R. L. Stine • Die Geisterhöhle
DER AUTOR R. L Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Ber...
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R. L. Stine • Die Geisterhöhle
DER AUTOR R. L Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit neun Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben. DIE SERIE Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L Stine
Die Geisterhöhle Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von Bertelsmann
Band 20694 Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS erschienenen Titel der Serie.
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
Erstmals als OMNIBUS Taschenbuch Januar 2000 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps # 22: Ghost Beach« bei Scholastic, Inc., New York © 1994 by The Parachute Press, Inc. All rights reserved Published by arrangement with Scholastic, Inc., 555 Broadway, New York, NY 10012, USA 1 »Goosebumps« " and »Gänsehaut«™ and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 1998 für die deutsche Übersetzung C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München Übersetzung: Günter W. Kienitz Lektorat: Janka Panskus Umschlagkonzeption: Klaus Renner bm Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20694-7 Printed in Germany
10 98765432
Ich kann mich nicht daran erinnern, wie wir zum Friedhof gelangt waren. Ich entsinne mich nur noch, dass sich der Himmel verdunkelte - und auf einmal waren wir da. Tess, meine Schwester, und ich gingen an Reihen krumm und schief stehender alter Grabsteine entlang, die voller Sprünge und mit Moos bewachsen waren. Obwohl es Sommer war, lag über allem ein feuchter, grauer Nebel, der die Luft kühl werden ließ. Ich fröstelte und schlang die Jacke enger um mich. »Warte auf mich, Tess!«, rief ich. Wie gewöhnlich lief sie einige Schritte vor mir her. Friedhöfe lassen sie immer völlig aus dem Häuschen geraten. »Wo steckst du?«, schrie ich. Ich blinzelte in den grauen Nebel. Ein Stück vor mir konnte ich schemenhaft ihre Gestalt ausmachen. Sie blieb alle paar Sekunden stehen, um sich den einen oder anderen Grabstein genauer anzusehen. Ich las die Aufschrift auf einem halb umgestürzten Grabstein zu meinen Füßen: Im Gedenken an John, Sohn von Daniel und Sarah Knapp, gestorben am 25. März 1766, im Alter von 12 Jahren und 22 Tagen. Unheimlich, dachte ich. Der Junge war etwa in meinem Alter gewesen, als er starb. Ich war im Februar zwölf geworden. Tess hatte im selben Monat ihren elften Geburtstag gefeiert. Ich eilte weiter. Ein heftiger Wind setzte ein. Ich suchte die Grabreihen nach meiner Schwester ab, aber sie war im dichten Nebel verschwunden. »Tess? Wo bist du hin?«, rief ich.
Jerry.«
Ihre Stimme wehte zu mir zurück. »Ich bin hier drüben,
»Wo?« Ich schob mich durch den Nebel und die aufgewirbelten Blätter vorwärts. Der Wind fegte um mich herum. Nicht weit entfernt ertönte ein lang gezogenes, leises Heulen. »Das muss ein Hund sein«, murmelte ich. Bäume raschelten und streckten mir ihre Äste entgegen. Ich schauderte. »Jer-ry!« Tess' Stimme klang Millionen von Meilen weit entfernt. Ich ging ein Stück weiter, dann blieb ich stehen und hielt mich an einem hohen Grabstein fest. »Tess! Warte auf mich! Hör auf, so in der Gegend herumzulaufen!« Wieder hörte ich ein anhaltendes Heulen. »Du gehst in die falsche Richtung«, rief Tess. »Ich bin hier drüben.« »Na toll. Besten Dank auch«, brummelte ich. Wieso konnte ich keine Schwester haben, die sich für Baseball begeisterte, anstatt sich auf alten Friedhöfen herumzutreiben? Der Wind heulte und wirbelte mir eine Ladung Blätter, Staub und Erde ins Gesicht. Ich kniff die Augen zu. Als ich sie wieder öffnete, sah ich Tess an einem kleinen Grab hocken. »Rühr dich nicht vom Fleck«, rief ich. »Ich komme.« Ich ging im Zickzack um die Grabsteine herum, bis ich neben ihr stand. »Es wird dunkel«, sagte ich. »Lass uns von hier verschwinden.« Ich drehte mich um und machte einen Schritt - da packte mich plötzlich etwas am Knöchel. Ich schrie auf und versuchte mich loszureißen, doch der Griff um meinen Knöchel wurde fester. Eine Hand! Sie kam neben dem Grab aus der Erde hervor. Ich stieß einen schrillen Schrei aus. Tess brüllte ebenfalls. Mit aller Kraft schlug ich mit dem Bein aus und kam frei. »Lauf!«, kreischte Tess.
bereits.
Das hätte sie nicht zu sagen brauchen, denn ich rannte
Während Tess und ich über das nasse Gras stolperten, fuhren überall grüne Hände aus dem Boden hervor. Plop! Plop! Die Hände streckten sich empor, griffen nach uns und versuchten uns an den Knöcheln zu packen. Ich sprang nach links. Plop! Ich huschte nach rechts. Plop! »Lauf, Tess! Lauf!«, rief ich meiner Schwester zu. »Und heb die Knie hoch!« Hinter mir konnte ich ihre Schritte hören. Dann vernahm ich einen entsetzten Schrei: »Jerry! Sie haben mich erwischt!« Laut keuchend fuhr ich herum und sah, dass zwei große Hände ihre Beine an den Knöcheln umklammerten. Wie erstarrt beobachtete ich, wie meine Schwester kämpfte. »Jerry - hilf mir! Sie lassen mich nicht los!« Ich holte tief Luft und rannte zu ihr. »Halt dich an mir fest«, forderte ich sie auf und streckte die Arme nach ihr aus. Dann trat ich mit den Füßen gegen die beiden Hände, die sie festhielten. Ich kickte, so fest ich konnte. Doch die Hände rührten sich nicht, ließen nicht los. »Ich - ich kann mich nicht bewegen!«, heulte Tess. Die Erde unter meinen Füßen schien zu beben. Ich
schaute hinunter und sah noch mehr Hände aus der Erde hervorsprießen. Ich packte Tess um die Hüfte und zerrte an ihr. »Beweg dich!«, schrie ich verzweifelt. »Ich kann nicht!« »Doch, du kannst! Du musst dich nur mehr anstrengen!« »Ahhh!« Ich stieß einen leisen Schrei aus, als zwei Hände mich an den Knöcheln packten. Nun war ich auch gefangen. Wir saßen beide fest.
»Jerry! Was ist los mit dir?«, fragte Tess. Ich blinzelte. Tess stand neben mir an einem felsigen Küstenstreifen. Ich schaute auf das ruhige Wasser des Ozeans hinaus, der sich vor uns ausbreitete, und schüttelte den Kopf. »Wow, war das unheimlich«, murmelte ich. »Ich habe mich an einen Albtraum erinnert, den ich vor ein paar Monaten hatte.« Tess sah mich stirnrunzelnd an. »Wieso ausgerechnet jetzt?« »Er spielte auf einem Friedhof«, erklärte ich ihr. Ich drehte mich zu dem winzigen, alten Friedhof um, den wir gerade am Rand eines Kiefernwäldchens hinter uns entdeckt hatten. »In meinem Traum schossen grüne Hände aus der Erde hervor und packten uns an den Knöcheln.« »Wie widerlich«, meinte Tess und strich sich die dunkelbraunen Ponyfransen aus dem Gesicht. Abgesehen davon, dass sie zwei, drei Zentimeter größer ist als ich, sehen wir wie ein perfektes Geschwisterpaar aus: dieselben kurz geschnittenen Haare, dieselben Sommersprossen um die Nase, dieselben haselnussbraunen Augen. Einen Unterschied gibt es allerdings: Wenn Tess lacht, bekommt sie Grübchen in den Wangen. Ich nicht. Gott sei Dank. Wir schlenderten eine Weile an der Küste entlang. Hohe graue Felsblöcke und zerzauste Kiefern erstreckten sich bis dicht ans Wasser. »Vielleicht ist dir der Traum wieder eingefallen, weil du nervös bist«, sagte Tess nachdenklich. »Du weißt schon. Weil wir einen ganzen Monat lang von zu Hause weg sind.« »Mag sein«, stimmte ich ihr zu. »Schließlich sind wir
noch nie so lange fort gewesen. Aber was soll uns hier schon passieren? Brad und Agatha sind großartig.« Brad Sadler ist ein entfernter Verwandter von uns. Ein alter entfernter Verwandter trifft es besser. Dad sagte, Brad und Agatha waren schon alt, als er noch ein Kind war! Aber man kann Spaß mit ihnen haben und für ihr Alter sind sie noch ganz schön auf Zack. Deshalb hatten Tess und ich sofort begeistert zugesagt, als sie uns nach New England einluden, um mit ihnen einen Monat in ihrem kleinen, alten Häuschen am Meer zu verbringen. Das klang toll - vor allem deshalb, weil die einzige Alternative dazu unsere enge, stickige Wohnung in New Jersey war. Wir waren am Vormittag mit dem Zug angekommen. Brad und Agatha hatten uns am Bahnsteig abgeholt und uns mit dem Auto zu ihrem kleinen Häuschen gefahren, immer an Kiefernwäldchen entlang. Nachdem wir ausgepackt und zu Mittag gegessen hatten - riesige Portionen cremiger Muschelsuppe -, sagte Agatha: »Nun, Kinder, warum guckt ihr euch nicht ein bisschen die Gegend an? Es gibt eine Menge zu entdecken.« Darum waren wir nun hier und schauten uns um. Tess packte mich am Arm. »He, wir sollten zu dem kleinen Friedhof zurückgehen und ihn uns genauer ansehen!«, schlug sie mit leuchtenden Augen vor. »Ich weiß nicht...« Ich hatte meinen Furcht erregenden Traum noch lebhaft in Erinnerung. »Nun komm schon. Da gibt es keine grünen Hände, das verspreche ich dir. Und ich wette, wir finden dort ein paar coole Grabsteine zum Abpausen.« Tess ist ganz versessen auf alte Grabsteine. Sie liebt überhaupt schaurige Dinge. So liest sie gerne Gruselgeschichten. Und das Verrückte dabei ist, dass sie das letzte Kapitel jedes Mal zuerst liest. Tess muss das Geheimnis
immer sofort aufdecken. Sie hält es nicht aus, die Lösung nicht zu kennen. Meine Schwester hat eine Million Interessen, aber das Abpausen von Grabsteininschriften ist eines ihrer seltsamsten Hobbys. Dazu legt sie ein Stück Butterbrotpapier über die Inschrift eines Grabsteins und paust diese ab, indem sie mit einer speziellen Wachsmalkreide darüber reibt. »He! Warte auf mich«, rief ich ihr nach. Doch Tess lief bereits am Strand entlang auf den Friedhof zu. »Nun mach schon, Jerry«, rief sie zurück. »Sei kein Frosch.« Ich folgte ihr in das Wäldchen. Es roch frisch und nach Kiefern. Der Friedhof, der von einer abbröckelnden Steinmauer umgeben war, lag kurz hinter dem Waldrand. Wir zwängten uns durch die schmale Öffnung in der Mauer, die hineinführte. Tess betrachtete aufgeregt die Grabsteine. »Wow, einige Steine sind uralt«, verkündete sie. »Guck dir mal den hier an.« Sie deutete auf einen kleinen Grabstein, auf dem ein Totenschädel eingraviert war, an dessen Seiten sich Flügel ausbreiteten. »Das ist ein Totenkopf«, erklärte meine Schwester. »Ein uraltes puritanisches Symbol. Unheimlich, nicht?« Sie las die Inschrift: »›Hier liegen die sterblichen Überreste von Mr John Sadler, der am 18. März 1642 im Alter von 38 Jahren aus dem Leben schied. ‹« »Sadler. Er heißt wie wir«, sagte ich. »Wow. Ich frage mich, ob wir mit ihm verwandt sind.« Rasch rechnete ich im Kopf nach. »Falls wir das sind, dann ist John Sadler unser Urur-ur-ur-urgroßirgendwas. Er ist vor über 350 Jahren gestorben.« Tess war bereits zu einer anderen Gruppe von Grabsteinen weitergegangen. »Hier ist einer von 1647 und ein
anderer von 1652. Ich glaube nicht, dass ich schon einmal einen so alten Stein abgepaust habe.« Sie verschwand hinter einem hohen Grabstein. Mir war klar, wo wir den Monat zubringen würden. Für heute hatte ich jedoch genug von Friedhöfen. »Komm mit. Ich möchte mich lieber mal am Strand umsehen, ja?« Ich schaute mich nach Tess um. »Tess? Wo steckst du?« Ich ging zu dem hohen Grabstein. Doch da war sie nicht. »Tess?« Die Meeresbrise ließ die Kiefernzweige über uns rauschen. »Tess, hör auf damit, okay?« Ich machte ein paar Schritte. »Du weißt genau, dass ich das nicht leiden kann«, sagte ich warnend. Etwa drei Meter entfernt kam Tess' Kopf hinter einem Grabstein hoch. »Wieso? Hast du Schiss?« Das Grinsen auf ihrem Gesicht gefiel mir gar nicht. »Wer, ich?«, sagte ich. »Von wegen!« Tess stand auf. ».Na gut, du Hasenfuß. Aber morgen komme ich wieder hierher.« Sie folgte mir aus dem Friedhof hinaus und zum felsigen Hochufer hinunter. »Ich frage mich, wie's da unten am Wasser aussieht«, sagte ich, während wir an der Uferlinie entlangspazierten. »Oh, schau dir die mal an.« Tess bückte sich und pflückte eine kleine weiß-gelbe Wildblume, die zwischen zwei großen Felsbrocken spross. »Nickendes Leinkraut«, verkündete sie. »Sonderbarer Name für eine Wildblume, nicht?« »Ziemlich sonderbar«, stimmte ich ihr zu. Tess Sadlers Hobby Nummer zwei: Wildblumen. Sie ist ganz versessen darauf, sie zu sammeln, um sie dann in eine große Apparatur aus Pappe zu stecken, die man Pflanzenpresse nennt. Tess verzog genervt das Gesicht. »Was hast du denn nun schon wieder?«
»Wir bleiben ständig stehen, dabei will ich mir die Gegend ansehen. Agatha hat gesagt, dass es da unten einen kleinen Strand gibt, wo wir schwimmen können, wenn wir wollen.« »Okay, schon gut«, antwortete sie und setzte sich wieder in Bewegung. Wir schlenderten weiter, bis wir einen kleinen Sandstrand erreichten. Genau genommen war es mehr Kies als Sand. Als ich aufs Wasser hinausschaute, sah ich einen langen steinernen Damm, der sich ins Meer hinaus erstreckte. »Ich frage mich, wozu der gut sein soll«, sagte Tess. »Der dient zur Strandbefestigung«, erklärte ich. Ich wollte gerade zu einem Vortrag über die Küstenerosion ansetzen, als Tess mich aufgeregt unterbrach. »Jerry - sieh mal! Da oben!«, rief sie. Sie zeigte auf eine hohe Felserhebung ein Stück hinter dem Damm an der Wasserlinie. Hoch oben zwischen den Klippen gähnte über einem breiten Steinvorsprung eine große, dunkle Höhlenöffnung. »Komm, wir klettern da rauf und sehen sie uns an«, rief Tess aufgeregt. »Nein, warte!« Mir fiel ein, was Mom und Dad an jenem Morgen zu mir gesagt hatten, als wir in den Zug gestiegen waren: Behalte Tess im Auge und sorge dafür, dass sie sich nicht zu irgendetwas Unüberlegtem hinreißen lässt. »Das könnte gefährlich sein«, sagte ich. Immerhin bin ich ihr älterer Bruder. Und ich bin der Besonnenere von uns beiden. Sie schnitt eine Grimasse. »Jetzt hör auf zu nerven«, maulte sie und schon marschierte sie den Strand entlang in Richtung der Höhle. »Wir können sie uns doch wenigstens mal aus der Nähe ansehen. Dann können wir Brad und Agatha später immer noch fragen, ob sie sicher ist oder nicht.« Ich folgte ihr. »Klar, logisch. Als ob Neunzigjährige jemals in Höhlen herumklettern.«
Als wir näher kamen, musste ich zugeben, dass die Höhle umwerfend war. Ich hatte noch nie eine so große gesehen, von einem Foto im Pfadfindermagazin einmal abgesehen. »Ich frage mich, ob jemand darin wohnt«, sagte Tess aufgeregt. »Du weißt schon, so etwas wie ein Einsiedler.« Sie wölbte die Hände um den Mund und rief: »Huuh-huuuhh!« Manchmal benimmt sich Tess wirklich zu dämlich. Ich meine, wenn du in einer Höhle wohnen und hören würdest, wie jemand »huuh-huuuhh« schreit, würdest du darauf antworten? »Huuh-huuuhh!« Meine Schwester versuchte es doch glatt noch einmal. »Lass uns gehen«, drängte ich. Da zerriss ein langer, leiser Pfiff die Stille. Er war aus der Höhle gekommen. Wir sahen uns gegenseitig überrascht an. »Was war das?«, flüsterte Tess. »Eine Eule?« Ich schluckte. »Das glaube ich nicht. Eulen sind nur nachts wach.« Wir hörten es wieder: ein lang gezogenes Pfeifen, das aus der Tiefe der Höhle hervordrang. Wir schauten einander an. Was konnte das sein? Ein Wolf? Ein Kojote? »Ich wette, Brad und Agatha fragen sich schon, wo wir bleiben«, sagte Tess leise. »Vielleicht sollten wir zurückgehen.« »Klar. Okay.« Ich wandte mich zum Gehen, hielt aber inne, als ich ein flatterndes Geräusch hörte. Es kam von oben, von hinter der Höhle, und wurde immer lauter. Ich schirmte die Augen mit der Hand ab und blinzelte zum Himmel hoch. »Nein!« Ich packte Tess erschrocken am Arm, als ein Schatten über uns hinwegglitt und eine riesige Fledermaus auf
uns herabstieß. Ihre roten Augen blitzten und die spitzen Zähne glitzerten, als sie fauchend zum Angriff ansetzte.
