Emma Blum
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Emma Blum
Vielen Dank an Anja Schierl, Redakteurin für „Hinter Gittern“ bei RTL, für ihren Einsatz und ihre Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches. Ein großes Dankeschön auch an Insa Küenzlen für ihr Engagement in Sachen „Hinter Gittern“.
© 2000 by Dino entertainment AG, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart Alle Rechte vorbehalten © RTL Television & Grundy UFA TV Produktions GmbH 2000 Vermarktet durch RTL Enterprises Das Buch wurde auf Grundlage der RTL-Serie „Hinter Gittern – der Frauenknast“ verfaßt. Die hier niedergeschriebenen Geschichten sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Mit freundlicher Genehmigung von RTL Fotos: Claudius Pflug (Titel), Stefan Erhard (Rückseite) Umschlaggestaltung: tab Werbung GmbH / Holger Stracker, Stuttgart Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Graphischer Großbetrieb, Pößneck ISBN: 3-89748-224-6 Dino entertainment AG im Internet: www.dinoAG.de Bücher – Magazine – Comics
Sabine Sanders stößt im Elsaß auf einen mysteriösen Geldkoffer. Das bringt die junge Journalistin auf die Spur der Barbara Koschinskis, die für ihre Schwester ins Gefängnis gegangen ist. Sabine Sanders wittert hier die ganz große Geschichte, mit der sie Schlagzeilen machen kann. Sie scheut auch nicht davor zurück, sich wegen Verkehrsdelikten in Reutlitz einbuchten zu lassen, um an Blondie heranzukommen und mehr über den kuriosen Fall zu erfahren. Was treibt Sabine Sanders an? Was motiviert sie, sich Hals über Kopf in diese unheilvolle Geschichte zu stürzen?
1
„Wenn ich doch nur so toll aussehen würde wie Elle Macpherson“, seufzte Sabine und hielt die Modezeitschrift, in der sie geblättert hatte, ihrer Freundin Lara vor die Nase. Zu Hause, in ihrem winzig kleinen Zimmer waren alle Wände und selbst der Schrank mit Bildern von Models gepflastert, die sie aus Zeitschriften heraus getrennt hatte. Die meisten davon zeigten Elle Macpherson – in Designer-Kleidern von fast allen großen Modeschöpfern. „Kannst du dir vorstellen, wie ich in so einer Robe von Dior aussehen würde, bei einer dieser Modenschauen in Paris, wo die Highsociety der ganzen Welt um den Laufsteg sitzt und mich anstarrt?“, fragte sie Lara. Ihre beste Freundin war der einzige Mensch, dem sie ihre Zukunftsträume anvertrauen und mit dem sie über ihre Geheimnisse reden konnte. Nur Lara wusste, dass sie sich in den Kopf gesetzt hatte, es bis ganz nach oben zu schaffen. Sie hatte schon genau vor Augen, wie sie sich fühlen würde als Top-Model. Sie würde nur noch in einer Limousine mit Chauffeur herumkutschieren und von Shooting zu Shooting jetten. Jeder, der ihren Namen hörte, würde in ehrfurchtsvollem Ton von ihr reden. Lara zog die Beine hoch und machte es sich im Schneidersitz auf dem bunten, weichen Sofa bequem, das sie zum letzten Geburtstag bekommen hatte. „Und wie ich mir das vorstellen kann!“, bestätigte sie und meinte es wirklich ernst, denn sie beneidete Bine um ihre langen, blonden Haare, ihre intensiv grünen, von dichten Wimpern umrahmten Augen und ihr ebenmäßiges Gesicht, in dem noch nicht einmal ein winziger Pickel sprießte. Die Glückliche.
Aber Bine widersprach ihr mürrisch: „Ich hätte nicht die geringste Chance mit dem ganzen Speck, den ich auf den Rippen hab.“ Sie stand auf und drehte eine lustlose Pirouette vor dem hohen Spiegel. „Findest du, man sieht schon, dass ich zwei Kilo abgenommen hab’?“, erkundigte sie sich zweifelnd. Von ihrem Ziel einer Traumfigur war sie noch weit entfernt, aber zwei Kilo in zwei Wochen war kein schlechter Anfang, obwohl ihr inzwischen schon bei dem Gedanken an Reis übel wurde. Tagelang hatte sie eisern nichts anderes als diese weißliche Pampe zu sich genommen. Lara schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich weiß gar nicht, was du hast. An dir sieht doch alles gut aus.“ „Aber jetzt stell dir mal vor, wie ich in einer von diesen schicken Reiterhosen aussehen würde, die bei B & H im Fenster sind. In diesen bescheuerten Karottenjeans sieht man doch aus wie ein Fass.“ Lara seufzte. Sie verstand nicht, warum sich Bine so über ihr Aussehen aufregte. Die müsste mal das ganze Gesicht voller roter, widerlicher Pickel haben, wie sie selbst gelegentlich. Da guckte einen überhaupt kein Junge mehr an, oder wenn, dann um blöde Witze zu reißen. „Ich wär’ froh, wenn ich so gut aussähe wie du“, meinte sie resigniert. Sabine ließ Laras wohlmeinende Einwände nicht gelten. „Verstehst du das? Bis ich fünf war, war ich rappeldürr. Da hat man echt die Rippenknochen zählen können. Aber dann fing es an mit dem Süßkram. Ich weiß noch, wie ich jedes Mal beim Einkaufen mit meiner Mutter an der Kasse Theater gemacht hab’, um Schokolade oder Bonbons zu kriegen. Ich glaube, meine Mutter hat es nicht einmal geschafft, nein zu sagen, weil ich sonst den ganzen Supermarkt zusammengebrüllt hätte.“ „Meine Eltern waren in der Zeit gerade auf dem VollkornTrip. Da gab es nur Haferflocken-Riegel, die ich am liebsten an meinen Hasen verfüttert hätte“, grinste Lara. Bine meckerte
viel über ihre Eltern – dafür, dass sie von ihnen alles bekam, was sie wollte. Ihre eigenen Eltern konnten sich alles leisten, aber sie bestanden immer auf irgendwelchen pädagogisch wertvollen Prinzipien. „Ich meine, meine Mutter hätte doch wissen müssen, was sie mir letztendlich damit antut“, beharrte Bine. Es regte sie maßlos auf, dass sie, wie sie fand, mit vierzehn immer noch aussah wie ein pummeliges Kind. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie immer Angst vor der Turnstunde gehabt, weil in den kurzen Turnshorts besonders auffiel, wie viel Speck sie an den Beinen hatte. „Es wäre doch nicht schwer gewesen, mir mal was abzuschlagen, vor allem Süßigkeiten.“ „Oh doch“, wandte Lara ganz entschieden ein. „Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, dann kriegst du’s auch. Ich als deine Freundin muss es ja wissen.“ Wenn sie nur ein bisschen von Bines Durchsetzungsfähigheit hätte, wäre sie schon zufrieden. Sie hatte schon manches Mal vor Bines Hartnäckigkeit kapituliert. Allein neulich, als Bine unbedingt wollte, dass sie auf diese Party von einem ihrer Klassenkameraden gingen, zu der sie gar nicht eingeladen waren. Lara hatte sich in Grund und Boden geschämt, dort einfach so aufzutauchen, aber Bine hatte sich gar nicht davon beirren lassen, dass alle anderen sie ganz schräg angeschaut und herumgetuschelt hatten. Lara hatte sich fest vorgenommen, sich nie wieder von Bine zu so einer Aktion überreden zu lassen. Aber sie war sicher, dass sie bei der nächstbesten Gelegenheit wieder schwach würde. „Meinst du, ich hab’ eine Chance bei Martin?“, löcherte Bine sie und schnitt dem Spiegel eine Grimasse. Nicht schon wieder dieses Thema, dachte Lara. Seit mindestens einem halben Jahr fing Bine jedes Mal, wenn sie sich trafen, damit an. Wenn sie erst mal ins Schwärmen geriet, fand sie so schnell keine Ende. Aber weil Lara ihre beste
Freundin nicht vor den Kopf stoßen wollte, ließ sie sich zum hundertsten Mal auf die Diskussion ein: „Ich weiß nicht, gestern in Mathe hat er dich jedenfalls angeguckt und ganz nett dabei gelächelt“, versuchte sie Bine aufzumuntern. „Also ich hatte den Eindruck, das war weniger nett als boshaft. Ich glaub’, der kann mich nicht ausstehen.“ Lara schüttelte den Kopf. „Dass du dich aber auch ausgerechnet in den verknallt hast. Das ist doch der totale Angeber. Der meint, wenn er was sagt, liegt ihm die ganze Klasse zu Füßen. Und die meisten sind auch noch so blöd und machen mit.“ Bine widersprach ihr heftig. „Na, findest du etwa so einen Loser wie Sven besser – mit seinen Glasbausteinen vor den Augen und diesen lächerlichen Schurwollpullis, von Mama selbst gestrickt? Typen, die was draufhaben, sind halt ein bisschen arrogant. Der Martin sieht einfach irre süß aus, und außerdem spielt er in ‘ner Band. Voll cool.“ „Ich will dich ja nicht schockieren, aber ich hab’ gestern gehört, der geht mit Nadine.“ „Was? Mit dieser Dörrpflaume?“ Bine war richtig erschüttert. Ihr war bekannt, dass eine Menge Mädchen hinter Martin her waren. Aber jetzt sollte er eine Freundin haben? Und ausgerechnet Nadine. Sie konnte es nicht fassen. „Doch. Frauke war sich ganz sicher. Ich meine, gut aussehen tut sie ja.“ „Aber die ist so blöd, die kapiert gar nichts. Und außerdem ist sie vorne flach wie ein Brett.“ Bine drehte eine ihrer widerspenstigen blonden Strähnen zu einer Schillerlocke auf, wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte oder nervös war. Sie hatte sich die ganze Zeit eingebildet, Martin sei auch ein bisschen in sie verliebt, aber er traue sich nicht so recht ran. Dass sie sich so hatte täuschen
können, wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Was sollte sie jetzt tun, einfach klein beigeben? Das war nicht ihre Art. „Ach komm, mach dir nichts draus. In ein paar Wochen erledigt sich das Problem bestimmt von selbst“, bemühte sich Lara, ihre Freundin über den Schock hinwegzutrösten. „Mit Nadine hält der es doch nicht lange aus.“ Der übliche selbstsichere Ausdruck war komplett aus Bines Gesicht verschwunden. „Ach was. Ich hab’ einfach keine Chance“, sagte sie mit zittriger Stimme. Ihr war ziemlich nach Heulen zu Mute.
Ohne ein Wort mit ihrer Mutter oder ihren Brüdern zu wechseln, war Bine zu Hause sofort die Treppe hoch in ihr Zimmer gegangen. Einmal mehr war sie froh, dass sie ein, wenn auch kleines Zimmer für sich allein hatte, während ihre beiden älteren Brüder sich ein größeres teilen mussten. Sie fragte sich, ob alle Reihenhäuser so konstruiert waren, dass eine fünfköpfige Familie im Grunde nicht reinpasste. Sie beneidete Lara um das großzügige, schöne Haus mit dem weitläufigen Garten, in dem sie wohnte. Aber ein Arzt und eine Lehrerin konnten sich halt eine kleine Villa in der Breitenburger Straße leisten, wo die Reichen unter sich waren. Ihr Vater verdiente mit seinem Job als Facharbeiter in der Großdruckerei gerade mal genug, um diesen blöden Kredit für das Reihenhäuschen im Norden der Stadt abzustottern. Da musste auch noch ihre Mutter Geld ranschaffen, halbtags als Verkäuferin bei Karstadt in der Innenstadt. Immer wenn Bine mal wieder der Neid packte, malte sie sich aus, in was für einem tollen Haus sie selbst später einmal wohnen würde. Wenn sie erst mal Model war, konnte sie sich eine exklusive Wohnung in Paris und noch ein Landhaus irgendwo am Meer – vielleicht an der Côte d’Azur – leisten. Mindestens fünf
Zimmer sollte die Wohnung haben, und Bine hatte auch schon genaue Vorstellungen über die Einrichtung, eine Mischung aus antiken Stücken und Designermöbeln. Dagegen war ihr Zimmer das reinste Mauseloch, acht Quadratmeter, auf denen sich außer dem Bett gerade mal ein Regal, ein kleiner Schrank und ein Schreibtisch unterbringen ließen. Warum war die Welt aber auch in allen Dingen nur so ungerecht? Heute konnte sich Bine nicht einmal darüber richtig aufregen, sie hatte andere Sorgen. Sie ließ sich auf ihr schmales Bett fallen und schaltete ihren kleinen Fernseher ein. Eigentlich lief gerade ihre Lieblingsserie im Vorabendprogramm, die sie nie versäumte, aber sie wollte sich jetzt nicht auch noch mit dem Liebeskummer anderer beschäftigen. Stattdessen starrte sie auf die Hochglanzfotos an ihrer Wand. So schön müsste man sein, wie all die berühmten Models, dann konnte man sich die Männer aussuchen, anstatt ihnen verzweifelt hinterherzulaufen. Wahrscheinlich knutschte Martin gerade in einer schummrigen Ecke mit Nadine herum. Wütend zerknüllte Bine das Schokoladenpapier auf ihrem Schoß. Aus lauter Frust hatte sie eine ganze Tafel auf einmal vertilgt. Jetzt hatte sie zusätzlich eine Stinkwut auf sich, weil sie sich nicht beherrschen konnte. Wahrscheinlich waren damit die Diäterfolge von zwei Wochen zunichte gemacht. Ihr kam es vor, als hätten sich plötzlich alle gegen sie verschworen. In ihrer wütenden Verzweiflung schlug sie mit dem Kissen auf die Wand ein, bis sie aus Versehen eins ihrer Poster herunterriss. Erst da bemerkte sie, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Dass Martin mit einer anderen ging, setzte ihr mehr zu, als sie jemals zugegeben hätte. Bine wusste nicht, wie lange sie so gelegen hatte. Als ihre Mutter von unten heraufrief: „Schätzchen, es gibt Abendessen!“, schrak sie richtiggehend auf. Verheult, wie sie war, hatte sie nicht die geringste Absicht, ihr Bett zu verlassen. Niemand, nicht einmal ihre Mutter, sollte mitkriegen, dass sie
schlecht drauf war. Sie presste das Kissen auf den Kopf, um die Rufe nicht mehr hören zu müssen. Außerdem wollte sie sowieso auf das Abendessen verzichten, zur Strafe für ihren Heißhunger auf Schokolade. Zaghaft klopfte ihre Mutter an die Tür. „Hörst du nicht, Kleine, Papa wird sauer, wenn du nicht gleich runterkommst. Du weißt doch, er kann es nicht leiden, wenn das Essen kalt wird.“ „Ihr könnt ja ohne mich essen“, zischte Bine pampig und verbarrikadierte sich hinter ihrem Kissen. Ihre Mutter seufzte. Anscheinend war es ein größeres Kunststück, fünf Leute gleichzeitig an den Tisch zu bekommen. Wenn ausnahmsweise einmal ihre beiden großen Söhne anstandslos erschienen, musste Bine Zicken machen. Nach so vielen Jahren sollte eigentlich jeder kapiert haben, dass das gemeinsame Abendessen für alle ein verbindlicher Termin war. Es war die einzige Zeit am Tag, zu der alle gleichzeitig zu Hause waren. „Was ist denn los mit dir, Kind? Du musst doch etwas essen, sonst fällst du noch ganz vom Fleisch“, ermahnte Gesa Sanders ihre Tochter. „Ich habe deinetwegen extra einen ganz mageren Braten gekocht.“ Da von Bine keine Reaktion kam, machte sie energisch die Tür auf. Ihr Ärger verflog jedoch so schnell, wie er gekommen war, als sie ihre Tochter derartig bekümmert im Bett sitzen sah. Sie ertrug es nicht, wenn ihre Kleine so traurig war. Obwohl sie es nicht offen zugeben würde, war Sabine ihr kleiner Liebling. In jeder Schwangerschaft hatte sie auf ein Mädchen gehofft. Umso größer war nach den beiden Jungs die Freude über die Geburt einer Tochter gewesen. Vom ersten Tag an hatte sie Sabinchen nach Strich und Faden verwöhnt. Den süßen Kleidchen, die es für Mädchen gab, hatte sie oft nicht widerstehen können. Und ihre Kleine sah darin so
entzückend aus. Sabine hatte immer alle Puppen und Spielsachen bekommen, die sie haben wollte, denn Gesa konnte sich damit nachträglich ihre eigenen, vergeblich gehegten Wünsche erfüllen. Sie würde nie vergessen, wie niedlich ihre süße Tochter herausgeputzt war, als sie mit vier einen Minimodel-Wettbewerb von einer Werbefirma gewonnen hatte. Ganz stolz auf ihr getupftes Rüschenkleidchen und die Lackschuhe mit silbernen Schnallen, war Bine auf der Bühne im Scheinwerferlicht herumgetänzelt. Sie war trotz der vielen Erwachsenen um sie herum kein bisschen schüchtern oder verlegen gewesen. Sie schien die Aufmerksamkeit geradezu genossen zu haben, während viele ihrer Mitbewerberinnen sich verschreckt an die Rockzipfel ihrer Mütter geklammert hatten. Gesa war immer noch vorbehaltlos stolz auf ihre Tochter, auch wenn die manchmal aufsässig war. In dem Alter waren Mädchen einfach schwierig. „Fangt schon mal ohne uns mit dem Essen an“, forderte Gesa den Rest der Familie auf und setzte sich dann sachte zu Sabine auf die Bettkante. „Nun erzähl schon, was ist los mit dir?“ „Nichts! Mir geht’s bestens“, schniefte Sabine. „Hast du Kummer in der Schule, Kind?“ Gesa strich ihrer Tochter über das lange, blonde Haar. Sabine regte sich immer über die widerspenstigen Wellen auf, in denen sich keine Frisur hielt. Dabei sah sie doch so hübsch aus, dachte Gesa. „Quatsch, die Schule ist schon o.k.“ „Dann ist es bestimmt wegen einem Jungen“, meinte Gesa, die sich noch gut an die Zeit erinnern konnte, als sie selbst dreizehn war. „Unsinn“, wollte Bine schon sagen, aber sie brachte es nicht fertig, ihre Mutter glattweg anzulügen. Ihre Mutter kannte sie einfach besser als alle anderen Menschen auf der Welt, und es
hatte keinen Zweck, ihr etwas vorzumachen. „Ja“, brachte sie gequält hervor, und dann sprudelte alles aus ihr heraus, was sie so bedrückte. Gesa hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Die ganze Zeit strich sie ihrer Tochter über den Rücken. Erst als Sabine verstummte, weil ihr nichts mehr einfiel, lächelte sie sie aufmunternd an und meinte: „Das sieht meiner Kleinen doch gar nicht ähnlich, dass sie sich so schnell geschlagen gibt. Weißt du, wenn du wirklich mit diesem Jungen zusammen sein willst, dann schaffst du das schon. Du musst dich eben ein bisschen anstrengen. Diese Nadine wird er komplett vergessen, wenn er dich erst mal richtig kennt.“ „Meinst du? Vielleicht steht er ja wirklich mehr auf braune Haare und eine zickige Art.“ Bine ging es schon besser, seit sie ihrer Mutter ihren Kummer gebeichtet hatte, aber ganz überzeugt war sie trotzdem nicht. „Weißt du was“, schlug ihre Mutter vor, „jetzt, wo du so abgenommen hast, brauchst du mal wieder was Neues zum Anziehen. Das alte Zeug hängt ja nur so an dir. Am Samstag fahren wir nach Hamburg und kleiden dich so richtig schön ein. Du wirst sehen, dann fühlst du dich gleich viel besser, und dein Martin wird Augen machen.“ Bine fiel ihrer Mutter um den Hals. Das war eine prima Idee. Die meisten in ihrer Klasse gingen lieber allein einkaufen, aber in ihrer Mutter hatte sie immer eine gute Beraterin mit Sinn für trendige Sachen, und wenn ihr etwas an Bine gefiel, schaute sie auch nicht auf den Preis. „Au ja, das machen wir“, rief sie. Ihr Selbstbewusstsein war schlagartig zurückgekehrt.
Den Rest des Abends verbrachte sie am Telefon. Sie lag bequem auf dem Bauch und redete pausenlos auf Lara ein.
Zwischendurch hämmerten ihre Brüder an die Tür und beschwerten sich, dass sie das Telefon so lange in Beschlag nahm, aber davon ließ sie sich nicht stören. „Ich warte einfach auf einen günstigen Moment“, verkündete sie ihrer Freundin, „und dann sage ich Martin, dass ich in ihn verliebt bin. Oder sollte ich ihm lieber einen Zettel schreiben und zustecken?“ „Schreiben ist, glaube ich, keine so gute Idee“, riet ihr Lara. „Damit macht man sich leicht lächerlich und kann hinterher nicht sagen, es sei alles ein Missverständnis gewesen.“ „Stimmt, wäre ganz schön peinlich, wenn eine falsche Person einen Liebesbrief in die Finger bekommt. Aber wie soll ich es denn anstellen, dass ich Martin mal ohne Nadine im Schlepptau erwische?“ „Schwierig. Die hängen ständig mit ihrer Clique herum.“ „Aber ich kann ja nicht einfach bei Martin zu Hause auftauchen und, wenn zufällig seine Mutter die Tür aufmacht, sagen, ich wollte mir mal kurz ein Mathebuch ausleihen.“ „Ja, das wäre wirklich blöd“, pflichtete Lara ihr bei, wusste aber auch keine bessere Alternative. „Kannst du mir nicht ein bisschen helfen? Du könntest mir einfach am Mittwoch in der großen Pause Nadine vom Leib halten. Sag ihr zum Beispiel, sie hätte im Biosaal ihre Jeansjacke liegen lassen oder ihre Uhr verloren oder sonst was, damit sie ‘ne Weile mit Suchen beschäftigt ist.“ „Das weiß man doch, ob man seine Jeansjacke oder Uhr bei sich hat oder nicht.“ „Ich würde natürlich Vorsorgen und irgendwas ganz unauffällig verschwinden lassen“, versprach Bine. Lara pfiff anerkennend durch die Zähne. Bine war ganz schön raffiniert, das musste man ihr lassen. Bines Brüder hatten es zwar längst aufgegeben, gegen das Dauertelefonat zu protestieren, aber inzwischen polterte Bines
Vater an die Tür. Auch er musste dringend jemanden anrufen und kam nicht zum Zug. „Dass ihr auch noch stundenlang telefonieren müsst, wo ihr euch doch sowieso den ganzen Tag seht“, lamentierte er. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass es immer noch etwas zu bereden gab, wenn man das meiste sowieso gemeinsam erlebte. Bine und Lara verbrachten doch unzertrennlich fast alle Nachmittage zusammen und saßen in der Schule nebeneinander. „Bin gleich fertig“, rief Bine ihrem Vater zu. Jeder, der ihn vor der Tür schimpfen hörte, musste annehmen, Wolfgang Sanders sei ziemlich wütend auf seine Tochter. Aber Bine wusste, dass hinter dem Getöne viel Zuneigung und Verständnis steckte. Obwohl er immer wieder über ihre „Telefonkrankheit“ herzog, hatte er noch nie etwas Ernstes dagegen unternommen. Im Gegensatz zu ihr bekamen ihre Brüder seinen Zorn wirklich ab. Bine war eben nicht nur Mamas kleines Mädchen, sondern auch Papas Liebling. Von ihren Geschwistern hatte sie den leichtesten Stand. Die großen Brüder stritten sich nicht nur untereinander dauernd, sie machten auch immer wieder Ärger – Schwierigkeiten in der Schule, hier eine Rauferei, da einen Unfall mit dem Moped… Dagegen erfüllte Bine ohne Anstrengung die Erwartungen ihrer Eltern. Sie war, zumindest bis vor kurzem, ziemlich brav, gut in der Schule und umgänglich und hilfsbereit zu Hause. Entsprechend wurde sie auch verwöhnt. „Ich muss Schluss machen“, sagte Bine und verabschiedete sich eilig von Lara. „Also dann, abgemacht, am Mittwoch läuft alles wie besprochen, o.k.?“ „O.k. Nadine wird sich wundern. Träum du schon mal von deinem Martin“, wünschte Lara ihr eine gute Nacht. Und Bine konnte ihrem Vater endlich das Telefon überreichen.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Sabine, ob alles nach Plan lief mit Lara und Nadine. Der Zufall war ihr zu Hilfe gekommen, denn gegen Ende der Biostunde war Nadines Mäppchen vom Tisch gefallen, quasi direkt unter ihren eigenen Stuhl. Nadine hatte sich gerade kichernd mit ihrer Banknachbarin unterhalten und nicht bemerkt, dass Sabine das Mäppchen schnell in ihrer Tasche hatte verschwinden lassen. Während die Ersten schon in den düsteren, verstopften Flur strömten, durch den sich alle möglichst schnell in die Pause drängen wollten, packte Sabine gemächlich ihre Sachen ein, denn auch Martin ließ sich Zeit. Lara schien Nadine an der Angel zu haben. Sabine musste fast grinsen, als sie sah, wie Nadine fieberhaft in ihrer Schultasche herumkramte, nachdem Lara sie gebeten hatte, ihr einen geliehenen Stift zurückzugeben. Martin sah Nadine auffordernd an: „Beeil dich schon, sonst ist die Pause rum, bevor wir überhaupt auf dem Hof sind.“ „Dann geh halt schon mal vor“, forderte sie ihn widerwillig auf. „Bringst du mir bitte eine Nougatschnecke vom Bäcker mit?“ Schulterzuckend machte sich Martin auf den Weg und Sabine heftete sich an seine Fersen. Sie drehte nervös an einer Strähne herum und hatte das Gefühl, ihr Magen spielte verrückt. Nun hatte sie die Gelegenheit, Martin anzusprechen – jetzt oder nie. Und trotzdem zögerte sie. Was sie vorhatte, war heikel. Was, wenn ihre Botschaft auf taube Ohren stieß? Wenn er ihr übel mitspielen wollte, war sie danach die Lachnummer der ganzen Klasse. Sie wusste gut genug, wie schnell sich derartige Gerüchte ausbreiteten – noch schneller als Grippeviren im Winter. Dann erinnerte sie sich an den Rat ihrer Mutter. Sie durfte sich nicht einfach geschlagen geben.
Sabine holte einmal tief Luft. „Hallo, Martin.“ Er drehte sich um und sah sie fragend an. Da sich der breite Flur inzwischen geleert hatte, musste er ja wohl gemeint sein. Sabine hatte gehofft, dass ihr spontan etwas einfiel, aber ausgerechnet diesmal versagte ihre Schlagfertigkeit. „Na, was ist?“, fragte Martin sichtlich ungeduldig. „Ja, also, ich geb’ am Samstag in einer Woche ‘ne Party, mein Geburtstag, und da wollte ich dich einladen.“ Jetzt musste sie sich wirklich einen Ruck geben, um weiterzureden. „Ich würde mich freuen, wenn du kämst, ich finde dich nämlich total süß.“ Martin starrte sie mit unbewegter Miene an. Sabines Augenaufschlag hätte jeden anderen zum Dahinschmelzen gebracht. Ihr Herz raste. Warum machte er es ihr so schwer? „Und, was ist?“, fragte sie. Martin verzog verächtlich die Mundwinkel. „Was soll ich denn da? Da sind bestimmt nur so Streberinnen wie du. Wahrscheinlich hört ihr auch noch Peter Maffay oder so“, meinte er dann herablassend. „Nee danke. Hab’ schon was Besseres vor.“ Augenblicklich merkte Sabine, wie ein Hitzeschwall ihr Gesicht erfasste und es zum Glühen brachte. Sie wünschte sich, der schäbige Linoleumboden unter ihren Füßen würde sich auftun und sie einfach verschlucken. Aber sie stand noch am selben Fleck und musste irgendwie reagieren. „Na, dann geh mal lieber mit Nadine Mathe üben. Das hat sie nämlich bitter nötig“, konterte sie und wunderte sich, dass ihr in so einer peinlichen Situation noch ein frecher Spruch eingefallen war. „Ach, du hast ja doch auf mich gewartet“, ertönte jetzt von hinten Nadines helle Stimme, die in Sabines Ohren auf einmal ganz boshaft klang.
Sabine stand wie angewurzelt da, als Martin besitzergreifend seinen Arm um Nadine legte und sie in Richtung Treppe zog. „Und?“, fragte Lara, die plötzlich neben ihr stand. Sabine schüttelte nur den Kopf. „Komm, gehen wir“, meinte sie frustriert. Ihr Blick fiel auf die überquellende Mülltonne am Treppenabsatz. Eigentlich hatte sie vorgehabt, Nadine ihr Mäppchen wieder unterzuschieben. Aber als könnte sie damit ihre Blamage ungeschehen machen, versenkte sie das Ding genüsslich zwischen leeren Coladosen und verschmierten Pausenbrotpapieren.
Ein paar Wochen später schien zum ersten Mal in diesem Jahr die Sonne so stark, dass man ohne Jacke draußen herumlaufen konnte. Bine hatte sich zu einer Jogging-Runde gezwungen und fühlte sich danach richtig frisch. Sie war immer stolz, wenn sie den inneren Schweinehund überwunden hatte, der ihr bei jedem Schritt zuschrie: „Aufhören, aufhören.“ Mit dem klaren Ziel vor Augen, im Laufe des Sommers mindestens noch fünf Kilo wegzubekommen, schaffte sie das ganz gut. In ihrer knappsten Jeans und einem langärmligen, buntgeblümten T-Shirt machte sie sich frisch geduscht auf zu ihrem Treffpunkt. Sie hatte sich mit Lara in der Eisdiele verabredet, wo sie am liebsten hingingen. Das „Da Vinci“ war für viele aus ihrer Stufe ein beliebter Ort zum Herumhängen. Die Einrichtung, eine blau-weiß gestreifte, goldverzierte hohe Keramiktheke, wacklige runde Tischchen mit Resopaloberfläche und einfache Stahlrohr-Stühle mit einem dunkelroten Vollplastikbezug, der quietschte, sobald man sich darauf bewegte, stammte original aus den sechziger Jahren. Wahrscheinlich war das „Da Vinci“ eine der ersten Eisdielen im Land gewesen und seit der Eröffnung nicht das geringste
bisschen verändert worden. Der Charme der ungewöhnlichen Aufmachung und die Tatsache, dass es dort das beste und billigste Stracciatella-Eis weit und breit gab, machte die Eisdiele zu einem magischen Anziehungspunkt für die Stadtjugend. Allerdings war sie jetzt bis auf Lara und zwei Mütter mit kleinen Kindern, deren Gesichter bis zur Unkenntlichkeit mit geschmolzenem Eis bedeckt waren, leer. Die meisten Schüler, die sonst das Lokal füllten, saßen wohl noch an ihren Hausaufgaben. Bine war es ganz recht, dass niemand aus der Klasse in der Nähe war, denn was sie Lara erzählen wollte, war nicht für fremde Ohren bestimmt. In der Nacht hatte sie nämlich einen Einfall gehabt. Lara fiel ihr wie üblich überschwänglich um den Hals, obwohl sie sich morgens schon in der Schule gesehen hatten. Dann bewunderte sie Bines neues T-Shirt. „Mensch, das sieht ja klasse aus. Ich trau’ mich immer nicht, so bunte Sachen anzuziehen, aber du kannst das einfach super tragen.“ „Ich leih’s dir gerne mal aus, so zum Testen, ob du dir nicht mal was Mutigeres zulegen solltest“, bot Bine ihr an. Am liebsten wäre sie gleich mit der Tür ins Haus gefallen, aber sie musste Lara erst günstig stimmen, damit sie sich ihre neuesten Ausführungen zum Thema Martin anhörte, ohne gleich wieder genervt herumzustöhnen. „Hast du noch mal was von Martin, äh, ich meine von Nadine und so, gehört“, fragte sie vorsichtig ihre Freundin, nachdem sie auf der Toilette ihre Oberteile getauscht hatten. „Nichts wirklich Neues“, wand sich Lara. Sie wusste gar nicht, wie sie Bine den neuesten Klassenklatsch beibringen sollte, den sie morgens vor Unterrichtsbeginn aufgeschnappt hatte. „Anscheinend ist es mit Nadine echt ernst. Die sitzen wohl nachmittags dauernd Händchen haltend zusammen rum.“
„Na, wenn’s nicht mehr ist“, gab Bine gelassen zurück. Überzeugt von ihrem Plan, konnte ihr nichts die gute Laune verderben. Lara schluckte. Sollte sie Bine wirklich sagen, dass Martin eine doofe Bemerkung gemacht hatte, von wegen es sei jämmerlich, wie sich Bine bei den Lehrern anbiedern würde. Offenbar habe sie es nötig. Das war die reinste Gemeinheit. Lara blieben die Worte im Hals stecken, nein, das würde sie für sich behalten. Stattdessen berichtete sie, was eine Mitschülerin ihr am Vortag an der Bushaltestelle erzählt hatte. „Stell dir mal vor, der Martin ist total besitzergreifend. Anscheinend war Nadine neulich auf die Geburtstagsfete von Uwe eingeladen, und Martin hat ein irres Theater gemacht, weil sie allein hingehen wollte. Der hat sie vor allen anderen so richtig niedergemacht. Sei bloß froh, dass dir so was erspart bleibt.“ Lara konnte gar nicht ahnen, welche Freude sie Bine mit dieser Geschichte machte. Innerlich jubelte Bine, denn ein Fünkchen Eifersucht war genau das, was sie brauchte, damit ihr Vorhaben funktionierte. „Meinst du, da ist irgendwas zwischen Uwe und Nadine?“, erkundigte sie sich. „Ich glaube eher, Uwe hätte das gern. Nadine ist ja so blöd, die merkt nicht mal, dass er was von ihr will. Sonst wär’ die doch nie allein auf diese Party gegangen.“ „Warum erfährst nur immer du den neusten Klatsch, und ich nicht?“, wunderte sich Sabine. Lara war eigentlich immer auf dem Laufenden. Dabei hingen sie fast immer zusammen herum, ziemlich isoliert vom Rest der Klasse. Sabine war, nachdem Martin sie mal als „Streberin“ bezeichnet hatte, klar, was die Mehrheit von ihr dachte. Schließlich hatten sie gerade in Bio gelernt, was es mit den „Alphamännchen“ bei den Affen auf sich hatte. Wenn der Anführer sich auf die Brust trommelte, machten alle anderen es nach, und wenn er anfing,
auf einem anderen herumzuhacken, machten alle anderen auch mit, um selbst gut dazustehen. „An der Bushaltestelle schnappt man so manches auf“, spekulierte Lara. „Vielleicht solltest du dein Fahrrad mal zu Hause stehen lassen.“ „Daran liegt’s, glaube ich, nicht“, wandte Sabine ein. „Die aus der Clique reden ja praktisch nicht mit mir. Da könnte ich noch so lange rumstehen und auf den Bus warten.“ Sie wollte rauskriegen, über welche Kanäle sich Gerüchte verbreiteten. Wenn es eine Kette von Klatschbasen zwischen der Clique und Lara gab, müsste es ja auch den umgekehrten Weg geben. Die Clique verhielt sich normalerweise wie eine Klasse in der Klasse und ließ sich ungern herab, mit dem Rest zu kommunizieren. „Ach so. Na ja, ich red’ öfter mal mit Frauke aus der 9C, und Frauke wiederum ist auch ‘ne Freundin von Svenja in unserer Klasse.“ „Prima“, ließ Sabine Lara wissen, die keinen Schimmer hatte, worauf ihre Freundin hinauswollte. „Dann wäre es also möglich, dass du Frauke ein paar kleine offene Geheimnisse anvertraust, und die wiederum gibt sie an Svenja weiter, die den Rest der Clique informiert, ja?“ „Prinzipiell schon“, nickte Lara, „aber wozu?“ Sabine verpasste ihr einen kleinen, freundschaftlichen Rippenstoß. „Ist der Groschen noch nicht gefallen? Also pass auf: Mir ist da zufälligerweise zu Ohren gekommen, dass Nadine auf der Fete letzten Samstag heimlich mit jemand anderem rumgemacht hat. Sagen wir mal, es war Uwe. Klingt doch plausibel, oder?“ „Hä? Das ist ja ein Ding. Woher…?“ „Na, sozusagen Intuition.“ Sabine knuffte Lara noch mal. Wie konnte man nur so schwer von Begriff sein.
Schließlich schlug sich Lara mit der platten Hand auf die Stirn. „Ach so.“ Sabine merkte förmlich, wie sich Laras Denkapparat laut ratternd in Bewegung setzte. „Also, findest du das wirklich in Ordnung? Ist doch echt gelogen. Ich weiß nicht, ob ich so etwas in die Welt setzen will“, kam es dann zweifelnd von Lara. „Wer Gerüchten glaubt, ist selber schuld!“, gab Sabine ihr entschlossen zurück. „Außerdem bist du meine beste Freundin, du musst mir helfen, sonst bin ich todunglücklich und du musst dir das ganze Gejammer anhören.“ Widerstrebend gab Lara nach. Sabine schaffte es doch immer wieder, sie rumzukriegen, auch wenn sie in diesem Fall erhebliche Bedenken hatte. Ein Gerücht zu verbreiten fand sie eigentlich ziemlich gemein, aber gegen Sabine war sie einfach machtlos. Und schließlich war sie ja ihre Freundin, da musste man sich gegenseitig helfen. Sabine und Lara freuten sich über eine Freistunde. Physik war sowieso nicht ihre größte Leidenschaft, und seit sie vierzehn waren, durften sie in Freistunden das Schulgelände verlassen. Bei schönem Wetter versammelten sich die meisten im Klosterhof um einen kleinen, schilfumrandeten Ententeich. Nicht, dass die Enten ein besonders interessanter Anblick gewesen wären, aber es standen ein paar Parkbänke herum, um die man sich herumgruppieren konnte, und das Gebüsch zwischen den einzelnen Bänken vermittelte auch die nötige Abgeschiedenheit für vertraulichere Gespräche. Es war schon eine Woche vergangen, seit Lara Sabines Plan ausgeführt und Frauke ganz nebenbei von Nadine und Uwe erzählt hatte. Sabine saß schon wie auf glühenden Kohlen, weil in der ganzen Zeit offenbar noch nichts davon bei der Clique angekommen war. Sonst machte doch alles ganz schnell die Runde. Die beiden Freundinnen schlenderten um den Teich
herum und debattierten das Problem, da blieb Sabine plötzlich stehen und hielt Lara fest: „Siehst du, was ich auch sehe?“ Lara ließ den Blick schweifen. Dann entdeckte auch sie den Grund von Sabines schadenfrohem Grinsen. Auf der abgelegensten Parkbank saß mit hängenden Schultern Nadine, und Martin redete, erregt mit den Armen fuchtelnd, auf sie ein. Das sah nach einem handfesten Streit aus. „Na, da haben unsere Turteltäubchen heute aber nicht so viel Spaß miteinander“, zischte Sabine. Energisch zog sie Lara in die Richtung, denn direkt daneben war eine zweite Bank frei. Lara sträubte sich ein wenig. Es war ihr peinlich, wie ein mieser Voyeur genau auf die Streitenden zuzusteuern. Aber sie machte sich umsonst Sorgen, denn Martin und Nadine waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie überhaupt nicht merkten, dass sie Gesellschaft bekommen hatten. Sie brauchten nicht einmal besonders die Ohren zu spitzen, denn Martin brüllte Nadine geradezu an: „Gib’s doch endlich zu, dass du mit Uwe rumgeknutscht hast. Es hat euch jemand gesehen.“ „Das stimmt nicht, das muss eine Lüge sein. Es gab nämlich nichts zu sehen“, wehrte sich Nadine, vor Verzweiflung den Tränen nah. „Und warum bist du dann ohne mich auf seine Party gegangen? Wenn da nichts war, wie du sagst, hättest du mich ja mitnehmen können.“ „Aber du wolltest doch nicht wegen deiner Bandprobe“, erinnerte sie ihn. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass du dir gleich ‘nen andern suchst, wenn ich gerade nicht greifbar bin“, wetterte Martin. Nadine wimmerte praktisch nur noch. Sabine rieb sich die Hände. Das lief ja ganz in ihrem Sinne. Mit ihrem verheulten Gesicht und den geröteten Augen war Nadine wirklich kein Mädchen, nach dem man sich umgedreht
hätte. Martin dagegen sah selbst in seinem Zorn gut aus, direkt zum Verlieben. Seine Augen funkelten feurig, obwohl er sonst eher kühle Überheblichkeit und klaren Verstand ausstrahlte. Martin schien irgendwie gemerkt zu haben, dass neugierige Ohren den Streit mitverfolgten, denn er senkte seine Stimme, und Sabine bekam nur noch Fetzen mit. Hatte sie etwa zu auffällig hinübergestarrt? Sie packte Lara am Ärmel und drängte zum Aufbruch. Sie wollte jetzt auf keinen Fall Verdacht erregen. Nun, da der wichtigste Teil ihres Plans allem Anschein nach geglückt war, ging es zum schwierigeren Teil über. Wie sollte sie an Martin herankommen? Sabine machte sich sorgfältig zurecht. Nachdem sie eine Weile vor dem Kleiderschrank gestanden hatte, ohne sich entscheiden zu können, streifte sie ein apricotfarbenes, enges T-Shirt über und schlüpfte in die hellgraue Hose mit den aufgesetzten Taschen. Das müsste passen – schick, aber nicht zu aufdringlich. Vor dem Spiegel verzweifelte sie beinahe. Jetzt, ausgerechnet jetzt hatte sich auf ihrer Stirn ein Pickel gebildet. So konnte sie doch nicht unter Leute gehen, geschweige denn Martin erobern! Es war zum Heulen. Sie rückte dem verhassten roten Fleck schließlich mit Abdeckstift und Make-up zu Leibe, bis man nur noch eine Erhebung sah. Es blieb ihr ja nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Insgesamt war sie zum Schluss nach einem prüfenden Blick doch zufrieden mit ihrem Aussehen. Hoffentlich war die ganze Mühe nicht umsonst. Normalerweise tauchte auch Martin nachmittags häufig im „Da Vinci“ auf, und Sabine hoffte inständig, dass es ihn auch heute dort hinziehen würde. Der trübe Himmel und ein kühler Wind, der an den Bäumen rüttelte, sprachen eher dagegen. Bei so einem Wetter wagte man sich am liebsten nicht aus dem Haus.
Als Sabine vor dem „Da Vinci“ stand, pochte ihr Herz ziemlich schnell, was sie aber lieber auf die anstrengende Radfahrt gegen den Wind schob als auf die Vorstellung, vielleicht gleich Martin gegenüberzustehen. Vor der Glastür versuchte sie, ihre zerzauste Frisur in Ordnung zu bringen, dann ging sie entschlossen hinein. In dem kleinen Raum war wenig los, und auch Martin war nicht da, wie sie mit einem Blick erfasste. Na ja, er konnte ja noch kommen, dachte sie und suchte sich einen Tisch mit gutem Blick auf den Eingang aus. Zum Glück hatte sie sich eine Zeitschrift zum Lesen mitgebracht. Nicht, dass sie sich besonders gut konzentrieren konnte, aber man saß nicht so unbeschäftigt herum, als würde man auf jemanden warten. Immer wieder schielte sie zum Eingang, aber da tat sich gar nichts. Sie hatte das Gefühl, schon eine Ewigkeit hier zu sitzen, und schaute auf die Uhr. Nein, es waren noch keine fünf Minuten vergangen. Auf einmal schreckte sie auf. Hinter ihrem Rücken hörte sie jemanden husten. Sie fuhr herum, und da saß Martin. Er musste, als sie hereinkam, gerade auf der Toilette gewesen sein, und da sie die ganze Zeit in Richtung Tür gestarrt hatte, hatte sie ihn nicht zurückkommen sehen. Aber warum hatte er nicht wenigstens Hallo gesagt? Sie gingen ja immerhin in dieselbe Klasse. „Hi, Martin“, begrüßte sie ihn, „hab’ dich gar nicht gesehen, als ich reingekommen bin. Ich dachte schon, ich sitz’ den ganzen Tag allein hier rum. Lara ist mal wieder ein Muster an Pünktlichkeit.“ Aber Martin stierte nur auf seine Cola. Ohne ihn zu fragen, ob ihre Gesellschaft erwünscht war, stand Sabine auf, platzierte ihren Cappuccino auf seinen Tisch und setzte sich dazu.
Martin blieb stumm und hing weiter seinen trüben Gedanken nach. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und wirkte, als habe er zwei Nächte nicht geschlafen. „Sorry, aber irgendwie siehst du aus, als seist du schlecht drauf“, sagte Sabine mitfühlend. Zum ersten Mal schien er sie überhaupt zu registrieren, denn er schaute auf und zuckte dann abwehrend mit den Schultern. „Was ist los mit dir? Hast du dein Mofa zu Schrott gefahren, oder ist der Bassist von eurer Band abgesprungen?“ „Geht dich nichts an.“ „Das ist zwar eine heldenhafte Einstellung, aber vielleicht geht’s dir besser, wenn du mal auspackst“, schlug Sabine vor. Martin musterte sie so streng, dass sie dachte, sie hätte es völlig versiebt, aber dann fing er stockend an zu reden. „Ist ja egal, bald wissen es sowieso alle. Da kann ich’s dir auch erzählen. Mit Nadine ist es aus. Wir haben Schluss gemacht.“ Sabine tat überrascht. „Echt? Irgendwie dachte ich, ihr seid das ideale Paar. Habt ihr euch gezofft? Glaub mir, das wird wieder.“ „Nix da. Die hat ‘nen andern. Hat’s echt gebracht, mit ‘nem anderen rumzumachen, obwohl sie mit mir zusammen war. Und ich Idiot hab’s noch nicht mal gecheckt. War so ziemlich der Letzte, der’s erfahren hat. Was glaubst du, wie man sich da vorkommt?“ Sabine machte ein betroffenes Gesicht. „Wie konnte sie dir das antun. Das hätte ich mir an deiner Stelle nicht gefallen lassen.“ Martin biss sich auf die Lippen. Er sah so todunglücklich aus, dass Sabine sich fragte, ob er sich tröstend über seine braunen Locken streichen lassen würde. Aber da selbst ihr so etwas in der Öffentlichkeit peinlich war, hielt sie sich zurück, und legte nur ihre Hand beruhigend auf seinen Unterarm.
„Du warst ganz schön in sie verliebt, stimmt’s?“ Er nickte. „Aber das ist jetzt aus und vorbei. Ich glaube, ich hab’ mir da echt was vorgemacht. Sonst wäre ich doch nicht auf die Nummer reingefallen.“ „Vergiss es einfach“, zwinkerte Sabine ihm verschwörerisch zu. „Die hat dich einfach nicht verdient.“ Martin sah schon etwas fröhlicher aus, und sie plauderten über ein unverfänglicheres Thema, die bevorstehende Mathearbeit. Nachdem sie sich gehörig über ihre Lehrer ausgelassen hatten, die nichts anderes im Sinn hatten, als arme Schüler zu quälen, packte Sabine ihre Sachen zusammen. Sie befand für sich, dass sie für diesen Nachmittag genug erreicht hatte. „Ich werd’ mal abziehen. Lara scheint mich heute komplett vergessen zu haben. Und ich muss noch dringend ein paar Zeitungen austragen, sonst krieg’ ich eins aufs Dach.“ Martin klopfte ihr zum Abschied auf die Schulter. „Bist ‘n guter Kumpel. Hätt’ ich echt nicht gedacht.“ Sabine schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Etwas Schöneres hätte er ihr dem Moment nicht sagen können. „Ich glaube, ich habe was gutzumachen. Das war neulich ziemlich unfair, dich als Streberin zu beschimpfen“, meinte Martin schließlich verlegen. „Vielleicht hast du ja Lust, am Samstag mit auf ‘ne Party zu gehen. Da spielen wir mit unserer Band.“ „Die wollte ich schon immer mal hören“, gab Sabine zurück, bemüht, nicht zu überschwänglich zu reagieren. Sie wollte sich schließlich nicht verraten. Das lief ja noch besser, als sie sich im Traum erwartet hätte. Lara würde Augen machen, wenn sie ihr erzählte, wie der Nachmittag gelaufen war.
