Die Geisternacht von Hans Wolf Sommer
»Ich habe die Gestalt gesehen«, flüsterte Henrique aufgeregt. »Sie schwebte über...
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Die Geisternacht von Hans Wolf Sommer
»Ich habe die Gestalt gesehen«, flüsterte Henrique aufgeregt. »Sie schwebte über dem Boden, und ich habe sie sogar fotografiert.« Zamorra lächelte spöttisch. »Ich denke, der Mann ist seit fünfhundert Jahren tot. Und den wollen Sie fotografiert haben?« Henrique nickte eifrig. Dann zog er ein vergilbtes Foto aus der Tasche und reichte es dem Professor. Zamorra sah auf das Bild – und erstarrte. Der Mann auf dem Foto war er selbst!
»Xamotecuhtli!« Ein Ausruf wie ein Schrei, in dem sich eine ganze Gefühlsskala ausdrückte: Überraschung, Begeisterung, Ehrfurcht, Hoffnung. Professor Zamorra setzte den Eiskaffee ab, den er gerade zum Mund führen wollte, und blickte erstaunt hoch. Vor ihm stand ein Indio. Mitte zwanzig, gekleidet in die Tracht der Leute des Hochlands. Der Mann machte einen gehetzten Eindruck. Schweiß bedeckte sein Gesicht, und die schwarzen Haare klebten auf der Stirn. An seinem Arm baumelte ein abgewetzter Lederbeutel. Überraschendes geschah. Der Indio beugte sich nach vorn, fiel auf die Knie. Mit beiden Armen umklammerte er Zamorras Unterschenkel. Sein Gesicht näherte sich dem Erdboden, presste sich auf die Schuhe des Professors, bedeckte sie mit Küssen. Dann, immer noch kniend im Staub der Straße, hob er die Augen. »Xamotecuhtli! Herr … Hilf mir!« Da war ein Flehen in seiner Stimme, das durch Mark und Bein ging. Und in den dunklen Augen lag ein Ausdruck, der Eis zum Schmelzen gebracht hätte. Zamorra wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Ein Bettler, der fünf Pesos haben wollte? Nein, der Mann machte eigentlich nicht den Eindruck, dass er von milden Gaben lebte. Der Professor tauschte einen Blick mit Nicole Duval und Bill Fleming, die mit ihm zusammen hier draußen unter dem Baldachin des kleinen Straßencafes im Herzen der Altstadt von Mexiko saßen. Sie verstanden ebenfalls nicht. Nicoles volle Lippen hatten sich vor Erstaunen leicht geöffnet, und der junge Historiker aus New York zuckte die Achseln. Zamorra sah wieder hinunter auf den Mexikaner, der noch immer seine Beine umklammert hielt, als wolle er sie nie mehr freigeben. »Stehen Sie auf, Mann«, sagte er. »Lassen Sie doch den Unsinn.«
Der Indio machte keine Anstalten, der Aufforderung nachzukommen. Im Gegenteil, sein Griff verstärkte sich noch. Zamorra kam sich vor wie ein Strohhalm, an den sich ein Ertrinkender klammerte. Und wieder stieß der Indio Worte hervor. Abgehackt, zusammenhanglos, unverständlich. »Xamotecuhtli … Du bist gekommen nach all den Jahren … Hilf mir, hilf uns … Die Jünger des Schrecklichen … Tezcatlipoca …« Dann plötzlich erschien ein Blitz, der wie eine feurige Schlange über die Straße raste. Der Indio zu seinen Füßen schrie auf. Verzweifelt, schmerzerfüllt, unsagbar gequält. Seine Gesichtszüge verzerrten sich. Das Grauen trat in seine brechenden Augen. Flammen umspielten ihn, ergriffen Besitz von seinem ganzen Körper. Er wurde zu einer menschlichen Fackel, hell lodernd wie Zunder. Instinktiv fuhr Zamorra zurück, sprengte die Umklammerung. Der Gartenstuhl, auf dem er gesessen hatte, stürzte um, als er ruckartig aufsprang. Die feurige Zunge … Sie war von drüben gekommen, von der anderen Straßenseite. Zahlreiche Menschen befanden sich dort. Passanten, die ihrer Wege gingen, Schaulustige, die die Auslagen der kleinen Geschäfte betrachteten, in denen man Spezialitäten für Gaumen und Zunge sowie kunstgewerbliche Gegenstände aller Art kaufen konnte. Die meisten von ihnen waren stehen geblieben, starrten mit großen Augen auf den Mann, den das verzehrende Feuer umspielte. Unter ihnen einer, der Zamorra sofort auffiel. Nicht Erstaunen und Erschrecken prägte sein rotbraunes, scharfgeschnittenes Gesicht. Der Professor konnte etwas anderes in seinen Zügen erkennen: Triumph, Befriedigung, ja Belustigung. Irgend etwas funkelte sonnenhell in seiner Hand. Eine kleine Scheibe, aus Glas oder Metall. Kleine Rauchwölkchen umschwebten den blitzenden Gegenstand. Nur noch eine Sekunde lang, dann erstarb das Funkeln. Auch der
Mann selbst war verschwunden, untergetaucht in der Menschenmenge. Hektik entstand. Sämtliche Gäste des Straßencafes waren aufgesprungen. Stimmen schwirrten hin und her. Spitze Schreie wurden ausgestoßen. Diejenigen, die dem brennenden Indio am nächsten waren, brachten räumlichen Abstand zwischen sich und den züngelnden Flammen. Auch Bill und Nicole hatten ihre Stühle zurückgestoßen, blickten hilflos auf den Unglücklichen. Ihm war nicht mehr zu helfen. Das Feuer umtobte ihn, als sei er vorher mit Benzin übergossen worden. Er lag auf dem Steinboden, rührte sich nicht mehr. Längst war seine Kleidung ein Opfer der Flammen geworden. Der Geruch von verbranntem Fleisch machte sich bemerkbar. Der Körper wurde zu einem formlosen, grauschwarzen Etwas, schrumpfte zusehends, verwandelte sich in Asche, die zuerst noch glühte, dann aber schnell zu lebloser, pulvriger Materie wurde. Außer der Asche blieb nur der Beutel, der ihm vorher entfallen war. Die anderen mochten es ahnen. Professor Zamorra jedoch, der einen sechsten Sinn hatte für Phänomene, die den Rahmen des Normalen sprengten, wusste es: Das verzehrende Feuer war nicht von dieser Welt gewesen.
* Später, nachdem die Polizei auf den Plan getreten war und ein ausführliches Protokoll von dem rätselhaften Geschehnis aufgenommen hatte, kehrten Zamorra, Nicole und Bill in ihr Hotel zurück. Der Professor hatte eigentlich keinen offiziellen Grund, noch in der Hauptstadt von Mexiko zu weilen. Der Kongress der Parapsychologen, der in der mexikanischen Hauptstadt stattgefunden hatte,
gehörte bereits seit ein paar Tagen der Vergangenheit an. Zamorra und seine Sekretärin und Freundin Nicole Duval waren jedoch noch geblieben. Einmal war Ciudad de Mexiko – wie sie von den Einheimischen genannt wurde – eine der schönsten Städte der Welt, die auf reizvolle Weise das Supermoderne mit den Überbleibseln einer vergangenen Kultur in sich vereinigte. Die Zahl der Sehenswürdigkeiten war Legion. Und zum zweiten war ihr alter Freund Bill Fleming extra aus New York herübergeflogen, um sie zu sehen. Mexiko-Stadt lag halt näher als Château Montagne im französischen Loire-Tal, wo Zamorra und Nicole sonst lebten. Der Kongress war ein großer persönlicher Erfolg für Professor Zamorra gewesen. Alle Kollegen hatten seinen Vortrag über die Existenz von Bruchstellen innerhalb des Raum-Zeit-Gefüges als bedeutsamsten der gesamten Veranstaltung angesehen und entsprechend gewürdigt. Auch die Tage nach dem Kongress waren angenehm und harmonisch gewesen. Und nun hatte es diese unwillkommene Störung gegeben. Zamorra hatte bereits jetzt im Gefühl, dass die Zeit der Ruhe und Entspannung vorbei war. An der Hotelbar des ›Gonzales‹ diskutierten sie, was vorgefallen war. Zamorra berichtete von seinen Beobachtungen, die den Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite betrafen. »Wenn ihr mich fragt«, schloss er, »dieser Kerl ist für die Verbrennungsaktion verantwortlich zu machen. Sah fast so aus, als ob er verhindern wollte, dass der Indio mit mir sprechen konnte.« »Sprechen ist gut«, kommentierte Nicole. »Ich habe von seinem Gestammel kein Wort verstanden. Ihr vielleicht?« Bill Fleming wiegte gedankenvoll sein Whiskyglas in der Hand. »Nicht viel«, sagte er. »Aber immerhin. Da war ein Name …« »Xamodekutti?« »Xamotecuhtli«, berichtigte Zamorra, der auch fremdartige Voka-
beln nicht vergaß, wenn er sie einmal gehört hatte. »Darauf kommen wir gleich«, fuhr Bill fort. »Den anderen Namen meine ich. Tezcatlipoca! Als Historiker kenne ich mich ein bisschen aus. Tezcatlipoca ist ein Gott der Azteken. Der Herr des Nachthimmels. Eine schillernde Gestalt wie alle Götter der alten Azteken. Er galt als Schutzpatron der Magier und Zauberer. Magie und Zauberei – natürlich alles Unsinn …« Zamorra musste unwillkürlich lächeln. Bill war und blieb ein unverbesserlicher Skeptiker. Obgleich er in der Vergangenheit bereits des öfteren mit übersinnlichen Kräften und den Mächten des Jenseits konfrontiert worden war, versuchte er nach wie vor stets, allem Unerklärlichen mit seinem naturwissenschaftlich geschulten Verstand zu Leibe zu rücken. Erst wenn er damit partout nicht weiterkam, war er zögernd bereit, Zugeständnisse an das Irrationale zu machen. »Wirklich alles Unsinn, Bill?«, schaltete er sich ein. »Dann erkläre mir doch einmal, wie es möglich ist, dass ein Mensch vollständig zu Asche verbrennt. Normalerweise bleibt ein verkohlter Torso zurück. Aber in diesem Fall …« Darauf wusste Bill auch nichts zu sagen. Beinahe ruckartig hob er sein Glas an den Mund und leerte es mit einem Schluck. »Dieser andere Name …«, setzte die grazile Nicole nach. »Xamotedingsda! Ist das auch so ein alter Aztekengötze?« Der Amerikaner hob die Schultern. »Ich kenne mich eigentlich recht gut in der aztekischen Götterwelt aus, aber dieser Name ist mir nie begegnet. Außerdem glaube ich auch nicht, dass es sich um einen Gott handelt. Bedenken wir, dass der Mann Zamorra mit dieser Bezeichnung angeredet hat: Tecuhtli! Das ist ein Begriff aus dem Nahuatl, einer alten Kultursprache, die noch heute von einigen Indianerstämmen verwendet wird. Im alten Mittelamerika wurde dieser Dialekt fast ausschließlich gesprochen. Natürlich auch bei den Azteken.«
»Und was heißt Tedingsda?«, wollte die Französin wissen. »Tecuhtli heißt soviel wie Herr oder auch Fürst. Im Zusammenhang mit den ersten beiden Silben würde Xamotecuhtli als so viel heißen wie Herr oder Fürst Xamo …« Nicole, die gerade ebenfalls aus ihrem Whiskyglas trank, verschluckte sich und fing an, fürchterlich zu husten. Der Professor wusste, warum ihr der Whisky sozusagen im Hals steckengeblieben war, auch er hatte die logische Schlussfolgerung aus Bill Flemings Worten gezogen. »Fürst Xamo … rra!«, sagte er leise. Der Historiker hieb mit der Faust auf den Tresen, dass der schwere Onyx-Aschenbecher hüpfte. »Mein Gott«, sagte er. »Natürlich – Herr Xamorra. Oder im Klartext Fürst Zamorra! Es handelt sich höchstwahrscheinlich um eine sprachliche Verballhornung deines Namens, mein Freund. Aber wieso? Woher kannte dich der Indianer? Er machte auf mich nicht unbedingt den Eindruck, als ob er eins deiner Bücher gelesen hätte.« »Nein, das glaube ich auch nicht«, pflichtete ihm der Professor bei. »Aber eins steht fest. Unter diesen Gesichtspunkten gewinnen die Worte des Mannes eine neue Bedeutung. Eine Verwechslung scheint ausgeschlossen zu sein. Er hat mich gemeint! Und er hat mich um Hilfe gebeten. Aber ich war nicht in der Lage, sie ihm zu gewähren.« Sinnend blickte er in sein Glas. Bill sagte: »Wie hat er doch gemeint? ›Nach all den Jahren bist du gekommen!‹ Sieht ja beinahe so aus, als ob er dich erwartet hätte. Das begreife ein anderer, ich nicht!« Zamorra begriff es auch nicht. Noch nicht. Aber er wäre nicht er selbst gewesen, wenn er nicht spätestens in diesem Augenblick den Entschluss gefasst hätte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er ließ sich von seinem Barhocker gleiten. »Entschuldigt mich
einen Augenblick«, sagte er. »Ich möchte noch einmal bei der Polizei anrufen. Vielleicht hat man dort an Hand des Lederbeutels feststellen können, wer der Verbrannte war und wo er herkam.« Ein paar Minuten später war er wieder zurück. Nicole und Bill blickten ihm erwartungsvoll entgegen. »Und?« Der Professor kletterte wieder auf den Hocker. Er zündete sich eine Zigarette an und zog den Rauch tief in seine Lungen. »Gar nicht so problemlos, diese mexikanische Polizei«, erklärte er seufzend. »Die haben so getan, als sei ich ein Verschwörer, der Kaiser Maximilian wieder auf den Thron hieven will.« »Dann wissen sie mehr über die Angelegenheit?«, erkundigte sich Bill. »Nicht die Bohne. Immerhin – Namen und Domizil des Mannes haben sie mich schließlich großmütig wissen lassen. Es handelt sich um einen gewissen Pepe Chilapa aus Sacromonte.« »Sacramento?« »Nein doch. Sacramento liegt in Kalifornien. Sacromonte ist eine Kleinstadt, etwa eine halbe Autostunde von hier entfernt.« »Aha!« Bill lächelte. »Sehe ich es richtig, dass du einen Ausflug in diese Stadt planst?« Zamorra räumte ein, dass genau dies in seiner Absicht lag. »Heute allerdings nicht mehr«, sagte er tröstend. »Morgen ist ja auch noch ein Tag.« Damit war das Thema zunächst abgeschlossen. Die drei Freunde besannen sich darauf, dass sie Urlaub hatten und wandten sich angenehmeren Gesprächsstoffen zu. Dann wurde es Zeit für das Abendessen. Zamorra, Nicole und Bill verließen den Barraum, um in den Speisesaal hinüberzuschlendern. Da passierte es. Der Professor verspürte einen brennenden Schmerz auf der Brust. Ein feuriger Dolch schien sich in seinen Körper zu bohren. Die Ursa-
che des Schmerzes war ihm sofort klar. Nicht zum ersten Mal in seinem Leben wurde er damit konfrontiert. Das Amulett! Das Amulett des Leonardo de Montagne, das in seinen Besitz übergegangen war. Er trug es auf der Brust an einer silbernen Kette. Leonardos Erbe war mehr als ein bloßes Symbol. In ihm schlummerten übernatürliche Kräfte, die der Macht des Bösen zu trotzen vermochten. Es war Alarmglocke und Schutzschild zugleich, entdeckte und neutralisierte Angriffe aus der Welt der Finsternis. Und jetzt war es aktiv geworden, hochaktiv sogar. Selten hatte Zamorra seine Wirkungsweise mit einer solchen Intensität gespürt. Irgend jemand führte mit den Mitteln der Schwarzen Magie einen heftigen Angriff gegen ihn, und das Amulett musste alle Kraft aufbieten, um der Attacke zu widerstehen. Abrupt blieb der Professor stehen und blickte sich um. Sie befanden sich in dem breiten, hohen Gang, der die Hotelhalle mit dem Speisesaal verband. Zahlreiche Menschen bevölkerten die Szene. Es war nicht einfach, in dem Gedränge eine bestimmte Person auszumachen. Zamorra gelang es dennoch. Halb von einem mit historischen Relieffiguren verzierten Stützpfeiler verborgen, entdeckte er ein bekanntes Gesicht. Das Gesicht des Mannes, der ihm am Nachmittag gegenüber dem Straßencafe in der Altstadt aufgefallen war. Und er erkannte noch mehr! Der Mann hatte wieder diesen bewussten Gegenstand in der. Hand. Es war ein kleiner, ellipsenförmiger Spiegel, wie er jetzt sah. Aber diesmal blitzte er nicht, und auch die am Nachmittag beobachteten Rauchwölkchen waren nicht existent. Eigenartig stumpf wirkte das Glas, viel stumpfer als ein Spiegel normalerweise zu wirken pflegte. Wie Schuppen fiel es Zamorra von den Augen. Auch er kannte sich ein bisschen in Nahuatl aus, der Sprache der alten Azteken.
Tezcatlipoca! Wenn er sich nicht allzu sehr irrte, dann hieß das soviel wie ›Rauchender Spiegel‹. Dieses Ding, das der Mann hinter der Säule in der Hand hielt, war eine magische Waffe. Eine Waffe, die von seinem Amulett zur Wirkungslosigkeit verurteilt wurde. Der Mann schien mittlerweile ebenfalls bemerkt zu haben, dass sein teuflisches Werkzeug Zamorra nichts anhaben konnte. Ärger überschattete sein scharfgeschnittenes Gesicht, das auf verblüffende Weise den erhalten gebliebenen Abbildungen der alten Azteken ähnelte. Und nicht nur Ärger war in seinen Gesichtszügen zu lesen. Da war mehr – Enttäuschung, ja vielleicht so etwas wie Furcht. Zamorras Blicke trafen sich mit denen des Indianers. Sein Eindruck bestätigte sich. Kein Zweifel – die Feststellung, dass sein rauchender Spiegel nicht so funktionierte, wie er sich das wohl vorgestellt hatte, traf ihn tief. Der Professor gab sich einen Ruck und setzte sich wieder in Bewegung. Er musste diesen Menschen haben! Von den Umstehenden hatte niemand das stumme Duell mitbekommen, denn es waren kaum mehr als zwei, drei Sekunden vergangen, seit Zamorra seinen Widersacher ins Visier genommen hatte. Mit schnellen Schritten, fast laufend, eilte er zu der Säule hinüber. Bill blieb an seiner Seite. »Der Kerl da – das ist der Killer!« Der Professor zeigte auf den Mann, der jetzt seine Position hinter dem verzierten Pfeiler aufgegeben hatte und in langen Sätzen in die Hotelhalle lief. Die Hotelgäste, die nun doch bemerkt hatten, dass irgend etwas vorging, blieben stehen und starrten verwundert drein. Der flüchtige Indianer war jetzt fast am Portal, während die Verfolger gerade die Rezeption passierten. Die beiden Hotelangestellten hinter dem Empfang standen sprachlos und mit offenem Mund da. Bill hatte mittlerweile einen kleinen Vorsprung vor Zamorra ge-
wonnen. Der Flüchtige streckte die Hand nach der Drehtür aus, die hinaus auf die Straße führte. Bevor er hindurchtrat, drehte er sich noch einmal um. Der Spiegel blinkte in seiner Hand. Zamorra handelte schneller als der Blitz. Und das war in diesem Zusammenhang durchaus wörtlich zu nehmen. Er duckte sich und machte einen gewaltigen Satz nach vorne. Seine ausgestreckten Arme packten den Freund an den Oberschenkeln und rissen ihn zu Boden. Keinen Sekundenbruchteil zu früh. Rötliches Feuer zuckte aus der Spiegelfläche. Die Attacke hatte Bill gegolten, der nicht durch das Amulett geschützt war. Fraglos wäre er dem mörderischen Strahl erlegen. So jedoch zischte dieser über ihn hinweg und verflüchtigte sich im Nichts. Der Amerikaner stieß einen Laut des Unmuts aus. Und der war auch berechtigt. Der Indianer hatte das Handgemenge der beiden Freunde genutzt und war durch die Drehtür gehuscht. Als sich Zamorra wieder aufgerappelt hatte und ebenfalls hinaus auf die Straße trat, war von dem Kerl nichts mehr zu sehen. Er war im Gewühl des Fußgänger- und Straßenverkehrs untergetaucht. So sehr der Professor – und etwas später auch Bill – ihre Augen strapazierten, sie konnten ihn nirgendwo ausfindig machen. Verärgert kehrten sie in die Halle zurück. Zamorra ging sofort zum Empfang. »Dieser Mann, der hier gerade … Na, Sie wissen schon! Kennen Sie ihn? Handelt es sich um einen Hotelgast?« Die Antwort, die ihm das glutäugige Girl hinter der Rezeption leicht verstört gab, entsprach seinen Erwartungen: Der Mann war unbekannt, wohnte mit Sicherheit nicht im Hotel. Damit blieb eigentlich nur die Schlussfolgerung, dass der Mann mit dem rauchenden Spiegel ihn nach der Szene im Straßencafe nicht aus den Augen gelassen, sondern zielstrebig verfolgt hatte. Die große Frage war nur: Warum?
Zamorra war sich ziemlich sicher, dass er die Antwort in MexikoStadt nicht finden würde. Aber morgen, in Sacromonte, mochte das schon ganz anders aussehen.
* Lange Zeit fand Professor Zamorra keinen Schlaf in dieser Nacht. Die Geschehnisse des Tages gingen ihm nicht aus dem Kopf. Der Gedanke, hier in eine mysteriöse Angelegenheit verstrickt zu werden, ja, sich sogar schon mitten drin zu befinden, überschattete alle anderen Überlegungen. Tezcatlipoca … Die Jünger des Schrecklichen … Was waren das für Menschen? Eine Sekte, die den entsetzlichen Glauben an die blutgierigen Götter der alten Azteken Wiederaufleben lassen wollte? Fanatiker? Religiöse Wirrköpfe? Erst kürzlich waren er selbst und Nicole in die unseligen Schlingen solcher Götzendiener geraten. Dabei hatte es sich jedoch nicht um mittelamerikanische, sondern um persische, genauer um medische Götter gehandelt. Wenn Bill nicht gewesen wäre, würden sie jetzt wohl beide nicht mehr leben.* Und nun … Er grübelte weiter, versuchte ein Bild aus den Mosaiksteinchen zu formen, die ihm bisher bekannt waren. Schließlich schlief er doch ein. Aber seine Sinne ruhten nur ganz knapp unter der Bewusstseinsschwelle. Er war deshalb sofort wach, als er das Geräusch hörte. Schnell setzte er sich auf, zog an der Schnur, die die Nachttischlampe aktivierte. Nichts war zu sehen. Und doch glaubte er nicht, sich getäuscht zu haben. Da waren mehrere Geräusche gewesen. Zuerst ein schleichendes Tapsen, dann ein ganz leiser, unterdrückter Aufschrei. Zamorra sprang aus dem Bett, ging zum Fenster. Hatte hier die *siehe PZ 63: »Der Hüter des Bösen«
Geräuschquelle gelegen? Er schob den Tüllvorhang zur Seite, öffnete die Fenstertür und trat hinaus auf den kleinen Balkon. Er trug eine Pyjamajacke, die am Hals offen stand. Drückende Schwüle schlug ihm entgegen, kaum gemildert durch einen warmen, aber recht kräftigen Wind. Sein Zimmer lag im zweiten Stock des Hotels, unmittelbar über dem Hotelgarten. In der Ferne blinkten die Lichter der Straßenlaternen und zahlreicher Häuser. Die typischen Geräusche einer Großstadt strömten gedämpft auf ihn ein. Aber diese waren es nicht gewesen, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatten. Sein Blick wanderte an der Hauswand entlang. Das Fenster unmittelbar neben dem seinen stand offen. Der Wind spielte mit dem Vorhang, bauschte ihn auf wie einen Luftballon. Er stutzte. Dieses Fenster gehörte zu Nicoles Zimmer, das von dem seinen durch eine große Schiebetür getrennt war. Hatte sie vor dem Zubettgehen vergessen, das Fenster zu schließen? Kaum jemand schlief hier bei offenem Fenster. Die moderne Klimaanlage regelte das Frischluftproblem viel besser, als dies die Natur vermocht hätte. Sein Misstrauen war erwacht. Durchaus möglich, dass die Schritte und das erstickte Stöhnen aus ihrem Zimmer gekommen waren. Eine plötzliche Angst um die Freundin fuhr ihm in alle Glieder. Aber sie lähmte ihn nicht, spornte ihn vielmehr zu sofortigem Handeln an. Mit einem Satz war er an der Verbindungstür, riss die beiden Flügel auseinander. Das Licht seiner Nachttischlampe erhellte ihr Zimmer nur sehr undeutlich. Und doch merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. In Umrissen sah er die Bettdecke. Sie war aufgewühlt, lag am Fußende des Bettes. Schnell trat er näher. Kein Zweifel – das Bett war leer. Nun war natürlich möglich, dass sie ein menschliches Rühren verspürt hatte. Aber das ließ sich leicht feststellen.
»Nicole!«, rief er energisch. Keine Antwort! Statt dessen aber … Er stand ganz still, hielt die Luft an. Ja, er hatte sich nicht geirrt. Atemzüge! Unterdrückt und kaum hörbar, aber doch nicht zu verwechseln. Sie kamen von links, von dort, wo der Kleiderschrank stand. Zamorra spannte die Muskeln an, schnellte in die verdächtige Richtung. Zwischen Schrank und Fensterwand gab es eine Lücke, breit genug, um auch einer kräftigen Männergestalt als Versteck zu dienen. Er sah ihn – sah sie – sofort. Diffus wie die Beleuchtung auch war, Zamorra hatte hervorragende Augen. Er war es. Der Jünger des Schrecklichen … Der Mann mit dem rauchenden Spiegel. Eng an die Wand gepresst stand er da. Und in seinen Armen hing eine bewegungslose, schlaffe Gestalt, mit herunterhängenden Armen und auf die Brust gesunkenem Kopf. Nicole! Das Gefühlsspektrum des Professors orientierte sich zum roten Ende hin. Wut, helllodernde Wut bestimmte sein Handeln. Mit einem Knurren, das ihm normalerweise selbst fremd vorgekommen wäre, stürzte er sich auf den Indianer. Der reagierte sofort, ließ Nicole zu Boden fallen, achtlos wie eine Gliederpuppe, und stellte sich in Positur. Zamorra drang auf ihn ein wie ein Rasender. Seine gespreizten Hände zuckten vor, griffen nach dem Hals des Mannes, bekamen ihn zu fassen. Grob riss er ihn aus der Ecke, schleuderte ihn auf den Teppichboden, kniete sich auf ihn. Der Mann hatte keine Chance. Trotz des blinden Zorns, der den Blick des Professors leicht trübte, erkannte er, dass sein Widersacher älter war, als er anfänglich geglaubt hatte. Die Hälfte seines Lebens lag mit großer Wahrscheinlichkeit bereits lang hinter ihm. Dementsprechend stand es um seine Körperkräfte. Sie hatten denen Zamor-
ras nichts entgegenzusetzen. Aber der Jünger Tezcatlipocas verließ sich nicht allein auf seine Körperkräfte. Er versuchte gar nicht erst, sich zu wehren und seine Hände zur Abwehr einzusetzen. Statt dessen führten diese über Zamorras Kopf seltsame Bewegungen aus, verrenkten sich, als seien sie aus Gummi. Dazu stieß der Mann Worte aus, monotone, eindringlich klingende Worte in der Aztekensprache Nahuatl. Zamorra verstand nicht alles, was er sagte, aber das was er verstand, gab ihm schwer zu denken. Es handelte sich ohne jeden Zweifel um eine magische Beschwörungsformel. Tezcatlipoca, der Schutzpatron der Zauberer, wurde angesprochen und um Beistand angefleht. Und schon spürte er, wie sich das Amulett auf seiner Brust erwärmte. Es fing an, in einem silbernen Glanz zu erstrahlen. Der Drudenfuß in der Mitte glitzerte wie ein leuchtendes Auge, und die Tierkreiszeichen und Hieroglyphen, die diesen ringförmig umgaben, blinkten sternengleich. Die Macht des Lichtes wappnete sich zum Kampf gegen das Böse, das sich anschickte, das Hotelzimmer mit seiner unheimlichen Präsenz zu erfüllen. Der Blick des Indianers glitt über seine Schulter. Befriedigung und Hoffnung war in seinen Augen zu lesen. Leicht alarmiert wandte der Professor den Kopf. Bestürzung überkam ihn, als er erkannte, was in seinem Rücken vorging. Da war eine Leuchterscheinung. Zuerst nicht mehr als ein wallender, durchsichtiger Nebel. Dann verdichtete sich der Nebel, nahm Konturen an. Aus dem anfänglichen milchigen Grau schälten sich Farben heraus – schwarz, gelb, rot. Der Gestaltungsprozess schritt fort, schneller jetzt. Ein runder Kopf bildete sich heran, ein länglicher, gestreckter Torso, aus dem Extremitäten wuchsen. Dann war der Formungsprozess abgeschlossen. Ein Tier stand im Raum, ein Raubtier.
