Die geteilte
Herzogskrone
von Günther Herbst scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Dunkle Regenwolken ...
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Die geteilte
Herzogskrone
von Günther Herbst scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Dunkle Regenwolken zogen wie Schemen über den Nachthimmel. Hin und wieder riß der kühle Wind den Wolkenvorhang auf. Dann tauchte der volle Mond die Burg in silberfarbenes Licht. In diesen Augenblicken hoben sich die Wachposten als Silhouetten schattenhaft ab. Sie patrouillierten auf der Burgmauer. Der Rote Friedrich und Lothar der Kühne kauerten am Fuß der Mauer, die eine Höhe von mehr als fünf Klaftern
erreichte. Sie waren noch außer Atem. Das Erklettern des Berges hatte Kräfte gekostet. Mit scharfen Augen beobachteten die beiden ihre Umgebung. Außer den Wachposten oben auf der Mauer sahen sie keinen Menschen. Sämtliche Bewohner von Burg Felsenstein schienen bereits in tiefem Schlaf zu liegen. Nur die Schrittgeräusche der Wachen und der gelegentliche Schrei eines Nachtvogels durchbrachen die Stille. Die Nacht war wie geschaffen für die finsteren Pläne Wolframs vom Hohen Tann ...
Lothar der Kühne legte das mitgebrachte Seil schlingenförmig zusammen und befestigte an einem Ende den Enterhaken. »Ich hätte nichts dagegen, wenn Karl jetzt seine Stimme erschallen lassen würde«, sagte er leise. Sein Gefährte nickte. »Es wird nicht mehr lange dauern. Auf Karl den Sänger können wir uns verlassen.« Angestrengt lauschte er zum Burgtor hinüber, das etwa zehn Ruten entfernt lag. Die beiden Männer hatten das Tor nicht im Blickfeld, da sie sich im toten Winkel aufhielten. Wenn dort etwas vorging, dann konnten sie es allenfalls hören, nicht aber sehen. Im Augenblick jedoch war noch alles still. Mehrere Minuten vergingen. Fahrig zupfte der Rote Friedrich an seinem buschigen Bart. »Potztausend, Karl könnte nun wirklich bald...« Er schwieg abrupt, denn in diesem Moment wurden fremde Stimmen hörbar, die vom Burgtor herüberdrangen. »Halt, Bursche!« Die Stimme kam von oben, gehörte also ohne Frage einem der Wachtposten. Augenblicke später erklang sie abermals, lauter diesmal. Und scharf wie die Klinge eines Schwertes. »Stehenbleiben, wenn du nicht willst, daß dich mein Pfeil durchbohrt, Kerl!« »Gemach, Gevatter, gemach«, antwortete eine wohltönende Männerstimme. »Wer wird denn gleich eine unruhige Hand bekommen?« Lothar der Kühne verzog den Mund zu einem befriedigten Lächeln. Karl der Sänger machte seine Sache gut. »Wer bist du?« machte sich der Wächter wieder bemerkbar. »Und was willst du hier zu einer Zeit, in der nur das Gelichter der Nacht die Ruhe stört?« »Ich bin nur ein friedfertiger fahrender Sänger, der untertänigst um ein Nachtlager bittet.« »Pack dich!« rief der Wachtposten ungnädig. »Für fahrendes Volk
ist hier kein Platz.« »Du weißt nicht, wen du vor dir hast«, entrüstete sich Karl. »Ich bin niemand anderes als Robert von Toulouse!« »Und wenn du der Kürenberger selbst wärst - hebe dich von hinnen, Kerl!« Lothar der Kühne und der Rote Friedrich blickten gespannt zur Mauer empor. Bei der Krone Herzog Ottokars, eilten denn die anderen Wächter noch immer nicht herbei? »Graf von Felsenstein wird sehr zornig werden, wenn er hört, daß du mich abgewiesen hast«, meldete sich Karl der Sänger wieder. »Man sagt, dein Herr ist ein großer Freund der Sangeskunst. Aber ich verzeihe dir, mein Freund, der du nicht zu wissen scheinst, welch herrliche Töne ich meiner Kehle zu entlocken vermag. Mich deucht, ich sollte dir eine kleine Kostprobe geben!« Und ohne eine weitere Antwort des Burgwächters abzuwarten, hob Karl zu singen an. Herzliebchen fein Im fremden, dunklen Wald allein Oh, wärst du mein Ich würde dein Beschützer sein »Aufhören!« rief der Wachtposten. »Mir ist nicht nach Gesang zumute!« Aber Karl der Sänger ließ sich nicht beirren. Schon stimmte er den zweiten Vers an. Da sahen Friedrich und Lothar zwei dunkle Schatten auf der Mauerkrone, die sich eilig zum Tor bewegten. »Was geht hier vor?« tönte es kurz darauf. »Jetzt!« zischte der Rote Friedrich. »Die Wachtposten sind abgelenkt. Zeit für uns zu handeln!« Lothar der Kühne bedurfte der anspornenden Worte seines Gefährten nicht. Er hatte sich bereits aus seiner gebückten Stellung erhoben. Weit schwang er den rechten Arm zurück und ließ ihn dann nach oben schnellen. Der eiserne Haken am Ende des Seiles stieg in die Höhe wie ein Pfeil. Es klirrte, als er gegen die Mauerkrone schlug. Im nächsten Augenblick stürzte er zur Erde zurück wie ein toter Vogel. Das Geräusch des Aufpralls war wie ein feindliches Hornsignal in den
Ohren Lothars und Friedrichs. »Tölpel, du hast zu kurz geworfen«, knurrte Friedrich böse. »Fehlt deinem Arm die Kraft?« Vom Tor her schallte Karls Gesang herüber, begleitet von unfreundlichen Zurufen der Burgwächter. Offenkundig hatten diese nichts Verdächtiges gehört. Lothar verwünschte alle Schutzheiligen derer von Felsenburg, versuchte es dann erneut. Und diesmal war ihm Erfolg beschieden. Der Enterhaken krallte sich um eine Mauerzinne, fand festen Halt. Als Lothar kräftig am Seil zog, spannte es sich wie eine Bogensehne und gab kein Zoll nach. »Geschafft!« stieß Lothar der Kühne erleichtert hervor. Und Karl der Sänger begann soeben den nächsten Vers. Herzliebchen fein Auf wilder, tiefer See allein ... »Es gilt!« raunte der Rote Friedrich seinem Gefährten zu. »Wer macht den Anfang?« »Ich!« Lothar der Kühne packte das Seil, umschloß es mit nervigen Fäusten. Dann stemmte er die Füße gegen die Mauer und hangelte sich kraftvoll nach oben. Es dauerte nicht lange, bis er die Mauerkrone erreichte. Ein paar Herzschläge lang hielt er inne. Dann schwang er sich entschlossen über die Zinnen. Oh, wärst du mein Ich würde dein Beschützer sein ... Die Wächter waren nach wie vor abgelenkt. Gegenwärtig nahm keiner von ihnen seine Patrouillenaufgaben wahr. »Komm!« rief Lothar leise seinem Gefährten zu, der noch am Fuß der Mauer wartete. Während der Rote Friedrich das Seil packte und sich ebenfalls an den Aufstieg machte, kauerte sich Lothar der Kühne zusammen und blickte zwischen den Zinnen hindurch auf den Hof und die Burggebäude. Noch war alles ruhig und dunkel. Aber ob das so bleiben würde? Bestimmt wurde durch Karls Gesang dieser oder jener aus dem
Schlaf gerissen. Und Wolflinde vom Hohen Tann? Lothar hoffte zuversichtlich, daß das Mädchen die Nachricht des Sendboten erhalten hatte und bereitstand. Jetzt war auch der Rote Friedrich oben und schwang sich auf den etwa drei Ellen breiten Mauergang. »Noch kein Lebenszeichen von Wolflinde?« fragte er im Flüsterton, während er gleichzeitig das Seil von der Zinne löste. »Nein«, erwiderte Lothar. »Sie wird sich erst melden, wenn wir das vereinbarte Zeichen geben. So ist es abgesprochen.« Der Rote Friedrich nickte. »Zunächst aber müssen wir die Wachen ausschalten!« Er legte mit geschickter Hand das Seil so zusammen, daß er es als Würgeschlinge verwenden konnte. Auch Lothar der Kühne machte sich zum Kampfe bereit und löste seinen Morgenstern von der Gürtelschlaufe. »Es muß alles sehr schnell gehen«, raunte er seinem Gefährten zu. »Keiner der Burgwachen darf Gelegenheit bekommen, einen Warnschrei auszustoßen.« Friedrich lächelte grimmig. »Die Überraschung ist die Mutter des Sieges!« »Auf geht's!« raunte Lothar der Kühne. Gebückt schlichen die beiden Männer los, dorthin, wo sich das Burgtor befand. Das Gesicht des Mondes wurde jetzt wieder von Wolken bedeckt. Die Nacht breitete ihren dunklen Mantel aus und hüllte Lothar und Friedrich darin ein. Karl der Sänger ließ noch immer seine Stimme erschallen. Zur großen Erbitterung der Wachen, die ihn und seine Vorfahren auf das übelste beschimpften. Und nun hatte sein Gesang in der Burg Aufmerksamkeit erregt. Fackelschein wurde auf dem Hof sichtbar. Schrittgeräusche klangen auf. Friedrich und Lothar verhielten ihren Schritt. »Wer wagt es, die Nachtruhe zu stören?« hörten sie eine empörte
Männerstimme. Die Burgwächter gaben Auskunft, während Karl unentwegt weitersang. »Der Schafskopf sollte jetzt seine Stimmbänder ruhen lassen«, wisperte der Rote Friedrich. »Er macht sonst noch ganz Felsenstein rebellisch. »Ahnt er denn nicht, daß wir die Mauer längst erklommen haben?« Schon zeigten sich unten auf dem Hof weitere Burgbewohner. Es wurde laut und lauter. Und es waren nicht nur Mißfallenskundgebungen, die ausgestoßen wurden. »Der Troubadour hat eine herrliche Stimme«, meinte eine Frau. »Warum lassen wir ihn nicht ein? Er kann uns mit seinem Gesang beim Abendbankett erfreuen.« Diese Worte waren es, die Karl den Sänger bewegten, sein Lied ziemlich schnell zu beenden. Natürlich lag ihm nichts ferner, als die Burg tatsächlich zu betreten. »Nein!« rief er laut. »Wer meine Sangeskunst mit Füßen tritt, ist es nicht wert, daß ich Einkehr halte in seinen Mauern. Lieber bringe ich den Tieren des Waldes ein Ständchen. Adieu!« Lothar und Friedrich konnten ihn nicht sehen. Aber sie konnten doch sicher sein, daß er sich nun entfernte. Die bösen Abschiedsworte, die ihm die Burgwachen mit auf den Weg gaben, sprachen eine deutliche Sprache. Wenige Augenblicke später wurde es auf dem Hof wieder ruhig. Alle kehrten in die Gebäude zurück. Und die Wachtposten setzten ihre Patrouillengänge fort. Lothar und Friedrich nahmen Schrittgeräusche wahr, die sich ihnen näherten. Ganz eng preßten sie sich gegen die Zinnen, verwuchsen regelrecht mit dem Stein. Sie waren sprungbereit wie die Wölfe im Wappen ihres Herrn. Dann sahen sie den Burgwächter. Undeutlich hoben sich seine Umrisse gegen den dunklen Hintergrund ab. Der Mann war nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt.
Und das Überraschungsmoment lag in der Tat ganz auf ihrer Seite. Bevor der Posten überhaupt wußte, wie ihm geschah, federte der Rote Friedrich hoch und sprang ihn an. Mit sicherer Hand warf er dem Felsensteiner das Seil um den Hals und zog die Schlinge kräftig zu. Ein Japsen kam aus dem Mund des völlig verblüfften Wächters, ein erstickter Laut, der sofort wieder erstarb. Friedrich fing ihn auf und ließ ihn lautlos auf die Steine des Mauergangs niedersinken. Aber die beiden anderen Posten hatten offenbar doch etwas gehört. »Albrecht, hast du gerufen?« kam eine argwöhnische Stimme aus der Dunkelheit. Lothar und Friedrich verhielten sich ganz still, wagten kaum zu atmen. »Albrecht, so antworte doch!« Lothar der Kühne zeigte, daß er ein kaltes Herz besaß. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, räusperte sich kurz und rief dann laut: »Alles in Ordnung!« War es die Stimme Lothars oder das geweckte Mißtrauen der beiden anderen Posten? Sie schienen ihm nicht zu glauben. »Wirklich?« erklang es zweifelnd. Und schon kamen sie ... Entschlossen ging ihnen Lothar der Kühne entgegen. Er hoffte darauf, daß sie ihn bei den herrschenden Lichtverhältnissen nicht auf Anhieb als Fremden entlarven würden. Sie tauchten aus der Dunkelheit auf, zögernd, voller Argwohn, vorsichtig. »Albrecht?« »Ja! Wer sollte ich sonst sein, ihr Tröpfe?« Näher kamen sie, waren dann kaum mehr als zwei Körperlängen entfernt. Lothar der Kühne war stehengeblieben. Die rechte Hand hielt er auf dem Rücken, den Morgenstern mit fester Faust umspannt. »Du bist ja gar nicht Alb...« Weiter ließ Lothar den Felsensteiner nicht kommen. Mit einem
mächtigen Satz stürmte er nach vorn, riß dabei die mörderische Keule mit den eisernen Stachelspitzen hoch. Im nächsten Augenblick ließ er sie auf den ersten der beiden Burgwächter niederkrachen. Der brach mit einem gurgelnden Aufstöhnen zusammen. Der zweite Mann fuhr zurück, als sei ihm der Leibhaftige persönlich erschienen. Er riß den Mund auf, um laut loszuschreien. Dazu jedoch bekam er keine Gelegenheit mehr. Lothar der Kühne war schnell wie der Blitz. Einem Spieß gleich schleuderte er den Morgenstern von sich. Der Felsensteiner wurde getroffen. Er taumelte und torkelte wie jemand, der zuviel des Mets genossen hatte. Wimmernde Töne kamen über seine Lippen, die jedoch kaum lauter waren als das Säuseln des Nachtwindes. Dann war auch der Rote Friedrich heran. Seine Würgeschlinge brachte den Posten endgültig zum Schweigen. Triumphierend blickten sich Friedrich und Lothar an. Sie hatten es geschafft. Aber sie sonnten sich nicht lange in ihrem Erfolg. Aufmerksam beobachteten sie die Burggebäude. Und als sich dort nichts rührte, nahmen sie den zweiten Teil ihrer Mission in Angriff. Lothar befestigte den Morgenstern wieder an der Gürtelschlaufe. Dann legte er beide Hände vor den Mund und ließ geschickt den Ruf der Eule ertönen - einmal, zweimal, dreimal. Und sofort kam Antwort. »Hier bin ich!« Wolflinde vom Hohen Tann löste sich aus einer Nische des Burgturmes und huschte über den Hof. Sie hatte keine Mühe, die Mauer zu erklettern. Neben dem Tor gab es eine schmale Treppe, die bequem nach oben führte. Etwas schwieriger war es für sie, auf der anderen Seite wieder hinunterzukommen. Aber mit Hilfe des Seils und Lothars galanter Unterstützung gelang ihr auch dies. Wenig später waren Retter und Gerettete bei Karl dem Sänger, der mit den Pferden bereits auf sie wartete. *
Es war ein liebliches Fleckchen Erde, das sich Roland und seine Gefährten als Rastplatz ausgesucht hatten: eine kleine Wiese mit saftigem Gras im Schatten eines grünenden Hains. Ein murmelnder Bach schlängelte sich durch das Land. Sein Wasser war so klar, daß man sich darin spiegeln konnte. Ein lindes Lüftchen wehte, und aus dem Wäldchen drang das nimmermüde, fröhliche Zwitschern der Vögel herüber. Roland und seine Begleiter hatten einen harten Ritt hinter sich. Die Ruhepause war redlich verdient. Und jeder der vier nutzte sie auf seine Weise. Louis und Pierre, die beiden Knappen, packten ihre Würfel aus. Volker von Hohentwiel, der berühmte Minnesänger und Ritter, griff nach der Fidel und stimmte träumerisch eine seiner einschmeichelnden Weisen an. Und Roland selbst legte sich rücklings ins Gras und dachte über die Aufgabe nach, die vor ihm lag. König Artus, der Herr von Camelot, hatte ihn ins Land der Grafen Wolfram, Gernot und Sigmund geschickt, um Frieden zu stiften zwischen den drei Vettern. Seit langen Jahren bekämpften sie sich bis aufs Blut. Schwer war sie, diese Aufgabe, denn die Grafen verfolgten sich mit unversöhnlichem Haß. Jeder von ihnen wollte das Erbe Herzog Ottokars antreten und das Land allein beherrschen. Um ihr Ziel zu erreichen, war ihnen jedes Mittel recht. Dennoch war Roland guten Mutes. Bis jetzt hatte er es noch immer geschafft, die ihm gestellten Aufgaben zu erfüllen. Gedankenverloren kaute er an einem Grashalm und bemühte sich, das Gezänk zu überhören, das sich wie immer zwischen Louis und Pierre entspann. Statt dessen lauschte er dem Lied, das Volker jetzt mit seiner gottbegnadeten Stimme zum besten gab. Roland der Recke, Ohne Zaudern und Zagen Schwingt furchtlos das Schwert er, Wenn die Wackren längst wanken. Ruhm sei dem Ritter, Der dem Teufel selbst trotzt. Voll Lob ist das Lied, Das der Sänger ihm singt.
Roland lächelte. »Der Held deines Liedes soll doch nicht etwa ich sein, Volker?« Das olivfarbene, markante Gesicht des Sängers verzog sich ebenfalls zu einem Lächeln. »Wen sonst sollte ich meinen, mein Freund?« »Zuviel der Ehre!« »Ehre, wem Ehre gebührt!« Erneut setzte Volker vom Hohentwiel den Fidelbogen an. »Hör zu, wie die Ballade weitergeht...« Pierre und Louis unterbrachen ihr Würfelspiel. Selbst sie, einfache Männer aus dem Volke, denen ein saftiger Schinken üblicherweise lieber war als die hehre Kunst, konnten sich der Wirkung von Volkers Gesang nicht entziehen. Tapfer bis in den Tod Das Herz des Helden ... Volker sang nicht weiter, ließ die Fidel sinken und setzte sich ruckartig aufrecht. Die Mundwinkel Rolands kräuselten sich belustigt. »Was ist los, Volker? Sind dir plötzlich Zweifel an meiner Heldenhaftigkeit gekommen? Oder fehlen dir die Worte, um sie gebührend auszudrücken?« Der schwarzhaarige Ritter ging nicht auf den leichten Spott ein. »Hört ihr nichts?« fragte er statt dessen. Roland setzte sich ebenfalls auf. Aufmerksam spitzte er die Ohren. Er hörte in der Tat etwas ... Hufgetrappel! Und dann hörte er nicht nur, sondern sah auch. Wie eine wilde Horde brachen sie aus dem Dickicht des Hains hervor - sechs, zehn, zwölf Reiter. Ritter mit harten Gesichtern, in deren Augen die Kälte eines Bergsees glitzerte. Im Nu waren Roland und seine Gefährten umringt. Die Spitzen von zwölf Schwertern und Lanzen richteten sich drohend auf sie. Ein schwarzbärtiger Mann, groß und kräftig wie ein Bär, ergriff das Wort. »Wenn ihr Widerstand leistet, machen wir euch nieder wie tollwütige Füchse!«
Volker und Roland tauschten erstaunte Blicke. Die Reiter, die sie umringten, sahen nicht aus wie Räuber oder ähnliches Gelichter. Vielmehr machten sie den Eindruck von Männern, für die Ehre kein leeres Wort war. Um so verwunderlicher war ihr gewaltversprechendes Auftreten, für das kein ersichtlicher Grund vorlag. »Mit Verlaub gefragt...«, setzte Volker vom Hohentwiel an, wurde aber barsch von dem Schwarzbärtigen unterbrochen. »Maul halten, schurkischer Sänger, sonst schneidet dir mein Schwert die falsche Zunge aus dem Mund!« Der dickliche Pierre, dessen größte Tugend nicht die Tapferkeit war, begann zu zittern. »Gnade!« rief er flehend und warf sich auf die Knie. »Tut uns nichts! Wir ergeben uns!« Damit war Roland gar nicht einverstanden. So leicht ergab er sich nicht in sein Schicksal. Schon zuckte seine Rechte zum Knauf des Schwertes. Der drahtige Louis wollte seinem Herrn nicht nachstehen. Auch er griff nach seiner Waffe, einem scharfgeschliffenen Jagdmesser, mit dem er gar trefflich umzugehen verstand. Unverzüglich hoben mehrere Reiter ihre Lanzen zum tödlichen Wurf. Volker vom Hohentwiel gebot ihnen Einhalt. Schnell wie ein Reh sprang er auf die Füße und hob die Arme hoch in die Luft. »Gemach!« rief er mit fester Stimme. »Rechnet ihr es euch zur Ehre an, mit dreifacher Übermacht einen Sieg zu erzwingen?« Böse blickte ihn der Schwarzhaarige an. »Ich hatte euch gewarnt. Wenn ihr Widerstand leistet...« »Wir leisten keinen Widerstand!« Roland knurrte unmutig. »Volker...« Der singende Ritter wandte sich ihm zu. »Sei vernünftig, mein Freund. Was sollen wir gegen sie ausrichten? Sie sind zu zwölft! Selbst wenn wir die Hälfte von ihnen zu Boden strecken, machen uns die übrigen doch den Garaus!«
»So ist es!« sagte der Schwarzbärtige grimmig. Roland biß sich auf die Lippen. »Denk an das Lied, das du gerade zu meinem Ruhme sangst. Darf sich ein Held gebärden wie ein verängstigtes Schaf?« Volker lächelte. »Manchmal ist es heldenhafter, nicht den Arm, sondern den Kopf zu gebrauchen! Welche Taten kann ein toter Held noch verbringen?« Roland dachte kurz nach, nickte dann ergeben. Wahrscheinlich hatte sein erfahrener Freund recht. Mit Ungestüm und Tollkühnheit war hier nichts zu erreichen. Achselzuckend ließ er seine Hand vom Schwertknauf gleiten, den er noch immer umklammert hielt. Befriedigt grunzte der Schwarzbärtige. »Nehmt ihnen die Waffen ab!« befahl er seinen Männern. Wohl oder übel ließen es Roland und seine Gefährten mit sich geschehen. * Hochstimmung herrschte auf der Wolfsburg. Wolfram vom Hohen Tann gab ein Fest, um die Befreiung seiner Töchter aus den Händen des Felsensteiners und des Eisenbergers gebührend zu feiern. Die Tische bogen sich fast durch unter der Last der Speisen, die die Bediensteten aufgefahren hatten. Saftige Lendenstücke, groß wie Kinderköpfe, dampfende Grundbirnen, würzige Brotlaibe und frische Wiesensalate ließen den Tafelnden das Wasser im Mund zusammenlaufen. Dazu gab es die feinsten Weine aus Burgund und leuchtende Früchte aus Italien. Und die Getreuen des Grafen ließen es sich schmecken. Nicht jeden Tag bekamen sie Gelegenheit, ihrem Magen soviel Gutes zu tun, denn Wolfram vom Hohen Tann war normalerweise ein recht knauseriger Herr. Heute aber neidete er keinem von ihnen den leckeren Bissen und den kräftigen Schluck. Heute wollte er nur zufriedene und fröhliche Männer um sich sehen.
