Die Glastropfenmaschine (Hans Bach)
Illustrationen von Karl Fischer ISBN 3-355-00620-3 (c) Verlag Neues Leben, Berlin 1...
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Die Glastropfenmaschine (Hans Bach)
Illustrationen von Karl Fischer ISBN 3-355-00620-3 (c) Verlag Neues Leben, Berlin 1988 Lizenz Nr. 303(305/67/88) LSV 7503 Einband: Karl Fischer Typographie: H.-Jürgen Malik Schrift: 10p Garamond Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Poßneck V15/30 Bestell-Nr. 644 416 8 00870
AUFBRUCH Der steinerne Rattenkopf Reik Regenbach blickte zu den Mädchen hinüber. Sie saßen zu viert auf einer Doppelbank der Straßenbahn, die zum Kalkwerk Rüdersdorf fuhr. Maria und Anja wandten Reik die Gesichter zu, während Jana und Janine in Fahrtrichtung sahen. Anja erzählte, und die anderen drei lachten fast ununterbrochen. Sie schien in Hochform zu sein. Wegen Anja Winterlicht saß Reik in der Bahn. Ihretwegen war er bereit, einen halben Tag durch den Kalk zu laufen und sich etwas über Saurier und Sedimente anzuhören. Frau Seiffert, die Klassenleiterin, stand ganz vorn, und ihr Blick wurde nur wach, wenn sie eine Haltestelle erreichten. Sie hatte die Exkursion organisiert. Wer kein Interesse dafür zeigte, machte in einer anderen Klasse den Wandertag mit. Verwundert hatte sie Reik angesehen, als er sich für Rüdersdorf meldete. Jana und Janine kicherten, weil sie wußten, warum er plötzlich für die Paläontologie schwärmte. Reik stand auf dem hinteren Perron. Er war auf sich selbst wütend, denn Anja hatte ihn behandelt, als würde sie ihn überhaupt nicht kennen. "Seht mal, da", hörte Reik und sah Anjas Finger, der auf einen grünen Skoda wies, "ich wette . . ." Reik versuchte zu erfahren, was Anja wettete, aber er verstand kein Wort. Nur als Jana "Du spinnst ja!" rief, dachte er: Sie spinnt heute tatsächlich. Hoffentlich fällt sie rein mit ihrer Wette.
Die Straßenbahn hielt. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern verließ den Wagen. Ein älterer Mann, bebrillt und mit schwarzem Regenschirm unter dem Arm, stieg zu. Er räusperte sich. Anja hob den Kopf und blickte in seine Richtung. Der Mann blinzelte dem Mädchen zu. Dann wandte er sich gleichmütig ab, trat an die Zahlbox und zog sich einen Fahrschein. Er betrachtete ihn von allen Seiten, begann den spärlichen Text zu studieren, und doch war es Reik, als wenn die Aufmerksamkeit des Fremden nur Anja galt. In Reik erwachte ein nie gekanntes Gefühl der Eifersucht. Sie kamen an einer Kreuzung vorbei, und Reik hörte, wie die drei Mädchen, die mit Anja gewettet hatten, erstaunte Rufe ausstießen. Sie preßten die Gesichter gegen die Scheibe, und als er zu erkennen versuchte, was es gab, konnte er nur ein grünes Autodach sehen. Die Kreuzung blieb hinter ihnen zurück. Die Mädchen verstummten. Sie starrten vor sich hin. Nur manchmal hob eine von ihnen den Kopf, wollte Anja etwas fragen, aber schwieg dann doch. Schweigsam verlief die weitere Fahrt. Gemächlich zogen die schmalen Straßen von Rüdersdorf vorüber. Als sie ausstiegen, erwartete sie ein Mann mit dichtem schwarzem Bart und ebensolchen Haaren. Er trug eine kleine runde Brille, die in seinem Gesicht verloren wirkte. Jeans, kragenloser Pullover und Wildlederjacke und dazu die sonnengebräunte Haut verliehen ihm das Aussehen eines Menschen, der viel unterwegs ist, der kaum an seinem Schreibtisch anzutreffen ist. "Ich bin der Paläontologe Doktor Berksassen", stellte er sich vor, "mit dem ihr verabredet seid." Frau Seiffert gab ihm die Hand und errötete leicht. Sie gingen einen "inoffiziellen Weg", wie Berksassen ihnen sagte, kamen in die Welt des Kalkbruchs. Hier war alles weiß, weißgrau oder grauschwarz. Bläulich lagen die Schatten der hochaufragenden Plattenberge auf den Pfaden. Manchmal glaubten sie in einer Winterlandschaft zu sein, und dann wieder fühlten sie sich wie in einem Hochgebirge. "Vor zweihundertzehn Millionen Jahren", erklärte Berksassen, "befand sich hier ein gewaltiges Meer. Fremdartige Reptilien, riesige Schildkröten und Fische mit den ungewöhnlichsten Auswüchsen durchfurchten die Wasser, lieferten sich Kämpfe auf Leben und Tod oder bewegten sich träge über den Grund. Und das, was euch jetzt wie ein kleines Gebirge vorkommt, ist aus den Schalen der toten Muscheln entstanden, die sich Schicht für Schicht übereinander legten. Am schlimmsten waren die Schildkröten wie Triassuchelys und Archeion dran. Sicher wurden sie von allen gejagt und ver . . ."
"Das glaube ich nicht", unterbrach ihn Anja ruhig, "niemand fing Archeion ungestraft. Sie waren paarweise unterwegs. Triassuchelys in Gruppen. Und kam ihnen jemand zu nahe, dann zogen sie den Kopf ein und benutzten ihren Panzer als Waffe. Was sie so berührten, zersägten sie einfach." "Ein phantasievolles Mädchen . . .", begann Berksassen lachend, ohne den Satz zu vollenden. Noch während er sie ansah, Anja wich seinem Blick nicht aus, verschwand das Lächeln, und etwas wie Bestürzung oder tiefe Nachdenklichkeit breitete sich in seinem Gesicht aus. "Na ja", sagte er endlich, während er sich mit dem Taschentuch einige Schweißperlen von der Stirn wischte, "warum auch nicht. Es würde vieles erklären . . ., sehr vieles sogar." Reik hatte die Szene beobachtet. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Anja, seine Klassenkameradin Anja Winterlicht, belehrt einem Wissenschaftler, unterbricht ihn und verwirrt ihn mit einem Blick ihrer Augen. Der Pfad wand sich um den Berg, führte höher hinauf. Sie erreichten einen stillgelegten Teil des Kalkwerks. Junge Bäume, Stauden und frische Gräser wiegten sich im Wind. Jana, die etwas zurückblieb, ging jetzt neben Reik her. Da fiel dem Jungen die Wette aus der Straßenbahn ein. "Jana", sagte er hastig, "in der Straßenbahn, um was habt ihr gewettet?" "Frag sie doch selbst", antwortete Jana, "du bist doch ihretwegen hier." "Kann man sich nicht mal irren", Reik lächelte Jana zu, "bei mir ist sie weg vom Fenster. Wie die sich aufführt. . ., ohne mich." "Weißt du", Jana spielte nervös mit dem Trageriemen ihrer kleinen Tasche, "das war verrückt. Du wirst es nicht glauben. Anja sagte, daß man Autos hypnotisieren kann, und die bleiben dann einfach stehen. Und da kam der grüne Skoda. Sie starrte ihn an, murmelte etwas, und . . ., und mitten auf der Kreuzung stand der tatsächlich. Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht gesehen hätte." . Reik antwortete nichts, und Jana ging wieder schneller, um Janine einzuholen. Er versuchte sich einzureden, daß es ein Zufall war. Oder es hätte auch ein Auto an der Kreuzung stehen können, und ein ähnliches war vorbeigekommen. Nur, daß Anja überhaupt so etwas sagte, das paßte nicht zu ihr. Es mußte etwas mit ihr los sein. Oder sie tat das alles, um ihn zu testen. Sie wollte vielleicht sehen, ob er auch zu ihr hielt, wenn die anderen gegen sie waren. "Sie stellt mich auf die Probe", murmelte Reik, aber da fiel ihm der Bebrillte und dessen eigenartiges Verhalten ein. Der Mann mit dem Regenschirm war auch am Kalkwerk ausgestiegen. Er hatte ungeschickt Berksassen angerempelt und war kopfschüttelnd auf die Straße
gegangen, und dann . . . Wo war er dann geblieben? Er war einfach weggewesen. Reik hob den Kopf, suchte Anja. Sie ging ein wenig abseits und hielt ein Notizbuch in der Hand. Reik beschleunigte seine Schritte. Er wollte ihr zeigen, daß sie sich trotz allem auf ihn verlassen konnte. Als er nahe heran war, sah er, daß es kein Notizbuch, sondern ein grünes Plättchen war. Etwas größer als eines dieser plastenen Lesezeichen. Reik war schon dicht hinter Anja. Er schaute ihr über die Schulter. Sein Mund öffnete sich, und seine Augen blickten fassungslos. Als begeisterter Elektronikbastler wußte er, daß er etwas Einmaliges sah. Auf diesem Plättchen war vieles gleichzeitig. Die Landschaft wurde düsterrot abgebildet. Da, wo die anderen liefen, wurden sie von phosphoreszierenden Strudeln und glitzernden Entladungen umtost. 7 Gleichzeitig aber wogte hier ein Meer. Träge, hellgrün mit kleinen, gekräuselten Wellen. Merkwürdige große Echsen zogen als Schwärm dahin. Das Meer wurde blaß, und statt dessen dehnten sich Sümpfe von Horizont zu Horizont aus. Und dann erloschen alle Bilder, und ein seltsamer Flugkörper tauchte auf, kam rasch näher und zerplatzte. Es regnete glühendes Metall. Die dunkelrote Landschaft Rüdersdorf erschien nun erneut, und als zuckende blaue Punkte wurden einige der Wrackteile von jenem geborstenen Flugkörper sichtbar. Reik bewegte den Kopf. Da erglänzte ein weißer Punkt in der Mitte des Bildes, und aus dem Punkt wurde Reiks Gesicht. Mit einer schnellen, wenn auch ruhigen Bewegung steckte Anja das Plättchen in eine der vier Blusentaschen. Übrigens hatte Reik diese Bluse noch nie gesehen, die aus einem metallglänzenden, groben Material gefertigt war. "Du kannst dich auf mich verlassen", begann Reik, "das wirst du wohl schon gemerkt haben. Ich bin nur deinetwegen hier .. ." "So", unterbrach ihn Anja und sah ihn einen Augenblick starr an, "ach so ... Meinethalben. Unserer Säugetiernatur wegen. Meinst du das?" Sie lächelte weich, schüttelte ein wenig den Kopf. "Was ist?" Reik schluckte. "Hör mal, du hast wohl gestern versehentlich ein Biolexikon gefressen oder so was? Kannst du auch reden wie immer? Oder ziehst du die Show wegen der EOS ab?" Er wollte nach dem Plättchen fragen, aber Anja ließ ihn einfach stehen und lief zu den anderen. "Anja", rief ihr Reik hinterher, aber nur Jana drehte sich um, kicherte und schrie ihm ein Wort zu, das er nicht verstand. Reik schaute zu Boden. Da fiel sein Blick auf einen seltsam geformten Stein. Der war dunkelblau, von einer rötlichen Brandspur überzogen und hatte die Form eines großen Rattenkopfes. Vor ihm lag ein steinerner
Rattenkopf. Reik bückte sich, hob ihn auf. Der Stein war schwer und unhandlich. Reik steckte ihn in seine Umhängetasche, die er sorgfältig verschloß. Ich werde ihn anmalen, dachte er, und morgen schenke ich ihn Anja. Und ich werde raufschreiben: von einem Saurier für eine nette Schildkröte. Oder so etwas Ähnliches. Langsam ging Reik weiter. Der Tasche entströmte eine ungewöhnliche Kälte, die mit der Zeit zuzunehmen schien. Reik schob die Tasche etwas zurück. Er wollte jetzt schneller gehen, wollte Anja einholen und stumm neben ihr herlaufen, aber er kam nicht dazu. "Ich weiß doch, daß du zu mir hältst", erklang es dicht neben Reik, der zusammenzuckte und herumfuhr. Er blickte direkt in Anjas Augen, die unmittelbar vor ihm stand. Sie lächelte ihm zu. "Vorhin, das war dumm", fuhr sie fort, "aber wir sind Verliebte, und da streitet man sich auch manchmal." 8 Reik sah nur ihre Augen. Er gewahrte zum erstenmal - vielleicht lag das an der Sonne -, daß sie fast hellgrüne Augen hatte. Er war immer der Ansicht gewesen, daß ihre Augenfarbe hellbraun war. "Du redest so komisches Zeug", sagte er, "entweder du hast zuviel Populärwissenschaft im Fernsehen gesehen, oder.. ., oder es ist dein Ziel, aus mir einen Clown zu machen. Versuch einfach mal wie gestern zu sein." "Du brauchst den Stein nicht anzumalen", Anja lächelte noch immer, "gib mir den Rattenkopf jetzt." Mechanisch faßte Reik zur Tasche, wollte den Stein herausholen. Eilig zog er die Hand zurück, denn der Stein war glühendheiß. Dabei bemerkte Reik nicht einmal, daß auf der Körperseite große Kälte durch die Tasche drang. "Das Ding ist heiß", sagte er kopfschüttelnd, "komm doch am Nachmittag vorbei und hole ihn ab." "Heiß", wiederholte Anja, und eine Veränderung ging in ihr vor, "so - also heiß." Ein seltsames Glitzern entstand in ihren Augen. Die Vormittagssonne spiegelte sich in ihren Pupillen, die zu zwei spitzen, schmerzenden Lichtpunkten wurden. Reik blinzelte geblendet. "Tauschen wir", schlug Anja vor, "ich kenne eine Versteinerung, die noch keinen Namen hat. Gib ihr deinen Namen, und du bist berühmt. Die anderen, die Lehrer, alle werden dich bewundern. Ist das nicht ein guter Tausch gegen diesen heißen Rattenkopf?" "Ich weiß etwas Besseres", sagte Reik und lächelte, wenn auch nicht glücklich, denn diese geschäftsmäßige Art von Anja war ihm bisher
unbekannt, "gib mir das Videospiel aus deiner Blusentasche. Für drei Tage. Dann hast du den Rattenkopf." Anja hob die Rechte, deutete nach vorn. Der Pfad, dem die Kinder unter Berksassens Führung folgten, schlängelte sich immer noch bergauf. Er verlief sich auf einer steinigen, leblosen Fläche, die etwa hundert Meter voraus wie abgeschnitten endete. Die Abbruchstelle war mit einem Stahlseil gesichert. Wie tief es dort hinunterging, konnte man nicht sehen, nur lagen drei- bis vierhundert Meter Luftlinie zwischen der Hochfläche hier und ihrer Fortsetzung auf der anderen Seite. "Du siehst den Abgrund", Anjas Gesicht blieb unbeweglich, während sie die Worte sprach, "und ich sage dir, daß dich der Stein in die Tiefe ziehen wird, wenn du ihn dann noch in der Tasche trägst. Nimm dies als Warnung." "Und dich zieht er natürlich nicht in die Tiefe", spottete Reik, "du kannst ja auch Autos hypnotisieren. Ich finde so was blöd. In Ordnung, mit Janas Logik ist es nicht weit her, aber sie so zu verspotten . .. Ich bin ziemlich froh, daß ich diese Staubexpedition mitgemacht habe. Jetzt weiß ich wenigstens, wie du auch sein kannst." Er ließ Anja stehen und lief los. Schnell holte er die anderen ein, ging an Frau Seiffert vorbei und gehörte, als sie bei den Stahlseilen angekommen waren, zur Spitzengruppe. Der Pfad war jetzt eingeklemmt zwischen einigen Blöcken und dem Seil. Mindestens hundert Meter unter ihnen wanden sich winzige Schienenstränge durch die Tiefe der Schlucht. Einige Loren und ein hölzerner Schuppen waren zu sehen. Zwei mächtige Bagger stützten sich auf ihre stählernen Fäuste, und dazwischen stand klein und verloren jener beschirmte Mann aus der Straßenbahn. Er hob die Hand gegen die Sonne und blickte hoch. Berksassen stand mit dem Rücken zum Seil und gab acht, daß die Kinder unbeschadet ihren Weg fortsetzen konnten. "Vorsicht", mahnte er, "geht vorsichtig. Immer einzeln, Freunde. Immer einzeln." Als Reik sich dem Seil näherte, dachte er voll Ingrimm an das, was Anja gesagt hatte. Sie hatte ihm gedroht. Sie war egoistisch. Reik erreichte den Abgrund und fühlte in dem Augenblick, wie sich eine Kalksteinplatte unter seinem Fuß löste. Es zog ihn gegen das Seil. Berksassen faßte den wegrutschenden Reik und stellte ihn mit einem harten Griff auf die Füße. Reik sah den Wissenschaftler groß an. In der Tiefe schlug die Platte auf. "Schon in Ordnung", sagte der Paläontologe, "nichts passiert. Gar nichts." Niemand, nicht einmal Frau Seiffert, hatte die Szene registriert. Es war alles so schnell gegangen.
Es war fast Mittag, als die Gruppe die S-Bahn verließ. Einige hatten Muscheln und Schnecken gefunden, und Berksassen hatte ihnen für den Biologieunterricht einen Trilobiten und einen Ammoniten mitgegeben. Die würden einen Ehrenplatz bekommen. "Tust du mir einen Gefallen", bat Frau Seiffert zum Abschluß Reik, "du kannst doch schnell mal an der Schule vorbeigehen und diesen Schlüssel abliefern. Dann kann ich mit der nächsten Bahn nach Hause fahren." "In Ordnung", sagte Reik nur und steckte den Schlüssel ein. Er verließ als letzter den Bahnhof. Er blinzelte in die Sonne. Nachdenklich musterte er die Büsche, die den Weg vom Bahnhof bis zu den Neubaublöcken säumten. Jeder hat mal seinen miesen Tag, sagte sich Reik und dachte an Anja, "aber sie hat doch braune Augen." Er sah sie vor sich, wie sie in die Schule kam. Immer trug sie die langen schwarzen Haare offen, machte nicht all die müden Moden der anderen mit. Sie hatte Geschmack und einen tollen Gerechtigkeitssinn. Rüdersdorf schien plötzlich endlos weit weg zu sein, und wäre nicht 10 die Kühle des Steines in seiner Tasche, Reik hätte gemeint, daß das alles nie stattgefunden hatte. Reik durchquerte die kleine Gartenanlage und war plötzlich überzeugt, daß Anja am Nachmittag zu ihm kommen würde. Er bog in die Amselstraße ein, wo grau und mächtig das große Schulgebäude stand. Es war still in der Schule. Der feine Kies knirschte unter Reiks Schritten, und in einigen Fenstern spiegelte sich die Sonne. In der schattigen Vorhalle des Schulgebäudes traf er auf den Stellvertretenden Direktor. Herr Gerstfeld beeindruckte alle. Er war über zwei Meter groß, breitschultrig und wirkte wie ein gut durchtrainierter Sportler. Seine Nase war breit, die Augen waren hinter einer dicken Brille versteckt und die sandfarbenen Haare glatt nach hinten gekämmt. "Guten Tag, Herr Gerstfeld", sagte Reik, "ich sollte nur einen Schlüssel abgeben." Herr Gerstfeld machte eine einladende Handbewegung, und sie gingen, den eigenen hallenden Schritten lauschend, in das Lehrerzimmer. Reik zog den Schlüssel aus der Tasche und legte ihn auf einen Tisch. "Ich muß gehen", sagte er, durch Gerstfelds Schweigen beunruhigt, "in Rüdersdorf war alles in Ordnung." "Wenn du jetzt losrennst", warnte Herr Gerstfeld, "fangen sie dich ab und haben dich. Darauf warten sie nur." Nach diesen rätselhaften Worten durchquerte er das Lehrerzimmer und stellte sich ans Fenster. Er beobachtete den leeren Hof. "Was wirst du tun?" wollte er wissen, und
seine dunkle, dröhnende Stimme zerschnitt die Stille. "Wirst du ihr tatsächlich den Rattenkopf geben? Wie willst du dich ihr widersetzen? Das hältst du nicht durch. Sie wird ihn sich einfach holen. Du kommst nicht gegen sie an. Was dann geschieht, wenn sie ihn hat, kannst du dir nicht vorstellen. Nicht in deinen schrecklichsten Träumen. Du darfst ihn nie hergeben!" "Ich . . .", begann Reik verwundert und brach sofort wieder ab. Er begriff gar nichts mehr. Woher wußte Gerstfeld von dem Stein? Und was hatte es mit diesem auf sich? Reik faßte in die Tasche, wollte den verfluchten Rattenkopf herausholen und auf den Tisch knallen. Und dann würde er loslaufen. Doch wieder schlug ihm eine Hitzewelle entgegen, so daß er die Hand eilig zurückzog. "Na, was ist denn?" Herr Gerstfeld lachte. "Ich denke, du willst ihn loswerden? Es gefällt ihm wohl bei dir?" Der Stellvertretende Direktor schien sich an etwas zu erinnern. "Ach ja", sagte er, "siehst du, das hätte ich fast vergessen. Frau Winterlicht rief heute morgen an: Ihre Tochter hat Fieber und wird also erst am Montag wieder zur Schule kommen." "Aber", entgegnete Reik erschrocken, "sie war doch in Rüders . . ., ich 11 meine, ich habe doch mit ihr. . . Können Sie mir das nicht erklären, damit ich es auch verstehe?" ,Ja, ja", sagte Herr Gerstfeld, "verstehen . .. Du wirst es." Er wandte sich dem Jungen zu, musterte ihn freundlich durch seine dicken Brillengläser. "Fall aber nicht gleich um", fuhr er fort, "du mußt dich noch ein Weilchen gedulden. Doch du wirst alles erfahren. Alles." "Und wie kann sich Anja den Rattenkopf holen", fragte Reik mutiger als zuvor, "wenn sie im Bett liegt und Fieber hat?" "Das ist es doch", erklärte Herr Gerstfeld, "eben weil Anja krank ist, wird sie, die andere, sich den Stein holen. Aber das ist wie bei höherer Mathematik. Man versteht sie nicht, wenn man nicht das kleine Einmaleins weiß. Und du mußt sogar noch lernen, was eins plus eins ist. Ich will dir nur soviel sagen: Sie haben sich verrechnet. Weil sie ohne Hoffnung und Zukunft, ohne Liebe und Freundschaft leben, können sie nicht wissen, wie freundliche Gedanken und Zuneigung wirken. Sie sind umgeben von kaltem Licht und sprödem Glas. Und sie wähnen sich allmächtig. Ja ... Und plötzlich versagt ihre Kunst, denn der Rattenkopf findet dich sympathisch. Er möchte bei dir bleiben. Und wir wollen das auch. Und das kann eine glückliche Wendung für euch und ein schlimmes Unheil für sie sein. Versuche das zu verstehen; mehr darf ich dir nicht sagen, selbst wenn ich wollte." Er drehte sich wieder weg,
beobachtete weiter den Schulhof. "Na bitte", sagte er unerwartet, "etwas anderes blieb ihnen nicht." Reik durchquerte den Raum, stellte sich neben Herrn Gerstfeld ans Fenster. Er betrachtete ebenfalls das große Schultor, ohne daß er jedoch etwas Ungewöhnliches entdecken konnte. Die Sekunden verstrichen, wurden zu Minuten. Da hörte Reik einen nadelfeinen Ton, der allmählich anschwoll und zu einer gellenden Sirene wurde. Noch nie hatte er eine solche Sirene gehört. Vielleicht ein Krankenwagen, dachte er. Da dröhnte auch schon ein Automotor, und Räder quietschten. Ein Fahrzeug kam durch den Torbogen, stellte sich quer. Die vier Türen des Funkstreifenwagens flogen auf, und fünf Polizisten sprangen heraus. Und ihnen folgte Anja Winterlicht. Obwohl das alles in Sekunden geschah, gewahrte Reik, daß dieses Auto größer war als ein normaler Funkstreifenwagen. Zudem waren die Farben grell und spiegelten die Sonne hart wider. Die eingeschalteten Scheinwerfer durchdrangen wie Geisterfinger sogar das Mittagslicht der Sonne und blieben starr auf die Fenster des Lehrerzimmers gerichtet. Anja hob die Rechte und deutete auf das Lehrerzimmer. "Aber ...", stieß Reik hilflos hervor. "Später", raunte ihm Herr Gerstfeld zu. 12 Reik fühlte sich hochgehoben. Wie Schemen glitten die Tische des Lehrerzimmers vorüber. Kaum aber, daß Gerstfeld und Reik den langen Korridor erreichten, öffnete sich ein Fenster. Und dann standen sie auch schon inmitten der Pflanzen, die hinter der Schule wuchsen. Herr Gerstfeld ließ Reik nicht los. Sie liefen durch die Kleingartensiedlung und waren einen Augenblick später in der Pirolstraße. Als Herr Gerstfeld Reik freigab, standen sie auf dem Gelände der Kinderkrippe. Schaukeln, Rutschbahnen und hölzerne Elefanten umgaben sie, eine kleine Eisenbahn war da, und ein Schaukelgerüst reckte sich vor ihnen auf. Dahinter lag das gelbe, einstöckige Gebäude. Herr Gerstfeld ging darauf zu, und Reik folgte ihm benommen. Der Stellvertretende Direktor machte entschlossen die Tür auf. Es roch nach Pudding und nach Kindern. Irgendwo klapperten Kochtopfdeckel, und jemand sang ein Lied dabei. Im Korridor hingen farbige Märchenfiguren an den Wänden. Alles war klein, die Stühle und die Tische. Es gab Blumenvasen mit Margeriten. Reik blieb stehen, sah sich staunend um. "Schlaf nicht ein", flüsterte Herr Gerstfeld, "das wollen sie doch nur." Er ging voran und verharrte schließlich vor einer Tür, auf der Betten abgebildet waren. Lautlos öffnete er. Sie waren im Schlafraum der Kinder.
Die Kleinen lagen auf den Betten, die reihenweise aufgestellt wa13 ren. Einige hatten die Köpfe gereckt. Stupsnasen, die in die Luft ragten. Gerötete Schlafwangen. Halboffene Münder. Lächeln im Schlaf. Herr Gerstfeld zog Reik mit sich, und sie verbargen sich hinter einigen Rankenpflanzen. Was bedeutet das, fragte sich Reik, seit wann bin ich auf der Flucht vor der Polizei. . .? Weiter kam Reik nicht in seinen Gedanken, denn in dem Augenblick tauchte einer der Bewaffneten vor der Glastür, die den Raum vom Garten trennte, auf. Das war kein Polizist. Glashelle, völlig farblose Augen starrten suchend in alle Richtungen. Das marmorweiße Gesicht lag im Schatten der Mütze, und der Mund war zu einem Lächeln gefroren, das fern jedem Mitleid war. Die Uniform, die Reik am Anfang grün erschienen war, schimmerte wie getriebenes Metall, das alle Farben annehmen konnte. Die Waffe war gläsern durchscheinend, und nur ihre Spitze funkelte blutigrot. Der Verfolger stierte in den Schlafraum und wischte sich immer wieder über die Augen. Schließlich stolperte er, wobei er mit einem Erstickungsanfall zu kämpfen hatte, rücklings die zwei flachen Stufen hinunter und rannte entsetzt fort. Reik zitterte am ganzen Körper. "Still", sagte Herr Gerstfeld leise, "es ist alles in Ordnung. Gegen den gewaltigen Strom der freundlichen Kinderträume sind sie machtlos. Sie vergehen hier. Du hast es gesehen. Der wäre fast erstickt, als er hineinsah. Aber wir müssen weiter, denn bald werden die Kinder geweckt, und es gäbe ein heilloses Durcheinander, wenn man uns hier findet. Komm..." Welch ein Weg! Obwohl sie durch Straßen liefen, die Reik kannte, konnte er sich hinterher an nichts mehr erinnern. Bäume, Häuser und Kreuzungen tauchten auf und verschwanden. Sie durchmaßen breite Alleen und schmale Gassen. Und irgendwann saßen sie in der S-Bahn zwischen Menschen, die aus dem Fenster sahen oder Zeitung lasen, Rätsel lösten oder sich unterhielten. Und keiner von denen ahnte etwas von dem seltsamen Rattenkopf in Reiks Tasche. In Königs Wusterhausen stiegen sie zusammen mit den anderen aus der Bahn, wurden vom Menschenstrom durch den Tunnel getragen und tauchten auf der anderen Seite wieder auf. Sie verließen den Bahnhof. Reik bekam Hunger. Er dachte an seine Mutter, die mit dem Essen wartete und sicher wieder und wieder auf die Uhr schaute. Und als sie an einer Bäckerei vorbeikamen, blieb er einfach stehen. 14
"Ich glaube nicht", sagte Herr Gerstfeld, "daß du tatsächlich Hunger hast. Das ist ihr Werk, um uns aufzuhalten." Sie kamen an einem Flüßchen vorbei, bogen links um die Ecke und sahen vor sich das gelbe Schild der 179. Also hatten sie eine Fernverkehrsstraße erreicht. Neben ihnen quietschte eine Autobremse, und der Fahrer stieß die Tür des Fonds auf. Herr Gerstfeld schob Reik ins Innere des Wagens und folgte ihm dann. Die Tür schlug zu, und sie fuhren los. Der Fahrer blickte Herrn Gerstfeld an. Er war unbestimmten Alters, trug eine Schirmmütze, eine Sonnenbrille und einen Schnauzbart. Sie fuhren nun schon so schnell, daß die anderen Fahrzeuge nichts als zuckende Schatten waren. Bäume, Häuser, Zäune und Menschen verwoben sich zu einer dunklen, vielschichtigen Kulisse ohne Konturen. Selbst das Licht war anders, schien gelblicher oder gar etwas rötlich. Reik verlor jedes Zeitgefühl. Vielleicht waren sie nur zehn Minuten gefahren, oder sie waren schon wochenlang unterwegs, als der Fahrer hart bremste. Es zog Reik nach vorn, und er schnappte nach Luft. Der Wagen bog in eine Nebenstraße. Auf der einen Seite war ein schmaler Grünstreifen mit Birken, dann etwas Sand und ein langer, leicht gekrümmter See, auf der anderen Seite standen kleine Einfamilienhäuser. Herr Gerstfeld saß schweigend neben dem Fahrer und blickte wachsam nach vorn. Der See entschwand ihren Blicken, ein Eisladen mit einigen Tischen und Gartenstühlen im Freien tauchte auf. Die Straße wurde holprig, das Auto sprang wie ein Känguruh zwischen dörflichen Häusern und prunkenden Gärten immer weiter. Die Häuserzeile riß jäh ab, das Fahrzeug glitt einen Sandweg hinauf und jagte jetzt an Feldern und Wäldern vorbei. "Argarro dero?" Die Frage des Fahrers klang metallisch hell. "Dero, dero - vartian", antwortete Herr Gerstfeld. Die Bäume rückten zusammen, der Weg wurde schmal. Es ging bergauf und bergab. Sie fuhren nun langsamer, und das Knistern der vorjährigen Farne und Gräser drang zu ihnen herein. Sie hielten an. "Salvaston dero", sagte der Fahrer, verneigte sich sitzend vor Herrn Gerstfeld und Reik. Die Türen öffneten sich, und Reik verließ das unheimliche Gefährt. Als er draußen das erstemal tief durchatmete, als er den herben Duft des Waldes und der Erde einsog, stand Herr Gerstfeld schon neben ihm, die Türen des Autos schlössen sich wieder, und wie ein Schatten verschwand es zwischen den Stämmen der Bäume. 15
Sie gingen los und liefen durch Kuscheln. Dann riß die Fläche ab. Sie standen vor einer verlassenen Kiesgrube, auf deren Grund zwei große Teiche schimmerten. "Hier sollten wir einen Wandertag machen", sagte Reik und betrachtete andächtig die malerische Landschaft. "Wir müssen hinunter", wies Herr Gerstfeld nur an, und sie rutschten über den Kies, glitten durch Grasnarben und standen schließlich in der Talsohle der Grube. Aus dieser Perspektive wirkte alles noch wilder und fremdartiger. Frösche quarrten in den Teichen, rundum wuchsen harte Stauden und schneidend scharfe Gräser. Schwarzbraun lagen einige vergessene Holzschwellen im überwachsenen Sand. Schilf und Seggen umstanden den Teich, in dem ganze Wälder dunkler Wasserpflanzen wuchsen, während einige Seerosen auf ihm trieben. "Es dauert nur etwas länger", erklärte Herr Gerstfeld, "aber die verlieren nicht unsere Spur. Setz dich hin und ruh dich aus!" Reik ließ sich in den heißen Sand fallen. Der Hunger war fort. Dafür quälte ihn jetzt Durst. "Kann ich ihn nicht einfach wegwerfen", schimpfte Reik und deutete auf seine Tasche, "da, in den Teich. Oder ich zertrümmere ihn." "Man kann ihn nicht wegwerfen", Herr Gerstfeld beobachtete scharf den Himmel, während er sprach, "und wenn du es doch tust, dann verbrennt er dich. Dann kommen sie und holen ihn sich. Sie finden ihn, wo er auch steckt." "Meine Mutter wartet auf mich", gab Reik zu bedenken, "sie wird sich Sorgen machen." "Das hast du schon zweimal gesagt", erwiderte Herr Gerstfeld, "ich weiß es. Das hier, das geht euch alle an. Eine große Aufgabe." "Ach so", Reik wurde zornig, "eine große Aufgabe. Wissen Sie, was Sie uns immer gelehrt haben? Wer eine große Aufgabe erfüllen will, kann es tun. Jeden Tag. Er braucht nur seinen kleinen Pflichten ordentlich nachzukommen. Und mit einemmal soll es unwichtig sein, ob sich meine Mutter Sorgen macht und ich nach Hause muß? Plötzlich gibt es etwas, von dem ich nicht einmal erfahren darf, was es überhaupt ist." Herr Gerstfeld lächelte nachsichtig. "Präzis", stimmte er zu, "du hast aus deiner Sicht völlig recht. Aber ich bitte dich um etwas Geduld. Und nun steh auf! Wir folgen unserem Weg." Als sich Reik erhob, fühlte er sich erfrischt. Sogar der Durst war weg. Als er kräftig ausschreiten wollte, durchzuckte die Luft ein schriller, schmerzender Ton. "Sie haben unsere Spur", stieß Herr Gerstfeld hervor, "sie dürfen uns auf keinen Fall hier festhalten . . ." Er zeigte auf den sumpfigen Rand
16 des Teiches und schaute sich suchend um. "Da", fuhr er fort und deutete zum Himmel, "sie haben es genau berechnet. Deshalb taten sie so, als hätten sie unsere Spur verloren. Sie haben uns bis hierher kommen lassen." Zunächst entdeckte Reik nichts, doch dann gewahrte er einen schwarzen Punkt. Es schien ein Hubschrauber zu sein, der sich ihnen näherte. Doch je näher das Luftfahrzeug kam, desto unheimlicher wirkte es. Es hatte weder Propeller, noch Düsen- oder Raketenantrieb. "Nimm den Kopf aus der Tasche", wies Gerstfeld an, "schnell." Vorsichtig faßte Reik in die Tasche. Der Stein blieb kühl, glitt wie von allein in die Hand, und es war dem Jungen, als verwüchse seine Haut mit den unbekannten Mineralien. Der Steinerne Kopf schimmerte jetzt in allen Farben des Regenbogens und sah überraschend gläsern aus. Es war der Kopf eines Tieres, das Reik unbekannt war. Zwei Rubine bildeten die Augen, und in dem Maul steckten winzige, tropfenförmige Zähne aus Malachit. "Richte den Kopf gegen das Luftfahrzeug", befahl Gerstfeld, "wenn ich das Kommando gebe. Zögere nicht und traue nicht deinem Gefühl. Es könnte dir sagen, daß dein Arm leblos und unbeweglich ist. So etwas tun sie." Reik nickte wortlos. Er faßte den Steinernen Kopf mit beiden Händen und verfolgte mit den Augen jenes Gefährt, das sich ihnen näherte. Ein feines, gleichmäßiges Sirren lag in der Luft. Düsterrote Scheinwerferfinger tasteten den Boden ab. Zwei mächtige grünschimmernde Gläser, hinter denen anscheinend die Flugkanzeln lagen, waren wie Reptilienaugen auf alles gerichtet, was die Scheinwerfer berührten. "Sie kommen mit Chooroon, dem Letzten Fahrzeug aus dem diamantenen Hangar", flüsterte Gerstfeld heiser, "sie können mit der Zeit um die Wette fliegen und sogar Gedanken überholen. Und an Bord haben sie die Maschine Norrh. Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich. Es gibt nicht ein Lebewesen auf tausend belebten Planeten, von dem sie nicht wüßte, wann es was tun wird. Und sie haben den Lenker des Letzten Fahrzeugs, Cerberon den Hellen. Wenn du gute Augen hast, dann siehst du gleich hinter ihm Anja Winterlicht stehen. Sie ist in eine Rüstung aus Plutonitan gehüllt und hält die Waffe in der Hand, die deine Gedanken verwirren soll, die ein Fieber in dir erzeugen wird. Und du wirst hassen, was du lieben müßtest, und du wirst lieben, was dich zerstört. Vergiß das nie!" Und dann war Chooroon dicht vor ihnen. Auch das Innere wurde sichtbar. Ein phantastischer Anblick bot sich dem Jungen.
Im selben Augenblick entrang sich Reik ein gurgelnder Schrei. Etwas Brennendes fuhr ihm in die Gedanken. Dort oben, über ihm in der 17 Luft stand Anja Winterlicht, und sie sah schöner aus als jedes andere Mädchen. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, und ihre Augen blickten unsagbar traurig drein. Da fühlte Reik, daß es nur einen gab, der verhindern wollte, daß er Anja haben konnte, und dieser eine hieß Gerstfeld. Gerstfeld mit den Froschaugen und den dicken Brillengläsern. Und er wußte auch, daß er nur den Rattenkopf fortschleudern mußte, um glücklich zu sein. "Den Steinernen Kopf hoch!" klang es aus endloser Ferne. Es war, wie Reik es wußte, irgendwoher wußte: Die Arme waren bleischwer, er konnte sie nicht heben. Und er wollte sie nicht heben. Es ging um Anja und ihn . . . Und doch hoben sich seine Arme mehr und mehr, und schließlich zeigte die Schnauze des Tierkopfes auf Chooroon. Dunkelheit erfüllte die Welt. Und diese Finsternis trug ihn wie der Herbstwind das Blatt. An Reiks Seite aber schwebte Gerstfeld. "Nun hast du ein wenig von der Wirkung ihrer Waffen erlebt", weich und freundlich klangen die Worte des großen Mannes, "und vielleicht ahnst du jetzt, wie wichtig es ist, daß sie den Steinernen Kopf nie bekommen. Denn er kann diese Wirkung vervielfachen." Reik stöhnte nur, noch immer schmerzte ihm der Kopf, suchten ihn verwirrende Bilder heim, auch wenn sie zusehends schwächer wurden. "Wir haben ein wenig Zeit", fuhr Gerstfeld fort, "und deshalb will ich dich beruhigen, was deine Mutter betrifft." Er zog ein Plättchen aus der Tasche, das dem glich, welches Anja in Rüdersdorf benutzt hatte. Gerstfeld hielt es so, daß Reik hineinsehen konnte. Aus einem vielfarbigen Liniengewirr kristallisierten sich Dinge heraus. Zuerst ein Kalender mit dem heutigen Datum. Reik erkannte ihn sofort: Es war sein Kalander. Er hatte ihn sich selbst angefertigt. Dann sah er seine Flugmodelle, die begonnene Eisenbahnanlage und auf seinem Tisch die Teile, die er heute hatte zusammenlöten wollen. Eine Hand kam ins Bild, nahm ein Teil. Der Junge aber, zu dem die Hand gehörte, war - Reik. Reik erblickte sich selbst, wie er am Tisch saß und zwei Teile zusammenfügte. Und dann sah er in der Tür seine Mutter stehen. "Möchtest du noch etwas essen?" fragte die Mutter. "Nein", antwortete Reik, "ich bin satt. Ich setze noch schnell diese Teile zusammen, und dann hole ich die Wäsche ab." "Aber...", Reik wandte den Kopf, suchte Gerstfelds Augen, "das geht doch nicht..." "Nein", entgegnete Gerstfeld, "du bist das nicht. Das ist dein Ersatz. Verstehst du? Solange du in Sachen Steinerner Kopf unterwegs bist, ist
der für dich da. Ein ausgezeichneter Schüler. Nur Einsen bringt er nach Hause. Er hilft immer und überall. Wäscht, trocknet ab, holt die Wäsche, kauft ein. Schleppt im Winter Kohlen und bringt die Asche runter. Er ist höflich, ohne zu duckmäusern. Man muß ihn nie bitten 18 oder drängen. Er fühlt sich auch nicht als der Größte. Es ist ihm nicht gegeben, zu spotten oder zu lästern. Zufrieden?" "He", Reik kratzte sich den Kopf, "gegen den habe ich überhaupt keine Chance. Wenn ich zurückkomme, werden ihn meine Eltern nur ungern wieder gegen mich eintauschen wollen. " "Nein", Gerstfeld lachte, "das glaube ich nicht. Sie werden, ohne daß sie es je begreifen, froh sein, daß du wieder da bist. Denn dem da fehlt etwas, was nur du hast. " "Und was ist das?" "Es ist einfach das, was dich ausmacht. " "Werde ich sehr lange weg sein?" fragte Reik. "Was ist lange, was ist kurz?" Gerstfeld hob die Schultern. "Es hat hunderttausend Jahre gedauert, ehe der Steinerne Kopf vollendet war, und Millisekunden genügen, ihn in der Wut der Explosion zu vernichten. Menschen werden geboren und sterben, ehe eine Stadt gewachsen ist, und viele Städte blühen auf und welken, ehe ein Gebirge nur zwanzig Meter niedriger geworden ist. Lang und kurz sind keine Begriffe, die uns jetzt beschäftigen sollten. Frage etwas anderes!" "Sie sagten, dieser Ersatz von mir, der wird immer höflich sein - sicher auch zu Anja Winterlicht. Aber wie kann er das, wenn sie in diesem Letzten Fahrzeug sitzt?" "Du hast nicht aufgepaßt", Gerstfeld lächelte, "ich sagte, daß Anjas Mutter angerufen hat, um ihre Tochter zu entschuldigen. Sie liegt fiebernd im Bett. " "Ich habe es mir gemerkt", Reik sprach hastig, "sehr gut sogar. Aber das ist verwirrend. In meiner Klasse sind eine echte Anja und ein falscher Reik, und hier bin ich, der wirkliche Reik, und ist eine unechte Anja. Wer ist das überhaupt, diese verkleidete Anja?" "Sie ist die Herrin von Zitadorra, einem bösen Ort", Gerstfeld preßte die Lippen zusammen. "Aber das sagt dir noch nichts", fuhr er dann fort, "und vielleicht wird es dir nie etwas sagen. Denn wir wissen nicht, wie sich alles entwickelt. Doch wenn du ihr gegenübertreten mußt, dann sei auf der Hut. Fürchte sie. " "Ich will es mir merken", erklärte Reik, "nur noch eine letzte Frage: Wer sind Sie? Ich weiß, daß auch Sie nicht Herr Gerstfeld sind. " Das Gesicht des wuchtigen Mannes wurde einen Augenblick lang glatt und starr. Die grauen Augen erinnerten an eingefärbtes Glas. Doch dann
kehrte das Leben in sie zurück. Er lächelte weich., Ja, ja", sagte er in der Art von Herrn Gerstfeld, "das stimmt. Und der Tag ist nicht fern, da wirst du wissen, wer ich bin. Aber die ASGEDANrunde hat beschlossen, daß ich noch in dieser Gestalt bleiben soll. Sage also ruhig Herr Gerstfeld zu mir. Und du bist der Schüler Reik. Vorerst noch. Doch nun paß auf, wir sind gleich da. " 19 Schmale Lichtkorridore schoben sich aus der Finsternis. Aus dem Schweben wurde ein kurzer Fall. Wasser spritzte auf. Reik sprang, als er die Nässe um sich fühlte, steil in die Höhe, schüttelte die Tropfen ab. Gerstfeld stand nicht weit von ihm. "Dies", er machte eine weitausholende Handbewegung, "ist das Reich Seiner Majestät Strepton Pyrogenum von der Pestard und seiner Frau, der Königin Lyssa Albina. Hier ist die Pforte, die man überwinden muß, wenn man diesen Weg geht. " Der fiebrige König läßt bitten Die endlose Weite der Landschaft, die sich flach wie ein Tablett um sie erstreckte, beunruhigte Reik. Die Sonne schien kraftlos durch eine fahle Wolkendecke, und eine dünne Nebelschicht stieg auf, erinnerte an schmutzigen Schnee, der jedes Leben erstickt. Fast schwarz standen in unregelmäßigen Abständen bizarre Bäume, die ihre kahlen, spitzen Äste wie fleischlose Hände in den milchigen Himmel krallten. Kleine weißlichgelbe Pflanzen ragten aus den Wassern, die den größten Teil der Ebene bedeckten, und bildeten stellenweise fahle Teppiche. Das einzige Geräusch, das es hier gab, war das unregelmäßige Tröpfeln herabfallenden Wassers. Kein Vogellaut, kein Insektengesumm durchbrachen die unheilvolle Stille. In der Ferne gab es zwei Waldsäume. Es mochten Nadelbäume sein; das fast schwarze Grün reichte auf den Boden herab und ließ keine Stämme erkennen. Irgendwo sprang ein Tier aus dem Wasser, fiel aufklatschend zurück. Gerstfeld zog das Plättchen aus der Tasche und ließ Reik hindurchschauen. Reik sah jetzt die Wälder ganz nahe. Es waren Bäume, die auf ihren Wurzeln wie auf Stelzen standen. Blätter besaßen sie nicht. Nur nasse, grünliche Algenbehänge, von denen es herabtropfte. "Und wir müssen bis da hin?" Zweifel flackerten in Reiks Augen. "Noch viel weiter", antwortete Gerstfeld. Sie gingen los. Das Wasser platschte unter ihren Füßen. Gleichgültig blickte Reik auf Gerstfelds breiten Rücken, der sich vor ihm ruhig bewegte. Das war das einzige Zeichen dafür, daß sie überhaupt vorankamen. Und dann die Kreise auf dem Wasser. Bei jedem Schritt entstanden sie, breiteten sich aus, schnitten einander, wurden
ungleichmäßig, liefen weiter nach außen, verschwanden irgendwo. Aber schon waren die nächsten Ringe da, und das Spiel begann von vorn. "Gehen wir überhaupt?" murmelte Reik nach einer Weile müde und ausgelaugt. "Ich muß so gehen, wie du es vorgibst", sagte Gerstfeld sanft, "denn mein Auftrag ist, so lange wie möglich an deiner Seite zu bleiben. 20 Wenn du auf der Stelle trittst, mache ich das auch. Kommst du voran, komme ich ebenfalls vorwärts, und legst du dich nieder, weil das Land stärker ist als du, dann lege ich mich neben dich hin. " "Aber Sie sind doch vorn", widersprach Reik, "wie kann ich da das Tempo bestimmen?" "Du tust es trotzdem", erläuterte Gerstfeld, "denn dieses Land der Grauen Bilder ist deine Prüfung. Aber eins mußt du wissen: Gibst du auf, dann wird die Paradestraße Seiner Majestät vierzig Zentimeter länger, sein Thron wird höher werden, und das Tränenfließ wird heftiger als vorher rauschen und brausen... Und Seine Majestät wird den Steinernen Kopf gegen einige zehntausend Unglückliche bei ihnen eintauschen. Bedenk es. " Neben ihnen gurgelte es in einer Lache, und ein grauer, nackthäutiger Kopf, augenlos und doch ihre Bewegungen wahrnehmend, hob sich aus den Fluten. Ein offenes, zahnloses Maul reckte sich ihnen hungrig entgegen, bewegte sich hin und her, suchte etwas. "Moraxon", sagte Gerstfeld und zog Reik mit einem heftigen Ruck aus dem Umkreis des tastenden Mauls, "man nennt es das Glatthäutige. " Reik sah das Wesen gebannt an. Es watschelte auf flossenartigen Beinen aus der Lache, schob den unförmigen, qualligen Körper zwischen die niedrigen Pflanzen und tastete ununterbrochen nach der Beute, von der es wußte. Gleich darauf wandte es sich ab, stürzte sich zurück ins Wasser, das hoch aufspritzte. Es tauchte in dämmrige Tiefen hinab. Noch immer stand Reik unbeweglich. "Ich will zurück", sagte er leise, "schnell zurück!" "Dreh dich um", forderte Gerstfeld den Jungen auf, "sieh, wohin wir dann kommen. " Reik folgte der Aufforderung. War die Landschaft vor ihnen trostlos und verloren, so schien sie hinter ihnen noch schrecklicher. Da war nichts. Kein toter Baum, kein Algenwald, nicht eine Pflanze. Grau und aufgeweicht war der Boden, kraterzerrissen und von schwefligen Nebelschwaden durchsetzt. Das Land schien sich zu neigen, endlich in einer nachtschwarzen Tiefe selbst zu Nebel zu werden. "Nun, willst du dorthin?"
"Der Rattenkopf", flüsterte Reik tonlos, "er soll uns wegbringen. Warum kann er das nicht?" "Es geht nicht", antwortete Gerstfeld, "es geht nicht. Wir müssen durchkommen, oder... " Er blickte Reik besorgt an, dann aber nickte er ihm aufmunternd zu. Doch Reik rührte sich nicht. Er betrachtete hilflos die Wasseroberfläche, die jenes blinde Tier barg. "Wir treten immer nur auf der 21 Stelle", stöhnte er. "Was soll das? Dann kann ich mich auch hinsetzen und warten." In der Lache entstand eine unruhige Bewegung. Ein grünlicher Lichtschein schwebte aus der Tiefe herauf. In dem phosphoreszierenden Licht erschienen schlangenartige Tiere, weißlich wie riesige Fliegenmaden, bestachelt wie Raupen und über einen Meter lang. Sie kamen unglaublich schnell nach oben, ihre Tastrüssel wie eine Lanze nach vorn gerichtet. Springend verließen sie das Wasser, entfalteten lederhäutige Stummelflügel, erhoben sich ungelenk in die Luft und flogen im Zickzack hin und her, die Rüssel in alle Richtungen drehend und schlürfend Luft einsaugend. "Achtung", warnte Gerstfeld, "fliegende Nacktegel." Aber Reik starrte weiter auf das Wasser, denn der grünliche Schein wurde noch intensiver, und umgeben von flackerndem Licht, tauchten andere Wesen auf, die kleine stechende Augen und viele dünne Krallen hatten. Wie Schmetterlinge umtanzten sie jenes augenlose Tier, das wieder an die Oberfläche gekommen war. Reik begriff, daß die Grünlichtigen die Augen des Moraxons waren und dem Glatthäutigen zeigen konnten, wo sich die Beute befand. Und Reik erkannte, daß er und Gerstfeld das Ziel des Angriffs waren! Er schrie auf und stürzte davon, vorbei an Gerstfeld, der ihm dichtauf folgte. Reik stolperte, riß Wasserpflanzen ab und rannte platschend und taumelnd weiter. Der Bann war gebrochen. Während Reik keuchend weiterhastete, bemerkte er, wie sich die Position der Bäume veränderte. Jetzt trat er nicht mehr auf der Stelle, gewann Boden. Zugleich stellte er fest, daß der grünliche Schein sie immer noch umtanzte, daß die Wesen der Tiefe ihnen klatschend, schmatzend und knurrend folgten. "Endlich begreifst du", rief Gerstfeld erleichtert, "daß man hier nicht ruhen und sich aufgeben darf. Wir werden es schaffen." Das Wasser unter ihren Füßen wurde flacher und flacher. Sie liefen über trockenen, leicht federnden Sumpfboden. Der grüne Schimmer blieb zurück. Die Geräusche der Verfolger wurden leiser und verebbten
schließlich. Stille umgab die beiden. Gerstfeld übernahm nun wieder die Führung, nickte Reik, als er ihn überholte, anerkennend zu. Reik sah sich um. Einer der Algenwälder war ihnen deutlich näher gekommen. "Wollen wir durch den Wald?" fragte der Junge. "Auf keinen Fall", antwortete Gerstfeld, ohne seinen Lauf zu unterbrechen, "wenn es sich vermeiden läßt. Man kann allzuleicht in das Endmoor geraten. Oder man begegnet Virulon und seinen Kriegern. Es ist schwer, ihn zu besiegen. Wir wollen nicht hindurch." 22 "Wir kommen ihm aber nahe", flüsterte Reik, "wir sollten uns mehr links halten." "Umgekehrt", widersprach Gerstfeld, "er nähert sich uns. Es ist ein Wettlauf. Er will uns den Weg abschneiden und uns in den Gorgos treiben. Hier gibt es zwei Ströme: Gorgos und Hacos. Man kann sie nicht überwinden. Wir müssen laufen. So schnell du kannst." Sie kamen immer schneller voran. Reik spürte neuen Mut und neue Kraft in sich. Hunger und Durst waren vergessen und seine Mutlosigkeit verweht. Er war überzeugt, daß sie den Wettlauf gewinnen würden. Plötzlich jedoch versank er bis an die Oberschenkel im weichen Boden. Wütend wollte sich Reik befreien. Das war nicht leicht. Der Untergrund hielt ihn fest. Nur langsam und mühevoll zog er erst ein Bein und dann das andere hervor. Schwarzbraune Erde bedeckte seine Hosen. Reik, in dem sicheren Gefühl, daß Gerstfeld neben ihm stand und ihm zusah, versuchte einige Pflanzen auszureißen, um sich damit zu säubern. Er zerrte an den weißlichen Stengeln, holte aber nur die weitverzweigten Wurzeln und Sprosse aus dem Sumpfboden. Dabei richteten sich die Pflanzen auf, überragten ihn. Und als sich Reik umwandte, stellte er verblüfft fest, daß ihn die Pflanzen wie ein weißlichgelbes Gitter umgaben. Er wollte sie niederdrücken. Doch sie leisteten Widerstand. Reik versuchte über sie hinwegzuklettern. Dabei rutschte er immer wieder ab. Als Reik es mit einem Sprung versuchen wollte, 23 hielt ihn der Sumpfboden fest, und er stürzte gegen die Pflanzenbarriere, die ihn aufnahm und sanft zurückdrückte, so daß er auf dem Rücken zu liegen kam. Angst beschlich ihn. Er spähte durch eine Ritze und sah, daß Gerstfeld kaum größer als ein Daumennagel schien und kleiner und kleiner wurde. Hatte er denn nicht bemerkt, daß Reik ihm nicht mehr folgte? Reik irrte im Kreis umher. Die Pflanzen hatten ihn gefangen. Und irgendwo in weiter Ferne schimmerte es grünlich, und erneut hörte er das Klatschen jenes blinden Wesens, das ihre Spur immer noch nicht aufgegeben hatte.
Eine Bewegung schreckte Reik auf. Auf dem oberen Rand bewegte sich etwas. Reik blickte hoch und sah ein Tier, das ihn unverwandt anschaute. Es war halb so groß wie der Junge und besaß große, halbkugelige und gläsern wirkende Augen. Der Mund war weit vorgestülpt. Arme und Beine waren mager, schienen nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen, überzogen von einer faltigen und ledernen dunklen Haut. Die Finger und Zehen erinnerten an junge Schlangen, die in die verschiedensten Richtungen krochen. Der prallvolle Bauch hing ein wenig herab. Das Tier glänzte rostrot, und nur die Innenflächen seiner Hände und Füße und seine Lippen schimmerten blaßblau. "Fifififi", machte das Tier und bewegte seinen Kopf unruhig hin und her, "gefangen, du bist gefangen." "Ich bin gefangen", wiederholte Reik und sah sich vergeblich nach einer Waffe um. "Gerstfeld hört nicht", fuhr es fort, "der ist weit weg. Aber die Nacktegel werden kommen und Moraxon. Auch die Astranos, die Irrlichter, und Nebulon, der Nebelhäutige. Surax, das watschelnde Moorschwein, und der Lachenfraß. Sie kommen immer, wenn es Beute gibt." "Spotten kann ich auch", erwiderte Reik, "aber helfen ist eine andere Sache." "Achsoklein spottet nicht", antwortete es und ließ die Arme herabhängen, "Achsoklein kann sogar helfen!" "Wie heißt du?" Reik mußte lachen. "Achsoklein? Das ist doch kein Name, und so klein bist du auch wieder nicht." Das Glasäuglein schien beleidigt. Es kehrte Reik den Rücken zu. "Als Achsoklein geboren wurde", widersprach es Reik, "war es, ach, so klein. Und darum heißt es Achsoklein. Und es ist immer noch sehr klein." "Also gut", lenkte Reik ein, "du bist sehr klein. Hilfst du mir jetzt hier raus?" "Was gibst du mir dafür?" fragte Achsoklein. "Was willst du haben?" Reik warf einen besorgten Blick über die Schulter, wo es bereits hörbar schnaufte, platschte, hastete und voran24 keuchte. Die Verfolger schienen sich zu nähern, auch wenn sie noch nicht zu sehen waren. "Was hast du?" fragte Achsoklein, blinzelte und legte den Kopf schief. "Ein Notizbuch", zählte Reik auf, "einen Kugelschreiber und ein paar Buntstifte. Eine kleine Feuerwehr ohne Leiter. Etwas Kleingeld. Was noch . . .?" Er dachte nach. Achsoklein schüttelte traurig den Kopf. "Du hast nichts, was Achsoklein mag. Nichts. Schade."
"Dann sag doch wenigstens, was du willst", bat Reik, denn die Geräusche wurden zunehmend lauter. "Du sollst mich in den Schlaf wiegen", flüsterte Achsoklein verträumt und .schlang seine langen, spinnenbeindünnen Arme um die eigenen Schultern, wiegte sich ein wenig hin und her, "und du sollst mir ein Lied singen und meine Träume beschützen. Willst du das?" "Von Wollen kann keine Rede sein", antwortete Reik, "aber ich werde es tun, wenn du mich befreist." "Abgemacht", sagte Achsoklein. Und mit unerwartetem Eifer und mit Bewegungen, denen Reik nicht folgen konnte, entflocht das rostrote, glasäugige Wesen die Pflanzen und schaffte einen Durchgang für Reik. Der Junge zwängte sich stöhnend hindurch, stand endlich wieder auf festem Untergrund und lief in die Richtung, in der Gerstfeld verschwunden war. Das Glasäuglein hielt sich dicht bei Reik. "Er hat es geschafft", piepste es in den höchsten Tönen, "er ist noch am Wald vorbeigekommen. Wir schaffen es nicht." Reik sah, daß der Wald den gesamten Horizont verdeckte. Die hochaufragenden Wurzeln waren dunkel und glatt. Die Wassertropfen fielen mit solcher Heftigkeit von den Ästen herab, daß man meinen konnte, ein Regenguß ginge nieder. Die Algen glänzten schwarz, waren vielschichtig und ineinander verwoben. Der Wald verdeckte jetzt schon die Sonne, und ein düsterer Schatten legte sich über das Land, über Reik und Glasäuglein. Die beiden blieben stehen, versuchten mit ihren Blicken die Finsternis zu durchdringen, wagten kaum zu atmen. In dem Dämmer zuckten Augenpaare auf. Sie wurden beobachtet, angestarrt und gemustert. "Und das ohne Gerstfeld", Reik stöhnte und sah Achsoklein in die gläsernen Augen. "Können wir nicht um den Wald herumlaufen?" "Dort ist das Endmoor", jammerte das Kleine, "und auf der anderen Seite Gorgos. Surax und die anderen haben uns den Rückweg abgeschnitten . . . Wir müssen hindurch." "Hier vorn", Reik deutete auf einen der vielen Waldausläufer, scheint er weniger dicht zu sein. Versuchen wir es." 25 Im Wald war es finster, uneben der Boden und glatt. Reik rutschte immer wieder aus, stürzte über Wurzeln und faulende Äste, verfing sich in den dichten Algenbärten und keuchte und schimpfte ununterbrochen. Achsoklein blieb dicht bei ihm und fiepte bei jedem unbekannten Geräusch angstvoll auf. Und es half Reik, sobald er sich irgendwo verfangen hatte und steckenzubleiben drohte. Der Pfad, dem sie folgten, war vielfach gekrümmt und morastig, voll tiefer Löcher.
"Wenn ich nur wüßte", rief Reik, "wo wir überhaupt sind und in welche Richtung wir müssen. Ich habe jede Orientierung verloren." "Wir können nur noch dem Pfad folgen", antwortete Achsoklein, "mehr weiß ich auch nicht." In ihren Köpfen dröhnte es. Dazu war es stickig warm hier. Die Luft schien angefüllt mit Fieberdünsten und jauchigem Fäulnisgestank. Sie arbeiteten sich nur mühsam voran. Als sie die Lichtung erreichten und Reik das erstemal etwas leichter atmen konnte, trat hinter einer Algensäule ein Wesen hervor, das ihn allein durch seinen Anblick lahmte. Der da vor ihnen stand, hatte doppelte Menschengröße. Sein Körper steckte in einer Rüstung, die aus Tausenden von aneinandergesetzten Kugeln bestand. Seine Augen schützte ein metallenes Gitter. Er hob die Hand und durchfurchte mit einer Keule sausend die Luft. In der Linken hielt er einen Schild. Dann machte er die Beine ein wenig breit, und aus einem Haufen schmieriger Algen gerann ihm ein Reittier, das ihn anhob und wie er in einem Panzer steckte. "Nun denn", rief der Fremde drohend, "da du es gewagt hast, den Wald des Virulon zu entweihen, so kämpfe! Ich biete dir freien Durchgang, wenn du siegst, und du verpfändest dein Leben. Werde ich dein Meister, dann treibe ich dich ins Endmoor." "Soll ich mit einem morschen Ast kämpfen?" fragte Reik, sich seiner Wehrlosigkeit bewußt. "Ich, Virulon", antwortete der riesenhafte Krieger, "werde der Verlorene genannt, weil ich keinen eigenen Körper besitze. Aber wisse, daß ich mir aus tausend mal tausend Menschenkörpern den einen schaffen werde, dessen Vollkommenheit das Universum dazu bringen wird, sich vor mir zu verneigen. Oh, noch muß ich experimentieren, noch treibe ich viele meiner Opfer in das Endmoor, noch bin ich dem König Strepton untenan. Aber nicht ewig wird das so sein, mein Kleiner. Ich werde es schaffen. Einst wird der vollkommene Leib mein eigen sein. Dann lache ich über Alter und Verfall. Und nun nimm deine Waffen und tritt vor!" Reik warf einen hilflosen Blick auf Achsoklein, dessen Augen ein mildes Licht verbreiteten. "Hast du eine Idee?" flüsterte er und schluckte heftig. "Ich finde, man muß irgend etwas tun. Wir können uns doch nicht so einfach ergeben." 26 Das Glasäuglein kratzte sich sorgenvoll den Bauch. Abwechselnd betrachtete es Virulon und Reik. Endlich tippte es wortlos auf Reiks Umhängetasche. "Du denkst, daß der Rattenkopf . . ., ja, davon hat Gerstfeld nichts gesagt. Aber verboten hat er es auch nicht." Reik faßte in die Tasche, befühlte das jetzt kühle Glas. Unversehens geriet seine Hand in das
offene Maul des Steinernen Kopfes. Da löste sich auch schon einer der Zähne und blieb in Reiks Hand liegen. Reik zog den Zahn hervor. Hell leuchtete der auf, und Reik spürte, wie etwas mit ihm und an ihm geschah. "Oh", rief Glasäuglein, "wie du aussiehst!" Reik blickte an sich hinunter. Er war in glänzend blaues Metall gehüllt. An seiner Hüfte hing ein Schwert, und statt des Zahnes hatte er einen Schild und eine Lanze in den Händen. "So nenn deinen Namen!" dröhnte die klirrende Stimme Virulons an Reiks Ohr. "Ich heiße Reik Regenbach", sagte der Junge trotzig. "Regenbach", Virulon der Verlorene lachte gellend auf. Er schlug sich auf die Schenkel und mußte sich auf seinem Reittier abstützen, "Regenbach . . . Ritter Wasserwanze vom tropfenden Faß, wie . . .?" Der Herr des wandernden Waldes brach abrupt ab und schob das Kinn vor. Dann schaute er sich suchend um, pfiff grell. "Ich habe kein Pferd", flüsterte Reik Achsoklein zu, "ich kann doch nicht zu Fuß gegen diesen reitenden Elefanten antreten." "Er wird dir ein Roß anbieten", antwortete Glasäuglein ebenso leise, "du darfst es jedoch auf keinen Fall annehmen, denn während eures Kampfes wird es in Flammen aufgehen und dich zu Asche verbrennen. Ich schlage dir vor: Nimm mich als Reittier." "Du bist sehr lieb", bedankte sich Reik und sah traurig das Kleine an, "denn du willst mich retten. Nur würdest du unter meinem Gewicht zusammenbrechen." "Nimm mich", flüsterte das Kleine noch einmal. Mit einem Wiehern trat ein schneeweißes Pferd aus der Finsternis der Stämme. Golden schimmerte seine Mähne, und tiefbraun waren die klugen Augen. "Da", Virulon verneigte sich höflich während seiner Rede, "ich leihe dir dieses Roß. Denn niemand soll sagen, ich, ein Reiter, trete gegen einen Unberittenen an. Es heißt Feuervogel, und es gehorcht jedem Wink." Reik konnte kein Auge von dem edlen Tier lassen, und wäre nicht der Name gewesen, der ihn an das erinnerte, was Glasäuglein gesagt hatte, er würde die Warnung in den Wind geschlagen haben. "Nein", lehnte er entschlossen ab, "wie kann der, der mich verderben will, et27 was Gutes für mich tun? Ich habe mein Reittier dabei. Achsoklein wird mich tragen." "Ach - so - klein", Virulon lachte wieder sein abstoßendes Lachen, "meinst du diese Pfützenwanze? Diese kugelbäuchige Affenspinne? Diese glasäugige Asselkrabbe? Der bricht ja schon unter dem Gewicht seines Bauches zusammen. Wie will er dich transportieren? Aber schön,
du hast es so gewollt. Jammere also nicht, wenn ich euch beide bei meinem ersten Antritt zermalme!" Achsoklein ließ sich auf seine Hände hinab, stand vierbeinig und winzig vor Reik. Der setzte sich sehr vorsichtig, fürchtete er doch, daß Glasäuglein zusammenbrechen würde. Nichts dergleichen geschah. Achsoklein reckte und streckte sich so lange, bis Reiks Füße nicht mehr den Boden berührten. Gleichzeitig war es Reik, als klebte er an seinem Reittier fest. "Nun denn", frohlockte Virulon, "wenn du endlich bereit bist, wollen wir beginnen. Im Namen der gläsernen Stadt: Stirb denn, Vermaledeiter!" Er gab seinem Reittier die Sporen, und es grunzte wild auf, setzte sich mit unglaublicher Schnelligkeit in Bewegung. Bäume brachen unter seinen Tritten, Sumpfboden spritzte auf, und Algen wurden herabgerissen. So preschten Reiter und Tier heran. Glasäuglein sprang geschickt zur Seite, hüpfte mit Reik einen Baum hinauf, und mit einem ungeheuren Satz folgte es Virulon. Reik, der die Lanze nach vorn hielt, sah, wie sie in den Leib des Verlorenen eindrang und dort im Leeren abbrach. Glasäuglein wendete, noch immer in der Luft, und landete auf der Lichtung. Reik warf die geborstene Lanze fort und zog das Schwert aus der Scheide. "Oha", brüllte Virulon auf, "so ist das also! Er sucht den tödlichen Kampf. Er soll ihn haben!" Und wütend schlug er mit seiner Keule um sich, fällte Bäume und riß Astwerk ab. Ein kleines trübes Himmelsstück wurde sichtbar, und Virulon, von dem Licht berührt, erschien nicht mehr nachtschwarz, eher neblig grau. Wieder rannte Virulon gegen sie an. Seine Keule schuf einen breiten, lichten Korridor. Und wieder wich Achsoklein aus und jagte dem Vorüberrasenden hinterher. Diesmal traf Reiks Schwert den Hals des Körperlosen. Virulon wendete fast auf der Stelle und starrte Reik aus seinen dunklen Augenhöhlen an. "Ich habe dich unterschätzt", rief er gereizt, "ich habe dich tatsächlich nicht für voll genommen, Regenbach aus dem Menschengeschlecht. Aber nun sollst du mich kennenlernen." Und wütend schleuderte er seine Keule nach Reik. Schneller als das fliegende Geschoß heran war, sprang Achsoklein zur Seite. Nun zog Virulon sein Schwert. Milchighell glänzte es, und seine beiden Spitzen loderten wie zwei Flammenzungen im Dämmerlicht 28 des Waldes auf. Und als er die Klinge über seinem Kopf hin und her schwang, entstand ein Geräusch, als bräche ein heftiger Sturm los. "Vorwärts", brüllte er, daß Reik erzitterte, "jetzt wollen wir es diesem kleinen Widerling zeigen."