Sabine lag noch tief schlafend im Bett, da klopfte es laut an der Tür. „Binelein, Telefon für dich. Lara ist dran“, rief ihre Mutter. Sabine wälzte sich im Halbschlaf auf die andere Seite. Es war doch bestimmt noch viel zu früh für einen Anruf. Sie war doch gerade erst ins Bett gegangen. „Oder müsste ich längst in der Schule sein?“, durchfuhr es sie. Aber nein, heute war ja Sonntag, fiel ihr ein, nachdem sie die Schlaftrunkenheit abgeschüttelt hatte – genauer gesagt, der Sonntag nach der Party von Martins Freunden. Kein Wunder, dass Lara es nicht erwarten konnte, sie auszuhorchen. Sie verzieh Lara sofort, dass sie zu einer so unsäglichen Zeit anrief, und riss ihrer Mutter das Telefon aus der Hand. „Und?“, fragte Lara nur. „Yeah!“, brüllte Sabine glücklich ins Telefon. „Mach’s nicht so spannend. Wie war es denn?“, drängte Lara sie. „Super, einfach super. Martin hat mich hier mit seinem Mofa abgeholt, und wir sind zu Sascha gefahren. Da war richtig was los, kann ich dir sagen. Saschas Eltern waren weg, und in dem Partyraum im Keller konnten die so laut Musik machen, wie sie wollten. Ich hab’ mich trotzdem gewundert, dass sich keiner von den Nachbarn beschwert hat. Wenn die mit ihrer Band loslegen, kriegst du fast ‘nen Ohrenschaden.“ „Das war aber nicht alles, oder?“ „Natürlich nicht. Später haben alle getanzt wie wild, und Martin ist mir immer näher gerückt, bis er nur noch Augen für mich hatte. Dann hat er auf einmal den Arm um mich gelegt, und mir ins Ohr geflüstert, wie toll er mich findet.“ „Das ist ja klasse. Habt ihr euch geküsst?“, wollte Lara natürlich wissen. „Hm. Martin hatte meinem Vater versprochen, mich bis elf nach Hause zu bringen. Es war zwar schon halb zwölf, aber an
der Bushaltestelle bei uns um die Ecke haben wir noch mal angehalten, um ein bisschen in Ruhe zu reden. Da ist es dann passiert.“ „Und? Wie war’s? Lass dir doch nicht alles wie Würmer aus der Nase ziehen.“ „Traumhaft. Genau wie ich’s mir vorgestellt hatte“, schwärmte Sabine. „Und weißt du, was das Beste war? Nadine hat den ganzen Abend wie ein begossener Pudel rumgesessen, und Martin hat sie nicht mal mit dem Hintern angeschaut. Die ganze Clique hat sie einfach links liegen lassen.“ „Genial!“, meinte Lara fast schon wieder eifersüchtig auf die Erfolge ihrer Freundin. Es wunderte sie immer wieder, dass einfach alles, was Bine anpackte, auf Anhieb klappte. Nun hatte sie sich den bestaussehenden Jungen in der Klasse geangelt. Wenn nicht Bine ihn sich schon ausgeguckt hätte, hätte sie sich selbst in ihn verliebt.
Ein paar Wochen lang rechnete Sabine noch damit, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommen würde. Sie konnte es kaum glauben, dass sie mit dem falschen Gerücht über Nadine durchgekommen war. Anscheinend machte keiner, nicht einmal Nadine, Anstalten, die Sache aufzuklären. Aber dann rastete Nadine auf einmal mitten in der Deutschstunde aus. Als Herr Eckberg, der Lehrer, in die Klasse kam, legte er als Erstes einen Stapel korrigierter Aufsätze auf sein Pult. Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge. Die Schüler hatten eine Erörterung über das Thema „Ist es sinnvoll, sich politisch zu betätigen“ schreiben müssen und waren noch im Nachhinein empört über diese absurde Zumutung. Die meisten hatten sich ziemlich gequält und befürchteten, damit ihre Zeugnisnote endgültig versaut zu haben. Jetzt rutschten sie
unruhig auf ihren Stühlen hin und her und warteten auf die Katastrophe. Aber Herr Eckberg machte beim Unterricht genau dort weiter, wo sie in der letzten Stunde aufgehört hatten, und schenkte den blauen Heften vor sich nicht die geringste Beachtung. Wie eine dunkle Wolke hing die Drohung, eine schlechte Note zu haben, in der Luft und ließ die meisten ganz kleinlaut werden. „Der Mistkerl“, flüsterte Lara Bine zu. „Lässt uns hier schmoren und labert über Annette von Droste-Hülshoff rum. So ein Sadist.“ Sabine machte eine abwehrende Handbewegung. Sie sah der Rückgabe gelassen entgegen, denn Deutsch war ihr Lieblingsfach, in dem sie besonders gut war. Es fiel ihr leicht, zu jedem x-beliebigen Thema einen Gedankengang zu entwickeln und prägnante Formulierungen dafür zu finden. Deshalb wunderte sie sich nicht besonders, dass Herr Eckberg sie als seine Lieblingsschülerin auserkoren hatte und keine Gelegenheit ausließ, sie bei kniffeligen Fragen dranzunehmen, um dem Rest der Klasse zu demonstrieren, wie eine mustergültige Antwort aussah. Anfangs hatte sich Sabine gefreut, derart im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, aber bald hatte sie begriffen, dass sie sich bei den anderen alles andere als beliebt machte. Wahrscheinlich war sie deshalb so als Streberin verschrien, argwöhnte sie. Etwa zehn Minuten vor Schluss pochte Herr Eckberg viel sagend mit der Faust auf den Stapel Hefte und sah die Klasse strafend an. „Das war ja nicht gerade eine Meisterleistung, was ihr da abgegeben habt.“ Einige stöhnten gequält auf, denn die Aussicht, wegen dieses doofen Aufsatzes sitzen zu bleiben, stimmte sie nicht unbedingt glücklich.
„Fangen wir mal von hinten an. Marco, das war gar nichts. Note sechs.“ Herr Eckberg wartete, bis der Ärmste sein Heft vorne abgeholt hatte, und machte dann auf diese Art weiter. „Stefanie, du warst auch schon besser, Note fünf.“ Lara machte ihrer Anspannung Luft, indem sie leise schimpfte: „Muss der jeden Einzelnen auch noch so vorführen. Das ist doch ‘ne echte Gemeinheit.“ „Pst“, brachte Sabine sie zum Schweigen. „Nadine, du warst auch nicht besser als Stefanie. Weißt du, was das für deine Versetzung bedeutet? Du solltest dir mal ein Beispiel an Sabine nehmen. Vielleicht setzt ihr euch ja mal zum Lernen zusammen.“ Nadine lief tomatenrot an. Die Tränen standen ihr in den Augen. Das war nun wirklich zu viel. Sabine, ausgerechnet Sabine wurde ihr vorgehalten, der sie sowieso all ihren Kummer zu verdanken hatte. „Diese blöde Kuh, ich würde lieber im Boden versinken, als mich überall so einzuschleimen wie Sabine. So eine widerliche Streberin“, platzte sie heraus. Schlagartig war es totenstill in dem miefigen Klassenzimmer. Auch Sabine saß stocksteif da. Da begannen die Ersten zustimmend zu grölen, allen voran Marco, der Klassenclown. Es war, als hätte sich monatelang der Hass auf die Vorzeigeschülerin angestaut und nun endlich ein Ventil gefunden. Sabine lief es kalt den Rücken herunter, so eisig empfand sie die Ablehnung. Selbst Herr Eckberg stand ratlos da angesichts der Gefühlswelle, die er ahnungslos ausgelöst hatte. Sabine begriff innerhalb von Sekunden, dass es hier um ihren Stand in der Klasse ging, dass ihre Reaktion darüber entschied, ob sie in Zukunft akzeptiert wurde oder weiterhin als Außenseiterin abgestempelt war. „Okay, Nadine, wenn du schon meinst, hier vor der Klasse deine dreckige Wäsche waschen zu müssen, dann sei bitte ganz ehrlich“, konterte sie kalt. „Du regst dich auf, dass ich besser
bin als du, aber mit meinen Noten hat das in Wirklichkeit gar nichts zu tun. Du kannst dich bloß nicht damit abfinden, dass du bei Martin abgemeldet bist.“ Das Gegröle hatte sofort angespanntem Schweigen Platz gemacht. Nadine kniff die Lippen zusammen und versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten. „Ich finde, du solltest dich bei mir entschuldigen“, machte Sabine weiter. „Und falls du ernsthaft an deinen Noten arbeiten willst, kann ich gerne mal mit dir lernen. Das gilt übrigens für alle. Ich habe nämlich entgegen eurer Ansicht keinen Spaß dran, dass ihr in die Pfanne gehauen werdet.“
Keiner wusste so recht, wie er reagieren sollte, bis Martin anfing zu klatschen. Dann ertönte schon der Gong, und die Meute stürmte heftig diskutierend in die Pause. Sabine saß mit Martin an der Stör, einem kleinen Fluss, der sich durch die flache Weidelandschaft schlängelte. Die kleine Anlegestelle aus morschem Holz, die von hohem Schilf umgeben war, war ihr Lieblingsplätzchen. Wann immer das Wetter und die Hausaufgabenlast es zuließen, fuhren sie dorthin – Sabine mit ihrem Fahrrad und Martin mit seinem Mofa. Meistens lagen sie einfach nur faul in der Sonne und starrten auf die glitzernde Wasseroberfläche. Dass ein kleiner Fischkutter vorbeischipperte, war eher selten, und so konnten sie meist ungestört schmusen, wenn ihnen danach war. Heute lag Sabine mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Rücken, starrte in die eilig vorbeiziehenden Wolken und sinnierte. Sie bedauerte, dass der Sommer sich dem Ende zuneigte und sie bald irgendwo drinnen Unterschlupf suchen mussten. Weder bei Martin zu Hause noch bei ihr würden sie so ungestört sein wie hier.
Sie waren schon ein paar Monate befreundet, und Sabine war immer noch überglücklich, mit Martin zusammen zu sein. Ihr Leben hatte sich seither total verändert, und nicht nur, weil sie einen Freund hatte. Endlich war es ihr gelungen, von der Randfigur, die den meisten auf die Nerven ging, in den Mittelpunkt der Klasse zu rücken. Auf einmal redeten fast alle mit ihr, und sie war voll in die Clique integriert. Nach den Sommerferien war sie sogar zur Klassensprecherin gewählt worden. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie jedes Schuljahr seit der 5. versucht hatte, aufgestellt zu werden, und schon in der ersten Runde gescheitert war, weil einfach nie genug Mitschüler hinter ihr standen. Danach war sie tagelang frustriert herumgelaufen. Es stank ihr gewaltig, dass immer dieselben Langweiler und Großmäuler den Posten bekamen, auf den sie aus war. Wenn man etwas nur richtig wollte, konnte man es schaffen, das hatte sie aus den vergangenen Wochen gelernt. Sie war stolz auf sich, weil sie nie aufgegeben hatte zu kämpfen. Sabine kuschelte sich noch dichter an Martin. „Du bist die Allerschönste“, sagte er und legte seinen Arm um sie. „Irgendwie hatte ich früher einen ganz anderen Eindruck von dir. Und deine Figur ist einfach klasse, du bist total dünn geworden.“ Sabine lächelte. Auch das war einer ihrer großen Erfolge. Mit viel Disziplin beim Essen und Sport hatte sie den Sommer über noch mal ein paar Kilo runtergehungert.
2
„Bine, es ist höchste Zeit, dass wir uns mal über deine Zukunft unterhalten“, begann Wolfgang Sanders mit ernstem Gesicht, als die Familie beim Abendessen in der kleinen Essecke zusammensaß. „Meine Zukunft? Was gibt’s denn darüber zu reden?“ Sabine hatte keine Ahnung, worauf ihr Vater hinauswollte. „Ich meine, was hast du dir denn überlegt, Bine, was du für eine Ausbildung machen willst. In einem halben Jahr ist die zehnte Klasse zu Ende, dann hast du deine Mittlere Reife, da wird es langsam Zeit, Bewerbungen loszuschicken, sonst sind die besten Stellen weg.“ Sabine fiel fast die Gabel aus der Hand. Es war ihr nie etwas anderes in den Sinn gekommen, als bis zum Abitur weiterzumachen. Schließlich war sie gut in der Schule und wollte es zu etwas bringen, vielleicht sogar studieren, wenn es mit der Modelkarriere nicht klappen sollte. „Wie kommst du denn auf die Idee?“, gab sie verdattert von sich. „Wieso?“, fragte ihr Vater zurück, „es ist doch ganz normal, dass man einen Beruf lernt, oder was hast du dir gedacht? Ich hätte das Thema schon viel früher ansprechen sollen. Hast du dir denn noch keine Gedanken gemacht, was dir Spaß machen würde?“ Sabine konnte gar nicht fassen, was ihr Vater ihr da nahe legte. „Aber ich hab’ doch gar nicht vor aufzuhören“, warf sie ein. „Ich meine, ich bin gut genug in der Schule, um das Abi zu machen. Dazu gehe ich ja schließlich aufs Gymnasium.“
Wolfgang Sanders runzelte die Stirn. „Das weiß ich doch, aber sei mal realistisch. Es ist doch viel besser, einen sicheren Beruf zu haben, etwas mit Zukunft.“ „Und an was hast du da so gedacht? Sekretärin vielleicht oder Krankenschwester?“, fragte Sabine ironisch. Sie war gespannt, was er ihr vorschlagen würde. „Na, Rechtanwaltsgehilfin oder so. Da hat man eine an spruchsvolle Arbeit und ist ständig mit interessanten Leuten zusammen. Dr. Maurer zum Beispiel, der für uns den Prozess gegen die Nachbarn geführt hat wegen des kaputten Zauns, wäre bestimmt ein sehr netter Chef.“ „Ach ja, hast du mir vielleicht auch schon einen Mann zum Heiraten ausgesucht, wo du dich doch so um meine Zukunft sorgst?“, erkundigte sich Sabine mit einem zuckersüßen Lächeln. „Natürlich nicht. Aber du weißt doch, wir können es uns nicht leisten, euch alle drei studieren zu lassen. Stefan geht nach der Bundeswehr auf die Fachhochschule, und Alex verdient in den nächsten Jahren auch noch nichts.“ Das war für Sabine, als hätte sie eine schallende Ohrfeige bekommen. Sie schrie fast vor Empörung. „Und wieso soll ausgerechnet ich eine Lehre machen? Alex ist doch viel schlechter in der Schule als ich. Kannst du mir das mal erklären?“ „Aber das sind doch Jungen. Die müssen später eine Familie ernähren können. Du hast in ein paar Jahren sowieso Kinder!“, gab ihr Vater zurück. Sabine dachte, sie hätte sich verhört. Wo hatte ihr Vater denn diese antiquierten Ansichten ausgegraben. So einen Blödsinn hatte er ja noch nie von sich gegeben. „Sind wir auf einmal im 19. Jahrhundert, oder was?“, meinte sie ebenso ungläubig wie pampig. „Und du, Mama, was sagst du denn dazu. Findest du das gerecht?“
Ihre Mutter hatte sich ganz klein gemacht. Wenn Sabine und ihr Vater stritten, ging sie lieber aus dem Weg, denn die beiden kamen meistens so in Rage, dass sie selbst nur noch etwas Falsches sagen konnte. „Hör doch erst mal zu, was Papa zu sagen hat“, versuchte sie die beiden zu beschwichtigen. Wolfgang Sanders war inzwischen auf 180. Sein schroffes Gesicht, das von lebenslanger harter Arbeit zeugte, hatte einen ungesunden roten Ton angenommen. Er brüllte Sabine an. „Nun hör mir mal gut zu, mein Fräulein. Glaubst du, wir haben es zu was gebracht, indem wir fein in der Schule rumsaßen? Meine Eltern hatten nichts, aber auch gar nichts, als sie nach dem Krieg hier gelandet sind. Dein Opa hat sein Leben lang im Zementwerk geschuftet und nach der Schicht noch bei einem Bauern ausgeholfen. Und deine Oma ist bei den feinen Leuten putzen gegangen. Flausen, wie du sie im Kopf hast, konnte man sich gleich abschminken. Meinst du, wir hätten ein Haus, zwei Autos und alles, wenn ich mich vor der Arbeit gescheut hätte?“ Ihm ging von der langen Rede die Luft aus. Sabine nutzte die Atempause, um ihm ins Wort zu fallen: „Toll, ich kann mir was Besseres vorstellen, als mein Leben lang in so einem miefigen Reihenhaus zu wohnen und bei Aldi einkaufen zu gehen.“ Sie sah sich verächtlich in dem bescheidenen Wohnund Esszimmer um. Die Eichenholzverkleidung an den Wänden und die Eckbank mit den abgenutzten Kissen waren für sie der Inbegriff von Spießigkeit, der sie um jeden Preis entkommen wollte. Wenn sie nur den leicht angestaubten Trockenblumenstrauß auf dem Sideboard und die schnörkelige Wanduhr sah, bekam sie schon zu viel. Wie konnte man mit einer solchen Umgebung nur zufrieden sein. Ihr war es ja sogar peinlich, Klassenkameraden mit nach Hause zu bringen. „Wolfgang, jetzt lass sie doch mal. Du hast einfach den falschen Augenblick erwischt. Redet lieber ein andermal in
Ruhe drüber“, mischte sich Gesa Sanders ein. Sabines Brüder hatten längst das Weite gesucht, als ihnen die Stimmung zu brenzlig wurde. Es war offensichtlich, dass Wolfgang Sanders kurz vor einer Explosion stand. Selten platzte ihm so richtig der Kragen, aber wenn er mal wütend war, dann fürchtete sich seine Frau geradezu vor ihm. Er war jetzt von der Eckbank aufgestanden und herrschte Sabine kalt an. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, klar?“ Dann warf er mit einem lauten Knall die Tür hinter sich zu und verschwand in den Keller, wo er sich eine kleine Werkstatt eingerichtet hatte, in der er liebend gern herumtüftelte. Sabine kochte vor Wut. Das hatte sie nun davon, dass sie sich in der Schule immer angestrengt hatte. Sie gehörte in fast allen Fächern zu den Besten. „Ich denke nicht dran abzugehen!“, verkündete sie entschlossen. Ihre Mutter, die emsig den Tisch abräumte, hielt inne. „Ich verstehe dich ja, Kleines. Ich wollte auch immer was anderes, als jeden Tag bei Karstadt unverschämte Kunden bedienen und nebenher drei Kinder großziehen. Aber man kann sich halt nicht immer aussuchen, was man aus seinem Leben macht.“ „Kann man wohl!“, verkündete Sabine mit verschränkten Armen. Dieses Geschwätz von wegen Schicksal konnte ihr gestohlen bleiben.
Sabine wartete, bis der Rest der Klasse verschwunden war und ging dann nach vorn zu ihrem Deutschlehrer. Wenn ihr jemand helfen konnte, dann er, denn sie war eindeutig seine Lieblingsschülerin. „Herr Eckberg, haben Sie ein bisschen Zeit? Ich muss mit Ihnen reden“, sagte sie in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass es um etwas Ernstes ging.
„Klar, Sabine, wenn zehn Minuten reichen.“ Er setzte sich wieder und bedeutete ihr, auf einem anderen Stuhl Platz zu nehmen. „Na, ich werde es versuchen.“ Sabine räusperte sich: „Was würden Sie denken, wenn ich nach der Mittleren Reife abgehen würde?“ „Was? Das kannst du doch nicht ernsthaft vorhaben – bei deinen Noten! Jemand, der so begabt und fleißig ist wie du, sollte auf jeden Fall weitermachen.“ Herr Eckberg schüttelte verwundert den Kopf. „Das will ich ja auch“, erklärte Sabine. „Aber meine Eltern sind dagegen. Ich soll eine Lehre machen. Mein Vater lässt einfach nicht mit sich reden, und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“ „Und da möchtest du, dass ich ein Wörtchen mit ihm rede, stimmt’s?“ „Genau“, nickte Sabine. „Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann. Am besten bestelle ich deine Eltern gleich nächste Woche in die Elternsprechstunde.“ „Danke“, sagte Sabine schlicht und stand auf. Ihr Lehrer verabschiedete sie mit einem aufmunternden Klaps auf die Schulter und blickte ihr kopfschüttelnd nach. Manchmal verstand er die Welt nicht mehr. Mal saßen ausgerechnet die Eltern der faulsten und frechsten Schüler in seiner Sprechstunde, um ihn zu überzeugen, ihr Kind trotz aller Bedenken zu versetzen, und dann kamen auch noch die Eltern der leistungsfähigsten und versuchten, ihren Kindern die Zukunft zu verbauen.
Wolfgang Sanders hatte seinen guten Anzug angezogen, in dem er sich wie verkleidet vorkam. Sonst kam das Ding nur
bei Hochzeiten und Beerdigungen aus dem Schrank. Gesa Sanders hielt sich krampfhaft an ihrer Handtasche fest, während sie mit ihrem Mann zusammen in dem kleinen Sprechzimmer des Kaiser-Karl-Gymnasiums auf Herrn Eckberg wartete. Den Brief in den Händen, der die Aufforderung enthielt, zu einem persönlichen Gespräch zu kommen, starrte Sabines Vater auf die vergilbten Anatomieposter an den grünlichen Wänden. Er fühlte sich in dieser Umgebung äußerst unwohl. Jahrzehntelang hatte er den typischen Geruch aus scharfen Putzmitteln, verbrauchter Luft und Schülerschweiß nicht mehr in der Nase gehabt, der in allen Schulen derselbe war. Er hatte sich jeden Tag von neuem überwinden müssen, dahin zu gehen, und der Tag seines Hauptschulabschlusses war sein bester gewesen. Nie wieder über den unverständlichen Aufgaben einer Mathearbeit brüten oder nutzloses Wissen über Geografie in sich reinpauken müssen. Am schlimmsten war es gewesen, als sein Vater einmal in die Schule zitiert wurde, um Rede und Antwort zu stehen für die Fehlzeiten seines Sohnes. Das darauf folgende Donnerwetter gehörte zu den unangenehmsten Erinnerungen an seine Jugend. Er fragte sich, was Sabine wohl verbrochen haben musste, dass er jetzt hier saß. Die Tür ging auf, und ein freundlich lächelnder Herr Eckberg kam herein. Wolfgang Sanders sprang von seinem Stuhl auf und reichte dem Lehrer beflissen die Hand. „Guten Tag. Schön, dass ich Sie einmal zu Gesicht bekomme“, begrüßte Herr Eckberg Sabines Eltern. „Ich hatte ja bisher noch nie Gelegenheit, Ihnen zu sagen, wie gut sich Sabine in der Schule bewährt. Sie ist eine der besten Schülerinnen in meiner langen Laufbahn.“ Ganz überrascht, dass die erwartete Katastrophe anscheinend ausblieb, ließ sich Wolfgang Sanders wieder auf den Stuhl plumpsen. „Und deshalb mussten wir herkommen?“, fragte er
ungläubig. Um sich das anzuhören, hatte er extra freinehmen müssen? „Das ist natürlich nicht alles. Meiner Ansicht nach gibt es doch ein kleines Problem. Wir haben in der Schule über die Zukunftsvorstellungen der Kinder geredet, und da hat Sabine mir gesagt, dass sie nach der 10. aufhören wird. Ich meine, das ist eine völlig falsche Entscheidung. Ich möchte Sie eindringlich bitten, sie davon zu überzeugen weiterzumachen. In dem Alter wissen Kinder – und mit fünfzehn, sechzehn sind es ja noch Kinder – oft nicht, was das Beste für sie ist. Da ist es die Aufgabe der Eltern und Erzieher, dafür zu sorgen, dass sie das Beste aus ihren Talenten machen.“ „Aber“, wollte Wolfgang Sanders einwerfen, doch der Lehrer redete schon weiter. „Sie wissen ja selbst, wie wichtig es heutzutage ist, die bestmögliche Schulausbildung zu haben. Der Hauptschulabschluss ist dermaßen abgewertet, dass man selbst eine Banklehre oder eine MTA-Ausbildung nur mit Abitur bekommt, gerade in einer strukturschwachen Gegend wie hier in Schleswig-Holstein. Und Sabine ist eindeutig zu mehr fähig. Ich würde sogar sagen, sie sollte später unbedingt studieren.“ Sabines Vater fiel fast die Kinnlade herunter. „Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber wir haben nicht genug Geld, um drei Kinder studieren zu lassen“, widersprach er schwach. „Das verstehe ich, aber diese Entscheidung hat ja auch noch ein paar Jahre Zeit. Zunächst geht es vor allem darum, dass sich Sabine bis zum Abitur weitermacht.“ Wolfgang Sanders nickte. Er fühlte sich wieder wie der unscheinbare Schüler, der wegen irgendeiner Kleinigkeit zusammengestaucht wird und sich nicht traut, den Mund aufzumachen.
„Ich rechne also mit Ihrer Unterstützung“, beendete Herr Eckberg das Gespräch. „Draußen warten schon die Nächsten. Ich darf Sie hinausbegleiten.“
Wolfgang Sanders war in ein beharrliches Schweigen verfallen. Doch kaum standen die Eltern wieder auf offener Straße, bugsierte Gesa ihren Mann ins nächste Café. „Wenn du schon mal frei hast, sollten wir uns auch mal was gönnen“, erklärte sie. Es war lange her, seit sie zuletzt an einem Wochentag mit ihrem Mann einfach so in der Stadt war. Wenn er mal frei hatte, fand er immer irgendetwas am Haus zu reparieren oder schraubte am Auto herum. Als zwei Tassen Cappuccino dampfend vor ihnen auf dem Tisch standen, lächelte sie ihn gewinnend an: „Eigentlich hat er ja Recht, der Herr Eckberg. Es wäre doch schade um Sabines Begabung, wenn sie sich mit einem Job als Büroangestellte oder Arzthelferin abfinden würde. Was hätte sie da noch an Aufstiegschancen.“ Ihr Mann grummelte nur verstimmt vor sich hin. „Weißt du, wenn ich nicht so früh Kinder gehabt hätte, für die wir sorgen mussten, hätte ich auch gerne etwas Anspruchsvolleres gemacht. Dann müssten wir jetzt nicht so mit dem Geld rumknapsen.“ „Ach ja?“, meinte Wolfgang Sanders düster. „Genüge ich dir auf einmal nicht mehr? Da hättest du dir halt rechtzeitig einen anderen Mann suchen müssen.“ „Unsinn, Wolfi, ich meine nur, dass Bine nicht deshalb, weil wir es schwer hatten, auch den harten Weg gehen muss. Was ist denn schon dabei, wenn sie das Abi macht. Die drei Jahre kriegen wir auch noch hin. Ich könnte ja auch wieder Vollzeit arbeiten, jetzt, wo die Kinder groß sind.“
„Wenn Bine erst mal das Abi hat, wird sie nur noch auf mich herabschauen, genau wie du. Dafür habe ich doch keine Kinder in die Welt gesetzt, dass sie mich hinterher verachten.“ „Du kannst doch stolz auf dich sein, was du erreicht hast, so aus dem Nichts. Jetzt können wir unseren Kindern eben noch mehr bieten.“ „Aber…“ „Nichts aber. Du hast doch gehört, was der Lehrer gesagt hat. Bine macht weiter. Basta.“ Widerwillig gab Wolfgang Sanders ein „Wenn’s denn sein muss“ von sich. Gesa tätschelte ihm die Hand. „Ich wusste doch, du kommst zur Vernunft.“
Nach der Schule konnte Sabine es gar nicht eilig genug haben, nach Hause zu kommen. Sie hatte den ganzen Vormittag unruhig in der Klasse gesessen und an ihren Haaren gedreht. Der Unterricht war vollkommen an ihr vorbeigegangen, so beschäftigt war sie mit der Frage, wie das Gespräch von Herrn Eckberg mit ihren Eltern gelaufen war. Ausgerechnet heute war der Bus verspätet. Hätte sie nur das Fahrrad genommen, trotz der winterlichen Kälte. In solchen Momenten hegte sie Mordgedanken. Der Busfahrer hätte es echt verdient, eins übergebraten zu bekommen. Es konnte doch nicht so schwer sein, pünktlich zu sein. Das letzte Stück bis in die Reihenhaussiedlung rannte sie fast, sodass sie ganz außer Atem in der Küche stand. „Und, Mama, was ist?“, fragte sie ohne vorherige Begrüßung. „Wir hatten eine sehr interessante Unterredung“, verkündete ihre Mutter geheimnisvoll. „Was hat Papa dazu gesagt?“
„Da musst du ihn schon selber fragen. Er ist in seiner Werkstatt.“ Sabine stürmte die Treppe runter und riss die Tür auf. „Hallo, Paps, wie war’s in der Schule?“ Sabine tat, als wäre die angespannte Stimmung, die seit dem Streit zwischen ihnen geherrscht hatte, einfach verflogen. Sie hatte nämlich tagelang nur das Nötigste mit ihm geredet, so sehr hatte es sie erschüttert, mit seiner starren Haltung konfrontiert zu werden. In so einem Fall konnte sie ganz schön nachtragend sein, auch wenn sie merkte, dass ihr Vater darunter litt. „Ich hoffe, es war das letzte Mal, dass ich eine Schule von innen sehen muss“, gab er trocken zurück. Aber an seiner Haltung konnte Sabine ablesen, wie erleichtert er war, dass seine Tochter endlich wieder einen freundlicheren Ton anschlug. „Ich muss mich wohl damit abfinden, dass meine Tochter schlauer ist als ich“, sagte er schließlich. „Aber nur wenn du mir versprichst, auch nach dem Abi noch mit mir zu reden.“ Sabine fiel ihm um den Hals und drückte ihm einen Schmatzer auf beide Backen. „Klasse, Papa, ich wusste doch, ich kann mich auf dich verlassen. Zur Abifeier kommst du aber trotzdem, versprochen?“ „Das werden wir ja sehen“, schmollte Wolfgang Sanders gespielt und schüttelte seine Tochter ab. „Aber eine Bedingung gibt es noch.“ Sabine sah ihn fragend an. „Du suchst dir einen Nebenjob, damit du auch kapierst, wie der Ernst des Lebens aussieht. Man muss auch mal sehen, wie schwer es ist, sein Geld zu verdienen. Sonst ist nämlich Schluss mit dem großen Taschengeld und den vielen Klamotten, die deine Mutter dir kauft.“ „Okay, ein faires Angebot“, schlug Sabine in die dargebotene Hand ein. „Ich suche mir gleich nächste Woche was.“
„Du bist doch auch gut genug fürs Abi“, redete Sabine zum hundertsten Mal auf Martin ein, „warum machst du nicht weiter?“ Sie saßen wieder mal an ihrem Lieblingsplätzchen an der Stör. Aber in letzter Zeit lag ein Schatten über der Freundschaft, gegen den auch die warme Frühlingssonne nichts ausrichten konnte. Sabine konnte es einfach nicht verstehen, dass Martin so wenig Ehrgeiz zeigte. „Hör doch endlich auf damit. Ich hab’ keinen Bock mehr auf Schule, okay?“ „Glaubst du etwa, es macht mehr Spaß, seine Zeit in ‘ner Bank abzuhocken und sich vom Chef jeden Mist reindrücken zu lassen? Das ist doch völlig naiv.“ „Na und? Dafür gibt’s wenigstens Kohle. Oder wie soll ich mir sonst ein Motorrad zusammensparen, bis ich achtzehn bin?“ Sabine schüttelte unwillig den Kopf. Sie wollte einfach nicht begreifen, dass er so kurzfristig in die Zukunft sah. „Überleg doch mal. Irgendwann bist du vielleicht Filialleiter in einem Kaff wie Münsterdorf und kannst dir gerade mal ‘n Reihenhäuschen leisten. Das kannst du doch nicht ernsthaft wollen.“ „Und, wär’ das so schlimm? Die Leute, die studieren, sind schon fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, bis sie eine müde Mark sehen, und müssen was weiß ich wohin, um ‘ne Arbeit zu finden.“ „Hast du etwa vor, dein ganzes Leben hier in Itzehoe zu verbringen?“, fragte Sabine entgeistert. Martin nickte. „Was ist daran so falsch? Hier hab’ ich meine Band, meine Freunde und meine Motorradclique und weiß, wo ich hingehen kann, wenn ich einen drauf machen will.“
Sabine biss sich auf die Lippen. Die ganze Diskussion war so sinnlos. Martin hatte einfach ganz andere Vorstellungen vom Leben als sie. Sie zog ihre Jacke fester um sich, weil sie plötzlich fröstelte. So saßen sie schweigend und verstimmt nebeneinander, bis dunkle Wolken aufzogen und es drohte, jeden Moment zu schütten anzufangen.
Immer öfter versetzte Sabine ihren Freund. Statt die Nachmittage mit ihm an der Stör oder mit der Clique im „Da Vinci“ zu verbringen, ging sie lieber ins Fitness-Studio. Dabei kam wenigstens etwas heraus. Das Pummelchen, das sie als Kind gewesen war, hatte sich längst in eine schlanke, straffe junge Frau verwandelt, an der kein Gramm Fett zu viel war. Am besten ging es ihr, wenn sie sich auf dem Laufband abstrampelte oder Gewichte stemmte. Keuchend vor Anstrengung machte sie ihre Bauch-Beine-PoÜbungen, bis der Schweiß ihr das Gesicht herunterlief. Mit jedem Tropfen, den sie ausschwitzte, sah sie auch mit Genugtuung die Fettzellen dahinschmelzen. Inzwischen musste sie sich längst nicht mehr zum Sport zwingen, sie war fast süchtig danach geworden, denn mit jeder Übung kam sie ihrem eigentlichen Ziel, Model zu werden, näher. Danach saß sie meistens bei einem Glas Mineralwasser mit Zitronengeschmack an der Bar des Fitness-Studios und blätterte die Zeitschriften durch, die dort auslagen. Zwar hatte sie längst die Model-Poster von den Wänden ihres Zimmers entfernt, aber ihre Faszination gegenüber der Glamour-Welt hatte nicht im Geringsten nachgelassen, und sie saugte alle Modetrends, Klatschgeschichten über Model-Jetset und Superdiäten in sich auf wie ein Schwamm. Aus Spaß überlegte sie, ob sie sich nicht für eine Quizshow melden sollte.
„Wetten, dass unsere Kandidatin weiß, welche Designerkleider welches Model bei der Präsentation der letzten Frühjahrskollektion in Paris getragen hat?“ Heute leistete ihr Lara bei einer Apfelsaftschorle Gesellschaft, was eher selten vorkam. Lara, die noch ganz erhitzt war und kaum Luft bekam nach dem harten Aerobic-Training, sah Sabine bewundernd an: „Wie machst du das bloß? Du warst von Anfang bis Ende voll dabei und siehst jetzt aus, als hättest du gerade einen gemütlichen Spaziergang gemacht.“ Sabine lächelte ein bisschen herablassend. „Man muss halt dran bleiben. Wenn du drei- bis viermal die Woche herkämst, wärst du auch fitter. So unregelmäßig, wie du’s machst, bringt es rein gar nichts.“ „Ich versuch’s ja, aber mir kommt dauernd was dazwischen“, verteidigte sich Lara kleinlaut. „Seit wir in der Oberstufe sind, muss ich viel mehr für die Schule machen, damit ich mitkomme.“ „Blödsinn“, widersprach Sabine. „Für das, was man will, hat man immer Zeit. Nur, wenn man durchzieht, was man vorhat, kommt man auch zum Ziel. Zum Lernen ist auch am Wochenende genug Zeit. Aber da fährst du ja lieber mit deinen Eltern nach Sankt Peter-Ording, schön am Strand faulenzen.“ Lara sah ganz zerknirscht aus. Eigentlich hatte sie auf etwas Trost gehofft, aber Sabine ging mit anderen genauso erbarmungslos um wie mit sich selbst. Und das Schlimmste war, sie hatte ja Recht. Nur hatte sie selbst eben nicht Sabines Selbstdisziplin. „Guck mal“, nahm Sabine die neueste Ausgabe der „Femme“ vom Zeitschriftenstapel, der auf der Theke auslag. „Wenn du wirklich abnehmen willst, probier doch mal die neue ,Femme’Diät. Mit der Diät haben schon einige Models ihre überflüssigen Pfunde weggekriegt, die soll ganz toll sein.“
„Du immer mit deiner ,Femme’“, meinte Lara frustriert. „So wie diese Superfrauen da drauf werd’ ich sowieso nie aussehen. Ich wette, die auf dem Titelblatt hat schon ein paar Schönheitsoperationen hinter sich.“ „Von wegen“, widersprach Sabine heftig, „die sieht einfach so gut aus.“ Sinnierend schaute sie auf das Foto von Claudia Schiffer, die in einer schicken Kreation von Chanel steckte und dem Leser mit weit aufgerissenen Augen verführerisch und distanziert zugleich entgegenstarrte. Ob sie selbst jemals auf den Covern der Hochglanzmagazine landen würde, fragte sich Sabine. Das war ihr ehrgeizigstes Ziel, eines Tages auf dem Titel der „Femme“ abgebildet zu sein, denn dann kannte einen wirklich jeder. Die „Femme“ war Sabines absolute Lieblingszeitschrift, weil sie immer noch einen Tick trendiger und cooler war als der Rest der Magazine. Wenn eine Schauspielerin oder ein Model da portraitiert wurde, dann hatte sie es wirklich geschafft. „Du wärst auch so ein Typ, den ich mir gut in ChanelKlamotten vorstellen könnte“, meinte Lara neidisch. „Das Kleid da würde dir wie angegossen passen, und dein Gesicht hat auch dieses gewisse Etwas. Du siehst wenigstens nicht so retortenmäßig aus wie die Schiffer.“ Solch unerwartetes Lob ließ Sabine fast erröten. „Schön wär’s, aber wie kommt man da ran?“, fragte sie ihre Freundin. „Ist doch ganz einfach“, erklärte Lara. „Im Fernsehen haben sie angekündigt, dass Mega-TV wieder seinen jährlichen Contest veranstaltet. Die suchen neue, junge Gesichter im ganzen Land, und die besten Hundertzwanzig aus den Einzelwettbewerben in zwanzig Großstädten kommen in die Endausscheidung nach Köln mit viel Medienrummel und so. Warum meldest du dich da nicht einfach mal?“ „Klasse Idee. Ich versuch’ gleich heute Abend rauszufinden, was man dafür machen muss.“ Von einem Energieschub
gepackt, sprang Sabine auf, griff nach ihrer Sporttasche und rannte fast zum Ausgang. Lara konnte ihr nur hinterherstürmen.
Sabine hatte sich umgehört, wie man in den Wettbewerb reinkam. Eine Bekannte ihres größeren Bruders hatte ein paar Jahre zuvor schon mal teilgenommen, war aber in der Regionalausscheidung nicht weitergekommen. Evi hatte ihr erzählt, dass die Leute vom Sender durch die Discos zogen, um für den Contest die Talente der Saison aufzuspüren. Sie war im „Heaven“ von einem Scout angesprochen worden, ob sie nicht Lust hätte mitzumachen. „Am Samstag müssen wir unbedingt ins ,Heaven’ gehen“, verkündete Sabine Martin, als sie nachmittags im „Da Vinci“ saßen. Martin, in seiner üblichen Kluft aus Motorradjacke, Kapuzensweatshirt und Lederhose, protestierte. „Geht nicht, da haben wir den Auftritt mit der Band. Das weißt du doch schon lange!“ „Oh nein, das hatte ich ja völlig vergessen“, stöhnte Sabine auf. Über die ganze Geschichte mit dem Contest hatte sie gar nicht mehr daran gedacht, dass sie ihrem Freund hoch und heilig versprochen hatte, auf jeden Fall zu seinem Konzert zu kommen. Martin erhoffte sich nämlich einen großen Erfolg von dem Auftritt im Vorprogramm von „Pur“. Seine Band hatte in den letzten Wochen fast jeden Abend geprobt und diesem Höhepunkt entgegengefiebert. Es war das erste Mal, dass sie bei einer so bekannten Gruppe mit auf dem Programm standen und vor einem riesigen Publikum in der Lehmwoldhalle spielen würden. Sabine sah Martin groß an. „Ich weiß ja, wie wichtig es dir ist, dass ich mitkomme, aber überleg mal, bei ein paar tausend
Leuten fällt es doch gar nicht auf, ob ich da bin oder nicht. Das im ,Heaven’ ist total wichtig für mich.“ „Kannst du denn nicht mal an was anderes denken, als an diesen blöden Contest?“, fauchte Martin sie an. „Was ich mache, interessiert dich wohl gar nicht?“ „Klar, doch, bisher bin ich zu jedem Konzert mitgegangen. Da hab’ ich nie gesagt, mich langweilen deine blöden Konzerte, weil ich eh nur rumsitze, oder?“ „Trotzdem finde ich es doof, wenn du ausgerechnet am Samstag nicht dabei bist. Es beruhigt mich irgendwie, wenn ich weiß, du sitzt da irgendwo in der Menge.“ Martin machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Aber Sabine war nicht bereit nachzugeben. „Männer, ihr braucht doch nur jemanden, der euch Beifall klatscht. Sorry, aber die Zeiten sind vorbei, ich geh’ am Samstag nicht mit dir! Und jetzt muss ich los, ins Fitness.“ Beide waren so verstimmt, dass sie sich nur kühl ein Proforma-Küsschen auf die Wange drückten, anstatt sich wie sonst noch einmal innig zu umarmen. Allerdings war bei Sabine mehr Wut als Traurigkeit im Spiel. Sie hatte sowieso den Eindruck, dass die Beziehung langsam verebbte, weil sie zu verschiedene Vorstellungen vom Leben hatten. Nur konnte sich noch nicht entschließen, den entscheidenden Schritt zu tun.
Lara und Sabine okkupierten das enge Bad im Haus der Sanders, um sich für den Discoabend im „Heaven“ zurechtzumachen. Bei Lara hätten sie zwar weit mehr Platz gehabt für ihre Schönheitssession, aber schließlich konnte Sabine schlecht ihren ganzen Kleiderschrank einpacken und zu Lara verfrachten. Da Laras Garderobe nicht besonders viel hergab, bedienten sich beide aus Sabines reichhaltigem
Fundus. Sie hatten alle in Frage kommenden Teile über den Rand der Badewanne gehängt und debattierten, welcher Look wohl am gewagtesten und auffälligsten sein mochte. Lara hatte nach dem Duschen ein Handtuch turbanartig um ihre Haare gewickelt und ein weiteres großes um sich geschlungen. Mit einer Gesichtsmaske aus Honigquark und Gurkenscheiben saß sie jetzt mit angezogenen Beinen auf dem Klodeckel und kommentierte Sabines Kleidervorschläge. Sabine, in der gleichen Aufmachung wie Lara, suchte unermüdlich Shirts, Miniröcke, Jeans und Blusen heraus und hielt sie in den unterschiedlichsten Kombinationen gegeneinander. Heute kam es nämlich wirklich darauf an, wie sie aufgemacht war. Die Scouts durften sie auf keinen Fall übersehen. „Mit der Gurkenmaske siehst du aus wie ein Außerirdischer im Kaufhaus“, platzte Sabine heraus, als sie sich auf einmal vorstellte, ein Außenstehender könnte sie beide bei dem Treiben beobachten. Diese treffende Charakterisierung fand Lara so witzig, dass sie vor Lachen fast das Gleichgewicht verlor. „Tu mir so was doch nicht an“, kreischte sie, als sie sich halbwegs gefangen hatte, „sonst bröckelt mir die ganze Pampe noch ab.“ „Mich juckt es auch schon überall“, kicherte Sabine. „Sind die zwanzig Minuten endlich um, oder müssen wir das Zeug noch länger draufbehalten?“ Sie wartete die Antwort ihrer Freundin nicht ab, sondern hielt gleich das Gesicht unter die Brause. Der Quark klebte so hartnäckig, dass sie tüchtig schrubben musste, bis auch die letzten weißlichen Krusten entfernt waren. Lara machte sich derzeit am Wasserhahn zu schaffen, bis ein markerschütternder Schrei sie zusammenfahren ließ: „Oh nein, das darf nicht wahr sein!“, brüllte Sabine entsetzt. Ihr ganzes Gesicht war von rötlichen Hubbein übersät, die weiß wurden, wenn sie
draufdrückte. „Ich hab’ eine Allergie“, stöhnte sie, „es ist alles umsonst.“ Auch Lara machte ein betretenes Gesicht. Sie wusste, wie viel Sabine daran lag, „entdeckt“ zu werden, und mit dieser Katastrophe im Gesicht waren ihre Chancen gleich null. „Hey, jetzt hör auf zu jammern“, legte sie ihrer Freundin tröstend den Arm um die Schultern, „in zwei, drei Stunden siehst du aus wie eh und je. Jetzt legen wir erst mal was Kühlendes drauf.“ Fürsorglich hielt sie ein kleines Handtuch unters kalte Wasser und hielt es Sabine vor die Nase, der die Tränen in den Augen standen. „Wir machen uns einfach fertig, als sei nichts passiert“, schlug sie vor, „daheim bleiben können wir immer noch, wenn es nicht besser wird.“ Sabine schniefte: „Daheim bleiben kommt überhaupt nicht in Frage. Das ist ja so gemein. Was Schlimmeres konnte mir nicht passieren. Hätte ich mich bloß nicht zu so was überreden lassen von dir.“ Da war es schlagartig aus mit Laras Mitgefühl. „So, soll ich jetzt auch noch schuld sein?“, schnappte sie beleidigt. „Woher soll ich denn ahnen, dass du Honig nicht verträgst?“ In Sabine keimte ein bösartiger Gedanke auf: „Wer weiß, was du da druntergemixt hast!“, warf sie ihrer Freundin vor. „Vielleicht gönnst du mir nicht, dass ich auffalle.“ Lara war sprachlos. Dass ihre beste Freundin sie einer solchen Hinterhältigkeit beschuldigte, konnte sie nicht fassen. Sie ließ die Handtücher, in die sie gewickelt war, zu Boden fallen, zog so schnell wie möglich ihre alten Sachen wieder an und verschwand, wortlos die Tür hinter sich zuknallend.