Auch der Burgherr selbst strotzte nur so vor Zufriedenheit und Fröhlichkeit. Die düsteren Schatten, die meist sein scharfgeschnittenes Gesicht bewölkten, waren verflogen. Und dem Blick seiner tiefdunklen Augen fehlte heute das Stechende. Er lachte laut und viel, und wenn er seine Stimme erklingen ließ, dann war sie nicht ätzend und befehlend wie gewohnt, sondern quoll über vor Heiterkeit. Wolfram saß am Kopfende der Tafel. Links und rechts von ihm hatten seine Töchter Wolflinde und Walpurga Platz genommen. Immer wieder umarmte Wolfram die beiden Mädchen und drückte sie voller Freude an sich. »Daß ihr wieder bei mir seid, meine Süßen!« rief er lachend. »Daß ihr endlich wieder bei mir seid!« Die beiden jungen Frauen lächelten ihn an. Sie waren genauso glücklich wie ihr Vater. Sie hatten es nicht schlecht gehabt bei Sigmund von Felsenstein und Gernot von Eisenberg. Aber es war doch etwas ganz anderes, ein freier Mensch zu Hause zu sein als eine Geisel auf der Burg fremder Herren. »Trinkt, meine Süßen«, rief der Burggraf. »Trinkt auf das Wohl eurer Retter! Und alle anderen ebenso!« Er hob seinen Becher den drei Rittern entgegen, die die Ehrenplätze am anderen Ende der Tafel eingeräumt bekommen hatten. Lothar der Kühne, der Rote Friedrich und Karl der Sänger fühlten sich sichtlich geschmeichelt. Aber die Ehre, die ihnen zuteil wurde, gebührte ihnen auch. Es war schon eine bewunderungswürdige Tat gewesen, die sie vollbracht hatten. Erst Walpurga und dann Wolflinde von ihrem Geiseldasein zu befreien, und dies alles innerhalb von 24 Stunden, machte ihnen so leicht niemand nach. Sie hatten es verdient, daß man sie feierte wie Helden. Alle Anwesenden folgten dem Beispiel des Burgherren und prosteten den drei Rittern zu - mit zwei Ausnahmen. Und diese beiden Ausnahmen waren Sigrid von Felsenstein und Gandalf von Eisenberg. Die beiden Geiseln, die ihre Väter in die Zwangsobhut Wolframs vom Hohen Tann gegeben hatten, ließen sich von der
allgemeinen guten Laune nicht anstecken. Und dazu hatten sie auch keinen guten Grund. Für sie beide war dieses Fest das genaue Gegenteil einer Freudenfeier. Für sie hätte dieser Tag Anlaß sein können, sich in Sack und Asche zu hüllen. Mit starren Mienen saßen Sigrid und Gandalf am festlich gedeckten Tisch. Sie hatten bisher kaum etwas gegessen und getrunken. Nur so viel, wie es der Leib brauchte, um nicht der Schwäche anheimzufallen. Jetzt jedenfalls machten sie keinerlei Anstalten, ihre Weinbecher zu heben. Dem Burgherren war das nicht entgangen. »Sigrid, Gandalf«, rief er. »Hörtet ihr nicht, was ich sagte? Wir trinken zur Ehre der Retter!« Das Mädchen und der junge Mann, beide waren von ihrem zwanzigsten Wiegenfest noch zwei Jahre entfernt, taten so, als hätten sie die Worte nicht vernommen. Unbeweglich saßen sie auf ihren Schemeln und blickten mit leeren Augen vor sich auf die Tischplatte. »Hörtet ihr nicht, was ich sagte?« wiederholte Wolfram vom Hohen Tann. Jetzt klang seine Stimme bereits so scharf und schneidend, wie man es von ihm kannte. Jedermann am Tisch war aufmerksam geworden. Alle Unterhaltungen erstarben. Es wurde so still im Festsaal, daß man das Säuseln des Windes in den Fensterritzen hören konnte. Alle Anwesenden blickten nun auf die beiden Geiseln. Diese jedoch ließen sich noch immer nicht beeindrucken. Zwar wurde Sigrid von Felsenstein blaß in ihrem engelhaften Gesicht, und ein Zittern ging durch ihren gertenschlanken Körper. Aber wie ihr Leidensgefährte Gandalf strafte sie die Worte des gestrengen Burgherren mit Nichtachtung. »Hebt die Becher, und trinkt!« sagte Wolfram laut, beinahe schreiend. Und noch immer taten die beiden Geiseln nicht, was er von ihnen verlangte. Rot lief der Herr der Wolfsburg an. Wut loderte in ihm auf, wie die Flamme im Herdfeuer. »Trinkt!« brüllte er ungezügelt. »Trinkt, oder, bei der Krone Ottokars, ihr lernt mich kennen!«
Das Zittern der jungen Sigrid verstärkte sich. Ihre Lippen zuckten. Furcht schlich in ihr Herz, eine Furcht, die sie nicht länger im Zaume halten konnte. Wie von selbst kroch ihre Hand zum Weinbecher und griff danach. Aber Gandalf von Eisenberg hinderte sie daran, ihn zu heben. Auch er war blaß geworden wie ein Leintuch, das die Sonne gebleicht hatte. Sein Herz jedoch war erfüllt vom Mut des Löwen. »Nein, Sigrid«, sagte er und hielt den Arm des Mädchens fest. »Wir trinken nicht auf das Wohl derer, die sich zu Werkzeugen des Eidbruchs machten! Mag auch unsere Freiheit beschnitten sein, die Ehre aber lassen wir uns nicht rauben!« Die kühnen Worte des Jünglings blieben nicht ohne Wirkung. Gemurmel wurde laut, und manch einer in der Festrunde blickte betreten vor sich hin. Nicht so jedoch Wolfram vom Hohen Tann. Berstend vor Zorn stieß er seinen Lehnstuhl zurück und sprang auf. Mit böse zusammengekniffenen Augen funkelte er den Eisenberger an. »Dreister Bube«, tobte er. »Du wagst es, mir den Gehorsam zu verweigern?« »Ich schulde Euch nur einen Gehorsam«, antwortete Gandalf unerschrocken. »Nämlich den, die Wolfsburg nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis zu verlassen. Ansonsten steht es mir frei, zu tun und zu lassen, was mir beliebt.« »Ja, so ist es«, bekräftigte Sigrid tapfer. »Ist es so - wirklich?« Der Burgherr verließ seinen Platz an der Stirnseite der Tafel und ging mit langsamen, wiegenden Schritten zu den beiden Geiseln hinüber. Drohend baute er sich vor ihnen auf. »Trinkt«, sagte er. »Ich befehle es!« »Ihr habt mir nichts zu befehlen«, lehnte Gandalf das Ansinnen rundheraus ab. »Trinkt, oder ich zwinge euch dazu!« Der Eisenberger schüttelte stumm den Kopf. Wolfram vom Hohen Tann lächelte so wölfisch, wie es sein Name versprach. Dann holte er aus und versetzte dem Jüngling eine
schallende Ohrfeige. Der Schlag war so gewaltig, daß Gandalf vom Schemel geschleudert wurde und auf den steinernen Fußboden stürzte. Sigrid von Felsenstein stieß einen unterdrückten Schrei aus. Sie war die einzige, die sich vernehmen ließ. Alle anderen Anwesenden blieben stumm und sahen nur zu. Keiner rührte eine Hand, um Gandalf von Eisenberg zu helfen. Mühsam raffte sich der Jüngling vom Boden auf. Ein Blutstropfen haftete in seinem rechten Mundwinkel. »Trinkst du jetzt?« fragte Wolfram vom Hohen Tann beinahe freundlich. »Nein!« Da traf den Eisenberger der zweite Hieb. Diesmal hatte der Burgherr mit der Faust zugeschlagen. Gandalf wurde zurückgeschleudert, als habe ihn ein Pferd getreten. Er prallte mit dem Rücken gegen die Festtafel und riß eine Fleischschüssel mit hinunter, als er erneut zu Boden ging. Fleischbrocken und Fettsoße ergossen sich über ihn und vermischten sich mit dem Blut, das ihm aus der Nase schoß. Dröhnend lachte Wolfram vom Hohen Tann ihn aus. »Seht ihn euch an!« tönte er und schüttelte sich vor Heiterkeit. »Wirkt unser kleiner Freund von Eisenberg nicht komischer als ein Narr, dessen Beruf es ist, seine Mitmenschen mit künstlichen Spaßen zu ergötzen?« Einige der Anwesenden lachten pflichtschuldig, aber nicht alle. Das Bild des Jammers, das der unglückliche Jüngling bot, bedauerte doch so mancher. Zudem hatte sich Gandalf während seines Aufenthaltes auf der Wolfsburg unter den Getreuen des Burgherren durchaus Respekt und Anerkennung erworben. Wolfram aber kümmerte dies nicht. Lachend stand er da und belustigte sich an den mühevollen Versuchen des jungen Eisenbergers, wieder auf die Füße zu kommen. Sigrid von Felsenstein hatte inzwischen ihre Angst vergessen. Hell lodernde Empörung beherrschte statt dessen ihr Denken und Tun. Sie
sprang von ihrem Schemel auf. Mit blitzenden Augen funkelte sie den Grafen an. »Euer Tun ist schändlich!« schrie sie außer sich. »Gandalf und ich stehen unter dem Schutz des königlichen Geiselrechts. Wer gegen dieses Recht verstößt ...« Mit einer barschen Handbewegung schnitt ihr Wolfram vom Hohen Tann das Wort ab. »Geiseln?« echote er höhnisch. »Ich höre immer Geiseln! Sollte dir entgangen sein, daß sich die Situation grundlegend gewandelt hat, Felsensteinerin? Eine Leibbürgschaft ist eine zweiseitige Angelegenheit. Die Geiseln des einen bürgen mit Leib und Leben für die Geiseln des anderen. Wo aber ist die Geisel, die ich im Austausch gegen dich in die Zwangsobhut deines Vaters gab?« Wolfram wandte sich um und zeigte auf seine Tochter Wolflinde. »Da sitzt sie!« rief er triumphierend. »Nicht länger in der Gewalt deines Vaters, sondern im Schutz meiner eigenen Mauern! Für wen also willst du noch den Widerpart spielen, Sigrid von Felsenstein? Für niemanden! Und deshalb ist dein Status, den dir das königliche Recht verlieh, ein für allemal dahin. Du bist nicht länger eine geschützte Geisel, sondern eine alltägliche Gefangene, die meiner Willkür untersteht. Und dasselbe gilt für deinen hochnäsigen Vetter Gandalf!« Das junge Mädchen schwieg und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, in welcher Lage sie sich befand. Der Wolfsburger hatte ihr diese mit unmißverständlicher Deutlichkeit vor Augen geführt. Auch Gandalf von Eisenberg begriff nun, was ihn erwartete. Während die bittere Erkenntnis bei seiner Leidensgefährtin eine tiefe Niedergeschlagenheit hervorrief, brach bei ihm die dünne Mauer der Selbstbeherrschung. Mit einem wilden Wutschrei federte er hoch und warf sich auf den Grafen. Aber Wolfram vom Hohen Tann ließ ihm keine Chance. Er war ein erfahrener Kämpfer, während Gandalf noch das Grün des jungen Baums hinter den Ohren hatte. Seine Faust flog heraus wie ein
Rammbock und wehrte den ungestümen Angriff des Jünglings ab. Schwer getroffen ging der Eisenberger zum dritten Mal auf die Steine nieder. Gebieterisch schnippte der Burgherr mit den Fingern. »Schafft ihn mir aus den Augen!« befahl er. »Ins finsterste Verlies mit ihm. Und die Felsensteinerin nehmt auch gleich mit!« Mehrere seiner Getreuen erhoben sich sogleich von ihren Plätzen. Wenig später führten sie die beiden Geiseln aus dem Festsaal. Wolfram kehrte zu seinem Lehnstuhl zurück und setzte sich wieder. Ihm entging nicht, daß die Stimmung im Raum plötzlich getrübt war. Dem jedoch gedachte er abzuhelfen. »Sing uns ein Lied, Karl!« förderte er Karl den Sänger auf. Der Sänger ließ sich nicht lange bitten. Singen war seine Leidenschaft. Er ließ seine Stimme erschallen, wann immer sich Gelegenheit dazu bot. Dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis der Frohsinn wieder in dem Festsaal Einkehr hielt. Dem reichlich fließenden Burgunder konnte doch letztendlich niemand widerstehen. * Unterwegs hätte Roland durchaus mehrmals Gelegenheit gehabt, die Flucht zu ergreifen. Sein prächtiger. Hengst Samum war den Durchschnittspferden der Männer, die ihn gefangengenommen hatten, an Schnelligkeit sicherlich überlegen. Dennoch unternahm Roland nicht einmal den Versuch, sich abzusetzen. Es gab zwei Gründe für seine Zurückhaltung. Einmal wollte er seine drei Gefährten nicht im Stich lassen. Und zum anderen hatte er inzwischen herausgefunden, wer der Schwarzbärtige und seine Begleiter eigentlich waren. Es handelte sich um Getreue des Grafen Sigmund von Felsenstein. Das hatte sich mit Leichtigkeit aus ihren Gesprächen heraushören lassen. Und eben dieser Graf Sigmund war einer der drei Fürsten, die Roland ohnehin aufsuchen wollte. Es wäre
also töricht gewesen, seinen Männern davonzureiten. Weshalb diese ihn und seine Freunde allerdings überwältigt hatten, war ihm nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. Auf hartnäckige Fragen in dieser Richtung hatten der Schwarzbärtige und die Seinen ebenso hartnäckig die Antwort verweigert. Roland fügte sich schließlich in das Unvermeidliche. Irgendwann würde er schon erfahren, was man eigentlich von ihm und insbesondere von Volker wollte. Auf Burg Felsenstein wohl, wohin man sie jetzt brachte. Der Ritt dauerte mehrere Stunden. Das Land, das durchquert wurde, war friedlich und schön. Die Frucht auf den Feldern stand in gutem Wuchs, und die Dörfer und Gehöfte am Weg machten einen ordentlichen Eindruck. Roland kamen gewisse Zweifel an der Aufgabe, die ihm König Artus gestellt hatte. Er sollte Frieden stiften zwischen drei kriegerischen Grafen. Aber fand ein solcher Krieg tatsächlich statt? Normalerweise war es so, daß die Landschaft Spuren von Kämpfen erkennen ließ. Zerstörte oder beschädigte Häuser, verbrannte Felder, gramgebeugte Menschen - dies alles gehörte dazu. Nichts davon war jedoch zu sehen. Roland hätte wetten mögen, daß zumindest in jüngster Zeit kein Krieg in dieser Region geführt worden war. Allerdings sprach ihre Gefangennahme nicht gerade für eine friedliche Gesinnung des Landesherren. So mochte es dann angehen, daß der Schein trog. Wahrscheinlich hatte ihn der König von Camelot doch nicht umsonst zu den drei Grafen geschickt. Die Sonne neigte sich langsam ihrem Tiefpunkt entgegen, als das Ziel endlich in Sicht kam. Die Burg Sigmunds von Felsenstein lag auf dem Gipfel eines Berges. Dichter Nadelholzbestand bedeckte die Flanken des steil aufragenden Hügels. Und dort, wo keine Bäume wuchsen, trat schroffes Felsgestein zutage. Ein verhältnismäßig schmaler Weg, nicht einmal breit genug, um ein normales Fuhrwerk passieren zu lassen, wand sich in Schlangenlinien nach oben. Schließlich stand der Trupp vor dem wuchtigen Burgtor. Die Wachen auf der Mauer hatten die Ankömmlinge natürlich längst
erkannt. Schon schwang das Tor knarrend auf. »So laßt denn alle Hoffnung fahren«, murmelte der hasenherzige Knappe Pierre, als sie alle auf dem Burghof haltmachten und das Tor wieder geschlossen wurde. »Absitzen!« kommandierte der Schwarzbärtige. Roland und seine Gefährten kamen der Aufforderung nach. Angesichts der unverwandt auf sie gerichteten Hieb- und Stichwaffen blieb ihnen auch nichts anderes übrig. Der Schwarzbärtige wandte sich an einen seiner Männer. »Hol den Grafen! Er soll entscheiden, ob wir die Kerle gleich aufhängen oder erst in den Kerker sperren.« Das waren harte Worte. Aber Roland hoffte zuversichtlich, daß sie nicht ganz so ernst gemeint waren, wie sie klangen. Der Burghof füllte sich jetzt. Männer und Frauen und selbst ein paar Kinder kamen aus den Gebäuden gelaufen. Zwischen den Ankömmlingen und den Burgbewohnern flogen Fragen und Antworten hin und her. Roland schnappte einiges davon auf, konnte sich aber noch immer keinen rechten Reim auf die Hintergründe ihrer Gefangennahme machen. Hinterlistiger Sänger ... Wolflindes Befreier.... Das waren einige der Zurufe, die Roland mitbekam. Er hatte während des Rittes schon einmal mit dem Gedanken gespielt, daß man ihn und seine Gefährten vielleicht verwechselte. Diese Überlegung bekam jetzt neue Nahrung. Dann trat Graf Sigmund von Felsenstein auf den Hof. Roland kannte ihn bisher nicht. Aber er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß er den Burgherren vor sich hatte. Die Ehrerbietung, die ihm alle erwiesen, die imposante Gestalt und nicht zuletzt auch der hermelinbesetzte Fürstenrock - dies alles sprach für sich. Der schwarzbärtige Anführer des Trupps ging sofort zu Graf Sigmund hinüber und redete mit ihm. Was gesprochen wurde, konnten die Gefangenen nicht verstehen. Dazu standen sie zu weit entfernt. Die Unterhaltung der beiden Männer war nur kurz. Schon nach
wenigen Augenblicken trat der Schwarzbärtige mit einer Verbeugung zurück und machte eine winkende Handbewegung. »Bringt die Kerle her!« Lanzenspitzen dirigierten Roland und seine Freunde zu Graf Sigmund hinüber. Finster blickte sie der Burgherr an, einen nach dem anderen. An Volker vom Hohentwiel blieben seine Augen schließlich haften. »Du kannst singen, wurde mir berichtet!« Volker lachte. »Das will ich meinen! Willst du eine Kostprobe hören?« Die Augenbrauen Sigmunds von Felsenstein zogen sich unmutig zusammen. »Du wagst es, mich zu duzen, Kerl?« schnauzte er. Rolands Freund ließ sich nicht beeindrucken. Unerschrocken hielt er dem düsteren Blick des Grafen stand. »Ich hörte nicht, daß du mir die gebührende Ehre erwiesest!« sagte er ganz ruhig. »Warum sollte ich es dann tun?« Drohendes Gemurmel wurde in den Reihen der gräflichen Getreuen laut. Sie hatten es wohl selten erlebt, daß jemand so mit ihrem Gebieter sprach. »Sollen wir ihm das tollkühne Schandmaul stopfen?« fragte einer der Männer und hob tatendurstig seinen Lanzenarm. Rolands Muskeln spannten sich. Er war jederzeit bereit, dem Freund zu Hilfe zu eilen, wenn sich die Notwendigkeit dazu ergab. Das war dann aber doch nicht der Fall. Mit einer Handbewegung machte der Burgherr die gewalttätige Absicht seines Getreuen zuniche. »So, so«, sagte er zu Volker, »du bist also ein Mann von Ehre! Aber das hinderte dich nicht, deine Sängerstimme in den Dienst eidbrecherischen Verrats zu stellen!« »Ich weiß nicht, wovon du redest!« erwiderte Volker vom Hohentwiel achselzuckend. »So will ich deutlicher werden«, fuhr Sigmund von Felsenstein fort. Und dann berichtete er von einer mit List und Gewalt durchgeführten Geiselbefreiung, bei der ein Sänger eine nicht
unmaßgebliche Rolle gespielt hatte. Volker vom Hohentwiel schüttelte den Kopf. »Und warum sollte ausgerechnet ich dieser Sänger sein?« »Menschen mit gottbegnadeter Stimme sind rar wie Schafe mit zwei Köpfen. Es wäre ein seltsamer Zufall, wenn zur gleichen Zeit zwei Troubadoure ...« Der Graf hielt inne, als zwei seiner Getreuen nach vorn kamen. Sie trugen eine Trage, die sie jetzt vor dem Burgherren absetzten. Ein Mann lag auf der Trage, dem man offensichtlich übel mitgespielt hatte. An seinem Hals waren tiefe Würgemale zu erkennen. Das Tuch, das man ihm um den Kopf geschlungen hatte, war blutdurchtränkt. Die Augen hielt der Mann geschlossen. Sigmund von Felsenstein beugte sich vor. »Kannst du mich hören, Ignaz?« Der Mann öffnete die Augen, richtete sich auf der Trage auf. »Ja«, krächzte er. »Gut«, sagte der Graf befriedigt. Er deutete auf Volker vom Hohentwiel. »Erkennst du ihn wieder, Ignaz? Ist das der Sänger, der sich Robert von Toulouse nannte?« Der Verletzte blickte den Minnesänger an. »Ich ... Ich weiß nicht«, preßte er hervor. »Es war nicht hell genug, um ihn eindeutig erkennen zu können.« »Ich war es gewiß nicht«, sagte Volker. »Außerdem lautet mein Name nicht Robert von Toulouse. Ich bin Volker vom Hohentwiel und betrachte es als ehrabschneidend, mit einem obskuren provenzalischen Troubadour verwechselt zu werden!« »Ihr gebt vor, der berühmte Volker vom Hohentwiel zu sein?« fragte der Graf zweifelnd. »Ich gebe es nicht vor, ich bin es!« »Das kann jeder behaupten«, tat der Burgherr Volkers Worte ab. Er wandte sich wieder an den Mann auf der Trage. »Sieh dir die anderen drei an, Ignaz! Waren sie es, die die Mauer erstürmten?« Der Verletzte musterte Roland und die beiden Knappen mit unsicherem Auge. »Ich... weiß nicht«, sagte er wieder. »Alles ging so
schnell und ...« Das Sprechen strengte ihn sichtlich an. Er mußte einige Augenblicke Pause einlegen, bevor er weiterredete. »Der da ...«, er zeigte mit dem Kinn auf Roland, »... könnte dabeigewesen sein. Das Gesicht, die Statur ... Allerdings deucht mich, daß der andere rote Haare hatte.« »Niemals waren meine Haare von der Farbe des Feuers«, verwahrte sich Roland dagegen. Sigmund von Felsenstein machte ein ärgerliches Gesicht. Er war sichtlich nicht zufrieden mit den Ungewissen Angaben des Mannes auf der Trage. Dieser brachte dann aber einen neuen Gedanken ins Spiel. »Der Sänger soll singen«, verlangte er. »Seine Stimme ... Ich bin ganz sicher, daß ich sie widererkenne!« Die düstere Miene des Burgherren hellte sich auf. »Fürwahr eine prächtige Idee«, meinte er, an Volker gewandt. »Laß deine Stimme erschallen!« Volker vom Hohentwiel überlegte kurz, nickte dann. »Üblicherweise singe ich, wenn mir danach zumute ist. Um dieser Posse hier jedoch endlich ein Ende zu bereiten, will ich eine Ausnahme machen.« Und dann sang er. Ein einfaches Liebeslied nur. Aber der unnachahmliche Schmelz seiner Stimme, die Ausdruckskraft, die spielerische Leichtigkeit, mit der er Höhen und Tiefen meisterte, machten das Lied zu einem Kunstwerk höchster Güte. Noch Sekunden nachdem er geendet hatte, sagte keiner der Umstehenden etwas. Sie waren alle beeindruckt, ob sie es nun wollten oder nicht. Der Mann auf der Trage war der erste, der sich wieder vernehmen ließ. »Nein«, sagte er, »nie und nimmer war dies der Sänger, der uns in der Nacht täuschte. Dessen Stimme war nur das Krächzen eines Raben, vergleiche ich sie mit der, die ich soeben hörte!« Sigmund von Felsenstein zeigte, daß er ein Mann von Ehre war. Er machte eine kleine Verbeugung vor Volker und sagte: »Vergebt mir,
daß ich euch mit unangebrachten Beschuldigungen belästigte. Gestattet mir, daß ich für Genugtuung sorge. Seid meine Gäste!« Großmütig nahm Volker vom Hohentwiel die Einladung an. * Sigrid von Felsenstein fröstelte. Es war kalt in dem Verlies, in das man sie und Gandalf von Eisenberg eingesperrt hatte, kalt und feucht. Ein modriger Geruch lag in der Luft. In einer Ecke des niedrigen Raumes ging mit nervtötender Regelmäßigkeit ein Wassertropfen nieder. Und es war stockfinster wie in einem Grab. Die beiden jungen Menschen konnten die Hand nicht vor den Augen sehen. Das Verlies war völlig kahl. Roh behauene Steinquader, hier und dort mit Schimmel behaftet, und eine klobige Bohlentür vermittelten das trostlose Gefühl, bis ans Ende aller Tage hier gefangen zu sein. Zwei faulige Strohballen und eine irdene Schüssel mit abgestandenem Wasser waren alles, was man den Gefangenen zur Verfügung gestellt hatte. »Wir werden hier elendig umkommen«, sagte Sigrid in die Dunkelheit hinein. »Ich habe viele schreckliche Dinge über Wolfram gehört. Er ist grausam und durch und durch von böser, niederträchtiger Gesinnung.« »Das ist wohl wahr«, antwortete Gandalf seufzend. »Dennoch glaube ich nicht, daß er vorhat, uns umzubringen.« »Warum sollte er es nicht tun? Er hat es deutlich gesagt: Wir sind keine Geiseln mehr, sondern Gefangene. Und als solche haben wir für ihn keinen Wert!« »Doch«, sagte der junge Eisenberger, »wir haben sehr wohl noch einen Wert für ihn!« »Welchen denn? Die weitläufigen verwandtschaftlichen Bindungen zwischen unseren Familien und der seinen achtet er mitnichten.« »In der Tat nicht«, gab ihr Gandalf recht. »Wolfram würde seinen
eigenen Bruder köpfen lassen, wenn dieser seinen Zielen hinderlich wäre. Und dein Vater vermutlich ebenfalls.« »Gandalf!« sagte das Mädchen empört. »Wie kannst du so etwas behaupten?« »Machen wir uns nichts vor, Sigrid! Wolfram, dein Vater und auch mein Vater sind aus demselben Holz geschnitzt. Das Streben nach der Macht im ganzen Land sogen sie bereits mit der Muttermilch ein wie alle Nachfahren Herzog Ottokars. Jeder von ihnen möchte die ungeteilte Krone des großen Stammvaters auf sein Haupt setzen. Und um dieses Ziel zu erreichen, ist ihnen jedes Mittel recht. Warum, glaubst du, hat Wolfram vom Hohen Tann seine Töchter Walpurga und Wolflinde gewaltsam befreit? Nur, um sich an uns beiden ungestraft sein Mütchen kühlen zu können?« »Du meinst ...?« »Ja, Sigrid! Wolfram wird versuchen, unsere Väter zu erpressen. Und wir sind das Faustpfand, um seiner Erpressung Gewicht zu verleihen. Wenn er uns töten läßt, gibt er sein wertvolles Faustpfand aus der Hand. Und deshalb brauchen wir um unser Leben nicht zu fürchten. Noch nicht!« Als wären Gandalf von Eisenbergs Worte ein Signal gewesen, wurden vor der Bohlentür wenig später dumpfe Schritte laut. Knarrend wurde der Riegel zurückgeschoben. Die Tür öffnete sich. Fackelschein drang ins Innere. Gandalf und Sigrid erkannten drei Männer: Graf Wolfram, den Roten Friedrich und den Kerkermeister der Wolfsburg. Die Männer traten in das Verlies. Der Burgherr hatte eine beinahe freundliche Miene aufgesetzt. Aber die beiden Gefangenen ließen sich dadurch nicht täuschen. Sein Besuch versprach wenig Gutes. »Es dauert mich, euch beide in solch unwürdigen Umständen sehen zu müssen«, sagte er mit einem Lächeln, das vor Scheinheiligkeit nur so strotzte. »Und ich möchte euch liebend gerne aus eurer unerfreulichen Situation befreien.« Gandalf von Eisenberg stach der Fackelschein grell in die Augen.
