manifestation«, wiederholte er bedächtig. Sie blinzelte. »Er hat mich gefragt, ob ich das Phänomen für einen Geist halte.« »Ja«, nickte er. »Lex Luthor. Er hat mich heute Morgen angerufen. Weiß er, dass wir Kollegen sind?«
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Sie zog die Brauen hoch. »Ich nehme es an. Er recherchiert sehr gründlich.« »Weißt du auch, dass er diese paranormale Manifestation ›den Geist von Smallville‹ nennt?« Ihre Lippen teilten sich überrascht. Er schien ihre Erregung nicht zu bemerken, als er unbekümmert fortfuhr. »Offenbar haben einige Schüler aus dem Ort eine Geisterjagd durchgeführt. In einem alten Farmhaus. Ich habe ihn gebeten, mitmachen zu dürfen. Ich will versuchen, Kontakt mit dieser Manifestation aufzunehmen.« Janices Magen zog sich zusammen. »Welche Schüler?«, fragte sie beklommen. Als sie Rafaels Büro verließ, machte sie sich auf die Suche nach Ginger und ihrem Freund. Sie stürmte über den Hof und sah die beiden am vereinbarten Treffpunkt warten. Schnell lief sie auf sie zu und ging sofort zum Angriff über. »Was geht hier vor, Ginger? Was hast du mit deinen Freunden in dem Farmhaus getrieben?« Ginger sagte nichts. Sie sah nur verängstigt und schuldbewusst drein. Joel blickte besorgt zwischen Tochter und Mutter hin und her. »Wie konntest du das nur tun, ohne mir davon zu erzählen? All diese... gefährlichen Nachforschungen betreiben, ohne mich zu fragen?« Ginger straffte ihre Schultern und hob ihr Kinn. »Wann hast du schon Zeit, damit man mit dir über irgendetwas reden kann?«, schleuderte sie ihr entgegen. »Wir haben gestern Nacht geredet!«, schrie Janice. »Du hast es die ganze Zeit gemacht und mir nichts davon gesagt...« »Dr. Brucker«, begann der Junge, aber Ginger legte eine Hand auf seinen Unterarm und trat einen Schritt auf ihre Mutter zu. »Ich habe dich beschützt!«, stieß sie hervor. 242
Janice starrte sie an. »Mich beschützt? Vor der Tatsache, dass du irgendwelche bizarren Experimente durchführst, bei denen du verletzt werden kannst?« »Ja!«, schrie Ginger. »Und du hast es auch getan, Mom. Du hast gefährliche Experimente durchgeführt, von denen du mir nichts gesagt hast! Sie haben Daddy getötet. Und jetzt... jetzt...« Tränen strömten über ihr Gesicht. »Du sagst im Schlaf immer: ›Ich habe dich getötet, George.‹ Und Joel...« – sie wies auf ihn – »... Joel hat vor etwa sechs Monaten Kontakt zu diesem Geist bekommen, Mom. Genau zu dem Zeitpunkt, als Daddy starb!« Janice war so verblüfft, dass sie einen Schritt zurücktrat. »Du glaubst, diese Manifestation ist dein Vater?« »Ich weiß es nicht!«, rief Ginger. Sie schluchzte. »Mom, ich weiß es nicht, aber irgendetwas steckt dahinter. Irgendetwas geschieht! Und du quälst dich, Mom. Wann hast du zum letzten Mal ruhig geschlafen?« Joel trat vor und streckte die Arme aus, als wollte er Janice ein Friedensangebot machen. »Dr. Brucker, es ist meine Schuld«, sagte er. »Ich... ich habe mich auf Dinge eingelassen, auf die ich mich nicht hätte einlassen dürfen. Ich habe eine Art Kontakt hergestellt.« Er fasste sich an die Stirn. »Ich weiß nicht, wie ich es ihnen erklären soll. Ich kann es ja nicht einmal mir selbst erklären.« »Es liegt ein großer Meteorit in dem Maisfeld«, warf Ginger unvermittelt ein. Janice starrte die beiden an. »Am besten«, sagte sie bedächtig, »fangt ihr ganz am Anfang an.«
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13 CHLOE STELLTE IHREN ARTIKEL über Geister fertig und schickte die Korrekturfahne an den Drucker. Der G3Prozessor des iMac der Schülerzeitung war leistungsstark, wenn auch ein wenig veraltet, und erzeugte in Sekundenschnelle die Postscriptdatei, die für den Ausdruck benötigt wurde. Natürlich beanspruchte die alte Software, die die Schule benutzte, den moderneren Computer nicht sehr. Es war spät – sogar die Sportfreaks waren alle schon nach Hause gegangen –, und es war still in dem Gebäude. Aber im Büro der Fackel war noch lange kein Ende der Arbeit abzusehen. »Clark, hier ist Seite vier. Überprüfe sie bitte, damit sie morgen in Druck gehen kann.« Clark saß in der Ecke und hatte mehrere der sorgfältig bearbeiteten Fackel-Druckfahnen vor sich liegen neben einigen Büchern, die er für seinen Geschichtsaufsatz ausgewählt hatte. Ganz oben befand sich eine Broschüre von Betty-Ann Carson mit dem Titel Farmen in Smallville: Eine vollständige Geschichte. Er war schon seit Stunden mit dem Korrekturlesen der Artikel beschäftigt. Morgen würde Chloe sie ins Mediazentrum bringen und im Zeitungsformat ausdrucken lassen. Nebenbei hatte er ab und an in der Broschüre geblättert und nach historischen Informationen über das Welles-Haus gesucht. Jetzt, da Chloe den letzten Artikel fertig hatte, würde sie ebenfalls zu graben anfangen. Wenn es nach mir ginge, würde ich lieber einen iMac als eine Schaufel benutzen, dachte er bei sich. Doch wenn ihre Theorie – und sein Röntgenblick – sie nicht trogen, würden früher oder später Leichen auftauchen.
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Doch wie soll ich die anderen darauf bringen? Das Problem beschäftigte ihn, seit er es entdeckt hatte. Chloe stellte die Verbindung zum Internet her. Das war eine hart erkämpfte Konzession, für Chloe keinesfalls selbstverständlich. Seit sie den Chefredakteursposten der Zeitung übernommen hatte, hatte sie darum gekämpft. Nach einigen Auseinandersetzungen hatte sie mit Direktor Kwans Vorgänger einen Kompromiss geschlossen: Sie konnte den Zugang haben, wenn ein Zensurprogramm den Zugriff auf »fragwürdige« Sites blockieren würde. Sie hatte eingewilligt und dabei in sich hineingegrinst. Kurz darauf hatte einer von Petes Freunden im Computerclub diese Sicherung in nicht einmal fünf Minuten geknackt. Die vierte Gewalt wird sich bei ihren Recherchen nicht behindern lassen, hatte sie ohne schlechtes Gewissen gedacht. Die Vorstellung, dass sie eine Kämpferin für die Wahrheit sein konnte, war für Chloe erregend. Nein – es war mehr für sie – es war eine Mission. Die Tatsache, dass sie dafür auch noch bezahlt werden würde, beflügelte sie zusätzlich. Sie war schon immer klug gewesen, und das war ihr Segen und gleichzeitig ihr Fluch, denn es bedeutete, dass alles, was sie tat, etwas bedeuten musste. Der Journalismus war ein Mittel, mit dem sie ihren Verstand kompromisslos einsetzen konnte. Chloe hatte den letzten Sommer in Metropolis verbracht, wo ihr der Gedanke gekommen war, einen Artikel über den Alkoholkonsum von Minderjährigen zu schreiben. Sie hatte in ganz Metropolis versucht, sich in verschiedene Nachtclubs und Bars zu schleichen, um herauszufinden, wie leicht es Teenagern gemacht wurde zu trinken. Wie sich herausstellte, wollte niemand sie bedienen, und so hatte sie das Handtuch geworfen. Obwohl sie nicht bereit war, sich von Fakten eine gute Story verderben zu lassen, musste sie doch ein paar Fakten haben, auf die sie ihren Artikel stützen konnte.
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Als sie nach Smallville zurückgekehrt war, hatte sie überrascht festgestellt, wie einfach es war, den Chefredakteursposten bei der Fackel zu bekommen – niemand außer ihr hatte den Job haben wollen. Erstaunlich. Vielleicht lag es an der Gleichgültigkeit der anderen. Es war ein Besorgnis erregender Gedanke, dass die meisten Leute kein Interesse daran hatten, die Wahrheit aufzudecken, was ein Grund mehr für sie war, die Fassaden der Welt einzureißen und ihr Innenleben zu enthüllen. Manchmal kam sie sich wie eine Rebellin vor, die versuchte, ein verschlafenes Städtchen auf dem Land aufzurütteln. Viele, die ihre Warnungen hörten, drehten sich einfach um und schliefen weiter. Andere wollten erst gar nicht gestört werden. Direktor Kwan hatte seit seiner Ankunft versucht, die Richtung der Zeitung zu kontrollieren. Sie waren zu einer weiteren Übereinkunft gelangt – keine Sensationsartikel mehr. Chloe durfte über nichts schreiben, das nicht mit der Schule zusammenhing, sofern es keinen Unterhaltungszwecken diente. Und sie hielt ihren Teil der Vereinbarung ein – größtenteils. Die Geisterstory zum Beispiel hatte sie als Unterhaltung getarnt. Dabei war es Chloe gelungen, einige Andeutungen hineinzuschmuggeln. Sie hatte den Artikel mit »Vergnügliche Fakten, die man kennen muss, wenn man die derzeitige Faszination für Geister verstehen will« betitelt und sich dabei auf die Gerüchte über Joel bezogen. Das Interview mit ihm hatte sie ebenfalls hineingeschmuggelt. Sie hatte herausgefunden, dass Direktor Kwan seinen Posteingangskorb nur einmal am Tag überprüfte, und zwar direkt am Morgen, wenn er ins Büro kam. Wenn sie eine Kopie der Druckfahnen kurz nach diesem Zeitpunkt hineinlegte, konnten sie gedruckt werden, ohne dass er Änderungen vorschlagen konnte.
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Aber, Direktor Kwan, ich habe Ihnen doch eine Kopie zukommen lassen, bevor die Zeitung in Druck ging, würde sie ihm sagen, wenn er sie darauf anspräche. Sie sah sich in dem voll gestopften Büro um. Vor der Zeit des Desktoppublishings hatten sie viel mehr Platz für die Layouts und den Klebeumbruch gebraucht. Bis jetzt hatte niemand in der Verwaltung diese Veränderung bemerkt, und Chloe würde sie bestimmt nicht aufklären. Sie hatte vor, noch mehr Reporter einzustellen, falls sie welche fand – zumindest mehr als sie, Pete und Clark. Lana schrieb von Zeit zu Zeit auch ein paar Artikel, aber der Großteil der Arbeit blieb an den anderen hängen. Chloe hatte noch drei weitere HighschoolJahre vor sich; bis dahin hoffte sie, den Smallville Ledger übertroffen zu haben. Pete, der normalerweise auch hier wäre, um in letzter Minute einen Artikel herunterzuhacken, hatte ihnen abgesagt. Er arbeitete derzeit für Gouverneur Welles’ Wiederwahlkampagne, dem Objekt ihrer letzten Recherche. Aber es war ihr nicht gerade unangenehm, hier mit Clark allein zu sein... Konzentriere dich, Chloe, konzentriere dich, ermahnte sie sich! Sie wusste wirklich nicht, was sie von Petes neuer Begeisterung für die Politik halten sollte. Es war gut, wenn jemand etwas machte, woran er glaubte – aber sie war sicher, dass Welles nichts Gutes im Schilde führte. Doch Pete wollte einfach nicht auf sie hören. Sie hatte vorgeschlagen, dass er als Insider einen Artikel über den Gouverneur schreiben sollte, doch er hatte abgelehnt. »Auf keinen Fall«, hatte er gesagt. »Ich frage mich, warum er nicht bereit ist, uns zu helfen«, sprach sie ihre Gedanken laut aus. »Was?«, fragte Clark von der anderen Seite des Raumes. »Oh – tut mir Leid, Clark. Ich meinte Pete«, erklärte sie, 247
drückte die »Enter«-Taste und startete damit eine Suche nach Artikeln über den Gouverneur, die in den letzten zwei Jahren erschienen waren und die Suchwörter »Haus« und »Smallville« enthielten. Über das langsame 56K-Modem trafen die Ergebnisse der Suche ein. Gouverneur im Großen Haus. Gouverneur unterstützt Hausbauprojekte. Smallviller Gouverneur siegt klar. Nichts. Sie setzte die Suche fort und gab diesmal die Schlüsselwörter »Smallville« und »Welles« ein. »Pete gefällt einfach die Tatsache, dass der Gouverneur aus Smallville kommt«, sagte Clark. »Ich weiß nicht, ob das so gut ist, nach allem, was ich gesehen habe«, erwiderte Chloe. »Vielen Dank, Chloe. Die meisten meiner Freunde sind von hier«, sagte er und betonte dabei das Wort »meisten«. »Oh, nein. Ich meinte, dass diese ›Einer von uns‹-Faszination gefährlich ist.« Clark klopfte auf die Broschüre. »Betrachte es einmal von Petes Standpunkt aus. Er ist hier aufgewachsen, genau wie Gouverneur Welles. Dass er Smallville verlassen hat und etwas in der Welt bewirkt, ist für Pete eine große Sache.« Er schwieg einen Moment. »Ich meine, Chloe, hast du erwartet, dass Smallville cool oder aufregend ist, als du hierher gezogen bist?« Nein, das hatte sie nicht. Sie war außer sich gewesen, als ihr Vater den Job als Manager der Düngemittelfabrik der LuthorCorp angenommen hatte. Schon Sekunden, nachdem sie die endlosen flachen Felder gesehen hatte, die die Stadt umgaben, hatte sie nur weg gewollt. Natürlich hatte sie inzwischen erkannt, wie einzigartig Smallville mit seinen merkwürdigen Vorfällen war. Deshalb sah sie die Stadt jetzt in einem etwas anderen Licht. 248
Aber sie verstand, was Clark ihr klarmachen wollte. »Okay, ich kann verstehen, dass er Welles dafür bewundert, dass er es so weit geschafft hat, aber wäre es nicht besser, Pete würde jemand unterstützen, der sich mehr für die Umwelt einsetzt?« »Guter Einwand«, nickte Clark. Ein kurzer Blick auf den Bildschirm ließ ein breites Lächeln auf Chloes Gesicht erscheinen. Es lag an der Schlagzeile, die aufgrund der Suchergebnisse über den Bildschirm flimmerte. Welles’ dubioses Geschäft. Sie klickte die Adresse an. In diesem Moment brach der Browser zusammen und eine Fehlermeldung erschien auf dem Monitor. »He!«, rief sie entsetzt. Keine Verbindung mehr, lautete die Meldung auf dem Bildschirm. Clark rief: »Was ist los?« »Ich habe die Verbindung verloren!« »Soll ich dir helfen, nach ihr zu suchen?« Sie warf einen Block Klebezettel nach ihm. Normalerweise zielte sie nicht besonders gut, aber an diesem Abend hätte sie bei den Dodgers werfen können. Peng! Er traf ihn mitten im Gesicht. »Oh, nein! Tut mir Leid, Clark, das wollte ich nicht!« Er lachte nur. Es war gut, dass er hier war und sie ihn für sich allein hatte. Und es war noch besser, dass er sich nicht für Ginger interessierte. Sie hatte noch immer Hoffnung –, aber es war besser, wenn sie sich zurückhielt. Die unerschrockene Reporterin wird diese Story im Moment nicht verfolgen, verspottete sie sich selbst. Sie stellte die Internetverbindung wieder her, und das Piepen des Modems erfüllte den Raum. Sie startete den Browser neu und klickte die letzte eingegebene Adresse an, aber nichts geschah. 249
Verdammt! Sie war nicht mehr gespeichert. Langsam wiederholte sie ihre Eingaben von vorhin und ging die angezeigten Treffer durch, bis sie den Eintrag wieder fand. Sie klickte ihn an, aber er ließ sich einfach nicht öffnen. Allmählich wurde sie richtig wütend. Clark hörte, wie sie auf die Tastatur schlug, und drehte sich zu ihr um. »Vielleicht liegt es an der meteoritengrünen Farbe des Computers«, meinte er mit einem Lächeln. »Das ist nicht witzig, Clark.« Aber es war einen Versuch wert. Vielleicht würde es an dem anderen Computer funktionieren. Chloe drehte sich zu dem roten iMac hinter dem Schreibtisch um und fuhr ihn hoch. Die Melodie, die er beim Hochfahren von sich gab, munterte sie irgendwie auf. Sie war eine Reporterin, verdammt. Sie würde sich von diesen ärgerlichen Problemen mit der Internetverbindung nicht an ihren Recherchen hindern lassen. Trotz aller Vorzüge, die die Computer mit sich gebracht hatten, beneidete sie die alten Reporter für einen Moment. Sie hatten noch herumschnüffeln, in alten Akten wühlen können. Das waren noch Zeiten gewesen. Woodward und Bernstein hatten sich keine Sorgen wegen ISP-Problemen oder abgestürzten Servern machen müssen. Sobald der Startvorgang beendet war, wiederholte Chloe erneut ihre Eingaben. Diesmal sah ihr Clark dabei über die Schulter. Pete hatte eine Theorie über Computerabstürze – die richtig ärgerlichen machten sich immer nur bei einer Person bemerkbar. Wenn ein anderer zusah, lief alles wie am Schnürchen. Chloe fand das ein wenig abergläubisch, aber es schien zu funktionieren. Diesmal hielt die Verbindung. Das dubiose Geschäft des Gouverneurs, lautete die Schlagzeile. Chloe klickte den Link an und überflog den Absatz, aber ihr Optimismus verflog. Der Gouverneur hatte 250
500 Regenschirme für eine Veranstaltung in der Hauptstadt gekauft. Es hatte nicht geregnet, doch sie waren schließlich als Sonnenschirme benutzt worden. Unglaublich. Sie ärgerte sich mehr und mehr. »Sieht aus, als wäre er am Wohlergehen der Leute interessiert«, sagte Clark. Sie drehte sich zu ihm um und wollte etwas Gemeines sagen, als plötzlich von der anderen Seite des Raumes ein Krachen ertönte. Clarks Bücher waren soeben vom Tisch gefallen. Clark fuhr überrascht herum. Dort war niemand – doch all seine Bücher lagen auf dem Boden. Mysteriös. »Clark... sag mir, dass du das nicht warst!« Chloe klang aufgeregt. »Äh, nein.« Die Tür verriegelte sich. Sie sahen sich an. »Sie sind hiiieeer«, sagte Chloe grinsend. Sie wirkte nicht die Spur ängstlich, sondern griff in ihre Handtasche und nahm ihren digitalen Fotoapparat heraus. »Diesmal werde ich ein paar Fotos für die Zeitung schießen.« Sie stand auf, sah sich im Zimmer um und hielt den digitalen Fotoapparat wie eine Waffe in der Hand. Ein blinkendes Licht an der Rückseite zeigte an, dass der Blitz bereit war. Clark sah sich mit seinem Röntgenblick im Zimmer um. Dort war etwas. Er sah einen grünlichen Ball, umgeben von denselben fedrigen Fühlern, die er zuvor im Maisfeld gesehen hatte. Was immer es auch war, es schien zu spüren, dass er es sehen konnte, und Clark verfolgte fasziniert, wie sich grüne Tentakel um ein kleines Bücherregal schlangen... ... und es nach ihm warfen.