Zwei Stunden später stand Sabine fertig zurechtgemacht vor dem großen Spiegel, der jetzt statt der Poster die halbe Wand
ihres Zimmerchens ausfüllte. Wider Erwarten war der Ausschlag ebenso schnell zurückgegangen, wie er gekommen war. Frisch geschminkt, in einem bauchfreien, leuchtend roten Top über Clochard-Jeans, die von einem breiten schwarzen Gürtel zusammengehalten wurden, und mit knallrot lackierten Nägeln hatte sie ein Outfit gefunden, das ihr blondes Haar und ihre knackige Figur bestens zur Geltung brachte. Sie war mit sich zufrieden, zumindest was ihr Äußeres anging. Allerdings nagten nun Gewissensbisse an ihr, weil sie so gemein zu Lara gewesen war. Im Moment der Verzweiflung hatte sie ihre Wut auf sich selbst voll und ganz an ihrer Freundin ausgelassen, und war dabei wirklich zu weit gegangen. Hoffentlich konnte Lara ihr verzeihen. Sabine hatte schon mehrmals versucht, sie zu Hause anzurufen, aber entweder sie war nicht da oder ließ es klingeln – es ging niemand dran. Sabine war ratlos. Sollte sie einfach, als sei nichts geschehen, allein ins „Heaven“ gehen oder war es ihre Pflicht als Freundin, Lara zu suchen, die bestimmt irgendwo todunglücklich herumhing. Sabine überlegte hin und her. Wie sie Lara kannte, igelte die sich beleidigt ein und wartete darauf, dass man zu ihr kam und einen Kniefall machte. Je länger Lara Zeit hatte, zu schmollen, desto schwieriger war es, sie zu versöhnen. Andererseits war heute die allerbeste Gelegenheit, um dem Traum, Model zu werden, ein kleines Stückchen näher zu kommen. Bis diese Chance einmal wiederkam, würde ein ganzes Jahr vergehen. Sabine musste sich zurückhalten, dass sie nicht an ihrer sorgsam gestylten Frisur herumzwirbelte, weil sie so heftig nachdachte. Stattdessen klopfte sie mit den Fingern einen nervösen Rhythmus auf die Schreibtischplatte, die gerade zum Schminktisch umfunktioniert war. Sie schloss die Augen, um besser nachdenken zu können, aber auch das half nicht, und wie auf der Suche nach einer Antwort ließ sie die Augen
unruhig umherstreifen. Schließlich fiel ihr Blick auf die neue Ausgabe der „Femme“, die unter ihrem Radiowecker und allem möglichen Krimskrams herausschaute. Da wusste sie auf einmal sonnenklar, was sie zu tun hatte. Sie durfte einfach nicht ihre Ziele aus den Augen verlieren. Daran konnten sie weder ein verstimmter Martin noch eine beleidigte Lara hindern. „Alex, fährst du jetzt mit mir ins ,Heaven’?“, fragte sie ihren größeren Bruder. Da sie erst sechzehn geworden war, brauchte sie einen volljährigen Begleiter. Sie hatte ihn sogar mit dem Versprechen auf eine CD seiner Wahl geködert, denn normalerweise ging er eher seine eigenen Wege, als „Babysitting für seine kleine Schwester“ zu betreiben, wie er selbst sagte. „Zehn Minuten noch“, vertröstete er sie. „Wo ist eigentlich Lara? Wolltet ihr nicht zusammen dahin?“ „Die musste noch mal nach Hause, keine Ahnung, ob sie nachkommt.“ Alex zog die Augenbrauen hoch. Das klang sehr nach einem kleinen Zerwürfnis zwischen den beiden sonst unzertrennlichen Freundinnen. Der bullige, bis auf kurze Stoppeln kahl geschorene Türsteher in einem Blouson mit „American Football“-Aufdruck musterte das ungleiche Paar eindringlich, als sie ihm für ihren Eintrittsstempel fürs „Heaven“ die ausgestreckte Hand hinhielten. Sabine konnte sich genau vorstellen, was er dachte: Wie kam so ein brav aussehender Junge zu so einer scharfen Freundin. Sie kannte den bewundernden Blick schon, mit dem viele Männer sie ansahen. Alex dagegen, ein typischer Computerfreak, ging überall in ausgebeulten Jeans und Schlabberpullis hin und sah mit seiner Vergrößerungsbrille nach Sabines Ansicht immer ein kleines bisschen vertrottelt aus. Damit fiel er besonders in dieser Disco ziemlich auf, wo
es vor allem die schicken, coolen jungen Leute hinzog. Im Kontrast dazu musste Sabine umso weltläufiger wirken. Sie zwinkerte dem Türsteher verschwörerisch zu. Ohne ihren Ausweis aufs Alter hin zu kontrollieren, drückte er ihr den Stempel auf die Handfläche. Bemüht, die Miene ja nicht zum Lächeln zu verziehen, kaute er weiter auf seinem Kaugummi herum. Kaum hatten Alex und Sabine die dick gepolsterte Eingangstür durchschritten, dröhnte ihnen ohrenbetäubend laute Musik entgegen, und in den von bunten Lichtblitzen durchzuckten Kunstnebelschwaden drängten sich die Gäste in rhythmischen Bewegungen auf der engen Tanzfläche. Sabine musste schlucken, so verbraucht war die Luft. Der Qualm von Zigaretten hatte sich mit dem Stickstoff des Trockeneises und den Ausdünstungen der Anwesenden zu einer im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden, stehenden Masse vermischt. Sie brauchte eine Weile, bis sie die Orientierung gefunden hatte. Der Laden war rappelvoll, erstaunlich für die Uhrzeit. Die wenigen Sitzecken und Barhocker waren längst belegt und alle Durchgänge heillos verstopft. Sabine und Alex kämpften sich zur Garderobe vor, und nachdem sie abgelegt hatten, zerrte Sabine ihren Bruder zu einem Stehplatz, von dem aus sie alles im Blick hatten und auch selbst im Scheinwerferlicht standen. Da kam nur das Podest hinter der Tanzfläche in Frage, wo an manchen Abenden Livemusik spielte. Sabine gab sich, als sei sie völlig in ihrem Element, obwohl sie sonst eher selten in Discos ging. In diesem Punkt waren ihre Eltern streng und untersagten ihrer Tochter, sich die Nächte an dubiosen Orten um die Ohren zu schlagen. In der unruhigen, schummrigen Beleuchtung war es nicht leicht, den Überblick zu bekommen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Sabine ein paar bekannte Gesichter ausgemacht
hatte – einige Leute aus ihrer Stufe und ehemalige Mitschüler, die nach der 10. abgegangen waren, aber niemand, mit dem sie befreundet war. Meistens war sie ja mit Martins Clique zusammen, und die ging lieber in Billardkneipen, als sich zu moderner Popmusik abzuzappeln. Auch von Lara war weit und breit keine Spur. Es war ihr ganz recht, dass Alex einen Freund getroffen hatte und sie ruhig an ihrer Cola light nippen konnte, während die beiden neben ihr in ein Gespräch vertieft waren – so weit bei dem Lärm von Gespräch die Rede sein konnte. Was sie natürlich brennend interessierte, war die Frage, ob sich unter die vielen Leuten um sie herum auch Scouts von Mega-TV gemischt hatten. Aber sie fand nicht die geringsten Anzeichen. Nach einer Weile wurde ihr das Herumstehen langweilig, und sie stürzte sich in das Gewimmel auf der Tanzfläche. Der Rhythmus der Musik war ungewohnt für Sabine, und sie hatte schnell beobachtet, dass die meisten in einem ganz eigenen Stil dazu tanzten, der typisch für den Sound zu sein schien. Sabine versuchte sich in den Stil hineinzufinden und passte ihre Bewegungen nach und nach den anderen an. Es begann ihr richtig Spaß zu machen, und sie fragte sich, wie sie es die ganze Zeit mit dem Heavy-MetalZeug von Martin ausgehalten hatte, das dagegen geradezu dumpf und dinosaurierhaft wirkte. Als sie merkte, dass sie außer Atem kam, entschloss sie sich, eine Pause zu machen. Verschwitzt und abgehetzt konnte man schließlich keinen guten Eindruck auf Scouts machen. Nachdem sie auf der Toilette im kalten Neonlicht ihren Lippenstift erneuert hatte, stellte sie sich wieder zu Alex und seinem Kumpel. Ihre erwartungsvolle, aufgedrehte Stimmung hatte sich ziemlich gelegt. Langsam packten sie Zweifel, ob heute wirklich der richtige Abend war, und sie vergaß, diesen „Ich-bin-gut-draufBlick“ aufzusetzen.
Auf einmal kam Erregung um sie herum auf, und quasi aus heiterem Himmel standen zwei Typen vor dem Dreiergrüppchen. Sie waren älter als der Durchschnitt, Mitte zwanzig etwa, trugen schwarze, lässige Jackets über schwarzen T-Shirts. Der eine hatte eine dunkle Ray-Ban-Sonnenbrille auf seine Gelfrisur gesetzt, während der andere mit den blonden, schulterlangen Locken eine Kamera vor der Nase hatte und ein Blitzlichtgewitter produzierte. Sabine war regelrecht überrumpelt und setzte schleunigst ein etwas überhebliches Lächeln auf. Allerdings gefror das Lächeln fast im gleichen Moment zu einer Grimasse, als sie bemerkte, dass nicht sie im Fokus der Linse stand, sondern – ausgerechnet – ihr trotteliger Bruder. „Kannst du mal kurz die Brille abnehmen“, bat der Sonnenbrillen-Typ Alex und machte eine dazu passende Geste, „ich würd’ dich gerne mal ohne fotografieren.“ Alex schien genauso überrumpelt wie Sabine. „Äh, wieso?“, fragte er, als habe er sich verhört. „Sorry, das muss ich dazusagen. Wir suchen interessante Typen im Auftrag eines Fernsehsenders für ‘ne Veranstaltung, wo es um Nachwuchstalente für Models und Werbeproduktionen geht“, erklärte der Mann. „Dein Gesicht hat was. Ich könnte mir vorstellen, dass du da gut abschneiden würdest.“ „Wie? Was? Hatte keine Ahnung, dass es so was auch für Männer gibt“, sagte Alex. Das konnte doch nicht wahr sein, dachte Sabine ungläubig. Sie stand in ihrer auffälligen Aufmachung daneben und wurde nicht mal eines Blickes gewürdigt. Hatten die etwa Tomaten auf den Augen? Sie verstand die Welt nicht mehr. Aber sie musste schnell reagieren, wenn sie die Aufmerksamkeit der beiden Scouts auf sich lenken wollte, und ihren ganzen Charme zum Einsatz bringen.
„Ist’s hier nicht ‘n bisschen dunkel für ‘ne Sonnenbrille?“, schrie sie den Dunkelhaarigen an, damit sie die Musik übertönte, und zwinkerte frech lächelnd mit den Augen. Tatsächlich wandte sich der Typ ihr zu und zog amüsiert die linke Augenbraue hoch. „Soviel Schönheit blendet!“, gab er zurück. „Na hoffentlich hast du dann extra-dunkle Gläser“, flachste Sabine. „Auf dem Kopf bringen sie allerdings nicht viel.“ „Heute sind wir aber schnippisch“, meinte der Typ und versetzte seinem Kollegen einen Rippenstoß. „Hey, Jack, beweg deine Linse mal hier rüber. Hier haben wir noch eine Lady, die was für uns wäre.“ Und schon traf das Blitzlichtgewitter Sabine. „Da ist meine Telefonnummer“, reichte der SonnenbrillenTyp Sabine seine Karte mit dem bekannten Logo von MegaTV. „Melde dich nächste Woche mal unter der Nummer bei mir, vielleicht kriegen wir was hin. Jacky schreibt jetzt deinen Namen und deine Adresse auf, damit wir später noch wissen, wer zu der hübschen Nase auf dem Foto gehört. Dein Freund da kann auch gleich seinen Namen aufschreiben.“ Aber Alex winkte dankend ab. Als Sabine die Visitenkarte nahm, merkte sie, dass ihre Hände vor Aufregung feucht wurden. Sie hätte lauthals jubeln können. Sie hatte den ersten Schritt geschafft! Überglücklich starrte sie auf den in rot gedruckten Namen. Lorenz Jäger hieß der schöne Typ, den sie angeflirtet hatte. Na, der konnte sicher sein, dass er in Zukunft von Sabine hören würde.
„Was sind denn das schon wieder für Flausen, die du dir da in den Kopf gesetzt hast“, murrte Wolfgang Sanders, als Sabine stolz berichtete, dass sie zur Regionalausscheidung „Beautys
1990“ nach Kiel eingeladen war. Die Familie war beim gemeinsamen Sonntagsessen in der Essecke versammelt. „Du musst einem aber auch alles madig machen!“, schimpfte Sabine zurück. „Das sind keine Flausen, sondern Zukunftspläne!“ „Das Letzte was ich hörte, war, dass du unbedingt Abitur machen willst. Du kannst doch nicht jedes halbe Jahr die Meinung ändern.“ „Das schließt sich doch gar nicht aus, Papa, du musst mich doch kennen, ich schaffe locker beides.“ Gesa mischte sich ein, bevor das Gespräch zum Streit eskalieren konnte. Mit ihrer versöhnlichen Art war sie immer bemüht, Konflikte im Keim zu ersticken. „Aber Wolfi, Bine hat nicht die geringsten Probleme in der Schule, da schadet es doch nicht, wenn sie mal ein Wochenende lang schnuppert, was die große, weite Welt zu bieten hat. Du willst doch nicht, dass sie hier versauert, oder?“ „In Bines Alter so allein herumreisen, ich weiß nicht“, überlegte Wolfgang Sanders. „Ist das alles auch seriös?“ „Alex, du warst doch dabei“, forderte Gesa ihren Sohn auf, Sabines Anliegen zu unterstützen. „Wie sahen diese Leute denn aus?“ Alex zuckte mit den Schultern. „Ganz in Ordnung. Sie hatten jedenfalls offizielle Karten von Mega-TV, und von der Telefonnummer dürfte das auch hinkommen.“ „Weißt du noch, wie stolz du auf Binelein warst, als sie mit vier diesen Minimodel-Wettbewerb gewonnen hatte? Und danach auf der Marmeladenwerbung zu sehen war?“, erinnerte Gesa ihren Mann. Sabine war es inzwischen eher peinlich, mit dem Werbefoto in Verbindung gebracht zu werden, das ein paar Jahre lang das Etikett der bekannten Marmeladen-Marke geziert hatte. Das niedliche, pausbäckige Mädchen im weißen Spitzenkleidchen
hatte sich zwar gut im Erdbeerfeld gemacht, war aber bestimmt eine schlechte Werbung für ihr heutiges Aussehen. „Trotzdem bin ich der Meinung, dass Bine sich da verrennt“, beharrte Wolfgang Sanders. „Das sind doch Hirngespinste. Sie soll bloß nicht glauben, dass Model sein ein Zuckerschlecken ist. Die Mädels werden doch ausgenutzt bis zum Geht-nichtmehr. Sie macht jetzt das Abi und soll später was Anständiges lernen, basta.“ „Aber nach Kiel fahre ich trotzdem. Stell dir mal vor, was für interessante Leute ich da kennen lernen kann“, sagte Sabine entschlossen. Ihr Vater seufzte ergeben. Sabine hatte sich wieder einmal durchgesetzt.
Auf dem Anrufbeantworter waren drei Nachrichten von Lara, als Sabine vom Joggen zurückkam. Die Aussicht, den Contest mitzumachen, hatte sie nach dem üppigen Sonntagsessen in den Wald getrieben, um noch härter als sonst ihr Trainingsprogramm durchzuziehen. Noch keuchend vom Laufen ließ sie sich auf den Korbsessel in der Eingangsdiele fallen und griff nach dem Telefon. Dann überlegte sie es sich anders und sprang stattdessen die Treppe hinauf zum Bad. Sollte Lara ruhig noch ein bisschen schmoren. Sie hätte ja nicht so kindisch sein und wegen der kleinen Streiterei nach Hause rennen müssen. Also beschloss Sabine zu warten, bis Lara wieder von selbst anrief. Sie brauchte sowieso erst einmal dringend eine Dusche. Sabine hatte sich kaum fertig abgetrocknet, da hörte sie unten das Telefon klingeln, und Sekunden später brachte ihre Mutter es ihr hoch, bedacht, nicht über das lange Kabel zu stolpern. „Es ist Lara. Seit Wolfgang und ich vom Spaziergang zurück sind, hat sie es schon zweimal probiert.“
„Momentchen noch“, sagte Sabine und wickelte noch schnell ein Badetuch um. Dann nahm sie ihrer Mutter das Telefon ab und verzog sich in ihr Zimmer. Auf dem braunen Teppichboden im Flur sah man deutlich ihre feuchten Fußabdrücke. „Hat’s geklappt?“, überfiel Lara sie. „Klar doch.“ Sabine reagierte kühl auf das Interesse ihrer Freundin. Sie war immer noch ein wenig verstimmt. „Uff“, stöhnte Lara erleichtert auf. „Ein Glück. Ich hab’ mich gestern schon gar nicht mehr getraut anzurufen. Die ganze Zeit habe ich befürchtet, dass du überhaupt nicht ins ,Heaven’ gehen konntest, weil du diesen Ausschlag hattest.“ „Halb so wild“, beruhigte Sabine sie. „Ich hatte echt ein schlechtes Gewissen, dass ich dich zu der Maske überredet hatte“, gestand Lara nun. Sabine bekam fast einen Lachanfall. „Und ich habe schon gedacht, du wärst sauer auf mich, weil ich dich so angepflaumt hab! Fast wär’ ich deshalb nicht hingegangen. Wo warst du denn gestern zwischen sechs und acht? Ich habe noch versucht, dich zu erreichen.“ „Auf dem Weg nach Hause habe ich noch Frauke getroffen, und weil ich so schlecht drauf war, hat sie mich mitgeschleppt ins Café am Markt.“ „Du Ärmste“, bedauerte Sabine sie. „Wahrscheinlich musstest du dir die ganze Zeit ellenlange Geschichten über ihren Liebeskummer anhören, statt dass du dein Herz ausschütten konntest.“ „Du hast’s erfasst. Aber erzähl schon, wie war’s?“ Und Sabine erzählte ihr haarklein, wie sie es geschafft hatte, eine Einladung zum Contest zu ergattern.
Martin war von Sabines Erfolg weniger begeistert. Er nahm ihr wirklich übel, dass sie deswegen sein bisher wichtigstes Konzert verpasst hatte. „Ach, an mich denkst du also auch gelegentlich“, begrüßte er Sabine mit finsterer Miene, als sie gegen acht Uhr abends im Proberaum auftauchte, wo sie sich verabredet hatten. „Komme ich so überraschend? Ich dachte, wir haben eine Verabredung“, entgegnete sie trocken. Die Feindseligkeit von Martin schockierte sie ein bisschen, und sie war nicht gewillt, sich davon die Laune verderben zu lassen. „Was du von Verabredungen hältst, weiß ich ja jetzt“, schimpfte er. „Bist du etwa noch sauer wegen gestern?“ „So schnell ist das nicht gegessen, das kannst du mir glauben.“ „Du gönnst mir wohl nicht, dass ich was Eigenständiges mache, oder?“ Sabine kam trotz ihres Vorsatzes, ruhig zu bleiben, doch langsam in Rage. „Klar tu ich das, aber du hättest bestimmt auch hundert andere Gelegenheiten gefunden, in den Contest reinzukommen. Aber nein – es musste ausgerechnet bei unserem Konzert sein.“ „Wenn du ein Kindermädchen brauchst, bist du bei mir an der falschen Adresse“, schnappte Sabine. „Ich brauch’ kein Kindermädchen, ich brauch’ Unterstützung. Mit dir wäre es bestimmt gut gelaufen!“ Sabine starrte ihn an. Im ersten Moment war sie sprachlos. Dann fragte sie: „Soll das etwa heißen, ihr habt den Auftritt versiebt?“ Martin war auf einmal ganz kleinlaut. „Ja, so ähnlich.“ „Aber ihr habt doch wochenlang geprobt wie die Blöden. Das kann doch gar nicht sein.“
„Doch. Ehrlich gesagt, es lag vor allem an mir. Ich konnte mich die ganze Zeit nicht richtig konzentrieren, weil ich dauernd an dich gedacht hab’. Ich war echt wütend auf dich.“ Fast war Sabine versucht, ihn tröstend in den Arm zu nehmen, aber etwas hielt sie zurück. Stattdessen sagte sie verständnislos: „Was zwischen uns ist und die Musik, das sind doch völlig verschiedene Sachen! Wenn die Musik wirklich so wichtig für dich ist, wie du sagst, dann kannst du dich doch nicht von Gefühlen ablenken lassen. Das war deine größte Chance! Da muss man alles, aber auch wirklich alles geben!“ Wenn sie es bisher nur geahnt hatte, in diesem Moment wurde Sabine bewusst, wie verschieden sie beide waren, und wie wenig sie zusammen passten. Sie hatte die ganze Zeit viel mehr in ihm gesehen, als er war. Dass er der coolste Typ in der Klasse gewesen war, der in der Clique das Sagen hatte, dass er in seiner ach so wichtigen Band spielte und Moped fuhr, dass er den Lehrern Frechheiten an den Kopf geknallt hatte, das alles hatte sie beeindruckt. Erst jetzt begriff sie, was dahintersteckte. In Wirklichkeit war er nur ein kleiner, hilfloser Junge, der sich nicht von seinen pubertären Fantasien verabschieden konnte. Von seinem Traum, Rockstar zu werden, war er so weit entfernt wie die Sonne vom Mond. Er kapierte doch gar nicht, dass er längst den Weg ins Spießerglück eingeschlagen hatte – als kleiner Banker und Freizeit-Elvis. Und ihm fiel nicht einmal auf, wie kindisch es war, tagsüber im Anzug und glatt gekämmt in der Bank herumzustehen und am Wochenende in Lederkluft den Macker heraushängen zu lassen… „Was ist los mit dir? Du guckst auf einmal so komisch!“, fragte Martin fast flehend. Die Wut in seinem Gesicht war einem Ausdruck von Besorgnis gewichen. Einen so harten, verschlossenen Blick kannte er von Sabine gar nicht – zumindest nicht ihm gegenüber.
Sabine sah ihn nur schweigend an. „Sag doch endlich was!“ Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Okay, okay, ich hab’ was falsch gemacht, ich geb’s ja zu. Es war völlig übertrieben, dass ich dich so angemacht habe wegen gestern Abend. Es tut mir Leid. Können wir’s nicht einfach vergessen?“ „Ich glaube, du weißt gar nicht, worum es geht“, sagte Sabine langsam. „Du hast nicht einfach mal was falsch gemacht, du bist der Falsche für mich. Ich habe nur viel zu lange gebraucht, um das zu begreifen.“ Martin war fassungslos. Er brauchte eine ganze Weile, bis ihm die Tragweite von Sabines Worten richtig dämmerte. „Das, das kannst du doch nicht tun, einfach so Schluss machen“, stotterte er. „Ich liebe dich doch. Wir wollten doch immer zusammenbleiben. Wir können doch über alles noch mal reden.“ Aber seine inständigen Bitten prallten an Sabine ab wie an einer Mauer. „Es geht einfach nicht mehr“, meinte sie leise. Dann drehte sie sich um und ging. „Eigentlich müsste mir jetzt nach Heulen zu Mute sein“, dachte sie, als sie sich auf den Heimweg machte. Immerhin war sie fast drei Jahre mit Martin zusammen gewesen. Doch es kamen keine Tränen. Sie fühlte sich erleichtert. Sie war erst siebzehn und hatte das Leben vor sich. Sie konnte sich doch nicht an einen Versager binden!
Vier Wochen später fuhr Sabine in Begleitung ihrer Mutter nach Kiel. Sie irrten eine ganze Weile mit dem Auto in der Stadt herum, bis sie den Veranstaltungsort gefunden hatten, in dem sich das ganze abspielte. Schilder führten sie zu der Kongresshalle, und je näher sie kamen, desto mehr junge Leute
füllten die Gänge. Sabine beäugte ihre Konkurrentinnen kritisch. Es waren fast ausnahmslos blonde, hoch gewachsene Mädchen, die in ihrem normalen Outfit alle etwas Kindliches an sich hatten und nervös herumtänzelten oder vor sich hin kicherten. Bei ein paar dachte Sabine gleich, dass sie keine Chance hatten, in die engere Auswahl zu kommen. „Guck mal, die da im geblümten Minikleid, mit den Glubschaugen“, flüsterte sie ihrer Mutter zu, „die fällt auf den ersten Blick durch. Oder die da hinten mit dem grauen Top sieht doch aus wie ein Mäuschen, so unauffällig.“ Gesa sah ihre Tochter leicht strafend an. „Nun red doch nicht so abfällig über andere Menschen. Es gibt doch auch innere Werte.“ „Aber hier geht es zufälligerweise gerade um die äußeren“, gab Sabine etwas beleidigt zurück. „Wart erst mal, bis die Jury entschieden hat, dann kannst du immer noch lästern“, vertagte ihre Mutter das Thema. Aber Sabine machte im Stillen damit weiter, nach Fehlern zu suchen. Je mehr sie sich auf die Makel der anderen konzentrierte, desto eher konnte sie ihre eigenen verdrängen. Zwischen all den schönen Mädchen nagten nun doch Selbstzweifel an ihr. War ihr Mund nicht zu groß, das Kinn zu eckig? Warum hatte sie nicht so weiche glatte Haare wie die meisten, sondern diese Wellen, die sich auch bei noch so viel Gel und Haarspray jeder richtigen Frisur widersetzten? Hätte sie vorher noch mal eine Blitzdiät machen sollen, um die paar Gramm Fett wegzubekommen, die noch an ihren Oberschenkeln saßen? Hatte sie eine Chance gegen die Dunkelhaarige an der Tür, die wie eine feurige Spanierin aussah und schon von weitem dieses gewisse Etwas hatte? Ihre Mutter ahnte nichts von den nagenden Zweifeln, die Sabine beschäftigten. „Gut, dass wir dir noch was Schönes
zum Anziehen gekauft haben“, lächelte sie Sabine stolz an. „Darin kommst du noch besser zur Geltung als sonst.“ Sabine nickte. Es hatte sich wirklich gelohnt, sich in Hamburg zwei Tage die Füße wund zu laufen, denn das raffiniert geschnittene, kurze Kleid ließ ihre grünen Augen noch kräftiger leuchten. Außerdem glich es dem unbezahlbaren Designerkleid von Donna Karan, das sie neulich in der „Femme“ gesehen hatte, bis aufs i-Tüpfelchen. In dem mit Scheinwerfern ausgeleuchteten Raum, der sonst streng blickende Männer in Schlips und Kragen beherbergte, machte sich jetzt Unruhe breit. Die Jury hatte sich vollständig versammelt, und die Veranstalter baten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Platz zu nehmen. Während ihre Mutter im Hintergrund blieb, hatte sich Sabine einen Stuhl in den vorderen Reihen ergattert. Sie war so beschäftigt damit, herumzuschauen, dass sie von den einführenden Worten nicht viel mitbekam. Erst als der Redner, ein Vertreter des Senders, verkündete, dass alle vom Co-Veranstalter, einer großen Kleiderladen-Kette, zum Dank für ihre Teilnahme ein Outfit geschenkt bekämen, horchte sie auf. Was sie hörte, erschütterte sie. Die Mädchen sollten sich nicht in ihren eigenen Kleidern, sondern in dieser zur Verfügung gestellten Uniform und ungeschminkt der Jury präsentieren, damit alles gerecht zuging. Dann war ja der ganze Aufwand mit dem Kleid und dem Make-up umsonst gewesen, dachte sie enttäuscht. Bald darauf eilten alle zu den provisorisch eingerichteten Umkleidekabinen. Eine knappe halbe Stunde später wurde es ernst. Die Jungen und Mädchen warteten in den überfüllten Sitzreihen auf ihren Auftritt. Ein ständiges Geraune und Gewisper erfüllte den Raum, während die Mädchen nacheinander auf das Podest gerufen wurden. Fotografen sprangen geschäftig mit der Kamera um die Kandidatinnen und
Kandidaten herum, während die Jury ihnen ein paar Fragen zu ihren Lieblingsbeschäftigungen und Zukunftsplänen stellte. Sabine hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Was hatten ihre Hobbys denn mit dem Aussehen zu tun. Zum Glück ging die Jury in alphabetischer Reihenfolge vor, und sie hatte Zeit genug, sich ihre Antworten zurechtzulegen. Ihr Herz flatterte bereits aufgeregt, als der Name Richter an die Reihe kam. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis „Sanders, Sabine“ aufgerufen wurde. Als Nächste kam eine gewisse „Andrea Rudolph“, die Sabine mit Argusaugen beobachtete. Es war die dunkelhaarige Schönheit von vorhin, die auch in der Einheitskleidung eine außerordentliche Figur machte und die Fragen beantwortete, ohne schüchtern herumzustottern wie so viele andere. Sabines Herz sank noch tiefer in die Hose. Da schallte schon ihr Name durchs Mikrofon. Hastig stand sie auf, drehte sich noch einmal zu ihrer Mutter um, die beide Hände mit gedrückten Daumen in die Luft streckte, und eilte nach vorn. „Sabine Sanders. Was hat Sie bewogen, hier mitzumachen?“ Sabine wurde innerlich ganz ruhig, als sie sich ihr Ziel in Erinnerung rief: einmal auf dem Cover der „Femme“ erscheinen. Den ganzen Rummel nahm sie plötzlich nur noch gedämpft wie hinter einer dicken Glaswand wahr, und sie konzentrierte sich auf die Jury-Mitglieder, die erwartungsvoll auf ihre Antwort warteten. „Nun“, begann sie, „es ist für mich eine Herausforderung, zu sehen, wie weit ich mit meinem Aussehen komme. Ich stehe gern im Mittelpunkt, und ich arbeite hart daran, in allem die Beste zu sein.“ Ob die Jury das wohl zu selbstherrlich fand? Aber lieber übertrieb sie, als wie ein kleines graues Mäuschen dazustehen. Sie versuchte die Reaktion an den Gesichtern der fünf Männer abzulesen, aber keine Miene verriet etwas.
„Können Sie sich ernsthaft vorstellen, später mit Ihrem Aussehen Geld zu verdienen?“ „Solange ich dabei in der Vertikalen bleibe, ja“, antwortete Sabine augenzwinkernd. Die fünf konnten ein Schmunzeln nicht verbergen, und ein verhaltenes Kichern ging durch die Menge in den Publikumsrängen. „Gibt es sonst etwas, was Sie besonders gern tun?“ „Neben der Schule treibe ich regelmäßig und häufig Sport. Aber die Themen Mode und Ästhetik haben mich schon immer besonders interessiert.“ „Wenn Sie jemand bitten würde, für eine wichtige Fotosession die Haare kurz zu schneiden, was würden Sie tun?“ „Das käme ganz drauf an, ob’s mich weiterbringt oder nicht“, sagte Sabine ohne zu Zögern. Sie hatte bei den Interviews ihrer Vorgängerinnen begriffen, dass manche Fragen die Mädchen aus dem Konzept bringen sollten – als eine Art Spontaneitätstest –, und war auf Überraschungen gefasst gewesen. „Danke, das war’s auch schon. Sie können sich wieder setzen.“ Sabine fragte sich, was das Getuschel der Jury-Mitglieder zu bedeuten hatte. Aufrechten Gangs begab sie sich wieder zu ihrem Platz zwischen den anderen Kandidatinnen. Nun blieb ihr nichts mehr, als die Entscheidung abzuwarten. Ein wahres Blitzlichtgewitter ging auf die Jury nieder, als die fünf Männer sich erhoben, um die Gewinnerinnen bekannt zu geben. In der Kongresshalle war es schlagartig mucksmäuschenstill. „Zunächst möchten wir allen Teilnehmerinnen fürs Mitmachen danken. Sie wissen, dass nur die ersten drei in die nächste Runde kommen, und somit viele mit enttäuschten
Gesichtern nach Hause fahren werden. Deshalb ist uns die Entscheidung wie immer sehr schwer gefallen. Bitte einen Applaus für die, die diesmal leer ausgegangen sind“, las der Wortführer von einer großen, rosa Karteikarte ab und machte eine Pause, bis das pflichtgemäße Klatschen verstummt war. „Und nun zu unseren heutigen Schönheitsköniginnen: Auf dem dritten Platz ist Vera Becker gelandet.“ Sabine, die sich selbst eine Liste mit den aussichtsreichsten Kandidatinnen gemacht hatte, suchte den Namen vergeblich. Um so erstaunter war sie, als die unauffällige Blondine, über die sie anfangs hergezogen war, jubelnd nach vorn stürmte. Sie fragte sich, welche seltsamen Kriterien die Jury angewandt hatte, dass dieses Mäuschen einen Sieg erringen konnte. Schon sah sie ihre eigenen Chancen schwinden. Ihre Spannung stieg ins Unerträgliche. Unwillkürlich rieb sie ihre feuchten Handflächen aneinander. „Und nun zum zweiten Platz. Er geht an – Sabine Sanders.“ Zwiespältiger Applaus erfüllte den Raum. Noch warteten unzählige Mädchen aufgeregt auf die letzte Entscheidung, die darüber bestimmen würde, ob sie stolz oder in Tränen aufgelöst nach Hause fahren würden. Doch Sabines Spannung verpuffte, als sei ein Luftballon zerplatzt. Die Freude über ihren Erfolg trieb ihr fast Tränen in die Augen. Sekundenlang saß sie wie gelähmt vor Glück auf ihrem Stuhl. „Und nun zu unserer Siegerin“, ging es unter Raunen und Klatschen weiter. „Andrea Rudolph!“ Allerdings hörte Sabine kaum mehr zu, denn sie quetschte sich bereits durch die Stuhlreihe und bahnte sich ihren Weg durchs Gedränge nach vorn ins Rampenlicht. „Ja, ja, ja“, stieß sie leise, aber energisch zwischen den Zähnen hervor, während um sie herum Mädchen ihrer Enttäuschung Luft machten. Sabine verspürte geradezu Genugtuung, als sie entdeckte, dass einige, die
keinen Preis davongetragen hatten, Tränen in den Augen stehen hatten. Umringt von Gratulanten standen die drei Siegerinnen mit strahlenden Gesichtern da und lächelten ins Publikum. Ein herrliches Gefühl, dachte Sabine, so im Mittelpunkt zu stehen, wenn hunderte von Augenpaaren einen anstarrten. Ein guter Vorgeschmack auf später. Doch nach dem ersten Freudentaumel musste sie sich eingestehen, dass auch ein leiser Zweifel in ihr bohrte. Insgeheim wurmte es sie gewaltig, dass sie nur Zweite geworden war. Ach was, die Jury war einfach zu bescheuert, beruhigte sie sich. Das sieht man schon daran, dass diese graue Maus auf Platz drei gekommen ist. Das Wichtigste ist schließlich, ich gewinne die Endausscheidung. Nachdem die Ehrung abgeschlossen war und die Hochstimmung langsam abflaute, hatte Sabine plötzlich ein Mikro vor der Nase. „Hallo Sabine, ich bin Brigitte Jehle vom Lokalradio. Ich würde gern ein Interview mit dir machen. Ich darf doch du sagen, oder?“, fragte eine Reporterin im lässigen Strickpullover, Jeans und Dockers. Mit ihrem asymmetrischen Gesicht und den dünnen hellbraunen Haaren hätte sie nie auch nur einen Blumentopf gewonnen, dachte Sabine im ersten Moment abfällig. Kein Wunder, dass sie beim Radio gelandet war und nicht beim Fernsehen. Dann besann sie sich der Chancen, die ein Interview bot, und lächelte sie strahlend an. „Klar, Brigitte, wollen wir uns eine ruhigere Ecke suchen?“ „Hast du das zum ersten Mal gemacht, an so einem Wettbewerb teilzunehmen?“, fragte die Frau, als sie es sich auf Konferenzstühlen halbwegs bequem gemacht hatten. „Ja. Das war wirklich ein großer Glücksfall. Ich stand nichts ahnend mit ein paar Freunden in der Disco rum, als mich auf einmal ein Scout angesprochen hat. Erst wollte ich ja nicht mitmachen, aber er hat mich regelrecht überredet. Ihm sei
sofort aufgefallen, was für ein aufregendes Gesicht ich hätte, das würde unter den Einheitsgesichtern richtig herausstechen. Klar konnte ich da nicht widerstehen.“ „Und wie geht dein Leben nach diesem Erfolg jetzt weiter?“ „Ich werde natürlich versuchen, in der Endausscheidung in Köln mindestens genauso gut abzuschneiden, und dann wollen wir mal sehen, was sich daraus machen lässt.“ „Du kannst dir also vorstellen, in der Branche zu arbeiten?“ „Jetzt, wo ich einen Vorgeschmack bekommen habe, auf jeden Fall, ja.“ „Und du hast kein Problem damit, dass es hier praktisch nur um ,Fleischbeschau’ geht?“ Nach dem freundlichen Geplänkel erwischte die Frage Sabine kalt. Ganz schön frech, dachte sie und setzte gleich zu ihrer Verteidigung an: „Das sagt ja noch lange nicht, dass man auf den Kopf gefallen ist – im Gegenteil, ich glaube, ohne Verstand und Willenskraft hat man sowieso keine Chance, sich durchzusetzen.“ „Aber ich meine, diese Fixierung aufs Äußere, findest du das gut?“, insistierte die Reporterin. Sabine war ein bisschen genervt. So hatte sie sich das Interview nicht vorgestellt. „Das Aussehen ist nun mal wichtig. Das kann ja auch eine Anregung sein, etwas aus sich zu machen – für die, die nur in Sack und Asche rumlaufen und entsprechend schlecht drauf sind“, meinte sie und schaute demonstrativ auf den graubeigen Pulli der Reporterin. „Danke, Sabine. Ich glaube, das reicht. Wir machen sowieso höchstens einen Dreiminutenbeitrag daraus“, schloss Brigitte Jehle das Interview. „Und alles Gute“, hängte sie kopfschüttelnd an. „Äh, wann läuft denn die Sendung“, drehte sich Sabine noch mal um. „Morgen Abend zwischen sechs und sieben.“
Sabine und Lara hatten es sich auf Sabines Bett gemütlich gemacht. Auf einem Hocker stand griffbereit die Flasche Sekt, mit der sie Sabines Erfolg beim Contest angemessen feiern wollten. Das Radio spielte Jazzmusik, unterbrochen von kurzen Eindrücken vom Contest – die Vorbereitungen, die Kandidatinnen vor der Wahl, die Jurymitglieder. In den Musikpausen schäkerten die beiden Freundinnen herum und entwarfen Szenarien für Sabines spätere Modelkarriere. „Wann kommst du denn endlich?“, fragte Lara ungeduldig. „Bestimmt ziemlich zum Schluss der Sendung. Dann wirst du hören, wie ich’s dieser blöden Reporterin gegeben hab’“, versprach Sabine. „Komisch, dass die das auf dem Kultursender bringen, und nicht auf der Pop welle“, wunderte sich Lara. Gleich darauf legte sie Sabine die Hand auf den Unterarm. „Pst, ich glaube, es ist so weit.“ „Und nun zu einer der Gewinnerinnen, Sabine Sanders, die sich zu einem aufschlussreichen Gespräch zur Verfügung gestellt hat“, kam die dunkle Stimme von Brigitte Jehle über den Sender. „Wir hören uns jetzt einen Auszug davon an, dann wird der Gast unserer Sendung, die Psychologin Frau Dr. Steinbruch, ein paar Worte dazu sagen.“ „Was soll das denn jetzt?“, wunderten sich die beiden aufmerksamen Zuhörerinnen, während Sabine im Originalton zu hören war. „Frau Dr. Steinbruch, der Optimismus unserer Kandidatin ist offensichtlich. Für wie realistisch halten Sie die Träume einer Siebzehnjährigen?“ „Nun“, antwortete eine tiefe Altstimme, „in diesem Alter haben viele Mädchen derart hochfliegende Träume, aber nur ein winziger Bruchteil hat Aussicht auf Erfolg.“
„Was sagen Sie aus Ihrer Erfahrung heraus zu den Konsequenzen einer solchen Fixierung auf ein Bild der Frau, das einem Ideal nacheifert und den Bezug zur Wirklichkeit verliert?“ „Die meisten sind sich nicht im Klaren, welche Gefahren eine solch ausschließliche Beschäftigung mit dem Aussehen hat. Mal abgesehen davon, dass viele Models an ihrer Karriere zerbrechen, treten im schlimmsten Fall bei denen, die sich an diesem Schönheitsideal orientieren, eine Menge schwerer Krankheitsbilder auf. Ich denke da an eine depressive Grundstimmung, wenn die ästhetischen Maßstäbe jenseits des Erreichbaren liegen, im Extremfall Anorexie, die in den Tod führen kann, oder auch einfach nur die bei Frauen stark ausgeprägte Neigung, sich als Objekt zu verstehen…“ Noch bevor die Expertin ausgeredet hatte, hatte Sabine wütend das Radio ausgeschaltet. „So eine Frechheit, das Ganze derart in den Dreck zu ziehen. Die reden von mir, als sei ich total durchgeknallt. Das kann ja wohl nicht wahr sein“, empörte sie sich. „Von wegen Expertin. Das ist bestimmt eine völlig frustrierte Feministin.“ Lara saß betreten da. Auch sie hatte sich von der Sendung etwas anderes erwartet und litt mit ihrer Freundin mit. „Dass die dir aber auch die ganze Freude an deinem Erfolg verderben müssen!“, schimpfte sie. „Komm, wir trinken noch einen Sekt, was kümmert uns das Geschwätz von dieser Tussi.“ Sabine nippte gedankenverloren an ihrem Glas. Es wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen, wie die Reporterin es geschafft hatte, sie öffentlich als naives, dummes, kleines Mädchen darzustellen, das in jedem Fall scheitern würde – entweder an seinen Illusionen oder an der Realität.
Anders als bei ihrer Reise nach Kiel beherrschten Sabine zwiespältige Gefühle, als sie zur deutschlandweiten Ausscheidung nach Köln fuhr. Es war immer noch ihr Ziel, als Gewinnerin aus dem Contest hervorzugehen, aber ein leichtes Unbehagen konnte sie dabei nicht verdrängen. Im Intercity sitzend, ließ sie die wechselnde Landschaft an sich vorbeirasen. Das gab ihr irgendwie das beruhigende Gefühl, über allen Dingen zu stehen und besser über das nachdenken zu können, was sie seit ein paar Wochen, genauer gesagt seit der Radiosendung, beschäftigte. So sehr sie es auch drehte und wendete, sie konnte nichts Falsches daran entdecken, ein Schönheitsidol zu sein. Diese arrogante Psychologin war bestimmt selbst ein hässliches Entlein, sonst würde sie nicht so infame Dinge verbreiten. Dahinter steckte sicher großer Neid auf Frauen, die mehr aus sich machen konnten. Vielleicht konnte sie gar nicht nachvollziehen, wie faszinierend Schönheit war. In einer üppigen Robe von Dior oder der schlichten Eleganz der Kleider von Yamamoto hatte ein schönes Model doch mehr Ausstrahlung als alle Königinnen der Welt zusammen, eine geradezu überirdische Schönheit. Wer war hautnaher an den neusten Trends als ein Model? Für Sabine waren Trends ein Motor, der die Welt bewegte und ihre Fantasie beschäftigte, der Inbegriff von Lebenslust. Aber dennoch hatte sie gespürt, dass die Reporterin und die Psychologin etwas hatten, um das sie sie beneidete: Macht. Ein paar Worte hatten genügt, um aus der selbstbewussten, zielstrebigen Sabine ein bedauernswertes, fehlgeleitetes Mädchen zu machen. Von der Gewinnerin hatte sie sich im Handumdrehen in ein Opfer verwandelt. Sabine war die Ironie dieser Verwandlung voll bewusst. Gerade indem diese Frau Dr. Steinbruch die Teilnehmerinnen als Opfer ihrer eigenen
Träume und Standards darstellte, hatte sie sie zu solchen gemacht. Der Intercity bremste wieder ab, und Sabine merkte, dass die vier Stunden Zugfahrt fast unbemerkt verflogen waren. Sie schüttelte die unangenehmen Gedanken ab und holte mit einem entschiedenen Seufzer ihre Reisetasche aus der Gepäckablage. Energischen Schrittes ging sie auf den Taxistand zu und setzte sich in den Fond eines nagelneuen Mercedes. „Zur Zentrale von Mega-TV bitte“, instruierte sie den Fahrer und lehnte sich entspannt zurück.
Die Kandidatinnen wurden alle in ein riesiges Studio gebeten, in dem sonst eine bekannte Fernseh-Show mit großem Publikum stattfand. Entsprechend edel war das Studio hergerichtet. Im Zuschauerbereich standen mit rotem Samt bezogene Sessel um kleine runde Tische. Von dort fiel der Blick auf eine Kulisse in Form einer glitzernden Erdhalbkugel, unter deren Dach auf einem Podest eine bequeme Sofaecke für die Jury und ein niedriger Laufsteg für die Models in spe aufgebaut war. Dadurch waren die Vertreter der Jury mit den Kandidatinnen auf Augenhöhe. Ansonsten schien alles ganz ähnlich abzulaufen wie beim ersten Contest. Die Garderoben und Aufenthaltsräume hinter der Bühne, in denen sich sonst vom Tennisstar bis zum Popidol alle Prominenten auf ihren Auftritt vorbereiteten, waren zum Umziehen und Schminken freigegeben worden. Sabine belegte den letzten freien Schminktisch mit großem Spiegel und Rundumbeleuchtung, um sich zurechtzumachen. Diesmal sollte jede Kandidatin in zwei verschiedenen von der Kaufhauskette gesponserten Outfits auftreten, einmal in einem Strandkleid und einmal in einem Top und Jeans. Ihr fiel auf, dass die Mädchen sich hier viel weniger untereinander austauschten als in Kiel, sie
beäugten ihre Konkurrenz eher mit kritischem Blick. Die Stimmung war deutlich angespannter. Selbst die, die an der Vorentscheidung nur aus Jux teilgenommen hatten, schien jetzt der Ehrgeiz gepackt zu haben. Um das Mädchen neben ihr, eine Rötlichblonde mit durchscheinender Haut und ein paar blassen Sommersprossen im Gesicht, die mit ihren blassblauen Augen ganz ätherisch wirkte, kreiste geschäftig ein Kamerateam und gab knappe Anweisungen. „Puder dir die Nase noch mal von vorn – die Aufnahme ist eben danebengegangen… so und jetzt mal in den Spiegel lächeln… jetzt den Lippenstift, wir brauchen noch eine Großaufnahme… ja, ja, der dunklere Orangeton ist besser“, und Ähnliches schnappte Sabine auf. Sie fragte sich, was der ganze Zirkus um dieses Mädchen sollte, schließlich stand die Entscheidung noch bevor, wer gewinnen würde. „Okay, Debby, wir lassen dich jetzt mal allein, bis du ins Studio gehst“, meinte einer der Typen zu dem Mädchen. Kaum war die Crew verschwunden, beugte sich Sabine zu Debby rüber und erkundigte sich, was das Ganze zu bedeuten hatte. „Die machen eine Reportage mit mir, begleiten mich sozusagen durch den Contest, um später ‘nen persönlicheren Bericht drüber zu senden. Spannend oder?“ „Und wie“, meinte Sabine sarkastisch, denn sie hatte ja ihre eigenen Erfahrungen mit Reportagen. „Und, glaubst du, du gewinnst?“ „Keine Ahnung, aber das spielt für die Doku sowieso keine Rolle. Dabeisein ist alles. Selbst wenn’s nicht klappt, war ich dann wenigstens mal im Fernsehen.“ Die nahm es ja locker, dachte Sabine. Ein Jammer, dass man nicht sie gefragt hatte, sie hätte bestimmt mehr zu sagen gehabt als diese naive Debby.
Nach dem zweiten Durchlauf – einer kleinen Fotostrecke – vor der Jury ließ sich Sabine auf den Sessel sinken. Entspannt schlug sie die Beine übereinander und ließ die Arme über die Lehnen baumeln. Sie war sich sicher, dass es gut für sie gelaufen war und dass sie das Grüppchen auf dem Podest nicht nur mit ihrem Aussehen, sondern auch mit ihren ausgefeilten, schlagfertigen Antworten beeindruckt hatte. Der Typ von Mega-TV und eine extravagant gekleidete Mittvierzigerin mit übertrieben geschminkten Augen, die von einer CastingAgentur kam, hatten sie nach ihrer Präsentation sogar beifällig angelächelt. Sabine war zufrieden mit sich und der Welt und wartete gelassen, bis auch die Letzten über den Laufsteg stolziert waren. Von der allgemeinen Unruhe wollte sie sich auf keinen Fall anstecken lassen. Dann war wieder der Moment der Entscheidung gekommen. Im Hintergrund wurde hektische Pop-Musik eingespielt, um die Spannung zusätzlich anzustacheln, und der jungdynamische Moderator im Grunge-Look, der die ganze Veranstaltung wortreich begleitet hatte, lief zur verbalen Hochform auf. Sabine fragte sich, wie man so schnell reden konnte, ohne sich zu verhaspeln, und es darüber hinaus noch schaffte, witzig zu sein. „Bei uns geht es ja schlimmer zu als in dem Lied von den zehn kleinen Negerlein. Eine beachtliche Zahl von 1200 jungen Frauen und Männern hat bei „Beautys 1990“ in zwanzig großen Städten mitgemacht, davon sind hier und heute die hundertzwanzig prämierten Gesichter gegeneinander angetreten. Und nun sind wir alle gespannt, welche zehn jeweils noch im Boot sitzen, das in den Model-Workshop schaukelt, den Mega-TV zusammen mit C&A für unsere jungen Talente bietet. Auf die drei „Beauty“-Preisträgerinnen
mit der höchsten Punktzahl und drei ihrer schönsten Kollegen warten schon Verträge mit der Mode- und Werbeindustrie. Wollen Sie wissen, wer unsere Senkrechtstarter sind, die Ihnen schon morgen am Kiosk oder auf dem Bildschirm begegnen können? Dann aufgepasst!“ Es folgte das obligatorische Dankeschön für die im Endspurt ausgeschiedenen Kandidatinnen und Kandidaten. Sabine klatschte eifrig mit wie eine Außenstehende, denn sie glaubte nicht im Traum daran, dass sie in diese Kategorie fallen könnte. Als der Moderator begann, die Namen der Top Ten zu verlesen, saß Sabine quasi sprungbereit auf der Sesselkante. „Unsere Nummer zehn: Ann-Kathrin aus Hamburg, unsere Nummer neun: Christine aus Bochum, die Nummer acht: Peggy, die Sensation aus Ost-Berlin, und die sieben ist Jacqueline aus Hessenland, kommt mal nach vorn“, so ging es weiter bis zum dritten Platz. Sabines Name war noch nicht dabei gewesen. Jedes Mal hatten unwillkürlich ihre Beine gezuckt, als wollten sie schon mal zur Bühne eilen, und jedes Mal hatte Sabine sich bremsen müssen. Langsam wurde sie stutzig. Dass es gut gelaufen war, hatte sie ja gemerkt, aber sollte es tatsächlich so gut gewesen sein? Vorsorglich setzte sie ein erwartungsfrohes Lächeln auf. Man konnte ja nie wissen, ob es nicht einem Kameramann einfiel, die Linse mit ein paar Sekunden Vorlaufzeit auf die Kandidatin zu richten, um den überraschten Blick bei der Ausrufung rechtzeitig einfangen zu können. „Und nun freuen wir uns, wenn Elli Brand aus dem fernen Flensburg ihre langen Beine zu uns auf die Bühne schwingt. Ein Applaus für die Elli auf dem zweiten Platz bitte!“ Sabine wurden fast die Knie weich. Etwa…? Nein, das konnte doch nicht sein – oder doch, der erste Platz?, raste es ihr durch den Kopf.