Und das glutäugige Reittier stürzte sich mit seinem furchterregenden Reiter erneut auf Reik. Achsoklein sprang ihnen entgegen und huschte unter dem Schwert des Virulon hindurch, so daß dessen Hieb ins Leere ging. Und wieder und wieder wichen sie aus. Und Virulon wehte heran, ein ums andere Mal. Sein Schwert pfiff, heulte und orgelte, es regnete abgehauene Äste und aufgeschlitzte Nacktegel. Endlich blieb das Reittier erschöpft stehen. Da machte Glasäuglein einen weiten Sprung nach vorn und huschte in Brusthöhe an Virulon vorbei. Reiks ausgestrecktes Schwert traf den anderen ins Gesicht. Der stürzte aufheulend von seinem Reittier und rappelte sich stöhnend auf. Stand unsicher auf seinen Füßen. Hielt sich den Kopf. Vielleicht wäre das die Gelegenheit gewesen, Virulon eine noch gründlichere Niederlage zu bereiten, aber weder Achsoklein noch Reik brachten es übers Herz, den angeschlagenen Mann, der nun wirklich wie ein Verlorener aussah, anzugreifen. Es dauerte Minuten, bis Virulon auf sein fauchendes Tier geklettert war. Er blickte Reik und Achsoklein an. "Warum", dröhnte seine Stimme durch den Wald, "warum habt ihr das getan? Weshalb habt ihr mir nicht den Kopf abgeschlagen? Ihr Verruchten wißt, daß ich euch nun nichts mehr antun kann." Er holte tief Luft. "Na los denn", schrie er gellend. Ehe Achsoklein und Reik reagieren konnten, stürzten Algenlawinen auf sie nieder, begruben sie unter sich. Sie zappelten und versuchten sich zu befreien, doch es gelang ihnen nicht. Immer fester wurden sie eingeschnürt, immer enger umschlossen feuchte Algenbänder die beiden. Virulon lachte gehässig. Und eine schrille Stimme fragte: "Herr, sollen wir sie ins Endmoor bringen?" "Nein", antwortete Virulon, "um der gläsernen Stadt willen, nein. Das ist es doch: Sie haben mich verschont.. . Oh, diese Verruchten! Bringt sie Seiner Majestät Strepton. Man soll im Schloß entscheiden, was mit ihnen zu geschehen hat. .. Schafft sie mir aus den Augen!" Reik konnte nur wenig von der Umgebung erkennen. Die Algen, in die sie eingeschnürt waren, zeigten ihm nur einen kleinen Ausschnitt des Landes. Nachdem sie den Wald verlassen hatten, kamen sie an einem schmalen, glasklaren Fließ entlang. "Sieh nur", sagte Reik zu seinem ebenfalls gefangenen Freund, "was für ein wunderbares Wasser." 29 "Es ist das Tränenfließ", antwortete Glasäuglein, "man nennt es so. Es heißt, immer wenn die Heerscharen Seiner Majestät jemanden überfallen und niederwerfen, weinen dessen Freunde und alle seine Angehörigen um ihn. Und dann tritt dieses Fließ über seine Ufer, spült die Krieger fort,
setzt Teile des Palastes unter Wasser und hat schon einigemal Seine Majestät gezwungen, den Gefangenen freizugeben. Unter ihnen tauchte ein Knüppeldamm auf, und die Träger liefen schneller. "Dieser Weg", flüsterte Achsoklein, "führt zur Paradestraße Seiner Majestät." Reik wurde müde. Alles huschte an ihm vorbei. Und dann gab es einen Ruck, und die Träger hielten an. "Halt", dröhnte eine finstere Stimme, "wer seid ihr, und was ist euer Begehr?" "Wir sind zwei Nebelhäutige", antwortete einer der Träger mit kratziger Stimme, "und wir kommen aus dem wandernden Wald. Virulon der Verlorene schickt uns, denn wir haben zwei Geschenke für die Tochter Seiner Majestät und sollen sie hier abgeben." "Übernahme!" kommandierte der unsichtbare Wortführer, und es war deutlich spürbar, wie andere Hände zupackten. "Nebelhäutige", befahl er dann, "zurück in den Wald! Schloßwachen! Im Schnellschritt zum Palast!" Mit klatschenden Schritten wurden sie nun über eine Marmorstraße getragen. Reik versuchte zu erkennen, was für seltsame Worte in diese Straße eingemeißelt waren. Es dauerte lange, ehe er eine Zeile entzifferte: "Nach langer, schmerzhafter Krankheit ging unser lieber. . .", mehr konnte er nicht lesen, denn da waren die Wachen mit ihnen schon weitergeeilt. "Glasäuglein", fragte Reik, "was ist das für eine Marmorstraße?" "Der König hat viele Steinmetze", antwortete Achsoklein, und seine Stimme klang trostlos, "und sie haben nur die eine Aufgabe: die Leichensteine all jener, die ihm oder seinen Heerscharen zum Opfer fielen, nachzumachen. Es ist sein einziger Triumph, seine einzige Freude. Und aus diesen Steinen besteht seine Paradestraße, und er hofft, daß eines Tages sein ganzes Reich kreuz und quer von Straßen dieser Art durchzogen wird. Vergiß das nicht, denn Seine Majestät kann auch sehr fröhlich und scheinbar menschenfreundlich sein. Er hat nur den einen Wunsch: seine Straßen zu bauen, neue Namen und neue Inschriften zu bekommen." Die Marmorstraße war lang, und außer ihnen schien es nichts Lebendiges hier zu geben. Nirgends wurde gesprochen oder gestritten, kein Vogel sang, und eine beklemmende Stille lastete über allem. Endlich erreichten sie eine Brücke, die unter den Schritten der Wache 30 ächzte und stöhnte. In dem darunterliegenden Wasser wälzten sich riesige Tiere, die schmatzende und gurgelnde Laute ausstießen und mit
ihren Schuppen rauh an hölzernen Balken entlangglitten. Dann erlosch das Tageslicht, und im unruhigen Schein vieler Fackeln wirkte das wenige, das Reik sah, gespenstisch. Dieses Schloß, so sah er es durch den Spalt, war ein Raum der tanzenden Schatten, der hallenden Worte und Schritte und der zerfließenden Konturen. Man legte die beiden Gefangenen hart und achtlos ab, und die Straßenwachen entfernten sich ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Schattenhaft und lautlos näherten sich kleine Wesen, die an den Algenstricken zu zupfen begannen. Manchmal griffen sie durch die Pflanzendecke, und Reik fühlte die weichen, nachgiebigen Händchen auf seinem Gesicht. Ein unangenehmes Gefühl durchzuckte ihn dann jedesmal. Endlich war die Fesselung so dünn, daß Reik sie sprengte und auf die Füße sprang. Die Schattenwesen huschten aufquiekend in das Dunkel eines Nebenganges. Auch Glasäuglein stand schon und betrachtete Reik gedankenvoll. Doch wie erstaunt war der, als er ein zweites Glasäuglein durch den Gang kommen sah, das ein Algenbündel um den Kopf schwang. Als das andere Glasäuglein heran war, schleuderte es zornig die Algen fort, knickste höflich vor dem staunenden Reik. "Mit Verlaub", sprach es mit zarter Mädchenstimme, "ich bin Treponas, der Hofnarr, und habe die große Ehre, den jungen Prinzen zu erheitern." Und das Glasäuglein, das sich Treponas genannt hatte, stieß seufzende und klagende Töne aus, die sich in qualvolle Schreie umwandelten und dann, so unerwartet, wie sie begonnen hatten, abbrachen. Reik schüttelte es. Seine Nackenhärchen richteten sich auf, und er zitterte am ganzen Leib, denn das, was eben zu hören gewesen war, hatte wie der Todeskampf eines Menschen geklungen. Treponas kicherte und umrundete radschlagend Reik. Dabei veränderte er sich auf unbestimmte Art und Weise, bis er Reiks Zwillingsbruder hätte sein können. Treponas-Reik stand nun vor dem Menschenreik und verneigte sich devot. "Ach, Brüderchen", er stöhnte und grunzte wie ein Moorschwein, "was seid ihr für humorlose Nichtlacher. Ich habe es schwer, den Frohsinn in euch zu entzünden." Nach diesen Worten blähte sich Treponas auf, ähnelte nun Gerstfeld und betrachtete Reik durch gesprungene Brillengläser. "Nun, mein bester Reik", sprach er mit gerstfeldscher Stimme, "nenn mir doch einmal den Unterschied zwischen einer Mumie und einer Wasserleiche. Du kennst ihn nicht? Setzen! Fünf!" Er dehnte und streckte sich, schmolz in sich zusammen und wurde zu Anja Winterlicht. "Mein einzigartiger Geliebter", er wiegte sich in den Hüften, und ein verzehrendes Feuer brannte in seinen Augen, "ich flehe dich um einen Kuß an ... Du, 31
mein seerosenfarbener Prinz, mein Herr, umschlinge mit deinen starken Armen meinen Lilienleib." Und während er so sprach, hob er sein glitzerndes Sommerkleid ein wenig in die Höhe. In diesem Augenblick traten zwei in Bronzerüstungen gehüllte Ritter vor sie hin, und Treponas, noch immer als Anja Winterlicht, hakte sich bei Reik ein, der, kaum daß der Hofnarr ihn berührte, schwerer als zuvor Luft bekam. Die Ritter schritten vor ihnen her, und sie folgten. So gelangten sie an eine große eichene Tür, die, nachdem die Ritter dreimal dagegen geschlagen hatten, langsam und knarrend aufschwang. Der Raum war klein, die Wände schwarz vor Alter und Rauch. Vier langbärtige Männer saßen auf schweren Armsesseln und blickten die Eintretenden aus roten, entzündeten Augen an. "Ah, ah", machte der Dürreste von ihnen, "es sind die Gaben seiner Unterwerfung, gesandt von Virulon für die von ihm angebetete Prinzessin Vibriana Valpurga. Aber es sind ihrer nur zwei. Jenes Mädchen dort ist der verruchte Treponas." Aus Anja Winterlicht wurde ein nebelhaftes, äffisches Wesen', das von Reik ließ und sich mit vielen unterwürfigen Verneigungen zur Tür hinausstehlen wollte. "Verzeiht, Ihr Herren", lispelte es dabei, "soll ich Euch zu Eurer Beglückung vielleicht das keuchende Stöhnen eines Asthmatikers vorführen?" Eine Handbewegung des Dürren ließ den Hofnarren verstummen. "Hört also", er wandte sich nun an die beiden Freunde, "ich bin Andofalon, der Weiseste der Weisen. Zu meiner Rechten sitzt Argon Glenon. Es gibt nichts, was er nicht sieht. Er sorgt für Frieden und Ruhe allhier. Jene anderen beiden Weisen sind weniger wichtig. Hört also: Seid fröhlich, so die Prinzessin ihre teuren Worte an euch richtet. Tanzt und plaudert mit ihr, laßt euch führen, wohin sie es mag, schlagt ihr keinen Wunsch ab, sondern lest ihr selbige von den Augen ab. Sie haßt nichts so sehr wie Widerspruch oder eigene Gedanken anderer." "Argon Glenon", fragte Reik den alles Sehenden, "ich suche meinen Freund, Herrn Gerstfeld. Seht ihr ihn? Sagt mir bitte, wo er ist." "Es gibt einen solchen", hub Argon mit harter Stimme an zu sprechen, "aber er arbeitet jenseits unserer Düsternis. Ein ekelhafter Bursche, den wir hier nicht brauchen. Morgens kalte Duschen. Laufen und schwimmen, Ski und radfahren . . . Ekelhaft abgehärtet. Nichts für Seine Majestät. Aber du suchst einen, der einen anderen Namen trägt. Einen Namen, vor dem wir alle erzittern. Sein Name ist ein Fluch für uns, sein Raum kann Vorstellungen des Wahns in uns wecken. Schweig also, Menschenratte Reik Regenbach!" Wieder öffneten sich die knarrenden Türen, und die Ritter in den Bronzerüstungen erschienen, nahmen Glasäuglein und Reik in ihre
32 Mitte und verließen mit ihnen den düsteren Ort. Und wieder durchschritten sie lange Korridore, kamen vorüber an verstaubten Kallas und geknickten Rosen, an imitierten Familiengrüften und einem Relief der Pyramiden, an dem Grabmal des Mausolos und dem Tadsch Mahal. Aber von diesen Imitaten ging weder Erhabenheit noch Schönheit aus. Nur bedrückend und verloren wirkte alles. Sie erreichten eine doppelte Metalltür, vor der klein und hilflos Anja Winterlicht stand und theatralisch die Arme weit geöffnet hatte. "Reik", jubelte sie, lief die Tür nach oben und saß an der Decke des Korridors, "wie wunderschön, dich wiederzusehen." Reik wußte, daß das nicht Anja, sondern Treponas war. Dichter rückte er an das Glasäuglein heran. Inzwischen klopften die beiden Ritter gegen das Tor. Hohl klang ihr Klopfen. Von innen wurde geöffnet, und vor den Freunden lag ein riesiger, düsterer Raum. An den Wänden standen gepanzerte Krieger, Armbrüste und Schwerter, Lanzen und Schilde in den Händen haltend. Sie alle trugen die Visiere heruntergeklappt und erinnerten an Rüstungen, die in Museen standen. In der Mitte des Raumes erhob sich eine Gruppe mächtiger Truhen, und an der fernsten Wand war ein ungeheures Bett aufgebaut, in dem sich etwas zuckend bewegte. "Was ist das?" fragte Reik das Glasäuglein flüsternd. Das hob die Schultern. Und wie es so neben Reik stand, da sah der Junge, daß sich sein Freund verändert hatte. Der reichte ihm jetzt bis zur Schulter. Auch der vorgestülpte Mund war verschwunden. Die Arme und Beine wirkten kräftiger, dafür war der Bauch zusammengesunken. Achsoklein erinnerte nun an einen freundlichen Affen, der zu allerlei Spaßen aufgelegt war. Und obwohl der Hofnarr eine neue Vorstellung bot, hatte Reik Zeit, seinem Freund zuzulächeln. Treponas, in der Gestalt eines menschenköpfigen Schwans, flog durch den Raum und setzte sich auf das untere Ende des Bettes. "Der Armseligste", jammerte er, und Tränenströme entquollen seinen großen Augen, "der arme König, unser aller Majestät Strepton Pyrogenum leidet. Wieder einmal erfinden sie etwas jenseits der Düsternis. Sie wollen unseren gnädigsten König töten, ermorden und aus dem Turm des Palastes schleudern, wie sie es mit einigen seiner Brüder getan haben. Laßt es nicht zu. Und Bleibt nicht so hölzern in der Tür stehen. Kommt näher, meine Täubchen. Komm, lieber Reik, komm, süßes Glasäugelein. Näher! Näher!" In dem Bett lag der König. Er setzte sich auf, suchte mit fahrigen Bewegungen seine Krone, die er unter einem Kopfkissen vorzog und sich auf den Kopf stülpte. Auch er vertrieb Treponas mit einer
Handbewegung und winkte Reik und Glasäuglein heran. Und während die 34 Freunde schweigend den Saal durchschritten, strich sich Seine Majestät den Bart glatt, klatschte sich gegen seine eingefallenen Wangen und wischte sich Schweiß und Schmutz von der Stirn. Dazu benutzte er seinen brüchigen Hermelinmantel. "Mir ist ein wenig flau im Kopf", begrüßte der König die Ankömmlinge, "das gibt es schon. Kalt ist mir, und meine Augen sind trübe. Ihr aber, ihr werdet mir helfen, ich sehe es euch an. Wie eure Herzen schlagen, wie warm euer Blut ist: Kommt, meine Kinder, komm, mein lieber Schwiegersohn, laß dich umarmen." Reik fühlte, wie Treponas ihn sanft vorwärtsschob. "Geh, mein kleiner Bratapfel", zischte er hinter Reiks Rücken, "geh schon, Seine Majestät haben einen Wunsch geäußert. Da säumt man nicht." Reik fuhr herum und starrte Treponas an, der vor seinem Blick zurückwich und sich auf die Truhen hockte, dabei wie ein Kind weinend. "Nein", hörte Reik da Glasäugleins klare Stimme, "wir werden uns hüten, Euch zu berühren. Wir sind Eurer Tochter zugeordnet. Laßt uns also abziehen, Majestät." "Meuterei, Aufruhr, Revolution", brüllte Strepton Pyrogenum, "potz Resistenz und Pestilenz - welche Reden vor meinem Angesicht!" Die Krieger an den Wänden schlugen ihre Waffen dreimal gegeneinander. "Aber zum Zeichen meiner königlichen Huld", fuhr Seine Majestät fort zu reden, "will ich euch ein Gastgeschenk machen. Treponas, öffne die Truhen und laß sie wählen!" Wieder hatte der Hofnarr das Aussehen Anja Winterlichts angenommen. Er öffnete mit sanfter Hand die Deckel und erstarrte in einem tiefen Hofknicks. Reik trat an die Truhen heran. Sie waren bis obenhin mit Gold und Silber und den wunderbarsten Schmuckstücken gefüllt, die der Junge je gesehen hatte. Ringe und Ketten, Broschen und Gemmen lagen da. Rötlich schimmerndes Dukatengold lag neben hellen, gleißenden Edelsteinen. Ganz besonders eine Kette mit einem herzförmigen Anhänger hatte es Reik angetan. Die Kette wirkte schwer, die Brillanten in dem goldenen Herz funkelten wie kleine Sonnen. "Dieses Stück", Reik sah Anjas Hände, die die Kette faßten, und hörte ihre leise, lockende Stimme, "ist deiner würdig, mein stolzer Ritter. Leg sie sogleich an, und mein Gefühl für dich wird grenzenlos sein." Reik vergaß den düsteren Raum und das schaurige Schloß. Es schien ihm, als sei er allein mit Anja in einer Schatzkammer jenseits der Zeit.
Die Finger des Mädchens näherten sich seinem Hals. Eine heiße, nie erlebte Woge überrann Reik. "Nein", durchzuckte da Glasäugleins flehentliche Stimme die Vision, "nicht, Reik! Die Kette wird dich erdrosseln, denn sie stammt aus dem i Grab eines toten Mädchens!" 35 Reik riß die Arme hoch und stieß Anja von sich. Sie stürzte, und die Kette zerfiel zu Staub. Doch statt Anja erhob sich ein Wesen, dessen stachlige Haut von Geschwüren bedeckt war. Es stieß schrille Töne aus und hinkte aus dem Saal. "Packt es!" schrie da der König und wies auf Glasäuglein. Drei Krieger ergriffen Reiks Gefährten und verschwanden mit ihm durch eine Seitentür. "Majestät", Reik fühlte, wie Verzweiflung in ihm hochkam, "bitte, gebt mir meinen Freund zurück." Der König erhob sich und stand nun auf seinem Bett. Sein Arm deutete zur Tür. "Geh schon, Menschenwicht", stieß er matt hervor, "geh zu meiner Gattin, der teuren Königin. Sie will dich sehen. Sie will alle sehen, die um die Hand ihrer Tochter anhalten. Aber verliebe dich nicht in sie. Sie ist ein heißblütiges und verführerisches Weib." Er lachte knurrend, schleuderte die Krone in eine Saalecke und ließ sich aufstöhnend in die Kissen fallen. Wieder erschienen die beiden bronzenen Ritter, nahmen Reik zwischen sich und verließen den Saal. Reik fühlte das Fehlen des Freundes. Jetzt spürte er die Kälte in den Gängen, roch den Moder und die Fäulnis, sah deutlicher als vorher die häßlichen Imitationen an den Wänden. Die Tür, vor der sie nun anhielten und gegen die die Ritter pochten, war aus weißem, schwarz geädertem Marmor. Auf das Klopfen hin glitten die beiden Türflügel in die Wände. Zweimal fünf Feuer erhellten den Saal und ließen die Schatten auf und nieder tanzen. Alles verwob sich miteinander. Inmitten der Feuer aber stand ein Gerüst aus stachligen Ästen, und darauf saß ein dürrer Mann mit einem riesigen Kopf und einem Bart, der hinab zu den Flammen reichte. Die Krieger an den Wänden waren in weiße Leinentücher gekleidet, die nur die noch weißeren Hände und einen Spalt für die Augen frei ließen. Der auf dem Gerüst hob nun ein fremdartiges Musikinstrument, dem er wehmütige Klänge entlockte. "Tritt ein", sang er, seine glühenden Augen auf Reik gerichtet, "und falle vor ihr, der Einzigartigen, der Herrin und Königin auf die Knie." Reik machte die ersten Schritte in den Raum hinein. Er gewahrte den erhöhten Thron, zu dessen Füßen zwei dunkle Tiere saßen, deren dolchartige Zähne im Licht des Feuers unheildrohend schimmerten. Der
Thron mündete in zwei goldene Stangen, die in einer goldenen Kugel endeten. Und auf diesen Kugeln hockten Vögel, die, vierhälsig und vierköpfig, alles sahen, was im Thronsaal vor sich ging. Der Musiker schlug erneut sein Instrument, und all die weißbehangenen Gestalten fielen in die Melodie ein. Reik fühlte, wie ihm schwindlig wurde. 36 "Herbei", riefen die Vögel achtschnäblig, "herbei, du Sohn der Sonne. Die Königin bebt vor Ungeduld. Eile!" Reik ging an den Feuern vorüber und ließ keinen Blick von dem Thron, auf dem niemand saß. Er betrat die erste Stufe, da zitterte die Luft vor dem Thron und gerann. Nun sah er sie, die Königin. Zugleich wurden die Töne voller und dramatischer, brachen sich an den Wänden, ihr Echo mischte sich mit dem Gesang. Die Königin war hochgewachsen und gertenschlank. Ihre Lippen schmal und streng, die Nase dünn und gerade. Sie sah Reik unverwandt an. Kein Lächeln verschönte ihre Züge. Sie stieß ihren Arm nach vorn, und ihr Daumen wies zu Boden. "Auf die Knie", rief sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Die beiden Vögel spreizten die Schwingen und schufen so einen Federbaldachin über dem Thron und über Reik. Das hungrige Winseln der beiden Vierfüßer im Rücken, ging Reik noch eine Stufe nach oben. "Ich bin Eurer Tochter zugeteilt", brachte er stockend hervor, verunsichert von dem dumpfen Gesang. Er versuchte dem Blick der Königin standzuhalten, mußte aber nach wenigen Sekunden wegsehen, denn er begann sich zu fürchten. "Mein Freund ist weg", fuhr er fort, "der König hat ihn wegschaffen lassen. Ich glaube niemandem mehr. Wenn ich ihn zurückbekäme, dann vielleicht. Ich bin so einsam ohne ihn." "Einsam", Königin Lyssa-Albina lachte hellauf, "einsam fühlst du dich also. Ich sitze hier seit Jahrtausenden. Ich sitze hier, seit der erste warme Atemzug sichtbar gegen den kalten Nordwind floß. Habe ich einen Freund? Schau dir meine Untertanen an. Sie singen, daß es einem graust. Sie singen, weil sie sich noch jener Zeit erinnern, da sie unter der heißen Sonne wandelten und sich auch da schon einsam fühlten, nicht ahnend, wie es hier sein wird. Und siehe, seit sie hier sind, lassen sie mich allein. Du aber, mein kleiner Liebling, sollst mir ein Sohn sein, der auf meinem Schoß seine freundlichen Spiele spielt, der seine Arme um mich legt und mich erwärmt, wenn die Kälte der Hallen und Korridore heraufkriecht zu mir. Ich will dir Anthracis schenken..." Sie deutete auf einen der beiden Vögel, die heftig die Flügel bewegten, so daß ein kühler Wind Reik umfloß. "Und auch Perfringens, meinen süßen Schatz." Eines der beiden vierbeinigen Tiere winselte hinter Reiks
Rücken. Zorn und Wut lagen in diesem Winseln. "Komm zu mir", vollendete die Königin ihre Rede. Reik machte einen Schritt zurück, schüttelte entschlossen den Kopf und umklammerte seine Tasche. "Es ist alles Lüge", schrie er, und die Musik brach ab, die Tiere vom Fuß der Treppe krochen knurrend näher, und die beiden Vögel erhoben sich in die Luft und kreisten drohend über dem Thron. ,Ja, alles ist Lüge! Ich wurde über eure Marmorstraße getragen. Und Glasäuglein sagte, diese Straße soll länger und 37 länger werden. Kein anderes Ziel kennt ihr. Ich will mein Glasäuglein wiedersehen." "Packt ihn", befahl die Königin mit schneidender Stimme, und die beiden Raubtiere gingen zum Angriff über. Da faßte Reik sein Schwert, das dunkel glänzend in seiner Hand lag, und er nahm seinen Schild und hielt ihn vor sich. Die Tiere wichen knurrend, aber mit eingezogenen Schwänzen zurück, drückten sich am Mauerwerk entlang und entschwanden Reiks Blicken. Auch die Verhüllten, die lautlos bis zur Treppe vorgedrungen waren, flüchteten stöhnend und ächzend auf ihre angestammten Plätze zurück. Die Königin lachte, als sie all das sah. Sie lachte derart, daß sie sich an ihrem Thron festkrallen mußte, um nicht vornüberzufallen. Das Rauschen lederhäutiger Flügel warnte Reik. Er riß den Schild nach oben, hieb mit dem Schwert um sich. Er konnte seine Gegner nicht sehen, und so war es für einen der beiden Vögel ein leichtes, ihm den Schild zu entreißen. Reik packte das Schwert mit beiden Händen und verdoppelte seine Anstrengungen. Doch die Krallen der Vögel wuchsen sich auch zu Schwertern aus, und die Angreifer waren zu zweit. Reik wich zu einer Säule zurück, stellte sich mit dem Rücken dagegen. Zu spät merkte er, daß dort ein weißes Leinentuch hing. Dünne fleischlose Hände drangen daraus hervor und packten ihn am Hals. Reik warf sich herum. "Gerstfeld", schrie er, "hilf mir doch!" Da sprang eine mächtige Quelle, eine riesenhafte Fontäne zwischen den Feuern empor, warf das Gestell des Musikers um, spritzte nach allen Seiten. Alles hastete und floh hinaus, die Vögel, gerade noch im Siegestaumel, zerbröckelten dort, wo das Wasser sie traf. "Das Tränenfließ", rief Reik und schleuderte das zerfallende Leinentuch von sich, "Menschen trauern um Menschen." Er wandte sich mit dem Schwert um, wollte gegen die Königin vorgehen, aber nichts als eine zitternde Luftschicht war von ihr geblieben. Reik durchquerte den Saal der verlöschenden Feuer und stieß im Gang auf die beiden Bronzeritter, die ihre Schwerter herausrissen, als sie Reik bewaffnet sahen. Doch der
Junge steckte das seine ein. "Bringt mich schon zu ihr", stieß er angewidert aus, "eher werde ich kaum von hier fortkönnen." Der Weg war diesmal länger. Sie verließen das Hauptgebäude, kamen über lichtlose Höfe und durch staubige Gärten. Dann erhob sich vor ihnen ein zweites, wenn auch sehr kleines Schloß. Am Eingang standen zwei bewaffnete Frauen, die Reik übernahmen und in das Gebäude brachten. Es ging eine lange, steile Treppe nach oben. Die Tür, durch die er treten sollte, war schon offen. Und in dem Raum hing eine Schaukel, auf der die Prinzessin saß und hin- und herschwang. "Du möchtest auch schaukeln, stimmt's", rief sie lachend und schwenkte übermütig die Beine vor und zurück. 38 Das Zimmer war angefüllt mit dem schönsten Spielzeug, das Reik je gesehen hatte. Farbenfrohe Tapeten, die Wiesen, Wälder, Seen und Flüsse zeigten, bedeckten die Wände. Und es sah aus, als bewegten sich die Bäume ganz leicht, als flösse das Wasser der Ströme murmelnd dahin, als schwankten die Schilfstengel, als nickten die Blumen. An der Decke des Raumes hingen Hunderte von kristallenen Leuchtern, in denen Tausende von Kerzen brannten. Taghell war dieser Raum erleuchtet. "Wenn du mich anhältst", rief die Prinzessin, "darfst du schaukeln, und außerdem verrate ich dir ein Geheimnis." "Warum nicht", Reik legte den Gürtel mit dem Schwert ab, kroch aus der Enge der Rüstung. "Falls du Mut hast", fuhr Vibriana Valpurga fort, "nimmst du mich mit, wenn du gehst, denn ich wollte schon immer aus diesem Schloß fliehen. Ich kann dir eine treue Begleiterin sein." "Du bist anders als deine Eltern", stellte Reik fest, "du scheinst mir die einzig fühlende Person hier zu sein. Es ist schon gut, wenn einer von hier fort will. Aber was ist das für ein Geheimnis?" Vibriana Valpurga deutete auf einen Haufen Plüschtiere. Die obersten Tiere bewegten die Köpfe, fielen zur Seite, und Glasäugleins Kopf erschien zwischen ihnen. "Eine angenehme Überraschung?" fragte Vibriana Valpurga. Da stellte sich Reik ihr in den Weg und fing die Schaukel ab, wie sie es gewünscht hatte. Die Prinzessin lachte glücklich und schlang ihre Arme um seinen Hals. "Ich komme mit", rief sie, während eine tiefe Röte ihre Wangen einfärbte, "wir fliehen aus diesem finsteren Schloß." Er hob die Prinzessin, die ihm gewichtslos vorkam, von der Schaukel und stellte sie auf den Boden, aber sie ließ ihn nicht los und drückte sich an ihn und küßte ihn wieder und wieder. Endlich gab.sie ihn frei und ging
ungeduldig im Zimmer auf und ab. "Wann fliehen wir?" wollte sie wissen. "Bald, bitte bald!" Reik setzte sich auf die Schaukel, um so Glasäuglein zu empfangen, der sich aus dem Plüschtierhaufen befreite. Die Schaukel riß aus der Decke, und Reik stürzte zu Boden, lag auf dem weichen Teppich, der den ganzen Saal bedeckte. Vibriana Valpurga kicherte und winkte dann ab. "Wenn wir erst einmal im Wald sind", erklärte sie, "baust du mir eine Riesenschaukel auf einem Riesenbaum. Bitte, bitte!" Reik wollte aufspringen, aber seine Arme und Beine waren wie Blei. Abwechselnd war ihm heiß und eiskalt, und sein Gesicht wurde blaß, dunkle Ringe bildeten sich um seine Augen, während Vibriana Valpurga immer frischer und gesünder aussah. Glasäuglein schob derweil 39 ein Bett zu Reik, packte ihn und legte ihn darauf. Reik hatte Durst. Sein Kopf war leer und dröhnte. "Leg doch bloß die dumme Umhängetasche ab", schlug die Prinzessin vor und betrachtete ihn besorgt. Neben ihrem Kopf erschien ein zweiter Mädchenkopf. Anja Winterlicht stand da. Jetzt erkannte Reik sie, erblickte das Sommerkleid, das er schon einmal gesehen hatte. Doch wo das gewesen war, wußte er nicht mehr. "Reik", flüsterte Anja, "mein lieber Reik. Ich bin den ganzen Weg zu dir gelaufen. Von Rüdersdorf bis hierher. Ich sehne mich nach dir." "Du . . ., du bist nicht Glasäuglein", murmelte Reik kaum hörbar, "und ..., und du hier auch nicht Anja . . . Ich muß . .., ich müßte dich kennen. Du bist etwas Gemeines, Böses, etwas Widerwärtiges." Vibriana Valpurga setzte sich jetzt ebenfalls und legte Reik ihre kühle Hand auf die Stirn. "Ich bleibe bei dir", flüsterte sie. "Sieh dir den Tisch an", bat Anja und faßte Reiks Hände, "überall liegen Schokolade und Bonbons, gibt es Torten und wunderbar gekochte Speisen. Iß sie und stärke dich! Iß, mein Lieber." "Du bist nicht Anja", Reik versuchte seine Gedanken zu sammeln, "aber vielleicht sollte ich etwas essen. Mir ist so schlecht. . ." "Iß", rief Anja und kicherte leise, "niemand sonst braucht dieses Zeug. Eltern haben es Kindern mitgebracht. Aber die Kinder brauchen es nicht mehr. Nichts mehr brauchen sie. Aber nichts bringt man nicht mit, stimmt's?" "Was soll das heißen?" Reik setzte sich mühevoll auf, befreite seine Hände aus den heißen Händen Anjas, stieß Vibrianas Hände von seinem Kopf fort. "Das heißt", Anja unterdrückte mühsam ein Lachen, "daß besorgte Eltern ihren Kindern das Zeug ins Krankenhaus mitnahmen und nicht wußten,
daß ihre Kinder es nicht mehr brauchen. Erst brachten sie die Kinder und dann die Schokolade. Sehr komisch, was?" Und nun konnte Anja nicht mehr an sich halten. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen. Reiks Augen verloren den trüben Ausdruck, wurden klar. Es war der Haß, der ihn hochriß. Er stand neben dem Bett, blickte voll Abscheu auf die lachende Anja ^nieder. "Ich weiß jetzt, wer du bist", stieß er hastig aus, "du bist Treponas, dieser abscheuliche Hofnarr. Du hast mir das Glasäuglein vorgespielt und jetzt die Anja. Und ich weiß, daß Vibriana Valpurga ebenfalls abscheulich ist. Niederträchtig nutzt sie die scheinbar freundliche Stimmung in ihren Sälen, um zu betrügen und zu vergiften." Reik zog das Schwert und ging zwei Schritte zurück. "Und ich weiß auch, wessen Spielzeug hier liegt", fuhr er unbarmherzig fort, "und wessen Kerzen hier brennen. Die Kristalleuchter, jedes einzelne Kristall hat die Form einer Träne ... Ihr Verfluchten!" 40 Da wich Treponas zurück zur Tür. Aber noch im Gehen stand er in hellen Flammen, und als die Flammen erloschen, war ein anderer Tre-' ponas dort. Er reichte hinauf bis zur Decke des Saales. Arme und Beine waren behaart, und er sah weißlich aus wie Morgennebel auf den Feldern. Er starrte aus leeren Augenhöhlen um sich, und in seinem weit aufgerissenen Maul schimmerten gelb und faulig riesige, angespitzte Zähne. Er glitt rücklings aus dem Saal, mit seinem massigen Schädel gegen die Kronleuchter stoßend, die leise klingelten. Ein Korridor erloschener Kerzen zeichnete seinen Weg nach. Draußen angekommen, stürzte er bäuchlings die lange Treppe hinab, während sich die Saaltüren hinter ihm lautlos schlössen. "Dieser Betrüger", empörte sich Vibriana und preßte die Hände gegen ihren Mund, "oh, wie ich ihn hasse! Du aber, mein getreuer Ritter, mein strahlender Retter - gewachsen ist meine Liebe zu dir. Doch füllt mich Trauer, wenn ich aus deinem Munde höre, daß ich für dich nicht anders bin als er ... Ich bitte dich, nimm es zurück. Oder willst du mich sterben sehen? Ein Leben ohne dich ist mir unvorstellbar . . ." "Verräterin!" Reiks Ruf ließ sie innehalten, "ich bin nicht mehr der dumme Junge, den dein Vater mit seiner vertrottelt wirkenden Heimtücke, deine Mutter mit ihrer kalten Härte und du mit dem, was du für Liebe ausgibst, einfangen kann. Ich muß hier raus!" Das letzte schrie er. Der Raum veränderte sich zwischen zwei Augenaufschlägen. Statt der freundlichen Tapete schimmerte eine dicke Schimmelschicht auf dem putzlosen Mauerwerk, die Fenster waren glanzlos und vergittert. Vibrianas Bett hatte sich in ein altersschwaches Gestell verwandelt, auf dem schmutzige Lumpen ausgebreitet waren. Reiks Rüstung lang
verrostet und verrottet am Boden, und ungezählte Spinnen hatten ihre Netze in ihr gewebt. Wie lange, dachte der Junge, wie lange nur bin ich hier gewesen? Erschrocken sah er, daß auch sein Schwert zu bröckeln begann. Er hatte nur noch den Griff in der Hand. Vibriana machte einen tänzelnden Schritt auf ihn zu. Sie sah blaß und kränklich aus, und auch das Rot ihrer Wangen war vergangen, dafür blitzte eine wilde Entschlossenheit in ihren Augen auf. "Bleib stehen!" schrie Reik, und sie hielt einen Augenblick inne, die Spitzen ihrer Fingernägel ins eigene Fleisch grabend. Reik stürmte gegen die Tür. "Glasäuglein", rief er laut, um sich Mut zu machen. "Gerstfeld! Ich komme! Sie halten mich nicht mehr auf." Krachend stürzten die Türen nieder, und Reik fiel, überschlug sich mehrmals auf der langen Treppe und kam schließlich auf die Füße. Er sah sich von einem Ring weißgekleideter Ritter umgeben, die ihre Lanzen gegen ihn richteten. 41 "Ich komme!" wiederholte er noch einmal die Formel, ehe er, waffenlos, mit fest geschlossenen Augen gegen die drohenden Lanzen anrannte. Es klapperte und knirschte ringsum, und als Reik die Augen mehr probeweise denn überzeugt öffnete, stand er in einem der fauligen Gärten vor dem Prinzessinnenpalais. Er stürmte den Weg entlang, den man ihn vorher geführt hatte, und betrat das Schloß der Königin. In der riesenhaften Halle brannte nur noch ein schwaches Feuer, zwei Reihen niedergesunkener und fast verwitterter Grabsteine lehnten sich gegen das Mauerwerk, und ein räudiger Fuchs strich mit eingeklemmtem Schwanz herum. Er jaulte leise, aber unangenehm schrill. Die beiden Vögel hockten unbeweglich auf zwei steinernen Gedenktafeln. Reik hielt sich nicht auf. Er lief weiter, immer wieder einmal sein "Ich komme!" ausstoßend. Auch der Königssaal war verlassen und schrecklich verändert. Statt des königlichen Bettes gurgelte und schmatzte das faulige Wasser eines schwarzen Moorlochs, statt der Truhen lehnten Grabsteine aneinander. Da wandte sich Reik ab und lief weiter. Unerwartet gab der Boden unter ihm nach, und er stürzte in einen Kellergang. Ein von den Wänden ausgehendes phosphoreszierendes Licht ließ ihn die Dinge, wenn auch undeutlich und schemenhaft, erkennen. Zwei Türreihen befanden sich rechts und links. Jede Tür besaß einen stark vergitterten Durchbruch. Nur kurz blieb Reik stehen, doch was er salvließ ihn erschauern. Da waren Wesen, weitaus schrecklicher als Treponas und eisiger als Vibriana. Sie wogten und glitten durch die Räume, stiegen auf und zerflatterten wie Rauch hinter Dampflokomotiven. Aber mit ihnen waren
andere in den Räumen, und die erschienen ihm wie Menschen, wie weißgekleidete Menschen. Und es waren die Menschengestaltigen, die die Ungeheuer fütterten und sie hätschelten und streichelten. Reik lief weiter, mit keuchenden Lungen und stieren, entsetzten Augen. Und dann, als er meinte, keinen Schritt mehr gehen zu können, erreichte er einen finsteren Saal. Nur ein einziger Lichtstrahl drang durch ein Loch in der Decke, und in dem Lichtstrahl stand klein und krank, mit matten Augen, die, halbgeschlossen, den trostlosen Anblick verstärkten, Glasäuglein. "Achsoklein", jammerte Reik, "was haben sie mit dir gemacht? Mein lieber Freund." Und er lief auf das Kleine zu, hob es hoch, drückte es an sich und küßte dessen feuchte weiße Wangen. Da öffnete Glasäuglein die Augen. Es sah Reik glücklich an. "Reik", antwortete es flüsternd und kuschelte sich an den Freund, "Reik. . . Ich bin so glücklich, daß du mich gefunden hast." "Wir müssen fort", drängte der Junge, "mir ist die ganze Zeit über, als 42 beobachteten mich ungezählte Augen. Ich denke immer: Da sammeln sich Ungeheuer. Sie kommen alle auf einmal. Sie wollen uns verderben." "Das fühle ich auch", stimmte Achsoklein zu, "aber alle Türen hinter dir sind zu, wie sie auch hinter mir zuschlugen. Und dort oben, kommst du da hinauf?" Glasäugleins dünnes Fingerchen deuteten nach oben. Da war, vielleicht fünf, aber möglicherweise auch zehn Meter über ihnen, ein quadratisches Loch in der Decke, durch das Tageslicht hereindrang. "Da kommt etwas", piepste Achsoklein ängstlich. Reik wandte den Kopf. Durch die Schwärze des Ganges näherte sich tatsächlich etwas, was einen schwachen Lichtschimmer verbreitete. Es war eine Spinne, nicht kleiner als Glasäuglein. Sie musterte die beiden Gefangenen mit ihren acht Augen. Tastend kam sie näher. Reik schob das Glasäuglein hinter sich, und er ballte die Hände zu Fäusten. Eine Waffe hatte er nicht. "Ach ihr", sagte die Spinne und hob vier ihrer acht Beine in die Höhe, "was habt ihr nur?" "Ich habe nichts als meinen Freund Achsoklein", antwortete Reik leise, aber entschlossen, "und ich lasse mich nie mehr von ihm trennen. Ich bin bereit, um ihn zu kämpfen." "Angst hast du", fuhr die Spinne fort, "Angst, weil ich anders aussehe als ihr. Acht Beine, acht Augen und weben können ohne eure plumpen Maschinen. Ich bin übrigens Arachna, die Königin der Spinnen. Ein schwieriges Amt, mein Lieber. Immer wieder kommen arme geschundene Untertanen zu mir und berichten, wie sie mit Scheuerlappen und Besen gejagt wurden, wie Menschen schrill
aufschrien, nur weil sie eine meines Geschlechts sahen. Und dabei sind wir es, die diese Aasfliegen und Mücken, die Bremsen und Moskitos dezimieren, die euch sonst aussaugen und quälen würden. Manchmal wünsche ich mir, als Wellensittich oder Schoßhündchen geboren zu sein ... Lassen wir das. Du willst hier raus. Ich weiß. Ich werde dir helfen. Aber eine Bedingung: Wenn du dich wehrst, wenn deine Angst größer ist als dein Vertrauen zu mir, dann beiße ich dich. Hast du das verstanden?" "Was soll ich also tun?" fragte Reik. "Stillhalten", erklärte Arachna und kam lautlos näher, "was auch immer geschieht, du darfst nicht zappeln oder gar um dich schlagen. Mein Biß kann tödlich sein." "So sei es denn", gab Reik seine Zustimmung, nahm das Glasäuglein auf den Arm, das sich sanft an ihn schmiegte. Arachna hob ihre Vorderbeine. Aus der Deckenöffnung regnete es Spinnen. Eine schwarze krabbelnde Wolke senkte sich auf Reik und seinen Freund herab. Der Junge schloß die Augen, sah aber das Krab43 beln und Hasten, sah die Millionen Leiber durch die geschlossenen Lider. Er preßte die Lippen zusammen. Reik und Glasäuglein wurden eingesponnen. Dichter und dichter wurde das Netz, der schreckliche Keller verschwand hinter weißen, glitzernden Fäden. Als das Werk der Spinnen beendet war, trat Arachna an den Kokon heran. Ihre Augen schimmerten wie dunkle Glaskugeln durch das Netz, und wie zwei riesige Dolche glänzten ihre Beißzangen. Reik kämpfte gegen den Gedanken, in eine Falle getappt zu sein. Das war nicht leicht. Nur Glasäugleins ruhiger Atem und seine Wärme beruhigten den Jungen ein wenig. Wieder hob Arachna die Vorderbeine, und die Freunde lösten sich vom Boden, schwebten sacht nach oben. Es ging durch das Loch, und freundliches Licht drang durch den Fadenvorhang. Arachna erschien erneut und biß den Fadenkokon auf. "Bitte", sagte sie währenddessen, "mehr kann ich nicht für euch tun." Reik, noch immer das Glasäuglein an sich drückend, stieg aus. Sie waren auf dem Schloßhof. "Hab Dank", Reik verneigte sich vor Arachna, während Glasäuglein auf den Boden hüpfte und sich ebenfalls verbeugte, "für deine Freundlichkeit. Ich werde das nie vergessen." "Vielleicht", gab ihm Arachna zur Antwort, "wirst du einmal an einem Sommerabend eine aus meinem Geschlecht sehen, die dort sitzt, wo es dir nicht paßt. Dann sage ihr, was du mir gerade sagen wolltest. Zu viele von ihnen werden grundlos getötet. Zieh hin in Frieden, du Mensch." Nach diesen Worten verschwand sie wie ein Schatten im Keller.
Die beiden Freunde waren nur wenige Schritte gegangen, als donnernd und krachend einer der Schloßtürme in sich zusammenstürzte und mooriges Wasser meterhoch aufspritzte. Risse entstanden im Mauerwerk der Gebäude. Fenster barsten, und im Innern tobte eine Feuersbrunst. Reik und Glasäuglein hasteten zur Zugbrücke, deren Mittelteil in die Tiefe polterte. Sie drehten sich um, sahen den Prinzessinnenpalast niederstürzen, blickten fassungslos auf die Zinnen und Türme, die schwankten und schließlich krachend auf das Hauptgebäude niedergingen. "Ich komme!" stieß Reik noch einmal jenen Ruf aus, der ihn durch das Schloß begleitet hatte, faßte Glasäugleins Hand, und sie rannten auf die Brücke zu, sprangen ab. Unter ihnen reckten sich quallige Arme nach oben, langschnäuzige Kalmare streckten sich neben spindeldürren, stieläugigen Kraken, wollten die Springenden hinabreißen in die schimmligen Tiefen des Schloßgrabens. 44 Sicher landeten Reik und Glasäuglein auf der anderen Seite der Brücke, stürmten über sie hin und standen auf festem Boden. Ein furchtbarer Wirbelsturm packte das Schloß, riß die schimmligen Gärten aus dem Untergrund, begann ein Werk restloser Vernichtung. Allmählich wurde er schwächer, und alles sank als Staub nieder. Die Wolkendecke riß auf. Erste Stücke blauen Himmels zeigten sich. Ein Geruch von guter schwarzer Erde, von regennassen Pflanzen und zarten Blüten stieg Reik in die Nase. "Da", sagte Reik, und seine Stimme war die eines erstaunten kleinen Jungen, "Achsoklein, sieh doch nur!" Vor ihnen dehnte sich eine Wiese, auf der Weidenbäume standen, sich ein Flüßchen seinen Weg bahnte. Nichts von einem toten Wald, nichts von Virulon und seinen wandernden Algenstämmen. Schilfgürtel rauschten dort, wo vordem die toten Lachen gewesen waren. Sie schritten kräftig aus, entfernten sich weiter und weiter von dem einstigen Schloß. "Wir haben es geschafft", murmelte Reik und schüttelte den Kopf, "wir haben es geschafft!" Glasäuglein blieb stehen und bückte sich. Da stand eine einzelne Blüte. Sie war so schön und leuchtete so intensiv, daß sich auch Reik niederbeugte. 45 Glasäuglein streichelte sie sanft. "Es ist unsere Blume", flüsterte es und sah Reik gerade in die Augen.
Dem Jungen wurde merkwürdig zumute. Er nahm die Hände seines kleinen Freundes, hielt sie in den seinen. "Mein Glasäuglein", sagte er nachdenklich, "weißt du, man würde mich auslachen, zu Hause bei mir, wenn ich den anderen sagte, wie ich dich mag. Denn du siehst nicht wie ein Mensch aus. Aber wenn du mich ansiehst, dann ist es mir, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll: Es ist schön, wenn du mich ansiehst." "Vergiß aber nicht", Glasäuglein lachte froh, "daß du mir noch ein Schlaflied schuldig bist." Nach diesen Worten lief es los, sprang über Wasserlöcher, turnte übermütig in den Weiden herum, so daß Reik alle Mühe hatte zu folgen. Das Land stieg sanft an, die Wolkenlöcher wurden größer, bis ein makelloser blauer Himmel sich über ihren Köpfen dehnte. Freundlich beschien die tiefstehende Sonne ferne Wälder und die Wiesen. Als die beiden den höchsten Punkt erreicht hatten, blickten sie hinab in ein kreisrundes Tal. Drei Flüsse, in der Abendsonne wie getriebenes Kupfer blinkend, durchschnitten das Tal und vereinten sich zu einem ovalen See, an dessen Ufer die ersten Abendnebel aufstiegen. Aus den hellgrünen Baumkronen ragten an zwei Stellen Felsen, die ihre blauen Schatten über die Bäume warfen. Ungezählte Vögel sangen, Spechte hämmerten, und Insekten summten. Tief unten im Tal brannte ein einzelnes Feuer, und an diesem Feuer saß Gerstfeld. Es schien den beiden Freunden, als habe Gerstfeld einen Dackel bei sich, aber dann war der Gefährte wieder allein dort, kochte etwas über dem Feuer. Reik und Glasäuglein faßten sich bei den Händen und liefen lachend, so schnell sie ihre Beine trugen, den sanften Hang hinunter. Gerstfeld war aufgestanden, kam ihnen ein paar Schritte entgegen und schloß Reik in die Arme. "Mein Junge", rief der große Mann, "du hast es geschafft. Es ist wunderbar. Es ist großartig. Sie haben mir nie geglaubt, daß du es schaffen könntest, und ich habe ihnen gesagt: Ja, er wird es überwinden. Und nun hast du es vollbracht. Setzt euch, meine Gefährten, und trinkt meinen Waldwiesentee. Stärkt euch an Pilzen und gebratenem Fisch, an selbstgebackenem Brot und wildem Honig. So setzt euch." 46 Das Tal der flimmernden Träume Während Reik und Glasäuglein Hunger und Durst stillten, betrachtete Gerstfeld sie mit Wohlwollen. "Es war ein schlimmer Augenblick für mich", begann er plötzlich leise zu erzählen, "als dich die Pflanzen fingen und ich weitergehen mußte. Ich mußte weitergehen. Die ASGE-DANrunde hatte es verfügt. Fast hätte ich mich mit der verwaltenden Vernunft überwerfen. Und als ich hörte, welchen Zeitraum sie dir gaben, die Fähigkeiten zu erlangen, die man braucht für diesen Weg, wurde ich
erneut zornig. Gebt ihm die dreifache Zeit, signalisierte ich ihnen, oder wenigstens die doppelte, denn er ist ein Mensch, und er muß sich befreien aus dem Gespinst der falschen Reden, der geschickten, aber verlogenen Sprüche. Nein, die ASGEDANrunde ließ sich auf nichts ein. Sechs Wochen, sagten sie, entweder er kommt, oder du holst ihn, bringst ihn zurück und wählst einen anderen aus. Kein Tag mehr." "Sechs Wochen", Reik lachte, "einen Tag hat es gedauert. Was ist an sechs Wochen denn kurz?" Glasäuglein verschluckte sich an seinem Tee und setzte die Schale ab. Es betrachtete Reik durchdringend. Der fühlte wohl, daß etwas nicht stimmte. Sein Lachen brach ab, und er blickte nachdenklich von einem zum anderen. "Fünf Wochen", hob Achsoklein mit seiner zarten, klaren Stimme an zu sprechen, "fünf Wochen warst du bei Vibriana. Und an der sechsten Woche fehlte dir nur eine einzige Nacht - diese jetzt gerade hereinbrechende. Wärst du morgen früh gekommen, sie hätten hier deine Reise enden lassen." "Ist das wahr?" Reik schaute ungläubig drein. "So lange war ich dort in jener Düsternis ... Und mir schien es nicht einmal ein Tag zu sein. Einige wenige Stunden vielleicht..." "Glasäuglein sagt, wie es war", bestätigte Gerstfeld und betrachtete Reik wohlwollend, "man verliert dort die Zeit. Und mit der Zeit geht man selbst verloren. Aber jetzt ist es ausgestanden. Alles ist gut. Im Augenblick jedenfalls . .." "Im Augenblick", wiederholte Reik, "heißt das, daß hier schon wieder ein Ort ist, wo man sich beweisen muß, wo man geprüft wird?" Nach diesen Worten wickelte er sich müde in seine Schlafdecke und schaute in den Nachthimmel, an dem die Sterne blinkten. Versunken war die Sonne, die Vögel schwiegen, und die nächtlichen Insekten begannen ihr einschläferndes Lied. Wie stumme Wächter bildeten die nachtdunklen Bäume einen weiten Ring um das kleine Feuer mit den Gefährten. 47 "Zu meinem Geburtstag", murmelte Reik, "wünsche ich mir, daß mir einer auf meine Fragen auch eine Antwort gibt." "Nenn mir etwas, was nicht zugleich Prüfung ist!" beantwortete Gerstfeld jetzt Reiks Frage. "Das absichtsloseste oder zufälligste Kinderspiel, ist es nicht auch immer Prüfung, um zu erfahren, wer noch dazugehört und wer schon nicht mehr? Sicher, hier gibt es weder Moor, noch treibt sich Virulon herum, aber - nicht einmal das ist sicher. Eigentlich ist hier nur ein leeres Tal."
"Es ist der schönste Ort, den ich kenne", Reik sprach müde, leise und ein wenig undeutlich. "Unser Wiedersehen hat es schön gemacht", fuhr Gerstfeld fort, "du willst es schön sehen, und so ist es denn schön. Jetzt kommen die Mühen. Du mußt den Steinernen Kopf zum Baum der zehn Zeiten tragen. Wir müssen zu ihm, den man auch den Baum der Schwäne nennt - denn das Rauschen seiner Blätter erinnert an Schwanenflügelrau-schen -, weil wir nur über ihn nach Astras und Evolun gelangen können. Und so wird es immer weitergehen. Stets warten Prüfungen auf dich. Bis du so stark und frei bist, daß du es wagen kannst, deinen Fuß auf das Land von ..." Gerstfeld brach ab, blickte zu Reik nieder. Der Junge schlief und lächelte im Schlaf. Gerstfeld wandte den Kopf in Richtung eines nahen Gebüschs. "Nun", seine Stimme war lauter, völlig verändert, "wie gefällt er dir?" Aus dem Schatten trat ein Wesen, das Reik kaum bis zum Knie gereicht hätte. Im ersten Moment erinnerte es an einen zweibeinig laufenden Käfer, doch ein winziges Menschengesicht verwischte diesen Eindruck sofort. Rechts und links erhoben sich auf dem großen Schädel zwei Antennen, die ununterbrochen die Luft tastend durchschnitten. Vier kleine Arme und vier ebensolche Hände verstärkten wieder die Empfindung, es handele sich um ein Insekt, während der Leib, die Füße und Beine menschlich waren. Es war eine Zarppe, die Gerstfeld von der ASGEDANrunde als Beobachter und Helfer an die Seite gestellt war. "Wie gefallen sie mir?" rief die Zarppe, stemmte zwei Fäuste in die Hüften und verschränkte das andere Armpaar vor der Brust. jDu weißt, daß ich grundsätzlich etwas gegen alles habe, was mich aus Versehen zertreten kann und dann Verzeihung sagt. Und leider ist dieses täppische Denkäffchen von ebender Art..." "Hmm, Zarppe", grollte Gerstfeld, der seinen Begleiter nur zu gut kannte. Er wußte, daß Zarppen gern reden und viel reden. Und wenn sie mal nicht dazu kommen, dann pflegen sie es nachzuholen. Und sei es, daß sie aus Kleinigkeiten ein Riesenproblem machen, um es in aller Ruhe erörtern zu können. "Na, hör mal", regte sich die Zarppe auf, "du sitzt am Feuer und 48 trinkst Tee und ißt die feinsten Sachen, und ihr plaudert aufs angenehmste. Und ich klemme in dem Gebüsch, die Äste piesacken mich, die Wurzeln scheuern an meinen Füßen. Das alles wäre zu ertragen, aber ich muß schweigen. Gerade ich .. . Die ASGEDANrunde hätte dich dort unterbringen sollen und mich hier ans Feuer plazieren müssen. So ist das. Und jetzt frage ich mich: Muß ich von nun an mit
einer Warnleuchte auf dem Kopf herumlaufen, damit mich dieser Regenreik nicht niedertritt?" "Reik Regenbach", verbesserte Gerstfeld mechanisch. Im übrigen sah sein Gesicht so aus, als hätte er überhaupt nicht zugehört. "Er ist jung", fuhr die Zarppe fort, "wie ein Baby. Soll ich ihn mir in Ghetton oder Destrusos vorstellen? Lieber nicht." "Das ist schon richtig", Gerstfeld dachte nach, "aber der Steinerne Kopf ist auf Menschen programmiert. Also kann ihn auch nur ein Mensch handhaben. Wir scheiden aus. Stell dir nur vor, Susan der Schwarze oder Arcton oder ich, wir würden losziehen. Die dann folgenden Zerstörungen wären durch den Erfolg nie und nimmer gerechtfertigt. Nein, es ist Lüge, wenn man im Namen des Lebens und der Liebe den Tod und den Haß sät." Er seufzte tief. "Etwas anderes", fuhr er dann fort, "wie soll ich dich ihm vorstellen. Ihr nennt eure Namen doch nie, wenn ihr auf Reisen seid." "Ein Problem", rief die Zarppe erfreut und setzte sich auf den Arm des schlafenden Reik, doch der bewegte sich leise stöhnend, so daß sie rücklings im Gras landete. Reik zog sie wie ein Stofftier an sich. Mühevoll befreite sich die Zarppe und sprang erbost auf. Gerstfeld schüttelte sich vor Lachen. "Was habe ich gesagt", murrte die Zarppe, "bin ich sein Teddybär? Er zerknautscht mich, knetet mich wie frischen Ton, und du fragst mich, wie ich ihn finde ... Frag mich lieber, wie ich dich finde, seit ich dich schadenfroh lachen sah. Vergiß nicht, du hast dir nur die Gestalt geliehen, nicht das Lachen der Menschen." "Hat er sich auf deinen Arm gesetzt", fragte Gerstfeld schmunzelnd, "oder hast du auf seinem gesessen?" "Lassen wir das", die Zarppe hob alle vier Arme begütigend, "aber was den Namen betrifft, da bin ich zu einem Kompromiß bereit. Ich werde ihm nicht meinen Tätigkeitsnamen nennen, denn den erfährt er nur, wenn er mich einmal besucht, sondern meinen Ahnennamen: Inula Kornreck. Vor einigen Millionen Jahren waren wir tatsächlich Kornrecken. Es waren damals unsichere Zeiten, und die Kornrecken standen hoch in Ehren." "Es wird einige Zeit dauern", sagte Gerstfeld, "ehe Reik begreift, wie sehr du ihn magst, da du ihm diesen Namen preisgibst. Aber wenn er es weiß, wird er dich um so lieber haben." Während er das sagte, kroch 49 die Zarppe in Reiks Umhängetasche und richtete sich für die Nacht ein. Gerstfeld hob den Kopf. Er betrachtete ein fernes Lichtpünktchen. "Ich grüße dich, Bote des Humanos", sagte er leise.
Ein strahlender Morgen begann. Die Sonne, die kräftig rot hinter dem fernen See aufstieg, ließ das Schilf bizarr und golden aufleuchten. Wie frisch gewaschen glänzten die Blätter an den Bäumen, und ungezählte Blüten öffneten sich auf der Wiese. Das Vogelkonzert drang von allen Seiten zu dem kleinen Lagerplatz. Die Frösche und die geflügelten Insekten wetteiferten mit den Vogelstimmen. Stauden und Rispen wiegten sich im Morgenwind. Gerstfeld hatte aus Ästen einen kleinen Tisch gefertigt, auf dem vier Schalen standen. Seerosenblätter dienten als Teller. Und wieder gab es Honig, Beeren, Pilze, Brot und Tee, der in einem steinernen Topf dampfte. "Oh", machte Reik, als er erwachte. Er rieb sich die Augen, betrachtete minutenlang den Tisch und das Frühstück. Vorsichtig legte er die Umhängetasche ab, entkleidete sich und lief zum nahen Fluß, in den er sich mit einem hellen Schrei hineinfallen ließ. Das Wasser war weich und seidig und trug den Jungen. Er badete ausgiebig, kam dann zurück und blieb verdutzt stehen. Statt seiner Sachen lag da ein olivgrüner Overall. "Gehört der mir?" fragte Reik, und Gerstfeld nickte. Reik zog den Overall über. Er brauchte nicht einmal mehr Schuhe, denn die Fußsohlen waren verstärkt. "Der gefällt mir", kommentierte Reik und hängte sich seine Tasche wieder um. "Er schützt dich", erklärte Gerstfeld mit wenigen Worten, "er verbirgt dich, wenn es sein muß. Er ist von der ASGEDANrunde." "Nun höre ich das Wort schon zum drittenmal", sagte Reik, während er hungrig an den Frühstückstisch trat, "ohne daß ich weiß, was es bedeutet ..." "Ich verstehe schon", unterbrach ihn Gerstfeld, "zuerst einmal: In dieser Runde sind alle Kräfte vereint, die Leben erhalten wollen. Nicht der Blitz des Hasses, sondern das Feuer der Liebe soll alle Räume erhellen, sagen wir. Den Namen ASGEDANrunde habe ich für dich gewählt. Jeder nennt es anders. Meine jetzige Gestalt sagt mir, daß du diese Bezeichnung am ehesten begreifen wirst. Aber gedulde dich noch." Reik setzte sich, und die Tasche schlug gegen das hölzerne Stühlchen. "Ruhe!" schrie die Tasche. "Das ist mitternächtliche Ruhestörung. Schaltet die Vögel ab, knipst die Insekten aus, und brüllt nicht so!" Reik starrte die Tasche an. Er hob den Überwurf hoch, wollte hin50 einfassen, als ein kleines Gesicht mit verwuschelten Haaren, weit offenen Augen und Fühlern rechts und links der Stirn auftauchte. Das seltsame Wesen blickte Reik müde an, drehte den Kopf in Gerstfelds Richtung und sprang mit einem Satz aus seinem Nachtquartier. Es
landete auf dem Frühstückstisch, riß sich eine Brotrinde ab, tauchte sie in den Honig und aß gierig. Reik ließ keinen Blick von der kleinen Gestalt. "Herr Inula Kornreck", stellte Gerstfeld die Zarppe vor und fuhr dann fort: "Möchten Herr Inula Kornreck sich zum Frühstück nicht vielleicht waschen und etwas kämmen? Ihre Antennen sehen gar zu sehr zerzaust aus." "Bei uns", erklärte die Zarppe kauend, "entscheidet der Koch darüber. Nehmen wir an, jemand kocht sehr schlecht oder spart an den Speisen für seine Gäste. Man ißt, wischt sich dann Hände und Mund am Tischtuch ab. Ist das Essen noch schlechter, putzt man sich sogar seine Schuhe an der Tischwäsche. Kocht dagegen einer schon besser, hat er etwas mehr aufgetafelt, dann reinigt man sich im Anschluß unter fließendem Wasser Hände und "Mund. Bei gutem Essen geht man unter die Dusche, und aß man hervorragend, dann steigt man sogar in die Wanne. Wir haben Reihenwannen, wo bis zu zwanzig Gäste zugleich baden können . . . Aber vor dem Essen wird sich grundsätzlich nicht gewaschen. Wie soll der Gastgeber sonst sehen, daß man zufrieden ist? Guten Appetit." Mit diesen Worten nahm die Zarppe den Löffel und stopfte einige Pilze und Brombeeren in sich hinein. Es folgten Himbeeren und Walderdbeeren und danach eine Schale Tee. "Oh", die Zarppe stöhnte wohlig, "ich werde im Fluß baden. Gerstfeld, du bist ein guter Koch." Und sie hüpfte vom Tisch, lief eilig zum Fluß und sprang mit allen Sachen hinein. "Wir haben noch einen Brauch", rief sie, aus den Fluten auftauchend, "ist das Wasser angenehm, beginnt man noch einmal zu essen." "Und wie endet das?" fragte Gerstfeld. "Schmeckt es euch, geht ihr baden, und gefällt euch das Wasser, fangt ihr wieder an zu essen ... Ist es die Müdigkeit, die ein solches Fest beendet, oder der Mangel an Speisen?" "Unsinn", antwortete Inula Kornreck gewichtig, "ist man müde, schläft man ein bißchen, und gehen die Speisen zur Neige, wechselt man ins Nachbarhaus." "Feiert ihr denn nur?" wollte Gerstfeld wissen. "Ich selbst", die Zarppe trieb jetzt gemächlich im Kreis auf dem Wasser herum, "war bei einem Fest, das zwei Monate dauerte. Es heißt, einst soll es ein dreijähriges Fest gegeben haben. Vielleicht ist das nur Legende. Man sagt, der Gastgeber habe ein Kochbuch durchgearbeitet. Man muß nicht alles glauben. Meine Leute scherzen gern." 51 "Wie sieht es in drei Jahren in einer Wohnung aus", fragte Gerstfeld, "in der nur gefeiert wird?"