Rötlich gelb das glänzende Fell, durchsetzt mit schwarzen Ringfeldern. Ein Jaguar! Unsagbar tückische Augen funkelten, spiegelten alles Böse dieser Welt wieder. Das Untier öffnete den Rachen. Pfeilspitze Zähne, wie elfenbeinfarbene Dolche, wurden sichtbar. Ein mordgieriges Fauchen klang auf, drohend und brandgefährlich. Beißender Raubtiergeruch, an Blut und Tod erinnernd, breitete sich aus wie ein Pesthauch. Zamorra gab sich keinen Illusionen hin. Was er hier vor sich hatte, war keine Halluzination, kein Trugbild, das ihm seine Sinne vorgaukelten. Dieser Jaguar war so real wie der Schrank, das Bett, wie er selbst. Nur dass er von einer höllischen Kraft beseelt wurde, deren Quelle in einer anderen Dimension zu suchen war. Das Untier duckte sich zum Sprung. Der Professor ließ von dem am Boden liegenden Indianer ab, sprang auf die Füße. Der Jaguar kam. Wie ein Pfeil von der Bogensehne schnellte er hoch, flog auf Zamorra zu. Eine geballte Ladung von schwellenden Muskeln und kompakter Wucht. Der Professor ließ sich blitzartig zur Seite fallen. Haarscharf entging er einem wütenden Prankenhieb. Geschmeidig landete das Höllentier auf allen vieren. Die Bestie wirbelte herum, richtete erneut seine glühenden Kohlenaugen auf Zamorra. Dieser riss seine Pyjamajacke auf. Das Medaillon strahlte wie eine silberne Sonne. Der Jaguar schien irritiert. Er hatte sich abermals zum Sprung geduckt, zögerte aber. Die Kraftströme, die das Amulett abgab, schienen ihm nicht zu schmecken. Der Professor trat einen Schritt vor, auf das Untier zu. Nicht ohne Erfolg, denn die Kreatur wich ein Stück zurück. Tezcatlipocas Jünger stieß ein paar gutturale Worte hervor, die sich wie ein Befehl anhörten. Der Jaguar reagierte sofort, wie ein folgsamer Hund, der auf seinen Herrn hört. Er wandte sich von Za-
morra ab, machte eine Drehung und nahm Nicole ins Visier, die noch immer in der Schrankecke lag, in diesem Augenblick aber wieder ein Lebenszeichen von sich gab. Der Professor ahnte, was der Indianer beabsichtigte. Er hatte gemerkt, dass weder er selbst, noch sein Raubtier gegen das Amulett gefeit waren. Deshalb wollte er sich an die schutzlose Frau halten, die seinen magischen Künsten keinen Widerstand entgegensetzen konnte. Nicole schrie auf. Verständlich, denn der Jaguar stand jetzt unmittelbar vor ihr. Zamorra handelte ohne lange zu überlegen. Er griff nach der Silberkette, an der das Medaillon hing, und streifte sie über den Kopf. Dann packte er das Amulett wie einen Faustkeil und stürzte sich auf die Bestie. Hart presste er das Medaillon in die rechte Flanke des Tieres. Die Bestie brüllte auf und warf schmerzerfüllt den Kopf zurück. Dort wo das Amulett getroffen hatte färbte sich das goldfarbene Fell schwarz. Brandgeruch stieg dem Professor in die Nase. Wieder und wieder hieb er mit seiner magischen Waffe zu, solange bis sich der Jaguar herumwarf und Nicole den Rücken zudrehte. Zamorra rechnete nun mit einem erneuten Angriff auf seine Person. Aber dieser blieb aus. Der Indianer hatte sich inzwischen zum offenstehenden Fenster zurückgezogen. Heiser bellte er ein Kommando an die Adresse seines Panthers. Der war sofort an seiner Seite. Unerwartetes geschah. Der Jünger Tezcatlipocas schwang sich mit einer schnellen Bewegung auf den Rücken des Tieres, ganz so, wie ein Reiter in den Sattel seines Pferdes steigt. Wieder ein Kommando. Und dann bewegte sich der Jaguar mit seiner menschlichen Last auf dem Rücken hinaus auf den Balkon und setzte mit einem eleganten Sprung über das Geländer. Als Zamorra ebenfalls auf dem Balkon erschien und nach unten
blickte, konnte er gerade noch sehen, wie das seltsame Gespann hinter einer Buschgruppe verschwand. Kopfschüttelnd kehrte er ins Zimmer zurück und kümmerte sich um Nicole.
* Die Stadt Sacromonte steht auf historischem Grund. Damals, als die Azteken herrschten, hieß die Stadt Amecameca und gehörte zum Staatenbund der Chalca, mit denen die Azteken lange Jahre erbitterte Kriege führten. Heute zeugen nur noch einige Tempelruinen in der Nähe von der Vergangenheit. Eine Tradition hat sich jedoch bis heute bewahrt: Der berühmte Markt, dessen malerische Pracht und vielfältiges Drumherum eine echte Touristenattraktion darstellt. Zamorra, Nicole und Bill Fleming hatten sich einen Leihwagen genommen und fuhren nach dem Frühstück los. Bill saß am Steuer. Natürlich war der unheimliche nächtliche Überfall nach wie vor Gesprächsthema Nummer eins. »Warum, glaubst du, hat er Nicole überfallen?«, fragte Bill. »Darüber kann man nur spekulieren«, antwortete Zamorra. »Ich hatte den Eindruck, dass er Nicole entführen wollte. Warum …« Er zuckte die Achseln. »Ich hätte da schon eine Erklärung«, meinte der Amerikaner. »Und zwar?« Bill antwortete nicht sofort. Er musste sich auf die Straße konzentrieren, auf der sich gerade ein Lastwagenfahrer einbildete, der Größte zu sein und die ganze Fahrbahn in Beschlag nahm. Wild hupend gelang es ihm schließlich, den Überholvorgang zu vollziehen. »Du wolltest etwas sagen«, erinnerte Zamorra. »Warum der Kerl Nicole entführen wollte.« »Richtig«, sagte Bill. »Unser Freund hatte erkannt, dass er dir mit seinen Tricks nicht an den Wimpern klimpern konnte. Und deshalb
… Nun, ich nehme an, er wollte dich herausfordern. Vielleicht …« Er stockte. »Nun red schon weiter!« »Vielleicht wollte er dich locken. Nach Sacromonte zum Beispiel! Das heißt, wenn er ebenfalls dahin kommt.« Der Professor musste einräumen, dass diese Überlegung einiges für sich hatte. Unter Umständen mussten sie darauf gefasst sein, in Sacromonte einen heißen Empfang bereitet zu bekommen. Vielleicht wäre er besser beraten gewesen, Nicole gar nicht an diesem Trip teilnehmen zu lassen. Und in letzter Konsequenz – Bill auch nicht. Aber nun war es wohl für derartige Überlegungen ein bisschen zu spät. Die Stadt tauchte im Blickfeld auf. Nicht die Stadt an sich war imponierend. Sie wirkte in ihrem Panorama nicht anders, als zahlreiche andere mexikanische Städte auch. Der Hintergrund war es, der die Ansiedlung zu etwas Besonderem machte. Sacromonte liegt genau am Fuß der beiden Vulkane Popocatepetl und Ixtaccihuatl. Majestätisch reckten sich die Berge in die Höhe, verurteilten die menschliche Ansiedlung zur absoluten Bedeutungslosigkeit. Schroffe Felsen, gekrönt vom Mantel des ewigen Schnees, wirkten wie gewaltige Monumente, an denen der Zahn der Zeit und die Wirrnisse der Geschichte spurlos vorbeigingen. Über diese Berge waren einst die aztekischen Militärkolonnen gezogen, um an den fruchtbaren Gestaden der Golfküste ihre Eroberungsgelüste zu befriedigen. Und in umgekehrter Richtung war die Konquistadorenhorde des Hernando Cortez gekommen, um das Aztekenreich mit Schwert und Feuer zu zerschlagen. Die Berge beeindruckte dies alles nicht. Der Rauch aus ihren Kratern schwebte – im wahrsten Sinne des Wortes – über diesen Dingen. Bill lenkte den Wagen, einen dunkelbraunen Chevrolet, jetzt in die Stadt. Sie hatten ein festes Ziel. Calle de Xochimilco 138, die Adresse des Pepe Chilapa, die der Professor bei der Polizei in Erfahrung ge-
bracht hatte. Sacromonte war ein kleines Städtchen, aber für Fremde war es dennoch schwierig, sich zurechtzufinden, zumal man von Straßenbezeichnungen nicht viel zu halten schien. Bill lenkte den Wagen an den Straßenrand. Zamorra, der auf dem Beifahrersitz saß, kurbelte das Seitenfenster herunter und sprach den ersten Passanten an, der des Weges kam. »Wie kommen wir in die Calle de Xochimilco, Señor?« Der Befragte, ein älterer Mann in Landestracht, reagierte ungewöhnlich. Er starrte Zamorra mit großen Augen und zitternden Mundwinkeln an. Dann schlug er ein Kreuz und ging hastig davon, verstohlene Blicke über die Schulter zurückwerfend. Der Professor blickte verblüfft in den Rückspiegel, um sein Konterfei zu betrachten. »Bin ich schwarz im Gesicht? Habe ich sonst was Komisches an mir?« »Auf mich machst du eigentlich einen ganz normalen Eindruck«, stellte Bill fest. »Kannst du mir dann sagen, warum der Bursche weggelaufen ist, als ob ich zwei Hörner auf der Stirn hätte?« Bill konnte es nicht. Zamorra versuchte sein Glück ein zweites Mal. Diesmal kam eine Frau in mittleren Jahren vorbei, die ein schreiendes Kind im Rucksackverfahren durch die Gegend beförderte. Der Professor wiederholte sein Auskunftsbegehren. Auch dieses Mal konnte von einer normalen Reaktion keine Rede sein. Die Frau musterte ihn sekundenlang, lachte dann laut auf und wanderte weiter, ohne seine Frage zu beantworten. Zamorra hörte sie noch etwas murmeln, das sich ungefähr anhörte wie »Das gibts doch gar nicht!« »Wenn du deinen Charakterkopf vielleicht ein bisschen verstecken würdest …«, schlug der Amerikaner nach diesem gescheiterten
zweiten Versuch vor. »Schließlich wollen wir ja hier auf der Straße nicht überwintern.« Zamorra lehnte sich in die Polster zurück und überließ Bill den nächsten Passanten. Fleming hatte sofort Erfolg, obgleich sein stark akzentuiertes Spanisch sich mit der perfekten Aussprache des Professors in keiner Weise messen konnte. »Na also«, sagte er zufrieden, als er das Fahrzeug wieder auf die Fahrbahn lenkte. Die Calle des Xochimilco war eine ärmliche Straße mit ärmlichen Häusern und ärmlichen, aber sauber aussehenden Menschen. Das Haus der Chilapas, erbaut aus Backsteinen und Lehm, passte genau in diesen Rahmen. Die mexikanische Bevölkerung besteht weitgehend aus Mestizen, aus Verbindungen zwischen Weißen und Indios geboren. In dieser Gegend hier schien jedoch das rein indianische Element weitgehend erhalten geblieben zu sein. Die Ankunft des Straßenkreuzers kam so etwas wie einer kleinen Sensation nahe. Man war es hier wohl nicht gewohnt, ›hohen‹ Besuch zu empfangen. Die halbe Nachbarschaft, insbesondere Kinder und Frauen, bauten sich auf und schnatterten wie die Papageien, mit denen sie außerdem noch die malerische Buntheit der äußeren Erscheinung gemeinsam hatten. Die drei stiegen aus. Augenblicklich trat ein gegenteiliger Effekt ein. Die Neugierigen wichen zurück. Frauen nahmen ihre Kinder hoch, brachten sie unter ihren Schürzen in Sicherheit. Kreuzzeichen wurden geschlagen, die Jungfrau von Guadalupe angerufen, Rosenkränze in den Fingern gedreht. Zamorra hatte es abermals geschafft, die Leute völlig durcheinander zu bringen. Kopfschüttelnd folgte er Nicole und Bill zur Haustür der Chilapas. Auf ihr Klopfen wurde sofort geöffnet. Ein älterer Indio erschien im Türrahmen. Sein Verhalten konnte nach dem Vorangegangenen kaum noch verwundern.
Er fiel vor dem Professor auf die Knie, küsste den Staub von seinen Füßen. »Xamotecuhtli! Hoher Herr, welche Ehre erweist Ihr meinem armseligen Haus!« Er konnte sich vor Ehrerbietigkeit kaum noch übertreffen, wälzte sich förmlich vor Zamorras Füßen, wirkte wie eine Matte, die zum Schuhabtreten einlud. Zamorra war es selbst, der das Theater beendete. Er beugte sich zu dem Mann hinunter, packte ihn bei den Schultern und zog ihn hoch. »Lassen Sie den Quatsch, Mann«, sagte er in bestimmtem Ton. »Was glauben Sie eigentlich, wer ich bin? Der König von Mexiko vielleicht?« Mit weit aufgerissenen Augen, in denen das Unverständnis wohnte, blickte ihn der Indianer an. Sein Mund bewegte sich, aber er brachte keinen Ton über die Lippen. »Ist dies das Haus Pepe Chilapas?«, fragte der Professor, um sich zu vergewissern, ob sie wirklich an der richtigen Adresse waren. Der Mann nickte stumm. »Dürfen wir eintreten? Wir hätten gerne einmal mit Ihnen gesprochen.« Der Mann machte Anstalten, sich abermals auf den Boden zu werfen, wurde aber von Zamorra daran gehindert, der mit harter Hand seiner grotesken Fallübung zuvorkam. »Also?« Ehrfürchtig gab der Indio den Weg ins Innere des Hauses frei. Unter ständigen Bücklingen führte er sie in einen großen, aber recht einfach ausgestatteten Raum. Ein massiver Holztisch, dazu einige Stühle und Bänke und ein mit allerlei Krimskrams vollgestelltes Wandregal verkörperten das gesamte Mobiliar. Dennoch hatte das Zimmer eine durchaus wohnliche Note. Offenbar in Handarbeit gewirkte Wandteppiche, verziert mit abstrakten Mustern und stilisierten Figuren, vermittelten den Eindruck von Wärme und Behaglich-
keit. Das Zimmer war nicht leer. Auf einer Holzbank saß eine junge, bildhübsche Frau mit langen schwarzen Zöpfen. Sie hatte ein Kleinkind auf dem Schoß und wiegte es hin und her. Beim Anblick des Professors und seiner Begleiter stand sie hastig auf und huschte durch eine Hintertür aus dem Zimmer. Mit zitternden Händen bot der alte Indio Stühle an. Dabei bat er tausendmal um Vergebung, dass er keine würdigeren Sitzgelegenheiten offerieren konnte. Er selbst wollte sich in einer Art Schneidersitz auf den Boden hocken und musste von Zamorra energisch aufgefordert werden, sich ebenfalls an den Tisch zu setzen. Zögernd, beinahe ängstlich, kam er der Aufforderung nach. Der Professor kam schnell zur Sache. »Was wird hier eigentlich gespielt?«, fragte er. »Warum tun hier alle Leute so, als sei ich der Heilige Geist oder der Teufel höchstpersönlich?« Der Indianer stammelte: »Hoher Herr! Ihr beliebt zu scherzen …« »Hoher Herr, hoher Herr! Was soll dieses Gerede überhaupt? Ich bin kein hoher Herr, verdammt noch mal!« »Xamotecuhtli, bitte … Treibt nicht Euren Spaß mit mir.« Geduldig faltete der Professor die Hände. »Jetzt hören Sie mir doch mal gut zu, Señor Chilapa. Sie sind doch Señor Chilapa, oder?« Schwaches Kopfnicken. »Gut!«, stellte Zamorra fest. »Also … Mein Name lautet nicht Xamotecuhtli. Ich heiße Zamorra und kein bisschen anders. Hier …« Er griff in seine Jackettasche, holte die Brieftasche heraus und entnahm ihr seinen Personalausweis. Dann schlug er das Passbild auf und schob den Ausweis dem alten Mann über den Tisch. »Sehen Sie, da steht es schwarz auf weiß. Zamorra, nicht Xamotecuhtli! Ich wohne in Frankreich, in Europa. Sie wissen, wo Frankreich liegt?« Wieder nickte der Indio. Es kostete ihn offenbar einige Überwindung, den Ausweis zu betrachten. Aber er tat es dann schließlich
doch, fand sogar den Mut, darin zu blättern. Scheu verglich er das Foto mit dem tatsächlichen Konterfei des Professors. Ungläubigkeit malte sich in seinen Gesichtszügen ab. »Aber …«, stammelte er. »Das ist doch … Ich verstehe nicht …« »Was verstehen Sie nicht? Dass ich das bin? Warten Sie!« Er wandte sich an Nicole und Bill. »Zeigt ihm ebenfalls eure Ausweise. Vielleicht glaubt er dann, dass er es hier mit ganz normalen Menschen zu tun hat.« Die beiden taten, was er sagte. Der alte Mann unterzog auch ihre Ausweise einer Prüfung. »Tatsächlich«, murmelte er anschließend. »Aus Frankreich und aus den Staaten. Aber wie ist es möglich?« »Ist was möglich?«, schaltete sich Bill jetzt fragend in das Gespräch ein. Der alte Mann antwortete nicht direkt. »Dolores!«, rief er laut. Sekunden später betrat die junge Frau von vorhin das Zimmer. Chilapa redete wortgewaltig auf sie ein. Zamorra verstand nicht viel von dem, was er sagte. Er sprach nicht Spanisch, sondern gebrauchte einen indianischen Dialekt. Der Professor bekam lediglich mit, dass die bezopfte Señorita – oder Señora – jemanden holen sollte. Einen Padre irgendwas, wenn er richtig gehört hatte. Die Schöne verschwand. Der alte Mann schlüpfte jetzt in die Rolle des höflichen Gastgebers und erkundigte sich, ob die Herrschaften etwas zu trinken haben wollten. Sie waren nicht abgeneigt. Chilapa holte aus dem Regal vier Gläser und eine wohlgefüllte Karaffe. Er schüttete die Gläser randvoll. Pulque, das mexikanische Nationalgetränk aus gegorenem Agavensaft. Für europäische Geschmacksnerven nicht unbedingt des Hochgenusses letzter Schluss und zudem in einer Höhe von rund zweitausendfünfhundert Metern nicht ganz ungefährlich für das
körperliche Gleichgewicht. Aber die Besucher wollten nicht unhöflich sein. Sie tranken. Und es war dann auch gar nicht so schlimm. Das Zeug schmeckte hier weitaus besser als in irgendeiner Hotelbar. Zamorra kam wieder zurück zum Thema. »Pepe Chilapa – ist das Ihr Sohn?« »Sie haben gehört, dass er …« »Si, Señor!« »Er ist tot, ich weiß!« Der alte Mann sagte dies ruhig und gefasst. Aber da war ein Ausdruck in seinen Augen, der seine wahren Gefühle verriet. »Sie waren es! Die Jünger des Schrecklichen, nicht wahr?«, fügte er hinzu. »Ja, es sieht so aus«, antwortete der Professor. »Die Jünger des Schrecklichen … Können Sie uns Näheres erzählen? Sie sind der eigentliche Grund unseres Besuches.« Chilapa schlug die Augen nieder. »Warten Sie«, gab er zurück. »Ein paar Minuten. Padre Henrique kann besser …« So warteten sie. Nicht lange, dann kam die junge Frau zurück. In ihrer Begleitung befand sich ein Geistlicher der katholischen Kirche. Ein Mann, der die Siebzig bereits erreicht, wenn nicht gar überschritten hatte. Schlank, hager an Körper und Gesicht, aber sehr sympathisch. Sekundenlang blickte er Zamorra ins Gesicht. Anschließend schüttelte er den Kopf. »Unglaublich!«, sagte er. Dann erst stellte er sich vor und machte sich mit den Namen der Besucher vertraut. »Was ist unglaublich, Padre?«, hakte Zamorra sofort nach. Der Geistliche antwortete nicht mit Worten. Er öffnete die Aktentasche, die er mitgebracht hatte, kramte ein Weilchen darin herum und holte dann etwas heraus. »Da, sehen Sie selbst«, meinte er und überreichte dem Professor
ein postkartengroßes Bild. Es war eine Fotografie, schwarzweiß und nicht unbedingt von einem Meisterfotografen aufgenommen. Aber das Bild war dennoch ziemlich scharf und ließ kaum Irrtümer aufkommen. Es zeigte einen schlanken, liegenden Mann, der ein weißes Gewand trug. Der Mann lag jedoch nicht auf einer sichtbaren Unterlage, sondern schien frei in der Luft zu schweben, von einem milchigen Halo umgeben. Er hatte die Augen geöffnet. Im Hintergrund waren Gesteinstrümmer zu erkennen. Aber denen schenkten weder der Professor selbst, noch Nicole und Bill besondere Aufmerksamkeit. Ihre Augen hingen wie gebannt am Gesicht des Mannes. Sie alle drei kannten es recht gut. Es war das Gesicht Professor Zamorras.
* Tizoc Pizana gehörte zu jenen zahlreichen Campesinos, die aus dem Hinterland nach Mexiko-Stadt gekommen waren, um dort ihr Glück zu machen. Einige schafften es, die meisten jedoch nicht. Mehrere Jahre lang hatte Pizana versucht, sich als Schuhputzer, Zeitungsausträger und Gehilfe eines Anstreichers durchzuschlagen, um eines Tages doch noch auf den Zug des Erfolges springen zu können. Aber der Zug der riesigen, schnelllebigen Metropole war zu rasch für ihn gefahren. Schließlich hatte er eingesehen, dass Ciudad de Mexiko nicht das richtige für ihn war und er hatte der Stadt der Verheißung, die für ihn zur Stadt der Enttäuschung geworden war, wieder den Rücken gekehrt. Aber er war zu stolz gewesen, um als Habenichts in sein heimatliches Dorf zurückzukehren. Und so war er unweit der Hauptstadt, in Sacromonte hängen geblieben. Er hatte diesen Schritt nie bereut, denn hier war er dem Glück, das er gesucht hatte, doch noch begegnet. Das Glück hieß Maria und war die Tochter eines kleinen Land-
pächters, der in der Nähe Sacromontes einige karge Felder bewirtschaftete und froh war, seine Tochter unter die Haube bringen und sich selbst aufs Altenteil zurückziehen zu können. Tizoc Pizana sah sich am Ziel seiner Wünsche. Jahrelang war er der glücklichste Mensch der Welt gewesen. Dann jedoch fielen Schatten auf sein Glück. Die Angst umschlich sein kleines Gehöft, das mehrere Meilen von der Stadt entfernt lag. Seit die Jünger des Schrecklichen erstmalig aufgetaucht waren, hatte er keine ruhige Minute mehr gehabt. Jederzeit war er darauf gefasst, dass sie kommen und ihn und Maria holen würden. Besonders nachts, wenn der Sternenhimmel auf ihrer Seite war und ihr unseliger Gott am Himmelszelt erschien. Aber auch am Tage war er die Wachsamkeit selbst. Keinen Schritt ging er ohne seinen Karabiner, gleichgültig ob er sich im Stall oder auf dem Feld aufhielt. Wie gut er damit beraten war, zeigte sich an diesem Tag. Er beschäftigte sich gerade mit seinen Kukuruz-Maiskolben, als er sie sah. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Luft flirrte vor Hitze. Dennoch hatte er keinen Zweifel. Die Gestalten, die sich dort drüben näherten, konnten nur die Diener Tezcatlipocas sein. Sie hatten es auf ihn und Maria abgesehen. Er griff nach seinem Karabiner, der neben ihm auf der Erde lag, und rannte so schnell er konnte zum Haus. Nie in seinem Leben hatte er tausend Meter so schnell zurückgelegt. »Maria, Maria!«, rief er atemlos. »Sie kommen, sie kommen!« Maria erschien am Fenster. Selten war sie ihm schöner vorgekommen als jetzt, wo er wusste, dass sie seinen Sohn unter dem Herzen trug. Sie und den kleinen Tizoc – niemals sollten die Schlächter sie in ihre Mordfinger bekommen. Gehetzt blickte er den Weg zurück, den er gekommen war. Beharrlich kamen sie näher. Obgleich sie nicht liefen, wie er es ge-
rade getan hatte, hatte sich der räumliche Abstand zwischen ihm und ihnen erheblich verkürzt. Tezcatlipoca, der Schreckliche, beflügelte die Schritte seiner Geschöpfe in einer Art und Weise, die den Rahmen des Normalen sprengten. Sein erster Gedanke war Flucht gewesen. Aber nun sah er ein, dass es dazu bereits zu spät war. Der alte Buggy auf dem Hof hatte einen Getriebeschaden und konnte nur im ersten Gang gefahren werden. Viel zu langsam, um den Verfolgern davonfahren zu können. Und zu Fuß? Unmöglich! In ihrem Zustand war Maria dazu nicht in der Lage. Verzweifelt wurde er sich seiner Situation bewusst. Es blieb nur eine einzige Möglichkeit: Kampf! Kampf bis zur letzten Patrone. Er lief auf den Hauseingang zu, blickte sich dabei noch einmal um. Sie waren schon ganz nahe, beinahe bis auf Schussweite heran. Fünf waren es, fünf Männer in Jaguarfellen, einem der schändlichen Wahrzeichen ihres Gottes. Sie schienen unbewaffnet zu sein, aber Pizana ließ sich dadurch nicht täuschen. Diese Männer brauchten keine Karabiner, keine Pistolen. Und auch auf die Obsidian-Keulen ihrer unseligen Vorfahren konnten sie getrost verzichten. Zauberei und Magie – das waren ihre Waffen. Tizoc Pizana riss die Haustür auf und warf sie hinter sich ins Schloss. Er schob den schweren Riegel vor, dabei aber wohl wissend, wie wenig er dauerhaften Schutz versprach. Maria blickte ihm mit angstvoll geweiteten Augen entgegen. Das Herz brach ihm fast, als er sie so sah. »Maria …« Seine Stimme wollte ihm kaum gehorchen. »Geh in den Keller! Ich werde versuchen, sie aufzuhalten und abzuwehren. Und wenn ich … Geh in den Keller. Vielleicht finden sie dich nicht.« Stumm schüttelte sie den Kopf. »Ich bleibe«, sagte sie fest. »Wenn wir sterben müssen, dann zusammen. Hier, wo unsere Heimat ist.« »Sterben?« Er lachte bitter auf. »Wir würden sterben, aber nicht
hier. Auf den Opfersteinen ihres Blutgötzen! Geh, Maria, geh! Du kannst mir hier sowieso nicht helfen.« Er blickte aus dem Fenster. Noch hundert Meter und dann … Maria weigerte sich noch immer, zu gehen. Er musste sie an ihren ungeborenen Sohn erinnern und die Verantwortung, die sie für ihn trug. Dann erst war sie bereit sich zu verstecken. Ihr Abschied war kurz und tränenreich. Auch er schämte sich nicht der Tränen, die ihm in die Augen traten. Tizoc Pizana stellte sich zum Kampf. Die Jünger des Schrecklichen traten jetzt auf den Hof. Ihre hochmütigen Gesichter waren unbewegt. Nur die kalte Entschlossenheit glühte in ihren dunklen Augen. Er legte den Karabiner an, zielte auf den vordersten der fünf und drückte ab. Pizana war nicht der beste aller Schützen. Aber aus dieser Entfernung … Er war sich ganz sicher, getroffen zu haben. Und doch kam der Diener Tezcatlipocas stoisch näher, ganz so, als sei er allerhöchstens von einer Fliege belästigt worden. Oder nicht einmal dies. Pizana repetierte, feuerte erneut, repetierte und feuerte, bis der Schlagbolzen ins Leere traf. Das Magazin enthielt keine Patrone mehr. Die Schlächter jedoch waren unversehrt. Sie waren bereits ins Haus eingedrungen. Die Haustür … Er hatte nicht einmal gehört, dass sie sie gesprengt hatten. Er vernahm ihre Schritte. Sie kamen näher, unbeirrbar, zielbewusst. Dann tauchten sie im Türrahmen auf. Tizoc Pizana versuchte das letzte, was ihm noch geblieben war. Er drehte den Karabiner um, schwang die Waffe wie eine Keule. Mit einem lauten Schrei stürmte er auf die Schrecklichen zu. Er kam nicht einmal an sie heran. Der eine von ihnen machte eine blitzschnelle Bewegung mit der Hand. Sonnenhell sah er etwas blitzen. Feuer und Rauch. Eine glühende Lanze fuhr ihm in beide Knie. Aufschreiend brach er zusammen.