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Clark war nicht mehr superschnell, aber immer noch schneller als die meisten Menschen. Er packte Chloe, drückte sie zu Boden. Das Bücherregal streifte ihn an den Schultern. Chloes überraschtes »He!« wurde vom Krachen des Regals übertönt, das beim Aufprall auf dem Boden zerbrach. Was jetzt?, dachte er besorgt. Clark fuhr wieder herum und sah einen anderen Stapel Bücher in ihre Richtung fliegen. Er duckte sich und zog Chloe mit sich, die wie besessen knipste. Dem gedämpften Piepen und dem Blitz folgte das Poltern der Bücher, die am Schreibtisch vorbei über den Boden rutschten. »Vorsicht, Clark! Pass auf die Kamera auf!« Um die Kamera machte er sich die geringsten Sorgen. Er konnte es nicht glauben. Sie waren hier höchstwahrscheinlich zusammen mit einem Geist eingesperrt, der schwere Gegenstände nach ihnen warf, und Chloe interessierten nur ihre Fotos. Ich bin mir nicht sicher, ob ich an ihrer Stelle die Ruhe bewahren würde, und ich weiß immerhin, dass der Geist mir nichts anhaben kann. Was sollten sie nur tun? Die Erscheinung gewann offenbar immer mehr Energie, während sie weitere Gegenstände nach ihnen warf. Bücher, alte Akten, die Fahnen für die morgige Fackel. »He! Das sind die Fahnen! Hör auf damit!« Chloes empörter Ausruf brach ab, als der grüne iMac von ihrem Schreibtisch kippte. Clark sah ihn wie in Zeitlupe fallen und machte einen Sprung nach vorn. Er streckte die Hände nach dem stürzenden Computer aus, der gleich auf dem Boden aufschlagen würde. Das grelle Neonlicht der Deckenlampen funkelte auf dem grünen Plastik und wurde leicht von dem dunklen Monitor reflektiert. Geschafft! 252
Er hatte ihn aufgefangen. Zwar hatte er noch immer nicht seine frühere Schnelligkeit zurückgewonnen, aber er hatte den Eindruck, dass es besser wurde. »Oh, Gott sei Dank! Clark – da sind all meine Dateien drin.« Clark kam ein größeres Problem in den Sinn, als sie unter den schweren Arbeitstisch krochen, auf dem der Computer stand: Wie sollten sie hier rauskommen? Chloe war hellwach, beobachtete alles, hatte einen digitalen Fotoapparat und war Reporterin bis ins Mark. Er wusste nicht, was er tun sollte, vor allem, da er nicht mehr über seine Superschnelligkeit verfügte. Außerdem musste er sein Geheimnis bewahren. Er konnte die Sonderausgabe der Fackel schon vor sich sehen: Highschooljunge stammt in Wirklichkeit von einer anderen Welt. Das Poltern der herabfallenden Gegenstände hörte einen Moment lang auf. Stattdessen schwebten die Bücher, die Clark gesehen hatte, in der Luft. Er aktivierte kurz seinen Röntgenblick und sah, dass grüne, fedrige Fühler die Bücher umschlungen hatten und sie in der Luft hielten. Er glitt zur Tür und zog Chloe mit sich. Aber sie wehrte sich. Die Reporterin schoss ein Foto nach dem anderen von den schwebenden Büchern und murmelte vor sich hin. »Ich hab’s! Das Bild ist im Kasten! Oh ja, sie wollten mir nicht glauben, aber jetzt müssen sie!« Da gab die Kamera einen Piepton von sich und schaltete sich kurz darauf ab. »Die Batterien sind alle! Clark! Gib mir die Batterien, ja?« »Äh, Chloe, wie wäre es, wenn wir uns einfach zur Tür verziehen würden?« »Nein.« Die schwebenden Bücher stiegen höher in die Luft und klappten auf. Die Seiten raschelten. Clark war wie erstarrt. Er
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konnte sich nicht entscheiden, was er tun sollte. Chloe wollte nicht gehen. Es sei denn, er würde sie nach draußen zerren. Aber zuerst musste er sich vergewissern, dass sie entkommen konnten. Er glitt rückwärts zur Tür des Redaktionsbüros und tastete nach dem Knauf. Aber dann hielt er inne und musterte ihn. Er ist eingeschleimt worden, dachte er angeekelt. Er griff in seine Gesäßtasche und zog einen Lumpen heraus, den er bei der Arbeit benutzt hatte. Er und Dad hatten die Flüssigkeiten des alten John Deere nachgefüllt, den er repariert hatte, und er hatte mit dem Lumpen den Ölstand überprüft. Er wischte so schnell er konnte den Schleim vom Türknauf. Er spürte die Auswirkungen der Meteoriten durch das Tuch, aber zumindest würde der Schleim so nicht an ihm kleben. Geschafft. Er war erleichtert. Nun streckte er die Hand aus, umfasste den Knauf und drehte ihn ruckartig. Dank seiner Superkraft zerbrach das Schloss und der Knauf bewegte sich frei in seiner Hand. Glücklicherweise war Chloe auf die schwebenden Bücher konzentriert und außerdem damit beschäftigt, die Batterien ihrer Kamera auszuwechseln. Sie hatte nichts bemerkt. »Chloe, lass uns von hier verschwinden!« Aber sie bewegte sich nicht von der Stelle. Im Gegensatz zu dem Ding – dem großen grünen Ding. Es rammte den riesigen Arbeitstisch gegen Clark. Dann stieß der Tisch gegen die Tür und hielt sie zu. Clark wusste, dass er die Tür ohne Mühe eintreten und den Tisch in Zahnstocher verwandeln konnte, aber wie sollte er das Chloe erklären? Komm schon, Clark, denk nach!, feuerte er sich an. Er brauchte mehr Zeit. Und dann kam ihm eine Idee – er konnte sich nicht superschnell bewegen, aber er konnte so denken. Er veränderte sein Wahrnehmungssystem, sodass alles im Raum einzufrieren 254
schien. Die Bücher schwebten in der Luft, gehalten von dem gespenstisch grünen Ektoplasma. Chloe war erstarrt, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, die Hand an der Batterieklappe des digitalen Fotoapparats. Er überdachte seine Optionen. Okay. Chloe zu packen und aus der Tür zu rennen, kam nicht in Frage, so lange er es nicht tun konnte, ohne seine Kräfte zu offenbaren. Dasselbe galt für einen Sprung aus dem Fenster. Hätte er noch über seine Schnelligkeit verfügt, hätte er ihr seine Jacke über den Kopf werfen und sie nach draußen schleppen können, aber in seiner derzeitigen Verfassung war das nicht möglich. Während Clark verschiedene Möglichkeiten durchdachte, betrachtete er das grüne Ding, das im Raum schwebte. Es sah wie ein riesiger grüner Tintenfisch aus; seine Tentakel waren überall und griffen nach Gegenständen. Einer der Tentakel näherte sich Chloe; er konnte sehen, dass er fast ihr Bein berührte. Was hat es vor? Will es Chloe auf mich werfen?, fragte er sich. Er konnte es sich nicht leisten, es herauszufinden. Dann bemerkte er einen grünen Faden, der zu einer der Wände reichte, sie durchbohrte und... wohin führte? Clark fühlte sich an das Ding erinnert, das er im Maisfeld gesehen hatte. Es war, als würde es nach etwas greifen. Nach was? Etwas Unsichtbarem? Etwas außerhalb der Schule? Oder es handelte sich um eine Art Energieleitung! Sofort wusste er, dass es stimmte. Wenn er tun konnte, was er in jener Nacht im Maisfeld getan hatte, als Joel fast zum zweiten Mal verschwunden war, würde er vielleicht die Energieversorgung unterbrechen und es aufhalten können. Es
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wäre dann kein aufgeladener Geist mehr. Er musste es versuchen! Er versuchte, sich zu erinnern, was er in jener Nacht getan hatte. Er hatte den Geigerzähler eingeschaltet, eine Taschenlampe auf das Ding gerichtet, es mit seinen Händen gepackt... Er normalisierte sein Wahrnehmungssystem wieder, stürmte los und entriss Chloe den Fotoapparat. Das Licht blinkte, also war der Blitz bereit. Er fuhr zu dem einzelnen Tentakel herum. Er hörte, wie Chloe hinter ihm schrie. Sie hatte also doch Angst bekommen. Die Kreatur hatte ihr Bein gepackt und hob sie in die Höhe. Er aktivierte das Blitzlicht und schlug mit seiner Hand zu. Er wartete darauf, dass die Energieleitung unterbrochen wurde. Nichts. Chloe schrie erneut, und Clark konnte sehen, dass sie in der Luft schwebte. Sie hing jetzt über den Büchern, deren Seiten sich von allein umblätterten, und zwar so schnell, dass sie Wind erzeugten und ihre Haare nach hinten flattern ließen. Er schlug wieder nach dem grünen Strang und hoffte, dass er endlich zerriss, sodass er seine Freundin retten konnte. Plötzlich schien er tatsächlich dünner zu werden. Dann löste er sich auf. Sofort fielen die Bücher zu Boden, gefolgt von Chloe, die mit einem lauten Poltern landete. »Auuu!« »Bist du okay, Chloe?« Sie nickte und bewegte vorsichtig ihre Schulter, mit der sie aufgeschlagen war. Dann streckte sie die Hand aus und nahm ihm den Fotoapparat ab. »Netter Schnappschuss, Clark. Ich schätze, du hast ein hervorragendes Foto von den Dielen gemacht.« Vor der Schule schickte Chloe Clark auf Streife, während sie ihre Fotos überprüfte. 256
Das ist fantastisch! Ich bin in der Redaktion von einem geisterhaften Wesen angegriffen worden! Wie viele Reporter können von sich behaupten, dass sie auf diese Weise an eine Story gekommen sind? Mal sehen, ob Direktor Kwan versuchen wird, ihre Veröffentlichung zu stoppen. Sie hat zweifellos mit der Schule zu tun! Es ist schließlich in der Schule passiert. Sie klickte sich durch die Fotos und ihre Euphorie wurde merklich gedämpft. Einige waren nicht besonders gelungen. Eins zeigte nur den Tisch, ein anderes die Hälfte von Clarks Gesicht, sodass sein Auge den kleinen Bildschirm der Kamera ausfüllte, und die letzte Aufnahme von den Dielen war auch nicht gut... Aber einige der anderen... Gegenstände, die durch den Raum flogen, Bücher, die schwerelos in der Luft schwebten, die verschwommenen Umrisse von Objekten, die Richtung Fotoapparat geschleudert wurden... Toll! Das ist toll!, dachte sie, erneut beflügelt. Chloe sah zu den Büchern hinüber, die auf den Boden gefallen waren. Warum hatte der Geist diese Bände genommen? Sie kniff die Augen zusammen. Drei der Bücher waren beim Aufprall aufgeschlagen und zeigten Bildseiten. Da es historische Fotobände über Smallville waren, konnte es nicht überraschen, dass beim Aufklappen Fotos zu sehen waren. Sie starrte die Bilder an: Dort, in der Mitte einer der Seiten, war ein Farmer abgebildet, der finster in die Kamera starrte. Er war hoch gewachsen, mit einem mächtigen Kopf und großen Ohren. Er kam ihr bekannt vor. Sie las die Bildunterschrift. Mattias Silver. Der Kerl von der Séance. Mattias... Erschrocken trat sie einen Schritt zurück. Clark trat zu ihr und warf einen Blick auf das Foto. 257
»Das ist er«, sagte er aufgeregt. »Er? Wer? Clark, wer?« Clark griff nach dem Foto des Farmers. »Erinnerst du dich an Gingers Zeichnung? Das ist er.« Clark hatte Recht! »Okay, Gouverneur Welles«, rief sie. »Ich habe dich jetzt! Du hast Mattias Silver getötet!« Clark schüttelte den Kopf. »Chloe, das haben wir doch schon geklärt – Welles war noch ein Junge, als der Farmer starb.« Vielleicht gab es zwei Geister. »Clark, er ist die einzige Verbindung – wenigstens die einzige, die noch lebt.« Sie fuchtelte mit den Armen, um ihre Worte zu unterstreichen. »Ein Nachbar stirbt, als Welles ein Junge ist, kurz bevor er gesund wird. Das ist doch komisch.« Sie schwieg einen Moment. »Und weißt du was? Ich wette, er steckt auch hinter unserem Computerproblem.« Sie wies auf die Computer. »Gouverneure haben große Macht. Vielleicht verwischt er alle Spuren, die zu ihm führen könnten.« Clark versuchte zu verstehen, was sie ihm damit sagen wollte. Ich muss Welles aufhalten, dachte sie. Sie hatte sich völlig in diesen Gedanken verrannt. »Ich glaube sogar, dass der Geist versucht hat, mich zu warnen – wie in einem alten Horror-Comic.« Sie grinste. »Das ist so toll! Das ist riesig! Ich werde damit in Metropolis auf die Titelseiten kommen!« Aber noch wichtiger war, dass sie mit ihren Enthüllungen dazu beitragen würde, eine nationale Tragödie abzuwenden. Und nur, indem sie die Öffentlichkeit informierte! Sie brauchte nur noch ein paar weitere Fakten. Hatte der Gouverneur wirklich jemand getötet? Oder war er nur Mitwisser?