Die Zarppe hatte inzwischen das Wasser verlassen, kam eilends heran und sprang auf den Tisch. Sie hockte sich bedächtig vor die Pilzpfanne und sog mit halbgeschlossenen Augen den Duft ein. "Wie schon", sagte sie unerwartet grob, als spräche sie über etwas, was jeder wissen müßte, "man klappt die Wohnung zusammen und gibt sie zur Reinigung. Derweil läßt man sich eine andere Wohnung anliefern. Das Problem dabei ist, daß viele alte Wohnungen nicht mehr aus der Reinigung abgeholt werden. Aber das ist nichts für euch. Hör mal, Gerstfeld, sag deinem Freund, daß er mich genug betrachtet hat. Ich werde dann immer nervös. Wir Zarppen sind nämlich äußerst bescheiden, und es verwirrt uns, wenn man uns so anstarrt." In dem Augenblick erwachte Glasäuglein, huschte, ohne jemanden anzusehen, zum Wasser und tauchte unter. Lange Zeit blieb es unsichtbar, und erst als Reik schon erste Anzeichen von Unruhe zeigte, glitt es ans Ufer und kam, eine fremdartige Melodie summend, näher. "Guten Morgen, Glasäuglein", rief Reik und drückte lange Minuten dessen Hände, "hast du schöne Träume gehabt?" "Guten Morgen, Reik", antwortete es, "ich hatte sie und hoffe, diese Träume zu erleben." Sie begannen zu frühstücken. "Heute", erklärte Gerstfeld ihnen beim Frühstück, "werden wir den Weiher des langen Schlafs erreichen." Er hielt den Kopf leicht schräg und betrachtete sekundenlang Glasäuglein. "Wir können dort übernachten und ziehen danach weiter. Es ist nicht leicht, an den See zu gelangen. Dort entscheidet es sich auch, auf welchem Weg wir den Baum der Schwäne erreichen." "Und was für Schwierigkeiten erwarten uns?" erkundigte sich Reik. "Die üblichen", erwiderte Gerstfeld lakonisch. "Du darfst ihn nicht fragen", mischte sich da die Zarppe ein, "er antwortet lieber, ohne den Mund aufzumachen. Das ist so seine Art. Nur, daß du es nicht verstehst, Reik. Das liegt daran, daß du seine lautlose Stimme nicht hörst. Aber daran denkt er nie. Ach, ich will mich nicht aufregen. Höre also: Ich hatte in dieser Nacht einen bösen Traum. Eine Schlange hat mich gefressen ..." "Kein Wunder", warf Gerstfeld ein, "wer in fremden Taschen schläft, träumt derlei." "Wir schlafen auf Reisen nur in fremden Taschen", widersprach Kornreck. "Also, bitte, unterbrich mich nicht. Wenn ich von Schlangen träume, dann heißt das, daß Lachesis in unserer Nähe ist. Und wenn ich Lachesis sage, dürfte auch Argus nicht fehlen. Nun, Gerstfeld?" "Hierher kommt nicht einmal Chooroon", verkündete kopfschüttelnd 52
der große Mann, "hier sind sie machtlos. Wir werden mit ihnen rechnen müssen, sobald der Baum der Schwäne hinter uns liegt. Jetzt sollten wir nicht unsere wertvolle Zeit damit verkürzen, indem wir nach ihnen Ausschau halten. Und wenn sie in der leblosen Minute nach Mitternacht auftauchen, können sie uns auch nicht anrühren." "Also brechen wir auf", ließ sich Glasäugleins feine Stimme vernehmen. Es erhob sich, reichte Reik die Hand und zog ihn mit sich. Gerstfeld ging an der Spitze, und die Zarppe war der Schlußmann, so traten sie den Weg an. Reik war in einer eigenartigen Gemütsverfassung. Als Gerstfeld den Weiher des langen Schlafs erwähnte und dabei Glasäuglein so seltsam ansah, fühlte er einen Stich im Herzen. Etwas wie Ahnung von Abschied war von da an in ihm. Gerstfelds unheimlicher Blick hatte mehr verraten, als dies Worte vermocht hätten. Reik und Glasäuglein gingen Hand in Hand. Und doch war es Reik, als entfernte sich sein Freund mehr und mehr von ihm. Gedämpfter sangen die Vögel, ein zartes Grau mischte sich in das Blau des Himmels, und matter schienen die Blüten zu leuchten. Reik war mitten in einer glücklichen Welt traurig, und die dunkle Ahnung ließ ihn schweigen. Von Zeit zu Zeit blickte er nach vorn, fürchtete den Weiher zu sehen, der ihr Ziel war. "Gib dich deiner Trauer hin", Gerstfeld war herangekommen und hatte Reik seine Hand auf die Schulter gelegt, "aber überwinde sie dann. Vielleicht tröstet es dich: Wir sind auf dem Wege, jemandem zu helfen." "Wem?" fragte Reik, und neuer Glanz überzog seine Augen. "Meiner Mutter und mir", flüsterte Glasäuglein. "Es ist dies der fröhlichste Tag meines Lebens, und doch kann ich nicht unbeschwert lachen, denn ich gewinne nicht nur endlos viel, sondern verliere ebensoviel." "Ich begreife mal wieder überhaupt nichts", sagte Reik und seufzte. Dem Wiesengelände schlössen Sich gewaltige Buchenwälder an, deren silbrige Stämme, die aus dem dunkelgrünen Moos aufragten, an endlose Säulenhallen erinnerten. Jeder der Gefährten war in seine Gedanken verstrickt. Lindgrün schimmerten die Kronen über ihnen, zwischen denen die blauen Himmelsstückchen sich zu immer neuen Gestalten verwoben. Sonnenkringel tanzten über das Moos, sobald der Wind die Kronen bewegte. Als die Sonne bereits rot durch die Stämme schien, die ersten Nachtigallen sangen und das Heer der Nachtinsekten zu summen begann, vernahm Reik das leise Quarren von Fröschen. Sie waren in der Nähe von Wasser. Sie traten aus dem Wald. Vor ihnen war Wiesenland und in dessen 53
Mitte ein schilfbestandener See. Wieder, wie am Vorabend auch, lagen zarte Nebelschleier über dem See. Ringsum erstreckten sich ganze Teppiche von Orchideen, Sumpfdotterblumen, Vergißmeinnicht und Trollblumen. Prächtige Nachtfalter gaukelten über die Blüten hin, und stahlblaue Libellen durchfurchten die Luft. Vögel sangen und schnarrten im Schilf, und im Wald erwachten Myriaden von Glühwürmchen, ließen ihre Lichter auf und nieder tanzen. "Wir haben unser Ziel erreicht", Gerstfeld deutete auf die Wiese, "und wollen hier unser Lager errichten." Nach diesen Worten legte er das Gepäck ab. Die Zarppe ließ sich auf den Rücken fallen und schloß im selben Moment die Augen. Reik und Glasäuglein blieben stehen, und Reik hielt wieder die Hände des Freundes, der ihm traurig zulächelte. "Du bist müde", sagte Achsoklein zu Reik, "setz dich hin. Ich muß noch einmal zum Wald, denn ich habe etwas vergessen." Reik blinzelte. Er versuchte zu lächeln, aber es sah traurig aus. Er ließ Gläsäugleins Hände los und sank nieder, bereits einschlafend. "Aber geh nicht so weit weg", murmelte er, bevor ihm die Augen zufielen. Er tat einen tiefen Atemzug, der wie ein Seufzer klang - und schlief. Da kam die Zarppe hoch, stand auf und sah den Schlafenden nachdenklich an. Ruhig wandte sie sich zu Glasäuglein um. "Was stehst du hier noch herum?" fragte sie, "es ist Zeit für dich, dich umzukleiden. Wer so lange wie du darauf wartet, sich schön machen zu können, sollte nicht zögern." "Ich warte so darauf", stimmte es zu, "aber nun ... Es bricht mir das Herz, denn ich fühle, daß wir uns trennen müssen." Langsam entfernte sich Achsoklein von den drei Gefährten, während Gerstfeld aus Dek-ken einen Ring legte, in dessen Mitte schon bald ein kleines Feuer prasselte. "Du scheinst mir recht unbesorgt", wandte sich die Zarppe an Gerstfeld. "Ich hatte es in der ASGEDANrunde erklärt", antwortete Gerstfeld, "ich habe ihnen gesagt: Was für Reik das Glück ist, kann für uns zur Katastrophe werden. Gestattet, daß ich ihm von Anfang an genau erkläre, worum es geht. Nicht nur diese vagen, nichtssagenden Andeutungen. Aber nein, erläuterte der greise Humand, vielleicht ist das bei euch möglich. Auch bei den Arctoniden und den Susananen kann man so vorgehen. Nicht aber bei einem Menschen. Es würde ihn verwirren. Er bekäme Lampenfieber, und der Zwang, unbedingt durchzukommen, würde ihn Schritt für Schritt von dem Steinernen Kopf entfernen. Dieser empfinge schon bald die Signale, die er nur zu gut kennt: destrusi-sche Signale. Und vielleicht würde er seinen Träger vernichten, wie er 54
es immer tut, wenn er sich betrogen fühlt. Wenn es einen Schlüssel zum Erfolg gibt, ist es die Ahnungslosigkeit des Jungen, ist es das kindliche Staunen, ist es das Glück und das Unglück, die Freude und die Trauer.... das Leben selbst. Nicht nur ein Spiel, das den Namen Leben trägt... Ja, Inula, so sprach der greise Humand. Und ich mußte mich seiner Weisheit und seiner Kenntnis von den Menschen beugen." "Na ja", die Zarppe wiegte bedenklich den Kopf, "ich meine, natürlich könnte er nie wieder einen freien Entschluß fassen, wenn er wüßte, daß auf seinen schmalen Schultern die Zukunft seiner Art liegt. Er würde mißtrauisch und ängstlich werden, würde in jedem Schatten einen Feind erblicken. Ich verstehe das, Angaria. Sie wollen ihn als Ahnungslosen nach Ghetton schicken. Sie hoffen, daß ihn dann nichts mehr schrecken kann. Vielleicht haben wir gar keine andere Wahl..." "Wir haben Zeit verloren", gab Gerstfeld zu bedenken, "unwiederbringliche Zeit, und wenn Reik uns nun nicht mehr folgt, dann müssen wir den Steinernen Kopf bei ihm lassen, bis ein anderer kommt, der ihn holt. Und beide werden sie dann nicht mehr glücklich sein können. Und doch, Inula, ich vertraue ihm. Ich glaube an ihn ..." "Er erwacht", flüsterte die Zarppe, sprang ans Feuer und überkreuzte die Arme, als sei sie in tiefes Nachdenken versunken. Gerstfeld nahm den Topf vom Feuer, goß den Tee in drei Schalen und stellte sie auf den Boden. Reik öffnete die Augen. Er blinzelte in den Mond, der bereits hoch am Himmel stand. Dann setzte er sich noch schlaftrunken auf, und Gerstfeld reichte ihm schweigend den Tee. "Da", Reik deutete zum See, "da, am Ufer, was ist das?" "Es ist der Weiher des langen Schlafs", antwortete Gerstfeld, "und heute gibt Orchis, die Herrin der Moanen, ein Fest. Sie hat allen Grund dazu. Aber die Moanen leben in einem anderen Raum, bei euch sagt man wohl: in einer anderen Dimension. Sie werden uns einladen. Nur: Wir können sie nicht berühren, wie auch sie nicht vermögen, uns anzufassen. Wir können weder ihre Getränke noch ihre Speisen zu uns nehmen. Man faßt hindurch. Nur sehen können wir uns, und manchmal hört man sie. Wie feiner, sanfter Nachtwind wehen ihre Stimmen in unseren Raum. Und man muß gut hinhören." "Das sehen wir uns an, Glasäuglein", sagte Reik und sprang auf. Er sah sich suchend um, machte einige Schritte um das Feuer, blickte die Zarppe fragend an und lief unruhig hin und her. "Achsoklein", rief er schon lauter und spähte zum finsteren Wald, "wo bist du denn?" "Später wirst du es sehen", beschwichtigte ihn Gerstfeld. "Ich will es gleich bei mir haben", Reik stellte die Schale ab, "es ist schon einmal weggekommen, weil ich nicht achtgab."
55 "Du hast es so gewollt", Gerstfeld hob seine Rechte, "folge mir." Er nahm einen brennenden Ast und hob ihn in die Höhe. Dann folgte er einem Pfad, der zurück in den Wald führte. Hier waren die Bäume mächtiger und standen dicht beieinander. Bizarre schwarze Äste ragten wie Schlangen oder Drachenleiber in die Luft. Mannshohe Dornenhecken machten ein Durchkommen an manchen Stellen unmöglich. Glänzende, teilweise bemooste Steine türmten sich übereinander, und tiefe Risse durchzogen den Waldboden. Es gab keinen Pfad mehr, und sie mußten über die Steine klettern. Immer weiter nach unten. Sie erreichten den Talgrund, dessen Wände steil anstiegen. Gerstfeld blieb stehen, und Reik sah im Schein des brennenden Astes den Eingang zu einer Höhle. "Hier", stieß Gerstfeld hart aus, "hier ist es. Hier willst du hin. Du findest Glasäuglein in dieser Höhle. Du mußt allein gehen. Und nur diesen Satz nimm mit: Man versteht, wenn man etwas zerstört, dieses Etwas nicht besser als vorher." Er reichte Reik den brennenden Ast, wandte sich um und war Sekunden später in der Dunkelheit des nächtlichen Tales verschwunden. "Ich begreife das nicht", rief Reik leise in die Nacht, ohne Antwort zu bekommen. Ihn fröstelte, denn offensichtlich hatte Gerstfeld ihn warnen wollen. Aber was war in der Höhle? Reiks Herz klopfte dumpf, während er, die Fackel hoch erhoben, auf die Höhle zuschritt. Als er mit der freien Linken den dichtbemoosten Eingang berührte, zog er die Hand zurück, denn das Moos und der Stein waren warm. Reik machte sich schlank und gelangte so in das Innere. Verblüfft blieb er stehen, die Höhlenwände bebten, und es sah so aus, als bewegten sie sich in ständigem, lautlosem Fluß. "Hallo", sagte er leise, und vielfach antwortete ihm das Echo. Ein Geräusch, als brodelte irgendwo Wasser, drang an sein Ohr. "Glasäuglein", flüsterte er, "bist du hier?" Dichter rückten die bebenden Wände an ihn heran, und seltsam geformte, spitz endende Röhren kamen aus den Wänden, glänzten schwach. Zwei mächtige, armähnliche Gebilde versperrten ihm den Weg, und als er sich zwischen ihnen hindurchzwängte, erlosch die Fackel und wurde ihm aus der Hand gezogen. Reik glaubte zu erstik-ken. Wenig später erst konnte er wieder frei atmen. Hier, auf der anderen Seite der Sperre, glitten weiße, formlose Wesen über die Wände, türmten sich vor ihm auf, hingen über ihm und verhinderten, daß er weiterkam. Ein schwacher rötlicher Lichtschein erhellte den Raum, der seine Umrisse verbarg. Aber in der Mitte hing eine glasähnliche pulsierende Kugel, die an ungezählten feinen Fäden
schwebte, und in ihr lag eingerollt und weiß wie Marmor - Glasäuglein. "Achsoklein", rief Reik und wollte vorwärts hasten, wollte zu dem 56 sterbenden Freund. Er stürzte in die weißen, sich ständig wandelnden Gestalten, wurde angesaugt und zu Boden gedrückt. "Glasäuglein", schrie Reik noch einmal, und seine Hände fuhren, allen Widerstand überwindend, zur Tasche, die sich durch Wärme und schwache, zuckende Lichter selbst in Erinnerung gebracht hatte. "Niemand kann mich aufhalten", fuhr er fort, "der Steinerne Kopf ist stärker als alles!" Und wie zur Bestätigung zerfielen die ersten weißen Hindernisse von allein. Nicht zerstören, dachte Reik in diesem Augenblick, Gerstfeld hat gesagt: nicht zerstören. Ich würde es auch dann nicht verstehen ... Er hob die Hände von der Tasche. Ein schmaler Korridor war entstanden, der von dem liegenden Reik zu jener einzigartigen Kugel führte. Nur undeutlich gewahrte Reik das Glasäuglein, denn die Kugel trübte sich mehr und mehr ein. Reik richtete sich auf, kniete schon und sah sich so um. Zusammen mit den weißen Gestalten waren auch zwei der rosigen Fäden zerrissen worden, die die Kugel hielten. Habe ich etwas falsch gemacht? fragte sich der Junge, und er blickte sich verzagt um. Das Brodeln, dessen Ursache er nicht erkennen konnte, hatte sich noch verstärkt. An den Wänden bildeten sich Blasen, denen, sobald sie aufplatzten, schwache Lichtringe entsprangen. Diese geheimnisvollen 57 Lichter schwebten zittrig zu der Kugel und legten sich an deren Außenwand. Bildeten einen immer stärkeren Ring, begannen zu blitzen und zu zucken. Gleichzeitig hob sich der Boden der Höhle, veränderte sein Aussehen, war nun nicht mehr steinern, sondern wurde braun, krustig und trieb breite Ausstülpungen gegen die Kugel, die langsam zu rotieren begann. Reik hob kraftlos die Arme. Er dachte, daß Glasäuglein diesen wildbewegten Ort niemals würde lebendig verlassen können, aber Gerstfelds Warnung lebte in ihm weiter. Ein Dröhnen und Krachen ertönte, und eine heftige Druckwelle schleuderte den Jungen zurück. Er lag schwer atmend auf den weißen Gestalten, die nun immer flacher und flacher wurden. Alle Bewegung erstarrte. Die Kugel riß auf. Mühsam rappelte sich Reik soweit empor, daß er knien konnte. Und er sah zuerst Glasäugleins Haut, die aus der Kugel fiel und von dem Boden aufgesogen wurde. Ein Mädchen stieg aus der in sich zusammenfallenden Kugel. Sie trug eine kleine Krone aus Licht auf dem Kopf und ein ebensolches bodenlanges Kleid. In der Hand hielt sie jene
Blume, die sie gemeinsam gefunden hatten, als das Schloß des Strepton Pyrogenum zerfallen war. Stumm trat sie auf Reik zu und überreichte ihm die Blume. Schweigend, noch immer auf dem Boden kniend, nahm er diese entgegen und erhob sich. "Wer bist du?" fragte er nach langen Sekunden des Schweigens. "Achsoklein", antwortete sie lachend, "dein Freund Glasäuglein. Wir gehen jetzt zum Weiher des langen Schlafs, und ich werde dir erzählen, wie sich alles fügte." "Es gab einmal eine Zeit", begann das Mädchen seine Erzählung, "da war der Weiher der Moanen jedermann zugänglich. Das Reich des fiebrigen Königs erstreckte sich auf einige wenige Moorlöcher, und er selbst wohnte mit den Seinen in einer alten, verfallenen Schilfhütte. Er wagte sich nur des Nachts hinaus, nichts fürchtete er so wie das helle Sonnenlicht. Dennoch schwor er sich, ein mächtiger König zu werden. Wir luden ihn ein, an unseren Festen teilzunehmen, doch blühende Wiesen und klares Wasser waren ihm stets ein Greuel. Und so tat er sich mit zwei anderen zusammen, die nicht anders waren und dachten als er. Das waren der Herr der fahlen Träume, den sie auch Lachesis nannten, und Argus, der vieles sah, hörte und es zu schlimmen Dingen nutzte. Argus erfuhr von dem jammervollen König in dem verschachtelten, finsteren Schilfhaus, in dem jede Ritze mit Schimmel zugewachsen war. Er trug sein Wissen zu der Maschine Norrh und fragte, ob man etwas tun könnte, denn es schien ihm günstig, wenn aus dem Wesen am Moorloch ein König wurde. Die Moanen, antwortete Norrh, werden nichts gegen den König unternehmen, wenn ihr die 58 Tochter der Herrin Orchis, die kleine Oriana, raubt und sie dem neuen König als Geisel gebt. Es war geschickt und boshaft eingefädelt, und ich ging ihnen in die Falle. Sie verschleppten mich, veränderten meine Gestalt, so daß mich niemand erkennen und befreien konnte, und drohten meiner Mutter: Wenn du etwas gegen den fiebrigen König unternimmst, wenn du Insekten oder Vögel in das Land schickst, wenn du Blumen, Krauter und Bäume dort wachsen läßt, muß die kleine Oriana sterben. Und nur dann, wenn jemand in ihr trotz ihrer Mißgestalt einen treuen Freund erblickt, dann . .., dann . . . Sie sagten nicht, was dann werden sollte. Die Jahre lösten einander ab, und nichts änderte sich. Der fiebrige König wurde immer unverschämter. Er wollte sich jeden untenan machen, ließ immer größere Ländereien sterben und war erst froh, wenn sie so jauchig leblos und voller Untiere waren, wie du es ja erlebt hast. Er verband sich sogar mit Virulon und hoffte, seinen Herrschaftsbereich noch weiter auszudehnen. Aber er fürchtete zugleich Virulon, der alles daransetzte, ihn zu entmachten. Du
warst für den fiebrigen König am Anfang nichts anderes als ein neues Opfer. Doch er begriff schnell, daß er es mit einem besonderen Menschen zu tun hatte. Wenn du schliefst - und du hast viel geschlafen -, sprach er mit seiner Tochter und bat sie, ihn und die Königin zu dir zu lassen. Aber Vibriana war dickköpfig. Eigentlich hassen sie sich alle dort und gönnen sich ihre Opfer nicht. Jeder will alles für sich allein haben .. . Als du schließlich erwachtest und dich erhobst, als du sie alle besiegt hattest, da versank einer der beiden wandernden Wälder in der Tiefe. Wärst du allein geflohen, dann wäre die Niederlage erträglich gewesen. Doch du stiegst hinab in den Keller und hast mich geholt und mich so befreit. So hast du ihnen eine furchtbare Niederlage beigebracht, und unser See wird sich schon morgen weit nach Norden ausdehnen, und Wälder werden immer weiter den Sumpf besiedeln, und das Reich des fiebrigen Königs wird schrumpfen. Die Boten des Lebens, die Vögel und die vierbeinigen Tiere, die Insekten und alles, was die Welt bewohnt, werden den schweigenden Sumpf mit ihren Lauten und Gesängen erfüllen, und nichts wird uns mehr bedrängen oder ängstigen können. Seinerzeit aber, als sie mich fingen und mich in die Haut des Glasäugleins steckten, da hat Orchis, meine Mutter und unser aller Herrin, das Gelübde abgelegt, daß der, der mich zu ihr zurückbringt, mein Mann werden soll, von welcher Gestalt und von welchem Denken er auch sei. Und sie hat geschworen, mir und ihm die Führung der Moanen zu übergeben und sich selbst den Weisungen des neuen Paares zu unterwerfen. Wenn du willst, werde mein Gemahl, führe unsere Moa59 nen zu neuen kristallklaren Seen. Nun weißt du alles - und wir haben die Lichtung erreicht." Sie standen Hand in Hand am Rand der Wiese, die im Mondlicht freundlich und anheimelnd glänzte. "Aber du sollst noch etwas erfahren, Reik", flüsterte Oriana, "wir leben in einem anderen Raum. Wenn du genau hinsiehst, kannst du manchmal ein Gesicht aufschimmern sehen. Manchmal weht ein Kleid oder ein Umhang wie farbiger Nebel auf, und dann hörst du ein Wort oder ein Lachen, und es ist dir, als rede der Wind. Wir werden jetzt zu ihnen ans Ufer des Sees gehen. Und wenn du mein Mann werden willst, dann mußt du, sobald wir den Orchideenteppich erreicht haben, laut und deutlich sagen: Ja, ich will! Ich will ihr Gemahl werden, und ich will ihr nach dorthin folgen! Denn dann wirst du Gerstfeld nie mehr wiedersehen. Und wisse, wenn du Gerstfeld und Kornreck folgst, wirst du mich nie wiedersehen. Für wen du dich auch entscheidest, der andere ist dir für immer verloren. Nur Erinnerung wird dir bleiben."
"Oriana, mein Glasäuglein", antwortete Reik, und das Herz krampfte sich ihm zusammen, "ich habe einen Freund gewonnen. Er hat mich vor den leichenfingrigen Pflanzen gerettet, und ich habe ihn aus dem Keller befreit. Mehr kann man nicht füreinander tun. Und nie haben wir böse Worte getauscht. Ich weiß, daß ich einen solchen Freund nie mehr finden kann, wo immer ich auch bin und was immer ich erlebe. Und nun erfahre ich, daß dieser Freund ein Mädchen ist. Und wenn ich Gerstfeld und der Zarppe folge, werde ich mein Leben lang an dich denken, mein Glasäuglein, und doch keine finden, die dir gleicht. Und wenn ich bei dir bleibe? Ich weiß ja nicht einmal, was es alles mit dem Steinernen Kopf auf sich hat. Wenn sie es mir nur gesagt hätten . . ." Reik brach ab, schwieg, blickte Oriana hilfesuchend an. "Viel weiß ich auch nicht", gab sie ihm zur Antwort, während sich Trauer und Freude auf ihrem Gesicht mischten, "aber dies habe ich gehört: Ein Unfall war es, der dem Unfehlbaren und seinen Heeren den gläsernen Kopf entriß. Und dieser Kopf sollte zu euch, zu den Menschen, damit ihr die Spiele des Unfehlbaren spielt, damit ihr denken lernt, wie seine Untertanen denken, damit ihr euch deren Art zu handeln zu eigen macht. Sie haben ihn verloren und wollen nur das eine: ihn zurückhaben. Und wenn alles so wird, wie sie es geplant haben, dann wehe euch. Und noch etwas weiß ich: Gerstfeld hat dich als Finder ausgesucht, weil er dir zutraut, daß du die Aufgabe erfüllst, die auf dich wartet. Die ASGEDANrunde vertraut dir. Und sie vertraut mir. Sie hofft darauf, daß du .... daß du . . ." Oriana konnte nicht weitersprechen. Sie senkte den Kopf. Reik blickte zurück. Er gewahrte das kleine Feuer, an dem Gerstfeld 60 und Inula Kornreck saßen. "Sie mischen sich nicht ein", murmelte er, "wie gut, daß sie mir keine Ratschläge geben." "Sie denken", flüsterte Oriana, "daß ich ihnen helfe. Aber wie kann ich das? Ich will nicht, daß du fortgehst. Reik, was sollen wir nur tun?" Sie hatten den Orchideenteppich erreicht, standen vor den rötlichvioletten Blüten, und es war Reik, als würde ganz ferne Musik an sein Ohr dringen, seltsam getragene Melodien, auf wunderbaren Instrumenten gespielt. Und in unerreichbarer Ferne lachte und jauchzte, sang und jubilierte es. "Es klingt so sanft und freundlich", brachte Reik mühsam hervor, "sind dort alle wie du?" "Die Moanen lachen nur mit jemandem", antwortete die jetzt traurig und blaß aussehende Oriana, "nie über jemanden. Man tröstet den, dem ein Unglück widerfuhr, und hilft dem, der Hilfe bedarf. Moanen lachen nicht aus Bosheit, sondern wenn sie glücklich sind, und das sind sie, wenn
ihnen Schönheit, Freundlichkeit und Liebe begegnen. Du weißt, in wem die Liebe wohnt, der ist schön. Nur Haß und Neid machen häßlich." "Vielleicht", schwärmte Reik, "wird das bei uns eines Tages auch so sein. Meinst du nicht? Als ich den Steinernen Kopf fand, bot mir die falsche Anja Ruhm. Ein richtiges Geschäft. Der Kopf gegen Ruhm. Und als ich nicht darauf einging, da drohte sie mir. Ich denke, wenn sie kommen und uns ihr böses Denken lehren, werden die Menschen handeln wie sie. Man redet von Gefühlen, besitzt sie aber nicht mehr. Man schachert mit Ideen, mit Ruhm. Wir werden dann alles gegen Geld eintauschen, was wir heute nur für Freundschaft oder Liebe geben. Was wird dann noch von uns bleiben? Nichts haben wir dann unseren Maschinen voraus. Vielleicht werden wir dann überhaupt nicht mehr gebraucht? Ich denke, ich weiß jetzt, was Gerstfeld mir die ganze Zeit über verschweigt. Vielleicht ist es die Liebe, für die die ASGE-DANrunde kämpft." Reik verstummte. Schmerz zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Er spürte jetzt, daß er Oriana nicht begleiten durfte. Er mußte seine Liebe um ihrer aller Liebe opfern. Er würde sein Glasäuglein verlassen und mit der Zarppe und Gerstfeld fortgehen, mußte dorthin, wo man den Steinernen Kopf bändigen konnte. Oder - er würde es hinnehmen müssen, daß alles, was er mochte, seine Eltern und Freunde, seine Schule und der Kindergarten, in die eisige Zeit der Lieblosigkeit, der Jagd nach Ruhm und Macht, nach Reichtum und einem falschen Ansehen versank. "Glasäuglein!" rief Reik, und er schlang die Arme um das Mädchen, und sie erwiderte seine Umarmung, und so standen sie in der Nacht und wärmten sich gegenseitig, und ihre Tränen vermischten sich. Schließlich sanken Orianas Arme herab, und sie nahm eine goldene 61 Kette mit einem kleinen Anhänger von ihrem Hals. Sie legte sie Reik an und verwahrte sie unter seiner Kombination. Dann trat sie einen Schritt zurück und wisperte: "So will ich immer an dich denken und dich sehen als den, der unseren Kristallsee vor der Kälte des Unfehlbaren bewahrte." "Nie", schluchzte Reik, "werde ich dich vergessen können." Und sie sahen beide, wie der andere immer ferner und undeutlicher wurde, wie er abrückte, wie sich etwas Unbestimmbares zwischen sie schob, und als sie begriffen, daß sie nun getrennt waren, stießen sie beide die Arme vor, wollten den anderen fassen, wollten sich festhalten aneinander - und fühlten doch nichts als Nebelklammheit zwischen den Fingern.
Reik blieb unbeweglich stehen, lauschte den Stimmen, die, so schien es ihm jedenfalls, seinen Namen riefen. Er fühlte nicht die Tränen, die über sein Gesicht rannen. "Kraft und Verstehen hast du dort bewiesen", sagte Gerstfeld, der jetzt hinter Reik stand, "Liebe und Vertrauen hast du hier erfahren und auch gegeben. Komm Reik, mein Gefährte, leg dich nieder und schlaf. Oriana wird dir im Traum erscheinen, und du wirst diese eine letzte Nacht bei ihr sein. Morgen aber, morgen liegt ein kurzer, wenn auch entscheidender Abschnitt der Reise vor uns. Und dann sind wir am See, hinter dem der Baum der Schwäne steht." Er führte Reik, der willenlos voranschritt, über die Wiese zu dem glimmenden Feuer, breitete seine und Glasäugleins Decke für den Jungen aus, hüllte ihn warm und sicher ein und deckte Reiks eigene Decke darüber. Schweigend stand die Zarppe daneben, schaute traurig zu und setzte sich zu Reik ans Kopfende. "Es ist dir sicher kein Trost, denn ich weiß, daß dich jetzt nichts trösten kann", sagte sie, "aber wisse, daß ich den, der noch irgend etwas gegen die Kraft und die Liebe der Menschen sagen wird, daß ich solch einen auf meine Art strafen werde. Du lächelst nicht, obwohl ich froh wäre, wenn du es tätest. Aber würdest du lächeln, dann sagte ich dir: Laß das Lächeln, weil das, was ich versprach, sehr ernst gemeint ist. Und man soll nie das Kleine unterschätzen." Reik hob den Kopf. Es leuchtete hell hinter den Stämmen, doch dicke Wolkenschichten verhinderten, daß man die Morgensonne sah. Die Wiese und der See hatten sich in feuchte weiße Nebeltücher gehüllt, sahen aus wie eine trauernde Frau, die ihr Gesicht verbarg. Glasäuglein, dachte Reik, mein Glasäuglein . . . Er hatte sie im Traum gesehen, sie hatten getanzt und waren emporgestiegen unter ein Dach aus vielfarbigen Blättern. Eine Kugel, die jener in der Höhle glich, nahm sie auf, umschloß sie, und es war Reik, 62 als wüchsen er und Oriana zusammen. Es war ihm, als hätten sie einander durchdrungen und wären, nachdem die Kugel sie entlassen hatte, eine neue Einheit. Auch wenn jeder auf seinen eigenen Füßen ging. Jeder von ihnen bestand aus sich und dem anderen. Aber mit einemmal hatte ihn etwas ergriffen und trug ihn fort. Und Glasäuglein rief verzweifelt seinen Namen. Da war er erwacht und blickte müde in den nebligen Morgen, fühlte den scharfen Wind, der an seinen Haaren und den Decken riß, und erhob sich nur mühsam. Die Zarppe reichte ihm schweigend einen Becher mit heißem Tee, in dem wilder Honig aufgelöst war. Reik trank ohne rechten Appetit. Währenddessen baute Gerstfeld das Lager ab. Er rollte die
Decken zusammen, verstaute sie. Er löschte das Feuer und packte alles ein, was sie benötigten. Ein paar Heuschrecken schrillten. Sonst war es still im Wald. Selbst die Vögel schwiegen. Oriana, dachte Reik, mein Glasäuglein .. . Er steckte, nachdem er ausgetrunken hatte, den Becher achtlos in die Umhängetasche. "Also gehen wir", sagte die Zarppe und übernahm die Führung. Reik schloß sich lustlos an, und Gerstfeld war der letzte. Sie folgten der geschwungenen Waldkante, umrundeten die Nebelwiese, hinter der der Kristallweiher der Moanen lag. "Ich hätte", flüsterte Reik im Selbstgespräch, "um sie kämpfen sollen. Der Kopf und ich ..., ich würde dieses Chooroon zertrümmert haben . . ." "Was denkst du", fragte die Zarppe, ohne sich umzudrehen, "warum unsere ASGEDANrunde nicht einfach Destrusos angreift? Ich sage es dir: Würden wir mit Destrusos Waffen kämpfen, hätten wir die Schlacht schon verloren. Nein, Reik, mit dem Steinernen Kopf kannst du sie nicht besiegen." Sie hatten die Wiese hinter sich gebracht, stießen in den Wald vor und folgten hier einem verschlungenen Pfad, der zu einer Seite von uralten Buchen und auf der anderen von dunklen, wispernden Zypressen begrenzt war. Die Nebelschwaden ballten sich an einigen Stellen zu Trugbildern zusammen, ohne daß sie Reik beunruhigten, denn er lief rein mechanisch. Er gewahrte auch nicht, wie sie den Wald hinter sich ließen und trockenes Heideland betraten. Der dünner werdende Nebel gab den Blick auf gelbliche Sandflächen, auf Heidekraut und Wacholder, auf Ginster und Holunder frei. Dichte Büsche von Hek-kenrosen und mächtige Kiefern, die allenthalben Bauminseln bildeten, vervollkommneten den Eindruck der Weite. Eine unheilvolle Stille lastete über dem Land. "Wenn wir das erst überwunden haben", Gerstfeld deutete um sich, "dann liegt das schwierigste Wegstück hinter uns. Jenseits der Heide 63 geht es bergab zum See, an dessen südlichem Ufer der Baum der Schwäne steht. Dort wird es dir gefallen, Reik." "Ach", regte sich die Zarppe auf, "und mich fragst du wohl gar nicht, ob es mir gefallen soll oder will, oder wie auch immer. Und dabei heißt, Reik nicht Kornreik, sondern ich Kornreck. Aber wozu eine Zarppe fragen. Man sieht sie ja nicht einmal, verwechselt sie zu guter Letzt mit einer Wespe und tritt sie tot. Worauf habe ich mich bloß eingelassen." Ein schwaches Lächeln huschte über Reiks Gesicht, und ein kaum wahrnehmbarer Glanz kam in die Augen des Jungen. 1 "Verzeihung,
Herr Kornreck", Gerstfeld verneigte sich ungeschickt, "aber was würden Sie denn antworten, so ich Sie fragte, ob Sie sich auf den Baum freuen?" "Das interessiert doch sowieso keinen", nörgelte die Zarppe, "was soll also diese scheinheilige Frage. Wartet ab. Ich sage nur: Der Tag wird kommen, da ihr beiden zu Hammer und Meißel greifen und aus einem Marmorblock das edle Antlitz des Inula Kornreck herausmeißeln werdet." "Und dabei versicherte mir die ASGEDANrunde", übertönte Gerstfelds dröhnende Stimme Kornrecks Worte, "daß Zarppen überaus liebenswürdig und zuvorkommend sind. Wahrscheinlich war Inula nicht in unserer Kartei verzeichnet." Reiks Lächeln, ein wenig melancholisch noch, verstärkte sich. Gleich darauf wurde es wieder weggewischt, denn er erinnerte sich der Kugel, in der Glasäuglein und er waren. Er glaubte noch zu fühlen, wie ihrer beider Haut zusammenwuchs, wie sie tatsächlich eins wurden. "Glasäuglein, Oriana", murmelte er, "wie könnte ich je ohne dich glücklich werden ..." Teilnahmslos ging er weiter, sah nicht einmal, wie Inula und Gerstfeld zurückblieben. Eine schwache Bewegung zwischen zwei Kieferninseln lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Eine Staubwolke schob sich von dort heran. Sein neuer Sinn für Gefahren riß ihn aus der Lethargie. Reik drehte sich um, stockte. Er war allein. Von Kornreck und Gerstfeld keine Spur. Als er den Kopf hob, gewahrte er in den Ästen der Kiefern eigentümliche fleischlose Wesen, die aus weißen Augen zu ihm herabschauten und ihre langen Arme unruhig bewegten. Zugleich erblickte er spiralige, strudelnde Bewegungen im Sand, die in ihm das Gefühl einer drohenden Gefahr erzeugten. Eine chitinige Zange erschien und gleich darauf eine zweite. Zwei segmentierte Tiere, über und über mit langen, aufgerichteten Stacheln bewehrt, kamen aus dem Sand, richteten sich auf und näherten sich Reik. Es wurden immer mehr. Wie Wasserstrahlen schössen sie hervor, mit den blitzenden Zangen gierig schnappend, die Fühler wild 64 schwenkend und die Beine mit den knackenden Gelenken ruckartig bewegend. Die Weißäugigen sprangen von den Ästen und stellten sich auf. Aus der Staubwolke war inzwischen eine Armee geworden, die lautlos, aber präzise näher kam. Die hellglänzenden Metallpanzer brachen das diffuse Tageslicht. Die Krieger trugen gläserne Speere, Lanzen, Armbrüste, Keulen, Schwerter und Schilde. Ihre Köpfe waren von völlig glatten Helmen bedeckt, so daß sie gesichtslos schienen. Dumpfes Grollen zwang Reik, sich umzudrehen. Hatte er gehofft, daß Gerstfeld und die Zarppe ihm zu Hilfe eilten, so sah er sich getäuscht,
denn drei unheildrohende Streitwagen kamen in rascher Fahrt näher. Der eine wurde von dem schattenhaften Treponas gezogen, und auf ihm stand, in Gold und Silber gehüllt, der fiebrige König. Nichts an ihm war mehr lächerlich. Vor den zweiten Kampfwagen waren zwei nashorngroße, glutäugige Raubtiere gespannt, deren Eckzähne weit aus dem Maul ragten. Auf diesem Streitwagen stand, in weißes Leinen gekleidet, auf der mit einem ledernen Handschuh geschützten Rechten die beiden Totenvögel tragend, Lyssa Albina, die Schreckliche. Der dritte Kampfwagen endlich bewegte sich durch die Kraft von neun blutigroten Rossen, und auf ihm stand, durch klirrendes Eis gepanzert, die Prinzessin Vibriana Valpurga. An ihrer Seite ritt Virulon, der Verlorene, Pfeil und Bogen in den behandschuhten Händen haltend. Ihnen nach folgte eine Heerschar so grausiger Gestalten, daß Reik es nicht wagte, sie genauer zu mustern. Er wandte den Kopf ab und sah von Norden einen anderen Kriegszug näher kommen. Die dort anrückten, gingen so wohlgeordnet, daß jeder Schritt von ihnen wie ein Schritt war und jeder Atemzug ein einziger gewaltiger Seufzer zu sein schien. Eingekreist hatten den Jungen inzwischen die Kampftiere, die aus dem Sand hervorgedrungen waren. Auf zahllosen bekrallten Füßen kamen sie, über- und untereinander kriechend, daher, hatten leblose, gelbe Augen und duckten sich wenige Meter vor Reik wie befehlsgewohnte Hunde nieder, die auf das Kommando zum Angriff warten. Aus der Höhe des Himmels aber senkte sich Chooroon herab. Das Letzte Fahrzeug zog lange Flammenzungen hinter sich her und wurde von sechs glutspeienden Drachen gezogen. Die Flammenzungen erreichten die Bauminseln, die aufflammten, lichterloh brannten. Die verbrannten Bäume und Sträucher stürzten jedoch nicht in sich zusammen, sondern wurden zu schrecklichen, leblosen Gebilden aus weißer Asche. Ein Schauer des Entsetzens überlief den Jungen, als er sich vorstellte, was geschehen mußte, wenn Chooroon den Kristallsee angriff. 65 Die Angreifer hatten Reik von seinen Gefährten getrennt, und er saß ausweglos in der Falle. Als ihm bewußt wurde, daß er auf Vernunft und Mitleid nicht hoffen durfte, tastete er nach dem Steinernen Kopf. "Ich werde seine zerstörerische Kraft wecken", murmelte Reik, während seine Rechte den glatten Kopf abtastete, "und ich werde den Kampf gegen alle zugleich aufnehmen ..." Eine Abteilung grellroter und grellgelber Ritter kam im Gleichschritt näher. Sie trugen eine menschengroße Pyramide, die in allen Farben des Regenbogens schimmerte. Die Kriegszüge stoppten. Reik war umgeben von den Heeren. Hunderte Armbrüste wurden auf ihn angelegt, blitzende Schwerter in seine Richtung gehalten. In bedrohlicher Nähe standen die
drei Kampfwagen, und Virulons schnaubendes Reittier trat unruhig auf der Stelle. Neben den Kampfwagen, die nun fast spielzeughaft klein aussahen, ging Chooroon nieder, setzte leicht auf. Eines der grünen Gläser klappte hoch, und Zerberon, der Lenker, wandte Reik sein faltenloses, glänzendes Gesicht zu. "Einen Tausch", rief er mit klarer, heller Kommandostimme, "schlagen wir dir vor. Nimm deine Tasche und schleudere sie fort von dir, und du erhältst die Pyramide. Sie ist den Steinernen Kopf wert..." Reik blickte zu dem Gebilde. In dessen Innerem stand, die großen, schönen Augen geschlossen, die, an die er ununterbrochen gedacht hatte: Oriana, sein Glasäuglein. "Laßt sie frei!" forderte Reik. Zerberon lächelte gelangweilt und abweisend. "Wir tauschen", wiederholte er sein Angebot, "du schleuderst die Tasche fort, und wir öffnen ihr Gefängnis. Froh wird deine Geliebte zu dir kommen. Sie wird mit ihren Zärtlichkeiten und Küssen deine Sorgen verschwinden lassen. Weigerst du dich aber, dann werden wir ihre Asche über dich streuen, derweil unsere Pfeile und Lanzen dich durchbohren und unsere Jagdtiere dich zerfleischen." Diese Worte versetzten Virulon in Heiterkeit. Er und die Prinzessin kicherten und warfen sich verstehende Blicke zu. Doch Lyssa, die Furchtbare, schwieg und starrte Reik unbeweglichen Gesichts an. Anja Winterlicht glitt an Zerberon vorbei und stand auf dem Sand def Heide. Sie blickte Reik fragend an und schritt zu den Rittern, denen sie ein Handzeichen gab. Daraufhin stellten sie die Pyramide auf den Boden, traten etwas zurück. "Diese mittellose moanische Prinzessin", stieß Anja angewidert hervor, "was kann sie dir schon sein? Was besitzt sie denn außer Wasser?" Die Heerscharen brüllten bei dem Wort Wasser vor Lachen. Anja legte ihre Hände auf zwei Flächen der Pyramide und strich sanft darüber. 66 Oriana wand sich im Schlaf. Sie schien Schmerzen zu haben. Feinste Risse überzogen das gläserne Gefängnis, bis sich zarte Eiskristalle darauf absetzten. Zeitlupenhaft langsam bewegte sich Oriana im Inneren, suchte der tödlichen Kälte zu entfliehen. "Nun", erklang erneut Zerberons helle Stimme, "wirf ihn fort, den Ballast, der dir nur Kummer und Not bereiten wird. Erlöse deine Oriana von ihren Qualen, denn Melana von Zitadorra, die du Anja Winterlicht nennst, wird nicht eher einhalten, bis jene im Inneren aus reinem Eis besteht und zerspringt wie Glas." "Verdampfen", ergänzte Anja Winterlicht die Rede des Zerberon, "wird Chooroon die kristallklaren Wasser des Sees. Verzehren wird Chooroons
Feuer die kläglichen Moanen. So wirst du durch die Aschewälder irren und das Unglück bejammern, das durch deinen Starrsinn entstanden ist. Denke daran, wie glücklich du sein wirst, wenn du ihn fortschleuderst, den unbezähmbaren Kopf aus Stein, wenn du die Gefangene befreist und in deine Arme schließt." Sie sind so schrecklich, dachte Reik, der mit zusammengebissenen Zähnen all das sah, so grausam und ebenso verlogen . . . Das Wort "verlogen" ging ihm im Kopf um. "Ihr lügt", murmelte er kaum hörbar, "ja, nichts ist wahr, was ihr da sagt... Es ist das Tal der Träume. Das sagte Gerstfeld. Nein, ich glaube euch nicht." "Du könntest es probieren", Virulon grölte herausfordernd und schwang seinen Morgenstern, "geh doch zu diesem Eisweib. Zerschlag die Pyramide. Prüfe doch, ob unsere Pfeile dich durchbohren können oder nicht. Na los, du Großmaul! Hier hilft dir niemand!" Die Raubtiere zerrten knurrend an den Zaumzeugen, die Totenvögel flatterten wild mit den Flügeln, und die Kampftiere schlugen knallend die Zangen zusammen. Lyssa Albina hob leicht den Kopf, und die Tiere beruhigten sich zusehends. Sie ließ die beiden nackten Totenvögel aufsteigen, die krächzeVid und quarrend Reik umkreisten. "Ihr durchbohrt mich nicht", stellte Reik fest, "ihr erwürgt mich nicht. Ihr macht mir nur angst. Ihr wollt, daß ich mir untreu werde, daß ich den Kopf fortschleudere. Aber dann? Ich weiß, daß er mich verbrennt, so ich ihn fortwerfe. Und ihr wißt das auch. Ja, du widerlicher Virulon, ich will es probieren. Ich werde mein liebes Glasäuglein befreien. Ich werde euch beweisen, daß nicht einer eurer Krieger es wagt, mich auch nur anzurühren, denn dann vernichtet euch der Steinerne Kopf. Und das wißt ihr ... Oriana, Glasäuglein - ich komme zu dir!" Reik machte den ersten ängstlichen Schritt nach vorn. Auf den Ring der sandigen Kampftiere zu. Dann einen zweiten. Immer schneller 67 schritt er aus. Und er schritt durch die schaurigen Sandbewohner hindurch, ohne Widerstand zu fühlen. Immer entschlossener und immer schneller stürzte er auf die Pyramide zu. Anja Winterlicht sprang zurück, verschwand im Inneren von Choo-roon, und das grüne Fenster schloß sich lautlos. Der König Strepton Pyrogenum schlug auf Treponas ein, und der bewegte sich eilends fort, mitten durch die Reihen der unbeweglichen Krieger. "Stoßt auf ihn nieder", befahl da Lyssa Albina mit hohler Stimme, und die Totenvögel setzten zum Sturzflug an. Doch Reik hielt nicht inne, er
setzte seinen Weg fort. Da wendete Lyssa ihren Kampfwagen und folgte dem König. "Dann bleibt die Dreckarbeit wieder an mir hängen", brüllte Virulon wie ein Berserker und gab seinem Reittier die Sporen. Doch er ritt nur wenige Schritte auf den Jungen zu, dann zog er in weitem Kreis um ihn herum und schloß sich den Davonziehenden an. Reik schritt unbeirrt weiter auf die Pyramide zu. "Feuert!" dröhnte Zerberons klare Stimme aus Chooroon, und die Heerscharen schössen die Pfeile ab, schleuderten Lanzen und Speere. Die Wolkendecke riß auf, so daß die gläsernen Waffen unsichtbar wurden, die Krieger wie letzte Nebelschwaden ihre Konturen verloren und den Blick auf das Heideland freigaben. Reik stand nun vor der Pyramide. "Ihr meine Drachen", vernahm er Anja Winterlichts Stimme, "verglüht ihn, verbrennt den Anmaßenden!" Wohl'gewahrte Reik die Feuer, die auf ihn zukamen und ihn wie Wasserwogen umtosten, wohl wurde ihm seltsam warm, dennoch erlitt er keine Verletzung. Er legte seine Hände auf das Eis der Pyramide, und es schmolz. Gläsern wurde das Gefängnis der Oriana, es lächelte die Geliebte und bebte. Chooroon erhob sich in den Himmel und jagte gedankenschnell davon. Die Heide leuchtete unter dem Sonnenlicht freundlich auf, die Bäume waren nicht mehr Aschegebilde; rötlich schimmerten ihre Stämme, und die dunkelgrünen Kronen wiegten sich sanft im Wind. Und Stimmen drangen an Reiks Ohr. Das Jubilieren der Lerchen, das eifrige Hämmern der Spechte, das zarte Schnarren der Rohrsänger und Grasmücken. Hummeln summten, und irgendwo plätscherte Wasser. Da öffnete sich die dritte Wand der Pyramide, und Oriana verließ ihr Gefängnis, entfernte sich und wurde durchscheinend. Statt ihrer sah Reik sich neben Kornreck und Gerstfeld stehen. Rundum wuchsen Brombeeren, und der Junge blickte hinunter auf einen schier endlosen See. "Niemand war hier", flüsterte er enttäuscht, "ich habe nichts und niemanden wirklich besiegt..." 68 "Du hast gesiegt", erklärte Gerstfeld mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. ,Ja", stimmte ihm die Zarppe bei und lächelte Reik freundlich zu, "ja, du hast gesiegt. Ich meine, Gerstfeld hätte dir auch sagen können, wen du besiegt hast. Aber das überläßt er mir. Du hast deine Angst besiegt. In diesem Tal der flimmernden Träume standest du deiner Angst gegenüber. Und das mußte so sein. Du wirst Orte, du wirst Räume sehen, wie sie kein anderer Mensch erblickt. Du hast die Namen schon gehört.
Und wenn sie dir auch noch nichts sagen, so wisse, daß man sie mit menschlichen Augen nicht ansehen kann. Man muß so vieles überwinden, so vieles abstreifen, um verstehen zu können, was verstanden werden muß. Hast du im Reich des fiebrigen Königs blinde Vertrauensseligkeit und Wlllenlosigkeit abgestreift, so hast du nun deine Angst überwunden. Dabei durfte und konnte dir niemand helfen. Leg deine Hände in meine und in Angarias. Jetzt sind wir Gefährten, die erhobenen Hauptes ihr Ziel ansteuern können." 69 Der Baum der zehn Zeiten Schwarzerlen, Trauerweiden und Ulmen säumten den See, verliehen ihm einen prächtigen grünen Umhang, dessen farbenfroher Schmuck aus Graslilien, Knotenblumen und Germer, Gänseblümchen, Mädesüß und Katzenpfötchen bestand. Wie Lampions erhoben sich dazwischen Eberwurz, Schafgarbe und Waldhyazinthen. Libellen jagten einander oder standen unbeweglich in der Luft, während Schmetterlinge durch das Blau schwebten. In den Buchten des Sees trieben, winzigen Booten ähnlich, ungezählte Wasservögel. Reik sog dieses Bild in sich auf, ließ sich ganz davon beherrschen. Das ist der Frieden, dachte er, ein unendlicher Frieden. Die aufgeregten heiseren Schreie der Tauchvögel vermischten sich mit den rauhen gedämpften Lauten der Gänse und Enten. Aus dem Schilfgürtel erklangen melodische Gesänge. Lang war der See, und dort, wo in nebelhafter Ferne ein gewaltiger, spitz zulaufender Berg, dessen Gipfel von feinen Wölkchen umspielt wurde, aufragte, verschwand das Wasser in einer Felsengrotte. "Was für eine gewaltige Grotte", Reiks ausgestreckter Arm zeigte den anderen, was ihn so beeindruckte. "Das ist keine Felsenhöhle", erwiderte Gerstfeld, "und was sich dort auftürmt, ist auch kein Berg. Es ist der Baum der zehn Zeiten. Seine weitausladenden Äste bedecken ein gewaltiges Stück des Landes und ein Drittel des Sees. Seine Blätter sind vom Alter grau. Kein Licht durchstößt ihn, so daß das Land und das Wasser unter ihm in ewiger Finsternis liegen. Und das bedeutet für uns; Wir sind dort ohne Orientierung. Kein Stern wird uns leuchten, keine Fackel und kein Feuer brennen dort. Viele Wagemutige wollten schon den Stamm erreichen, denn die Verlockung ist groß. Wer über die zehn Zeiten verfügt, vermag wunderbare Dinge zu bewirken. Er ist ein großer, mächtiger Weiser." Reik sah den Sprecher mit staunenden Augen an. "Gerstfeld behauptet", mischte sich die Zarppe zweifelnd ein, "daß es einen Pfad gibt. Das reinste Blindekuhspiel. Möchte nur wissen, wie wir da zusammenbleiben sollen."
"Halb steht der Baum im Wasser und halb an Land", fuhr Gerstfeld fort, nachdem die Zarppe verstummt war. "Wir können ihn mit einem Floß oder zu Fuß erreichen. Ich bin für den Landweg, weil ich da sicherer bin. Wie soll man zusammenbleiben, wenn das Floß kentert?" "Er fühlt sich an Land wohler", schimpfte die Zarppe, "und es ist ihm dabei einerlei, ob wir uns Blasen an die Füße laufen und Beulen an den Ästen stoßen . . . Hast du nicht einen Fährmann, der uns übersetzen kann?" 70 "Ich weiß einen", unterbrach Gerstfeld den Redestrom der Zarppe und wies zum linken Seeufer, das mit einem breiten Schilfgürtel gegen das Land abgegrenzt war. Reik und Kornreck erblickten eine kleine Landzunge, die in den See hineinragte. Ein roh gezimmertes, fensterloses Haus erhob sich dort, und ein breiter, unebener Steg stieß weit in den See vor. Eine silberne Kette hielt ein Floß, auf dem ein schwarzes Segel an einem mächtigen Mast hing und auf dem eine Stange zum Staken bereitlag. Vom Haus wand sich ein dünner Fußpfad durch das Schilf. "Die Hütte", erklärte Gerstfeld, "gehört Samon, dem Unberechenbaren. Er kennt den Weg zum Baum der Schwäne, aber er ist ein launischer Mann. Wer ihm nicht paßt, der ist verloren. Ebenso die, die ihm nicht das richtige Geschenk bringen. Und niemand weiß, was richtig ist. Freut er sich heute über die Federn des Eisvogels, so verachtet er sie am kommenden Tag. Hat er eben noch Appetit auf Honig, so wird ihm Augenblicke später speiübel, hört er nur das Wort. Hat er gar schlecht geträumt oder sich einen Splitter eingerissen, ist jedermann dem Tode nahe. Denn wenn er unzufrieden ist, setzt er seine Passagiere auf einer der hundert Versinkenden Inseln aus. Manche dieser Inseln sind mit den bleichenden Gebeinen der Opfer bedeckt, heißt es. Sicher, es gibt Leute, die machen es sich sehr einfach: Sie wollen die Macht des Zeitenbaumes für sich nutzen, sie wollen die Zauberkraft, ohne den eigenen Kopf anzustrengen, ohne die eigenen Schuhsohlen abzunutzen . . . Und sie alle landen auf den Inseln und wähnen sich am Ziel. Und ehe sie noch ihre Lage begriffen haben, sind sie schon zu Knochen und Staub zerfallen. Aber der Fährmann setzt auch jene aus, die in bester Absicht unterwegs sind, die ihre Vorgänger nur retten wollen. Wir werden uns diesem Fährmann nicht anvertrauen. Wir laufen." "Und der Steinerne Kopf", Reik tippte auf die Tasche, "kann er uns nicht den Weg erleuchten?" "Nein", die Zarppe bewegte alle vier Hände durch die Luft, "denn die Zeit ist stärker und sein Licht wäre verloren. Und dann: Stell dir vor, er würde uns den Pfad erhellen. Dann wäre dieser Weg eingezeichnet in das Gedächtnis der Maschine Norrh, und die würde in aller Heimlichkeit ihre
Krieger über diesen Weg in das Land hier entsenden. Wir haben etwas Besseres als den Steinernen Kopf. Wir haben Gerstfeld!" "Ach, Zarppe", der große Mann blieb einen Augenblick stehen, und er sah Kornreck freundlich an, "das stimmt nicht. Nicht ich bin es, der uns zum Baum der Schwäne führt, sondern wir sind es. Sicher, wir müssen diesen Weg nehmen, aber ich denke, daß die ASGEDAN-runde zugleich prüfen will, ob wir auch zusammen eine Aufgabe lösen können." 71 Damit schien alles gesagt zu sein, denn sie schritten wieder kräftiger aus, setzten ihren Weg um den See fort. Ein leichter Wind kam auf, und nun hörten sie, woher der Baum seinen Namen hatte. Wie Schwanenflügel im Flug, so rauschten und sausten die Blätter. Da schwiegen die Vögel und die Frösche, da verstummten die Insekten, und nichts als dieses gewaltige Rauschen hing in der Luft. Sie gingen ohne Unterbrechung bis in den frühen Nachmittag hinein. Und was Reik über den See hinweg wie ein Berg erschienen war, veränderte zunächst seine Farbe, wurde graugrün und erschien allmählich vielschichtig und verschachtelt. Jedes Blatt des Baumes der zehn Zeiten war groß wie ein Mensch, vielfach gerippt und gefaltet. Das Laub reichte bis auf den Boden hinunter, so daß nicht ein Ast zu sehen war, nicht eine Lücke. Gerstfeld warf das Gepäck auf den Boden und deutete so an, daß sie ihren heutigen Rastplatz erreicht hatten. Reik und Kornreck ließen sich wohlig aufstöhnend ins Gras fallen. Reik breitete, auf dem Rücken liegend, die Arme weit aus und blinzelte in den Himmel. "Was sie jetzt wohl gerade tut", murmelte er vor sich hin, und in seinen Blick zog ein träumerischer Ausdruck. Gerstfeld zimmerte aus einigen Ästen einen kleinen Tisch, holte dann ein handliches Netz aus dem Gepäck, stieg ins Wasser und fing Fische, die er noch unten am See schuppte, ausnahm und wusch. Nachdem er eine Schüssel voll Himbeeren gepflückt hatte, entfachte er ein Feuer und briet die Fische. Nach den Fischen war der Tee an der Reihe. "Essenszeit", rief er schließlich und betrachtete die müden Bewegungen der beiden lächelnd. Nach dem Essen legten sie sich zum Schlafen nieder. Leiser und ferner wurde das Sirren der Schwanenschwingen, und deutlicher setzte sich das Gesumm der Insekten, der Gesang der Vögel, das Quarren der Frösche durch. Reik fühlte mit einemmal die Abgeschiedenheit dieses Ortes. Als Reik erwachte, erhob er sich eilig. Erstaunt bemerkte er, daß an seinem Gürtel ein Seil hing. Der vordere Teil des Seiles führte zu Gerstfeld, während der hintere Teil an Kornrecks Gürtel befestigt war.
"Da können wir uns nicht verlieren", Gerstfeld tippte auf das Seil. "Seid ihr schon lange wach?" fragte Reik unsicher, denn er hatte den Eindruck, die anderen warteten bereits ungeduldig auf ihn. "Nicht lange", spottete die Zarppe, "Gerstfeld hat inzwischen nur Hanf gesät und großgezogen, die Fasern gerupft und bearbeitet und daraus das Seil. . ." 72 "Kornreck", Gerstfeld drohte mit der Faust, "heb dir deine Spaße für deine Leute auf. Vielleicht lachen die darüber. Wir müssen los ..." Er drehte sich abrupt um, ging auf die nahen Blätter zu. Sie zwängten sich hindurch, mußten auf die Knie und krochen unter dem Grün entlang. Das Licht wurde schon nach wenigen Schritten goldgelb, dann bekam es einen grünen Schimmer, der sich mehr und mehr verstärkte. Eine dunkelgrüne Welt umschloß sie, die gleich darauf in prächtigen Türkistönen prangte. Ein helles Blau, das zusehends dunkler wurde, schloß sich an. Für kurze Zeit umgaben sie die prächtigsten Violettöne. Und zugleich wurde das Licht schwächer. Die Dämmerung begann, und nun gaben die Blätter den Boden frei. Gerstfeld und Reik krochen noch, als die Zarppe schon aufrecht ging. Reik Folgte, und zuletzt richtete sich der vorn gehende Gerstfeld auf. Jetzt umgab sie nachtschwarze Finsternis. Reik prallte gegen etwas und schrie erschrocken auf. Die Zarppe prallte gegen Reik. "Bleiben wir einen Augenblick stehen", schlug Gerstfeld vor, "bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben." Reik zog tief die Luft ein. Es roch nach überreifen, süßen Früchten und nach moorigem Untergrund, nach Torf und Moos, nach nassefi Bäumen und nächtlichen Wiesen. "Nanu", rief Reik erstaunt aus, "was ist denn das?" Er sah in der Ferne feine, nadeldünne Lichtstrahlen. Sie stachen wie gläserne Messer in unregelmäßigen Abständen durch die Nacht, ohne daß sie etwas erleuchtet hätten. "Das sollten wir uns nicht entgehen lassen", schlug die Zarppe vor, "wer weiß, was uns dort erwartet." "Einverstanden", stimmte auch Gerstfeld zu. , Gleich darauf fühlte Reik, wie sich das Seil straffte. Er sah Gerstfeld nicht und ließ sich einfach von dem Seil ziehen. Dabei stolperte er nur kurz, dann hatte er Tritt gefaßt. Hinter ihm plumpste es, und er hörte Kornrecks wilde Flüche, den das Seil umgeworfen hatte. Reik schmunzelte im Dunkeln. "Ich glaube", schrie Kornreck, "wir sind an ein in Panik geratenes Mammut gefesselt, und es wird uns zu Tode schleifen." Gerstfeld lachte glucksend auf.
"Da lacht noch einer", rief die Zarppe, "während ich mir alle Knochen breche." Er sprang auf die Füße und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. "Wir gehen völlig falsch", erklärte er nach wenigen Minuten, "wir laufen in Richtung See." "Was?" Reik blieb stehen, und Kornreck prallte wieder gegen ihn, und beide wurden, weil Gerstfeld noch einen Schritt weiterging, umgeworfen. "Wir kehren zum Ausgang zurück", beeilte sich Reik zu sagen, "das merkt man doch." 73 "Was ist denn mit euch los?" fragte Gerstfeld, "ich halte auf die Lichtfinger zu. Dort müßte das Zentrum sein." "Unsinn", widersprach Kornreck, "da ist der See. Wir haben einen untrüglichen Instinkt. Folgt besser mir!" "Wir müssen dahin", behauptete Reik, der sich seiner Sache sicher war, "wo die tiefste Finsternis ist. Außerdem bin ich müde." Er setzte sich, und Kornreck folgte seinem Beispiel. Reik gähnte. "Ihr spinnt ja", setzte er seine Rede fort, obwohl niemand etwas gesagt hatte, "ihr seid doof. .." Nach diesen Worten kippte er auf die Seite und schlief fest ein. "Komische Sache, wie?" fragte Kornreck besorgt, ehe er sich einrollte und ebenfalls schlief. m "Und jetzt", Gerstfeld blickte auf die Schlafenden hinunter, "schlaft ihr also. Dabei ist es hier auch nicht ganz ungefährlich. Außer den Versinkenden Inseln gibt es die Gleichgültiglceitshaine, die Felder des kalten Schlafs, die Riede der Schattenjahre und . . ., und dann noch .. ." Er konnte nicht sagen, was er vorgehabt hatte, denn die Augen fielen ihm zu. Im Umsinken packte er Kornreck und Reik am Knöchel, damit sie nicht entführt werden konnten. Als sie erwachten, brauchten sie lange Zeit, ehe sie begriffen, was geschehen war und wo sie sich befanden. Sie erhoben sich, erblickten überall um sich die Lichtfinger, die ihnen Orientierung sein sollten. "Was für Kräfte wirken hier?" murmelte Gerstfeld dumpf. "Man ist ihnen ausgeliefert." "Und wir sind durchgefallen", Reiks Worte klangen kläglich, "wenn die ASGEDANrunde uns geprüft hat. . . Wie wir uns gestritten haben." "Ich erinnere mich an keinen Streit", entgegnete Kornreck, "wir haben einfach beschlossen, daß ich von nun an führen werde." Feine Bodennebel stiegen vor ihnen auf, denen sich zartes Licht entströmte. Der fahle Schimmer reichte aus, gewaltige, haushohe Wurzeln des Baumes aus dem Dunkel hervortreten zu lassen. "Kornreck", grollte Gerstfeld mit Donnerstimme, und in seinen Augen bildeten sich Fünkchen, "was soll das? Willst du schon wieder Streit. Reik hat uns etwas zu sagen. Sprich weiter, Junge."
"Ich weiß nicht", vernahmen sie Reiks zaghafte Stimme, "aber es ist mir, als würde der Baum selbst unsere Gedanken verwirren. Ich meine, wenn wir uns zerstreiten und jeder seiner Wege geht, dann ..., dann sind wir alle drei verloren." "Und wie will ein Baum uns beeinflussen?" fragte die Zarppe. "Ich weiß es nicht", antwortete Reik, "aber wenn er jedem von uns eine andere Richtung weist, reicht es doch schon." "Das reicht tatsächlich", Gerstfeld unterstützte Reiks Meinung, "und 74 ich denke, daß Reik unter dem Dach der Zeit zu einem klugen Menschen geworden ist. Er hat sich gemausert. Sprich weiter, Freund." "Gut", schlug Kornreck vor, "vertraut mir die Führung an, und ihr seid aus allen Schwierigkeiten raus." "Nein", rief Reik heftig, "das ist es eben. Ich denke, daß es ein einzelner nie schafft. Machen wir es doch so: Gerstfeld führt uns, bis wir müde sind und rasten. Dann führe ich, bis wir erneut ruhen. Mich löst Kornreck ab. Und immer so weiter. Und solange einer vorn geht, wird nichts bemäkelt, nichts kommentiert." "Ein prächtiger Vorschlag", lobte Gerstfeld. "Gut", stimmte auch Kornreck zu, "natürlich ist es typisch, das der Kleinste der letzte ist. Aber bitte, bitte, verfügt über mich wie über einen unterernährten Laubfrosch." Erfrischt, hellwach und mit guten Gedanken zogen sie jetzt los. Gerstfeld führte sie. Ihre Augen, an die Dunkelheit gewöhnt, sahen nun auch das vielfältige Leben, das sie umgab. Schattenhafte Leiber drängten sich bei ihrer Annäherung die knorrigen Wurzeln hinauf. Aus schwach erleuchteten Spalten und Löchern glotzten stachelstarrende Tiere, die mit feinen Antennen den Boden abtasteten. Durch Pflanzendickichte huschten lichtfüßige walzenförmige Wesen, deren halber Kopf nichts als ein vorgewölbtes Auge war. Wie Gummibälle hüpften unruhige kleine Nurarmer von Wurzel zu Wurzel und von Blatt zu Blatt. Als ein solcher Nurarmer auf einen Fellträger stürzte, verschmolzen beide Tiere zu einem wallenden Nebel, aus dem sich ein plattes Etwas erhob, zwei Flügel ausbreitete und durch die Finsternis davonschwebte. Es umrundete einen Wurzelstock, kam zurück, landete auf Reiks Schulter und umhüllte den Kopf des Jungen mit seinen Flügeln. Mit einem schnellen Schritt war Kornreck bei Reik. Er wollte das Tier wegreißen, doch der Schweber stieß aus seinen Körperenden einige so grelle Blitze aus, daß die Zarppe verblüfft zurücksprang. Der Schweber löste sich von Reik und segelte davon. "Er hat mir wunderbare Landschaften gezeigt", sagte Reik zu Gerstfeld, "und aus seinen Flügeln drangen betäubende Melodien."
Ein perlfeines Lachen ertönte, und eine ganze Gruppe dieser Schweber glitt vorüber. Die Nebel versanken, und wieder umgab sie tiefe Finsternis. Reik faßte das Seil und lernte, sich wie Gerstfeld zu bewegen. Er begriff, wann er über etwas klettern, wann er sich ducken mußte und wann sie ein Hindernis umschritten. Sie wurden müde, ließen sich nieder. Gerstfeld holte die restlichen Himbeeren und die kalten Fische aus dem Gepäck und drückte Reik und Kornreck die Nahrung in die Hände. "Eßt", sagte er, "auch wenn ihr keinen Hunger habt. Hier muß man sich zwingen." 75 Reik schmeckte nicht einmal den Unterschied zwischen den Beeren und dem Fisch. Außerdem achtete er nicht darauf. Fasziniert, aber gleichzeitig beunruhigt sah er, daß die feinen Lichtnadeln immer wieder ihre Position und Dichte änderten. Es war ein Verwirrspiel, ihnen zuzuschauen. "Das ist keine Orientierung", murmelte er und schüttelte den Kopf. "Können wir weitergehen?" fragte Gerstfeld, und sie erhoben sich. "Wie tief mögen diese Wurzeln reichen?" fragte Reik, der angestrengt überlegte, welche Richtung er wählen sollte. "Vielleicht bis zum Mittelpunkt des Universums", antwortete Gerstfeld, "sie berühren das Zentrum der Zeit." Reik seufzte. Er machte einen ersten vorsichtigen Schritt. "Sagt ihr mir", bat er leise, "wenn wir im Kreis gehen?" "Hast du den Mut verloren?" wollte Gerstfeld wissen. Reik schritt heftiger aus, um seine Unsicherheit zu besiegen. Aber schon nach wenigen Minuten vermutete er, im Kreis herumzulaufen. Er biß die Zähne fest zusammen und lief weiter. Dabei behielt er eine Lichtsäule im Auge und ging darauf zu. Er spürte kaum, wenn er stolperte oder gegen einen Ast stieß. Nur diese eine Säule wollte er nicht aus den Augen verlieren. Sehr langsam wurde sie stärker und zeigte so an, daß sich die Gefährten ihr näherten. Als sie heran waren, sah sie jedoch kaum anders aus als aus der Ferne: ringsum tiefe Finsternis, nichts, was sie beleuchtet hätte. "Pause", sagte Reik erleichtert, "mein Abschnitt endet hier. Ich möchte aber gern das Innere des Lichts sehen. Kommt einer mit?" "Du brauchst einen Aufpasser", meldete sich die Zarppe, "also gehen wir, und Gerstfeld wird darüber wachen, daß uns niemand mit böser Absicht folgt." Gerstfeld löste sich von dem Seil, und die beiden Erkunder traten in den Lichtkreis, der bei ihrer Berührung sprühte und blitzte. Sie waren kaum im Inneren, als sie verdutzt innehielten. Vor ihnen erstreckte sich ein weitläufiges, parkähnliches Gelände, in dem es von
technischen Geräten wimmelte. Der Sinn der Konstruktionen blieb ihnen verborgen. Reik starrte auf eine Maschine, die ihn an eine riesige Achterbahn erinnerte, nur daß hier dunkle, aus winzigen Kugeln zusammengesetzte Riesenkugeln in regelmäßigen Abständen die Schienen entlangjagten. Manchmal prallten sie zusammen und zerfielen augenblicklich. Keiner der Apparate stand still. "Da", Kornreck deutete nach vorn. In einem lichten Wäldchen erhob sich ein granitenes Gebäude, an dessen Kanten je ein Turm in die Höhe ragte. Die Dächer der Türme waren flach und von einem Gitter umgeben. "Gewaltig", sagte Reik und betrachtete die Türme. 76 "Sieh mal", Kornreck riß ihn aus den Gedanken, "da unten, an der Waldkante!" Reik senkte den Blick und gewahrte einen in weiße Umhänge gehüllten würdigen Greis, der sich vor ihnen verneigte und ihnen winkend zu verstehen gab, sie sollten näher treten. "Meine wunderbaren Gäste", begrüßte er sie und verbeugte sich erneut, "es fügt sich gut, daß ich jetzt, da ich an der Schwelle des letzten aller Gesetze angekommen bin, jemanden finde, der die Freude des Entdeckers mit mir teilt." Er ging vor ihnen her zu der Tür des mächtigen Bauwerks, öffnete sie ihnen und verneigte sich ein drittes Mal. Das Innere des Gebäudes war nicht etwa ein Wohnpalast, sondern es war vollgestopft mit Geräten, Meßeinrichtungen, Schläuchen und Leitungen. Es roch nach Ozon und heißen Leitungen. "Es hat mich Jahrzehnte gekostet", erzählte der Greis, während er die Zarppe freundlich musterte, "hinter jenes letzte Gesetz der Zeit zu blicken. Zu erkennen, was anderen verborgen bleiben muß. Aber nun bin ich so dicht dran, daß mich nichts mehr schrecken kann. Heureka." "Was haben Sie mit diesem Gesetz gewonnen?" fragte Reik. "Ein Gesetz erkennen", erwiderte der Alte, "heißt immer, es beeinflussen können, oder auch: das Gesetz nutzend verwenden. Aber das liegt mir fern. Ich werde das jungfräuliche Wissen nicht in den Sumpf der alltäglichen Verwertbarkeit ziehen. Ich, Hianus de Segerra, gelobe, 77 daß dieses Wissen nur Wissen bleiben wird. Reine, kristallklare Erkenntnis ..." Noch während er sprach, drückte er Hebel nieder, betätigte Schalter, goß mit zitternden Fingern Flüssigkeiten in Röhren und sah zu, wie sich in riesenhaften Glasbottichen farbige Nebel bildeten und auf den Glasanzeigen der Sensoren schier unendliche Zahlenkolonnen einander ablösten. Er stand benommen da, und ein leeres, fernes Lächeln umspielte seine Züge.