Sein Schrei war nicht der einzige, der durch das Haus gellte. Wenig später hörte er die flehenden Hilferufe Marias. Tizoc Pizanas eigener Schrei ging in ein ohnmächtiges, verzweifeltes Wimmern über. Tezcatlipocas Diener jedoch rührte dies nicht.
* Verblüfft starrte Professor Zamorra die Fotografie an, die sein Ebenbild zeigte. Er hatte keine Erklärung. Niemals war er zuvor in Sacromonte gewesen. Und niemals in seinem Leben hatte er sich in einem solchen Gewand zum Schlafen gelegt. Ein Doppelgänger? Es gab keine andere Erklärung. Er legte das Bild auf den Tisch. »Was ist das?«, fragte er. Der Padre lächelte schwach. »Erstaunlich, meinen Sie nicht auch?« »Das kann man wohl sagen!« »Diese Aufnahme habe ich selbst gemacht«, erklärte der Priester. »Vor etwa … warten Sie … Ja, es mögen rund sechs Monate her sein.« »Und wer …« »Das ist Xamotecuhtli. Ich nehme an, Sie haben den Namen mittlerweile schon gehört.« Der Professor nickte. »Gehört schon. Aber wer Xamotecuhtli ist … Abgesehen von einer wohl unübersehbaren Namensähnlichkeit …« Er zuckte die Achseln. »Xamotecuhtli ist eine Heldengestalt der Azteken, genauer gesagt der Chalca. Der Sage nach hat er vor rund fünfhundert Jahren der Schreckensherrschaft der sogenannten Jünger des Schrecklichen ein Ende bereitet. Die Jünger des Schrecklichen … So wurde eine bestimmte Götzenpriestergruppe genannt, die dem Gott Tezcatlipoca diente und von diesem zum Dank mit übernatürlichen Kräften aus-
gestattet wurde. Xamotecuhtli ist, so steht es in den Überlieferungen, mit dem guten Gott der Bewohner des alten Mexiko, mit Quetzalcoatl im Bunde gewesen und von diesem mit ewigem Leben belohnt worden, nachdem er die Jünger Tezcatlipocas vernichtet hatte.« Padre Henrique schwieg und labte sich an dem Pulqueglas, das der alte Mann mittlerweile vor ihn hingestellt hatte. Zamorra wurde leicht ungeduldig. »Alles gut und schön, Padre«, sagte er. »Aber was hat dies alles mit der Fotografie zu tun? Sie sagen, dass Sie sie selbst gemacht haben. Wir dürfen wir das verstehen? Das Bild sieht eigentlich zu echt aus, als dass Sie es von irgendeiner Buchseite abfotografiert haben könnten.« Der Gottesmann nickte langsam. »Sie haben recht – die Fotografie ist keine Reproduktion einer Buchseite. Es handelt sich um eine Originalaufnahme. Ich habe sie …« Er unterbrach sich und wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn, die allerdings nicht allein die Hitze dorthin gezaubert zu haben schien. »Entschuldigen Sie, aber es ist nicht einfach für mich, als Christ über heidnische Götzen zu sprechen, zumal …« Wieder ließ er seine Stimme abbrechen. »Zumal?«, drängte der Professor. Padre Henrique gab sich einen Ruck. »Nun«, sagte er gedehnt, »es sieht danach aus, als ob Quetzalcoatl den Helden Xamotecuhtli wirklich mit ewigem Leben beschenkt hat.« »Das müssen Sie näher erklären, Padre!« Der Priester tat dies: »Die bewusste Fotografie habe ich zwischen den Trümmern eines alten Götzentempels gemacht, der wenige Kilometer vor der Stadt liegt. Die Überlieferungen der Chalca berichten, dass Quetzalcoatl vor rund fünfhundert Jahren Xamotecuhtli im Tempel des Tezcatlipoca in eine Wolke bettete und der Held seitdem dort ruht. Nicht im symbolischen Sinn, sondern tatsächlich, ganz real. Berichte, die bis in die Gegenwart reichen, zitieren zahlreiche Augenzeugen, die ihn gesehen haben. Der Tempel ist längst
verfallen, aber Xamotecuhtli ruhte noch immer auf seiner Wolke, von einem flimmernden Lichtbild umgeben. Ganz klar, dass von diesem Phänomen in den vergangenen Jahrhunderten kaum etwas an die Öffentlichkeit drang. Die Angelegenheit verträgt sich nicht mit der Doktrin und so erledigte man das Problem, indem man es einfach totschwieg. Die Ruinenstätte galt als verflucht und wurde gemieden. Vor etwas mehr als vierzig Jahren aber änderte sich das Bild. Xamotecuhtlis schlafende Gestalt verschwand, blieb auch jahrzehntelang verschwunden. In den letzten Jahren jedoch … Nun, ja, was soll ich lange reden. Plötzlich war er wieder da, wenn auch nur sporadisch. Jeweils nur für ein paar Tage oder auch nur für ein paar Stunden. Aber ansonsten genauso, wie es die Überlieferungen beschrieben haben. Ich selbst habe ihn mehrfach beobachtet und bei einer dieser Gelegenheiten diese Aufnahme gemacht. Viele Menschen hier aus Sacromonte haben den schlafenden Helden gesehen. Ich nehme an, Sie können das seltsame Verhalten der Leute Ihnen gegenüber jetzt verstehen, nicht wahr?« In der Tat, Zamorra verstand dies jetzt. Allerdings nicht ganz. Da war immer noch die Geschichte mit dem Mord in der Altstadt und dem Überfall des Indianers mit seinem magischen Jaguar. Er stellte dem Padre entsprechende Fragen. Der Gottesmann nickte bedrückt. »Natürlich«, murmelte er, »das was ich Ihnen bisher erzählt habe, war leider nicht alles. Diese Jünger des schrecklichen Tezcatlipoca, die Xamotecuhtli damals vernichtet haben soll, sie sind wieder da. Nicht dieselben natürlich, sondern Nachfahren von ihnen. Aber ihr Wüten ist mindestens genauso entsetzlich wie das ihrer Vorgänger. Sie tyrannisieren die gesamte Umgebung, entführen Menschen, verschleppen sie, opfern sie ihrem blutgierigen Götzen. Vor kurzer Zeit tauchten sie erstmalig auf, und seitdem lebt Sacromonte in Angst und Schrecken. Niemand ist in der Lage, ihrem Wüten Einhalt zu gebieten.« »Das verstehe ich nicht«, warf Bill Fleming ein. »Es gibt doch eine
Polizei.« Padre Henrique lächelte schmerzlich. »Polizei! Wie wollen Sie gegen Feinde kämpfen, die nicht zu fassen sind? Die Jünger Tezcatlipocas tauchen auf wie Schatten, begehen ihre entsetzlichen Verbrechen und verschwinden wieder. Wenn man sie verfolgt … Sie sagten es bereits. Die Schrecklichen wehren sich mit … äh, unheiligen Mitteln. Sie schleudern Feuer und lassen wilde Bestien los.« »Und wohin verschwinden sie?«, fragte Bill. Achselzucken. »Sie kommen von den Tempelruinen und kehren auch dorthin zurück. Aber dann? Es ist stets, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Nur die Spuren ihrer bestialischen Menschenopfer …« Die Stimme versagte dem Priester, und er schüttelte sich. »Und Pepe Chilapa?«, erkundigte sich Nicole Duval leise. Der alte Mann beantwortete diese Frage mit beinahe tonloser Stimme. »Vor drei Tagen sind die Jünger des Schrecklichen gekommen und haben Antonio geraubt«, sagte er. »Antonio, das ist – war – der sechsjährige Sohn von Pepe und Dolores. Sie haben ihn … abgeschlachtet wie ein Tier, diese Unholde. Pepe war außer sich vor Schmerz. Er ist nach Ciudad de Mexiko gefahren, um bei der Regierung vorstellig zu werden. Die örtlichen Polizeibehörden, verstehen Sie … Sie sind nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. Die Armee müsste …« Hilflos hob er die Arme. »Aber wahrscheinlich würde auch das nichts nützen. Pepe hat dann wahrscheinlich durch Zufall Sie gesehen, Xamotecuhtli … Entschuldigung, Señor Zamorra, meine ich. Und er hat natürlich gedacht, dass Sie gekommen sind, um den Terror der Jünger Tezcatlipocas ein zweites Mal zu brechen. Einer der Jünger war ihm anscheinend auf der Spur und hat ihn getötet. Der Mörder hat Sie natürlich ebenfalls erkannt. Deshalb seine Überfälle auf Sie. Wenn er gewusst hätte, dass Sie gar nicht der Held der Chalca sind …« Er sprach nicht weiter. Aber das war auch überflüssig.
Zamorra nahm die Fotografie noch einmal zur Hand und betrachtete sie ganz genau. Und dann wurde ihm plötzlich ganz seltsam zumute. Vorhin, beim ersten Betrachten, war ihm eine Winzigkeit entgangen. Am Hals des Mannes zeichnete sich eine dunkle Stelle ab. Es sah ganz so aus, als hätte Xamotecuhtli ein Muttermal. Auch er, Zamorra, hatte ein Muttermal am Hals. Nicole, die ihn so gut kannte, wie kein zweiter Mensch, fiel sein plötzliches Zusammenzucken sofort auf. »Ist was, Chef?«, fragte sie in französischer Sprache. »Nichts!«, sagte der Professor schnell. »Gar nichts ist.« Aber er sah ihr deutlich an, dass sie ihm kein Wort glaubte. Er fragte den Padre: »Sagen Sie Padre, können Sie sich erinnern, wann der … wann Xamotecuhtli zum ersten Mal verschwand? Sie sprachen von etwas mehr als vierzig Jahren. Haben Sie das genaue Datum?« »Das genaue Datum? Nein. Aber warten Sie, ich habe mir im Laufe der letzten Jahre Notizen gemacht. Vielleicht kann ich wenigstens das Jahr feststellen.« Er griff nach seiner Aktentasche und fing an zu suchen. Schließlich brachte er ein dünnes Heft zum Vorschein, in das er sich anschließend vertiefte. »Sie haben Glück«, sagte er. »Hier steht es tatsächlich!« Er nannte das Jahr. Zamorra rang um seine Beherrschung, auch wenn es schwer fiel. Das Jahr, in dem Xamotecuhtli aufgehört hatte, ohne Unterbrechung sichtbar auf seiner Wolke in der Tempelmine zu schlafen, war das Jahr gewesen, in dem er geboren wurde.
* Die Fahrt zum Ruinentempel des Tezcatlipoca war ziemlich be-
schwerlich. Es gab keine offizielle Straße, die hinführte. Lediglich einen schmalen Pfad, bedeckt mit Geröll und graubraunem Sand. Man tat hier wirklich nichts, um Touristen auf die alte Kultstätte aufmerksam zu machen. Zudem ging es bergan. Die Erbauer hatten den Tempel an einer Stelle errichtet, die wahrscheinlich schon damals nicht sehr zugänglich gewesen war, unmittelbar an der aufsteigenden Flanke des Vulkans. Der Chevy keuchte im Schritttempo den Pfad hoch. Steine schlugen gegen die Karosserie, und mehr als einmal drehten die Reifen laut quietschend durch. Staub überzog die Windschutzscheibe mit einem Film. Schließlich ging es nicht mehr weiter. Der Temperaturanzeiger kletterte innerhalb einer Minute in den roten Bereich. Fluchend hielt Bill an und stellte den Motor ab. »Was ist los?«, erkundigte sich der Professor. Bill zeigte nur stumm auf das Armaturenbrett. »Keilriemen gerissen, wahrscheinlich«, vermutete der Professor. Zusammen mit dem Amerikaner stieg er aus. Sie klappten die Kühlerhaube hoch. Eine Dampfwolke schlug ihnen entgegen. Sofort erkannten sie, dass der Keilriemen nicht schuld war. Er saß fest und stramm. Bill bückte sich und blickte unter den Wagen. Und da sah er die Bescherung. Aus dem Kühler sprudelte kochendheißes Wasser. Ein hochgewirbelter Stein hatte ein Leck in die Metallwandung geschlagen. An ein Weiterfahren war nicht zu denken. »Gehen wir eben zu Fuß«, sagte Zamorra. »Die alten Azteken hatten auch keine Autos. Und wenn wir auf ihren Spuren wandeln wollen …« Auch Nicole verließ das Fahrzeug. Dann marschierten sie los. Obgleich es brütend heiß war, kamen sie gut voran. Besser sogar als mit dem Auto. So wurden sie wenigstens nicht durchgeschüttelt
wie in einem Betonmischer. Und außerdem – allzu weit konnten die Tempelruinen auch gar nicht mehr entfernt sein. Und das waren sie auch nicht. Der Pfad wand sich serpentinenförmig um den Berg. Sie umrundeten einen schroffen Felsen, und dann sahen sie die Trümmer plötzlich vor sich. Nicht nur die Trümmer. Da waren Menschen – zehn, zwölf, vielleicht auch mehr. Und um was für Menschen es sich handelte, konnten sie auch sofort erkennen. Wenigstens die Hälfte von ihnen gehörte den Jüngern Tezcatlipocas an. Die Jaguarfelle, die die Männer trugen, ließen keinen anderen Schluss zu. Die Jaguarfelle und das, was sie taten! Instinktiv hatten die drei nach dem Anblick der Männer Sichtschutz hinter dem Felsvorsprung gesucht. Aber das schreckliche Bild wirkte noch auf ihrer Netzhaut nach. Zamorra beugte sich wieder vor und starrte zu der Tempelruine hinüber. Ja, er hatte richtig gesehen beim ersten Mal. Furchtbares ereignete sich dort drüben. Messerklingen blitzten und Blut floss. Auf einem Stein lag ein Mensch, eine junge Frau, umringt von den Schrecklichen. Schreie drangen herüber, Schreie des Entsetzens. Die unseligen Götzenpriester waren dabei, ein Menschenopfer darzubringen! Bill Fleming, der jetzt ebenfalls die grauenhafte Szene auf sich einwirken ließ, war an sich ein Mann der Logik. Zumeist pflegte er erst zu denken, bevor er handelte. Diesmal jedoch war das anders. Die in ihm aufwallenden Emotionen setzten den Verstand außer Kraft. Seine natürlichen Reflexe übernahmen das Kommando. Mit einem Knurren griff er nach seiner Achselhöhle, wo er den Revolver aufbewahrte. Wie von selbst rutschte die Waffe in seine Hand. In Sekundenbruchteilen hatte er entsichert und angelegt. Dann schoss er, was der Lauf hergab. Die Schüsse krachten wie
Donnerschläge zwischen den Felsen, wurden in Form eines sich brechenden Echos zurückgeworfen. Zamorra erkannte sofort, dass er letzten Endes nur Theaterdonner vom Stapel ließ. Die Entfernung war doch noch zu groß, um mit einem Revolver zielsicher treffen zu können. Höchstwahrscheinlich waren die Kugeln nicht einmal in der Lage, die Strecke zu überbrücken. Einmal verschwendete der Freund also nur Munition, und zum zweiten machte er die Schlächter auf sie aufmerksam. »Hör auf, Bill!«, zischte er dem Historiker zu. »Das hat doch überhaupt keinen Zweck!« Gleichzeitig tastete er nach seiner eigenen Waffe. Er bezweifelte jedoch, dass sie ihm allzu viel nützen würde. Menschen, die mit dem Bösen im Bunde waren, musste man mit anderen Mitteln beikommen. Sein Amulett würde ein weitaus besserer Helfer im Kampf gegen die Jünger des Schrecklichen sein. Schon spürte er, wie es sich auf seiner Brust erwärmte. Die Nähe finsterer Kräfte machte sich bemerkbar. Er war gewappnet. In ausreichendem Maße? Die Unmenschen waren eindeutig in der Überzahl. Es würde schwer werden, sie sich alle gleichzeitig vom Hals zu halten. Die Schwierigkeiten, die er mit dem nächtlichen Besucher und seiner Bestie gehabt hatte, standen ihm nur allzu deutlich vor Augen. Bills Schießübungen hatten die Diener Tezcatlipocas alarmiert. Sie waren hochgesprungen und starrten zu ihnen herüber. Zamorra rechnete jeden Augenblick damit, dass sie von ihren Höllenkünsten Gebrauch machen würden. Raubtiere, rotglühende Feuerstrahlen, andere teuflische Überraschungen mehr. In die Indianer kam Bewegung. Einer von ihnen rannte plötzlich los, kam mit stampfenden Schritten auf sie zu. Er war sehr unsicher auf den Beinen, stolperte mehrmals und fiel schließlich sogar hin. Zamorra erkannte, dass er seine Hände nicht frei bewegen konnte. Sie waren auf dem Rücken zusammengebunden worden.
Ganz offensichtlich war der Flüchtling keiner der Jünger. Schien ein Gefangener zu sein, ein Gefangener, der die Gelegenheit genutzt hatte, einen Ausreißversuch zu unternehmen. Der Versuch misslang kläglich. Etwa zehn, fünfzehn Meter hatte der Flüchtende zurückgelegt, dann war seine Flucht auch schon zu Ende. Es gelang ihm nicht, wieder auf die Füße zu kommen. Ein Feuerstrahl zuckte wie ein glühender Pfeil durch die Luft, raste genau auf den Gestürzten zu. Eine Sekunde später stand er wie ein Napalmopfer in hellen Flammen. Zamorra drängte Nicole zurück, die sich mittlerweile zu weit aus dem Schutz des Felsens gewagt hatte. »Zurück, Nicole!«, wies er sie an. »Die Kerle können jeden Augenblick ihre magischen Kräfte gegen uns mobilisieren.« Die Frau gehorchte. Auch Bill hatte sich wieder hinter den Felsen gekauert, nicht ohne vorher das Magazin seines Revolvers wieder aufzufüllen. Die drei Freunde erwarteten den Sturmangriff der Jünger Tezcatlipocas. Überraschenderweise blieb dieser jedoch aus. Die Kerle machten keinerlei Anstalten, die Ruinenstätte zu verlassen. Sie taten vielmehr das genaue Gegenteil, wandten den Freunden den Rücken zu und bewegten sich tiefer in die Trümmerlandschaft hinein. Diejenigen, die nicht mit den Jaguarfellen bekleidet waren, wurden mit roher Gewalt mitgezerrt. Alle Figuren entschwanden schließlich Zamorras, Nicoles und Bills Blicken. Wie hatte doch der Padre in Sacromonte gesagt? »Sie verschwinden, als hätte sie der Erdboden verschluckt!« Genauso sah es aus. Drüben zwischen den Ruinen rührte sich nichts mehr. Nur die Gestalt des Mädchens, das die Unholde geopfert hatten, war zurückgeblieben. Reglos lag sie auf dem Stein, der ihr zum Schicksal geworden war.
Außerdem war da noch der Mann, der den Fluchtversuch unternommen hatte. Die teuflischen Flammen hatten ihn schon fast völlig verzehrt, flackerten nur noch leicht. Von dem Mann selbst würde gleich nichts mehr übrig geblieben sein. Asche, genau wie bei dem Indio vor dem Straßencafe in der Altstadt. Die Freunde warteten noch ein paar Minuten ab. Dann verließen sie ihre Deckung und gingen vorsichtig zu der Tempelruine hinüber.
* Es stellte sich schnell heraus, dass ihre Vorsicht überflüssig war. Als sie die verfallene Tempelstätte erreichten, erkannten sie sofort, dass sie allein waren. Kein lebendes Wesen befand sich in der Nähe. Die Jünger Tezcatlipocas und ihre Gefangenen hatten sich verflüchtigt wie der Staub im Wind. Lavagestein und Trümmer bestimmten das Bild. Die Trümmer sahen alt aus, viel älter als fünfhundert Jahre. Wahrscheinlich hatte das Bauwerk zur Zeit der Azteken bereits eine Reihe von Generationen gestanden. Und doch konnte man noch immer einiges von dem alten Glanz ahnen, den der Tempel einst gehabt haben mochte. Wuchtige Steinquader, aus dem Mauerverbund gelöst, türmten sich wie Zyklopenfüße. Von dem Mörtel, den man damals benutzt hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Die Alten hatten die Bindungsmittel der Moderne noch nicht gekannt. Ihre Bauwerke hielten weitgehend durch das schiere Eigengewicht ihrer Steine zusammen. Wenn erst einmal irgendwo Lücken entstanden, wurde das ganze zu einer wackligen Angelegenheit und stürzte zusammen. So wie es hier geschehen war. Wie sehr die Öffentlichkeit von dieser Ruine in der Vergangenheit ferngeblieben war, konnte man auch an der Tatsache erkennen, dass sogar noch Teilstücke von antiken Götzenfiguren vorhanden waren.
Undenkbar, wenn man andere Kultstätten der Azteken zum Vergleich heranzog. Solche Funde wanderten normalerweise unverzüglich in Museen oder in die Hände von Privatsammlern. Hier jedoch hätten ausgrabungswütige Archäologen noch ein weites Betätigungsfeld gefunden. Normalerweise wären auch Zamorra und seine Freunde von den Überbleibseln einer großen Vergangenheit fasziniert gewesen. Heute aber stand ihnen nicht der Sinn nach alten Kulturgütern. Die Vorkommnisse, deren Zeuge sie gerade gewesen waren, hatten sie innerlich zu sehr aufgewühlt, wühlten sie noch immer auf. Das Mädchen auf dem Opferstein … Nicole wandte sich aufstöhnend ab und übergab sich hinter einem Gesteinsquader. Zamorra und Bill mussten ebenfalls um ihre Beherrschung ringen. Die Tote war eine junge hübsche Indianerin. Die Unholde hatten ihr Gesicht bunt bemalt und Federn in die Haare gesteckt. Und dann hatten sie ihr das Herz aus dem Leib geschnitten. Noch abscheulicher wurde die grausame Tat dadurch, dass die junge Frau hochschwanger gewesen war. »Diese Schweine!«, stieß Bill Fleming erbittert hervor. »Wie können Menschen von heute nur so etwas tun?« Zamorra musste ihm recht geben. Zugegeben, die furchtbare Sitte der Menschenopferungen war im alten Mexiko gang und gäbe gewesen. Der Glaube, dass die Götter nur durch Menschenopfer beschwichtigt werden konnten, war tief verwurzelt im Wesen und Denken der Azteken und ihrer Nachbarn gewesen. So unverständlich diese grausamen Bräuche auch für Menschen des Abendlands sein mochten, man musste sie akzeptieren. Die alten Völker Mittelamerikas, in Aberglauben und religiösem Fanatismus verstrickt, waren überzeugt davon gewesen, richtig zu handeln. Menschen von heute jedoch … Zamorra und Bill bedeckten den furchtbar zugerichteten Leichnam
der Indianerin mit ihren Jacketts und wandten sich ab. Der Professor hatte sich von Padre Henrique die Stelle ziemlich genau beschreiben lassen, an der sich in der Vergangenheit der schwebende Körper des sagenhaften Xamotecuhtli gezeigt haben sollte. Er fand die Stelle auch – zwei waagerecht nebeneinanderliegende Steinquader, von denen der eine die Form eines geometrischen Trapezes aufwies. Von einer schlafenden Gestalt, die auf einer Wolke schwebte, war jedoch nichts zu sehen. Etwa zwei Meter über den Quadern sollte Xamotecuhtli schweben, hatte Henrique gesagt. Zamorra streckte die Hand aus und ruderte damit in der Luft herum. Da war doch etwas! Nicht dass seine Hand auf Widerstand gestoßen wäre, nein, das nicht. Aber irgendwie war ihm, als hätte er in ein Feld gefasst, das ganz schwach elektrisch aufgeladen war, kaum merklich, aber immerhin. »Bill!«, rief er. »Komm doch mal!« Der Freund war sofort an seiner Seite. Zamorra bat ihn, ebenfalls die Hand auszustrecken. Der Amerikaner kam der Aufforderung nach. Kopfschüttelnd ließ er die Hand wieder sinken. »Hast du nichts gespürt, Bill?« »Kein Stück«, antwortete der Historiker. »Nimm es mir nicht übel, lieber Freund. Aber wenn du mich fragst – du leidest unter Einbildungen.« Nicole testete die Luft ebenfalls. Sie schloss sich Bills Ansicht an. »Da ist nichts, Chef«, sagte sie überzeugt. »Wirklich nichts.« Zamorra ließ die Sache auf sich beruhen. Aber er war keineswegs überzeugt. Er wusste, was er gespürt hatte. Unauffällig wiederholte er seinen Versuch. Das Ergebnis blieb – ein ganz leichtes, kaum spürbares Kribbeln. Und noch einen weiteren Anhaltspunkt gab es dafür, dass er nicht
unter Einbildungen litt. Das Amulett auf seiner Brust gab Wärme ab. Und das tat es nur, wenn sich irgendwo in der Nähe übernatürliche Kräfte manifestiert hatten. Die Freunde machten sich jetzt an eine eingehende Untersuchung der Ruinenlandschaft. Irgendwo mussten die Jünger des Schrecklichen und ihre Opfer ja geblieben sein. Dass sie sich tatsächlich in Luft aufgelöst hatten, wollte Zamorra nicht glauben, selbst wenn sie sich unheiliger Mittel bedienen konnten. Vielleicht gab es hier unterirdische Kammern, in denen sie sich versteckt hielten. Padre Henrique hatte sie zwar davon unterrichtet, dass die Polizei mehrfach in jüngster Zeit das Gelände eingehend überprüft hatte. Ob diese Überprüfung allerdings wirklich so eingehend gewesen war, wagte Zamorra leicht zu bezweifeln. Auch Polizisten waren nur Menschen. Menschen, die sich vor dem Unheimlichen, dem Geheimnisvollen, dem Tödlichen fürchteten. Sicherlich war es das Bestreben der Männer gewesen, diesem verfluchten Ort möglichst schnell wieder den Rücken kehren zu können. Der Gedanke, dass unter diesen Trümmern doch noch so allerhand verborgen sein mochte, war also nicht von der Hand zu weisen. Systematisch machten sie sich ans Werk. Die Arbeit war kein Zuckerschlecken. Es war früher Nachmittag, und die Sonne hatte noch nichts von ihrer Strahlungskraft eingebüßt. Unbarmherzig schleuderte sie ihre Strahlen zur Erde. Kein Windhauch regte sich. Die Luft, heiß wie aus einem Backofen kommend, stand förmlich über ihnen. Und schon bald hatten sie Erfolg zu verzeichnen. Bill war es, der die Entdeckung machte. Er rief Nicole und Zamorra, die andere Stellen des Geländes abschritten, mit lauten Rufen herbei. So schnell sie konnten, eilten sie zu ihm. »Hier, seht euch das an!«, sagte der Amerikaner und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Boden zu seinen Füßen. Dort gähnte zwischen mehreren wirr durcheinanderliegenden Ge-
steinstrümmern ein Loch. Die Öffnung hatte einen Durchmesser von gut zwei Metern, war also ziemlich auffällig. Man konnte sich eigentlich nur schwer vorstellen, dass ein Suchtrupp diese Stelle übersehen haben sollte. Die Hoffnung, dass es hier wirklich einen Zugang zu versteckten Räumlichkeiten gab, war also nicht sehr groß. Dennoch – es kam auf einen Versuch an. »Wer macht den Anfang?«, fragte Bill. Zamorra handelte bereits. Er kniete neben dem Loch nieder und streckte einen Arm hinein. Auch als er sich noch weiter vorbeugte, stieß er ins Leere. Wie tief das Loch tatsächlich sein mochte, war aus dieser Position nicht zu ermitteln. Die Öffnung lag im Schatten eines Quaders, der den Sonnenstrahlen den Zugang streitig machte. Dunkel gähnte es dem Betrachter entgegen. Trotzdem war Zamorra auf einmal alarmiert. Er hatte anfänglich nicht so darauf geachtet, da er durch die Sonnenhitze abgelenkt worden war. Jetzt jedoch merkte er es ganz deutlich. Sein Medaillon war aktiv, weitaus aktiver als beim Testen der vermutlichen Xamotecuhtli-Örtlichkeit. Eine Taschenlampe müsste man haben, dachte er ärgerlich, dann könnte man vielleicht etwas sehen. Aber so … Er griff neben sich und nahm einen faustgroßen Gesteinsbrocken hoch. Dann legte er den Kopf an den Rand der Öffnung und ließ den Stein hineinfallen. Enttäuschung machte sich breit. Dem Geräusch des Aufpralls nach zu urteilen, konnte der Stein kaum mehr als zwei Meter gefallen sein. Aber es bestand immer noch die Möglichkeit, dass sich das Loch in waagerechter Richtung weiter entwickelte. Kurz entschlossen schwang er seine Beine in das Dunkel, stützte die Arme auf den Rand und ließ den Körper nach unten gleiten. »Und?«, fragte Bill, der sein Tun aufmerksam beobachtete. Zamorra tastete mit den Füßen, merkte, dass sie bereits Kontakt mit dem Untergrund hatten.