„Tja, und unsere Goldbeauty ist eine Schönheit, von der ich mir sicher bin, dass wir sie nicht zum letzten Mal gesehen haben. Selten war sich die Jury so einig, wie bei dieser Entscheidung. Halten Sie Ihre Augen offen – hier ist sie: Debby Steiner, aufgewachsen in London und seit zehn Jahren in Bonn zu Hause.“ Sabine musste sich mit beiden Händen festhalten, damit sie nicht vom Sessel rutschte. Ihr wurde leicht schwindlig. Hieß das etwa, sie war gar nicht dabei – nicht einmal unter den ersten zehn? Wie war es möglich, dass sie sich so falsch eingeschätzt hatte? So ungerecht konnte die Jury doch gar nicht gewesen sein! – Doch als der Applaus abgeklungen war, war die traurige Tatsache bis in die letzte Pore durchgesickert. Das Ganze war ein grandioser Reinfall. Die glücklichen Siegerinnen hatten sich auf der Bühne eingefunden und strahlten um die Wette in die Kameras. Sabine starrte auf den Platz neben sich, den kurz zuvor noch Debby besetzt hatte. Das war doch alles ein abgekartetes Spiel, ging es ihr durch den Kopf. Die Jury hatte sich Debby doch längst ausgeguckt, bevor andere auch nur eine Chance hatten, sich zu präsentieren. Sonst hätten die Kameraleute Debby gar nicht erst durch den Contest begleitet. Im nachhinein wünschte Sabine fast, sie hätte Debby vorhin in der Garderobe eine Flasche Cola über die Frisur geschüttet oder so, nur um sie aus dem Rennen zu werfen. Wie kindisch, warf sie sich vor, als sie sich bei diesem Gedanken ertappte, aber sie musste sich alle Mühe geben, nicht vor laufenden Kameras laut aufzuschluchzen. Das würde denen so passen, dachte sie trotzig. An ihr sollte sich kein schadenfroher Blick weiden. Sekunden später war es jedoch trotz aller guten Vorsätze um ihre Fassung geschehen, und sie stürzte hinaus in Richtung Toiletten. Irgendwo musste man seinen Gefühlen ja freien Lauf lassen können.
Wenige Meter vor der Tür erstarrte sie. Lorenz Jäger kam gerade aus der Herrentoilette. Seit ihrer „Entdeckung“ in der Disco hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Und ausgerechnet jetzt musste er ihr über den Weg laufen. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle unsichtbar gemacht. Ihre Hoffnung, er könne sie vergessen haben, wurde gleich zunichte gemacht. „Oh, die Kleine aus der Disco in… wo war es noch? Dich haben sie in die Endausscheidung gelassen? Das hätte ich nicht gedacht“, sagte er mit einem herablassenden Lächeln. Sabine starrte ihn an. „A-aber du hast mich doch selbst zur Teilnahme eingeladen“, stotterte sie. Lorenz Jäger verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Klar, du hast mich ja auch heftig genug angebaggert. Ich dachte, ich geb dir mal meine Karte, für ‘ne heiße Nummer wärst du vielleicht nicht schlecht gewesen. Aber dass du keine Chance hattest, den Contest zu gewinnen, hätte ich dir gleich sagen können. Da braucht es schon ein anderes Kaliber.“ Noch bevor Sabine nachdenken konnte, hatte sie schon ausgeholt, und ihre flache Hand erwischte Lorenz Jäger voll im Gesicht. Das Knallen kam ihr ohrenbetäubend laut vor. Schlagartig kam sie wieder zur Vernunft. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und hauchte: „Oh Gott. Das wollte ich nicht – obwohl du’s verdient hast.“ Dann flüchtete sie in die Damentoilette. Das kalte Wasser, das sie sich übers Gesicht laufen ließ, tat ihr gut. Einen kühlen Kopf konnte sie nach dem Gefühlsbad der letzten Stunde echt gebrauchen. Langsam hob sie den Kopf und blickte prüfend in ihr Spiegelbild. Die Wimperntusche war verschmiert und lief in kleinen Rinnsalen über die geröteten Wangen – aber was machte das jetzt noch. Ihr Modeltraum war zerplatzt wie eine Seifenblase. Sie hatte nicht nur vor ihrem eigenen Anspruch, Erste zu werden, versagt, sie war auch noch aufs Tiefste gedemütigt worden. Ihr gnadenlos ins Gesicht zu
sagen, dass sie sich von Anfang an etwas vorgemacht hatte! Dass sie sich so etwas gefallen lassen musste, dachte Sabine verbittert. Noch nie hatte sie sich so machtlos gefühlt. Fleischbeschau, schoss es ihr durch den Kopf – diese Tante vom Radio wusste ja nicht, wie Recht sie damit hatte. Nach der Rückkehr aus Köln lief Sabine ein paar Tage ganz trübsinnig durch die Gegend. Ihre Enttäuschung war umso größer, als sie allen Ernstes daran geglaubt hatte, damit ihrem Karriereziel ein Stück näher zu kommen. Nun war es unvermittelt in weite Ferne gerückt. Zum Glück hatte sie nur ihrer Familie und Lara von ihren Plänen erzählt. Es wäre schrecklich peinlich, wenn alle Welt von ihrer Blamage erführe. Jetzt saß sie missmutig mit Lara im „Da Vinci“ vor einer riesigen Portion Eis mit Sahne. „Sonst trinkst du doch höchstens einen Cappuccino, wegen der Kalorien“, wunderte sich Lara. „Darauf kommt es jetzt sowieso nicht mehr an.“ Sabine rührte mit dem langen Eislöffel in der angeschmolzenen Masse am Rand herum, bevor sie ein großes Loch in die Schokoladeneiskugel bohrte. „Du denkst immer noch an den blöden Contest, stimmt’s?“ Lara klang besorgt. Es sah Sabine so gar nicht ähnlich, dass sie nach Lust und Laune aß. Dafür war sie eigentlich viel zu diszipliniert – im Gegensatz zu ihr selbst. „Ja, Mensch, das Ergebnis war einfach so ungerecht.“ Sabine musste nur daran denken, und schon war sie wieder in Rage. „Nimm’s dir doch nicht so zu Herzen, vergiss es einfach. Nächstes Jahr probierst du es noch mal“, versuchte ihre Freundin sie zu beruhigen, „wenn du bis dahin nicht zur Tonne mutiert bist.“ Auf Sabines Gesicht tauchte fast so etwas wie ein Lächeln auf, und sie schob entschlossen den Eisbecher weg. „Weißt du,
ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich es überhaupt noch mal versuchen will.“ „Jetzt verstehe ich gar nichts mehr“, musste Lara zugeben. „Es ist auch schwer zu erklären. Ich weiß, ich hab’ dir jahrelang damit in den Ohren gelegen, dass ich Model werden will, und hab’ mich entsprechend geknechtet mit Diäten, Sport und allem Pipapo. Aber jetzt merke ich, dass es auf so was gar nicht ankommt. Was du da tust, das hat mit dir selbst gar nichts zu tun – das funktioniert nur mit dem, was andere über dich denken. Du bist total der Meinung von irgendwelchen Heinis ausgeliefert, die ihr Bild auf dich projizieren.“ Sabine sah Lara eindringlich an, als warte sie auf eine Bestätigung ihrer neu gewonnenen Einsicht. Die aber schüttelte nur den Kopf: „Sorry, ich kapier’ immer noch nicht, worauf du hinauswillst.“ Sabine suchte nach Worten, um ihre Erkenntnis besser verständlich zu machen. „Wenn du so willst – ich habe einfach das Gefühl, als Model steht man auf der falschen Seite. Anstatt dass man selbst eine Meinung macht oder ein Bild produziert, ist man immer von dem abhängig, was die anderen über einen denken oder sagen. Die haben die Macht, während die Models an einer Strippe tanzen wie Marionetten.“ Diesmal nickte Lara verstehend, wenngleich sie noch nicht ganz überzeugt schien. „Na ja, das hört sich alles erst mal ziemlich unausgegoren an, ich geb’s ja zu. Ich muss wohl noch ein paar Mal drüber schlafen“, erklärte Sabine. „Nein, nein, so wirr finde ich das gar nicht. Aber weißt du, woran mich das erinnert?“ „Nee. Nun sag schon.“ „Aber werd bloß nicht gleich sauer! Also irgendwie klingt das so ähnlich wie das, was die Psychologin in dieser bescheuerten Radiosendung von sich gegeben hat.“
Im ersten Moment sah Sabine aus, als würde sie explodieren, aber dann ließ sie sich Laras Bemerkung durch den Kopf gehen. „Stimmt“, sagte sie dann schlicht. „Ich glaube, ich sollte langsam drüber nachdenken, was ich später wirklich machen will.“ „Ist doch klar!“, grinste Lara. „Du wirst Psychologin – oder noch besser, Journalistin.“ In diesem Moment begrub Sabine ihren Traum, Model zu werden, für immer. Es war an der Zeit, erwachsen zu werden und realistische Pläne zu machen. Was Lara vorgeschlagen hatte, war gar nicht so dumm. Wenn sie nicht als Model Titelgeschichte schreiben würde, dann eben als Journalistin. Über die Idee würde sie noch ernsthaft nachdenken.
3
„Hast du mir nicht vor längerer Zeit schon was versprochen?“ Wolfgang Sanders sah seine Tochter streng an, als Sabine ihn an einem Samstagnachmittag in seiner Werkstatt besuchte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihn um eine Taschengelderhöhung zu bitten, aber er hatte es gar nicht so weit kommen lassen. „Ich weiß schon, Paps, der Nebenjob“, fiel es Sabine siedend heiß ein. „Ich hab’ die ganze Zeit nichts gesagt, weil du ziemlich viel für die Schule lernen musstest und dann mit deinem ModelKram beschäftigt warst“, meinte Wolfgang Sanders. „Aber jetzt hast du ja genug Zeit. Wenn du also mehr Geld brauchst – weshalb du wahrscheinlich hier bist – dann weißt du, was du zu tun hast.“ „Aber ich hab’ mich doch schon nach einem Job umgesehen“, protestierte Sabine. „Es ist total schwer, was Richtiges zu finden. Die meisten haben so blöde Zeiten, dass ich dann nicht zur Schule gehen könnte. Kannst du nicht mal eine Ausnahme machen? Ich hab’ diese total tollen Schuhe in Hamburg gefunden, die super zu dem Kleid passen würden, das Mama mir gekauft hat.“ Wolfgang Sanders runzelte die Stirn, zückte dann aber seinen Geldbeutel. Er schimpfte zwar immer wieder über seine Frau, die Sabine so sehr verwöhnte, aber selbst konnte er ihr auch kaum etwas abschlagen. „Hier, zweihundert, weil du’s bist. Reicht das?“
„Super, Paps, danke“, gab Sabine ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange. „Nächste Woche ziehe ich noch mal los, um mir Arbeit zu suchen.“
Sabine hatte sich einen Vitamindrink zusammengemixt und die Zeitung vor sich auf dem Küchentisch ausgebreitet. Sie ging den Kleinanzeigenteil durch und sortierte, was in Frage kam und was nicht. Jetzt suchte sie schon seit drei Wochen, und noch immer war nichts Passendes dabei gewesen. Bei den paar Angeboten, die halbwegs interessant klangen, hatte sie jedesmal Pech gehabt. Entweder der Job war schon weg oder man wollte sie nicht nehmen. Der Typ in der Spedition zum Beispiel hatte ihr doch glatt ins Gesicht gesagt, er suche für seine Abrechnungen jemanden, der absolut vertrauenswürdig ist. Da käme sie wohl nicht in Frage. So eine Frechheit! Langsam verlor sie die Geduld. Putzhilfe, Kugelschreiber montieren – die meisten Jobangebote hatten vor ihren kritischen Augen sowieso keinen Bestand. „Lagerarbeiter“, das war wohl eher was für Muskelmänner, „Stundenweise Betreuung einer älteren, gebrechlichen Dame“ klang auch nicht gerade verlockend, „Labor sucht für Eiltransporte Aushilfe mit Führerschein“ – dazu fehlte ihr ein knappes Jährchen, „Freundliche Stimme für Terminvereinbarung in Versicherungsagentur“ – zur Not konnte sie ja mal anrufen. Nach einigen Überlegungen waren zum Schluss gerade mal zwei Anzeigen übrig geblieben, die sie ernsthaft interessierten. Bei der ersten ging es um die stundenweise Aushilfe an der Rezeption des größten örtlichen Hotels, bei der zweiten um Schreibarbeiten und leichte Büroarbeit für die Lokalredaktion der „Norddeutschen Zeitung“, die ein kleines Büro in Itzehoe unterhielt. Der Hoteljob interessierte sie insofern, als dort mitunter auch Prominente abstiegen und sie vielleicht
Kontakte knüpfen konnte, der Zeitungsjob – „diverse Nebentätigkeiten“ – klang zwar mehr nach Kaffeekochen, aber vielleicht war die Atmosphäre dort erlebenswert, und wer weiß, womöglich durfte sie dort bald mehr als nur Büroarbeit erledigen. Sabine griff nach dem Telefon, das sie vorsorglich neben der Zeitung deponiert hatte. Als Erstes wählte sie das Hotel Post an. „Oh ja, schön, dass Sie sich melden“, antwortete der Geschäftsführer, „wir brauchen nämlich dringend Verstärkung, weil unsere Mitarbeiterin für eine Weile krankgeschrieben ist. Wollen Sie nicht heute Abend vorbeikommen? Dann sehen Sie gleich, was auf Sie zukommt.“ „Gern, so um acht?“ „Wunderbar, dann bis später.“ Und schon hatte der Mann aufgelegt. Bei der Zeitung wurde Sabine zuerst zweimal zur falschen Person durchgestellt, bis sie endlich an der richtigen Stelle gelandet war. Hoffentlich sind die nicht alle so chaotisch, dachte sie. „Also, jetzt muss ich erst mal bei meiner Kollegin nachfragen, ob die Stelle nicht schon besetzt ist. Dauert einen kleinen Moment“, vertröstete sie ein gewisser Herr Specht, nachdem sie ihr Anliegen vorgetragen hatte, und ließ sie geraume Zeit mit einer Beethovenmelodie in der Warteschleife hängen. Sabine wollte gerade genervt auflegen, da meldete sich Herr Specht zurück: „So, tut mir Leid, meine Kollegin war gerade selbst am Telefonieren. Es waren zwar schon ein paar Interessentinnen da, aber eine Entscheidung ist noch nicht gefallen. Können Sie Maschine schreiben und mit dem Computer umgehen?“ „Klar“, log Sabine und überlegte, wo sie auf die Schnelle einen Crashkurs machen konnte.
„Sehr schön. Haben Sie auch schon mal nach Diktat geschrieben?“ „Selbstverständlich.“ Das war noch nicht einmal gelogen, denn schließlich hatte sie in der Schule mehr als genug Diktate geschrieben. Dass er das meinte, bezweifelte Sabine allerdings stark. „Na, Hauptsache, Sie können einen guten Kaffee kochen! Der ist nämlich immer schneller alle, als man nachgießen kann. Unsere Leute hier haben mehr Coffein im Blut als rote Blutkörperchen. Hä, hä, hä“, lachte er dröhnend über seinen eigenen Witz. Sabine musste den Hörer vom Ohr weghalten, damit ihr Trommelfell nicht beschädigt wurde. Sie trug der Zeitung im Kopf gleich einen Minuspunkt ein. Wenn die alle einen kleinen Schatten hatten, wie dieser Typ, konnte es ja heiter werden. Trotzdem verabredeten sie für den kommenden Nachmittag ein Vorstellungsgespräch.
Wie vereinbart stand Sabine abends um acht an der Rezeption des Hotels. „Ich soll hier Herrn Fleeker treffen“, sagte sie zu dem jungen Mann, der sich hinter dem Tresen in ein PC-Magazin vertieft hatte. Der blonde Junge – er konnte kaum älter sein als sie selbst – sah auf. Er trug zwar ein weißes Hemd und einen uniformartigen schwarzen Anzug, aber mit seinen kurzen Haaren und den großen, abstehenden Ohren wirkte er wie ein Schuljunge, den man in einen Smoking gesteckt hat. Der Eindruck wurde noch verstärkt, weil er knallrot anlief, während er Sabine mit offenem Mund anstarrte. Sie musste ihm ja höllenmäßig imponieren. Sabine lachte leise in sich hinein.
„Soll ich hier warten oder hat er ein Büro?“, fragte Sabine, als keine weitere Reaktion kam. „N-nein, äh, warten Sie hier“, stotterte der Junge, jetzt ganz geschäftig. Es dauerte noch ein Weilchen, bis Herr Fleeker verfügbar war, und so kamen die beiden ins Gespräch. „Ich bin Matthias – Entschuldigung, äh, Matthias Schwarz.“ „Matthias Blond würde besser zu dir passen? Ich heiße übrigens Sabine.“ Matthias schwieg verlegen. „Wie ist denn der Job hier so? Ist abends viel zu tun oder kommt man auch zum Lesen oder Lernen?“ „Nach neun ist selten was los, höchstens mal ein Gast, der seinen Zimmerschlüssel verlegt hat oder noch ein Getränk für die Minibar nachbestellt. Aber meine Schicht hört um acht auf. Warum interessiert dich das?“ Es klang ganz so, als spekulierte er auf eine abendliche Verabredung. Allerdings standen seine Chancen darauf ziemlich schlecht, denn seit der Erfahrung mit Martin hatte Sabine ganz andere Vorstellungen von ihrem Traummann. „Vielleicht werden wir ja Kollegen“, meinte Sabine, um auf ein anderes Thema zu kommen. Da hellte sich die Miene von Matthias deutlich auf. „Ach, du bist wegen der Vertretung da! Dann sehen wir uns wohl öfter.“ Bevor er sein Interesse vertiefen konnte, kam Herr Fleeker und nahm Sabine mit in sein Büro. Bald war es eine abgemachte Sache, dass sie den Job übernehmen würde. Es war zwar nur für ein paar Wochen, dann würde die erkrankte Mitarbeiterin wiederkommen, aber immerhin konnte sie bis dahin nebenbei ein bisschen Geld für Klamotten verdienen und ihrem Vater die Freude machen. Eigentlich hatte sie auf etwas Längerfristiges gehofft, aber sie hatte ja immer noch die NZ in petto.
„Am besten bleiben Sie heute gleich da, damit Herr Schwarz Sie schon mal einarbeiten kann. Wir stehen im Moment wirklich unter Druck.“ „Okay.“ Eine größere Freude hätte der Chef Matthias kaum machen können, dachte Sabine amüsiert.
Am nächsten Tag nach der Schule warf sich Sabine für das Gespräch bei der Zeitung in ein schwarzes, leicht ausgeschnittenes T-Shirt, ihren anthrazitfarbenen Blazer und eine unauffällige Jeans. Sie wollte lässig und seriös zugleich wirken. Man sollte merken, dass sie mehr konnte als nur Kaffee kochen oder am Kopierer stehen. Die Lokalredaktion war ein zum Büro umfunktioniertes altes Häuschen in einer schmalen Gasse in der Innenstadt. Sie ging die enge Stiege hinauf und stand in einer kleinen Diele, von der aus man durch offene Türen in winzige, voll gestopfte Büros sehen konnte. Eine Sekretärin schickte sie noch ein Stockwerk höher. In eine Ecke der Diele im zweiten Stock waren ein Kopierer und ein überquellender Mülleimer gequetscht, neben dem ein dicker, bärtiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht stand. Man hätte ihn glatt für einen Kapitän halten können. Er drehte sich um und fragte, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, ob sie Sabine Sanders sei. Von vorne stach auch noch eine unvorteilhaft rote Nase zwischen verquollenen Augen hervor, und die Wangen waren von geplatzten Aderchen verunziert. An der Stimme hatte Sabine sofort erkannt, dass sie Herrn Specht vor sich haben musste. Sie nickte und streckte ihm die Hand hin. Seine Pranke schüttelte sie gewaltig durch, und er schubste sie fast unsanft ins angrenzende Räumchen. „Also, der Job besteht vor allem darin, die Sachen in den Computer einzugeben, die ich unterwegs auf Band diktiere, und ab und
zu auf meinem Schreibtisch Ordnung zu machen“, kam er gleich zur Sache. Mit einem Blick auf die fast raumfüllende Arbeitsplatte, auf der sich wild durcheinander liegende Papiere, Mappen und Zeitungsausschnitte häuften, antwortete Sabine: „Der Bedarf ist offensichtlich da.“ Im ersten Moment dachte sie, der Mann könne beleidigt sein, aber er grinste gutmütig. „Zwei Nachmittage die Woche, es gibt zwölf Mark die Stunde. Wann können Sie anfangen?“ Sabine war überrascht, denn sie wusste ja, dass es noch andere Bewerber gab und hatte auch ein paar Fragen bezüglich ihrer Computerkenntnisse erwartet. „Sie meinen, ich hab’ den Job?“ „Ja. Sie sehen ja ganz patent aus, und außerdem ist es gut, was fürs Auge zu haben. Meine Kollegin wird schon einverstanden sein.“ Unverhohlen starrte der Mann sie an, ganz offensichtlich erfreut von ihrem Anblick. Eine paar Sekunden lang zog Sabine in Erwägung, einen Rückzieher zu machen, denn zwölf Mark die Stunde fand sie ein bisschen wenig, und außerdem hatte Herr Specht einen unangenehm zweideutigen Ton angeschlagen. Aber schließlich siegte doch ihre Neugier. Vielleicht konnte sie den Lokalreportern ein bisschen bei ihrer Arbeit auf die Finger schauen. „Geht es dienstags und freitags von zwei bis sechs?“, hakte der Seebär nach. „Klar, ab wann?“ „Nächste Woche?“ Ohne ihr Einverständnis abzuwarten, drängte er sie hinaus. „Aber seien Sie pünktlich.“ Mit Genugtuung schlenderte Sabine daraufhin durch die Fußgängerzone. Sie hatte zwar nicht den Contest gewonnen, aber dass ihr Aussehen ihr Türen öffnete, war ja auch ein großer Vorteil, aus dem sich noch so mancher Gewinn
schlagen lassen würde. Zur Belohnung und mit der Aussicht auf das Geld, das sie demnächst verdienen würde, gönnte sie sich in der hübschen, kleinen Boutique im Holsten-Center gleich ein sündhaft teures T-Shirt und eine Hose von Cinque, an der sie schon ein paar Mal sehnsüchtig vorbeigeschlichen war.
Mit ihren zwei Jobs und der Schule hatte Sabine ein ganz schön volles Programm. Trotzdem vernachlässigte sie darüber nicht ihr Fitnesstraining. Zweimal die Woche ging sie nachmittags ins Studio und mindestens einmal joggen. Zum Glück lief es in der Schule fast von selbst. In den naturwissenschaftlichen Fächern hatte sie zwar in der Oberstufe ein bisschen Mühe, aber da konnten ihr oft ihre großen Brüder helfen, wenn sie am Wochenende nach Hause kamen, und Deutsch und Fremdsprachen waren ihr schon immer leicht gefallen. Der Hoteljob war an sich ziemlich langweilig, aber da Matthias nach seiner Schicht oft länger blieb, um ihr Gesellschaft zu leisten, gingen die paar Stunden meist wie im Flug vorbei. Matthias war in sie verliebt. Hatte sie anfangs noch Zweifel gehabt, war es bald offensichtlich. Kaum trat sie durch die breite Eingangstür mit den vergoldeten Handgriffen, hatte er diesen ergebenen Blick im Gesicht und ließ seine Computerzeitschriften unter dem Tresen verschwinden. Es war geradezu rührend, wie er sie umsorgte. Meistens wartete schon eine Thermoskanne mit frischem Kaffee auf sie und ein Schälchen mit Betthupferl-Pralinés, die er wohl bei einem Zimmermädchen für sie ergattert hatte. Der Arme wollte anscheinend nicht begreifen, dass er nicht Sabines Typ war.
Dabei gab sie ihm mit ihrem bewusst neutralen Verhalten wirklich keinen Anlass für überzogene Hoffnungen. „Schade, dass du bald aufhörst“, sagte er im BeerdigungsTonfall. „Mit Frau Groß ist’s nicht halb so witzig wie mit dir. Die meckert immer nur an mir herum, weil irgendwelche Formulare falsch ausgefüllt sind oder die Schlüssel nicht ordentlich genug am Brett hängen.“ „Es kann ja sein, dass ihr ab und zu noch eine Vertretung braucht“, tröstete Sabine ihn, „ich bin ja nicht aus der Welt.“ Damit hatte sie Matthias offensichtlich schon zu viel Hoffnungen gemacht, denn er nickte erwartungsvoll. „Wir müssen uns ja nicht unbedingt nur bei der Arbeit sehen. Ich würde dich gerne zum Kino einladen oder zum Pizzaessen. Jetzt hast du ja mehr Zeit…“ Innerlich rümpfte Sabine die Nase. Sie hatte wirklich Besseres zu tun, als mit diesem halben Hemd auszugehen. Es wäre ja geradezu peinlich, mit so einem Pickelgesicht in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Doch sie entschloss sich, freundlich zu bleiben. Man konnte ja nie wissen, wozu das noch nütze war. „Da sehe ich schwarz. In der letzten Zeit ist die Schule bei mir echt zu kurz gekommen, und jetzt in der 12. zählen die Punkte schon fürs Abi. Ich ruf dich einfach mal an, wenn ich mehr Zeit hab’. Ich weiß ja, wo ich dich finde.“ Matthias war enttäuscht, aber er traute sich nicht zu widersprechen. Ihn hatte es schon eine große Anstrengung gekostet, in der Realschule mittelmäßig abzuschneiden. Da musste jemand, der das Abi machte, ganz bestimmt viel am Schreibtisch sitzen. Sabine nahm sich vor, ihm bei ihrer letzten Schicht ein kleines Abschiedsgeschenk mitzubringen, damit seine Bemühungen um sie nicht ganz umsonst waren. Immerhin hatte er ihr oft genug die Langeweile vertrieben.
Was ihr am meisten Spaß machte, waren die Nachmittage bei der „Norddeutschen Zeitung“. Der lästigen Pflicht des Kaffeekochens hatte sie sich schnell entledigt, indem sie entweder eine viel zu dünne Brühe oder ein viel zu starkes Gebräu fabrizierte. Die Kollegen mussten ihre Versuche, ihr die Kunst des Kaffeekochens nahe zu bringen, schon bald als gescheitert ansehen und fügten sich resigniert in die Tatsache, dass sie sich selbst darum kümmern mussten. Stattdessen bemühte sie sich, die Diktate tatsächlich gewissenhaft zu erledigen. Sie hatte sich in das Computerprogramm schnell eingearbeitet und sich ein selbst erfundenes Sechs-Fingersystem angewöhnt, mit dem sie fast so schnell tippte wie andere mit zehn Fingern. Außerdem versuchte sie, das ständig nachwachsende Chaos auf Herrn Spechts Schreibtisch in den Griff zu bekommen – ein schier aussichtsloses Unterfangen, denn wenn er einen Zettel suchte, den Sabine gerade sorgsam auf einen passenden Stapel gelegt hatte, warf er alles wieder durcheinander. Sabine ertrug dies mit stoischem Gleichmut. Beim Aufräumen versuchte sie auch immer, auf die Schnelle den Inhalt der Papiere zu erfassen und sich wichtige Namen zu merken. Es war wirklich nervenaufreibend, für Herrn Specht zu arbeiten, dachte Sabine jedes Mal, wenn sie dort war. Für einen Journalisten war er ganz schön desorganisiert, und sein Schreibtalent hielt sich auch in Grenzen, fand sie. Manchmal schoss ihr dabei der Gedanke durch den Kopf, wie sie selbst einen solchen Job angehen würde. Eigentlich wartete sie nur darauf, dass Herr Specht sie mit einem kleinen Bericht beauftragte, wenn er mal wieder einen Kater hatte. „Sabine, da steht doch etwas ganz anderes, als ich diktiert habe“, beschwerte sich Herr Specht, als er seine Reportage über die letzte Stadtratssitzung Korrektur las.
Sabine räusperte sich. „Am Inhalt hab’ ich aber nichts verändert. Ich fand nur den Ausdruck so seltsam, dass ich den Text ein bisschen verbessert hab’.“ Es war das erste Mal, dass sie sich die Freiheit genommen hatte, Herrn Specht zu kritisieren. Bei den Diktaten hatte es sie schon öfter in den Fingern gejuckt, so manche ungelenke Formulierung zu glätten oder eine der ausufernden Beschreibungen zu kürzen. „Das ist immer noch mein Artikel. Du bist zum Tippen hier, merk dir das für die Zukunft.“ Herrn Specht war es offensichtlich mehr als unangenehm, von einer siebzehnjährigen Schülerin vor die Nase gehalten zu bekommen, dass er nach Jahrzehnten Erfahrung seinen Job nicht beherrschte. Sabine setzte ein reumütiges Gesicht auf. „Wird nicht wieder vorkommen. Aber ehrlich, finden Sie es so, wie ich es gemacht hab’, nicht auch besser?“ Brummelnd musste der Seebär zugeben, dass Sabine durchaus Recht hatte. „Was halten Sie davon, mich sozusagen zu befördern. Für – sagen wir mal drei Mark mehr die Stunde, könnte ich doch die Artikel beim Eingeben gleich ein bisschen überarbeiten. Das muss ja sonst niemand erfahren.“ „Ich werd’ drüber nachdenken“, nuschelte Herr Specht in seinen Bart und vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Als er sich einen Moment unbeobachtet glaubte, nahm er einen langen Zug aus einem kleinen Flachmann, der griffbereit in der Schreibtischschublade lag, wie Sabine längst bemerkt hatte.
Sabine räkelte sich im Strandkorb und streckte die Beine von sich, um die spätsommerlichen Sonnenstrahlen am breiten Strand von Sankt Peter-Ording zu genießen, ein seltenes Vergnügen für sie. Ihre Eltern ließen sich kaum zu einem solchen Ausflug überreden. „Ich fahr’ doch nicht anderthalb
Stunden durch die Gegend, bloß um mich vollsanden zu lassen“, pflegte ihr Vater zu sagen. Heute allerdings war sie mit Lara und ihrem zwei Jahre älteren neuen Freund hier, der einen alten Käfer besaß. Seit Lara ihn kannte, war sie weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Sabine fühlte sich sträflich vernachlässigt, denn sie war es gewohnt, dass Lara ihr fast täglich die Bude einrannte. Das musste wohl echte Liebe sein, dachte sie fast verächtlich, als sie die beiden wie kleine Kinder zusammen im fußtiefen Wasser herumtollen sah. Sie schrak auf, als sich eine klitschnasse Lara neben sie in den Strandkorb zwängte, und rutschte schnell zur Seite. Volker hatte sich zu einer Schwimmrunde in die Fluten gestürzt. „Hat er dich mal von der Leine gelassen?“, erkundigte sich Sabine spöttisch. Schlotternd rubbelte sich Lara mit dem Badetuch ab. „In das kalte Wasser kriegen mich keine zehn Pferde rein, nicht mal Volker.“ „Na, das will ja was heißen!“ Sie schwiegen sich an, bis die Gänsehaut auf Laras Armen und Beinen vergangen war. „Dich kriegt man ja gar nicht mehr zu Gesicht, seit du auch noch deinen Zeitungsjob hast“, fing Lara dann an. „Genau das kann man von dir auch sagen. Du und dein Volker, ihr seid ja unzertrennlich. Abends, wenn ich Zeit hab’, bist du immer belagert.“ „Ja, aber Volker kann halt nur abends. Und mit uns zusammen was unternehmen willst du ja nicht.“ Sabine zuckte mit den Schultern. Dass die beste Freundin einen Freund hatte, mit dem man nicht das Geringste anfangen konnte, war schon eine echte Plage. Sie konnte nur hoffen, dass die beiden sich bald so auf die Nerven gingen, dass sie Schluss machten.
Eine Diskussion über Volker war sinnlos, dachte Lara. Vielleicht gab es ein anderes Thema, über das sich mit Sabine reden ließ. „Wie läuft’s denn bei der Zeitung? Ich warte immer noch auf deinen ersten Artikel.“ „Hey, ich bin da die Tippse. Was ich mache, ist im Grunde total öde. Obwohl, in letzter Zeit ging’s besser. Ich überarbeite schon die Artikel für den Specht. Der hat ja einen Stil, das zieht dir die Schuhe aus. Dass die so einen Suffkopf nicht längst abgesägt haben, wundert mich. Ich hab’ zwar nicht die Erfahrung, aber beim Schreiben stecke ich den locker in die Tasche.“ „Na also“, meinte Lara achselzuckend. Sabine fiel auf einmal wieder ein, was Lara ihr gesagt hatte, als sie vor ein paar Monaten über ihren Berufswunsch gesprochen hatten – werd doch Journalistin. Damals klang das weit hergeholt – vom Modeltraum zum Journalismus –, aber jetzt war der erste Schritt bereits gemacht, und wenn sie recht darüber nachdachte, war es gar nicht so abwegig. Komisch, dass sie nicht selbst schon längst darauf gekommen war, wie gut das zu ihr passte und ihren Karrierewünschen entsprach. Natürlich – Journalistin. Sie stellte sich vor, wie sie selbst bei exklusiven Modeschauen in Paris oder Mailand Designer interviewte oder Musikstars in ihren amerikanischen Villen besuchte, um Portraits zu machen. Was dabei herauskam, lag vor allem in der Hand des Reporters. Der saß nun wirklich am Hebel der Macht über das Denken der Leute. Als Journalistin traf man aufregende Leute, konnte sich spannende Themen heraussuchen und, wenn man sich anstrengte, bis an die Spitze aufsteigen. Vor Journalisten hatte jeder, aber auch wirklich jeder Respekt. Ja, das war’s. Sabine fiel Lara so heftig um den Hals, dass ihre Freundin fast aus dem Strandkorb purzelte. „Jetzt hast du mich aber auf etwas gebracht. Es lag mir die ganze Zeit vor den Füßen, und
ich bin fast darüber gestolpert, ohne es zu merken. Wieso habe ich nicht längst daran gedacht, selber etwas für die NZ zu schreiben. So gut wie der Specht könnte ich das schon lange.“ Lara grinste wissend. „Es kommt zwar selten vor, aber manchmal stehst du echt auf dem Schlauch. So gut wie du in Deutsch bist, und dann der Glückstreffer mit dem Zeitungsjob – was willst du mehr.“ „Jetzt kommst du aber mit zum Schwimmen, du faule Nudel“, zerrte Sabine ihre Freundin begeistert zwischen den verstreuten Strandkörben und Sandburgen hindurch ans Wasser. Ihre leichte Missstimmung war glatter Euphorie gewichen. „Wollen wir wetten, dass dein erster Artikel noch dieses Jahr erscheint?“, keuchte Lara hinterherstolpernd. Aber da gab Sabine ihr schon einen freundschaftlichen Schubs, und die Antwort ging in der kalten Nordsee unter.
„Herr Specht, Sie kennen mich ja jetzt schon eine ganze Weile und wissen, wie gut ich arbeite“, machte sich Sabine schleunigst daran, die Weichen für ihre Zukunft zu stellen. Sie hatte schon ein paar halbwegs geeignete Gelegenheiten verstreichen lassen, weil der Redakteur in letzter Zeit meistens von vornherein so schlecht gelaunt war, dass er ihrem Anliegen kein Gehör geschenkt hätte. Jetzt wollte sie einfach nicht mehr länger warten. Wer weiß, ob er jemals wieder bessere Laune bekam. So verwahrlost, wie er seit einiger Zeit herumlief, vermutete sie schon, seine Frau habe ihn verlassen. Er griff jedenfalls immer öfter nach dem Fläschchen in seiner Schreibtischschublade und ließ seinen Schreibtisch noch mehr verkommen als sonst. „Hab’ grad keine Zeit. Du siehst doch, dass ich an einem Artikel arbeite“, ließ er sie abblitzen.
Aber Sabine war nicht gewillt, ihn damit davonkommen zu lassen. Außerdem starrte er sowieso nur auf den Bildschirm, ohne etwas einzutippen. Ihm waren wohl die Ideen ausgegangen oder es hatte ihm die Sprache verschlagen. „Könnten Sie mich nicht auch mal zu einem Termin schicken, statt mich immer nur vor dem Computer sitzen zu lassen? Ich würd’ schon gern mal einen Artikel schreiben!“ „Für so was haben wir Redakteure, Mädchen, kommt gar nicht in Frage.“ „Genau das ist der Punkt. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht für die Zeitung, wenn mal jemand Junges rangelassen wird.“ „Keine Diskussion. Ich habe nein gesagt“, brummelte Specht. Enttäuscht wandte Sabine sich ab. Da war wohl nichts zu machen. Wer selber auf einem angesägten Ast sitzt, wird den Teufel tun und sich noch seine Konkurrenz aufbauen, dachte sie bei sich. Abbringen lassen würde sie sich von ihrem Vorhaben nicht. Sie musste nur einen anderen Weg finden, es zu verwirklichen.
Etwas atemlos kam Sabine ins Fitnesscenter, wo Lara schon auf sie wartete. Sie zeigte mit beiden Daumen nach oben. „Es hat geklappt“, verkündete sie mit einem verschwörerischen Blick. „Genial. Und, wie hast du’s angestellt?“ „Wie geplant. Ich hab’ gewartet, bis der Specht in die Mittagspause ist, seine paar Bierchen zischen, und dann seinen Schreibtisch aufgeräumt. Er meinte zwar, das sei noch nicht wieder nötig, aber was hat der schon für eine Ahnung. Jedenfalls hat es bei seinem Chaos ganz schön lange gedauert, bis ich die Berichterstatter-Ausweise gefunden hab’.“ „Wenn der wüsste“, grinste Lara. „Zeig mal her!“
Sabine hielt ihr den grauen Ausweis vor die Nase, in dem auf der linken Seite ein Foto von ihr prangte. „Sabine Sanders, Lokalredaktion“, las Lara laut. „Sag mal, und wie bist du zu dem Zeitungsstempel gekommen?“ „Na ja, ich hab’ den Moment abgepasst, in dem die Sekretärin kurz draußen war, und dann schnell den Stempel draufgemacht. Normalerweise klebt die ja an ihrem Platz. Das war eigentlich das Schwierigste an der ganzen Sache. Und, was meinst du, lassen die mich damit rein?“ „Ist doch perfekt. Sieht total echt aus!“ „Und das Diktiergerät habe ich mir auch noch ausgeliehen!“, berichtete Sabine triumphierend. „Ob der Frisörwettbewerb im Theater das Richtige ist, da bin ich mir nicht so sicher“, überlegte sie dann, „aber es gibt gerade nichts Besseres. Zu den politischen Veranstaltungen geht der Specht selbst hin, die Vereinsangelegenheiten sind sowieso langweilig, und der Rest hat im Lokalteil keine Chance.“ „Es kommt doch vor allem drauf an, was du daraus machst“, beruhigte ihre Freundin sie. „Aber sag mal, wozu brauchst du eigentlich so einen Ausweis. Meinst du, jemand kontrolliert dich?“ „Das vielleicht nicht, aber in meinem Alter nimmt mich doch sonst niemand ernst! Die denken noch, ich komm von der Schülerzeitung.“ Lara nickte bedächtig. „Komm, lass uns jetzt endlich trainieren, sonst roste ich hier noch ein.“ Seit Sabine den Plan ausgeheckt hatte, auf eigene Faust einen Artikel zu schreiben, war ihre Power gleich um das Doppelte angestiegen. Sie hatte sich ausgerechnet, dass Herr Specht, wenn sie ihn vor vollendete Tatsachen stellte, kaum noch nein sagen konnte. Einen Ausweis zu fälschen war zwar nicht die feine Art, aber sie sah keine andere Möglichkeit,
ihren Plan in die Tat umzusetzen. Schließlich brauchte man ein offizielles Dokument, um die Leute zum Reden zu bringen.
Am Sonntag darauf saß Sabine stundenlang am Computer und versuchte Pfiff in ihren Artikel zu bekommen. Sie hatte sich gründlich vorbereitet, um professionell auftreten zu können. Als Erstes hatte sie ein paar Frisurenzeitschriften durchgearbeitet, um sich in den Jargon einzulesen, und dann eine ganze Liste von Fragen vorbereitet, auf die sie zurückgreifen konnte, falls ihr spontan keine guten einfielen. Zu ihrem Glück war der Landeswettbewerb der Frisörinnung nicht ganz so langweilig gewesen, wie sie befürchtet hatte. Die Teilnehmer hatten zwar endlos lang an ihren Modellköpfen herumgemacht, aber in der Zeit war es ihr gelungen, ein paar der Juroren nach den Bewertungskriterien zu fragen und mit ein paar Modellen zu sprechen, die gerade reglos unter Trockenhauben saßen, bis die Farben oder Dauerwellmittel eingezogen waren. Sabine hatte sich selbst gewundert, wie leicht es war, ein Interview zu bekommen. Anscheinend empfand es jeder als eine Auszeichnung, von einem Journalisten als Gesprächspartner auserkoren zu werden. Die Eitelkeit machte die Leute gefügig. Zum Schluss hatte sie sogar den Gewinnern ein paar Fragen stellen können, die bereitwillig über ihre Kreationen und ihre Perspektiven geplaudert hatten. „Kann ich jetzt endlich wieder an meinen Computer?“, maulte Alex schließlich. „Ich muss für die FH bis Mittwoch noch ein Projekt fertig kriegen und bin sowieso viel zu spät dran.“ „Ach bitte, lass mich doch noch ‘ne Weile arbeiten“, bettelte Sabine. „Ich will den Artikel bis morgen fertig haben, sonst ist das alles kalter Kaffee.“
Aber Alex blieb unerbittlich. „Du kannst ja heute Abend wieder, da gehe ich ins Kino.“ Murrend speicherte Sabine ihre Datei ab und gab den Platz vor dem PC frei. Dann würde sie eben endlich mal duschen. Das hatte sie sich nämlich am Morgen gespart, so eifrig hatte es sie an die Arbeit getrieben. Sabine ließ das heiße Wasser auf sich prasseln und trällerte irgendwelche Melodien vor sich hin. Sie war mit sich zufrieden, weil sie sich nicht von diesem Säufer Specht kleinkriegen ließ. In Gedanken ging sie ihren Artikel noch mal durch, in dem sie versucht hatte, die neuesten Trends möglichst anschaulich und in lockerer Sprache zu beschreiben. Doch als sie vor dem Spiegel stand und ihre widerspenstigen Haare in Form zu bringen versuchte, hielt sie plötzlich inne. „Ich hab’ es falsch angepackt“, murmelte sie, denn sie hatte gerade einen großen Denkfehler entdeckt. „Es ist völliger Blödsinn, die Trends zu beschreiben, wenn die modeinteressierten Leserinnen das schon längst in der „Brigitte“ oder „Freundin“ gelesen haben. In der Hinsicht nahmen die Leser den Lokalteil der Zeitung sowieso nicht ernst. Was ihr fehlte, war der Bezug zur Region, der den Lesern noch etwas Neues vermittelte. Es musste etwas sein, womit die Leute sich identifizieren konnten. Aber was konnte das sein? Sie machte es sich auf ihrem Bett bequem, ging ihre Notizen noch mal durch und hörte sich die Bänder zum dritten Mal an. Wenigstens hatte sie genug Material zusammen, um gleich mehrere Artikel zu schreiben – aber was sollte sie als Aufhänger nehmen? Ungeduldig trommelte sie mit den Fingerspitzen auf ihren Block und wartete auf eine Inspiration. Da brachte sie das Interview mit einer der Gewinnerinnen auf eine Idee. Diese Michaela zum Beispiel träumte davon, einen Job bei Toni & Guy, einer internationalen Frisörkette, zu
bekommen, die zu den Trendsettern auf dem Gebiet gehörte. Wer dort arbeitete, wurde regelmäßig zu Fortbildungen nach London geschickt und konnte es innerhalb der firmeneigenen Hierarchie weit bringen. Das war’s! Na klar, es mussten Erfolgsstorys werden: die Geschichten junger Leute vom Land, die ihr großes Glück machen wollten. Mit solchen Träumen konnte man die Leser packen – ein bisschen Atmosphäre, ein bisschen Mode und die persönlichen Schicksale, die damit zu tun hatten. Damit musste es klappen. Mit neuem Eifer machte sich Sabine an die Arbeit, als Alex endlich den PC wieder freigab. Spät abends betätigte sie mit einer ausholenden Bewegung, die ihre ganze Zufriedenheit ausdrückte, die Speichertaste. Ihr Artikel konnte sich sehen lassen.
Am Montag nach der Schule ging sie geradewegs in die Redaktion, einen Ausdruck ihres Artikels und die Diskette griffbereit in ihrer Tasche. Beschwingt begrüßte sie den wie immer muffigen Herrn Specht. „Lesen Sie das mal. Ich finde, das passt ganz toll in den Lokalteil“, flötete sie, unberührt von seinem lustlosen Blick. „Wenigstens reinschauen sollten Sie mal“, beharrte sie, als er keine Reaktion zeigte. Widerwillig nahm Herr Specht den Ausdruck in die Hand und überflog die erste Seite. Anscheinend hatte der Artikel ihn doch gepackt, denn dem Rest schenkte er seine volle Aufmerksamkeit. „Das ist gar nicht schlecht“, gab er zu. „Könnte man tatsächlich bringen. Wer hat denn das geschrieben?“, erkundigte er sich. „Na ich natürlich!“ „Aha, Und wie bist du da reingekommen? Meines Wissens war das eine geschlossene Veranstaltung.“
„Ach, eine Freundin von mir hat da mitgemacht. Von der habe ich eine Einladung bekommen“, sagte Sabine schnell. Dass sie sich mit einem falschen Ausweis hineingemogelt hatte, durfte auf keinen Fall auffallen, sonst bekam sie großen Ärger an den Hals. „Okay, ich frag’ mal nach, ob wir für morgen noch ein kleines Plätzchen frei haben“, versprach Herr Specht zögerlich. „Ich kürze den Text dann entsprechend zusammen.“ „Was? Aber da kann man doch nichts dran streichen“, protestierte Sabine. „Also, du musst dir überlegen, was du willst. Soll er nun erscheinen oder nicht?“ „Okay“, fügte sie sich in ihr Schicksal. Besser eine gekürzte Version als gar keine.
Gleich in der ersten Stunde breitete Lara groß die Zeitung auf dem Pult aus. Auf der vorletzten Seite des Lokalteils stand der einspaltige Artikel von Sabine. Sie war stolz auf ihre Freundin. Doch Sabine machte ein deprimiertes Gesicht und ließ ihren Rucksack achtlos auf den Boden fallen. „Stimmt was nicht?“, erkundigte sich Lara. „Na, guck dir den Artikel doch mal an. Ich habe mindestens doppelt so viel geschrieben. So eine Frechheit, das alles wegzukürzen. Die halbe Arbeit umsonst!“ Lara zuckte die Schultern. „Für deinen ersten doch nicht schlecht. Vielleicht hatten die einfach nicht genug Platz!“ „Es gab genug langweiliges Zeug, das man hätte rausschmeißen können“, klagte Sabine. „Und mein Name steht auch nicht drunter, nur das Kürzel SaS.“ „Ach komm, beim nächsten hast du mehr Glück. Ich bin jedenfalls stolz auf dich.“
Sabine verdrehte die Augen und holte ihr Mathezeug aus der Tasche. Bis zur großen Pause war jedoch ihr Anflug von Missmut fast verflogen, und sie überlegte mit Lara, womit sie ihren nächsten Coup landen konnte. Immerhin hatte sie einen Anfang gemacht.