Die Fledermaus stieß tief herab. So tief, dass ich den Luftzug ihrer ausgebreiteten Schwingen spüren konnte. Tess und ich warfen uns zu Boden. Ich bedeckte den Kopf mit beiden Händen. Mein Herz hämmerte so laut, dass ich das Flattern der Flügel nicht mehr hören konnte. »He - wo ist sie abgeblieben?«, hörte ich Tess rufen. Ich riskierte einen vorsichtigen Blick und sah, wie die Fledermaus in einer Spirale in den Himmel hochflog. Aber plötzlich begann sie sich wie wild im Kreis zu drehen und geriet ins Trudeln. Sie krachte ganz in der Nähe in die Felsen. Ich konnte sehen, wie einer ihrer Flügel matt im Wind flatterte. Mein Herz klopfte noch immer, als ich mich langsam aufrappelte. »Weswegen ist sie so plötzlich abgestürzt?«, fragte ich mit zittriger Stimme. Ich wollte losgehen, um nach ihr zu sehen. Doch Tess hielt mich zurück. »Halt dich bloß fern von ihr! Fledermäuse können Tollwut übertragen.« »Ich werde nicht nahe herangehen«, sagte ich ihr. »Ich möchte sie mir nur ansehen. Ich habe noch nie eine richtige Fledermaus von nahem gesehen.« Ich schätze, man kann sagen, dass Naturkunde eines meiner Hobbys ist. Ich interessiere mich für alle möglichen Tiere. »Hier, sieh dir das an«, rief ich, während ich über glatte, graue Felsbrocken kraxelte. »Sei vorsichtig, Jerry«, warnte mich Tess. »Wenn du dir die Tollwut holst, hast du ein großes Problem.«
»Wie lieb von dir, dass du dir Sorgen um mich machst«, murmelte ich spöttisch. Gut einen Meter vor der Fledermaus blieb ich stehen. »Oh! Das glaub ich nicht!«, rief ich. Ich hörte Tess in schallendes Gelächter ausbrechen. Es war gar keine echte Fledermaus. Es war ein Drachen in Fledermausform. Ungläubig glotzte ich darauf. Die beiden roten Augen, die so bedrohlich ausgesehen hatten, waren auf Papier gemalt! Einer der Flügel war beim Sturz auf die Felsen völlig zerfetzt worden. Wir beugten uns beide über das Wrack, um es eingehend zu betrachten. »Seid vorsichtig! Sie beißt!«, rief eine Jungenstimme hinter uns. Erschrocken machten Tess und ich einen Satz rückwärts. Als ich mich umdrehte, sah ich einen Jungen etwa in unserem Alter auf einem hohen Felsblock stehen. Er hielt ein Knäuel Schnur in der Hand. »Haha. Toller Witz«, sagte Tess ironisch. Der Junge grinste uns an, antwortete aber nicht. Er kam näher. Ich konnte sehen, dass er genau wie ich Sommersprossen um die Nase hatte, und seine Haare hatten denselben braunen Farbton wie meine. Er drehte sich zu den Felsen um und rief: »Ihr könnt jetzt herauskommen.« Zwei Kinder, ein Mädchen in unserem Alter und ein kleiner Junge von etwa fünf Jahren, kletterten über die Steine. Der kleine Junge hatte hellblondes Haar, blaue Augen und leicht abstehende Ohren. Das Haar des Mädchens war rotbraun und zu Zöpfen geflochten. Alle drei hatten Sommersprossen auf der Nase. »Gehört ihr alle zur selben Familie?«, fragte Tess sie. Der größere Junge, derjenige, der als Erster aufgetaucht
war, nickte. »Ja. Wir sind alle Sadlers. Ich heiße Sam. Das ist Louisa. Und der Kleine heißt Nat.« »Wow«, sagte ich. »Wir heißen auch Sadler mit Nachnamen.« Ich stellte ihnen Tess und mich vor. Sam schien das nicht zu beeindrucken. »Hier gibt es eine Menge Sadlers«, murmelte er. Eine ganze Weile musterten wir uns gegenseitig. Die drei machten keinen allzu freundlichen Eindruck. Doch dann überraschte Sam mich mit der Frage, ob ich Lust hätte, Steine übers Wasser hüpfen zu lassen. Wir folgten Sam hinunter zum Wasser. »Wohnt ihr hier in der Gegend?«, fragte Tess. Louisa nickte. »Und was macht ihr hier?«, wollte sie wissen. Sie klang misstrauisch. »Wir sind für einen Monat bei Verwandten zu Besuch«, erklärte ihr Tess. »Sie sind auch Sadlers. Sie leben in einem kleinen Häuschen gleich hinter dem Leuchtturm. Kennt ihr sie?« »Klar«, antwortete Louisa, ohne zu lächeln. »Das hier ist ein kleiner Ort. Da kennt jeder jeden.« Ich fand einen glatten, flachen Kiesel und ließ ihn über das Wasser flitzen. Er kam dreimal auf. Nicht schlecht. »Was macht ihr hier sonst noch zum Zeitvertreib?«, fragte ich. Louisa erwiderte mit Blick aufs Meer: »Wir gehen Blaubeeren pflücken, wir spielen Spiele oder wir gehen ans Wasser runter.« Sie wandte sich zu mir. »Warum? Was habt ihr denn heute gemacht?« »Noch nichts. Wir sind gerade erst angekommen«, antwortete ich. Ich grinste. »Abgesehen davon, dass wir von einem Fledermausdrachen angegriffen wurden.« Sie lachten. »Ich werde ein paar Grabsteininschriften abpausen und einige Wildblumen sammeln«, sagte Tess.
»Im Wald gibt es ein paar wunderschöne Stellen mit Blumen«, erklärte ihr Louisa. Ich sah zu, wie Sam einen Stein übers Wasser hüpfen ließ. Der Stein kam siebenmal auf. Sam blickte zu mir und grinste. »Übung macht den Meister.« »Man kann nicht viel üben, wenn man in einer Mietwohnung lebt«, antwortete ich. »Was?«, sagte Sam. »Wir wohnen in Hoboken«, erklärte ich ihm. »In New Jersey. Und in unserem Wohnblock gibt es nicht allzu viele Teiche.« Tess deutete auf die Höhle hinter uns. »Habt ihr euch da drinnen schon mal umgesehen?«, fragte sie. Nat schnappte hörbar nach Luft. Sam und Louisa sahen uns überrascht an. »Machst du Scherze?«, rief Louisa. »Wir gehen nie auch nur in die Nähe davon«, sagte Sam mit Blick auf seine Schwester leise. »Nie?«, fragte Tess. Sie schüttelten alle drei den Kopf. »Wieso nicht?«, fragte Tess. »Was ist schon groß dabei?« »Ja«, sagte ich. »Wieso geht ihr nicht in die Nähe der Höhle?« Louisa machte große Augen. »Glaubt ihr an Gespenster?«, fragte sie.
»Ob wir an Gespenster glauben? Absolut nicht!«, erklärte ihr Tess. Ich hielt den Mund. Natürlich wusste ich, dass es
Geister und Gespenster nicht wirklich gab. Aber was war, wenn die Wissenschaftler sich irrten? Schließlich gibt es so viele Gespenstergeschichten auf der Welt. Und da sollte es keine Gespenster geben? Vielleicht ist das der Grund dafür, warum ich mich manchmal fürchte, wenn ich irgendwo fremd bin. Ich schätze, ich glaube doch an Gespenster. Aber natürlich würde ich das vor Tess nie zugeben. Sie denkt immer so wissenschaftlich. Sie würde mich bestimmt bis in alle Ewigkeit auslachen! Die drei Sadler-Kinder hatten sich dicht aneinander gedrängt. »Also bitte! Glaubt ihr im Ernst an Gespenster?«, fragte Tess. Louisa trat einen Schritt vor. Sam versuchte sie zurückzuhalten, aber sie schüttelte ihn ab. »Gut möglich, dass du deine Meinung änderst, wenn ihr zu der Höhle geht«, sagte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Du meinst, da drin hausen Gespenster?«, fragte ich. »Was tun die? Kommen sie nachts heraus oder so?« Louisa setzte zu einer Antwort an, aber Sam unterbrach sie. »Wir müssen jetzt gehen«, sagte er und schob seinen Bruder und seine Schwester hastig an uns vorbei. »He, wartet!«, rief ich. »Wir möchten mehr über die Geister hören!« Doch sie entfernten sich eilig. Ich konnte sehen, dass Sam Louisa wütend ankeifte. Vermutlich war er sauer, weil sie die Gespenster erwähnt hatte. Sie verschwanden am Ende des Strandes außer Sichtweite. Mit einem Mal hörten wir das lang gezogene leise Pfeifen aus der Höhle wieder. Tess schaute mich fragend an. »Das ist der Wind«, sagte ich. Allerdings glaubte ich
das selbst nicht und Tess ebenso wenig. »Warum sprechen wir nicht Brad und Agatha auf die Höhle an?«, schlug ich vor. »Gute Idee«, sagte Tess. Sogar sie sah jetzt ein bisschen verängstigt aus. Brads und Agathas Häuschen lag nur einen kurzen Fußmarsch von der Höhle entfernt. Es stand einsam am Rand des Kiefernwäldchens, dem Leuchtturm gegenüber. Ich lief auf die schwere hölzerne Haustür zu, drückte sie auf und sah mich in dem Eingangsbereich um. Das alte Haus knackte und ächzte, als ich über die durchhängenden Dielen ging. Die Decke hing so tief, dass ich sie berühren konnte, wenn ich mich auf Zehenspitzen stellte. Tess trat neben mich. »Sind sie da?« »Ich glaube nicht«, antwortete ich, während ich weiter suchend umherschaute. Wir gingen an dem alten Sofa und dem offenen steinernen Kamin vorbei in die enge Küche. An die Küche schloss sich eine kleine Abstellkammer an, in der ich schlafen sollte. Im oberen Stockwerk lag Brads und Agathas Zimmer mit einem schmalen Durchgang zu dem Raum, der für Tess vorgesehen war und der genau über der Abstellkammer lag. Von Tess' Zimmer führte eine schmale Treppe nach hinten in den Hof und Garten hinunter. Tess sah aus dem Fenster. »Da sind sie ja!«, sagte sie. »Im Garten!« Ich erblickte Brad, der sich gerade über eine Tomatenstaude beugte. Agatha hängte Wäsche zum Trocknen auf die Leine. Wir liefen zur Küchentür hinaus. »Wo seid ihr zwei denn gewesen?«, wollte Agatha wissen. Sie und Brad hatten beide schneeweißes Haar und ihre Augen sahen verblasst und müde aus. Sie wirkten zart und zerbrechlich. Ich glaube nicht,
dass sie gemeinsam mehr als fünfzig Kilo auf die Waage brachten. »Wir haben einen Streifzug zum Strand unternommen«, erzählte ich ihnen. Ich kniete mich neben Brad, dem an zwei Fingern der linken Hand das oberste Glied fehlte. Angeblich war er damit in eine Wolfsfalle geraten, als er jung war. »Wir haben zwischen ein paar riesigen Felsen eine Höhle entdeckt. Kennt ihr die?«, fragte ich. Er gab ein kurzes Grunzen von sich und suchte weiter nach reifen Tomaten. »Sie ist direkt am Strand, ganz in der Nähe des großen Steindamms«, fügte Tess hinzu. »Man kann sie gar nicht verfehlen.« Agathas Wäsche flatterte an der Leine. »Es ist gleich Zeit fürs Abendessen«, sagte sie, ohne auf unsere Fragen zu der Höhle einzugehen. »Warum kommst du nicht mit rein und gehst mir ein bisschen zur Hand, Tess?« Tess warf mir einen viel sagenden Blick zu und zuckte die Achseln. Ich wandte mich an Brad. Ich wollte ihn gerade noch einmal auf die Höhle ansprechen, da reichte er mir den Korb mit reifen Tomaten. »Bring die bitte Agatha, ja?« »Klar«, antwortete ich und folgte Tess nach drinnen. Ich stellte den Korb auf die schmale Anrichte. Die Küche war klein und eng. Anrichte und Spüle waren auf der einen, Herd und Kühlschrank auf der anderen Seite. Agatha hatte Tess bereits mit einer Aufgabe betraut: Sie sollte den Tisch decken, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand. »Nun, Tess, meine Liebe«, rief ihr Agatha von der Küche aus zu, »falls du auf der Suche nach Astern bist, dann weiß ich eine gute Stelle, wo du welche findest: auf der großen Wiese, gleich hinterm Leuchtturm. Natürlich fangen die jetzt
erst zu blühen an, du kommst also gerade recht, um welche zu pflücken. Ich glaube, du findest da auch eine Menge Goldruten.« »Toll!«, rief Tess mit ihrer üblichen Begeisterung zurück. Ich habe keine Ahnung, weshalb sie wegen Blumen so aus dem Häuschen geraten kann. Nun entdeckte Agatha den Korb mit den Tomaten auf der Anrichte. »Oh, Grundgütiger! So viele Tomaten!« Sie öffnete eine klapprige, alte Schublade und holte ein kleines Küchenmesser daraus hervor. »Wie wär's, wenn du die für einen großen gemischten Salat schneiden würdest?« Ich muss wohl das Gesicht verzogen haben. »Magst du keinen Salat?«, fragte Agatha. »Nicht besonders«, sagte ich. »Ich meine, ich bin schließlich kein Kaninchen!« Agatha lachte. »Du hast absolut Recht«, sagte sie. »Warum sollte man den Geschmack der selbst gezogenen Tomaten mit grünem Salat verderben? Wir essen sie ohne etwas dazu, nur mit ein wenig Salatsoße vielleicht.« »Hört sich gut an.« Ich grinste und nahm das Messer zur Hand. Ein paar Minuten lang hörte ich zu, wie sich Agatha und Tess über Wildblumen unterhielten, nur für den Fall, dass sie dabei auf die Höhle zu sprechen kamen. Doch das geschah nicht. Ich fragte mich, warum meine beiden Verwandten partout nicht darüber reden wollten. Nach dem Abendessen holte Brad ein altes Kartenspiel hervor und brachte Tess und mir bei, wie man »Whist« spielt. Das ist ein altmodisches Kartenspiel, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte. Der wortkarge Brad blühte richtig auf, als er uns die Regeln erklärte. Er und ich spielten gegen Tess und Agatha. Jedes Mal, wenn ich etwas durcheinander brachte, was
praktisch andauernd der Fall war, drohte er mir mit dem Finger. Ich nehme an, das machte er, um nichts sagen zu müssen. Nach dem Kartenspielen gingen wir zu Bett. Es war zwar noch früh, doch das war mir egal. Es war ein langer Tag für mich gewesen und ich war froh, mich aufs Ohr legen zu können. Das Bett war hart, aber trotzdem fiel ich in Schlaf, kaum dass ich den Kopf auf das kratzige Federkopfkissen gelegt hatte. Am nächsten Morgen gingen Tess und ich in den Wald, um Pflanzen und Wildblumen zu sammeln. »Was war's doch gleich noch mal, wonach wir suchen?«, fragte ich Tess, während ich haufenweise abgestorbene Blätter beiseite kickte. »Fichtenspargel«, antwortete Tess. »Der sieht wie kleine rosa-weiße Knochen aus, die aus dem Boden schießen. Man nennt ihn auch Leichenpflanze, weil er auf den Überresten abgestorbener Pflanzen lebt.« »Igitt!« Plötzlich fielen mir die Hände wieder ein, die in meinem Traum aus dem Boden des Friedhofs hervorgeschossen waren. Tess lachte. »Dir müssten diese Pflanzen eigentlich gefallen«, sagte sie. »Sie stellen die Wissenschaft vor ein Rätsel. Sie sind weiß, weil sie kein Chlorophyll enthalten. Du weißt schon: dieses Zeug, das Pflanzen grün werden lässt.« »Ach, wie interessant«, sagte ich spöttisch und blickte genervt gen Himmel. Ungerührt fuhr Tess mit ihrem Vortrag fort. »Agatha sagt, dass Fichtenspargel nur an schattigen Stellen wächst. Er sieht mehr wie ein Pilz als wie eine Pflanze aus.« Einige Minuten lang buddelte sie im Boden herum. »Das Verrückteste an ihm ist«, sagte sie, »dass er schwarz
wird, wenn er austrocknet. Deshalb möchte ich auch ein paar Fichtenspargel pressen.« Ich stocherte ebenfalls im Laub am Boden herum. Ich muss zugeben, dass Tess mich neugierig gemacht hatte. Ich liebe Absonderlichkeiten der Natur. Ich blickte zu dem dichten Blätterdach über uns auf. »Wir sind sehr tief im Wald. Bist du sicher, dass Agatha gesagt hat, du könntest die Dinger hier finden?« Tess nickte und zeigte auf einen gewaltigen umgestürzten Baum. »Das ist unser Orientierungspunkt. Verlier ihn nicht aus den Augen.« Ich ging auf den riesigen Baum zu. »Vielleicht sollte ich mich mal da drüben umsehen«, sagte ich. »Gut möglich, dass auf dem toten Baum Fichtenspargel wächst.« Bei den Wurzeln des Baumes, die wie Schlangen aussahen, kniete ich mich nieder und schob behutsam Laub und welke Blätter beiseite. Aber darunter waren keine Wildblumen, sondern nur Käfer und Würmer. Es war echt widerlich. Ich schaute zu Tess zurück, die ebenfalls kein Glück zu haben schien. Da bemerkte ich aus dem Augenwinkel plötzlich etwas Weißes, das aus dem Waldboden hervorragte. Rasch lief ich hin, um es unter die Lupe zu nehmen. Ein kurzer Pflanzenstiel spross aus der weichen Erde hervor; er war mit zusammengerollten Blättern bedeckt. Ich zog an der Pflanze, aber sie rührte sich nicht. Ich zog fester und diesmal gab der Stängel ein wenig nach und die Erde lockerte sich. Das ist kein Stängel, sagte ich mir. Das ist eine Art Wurzel. Eine Wurzel mit Blättern. Merkwürdig. Ich zog das Ding ein Stück weiter aus dem Boden. Es
war sehr lang. Noch einmal zerrte ich kräftig daran und riss die sonderbare Wurzel aus. An ihr hing ein großer Klumpen Erde. Ich sah in das große Loch hinab, das entstanden war und stieß einen schrillen Schrei aus. »Tess, komm mal her!«, brachte ich mit Mühe hervor. »Ich habe ein Skelett gefunden!«
»Wie bitte?« Tess kam eilig angesaust. Wir standen beide vor dem Loch und starrten schweigend hinab. Das Skelett, das ich freigelegt hatte, lag zusammengerollt auf der Seite; es war tadellos erhalten. Die uns zugewandte leere Augenhöhle in dem grauen Schädel schien uns anzusehen. »Ist das ein M-mensch?«, stotterte Tess leise. »Nein, es sei denn, der Mensch hätte vier Beine gehabt, du Genie!«, entgegnete ich. Tess' Mund bildete ein überraschtes O, während sie auf das Skelett hinabstarrte. »Also, was ist es dann?« »Irgendein großes Tier«, antwortete ich. »Vielleicht ein Reh.« Ich bückte mich, um es mir genauer anzusehen. »Nein, das ist kein Reh. Es hat Zehenknochen, keine Hufe.« Ich betrachtete den Schädel, der ziemlich groß war und über scharfe Zähne verfügte. Als ich neun war, habe ich mich sehr für Skelette interessiert. Ich habe damals fast jedes Buch gelesen, das von Skeletten handelte. »Meiner Ansicht nach ist es ein Hund«, verkündete ich. »Ein Hund?«, sagte Tess. »Oh, du armes kleines
Hündchen.« Sie betrachtete das Skelett. »Wie, glaubst du, ist er umgekommen?« »Möglicherweise hat ihn ein anderes Tier gerissen.« Tess kniete sich neben mich. »Wieso sollte irgendein Tier einen Hund fressen?« »Wegen des hohen Eiweißgehaltes!«, witzelte ich. Sie versetzte mir einen kräftigen Stoß. »Jerry! Ich meine es ernst. Was für ein Tier in dieser Gegend frisst Hunde?« »Ein Wolf vielleicht. Oder ein Fuchs«, antwortete ich nachdenklich. »Hätte ein Wolf oder ein Fuchs ihn nicht übler zugerichtet?«, fragte Tess. »Dieses Skelett ist vollständig.« »Möglicherweise ist er einfach an Altersschwäche gestorben«, schlug ich vor. »Oder vielleicht hat ihn jemand unter dieser merkwürdigen Wurzelpflanze begraben.« »Ja, vielleicht ist er ja gar nicht gerissen worden«, sagte Tess. Ich sah, wie die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte. Eine Minute lang saßen wir schweigend vor dem Skelett und dachten über den Hund nach. Das schrille Heulen eines Tieres ließ uns beide aufspringen. Der Furcht erregende Laut erfüllte den Wald und hallte von den Bäumen wider. Wir hielten uns die Ohren zu, als das Heulen lauter wurde. »W-was ist das? Was schreit da so grauenhaft?«, kreischte Tess. Ich erwiderte ihren Blick. Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, dass es näher kam.