Er unterrichtete Bill und ließ den Lochrand los. Vor Erstaunen hätte er beinahe laut aufgeschrien. Völlig wider Erwarten kam er nicht sofort zum Stehen, sondern sackte durch. Ungewöhnliche Empfindungen strömten auf ihn ein. Ein intensiver Schmerz fuhr durch sämtliche Körperzellen, so als habe jemand die Nervenenden mit einem scharfen Messer angekratzt. Dazu kam ein beängstigendes Schwindelgefühl. Wellen von Übelkeit schlugen über ihm zusammen. So schnell die rätselhaften Symptome über ihn hergefallen waren, so schnell verflüchtigten sie sich auch wieder. Und er hatte auch wieder festen Boden unter den Füßen. Unter den Füßen! Das war durchaus wörtlich zu nehmen. Verblüfft blickte er an sich hinunter. Seine Schuhe waren weg. Und nicht nur die. Auch sämtliche anderen Kleidungsstücke fehlten. Er war nackt, wie ihn die Natur geschaffen hatte. Die einzige Ausnahme bildete das Amulett, das silbern leuchtend an seinem Hals hing und intensive Wärme an seine Haut abgab. Was, zum Teufel, war passiert? Er hatte bisher nur auf sich selbst geachtet und die Umgebung dabei vernachlässigt. Als er sich gerade orientieren wollte, gab es eine Störung. Bill Fleming, tauchte neben ihm auf, wie aus dem Boden gewachsen. Und Sekunden später war auch Nicole Duval zur Stelle. Es überraschte Zamorra kaum noch, dass die Freunde so nackt waren wie er selbst. Ganz flüchtig wurde ihm bewusst, welch prächtigen Anblick Nicole in diesem paradiesischen Zustand bot. Gleichzeitig durchfuhr ihn der Gedanke, dass ein solcher Anblick eigentlich nicht für Bills Augen bestimmt war. Der Amerikaner war zwar sein bester Freund, aber es gab doch gewisse Grenzen. Aber dann führte er sich sofort vor Augen, wie lächerlich derartige Gedankengänge doch waren. Jetzt war ganz bestimmt nicht der Zeitpunkt, irgendwelche läppischen Eifersüchteleien ins Spiel zu bringen. Nicole und Bill brauchten ein Weilchen, bis sie sich wenigstens so-
weit von ihrer Überraschung erholt hatten, dass sie die Sprache wiederfanden. Dann sprudelte es wasserfallartig aus ihnen heraus. »Was ist passiert?« »Wieso sind wir nackt?« »Wo sind wir?« Zamorra, der auf Anhieb keine dieser Fragen beantworten konnte, nahm jetzt endlich die Gelegenheit beim Schopf, sich mit der Örtlichkeit vertraut zu machen. Sie befanden sich in einem ziemlich kleinen, ringsum von festgefügten Steinquadern umgebenem Raum. Es war kühl in diesem Raum, und die Luft erschien ungewöhnlich klar und ozonreich. Keine Spur mehr von der Sonnenglut, in der sie noch soeben geschwitzt hatten. Der Raum war in ein diffuses Halbdunkel getaucht. Und das schwache Licht, das sich ausbreitete, stammte keineswegs von der Sonne, sondern ging von einer flackernden Fackel aus, die in eine der Seitenwände eingelassen worden war. Und wo war die Sonne? Zamorra blickte nach oben, zum ersten Mal, seit er hier war. Was er sah, beunruhigte ihn zutiefst. Über ihnen war nicht das erwartete Loch, durch das sie in diese Unterwelt gelangt waren. Eine solide Decke aus wuchtigen Steinblöcken schloss fugenfest mit den seitlichen Wänden ab. Bill war seinem Blick gefolgt. »Was meinst du?«, fragte er. »Eine Falltür vielleicht?« »Sollte man meinen«, antwortete der Professor. »Obgleich ich nicht daran glaube. Die Decke liegt gut drei Meter hoch. Als ich runterkam, bin ich nicht gestürzt, sondern fand mich auf beiden Beinen stehend wieder. Und mit euch beiden war es genauso.« »Ich hatte auch nicht das Gefühl, zu stürzen«, fiel Nicole ein. »Es war eher wie ein Gleiten durch Sirup. Ein sehr schmerzhaftes Gleiten übrigens. Mir tun jetzt noch sämtliche Glieder weh, wenn ich
nur daran denke.« »Komisch«, sagte Bill, »äußerst komisch.« Damit sprach er auch den beiden anderen aus dem Herzen. Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu, soviel stand fest. Die Aktivität von Zamorras Amulett, der Verlust ihrer Kleider nebst Tascheninhalt, die seltsamen Umstände ihrer Ankunft in diesem Verlies. »Eins wundert mich jedenfalls nicht mehr«, sagte der Historiker. »Und das wäre?« »Dass die Polizei die Kerle nie gefunden hat. Dieses Versteck hier hat es in sich. Ich hätte nie gedacht, dass sich unter diesen Trümmern noch Räume befinden, die so ausgezeichnet in Schuss sind.« Er ging ganz nahe an eine Wand heran und fuhr mit den Fingerspitzen über die Steine. »Erstaunlich gut in Schuss«, fügte er hinzu. »Diese Quader sehen gar nicht aus, als seinen sie schon über fünfhundert Jahre alt. Ich kann das beurteilen, denn ich habe schon unzählige alte Gemäuer in meinem Leben gesehen.« »Alles gut und schön«, meldete sich Nicole wieder zu Wort. »Ich habe gar nichts gegen kulturhistorische Diskussionen, aber sollten wir nicht lieber mal darüber nachdenken, wie es nun weitergehen soll? Oder wollen wir hier Wurzeln schlagen? Ich für meinen Teil hätte jedenfalls nichts dagegen, hier wieder rauszukommen. Mir ist kalt!« Der Professor konnte es ihr nachfühlen. Nackt wie sie waren … Auch ihn fröstelte es. »Gute Idee!«, sagte Bill. »Raus hier – ganz in meinem Sinne. Aber wie? Sieht jemand eine Tür oder so was ähnliches?« »Ich sehe keine«, entgegnete der Professor. »Aber das will nicht viel besagen. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass die Jünger Tezcatlipocas und die von ihnen verschleppten Gefangenen ebenfalls diesen Weg genommen haben. Und da sie nicht mehr in diesem Raum sind, müssen sie ihn irgendwie verlassen haben. Ist jemand anderer Ansicht?«
»Was du sagst, entspricht der puren Logik, mein Freund. Ich sage es ja immer – du hast gute Anlagen zum Naturwissenschaftler. Aber in diesem Fall … Wie wäre es – kannst du nicht ein bisschen mit deinem Amulett zaubern? Wie ich sehe, glüht es schon. Hast du irgendeinen Trick auf Lager?« Zamorra schüttelte den Kopf. »Das Amulett ist kein Allheilmittel«, sagte er. »Es vermag manches, aber nicht alles. Außerdem werden wir ja wohl imstande sein, ein so profanes Problem wie das Suchen eines Zugangs mit herkömmlichen Mitteln zu lösen. Mit Sicherheit gibt es irgendwo einen Kontakt, der nach Berührung ein Wandsegment zur Seite klappen lassen wird. Wir müssen nur suchen.« Sie suchten. Zu dritt tasteten sie Wände und Fußboden ab, ließen dabei keine Handbreit aus. Und sie hatten Erfolg. Es war genauso, wie es Zamorra angekündigt hatte. Ganz plötzlich – wer den Kontakt ausgelöst hatte, ließ sich im Nachhinein nicht mehr feststellen – tat sich in einer der Wände eine spaltbreite Öffnung auf. Der Mechanismus funktionierte nicht auf der Basis herkömmlicher Scharniere. Ein Seilzug, in den Quader eingelassen, hatte das Öffnen der Wand bewirkt. Alle drei hielten automatisch den Atem an. Jetzt kam eine kritische Phase. Durchaus möglich, dass sich die Menschenschlächter und ihre Opfer in dem benachbarten Raum befanden. Allzu weit konnten sie jedenfalls nicht weg sein. Vorsichtig schlich der Professor zu dem Wandspalt hinüber. Die Öffnung war breit genug, um hindurchblicken zu können. Der Professor tat dies – und war erstaunt. Das was er hier sah, hatte er nicht erwartet. Licht stach ihm in die Augen, helles, gleißendes Sonnenlicht. Aber nicht die Sonnenstrahlen waren es, die ihn an seinem Verstand zweifeln ließen. Er konnte ins Tal hinunterblicken, dort wo in etwa fünf Kilome-
tern Entfernung die Stadt Sacromonte liegen musste. Sacromonte? Das war nicht Sacromonte. Zwar sah er Häuser und Türme und sonstige Bauwerke, aber es waren keine Gebäude, die aus der Gegenwart stammten. Die Stadt unten im Tal war eine Stadt, die kein Recht mehr hatte, zu existieren. Es war eine Stadt der Ureinwohner dieses Landes. Wie hatte Sacromonte doch früher geheißen? Zamorra erinnerte sich: Amecameca. Dort unten lag Amecameca!
* »Für mich gibt es nicht den, geringsten Zweifel«, erklärte der Professor wenig später den Freunden. »Wir sind durch ein Loch in der Zeit gefallen. Das zwanzigste Jahrhundert ist weit, weit entfernt.« Tiefes Schweigen folgte seinen Worten. Bill und Nicole mussten diese Mitteilung erst einmal verdauen, und das brauchte einige Zeit. Sie nahmen es letztlich ziemlich gefasst hin. Dies war nicht das erste Mal, dass sie in die Vergangenheit geraten waren. Sie alle erinnerten sich noch allzu gut an ihre Reise in die Zeit der Kreuzzüge. Im Reiche des Kalifen hatten sie sich an die Spuren Leonardo de Montagnes geheftet, jenes Vorfahren Professor Zamorras, der das Amulett zuvor getragen hatte. Nur mit allergrößter Mühe war es ihnen gelungen, ihre eigene Zeit wieder zu erreichen.* Und nun war es abermals passiert. *siehe PZ 51: »Das Schiff der toten Seelen«
Eine Reise in die Vergangenheit … »Aber wie ist es möglich?«, fragte Bill kopfschüttelnd. »Tezcatlipocas Jünger dürften dafür verantwortlich sein«, antwortete Zamorra. »Wir sind bisher von falschen Voraussetzungen ausgegangen, als wir annahmen, dass die Schlächter bloße Imitatoren ihrer Vorfahren sind. Die Diener des Schrecklichen sind echt! Es sind Azteken oder Chalca. Sie stammen aus diesem Jahrhundert hier, in das wir geraten sind. Irgendwie, mit Hilfe ihrer magischen Kräfte, haben sie es geschafft, einen Weg zu finden, auf dem sie nach Belieben von einem Jahrhundert ins andere wandern können. Dies ist der wahre Grund, dass sie immer wieder spurlos verschwinden konnten. Sie sind ganz einfach in ihre eigene Zeit zurückgekehrt.« »Und wo ist dieser Weg? Wir haben vorhin diesen ganzen Raum hier abgesucht. Haben wir vielleicht einen Weg zurück in unsere eigene Zeit gefunden?« Der Professor zuckte die Achseln. »Ich weiß auch nicht«, antwortete er. »Durchaus möglich, dass das Tor in unsere Dimension nur zu bestimmten Zeiten geöffnet ist. Wir haben Glück gehabt und sind durchgekommen. Oder auch Unglück – ganz wie man es nehmen will.« »Und was machen wir jetzt?« Nicole versuchte, die beiden Männer wieder von der Theorie zur Praxis zurückzuführen. »Eine gute Frage«, sagte der Professor nachdenklich. »Hier bleiben und darauf warten, dass sich das Tor in unsere Zeit vielleicht wieder von selbst öffnet, können wir nicht. Es ist jederzeit möglich, dass einer oder mehrere Jünger auftauchen. Was sie dann mit uns machen, können wir uns wohl alle vorstellen.« Bill nickte. »Noch dazu, wo sie hier sozusagen ein Heimspiel haben. Auswärtsmannschaften sind immer schlechter dran. Das gilt nicht nur für Sportveranstaltungen.« »Also raus hier!«, schlug Zamorra vor. »Wir müssen uns draußen
im Freien irgendwo ein ruhiges Plätzchen suchen, wo wir halbwegs sicher sind. Und dann … Kommt Zeit, kommt Rat.« Der Spalt in der Wand war nicht breit genug, um sich hindurchzwängen zu können. Überraschenderweise bereitete es jedoch nicht die geringsten Schwierigkeiten, ihn zu erweitern. Sie brauchten nur dagegen zudrücken. Das Segment schwang weiter zurück, gab den Weg frei. Vorsichtig traten sie nach draußen. Die Stadt im Tal war zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können. Dies hatte den Vorteil, dass auch sie von unten nicht ausgemacht werden konnten. Und die Bewohner oder Diener des Tempels? Diese Frage war nur mit Schulterzucken zu beantworten. Jedenfalls ließ sich keine Menschenseele blicken. Neben ihnen ragte steil eine Tempelmauer in die Höhe. Sie stieg schräg an, in der typischen Pyramidenbauweise der alten mittelamerikanischen Götzenheiligtümer. Stuck, bunt bemalt und mit kunstvollen Reliefs versehen, verkleidete den Stein. Sie alle drei bedauerten sehr, sich nicht mehr Zeit nehmen zu können, um den Originalzustand der Ruine ihrer Epoche gebührend zu bewundern. Das Herz des Historikers Fleming blutete dabei, aber es war immer noch besser, dass das Herz blutete und nicht der Körper, in dem es schlug. »Komisch, dass man hier so direkt ins Freie tritt«, wisperte Nicole. »Man sollte doch meinen, dass solche wichtigen Räume im Inneren des Tempels liegen.« »Irrtum, meine Liebe«, klärte Bill sie auf. »Es gibt kein Inneres des Tempels. Der Kern der Pyramide ist massiv. Die eigentlichen Geschehnisse – religiöse Zeremonien, Opferungen und so weiter – spielen sich weiter oben ab. Auf der Spitze des Tempels, die abgeflacht ist.« Er streckte den Zeigefinger aus. »Da drüben, siehst du die Treppe? Da geht’s rauf. Die Räume hier unten – es gibt mit Sicherheit noch andere – haben rein funktionellen Charakter. Lagerräume
für Opferbeigaben, Zellen, in die man die Gefangenen sperrt, die zur Opferung vorgesehen sind, auch Wohnräume der Priester. Und …«, er lächelte ein bisschen verkniffen, »… Wartesäle für Zeitreisende.« »Ihr redet zu viel«, schaltete sich der Professor ein. »Es soll schon Menschen gegeben haben, die sich um Kopf und Kragen geredet haben. Wollt ihr unbedingt dazugehören?« »Dass wir uns um den Kragen reden, ist ja wohl schlecht möglich. Hast du einen?«, bemerkte Bill in Anspielung auf ihre Nacktheit. »Nein, aber ich habe einen Kopf«, sagte Zamorra. »Und den möchte ich eigentlich noch ein Weilchen behalten.« »Dem möchte ich nicht widersprechen. Okay, also wohin?« Rechts von ihnen, neben dem Tempel, war die Flanke des Vulkans sichtbar. Ein Pfad war nicht zu erkennen, was möglicherweise nur vorteilhaft sein konnte. Wenn es ihnen gelang, unbemerkt die Breitseite der Tempelmauer zu passieren, konnten sie zwischen den Felsen Schutz suchen. Die Gefahr, dass zufällig jemand des nicht existenten Weges kam, war denkbar gering. Sie verständigten sich mit wenigen Worten. Dann ließen sie der Idee die Tat folgen. Wie Hundert-Meter-Läufer sprinteten sie los. Es war nicht leicht, zumal sie kein Schuhwerk an den Füßen hatten. Spitze Steine bohrten sich schmerzhaft in die solchen Strapazen nicht gewohnten Fußsohlen. Dazu kam die dünne Höhenluft, die Herz und Blut schneller arbeiten ließ. Aber sie schafften es. Zwei Minuten später lag der Tempel in ihrem Rücken, und sie tauchten zwischen Felsgestein und moosartigem Gestrüpp unter. Niemand hatte sie gesehen.
* Sie wurden sich schnell klar darüber, dass guter Rat auch dann teuer war, wenn keine akute Lebensgefahr bestand. Länger als eine Stunde hockten sie nun schon in einer gut ge-
schützten Felsmulde, etwa hundert Meter von der Pyramide entfernt. Aber ein zündender Gedanke, wie nun alles weitergehen sollte, war ihnen immer noch nicht gekommen. »Fassen wir zusammen«, sagte Zamorra. »Wir sind unbewaffnet wie ein paar Leute von der Heilsarmee, nackt wie neugeborene Kinder und – im Vergleich zu Indianern – weiß wie Schafskäse.« »Außerdem kennen wir uns hier aus wie Tarzan im Dschungel der Großstadt«, gab Bill seinen Senf dazu. »Unsere Sprachkenntnisse sind so bedeutend, dass wir schon Schwierigkeiten hätten, jemandem Guten Morgen zu sagen.« »Ich denke, ihr könnt dieses Nahuatl. Ihr wisst zum Beispiel, dass Tedingsda Fürst oder Herr heißt und …« Nicole blickte von einem zum anderen. »Wir wissen auch, dass Coatl Schlange heißt, Tezcatlipoca Rauchender Spiegel und noch ein paar andere Dinge mehr«, sagte der Professor. »Aber mit so ein paar Brocken ist es natürlich nicht möglich, Unterhaltungen zu führen. In jedem Fall können wir uns, so wie es ist, unter keinen Umständen unauffällig unters Volk mischen. Andererseits können wir aber auch hier nicht bis in alle Ewigkeit hocken bleiben.« »Ganz schön besch … eiden, unsere Situation«, diagnostizierte Fleming. Und das war es vorerst. Die Diagnose war gestellt, mit der Kur haperte es jedoch. Misstrauisch starrten sie zum Tempel hinüber, den sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatten. Von reger Aktivität auf dem Pyramidengelände konnte keine Rede sein. Nach wie vor hatte sich kein menschliches Wesen blicken lassen. Die Götzenpriester waren entweder mit ihren Gefangenen hinunter nach Amecameca gezogen oder aber, was genauso gut möglich war, sie hielten sich irgendwo in einem der Tempelräume auf und taten Dinge, die Götzenpriester so taten.