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Es gab nur einen Menschen, von dem sie die Antworten erhalten konnte. »Wann, sagte Pete, kommt der Gouverneur in die Stadt?«, fragte sie beiläufig. Clark warf ihr einen fassungslosen Blick zu. Sie würde Hiram Welles einen Besuch abstatten, und zwar bald. Aber zuerst hatte sie noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Die Smallville High erwartete morgen eine Schülerzeitung, und sie würde sie bekommen. Vielleicht hatte niemand sonst den Chefredakteursposten übernehmen wollen und vielleicht würde niemand ihren Theorien glauben, aber sie würde dafür sorgen, dass sie die Chance hatten, über alles nachzudenken. Chloe Sullivan, Reporterin, Chefredakteurin und Herausgeberin, griff nach den Druckfahnen, die sie vorhin fertig gestellt hatte, und überlegte, wo sie den Artikel über den Geisterangriff platzieren sollte. Eindeutig auf Seite eins. Aber würde das Foto oben oder unten besser aussehen? Sie trat an den grünen iMac und fuhr ihn hoch. Es war Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. In einem Redaktionsbüro, in dem es spukte. Clark sagte: »Ich geb’s auf.« Sie grinste und machte sich ans Werk.
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14 ZU DEN VORTEILEN, ein Luthor zu sein, gehörte, dass Lex nur selten von jemand eingeschüchtert wurde. Und da er eine Machtposition inne hatte, nahm er auch von anderen Leuten in Machtpositionen an, dass sie mit ihrer Macht umzugehen verstanden. Und so war er nicht erstaunt, als um neun Uhr morgens in seinem Büro in der schottischen Burg seiner Familie sein Privatanschluss klingelte und der Anrufer sich als Hiram Welles entpuppte, der Gouverneur von Kansas. Er fragte sich nicht einmal, woher der Mann seine Privatnummer hatte. Er erwartete von jemand in Welles’ Position, dass er selbstverständlich an sie herankommen konnte. »Luthor«, begann der Gouverneur ohne die üblichen Höflichkeitsfloskeln, was Lex gefiel. »Was zum Teufel geht in meinem Haus vor?« Ah. Die Nachricht von der Geisterjagd im Farmhaus hatte also die Hauptstadt des Staates erreicht. Lex’ Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln; ihm gefiel die Aufregung des Mannes. Sie machte ihn außerdem neugierig. »Ihr Haus, Gouverneur?«, fragte er. »Es tut mir Leid. Ich habe keine Ahnung, was im Gouverneurspalast vorgeht.« »Spielen Sie hier nicht den Unwissenden. Sie wissen verdammt gut, dass ich das Haus in Smallville meine. Die Farm.« »Oh. Sie meinen das Haus in der Waitley Lane!« »Wir sollten nicht vergessen, wer eine Düngemittelfabrik und wer den Staat führt. Versuchen Sie nicht, sich wie Ihr Vater zu verhalten.« Das schmerzte... ein wenig. Aber eigentlich nicht sehr viel. Lex wäre kein Luthor gewesen, wenn ihn eine solche Kleinigkeit hätte verletzen können. 260
»Glauben Sie mir, Sir, ich habe wirklich nicht den Wunsch, mich in irgendeiner Hinsicht wie mein Vater zu verhalten.« »Sie sind impertinent!« »Nein, Sir. Nur ehrlich«, sagte Lex leichthin und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er griff nach einem Mont-BlancFüller und kritzelte auf einem Block Pergamentnotizpapier herum; jedes Blatt war mit seinen Initialen versehen. »Zu meiner Zeit...«, begann der Gouverneur und brach dann ab... wie es von einem Mann in seiner Position zu erwarten war. Es machte nicht gerade einen guten Eindruck, wenn er einem Wähler sagte, dass seine Zeit vorbei war. »Ein Mann, der in der Universität einen Lehrstuhl inne hat, den ich finanziere... im Fachbereich Philosophie... hat einem Mitarbeiter meines Büros erzählt, dass er nach Smallville fahren wird, um Kontakt mit einem Geist aufzunehmen. Und er hat gesagt, dass mein Haus das Ziel seiner Nachforschungen sein wird.« Rafael Alcina, dachte Lex. Der Mann ist für sein Interesse an paranormalen Aktivitäten bekannt. Deshalb habe ich ihn angerufen. »Hören Sie mir überhaupt zu, Luthor?« »Natürlich, Gouverneur, jedes Wort.« »Verdammt, Junge, seien Sie nicht so herablassend.« »Das würde mir nicht einmal im Traum einfallen.« Du aufgeblasener alter Egomane, fügte er in Gedanken hinzu. Der Gouverneur fuhr fort: »Dr. Alcina wurde geraten, nicht zu fahren. Nicht, wenn er seinen Posten in der Universität behalten will. Also. Es wird kein ›Tische rücken‹ auf dem Anwesen meiner Familie geben.« Er schwieg einen Moment. »Haben Sie verstanden?« »Gewiss«, sagte Lex. »Gut.«
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Der Gouverneur legte auf. Lex kritzelte weiter. »Ich verstehe, dass Sie keine weitere Geisterjagd wollen«, murmelte er. »Aber das ist auch alles, was ich verstehe.« Mir gefällt dieser Ort wirklich nicht, dachte Clark, als er erneut zu dem Farmhaus fuhr. Seine Eltern hatten sich um seine Sicherheit gesorgt und sich anfänglich geweigert, ihn gehen zu lassen, als Chloe ihn zu der heutigen »Geisterstunde« eingeladen hatte. Clark versprach, dass er sich von dem Maisfeld – und dem Meteoriten, der dort vergraben lag – fern halten und im Haus bleiben würde. Das hatte Martha und Jonathan keineswegs gefallen, doch sie mussten Clark hingehen lassen. Schließlich wurde Holly Pickering noch immer vermisst. Und Robin, die Frau vom Maklerbüro, war ebenfalls verschwunden. Das Einzige, was sie überzeugt hatte, ihn gehen zu lassen, war die Tatsache, dass Gingers Mutter Janice Brucker ebenfalls dort sein würde. Sie hatte außerdem einen ihrer Kollegen von der Universität eingeladen. Clark stieg aus dem Truck, ging die Treppe hinauf und hielt nach dem grünen Leuchten Ausschau. Er sah seine Freunde im Salon. Es waren insgesamt sieben: Chloe, Ginger und ihre Mutter, Joel, Pete, Lana und... er war ein wenig überrascht... und enttäuscht. Whitney war ebenfalls da, und er hielt eifrig Händchen mit Lana. Sie ist seine Freundin, rief er sich ins Gedächtnis zurück. Es ist normal, dass er mit ihr Händchen hält. Er ging hinein. Trotz der milden, sommerähnlichen Nachtluft war es im Innern des Hauses kalt. »Clark!« Chloe erhob sich von ihrem Platz neben Lana und kam zu ihm. Sie strahlte. »Beeil dich. Wir sind fast fertig.«
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Sie führte ihn in den Raum. Je näher er dem Tisch kam, desto niedriger war die Temperatur. Alle blickten in seine Richtung. Lana sah wie immer wunderschön aus. Whitneys Jacke hing über Lanas Schultern. Pete, der »Hey, Bruder« sagte, rieb sich die nackten Arme. »Hi«, sagte Clark zu allen. »Ist das nicht toll? Es ist kalt«, warf Chloe ein. »Wir sitzen im kalten Herzen des Hauses«, meinte Ginger. Sie sah ihre Mutter an und fügte hastig hinzu: »Mom wird heute Nacht Kontakt mit dem Geist aufnehmen.« Janice runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich... ich bin mir jetzt nicht mehr so sicher, ob das wirklich eine gute Idee ist. Der Mann, der mir helfen wollte, hat im letzten Moment abgesagt.« »Aber er hat Ihnen ein paar Tipps gegeben, wie Sie vorgehen sollen«, erinnerte Chloe. »Ja. Sie waren sehr... ausführlich«, erwiderte Janice. »Doch er war derjenige mit der entsprechenden Erfahrung, nicht ich. Und...« Sie brach ab, als fiele es ihr schwer, weiterzusprechen. »Ich hatte den Eindruck, dass ihm verboten wurde, hierher zu kommen. Vielleicht von seinem Fachbereichsleiter. Universitäten können sehr empfindlich sein, wenn es um ihren Ruf geht.« »Du bist beurlaubt, Mom. Du kannst tun, was du willst.« Janices Bruckers Gesicht verriet den Kampf, der in ihr tobte. Sie will es tun, dachte Clark. Sie weiß nur nicht genau, wie sie es vor sich selbst rechtfertigen soll. »Wir haben Verstärkung mitgebracht«, sagte Lana und lächelte Whitney an. Er grinste zurück. Janice war sichtlich unwohl in ihrer Haut, doch sie erklärte: »In Ordnung. Aber beim ersten Anzeichen von Ärger...« »Verschwinden wir von hier«, nickte Chloe und hielt ihre Hand hoch. »Versprochen.«
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Sie ließen sich nieder. Chloe saß am weitesten von der Tür entfernt. Links von ihr saßen Pete, dann Lana, dann Whitney und Janice Brucker. Joel saß auf Janices linker Seite und Ginger direkt neben ihm. Sie hatte einen Zeichenblock und eine Reihe angespitzter Buntstifte vor sich liegen. Der einzige leere Stuhl stand zwischen Ginger und Chloe. Clark würde die ganze Zeit gegenüber von Lana – und Whitney – sitzen. Wie bei ihrer ersten Séance lagen Kerzen, Brot und Käse auf dem Tisch. Außerdem Blöcke mit unliniertem Druckerpapier. Und etwas Neues... ein Ouijabrett. Clark hatte schon seit Jahren keins mehr gesehen. Die Oberfläche des Brettes war zerkratzt und die Buchstaben des Alphabets, die kreisförmig am Rand des Brettes angeordnet waren, waren zu einem unregelmäßigen Hellgrau verblasst. Die beiden Fächer für »JA« und »NEIN« wiesen Ringe auf, als hätte jemand Getränkedosen auf ihnen abgestellt. Chloe bemerkte, dass Clark es anstarrte, und erläuterte: »Dr. Brucker hat es mitgebracht. Ihr Freund von der Universität hat ihr geraten, es zu benutzen.« Sie legte einen sorgfältig manikürten Finger auf das Brett und zog es in ihre Richtung. »Ich werde diejenige sein, die es benutzt.« Dann sagte sie zu Janice: »Was jetzt?« Janice antwortete: »Zünde eine Kerze an und blicke in die Flamme. Warte. Leg zuerst leicht deine Fingerspitzen an die Planchette hier...« Sie nahm ein kleines Dreieck aus Plastik und gab es Chloe. Clark musterte es. An einem ringförmigen Untersetzer war ein Stück Plastik befestigt, an dem eine Nadel hing. »So vielleicht?« Sie grinste, als sie ihre Finger an die Planchette legte. »Ich zünde die Kerze an«, erbot sich Lana und beugte sich nach vorn. Sie schenkte Clark ein ängstliches Lächeln.
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»Jetzt konzentrier all deine Energie auf diese Kerze«, sagte Janice. »Nicht nur deine Aufmerksamkeit. Versuch dir vorzustellen, dass du eins mit der Kerze wirst, richtig mit ihr verschmilzt.« Chloe bewegte ihre Schultern und atmete tief durch. »Selbsthypnose. Verstanden.« »Mehr als das. Ich werde dir weitere Anweisungen geben.« »Wir sollten das Licht ausmachen«, schlug Ginger vor. »Auf keinen Fall.« Pete beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. »Das ist so schon unheimlich genug.« Plötzlich schnaubte Janice und schüttelte dann entschlossen den Kopf. »Warte. Ich möchte nicht, dass du es tust. Ich werde es übernehmen.« Sie streckte ihre Hand aus. »Gib mir bitte das Ouijabrett zurück.« Im nächsten Augenblick wurde der Raum in Dunkelheit getaucht. Nur die Kerze spendete etwas Licht. »Das war’s«, erklärte Janice Brucker und sprang auf. Ihr Stuhl kippte nach hinten und landete polternd auf dem harten Holzboden. Dann bewegte sich die Planchette unter Chloes Fingerspitzen. HIRAM. HIRAM. HIRAM. WELLES. ER HAT MICH GETÖTET. Und dann war Chloe dort..., nur dass es nicht mehr Chloe war, als der Geist in sie fuhr und ihr das schreckliche Geheimnis des Welles-Farmhauses enthüllte: Ich kann nicht aufhören zu zittern; die Erde ist so kalt. Meine Lunge versagt. Diesmal schmerzt es viel mehr, so viel mehr. Er
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ist wütend, weil ich es diesmal gewagt habe, mich zu wehren. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich gewinne nie. »Ich habe genug von dir! Du bist eine elende kleine Ratte!« Der Schmerz von dem Tritt... ich kann nicht einmal reagieren, ich kann nur hier liegen. Mir ist so kalt. Alles tut weh; so viel ist gebrochen... Ich kann nicht atmen. Es passiert. Das Asthma. Oh, Gott, lass mich nicht hier unten sterben. Hilf mir! Hör auf, mich zu treten! Hör auf! Schritte! Auf der Treppe! Papa! Er kommt herunter! Er wird mich retten! Er lacht. Er hat ein großes Glas in der Hand. Dann zeigt er auf mich und wirft den Kopf zurück. »Töte ihn! Er hat es verdient, der kleine Schwächling!« Papa, Papa, nein! Dann reißt er meinen Kopf aus dem Dreck und nimmt den Putzeimer. Er lacht ebenfalls und ruft meinem Vater zu: »Ich werde es tun! Sieh her!« Papas Gesicht ist so rot und seine Augen sind riesig. Er zeigt auf den Eimer und brüllt: »Tu es!« Er sieht wie ein Monster aus. Oh, rette mich, bitte, rette mich! Nein, steck meinen Kopf nicht da rein! Hör auf! Hör auf! Hör auf! Oh, mein Gott, es ist kein Wasser. Es ist kein Wasser in dem Eimer, es ist ungelöschter Kalk! DER SCHMERZ! Chloe stieß einen wilden, schrillen Schrei aus. »Chloe!«, rief Clark und sprang auf. Sie rührte sich und blinzelte. Sie saß auf dem Stuhl im Welles-Haus. Die Lichter waren an. Clark kniete neben ihrem Stuhl. Lana und Pete standen auf der anderen Seite. Whitney 266
hatte sich hinter Lana aufgebaut und seine Hände auf ihre Schultern gelegt. »Oh, mein Gott«, sagte Chloe langsam. Sie blinzelte. »Gott.« Sie berührte ihr Gesicht. »Ich bin okay.« Sie zitterte heftig. Der Schock saß tief. »Das bin ich doch, oder?« »Ja. Du bist okay«, beruhigte Clark sie. Sie sah allen nacheinander ins Gesicht. Das Ouijabrett befand sich in Janice Bruckers Armen. Sie drückte es fest an ihre Brust. Ginger und Joel standen neben ihr; Joel hatte seine Arme um Ginger gelegt. Auf dem Tisch war alles zu Staub zerfallen, als hätte es jahrelang dort gelegen. Dann sah sie sich den Tisch genauer an. Er war verwittert und gesplittert, als hätte er Jahrzehnte in der Sonne gestanden. Der Stuhl, auf dem sie saß, war in demselben schlechten Zustand. Sie sprang auf und stieß gegen Clark, der sie auffing und festhielt. Der Raum war ein einziges Chaos. Die Bücherregale waren verwittert und gesplittert, viele der Regale zerbrochen, und die Bruchstücke lagen auf den Büchern, von denen viele von einer fast fluoreszierenden Schimmelschicht überzogen waren. »Was... was ist hier passiert?«, fragte Chloe, und dann gaben ihre Knie nach. Clark fing sie auf. »Während du... weg warst, hat sich alles verändert«, erklärte Pete. »Alles ist gealtert.« Sie legte ihre Hände an Clarks Brust. »Ich habe es gesehen«, keuchte sie. »Ich habe den Mord gesehen. Er ist im Keller passiert.« »Ja, das stimmt.« Es war Ginger. Sie hielt ihren Malblock hoch. Die Zeichnung zeigte einen Keller und eine kleine Gestalt, die reglos auf dem Boden lag.