Das Geheul brach so plötzlich ab, wie es eingesetzt hatte. Als ich mich umdrehte, um mich zu überzeugen, dass wir wirklich in Sicherheit waren, sah ich sie. Hinter einem Baum ganz in der Nähe standen Sam, Nat und Louisa und lachten. Ich funkelte sie wütend an. Mir war sofort klar, dass das Geheul von ihnen gekommen war. Was bildeten sie sich überhaupt ein? Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zu lachen aufhörten. Ich konnte kaum glauben, wie sehr sie sich über ihren kleinen Streich amüsierten. Ich schielte zu Tess. Sie war rot geworden. Mein Gesicht fühlte sich heiß an. Ich nehme an, ich war ebenfalls errötet. Als Sam, Nat und Louisa endlich wieder ernst geworden waren, winkte ich sie zu uns, damit sie sich das Skelett anschauen konnten. Nun waren sie diejenigen, die erschraken. Sam riss die grauen Augen auf, Louisa stieß einen kurzen Schrei aus und Nat, der Kleinste, krallte sich wimmernd am Ärmel seiner Schwester fest. Tess suchte in den Taschen ihrer Jeans nach einem Taschentuch. »Keine Angst«, sagte sie sanft zu Nat und tupfte ihm mit dem Taschentuch die Wangen ab. »Das ist kein menschliches Skelett. Es ist nur ein Hundeskelett.« Bei diesen Worten brach Nat endgültig in Tränen aus. Louisa legte ihm den Arm um die zitternden Schultern. »Schhh«, sagte sie. »Es ist alles in Ordnung.« Doch Nat konnte sich nicht beruhigen. »Ich weiß, was mit diesem Hund passiert ist«, schluchzte er. »Der Geist hat ihn umgebracht. Hunde spüren, ob jemand ein Geist ist. Sie
bellen immer, um vor Gespenstern zu warnen. « »Nat«, sagte Tess tröstend, »so etwas wie Geister und Gespenster gibt es nicht. Das ist nur Gerede.« Sam trat vor und schüttelte den Kopf. »Da täuschst du dich«, erklärte er Tess mit zusammengekniffenen Augen. »Es gibt eine Menge Skelette in diesem Wald. Dafür ist der Geist verantwortlich. Er nagt die Knochen sauber ab und lässt sie dann liegen.« »Jetzt mach aber mal 'nen Punkt, Sam«, sagte Tess streng. »Willst du mir etwa allen Ernstes weismachen, dass es hier in der Gegend ein Gespenst gibt?« Sam blickte sie an, antwortete aber nicht. »Also, willst du das damit sagen?«, bohrte Tess nach. Plötzlich veränderte sich Sams Gesichtsausdruck und seine Augen wurden weit vor Angst. »Da ist es!«, schrie er und deutete hinter sie. »Direkt hinter dir!«
Ich stieß einen Schrei aus und packte Tess am Arm. Doch dann wurde mir klar, dass ich schon wieder genarrt worden war. Wann würde ich endlich nicht mehr auf Sams dämliche Streiche hereinfallen? »Euch zwei kann man wirklich leicht Angst einjagen«, sagte Sam grinsend. Tess stemmte die Hände in die Hüften und funkelte Sam an. »Wie wär's mit 'nem Waffenstillstand? Eure Scherze werden immer lahmer.« Alle Augen richteten sich auf Sam. »Gut, okay. Waffenstillstand«, murmelte er, aber dabei grinste er noch immer. Ich hätte nicht sagen können, ob er es ernst meinte oder nicht.
»Sam, erzähl Jerry und mir mehr über den Geist«, forderte Tess ihn auf. »Hast du das ernst gemeint, dass ein Gespenst den Hund umgebracht hat, oder war das nur wieder einer deiner fabelhaften Scherze?« Sam kickte einen Erdklumpen davon. »Vielleicht ein andermal«, brummte er. »Ein andermal? Warum nicht gleich?«, fragte ich. Louisa wollte etwas sagen, doch Sam zog sie fort. »Lass uns gehen«, sagte er heftig. »Sofort.« Tess machte ein verdattertes Gesicht. »Aber ich dachte ...« Sam stapfte eilig zwischen den Bäumen davon und zerrte Louisa mit sich. Nat hatte Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. . »Tschüss«, rief Louisa zu uns zurück. »Man sieht sich.« »Hast du das gesehen?«, rief Tess. »Die glauben wirklich, dass in dem Wald ein Gespenst umgeht. Sie wollten nicht darüber reden, deshalb haben sie sich verkrümelt.« Ich starrte auf das Tierskelett hinab, das so sauber und ordentlich auf dem Waldboden lag. Sauber abgenagt. Sauber abgenagt von einem Geist. Dieser Satz ging mir immer wieder durch den Kopf. Ich starrte eine lange Zeit auf die scharfen Zähne in dem bleichen Schädel, dann wandte ich mich abrupt ab. »Lass uns zum Haus zurückgehen«, murmelte ich. Wir fanden Brad und Agatha in Schaukelstühlen unter einem schattigen Baum. Agatha schnipselte Pfirsiche in eine große Holzschüssel und Brad schaute ihr dabei zu. »Mögt ihr beiden Pfirsichtaschen?«, fragte Agatha. Tess und ich antworteten, dass das eine unserer Lieblingsspeisen sei.
Agatha lächelte. »Nun, die gibt es heute Abend. Ich weiß nicht, ob euer Dad das je erwähnt hat, aber Pfirsichtaschen sind eine meiner Spezialitäten. Na, habt ihr Fichtenspargel gefunden?« »Leider nicht«, antwortete ich. »Dafür haben wir aber ein Hundeskelett entdeckt.« Agatha begann schneller zu schneiden. Die Messerklinge huschte nur so über ihren Daumen, während die saftigen Pfirsichscheiben in die Schüssel glitten. »Du meine Güte«, murmelte sie. »Was für ein Tier geht wohl auf einen Hund los?«, fragte Tess. »Gibt es hier in der Gegend Wölfe oder Kojoten?« »Hab nie welche gesehn«, entgegnete Brad hastig. »Wie erklärt ihr euch dann das Skelett?«, wollte ich wissen. »Es lag ganz ordentlich da und die Knochen waren sauber abgenagt.« Agatha und Brad tauschten beunruhigte Blicke. »Da fällt mir nichts dazu ein«, sagte Agatha. Schnipp. Schnipp. Schnipp. »Brad? Hast du 'ne Idee?« Eine Minute lang schaukelte Brad vor und zurück. »Nee.« Du bist uns wirklich 'ne echte Hilfe, Brad, dachte ich. »Außerdem haben wir drei Kinder getroffen«, sagte ich. Ich erzählte ihnen von Sam, Nat und Louisa. »Sie haben gesagt, sie kennen euch.« »Klar«, antwortete Brad. »Nachbarn.« »Sie glauben, ein Geist habe den Hund getötet.« Agatha ließ das Obstmesser sinken, lehnte den Kopf im Schaukelstuhl zurück und lachte leise vor sich hin. »Das haben sie gesagt? Du meine Güte. Die Kinder haben euch nur veräppelt. Sie denken sich gerne Gespenstergeschichten aus. Vor allem Sam, der ältere Junge.« »Ja, das habe ich mir gleich gedacht«, sagte Tess und
warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Agatha nickte. »Es sind nette Kinder. Ihr solltet sie irgendwann mal einladen und etwas mit ihnen unternehmen. Vielleicht könnt ihr ja zusammen Blaubeeren pflücken gehen.« Brad räusperte sich und musterte mich mit seinen blassen Augen. »Du bist viel zu gescheit, um auf Gespenstergeschichten hereinzufallen, stimmt's?« »Klar, natürlich«, antwortete ich unsicher. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, Brad im Garten beim Unkrautjäten zu helfen. Eigentlich finde ich es nicht gerade aufregend, Grünzeug auszurupfen. Aber nachdem Brad uns gezeigt hatte, welche die nützlichen Pflanzen waren und welche nicht, hatten Tess und ich eine Menge Spaß dabei, die Schmarotzer mit einem speziellen Unkrauteisen, das Brad uns geliehen hatte, auszustechen. Am Abend aßen wir als Nachspeise Pfirsichtaschen. Sie schmeckten sehr lecker. Agatha und Brad wollten alles über unsere Schule und unsere Freunde wissen. Nach dem Abendessen forderte uns Brad erneut zu einem Whistspiel heraus. Dieses Mal stellte ich mich schon wesentlich besser an. Brad musste mir nur ein paar Mal mit dem Finger drohen. Später, im Bett, hatte ich größte Mühe einzuschlafen. Vor dem Fenster meines kleinen Zimmers hingen lange, dünne weiße Baumwollvorhänge, die das Licht des Vollmonds nicht gänzlich abhalten konnten, sodass ich das Gefühl hatte, in eine Taschenlampe zu blicken. Versuchsweise legte ich mir das Kissen übers Gesicht, doch da konnte ich nicht atmen. Dann legte ich mir den Arm über die Augen, doch der schlief mir im Handumdrehen ein. Schließlich zog ich mir das Leinentuch übers Gesicht. Schon besser.
Ich schloss die Augen. Die Grillen draußen veranstalteten ein Heidenspektakel. Dann hörte ich, wie draußen etwas gegen die Wand rumste. Wahrscheinlich ein Ast, dachte ich. Noch ein Bums ertönte. Ich drückte mich tiefer in das Kissen. Als ich das Geräusch zum dritten Mal vernahm, holte ich tief Luft, setzte mich auf und warf die Decke ab. Misstrauisch schaute ich mich im Zimmer um. Nichts. Null. Ich legte mich wieder hin. Da knarrten die Dielen in der Nähe der Zimmertür. Ich sah zum Fenster. Hinter den Vorhängen bewegte sich etwas. Etwas Fahles. Gespenstisches. Die Dielen knarrten noch einmal, als sich eine bleiche Figur auf mich zubewegte.
Ich öffnete den Mund zu einem leisen, entsetzten Schrei, dann zog ich mir rasch die Decke über den Kopf. Nun war es wieder mucksmäuschenstill. Ich zitterte am ganzen Leib. Wo war das Gespenst? Ich spähte unter der Decke hervor. Tess trat hinter dem Vorhang hervor. »Angeschmiert«, wisperte sie. »Du Kröte«, würgte ich hervor. »Wie konntest du mir das antun?« »Ganz einfach«, antwortete sie mit einem Grinsen. »Dir geht die Muffe wegen all dem Gerede über Geister und
Gespenster, stimmt's?« Ich knurrte wütend, antwortete aber nicht. Mir schlug das Herz noch immer bis zum Hals. Tess setzte sich auf die Bettkante und schlang ihren Bademantel fester um sich. »Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen«, sagte sie, noch immer grinsend. »Ich bin runtergekommen, um mit dir zu reden, und da habe ich dich mit dem Laken über dem Kopf liegen sehen. Das war einfach zu verlockend.« Ich funkelte sie grimmig an. »Such dir nächstes Mal jemand in deiner Größe dafür aus«, knurrte ich stinksauer. »Ich habe mir das Laken über den Kopf gezogen, weil ich Probleme hatte einzuschlafen.« »Ich auch«, sagte Tess. »Meine Matratze ist total klumpig.« Sie schaute aus dem Fenster. »Und außerdem habe ich mir Gedanken über den Geist gemacht.« »He, du bist doch diejenige, die nicht daran glaubt -schon vergessen?«, sagte ich. »Ich weiß. Ich glaube ja auch nicht wirklich an Geister. Aber Sam, Louisa und Nat tun das offensichtlich.« »Und?« »Deshalb will ich herausfinden, wieso sie daran glauben. Du nicht?« »Eigentlich nicht. Es ist mir auch schnuppe, ob ich die Kinder überhaupt noch mal wieder sehe«, sagte ich. Tess gähnte. »Louisa scheint ganz nett zu sein, jedenfalls ist sie viel freundlicher als Sam. Ich vermute, wir können Louisa dazu bringen, uns etwas über das Gespenst zu erzählen, wenn wir sie darum bitten. Sie hätte es ja heute schon beinahe getan.« »Tess, das glaube ich nicht«, entgegnete ich, während ich mir das Laken bis zum Kinn hochzog. »Du hast doch gehört, was Agatha gesagt hat: Sam erfindet gerne
Geschichten.« »Ich glaube nicht, dass das einfach nur eine Geschichte ist«, meinte Tess. »Ich weiß, dass ich in der Familie diejenige bin, die immer wissenschaftlich denkt. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass hier etwas Merkwürdiges vor sich geht, Jerry.« Ich sagte nichts dazu. Ich hatte wieder das Tierskelett vor Augen. »Morgen werde ich sie noch einmal wegen des Geistes fragen«, verkündete Tess. »Woher willst du wissen, dass sie überhaupt auftauchen werden?« Tess grinste. »Das tun sie doch immer, oder? Ist dir das noch nicht aufgefallen? Egal, wo wir hingehen, sie scheinen immer ebenfalls da zu sein.« Sie legte eine Pause ein. »Denkst du, dass sie uns verfolgen?« »Das will ich nicht hoffen«, sagte ich. Tess lachte. »Du bist so ein Schisser.« Ich warf die Decke beiseite. »Bin ich nicht!« Tess kitzelte mich. »Schisser! Schisser! Schisser!« Ich nahm ihren Arm und drehte ihn ihr auf den Rücken. Dann kitzelte ich sie. »Das hast du davon«, sagte ich. »Okay, schon gut!«, rief sie. »Ich hab's nicht so gemeint. « »Und du wirst mich nie wieder einen Schisser nennen?« »Nie wieder!« Kaum hatte ich ihren Arm losgelassen, rannte sie zur Tür. »Wir sehen uns morgen früh - du Schisser!«, rief sie. Dann verschwand sie kichernd in der Küche. Beim Frühstück am nächsten Morgen fragte Agatha: »Na, Kinder, was habt ihr heute vor?« »Wir gehen schwimmen, schätze ich«, antwortete ich. Dabei warf ich Tess einen Blick zu. »Unten am Strand.«
»Nehmt euch aber bloß vor der Flut in Acht«, warnte uns Brad. »Die kann selbst einen erwachsenen Mann von den Füßen reißen.« Erstaunt sahen Tess und ich uns an. Ich glaube nicht, dass wir Brad je zuvor zwei ganze Sätze hintereinander hatten sagen hören. »Das werden wir«, versprach Tess. »Wahrscheinlich werden wir sowieso eher waten als schwimmen.« Agatha hielt mir einen verbeulten Blecheimer hin. »Vielleicht möchtet ihr ein paar Seeigel oder Seesterne sammeln.« Ein paar Minuten später schnappte ich mir den Eimer und ein paar alte Badehandtücher und dann marschierten Tess und ich den gewundenen Weg an der Küste entlang. Wir kletterten über Felsblöcke hinauf und hinunter, bis wir eine Stelle erreichten, die nicht weit von dem kleinen Sandstrand und der Höhle entfernt lag. Dort rutschten wir über einen gewaltigen Felsbrocken nach unten und kraxelten auf allen vieren über ein paar kleinere Steine, bis wir auf einen großen, vermoosten Gezeitentümpel stießen, der etwa einen Meter von der Wasserlinie zurückgesetzt lag. Der Tümpel hatte ungefähr die Größe eines Kinderplantschbeckens. »Wow, Jerry!«, rief Tess, als sie ins Wasser schaute. »Ich seh da drin tonnenweise interessantes Zeug.« Sie langte in das grüne, schleimige Wasser und zog einen Seestern heraus. »Och, ist der aber winzig! Der ist ja noch nicht mal so groß wie meine Handfläche. Vielleicht ist das noch ein Baby.« Sie drehte ihn um und er bewegte die Arme. »Hallo, du süßer kleiner Seestern«, sagte Tess mit Säuselstimme. Bäh. »Ich hole den Eimer, okay?«, sagte ich und kletterte über die Felsen zu der Stelle zurück, an der wir unsere Sachen abgelegt hatten. Nun rate mal, wer sich über unsere Sachen beugte und
darin herumschnüffelte? »Was Interessantes entdeckt?«, rief ich bissig. Sam sah auf. »Ich habe mich gefragt, wem diese Handtücher da gehören«, sagte er beiläufig. Nat und Louisa kamen über die Felsen herbeigesprungen. »Wo ist denn Tess?«, fragte Louisa. Ich deutete zum Wasser hinab. »Da unten bei dem Gezeitentümpel. « Ich schnappte mir den Eimer. Sie folgten mir nach unten. Tess strahlte, als sie uns erblickte. Es war offensichtlich, dass sie sich freute, Louisa und deren Brüder wieder zu sehen. »Seht euch mal die tollen Tiere an, die ich da drin gefunden habe«, rief Tess begeistert und legte auf einem großen, flachen Felsbrocken den Babyseestern, zwei Seeigel und einen Einsiedlerkrebs aus. Wir traten näher, um das Meeresgetier zu betrachten. Tess hielt den Seestern in die Höhe. »Hat er nicht putzige kleine Ärmchen?«, fragte sie Nat. Der Kleine kicherte freudig. Wir brachten einige Minuten damit zu, alles zu bewundern. Nat fing an alles herunterzurattern, was er je über Krebse gelernt hatte. Louisa musste ihm schließlich Einhalt gebieten. »Ich würde gerne mehr über diesen Geist hören«, sagte Tess zu Louisa. »Da gibt's nichts zu erzählen«, antwortete Louisa leise und warf Sam einen nervösen Blick zu. Hatte er sie ermahnt, nichts mehr darüber zu sagen? Doch Tess gab so schnell nicht auf. »Wo haust das Gespenst denn?« Wieder wechselten Louisa und Sam einen Blick. »Kommt schon, Leute. Es muss doch irgendwo wohnen!«, spöttelte Tess. Nat schielte zum Strand und zu der Höhle, wobei sein
feines blondes Haar im Wind wehte. Er verscheuchte eine grüne Fliege von seinem dünnen nackten Arm. »Lebt der Geist am Strand?«, fragte Tess. Nat schüttelte den Kopf. »In der Höhle?«, riet ich. Nat presste die Lippen aufeinander. »Das dachte ich mir«, sagte Tess. »In der Höhle also.« Sie strahlte triumphierend. »Was sonst noch?« Nat wurde rot und versteckte sich hinter Louisa. »Ich wollte es nicht verraten«, flüsterte er. »Ist schon okay«, erklärte ihm Louisa und strich ihm übers Haar. Sie wandte sich an Tess und mich. »Das Gespenst ist uralt. Niemand hat es je herauskommen sehen.« »Louisa!«, sagte Sam schneidend. »Ich finde wirklich, dass wir nicht darüber reden sollten.« »Wieso nicht?«, fauchte Louisa zurück. »Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren.« »Aber sie glauben doch noch nicht einmal an Geister«, meinte Sam trotzig. »Nun, vielleicht kannst du uns ja dazu bringen, unsere Meinung zu ändern«, erwiderte Tess. »Seid ihr sicher, dass es diesen Geist überhaupt gibt? Habt ihr ihn je zu Gesicht bekommen?« »Nein, aber wir haben die Skelette gesehen«, sagte Louisa feierlich. Nat streckte vorsichtig den Kopf hinter Louisas Bein hervor. »Das Gespenst kommt bei Vollmond heraus«, piepste er. »Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, verbesserte ihn Louisa. »Es haust schon seit Ewigkeiten da oben in der Höhle. Manche Leute sagen, seit dreihundert Jahren.« »Aber wenn ihr es nie gesehen habt«, sagte ich, »woher wisst ihr dann, dass es in der Höhle lebt?«
Sam.