Schließlich aber geschah doch etwas. In der ihrem Blickfeld zugewandten Tempelmauer tat sich eine Öffnung auf. Drei Männer traten hervor. Zwei von ihnen gehörten ganz offensichtlich der unseligen Priestertruppe an. Die Jaguarfelle, die sie trugen, wiesen sie zweifelsfrei aus. Der dritte Mann jedoch war nackt wie Zamorra, Nicole und Bill auch. Die Sonne schimmerte auf seiner rotbraunen Haut. Eindeutig befand er sich nicht freiwillig in der Gesellschaft der beiden anderen. Sie schleppten ihn gewaltsam mit sich. Viel Widerstand konnte er nicht leisten, denn jetzt sahen sie, dass seine Arme gefesselt waren. Ein Gefangener. Höchstwahrscheinlich eins jener Opfer, die die Jünger des Schrecklichen aus dem zwanzigsten Jahrhundert in diese Epoche geschleppt hatten. Die Wandöffnung schloss sich wieder hinter den Männern, und sie setzten sich in Bewegung. Ihr Weg war nicht weit. Schon nach wenigen Metern blieben sie wieder stehen. Der eine der Jaguarfellträger legte seine Hand auf eine bestimmte Stelle der Wand. Diese schwang in bekannter Manier zurück. Die Priester drängten ihren Gefangenen ins Innere. Der nackte Indianer wollte nicht, wehrte sich verzweifelt und lautstark. Sein Gebrüll drang vernehmbar zu den Beobachtern herüber. Aber natürlich nutzte ihm seine Gegenwehr nicht das geringste. Roh trieben ihn die Diener des Schrecklichen in den Raum. Das Wandsegment klappte hinter ihnen zu. »Mein Gott«, sagte Nicole mitfühlend. »Habt ihr ihn schreien gehört? Was mögen sie da drin mit ihm anstellen?« »Töten wahrscheinlich«, meinte Bill verbittert. »Können wir denn gar nichts tun?«, fragte Nicole verzweifelt. »Man kann doch nicht einfach zusehen, wie sie …« Zamorra richtete sich in eine sitzende Stellung auf. »Du bringst mich da auf eine Idee«, sagte er nachdenklich. »Ja?« »Wir sind uns gerade einig darüber geworden, dass eins unserer
Hauptprobleme darin liegt, dass wir uns nicht mit den Eingeborenen verständigen können. Der Gefangene da drüben kann sich in dieser Beziehung wahrscheinlich besser helfen.« »Wieso?« »Viele der Indios unserer Tage sprechen noch eine der alten Stammessprachen. Nicht unbedingt das Nahuatl der Azteken, aber doch einen Dialekt, der den gleichen Stammbaum hat. Ein Mann mit solchen Fähigkeiten könnte uns sehr nützlich sein.« Bill blickte ihn mit gekräuselter Unterlippe an. »Du meinst, wir sollten …« Zamorra nickte. »Ja, ich meine, wir sollten versuchen, den Mann zu befreien. Einmal wäre es ein Gebot der Menschlichkeit. Und zum zweiten … Ich weiß nicht, inwieweit ihr euch über die Bedeutung von Zeitreisen im klaren seid. Falls nicht, kann ich euch etwas auf die Sprünge helfen. Nehmen wir diesen konkreten Fall hier. Die Kultur des alten Mittelamerika hatte einen beachtlichen Stand erreicht. Aber diese Entwicklungsstufe hält natürlich keinen Vergleich mit den Verhältnissen im zwanzigsten Jahrhundert aus. Wenn jedoch nun Menschen aus der Aztekenzeit in der Lage sind, in die Zukunft zu reisen, ist dies äußerst gefährlich. Sie bringen Dinge in Erfahrung, die die Azteken nie gekannt haben. Technik, Erfindungen, alles mögliche. Das Rad zum Beispiel. Die Indianer kannten das Prinzip des Rades nicht. Sie lernten es erst durch die Spanier kennen, die ihr Reich eroberten. Ein großes Handicap der aztekischen Heeresführung war das Nichtvorhandensein von räderbestückten Fahrzeugen. Nicht zuletzt deshalb waren sie den Spaniern unterlegen. Was geschieht nun, wenn sie plötzlich Fahrzeuge mit Rädern haben und den Eroberern damit entgegentreten? Sehr fraglich, ob Cortez unter diesen Umständen die Azteken besiegen kann. Und was dann? Die Geschichte nimmt einen vollkommen anderen Verlauf. Das heutige Mexiko, das Mexiko unserer Tage, entsteht wahrscheinlich überhaupt nicht. Seht ihr die Fülle von Paradoxa, die entstehen können? Weltweite Auswirkungen sind möglich. Das darf
nicht geschehen. Wir müssen also zuerst einmal feststellen, ob in dieser Welt, in der wir uns jetzt befinden, bereits irgendwelche Veränderungen eingetreten sind. Um das feststellen zu können müssen wir wissen, welches Jahr wir jetzt schreiben. Und deshalb … Wie gesagt, der gefangene Indio dort drüben könnte uns helfen.« Nach der langen Rede hätte der Professor am liebsten eine Zigarette geraucht. Aber die waren ja, zusammen mit allem anderen, an der Nahtstelle zwischen den Zeiten hängen geblieben. Nicole und Bill hatten verstanden, was er sagen wollte. Ganz plötzlich trugen sie alle drei eine ungeheure Verantwortung. Möglicherweise hing das Schicksal der ganzen Welt von ihrem zukünftigen Verhalten ab. »Okay«, sagte Bill. »Versuchen wir, den Indianer rauszuholen.«
* Die Aktion barg zweifellos ein großes Risiko in sich. Zwar hatten sie vorher über eine Stunde den Tempel beobachtet, ohne dass einer der Jünger Tezcatlipocas oder eine sonstige Figur auf den Plan getreten war, aber sie hatten keinerlei Garantie dafür, dass es immer so ruhig bleiben würde. Dennoch hatten sie keine andere Wahl. Sie hatten beschlossen, dass Nicole in der Felsmulde zurückbleiben sollte. Die Aufgabe der Frau war es, sofort Alarm zu schlagen, wenn sich Unvorhergesehenes in ihrem Rücken tat. So gesichert liefen der Professor und Bill Fleming los, den Weg zurück, den sie vorhin gekommen waren. Ohne Zwischenfall erreichten sie die Tempelmauer, abgesehen davon, dass sich Bill an einem scharfkantigen Stein den großen Zeh des rechten Fußes aufgeschlagen hatte. Zamorra hatte sich die Stelle, an der die Männer in der Wand verschwunden waren, ganz genau gemerkt. Auch der Punkt, den der eine der beiden Priester berührt hatte, um das Wandsegment zu-
rückschwingen zu lassen, war in seinem Gedächtnis geblieben. »Also, Bill!«, sagte er. »Die Marschroute ist klar. Ich stürme hinein und versuche, die Kerle unschädlich zu machen. Du bleibst im Hintergrund und deckst mich. Noch Fragen?« Der Amerikaner machte ein bedenkliches Gesicht. »Ich weiß noch immer nicht so recht«, meinte er. »Zwei gegen einen, das gefällt mir nicht. Warum nimmst du nicht den einen und ich den anderen? Das wäre doch viel einfacher.« Der Professor schüttelte den Kopf. »Eben nicht! Du vergisst, dass wir es hier nicht mit gewöhnlichen Menschen zu tun haben. Die beiden sind mit bösen Mächten im Bunde. Ihnen stehen Mittel zur Verfügung, gegen die ein Normalsterblicher wie du machtlos ist. Ich rechne mir nur deshalb eine Chance aus, weil ich das hier habe.« Mit diesen Worten griff er an seine Brust und umschloss das Amulett mit der rechten Hand. Er nahm das Medaillon ab und hielt es wie einen Schlagring. »Gestern im Hotel hat sich diese Methode bestens bewährt. Warum nicht auch hier?« Achselzuckend gab sich Bill Fleming zufrieden. »Du bist der Boss!«, sagte er. »Also dann auf in den Kampf!« Zamorra legte die freie Hand auf die bewusste Mauerstelle und drückte. Die Wand öffnete sich auf Anhieb. Mit großer Anstrengung verbreiterte der Professor den Spalt so weit, dass er ins Innere schlüpfen konnte. Dann war er drin. Sprungbereit blieb er am Eingang stehen, um sich zu orientieren. Die Szene hätte jedem Horrorfilm zur Ehre gereicht, einem, der das sadistische Element in den Vordergrund stellte. Es waren wirklich nur zwei der Jünger des Schrecklichen anwesend. Die stillen Befürchtungen, noch andere vorzufinden, die sich bereits vorher in dem Raum aufgehalten hatten, bewahrheiteten sich
Gott sei Dank nicht. Die Jaguarmänner waren so in ihre Tätigkeit vertieft, dass sie sich nicht einmal umwandten, als sich das Eingangssegment quietschend bewegte. Vielleicht nahmen sie auch nur an, dass einer ihrer Spießgesellen erschienen war. Sie ließen sich jedenfalls anfänglich nicht stören und fuhren mit ihrer schauerlichen Arbeit fort. Sie waren dabei, den Indianer aus dem zwanzigsten Jahrhundert zu foltern. Auf eine besonders grausame Art und Weise. Der Bedauernswerte war an eine Steinsäule gebunden worden, mit schrecklich verdrehten Armen. Zu seinen Füßen brannte ein Holzfeuer. Die beiden Folterknechte hatten nadelspitze Obsidianmesser in den Händen, die sie in den Flammen erhitzten und anschließend auf die Haut ihres Opfers pressten. Der Körper des Gemarterten war über und über mit kleinen Brandwunden übersät. Die qualvollen Schreie des Unglücklichen hallten von den Steinwänden wider. Von aufrechtem Zorn getrieben stürzte Professor Zamorra auf die Folterer los. Sie bemerkten ihn erst, als er schon fast heran war. Einen Sekundenbruchteil standen sie beinahe bewegungslos da. In ihren kalten Augen nistete das Erstaunen. Aber sie fassten sich bemerkenswert schnell. Der eine sprang nach links weg, der andere nach rechts. Mit gezückten Messern und in gebückter Haltung belauerten sie ihn. Zamorra befand sich in einer gewissen Zwickmühle. Er hatte damit gerechnet, dass die Diener Tehcatlipocas magische Waffen gegen ihn einsetzen würden, die sein Amulett neutralisieren konnte. Nun sah es aber so aus, als würden sie doch herkömmlichen Kampfmethoden den Vorzug geben. Zwei gegen einen – es würde nicht einfach werden. Die beiden Männer, kleiner als er und unerhört geschmeidig wirkend, hatten die Messer. Er hingegen war unbewaffnet. Das Medaillon konnte ihm in einem normalen Handgemenge keine Dienste leisten. Der eine der beiden stieß ein paar Kehllaute aus, bei denen es sich anscheinend um ein Kommando handelte. Gleichzeitig schnellten
die Priester auf den Professor zu, die Dolche aus dunklem Glasstein zum tödlichen Stoß erhoben. Blitzschnell sprang Zamorra beiseite, entging um Haaresbreite der fetzenden Klinge eines Messers. Der andere Dolch ritzte seinen linken Bizeps, zauberte Blutstropfen auf die Haut. Ein glühender Schmerz fuhr durch den Arm des Professors. Die Messerspitze war noch heiß gewesen, und er konnte sich jetzt lebhaft vorstellen, welche Qualen der Gefolterte erlitten hatte. Er ging zum Gegenangriff über. Durch den Schwung hatten die Mordbuben leicht das Gleichgewicht verloren. Zamorra machte sich diesen Umstand zunutze, indem er, sich um seine eigene Achse drehend, einen gewaltigen Rundschlag abfeuerte. Seine Rechte, stahlhart geworden durch das umklammerte Medaillon, traf den einen der beiden Kerle am Hinterkopf. Augenblicklich brach der Mann betäubt zusammen. Er stürzte jedoch so unglücklich, dass er genau zwischen Zamorras Beine geriet und diesen zum Straucheln brachte. Der andere Schreckensjünger erkannte seine Chance sofort. Mit gestrecktem Fuß trat er dem Professor in die Kniekehle. Kein Karatekämpfer hätte diesen Tritt besser ansetzen können. Zamorra konnte sich nicht länger auf den Füßen halten. Das Bein knickte ihm weg, und er fiel schwer auf den Steinboden, wobei er zu allem Unglück auch noch hart mit dem Kopf aufschlug. Er hatte das Gefühl, zwanzig Whisky hintereinander getrunken zu haben. So benommen war er. Wie durch einen roten Nebel sah er die Spitze des Dolches auf sich zurasen. In diesem Augenblick gab er für sein Leben keinen Pfifferling mehr. Mit einem Reflex wälzte er sich zur Seite. Verzweifelt bemühte er sich, die Herrschaft über seinen Körper zurückzugewinnen. Der Priester hatte seinen Stoß, der durch Zamorras Reflexbewegung fehlgegangen wäre, abgestoppt. Nun nahm er abermals den Arm zurück, um seinem Gegner endgültig den Todesstreich zu ver-
setzen. Er kam nicht mehr dazu. Bill Fleming hatte in den Kampf eingegriffen. Als ihm klargeworden war, dass der Freund in Schwierigkeiten geriet, hatte ihn nichts mehr auf seinem Lauscherposten am Eingang gehalten. Wie ein Stier war er durch den Raum gestürmt und hatte sich von hinten auf den stechwütigen Teufelspriester geworfen. Er packte den schwarzen Haarschopf des Kerls, riss ihn zu Boden und schmetterte den Schädel gegen eine Steinplatte. Mit einem tiefen Seufzer kehrte der Jünger Tezcatlipocas in das Reich des Vergessens ein. Sofort danach beugte sich Bill über den Professor. »Alles in Ordnung, alter Junge?« Die wabernden Nebel vor Zamorras Augen hatten sich inzwischen gelichtet. Er war wieder voll da und kam augenblicklich auf die Füße. Ein bisschen unsicher fühlte er sich noch, aber das würde sich schnell geben. »Alles in Ordnung«, antwortete er. »Wirklich?« Bill hatte erst jetzt seinen blutenden Oberarm entdeckt. »Und das da?« Der Professor machte nur eine abwehrende Handbewegung. »Nicht der Rede wert. Nur ein harmloser Kratzer. Fürs erste muss sich Tezcatlipoca mit ein paar Tropfen zufrieden geben.« Um den Wahrheitsgehalt seiner Worte zu unterstreichen, schwenkte er mit betonter Lässigkeit den verletzten Arm. Die Wunde schmerzte zwar noch, aber es war auszuhalten. Erleichtert stellte er fest, dass der Dolchstich keine Sehne verletzt hatte. Der Arm würde auch in Zukunft voll belastbar sein, und das war die Hauptsache. Die beiden Freunde wandten ihre Aufmerksamkeit dem Indianer zu. Der hing wie ein verkrümmtes Fragezeichen an seinem Pfeiler. Aber er war voll bei Bewusstsein, hatte das Handgemenge, das sich vor seinen Augen abgespielt hatte, genau verfolgt. Er ahnte wohl, dass die beiden Männer gekommen waren, um ihm
Hilfe zu bringen. Hoffnungsfunken blitzten in seinen schmerzdunklen Augen auf. »Wie geht es Ihnen, Freund?«, fragte Zamorra auf Spanisch. Er beschränkte sich jedoch nicht nur darauf, Fragen zu stellen. Mit einem der Obsidianmesser, das dem einen der Schlächter aus der Hand gefallen war, zerschnitt er den Strick, der den Indio an den Pfeiler fesselte. Der Mann krächzte nur etwas Unverständliches. Die Frage nach seinem Befinden beantwortete er aber doch ganz zweifelsfrei. Hilflos kippte er vornüber, nachdem die Fesseln gelöst waren. Wenn ihn Zamorra nicht mit den Armen aufgefangen hätte, wäre er auf den Boden aufgeschlagen. »Wir werden ihn tragen müssen«, stellte der Professor fest. »Er kann ja nicht mal stehen, geschweige denn gehen oder gar laufen.« Bill nickte. »Meinst du, er kommt durch? Du verstehst doch einiges von Medizin.« »Schwer zu sagen. Man müsste ihn näher untersuchen. In jedem Fall haben ihm diese Sadisten ziemlich übel mitgespielt.« »Okay, dann nichts wie raus hier«, empfahl der Amerikaner. »Sonst kommt doch noch einer und verpfuscht uns die Partie.« Er wollte dem Professor bei der Beförderung des Indios zur Hand gehen, wurde jedoch von Zamorra abgewehrt. »Lass nur, das schaffe ich schon allein. Untersuche du schnell die Götzenpriester. Wenn sie Spiegel bei sich haben, nimm sie mit.« Der Historiker kam der Aufforderung sofort nach. Er beugte sich über die beiden Kerle, die noch immer bewusstlos waren und dies wohl auch noch eine Weile bleiben würden. Er ging nicht unbedingt zärtlich mit ihnen um. Beim Erwachen würden ihnen bestimmt ein paar blaue Flecken an ihren Körpern auffallen. »Keine Spiegel«, stellte er nach der Durchsuchung enttäuscht fest. »Sch …«, zischte Zamorra unfein. »Sonst nichts Nützliches, was
wir brauchen können?« »Bis auf die Fellumhänge unterscheiden sie sich kein bisschen von uns.« »Gut oder vielmehr nicht gut! Dann nimm ihnen wenigstens die Felle ab. Und vergiss auch die Dolche nicht.« Bill schälte die Jünger des Schrecklichen aus ihren Kleidungsstücken, wobei diese noch um einige blaue Flecke mehr bereichert wurden. Dann klaubte er die Obsidianmesser auf. »Fertig zum Abmarsch«, verkündete er anschließend. »Du auch?« Bemüht vorsichtig wollte Zamorra den Indianer auf seine Schulter heben. Überraschenderweise leistete dieser schwachen Widerstand. »Señor«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich … ich kann selbst gehen.« Er hatte Spanisch gesprochen. Jeder Zweifel, ob es sich wirklich um einen Zeitgenossen von ihnen handelte, konnte damit ad acta gelegt werden. Zamorra war jedoch nicht davon überzeugt, dass der Indianer wirklich in der Lage sein würde, sich auf eigenen Füßen fortzubewegen. »Sind Sie sicher?«, erkundigte er sich zweifelnd. Der Mann senkte bejahend den Kopf. »Bon, versuchen wir es!« Er gab seinen Schutzbefohlenen frei. Und tatsächlich – er konnte stehen, wenn auch schwankend. Allerdings nur für zwei Sekunden. Dann musste ihn der Professor wieder stützen, um ein Umkippen zu verhindern. »Lassen wir das lieber«, sagte Zamorra. »Ein kluger Mann aus Old Germany hat einmal gesagt: Keine Experimente! Wollen wir uns daran halten. Machen Sie sich so leicht wie möglich, ja?« Diesmal ließ es der Indianer geschehen, dass ihn der Professor hochhob. Indianer gehörten zwar nicht unbedingt zu den größten Rassen der Welt, und dieser hier war keineswegs ein besonders imposanter
Vertreter seines Volkes. Dennoch hatte er ein ganz anständiges Gewicht. »Gut, Bill!«, sagte er. »Abmarsch!« Der Amerikaner huschte zum Eingang, steckte prüfend den Kopf nach draußen und winkte. »Kein Aas in Sicht!«, gab er bekannt. »Dann los!« Wenig später befanden sie sich wieder in der Felsmulde bei Nicole.
* Die Abenddämmerung war hereingebrochen. Der Himmel hatte eine tintenblaue Färbung angenommen, die sich nun langsam zum Schwarzen hin verdunkelte. Es wurde kühl, unangenehm kühl sogar. Insbesondere Bill und Zamorra, die noch immer unbekleidet waren, fühlten sich gar nicht so wohl unter ihrer Gänsehaut. Aber es war natürlich selbstverständlich für sie gewesen, die wärmenden Jaguarfelle Nicole und dem geschundenen Indianer zu überlassen. Tizoc Pizana, so hieß der Mann, hatte sich bemerkenswert gut erholt. Blut hatte er kaum verloren. Da seine Quälgeister mit glühenden Messern gearbeitet hatten, waren seine Wunden ziemlich schnell verschorft. Ganz klar, dass er noch erhebliche Schmerzen verspürte. Verbrennungen brauchten ihre Zeit, um zu heilen. Aber in jedem Fall war er jetzt wieder in der Lage, sich voll und ganz an den Gesprächen zu beteiligen, die sie miteinander führen mussten. Mit stockender Stimme erzählte er zuerst seine Leidensgeschichte. Und die seiner Frau. Seine seelischen Schmerzen waren vielleicht noch größer als die körperlichen. Zamorra, Nicole und Bill hatten vollstes Verständnis dafür. Auch sie hatten noch ständig das Bild der Hingemetzelten vor Augen.
Mit warmen Worten sprachen sie ihm ihr tiefes Beileid aus. Aber er wollte keine Beileidsbekundungen und auch kein Mitgefühl. Er wollte nur eins: Rache! Rache an den Menschen, die sein Glück zerstört hatten. »Ich werde alles tun, um es ihnen heimzuzahlen«, quetschte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Die Heilige Jungfrau von Guadalupe ist meine Zeugin!« »Beruhigen Sie sich doch, Tizoc«, sagte Zamorra besänftigend. »Seien Sie sicher, wir stehen ganz auf Ihrer Seite. Bevor wir aber überhaupt etwas unternehmen können, brauchen wir Informationen. Sie können uns dabei helfen.« »Was soll ich tun?«, fragte Pizana begierig. Wenn man ihm jetzt gesagt hätte, dass er den Tempel der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlan stürmen sollte, wäre er wahrscheinlich sofort aufgebrochen, ohne Rücksicht auf seinen geschwächten Körperzustand zu nehmen. »Beantworten Sie uns einige Fragen, Tizoc. Das heißt natürlich, wenn Sie dazu in der Lage sind.« »Fragen Sie!« Der Professor nickte. »Bon! Zuerst eins: Sie sprechen ein perfektes Spanisch. Wie steht es mit den Indianersprachen? Beherrschen Sie Nahuatl?« Pizana bejahte. »Ich komme aus einem Dorf in der Nähe von Oaxaca. Alle sprechen dort Nahuatl.« »Ausgezeichnet! Dann haben Sie bestimmt einiges von den Gesprächen der Priester mitbekommen. Wissen Sie, in welchem Jahr wir uns hier befinden?« »Nein, leider nicht. Ich weiß lediglich, dass die Spanier noch nicht im Land sind. In Tenochtitlan regiert Ahuitzotl.« Ahuitzotl! Mit dem Namen dieses Aztekenherrschers konnte Zamorra einiges anfangen. Er war der Vorgänger Moctezumas gewe-
sen, jenes Mannes, der das Aztekenreich an Hernando Cortez verloren hatte. Viele Geschichtsschreiber sagten, dass das Aztekenreich nicht untergegangen wäre, wenn statt Moctezuma Ahuitzotl den Kampf gegen die Spanier geführt hätte. Ahuitzotl war ein militärisches Genie vom Range eines Caesar, Alexander oder Napoleon gewesen. Unter seiner Herrschaft hatte das von Tenochtitlan aus beherrschte Gebiet seine größte Ausdehnung gehabt. Dass dieser Mann jetzt hier das Zepter schwang, gefiel ihm gar nicht. Räder und Feuerwaffen in Ahuitzotls Händen … Diesen Gedanken durfte man eigentlich gar nicht zu Ende denken. Er stellte weitere Fragen an Pizana: »Warum haben die Jünger Tezcatlipocas Sie gefoltert? Soweit ich orientiert bin, gehörte so etwas eigentlich nicht ins Arsenal der Azteken. Menschenopfer, ja! Aber Folterungen?« Im Gesicht des jungen Indianers zuckte es. »Sie wollten von mir wissen, wie ein Auto funktioniert und wie es kommt, dass das elektrische Licht brennt. Wie gesagt, ich komme vom Land. Meine Schulbildung hält sich in Grenzen. Ich konnte ihnen nicht sagen, was sie wissen wollten. Und deshalb … Sie glaubten, mich mit der Folter zwingen zu können. Aber selbst wenn ich Ingenieur wäre, ich hätte es ihnen nicht gesagt!« Bestürzt tauschte Zamorra einen schnellen Blick mit Bill Fleming. »Da haben wir den Salat«, sagte der Amerikaner. »Genau wie du es gesagt hast … Sie versuchen, die Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts in ihrer Zeit nutzbar zu machen.« So sah es aus. Was würde geschehen, wenn die Diener des Schrecklichen statt eines einfachen Landarbeiters wirklich einen Ingenieur oder einen Wissenschaftler in die Hände bekamen? Wie Padre Henrique erzählt hatte, waren sie erstmals vor ganz kurzer Zeit in Sacromonte aufgetaucht. Sicherlich fanden sie sich in der Welt der Neuzeit noch nicht zurecht. Aber sie würden lernen. Immerhin war einer von ihnen sogar schon bis zur Hauptstadt vor-
gedrungen. Es wurde höchste Zeit, diesem Treiben einen Riegel vorzuschieben. »Noch eine Frage, Tizoc«, fuhr der Professor fort. »Als Sie von unserer Welt in diese hier gekommen sind … Ist Ihnen dabei etwas aufgefallen?« Pizana antwortete nicht sofort. Er schluckte und kniff die Lippen fest zusammen. Tränen stiegen ihm in die Augen, die er mit einer beinahe wütenden Bewegung wegwischte. »Maria … Meine Frau …«, stammelte er. »Sie hat ihnen geholfen. Geholfen!« Er lachte fast hysterisch auf. »Sie haben sie ihrem Schandgott geopfert und Tezcatlipoca dabei angefleht, ihnen das Tor zu öffnen. Und der Schreckliche hat ihr Opfer angenommen und den Weg freigegeben.« Der Professor sah jetzt etwas klarer. Es stimmte also – die Nahtstelle zwischen den Welten klaffte nicht immer. Tezcatlipoca, ein Wesen aus der Zwischenwelt, ein Wesen aus der Dimension der Dämonen und Geister musste seine Höllenkraft einsetzen, um die Nahtstelle soweit zu erweitern, dass Menschen hindurchschlüpfen konnten. Nach einer gewissen Zeit schloss sich die Naht dann wieder. Nicole, Bill und er waren dicht hinter den Priestern und ihren Gefangenen gewesen und hatten deshalb auch noch passieren können. So ungefähr musste sich der Vorgang abspielen. Und er hatte jetzt auch eine Erklärung dafür, dass sie vollkommen nackt in der Welt der Azteken angekommen waren. Durch das Loch zwischen den Dimensionen konnten offenbar nur beseelte Spezies gelangen. Menschen und Objekte, in denen übernatürliche Kräfte schlummerten. Sein Amulett, zum Beispiel, und die Jaguarfelle der Jünger des Gottes, die dessen Wesenheit symbolisierten. Wenn seine Theorie stimmte, brauchten sie wenigstens nicht zu befürchten, in dieser Welt auf einmal mit Revolvern oder Handgranaten konfrontiert zu werden. Derartige Artikel des militärischen Hausgebrauchs würden wie Schuhe und Unterhosen an der Grenze
zwischen den Dimensionen zurückbleiben. Immerhin ein Trost. Noch eine Frage brannte dem Professor wie Feuer auf den Nägeln. Xamotecuhtli! Der Held der Chalca, von dem die Sage berichtete, dass er mit Quetzalcoatl im Bunde gewesen sei und den Terror der Jünger des Schrecklichen gebrochen habe. Amecameca war eine Stadt der Chalca. Und er, Zamorra, befand sich jetzt ganz in der Nähe. Waren am Ende Xamotecuhtli und Professor Zamorra doch ein und dieselbe Person? Aber diese Frage würde ihm Tizoc Pizana mit Sicherheit nicht beantworten können.
* Sternenklar war der Himmel und kalt die Luft in dieser Nacht. »Seht!«, sagte Pizana und zeigte nach oben. »Das Zeichen des schrecklichen Gottes.« Zamorra, Nicole und Bill folgten mit den Blicken seinem ausgestreckten Zeigefinger, der auf ein bestimmtes Sternbild gerichtet war. »Ihr Weißen sprecht vom Großen Bären«, fuhr der Indianer fort, »aber ihr irrt. Dies ist das Zeichen des Jaguars. Tezcatlipoca!« Es war Wahres dran an dem, was der Indio sagte. Mit etwas Phantasie konnte man in dieser Sternenkonstellation sehr wohl die Konturen eines Jaguars erkennen. Tezcatlipoca – der ewig junge und allmächtige Gott des nächtlichen Himmels, Schutzpatron der Zauberer und Magier. So stand es in den Handbüchern der Mythologie. Wieder einmal musste Professor Zamorra erkennen, dass Mythologie nicht nur Dichtung war. Es steckte so manche Wahrheit dahinter, die sich die berüchtigte Schulweisheit nicht träumen ließ.
Im Moment stand ihm jedoch nicht der Sinn nach solchen Betrachtungen. Er fror, hatte Hunger und Durst. Und den anderen drei ging es nicht viel anders. »Ich glaube, es dürfte jetzt an der Zeit sein«, sagte er entschlossen. Nicole blickte ihn an. Im schwachen Mondlicht konnte er deutlich erkennen, dass die Sorge in ihren Augen stand. »Willst du wirklich gehen, Chef?«, fragte sie leise. »Es ist gefährlich. Vielleicht sehen wir dich niemals wieder.« »Aber Nicole«, gab er zurück. »Das haben wir doch nun alles ausgiebig besprochen. Wir sind uns darüber einig, dass wir nicht in unsere eigene Zeit zurückkehren dürfen, bevor wir herausgefunden haben, ob es Dinge in dieser Zeit gibt, von denen die Geschichtsbücher nichts berichten. Und das können wir nur herausfinden, wenn wir uns umsehen. Hier in unserem Versteck erfahren wir gar nichts. Und außerdem wollen wir die praktische Seite nicht vergessen. Wir brauchen Essen und Trinken. Und natürlich auch etwas zum Anziehen.« Nicole blieb störrisch. »Und wenn schon«, widersprach sie. »Tizoc hat sich so weit erholt, dass er allein gehen kann. Er ist ja sogar bereit dazu. Stimmt es, Tizoc?« Der Indianer bejahte. »Da siehst du es, Chef. Er wirkt wie ein Mensch, der in dieser Welt zu Hause ist. Aber du? Du bist größer als die Bewohner und du hast eine weiße Hautfarbe. Du wirst sofort auffallen. Und dann …« Sie brach abrupt ab, schluchzte beinahe. »Vielleicht sollte doch lieber ich gehen«, mischte sich Bill in das Gespräch. »Wenn sie sich so sehr grämt …« »Fängst du jetzt auch noch an, Bill?«, entrüstete sich der Professor. »Ein blonder Indianer – das soll ja wohl ein Witz sein. Ich habe wenigstens dunkle Haare und einen dunklen Teint. Nach der Devise ›Nachts sind alle Katzen grau‹ werde ich schon durchkommen.« »Warum kann Tizoc nicht alleine gehen?«, kam Nicole auf die Fra-
ge von gerade zurück. Zamorra seufzte. Dann antwortete er. Auf Französisch, um den Indio nicht zu verletzen. »Sei doch vernünftig, Nicole. Unser Freund hier ist ein braver, tapferer Bursche. Aber er ist ein einfacher Mann vom Land. Er wüsste wahrscheinlich gar nicht, wonach er Ausschau halten sollte. Es muss schon jemand von uns mit dabei sein, der ein bisschen für ihn mitdenkt.« Er schwieg und fuhr Nicole liebevoll übers Haar. »Kopf hoch! Es wird schon alles gut gehen mit mir. Weitaus mehr Sorge habe ich wegen dir und Bill. Jetzt wo die Jünger Tezcatlipocas von ihren Kumpanen, die wir niedergeschlagen haben, wissen, dass wir im Lande sind … Wenn Sie nun eine größere Suchaktion starten?« »Mach dir darüber mal keine Gedanken«, antwortete Bill. »Du kennst doch die Geschichte von dem steckbrieflich gesuchten Schwerverbrecher, der jahrelang unerkannt direkt neben dem Polizeipräsidium gewohnt hat. So ist es auch mit uns hier. Die Kerle kommen nie auf den Gedanken, dass wir ihnen sozusagen zum Greifen nahe sind. Die vermuten uns ganz woanders. Jenseits der Berge oder unten im Tal. Hätten sie sonst vorhin eine Abordnung nach Amecameca in Marsch gesetzt?« »Ich hoffe, du hast recht«, sagte Zamorra. »Trotzdem … Wohl ist mir nicht bei dem Gedanken, euch beide hier schutzlos zurückzulassen. Vielleicht sollte ich euch mein Amulett geben.« »Kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte der Amerikaner. »Das brauchst du viel nötiger als wir.« Und betont rau fuhr er fort: »Nun macht endlich, dass ihr wegkommt. Und dass ihr nicht ohne ein paar Steppdecken zurückkehrt. Ich friere wie ein Papagei am Nordpol.« Zamorra erhob sich aus seiner sitzenden Stellung. Der Indianer folgte sofort seinem Beispiel.