Inzwischen sammelten sich alle Gase und Nebel in dem Mittelteil eines Bottichs, und es zuckten grelle Blitze auf. Das Gas verschwand in einer sich bildenden Kugel. Eine Explosion erschütterte den Raum, der Bottich zerfiel in Splitter, und frei schwebend stand ein winziges funkelndes Etwas, das nach Sekunden erlosch und unauffindbar verloren war, dort, wo sich zuvor das Glasbehältnis befunden hatte. Mühsam beherrscht wandte der Greis den beiden Gefährten sein Gesicht zu. "Was war das?" fragte Reik. "Urknall", stieß der Weise mit bebender Stimme hervor, "Universum. Von mir geschaffen. Winzig, aber wie das unsere. Mit eigenem Zeitablauf, entstanden nach dem letzten Gesetz der Zeit." "Es ist weg", Reik deutete auf die Stelle, wo er es hatte funkeln sehen. "Es wird wiederkommen", der Greis leckte sich die Lippen, "und erneut verschwinden und wie Phönix aus der Asche ein drittes Mal erscheinen. Eine endlose Kette. Was mir bleibt, ist nur noch, das Gegenuniversum zu schaffen, so daß beide umeinander kreisen können. Ihr wißt, daß nichts in unserem Universum zueinanderfindet, weil genau das die Begegnung verhindert, was sie ermöglichen sollte: die Bewegung. Ihr wollt zum Baum der zehn Zeiten. Aber ihr werdet ihn nie erreichen, weil ihr ständig um ihn herumfallt. Die Zeit trägt eucjft um seinen Stamm herum. Ihr müßt also abbremsen, bis ihr gege^i den Stamm stürzt. Aber nur nicht zu heftig, sonst zerschmettert es i euch. Tausende von Wagemutigen sind zerschellt." "Und Sie", fragte die Zarppe, "wollen Sie auch dorthin?" "Natürlich", der Greis strich sich seinen Bart, "nur werde ich mich so lange gegen die Zeit bewegen, bis ich sie durchschneiden kann." "Dabei werden Sie doch ganz dünn", fragte Kornreck und kratzte sich einen Fühler, "wie dünn denn?" "Nun ja", der Weise lächelte gutmütig, "es wird kein Mikroskop mehr geben, das mich nachweist. Aber darauf kommt es ja wohl nicht an." "Nicht an", schrie Kornreck, "es kommt nicht darauf an, daß Sie hinterher ein Nichts sind? Das ist Ihnen ganz gleichgültig? Dann frage ich Sie, was wollen Sie überhaupt noch dort, wenn Sie nicht einmal einen Schatten werfen?" 78 ,Ja, natürlich . . . Ich meine, was?" Der Greis blinzelte nervös mit den Augen. "Moment, ich wußte es ... Elafel? Elafel!" Schlurfende Schritte näherten sich. Ein Mann trat hinter den Geräten hervor, der ebenfalls in weiße Umhänge gehüllt war. Man sah, daß er dem Weisen untenan war, denn er verneigte sich dreimal bis zum Boden.
Er trug eine dickglasige Brille vor den Augen und über dem Arm einen Regenschirm. Reik kniff die Augen zusammen, starrte die eigenartige Erscheinung beunruhigt an. Etwas in ihm warnte ihn vor dem Mann, auch wenn er nicht wußte, was ihn so abstieß. "Dieser Fremde da", erläuterte inzwischen der Greis, wobei er auf Kornreck deutete, "hat einen sonderbaren Aspekt betreffs unserer Zeitreise geäußert.. ." Reik hörte nicht zu. Er fixierte den Assistenten, suchte nach etwas, was er ihm sagen konnte, weshalb er diesem da nie trauen würde. Aber auch Kornreck starrte Elafel feindselig an. "Wir werden jetzt gehen", erklärte Reik, "es war interessant bei Ihnen, aber wir setzen unsere Reise fort." "Aber Freunde", bat sie der Weise und hielt ihnen seine Hände entgegen, "bleibt doch noch. Ich . . ., ich frage mich gerade, ob man nicht auch einfach auf den Stamm zugehen kann. Mit der Zeit, in der Zeit. . ., durchdrungen von der Zeit. Schattenwerfend. Gebt mir noch einige Stunden . . . Versteht ihr?" "Es tut uns leid", Reik lächelte dem Greis freundlich zu, "wir sind schon lange, vielleicht zu lange hier gewesen. Seht, wenn ihr eine Lösung habt und schneller seid als wir, werdet ihr uns einholen, und wir können gemeinsam den Weg beenden. Aber warten, das geht nicht. Und von nun an führt uns Inula Kornreck. Ich denke, er wird uns auf einem guten Weg vorangehen." ,Ja", bemerkte Kornreck, "so sind wir Zarppen nun einmal: sehr bescheiden, aber dafür hochintelligent. Leben Sie wohl, meine Herren." Sie trafen in der tiefen Dunkelheit mit Gerstfeld zusammen, verbanden ihre Seile und machten sich fettig zum Abmarsch. Derweil berichtete Kornreck knapp, was sie erlebt hatten. Als er von dem Assistenten des Greises berichtete, fiel ihm Reik ins Wort. "Ich kenne den Mann", rief Reik aus, "ich muß ihn irgendwoher kennen. Und ich schwöre, daß es keine gute Begegnung war." "Ich fand ihn schrecklich", stimmte die Zarppe zu, "er trug die Brille nicht wie du, Gerstfeld. Bei dir weiß man, daß du schlecht siehst. Aber er, er trägt sie, um etwas zu verbergen." "Vielleicht war es ein Fehler", sprach Gerstfeld, "daß ich nicht mitgekommen bin. Aber gehen wir erst einmal los!" 79 Schweigend setzten sie sich in Bewegung. Die Zarppe führte sie. Als die Lichtsäule hinter ihnen dünn wie ein Finger war, knallte es vorn dumpf. Kornreck war gegen eine Wurzel geprallt. "Das hat man nun davon", schimpfte er, "da begleitet man zwei Riesen, und sie schicken natürlich
den Kleinsten vor. Soll er sich ruhig den Kopf einrennen, man selbst spaziert schadenfroh lächelnd hinterdrein. Und wenn du umfällst und liegenbleibst, dann kappen sie das Seil und lassen dich zurück. Nette Freunde, das . . ." Sie liefen lange, begegneten noch anderen Lichtsäulen, ohne daß einer Lust gehabt hätte, ihre Geheimnisse zu lüften. Der Boden wurde immer abschüssiger und glatter. Oft stolperten sie, rutschten weiter, verhedderten sich im Seil und hatten alle Mühe, das Band zwischen sich zu entwirren. Einigemal bewahrte Gerstfeld die Zarppe und Reik davor, in schmale Spalten zu stürzen. Einmal hielt er das Seil straff, so daß die beiden Gefährten nicht von der Stelle kamen. "Vorsicht", warnte er, "haltet euch mehr rechts, sonst lauft ihr in Stacheln." Nach einer weiteren Wegstunde trafen ihre Füße platschend auf Wasser. "Naß wird es auch noch", schimpfte Kornreck, "ekelhaft naß . .." "Es ist dein Weg", hörten sie Gerstfelds ruhige Stimme. "Unser Weg, bitte schön", verteidigte sich die Zarppe, "außerdem kann der zu Hause bleiben, der ein bißchen Tropfwasser fürchtet." "Und wenn das nun ein Moor wäre?" fragte Gerstfeld. Die Zarppe blieb stehen. "Du meinst", fragte sie ziemlich leise, "das hier könnte versehentlich ein Moor sein? Man hat mir von Moorbädern abgeraten, weißt du. Reik, findest du auch, daß es ein Moor sein könnte?" "Ich weiß nur", antwortete der Gefragte, "daß ich bis zu den Waden im Nassen stehe und unter meinen Füßen Blasen zerplatzen." "Wir könnten im Stehen eine Pause machen", erwiderte Kornredf bestimmt, "und dann führt uns Gerstfeld." x ,Ja", ließ sich auch Reik vernehmen, "ich sehe vor uns die fünf Lichter, die ich angesteuert habe. Der Weise hat nicht einmal unrecht, wenn er von den ewigen Kreisbewegungen spricht. Wir sind im Kreis gelaufen. Ich werde in Zukunft darauf verzichten, an der Spitze zu gehen." "Schließe mich an", erklärte Kornreck knapp. "Danke", vernahmen die beiden Gerstfelds Stimme, "in diesem Augenblick haben wir das Vertrauen der ASGEDANrunde erworben. Sie sind von nun an überzeugt, daß wir in der Lage sind, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Ich kann ein wenig sehen. Es sollte aber so lange ein Geheimnis sein, bis ihr begreift, daß es Orte gibt, wo 80 der beste Wille nichts hilft, wenn man nicht alles versteht, was geschieht. Wir befinden uns tatsächlich am Rand eines ausgedehnten Moores, das sich bis zum See erstreckt. Unter eurer Führung haben wir zwei große Kreise beschrieben. Gehen wir also ein kleines Stück, bis wir
trockenes Land erreicht haben, und dann wollen wir Pause machen, ehe wir die nächste Etappe in Angriff nehmen." "Ist er noch weit, der Baum?" fragte Reik. "Bis zum Baum kann ich nicht sehen", antwortete Gerstfeld, "aber ich kann Wurzeln und Täler, Höhenzüge und kleine Flußläüfe erkennen, und ich weiß, wo wir schon waren und wohin wir uns wenden sollten. Ich denke, den Baum werde auch ich erst erblicken, wenn ich direkt vor ihm stehe." Sie taten, wie Gerstfeld es vorgeschlagen hatte. Sie fanden trockenes Land und setzten sich erschöpft nieder. Es kam keine Unterhaltung zustande, und sie schauten in die Schwärze, in der immer wieder einmal eines jener lichtstreuenden Wesen vorüberhuschte. Lange hielt es sie nicht an dem Platz, und von nun an ging es beständig bergauf. Es war ermüdend, und sie wurden immer stiller und langsamer. "Hört", brach Gerstfeld schließlich das Schweigen, "wir sind redlich müde. Jenseits der Blätter ist die Sonne bereits versunken, und der Mond steht hoch am Himmel. Machen wir also eine Schlafpause und ziehen in aller Frühe mit frischen Kräften weiter. Ich denke schon, daß wir morgen den Stamm erreichen werden." Kommentarlos breiteten die Zarppe und Reik ihre Decken aus und rollten sich darin ein. Der Schlaf senkte sich auf sie nieder, und sie sahen nicht, wie keine hundert Meter entfernt jener ehrwürdige Greis, jetzt eine eigenartige Brille auf der Nase und eine mit Formeln vollgeschriebene Seite in der Hand, an ihnen vorüberhastete, wobei ein albernes Kichern jeden seiner Schritte begleitete. Auch er hatte ein Seil um seine Hüften geschlungen, das am anderen Ende seinen Assistenten an ihn band. Selbst in der Finsternis trug jener den unvermeidlichen Regenschirm unter dem Arm. Er warf den Schläfern einen galligen Blick zu, ehe er hinter dem nächsten Wurzelstock verschwand. Am nächsten Morgen zogen die Gefährten munter plaudernd im Licht der glimmenden Nebel los, die wohl jeden Morgen einleiteten. Sie nutzten den schwachen Schein, um schnell voranzukommen. Nach einer knappen Stunde waren die Lichter verschwunden, und das Seil wurde wieder zu ihrem Orientierungsmittel. Unerwartet wurde Reik nach vorn gerissen. Er taumelte, fing sich ab, hielt sich mit beiden Händen am Seil, um nicht zu stürzen. "Gerstfeld", rief er nach einigen hundert Metern keuchend, "das Tempo halte ich nicht durch!" 81 "Doch", kam es mürrisch aus der Finsternis, und Reik erschauerte, denn so hatte er den großen Mann noch nie reden gehört. "Bist du es, Gerstfeld?" fragte er vorsichtig.
"Wer sonst?" grollte die Antwort. "Du preschst vor wie eine Dampflok auf Weltrekordfahrt", zeterte die Zarppe. "Geht es nicht langsamer?" "Ich sehe ein Licht", hörten sie Gerstfeld besorgt sagen, "und es bewegt sich so steil aufwärts, daß ich annehmen muß, da ist einer vor uns am Baum der Schwäne angelangt. Und ich ahne Böses . .. Der Mann mit dem Regenschirm. Reik, erinnere dich!" "Natürlich", rief Reik und schlug sich an die Stirn, "in der Straßenbahn von Rüdersdorf... Er blinzelte Anja zu. Er stand in der Tiefe, als sich der Stein unter mir löste ... Er war es." "Ein Abkömmling des Megaglenos Argus", erklärte Gerstfeld, "und deshalb müssen wir annehmen, daß er alle Länder durchmessen hat, in denen wir waren, daß er alle Geheimnisse kennt, die wir hüten wollten, daß er uns nun überholt hat, um uns einen üblen Empfang zu bereiten. Und sollte er je nach Destrusos kommen, wären alle Wege verraten. Auch die Moanen wären dann den Angriffen Chooroons ausgesetzt. Deine Vision, Reik, würde Wirklichkeit. Nur tausendmal grauenhafter..." Unter Gerstfelds Führung hasteten sie vorwärts, liefen, stolperten und fluchten manchmal. Doch niemand wollte aufgeben. Immer wieder verbiß sich Reik den Schmerz, wenn er irgendwo anstieß. Er dachte an die Moanen, dachte an Oriana, sein Glasäuglein, und an seinen schrecklichen Traum vom Aschewald. Reik prallte gegen Gerstfeld. Kornreck stolperte in Reiks Rücken. "Wir sind da", flüsterte Gerstfeld, "wir haben den Stamm erreicht. Aber nur wenige Schritte vor mir liegt ein alter Mann mit weißem Bart und weißen Haaren. Ein Seil ist um seine Hüften geschlungen. Ein Dolchstoß in den Rücken hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Er ist gestorben, als er den Baum berührte ..." Wortlos standen sie, nahmen Abschied von dem Weisen und wuß- • ten, wer ihn gemeuchelt hatte. Nach einer Minute der Stille setzte Gerstfeld den Weg fort. Er war nicht langsamer geworden, und als sie nach einer Stunde die Stelle fanden, von wo aus der Aufstieg beginnen konnte, warf sich Reik gegen den Stamm, keuchte und schnappte nach Luft. Er fühlte sich restlos ausgepumpt. "Wir stehen am Fuß einer schmalen hölzernen Treppe", erklärte Gerstfeld seinen Freunden, welche nichts sehen konnten, "die nur notdürftig durch ein dünnes Geländer gesichert ist. Stellenweise wachsen feuchte Schmieralgen auf den Stufen. Immer kann man ausgleiten. Einzig das Seil wird uns halten. Sobald wir eine der Plattformen er11 82
reicht haben, machen wir eine kleine Pause. Schwindlig kann niemandem werden, denn die Finsternis verhindert, daß ihr seht, wie hoch ihr schon seid." Der Aufstieg begann, und er gestaltete sich schwieriger, als sie dachten. Gerstfelds Schilderung schien eine freundliche Untertreibung gewesen zu sein. Wasser, Algen und fauliges Holz machten aus der Treppe eine prächtige Rutschbahn. Reik und Kornreck prallten immer wieder mit den Knien gegen eine hölzerne Kante oder kippten einfach ab und wurden von dem Seil unsanft hochgezerrt. "Und wenn er nun irgendwo auf uns lauert", rief Reik, um seine schmerzenden Knie und Ellenbogen einen Augenblick zu vergessen, "was dann?" "Es wäre schön", klang es drohend von oben, "dann würde ich ihn packen und wohlverwahrt bei der ASGEDANrunde abliefern. Aber das ist ein Wunsch. Die Leute des Megaglenos Argus sind feige. Sie töten hinterrücks, sie verstellen sich und tun bieder ... O nein, er wird sich hüten, uns auf dieser Treppe zu begegnen. Er hat nur ein Ziel: sein Wissen der Maschine Norrh zu übergeben." "Hätte ich ihn nur erkannt", Reik machte sich jetzt Vorwürfe, "wir hätten ihn bei dem Weisen unschädlich machen können. Wir hätten ihn .. ." "Sei froh", widersprach Gerstfeld, "daß du ihn nicht erkannt hast. Er ist nicht ungefährlich. Er fürchtet mich, Freunde, euch jedoch hätte er sich jederzeit zum Kampf gestellt. In seinem Regenschirm ist garantiert eine teuflische Waffe eingebaut, sonst hätte er sich schon von ihm .getrennt. Er hat sogar in Kauf genommen, sich durch den Schirm zu verraten." "Wir kommen nie oben an", Kornreck stöhnte, "das ist kein Weg, sondern eine Folter." Sie entwickelten, wenn auch langsam, eine bestimmte Technik, die Füße aufzusetzen und sich in der Balance zu halten, so daß sie seltener stürzten und besser vorankamen. Und je höher sie gelangten, desto trockener wurden die Stufen. Aus den Algenteppichen wurden schmale Streifen, bis sie ganz ausblieben. Die drei Gefährten gingen immer schneller. Reik vernahm leise schnarrende Töne. "Hier muß irgendwo eine Grille herumkriechen", sagte er, "ich höre sie zirpen." Augenblicklich verstummten die Töne. "Puh", machte Reik, "ich habe das Tier erschreckt, dabei klang es richtig freundlich." "Tatsächlich?" spottete Kornreck. "Ich sage es dir doch", bekräftigte Reik seine Worte, "es klang schön. Ich war manchmal in den Ferien bei meiner Großmutter auf dem Dorf. 83
Da gab es Sachen zu entdecken, sage ich euch.. . Und wenn ich mit meiner Angel am Fluß lag, manchmal auch abends, dann war da ein regelrechtes Schnarrkonzert. Und das erinnert mich immer an die Ferien, an meine Abenteuer." "Es gefällt ihm", murmelte die Zarppe, "tatsächlich." Gerstfeld kicherte. "Du da vorn sei still", schnaubte Kornreck, "du hast in dieser Sache kein Mitspracherecht. Verstanden?" "Was soll denn das schon wieder?" erkundigte sich Reik. "Worüber gibt es denn nun Streit?" Gerstfeld lachte schallend. "Du hast unseren Inula sehr erfreut", rief er aus, "denn er ist es gewesen, der da zarppte. Deshalb übrigens auch der Name: Zarppen zarppen eben. Und du, Inula, man hat dich genug gelobt. Fahr fort, es gefällt uns." Wieder hoben die feinen schnarrenden Laute an und füllten die Stille, die sie bisher feindselig umgeben hatte. Als sie die erste Plattform erreicht hatten, war Kornreck schon lange verstummt. Die letzten hundert Schritte gingen sie mechanisch, wie Aufziehpuppen. Reiks Kopf war leer, dröhnte. Nur ein Wort, ein Gedanke ging ihm nicht aus dem Sinn: Weiter, weiter, weiter. . . "Ich hasse diesen Baum", murmelte Kornreck, der verbissen dahintrabte. Als Gerstfeld die Pause ansagte, fielen sie um, wie sie waren. Liegend wischte sich Reik den Schweiß von der Stirn, versuchte ein Wort zu formen, aber sein Gaumen war trocken, seine Zunge schien dick und unförmig. Der Atem entwich ihm rasselnd. Irgendwo plätscherte es freundlich. "Wasser", stöhnte Kornreck, und Reik formte das Wort, ohne es laut sprechen zu können. Er fühlte, wie Gerstfelds schwere Hand seinen Kopf hob, er roch das Wasser in dem Becher, den Gerstfeld ihm an die Lippen setzte. Reik trank. Gierig, in riesigen Schlucken. Er hustete und prustete, aber er ließ nicht nach, trank, bis der Becher restlos leer war. "Das tat gut", sagte er dann und setzte sich auf. Er fühlte, wie sich alles neu belebte. Die Beine gehorchten ihm wieder, und die zerschundene Haut auf den Armen hörte augenblicklich zu schmerzen auf. Der Kopf schien klar und frei. Er erhob sich. "Inula?" fragte er in die Finsternis. Statt einer Antwort erklang nun wieder das melodische Schnarren. Doch das Schnarren wurde vom Sirren der Schwanenflügel zugedeckt. Außerhalb des Baumes mußte Wind sein. Wind, Sonne, Licht und Farbe. 84 "Ist es noch sehr weit?" fragte Reik.
"Wenn wir die zweite Plattform erreicht haben", erklärte Gerstfeld sachlich, "sind wir bei unserem ersten Ziel." "Das ist gut", Reik starrte hinauf in die Finsternis, "ich finde, daß ich schon jetzt.. ." "Achtung", unterbrach ihn Gerstfeld und zog ihn und die Zarppe unter die steinerne Fassung der Quelle, die direkt aus dem Zeitenbaum kam und die sie gestärkt hatte, "Gefahr im Anzug." Reik hob den Kopf. In der Schwärze des Zeitenbaumes schwebte je" ner Flugkörper mit den beiden grünen Kanzelfenstern, die wie zwei überwache Augen alles registrierten, was von den Geisterfingern der Scheinwerfer berührt wurde. Chooroon, das Letzte Fahrzeug, tastete sich durch die Schwärze der Zeit. "Das war der Mann mit dem Regenschirm", flüsterte Reik, "und ich habe ihn nicht erkannt." "Mach dir keine Vorwürfe", wisperte Gerstfeld, "auch das kann eine seiner Waffen gewesen sein: dich vergessen zu machen, was du weißt. Und wären wir noch einmal in den Lichtkreis eingedrungen, dann würden wir dort auf ewig gefangensitzen. Man soll nicht um das "Was wäre, wenn" jammern, sondern von dem ausgehen, was ist, und daraus das Beste machen. Und das wollen wir." "Sie möchten uns einschüchtern", fauchte die Zarppe, "aber da sind sie bei einem Kornrecken an der falschen Adresse!" "Ich denke", Gerstfelds Stimme war nun wieder ruhig, "daß ihr Ziel feststeht: Wir sollen unsicher werden. Sie wollen, daß wir die einzelnen Etappen flüchtig oder gar nicht absolvieren und uns unbesonnen zu einer Flucht nach vorn entschließen. Dann haben sie uns da, wohin sie uns dirigieren möchten. Wir würden stets das Falscheste tun und ihnen so den Steinernen Kopf zurückbringen." Es raschelte leise, und es war Reik, als lege sich ein kaum spürbares Netz aus tausend elektrischen Funken um seinen Kopf, hülle seinen Körper ein. Chooroon kam noch etwas tiefer herunter, und die roten Lichter suchten die Treppe ab. Chooroon verschwand hinter dem Stamm, tauchte, von grünem Schein angekündigt, auf der anderen Seite wieder auf. Die Suchlichter erfaßten die Freunde, blendeten sie, setzten ihren Weg fort. Unbeweglich, so als halte die Maschine den Atem an, stand Chooroon an ein und derselben Stelle und verschwand im nächsten Augenblick mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Höhe. "Na ja", sagte Gerstfeld, während Reik erleichtert seufzte, "nun wissen sie, wie weit wir schon gekommen sind . . ." 85
Ob die zweite Etappe ebenso lang wie die erste oder ob sie gar länger war, hätte Reik nicht sagen können, denn seit das Zeitenwasser ihn belebt hatte, empfand er keine körperliche Mühsal mehr. Sein Korper gehorchte ihm wunderbar, er konnte sich auf ihn verlassen. Und er blieb verblüfft stehen, als er einen Schritt nach oben machen wollte und begriff, daß da keine Stufe mehr war. "Ist das hier etwa die Plattform?" fragte er verdutzt. "Sie ist es", antwortete Gerstfeld, "wir haben unser Ziel erreicht. Evu-ion erwartet uns. Wir müssen nunmehr das Geländer übersteigen und einen breiten Ast als Brücke benutzen. Kommt." "Halt", Kornreck bewegte seine Antennen kräftig, "ich rieche Spuren. Hier war jemand." "Leider", stimmte Gerstfeld zu, "ich sehe die Spuren. Es sind ihrer viele. Auf Evulon sind ungebetene Gäste. Man erwartet uns sicher schon." Sie stiegen nacheinander über das Geländer, faßten sich bei den Händen und tasteten sich, von Gerstfeld geführt, den breiten Ast entlang, der wie eine hölzerne Brücke ins Nichts ragte. Das Blattwerk zwang sie auf die Knie, sie zwängten sich durch die Blätter. Als der erste violette Lichtschimmer ihre Augen traf, stieß Reik einen Schrei der Überraschung und Freude aus. Das Licht wurde blau und türkis, grün und gelb. Es leuchtete orangerot. Sie stießen das letzte störende Blatt zur Seite und hatten Evulon erreicht. EVULON Sarschan Angaria greift ein Mit zusammengebissenen Zähnen betrachtete Reik diese Welt. Inula Kornreck hatte die Antennen eng an den Kopf gelegt und seine vier Hände zu Fäusten geballt, denn unter ihren Füßen war schwarzes, poröses Gestein, das sich über einen endlosen Hang nach unten in brodelnden Tälern verlor. Ob es Tag oder Nacht war, wer wollte das sagen, denn das Licht, das sie wild umtoste, entstammte Vulkanen und Feuerseen, metallisch glänzenden Wolken und tobenden Blitzen, die wie vielhundertjährige Eichen verästelt waren. Zudem war es brütend heiß, und das Atmen machte Mühe. Reik wußte nicht, daß aus dem Kragen seines Overalls ein gleichmäßiger Sauerstoffstrom seinen Kopf umspülte, daß er anderenfalls erstickt wäre. Der Schweiß rann dem Jungen von der Stirn in die Augen, in den Mund. So weit das Auge reichte, erstreckte sich dieses Land der tobenden Naturgewalten, in dem Stürme und Taifune tosten, glutspeiende Windhosen Felszacken abbrachen und furchterregende Beben die höchsten Berge stürzten. An ungezählten Stellen riß der poröse Untergrund auf, und weiße Feuer schössen zischend und blendend in die Höhe. Meteoritengleich durchfurchten Feuerkugeln den Luftraum,
explodierten, sobald sie ein Hindernis berührten, und überschütteten ihre Umgebung mit zuckenden Flammen. Der Fels unter den .Füßen der Gefährten erbebte. "Was...", stieß Reik krampfhaft hervor, "was wollen wir hier?" Er zuckte unter den Blitzen zusammen, und die schmetternden Donnerschläge jagten ihm Schauer über den Rücken. "Wir wollten Leben finden", erklärte Gerstfeld finster, "aber wir werden mit einem zusammentreffen, den die ASGEDANrunde in Abwesenheit verurteilt hat: Antissath Gorgon. Er ist ein feiger, hinterhältiger Mörder, der engste Verbündete der Melaana von Zitadorra. Er ist spezialisiert auf Intrigen, Verrat und Mord. Ich denke, daß er der Mann mit dem Regenschirm ist. Aber das ist nur ein Bild, das er für dich geschaffen hat. Wir werden ihm begegnen, und ich warne euch." "Hier?" Reik hob vorsichtig die Hand, deutete in das Chaos. "Sie ist unruhig", fuhr Gerstfeld jetzt mit anderer, weicher Stimme 87 fort, "die Gewaltige, die Kreißende, und ihr Stöhnen geht euch durch und durch. Aber laßt uns fünftausend Kilometer weiter sein, da liegt sie dann friedlich, das Neugeborene, das Leben, in ihren Armen haltend, vor euch." "Und wie, bitte schön", meldete sich die Zarppe, "wollen wir diese lächerlichen fünftausend Kilometer überwinden? Vielleicht hüpfend oder durch die Feuerseen schwimmend?" Auch Reik sah Gerstfeld skeptisch an. "Wir können nicht einmal diesen Berg verlassen, ohne zu verglühen", stimmte er zu. "Nun", Gerstfeld lächelte, "dann dreht euch um." Sie taten es und waren doppelt verblüfft, denn es gab kein Laub mehr, keinen Baum der zehn Zeiten. Auch dort erstreckte sich jenes schaurige Land, das sie schon kannten. Ganz dicht hinter ihnen aber standen drei Dinge, von denen keiner sagen konnte, ob sie lebten oder einfach Maschinen waren. Farblich erinnerten sie an Marzipan- oder Porzellanschnecken, waren auch wie solche geformt. Das Licht der Feuer und der Blitze brach sich an ihrer Oberfläche wie in Brillanten, und man konnte braune, verwaschene Muster erkennen, die Blüten glichen. Vorn und hinten liefen sie spitz zu und zeigten zwei Reihen gezähnter Einschnitte, während ihre "Rückenpartie" leicht nach innen eingebeult war und so eine ideale Sitzfläche bot. Die stabil wirkenden Körper ruhten auf milchigen, sich unablässig bewegenden Schichten, die feine Strahlen aussandten, die dicht über dem felsigen Untergrund endeten. Keine Sturmbö, kein Blitz ließ sie schwanken. "Wenn ihr oben sitzt", erklärte ihnen Gerstfeld ruhig, "werdet ihr rechts und links Einschnitte entdecken. Steckt dort eure Füße hinein."
Neue Donnerschläge und eine ganze Serie von Blitzen erfüllten die Luft, während der Fels unter ihnen leicht schwankte. Gerstfeld hob Kornreck hoch und setzte ihn auf das kleinste der drei Dinge. Dann half er Reik beim Aufstieg. Ein glutheißer Wind trug Schwefeldünste und Ammoniakschwaden heran. "Die Füße", schrie Gerstfeld gegen den Sturm, "in die Öffnungen!" Sie taten es, und augenblicklich machte der Sturm einen Bogen um sie; sie konnten wieder atmen, und der Schleier von ihren Augen verschwand. Reik sah, wie Gerstfeld eine ebensolche Scheibe hervorzog, wie Anja sie benutzt hatte, und hindurchblickte. Und da drang ein violetter Lichtstrahl durch Blitze, Dämpfe und Feuerregen und tastete den Fels ab. Ein unheilvolles Krachen ließ die Luft erzittern. Der Fels begann sich zu neigen. "Na also!" Gerstfeld sprang wie ein Ball auf das dritte Porzellangerät und steckte seine Füße in die Einschnitte. Keinen Augenblick zu früh, denn Steinbrocken spritzten umher, und der Fels neigte sich noch weiter nach vorn. Die drei Freunde aber schwebten, als wäre nichts geschehen, an derselben Stelle. Gerstfeld schob sich mit seinem Reittier zwischen die anderen beiden. "Fünftausend Kilometer werden wir fliegen", sagte er und sah Reik fest an, "und jeder Kilometer mag für uns eine Million Sonnenumläufe sein. Dann aber wird unsere Gebärende lieblich, und wir können rasten." Er hob die Hand, und die drei Reittiere bewegten sich behutsam vorwärts. Die Beschleunigung war so gleichmäßig, daß Reik sie lange Zeit nicht bemerkte. Erst als sie durch Felsentore huschten und wie Schatten über Feuerseen hinglitten, begriff er, daß ihre Geschwindigkeit sehr groß war. Und doch erschien ihm das alles wie in einem Traum. Das rötliche Sonnenlicht, das sich nur mühsam durch die wabernden Wolkenschichten kämpfte, ließ die Landschaft unwirklich erscheinen. Rötlich angestrahlte Felsen barsten, blaurote Feuerbälle zersprangen, orangefarbene Glutseen schwappten träge über ihre Umgrenzungen. Und fernab, wie aus einem anderen Raum, das Orgeln und Jaulen, das Tosen und Klagen der ungezähmten Stürme. Etwas Rotschwarzes, ein glühender Stein, jagte auf Reik zu, dem der Entsetzensschrei in der Kehle steckenblieb. Doch plötzlich, einige Dutzend Meter vor ihm, änderte der Stein, als er auf ein Hindernis gestoßen, seine Bahn und flog sengend und Hitze speiend an ihm vorbei. "Nur keine Angst, Reik", rief Gerstfeld, der sich dank seiner Donnerstimme als einziger den anderen verständlich machen konnte, "der Bronderuk beschützt dich vor dem hier."
Allmählich änderte sich die Landschaft. Der Sturm legte sich, die Felsen waren jetzt schroff und spitz, und Wasser lief an ihnen herab. Es sammelte sich in den Tälern, und nur selten noch glänzte hier und da ein kleiner Lavasee. "Nur keine Angst, mein kleiner, zuckersüßer Reik", kreischte die Zarppe mit spitzer, galliger Stimme, "natürlich: Reik, Reik und nochmals Reik! Und wenn es der Zarppe die Antennen abhaut, ja, wenn sie zweigeteilt wird, wen stört das, wenn nur Reikimäuschen kein Haar gekrümmt wird. Und ich? Ein Nichts bin ich, und fällt man aus dem Sattel, juhu, dann hat man eben ein Reservepferd!" Reik lächelte ein wenig. Er kannte Kornreck gut genug, um zu wissen, daß dieser es nicht so meinte. "Pferd?" wiederholte Reik. "Als Pferd würde ich das nicht bezeichnen." "Es ist ein Bronderuk", erklärte Gerstfeld knapp. "Natürlich", gellte Kornrecks Stimme noch immer, "ein Bronderuk. Und ich dachte schon, es ist ein Landrover oder eine Sattelrobbe. Und was ist ein Bronderuk? Eine vermummte Nacktschnecke?" 89 "Belassen wir es im Augenblick bei dem Begriff", Gerstfeld wandte sich direkt an die Zarppe, "vielleicht werdet ihr schon bald mehr erfahren." Die Wolkendecke über ihnen mußte dünner geworden sein, denn das diffuse Licht der Sonne hellte sich auf. Es gab keine Feuerseen mehr. Nur noch die schlanken Fackeln einer Vulkangruppe, aus deren Kegeln feiner Rauch quoll, kündeten von der Zerstörung, die Reik und seine Gefährten erlebt hatten. Es wurde jetzt warm wie in einem überheizten Gewächshaus. Feuchtigkeit hüllte alles ein. So erreichten sie ein Meer, ein endloses Meer, aus dem einzelne Berge, Felszacken und Gebirge aufragten. "Bei uns", Gerstfeld strich der Marzipanspindel sanft die Seiten, "ist es noch heißer als hier und sehr, sehr hell. Und deshalb holen wir unsere Lebensenergie direkt aus der Sonne, aus ihren Strahlen. Die Bron-deruks fühlen sich wohl auf Evulon. Eure Füße, die in den Einbuchtungen stecken, geben ihnen einerseits Befehle, aber ihr werdet von ihnen andererseits auch energetisch versorgt. Deshalb spürt ihr weder Durst noch Hunger, ja, ihr merkt nicht einmal, wie die Stunden verstreichen, denn ihr übernehmt unser Zeitsystem. Und uns sind Tage kaum mehr als euch Sekunden." "Züchtet ihr diese Tiere?" fragte Reik interessiert. "Nein", Gerstfeld schüttelte den Kopf, "wir lebten mit ihnen vor langer Zeit in einer Überlebenssymbiose. Sie sind unsere Wahlgeschwister."
"Ach ja", Kornreck richtete seine Antennen nach vorn, "man müßte eines der Wahlgeschwister sein oder Reik heißen. Schon, damit sich mal jemand nach einem erkundigt." "Wie geht es dir, Inula", fragte Gerstfeld spöttisch, "hattest du sehr viel Angst vorhin?" "Oh, danke für die Nachfrage", schnarrte die Zarppe und verneigte sich ein wenig, "jetzt geht es mir ausgezeichnet... Angst machte mir nur das violette Licht, als wir auf dem Felsen standen." "Das war er", Gerstfelds Gesicht verfinsterte sich, "er versuchte uns in einen Unfall zu verwickeln. Wer weiß, vielleicht hätte er Reik gerettet und ihn so lange in Lügen und Ungereimtheiten verwickelt, bis der Steinerne Kopf sich von Reik abgewandt hätte." "Eigentlich weiß ich nichts von diesem Steinkopf", stellte Reik fest und blickte Gerstfeld fragend an, "und einmal sagtest du etwas von den Malachitkatakomben. Darf ich immer noch nicht mehr erfahren?" "Begreif eins", belehrte Gerstfeld den Jungen, "mit Gewalt konnte dich niemand des Kopfes berauben. Nicht Chooroon und nicht Viru-lon, nicht der König und nicht seine mitleidlose Königin, nicht Vibri-ana und nicht Gorgon. Er hätte dich und Zarppe töten können. Er tat 90 es nicht. Und wenn du begreifst, warum das so ist, dann bist du der Lösung deiner Fragen einen großen Schritt nähergekommen." Gleichmäßig glitten die Bronderuks mit ihren Reitern auf dem Rücken dahin. Endlos dehnte sich das Meer unter ihnen, nur von Gebirgsspit-zen durchstoßen. Die Wolken rissen auf, und das Licht einer sehr hellen Sonne erleuchtete die Wasserfläche unter ihnen. Lichtreflexe huschten über den Meeresboden, tanzten auf den Sanddünen in der Tiefe, ließen die trägen Wellen wie Metall aufsprühen. Und so wild und bewegt, wie das feurige Land zuvor gewesen war, so ruhig und still schien nun das Meer. Nur ganz schwache Windstöße gingen über die Wellen hin. An einigen Stellen glänzte es ölig auf dem Wasser, an anderen sanken schwachgrünliche Fäden in die Tiefe. Die Farbe des Wassers änderte sich, wurde hellgrün. In der Tiefe wuchsen violette Pflanzen und durchsichtige Gebilde, die Reik noch nie gesehen hatte. Prächtige, gläserne Quallen trieben dicht über dem Sand dahin, und große Asseln hasteten zwischen den Pflanzen unbekannten Zielen zu. "Da ist ein Fisch", rief Reik und deutete in das Wasser. Der Leib des Fisches steckte in einem massiven Panzer, und der dünne Schwanz ragte weit heraus. Immer mehr Fische bevölkerten diesen Teil des Gewässers, und immer abenteuerlicher wurden ihre Formen. Reik erkannte jetzt schon Haie und Fische, die er für riesige Heringe hielt.
"Da vorn", Gerstfeld unterbrach die endlose Stille, die sie umgab, "da vorn ist Land. Bald werdet ihr es sehen. Dort rasten wir ausgiebig. Wir haben es uns verdient." Zuerst war das Land nichts als ein sanfter grüner Streifen. Aber es wuchs in die Höhe, und sie erkannten seltsame Pflanzen, nie gesehene Bäume und blütenstarrende Palmen, als sie näher heran waren. Die Bronderuks hielten auf eine der ungezählten sanften Buchten zu, in die sich ein schwach bewegter Fluß ergoß. Tiefer und tiefer gingen die Reittiere hinunter, so daß das Meer hinter den Rändern der Bucht verschwand. Nacheinander setzten die Bronderuks auf und erstarrten zur Unbeweglichkeit. Mit einem unartikulierten Schrei sprang Kornreck auf den Boden und hetzte in wilden Sprüngen über das grüne Land. "Igitt!" rief er plötzlich aus und stoppte. Er stand vor einem mächtigen Tier mit einem hohen Rückensegel. "Vorsicht, ein Igelmolch", brüllte er, machte auf dem Absatz kehrt und kam in noch wilderen Sprüngen zurück. Das Tier ließ sich inzwischen von dem heißen Stein, auf dem es geruht hatte, herab und folgte träge Kornreck. Es kam bei den Gefährten an, beachtete aber weder Reik noch Gerstfeld, sondern ging gerade92 wegs auf Kornreck zu, wobei es sein Maul gewaltig aufriß und viele spitze Zähne sehen ließ. "Du weißt wohl nicht, wer vor dir steht", tobte die Zarppe, nahm einen mittleren Stein und schlug dem Tier auf die Nase, das überrascht sein Maul schloß und nervös blinzelte. "Verschwinde", fuhr die Zarppe fön und hieb mit allen vier Fäusten auf das Tier ein, das sich träge umdrehte und langsam davonschlurfte. Das sah am Anfang nicht ungefährlich aus, aber jetzt, da nichts weiter geschah, mußte Reik herzhaft lachen. "Möchte noch jemand seine eigenen Beine benutzen?" fragte Gerstfeld und sah Reik an. Ja", der Junge nickte zustimmend, "ich habe auch lange genug gesessen und fühle mich zum Bersten satt." /Dann wollen wir gehen", schlug Gerstfeld vor, "wir folgen dem Pfad, /den uns das Dimetrodon wies. So jedenfalls nennt man das Tier bei euch, Reike". "Ich werde es mir merken", antwortete der Junge, und sie gingen in der üblichen Anordnung. Vorneweg Gerstfeld, ihm folgte Reik, und den Schluß bildete die Zarppe. Während sie tiefer in das Land eindrangen, entdeckten sie unerhört große Ameisen und Libellen, Asseln, Spinnen und Skorpione. Gerstfeld
versicherte ihnen zwar, daß keines der Tiere giftig sei, aber trotzdem hatte niemand Lust, sie anzufassen. Höher ragten die Bäume auf, und allmählich wurde das Land sumpfig. Ungezählte geknickte Riesenpflanzen, die es mit jedem irdischen Baum aufnehmen konnten, bildeten natürliche Hindernisse, die sie übersteigen mußten. Flache, handwarme Tümpel durchquerten sie. Und überall suchten sich Tiere in Sicherheit zu bringen, ohne daß sie immer klar zu erkennen waren. Nur einmal - da lag auf einem Baumstamm ein dreiäugiger, gepanzerter Molch, dessen spitze Zähne aus dem Maul ragten - machte Gerstfeld einen kleinen Bogen, vermied es, dem Tier zu nahe zu kommen. Gerstfeld blickte immer wieder durch jenes geheimnisvolle Glas, das Reik damals bei Anja gesehen hatte. Und dann wieder schaute er zurück. Das Land stieg jetzt schon längere Zeit an, die Teiche, Rinnen und Kanälchen wurden seltener, und die Pflanzen bekamen härtere Stengel, wappneten sich mit Schuppen und Haaren gegen die zunehmende Trockenheit. Irgendwo in weiter Ferne stand unbeweglich die dünne Rauchfahne eines Vulkans in der Luft. Die Hitze schien mit dem Anstieg wieder zuzunehmen, die Feuchtigkeit dagegen nahm gleichmäßig ab. "Wo ist Gorgon?" fragte Kornreck, und seine Augen wurden schmal. 93 "Ich habe ihn im Sumpf erwartet", antwortete Gerstfeld schnell, "es wäre für ihn günstig. Das dachte ich jedenfalls. Nun weiß ich auch nichts weiter. Ich werde die Bronderuks rufen." Die Bronderuks kamen wie drei matte Lichtschimmer durch die Luft, landeten neben den Freunden, und Gerstfeld hob die anderen beiden auf ihre Sitze. Zu dritt stiegen sie auf, ließen die Baumkronen unter sich. Von hier aus sahen sie das Leben in seiner ganzen Fülle. "Dieses Land", sagte Reik, "es ist so fremd und ungewöhnlich, und doch scheint es mir, als würde ich es kennen." "Niemand kennt es", antwortete Gerstfeld, "denn es ist namenloses Land, und wie anders als durch den Namen erkennst du etwas?" "Aber auch ohne Namen", fuhr Reik fort, "ist man doch etwas, ist man man selbst." "Nur die", sagte Gerstfeld bestimmt, "die ins Wasser schauen und statt der Beute ihr eigenes Spiegelbild erkennen, nur die wissen, wer sie sind. Und wer das weiß, der gibt sich auch immer einen Namen." Der unter ihnen liegende Wald wurde dünner. Große, begrünte Lichtungen dehnten sich zwischen den Stämmen, und immer mehr Lichtungen folgten, bis die baumähnlichen Pflanzen nur noch dünne Streifen bildeten. Aber auch das Grün des Grases wurde heller, schwächer, ging in kräftige Ockertöne über. Aus dem Wald war eine weite Steppe geworden, die in
völlig ebenen, kilometerbreiten Terrassen anstieg. Jetzt sah man auch den Vulkan, aus dessen nadeldünnem Krater die Rauchfahne aufstieg. Schweigend erreichten sie die ersten Berge. Immer häufiger kontrollierte Gerstfeld mit dem Glas die Hänge und Klüfte, die Höhlen und Spalten. Tief unter ihnen lagen die schmalen Täler, die sich mäanderförmig in den Bergen fortsetzten. Steil fielen die nördlichen Hänge ab, während die südlichen meist sanft hinabführten. Und sie sahen weit vorn, dort, wo alle Täler zusammenliefen, daß ein mächtiger Strom, gebildet aus Hunderten von Quellen, seinen Weg durch das Land nahm. Gerstfeld sah das alles, aber es war ihm, als fehlte etwas. Diese beiden Augen, dachte er, sie sind zuwenig. Wie können die Menschen nur damit auskommen? Er drehte sich um, blickte zurück und gewahrte, daß weder Reik noch Kornreck hinter ihm waren. Das Bronderuk zuckte herum und jagte wie ein Feuerpfeil den Weg zurück. Gerstfeld zog die Scheibe aus der Tasche und wußte wenige Augenblicke später, wo sich ihre Wege getrennt hatten. Was geschehen war, blieb ihm ein Rätsel. Gerstfeld umrundete den Gipfel, vor dessen schneebedeckten Hängen die Trennung stattgefunden hatte. Er blickte hinab in die Täler, ohne etwas auszumachen, was auf die Anwesenheit seiner Freunde 94 hindeutete. Er hatte fast das gesamte Massiv hinter sich gebracht, als ihm das kleinere Bronderuk, mit Inula Kornreck auf dem Rücken, entgegenkam. Die Zarppe suchte ebenfalls. "Kornreck", rief Gerstfeld, "wo ist Reik?" Die Zarppe hob betrübt die Schultern. "Ich weiß es nicht", antwortete sie. "Warum seid ihr mir nicht gefolgt?" Gerstfeld schüttelte grimmig die Fäuste. "Ich weiß es nicht", wiederholte Kornreck, "ich habe nichts getan. Und als es bergab ging und du geradeaus weiterflogst, dachte ich, es wäre dein Befehl. . ." "Schnell, Kornreck", stieß Gerstfeld hervor, "wir müssen ihn finden. Reik ist in höchster Gefahr." Mit brennenden Augen starrte er durch das Glas, nahm es nicht mehr von den Augen. .Jetzt können sie es schaffen", rief er voll Zorn, "es wird wie ein Unfall aussehen. Und wen ^er Unfehlbare sich immer auch als Werkzeug nimmt, der Steinerne Kopf wird diesen vernichten, aber den Herrn von Destrusos ... Das ist Gorgons Stunde." In dem grünen Glas pulsierte das Alarmzeichen. Gerstfeld riß sein Bronderuk herum und jagte mit atemberaubender Geschwindigkeit dem Punkt entgegen. Am Fuß des Vulkans setzten sie auf. Vor ihnen im
heißen Sand lag ein Bronderuk, das der Länge nach aufgeplatzt war und bereits zerfiel. Gerstfeld sank der Kopf auf die Brust. "Was ist nun mein Versprechen wert", klagte er sich selbst an, "ich habe euch versichert, alle drei Bronderuks gesund und froh zurückzubringen. Und nun liegt eins hier. Es ist tot." Aber der riesige Mann nahm sich nicht die Zeit, sich seiner Trauer hinzugeben. Er ergriff das Glas, hielt es sich ans Auge. "Nein", schrie er mit Donnerstimme, "das nicht!" Kornreck lief zu ihm hin und blickte durch das Glas. Zwei Spuren sahen sie, sahen, wie die entstanden. Die eine riesig, mit fürchterlichen Krallen versehen, und die andere von Reik. Sie sahen die verzweifelte Flucht des Menschen, dem das bekrallte, zweibeinige Schrek-kenwesen folgte. Kornrecks Antennen strafften sich, deuteten steil nach oben. "Komm", sagte Gerstfeld mit zitternder Stimme, "wir müssen ihn finden, ehe es zu spät ist." Reik genoß den Flug auf dem Bronderuk. Es hatte begonnen, als er seine Füße in die Vertiefungen steckte. Es war anders als beim erstenmal. Ihm war, als erkenne ihn sein Bronderuk, als freue es sich, und das, obwohl es keinen Ton von sich gab, keine Bewegung machte. Wie ein übermütiger Kobold zog es steil in die Luft, flog kleine Schleifen, 95 ließ sich auch manchmal abfallen, um gleich darauf wieder heftig in die Höhe zu streben. Reik sprach "sein" Bronderuk freundlich an und strich ihm über die glatte Oberfläche wie über ein Fell. Ich glaube schon, daß alles einen Namen hat; so empfing Reik einen Gedanken, von dem er nicht wußte, ob es sein eigener oder der des Bronderuks war. Nun, und wenn nicht, was macht das schon, dann benennt man eben, was man sieht. . . Und in Reiks Gedanken tauchten Begriffe wie Asseltigerchen und Milchameisen, Grünglanzdachs und Glitzermolch, Schuppenbär und Amselschaf auf. Er mußte lächeln, dann lachte er hellauf. Wir haben dir einen Streich gespielt, dachte er, ich und mein Bronderuk, dir, Gerstfeld ... Reik war derart in seine Gedanken oder in die des Bronderuks vertieft, daß er nicht einmal bemerkte, wie Gerstfeld und die Zarppe andere Wege einschlugen. Erst als sich seine Geschwindigkeit sprunghaft erhöhte und er wie ein Pfeil durch die Luft schwirrte, begriff er, daß etwas nicht stimmte. Schattengleich jagten die Felswände vorüber, und unerwartet dehnte sich vor ihm eine mächtige Steppe voller Bauminseln und Strauchgruppen und mit sandigem Boden. Er sah den Vulkan, auf den er geradewegs zustürmte und dessen Rauchfahne wie eine Pinie über dem Kegel stand.
Er bemerkte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief, gefolgt von einem zweiten Schauer. Angst und Grauen überfluteten ihn, ohne daß er eine Gefahr sah. "Gerstfeld", schrie Reik, doch der Flugwind fraß seinen Ruf. Die Vertiefungen, in denen seine Füße steckten, wurden erst kühl und dann eisig kalt. Das Bronderuk ging zum Sturzflug über. Er näherte sich mit hoher Geschwindigkeit dem Fuß des Vulkans. Reik suchte sich irgendwo festzuhalten, aber die Oberfläche war spiegelblank. Er klammerte sich an den vorderen Einschnitten mit aller Kraft fest, um nicht mehrere hundert Meter tief abzustürzen. Noch einmal fing sich das Bronderuk ab, und da waren sie dicht über dem felsigen Untergrund. Vielleicht fehlten noch knapp zwei Meter. Das Reittier zitterte, und ein Lichtschein, bei dessen Anblick Reik die Tränen aus den Augen traten, umgab das Tier. Reik fühlte sich hochgehoben und vorsichtig abgesetzt, und genau da stürzte das Bronderuk, einen grellen Lichtblitz abstrahlend, auf den Boden und riß auf. Unter Qualen versuchte es, die weißliche Schicht unter sich auszubilden, ohne daß es ihhi noch gelang. Ein zarter, jammervoller Ton hing in der Luft, wurde schwächer und verebbte. Außer dem feinen Wind, der durch das Gras strich, war nun nichts mehr zu hören. "Du bist tot", flüsterte Reik verzweifelt und kniete neben dem Bronderuk nieder, aus dessen Inneren schwachblaue Fasern und kleine filz96 ähnliche Achtecke hervorquollen. Reik beschloß, bei dem Toten zu bleiben, bis Gerstfeld und die Zarppe ihn finden würden. Doch es kam anders. In das Singen des Windes mischte sich ein Knurren und Schnaufen, ein Grunzen und Stöhnen. Das ist Virulon, dachte Reik und sprang auf die Füße. Er packte seine Tasche, um sich zu wehren. Mit geschärften Sinnen spähte er umher. Zuerst gewahrte er nichts, doch dann zerteilte sich ein Dornen-busch, und heraus trat ein Tier. Es lief auf zwei Beinen. Sein Körper lag waagerecht, der Hals war schwanengleich gebogen, und auf diesem kräftigen Hals saß ein Kopf, der nur einem Raubtier gehören konnte. Die hellgelben Augen blickten wachsam, und dann und wann öffnete das Tier sein gewaltiges Maul, ließ die knurrenden Töne hören und eine furchtbare Zahnbatterie sehen. Jeder einzelne Zahn war ein kleines gebogenes Schwert, mit dem man mühelos einen Menschen durchbohren konnte. Dunkelbraune, scharf abgesetzte Tigermuster befanden sich auf olivgrünem Grund. Das Tier war in der Steppe prächtig getarnt. Wenn es still stand, hob es sich nicht von seiner Umgebung ab. Seine Vorderbeine waren zu krallenbewehrten Greifarmen umgebildet, und Reik wußte, daß es ihn mit einer Kralle hochheben und in sein Maul befördern konnte.
Reik begann den Aufstieg. Er hatte sich soweit in der Gewalt, daß er nicht einfach losstürzte, sondern vorsichtig, immer hinter Steinen Dekkung suchend, aufwärts kletterte. Die Hitze, die unerwartet aus der Tasche gegen seine Hand traf, sagte ihm auch, daß der Steinerne Kopf nicht bereit war, ihn gegen tierische Feinde zu verteidigen. Das konnte oder wollte er nicht. Inzwischen hatte der riesenhafte Deinocheirus das Bronderuk erreicht, betrachtete es eingehend und schnüffelte lange an dem Kadaver herum. Schließlich aber entschied er sich, daß dieses Ding ungenießbar war. Die Nase am Boden, stieß er unerwartet einen heiseren Knurrton aus. Seine Schwanzspitze zuckte wie bei einer Katze, die eine Beute bemerkt. Reik lief, wo er laufen konnte, und kroch auf allen vieren, wenn es zu steil bergauf ging. Und immer versuchte er, im Sichtschatten der Bestie zu bleiben. Der Deinocheirus hatte Reiks Fährte entdeckt. Unschlüssig hob er den Kopf gegen den Vulkan, betrachtete die aufragenden steinernen Wände und wandte sich um, die Steppe in Augenschein zu nehmen. Vielleicht würde er abdrehen, wenn auch nur ein Beutetier in der Nähe auftauchte. Nichts regte sich im Grasland, und erneut nahm das Tier die gefundene Fährte auf. Es machte einen ersten, zögernden Schritt, einen zweiten und begann mit bemerkenswerter Geschwindigkeit den Aufstieg. Nach noch nicht einmal vierzig Metern hielt das 97 Tier erneut inne. Blickte nach oben und nach unten. Es war offensichtlich, daß es mit dem Besitzer der Fährte noch keine Erfahrung hatte und sich keine allzu große Beute erhoffte. Unglücklicherweise stand der Wind so, daß er dem Raubtier Reiks Witterung zutrug. Die Antwort war ein aggressives Knurren. Weiter verfolgte es die Spur, kam an die erste Stelle, die Reik viel Mühe und Zeit gekostet hatte, und sprang aus dem Stand auf die obere Plattform. Der Abstand zwischen Verfolger und Verfolgtem schmolz dahin. Reik gönnte sich nicht die kleinste Pause. Wild schlug sein Herz, und sein Atem ging keuchend. Als Reik eine schmale Rinne erreicht hatte, löste sich ein Stein unter seinen Füßen, sprang schräg nach unten, beschrieb einen Halbkreis und traf, ehe er weiterfiel, den Verfolger an der Schwanzwurzel. Mit unglaublicher Geschwindigkeit fuhr der Räuber herum, erblickte den Stein und spähte schräg nach oben, wo Reik gerade ungedeckt am Beginn der Rinne angekommen war. Sekundenlang starrten sie sich in die Augen, ehe der Riese mit den Dolchzähnen einen dumpfen Ton ausstieß und in wilden Sätzen von Platte zu Platte sprang. Dabei hatte er seine Ohrmuscheln eng an den Kopf gelegt.