»Man kann ein flackerndes Licht sehen«, antwortete
»Ein Licht?«, spottete ich. »Nun mach aber mal 'nen Punkt! Das kann doch alles Mögliche sein. Es könnte irgendein Kerl mit einer Taschenlampe sein.« Louisa schüttelte den Kopf. »Nein, so ein Licht ist das nicht«, beharrte sie. »Es sieht ganz anders aus.« »Na, also, ein flackerndes Licht und ein Hundeskelett reichen nicht aus, um mich zu überzeugen«, sagte ich. »Ich glaube, ihr versucht nur mal wieder uns Angst einzujagen. Aber diesmal fallen wir nicht drauf rein.« Sam machte ein finsteres Gesicht. »Kein Problem«, murrte er. »Ihr müsst es ja nicht glauben.« »Also, ich glaub's nicht«, sagte ich trotzig. Sam zuckte die Achseln. »Viel Spaß noch«, sagte er leise, bevor er seine Geschwister zum Wald zurückführte. Kaum waren sie außer Sicht, knuffte mich Tess in die Seite. »Jerry, wieso hast du das getan? Ich war auf dem besten Weg, ein paar interessante Sachen aus ihnen herauszukitzeln.« Ich schüttelte den Kopf. »Siehst du denn nicht, dass sie uns bloß Angst einjagen wollen? Es gibt kein Gespenst. Das ist nur wieder so ein dämlicher Scherz.« Tess sah mich grübelnd an. »Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte sie. Ich schaute zu der riesigen schwarzen Höhlenöffnung hinauf. Trotz der Morgenwärme lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Hauste darin ein uralter Geist? Und wollte ich das wirklich herausfinden? Zum Abendessen brachte Agatha eine wirklich fabelhafte altmodische Hühnerpastete auf den Tisch. Ich aß meine
Portion restlos auf, bis auf die Erbsen und die Karotten. Gemüse mag ich nicht besonders. Tess und ich halfen Agatha nach dem Essen gerade beim Geschirrspülen, als sie sagte: »Jerry, mir scheint, mir geht eines meiner Strandbadetücher ab. Habt ihr heute früh nicht zwei mitgenommen?« »Ja, ich denke schon«, antwortete ich. »Haben wir eines am Strand liegen lassen?«, fragte Tess. Ich versuchte mich zu erinnern. »Ich glaube nicht. Aber ich kann runtergehen und nachsehen.« »So eilig ist das nicht«, sagte Agatha. »Draußen wird es schon dunkel. Du kannst morgen nachsehen.« »Nein, es macht mir nichts aus«, erklärte ich ihr, legte schnell das Geschirrtuch weg und sauste zur Hintertür hinaus, bevor sie etwas dagegen sagen konnte. Es kam mir ganz gelegen, einen Vorwand zu haben, um noch mal hinauszugehen. In der winzigen Küche bekam ich keine Luft. Man konnte sich kaum darin umdrehen. Ich ging den schmalen Pfad zum Wasser hinunter, froh darüber, zur Abwechslung einmal alleine zu sein. Tess ist ganz in Ordnung, vor allem für eine Schwester. Wir beide kommen erstaunlich gut miteinander aus. Aber manchmal bin ich trotzdem ganz gerne für mich. Ich fand den riesigen Felsen, auf dem wir am Morgen unsere Handtücher abgelegt hatten. Keine Spur von dem vermissten Badelaken. Vielleicht hatte Sam es genommen. Möglicherweise wollte er es sich über den Kopf ziehen und uns damit erschrecken. Ich schaute zu der großen Höhle hoch, die sich dunkel vor dem blau-schwarzen Himmel abzeichnete. »Huch?« Ich trat blinzelnd einen Schritt näher. Flackerte da ein Licht in der Höhle? Ich machte noch einen Schritt vorwärts. Es musste eine
Reflexion des Mondes sein, der gerade über den Kiefern aufging. Nein, das hatte nichts mit dem Mond zu tun, stellte ich fest. Ich ging noch näher heran, ohne den Blick von dem Lichtschein im schwarzen Höhleneingang loszureißen; er war so fahl, so gespenstisch. Sam!, dachte ich plötzlich. Ja, das muss Sam sein. Er ist jetzt da oben, zündet Streichhölzer an und hofft, dass ich auf seinen Streich hereinfalle. Sollte ich hinaufklettern? Meine Schuhe sanken im Sand ein, während ich weiter auf die Höhle zuschritt. Der Lichtschein schimmerte in der Höhlenöffnung. Er schien ganz nah am Eingang zu schweben, zu flackern, gemächlich zu tanzen. Soll ich raufgehen?, fragte ich mich. Soll ich?
Ja, ich musste unbedingt hochklettern und nachsehen, was das war. Das Licht wurde heller, so als ob es mir etwas zurief. Ich holte tief Luft und sprang über den Gezeitentümpel und ein paar vermooste Steine. Dann begann ich hinaufzusteigen. Eingebettet zwischen Felsblöcken, ragte die Höhle hoch über mir auf. Ich hüpfte und kletterte über rutschige kleine Steine, bis ich den nächsten großen Felsblock erreichte. Gelbes Mondlicht fiel auf das Gestein, sodass ich gut sehen konnte. Was hatte Nat doch gleich über den Mond
gesagt? Dass das Gespenst herauskam, wenn er voll war? Ich fasste den nächsten Felsblock ins Auge und kletterte weiter. Über mir konnte ich das geisterhafte Licht im Höhleneingang flimmern sehen. Die schroffen Felsen waren vom Abendtau schlüpfrig, aber ich ließ mich davon nicht aufhalten. »Oh!«, schrie ich, als ich spürte, wie meine Füße festen Halt verloren. Ich hatte eine Minilawine losgetreten. Kleine Geröllstücke und Sand rutschten hinter mir den Hügel hinunter. Verzweifelt packte ich eine dicke Wurzel, die zwischen den Steinen herausragte. Ich hielt mich daran fest, bis ich wieder sicheren Tritt gefunden hatte. Puh! Ich hielt einen Moment inne, um zu Atem zu kommen. Dann zog ich mich an einem massiven Felsblock hoch und schaute zur Höhle. Sie lag jetzt direkt über meinem Kopf, nur noch drei oder vier Meter von mir entfernt. Ich stand auf - und erschrak. Was war das für ein Geräusch hinter mir? Ich erstarrte, wartete und lauschte. War da noch jemand? Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn da packte mich eine kalte, klamme Hand im Nacken.
Ich stieß einen erstickten Laut aus und versuchte verzweifelt mich umzudrehen. Der Griff der kalten Finger lockerte sich. »Pssst«, flüsterte Tess. »Ich bin's.« Ich knurrte wütend. »Was machst du denn hier?«
»Das fragt der Richtige«, gab sie zurück. »Und was tust du hier?« »Ich - ich suche nach dem Badetuch«, stotterte ich. Tess lachte. »Du bist hinter dem Geist her, Jerry. Gib's zu.« Wir richteten beide die Augen auf die Höhle. »Siehst du das Licht?«, wisperte ich. »Was für ein Licht?«, wollte Tess wissen. »Das flackernde Licht in der Höhle«, antwortete ich ungeduldig. »Was ist los mit dir? Brauchst du eine Brille?« »Tut mir Leid. Ich sehe kein Licht«, sagte Tess. »Es ist total dunkel.« Ich schaute zum Höhleneingang hinauf, starrte in völlige Dunkelheit. Sie hatte Recht. Das Licht war verschwunden. Als ich später am Abend im Bett lag, versuchte ich das einzusetzen, was mein Naturkundelehrer das »kritische Denkvermögen« nennt. Das funktioniert so, dass du alle Fakten zusammenfügst, die du hast, und die, die dir fehlen, und dann einen logischen Schluss daraus ziehst. Also fragte ich mich als Erstes: Was weiß ich? Ich weiß, dass ich ein Licht gesehen habe, und dann ging das Licht aus. Was ist die Erklärung dafür? Eine optische Täuschung? Meine Einbildungskraft? Sam? Draußen vor dem Fenster begann ein Hund zu bellen. Das ist aber eigenartig, dachte ich. Ich hatte bisher noch keinen einzigen Hund zu Gesicht bekommen. Ich presste mir das Kissen auf die Ohren, doch ich hörte das Bellen trotzdem. Es wurde jetzt lauter, erregter. Es klang, als säße der Hund direkt vor dem Fenster. Ich setzte mich auf und lauschte.
Und da fiel mir plötzlich wieder ein, was Nat uns erzählt hatte: Hunde erkennen Gespenster. War das der Grund, weshalb der Hund so aufgebracht bellte? Hatte er einen Geist entdeckt? Schaudernd stieg ich aus dem Bett, schlich zum Fenster und spähte in den Garten hinaus. Doch es war kein Hund zu sehen. Ich spitzte die Ohren. Das Bellen war verstummt. Ich konnte nur das Zirpen der Grillen und das leise Rascheln der Bäume hören. »Hierher, Hundchen«, rief ich leise. Keine Antwort. Wieder fröstelte ich. Nun herrschte Stille. Was geht hier vor sich?, fragte ich mich. »Pssst! Sonst erschreckst du sie«, flüsterte Tess. Die Morgensonne hing als roter Ball noch tief am Himmel, als wir uns dem Möwennest näherten, das Tess tags zuvor entdeckt hatte. Vogelbeobachtung war Tess Sadlers Hobby Nummer drei. Im Gegensatz zum Abpausen von Grabsteinen und dem Sammeln von Wildblumen konnte sie dieses auch zu Hause ausüben, direkt vom Fenster unserer Wohnung aus. Wir kauerten uns leise nieder. Etwa fünf Meter entfernt versuchte die Möwenmutter ihre drei Jungen zurück ins Nest zu scheuchen, indem sie lautstark quäkte und ihre Kinder erst in die eine Richtung, dann in die andere trieb. »Sind die Jungen nicht süß?«, wisperte Tess. »Sie sehen aus wie zerzauste graue Stofftiere, stimmt's?« »Mich erinnern sie an Ratten«, erwiderte ich. Tess stieß mich mit dem Ellenbogen an. »Sei nicht so ein Ekel.« Einige Minuten lang saßen wir schweigend da und
betrachteten die Vögel. »Also erzähl mir noch einmal von dem Hund, der gestern Nacht gebellt hat«, bat mich Tess. »Ich kann kaum glauben, dass ich ihn nicht gehört habe.« »Da gibt's nicht viel zu erzählen«, antwortete ich gereizt. »Als ich ans Fenster trat, hat er aufgehört.« Unten am Strand sah ich die drei Sadler-Kinder, die in Shorts und ärmellosen T-Shirts barfuß am Wasser entlangspazierten. Ich sprang auf und lief zu ihnen. »Wieso hast du's denn so eilig?«, schrie Tess mir nach. »Ich will ihnen von dem flackernden Licht erzählen«, rief ich zurück. »Wart auf mich!«, brüllte Tess und rannte hinter mir her. Wir liefen stolpernd über den steinigen Strand auf die drei Kinder zu. Ich sah, dass Sam einige alte Angeln dabeihatte und dass Louisa einen Eimer mit Wasser trug. »Hallo«, sagte Louisa freundlich und stellte den Eimer ab. »Schon was gefangen?«, fragte ich. »Nee«, antwortete Nat. »Wir waren noch gar nicht angeln.« »Was habt ihr denn dann in dem Eimer?«, wollte ich wissen. Nat langte hinein und zog einen kleinen, silbrigen Fisch heraus. »Menhaden. Die nehmen wir als Köder.« Ich bückte mich und sah in den Eimer, in dem es von dutzenden kleiner, glänzender, grauer Fische wimmelte. »Wow.« »Wollt ihr mitkommen?«, fragte Louisa. Tess und ich sahen uns gegenseitig an. Angeln hörte sich nach Spaß an. Und vielleicht würde sich dabei eine Möglichkeit ergeben, ganz unverfänglich nach dem Licht in der Höhle zu fragen. »Klar«, sagte ich. »Warum nicht?«
Wir folgten ihnen den sandigen Pfad hinunter, bis zu einer schattigen Stelle am Wasser. »Normalerweise haben wir hier immer Glück«, erklärte uns Sam. Er griff sich einen Köderfisch aus dem Eimer, dann stützte er die Angelrute gegen sein Bein, steckte fachmännisch den Fisch an den Haken und reichte mir die Angel. Der Fisch am Haken zappelte hin und her. »Willst du's mal versuchen?«, wollte er wissen. Ich fragte mich, warum er auf einmal so nett zu mir war. Hatte Louisa ihm einen Vortrag gehalten? Oder bereitete er gerade einen neuen Streich vor? »Klar probier ich's mal«, sagte ich zu ihm. »Was muss ich tun?« Sam zeigte mir, wie man die Leine auswarf. Mein erster Versuch war nicht gerade umwerfend. Die Schnur landete nicht weiter als zwei Handbreit im Wasser. Sam lachte und warf sie für mich aus. »Denk dir nichts dabei«, sagte er, als er mir die Angelrute zurückgab. »Man braucht eine Menge Übung, bis man das Auswerfen beherrscht.« Dieser Sam war eindeutig anders als der Sam, den wir bisher erlebt hatten. Vielleicht braucht er einfach seine Zeit, um aufzutauen, sagte ich mir. »Und was mache ich jetzt?«, fragte ich ihn. »Du musst die Schnur immer wieder auswerfen und einholen«, sagte er. »Und wenn du einen Ruck spürst, dann schrei.« Sam wandte sich an Tess. »Möchtest du's auch mal versuchen?«, fragte er. »Na logisch!«, antwortete sie. Sam bückte sich, um für Tess einen Menhaden aus dem Eimer zu holen. »Lass nur«, sagte Tess. »Das kann ich selbst.«
Sam trat zurück und tat Tess großzügig den Gefallen. Ich denke, sie wollte nur angeben. Ich habe nie zuvor erlebt, dass sie einen lebendigen Fisch angefasst hat. Sie hasst alles, was glitschig ist. Tess schwang die Angel, um die Schnur ohne fremde Hilfe auszuwerfen. Ich wollte ihr gerade vorwerfen, dass sie mal wieder eine Show abzog, da verhedderte sich ihre Angelschnur über uns in den Ästen eines Baumes. Das brachte alle zum Lachen - vor allem, als sich der Köderfisch vom Haken losriss, herunterfiel und in Tess' Haar landete. Tess fuchtelte kreischend mit den Armen und fegte den Fisch mit der Hand ins Wasser. Sam kugelte sich auf dem Felsen vor Lachen. Auch wir anderen lachten schallend, bis wir schließlich alle japsend auf den großen flachen Felsen lagen. Das schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, die Höhle anzusprechen. »Stellt euch vor«, begann ich. »Gestern Abend bin ich noch einmal zum Strand gegangen und da habe ich das flackernde Licht in der Höhle gesehen, von dem ihr erzählt habt.« Sams Lächeln verschwand augenblicklich. »Wirklich?« Louisa sah mich besorgt an. »Du ... du bist doch nicht etwa hineingegangen, oder? Bitte sag Nein.« »Nein, ich bin nicht reingegangen«, beruhigte ich sie. »Die Höhle ist wirklich gefährlich«, sagte Louisa. »Du solltest da nicht hochklettern. Ehrlich.« »Ja, ganz im Ernst«, pflichtete Sam ihr rasch bei und schaute mich mit durchdringendem Blick an. Ich schielte zu Tess. Ich konnte erkennen, was sie dachte: Die drei Kinder hatten wirklich Angst, aber sie wollten es nicht eingestehen und sie wollten nicht darüber sprechen. Sie hatten panische Angst vor der Höhle. Wieso?
Eines stand jedenfalls für mich fest: Ich musste den Grund herausfinden.
Zum Abendessen saßen wir alle um den runden Tisch im Wohnzimmer herum. Brad bearbeitete einen Maiskolben mit dem Messer, um die kleinen Körner abzulösen, damit er sie mit der Gabel essen konnte. »Brad... ähm... ich mache mir über diese Höhle Gedanken«, setzte ich an, während ich mit dem Besteck herumspielte. Ich spürte, wie Tess mich unter dem Tisch mit dem Fuß anstieß. »Was ist damit?«, fragte Brad. »Also ... ähm... etwas sehr Merkwürdiges ...« Ich druckste herum. Mit einem Ruck fuhr Agathas Kopf zu mir herum. »Du bist doch nicht etwa in die Höhle reingegangen, oder?« »Nein«, antwortete ich. »Du solltest die Höhle auf keinen Fall betreten«, warnte sie mich. »Sie ist nicht sicher.« »Na ja, das ist es genau, worüber ich mit euch reden wollte«, fuhr ich fort. Ich sah, dass alle zu essen aufgehört hatten. »Als ich gestern Abend noch einmal hinunterging, um nach dem Badetuch zu suchen, flackerte in der Höhle ein Licht. Wisst ihr, was das gewesen sein kann?« Brad schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Nur eine optische Täuschung«, sagte er kurz angebunden, ergriff wieder seinen Maiskolben und pulte daran herum. »Das verstehe ich nicht«, erwiderte ich. »Wie meinst du das?«
Geduldig ließ er den Maiskolben sinken. »Jerry, hast du schon einmal etwas vom Polarlicht gehört? Aurora borealis?« »Klar«, sagte ich. »Aber...« »Genau so etwas ist das flackernde Licht gewesen«, schnitt er mir das Wort ab und hob den Maiskolben wieder hoch. »Oh«, antwortete ich und blickte Hilfe suchend zu Agatha, in der Hoffnung, dass sie mehr dazu sagen würde. Und das tat sie auch. »So etwas sieht man zu bestimmten Zeiten im Jahr«, erklärte sie. »Die Luft lädt sich elektrisch auf und dann flackern am ganzen Himmel glühende Streifen auf.« Sie reichte mir die Schüssel mit dem Kartoffelbrei. »Möchtest du noch etwas?« »Gerne.« Ich spürte, wie mich Tess unterm Tisch erneut mit dem Fuß anstieß. Ich wandte mich ihr zu und schüttelte den Kopf. Brad und Agatha lagen falsch. Das konnte kein Polarlicht gewesen sein. Das Licht war aus der Höhle gekommen und nicht vom Himmel. Irrten sich die beiden? Oder logen sie uns absichtlich an? Nach dem Abendessen spazierten Tess und ich am Meer entlang. Graue Wolkenfetzen trieben vor dem vollen Mond vorbei. Vor uns dehnten und bewegten sich Schatten, als wir den steinigen Sandstrand überquerten. »Sie haben mich angelogen«, sagte ich zu Tess, die Hände in den Taschen meiner abgeschnittenen Jeans vergraben. »Brad und Agatha verheimlichen uns etwas. Sie wollen nicht, dass wir die Wahrheit über die Höhle erfahren.« »Sie machen sich nur Sorgen«, entgegnete meine Schwester. »Sie wollen nicht, dass uns etwas zustößt. Sie fühlen sich verantwortlich und...« »Tess, sieh mal...!«, rief ich aufgeregt und zeigte zur
Höhle.