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Clark zögerte. Das Skelett liegt noch immer dort unten. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Aber wie kann ich ihnen das klar machen? Chloe hob ihr Kinn und straffte ihre Schultern. Sie wandte sich mit fester Stimme an die Gruppe. »Wir müssen nach unten gehen und nachschauen.« »Oh, nein. Nicht heute Nacht«, wehrte Lana ab. Whitney schlang beruhigend seine Arme um sie. Chloe sah wider Erwarten erleichtert aus. Clark war froh, dass sie nicht widersprach. »Wir müssen den Sheriff informieren«, sagte Janice. Joel rief: »Nein. Bitte!« Alle starrten ihn an. »Holly ist verschwunden. Wir müssen bis zum Ende weitermachen und die Sache nicht an eine Bande Kerle übergeben, die in einer Million Jahre nicht glauben werden, dass etwas Übernatürliches vor sich geht.« Sie eilten leise und ernst nach draußen. Der Tod war real geworden, aber niemand war bereit, sich ihm zu stellen. Alle stiegen in ihre Autos. Pete war der Letzte, der hinausging. Er trat zu Clark und sprach durch das Truckfenster mit ihm. »Mir sind bei der Angelegenheit zwei Gedanken gekommen«, sagte er mit bebender Stimme. »Der eine ist: Wenn sich der Gouverneur entschließt, nach Smallville zu kommen, sollten wir im Haus besser sauber machen. Der andere ist...« Er blinzelte. »Ist er ein Mörder?« Langsam blickte er zurück zu dem Haus. »Es ist vor so langer Zeit passiert...« Clark sagte nichts. Aber insgeheim dachte er: Es spielt keine Rolle, wie lange es her ist. Jemand wurde ermordet. »Wir können nicht mit anderen darüber reden«, fuhr Pete fort. »Je mehr Leute Bescheid wissen, desto größer ist das Risiko, dass wir alles vermasseln, wie Joel schon gesagt hat.« 268
Und desto schwieriger wird es, den Ruf des Gouverneurs zu schützen, falls er etwas Unrechtes getan hat. Clark sprach auch diesen Gedanken nicht laut aus. Stattdessen ließ er den Motor des Trucks an. Und fuhr nach Hause. Es war Samstag. Clarks Eltern waren zum Farmermarkt gefahren, um einige von Marthas Produkten zu verkaufen. Sie hatte Pfannkuchen gemacht und einen großen Teller davon im Backofen für Clark zurückgelassen. Er aß und erledigte seine Hausarbeiten, während seine Gedanken um den gestrigen Vorfall in dem Haus kreisten. Wir sind etwas sehr Großem auf der Spur... Er wusste nicht, was er seinen Eltern erzählen sollte. Wenn sie darauf bestanden, den Sheriff zu informieren, würde er das Gefühl haben, seine Freunde zu verraten... andererseits konnte er nicht zulassen, dass Holly oder Robin irgendetwas zustieß. Als gegen halb elf das Telefon klingelte, war er nicht überrascht, Chloe am anderen Ende der Leitung zu hören. »Wir gehen wieder hin«, sagte sie. »Deine Eltern sind auf dem Markt, nicht wahr? Lana wird bei dir vorbeikommen und dich abholen.« »Warte«, sagte er, doch dann dämmerte ihm, dass es keinen Grund zum Warten gab. Es war Tag, und sie sollten diese Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Tut mir Leid, vergiss es«, erklärte er. »Sag Lana...« Da kam Lana auch schon die Auffahrt herauf. Er sagte zu Chloe: »Wir werden in Kürze da sein.« Dann fiel sein Blick auf den Bücherstapel für den Geschichtsaufsatz. Farmen in Smallville lag oben auf dem Stoß. Er schlug es auf und das finstere Gesicht von Mattias Silver funkelte ihn an.
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Sie hatten sich alle in dem Haus versammelt, alle bis auf Janice und Ginger. Lana war diesmal ohne Whitney gekommen. Er hatte Footballtraining. »Dr. Brucker wollte Ginger nicht mitkommen lassen«, berichtete Joel den anderen, als sie in die Küche gingen. »Und... ich finde das in Ordnung.« Chloe nickte ihm zu. »Du bist ein guter Freund«, sagte sie. Dann wandte sie sich an die ganze Gruppe: »Alle bereit?« Clark suchte mit seinem Röntgenblick blitzschnell das Haus ab und hielt Ausschau nach den verräterischen grünen Tentakeln. Es waren keine zu sehen. Er nickte Chloe zu. Der Schlüssel zum Keller hing an einem Haken neben der Tür. Lana starrte ihn durchdringend an. Nervös befeuchtete sie ihre Lippen. Sie blickte Clark an und sagte: »Da war dieses schreckliche Poltern, als ich das erste Mal hier war. Es kam von dort unten.« »Mattias’ ruheloser Geist«, murmelte Chloe. Clark schloss die Kellertür auf. Alle starrten gebannt in die Dunkelheit hinter der Tür. »Da ist eine Schnur, mit der man eine Lampe einschalten kann«, sagte Lana zu ihm. Clark griff mit der Hand in die Dunkelheit. Als die Schnur über seinen Handrücken strich, fuhr er zusammen. Dann nahm er sie und zog daran. Das Licht flammte auf. Es war sehr matt. Er konnte nur bis zur dritten oder vierten Stufe sehen. »Kann mir jemand meine Taschenlampe geben?«, fragte er und streckte seine Hand nach hinten. Sie waren gut ausgerüstet gekommen; jeder von ihnen hatte eine oder zwei mitgebracht. Zu Clarks Überraschung hatte Pete sogar einen Vorschlaghammer und eine Schaufel dabei. Er schaltete die Taschenlampe, die Lana ihm reichte, ein und stieg die Treppe hinunter. Chloe kam direkt hinter ihm, gefolgt von Lana und Pete. Joel bildete das Schlusslicht, er blieb kurz 270
stehen und legte den Kopf des Hammers zwischen Rahmen und Tür, damit sie nicht zuschlug. Ihre Taschenlampenstrahlen tanzten über Ziegelsteinwände und Spinnweben. Etwas raschelte und huschte in die Schatten. An der Wand hing ein Regal mit Reinigungsmitteln, die benutzt worden sein mussten, als das Haus für Ginger und Janice vorbereitet wurde. Als die Lichtstrahlen über die Dosen und Flaschen mit bekannten Markennamen, die halb aufgebrauchten Rollen Wischtücher und eine Anzahl Schwämme strichen, spürte Clark plötzlich einen leichten Schwindel. Ich muss vorsichtig sein. Wenn wir auf Meteoriten stoßen, muss ich so schnell wie möglich von hier verschwinden. Meine Stärke und Schnelligkeit haben sich noch immer nicht normalisiert, dachte er besorgt. »Wie geht’s euch?«, fragte Chloe. »Ich... ich habe Angst«, stieß Lana hervor. »Ich habe solche Angst, dass ich am liebsten sofort von hier verschwinden würde.« Eine Hand griff von hinten nach Clark und umfasste seine linke Hand. In der Dunkelheit konnte er nicht sehen, wessen Hand es war, aber er hielt sie fest, während er die Taschenlampe weiter nach vorn richtete. Er fragte sich, ob sie Lana gehörte. Sie fühlte sich klein an, kleiner als Lanas Hand... aber er hatte sie auch nur selten gehalten. Zu schüchtern, um sie zu drücken, hielt er sie weiter fest. Das Schwindelgefühl wurde stärker. Dann stöhnte Chloe auf. Clark fuhr herum. Er hielt gar keine Hand. Keine menschliche jedenfalls. In Panik geraten, schüttelte er das, was er in der Hand hielt, ab. »Was?«, fragte Lana erschrocken. »Chloe, was ist?« 271
»So kalt«, murmelte Chloe. Ihr Stimme war hoch und dünn, ganz anders als sonst. »So kalt... solche Schmerzen...« Sie fiel auf den Kellerboden. »Helft mir. Rettet mich. Helftmirrettetmichhelftmirrettetmich...« »Hier ist es«, rief Joel. »Die Leiche muss hier vergraben sein.« Lana und Pete knieten nieder und ergriffen Chloes Hände. Dann strich Lana Chloe die blonden Locken aus ihrem Gesicht und sprach ruhig auf sie ein. »Chloe, du bist bei uns. Alles ist in Ordnung, Chloe.« Sie kam wieder zu sich. Sie zeigte auf den Boden. »Hier«, sagte sie. Ich kann nicht glauben, dass ich das tue, dachte Pete, als er den Vorschlaghammer über seinen Kopf hob und dann auf den Boden niedersausen ließ. Ich sollte derjenige sein, der protestiert und sagt, dass wir das nicht tun dürfen. Aber wir müssen es tun. In Smallville muss man manchmal die Regeln brechen. Ich darf einfach nicht daran denken, dass das hier Privatbesitz ist und was der Sheriff dazu sagen würde. Vom Gouverneur ganz zu schweigen. Er schlug wieder zu. Und wieder. Und wieder. Joel trat vor und schaufelte die Bruchstücke des Bodens zur Seite. Sein Herz hämmerte. Was werden wir finden?, fragte er sich. Was zum Teufel werden wir finden? Oder besser: Wen werden wir finden? Mit jedem Schlag des Hammers wurde Clarks Benommenheit stärker.
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Wessen Hand habe ich gehalten?, fragte er sich. Die des Geistes? Gerade öffnete er den Mund, um den anderen von seinem Erlebnis zu erzählen, als ein unheimliches, schrilles Pfeifen die Geräusche der Schaufel übertönte. Joel erstarrte. Wie alle anderen. »Was ist das?«, fragte Lana. »Asthma!«, warf Pete ein. »Mein Vetter leidet daran. Es ist dasselbe Geräusch.« »Oh mein Gott«, machte Chloe und schluckte. »Wenn ich wieder Medium spiele, dann schafft mich hier raus, okay?« Dann gesellten sich Schritte zu dem ersten Geräusch. Sie klangen hohl und fern. »Jemand ist auf der Treppe«, flüsterte Joel. Clark leuchtete den Teil der Treppe, der von ihrer Position aus sichtbar war, mit seiner Taschenlampe aus. Da war niemand zu sehen. Dann stieg leises Klagen wie Nebel vom Boden auf. Es klang unendlich traurig, jenseits allen Kummers... es war das Leid eines Menschen, der zerbrochen und verloren war... ohne Liebe... Es war die Hoffnungslosigkeit, die sich in der Stimme Ausdruck verschaffte. »Oh, mein Gott«, keuchte Lana. »Was geschieht hier?« Chloe räusperte sich. »Mattias. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Wir wollen Ihnen helfen«, rief sie. Wieder spürte Clark eine kleine Hand, die seine ergriff. Seine Sinne schwanden immer mehr; jetzt zog die unsichtbare Hand an seinem Arm, und er sank zu Boden. Da unten liegt ein Meteorit, dachte er besorgt. Ich bin in Schwierigkeiten. Die Hand zog ihn zu dem Loch im Boden... in den direkten Wirkungsbereich der giftigen Strahlen. Geschwächt und von Schmerzen erfüllt, versuchte Clark, zurückzuweichen, doch 273
sein Körper gehorchte ihm nicht. Hilflos kauerte er über dem Loch. Jetzt konnte ihm nur noch sein Röntgenblick helfen, damit er wenigstens erkennen konnte, was da vor ihm lag. Aber auch diesen Dienst versagte ihm sein Körper. Stattdessen füllten sich seine Augen mit Tränen. Schweiß perlte auf seiner Stirn und er keuchte laut auf. Lana reagierte sofort. »Clark?«, fragte sie und drängte sich an Joel vorbei. Kurz darauf kniete sie neben ihm nieder. »Clark, was ist mit dir?« »Ich fühle mich so elend«, sagte er zu ihr. Selbst in seinem geschwächten Zustand war er bedacht darauf, ihr nicht alles zu erzählen. »Eine Hand hat an mir gezogen und mich zu Boden gedrückt. Und jetzt...« Er wies matt auf das Loch. »Ich bin so schwach...« Lana richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf das Loch. In dem gelben Licht war zwischen den Betonbrocken ein feiner, grüner Nebel zu erkennen. Während die anderen wie gebannt zusahen, wallte der Nebel auf und stieg in die Höhe. Lana blieb an Clarks Seite, und er war dankbar dafür. Der wallende Nebel verdichtete sich zu einer Masse, bekam schärfere Umrisse. Dann sank die untere Hälfte wieder zu Boden. Diese verwandelte sich in eine menschliche Gestalt. Je deutlicher die Masse Gestalt annahm, desto lauter hallte das Klagen von den Ziegelsteinwänden wider. »Es weint«, flüsterte Chloe. Clarks Kopf sank nach unten. Die Gestalt war eine driftende Masse aus Meteoritenstrahlung, und er war zu schwach, um sich von ihr zu entfernen. »Clark ist in Schwierigkeiten«, sagte Lana und hob dabei ihre Stimme, damit die anderen sie hören konnten. »Wir müssen ihn hier rausschaffen.« Sie legte ihre Hände um seine Unterarme und versuchte ihn aufzurichten. 274
»Ich mach das schon«, erbot sich Joel und löste sie ab. Lana trat zur Seite und Joel sagte: »Komm schon, Clark. Du musst mir helfen.« Clark war dazu nicht in der Lage. Er musste all seine Kraft zusammennehmen, um nicht wieder zu Boden zu sinken. Aber Joel zog ihn auf die Beine und schleppte ihn zur Treppe. Er musste sich sehr anstrengen und setzte einen Fuß vor den anderen. Wie er die Treppe hinaufkommen sollte, wusste er beim besten Willen nicht. Erneut erklangen die Schritte.
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15 BEIM ECHO DER SCHRITTE erstarrten wieder alle im Keller, Joel eingeschlossen. Ein weiterer Moment der Hochspannung schloss sich an, und dann tauchten Lex Luthors teure Bruno-Magli-Halbschuhe auf. Er stieg die Treppe hinunter und trat vollständig ins Licht der Taschenlampen, dicht gefolgt von Janice Brucker. Beide kniffen geblendet die Augen zusammen. »Was ist los?«, fragte Lex. »Was war das für ein Lärm?« Am Fuß der Treppe blickte Joel zu ihm auf: »Clark geht es sehr schlecht.« Ohne zu zögern, eilte Lex an Clarks Seite. Er legte Clarks Arm über seine Schulter und bedeutete Joel, dasselbe zu tun. Zusammen schleppten sie ihn zur Treppe, während Janice hastig zur Seite trat, um ihnen Platz zu machen. »Ich seh ihn mir mal an«, sagte sie bestimmt. »Mir geht’s gleich wieder gut«, brachte Clark hervor. »Ich brauche nur etwas frische Luft.« Clark klang so überzeugt, dass Lex ihm einen prüfenden Blick zuwarf. Er wollte ihn gerade fragen: »Woher weißt du das?«, aber dann schwieg er. Ein Schritt nach dem anderen, dachte er. Lex versicherte Janice: »Ich gebe Ihnen Bescheid, falls wir Sie brauchen.« Dann schleppten er und Joel Clark mühsam die Treppe hinauf. Lex runzelte die Stirn und fragte: »Dieses pfeifende Geräusch. Das warst nicht du, oder?« »Geist«, antwortete Clark heiser. »Oh, mein Gott. Seht mal!«, schrie Chloe. »Was?«, krächzte Clark.