Laut keuchend und unsinnige Wörter und Bitten ausstoßend, hastete Reik weiter, den Rauchpilz hoch über sich vor Augen. Ein letztes Mal hielt der Deinocheirus inne. Er nieste. Der rauchige, schweflige Geruch, der vom Vulkankegel abwärtsströmte, störte ihn offensichtlich. Reik konnte nicht mehr. Er mußte die Grasbüschel loslassen und rutschte vier Meter schräg nach unten, kam auf eine kleine steinerne Leiste zu stehen, keuchte. Der Verfolger duckte sich, schnellte in weiten, eleganten Sprüngen vorwärts. "Gerstfeld!" schrie Reik in Todesangst und hastete die Leiste entlang, die breiter wurde, in eine Plattform überging. Seine Brust schmerzte und stach, aber er lief, wie er noch nie gelaufen war. Das Knurren wurde lauter, und er fühlte die Augen des Verfolgers auf sich gerichtet. Als er vor sich eine Kluft auftauchen sah, sprang er, ohne zu zögern, und kam auf der anderen Seite heil an. Ein schneller Blick zurück zeigte ihm, daß der Verfolger ihn dennoch in wenigen Sekunden erreicht haben würde. Da entdeckte Reik die Höhle. Eine nachtschwarze Spalte in dem steil aufragenden Gestein. Reik stolperte darauf zu, ließ sich fallen und kroch eilends, mit den Beinen voran, hinein. Als seine Füße auf ein Hindernis stießen, stellte er fest, daß er nicht tief genug verborgen war, um nicht herausgezogen zu werden. Er tastete mit den Füßen weiter, schob sich über eine halbmeterhohe Steinbarriere, rutschte schräg abwärts. Finsternis hüllte den Höhleneingang ein, der grünes Licht folgte: 98 Das Auge des Verfolgers spiegelte das Sonnenlicht wider. Er entdeckte den totenbleichen Jungen, der verzweifelt suchte, tiefer zu kommen, aber zwischen den Steinen festgeklemmt war. Der Räuber hielt inne, blickte unbeweglich auf den Menschen. Hätte er jetzt eine seiner langen Krallen vorgestoßen, würde er Reik gepackt und aus seinem Versteck hervorgezogen haben. Vielleicht fühlte er die Angst des Menschen, oder es war Reiks hoffnungslose Lage, jedenfalls stieß er ganz leise Fieptöne aus, wie sie Tiermüttern eigen sind, die ihre Jungen in Gefahr wähnen. Ohne auf das veränderte Verhalten des gewaltigen Raubtiers zu achten, quälte sich Reik tiefer und tiefer in die Spalte hinein, um dem Blick dieses grünen, gepunkteten Auges zu entgehen. Die feinen Töne, die niemand einem solchen Koloß zugemutet hätte, verstärkten sich. Mit einem unterdrückten Schrei stürzte Reik rücklings, landete in lauwarmem Wasser und kam zappelnd und prustend hoch. Tropfwasser hatte einen kleinen See gebildet. Der Vulkan erwärmte es, und über Reik spannte sich eine halbkugelige Höhle, höchstens zehn Meter hoch und ebensogroß im Durchmesser. An ihrem Eingang tauchten einen Moment
lang die Krallen auf und wurden wieder zurückgezogen. Helles Sonnenlicht strömte herein. Doch mehr als die Krallen entsetzte Reik der Anblick der Felsen, durch die er sich geschoben hatte: 99 Nadelspitz und schartig waren sie, tödlichen Bajonetten gleich gegen ihn und leicht nach innen gerichtet. Wie eine Falle hatte die Höhle ihn hereinkommen lassen, um ihn nie mehr freizugeben. Reik verließ angstvoll das Wasser, das seinen aufgeschürften Händen so gutgetan hatte. Als er, erschöpft am Ufer sitzend, in den See blickte, gewahrte er auf dem felsigen Grund des kristallklaren Wassers ungezählte gebleichte Knochen, Zeugen der tödlichen Falle. Mutlos saß der Junge am Ufer, blickte verloren um sich. Über ihm befand sich eine steinerne Platte, deren Kante er vielleicht mit den Händen erreichen konnte, wenn er mit aller Kraft sprang. Der Gedanke an einen zweiten Ausgang ergriff von ihm Besitz. Einigemal versuchte er hochzuspringen, doch er kam nicht bis zur Kante und rutschte wieder zurück. "Oriana", murmelte er mit versiegender Stimme, "Oriana. . ." Noch einmal nahm er Anlauf, schnellte mit einem Schrei in die Höhe und faßte mit den Fingerspitzen die verlockende Oberkante der Steine. Er hielt sich fest, schob die Handflächen auf den Stein, stieß sich vorsichtig mit einem Fuß an der Wand ab und kam mit den Unterarmen auf die Platte. Er zog sich zusammen, schwang kurz nach oben und kam mit dem Brustkorb auf dem Vorsprung zu liegen. So blieb er erst einmal, bis sich sein rasender Herzschlag beruhigt, sein Atem normalisiert hatte, dann erst bewältigte er den Rest, saß und lehnte sich gegen den Fels. Direkt über ihm war ein Spalt, durch den er hinausgelangen konnte, wenn er bis dort hinaufkam. Es gab einige Vorsprünge, doch sie reichten nur-bis in die Hälfte der Wand. Trotzdem begann der Junge den Aufstieg. Vier Meter unter dem sonnenlichthellen Spalt war ein kleiner Vorsprung, auf den er sich stellte. Er tastete den Fels ab, doch der war glatt und ohne die geringste Unebenheit. Hier ging es nicht weiter. Ein schwaches Knurren hätte den Jungen fast hinabgeschleudert in die Tiefe. Der Spalt verdunkelte sich, und die schaurige Krallentatze kam herein, gefolgt von dem lederhäutigen Arm mit der braunen Tigerzeichnung auf olivgrünem Grund. Sie reichte bis zu Reik herab, hing im Raum, zeigte keine Bewegung mehr. Auch Reik stand starr, wandte keinen Blick von den Waffen des Tieres, wobei ihm die wildesten Gedanken durch den Kopf schössen. Wie lange er so verharrte, wußte er nicht, aber als er sich vom Fels löste und zum Rand des Vorsprungs trat, zitterte er am ganzen Körper. Und doch nutzte er seine letzte Chance, machte einen Schritt auf die Krallen zu und hielt sich an dem
überraschend warmen Arm fest. Augenblicklich wurde er nach oben gezogen. Als im Sonnenlicht der massige Schädel mit dem Dolch-100 gebiß auftauchte, zitterte Reik heftiger als zuvor. Mit weichen Knien verließ er den seltsamen Fahrstuhl und stand, immer in Erwartung des tödlichen Bisses, wie erstarrt da. Da näherte sich ihm der Kopf, und das Tier beschnüffelte Reik. Der Nase folgte die heiße rote Zunge, die einigemal über seine staubige Kombination glitt, wobei das Tier leise maunzende Töne von sich gab. Es wandte sich schließlich ab und begann in schnellem Lauf den Berg hinunterzueilen. Reik sah dem Raubtier nach und bewunderte es, denn es überwand springend alle Hindernisse. Er selbst konnte nicht weiter hinunter, denn er lag am Rand einer Steilwand und würde stürzen, wollte er zurück. Er mußte einen anderen Weg finden. So begann er, seine Rettung noch immer nicht begreifend, den weiteren Aufstieg. Schwefel-und Ammoniakschwaden kamen ihm entgegen und beraubten ihn fast des Bewußtseins. Reik machte viele Pausen und hustete. Weiter, trieb er sich an, kletterte immer höher hinauf und stoppte erst, als er einen Abgrund erblickte, in dem es brodelte und kochte, in dem sich die Dämpfe bildeten und zwischen den Schwaden gelblichrote Feuer aufzuckten. Er hatte den Krater erreicht. Zerschlagen richtete er sich auf, starrte mit hängenden Armen in den Höllenschlund und dachte nur undeutlich daran, daß er einen Rückweg suchte. "Mein Bronderuk ist tot", murmelte er, "Gerstfeld hat mich verlassen, und mein Glasäuglein ist so weit fort..." "Ein bißchen einsam hier oben, nicht wahr?" "Ich habe niemanden mehr", antwortete Reik aufs Geratewohl und wandte sich der Stimme zu, die hinter seinem Rücken erklungen war. Er erkannte den Mann sofort. In der Straßenbahn hatte der einen Anzug getragen, bei dem Weisen die Umhänge, und jetzt stand er in einer mit allerlei Verzierungen versehenen Uniform vor Reik. Aus der Brille war ein durchgehendes blaues Augenglas geworden, und statt des Regenschirms hatte er einen silbernen, spitz endenden Stab in der Hand. Reik empfand weder Angst noch Abscheu. Alles in ihm war gleichgültig und abweisend. "Es wird einen schrecklichen Vulkanausbruch geben", sagte der Mann, und ein helles Leuchten veränderte sein Augenglas, "bei dem es nicht nur diesen Berg, sondern das ganze Massiv zerfetzt, die Steppe in rasenden Feuerstürmen vergeht und selbst der sumpfige Wald austrocknen wird. Die Sonne wird nicht mehr durch die Staubwolken dringen, und alles, was hier kreucht und fleucht, wird zu Eis werden. Selbst die Quellen werden einfrieren und ihre nimmermüde Arbeit
unterbrechen. Und vielleicht werden sogar die Malachitkatakomben von Destrusos zerfallen. Natürlich komme auch ich nicht lebendig von hier 101 fort. Nun, ich habe mit allem abgeschlossen. Ich werde für den Unfehlbaren sterben und ihn so der einzigen Sorge, die ihn quält, entheben. Ja, der Steinerne Kopf darf nicht in eurer Hand bleiben. So soll er uns alle fressen und sich selbst verzehren. Ich aber werde, in Glas gegossen und von unseren Maschinen besungen, auf einem der schönsten Plätze der Stadt stehen, und alle, die mir angehören, werden die Höchsten sein . . ." "Ich weiß nicht, was Sie meinen", unterbrach Reik den anderen müde. "Ach", höhnte Gorgon, richtete den Silberstab auf den Jungen, und kam langsam näher, "und wie du mich verstehen wirst, mein grauer Erdenvogel! Ich, Gorgon, werde ein Held sein. Mein Abbild wird gewaltig und selbstleuchtend Destrusos' Nacht erhellen. Man wird meinen Namen mit Ehrfurcht aussprechen." Er stand nun wenige Schritte vor Reik, hielt den Stab auf den Jungen gerichtet. "Du, Regenbach, wirst mit verwirrten Sinnen in die Tiefe stürzen, und mit dir fällt der Steinerne Kopf aus den Malachitkatakomben. Und wenn du tot bist und ihn das Feuer des Magmas berührt, wird er im Bruchteil einer Sekunde all seine gesammelte Energie in Zerstörung umsetzen. Und dann gibt es hier nichts Lebendiges mehr. Und das willst du nicht verstehen?" In Reiks Kopf verwirrten sich die Gedanken. Er starrte auf die Spitze des Stabes und sah, daß sie rot pulsierte. Und er gewahrte, daß rundum der Krater war. Er stand auf einer Felsnadel, die aus der Mitte des Kraters aufragte, denn überall um ihn waren die trägen magmatischen Feuer. Reik griff, ohne sich zu bewegen, nach der Tasche. Ich darf nicht einen Schritt gehen, dachte er, denn ich weiß nicht, wo der Abgrund ist... Die Tasche war kühl, und als er den Stein berührte, kam der ihm entgegen. "Die Hände von der Tasche", schrie Gorgon, "sonst schieße ich! Du elender Narr, warum verbindest du dich mit solch armseligen Habenichtsen, wie der Zarppe und diesem Gerstfeld? Wir sind die Herren der schrankenlosen Lust, und wer uns anerkennt, der bereut es nicht. Deine sogenannten Freunde, haben sie dir je gesagt, wie schön es auf Destrusos ist? Nichts weißt du, denn sie hocken auf ihren kläglichen Geheimnissen wie Vögel auf den Eiern. Nun, wie sieht es aus? Ein Wort von dir, und du gewinnst die Weite des Universums, die kühle Logik Zerberons und Melaanas Heißblütigkeit..." Jetzt, da ich Sie gehört habe, hasse ich Sie", Reik stieß die Worte hervor. "Warum soll ich alles gewinnen? Da müssen viele etwas
verlieren, damit ich gewinnen kann. .. Immer nur einer. Ihr Standbild! Meine Macht...! Bei Ihnen muß das Gesetz der reißenden Wölfe 102 herrschen. Der Starke beißt dem Schwachen die Kehle durch... So empfinde ich ... Sie sind ein Mörder, haben den alten Weisen getötet .. ." "Du willst also auch mit aller Gewalt sterben", schrie Gorgon und machte noch einen Schritt auf Reik zu, "dann stirb doch . .." "Antissath Gorgon!" Gorgons Drohungen brachen ab. Reik hörte ihn keuchen. Das Pulsieren des Glasstabs wurde schwächer. Ein erster klarer Gedanke tauchte in Reik auf: Die Gefährten kommen! "Sieh geradeaus", befahl eine metallisch klingende Stimme. Reik, der bisher nur die rötlichen Pulsationen wahrgenommen hatte, erblickte jetzt Gorgon, der den Stab senkte und sich langsam umdrehte. "So siehst du mich", dröhnte es über den Krater, "du todeswürdiger Mörder!" Der metallene Stab fiel Gorgon aus der Hand, zerschellte auf dem Stein. Reik erkannte jetzt alles deutlich und klar. Der Mann, der ihn hatte töten wollen, stand seitlich von ihm, und jenseits des Kraters kamen zwei Bronderuks angeschwebt. Das größere trug Gerstfeld, das kleinere die Zarppe. Gorgons Augen, fahl und kraftlos durch das Glas schimmernd, versuchten Gerstfelds Blick standzuhalten. "Nun, Gorgon", erklang Gerstfelds leidenschaftliche Stimme, "jetzt stehst du vor einem ebenbürtigen Gegner. Ich klage dich an des wiederholten Mordanschlags auf Reik Regenbach, des Mordes an dem Bronderuk, des Mordes an dem Weisen und in jenen acht erwähnten Fällen, die von der ASGEDANrunde verhandelt wurden. Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?" Gorgon zog den Kopf zwischen die Schultern und schwieg. "Hat es dir die Sprache verschlagen", erklang nun die helle Stimme Kornrecks, "dir Sohn eines schleimigen Ringelwurms?" "Sarschan Angaria", brüllte Gorgon plötzlich auf, "du hast meinen Stab zertrümmert!" "Ich werde noch viel mehr zertrümmern", antwortete der, "als deinen Stab; denn die ASGEDANrunde hat deinen Tod beschlossen. Zweimal warst du in unserer Gewalt und hast Besserung gelobt. Zweimal hast du gelogen. Nun gibt es kein Entkommen für dich." Da richtete sich Gorgon auf, wuchs in die Höhe, verlor das Aussehen eines Mannes und stand aufrecht und stählern am Rande des Kraters, während wenige Meter vor ihm Gerstfeld auf dem Bronderuk saß. Gerstfeld wirkte klein und zierlich gegen den mächtigen Gorgon. Jede
Bewegung der beiden Männer erstarb, und sie blickten sich starr in die Augen. Die Luft um sie her begann vor Hitze zu flimmern und 103 in Wirbeln aufzusteigen. Elektrische Funken knisterten wie bei einem Gewitter, und ein Sturm bog den Rauchpilz seitlich, drückte ihn zurück in den Krater. Einige Steine rollten in den Schlund des Vulkans. Ich muß Gerstfeld helfen, dachte Reik, während sich seine Gedanken wieder zu verwirren begannen, ich muß einen Stein gegen Gorgon schleudern . . . Seine Hände tasteten suchend den Untergrund ab. Als Reik mit hervorquellenden Augen aufblickte, sah er Gorgon ruhig, mit geballten Fäusten am Abgrund stehen und Gerstfeld ebenso erstarrt auf dem Bronderuk sitzen. Das Bronderuk schwankte leicht. Und dann schrie Gorgon auf. Sein Schrei hallte schrecklich in dem Krater wider. Es war Todesangst, die den Schrei erfüllte. Gorgon riß seine Hände hoch, wollte seinen Kopf umfassen, aber mitten aus dieser Abwehrbewegung heraus stürzte er in den Krater. Der Schrei brach ab. Gerstfeld und Kornreck kamen herangeschwebt, landeten. Gerstfeld hob Reik hoch, aber der zuckte zurück, und Gerstfeld ließ ihn sofort los, denn er war kochendheiß. "Du hast uns einen Schrecken eingejagt", sagte er kopfschüttelnd, "wir dachten tatsächlich, wir würden zu spät kommen." "Wo wart ihr denn die ganze Zeit?" fragte Reik. "Ich habe euch gerufen ... Ich hatte solche Angst." "Gorgon hat einen Zeitvorhang von vier Stunden zwischen uns geschoben", erklärte Gerstfeld, "das ist hier in der Nähe des Zeitenbaumes nicht schwer. Noch dazu hatte er ja die Formeln des Weisen." Reik setzte sich nieder und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Zarppe nahm ebenfalls Platz. Nur Gerstfeld blieb stehen. Einige Sekunden sagte niemand etwas. Jeder hing seinen Gedanken nach. "'Höre, Reik", erklärte Gerstfeld plötzlich, "es ist jetzt an der Zeit, voneinander Abschied zu nehmen." "Du kannst mich doch nicht allein weiterziehen lassen", klagte Reik, "das geht doch nicht. Kornreck und ich, wir allein gelangen nie dorthin, wohin wir müssen." "Ich weiß das", beschwichtigte ihn Gerstfeld und lächelte auf die ihm eigene Art, "und ich will euch auch nicht verlassen. Nur ich, Gerstfeld, ich muß jetzt gehen. Und mit mir gehen mein Lächeln und die Art zu sprechen, der verstehende Blick und das helle, polternde Lachen. Mit mir gehen die Jacke und das Hemd und die Kordhose und meine Schuhe. Eben alles, was Gerstfeld ausmachte. Dafür kommt ein anderer. Einer, dessen Namen du schon einigemal gehört hast, ohne daß er dir etwas bedeutete: Sarschan Angaria. Er ist anders. Ohne jedes Lächeln und
ohne alle überflüssigen Worte. Es ist für dich eine gewaltige Veränderung, aber sie muß sein, denn uns fehlt ein Bronderuk." Ungläubig sah Reik zuerst Gerstfeld, dann die Zarppe an. 104 "Du weißt doch schon alles", schnarrte die Zarppe freundlich, "erinnere dich! Ihr wart auf dem Weg ins Land des fiebrigen Königs. Da hast du Gerstfeld etwas gefragt. Du hast erkannt, daß Anja nicht die richtige Anja ist, und so hast du geschlußfolgert, daß auch Gerstfeld nicht Gerstfeld sein kann ..." ,Ja", erinnerte sich Reik, dem nun alles lebendig vor Augen stand. "Und jetzt", fuhr die Zarppe fort, "ist der Augenblick gekommen, in dem aus Gerstfeld Angaria wird. Gerstfeld wirst du verlieren und Sarschan Angaria gewinnen." "Ach so", sagte Reik und seufzte, "das ist es ... Schade, jetzt, da wir Freunde sind. Und er wird anders aussehen?" "Natürlich", antwortete Gerstfeld, "und eigentlich wollte ich nicht, daß du es erlebst. Ich dachte mir, eines Tages wird Gerstfeld über eine blühende Wiese gehen und in einem finsteren Wald verschwinden, und aus dem Wald wird Angaria hervortreten und über die blühende Wiese auf dich zugehen. Doch Kornreck hat mich überzeugt. Du sollst es erleben, damit du siehst, daß alles seine Richtigkeit hat." "Dann will ich dir Lebewohl sagen", Reik lächelte melancholisch, "du warst ein guter Freund, Gerstfeld. Es war schön mit dir gemeinsam." Das Lächeln auf Gerstfelds Gesicht erstarrte. Alles an ihm wurde leblos. Er erinnerte an eine Puppe, die zwar echt aussah, aber nie gelebt hatte. Lange stand er so, und je gründlicher Reik ihn betrachtete, desto klarer wurde ihm, daß das nicht Gerstfeld war, nie Gerstfeld gewesen war. Dann hob die Puppe starr und ungelenk die Arme und führte sie nach vorn, kreuzte sie und bückte sich gleichzeitig. Etwas riß mit scharfem Ton. Die Puppe kam wieder hoch. Das Gesicht hing schlaff und unansehnlich, von tausend Falten unkenntlich gemacht, herab. Reik sah, wie etwas Neues aus der alten Hülle stieg, sie achtlos zusammenknüllte und in hohem Bogen in den Krater warf. Vor Reik stand Sarschan Angaria, der Befugte und Abgesandte der ASGEDANrunde. Er war deutlich größer als Gerstfeld. Blauschwarz schimmerte sein Körper, in einer Farbe wie manche schillernden Käferflügel. Vielleicht bestand er aus demselben Material. Er besaß nicht Kopf und Hals, sein oberes Körperende lief in einen stumpfen Konus aus, der unten fugenlos in den Leib überging. Die Arrne setzten ungefähr in der Körpermitte an und besaßen zwei Ellbogengelenke, so daß sie sehr beweglich waren. Die Beine standen, kräftig und Menschenbeinen nicht ganz unähnlich, auf einer gleichen Lichtschicht,
wie sie die Bronderuks ausbildeten. Er hatte nichts, was an Ohren, Nase, Mund oder Augen erinnerte. Dafür waren sein gesamter Leib, die Arme und Beine von sich kreuzenden Erhebungen überzogen. In jeder der so entstehenden Vertiefungen glänzte eine Kugel, die je nach 105 Lichteinfall blau, grün oder rötlich schimmerte. In der Mitte der sich kreuzenden Erhebungen stach eine nadelfeine Spitze in die Luft, so daß er ein wenig bestachelt wirkte. An den Händen hatte Sarschan An-garia Finger, die ein schwaches Eigenlicht verströmten. Sarschan Angaria stand, wie zuvor Gerstfeld, unbeweglich auf dem Platz. Aber auch er lebte. Du wirst mich jetzt hören, sagte Angaria, ohne daß ein Laut die Stille stört, und du wirst mich immer hören, wenn dies notwendig ist. Wie ich dich höre, wenn du etwas zu mir denkst. Ich sehe dich jetzt besser als vordem durch die kläglichen Augen des anderen. Ich erfahre dich, wie du tatsächlich bist. Du bist nunmehr der, der das Land der grauen Bilder bezwang, das Tal der flirrenden Träume durchmaß, die Finsternis des Zeitenbaumes überstand und auf Evulon seine Kraft vervielfachte. So sehe ich dich. Und ich sehe auch, daß Oriana in dir ist, so wundersam deutlich. Ich sehe deine Liebe zu ihr ... Reik wurde rot, und Kornreck faßte dessen Hände, hielt sie in den seinen. "Du mußt mich einmal besuchen", sagte er, "es wird dir auf Zarppan gefallen." "Danke", flüsterte Reik, "und wir beide werden eines Tages ausziehen, einen Weg in die Dimension der Moanen zu suchen... Ich meine dann, wenn das hier ausgestanden ist. . ." Er hob den Kopf. Ihm fehlte Gerstfelds Kommentar, sein Scherz oder auch die Ermahnung, im Jetzt und Hier zu bleiben. Ich weiß es, sagte da Angaria, ich habe viel verloren. Gerstfeld war nicht nur eine andere Gestalt, ein Umriß, sondern er war auch Gefühl und Leichtigkeit, Fröhlichkeit und Beweglichkeit. Und du bist für mich zerbrechlich. Und stets fragst du dich, ob ich fühle und was ich fühle. Du kannst die Wellen und Felder, die mich umgeben und von meinem Befinden künden, nicht orten. So wird dir alles verschlossen sein, bis auf das, was ich dir sage. "Du siehst so fremd aus", stimmte Reik ihm zu, "wenn du wenigstens Augen hättest." Jene Kugeln und Vertiefungen, antwortete Angaria, und die sie verbindenden Stränge, können alle Wellen verwerten. Nur empfange ich ungleich mehr als ein Mensch. Ich sehe am Himmel eine Neutrinosonne stehen. Klein, aber ungeheuer intensiv. Was mich besonders interessiert, vermag ich mit den Spitzen meiner Finger zu betrachten. Es
ist seltsam, aber ich weiß schon nicht mehr, wie ich die Welt durch Gerstfelds Augen sah. Ich habe es vergessen. "Sarschan Angaria", murmelte Reik, als müsse er sich den Namen einprägen. Du, Reik, sprach ihn Angaria an, von nun an wirst du auf dem Bron-deruk sitzen, das mich trug. Ich selbst werde auf der Strahlenwoge zwi106 sehen diesem und Inulas Bronderuk reisen. Es ist an der Zeit, zu gehen. Reik erhob sich und nahm auf dem Bronderuk Platz. Die Zarppe folgte seinem Beispiel. Kaum aber saßen sie, da hoben die Bronderuks ab, gewannen an Höhe und schwebten über dem Krater dahin, der offenen Landschaft entgegen. Angaria schwebte mit ausgebreiteten Armen und Beinen zwischen den Bronderuks, und sein blauschwarzer Körper funkelte wunderbar in der Sonne. Der Plan der Furonen Je näher sie dem mächtigen Strom kamen, der sich in weiter Ferne zu einem unübersehbaren Delta verbreiterte, desto deutlicher erkannte Reik, wie gründlich sich die Landschaft diesseits und jenseits des Wassers unterschied. Unter ihnen lag die Steppe, die mit Tierherden angefüllt war. Gelb, Ocker und Brauntöne herrschten vor. Sowohl bei den Pflanzen als auch bei den Tieren. Jenseits der spiegelnden Wasserfläche gab es nur zwei Farben, die in ungezählten Abstufungen immer neue Eindrücke erzeugten: Grün und Blau. Dort erhoben sich endlose Wälder, deren ineinandergeflochtene Kronen wie ein lebender, weicher Teppich aussahen. Wir überqueren den Fluß, gab Angaria bekannt, wir sind auf dem Weg zu einer Lichtung, von der die Bronderuks abgeholt werden ... Das tote bedeutet, eine Angaridenlinie wird kümmern oder gar erlöschen. Je nach der Desynchronisationsstufe .. . Reik blickte traurig auf das Wasser, auf dem Millionen Lichtkringel wie zu einem Gardinenmuster verwoben zusammenflössen, auseinanderrissen und sich neu fanden. Auf Sandbänken ruhten Krokodile und Schildkröten, aus dem Wasser tauchten langhälsige Echsen auf, vor denen Fische in wilder Flucht davonstoben. Dann empfing sie die lindgrüne Weite des Waldes mit den bizarren Kronen. Baumfarne und Be-nediteen, Schachtelhalm und Bärlapp, Sumpfzypressen und Mammutbäume bildeten ein undurchdringliches Gewirr, Blütenfelder reckten sich den Fliegern entgegen, und grellfarbige Früchte glänzten im Sonnenlicht. "Ein ungeheurer Wald", kommentierte Reik. Das grüne, unbewegliche Baummeer erstreckte sich bald von Horizont zu Horizont. Und wieder fühlte Reik jene Zeitlosigkeit; er konnte nicht
sagen, ob er Wochen oder Tage, Stunden oder Minuten flog. Eine Art angenehmer Wunschlosigkeit erfaßte ihn, und das schreckliche Erlebnis auf dem Vulkan rückte ab, schien schon bald traumhaft fern. Vor ihnen tauchte eine präzis sechsseitige Lichtung auf, die 107 künstlich geschaffen worden war. Kein Baumast, kein Palmwedel ragte ins Innere. Selbst der Humusboden war entfernt, und nacktes Gestein bildete die Landefläche. "Das ist die Lichtung", Kornreck deutete nach unten, "von nun an gehen wir zu Fuß." Die Bronderuks wurden langsamer, standen still in der Luft und glitten senkrecht abwärts. Sie berührten mit ihren Lichtfäden den Felsgrund. Angaria stand zwischen ihnen, während die Zarppe und Reik abstiegen und einige Schritte zur Seite traten. Am Himmel entstand ein gleißendes, scharfkantiges Loch, das ihnen heller als die Sonne vorkam. Und während die Bronderuks, in silbernes Licht gehüllt, den Aufstieg zu diesem Loch begannen, wurde Sarschan Angaria von schwarzen, vielfach verästelten Fäden eingehüllt. Fahlweiß glommen all seine Augen auf. Grüne und hellblaue Lichtwellen schössen aus dem Loch und drangen in den Boden ein. Die Angariden hielten Zwiesprache mit ihrem Beauftragten. Reik und die Zarppe spürten wohl, daß Sarschan Angaria in einer üblen Lage war, aber sie konnten ihm nicht helfen. Allmählich wurden die Lichter schwächer, und dann war der Spuk vorbei. Ein letztes sanftes rosarotes Licht erstrahlte noch dort, wo zuvor das grelle Lichterloch gewesen war. Mit einer Handbewegung forderte Angaria sie auf, ihm zu folgen. Sie verließen die Lichtung, betraten den Wald. Reik fiel auf, daß Angaria nirgends anstieß. Es war unglaublich, denn ihr Führer war mehr als zweieinhalb Meter groß, und doch berührte er keine Pflanze. Entweder er wich aus, oder die Äste wichen von selbst zur Seite. Reik stieß hörbar die Luft aus. Ihm fehlte Gerstfeld. Diese Zwiesprache in Gedanken war nicht nur unpersönlich, sondern wirkte wie ein Selbstgespräch. Er begriff, daß Tonfall, Lachen und Prusten, Grollen und Wispern erst eine Stimme ausmachen. Dazu kam noch, daß Sarschan Angaria ihm unheimlich war. Er sah ins Innere von Reik, wußte, was der dachte und fühlte. Gerstfeld war besser gewesen. Er hätte ihm all das seltsame Leben um sie herum kommentiert, die Tiere und Pflanzen, die fremden Geräusche und die verlockenden Früchte. Eine wunderbare, unbekannte Welt, und keiner, der sie mir erklärt, dachte Re'ik traurig. Sie durchquerten den Wald, bis sich die Sonne dem Horizont zuneigte. Als sie auf eine erste ausgedehnte Lichtung stießen, beschlossen Reik
und Kornreck, hier das Lager aufzuschlagen. Noch immer wortlos stimmte Angaria zu, auch wenn sie bemerkten, daß er diesen Platz für nicht sonderlich günstig hielt. Ich gehe Baumaterial für eine Nachthütte holen, teilte er mit, und 108 seine Gedanken waren seltsam unklar und schwach. Bitte verlaßt in der Zeit die Lichtung nicht. Wartet hier. Sie sahen ihm nach, wie er lautlos und wie rötliches Metall schimmernd, im Wald verschwand. "Soll ich mich wie ein Geißlein im Uhrkasten verstecken", murrte die Zarppe, "nur weil vielleicht ein Wölfchen vorbeikommen könnte?" "Vielleicht gibt es hier große Raubtiere", sagte Reik und setzte sich. "Hast du eins gesehen?" fragte Kornreck. "Einen ganzen Tag durch den Wald und kein einziges Raubtier ... Er ist übervorsichtig geworden, weil er das Bronderuk verloren hat. Dafür behandelt er uns wie Ansaugbabys." "Wie was?" wollte Reik wissen. "Wie Ansaugbabys", wiederholte die Zarppe und sprang auf die Füße, "so heißen unsere Babys eben .. . Komm, Reik, wir wollen wenigstens Feuerholz holen." "Aus dem Wald?" Reik kratzte sich bedenklich das Kinn. "Hier zwischen den Steinen werden wir kaum etwas finden", spottete Kornreck. "Hast du Angst?" Er ging langsam los, auf die Waldkante zu. "Angaria ist zur anderen Seite gegangen", sagte Reik, der sich mit einem Anflug von Unruhe erhob und Kornreck zögernd folgte. "Soll ich mich zurückjagen lassen?" schimpfte die Zarppe. "Nein, wir holen Holz. Wir sind seine Gefährten und keine Zuckerschnäuzchen." Der Wald war dämmrig, die Schatten zwischen den Stämmen flössen zusammen. Die beiden hatten erwartet, Unmengen trockenen Holzes zu finden, und sahen sich jetzt gründlich getäuscht. So gelangten sie, ihr Ehrgeiz trieb sie weiter und weiter, immer tiefer in den abendlichen Wald hinein. Geheimnisvolle Töne erreichten ihre Ohren, die Tiere der Dämmerung und der Nacht tauchten auf und waren doch nichts als Schatten oder flüchtige Bewegungen. Es dauerte eine ganze Zeit, ehe sie einen niedergebrochenen Stamm fanden, von dem etliche * Äste abgesplittert waren. "Na endlich", rief die Zarppe aus, und Reik wollte den Stamm überklettern, um die Äste packen zu könne.n. Kaum aber, daß er die schuppige Oberfläche des Baumes berührte, als er laut aufschrie. An seiner Linken hing eine silbrige Ameise, deren Biß heftig schmerzte. Reik wimmerte und jammerte. Kornreck packte das Tier und riß es ab. Zornig schleuderte er es gegen den Stamm. Da flössen von den
umliegenden Bäumen ganze Heerscharen solcher Ameisen. Sie kamen auch aus dem Boden und unter Moosballen hervor. Reik und Kornreck flüchteten kopflos, ohne auf ihren Rückweg zu achten, tiefer in die zunehmende Schwärze des Waldes hinein. Sie mußten lange laufen, denn wo immer sie stehenbleiben wollten, um zu verschnaufen, tauchten, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, neue Sil109 berameisenströme auf, die sie einzukreisen trachteten. Nur ganz allmählich wurden es weniger Tiere, und sie griffen auch nicht mehr so gezielt an. Aber als die beiden einmal zurückschauten, war es ihnen, als sei der gesamte Waldboden von einer silbrigen Schicht bedeckt. "Wir werden einen ganz schönen Umweg machen müssen", Reik stöhnte, "und Holz haben wir auch nicht." "Und ich schwöre", erklärte Kornreck reumütig, "das nächstemal auf Sarschans Anweisungen zu hören . . . Am Tag habe ich nicht eines von diesen Scheusalen gesehen!" "Gehen wir", Reik setzte sich an die Spitze und machte einen möglichst großen Bogen um die Verfolger. "Wenn ich daran denke, jetzt in einer Hütte zu sitzen und an einer Frucht zu knabbern .. . Wir sind Kindsköpfe und keine von der ASGEDANrunde gesandten Botschafter ..." "Du hast ja recht", stimmte die Zarppe kleinlaut zu. Der Wald ging in ein Bambusdickicht über. Sie verloren jede Orientierung, denn die Sonne war untergegangen, und kein Mond stand am Himmel. Reik begann jetzt schneller zu laufen. Kornreck drängte stumm hinter ihm her. Sie fühlten eine drohende Gefahr in ihrer Nähe. Und als sich der Bambuswald ein wenig zu lichten begann, gerade als sie auf einen breiten Pfad stießen, stolperten sie gleichzeitig über etwas, was weich und nachgiebig war, wurden von samtigen Armen gepackt und starrten jeder in drei blaßgrün schillernde Augen. Mit aller Kraft schlug Reik um sich. Er zielte auf die Augen, trat mit seinen Füßen nach den Angreifern. Er riß und zerrte, stieß sogar mit seinem Kopf gegen das, was da vor ihm stand, und stürzte auf den Boden. Reik war frei. Schweratmend richtete er sich auf, sah sich suchend um. "Kornreck", sagte er leise und ging einige Schritte im Kreis herum. Noch einmal und ein drittes Mal rief er den Namen des Gefährten. Aber niemand antwortete ihm, außer klagenden Rufen und dem dunklen Quarren irgendwelcher Tiere war nichts zu hören. "Inula!" Er versuchte es erneut. Mit gesenktem Kopf, die Tasche mit dem kostbaren Kopf wie eine Waffe auf den Weg gerichtet, ging Reik, in wirre Gedanken verstrickt, irgendwohin. Er achtete nicht auf die Richtung, aber in der nun völligen
Finsternis gab es auch keine Anhaltspunkte mehr für ihn. So erreichte er nach anderthalb Stunden das Ufer eines nachtschwarzen Sees. Reik fühlte sich verlassen. Vielleicht würde er seine Gefährten nie wiedersehen. Er hatte vergessen, daß sie eigentlich einen großen Kreis beschreiben wollten, um dann über den Zeitenbaum eine neue Ebene, einen anderen Ort zu erreichen. Er wollte jetzt nur schlafen 110 und alles vergessen. Aufwachen am Morgen und wissen, daß es weder einen Steinernen Kopf, noch sonst etwas gab, was damit zusammenhing. Den tintigen Schatten, der sich vom anderen Ufer gelöst hatte und geradewegs über den See auf ihn zukam, gewahrte Reik erst dann, als dieser schon dicht am diesseitigen Ufer war. Reik taumelte rücklings, griff verzweifelt in die Tasche, hob den Kopf gegen den vermeintlichen Angreifer. Wirf deine Angst ab, erklang es da in Reiks Kopf, denn ich bin dein Gefährte Angaria. "Sarschan?" fragte Reik, und Hoffnung keimte in ihm auf. Da glommen all die kleinen Kugeln, Leisten und Stacheln auf, und Reik erblickte den schimmernden Leib Sarschan Angarias, auch wenn dieses Bild fremdartig und düster wirkte. "Ich bin so froh, so froh", murmelte Reik, und er ließ sich ins Gras fallen, stützte den Kopf in die Hände und blieb reglos sitzen. Er hörte, wie Angaria dicke Äste von den Stämmen brach, und sah auch das kurze Aufsprühen von zischenden Feuern. Er fühlte sich hochgehoben und auf eine Unterlage gelegt. Reik riß die Augen auf, begriff, daß Sarschan aus Ästen einen kleinen Schlitten gebaut hatte. Ruh dich aus, vernahm er die Gedanken des Gefährten, sorge dich 111 jetzt nicht. Wir können aber nicht ruhen, denn ihr Lager ist weit entfernt, so werde ich dich dorthin ziehen. Reik sank auf den Schlitten, wollte noch etwas sagen, aber da fielen ihm auch schon die Augen zu, und er schlief ein. Als Reik erfrischt und ausgeruht die Augen öffnete, befand er sich am Rande eines Waldes. Das nächtliche Abenteuer fiel ihm wieder ein, und mit dem Ausruf "Kornreck!" sprang er auf, sah sich wild um und wurde erst wieder ruhig, als sein Blick Sarschan Angaria traf, der etwas seitlich von ihm neben einem mächtigen Baum stand. Dort hinter dem See, war Angarias Stimme in Reik, ist das Lager der Entführer. Sie sind nicht allein. Furonenkrieger von Destrusos halten sich bei ihnen auf. Sie haben jene angestiftet, Kornreck zu rauben. Wir müssen vorsichtig sein, denn sie halten auch nach uns Ausschau ...
"Ich konnte ihm nicht helfen", entschuldigte sich Reik, während er über die leicht abschüssige Wiese blickte, den nebligen See wahrnahm und sich vorzustellen versuchte, was dahinter wohl sein mochte, "als ich wieder frei war, habe ich keine Spur von Inula entdeckt. Es war so finster..." Ich weiß, antwortete es in Reiks Kopf abweisend. "Du hast keine gute Meinung mehr von uns", sagte Reik leise. Ich habe, ohne es verhindern zu können, antwortete Angaria, ein Bronderuk verloren. Sie werden es wahrscheinlich meiner Gattung entziehen und der anderen Gattung geben. Was aber wird geschehen, wenn ich Kornreck oder dich verliere? Sie kennen die Worte Leichtsinn und Übermut ebensowenig, wie ich sie gekannt hätte, wäre ich nicht in Gerstfelds Haut geschlüpft... "Entschuldige bitte", sagte Reik kläglich und mußte gegen die Tränen ankämpfen. Setz dich auf den Schiitjen, befahl Angaria, und kaum daß Reik saß, glitt der Gefährte, den Schlitten hinter sich herziehend, in den Wald. Gleichmäßig und schnell lief er, immer ungefähr fünfzig Meter vom Waldrand entfernt, im großen Bogen um den See. Sie hatten etwas mehr als die Hälfte des Uferstreifens hinter sich gebracht, als Angaria stoppte und mit ausgestrecktem Arm in die Ferne wies. Reik erkannte ein flaches Bergmassiv, in dem es als einzige Auffälligkeit einen Höhleneingang gab. Der Schein eines Feuers drang aus der Tiefe des Gesteins. Ringsum wallte Nebel. Angaria setzte seinen Weg fort. Reik starrte unverwandt ihrem Ziel entgegen, und er erkannte schon bald, daß das, was er für Nebel gehalten hatte, merkwürdige Gestalten waren. Am auffälligsten waren ihre drei grünschillernden Augen, die Reik an den nächtlichen Überfall erinnerten. Die Gliedmaßen der seltsamen Wesen wurden durch eine 112 fellbezogene Haut miteinander verbunden, und der Leib war dürr und lief nach hinten spitz aus. Ihre Bewegungen waren unruhig. Manchmal hockten sie sich nieder, krochen über den Sand vor der Höhle, dann wieder reckten sie sich auf oder huschten mit erstaunlicher Geschwindigkeit übereinander hinweg. Aber was sie auch taten, nie ließen sie den Wald außer acht, beobachteten jedes Tier, jede Bewegung. Sie halten nach uns Ausschau, erklärte Angaria. Sie wissen nicht, wie wir aussehen. Man hat ihnen nur gesagt, daß etwas Fremdes kommen wird. "Vorige Nacht", entgegnete Reik, "haben sie mich gesehen."
Nein, widersprach Angaria, es sind Trasts. Sie sehen nur, was sie sehen sollen oder wollen. Sie hatten den Auftrag, Kornreck zu fangen. Nur die Zarppe haben sie wahrgenommen. Wir werden diesen Umstand nutzen. Der Wald folgte jetzt den Höhenzügen. Als die beiden den Bergkamm erreicht hatten, blieb Angaria stehen. Reik sprang vom Schlitten, denn er war ausgeruht und fühlte sich kräftig. Wir erklettern jetzt den Berg, Angaria deutete nach oben, sie können uns nun nicht mehr sehen. Dort aber, wo der feine Rauch aus dem Gestein dringt, klettern wir zu ihnen hinab. Dort sind Schlote. Ohne besondere Hast überquerten sie die freie Strecke, dabei drang Reik ein intensiver Geruch nach würzig gebratenem Fleisch in die Nase, und er hörte ein rhythmisches Kollern und Ächzen, das ihm wie urtümliche Musik erschien. Sie erreichten den bezeichneten Ort, und es waren drei Schlote, die in die Höhle führten. Angaria übernahm die Führung und ließ sich als erster hinab. Er brauchte seine Hände nicht, die so dünn aussehenden Fäden unter seinen Füßen hielten ihn sicher, selbst auf den schmälsten Vorsprüngen. Nahe dem Höhlenboden gabelte sich der Weg. Einer führte auf den Flammenschein zu, während der andere in die Finsternis eines Seitenganges mündete. Als sie den Boden berührten, vernahmen sie um sich schnelle, hechelnde Atemzüge. Viele schlafen in diesem Seitengang, empfing Reik Angarias Erklärung, es sind Hunderte. Eine große Herde. Dein Freund ist dicht beim Feuer. Vorsichtig schob sich Reik um die Ecke, wobei er die überhängenden Felsen als Deckung nutzte. Er sah die Trasts, die um das Feuer lagerten, sich große Fleischstücke von einem Wildbret abrissen und kollernd und fauchend die Nährung in sich hineinstopften. Kornreck stand nahe dem Feuer, an einem eisernen Pfahl angebunden, während sich zu seinen Füßen ein grüngesprenkeltes Tier bewegte, das an eine hochbeinige Spannerraupe erinnerte. Von Zeit zu Zeit hob es seine acht Kopfhörer und bedrohte Kornreck damit, dann 113 wieder umschmeichelte es einige am Feuer Speisende, wollte sich etwas erbetteln. Bekam es einen Brocken, beachtete es die Zarppe in den nächsten Minuten nicht, sondern gab sich dem Fleischgenuß hin. Erntete es dagegen einen Fußtritt, reckte es sich erneut drohend vor Inula auf. Als ihm irgendwer einen großen Knochen hinwarf, rollte es sich um diesen herum und begann mit allen Fußmündern zugleich daran zu nagen. Angaria hob seine Hand und richtete sie auf Kornrecks beide Wächter, die mit heraushängenden Zungen dem Schmaus ihrer Artgenossen zusahen. Ein schwaches Zittern überflog Angarias Arm, und sowohl die
Wächter als auch das nagende Tier erstarrten und sanken schlafend nieder. Inula Kornreck begriff sofort. Er blickte sich suchend um. Du gehst jetzt zu Kornreck, befahl Angaria dem verblüfften Reik, geh quer durch die Höhle. Binde Inula los. Fürchte dich nicht, denn trotz ihrer drei Augen sehen sie nur, was man ihnen zeigt. Aber merke dir eins: Jeder Ton, jedes Wort oder jeder Aufschrei wird dich augenblicklich verraten. Komm mit Kornreck hierher zurück! Reik schluckte und ging los. Er sah, während er an ihnen vorbeiging, die sich unruhig bewegenden schlauchartigen Gliedmaßen der Trasts, sah die spindeldürren Leiber, die Fuchsschnauzen und die drei großen Augen, die eigentlich alles sehen mußten. Obwohl er Angarias Befehl erfüllen wollte, ging er nicht geradeaus, sondern wich einigen besonders großen Exemplaren aus. Aber sein Umweg brachte ihm keinen Vorteil, denn er stieß mit einem sehr kleinen Trast zusammen, der ängstlich zur Seite auswich. Da hätte Reik beinahe Verzeihung gesagt. Er preßte die Hand auf den Mund und bewegte sich schweigend weiter. Der Zusammenstoß brachte wieder die Erinnerung an den Überfall. Die Trasts fühlten sich wirklich samtweich an. Und sie hatten ihm auch im Wald nichts getan. Als Kornreck Reik kommen sah, wackelte er freudig mit den Antennen, versetzte dem schlafenden Wachtier einen Fußtritt und zerrte zornig an den Seilen. Doch kein Ton entrang sich seinem Mund, offensichtlich wußte er, was ihn verraten würde. Reik löste eilig die Schnüre. Das war recht einfach, denn die Knoten der Trasts waren einfach und ohne Finesse. Vom Eingang der Höhle her erklang ein scharfes Geräusch. Wie ein Ruck ging es durch die Trasts. Alle sprangen auf, sie drängten und schoben sich zum Eingang, berührten wohl auch Reik und Kornreck, aber hatten für die beiden nicht einen Blick. Ein braunroter Teppich aus Trastleibern bedeckte den Höhlenboden, ja sie kletterten sogar übereinander. Reik sah genau, daß etwas Außerordentliches geschah. Und doch 114 verstand er nicht, was diese Unruhe bedeutete. Der Trastteppich geriet ins Wanken. Klägliche, piepsende Schreie zuckten auf, kollernde Entsetzensrufe hingen in der Luft, und einige kleinere Exemplare stürzten leblos in den Gang zurück. Auch Kornreck schrie grell, barg den Kopf in den Händen. Vor der Höhlentür dröhnte es. Fahrzeuge kamen heran. Schnell zu mir! empfing Reik die Signale Angarias. Schnell, es bleibt uns wenig Zeit. Sie senden tödliche Impulse!
Reik und Kornreck bahnten sich den Weg durch die ineinander verschlungenen Trasts und erreichten Angaria, der sie hochhob und mit ihnen tiefer in die Höhle glitt. Sie folgten einem weitverzweigten Gangsystem, das zudem in mehrere Stockwerke gegliedert war. Die Aufstiege blieben hinter ihnen zurück, und schwaches Licht hüllte die sich mehr und mehr verbreiternden Gänge ein. Leuchtalgen wuchsen am Boden, an den Wänden und der Decke. Eng zusammengedrängt hockten hier die Weibchen mit ihren Jungen. Das Fell der Weibchen reichte bis auf den Boden, und ihre Schnauzen waren nicht spitz, sondern eher meerschweinchenrund. Rüben, Bambussprossen und Blätter deuteten auf pflanzliche Nahrung hin. Die Jungen mit ihren kugeligen Körpern und den schwachen Gliedmaßen wurden von den Müttern getragen. Sie hasteten unruhig hin und her, lauschten auf den fremdartigen Lärm, und als Angaria mit seinen Gefährten auftauchte, erstarrten sie vorübergehend in ihren Bewegungen, schlössen sich dann aber schwatzend und fiepend den Vorüberhastenden an. Angaria achtete nicht auf sie, sondern drang tiefer und tiefer in das Labyrinth ein, und die Gruppen der ihnen Folgenden wurden immer größer. Sie erreichten das Ende eines steil aufwärts gerichteten Ganges. Sarschan setzte Reik und Kornreck ab, stand unbeweglich. Es sind Furonenkrieger, hörte Reik die Erklärung Angarias, sie versuchen Kornreck und mich zu töten, damit du allein weiterziehen mußt. Sie senden tötende Impulse, und es ist ihnen gleichgültig, daß ihre bisherigen Verbündeten, die Trasts, mit uns sterben. Ein Strom männlicher Trasts wälzte sich unablässig die Gänge entlang. An vielen Trasts waren die Folgen der Todesimpulse sichtbar, denn sie schnappten verzweifelt nach Luft, stützten sich schwer an den Wänden ab und kamen nur mühsam voran. Sie sind weder bösartig, erklärte Angaria, noch gefährlich. Sie haben zu, jedermann Vertrauen und glauben, was man ihnen sagt. Aber jetzt haben sie doch erkannt, wer ihr Freund und wer ihr Feind ist. Und nun, entfernt euch fünf Schritte von mir! Reik sah Angaria unsicher an. Fünf Schritte weiter befanden sich die Trasts. Sollten sie dorthin? Die Trasts mochten die Furonen als Feinde erkannt haben, aber hieß das, daß man sie beide mit offenen Armen 115 empfing? "Eins", zählte er laut, um sich Mut zu machen, und tat den ersten Schritt in die angezeigte Richtung, "zwei, drei, vier..., fünf." Sie standen in der ersten Reihe, und die Jungen betasteten sie mit ihren dünnen Saugrüsseln und den nassen Zungen, die Weibchen befühlten sie mit fellweichen Fingern und kicherten, wenn sie Reiks nackte Gesichtshaus berührten.
Sarschan Angaria streckte die Arme zur Seite. Unregelmäßige Lichtmuster erhellten die dem Gangende zugewandte Seite. Und nicht lange, da begann das Gestein zu glühen. Es floß wie dicker Sirup herab. Ein winziges Loch entstand, das sich zusehends vergrößerte. Von draußen drang mattes Sonnenlicht herein. Als das Loch den Umfang hatte, daß Angaria es passieren konnte, schlug den Wartenden eine eisige Kälte entgegen. Das Gestein zog sich knisternd und knallend zusammen. Angaria trat als erster ins Freie, gefolgt von Reik und Kornreck, denen sich die Schar der Trasts anschloß. Die Trasts ließen sich in einem weiten Kreis um Angaria nieder. Ihre Augen ruhten auf der schwarzen Gestalt ihres Retters. Geht in die Wälder, hörte Reik Angarias Anweisungen, und versteckt euch, bis die Furonen abgeflogen sind. Sie werden nicht lange hierbleiben, wenn sie erst entdeckt haben, daß wir nicht tot sind. Doch solange sie uns noch suchen, dürft ihr ihnen nicht begegnen. Sie werden euch quälen, um zu erfahren, was aus uns geworden ist. Flieht nun! Die samtweichen Trasts glitten wie frühe Abendnebel den nahen Wäldern zu, wie Schatten verschwanden sie lautlos zwischen den Stämmen. Und außer dem leisen Plätschern eines Baches, der über Steine und Felsnasen floß, war nichts zu hören. Reik hob den Kopf und betrachtete die rote, tiefstehende Sonne. Sein Blick glitt abwärts, blieb auf den Bergspitzen hängen, hinter denen es immer wieder aufblitzte. Dort waren die Fahrzeuge der Furonen, dort stand das Gerät, mit dem sie die Todesimpulse sendeten. Kommt nun, Freunde, Angarias Worte schienen erstmalig weicher, ehe Kornreck noch einmal Brennholz holen will. "Hast du etwas gegen Brennholz", meldete sich Kornreck, wenn auch gedämpft. Eigentlich nichts, entgegnete Angaria, nur dann, wenn die Idee nicht von meinen Freunden, sondern von der Maschine Norrh stammt, wenn es dazu führt, daß wir getrennt werden. Das war nicht deine Eingebung, Inula; die alleswissende Maschine dirigierte dich in die Falle. "Du willst sagen", Reik hielt inne, "daß unsere Gedanken nicht immer unsere Gedanken sein müssen?" 116 Ganz richtig, stimmte Angaria zu, irgendwo hinter unserer Lichtung hatten sie die Maschine Norrh in Deckung gebracht. Und als ich fön war, hat sie Kornreck die Idee eingegeben, allein loszuziehen. Also Vorsicht! "Ach ja", Kornreck kratzte sich die Antennen, "da war einer der Furonenhäuptlinge in der Höhle. Ein widerlicher Bursche. Fahl und hager. Die Gesichtsfarbe erinnerte mich an Erbsensuppe. Und die Nase war so gerade, daß man Tomatenpflanzen daran hätte binden können. Kommt
rein, dieser Furone, starrt mich an und sagt: ,Es stinkt nach Zarppe!' Ich habe nicht geantwortet, aber mir gedacht, daß er das Wort eines Tages bereuen wird. Sehr sogar." Nach allem, was du von ihm sagst, mutmaßte Sarschan, bist du einem der mächtigsten Männer des Furonenheeres begegnet: Chlur Meduson. Hüte dich vor ihm, Kornreck, denn wenn er auch nach nichts aussieht, so hat er doch Befehlsgewalt über schreckliche Waffen ... Eins wissen wir: Sie wollen den Steinernen Kopf nicht zerstören, sondern um jeden Preis zurückgewinnen. Das ist ein Vorteil für uns. Die Sonne berührte die Wipfel der Bäume. Ein kühler Abendwind kam auf und brachte Feuchtigkeit mit sich. Da begannen die Gefährten den Abstieg und tauchten bald schon in den lichten Wald ein. Wieder hatten sie ein Waldstück durchquert, blickten hinaus auf eine hügelige Landschaft, auf der einzelne Mammutbäume und turmhohe Termitenhügel standen. Halt! signalisierte Angaria. Geht augenblicklich in Deckung! Sie warfen sich hinter die Luftwurzeln eines Baumes, während Sarschans schwarze Gestalt langsam durchsichtig wurde und endlich kaum mehr als ein feines Flimmern in der Luft war. Weit entfernt von ihnen, in einer Senke, stand eine Herde sandfarbener Tiere. "Hausschafe", mokierte sich Kornreck, "unsere sind größer." "Pst!" machte Reik und legte den Finger an die Lippen. "Unsere Schafe", flüsterte Kornreck, "können singen. Immer abends singen sie. Deshalb möchte jeder Schafzarpper sein. Man lernt wunderbare Lieder ... Warum sagst du gar nichts dazu?" "Du solltest still sein", wisperte Reik. "Natürlich", x antwortete Kornreck ebenso leise, "wen interessiert schon, was bei uns los ist. Entschuldige bitte." "Du weißt, daß mich alles interessiert", rief Reik lauter, als ihm lieb war, "aber Angaria hat gesagt, wir sollen leise sein." In der Ferne bewegte sich die Schafherde scheinbar träge vorwärts. Sie formierten sich zu einem schmalen, lebendigen Strom, der mehr 117 und mehr in Bewegung geriet, aus der Senke floß und Kurs auf die in Deckung Liegenden nahm. Wir müssen weg, erklärte Angaria, sie haben unfe wohl geortet. "Ich weiß, wie man mit Schafen umgeht", rief Kornreck laut, "ihr solltet die Herde mir überlassen." Ausgezeichnet, lobte Angaria, dann können wir hier auf die Schafe warten. Oder sollten wir vielleicht doch besser jenen Termitenbau dort ersteigen? Und Angaria ging los, diesem Ziel entgegen. Reik folgte
dichtauf, und nur Kornreck blieb noch einige Sekunden unschlüssig stehen, ehe er sich, etwas vor sich hin murrend, den Gefährten anschloß. Der Termitenbau, er war größer als ein Stadthaus, war leicht zu ersteigen, denn ungezählte Vorsprünge und Zinnen boten sich ihnen wie eine Treppe dar. Von einem kleinen Plateau mit überbautem Sonnendach aus konnten die Freunde den Zug der Tiere betrachten. Nun, fragte Angaria, wie ist es, Schäfer, willst du nicht deine verlorene Herde einsammeln? Kornreck warf ihm einen galligen Blick zu, denn was sich da heranschob, sich ungelenk und dennoch schnell über den Boden bewegte, hatte nichts mit Schafen gemein. Die Tiere besaßen nur ein einziges Auge in der Stirn. An den Seiten des Schädels wuchsen ihnen zwei geringelte Rüssel, die schlangengleich die Luft durchfurchten. Ihr Schwanz war lang und verjüngte sich stark. Zischend sausten diese Schwänze durch die Luft, erschlugen Insekten, die sich auf die Rücken setzen wollten. Das Maul war riesig und tief eingeschnitten, und der Unterkiefer konnte bis zum Boden gesenkt werden, während der Oberkiefer den Leib verdeckte. Gewaltige Zähne deuteten auf grobe Pflanzennahrung. Wäre die Haut nicht mit langen graugrünen Haaren bedeckt gewesen, man hätte die Tiere für Echsen halten können. Stießen zwei von ihnen zusammen, erzeugte das einen dröhnenden Laut. Das Ziel der Tiere war der Baum, unter dem Reik und Kornreck in Deckung gelegen hatten. Mit ihren Rüsseln nahmen sie Witterung auf. Woher sie aber über eine so große Entfernung die Störenfriede bemerkt hatten, konnte sich Reik nicht denken. Als sie den Baum erreicht hatten, umringten sie ihn und rissen ihn mit vereinter Kraft aus, warfen ihn nieder und traten so lange darauf herum, bis er völlig zerfasert war. Einige begannen den Brei zu fressen. Das Leittier ließ sie nur kurz gewähren. Es hatte eine Spur gefunden und rief mit leisem Quarrton die Herde. In mehreren Reihen sammelten sich die Tiere, tasteten mit einem Rüssel den Boden ab, während sie mit dem anderen laut schlürfend die Luft einsogen. Und so begann ihr unheildrohender Vormarsch auf den Termitenhügel zu. Es ist deine letzte Chance, hörten die Freunde Angaria, und es 118 schien Reik eine Spur Spott in diesen Gedanken, treib deine Schäfchen fort von uns, ehe sie uns verraten. "Da brauche ich aber deine Energie, Sarschan", antwortete Kornreck und kicherte. Sein Lachen brach ab, und er starrte staunend den schwarzen Angaria an. "Ich hab sie", rief er und richtete sich auf, "ich
habe seine Energie!" Behend stieg die Zarppe nach unten und erreichte Sekunden später den trockenen Boden. "Husch, husch, husch", rief Kornreck und lief der Herde entgegen. Er war klein und zierlich wie die Rüsselspitzen der Steppengiganten, und es schien klar, daß diese ihn zertreten würden. "Sarschan", rief Reik, "das ist die Maschine Norrh!" Er wollte hinabklettern, dem bedrängten Freund helfen. Der schwarze Angaria hielt Reik fest. Er hat wirklich ausreichend Energie, sagte er leise, laß ihn. Inzwischen war Kornreck so nahe bei den Riesen, daß sie seine lauten Rufe hören konnten. Das Leittier hob den Rüssel, und die Herde hielt inne. Dann schnupperte es in die Richtung, aus der die Zarppe gelaufen kam. Langsam begann es vorwärtszugehen. Kornreck war sichtlich beeindruckt und blieb stehen. Das Tier kam unaufhaltsam näher, wobei es mit seinen rötlichen Augen die Zarppe fixierte. Sie standen sich gegenüber, und es sah aus, als wollte eine Insektenmade einen Schnellzug stoppen. 119 Näher und näher schob das Tier seine Rüsselspitze an Kornreck heran. "Verschwinde, du Schindmähre", hörte Reik die Zarppe sagen, "kümmere dich um deine Herde, sonst mache ich dir Beine." Ganz sanft führte der Riese seine Rüsselspitze bis zu Kornreck und faßte unerwartet zu. Die beiden Spitzen des Rüssels griffen wie ein Schlangenmaul um Kornreck herum. Reik sah, wie im selben Moment die vier Hände der Zarppe durch die Luft zuckten und auf de"n Rüssel trommelten. Mit einem Schmerzenslaut, der hoch und schrill war, sprang das Tier zurück und rieb sich mit dem einen Rüssel den anderen. "Und jetzt hör zu", kommandierte Kornreck den zurückweichenden Birüßler, "wenn du nicht willst, daß ich dich und all deine Verwandten tottrete, dann verschwindet sonstwohin!" Während die Herde unwillig abdrehte und davonzog, stiegen Reik und Angaria von ihrem Platz herab. Die Furonen, sagte Sarschan, haben diesen Tieren ein bestimmtes Muster eingegeben. Wir sind ihre Feinde, die angeblich ihre Jungen bedrohen. Das ist der Grund, weshalb uns diese Pflanzenfresser angreifen. Sie waren am Fuß des Hügels angekommen. Angaria richtete sich auf, und seine Augenkugeln flammten in unterschiedlichen Signalen, während sein Körper für kurze Zeit durchscheinend wurde und flimmerte. Kornreck trieb die massigen Tiere, mit einer kleinen Gerte in der Hand, vor sich her.
Komm zu uns, Kornreck, bat Sarschan, die Tiere haben nun wieder ihr normales Verhaltensprogramm. Sie werden uns nicht mehr angreifen. Die drei Freunde folgten den Birüßlern, die in die Richtung liefen, die auch sie anfangs eingeschlagen hatten. In einer der Senken, erklärte Angaria seinen Plan, ist ein Waldstreifen, in dem sich das Furonenlager befindet. Ich habe vor, den Kriegern einen Besuch abzustatten. Natürlich mit der gebotenen Vorsicht, denn wenn sie uns bemerken, schicken sie uns ihre Todesimpulse entgegen. Das heißt, wir müssen schweigsam wie die Zarppen sein. Hast du gehört, Kornreck! In der linken Knietasche eures Overalls steckt eine Kapuze, die dafür sorgt, daß eure Kleidung die Farbe des Untergrunds annimmt. Setzt sie euch auf! Der Weg zur ersten Senke war weit, der zur zweiten noch weiter. Doch noch bevor sie die Hügelkette vor der zweiten Senke erreicht hatten, machte Angaria eine Handbewegung, und sie gingen noch vorsichtiger, vermieden es, trockene Äste zu berühren, blickten ange120 strengt nach vorn. Eine Baumkette stand auf dem Hügel, und davor sahen sie blitzende Konstruktionen aus fingerdünnen Stangen, deren Spitzen mit einer Art Silberwolle untereinander verbunden waren und die sich regelmäßig von einer Seite auf die andere neigten. Unmittelbar davor waren drei Behälter in den Boden eingelassen, in denen jene Tiere schliefen, die Reik vom Vulkan her kannte. Ihre mächtigen Schädel lagen auf dem Gras, und sie hielten die Augen geschlossen. Lichtzeichen huschten über die Wandung ihres Gefängnisses. Reik entdeckte die ersten beiden Furonenkrieger. Sie lagen keineswegs in Deckung und beobachteten nicht einmal das Gelände. Der eine saß auf der Trittstufe eines Fahrzeugs, während der andere neben ihm stand. Sie hielten milchige Kristallvielecke in den Händen, die feine Lichtsignale aussandten. Der Sitzende ließ kein Auge von seinem Kristall, während der Stehende seinen Kameraden gelangweilt betrachtete. Ihre Körper steckten in Kampfanzügen aus einem spiegelnden Material, das kaum zuließ, ihre Umrisse eindeutig zu erkennen. Von ihren Schultern herab floß ein weißes Tuch, welches wahrscheinlich verhindern sollte, daß der Hintermann geblendet wurde. Ein blutrotes Zeichen zierte dieses Tuch, aber Reik konnte nicht erkennen, was es war. Fragen wollte er besser nicht. Unerwartet lachten die beiden Furonen, und der Wind trug das Lachen hart und verzerrt den drei Freunden zu. "Warum suchen sie uns nicht?" flüsterte Reik. Ihre Maschinen fahnden ununterbrochen nach uns, erklärte Angaria. Sie ermüden nicht, werden nicht unaufmerksam und sind die besseren
Beobachter. Die beiden dort fühlen sich hier nicht wohl. Sie verachten Evulon, denn sie müssen auf ihre gewohnten Vergnügungen verzichten. Ihr einziger Wunsch ist, die Strafexpedition schnell zu beenden und dann nach Destrusos zurückzukehren. "Ich wäre an ihrer Stelle trotzdem vorsichtig", wisperte Reik. Das glaube ich dir gern, stimmte Angaria zu* Doch man hat ihnen, kaum daß sie hören konnten, beigebracht, daß sie unbesiegbar und allmächtig sind. Sie glauben, daß sich weder die Maschine Norrh, noch der Unfehlbare je geirrt haben. Sie haben erfahren, daß Megaglenos alles sieht, was für sie wichtig ist, und sie haben voll Stolz die Tücken Gorgons besungen. Auch Chlur Medusons Heldentaten sind in aller Munde. Chlur Meduson ist ihr mächtigster Feldherr. Wir aber sind seiner Falle entkommen. Und das, Reik, wird er nie eingestehen. Also schweigt er über unser Entkommen, und die hier im Hauptlager müssen denken, daß wir, Kornreck und ich, tot sind und du allein umherirrst. Er wird so lange warten, bis wir diesen Ort passiert haben. Und dann wird er sagen: Der Herr des Hauptlagers hat sie entkommen las121 sen. Nieder mit ihm. Er ist ein Feind des Unfehlbaren. Die ASGEDANrunde hat ihn bestochen. Vernichtet ihn! Ich weiß nicht, Reik, welche Intrigen und Ränke im Stützpunkt des Chur Meduson geschmiedet werden, aber ich ahne, daß es nur darum geht, den Feldherrn zu schonen und andere die Niederlage büßen zu lassen. Und wir werden das für uns nutzen .. . Gut getarnt durch ihre Kapuzen, folgten sie von nun an einer schmalen Rinne, die ihnen ideale Deckung bot. So kamen sie, ohne daß sie geortet wurden, an eine dichte, verfilzte Beerenstrauchgruppe, von der aus sie die Geschehnisse im Lager der Furonen beobachten konnten. Man hatte eine künstliche Lichtung geschaffen, an deren Rand die Laubbäume und Sträucher schnurgerade zerschnitten waren, gerade so, als habe jemand sie mit einer riesigen Rasierklinge von oben nach unten zertrennt. Auf den Waldboden war danach eine elastische Masse aufgetragen worden, so daß ein glatter und sauberer Fußbodenbelag entstanden war. Auf der linken Seite dieser Lichtung stand ein hoher Turm, um dessen Basisgelenk sich eine wuchtige Röhre wand, die die Hälfte der Lichtung einnahm. Im Gegensatz zu ihrer sanftgrünen Farbe stand das Schwarz der vielen Haken, die in unregelmäßigem Abstand aus ihrer Oberfläche ragten. In die Seite und die Decke waren Fenster eingelassen. Am gegenüberliegenden Rand der Lichtung reckte sich ein achtseitiges Gebilde steil auf, über das sich Netze und stählerne Schnecken, hauchzarte Platten und weitverzweigte Metallbüsche ungleichmäßig
verteilten. Eine gelblichweiße Kugel schwebte über dem Zentrum des Achtecks. Dieses Oktogon, signalisierte Angaria, ist das Herzstück ihrer Technik. Es ist unser Ziel. Wer mir etwas mitteilen will, muß es jetzt den-w ken. Auch das kürzeste Wort verrät uns. Ich sehe euch doch nicht mehr, probierte Reik etwas in Gedanken auszudrücken, wegen .unserer Tarnung. Manchmal denke ich, ich bin ganz allein hier ... Das glaube ich dir gern, antwortete Angaria. Und dann fühlte Reik Kornrecks Antennen, die sanft und beruhigend über seine Hände strichen. Reik lächelte, fühlte sich nun wieder geborgen und unternehmungslustig. Er setzte sich, um so ein wenig auszuruhen, blickte auf einen Käfer, der vor ihm über den Boden stakste. Eine angenehme Müdigkeit überkam ihn, und er schloß die Augen. Da sah er eine marmorne Straße, die zu einem gewaltigen, in Licht getauchten Platz führte, auf dem es wogte und tanzte. Puppengesichtige Tänzerinnen nahmen ihn bei den Händen, wirbelten mit ihm im Kreis herum, auf und nieder ging es, 122 und schließlich landete er in einem weich ausgepolsterten Kokon, wo sich eine der Tänzerinnen an ihn hängte, ihn mit ihren Armen umschlang, während fremdartige, zuckende Tonimpulse ihn aufpeitschten, ihn dem Mädchen entgegentrieben. ' Winzige Finger schoben sich über Reiks Mund. Der Junge wollte sich befreien, wollte zu seiner Tänzerin, doch es wisperte: "Pst!" an seinem Ohr, und er erkannte Kornrecks Stimme. Nicht sprechen, hörte er jetzt Angarias starke Gedanken, du weißt, sie rechnen mit dir allein. Sie senden, eigens für dich, Traumimpulse. Du sollst ganz wild darauf werden, Destrusos kennenzulernen. Reik hob den Kopf. Er sah, wie vier Krieger, den anderen flaue Scherze zurufend, ein gefesseltes Trastweibchen zum Oktogon führ-tene Automatisch öffnete sich eine Tür, und zwei der Krieger brachten die Gefangene ins Innere; die anderen beiden wandten sich wieder ab und gingen fort. Die Arme, dachte Reik, wir müssen ihr helfen! Wir werden es, beruhigte ihn Angaria, aber sie dürfen ruhig erst einmal erfahren, daß man sie hereinlegen will. Sie müssen wissen, daß wir entkommen sind. Angaria hatte kaum den Satz beendet, da leuchtete die Kugel tiefblau auf, und eine Serie greller Lichtimpulse umgab jene dünnen Platten. Von überallher kamen Krieger eilends angelaufen und stellten sich in
Zehnerreihen auf. Die großen Fenster der Röhre öffneten sich, und eine Gruppe rotgekleideter Offiziere tauchte dort auf. "Anfrage an Feldherrn Chlur Meduson und seinen Stützpunkt", erklang es aus einer der Metallschnecken, "ist es Tatsache, daß Angaria entkam ... Antwort!" Die Kugel veränderte ihre Farbe, glomm nunmehr rostrot. "Sie antworten nicht", dröhnte es aus der Schnecke, "sie geben uns keine Auskunft! Alarm Stufe Yell! Alle entbehrlichen Krieger an den Waldrand. Dauerfeuer der Todesimpulse gegen alle drei Hügelketten. Die Deinocheirusgruppe aktivieren und in die Senken steuern. Über das Oktogon an den Unfehlbaren melden, daß Meduson versagt hat. Er hat sie entweichen lassen und nicht wir!" Die Bewegungen der Furonenkrieger waren sparsam, aber kraftvoll. Wie helle Schatten verschwanden sie zwischen den Stämmen, steuerten Maschinen und Fahrzeuge an andere Standorte, führten wortlos aus, was ihnen befohlen worden war. Die ersten Knurrtöne der erwachenden zweibeinigen Raubtiere zerschnitten die Luft. Reik sah, wie sie, aus ihren Käfigen befreit, mit der Geschwindigkeit eines schnell fahrenden Autos die Strecke bis zu den Senken zurücklegten. Das Licht auf dem Oktogon war resedagrün, und die Impulse 123 folgten so dicht aufeinander, daß sie sich allmählich für Reik zu einem sanften Schimmer vereinten. Sie rufen Destrusos, vernahm er Angarias Gedanken, dazu brauchen sie alle Energie, und sie können uns deshalb nicht mehr orten. Jetzt ist der Moment des Handelns gekommen. Steht auf. Wir wollen zum Ok-togon. Reik fühlte sich hochgehoben, und dann klammerten sich Kornrecks kleine Hände an den Riemen der Umhängetasche. So wurde Reik von Angaria geführt und war der Zarppe Halt und Wegweiser zugleich. Sie liefen ziemlich schnell durch das Lager, in dem außer einigen Doppelposten niemand mehr war. Als sie das Oktogon erreichten, hielt Angaria inne. Wartet hier auf mich, sagte er. Hilflos sah sich der Junge um. Die Sekunden wurden ihm lang. Unerwartet ergriff ihn ein Energiestrom, trug ihn gegen die Wand des Gebildes, und nach einer bangen Zehntelsekunde befand er sich in dessen Innerem. Ungezählte Glaswände, über die fremdartige Zeichen und Lichter huschten, umgaben Reik. Es gab keine Schalter oder Kabel, eigentlich nichts, was ihm bekannt war, dachte er an eine hochmoderne Kommandozentrale. Dafür erblickte er das verstörte Trastweib-chen, das
auf einer kantigen Metallplatte hockte und dessen Junges die Augen geschlossen hielt. Verlaß deinen Platz, bestimmte Angaria, und das Trastweibchen kletterte mit seinem Jungen von der Metallplatte. Wir sind im Zentrum, sagte Angaria nun, wir werden die Furonen zwingen, Evulon zu verlassen. Aber womit? "Mit Zarppen", rief Kornreck, "sie sollen erleben, daß sie uns Zarp-pen nicht so einfach beleidigen können." Nun gut, Angaria stimmte dem Vorschlag zu, dann sollen es Zarppen sein ... Stell dich auf die Platte, auf der die Trasts standen. "Wer, ich?" fragte Kornreck erstaunt. Ja, du, ordnete Angaria an. Kornreck nahm die Kapuze ab und sprang mit einem Satz auf die erwähnte Platte. Angaria hob die Arme. Aus all seinen Leisten zuckten Lichter. Da änderten die gläsernen Wände ihre Impulse, und ein leiser Ton durchwogte das Oktogon. Von draußen drangen erste Ausrufe des Entsetzens herein. Gellende Schreie erklangen, und das Zischen von Blitzen stach in die Ohren des Jungen. "Was ist das?" fragte Reik und nahm ebenfalls die Kapuze vom Kopf. Eine Schlacht hat begonnen, antwortete ihm Angaria, während die Wände durchsichtig wurden. 124 Überall, auf dem Boden, den Maschinen und den Bäumen, drängten riesenhafte grünlichblasse Krieger heran, die alles zusammentrieben, dessen sie ansichtig wurden. In ihren vier Händen trugen sie glühende Speere, blitzende Schwerter oder spitze Dreizacke, mit denen sie aufspießten, was nicht schnell genug fliehen konnte. Weder die Todesimpulse noch die Feuerstöße aus den Handwaffen der Furonen schienen ihnen etwas auszumachen, denn Reik sah nicht einen niederstürzen oder auch nur innehalten, wenn dieser getroffen wurde. Mancher Fu-rone, von zwei Schwerthieben gespalten, stürzte gevierteilt zu Boden. Andere wurden durch Pfeilschüsse aneinandergeheftet. Es war ein Bild des Schreckens, und Reik schloß die Augen. Er fühlte Übelkeit. Das Trastweibchen klammerte sich an ihn, verdeckte die Augen seines Jungen und preßte den Kopf an Reiks Brust. Dabei stieß es jammervolle Pfeif töne aus. "Was sind denn das für Gespenster?" schrie Kornreck. Sieh doch hin, Kornreck! erwiderte Angaria. Es sind Kampfzarppen. Du wolltest doch, daß Zarppen die Furonen vertreiben.
"Wenn das Zarppen sind", rief Kornreck empört, "bin ich King-Kongs Großmutter!" Im Lager klirrte Glas, und Metall wurde zerfetzt, das Schreien der Furonen war leiser geworden. Die Wand verlor ihre Durchsichtigkeit, und sie sahen nun wieder die Lichtzeichen. Immer stiller wurde es. Wir wollen jetzt gehen, Angaria riß Reik und Kornreck aus ihren schweren Gedanken, wir müssen uns auch nicht mehr tarnen, denn unser Weg ist frei. "Angaria", bat Reik, "draußen, die vielen zerstückelten Furonen. Das Trastweibchen erträgt den Anblick nicht... Was können wir da tun?" Erstens, antwortete Angaria, haben sie und ihr Junges einen sicheren Platz an deiner Brust, und zweitens, folgt mir einfach, ihr werdet staunen. Das Bild, das sich ihnen draußen bot, verblüffte sie. Außer einigen gerissenen Drähten gab es keine Kampfspuren. Still und friedlich standen all die großartigen Maschinen und Fahrzeuge herum. Nirgends ein Toter, nirgends Blut oder andere Hinweise auf das Gemetzel. Dafür jede Menge in Panik fortgeworfener Waffen. "Aber", stammelte Kornreck, "aber das..., das geht doch nicht." Jene Schlacht, erklärte Angaria und blieb stehen, fand nur in unseren und in den Köpfen der Furonen statt. Es war, wenn du einen poetischen Ausdruck dafür suchst, ein böser Zauber. Aber es gab für die Furonen nur diese eine Wahrheit. Und es gibt sie immer noch. Die Kampfzarppen treiben die entsetzten Krieger dorthin, wo diese nach Destrusos zurückgeholt werden. Und bis sie diesen Platz erreicht ha125 ben, sehen sie ihre Kameraden fallen, erblicken das Entsetzliche, das die Kampfzarppen anrichten. Und nie in ihrem Leben werden sie erfahren, daß es nur eine Vision war. Denn wer als Verlierer nach Destrusos zurückkehrt, wird in die Malachitkatakomben gebracht und bleibt dort, solange Atem in ihm ist. Destrusos kennt nicht die Niederlage und keine Verlierer. "Und Gorgon nannte Destrusos den Ort des Lichts und des Glücks", erinnerte sich Reik, "und dann so etwas . .. Du hättest die Todesim-pulse gegen die Furonen abfeuern sollen." Nein, widersprach Angaria, diese Waffe stammt von Destrusos. Wir aber, die Abgesandten der ASGEDANrunde, sind Humanos verpflichtet. Es widerstrebt uns, zu töten. Und selbst Gorgons Versprechen haben wir zweimal geglaubt. Nach diesen Worten verließen sie das Lager, schritten dem Waldrand zu und erreichten ihn nach gut einer Stunde. Angaria löste sich von den anderen, trat einige Schritte zur Seite und wandte sich dann dem
spielzeughaft klein aussehenden Lager zu. Er richtete seine beiden Arme auf den Turm, der leicht zu schwanken begann, bis er niederstürzte. Flammen schlugen aus dem Oktogon, knisternd bog sich die leere Wohnröhre auf, zerplatzte. Gewaltige Staubwolken stiegen auf, wurden vom Wind zerrissen und sanken rundum nieder. Es gab kein Lager mehr, nichts, was daran erinnerte. Geh, Kleine, wandte sich Angaria nun an das Trastweibchen, geh mit deinem Jungen zu den Deinen. Niemand wird dich mehr fangen oder quälen wollen. Die Gefährten folgten einem stillen Fluß, an dessen Ufern sich eine üppige Vegetation erhob. Der Fluß führte sie hinab in ein sanft geschwungenes Tal, das von himmelhohen Felswänden begrenzt wurde. Dicht über den zackigen Felsspitzen brodelten schwere Wolken, und es fiel ein dichter Regen. Gebirgsbäche tosten zu Tal, ergossen sich in das Flüßchen, peitschten seine Wasser auf. Schweigend folgten die drei dem Pfad. Reik beobachtete, wie Angaria hin und wieder ein Blatt berührte. Ein sicheres Zeichen dafür, daß dieser nicht mehr genügend Energie besaß. "Ist alles in Ordnung, Sarschan?" fragte Reik besorgt. Ja, kam leiser als gewöhnlich die Antwort, es geht noch. Und morgen wird es sein, wie es immer war. Du hast es gut beobachtet: Die Steuerung des Oktogons und die Zerstörung des Lagers kosteten mich viel Kraft. Und der Weg durch dieses sonnenlose Tal hilft mir nicht, den Verlust auszugleichen. Aber es gab keinen anderen Weg, der so sicher wie dieser ist. Kein Furone könnte ihn passieren. Selbst ihre Fahrzeuge bleiben hier stecken. Jenseits des Tales ist ein trockenes Plateau. 126 Wenn wir dort noch eine Stunde Sonne bekommen, bin ich wieder voll einsatzfähig. "Armer Angaria", murmelte die Zarppe, "armer Reik und armer Kornreck. Da treffen wir auf ein wunderbares Land voll Leben und Farbe, und nun kommt dieser Regen, und alles ist futsch . . ." Er pflückte, um seine Worte zu unterstreichen, eine prachtvolle Blüte. Doch er war noch keine drei Schritte weiter, als sausend eine Liane durch die Luft pfiff, die Zarppe packte und zurückriß. Sie hielt ihn dabei so, daß seine Hände unmittelbar vor der Stelle waren, wo vordem die Blüte wuchs. Murrend drückte Kornreck diese gegen die Bruchstelle, und sogleich schäumte ein weißlicher Saft auf, und die Blüte wuchs an dem Strauch, als wäre sie nie abgerissen worden. Die Lianen setzten Kornreck dort ab, wo sie ihn eingefangen hatten. "Donnerwetter", entfuhr es Reik, und er schüttelte seinen klatschnassen Kopf.