Diesmal sah Tess das flackernde Licht auch. In dem Moment schoben sich Wolken vor den Mond und der Himmel verdunkelte sich. »Das ist kein Polarlicht«, flüsterte ich. »Da oben ist jemand.« »Lass uns nachsehen«, wisperte Tess zurück. Bevor uns überhaupt klar wurde, was wir da eigentlich taten, kletterten wir bereits über die Felsen zur Höhle hinauf. Ich hatte das Gefühl, als würde ich magnetisch angezogen. Ich wollte näher heran, um herausfinden zu können, woher dieses seltsame Licht stammte. Hinter uns brachen sich die Meereswogen an den untersten Felsen und sprühten Gischt in unsere Richtung. Als wir die Höhle beinahe erreicht hatten, warf ich einen Blick zurück und sah, dass der Strand tief unter uns lag. Vor uns, im Eingang zur Höhle flimmerte das Licht. Wir kletterten über die letzten Felsbrocken und richteten uns auf. Nun standen wir auf einem breiten Felsenvorsprung. Ein Stück vor uns gähnte bedrohlich der dunkle Höhleneingang. Ich spähte in die Öffnung. Wie tief war die Höhle? Ich konnte es nicht feststellen. Blinzelnd sah ich in den fahlen Lichtschein und meinte drinnen einen Tunnel zu sehen, der seitlich abzweigte. Ich trat einen Schritt näher. Tess hielt sich dicht bei mir. An ihrem Gesicht konnte ich ablesen, dass sie sich fürchtete. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Und nun?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Lass uns reingehen«, sagte ich.
Mein Herz hämmerte, als wir in die Dunkelheit eintraten. Der Höhlenboden war glatt und rutschig. Es roch modrig und faul. »He...!«, schrie ich auf, als Tess mich am Arm packte. »Das Licht - sieh nur!«, flüsterte sie. Es flackerte im Hintergrund der Höhle. Dicht aneinander gedrängt gingen wir ein paar Schritte darauf zu. Unsere Schuhe schmatzten laut. Die Luft wurde wärmer. »Das ... das ist ein Gang«, sagte ich. Der Gang verengte sich und machte dann eine Biegung, die außer Sicht verschwand. Das fahle Licht kam irgendwo aus der Tiefe der Höhle. Ich schluckte heftig. »Lass uns nur ein kleines Stück weitergehen«, drängte ich. Tess, die hinter mir geblieben war, zauderte. »Der Tunnel sieht unheimlich aus«, stieß sie mit kläglicher Stimme hervor. Von irgendwo vor uns vernahm ich ein leises schwirrendes Geräusch. »Wir haben uns bis hierher vorgewagt«, sagte ich drängend. »Da können wir genauso gut noch ein kleines Stück weitergehen.« Wir traten geduckt und mit gesenkten Köpfen in den niedrigen Tunnel. Ganz in der Nähe konnte ich Wassertropfen hören. Die Luft wurde wärmer und feuchter. Der schmale Gang krümmte sich und öffnete sich unvermittelt in eine geräumige, runde Kammer. Ich blieb stehen, als ich wieder das Schwirren hörte. Es war ein leises Flattern, das immer lauter wurde.
»Was ist das für ein Lärm?«, schrie Tess. Ihre schrille Stimme hallte von den Höhlenwänden wider. Bevor ich antworten konnte, schwoll das Flattern zu einem ohrenbetäubenden Brausen an. »Neeeiin!« Mein Schrei wurde von dem Grauen erregenden Geräusch übertönt. Ich hob den Blick gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die schwarze Höhlendecke auseinander brach und auf uns herabstürzte.
»Neeeiiin!« Ich brüllte noch immer, als ich auf dem feuchten Höhlenboden aufkam und mit beiden Händen schützend meinen Kopf bedeckte. Ich wartete. Wartete auf den Schmerz beim Aufprall des Gerölls. Doch das Brausen fegte über mich hinweg und dann schwoll ein schrilles Pfeifen an. Mit wild klopfendem Herzen hob ich den Blick - und sah über mir Fledermäuse. Tausende schwarzer Fledermäuse, die mit schnellem Flügelschlag kreuz und quer durch die Höhle flogen, herabstießen und dann wieder abdrehten. Die Decke war also gar nicht herabgefallen. Als Tess und ich die Kammer betraten, hatten wir die Fledermäuse offenbar aufgeweckt. Sie schossen pfeifend über unseren Köpfen hin und her. »N-nichts wie raus hier!«, sagte ich und half Tess auf die Beine. »Ich hasse Fledermäuse!« »Jetzt weißt du, warum Brad und Agatha uns gewarnt haben, hierher zu kommen«, rief Tess, das Getöse der flatternden Flügel überschreiend. Wir wandten uns beide zum Gehen, doch da sah ich,
dass das geheimnisvolle, flackernde Licht nur noch wenige Meter entfernt war. Wenn wir uns ein paar Schritte tiefer in die Höhle wagten, würden wir das Rätsel lösen können - und diese Grusel erregende Höhle ein für alle Mal vergessen. »Komm mit«, schrie ich, nahm Tess bei der Hand und zog sie hinter mir her. Die Fledermäuse schwirrten aufgeregt über unseren Köpfen hin und her. Wir zogen den Kopf ein, als wir unter ihnen zur Rückwand der Kammer hasteten. Dort zweigte ein weiterer schmaler, gewundener Tunnel ab. Den Rücken an die Wand gedrückt und Tess noch immer an der Hand, bewegte ich mich vorsichtig voran. Das dämmrige Licht wurde heller. Anscheinend kamen wir der Lichtquelle näher. Der Gang führte in eine zweite Kammer, die etwa gleich groß wie die erste war. Tess und ich mussten die Augen abschirmen, da der Eingang in blendend weißem Licht erstrahlte. Ich betrat die Kammer mit langsamen Schritten, um meinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an das Licht zu gewöhnen. Und dann sah ich sie: Kerzen. Ringsherum in der Kammer standen auf Felsvorsprüngen dutzende kurzer weißer Kerzen. Sie waren alle angezündet und sie flackerten alle. »Das erklärt es also«, flüsterte ich. »Es ist Kerzenlicht.« »Das erklärt überhaupt nichts!«, wandte Tess ein, über deren blasses Gesicht Schatten tanzten. »Wer hat die Kerzen hier aufgestellt?« Wir sahen den Mann beide gleichzeitig. Er war alt, hatte langes, strähniges weißes Haar und eine Nase wie ein Schnabel. Er hockte zusammengesunken an einem Tisch, der aus Treibholz roh zusammengezimmert war.
Seine Augen waren geschlossen. Er war bleich und schrecklich abgemagert, sein abgetragenes Hemd hing lose an ihm herab. Schatten huschten über ihn hinweg. Im Wechselspiel von Hell und Dunkel schien er zu flackern wie das Kerzenlicht. Als wäre er Teil des Lichtes, Bestandteil des gespenstischen Lichtes. Tess und ich erstarrten. Sah er uns? War er am Leben? Oder war er ein Geist? Seine Augen öffneten sich. Sie waren groß und dunkel und lagen tief in den Höhlen. Er wandte sich uns zu und erwiderte unseren Blick mit seinen unheimlichen eingesunkenen Augen. Dann winkte er uns bedächtig mit einem knochigen Finger. »Kommt her.« Seine Stimme war nur ein trockenes Flüstern. Trocken wie der Tod. Bevor wir uns regen konnten, erhob er sich und kam auf uns zu.
Ich wollte weglaufen. Doch meine Füße fühlten sich an, als wären sie am Boden festgeklebt. Als würde die geisterhafte Gestalt sie dort festhalten, um zu verhindern, dass ich flüchtete. Tess stieß einen leisen Schrei aus und rempelte mich von hinten an. Vermutlich war sie nur gestolpert, aber der Stoß versetzte uns beide in Bewegung. Ich sah mich ein letztes Mal zu dem bleichen, klapperdürren Wesen um. Der Mann schimmerte unwirklich im gespenstischen Schein der Kerzen. Den Mund zu einem absonderlichen Grinsen verzogen, ging er weiter auf uns zu. Seine dunklen Augen starrten uns so
ausdruckslos an wie die schwarzen Knöpfe im Gesicht eines Schneemanns. Dann drehten wir uns um und rannten los. Tess sprintete mir voraus den engen Tunnel entlang. Ihre Schuhe klatschten dabei über den feuchten Boden. Ich hatte Mühe, ihr auf den Fersen zu bleiben, denn ich stolperte alle paar Meter oder rutschte aus. Meine Beine fühlten sich an, als ob sie tausend Kilo wögen, und in meinen Schläfen pochte das Blut so heftig, dass ich dachte, gleich würde mein Kopf explodieren. »Lauf! Lauf! Lauf!«, schrie ich den ganzen Weg entlang. Ich drehte mich um und warf einen Blick zurück. Er kam hinter uns her! »Neeiin!«, brüllte ich. Ich hätte mich nicht umdrehen sollen. Ich stolperte über einen zackigen Stein und knallte auf den harten Boden. Ich landete unsanft auf Ellbogen und Knien. Keuchend fuhr ich herum und sah, wie der Geist seine knochigen Hände nach meinem Hals ausstreckte.
Verzweifelt heulte ich auf, rappelte mich hoch und entwischte um Haaresbreite seinen ausgestreckten Händen. Ein paar Schritte vor mir stand Tess und sah entsetzt zu, Mund und Augen vor Schreck weit aufgerissen. Ich hörte den Geist ächzen, als er mit beiden Armen nach mir griff. Irgendwie fand ich die Kraft loszulaufen. Auch Tess rannte jetzt wieder weiter. Am Ende des engen, gewundenen Gangs kamen wir in
die Fledermauskammer, die jetzt ruhig und leer war. Und schließlich erreichten wir den Ausgang der Höhle. Und dann kletterten wir schlitternd die taunassen Felsen hinunter. Hinab zum steinigen, mondbeschienenen Strand. Unten drehte ich mich noch einmal um. Das konnte ich mir nicht verkneifen. Ich sah, dass die Höhlenöffnung nun dunkel war. Dunkler als der Nachthimmel. Wir liefen ein Stück am Meer entlang und bogen dann in Richtung Wald ab. Wir waren beide außer Atem und schnauften laut, als wir schließlich am Häuschen ankamen. Ich öffnete die Tür, stolperte hinter Tess hinein und schlug die Tür rasch wieder zu. »Tess? Jerry? Seid ihr das?«, ertönte Agathas Stimme aus der Küche. Sie trat heraus, wobei sie sich die Hände an einem karierten Geschirrtuch abtrocknete. »Nun? Habt ihr es gefunden?« »Was?« Ich sah sie mit großen Augen an, während ich noch immer nach Atem rang. Haben wir das Gespenst gefunden? Ist es das, wonach Agatha fragt? »Habt ihr es gefunden?«, wiederholte Agatha. »Habt ihr das Badetuch gefunden?« Sie schaute uns völlig verdutzt an, als Tess und ich erleichtert in Gelächter ausbrachen. An diesem Abend fand ich keinen Schlaf. Ich hatte ständig den Geist vor Augen: sein strähniges weißes Haar, seine eingesunkenen Augen, seine knochigen Finger, die nach mir griffen. Und ich fragte mich immer wieder, ob es richtig war, dass Tess und ich Agatha und Brad nichts von ihm erzählt hatten.
»Wir bekommen nur Ärger, weil wir in die Höhle gegangen sind«, hatte ich zu meiner Schwester gesagt. »Außerdem würden sie uns wahrscheinlich sowieso nicht glauben«, hatte Tess hinzugefügt. »Und wozu sollten wir sie beunruhigen?«, sagte ich. »Sie sind so nett zu uns gewesen. Und wir sind in die Höhle gegangen, obwohl sie uns gesagt hatten, dass wir es nicht tun sollen.« Also hatten wir ihnen nichts von dem Furcht erregenden Geist in der unheimlichen, kerzenerleuchteten Höhle erzählt. Und nun lag ich im Bett und wälzte mich unruhig hin und her, während meine Gedanken umherwirbelten. Ich grübelte darüber nach, ob Tess und ich unseren Verwandten beichten sollten, was wir getan und was wir gesehen hatten. Trotz der sommerlichen Hitze zog ich mir die Decke bis ans Kinn und blickte zum Fenster. Hinter den Gardinen, die sich im Wind blähten, schimmerte das bleiche Licht des Mondes. Doch der Mondschein konnte meine düstere Stimmung nicht aufhellen. Denn er erinnerte mich an die blasse Haut des Geistes. Plötzlich wurde ich von einem leisen Klopfen aus meinen Gedanken gerissen. Tapp, tapp. Tapp, tapp, tapp. Hastig setzte ich mich auf. Das Geräusch wiederholte sich. Tapp, tapp. Tapp, tapp, tapp. Und dann vernahm ich ein geisterhaftes Flüstern: »Komm her.« Tapp, tapp, tapp. »Komm her.« Und da wusste ich, dass mir der Geist nach Hause
gefolgt war.
»Komm her.« Starr vor Angst saß ich im Bett und sah hilflos zu, wie vor dem mondbeschienenen Fenster ein Gesicht auftauchte. Zuerst sah ich nur einen bleichen Haarschopf, dann eine breite Stirn und schließlich ein Paar dunkler Augen, die im hellen Mondschein blau aufblitzten. Nat! Er grinste mich durch das Fenster an. »Nat! Du bist das!«, rief ich erleichtert, sprang aus dem Bett, zog mir rasch den Morgenmantel über den Schlafanzug und eilte zum offenen Fenster. Er kicherte. Ich schaute hinaus. Sam hatte Nat auf den Schultern und ließ ihn jetzt wieder auf den Boden hinab. Louisa, in weißen Tennisshorts und einem weiten grauen Pullover, stand neben ihnen. »W-was macht ihr denn da draußen?«, stotterte ich. »Ihr habt mich zu Tode erschreckt.« »Wir hatten nicht vor, dir Angst einzujagen«, antwortete Sam, dessen Hände nun auf Nats schmalen Schultern ruhten. »Wir haben dich und deine Schwester am Meer entlangrennen sehen und da haben wir uns gefragt, was passiert ist.« »Ihr werdet es nicht glauben!«, rief ich aufgeregt. Da fiel mir ein, dass meine Stimme wahrscheinlich bis ins Schlafzimmer von Brad und Agatha zu hören war, und ich wollte die beiden keinesfalls aufwecken. Ich winkte die Kinder näher. »Kommt in mein Zimmer. Hier können wir uns unterhalten.«
Sam hob Nat zum Fensterbrett hoch und ich zog ihn herein. Anschließend kletterten die anderen beiden hinterher. Die drei setzten sich aufs Bett. Ich lief erregt vor ihnen auf und ab. »Tess und ich sind in die Höhle gegangen«, erzählte ich ihnen mit leiser Stimme. »Und dort haben wir den Geist gesehen! Er saß in einer Kammer voller Kerzen.« Alle drei machten verblüffte Gesichter. »Er ist uralt und sieht Furcht erregend aus«, fuhr ich fort. »Und er ging nicht, sondern er schwebte irgendwie. Als er uns sah, hat er uns verfolgt. Beinahe hätte er mich erwischt, denn ich bin einmal hingefallen. Aber ich konnte ihm gerade noch rechtzeitig entkommen.« »Wow«, murmelte Sam. Die anderen beiden sahen mich noch immer erstaunt an. »Und dann?«, fragte Nat. »Dann sind wir, so schnell wir konnten, hierher zurückgerannt«, antwortete ich. »Das ist alles.« Für einen langen Moment schauten sie mich schweigend an. Ich hätte zu gerne gewusst, was sie dachten. Glaubten sie mir? Schließlich stand Sam vom Bett auf und ging zum Fenster. »Wir wollten nicht, dass ihr von dem Geist erfahrt«, sagte er leise und warf sein braunes Haar zurück. »Wieso nicht?«, fragte ich ihn. Sam zögerte. »Wir wollten euch keine Angst machen.« Ich lachte spöttisch. »Du hast Tess und mir praktisch jedes Mal, wenn wir uns getroffen haben, einen Schrecken eingejagt.« »Das war doch nur Spaß«, erklärte Sam. »Aber uns war klar, wenn ihr das mit dem Geist herausfinden würdet...« Er verstummte. »Habt ihr ihn auch gesehen?«, fragte ich, während ich
meinen Morgenmantel enger um mich schlang. Sie nickten alle drei. »Wir halten uns von der Höhle fern«, sagte Nat zu mir und kratzte sich am Arm. »Der Geist ist zu fürchterlich.« »Er ist sehr gefährlich«, behauptete Louisa. »Ich glaube, er will uns alle umbringen.« Sie sah mir fest in die Augen. »Dich auch. Dich und Tess.« Ich schauderte. »Wieso? Tess und ich haben ihm doch nichts getan.« »Das spielt keine Rolle. Niemand ist vor ihm sicher«, sagte Sam leise und blickte dabei nervös aus dem Fenster. »Ihr habt doch das Skelett im Wald gesehen, oder? Dasselbe wird der Geist mit dir anstellen, wenn er dich in die Finger kriegt.« Wieder schauderte ich. Nun hatte ich wirklich Angst. »Es gibt allerdings einen Weg, den Geist loszuwerden«, unterbrach Louisa meine Gedanken. Sie knetete nervös die Hände im Schoß. »Aber dazu brauchen wir deine Hilfe«, fuhr sie fort. »Ohne dich und Tess schaffen wir es nicht.« Ich schluckte. »Was können Tess und ich denn tun?«, fragte ich. Bevor sie antworten konnte, hörten wir über uns ein Knarren und Stimmen. Hatten wir Agatha und Brad aufgeweckt? Louisa und ihre beiden Brüder hasteten zum Fenster und kletterten hinaus. »Wir treffen uns am Strand - morgen früh«, wies Sam mich an. Ich stand am Fenster und sah ihnen nach, bis sie im Wald verschwunden waren. Jetzt war es wieder still im Zimmer. Die Gardinen bewegten sich leicht. Ich schaute zu den Kiefern hinüber, die sich sanft im Wind wiegten. Wie können Tess und ich dazu beitragen, einen uralten Geist loszuwerden?, fragte ich mich.
Was können wir schon tun?