Nach den Stunden der Lichtlosigkeit mußte er sich erst wieder an die Helligkeit gewöhnen. Blinzelnd blickte er den Grafen an. »Ich irre wohl nicht, wenn ich sage, daß eine Änderung unserer Lage mit Bedingungen verknüpft ist«, erwiderte er. »Wie lauten diese Bedingungen?« »Nur eine Kleinigkeit, lieber Neffe«, sagte der Wolfsburger. »Einen Brief an eure Väter, das ist alles.« Er winkte dem Roten Friedrich. Dieser trat vor, zwei Bögen Pergament nebst Gänsekiel und einem Faß Schreibtinte in der Hand. Gandalf von Eisenberg machte keine Anstalten, nach den hingehaltenen Schreibutensilien zu greifen. Wie von ungefähr verschränkte er die Arme auf dem Rücken. »Ihr seid doch des Schreibens mächtig, nicht wahr?« erkundigte sich der Graf. »Ja«, sagte Gandalf. Und auch Sigrid von Felsenstein nickte. »Gut, sehr gut! Dann werden wir keine Schwierigkeiten haben.« »Was sollen wir schreiben?« fragte der junge Eisenberger ahnungsvoll. »Ihr könnt euren Vätern die erfreuliche Ankündigung machen, daß ihr in kürzester Zeit wieder auf der heimischen Burg sein werdet. Gleichzeitig solltet ihr in eurem Brief eine persönliche Bitte zum Ausdruck bringen.« »Welche Bitte?« Wolfram lächelte bitter. »Trauer würde in mein Herz einziehen, wenn ihr die Wolfsburg verlaßt. Deshalb hätte ich gerne ein kleines Erinnerungsgeschenk von meinen Vettern Sigmund und Gernot.« Gandalf holte tief Luft. »Ihr wollt die Fragmente der Krone Herzog Ottokars?« »Dein Scharfsinn ist bewunderungswert, lieber Neffe!« sagte der Graf spöttisch. »Es wird dir also nicht schwerfallen, den weiteren Text des Briefes selbst zu formulieren.« »Wir sollen unseren Vätern mitteilen, daß wir des Todes sind, wenn sie sich weigern, die Fragmente herauszurücken?« »Genauso ist es!« Immer noch lächelnd gab Wolfram vom Hohen
Tann dem Roten Friedrich einen Wink. »Gib unserem jungen Freund das Schreibmaterial.« Gandalf nahm die Utensilien entgegen. Aber er dachte gar nicht daran, der Aufforderung des Burgherren nachzukommen. Statt dessen offenbarte er unmißverständlich, was er von dem Ansinnen hielt. Er zerriß die Pergamentbögen, brach den Gänsekiel in der Mitte entzwei und schleuderte das Tintenfaß an die Wand. »Nun tötet mich, wenn Euch danach gelüstet!« stieß er unerschrocken hervor. Das lächelnde Gesicht des Burgherren verzerrte sich zu einer Grimasse der Wut. Einen Augenblick sah es so aus, als ob er sich auf den Jüngling stürzen würde, um ihm eigenhändig den Garaus zu machen. Dann aber gewann er seine Selbstbeherrschung wieder. »Du bist ein Narr, Gandalf von Eisenberg«, sagte er mit kalter Stimme. »Glaubst du nicht, daß ich den Brief auch selbst zu Pergament bringen kann? Ich wollte dem kleinen Tauschhandel lediglich eine freundschaftliche Note geben. Da du dies nicht zu würdigen weißt, muß ich andere Saiten aufziehen. Pack ihn, Friedrich!« Der Getreue des Grafen stand sofort hinter Gandalf. Bevor der junge Mann an Gegenwehr denken konnte, hatte Friedrich ihn von hinten umschlungen. Seine mächtigen Pranken schlossen sich um Gandalfs Oberarme und hielten sie unerbittlich fest. Den überlegenen Kräften des älteren Mannes hatte der Jüngling nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Hilflos hing er in der Umklammerung. Wolfram vom Hohen Tann trat vor ihn hin. Seine linke Hand schoß nach vorne und packte eins der Ohrläppchen Gandalfs. Roh riß er daran. Unwillkürlich stöhnte der Eisenberger vor Schmerz auf. Im nächsten Augenblick hatte der Graf ein Messer in der freien Hand. Silbernfarben glänzte die Klinge im Fackelschein. »Ob mein Vetter Gernot das Ohr seines jüngsten Sprosses wiedererkennen wird?« fragte er mit heiterer Stimme. Gandalf wand sich wie ein Wurm in den Armen des Roten Friedrich. Aber das nutzte ihm nichts. Die Umklammerung des
starken Mannes konnte er nicht lockern. »Nein«, ächzte er. »Bitte ...« Wie der Kopf einer Kreuzotter schnellte Wolframs Messerhand nach vorne. Ratsch! Entsetzt schloß Sigrid von Felsenstein die Augen. Sie konnte das Furchtbare nicht mitansehen. Laut lachte Wolfram vom Hohen Tann auf. In der Hand hielt er eine der schwarzen Locken des Jünglings. »Ich bin kein Barbar«, erklärte er. »Wenn es sich vermeiden läßt, entsage ich der Gewalt. Zwingt man mich jedoch dazu ... Nun, mein lieber Neffe, ich will hoffen, daß dein Vater meine Milde zu schätzen weiß. Sollte er sich jedoch meinen Wünschen nicht geneigt zeigen, muß dein Ohr wohl doch daran glauben. Und falls er dann noch immer keine Einsicht zeigt...« Er wandte sich von Gandalf ab und ging zu dem Mädchen hinüber. »Nun zu dir, meine Süße!« Abermals trat das Messer in Aktion. Danach verbarg Sigrid von Felsenstein ihren Kopf im Stroh und weinte bitterlich. * Sigmund von Felsenstein erwies sich als vollendeter Gastgeber. Das Mahl, das er Volker und Roland vorsetzte, ließ an Reichhaltigkeit nichts zu wünschen übrig. Und sicherlich kamen auch die beiden Knappen Pierre und Louis, die nicht an der Tafel der Ritter speisten, auf ihre Kosten. Während des Essens kam Roland endlich dazu, die Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge brannten. Vor allem interessierte ihn, mit wem sie die Felsensteiner eigentlich verwechselt hatten. »Mit Männern, die fraglos im Sold meines Vetters Wolfram vom Hohen Tann standen«, gab der Graf Auskunft. Roland merkte sofort auf. Wolfram vom Hohen Tann? Das war
einer der beiden anderen Grafen, wegen denen ihn König Artus ins Land geschickt hatte. »Eine Frau namens Wolflinde wurde befreit«, schaltete sich Volker ein. »Wer ist Wolflinde?« »Wolframs Tochter«, erwiderte der Burgherr. »Sie war als Geisel auf Felsenstein. Nun jedoch ...« Sigmund schwieg und blickte finster vor sich hin. Langsam bekam Roland eine Ahnung, um was es ging. »Sehe ich es recht, daß auch Ihr Euren Vetter eine Geisel zur Verfügung gestellt habt und sich diese noch in der Zwangsobhut Graf Wolframs befindet?« vermutete er. »Ja«, bestätigte Sigmund. »Meine jüngste Tochter Sigrid weilt noch auf der Wolfsburg, während meine zweite Tochter Signe bei Graf Gernot von Eisenberg ist.« Roland sah immer klarer. Offenbar hatten alle drei Fürsten Geiseln untereinander ausgetauscht. Und Wolfram vom Hohen Tann hatte das Geiselabkommen nun gebrochen. »Welchen Zweck verfolgte der Geiseltausch?« fragte er. »Um die ewigen Kämpfe zu beenden, die seit Generationen zwischen den Felsensteinern, Eisenbergern und Wolfsburgern ausgetragen werden«, erklärte der Burgherr und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Weinbecher. »Länger als ein Jahr ruhten die Waffen. Tiefer Friede herrschte im Land. Nun aber hat Wolfram den Fehdehandschuh wieder ausgeworfen.« »Hat Graf Wolfram auch die Geisel befreit, die er in die Obhut Gernots von Eisenberg gab?« erkundigte sich Volker. »Das steht zu befürchten!« Volker vom Hohentwiel labte sich ebenfalls am feurigen Burgunder und fragte dann: »Und um was geht es in dem Kampf zwischen den drei Grafenhäusern?« »Um das Erbe unserer gemeinsamen Vorfahren Herzog Ottokars. Einst beherrschte Ottokar das ganze Land. Berechtigter Erbe wäre der Vater meines Vaters gewesen, des Herzogs selbsterwählter Nachfolger. Seine Brüder jedoch machten ihm sein Erbe mit List,
Tücke und Gewalt streitig. Folglich bin ich der einzig rechtmäßige Herrscher des ganzen Landes!« Roland und Volker tauschten einen schnellen Blick. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Es war offenbar, daß sich auch die Grafen Gernot und Wolfram als einzige rechtmäßige Erben des vor Generationen gestorbenen Herzogs ansahen. Keiner der drei war allem Anschein nach bereit, sich mit der seinerzeit erfolgten Dreiteilung des Landes abzufinden. Jeder strebte danach, die gesamte Macht wieder in einer Hand zu vereinigen. In seiner Hand, verstand sich! Roland entsann sich der Weisungen, die ihm König Artus gegeben hatte. »Besaß Herzog Ottokar nicht eine Krone, die das mächtige Wahrzeichen seiner Herrschaft war?« erkundigte er sich. »Man sagt, daß Zauberkräfte in der Krone schlummern, die ihrem Träger unwiderstehliche Kräfte des Körpers und des Geistes verleihen!« »Ja«, nickte Sigmund. »In wessen Besitz befindet sich die Krone jetzt?« Die Stirn des Grafen bewölkte sich. »Ottokars Krone wurde in drei Teile zerbrochen. Eins der Fragmente ist hier auf Felsenstein, das zweite auf dem Eisenberg und das dritte in der Wolfsburg.« Volker vom Hohentwiel pfiff leise durch die Zähne. »Dann wird Wolfram vom Hohen Tann jetzt versuchen, Euch Euer Fragment abzujagen. Und seid Ihr seinen Wünschen nicht gefügig, müßt Ihr fürchten, daß er es Eure Tochter Sigrid spüren lassen wird!« Der Graf knirschte nur mit den Zähnen. Volkers Gedankenpfeil hatte genau ins Schwarze getroffen. »Werdet Ihr Euch Graf Wolframs Forderung beugen?« wollte Roland wissen. »Nein, niemals!« Sigmund leerte seinen Becher mit einem Zug und stellte ihn hart auf die Tischplatte zurück. »Ihr liebt Eure Tochter nicht?« »Doch!« schrie der Burgherr. »Ich liebe meine Tochter! Ich liebe sie mehr als mich selbst. Aber wenn ich Wolfram nachgebe ...«, er
ballte die Fäuste, »... Wolfram wird die drei Bruchstücke der Krone wiedervereinigen und auf sein Haupt setzen. Dann wird er, von den Zauberkräften durchdrungen, der mächtigste Mann im Land sein und eine furchtbare Schreckensherrschaft errichten. Das darf ich nicht zulassen. Unter keinen Umständen!« Sekundenlang herrschte Schweigen am Tisch. Volker war es, der es schließlich brach. »Dürften wir das Bruchstück der Herzogskrone sehen?« Falten erschienen auf der Stirn des Grafen. »Warum?« fragte er mit schlecht verhohlenem Mißtrauen. Freundlich lächelte ihn Volker an. »Denkt nicht, daß ich das kostbare Stück zu stehlen gedenke. Wie Ihr wißt, bin ich Dichter und Sänger. Es reizt mich ungemein, eine Ballade über Herzog Ottokars Krone zu schreiben. Natürlich würde es meine Phantasie beflügeln, wenn ich sie einmal vor Augen hätte.« Nach kurzem Zögern nickte Sigmund von Felsenstein und bekundete sein Einverständnis. Die Tafel wurde aufgehoben. »Folgt mir«, sagte der Graf. Roland und Volker beeilten sich, der Einladung nachzukommen. Sigmund führte sie in einen der Burgtürme. Über eine steile Wendeltreppe ging es nach oben. Hoch in der Spitze des Turms gebot eine massive Tür Halt. Zusätzlich wurde der hinter der Tür liegende Raum von einem Wachtposten geschützt. Der Mann nahm die Hand vom Knauf des Schwertes, als er seinen Gebieter erkannte. Mit einer Verbeugung gab er den Weg frei. Der Graf öffnete die Tür und ließ seine beiden Gäste eintreten. Ein recht kleiner Raum erwartete Roland und Volker. Er war vollkommen leer bis auf einen altarartigen Steinblock, der mit rotem Samt überzogen war. Und auf dem Samt lag es - das Bruchstück der Herzogskrone. Sigmund gestattete den beiden Rittern, ganz dicht an das Utensil der Macht heranzutreten. Roland und Volker taten es und konnten das Prachtstück aus allernächster Nähe bewundern.
Und es war in der Tat ein einzigartiges Prachtstück: aus purem Gold und über und über mit kostbaren Edelsteinen besetzt. Sonnenstrahlen fielen durch ein kleines Fenster ein und wurden wie feurige Blitze von den Smaragden, Rubinen und Saphiren zurückgeworfen. Das Kronenfragment erweckte dadurch den Eindruck, als werde es in einem leuchtenden Flammenmeer gebadet. Roland konnte sich lebhaft vorstellen, wie die vollständige Krone wirken mußte, wenn schon dieses Bruchstück eine geradezu atemberaubende Pracht entfaltete. Eine ganze Weile standen er und Volker ganz im Banne des Erbstücks Herzog Ottokars. Selten in ihrem Leben hatten sie etwas so Schönes, etwas so Herrliches gesehen. »Darf ich es einmal in die Hand nehmen?« bat Volker mit gedämpfter Stimme. Es entging Sigmund von Felsenstein nicht, wie beeindruckt der berühmte Minnesänger war. Sichtlicher Besitzerstolz erfüllte ihn. Und dieser Stolz war es wohl auch, der ihn bewegte, seine Einwilligung zu geben. Volker vom Hohentwiel nahm das Kronenfragment von dem Samtbelag, ganz vorsichtig, so wie ein rohes Ei. Geradezu andächtig hielt er es in der Hand. Ein merkwürdiger Ausdruck trat in sein Gesicht. Er schloß die Augen, schien auf einmal regelrecht entrückt zu sein. Als er die Augen wieder öffnete, lag ein großes Staunen darin. Er sagte nichts, reichte das Bruchstück nur wortlos an Roland weiter. Bevor der Graf Einspruch erheben konnte, griff Roland zu und nahm das Fragment entgegen. Sofort spürte er etwas. Ein ganz eigenartiges Gefühl durchrieselte ihn, ein Gefühl, das er mit Worten gar nicht beschreiben konnte. Ihm war, als würde er von einem Augenblick zum anderen größer und stärker. Geheimnisvolle Kräfte schienen durch seinen Körper zu strömen, schienen seine Muskeln zu dehnen, schienen Herz und Lunge zu weiten. Er fühlte sich unwiderstehlich, wäre auf der Stelle bereit gewesen, es mit jedem Gegner, ja, mit ganzen Reihen
mächtiger Gegner aufzunehmen. Aber es war nicht allein sein Körper, der plötzlich ein anderer zu sein schien. Auch mit Rolands Geist ging eine Veränderung vor. Wie Volker vor ihm hatte er die Augen geschlossen, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu werden. Dennoch glaubte er auf einmal, sehen zu können. Sehen zu können bis ans Ende der Erdscheibe und darüber hinaus. Er verstand plötzlich alles - die Handlungen der Menschen, das Wirken der Natur, das Wesen von Leben und Tod. Aber als er die großen Gedanken festhalten wollte, verflüchtigten sie sich wie Nebelschwaden in der Sonne und ließen nur eine große, abgrundtiefe Leere zurück. Und auch die ungeheure körperliche Stärke, die er verspürt hatte, war gleichzeitig wie weggeblasen. Roland war wieder das, was er immer gewesen war: ein scharfsinniger junger Mann mit beachtlichen Körperkräften, aber kein Übermensch. Fast widerwillig öffnete er die Augen. Innerlich sehnte er sich danach, das Einzigartige, das ihn für wenige Augenblicke in seinen Bann geschlagen hatte, nochmals zu erleben. Aber dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Der Zauber war verflogen. »Spürtet Ihr es?« fragte Sigmund von Felsenstein. »Ja«, sagte Volker, »wir spürten es. Es hielt nur für eine kurze Zeitspanne an, aber ... Es war phantastisch!« Dieser Ansicht konnte sich Roland nur anschließen. Bisher hatte er nie so recht an das Wirken übernatürlicher Kräfte glauben mögen. Jetzt aber war er fast überzeugt davon. Behutsam legte er das Kronenfragment auf den Samt zurück. Am liebsten hätte er es für sich behalten. Aber das kam selbstverständlich nicht in Frage. Diebstahl und Raub vereinbarten sich nicht mit seiner Denkensweise. »Könnt Ihr Euch vorstellen, wie es ist, wenn die drei Bruchstücke wieder vereinigt werden?« fragte Sigmund von Felsenstein träumerisch. »Dann wird sich der Zauber nicht in Sekunden wieder verflüchtigen, sondern für immer andauern!« Das Versonnene in der Miene des Grafen wich und machte
Erbitterung Platz. »Soll ich die Krone wirklich einem blutigen Gewaltmenschen wie meinem Vetter Wolfram überlassen?« stieß er laut und wütend hervor. »Niemals!« Roland konnte ihn verstehen. Aber er war sich auch nicht sicher, ob Sigmund von Felsenstein der richtige Mann war, um die wiedervereinigte Krone zu tragen. * »Ein Bote Wolframs vom Hohen Tann!« Graf Gernot von Eisenberg fiel beinahe die Hammelkeule aus der Hand, als ihm sein Hausmeier Bodo die Nachricht überbrachte. Er stieß seinen Stuhl zurück und stand ruckartig auf. »Herein mit dem Kerl!« Zwei Knappen brachten den Abgesandten des Wolfburgers in Gernots Zimmer. Der Mann fühlte sich sichtlich nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Sein Gesicht war blaß, und in den Augen lag ein unsteter Ausdruck. In der Hand hielt er eine zusammengebundene Pergamentrolle, an der er fahrig herumfingerte. Unsicher blieb er an der Tür stehen. Deutlich konnte man ihm ansehen, daß er sich am liebsten auf dem Absatz umgedreht und das Weite gesucht hätte. »Komm her!« befahl Gernot barsch. Zögernd ging der Wolfsburger auf den Burgherrn zu und machte in respektvollem Abstand vor ihm halt. »Was hast du da?« »Eine Botschaft meines Herrn.« »Gib!« Verlangend streckte der Graf die Hand aus. Der Bote reichte ihm die Pergamentrolle und trat sofort anschließend zwei Schritte zurück. Ungeduldig riß Gernot von Eisenberg das Band ab, das die Rolle zusammenhielt. Es fiel etwas hinaus, dem der Graf im Augenblick jedoch keine Aufmerksamkeit schenkte.
Er rollte das Pergament auf, das mit schwarzer Tinte beschrieben war, und las. Die Botschaft enthielt nicht viele Worte. Der Inhalt war deshalb um so schwerwiegender. Gernot lief zuerst rot an, wurde dann bleich wie ein Toter. Er ließ das Blatt sinken und starrte sekundenlang mit leerem Gesichtsausdruck ins Nichts. Kein einziges Wort kam über seine blutleeren Lippen. Bodo, der Hausmeier, und die beiden Knappen wagten nicht, ihn anzusprechen. Außerdem konnten sie sich ohnehin denken, welche Mitteilung die Pergamentrolle enthielt. Gernot ging in die Knie und hob auf, was vorhin zu Boden gefallen war. Eine schwarze Haarlocke ... Fast zärtlich strich der Graf mit Zeige- und Mittelfinger darüber hinweg. Dann legte er die Locke behutsam auf eine Kommode. Sein Blick richtete sich auf den Boten von der Wolfsburg. Schweigend musterte er den Mann. Dieser räusperte sich. »Ich... bin beauftragt, meinem Herrn Eure Antwort zu überbringen«, stotterte er. Noch immer sagte Gernot von Eisenberg nichts. Sein Gesicht war starr wie die Maske eines Holzschnitzers. Nur auf seiner Stirn war jetzt eine Ader erschienen, die heftig pulste. »Meine Antwort willst du hören?« fragte er schließlich langsam. »Du sollst sie haben!« Urplötzlich kam Bewegung in seine scheinbar erstarrte Gestalt. Ruckartig riß er sein Schwert aus der Scheide. »Nein!« schrie der Bote entsetzt. »Ich bin doch nur ...« Weiter kam er nicht. Blitzend zuckte die Klinge des Schwertes nach vorn. Ein einziger gewaltiger Hieb trennte dem Sendboten von der Wolfsburg das Haupt vom Rumpf. »Das ist meine Antwort!« sagte der Burgherr mit einer Stimme, die so scharf war wie sein Schwert. Entseelt sank der Leichnam des Boten zu Boden.