Dunkel und drohend zeichneten sich schräg gegenüber die Umrisse des Pyramidentempels ab. Das Bauwerk wirkte wie ein riesiges Vorzeitungeheuer, das sich zum Sprung duckte. Wie viele von Tezcatlipocas Dienern mochten sich noch in seinen Kammern aufhalten? Vorhin, als die Schlächter die Befreiung Pizanas entdeckt hatten, waren mehr als zwanzig auf dem Tempelvorplatz herumgelaufen. Sechs von ihnen waren dann etwas später nach unten in die Stadt abgewandert. Der Rest hatte sich wieder in die Tempelräume zurückgezogen. »Ihr seid ja noch immer hier!«, fuhr Bill dazwischen. »Ich sehe schon, dass ich doch noch selber gehen muss.« Zamorra lächelte vor sich hin. Der Freund hatte eine nette Art, einem Mut zu machen. »Bon«, sagte er. »Zähle bis drei, dann siehst du uns nicht mehr.« Es dauerte dann doch noch ein bisschen länger als drei Sekunden. Nicole verabschiedete sich von ihm, als würde er in den Dreißigjährigen Krieg ziehen. Tizoc Pizana und Bill Fleming blickten dezent zur Seite. Der Amerikaner selbst machte es kurz und schmerzlos. »Bis nachher«, sagte er ganz selbstverständlich. »Und dass ihr ja nicht die bestellten Steppdecken vergesst.« Aber durch sein burschikoses Gerede konnte er Zamorra nicht täuschen. Der Professor wusste ganz genau, dass er sich ebenfalls große Sorgen machte. Er und der Indianer brachen auf. Pizana hatte sein Jaguarfell dem Professor überlassen. »Für einen Macehualli – einen Gemeinfreien aus dem einfachen Volk – geziemt es sich nicht, das Gewand eines herrschenden Priesters zu tragen.« So lautete seine Begründung. Als Ersatz hatte er sich aus langen Gräsern einen Lendenschurz angefertigt. Da sie die Möglichkeit nicht ausschließen konnten, vom Tempel
aus beobachtet zu werden, waren sie in der Anfangsphase ihres Marsches ins Tal besonders vorsichtig. Eng drückten sie sich an den Felsen entlang, so dass sie für etwaige Beobachter mit diesen verschmolzen. Der Weg ins Tal befand sich in einem weitaus besseren Zustand, als er es im Jahre 1977 gewesen war. Das Fortkommen war nicht besonders beschwerlich. Allerdings nahm der Pfad einen ganz anderen Verlauf, als ihn Zamorra in Erinnerung hatte. Es ging viel steiler abwärts. Der Grund war vermutlich in der Tatsache zu suchen, dass hier nur Fußgänger entlang kamen, da es Fahrzeuge mit Rädern nicht gab. Ziemlich schnell näherten sie sich der Stadt. Diese machte sowohl aus weiterer, als auch aus näherer Entfernung einen befremdlichen Eindruck. Und dies, obgleich Bauweise und Anordnung der Häuser so unterschiedlich von einer modernen Kleinstadt gar nicht war. Erst nach einer ganzen Weile kam Zamorra darauf, wieso ihm Amecameca so fremdartig erschien. Er war es gewohnt, Städte auch bei Nacht erleuchtet zu sehen. Straßenlaternen, Leuchtreklamen, Zimmer, aus denen Lampenlicht nach draußen drang … All dies gab es hier nicht. Wie doch die Nichtexistenz von elektrischem Licht die Szenerie so vollkommen veränderte. Aber die Dunkelheit hatte natürlich ihr Gutes. Das Beispiel mit den grauen Katzen in der Nacht traf genau ins Schwarze. Problemlos erreichten sie die ersten Häuser. Dann aber wurde es anders. Der Professor hatte eigentlich erwartet, eine schlafende Stadt vorzufinden. Dem war aber nicht so. Die Stadt war hellwach. Aus vielen Häusern, die sie passierten, drang Stimmengewirr nach draußen. Und auch die ungemein verwinkelten, sehr engen Gassen – wiederum brauchte man auf Fahrzeugverkehr keine Rücksicht zu nehmen – lagen nicht so verlassen und ruhig da, wie er erwartet hatte. Je tiefer sie in das Innere der Stadt eindrangen, desto lebhafter
wurde es. Viel zu lebhaft für den Geschmack des Professors. Menschen wurden schattenhaft sichtbar. Und immer öfter trafen sie jetzt aufbrennende Fackeln, die die Dunkelheit aufhellten. Zamorra fühlte sich ausgesprochen unwohl. Er hatte vorgehabt, in aller Ruhe und möglichst unbelästigt von Stadtbewohnern Studien zu treiben. Als Zielobjekt hatte er den Stadtkern im Auge gehabt, dort wo die höchsten Gebäude standen. Tempel, Paläste der Herrschenden … Hier waren die Chancen am größten, etwaigen Abweichungen von der geschichtlichen Norm auf die Spur zu kommen. Wie es aber jetzt aussah, würde es ziemlich schwer werden, unter den gegebenen Umständen diesen Plan in die Tat umzusetzen. Die Gefahr, aufzufallen, wurde immer größer. Vor allem Pizana und seine Kleidung machten sie verdächtig. Sie passte nicht, weder der selbstgebastelte Lendenschurz des Indianers, noch sein Jaguarfell. Sämtliche Männer, die ihnen vor Augen gekommen waren, trugen sackähnliche Umhänge in einer nicht klar erkennbaren dunklen Farbe. Und alle trugen einen federartigen Kopfschmuck. Eine deutlich spürbare Hektik beherrschte die Stadt. Und das zu einer Zeit, in der man normalerweise tief und fest schlief. In dieser Beziehung unterschieden sich die alten Völker Mittelamerikas ja wohl nicht von ihren Nachkommen. Zamorra und Pizana suchten Schutz zwischen zwei dichtstehenden Häusern, hinter deren Wänden keine Betriebsamkeit festzustellen war. Der Professor beabsichtigte jetzt, hier eine Weile auszuharren und darauf zu warten, dass sich die allgemeine Unruhe legte. Irgendwann mussten die Leute ja mal ihren Schlafgöttern in die Arme sinken. Vorläufig sah es jedoch nicht danach aus. Und langsam aber sicher begann ein ganz bestimmter Verdacht in Zamorra zu keimen. Diese einheitlich gewandelten Männer auf den Straßen erinnerten ganz verdammt an eine organisierte Truppe. Soldaten, Polizisten
oder etwas in dieser Richtung. Und ihre Aktivitäten auf den Straßen … Wenn sie nun jemanden suchten? Wenn sie ihn, Bill und den befreiten Pizana suchten? Er musste Gewissheit haben. »Tizoc«, flüsterte er. »Wie fühlen Sie sich?« »Ein bisschen unbehaglich«, antwortete der Indianer. »Aber im übrigen gut.« »Ausgezeichnet, Tizoc. Dann wappnen Sie sich schon mal. Gleich gibt es Arbeit.«
* Der Verdacht des Professors verdichtete sich. Wenn das keine Suchpatrouillen waren, dann wollte er ab sofort tot umfallen. Oder gab es sonst einen Grund, dass sie jedes einzelne Haus in Sichtweite betraten und kurz danach wieder verließen? Bestimmt nicht. Einer der Suchtrupps, zwei Mann, näherte sich jetzt mit einer Fackel zielstrebig den beiden Häusern, zwischen denen sie sich verborgen hielten. Zamorra machte zwei, drei gymnastische Übungen, um die Muskeln zu lockern. Die Armverletzung spürte er kaum noch. Er fühlte sich topfit. »Warten Sie hier auf mich, Tizoc«, raunte er seinem Begleiter zu. »Was haben Sie vor, Señor?« Der Professor wollte sich längere Erklärungen ersparen. »Bin gleich wieder da«, sagte er deshalb nur kurz. Dann trat er ein paar Schritte vor und lugte um die Ecke. Die beiden Männer, die ihm aufgefallen waren, standen vor dem gegenüberliegenden Haus. Einer von ihnen trommelte gegen die Tür. Niemand öffnete. Die zwei machten kurzen Prozess. Der Größere von ihnen langte
unter seinen Umhang und holte einen nur undeutlich erkennbaren Gegenstand hervor, der in etwa einer Flasche ähnelte. Es war keine Flasche, sondern eine Keule, wie Zamorra sofort feststellen konnte. Der Mann holte schwungvoll aus und schlug zu. Das hässliche Geräusch splitternden Holzes wurde hörbar, wiederholte sich noch mehrmals. Anschließend verschwanden die Männer im Haus. Raue Sitten, dachte Zamorra. Von der Achtung vor Privateigentum hielt man hier wohl nicht viel. Wenn sie mit Menschen, die nicht sofort spurten, genauso umgingen, dann gute Nacht. Der Professor huschte über die Gasse, auf den Hauseingang zu, den die beiden Männer soeben gesprengt hatten. Er hörte sie drinnen herumfuhrwerken und Rufe ausstoßen, die allerdings nicht beantwortet wurden. Schien so, dass die Besitzer des Hauses nicht daheim waren. Wenig später näherten sich tapsende Schritte dem Eingang. Die Männer kamen zurück. Zamorra hatte sich im toten Winkel aufgebaut, mit geballten Fäusten. Sie erschienen im Türrahmen. Wie ein Pfeil, der von der Armbrustsehne schnellte, setzte sich der Professor in Bewegung. Die beiden waren völlig überrascht. Der mit der Keule bekam überhaupt keine Gelegenheit, sich von seiner Verblüffung zu erholen. Zamorras Rechte traf ihn genau an der Schläfe. Er stöhnte nicht einmal, als er zusammensackte wie ein Doppelzentner Mehl. Der Fackelträger fasste sich ziemlich schnell. Er versuchte, Zamorra die Flamme ins Gesicht zu drücken. Der Professor duckte sich, konnte aber nicht vermeiden, dass die obersten Haare leicht versengt wurden. Dann war er wieder dran. Mit der linken Hand packte er den Fackelarm des Mannes und drehte ihn herum. Der Bursche stieß einen spitzen Schrei aus, den Zamorra aber sofort erstickte. Mit der anderen Hand hatte er den mitgeführten Obsidian-Dolch gezückt und seinem Gegner an die Kehle gesetzt.
Zwar kannte er nicht den Nahuatl-Ausdruck für »Keinen Muckser!«, aber der erübrigte sich auch. Der Azteke oder Chalca bekam vorquellende Augen und hörte sofort auf, Widerstand zu leisten. Die Fackel entfiel seinem umgebogenen Arm. Zamorra drehte den Kopf zurück. »Tizoc!«, rief er halblaut. Erst beim dritten Anruf reagierte der Indianer. Vorsichtig, so als ob er eine Falle befürchtete, schob er seinen Kopf um die Ecke. »Kommen Sie her, Tizoc!«, forderte der Professor ihn auf. Der Indianer rannte leichtfüßig über die Gasse. »Señor, was …« Zamorra unterbrach ihn. Er nickte in Richtung des Mannes, den er niedergeschlagen hatte, und sagte: »Ziehen Sie den da hier ins Haus.« Dann ging er mit gutem Beispiel voran und drängelte seinen Gefangenen durch die zersplitterte Holztür ins Innere. Pizana folgte, den Keulenschwinger wie einen alten Aufnehmer hinter sich her ziehend. Anschließend schickte ihn der Professor noch einmal nach draußen, um die auf der Straße schwelende Fackel zu holen. Das Haus bestand im Erdgeschoss nur aus einem einzigen Raum. Und der war leer. Schmucklose graue Wände und einen ebensolchen Fußboden, sonst hatte er nichts zu bieten. Wenn das die ganze aztekische Wohnkultur war … Wiederum konnte man da nur ›Gute Nacht‹ sagen. Der Mann, dessen Kehlkopf Zamorra nach wie vor mit dem Messer kitzelte, fing an, ein bisschen zu zappeln. Der umgedrehte Ann bereitete ihm anscheinend Schmerzen. Der Professor war kein Sadist. »Machen Sie den Dolmetscher«, sagte er zu Pizana. Der Indianer nickte. »Sagen Sie ihm zuerst, dass ich ihn sofort loslasse, wenn er sich ruhig und folgsam verhält.«
Pizana übersetzte. Flüssig wie Öl kamen ihm die zungenbrecherischen Vokabeln der Aztekensprache über die Lippen. Der Einheimische antwortete, erklärte sich mit dem Vorschlag einverstanden. Zamorra ließ ihn los, war aber auf eine Heimtücke des Mannes gefasst. Diese blieb jedoch aus. Er war brav wie ein Lamm, blickte irritiert von einem zum anderen und hatte fraglos große Angst. Ja, man konnte es sogar Ehrfurcht nennen. Der weiße Mann im Jaguarfell beeindruckte ihn zutiefst. »Fragen Sie ihn, was hier in der Stadt vorgeht. Ob sie tatsächlich nach uns suchen.« Zwischen den beiden rotbraunen Männern entspann sich ein schneller Dialog, dem der Professor nicht folgen konnte. Er verstand kein einziges Wort. Theorie und Praxis seiner Nahuatl-Kenntnisse klafften weit auseinander. Schließlich präsentierte Pizana eine kurze Zusammenfassung. Beruhigt konnte Zamorra feststellen, dass der junge Indianer recht intelligent vorgegangen war. Er hatte sich nicht auf Zamorras Auskunftsbegehren beschränkt, sondern selbstständig Ergänzungsfragen gestellt. »Sie suchen tatsächlich nach uns«, sagte er. »Nach Ihnen, genauer gesagt. Zwei Männer mit Gesichtern wie Maismehl, so hat er sich ausgedrückt.« »Wer sind eigentlich sie?«, erkundigte sich Zamorra. »Amecameca ist eine besetzte Stadt, die zum Staatenbund der Chalca gehört. Cuauhmaxtli, der Tlatoani oder Herrscher der Stadt, ist zwar ein Chalca, aber die wahre Herrschaft wird von Tenochtitlan ausgeübt. Eine schlagkräftige Truppe, zu der diese Burschen hier gehören, tyrannisiert die Bevölkerung.« »Und der Tempel da oben?« Zamorra machte eine Daumenbewegung zum Vulkan hin. »Die Jünger Tezcatlipocas sind Azteken, keine Chalca.« Der Professor überlegte. »Fragen Sie ihn, ob er Xamotecuhtli
kennt«, sagte er. Der Name sagte dem Azteken nichts. Der Professor erkannte das schon, bevor Pizana die Antwort des Mannes übersetzte. Er kam nicht dazu, weiter in den Gefangenen zu dringen. Sowohl er als auch Pizana hatten im Eifer des Verhörs nicht auf den zweiten Mann geachtet. Der Bursche hatte anscheinend bereits zwischendurch das Bewusstsein wiedererlangt, dies aber nicht zu erkennen gegeben. Jetzt sprang er jedenfalls ruckartig auf. Er machte keinerlei Anstalten, die Fremdlinge anzugreifen, sondern stürmte sofort auf den Hauseingang zu. Bevor sich Pizana und der Professor gefasst hatten, war er draußen. Sein gellendes Gebrüll klang wie Feueralarm in Zamorras Ohren. Der andere Azteke, die momentane Unaufmerksamkeit seiner Bewacher nutzend, wollte ebenfalls die Flucht ergreifen. Aber so sehr saß der Professor nun auch nicht auf seinen Augen. Mit einem schnellen Schritt war er bei dem Mann und versetzte ihm einen harten Schlag in den Nacken. Der Azteke vergaß seine Fluchtgedanken und stürzte zu Boden. Ein weiterer Hieb sorgte dafür, dass er sich nicht mehr rührte. Das Geschrei des Entflohenen setzte sich fort. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis die halbe Garnison alarmiert war. »Wir müssen hier raus, Tizoc«, sagte Zamorra hastig. »Dieser Raum ist wie eine Mausefalle.« Der Indianer griff nach der Keule, die der geflüchtete Azteke in der Eile liegengelassen hatte. »Ich bin bereit«, sagte er. Sie stürzten zum Ausgang. Die Alarmschreie hatten bereits ihre Wirkung getan. Im Türrahmen stehend sah Zamorra eine ganze Reihe aztekischer Krieger. Sie kamen von zwei Seiten, schlossen ihn und Pizana in einer Art Zangenbewegung ein. Fackeln leuchteten und machten die Nacht fast zum Tag. Wenn die Zange zuschnappte, war alles verloren. Zamorra packte
das Obsidianmesser fester. Nur ein entschlossener Ausbruch konnte jetzt helfen. Links schien die Zusammenballung von Soldaten etwas lockerer zu sein. »Mir nach!«, stieß Zamorra hervor. Dann rannte er los, geradewegs in die Gruppe der Azteken hinein. Tizoc Pizana blieb ihm dicht auf den Fersen. Wie ein Unwetter fuhr er zwischen die Indianer. Er ließ den Dolch kreisen wie ein Minischwert. Die Azteken wichen ängstlich zur Seite. Vielleicht war es auch seine hohe Gestalt und die für sie so fremdartige Hautfarbe, die sie zurückprallen ließen. Nicht ein einziges Mal musste er mit dem Messer ernsthaft zustechen. Auch ohne Blutvergießen entstand eine Gasse, durch die er hindurchpreschen konnte. Pizana war nicht ganz so glücklich. Er wurde von zwei Kriegern angegriffen, die sich ihm in den Weg stellten. Aber der Mann aus Sacromonte wusste sich zu helfen. Zamorra, der jetzt stehen geblieben war, um ihm Unterstützung zu gewähren, brauchte nicht einzugreifen. Die federgeschmückte Keule seines Begleiters trat in Aktion. Einer der Angreifer bekam sie voll auf den Schädel. Der andere setzte seine eigene Keule ein, wurde jedoch von Pizana in Fechtermanier pariert. Dann führte Zamorras Helfer den Gegenschlag, dem der Azteke nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Schwer getroffen stürzte er zu Boden. Pizana war wieder an der Seite des Professors. Seine Augen sprühten vor Kampfeslust. Gemeinsam hasteten sie weiter. »Wir müssen raus aus der Stadt«, keuchte Zamorra. »In diesen Gassen werden sie uns kurz über lang einkesseln.« Der Indianer knurrte ein Wort der Zustimmung. Und weiter ging die wilde Jagd. Die Azteken hatten ihren Schock jetzt überwunden und machten sich mit heiserem Wutgebrüll an die
Verfolgung. Und sie bekamen ständig Verstärkung, denn immer neue Soldaten tauchten auf. Es blieb nicht aus, dass der Professor und Pizana die Orientierung verloren. Ein Haus sah aus wie das andere, eine Gasse wie die nächste. Mehr als einmal verstellten gegnerische Krieger ihnen den Weg. Dolch und Keule mussten für freie Bahn sorgen. Und die Azteken beschränkten sich nicht ausschließlich auf den Nahkampf. Die beiden Männer wurden mehrfach mit Steinschleudern unter Beschuss genommen. Nur der Dunkelheit hatten sie es wohl zu verdanken, dass sie nicht getroffen wurden. Trotzdem war schon jetzt abzusehen dass die Gegner am längeren Hebel saßen. Viele Hunde sind des Hasen Tod, hieß es so schön. Und das stimmte auch dann, wenn die Hasen wie die Löwen kämpften. Das Gassenlabyrinth Amecamecas nahm die Form einer ausweglosen Todesfalle an. Zamorra merkte, dass sie in genau entgegengesetzter Richtung dahinhetzten. Sie waren im Begriff, nicht zum Stadtrand, sondern zum Stadtkern vorzudringen. Die höher werdenden Gebäude sprachen eine deutliche Sprache. Und die engen Gassen wurden breiter, verwandelten sich in Straßen. Schließlich erreichten sie eine Freifläche, in deren Mitte ein einziges Bauwerk aufragte. Es war ein Rundbau, der von zahllosen Fackeln angestrahlt wurde. Der pyramidenförmige Charakter fiel sofort ins Auge. Der Bau ließ unwillkürlich an riesige, übereinandergestapelte Autoreifen denken, wobei der Durchmesser nach oben hin ständig abnahm. Den Abschluss machte ein moscheeähnlicher Aufbau. Fraglos handelte es sich um einen Tempel. Und Tempel bedeuteten im Reich der blutgierigen Götter nicht viel Gutes. Der Rückweg war ihnen abgeschnitten. Die Schergen saßen ihnen dicht auf den Fersen. Und so wurden sie völlig gegen ihren Willen
auf den Tempel zugetrieben. Die Überquerung des Tempelvorplatzes war wie Spießrutenlaufen. Geschleuderte Steine und Pfeile umschwirrten sie wie wilde Hummeln. Zamorra verspürte einen leichten Schlag gegen den Rücken. Während des Laufens tastete er nach der getroffenen Stelle. Ein Pfeil war in seinem Jaguarfell hängen geblieben. Zum Glück hatte das Ding so wenig Durchschlagskraft gehabt, dass es nicht einmal seine Haut ritzen konnte. Aber diese Feststellung war nur ein schwacher Trost. Sie standen jetzt unmittelbar vor dem Tempel. Weiter ging es nicht. Und die Horde der Krieger stürmte jetzt ebenfalls über den Platz. Aus allen Richtungen. Das Ende war nahe. Zamorra war sich dieser Tatsache genauso bewusst wie Tizoc Pizana. Die beiden Männer sahen sich mit harten Gesichtern an. »Ich hätte doch allein gehen sollen«, sagte der Professor. Es klang wie eine Entschuldigung. Der Indianer schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Señor!«, widersprach er. »Ich habe es für mich getan. Für mich und Maria! Sie ist gestorben, und ich werde sterben. Aber mit mir zusammen werden noch einige andere in den Tod gehen.« Wie zur Bekräftigung seiner Worte hob er die Keule. Die eingelassenen Obsidiansplitter glänzten im Schein der Fackeln wie ein Fanal des Todes. Die Federspitzen zitterten. Zamorra und Pizana wandten sich um, um den Ansturm der Azteken zu erwarten.
* In dem Bewusstsein, sich ihrer Opfer sicher zu sein, nahmen sie sich Zeit. In einem weit geschwungenen Halbkreis kamen sie näher. Manches war in ihren Gesichtern zu lesen. Bewunderung für die Männer, die ihnen so hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt hat-
ten … Ein gewisses Staunen über den Fremdling mit der Hautfarbe von Maismehl … Und natürlich der Triumph, letzten Endes doch Sieger zu sein. Weiter und weiter schoben sie sich vor. Wie eine unerbittliche Walze, die alles in den Staub drückte. Zamorra erkannte ihre Absicht. Die Krieger wollten sie lebend haben, wollten sie zu Gefangenen machen. Gefangene machen – das war der Lebensinhalt des Kriegers. Nicht das Töten im Kampf stand bei ihm im Vordergrund. Das Töten kam erst später. Auf den Opfersteinen der Götter, wo sich das Schicksal aller Gefangenen erfüllte. Und dann plötzlich stoppte der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der aztekischen Soldaten. Wie gebannt blieben sie stehen. Ihre Blicke waren nicht mehr auf Zamorra und Pizana gerichtet. Die beiden Männer standen ganz plötzlich nicht mehr im Brennpunkt des Geschehens. Die Blicke der Krieger gingen an ihnen vorbei. Wohin? Zamorra drehte den Kopf zur Seite. Und er sah ihn! Er stand auf einer Treppe, die zur Spitze des Tempels führte. Eine Gestalt wie aus dem Märchenbuch. Groß für einen Indianer, schlank und aufrecht wie eine Kerze. Das Gesicht eines Aristokraten, altersmäßig kaum abzuschätzen. Er trug ein Gewand, das so weiß war wie frischgefallener Schnee auf den Höhen des Popocatepetl. Auf dem Kopf trug er eine gewaltige Federkrone, und überall glitzerten Gold und Geschmeide. Zamorra war nicht minder beeindruckt als die aztekischen Krieger. Der Mann auf der Treppe sprach zu den Kriegern. Seine Stimme war voll und wohltönend. Und sie hatte etwas merkwürdig Zwingendes an sich.
Unruhe entstand unter den Belagerern. »Was sagt er?«, flüsterte der Professor. Tizoc Pizana ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er antwortete. Ganz offensichtlich war er verblüfft. »Er sagt, sein Herr, der mächtige Quetzalcoatl, will nicht, dass uns ein Leid geschieht. Er fordert die Krieger auf, sich zurückzuziehen.« Das war in der Tat eine Überraschung, eine äußerst angenehme Überraschung sogar. Nur bezweifelte Zamorra stark, dass die Soldaten der Aufforderung auch Folge leisten würden. Der Mann in Weiß, dem Anschein nach ein Priester des Gottes Quetzalcoatl, sprach weiter. Eindringlicher und bestimmter noch als zuvor. »Er sagt, wir stehen unter dem Schutz seines Herrn. Und er rät ihnen, seinen Zorn zu fürchten«, erläuterte der Indianer. Erstaunlicherweise erzielten seine Worte tatsächlich Wirkung. Die Krieger wollten den Priester und seinen Gott offenbar nicht herausfordern. Sie wichen zurück. Und in vielen Gesichtern zeigten sich Anzeichen von Bestürzung. Dann geriet der Rückzug ins Stocken. Zwei Männer traten aus den Reihen hervor. Es waren keine Krieger. Die Jaguarfelle, die sie trugen, gaben ihren Stand bekannt. Jünger des schrecklichen Tezcatlipoca! Sie stellten sich vor die Krieger hin und redeten ebenfalls auf sie ein. Wild gestikulierend und mit schrillen, befehlenden Stimmen. Pizana übersetzte: »Die Knechte des Schrecklichen sagen, die Krieger sollen nicht auf den alten Schwätzer hören. Tezcatlipoca sei der Herr, und sie seien seine Propheten.« Dieser Satz kam Zamorra bekannt vor, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Die beiden Jaguarmänner untermauerten ihre Worte, indem sie gestenreich zum Himmel wiesen. In die Richtung, in der die Sterne des Großen Bären – des Jaguar – leuchteten.