Am nächsten Morgen weckte mich das Prasseln des Regens. Ich sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Ein böiger Wind wirbelte den Regen vor sich her. Im Garten hatten sich zwischen den Gemüsebeeten schmale Bächlein gebildet, die in den Hof liefen. »Ist dieses Wetter zu fassen?«, fragte Tess, die ins Zimmer trat. Ich wandte mich zu ihr um. »Tess, hör zu. Ich muss dir etwas erzählen.« Dann berichtete ich ihr von meinem Gespräch mit den drei Sadler-Kindern am vorangegangenen Abend. Als ich damit fertig war, starrte Tess aus dem Fenster. »Was wollen wir jetzt tun? Wie können wir uns am Strand mit ihnen treffen, wenn es dermaßen regnet?« »Das können wir vergessen«, sagte ich. »Wir müssen warten, bis es aufhört.« »Ich hasse es, auf die Folter gespannt zu werden!«, stöhnte Tess. Damit kehrte sie in ihr Zimmer zurück, um sich anzuziehen. Ich schlüpfte in meine alte, verwaschene Jeans, die an beiden Knien zerrissen war, und in ein graues Sweatshirt. Anschließend lief ich hinunter, wo bereits alle beim Frühstück saßen. Agatha kochte Grießbrei für uns, den sie mit einer dicken Schicht braunem Zucker und Butter krönte. Nach dem Frühstück entfachte Brad ein gemütliches Feuer im Kamin. Tess setzte sich davor auf den Boden und beschäftigte sich mit ihrer Wildblumensammlung. Während Tess ihre Blumen Stück für Stück auf Karton
klebte, saß ich einfach nur herum und wartete darauf, dass es zu regnen aufhörte. So ein blödes Wetter! Wir aßen bereits zu Mittag, als endlich die Sonne herauskam. Kaum hatten wir abgedeckt, eilten Tess und ich zum Strand hinunter. Wir warteten fast eine Stunde lang. Währenddessen übte ich, Steine übers Wasser hüpfen zu lassen, und Tess suchte nach Muscheln. Von Sam, Nat und Louisa war weit und breit nichts zu sehen. »Und was jetzt?«, fragte ich und kickte einen kleinen Stein davon. Der ganze Tag war verschwendet. »Ich habe meine Sachen zum Abpausen von Grabsteinen dabei«, antwortete Tess. »Lass uns rüber zum Friedhof gehen.« Wir spazierten zu dem kleinen Friedhof, kletterten über die alte Steinmauer und schauten uns gründlich um. Die Gräber waren unglaublich alt. Viele der Grabsteine waren umgestürzt, zerbrochen oder von Unkraut überwuchert. Der Wald hatte begonnen sich hier auszubreiten. Ein paar große Bäume wuchsen mitten auf Gräbern. Ein riesiger Baum war umgestürzt, über die Mauer gefallen und hatte mehrere Grabsteine niedergewalzt. »Ich gehe zu dem umgekippten Baum und schaue nach, ob ich was Interessantes entdecke«, verkündete Tess. Sie lief voraus und ich bummelte in meinem eigenen Tempo hinter ihr her. Bei unserem letzten Besuch auf dem Friedhof waren wir am Rand geblieben. Nun steuerte ich auf die Mitte zu. Neugierig las ich die Namen auf den Grabsteinen. Auf dem ersten, an dem ich stehen blieb, stand: Hier ruht Martin Sadler. Das ist ja seltsam, dachte ich. Schon wieder ein Sadler. Mir fiel ein, was Sam gesagt hatte: Der Name Sadler wäre in
der Gegend verbreitet. Möglicherweise war dieser Teil des Friedhofs der angestammte Bereich der Familie Sadler oder so etwas. Der Grabstein neben dem von Martin Sadler gehörte einer Mary Sadler, seiner Frau. Daran schlossen sich die Gräber zweier Sadler-Kinder an: Sarah und Michael. Ich ging zur nächsten Grabreihe weiter und las die dortigen Inschriften. Noch ein Sadler, er hieß Peter. Neben Peter lag Miriam Sadler. Oje!, dachte ich. Die Sache wurde mir allmählich unheimlich. Starben in dieser Gegend denn ausschließlich Sadlers? Ich bewegte mich zum nächsten Abschnitt. Dort lagen ebenfalls nur Sadlers. Jonathan, Margaret, Constance, Charles... Gab es auf diesem Friedhof denn nur Sadlers? Tess' Schrei zerriss die Luft. »Jerry! Komm schnell her!« Ich fand sie neben der umgestürzten Kiefer. Sie sah ziemlich durcheinander aus. »Sieh nur!«, sagte sie und deutete auf eine Gruppe von Grabsteinen vor ihr. Ich senkte den Blick auf zwei große Steine. Thomas Sadler, verstorben am 18. Februar 1641, und Priscilla Sadler, Ehegattin von Thomas, verstorben am 5. März 1641. »Ja, ich weiß«, erklärte ich Tess. »Der ganze Friedhof steckt voller Sadlers. Gespenstisch, nicht?« »Nein, nein. Sieh dir doch mal die Kindergräber an«, sagte Tess ungeduldig. Ich sah drei identische kleine Grabsteine, die neben denen der Eltern aufgereiht waren. Die drei Steine standen aufrecht, waren sauber und die Inschriften gut lesbar. Ganz so, als ob sich jemand um die Steine kümmerte. Ich beugte mich hinab, um die Namen abzulesen. »Sam Sadler, Sohn von Thomas und Priscilla.«
Ich richtete mich wieder auf. »Und?« »Lies den Nächsten«, forderte Tess mich auf. Ich bückte mich wieder. »Louisa Sadler.« »Oh«, murmelte ich. »Ich wette, ich errate den letzten Namen.« »Darauf wette ich auch«, antwortete Tess mit zittriger Stimme. Mein Blick wanderte zum dritten Grabstein. »Hier liegt Nat Sadler, verstorben im fünften Lebensjahr.«
Ich starrte die drei Steine ungläubig an, bis sie mir vor den Augen verschwammen. Drei Steine. Drei Kinder. Sam, Louisa und Nat. Alle seit Anfang des siebzehnten Jahrhunderts tot. »Ich kapier das nicht«, murmelte ich. Als ich mich aufrichtete, war mir schwindelig. »Ich kapier's einfach nicht.« »Wir müssen Brad und Agatha danach fragen«, sagte Tess. »Das Ganze ist einfach zu seltsam!« Wir rannten zum Häuschen zurück. Dabei gingen mir die drei Grabsteine nicht mehr aus dem Sinn. Sam, Louisa und Nat. Wir fanden Brad und Agatha hinterm Haus, wo sie unter den Bäumen in zwei Schaukelstühlen saßen. Agatha lachte, als wir völlig außer Atem angerannt kamen. »Ihr Kinder seid immer in Eile, stimmt's? Ich wünschte, ich hätte eure Energie.« »Wir waren auf dem Friedhof«, platzte ich heraus. »Wir müssen euch etwas fragen.« Sie zog die Brauen hoch. »Oh? Habt ihr Grabinschriften
abgepaust?« »So weit sind wir nicht gekommen«, erklärte ihr Tess. »Wir haben die Inschriften nur gelesen. Das waren alle Sadlers. Alle!« Agathas Schaukelstuhl wippte gleichmäßig vor und zurück. Sie nickte, sagte aber nichts. »Erinnert ihr euch an die Kinder, die wir am Strand getroffen haben?«, schaltete ich mich wieder ein. »Wir haben nämlich Grabsteine von einem Sam, einer Louisa und einem Nat Sadler entdeckt. Sie sind um 1640 herum gestorben. Aber das sind genau die Namen der Kinder, die wir kennen gelernt haben!« Agatha und Brad schaukelten im gleichen Takt vor und zurück, vor und zurück. Agatha lächelte mir zu. »Also, wie lautet nun deine Frage, Jerry?« »Wie kommt es, dass auf diesem Friedhof so viele Sadlers liegen?«, fragte ich. »Und wie kann es sein, dass die Namen unserer Freunde auf diesen Steinen stehen?« »Gute Fragen«, brummte Brad leise. Agatha lächelte. »Schön, zu sehen, dass ihr beide so gut beobachtet. Setzt euch. Das ist eine lange Geschichte.« Tess und ich ließen uns ins Gras fallen. »Erzähl sie uns«, drängte ich sie voller Ungeduld. Agatha holte tief Luft und begann: »Nun, im Winter 1641 segelte eine große Gruppe von Sadlers, praktisch die ganze Familie, von England herüber und siedelte sich hier an. Sie waren Pioniere, die in Amerika ein neues Leben beginnen wollten.« Sie schielte zu Brad, der weiter vor sich hin schaukelte und zu den schimmernden Bäumen hinüberschaute. »Es war einer der schlimmsten Winter in der Geschichte«, nahm Agatha den Faden wieder auf. »Und tragischerweise waren die Sadlers nicht auf die Kälte vorbereitet. Sie starben einer
nach dem anderen und wurden auf dem kleinen Friedhof beerdigt. Im Jahre 1642 war so gut wie keiner mehr von ihnen übrig.« »Tss-tss«, machte Brad und schüttelte traurig den Kopf. Agatha, die noch immer in ruhigem Takt schaukelte, fuhr fort: »Eure Freunde Sam, Nat und Louisa sind entfernte Verwandte von euch. So wie Brad und ich. Sie wurden nach ihren Vorfahren benannt, nach den Kindern, die auf dem Friedhof begraben liegen. Auch wir bekamen die Namen von Vorfahren. Ihr werdet auf dem Friedhof auch Grabsteine mit den Namen Agatha und Bradford Sadler finden.« »Ehrlich?«, rief Tess. Agatha nickte feierlich. »So ist es. Aber Brad und ich sind noch nicht reif für den Gottesacker. Oder, Brad?« Brad schüttelte den Kopf. »Nein, Gnädigste!«, antwortete er grinsend. Tess und ich lachten erleichtert. Ich war heilfroh, dass es für das, was wir gesehen hatten, eine einleuchtende Erklärung gab. Plötzlich spürte ich den Drang, Brad und Agatha alles über den Geist in der Höhle zu erzählen. Doch in dem Moment fing Tess an über Wildblumen zu reden, und so machte ich es mir im Gras bequem und behielt meine Gedanken für mich. Am nächsten Morgen trafen wir Sam, Louisa und Nat endlich am Strand an. »Wo wart ihr denn gestern?«, fragte ich. »Wir haben den ganzen Nachmittag hier auf euch gewartet.« »He, Moment mal«, verteidigte sich Sam. »Es hat geregnet. Da durften wir nicht raus.« »Wir waren gestern auf dem kleinen Friedhof«, erzählte ihnen Tess. »Wir haben drei alte Grabsteine entdeckt mit euren Namen darauf.«
Louisa und Sam wechselten einen Blick. »Das sind unsere Vorfahren«, sagte Sam. »Wir wurden nach ihnen genannt.« »Jerry sagte mir, ihr hättet einen Plan, um den Geist loszuwerden«, warf Tess ungeduldig ein. Meine Schwester kommt immer gerne ohne Umschweife zur Sache. »Ja, das stimmt«, sagte Sam und seine Miene wurde ernst. »Kommt mit.« Er marschierte eilig über den Strand in Richtung Höhle. Ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Wo gehen wir hin? Ich werde nicht noch einmal in die Höhle gehen. Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, rief ich. »Ich auch nicht«, stimmte Tess mir zu. »Einmal von einem Gespenst gejagt zu werden, hat mir gereicht!« Sam schaute mich mit seinen haselnussbraunen Augen an. »Ihr müsst nicht noch einmal in die Höhle, das verspreche ich euch.« Er führte uns zu den Felsen unterhalb der Höhle. Ich schirmte die Augen gegen das grelle Sonnenlicht ab und schaute hinauf. Bei Tageslicht sah die Höhle nicht ganz so Furcht erregend aus wie bei Nacht. Die glatten, weißen Steine glänzten und der Eingang wirkte lange nicht so düster und abschreckend. Sam deutete auf eine Stelle über der Höhlenöffnung. »Seht ihr die großen Felsbrocken, die oberhalb der Höhle aufgeschichtet sind?« Ich blinzelte hoch. »Was ist damit?« »Alles, was ihr tun müsst, ist, dort hinaufzuklettern und die Felsbrocken hinunterzustoßen. Die Steine werden den Eingang zur Höhle blockieren und dann ist der Geist für immer darin eingesperrt.« Tess und ich starrten die riesigen, weißen Felsbrocken
an. Jeder Einzelne von ihnen musste mindestens hundert Kilo wiegen. »Du machst Witze, oder?«, sagte ich. Louisa schüttelte den Kopf. »Nein, uns ist es bitter ernst damit«, murmelte sie. »Wir schütten den Eingang zur Höhle mit Felsbrocken zu?«, wiederholte ich, während ich zu ihr hinaufblickte. Das dunkle Loch schien wie ein riesiges schwarzes Auge auf mich herabzustarren. »Und das soll den Geist drinnen festhalten? Was soll ihn denn daran hindern, herauszukommen? Er ist schließlich ein Geist, oder nicht? Er kann geradewegs durch die Felsbrocken hindurchschweben.« »Nein, das kann er nicht«, erklärte Louisa. »Laut einer alten Legende ist die Höhle ein heiliger Ort. Das bedeutet, dass etwas Böses, das darin eingesperrt ist, nicht durch die alten Felsen hindurch fliehen kann. Der Geist wird für immer darin festgehalten werden.« Tess runzelte die Stirn. »Und wieso steigt ihr nicht da rauf und werft die Felsbrocken hinunter?« »Weil wir uns zu sehr fürchten«, platzte Nat heraus. »Wenn wir es vermasseln, kann uns der Geist verfolgen«, sagte Sam. »Wir leben schließlich hier. Er kann uns zu Hause aufspüren und sich an uns rächen.« »Deshalb haben wir auf jemanden von auswärts gewartet, der uns hilft«, fügte Louisa hinzu und schaute mich mit großen Augen flehentlich an. »Wir haben auf jemanden gewartet, dem wir trauen können.« »Aber was ist mit uns?«, wollte ich wissen. »Wenn wir heute Abend versuchen den Geist einzusperren und wir verpatzen es, wird er dann nicht herauskommen und uns suchen?« »Wir werden es nicht verpatzen«, erwiderte Sam feierlich. »Wir arbeiten alle zusammen. Falls der Geist herauskommt, lenken Nat, Louisa und ich ihn ab, damit er
nicht sieht, dass ihr über ihm seid.« »Werdet ihr uns helfen? Bitte!«, bettelte Louisa. »Unser ganzes Leben lang hat uns der alte Geist in Angst und Schrecken versetzt.« »Ihr würdet alle hier in der Gegend glücklich machen, wenn ihr uns helft ihn einzusperren«, fügte Sam hinzu. Ich zögerte. Bei der Sache konnte schließlich eine ganze Menge schief gehen. Was war, wenn sich die Felsbrocken nicht bewegen ließen? Oder wenn der Geist aus der Höhle schwebte und feststellte, dass wir über ihm waren? Oder wenn einer von uns oberhalb der Höhle abrutschte und hinunterstürzte? Nein, entschied ich. Kommt nicht in Frage. Wir können es unmöglich tun. Es ist einfach zu gefährlich. Ich hob den Kopf, um ihnen meine Entscheidung mitzuteilen. »Natürlich helfen wir euch«, hörte ich Tess da sagen.
Den Nachmittag verbrachten wir damit, gemeinsam mit Agatha Blaubeeren zu pflücken. Anschließend bereiteten wir in einer alten Milchkanne Blaubeereis zu. Es schmeckte besser als jedes Eis, das ich je gegessen hatte. Agatha sagte, das läge daran, dass wir die Blaubeeren selbst gepflückt hatten. Je näher die Zeit zum Abendessen heranrückte, desto unbehaglicher fühlte ich mich. Hatten wir wirklich vor, heute Abend den Geist einzumauern? Schließlich aßen wir zu Abend, aber ich brachte kaum einen Bissen hinunter. Als Agatha mich darauf ansprach, erklärte ich ihr, dass ich noch satt vom Eis wäre. Nach dem Essen halfen Tess und ich Agatha beim Abwaschen. Danach bestand Brad darauf, uns zu zeigen, wie man Seemannsknoten knüpfte. Inzwischen fühlte sich mein
Magen so an, als hätte er mehr Knoten als Brads Seil! Endlich sagten Tess und ich, dass wir noch einmal zum Meer hinuntergehen wollten, um frische Luft zu schnappen. Und schon eilten wir hinaus, um uns mit unseren drei Freunden zu treffen. Es war eine klare wolkenlose Nacht. Hoch über uns funkelten tausende von Sternen. Die Luft war feucht und bedeckte den Boden mit Tau. Im Schein des Vollmonds konnte man auch ohne Taschenlampe ausgezeichnet sehen. Schweigend trotteten Tess und ich den Pfad entlang, der zum Meer führte. Keinem von uns beiden war nach Reden zu Mute. Ich musste ständig daran denken, wie Mom und Dad mich vor unserer Abfahrt gebeten hatten, dafür zu sorgen, dass Tess nicht in Schwierigkeiten geriet. Nun, jetzt stecken wir in Schwierigkeiten, dachte ich grimmig. Und zwar wir beide. Womöglich sogar alle fünf. Sam, Louisa und Nat standen bereits unten am Strand und warteten auf uns. Das Mondlicht ließ das dunkle Wasser glitzern. Plötzlich wünschte ich mir, es wäre hier draußen nicht so hell. Was wir vorhatten, erforderte Dunkelheit. Als ich unsere drei Freunde begrüßte, schienen sich die Knoten in meinem Magen noch weiter zuzuziehen. Sam legte den Finger an die Lippen und bedeutete uns, ihm zu folgen. Schweigend machten wir uns auf den Weg zur Höhle. »He - seht mal«, flüsterte ich, als wir unterhalb der Höhle standen. Im Eingang flackerte helles Licht. Der Geist war zu Hause. Die Augen auf die Höhle gerichtet, plante ich den beschwerlichen Aufstieg über die Felsen. Wir würden denselben Weg wie beim letzten Mal nehmen. Aber anstatt die Höhle zu betreten, würden wir seitlich weiterklettern, bis wir über der Öffnung stünden.
Tess zappelte unruhig neben mir herum. »Alles klar?«, flüsterte ich. Sie nickte verkniffen. »Wir warten hier unten«, wisperte Sam. »Falls der Geist herauskommt, lenken wir ihn ab. Viel Glück!« Die drei blieben dicht beieinander stehen. Sie wirkten angespannt und die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Nat klammerte sich an Louisas Hände. »Tschüss, Tess«, sagte er mit kläglicher Stimme. Ich glaube, er himmelte sie ein bisschen an. »In ein paar Minuten sehen wir uns wieder«, flüsterte Tess zurück. »Keine Sorge, Nat. Wir werden mit dem bösen Geist schon fertig. Komm, Jerry.« Meine Beine fühlten sich an wie aus Gummi, als Tess und ich über die Felsen kraxelten. Wir kletterten bedächtig und vorsichtig. Auf dem Weg warf ich einen Blick zu Tess zurück, die ein, zwei Meter hinter mir war. Sie atmete schwer und kniff konzentriert die Augen zusammen. Endlich erreichten wir den Eingang zur Höhle. Das Licht im Inneren leuchtete hell. Ich zeigte nach rechts. Tess nickte und folgte mir über die Felsen seitlich des Höhleneingangs nach oben. Die Steine waren vom abendlichen Tau feucht und rutschig. Gebückt kletterten wir auf allen vieren. Es war steiler, als ich gedacht hatte. Ich versuchte ein Zittern zu unterdrücken. Mir war klar, dass ein einziger Fehltritt einen Steinrutsch auslösen konnte. Und dann würde der Geist wissen, dass jemand hier oben war. Wir kletterten langsam weiter. Zwischendurch hielt ich einmal kurz inne, um zu Atem zu kommen, und schaute zum Strand hinab. Unsere drei Freunde hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Ich hielt mich
an einem Felsen fest und winkte ihnen zu. Nat winkte zurück, aber die beiden anderen blieben regungslos stehen und starrten zu uns hoch. Nach ein paar Minuten erreichte ich die glatte Felsenfläche über der Höhle. Ich drehte mich um und half Tess auf den schmalen Felsvorsprung. Gemeinsam prüften wir die Lage. Die Felsbrocken, die wir vor die Höhlenöffnung rollen sollten, waren gar nicht so groß, wie ich gedacht hatte. Sie waren ordentlich zu einer Mauer aufgeschichtet. Es schien nicht allzu schwierig zu sein, dahinter zu klettern und sie hinunterzustoßen. Ich wollte mich gerade hinter die Steinmauer schieben, als mein Blick zufällig auf unsere drei Freunde fiel. Zu meiner Überraschung fuchtelte Sam mit beiden Armen herum und hüpfte auf und ab. Louisa und Nat winkten ebenfalls wie wild. »Was ist los?«, rief Tess. »Warum tun sie das?« »Sie wollen uns vermutlich etwas mitteilen«, antwortete ich und spürte, wie mich kalte Angst erfasste und jeden meiner Muskeln erstarren ließ. War der Geist im Höhleneingang erschienen? Hatte er Tess und mich bereits ertappt? Ich nahm all meinen Mut zusammen und beugte mich über den Felsvorsprung, um zur Höhlenöffnung hinunterzuschauen. Es war niemand zu sehen. »Jerry, steh auf!«, rief Tess mir zu. »Du fällst gleich runter!« Ich richtete mich wieder auf und schaute zu den drei Kindern hinab. »He...!«, schrie ich, als ich sie zum Wald laufen sah. Panik ergriff mich und ich schnappte nach Luft. »Irgendwas läuft hier schief«, krächzte ich. »Wir sollten schleunigst verschwinden!«
Rasch drehte ich mich um und da sah ich den Geist, der gerade hinter uns trat. Sein ganzer Körper schimmerte im bleichen Mondlicht und seine eingefallenen Augen funkelten uns zornig an. Er packte mich bei der Schulter und legte Tess eine Hand um die Hüfte. »Ihr kommt mit mir«, sagte er mit einer rauen Flüsterstimme, dem Wispern der Verdammnis.