Der Zufall kam Sabine zu Hilfe, denn an einem sonnigen Oktobervormittag lief ihr in einer Freistunde in der Fußgängerzone Matthias über den Weg. Da sie nichts Besseres zu tun hatte, ließ sie sich zu einer Tasse Kaffee überreden. „Seit die Groß wieder da ist, macht die Arbeit nur noch halb so viel Spaß“, jammerte Matthias. „Kann ich mir denken“, meinte Sabine mitleidsvoll. Sie konnte sich schon vorstellen, dass er sie vermisste, verliebt, wie er in sie war. „Und außerdem hast du versprochen, mal anzurufen“, kam es vorwurfsvoll und flehend zugleich von Matthias. Um der Antwort aus dem Weg zu gehen, fragte Sabine ihn in neckischem Ton: „Ist denn nichts Interessantes los im Hotel? Kommen da nicht mal ein paar Promis vorbei, über die du dann schräge Geschichten erzählen kannst?“ Matthias wollte schon den Kopf schütteln, da fiel ihm etwas ein, und er prahlte: „In letzter Zeit waren hauptsächlich langweilige Geschäftsleute da, aber rate mal, wer demnächst bei uns absteigt!“ „Keine Ahnung.“ Sabine konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendeine wichtige Person in das norddeutsche Städtchen zog. „Die Greenhorns, du weißt schon, diese Boy-Group, bei der alle kleinen Mädchen gleich ausrasten und mit Teddybären um sich schmeißen.“ „Das ist ja ein Ding!“ Sabine wurde gleich hellhörig. Nicht, dass sie sich besonders für die Musik interessiert hätte, aber
die Greenhorns waren immerhin bekannt genug, um wirklich Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn sie darüber einen Artikel machen könnte! Aber die Zeitung hatte bestimmt längst einen der Redakteure darauf angesetzt. Eine Anfängerin wie sie würden sie auf eine so prominente Band sicher nicht loslassen. „Weißt du was Näheres über das Programm?“, fragte sie. „Nur dass mordsmäßig viele Security-Leute rumschwirren, um die vielen Fans abzuwimmeln. Die Groß hat sich nämlich über den ganzen Papierkram deswegen beschwert. Vor allem die Pressekonferenz soll komplett vor den Fans abgeschirmt werden, damit die nicht das Hotel stürmen.“ „Aha, wann ist denn die Pressekonferenz?“ „Ich glaube nachmittags vor dem Konzert.“ Sabine nickte nachdenklich. Ob es wohl möglich war, sich unauffällig unter die Presse zu mischen? Allerdings bestand die Gefahr, dass ein echter Redakteur sie erkannte und ihr kleiner Schwindel mit dem Ausweis aufflog. Das konnte sie sich auf keinen Fall leisten. Aber immerhin kannte sie Matthias, der ihr vielleicht helfen konnte, ein kleines Privatinterview zu bekommen. Sie rückte ein wenig näher an ihn heran und sah ihm tief in die Augen. „Könntest du mir einen kleinen Gefallen tun? Ich würde unheimlich gerne die Jungs mal von nahem sehen und um ein Autogramm bitten. Ohne deine Hilfe komme ich aber nicht an sie ran. Meinst du, du könntest mich an den Sicherheitsleuten vorbeischleusen?“ „Hm, da könnte ich ganz schön Ärger an den Hals kriegen“, meinte Matthias zweifelnd. „Es braucht doch keiner zu merken.“ Zumindest die Zeitungsleser würden es nicht merken, dachte Sabine. Matthias sah unschlüssig aus. „Pass auf, danach gehen wir zusammen mal einen Abend richtig schön aus!“, lockte Sabine mit einem Augenaufschlag.
Wie erwartet konnte Matthias diesem verheißungsvollen Angebot nicht widerstehen. „Okay, ich werd’ tun, was ich kann“, versprach er. Sabine grinste in sich hinein.
„Mach schnell“, scheuchte Matthias sie aufgeregt die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo die Suite der Greenhorns lag. Dem Bodybuilder-Typ, der am Aufgang wachte, hatte er erklärt, Sabine gehöre zum Hotelpersonal, sie habe eine Sonderschicht. So abwegig war das ja nicht, beruhigte er sich, denn schließlich hatte sie ja wirklich mal im Hotel gearbeitet. Sabine hatte eine ganze Weile im Büro hinter der Rezeption herumgesessen und gewartet, bis Matthias ihr ein Zeichen gab, dass ein günstiger Zeitpunkt gekommen war. „Ich glaub’, jetzt hängen die nur so rum, keine Probe und keine Besucher oder so. Der Manager ist auch weg.“ Einen Moment später stand Sabine allein auf dem Flur, an dessen Ende die Luxussuite lag. Matthias hatte sich diskret zurückgezogen. Sie hatte die Hand schon erhoben, um anzuklopfen, da hielt sie inne. Sie war ganz schön nervös. Ob sie es schaffen würde, die Jungs in ein Gespräch zu verwickeln? Schlimmstenfalls knallten sie ihr die Tür vor der Nase zu, tröstete sie sich. Sabine schaute noch einmal an sich herunter: Sie trug ihr knappstes Minikleid, in dem sie bei den herbstlichen Temperaturen zwar fror, aber ziemlich sexy aussah. Dann strich sie die Haare hinters Ohr, atmete tief durch und klopfte laut hörbar an. Ein hübscher Junge, der eine Baseballkappe mit Schirm nach hinten aufhatte und ein T-Shirt mit Band-Aufdruck trug, machte die Tür auf und sah sie gelangweilt an. „Ja?“ Es war Andy, der Sänger, erkannte Sabine gleich. Von nahem sah er noch jünger aus als auf Fotos, und hinter dem arroganten
Ausdruck, den er wohl für offizielle Fototermine aufsetzte, kam ein unselbstständiger, fast schüchterner Jüngling zum Vorschein. „Ah, hallo, ich bin Sabine Sanders von der Norddeutschen Zeitung. Tut mir Leid, dass ich zu spät komme“, erklärte Sabine. Der Junge runzelte die Stirn und drehte sich um. „Wisst ihr was von ‘nem Pressetermin?“, rief er in den Hintergrund. „Nö. Außer der Pressekonferenz ist da, glaub’ ich, nichts geplant“, antwortete eine helle Stimme, die Sabine als John identifizierte – obwohl es eine deutsche Band war, hatten die Jungs sich englische Künstlernamen gesucht. Das kam anscheinend bei den Fans besser an. Noch bevor Andy eine Entscheidung fällen konnte, rief Sabine aus: „Wie konnte denn das passieren? Euer Manager hat mir fest zugesichert, dass ich heute um halb sieben ein Exklusivinterview mit euch machen kann. Ich wüsste gar nicht, was ich unserer Chefredaktion sagen sollte, wenn ich ohne was zurückkäme.“ „Aber wir geben nur Interviews, wenn unser Manager dabei ist“, sagte Andy, immer noch verwirrt. Sabine biss sich auf die Lippen. „Die reißen mir den Kopf ab. Das sollte meine erste große Geschichte werden, und ich hab’ echt darum gekämpft, weil ich so ein Fan von euch bin. Könnt ihr nicht mal ‘ne kleine Ausnahme machen?“ Sie gab sich Mühe, zerknirscht auszusehen. Wenn diese Masche nicht zog, wusste sie auch nicht mehr weiter. Andy verschwand wieder in der Suite, um sich mit seinen Bandkollegen zu besprechen und kam nach ein paar Minuten, die ihr endlos vorkamen, zurück: „Na gut, in einer halben Stunde müssen wir noch mal zur Probe, so lange kannste uns ein paar Fragen stellen.“
Zähneknirschend wählte Herr Specht die Nummer der Layoutabteilung. „Macht mal gleich für morgen eine Viertelseite frei.“ Nach einer Pause, in der wohl Protest von seinem Gesprächspartner kam, meinte er: „Natürlich geht das. Schieb einfach den Artikel über die Gemüseernte in die nächste Woche, und die Sache über den Versicherungsbetrug kürzen wir – nein, kann man nicht verschieben. Der Artikel über die Greenhorns muss brandaktuell sein – in einer halben Stunde kriegt ihr die Datei.“ Herr Specht knallte den Hörer auf und verschränkte die Arme. Er sah Sabine streng an. Wie ein Spatz, der sich aufplustert, dachte Sabine, oder eher wie ein Specht. Bei der Vorstellung musste sie fast laut lachen. Sie war gespannt, was jetzt kam. „Das ist aber nicht von dir“, hatte Herr Specht gesagt, nachdem er ihren Artikel überflogen hatte. „Wenn’s nicht von mir wäre, säße ich wohl kaum hier“, hatte sie geantwortet. „Also, wie du das geschafft hast, an die ranzukommen, möchte ich gern mal wissen. Unsere Sekretärin hat sich den Mund fusselig geredet, um ein Einzelinterview zu kriegen, und nichts erreicht.“ Vielsagend hatte Sabine die Augenbrauen verzogen. „Man muss halt wissen wie!“ Immer noch musterte Specht sie eindringlich. Dann räusperte er sich. „Für den Anfang bist du gar nicht schlecht. Muss ich wirklich zugeben. Aus dir kann mal was werden. Ich mach dir also das Angebot, dass du als freie Mitarbeiterin ab und zu einen Artikel abliefern kannst. So jemanden können wir schon gebrauchen, gerade wenn wir jüngere Leser gewinnen wollen. Aber nicht, dass du jetzt gleich überschnappst. Wenn ich dich zum Taubenzüchterverein schicke, dann kriege ich auch einen
Artikel darüber, selbst wenn es dich nicht im Geringsten interessiert, verstanden?“ Es musste ihm ja ganz schön schwer gefallen sein, offen anzuerkennen, dass sie gut war. Sonst würde er nicht so verzweifelt seine Macht demonstrieren, dachte Sabine. Aber was für Gefühle er hatte, interessierte sie im Grunde herzlich wenig, Hauptsache, sie konnte jetzt offiziell für die Zeitung schreiben. Das mit dem Taubenzüchterverein würde sie ihm schon noch austreiben. Jetzt war sie endlich auf dem richtigen Weg, das spürte sie. Wenn sie erst mal eine Zeit lang für das Provinzblatt geschrieben hatte – bis sie das Abi hatte, hing sie sowieso in Itzehoe fest –, konnte sie durchstarten, und zwar bei einer richtig guten Zeitschrift. Für sie gab es gar keine Frage, welche das war: die „Femme“.
4
„Mit deinen Noten bist du beim Abi bestimmt unter den ersten zehn“, meinte Ellen zu Sabine, als sie und Lara und ein paar zusammengewürfelte Freundinnen und Mitschülerinnen in der Kneipe saßen und ihre Zukunftspläne diskutierten. Die meisten von ihnen hatten vor zu studieren, andere wussten noch nicht genau, was sie wollten. „Ich kann einfach nicht verstehen, dass du mit dem Abi nicht studieren willst.“ Sabine wedelte mit einem Bierdeckel in der Luft herum, um den Rauch zu vertreiben, den ihre Sitznachbarin ihr ins Gesicht pustete. „Also erstens können meine Eltern mir kein Studium finanzieren. Wir leben halt nicht wie die Made im Speck – und zweitens sehe ich da nicht viel Sinn drin.“ „Aber überleg mal! Frau Doktor Sanders, die große Chirurgin – oder Anwältin, das könnte auch zu dir passen. Da hättest du später mordsmäßig Kohle und ‘nen total anerkannten Beruf, in dem du was bewegen kannst. Ohne Studium bringst du’s sowieso nicht weit“, meinte Ellen. „Mach dir doch nichts vor. Als Ärztin musst du aufpassen, dass sie dich nicht ständig mit der Stationsschwester verwechseln, und die Nachbarschaftsstreitigkeiten von irgendwelchen Spießern interessieren mich auch nicht die Bohne. Mit sechsundzwanzig, wenn ihr eure erste Stelle sucht, bin ich schon ganz groß rausgekommen, das versprech’ ich euch. Und ob ihr dann gleich ‘nen Job findet, ist ‘ne ganz andere Frage“, verkündete Sabine, ganz überzeugt von sich selbst. „Stimmt“, mischte sich Lara ein. „Ich war neulich zur Berufsberatung beim Arbeitsamt, die raten einem von allem
ab, außer vielleicht Elektrotechnik und Sonderschulpädagogik.“ „Also ich mach’ eine Banklehre“, erklärte Mareike. „Das ist ein krisensicherer Job mit vernünftigen Arbeitszeiten, und man verdient nicht schlecht.“ „Ich finde, Lehrerin ist ein klasse Beruf, der sich außerdem gut mit einer Familie vereinbaren lässt, wenn man mal Kinder hat“, meinte Anja und sah in stillem Einverständnis zu Mareike rüber. Sabine warf den beiden einen verächtlichen Blick zu. „Ist das etwa alles, was ihr vom Leben erwartet – so ein kleines Glück mit zwei Blagen, Einfamilienhaus und Passat vor der Tür? Da bist du doch ein Niemand! Also das würde mir nicht genügen!“ „Ach, willst du vielleicht was Besseres sein?“, fragte Mareike bissig, denn sie konnte Sabine ohnehin nicht besonders leiden. „Na klar. Wenn ich erst mal bei der ,Femme’ bin, lesen Hunderttausende meine Artikel. Ich treffe Leute, von denen ihr nicht mal träumt, und wenn ich ‘ne Modeseite mache, laufen garantiert ‘ne Woche später eine Menge Frauen mit den Klamotten rum, die ich empfohlen hab’.“ „Bloß weil du für so ein Käseblatt wie die NZ ein paar Artikelchen geschrieben hast, heißt das noch lange nicht, dass du Chancen bei einer so großen Zeitschrift hast. Du landest wahrscheinlich bei ‘ner Stadtzeitung in irgendeinem bayrischen Kaff!“, meinte Mareike boshaft. Sabine grinste überlegen. Sie hatte nie verstanden, warum Mareike ihr gegenüber so unfreundlich war, aber jetzt hatte sie begriffen. Mareike war schlicht und einfach neidisch auf ihren bisherigen Erfolg. Sie war halt selbst nicht zu Höherem berufen und missgönnte es anderen, dass sie mehr draufhatten. Im Grunde freute sich Sabine über den Neid, denn er bestätigte sie. Man musste die anderen doch nur mal ansehen, dann wusste man Bescheid. Wer in Fleece-Pullovern und
Regenjacke rumlief, der konnte keine höheren Ambitionen haben. So einem Pummelchen wie Mareike oder Anja mit ihrer Hakennase blieb ja gar nichts anderes übrig, als sich mit einer mittelmäßigen Existenz abzufinden und über alle herzuziehen, die nicht in das klein karierte Weltbild passten. Wer Erfolg hatte, konnte nicht nur Freunde haben, dachte Sabine mit einem unwillkürlichen Nicken. Wenn die anderen wüssten, dass sie drauf und dran war, eine Volontariatsstelle bei der „Femme“ anzutreten, würden sie sich mit ihren Unkenrufen ein bisschen zurückhalten. Gerade letzte Woche hatte Sabine ihre Bewerbung an die „Femme“ abgeschickt, samt einer Mappe mit den sorgfältig geordneten Kopien ihrer besten Artikel aus zwei Jahren freier Mitarbeit bei der NZ. Sabine hätte jeden Pfennig darauf verwettet, dass sie die Stelle bekam, und rechnete praktisch täglich mit einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch.
Der Zug der Abiturienten aller Gymnasien rollte wie eine gewaltige Woge durch die engen Straßen der Innenstadt. Endlich von der Bürde der Schule befreit, tobten die Jungs und Mädchen ausgelassen herum. Sie hatten sich wild verkleidet und zogen mit schrillem Pfeifen, Rasseln und Getrommel die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich, die in Hauseingänge, Ladengeschäfte und Hintergassen geflüchtet waren. Siegreich streckten einige ihre Feuerzeuge in die Luft und sangen lauthals „We don’t need no education“. Am lautesten jubelten die, die am wenigsten Grund dazu hatten, ging es Sabine durch den Kopf, die im letzten Drittel des Zuges mittrottete. Die Loser, die das Abi mit Ach und Krach geschafft hatten und sich jetzt aufführten wie die geistige Elite der Republik. Aber ihr selbst, obwohl sie mit ihrem Abidurchschnitt von 1,9 – mit dem sie immerhin zum
besten Drittel gehörte – genug Anlass zur Freude gehabt hätte, war nach allem anderen als Feiern zu Mute. Sabine tastete nach dem Briefumschlag in der Seitentasche ihrer taillierten Jeansjacke. Der zerfetzte Rand des hastig aufgerissenen Umschlags erinnerte sie nur allzu schmerzlich an die unerwartete Schmach. Der Brief enthielt in ein paar knappen Sätzen, die keinen Aufschluss über den Grund der Entscheidung gaben, die Absage der „Femme“ für das Volontariat. Als der lang ersehnte Brief am Morgen im Briefkasten gelegen hatte, hatte Sabine vor Freude ein Küsschen draufgedrückt und ihn, während sie die Treppe zu ihrem Zimmer hochstürmte, mit dem Zeigefinger aufgeschlitzt. Im ersten Moment hatte sie gar nicht begriffen, welchen Sinn die aneinander gereihten Wörter ergaben, so verdattert war sie. Erst nach dem zweiten und dritten Lesen wurde ihr klar, dass eingetreten war, was gar nicht eintreten konnte. Sie war abgelehnt worden. Und das, obwohl sie in dem Bewerbungsgespräch alles gegeben hatte. Außer ihren Eltern hatte sie noch niemandem von der Absage erzählt. Selbst bei Lara konnte sie nicht sicher sein, dass sie dichthielt. Sabine wollte auf jeden Fall vermeiden, dass es sich wie ein Lauffeuer bei ihren Freundinnen und Bekannten herumsprach, dass die Bewerbung in die Hose gegangen war. Den Triumph würde sie einer Mareike oder einer Anja nicht gönnen, schon gar nicht am Tag der Abifeier. Hätte sie bloß nicht so angegeben, dann müsste sie jetzt nicht so tun, als sei alles in Butter, während die anderen in echter Begeisterung durch die Straßen tanzten. Sabine zwang sich zu einem fröhlichen Gesicht und stimmte laut in das Gegröle ihrer Mitschüler ein: „We are the Champions – of the World“.
Abends lag Sabine lange wach im Bett und drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Sie hatte bei der Abifeier zwar weit weniger Sekt getrunken als die meisten, aber dennoch fühlte sie sich ein bisschen beschwipst, so als stünde sie neben sich. Der Brief von der „Femme“ wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Mühsam versuchte sie, objektiv darüber nachzudenken, aber sie kam immer wieder auf dieselbe Antwort: Es musste sich um einen großen Irrtum handeln. Vielleicht hatten sie einfach die Adresse verwechselt, oder ihre Bewerbung war gar verloren gegangen. Jedenfalls kam es nicht in Frage, dass sie sich mit der Entscheidung klaglos abfand oder gar aus lauter Frustration das Angebot der NZ für ein Volontariat annahm. Dafür hatte sie sich nicht abgemüht zusätzlich zur Schule. Sie wollte das Volontariat bei der „Femme“ – und wenn sie den Chefredakteur persönlich davon überzeugen musste, dass sie die Richtige für den Job war. Was im ersten Moment nur ein trotziger Gedanke gewesen war, erschien ihr am nächsten Morgen als prima Idee. Warum sollte sie nicht versuchen, bis zu ihm vorzudringen, um sich noch einmal vorzustellen? Was wussten die Personalsachbearbeiter schon, wer am besten auf die Stelle passte. Das letzte Wort sprach garantiert der Chefredakteur. Sie spielte in Gedanken mehrmals durch, wie sie es anstellen würde – und schon sah die Welt nicht mehr halb so düster aus wie am Vortag.
Sabine und Lara klapperten am darauf folgenden Samstag in Hamburg die Geschäfte ab. Nach der Abifeier hatte Sabine ihrer Freundin doch noch gebeichtet, dass man sie bei der „Femme“ abgelehnt hatte, und sie überredet, mit ihr nach einem passenden Outfit zu suchen.
Lara hatte den Vorhang zur Umkleidekabine einen Spalt weit geöffnet und begutachtete das rote Samt-Minikleid, das Sabine gerade übergestreift hatte: „Ich finde, das sieht mehr nach Ballgarderobe aus.“ „Aber es soll doch auch ein bisschen sexy aussehen“, widersprach Sabine. „Klar, aber business-like auch. Zieh doch noch mal den dunkelblauen Nadelstreifen-Anzug an. Es muss ja nicht ‘ne weiße Bluse dazu sein, sondern vielleicht das rote Top da.“ Sabine gehorchte und wiegte abschätzend den Kopf hin und her. „Ich weiß nicht, irgendwie langweilig, zu konservativ. Es muss was Supertrendiges sein, damit ich nicht ankomme wie ein Landei, das die letzten zehn Jahre hinterm Mond gelebt hat.“ „Und wenn du doch den cremefarbenen Blazer mit der Goldbrokathose nimmst?“ „Hm“, meinte Sabine unentschieden. „Am besten hat mir ja die Kombination von Kenzo gefallen, vorhin in der kleinen Boutique. Aber das kann ich mir auf keinen Fall leisten. Reiche Eltern müsste man haben! Ich sag dir, irgendwann will ich mir so was von meinem eigenen Geld kaufen können!“ „Dann gucken wir halt weiter, bis du das Richtige gefunden hast! Irgendwo wird es ja was geben, was auch erschwinglich ist.“ Nach vielem Hin und Her in einer ganzen Reihe von Geschäften hatte sich Sabine endlich entschieden – ein buntes Top mit Siebziger-Jahre-Muster, eine eng anliegende dunkelblaue Hose, die dazugehörige, kurze Jacke mit vielen Taschen und hohe Schuhe mit breiten Absätzen. Bereitwillig legte sie das Geld auf die Theke. Mit der Aussicht, bald einen Job zu haben, fiel ihr das nicht schwer.
In der nächsten Woche setzte sich Sabine wieder in den Zug nach Hamburg. Mit ihren frisch auf Schulterlänge geschnittenen Haaren sah sie älter aus als 19 Jahre, und in ihrem Outfit fühlte sie sich gleich viel stärker und bedeutender als im üblichen Jeans-Look. Eine schwarze Aktentasche, die sie von ihrem ältesten Bruder ausgeliehen hatte, hielt sie wie einen Schild vor sich. In ihrem Blick lag kalte Entschlossenheit, als sie die schwere Glastür des postmodernen Gebäudes aufstieß. Die Empfangssekretärin, die in der riesigen, fast leeren Halle an ihrem Schreibtisch ganz winzig aussah, warf ihr einen fragenden Blick zu: „Kann ich Ihnen helfen?“ „Danke, ich weiß, wo ich hin muss – ich werde erwartet.“ Und mit einem Blick auf die Uhr schob sie hinterher: „Oh Gott, ich bin schon spät dran.“ Dann hastete sie auf den Aufzug zu. Sekunden später öffnete sich gespenstisch leise die Schiebetür und sie trat hinein, bevor die Empfangssekretärin Verdacht schöpfen konnte, weil sie zu lange die Etagenschilder studierte. Uff, die erste Hürde hatte sie genommen. Der Chefredakteur hat bestimmt ganz oben sein Büro, dachte sie und fuhr bis zum fünften Stockwerk hinauf. Die Annahme schien zuzutreffen, denn als sie aus dem Aufzug kam, versanken ihre Füße förmlich in dem flauschigen Teppichboden, der alle Geräusche zu verschlucken schien. Selbst die modernen Gemälde an den Wänden des Flurs sahen teuer aus. Sabine wanderte den Gang entlang und schielte möglichst unauffällig auf die Namensschilder, die unter den Zimmernummern standen. „Was machen Sie denn hier?“, sprach sie plötzlich jemand von hinten an, ohne dass sie vorher Schritte gehört hatte. „Ah, Entschuldigung. Ich habe einen Termin bei Herrn Dr. Bartels.“ Sabine sah irritiert auf ihr aufgeschlagenes Notizbuch. „Das verstehe ich nicht. Ich hab’ mir extra Zimmer
504 aufgeschrieben, das muss ein Versehen sein. Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich hin muss?“ Zum Glück hatte sie sich eine Nummer gemerkt, die zu einem anderen Namen gehörte. „Nein, Zimmer 510, die breite Tür am Ende des Gangs“, half die nach Sekretärin aussehende Frau ihr weiter. „Ich dachte, der Termin sei verlegt – schön, dass Sie es doch noch geschafft haben.“ „Danke“, wunderte sich Sabine und strebte auf das Büro des Chefredakteurs zu, bevor sie noch weiteren Sekretärinnen auffiel. Jetzt wurde es ernst. Sabine zupfte noch einmal Jacke und Haare zurecht, setzte ein strahlendes Lächeln auf und klopfte an. „Herein.“ Sabine merkte, wie ihr Herz in die Hose sackte, als sie die Schwelle übertrat. Vor ihr saß an einem riesigen Schreibtisch, auf dem außer einen paar Vorlagemappen, einem Telefon und einem Laptop nichts herumlag, ein Mann Ende vierzig, der auch sitzend imposant wirkte. In seinen Augen blitzte sekundenlang Irritation auf. „Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt“, begrüßte er Sabine. Sabine sah ihn entschuldigend an. „Ich bin sicher nicht die, für die Sie mich halten, aber wenn Sie kurz Zeit für mich hätten…“ „Äh, wenn Sie nicht Frau Hartung von der Unternehmensberatung sind, wenden Sie sich bitte an meine Sekretärin. Sie wird entscheiden, ob ein Termin frei ist. Es ist bei uns nicht üblich, einfach so hereinzuplatzen“, bemerkte er tadelnd und sah ungeduldig auf die Uhr.
Jetzt musste sie schnell etwas sagen, was ihn packte, bevor er sie vor die Tür setzen konnte. Sabine überlegte, ob es klug war, mit der Absage anzufangen, entschied sich aber dagegen. Niederlagen sollte man besser verschweigen. „Ich gebe zu, mein Vorgehen ist etwas unkonventionell, aber ich möchte Ihnen kurz ein paar Unterlagen zeigen, die Ihnen über mich Auskunft geben. Wie Sie gleich sehen, habe ich früh angefangen, mich journalistisch zu betätigen und möchte meine Erfahrung und meine Begabung sehr gerne der „Femme“ zur Verfügung stellen.“ Über den Rand seiner Brille sah Dr. Bartels sie prüfend an. Sabine versuchte ein entwaffnendes Lächeln. „Ich weiß, ich habe noch viel zu lernen. Deshalb ist mir besonders an einer Volontariatsstelle gelegen.“ „Das Auswahlverfahren für das laufende Jahr ist bereits abgeschlossen, Frau – äh – “ „Sanders, Sabine Sanders“, ergänzte sie. Dass sie vergessen hatte sich vorzustellen, war ein echter Patzer, dachte sie bestürzt, besann sich dann aber ihrer weiteren Taktik. Mit einem kurzen „Hier ist es aber warm“ zog sie ihre Jacke aus und klemmte sie unter den Arm. Sie hoffte, dass Dr. Bartels für den Anblick eines wohlgebauten Frauenkörpers empfänglich war, wie er sich unter dem bunten Shirt deutlich abzeichnete. „Sehen Sie, hier habe ich die Greenhorns exklusiv interviewt…“ Sie reichte ihm die entsprechende Kopie und setzte sich wie zufällig mit einer Seite auf den Schreibtisch. „Ah ja, schön, aber wie gesagt…“ Als hätte sie ihn überhört, begann Sabine, die bisherigen Highlights ihrer Tätigkeit aufzuzählen, obwohl sie immer unsicher war, ob er an ihren Ausführungen überhaupt interessiert war. Doch dann merkte sie, wie sich sein Blick auf den Ausschnitt ihres Tops heftete, und sie beugte sich noch ein wenig herunter.
Dr. Bartels schien nur mit Verzögerung zu merken, dass sie aufgehört hatte zu reden. Er räusperte sich, peinlich berührt. „Gefällt mir sehr gut, was Sie mir da zeigen – äh, gesagt haben. An ihrer Courage kann sich so mancher eine Scheibe abschneiden.“ „Darf ich Ihnen also die Unterlagen dalassen, für den Fall, dass doch noch eine Stelle frei wird?“, fragte sie mit einem entwaffnenden Lächeln. „Gern. Ich würde mich freuen, Sie in unseren Reihen begrüßen zu dürfen. Vielleicht tut sich ja noch was“, versprach er, und Sabine verabschiedete sich diskret. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Immerhin so viel hatte sie erreicht. Jetzt konnte sie nur noch abwarten.
Die Zeit des Wartens nutzte Sabine, um die besten Voraussetzungen für ihre Arbeit zu schaffen. Kaum war sie von dem Griechenlandurlaub zurück, den ihre Eltern ihr zum Abi geschenkt hatten, machte sie sich in Hamburg auf Wohnungssuche. Sie klapperte zahllose Zimmerchen und Wohnungen ab. Das meiste war viel zu teuer, und die bezahlbaren Zimmer waren so schäbig, dass sie keine Nacht darin geblieben wäre. Schließlich fand sie doch, wonach sie suchte: eine winzige, ruhige Einzimmerwohnung in einer netten Gegend, die überdies erschwinglich war. Da ihre Eltern sich geweigert hatten, „Hirngespinste zu finanzieren, wo sie doch zu Hause alles hatte, was sie brauchte“, suchte sie außerdem einen Job, mit dem sie sich einstweilen über Wasser halten konnte. Sie tat zwar nichts Weltbewegendes auf, aber die Stelle als Aushilfssekretärin in der Verwaltung eines großen Hotels war gut bezahlt und von den Arbeitszeiten her mehr als erträglich.
Nach ein paar Wochen hatte sie sich in ihrem neuen Leben ganz gut eingerichtet – sie kannte sich in ihrem Stadtviertel aus, wusste, welche S-Bahn sie an ihr jeweiliges Ziel brachte, und genoss es, tun und lassen zu können, was sie wollte. Selbst ein gutes Fitness-Studio hatte sie gefunden, dessen Publikum geradezu erlesen wirkte. Nur das Warten ließ sie immer nervöser werden. Der Sommer war schon fast vorüber, ohne dass sie eine Nachricht von Dr. Bartels erhalten hatte. Dreimal hatte sie ihn unter verschiedenen Vorwänden angerufen, um die Lage zu sondieren, aber außer einem netten Telefonflirt war dabei nichts herausgekommen. Ob seine Versprechungen nur warme Worte gewesen waren? Sabine machte sich auf das Schlimmste gefasst – womöglich musste sie ein ganzes Jahr warten, bis sie wieder eine Chance hatte, das Volontariat zu bekommen. Hätte sie doch nur ein paar Bewerbungen an andere Zeitschriften geschickt, dachte sie nun reumütig. Sie hatte sich viel zu sehr auf die „Femme“ konzentriert, und jetzt drohte ihr deshalb ein ganzes Jahr verloren zu gehen. Fast hätte sie wieder angefangen an den Nägeln zu kauen, was sie sich mit vierzehn mühsam abgewöhnt hatte. An ihrem freien Nachmittag, dem Mittwoch, trainierte sie gewöhnlich im Studio bis an die Grenzen der Erschöpfung. Das war das Einzige, was gegen die sich langsam einstellende schlechte Dauerstimmung half. Danach ließ sie sich wie ein nasser Sack zu Hause aufs Bettsofa plumpsen und schlief bis zum Abend, damit sie wieder fit war, um mit ein paar Bekannten, auszugehen, die sie bei der Arbeit im Hotel kennen gelernt hatte. Wieder einmal hatte sie ihre Sporttasche neben dem Sofa fallen lassen und sich hingelegt, ohne es vorher auszuklappen, und war sofort eingenickt.
Das Klingeln des Telefons schreckte sie auf. Sie hatte im ersten Moment gar kein Gefühl für Ort und Zeit. Wer konnte jetzt anrufen, dachte sie in einem Zustand zwischen Wachheit und Schlaf. Hoffentlich nicht Lara, die sie immer mit ihrer Sehnsucht nach Volker vollheulte, der sie nur allzu selten in Münster besuchte, wo sie vor dem Beginn ihres Studiums ein Praktikum absolvierte. So ein toller Typ war Volker wirklich nicht, als dass man seinetwegen Tränen vergießen müsste. „Ja?“, meldete sie sich noch ganz belämmert. „Dr. Bartels hier. Spreche ich mit Sabine Sanders?“ Vor Schreck hätte Sabine den Hörer fast fallen lassen. Der Chefredakteur persönlich! Doch sie fasste sich schnell: „Ja, schön, dass Sie anrufen.“ „Nun, ich habe gute Neuigkeiten. Uns ist eine junge Dame abgesprungen, und wir suchen dringend Ersatz. Darf ich mit Ihnen rechnen?“ „Selbstverständlich. Vielen Dank, dass Sie da an mich gedacht haben.“ „Am ersten Oktober fangen Sie an. Melden Sie sich in der Personalabteilung. Da ist schon alles vorbereitet.“ Vor lauter Freude umarmte Sabine ihr Kissen. Am ersten Oktober? Das war doch schon übernächste Woche!
„Sabine Sanders“, wiederholte die Personalchef in nachdenklich, als Sabine in freudiger Erwartung ihres ersten Arbeitstags in deren Büro stand. „Der Chefredakteur hat uns Ihre Unterlagen gegeben, aber irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Haben Sie sich schon mal bei uns beworben?“ „Ja, aber da war ich nur auf der Reserveliste, weil ich wohl zu spät dran war“, behauptete Sabine. Irgendwie schien diese Frau Papenbrink einen Verdacht zu hegen, dass nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war.
Sie blätterte noch mal Sabines Bewerbung durch. „Der Chefredakteur muss ja große Erwartungen in Sie setzen. Normalerweise sind unsere Volontäre ein paar Jahre älter und haben studiert.“ Sabine zog eine Augenbraue hoch, wie um zu zeigen, dass sie so etwas wie ein Studium nicht nötig hatte. „Komisch, na ja. Also, ich zeige Ihnen gleich Ihren Arbeitsplatz. Sie kommen als Erstes in die Mode- und Frisurenredaktion, kurz Trendschmiede genannt. Nach und nach werden Sie dann auch die anderen Abteilungen kennen lernen. Wir warten nur noch auf Frau Schulz, die andere neue Volontärin. Sie können so lange im Aufenthaltsbereich warten, ich habe noch zu tun.“ Als freundlich empfand Sabine diesen Empfang nicht gerade, aber sie tröstete sich damit, dass sie mit der Verwaltung praktisch nichts zu tun hatte. In der Redaktion war das bestimmt etwas ganz anderes. Nach einer Viertelstunde kam endlich eine junge Frau aus dem Aufzug und ging auf die Tür der Personalchefin zu. Das musste ihre Mitstreiterin sein. Sabine musterte sie eingehend, wie sie so vor der Tür stand. Obwohl sie sicher einige Jahre älter war, wirkte sie schüchtern. Mit ihren langen, braunen Locken, die sie kindlich erscheinen ließen, und den Allerweltskleidern passte sie überhaupt nicht in die Trendschmiede, fand Sabine und fragte sich, warum die Personalleiterin in der offiziellen Bewerbungsrunde ihr den Vorzug gegeben hatte. Fünf Minuten später kam Frau Papenbrink mit der jungen Frau aus dem Büro und bedeutete mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. Sabine versuchte sich in dem Gewirr von Gängen zu orientieren, aber sie hatte keinen Schimmer, in welchem Teil des verschachtelten Gebäudekomplexes sie schließlich gelandet waren.
Hier jedenfalls gab es keinen flauschigen Teppich, sondern ein stetiges Hintergrundgeräusch, das wie das Summen eines Bienenschwarms über den Büros lag. Die meisten Türen standen weit offen, wohl damit die Redakteure keine kostbare Zeit mit Türenöffnen verloren. Die Büros waren zwar nicht klein, konnte Sabine erkennen, aber dadurch, dass in fast allen gleich mehrere Schreibtische mit großen Bildschirmen standen, wirkte es doch beengt. Ein Fortschritt im Vergleich zu den schuhschachtelgroßen Büros der NZ war es trotzdem, tröstete sich Sabine. Abrupt blieb Frau Papenbrink stehen. „Hier. Es wird zwar ein bisschen eng mit zwei Volontärinnen, aber im Moment lässt es sich nicht anderes einrichten. Das sind Sibylle Schulz und Sabine Sanders, die neuen Volontärinnen, Dorothee Anders und Ramona Bertram, unsere beiden Redakteurinnen, die zunächst für Sie verantwortlich sind.“ Sabine nickte den beiden zur Begrüßung freundlich zu. Dorothee Anders gab ein neutrales „Hallo“ von sich, während Ramona sie von oben bis unten musterte. Sabine ließ den Blick mit Unbehagen über sich ergehen und versuchte ebenso standhaft zurückzustarren. Sie sahen sich sekundenlang direkt in die Augen, wie um abzuschätzen, unter welchen Vorzeichen ihre Beziehung in Zukunft stand – es war eine Abneigung auf den ersten Blick. Ramona war höchstens 1,60 groß und hatte raspelkurze schwarze Haare, aber ihre Augen waren so entschlossen und energiegeladen, als wollte sie damit ihre geringe Größe wettmachen. Sabine wollte es sich kaum eingestehen, aber sie erkannte in ihr den enormen Ehrgeiz und Machtwillen, über den sie selbst verfügte, und der keine ernst zu nehmende Konkurrenz neben sich duldete. Sie würden sich aneinander die Zähne ausbeißen, so viel war jedenfalls klar. Ramona nahm sofort das Zepter in die Hand. „Okay. Sibylle kann den Schreibtisch von Eva haben, die gerade in
Mutterschutz ist, und für Sabine stellen wir noch einen Tisch dazu. Mit dem Computer müsst ihr euch halt absprechen.“ „Dann kann ich Sie also beruhigt allein lassen“, sprach die Personalchefin und verschwand. Was, nicht einmal einen richtigen Arbeitsplatz bekam sie? Sabine stand da, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. Sie kam sich vor wie ein kleines Kind, das an den Katzentisch verwiesen wird, weil es sich schlecht benommen hat. Sofort regte sich Widerspruch in ihr, aber sie vertagte einstweilen den Protest gegen die ungerechte Behandlung auf einen günstigeren Zeitpunkt. Es konnte nicht schaden, anfangs etwas bescheidener aufzutreten, damit sie nicht gleich alle gegen sich hatte. Dass Ramona ihr nicht wohl gesinnt war, reichte schon. „Wir organisieren dir einen Tisch“, verkündete Ramona, „du kannst inzwischen schon mal Kaffee machen. Da in der Ecke steht alles, was du brauchst.“ Sabine rührte sich nicht, so kochte sie innerlich. Kaffeekochen! Dazu hatte sie sich ja nicht einmal bei der NZ herabgelassen. „Na, was ist, müssen wir dir erst erklären, wie’s geht?“, fragte Ramona unfreundlich. „Geht schon“, antwortete Sabine mit einem zuckersüßen Lächeln. Die Strategie, die bei der NZ gewirkt hatte, würde hier auch helfen.
„Was kann ich denn jetzt tun?“, erkundigte sich Sabine eifrig, nachdem sie eine Kanne Kaffee gekocht hatte, die einem normalen Menschen nächtelang den Schlaf rauben würde. Ramona und Dorothee saßen diskutierend über einer Auswahl von Modefotos für die übernächste Ausgabe und schenkten ihr keine Beachtung, während Sibylle damit betraut war, einen Text Korrektur zu lesen. Die beiden Redakteurinnen zuckten
nicht einmal mit der Wimper, als sie nebenbei das bittere Getränk ohne Milch und Zucker herunterstürzten. Anscheinend tranken sie immer so hoch dosierten Kaffee. Auch auf Sabines Frage reagierte keine von beiden, und so stellte sie die Frage noch einmal. Doch Ramona winkte nur unwillig ab: „Du siehst doch, wir sind gerade beschäftigt.“ Damit sie sich nicht ganz überflüssig fühlte, stellte sich Sabine hinter die beiden und hörte ihnen genau zu. Bilder zu beurteilen war ein ganz neues Terrain für sie, und sie versuchte möglichst viel aufzuschnappen, was sie selbst gebrauchen konnte. Doch im Grunde fand sie die ganze Diskussion über Kontraste, Auflösung und Perspektive fruchtlos. „Als Leserin würden mich die ersten fünf und das letzte mit der Schneehütte im Hintergrund am meisten ansprechen“, platzte sie schließlich heraus, als sie ihre passive Rolle leid war, und zog damit endlich die Blicke der beiden auf sich. „Was verstehst du denn davon“, fauchte Ramona. „Hör lieber zu, bis du weißt, wovon du redest.“ Sabine schaute sie trotzig an. „Irgendwie muss ich ja was lernen, wenn du mir schon nichts erklärst.“ Ramona stemmte die Hände auf die Hüften und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Hier, das sind die Teile, die wir bringen. Du kannst ja mal die Firmen antelefonieren, was die im Handel kosten, damit du was zu tun hast und wir unsere Ruhe“, meinte sie nach ein paar Sekunden mit einem boshaften Lächeln. Sabine nahm ihr die Liste aus der Hand. „Und wo finde ich die Telefonnummern?“ „Da hinten ist ein Ordner mit wichtigen Nummern, oder bist du blind?“
Kopfschüttelnd machte sich Sabine daran, ihren Auftrag zu erfüllen, wenngleich sie sich ärgerte, mit derartigen Laufburschendiensten abgefertigt zu werden.
Sabine saß im Schneidersitz auf ihrem Sofa und starrte auf den Fernseher. Sie hatte die Lautstärke auf null gestellt und ließ die Bilder einfach an sich vorbeirauschen. Vor ihrem inneren Auge lief ein ganz anderer Film ab – die ersten, frustrierenden Wochen in ihrem neuen Job, in denen eine Schmach die nächste gejagt hatte. Und das hatte sie nur Ramona, dieser Schlange, zu verdanken. Sabine wusste gar nicht mehr, wohin mit ihrer stillen Wut, denn sie war ja auch auf Ramona angewiesen und musste versuchen, es nicht zur offenen Konfrontation kommen zu lassen. Wenn sie sich ihre Gefühle nicht bald von der Seele redete, bekam sie noch Magengeschwüre. Sie wählte Laras Nummer und hoffte, dass ihre Freundin nicht aus war. „Hey, das ist ja klasse, dass du endlich mal wieder anrufst“, begrüßte Lara sie enthusiastisch, denn Sabine meldete sich selten von selbst. Bald waren sie mitten im Gespräch, als hätten sie sich gestern zuletzt gesehen. „Die lassen mich überhaupt nichts Interessantes machen“, klagte Sabine ihr Leid. „Die haben sich echt gegen mich verschworen. Seit Wochen tue ich nichts als Kaffeekochen, Korrektur lesen und irgendwelche organisatorischen Anrufe für die erledigen. Ich durfte noch nicht mal bei einer Recherche mitmachen, geschweige denn selber einen Artikel schreiben.“ „Du hast doch gerade erst angefangen, das wird schon noch besser“, versuchte Lara sie zu trösten.
„Ach was, ich seh’ doch, was die andere Volontärin macht. Die haben sie schon öfter zu ihren Terminen mitgenommen, und nächste Woche darf sie sogar mit nach Paris zu einem Shooting.“ „Hat die vielleicht mehr Erfahrung?“ „Von wegen. Frisch von der Uni und hat außer ein paar Praktika noch nichts in der Richtung gemacht. Du solltest die mal sehen. Fällt voll in die Kategorie graue Maus. Wenn sie sich schon mal den Mund aufzumachen traut, fiept sie hilflos herum.“ Sabine hatte vor hilfloser Wut unbewusst die Faust geballt. „Stell dir mal vor, die haben mich eine ganze Liste von Modefirmen nach Preisen abtelefonieren lassen und mir hinterher die Kataloge auf den Tisch geknallt, in denen alles haarklein aufgeführt war! Die haben die ganze Zeit gewusst, wie sinnlos es ist, dass ich mir die Finger wundtelefoniere.“ „Und willst du dir das noch lange gefallen lassen?“ „Natürlich nicht. Ich hab’ schon überlegt, ob ich mich nicht beim Chefredakteur beschweren sollte, aber dann denkt der gleich, ich kann mich nicht durchsetzen und ich bin erst recht abgestempelt.“ „Dann musst du wohl in die Offensive gehen“, empfahl Lara. „Damit bist du ja beim ,Schluckspecht’ auch durchgekommen!“ „Da hast du allerdings Recht. Wenn die mich noch lange zum Narren halten, zeig’ ich’s denen.“ Laras Zuspruch hatte Sabine wie immer geholfen, ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein wiederzuerlangen. Sie war nicht so weit gekommen, indem sie immer brav Ja und Amen gesagt hatte, sondern durch ihre Zielstrebigkeit, mit der sie sich zur Not auch über ein paar Regeln hinwegsetzte.
Ramona hatte Sabine mal wieder los geschickt, um in einem italienischen Feinkostladen ein paar hundert Meter vom Redaktionsgebäude entfernt etwas zum Mittagessen zu besorgen. Sabine war schon draußen, da fiel ihr ein, dass sie ihren Geldbeutel auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Sauer auf sich selbst kehrte sie um. Nun verlor sie noch mehr Zeit mit den idiotischen Botengängen, die ihre beiden Vorgesetzten sich für sie ausdachten, um sie von wahrer Arbeit abzuhalten. Sie stürmte durch die langen Korridore zurück zu ihrem Büro und wollte gerade hineinhasten, da sah sie, wie Ramona, Dorothee und Sibylle die Köpfe zusammensteckten. Hatte sie nicht gerade ihren eigenen Namen aufgeschnappt? Keine der drei hatte sie bemerkt, und Sabine zog sich so leise wie sie gekommen war, vor die Tür zurück, wo die drei sie nicht sehen konnten. So war das also – kaum hatte sie ihnen den Rücken zugedreht, lästerten sie über sie. Sabine spitzte die Ohren, um mitzubekommen, was da über sie geredet wurde. Sie hätte sich gar keine Mühe geben müssen, denn die Lästermäuler hatten nicht einmal die Stimme gesenkt. „Diese arrogante Visage. Die hat noch viel zu lernen, bis sie begreift, dass sie nur ein kleines Rädchen im Getriebe ist. Wenn’s nach der ginge, wären wir längst arbeitslos“, schimpfte Dorothee, die Sabine die ganze Zeit für loyal gehalten hatte. Zumindest hatte sie keine offene Feindseligkeit gezeigt. Das war ja eine schöne Überraschung. „Spielt sich auf, als hätte sie die Weisheit mit Löffeln gefressen, unsere ,rasende Reporterin’, bloß weil sie schon mal ein paar Artikelchen für die Schülerzeitung geschrieben hat. Und eingebildet ist sie noch dazu mit ihrem MöchtegernModel-Look“, stimmte Ramona hämisch ein. „Aber da ist sie bei mir an der falschen Adresse. Von mir kriegt sie nur den
Kleinkram, den sonst niemand will – wenn sie nicht sowieso vorzeitig kündigt.“ „Rasende Reporterin ist gut“, kicherte Sibylle. „Allein die rasende Wut in ihrem Blick, wenn sie mal wieder Kaffee kochen soll.“ „Nicht mal das kann sie richtig. Schon ein ganz schlechtes Zeichen. Wir sollten mal in der Personalabteilung nachfragen, ob die uns nicht ‘ne Ablösung schicken können, die KaffeeErfahrung hat.“ Sabine hatte genug gehört. Es war ja mehr als deutlich, dass sich die drei gegen sie verschworen hatten und sie fertig machen wollten. Dabei wusste sie nicht, was sie verbrochen hatte, um diese geballte Feindseligkeit auf sich zu ziehen. Nach über drei Monaten war jetzt der Punkt erreicht, an dem sie sich entscheiden musste, ob sie für den Rest des Volontariats den Prügelknaben spielen wollte oder bewies, dass sie die stärkeren Nerven hatte.