Der Priester des Quetzalcoatl griff wieder ein. Auch er zeigte zum Himmelszelt empor. Zur Venus. Der Professor erinnerte sich, dass der Abend- und Morgenstern ein Symbol der Grünfederschlange war, wie Quetzalcoatl in der Übersetzung hieß. Die Krieger waren hin- und hergerissen, wussten offenbar nicht, welchem der beiden streitenden Götter sie gehorchen sollten. Zamorra überlegte kurz, ob sie das Geplänkel zu einem Blitzstart nutzen sollten. Er entschied dann aber dagegen. Tizoc machte jetzt doch einen ziemlich geschwächten Eindruck. Und auch er selbst hatte schon Momente gehabt, in denen er weitaus frischer gewesen war. Außerdem mochte ein Fluchtversuch den Ausschlag für die Soldaten geben, sich auf die Seite Tezcatlipocas zu stellen. Wenn Menschen, die unter dem Schutz eines Gottes standen, furchtsam davonliefen, dann konnte es mit dem Schutz nicht weit her sein. Die Diskussion hatte sich inzwischen zugespitzt. Die Priester sprachen nicht mehr zu den Kriegern, sondern redeten unmittelbar miteinander. Es war eine alles andere als freundliche Unterredung. Insbesondere die Jünger des Schrecklichen ergingen sich in lauten, unfreundlichen Worten. Der Weißgekleidete jedoch verlor nichts von seiner Würde, wenn auch nicht zu verkennen war, dass seine Stimme ebenfalls an Härte zugenommen hatte. »Sie beschimpfen sich«, sagte Pizana. »Sie machen sich gegenseitig ihre Götter madig, prahlen mit der Macht des einen und belustigen sich über die Ohnmacht des anderen.« Es blieb nicht bei dem reinen Wortgefecht. Der eine der Jaguarmänner wollte es jetzt anscheinend wissen. Mit einer hastigen Bewegung griff er unter sein Fell und holte etwas hervor. Einen Spiegel! Gedankenschnell stellte sich Zamorra vor den Indianer. Sein Amu-
lett würde ihn vor der Feuerzunge schützen. Aber noch brauchte der Talisman seine Kraft nicht zu offenbaren. Der Diener Tezcatlipocas drohte offensichtlich nur. Der Priester des Rundtempels nahm die Herausforderung an. Auch er förderte einen Gegenstand zu Tage. Einen grüngefiederten Stab in Schlangenform. Wieder flogen die Argumente zwischen den feindlichen Priestern hin und her. Pizana brauchte gar nicht zu übersetzen. Ton und Mimik der Betroffenen sprachen für sich. Dann gehörte das Stadium des kalten Krieges endgültig der Vergangenheit an. Der Krieg wurde heiß. Der Anhänger Tezcatlipocas richtete seinen Spiegel auf den Weißgekleideten. Rauch und Feuer brachen hervor. Der Quetzalcoatl-Priester war jedoch wohl gerüstet. Er hielt seinen Stab wie ein Schutzschild vor sich. Eine bläulich leuchtende Korona umspielte die Schlange, raubte der dämonischen Feuerzunge jede Wirkung. Raunen ging durch die Reihen der Krieger. Mit einem Wutschrei fuhr der Mann mit dem Jaguarfell halb herum. Der Spiegel zielte jetzt auf Zamorra. Nichts, reinweg gar nichts geschah. Die Abwehrkräfte des Amuletts erstickten den magischen Angriff bereits im Keim. Das war zu viel für die Krieger. Für sie musste es so aussehen, als ob es wirklich Quetzalcoatl gewesen war, der den Fremdling beschützt hatte. Quetzalcoatl war mächtiger als Tezcatlipoca! Sie stoben davon wie von Furien gehetzt. Nur die Priester des Schrecklichen blieben zurück. Nicht lange allerdings. Denn plötzlich waren da unzählige grüne Schlangen, die mit weit aufgerissenen Rachen nach den Jaguarmännern schnappten. Die Jünger Tezcatlipocas hatten es nun ebenfalls sehr eilig, Land zu gewinnen.
Der Mann auf der Treppe wandte sich jetzt erstmalig direkt an seine beiden Schützlinge. Beinahe ehrerbietig sagte er etwas in seiner Sprache. »Er bittet um die Gnade Ihres Besuchs«, übersetzte der Indianer. Professor Zamorra nickte huldvoll.
* Sie stiegen die mit Fackeln gesäumte Treppe empor. Zamorra kam sich vor, als würde er sich auf einer Himmelsleiter fortbewegen. Hoch ging es hinaus. Der runde Pyramidentempel des Quetzalcoatl war mit Abstand das höchste Bauwerk der ganzen Stadt, wie der Ausblick von der oberen Plattform verriet. Aber nicht der Blick nach unten war es, der dem Professor beinahe das Herz stehen bleiben ließ. Der Grund hierfür war ein ganz anderer. Räder! Seltsame Räder, zweifellos. Reifen eher. Aus Holz gefertigt, weit davon entfernt, ebenmäßig rund zu sein, ohne Speichen. Aber das Prinzip war klar erkennbar. Ein Prinzip, das den vorspanischen Völkern Mittelamerikas gänzlich unbekannt gewesen war! Die Räder lagen vor einem altarähnlichen Steinblock, mit Blumen und Federn geschmückt. Zamorra musste sich anstrengen, den Priester Quetzalcoatls nicht merken zu lassen, wie sehr ihn diese Entdeckung bestürzte. Betont ausdruckslos sah er den Weißgewandeten an, der in leicht unterwürfiger Haltung vor ihm stand. Der Mann sagte etwas in fragendem Tonfall. Pizana dolmetschte. »Er bittet den hohen Herrn, seine Wünsche zu nennen.« »Hohen Herrn?«, wunderte sich der Professor Zamorra.
»So hat er sich ausgedrückt. Er hält Sie für einen hohen Herrn und mich für eine Art Diener.« »Oh!« Zamorra überlegte kurz. »Gut! Dann erklären Sie ihm doch einfach, dass wir einen unverschämten Hunger und ebensolchen Durst haben. Vielleicht gibt es hier eine Küche oder so etwas Ähnliches.« Pizana tat wie geheißen. Nicht ohne Erfolg. Der Priester verbeugte sich und klatschte in die Hände. Sofort erschienen mehrere andere Männer, ähnlich gekleidet wie der Priester, nur weitaus weniger aufwändig. Sie erhielten Anweisungen und zogen sich wieder zurück. Der Weißgewandete machte eine einladende Geste und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Er geleitete sie in den moscheeartigen Aufbau, der die Plattform beherrschte. Es ging einen von Fackeln erleuchteten schmalen Korridor entlang und endete in einem mit verschwenderischer Pracht ausgestatteten Raum. Gold und Geschmeide, kunstvolle Stein- und Holzschnitzereien, phantastischer Federschmuck und verblüffend echte Obsidianfiguren überall. Im Mittelpunkt des Raums stand ein extrem niedriger Tisch, mit weißen Tüchern bedeckt. Kreisförmig um diesen Tisch gruppierten sich diverse bestickte Sitzkissen. Unaufgefordert, wie es sich für einen hohen Herrn geziemte, setzte sich Zamorra auf eins der Kissen. Pizana tat es ihm nach. Erst nachdem die beiden saßen, nahm auch der Priester Platz. Zamorra fühlte seine dunklen, nahezu schwarzen Augen auf sich ruhen. Röntgenaugen, die bis auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen. Der Priester sprach jetzt wieder, mit sonorer, angenehmer Stimme. Anschließend machte der Indianer wie gehabt den Übersetzer. »Er sieht es als hohe Ehre an, dass der Sendbote Quetzalcoatls ausgerechnet in den Tempel von Amecameca gekommen ist. Und er wird alles tun, um sich dieser Ehre würdig zu erweisen.«
Im ersten Augenblick war der Professor sprachlos. Dann aber verstand er plötzlich. Quetzalcoatl war dem Ursprung nach kein aztekischer Gott. Die ›Grünfederschlange‹ war der Hauptgott der Tolteken gewesen, die eine ganze Reihe von Jahrhunderten vor den Azteken weite Teile von Mittelamerika beherrscht hatten. Die Gottheit war dann später von allen Völkern übernommen worden, die nach den Tolteken kamen. Zahlreiche Legenden rankten sich um die Person Quetzalcoatls. Eine davon besagte, dass er einst in menschlicher Inkarnation auf der Erde geherrscht hatte. Und der Witz bei der Sache war, dass er in dieser menschlichen Inkarnation ein Mann von weißer Hautfarbe gewesen sein sollte. Zamorra konnte sich jetzt gut in den Priester hineindenken. Menschen weißer Hautfarbe waren ihm und seinen Landsleuten unbekannt. Ganz klar, dass der Mann bei seinem Anblick sofort an seinen Gott gedacht hatte. Zamorra und sein Diener waren in Bedrängnis zum Tempel der Grünfederschlange gekommen. Und der weiße Mann hatte es geschafft, dem Höllenfeuer der Jünger Tezcatlipocas zu widerstehen. Konnte der Priester also noch daran zweifeln, dass die Kraft Quetzalcoatls in Zamorra schlummerte? So musste es sein. Der Priester hielt ihn für einen Abgesandten seines Gottes. Deshalb auch seine Ehrerbietigkeit, seine wahrscheinlich höchst uncharakteristische Unterwürfigkeit. Der Professor frohlockte innerlich. Es musste doch möglich sein, aus dieser Fehleinschätzung Kapital zu schlagen. Nur eins musste den Priestern eigentlich misstrauisch machen. Die Tatsache nämlich, dass der Sendbote seines Gottes offenbar nicht in der Lage war, unmittelbar zu ihm zu sprechen, da er der Landessprache nicht mächtig war. Er trug seine diesbezüglichen Bedenken Tizoc Pizana vor. Aber der Indianer beruhigte ihn. »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Señor«, sagte
er. »Viele Tlatoani sprechen nicht unmittelbar mit ihren Untergebenen. So etwas ist unter ihrer Würde. Sie bedienen sich eines speziellen Sprachrohrs. Und in diesem Fall bin ich Ihr Sprachrohr. Verstehen Sie?« Der Professor verstand. Starre Rangordnungen, wie sie in dieser Zeit hier gang und gäbe waren, hatten dann und wann durchaus ihre Vorteile. »Gut«, meinte er. »Dann sagen Sie meinem Untergebenen mal, dass ich eine ganze Reihe von Wünschen habe.« Pizana übersetzte und übermittelte anschließend die Antwort des Priesters: »Er würde sich glücklich schätzen, Ihre Wünsche erfüllen zu dürfen. Außerdem möchte er gerne wissen, wie er Sie nennen darf.« »Ab und zu kann man ja auch mal bei der Wahrheit bleiben«, antwortete der Professor. »Sagen Sie ihm ruhig, dass er mich Zamorra nennen soll.« Der Indianer kam der Anweisung sofort nach. Fast andächtig formte der Weißgewandete anschließend den Namen des ›Sendboten‹ mit den Lippen: »Zamo … a!« Eine plötzliche Erkenntnis durchzuckte den Professor. Es bereitete dem Priester große Schwierigkeiten, seinen Namen richtig auszusprechen. Der Buchstabe ›R‹ war ihm ungewohnt. Wenn man an den so verstümmelten Namen noch die Nahuatl-Bezeichnung für ›Herr‹ ansetzte … Xamotecuhtli! Es gehörte wirklich nicht viel Phantasie dazu, sich die Entstehung dieses Namens vorzustellen. Unbestimmte Ahnungen ergriffen Besitz von ihm. Und diese Ahnungen waren nicht unbedingt heiterer Natur. Für den Augenblick stellte er alle Überlegungen zurück. Es zeigte sich, dass es tatsächlich eine Küche in diesem Tempel gab. Und was für eine!
Sechs Männer betraten den Raum und traten auf den Tisch zu. Wäre der Chef des Pariser Maxim anwesend gewesen, er hätte sich vor Verzweiflung aufgehängt. Niemals hätte er davon träumen können, seinen Gästen einen solchen Service bieten zu können. Auf großen, mit Blattgold belegten Holzbrettern schleppten sie eine Reihe kleiner Keramikpfannen heran, in denen Holzkohle glühte. Diese Pfannen breiteten sie auf dem Tisch aus. Und dann ging es los. Eine Vielzahl von handtellergroßen Platten wurden auf die Pfannen gesetzt, gefüllt mit ungeahnten Köstlichkeiten: Kaninchen, Wildschwein, Rebhuhn, Fasan, Wachteln, Truthahn, Vögel der verschiedensten Art, Kräutersalate, Gemüse mit exotischen Essenzen angerichtet und, und, und … Die Augen konnten es gar nicht mit einem Mal aufnehmen, wollten es vielleicht auch nicht, denn es waren auch einige Platten dabei, bei deren Anblick sich der Magen eines Mitteleuropäers umdrehte. Gebackene Würmer, rohes blutendes Fleisch … Dazu gab es vielerlei Arten von Früchten und ein köstliches Getränk, das sich als Kakao entpuppte, gereicht in kleinen goldenen Bechern. Die unappetitlichen Sachen ignorierend, langten Zamorra und sein Sprachrohr zu. Und auch der Priester erwies sich nicht als Kostverächter. Er begann allerdings erst zu essen, nachdem er von Zamorra mit einem aufmunternden Kopfnicken dazu aufgefordert worden war. Während des Festmahls bekam der Professor ein richtig schlechtes Gewissen. Wenn er an Nicole und Bill dachte, die hungrig und durstig in ihrer Felsenmulde hockten … Schließlich war das nächtliche Diner beendet. Die Domestiken – rangniedrige Quetzalcoatl-Priester vermutlich – brachten Wasser in goldenen Schüsseln zum Händewaschen und räumten die verbliebene Pracht ab. Sie hätte noch ausgereicht, eine halbe Armee zu beköstigen.
Der Ernst des Lebens begann wieder. Zamorra beugte sich zu Tizoc Pizana hinüber, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben derartig geschlemmt hatte, und sagte: »So, Tizoc! Nun wollen wir endlich einmal ein ernstes Gespräch mit unserem Gastgeber führen.«
* Nicole Duval und Bill Fleming wurden in der Tat schwer von Hunger und Durst geplagt. Aber es gab etwas, das sie noch viel mehr plagte: Die Sorge um Professor Zamorra und seinen Begleiter. »Weißt du, wie lange die beiden jetzt schon weg sind?«, flüsterte Nicole mit leiser, bedrückter Stimme. »So lange ja nun auch wieder nicht«, antwortete der Amerikaner und bemühte sich dabei, seiner Stimme einen Anstrich von Sorglosigkeit zu geben. Er wusste natürlich, wie recht Nicole hatte. Aber ihr gegenüber wollte er das nicht zugeben. Wenn er Zuversicht verbreitete, kam sie vielleicht etwas von ihren trüben Gedanken ab. Aber es nutzte nichts. Nicole war der Verzweiflung nahe. »Es ist bestimmt etwas passiert, Bill«, sagte sie. »Dies ist ein schreckliches Land und eine schreckliche Zeit. Blut und Tod. Ganz bestimmt ist dem Chef irgend etwas passiert. Ich habe es im Gefühl.« Bill seufzte und blickte zum Nachthimmel empor. Die kalte Pracht der Sterne faszinierte ihn sonst über alle Maßen. Scheinbar so nah und doch so weit entfernt … Aber in dieser Nacht hatte er beim Anblick des Himmelszeltes ganz andere Gedanken. Die leuchtenden Punkte dort oben erschienen ihm heute wie Augen, die böse und tückisch auf die Erde hinabstarrten. Dies galt ganz besonders für ein ganz bestimmtes Sternbild: Den Großen Bären.
Wie lange mochten die beiden jetzt tatsächlich schon verschwunden sein? Vier Stunden? Fünf Stunden? Schwer zu sagen. Nervosität und innere Unruhe trübten das Zeitgefühl. »Du machst dir bestimmt grundlose Sorgen, Nicole«, tröstete er. »Wir kennen Zamorra doch. Er lässt sich so leicht nicht unterkriegen. Und außerdem – er hat ja sein Amulett. Wer will ihm schon etwas anhaben?« »Machen wir uns doch nichts vor«, widersprach Nicole heftig. »Das Amulett! Sicherlich, es gewährt einen gewissen Schutz gegen die Macht des Bösen. Aber ansonsten? Er ist ein Mensch wie du und ich. Ein Messerstich in den Rücken, ein Keulenlieb auf den Kopf … Gegen herkömmliche Gewalteinwirkung ist er nicht gefeit.« Wem sagte sie dies? Natürlich wusste er ganz genau, dass sie recht hatte. In dieser fremden Stadt dort unten im Tal konnte viel geschehen sein. Konnten sie es verantworten, gar nichts zu tun und einfach abzuwarten? »Weißt du was?«, sagte er nach einer Weile. »Zamorra wird wohl nicht damit einverstanden sein, aber … Es kann nicht schaden, wenn ich mal nachsehen gehe, was die beiden treiben. Zamorra hat recht – in der Nacht sind alle Katzen grau. Und so ein Pflanzenröckchen, wie Tizoc sich das gebastelt hatte, das kriege ich auch noch hin.« »Vielleicht nicht die schlechteste Idee«, stimmte Nicole zu. »Vielleicht sollten wir ihnen wirklich nachgehen.« »Wir?« »Natürlich. Oder glaubst du im Ernst, dass ich hier bleiben würde?« Fleming wusste, dass es sinnlos war, Widerstand zu leisten. Nicole hatte ihren eigenen Kopf. Und sie verstand es auch meist, ihn erfolgreich durchzusetzen. »Also gut«, gab er widerwillig nach. »Wir warten noch ungefähr eine Viertelstunde und dann marschieren wir los. Möglicherweise begegnen wir den beiden sogar unterwegs. Ich fang dann mal an,
mir einen Frack zu häkeln.« Bevor er die Mulde verließ, blickte er angestrengt zum Tempel hinüber. Nichts rührte sich. Wie in den ganzen letzten Stunden lag das düstere Bauwerk da wie ausgestorben. Und doch wusste er genau, dass dieser Eindruck täuschte. Furchtbare Dinge mochten sich gerade in diesem Augenblick im Tempelinneren abspielen. Er kroch zwischen den Felsen hervor und kletterte ein paar Meter abwärts, wo mehrere Kriechsträucher standen. Dann riss er ein paar Zweige ab und knotete sie um die Hüften. Die Hula-Girls von Hawaii sahen besser aus, aber was sollte es. Schließlich wollte er keinen Preis gewinnen. Die Viertelstunde verging. Zamorra und Pizana tauchten nicht auf. »Gehen wir«, sagte Bill. Sie brachen auf. Wie vorhin schon Zamorra und der Indianer versuchten sie, sich den Gegebenheiten der Felslandschaft so gut wie möglich anzupassen, um unter keinen Umständen bemerkt zu werden. Bill war froh, dass er sich entschlossen hatte, die schier endlose Warterei aufzugeben. Nichts schlauchte nervlich mehr als Untätigkeit. Und auch sein frierender Körper war dankbar dafür, sich endlich wieder bewegen zu können. Vorsichtig liefen sie talwärts. Die Nacht war nicht stumm. Der Wind rauschte in Blättern und Gräsern, Vögel krächzten und flöteten, Kriechtiere raschelten im Gesträuch. Die Natur lebte, spielte eine harmonische Sinfonie auf vielfältigen Instrumenten. Plötzlich jedoch gab es einen Missklang. Andere Geräusche wurden hörbar. Schritte und das Gemurmel menschlicher Stimmen. Nicole und Bill erstarrten. Die Schritte kamen von vorn, ihnen entgegen. Zamorra und der Indianer? Nein! Es waren zweifellos mehr als zwei Personen, die sich da näherten. Das unvermutete Auftauchen von Menschen brachte sie in eine
dumme Situation. Die Lokalität war denkbar ungünstig. Rechter Hand türmte sich ein Felswall. Schroff und steil trat das Gestein im schwachen Mondlicht schattenhaft hervor. Ein seitliches Ausweichen in diese Richtung war nicht möglich. Auf der anderen Seite sah es jedoch noch schlechter aus. Dort gab es einen Abhang, in dem die Dunkelheit wohnte. Wie tief es hinabging, ließ sich auf Anhieb nicht feststellen. Bill musste in Sekundenschnelle eine Entscheidung treffen. Gleich würden die Entgegenkommenden um eine Felsnase treten und sie sehen. Er entschloss sich für den einzig gangbaren Weg. »Zurück!«, flüsterte er der Französin zu. »Wir müssen zurück.« Nicole verstand ihn sofort. Gemeinsam mit dem Amerikaner drehte sie sich auf dem nichtexistenten Absatz um und orientierte sich wieder rückwärts. Sie hatten Glück. Nur wenige Meter weiter klaffte ein Spalt im Fels, wie geschaffen, ihnen Unterschlupf zu gewähren. »Hier, Nicole!«, raunte der Historiker. Und schon drängte er die Frau in die Lücke zwischen den Felsen, schob sich selbst hinein. Eng war es, eng und unbequem. Der Spalt hatte nur auf den ersten Blick ideal ausgesehen. Tatsächlich jedoch war er nicht mehr als eine unbedeutende Einkerbung im Gestein. Einen Meter tief vielleicht, mehr nicht. Die beiden standen da wie die letzten Matrosen eines untergehenden Schiffs, die sich an die Spitze des Topmastes geklammert hatten und die Flut ständig näherkommen sahen. Unter normalen Umständen hätte Bill nichts dagegen einzuwenden gehabt, auf so enge Tuchfühlung mit einer hübschen Frau zu geraten. Unter diesen Umständen jedoch … Die Fremden waren jetzt fast heran, zum Greifen nahe. Der Amerikaner spürte den schnellen Herzschlag der Französin wie seinen eigenen. Er war nicht weniger aufgeregt als Nicole. Wenn die Männer sie entdeckten, hatten sie keine Chance, davonzukommen. Über die Identität der Ankömmlinge gab es kaum große
Spekulationen. Mit Sicherheit waren es Männer, die in den Tempel gehörten. Mit einem Wort: Jünger des Schrecklichen. Beinahe hätten sie es geschafft. Eng gegen Nicole und den Fels gepresst, hielt er mit zurückgedrehtem Kopf den Pfad im Auge. Er sah sie vorbeigehen. Fünf oder sechs Männer in Fellumhängen. Wahrscheinlich handelte es sich um jene Priester, die am Nachmittag den Tempel verlassen hatten und ins Tal hinuntergewandert waren. Der letzte von ihnen passierte gerade den Spalt. Da passierte es. Er bekam einen Wadenkrampf. Der Schmerz kam so spontan und war so stark, dass er unwillkürlich aufstöhnte. Leise und unterdrückt zwar, aber doch nicht leise genug. Der letzte Diener Tezcatlipocas hatte ihn gehört und blieb abrupt stehen. Er stieß einen Laut an die Adresse seiner Kumpane aus, veranlasste sie, ebenfalls ihren Schritt zu verhalten und sich umzudrehen. Sechs Augenpaare versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Bill wäre am liebsten im Erdboden versunken. Mit zusammengebissenen Zähnen bemühte er sich, den Schmerz in seiner rechten Wade zu ignorieren. Aber es gelang ihm nicht. Wadenkrämpfe gehörten zu den schlimmsten Schmerzen, die man sich vorstellen konnte. Insbesondere dann, wenn man nichts tun konnte, um die verkrampften Muskeln zu lockern. Sein Bein bewegte sich völlig gegen seinen Willen. Automatische Reflexe des Körpers übernahmen das Kommando. Damit war alles verloren. Die Feinde hatten sie zweifelsfrei entdeckt. Schon machte derjenige, der als erster aufmerksam geworden war, zwei schnelle Schritte nach vorne. Fleming umklammerte das Obsidianmesser fester, das er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Mit einem Satz sprang er nach vorn. Angriff ist die beste Verteidigung!, schoss es ihm durch den Kopf.
»Lauf weg, Nicole!«, rief er gleichzeitig. »Runter ins Tal. Ich versuche, sie aufzuhalten.« Er fand keine Zeit, sich davon zu überzeugen, ob sie tat, was er gesagt hatte. Der Jünger des blutigen Gottes beanspruchte jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Bill erkannte, dass er mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung unter sein Gewand gegriffen hatte. Matt glänzte etwas auf. Bill erinnerte sich an das Hotel in New Mexiko und Zamorras Bericht über die magischen Spiegel dieser Kerle. Er reagierte augenblicklich. Bevor der Azteke seine unheimliche Waffe einsetzen konnte, stieß er mit dem Messer zu. Die Klinge aus hartem Glasstein bohrte sich in den Arm des Gegners. Mit einem Aufschrei ließ der Mann das Teufelswerkzeug fallen. Sofort bückte sich Bill, versuchte das Ding in die Finger zu bekommen. Vielleicht würde es auch ihm Dienste erweisen. Vielleicht würde er imstande sein, sich mit Hilfe des Spiegels die anderen Kerle vom Hals zu halten. Seine Hoffnung war leerer Wahn. Er schaffte es noch, das Ding mit den Fingerspitzen zu berühren, mehr jedoch nicht. Die anderen waren über ihm. Zu fünft drangen sie auf ihn ein. Bill bekam einen harten Schlag auf den Kopf. Die Dunkelheit vor seinen Augen wurde zu einem undurchdringlichen Schwarz. Er verlor das Bewusstsein.
* Nicole Duval hatte gezögert. Es war nicht ihre Absicht gewesen, davonzulaufen. Sie wollte Bill in seinem Kampf gegen die Priester helfen, wollte ihn unterstützen, so gut sie konnte. Als sie jedoch sah, wie er niedergeschlagen wurde, wusste sie, dass sie nichts mehr für ihn tun konnte. Sie drehte sich um und lief. Wenn sie Zamorra in der Stadt fand …
Vielleicht bestand dann doch noch eine Hoffnung für Bill. Schnell hatte sie einen Vorsprung gewonnen. In ihrem Rücken hörte sie hastende Schritte, die jedoch nicht näher kamen. Sie war jung und sportlich, und die Angst beflügelte sie. Wie eine Gazelle rannte sie den Pfad hinunter, immer in Gefahr, in der Dunkelheit vom Weg abzukommen und in den links gähnenden Abgrund zu stürzen. Der Abstand zwischen ihr und den Verfolgern wuchs. Sollte es ihr wirklich gelingen, entfliehen zu können? Sie wusste nicht, was sie unten in der Stadt erwartete. Nur eins wusste sie genau. Schrecklicher als in den Klauen der Diener des Tezcatlipoca würde sie es kaum antreffen. Dann jedoch, als sie beinahe schon wirklich glaubte, die teuflischen Priester abgeschüttelt zu haben, waren die Geräusche der Verfolger wieder ganz nah. Aber es waren nicht die Schritte laufender Männer. Die Laute, die an ihr Ohr drangen, waren anders, ganz anders. Es hörte sich an … Sie warf einen gehetzten Blick über die Schulter. Ja, sie hatte sich nicht getäuscht. Das Entsetzen breitete sich wellenförmig in ihr aus. Schon einmal war sie mit diesem Schreckensbild konfrontiert worden. Im Hotel! Ein Jaguar! Eine blutgierige Bestie, geboren nicht auf natürlichem Wege, sondern geschaffen von einer dämonischen Macht. Diesem Verfolger würde sie nicht davonlaufen können. Ihre Flucht war sinnlos geworden. Ergeben blieb sie stehen, jederzeit darauf gefasst, von einem mörderischen Prankenschlag zu Boden gestreckt zu werden.
* Es war eine lange Nacht gewesen.