Sie gingen, als der Aufstieg begann, erschöpft und unaufmerksam. Der Boden war schlüpfrig, und nicht nur Reik oder Kornreck, sondern auch Angaria rutschten immer wieder aus. Seine Lichtfäden trugen ihn nicht mehr so sicher. Eine Gruppe sich oben entgegenneigender Felsen die sie durchqueren mußten, empfing sie. "Hier regnet es wenigstens nicht mehr", bemerkte Kornreck apathisch und schüttelte sich. Ihre Klettertour dauerte nicht lange, und vor ihnen erstreckte sich eine unübersehbare Ebene, die in satten Rot-und Violettönen prangte. Mächtige Steine türmten sich übereinander. Kahl und nackt war dieses Plateau und atmete Wärme und Ruhe. Nicht weit von ihnen befand sich ein kreisrunder See ohne Zu- und Abfluß. Sein Wasser schimmerte wie Rotwein und war ohne die kleinste Bewegung. "Kann man dort baden?" fragte Reik und deutete auf den See. Ja, antwortete Angaria. "Er ist noch nicht naß genug", die Zarppe schnaufte, "es hat ihm noch nicht gereicht. Ihr stammt wohl alle von Goldfischen ab, was?" Sie sahen zu, wie Reik sich entkleidete und mit einem weiten Sprung in dein See hechtete. "Ist der warm", rief ihnen Reik zu und tauchte hinab. Er kam nach einer halben Minute wieder hoch, hielt einen weißen Stein in die Höhe. "He", rief Kornreck, "das kann ich auch." In großer Eile entledigte er sich seiner Sachen und folgte Reiks Beispiel. Doch als er zu tauchen versuchte, gelang ihm das nicht. Wie ein Korken lag er auf dem Wasser, und wie er sich auch mühte hinunterzukommen, das Wasser spie ihn immer wieder aus. 127 Inzwischen hatte Reik einen kleinen Berg erlauchter Steine am Ufer angehäuft. Nun stieg er erfrischt aus den Fluten, legte sich auf die warmen Felsen und schloß die Augen. Es wurde dämmrig. Er öffnete die Augen, setzte sich auf. Neben ihm stand Angaria. "Schöne Steine, was?" fragte Reik und lächelte. Der große glänzende Stein, sagte der Angesprochene sanft, heißt bei euch Diamant. Sein Nachbar ein Karneol, dann zwei Topase, einige Smaragde, sechs Rubine - und jenes gelbe Metall ist Gold. "Diamant", wiederholte Reik erstaunt, und sein Lächeln verschwand. Er nahm den Diamanten in die Hand, hielt ihn so, daß die letzten Strahlen der sinkenden Sonne ihn trafen. "Ich habe ihn mir anders vorgestellt", er sprach nachdenklich, "so wie manche Kronleuchter. Blitzend und gleißend." Man muß diesen Diamanten erst bearbeiten, erklärte Angaria, dann erfreut er dich, füllt dich aus. Willst du ihn mitnehmen?
"Meine Eltern", Reiks Stimme klang leise und sehnsuchtsvoll, "die sprachen manchmal davon, wie es ist, wenn man einen Diamanten findet. Im Urlaub suchte ich immer Steine. Bis ich dann im Fernsehen sah, daß man nur an wenigen Stellen der Erde Diamanten entdecken kann ... Was sie jetzt wohl sagen würden, wenn ich ihnen diesen Riesendiamanten zeigte." i Er ist ein Vermögen wert, sagte Angaria, viele Millionen. Reiks Augen weiteten sich, als schaute er durch die Gegenwart und die Wirklichkeit hindurch. "Ich weiß etwas Wertvolleres", murmelte er dann und berührte mit der freien Hand die Stelle, an der Orianas Medaillon hing. Plötzlich sprang er auf, schleuderte den Diamanten heftig zurück in den See und ließ auch alle anderen Steine folgen. "He", rief Kornreck, der noch immer auf dem Wasser trieb, "der will mich doch glatt erschlagen. Mit Gold und Edelsteinen..." Du hast einen ungeheuren Reichtum fortgeworfen, sagte Angaria. "Ich habe jetzt nur eine Angst", erklärte Reik, "ich fürchte den Tag, an dem ich nicht mehr die Kraft habe, einen Diamanten zurück in einen See zu schleudern. Verstehst du mich?" Alle Augen Angarias schimmerten in einem tiefen blauen Ton. Ich habe es der ASGEDANrunde erklärt, hörte Reik Sarschans dunkle und wohltönende Gedanken in sich, daß sie unbesehen einen Menschen mit dieser Aufgabe betrauen können. "Einen Menschen?" haben sie mir geantwortet. "Siehst du nicht, was auf ihrem Planeten geschieht? Bist du, tausendäugiger Angaria, plötzlich blind? Willst du nicht erkennen, was jeder weiß? Sie zerstören ihren Lebensgrund, verkaufen Freunde und Eltern, Kinder und Verwandte, ja sogar ihr Glück, wenn sie dafür nur eine entsprechende Summe bekommen. Und er, Angaria, will einem dieser Primatenabkömmlinge den Steinernen Kopf 128 anvertrauen?" Ja, Reik, so argumentierten sie. Doch die Mehrheit folgte meinem Vorschlag. Ich sagte: "Was sie tun, hat man ihnen beigebracht. Nichts davon ist ihnen angeboren. Sie sind gezwungen, ihre Lebenszeit für dieses gelbe Metall zu verkaufen. Gezwungen, Kriege zu führen und Verbrechen zu. begehen, weil man ihnen das Leben vorenthält. Eines Tages aber, wenn sie wissen, was Leben ist, wenn ihnen ihre Maschinen alle stumpfsinnigen Arbeiten abnehmen, dann werden sie ein edles Geschlecht sein." Und nun, an diesem See, sehe ich, wie recht ich hatte und wie wenig vonnöten ist, das zu erreichen. Ja, Reik, ich wünsche dir für dein ganzes Leben die Kraft, einen Diamanten in .einen See zurückzuwerfen. Kornreck kam prustend aus dem Wasser. Er war, kaum daß er die Steine erstieg, trocken und zog sich, wie Reik auch, die Kombination an. Die
Sonne schickte die letzten roten Strahlen in den gelbgläsernen Himmel, in dessen Zenit die ersten Sterne funkelten. Wir wollen weitergehen, bestimmte Angaria, denn in der Nacht werden von diesem See kühle Nebel aufsteigen, und ich habe schon genug Energie eingebüßt, als daß ich mir erlauben könnte, hier zu bleiben. So zogen sie weiter. Und als sie eine Höhle aus mehreren schräg übereinandergetürmten Felsen erreichten, war der See nichts anderes als ein ferner violetter Streifen, in dem sich die Scheibe des aufgehenden Mondes als silbriges Licht spiegelte. "Hier ist es schön", erklärte Kornreck und huschte ins Innere. Reik folgte ihm. Es war warm in dem Steinhaus, und durch die breiten Spalten schimmerten die Sterne. Wie immer blieb Angaria neben dem Eingang stehen, stand unbeweglich wie ein nimmermüder Wächter. Aber Reik wußte, daß Angaria in dieser Nacht kaum etwas ausrichten konnte. Wir müssen wachsam sein, wollte Reik noch der Zarppe sagen, aber er war so müde, und der Hunger vertiefte die Müdigkeit. Kaum lag sein Kopf auf der Kapuze, schlief er ein. Als Reik erwachte, leuchtete der Mond durch einen Spalt. Reik setzte sich auf, sah die vertraute Gestalt des Freundes, der im Mondlicht an ein silbriges Geschöpf aus dem Märchenwald erinnerte, und lächelte. Dann stand er auf und trat hinaus. Er wartete eine Weile, aber Angaria sandte ihm kein Signal. Angarias Kraft ist erschöpft, dachte Reik. Da werde ich eine Weile wachen. Er stieg auf einen Stein und blickte über die silbrige Ebene. Irgendwo sang es. Das hatte ihn geweckt, dieser leise, gleichmäßige Gesang. Immer mehr Stimmen fielen ein. Reik strengte sich an, aber er konnte die Sänger nicht entdecken. Er sprang von dem Stein und ging vorsichtig in die Richtung, wo der 129 verlockende Gesang erklang. Er hatte einige hundert Meter zurückgelegt, da entdeckte er einen breiten, in den Boden führenden Gang, aus dem leise und sehnsuchtsvoll der Gesang heraufdrang. Reik legte sich auf die Felsen und spähte hinunter. Jetzt konnte er wenigstens die Töne klar vernehmen. Sie rührten sein Ohr an, ohne sein Herz zu erreichen. Er blickte zurück. Die Felspyramide, in der die Höhle war, erschien ihm so nahe, daß er an eine Gefahr nicht glaubte. Und so begann er behutsam den Abstieg in den Gang, wobei er sich immer an der Wand entlangtastete, um so spät wie möglich gesehen zu werden. Die Höhle, in die der Gang einmündete, war groß, und ihr Ende versank in Finsternis. Ein kleines Feuer brannte, und rundum lagerten Wesen, die höchstens halb so groß wie Kornreck waren. Ihre Beine und Füße waren die eines Pferdes, ihr Körper glich einer Echse, während Arme, Hände,
Hals und Kopf menschlich anzusehen waren. Wirr hingen die Haare den Kleinen um den Kopf. Der Körper steckte in einem nachlässig geflochtenen Umhang aus Pflanzenfasern. Einer von ihnen saß auf grünen Blättern unter einem Baldachin. Obwohl Reik ihnen wie ein Riese erscheinen mußte, ließen sie sich bei seinem Anblick nicht im geringsten stören. Reik setzte sich auf den Höhlenboden, nicht weit von jenem einzelnen Wesen, in dem er den Anführer vermutete. Jetzt unterschied er auch schon, daß es Männer und Frauen gab. Die Männer trugen rosafarbene Umhänge, hatten die Haare wild in die Stirn gestrichen, während die Frauen in schwarze oder dunkelblaue Umhänge gekleidet waren und ihre Haare kurz geschoren hatten. Der Anführer von ihnen, Reik erkannte in ihm eine Frau, wandte sich Reik zu und kam anmutig näher. Wie ein kleines, unruhiges Pferd trat sie auf der Stelle. Sie neigte leicht den Kopf, und auch Reik verneigte sich. Sie streckte ihre rechte Hand vor, und Reik imitierte die Bewegung. Da sprang sie ihm auf die Hand und hob stolz den Kopf. "Wer seid ihr?" fragte Reik flüsternd, um die Sänger nicht zu erschrecken. "Du bist als Eindringling erschienen", antwortete die Frau und klatschte in die Hände, "und möchtest als Gast behandelt werden. So steht es dir zu, dich vorzustellen." "Du hast recht", antwortete ihr Reik. "Ich bin Ticina", fuhr sie überzeugt fort, "und habe als Anführerin der Streuner immer recht." Reik mußte lachen und erklärte Ticina, was bei ihm zu Hause Streuner sind. "Denkst du", erwiderte Ticina unwirsch, "das ist hier anders? Die Lichtner wurden wir einst genannt, dann die Firstner. So ändern sich die Zeiten. In der Steppe lebten unsere Ahnen, dann wurden sie von 130 den Tieren vertrieben. Sie zogen zum Fluß, doch wer kann in Sumpfland existieren? Krokodile und andere schwimmende Echsen machten uns das Leben zur Hölle. Und ein Drittel meines Volkes fand den Tod in den grausigen Zangen der Milchameisen. Als wir bei den Trasts auftauchten, erlebten wir deren Grausamkeit. Ein Drittel meines Volkes wurde von Birüßlern zerstampft, ein Drittel von Geiern geschlagen, ein weiteres Drittel landete im Magen des Deinocheirus, und ein Drittel ..." "He, stopp mal", unterbrach sie Reik, "jetzt sind schon fünf Drittel deines Volkes tot... Eine unglaubwürdige Rechenaufgabe." "Willst du unseren Schrecken und die Tränen meines Volkes berechnen?" fauchte Ticina und strich sich über ihr Stoppelhaar.
"Unverschuldetes Leid entzieht sich jeder Berechnung. Gut, dann sind eben fünf Drittel gefressen. Ändert das etwas?" "Ich kenne Trasts", antwortete Reik, "sie sind sehr freundlich und harmlos." "Harmlos", kreischte Ticina und reckte sich in die Höhe, "ich will dir etwas sagen: Entweder du bist einer von ihnen, oder du weißt nicht, wovon du sprichst. Trasts sind unerträglich!" Reik fühlte ein Unbehagen in sich aufsteigen, dessen Ursache er nicht erklären konnte. Skeptisch schaute er über das Streunervolk hin, ohne eine Auffälligkeit zu erkennen. 131 "Meine eigene Großmutter", rief Ticina, "ist von ihnen geköpft worden. Rawina, zu mir!" Der Angesprochene näherte sich vorsichtig, knickste leicht vor Reiks Hand. "Sprich, Rawina", rief Ticina und klatschte in die Hände. "Viele Köpfe sind gerollt", sagte Rawina und verneigte sich, "sehr viele, denn die Großmutter der von uns verehrten Ticina haßte alle Schwächlinge und Pedanten. Sie ließ sie einfach köpfen . . ." "Schafskopf", unterbrach ihn Ticina, "du sollst sagen, daß sie geköpft wurde. Von den Trasts hingerichtet!" "Warum nicht", Rawina begann zu stottern, "zwar zeichnet die Geschichtsschreibung als letztes einen Schlaganfall auf, aber immerhin besteht die Möglichkeit. .., eben die andere Möglichkeit. Ein solches Dokument wird sich bestimmt finden lassen. Nur, von wem? Darüber herrscht noch Unklarheit." "Du bist ein Esel, Rawina", Ticina schüttelte ärgerlich den Kopf, "geh zurück. Babasa, komm her!" Der Gerufene erschien, und er tänzelte eine Zeitlang auf den Hinterbeinen, ehe er zum Stillstand kam. "Natürlich erinnere ich mich", stieß er hastig hervor, "Eure wunderbare Großmutter. Eine herrliche Frau. Und dann ihre Nichte, diese nichtswürdige Schlampe. Batz, Kopf ab. Der ganzen Familie ließ sie den Kopf abschlagen. All ihren Freunden und Vertrauten, bis sie niemanden mehr fürchtete . . . Äh, was habt Ihr gefragt?" Eine Handbewegung Ticinas reichte, um Babasa zurück zu den anderen zu treiben. "Kossgudd", gebot Ticina nun. Aus der Masse der Streuner trat eine kleine zierliche Streunerin vor. Sie kletterte flink an Reik hoch und stand schon bald neben Ticina. "Sag es ihm", forderte Ticina die Streunerin auf.
"Ich habe mich noch zu keiner Strafe", sagte sie und gähnte ausgiebig, "für diesen unverfrorenen Eindringling entschieden." "Was soll das?" fragte Reik zornig. Da sah er, daß all die Streunerscharen zu ihm kamen, ohne ihre Gesänge zu unterbrechen. Sie begannen weich an ihm hochzuklettern. Er überlegte, ob er mit einem Ruck aufstehen und die Streuner abschütteln sollte oder ob er auf sie Rücksicht nehmen müsse. Dabei fühlte er, wie ihm die Füße einschliefen. "Sag deinen Leuten", bat er jetzt Ticina, "daß sie von mir herunterklettern sollen, denn ich muß aufstehen." "Ich werde dies tun", antwortete sie schnippisch, "wenn es mir paßt. Doch zuerst mußt du uns ein Lied singen." "Sag, daß sie gehen sollen", wiederholte Reik ungeduldig, "oder es wird für sie eine sehr unangenehme Luftreise werden." 132 Ticina sprang leichtfüßig von Reiks Hand. "Versuche sie abzuschütteln", schrie sie mit heiserer Stimme, "er will euch loswerden, meine braven Streuner!" Reik reagierte schnell. Er faßte Kossgudd, die Richterin der Ticina, hielt sie fest und hob sie hoch. Aber bewegen konnte er sich nicht. Ungezählte Fäden hielten ihn fest. Die Streuner bearbeiteten ihn mit winzigen Keulen, und wenn die Schläge auch nicht sonderlich wirksam waren, so führte ihre Anzahl doch dazu, daß Reik sich nicht mehr rührte und die Richterin losließ. In dem Augenblick gab es ein feines, aber scharfes Geräusch: Die Gurte seiner Tragetasche waren durchschnitten, und die Tasche polterte auf den Steinboden der Höhle. Reik stieß einen Fuß vor, stellte ihn auf die Tasche. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Ein weißlicher Körper glitt durch den Gang in die Höhle. Sein vorderes Ende bestand aus einem Ring, den viele Augen bildeten. Auf ungezählten Händen kam dieses monströse Wesen näher, und sobald ein Streuner seinen Weg kreuzte, zertrat es ihn. "Diese widerwärtigen Streuner", flüsterte es zwischen den Augen, "möge sie der Blitz erschlagen. Sie haben uns alle einer tödlichen Gefahr ausgesetzt. Sie haben die Bänder durchtrennt. .. Ein Wunder, daß der Steinerne Kopf nicht augenblicklich das Plateau zerrissen hat." "Wer bist du?" fragte Reik, noch unruhiger als vorher. "Ein Freund von Sarschan", antwortete es, "ein Freund derer, die dich beauftragt haben. Ich heiße Chiron, der auf den Händen Gehende." Er machte einige wilde Abwehrbewegungen gegen die erstarrt stehenden Streuner. "Ich werde dich zum Zeitenbaum begleiten", fuhr er dann, seine Augen auf Reik richtend, fort, "denn Angaria ist immer noch ohne Energie. Kornreck
vermutete, daß du bereits vorausgegangen bist, deshalb wartet er am Baum auf uns. Ich werde die Fesseln durchtrennen, und du nimmst die Tasche und hältst sie ganz fest. Laß sie nie los." "Ich habe deinen Namen nie gehört", entgegnete Reik, "kannst du nicht Kornreck holen, damit er das, was du sagtest, bestätigt?" "Nein", schnitt Chiron dem Jungen das Wort ab, "das kann ich nicht, denn Ticina wird sich an dir rächen wollen. Sie begreifen nicht einmal, was der Steinerne Kopf mit ihnen machen wird. Schließlich sind es einfach Streuner." Chiron umrundete Reik und löste alle Fäden, so daß der Junge sich nach vorn beugen und die Tasche aufheben konnte. Kaum aber hielt Reik sie fest, da packte ihn Chiron und huschte mit ihm durch die Höhle, jagte durch stockfinstere Gänge und tauchte an einer von Mondlicht erhellten Stelle auf. Wie ein Sturmwind jagte Chiron über die steinernen Felder. Reik aber wußte nicht, daß er dem Megaglenos 133 Argus selbst in die Hände gefallen war, denn dieser war von zweifacher Gestalt. Am Tage ging er aufrecht, war ein edel aussehender Mann, von dem es hieß, daß er alles sah, während er des Nachts all seine Hände aus dem Leib schob, sich auf diese niederließ und sich so fortbewegte. "Wo ist Kornreck?" fragte Reik plötzlich mißtrauisch. "Warum wußten Sie denn, wo ich bin, wenn Inula es nicht wußte? Warum haben Sie Kornreck nicht gesagt, wo Sie mich vermuten?" "Ich habe es ihm gesagt", entgegnete Chiron, "aber er glaubte mir nicht. Nein, antwortete er, Reik ist nicht mehr undiszipliniert. Und wenn er uns verläßt, dann nur, um den Zeitenbaum zu erreichen." Die Erinnerung daran, daß er sich ohne Erlaubnis von den Freunden entfernt hatte, verschloß Reik vorübergehend den Mund. Jetzt stecke ich in der Klemme, dachte er, vielleicht spricht dieser Chiron sogar die Wahrheit. . . "Haben Sie gehört", Reik versuchte zu erfahren, mit wem er es zu tun hatte, "wie die Streuner gelogen haben? Sie behaupten, daß die Trasts grausam sind. Ich habe nur gesehen, wie ein Furonenkrieger ein Trastweibchen mit Jungem quälte." "Nun ja", antwortete Chiron, "sie sind Krieger. Was sollen sie sonst tun, als Kriege führen? Oder fandest du, daß die Kampfzarppen freundlicher waren? Auch die Furonen haben Frauen und Kinder, Eltern und Geschwister, die um die Toten weinen . . . Wo gehobelt wird, werden immer Späne fallen." Immer noch ging es mit unverminderter Geschwindigkeit durch die mondhelle Nacht. Felsen tauchten auf und blieben hinter ihnen zurück,
Steilhänge bedrohten sie, aber Chiron wurde nicht langsamer und glitt schattenhaft über alle Hindernisse. "Sie sind von Destrusos", schrie Reik in die Nacht, "denn Sie haben sich eben verraten!" Und mit einer einzigen Bewegung wollte er die Tasche von sich schleudern. Chiron, der vieläugige Argus, aber preßte Reiks Unterarm und Hände so zusammen, daß sich der Junge nicht rühren konnte. Ungehindert hielt er sein Marschtempo. "Un-glaub-lich", ein Kichern zerteilte das Wort, "du bist ja ein kluges Bürschchen. Woher weißt du es? Ich bin, den Chiron kannst du vergessen, Megaglenos Argus, der Alles-sehende. Ja, dumm, daß dich der sentimentale Quatsch der Streuner angelockt hat, jedenfalls für dich. Ein widerwärtiges Volk. Sie wohnen im Morast, stehlen Vogeleier und Jungvögel, erdrosseln auch manche Junghasen und Kitze und sind zänkisch wie niemand sonst hier. Aber lassen wir das. Am Zeitenbaum nimmt uns Chooroon auf. Unser Letztes Fahrzeug wird dir gefallen. Du wirst dort Spiele kennenlernen, die dich faszinieren. Unsere Computer, unsere Zieleinrichtungen, selbst 134 die Feuerleitgeräte stehen zu deiner Verfügung. Hunderte der schönsten Mädchen warten sehnsüchtig auf die Ankunft des jungen Helden. Alles steht dir offen. Tatsächlich alles." Da erblickte Reik, während er sich schwere Vorwürfe machte, wieder jene marmorne Lichterstraße, sah noch einmal den großen Platz, fühlte sich im Tanz herumgewirbelt. "Die ASGEDANrunde", setzte Argus seine Erzählung fort, "wird dich schon bald zum Tode verurteilen. Dich, und nicht Angaria, der ein bißchen verschwenderisch mit seiner Energie umging. Er wollte es dir angenehm machen, aber er verschätzte sich. Und nun wird dich das gleiche Urteil der Runde treffen wie unseren unvergessenen Gorgon. Doch ängstige dich nicht, denn wer unter dem Schutz des Unfehlbaren steht, ist in Sicherheit. Mehr noch: Dort, wo du herkommst, wird der Unfehlbare schon bald sein Regime errichten. Und er wird einen Statthalter brauchen. Und wen, wenn nicht dich, wird er ausersehen? Dann zwingst du sie vor dir in die Knie." In Reik wütete ein Sturm der unterschiedlichsten Gefühle. Er wußte sich schuldig, weil er die Höhle verlassen hatte. Und er sah keinen Weg zurück. Und dann erwachten in ihm die Bilder von Destrusos und der Erde, einer Erde, die ihm Untertan war. Dann wieder tauchten Bilder auf, die Kornreck und Angaria als gefolterte Gefangene des Unfehlbaren zeigten, grauenvolle Bilder, die mit dem Tod der Freunde endeten.
In der Ferne tauchte ein Berg auf, der ganz langsam größer wurde. Eine dichte Wolkenschicht, die keinen Stern hindurchließ, umwogte ihn, und an seinem Fuß herrschte ewige Nacht. Reik riß die*Augen auf, denn er erkannte das graue Gebilde wohl. "Der Zeitenbaum", flüsterte er. "Der Zeitenbaum", bestätigte Argus, "wir haben ihn erreicht, noch ehe der Mond gesunken und die Sonne erwacht ist. Und aus den nachtschwarzen Ästen wird sich Chooroon stolz herabsenken und uns bergen, und während Norrh den Steinernen Kopf bändigt, wirst du ein frohes Wiedersehen mit Anja Winterlicht feiern können." "Nein, ich will nicht", jammerte Reik, "ich will dort nicht hin. Lassen Sie mich frei. Ich schleudere die Tasche sowieso fort, sobald ich mich rühren kann." "Ich werde diese dummen Worte vergessen", erklärte Argus ernsthaft, "und sie nicht dem Unfehlbaren überbringen. Wüßte er sie, läge deine Zukunft in den Malachitkatakomben." Argus ließ seine Augen hell aufsprühen. "Du kannst mir einen Gegendienst leistefi", fuhr er vertraulicher fort, "denn wenn du zu Ehren gekommen bist, dann wirst du ein gutes Wort für mich einlegen. Ich bin es, der statt des windigen Meduson unsere Heere führen sollte. Ich, denn nur mir ist es gegeben, 135 Furonen, Kolosser und Grausonen zu vereinen. So wäscht eine Hand die andere." "Ist das das Glück", fragte Reik, "von dem Sie sprachen?" "Es ist besser", antwortete Argus, "sein Geschick in die eigene Hand zu nehmen, als sich dem eiskalten Befehl einer ASGEDANrunde zu unterwerfen." "Das ist nicht wahr!" rief Reik aus. "Immer wieder haben Gerstfeld und dann Sarschan mir angeboten, auch einmal nein zu sagep. Ich konnte aufhören, umkehren." Argus lachte höhnisch auf. Näher kamen sie dem Zeitenbaum, der sich nun schon von Horizont zu Horizont erstreckte und die gewaltige Ebene zusammenschrumpfen ließ. Klein wirkten von hier aus das Gebirge, die Sonnenebene und das hügelige Land. Von dem Baum selbst war nichts zu sehen, denn rund um sein Astwerk stiegen dämmrige Nebel auf, verdichteten sich zu den schweren Wolken. Reik zitterte, es fror ihn, und dann überlief es ihn siedendheiß. Er fühlte sich krank, weil es keinen Ausweg, kein Entrinnen für ihn gab. Er war der Gefangene Destrusos. "Dieser elende Nebel", schimpfte Argus, "was soll denn das schon wieder sein?" Er dachte nach, und seine Augen sprühten Licht. "Wenn das Meduson ist", fuhr er heftiger fort, "wenn der einen Spion unter den
Streunern hatte und mir jetzt meine Operation verderben will, dann .. ., dann mußt du dem Unfehlbaren die Wahrheit mitteilen. Er wird auf dich hören. Sage ihm, daß Meduson eine Nebelfalle errichtet und mich, einen redlichen Mann, um meinen Gewinn gebracht hat. Sage ihm, daß Meduson euch in die Wohnhöhlen der Trasts lockte. Sage, daß ihr ihm entkommen seid. Wir machen Meduson so fertig, daß ihm kein Furonenkrieger mehr gehorcht." Sie waren näher an die unheimliche Nebelwand gekommen, die, aus dieser Perspektive gesehen, steil nach oben floß. "Das ist kein Naturschauspiel", schrie Argus zornig, "versprich mir, daß du den Unfehlbaren über die Wahrheit informierst!" "Was wird im Nebel geschehen?" fragte Reik, der Hoffnung schöpfte. "Was weiß ich", Argus flüsterte heiser, "vielleicht locken sie mich in eine Zeitschleife, aus der es kein Entkommen gibt. Ich weiß es nicht." Die Nebelwand gefror und gerann. Das, was vordem an aufsteigende Schwaden erinnert hatte, trat klar hervor. Zuerst dachte Reik an Schieferplatten, an ein endlos hohes Gebirge aus Schieferplatten. Aus' diesem Plattenberg schoben sich zwei mächtige glimmende Säulen, die in das Gestein des Untergrunds drangen, ohne es zu zermalmen. Über 136 den Säulen erhoben sich ein rechteckiger Körper und eine Art nebelhafter Kopf. Aus der Vorderwand des Körpers stießen immer andersgeartete platte Gebilde hervor, die sich zunehmend verlängerten und in einem weiten Kreis um Argus und sein Opfer anordneten. Reik sah, daß dieses Nebelwesen das Mondlicht nicht reflektierte, sondern schwärzer als jede Nacht blieb. "Ich gebe auf", wimmerte Argus, "Meduson, du bist der Bessere. Nimm ihn, nimm den Gefangenen. Nimm ihn ohne Gegenleistung, ohne jede Garantie für mich. Verschone,mich, den Nichtswürdigen." "Übergib den Gefangenen samt dem Steinernen Kopf diesem Arm", tönte es aus der Höhe. Klirrend war der Klang der Worte und metallisch hart. Sie gingen ineinander über, vervielfachten sich zu unerträglichen Echos. Der Arm näherte sich Argus und dem Gefangenen. Und während der Arm auf sie zu wuchs, wurde er von einem grünlichen Belag überzogen. Chiron hob den Gefangenen hoch, der sofort von dem Belag eingehüllt war. Erneut versuchte Reik, während er sich weiter und weiter vom Boden entfernte, die Tasche loszulassen. Doch war er vorher von eisernen Klauen festgehalten worden, so konnte er sich jetzt, obwohl er keinen Schmerz, keinen Druck empfand, noch weniger rühren.
Reik sah hinunter. Weit unter ihm stand ein golden schimmernder Mann, und es dauerte eine geraume Weile, ehe Reik begriff, daß dieser dort unten Argus war. Ein wachsbleicher Helm verbarg die Kopfumrisse. Die Bewegung des Armes war beendet. Das lichtlose Etwas hielt Reik so, daß er die unsicheren Suchbewegungen von Argus verfolgen konnte. Dabei redete Argus unablässig, und Reik ahnte, wie sehr dieser sich selbst erniedrigte, ein Loblied auf Meduson sang und jammerte und klagte. "Du irrst", erklang da die vielfache, alles durchdringende Stimme des Gebildes aus Nacht und metallenem Nebel drohend und endgültig, wenn du denkst, daß ich zu Chlur Meduson gehöre. Du irrst auch, wenn du einen Kompromiß, eine Verschwörung von Chooroon und Meduson erwartest. Ich bin Arcton, und man nennt mich in der ASGE-DANrunde den Dämmrigen. Man hat mich an den Fuß des Zeitenbaumes entsandt, weil dieser Ort seit Gorgons Verrat nicht mehr sicher ist. Zudem hat Angaria mit der ihm verbliebenden Energie mich um Hilfe gerufen. Dir aber, Reik Regenbach, sage ich: Befreie dich von deiner Furcht, denn sobald die Sonne eine Stunde geschienen hat, werden Sarschan und Inula Kornreck hier sein. Und sie werden dich froh begrüßen." 138 "Arcton der Dämmrige", heulte Argus auf, verlor seine menschliche Gestalt und wurde zu Chiron, der wie eine gefangene Maus in dem Nebelring umherhetzte, einen Ausgang suchend. "Noch immer", dröhnte Arctons Stimme durch die Nacht, "versuchst du vor diesem Menschen deine wahre Gestalt zu verbergen. Aber er soll dich kennenlernen, Megaglenos Argus." Der Arm, in den Reik eingebettet war, senkte sich schwer dem Boden entgegen. Mit einem verzweifelten Lauf hetzte Chiron gegen eine der Nebelwände, die ihn heftig zurückschleuderte. Da erstarben seine Bewegungen, die Augen verloren alles Leben, wurden gläsern. Auf dem mondlichterhellten Gestein stand eine langgestreckte, flache Maschine, in der es rotierte, wogte, pulsierte und waberte. Leer und leblos starrten die ungezählten Augen in alle vier Himmelsrichtungen. Unerwartet setzte sich die Maschine in Bewegung. "Warum gibst du mich auf, mein Gebieter!" schrie sie mit blecherner Stimme und raste auf den Nebelring zu, an dem sie zerschellte. Eine Explosion riß sie auseinander, und feinste Metallteile rieselten herab. "Ich habe deinen Namen schon gehört", rief Reik, der spürte, wie er am ganzen Körper zu zittern begann, "einmal. . ., es tut mir so leid .. ." "Halte du nur den Steinernen Kopf fest", antwortete Arcton, "bis Sarschan kommt. Er hat neue Halterungen, stabilere."
"Du bist so groß", murmelte Reik, "ich sehe nicht einmal ein Ende von dir." "Wo ich lebe", antwortete Arcton, "ist alles lichtlos. Selbst unsere Sonne ist, mit deinen Augen gesehen, finster. Ein Stück Nacht im Reigen der Sterne. Und es i^t gewaltig, verglichen mit der Zierlichkeit deiner Heimat. Du siehst, daß ich eingesunken bin in das Gestein, und meine Füße berühren den innersten Kern. Nur so kann ich mich hier halten. Alles, was ihr tut, ist uns unverständlich. Nur eines haben wir begriffen: Was die ASGEDANrunde will, scheint vernünftig, während ein Unfehlbarer in seinem Namen schon Aberwitz, Unvernunft und Überheblichkeit vereint. Und deshalb gehören wir, beratend und manchmal auch helfend, zu euch. Nun aber sollst du ruhen, denn du bist erschöpft, und morgen werde ich euch nach Astras bringen." Die Worte verschwammen in Reiks Bewußtsein. Dann hüllten ihn Traumbilder ein. Er schlief. "Dieses Murmeltier muß man gesehen haben", sagte es in Reiks Schlaf hinein. Der Junge blinzelte, riß erstaunt die Augen auf. "Kornreck!" rief er begeistert und hob die Zarppe hoch, drückte sie an sich. Die Zarppe hatte alle vier Hände auf Reiks Schulter gelegt und strei139 chelte ihn sanft mit seinen Antennen. "Du Ausreißer", sagte er, "du unverbesserlicher Ausreißer." "Ach Kornreck", Reik blickte verlegen nach unten, "du hast recht, es tut mir leid ..." "Halt noch ein wenig still", ermahnte Kornreck den Jungen, "Sarschan befestigt auf neue Art die Umhängetasche an dir. Die Sache mit der letzten Nacht ist uns ganz schön nahegegangen, weißt du." Reik wandte den Kopf und erblickte Sarschan. Der Gefährte sah ihn mit seinen türkis schimmernden Kugeln an, während eine Hand gegen Reiks Hüfte ausgestreckt war. Es ist gut, Arcton, vernahm Reik die Stimme Angarias, du kannst den Vagabunden jetzt freilassen. Reik stand vorsichtig auf, reckte und streckte sich und blickte an sich hinunter. Ein breiter, schuppiger Gürtel ohne Verschluß schlang sich um seine Kombination. An der linken Seite hing, grob die Form des Steinernen Kopfes nachzeichnend, eine ebensolche schuppige Tasche. Unerwartet hob Reik beide Hände gegen Angaria auf. "Ich würde dir so gern die Hände geben", er sprach mit kaum vernehmbarer Stimme, "wenn du Gerstfeld wärst, wenn ich dich berühren dürfte. Ich weiß nicht, warum ihr mir noch immer vertraut, aber. . ., aber dafür möchte ich euch danken ..."
Mach dir keine Vorwürfe, antwortete der Angesprochene, eigentlich habe ich den Bogen überspannt. Es hätte gereicht, den Oktogon zu zerstören und das Lager stehenzulassen. Und ich hätte den Regen und die Sonnenlosigkeit erkennen müssen. Wichtig ist, daß der Steinerne Kopf von nun an sicher bei dir aufbewahrt ist. Die schärfste Klinge kann ihn nicht lösen. Reik schaute zu Arcton auf, erwartete, daß der Riese im Sonnenlicht wie Schiefer glänzte. Aber Arcton sah aus wie in der Nacht: Lichtlos stand er vor dem Baum der Schwäne. Stand unverrückbar, scheinbar blind und taub, als hätte es ihn schon von Anbeginn aller Zeiten gegeben. "Halte dich an mich", erklärte Kornreck und ging einmal um Reik herum, "denn es geht gleich los. Mit einer Komfortkabine wollen wir nach Astras schweben." Angaria erklärte, was die Zarppe gemeint hatte: Arctons Hände sind unsere Kabinen. Und eilig haben wir es auch. "Ich bin bereit", antwortete Reik, "es kann losgehen." ASTRAS Die Hallen der Vergangenen Aus der Tiefe der Finsternis schoben sich Angarias leuchtende Kugeln und wiesen den Weg. Reik und Kornreck folgten, nachdem Arcton sie freigegeben hatte, Sarschans glimmenden Augen. Sie mußten nicht gebückt laufen, und kein Blatt behinderte sie. Aufmerksam richteten sie sich nach den Lichtzeichen. Und wieder erschien zuerst das violette, kaum wahrnehmbare Licht, dann wurde der Raum um sie blau, grün, gelb und rot, und es reichte ein Schritt, da waren sie auf Astras. Die Sonne stand tief, ihr Licht, kraftlos rot, verlieh den Rändern der Gegenstände einen violetten Schimmer. Die gewaltige Säulenhalle, in der sich die drei Gefährten fanden, mochte Jahrhunderte alt sein, denn feine Risse in den marmornen Wänden und den fremdartig geformten Säulen ließen vermuten, daß dieses Gebäude nicht mehr bewohnt war. Die Luft stand still, nicht ein Windhauch, der um das Gestein strich. Reik blickte sich suchend um, schaute Kornreck an, wollte ihm vielleicht sagen, daß es hier kaum jemanden geben konnte, als er eine unerhörte Beobachtung machte. "Inula", sagte er und starrte die Zarppe an, "du bist kleiner geworden . . . Tatsächlich." "Egal", antwortete Kornreck mürrisch, "ob das ein Witz oder ein Kompliment sein soll, aber ich muß dir entgegnen, daß du schon einfallsreicher warst." "Sarschan", Reik wandte sich an den anderen Gefährten, "bitte sage du ihm, daß es stimmt. Er glaubt mir nicht." Er stockte in seiner Rede, blinzelte unruhig. "Du auch", flüsterte er betroffen, "du bist noch riesig, aber ein wenig kleiner und nicht mehr so massig . . ."
Wir sind also kleiner geworden, entgegnete Angaria, sieh mal an/ Warum nimmst du dich aus, Reik? Du bist gewachsen. Wir haben Evu-lon durchmessen und den Baum der zehn Zeiten passiert. Zeit ist für dich Reife und Wachstum. "Dann muß viel Zeit vergangen sein", Reik sah niemanden an, dachte angestrengt nach, "und ich meinte, daß wir erst einige Tage unterwegs waren . . . Ich werde dieses Zeitmaß nie lernen. Sechs Wochen war ich bei Vibriana und glaubte, es seien eine oder zwei Stunden gewesen. Und zu Hause, der andere, der da für mich lebt, der fragt sich vielleicht, während er mit Anja in der S-Bahn sitzt, warum es noch so 141 lange bis zu den nächsten Ferien dauert. . . Ob je ein Mensch begreifen kann, was das ist, die Zeit?" Angaria und Kornreck schwiegen und betrachteten wie Reik andächtig die Halle aus weißem Marmor. Dann aber sagte Kornreck unerwartet laut: "Nein, Sarschan, er ist nicht der Reise müde. Er macht dir auch keine Vorwurfe, aber das, was er fühlt, hat dir Gerstfeld nicht erzählt. Reik hat Heimweh. Nichts weiter. Es wird vorübergehen." "Es sieht aus", Reik deutete um sich, "wie in einem Museum. Wir haben auch so etwas . . ." "Wir wissen nicht einmal", sagte Kornreck, "was wir suchen." Sarschan antwortete nicht, aber er wandte sich dem Ausgang der Halle zu, und die beiden Freunde schlössen sich wortlos an. Sie mußten über eine geborstene, am Boden liegende Säule steigen, ehe sie die breite und flache Treppe erreichten. Die Treppe mündete auf eine rotviolett schimmernde Straße, die von ungezählten fensterlosen Gebäuden gesäumt war. In regelmäßigen Abständen erhoben sich Trennwände, leicht geneigt und spitz zulaufend, die gegen das ferne Ende der Straße einen immer dichter werdenden Zaun bildeten. Auch in die andere Richtung führte jene schnurgerade Straße, doch statt der fensterlosen Bauten standen hier zerfallende Tempel und Pagoden, einzelne Mauern und Pavillons, deren Wände, mit Achat verkleidet, das Licht der müden Sonne widerspiegelten. "Diese staubige Eleganz", murrte Kornreck, "läßt mir die Silberameisen des Nachtwaldes in einem freundlicheren Licht erscheinen. Und ich habe regelrecht Sehnsucht nach den Birüßlern." Die Straße war tatsächlich völlig unbelebt, und diese Leere vertiefte den Eindruck der Verlassenheit, einer Welt, die von ihren Bewohnern aufgegeben worden war. Wir werden Bewohner treffen, erklärte Angaria, sie nennen sich Astraden, und sie werden euch nicht so fremd sein wie die Trasts. Doch jetzt liegt ein Weg vor uns, der Geduld erfordert.
"Und wann oder wo endet diese Straße?" erkundigte sich Reik, der sich nach einem Wald sehnte oder auch nur nach einem Stück Wiesenland. Nie, antwortete Angaria, denn Astras Straßen sind nach mathematischen Modellen gebaut worden. Sie umspannen diese Welt, gehen auseinander hervor und fließen ineinander zurück. Alle dazwischenliegenden Flächen sind symmetrisch, bilden präzis bestimmbare Größen, die zueinander in einem stets wiederkehrenden Verhältnis stehen. Die Astraden verachten den rechten Winkel, ihr Ideal sind die Kugel, der Kreis und das Oval. Glorus, die mächtige Kugel in Heronia, ihrer Hauptstadt, ist nicht umsonst des Lebens Zentrum. Während Angaria über die Architektur der Astraden sprach, schrit142 ten sie auf der Straße entlang. Es ging sich überraschend leicht, denn das Material schien, obwohl es starr und fest war, jeder Bewegung entgegenzukommen, sie zu unterstützen. Die erste Gebäudekette, die sie erreichten, enttäuschte Reik und Kornreck, denn dieses Bauwerk, das aus der Ferne elegant und glänzend wirkte, war eigentlich nur eine Vorderfront, durch deren weit offene Tore man weitere Mauern sehen konnte, die gleichartige Torbögen aufwiesen. Niemand gab sich Mühe, zu zählen, wie viele Mauern hintereinander standen. Der Anblick ermüdete. Ein Bilderfries weckte Reiks Interesse. Darauf waren ungezählte Astraden, die an großäugige Menschen erinnerten, abgebildet. Der Hintergrund stellte Kampf-, Bade- und Handwerksszenen dar, während im Vordergrund sehr aufrecht stehende Astraden in langen Reihen zu sehen waren. Da jeder von ihnen eigene, unverwechselbare Gesichtszüge hatte, vermutete Reik, daß es sich um berühmte Astraden, vielleicht Wissenschaftler oder Politiker, handelte. "Es sieht aus", Reik versuchte seine Gedanken in Worte zu fassen, "als ob man hier mit Maschinen malt. Alle stehen in derselben Haltung . . ." Nein, berichtigte ihn Angaria, nicht Maschinen. Die Astraden haben eine letzte Vorstellung von Kunst. Es gibt, so behaupten sie, Millionen Sonnenuntergänge, Grashalme und Wellen im Meer. Also ist nicht das einzelne, die Katastrophe, die Besonderheit, ansehenswert, sondern alles, was sich wiederholt. Wir werden den Astraden in Heronia begegnen, und wir werden sehen, daß sich dieses Konzept auch in der Mode, ja in ihrer Körperlichkeit durchgesetzt hat. Sie ähneln einander verblüffend. Sie sind die lebende Wiederholung. Es ist nicht leicht, herauszufinden, ob man mit einem, mit dem man sich unterhält, schon einmal gesprochen hat oder nicht. Da sie sehr empfindsam sind, kann ein solcher Irrtum als herbe Beleidigung aufgefaßt werden. "Ich möchte mich irgendwo hinlegen und schlafen", erklärte Kornreck nachdrücklich, "denn die Sonne steht schon tief. Es muß Abend sein."
Die Sonne steht hier immer tiefer, erwiderte Angaria, sie erreicht weder den Horizont noch den Zenit. Aber Kornrecks Vorschlag ist akzeptabel. Machen wir eine Rast und gehen dann gestärkt weiter. Sie verließen die sie ermüdende Straße und steuerten auf den ersten Eingang zu. Der Raum hinter der Mauer wurde durch Querwände, die zur zweiten Mauer liefen, abgestützt. Wabenartige Muster durchbrachen das Mauerwerk. Die drei Gefährten hielten sich in dem ersten Lichthof nicht auf, erreichten bald einen zweiten, dritten und vierten. Überall waren die gleichen Bilder und Querwände, dieselben Muster. "Langeweile", rief Kornreck, "dein Name ist Astras." 143 Sie sind ein sehr altes Volk, Angaria versuchte Verständnis für die Astraden zu wecken, und besaßen einstmals eine hohe Kultur. Jetzt sehen sie sich als die Bewahrer dessen, was einst geschaffen worden ist. Sie sind dabei die Unterlegenen, wie ihr an den bröckelnden Wänden, den zerspringenden Säulen, den niedersinkenden Gebäuden leicht erkennt. Reik und Kornreck legten sich mit dem Rücken an eine Wand. Obwohl sie ermüdet waren, floh sie der Schlaf. Das gleichmäßig trübe Licht der Sonne, die so lebendig aussehenden Astraden auf den langgestreckten Bildtafeln, sie sorgten für eine unbestimmte, melancholische Stimmung. Reik setzte sich auf. "Woher wissen die Astraden eigentlich", er wandte sich fragend an Angaria, "daß es gerade Nacht ist?" Da Angaria ihm nicht antwortete, rutschte er zurück, starrte in den blaßblauen Himmel, gegen den sich die Mauern überdeutlich und fast fleischfarben ausnahmen. "Eine Kugel", murmelte er im Einschlafen, "die in einer Kugel ist, die in einer Kugel ist, die in . . ." Reik war eingeschlafen. Er lag auf dem Rücken, die geschlossenen Augen noch immer alif den Himmel gerichtet. "Warum schlafe ich nicht", regte sich Kornreck auf, "Reik legt sich hin und schläft. Und ich? Kannst du nicht etwas tun, Sarschan?" Angaria hob eine Hand, richtete zwei Finger auf Kornreck. Entspannt sank die Zarppe zurück, schloß die Augen und schlief ein. Als Reik erwachte, fuhr er auf. Die Astraden auf den Bildern schienen ihm lebendige Wesen. Es sah aus, als wären sie für einen Atemzug erstarrt und würden gleich wieder leben, Worte formen, die Augen öffnen. "Sie sehen lebendig aus", sagte Reik. Es gibt in diesen Hallen der Erinnerung, erklärte Angaria, die Stunde des Lebens. Bei einem bestimmten Sonnenstand kann der Betrachter seine Ahnen so in Augenschein nehmen, als wären sie bei ihm. Wahrscheinlich ist diese Stunde angebrochen. Wenn es dich interessiert, kann ich dir
auch sagen, daß man zum Bau dieser endlosen Museumsstraße dreizehntausend Jahre brauchte. "Eine unvorstellbare Zeit", Reik schüttelte den Kopf, erhob sich und berührte ehrfürchtig eine der Wände. Und es sieht aus, fuhr Angaria fort, als habe es dann einen Tag gegeben, an dem sie ihre Straßenbaumaschinen für immer abstellten, Pinsel und Palette aus der Hand legten, um sie nie wieder zu benutzen. Diese Straße war einst eine Kultstätte, später ein Ausflugsziel und ist nun ein vergessener Ort. Sieh, Reik, diese so lebendig aussehenden Abbildungen sind uralt. Sie entstanden, als die Astraden noch in sich selbst et144 was Geheimnisvolles vermuteten. Später gingen sie oberflächlicher mit sich um, sie vernachlässigten sich, bis sie mit den Farben des Todes die lebendigen Gesichter verunzierten. Auch auf den Bildern wirkten alle gleich müde, ausgelaugt, abgehärmt. Man überwand diesen Niedergang zwar, fand aber nie mehr zu der ursprünglichen Lebendigkeit zurück. "So ganz habe ich das nicht verstanden", ließ sich Reik vernehmen. "Wenn Angaria über Kunst spricht", meldete sich gähnend die erwachende Zarppe, "wirst du nie etwas verstehen. Was der alles vermischt, analysiert und verwebt, ist mehr, als wir vertragen. Ein Tee, etwas Konfitüre und ein gebratenes Hühnchen würden mir besser tun als einer von Sarschans Vorträgen über Kunst." Er erhob sich schwerfällig, schüttelte sich, putzte sich gründlich die Antennen. "Fertig", erklärte er danach, "ein paar Schritte kann ich wieder gehen, auch wenn es keinen Tee und keine Konfitüre gab." Reik, dem sich Kornreck anschloß, fand auf der Straße eine Beschäftigung, die lange Zeit die Langeweile vertrieb. Dieser jede Bewegung unterstützende Untergrund war bestens dazu geeignet, weite Sprünge auszuführen, sich einfach vorwärtsrollen zu lassen oder auch auf dem Hinterteil eine Schräge hinunterzugleiten. Man stieß sich nicht, wurde aber herumgewirbelt oder schwebte bei einem langen Sprung etliche Meter durch die Luft, bis man sanft und weich landete. Reik bewegte sich einmal hundert Meter radschlagend fort, ein andermal ließ er Dreisprung auf Dreisprung folgen, bis er außer Atem geraten war. Er wetteiferte mit Kornreck im Schlußsprung oder im Springen auf einem Bein, watschelte unglaublich lange Strecken im Entengang oder hüpfte wie ein Frosch mehr als fünf Meter vorwärts. Sie legten dabei Kilometer um Kilometer zurück. "Bist du traurig, Sarschan", fragte Reik, "daß du nicht mitmachen kannst?"
Ich freue mich an euren Sprüngen, an eurem Spaß, antwortete der Angesprochene, und denke, daß dies der Vorzug der Kurzlebigkeit ist: Sie kann sich die wildesten Bewegungen erlauben. "Von wegen Kurzlebigkeit", widersprach Kornreck, "mein Großvater ist sechstausend Megas alt geworden." "Wie viele Jahre sind das?" fragte Reik. "Achtundfünfzig irdische Doppeljahre", erklärte Kornreck, "wir rechnen aber in Megas." Er dachte kurz nach. "Und du, Angaria", wollte er dann wissen, "wie alt wirst du?" Den vierundvierzigsten Teil, gab der zur Antwort, einer galakti-schen Rotation. "Das ist viel, was?" Reik starrte den Gefährten mit offenem Mund an. 145 Für euch sehr viel, beendete Angaria mit Bestimmtheit dieses Gespräch. Reik und Kornreck sprangen zwar weiter, aber ihre Sprünge wurden immer kraftsparender. Nach zwei Wegstunden erreichten sie eine weiche, schräg geschnittene Kreuzung. Diese andere Straße kam über eine Hügelkette und mündete in Höhe der Museumsstraße in einen Tunnel. Es ist unsere Straße, sagte Angaria, sie führt direkt nach Heronia. "Aha", machte Reik nur, den die Aussicht, eine neue Straße entlangzugehen, nicht sonderlich begeisterte. Sie wandten sich von der Straße ab, durchschritten die Torbögen, ließen ungezählte Lichthöfe hinter sich und erreichten einen Hof, dessen Wände völlig glatt und ohne allen Zierat waren. In einem Mauerwinkel befand sich ein Durchlaß, der sich beim Näherkommen als überdachte Rutsche erwies. Stehend glitten die drei Gefährten auf die andere Straße. Von dieser Rutsche aus konnten sie die sie umgebende Landschaft für wehige Minuten in Augenschein nehmen. Das Land wirkte trostlos und irgendwie technisch gestaltet. Ein rotvioletter, algengleicher Teppich hüllte die Hügel und die dazwischen sichtbaren Streifen einer Ebene ein. "Sieht es überall so aus?" fragte Reik enttäuscht. Ja, antwortete Angaria, sie haben kaum etwas von dem einstigen Reichtum ihrer Natur bewahrt. Nicht ein Tier, nicht ein Baum aus den alten Zeiten existieren noch. Ein einzigartiges Straßensystem überzieht alle Kontinente, eine wunderbare Architektur prägt ihre Siedlungen, doch kein Wald, keine ungehemmt wachsende Wiese wirst du finden. Sie versuchen seit langer Zeit künstliches Leben zu schaffen. Es gibt stadtgroße Laboranlagen, die keine andere Aufgabe haben, als neues Leben entstehen zu lassen. Und doch vermögen ihre sinnvollsten Apparate nicht, die Millionen Jahre zu überspringen, die für eine neue
Evolution notwendig sind. Wohl haben sie lebende Einzeller, doch ihr anfänglicher Schwung ist weg. Manche Wissenschaftler sitzen stundenlang an den Mikroskopen und erfreuen sich der Mikroweiten, anstatt den Prozeß voranzutreiben. "Also nichts", schlußfolgerte Reik müde, "kein Vogel, kein Baum, kein Pilz und keine Beere . .. Ich weiß, daß uns die ASGEDANrunde den Weg durch Astras vorgeschrieben hat. Aber ich bitte dich um eins, Sarschan Angaria: Mache unseren Aufenthalt so kurz wie möglich." Ich werde deinen Wunsch respektieren, antwortete ihm Angaria. Als die Straße aus dem Tunnel auftauchte - sie trug die Reisenden in gemächlichem Tempo vorwärts -, konnte Reik einen ersten Blick auf das ferne Stadtbild werfen. Jenseits einer violetten Ebene, auf der Sau-146 len und Lichtstreifen fesselnde geometrische Muster bildeten, erhob sich Heronia. Reiks Blick wurde von einer Kugel eingefangen, die, auf zarten Stützen stehend, das Zentrum der Stadt gegen den Himmel abschirmte. Glorus, die mächtige Kugel, war in winzige Punkte unterteilt, die sich allerdings bei größerer Annäherung als Bienenwabenmuster herausstellten. Die Stadt selbst entsprach Angarias Beschreibung der Architektur. Reik konnte lange Zeit kein Auge von ihr lassen, sich nicht satt sehen an all der Pracht und Schönheit, die sich von Minute zu Minute deutlicher offenbarte. Stumm verharrte Reik und war vertieft in den ungewöhnlichen Anblick, den die tiefstehende Sonne nur noch unterstrich und unwirklicher machte. Die Straßenwoge, die sie immer schneller trug, gestattete es ihnen, sich alles mit der nötigen Ruhe anzusehen. Wir nähern uns Heronia, sagte Angaria, und wenn auch die Astraden gastfreundlich sind, so ist es für mich besser, unsichtbar zu werden. Meine Konturen könnten sie gar zu leicht aus der Fassung bringen. Nachdem er so gesprochen hatte, wurde er wieder durchsichtig, bis nichts anderes blieb als ein schwaches Zittern der Luft und ein einziges Kugelauge, das den Freunden sagte, wo.ihr Gefährte war. Sie kamen an anderen Kreuzungen vorbei, glitten einmal über Brük-ken dahin und verschwanden im nächsten Augenblick in der Tiefe. 147 Die Sonne machte ihnen zu schaffen, denn sie wurden ihre Müdigkeit nicht recht los. Dann näherten sie sich einer Erhöhung, auf der ein Sphäroid auf einem Rüssel stand. Hinter diesem Gebilde, das, weil auf ihm Bücher und Platten lagen, ein Tisch sein mußte, bewegte sich der erste Astrade, den sie sahen. Nur seine schweren Augenlider und die ganz schwach bläuliche Haut unterschieden ihn von einem Menschen. Die Bodenwelle, die die Gefährten beförderte, verebbte.
"Es gibt noch Museumsliebhaber", sagte der Astrade salbungsvoll und warf Reik einen bewundernden Blick zu. "In den Zeiten der Ahnen, verehrte Basels, gehörte es zur unumstößlichen Pflicht eines jeden, alle Doppeldekaden einmal zum Tempel der Antichier zu pilgern. Vorbei die Gesänge und die endlosen Züge, vorbei wie die Ära der Weißblüten und der Hornbesessenen." "Ich bin auf dem Weg zu Glorus", antwortete ihm Reik, "und ich komme aus dem Museum." "Hast du", ein wildes Glitzern erwachte in den Augen des Mannes, "ein Singetier gesehen? Es gab sie!" Leise begann Kornreck zu zarppen. Der Astrade geriet in Verzückung, starrte Kornreck an, als könne er nicht glauben, was er da vernahm. "So muß es geklungen haben", rief er begeistert, "nur so. Das ist das Jubilieren und Tremolieren der Gestrigen, so klangen ihre Glocken und Geigen. Ihr müßt zu Glorian dem Ellen. Zeigt ihm, sagt ihm, führt ihm vor, daß nicht alles verwehte." Die Straßenwelle hob sich, und Reik und Kornreck wurden vorwärtsgetragen. "Sarschan", Reik wandte sich an das eine Kugelauge, "was wollte er?" Sie hoffen immer noch darauf, antwortete Angaria, daß es irgendwo Tiere gibt. In ihren Archiven haben sie Beschreibungen vom Gesang der Vögel. Es ist ihre Sehnsucht. Bei der nächsten Gabelung trug sie die Bodenwelle über ein dämm-riges Zwischenstück auf eine Straßenwelle, die sich in neuer Richtung fortbewegte. Sie waren nun nicht mehr allein. Eine größere Anzahl von Astraden hatten dasselbe oder ein ähnliches Ziel wie sie. Reik starrte die ersten Astradenkinder so lange an, bis es ihnen, aber auch ihm peinlich wurde. Die kleinen Astraden glichen den Erwachsenen aufs Haar^ Sie hatten keinen größeren Kopf, keine runderen und wacheren Augen, keine Pausbäckchen, nichts. Sie waren verkleinerte Ausgaben der Erwachsenen. Und genau wie die Großen sahen sie sich in unregelmäßigen Abständen kurz in die Augen, nickten verstehend mit dem Kopf und seufzten leise. Dieses Seufzen wehte wie das Rascheln von Blättern durch den Tunnel, den sie jetzt durchmaßen. Reik verblüffte es außerordentlich, daß die Astraden weder ihn noch 148 Kornreck ansahen, obgleich sie beide völlig anders gekleidet waren als die Einheimischen. Und Kornreck, mußte er nicht in ihren Augen eines jener ausgestorbenen Tiere sein? Flüchtig nur hob einer den Kopf, nickte Reik zu und seufzte. Reik wollte es aus Höflichkeit ebenso tun, aber er konnte nicht seufzen, zu sehr erfüllte ihn all das Neue.
Sie näherten sich einem hellen Streifen: Das Tunneldach war ab hier gläsern. Helles gelbes Licht hüllte die Reisenden ein, erzeugte bei den Astraden ein sanftes Lächeln. Eine kleine Astradin zog einen Spiegel aus ihrem Umhang und hielt ihn so, daß sie Reik darin sehen konnte. "Warst du im Außendäm-mer?" fragte sie, und es dauerte einige Zeit, ehe Reik begriff, daß er gemeint war. "Auf der Straße der Vergessenen", antwortete ihr der Junge. "Was?" hauchte sie, ihre Lippen entfärbten sich und zitterten. "Was ist denn das? Straße der Vergessenen? Das sind wir! Er meint uns, meint die Ausgeworfenen, die Vergessenen!" Sie schloß die Augen, schwankte wie ein junger Baum im Sturm, und das Zittern ihrer Lippen wurde heftiger. "Er meint, verdammt noch einmal", sagte Kornreck gallig, "die Straße der Gestrigen. Man wird sich doch noch versprechen dürfen." Inzwischen murmelten alle, die es angehört hatten, immer wieder das Wort "Vergessene". "Du hast nun genug gezittert", sagte Reik und faßte das Mädchen bei der Schulter, "wir waren im Mu-se-um!" "Glorian, hilf!" jammerte die Kleine. "Er hat keinen Spiegel, keinen Spiegel! Infektionsgefahr! Deltaalarm! Ohne Spiegel auf der Straße der Vergessenen nach dem Höllensturz von Glorus in die aufspritzenden Trümmer Heronias!" x Reik und Kornreck sahen sich hilflos an, bewegten die Achseln und schnitten die gleiche Grimasse, die wohl sagen sollte: zwecklos, einfach sein lassen! "Wenn das Gastfreundschaft ist", flüsterte Kornreck in Angarias Richtung, "dann bin ich der Sabberlatz eines Birüßlers." Sie sind ein uraltes Volk, versuchte Sarschan eine Erklärung, die nicht sehr glaubwürdig klang. Sie haben vielleicht zuviel erlebt. Was ihnen blieb, sind leere Begriffe. "Sind die aufspritzenden Trümmer von Heronia", widersprach Kornreck lebhaft, "auch ein leerer Begriff?" Ich habe die Astraden, fuhr Angaria fort, anders erlebt, wahrhaftig. Ich war im Auftrag der ASGEDANrunde hier, und sie schienen mir freundlich, redlich und freimütig . . . Das ist tatsächlich anders geworden. 149 "Weißt du, was ich meine", Kornreck sprach jetzt lauter, es schien ihm einerlei, ob man zuhörte oder nicht, "ich finde bei ihnen nichts anderes als Sehnsucht nach Zerfall und Tod. Und so etwas ist nicht von allein da. Man muß das erst jemandem einreden ..."
Beim kommenden Ausstieg, unterbrach Angaria Kornrecks Erklärung, verlassen wir das Transportmittel. Eine gepolsterte Doppelstange empfing Reik und Inula, klappte mit ihnen aufwärts und entließ sie in eine sanft abfallende Grube, aus der eine Reihe kleiner gummiartiger Pilze hinausführte, die sich bis zu einem weiten Platz erstreckte. Die Gebäude rechts und links dieses imposanten Platzes beulten sich kugelig nach vorn, besaßen aber an den Seiten glatte Wände, so daß sie nahe aneinander heranrücken konnten. Zwischen den Gebäuden befand sich eine Unzahl von röhrenförmigen Brücken. In der Straßenmitte gab es konische Erhebungen, die schwerfällig rotierten. Ihren Sinn konnte man nicht erkennen. Auch hier waren die Gefährten die einzigen Lebewesen, die zu Fuß unterwegs waren. Der Platz befand sich im Schatten von Glorus, der von ungezählten tiefblauen Punkten umgeben war. Weiter hinter den seltsamen Gebäuden erhoben sich einzelne Säulen von gewaltigem Umfang, die hoch hinaufstrebten, dünner und dünner schienen und als zarte Fäden bei Glorus endeten. Die energetischen Stützen der Kugel, erklärte Angaria, als sie staunend eine dieser Säulen betrachteten. "Keine schöne Vorstellung", Reik deutete in die Luft, "daß dieses Ding herabsausen könnte... Und die Astraden sprechen davon, als müßte es so kommen." Jetzt haben sie es dir auch eingeredet, hallten Angarias Gedanken in Reiks Bewußtsein, obwohl sie eine Sicherung eingebaut haben. Bei einer Energiekatastrophe zünden mächtige Triebwerke und tragen Glortfs über das offene Meer . .. Angarias Gedanken brachen ab, Reik blickte sich um und sah einen kleinen Astraden, der, einen Doppelspiegel vor dem Gesicht, rückwärts auf sie zukam. Dabei lief er nicht ungeschickter oder langsamer, als wenn er vorwärts auf sie zugekommen wäre. Und während er Reik durch den Spiegel anstarrte, zitterten seine Lippen nicht anders als die der Astradin auf der Straßenwelle. "O Gäste", rief er schon von weitem aus, "geliebte Gäste, senkt eure Köpfe, denn Bioelektriker haben errechnet, daß Glorus, wenn man ihn auch nur anstarrt, eines Tages abstürzen wird. Auch ihr könnt das verhindern. Ist es zuviel verlangt, in einen dieser Spiegel zu schauen?" Nach diesen Worten ließ er den Spiegel sinken, breitete kurz die Arme aus und lief erleichtert davon, direkt auf einen der rotierenden Ko150
nusse zu. Der Kegel hob sich, gab einen Eingang frei, in den sich ihr Kritiker warf. Dann senkte er sich wieder, und den Freunden bot sich das nun schon vertraute Bild des leeren Platzes. Was haben sie ihnen da eingeredet? fragte Angaria verwundert. Es schont also die Dinge und die Astraden, wenn man in einen Spiegel schaut. Hinzu kommt dieses Lippenzittern - das alles haben wir bei unserem Besuch nicht katalogisiert. Es gibt Veränderungen. "Wann warst du auf Astras?" fragte Kornreck. Als Gloria die Elle, Kennummer zwei vierzehn, den Antrag gestellt hatte, Astras in die ASGEDANrunde aufzunehmen. Wir waren nicht abgeneigt, stellten drei erfüllbare Bedingungen, die ihr keine Schwierigkeiten zu machen schienen. Ja, und jetzt. . . Wurde man früher von jedem eingeladen, den man traf, so scheinen sie nunmehr Angst vor Fremden zu haben. Beide Begegnungen sind so grundverschieden, daß ich mit tiefgreifenden Neuerungen rechne. Selbst ihre Namen verschwiegen sie euch. Wir müssen herausbekommen, was geschehen ist. Wir werden die ASGEDANrunde informieren. Sie verließen, von Sarschan angeführt, den Platz, tauchten ein in das Labyrinth der Straßenwellen, die sie tiefer nach Heronia hineintrugen. Und während sich ihre bisherigen Erlebnisse mit Astraden und Astradinnen wiederholten, kamen sie in das Geschäftszentrum der Stadt. Auch hier waren die gepolsterten Stangen am Werk, die sie an die Oberfläche hoben. Und hatte sie vorher die Riesenhaftigkeit, der metallische Glanz und die Größe der Bauwerke beeindruckt, so schaute Reik nun mit staunendem Blick all die farbenprächtigen, an wild wachsende Korallenstöcke erinnernden Gebäude an. Ein Fest der leuchtenden Farben und der bizarren Formen feierte hier die Architektur. Da wuchsen wuchtige Quader in die Höhe, aus denen schlanke, ovale Türme sprossen, andere Bauten durchdrangen sich, schienen einander abzustützen. Goldene Brücken überzogen die Straßen, verbanden Dickes mit Schlankem, Hochwüchsiges mit Geducktem. Hinter der farbenprächtigen Kulisse der Bauten im Vordergrund standen, einen einzigartigen Kontrast bildend, elegante schwarze Bauwerke. Dort, sagte Angaria, jenes karmesinrote Gebäude, es ist unser Ziel. Eine öffentliche Herberge. Nimm das, Inula! Kurzzeitig verschwand Kornrecks Hand, und als sie wieder sichtbar war, lag in ihr ein kleiner, golden schimmernder Block mit unbekannten Mustern und Symbolen. Kornreck steckte ihn ein. Sie gingen schnell die Straße entlang, traten durch die ovale Tür ins Innere des bezeichneten Hauses, durchmaßen eine türkisgrüne Vorhalle und ließen sich in der Nähe eines milchglasigen Pilzes nieder. 151
"Hallo", rief Kornreck ungestüm, "ist hier jemand? Gäste sind angekommen." Nach etlichen Minuten erschien eine Astradin in dem Pilz. "Nein, nein", sie hob abwehrend die Hände, starrte in einen an der Innenwand angebrachten Spiegel, "so geht das nicht! Wenn es euch, verehrte Gäste, beliebt, dann steht schleunigst auf. Ihr zerknautscht meine Sitzerschläuche. Sie werden zerfallen. Man hat die Idealbelastung der Möbel wissenschaftlich errechnet. Ihr aber, liebste Gäste, ihr sitzt schief wie die Gavarren! Und merkt euch: In den Räumen keine hastige Bewegung, nur Stehen an den eingezeichneten Statopunkten, kein Tropfen Wasser nebenbei - wir alle wollen erhalten!" "Wir brauchen ein Zimmer", erklärte Kornreck unfreundlich, "und Essen. Frühstückmittagabendbrot!" "Unmöglich", wisperte die Astradin, "weder dürfen Töpfe, Pfannen und Kasserollen dem verheerenden Feuer noch Teller und Tassen euren säurestrotzenden Lippen ausgesetzt werden. Seht euch unsere Küche nur an: ein Hort der Schönheit. Ein wahres Küchenmuseum, doch wie sähe es aus, wenn man mit Messern, Feuer und Scheuersand darüber hinginge. Verzichtet... oder verlaßt mich." "Und wo kann man essen?" fragte Kornreck düster. "Im .Geselligen Grabstein', dessen Eigner ist Gasta Gresselsass", antwortete die Astradin, "die ich noch von einstens kenne. Vorzügliche Öffnungszeiten. Dort speisen auch die Mitglieder der Erhaltungskommission. Aber Besteck und Teller solltet ihr mitbringen." "Dann wohnen hier keine Gäste?" mischte sich Reik in das Gespräch ein. "Sehr wahr", erwiderte die Besitzerin, "vierhundert Zimmer je Etage stehen leer, damit alles so bewahrt wird, wie es gegenwärtig ist. Jede An des Spiels und der Zerstreuung war bei mir möglich. Und jetzt... gähnende Leere und angstmachende Stille. Gasta hat es sehr schlau eingefädelt. Sie mästet die von Glorian eingesetzten Erhalter, sie bietet ihnen Verdauungsspäße. Ihr Laden ist randvoll. Wer essen will, geht zu Gasta Gresselsass. Wer nachts Vergnügungen sucht: Gasta bietet sie. Und das alles unter den rotgeäderten Augen der verfetteten Bewahrer. Das ist Astras, werte Gäste, so wird es gemacht. Und schon ist man auf dem Weg zu Glorus und zu Glorian. Gastas macht das Rennen." Frag sie nach den zitternden Lippen, vernahm Reik Angarias Gedanken. "Ach ja", Reik wandte sich an die Besitzerin, "diese kleinen Astraden, ihnen zittern oft die Lippen ... Ist das eine Krankheit?" "Krankheit", wiederholte die Astradin verächtlich, "na ja, man könnte es sogar so nennen. Es ist eine Schande, denn sobald die Kleinen erst Quatter geworden sind, dann sollten sie in die Lernkabinette gehen. 152
So war das immer. Denn nur ein blühendes Wissen, die Fertigkeit, das Erfahrene denkerisch zu verwerten, und die Fähigkeit, es anzuwenden, schaffen Neues. Aber das ist vorbei. Irgendwoher beschaffen sie sich jetzt einen Goldfaden, um sich auf kürzestem Weg in eine der Kliniken zu begeben. Ein kleiner Eingriff, ein Dutzend Wirkstoffspritzen, und es wachsen ihnen die Timpten am ganzen Körper, gerade.so, als wären sie erwachsene Astraden und Astradinnen. Ja, und eigentlich sind sie nun keine Quarrer mehr. Schlimme Nachrichten, grauenhafte Schilderungen und Angstvorstellungen wecken dann nicht mehr den Willen, etwas dagegen zu tun, sondern rufen erotische Schauer hervor. Ein Anschwellen der Timpten. Lustgewinn statt einer Lösung des Problems. Das Grauen rüttelt sie nicht wach, sondern verschafft ihnen Befriedigung . . . Versteht ihr das?" "Ich verstehe es", entgegnete Kornreck, "aber ich billige es nicht. Man muß etwas dagegen tun." "Und was?" Die Frau in dem Pilz lachte angewidert. "Die Timpten wegätzen? Das geschieht schon oft genug, denn diese Pilzseuche scheint die einzig tatsächliche Schreckensmeldung zu sein. Soll man die Kliniken, in denen sich die Goldfäden anhäufen, sprengen? Unsere Quarrer anbinden? Niemand weiß, was man tun kann. Es ist eine Entwicklung, die erst dann endet, wenn es den letzten Astraden dahingerafft hat. Und hätte ich nur genügend Goldfäden, ich würde auf der Stelle Heronia verlassen . . ." "Wenn jeder so denkt", warf Reik ein, "braucht sich niemand zu wundern, daß nichts geschieht." "Ich habe die Karsolls weder erfunden", rief die Frau heftig, "noch eingeführt. Man kann viel damit beginnen." Wie unabsichtlich zog Kornreck den goldenen Block aus der Tasche, strich einmal darüber hin und steckte ihn wieder ein. Der Blick der Frau, jetzt brennend und gierig, folgte dem Block. "Ich will euch noch etwas sagen, weil ihr mir sympathisch seid", ihre Stimme klang heiser. "Im Trakt eins eins vier sind fast hundert Räume frei. Nicht von den Bewahrern gesperrt. Wie man das eben so macht. Dort könnt ihr wohnen. Und ausgiebig essen. Zwei Drittel der Räume sind belegt. Und kümmert euch nicht darum, wenn ihr anderen ba%eg-net, zum Beispiel Bewahrern. Es hat alles seine Richtigkeit, auch wenn niemand so richtig davon weiß." Sie verließ den Pilz, ging vor den Gefährten her, glitt mit ihnen über einen Außehfahrstuhl aufwärts. Von draußen hatten die Freunde gesehen, daß die oberste Etage weit vorragte, daß die Wohntrakts wie die Arme eines Seesterns vom Haus weg führten, und in ebendieser
Etage wurde gewohnt. Die Aussicht über die Stadt war einzigartig, und das sich anschließende Menü war mindestens ebensogut. 153 Gib ihr fünf der Plättchen, wies Angaria Kornreck an, sie hofft auf fünf, erwartet aber nur drei. Mit fünf ist alles beglichen. Nach dem Essen, das vier winzige, spindeldürre Astraden aufgetragen und dessen Reste sie wieder fortgeschafft hatten, erschien die Besitzerin erneut, verneigte sich und blieb neben der Tür stehen. Kornreck reichte ihr die fünf Plättchen, und sie riß sie förmlich an sich, küßte Kornreck auf eine Antenne und verschwand mit tausend Dankesworten. Angaria wurde sichtbar. Karsolls, sagte er, während seine Augen düsteres Licht abstrahlten, sie sammeln Karsolls und tauschen es in "feuriges Gold" um. Immer denkt sie daran. Es scheint, jeder will dieses feurige Gold haben, weil es der Weg nach Glorus ist... Alles ist völlig anders geworden. Immer wählten die Astraden ihre Gloria die Elle. Ich höre zum erstenmal, daß es einen Glorian den Ellen gibt. Und auch das ist neu, daß man feuriges Gold braucht, um diesen Posten zu bekommen. Sie entwickeln sich zurück. Wir werden die treibenden Kräfte dieser Rückentwicklung ausfindig machen müssen, ehe wir weiterziehen. Wir müssen die ASGEDANrunde über alles informieren. "Und die Hallen der Gestrigen zerfallen", fügte Reik an, "niemand, der sich mehr dafür interessiert." Sie waren so stolz, setzte Angaria seinen Bericht fort, auf den Ruhm, den Astras einst errang, und hielten ihre edle Gesinnung hoch. All das haben sie nun diesem leeren Lustgewinn, dieser Gier nach feurigem Gold geopfert. Was ist das für eine Welt, in der die erwachsene Generation Furcht vor der nachfolgenden hat? "Und die Erhalter oder Bewahrer", Reik stemmte die Arme in die Hüften, "sie sollten richtiger Zerstörer oder Verschleuderer heißen." Nach diesen Worten ließ er sich auf das bequeme Bett fallen, blickte träge und satt hinauf zu der wunderbar gestalteten Zimmerdecke, die mit vielerlei Motiven aus dem Leben der Astraden bemalt war. Man hat uns eingeladen, Glorus zu besuchen, übermittelte Sarschan, der neben einem der Fenster Aufstellung genommen hatte, seinen Gefährten. Wir wollen es noch heute tun, denn es eilt. "Deine Gedanken klingen besorgt", sagte Kornreck, "und deine Lichtleisifen flackern unruhig. Droht uns Gefahr, oder bekümmert es dich, was ^us Astras geworden ist?" Noch weiß ich es nicht, antwortete ihm Angaria. Im Augenblick benötige ich Zeit, um aus den Mosaiksteinchen der astradischen Begegnungen ein geschlossenes Bild zusammenzufügen.