In diesem Augenblick kam eine Frau in den Raum gestürzt Greta, die Gemahlin des Grafen. Aufregung und Besorgnis standen ihr im Gesicht geschrieben. »Ich hörte, daß ein Abgesandter ...« Greta unterbrach sich. Erst jetzt hatte sie den toten Wolfsburger gesehen. »Gütiger Gott, was ist passiert?« Mit der noch roten Klinge zeigte Gernot schweigend auf das Pergament, das er ebenfalls auf der Kommode niedergelegt hatte. Die nicht mehr junge, aber immer noch reizvolle Frau mit dem hochgesteckten schwarzen Haar eilte zur Kommode hinüber und griff nach der Botschaft. Ein lauter Schrei kam über ihre Lippen. »Gandalf, mein heißgeliebter Sohn!« Sie legte das Pergament wieder aus der Hand. Ihr Blick irrte zu ihrem Gemahl, zu dem Toten und wieder zurück zu Gernot. Helles Entsetzen trat in ihre Züge. »Wahnsinniger, was hast du getan? Wenn Wolfram vom Hohen Tann erfährt, welches Schicksal sein Bote erlitt ...« Sie konnte nicht weitersprechen. Tränen schossen ihr aus den Augen, und ihr ganzer Körper begann unkontrolliert zu beben. Mit versteinerter Miene stand der Burgherr da. Auch ihm war längst klargeworden, welche Folgen die Tötung des Wolfsburgers nach sich ziehen konnte. Er überlegte rasch und jetzt wieder von den Kräften seines kühlen Verstandes geleitet. »Bodo!« »Zu Diensten, Graf Gernot!« erwiderte der dickliche Hausmeier mit dem pfiffigen Gesicht. »Schick einen Sendboten zu Graf Sigmund von Felsenstein«, sagte der Burgherr. »Ich glaube, es ist an der Zeit, daß ich Kriegsrat mit meinem Vetter halte! Bodo neigte den Kopf und eilte aus dem Zimmer, um den Befehl seines Herrn in die Tat umzusetzen. *
»Werft ihn in den Kerker!« befahl Sigmund von Felsenstein mit schneidender Stimme. Der Abgesandte von der Wolfsburg hob abwehrend die Hände. »Ich erhebe Einspruch gegen diese Behandlung! Es widerspricht allen Gepflogenheiten, den Überbringer einer Botschaft...« Ein Faustschlag, den ihm einer der Getreuen des Grafen verabreichte, schloß ihm den Mund. Mehrere Felsensteiner packten ihn, drehten ihm die Arme auf den Rücken und zerrten ihn weg. Mit zusammengezogenen Brauen blickte ihm Sigmund nach. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Botschaft zu, die ihm der Mann im Namen Wolframs vom Hohen Tann ausgehändigt hatte. Dabei betrachtete er jedoch weniger die Pergamentrolle als vielmehr die lange flachsblonde Haarsträhne, die der schriftlichen Mitteilung beigefügt worden war. Roland und Volker, die ebenfalls auf dem Burghof standen, traten etwas näher an den Grafen heran. »Ist es gestattet, einen Blick auf die Botschaft zu werfen?« fragte Volker leise. Sigmund von Felsenstein schien ihn gar nicht gehört zu haben. So tief war er in Gedanken versunken. Erst als der Minnesänger seine Bitte wiederholte, reichte ihm der Burgherr die Botschaft wortlos hinüber. Über Volkers Schulter blickend machte sich Roland gleichzeitig mit seinem Freund mit dem Inhalt vertraut. Die Botschaft überraschte ihn in keiner Weise. Wolfram vom Hohen Tann verlangte erwartungsgemäß Sigmunds Fragment der Herzogskrone. Im Falle einer Weigerung würde Sigrid von Felsenstein eines langsamen und furchtbaren Todes sterben, kündigte der Herr der Wolfsburg an. Als Warnung hatte er dem unglücklichen Mädchen eine Haarsträhne abgeschnitten und seiner erpresserischen Forderung beigefügt. »Was werdet Ihr tun?« erkundigte sich Volker anschließend. Der Graf ballte die Fäuste, so daß das Weiße der Knöchel deutlich
hervortrat. »Am liebsten würde ich mit meinen Männern zur Wolfsburg reiten und diesen Schurken auf eine Zinne seiner Mauer spießen!« stieß er erbittert hervor. »Das würde Eurer Tochter kaum helfen«, stellte Volker vom Hohentwiel nüchtern fest. »Nein«, gab ihm der Burgherr zähneknirschend recht. »Er würde Sigrid ohne Erbarmen töten!« Roland fuhr sich mit der rechten Hand gedankenvoll über das Kinn. »Gibt es keine Möglichkeit, Eure Tochter und den Sohn Gernots von Eisenberg zu befreien? Nicht durch einen offenen Angriff, versteht sich. Ich dachte mehr an eine in aller Heimlichkeit durchgeführte Aktion.« Sigmund schüttelte den Kopf. »Die Erfolgsaussichten dürften mehr als gering sein. Der Schurke wird mit einem derartigen Unternehmen rechnen und sich entsprechend vorbereitet haben. Es dürfte kaum möglich sein, ihn zu überraschen.«. »Hm«, machte Roland. Er dachte an die Aufgabe, die er zu erfüllen hatte. Frieden sollte er stiften zwischen den drei Grafen. Und nun sah es so aus, als ob der Krieg nach einem vorübergehenden Waffenstillstand gerade zum Zeitpunkt seiner Ankunft wieder mit aller Heftigkeit losbrechen würde. Das mußte er verhindern! Die große Frage war nur, wie ... Und dann hatte er auf einmal eine Idee. Es war keine Frage, daß die ständigen Kämpfe zwischen den Grafen einzig und allein um die Krone Herzog Ottokars ausgefochten wurden. Wenn es diesen Zankapfel nicht mehr gab, bestanden gute Aussichten, daß ein lange andauernder Frieden ins Land einzog. Folglich ... »Ich wüßte vielleicht, wie man Eure Tochter aus der Gefangenschaft befreien kann«, sagte er. Mit brennenden Augen blickte ihn der Burgherr an. »Wie, Ritter Roland? Sagt es mir! Ich gäbe alles dafür hin, wenn ich Sigrid wieder in meine Arme schließen könnte.« »Alles?«
»Bei meiner Seel' - alles!« »Auch Euer Fragment von der Krone Herzog Ottokars?« Der hoffnungsvolle Ausdruck, der in das Gesicht des Grafen getreten war, wich dahin. »Ich sagte doch schon, daß ich die Krone unter keinen Umständen Wolfram vom Hohen Tann überlassen kann!« meinte er mit spürbarem Ärger. »Und Gernot von Eisenberg auch nicht«, warf Volker ein. »Nein«, erwiderte der Graf. »Gernot würde seine Macht ebenso mißbrauchen wie Wolfram.« Roland lächelte. »Und wenn keiner von Euch die Krone bekäme Wolfram nicht, Gernot nicht und Ihr selbst auch nicht?« »Was heißt das?« polterte Sigmund. »Wollt Ihr die Fragmente im Rhein versenken wie einst den Schatz der Nibelungen?« »Dieser Gedanke liegt mir fern.« »Aber?« »Ich dachte daran, die Krone Ottokars einer Persönlichkeit zu übergeben, die über jeden Zweifel erhaben ist!« »Ihr selbst, wie?« spottete der Graf. »Mitnichten!« »Wen hattet Ihr denn im Auge?« »König Artus!« sagte Roland. Energisch schüttelte Sigmund von Felsenstein den Kopf. »Wie käme ich dazu, mein Erbe zu verschenken? Herzog Ottokars Krone gebührt niemandem außer mir!« »Eure Vettern Wolfram und Gernot sind der derselben Ansicht. Nie könnt Ihr in Frieden leben, solange die Krone zwischen Euch steht!« »Das ist wahr«, gab Sigmund zu. »Wenn König Artus sie in seinem Besitz hätte, brauchtet Ihr nie zu fürchten, daß er Euch die Herrschaft über das Land streitig macht!« Sigmund von Felsenstein biß sich auf die Lippen. Er schwieg. Offenbar fiel es ihm ungeheuer schwer, für alle Zeiten der begehrten Krone zu entsagen. Deutlich sah man ihm an, daß er sich mit diesem
Gedanken ganz und gar nicht befreunden konnte. »Ihr spracht von der Rettung meiner Tochter«, sagte er schließlich. Roland nickte. »Ich werde sie aus der Hand Wolframs vom Hohen Tann befreien!« »Ihr?« »Ja«, sagte Volker vom Hohentwiel. »Und ich werde ihn dabei unterstützen.« Unglauben prägte das Mienenspiel des Burgherren. »Ich bezweifle nicht Euren Mannesmut und Eure Kampfkraft. Beides wird weithin gerühmt. Aber was wollt Ihr zu zweit ausrichten, wo ich nicht einmal wagen würde, die Wolfsburg mit einem ganzen Heer anzugreifen?« »Nicht immer ist offene Gewalt der beste Weg zum Erfolg«, lächelte Volker. »Aber...« »Wolfram vom Hohen Tann weiß nicht, daß wir mit Euch im Bunde sind«, sagte Roland. »Warum sollte er uns nicht als Gäste auf der Wolfsburg willkommen heißen? Ein einzigartiger Sänger wie mein Freund ist überall gern gesehen. Und wenn wir erst mal in unmittelbarer Nähe Eurer Tochter sind ...« Der Graf nickte langsam. »Ja, es könnte Euch in der Tat gelingen. Und als Entgelt begehrt Ihr mein Bruchstück der Krone?« »Wie ich schon sagte - nicht für uns persönlich!« stellte Roland klar. »Es geht uns darum, den Frieden in diesem schönen Land zu gewährleisten.« Wieder dachte Sigmund von Felsenstein lange nach. Dann gab er sich einen Ruck. »Es gilt!« Er streckte Roland seine Hand entgegen, und dieser schlug kräftig ein. »Glaubt Ihr, daß sich auch Gernot von Eisenberg mit dem Handel einverstanden erklärt?« fragte Roland etwas später. »Sein Sohn gegen das Eisenbergsche Kronenbruchstück?« »Gernot liebt seinen Sohn Gandalf abgöttisch«, erwiderte der Burgherr. »Ich sehe gute Aussichten, daß er sich nicht sträuben wird.«
Roland nickte befriedigt. * Lange hielten sich Roland und seine Gefährten nicht mehr auf Felsenstein auf. Die Nacht verbrachten sie noch auf der Burg. Am anderen Morgen brachen sie auf. Wie ihnen Sigmund von Felsenstein gesagt hatte, lag die Wolfsburg anderthalb Tagesritte entfernt. Dennoch hatten sie es sich zum Ziel gesetzt, sie noch am selben Tag zu erreichen. Sie mußten die Pferde also zügig ausschreiten lassen, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Entsprechend anstrengend war der Ritt. Die Gefährten kamen kaum dazu, die liebliche Landschaft zu genießen. Rastpausen wurden nur gelegentlich eingelegt - nicht etwa in einer gastlichen Herberge am Wegesrand, sondern unter freiem Himmel. Dies alles geschah sehr zum Leidwesen des Knappen Pierre, der es gerne gemütlich hatte und diese Schinderei gar nicht mochte. Aber sein heftiges Lamentieren half ihm nichts. Er mußte mit den anderen mithalten, ob er nun wollte oder nicht. Bevor sich die Abenddämmerung anschickte, den Himmel hinaufzukriechen, erreichten die Gefährten den Nadelwald, dem Wolframs Geschlecht den Namen verdankte. Turmhohe Tannen ragten majestätisch in die Höhe. Ihr immergrünes Wipfeldach hielt den größten Teil der Sonnenstrahlen fern und tauchte das Unterholz in verschwiegenes Halbdunkel. Unwillkürlich kamen sich Roland und seine Freunde wie Eindringlinge vor, die die ewige Ruhe eines natürlichen Paradieses störten. Es war nicht einfach, sich einen Weg durch den Wald zu bahnen. Oft genug standen die Bäume so dicht, daß es erforderlich wurde, mit dem Schwert eine Schneise zu schlagen, die das Fortkommen gestattete. Nur langsam und mühsam kamen die Pferde voran. Dann und wann mußten die Reiter sogar absteigen, da tiefhängende Zweige sie sonst aus dem Sattel gezerrt hätten.
Die Zeit verging. Schon lugte das Abendrot zwischen den Baumspitzen hindurch. Die Gefährten mußten sich jetzt beeilen. Wenn die Sonne sank, wurde es fast unmöglich, sich zu orientieren. Die Gefahr, daß sie sich hoffnungslos verirrten, war dann sehr groß. Und weiter ging der beschwerliche Ritt durch den Tann. Dunkler und dunkler wurde es. Roland, der die Spitze übernommen hatte, konnte bald den Kopf seines Hengstes nicht mehr klar erkennen. Er sah schon kommen, daß sie vor Erreichen ihres Zieles das Nachtlager unter dem Baumdach aufschlagen mußten. Dann aber gerieten die Dinge plötzlich in Bewegung ... »Halt!« schallte den Gefährten ein scharfer Ruf aus der Dunkelheit entgegen. Roland zügelte sein Pferd. Und seine Freunde taten es ihm unverzüglich gleich. »Wer seid ihr?« Der Rufer mochte nicht weit entfernt sein. Aber er war nicht einmal in Umrissen zu erkennen, da er sich offenbar hinter einem Baumstamm verborgen hielt. Volker trieb sein Pferd an Rolands Seite. »Laß mich mit dem Mann reden«, wisperte er seinem Freund zu. Und laut rief er: »Ich bin Volker vom Hohentwiel, der Minnesänger des Königs. Meine drei Begleiter und ich sind auf dem Weg zur Burg des hochwohlgeborenen Wolfram vom Hohen Tann!« »Zu welchem Behufe?« »Was für eine Frage!« gab Volker zurück. »Ist die Wolfsburg nicht weithin für ihre Gastfreundschaft bekannt? Und sagt man nicht, daß Graf Wolfram ein großer Förderer der Sangeskunst ist?« »Das mag schon sein«, kam die Antwort aus dem Dunkel. »Aber woher wissen wir, daß Ihr der seid, für den Ihr Euch ausgebt? Vielleicht seid Ihr und Eure Begleiter zweifelhafte Leute, die danach trachten, das Gastrecht zu mißbrauchen.« Roland lächelte grimmig. Der Mann hatte keine Ahnung, wie nahe er mit seiner Vermutung der Wahrheit gekommen war. Volker gab sich empört. »Ihr glaubt nicht an meine Aufrichtigkeit?
So lauscht denn meiner Stimme, und schämt Euch der Zweifel, die in Eurer Brust wohnen!« Wie schon auf Burg Felsenstein gab Volker eine kleine Kostprobe seiner gottbegnadeten Kunst zum besten. Fanfarenstößen gleich hallte seine Stimme durch den Wald. »Genügt dies?« fragte er, nachdem der letzte Ton verklungen war. Als Antwort wurde ein Pfiff laut. Augenblicke darauf schoben sich mehrere dunkle Gestalten in das durch die herrschenden Lichtverhältnisse eingeengte Blickfeld der Gefährten. Der Mann, der sie angerufen hatte, war also nicht allein gewesen. Eine Fackel flammte auf. In ihrem flackernden Schein kamen die Gestalten näher. Sechs, sieben Männer waren es, wie Roland jetzt erkannte. Und jeder einzelne von ihnen war schwer bewaffnet. Der Schild, den einer von ihnen trug, war mit einem Wolfsschädel geschmückt. Damit stand außer Zweifel, daß es sich bei den Männern um Getreue Wolframs vom Hohen Tann handelte. Ein schwergewichtiger Recke trat an Volkers Pferd heran. »Verzeiht unser Mißtrauen«, sagte er. »Aber es treibt sich zur Zeit viel übles Gelichter herum, so daß man nicht vorsichtig genug sein kann.« »Grämt euch nicht darüber«, erwiderte Volker freundlich. »Folgt uns«, sprach der Wolfsburger weiter. »Am besten dürfte es sein, wenn Ihr absitzt. Der Weg ist recht mühsam.« Roland und seine Freunde folgten der Aufforderung. Und sie taten gut daran, denn im Sattel wären sie kaum vorangekommen. Das Unterholz wurde so dicht, daß sich die Pferde nur unter allergrößter Mühe hindurchzwängen konnten. Wenn der Mann mit der Fackel nicht den Weg gewiesen hätte, wären sie unweigerlich im Gehölz steckengeblieben. Zum Glück dauerte der Marsch durch den urwaldähnlichen Tann nicht mehr lange. Schon bald lichteten sich die Bäume. Ein sanft ansteigender, unbewaldeter Hügel schloß sich an, der ringsum vom
Tann eingeschlossen war. Mitten auf dem Hügel schälten sich die Konturen einer Burg aus dem Abenddunkel. Lichtschein drang zu den Ankömmlingen herüber, die nun hurtig ausschreiten konnten. Roland erkannte, daß es sehr schwer sein mußte, die Burg einzunehmen. Zunächst konnten die Bewohner, am Waldrand versteckt, eine erste Verteidigungslinie aufbauen. Und selbst wenn ein angreifendes Heer diese überwunden hatte, war es noch lange nicht am Ziel. Von der Burg aus hatten die Verteidiger ein hervorragendes Sicht- und Schußfeld. Sie konnten ohne große Mühe eine starke Übermacht auf Distanz halten. Sigmund von Felsenstein hatte schon gewußt, warum er einen offenen Angriff auf die Wolfsburg scheute. Mit List jedoch war es möglich, jede Festung einzunehmen. Auch die Wolfsburg... Roland und seine Gefährten triumphierten innerlich, als sie über die Zugbrücke schritten, die den Burggraben überspannte. * Der Sendbote von Eisenberg war auf Burg Felsenstein gewesen und inzwischen bereits zurückgekehrt. Gernot von Eisenberg gierte danach zu erfahren, welche Nachricht er mitbrachte. »Der Empfang war freundlich«, berichtete der Mann. »Und Graf Sigmund machte mir nicht den Eindruck, als sei er zu Tode betrübt.« Gernot runzelte die Stirn. »Dann befindet sich Wolflinde vom Hohen Tann nach wie vor in seiner Obhut?« »Nein! Auch die Felsensteiner wurden durch Graf Wolframs Getreue ihrer Geisel beraubt.« »So müßte Sigmund doch um das Leben seiner Sigrid bangen«, sagte Gernot verständnislos. »Mir schien, daß Graf Sigmund die Hoffnung hegt, seine Tochter befreien zu können.« »Wie dies?« Gernot spürte, wie die Ungeduld in ihm wuchs.
»Sprich, Mensch! Sonst lasse ich dir die Worte mit einer glühenden Zange aus dem Mund ziehen!« Der Bote kannte den Jähzorn seines Gebieters. Hastig wich er zwei Schritte zurück. »Ich... weiß es nicht«, sagte er schnell. »Die Felsensteiner zogen mich nicht ins Vertrauen.« »Nun gut«, grollte der Burgherr. »Was hat Sigmund dir aufgetragen?« »Er will mit Euch sprechen - heute noch!« »Wo?« »In der Herberge am Alten Stein.« Die Herberge am Alten Stein lag genau an der Grenze zwischen den Herrschaftsgebieten der Felsensteiner und der Eisenberger. Mehrmals bereits hatten sich die beiden Grafen dort getroffen, wenn es etwas zu verhandeln gab, was für sie beide von Belang war. »Das war alles?« »Nein, das Wichtigste kommt noch. Graf Sigmund schlägt vor, den Geiselsaustausch zwischen Felsenstein und Eisenberg wieder rückgängig zu machen. Jetzt, wo Graf Wolfram das dreiseitige Abkommen gebrochen hat...« Gernot nickte. Er konnte dem Vorschlag seines Vetters nur beipflichten. Nach dem Stand der Dinge war die Anwesenheit Signes von Felsenstein in seiner Burg unerheblich geworden. Nicht Sigmund war der Feind, sondern Wolfram. Er entließ den Boten und traf alsbald seine Vorbereitungen für das Treffen mit dem Felsensteiner. Greta, seine Gemahlin, war hochbeglückt, daß wenigstens ihr Sohn Gotho heimkehren würde. Aber das änderte natürlich nichts an den schrecklichen Sorgen, die sie sich wegen des Schicksals Gandalfs machte. Wenig später brach Gernot auf. Außer Sigmunds Tochter ließ er sich von zehn seiner Getreuen begleiten. Er rechnete zwar nicht damit, daß die Felsensteiner eine Hinterlist planten. Aber er wollte ganz sichergehen. Die Abenddämmerung senkte sich bereits über das Land, als die
Eisenberger die Herberge zum Alten Stein erreichten. Schon aus einiger Entfernung konnten sie erkennen, daß Sigmund von Felsenstein und seine Leute vor ihnen eingetroffen waren. Mehrere Männer hielten sich vor dem alleinstehenden Gebäude auf. Und ein gutes Dutzend Pferde graste auf einer unweit gelegenen Wiese. Als Gernot vor der Eingangstür des Gasthauses haltmachte, erwartete ihn Sigmund von Felsenstein dort. Gernot stieg vom Pferd und begrüßte seinen Vetter gemessen. Dann vergaßen sich die beiden Grafen für einen Augenblick. Sigmunds Aufmerksamkeit wurde von seiner Tochter Signe in Beschlag genommen, die sich ihm an den Hals warf. Und auch Gernot schloß seinen Sohn Gotho in die Arme, den er seit länger als einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Herrschte sonst zwischen den Getreuen der beiden Fürsten Mißtrauen und mühsam gezügelte Feindschaft, so war es diesmal anders. Zwar kam es nicht zur Verbrüderungen. Aber es stellte sich doch ein gewisses kameradschaftliches Gefühl ein. Dies kam nicht von ungefähr. Die gemeinsame Feindschaft zu Wolfram vom Hohen Tann verband die Männer miteinander und ließ die Händel der Vergangenheit gegenwärtig ganz in den Hintergrund treten. Etwas später zogen sich Gernot und Sigmund allein in einen Hinterraum der Herberge zurück. Der Wirt war sich der hohen Ehre, die seinem Haus angetan wurde, vollkommen bewußt. Er schickte keines seiner Schankmädchen, sondern bediente die beiden hohen Herren persönlich. Mit tiefen Bücklingen servierte er den besten Wein, den er seit langen Jahren in seinem Keller eingelagert hatte. Nach einigen Höflichkeitsfloskeln kam Gernot von Eisenberg zur Sache. »Ihr habt Pläne, wie wir unserem verräterischen Vetter Wolfram beikommen können, ohne das Leben unserer Geiseln aufs Spiel zu setzen?« begann er. »Ich hoffe, daß der erste Schritt zur Befreiung Eures Sohnes und meiner Tochter in diesem Augenblick bereits getan ist«, antwortete Sigmund. Fast verschluckte sich Gernot an seinem Wein. »Wie ... Wie meint
Ihr das?« Sigmund von Felsenstein lächelte. »Kennt Ihr den Minnesänger Volker vom Hohentwiel?« »Sein Name ist mir vertraut. Allerdings hält sich meine Begeisterung für die Sangeskunst in engen Grenzen. Außerdem frage ich mich ...« Gernot stutzte auf einmal. »Sänger! War es dieser Volker vom Hohentwiel...?« »Nein«, sagte Sigmund sofort, »Volker hat mit der Befreiung von Wolframs Töchtern nichts zu tun. Im übrigen ist er nicht nur für seinen Gesang bekannt. Er versteht es auch, eine hervorragende Klinge zu schlagen. Und dann ist da noch sein Freund, der Ritter Roland!« »Der Ritter mit dem Löwenherzen?« »Ja! Roland ist Euch bekannt?« Gernot von Eisenberg schüttelte den Kopf. »Nicht persönlich. Ich hörte von ihm. Er soll Fasolt, den letzten Lindwurm, erschlagen und den Schlächter Hakon Blutaxt besiegt haben. Aber was haben diese beiden Männer mit uns gemein?« Sigmund erzählte seinem Vetter von den Absichten der beiden Ritter. »Ich traue ihnen zu, daß sie Erfolg haben«, meinte er abschließend. »Nicht umsonst werden ihre Taten weithin gerühmt.« Das Herz Gernots machte einen Sprung. Auch in ihm keimte die Hoffnung, seinen zweiten Sohn ebenfalls bald wieder in die Arme schließen zu können. Aber da war noch eine andere Überlegung, die ihm ganz und gar nicht behagte. »Ihr wollt diesem Roland wirklich Ottokars Krone überlassen?« vergewisserte er sich. »Nicht ihm, sondern König Artus!« Gernot hieb mit der Faust auf den Tisch - so heftig, daß die Weinbecher hüpften. »Zum Teufel, was kümmert uns der Herr von Camelot? Die Krone gebührt - uns!« »Mir ist es lieber, Artus hat sie in Besitz, als daß Wolfram sie sich aufs Haupt setzt«, sagte Sigmund fest. »Außerdem war es ein
wesentlicher Teil meiner Abmachung mit den beiden Rittern!« »Ich habe mit niemandem etwas abgemacht!« Ärgerlich verzog Sigmund von Felsenstein das Gesicht. »Ihr wollt Euren Sohn nicht lebend wiedersehen?« »Natürlich will ich das! Wie könnt Ihr fragen?« »Dann schließt Euch gefälligst meiner Abmachung an!« Gernot von Eisenberg antwortete nicht sogleich. Seine Gedanken jagten sich. Auf die Krone verzichten? Das kam ihm nicht in den Sinn. Andererseits aber ging es um Gandalf, den er nicht verlieren wollte. Greta würde es ihm nie verzeihen, wenn er das Leben seines Sohnes aufs Spiel setzte, obwohl es eine gute Möglichkeit gab, dieses zu retten. »Nun?« fragte Sigmund drängend. Gernot hatte im Augenblick keine andere Wahl. »Gut«, sagte er, »ich stimme zu.« Tatsächlich aber dachte er gar nicht daran, sich auf diesen Handel einzulassen. Wenn Gandalf erst einmal den Mauern der Wolfsburg entronnen war, sahen die Dinge ganz anders aus. Er war zuversichtlich, daß ihm zum rechten Zeitpunkt schon noch etwas ein fallen würde, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Darauf leerte er seinen Becher. * Eins mußte man den Grafen lassen: Sie waren Gastgeber ohne Fehl und Tadel. Auch Wolfram vom Hohen Tann ließ sich nicht lumpen. Er tafelte auf, was seine Vorratskammern hergaben - herrliches Wildbret, saftigen Bärenschinken, edle Waldpilze mit einer köstlichen Soße, wie sie Roland noch nie in seinem Leben gekostet hatte. Dazu reichte der Burgherr einen erlesenen Wein und einen ganz vorzüglichen Met. Überhaupt zeigte sich Graf Wolfram bisher nur von seiner besten Seite. Nicht einen einzigen Augenblick hatte er gezögert, Roland und
seinen Gefährten Gastfreundschaft zu gewähren. Ja, er freute sich sogar über den Besuch und gab sich überaus freundlich und herzlich. Dennoch war Wolfram kein Mann nach dem Herzen Rolands. Selbst wenn er lachte, lag in seinen tiefdunklen Augen ein Ausdruck, der zur Vorsicht gemahnte. Verschlagenheit, Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit standen ihm sozusagen auf der Stirn geschrieben. Während des Abendschmauses lernten Roland und Volker die Familie des Grafen kennen: seine Gemahlin und die beiden aus der Geiselobhut befreiten Töchter Wolflinde und Walpurga. Die beiden Mädchen waren sehr hübsch und wohl gewachsen. Aber obgleich Roland der holden Weiblichkeit sehr gewogen war, konnte ihn keine der beiden in Gefahr bringen, sein Herz zu verlieren. Dazu erschienen sie ihm viel zu hochnäsig und auch etwas zu albern. Außerdem saßen noch mehrere von Wolframs Getreuen am Tisch, die sich anscheinend seiner besonderen Gunst erfreuten. Einer davon, ein rothaariger Bursche mit weibischen Manieren, erregte Rolands und Volkers besondere Aufmerksamkeit. Die anderen nannten ihn Karl den Sänger. Fraglos war er es gewesen, der bei der Befreiung Wolflindes und Walpurgas eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Zwei andere Personen vermißten Volker und Roland jedoch: Sigrid von Felsenstein und Gandalf von Eisenberg. Allgemein war es Sitte, daß fürstliche Geiseln eine bevorzugte und in keiner Weise zurückgesetzte Rolle spielten. Wenn Sigrid und Gandalf nun fehlten, dann konnte das nur bedeuten, daß sie ihre Bewegungsfreiheit verloren hatten. Wahrscheinlich waren sie von Wolfram in ihren Zimmern eingesperrt oder sogar in den Kerker gesperrt worden. Es lag Roland auf der Zunge, nach dem Verbleib der beiden zu fragen. Aber das durfte er nicht wagen, denn dadurch hätte er offenbart, daß er einiges von den Dingen wußte, die sich im Land abspielten. Das jedoch hätte den Argwohn Wolframs erwecken können, der sie für ahnungslose Fremdlinge hielt. Das Essen nahm seinen Fortgang. Roland langte dabei kräftig zu, denn er war rechtschaffen hungrig. Schließlich hatte er während des Tages nur Trockenfleisch aus dem Knappsack zu essen bekommen.