Xochicatl, der Oberpriester des Quetzalcoatl-Tempels von Amecameca hatte sich auch weiterhin als aufmerksamer und gefügiger Mensch erwiesen, dessen einziges Bestreben es war, die Wünsche des Sendboten seines Gottes erfüllen zu dürfen. Ohne Zögern hatte er alle Fragen Professor Zamorras beantwortet. Abgesehen von den Rädern, die Zamorra so entsetzt hatten, gab es in dieser Zeit noch keine Manifestationen von Erkenntnissen des zwanzigsten Jahrhunderts, die den Ablauf der Geschichte zu verändern vermochten. Aber der Professor war sich völlig im klaren darüber, dass dies nur eine Frage der Zeit war. Wenn den Dimensionsreisen der Jünger des Tezcatlipoca nicht sofort Einhalt geboten wurde, war eine völlig anders geartete Entwicklung nicht aufzuhalten. Die Sache mit den Rädern ließ sich grundsätzlich auch noch hinbiegen. Priester des Quetzalcoatl hatten sie aus dem Tezcatlipoca-Tempel gestohlen und in ihr eigenes Heiligtum gebracht. Die Jünger des Schrecklichen hatten angefangen, mit dem neuen Prinzip zu arbeiten, jedoch blieb ihre Tätigkeit bisher offenbar nur auf ihren eigenen Komplex beschränkt. Xochicatl glaubte nicht, dass die führenden Köpfe der aztekischen Tripplealinanz der Azteken bereits informiert waren. So bestand also berechtigte Hoffnung, dass Ahuitzotl von Tenochtitlan und Nezahualpilli von Texcoco, der zweiten großen Metropole des Reichs, noch nicht daran dachten, ihre kriegerischen Unternehmungen demnächst mit räderbetriebenen Fahrzeugen anzugehen. Zamorra war es relativ leicht gefallen, den Oberpriester davon zu überzeugen, dass es Quetzalcoatls Wunsch war, das Teufelswerk seines erbitterten Widersachers Tezcatlipoca umgehend zu vernichten. Xochicatl hatte gelobt, die Räder umgehend in den Mittelpunkt eines Feueropfers zu stellen. Zum Schluss seines von Tizoc Pizana gedolmetschten Dialogs mit dem Weißgewandeten kam er auf sein Hauptanliegen zu sprechen: Die Zerstörung des Tezcatlipoca-Tempels. Wenn der Tempel nicht mehr existierte, würde auch die Nahtstelle zwischen den Dimensio-
nen in Vergessenheit geraten und der Zeitreisespuk hörte auf. Er wusste, dass es ungeheuer schwer werden würde, diese Idee in die Tat umzusetzen. Die Gefahr war groß, dass Tezcatlipoca und Quetzalcoatl unmittelbar eingreifen würden. Beide waren mächtige Wesen aus dem Zwischenreich, die einander in abgrundtiefem Hass verbunden waren. Es gab viele dieser Hasspaare in der jenseitigen Welt. Halum und Ostra, Ahriman und Ormuzd, Osiris und Seth. Wenn sie ihre immerwährenden Kämpfe im Diesseits austrugen, dann zitterte die Erde. Xochicatl war begeistert. Als fanatischer Anhänger seines Gottes war er ein Todfeind Tezcatlipocas. Das war nicht unbedingt typisch für die Menschen seiner Epoche, denn die Völker Mittelamerikas pflegten zahlreiche Götter gleichzeitig zu verehren und ihnen zu opfern. Im Falle Xochicatls kam allerdings hinzu, dass er ein Chalca war, während die Tezcatlipoca-Priester zu den Azteken gehörten. Die Chalca hassten ihre Besatzer aus tiefster Seele. Die Azteken wiederum knechteten sie auf das Übelste. Dabei taten sich besonders die Priester Tezcatlipocas hervor, die zahllose Bewohner Amecamecas und Chalcas auf dem Opferstein ihres Idols hinschlachteten. Xochicatl hatte also gleich zwei Motive, den verhassten Tempel auf ein niedrigeres Niveau herunterzustutzen. Als Priester Quetzalcoatls und als Chalca. Die Gedanken, die er zu diesem Thema entwickelte, interessierten Professor Zamorra sehr.
* Kurz vor Einbruch der Morgendämmerung verließen Zamorra und Pizana den Pyramidentempel des Quetzalcoatl. Als sie die breiten Treppenstufen hinunterstiegen, kündigte sich am Horizont bereits die Morgendämmerung an. Es wurde Zeit.
Sie gingen nicht so, wie sie gekommen waren, hatten Jaguarfell und Lendenschurz aus Gras gegen die baumwollenen Umhänge der Quetzalcoatl-Priester getauscht. Und sie hatten noch etwas bei sich, was sie vorher nicht gehabt hatten. Einen jener magischen grüngefederten Schlangenstäbe, in denen die überirdische Kraft des Toltekengottes ruhte. Jetzt war Amecameca wirklich eine schlafende Stadt. Von den aztekischen Besatzungssoldaten, die sie Stunden zuvor durch die Gassen gehetzt hatten, war nichts mehr zu sehen. Die Männer hatten sich offenbar längst in ihre Unterkünfte zurückgezogen. Als der Professor und sein Begleiter durch die stillen Straßen schritten, wurden sie in keiner Weise belästigt. Unbehelligt erreichten sie den Stadtrand und machten sich an den Aufstieg zum Tempel des schrecklichen Tezcatlipoca. Sie hatten schon mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Tizoc Pizana plötzlich stehen blieb. »Señor Zamorra …« Der Professor, der bereits zwei Schritte weitergegangen war, drehte sich um. »Ja, Tizoc?« Der Indianer hatte sich auf den Pfad gehockt und starrte vor sich auf den Boden. »Sehen Sie mal hier, Señor, Zamorra!« Zamorra beugte sich ebenfalls nieder. Im Dämmerlicht der ersten Sonnenstrahlen erkannte er sofort, was Pizana meinte. Spuren. Abdrücke, die eine große Katze hinterlassen zu haben schien. Oder ein Jaguar. Die beiden Männer richteten sich wieder auf, warfen prüfende Blicke um sich. Von der Bestie war nichts zu sehen, aber der Professor hatte dennoch auf einmal ein ganz unangenehmes Gefühl. Sie gingen weiter. Nach etwa hundert Metern machten sie noch
eine Entdeckung. Am Rande des Pfades, neben einem Felsbrocken, lag ein Obsidiandolch. Die Glasklinge war gerötet. Blut! Deutlich waren in der unmittelbaren Nähe der Fundstelle Kampfesspuren auszumachen. Das ungute Gefühl des Professors verstärkte sich. Er hatte eine Art sechsten Sinn, der ihn befähigte, gewisse Zusammenhänge regelrecht zu ahnen. Nicole und Bill, dachte er, die beiden werden doch nicht etwa … »Kommen Sie, Tizoc«, drängte er. »Es ist möglich, dass eine unangenehme Überraschung auf uns wartet.« Schneller als bisher bewältigten sie den weiteren Aufstieg. In der Ferne schob sich die blutrote Spitze der Sonne über den Horizont. Bald wurde der Tempel des blutgierigen Gottes sichtbar. Jetzt hieß es auf der Hut zu sein. Ohne den schützenden Mantel der Dunkelheit war die Entdeckungsgefahr groß. Die Felsmulde, die ihnen als gemeinsames Versteck diente, war nicht mehr weit. Die Annäherung brachte Probleme mit sich. Ein schnelles Hinüberlaufen war zu risikoreich: Deshalb entschlossen sie sich, das letzte Stück kriechend zu bewältigen. Und sie schafften es. Ihre neuen Gewänder wurden zwar stark in Mitleidenschaft gezogen, und sie zogen sich eine Reihe leichter Hautabschürfungen zu, aber sie erreichten unentdeckt die Mulde. Hier traf sie dann der Schock. Die Mulde war leer. Nicole Duval und Bill Fleming waren spurlos verschwunden. Zamorras Gedanken jagten sich. In der Mulde gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Waren die beiden etwa freiwillig aus dem Versteck gekrochen? Seine dunklen Ahnungen schienen sich zu bestätigen. Die Jaguarspuren, der blutige Dolch … Seine Überlegungen wurden unterbrochen.
»Señor Zamorra …« Pizana, der hinter einem Felsen kauerte und seine Augen auf den Tempel gerichtet hatte, wies mit ausgestrecktem Zeigefinger zur abgeflachten Spitze der Pyramide. Zamorra stockte der Atem. Auf der Plattform waren Gestalten sichtbar, eine ganze Reihe von Gestalten. Männer in Jaguarfellen, Männer, Frauen und Kinder in einfachen Lendenschürzen. Alle hatten die rotbraune Hautfarbe der Indianer. Alle bis auf zwei. Diese beiden waren weiß, besonders deutlich erkennbar auf Grund der Tatsache, dass sie weder Fell noch Schurz trugen, sondern nackt waren. Nicole und Bill! Sie waren in die Hände der Jünger des schrecklichen Tezcatlipoca gefallen. »Mein Gott«, flüsterte der Professor beinahe tonlos. Vor Anstrengung, möglichst genau erkennen zu können, was dort oben vorging, traten ihm beinahe die Augen aus den Höhlen. »Mein Gott«, flüsterte er abermals. »Sehen Sie etwas Genaues, Señor?«, fragte Tizoc Pizana. Der Professor nickte schwer. »Wenn ich mich nicht allzu sehr täusche …«, er stockte, fand es ungeheuer schwer, weiterzusprechen, »… dann sind die Schurken dabei, ihrem unseligen Gott Menschenopfer darzubringen.« Der Indianer mahlte mit den Zähnen. Wahrscheinlich traten ihm jene entsetzlichen Momente vor Augen, in denen er mit ansehen musste, wie die Schlächter seine Frau töteten. »Wir müssen etwas tun, Señor Zamorra«, sagte er mit rauer Stimme. »Der Schlangenstab, den Ihnen Xochicatl gegeben hat … Können Sie nicht …« Zamorra betrachtete den mehrfach gekrümmten Stab mit dem Schlangenkopf und der grünen Federkrone, der an einer Schlaufe
seines weißen Gewands hing. Der Oberpriester im Tempel von Amecameca hatte ihn mehrere Beschwörungsformeln gelehrt, mit denen er übernatürliche Kräfte freisetzen konnte. Es war nicht leicht für ihn gewesen, die inkorporierenden Bandwurmwörter des Nahuatl auswendig zu lernen, aber sein hervorragendes Gedächtnis hatte ihm geholfen. Er zog den Stab aus der Schlaufe. »Ja!«, sagte er entschlossen. »Ich werde etwas tun!« Mit scharfen Augen maß er die Basis des Tempels. Hier war niemand der Jaguarmänner zu sehen. Die gesamte Aktivität schien sich ausschließlich auf die obere Plattform zu beschränken. Es sah nicht danach aus, als würden die Diener Tezcatlipocas die Umgebung unter Beobachtung halten. Ihre Aufmerksamkeit galt allein den Geschehnissen auf der Plattform selbst. »Wünschen Sie mir Glück, Tizoc«, sagte er. »Sie wollen mich nicht mitnehmen, Señor Zamorra?« Der Indianer sah nicht glücklich aus, als er diese Worte sagte. Zamorra schüttelte den Kopf. »Es wäre unverantwortlich, Tizoc. Sie sind nicht geschützt, wären machtlos gegen jede Attacke der Kerle.« Enttäuschung zeigte sich im Gesicht des Mannes. Deutlich sah ihm der Professor an, wie es ihn danach drängte, Rache für den Tod seiner Frau zu nehmen. Aber die Vernunft trug schließlich doch den Sieg davon. Seine verkrampften Gesichtszüge entspannten sich. »Vielleicht haben Sie recht, Señor Zamorra«, sagte er. »Viel Glück!« Geschmeidig schlüpfte der Professor aus der Felsmulde. Dann rannte er so schnell er konnte zum Tempel hinüber. Er war dabei nicht sonderlich auf Deckung bedacht, hoffte nur, dass nicht jemand gerade in diesen Augenblicken zufällig nach unten blicken würde. Etwas außer Atem erreichte er die schräg ansteigende Stirnwand. Sofort lief er weiter, umrundete eine Ecke und stand dann vor der
Seitenwand. Dort waren die Treppenstufen, die hoch zur Plattform führten. Zamorra packte den Stab Quetzalcoatls fester, und stürmte die Treppe empor. Er hatte noch keine genaue Vorstellung, wie er vorgehen sollte. Aber er wusste, dass er keine Zeit zu verlieren hatte. Hoffentlich war es nicht sowieso schon zu spät. Nach jeweils etwa zehn Stufen gab es eine Zwischenplattform, die sich dem stufenförmigen Gesamtcharakter der Pyramide anpasste. Auf dem dritten Treppenabsatz gab es Ärger. Ein Wandsegment öffnete sich, und zwei Männer in Jaguarfellen traten hervor. Sie sahen ihn im gleichen Augenblick wie er sie. Und sie reagierten sofort. Ein weißer Mann im Gewand der Quetzalcoatl-Priester. Das konnte nur ein Feind sein. Der eine hatte seinen rauchenden Spiegel sofort in der Hand. Der Professor fürchtete die magischen Spiegel nicht. Sein Amulett allein war in der Lage, den dämonischen Feuerzungen zu trotzen. Und diesmal hatte er sogar noch ein zusätzliches Zaubermittel: Den Schlangenstab. Eine gute Gelegenheit, die Wirksamkeit von Quetzalcoatls magischen Kräften zu testen. Er beschränkte sich nicht auf die Verteidigung, sondern setzte den Stab als Angriffswaffe ein. Wie ihn Xochicatl unterwiesen hatte, hob er den Stab vors Gesicht und fixierte ihn mit beiden Augen. Dann murmelte er eine der erlernten Beschwörungsformeln. Eine Inkarnation der Grünfederschlange war Ehecatl, der Windgott. Und ein Windzauber war es auch, den Zamorra dem Schlangenstab entlockte. Voller Erfolg war ihm beschieden. Plötzlich war da ein Brausen, das aus dem Nichts kam. Eisig wurde die Luft. Zamorra richtete den gefiederten Schlangenkopf auf die beiden Jünger des Schrecklichen. Eine Windbö raste über die Plattform, erfasste die Jaguarmänner. Ihre Felle bauschten sich wie Luft-
ballons, als der Wind unter sie fuhr. Dann wurden die beiden Männer wie von einer Riesenfaust hochgerissen und herumgewirbelt. Die Windbö spielte mit ihnen wie mit Papierfetzen. Sie schaukelten hilflos hin und her und strampelten verzweifelt mit den Beinen. Aber ihre Gegenwehr war sinnlos. Der Wind nahm sie und schleuderte sie mit Urgewalt die Treppenstufen hinab. Mit zerschmetterten Gliedern blieben sie am Fuß des Tempelaufgangs reglos liegen. So schnell wie er gekommen war, legte sich der Windhauch wieder. Zamorra war beruhigt. Die Kräfte, die in dem Schlangenstab schlummerten, waren ihm Untertan. Mit frischem Mut lief er die restlichen Stufen bis zur oberen Plattform hinauf. Auf der vorletzten Stufe machte er halt. Zuerst einmal musste er sich einen Überblick über die Situation verschaffen. Vorsichtig lugte er um die Ecke. Ein Bild des Grauens bot sich seinen Blicken dar. Die Priester des blutgierigen Tezcatlipoca hatten sich in einem Halbkreis versammelt. Im Mittelpunkt des Halbkreises standen eine Reihe von Steinpflöcken. An jeden von ihnen war ein Mensch gebunden, ein Mann, eine Frau oder ein Kind. Auch Nicole und Bill waren dabei. Die meisten der bedauernswerten Opfer waren bereits tot. Die leblos an den Stricken hängenden Körper mit den großen blutenden Brustwunden sprachen eine traurige Sprache. Zu Füßen der Hingeschlachteten standen goldglänzende Schalen. Zamorra weigerte sich, den Inhalt der Schalen zur Kenntnis zu nehmen. Die schrecklichen Priester waren so in ihr Bluthandwerk vertieft, dass nicht einer von ihnen daran dachte, den Kopf zu wenden. In keiner Weise rechneten sie damit, bei ihrem schaurigen Ritual gestört zu werden. Einer von ihnen trat jetzt auf Nicole zu, ein von frischem Blut glänzendes Opfermesser aus Obsidian in der Hand. Der Professor sah, wie sich die Augen seiner Freundin vor Entsetzen weiteten. Ver-
zweifelt riss sie an dem Strick, der sie an den Steinpflock fesselte. Auch Bill Fleming tobte, versuchte, sich zu befreien. Flüche und Verwünschungen hallten über die Plattform, die jedoch nicht den geringsten Eindruck bei den Schlächtern hinterließen. Der Jaguarmann mit dem Opfermesser hob jetzt den Arm zum tödlichen Stoß. Zamorra erkannte, wie Nicole entsagungsvoll die Augen schloss. Sie hatte sich endgültig aufgegeben. Der Professor handelte. Mit einem Satz sprang er in den Rücken der Priesterbande. Ein lauter Wutschrei von seiner Seite ließ die Diener Tezcatlipocas herumfahren. »Wehrt euch, ihr Hunde!«, brüllte Zamorra in französischer Sprache, völlig daran uninteressiert, ob sie ihn verstanden oder nicht. Im gleichen Moment hob er den Schlangenstab Quetzalcoatls und konzentrierte sich. Das schon bekannte Brausen klang auf. Abrupt kühlte sich die Luft bis weit unter den Nullpunkt ab. Dann kam der Sturm. Zamorra ließ den Stab kreisen, richtete ihn auf jeden einzelnen der unseligen Priester. Die meisten waren völlig überrascht, kamen gar nicht dazu, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Der Gewalt des Windes hatten sie nichts entgegenzusetzen. Wie Blätter, die vom Baum fielen, schaukelten sie in der Bö umher, wurden zum Rand der Plattform getrieben und in die Tiefe gestürzt. Ihre Todesschreie rührten das Herz des Professors nicht. Drei der Schrecklichen, die jetzt so schrecklich nicht mehr waren, hatten sich an Pfeiler geklammert, hielten sich an den Stricken fest, die die Ermordeten vor dem Davonfliegen schützten. Aber sie beschränkten sich nicht allein darauf, Halt zu gewinnen. Sie versuchten auch, ihren Widersacher zu bekämpfen. Zamorra erkannte, wie an drei verschiedenen Stellen Nebelwolken aufwallten und Konturen annahmen. Jaguargestalten begannen sich
zu bilden. Der Professor ließ die Metamorphose aus dem Nichts nicht Wirklichkeit werden. Er ließ den Wind sterben, riss im gleichen Augenblick aber eine Obsidiankeule aus seinem Gewand. Mit drei harten Hieben legte er den Schlächtern das dämonische Handwerk. Daraufhin verschwanden die Jaguare auf der Stelle. Sekunden später hatte er Nicole und Bill von ihren Fesseln befreit. Die anderen Opfer lebten nicht mehr. Aber er ließ nicht zu, dass es nun zu einer großen Freudenszene kam. Nur allzu gut wusste er, dass noch lange nicht alles in Ordnung war. Er durfte nicht davon ausgehen, dass Tezcatlipoca das Vernichtungswerk so einfach hinnehmen würde. Außerdem war sein Werk mit Ausschaltung dieser Priester noch nicht getan. Andere würden kommen und ihr unseliges Erbe antreten. Dem musste ein für allemal ein Riegel vorgeschoben werden. Nach einer kurzen Umarmung trieb er die Freunde zur Eile an. »Nicole, Bill! Ihr wisst, wo sich der Raum befindet, durch den wir in diese Welt gekommen sind. Nach diesen Opferungen hier können wir mit größter Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich das Tor in unsere eigene Zeit wieder geöffnet hat. Wenn wir also nicht für immer hier bleiben wollen …« Natürlich stellten sie sofort die unvermeidliche Frage, wieso er denn nicht sofort mitkommen würde. »Ich habe hier noch etwas zu erledigen«, antwortete er ausweichend. »Los, nun macht schon. Ab mit euch! Hier!« Er streifte sein Amulett vom Hals. »Nehmt das noch mit. Für alle Fälle.« Nicole und Bill verstanden ihn zwar nicht, kamen aber kopfschüttelnd seiner Anweisung nach. Sie liefen die Treppenstufen hinunter. Zamorra wandte sich um, hob den Kopf und blickte zum Gipfel des Vulkans empor, der in mehr als viertausend Meter Höhe sein schneebedecktes Haupt dem Himmel entgegenreckte. Fest packte er den gefiederten Schlangenstab und hielt ihn vor die
Augen. Dann murmelte er in eindringlichen Worten die magische Formel des fließenden, alles zerstörenden Feuers. Und wieder zeigte Quetzalcoatl seine Macht. Dunkle Rauchwolken stiegen aus dem fernen Krater des feuerspeienden Berges. Ein dumpfes Grollen erhob sich in seinen Eingeweiden. Und dann färbte sich der Himmel rot, als die ersten Lavastöße aus dem Schlund des Vulkans hervorschossen und sich talwärts wälzten. Dem Tempel des Tezcatlipoca blieb nur noch eine geringe Zeitspanne, bis ihn das Verderben erreicht haben würde. Auch für Zamorra selbst wurde es nun Zeit. Er ging zur Treppe und eilte hinunter. Aber er kam nur bis zum letzten Treppenabsatz. Plötzlich war da eine unsichtbare Faust, die ihn unerbittlich festhielt und dann zu Boden schleuderte. Und eine Stimme, die unmittelbar in sein Bewusstsein drang, donnerte auf ihn ein. »Knecht des unsäglichen Quetzalcoatl! Es ist dir gelungen, meine Diener und mein Haus zu zerstören. Aber die Rache ist mein. Ich könnte dich töten, aber das wäre nicht Strafe genug für eine schändliche Kreatur wie dich. Leben sollst du, ewig Leben! Und für alle Zeit sollst du vor Augen haben, was du mit frevlerischer Hand angerichtet hast. Es sei!« Für Sekunden tauchte eine riesige nebelhafte Fratze vor seinen Augen auf. Ein grausam verzerrter Jaguarschädel, in dem glühende Augen loderten. Dann verschwand die Fratze. Statt dessen entstand eine durchsichtige, leuchtende Wolke, die langsam auf ihn zuschwebte und seinen Körper einhüllte wie ein Kokon die Puppe. Ein seltsames Gefühl ergriff Besitz von Zamorra. Er spürte, wie sämtliche Körperzellen förmlich erstarrten. Er war nicht in der Lage, ein einziges Glied zu bewegen. Nur seine Sinne arbeiteten voll. Er sah, er hörte, er nahm Gerüche wahr. Und er konnte denken. Bis in alle Ewigkeit, wenn Tezcatlipoca recht hatte. Die Lava floss heran, ließ den Tempel zerbersten. Riesige Gesteins-
brocken flogen wie Spielzeug durch die Luft, krachten auf die Erde. Auch Zamorra wurde oft getroffen. Aber er blieb völlig unversehrt. Die Objekte prallten ab, konnten dem magischen Schutzschirm nichts anhaben. Bis in alle Ewigkeit, dachte Zamorra abermals. Oh Gott! Xamotecuhtli, der Held der Chalca, war geboren. Nur dass die Realität nicht ganz mit der Legende übereinstimmte.
* Nicole, Bill und Tizoc Pizana, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte, fanden das Loch in ihre Zeit auf Anhieb. An einer bestimmten Stelle des Raums schwebte ein schwarzer Nebel in der Luft, der bis zur Decke reichte. Mutig streckte Bill seine Hand aus und hielt sie in das dunkle Etwas. Die Hand verschwand. Aber nur für die Augen, denn er spürte sie nach wie vor. Bill stieg ganz in den Nebel hinein. Und schon konnte er die Sonne sehen, die in ein Felsloch schien, das sich keine zwei Meter über ihm auftat. Die Sonne die er sah, schien nicht über Amecameca. Sie strahlte über Sacromonte. Kaum eine Minute später standen sie sicher zwischen den jahrhundertealten Trümmern des einstigen Tempels. Aber ihre Freude, dem Reich der blutigen Götter entronnen zu sein, bekam schnell einen gewaltigen Dämpfer. Sie sahen ihn. Xamotecuhtli! Nein, nicht Xamotecuhtli. Der Mann, der dort drüben von einem Halo umgeben schwerelos in der Luft schwebte, war zweifellos Professor Zamorra, so wie sie ihn erst vor wenigen Minuten auf der Opferplattform verlassen hatten. Sie waren sofort bei ihm, starrten seine Erscheinung fassungslos an. Deutlich war zu erkennen, dass er nicht tot war. Der wache Aus-
druck in seinen Augen gehörte einem Lebenden. »Wie ist es möglich, Bill?« Nicoles Lippen zitterten. Der Amerikaner machte eine hilflose Schulterbewegung. »Ich weiß es nicht«, antwortete er »Ich weiß es wirklich nicht.« Angestrengt dachte er nach, bemühte er sich, das rätselhafte Phänomen mit den Gesetzen der Logik zu erklären. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Wie von einer Giftschlange gebissen fuhr er herum und rannte zurück zu dem Loch in den Felsen. Er kletterte hinein. Aber schon kurz darauf kam er wieder zum Vorschein. Mit einem Gesicht, das die Betroffenheit überschattete. »Das Tor in die Vergangenheit ist bereits wieder geschlossen«, sagte er leise, als er wieder bei den beiden anderen stand. »Nein!« Nicole schrie es fast. »Und der Chef?« »Er ist noch drüben!« Bill antwortete nicht sofort. Er überlegte, ließ sich wiederum nur von der Logik leiten. Und dann glaubte er, die Lösung zu haben. »Er ist nicht mehr drüben, Nicole. Er ist hier.« Er zeigte auf die schwebende Gestalt. »Aber …« »Es ist alles ganz logisch«, fuhr der Historiker fort. »Irgendwie ist er drüben in dieses geheimnisvolle Lichtfeld geraten. Frag mich nicht wie, aber so muss es gewesen sein. Und seitdem schwebt er hier, zeitlos, nicht alternd, seit Hunderten von Jahren.« Nicole schüttelte den Kopf. »Da ist ein Haken in deiner Theorie. Als wir zuerst hierher kamen … Haben wir ihn da vielleicht gesehen?« »Da war Zamorra bei uns«, entgegnete Bill. »Es ist nicht möglich, dass jemand gleichzeitig zweimal zugegen ist. Padre Henrique hat uns erzählt, dass Xamotecuhtli vor rund vierzig Jahren verschwunden ist und danach nur noch sporadisch sichtbar wurde. Vor etwas mehr als vierzig Jahren wurde Zamorra geboren. In diesem Augen-
blick lebte er also zweimal – als Säugling und hier als Xamotecuhtli. Ein Paradoxon, das es nicht geben durfte. Xamotecuhtli wich in eine andere Dimension aus. Und er erschien jeweils dann wieder für gewisse Zeit in unserer Dimension hier, wenn sein anderes Ich gerade nicht in unseren Dimensionen weilte – wenn sein anderes Ich sich beispielsweise im Zwischenreich aufhielt oder aber eine Zeitreise angetreten hatte. So wie gerade, als er mit uns zusammen bei den Azteken war. So, als wir gemeinsam auf den Spuren Leonardo de Montagnes bei den Kreuzrittern weilten. Zu diesen Zeiten rutschte Xamotecuhtli jeweils kurzfristig wieder in unsere Dimension zurück, um sofort wieder zu verschwinden, wenn Zamorra von seiner Zeitreise zurückkam. Verstehst du?« Nicole war sich nicht sicher, ob sie verstand. Und es war ihr im Moment auch nicht so wichtig. Viel wichtiger war ihr, was nun mit dem Chef passieren sollte. Wie konnte man ihn aus dieser fürchterlichen Lichtwolke befreien? Sie streckte die Hand aus und berührte das leuchtende Feld. Es war solide, glatt und fest, brachte die Haut zum Kribbeln. Und es war undurchdringlich. Auf einmal sagte sie: »Bill, gib mir das Amulett des Chefs.« Ein wachsamer Ausdruck trat in Bills Augen. »Du meinst …« Sie nickte. »Merlin ist ein mächtiges Wesen. Mächtiger sicherlich als ein Aztekengott. Sein Amulett könnte …« Sie sprach nicht weiter, nahm das Medaillon aus Bills Hand und hielt es unverzüglich gegen die Lichtwand. Und es geschah. Da war plötzlich ein sengender Blitz, der sie alle beinahe blendete. Für Sekunden waren sie nicht in der Lage, überhaupt etwas wahrzunehmen. Aber dann … Der Halo war verschwunden. Und Xamotecuhtli lag auf dem steinigen Untergrund. Professor Zamorra lag auf dem steinigen Untergrund.
Mit Augen, die mehr gesehen hatten als jeder Mensch vor ihm, blickte er sie an. Dann lächelte er schwach. »Auf diesen Augenblick habe ich fast fünfhundert Jahre gewartet«, sagte er. Seine Stimme klang wie immer. ENDE
Das Gericht der Toten von Hans Wolf Sommer Das Schicksal der Welt stand auf dem Spiel! Ein amerikanischer Millionär hatte den Sarkophag des Neferptah aus dem verschütteten Pharaonengrab befreit. Der Mann hörte nicht auf Zamorras Warnungen, öffnete den Sarg, und das Verhängnis nahm seinen Lauf. Neferptah begann, die Geschicke der Welt nach seinen eigenen, grausamen Vorstellungen zu leiten. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn zu stoppen. Zamorra musste sterben! Der Professor starb, ging ein in das Geisterland der ägyptischen Götter und stand plötzlich vor dem Gericht der Toten …