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»Vergiss es! Was immer es auch ist, es kann warten«, sagte Lex gebieterisch. Aber eigentlich konnte er es kaum erwarten zurückzukehren und zu sehen, was Chloe entdeckt hatte. Sein Vater hätte es wahrscheinlich lächerlich gefunden, wenn er wüsste, wie Lex seine Prioritäten setzte, doch seine größte Sorge galt Clark. Auch wenn es ihn dazu drängte, der Sache nachzugehen, stieg er weiter mit Joel und Clark die Treppe hinauf. Sie erreichten das Ende der Treppe und führten Clark dann durch die Küche. Sie hatten fast das Foyer erreicht, als Clark sagte: »Mir geht es besser.« »Du wirst nach draußen gehen«, beharrte Lex, »und dich hinsetzen.« Clark war zu schwach, um zu protestieren. Lex nutzte das zu seinem Vorteil und bugsierte ihn nach draußen. Dann setzten er und Joel Clark auf die Veranda. Lex lief zu seinem Porsche, öffnete den Kofferraum und nahm drei Flaschen Evian heraus. Er reichte eine Joel und eine Clark. Clark stürzte seine gierig hinunter. Augenblicklich kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. Als Lex dies sah, wandte er sich an Joel: »Du kannst wieder nach unten gehen, wenn du willst.« Joel holte tief Luft. »Ich will nicht«, gestand er, »aber ich gehe nach unten.« Zu Clark fügte er hinzu: »Und du bleibst hier, Alter.« »Mir geht’s gut«, beharrte Clark. »Ich bin okay.« »Setz dich«, befahl Lex. Clark setzte sich. Plötzlich stürzten die anderen aus der Haustür, Chloe an vorderster Front. Ihre Augen waren vom Weinen geschwollen. »Wir haben ihn gefunden«, sagte sie und wischte sich das Gesicht ab. Janice trat zu Lex. »Überreste eines Skeletts. Ein Kind.« »Oh, mein Gott«, keuchte Lex und wurde blass. »Im Geburtshaus des Gouverneurs.« 277
»Ich habe eine Probe entnommen«, fuhr sie fort. »Wahrscheinlich könnte man mir den Vorwurf machen, einen Tatort kontaminiert zu haben...« »Wir müssen Holly finden«, erinnerte Joel sie mit ängstlicher und scharfer Stimme. »Ich werde ein paar Tests vornehmen und eine DNS-Analyse durchführen«, schloss die Wissenschaftlerin. Als sie an Clark vorbei zur Verandatreppe ging, wurde dieser kalkweiß. Lex wusste nicht, was er davon halten sollte, aber er wusste, dass es irgendetwas zu bedeuten hatte. Eines Tages werde ich hinter dein Geheimnis kommen, sagte er Clark im Stillen. Aber sein Freund sah ihn nicht an. Er hielt seinen Kopf gesenkt. Offenbar hatte er wieder Schmerzen. Niemand von ihnen wollte in der Nähe des Farmhauses bleiben; kaum dass die Geisterjäger den Keller verlassen hatten, hatten sie es ziemlich eilig, in ihre Autos zu steigen. Chloe, die ihren Truck bereits angelassen hatte, steckte den Kopf durch das heruntergedrehte Fenster, als Clark benommen in Lanas Truck kletterte. »Wir haben heute viel herausgefunden«, sagte sie. »Aber was wir entdeckt haben, verwirrt mich. Mattias war ein erwachsener Mann. Wir haben aber ein kleines Kind gefunden. Mir ist der Gedanke gekommen, dass es sich um Zwillinge handeln könnte. Der eine war schwach und der andere stark.« Sie lächelte matt. »Wir werden einen tollen Geschichtsaufsatz schreiben, Clark. Wir haben hier den größten Knüller in der Geschichte Smallvilles.« Lana beugte sich vor: »Ich frage mich wirklich, was hier geschehen ist. Wir sehen ständig einen Farmer, aber diese Familie hat die Farm nicht bewirtschaftet. Und wer liegt dort begraben, Chloe? Ein Kind!« Ihr schien übel zu werden bei dem Gedanken.
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»Ich werde mich an den Geschichtsverein wenden«, erklärte Chloe beiden. »Sie haben heute bis drei geöffnet. Mal sehen, ob ich irgendetwas herausfinde, das uns weiterhelfen könnte.« »Eigentlich sollte ich mit dir gehen«, sagte Clark. Er lächelte matt und versuchte zu scherzen. »Schließlich bin ich es, der eine gute Zensur in Geschichte braucht.« »Du fährst jetzt nach Hause und erholst dich.« Chloe lächelte wieder, diesmal aber nicht so gezwungen und verängstigt. »Du wirst noch deine ganze Kraft brauchen, um unsere Entdeckungen zu Papier zu bringen. Wir haben eine Menge zu berichten.« »Okay.« Er versuchte so fröhlich wie sie zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Danke, Chloe.« Ihr Blick war mehr als nur besorgt. Lana legte den Rückwärtsgang ein und sie fuhren davon. Trotz allem, was an diesem Tag geschehen war, oder vielleicht gerade deswegen, hatte Chloe größte Mühe, nicht vor Freude zu tanzen, als Daphne, ihre Freundin, die an den Wochenenden für den Geschichtsverein arbeitete, ihr eine neue Ausstellung zeigte. Sie präsentierte ihr Trauerschmuck und Trauergewänder aus früheren Zeiten. »Die Leute machten aus den Haaren der Verstorbenen Ringe und Broschen zum Andenken«, erklärte Daphne ihr. »Schau es dir an.« In einer Glasvitrine, bei den ausgestopften Tieren, waren Ringe, Anstecknadeln und Armbänder aus Menschenhaar liebevoll arrangiert. »Siehst du den?«, fuhr Daphne fort und zeigte auf einen kleinen Ring. »Der ist aus dem Haar von Gouverneur Welles’ Vater angefertigt worden. Wusstest du, dass der Gouverneur hier in Smallville aufgewachsen ist?«, fügte sie stolz hinzu. »Das sind seine Haare?«, sagte Chloe langsam. Seine Haare, die DNS enthalten?, fing es an, in ihrem Gehirn zu arbeiten. 279
»Wow. Ich meine, iiih. Das ist eine sehr seltsame Tradition. Ich bin froh, dass sie ausgestorben ist. Ha, ha. Ausgestorben, verstehst du?« »Miss?«, rief jemand. »Ich möchte gern diesen Führer kaufen.« Daphne sagte zu Chloe: »Augenblick. Ich muss mich darum kümmern.« Sie wies auf die historischen Schätze von Smallville. »Schau dich um. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.« »Danke«, erwiderte Chloe unschuldig. Sobald Daphne ihr den Rücken zugedreht hatte, hob sie den Glasdeckel der Vitrine und nahm den Ring aus Jackson Welles’ Haar an sich. Sie steckte ihn ein und sagte sich, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen: Ich werde ihn später zurückbringen. Dann trödelte sie noch eine Weile herum, um kein Misstrauen zu erregen. Dr. Brucker kann mühelos feststellen, ob die DNS der Knochen identisch mit der seiner Haare ist. Das wird eine großartige Story, hoffe ich. Janice Brucker bat Joel, ins Hotel zu gehen und nach Ginger zu sehen, und fügte hinzu: »Ich muss in mein Labor. Ich will die... Fragmente analysieren.« Dann schenkte sie ihm einen freundlichen Blick: »Ich bin sicher, dass Ginger sich über deinen Besuch freuen wird. Sie war ziemlich wütend auf mich, weil ich ihr verboten habe, mitzukommen.« »Ich bin froh, dass Sie es ihr verboten haben«, sagte er aufrichtig. Sie trennten sich. Joel stieg in Petes Wagen und Janice machte sich auf den Weg zur Fabrik Nummer drei. Sie passierte die Sicherheitskontrollen und nahm die Papiertüte mit den verschiedenen Fragmenten aus ihrer Handtasche. Als sie die Proben in kleinere Portionen teilte, erschien vor ihrem geistigen Auge die Manifestierung ihrer 280
grausigen Entdeckung: die Rippen gebrochen, ein Fuß kürzer als der andere, die Folge eines Bruches, den das Opfer sich wahrscheinlich bereits als Kleinkind zugezogen hatte. Sie wollte nicht einmal daran denken, wie es passiert war... Das Schlimmste war der Schädel gewesen. Teile des Gesichts waren von irgendeiner Chemikalie, wahrscheinlich Säure, weggefressen worden. Sie erkannte es daran, dass der Knochen sich an einigen Stellen aufgelöst hatte. Er war wie die Oberfläche des Mondes von tiefen Löchern und Furchen durchzogen. »Ungelöschter Kalk«, hatte Chloe ihr mit erstickter Stimme erklärt, und dann war das Mädchen in Tränen ausgebrochen. »Sein Kopf ist in einen Eimer mit ungelöschtem Kalk gedrückt worden.« Unmenschlich, dachte Janice schaudernd. Sie rief einen Freund bei Wayne Industries an der Ostküste an. Sie wusste, dass der Wissenschaftler wie sie ein Workaholic und vermutlich auch an einem Samstag im Labor war. »Hi, Al, hier ist Janice. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte sie ohne Umschweife. »Eine DNS-Analyse. Es eilt.« »Oh, interessant, dass du mich darum bittest«, erwiderte ihr Freund Al. »Darf ich dir dazu eine Frage stellen?« »Du darfst. Aber ich habe noch keine Antworten. Führe die Analyse durch, und dann werde ich dir sagen, was ich weiß.« Wahrscheinlich habe ich gelogen, dachte sie, als sie auflegten. Dann rief sie die S.T.A.R.-Labors in Metropolis und das Labor der LuthorCorp an und traf ähnliche Vereinbarungen. Sorgfältigkeit. Das Markenzeichen eines guten Wissenschaftlers, dachte sie grimmig, als sie jede Probe in eine Schutzhülle aus Blei steckte, damit die Röntgenapparate den Inhalt nicht beschädigten. 281
Dann rief sie Myra Wilkinsin an, Lex’ Sicherheitschef, und sagte: »Ich brauche heute den Kurierdienst.« In einem weniger gut organisierten Unternehmen wäre dies an einem Samstag wahrscheinlich ein Problem gewesen. Aber Myra antwortete einfach: »Natürlich, Dr. Brucker.« Die Proben wurden verschickt, und das war es dann. Anschließend nahm sie die Probe, die sie für sich aufgespart hatte, und legte sie in eine Kompositanalysekammer, für die sie und George das Patent hatten. Diese Überreste sind der Strahlung der Meteoriten ausgesetzt gewesen, dachte sie aufgeregt, als sie die ersten Werte überflog. Ist das der Grund für all diese Aktivität? Sie rief Rafael Alcina zu Hause an, um ihm ihre Entdeckungen mitzuteilen. »Hallo?«, sagte er. »Es tut mir Leid, dass du die Séance verpasst hast«, sagte sie. »Sie hat aus mir eine Gläubige gemacht. Du wirst nie erraten, was dort unten vor sich geht.« Zu ihrer Verblüffung unterbrach Rafael sie sofort und sagte: »Janice, es tut mir Leid, aber ich kann jetzt nicht mit dir reden.« Dann legte er auf. Legte auf. Sie war völlig verwirrt. In diesem Augenblick steckte Chloe den Kopf durch die Tür und sagte: »Hi, Dr. Brucker. Ich habe Haare!« Lex erledigte ein paar Besorgungen und fuhr dann nach Hause. Es war fast drei, als er den Anrufbeantworter seines Privatanschlusses abhörte. Es war der Gouverneur. »Ich bin in Metropolis«, sagte er, »und ich möchte Ihren Vater und Sie zum Essen einladen. Wir treffen uns um acht im Le Corbusier.« 282
Lex notierte die Adresse, arbeitete noch etwas, nahm dann eine Dusche, zog sich um und stieg wieder in seinen Porsche. Er erreichte das Le Corbusier um halb acht. Der Kellner stürzte sich sofort auf ihn und führte ihn persönlich durch die Menge der Sicherheitsagenten in einen privaten Speiseraum. Gouverneur Welles saß schon dort. Trotz seines Alters war er ein großer, kräftiger Mann. Seine weißen Haare hoben sich deutlich von seinem schwarzen Anzug ab. Seine Hände waren riesig; das Glas, das er hielt, sah im Vergleich dazu wie eine Murmel aus. Als er Lex entdeckte, funkelte er ihn an und sagte: »Was für eine Teufelei führen Sie gegen mich im Schilde?« Lex antwortete nicht. Er wandte sich an den Kellner, der noch immer bereitstand, und sagte: »Ich möchte ein Glas Pellegrino.« Er fragte nicht, ob sie welches hatten. Ein Restaurant wie das Le Corbusier würde es besorgen, sollte es nicht vorrätig sein. Der Maitre neigte den Kopf, sagte »Gewiss, Sir« und ließ sie allein. »Woran zum Teufel arbeitet Dr. Brucker?«, fragte Welles. »Gibt es ein Problem?«, fragte Lex unschuldig zurück. »Wenn Sie sie nicht sofort feuern, werde ich Ihre Fabrik so schnell schließen lassen, dass Sie nicht wissen werden, wie Ihnen geschieht.« Lex blinzelte verwirrt. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was hier vor sich ging. »Wie konnten Sie nur so dumm sein?« Welles schrie fast. Sein Gesicht lief rot an. Dann kniff er die Augen zusammen und studierte Lex’ Gesicht. »Sie wissen es nicht. Das ist der Grund. Sie wissen es nicht.« Lex war gespannt. »Was weiß ich nicht?« Der Gouverneur grinste ihn spöttisch an. »Haben Sie sich eigentlich nie gefragt, warum die Untersuchung von Dr.
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George Bruckers Tod so schnell abgeschlossen wurde? Warum es keine Anklage gab, keine konkreten Beweise, nichts?« Lex wartete und der Gouverneur lächelte boshaft. »Ihr Vater hat George Brucker getötet«, informierte er Lionel Luthors Sohn. »Er hat an ihrer Ausrüstung gespart«, erzählte Welles Lex. Sie saßen sich gegenüber, und Lex fürchtete, dass ihm übel werden würde. »Ich kann das alles beweisen, Ihnen den echten Bericht zeigen. Ihr Vater hat versucht, hier einen Dollar zu sparen, dort einen Dollar zu sparen, und seine Gier führte direkt zu George Bruckers Tod. Ich habe es schwarz auf weiß. Es hat mich ein Vermögen gekostet, diese Information zu unterdrücken.« Dann kicherte er und hob sein Glas zu seinen Lippen. »Na ja, sagen wir, es hat Ihren Vater ein Vermögen gekostet, diese Information zu unterdrücken.« »Janice Brucker weiß es nicht«, murmelte Lex. Übelkeit stieg in ihm hoch. Dieser Kerl lügt mich an. Mein Vater würde nie... er würde nie... Aber er würde doch. Lionel war zu allem fähig. Das wusste er. »Und jetzt höre ich, dass Sie in diesem Haus herumschnüffeln, das Sie für sie gemietet haben. Nachdem es jahrelang leer stand...« Er funkelte Lex an. »Was für ein Spiel treiben Sie?« Der Gouverneur schätzte ihn falsch ein. Das Haus hatte ihm einfach gefallen. Es war Zufall gewesen, dass es dem Gouverneur gehörte. Er dachte nach und versuchte sich zu erinnern, wann ihm Janice Brucker zum ersten Mal aufgefallen war. Natürlich hatte er ihren Ruf gekannt, aber warum hatte er ihr angeboten, für ihn zu arbeiten? War es eine Art subtiles Manöver meines Vaters? Wollte er dadurch irgendetwas erreichen?, fragte er sich.