Auch dem Met sprach er eifrig zu. Nicht so eifrig allerdings, wie es schien. Er beabsichtigte keineswegs, sich zu betrinken, auch wenn er durchaus den Eindruck erwecken wollte, daß ihm der Met mächtig in den Kopf stieg. Dies gehörte zu dem Plan, den Volker und er gefaßt hatten. Und auch, daß er auf einmal anfing, Volker anzupöbeln, gehörte zu diesem Plan. Er saß an einem der beiden Kopfenden des langen Tisches, unmittelbar neben seinem Freund. Volker unterhielt sich gerade angeregt mit Karl dem Sänger, als Roland ihn mehr rauh als herzlich auf die Schulter schlug. »He, trinkt mit mir! Nicht der Gesang hält Leib und Seele zusammen, sondern der Met!« Grinsend hob er seinen Becher und wartete darauf, daß Volker mit ihm anstieß. Aber dieser war nicht dazu bereit. »Spart mich aus«, sagte er ablehnend. »Später vielleicht.« »Warum nicht jetzt?« »Met ist nicht gut für den Schmelz der Stimme! Ihr werdet das nicht verstehen, aber dennoch ist es so!« Karl der Sänger nickte beifällig. Roland machte ein böses Gesicht. »Ihr weigert Euch also, mit mir zu trinken?« »Ihr habt es erfaßt«, erwiderte Volker und wandte sich wieder Karl dem Sänger zu, ohne Roland weiter zu beachten. Empört knallte dieser seinen Becher auf die Tischplatte und stemmte die Arme in die Seiten. »Der Herr Sänger will mich beleidigen!« rief er so laut, daß jede Unterhaltung im Saal erstarb. Alle Anwesenden blickten zu ihm und Volker hinüber. Volker beachtete ihn noch immer nicht. Da stieß Roland seinen Stuhl zurück und sprang auf. »Ich verlange Genugtuung!« schrie er. Leicht wankend stand er da, die Hechte auf den Knauf seines
Schwertes gelegt. Volker wandte den Kopf halb zurück. »Gebt Ruhe! Merkt Ihr nicht, daß Euer albernes Getue höchst störend wirkt?« »Ah«, machte Roland. »Es beliebt Euch, Beleidigung auf Beleidigung zu türmen! Dies wagte noch niemand!« Achselzuckend drehte sich Volker vom Hohentwiel wieder um. »Habt Ihr jemals Vinzenz von der Alm singen gehört?« fragte er Karl den Sänger. »Ich hatte vor kurzem das Vergnügen und ...« Er redete weiter, als sei Roland gar nicht zugegen. Diese Nichtachtung seiner Person brachte in Roland das Faß zum Überlaufen. »Ich fordere Euch!« schrie er. »Stellt Euch mir zum Kampfe sofort!« Mit einer wilden Gebärde griff er nach seinem Schwert. Da er jedoch höchst unsicher auf den Beinen stand, verhedderte er sich dabei und bekam die Waffe gar nicht in die Hand. Allgemeine Heiterkeit war die Folge. Lachsalven prasselten durch den Saal, und einige Ritter schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Dies alles machte Roland nur noch wütender. Aber trotz aller Bemühungen wollte es ihm nicht gelingen, sein Schwert zu zücken. Insgesamt bot er ein Bild äußerster Lächerlichkeit. Wolfram vom Hohen Tann hatte ebenfalls herzlich gelacht. Jetzt aber wurde er ernst. »Ritter Roland«, rief er laut, »ich muß mich doch sehr über Euch wundern. Euer Benehmen schickt sich nicht! Solche Spaße dulde ich nicht in meinem Hause!« »Spaße?« wiederholte Roland mit schwerer Zunge. »Nichts liegt mir ferner, als ...« »Schweigt!« unterbrach ihn der Burgherr ungnädig. »Nehmt wieder Platz, oder packt Euch!« Erneut wollte Roland Widerspruch erheben. Da jedoch sah er, daß einige Getreue des Grafen Anstalten machten einzugreifen. Deshalb zog er es vor, sich doch lieber wieder zu setzen. Es kostete ihn einige
Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren, aber er schaffte es. Unverständliche Verwünschungen murmelnd, langte er nach dem Metbecher und spülte sich seinen Ärger hinunter. »Einen seltsamen Freund habt Ihr da«, sagte der Burgherr zu Volker vom Hohentwiel. »Er ist nicht mein Freund«, stellte der Minnesänger unmißverständlich fest. »Nicht?« wunderte sich Wolfram. »Aber er befand sich doch in Eurer Gesellschaft!« »Was ich zutiefst bedaure«, gab Volker zurück. »Er schloß sich mir und meinen beiden Knappen erst unterwegs an. Hätte ich geahnt, daß er ein Raufbold ist, der zur Trunksucht neigt, wäre er mir nicht näher als eine Meile gekommen.« Wolfram vom Hohen Tann verzog das Gesicht. »Und hätte ich geahnt, daß er nicht Euer Freund ist, wäre er niemals in die Wolfsburg gelangt.« Roland fuhr fort, unverständliches Zeug zu murmeln, blickte dabei jedoch gar nicht hoch. Die belustigten und verächtlichen Blicke der Anwesenden prallten an ihm ab. Da er gegenwärtig nicht für weiteren Ärger sorgte, ließ man ihn in Ruhe. Die Tafelnden nahmen ihre Gespräche wieder auf und widmeten sich Speis und Trank. Roland hatte genug gegessen. Sein weiteres Interesse galt ausschließlich dem Met. Er langte nach einem der bereitstehenden Krüge und goß seinen Becher randvoll. Dann setzte er den Becher an die Lippen und leerte ihn in Sekundenschnelle. Daß er dabei den größten Teil des Mets geschickt unter den Tisch kippte, bekam keiner der Anwesenden mit. Mit einem satten Rülpser bekundete er, wie gut es ihm geschmeckt hatte. Unterdessen war das allgemeine Gespräch auf die Sangeskunst gekommen. Irgend jemand schlug vor, daß der berühmte Volker vom Hohentwiel einmal seine begnadete Stimme erschallen lassen sollte. Ein anderer wollte sogar einen Sängerwettstreit zwischen Volker und Karl dem Sänger entfachen.
Volker zierte sich zunächst. Aber als ihn dann die schöne Wolflinde herzlich bat und mit verliebten Augen ansah, gab er klein bei. Er erhob sich von seinem Stuhl und stellte sich in Positur. Nachdem er mit einem kräftigen Räuspern die Kehle befreit hatte, begann er mit seinem Vortrag. Erhöre mein Flehen, o Mägdelein, Mein Herz soll für immer ... Weiter kam er nicht. Roland fegte mit einer ungestümen Bewegung zwei Trinkbecher vom Tisch, so daß sie scheppernd auf den Steinboden polterten. »Ewig diese öden Liebeslieder«, schimpfte er. »Kennt Ihr nichts, was ein Männerherz erfreut? Wie wäre es hiermit: Wir ziehen in den Krieg, falleri, fallera!« Er grölte die Zeile mit trunkener Stimme, laut und entsetzlich mißtönend. Unmut machte sich im Saal breit, wodurch sich Roland jedoch mitnichten stören ließ. Vom Met beflügelt lärmte er weiter und hämmerte dabei mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. »Wir machen alles nieder, falleri, fallera!« »Schweigt!« donnerte Wolfram vom Hohen Tann wütend. Roland hörte ihn gar nicht. Ungehemmt und mit sichtlichem Vergnügen grölte er, was seine Kehle hergab. Dem Burgherren reichte es jetzt. »Friedrich, Lothar«, rief er mit zornblitzenden Augen. »Bringt diesen Trunkenbold endlich zum Schweigen!« Zwei von Wolframs Getreuen erhoben sich. Da griff Volker vom Hohentwiel ein. Bevor die beiden Männer bei Roland waren, handelte er bereits. Ohne von seinem Stuhl aufzustehen, machte er eine halbe Drehung, ballte die rechte Faust und schmetterte sie dem Ritter mit dem Löwenherzen unter das Kinn. Und Volker war in der Tat ein Mann, der nicht nur Gold in der Kehle, sondern auch Eisen in der Faust hatte. Der Schlag schleuderte Roland samt Stuhl mehrere Ellen zurück. Er konnte sich nicht auf der Sitzfläche halten und kippte hintenüber. Wild mit den Armen
rudernd versuchte er, den Sturz zu vermeiden. Aber das gelang ihm nicht. Es sah richtig gefährlich aus, als er auf den Steinen aufschlug und liegenblieb. »So, das dürfte genügen«, sagte Volker befriedigt. Der bewundernde Blick, den ihm die schöne Wolflinde zuwarf, entging ihm nicht. Er lächelte das Mädchen an, goß dann einen Schluck Wein über seine Hand, um die brennenden Knöchel zu kühlen. »Ihr seid ein Mann nach meinem Geschmack«, sagte der Burgherr anerkennend. »Potzblitz, dieser Hieb hätte einen Ochsen fällen können!« Auch von den anderen bekam Volker manches Lob zu hören. Die Genugtuung, daß er dem lärmenden Störenfried das Maul gestopft hatte, war allgemein. Niemand hatte Mitleid mit Roland. Auch die anwesenden Damen fanden kein Wort des Bedauerns für ihn. »Schafft ihn weg«, wies der Graf seine Getreuen an. »Am besten ist es, ihr bringt ihn in den Stall. Dort kann er unter seinesgleichen seinen Rausch ausschlafen.« Roland machte keine Anstalten, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen. Er ließ es geschehen, daß ihn zwei Männer an Armen und Beinen packten und hochzerrten. Und er leistete auch keinerlei Widerstand, als ihn die beiden unter dem Gelächter der Tafelnden aus dem Saal schleppten. Wenn die Lacher gewußt hätten, wie sehr sie Volker und ihm auf den Leim gegangen waren, wären ihre erheiterten Mienen sicherlich zu Grimassen gefroren. * Mit gemischten Gefühlen kehrte Gernot von Eisenberg zu seiner Burg zurück. Den ganzen Weg über hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er seinen Sohn zurückbekommen konnte, ohne sein
Kronenbruchstück dafür herzugeben. Aber der große, zündende Gedanke, der das Problem löste, war ihm nicht gekommen. Greta, seine Gemahlin, wartete bei seiner Ankunft bereits auf dem Burghof. Aufgeregt lief sie ihm entgegen, kaum daß er aus dem Sattel gestiegen war. »Gibt es Krieg mit der Wolfsburg?« begehrte sie sogleich zu wissen. »Ich hoffe nicht«, erwiderte Gernot und übergab einem der Stallknechte sein Pferd. »Dem Himmel sei Dank«, seufzte Greta. »Krieg hätte den sicheren Tod unseres Sohnes bedeutet.« »Das mag sein, ja.« »Aber was geschieht nun mit Gandalf?« fragte Greta von Eisenberg sorgenvoll. Gernot berichtete ihr, was er bei seiner Unterredung mit Sigmund von Felsenstein erfahren hatte. »Das wäre ja wunderbar«, sagte seine Frau und wurde vor Freude ganz rot im Gesicht. »Was Gandalf angeht, ja. Die Hergabe der Krone jedoch ...« Gernot schwieg erbittert. »Die Krone, die Krone«, gab Greta zurück. »Hängt dein ganzes Heil von der Krone ab?« »Sie ist mein Erbe!« sagte Gernot entschieden. »Und ich bin nicht bereit, darauf zu verzichten.« »Nicht einmal um des Lebens deines Sohnes willen?« Der Graf antwortete nicht. Er ließ sein Eheweib stehen und stiefelte mit verschlossenem Gesicht auf das Hauptgebäude der Burg zu. »Bodo soll sofort zu mir kommen!« wies er einen seiner Knappen an. Der junge Bursche eilte sofort davon, um dem Hausmeier Bescheid zu sagen. Nicht viel später saß Bodo seinem Herrn bei einem Humpen Bier gegenüber. Gernot berichtete auch ihm, was bei seiner Unterredung mit dem Felsensteiner herausgekommen war.
»Gib mir einen Rat«, verlangte er. »Mir soll es auch recht sein, wenn Hinterlist und Tücke mit im Spiel sind!« Der Hausmeier überlegte nicht lange. »Wenn die Ritter Roland und Volker Euren Sohn befreit haben - warum nehmt Ihr ihn dann nicht einfach in die Mitte Eurer Getreuen und reitet davon?« »Ohne den Rittern das Brüchstück der Krone zu geben?« »Das meinte ich! Zwanzig Männer gegen zwei - was wollen die beiden ausrichten?« Gernot schüttelte den Kopf. »Sie werden nicht nur zu zweit sein. Nach ihrer Rückkehr von der Wolfsburg werden sie Gandalf in die Obhut seines Vetters Sigmund geben. Wir hätten es also nicht nur mit den beiden, sondern auch mit den Felsensteinern zu tun.« »Ihr habt recht«, pflichtete ihm Bodo bei. Er nahm einen kräftigen Schluck Bier. Dann hellte sich sein dickliches Gesicht auf. »Und wenn wir den beiden Rittern auflauern, gleich wenn sie mit den befreiten Geiseln die Wolfsburg verlassen?« »Dazu ist es bereits zu spät. Die Befreiung soll bereits in dieser Nacht erfolgen.« Das freudige Lächeln verschwand wieder vom Gesicht des Hausmeiers. Nicht aber der pfiffige Ausdruck, der stets gegenwärtig war. Bodo dachte nach, dachte sehr lange nach. »Ich hab's!« rief er dann aus. »Wir werden die beiden Ritter überlisten.« »Und wie?« »Ich dachte an den Goldschmied Olbert«, sagte der Hausmeier langsam und erläuterte anschließend seinen Plan. Gernot von Eisenberg war, begeistert. * »Schlaf gut, du trauriger Ritter!« Die beiden Getreuen des Burgherren hatten Roland tatsächlich in den Viehstall gebracht. Mit lautem Lachen ließen sie ihn recht
unsanft ins Stroh fallen und blickten grinsend auf ihn hinab. Roland grunzte nur unwillig, wälzte sich auf die Seite und begann dann laut zu schnarchen. Der eine der beiden verpaßte ihm noch einen hinterhältigen Fußtritt. Danach wandten sie sich zum Gehen. Krachend fiel das Gatter des Verschlags zu, in den sie ihn eingesperrt hatten. Um ganz sicherzugehen, blieb Roland noch eine kurze Weile liegen. Dann war er überzeugt davon, daß die beiden nicht zurückkehrten. Es lag kein Grund mehr vor, weiterhin den sinnlos Betrunkenen zu spielen. Roland erhob sich und klopfte das Stroh aus der Kleidung. Er stand aufrecht und gerade wie ein ebenmäßig gewachsener Baum. Der Met hatte nicht den geringsten Einfluß auf sein körperliches und geistiges Wohlbefinden. Lediglich am linken Kinnwinkel verspürte er einen leichten Schmerz. Volker hatte äußerst kräftig hingelangt. Aber das war wohl nötig gewesen, um auch nicht den leisesten Zweifel an der Echtheit des Streites aufkommen zu lassen. Mit Genugtuung nahm Roland zur Kenntnis, daß man ihn nicht um seine Waffen erleichtert hatte. Sowohl das Schwert als auch der Hirschfänger waren nach wie vor vorhanden. Es war stockdunkel in dem Stall. Roland konnte das Vieh nicht sehen, wohl aber hören. Überall grunzte und schnaufte es. Er schätzte, daß mindestens 100 Schweine mit ihm den Raum teilten. Zum Glück war er von den Tieren durch Holzbarrieren getrennt. Das Borstenvieh konnte höllisch gefährlich werden, wenn es gereizt wurde. So jedoch hatte er keine Mühe, sich unbehelligt durch die Dunkelheit zu tasten und die Tür zum Burghof zu erreichen. Vorsichtig drückte Roland die Tür spaltbreit auf und lugte nach draußen. Silberfarbenes Mondlicht und der Schein entfernter Fackeln entrückten die Wolfsburg dem Dunkel der Nacht. Auf dem Hof konnte Roland im Augenblick keine Menschenseele ausmachen. Aber er erkannte die schattenhaften Umrisse eines Wächters, der auf der Mauer entlangpatrouillierte.