154 Empfang bei Glorian dem Ellen Als sie der Fähre, die sie nach Glorus gebracht hatte, entstiegen, breitete sich der astradische Kontinent, rotviolett schimmernd und an ein wundersames Teppichmuster erinnernd, unter ihnen aus. Das gewaltige Lichtermeer der sechseckigen Waben, die die Oberfläche von Glorus bildeten, blendete Reik und Kornreck. Über der Fähre war ein halbkugeliges Glasdach ausgefahren, und kaum daß sie die Landeplattform betraten, als sich vor ihnen ein Durchlaß in einen Schlauch öffnete. Angaria erschien wieder in seiner sichtbaren Gestalt. Der Schlauch endete in einen kleinen Raum, der vielleicht eine Quarantänestation war. Schmucklos metallen und ohne allen Luxus breitete er sich vor den Gefährten aus. "Verehrte Gäste", drang eine Stimme zu ihnen herein, "ich heiße euch auf Glorus willkommen. Der Raum, in dem ihr nunmehr steht und den ihr sicher häßlich findet, war das Grundelement, um das herum Glorus errichtet wurde. Ein historisches Kabinett also. Mit ihm ist die Geschichte der Etana Glorus verbunden, jener Frau, die um das Leben ihres Kindes rang, bis beide vergingen. Ihr zu Ehren begann der Bau von Glorus." Die Stimme verstummte, die innere Wand des Zimmers schob sich auseinander, so daß sie vor sich einen kleinen, mit Pflanzen dicht bewachsenen Saal sahen. "Pflanzen", hauchte Kornreck, "seht euch das an: Hier gibt es Blumen, Sträucher und Farne..." Nachdem sie den Saal durchmessen hatten, wurde ihnen eine andere Tür geöffnet. Glorus war sehr einfach konzipiert. An der Außenwand lagen die Räume, in denen die Astraden wirkten, während die inneren zwei Drittel einen geschlossenen Raum bildeten. Und dieser mächtige Innenraum, das sahen die Gefährten, als sich vor ihnen die dritte Tür öffnete, war ein wunderbarer Garten, in dessen Mitte feine Wasserstrahlen in die Luft gesprüht wurden. Ein Garten, in dem es Wege und Plätze, Pavillons, Bühnen und Tanzflächen gab. Ein Astrade in einem feuerroten, mit goldenen Fäden durchwirkten Umhang kam ihnen entgegen. Er verbeugte sich knapp, lächelte scheel und machte eine einstudierte einladende Handbewegung. "Unser ganzes Volk", rief er pathetisch aus, "hat sich von seinem grünen Schmuck getrennt, um Glorus diesen Garten zu schenken. Ein Opfer, vor dem wir, die Herrschenden, uns noch immer verneigen. Aber wir werden geliebt und lieben unsere Untertanen wieder. Es war ein Opfer, doch
jetzt interessiert sich niemand mehr für Pflanzen. Unsere Astraden gewinnen nunmehr Lust aus sich selbst heraus. Sie ha155 ben ihre Körper entdeckt, und sie verachten nicht ohne Grund alle diese .Unkräuter', wie man das Grünzeug spaßhaft nennt." War auch alles an diesem Garten kunstvoll, so fehlte ihm doch ein einheitlicher Stil, so daß das Interesse der Gefährten rasch abnahm. Ihr Fremdenführer geleitete sie zu der Energieumwandlungsstation, in der sich Maschinen, Apparate und gläserne Pyramiden türmten, armdicke Leitungen wie Schlangen alles zu erdrücken schienen und aus kristallenen Kugeln dünne Lichterströme flössen, die auf einem gemaserten Parabolspiegel immer neue Muster ergaben. Die Erklärungen des Astraden klangen einstudiert und müde, so daß sie an Reik vorbeiflossen. Er sah auch nicht das unruhige Flackern auf Angarias Lichtleisten, spürte nicht die Stille des Freundes. Kornreck zeigte sich sehr interessiert. Immer wieder stellte erneue Fragen, wollte wissen, wann welches Teil ausgetauscht worden war, welche Lebensdauer bestimmte Aggregate hatten, stieß immer wieder einmal sein zweifelndes "na, na" aus, als glaubte er dem Astraden nicht. Schließlich gemahnte ihr Führer zum Aufbruch, und sie verließen den energetischen Trakt. Mit allergrößter Eile ging es durch den Sitzungssaal, die überfüllten Erfrischungsräume, in denen kein freier Platz zum Verweilen einlud. "Soll ich mit denen ein Streitgespräch beginnen?" fragte Kornreck, an Angaria gewandt, wobei er auf die plaudernden Astraden deutete. Laß es, erwiderte Sarschan, du änderst sie nicht, wie auch sie dich nicht überzeugen können. Was letzten Endes bleibt, ist ein Gefühl des Unbehagens. In ihren Augen sind wir Aufrührer, und in unseren Augen bleiben sie erstarrte, versteinerte Glorianer, die niemals etwas für das astradische Volk tun werden. Das aber bringt uns keinen Gewinn, und erst recht nicht den Astraden. Heb dir also deine Ansicht für den Moment auf, in dem ein tatsächlich Interessierter vor dir steht. Ihm kannst du Unterstützung und Halt sein. "Weißt du, was sie gemacht haben?" fragte Kornreck zornig. "Ich habe es genau gesehen. Sie haben mehr als vierhundert Stecklinge von dem in ihrem Garten stehenden Honigbaum abgerissen. Mehr als vierhundert kleine Bäume. Wollen wir wetten, daß die in Heronia sind? Ich behaupte, sie haben sie gegen feuriges Gold eingetauscht. Und das alles soll ich ihnen nicht sagen?" Angaria hob begütigend die Hand. Er trat an einen der Tische heran, ließ die dort Sitzenden in grellem blauem Licht erscheinen.
"Ihr", Angarias Worte klangen laut und hörbar durch den Raum, "die ich euch den anderen klar und deutlich zeige, ihr habt einen Fährenunfall geplant. Ihr wollt, daß wir, eure Gäste, zertrümmert auf dem Landefeld liegen. Aber ich warne euch, Glorianer: Es ist mir ein leichtes, Glorus mit allem, was in ihm ist, zum Absturz zu bringen. Wir 156 aber werden nicht zerschmettert. Eure bescheidenen technischen Mittel machen euch zu denen, die im Glashaus sitzen. Unterlaßt es besser, Steine zu schleudern." Schon nach den ersten Worten Angarias war eine unheimliche Stille über die Glorianer gekommen. Sie duckten sich entsetzt, blickten vor sich auf die Tischflächen, wagten nicht einmal die Augen zu heben. "Ihr werdet dafür sorgen", war noch ein letztes Mal Angarias Stimme zu vernehmen, "daß wir heil auf dem Kontinent niedergehen. Und ihr werdet mit niemandem über unsere Anwesenheit sprechen. Was in euren Köpfen ist, soll so lange dort verwahrt bleiben, bis wir fort sind. Vergeßt nie, daß ich euch durch alle Wände sehen und hören kann." Als sie bei Glorian dem Ellen eintraten, saß der, in einen grünen Um-hang gekleidet, auf der herrlichen Purpurkralle, die zum Symbol Hero-nias geworden war. Er kaute an einer Honigstange und blickte wehmütig den Gefährten entgegen. "Ich rieche", erklärte Kornreck, dessen Antennen sich lebhaft bewegten, "Honig wie von echten Bienen. Ich glaube, Sarschan, die Biochemiker sind weiter, als du dachtest." "Greift zu, meine Gäste", sagte Glorian und schob ihnen eine Schüssel entgegen, in der Stangen aus Honig lagen. "Er ist tatsächlich echt, wir haben diese nützlichen Tiere eingetauscht. Gegen goldene Helme und seidene Teppiche." In seinem Blick lagen Wehleidigkeit und Ahnungslosigkeit. Er richtete seine schlichtblauen Augen auf Reik. "Wie klug ihr seid", lobte er und rutschte nervös auf der Kralle hin und her, "schmeckt auf Entfernung Honig. Es mag euch seltsam erscheinen, aber manchmal träume ich von jenem wunderbaren Honigersatz, den es an Sonntagen bei meinen Eltern gab. Zusammen mit dem vorzüglichen Algongon. Ein einzigartiger Hochgenuß. Und dann las Vater Geschichten aus alter Zeit vor, als die Astraden, noch in Stahl gehüllt, um Jungfrauen rangen. Eine herrliche Zeit." Kornreck räumte die Schüssel aus, steckte alle Stangen in eine der Kombinationstaschen. "Und jener dort", Glorian rieb sich vergnügt die Hände, "ist wohl ein maschineller Diener von euch?" Ehe Reik antworten konnte, hörte er Sarschans Gedanken in sich, der ihm zuraunte, er solle Glorian bei dem Irrtum belassen.
"Natürlich", antwortete Reik also, "unser Diener." "Eine schaurige Fehlkonstruktion", fügte Kornreck kauend hinzu, "alles macht er falsch. Manchmal ist es lebensgefährlich, ihn zu bitten, Kaffee nachzugießen. Er kriegt es fertig und gießt dir den Kaffee, so heiß wie der ist, direkt in den Mund." 157 Reik lachte erheitert auf, und Glorian klatschte begeistert in die Hände, wackelte mit dem Kopf und verdrehte die Augen. "Kenne ich", Glorian kicherte, "kenne ich. Auch meine Diener erfüllen kaum mehr als zehn Prozent der Aufträge, die ich ihnen erteile. Und dann erklären sie mir 'unumwunden, daß dies der Fortschritt sei, die neue Zeit. Aber ich frage euch, wenn diese Ignoranz so neu ist, warum könnte eine strikte Auftragserfüllung nicht noch neuer sein? Wenden wir uns lieber erfreulicheren Dingen zu." "Ich denke an feuriges Gold", Kornreck lächelte versonnen, "er hat uns neulich eine ganze Ladung gebracht. Mit einem Fahrzeug. Ich rede natürlich immer noch von unserem Diener. Bringt es, ohne zu sagen, woher. Und denkst du, Freund Glorian, es hat sich einer gemeldet, der es vermißte? Das nicht." "Eine Fahrzeugladung voll?" fragte Glorian verzückt, und seine Augen schimmerten meerblau. Er rutschte auf der Kralle hin und her, schlang sich fester den grünen Umhang um den schlanken Leib, schob den Kopf weit vor. "Ist er verkäuflich?" "Wir haben es schon einigemal versucht", erzählte Kornreck, und sein Gesicht wurde von einer fernen Erinnerung scheinbar ebenso wehleidig wie das von Glorian, "aber sie bringen ihn uns stets zurück. Weil er so tobsüchtig ist. Was hat er nicht schon alles zerschlagen. Reden wir nicht darüber." "Natürlich wollte ich ihn nicht für mich", Glorian blickte zur Saaldecke hoch, "ach ja, meine Freunde. Das Tagewerk eines Ellen ist nicht einfach. Jetzt zum Beispiel muß ich im Garten zur Jagd ausrei-ten. Ich hoffe, ihr werdet nur beste Erinnerungen mitnehmen. Darf ich mich jetzt verabschieden?" "Ich habe nur eine letzte Frage", Reik wandte sich an den Monarchen, der sich schon erhoben hatte, "die Bedingungen der ASGEDAN-runde, wie sieht es damit aus?" Glorians Gesicht veränderte sich heftig. Die so sanft blickenden Augen wurden schmal und abweisend. Seine Hände, die vorher den Umhang weich gehalten hatten, krallten sich in den Stoff. "Was soll damit sein?" rief Glorian unwirsch, "natürlich werden wir die Bedingungen eines Tages erfüllen. Aber anders, als du es vielleicht denkst, denn es gibt viele Wege zur Wahrheit. Und wir müssen unseren
Weg gehen, weil wir sonst unsere Geschichte, unsere Kultur, unser ganzes Sein aufgeben. Schön, macht ihr nur das, was ihr für richtig haltet, aber wir wissen eins: Eines Tages wird jeder, der dem astradischen Volk angehört, soviel feuriges Gold sein eigen nennen, daß wir, auf diesem Reichtum aufbauend, ein glückliches Jahrtausend einläuten können. Bis dahin aber wird es neben allem Schönen und Guten auch noch die Unredlichkeit geben. Eine Übergangsphase, nicht mehr." 158 "Und wenn alle Astraden Millionäre sind", unterbrach Reik den volltönenden Redestrom des Ellen, "wer bäckt dann noch das Brot, das sie verzehren? Wer webt ihnen die Kleider?" "Ihr zieht fort?" fragte Glorian, und noch einmal veränderte sich sein Antlitz, wurde nun abweisend und hilflos zugleich. "Dann will ich euch die ganze Wahrheit sagen, Gäste. Es gehen Dinge vor sich, die mich des Schlafes berauben. Ich weiß nicht, was in den Hallen und Labors der Biochemiker tatsächlich entsteht. Ich habe keine Ahnung, warum die Astraden alles dafür hergeben, um in armselige, lustgierige Geschöpfe verwandelt zu werden. Und ich bin zutiefst besorgt, weil Amron, der weise Ratgeber Amron, schweigt. Nichts mehr läßt er mir zukommen, nicht Kritik und nicht wohlmeinenden Rat. Die Techniker des Silärob sind seit Wochen nicht mehr auf Glorus gewesen, um die notwendigen Wartungsarbeiten vorzunehmen. Selbst Grandios Maxon, der Weise im Turm der Teilchen, schweigt. Stille umgibt mich, eine furchtbare, erdrückende Stille. Ich fürchte, daß mein Volk erlischt, fürchte, daß Glorus tatsächlich niederstürzen wird auf Heronia und dieses Kleinod der Architektur zertrümmert. Ich habe Unruhe im Herzen. Es sind die Plättchen, und es ist das feurige Gold, die ihre Köpfe ausfüllen, ihre einstige Weitsicht ersticken. Das ist die volle Wahrheit. Und nun, Männer der ASGEDANrunde, Regenbach, Kornreck und verehrter Angaria, lebt wohl. Verlaßt auf schnellstem Wege Astras, wendet euch ab von uns und wartet, bis wir dereinst auf euch zukommen werden." Mit einer unglaublich raschen Bewegung raffte der Monarch seinen Umhang, sprang von der Kralle und lief an Kornreck vorbei zu einer Tür, die er aufstieß. Aber ehe er hinauslief, wandte er sich noch einmal um. "Eure Namen sind im ewigen Gästebuch von Astras vornotiert", gab er eine Erklärung ab. Doch anstatt den Kopf in den Gang zu ziehen und endgültig zu gehen, machte er einen Schritt in den Saal zurück. "Ich habe da eine schwindelerregende Idee", sagte er und starrte Kornreck mit leicht geöffnetem Mund sekundenlang an, "eine vielleicht auch dumme Eingebung, die euch gefährdet. Wie wäre es, wenn ich euch Sonderpassierkristalle ausstellen würde, und ihr bringt in Erfahrung,
warum der Weise und der Ratgeber schweigen, was die Biochemiker so heimlich zu tun haben . . . Würdet ihr. . .?" "Selbstverständlich", antwortete Kornreck augenblicklich. "Kanzler", rief Glorian, und ein alter, gebeugt gehender Astrade trat vor seinen Herrn, wobei er sich verneigte. Glorian erklärte, daß er drei Sonderkristalle brauche, die auf die Gefährten zutreffen sollten. Natürlich gab es Schwierigkeiten. "Unsere Anlagen", jammerte der Kanzler und blickte mit seinen trü159 ben Augen auf die leere Honigstangenschüssel, "sind seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Völlig verrostet. Das Öl ist vertrocknet, Metall hat sich in Metall gefressen. Und da jeder unnötige Ballast von Glorus entfernt ist, des Gewichts wegen, hat man vor zwei Monaten die Apparate abgebaut und hinabgeschafft." "Aus den Augen!" kommandierte Glorian. Nachdem der Kanzler den Raum verlassen hatte, waren plötzlich Angarias Gedanken zu vernehmen: Hier sind drei Kristalle. Ausgestellt auf uns. Es bedarf nur noch Ihrer Handstruktur rundum, dann sind sie gültig. Glorian betrachtete Sarschan voll Bewunderung, nahm nacheinander die Kristallkugeln in die Hand und hielt sie einige Sekunden unbeweglich. "Ich werde euch noch die Gegensprechanlagen bringen lassen", erklärte er und wollte erneut seinen Kanzler rufen. "Sparen Sie es sich", sagte Kornreck gewichtig, "es gibt keine hier in der Kugel. Wegen der verringerten Masse. Und wenn es sie gäbe, würden sie nicht funktionieren . . . Verstehen Sie nicht, daß irgendwo jemand ist, der Sie hintergeht?" "Mich?" Glorian legte die letzte Kugel auf einen samtbespannten kleinen Tisch, ging auf und ab. "Mich haben sie zu einem Hampelmann gemacht? Glorian den Ellen, der die Phalanx der Frauen durchbrach?" Er lehnte seinen Kopf an eine Wand und atmete schwer. "Nun ja", ließ sich da Reik vernehmen, "eigentlich ist doch das alles klar. Hier auf Glorus lebt man wie im Paradies, während die Astraden in Heronia entweder nur diesen faden Algenbrei essen oder durch nette kleine Betrügereien zu bescheidenem Wohlstand gelangen. Und nun ist da einer gekommen, der so schlau war, mit den Glorianern nichts anderes zu machen als die mit den Astraden." Glorian fuhr herum, starrte Reik mit so entsetztem Gesicht an, daß der ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. "Ein Winzling", schrie Glorian, "ein Quatter, und er ... belehrt mich! Nennt mich einen Betrüger. . . Timpten sind besser als Meinungen, warum schaffst du sie dir nicht an?. . . Verzeiht, ihr Herren, aber ich bin außer
mir... Es ist gleich vorüber. - Gut denn, zieht los, schaut euch um, erkundigt euch." Er verließ nun endgültig den Thronsaal, und die drei Gefährten schritten durch die Tür, durch die sie Eingang gefunden hatten. "Das muß man gehört haben", Reik ließ sich in das weiche Polster der Fähre fallen, während das Gurtwerk einrastete, "da tut dieser Elle so, als wisse er überhaupt nichts. Und dann - ein richtiger Clown ist das. Macht mit dem ernstesten Gesicht Witze." "Er hat sich verstellt", warf Kornreck ein, blickte aus der gläsernen 160 Kanzel der Fähre und wartete auf das Startzeichen, "dachte sicher, daß wir alles hinnehmen, nichts begreifen und wieder verschwinden." "Wie paßt das mit seiner Angst zusammen", fuhr ihn Reik an, "er schläft schlecht.. . Und als er das sagte, sah er glaubwürdig aus." Das Startzeichen flammte auf, und sie hoben ab von Glorus, nahmen Kurs auf den Fährenhafen der Stadt. Eine heftige Bö packte das kleine Fahrzeug, legte es ein wenig auf die Seite; aber die Fähre kam Sekunden später wieder in die Ruhelage. "Ein bißchen windig hier oben", bemerkte Reik und blickte hinunter, wo sich winzig die Stadt ausdehnte. "Windstille", erwiderte Kornreck und deutete auf eine Anzeige. "Was war das dann, Sarschan?" Er wandte den Kopf, und Reik folgte seinem Beispiel. Angaria, der weiter hinten stand, hatte die Arme seitlich erhoben, und wilde Lichterketten lösten auf seinen Leisten einander ab. "Sarschan!" rief Kornreck und wollte aufstehen, aber das Gurtwerk hielt ihn wie eine Fessel. "Sie versuchen es wohl doch?" Sie nicht, antwortete mühsam Angaria, andere, die sich auf Astras befinden. Und sie setzen alles ein, was ihnen an Energie zur Verfügung steht. Ganz langsam hob sich die Schnauze der Fähre, zeigte höher und höher hinauf in den Himmel. 161 Sie wollen, daß wir abschmieren, Angaria sendete ungeheuer starke Impulse. Wie ein verwundeter Vogel taumelte das Luftfahrzeug, immer noch die Schnauze zu hoch in die Luft gereckt. Glorus tauchte vor den Fenstern auf, war aber zu weit weg, um als rettendes Ufer in Frage zu kommen. Er bewegte sich über das Glas hinweg und verschwand auf der anderen Seite. Endlich, Reik und Kornreck saßen atemlos in ihren Sitzen, tauchte ein erster Turm vor ihnen auf.
"Die Fähre liegt fast richtig", wisperte Kornreck und klammerte sich mit seinen vier Händen an den Griff. Wir schaffen es, hörten sie Angarias zerreißende Gedanken, wir .. . müssen ... es ... Der Horizont war wieder waagerecht. Sie sahen auch schon den Flughafen. In dem Moment kippte die Fähre nach hinten weg. Kornreck begriff: Ihre Feinde setzten alles auf eine Karte. Angaria reagierte schnell, er ließ die Fähre eine Volldrehung machen und gab ihr einen Vorausimpuls. Da stieß das Fahrzeug steil nach unten, gewann an Geschwindigkeit, schien sich in den Boden bohren zu wollen. "Sarschan!" schrie Kornreck entsetzt. Vielleicht gelingt es, antwortete der kaum verständlich, die Impulse kommen aus anderer Richtung . . ., weit weg .. ., in Bodennähe im Rasterschatten. Vielleicht Rettung ... Kornreck faßte mit seinen beiden linken Händen Reiks Rechte. Er hielt sie fest und murmelte kaum verständliche Worte in einer fremden Sprache vor sich hin. Sie sahen die einzelnen Landebahnen, sahen dia ausgefahrenen Löschvorrichtungen und auch Astraden, die fluchtartig das Feld verließen. Heulend näherte sich die Fähre, kaum hundert Meter über dem Boden wurde der Sturz zu einem rasenden Gleitflug. Wie eine Sturmmöwe glitt die Fähre dahin, beschrieb, ohne an Höhe zu gewinnen, einen weiten Kreis. Sie näherte sich das zweitemal der Landebahn, ging jetzt endgültig herunter und setzte lautlos auf der Piste auf. Steigt aus! vernahmen sie Angarias Befehl. Weder Reik noch Kornreck drehten sich um. Sie hatten an dem Keuchen gehört, daß ihr Freund bis an die Grenzen seiner Leistung belastet gewesen war. Die Tür glitt in die Wand, und das Gurtzeug löste sich. Reik kletterte mit zitternden Knien nach draußen, setzte sich auf die Piste und blickte Kornreck entgegen. "Mann, war das knapp", sagte er, als der Gefährte, genauso benommen wie er selbst, die Treppe überwand. "Und wir haben vorhin noch über ihre Technik gelächelt", erklärte 162 Kornreck, "die haben da einiges in ihren Verstecken, was sich bestimmt sehen lassen kann." "Wir werden unerhört vorsichtig sein müssen", gemahnte Reik, "wenn wir den Biochemikern unsere Aufwartung machen." Er erhob sich wieder, rieb sich die Knie und ging, als wollte er sich von dem Gehorsam all seiner Muskeln überzeugen, einmal im Kreis herum. Aus der Fähre drangen eigenartige Laute.
Reik schaute zu, wie die gesamte Feuerlöschanlage im Boden versank, wie der normale Fährenverkehr wieder eröffnet wurde und ungezählte Astraden über die Rollfelder hasteten. "Nun", erklang es aus der Höhe der Fährentür, "wie ich sehe, sind die Herren wieder gut erholt. Das ist schön." Ahnungsvoll drehte sich Reik um und - blickte Gerstfeld ins Gesicht. "Gerstfeld!" schrie er, hastete die Treppe hinauf und warf sich dem großen Mann in die Arme. "Daß du wieder da bist!" Sanft drückte der den Jungen an sich, hob ihn hoch und stieg mit ihm, als sei er gewichtslos, hinab auf das Rollfeld. "Ach ja", sagte er mit rauher, ein wenig heiserer Stimme, "das ist es ... Auf Astras ist es gefährlich, als Angaria herumzulaufen. Es ist mehr geschehen, als daß sie sich Timpten annähen lassen und alles nur noch bewahren wollen. Es ist ungleich mehr geschehen. Wir nutzen die humanoide Gestalt der Astraden, um das, was wir vorhaben, möglichst ungestört zu erledigen. Zuerst werden wir Grandios Maxon aufsuchen. Wissen wir den Grund seines Schweigens, werden wir zu den Mechanikern des Silärob fahren und sie an ihre Pflichten erinnern. Natürlich immer im Namen Glo-rians. Unser nächster Weg führt uns zu Amron - ich fürchte, daß es eine heikle Mission wird." Dabei seufzte er und sah Reik seltsam durchdringend an. "Bleibt uns dann noch Zeit", wieder traf Reik ein langer Blick, "dann werden wir auf Schleichpfaden zu den Biochemikern vordringen. Nehmt schon mal Abschied von unserem Hotelzimmer." Er setzte Reik ab, und sie huschten an anderen eiligen Fährengästen vorbei zum Ausgang. Zusammen mit einer trägen Touristengruppe betraten sie eine Tunnelstraße und ließen sich vom Fährenhafen fortschaffen. Schweigend verstrichen einige Minuten, bis Kornreck fragte: "Was war das, Gerstfeld?" "Starke Impulse", antwortete der leise, "aber mir war die ganze Zeit so, als kämen sie von weit her. Deshalb mein Versuch, in Bodennähe zu gelangen. Radarschatten ist euch ein Begriff. Genauso gibt es Impulsschatten. Die Impulse wirken nicht überall." "Alles klar", erwiderte Kornreck, "das verstehe ich." Je weiter sie sich von der Stadt entfernten, desto langsamer bewegte 163 sich die Welle. Schließlich endete der Tunnel, und sie glitten über das rotviolette Land, welches sich sanft hügelig vor ihnen ausdehnte. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, ihr Licht war gelborange. "Er wohnt im Teilchenturm", erinnerte sich Reik, "ist das der Turm da vorn?" Im Fieber des feurigen Goldes
Dreigeteilt bot sich ihnen das Bauwerk dar. Zuerst tauchte hinter den Hügelspitzen die halbrunde, moscheenartige Kuppel des Turmes auf. Reik hatte sie entdeckt und starrte sie unentwegt an. Nach dem Turmkopf erschien ein langer Hals, und schließlich folgte als Bodensegment das bauchige, ungefähr fünfzig Meter hohe Basisteil, in dem sich fünf Fensterreihen übereinander befanden. "Möchtest du ein Weiser sein?" fragte Kornreck spöttisch. "Würdest du zu einem Weisen gehen", antwortete Reik mit einer Gegenfrage, "wenn du ein Problem hättest?" Sie lachten beide, und auch Gerstfeld lächelte. "Sehr richtig", er schloß sich der Meinung seiner Gefährten an, "so ein Weiser lebt kein eigenes Leben. Und er sieht niemand anderen als solche, die guten Rat brauchen. Das ist nicht viel." Als sie näher heran waren, sahen sie zwei Dächer, die dem Basiselement entsprangen und bis zur Stoppleiste der Straße führten. "Wir sind die einzigen", stellte Reik verblüfft fest, "ich denke, der war so weise, daß sie scharengleich zu ihm kamen?" "Ja...", erwiderte Gerstfeld, ohne recht hingehört zu haben, "mit wem mag er getauscht haben? Honigbienen gegen Goldhelme und Seidenteppiche ... Doch wohl nicht mit einem Biochemiker." Vielleicht mit "Zarppen", rief Kornreck und wackelte mit den Antennen. "Unsinn", erklärte Gerstfeld, "während Astras die Bedingungen der Aufnahme erfüllt, ist für alle Mitglieder der ASGEDANrunde der Zeitenbaum gesperrt. Wer kennt einen Weg hierher... Bienen gegen Goldhelme." "Wie sieht es denn da aus?" rief Reik bestürzt und deutete auf den Doppeleingang, der nun, da sie die Stoppleiste erreicht und bestiegen hatten, volle Einsicht in den Turm gestattete. Papierreste, Unrat und Staub waren vom Wind herangetragen worden und bildeten eine dicke Kruste rund um den Turm, füllten den vorderen Teil seines Inneren. Eine der großen Eingangstüren lag zertrümmert neben dem Portal. Auch hier hatte sich Staub angesammelt, der das Glas in das trostlose Grau bettete. 164 Noch waren die letzten Symbole des geschmackvoll eingerichteten Inneren nicht geborsten, noch gab es farbige Trennwände, sanft ansteigende Brücken und marmorne Standbilder, doch der Staub begann das Gleichmaß zuzudecken, Papier- und Glasreste verunzierten die einstige Schönheit, und die ersten violetten Algen siedelten auf Brücken und Sockeln, zwischen Wänden und auf der Treppe. Im Eingang stehend, erblickten die Gefährten Spuren einer anderen Kraft, die hier getobt hatte: Zentnerschwere Bilder waren von den
Wänden geschleudert worden und lagen geborsten herum, eine mächtige Steinbüste war aus der Höhe des Turmes heruntergestürzt und hatte, dabei selbst in tausend Teile zerspringend, den Boden durchschlagen. Gerstfeld trat als erster ein. Nur zögernd folgte Reik, Kornreck postierte sich am Eingang. "Es waren viele hier", sagte Gerstfeld dumpf, der seine Brille abgenommen hatte und mit starren Augen alles betrachtete, "sehr viele. Und sie haben geschrien und gebrüllt, während sie das hier verwüstet haben. Noch immer hängen ihre Schreie in den Wänden." Ein feiner Wind strich gleichmäßig um den Turm und erzeugte einen hohlen, klagenden Ton, der Unbehagen in Reik erweckte. Hoch über ihnen, ohne erkennbare Aufhängung, bewegten sich eine Reihe verschiedenartiger Kugeln, die feine silbrige Spuren hinter sich herzogen. Die Bewegungen der einzelnen Teile waren schnell und unregelmäßig. Manchmal stockte die gesamte Maschinerie, im nächsten Augenblick bewegte sie sich wieder. Reik betrachtete eine Zeitlang das sonderbare Gebilde, dessen Sinn ihm verborgen blieb, schaute dann erneut in die Runde, und ihm erschien alles nur noch deprimierender. Dort oben bewegte sich ein kleines Wunderwerk, und am Boden der Staub, die Scherben und Splitter, die fürchterliche Verwahrlosung. "Was haben sie geschrien?" fragte Reik leise. "Sie haben den Haß", antwortete Gerstfeld, und diesmal drang Trauer aus seinen Worten, "den sie gegen sich selbst empfanden, auf alles übertragen, was sie hier fanden." Sie durchquerten den nicht ganz so schmutzigen Teil des Turmes und kamen zu der Wendeltreppe, die den Basisbau umrundete. Die untersten zehn Stufen waren herausgeschlagen, lagen ein wenig abseits inmitten eines Scherbenhaufens. Gerstfeld kletterte das Geländer entlang, stand schließlich auf der ersten betretbaren Treppenstufe und winkte Reik, ihm zu folgen. Der warf noch einen sehnsüchtigen Blick zum Eingang, wo Kornreck noch immer Posten bezogen hatte, und folgte dann Gerstfeld. Sie erreichten mühelos einen Absatz, von dem aus sie den gesamten Basissaal überse165 hen konnten. Jenseits dieses Absatzes hatte jemand das Geländer abgerissen und fortgeschleppt, denn es lag nicht im Saal. Es war nicht ungefährlich, über die mit allerlei Unrat bedeckte Treppe in die oberen Etagen zu gelangen, zumal ein Blick zur linken Seite den zusehends tiefer werdenden Abgrund zeigte. Vom zweiten Absatz an hielt Reik die Rechte an das glatte, spiegelnde Mauerwerk, so als müsse
er sich ununterbrochen davon überzeugen, daß er stets gleichen Abstand zur Tiefe wahrte. Sie erreichten das erste Fenster, Reik blinzelte, als das Sonnenlicht seine Augen traf, dann meinte er plötzlich eine zweite, auch rote Sonnenkugel am Himmel zu sehen. Im nächsten Augenblick hing diese Kugel, die sich als vierarmiges Tier entpuppte, kreischend an Reik und versuchte den Entsetzten vom Fenster abzudrängen. Reik glitt aus und stürzte rutschend dem Abgrund entgegen, als Gerstfeld ihn mit einer Hand packte, während er mit der anderen das Tier von ihm löste und im hohen Bogen in die Leere warf. Geschickt segelte das fußballgroße Wesen hinunter, landete weich und preschte auf den Ausgang zu. Dort prallte es gegen Kornreck, umklammerte ihn, und die beiden rollten kämpfend über Geröll und Schutt, durch Staub und Unrat. Ein hechelnder, klagender Laut durchzuckte die Halle, und als Gerstfeld, der den zitternden Reik an sich drückte, hinabsah, erblickte er Kornreck, der als Sieger die Hand hob. "Eine Glasscherbe", rief er hinauf, "hat ihm den Garaus gemacht. Sagt mir aber lieber gleich, ob ihr noch mehr davon auf Lager habt." "Es war nicht zu orten", erwiderte Gerstfeld, "denn zwischen ihm und uns befand sich die dicke Turmmauer. .. Ratlos war dieses Wesen." Das letzte hatte er so leise gesagt, daß nur Reik es hörte. "Wieso ratlos?" fragte der Junge, der sich nur langsam beruhigte. "Ich denke", erklärte Gerstfeld, "es sollte lautlos angreifen. In ihm existierte unser Bild. Drei Personen. Es erblickte aber nur zwei. Deshalb sein hilfloses Kreischen, sein kurzzeitiges Zögern. Für mich steht damit fest, daß es einen von euch hinabstürzen sollte, denn es griff den Kleineren von uns beiden an. Man will nicht, daß wir uns informieren." "Stecken die Astraden dahinter", fragte Reik zornbebend, "die so scheu sind, daß sie sich anderen nur mit einem Spiegel nähern?" "Wenn das ein Tier ist, Reik", Gerstfeld deutete in die Tiefe, "und es sieht tatsächlich nicht wie eine Maschine aus, dann stammt es nicht von Astras. Möglich, daß die Astraden nicht einmal wissen, welche Kraft in dem Steinernen Kopf steckt." Reik machte eine abfällige Bewegung. "Er hat mich nicht gegen das Raubtier auf dem Vulkan verteidigt", sagte er, "Tiere scheinen ihm 166 gleichgültig zu sein. Wer das weiß, kann mich immer und überall angreifen lassen." ,Ja", Gerstfeld wiegte den Kopf, "das wäre eine gefährliche Möglichkeit." Nach diesen Worten setzten sie den Aufstieg fort. Reik ging vor Gerstfeld her, sich immer wieder umblickend. Sie erreichten den Hals
des Turmes. Ein langer Gang führte von der Wendeltreppe fort. Sie betraten ihn und konnten zwei halboffene Türen sehen. Aus der einen drang grünlicher Lichtschimmer, während der andere Raum den Anblick völliger Verwüstung bot. Aber auch im Gang hatte sich jene zerstörerische Kraft ausgetobt: Gestürzte, marmorne Astraden lagen neben zertrümmerten Symbolen aus Kristall. Zerfetzte Bilder vermischten sich mit verbogenen Drahtkonstruktionen. Schriftrollen und Folianten, Bücher in goldenen, schwarzen oder silbernen Einbänden türmten sich, zerfetzt und teilweise angesengt, übereinander. Geborstene Flaschen und zerschlagene, mehrfarbige Kästchen vervollständigten den Eindruck des Infernos. Die Weisheit ist die Quelle des Verbrechens, hatte einer mit schwarzer Farbe an die Wand gepinselt. Nicht weit davon hing ein farbiges Poster, auf dem lebensgroß eine kniende Astradin abgebildet war, die ein nichtssagendes Gesicht, himmelblaue Augen, einen goldenen vollippigen Mund und gelbe Haare besaß. Die eine Hälfte dieser Haare war von goldenen Fäden umwoben, so daß es aussah, als wüchse ihr das Gold direkt aus der Haut, während die andere Hälfte von natürlichem Haar gebildet wurde. Zwei goldene Zöpfe lagen schwer auf ihrer Schulter. "Feuriges Gold", Gerstfeld tippte auf einen der beiden Zöpfe, "und dafür sind sie bereit, alles herzugeben." "Warum?" fragte Reik. "Ich werde das nie verstehen." Der Junge machte einen Schritt zurück, stieß gegen ein Glasgefäß, das umstürzte und klirrend auf der steinernen Stirn eines zertrümmerten Astraden zerbarst. "Bist du es, Amenii?" hörten sie die bange Frage eines offensichtlich Schwerkranken. Die Worte drangen aus der angelehnten Tür, hinter der es grünlich flackerte. Gerstfeld ging so an der Wand entlang, daß sein Körper Reik deckte. Er ging geradewegs auf den Türspalt zu, schob alle Hindernisse zur Seite und trat, dichtauf von Reik gefolgt, ein. Im grünen Licht der selbstleuchtenden Wände bot sich ihnen ein fremdartiger Anblick. Der vordere Teil des Raumes beherbergte drei Reihen niedriger Gestelle, die nur den Zweck haben konnten, einen knienden Astraden zu stützen. Zwei Meter vor der vorderen Gestellreihe erhob sich eine meterhohe Glasbarriere, die den Raum in zwei ungleiche Teile trennte. Hinter der Absperrung häuften sich in wildem 167 Durcheinander Bücher und Schriftrollen, Essensreste und Konservendosen, die allesamt Spuren von Gewalteinwirkung zeigten. Inmitten dieser widerwärtigen Unordnung aber erhob sich ein auf einer rüsselartigen Stütze stehender Sessel, dessen oberer Abschluß aus einer Reihe lackglänzender hölzerner Hände bestand. Auf der Sitzfläche
hockte, klein und zusammengesunken, ein abgezehrter Astrade, während sich über dem Sessel ein kunstvolles und in allen Farben des Re-genbogens glänzendes Kugelmodell befand, welches genau wie das im Eingangssaal unermüdlich seine Kreise zog. Der Astrade saß vornübergebeugt, in einen schmutzigen, vordem lichtblauen Umhang gehüllt. Ein Symbol, zusammengesetzt aus vier stilisierten Händen, die einen Kreis um ein Kind bildeten, zierte die Vorderseite des Kleidungsstückes. Ungewöhnlich an dem Alten war, daß er einen langen, schlohweißen Bart trug, der auf seinen Knien endete. Die Haare hingen ihm ungepflegt und wirr in die Stirn. Fingernägel, Hände und Gesicht hatten schon lange weder Seife noch Wasser erlebt. Zeitlupenhaft hob er seinen Kopf, starrte Reik mit seinen rotgeäderten Augen an, während seine Hände ziellos hin und her glitten. "Grandios Maxon", Gerstfelds Worte zerschnitten die Stille des Raumes, "du bist der, den sie einst den Weisen nannten. Ich aber sehe einen ausgemergelten, ungepflegten Alten vor mir, der sich selbst zur Schande gereicht." "Ah", machte der Angesprochene und leckte sich die Lippen, "aha, soso ... Alles Unsinn! Bin ich weiser, wenn ich mich wasche? Also, Freunde, dann packt mal das Gold aus. Ihr kennt den Preis. Erst Gold und dann die Fragen. Kriegen wir alles wieder hin. Ihr könnt in dreißig Tagen Zentnergoldner werden, wenn ihr Maxon vertraut." "Wir haben nur ein Problem", hob Gerstfeld zu sprechen an, "und deshalb kommen wir von weit her. Kreuz und quer sind wir durch Astras gezogen, haben das herrliche Kleinod Heronia geschaut und sind aufgebrochen, einen Weisen zu finden. Aber statt auf diesen stoßen wir auf einen verkommenen Mann, der in einem Raum sitzt, in dem Düsternis und Zerstörung herrschen. Unrat und Schmutz stören diesen einen nicht, so daß man glauben möchte, seine Sinne haben sich verwirrt, und er erkennt schon nicht mehr, was ein jeder sieht. Der Wunsch, feuriges Gold zu bekommen, macht ihn selbst blind und läßt ihm nicht bewußt werden, daß vor ihm zwei lange angekündigte Abgesandte der ASGEDANrunde stehen. Er weiß nicht, daß dieser Turm von anderen dazu ausersehen wurde, einen der Gäste zu töten. Wo also, so frage ich dich, ist deine Weisheit? Was rätst du dir selbst, Maxon, um einem vernichtenden Urteil zu entgehen?" "ASGEDANrunde", drang es wie ein Echo aus dem Mund des Grei168 ses, "wo wart ihr, als der goldene Meteorit einschlug? Wo, als in den Werkstätten Messing statt des Goldes den Weg zu allen fand? Wo wart ihr, als Gloria gehen mußte und Glorian kam?" Der Weise winkte ab, doch schien ihn nach diesem Ausbruch alle Kraft verlassen zu haben,
denn er saß niedergesunken, scharrte mit einem Fuß in den Papierbergen und blinzelte nervös. "Müll umgibt mich", murmelte er dann, "Unrat und Verderbnis . . ." Er strich sich über den Bart, fuhr sich mit einem Ende seines Umhangs flüchtig über das Gesicht und reckte den Kopf vor. Sein Lächeln mißlang ihm, war nichts als eine armselige Grimasse. Er blickte durch seine Gäste hindurch, schien etwas zu sehen, was den anderen unsichtbar war. "Amenii", flüsterte er mit bebenden Lippen, "du meine Göttin, mein Juwel, mein mondlichtiger Topas. Amenii, Einzigartige, da sind sie. Sie sind erschienen, wie sie es uns versprachen: die Herren der ASGEDANrunde. Sag mir, mein erwärmendes Flämmchen, sage mir, du, meine Vollkommene, was wollen sie noch? Werden sie uns feuriges Gold im Überfluß bieten, oder werden sie das Gold abschaffen? Werden sie Himmelshonig auf unsere Häuser träufeln, oder wollen sie nur zusehen, wie Astras seinen vergangenen Ruhm für Goldplättchen verkauft? Was wollen sie noch, da nichts mehr den Astraden blieb als Lug und Trug?" Nachdem er das alles mit monotoner, müder Stimme gesagt hatte, wurden seine Augen vorübergehend wach und klar. Voll Entsetzen sah er jetzt in aller Deutlichkeit den Zustand des Raumes, in dem er saß. Tränen schimmerten in seinen Augen, doch gleich darauf war sein Blick wieder stumpf. Ein albernes Kichern entrang sich seiner Brust, und sein Kopf sank nach vorn. "Ich werde alles herrichten", murmelte er abwesend, "ich werde alle Reparaturen ausführen, und wenn am Nachmittag der Strom der Ratsuchenden kommt, wenn ich das feurige Gold gehäuft zu meinen Füßen sehen werde, sind alle Spuren des Unrats fortgewischt." "Weiß er denn nicht", fragte Reik flüsternd, erschüttert über das, was er sah und vernahm, "wie es im Gang-und in den Sälen aussieht?" "In den Sälen", kreischte Maxon, der Reiks Worte gehört hatte, "da tanzten die Rendells mit ihrem Weibervolk, da jauchzte und jubilierte es gar wonniglich. Natürlich, vielleicht fiel auch einmal eine Vase um oder ein Bild glitt von der Wand, aber ist nicht die Freude des Tanzes, die Hitze des Kusses mehr wert als ein wenig Glasbruch? Nicht das Möbel, sondern der Geist bestimmt den Lauf der Welten ... Ja, ich werde alles wieder herrichten. Kommt in einer Stunde wieder, aber vergeßt das Gold nicht, dann werdet ihr alles so vorfinden, wie die Jahrtausende es erlebten: ehrfurchtheischend, gediegen und nicht ohne architektonische Anmut." Jetzt lächelte er tatsächlich, während er aufblickte zu seinen Gästen. Doch das Lächeln verwischte sich, wich 169 stummem Entsetzen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er Gerstfeld ins Antlitz.
Gerstfeld war in wenigen Schritten bei Maxon, hob ihn über die Barriere und stellte ihn auf die Füße. "Du willst es wieder herrichten", seine Stimme war dunkel und drohend, "warum nicht? Aber dann solltest du erst einmal sehen, was für Arbeit auf dich wartet. Geh hinaus in den Gang, sieh dich um, und dann sage uns, wie viele Jahre nötig sind, das alles in den Zustand zu versetzen, von dem du glaubst, daß du ihn in einer einzigen Stunde erreichst." Maxon taumelte auf die Tür zu. Er stützte sich dabei auf die Gestelle, hielt sich an der Wand, schließlich an der Tür fest. Sein Blick huschte angstvoll den Gang entlang. "Wenn die Besucher kommen . . .", begann Maxon mechanisch seinen Spruch herzusagen, aber plötzlich unterbrach er sich. Er starrte auf das Foto der Astradin mit den zur Hälfte vergoldeten Haaren. "Amenii", flüsterte er tonlos, "wer hat ihr Bild hier aufgehängt? Amenii.. ." Seine milchigtrüben Augen wurden klar und hell. "Ein Jahrtausend", er betonte jedes Wort einzeln, "ich brauche zur Reparatur ein Jahrtausend, denn es ist alles zerstört, alles gelöscht. Mich eingeschlossen. Hier standen die Regenbogenkristalle, und sie bildeten die Formel von Ende und Neubeginn. Dort drüben erhob sich dunkel und wuchtig die Lebensformel, an der ungezählte Generationen gearbeitet haben müssen. Ja, das war der Gang. Viele, die ihn durchmessen hatten, brauchten nicht mehr meinen Rat. Sie begriffen sich selbst." "Und diese dort", Gerstfeld deutete auf die Frau mit den goldenen Haaren, "kam auch sie eines Tages zu dir?" ,Ja", hauchte Maxon, "Amenii kam zu mir. . ." "Dieses Mädchen kam", fuhr Gerstfeld fort, "sie kam außerhalb der Ratgeberstunden, erschien allein und ungerufen. Sie trat einfach in deinen Raum, und eure Augen begegneten sich. Da rührte sich etwas in deinem Inneren. Und sie rekelte sich, preßte ihre Timpten gegen ihren Kleiderstoff und nahm neben dir Platz. Und du empfandest Hitze und Kälte zugleich." ,Ja", flüsterte Maxon gebannt. "Und sie sagte dir", Gerstfelds Worte hallten in dem Gang wider, "daß dein ganzes Leben sinnlos und blind, dumm und leer war. Sie sprach von der Liebe als dem Höchsten. Sie spottete, daß der Niedrigste in Heronia haben kann, was dir auf immer verschlossen ist. Sie lachte all deine verzweifelten Argumente fort." Ja." "Und so hat sie dir schließlich erklärt", beendete Gerstfeld seine Schilderung, "daß sie dich wohl ein wenig liebt, aber Liebe stets ein Opfer verlangt, ein Pfand der Redlichkeit. Sie hat dir ein kleines 170
Knäuel feurigen Goldes überreicht und dich gebeten, es ihr in die Haare zu flechten. Und mit heißen, zitternden Fingern kamst du willig ihrer Bitte nach. .Siehst du', hat sie dann erklärt, und ihr Lachen schnitt dir tief ins Herz, .dies ist mein Preis. Wenn man keine Haare mehr bei mir sieht, wenn ich einen goldenen Schöpf trage, dann straffen sich alle meine Timpten nur für dich.' So sprach sie, erhob sich leichtfüßig und verließ dich. Und so wurdest du unredlich, gabst Ratschläge nur noch für feuriges Gold." "Es war alles viel schlimmer", flüsterte der Weise, "es war unbeschreiblich. Ich konnte sie riechen und fühlen, spürte ihre Hitze und ihre wunderschöne Lebendigkeit. Und dann die Leere. Diese schreckliche unausfüllbare Leere in mir, in diesem Turm. Ich wurde brutal. Ich ließ die Besucher nur noch einzeln zu mir und erzählte irgendeinen Unsinn. Was mir gerade einfiel. Aber ich zwang sie, mir ein Plättchen zu geben. Ich drohte mit dem Gericht und mit Glorian, wenn sie sich weigerten. Es war mir einerlei, ob es das letzte war und sie nicht wußten, wovon sie die nächsten Tage leben sollten. Ich hatte nach den ersten beiden Besuchszeiten sehr viele Plättchen. Da rieb ich mir die Hände und tauschte die so erworbenen Plättchen in feuriges Gold ein. Amenii kam, als hätte sie erfahren, daß ich feuriges Gold erworben hatte. Ich wußte nicht, daß auch ich betrogen wurde. Von den Händlern. Sie gaben mir maximal den zehnten Teil dessen, den ich hätte bekommen müssen. Der betrogene Betrüger, wie ihr zu Recht denken werdet. Mir war das einerlei, denn ich hoffte, bei jeder Sprechstunde entsprechend viele Plättchen zu bekommen. Ich irrte. Niemand ließ sich mehr sehen, bis dann die Freunde und Verwandten der Betrogenen erschienen und alles zertrümmerten, was sie vorfanden. Und seither existiere ich eigentlich nicht mehr. Grandios Maxon schweigt. Amenii ist nie wieder gekommen. Und ich, ich halte den Kopf gesenkt, wage keinem Astraden mehr in die Augen zu sehen, erwarte sehnsüchtig den Tag, da der Teilchenturm aus den Karten gestrichen sein wird, weil es ihn nicht mehr gibt." "Aber noch steht dieser Turm", fuhr Gerstfeld unbarmherzig fort, "noch ist Maxon nicht verhungert. Er lebt noch immer. Willst ,du uns das erklären, oder soll ich es tun?" "Sprich du", bat der Greis müde. "Er lebt", sagte Gerstfeld, "weil er glaubt, daß es eine Barmherzigkeit der Astraden gibt. Glaubt, daß es mitleidige Seelen sind, die ihm täglich die Dose Algongon vor die Tür stellen, und weiß nicht, daß er weiter betrogen und mißbraucht wird." "Was?" fragte der Weise entsetzt. "Was soll das? Es sind freundliche Astraden, denen ich Gutes riet."
"So", Gerstfeld wiegte bedächtig den Kopf, "dann schau doch einmal 171 her!" Er zog aus einer Jackentasche eine Handvoll feurigen Goldes. "Nun?" fragte er lauernd. "Gib es her!" brüllte Maxon wie ein gequältes Tier. "Es ist meins. Was in diesem Turm ist, gehört mir! Dieb! Gemeiner Dieb!" Er riß einen stählernen, spitz endenden Schreibarm aus der Wand, holte aus und schleuderte ihn mit all seiner Kraft gegen Gerstfeld. Der stand ganz ruhig, und das Geschoß steckte neben ihm in der Wand. "Wer sollte oder könnte mit dir Mitleid haben?" fragte Gerstfeld leise und drohend. "Wem sollte daran gelegen sein, dich am Leben zu erhalten?" "Ich war früher anders", schrie Maxon und riß sich zwei Handvoll Haare aus, derweil seine gierigen Augen das feurige Gold fixierten, "ich war weise, mildtätig und sanft, astradenfreundlich, erhaben und gütig. Ich begreife das alles nicht mehr!" Gerstfeld machte eine einzige Handbewegung, drehte sich um und ging auf eine der Treppen zu. Maxon folgte ihm willenlos, und Reik schloß sich an. Die Treppe war steil und unbequem und führte hinauf in den schlanken Hals des Turmes. Als diese Metalltreppe endete, standen sie vor einer Tür, die mehrfach verschlossen war. Gerstfeld nahm seine Brille ab, starrte die Schlösser abwechselnd an und faßte dann zu. Die Tür ließ sich mühelos öffnen. Vor ihnen lag eine Werkstatt, in der dichtgedrängt Maschinen standen. Der Greis blickte Gerstfeld fragend an, er schien nicht zu begreifen, wozu das hier diente. "Eine Fälscherwerkstatt", sagte Gerstfeld, "in der mit Hilfe mehrerer Metalle und dieser Apparaturen das feurige Gold gestreckt wird. Außerdem stellt man hier falsche Plättchen her. Das ist ein sehr einträgliches Geschäft. Und natürlich sind es die Fälscher, die Maxon die Dose Algongon vor die Tür stellen. Sie halten ihn davon ab, fortzugehen. So weiß jedermann, daß die nächtlichen Lichter die des alten Maxon sind, und macht einen Bogen um den Turm, was den Fälschern wunderbar zustatten kommt." "Was soll ich tun?" hauchte Maxon. "Ich weiß nur", entgegnete Gerstfeld, "was wir jetzt tun werden. Wir verlassen diesen Ort, haben hier nichts mehr zu suchen. Wir sind gekommen, haben gesehen und erlebt und ziehen nun wieder fort." Zu dritt begannen sie den Abstieg über die geländerlose Treppe. Vornweg ging der Alte, und Reik staunte, wie sicher der die Stufen fand, wie ruhig, beinahe würdig er Treppe für Treppe überwand. Ihm folgte Reik, und Gerstfeld war der Schlußmann.
172 Als sie im Saal standen, betrachtete der Weise sehr eindringlich das tote Tier. "Das habt ihr mitgebracht?" fragte er interessiert. "Schade, daß es verunglückte. Auch wenn es ohne alle Intelligenz gewesen ist, so mag es doch possierlich ausgesehen haben." "Und wie anhänglich es war", spottete Reik, während der hinzutretende Kornreck den Weisen mißtrauisch in Augenschein nahm. "Blickt nun also an mir vorbei", bat der Alte und verneigte sich vor Gerstfeld, Reik und Kornreck, "denn ich sehe verwahrlost aus, ungepflegt und abstoßend. Und unter diesem Tageslicht errege ich bestimmt Ekel in euch. Und doch ist das nicht die volle Wahrheit, denn wäre ich nicht auch ekelerregend, selbst wenn ich in goldenen Gewändern und frisch gebadet und geschäumt hier stünde? Ich meine, daß mein Äußeres sich meinem Innenleben angeglichen hat, so daß beide nun wieder eine Einheit bilden." Er nahm auf einem geborstenen Sok-kel Platz, stützte das Kinn in eine Hand und starrte in den Staub. "Immer", begann er leise und abgehackt zu erzählen, "wenn einer der Ratsuchenden bei mir war, habe ich unsere Zusammenkunft mit einer Geschichte enden lassen, in der ich die Situation des anderen erhellte. Dieses eine Mal will ich eine nicht ausgedachte Begebenheit schildern, und sie wird auch nicht etwa eure, sondern meine Situation schlaglichtartig beleuchten. Hört mir also zu. Jedem Weisen standen zwei Schüler zur Seite, und der ältere von ihnen sollte, wenn der Weise 173 starb, dessen Platz einnehmen. Auch ich hatte diese zwei in meiner Nähe, und wir führten viele wunderbare Gespräche. Sie waren nicht unfroh, bei mir zu sein, und ich empfand Freude an ihrer Natürlichkeit und an ihrem Wissensdurst. Aber dann kam Ame-nii in mein Leben. Ich verlor den Verstand. Von nun an gab es nur noch Streit. Meine Schüler warnten mich vor ihr, nannten mir tausend vernünftige Gründe, entweder zu gehen oder diese nicht mehr zu empfangen; ich war blind und taub. Entweder ich lachte sie aus, oder ich schalt sie. Und nach einem sehr langen und ebenso unerfreulichen Disput -die beiden hatten mich gerade verlassen - trat sie ein, um die sich alles drehte. .Mein kleiner Jammerzimperich', scherzte sie, während ihre Augen ernst und ablehnend blickten, ,was debattierst du mit Schülern über uns? Entweder du liebst mich oder. . ., oder du siehst mich nie wieder. Ich mache dir einen Vorschlag: Die Biochemiker suchen immer Astraden für ihre Versuche, weißt du. Und sie zahlen dir feuriges Gold. Auf die Hand.' Ich habe meine Schüler für feuriges Gold verkauft. Sie wurden von schneeweißgekleideten, mir unbekannten Astraden hinausgetragen, und
seither habe ich sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie nicht und Amenii nur noch ein einziges Mal. Seht ihr, diese Abscheulichkeit zeichnet mich, besonders hier." Er schlug sich gegen die Brust. "Du hast deine Schüler verkauft", wiederholte Gerstfeld, "nun mußt du sie zurückkaufen. Begleite uns. Gib dein Wissen denen, die es nutzen können und wollen." Der Greis schüttelte entsetzt den Kopf. "Laß mich", bat er mit erstickter Stimme, "ich kann ihnen nicht in die Augen sehen." "Du hast keine andere Wahl", versicherte Gerstfeld, "denn du willst doch nicht, daß deine Schüler zugrunde gehen? Hole sie dir zurück. Folge uns. Steh auf." Maxon stand tatsächlich auf, aber er schwankte und zitterte. "Nein", rief er kopfschüttelnd, streckte die Arme weit vor und schien Gerstfeld von sich fernhalten zu wollen, "nein, laßt mich doch!" "Geh hinaus", forderte der den Weisen auf, und mechanisch, wie eine Marionette, bewegte der Alte erst einen Fuß, dann den anderen. Dabei rang er um Atem, schien zu ersticken, taumelte hin und her. "Weiter!" befahl Gerstfeld. Während sich Maxon dem geborstenen Portal näherte, nahmen seine Erstickungsanfälle zu, wurden seine Lippen blau, weiteten sich unnatürlich seine Augen. Mit einem gellenden Aufschrei klammerte er sich an einen Haltegriff der Tür und stieß unverständliche Worte aus. "Weiter!" Maxons Füße machten Laufbewegungen, aber seine Hände hielten 174 den Griff so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. Nur ganz langsam ermüdete Finger für Finger, glitt ab von dem Halt. Der Weise rutschte zu Boden, lag gefällt auf dem staubigen Boden Astras. "Weiter!" Er kroch auf allen vieren, kroch mit im Unrat schleifendem Bart und Haar, kroch, bis er das erste Algenfeld erreicht hatte, und stürzte sich weinend in die Pflanzen. "Er wird es schaffen", verkündete Gerstfeld leise, "im Turm war er in dem Wahn gefangen, den sie ihm einprogrammierten. Jetzt ist er davon befreit. Wir müssen ihm Zeit geben, zu sich zu kommen, ehe wir aufbrechen können." "Ach nein", murrte Kornreck, "er braucht Zeit, nicht wahr? Er muß sich sammeln können. Und ich? Da fliegt einem so ein kopfloser Vierarmer ins Gesicht, den man greifen und unschädlich machen soll. Warum hatte ich keine Zeit, mich zu sammeln? Ich sage es euch: weil ich so klein und unwesentlich bin. Eine Zarppe, was ist das schon?"
Reik hob den Gefährten hoch und drehte ihn einigemal im Kreis herum, ehe er ihn wieder absetzte. "Natürlich", erklärte Kornreck versöhnt, "als Fliegenklatsche taugt man wenigstens noch." Sie saßen, hingen ihren Gedanken nach, als ein Schatten über sie fiel. Es war Grandios Maxon, der sich aufgerichtet hatte und nun hinter ihnen stand. Das hier war ein anderer als der, den sie im Turm erlebt hatten. Er stand hochgereckt, und sein hageres, ernstes Gesicht war ohne alles Selbstmitleid. Entschlossen blickten seine Augen, die jetzt klar und grau waren. Er hatte seinen grünlichen Umhang abgelegt und trug die gleiche unauffällige Kleidung wie alle, die ihnen begegnet waren. "Ich benötige", sagte er ruhig, "ein schneidendes Instrument, denn ich muß mich von dem Symbol der Weisheit, von meinem Bart, trennen. Ich verdiene ihn nicht. Ich war nie weise." Kornreck durchwühlte seine Taschen, fand schließlich eine Schere, die er Maxon reichte. Mit sicheren Bewegungen führte der Schnitt für Schnitt, und je mehr Barthaare verschwanden, desto jünger erschien er ihnen. "Vor Generationen", berichtete er, während er mit dem Scheren fortfuhr, "gab es einmal eine Mode, die keine Barte duldete. Was ist einfacher, als den Bartwuchs genetisch zu stoppen. Wir wurden bartlos. Nur Maxon, der Weise, trug den seinen weiter. Und als er starb, wollte ihn sein Nachfolger ebenfalls tragen. Der Bart des Toten wurde dem Lebenden transplantiert. Und dieses Verfahren haben wir beibehalten. Dieser mein Bart ist derselbe, den der erste Weise trug. Erhält der Neue den Bart, dann werden auch seine Haare und die Augenbrauen 175 geweißt, er bekommt den Türkisumhang und die Weltenbrille, so daß, würde man ein Bild des ersten mit dem meinen vergleichen, jeder annehmen müßte, wir seien ein und dieselbe Person. So war es Tradition, und niemand wollte sich davon lösen. Dazu gehörte auch, daß der Tod eines Weisen streng geheimgehalten wurde. Es hätte alles so bleiben können, wenn nicht etwas geschehen wäre, was ich nie begriff. Ich war kaum sieben Jahre Schüler bei meinem Vorgänger, hatte noch nicht gelernt, die alten Pergamente und Folianten zu entziffern, als sich merkwürdige Dinge ereigneten. Mein Lehrer wurde schweigsam, versuchte immer wieder Kontakt zu Gloria der Ellen aufzunehmen und sprach von gefährlichen Verschwörungen. Eines Morgens erschien er nicht im Turm, dafür brachte ein Bote den weißen Bart. Er wurde von einer Gruppe Transplantatchirurgen begleitet, die mich baten, auf dem Marmortisch Platz zu nehmen. .Nein', rief ich aus, ,ich bin nicht der ältere Schüler. Ihm gebührt die Ehre.'