Er schleppte uns mit sich zum Eingang der Höhle hinunter. Er ist schrecklich stark, dachte ich. Zu stark für jemanden, der so alt und gebrechlich aussieht. Unter meinen Füßen verschwammen die Felsen zu einer grauen Masse. Es kam mir so vor, als würde der Boden kippen und schwanken. Lange Schatten schienen nach mir zu greifen, um mich hinabzuziehen. Ich wollte schreien, aber mir blieb die Luft weg. Ich versuchte mich aus dem Griff des Geistes loszureißen, aber er war zu kräftig für mich. Tess schluchzte laut und schlug mit den Armen um sich, um sich zu befreien. Doch der alte Geist hielt sie eisern fest. Bevor ich recht wusste, wie mir geschah, stolperten wir durch die dunklen, gewundenen Gänge. Das zuckende Kerzenlicht vor uns wurde heller. Wir waren jetzt zu verängstigt und zu entsetzt, um mit dem Geist zu kämpfen. Meine Schulter schrammte an der Wand des engen Tunnels entlang, aber trotz des Schmerzes brachte ich keinen Schrei zu Stande, da mir die Angst den Hals zuschnürte.
Als wir die von Kerzen erleuchtete Kammer erreichten, ließ uns der Geist los. Er blickte uns finster an und winkte uns mit seinem knochendürren Finger, ihm zu dem Tisch aus Treibholz zu folgen. »W-was haben Sie mit uns vor?«, brachte Tess halb erstickt hervor. Er antwortete nicht. Stattdessen strich er sich die langen, strähnigen, weißen Haare aus dem Gesicht und forderte uns mit einer Handbewegung auf, uns auf den Boden zu setzen. Rasch hockte ich mich hin. Meine Beine zitterten so heftig, dass ich froh war, nicht stehen zu müssen. Ich warf einen Blick auf meine Schwester. Ihre Unterlippe zitterte und sie hatte die Hände im Schoß verkrampft. Der alte Geist räusperte sich und stützte sich schwer auf den Tisch. »Ihr seid in ernsthaften Schwierigkeiten«, sagte er mit dünner, durchdringender Stimme. »Wir - wir wollten Ihnen nichts Böses«, platzte ich heraus. »Es ist gefährlich, sich mit Geistern einzulassen«, sagte er, ohne sich um meine Worte zu kümmern. »Wir verschwinden von hier«, bot ich ihm verzweifelt an. »Und wir kommen nie wieder her.« »Wir wollten Sie nicht stören«, setzte Tess mit schriller Stimme hinzu. Verblüfft riss er die eingesunkenen Augen weit auf. »Mich?« Ein seltsames Lächeln huschte über sein bleiches Gesicht. »Wir sagen auch niemandem, dass wir Sie gesehen haben«, erklärte ich ihm. Sein Lächeln wurde breiter. »Mich?«, wiederholte er. Er beugte sich, auf den Tisch gestützt, weiter nach vorne. »Nicht
ich bin ein Geist!«, rief er. »Sondern eure drei Freunde!«
»Was?« Ich glotzte den alten Geist ungläubig an. Sein Lächeln erlosch. »Ich sage euch die Wahrheit«, sagte er leise und rieb sich mit der knochigen Hand über die bleiche Wange. »Sie wollen uns doch nur hereinlegen«, entgegnete Tess. »Diese drei Kinder...« »Das sind keine Kinder«, unterbrach der alte Mann sie barsch. »Sie sind über 350 Jahre alt!« Tess und ich schauten uns gegenseitig an. In meinen Schläfen pochte das Blut so heftig, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. »Gestattet mir, dass ich mich vorstelle«, sagte der alte Mann, während er sich auf der Tischkante niederließ. »Ich bin Harrison Sadler.« »Schon wieder ein Sadler?«, sagte ich, ohne nachzudenken. »Wir sind auch Sadlers!«, rief Tess. »Ich weiß«, sagte er sanft. Er hustete trocken und abgehackt. »Ich bin vor langer Zeit aus England hierher gekommen«, erzählte er uns. »1641?«, wollte ich wissen. Er ist also wirklich ein Geist, hielt ich mir schaudernd vor Augen. Meine Frage schien ihn zu belustigen. »Nein, so lange bin ich noch nicht hier«, entgegnete er. »Nach dem College habe ich hier meine Vorfahren aufgespürt. Ich beschäftige mich mit Geisterphänomenen und Übersinnlichem.« Er seufzte. »Und wie sich herausstellte, gibt es hier eine Menge
davon zu studieren.« Ich betrachtete ihn forschend. War es möglich, dass er die Wahrheit sagte? War er wirklich ein Mensch und kein Geist? Oder war dies nur ein übler Trick? Seine dunklen Augen verrieten mir nicht das Geringste. »Wieso haben Sie uns hierher gebracht?«, wollte ich wissen, während ich mich hinkniete. »Um euch zu warnen«, antwortete Harrison Sadler. »Um euch vor den Geistern zu warnen. Ihr seid in großer Gefahr. Ich habe mich gründlich mit ihnen beschäftigt. Ich habe das Böse gesehen, das in ihnen steckt.« Tess stieß einen unterdrückten Schrei aus. Ich konnte nicht erkennen, ob sie dem alten Mann glaubte oder nicht. Ich wurde mir bewusst, dass ich ihm ganz und gar nicht glaubte. Seine Geschichte machte überhaupt keinen Sinn. Ich stand auf. »Wenn Sie ein Wissenschaftler sind und das Übersinnliche erforschen«, sagte ich, »wieso sitzen Sie dann abgeschottet in dieser Höhle?« Bedächtig hob er die Hände und deutete zur Decke hinauf, die im Dunkeln lag. »Diese Höhle ist ein heiliger Ort«, murmelte er. Ein heiliger Ort? Das hatte Sam auch gesagt. »Sobald Geister in diese Höhle eindringen«, erklärte Harrison, »können sie nicht mehr durch die Felswände hinaus.« »Also heißt das, dass Sie hier eingeschlossen sind«, stellte ich starrköpfig fest. Er schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Nein, ich will die Geister hier einschließen«, antwortete er leise. »Deshalb habe ich die Steine über der Höhle aufgestapelt. Ich hoffe, dass ich sie eines Tages für immer hier drin einsperren kann.«
Ich wandte mich zu meiner Schwester, die Harrison nachdenklich ansah. »Und warum leben Sie hier drin?«, wollte ich wissen. »Weil ich hier sicher bin«, erwiderte er. »Der heilige Ort gibt mir Schutz. Die Geister können mich hier nicht überraschen, indem sie heimlich durch die Felswände eindringen. Habt ihr euch nicht gefragt, wieso sie euch hierher geschickt haben, anstatt selbst heraufzukommen?« »Sie haben uns heraufgeschickt, weil sie sich vor Ihnen fürchten!«, rief ich, meine Angst vergessend. »Sie haben uns hier raufgeschickt, weil Sie der Geist sind!« Seine Miene änderte sich. Er erhob sich von dem Holztisch und kam auf Tess und mich zu. Seine tiefen, eingesunkenen Augen glänzten wie dunkle Kohlen. »Was haben Sie vor?«, schrie ich.
Bedrohlich machte Harrison einen weiteren Schritt auf uns zu. »Ihr glaubt mir nicht, oder?«, sagte er vorwurfsvoll. Tess und ich waren viel zu verängstigt, um zu antworten. »Was haben Sie vor?«, wiederholte ich. Meine Stimme klang kläglich und unnatürlich hoch. Der Schein der Kerzen flackerte auf seinem bleichen Gesicht, als er uns einen langen Moment lang fixierte. »Ich lasse euch jetzt gehen«, sagte er schließlich. Tess stieß einen verblüfften Schrei aus und ich wich in Richtung Tunnel zurück. »Ich lasse euch jetzt gehen«, wiederholte Harrison Sadler, »damit ihr euch in der Ostecke des alten Friedhofs umsehen könnt.« Er wedelte mit seiner knochigen Hand.
»Geht. Geht jetzt. Zum Friedhof.« »Sie - Sie lassen uns wirklich gehen?«, stotterte ich. »Sobald ihr euch in der Ostecke des Friedhofs umgesehen habt, werdet ihr wiederkommen«, antwortete Harrison geheimnisvoll. »Ihr werdet wiederkommen.« Nie und nimmer, dachte ich mit heftigem Herzklopfen. Nie wieder komme ich auch nur in die Nähe dieser schaurigen Höhle! »Jetzt geht!«, rief der alte Geist. Tess und ich wirbelten herum und stürzten aus der Kammer hinaus. Keiner von uns wagte es, einen Blick zurückzuwerfen. Während wir zum Strand hinunterrannten, ging mir Harrisons Gesicht nicht aus dem Kopf. Ständig hatte ich seine glühenden, bösen Augen, sein langes strähniges Haar und seine gelben Zähne, die er jedes Mal entblößte, wenn er sein unheimliches Lächeln aufsetzte, vor Augen. Mit einem Schauder fiel mir wieder ein, mit welch unmenschlicher Kraft er Tess und mich gehalten hatte, als er uns in seine Kammer zerrte. Außerdem musste ich an Sam, Louisa und Nat denken. Es war einfach unmöglich, dass sie Geister waren. Sie waren unsere Freunde. Sie hatten versucht, Tess und mich zu warnen, als sich der Geist von hinten an uns heranschlich. Sie hatten gesagt, dass sie schon ein Leben lang Angst vor Harrison hatten. Und ich erinnerte mich an Nats trauriges Gesicht, als er uns erzählte, wie sehr er sich vor Geistern fürchtete. Harrison Sadler ist ein Lügner, dachte ich grimmig. Ein verlogener dreihundertfünfzig Jahre alter Geist. Unten am Strand blieben Tess und ich stehen, um wieder zu Atem zu kommen. »Er - er hat mir echt Angst
gemacht!«, keuchte Tess. »Ich kann kaum glauben, dass er uns wirklich gehen ließ«, antwortete ich schnaufend, beugte mich nach vorne, legte die Hände auf die Knie und wartete darauf, dass das Seitenstechen nachließ. Ich schaute mich nach unseren drei Freunden um. Doch sie waren nirgends zu sehen. »Wollen wir zum Friedhof gehen?«, fragte ich. »Mir ist schon klar, was er uns zeigen will«, antwortete Tess, mit einem Blick zur dunklen Höhle hinauf. »Ich weiß genau, warum er will, dass wir uns in der Ostecke umsehen. Das ist der Teil des Friedhofs, in dem wir die Grabsteine von Louisa, Nat und Sam gefunden haben.« »Und?« »Harrison will uns einfach nur Angst einjagen. Er glaubt, wenn wir die alten Gräber sehen, ist das für uns der Beweis, dass Louisa, Nat und Sam Geister sind.« »Aber wir kennen doch bereits die Wahrheit über die alten Gräber«, sagte ich. Wir verließen den Strand und erreichten bald den Wald. Dort war es kühler. Das Mondlicht, das zwischen den Ästen hindurchsickerte, warf seltsame Schatten auf unseren Weg. Als wir zum Eingang des Friedhofs kamen, blieben wir stehen. »Wir können uns genauso gut noch einmal umsehen«, murmelte Tess und stapfte los. Ich folgte ihr über den Friedhof, wobei ich über Grabumrandungen und loses Gestrüpp steigen musste. Ein bleicher Strahl Mondlicht lag auf den drei alten Gräbern der Sadler-Kinder. »Siehst du irgendetwas Merkwürdiges?«, wisperte Tess. Ich ließ den Blick umherschweifen. »Nein.« Wir traten näher an die Gräber der Sadler-Kinder. »Die sehen
genauso aus wie gestern«, sagte ich. »Sauber, rechteckig...!« Da stach mir plötzlich etwas in der Ecke ins Auge. »Was ist los?«, wollte Tess wissen. Ich strengte die Augen an, um im fahlen Licht etwas zu erkennen. »Ich glaube, da ist etwas ...« »Hast du was entdeckt?«, rief Tess aufgeregt. »Frische Erde«, sagte ich. »Dort in der Ecke, auf der anderen Seite des umgestürzten Baumes. Das sieht wie ein frisches Grab aus.« »Gibt's doch gar nicht«, sagte Tess. »Ich habe mir alle Grabsteine genau angesehen. Hier ist in den letzten fünfzig Jahren niemand beerdigt worden.« Wir gingen ein paar Schritte auf den umgestürzten Baum zu. »Jerry! Du hast Recht! Das ist ein Grab«, flüsterte Tess. »Ein frisch ausgehobenes Grab.« Eilig kletterten wir über den umgekippten Baumstamm. Ein schmaler Mondstrahl beleuchtete den Boden, der erst vor kurzer Zeit aufgegraben worden war. »Das sind zwei Gräber!«, sagte ich erschrocken. »Zwei frische Gräber mit kleinen Gedenksteinen.« Ich ging in die Hocke, um die Inschriften zu lesen. Tess trat hinter mich. »Was steht darauf, Jerry?« Mein Mund war auf einmal wie ausgedörrt. Ich brachte keinen Ton heraus. »Jerry? Kannst du sie lesen?« »Ja«, sagte ich schließlich erstickt. »Die sind für uns, Tess. Die Namen auf den Grabsteinen lauten ›Jerry Sadler‹ und ›Tess Sadler‹.«
»W-was hat das zu bedeuten?«, stotterte ich. »Wer hat diese Gräber geschaufelt?«, fragte Tess. »Und wer hat die Grabsteine aufgestellt?« »Lass uns von hier verschwinden«, drängte ich sie und packte sie am Arm. »Wir sollten schleunigst Agatha und Brad davon erzählen.« Tess zögerte. »Das müssen wir«, verlangte ich mit Nachdruck. »Wir müssen ihnen alles erzählen. Das hätten wir schon längst tun sollen.« »Also gut«, stimmte mir Tess zu. Ich wandte mich zum Gehen - und versteinerte, als ich die drei Gestalten sah, die uns aus der Dunkelheit entgegenstarrten. Hastig kam Sam über den umgestürzten Baum zu uns. »Wo wollt ihr hin?«, fragte er. »Was tut ihr hier?« Louisa und Nat folgten ihm auf den Fersen. »Wir gehen nach Hause«, erklärte ich ihnen. »Es ist spät und ...« »Habt ihr den Geist ausgeschaltet?«, wollte Nat wissen. Er blickte mit großen hoffnungsvollen Augen zu mir auf. Ich strich ihm übers Haar. Es fühlte sich wirklich an und sein Kopf war warm. Er kam mir ganz und gar nicht geisterhaft vor, sondern wie ein normaler, lebendiger kleiner Junge. Harrison Sadler ist ein kompletter Lügner, dachte ich. »Habt ihr den alten Geist ausgeschaltet?«, wiederholte Nat eifrig. »Nein, es hat nicht geklappt«, erklärte ich ihm und Nat stieß einen enttäuschten Seufzer aus.
»Wie seid ihr denn dann davongekommen?«, erkundigte sich Sam misstrauisch. »Wir sind weggerannt«, antwortete Tess. Das war beinahe die Wahrheit. »Und wo seid ihr gewesen?«, fragte ich zurück. »Allerdings. Ihr habt ja keine besonders tolle Arbeit geleistet, um ihn abzulenken«, setzte Tess bissig hinzu. »Wir - wir haben immerhin versucht, euch zu warnen«, erwiderte Louisa betreten und zupfte dabei nervös an einer Strähne ihrer langen rostroten Haare herum. »Dann haben wir Angst bekommen und uns im Wald versteckt.« »Als wir keine Felsbrocken fallen hörten, wurde unsere Angst noch größer«, fügte Sam hinzu. »Wir haben befürchtet, der Geist hätte euch geschnappt und dass wir euch womöglich nie wieder sehen würden.« Nat schluchzte verängstigt auf und nahm Louisas Hand. »Wir müssen den Geist vernichten«, sagte der kleine Kerl weinend. »Das müssen wir unbedingt schaffen.« Sam und Louisa versuchten ihren kleinen Bruder zu trösten. Währenddessen schaute ich nachdenklich auf die beiden Gräber hinab. Ein kühler Wind ließ die Bäume wispern und schwanken. Ich wollte Sam nach den beiden Gräbern fragen, doch er ergriff als Erster das Wort. »Lasst es uns noch einmal versuchen«, sagte er und schaute erst Tess und dann mich mit flehenden Augen eindringlich an. Louisa legte Nat die Hände auf die schmalen Schultern. »Ja«, unterstützte sie ihren großen Bruder mit leiser Stimme. »Lasst uns zurückgehen und noch einen Versuch machen.« »Kommt nicht in die Tüte!«, rief ich aufgebracht. »Tess und ich sind einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Ich werde auf keinen Fall zurückgehen und...« »Aber jetzt ist die beste Gelegenheit dazu!« Louisa ließ
nicht locker. »Er wird niemals damit rechnen, dass ihr heute noch einmal zurückkommt. Da erwischen wir ihn völlig kalt. Es wird ein totaler Überraschungsschlag.« »Bitte!«, bettelte Nat mit kläglicher Stimme. Ich öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Ich konnte einfach nicht fassen, dass sie uns mit einem solchen Ansinnen kamen. Tess und ich hatten unser Leben aufs Spiel gesetzt, als wir zur Höhle hinaufgeklettert waren. Wir hätten von dem verlogenen alten Geist getötet werden können. Und dann hätten wir jetzt vielleicht genauso ausgesehen wie dieses grauenhafte Hundeskelett. Und sie hatten doch glatt den Nerv, uns zu bitten, wieder dorthinauf zu klettern und es noch einmal zu versuchen. Die Idee war einfach absurd! Nie und nimmer würde ich mich darauf einlassen. Niemals! »Okay«, hörte ich in dem Moment meine Schwester sagen. »Wir machen es.« Louisa und ihre Brüder brachen in glückliches Jubelgeschrei aus. Tess hatte mich schon wieder übertölpelt.
Tess ging voraus zum Strand hinunter. Ich musste mich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten. Die drei SadlerKinder trotteten, aufgeregt miteinander plappernd, hinterher. Plötzlich kam mir die Nacht dunkler als vorher vor, so als hätte jemand das Licht gedämpft. Ich hob den Blick und suchte nach dem Vollmond, doch der war hinter einer Wolkenschicht verschwunden.