In dem großen Besprechungsraum im ersten Stock hatte sich mal wieder die ganze Mannschaft zur zweiwöchentlich stattfindenden Redaktionskonferenz über die nächste Ausgabe eingefunden. Sabine sah zu, dass sie nicht neben ihren Bürokolleginnen saß, sondern möglichst in der Nähe von Dr. Bartels. Ramona und Dorothee würden sich wundern, wenn sie kapierten, dass sie ihnen heute einen dicken Strich durch die Rechnung machen würde. Die einzelnen Ressorts stellten ihre Auswahlthemen vor, aus denen dann eine in sich runde Ausgabe zusammengeschneidert werden sollte. Von diesen Konferenzen, aus denen ihre Widersacherinnen sie schlecht ausschließen konnten, hatte Sabine bisher am meisten gelernt. Es beeindruckte sie, welch unauffällige Choreografie den wechselnden Themen einer
Ausgabe zu Grunde lag, die den meisten Leserinnen entging. Aufmerksam hörte sie den Argumenten zu, mit denen Themen verworfen, andere wiederum für gut befunden wurden. Schließlich kam die Reihe an die Trendschmiede, und wie immer riss Ramona die Präsentation der Vorschläge an sich. „Also wir haben beschlossen, die neue Frühjahrsmode an der neuen Trendfarbe aufzuhängen und ein paar alternative Looks mit Schwerpunkt aquamarin/weiß abzulichten – für die Business-Frau –, den neuen Romantik-Look usw. Wir könnten es aber auch so aufziehen, dass wir INs und OUTs gegenüberstellen nach dem Motto, was muss ich neu kaufen, was kann ich aus dem alten Jahr noch tragen.“ „Könnt ihr nicht den Folklore-Trend ein bisschen puschen? Jetzt, wo wir im Reiseteil die tolle Fotoreportage von Tim und Katja über Indien und Südostasien machen? Das würde sich gut ergänzen“, schlug ein Redakteur vor. Ramona schien die Anregung gar nicht in den Kram zu passen. „Folklore ist total out“, behauptete sie. Sabine wusste allerdings, dass Ramona mit ihrem Farb-Thema die leichteste, aber bestimmt nicht die beste Lösung gewählt hatte. Das war doch zum Einschlafen langweilig. Sabine schluckte, bevor sie vor all den altgedienten Redakteuren das Wort ergriff. Hätte sie nur einen Schluck Wasser! Ihr Mund war völlig trocken. Sie versuchte, ihre Stimme nicht zittern zu lassen, als sie sagte: „Ich finde, Kai hat nicht Unrecht. Das Thema Folklore würde gut passen. Bei den Frühjahrskollektionen fällt auf, dass alles eine gewisse Schlichtheit hat, die geradezu asiatisch wirkt. Ich glaube, das ist ein Trend, der sich bald noch stärker durchsetzen wird. Außerdem könnte man die indischen Seidenstoffe da auch gut reinbringen und damit hätte man den Bogen geschlagen zu der Reportage von Tim und Katja.“ Sabine räusperte sich, denn ihre Kehle fühlte sich ganz ausgetrocknet an. „Wenn man dann
noch im Rezepteteil ein bisschen asiatische Küche bringt oder bei den Tipps die besten indischen Restaurants und Imbisse in deutschen Großstädten, ist es rund.“ Die Blicke, die Ramona und Dorothee ihr zuwarfen, hätten töten können. Wenn Sabines Vorschlag durchkam, müssten sie mit ihren Fotos noch mal von vorn beginnen. Sie hatte den beiden ganz schön die Tour vermasselt, das war unübersehbar – also genau der gewünschte Effekt. Die Übrigen ließen sich den Vorschlag durch den Kopf gehen, und bald gab es die ersten Beifallsbekundungen und ergänzende Ideen. Sabine schielte zu Dr. Bartels rüber. Ihn beeindruckt zu haben, war schließlich das Wichtigste. Als er ihren Blick bemerkte, nickte er ihr anerkennend zu, und Sabine lächelte zufrieden in sich hinein.
Nach dieser gelungenen Vorarbeit war es an der Zeit, Hilfe von höchster Stelle anzufordern, denn Ramona und Dorothee würden ihr das Leben nun erst recht zur Hölle machen. Sabine wusste schon genau, wie sie es anstellen würde, dass sie die Unterstützung von Dr. Bartels bekam. Am Morgen hatte sie extra ein knappes T-Shirt-Kleid angezogen, das durch den strengen, langen Blazer, den sie darüber trug, professionell genug aussah. Es war zwar viel zu kalt für dünne Nylonstrümpfe, aber der Anlass war das bisschen Frieren wert. Als die beiden „Hyänen“, wie sie ihre Kolleginnen inzwischen nannte, sie wieder einmal zum Italiener schicken wollten, wehrte sie unter dem Vorwand ab, sie sei gleich mit einer Freundin für die Mittagspause verabredet. Unter normalen Umständen kamen kleine Volontärinnen mit Dr. Bartels überhaupt nicht in Berührung, aber da er pünktlich wie ein Uhrwerk jeden Tag um eins in die
Pause ging, würde es nicht schwer sein, ihm „zufällig“ über den Weg zu laufen. In dem Moment, als Dr. Bartels die Treppe herunterkam, bog Sabine um die Ecke, hinter der sie ihm aufgelauert hatte, und machte sich ebenfalls auf den Weg nach unten. „Sie gehören also auch nicht zu den Aufzugfahrern“, stellte er fest, nachdem sie sich gegrüßt hatten. „Klar, bei der Arbeit sitzt man so viel, da tut ein bisschen Treppenlaufen richtig gut“, ließ sich Sabine auf den Smalltalk ein. Sie hatte zwei Treppenstufen Vorsprung, sodass Dr. Bartels von oben auf ihre langen, schlanken Beine hinabsehen konnte. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Körper. Genau darauf hatte sie spekuliert, denn Dr. Bartels war dafür bekannt, dass er den weiblichen Reizen seiner Angestellten selten widerstehen konnte. Wenn dabei ein Vorteil heraussprang, war Sabine nicht abgeneigt, auf mögliche Avancen einzugehen. „Das war ein kluger Vorschlag neulich bei der Konferenz. Ich sehe, Sie bewähren sich und wissen, worauf es ankommt“, hielt Dr. Bartels das Gespräch in Gang. Es war Zeit, ihr Anliegen loszuwerden. Bloß nicht mit der Tür ins Haus fallen, dachte Sabine. „Nur schade, dass meine Kolleginnen das anders sehen“, meinte sie mit einem leisen Seufzer. „Ach ja? Gibt es Probleme?“ „Probleme würde ich nicht sagen, aber als Volontärin ist mein Einfluss natürlich begrenzt, auch wenn ich überzeugt bin, dass man in dem Ressort einiges besser machen könnte. Meine beiden Kolleginnen machen es sich oft leicht, auch wenn eine bessere Lösung auf der Hand liegt.“ „Vorschläge sind immer willkommen, aber warum diskutieren wir das nicht in einem angemessenen Rahmen. Leisten Sie mir doch einfach beim Mittagessen Gesellschaft. Vielleicht haben wir ja auch noch andere gemeinsame
Themen“, sagte er in einem verschwörerischen Ton, und sein Blick blieb wieder an ihren Beinen hängen. „Gern“, lächelte Sabine.
Mit Genugtuung saß Sabine neben einer schmollenden Ramona im Auto. Das Essen mit Dr. Bartels war ein voller Erfolg gewesen. Zwar hatten sie kaum über die Arbeit geredet, aber der Chefredakteur hatte es sichtlich genossen, seiner aufmerksamen Zuhörerin mehr oder weniger witzige Anekdoten aus seinem Leben darzubieten. Selbst als er – schon etwas beschwipst – lang und breit die Schwierigkeiten schilderte, die er beim letzten Golfturnier gemeistert hatte, bewahrte Sabine ihr aufmunterndes Lächeln, während sie unter dem Tisch unauffällig sein Knie berührte. Nun hatte sich Dr. Bartels für die Vorzugsbehandlung revanchiert: Die Aufforderung, Sabine zu einem Interview mit einem Hamburger Modekönig mitzunehmen, war von ganz oben gekommen, und Ramona war nichts anderes übrig geblieben, als sich zu beugen. Sie fragte sich, wie Sabine es geschafft hatte, Dr. Bartels gegen sie aufzuhetzen. Das konnte nur heißen, dass sie hinter ihrem Rücken Intrigen spann. Wer weiß, was sie ihm alles erzählt hatte – als hätte sie es nicht schon schwer genug! Seit drei Jahren schmorte sie in der Trendschmiede, und die Versetzung in die People-Redaktion lag immer noch in weiter Ferne. Wenn Sabine sie auch noch schlecht gemacht hatte, konnte sie den Aufstieg gleich vergessen. Dabei hatte sie geradezu verbissen daran gearbeitet, Kontakte herzustellen, um in der Szene auf dem Laufenden zu sein. Moderedakteurin war ja schön und gut, aber bekannt wurde man damit nicht, denn die Leute hatten sowieso nur Augen für die Models und die Klamotten. Nein, so richtig dabei war man nur in der Klatschsparte. Da zählte noch, wer
die heftigsten Storys hatte und wer am besten Emotionen verkaufen konnte. Und nun stand diese Anfängerin zwischen ihr und ihrem Erfolg. Ramona hatte inzwischen einen ausgewachsenen Hass auf Sabine. Sie würde es ihr schon noch zeigen – wenn nicht jetzt, dann eben später. In Vorbereitung auf das Interview hatte Sabine alle Archive nach Informationen abgeklappert. Sie wusste nicht nur genauestens über die aktuelle Kollektion Bescheid, sondern hatte sich auch über geschäftliche Entwicklungen der letzten Jahre und die Weltanschauung des Modekönigs kundig gemacht, eine Art Philosophie der Ästhetik. Um die Welt schöner zu machen, hätte er am liebsten die halbe Menschheit nach seinen Vorstellungen neu eingekleidet. Sabine war also richtig gut vorbereitet und hatte eine ganze Liste von Fragen in der Tasche, von der Ramona allerdings nicht die leiseste Ahnung hatte. Die ging wahrscheinlich davon aus, dass Sabine brav zuhörte und ihr das Gespräch überließ. Im Geist ging sie noch mal ihre Liste durch, in der das Thema Mode eher eine geringe Rolle spielte. Sie konnte sich schon gut vorstellen, was Ramona auf Lager hatte – langweilige Fragen zu Schnitten und Stoffen der Saison, Accessoires und den Unterschieden zur Konkurrenz. Obwohl sie immer wieder tönte, wie gut sie in der People-Abteilung aufgehoben wäre, hatte Ramona einfach nicht kapiert, wie man es anstellte, den Lesern nicht nur Trends, sondern ein Weltbild zu verkaufen, das die Trends erst lebendig machte. Die Leute interessierten sich doch nicht nur für Abwechslung, sie brauchten Vorbilder, sie brauchten quasi eine Begründung für sich selbst, warum sie in diesem Frühjahr lange oder kurze Röcke, enge oder weite Pullis, Rüschen oder Paspeln trugen. Es war doch ganz einfach: die Leser sollten das Gefühl haben, sich über sich selbst erheben zu können – wenn sie nur die „Femme“ lasen.
„Das Interview erscheint unter meinem Namen“, beharrte Sabine. „Du hast schließlich kaum den Mund aufgemacht, wenn wir mal ehrlich sind.“ Ramona wäre Sabine am liebsten an den Hals gesprungen, so ärgerte sie sich noch immer darüber, dass Sabine ihr den Gesprächsfaden aus der Hand genommen hatte. „Eins möchte ich mal klarstellen. Das war mein Interview, und es ist sowieso eine große Frechheit, dass du dich überhaupt eingemischt hast. Ich lasse mich doch nicht von einer kleinen Volontärin blamieren.“ „Ach ja? Meines Wissens ging der Auftrag an uns beide – oder soll ich mich bei Herrn Dr. Bartels vergewissern? Bei der Gelegenheit kann ich ihm auch die Bänder vorspielen, damit er mal sieht, wie ,intensiv’ du das Interview vorbereitet hast.“ „Wag das bloß nicht!“, drohte Ramona. Ihre Augen bekamen einen fiesen Ausdruck: „Wie kommt es eigentlich, dass er sich so rührend um dich bemüht? Da gibt es meiner Meinung nach nur einen Grund…“ „Aha, und der wäre?“, fragte Sabine herausfordernd. „Du nimmst die Abkürzung übers Bett!“ „Selbst wenn es so wäre – was nicht der Fall ist –, in der Hinsicht hättest du ja nicht mal den Funken einer Chance“, schoss Sabine zurück. „Und um zurück zur Sache zu kommen – der Artikel erscheint unter Sabine Sanders.“ Einen Moment lang sah Ramona aus, als würde sie gleich explodieren, dann nahm ihr Gesicht einen listigen Ausdruck an. „Meinetwegen!“ Der Triumph stand Sabine in die Augen geschrieben. Ihre größte Feindin hatte nachgeben müssen.
Das Interview stand fix und fertig im Computer. Sabine hatte noch ein paar Formulierungen geglättet und dann die Datei zufrieden abgespeichert. Ihr erster eigener Beitrag für die „Femme“ war gleich eine Glanzleistung, davon war sie überzeugt. „Gib’s noch mal Sibylle zum Korrekturlesen“, befahl Ramona, „und dann geh mal ins Archiv, die Sachen raussuchen, die ich dir neulich schon aufgetragen hab’. Ich geb’ das Interview inzwischen ins Layout, die warten schon.“ Sabine tänzelte hinaus. Selbst die unsinnige Recherche im Archiv konnte ihr nichts anhaben, so sehr freute sie sich über den Erfolg mit dem Interview. Als sie von den Mikrofilmen aufsah, weil ihr die Augen wehtaten, waren zwei Stunden vergangen. Sie beschloss, für heute Schluss zu machen und ohne Umweg übers Büro nach Hause zu gehen. Sie konnte ja sagen, sie habe den ganzen Nachmittag im Archiv verbracht. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie zuletzt Zeit gehabt hatte, shoppen zu gehen. Aber am nächsten Tag interessierte sich niemand dafür, was Sabine mit ihrer Zeit angefangen hatte. Die „Hyänen“ saßen geschäftig vor ihren Computern. Wenn überhaupt etwas auffiel, dann, dass die Atmosphäre friedlicherwirkte als sonst. Ramona bot ihr sogar einen Kaffee an, den sie höchstpersönlich gekocht hatte, und Dorothee lächelte sie mehrmals an. Sabine fragte sich verwundert, ob mit der Diskussion gestern eine Art Waffenstillstand eingekehrt war, nachdem sie endgültig bewiesen hatte, dass sie sich sich nicht kleinkriegen ließ. Doch der Schein trog. Während Sabine das aus dem Archiv kopierte Material ordnete, schweiften ihre Gedanken ab. Geradezu elegant hatte sie bei dem Modekönig Ramona den Faden aus der Hand genommen. Ihrem Gesprächspartner war sicher nicht einmal aufgefallen, dass sie ein Neuling war. Sie hatte die Fragen oft
so formuliert, dass er sich geschmeichelt fühlen musste und bereitwillig und ausschweifend antwortete. Es war schon eine Kunst, so viel aus jemandem herauszukitzeln – selbst aktuelle Geschäftszahlen, die sonst gerne unter Verschluss gehalten wurden. Da überlief es Sabine siedend heiß. Hatte sie die richtigen Zahlen eingegeben? Nicht, dass sie aus Versehen eine Null zu viel oder zu wenig eingetippt hatte! Sie musste unbedingt noch einmal in ihren Artikel schauen, bevor er in Druck ging. Damit die anderen nicht mitbekamen, dass sie nach einem möglichen Fehler im Artikel suchte, ging sie stillschweigend in die Layout-Abteilung und sah sich das Ganze in der Endversion an. Sabine überflog den Ausdruck auf der Suche nach den Zahlen. Doch gleich beim zweiten Absatz blieb sie hängen. Das hatte sie doch überhaupt nicht geschrieben – wieso standen auf einmal ganz falsche Sachen drin, die geradezu peinlich waren! Besonders ihre Fragen waren so umformuliert, dass jeder Leser glauben musste, sie sei der letzte Idiot. Da hatte jemand auf übelste Weise ihre Datei manipuliert, und es gab nicht viele, die für eine derartige Schandtat in Frage kamen! Wenn sie das Interview nicht zufällig noch mal unter die Augen bekommen hätte, wäre sie vor aller Welt blamiert gewesen. Ramona hatte Rache dafür genommen, dass Sabines Name über dem Artikel stand. „Na wartet, euch zeig’ ich’s schon“, dachte Sabine erbost und wollte schon zurück ins Büro stürmen. Als die erste Wut verraucht war, beschloss sie jedoch, ganz im Stillen das Original wiederherzustellen und sich ansonsten nichts anmerken zu lassen. Sie freute sich schon auf die Gesichter der „Hyänen“, wenn sie in die fertig gedruckte Ausgabe schauten und entdeckten, dass ihr Coup misslungen war.
Naserümpfend saß Sabine über einem längeren Artikel, den Dorothee ihr zum Korrekturlesen auf den Tisch gelegt hatte. Innerlich musste sie immer noch grinsen, wenn sie an Ramonas Miene dachte, als die bemerkt hatte, dass ihr Sabotageakt missglückt war. Mit der neusten Ausgabe war Ramona ins Büro getänzelt und hatte sich mit Doro gespannt über die Zeitschrift gebeugt – nicht ohne einen hämischen Seitenblick auf Sabine zu werfen. Doch das Geflüster war schlagartig verstummt. „Ist was?“, hatte Sabine unschuldig gefragt. „Nichts, was dich angeht“, hatte Ramona, käsebleich im Gesicht, gegiftet. „Na, da bin ich aber erleichtert.“ Sabine hatte sich mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl zurückgelehnt. „Habt ihr schon meinen Artikel gesehen? Ist doch super geworden, oder? Wie gut, dass ich noch mal drübergeschaut habe, beinahe hätte ein gemeiner Computervirus den Inhalt total ruiniert.“ Jetzt stand Ramona neben ihr und machte zur Abwechslung ein zerknirschtes Gesicht. „Du, ich hab’ mir gedacht, weil dein Interview so gut gelaufen ist, könnte ich dich auch mal alleine losschicken. Wir wollen was über das Lieblingsmodel von Joop machen. Der Termin wäre morgen um 16 Uhr in dem Café an der Alster, du weißt schon wo.“ Sabine sah überrascht auf. Anscheinend hatte Ramona ihre Lektion gelernt und kapiert, dass sich Sabine nicht einfach mit Kleinkram abspeisen ließ und schon gar nicht auf eine blöde Intrige hereinfiel. Der Vorschlag klang fast nach einer Entschuldigung. „Traust du dir das zu?“, fragte Ramona. „Klar, no problem. Du kannst mit mir rechnen.“
Sabine war stolz auf sich. Zum ersten Mal durfte sie ein wichtiges Interview ganz allein führen. Den Vormittag hatte sie extra mit Vorbereitungen und Recherchen zugebracht. Sie hatte schon genau im Kopf, in welche Richtung sie das Gespräch mit dem Model bringen wollte. Dummerweise war sie ein paar Minuten zu spät dran, weil noch ein dringender Anruf gekommen war, als sie gerade das Büro verlassen wollte. Aber wenn sie sich beeilte, würde sie es schaffen. Erleichtert atmete Sabine auf. Anscheinend war Sonia Mariani noch später dran als sie selbst. Sie setzte sich an einen freien Tisch und beschäftigte sich noch einmal mit den Infos, die sie über das Model gesammelt hatte. Viertel nach vier – und keine Spur von ihrer Gesprächspartnerin. Sabine wurde ungeduldig. Wenigstens anrufen hätte sie können. Zwanzig nach – immer noch nichts. Sabine stand leicht verärgert auf und ging zum Kellner. „Entschuldigen Sie, aber haben Sie vielleicht eine Nachricht für mich? Sabine Sanders ist mein Name. Ich erwarte Sonia Mariani seit fast einer halben Stunde.“ Der Kellner nickte wissend. „Ach, Sie sind das von der Zeitung. Ja, ja, die war da. Hat bestimmt eine halbe Stunde rumgesessen und ist dann ziemlich stinkig weg. Hat nicht mal ihre Rechnung bezahlt. Übernehmen Sie das?“ „Ja, ja, klar“, beruhigte Sabine den Kellner. Irgendwas war hier ziemlich schief gelaufen. Sie tippte energisch die Nummer von Sonia Mariani ins Handy. „Hallo?“ „Schönen guten Tag. Hier ist Sabine Sanders von der ,Femme’. Anscheinend gab es ein kleines Missverständnis“, begann sie. „Sie lassen mich stundenlang herumsitzen und erscheinen nicht! Das nennen Sie Missverständnis?“, fragte das Model empört.
„Aber wir hatten doch 16 Uhr vereinbart.“ „15 Uhr, und das hab’ ich schriftlich.“ „Das tut mir sehr Leid. Mir wurde gesagt 16 Uhr. Könnten wir nicht einen anderen Termin ausmachen?“, erkundigte sich Sabine, bemüht, sich nichts von ihrer Verzweiflung anmerken zu lassen. Hatte sie etwas falsch verstanden? Oder hatte Ramona sie reingelegt? „Vergessen Sie’s. Hören Sie, ich hab’ was Besseres zu tun, als auf Leute zu warten, die nicht erscheinen. Und ihr Chef kriegt eine Beschwerde von meiner Agentur. Darauf können Sie sich verlassen.“ Und schon hatte Sonia aufgelegt. Sabine packte mit einem Seufzer ihre Sachen zusammen. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer war, dass Ramona hinter dem „Missverständnis“ steckte. Wäre sie doch nur ein bisschen wachsamer gewesen. Sabine hätte sich ohrfeigen können, dass sie sich den Termin nicht noch einmal persönlich hatte bestätigen lassen. Das war zutiefst unprofessionell. Hoffentlich bekam sie jetzt keinen Ärger, weil sie die Sache vermasselt hatte. In Zukunft würde sie sich noch mehr vor Ramona in Acht nehmen müssen. Der Vorfall sollte ihr eine nützliche Lehre sein.
5
Sabine saß lässig am Esstisch ihrer Eltern und ließ nachdenklich den Blick schweifen. In den letzten Jahren hatte sie immer seltener Zeit gefunden, ihre Eltern zu besuchen. Viel lieber verabredete sie sich mit ihrer Mutter in einem schicken Restaurant oder Café in Hamburg, wenn Gesa ihren ShoppingTag einlegte. Im Haus ihrer Eltern hatte sie sich von Mal zu Mal fremder gefühlt. Dass in dieser Mittelmäßigkeit ihre Wurzeln lagen, war ihr geradezu peinlich. Diese Umgebung, in der sich in den Jahren praktisch nichts verändert hatte, war so weit von ihrem jetzigen Lebensstil entfernt wie die kleine NZMitarbeiterin von der respektablen „Femme“-Journalistin, die sie inzwischen war. Sabine konnte wahrlich behaupten, sie habe sich hochgeboxt. Trotz aller versuchten Anschläge und Intrigen ihrer beiden missgünstigen Kolleginnen in der „Trendschmiede“, war sie nach dem Volontariat nicht nur übernommen, sondern sogar in die People-Abteilung versetzt worden, wo es sie von Anfang an am meisten hingezogen hatte. Noch heute hatte sie das Gesicht von Ramona vor Augen, die fast einen Zusammenbruch erlitten hatte, als sie erfuhr, dass nicht etwa sie den frei werdenden Posten bekam, sondern Sabine. Leichenblass sah sie aus, und die zusammengekniffenen Lippen hatten gezittert. Ihre Hände hatten sich um den Kaffeebecher gekrampft, als sei er der letzte Halt. Seither war Ramona ihr tunlichst aus dem Weg gegangen. Wenn sie sich zufällig auf dem Flur begegneten oder ein Thema gemeinsam besprechen mussten, ließ sie es sich nicht nehmen, pfeilspitze Blicke auf Sabine abzufeuern und sie zu
beleidigen, wo es nur ging. Doch Sabine ließ das alles an sich abprallen. Selbst die Drohungen Ramonas, sie eines Tages zu ruinieren, hatten sie kalt gelassen. Sie war durch eine harte Schule gegangen, die sie nicht geschwächt, sondern, im Gegenteil, noch stärker und unanfechtbarer gemacht hatte. Im Grunde, so dachte sie, stand sie über all den kleinen Grabenkämpfchen und dem Konkurrenzgerangel. Wer einmal kapiert hatte, was sich da abspielte, hatte sowieso schon halb gewonnen. Man durfte nur nicht zu viel Energie darauf verschwenden, seine Position zu verteidigen, sondern musste sich auf das Wesentliche konzentrieren – die Qualität der journalistischen Arbeit. „Gut siehst du aus, Binelein.“ Gesa nutzte die Abwesenheit ihres Mannes, der sich nach dem Essen in seine Werkstatt verzogen hatte, zu einem Gespräch unter Frauen und sah ihre Tochter anerkennend an. Sie war beeindruckt, wie selbstbewusst und weltmännisch Sabine da saß – als hätte sie nie etwas anderes getan, als von Startermin zu Startermin zu eilen. Was aus ihrem kleinen Binchen geworden war, dachte sie gerührt! Wer hätte je gedacht, dass aus dem niedlichen Kind je eine so erfolgreiche, entschlossene junge Frau werden würde, die von Models, Schauspielern und anderen prominenten Persönlichkeiten geachtet und respektiert wurde. „Da traue ich mich ja bald gar nicht mehr, mich mit dir sehen zu lassen, so alt und unbedeutend wirke ich neben dir“, sagte sie halb im Spaß, halb im Ernst. „Unsinn, Mamilein, dir sieht man doch dein Alter gar nicht an. Mit dir würde ich mich überall sehen lassen.“ „Red du nur. Erzähl mir lieber, was du Aufregendes erlebt hast. Wie fühlst du dich denn in deiner neuen Wohnung?“ „Super, in der Schuhschachtel habe ich es einfach nicht länger ausgehalten. Ich hab’ mir gerade ein neues Sofa von Ligne Roset gekauft, das einfach optimal passt.“
„Sind das nicht diese ganz teuren Möbel?“, erkundigte sich Gesa Sanders besorgt. „Klar, ein bisschen überziehen musste ich mein Konto schon, aber ich verhandle sowieso nächste Woche mal wegen einer Gehaltserhöhung. Jedenfalls machen sich die Vitra-Stühle zusammen mit dem Glastisch ganz toll“, schwärmte Sabine. Mit der Zweizimmerwohnung in einem der schickeren Viertel Hamburgs hatte sie sich endlich eine Umgebung geschaffen, in der sie sich wohlfühlen konnte – die hellen Räume mit ausgewählten Designermöbeln waren ein erholsamer Ausgleich zu den zu kleinen, voll gestopften Büros in der Redaktion, und sie musste sich nicht schämen, auch mal zu Hause Besuch zu empfangen. „Und wann lerne ich endlich mal deinen Freund kennen?“, fragte ihre Mutter in vorwurfsvollem Ton, denn Sabine hatte ihr Holger schon seit Monaten vorenthalten. „Nun drängel doch nicht immer so. Du weißt doch, dass Holger so oft für seine Reportagen unterwegs ist. Im Moment ist er gerade wieder in Monaco.“ „Schreibt der da was über die Prinzessin Caroline?“, fragte Gesa Sanders und bekam große Augen. Sabine lächelte nachsichtig. „Holger ist Fotoreporter. Er wartet hauptsächlich auf gute Schnappschüsse. Falls er Pech hat, und Caroline ist doch nicht in Monaco, schaut er halt, ob er mit Boris Becker oder so mehr Glück hat. Es gibt ja genug Promis da unten.“ „Aber nächstes Mal bringst du ihn mit, versprochen?“ „Ja, Mama, versprochen“, seufzte Sabine. Hätte sie ihrer Mutter bloß nicht gleich von der Pressekonferenz erzählt, bei der sie Holger kennen gelernt hatte. Zuerst hatte Gesa mindestens einmal die Woche angerufen, um sich über die Fortschritte zu informieren, die die beginnende Beziehung gemacht hatte, und seit klar war, dass Sabine mit Holger
zusammen war, nervte sie Sabine mit Bitten, ihn doch mal mitzubringen. Allein bei dem Gedanken liefen Sabine Schauer über den Rücken. Die Sabine, die Holger kannte, war eine Journalistin auf dem besten Weg zum großen Erfolg. Zu diesem Image gehörten auch ihre teuren, topmodernen Kleider, ihre schöne, geschmackvolle Wohnung und ihr souveränes Auftreten. Ein Besuch im elterlichen Reihenhaus mit seiner Eiche-rustikal-Einrichtung konnte diesem Bild merklich schaden. Sabine stellte sich schon bildlich vor, wie ihr Vater sich erkundigte, ob denn schon eine Verlobung geplant war, und dann begann, über die Bauplatzpreise zu diskutieren – nein danke. So eine Veranstaltung wollte Sabine sich und Holger ersparen. „Ich muss gleich los“, erklärte Sabine. „Heute Abend ist noch eine Vernissage, die ich auf keinen Fall verpassen darf. Da steckt immer viel Material drin. Du weißt schon – wer mit wem, wer hatte was an, wer hat wem aus Versehen den Champagner übergekippt und so.“ Gesa Sanders erhob sich. „Da will ich dich auf keinen Fall aufhalten.“ Es war nicht zu übersehen, dass sie Sabines Arbeit geradezu mit Ehrfurcht betrachtete. Ihre Tochter war in ein fernes Leben entschwunden, von dem sie immer nur geträumt hatte, und durch deren Erzählungen bekam sie auch ein Stück von dessen Glanz ab.
Von Itzehoe aus fuhr Sabine direkt in die Wohnung von Holger, die viel größer war als ihre eigene. Er hatte ganz schön Glück gehabt, eine halbe Etage in einem direkt am Wasser gelegenen Speicherhaus zu finden. „Wie war’s bei deinen Eltern?“, begrüßte er sie. Er trug nur Calvin-Klein-Shorts und ein ausgebleichtes T-Shirt, als sei er eben erst aus dem Bett gekrochen.
„Wie immer“, stöhnte Sabine und küsste ihn auf die Nasenspitze. „Viel zu viel Essen.“ „Sieht man dir aber nicht an“, lachte Holger. „Ich hab’ mich zurückgehalten.“ Sabine zerrte Holger sanft aber zielsicher in Richtung Bett. „Aber mal im Ernst. Meine Mutter fängt immer wieder damit an, sie will dich unbedingt kennen lernen. Was hältst du davon, wenn ich sie mal nach Hamburg einlade und wir zusammen essen gehen?“ Holger verdrehte die Augen. „Wenn’s denn sein muss. Legst du so viel Wert drauf?“ „Ich nicht, aber meine Mutter – und das kann ich ihr kaum verübeln.“ Sabine grinste breit. „Sie soll doch mal sehen, was für ein Prachtexemplar von Mann ich mir geangelt habe. Da bist du geschmeichelt, was?“ „Muss ich das jetzt gleich unter Beweis stellen?“, fragte Holger zurück und ließ sich nach hinten aufs Bett fallen. „Das will ich hoffen!“, flötete Sabine verführerisch.
Am nächsten Morgen um halb acht klingelte erbarmungslos der Wecker. Sabine zog sich das Kissen über den Kopf. Montage waren das Schlimmste. Gerade hatte man sich daran gewöhnt, den Tag vertrödeln zu können, da hatte einen der Alltag schon wieder am Wickel. „Du musst aufstehen“, zog Holger ihr das Kissen weg und schob es sich selbst unter den Kopf. „Hast du nicht was von einer Krisensitzung erzählt?“ Widerwillig schwang Sabine die Beine über die Bettkante. „Wäre das nicht einen Kaffee wert?“ „Heißt das etwa, ich soll ihn dir machen? Du willst einen Fotoreporter, der seine Brötchen hart verdienen muss, um seinen wohlverdienten Schlaf bringen?“
„Hab dich nicht so. Wer für ein einziges Foto 10000 Mark kriegt, kann es gar nicht schwer haben.“ Sabines Bemerkung war zwar spöttisch gemeint, aber es klang auch ein bisschen Neid an. Eigentlich hatte sie genau den Freund, den sie wollte – einen gut aussehenden, erfolgsverwöhnten Aufsteiger, der sich in der Branche mit Anfang dreißig schon einen Namen gemacht hatte. An Ehrgeiz stand er ihr in nichts nach. Außerdem profitierte sie davon, dass er durch seinen Beruf noch mehr über Prominente mitbekam als sie selbst. So manchen Hinweis hatte sie schon für ihre eigenen Artikel verwenden können. Und dennoch – es nagte an ihr, dass Holger mit einer solchen Leichtigkeit sein Geld verdiente, während sie sich für ein mittelmäßiges Gehalt zehn Stunden und mehr am Tag abrackerte. „Okay, aber nur weil du’s bist“, stand Holger schließlich auf und schleppte sich in die Küche. Nachdenklich blieb Sabine auf der Bettkante sitzen. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war sie schon recht weit gekommen, aber bei weitem nicht an ihr Ziel. Im People-Ressort erschienen zwar regelmäßig kleinere Artikel von ihr, aber die Knüller waren ihren erfahreneren Kolleginnen und Kollegen vorbehalten. Wann würde es ihr endlich gelingen, sich mit einer tollen Story eine Doppelseite zu sichern?
Da Sabine mit dem Kaffeetrinken zu viel Zeit vertrödelt hatte, nahm sie schnell ein Taxi zur „Femme“, denn bei allen Freiheiten – wer zu spät zu den Redaktionssitzungen kam, fiel unangenehm auf. Hastig nahm sie die letzten Treppenstufen zu dem Raum, wo sich schon fast alle versammelt hatten. Die Stimmung wirkte irgendwie gedrückt, denn wenn Dr. Bartels eine Krisensitzung angekündigte, konnte das nichts Gutes verheißen.
Als sich der Chefredakteur setzte, wurde es schlagartig still im Raum. „Im vergangenen halben Jahr haben wir bei der Auflagenzahl eine Tendenz nach unten festgestellt, die letzten Ausgaben müssen wir noch auswerten“, begann er gleich. „Wir sind zwar längst nicht im dramatischen Bereich, aber wenn wir diese Talfahrt nicht schnell beenden, sehe ich für die Zukunft unseres Blattes schwarz. Wie Sie wissen, gibt es ja Gerüchte über eine Übernahme durch einen großen, ausländischen Medienkonzern, der in dem Fall natürlich größere Einsparungen vornehmen würde. Diese Gerüchte kann ich leider nur bestätigen. Wenn unsere Auflage unter 400000 sinkt, wird sich die Übernahme nicht verhindern lassen.“ Dr. Bartels musste eine Pause einlegen, weil das Gemurmel unter den Kollegen war so laut geworden war. „Für uns heißt das“, sprach er mit erhobener Stimme weiter, „wir brauchen noch mehr Knüller, noch mehr Gefühl. Die Leser wollen Skandale – und sie kriegen sie, die Leser wollen Geschichten zum Mitzittern – und sie kriegen sie. Haben wir uns verstanden?“ Ein kollektives Aufstöhnen ging durch den Raum. „Und wie sollen wir das machen?“, fragte ein Mitarbeiter frustriert. „Lassen Sie sich was einfallen. Und jetzt beschäftigen wir uns gleich mit der nächsten Ausgabe. Was haben Sie denn so auf Lager?“ Nacheinander gaben die Journalisten ihre Vorschläge ab, an denen sie gerade arbeiteten, und bald entbrannten heftige Diskussionen, womit man am besten Leser zurückgewinnen konnte. „Kann man aus der Geschichte mit Prinzessin Stephanies drittem Kind noch mehr rausholen? Hat schon jemand was gehört, wer der Vater ist? – Das Interview mit Harrison Ford müssen wir rauswerfen, der ist ja noch verstockter, als ich
dachte. Mach lieber ‘ne kurze, böse Geschichte über ihn. – Wie war’s mit ‘nem kurzen Bericht über Götz Georges Exfreundin Gabi, die will spontan ‘nen anderen heiraten? – Warum Claudia Schiffers Film ,Black-out’ floppte – könnte das was sein?“ Sabine verfolgte aufmerksam, was die anderen sagten, bevor sie selbst mit einem Vorschlag kam. Sie witterte die Chance, auf die sie lange gewartet hatte. Wenn sie sich in einer Krisensituation bewährte, konnte sie ihren Stand in der Abteilung deutlich verbessern. Schließlich meldete sie sich zu Wort: „Also ich denke, etwas Negatives über Claudia Schiffer kommt im Moment nicht gut an. Sie ist für die Leserinnen immer noch eine wichtige Identifikationsfigur. Ich verhandle gerade über ein Interview mit ihr, und ich glaube, es klappt. Wir sollten den Schwerpunkt auf ihre Beziehung zu David Copperfield legen. An der Geschichte kann man dann auch in den folgenden Ausgaben weiterstricken, sodass die Spannung erhalten bleibt.“ Hoffentlich bekam sie die Freigabe für das Interview, denn in letzter Zeit knauserte die „Femme“ mit den Spesen. Deshalb fügte sie gleich hinzu: „Allerdings müsste ich dazu nach London fliegen.“ Zu ihrem Entsetzen ergriff Marlene Giotto das Wort, die in der People-Abteilung das Sagen hatte. „Der Ansatz ist gut, aber ich denke, eine erfahrenere Journalistin sollte nach London fliegen. Man muss schon mit allen Wassern gewaschen sein, um Claudia eine heiße Geschichte zu entlocken.“ Sie wandte sich an Sabine: „Sobald der Termin steht, geben Sie mir Bescheid und buchen mir gleich einen Flug.“ Sabine musste schlucken. Es konnte doch nicht angehen, dass sich jemand anderes die Früchte ihrer Bemühungen unter den Nagel riss, um sich dann mit fremden Federn zu schmücken. Das konnte sie sich auf keinen Fall gefallen lassen. „Da gibt es
ein kleines Problem. Die Agentur hat sich nur anhand meiner Unterlagen und meiner bisherigen Arbeit bereit erklärt, einen Termin zu machen. Die werden nicht begeistert sein, wenn es plötzlich heißt, das macht jemand anderes. Ich rate deshalb entschieden davon ab, das Zustandekommen des Interviews durch personelle Veränderungen zu gefährden.“ Sabine war vor Entrüstung aufgesprungen, aber auf einmal wurden ihr die Knie weich. Ob es ratsam war, vor der ganzen Mannschaft in offene Konfrontation zu ihrer Vorgesetzten zu gehen? Marlene sah alles andere als begeistert aus. Natürlich war allen klar, dass es hier um Macht und Entscheidungsbefugnis ging, und daran hatte Sabine gekratzt. Marlene konnte es sich nicht leisten, vor allen ihr Gesicht zu verlieren. Sabine sank entmutigt auf ihren Stuhl und schaute Hilfe suchend auf Dr. Bartels. „Also in Bezug auf die Qualifikation dürften meine Chancen ja eindeutig…“, beharrte Marlene Giotto auf ihrer Position. Dr. Bartels hatte Sabines Blick anscheinend wahrgenommen, denn er unterbrach Marlene mitten im Satz, um ein Machtwort zu sprechen. „Frau Sanders wird hinfliegen. Sie als Verantwortliche haben es zugelassen, dass das Niveau unserer Berichterstattung in letzter Zeit gesunken ist. Ein bisschen junges Blut kann sich nur positiv auswirken. Wir planen eine halbe Seite dafür ein.“ Lächelnd lehnte sich Sabine in ihrem Stuhl zurück. Sie hatte wieder einmal auf heiß umkämpftem Terrain einen Sieg davongetragen.
Hochzufrieden kehrte Sabine von ihrem Londonflug zurück. Schon im Flieger hatte sie ihre Geschichte weitgehend in den Laptop getippt. Sogar ein knackiger Titel war ihr spontan dazu eingefallen – „Der Himmel über New York“. Das Interview
war anfangs nur schleppend vorangegangen, die Antworten hatten nichts enthüllt, was nicht schon längst in der Presse zu lesen gewesen war. Aber nach einer Weile hatte das Model anscheinend Vertrauen gefasst und sein Frühwarnsystem abgeschaltet. Die Strategie, nicht zu drängen, sondern sich ganz auf die Gesprächspartnerin einzulassen, hatte sich mal wieder als die richtige erwiesen. Als erste Journalistin hatte Sabine dadurch von der Penthouse-Wohnung erfahren, die der Verlobte seiner Angebeteten in New York einrichtete. In den leuchtendsten Farben hatte das Model von der Einrichtung geschwärmt, die allein ein Vermögen gekostet hatte. Sabine wagte kaum zu spekulieren, für wie viel Geld die Wohnung den Besitzer gewechselt hatte. Angesichts eines so großzügigen Geschenks war es wohl erlaubt, über konkretere Heiratspläne des Paares öffentlich nachzudenken und die Gerüchteschraube darüber eine Runde weiterzudrehen. Sabine wusste, wie wichtig es war, vor Konkurrenten auf der Hut zu sein. Seit Ramona ihr Interview manipuliert hatte, speicherte sie ihre Dateien immer so ab, dass sie nur mit ihrem persönlichen Passwort zugänglich waren. Diesmal würde sie sich vor Marlene in Acht nehmen müssen, damit die sich nicht doch noch die Geschichte unter den Nagel reißen konnte. Noch bevor sie in ihr Büro ging, wo alle sie mit neugierigen Fragen bestürmen würden, schaute sie bei Dr. Bartels vorbei. „Es ist grad’ niemand drin“, erlaubte ihr seine Sekretärin, ins Allerheiligste vorzudringen. „Ja?“, fragte Dr. Bartels knapp und schaute von Säulengrafiken und Tabellen auf, die er über den ganzen Schreibtisch ausgebreitet hatte. Als er Sabine sah, hellte sich seine düstere Miene etwas auf. „Na wenigstens ein erfreulicher Anblick. Das kann man von den Verkaufszahlen der letzten Monate jedenfalls nicht behaupten.“
Sabine wollte vor allem Rückendeckung von Dr. Bartels, dass die halbe Seite unter ihrem Namen erschien, aber es sah ganz so aus, als könnte er im Moment eine geduldige Zuhörerin besser gebrauchen. „Geht es denn immer noch nicht bergauf?“, fragte sie mitfühlend. „Ach was, eine Panne nach der anderen! Das kommt davon, wenn die Mitarbeiter nicht funktionieren“, schimpfte er. „Das sag’ ich Ihnen jetzt nur unter vier Augen, aber die Giotto hat sich schon wieder einen Patzer geleistet. War an einer heißen Story dran und hat sie sich von der Konkurrenz wegschnappen lassen, die das prompt eine Woche früher gebracht hat. So was darf einfach nicht vorkommen. Die Frau ist so gut wie gefeuert.“ Jetzt begriff Sabine, warum Dr. Bartels nicht Marlene, sondern sie nach London geschickt hatte, denn ihre Vorgesetzte stand längst auf der Kündigungsliste. Fast hatte sie Mitleid mit Marlene, die einen aussichtslosen Kampf focht, ohne zu wissen, dass sie längst verloren hatte. Hier wurde mit noch härteren Bandagen gekämpft, als sie vermutet hatte. Da konnte sie nur hoffen, dass es ihr nie so ergehen würde. Allerdings fiel es Sabine nicht ein, ihre Vorgesetzte in Schutz zu nehmen. Sie selbst konnte in so einer Situation nur gewinnen. Vielleicht wäre es gar so nicht abwegig, auf den Posten zu spekulieren. „Kann ich etwas tun, um Ihre Laune zu heben?“, fragte sie. Dr. Bartels fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sah sie von oben bis unten grinsend an. „Könnten schon, aber ob Sie das auch wollten…“ „Und ob ich will“, zwinkerte Sabine ihm vielsagend zu und strich mit dem Zeigefinger an seinem Revers entlang, „aber leider ruft jetzt die Pflicht.“
Sabine und Holger saßen in ihrem italienischen LieblingsRestaurant, das gerade ziemlich angesagt war. Das „Ponte“ lag zwar in der Innenstadt, aber so versteckt, dass sich kaum je ein Tourist dorthin verirrte. Der niedrige, weiß gestrichene Saal wurde durch schwere dunkelrote Samtvorhänge in Nischen unterteilt, in denen man in aller Abgeschiedenheit sein ausgefallenes Menü genießen konnte. Hier konnten sich Holger und Sabine auch über berufliche Dinge austauschen, ohne gleich ungebetene Zuhörer fürchten zu müssen. Holger war gerade aus Monaco zurückgekommen, und da sie fast jeden Tag miteinander telefoniert hatten, wusste Holger schon, dass die Sache über Claudia Schiffer erschienen war. „Und, wie war die Resonanz?“, erkundigte er sich. „Ziemlich gut, glaube ich. Nächste Woche bringen wir noch ein Follow-Up. Wie lief’s bei dir?“ „Warte, ich zeig’s dir gleich.“ Er breitete seine neusten Schnappschüsse vor Sabine aus. „Was meinst du, welche ich dem ,Kurier’ anbieten sollte?“ „Mensch, das ist ja sensationell!“, brach Sabine in Begeisterung aus. „Du hast Stephanie mit ihrem neusten Lover erwischt. Das ist bestimmt der Vater ihres dritten Kindes. Wenn das kein Knüller wird!“ Einen Moment lang dachte sie nur an den Erfolg, den Holger damit haben würde. Doch dann schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf, dass nämlich auch sie davon profitieren konnte – wenn Holger mitmachte. „Musst du’s unbedingt dem ,Kurier’ verkaufen? Du könntest es doch der ,Femme’ anbieten, und ich würde die Story dazu schreiben?“ Holger ließ sich die Idee durch den Kopf gehen. Es war nicht das erste Mal, dass sie gemeinsam einen Artikel machten, und meistens waren sie gut damit gefahren. Trotzdem zögerte er.
„Der ,Kurier’ zahlt mir mindestens das Doppelte, und ich brauche gerade dringend Kohle. Das Motorboot, das ich in Monaco mieten musste, hat ‘ne ganze Stange Geld gekostet, und eine neue Kamera mit ‘nem besseren Objektiv brauche ich auch unbedingt.“ Sabine runzelte missbilligend die Stirn. „Also hör mal, wenn du kein Geld hast, wer dann. Ich muss endlich einen Break landen, sonst sitze ich noch bis zur Rente auf meinem Posten und komm’ nicht weiter.“ Sie dachte dabei natürlich an die Stelle von Marlene, die vielleicht bald frei werden würde. Da Holger sich auch davon nicht überzeugen ließ, rückte sie noch näher an ihn heran und knabberte verführerisch an seinem Ohrläppchen. „Wir haben doch immer gesagt, wir wollen es gemeinsam schaffen, Liebling. Wenn wir unsere Talente und unsere Kontakte zusammenschmeißen, sind wir unschlagbar – das Journalisten-Team der Zukunft. So ein kleiner Kompromiss zählt doch nicht, wenn er uns weiterbringt.“ Holger legte den Arm um sie und küsste sie. „Du hast ja Recht. Am besten fühlst du schon mal vor, wie viel drin ist bei der Sache.“ „Ich würde jetzt am liebsten was ganz anderes vorfühlen“, flüsterte Sabine ihm ins Ohr. „Lass uns zu dir gehen.“
Sabine saß im Erste-Klasse-Abteil des Intercity nach Köln, wo sie in der Lounge eines großen Hotels mit einem bekannten Filmregisseur verabredet war, um über seine neuste Produktion zu sprechen. Sie nippte an ihrem Kaffee und dachte, wie so oft, über ihre momentane Situation nach. Jeder Außenstehende, der sie so sah, würde sie beurteilen als eine schöne Frau, nach der sich die Männer auf der Straße umdrehten und die wirklich Klasse hatte. In der Redaktion gehörte sie zu den
bestangezogenen Frauen überhaupt, denn sie hatte einfach ein Händchen für trendige Kleider und schreckte auch nicht vor bunten Farben zurück, die sie selbstbewusst trug. Schrecklich, diese Krähen, die immer nur in langweiligen Schwarz- und Grautönen oder anderen Unfarben herumliefen. Ihrem Kontostand tat ihre Faszination für Designer-Mode zwar nicht besonders gut, aber das würde sich bald geben, wenn sie erst mit Holger zusammen den Durchbruch geschafft hatte. Sie wollte zu den bestbezahlten Journalisten in Deutschland gehören, das war ihr erklärtes Ziel. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie schon einmal mit dem Zug nach Köln gefahren war, vor fast zehn Jahren, als sie den Contest zu gewinnen hoffte. Damals war ihr klar geworden, wer die eigentliche Macht über die Köpfe der Leute hatte – nicht die Stars und Sternchen, sondern die, die sie zu dem machten, was sie waren – die Leute von Presse, Funk und Fernsehen. Sabine lächelte in sich hinein. Das war es, was ihr an ihrer Arbeit so viel Spaß machte und sie all die Kämpfe und Intrigen gleichmütig ertragen ließ. Ihr Name stand unter ihren Artikeln wie ein Stempel, den sie den Prominenten aufdrückte. „Sabine Sanders enthüllt die Wahrheit über…“ – so stellte sie sich eine Reihe vor, die in der „Femme“ irgendwann regelmäßig erscheinen könnte. Ob sie Dr. Bartels schon mal ein Konzept dafür unterbreiten sollte? Die Story über Stephanie wäre doch ein guter Anfang… Die Melodie ihres Handys riss sie aus ihren Tagträumen. Hoffentlich war es nicht der Regisseur, der in letzter Minute absagte, dachte sie, bevor sie den Knopf drückte. „Hier ist Holger.“ Irgendwie klang seine Stimme anders, deshalb fragte Sabine gleich ganz alarmiert: „Ist was passiert?“ „Bine, ich hab’ schlechte Neuigkeiten für dich“, erklärte Holger kleinlaut.