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»Werden Sie sie los oder ich werde diesen Bericht veröffentlichen«, sagte Welles ausdruckslos. »Es wird Ihren Vater Millionen kosten. Er könnte sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden.« Die er niemals absitzen wird, dachte Lex, aber er war noch immer erschüttert. »Sie haben diese Séance nicht durchgeführt, oder?«, fuhr der Gouverneur fort. »Sie haben sie hoffentlich dazu gebracht, darauf zu verzichten!« Irgendetwas hat ihn nervös gemacht, wurde Lex klar, aber der Auslöser konnte nicht die Entdeckung des Skeletts sein. Er weiß nichts davon. Denn dann wäre er noch viel nervöser. Er hätte das Haus nicht vermietet, wenn er wüsste, dass eine Leiche im Keller liegt. Der Gouverneur verwechselte sein Schweigen mit Zustimmung und entspannte sich. »Also gut«, sagte er. »Sie entlassen sie, und jetzt ist es Zeit, für Sie einen richtigen Drink zu bestellen.« Er war nun sehr freundlich. Dann drehte er sich um und sagte: »Ah. Da kommt Ihr Vater.« Lex schluckte seine Abscheu hinunter. Lass mich nie wie er werden, schickte er ein Gebet zum Himmel. Dann sagte er: »Hi, Dad. Möchtest du einen Drink?« Lionel Luthor warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu und begrüßte dann den Gouverneur: »Hiram, ich freue mich, Sie zu sehen. Ich hoffe, Lex hat Sie nicht mit den Einzelheiten seines blühenden Düngemittelimperiums gelangweilt.« »Nicht im Geringsten«, erwiderte der Gouverneur fröhlich. »Wir haben bis zu Ihrem Eintreffen nur interessante Gespräche geführt.« Lionel wirkte zufrieden. Dann sah er den Gouverneur kühl an und sagte: »Ich hörte, Sie treten im Zuge Ihrer Wahlkampfkampagne auch in Smallville auf.« 285
Der Gouverneur spuckte fast in seinen Drink. »Was?« Lionel zuckte die Schultern. »Es wurde in den Nachrichten gemeldet.« »Ich habe nicht... ich...« Er funkelte Lex an, als wollte er sagen: Sie haben das getan! Aber Lex war genauso erstaunt wie die übrigen Anwesenden. Er begann, seine Schlüsse zu ziehen. Er will nicht hingehen, aber er kann jetzt nicht mehr zurück. Es würde schlecht aussehen, wenn er einen Besuch in seiner Heimatstadt verspricht und dann absagt. Wow, irgendjemand, der für seine Kampagne arbeitet, hat ihm diese Sache eingebrockt. Und ich kann kaum erwarten, was als Nächstes passieren wird. »Okay«, sagte Pete zu Chloe, als sie nach der Schule Seite an Seite im Fackel-Büro saßen. »Ich habe für heute genug falsche Informationen verbreitet.« Er gähnte und blickte sehr bedrückt drein. »Es war viel einfacher, als ich gedacht hatte. Jetzt muss der Gouverneur nach Smallville kommen, oder es wird seinem Ansehen schaden.« »Er sagte doch, dass er kommen will.« Chloe blickte ihn unschuldig an. »Für wann hast du seine Veranstaltung im Talon angesetzt?« »Genau heute in einer Woche«, erwiderte er. Nun erschien doch ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht. »Achtzehn Uhr.« »Ich sollte Lana informieren.« Sie nahm ihr Handy aus der Handtasche. »Oh, und nebenbei, in diesem Raum spukt es.« Pete blickte wenig begeistert drein. »Dann lass uns von hier verschwinden.« »Ich habe nur eine Woche«, sagte Lana nervös zu Clark. Es war schon sehr spät. Sie hatte gerade per Fax eine Bestätigung erhalten, dass der Gouverneur von Kansas im Talon eine 286
Wahlkampfveranstaltung abhalten würde. Sie wussten beide, dass Chloe und Pete dahinter steckten. Sie hatten der Presse die Information zugespielt, dass er endlich nach Smallville kommen würde, wie er es schon so oft angekündigt hatte. Er hätte absagen und behaupten können, dass es sich um einen Fehler handelte... aber er hatte es nicht getan, und nach Chloes Meinung bewies dies, dass ihn irgendetwas nervös machte. »Die Zeit ist so knapp!«, sagte Lana besorgt. »Ich werde dir helfen. Wir alle werden dir helfen. Aber ich bin nicht sicher, was Chloe vorhat. Will sie ihn etwa vor allen des Mordes beschuldigen?« Lana durchquerte den Raum, sah sich um, als würde sie Maß nehmen, und rückte ein paar Stühle zurecht. »Wir wissen nicht, ob er überhaupt darin verwickelt ist. Aber wir haben ständig das Gesicht dieses Farmers gesehen.« Sie fröstelte. »Er sieht so unheimlich aus.« »Chloe würde für eine mögliche Sensation alles tun«, meinte Clark mit einem angedeuteten Lächeln. »Sie will diesen Fall unbedingt lösen. Aber wir haben noch immer nicht Holly Pickering und diese Maklerin gefunden.« Lana runzelte besorgt die Stirn. »Sie ist nicht wie Joel aus dem Feld befreit worden. Wegen der Leiche, die wir entdeckt haben, können wir die Sache nicht mehr lange geheim halten. Früher oder später müssen wir die Behörden informieren.« Sie blickte ihn mit ihren großen braunen Augen an und er war verzaubert. »Wir haben keine Anhaltspunkte. Holly könnte auch von zu Hause ausgerissen sein und Robin die Konten des Maklerbüros geplündert und sich nach Las Vegas abgesetzt haben.« »Wenn in Smallville etwas passiert, sind die Erklärungen normalerweise nicht so einfach«, sagte er. »Das sind sie nie.« Sie sah ihn ruhig an. »Nichts ist einfach. Habe ich nicht Recht, Clark?«
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In diesem Moment fühlten sie sich einander so nahe wie nie zuvor. Clarks Wangen wurden heiß und Lanas Augen leuchteten. Lass diesen Moment niemals enden, dachte er. Aber natürlich endete er. »Ich muss ihnen die Baupläne des Talon schicken, damit sie die Sicherheitsfragen klären können«, sagte sie zu Clark. »Glücklicherweise habe ich sie alle zur Hand.« »Baupläne«, wiederholte er nachdenklich. »Baupläne!« Er sah Lana an. »Ich frage mich, wann der Betonboden im Welles-Haus gegossen wurde?« Als sie ihn stirnrunzelnd ansah, als könnte sie ihm nicht folgen, fuhr er fort: »In Chloes... Vision war es ein Erdboden. Der Junge wurde getötet, als der Boden noch aus Erde bestand.« Sie schluckte. »Ich weiß es nicht, Clark. Was bedeutet es deiner Meinung nach?« »Noch mehr Recherchen«, sagte er trocken. Janice Brucker erhielt ein Fax, das sie hastig überflog. Als ihr dämmerte, was darin stand, las sie es noch einmal. Ihre Augen weiteten sich und im Geist ordnete sie die Teile des Puzzles neu. Es war der DNS-Bericht von ihrem Freund Al von Wayne Industries. »Die Überreste – die mit einer seltsamen Mischung versetzt sind, die ich nicht näher untersucht habe, da du sagtest, es sei eilig – sind die eines männlichen Kindes, schätzungsweise sieben Jahre alt. Die Probe des aus Jackson Welles’ Haar gefertigten Ringes deutet darauf hin, dass die beiden verwandt waren. Vermutlich handelt es sich um Vater und Sohn.« Die Leiche ist wahrscheinlich eins seiner Kinder. Aber Chloes Nachforschungen haben ergeben, dass er nur einen
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einzigen Sohn hatte... Hiram Welles, der derzeitige Gouverneur. Aber wenn Hiram Welles’ Leiche in dem Keller liegt... wer ist dann der Gouverneur? Sie steckte das Fax in ihre Aktentasche und kehrte damit ins Smallville Arms zurück. Sie deponierte es im Safe. Eineinhalb Tage später traf für sie in der Düngemittelfabrik Nummer drei per FedEx ein Bericht ein. Er kam von den S.T.A.R.-Labors, und deren forensische Experten waren zu dem gleichen Ergebnis wie ihre Kollegen gekommen. Der LuthorCorp-Bericht erreichte sie zwei Tage später. Seine Ergebnisse waren anders. Völlig anders. Sie haben die falsche Probe getestet, dachte sie frustriert. Dann kam ihr ein Verdacht: Nein, sie haben die getestet, die sie bekommen haben. Wütend nahm sie den Telefonhörer ab und wählte die Nummer von Lex Luthors Handy. Dann hielt sie inne und überlegte es sich anders. »Was geht hier vor?«, murmelte sie. Sie knallte den Hörer auf die Gabel und ging nach Hause. Joel und Ginger standen am Rand des Maisfelds. Sie hatte ihren Skizzenblock dabei und hielt ihre Hand darüber, während Joel leise rief: »Holly?« Nichts geschah. Die helle Sonne schien auf das Maisfeld nieder. Nichts erinnerte hier an geisterhafte Hände oder Arme. »Ich empfange nichts«, sagte Ginger. Sie sah ihn an. »Es tut mir Leid.« »Vielleicht funktioniert es im Haus. Du hast dich dort gezwungen gefühlt, das Weizenfeld zu malen«, erinnerte er sie. Sie holte Luft. »Welles wird in zwei Tagen hier sein, Ginger«, sagte er. »Dann ist es vorbei. Wir können in seinem eigenen Haus keine Leiche vor ihm verstecken.« 289
»Ich hasse dieses Haus«, murmelte sie. »Ich will nie wieder einen Fuß hineinsetzen.« »Ich weiß. Du wartest draußen und ich gehe rein.« Er nahm ihre Hand. »Sie ist meine Freundin.« »Und du bist mein Freund.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Ich werde gehen.« »Ich gehe zuerst rein und sehe mich um«, beharrte er. Sie gingen zusammen, Hand in Hand, die Waitley Lane hinauf. Das Farmhaus blickte finster auf sie herab. Ginger wich instinktiv ein Stück zurück. Joel schenkte ihr ein kurzes Lächeln, ließ ihre Hand los und betrat allein das Haus. Er ist so mutig, dachte sie. So unglaublich mutig. Ein paar Minuten später kam er wieder heraus. Sein Gesicht war kalkweiß. Er sagte: »Ginger, sie ist weg. Alles ist weg!« »Was?« Er zeigte auf das Haus. »Die Leiche. Das Loch im Boden. Es wurde wieder aufgefüllt, und der Beton ist hart wie Stein. Er sieht aus wie vorher.« »Nein...«, keuchte sie. »Wie ist das möglich?« Sie sahen sich in völliger Verwirrung an. Lex blickte von seinem Schreibtisch auf, als Dr. Hamilton hereinstürmte und wütend Lex’ Memo schwenkte. »Was soll das bedeuten?«, brüllte er außer sich. Lex legte seinen Füller weg und faltete seine Hände auf der Schreibtischplatte. »Wie es dort steht. Ich beende das Strahlungsreplizierungsprojekt. Ich habe gemerkt, dass wir damit nur unsere Mittel verschwenden.« »Aber das ist lächerlich! Wir haben gerade erst angefangen!« »Es hat einen Unfall gegeben«, erklärte Lex glattzüngig. »Wir können uns derartige Dinge nicht leisten.« »Und Dr. Brucker! Sie können sie nicht feuern. Das ist völlig...« 290
Lex rieb sich das Kinn. »Dr. Hamilton«, unterbrach er, ohne seine Stimme zu heben. »Es wird andere Projekte geben. Projekte, die mit diesem fast identisch sind. Sogar so ähnlich, dass es sehr schwierig sein wird, sie voneinander zu unterscheiden.« Er wartete einen Moment und fügte dann hinzu: »Für Sie.« »Für...« Der Wissenschaftler verstand. »Wir werden weitermachen.« »Sie werden weitermachen. Sobald Dr. Brucker Smallville verlassen hat.« Lex blickte traurig drein. »Sie ist... indiskret gewesen.« Hamilton atmete vor Erleichterung laut auf. »Es ist trotzdem eine Schande. Sie ist eine hervorragende Wissenschaftlerin.« »Sie kann sich anderen Aufgaben widmen«, erklärte Lex. »Das Projekt, an dem sie arbeiten sollte, entsprach bei weitem nicht ihren Fähigkeiten. Sie braucht eine anspruchsvollere Arbeit.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Sie können das allerdings nicht tun.« »Ich sitze hier fest, im Exil«, stimmte Hamilton zu. »Ich kann nirgendwohin gehen.« Er warf wieder einen Blick auf das Memo. »Sie haben es nur mir geschickt. Wann werden Sie es ihr sagen?« »Ich bin sicher, dass sie meine Nachricht schon bekommen hat«, erwiderte Lex nur.
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16 WILLKOMMEN DAHEIM IN SMALLVILLE, GOUVERNOUR WELLES! Das Banner hing über dem Eingang des Talon. Farmer in Freizeitkleidung, aber auch eleganter gekleidete Besucher warteten vor der Tür. Die Frauen mussten ihre Handtaschen öffnen, um sie vom Sicherheitsdienst überprüfen zu lassen. Es gab Metalldetektoren und Überwachungskameras. Lana und ihre Tante Nell waren sehr, sehr nervös. Und Chloe war außer sich vor Empörung. Joel hatte ihr von seiner Entdeckung erzählt, und Dr. Brucker hatte ihnen die Ergebnisse der drei forensischen Untersuchungen gezeigt. Clark hatte nicht herausfinden können, wann der Erdboden durch Beton ersetzt worden war, obwohl er Daphne vom Geschichtsverein gelöchert hatte, damit sie ihm Tipps für ihre Recherche gab. »Es war Lex«, hatte Chloe behauptet, die gerade ihre Pressekarte ansteckte. »Er hat den Boden erneuert und die Proben vertauscht. Er deckt Welles.« »Es könnte auch jemand anders gewesen sein«, gab Clark zu bedenken, obwohl er es nicht wirklich glaubte. »Die LuthorCorp ist riesig. Vielleicht hat der Gouverneur davon erfahren.« »Oh, Clark, gib’s auf«, fauchte Chloe. Sie saßen mit ihren Eltern im hinteren Teil des Cafés, und Chloe hatte sich in der Nähe eines der Mikrofonständer platziert, die aufgestellt worden waren, damit die Leute dem Gouverneur Fragen stellen konnten. TV-Teams aus Metropolis, Kansas City und anderen Großstädten von Kansas hatten ihre Kameras aufgebaut. Eines stand schon jetzt fest: Es würde eine hervorragende Werbung für Lanas Café sein.