Sicherlich war dies nicht die einzige Wache, die ihren Posten versah. Aber Roland konnte wohl davon ausgehen, daß die Wächter dem Burghof kaum Aufmerksamkeit schenkten. Mögliche Gefahren lauerten außerhalb der Burgmauern. Die Männer würden ihr Augenmerk also vor allem auf den umliegenden Wald richten. Von nächtlicher Ruhe konnte noch keine Rede sein. Aus dem Hauptgebäude schallte Gesang herüber. Nicht die Stimme Volkers, sondern die des Wolfsburger Troubadours. Der Sängerwettstreit der beiden hatte offenbar inzwischen begonnen. Roland war dies mehr als recht. Solange Volker und Karl der Sänger im Mittelpunkt standen, achteten die Tafelnden auf nichts anderes. Er mußte deshalb nur vor dem Gesinde und den übrigen Burgbewohnern auf der Hut sein, die nicht am Festmahl teilnahmen. Zumindest ein Teil dieser Leute hatte sich noch nicht zur Nachtruhe begeben, denn auch in anderen Gebäudeteilen flackerte Lichtschein. Gedämpftes Lachen war zu vernehmen. Offenbar machte man sich hier ebenfalls einen angenehmen Abend. Während Roland Gebäude und Hof noch beobachtete, sah er plötzlich eine Gestalt nach draußen treten. Es handelte sich, soweit er das erkennen konnte, um einen Mann. Und dieser Mann bewegte sich ausgesprochen unsicher und torkelnd vorwärts. Ein Lächeln huschte über Rolands Gesicht. Wie es schien, hatte der Met hier ein echtes Opfer gefunden. Der Mann schwankte weiter. Wie es aussah, würde er in einer Entfernung von nur wenigen Ellen am Stall vorbeikommen. Und so war es dann auch. Wenige Augenblicke später hatte Roland den Mann ganz nahe vor sich. Der andere beachtete den Stall gar nicht, wollte weiterwanken. Aber damit war Roland ganz und gar nicht einverstanden. Als der Mann gerade zwei Schritte vorbei war, handelte er. Er schob die Tür so weit auf, daß er hindurchschlüpfen konnte. Mit einem Satz war er hinter dem Mann. Und ehe es sich dieser versah, hatte Roland ihn von hinten an der Gurgel gepackt. Der Schrei, den der Wolfsburger ausstoßen wollte, kam nur als
kaum hörbares Röcheln heraus. Rolands eisenharter Griff schnürte ihm die Luft ab. In Sekundenschnelle hatte Roland den Mann in den Stall gezerrt. Der andere war nicht in der Lage, ernsthaften Widerstand zu leisten. Bis auf ein hilfloses Zappeln brachte er nichts zuwege. Ohne seinen Gefangenen aus der Umklammerung zu entlassen, lugte Roland durch den Türspalt auf den Burghof. Kein Mensch zeigte sich. Roland atmete auf. Ganz offensichtlich hatte niemand etwas von seiner Aktion bemerkt. Er drückte die Tür ganz zu und schleifte den Mann tiefer in den Stall hinein. Hier erst lockerte er seinen Griff, hielt sein Opfer aber weiterhin fest. Der Wolfsburger japste nach Luft, hustete und keuchte. Es dauerte ein Weilchen, bis er wieder einigermaßen normal atmete. »Wer..., wer bist du?« preßte er hervor. Seine Stimme klang bei weitem nicht so trunken, wie Roland erwartet hatte. Vielleicht war er vor Überraschung und Furcht wieder klar im Kopf geworden. »Ich bin der Zauberer Merlin!« zischte Roland. »Und wenn du nicht ganz ruhig bist und alles tust, was ich dir sage, dann hexe ich dich l.000 Klafter unter die Erdoberfläche!« Der Gefangene glaubte ihm offenbar nicht. Jedenfalls versuchte er urplötzlich hochzufahren. Aber Roland hatte aufgepaßt. Sofort schlossen sich seine Hände wieder um den Hals des Mannes. »Ich kann dir allerdings auch das Genick brechen!« kündigte er gewalttätig an. Sehr schnell gab der andere wieder Ruhe und lag ganz still. »Was willst du von mir?« ächzte er. »Ich begehre nur ein paar Auskünfte.« »Wenn ich kann, werde ich sie dir geben.« »Das ist sehr entgegenkommend von dir«, lobte Roland und lachte leise auf. »Also fangen wir an: Wo befinden sich die beiden Geiseln von Felsenstein und Eisenberg?«
»Die beiden ...?« »... Geiseln, ganz recht!« Der Gefangene antwortete nicht sofort. Und als er es dann tat, gab er eine offensichtliche Lüge von sich. »Sie... sind nicht mehr auf der Wolfsburg«, sagte er. »Unser Herr hat sie zu ihren Vätern zurückgeschickt.« Roland trug sich nicht mit der Absicht, kostbare Zeit zu vertändeln. »Wie du meinst, mein Freund«, sagte er. »Wer nicht hören will, muß fühlen!« Er zerrte den Mann hoch. »Hattest du jemals mit einem bösen Eber zu tun?« fragte er wie beiläufig. »Ihr habt hier ein besonders prächtiges Exemplar. Ich werde dir Gelegenheit geben, nähere Bekanntschaft mit ihm zu machen!« Dann tat er so, als wolle er den Wolfsburger zu einem der Verschlage hinüberschleppen. »Halt ein!« stöhnte der Mann. »Ich ... will die Wahrheit sagen!« »Wirklich?« »Ja, ja!« Roland ließ ihn wieder ins Stroh niedersinken. »Also - wo sind Sigrid von Felsenstein und Gandalf von Eisenberg? Sprich!« »Im Kerker!« beeilte sich der Mann zu sagen. »Graf Wolfram hat sie in den Kerker werfen lassen.« Das klang glaubhaft. Aber Roland war mit der Antwort noch nicht zufrieden. »Sind sie wohlauf?« wollte er wissen. »Oder hat dein Herr sie ... foltern lassen?« »Soviel ich weiß, nicht. Sie haben nur etwas von ihrer Haarpracht verloren.« Roland nickte befriedigt. Er glaubte nicht, daß ihn der Mann belog. Dazu hatte er jetzt viel zuviel Angst. Seine Wißbegier war noch lange nicht gestillt. Er erkundigte sich nach der genauen Lage des Kerkers, nach seiner Bewachung, nach
den sonstigen Sicherheitsvorkehrungen, die der Graf zur Bewachung seiner Burg getroffen hatte. Und auf jede Frage antwortete der verängstigte Gefangene prompt und ohne Ausflüchte. Schließlich wußte Roland genug. Der Wolfsburger hatte seine Schuldigkeit getan. Er wurde nicht mehr benötigt. Mit einem Schlag auf den Hinterkopf schickte Roland den Mann in das Land der süßen Träume. Dann fetzte er ihm sein Wams vom Leib, riß es in Streifen und verschnürte den Bewußtlosen wie einen Packsattel. Der erste Teil der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, war geschafft. Aber der schwierigere Teil stand ihm noch bevor. * Der Sängerwettstreit war beendet. Einstimmig erklärten alle Anwesenden Volker vom Hohentwiel zum Sieger. Er hatte Karl den Sänger geradezu in Grund und Boden gesungen. Volker war nicht sonderlich stolz darauf. Er hatte schon vorher gewußt, daß ihm der Wolfsburger Troubadour nicht das Wasser reichen konnte. Außerdem verfolgte er auch ganz andere Pläne, wobei der Wettstreit nur Mittel zum Zweck war. Aufmerksam hatte er beobachtet, daß die Augen Wolflindes vom Hohen Tann die ganze Zeit über beinahe andächtig auf seine Lippen gerichtet waren. Das Mädchen hatte ihm sozusagen jeden einzelnen Ton vom Mund abgelesen. Und in ihre Augen war dabei ein träumerischer, verliebter Ausdruck getreten. Jetzt, als das Singen vorüber war, nutzte Volker die Gunst der Stunde. Der Umstand, daß sich die Tischrunde aufzulösen begann und dieser und jener von seinem Platz aufstand, kam ihm zusätzlich zustatten. Auch er erhob sich und ging zu dem Mädchen hinüber. Wolflinde lächelte ihm entgegen. »Ist es gestattet?« Volker machte eine galante Verbeugung. »Gerne«, hauchte die braunhaarige Tochter des Burgherren und
errötete dabei. Sie rückte ein Stückchen auf der Bank zur Seite und gab Volker Gelegenheit, sich neben sie zu setzen. Aus den Augenwinkeln erkannte der Minnesänger, daß Wolflindes Schwester ärgerlich die Mundwinkel nach unten zog. Die hübsche Walpurga war ganz offensichtlich eifersüchtig, stellte er amüsiert fest. Es wäre ihr wohl lieber gewesen, wenn er neben ihr Platz genommen hätte. Aber er konnte sich schließlich nicht zweiteilen. »Ihr habt eine vortreffliche Stimme«, sagte Wolflinde vom Hohen Tann bewundernd. »Ja, mir sind die Töne heute sehr zufriedenstellend aus der Kehle gekommen. Aber das hat auch einen ganz bestimmten, zwingenden Grund.« »Welchen?« »Ihr seid der Grund, Jungfer Wolflinde«, sagte Volker und lächelte dabei sein betörendstes Lächeln. »Schöne Frauen spornen mich zu Höchstleistungen an. Und Ihr seid die schönste Frau, die mir seit langem begegnet ist!« »Oh, Ihr seid ein Schmeichler.« Wieder errötete die junge Frau. Aber man sah ihr doch an, daß sie gegen diese Schmeichelei mitnichten etwas einzuwenden hatte. Volker fuhr fort, Süßholz zu raspeln. Er verstand viel von Frauen und wußte ganz genau, wie er Wolflinde immer mehr für sich einnehmen konnte. Dabei behielt er auch jederzeit die übrigen Anwesenden im Auge. Die Männer waren dazu übergegangen, eifrig dem Met und dem Wein zuzusprechen. Niemand schenkte ihm besondere Aufmerksamkeit. »Was haltet Ihr von einem kleinen Mondscheinspaziergang?« fragte Volker mit weicher Stimme. »Meint Ihr wirklich?« gab Wolflinde mit einem leichten Kichern zurück. »Warum nicht?« »Es ist nicht schicklich!«
»Ich bin ein Mann von Ehre«, sagte Volker und legte die rechte Hand auf sein Herz. »Niemals würde ich etwas tun, was gegen die guten Sitten verstößt.« »Wirklich nicht?« Fast schien es Volker so, als sei das Mädchen über seine Antwort enttäuscht. »Nun«, sagte er deshalb schnell, »es käme natürlich darauf an, was Ihr unter guten Sitten versteht!« Wolflinde vom Hohen Tann lächelte kokett, erhob sich dann von der Bank. »Gehen wir!« Volker beeilte sich, ebenfalls aufzustehen. Dummerweise blickte der Burgherr in diesem Augenblick hoch. Seine Augenlider waren schwer vom Met. Aber er war durchaus Herr seiner Sinne. »Ihr wollt Euch zurückziehen?« fragte er mit leicht belegter Stimme. »Gefällt Euch unser Fest nicht?« Bevor Volker etwas entgegnen konnte, hatte Wolflinde bereits das Wort ergriffen. »Ritter Volker hat versprochen, ein Lied ganz für mich allein zu singen«, sagte sie. »Du hast doch nichts dagegen, lieber Vater?« Wolfram vom Hohen Tann zögerte kurz, lachte dann tief auf. Er zwinkerte Volker zu und griff nach seinem Becher. »Auf daß Euer Lied die Ohren meiner Tochter nicht rötet«, sagte er launig und lachte erneut. Volker lächelte zurück und verließ dann gemeinsam mit der Grafentochter den Saal. »Wo gehen wir hin?« fragte er. »Mein Zimmer liegt zwei Treppen hoch«, sagte Wolflinde. »Seid Ihr gut zu Fuß?« »Nicht nur das«, erwiderte Volker überzeugt. *
Der Kerker der Wolfsburg war in einem der Nebengebäude untergebracht, unweit der Mauer. Vom Stall aus konnte Roland die Tür des Baus sehen. Um hinüberzukommen, mußte er den größten Teil des Hofes überqueren, was ihm überhaupt nicht gefiel. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Er mußte es wagen, auch wenn dabei die Gefahr bestand, daß ihn irgend jemand sah und erkannte. Und er wagte es ... Als er auf der Burgmauer keinen Wächter ausmachen konnte, schlüpfte er durch die Stalltür und rannte los. Atemlos erreichte er das Kerkergebäude. Er preßte sich in die Türnische und blickte sich hastig nach allen Seiten um. Noch immer sah er niemanden. Und kein Mensch rief ihn an. Alles sprach dafür, daß er Glück gehabt hatte. Er war unbemerkt geblieben. Die Tür des Kerkergebäudes zu öffnen, bereitete keinerlei Mühe. Sie war nur lose angelehnt, nicht verschlossen. Aber das wollte leider nichts besagen. Die Schwierigkeiten warteten noch auf ihn, wie er von dem im Stall überwältigten Mann nur zu gut wußte. Roland verlor keine Zeit. Er drückte die Tür auf, betrat den Bau und lehnte die Tür wieder an. Dunkelheit umfing ihn, kaum gemildert durch das blasse Mondlicht, das durch den Türspalt einfiel. Aber es war nicht totenstill. Aus oben gelegenen Räumlichkeiten drangen gedämpfte Wortfetzen, zu ihm herunter. Hier wohnte ein Teil der Getreuen des Burgherren. Roland beeilte sich, aus dem Bereich des Eingangs zu verschwinden. Wenn jetzt jemand herunterkam und ihn entdeckte, war seine Mission gescheitert. Er tastete sich durch die Dunkelheit und fand auch bald den Treppenabgang, der zu den Kellerverliesen hinunterführte. Steil wanden sich die Stufen abwärts. Roland folgte ihnen, trat dabei so leise auf, wie es nur eben möglich war. Trotzdem kamen ihm die Geräusche seiner Schritte dabei so laut vor wie das Tapsen eines Bären.
Er erreichte ein erstes Tiefgeschoß, das jedoch für ihn ohne Belang war. Er wußte, daß hier allerlei Gerätschaften untergebracht waren. Bewohnt wurden die Räumlichkeiten nicht. Der Kerker lag noch weiter unten, denn die Erbauer der Wolfsburg hatten die Verliese so tief wie möglich gelegt. Roland machte sich ohne Aufenthalt an den fürderen Abstieg. Wieder drangen Stimmen an sein Ohr. Diese kamen jetzt jedoch nicht mehr von oben, sondern schallten ihm von unten entgegen. Es war keine Frage, daß sie dem Kerkermeister und seinen Gehilfen gehörten. Roland wurde jetzt noch vorsichtiger. Auf den Zehenspitzen bewältigte er die letzten Treppenstufen, setzte dann endlich den Fuß auf den Boden der untersten Kellersohle. Es war kühl hier unten, und ein leichter Geruch von Moder lag in der Luft. Ganz in der Nähe raschelte es - Ratten höchstwahrscheinlich. Der Stein unter Rolands Füßen war schlüpfrig vor Feuchtigkeit. Wer hier unten hausen mußte, hatte kein leichtes Brot. Abgrundtiefe Finsternis umgab Roland von allen Seiten. Trotzdem hatte er keine Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Die Stimmen der Wachtmannschaft sagten ihm ganz genau, welchen Weg er einschlagen mußte. Links entlang. Gleich kam es darauf an! Roland zückte sein Schwert, umfaßte es mit fester Hand. Dann schlich er weiter. Die Stimmen wurden lauter. Irgend jemand brüllte wütend. Polternde Geräusche erklangen. Unwillkürlich verhielt Roland seinen Schritt. Stritten sich die Männer von der Wachtmannschaft? Fast hörte es sich so an. Nun, ihm sollte es nur recht sein. Um so unauffälliger konnte er sich nähern. Er ging weiter, die freie linke Hand vorgestreckt, um nicht unversehens gegen ein Hindernis zu prallen. Und dann stieß seine Hand auf Widerstand.
Eine Tür! Roland zog die Hand zurück, als habe er in ein Wespennest gegriffen. Hoffentlich hatte man auf der anderen Seite nichts gehört. Abwartend blieb er stehen und lauschte. Nein, es schien nicht so, daß man auf ihn aufmerksam geworden war. Die polternden Geräusche, die er schon zuvor wahrgenommen hatte, gingen weiter. Und auch die lauten Stimmen konnte er nach wie vor vernehmen. Deutlich verstand er jetzt, was gerufen wurde. Es waren üble Schimpfwörter und Flüche. Sein Eindruck, daß zwischen den Wächtern ein Streit ausgebrochen war, bestätigte sich. Ein Ruck ging durch Roland. Lange genug gewartet hatte er jetzt. Es wurde Zeit zum Handeln. Seine linke Hand tastete nach dem Türgriff, fand ihn. Er stieß die Tür auf. Fackelschein blendete ihn im ersten Augenblick. Aber er brauchte nur ein paar Herzschläge, um seine Augen daran zu gewöhnen. Die Wachstube lag vor ihm, ein mittelgroßer Raum mit nackten, kalten Wänden. Er enthielt einen Tisch, eine Sitzbank und zwei Schemel, das war alles. Drei Männer hielten sich in dem Raum auf. Und zwei davon hatten sich wild in die Haare gekriegt. Während der dritte Mann gerade dabei war, den umgestürzten Tisch wieder aufzurichten, stand sich die anderen beiden mit geschwungenen Fäusten gegenüber. Einer von ihnen hatte ein Messer in der Hand, wollte seinem Gegner damit augenscheinlich an die Kehle gehen. Der Grund der handgreiflichen Auseinandersetzung war Roland auf Anhieb klar. Mehrere Münzen und ein paar Würfel, die auf dem Boden lagen, sprachen eine unmißverständliche Sprache. Jetzt, da Roland so urplötzlich und unerwartet im Raum stand, wandten sich ihm die drei ruckartig zu. Im ersten Moment standen sie starr wie Statuen. Mit verblüfften Gesichtern blickten sie ihn an, scheinbar sprachlos vor Überraschung. »Wer... seid Ihr?« stieß der am Tisch schließlich hervor. »Und was
wollt...?« »Das ist der fremde Ritter, der mit dem Minnesänger gekommen ist«, rief einer der anderen beiden dazwischen. »Bestimmt führt er Niederträchtiges im Schilde!« Der dritte Mann verlor keine Zeit mit überflüssigen Worten. Er begriff sofort, was das Auftauchen Rolands zu bedeuten hatte. Seine rechte Hand, die das Messer hielt, schwang zurück, schwang wieder nach vorn. Wie ein Blitz jagte das Messer auf Roland los. Aber der hatte aufgepaßt, duckte sich. Gerade noch rechtzeitig ... Das Messer surrte haarscharf über seinen Kopf hinweg und bohrte sich in die Bohlen der Tür. Zitternd wie ein Ast im Winde blieb es darin stecken. »Los, auf ihn!« schrie der Messerwerfer. Er trauerte dem fehlgegangenen Wurf nicht lange nach, bereitete bereits die nächste Attacke vor. In einer Ecke des Raumes standen mehrere Lanzen. Mit einem wilden Satz stürmte der Wolfsburger darauf zu. Auch in die beiden anderen kam jetzt Leben. Vergessen war der Streit, den sie untereinander hatten. Sie hatten Roland als gemeinsamen Feind erkannt, den es zu bekämpfen galt. Die zwei trachteten ebenfalls danach, Waffen in die Hände zu bekommen. Der eine griff nach seinem Schwert, der andere zückte einen Hirschfänger. Aber natürlich blieb auch Roland nicht untätig. Mit erhobenem Schwert stürmte er in den Raum hinein. Als ersten wollte er den Mann mit dem Hirschfänger aus dem Wege räumen, denn diesem war er am nächsten. Aber ihm widerfuhr ein Mißgeschick. Als er fast bei dem Wolfsburger war, verlor er auf einmal das Gleichgewicht. Unglücklicherweise war er auf einen der blankpolierten Würfel getreten und rutschte nun aus. Er konnte sich nicht auf den Füßen halten. Triumphgeschrei aus drei Kehlen drang auf ihn ein, als er rücklings
zu Boden stürzte. Der Kerkermeister und seine Gehilfen sahen sich bereits als Sieger. Der Mann mit dem Hirschfänger beugte sich vor, wollte mit aller Kraft zustechen. Aber so schnell ließ sich Roland nicht unterkriegen. Auf dem Boden liegend ließ er sein Schwert hochzucken. Und er traf ... Die Klinge fuhr in den Unterarm des Angreifers, schnitt in das Fleisch wie in einen Laib Brot. Der Wolfsburger stieß einen furchtbaren Schrei aus, der voller Schmerz war. Der Hirschfänger entglitt seiner Hand, fiel harmlos neben Roland auf den Stein. Dieser Gegner war ausgeschaltet. Sein Kampfesmut schwand dahin. Brüllend beschränkt er sich darauf, den blutenden Arm gegen den Leib zu pressen. Da waren jedoch noch die beiden anderen. Der mit der Lanze war jetzt da. Die Eisenspitze der Stichwaffe zuckte auf Roland hinab. Im letzten Augenblick gelang es dem, sich zur Seite zu wälzen. Funken sprühten, als das Eisen den Stein traf, keine Handbreit neben Rolands Körper. Der Wolfsburger stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus, riß dabei die Lanze wieder hoch. Bevor er jedoch zum zweiten Mal zustoßen konnte, war Roland wieder auf die Füße gesprungen. Wuchtig schlug er mit dem Schwert zu. Der Hieb hätte den Wächter in zwei Hälften gehauen. Der Mann schaffte es jedoch, sich mit dem Schaft seiner Lanze zu schützen, für den Augenblick jedenfalls. Aber das half ihm nicht viel. Das Holz der Lanze splitterte wie der morsche Ast eines verdorrten Baumes. Schon führte Roland den nächsten Hieb. Und diesmal kam er erfolgreich durch. Der Wolfsburger gab nur noch einen röchelnden Ton von sich, brach dann entleibt zusammen.
Dies alles ging so schnell, daß der dritte Mann bisher noch gar nicht in den Kampf eingreifen konnte. Als er es jetzt endlich tat, war er ganz auf sich allein gestellt. Seine Kameraden konnten ihn nicht mehr unterstützen. Plötzliche Angst flackerte in seinen Augen. Er hatte gesehen, was den beiden anderen widerfahren war. Die Furcht, daß es ihm genauso ergehen könnte, machte sich in ihm breit. Aber das hinderte ihn nicht daran, Roland dennoch anzugreifen. Geschickt täuschte er einen Stich an, der auf Rolands Brust zielte. Tatsächlich jedoch führte er einen fast ansatzlosen Hieb, der den Hals seines Widersachers treffen sollte. Roland hatte große Mühe, der Attacke zu begegnen. Soeben brachte er es noch fertig, den Kopf in den Nacken zu reißen. Die Klinge des Wolfsburgers zerschnitt nur die leere Luft. Schon stand der Mann wieder in Positur. Jetzt griff Roland an. Eine Finte, noch eine Finte, dann ein entschlossener Stoß. Die Attacke blieb erfolglos. Der Wächter wischte Rolands Schwert mit seiner Klinge zur Seite. Wieder stoben die Funken, als Metall gegen Metall schlug. Erneut griff Roland an. Schlag, Schlag, Stoß ... Roland war schnell wie ein Adler, der aus der Luft auf die Beute hinabstößt. Jedesmal gelang es dem Wolfsburger, die Schwertstreiche seines Gegners zu parieren. Er hatte seine liebe Mühe dabei und atmete heftig. Schweißtropfen traten auf seine Stirn, perlten ihm ins Gesicht. Er erkannte wohl schon jetzt, daß er dem Ritter auf Dauer nicht gewachsen war. Schlag, Stoß, Schlag, Stoß ... Ein Stöhnen kam aus dem Mund des Wächters. Roland hatte ihn am Arm getroffen. Blut quoll aus der Wunde, färbte die Steinplatten des Bodens rot. Noch hielt der Mann stand. Aber sein verletzter Arm wurde schwer, seine Bewegungen ungelenk.
Dann kam das Ende für ihn. Roland trieb ihn mit einer ganzen Serie von Hieben durch den ganzen Raum. Der Wolfsburger wurde gegen eine Wand gedrängt, konnte schließlich nicht mehr weiter zurückweichen. Sein Arm zitterte, als er die letzte Attacke erwartete. Roland stand eine Körperlänge von ihm entfernt, das Schwert zum tödlichen Streich erhoben. Aber ihm lag nichts daran, dem Mann das Leben zu nehmen. »Gib auf«, sagte er. »Dein Herr ist ein eidbrüchiger Schurke! Warum willst du für ihn sterben?« Der Wolfsburger antwortete nicht. Sein Atem ging stoßweise. Die Brust hob und senkte sich krampfhaft. Und noch immer floß das Blut aus seiner Wunde. »Nun?« fragte Roland beinahe freundlich. »Was hältst du von mei nem Vorschlag?« »Das hier!« Ganz überraschend stieß sich der Wächter von der Wand ab und warf sich Roland entgegen. Der hatte keine andere Wahl. Er parierte den Schwerthieb des anderen, stach dann seinerseits zu. Der Kampf war vorüber. Zwar war da noch der dritte Mann, der jedoch keine Gefahr mehr verkörperte. Er hatte sich einen Stoffetzen um den Unterarm gebunden und das Blut zurückgedrängt. Aber er hatte sehr viel davon verloren, war vollkommen kraftlos. Er hatte nicht einmal den Versuch unternommen, aus der Wachstube zu fliehen, obgleich er vielleicht die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Wimmernde Töne kamen über seine Lippen. Er schien große Schmerzen zu haben. Roland befreite ihn davon. Ganz kurz schlug er zu - mit der Breitseite des Schwertes. Es lag nicht in seiner Absicht, den Verletzten zu töten. Bewußtlos sackt der Mann in sich zusammen und blieb neben dem umgestürzten Tisch liegen. Jetzt war es ganz ruhig im Raum. Roland ging zur Tür und lauschte nach draußen.
Auch hier konnte er keinen Laut wahrnehmen. Der Kerker lag so tief, daß anscheinend keiner der Burgbewohner etwas von dem Kampfeslärm mitbekommen hatte. Roland schloß die Tür wieder. Sie ließ sich von innen nicht verriegeln. Aber er sah darin kein entscheidendes Problem. Es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn ausgerechnet in diesen Minuten jemand nach unten käme, um ohne einen ganz bestimmten Anlaß nach dem Rechten zu sehen. - Der Weg zu den Verliesen der Gefangenen war frei. * Sekunden später hockten Wolflinde und Volker auf einem Bett, so brav wie Geschwister, aber nicht lange. Sie erlaubte, daß er ihr die Haare streicheln durfte. Und sie genoß es. Beinahe unmerklich glitten Volkers Hände tiefer. Zunächst berührten sie die Schultern, dann verharrten sie auf der Brust, ohne daß Wolflinde es ihm verwehrt hätte. Statt dessen lächelte sie, als sporne sie ihn an. Und Volker wurde mutiger. Während er Wolflinde zunächst noch sanft küßte, öffnete er einige Schlaufen, die das Kleid der Geliebten zusammenhielten. Das Oberteil rutschte langsam tiefer und tiefer. Volker half ein wenig nach. Die herrlichen Brüste waren nun unbedeckt. Volker streichelte und küßte sie. Wie sehr hatte er sich nach diesem Augenblick gesehnt. Wolflinde zerschmolz zwischen Volkers zärtlichen Händen. Und sie wollte mehr. Ungeniert entledigte sie sich der restlichen Kleidungsstücke. »Nimm mich, Volker«, stöhnte sie. Und dann versanken die beiden Liebenden im Rhythmus der Leidenschaft. Man hätte sie mit dem Bett wegtragen können, sie hätten es sicherlich nicht bemerkt. Volker wollte sich aus den Umklammerungen nach unsterblichen Minuten lösen, aber Wolflinde schaffte es immer wieder, daß er sich für sie interessierte.