„Die ,Femme’ hat die Bilder abgelehnt“, mutmaßte Sabine entsetzt. „Noch viel schlimmer. Die Bilder gibt’s nicht mehr. Als ich noch mal Abzüge machen wollte, hab’ ich die Negative zu lang in die Entwicklerlösung gelegt, weil ich beim Telefonieren nicht auf die Uhr geschaut hab’. Die sind völlig ruiniert.“ „Aber du kannst doch von den Abzügen Kopien machen lassen“, sagte Sabine mit schriller Stimme. „Eben nicht“, gestand Holger, „ich hab’ doch auf die Schnelle nur Kontaktabzüge gemacht. Die Auflösung reicht nie für einen Farbabdruck im Magazinformat.“ Sabine war völlig niedergeschmettert. Minutenlang sagte sie gar nichts. Aus der Traum vom baldigen Aufstieg, von der eigenen Kolumne. „Bist du noch dran?“, erkundigte sich Holger leise. „Sehen wir uns heute Abend trotzdem bei der Medienparty?“ „Mal sehen“, meinte Sabine lustlos. Ihr war mehr danach, das Interview in Köln schnell hinter sich zu bringen und auf dem schnellsten Weg nach Hause zu fahren und sich ins Bett zu legen. Wie hatte es Holger nur passieren können, dass ihm die Negative kaputtgegangen waren. Je mehr Sabine darüber nachdachte, desto wütender war sie auf ihn. Ohne ein weiteres Wort brach sie das Gespräch ab.
Als Sabine von Köln zurückkam, blinkte das rote Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter aufgeregt. Sie drückte auf die Abhörtaste, ließ nachlässig ihr Gepäck auf den Boden fallen und sank aufs Sofa. Noch immer stand ihr die Enttäuschung über die verlorenen Bilder ins Gesicht geschrieben. Es hätte so eine tolle Geschichte werden können, die ihren Namen – und
natürlich auch Holgers – in der ganzen Republik bekannt gemacht hätte. „Hallo Bine,… ich wollte dich gerade vom Zug abholen, aber du warst nicht drin… Melde dich, wenn du wieder da bist“, tönte Holgers Stimme vom Band. „Geschieht ihm recht, dass er umsonst zum Bahnhof gefahren ist“, dachte Sabine. Sie hatte sich in Köln noch mit einem kleinen Einkaufsbummel getröstet und in einer kleinen, teuren Boutique ein Partykleid, zwei Hosen und eine schicke Bluse erstanden, die ihre Laune zumindest ein bisschen angehoben hatten. „Ich mach’ mir langsam wirklich Sorgen, Bine“, lief die nächste Nachricht ab. „Wenn du da bist, geh bitte ran. Auch wenn du sauer bist wegen der Bilder…“ Sabine drückte auf Schnelllauf. Sie hatte keine Lust, sich Holgers flehende Bitten noch länger anzuhören. Dass sie erst zwei Stunden später in den Zug gestiegen war als geplant, war schließlich kein Weltuntergang. Nebenbei blätterte sie kurz die Post durch – nichts Interessantes, nur Rechnungen und ein Brief von der Bank, den sie gar nicht erst öffnete. Dass sie ziemlich in den Miesen war und sich das Shopping heute besser verkniffen hätte, wusste sie auch so. Kurz entschlossen goss sie sich einen Martini ein, um sich auf einen gemütlichen Fernsehabend einzustimmen. Innerlich jedoch war sie unruhig und zappte hin und her, ohne sich für einen Film entscheiden zu können. Es war einer dieser Tage, an denen einfach alles schief ging. Nicht einmal das Interview war gut gelaufen, denn der Regisseur hatte nur Standardantworten gegeben, die man sowieso in jeder Pressemitteilung nachlesen konnte. Wenn sie eine Frage gestellt hatte, die nicht in sein Schema passte, hatte er sie einfach überhört. Dafür hätte sie nun wirklich nicht nach Köln reisen müssen. Mehr als eine kleine Randnotiz würde sie kaum daraus machen können.
Alle Welt amüsierte sich jetzt auf der Medienparty im „Globe“, einer Disco, die gerade erst eröffnet hatte und schon zu einem Szeneort avanciert war. Nur sie saß frustriert zu Hause herum. Sabine wickelte unablässig Haarsträhnen um den Zeigefinger, ein eindeutiges Zeichen, dass sie nervös war. Warum sollte sie nicht doch zu der Party gehen, fragte sie sich schließlich. Vielleicht würde das helfen, sie wieder in Schwung zu bringen. Sabine holte das neue, ausgefallene Partykleid aus der edlen Einkaufstüte. Das Muster in fröhlichen Orange- und Rottönen heiterte sie gleich auf, und als sie etwas später fertig angezogen und geschminkt vor dem Spiegel stand, war sie zum ersten Mal an dem Tag zufrieden.
Die Party war in vollem Gang, als Sabine vor dem „Globe“ ankam. Hinter der spröden roten Ziegelsteinfassade verbarg sich ein echter Glitzerpalast. Man hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um aus dem alten Kornspeicher eine ultramoderne, glamouröse Location zu machen. Für die einmal im Jahr stattfindende Medienparty war extra ein bekannter DJ aus den USA engagiert worden, der die Stimmung auf Hochtouren brachte. Sabine, die seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, verspürte plötzlich ein Loch im Bauch und bahnte sich gleich einen Weg durchs Gedränge zum Büffet. Hier und da begegnete sie Bekannten, denen sie kurz Hallo sagte. Auch ein paar Kolleginnen und Kollegen von der „Femme“ hatten hergefunden, und sie winkte ihnen aus der Ferne zu. Sie würde sich nach Kräften amüsieren, dachte sie und war froh, doch noch hergekommen zu sein. Sabine hatte gerade das letzte Lachsschnittchen ergattert und überlegte, was sie noch auf ihren Teller häufen sollte, da legte sich eine Hand schwer auf ihre Schulter.
„D-da b-bist du ja“, lallte Holger. „Warum h-hast du nicht angerufen?“ Sabine drehte sich um und sah ihn kalt an. „Du bist ja betrunken“, sagte sie tadelnd. Ihre Begeisterung, hier auf ihren Freund zu treffen, hielt sich in Grenzen. Sie war nicht gut auf ihn zu sprechen. Holger zuckte die Schultern. „H-hab ja auch allen G-grund dazu.“ Sabine stellte ihren Teller zwischen die Platten aufs Büffet. Ihr war der Hunger schlagartig wieder vergangen. „Du solltest wenigstens versuchen, dich zu benehmen. Schließlich bist du nicht nur zum Spaß hier. Du könntest zum Beispiel nützliche Kontakte knüpfen – wo du schon deine große Chance vertan hast!“ Sie verstand nicht, dass Holger sich so vergessen konnte. So ein Event war eine erstklassige Möglichkeit, sich den Leuten vorzustellen, die an den Schalthebeln der Macht in der Presselandschaft saßen, sich mit Kollegen über das neueste Branchengerede zu unterhalten und Wissenswertes aufzuschnappen, was man sonst nie zu hören bekam. Das war unschätzbar, wenn man vorankommen wollte. „Du trinkst jetzt erst mal einen Espresso, damit du einen klaren Kopf bekommst. So kann ich mich nicht mit dir blicken lassen. Das ist ja hochgradig peinlich“, sagte Sabine und drehte sich zu dem Kellner hinter dem Büffet um. „Einen Kaffee bitte!“ Durch ihre abrupte Bewegung geriet Holger, der sich praktisch auf sie gestützt hatte, ins Wanken und versuchte, sich an ihr festzuklammern. „B-bist du n-noch sauer auf mich?“ Sabine rümpfte angeekelt die Nase, als Holger Anstalten machte, sie zu küssen. „Du hast ‘ne Fahne. Wenn du glaubst, mit ein bisschen Schmusen ist alles abgetan, hast du dich geirrt. Du hast es echt versaut mit der Story, als wüsstest du nicht, was für uns beide dranhängt.“
„Binelein… Nun sei doch nicht so!“, flehte Holger. „Ich kann doch auch nichts dafür.“ „Im Ernst, du bist wirklich eine Pfeife“, schimpfte Sabine laut, ohne zu merken, dass inzwischen einige um sie herum auf den Streit aufmerksam geworden waren und interessiert die Ohren spitzten. Der Kellner hinter dem Büffet reichte Holger den Kaffee, den Sabine für ihn bestellt hatte. „I-ch lieb dich doch“, jammerte Holger, „i-ch mach’s wieder gut, versprochen.“ Er wollte Sabine um den Hals fallen, doch stattdessen stolperte er über seine eigenen Füße und fiel nach vorn. Der Espresso landete in hohem Bogen auf Sabines Kleid. Fassungslos schaute sie an sich herunter. Das neue, teure Kleid – vollkommen ruiniert. Die vielen braun-schwarzen Flecken, die sich über die ganze Vorderseite verteilten, würde sie nie wieder herausbekommen. In diesem Augenblick wurde sie gewahr, dass sich ein Kreis von Leuten gebildet hatte und alle das streitende Paar anschauten. Mit dem befleckten Kleid dazustehen war fast schlimmer, als nackt zu sein, dachte Sabine. Holger hatte sie schrecklich blamiert, und das nicht irgendwo, sondern ausgerechnet vor allen Kollegen und wichtigen Persönlichkeiten ihrer Branche. Ein Augenpaar starrte sie besonders schadenfroh an. Es war Ramona, ihre alte Kollegin aus der Modeabteilung der „Femme“. Dich krieg’ ich noch, schienen die ungesagten Worte in ihrem Gesicht zu versprechen. Irgendwann ziehst du doch den Kürzeren, und das hier ist der Vorgeschmack. Sabine konnte sich nicht erklären, warum sie angesichts dieses bekannten Gesichts ein Schauder überlief. Sie schüttelte sich. Eigentlich müsste sie längst darüber hinweg sein. Sie saß so viel weiter oben auf der Karriereleiter als Ramona, dass sie von ihr nichts mehr befürchten musste. Ohne Holger oder jemand anderen eines weiteren Blickes zu würdigen, strebte sie dem Ausgang zu.
6
Sabine war zu stolz, um Holger nachzulaufen, der sich seit dem unseligen Streit im „Globe“ rar gemacht hatte. Dennoch kränkte es sie maßlos, dass er keine Anstalten machte, sich mit ihr zu versöhnen. Er rief nicht an, und wenn sie seine Nummer wählte, bekam sie immer nur den flapsigen Spruch auf dem Anrufbeantworter oder auf der Mailbox seines Handys zu hören. Ganze Abende lang hatte sie zu Hause gesessen und darauf gewartet, dass er vielleicht spontan vorbeikam – vergeblich. Ihre Wut über den Vorfall mit den Fotos war längst verraucht, und auch die Kaffeedusche hatte sie ihm verziehen. Wo steckte er nur, und warum meldete er sich nicht? Ob er wohl gerade wieder auf Recherchetour war? Anders konnte sie sich nicht erklären, dass er sie so schmoren ließ. Während sie im Büro vor dem Computer saß und an einem Artikel arbeitete, überlegte Sabine, was sie tun konnte, um Holger zurückzugewinnen, ohne dabei selbst das Gesicht zu verlieren. Aufdrängen würde sie sich nicht, also kam ein Besuch in seiner Wohnung nicht in Frage. Aber ins „Submarine“ konnte sie gehen. Irgendwann musste er ja in seinem Lieblings-Café auftauchen. Sie nahm sich vor, gleich nach der Arbeit diesen Plan in die Tat umsetzen. Sie erledigte ihre Aufgaben mit Ungeduld, denn sie konnte es kaum erwarten, wegzukommen. Als kurz nach fünf Marlene ins Büro stürmte und sie verdonnerte, innerhalb der nächsten zwei Stunden ein paar Sachen nachzurecherchieren, fluchte Sabine innerlich. Ausgerechnet heute! Konnte sie denn nicht einmal pünktlich nach Hause gehen! Als sie nach sieben ging, war das
Redaktionsgebäude fast dunkel, die meisten Büros verlassen. Hoffentlich war Holger um diese Zeit noch im Café. Das „Submarine“, unmittelbar über dem Wasserspiegel an einem der Fleete gelegen, die die Innenstadt durchzogen, war ziemlich voll, und Sabine brauchte eine ganze Weile, bis sie die Tische nach Holger abgesucht hatte. Schließlich entdeckte sie ihn an einem kleinen Fenstertisch, wo er allein vor einem Kaffee saß. „Hi“, begrüßte sie ihn schüchtern, und ihr Herz machte einen Satz. Wie hatte sie es vermisst, in seinen braunen, dichten Haaren herumzuwühlen, sein raues, markantes Gesicht zu streicheln, in seine tiefbraunen Augen zu schauen. Erst in dem Moment wurde ihr voll bewusst, wie sehr sie ihn liebte. „Kann ich mich zu dir setzen?“, fragte sie. Holger war rot geworden – ein gutes Zeichen, dachte Sabine. Er wirkte ganz verlegen, vielleicht gar schuldbewusst, weil er nicht den ersten Schritt gemacht hatte. Er nickte. Sabine hängte ihre dicke, modische Daunenjacke über die Lehne und schob eine leere Kaffeetasse mit Lippenstiftspuren von ihrem Platz weg, die das unaufmerksame Personal noch nicht abgeräumt hatte. „Wie geht’s dir?“, erkundigte sie sich vorsichtig. „Geht so“, antwortete Holger einsilbig. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, als leide er unter schlaflosen Nächten. Sabine wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Es war sicher besser, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, sondern über etwas Unverfänglicheres zu plaudern. „An was arbeitest du denn so?“ „Ich hab’ gerade ‘ne ziemliche Flaute“, gestand Holger. „Den Braten mit Prinzessin Stephanie haben mir ja dann andere vor der Nase weggeschnappt. Und du, was machst du?“
„An sich gibt’s nichts Neues. Aber ich muss mal sehen, was an der Geschichte dran ist, die mir Walter gesteckt hat. Das könnte spannend sein.“ „Was für eine Geschichte denn?“ „Ach, nur so ein Tipp. Als ich neulich im Fitness-Studio war, hat mir Walter erzählt, dass er den Verlobten von Prinzessin Alissa, diesen Fernando Brioni, in einem Schwulenklub gesehen hat.“ In Holgers Augen flammte Interesse auf. „Du scheinst dich ja gut mit diesem Walter zu verstehen, wenn er dir solche Intimitäten erzählt.“ Sollte Holger etwa eifersüchtig sein? Sabine wollte diesen Verdacht sofort zerstreuen: „Walter ist der Inhaber, und weil ich mindestens dreimal die Woche ins Studio gehe, kennen wir uns ganz gut. Und mit Frauen hat er sowieso nichts am Hut. Keine Angst, zwischen uns läuft nichts.“ „Du meinst also, er hat das nicht bloß erfunden, um dich zu beeindrucken?“ Sabine lachte laut heraus. „Glaub mir, das hat er wirklich nicht nötig. Erstens sieht er verdammt gut aus, und zweitens turnt in seinem Studio die halbe Hamburger Schickeria herum. Jedenfalls wäre es langsam an der Zeit, dass ich eine gute Story mache, damit ich Chefredakteurin bin, bevor ich in Rente gehe.“ „Dann ist’s ja gut.“ Holger warf einen unruhigen Blick auf seine Uhr. „Du, tut mir Leid, aber ich hab’ gleich noch einen dringenden Termin. Wir telefonieren dann“, versprach er, ohne Sabine in die Augen zu schauen. Sabine blieb noch sitzen und starrte durch das dicke, große Panzerglasfenster auf die Wasseroberfläche, in der sich die abendlichen Lichter der Stadt spiegelten. Sie war enttäuscht, dass bei dem Gespräch nicht mehr herausgekommen war.
Immerhin hatte er ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gedrückt – ein kleines Zeichen der Versöhnung.
Tatsächlich musste sie nicht lange warten, und Holger rief sie von selbst im Büro an. Er klang ganz anders als an dem Abend im „Submarine“. Seine alte fröhliche, zugewandte Seite hatte wieder Oberhand gewonnen: „Bine, Schatz, es tut mir Leid, dass ich neulich keine Zeit hatte. Ich dachte mir, ich lade dich zur Wiedergutmachung zum Essen ein.“ Obwohl Sabine überschwänglich zusagte, wunderte sie sich, dass sein Versöhnungswille so plötzlich kam. Er hatte sonst eher den Hang, nachtragend zu sein. Wahrscheinlich hatte er ebenso sehr unter der vorübergehenden Trennung gelitten wie sie. „Okay, schlag was vor!“, sagte sie. „Ponte, morgen Abend um acht?“ „Super. Bis dann.“ Sabine legte schwungvoll den Hörer auf. Sie lächelte sinnierend ihren Computer an. Nun, da der große Stein vom Herzen gefallen war, der sie die ganze Zeit bedrückt hatte, würde ihr die Arbeit auch wieder leichter von der Hand gehen. Sie musste nicht mehr darüber nachdenken, wie sie es schaffte, Holger zurückzugewinnen, sondern konnte sich voll und ganz ihren Storys widmen. Sabine vergewisserte sich, dass kein Lauscher in der Nähe war, dann tippte sie mit dem Bleistiftende die Nummer eines Kontaktmanns ein, die Walter ihr genannt hatte. Hoffentlich konnte der ihr mehr über Fernando erzählen. Während sie wartete, dass dieser Frank abnahm, überflog sie noch einmal ihre Notizen. Fernando war ein Profifußballer argentinischer Herkunft, der es in die internationalen Spitzenvereine geschafft hatte und derzeit bei einem deutschen Bundesligisten unter Vertrag stand. Wer auf den Antonio-Banderas-Typ stand, musste ihn schön finden. Es war also kein Wunder, dass
Prinzessin Alissa sich Knall auf Fall in ihn verliebte, als sie ihn bei einer Sportgala kennen gelernt hatte. Schon drei Monate später war die Verlobung des Paares bekannt gegeben worden. Was die junge Liebe versüßte, war die Tatsache, dass er als Sohn eines hohen Militärs, der gleichzeitig ein Vermögen mit Rinderzucht gemacht hatte, genug eigenes Geld hatte. Alissa war in der Vergangenheit schon mehr als einmal auf Männer hereingefallen, die es nur auf ihr Geld abgesehen hatten. Der ausschweifende Lebensstil der von Blankenburgs schien Heiratsschwindler nur so anzuziehen. Die Adelsfamilie war für ihre legendären Feste ebenso bekannt wie für den Hang zu exklusiver Garderobe und skandalträchtige Auftritte bei öffentlichen Veranstaltungen. Sollte an der Geschichte von Walter etwas dran sein, konnte Sabine sicher sein, damit Furore zu machen. Vorerst würde sie alles, was sie herausbekam, streng vertraulich behandeln. Erst wenn sie eine Menge Fakten zusammen hatte, wollte sie mit dem Knüller herauskommen. Mit dieser Taktik riskierte sie zwar, dass ihr irgendjemand durch Zufall zuvorkam, aber das war besser, als wenn ihr jemand aus der Redaktion das Thema wegschnappen würde. Vor allem ihre Kolleginnen und Kollegen sollten deswegen von ihren geheimen Ermittlungen nichts mitbekommen. Sabine wollte schon auflegen, da meldete sich am anderen Ende der Leitung eine etwas blasierte, künstlich hohe Männerstimme: „Hi, Hi, Frankie Frank, immer zu Diensten. Was kann ich für Sie tun?“ Blitzschnell stellte sich Sabine auf den eitlen Ton ein. Dem Typen konnte man sicher am besten Geheimnisse entlocken, wenn man ihm Honig um den Bart schmierte. „Hallöchen, hier ist Sabine Sanders, Journalistin. Ich habe Ihre Telefonnummer von meinem Freund Walter. Sie sollen einer der besten Kenner der Szene sein, und unsere Zeitung interessiert sich brennend
für heiße Themen. Meinen Sie, wir könnten uns ein bisschen unterhalten?“ „Das ist ja reizend, Schätzchen“, flötete der Mann. „Da sind Sie bei mir genau an der richtigen Adresse. Ein Wunder, dass die Presse nicht längst auf mich zugekommen ist.“ Anscheinend hatte der Typ eine blühende Fantasie – er dachte wohl, sie wolle ein Feature über ihn machen. In dem Glauben konnte sie ihn ruhig lassen. Allerdings musste sie aufpassen, dass er nicht in seinem Eifer das Blaue vom Himmel herunter log. „Wann und wo kann ich Sie treffen?“ „Jederzeit, Honey. Morgen Abend im „Hang out“? Und vergiss deinen Fotografen nicht.“ „Alles klar. Und wie erkenne ich Sie?“ „No problem. Halt einfach Ausschau nach dem schönsten Mann.“ Kopfschüttelnd legte Sabine auf. An Selbstgefälligkeit war dieser Frank ja kaum zu überbieten. Den Fotografen konnte er sich allerdings abschminken. Siedend heiß fiel ihr in diesem Moment Holger ein, mit dem sie für genau diesen Zeitpunkt zum Essen verabredet war. So ein Mist! Na ja, er hatte bestimmt Verständnis, wenn sie das Date verlegte. Die Arbeit ging eben vor. So war das nun mal bei einem modernen Paar: Wenn beide Karriere machten, konnte es leicht passieren, dass man sich nur selten sah.
Holger saß gelangweilt am Tisch und spielte mit der Stoffserviette herum, als Sabine mit einer halben Stunde Verspätung ins Ponte kam. „Tut mir Leid, ich bin in der Redaktion noch aufgehalten worden“, entschuldigte sie sich und küsste ihn ausgiebig auf den Mund. „Du bist mir nicht böse, oder?“
„Sollte ich eigentlich sein“, meinte Holger vorwurfsvoll. „Erst verschiebst du unsere Verabredung, und dann kommst du auch noch zu spät. Ich glaube, du musst mich noch ein bisschen trösten.“ Sabine küsste ihn noch inniger. „Hilft das?“, fragte sie zwischendurch, und nachdem ihr die Puste zum Küssen ausgegangen war, erkundigte sie sich neckisch: „Und womit hast du dich gestern über meine Abwesenheit weggetröstet? Ich hoffe, du hast mich vermisst.“ Holger zuckte fast unmerklich zusammen. „Och, ich bin einfach zu Hause geblieben und hab’ auf gemütlich gemacht. War’s wenigstens ergiebig für dich?“, kam er schnell auf ein anderes Thema. „Also, ich muss dir sagen, es hat sich echt gelohnt, diesen Typen gestern zu treffen. Du wirst staunen, was er so ausgepackt hat.“ „Na, dann lass mal hören.“ Holger stützte den Kopf auf den Ellenbogen ab und demonstrierte, dass er sich auf längeres Zuhören einstellte. Das war einer der Vorteile ihrer Freundschaft, den sie über alles schätzte. Mit niemandem konnte sie so gut ihre Rechercheergebnisse durchgehen wie mit Holger. Er war ein geduldiger, intelligenter Zuhörer, der an den richtigen Stellen die richtigen Fragen stellte und sie damit oft auf die entscheidende Fährte brachte oder Lücken und kleine Unstimmigkeiten aufdeckte. Überdies war er der Einzige, dem sie wirklich trauen konnte. Ihren Kolleginnen und Kollegen bei der „Femme“ gegenüber hielt sie sich dagegen zurück. Es gab zu viele, die nur ihr eigenes Weiterkommen im Auge hatten und jede Gelegenheit nutzten, die Themen von anderen für eigene Zwecke zu verwerten. Das hatte Sabine spätestens da begriffen, als Ramona ihr einige Male mit ihren Artikeln zuvorgekommen war.
„Der Tipp war wirklich heiß“, erklärte Sabine, nachdem sie zunächst Franks Erscheinung in so blumigen Worten beschrieben hatte, dass Holger in Lachen ausbrach. „Fernando ist da nicht nur mal zufällig aufgetaucht, sondern schlägt sich regelmäßig die Nächte in den Schwulenbars um die Ohren. Dass das noch niemand spitzgekriegt hat, wundert mich selbst. Aber normalerweise hält die Szene ziemlich dicht, da gibt’s genug Leute, die ein Doppelleben führen – auf der einen Seite ganz bürgerlich, und nachts geht’s zur Sache. Frankie hat mich noch ein paar Typen vorgestellt, die das bestätigen konnten. Sie wussten sogar ganz genau, auf was für Typen Fernando abfährt und so.“ „Was meinst du, weshalb sich der Typ dann mit Alissa verlobt hat.“ Sabine kaute nachdenklich auf einem Bissen raffinierter Gemüse-Pasta herum. „Das muss ich noch herausfinden. Hast du eine Ahnung, wie ich an Alissa rankommen kann? Ich würde ihr gern mal auf den Zahn fühlen, ob sie was ahnt oder ob sie so naiv ist, wie es scheint.“ „Sorry, da hab’ ich keine Kontakte, die dir weiterhelfen würden“, meinte Holger. Sabine legte die Gabel zur Seite, denn sie hatte eine Idee. „Ich gebe mich einfach als Modejournalistin aus. Die Prinzessin ist ja für ihren prallen Kleiderschrank berühmtberüchtigt und wird sich freuen, wenn da jemand kommt, der eine Reportage über die „bestangezogene“ Adlige Deutschlands machen will, oder? An ihrer Eitelkeit kannst du fast alle Leute packen“, meinte sie grinsend. „Aber lass uns von was anderem reden. Gehen wir nachher zu dir?“ „Äh, vielleicht lieber zu dir. Bei mir ist nämlich die Heizung ausgefallen“, wehrte Holger schnell ab. „Och, ist doch romantisch. Dann verkriechen wir uns ganz schnell unter die Decke.“
„Sehr romantisch, wenn einem die Zehen abfrieren. Nein danke.“
Sabine blieb mit Feuereifer an der Sache. Die Vorstellung, mit der Story unter die gefragtesten Journalisten Deutschlands zu kommen, stachelte sie zu Höchstleistungen an. Es war ziemlich anstrengend, neben den aufwändigen Recherchen noch die normale Arbeit zu bewältigen. Niemand sollte merken, womit sie tatsächlich beschäftigt war. In dieser Hinsicht kam es ihr gelegen, dass Holger noch mehr als sonst unterwegs war und oft auch kurzfristig Verabredungen absagte. Es war ja auch erfreulich, wenn er gerade gut im Geschäft war. Wenn sie sich sahen, war es dafür umso schöner. Seit neustem brachte Holger ihr sogar Blumen mit und überraschte sie mit kleinen, aber feinen Geschenken. Vielleicht hatte das kleine Zerwürfnis ihrer Beziehung nur gut getan, dachte Sabine. Doch sie erlaubte sich nur selten den Luxus, ihr Privatleben zu analysieren. Meistens riss sie sich zusammen und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Wie sollte sie am besten weiter vorgehen? Ganz oben auf der Liste stand das Interview mit Alissa, für das sie längst einen Termin klargemacht hatte. Außerdem durfte sie nicht vergessen, den jungen Hacker anzurufen, den sie damit beauftragt hatte, die Finanzen der beiden betroffenen Familien abzuchecken. Ob er es wohl geschafft hatte, sich Zugang zu den Konten der Fürstenfamilie zu verschaffen? Zum Glück hatte sie seine Bezahlung vom Erfolg abhängig gemacht. Sabine überlegte hin und her, ob es wohl sinnvoll war, auch mit Fernando ein Interview zu machen, denn es hätte sie sehr interessiert, warum er sich eine Verlobte gesucht hatte, die so im Licht der Öffentlichkeit stand. Dass sein Doppelleben eines Tages auffliegen würde, war damit ja vorprogrammiert. Schließlich entschied sie sich gegen ein Treffen. Gerade die
Fragen, die ihr am wichtigsten waren, würden ihn stutzig machen, und dann konnte die Geschichte leicht ein Eigenleben bekommen, über das sie die Kontrolle verlor. Auf jeden Fall würde sie bald Dr. Bartels einweihen müssen, damit er ihr den Rücken deckte und in der Ausgabe vor Alissas Hochzeit möglichst viel Platz für ihren Artikel frei hielt. Ein energisches Klopfen an der Bürotür riss sie aus ihren Überlegungen. Sabine drückte schnell die Speichertaste und ließ die Datei vom Bildschirm verschwinden – gerade rechtzeitig, denn Ramona stand schon im Raum. „Ja, was willst du?“, fragte sie kalt. „Hier, ich hab’ dir wie gewünscht die Designernamen zu den Kleidern rausgesucht, die eure Promis bei der Filmgala getragen haben.“ Ramonas Stimme klang freundlicher als sonst. Von dem alten Groll war kaum etwas zu spüren. Dennoch blieb Sabine misstrauisch. „Kann ich mich drauf verlassen, dass du mich nicht aufs Glatteis führst, oder muss ich alles noch mal gegenchecken?“ „Hey, komm. Das würde ich doch nicht tun“, gab Ramona beschwichtigend zurück. „Ich finde sowieso, wir sollten unseren alten Streit begraben. Ich geb’ ja zu, wir haben uns das Leben schwer gemacht. Inzwischen habe ich einfach begriffen, dass ich gut in die Modeabteilung passe. Zu den Promis hab’ ich nicht den richtigen Draht. Und du bist ‘ne super Journalistin, das wollte ich dir schon lange mal sagen.“ Sabine wollte ihren Ohren nicht trauen. Ihre erbittertste Feindin, die ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte, spuckte solche Töne? Das konnte doch nicht sein. „Also, was ist? Friede?“, fragte Ramona lächelnd. Sabine nickte bedächtig. „Wir können ‘s ja mal probieren.“
„Und, hast du wieder was Neues rausgefunden?“, erkundigte sich Holger am Telefon. „Diese Woche praktisch nichts. Ich habe zwar einiges angeleiert, aber das zahlt sich alles erst später aus“, berichtete Sabine. Sie freute sich, dass Holger an ihrer Geschichte solchen Anteil nahm. Vielleicht würden sie doch eines Tages das berühmte Tandem sein, das sie sich ausgemalt hatten. „Sehen wir uns später?“ Holger raschelte mit seinem Terminkalender herum. „Mist, nee, leider geht’s schon wieder nicht. Ich hab’ da einen Termin bei einer Zeitung.“ „Abends?“, wunderte sich Sabine. „Na ja, also ein, äh, eher informelles Treffen. Ich erzähl’ dir ein andermal, worum es dabei geht“, redete sich Holger heraus. „Schade, und übermorgen fliegst du schon wieder nach Mallorca?“ „Es muss sein. Irgendwie hab’ ich das Gefühl, dass was im Busch ist. Und auf meinen Instinkt kann ich mich verlassen.“ „Na gut“, seufzte Sabine. „Aber wenn du zurückkommst, schaust du gleich bei mir vorbei, ja? Ach übrigens, du wirst es nicht glauben, was mir heute passiert ist.“ „Nein, was denn?“ „Ich habe dir doch mal von Ramona erzählt, der Hyäne, die mich im Volontariat gemobbt hat, was das Zeug hielt.“ „Hm, und?“ „Heute kam sie angeschlichen und hat sich quasi entschuldigt. Wir haben so ‘ne Art Waffenstillstand vereinbart und wer weiß, vielleicht werden wir irgendwann noch dicke Freundinnen“, spöttelte Sabine. „Mhm.“ „Kennst du die eigentlich? So eine kleine Dunkelhaarige mit verkrampftem Blick. Ist sie dir nie auf Partys aufgefallen?“
„Nicht dass ich wüsste, äh, keine Ahnung, wen du meinst.“ Holger hatte es plötzlich ziemlich eilig, das Gespräch zu beenden. „Du, ich hab’ noch ein weiteres Gespräch in der Leitung. See you.“
In der Redaktion hatte Sabine sich krankgemeldet und mit verhauchter Stimme über unerträgliche Halsschmerzen geklagt. Dann war sie ins Taxi gestiegen, das schon unten wartete, um sie zum Bahnhof zu bringen. Zum Glück konnte man dank des ICE die Fahrt nach Frankfurt – und dann weiter in die hessische Provinz – und zurück nach Hamburg an einem Tag schaffen, sodass sie nur einen Tag krank spielen musste. Wenn sie vom Frankfurter Hauptbahnhof aus ein Taxi zum Landsitz der Blankenburgs nahm, würde sie rechtzeitig zum vereinbarten Termin bei Alissa eintreffen. Sabine stöhnte innerlich, als sie daran dachte, wie teuer die weite Taxifahrt würde. Sie hatte für diese Geschichte schon viel Geld in Fahrten, kleine Bestechungsgelder und andere Dienste investiert und hoffte inständig, dass sie die Spesen im Nachhinein erstattet bekommen würde. Ihre Bank hatte schon wieder Dampf gemacht, weil das Konto so weit überzogen war. Aber hätte sie ihre Auslagen auf dem regulären Weg vorher von ihrer Vorgesetzten absegnen lassen, wäre die Katze längst aus dem Sack. Das Schloss der Blankenburgs erhob sich majestätisch über einem bewaldeten Hügel. Von weitem sah es mittelalterlich aus, während die neueren Anbauten erst bei näherem Hinsehen auffielen. Das ganze Anwesen machte einen leicht verwahrlosten Eindruck, hier und da blätterte Putz ab und brachte Bruchsteinmauerwerk zum Vorschein, auf dem Dach waren ein paar Ziegelsteine verrutscht, und die Buchsbäume im Innenhof hätten einen Schnitt vertragen können. Es musste
eine ganze Stange Geld kosten, so einen Bau zu unterhalten, dachte Sabine. Ein Wunder, dass die Blankenburgs noch Geld für ihren ausschweifenden Lebensstil übrig hatten, der sich auch auf eine Finca auf Mallorca, eine Villa an der französischen Riviera und eine Luxusjacht erstreckte. Eines zumindest musste man dem Schloss lassen: Der Blick von dort oben war grandios – falls man auf Landschaftsimpressionen stand. Sabine betätigte den altmodischen Türklopfer in Form eines Löwenmauls. Über eine höchst moderne Türsprechanlage wurde sie gebeten, einen Moment zu warten, und Sekunden später stand sie einem livrierten Hausdiener gegenüber, der allerdings eher nach Bodyguard aussah. Vornehm geht die Welt zu Grunde, dachte sie, als sie ihre Visitenkarte auf das silberne Tablett legte. Es gehörte wohl auch zum fürstlichen Stil, sie erst einmal eine halbe Stunde in einer überladenen Bibliothek warten zu lassen. Sabine musterte die Portraits imposanter, streng dreinblickender Ahnen, die aus gewaltigen Goldrahmen starrten. Sie war leicht verärgert über das erzwungene Herumsitzen. Dass diese Leute ein Von und Zu vorm Namen hatten, gab ihnen noch lange nicht das Recht, alle wie ihre Lakaien zu behandeln. Für sie als Journalistin war Zeit schließlich Geld. Doch als Schritte in dem breiten Korridor hallten, schluckte sie ihren Ärger herunter und setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Bitte folgen Sie mir“, forderte eine jüngere Bedienstete im weißen Schürzchen sie auf, und nachdem sie ein paar Treppen hinaufgegangen waren, standen sie im Privatgemach der Prinzessin. Sabine nahm alle Details in sich auf, als sie sich verstohlen umschaute. Eine Beschreibung des Ambientes machte sich immer gut. Die gepflegten Möbel hatten mindestens dreihundert Jahre auf dem Buckel. Dunkle, hochglanzpolierte Wandverkleidungen und taubenblaue
Seidentapeten, dazu passende, bauschige Vorhänge und schwere Perserteppiche ließen den großen Raum düster erscheinen. Inmitten dieser überholt wirkenden Pracht sah die dunkelblonde, schlanke Frau im cremefarbenen Hosenanzug, die lässig auf einer Recamiere saß, ganz seltsam frisch und modern aus. Alissa war in Wirklichkeit eher hübscher und jugendlicher als auf den zahllosen Magazintiteln, die sie schon geziert hatte. Ihre rehbraunen Augen funkelten lebendig und humorvoll, und einen klitzekleinen Moment lang tat es Sabine Leid, dass sie die Frau so gnadenlos in die negativen Schlagzeilen bringen würde. Dann aber siegte wieder ihr angeborener Ehrgeiz über derartige Skrupel. Beim Tee aus feinem, goldverziertem Porzellan schlug Sabine einen leichten Plauderton an, der Alissa ihre Zurückhaltung vergessen lassen sollte. Das Aufnahmegerät ließ sie ständig mitlaufen, damit sie hinterher immer auf Originalzitate zurückgreifen konnte. Von der Vorliebe Alissas zu aufwändigen Kleidern von Dior schlug sie elegant den Bogen zur geplanten Hochzeit. „Verraten Sie mir, wie Ihr Brautkleid aussieht?“, fragte sie entwaffnend, als sei der offizielle Teil des Interviews vorbei – während der interessantere damit erst begann. „Traditionell ist so etwas ja geheim bis zum großen Tag, aber ich verrate sicher nicht zu viel, wenn ich sage, es ist von Dior, ein Traum von einem Kleid, reine Seide.“ Alissa bekam einen leicht verklärten Blick, der Sabine ermutigte, nach ihren Gefühlen zu fragen. „Sie sehen so glücklich aus. Sie haben es gut, den Mann Ihrer Träume gefunden zu haben – beneidenswert.“ „Oh ja, ich war noch nie so glücklich“, gestand Alissa. „Nach all den Missgriffen in Sachen Liebe, die in der Presse ja hinlänglich breit getreten worden sind, ist es eine wahre Erleichterung zu wissen, dass diese Tage hinter mir liegen.“
Sabine musste einen kleinen Lacher mit einem Räuspern kaschieren. „Sie geben zusammen so ein schönes Paar ab“, schwärmte sie. „Ja, Fernando ist nicht nur schön, sondern treu, zuverlässig, charmant. Ich habe es nicht einmal erlebt, dass er eine andere Frau auch nur angeschaut hat – und glauben Sie mir, in meinen Kreisen gibt es mehr als genug davon, die es darauf anlegen würden.“ Kein Wunder, dachte Sabine. Leider konnte sie schlecht fragen, ob er stattdessen vielleicht hübschen Männern hinterhergeschaut hatte. An Naivität war Alissa offensichtlich kaum zu überbieten. Ein bisschen tiefer bohren konnte nicht schaden. Mit verschämtem Blick fragte sie: „Und ist er auch ein zärtlicher Liebhaber?“ Alissa sah etwas pikiert aus, als wollte sie nicht antworten, doch dann überlegte sie es sich anders. „Also unter vier Augen sage ich Ihnen – wir wollen warten bis nach der Hochzeit.“ Jetzt musste sie etwas vorsichtiger fragen, dachte Sabine, sonst hatte sie das Vertrauen von Alissa schnell verspielt: „Man hat ja bei Ihren vorherigen Bekannten oft gemunkelt, es seien Heiratsschwindler, die es nur auf einen Titel oder Ihr Vermögen abgesehen hatten. Können Sie jetzt beruhigter schlafen?“ „Absolut. Fernando vertraue ich voll und ganz, er verfügt ja selbst über mehr als großzügige Mittel. Wir haben einfach ganz ähnliche Erwartungen vom Leben, einen ganz ähnlichen Lebensstil, der viel mit Tradition und Standesbewusstsein zu tun hat. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel das heute bedeutet.“ Alissa schüttelte selbstvergessen den Kopf, als wollte sie damit alle schlechten Erfahrungen ihres Lebens endgültig von sich werfen. „Oh, ich kann mich gut in Sie hineinversetzen – obwohl ich ja aus ganz anderen Verhältnissen komme. Mein Freund und
ich sind auch aus dem gleichen Holz geschnitzt. Das wappnet einen gegen vieles“, meinte Sabine in verständnisvollem Ton. Nur dass Sie eine bittere Enttäuschung erleben werden, hätte sie fast hinzugefügt.
Zu Hause hörte Sabine die Bänder noch mal ab. Zum Glück waren die Aufnahmen gelungen. Eine Schrecksekunde lang hatte sie befürchtet, das Gerät habe versagt, aber das Rauschen war nur ganz am Anfang kurz zu hören. Im Nachhinein war Sabine mit sich zufrieden. Sie hatte ihre Fragen geschickt gestellt und damit ziemlich ergiebiges Material zusammengetragen. Ein paar Passagen aus dem Interview würde sie als Glanzstück der Seite in einen Kasten setzen lassen. Wenn sie das dem Skandal gegenüberstellte, konnte sie eine hohe emotionale Spannung aufbauen, die die Leser in ihren Bann ziehen würde. Die bittere Pille war, dass sie alles selbst in den Computer tippen musste, damit keine Sekretärin etwas ausplaudern konnte. Sabine machte sich gleich an die Arbeit. Zwei Stunden später konnte sie endlich ihren Laptop ausschalten. Ihr Blick fiel auf den Anrufbeantworter, den sie in ihrem Eifer ganz ignoriert hatte. Er zeigte einen eingegangenen Anruf an. „Hallo“, tönte eine Teenagerstimme vom Band, in der die Begeisterung kaum zu überhören war. „Ich bin fündig geworden. Ich glaube, du hast, was du gesucht hast. Ruf mich sobald wie möglich zurück.“ Der Hacker – Sabine schlug sich mit der platten Hand vor die Stirn. Ihn hatte sie ja ganz und gar vergessen. Hastig wählte sie seine Nummer. Beim ersten Klingeln nahm er ab. „Ich hab’ schon auf deinen Anruf gewartet“, sagte er eifrig. „Kann sein, dass alles chaotisch klingt, aber ich hab’ drei Nächte nicht geschlafen – die ganze Zeit vorm Computer
gesessen.“ Er setzte an, umständlich die Prozeduren und verschlungenen Wege zu beschreiben, über die er schließlich auf die gesuchten Informationen gestoßen war. Sabine vermutete, dass ihn gar nicht interessierte, was sie mit den Infos anzufangen gedachte, Hauptsache, er hatte eine verflixt schwierige Aufgabe gelöst. Wahrscheinlich gab es so eine Art Hacker-Ehre. „Okay, und was ist raus gekommen“, kürzte sie den Wortschwall ab. „Ja, jedenfalls, in irgendwelchen abstrusen argentinischen Wirtschaftsnachrichten ist ‘ne kleine Meldung aufgetaucht, dass das ,Fleischimperium’ dieser Brionis vor dem Zusammenbruch steht. Ich hab’ sogar extra ‘nen Kumpel holen müssen, der spanisch kann. Wird ‘nen Hunni mehr kosten deswegen. Anscheinend hat sich das noch nicht groß rumgesprochen. Ist ‘n ziemlicher Geheimtipp.“ „Du – du willst damit sagen, die Brionis sind pleite? Ist das auch sicher?“ „Sieht ganz so aus. Ich bin da an ein paar Bankdaten gekommen, die das bestätigen – du willst sicher nicht wissen, wie ich da rangekommen bin. Außerdem braucht dein Fernando höllisch viel Kohle. Wo die hinfließt, habe ich allerdings nicht rausgekriegt.“ Dazu hatte Sabine selbst ihre Vermutungen. So ein Doppelleben in der Halbwelt konnte ganz schön teuer sein. Frank hatte ihr längst erzählt, wie Fernando mit Geld um sich warf. „Und der Gag ist“, verkündete der Hacker, „diesen Blaublütern da steht das Wasser auch bis zum Hals. Die sind bis zum letzten Dachbalken ihrer Ritterburg verschuldet.“ Wäre er in der Nähe gewesen, Sabine hätte ihn vor Freude umarmt. Auf einmal passten alle Puzzelteilchen zusammen – die Geschichte wurde immer runder. Dieser Halunke Fernando
war nichts als ein kleiner Heiratsschwindler, der das verlorene Vermögen seines Vaters wettmachen wollte, um seine heimlichen Liebschaften zu finanzieren. Dass die adlige Fassade, die er seinem Doppelleben geben wollte, längst bröckelte, ahnte er wohl nicht einmal. Im Geist ging Sabine schon mögliche Titel durch, doch sie riss sich am Riemen. „Hast du davon auch was schriftlich, also nachprüfbar?“, fragte sie, ganz die professionelle Journalistin. „Die offiziellen Sachen schon, bei den Bankgeheimnissen sieht’s natürlich anders aus. Morgen bring’ ich dir ein paar Ausdrucke vorbei, mit der Post schicke ich so was lieber nicht. Und den Rest maile ich dir gleich.“ „Du hast mir echt einen riesigen Gefallen getan“, bedankte sich Sabine. „Das Geld kann ich dir ja dann morgen geben. Ich bin so ab acht zu Hause.“ Um ihren in greifbare Nähe gerückten Erfolg zu feiern, machte Sabine eine Flasche Champagner auf. Schade, dass Holger gerade auf Mallorca war. Seine Fotogeschichten hielten ihn dort wohl länger auf als geplant. Wahrscheinlich hing er in irgendeinem versteckten Tal fest, wo nicht einmal sein Handy Empfang hatte. Sie würde einfach ein Gläschen für ihn mittrinken.
Dr. Bartels wirkte ungeduldig, als Sabine anklopfte und um ein Gespräch bat. „Nur, wenn’s kurz ist. Wir haben später ein Krisengespräch mit der Konzernführung, und ich muss bis dahin noch einen Stapel Unterlagen durcharbeiten. Sie wissen ja, wie es um unsere Auflage steht.“ „So schlimm?“, fragte Sabine. „Gerade dann sollten Sie sich ein bisschen Zeit nehmen.“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu, wohl wissend, dass sie mit ihren Neuigkeiten seine Laune erheblich bessern würde. Mit einem Anliegen wie ihrem direkt
zum Chef zu gehen, war zwar nicht der übliche Weg, aber ein besonderer Fall verlangte nach besonderen Mitteln. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie uns retten können. Das hat die ganze Mannschaft zusammen ja nicht geschafft – trotz aller Mahnungen.“ „Ich allein sicher nicht“, gab Sabine in einem Anflug von Bescheidenheit zu. „Aber ich hätte eine Story auf Lager, die sicher einen guten Anfang macht. Deswegen bin ich auch hier.“ Mit verschränkten Armen lehnte sich Dr. Bartels in seinem Chefsessel zurück. „Ich höre“, sagte er unwirsch. Wahrscheinlich gingen ihm die schlechten Zahlen nicht aus dem Kopf, denn gewöhnlich versuchte er, mit ihr herumzuschäkern, und überhäufte sie mit Komplimenten. Entschlossen, seine Abwehrhaltung nicht persönlich zu nehmen, begann Sabine mit ihren Ausführungen. „Allerdings bitte ich Sie, meine Informationen zunächst absolut vertraulich zu behandeln, denn im Moment haben wir noch den Zeitvorteil. Wenn eine andere Zeitschrift von der Sache Wind bekommt, haben wir verloren. Da muss nur ein unzuverlässiger Kollege am falschen Ort ein falsches Wort sagen, und es ist zu spät.“ „Machen Sie es nicht so spannend.“ Dr. Bartels sah demonstrativ auf seine teure Uhr. Sabine ärgerte sich nun doch ein bisschen über die unfreundliche Behandlung, schließlich war sie gekommen, um etwas für den Erhalt der „Femme“ zu tun. Er hatte es ja leicht – saß auf seinem Thron und konnte die Mitarbeiter zappeln lassen. Eines vielleicht gar nicht so fernen Tages, fuhr es ihr durch den Kopf, könnte ich auf seinem Stuhl sitzen. „Nun, Prinzessin Alissa war schon immer für eine hohe Auflage gut.“
„Wenn sie von der Hochzeit sprechen, die ist schon eingeplant, aber das wird uns auch nicht viel helfen, da sind alle anderen auch dran.“ „Ob es zu dieser Hochzeit kommen wird, steht in den Sternen. Das wird sich nach meinen Enthüllungen noch herausstellen“, sagte Sabine geheimnisvoll. „Ich habe lange und mühevoll recherchiert und etwas zu Tage gefördert, was sich keiner träumen ließe.“ Sie skizzierte in groben Zügen ihr Wissen. Von Satz zu Satz bekam Dr. Bartels größere Augen, bis ihm schließlich staunend der Mund offen stand. Die Bombe hatte genauso eingeschlagen, wie sie es sich vorgestellt hatte. „Das ist ja grandios.“ Dr. Bartels pfiff anerkennend durch die Lippen. „Haben Sie das etwa alles allein zusammengetragen.“ Sabine nickte stolz. „Ja, um das so lange wie möglich geheim zu halten, ging es nicht anders.“ „Und was erwarten Sie jetzt von mir?“, fragte der Chefredakteur, sich das Kinn massierend. „In spätestens zwei Wochen bin ich so weit mit dem Artikel. Das heißt, er käme in die erste Aprilausgabe. Das wäre ein Termin drei Wochen vor der geplanten Hochzeit. Mir scheint das sehr günstig. Sie müssten also dafür sorgen, dass für diese Ausgabe möglichst viel Platz zur Verfügung steht, ohne dass jemand erfährt, was da rein soll.“ „Kein Problem. Eine Doppelseite und das Cover machen wir mindestens frei.“ „Tja, und ich habe bisher alle Spesen ausgelegt“, erwähnte Sabine in Erinnerung an unerfreuliche Bankbriefe, die sich mittlerweile bei ihr zu Hause stapelten. „Ich gehe davon aus, dass die ,Femme’ mir die Auslagen so bald wie möglich erstattet.“ „Das ist das Mindeste, was wir für eine so engagierte Mitarbeiterin tun können“, erklärte Dr. Bartels. „Ich muss mal sehen, ob da nicht noch mehr für Sie drin ist. Wenn sich die
Auflage in die richtige Richtung entwickelt – und davon gehe ich bei dem Thema aus –, dann steht sicher eine Gehaltserhöhung für Sie an.“ „Darauf habe ich gehofft“, gestand Sabine. „Wir sind uns also einig?“ „Daran zweifeln Sie noch? Sie haben meinen Tag gerettet. Jetzt kann ich mit einem ganz anderen Gefühl in dieses Krisengespräch gehen. Mit dem, was Sie mir erzählt haben, haben wir einen Trumpf in der Hand.“ Nachdem noch ein paar weitere Details abgeklärt waren, verließ Sabine zufrieden die Chefetage. Zur Feier des Tages nahm sie sich schon am frühen Nachmittag frei und machte eine Runde durch ihre Lieblingsboutiquen. Mit mehreren schicken Einkaufstüten im Gepäck kam sie abends nach Hause. Schließlich würde sie bald im Rampenlicht stehen, da brauchte man eine anständige Garderobe. Nach der in Aussicht stehenden Gehaltserhöhung und der Spesenerstattung war das sowieso kein Problem mehr.