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Dann betrat eine Frau mit langen Haaren, die einen dunkelblauen Straßenanzug trug, das Podium. Sie vergewisserte sich, dass das Mikro eingeschaltet war, und bat die Besucher, Platz zu nehmen. Als sich die Leute setzten, murmelte Martha: »Ich werde ihn wegen seiner Umweltgesetzgebung festnageln.« Jonathan tätschelte ihr Knie. »Tu das, Schatz.« Die beiden hielten sich an den Händen, und Clark lächelte ihnen matt zu. Dann wurde er ernst, als er zu Pete hinübersah, der mit anderen Freiwilligen aus verschiedenen Teilen des Staates zusammenstand. Jeder von ihnen trug einen Button mit der Aufschrift »FÜR DIE WIEDERWAHL VON HIRAM WELLES«. Pete schien sich sehr unbehaglich zu fühlen, als würde er am liebsten seinen Button abnehmen und den Raum verlassen. Chloe hockte auf der Kante ihres Stuhles. Joel und sein Vater sowie Janice und Ginger saßen direkt vor Clark und seinen Eltern. Joels Vater trug einen Anzug. Lex war nirgendwo zu sehen. Dann erhob sich Hiram Welles, um zu sprechen. Er ist alt, dachte Clark überrascht. Das alles ist vor so langer Zeit passiert... Welles hielt eine typische Politikerrede. Clarks Gedanken schweiften schon nach wenigen Sekunden ab; er erinnerte sich an all die erstaunlichen Dinge, die in den letzten Wochen geschehen waren. Er wurde erst wieder aufmerksam, als seine Mom aufstand und ihre Frage zur Wasserverschmutzung stellte. Sie bekam Beifall von den anderen Farmern im Raum. Welles’ glatte Antwort gefiel Martha nicht, und Jonathan murmelte leise: »Deine Stimme hat er damit sicher nicht gewonnen!« Weitere Fragen wurden gestellt, weitere standardisierte, vorhersehbare Antworten gegeben.
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Dann schlug Chloes große Stunde. Sie sprang auf, trat ans Mikro und fragte: »Hatten Sie einen jüngeren Bruder, Gouverneur? Der vielleicht jung gestorben ist?« Der Mann wirkte völlig überrumpelt. Dann fing er sich und erwiderte: »Nein, junge Dame. Ich war ein Einzelkind.« »Aber...«. begann Chloe. »Ich bin ein Einzelkind«, unterbrach er ruhig. »Nächste Frage?« Vor Wut kochend setzte sie sich wieder. Sie warf Clark einen Blick zu, und er zuckte die Schultern, gleichermaßen frustriert, aber weit weniger überrascht. Die Fragestunde endete, und Clark wartete in der Schlange, um dem Gouverneur die Hand zu schütteln. »Es ist so schön zu sehen, dass so viele junge Leute gekommen sind«, sagte der Mann, als er seine Hand ausstreckte. Clark musste an den kleinen Jungen denken, der unter schrecklichen Schmerzen gestorben war, und an die kleine Geisterhand, die seine ergriffen hatte. Er konnte diesem Mann die Hand nicht reichen. Welles schien gekränkt, sagte aber nichts. Was hätte er vor so vielen Fernsehkameras auch sagen können? Chloe stellte sich ebenfalls in der Schlange an, doch der Gouverneur erklärte, einen anderen wichtigen Termin zu haben und früher als geplant gehen zu müssen. Der Abend endete sehr abrupt. Chloe sagte zu den anderen: »Nun, das war reine Zeitverschwendung.« »Nicht für Lana«, meinte Clark und beobachtete, wie sie strahlend in die Fernsehkameras lächelte. Die anderen wollten noch bleiben, über den Abend sprechen und entscheiden, was sie als Nächstes tun sollten. Doch Clark verabschiedete sich von ihnen mit den Worten: »Ich muss nach Hause. Ich fühle mich noch immer nicht besonders gut.« 294
Dann ging er zu seinen Eltern und murmelte: »Ich werde ihm folgen, um zu sehen, was er vorhat.« Beide widersprachen, gaben schließlich aber nach und mahnten ihn seufzend, vorsichtig zu sein. Martha reichte ihm das Handy und sagte: »Ruf an.« Die Limousine des Gouverneurs war von Neugierigen umringt; aber sein Sicherheitsteam hielt sie in Schach. Zu seinem Tross gehörten noch drei andere Wagen. Sie gehörten seinen wichtigsten Beratern, vermutete Clark. Er stand im Schatten, und als die Stretchlimousine davonfuhr, versuchte er ihr mit Supergeschwindigkeit zu folgen. Zu seiner ungeheuren Erleichterung gelang es ihm. He, es scheint aufwärts zu gehen, dachte er. Steil aufwärts, um genau zu sein. Ermutigt lief er noch schneller. Hiram Welles’ nächster Halt war sein Geburtshaus. Clark hielt sich in den Schatten versteckt und verfolgte jeden Schritt des Mannes mit seinem Röntgenblick. Welles ging für die TV-Kameras von Raum zu Raum. In der Küche zeigte er auf die Kellertür, aber er stieg die Treppe nicht hinunter. Dann begaben sich alle zurück zu den Limousinen und fuhren in Richtung Stadt. Clark hatte sich schon auf den Heimweg gemacht, als eine der Limousinen – die des Gouverneurs – aus der Kolonne ausscherte und drehte. Neugierig beobachtete Clark sie. Das Auto fuhr zu dem Maisfeld auf der anderen Seite der Waitley Lane. Und Gouverneur Welles stieg allein aus. Er sprach mit dem Fahrer und die Limousine fuhr davon. Clark verfolgte von weitem, wie Welles das Maisfeld betrat. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte. Dann blieb er stehen. 295
»Seht mal, da ist Welles«, sagte Chloe und wies durch die Windschutzscheibe ihres Wagens. »In dem Maisfeld.« Sie waren auf dem Weg zu ihrem und Joels Haus. Chloe hatte Ginger gebeten, bei ihr zu übernachten, damit sie in Ruhe über das reden konnten, was vorgefallen war. »Seine Leibwächter sind fort«, stellte Joel fest, als er sich umschaute. »Oder sie verstecken sich aus irgendeinem Grund.« »Vielleicht hat er ihnen gesagt, dass er allein sein will.« Plötzlich sagte Ginger heiser: »Papier!« Chloe sah Joel an, der sich an Ginger wandte: »Was?« »Hiram Welles. Hiram Welles«, intonierte sie mit tonloser Stimme. Ihre Hand bewegte sich, als würde sie zeichnen. Chloe sagte: »In meinem Rucksack ist ein Stenoblock.« Joel durchwühlte ihn, fand den Block und schob ihn unter Gingers Hand. Sie fing an zu zeichnen. Im Mondlicht stand Welles reglos da, als würde er Zwiesprache mit dem Mais halten. Clark fröstelte. Manche Orte waren einfach gruselig. Das Maisfeld schien sich endlos zu erstrecken und mit dem Horizont zu verschmelzen; es würde selbst zur Mittagszeit am Unabhängigkeitstag einen hochgradigen Gruselfaktor haben. In dieser Nacht, erhellt vom kalten Mond, mit bewegungslosen Stauden, deren Blätter herabhingen wie die Haare einer toten Frau, während womöglich ein psychopathischer Mörder dort stand... wirkte es extrem unheimlich. Er erinnerte sich, wie ihm sein Vater von einer Folge der Twilight Zone oder One Step Beyond oder einer anderen dieser alten Serien erzählt hatte, die angesagt gewesen waren, als Jonathan Kent jünger als Clark gewesen war. Sie handelte von einem Jungen, der Leute, die er nicht mochte, auf magische
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Weise in ein Maisfeld verbannen konnte. Er schauderte leicht. Keine angenehme Vorstellung... Er schlich vorsichtig an einer der Reihen entlang, wurde langsamer und trat vorsichtig auf, um keinen Staub aufzuwirbeln. Irgendwo links von ihm befand sich der Meteorit; er konnte spüren, wie er dort pulsierte. So lange er sich von ihm fern hielt, würde ihm nichts passieren. »Was zeichnet sie?«, fragte Chloe. Sie steuerte an den Straßenrand, sah sich um und fuhr dann direkt in ein Gebüsch, um den Wagen zu verstecken. »Es ist wieder dieser Farmer«, antwortete Joel. »In einem Weizenfeld.« Er sagte zu Ginger: »Ginger? Alles in Ordnung?« »Mais«, fauchte Ginger ihn an, noch immer mit der heiseren Stimme. »Mais, Mais, Mais, Mais, Mais.« Sie zeichnete hastig weiter, Joel sagte: »Es ist das Maisfeld.« »Das Maisfeld?«, fragte Chloe. »Töten. Töten«, krächzte Ginger. »Töten.« »Äh, okay...« Chloe sah Joel an. »Wir können zu Fuß hingehen. Es ist nicht weit«, meinte Joel. Chloe nickte und löste ihren Sicherheitsgurt. Joel folgte ihrem Beispiel und löste dann Gingers. Er versuchte ihr den Papierblock wegzunehmen, doch sie hielt ihn fest und zeichnete weiter. Ihre Hand tanzte über das Blatt. Trotz seiner vergeblichen Versuche, sie zu stoppen, war die Zeichnung überraschend gut gelungen. »Mattias?«, fragte Chloe und sah Ginger forschend an. »Sind Sie das?« »Töten!«, schrie Ginger. Sie stürzte sich auf Chloe. Irgendetwas passiert, dachte Clark.
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Die Erde unter seinen Füßen bebte. Der Mais bewegte sich rhythmisch zu den Erschütterungen. Selbst die Sterne über seinem Kopf schienen im Takt zu tanzen. Welles blickte auf. Er war genauso überrascht wie Clark. Dann entdeckte er Clark und seine Augen weiteten sich. »Was machst du hier?«, schrie er ihn an. Die Maisstauden schwankten wild hin und her. Das Feld neigte sich, als wäre es Teil eines großen Brettes, das kippte... oder eines Tisches... dachte Clark... wie ein Séancentisch, der kippt... Er und der Gouverneur verloren das Gleichgewicht, doch Clark reagierte viel schneller und konnte sich auf den Beinen halten, während der Gouverneur hinfiel. Clark rannte zu ihm hin. Mit einem wütenden Knurren, das nichts Menschliches mehr an sich hatte, stieß Ginger Chloe brutal zur Seite und rannte in das Maisfeld hinein. Chloe schlug hart auf. Joel stolperte auf sie zu und bückte sich, um ihr hochzuhelfen, die Augen auf das Maisfeld gerichtet, wo die Stauden wie verrückt schwankten. Er rief ihr zu: »Bist du okay?« »Mir geht’s gut! Los, komm mit.« Zusammen rannten sie in das Staudenfeld und riefen nach Ginger. Wolken sammelten sich am Himmel. Zuerst waren es nur dünne Streifen, die sich rasch verdichteten und die Sterne und den Mond verdeckten. Sie waren groß, wirbelnd und grün. Plötzlich stürzten sie hinab aufs Maisfeld, wie mächtige Felsblöcke – wie Meteoriten, dachte Chloe entsetzt. Ein Dutzend oder mehr von ihnen streiften die seidigen Spitzen der Maiskolben. Sie waren völlig außer Kontrolle geraten. »Oh, mein Gott«, schrie Chloe. Joel packte sie und stieß sie aus dem Weg, als einer von ihnen direkt auf sie zuraste. Gerade 298
noch rechtzeitig, bevor der Meteorit sie unter sich begraben konnte. Dann, als er über sie hinwegrollte, schoss grünes Licht aus dem Boden; grelle Strahlen, die aussahen wie Suchscheinwerfer oder Laser. Trotz ihrer verzweifelten Bemühungen, dem Licht auszuweichen, wurden Chloe und Joel von ihm erfasst. Ginger kämpfte sich durch das Maisfeld und schlug dabei mit ihren Buntstiften um sich. Ihr Mund war vor unkontrollierbarer Wut verzerrt. Nur dass sie nicht mehr Ginger war. Sie war... Mattias Silver war gekommen, um Jackson Welles’ wunderschöne Frau zu besuchen. Er würde nichts Unschickliches tun; er würde kein Wort sagen, das sie in Verlegenheit bringen oder kompromittieren konnte. Er machte sich einfach Sorgen um sie; mit jedem Tag wurde ihr Mann brutaler. Sie wurde immer dünner; ihr schönes Gesicht sah so eingefallen und unglücklich aus. Es hellte sich nur auf, wenn sie auf sein Klopfen hin öffnete. Dann war sie eine Studie in exquisiter Schönheit. Mattias Silver konnte ein wenig zeichnen. Er war ein einfacher, armer Farmer und sie eine elegante Dame, doch sie wusste seine Zeichnungen zu schätzen und bewahrte alle auf. Seine Hand lag auf dem Klopfer, als er die furchtbaren Schreie hörte. Und das Gelächter. Es kam aus dem Inneren des Hauses. Ohne nachzudenken brach er die Tür auf. Im Foyer rief er ihren Namen – »Em?« –, wie er sie zärtlich nannte. Ihre Stimme kam vom Dachboden: »Lass mich raus!«, schrie sie. Er rannte die Treppe hinauf, bei jedem Schritt nahm er zwei Stufen auf einmal. Dann hörte er wieder die Schreie. 299
Sie kamen aus dem Keller. »Hiram!«, kreischte sie. »Mein Baby!« Und Mattias stürmte in die Küche. Die Kellertür stand offen; er rannte die Treppe hinunter. Und was er sah... was er sah... ... er sah seinen eigenen Sohn Tommy, wie er Hiram Welles’ Kopf in einen Eimer drückte, und Jackson Welles, wie gewöhnlich betrunken, ihn anfeuerte. »Tu es! Töte den kleinen Bastard!«, heulte Jackson. Dann fuhr er herum, sah Mattias und brüllte ihn an: »Bist du hier, um dich zu meiner Frau zu schleichen? Um dir zu nehmen, was mir gehört?« Mattias sah an ihm vorbei zu dem unfassbaren Grauen, das sich abspielte. Tommy riss Hirams Kopf aus dem Eimer und Mattias sah, oh Gott, er sah... ... dass Hirams Gesicht von dem ungelöschten Kalk vollkommen zerfressen war. Und das Gesicht seines Sohnes hatte einen Ausdruck des monströsen Bösen; Freude, dass er die Tat begangen hatte; Triumph, dass es durch seine eigenen Hände geschehen war. Mattias schrie: »Teufel! Du bist ein Teufel!« Dann packte ihn Jackson an der Hüfte und schleuderte ihn gegen die Wand. Er hörte Knochen brechen; sein Kopf dröhnte. Benommen rappelte er sich auf und stolperte auf das grausige Geschehen zu: sein Junge, betrachtete sein Werk ohne jede Spur von Reue. Mein eigener kleiner Junge... Da hob Jackson seine Pistole. Er will mich töten, wurde Mattias klar. Und mein Junge wird ihm dabei zusehen. Er drehte sich um und rannte. Die Treppe hinauf, aus dem Haus und die Straße hinunter zum Maisfeld...
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Und erst dort fiel Mattias ein, dass er Em ungeschützt auf dem Dachboden zurückgelassen hatte... Clark folgte Welles’ Schreien. Er rannte mit Supergeschwindigkeit und suchte nach ihm, während der Himmel und die Erde sich in einen grünen Nebel verwandelten. Der Meteor, dachte er, als er einen schmerzhaften Stich spürte. Ich komme ihm zu nahe. Die Schreie brachen abrupt ab. Clark wurde langsamer und blieb dann stehen. Der Schlag kam von hinten. Clark wurde von ihm völlig überrascht. Er wurde so hart getroffen, dass er in die Knie ging. Er wirbelte herum, erhaschte einen Blick auf Gouverneur Welles’ Silhouette vor dem Mond, die Faust zu einem weiteren Schlag erhoben. Clark warf sich zur Seite, und der Schlag verfehlte ihn nur knapp. Er spürte, wie der Boden unter seiner Wucht erbebte. Er trat mit einem Bein um sich, traf den Gouverneur irgendwo und hörte ihn grunzen. Clark rappelte sich auf und stürmte los. In einem Sekundenbruchteil brachte er zehn Maisreihen zwischen sich und seinen Gegner. Dann fuhr er herum und wollte zurückrennen, um den Mann anzugreifen. Er richtete seinen Blick auf die Stelle, wo Welles gestanden hatte, und veränderte sein Wahrnehmungsvermögen. Die Pflanzen, die ihn verbargen, wurden durchscheinend. Er suchte das Maisfeld ab... Da stürmte Gouverneur Welles von der Seite aus der Deckung der Maisreihen und rammte ihn. Sie rollten über den Boden und kamen in einem Chaos aus brechenden Halmen und raschelnden Blättern zum Halt. Schließlich gelang es Welles, Clark zu überwältigen. Er legte seine Hände um Clarks Kehle. »Ginger!«, schrie Chloe.