Ich spürte einen dicken Regentropfen auf der Schulter, dann einen weiteren mitten auf dem Kopf. Je näher wir dem Meer kamen, desto stärker blies der Wind. »Bist du völlig verrückt?«, flüsterte ich meiner Schwester zu, als wir über den steinigen Strand in Richtung Höhle marschierten. »Wie konntest du dazu bloß Ja sagen?« »Wir müssen das Geheimnis lüften«, entgegnete Tess mit einem Blick zur Höhle, die hoch auf dem Felsen im Dunkeln lag. Kein flackerndes Licht war zu sehen, keine Spur von dem alten Geist. »Das hier ist nicht eines deiner dämlichen Bücher über ungeklärte Phänomene«, erklärte ich ihr wütend. »Das ist das wirkliche Leben. Wir könnten in schreckliche Gefahr geraten.« »Das sind wir doch schon«, erwiderte sie bedeutungsvoll. Sie sagte noch etwas, aber der heftige Wind, der vom Meer herkam, trug ihre Worte fort. Die Regentropfen begannen rascher zu fallen. Sie waren groß und schwer. »Bleib stehen, Tess«, forderte ich. »Lass uns umkehren. Wir sollten den Kindern sagen, dass wir es uns anders überlegt haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Dann lass uns wenigstens zum Haus zurückgehen und Agatha und Brad Bescheid sagen«, bat ich sie inständig. »Wir können den Geist auch morgen noch einsperren. Tagsüber, vielleicht...« Tess ging unbeirrt weiter. Sie wurde sogar noch schneller. »Wir müssen das Geheimnis aufklären, Jerry«, sagte sie noch einmal. »Diese zwei frischen Gräber machen mir Angst. Ich muss die Wahrheit herausfinden!« »Aber, Tess - die Wahrheit ist, dass wir vielleicht umgebracht werden!«, schrie ich. Sie schien mich nicht zu hören. Ungerührt wischte sie
sich Regentropfen von den Augenbrauen, während Windböen den Regen um uns herumwirbelten. Dicke Tropfen prasselten auf die Felsen; es klang wie harte Trommelschläge. Am Fuß der Felsen hielten wir an. Über uns ragte die Höhle auf, die noch immer völlig schwarz war. »Wir warten hier unten«, sagte Sam. Sein Blick huschte immer wieder zur Höhle hinauf. Ich konnte sehen, dass er sich ernstlich fürchtete. »Diesmal werden wir uns mehr Mühe geben, den Geist abzulenken, wenn er herauskommt.« . »Mir wär's lieber, wenn er gar nicht erst herauskäme«, murmelte ich und senkte den Kopf gegen den herabplatschenden Regen. Ein gezackter, blendend weißer Blitz zuckte über den Himmel. Ich schauderte. »Kommt mit uns nach oben«, sagte Tess zu den dreien. »Hier unten könnt ihr uns nicht helfen.« Sie zögerten. Ich konnte die Furcht auf ihren Gesichtern sehen. »Kommt mit bis zum Höhleneingang«, drängte sie Tess. »Falls der Geist auftaucht, könnt ihr immer noch hinunterlaufen.« Louisa schüttelte den Kopf. »Wir haben zu viel Angst«, bekannte sie. »Wir brauchen eure Hilfe.« Tess ließ nicht locker. »Der Geist soll nicht mitbekommen, dass wir über der Höhle sind. Also kommt bitte mit und postiert euch vor der Höhle. Dann...« »Nein! Er wird uns etwas antun! Er wird uns fressen!«, fiel ihr Nat entsetzt ins Wort. »Jerry und ich werden da nicht noch mal raufgehen, wenn ihr nicht mitkommt und uns helft«, stellte Tess mit
Nachdruck fest. Louisa und Sam wechselten ängstliche Blicke. Zitternd klammerte Nat sich an Louisa. Mittlerweile goss es wie aus Kübeln. Schließlich nickte Sam. »Also gut. Wir warten vor der Höhle auf euch.« »Es ist uns selbst ganz unangenehm, dass wir uns so schrecklich fürchten«, setzte Louisa hinzu. »Es ist nur so, dass wir schon unser ganzes Leben Angst vor ihm haben. Er... er...« Ihre Stimme verklang. Schweigend machten wir uns an den Aufstieg. Diesmal war es um einiges schwieriger, denn ohne Mond war es viel dunkler und ständig rutschten nasse Steine unter meinen Schuhen weg und kullerten zum Strand hinunter. Erneut zerriss ein zackiger Blitz den Himmel und ließ die Höhle über uns weiß aufleuchten. Auf dem Felsvorsprung vor der dunklen Höhlenöffnung blieben wir stehen. Ich zitterte am ganzen Leib. Wegen des Regens, vor Kälte und vor Angst. »Lasst uns nur für einen Moment reingehen und uns drinnen aufwärmen«, schlug Tess vor. Die drei Sadler-Kinder drängten sich aneinander. »Nein, das können wir nicht. Wir fürchten uns zu sehr«, entgegnete Louisa. »Nur einen Augenblick«, beharrte Tess. »Nur um uns den Regen aus den Augen zu wischen. Seht nur, es schüttet ja richtig.« Sie schob Louisa und deren Brüder buchstäblich in die Höhle. Nat fing zu weinen an und klammerte sich an seine Schwester. Ein Donnerschlag ließ uns alle zusammenzucken. Das ist das Blödeste, was ich je getan habe, dachte ich fröstelnd.
Ich werde Tess das nie verzeihen. Niemals! Da leuchtete draußen vor der Höhlenöffnung ein gelbes Licht auf. Und dahinter kam der alte Geist in Sicht. Er hielt eine lodernde Fackel in der Hand. Auf seinem bleichen Gesicht lag ein sonderbares Lächeln. »Gut, gut«, sagte er mit einer Stimme, die gerade laut genug war, um trotz des prasselnden Regens gehört zu werden. »Nun sind wir also alle beisammen.«
»Neein!« Nat heulte voller Panik auf und vergrub sein Gesicht im nassen T-Shirt seiner Schwester. Sam und Louisa erstarrten wie zu Statuen. Der unruhige Schein der Fackel beleuchtete das Entsetzen auf ihren Gesichtern. Harrison Sadler stand vor uns im Höhleneingang und versperrte uns den Fluchtweg. Seine dunklen eingesunkenen Augen wanderten forschend von einem zum anderen. Hinter ihm prasselte der Regen herab, unheimlich vom Licht greller Blitze angestrahlt. Er wandte sich Tess und mir zu. »Ihr habt die Geister zu mir gebracht«, sagte er. »Sie sind der Geist!«, schrie Sam. Nat weinte, die Arme fest um Louisas Hüfte geschlungen. »Ihr habt die Leute lange genug in Angst und Schrecken versetzt«, sagte der alte Mann zu den drei zitternden Kindern. »Über dreihundert Jahre lang. Es ist an der Zeit, dass ihr die Gegend verlasst und euch zur Ruhe legt.« »Er ist verrückt!«, rief Louisa mir zu. »Hört nicht auf ihn!«
»Lasst euch von ihm nicht zum Narren halten«, setzte Sam aufgebracht hinzu. »Guckt ihn euch an! Schaut euch seine Augen an. Und seht euch an, wo er lebt - in dieser dunklen Höhle! Er ist der dreihundert Jahre alte Geist. Und er lügt euch an!« »Tu uns nicht weh!«, heulte Nat. »Bitte, tu uns nichts!« Ganz plötzlich ließ der Regen nach. Draußen plätscherte Wasser über die Felsen und tropfte gleichmäßig von der Höhlendecke herab. Donner grollte, aber nur noch aus der Ferne. Der Sturm verzog sich aufs Meer hinaus. Ich drehte mich um und entdeckte einen höchst merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht meiner Schwester. Zu meiner Überraschung lächelte Tess. Sie bemerkte, dass ich sie anstarrte. »Die Lösung«, wisperte sie. Und mit einem Mal war mir klar, wieso sie zugestimmt hatte, in die Furcht erregende Höhle zurückzukehren und dem schaurigen alten Mann noch einmal gegenüberzutreten. Tess wollte unbedingt das Rätsel lösen: Wer war der Geist? War es Harrison Sadler? Oder hatte er die Wahrheit gesagt und unsere drei Freunde waren Geister? Meine Schwester ist echt verrückt, dachte ich kopfschüttelnd. Sie setzt unser Leben aufs Spiel, nur weil sie unbedingt die Lösung finden will. »Lassen Sie uns gehen«, sagte Sam zu dem alten Mann und unterbrach damit meine Gedanken. »Lassen Sie uns gehen und wir verraten niemandem, dass wir den Geist gesehen haben.« Die Flamme der Fackel erlosch beinahe, als eine heftige Windbö in die Höhle fuhr. Harrisons Augen schienen dunkler zu werden. »Ich warte schon viel zu lange darauf, endlich hier rauszukommen«, sagte er leise.
Plötzlich streckte Louisa die Hand nach Tess aus. »Hilf uns!«, rief sie. »Du glaubst uns doch, oder?« »Du weißt doch, dass wir lebendig sind und keine Geister«, sagte Sam zu mir. »Hilf uns, ihm zu entkommen. Er ist böse, Jerry. Wir haben unser ganzes Leben lang gesehen, wie böse er ist.« Ich sah grübelnd zu den drei Kindern. Wer sagte die Wahrheit? Wer war lebendig? Und wer von ihnen war schon seit dreihundert Jahren tot? Harrisons Gesicht schwebte düster im lodernden Fackelschein. Mit der freien Hand strich er sich die langen Haare aus der Stirn und dann verblüffte er uns alle, indem er seine trockenen Lippen spitzte und einen lang gezogenen gellenden Pfiff ertönen ließ. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Was tat er da? Wozu machte er dieses schrille Geräusch? Er hielt kurz inne und pfiff dann noch einmal. Ich hörte das Scharren von Schritten, raschen Schritten auf dem steinernen Höhlenboden. Und dann kam aus der Dunkelheit eine schwarze gedrungene Gestalt auf uns zugestürmt.
Ein Monster!, dachte ich. Ein geisterhaftes Ungeheuer! Beim Näherkommen stieß es leise, drohende Knurrlaute aus. Es senkte den Kopf und zwei Augen glühten rot auf, als es in den Lichtkreis der Fackel sprang. »Oh!«, rief ich verdutzt, als ich sah, dass es ein Hund war. Ein großer, schlanker Deutscher Schäferhund. Wenige Schritte vor uns blieb er stehen. Als er Harrison sah, bleckte er die Zähne und sein grimmiges Brummen
schwoll zu einem wütenden Knurren an. Hunde können Geister erkennen, fiel mir wieder ein. Die Augen des Hundes fingen das Licht der Fackel ein, als er sich Louisa und ihren beiden Brüdern zuwandte. Sofort begann er aufgeregt zu jaulen und zu bellen. »Das sind die Geister!«, rief Harrison Sadler Tess und mir triumphierend zu und zeigte auf die drei Kinder. Knurrend sprang der große Hund Sam an, der entsetzt schrie und schützend die Arme hob. Die drei Kinder wichen tiefer in die Höhle zurück. Der Hund bellte wütend und bleckte die scharfen Zähne. »Ihr - ihr seid wirklich Geister?«, rief ich. Louisa seufzte tief. »Wir hatten nie die Chance zu leben!«, sagte sie. »Der erste Winter war so grauenhaft!« Tränen kullerten ihr über die Wangen. Ich sah, dass Nat ebenfalls weinte. Der Hund fuhr fort zu knurren und zu kläffen. Die drei Kinder zogen sich tiefer in die dunkle Höhle zurück. »Wir sind mit unseren Eltern hierher gesegelt, um ein neues Leben anzufangen«, erklärte Sam mit bebender Stimme. »Doch wir sind alle an der klirrenden Kälte gestorben. Das war nicht fair! Das war einfach nicht fair!« Der Regen setzte aufs Neue ein. Der Wind trieb Wasserschwaden in den Höhleneingang. Die Flamme der Fackel fiel zusammen und wäre wieder beinahe ausgeblasen worden. »Wir hatten überhaupt nichts vom Leben!«, schrie Louisa verbittert. Donner dröhnte und die Höhle schien zu beben. Der Hund knurrte. Und während ich die drei Kinder im Lichtschein beobachtete, veränderten sie sich zusehends.
Zuerst fiel ihnen das Haar aus und landete in dicken Büscheln auf dem Höhlenboden. Und als Nächstes schälte sich ihre Haut ab, rollte sich zusammen und fiel zu Boden. Am Ende starrten drei grinsende Schädel Tess und mich aus leeren Augenhöhlen an. »Bleibt bei uns, liebe Verwandte!«, flüsterte Louisas Totenschädel. Sie streckte die knochigen Finger nach uns aus. »Schließßßt euch unsss an!«, zischte Sam, wobei seine Kieferknochen auf und zu klappten. »Wir heben euch wunderschöne Gräber aus, direkt neben unseren.« »Spielt mit mir«,bettelte Nats Schädel. »Bleibt bitte und spielt mit mir! Ich will nicht, dass ihr geht.« Die drei Geister bewegten sich auf uns zu und streckten ihre Skeletthände nach Tess und mir aus. Ich schnappte nach Luft und stolperte rückwärts. Ich sah, dass Harrison ebenfalls nach hinten taumelte. Und dann ging die Fackel aus.
Die erdrückende pechschwarze Finsternis ließ mich aufkeuchen. Ich spürte, wie sich Körper bewegten und über den feuchten steinernen Höhlenboden schlurften. Ich konnte das geflüsterte Flehen der drei Geister hören. Sie kamen näher und näher. Und dann ergriff eine kalte Hand meine Hand. Ich brüllte los, ehe ich ein Raunen hörte: »Jerry -lauf!« Tess! Bevor ich Luft holen konnte, zerrte mich meine Schwester durch die Dunkelheit. Hinaus in den Regen. Auf den schlüpfrigen
Felsenabsatz. »Lauf! Lauf!«, schrie Tess mit wilden Augen, während sie meine Hand noch immer in ihren eiskalten Fingern hielt. »Lauf! Lauf!« Verzweifelt schrie sie es wieder und wieder, wie einen Schlachtruf. »Lauf! Lauf!« Doch als wir über die Felsen hinabkletterten, löschte ein lautes Donnergrollen Tess' Rufe aus. Die Erde bebte so stark, dass meine Beine beinahe unter mir weggerutscht wären. Ich schrie auf, als ich feststellte, dass das Dröhnen in meinen Ohren gar kein Donner war, sondern dass die Felsbrocken von oberhalb der Höhle herabstürzten. Der Regen und der Sturm mussten sie losgerissen haben. Und nun rumpelten die großen Felsbrocken herab, knallten aneinander, sprangen und rollten. Stein für Stein landeten sie dröhnend auf dem Felsenvorsprung, bis die dunkle Höhlenöffnung völlig zugeschüttet war. Tess und ich betrachteten bestürzt und stumm das Spektakel. Ich schützte meine Augen mit den Händen vor dem Regen, schaute zur Höhle und wartete. Wartete, ob irgendjemand herauskam. Aber niemand war zu sehen. Keine Geisterkinder. Kein alter Mann. Die Höhle schimmerte weiß im Licht eines Blitzes. Nun war ich es, der Tess fortzog. »Lass uns gehen«, bat ich sie. Doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Sie stand regungslos und starrte durch den Regen zum Höhleneingang hinauf.
»Tess, bitte. Lass uns gehen. Es ist vorüber«, sagte ich und zerrte sie fort. »Das geheimnisvolle Rätsel ist gelöst. Der Schrecken hat ein Ende.«
Einige Minuten später riss Agatha die Haustür auf und stürzte heraus, um uns in Empfang zu nehmen. »Wo habt ihr denn gesteckt? Brad und ich sind schon ganz krank vor Sorge!« Wie eine aufgescheuchte Glucke führte sie uns kopfschüttelnd hinein, redete wie aufgezogen und war überglücklich darüber, dass wir heil und gesund wieder zu Hause waren. Tess und ich trockneten uns ab und zogen uns rasch um. Der Regen hatte aufgehört, als wir schließlich in der Küche eintrudelten, wo Brad und Agatha und dampfende Becher mit heißem Tee auf uns warteten. Draußen vor dem Fenster fegte der Wind noch immer durch die Bäume und rüttelte Wasserkaskaden von den Blättern. »Jetzt erzählt uns, was euch zugestoßen ist«, sagte Brad. »Agatha und ich waren wirklich schrecklich besorgt, weil ihr bei diesem Sturm draußen wart.« »Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, erklärte ich ihnen, während ich mir die Hände an meiner heißen Tasse wärmte. »Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll.« »Am besten beim Anfang«, sagte Brad ruhig. So gut wir konnten, berichteten Tess und ich ihnen die ganze Geschichte von den drei Geisterkindern, dem alten Mann und der Höhle. Während wir redeten, bemerkte ich, wie sich ihre Mienen veränderten. Ich konnte sehen, wie sehr sie sich um Tess und mich
sorgten und wie unglücklich sie darüber waren, dass wir ihren guten Rat in den Wind geschlagen und uns in die Höhle gewagt hatten. Als ich mit der Geschichte zu Ende war, wurde es still im Raum. Brad starrte auf die Regentropfen, die draußen an der Fensterscheibe herabliefen. Agatha räusperte sich, sagte aber nichts. »Es tut uns ehrlich Leid«, unterbrach Tess das Schweigen. »Hoffentlich seid ihr nicht sauer auf uns.« »Das Wichtigste ist doch, dass ihr beide gesund und wohlbehalten zurück seid«, erwiderte Agatha. Sie stand auf, ging zu Tess und umarmte sie herzlich. Anschließend kam sie mit ausgebreiteten Armen auf mich zu als ein Geräusch von draußen sie innehalten ließ. Bellen. Lautes Hundegekläff. Tess hastete zur Hintertür und riss sie auf. »Jerry, sieh mal!«, rief sie. »Das ist Harrison Sadlers Hund. Er hat es aus der Höhle geschafft. Er muss uns hierher gefolgt sein.« Ich trat an die offene Tür. Der Hund war vom Regen völlig durchnässt. Sein nasses graues Fell klebte ihm glatt am Rücken. Tess und ich streckten die Hände aus, um den Hund zu streicheln. Doch zu unserer Überraschung schreckte er zurück und knurrte. »Ruhig, Junge«, sagte ich. »Du hattest bestimmt schreckliche Angst, was?« Der Hund knurrte mich an und begann zu bellen. Tess bückte sich und versuchte das Tier zu beruhigen, aber es wich vor ihr zurück und bellte wild. »Ist ja gut!«, rief ich. »Ich bin dein Freund - schon vergessen? Ich bin kein Geist.« Tess sah mich mit verwirrtem Gesichtsausdruck an. »Du hast Recht. Wir sind keine Geister. Wieso führt er sich
dann also so auf?« Ich zuckte die Achseln. »Ruhig, Junge. Ruhig.« Der Hund kümmerte sich nicht darum, sondern kläffte und jaulte weiter. Als ich mich umdrehte, sah ich Brad und Agatha aneinander gedrängt an der Küchenwand stehen, die Gesichter vor Angst verzerrt. »Das sind doch nur Brad und Agatha«, erklärte ich dem Hund. »Sie sind nette Leute. Sie tun dir nichts.« Und dann schluckte ich schwer und mein Herz begann zu wummern. Denn auf einmal wurde mir klar, wieso der Hund so aufgebracht bellte. Er bellte Brad und Agatha an. Agatha trat an die Tür und drohte dem Hund mit dem Finger. »Böser Hund!«, schrie sie. »Böser Hund! Jetzt hast du auch unser Geheimnis verraten!« Tess schnappte nach Luft. Schlagartig war ihr ins Bewusstsein gedrungen, was Agatha da gerade gesagt hatte. Agatha knallte die Küchentür zu und kehrte zu Brad zurück. »Was für ein Pech, dass dieser Hund hier auftauchen musste«, sagte sie und schüttelte bedauernd den Kopf. »Was machen wir jetzt mit den Kindern, Brad? Was machen wir mit den Kindern?« ENDE