Endlich sanken beide erschöpft und mit dem wissenden Lächeln auf den Lippen zurück. »Du bist nicht nur ein einzigartiger Sänger, sondern verstehst auch mehr von der Minne als jeder andere!« sagte Wolflinde vom Hohen Tann und blickte Volker bewundernd an. Sie saß auf der Kante ihres Lagers und zog ihr Kleid an, das arg in Mitleidenschaft gezogen worden war. Dabei lächelte sie beglückt. Volker lächelte zurück. Aber er war mit den Gedanken nicht mehr ganz bei der Sache. Wenn er sich überlegte, daß Roland in diesen Augenblicken vielleicht um sein Leben kämpfen mußte, erwachten beinahe Schuldgefühle in ihm. Dabei wußte er aber ganz genau, daß diese unbegründet waren. Roland hatte eine Aufgabe zu erfüllen und er auch. Daß er dabei das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden konnte, würde ihm der Freund sicherlich nicht verdenken. Seine Aufgabe war jedoch noch weit davon entfernt, gelöst zu sein. Aber inzwischen hatte er immerhin die Voraussetzungen geschaffen, um sie anzugehen. Während sich Wolflinde weiterhin in Liebesgeflüster erging, brachte er das Gespräch geschickt auf die Krone Herzog Ottokars. »Die Krone ist berühmt im ganzen Abendland und hat für einen Dichter und Sänger wie mich einen ganz außerordentlichen Reiz«, sagte er versonnen. »Wie dies?« »Es heißt, die Krone verleiht ihrem Träger magische Kräfte, die seinen Körper vor Stärke bersten lassen und seinem Geist unerhörte Höhenflüge gestatten!« »So ist es.« »Ich würde sie für mein Leben gern sehen!« sagte Volker und ließ einen entrückten Ausdruck in seine Augen treten. »Man kann sie nicht als Einheit betrachten«, belehrte ihn das Mädchen. »Die Vorfahren zerbrachen sie in drei Teile, da sie sie uns Wolfsburgern nicht gönnten!« »Das ist mir bekannt«, nickte Volker. »Eins der Fragmente befindet sich im Besitz deines Vaters. Es würde mir schon genügen,
wenn ich dieses sehen könnte.« »Was treibt dich dazu?« Wie schon auf Felsenstein redete Volker wieder von seiner Phantasie, die ständiger Befruchtung bedürfe, um neue Lieder und Balladen hervorzubringen. Wolflinde vom Hohen Tann hörte ihm verständig zu, schüttelte dann aber den Kopf. »Es ist unmöglich!« sagte sie fest. »Warum?« »Mein Vater hat es strengstens verboten. Jedem, der gegen sein Verbot verstößt, droht die Hinrichtung!« »Aber das gilt doch nicht für dich, meine Liebe. Schließlich bist du seine Tochter, nicht wahr?« »Dennoch!« Volker legte dem Mädchen den Arm um die Schultern, drückte es zärtlich an sich. »Tu es für mich, Geliebte«, sagte er flüsternd. »Dein Vater wird dich bestimmt nicht zum Richtblock schleppen. Oder fürchtest du das wirklich?« »Nein«, gab Wolflinde nach kurzem Zögern zu. »Dafür liebt er mich viel zu sehr. Aber ...« »Aber?« Volker küßte sie zärtlich auf die Stirn und kam sich dabei ein bißchen wie ein Schuft vor. Dann aber dachte er daran, daß Wolfram vom Hohen Tann den Eid gebrochen hatte, daß er unschuldige Geiseln in den Kerker geworfen hatte und mit dem Tod bedrohte, wenn man seinem ungehemmten Machtstreben nicht willfährig war. Seinem finsteren Treiben mußte Einhalt geboten werden, unter allen Umständen. Alles, was er, Volker vom Hohentwiel, und Roland taten, geschah im Dienst der gerechten Sache. »Für die Liebe, Wolflinde!« sagte er drängend. Wieder zögerte das Mädchen, nickte dann langsam. »Weil du es bist«, hauchte es, »will ich mich über das Gebot meines Vaters hinwegsetzen. Aber du darfst keinem Menschen ein
Sterbenswörtchen davon erzählen.« »Das versteht sich von selbst!« »Schwöre es mir!« Volker schwor. Und es war kein Meineid, denn es würde gar nicht nötig werden, daß er irgend jemandem davon erzählte. Er brauchte keine fremde Hilfe, um sein Ziel zu erreichen. »Komm!« sagte Wolflinde und erhob sich vom Lager. Volker und das Mädchen verließen ihr Zimmer. Vor der Tür blieben sie lauschend stehen. Lärmende Stimmen drangen von unten hoch. Im Festsaal schlug die Trunkenheit die Tafelnden immer mehr in ihren Bann. Wolflinde war beruhigt. Es sah nicht danach aus, daß jetzt jemand die Treppe heraufkam. Sie faßte Volker am Arm und führte ihn einen langen Korridor entlang. In regelmäßigen Abständen an den Wänden angebrachte Fackeln sorgten für Licht. »Wo gehen wir hin?« wollte Volker wissen. »Ins Gemach meines Vaters«, erwiderte das Mädchen. »Dort hat die Krone ihren Ehrenplatz.« Sie zog ihn weiter, warf dabei immer wieder scheue Blicke über die Schulter zurück. Aber das Glück blieb ihr und Volker treu. Niemand kam. Schließlich machte Wolflinde vor einer Tür halt. Wieder ein Blick nach links und rechts, dann öffnete sie. »Schnell hinein!« Volker ließ sich nicht lange bitten. Gemeinsam mit der Grafentochter trat er ein. Augenblicke später stand er vor dem Kronenfragment. * Von der Wachstube ging eine zweite Tür ab, massiv und stark wie eine gemauerte Wand. Ein schwerer, unterarmdicker Bolzen war als Riegel vorgeschoben. Nicht der stärkste Mann der Welt würde
imstande sein, die Tür von der anderen Seite aus aufzusperren. Die Gefangenen in den Verliesen waren hoffnungslos von der Freiheit abgeschnitten. Von der Wachstube aus war das öffnen jedoch ein Kinderspiel. Mit Leichtigkeit konnte Roland den Riegel zurückschieben. Er nahm eine brennende Fackel von der Wand und schritt in den düsteren Gang hinein, der sich anschloß. Der faulige Modergeruch, der sich in der Wachstube in Grenzen hielt, machte sich wieder stark bemerkbar. Dort, wo der Fackelschein auf die Wände fiel, schimmerte es feucht. Die Steine sahen grünlich, geradezu krank aus. So krank, wie wahrscheinlich die Menschen wurden, die längere Zeit hier unten hausen mußten. Nach wenigen Schritten schon stieß Roland auf die ersten Gefangenen. Klobige Türen waren links und rechts in die Wände eingelassen. Einige von ihnen, nicht alle, hatten kleine Gucklöcher. Roland wußte nicht, in welchem der Verliese Gandalf von Eisenberg und Sigrid von Felsenstein steckten. Das hatte ihm der Mann im Stall nicht sagen können. Ihm blieb nichts anders übrig, als jedes einzelne zu überprüfen. Er brachte die Fackel ganz nahe an das erste Guckloch heran und blickte hinein. In dem Verlies steckte ein alter Mann, der reglos auf einem übel aussehenden Haufen Stroh lag. Er blickte nicht einmal hoch, selbst dann nicht, als Roland ihn anrief. Achselzuckend ging der Ritter weiter, wollte sich das nächste Verlies vornehmen. Hier gab es jedoch keine Sehöffnung. Und dasselbe traf auch auf die dritte und vierte Zelle zu. Dann konnte er wieder in ein Verlies hineinblicken. Er sah einen Mann, dessen Alter unmöglich abzuschätzen war. Der Gefangene sah völlig verschmutzt und verkommen aus. Er lag auf fauligem Stroh, richtete sich aber auf, als er den Lichtschein bemerkte. Es konnte sich nicht um Gandalf von Eisenberg handeln. Dessen Aussehen und auch das der anderen Geisel hatte sich Roland auf Felsenstein ganz genau beschreiben lassen. »Sei gegrüßt, Freund!« rief Roland gedämpft durch die Öffnung.
Der Gefangene lachte grimmig auf. »Freund?« wiederholte er. »Spare dir deine gemeinen Spaße, blutiger Schlächter!« Das war eine mutige Antwort für einen Mann, der seinen Peinigern hilflos ausgeliefert war. Roland machte dem Mann klar, daß er kein Wolfsburger war, und verhehlte auch nicht den wahren Grund seines Kommens. »Sag mir, wo ich die beiden Geiseln finde!« bat er dann. Der Gefangene war inzwischen von seinem Lager aufgesprungen. Recht behende, wie Roland feststellen konnte. Die Gefangenschaft hatte ihn bisher ganz offenbar weder geistig noch körperlich zerbrochen. Er traf an die Tür heran. Sein Gesicht war Roland jetzt so nahe, daß der seinen Atem spüren konnte. Zunächst ging er gar nicht auf Rolands Frage ein. »Hol mich hier raus!« sagte er statt dessen drängend. »Ob du nun zwei oder drei Gefangene befreist, das bleibt sich gleich!« Er rüttelte an der Tür. »Mach auf, schnell!« Roland zauderte. Eigentlich hatte er nicht vor, noch andere Gefangene aus den Verliesen herauszuholen. Er kannte die Menschen nicht, konnte nicht beurteilen, ob es sich um wirkliche Übeltäter oder nur um erbarmungswürdige Opfer burgherrlicher Willkür handelte. Außerdem konnte er sich nicht mit den Befreiten belasten, wenn er nicht das ganze Unternehmen aufs Spiel setzen wollte. Gandalf und Sigrid würden ihm vermutlich schon genug Mühe bereiten. Andererseits hatte er aber auch nicht die Zeit, noch lange nach den beiden Geiseln zu suchen. Die Gefahr der Entdeckung wurde von Augenblick zu Augenblick größer. Und vielleicht konnte ihm dieser Mann, der sich noch im Vollbesitz seiner Kräfte zu befinden schien, auch bei der Flucht behilflich sein. »Gut«, sagte er kurz entschlossen, »ich hole dich raus!« Die Tür war nicht durch ein Schloß gesichert, nur durch einen einfachen Riegel. Anscheinend hatte Wolfram vom Hohen Tann nie damit gerechnet, daß ein Unbefugter so weit in den Kerker vordringen würde. Einen Augenblick später hatte Roland die Tür
geöffnet. Der Mann kam heraus, ganz langsam, so, als könne er immer noch nicht glauben, daß er dem Verlies entronnen war. Er blinzelte in die Fackel, blickte Roland an. Jetzt erkannte er, daß er einen Ritter vor sich hatte, der gesellschaftlich weit über ihm stand. Er fiel auf die Knie, beugte den Kopf nach unten und küßte Rolands Füße. »Ich danke Euch, Herr!« sagte er und weinte fast vor Freude. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie ich Euch danke! Der Himmel wird Euch Eure Güte vergelten.« »Schon gut, schon gut!« Roland wollte nicht, daß sich der Mann vor ihm erniedrigte. Er legte keinen Wert auf Ehrerbietigkeiten dieser Art. Außerdem brannte ihm die Zeit unter den Nägeln. »Sag mir, wo die Geiseln stecken!« verlangte er. Der Mann richtete sich wieder auf. »Folgt mir«, sagte er und eilte dann mit erstaunlich schnellen Schritten den Gang entlang. Ja, er war wirklich ein Mann, der seinen Körper noch in der Gewalt hatte. Vor einer Bohlentür am äußersten Ende des Ganges blieb er stehen. »Hier müßten sie drin sein«, flüsterte er. Die Tür hatte kein Guckloch. Aber das war jetzt auch herzlich gleichgültig. Roland schob den Riegel zurück, leuchtete mit der Fackel ins Innere des Verlieses hinein. Sofort erkannte er, daß sich sein Helfer nicht geirrt hatte. Zwei junge Menschen befanden sich in dem üblen Loch - ein Jüngling und ein Mädchen. Gandalf von Eisenberg und Sigrid von Felsenstein ... Unsicher blickten die beiden hoch. In den sanften Augen der schönen jungen Frau spiegelte sich Angst. Diese nächtliche Störung kam ihr sichtlich gefahrversprechend vor. Roland beeilte sich, den beiden zu verstehen zu geben, daß er ihr Retter war. Zuerst wollten sie es gar nicht glauben. Mißtrauen prägte
ihre Züge. Vielleicht vermuteten sie eine Hinterlist Wolframs vom Hohen Tann. Langsam wurde ihnen dann aber doch klar, daß Roland wirklich der war, für den er sich ausgab. Jetzt hatte Roland Mühe, ihre Freude zu dämpfen. Noch lange waren sie nicht in Sicherheit. Und er selbst auch nicht. Erst jenseits des Burggrabens winkte die Freiheit. Gandalf und Sigrid erfreuten sich ebenfalls noch guter Gesundheit. Sie befanden sich erst seit wenigen Tagen in Gefangenschaft. Junge Körper sind widerstandsfähig. Roland übernahm die Führung, als der Rückweg eingeschlagen wurde. Schnell war die Wachstube erreicht. Hier hatte sich nichts verändert. Die beiden Toten lagen reglos auf dem Boden, und der dritte Mann war nach wie vor ohne Bewußtsein. Kein Mensch hatte in der Zwischenzeit den Raum betreten. Jedenfalls deutete nichts darauf hin. Dann schlichen Roland und die drei Befreiten den Gang entlang, der zum Treppenaufgang führte. Es war stockdunkel um sie herum. Roland hatte die Fackel in der Wachstube zurückgelassen. Ohne auf irgend jemanden zu stoßen, erreichten sie den Fuß der Treppe und machten sich an den Aufstieg. Roland war und blieb an der Spitze, das gezückte Schwert einsatzbereit in der Faust. Sie passierten den Lagerkeller, strebten nun dem Erdgeschoß entgegen. Bevor sie oben ankamen - wenige Stufen waren nur noch zu bewältigen -, hörten sie Stimmen. Stimmen aus allernächster Nähe. Und sie sahen Lichtschein. Abrupt verhielten sie ihren Schritt, duckten sich nieder, verschmolzen beinahe mit dem grauen Stein der Treppe. Mehrere Männer hatten das Gebäude betreten. Doch nicht etwa eine Ablösung der Wachtmannschaft? schoß es Roland durch den Kopf. Atemlos warteten Befreier und Befreite ab, jederzeit bereit, für Freiheit und Leben zu kämpfen. Das Schicksal meinte es noch gut mit ihnen. Es wurde schnell offenbar, daß die Männer nicht den Weg nach unten einschlugen,
sondern zu den Obergeschossen hinaufgingen. Sie verblieben noch eine kurze Weile. Als es dann oben wieder ruhig war, legten sie das letzte Stück bis zur Sohle des Erdgeschosses zurück. Die Tür zum Hof stand halb offen. Roland ging vor, schob vorsichtig den Kopf durch die Eingangsöffnung und blickte nach draußen in die mondbeschienene Nacht. Er konnte niemanden auf dem Hof sehen. Und auch auf dem Abschnitt der Mauer, die in seinem Blickfeld lag, konnte er keine Gestalt ausmachen. Die Gelegenheit war günstig. Roland hatte vor, die Burg an jener Stelle zu verlassen, wo die Zugbrücke in die Mauer eingelassen war. Die Brücke war der schwache Punkt in der ansonsten lückenlosen Abschirmung. Auch Sigrid von Felsenstein müßte in der Lage sein, die hochgezogene Brücke zu erklettern und zu überwinden. Die Befreiten waren in seinen Plan bereits eingeweiht. Es bedurfte jetzt keiner Erklärungen mehr. »Auf geht's!« raunte er den dreien zu. Mit der freien Hand griff er nach dem Arm des Mädchens und rannte dann mit der Geisel los. Gandalf und der Mann, von dem Roland inzwischen wußte, daß er Kuno hieß, folgten auf dem Fuße. Der Weg zur Zugbrücke war nicht allzu weit. Dennoch kamen die Fliehenden nicht unbemerkt hinüber. Aus dem Hauptgebäude traten in diesem Augenblick mehrere Männer, laut lachend und lärmend. Fraglos sprachen Met und Wein aus ihnen. Aber sie waren nicht trunken genug, um die vier über den Hof huschenden Gestalten nicht zu bemerken. »He!« rief einer von ihnen. »Wohin so eilig?« Sigrid von Felsenstein stieß einen schlecht unterdrückten Angstruf aus. Und der gab den Wolfsburgern zu denken. »Wartet doch mal«, schallte es zu ihnen hinüber. Da erkannte Roland, daß es jetzt unmöglich sein würde, an der Zugbrücke hochzuklettern. Die aufmerksam gewordenen Männer
würden sie mit tödlicher Sicherheit daran hindern. Gedankenschnell änderte er seinen Plan. Nur einen Weg gab es jetzt noch, auf dem sie die Burg verlassen konnten: den Weg über die Mauer. Natürlich würden sie dabei mit den Mauerwachen zusammenstoßen. Aber Roland hoffte, den Kampf siegreich bestehen zu können. Mitten im Lauf änderte er die Richtung, riß das Mädchen mit sich fort. Er wußte, wo sich der Aufgang zur Mauerkrone befand, lief darauf zu. Den Wolfsburgern war nun unmißverständlich klargeworden, daß etwas nicht stimmte. Auch wenn sie Roland und seine Gefährten noch nicht erkennen konnten, ahnten sie doch, daß sie Flüchtlinge vor sich haben. Alarmrufe wurden laut, gellten über den Hof. Und sofort merkten die Wachen oben auf der Burgmauer auf. Nicht länger widmeten sie ihre Aufmerksamkeit dem Wald jenseits des Burggrabens. Roland erkannte die Umrisse zweier Männer, die auf den Burghof hinunterblicken. Die Wolfsburger aus dem Hauptgebäude hatten sich mittlerweile in Bewegung gesetzt. Sie versuchten, Roland und seinen Fluchtgenossen den Weg abzuschneiden. Es wurde laut und lauter. Länger als ein paar Augenblicke wurde es nicht dauern, bis weitere Männer auf dem Hof auftauchten. Roland behielt einen klaren Kopf. Zielstrebig lief er auf den Maueraufgang zu, erreichte ihn zusammen mit dem Mädchen vor den Verfolgern. Kuno und Gandalf waren unmittelbar hinter ihm. Ohne Zeit zu verlieren, stürmte Roland die steilen Treppenstufen hoch. Er wußte, daß ihn die Wachen oben erwarteten, hatte Sigrid von Felsenstein deshalb losgelassen. Und da waren die Wächter schon. Ein dritter hatte sich inzwischen zu den beiden anderen gesellt. »Bleib, wo du bist!« rief ihm einer entgegen. Die Spitze seiner Lanze war auf Roland gerichtet. Eine Körperlänge war der Ritter noch vom Mauergang entfernt.
Hätte der Wolfsburger seine Waffe etwas früher eingesetzt, wäre es um Roland wohl geschehen gewesen. So jedoch ... Blitzschnell griff er mit der linken Hand zu, packte den Lanzenschaft unmittelbar hinter der Spitze. Mit aller Kraft riß er daran. Der Wächter auf der Mauer war auf diese Aktion nicht vorbereitet. Instinktiv klammerte er sich an seiner Waffe fest. Und das war sein Fehler. Ruckartig wurde er nach vorn gerissen, verlor dabei den festen Halt unter den Füßen. Mit einem Schrei stürzte er ab. Er flog an Roland vorbei und schlug auf dem Burghof auf. Die beiden anderen Wachtposten brauchen ein paar Augenblicke, um das Geschehene zu begreifen. Ein paar Augenblicke zu lange. Roland nutzte ihr Zögern, bewältigte die letzten Treppenstufen und stand dann unmittelbar vor ihnen. Sein Schwert stieß zu und traf den ersten Wolfsburger, bevor dieser sich zur Wehr setzen konnte. Mit einem tiefen Stöhnlaut klappte der Mann zusammen. Der letzte Posten hatte, sich jetzt gefaßt. Er sprang zurück, riß einen Morgenstern hoch. Die stachelbesetzte Eisenkeule war eine mörderische Waffe. Aber sie vermochte wenig gegen ein gut geführtes Schwert auszurichten. Als der Wolfsburger zuschlug, brauchte Roland nur seine Schwerthand vorzustrecken, um den wütenden Hieb zu parieren. Im selben Augenblick stieß er zu und bohrte dem Gegner die Klinge in den Leib. Auch dieser Mann war außer Gefecht gesetzt. Jetzt endlich konnte sich Roland um die Dinge kümmern, die in seinem Rücken vorgingen. Wie erwartet waren weitere Wolfsburger auf dem Burghof aufgetaucht. Andere waren in den fackelerleuchteten Fenstern der Gebäude zu erkennen. Die ganze Burg befand sich mittlerweile in hellem Aufruhr. Sigrid von Felsenstein war unbehelligt geblieben. Das Mädchen hatte es geschafft, die Mauerkrone ebenfalls zu erreichen. Und wo bleiben Gandalf und Kuno?
Roland sah den Jüngling von Eisenberg mitten auf den Stufen stehen. Und Kuno befand sich noch ganz unten am Fuß des Treppenaufgangs. Er hatte die Lanze des von der Mauer gestürzten Wächters an sich gerissen und kämpfte einen verzweifelten Kampf gegen mehrere Wolfsburger, die ihn bedrängten. Gandalf, der das Schwert eines der Männer aus der Wachstube in der Hand hielt, machte jetzt Anstalten, dem Fluchtgenossen beizuspringen. Aber dazu war es bereits zu spät. Kuno konnte der Übermacht nicht länger trotzen. Ein Schwertstreich fällt ihn. Damit war der Treppenaufgang für die Wolfsburger frei. »Gandalf!« rief Roland alarmierend. Der Jüngling hatte begriffen, daß es jetzt nur noch die Flucht gab. Für Kuno kam jede Hilfe zu spät. Gandalf dreht sich um und rannte die Stufen hinauf. Brüllend stürmten die Wolfsburger hinter ihm her. Aber sie kamen nicht an ihn heran, denn jetzt griff Roland wieder ein. Er hatte sein Schwert aus der Hand gelegt und einen der beiden toten Wächter an Armen und Beinen gepackt. Als der junge Eisenberger die Mauerkrone erklamm, schleuderte Roland den Verfolgern den Körper des Postens entgegen. Der Zusammenprall brachte den Ansturm der Getreuen Wolframs ins Stocken. Die Männer torkeln zurück, behinderten sich dabei gegenseitig. Die kurze Atempause genügte Roland. Im Nu hatte er sein Schwert wieder an sich genommen. Dann griff er nach dem Arm des Mädchens. »Wir müssen springen!« rief er und deutete auf den Burggraben, dessen Wasser in der Dunkelheit kaum zu sehen war. »Da ... hinunter?« fragte Sigrid von Felsenstein zögernd und schaudernd. »Ja«, erwiderte Roland. Er zog das Mädchen neben sich auf die Brüstung der Mauer. Und bevor die junge Frau noch einen Einwand erheben konnte, faßte er sie um die Hüfte und stieß sich ab. Er sah noch, wie Gandalf von Eisenberg seinem Beispiel folgte. Da
schlug das Wasser bereits über ihm zusammen. * Volker vom Hohentwiel hielt sich noch im Gemach des Grafen auf, als der Lärm auf dem Burghof losbrach. Die schöne Wolflinde zuckte zusammen. »Was mag geschehen sein?« Volker zuckte die Achseln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte er, obgleich er sich den Grund des Aufruhrs lebhaft vorstellen konnte. Er merkte, wie die Unruhe in dem Mädchen wuchs. Wolflinde fürchtete wohl, daß ihr Vater jeden Augenblick den Raum betrat. Und da er jetzt ohnehin nicht beabsichtigte, das Kronenbruchstück in seinen Besitz zu bringen, sagte er: »Ich habe genug gesehen, meine Teuerste.« Auf diese Worte hatte die Grafentochter nur gewartet. Hastig legte sie das Fragment in die goldene Schatulle zurück, in der ihr Vater es aufbewahrte. Dann verbarg sie die Schatulle in der Truhe, der sie sie vorhin entnommen hatte. Volker und Wolflinde verließen das Gemach. Unendlich erleichtert atmete das Mädchen auf, als draußen auf dem Korridor niemand zu sehen war. Es würde also unbemerkt bleiben, daß sie das Gebot ihres Vaters mißachtet hatte. Der Lärm auf dem Burghof wurde immer stärker. Durch ein Korridorfenster blickte Volker nach unten, konnte jedoch aus diesem Blickwinkel nicht das geringste sehen. Er mußte sich schon selbst nach draußen bemühen. Und das tat er dann auch. Er kam unten an, als mehrere Wolfsburger gerade die Zugbrücke nach unten ließen. Ein Freudenblitz durchzuckte ihn. Diesem Tun konnte er nur entnehmen, daß Roland die Flucht gelungen war. Und den Geiseln hoffentlich auch.