Sabine war erstaunt, dass in ihrem Apartment Licht brannte. Hatte sie etwa vergessen, es auszuschalten? Mit einem unguten Gefühl drehte sie den Schlüssel im Schloss herum und setzte vorsichtig den Fuß in den Flur. Keine zwei Schritte später hielt ihr jemand von hinten die Augen zu. Sabine blieb vor Schreck stocksteif stehen und hielt den Atem an. „Überraschung!“, krähte Holger und ließ sie los. Sabine drehte sich erleichtert um, aber ihr Herz klopfte immer noch wie rasend. „Wo kommst du denn auf einmal her? Du warst ja wie vom Erdboden verschluckt“, fragte sie vorwurfsvoll, denn sie nahm Holger den Überfall übel.
„Ich dachte, du freust dich“, beschwerte sich Holger. „Ich konnte es kaum abwarten, dich wiederzusehen.“ Sabine seufzte. Er hatte ja recht, sie hatte überreagiert. „Sorry, es war nur der Schock“, entschuldigte sie sich und fiel endlich Holger in die Arme. „Mmm, du hast ein neues Rasierwasser“, stellte sie bald fest. „Riecht gut, ‘n bisschen feminin vielleicht.“ „Ist eins für Männer und Frauen“, erklärte Holger und wurde leicht rot. „Das ist doch kein Grund zum Rotwerden! Ich hab’ mich nur gewundert, weil du sonst auf herbe Düfte stehst.“ Sie sah ihn aus einer Armlänge Abstand an. „Du siehst abgespannt aus. War auf Mallorca schlechtes Wetter? Und kein bisschen braun bist du geworden, wo du doch sonst nach ein, zwei Stunden aussiehst wie andere nach ‘ner Woche Urlaub!“ „War nur Stress, die Tage hab’ ich im Großen und Ganzen verschlafen, weil ich mir die Nächte um die Ohren schlagen musste. Und, wie war deine Woche?“, wechselte Holger zu einem anderen Thema. „Wie ist dein Interview mit unserer schönen Prinzessin gelaufen?“ „Stimmt, das hab’ ich dir noch gar nicht erzählt. Ich habe jetzt alles zusammen, was ich für einen sensationellen Artikel brauche. Schau mal!“, Sabine packte ihren Laptop aus, um Holger ihr Werk in allen Details vorzuführen. „Hättest du nicht Lust, mir noch ein paar Bilder dazu zu liefern? Einige habe ich schon selbst gemacht, aber du könntest dich noch mal im ,Hang out’ auf die Lauer legen. War das nichts für dich?“, fiel Sabine ein. Aber Holger lehnte ab. „Ich würde schon gern, aber jetzt habe ich in meiner Geldnot gerade versprochen, bei ein paar Werbeaufnahmen mitzumachen. Die fangen morgen an.“ „Damit könntest du aber viel mehr verdienen!“
„Schon, aber ich habe schon einen Vertrag unterschrieben, daran gibt’s nichts zu rütteln.“ „Schade, Dr. Bartels stellt mir eine Doppelseite und das Cover zur Verfügung, da wäre genug Platz gewesen.“ „Dr. Bartels? Weiß der etwa Bescheid?“, fragte Holger entgeistert. „Klar, warum nicht. Schließlich brauche ich ja seine Rückendeckung.“ Sabine war erstaunt, dass Holger das so bemerkenswert fand. „Aber das ist doch unvorsichtig! Du hast so viel reingesteckt in die Story. Stell dir vor, sie wird dir im letzten Moment geklaut, oder er setzt noch jemand anderen drauf an.“ „Was soll schon passieren“, meinte Sabine leichthin. „An meine Dateien kommt sowieso keiner ran, da habe ich schon mit einem Passwort vorgesorgt, und mein Zeitvorsprung ist auch nicht aufzuholen. Der Bartels legt mich bestimmt nicht rein, der braucht mich doch.“ „Na ja, ist ja nun ohnehin nicht mehr zu ändern“, murrte Holger. Sabine schüttelte verständnislos den Kopf. Also manchmal durchschaute sie Holger einfach nicht.
Den Text hatte Sabine praktisch fertig im Computer, nachdem sie einige Tage daran gefeilt hatte, um die Fakten möglichst spannend anzuordnen. Ihrer Meinung nach war der Artikel wirklich ein Meisterstück, der die Leser vollkommen in den Bann schlagen würde, so geschickt waren die Gefühlsgegensätze inszeniert. Nun fehlte nur noch der letzte Schliff. Ein paar skandalöse Bilder von Fernando würden dem ganzen die Krone aufsetzen. Enttäuscht, dass Holger das Angebot ausgeschlagen hatte, entschloss sich Sabine, selbst zur Kamera zu greifen. Sie würde zwar nicht so gute Bilder
schießen können, dazu war sie zu unerfahren, aber eine andere Lösung fiel ihr nicht ein. Bis zum Publikationstermin hatte sie ohnehin noch eine Woche Zeit, in der nichts Dringendes mehr anstand. Außerdem könnte sie für Fotos einige tausend Mark extra in Rechnung stellen, was ihrem Kontostand nicht schaden konnte – selbst mit der Aussicht auf die Gehaltserhöhung hatte sie bei der Bank nur eine kurze Galgenfrist aushandeln können. Einer Agenturmeldung zufolge verbrachte Fernando die letzten Wochen vor der Hochzeit auf der Jacht der Blankenburgs, während Alissa im heimischen Schloss letzte Vorbereitungen für das Fest traf. Sabine hätte ihr Gehalt darauf verwettet, dass Fernando sich für den Rest seines Junggesellendaseins ein paar heiße Nächte gönnte. Auf Umwegen fand sie heraus, dass die Jacht gerade vor Mykonos lag. Bingo, dachte sie, denn Mykonos war dafür bekannt, ein Mekka für Männer zu sein. Kurzentschlossen nahm sie ein paar Tage frei, buchte einen Flug nach Athen und nahm die nächste Fähre auf die Kykladen-Insel. Sabine hatte sich in einer zentral gelegenen Pension eingemietet. Von ihrem Zimmer aus hatte sie einen guten Blick auf die Flaniermeile, über die des Abends die Paare wanderten. Als Erstes erkundete sie den Jachthafen. Die Luxusjacht war leicht zu finden, denn unter den zumeist kleinen Booten stach sie deutlich heraus. Die spätnachmittägliche Sonne nutzend, schoss sie gleich ein paar Fotos von der „Bianca“, wie das Schiff in eitler Anlehnung an den Familiennamen getauft war. Dann suchte sie sich einen leicht erhöht liegenden Beobachtungsposten, auf dem sie möglichst wenig Aufmerksamkeit erregte und doch mit dem starken Teleobjektiv nah genug herankam. Die Beschattung ihres Objekts erwies sich als aufwändiger als erwartet. Fernando ließ sich selten an Land blicken. Ein
paarmal war er in irgendwelchen Gässchen verschwunden, in die Sabine ihm nicht folgen konnte, ohne mit ihrem gewaltigen Teleobjektiv zu sehr aufzufallen. Widerstrebend hatte sie sich zurückgezogen und gewartet, bis Fernando auftauchte – immer allein. Klar, dachte Sabine, er musste sein Geheimnis ja mit allergrößter Vorsicht hüten, sonst wäre er längst aufgeflogen. In Hamburg kannte natürlich jeder das Gesicht des Fußballers. Aber selbst hier, wo er bestimmt viel weniger auffiel, tauchte er nie in Begleitung eines Freundes in der Öffentlichkeit auf. Nach drei zermürbenden Tagen konzentrierte sich Sabine wieder auf die Beobachtung der Jacht. An diesem relativ geschützten Ort würde sie am ehesten zu ihren Schnappschüssen kommen. Schon wieder hatte sie stundenlang umsonst gewartet. Aus Furcht, Verdacht zu erregen, wenn sie schon wieder in der nächstgelegenen Bar die Toilette benutzte, hatte sie sich in der Nähe ins Gestrüpp begeben. Dann machte sie es sich wieder auf ihrem Posten bequem, wo sie zur Tarnung Zeichenblock und Grafitstifte auf dem Schoß hatte. So konnte sie im Notfall die Kunststudentin mimen. Gerade wollte sie nach ihrer fast leeren Wasserflasche greifen, da fror ihre Bewegung ein. Auf dem Deck der Jacht regte sich etwas. Schleunigst griff sie nach der Kamera und stellte das Objektiv scharf. Fernando war zugange. Aha, er stellte Liegestühle und einen Klapptisch auf. Klick, klick. Nachdem er kurz unter Deck verschwunden war, kehrte er mit einem beladenen Tablett wieder. Das sah ja ganz nach einem Sektempfang für zwei aus. Klick, klick, klick. Sabine hielt die Spannung kaum mehr aus. Konnte sie endlich die ersehnten Fotos schießen? Da, da – innerlich jubelte sie. Aus der Tiefe des Schiffes tauchte zuerst ein Männerkopf mit millimeterkurz rasierten Haaren und dann der ganze Körper auf. Ein Bild von einem Mann! Das eng anliegende weiße Top brachte selbst in der Dämmerung den muskulösen, braun
gebrannten Oberkörper bestens zur Geltung. Und schon waren die beiden Männer in einer Umarmung verstrickt, die über eine freundschaftliche Begrüßung eindeutig weit hinausging. Klick, klick, klick, klick, klick. Ja, das war’s – genau das, was noch gefehlt hatte, um den Artikel perfekt zu machen. Sehr viel mehr würde sie heute nicht mehr zu sehen bekommen, vermutete Sabine und packte ihre Sachen zusammen. Jetzt musste sie schleunigst sehen, dass sie für morgen früh noch einen Rückflug bekam.
Sabine hatte um vier Uhr aufstehen müssen, um die erste Fähre nach Athen zu bekommen. Sie war völlig erschöpft, weil sie vor Aufregung sowieso kaum hatte schlafen können. In letzter Minute, als das „Boarding“-Schild schon rot aufleuchtete und weit und breit kein Passagier mehr in Sicht war, hatte sie die Gateway erreicht und den Flieger bestiegen. Um sie herum saßen hauptsächlich gut gelaunte Touristen in hässlich-bunten Kleidern. Doch trotz des Lärmens und Johlens ihrer Sitznachbarn nickte Sabine ein, sobald das Flugzeug hoch über den Wolken schwebte. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt ihrem bevorstehenden Siegeszug durch die Medienlandschaft. Sie sah sich im Büro von Dr. Bartels sitzen, der dort extra einen Sektempfang für sie vorbereitet hatte. Sie war von allen wichtigen Mitgliedern der Konzernleitung und ein paar auserwählten Kollegen umgeben. Während die grauen Herren in perfekt sitzenden Maßanzügen ihr mit staunender Dankbarkeit die Hand schüttelten und ihre journalistische Glanzleistung lobten, schwelte in den Augen ihrer Kollegen unverhohlen der Neid. Einer der Vorstände ließ ein Sektglas klirren und setzte zu einer feierlichen Rede an: „In Anerkennung Ihrer außerordentlichen journalistischen Fähigkeiten und Ihres unschätzbaren Verdienstes für unser
Flaggschiff, die ,Femme’, verleihen wir Ihnen mit einhelliger Zustimmung der gesamten Führungsspitze den Posten der Chefredakteurin, den Sie ab sofort in Kooperation mit Herrn Dr. Bartels ausfüllen werden. Darüber hinaus schlagen wir sie für den Pulitzer-Preis vor und werden all unseren Einfluss geltend machen, um Ihnen diese verdiente Auszeichnung, die nur den allerbesten Ihres Berufsstands gebührt, zukommen zu lassen.“ Und schon hatte der Schlaf sie überwältigt. Ihr Traum knüpfte nahtlos dort an, wo ihre Tagträumereien aufgehört hatten. Einen riesigen Blumenstrauß in der Hand, stand sie auf dem Podest, auf dem sonst der Schreibtisch von Dr. Bartels thronte. Die frenetisch klatschenden Zuschauer verschwammen vor ihren Augen, denn Tränen der Rührung und Freude standen in ihren Augenwinkeln. Sie war ganz oben angelangt, dort, wo sie immer hin wollte. „Danke, danke“, stammelte sie in einem Zustand unfassbaren Glücks und verneigte sich. Aus der Menge heraus kreischte eine schrille Stimme auf einmal: „Sie hat’s nicht verdient, sie hat’s nicht verdient. Ich hab’ das alles rausgefunden, ich hab’ das alles rausgefunden. Es ist alles geklaut – geklaut – geklaut.“ Hundertfach hallte das Wort in Sabine nach, als sei eine Schallplatte hängen geblieben. Zwischen den verschwommenen Gesichtern der Zuschauer kristallisierte sich im Zeitlupentempo eines deutlich heraus. Es war das hassverzerrte Gesicht von Ramona, ihrer größten Widersacherin, nur viel jünger und von langem, dunklem Haar umrahmt. Aber nein, das Gesicht flimmerte vor ihren Augen und nahm ganz andere Züge an. War es Nadine, die so schrie? Nadine, der sie einst so übel mitgespielt hatte? Die klatschende Menge hatte sich innerhalb von Sekunden in einen pöbelnden Haufen verwandelt. Alle zeigten mit spitzen Fingern auf sie und starrten sie mit unverhohlener Abneigung,
ja mit Ekel an. Verzweifelt versuchte sich Sabine hörbar zu machen. „Das ist Verleumdung. Das ist alles nicht wahr“, schrie sie, so laut sie konnte. Doch die Pfiffe und Buhrufe übertönten sie. „Sie hat hier nichts zu suchen!“, kreischte jemand, „Sie muss weg, jagt sie fort, jagt sie fort.“ Unzählige Hände versuchten sie zu packen und zerrten sie zum Ausgang. Da begriff sie, es ging um ihr Leben, und sie rannte, so schnell ihre Füße sie trugen, auf die Treppe zu. Es war allerdings nicht die breite Marmortreppe des Redaktionsgebäudes, sondern eine enge, metallene Wendeltreppe, die in immer enger werdenden Windungen abwärts führte, ins Endlose. Als sie nach unten sah, wurde ihr schwindlig. Aber die anderen waren ihr dicht auf den Fersen und drohten sie runterzuwerfen. Und so stolperte sie in gefährlichem Tempo Stufe um Stufe, bald mehrere Stufen überspringend, schneller und immer schneller in die Tiefe. Das hämische Lachen von Ramona begleitete sie bei ihrem tiefen Fall. Schweißgebadet und schwer atmend wachte Sabine in diesem Moment auf. Das Fahrwerk setzte eben auf der Landebahn auf. Sabine verließ das Flugzeug als Letzte, so lange hatte sie gebraucht, die schmerzlichen Eindrücke ihres Albtraums in die hinterste Ecke ihres Gehirns zu verbannen. Noch immer ging ihr Atem hektisch. Doch sie zwang sich, aufrecht und gemessenen Schritts zu gehen.
Als sie nach einer längeren Wartezeit ihr Gepäck vom Laufband wuchtete, hatte Sabine sich endlich wieder gefasst. Es war ja nur ein Traum gewesen, ein schlimmer zwar, aber nur ein Traum. Bald würde sie darüber lachen können.
Einer Eingebung folgend, steuerte sie den nächstbesten Kiosk an. Mal sehen, was in der Zwischenzeit, als sie auf Mykonos weilte, so passiert war. Sie ließ ihren Blick über die Titelblätter der Hochglanzmagazine schweifen. Nichts Besonderes, dachte sie, als sie die Regalreihe entlangschritt. Umso mehr würde ihr Skandal einschlagen. Doch mit einem Mal stutzte sie und blieb abrupt stehen. Da hatte der „Kurier“ doch tatsächlich ein Foto von Alissa auf dem Cover. Sie griff nach der Zeitschrift wie nach einem glühend heißen Eisen. Nein, das war alles nicht wahr, das war nur ein böser Traum. Sabine schüttelte sich und klappte die Augen zu und wieder auf. Aber sie sah immer noch, was sie Sekunden vorher gesehen hatte. Sie hatte sich nicht geirrt. „Alissas fataler Irrtum. Das wahre Gesicht des Fernando Brioni.“ Das war ihre Story, da auf dem Titelblatt, ja selbst ihre Headline, über der sie so lange gegrübelt hatte. Sabine stand fassungslos da. Ihre Hände zitterten. Ihre Knie wurden weich. Was war bloß passiert? Sie zwang sich zur Konzentration, obwohl die großen, knalligen Buchstaben vor ihren Augen tanzten. Fahrig blätterte sie nach dem Inhaltsverzeichnis. Und da stand es: „Die Geschichte der Prinzessin Alissa – von unseren Redakteuren Ramona Bertram und Holger Behrend“. Sabine verstand überhaupt nichts mehr.
Die Fahrt nach Hause im Taxi erlebte Sabine wie in Trance. Nur ab und zu brachte ein Schluchzer sie zum Beben. Die Frage, was sich da abgespielt hatte, zermarterte ihr das Hirn. Sicher war nur eines – sie war einem groß angelegten Betrug zum Opfer gefallen. Ramona und Holger, Ramona und Holger… Immer wieder versuchte sie die beiden Namen in Verbindung zu bringen, aber das ergab einfach keinen Sinn. Ramona – fast hätte sie angefangen, der Hyäne zu vertrauen. Wie hatte sie nur so dumm sein können.
Schon vor ihrer Wohnungstür hörte sie das beständige Klingeln des Telefons. Ihre Nachbarin, eine ältere Dame mit verkniffenem Gesicht, schoss aus der Tür nebenan. „Das geht nun schon den ganzen Tag so, dass das Telefon klingelt. Das ist ja nicht zum Aushalten“, keifte sie. „Sagen Sie mal Ihren Bekannten, dass so etwas nicht geht! Wie rücksichtslos! Ich beschwer mich beim Vermieter.“ Sabine quittierte den Ausbruch nicht einmal mit einem Seitenblick, sondern hantierte weiter mit ihrem Schlüsselbund. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das Schloss traf. Als sie in dem kleinen Flur ihre Koffer fallen ließ und auf das Telefon zuhastete, dachte sie wuterfüllt: „Na warte, Holger, du kannst was erleben. Du bist mir eine verdammt gute Erklärung schuldig!“ Sie war fest davon überzeugt, es könne nur Holger sein, wer sollte sonst so hartnäckig das Telefon läuten lassen. Gerade als sie abnehmen wollte, hatte der Anrufer aufgegeben, aber es dauerte keine drei Minuten, und das Klingeln ertönte von neuem. „Du Schwein, du verdammtes Schwein!“, brüllte Sabine in den Hörer. „Ich glaube, wir müssen da etwas klarstellen“, antwortete die distanzierte Stimme von Dr. Bartels. Sabine lief rot an. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Nun sollte sie wohl Rechenschaft ablegen, noch bevor sie einen Schimmer hatte, was sich hinter ihrem Rücken abgespielt hatte. „Ent-entschuldigung“, stotterte sie. „Ich wusste nicht, dass Sie es sind.“ „Können Sie mir erklären, was hier vor sich geht?“, herrschte Dr. Bartels sie an. „Das ist das größte Desaster des ganzen Jahres. Unserer härtester Konkurrent kommt mit Ihrer Story raus, und wir müssen innerhalb von drei Tagen den Platz füllen, den wir für Ihre Geschichte frei gehalten haben. Von
den Auflagenverlusten ganz zu schweigen. Wissen Sie überhaupt, in welche Nöte Sie uns bringen?“ „Ich, äh, ich – “ „Morgen früh erscheinen Sie bei mir im Büro. Um punkt acht sind Sie da. Bis dahin können Sie sich eine stichhaltige Erklärung einfallen lassen.“ Dr. Bartels knallte grußlos den Hörer auf.
Sabines erste Benommenheit und Fassungslosigkeit hatte sich längst in maßlose Wut verwandelt. Da bei Holger niemand ans Telefon ging und sein Handy bezeichnenderweise ausgeschaltet war, nahm sie kurzerhand ein Taxi zu seiner Wohnung. Der Kerl konnte was erleben. Sabine drückte einmal kurz auf die Klingel, und als sich nichts regte, presste sie minutenlang den Daumen darauf. Ohne Erfolg. Sie kramte in den Tiefen ihrer Handtasche nach dem Schlüssel zu Holgers Wohnung herum, bis ihr einfiel, dass sie ihn gar nicht mehr hatte. Vor einiger Zeit hatte Holger ihn zurückerbeten, weil er ihn für einen Freund brauchte, der zu Besuch war. Und da sie sich in den vergangenen Wochen meistens in Sabines Wohnung verabredet hatten, war sie gar nicht auf die Idee gekommen, den Schlüssel zurückzufordern. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, sah sie das plötzlich in einem ganz anderen Licht. Was, wenn er ihr absichtlich eine fadenscheinige Geschichte aufgetischt hatte, um ihr den Zugang zu seiner Wohnung zu versperren? Ihr kam ein furchtbarer Verdacht. Statt des Schlüssels nahm Sabine nun eine Haarnadel zu Hilfe. Davon flogen immer einige im Chaos ihrer Handtasche herum. Sie hatte zwar noch nie probiert, in eine Wohnung einzubrechen, aber in den Krimis, die sie gelegentlich ansah, klappte es ja auch meistens. Tatsächlich schaffte sie es nach
einigem Rumprobieren, das Schloss zu knacken. Wenigstens ein bisschen Glück im Unglück, dachte sie. Sabine verweilte ein paar Sekunden im Eingangsbereich und sah sich um. Wo sollte sie anfangen, nach Hinweisen auf den Betrug zu suchen? Schließlich steuerte sie entschlossen auf den Schreibtisch zu. Sie wühlte sich durch die unordentlichen Stapel, die sich angesammelt hatten. Was uninteressant war, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Sie fand nichts, was auf die Alissa-Story hindeutete. Dann riss sie eine Schublade nach der anderen auf, kramte eilig herum und quetschte die Schubladen wieder zu. Der Schreibtisch sah nach kurzer Zeit aus, als seien Wandalen darüber hergefallen, aber Sabine war nicht einen Schritt weiter. Sie ließ alles stehen und liegen, wie es war, und nahm sich die Dunkelkammer vor, die Holger sich in einem Kabuff neben der offenen Küche eingerichtet hatte. Zögernd gewöhnten sich Sabines Augen an das gedämpfte Rotlicht. Ihr Blick fiel auf eine schwarze Sammelmappe mit Negativen, die ganz obenauf lag. Sie zog ein paar Streifen aus den Schlitzen und legte sie auf den Milchglastisch, der sich von unten beleuchten ließ. Prinzessin Alissa auf einem Rokoko-Sesselchen sitzend, mit verklärtem Blick vor dem Fenster stehend, Nahaufnahmen, Totale… Es war eine ganze Serie von Bildern, die alle in dem Gemach aufgenommen waren, in dem vor nicht allzu langer Zeit Sabine selbst mit ihr gesessen und geplaudert hatte. „Ist das gemein!“, stieß sie leise zwischen den Zähnen hervor. Von wegen Mallorca-Reise. Holger hatte ganz offensichtlich in ihrem Fahrwasser alle Leute aufgesucht, die er für den Fototeil brauchte. Selbst Fernando hatte er aufgelauert und ihn in zweideutigen Haltungen erwischt – noch bevor sie selbst ihm bis nach Mykonos gefolgt war. Sabine schlug die Mappe wieder zu. Sie hatte genug gesehen. Nun musste sie nur noch herausfinden,
warum Holger ihr das angetan hatte – und wie er dazu gekommen war, ausgerechnet mit Ramona zu paktieren. Im Hinausgehen warf sie beiläufig einen Blick auf die Fotos, die an einer Leine zum Trocknen aufgehängt waren. Nichts besonderes, ein paar kunstvoll in Szene gesetzte Gäste einer Caféterrasse, die Holger wohl für seine Ausstellung in einer kleinen, unbekannten Galerie gemacht hatte, denn in Wirklichkeit verstand sich Holger nicht als Paparazzo, sondern als verhinderter Künstler. Ein Bild allerdings fiel vollkommen aus dem Rahmen. Sabine überlief es eiskalt. Es war ein Foto von Ramona. – Sie hatte einen verträumten Ausdruck im Gesicht und lag lasziv auf einem Bett. Die Decke war bis zum Nabel heruntergezogen und entblößte den nackten Oberkörper. Das Muster der Bettdecke war unverkennbar – von Miro inspirierte weiße Figuren auf grauem Grund. Die Bettwäsche hatte Sabine Holger selbst geschenkt. Sabine sank auf Holgers Sofa. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie zog die Beine hoch und stützte den Kopf auf die Handflächen. Dann brach sie in hemmungsloses Weinen aus.
Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte, aber inzwischen war es draußen dunkel. Irgendwann hörte sie, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Sie fuhr auf, wischte die letzten Tränenspuren aus dem Gesicht und wappnete sich für einen heftigen Streit. Holger zog die Tür hinter sich zu, steckte den Schlüsselbund wieder in die Hosentasche und entdeckte dann die Verwüstung auf seinem Schreibtisch. Er kniff die Brauen zusammen, als traue er seinen Augen nicht. Erst dann entdeckte er die mitten auf seinem knallblauen Sofa sitzende Sabine. Die Kinnlade fiel ihm herunter.
„Da staunst du, was?“, meinte sie und zwang sich zu einem überlegenen Lächeln. Innerlich war sie weniger ruhig. Kam er doch tatsächlich hereinspaziert, als sei alles in bester Ordnung. Nicht einmal die kleinste Spur von Gewissensbissen hatte sie bei ihm entdecken können. Dabei hatte er sie sicher wochenlang betrogen und den Diebstahl ihres Artikels von langer Hand geplant. „Wie kommst du hier rein? Und was willst du?“ „Was ich hier will? Eine dümmere Frage hab’ ich seit langem nicht gehört!“, fauchte Sabine. „Ich will wissen, warum du mir das angetan hast!“ Holger schwieg. „Wochenlang hast du mir was vorgespielt. Ich glaub’ es einfach nicht. Du hast mich die ganze Zeit nur benutzt!“ Sabine biss sich auf die Lippen. Noch mehr als über Holger ärgerte sie sich über sich selbst. Wie hatte sie nur so dumm sein können, auf das Spiel hereinzufallen! Wieso nur hatte sie nichts gemerkt! Schlagartig kamen ihr alle Situationen ins Bewusstsein, in denen sie hätte merken können, dass etwas nicht stimmte. Holgers Empörung, als er erfuhr, dass sie Dr. Bartels über ihre Recherche informiert hatte, die vielen Ausreden, wenn sie sich mit Holger treffen wollte, die Geschichte mit dem Wohnungsschlüssel, das neue Aftershave, das in Wirklichkeit wohl Ramonas Parfüm war, selbst die lippenstiftverschmierte Kaffeetasse im „Submarine“ ergab nun einen Sinn. Holger hatte immer nur Zeit für sie gehabt, wenn er von ihren Fortschritten hören wollte. Die ganze Zeit war sie nicht einmal in seiner Wohnung gewesen, wo wahrscheinlich längst Ramona ihren Platz eingenommen hatte… Wie hatte sie nur so blind sein können! Holger starrte ins Leere, als er ihr mit tiefer Verbitterung in der Stimme antwortete: „Du kennst immer nur dich selbst. Hast du dich je gefragt, was in mir vorgeht? In Wirklichkeit
hast du mich doch benutzt, und wahrscheinlich hast du dir das nicht einmal klar gemacht.“ Das war ja wohl die Höhe! Jetzt sollte sie selbst noch daran schuld sein. „Wovon redest du überhaupt?“, fragte Sabine empört. „Du hast mich immer nur gebraucht, damit ich den Zulieferer spiele für deine große Karriere. An mir lag dir doch überhaupt nichts. Ohne die Fotos, die ich dir dauernd zugespielt hab’, hättest du mich doch nicht mal mit dem Hintern angeschaut. Denk doch an die Sache mit den kaputten Negativen! Das hätte jedem passieren können, aber du – du stempelst mich als Versager ab, der deine Zukunft ruiniert. Meinst du, mir hat das nicht geschadet?“ Nun war es an Sabine zu schweigen. „Ich habe dich geliebt“, wollte sie schon sagen, doch sie besann sich eines Besseren. Holger hatte ihre Liebe nicht verdient. Die Blöße, ihre Schwäche zu gestehen, wollte sie ihm nicht geben. „Wie du reagiert hast, als du gemerkt hast, aus der StephanieStory wird nichts! Blamiert hast du mich – vor allen Leuten, da auf der Party. Wie ein Stück Dreck hast du mich behandelt!“ Das versetzte Sabine einen Stich. So ungern sie es sich eingestand, es steckte ein Fünkchen Wahrheit in dem, was er sagte. Sie hatte zu heftig reagiert. Aber das rechtfertigte noch lange nicht, was Holger getan hatte. „In dem Moment war es für mich endgültig aus“, sagte er leise. „Aber warum hast du nicht einfach Schluss gemacht?“, begehrte Sabine auf. Holger zuckte die Schultern. „Die Gelegenheit war einfach zu gut. Ich hatte eine solche Wut im Bauch, dass ich dich am liebsten in Grund und Boden gestampft hätte, und als du da im ,Submarine’ aufgetaucht bist und mir die Geschichte aufgetischt hast…“
Sabine fiel es schwer, ihre Ruhe zu bewahren. „Und dann hast du dir diesen Rachefeldzug ausgedacht, was?“ „Nicht ganz“, meinte Holger und räusperte sich verlegen. „Lass mich raten! Die Idee stammte gar nicht von dir, sondern von deiner Geliebten!“ „Du weißt Bescheid…?“ Sabine warf ihm statt einer Antwort das verräterische Foto aus der Dunkelkammer vor die Füße. Stockend begann Holger zu reden. „An dem Abend, als du mich auf der Party hast sitzen lassen, da ist Ramona auf mich zugekommen und hat versucht mich aufzuheitern. Sie ist so ganz anders als du – verständnisvoll, sanft, sie interessiert sich für mich als Mensch, nicht nur für meine Skandalfotos.“ „Auf diese Schmierenkomödiantin bist du reingefallen!? Verständnisvoll, sanft – das ist doch der blanke Hohn“, wollte Sabine schon dazwischenschießen, aber die Worte gingen ihr nicht über die Lippen. „Sie hatte Zeit für mich, weil sie eben nicht immer nur damit beschäftigt war, Karriere zu machen. Sie hat den Künstler in mir gesehen und mir zugeraten, da weiterzumachen.“ Sabine lachte höhnisch auf. „Und dabei hat sie die ganze Zeit an ihrer Karriere gebastelt, und das auf meine Kosten! Künstler – dass ich nicht lache. Wenn du wirklich so gut bist, frage ich mich, warum du immer noch allen Promis hinterherspionieren musst. Die Idee, mich zu beklauen kam also von Ramona?“ „Na ja, irgendwie sind wir beide drauf gekommen. Wir waren beide in Not – ich brauchte dringend eine Stange Geld, und Ramona war bei der ,Femme’ in einer Sackgasse. Sie hatte keine Aussichten, dort weiterzukommen, weil du sie immer wieder ausgebremst hast.“ „Ich hab’ sie ausgebremst? Das hat sie dir erzählt?“, fragte Sabine entgeistert. „Das ist ja wohl ein Witz. Die war einfach nicht gut genug. Sonst hätte sie sich selber ‘ne Story gesucht.
Ich hab’s schließlich auch neben meinem normalen Job hingekriegt.“ „Es war ihre große Chance, zum ,Kurier’ zu wechseln. Mit dieser Geschichte an der Hand haben die sie mit Kusshand genommen, fürs doppelte Gehalt der ,Femme’. Hätte sie da etwa nein sagen sollen? Das hättest du auch nicht getan.“ „Sie hat also gekündigt“, begriff Sabine plötzlich. Langsam ergab alles einen Sinn. „Und weil sie längst wusste, dass sie nicht mehr lange bei uns arbeitet, ist sie zu mir gekommen und hat auf Freundschaft gemacht. Wie widerwärtig und hinterhältig!“ „Jetzt weißt du alles“, meinte Holger. Er klang traurig, als er das sagte. „Es ist blöd gelaufen zwischen uns beiden. Wir hätten von Anfang an die Finger voneinander lassen sollen.“ Mühsam musste Sabine die Tränen unterdrücken. Dass Holger ihre ganze Beziehung schlecht machte, traf sie am meisten. Aber sie riss sich zusammen. „Eine Frage hab’ ich noch. Wie hast du es geschafft, meine Dateien zu knacken? Denn das Passwort hab’ ich noch nicht mal dir verraten.“ Ein bitteres Lächeln stahl sich auf Holgers Gesicht. „Pulitzer“, meinte er kopfschüttelnd. „Ich dachte, es muss irgendwas mit deinem Größenwahn zu tun haben. Wie hast du mal so schön gesagt? An ihrer Eitelkeit kann man fast alle Leute packen! Von da an war es ganz einfach, auf das Passwort zu kommen.“ Sabine wurde rot vor Scham. Ohne ein Wort zu sagen, hob sie ihre Handtasche auf und ging. Das leise Klicken, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hatte etwas Endgültiges.
Der Taxifahrer wartete ungeduldig darauf, dass Sabine vom Geldautomaten zurückkam. Den Taxometer für die Wartezeit ließ er weiterlaufen. Als Sabine ihre Rückfahrt zahlen wollte,
hatte sie festgestellt, dass ihr das Bargeld ausgegangen war. Nun tippte sie zum dritten Mal ihre Geheimzahl ein und wartete, dass die Scheine ausgespuckt würden. Ausgerechnet jetzt war auch noch der Automat kaputt. Sabine schlug mit der flachen Hand auf die blanke Metalloberfläche. Zum dritten Mal tauchte auf dem kleinen Bildschirm die Meldung auf, es sei keine Auszahlung möglich. Frustriert drückte sie die Abbruch-Taste. Doch sie wartete vergeblich darauf, dass die Karte aus dem Schlitz geschoben würde. Ihre Karte war einbehalten worden. Sie hatte definitiv das Kreditlimit überschritten. Fluchend hechtete sie die vier Treppen zu ihrer Wohnung hoch und kramte in ihrem Schreibtisch nach Reserven. Endlich fand sie den Briefumschlag mit dem Hundertmarkschein, den ihre Mutter ihr geschickt hatte. Wie hatte sie diese antiquierte Art des Geldschenkens belächelt! Jetzt war der Schein ihre kurzfristige Rettung. Sie war ganz außer Atem, als sie schließlich wieder oben war und sich aufs Bett fallen ließ. Die Ereignisse des Tages zogen noch einmal an ihr vorbei. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit sie im Flugzeug gesessen hatte. Dabei war es keine zwanzig Stunden her, seit sie in Athen gestartet war. Der Albtraum, den sie geträumt hatte, war auf andere Weise wahr geworden. Knapp vor dem ersten Höhepunkt ihrer Karriere war sie quasi im freien Fall in die Tiefe gestürzt. Alles was gestern noch selbstverständlich gewesen war, lag in Trümmern – ihre Beziehung, ihre Karriere, ihr finanzieller Aufstieg. Sabine krümmte sich vor Kummer zusammen. Gegen vier wachte sie aus einem tiefen Schlaf auf, nach dem sie sich sogar erholt fühlte. „Ich lasse mich nicht unterkriegen“, war ihr erster Gedanke. Sie musste in Ruhe mit allem ins Reine kommen, was passiert war. Sie würde sich nicht noch einmal so hereinlegen lassen.
Sabine grübelte, wie der Schaden wieder gutzumachen sei. Konnte sie Holger und Ramona verklagen, wegen Diebstahls von geistigem Eigentum? Beweise, dass die Geschichte von ihr stammte, hatte sie mehr als genug – Zeugen, die aufgezeichneten Bänder, Spesenquittungen, detaillierte Telefonabrechnungen… Doch was nutzte ihr ein Prozess, selbst wenn sie ihn gewänne? Sie bekäme allerhöchstens eine finanzielle Entschädigung. Aber ihren Ruf konnte sie damit nicht retten. Sie verwarf den Gedanken wieder. Es würde nie an die breite Öffentlichkeit dringen, dass sie den Artikel geschrieben hatte. Die Story war unlösbar mit den Namen Holger Behrend und Ramona Bertram verbunden. Aber eigentlich, ging es Sabine durch den Kopf, waren die Autorennamen nicht einmal von Bedeutung. Die Leser assoziierten vor allem die Zeitschrift damit, ob sie auf das Kleingedruckte achteten, war überhaupt die Frage. Was zählten in den Köpfen der Menschen schon die Namen der Reporter. Zum ersten Mal, seit sie den Betrug entdeckt hatte, hellte sich ihre Miene auf. In Zukunft würde sie ihre Arbeit ganz anders anpacken. Sie musste sich Themen suchen, die etwas mit ihr persönlich zu tun hatten. Sie durfte nicht nur Berichterstatterin sein, sondern selbst eine wichtige Rolle spielen. Erst wenn sie selbst im Mittelpunkt der Ereignisse stand, über die sie schrieb, würde sie auch wahrgenommen werden: Sabine Sanders, die große Journalistin. Das klang zunächst alles sehr theoretisch, aber im gegebenen Moment würde ihr schon einfallen, was sie konkret zu tun hatte. Sabine knipste die Lampe wieder aus. Es blieb ihr nur noch wenig Zeit, um Kraft zu sammeln für die bevorstehende Konfrontation mit Dr. Bartels.
Bemüht, nicht in Verliererhaltung bei Dr. Bartels aufzutauchen, zog Sabine ihre bunteste und auffälligste Kombination an und trug sorgfältig knallroten Lippenstift auf. Die schwarzen Ringe unter den Augen ließ sie unter einer dicken Schicht Make-up verschwinden. Als der Anblick endlich perfekt war, nickte sie ihrem Spiegelbild aufmunternd zu. In ihren Augen funkelte Entschlossenheit auf. Absichtlich stellte sich Sabine mit einer Viertelstunde Verspätung im Büro des Chefredakteurs ein. Sie wollte nicht wie der arme Sünder erscheinen, der ergeben auf seine Verurteilung wartete. Kaum hatte sie angeklopft, stürmte sie aufrecht und ohne das „Herein“ abzuwarten hinein. „Da sind Sie ja endlich“, herrschte Dr. Bartels sie an. „Setzen Sie sich!“ Er setzte seine Lesebrille auf, die ihn noch strenger aussehen ließ. Entgegen seiner Anweisung blieb Sabine stehen. Den psychologischen Vorteil, sie zu überragen, wollte sie ihm nicht an die Hand geben. „Ich denke, es gibt da einiges klarzustellen“, erklärte sie in festem Ton. „Allerdings… Sie sind gefeuert. Sie haben versagt. Dass Sie Ihr Wissen der Konkurrenz zugespielt haben, ist in hohem Maß geschäftsschädigend und für eine fristlose Kündigung mehr als ausreichend.“ „Ganz im Gegenteil“, hielt Sabine dagegen. „Ich überlege sogar, die ,Femme’ für den Schaden rechtlich zu belangen, den ich durch das grobe Fehlverhalten einer Kollegin erlitten habe. Ich habe in keinster Weise dazu beigetragen, dass mein geistiges Eigentum in falsche Hände geraten konnte. Wenn man nicht einmal an seinem eigenen Arbeitsplatz vor Diebstahl geschützt ist, wo sonst?“ Sie bewegte sich hier zwar auf rechtlich unsicherem Terrain, aber sie wollte es nicht versäumen, ihre Kampfbereitschaft zu demonstrieren. Dass
ihre Beziehung zu Holger eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hatte, unterschlug sie ebenfalls. Dr. Bartels schien leicht verunsichert. „Nun beruhigen Sie sich erst mal. Ich bin davon ausgegangen, dass es um eine abgekartete Sache zwischen Ihnen und Frau Bertram ging. Sollten Sie in der Lage sein, das Gegenteil zu beweisen, sieht die Sachlage natürlich anders aus.“ „Also, die Beweislast liegt meiner Ansicht nach bei Ihnen. Und denken Sie ernsthaft, ich hätte Sie im Vorfeld in meine Recherchen eingeweiht, wenn ich die Absicht gehabt hätte, damit zur Konkurrenz zu gehen?“ „In der Tat, das wäre nicht plausibel“, gab Dr. Bartels zu. „Dennoch – es müsste Ihnen ja bekannt sein, dass bei uns mit harten Bandagen gekämpft wird. Und wer sich da übers Ohr hauen lässt, ist für uns nicht tragbar. Es stehen genug Leute Schlange, die alles tun würden, um Ihren Job zu bekommen.“ So eine Unverschämtheit, dachte Sabine. Die ganze Zeit hatte er ihr zweideutige Avancen gemacht und so getan, als hielte er etwas von ihr, und jetzt sollte sie einfach austauschbar sein. Eine derartige Ungerechtigkeit wollte sie sich nicht gefallen lassen. Sie platzte heraus: „Die ganzen Jahre hab’ ich alles gegeben, um zum Erfolg der ,Femme’ beizutragen. Und Sie müssten am besten wissen, was ich geleistet habe. Das ist nicht so leicht zu ersetzen. Ich gebe ja zu, es ist eine Katastrophe, dass Ramona die Geschichte geklaut und an die Konkurrenz verkauft hat. Aber die Leidtragende bin vor allem ich – ich habe wochenlang an der Story gearbeitet, ich habe mein letztes Geld in die Recherchen gesteckt, und ich habe mir davon nicht zuletzt einen großen Schub für meine Karriere erhofft. Das alles war nicht nur umsonst, nein, jetzt droht mir auch noch, dass ich meinen Job verliere. Da kann ich auch gleich als Sekretärin anfangen.“ – Sabine schwieg. Mühsam versuchte sie, den Kloß runterzuschlucken, der ihr in der Kehle saß. Nur
jetzt nicht noch einen Heulkrampf kriegen – es war auch so schon schwer genug, vor Dr. Bartels einzugestehen, dass sie hier versagt hatte – von ihrer enttäuschten Liebe zu Holger ganz zu schweigen. Dr. Bartels sah sie fast bestürzt an und war wie ausgewechselt. Er legte ihr väterlich den Arm um die Schulter. „Nun malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand. Sie müssen verstehen, dass ich zunächst völlig verärgert war, weil uns eine Mordsauflage durch die Lappen gegangen ist. Aber ich weiß auch Ihre Qualitäten als Journalistin zu schätzen. Sie haben ein gutes Gespür, eine flotte Schreibe und nicht zuletzt die Portion Durchsetzungsfähigkeit, die man braucht, um an die Spitze zu kommen. Es wäre schade, wenn so ein Rückschlag Sie Ihren hübschen Kopf kosten würde. Schließlich erwarte ich mir noch ein paar Knüller von Ihnen.“ „Heißt das, ich behalte meinen Job?“, fragte Sabine leise, und in ihren Augen blitzte ein Lächeln auf. Dr. Bartels gab sich gespielt streng: „Das heißt, Sie haben eine Galgenfrist von einem halben Jahr. Wenn Sie bis dahin keine klaren Ergebnisse geliefert haben, die sich in Auflagenzahlen messen lassen, sind Sie weg vom Fenster.“ Sabine nickte entschlossen und sah Dr. Bartels dankbar an. „Sie können sich darauf verlassen, dass Ihre Entscheidung richtig ist. Ich werde Sie nicht enttäuschen.“ Innerlich fiel ihr ein schwerer Stein vom Herzen. Sie war mit einem blauen Auge davongekommen. Sie hatte zwar Holger verloren, aber ihm trauerte sie nicht nach. Er war im tiefsten Grund auch nur ein Schwächling, der ihr nicht das Wasser reichen konnte. Das Wichtigste, ihren Job, hatte sie gerettet. Und sie hatte keinen Zweifel, dass sie es trotz dieser Panne schaffen würde, ganz nach oben zu kommen. Draußen in der Welt warteten Tausende von Skandalen auf ihre Entdeckung, und genau damit würde sie ihr Glück machen. Eines Tages, in nicht allzu
ferner Zeit, würde sie ganz groß abräumen. Sie würde sich mit nichts Geringerem zufrieden geben als mit dem höchsten Journalistenpreis – dem Pulitzer. Ihr Ehrgeiz kannte keine Grenzen.
Epilog Sabine nahm ihre Arbeit wieder auf, als sei nichts geschehen. Außer Dr. Bartels wusste niemand über ihre große Blamage Bescheid, und der würde wohlweislich kein Wort darüber verlieren. Nun, da kein Mann mehr in ihrem Leben war, der sie behinderte, konnte sie mit aller Kraft ihre Karriere vorantreiben. Immer auf der Suche nach der ganz großen Story, durchwühlte sie Archive, ging Gerüchten nach, die ihre vielen Bekannten und Kontaktleute ihr zugetragen hatten, und durchstöberte Unmengen von Zeitungen und Zeitschriften. Da stolperte sie über eine kleine Meldung im „Vermischten“ einer regionalen Tageszeitung. Es ging um einen Geldkoffer, der in einem Dorf im Elsass aufgetaucht war. Das Geld war als Beute aus einem Banküberfall identifiziert worden, der zwei Polizeibeamte und den Filialleiter das Leben gekostet hatte. Die Täterin saß längst rechtskräftig verurteilt im Knast. Mehrmals überflog Sabine den Artikel. Dunkel erinnerte sie sich, in Zeitungsarchiven über den Fall gelesen zu haben, und versuchte, sich an Details zu erinnern. Koschinski – Barbara Koschinski, so hieß die Täterin, genau. Sabine hatte ihr Foto noch im Kopf – eine hübsche, blonde, noch sehr jung wirkende Frau, die aussah, als könnte sie keiner Fliege etwas zu Leide tun. Sabine spielte mit ihrem Kugelschreiber herum. Irgendetwas stimmte nicht an der Sache. Sie brauchte eine Weile, bis sie darauf kam: Wie konnte jetzt, Jahre nach der Tat, ein Geldkoffer aus der Versenkung auftauchen, wenn die Einzige, die über seinen Verbleib wusste, im Gefängnis saß? Sabine beschloss, ein bisschen tiefer zu graben, um zu sehen, was die Fakten hergaben.
Ihr Jagdfieber war geweckt, ihr Instinkt sagte ihr, dass sie auf der richtigen Fährte war. Hatte Barbara Koschinski die Tat möglicherweise gar nicht begangen, dann hatte Sabine endlich die Story, nach der sie so lange gesucht hatte: Sie, Sabine Sanders, würde die entscheidende Rolle dabei spielen, dass eine unschuldige, schöne, junge Frau gerettet wurde, die sonst den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen würde. Sie würde endlich ganz groß Schlagzeilen machen.