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Dann rollte eine der grünen, felsenähnlichen Wolken über sie hinweg. Sie umhüllte sie mit einem pulsierenden grünen Feld und sie sah... Den Farmer, der um sein Leben rannte. Ein Junge und ein Mann verfolgten ihn durch das Maisfeld. Sie heulten und jaulten wie Hunde, die hinter einem Fuchs her waren. Der Mann hielt eine Pistole in seiner großen Hand und blieb immer wieder stehen, um auf die fliehende Gestalt zu zielen. Und sie spürte den hilflosen Zorn des Mannes, der verfolgt wurde, und sein Schwur durchdrang sie bis ins Mark... Ich werde mich rächen. Mich und den armen kleinen Hiram und meine Em... Ich werde... Dann traf ihn die Kugel. Und er starb. Es ist alles ein Teil desselben Spukes, dämmerte Chloe. Der Mord in dem Keller, die Hetzjagd... Gouverneur Welles war dieser kleine Junge, dieser schreckliche, grausame Junge... Clark drehte sich um und versuchte den Gouverneur abzuschütteln. Sie waren dem Meteoriten viel zu nahe; Clark spürte seine Auswirkungen immer stärker. Etwas Großes und Verschwommenes pfiff heran und traf Welles’ Hinterkopf. Er grunzte überrascht auf und sein Würgegriff wurde vorübergehend schwächer. Clark konnte den Mann von sich stoßen und sah Joel über sich stehen, die Fäuste geballt. »Ich dachte mir, es ist Zeit, meine Stimme abzugeben«, sagte er grimmig. Clark und Gouverneur Welles rappelten sich auf. Schatten tauchten aus dem Nebel um sie herum auf. Es waren Chloe und Ginger. Ginger schluchzte hysterisch. 302
Plötzlich, scheinbar aus dem Nichts, kam Wind auf. Um sie herum stiegen Wirbel aus Staub vom Boden auf. Wie gierige, geisterhafter Finger griffen sie nach ihnen. Alle reagierten überrascht und sahen sich nach der Quelle der Luftströmungen um. Sie war schwer zu übersehen. Etwa hundert Meter weiter war der Himmel aufgerissen. Eine grüne, zähe Flüssigkeit quoll aus dem Spalt; sie war identisch mit dem Rückstand, den Clark an dem Türknauf entdeckt hatte. Etwas drehte sich im Zentrum der Flüssigkeit wie ein Strudel, ein wirbelnder Hexenkessel, der auf der Seite lag. Darin konnte Clark pulvergraue Wolken erkennen, die sich bewegten – sich stellenweise teilten und den Blick auf eine kalte, unheimliche Landschaft freigaben. »Dort war ich«, rief Joel entsetzt. »Es wird uns alle verschlingen!« Gouverneur Welles starrte den Wirbel an und sein Gesicht wurde aschgrau, als der Nebel aus dem Spalt quoll. Er fuhr herum und rannte davon. Dabei stieß er Joel so brutal zur Seite, dass der Junge den Halt verlor und ein paar Meter durch die Luft flog. Clark hatte keine Wahl; er warf sich blitzartig drei Meter zur Seite in die Flugbahn Joels, sodass dieser gegen ihn prallte und der Sturz abgefedert wurde. Zum Glück sah niemand, was er tat. Sie waren alle zu sehr damit beschäftigt, auf den bizarren Strudel zu starren, der sich ihnen rotierend näherte. Er ließ Joels betäubte Gestalt sanft zu Boden gleiten, taumelte dann und sank auf ein Knie. Der Meteorit war nahe, viel zu nahe. Er musste von hier verschwinden. Für ihn ging es um Leben und Tod. Mühsam versuchte er sich aufzurichten, aber alles drehte sich um ihn. Er sah Gouverneur Welles zu dem Meteoriten flüchten, fort von dem Strudel, und er wusste, dass er ihm nicht in diese Richtung folgen konnte... nicht, wenn er überleben wollte. 303
In der Nähe lag ein Maiskolben, der während des Kampfes von seiner Staude gerissen worden war. Clark hob ihn auf und holte weit aus. Er wusste, dass er nur diese eine Chance haben würde... Mit letzter Kraft warf er die improvisierte Waffe. Sie flog gerade und zielsicher durch die Luft und traf Welles am Hinterkopf. Dass er binnen zweier Minuten zum zweiten Mal an derselben Stelle getroffen wurde, war selbst für einen so kräftigen Mann wie ihn zu viel. Stöhnend fiel er in die Maisstauden, wo er bewusstlos liegen blieb. Clark drehte sich zu seinen Freunden um, die noch immer den Strudel beobachteten. Er versuchte zu kriechen, fort von der tödlichen Strahlung, aber vergeblich. Seine Arme und Beine waren taub. Er hob eine Hand und starrte seine Finger an. Im fahlen Mondlicht war es schwer zu erkennen, doch seine Haut schien eine grünliche Färbung anzunehmen. Er starb, dämmerte es Clark. Seine Gedanken waren seltsam distanziert, als würden sie einem anderen gehören. Plötzlich hörte er einen Schrei, der aus großer Ferne zu kommen schien. Er blickte auf. Etwas geschah in dem Wirbel. Er konnte in seinen strudelnden Tiefen die Umrisse von zwei Menschen erkennen, die zu der Öffnung rannten. Es handelte sich um ein junges Grufti-Mädchen und eine ältere Frau, die einen goldenen Blazer trug. Sie sahen verzweifelt aus und rannten um ihr Leben. Es waren Holly und Robin. Er bohrte seine Finger ins Erdreich und nahm all seine verbliebene Kraft zusammen. Zentimeter um Zentimeter schleppte er sich mühsam vorwärts. Sie zu erreichen, war für ihn gleichbedeutend mit dem Versuch, einen Kontinent zu überqueren. Aber er machte weiter. Und während er sich bewegte, spürte er, wie seine Kräfte unerwarteter Weise zurückkehrten. 304
Dann geschah alles rasend schnell. Während Chloe und Ginger »Nein!« schrien, hechtete Clark in die Öffnung. Sie war grau und flach, eine riesige Ebene aus endlosem Nichts. Chloe sah, wie sich in dem Portal eine riesige graue Masse Clark und den beiden vermissten Frauen näherte. Und dann spürte sie die unglaubliche Wut, die von der Masse ausging, die Wut auf Ungerechtigkeit – eine Wut, die jahrelang von dem Meteoriten aufgeladen worden war, bis sie sich in eine Art Lebewesen verwandelt hatte. »Mattias!«, schrie sie. »Mattias, hör auf! Clark versucht, dir zu helfen! Er versucht, dir zu helfen!« Im Innern des Wirbels bekam das Wesen Arme und ein Gesicht und einen Körper... Mattias materialisierte sich. Er sah Clark direkt an und murmelte: »Vergeltung.« Wie die Strahlung eines Meteoriten schlugen Wellen aus Wut über Clark zusammen. Zorn und Verzweiflung packten ihn, ließen ihn nicht mehr los; sie waren so unglaublich stark, dass sie ihn wie Riesenhände in ihrem Griff hielten. Er war wie gelähmt, konnte nichts tun, nur diese Flutwelle aus Emotionen über sich hereinbrechen lassen. Der Mann sagte wieder: »Vergeltung.« Er ist von dem, was geschehen ist, besessen, dämmerte Clark. Er hat sich nicht davon befreien können. Er ist so lange Zeit wütend gewesen, war an das Haus gefesselt, wo er gesehen hat, wie sein Kind ein anderes Kind ermordete, während dieses Monster daneben stand und lachte und ihn schließlich auf diesem Feld erschoss. Und all diese aufgestauten Gefühle sind von dem Meteoriten verstärkt worden... »Wir wissen Bescheid«, stieß Clark hervor. »Wir werden etwas dagegen tun.« 305
Der Mann schüttelte den Kopf und sprach. »›Kommt ihr aber ein Schade daraus, so soll er lassen Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule...‹« »Er wird dafür bezahlen«, sagte Clark. »Das verspreche ich dir.« Mattias Silver sah über seine Schulter, als eine andere Gestalt hinter ihm auftauchte. Es war der Geist eines kleinen Jungen, der im Stil der 40er Jahre gekleidet war. Einer seiner Füße war kürzer als der andere. Hiram Welles, der Junge, den Mattias’ Sohn ermordet hatte, stand vor ihnen. Ohne zu zögern, schoss er über Clark und seine Freunde hinweg. Alle Köpfe folgten dem fliegenden Phantom. Es flog direkt auf Gouverneur Welles zu, der in diesem Moment wieder zu sich kam. Er rappelte sich auf und sah den Geist des Jungen heranrasen. Sein Gesicht verriet nacktes Entsetzen, und er versuchte zu flüchten. Aber es gab keinen Ausweg für ihn. Alle verfolgten, wie der Geist des Kindes den Körper des Gouverneurs durchdrang. Welles versteifte sich unter krampfartigen Schmerzen. Er griff sich an die Brust, taumelte und fiel. Clark spürte, dass der Geist des Jungen hinter ihnen schwebte. Er drehte sich um und sah, wie das durchscheinende, ruhige Gesicht sie alle musterte. Dann legte der Junge seine kleine Hand in Clarks und lächelte ihn an. Ohne ein weiteres Wort verschwand er. Dann rannten Holly und Robin an ihm vorbei, sprangen durch den Wirbel und landeten auf dem Boden. »Oh, mein Gott«, keuchte Joel und richtete sich auf. »Holly.« Und dann tauchte eine andere Erscheinung auf, eine schimmernde Gestalt, die in der strudelnden Öffnung verharrte. »Ginger«, rief sie ruhig. 306
»Daddy!«, schrie Ginger. Clark verfolgte, wie die Gestalt die deutlich erkennbaren Züge eines Mannes annahm, der Ginger sehr ähnlich sah. Er streckte eine Hand aus und Ginger rannte los, um sie zu ergreifen. Sie senkte den Kopf, um liebevoll seine Finger zu küssen. »Oh, Daddy, Daddy!« »Ich kann nicht bleiben, Baby«, sagte er sanft. Tränen strömten über sein Gesicht, als er das Haar seiner Tochter streichelte, ihr Kinn umfasste und sie mit unendlicher väterlicher Liebe ansah. »Aber du musst Mom etwas ausrichten. Sie quält sich so sehr. Der Unfall war nicht ihre Schuld. Lionel Luthor war dafür verantwortlich. Der Bericht war gefälscht.« »Oh, Daddy. Daddy.« Sie wischte ihr Gesicht ab. »Daddy, ich hatte solche Angst, dass sie... dass...« »Sag es ihr«, bat er sanft. »Die Schuld quält sie... genau wie der Zorn diesen Mann gequält hat.« Dann wandte er sich ab und verschwand, einen Kometenschweif hinter sich her ziehend, in dem schrumpfenden Wirbel. »Daddy, warte!«, schluchzte sie und rannte hinter ihm her. »Komm zurück!« In diesem Moment fiel Chloe in das Licht und sie sah... Emily Welles beobachtete vom Dachbodenfenster aus, wie ihr betrunkener Mann das Loch auf dem Weizenfeld grub. Er warf das Bündel hinein; und sie erkannte einen Fuß, einen kleinen, verkrüppelten Fuß. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einem stummen Schrei und sie brach auf dem Boden zusammen. Aber Emily Welles wartete ab. Ihr einziger Freund Mattias Silver war tot; ihr einziger Sohn war tot und Mattias’ brutaler, wahnsinniger Sohn lebte an seiner Stelle in ihrem Haus. Sie 307
wusste, dass sie nur überleben konnte, wenn sie es niemandem erzählte. Und so wartete sie ab, zog jeden Morgen die große Standuhr im Korridor auf und blieb am Leben bis zu dem Tag, an dem dieses Monster, Tommy Silver, nach Metropolis zog, um seine politische Karriere zu beginnen. Noch in dieser Nacht grub sie das arme kleine Skelett im Weizenfeld aus und trug es ins Haus. Leise um ihren geliebten Sohn weinend, legte sie ihn in die kalte Erde des Kellers... und bat dann Jackson, der nicht wusste, was sie getan hatte, einen dieser neuen Betonböden zu gießen. »Eines Tages wird jemand dich finden«, versprach sie, als der Beton sich härtete und zu seinem Grab wurde. »Und alles wird ans Licht kommen.« Und dann nahm sie alle Schlaftabletten, die sie in den langen Jahren gesammelt hatte, und gesellte sich zu ihrem Liebsten. Und jetzt, als sich Clark über den Gouverneur beugte und feststellte, dass Tommy Silvers Herz stehen geblieben war... zum Stillstand gebracht worden war... schwebte eine weiße Gestalt über das Maisfeld. Chloe flüsterte: »Emily!« Die Geisterfrau glitt an ihnen vorbei, ohne zu erkennen zu geben, dass sie sie hörte oder sah, und näherte sich einer Stelle des Feldes, die vor kurzem umgegraben worden war. Sie beugte sich nach unten und streckte ihre Arme aus. Aus der Erde stieg das Geisterkind empor. Es sprang in ihre Arme, und beide verblassten. »Es ist vorbei«, sagte Clark. Wie aufs Stichwort hin hörte die Standuhr im Welles-Haus auf zu ticken. Dann brach das Geisterhaus mit einem ächzenden Krachen in sich zusammen.
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Epilog VOR DEM »SMALLVILLE ARMS« stand Janice Bruckers Wagen mit einigen wenigen lebensnotwendigen Dingen beladen. Den Rest würde sie sich später nachschicken lassen. Ginger stand bei Joel; sie würden sich bald wieder sehen – Janice hatte, wie versprochen, ihre Beziehungen spielen lassen und Joel würde im Herbst zur Universität gehen. Sie drehte sich um und musterte Lex, der abseits von den anderen stand und keinen Ton sagte. Dann trat sie zu ihm und fragte: »Was hatte der Gouverneur gegen Ihre Familie in der Hand?« Lex lächelte traurig. »Was hatte er nicht gegen uns in der Hand?« Dann fügte er hinzu: »Ich wusste nichts davon... was mein Vater getan hat, Janice. Ehrlich.« Er schwieg einen Moment. »Es gibt jetzt keinen Grund mehr zu gehen. Welles ist tot.« Sie sah ihn verächtlich an. »Oh, es gibt eine Menge Gründe. Mein Mann ist ebenfalls tot. Und wie gewöhnlich werden die Luthors damit ungestraft davonkommen.« Dann eilte Ginger an ihr vorbei, um in den Wagen zu steigen. Lex wandte sich an Clark, der mit Lana, Chloe und Pete gekommen war, um ›Auf Wiedersehen‹ zu sagen. Clark warf ihm einen Blick zu, ging dann zu ihm hinüber und fragte: »Warum hast du das Skelett entfernt und den Boden repariert, Lex? Um Welles zu schützen? Oder dich selbst?« Lex blickte empört drein. »Du gehst davon aus, dass ich das getan habe?« Clark hob sein Kinn. »Hast du’s nicht getan?« »Deine Familie hat ihre Geheimnisse, Clark, und meine auch«, murmelte Lex. Clark drehte sich um und ging an ihm vorbei, ohne ein weiteres Wort zu sagen. 309
In ihrem Hochhausapartment in Metropolis betrachtete Ginger ihre Mutter, die tief und fest schlief. Ein süßes Lächeln lag auf Janice Bruckers Gesicht. »Schöne Träume, Mom«, flüsterte Ginger. Ginger beugte sich zu ihrer Mutter und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. In dieser Nacht träumte Clark von Geistern: weiche Hände, die eine Decke um ihn legten; weiche Lippen, die ihn zum Abschied, zum endgültigen Abschied küssten. Er träumte Worte des Abschieds in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte und auch nie wieder hören würde. In seinem Traum fand er Antworten auf die Fragen, die ihn schon sein ganzes Leben lang quälten. Wenn er erwachte, würden sie ihn noch immer quälen. Doch jetzt träumte er.
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