Wenig später wußte er es genau: Er entdeckte Wolfram vom Hohen Tann unter den Männern, die wild gestikulierend und schimpfend umherstanden. So, als sei er vollkommen ahnungslos, schlenderte er auf den Burgherren zu und erkundigte sich nach dem Grund der Aufregung. »Das fragt Ihr noch?« grollte Wolfram. »Die Laus, die Ihr mir in den Pelz setztet, hat mehrere Gefangene befreit und ist mit ihnen geflohen!« »Ich verstehe nicht recht«, entgegnete Volker. »Von welcher Laus sprecht Ihr, Graf?« »Von Eurem sauberen Freund Roland!« »Er ist nicht mein Freund«, verleugnete Volker den Gefährten und lachte dabei innerlich. »Wirklich nicht?« Scharf sah ihn der Burgherr an. »Der Kerl hat seine Trunkenheit offenbar nur vorgetäuscht. Weiß ich, ob Ihr nicht tatsächlich mit ihm im Bunde seid und uns allen eine Komödie vorgespielt habt?« Volker blieb ganz ruhig. »Sagt selbst, Graf - wäre ich dann noch hier?« fragte er treuherzig. Diesem Einwand konnte sich Wolfram vom Hohen Tann nicht verschließen. Er brummte etwas Unverständliches und wandte sich dann an einen Trupp seiner Getreuen. »Fangt sie wieder ein!« herrschte er die Männer an. »Sucht die ganze nähere und weitere Umgebung ab. Und wagt nicht, ohne die Flüchtlinge zurückzukehren.« Teils zu Fuß, teils auf dem Rücken ihrer Pferde überquerten die Wolfsburger die Zugbrücke, um den Befehl ihres Herrn auszuführen. Volker war guten Mutes, daß ihre Suche erfolglos bleiben würde. Die Dunkelheit war eine natürliche Verbündete Rolands und der Befreiten. Und selbst wenn die Verfolger Fackeln mit sich führten, hatten die Flüchtlinge allerbeste Aussichten zu entkommen. Wenn sie einmal im Wald untergetaucht waren, hatten sie die Freiheit so gut wie sicher. Genauso war es dann auch. Nach Stunden kehrte der Suchtrupp
entmutigt zurück. Die Männer hatten keine Spur von Roland und den Geiseln gefunden. Wolfram vom Hohen Tann konnte schimpfen, brüllen und fluchen, solange er wollte. Letzten Endes jedoch mußte er sich mit den Tatsachen abfinden. Volker lächelte still vor sich hin. Für den Rest der Nacht konnte er sich beruhigt auf sein Schlaflager begeben. * Roland und die beiden Geiseln hatten keine so angenehme Nachtruhe. Als der Morgen graute, waren sie ziemlich erschöpft und froren zudem jämmerlich. Anstrengende Stunden lagen hinter ihnen. Nachdem sie es geschafft, hatten, aus dem Burggraben hinauszuklettern und in der Dunkelheit unterzutauchen, war Eile oberstes Gebot gewesen. Die Verfolger hatten sich an ihre Spuren geheftet und waren ihnen verschiedentlich teuflisch nahe gekommen. Nur die undurchdringliche Finsternis des Tanns, die auch Fackelschein nicht aufhellen konnte, hatte sie vor der Entdeckung geschützt. Und auch dann, als sie die Verfolger nicht mehr in ihrer Nähe wußten, hatte es noch kein Ruhen und Rasten gegeben. Nur zu gut wußten sie, daß sie viel Raum zwischen sich und die Wolfsburg legen mußten. Ohne Zweifel würden Graf Wolframs Getreue bei Sonnenaufgang erneut nach ihnen suchen. Und wenn ihnen die Dunkelheit nicht mehr hilfreich zur Seite stand ... So waren sie die ganze Nacht über marschiert, weiter und immer weiter, bis sie die Grenze des Hohen Tanns erreicht hatten. Und auch hier hatte Roland seinen beiden jungen Schützlingen noch kein Verschnaufen gegönnt. Der Treffpunkt, den er mit Volker vereinbart hatte, lag noch ein paar Meilen weiter entfernt. Der rote Ball der Sonne kroch bereits am Himmel empor, als sie endlich den Heuschober erreichten, den sich Roland und Volker auf dem Hinweg ausgesucht hatten. Sigrid von Felsenstein und Gandalf von Eisenberg ließen sich wie
Tote ins Heu sinken. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie fest eingeschlafen. Auch Roland verspürte das Bedürfnis nach Schlaf, widerstand der Versuchung jedoch. Einer von ihnen mußte wach bleiben, auf daß es nicht zu unangenehmen Überraschungen kam. Aber diese blieben dann doch aus. In der Ferne waren in winziger Größe die Gestalten einiger Bauern auszumachen, die ein Feld bestellten. Keiner von ihnen kam dem Schober jedoch nahe. Und auch von den Wolfsburgern zeigte sich niemand. Graf Wolframs Getreue vermuteten die Flüchtlinge wohl nicht in dieser Kante. Kein Wunder, denn der Heuschober lag mehrere Meilen von dem Weg entfernt, auf dem man üblicherweise von der Wolfsburg zum Felsenstein reiste. Es war fast Mittag inzwischen. Roland fing an, unruhig zu werden. Hatten Volker und die beiden Knappen Schwierigkeiten bekommen? Hatte sie der Graf vielleicht daran gehindert, die Burg zu verlassen? Er konnte argwöhnisch geworden sein. Und er konnte Volker natürlich auch beim Entwenden des Kronenfragments überrascht haben. Bald aber stellte sich heraus, daß Rolands Besorgnis unbegründet war. Drei Reiter tauchten am Horizont auf, die noch drei weitere Pferde mit sich führten. Als sie näher herankamen, erkannte Roland sie. Es waren Volker, Pierre und Louis. Nicht viel später hatten die drei den Heuschober erreicht. Die Wiedersehensfreude war groß. Und sie steigerte sich noch, als die Ankömmlinge den Wartenden Fleisch, Brot und frische Ziegenmilch in die Hände drückten. Aber ebenso groß wie sein Hunger und sein Durst war Rolands Neugier. »Hast du das Kronenfragment?« wollte er wissen. Volker lächelte. »Es war kein Problem. Kurz bevor wir aufbrachen, holte ich es mir einfach aus dem Gemach des Grafen. Und ich glaube noch nicht einmal, daß Wolflinde in Verdacht geraten wird, mir behilflich gewesen zu sein. Ich vermute eher, daß
Wolfram dich für den Dieb halten wird, wenn er den Verlust seines kostbaren Kleinods bemerkt.« »Mit diesem Verdacht kann ich leben«, antwortete Roland heiter. Mit Freude betrachtete er seinen Hengst, den Volker mitgebracht hatte. »Wie hast du dem Grafen Samum abgeschwatzt?« erkundigte er sich. »Und die beiden anderen Pferde auch?« »Letztere kaufte ich erst in einem Dorf ganz in der Nähe«, gab Volker Auskunft. »Und was deinen Hengst betrifft... Nun, ich sagte dem Grafen einfach, daß du mir in deiner grenzenlosen Hinterlist zehn Goldstücke entwendet hast. Und dafür nahm ich mir das Tier als Entschädigung.« Es gab noch manches zu erzählen. Aber das konnte genausogut unterwegs geschehen. Die Gefährten stiegen auf den Rücken der Pferde und machten sich auf den Weg zur Burg Sigmunds von Felsenstein. * Der Empfang auf Burg Felsenstein war überwältigend. Die Bewohner hatten die Ankömmlinge bereits erkannt, als sie noch den gewundenen Bergweg zum Burgtor hinaufritten. Als sie dann vor dem Tor ankamen, war dieses schon weit geöffnet. Alle Felsensteiner, Getreue, Gesinde und die Angehörigen der gräflichen Familie, standen Spalier und begrüßten Roland und seine Gefährten mit einem wahren Jubelsturm. Sigmund von Felsenstein trat ihnen entgegen. Nachdem Roland und Volker abgestiegen waren, umarmte er sie wie Brüder. »Niemals in meinem Leben war ich jemandem so dankbar wie Euch beiden«, sagte er bewegt. »Laßt's gut sein«, wehrte Volker vom Hohentwiel ab. Aber auch er hatte Mühe, seine Rührung nicht allzu deutlich sichtbar werden zu lassen.
»Wir sprechen uns gleich noch«, sagte der Graf. Dann wandte er sich der schönen Sigrid zu und herzte und küßte sie, um seiner übergroßen Freude Ausdruck zu verleihen. Währenddessen ließen die Felsensteiner die beiden Ritter begeistert hochleben und feierten sie wie Feldherren, die siegreich aus einer Schlacht zurückgekehrt waren. Und auch die beiden Knappen wurden in den Jubel mit einbezogen, obgleich sie wider ihren Willen bei der Ausführung des Befreiungsplans keine Rolle ge spielt hatten. Gandalf von Eisenberg kam sich angesichts der allgemeinen Freude sicherlich etwas verloren vor. Aber es war für Roland und Volker gut zu wissen, daß kein unfreundlicher Blick den Jüngling streifte. Wie es schien, hatte das gemeinsame Schicksal der beiden Geiseln die Feindschaft zwischen Felsensteinern und Eisenbergern vergessen lassen. Zumindest für den gegenwärtigen Zeitpunkt. So blieb nur zu hoffen, daß es auch in Zukunft dabei bleiben würde. Später, nachdem sich die Helden des Tages ausgiebig gelabt hatten, gesellte sich der Burgherr wieder zu ihnen. »Es treibt mich dazu, Euch meine Dankbarkeit zu erweisen«, erklärte er. »Gerne würde ich Euch mit einem Lehen belohnen!« Roland und Volker tauschten einen Blick, schüttelten dann einmütig den Kopf. »Sehr großzügig von Euch«, erkannte Volker an. »Aber wir sind fahrende Ritter und möchten uns nicht an einen festen Ort binden.« »Außerdem«, warf Roland ein, »hatten wir uns ja bereits vorher über unser Entgelt geeinigt!« Seine ganz leisen Befürchtungen, daß Sigmund in dieser Beziehung einen Rückzieher machen würde, bewahrheiteten sich zum Glück nicht. »Natürlich«, sagte der Graf, »Ottokars Krone ... Ich stehe selbstverständlich zu meinem Wort. Und ich hoffe zuversichtlich, daß Gernot von Eisenberg es ebenfalls tut.« Bei dieser Gelegenheit erfuhren die beiden Ritter, daß sich Gernot auf Sigmunds Ersuchen hin damit einverstanden erklärt hatte, auch
sein Kronenfragment herauszugeben. »Habt Ihr Bedenken wegen seiner Aufrichtigkeit?« erkundigte sich Roland. »In gewisser Weise schon«, gab der Graf zurück. »Mein Vetter Gernot ist mit der Hinterlist verschwägert. Aber ich werde ihm keine Gelegenheit geben, Euch zu hintergehen. Spielt er falsch, wird sein Sohn Gandalf so lange im Felsensteiner Kerker darben, bis der Wortbrüchige sein Versprechen einlöst.« Kurz darauf rief er einen seiner Getreuen herbei. »Reite zum Eisenberg, und laß meinen Vetter wissen, daß sich sein Sohn wohlbehalten in meiner Obhut befindet«, wies er den Mann an. »Er kann ihn hier auf Felsenstein in Empfang nehmen, wenn er mitbringt, was vereinbart wurde.« Der Getreue machte ein zweifelndes Gesicht. »Mit Verlaub! Glaubt Ihr wirklich, daß Gernot von Eisenberg die Mauern von Felsenstein betritt? Er wird mir vorschlagen, das Treffen wie gewöhnlich am Alten Stein stattfinden zu lassen.« »Gewiß«, sagte Sigmund, »das wird er vorschlagen. Aber du gehst nicht darauf ein, hörst du? Hier oder nirgendwo - ich gebe meinem Vetter keine andere Wahl. Und wenn er seinen Sohn Gandalf liebt...« »Ich habe verstanden.« Der Mann machte eine Verbeugung und empfahl sich. »Warten wir ab, wie sich Gernot tatsächlich entscheidet«, sagte der Graf. * Am späten Nachmittag des nächsten Tages meldeten die Burgwachen die Annäherung eines größeren Reitertrupps. Es wurde schnell erkennbar, daß es sich um Gernot von Eisenberg und eine ganze Schar seiner Getreuen handelte. Sigmund von Felsenstein lachte. »Offenbar mißtraut er meiner Gastfreundschaft. Nun, ich werde ihn eines Besseren belehren - wenn er es verdient!«
Um der Sicherheit willen versetzte auch Sigmund seine Getreuen in Bereitschaft. Man konnte sich seiner Sache schließlich niemals ganz sicher sein. Wenig später ritten die Eisenberger auf den Burghof. Sie gaben sich freundlich und ließen keinerlei feindlichen Absichten erkennen. Graf Sigmund vergalt dies, indem er Bierfässer herbeischaffen ließ und auch einen Ochsen für den Bratspieß spendierte. Gernot und Gandalf von Eisenberg hatten sich unterdessen begrüßt. Die Freude des Eisenberger Fürsten war groß und aufrecht. Das mußte selbst Roland zugeben, der gefühlsmäßig nicht viel Anziehendes am Wesen Graf Gernots finden konnte. Dann war es soweit. Sigmund forderte seinen Vetter auf, Roland sein Bruchstück der Herzogskrone zu übergeben. Der Eisenberger erklärte sich sofort einverstanden, versuchte nicht einmal, einen anderen Handel mit Roland abzuschließen. Er befahl einem dicklichen und irgendwie schmierigen Mann, den er als seinen Hausmeier Bodo vorgestellt hatte, das Kronenfragment zu holen. Bodo ging zu den Eisenberger Pferden hinüber und kam wenig später zurück. In den Händen hielt er eine Satteltasche. Dieser entnahm er ein mit Silber beschlagenes Eisenkästchen, das er seinem Herrn übergab. Langsam, beinahe feierlich öffnete Gernot das Kästchen. Das Kronenfragment wurde sichtbar. Die Strahlen der späten Nachmittagssonne fielen auf die Edelsteine und wurden wie blitzende Pfeile zurückgeworfen. Und das Gold glänzte so hell wie der Sonnenball selbst. Graf Gernot griff in das Kästchen hinein, nahm das Bruchstück an sich. Sekundenlang hielt er es fest, um aus tiefstem Herzen Abschied zu nehmen. Die Augen hatte er dabei geschlossen. Dann öffnete er die Augen wieder und reichte Roland das Fragment hinüber. »Nehmt es, Ritter«, sagte er mit langsamer Stimme. »Nehmt es, und haltet es stets in Ehren!« »Dafür leistet allein der Name König Artus' Gewähr«, erwiderte Roland und nahm das Kleinod an sich.
Das nun schon gewohnte Gefühl einer alles überragenden geistigen und körperlichen Kraft durchströmte ihn, kaum daß er das Kronenbruchstück berührte. Leider war es auch jetzt nur von kurzer Dauer und verflüchtigte sich wieder. Ein Wunsch erwachte in Roland. Er fühlte sich keineswegs würdig genug, die Krone für immer zu tragen. Die daraus erwachsende Verantwortung erschien ihm niederdrückend und kaum zu ertragen. Aber er wollte wenigstens einmal die ganze Kraft, die die Krone zu vermitteln vermochte, in sich spüren. Er griff nach dem Knappsack, den er sich um die Schulter gehängt hatte und wie seinen Augapfel hütete. In diesem Beutel hatte er die Fragmente Wolframs vom Hohen Tann und Sigmunds von Felsenstein untergebracht. Er öffnete den Knappsack, holte die beiden mit Samt umhüllten Bruchstücke hervor und wickelte sie aus. Dann schob er die drei Fragmente wie spielerisch auf der Tischplatte zusammen. Sie verschmolzen zu einer scheinbar lückenlosen Einheit. Mit brennenden Augen verfolgten die beiden Grafen sein Tun. Er konnte sich ihre Gedanken lebhaft vorstellen, als sie die vereinigte Krone so nahe vor sich sahen. Roland kümmerte sich nicht um ihre Blicke. Er umfaßte die drei Fragmente so fest, daß sie nicht verrutschen konnten und ihre Einheit verloren. Dann nahm er die Krone hoch und setzte sie sich kurz entschlossen aufs Haupt. Etwas Überraschendes geschah. Zwar spürte er auch jetzt die geistige und körperliche Kraft, die ihm die Krone vermittelte. Aber diese war keineswegs so überwältigend, wie er sich das vorgestellt hatte. Dafür offenbarte die Krone jedoch ein ganz anderes Wunder. Vor Rolands Augen erschien plötzlich ein grauer Schleier. Er konnte die beiden Grafen, Volker und den Eisenberger Hausmeier, die mit ihm am Tisch saßen, nicht mehr sehen. Aber schon ein paar Herzschläge später lichtete sich das geheimnisvolle Gespinst. Die vier Männer waren wieder da. Nein, das stimmte nicht. Nicht vier Männer sah er, sondern fünf. Und der fünfte Mann war er selbst!
Der Roland, den er auf irrwitzige Weise mit eigenen Augen sah, hatte die Herzogskrone nicht mehr auf dem Haupt. Er hielt sie in beiden Händen, stellte sie dann auf die Tischplatte zurück. »Nun?« fragte Volker. »Wie waren deine Empfindungen, mein Freund?« »Ganz anders als erwartet«, hörte Roland sein Ebenbild sagen. »Meine Empfindungen waren ... verwirrend.« »Verwirrend?« wiederholte der Hausmeier Bodo und kicherte. »Das möchte ich auch einmal erleben!« Und ehe es sich die anderen versahen, hatte er nach der Krone gegriffen und sie an sich genommen. Diese Unbotmäßigkeit verschlug Volker und Sigmund von Felsenstein die Sprache. Nicht aber Graf Gernot. »Was fällt dir ein, Kerl?« fuhr er seinen Getreuen an. »Wie kannst du es wagen, dich an der Krone eines Herzogs zu vergreifen?« Die harte Sprache fuhr dem Hausmeier schwer in die Glieder. Er zitterte, ließ dabei ungeschickt die Krone aus den Händen gleiten. Sie fiel zu Boden, war den Blicken Sigmunds, Volkers und des anderen Roland entzogen. Roland selbst jedoch konnte sie nach wie vor sehen. Seine Augen vermochten das lange Tischtuch, das bis auf den Boden hing, zu durchdringen. Und sie sahen auch die unheimlich geschickten Hände des Hausmeiers, der sich gebückt hatte. Statt die Krone hochzunehmen, packte der Eisenberger die Fragmente und ließ sie geschwind in der Satteltasche zu seinen Füßen verschwinden. Schon kamen seine Hände wieder zum Vorschein - mit drei Kronenteilen. Nur, daß es andere Fragmente waren als jene, die er zu Boden hatte fallen lassen. Sich aus seiner gebückten Stellung wieder aufrichtend, legte er die Bruchstücke aus der Satteltasche auf den Tisch zurück. »Ich... Ich bitte tausendmal um Vergebung, Herr!« stotterte er. »Es wird niemals wieder vorkommen, daß ich mich zu einer solchen Kühnheit hinreißen lasse!« Was Graf Gernot daraufhin sagte, hörte Roland nicht mehr. Das
graue Gespinst legte sich wieder vor seine Augen und offenbar auch über seine Ohren. Augenblicke später hatte sich der Schleier aufgelöst. Roland sah und hörte wieder alles, was um ihn herum vorging. Und er spürte die Krone auf seinem Haar. Er war nicht in der Lage, sich einen Reim auf das vorher Erlebte zu machen. Stirnrunzelnd setzte er die Krone ab und setzte sie auf die Tischplatte. »Ihr solltet die Krone nun wegpacken,«, grollte Gernot von Eisenberg, »bevor eine unbedachte Hand ihr einen Schaden zufügt.« Dann erhob er sich. »Es wird Zeit, daß wir aufbrechen«, sagte er zu Graf Sigmund. »Wie Ihr wißt, haben wir noch einen weiten Ritt vor uns!« Außer Roland erhoben sich auch alle anderen Männer. Der Hausmeier griff nach der Satteltasche, die er unter dem Tisch abgestellt hatte, und wandte sich zum Gehen. Roland saß einen Augenblick wie betäubt. Ihm war jetzt klargeworden, was die Krone vorhin bewirkt hatte: Sie hatte ihm mit ihren magischen Kräften die Zukunft gezeigt! Und sie hatte ihm auch vor Augen geführt, daß die Eisenberger in der Tat mit der Hinterlist verschwägert waren. Bevor der Fürst und sein Hausmeier die Reihen ihrer Getreuen erreichten, sprang Roland ebenfalls von seinem Sitz hoch. »Halt, Graf Gernot!« Gernot und Bodo blieben stehen, wandten sich zu ihm um. »Ritter Roland? Kann ich noch etwas für Euch tun?« Der Eisenberger lächelte scheinheilig. »Ihr seid ein betrügerischer Schurke, Graf Gernot!« sagte Roland. Diese schwerwiegenden Worte setzten nicht nur die Eisenberger in Erstaunen. Auch Sigmund vom Felsenstein und Volker vom Hohentwiel waren verblüfft. »Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, Ritter, aber das gibt Euch nicht das Recht, mich zu verunglimpfen!« gab sich Gernot empört. »Nehmt sofort Eure ungeheuerliche Unterstellung zurück!«
»Ich denke nicht daran«, erwiderte Roland unerschütterlich. »Was wahr ist, muß wahr bleiben.« »Auf was stützt sich Eure Behauptung, Ritter Roland?« schaltete sich jetzt Sigmund von Felsenstein ein. »Auf die Tatsache, daß dieser Mensch...«, Roland deutete auf den dicklichen Hausmeier, »... Herzog Ottokars Krone gestohlen hat!« »Ihr müßt wahnsinnig geworden sein!« entrüstete sich Graf Gernot. »Die Krone liegt dort auf dem Tisch!« »Keineswegs!« sagte Roland. »Was dort auf dem Tisch liegt, sind gut gemachte Fälschungen. Die echten Kronenfragmente hat Euer Hausmeier in seiner Satteltasche!« Das Streitgespräch wurde mit großer Stimmgewalt ausgetragen. Alle Anwesenden auf dem Burghof waren inzwischen aufmerksam geworden - die Felsensteiner Getreuen ebenso wie die Männer vom Eisenberg. Aller Augen richteten sich auf den Hausmeier. »Stimmt das, was Ritter Roland sagt?« fragte Sigmund von Felsenstein scharf. »Selbstverständlich ... nicht«, leugnete Bodo und blickte seinen Herrn wie um Hilfe heischend an. Roland trat auf ihn zu. »Wenn Ihr nichts zu verbergen habt, dann öffnet die Tasche!« verlangte er. »Nein«, sagte Graf Gernot. »Es ist unter unserer Würde, solche wirrköpfigen Unterstellungen zu entkräften. Und wer dennoch darauf besteht, bekommt es mit mir zu tun!« Mit diesen Worten zückte Gernot von Eisenberg sein Schwert und stellte sich wie schützend vor seinen Hausmeier. Seine Handlungsweise blieb nicht ohne Folgen. Alle Anwesenden nahmen eine gespannte Haltung an, Felsensteiner und Eisenberger gleichermaßen. Das Einvernehmen der Männer, das soeben noch bei Bier, Met und saftigem Ochsenbraten Triumphe gefeiert hatte, war schlagartig dahin. Auch Sigmund von Felsenstein wollte nach seinem Schwert greifen, aber Roland kam ihm zuvor.
»Laßt mich das regeln, Graf Sigmund«, sagte er. »Schließlich war ich es auch, der Euren Vetter des Betruges beschuldigte!« Sigmund nickte und ließ seinen Schwertknauf wieder los. Roland hingegen zückte seine Waffe. »Wenn ich Euch besiege, sind Eure Verdächtigungen gegenstandslos, und wir bekommen freien Abzug!« erklärte Gernot von Eisenberg. »Einverstanden«, bestätigte Roland im Namen aller Felsensteiner. Schon griff der Graf an. Jahrelange Erfahrung machten ihn zu einem äußerst gefährlichen Widersacher. Aber auch Roland verstand es, mit dem Schwert umzugehen. Fast spielerisch wehrte er die Attacken des Herzogs ab. Dann ging er zum Gegenangriff über. Schlagend, stoßend und fintierend trieb er Gernot von Eisenberg zurück. Dabei verschaffte er sich eine Atempause, die er ganz überraschend nutzte. Er führte einen gänzlich unerwarteten Hieb zur Seite, dorthin, wo Bodo, der Hausmeier, stand. Seine Klinge traf die Satteltasche des dicklichen Mannes und trennte sie in der Mitte durch. Die drei Fragmente von Ottokars Herzogskrone polterten auf die Steine des Burghofes. Alle Anwesenden starrten auf die Bruchstücke. Tiefes Schweigen breitete sich aus. Sigmund von Felsenstein war es, der es schließlich brach. Zorn färbte sein Gesicht rot. Voller Abscheu blickte er seinen Vetter an. »Hebe dich von hinnen, Gernot!« grollte er. »Ich wünsche, dich hier nie wiederzusehen, denn du bist keinen Deut besser als Wolfram!« Einen Augenblick sah es so aus, als ob Gernot von Eisenberg aufbegehren wolle. Das tat er dann aber doch nicht. Ohne Roland oder Sigmund noch einen Blick zu gönnen, steckte er sein Schwert weg und ging zu seinen Getreuen hinüber. Wenig später verließen alle Eisenberger die Burg. Der Streit um die Krone Herzog Ottokars war entschieden. Und da
Roland das Wahrzeichen der Macht außer Landes bringen würde, bestand Hoffnung, daß der Streit auch nicht wieder aufflackerte. Ritter Roland hatte eine weitere Aufgabe gelöst, die ihm König Artus gestellt hatte. Somit war Roland seinem Wunsch, Ritter der Tafelrunde zu werden, einen großen Schritt nähergekommen.
ENDE
Gebannt lauschten die Anwesenden im Rittersaal von Schloß Camelot. Volker vom Hohentwiel, der berühmte Minnesänger, gab seine neue Ballade zum Besten. Die Ballade vom
Überfall im
Morgengrauen
Es war eine Mär von Frevel und Mord, von Verrat und Schrecken, von Blut und Met - aber auch von Sinnesfreuden. Sie handelte von Wolfram, dem Hünen mit dem Morgenstern. Von Räuber Botho, der auf gar schreckliche Weise zum Ritter geschlagen wurde. Von der finsteren Höllenklamm mit ihrem so grauenvollen Geheimnis. Von Prinzessin Charlotte und dem rätselhaften Verschwinden ihrer Mitgift. Und von Ritter Roland, der im Auftrag des Königs der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen soll... Liebe Leser, holen Sie sich in 14 Tagen diesen Band 7! Joachim Honnef wird Sie spannend unterhalten.