,Ein Unfall', erklärte der Bote, ,sie sind beide tot. Du bist von nun an unser Grandios Maxon.' Mir-schwindelte, denn ich hätte noch einige Jahre gebraucht, um alles lesen zu können, was der Turm an geschriebenen Weisheiten beherbergte. Ich war ein Anfänger, begriff, daß ich nie ein Weiser werden würde und daß nach mir auch kein anderer kommen konnte, der alles beherrschte, was die Jahrtausende angesammelt hatten, denn wer hätte ihn ausbilden sollen. So wurde ich dann Maxon. Die erste Sprechstunde erfüllte mich schon Tage vorher mit Unruhe und Angst. Ich wußte von meinem Lehrer und hatte selbst mit angehört, welche verwickelten Angelegenheiten die Astraden vortrugen, wie sie nach der Lösung ihrer Fragen lechzten. Auch das wurde nun anders. Man erkundigte sich nach dem Tauschwert der Plättchen und der optimalen Reizung der Timpten, man wollte Kochrezepte ergänzen oder fragte nach bestimmten Hautpflegemitteln. Meine beiden Schüler schienen mir noch ahnungsloser zu sein, als ich es war, damals, als ich bei meinem Lehrer begann. Und dann tauchte dieses Mädchen auf. . . Ihr wißt, wie gründlich ich ihr ausgeliefert war, wie sie mich lenkte. Es war wie ein Traum, wie ein Rausch, und ich wurde unfähig, den Turm zu verlassen. Ja, Männer der ASGEDANrunde, ich bin meinen Schülern verpflichtet. Ich werde euch begleiten und hoffe, daß ich auch euch von Nutzen sein kann." Sie ließen sich auf den Straßenwellen bis fast nach Heronia zurückbringen, ehe sie die Richtung änderten. Zum erstenmal fuhr Reik auf einer Fernstraße. Die Wellen erhoben sich ungewöhnlich hoch, und man konnte bequem sitzen. Die Geschwindigkeit war auch größer als auf den Stadtstraßen. Reik saß, den Kopf auf die Knie gestützt, und 176 Kornreck lehnte sich an ihn. Ihnen fiel auf, daß außer ihnen und ihren beiden Begleitern niemand unterwegs war. "Diese Straßen", sagte Maxon, der jetzt als Namenloser dahinfuhr, "werden eines Tages funktionslos, ja sinnlos Astras verunzieren. Ich habe gehört, daß bereits acht Fernstraßen nicht mehr benutzbar sind. Niemand ist nämlich in der Lage, sie zu reparieren. Vor Zeiten wurden alle Straßen vom Koskon geplant und gebaut. Kaum ein Astrade war vonnöten, wenn die gewaltigen Maschinen loszogen, die Straßen weiter und weiter voranzutreiben. Die Straßenbauer feierten jedesmal, sobald zehn Kilometer geschafft waren, ein großes Fest, doch statt dessen wäre es besser gewesen, sich mit den Konstruktionsunterlagen der Maschinen vertraut zu machen. Vielleicht glaubte man, daß diese ewig hielten, vielleicht lebte man auch in dem Irrtum, daß sie sich selbst reparieren und fortentwickeln konnten. Tatsache ist: Das Wissen um unsere wunderbaren Straßenbaugeräte ging allmählich verloren. Ihr
werdet sagen, daß ein solcher Prozeß umkehrbar sein müßte. Aber bei uns entstand ein unüberwindliches Hindernis: Die Lehrlinge, die davon erfuhren, daß ihre Meister ihnen nicht mehr alles würden beibringen können, strengten nicht etwa ihre Köpfe an, um die Wissenslücken zu schließen, nein - sie begannen ihre Lehrer zu verspotten, belegten sie mit unflätigen Ausdrücken und beschlossen, nunmehr überhaupt nichts mehr zu lernen, weil doch sowieso alles sinnlos und umsonst sei. Heute gibt es den Beruf des Straßenbaumaschinenkonstrukteurs auch noch. Jene Astraden nennen sich so, die, mit Gegensprechanlagen ausgerüstet, unsere-Straßen abschreiten, um ihrer Zentrale zu melden, wo ein Defekt ist. Als ich als Schüler zu Maxon kam, habe ich mich sehr gründlich mit diesem Problem auseinandergesetzt. Ich habe nie einsehen wollen, warum Amron und seine Speicher uns nicht halfen. Ich dachte, daß möglicherweise auch im Teilchenturm Schriften lagerten, in denen man das verlorene Wissen wiederfinden konnte. Mein Vorgänger aber, der weise Maxon, strich mir jedesmal, wenn ich darauf zu sprechen kam, gedankenvoll über das Haar und lächelte ge-heimnistuerisch..." "Achtung", rief Gerstfeld in diesem Moment, packte die Gefährten und stieß sie und sich von der Welle. Sie waren gerade an zwei der Haltestangen vorübergekommen, ohne daß die sich bewegten. Sie fielen übereinander, lagen in einer Grube. "Hab ich nicht recht", erboste sich der Namenlose, "da geht es schon los: Die Stangen versagen, man verfehlt sein Ziel." Kornreck kletterte behende aus der Grube, winkte von oben, ihm zu folgen. Auch Reik kam mühelos aus ihrem unfreiwilligen Gefängnis. Keuchend und schnaufend, dazu von Gerstfeld unterstützt, arbeitete sich der Namenlose hinauf, saß erschöpft am Grubenrand und beob177 achtete Gerstfeld fassungslos, der aus dem Stand auf das angrenzende Feld sprang. Die Landschaft war nicht anders als alle anderen Gegenenden hier auch: violette Algenfelder, sanfte Hügel und die ermüdende Sonne. Doch einige hundert Meter wtiter erhob sich ein matt blinkender Zaun, hinter dem nacktes Gestein und lange, von einem betonähnlichen Belag bedeckte Streifen anzeigten, daß hier eine technische Einrichtung untergebracht war. Wer saß, erhob sich, und die vier schritten auf den Zaun zu. "Das ist das Gelände des Silärob", erklärte der Namenlose, "ein Freund von mir ist hier tätig. Seine Bildbriefe zeigten mir alles. Ich weiß bestens Bescheid, Männer . . . Hinter dem Zaun liegt ihr eigenes Fährenlandefeld. Jenseits der Startbahnen stehen die flachen Hallen. Man hat sie in Senken gebaut, damit sie sich gut in die Landschaft einfügen."
Sie waren noch nicht näher als siebzig Meter an den Zaun herangekommen, als eine harte Lautsprecherstimme über den weiten Platz dröhnte. "Bitte kehren Sie um! Die Besuchszeiten sind gestrichen. Das ganze Gebiet ist von aktiven Teilchen überschwemmt. Bitte kehren Sie um!".Noch während aus dem Lautsprecher die Warnungen drangen, sagte Gerstfeld nur: "Unsinn!" "Wenn man einem Verbot zuwiderhandelt", erklärte der Namenlose, "lernt man ein anderes, ein böses Astras kennen." Trotz der Warnung setzten sie ihren Weg unbeirrt fort. Zweimal noch versuchte der Lautsprecher sie zur Umkehr zu bewegen, ehe er endgültig verstummte. Aus einem Wachhaus kamen vier Uniformierte gelaufen, die neben dem Tor Aufstellung nahmen und die Hände auf ihre Waffen gelegt hatten. Die Gefährten waren inzwischen bis auf zwanzig Meter an das Tor vorgedrungen. "Ist die Durchsage nicht verstanden worden?" erkundigte sich einer der Posten bei dem näher kommenden Gerstfeld. Der zog den Kristall des Glorian aus der Tasche, hielt ihn hoch. Dabei rutschte versehentlich das feurige Gold hervor. Ohne den Kristall genauer anzusehen, kein Auge von dem Gold lassend, rissen zwei Posten das Tor weit auf und salutierten. Mit leichter Hand reichte Gerstfeld jedem der Posten einen Faden Goldes, die daraufhin keine Fragen mehr stellten und die Ankömmlinge stumm passieren ließen. "Ach nein", flüsterte Kornreck, "der redliche Angaria. Entwickelt sich zu einem erstklassigen Goldhändler." Die Gefährten überquerten gemächlich die Rollfelder und sahen, daß alle Fähren in einem vorbildlichen Zustand waren. Ruhig rotierten die Metallschirme, und die Hallen waren sämtlich hell erleuchtet. 178 "Welch mustergültige Ordnung", kommentierte der Namenlose, "und hier soll es Störungen im Arbeitsablauf geben? Niemals." "Sehr richtig", fügte Gerstfeld an, "alle Fähren stehen auf ihren Markierungen. Nur, es ist keine unterwegs zu Glorus." Er lenkte seine Gefährten zu dem schlanken Gebäude der Flugüberwachung, öffnete entschlossen dessen Tür. In zwei Reihen saßen die Astraden vor den Sprechfunkgeräten, hoben gleichzeitig die Köpfe und schauten zu, wie ihr Leiter, der einen getigerten Umhang trug, Gerstfeld Meldung machte. "Es gibt Probleme mit unseren Landeaggregaten", erklärte der Leiter, "überzeugt euch selbst."
Die Gefährten traten ein, näherten sich einem Lotsen, der seine Anweisungen sehr ruhig gab. "Habe alles verstanden", sagte er soeben, "du mußt die erste Abbremsphase einleiten." "Abbremsphase ist", quäkte es aus einem Lautsprecher, "Glorus vor uns. Wir vibrieren immer noch!" • "Verflucht", murrte der Lotse, "flieg eine Gegenschleife. Eine Antivibrationsschleife." Einige Sekunden blieb es still. "Gegenschleife beendet. Liegen auf Nullzwei. Bitte weiter einweisen." "Kommt ihr nicht auf zweizweiacht?" fragte der Lotse. "Zwei zwei acht", wiederholte der Lautsprecher, "das ist leicht gesagt. Wir müssen es ohne Polsterschutz machen. Die Gleiter fangen an, uns zu behindern. Ich sage dir: Noch drei Starts, dann fliegt mir die Kiste um die Ohren. Die Einraster sind jetzt doppelseitig ausgefahren. Annäherung über drei. Ich ziehe die Kiste gerade ... Unser Hubwerk spielt wieder einmal verrückt. Ich drossel den Querschub, fahre die Trimmer aus." "Sehr schön", versicherte der Lotse, "aber jetzt müßt ihr ungeheuer schnell abbremsen, sonst fliegt ihr durch Glorus hindurch." "Mach ich die ganze Zeit", rief der andere heftig aus, "sag ich doch: Unser Stausog ist unzuverlässig!" Einige Sekunden verstrichen in Schweigen. "Hier Silärob", nahm der Lotse den Kontakt wieder auf, "was ist los? Warum unterbrichst du?" "Habe den Notdiscatcher zugeschaltet", antwortete der Lautsprecher, "sind auf minimal. Gehen gegen Null. Sind im Eigenlichtbereich. Werden gehübt. Punktaufsetzer zugefaßt. Eingeklinkt. Das war es dann." Der Lotse schaltete seine Anlage ab, blickte Gerstfeld eine lange Sekunde an, nickte ihm zu. Er erhob sich, und auch die anderen verließen ihre Plätze. Alle drängten sie hinaus, so daß kurz darauf die vier Gefährten allem in dem Raum waren. "Spaßig, was?" sagte Gerstfeld, auf das Fenster deutend. "Da draußen 179 stehen immer noch alle Fähren. Man hat eigens für uns ein kleines Laienspiel aufgeführt. Niemand ist auf Glorus gelandet. Der angebliche Pilot saß in einer der Hallen und las seinen Text vor. Sie haben ein großes Interesse daran, uns vorzuspielen, hier sei alles wenigstens einigermaßen in Ordnung. Warum liegt ihnen so viel daran?" Die letzte Frage hatte er an sich selbst gerichtet. Sie verließen das Flugleitgebäude, hörten fernes Lachen aus dem Kantinengebäude und ahnten wohl, daß sie der Grund der Heiterkeit waren. Sie wandten sich den Hallen zu, vernahmen schon aus der Entfernung das ruhige Surren von Maschinen und dazwischen einzelne,
kräftige Hammerschläge. Und als sie die erste Hallentür öffneten, blinzelten sie, denn die Arbeitsräume waren gleißend hell ausgeleuchtet. In langen Reihen standen die Maschinen, und überall wurde eifrig gearbeitet. Niemand hob den Kopf, als die Hallentür aufschwang. "Er ist hier tätig", erklärte der Namenlose lächelnd, "mein Freund Obessar Marfus. Er steht an der größten Presse dieser Halle. Da!" Sein Arm deutete auf eine Schutzwand, hinter der sich schwarz und wuchtig eine Maschine abzeichnete. Der Namenlose übernahm die Führung, durchmaß gewichtigen Schrittes die Halle und passierte den Durchlaß in der Schonwand. Er ging geradewegs auf den Mann an der Presse zu, berührte ihn leicht am Arm. Aber als der sich umdrehte, zuckte der Namenlose zurück. Er blickte in das Gesicht eines ihm fremden Astraden. "Wen suchst du denn?" fragte der Arbeiter unfreundlich. "Meinen Freund Obessar", erwiderte der Namenlose, "er arbeitete dicht bei den Automaten. Genau da, wo du stehst. Obessar Marfus." "Absolut unmöglich", rief der Angesprochene aus, wobei er sich an die anderen wandte, "ein Marfus soll hier gewesen sein. Kennt jemand den Namen? Ich bin schon lange hier." Mit raschen Schritten näherte sich ein Mann, der, wie jener Flugleiter, einen getigerten Umhang trug. Als er die Ankömmlinge erreicht hatte, deutete er eine Verbeugung an. "Kontrolleure und Vertraute des Glorian", erklärte er wichtigtuerisch, "sollten sich nicht als Freunde eines imaginären Arbeiters ausgeben. Jeder hier weiß, daß in euren Taschen die Kristalle von Glorus sind." "Das sind zwei verschiedene Dinge", korrigierte der Namenlose den Sprecher, "das eine sind die Kristalle, mit denen es seine Richtigkeit hat. Das andere ist eine persönliche Freundschaft, die mich mit Obessar Marfus verbindet. Und ich weiß, daß er hier stand und eigentlich noch stehen müßte." "Natürlich gab es einen Marfus", der Mann mit dem Tigerumhang lächelte maliziös, "war nicht einmal schlecht, der Junge. Nur daß er dummerweise von seiner neuen Freundin schwärmte. Immina oder 180 Amminii hieß sie. Aber die Maschinen verstehen keinen Spaß. Es traf ihn voll. Medcont zwei. Er ist verkrüppelt, geistig schwer behindert. Vergiß ihn, Vertrauter des Glorian." "Ich möchte ihn besuchen", bat der Namenlose, dem bei der Nennung des Namens Amenii die Schweißperlen auf die Stirn traten, "bitte, sage mir seinen genauen Behandlungsort." "Bei den Gloriden", der Sprecher schüttelte verwundert seinen Kopf, "denkt ihr, einen solchen Anblick erträgt jemand? Ich weiß nur, daß er
kurzzeitig im Medcont sieben war, danach zu Amron geschafft wurde. Man wird versuchen, ihm eine neue, wenn auch armselige Persönlichkeit zu geben. Ununterbrochen reicht man ihn weiter. Jeder der Mediziner gibt Marfus das, was dem Unglücklichen hilft. IJnd solange noch Hoffnung besteht, etwas zu verbessern, existiert keine Adresse, wo man ihn mit Sicherheit finden könnte." "Wir sind im Korallhotel abgestiegen", mischte sich jetzt Gerstfeld in das Gespräch ein, "sollten Sie etwas von Marftfs hören, dann wären wir froh, wenn Sie die Informationen nach dorthin weiterleiten würden. Ist das möglich?" "Selbstverständlich", versicherte der Sprecher, "ich werde selbst Erkundigungen einholen. Und was auch immer mir zu Ohren kommt, sollen Sie, meine geschätzten Freunde - ich darf Sie doch so nennen -, erfahren. Und ich versichere Sie, daß ich nicht eher ruhen werde, bis ich alles weiß, was den Fall des unglückseligen Obessar Marfus betrifft ..." Er wandte sich dem erstaunt blickenden Mann an der Presse zu. "Du aber", jetzt klangen seine Worte hart und befehlend, "der du diese Herren beleidigt hast, meldest dich im Anschluß unverzüglich bei mir. Das wird ein Nachspiel haben!" Sie hatten das Silärob verlassen und ein neues Ziel erreicht. Das Medcont zwei war ein in einem Tal gelegener einstöckiger Bau ohne allen Zierat. Zwei Besonderheiten gab es dort zu sehen. Da war einmal der träge Fluß, in dem ungezählte Wasserpflanzen wuchsen, zum anderen erhoben sich auf dem durch schlichte Ketten abgegrenzten Landstück der Klinik graugrüne Zieralgen, die Wacholder oder Lebensbäumen ähnelten. "Als er Medcont zwei sagte", Gerstfeld versuchte den Freunden zu erklären, warum er sie geradewegs hierhergeführt hatte, "wußte er noch nicht, daß unser Freund aus dem Teilchenturm Obessar Marfus besuchen wollte. So blieb ihm eine Lüge erspart. Erst im weiteren Verlauf des Gesprächs korrigierte er sich und erwähnte nie mehr das Medcont zwei." Sie hatten die Tür des Gebäudes erreicht, die Gerstfeld ohne Zögern aufstieß. Er ging voraus, gefolgt von den anderen. Aus einer Nische 181 traten ihnen zwei sehr große Astraden entgegen. "Neue Ladung?" fragte der Kräftigere von ihnen und musterte Reik, Kornreck und den Namenlosen abschätzig. Statt einer Antwort zog Gerstfeld den Kristall des Glorian aus der Tasche und hielt ihn den Wächtern entgegen. "Wie kommt ihr denn hierher?" brüllte der und packte Gerstfeld am Hals. Der zweite griff Gerstfelds Arme und riß sie nach hinten.
Der Überfallene blieb einfach ruhig stehen. Seine Augen wurden starr. Da stürzten die beiden Angreifer zu Boden, blieben verkrümmt liegen und rührten sich nicht mehr. "Kommt, meine Freunde", sagte Gerstfeld gelassen, öffnete eine Zwischentür, und sie betraten einen langen Korridor, der rechts und links verglast war. Hinter dem Glas lagen die Patientenzimmer. Sie waren blau ausgeleuchtet und beherbergten völlig apathisch' wirkende Astraden. In deren Augen war kein Leben. Mit leeren Blicken sahen sie zu den Ankömmlingen hin. Viele reagierten nicht einmal. Andere betrachteten die eigenen Hände, als hätten sie die noch nie gesehen. Schweigend durchrnaßen die Gefährten den Korridor, bis der Namenlose aufschrie. "Da", seine Rechte deutete auf einen der Patienten, "das ist er! Das ist Obessar Marfus!" Er hämmerte gegen die gläserne Wand und betrat schließlich den Raum durch eine Tür, die hinter ihm zuklappte. "Obessar", der Namenlose packte den Freund bei den Schultern, "erkennst du mich denn nicht mehr?" Der Angesprochene hob nicht einmal den Kopf. Da wurden auch die Bewegungen des Namenlosen träger er ließ den Freund los, schüttelte sich, als könne er seinen Ausbruch schon nicht mehr begreifen, und sank schwer auf das Bett. Noch einmal versuchte er sich aufzurichten. Seine Augen blickten ohne Kraft und Leben durch Kornreck hindurch. "Es ist das Licht", Gerstfeld deutete zu den Röhren, "kommt, beenden wir den Spuk." Sie hasteten durch den Gang, bis sie zu einer metallenen Tür kamen. Gerstfeld öffnete sie vorsichtig. ". . . und dann", vernahmen sie eine wohlbekannte Stimme aus einem Lautsprecher, "verlangten sie von mir, in ihrem Hotel eine Nachricht zu hinterlassen, wenn ich etwas von Marfus erführe. Dümmer geht es schon nicht mehr!" Eine Gruppe von Frauen und Männern, alle in getigerten Umhängen, umstanden einen kleinen Lautsprecher. Jetzt erblickten sie Gerstfeld, Reik und Kornreck. Entsetzen zeichnete sich auf ihren Gesichtern, und sie erstarrten mitten in der Bewegung. "Hallo", rief der Lautsprecher, "warum sagt ihr nichts? War ich nicht gut?" "Du bist intelligent wie ein Straßenbaukonstrukteur", erklärte der 182 Wortführer, "aber deine Dummheit wird dir noch leid tun." Er trennte die Leitung, starrte dann Gerstfeld entgegen, biß sich zornig auf die Lippen. "Ist das nicht ein Angriff", fragte er zornbebend, "wenn sich Angehörige der ASGEDANrunde ungerufen in die inneren Angelegenheiten von Astras einmischen?"
Gerstfeld lächelte nachsichtig. "Wir sind in Glorians Auftrag unterwegs", antwortete er, "zudem glaube ich nicht, daß wir die einzigen Fremden hier sind. Oder irre ich da ...? Lassen wir das dahingestellt. Zuerst werdet ihr das blaue Licht ausschalten und statt dessen das Antilicht senden. Fangt an!" Der Wortführer der Astraden tippte einem seiner Mitarbeiter leicht auf die Schulter. Der löste sich aus der Gruppe, trat an die Wand, an der ungezählte Schaltelemente sichtbar waren, und wollte einen großen Hebel packen. Doch kaum hatte er ihn berührt, als er wimmernd zu Boden stürzte, auf allen vieren zu einem Stuhl kroch und dort sitzen blieb. "Willst du es nicht selbst versuchen", Gerstfelds Spott richtete sich gegen den Wortführer, der, ohne zu antworten, eine Astradin anschubste. Aber der erging es nicht besser als ihm. Schluchzend flüchtete sie in eine Zimmerecke, nachdem auch sie mit jener unbekannten Kraft Bekanntschaft gemacht hatte. Nunmehr trat der Wortführer vor, umwickelte seine Hände mit dem 183 getigerten Umhang und stürzte sich wild auf einen der Hauptschalter. Brüllend bog sich der Mann nach hinten, verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Tisch, stürzte in Frühstücksgebäck und Teebecher. "Das war der dritte", kommentierte Gerstfeld, "vielleicht findet sich jemand, der redlich ist." Eine junge Astradin verließ den Kreis. Mit sicheren Bewegungen löste sie zwei Steckkontakte aus den Halterungen und warf sie von sich. Nacheinander legte sie jetzt drei Hebel um. "Wunderbar", lobte Gerstfeld. "Einzigartig", kommentierte Kornreck und betrachtete die Astradin wohlgefällig. "Niemand aus diesem Raum", sagte Gerstfeld, "wird in unserer Abwesenheit die jetzige Schaltung zurücknehmen. Die drei dort sollten allen eine Warnung sein. Genügt das aber noch nicht, so geht und schaut nach euren Wächtern, die mich zu töten versuchten." Nach diesen Worten wandte sich Gerstfeld der Tür zu, und auch Kornreck und Reik drehten den Anwesenden den Rücken zu. "Ich", rief da die junge Astradin, die die Schalter betätigt hatte, "darf ich mit Ihnen kommen . . . Ich bin gezwungenermaßen hier." Kornreck und Gerstfeld machten zugleich eine einladende Handbewegung. Sie traten hinaus. Das Bild hatte sich grundlegend geändert. Statt des blauen Lichts drang Tageslicht durch das zurückgeschobene Dach. Ein sanftes Summen hüllte die Klinik ein. Die Patienten versuchten, jetzt wieder wach und voller Lebensenergie, die
Türen aufzubrechen, die Glaswand zu zertrümmern oder sonst irgendwie in die Freiheit zu kommen. Leichtfüßig lief die Astradin von Tür zu Tür, entriegelte jede einzelne und riß sie auf. Freudige Ausrufe füllten den Gang. Marfus und der Namenlose kamen untergehakt zu den Gefährten. "Marfus hat gesagt", berichtete der Namenlose, "daß alle, die sich im Silärob kritisch geäußert haben, weil man die Wartungsarbeiten auf Glorus einstellte, nacheinander durch andere ersetzt wurden. Es begann mit dem Chef im Tigerumhang. Es ist, als wolle ein einzelner oder eine Gruppe die Herrschaft über Astras erringen. Und jetzt verstehe ich auch, was es mit dem feurigen Gold auf sich hat. Das ist das Gängelband, an dem sie uns halten. Noch während sie sprachen, gab es eine wilde Bewegung. Die Patienten schleiften ihre einstigen Aufseher den Gang entlang, sperrten sie in die kleinen Räume und sahen dem Toben der Inhaftierten ungerührt zu. Sie redeten alle auf die junge Astradin ein, bis diese in dem Schaltraum verschwand. Kurz darauf schob sich das Dach vor die Sonne, und die blauen Lichter flammten wieder auf. 184 Das Toben der Aufseher wurde zu einem wilden Gekreisch, aber es brach schon nach wenigen Sekunden ab, und hinter den Glaswänden hockten persönlichkeitslose Gestalten und erkannten nichts mehr von dem, was sie umgab. Alles drängte jetzt hinaus. Wie ein wilder Strom quollen sie durch die Eingangstür, liefen erst ziellos durch den Garten und sammelten sich zuletzt neben der Grube an der Fernstraße. "Wir sind frei", Obessar Marfus sprach laut, wandte sich an alle, "aber nur, solange wir uns auf den Feldern rumtreiben. In Heronia erwartet man uns schon. Selbst in den Speisesälen der Wimmerer habe ich bereits die ersten mit Tigerumhängen gesehen. Ich frage euch also: Wer von euch nicht mindestens dreißig Freunde kennt, die ihm augenblicklich folgen, wenn es darum geht, alles wieder zu Ehren kommen zu lassen, was unter Gloria noch Ehrfurcht gebot, der sage dies jetzt und hier ohne Furcht." Niemand meldete sich. "Wunderbar", fuhr Marfus fort, "vierzig sind wir. Vierzig mal dreißig sind tausendzweihundert. Wir werden also schon in zwei Stunden mehr als tausend sein, die Glorus übernehmen wollen. Sollte uns das nicht gelingen? Nun aber kommt. Laßt uns unsere Freunde holen!" Die Straßenwellen trugen sie gen Heronia. Und während sie an den Feldern vorbeiglitten, wurde ihr Plan immer präziser, wurde Falsches verworfen und der Realität mehr und mehr Rechnung getragen.
Zuerst würden sie ihre Freunde um sich versammeln, dann wollten sie die anderen Medconts besetzen und so ihre Armee vergrößern. Sie würden in der Stunde des tiefen Schlafs das Silärob in ihre Gewalt bringen und von dort aus eine Gruppe von Astraden nach Glorus schicken, die als Wartungstechniker verkleidet waren. Von diesen beiden Steuerstellen aus, so sagten sie, mußte es ihnen gelingen, Amron zu besetzen. Gleichzeitig würden sie den Besitz feurigen Goldes unter Strafe stellen, jeden vorzeitigen Timptengebrauch hart ahnden und statt dessen sämtliche Lehranstalten wieder ihrem eigentlichen Zweck zuführen. Dann würden sie zur Neuwahl einer Gloria der Ellen aufrufen. Mit größter Sorge betrachteten sie die biochemischen Laboratorien, denn sie vermuteten dort geheime Waffen, gegen die sie wehrlos antreten müßten. "Vielleicht besitzen jene dort sogar Flugapparate", rief Marfus aus, "auch darauf müssen wir eingestellt sein." "Hinter den Sandmooren", meldete sich der Namenlose zu Wort, "die Astras umgeben, soll es noch Pflanzenansammlungen geben. Man 185 spricht von turmhohen Einzelpflanzen. Mit Flugapparaten könnten wir sie holen. Welch stolzer Anblick: eine turmhohe Pflanze." "Du gerätst ins Träumen", sagte Marfus zu ihm. "Laßt mich einen Moment", erwiderte der Namenlose, "oder wartet... Ich will euch berichten, wie das mit dem feurigen Gold überhaupt war. Ich weiß es von Maxon. Es ist einige Jahre her, da besuchte uns eine Delegation von Cirrulaan. Ein denkwürdiges Datum, denn sie brachten jene beiden Bienenstöcke mit, von denen einer nach Glorus und der andere in die Laboratorien kam. Ihr erinnert euch, denn nichts bewegte uns so sehr wie dieser Himmelshonig, wie ihn nannten. Dabei hätten wir Höllenhonig sagen müssen, denn er trennte die, die ihn genießen konnten, von denen, die weiterhin Algenhonig aßen. Wenige Tage waren vergangen, da entdeckte man dort, wo das Fahrzeug der Cirrulaaner gestanden hatte, einen mächtigen Goldklumpen. Scharenweise kamen die Astraden und bewunderten den Brocken, ohne daß jemand wußte, was man damit beginnen sollte. Gloria die Elle entschied so: Das Gold sollte in so viele Teile zerlegt werden, wie Astraden lebten. Und jeder würde aus seinem Anteil einen kleinen Glorus formen. Für jeden einen Anhänger zur Erinnerung an das merkwürdige Ereignis. Und so geschah es auch. Eines schönen Tages aber, nur noch die Amulette erinnerten an die Begebenheit, wurde einem Astraden ein Sohn geboren. Und da der Vater ihn sehr liebte, war er bereit, seinen Anhänger zu halbieren und also mit seinem Sohn zu teilen.
Doch wie groß war zuerst seine Verwunderung, später sein Zorn, als ihm mitgeteilt wurde, daß sein Amulett aus Messing bestand. Man scherzte und trieb seinen Spott mit dem Mann. Man beschuldigte dessen Frau, ihm den Anhänger gestohlen und durch einen gefälschten ersetzt zu haben. Nun wurden viele Astraden unsicher. Und siehe: Alle Amulette waren aus Messing. Wohin aber das Gold verschwunden war, konnte niemand sagen. Es ist seltsam, aber kaum war der Betrug aufgedeckt, gab es auch schon Begründungen dafür. Gloria die Elle, hieß es, hat den Himmelshonig für sich allein. Und nun hat sie auch noch das Gold in ihren Schränken verstaut. Dabei hätte kein Astrade protestiert, wenn von Gloria seinerzeit das Gold nicht aufgeteilt worden wäre. Über Nacht bildeten sich Gruppen, die ganz offen gegen Gloria hetzten, Kliniken zertrümmerten, Ausbildungseinrichtungen demolierten und einen unerhörten Zulauf hatten. .Honig für alle', riefen sie in Sprechchören, und: .Gebt uns unsere goldenen Anhänger wieder.' Ein, wie ich meine, gesteuerter Vandalismus begleitete jede der Protestdemonstrationen. Selbst das Standbild der Etana Glorus blieb nicht verschont. Niemand wagte sich aus den Wohnungen, der nicht zu je186 nen Aufrührern gehörte. Nach Gloria wurde die ASGEDANrunde verunglimpft. Die Goldplättchen tauchten auf. Angefangen hat es damit, daß die unglückbringenden Plättchen als Anhänger getragen wurden; schon bald aber kursierten sie als geheimes Zahlungsmittel. Gloria trat zurück. Ihre Fähre setzte gerade zur Landung an, als sich Glorian der Elle den Astraden vorstellte. Unter dem Vorwand, dem Goldfieber ein Ende zu machen und die Schuldigen zu bestrafen, ermächtigte er die Ordnungskräfte, alle Wohnungen, Werkstätten und Freizeitorte zu durchsuchen. Das gefundene Gold wurde beschlagnahmt. Einerlei, ob es ein Andenken an einen verstorbenen Ahnen war, ob es zum altehrwürdigen Schmuck eines Gebäudes gehörte oder als Teil einer technischen Anlage eine wichtige Aufgabe erfüllte, es wurde ersatzlos eingezogen. Die eingeschüchterten Astraden wagten nicht zu protestieren. Glorian sicherte allen zu, mit dem Vandalismus Schluß zu machen. Und er hielt sein Versprechen. Was aber das Gold betrifft, so tauchen immer wieder Plättchen oder das neue feurige Gold auf. . ." Der Namenlose schwieg, feuchtete sich die Lippen an. "Nur eine Kuriosität am Rande", fügte Gerstfeld an, "auf Cirrulaan gibt es keine Honigbienen."
Hatten bisher alle auf den Namenlosen geblickt, so starrten sie nun Gerstfeld an. "Ich denke", fuhr dieser leise fort, "Bienen und Gold stammen von Destrusos. Einerlei, ob er die Cirrulaaner als willfährige Werkzeuge vorgeschickt hat oder ob sie es selbst waren - jedenfalls ist dies Destrusos' Werk." Die Stille wurde beklemmend. Zudem blieb ihnen keine Zeit mehr, ihre Gedanken zu ordnen, denn sie näherten sich dem Punkt, an dem sich ihre Wege trennen würden. "Werden wir noch voneinander hören?" fragte Marfus, an Gerstfeld gewandt. "Wir", antwortete der und ergriff die Hände von Marfus, "ziehen jetzt nach Amron. Ist dort alles in bester Ordnung, dann melden wir uns bei euch. Wird dort aber ein falsches Spiel getrieben, dann ist es denkbar, daß wir sogar eure Hilfe nötig haben. Doch für euch ist es wichtig, daß ihr eurem Plan folgt. Erst wenn ihr eurer Sache sicher seid, kümmert euch um Amron und um uns. Leb wohl, Freund. Und viel Glück." Der Namenlose reichte Reik die Hände. "Du hast gesehen", sagte er bewegt, "wieviel Schande ein Mann auf sich laden kann. Aber du hast auch gesehen, daß es zu einer Umkehr nie zu spät ist. Behalte beides in Erinnerung, und bleib so redlich, wie du bist." Sie hatten den Trennpunkt erreicht, die Astraden wurden auf einer 187 weiten Kurve in Richtung Heronia davongetragen, während die Gefährten die alte Route beibehielten. "Destrusos", sagte Reik, als sie wieder allein waren, "immer nur Destrusos . . ." "Was erwartest du?" fragte Gerstfeld. "Sollen sie vielleicht zusehen, wie wir ihnen näher und näher kommen. Unsere Wege werden sich immer kreuzen." "Trotzdem gehen sie mir langsam auf die Nerven", warf Kornreck unwillig ein. "Astras bat um Aufnahme in die ASGEDANrunde", sagte Gerstfeld, "das dürfte ihnen ein besonderer Dorn im Auge gewesen sein. Und sie waren informiert, daß wir hier vorbeikommen würden. Ihr habt gehört, wie es war. Ein tückischer Plan, hinter dem garantiert die Maschine Norrh steht. Und vor allem: Um diesen Weg, den man auf Astras eingeschlagen hat, zu verlassen, bedarf es nicht nur der Vernunft oder des guten Willens, sondern auch der Gewalt. Niemand, der jetzt Privilegien besitzt, wäre bereit, freiwillig auf diese zu verzichten. Wenn Mar-fus zu einem Besitzer von feurigem Gold ginge und ihm vortrüge, daß es besser sei, ohne das Gold zu leben, dann würde ihm der Angesprochene sagen: Wir
leben beide in Freiheit. Du ohne und ich mit Gold. Da kann jeder nach seinem Gutdünken glücklich sein ... Es gibt also keine friedliche Einigung." "Und dieses Amron", Kornreck beugte sich vor, "was ist dort los?" "Amron", antwortete Gerstfeld, "ist zunächst einmal das astradische Gegenstück zu Destrusos Malachitkatakomben. Eine ganze Welt unter der Oberfläche. Und da es künstlich erhellt wird, ist es über große Strecken weitaus heller als das Land. Nichts wäre schöner, als eine Besichtigung unter freundlichen Bedingungen. Nur eben die finden wir garantiert nicht. Ich wäre nicht verwundert, wenn wir dort Streitkräfte von Destrusos entdecken würden. Amron schweigt. Glorian ist überflüssig geworden. Glorus mit seinem uralten Parlament braucht der neue Machthaber nicht. Deshalb schweigt Amron. Deshalb rührt man im Silärob keinen Finger für Glorus, deshalb bringt man kritische Astraden zum Schweigen. Halb Eiweiß, halb Elektronik, stellte Amron aber auch ein ungeheures Hirn dar, das alle Probleme lösen half, Gefahren voraussagte. Nun aber hat man es zum Schweigen verurteilt, um freie Hand zu haben. Und es ist der ideale Ort, uns in eine Falle zu locken." "So wissen die Furonen", sagte Reik beklommen, "daß wir auf dem Weg zu ihnen sind?" "Aber sicher", erwiderte Gerstfeld, "und sie werden alles zu unserem Empfang vorbereitet haben." 188 "Ist das wahr?" fragte Kornreck, und alle seine Fröhlichkeit war fortgewischt. Nachdenklich und gesammelt schaute er Reik an. "Ruf doch Arcton", bat Reik, "ruf ihn und bitte ihn, daß er dieses Amron zertritt. . ." "Wir ziehen in keine Schlacht", auch Gerstfeld blickte wie einer, der Abschied nimmt von seinen Freunden, "wir sind im Auftrag Glorian des Ellen unterwegs. Wir wollen Klarheit und nicht Krieg." "Und wenn sie uns nun fangen", fragte Reik, "was geschieht dann?" "Ich weiß es nicht", erklärte Gerstfeld halblaut. "Ich vermute nur, daß Gorgons und Argus' Tod sie aufgebracht hat. Möglich also, daß sie uns an Ort und Stelle aburteilen. Doch du, Reik, du darfst dich nicht fürchten, denn sie werden dich nicht anrühren. Sie werden dich nach Ghet-ton oder nach Destrusos schaffen und darauf warten, daß du einer von ihnen wirst. Was du dort tun wirst, ist so ziemlich gleichgültig, wenn du nur eines behältst: Gib nie und niemandem den Steinernen Kopf. Es könnte sein, daß deine Mutter dich scheinbar besucht. Vielleicht kommt Kornreck, oder du glaubst mich zu sehen, denn sie können jeden imitieren. Gib niemandem den Kopf. Denn wenn du ihn behältst, wirst du ihn lehren zu altern. Er wird dann mit dir sterben. Und wisse, sie können
keine Gewalt anwenden, ohne nicht zugleich ihr ganzes Reich zu gefährden." "Aber ich weiß doch nicht", Reiks Stimme klang verloren, "was ich ohne euch tun soll. . ." "Noch nicht", antwortete Gerstfeld voller Vertrauen, "noch weißt du es nicht. Doch der Tag wird kommen, da wirst du es wissen. Und dann mußt du handeln. Du wirst den Unfehlbaren besiegen." Die Heldentat der Zarppe Die Straße verbreiterte sich zusehends, rote Pfeile und Zahlen deuteten auf eine Veränderung hin. Bereits Minuten nach den ersten Zeichen wurden die Straßenwellen flacher und langsamer. Schließlich endete die Straße. Vor den Gefährten breitete sich eine steinerne Plattform aus, deren Rand hellblau erleuchtet war. Sie betraten nebeneinander die Platte, gingen ebenso auf den steinernen Eingang zu, über dem eine Reihe von Kameras alles beobachteten, was sich hier tat. Aber kein Astrade ließ sich sehen, niemand, der Amron betrat oder verließ. Dem Eingang schloß sich ein kurzer Gang an, dem ein metallener Durchlaß folgte, über dem in gläserner Schrift zu lesen stand: Du bist nun in die Tiefe gestiegen, um die Höhen des Wissens zu erreichen. Amron begrüßt seine Mitarbeiter und Gäste. 189 Sie durchschritten nacheinander dieses Tor und befanden sich in einem schlauchartigen Gang, von dessen Decke herab ihnen eine Reihe von Kameras folgte. "Niemand hier", stellte Kornreck fest, "alle Mitarbeiter eingefangen." Dem Gang schloß sich eine Höhle an, von der aus Wege in alle Richtungen führten. Tropfsteine bedeckten den oberen Höhlenteil, zwischen denen die Lichtquellen verborgen waren. "Hon doch", ließ sich Kornreck ein zweites Mal vernehmen, "ein Wasserfall." Das Rauschen der stürzenden Wasser war deutlich zu hören, und die Gefährten blieben stehen und lauschten. Immer wieder schoben sich andere Geräusche dazwischen: das Knacken von Schaltungen, das Zischen von aufsprühenden Funken und jenes eigenartige Geräusch transformierter Ströme. "Amron arbeitet", stellte Gerstfeld fest. Sie betraten aufs Geratewohl einen der Gänge und folgten ihm. Der Gang verbreiterte sich, wurde zur Halle, in der die unterschiedlichsten Maschinen aufgestellt waren. Mit ernsten Augen sah sich Kornreck um. Reik lief nicht mehr in der Mitte. Er hielt sich an Gerstfelds Seite, dabei mit einer Hand den Steinernen Kopf berührend. "Tatsächlich", stellte er fest, mußte aber vor Aufregung schlucken, "niemand hier ..."
Am Ende der Halle war eine rostige Leiter, über die sie in eine andere Etage gelangten. Stränge von grünen Kabeln liefen neben ihnen her, bis sie im Muttergestein untertauchten. Ihr Weg durch Amron wurde zu einem Weg des Schweigens und des mißtrauischen Lauschens. Drohende Schatten richteten sich urplötzlich an den Wänden auf. Knisternde elektrische Entladungen ließen die Freunde zusammenzucken. Wie ein Soldat seine Waffe, so hielt Reik den Steinernen Kopf und richtete ihn auf alles, was ihm fremd oder nicht geheuer war. Und doch ließ sich keiner der Feinde sehen. Leer und verlassen waren die Gänge und Hallen, die unterirdischen Brücken und Plätze. "Vielleicht ist doch keiner hier", flüsterte Reijc heiser. Gerstfeld schüttelte stumm den Kopf. Sie waren nicht allein, auch wenn ihnen niemand begegnete. Mit dem Wissen um die drohende Gefahr im Herzen setzten sie ihren Weg fort. Sie machten eine erste Pause, als sie Amron, die gewaltige Anlage, erreicht hatten. Staunend blieben sie stehen, vergaßen vorübergehend die Angst und die Feinde, denn Amron war schön. Harmonisch war der Bau des mächtigen Hirns, chromblitzend die Teile. Nichts stach kantig oder eckig vor, nichts wirkte bedrohlich oder erschreckend. Amron war, das mußte jeder se190 hen, als Helfer gebaut, als hochintelligenter Freund. Als Bewahrer und Warner. Gerstfeld wandte sich an Kornreck. "Frag ihn nach den biochemischen Laboratorien. Er soll sagen, was dort geschieht." Sekundenlang vertiefte sich Kornreck in die Bedienelemente, aber dann bearbeitete er sie vierhändig, als habe er nie etwas anderes getan. Biochemische Laboratorien -, fragte Kornreck an, - bekannt? - Bekannt -, kam umgehend die Antwort. - Dort gibt es Neuzüchtungen -, gab Kornreck ein, -welche? - Keine -, war die nächste Antwort. Doch, widersprach Kornreck schriftlich, - auch Flugapparate. - Technische Jargonwörter -, antwortete Amron, - Phantasie. - Was wird dort denn getan? - Nichts -, berichtete Amron, -Labors liegen brach. Leerräume ohne Mitarbeiter. - Ich werde, gab Kornreck jetzt ein, -diesen Speicherteil wegen Desinformation austauschen und verschrotten lassen. - Mach das -, unterstützte Amron den Vorschlag, -wenn es an Informationen mangelt, bitte ich um Auffrischung und Ergänzung. Ist Biochemie aber Leerraum, wird dieser Teilspeicher nicht benötigt. Ende. -
"Begreift ihr", fragte Kornreck seine Freunde, "es fehlt ihm an tatsächlichen Informationen. Er begreift sicher selbst, daß in ihm nur Stückwerk ist. Tatsachenverdrehungen .. . Das ist kein guter Start. Nicht für uns und nicht für Marfus." "Also gehen wir weiter", stellte Reik fest und warf einen vorsichtigen Blick in die Runde. Sie verließen den maschinellen Trakt, folgten einem schmalen Gang, der in einen zweiten Saal führte. Hier herrschte eine unbeschreibliche Unordnung. Sie mußten über Platten klettern und umgestürzte Blöcke umgehen. Eine schmale, umgekippte Leiter diente ihnen als Brücke, die direkt zu einer Schwingtür führte. Gerstfeld stieß die Tür auf, trat in den anschließenden Raum. Ohne daß es jemand verhindern konnte, schlug die Tür zu. "Achtung", vernahmen sie Gerstfelds immer leiser werdende Stimme, "nicht folgen! Raumfalle . . ." Doch Reik, der die Angst nicht los wurde, von seinen Freunden getrennt zu werden, sprang Gerstfeld nach. Die Zarppe griff zwar nach Reik, aber hielt nur noch die Tür in der Hand. Der Raum jenseits der Tür war leer. Kornreck richtete sich auf, kramte in seinen Taschen und fand schließlich eine Schraube. Er warf sie in den Raum, und das kleine Metallstück verschwand vor seinen Augen in der Luft. Schlug nirgends 191 auf, gab keinen Laut von sich. "So ist das also", murmelte er, ließ sich von der Leiter gleiten und landete auf dem Fußboden. Er suchte intensiv nach einem anderen Ausgang und entdeckte eine Klappe. Nachdem er sie unter Aufbietung aller Kräfte geöffnet hatte, kroch er in den anschließenden Gang, der ihn mit hoher Geschwindigkeit vorwärts trug. Inula murmelte wilde Verwünschungen vor sich hin, bis die Vorwärtsbewegung endete, und er an einer Stufe lag. Eine sehr hohe metallene Leiter zeigte ihm an, daß er wieder nach oben mußte. "Da tappt der in eine Raumfalle", begann Kornreck während des Aufstiegs ein Selbstgespräch, "einfach so . . ., obwohl Gerstfeld ihn warnte. Das würden nicht einmal Bibi, Greck oder ein Rattler gemacht haben." Und während er Stufe für Stufe überwand, zählte er halblaut alle seine Freunde auf, die nicht in eine Raumfalle gestolpert wären. Am Ende der Leiter fand er einen Durchstieg, der in eine kleine Plattform mündete. Viele Meter weiter unten zog sich eine Straße entlang. Über diese Straße marschierten Furonenkolonnen, die damit beschäftigt waren, Gitter und Kabel sowie andere technische Gerätschaften abzubauen und sie in entsprechenden Futteralen unterzubringen. Einige sangen Spottverse, andere rissen derbe Witze. Fast unausgesetzt klang ihr kehliges Lachen auf. Einer der Furonen machte eine ungeschickte
Bewegung, berührte dabei eines der aufgestellten und noch nicht abgeschalteten Netze. Ein scharfer Blitz hob ihn hoch, ließ ihn gegen eine Wand prallen und in einem Spalt verschwinden. Die anderen verstummten, denn sein gellendes Schreien füllteydie Straße. Aber die Schreie wurden schon bald schwächer, gingen in leises Stöhnen über und verstummten schließlich ganz. Einer der Furonen hastete fort, kam mit einem höheren Offizier zurück. Beinahe flüsternd berichtete er, was geschehen war. "Glotzt nicht, Kerls", rief der Offizier den Furonen zu, die ihn anblickten, "wir wollen nicht die letzten sein!" Er wandte sich erneut jenem zu, der ihn geholt hatte, ließ sich von diesem noch einmal den gesamten Hergang schildern. "Ja und?" fragte er dann. "Was hat das mit mir zu tun? Soll ich ihn zum Leben erwecken? Es ist tragisch, jetzt, nach unserem Sieg. Sehr tragisch sogar." Nach diesen Worten blickte er unwillig auf seine Zeitleiste, machte hart auf dem Absatz kehrt und schritt in die Richtung davon, aus der man ihn geholt hatte. Der Zurückgebliebene kratzte sich den Unterarm. Er schaute zu dem Spalt, aus dem kein Ton mehr drang, betrachtete dann die Furonen, die noch schneller als vordem ihre Abbauarbeiten zu beenden trachteten. Wieder blickte er zu dem Unglücksspalt, machte einen ersten unentschlossenen Schritt dorthin; da erschien ein flaches schwarzes Fahrzeug, auf dessen Führerhaus ein grellroter Greifvogelkopf abgebildet war. Das Fahrzeug stoppte, die Seitenwände glitten nach 192 unten. Der Offizier erteilte einen knappen Befehl, und die Furonen brachten schwitzend und laut fluchend alles, was sie verstaut hatten, im Laufschritt herbei, luden es auf, während andere den Rest ebenso mürrisch in die Futterale schleuderten und diese, ohne sie zu verschließen, ebenfalls auf das Automatengefährt warfen. Während die Wände schwerfällig ihrer ursprünglichen Stellung entgegensurrten, sprangen die Furonen den Gerätschaften nach, hockten sich auf die freien Plätze der Ladefläche. Der Offizier warf noch einen schnellen Blick in die Runde, fand alles zufriedenstellend, riß die Tür zum führerlosen Fahrerhaus auf und verschwand darin. Dumpf jaulte der Motor auf, und das Fahrzeug setzte seinen Weg fort, verschwand aus Kornrecks Gesichtsfeld. Mit einem gewagten Sprung verließ die Zarppe das Plateau, landete neben der Straße und schaute sich sehr vorsichtig um. Nirgends regte sich etwas. Kornreck huschte wie eine auf zwei Beinen laufende Ameise über den Fahrstreifen, überwand einen schrägstehenden Quarzblock und befand sich im nächsten Augenblick neben dem Spalt. Der Furone steckte mit seinem ganzen Körper in der Enge des Gesteins. Kornreck
packte den Helm des Kriegers, riß ihn mit einem Ruck ab. Der Furone wandte träge den Kopf, starrte die Zarppe mit Augen an, in die bereits der Tod Einzug hiejt. Er schien alles undeutlich und wie aus weiter Ferne zu sehen. "Ich weiß", stieß er schwach hervor, "wie ihr uns tötet. Ihr treibt uns den Zweispitz durch die Augen ins Hirn ... Der Unfehlbare hat es uns verraten..., wird mich rächen!" Kornreck sah sich um. Schon bald entdeckte er eine von den Furonen vergessene Trinkflasche, die er entkorkte. Er brachte sie dem Verwundeten, hielt sie ihm an die Lippen. Der trank gierig, mit geschlossenen Augen. Ein Teil des belebenden Getränks rann ihm über das Kinn. Wieder schlug er die Augen auf, starrte Kornreck ungläubig an. "Danke", sagte er leise, und dann: "Ich denke, ihr seid im Raum der Verlorenen? Sie sagten, ihr wärt in die Falle gegangen ..." "Fallen wirken bei Zarppen nie", antwortete Kornreck ernsthaft, "was und wo ist der Raum der Verlorenen?" "Warum hast du mir zu trinken gegeben?" antwortete der Furone mit einer anderen Frage. "Weil wir nicht von Destrusos stammen", erwiderte Kornreck, "aber jetzt will ich wissen, was und wo der Raum der Verlorenen ist." Der Furone bewegte mühevoll eine Hand, hob sie unter vielen Anstrengungen und holte eine Metallplatte aus dem oberen Teil der Rüstung. Er reichte sie stöhnend Kornreck. Auf der Platte waren drei Reihen unbekannter Symbole, in der Mitte prangte jedoch derselbe Greifvogelkopf, der auch das Fahrzeug geziert hatte. "Meine Kennkarte ...", der Sterbende ächzte, "Frau braucht sie, sonst in die 193 Katakomben, weil nicht versorgt. Ohne Karte bin ich nicht ehrenhaft gefallen . .., braucht meine Frau ..., Kinder." "Wo lebt deine Frau?" fragte Kornreck und blickte sich immer wieder unruhig um. "Otta mulga", hauchte der Furone, "esse tiir. Das ist ihr Ruf. Und sage ihr, ich habe sie gelie ..., sage, sie war mir edellichtig, eine choorooniale Kameradin und Mutter." "Wo ist der Raum der Verlorenen?" Kornreck verstaute hastig die Platte, ließ keinen Blick von dem Todgeweihten. "Hier sind drei Etagen", hauchte der Furone, "das, die Anlage . . . Unter uns... Ersatzteile. Etage der Lageristen. Doch unter jener: Geplant war das Hirn von übermorgen... Nie gebaut. Schrunde, Ab-gründe, Pfade und Brücken . . . Feuer, Magma. Dort sind sie. Nicht folgen, denn sie sind verloren. Auch Angaria hat seinen Meister gefunden." "Ich muß zu ihnen", bestimmte Kornreck schmerzerfüllt.
"Warte", der Furone hob die freie Hand, "in meinem Helm. Das Augenglas zeigt dir die Spuren. Im Kopfhörer zwei Töne. Der kräftige Piepton gehört zu Angaria, dem Schwarzen, der Doppelton zu Men-schenreik, dem Blutsaugenden..., vergiß nicht: Otta mulga esse tiir..." Sein Kopf kippte zur Seite, die erhobene Hand fiel auf den Stein. Der Furone war tot. Kornreck schloß ihm die Augen, baute Augenglas und Kopfhörer eilig aus dem Helm und setzte sie sich auf. Er hörte von links einen deutlichen Piepton, hastete los. "Ich komme!" schrie er der leeren Straße und den Brückenbögen zu, während Tränen über seine Wangen liefen, "ich komme! Haltet durch!" "Achtung, Technotrupp!" klang es in den Kopfhörern, "was ist los? Die Mistkarre achtdreiundvierzig steckt immer noch fest. Braucht ihr eine ganze Bringassa für die drei Handgriffe, oder wie sehe ich das?" "Achtung!" schnitt eine kommandogewöhnte Stimme die andere ab, "Ansprache des Obersten und Edlen Kriegsherren Chlur Meduson an die Furonen im Ferneinsatz! Alles herhören!" Ein vielstimmiges "Horra hoch!" erscholl dreimal nacheinander, und der Klang dunkler Trommeln untermalte die Szenerie. Dann wurde es still. "Meine todgeweihten, unbesiegbaren Krieger", begann Meduson mit klarer, salbungsvoller Stimme - während Kornreck mit den Zähnen knirschte, denn er konnte die Worte "es stinkt nach Zarppe" nicht vergessen -, "eine einzigartige Leistung habt ihr vollbracht. Der totale Sieg über einen übermächtigen Feind ist euch gelungen! Eine asgedanische Aggression wurde von uns im Keim erstickt! Der Unfehlbare hat euch vertraut, und ihr habt das Vertrauen gerechtfertigt. Die Ag194 gressoren sind im Raum der Verlorenen. Wie die Furien habt ihr es den dunklen Bestien gegeben. Sie wollten sich in ihrer tierhaften Art an den zarten Timpten der elfengleichen Astradinnen ergötzen, nun wartet der Magmaschlund auf sie! In ehernen Runen werden die Namen Furonen, Meduson und Unfehlbarer auf Astras die Jahrtausende überdauern. Jahrmillionen blicken ehrfürchtig auf euch herab. Das Schicksal und der Unfehlbare haben ihre Hände über eure Helme erhoben! Horra hoch! Die Zarppe ist entkommen! Horra hoch! Äh ... Das ist eine andere Meldung . .. Moment!" Seine Stimme brach ab. Sekunden der Stille. "Ein Mißverständnis", brüllte Meduson in die Kopfhörer, "eine Riesenschweinerei! Kornreck, der Augenausstecher, ist geflohen! Die Unterbodenjäger ausschwärmen! Suchfahrzeuge marsch! Kameras einschalten! Und dann, Stiefeldreck und Umhangsriß, was bedeutet das überhaupt: Die Zarppe ist entkommen? Was haben wir denn für miese Fallen?'; Die Übertragung wurde unterbrochen. Nur das feine Piepen war da.
"Ich komme, Sarschan", flüsterte Kornreck, "ich komme, Reik!" Als die Tür hinter Reik zuschlug, wußte er, daß er eine Dummheit begangen hatte. Er wollte sofort zurück, aber etwas saugte ihn an, preßte ihn zusammen, so daß er dachte, seine letzte Stünde sei angebrochen. Er fühlte sich, als sei er zwischen zwei Mühlsteine geraten, konnte weder schreien noch sich bewegen. Hoch über ihm, denn er vermeinte außerdem zu stürzen, flammte ein grelles Licht auf. So überraschend, wie Druck und Fall begonnen hatten, endeten sie auch. Reik stand in einer endlos großen Halle, vielleicht am Fuß eines nächtlichen Berges, und nur ferner Feuerschein erleuchtete schwach das Panorama der Düsternis. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Licht, und er erkannte sich wild übereinandertürmende Felsen. Reik hob den Kopf. Er konnte keine obere Begrenzung sehen. Er wußte nicht, ob das die Finsternis eines Kellers oder die Dunkelheit einer sternenlosen Nacht war. Zögernd ging er los, unsicher, wohin er sich wenden sollte. Es schien ihm günstig, den vor ihm liegenden Berg zu ersteigen. Nach oben zu gelangen war nicht schwer, denn es gab Stufen, Absätze und flache Platten, auf denen man sich ausruhen konnte. Nachdem er zwei Drittel des Aufstiegs geschafft hatte, sah er etwas weiter oben eine Gestalt stehen, die ihm entgegenblickte. "Sarschan?" fragte Reik leise, wußte aber gleichzeitig, daß es der Gesuchte nicht sein konnte. "Wer ist das?" entgegnete ihm die dunkle Gestalt, die, der Stimme nach zu urteilen, eine junge Frau sein konnte. "Ich bin Reik Regenbach", stellte sich Reik vor, "und wer sind Sie?" 195 "Kenne ich nicht", rief ihm die andere unsicher zu, "sind Sie ein Furone?" "Ich?" Reik lachte auf, verstummte aber gleich wieder. "Ich und ein Furone . . . Nein." "Ich heiße Inemia und bin Ingenieurin in Amron", sagte sie, "das heißt, ich war es. Sie haben mich in das Land der Verlorenen verbannt, weil ich mich weigerte, einige Anweisungen zu befolgen, die . . ., die einfach unvernünftig waren." "Das müßte Sarschan wissen", Reik ballte die Fäuste, stieg weiter zu der Gestalt hinauf, "was ist mit Amron?" "Amron ist verloren", antwortete sie, die, aus der Nähe gesehen, feingliedrig war, ein ovales helles Gesicht hatte, in dem große dunkle Augen glänzten, "alles ist verloren. Die Speicher von Amron sind fast leer. Amron ist ein Spielzeug geworden."
"Vielleicht ist das gar nicht so schlimm", sagte Reik, "bevor es Amron gab, haben die Astraden sicher auch alles allein entschieden. Das müssen sie nun wieder tun." "Du hast Ideen", die Ingenieurin senkte den Kopf, "wie könnte eine Intelligenz ohne Maschinenpläne leben?" "Komm", sagte Reik, "gehen wir. Wir müssen einen Freund von mir finden." Sie bezwangen den Berg und begannen auf der anderen Seite den Abstieg. Der Feuerschein nahm zu, und Reik erkannte, daß Inemia von außerordentlicher Schönheit war. Ihre Gesichtszüge waren fein, lebhaft blickten die großen, glänzenden Augen. Die Lippen leuchteten rot und waren sanft geschwungen, und die goldglänzenden Haare hatte sie kunstvoll um ihren Kopf gelegt. "Zu Arbeitsbeginn", erzählte sie, während sie grazil die Füße setzte, "wurden wir nacheinander in die Zentrale gerufen. Die einen kehrten zurück, die anderen nicht. Und dann war ich an der Reihe. Sie verlangten von mir, daß ich Amrons letzte Speicher entleeren sollte. Als ich nein sagte, stießen sie mich durch eine Schwingtür - und ich landete hier." Reik seufzte, denn er dachte an Gerstfelds Warnung und seinen Ungehorsam. Der steinerne Kopf an seiner Seite wurde kühler und kühler. Bei einer etwas steileren Treppe faßte das Mädchen nach Reiks Hand, hielt sich fest und machte den ersten vorsichtigen Schritt nach unten. Dabei blickte sie ihm fest in die Augen, als wolle sie sich von seiner Redlichkeit überzeugen. Reik erwiderte ihren Blick und fühlte, wie sein Herz ein wenig schneller schlug. Das letzte Stück liefen sie Hand in Hand. "Wir finden deinen Freund", rief Inemia schweratmend und blieb stehen. Reik prallte ge196 gen sie, fühlte ihre wohltuende Wärme, stockte. Auch er keuchte heftig. Da deutete die Ingenieurin auf eine Felsnische, die für eine Pause wie geschaffen schien. Sie setzten sich beide. Reik saß neben dem Eingang. Inemia lehnte ihren Körper an das vielfarbige Gestein, sie zog die Knie an den Leib, umfaßte sie mit ihren schlanken Armen. "Ich habe eine Bitte", flüsterte sie, "wenn . . ., wenn wir verloren sind, dann nimm mich ganz fest in deine Arme, halte mich so und küß mich. Es ist traurig, wenn man allein und ohne Liebe ..." Sie brach ab, schwieg und sah ihn mit ihren großen schimmernden Augen begehrlich an. Reik sah erst jetzt, daß sie sehr jung sein mußte. Er gewahrte auch die Schauer, die über ihren schlanken, biegsamen Körper glitten. Wie ein verängstigtes Tier drückte sie sich gegen das Gestein.
"Ja", antwortete Reik, "es ist traurig, ohne Liebe .. ." Dabei fühlte er die dumpfen Schläge seines Herzens, spürte den Schweiß in seinen Handinnenflächen. Und noch etwas geschah: Orianas Amulett wurde ihm schwer und heiß, es würgte ihn regelrecht, während der Steinerne Kopf eisig kalt wurde, schmerzhaft die Rippen kühlte. "Was sorgst du dich?" fragte Inemia und streichelte Reiks Rechte. "Ich will dich . . .", begann Reik, doch das Wort "lieben" kam ihm nicht über die Lippen, "beschützen, ohne an unser Ende zu denken." Sie hob den Kopf, blickte Reik mit ihren strahlendblauen Augen an, in denen kleine Lichtfünkchen erschienen. "Ich will dich immer lieben", sagte sie mit erwartungsfroher, ein wenig brüchiger Stimme, "wie wunderschön es in deinen Armen sein muß, du mein Ritter." Der würgende Druck von Orianas Kette störte Reik ebenso wie der wohl doch zu eng geschnittene Overall der ASGEDANrunde, der einer Klammer ähnelnde Gürtel und die beinahe brennende Kälte des Steinernen Kopfes. Reik versuchte die Kette zu lockern und schob das störende Futteral mit dem Stein zur Seite. Nichts wurde besser. Zwar erwärmten sich seine Rippen, doch statt dessen wurden ihm Nieren und Oberschenkel frostig. Der Zauber des Augenblicks drohte zu erlöschen. Was bin ich denn nun, fragte sich Reik, ein Abgesandter oder ein Lastenesel in einem verschnittenen Overall? "Reik", flüsterte Inemia, "mein Reik." Ihre zarten Finger strichen sanft über seine Augenbrauen, seinen Nasenrücken und seine Lippen. Der Junge fühlte sich auf eine heiße Woge gehoben, ahnte, wie es sein würde, wenn er das Mädchen umschlang, wähnte sich einem Wasserfall entgegengetrieben, wünschte sich den Sturz in die tiefsten Tiefen. Dort würde ihm das letzte Geheimnis der Natur offenbart werden. Nur dort, nur mit der einen, dift so weich vor ihm saß ... Zehntausend Meilen zu Fuß, durchzuckte ihn ein Gedanke, ja, da 197 klopfen sie einem auf die Schulter, aber wehe, man verliebt sich .. . Kurz entschlossen packte er zuerst das Futteral, wollte es bis zu den Füßen hinabstreifen. Aber da erklang eine feine, eine unwirkliche Stimme. "Höre mir zu, mein Freund, mein geduldiger Träger", wisperte es, "so, wie Glasäugleins Liebe dich erhalten will, versuche auch ich dich zu warnen. Laß dir also von meinem Licht zeigen, was deine Augen nicht sehen können. Erkenne, was um dich ist, und rette dich und deine Freunde." "Was muß ich tun?" fragte Reik gebannt.
"Nimm mich", flüsterte Inemia, "liebe mich, mein Geliebter.. ." "Fasse meine Nasenspitze", wisperte der Kopf, "bewege sie nur ein wenig nach rechts, und schon wirst du ein Erkennender sein." Reik tat, was der Kopf ihm angeraten hatte. Fahle Lichter erhellten den Rastplatz. Und das Bild wurde von einem anderen überlagert. Da waren ein grünlicher Raum, die Gestelle und jene gläserne Barriere. Dahinter ein Sessel auf einem Rüssel. Ein Astrade mit weißem Bart hockte auf dem Sitz. Mit brennenden Augen sah er eine an, die neben ihm stand und ihm über das Haar strich. Reik schien es, als ähnele Ameniis Gesicht dem Antlitz seiner Inemia. Das Bild verblaßte. Statt dessen schälten sich .graue Kalkwände hervor. Eine Schulklasse zog schweigsam dahin. Und Reik sah sich selbst, staunte, wie klein er damals war. Vor ihm aber stand Anja Winterlicht. "Wenn du mir den Rattenkopf nicht gibst", sagte sie, "wird er dich dort vorn in die Tiefe ziehen." Auch dieses Bild löste sich auf. Nun sah der Junge wieder die Ingenieurin, wie sie ihm, ein wenig nach vorn geneigt, ihre Hände entgegenstreckte. In immer schnellerer Folge wandelte sie sich, war einmal Amenii, einmal Anja und dann wieder die Ingenieurin. Doch das alles schien nur ein Übergang zu einem neuen und endgültigen Bild zu sein. Und dieses wahre Gesicht brach mit schrecklicher Gewalt durch all ihre Masken hindurch. Zuerst wuchs über Inemias elfengleichem Gesicht der Schädel an. Ein gewaltiges weißliches Hirn, eingehüllt in eine durchscheinende, feuchte Haut, breitete sich aus. Dann wurde das Gesicht spitz, Nase, Mund und Kinn trafen zusammen, bildeten einen dunkelbraunen, glänzenden, harten Schnabel, der, umgeben von starren Tastborsten, bedrohlich aussah. Die Augen dehnten und wölbten sich, wurden lidlos rund und blickten gefühllos, aber intelligent und wissend auf Reik. Jämmerlich dünn waren die Arme und Beine geworden, sie verlängerten sich und schimmerten wie der Schnabel. Die Gliedmaßen endeten in schwärzen, gezähnten Krallen, die wie glänzende Sicheln in Reiks Richtung wiesen. Ebenso kümmerlich wie 198 die Arme erschien der Leib, der in ein Gurtwerk eingepaßt war, an dem die verschiedensten Apparate und Geräte, Prismen und Kugeln hingen, aus denen ununterbrochen eine matte Helligkeit hervorbrach. "Melaana von Zitadorra", flüsterte der Steinerne Kopf, "das ist sie. Flieh, so schnell dich deine Beine tragen, denn lange kann ich sie nicht mehr in dem Glauben wiegen, daß du ihr verfallen bist." Das fremdartige Wesen drehte unsicher den Kopf. Es spürte wohl, daß etwas nicht mehr so war wie vordem.
"Was beunruhigt dich?" flüsterte mit menschlicher Stimme einer der Apparate, während Melaanas Schnabel tonlos auf- und zuklappte. Reik zitterte. Er tat, als beugte er sich vor, aber nur, um auf die Füße zu kommen. Er rannte los, stolperte, fing sich ab und hastete weiter. Es war ein schmaler, von herabgestürzten Steinen übersäter Weg. Sein Fuß versank in einer rissigen Spalte. Nichts schien den schmerzhaften Fall aufhalten zu können, als die Kraft des Steinernen Kopfes Reik hob und vorwärtsdrückte. "Gerstfeld", rief Reik verzweifelt, "Sarschan! Inula! Zu Hilfe! Melaana von Zitadorra ist hinter mir her!" Er hastete auf eine Brücke zu, die sich hoch über dem Pfad erhob. Doch unter dem Brückenbogen, geradewegs vor mir, reckten schreckliche Tiere drohend ihre Arme, Scheren und stachelbesetzten Köpfe. Helles Licht brach aus dem Futteral und vertrieb die Spukgestalten. Reik lief ein wenig langsamer, aber als er den Kopf hob, erkannte er Melaana, die ihn, über das Brückengeländer gelehnt, mit wachen Augen beobachtete. In ihren Krallen hielt sie gewaltige Ballen feurigen Goldes, das sie langsam hinuntergleiten ließ. Die glänzenden Fäden lagen wie Schlangen am Fuß der Brücke, wo sie sich umeinander ringelten, Schlingen, Reusen und Fallen bildend. "Gold", flüsterte sie, ohne den Schnabel zu bewegen, "nimm das Gold, du weltenferner Träumer. Erwirb damit Astras, Evulon und Cir-rulaan. Greif nur zu." "Sarschan", murmelte Reik, "Hilfe ..." Das Licht in der Tasche wurde eisig blau und spitz. Da flammte das Gold auf, wurde zu Asche, flog im Aufwind der Hitze davon, hüllte Melanaa in einen grauen Nebel und gab Reik so den Weg frei. Er lief mit keuchenden Lungen, während grelles Kreischen und heiseres Wispern von der Brücke klang, von der er sich mehr und mehr entfernte. " Reik erreichte ein steinernes Plateau. Vielleicht hundert Meter vor ihm gähnte ein Abgrund, aus dem es feurig loderte und waberte. Sehr weit rechts aber erhob sich eine schmale, geländerlose Brücke, die ungemein brüchig wirkte und doch die beiden zerschnittenen Plateauteile miteinander verband. 200 Er wandte sich um, starrte in die lichtlose Schwärze des Pfades, der ihn hierhergebracht hatte. Die Vorstellung, noch einmal Melaana zu begegnen, erneut die schaurige Brücke durchqueren zu müssen, trieb Reik weiter auf den feurigen Abgrund zu. Vielleicht, dachte er, kann ich die Brücke doch überschreiten ...
Reik hatte gerade die Hälfte der vor ihm liegenden Strecke zurückgelegt, als seine Beine schwer wie Blei wurden. Er sank auf die Knie, stützte sich mit den Händen ab, fiel kraftlos nach vorn. Ein jäher Lichtblitz, das erkannte er noch, füllte die Halle, ließ alles in neue, ungewohnte Farben eintauchen, riß auch die fernsten Erhebungen aus der Finsternis. Und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich über den Rand des Plateaus die obere Begrenzung eines nachtschwarzen Etwas schob, das sich weiter ausdehnte und höher emporhob. Endlich erschienen grünleuchtend, wie die Augen eines gierigen Raubtiers, die Kanzelfenster von Chooroon. Reik sah noch den Lenker, Cerberon den Hellen, dessen sperbergleiche Augen forschend die Halle musterten, und er sah an dem anderen Fenster, schrecklich in ihrer Sachlichkeit, die Maschine Norrh, deren Lichterketten unruhig flackerten. Hinter diesen beiden aber stand, die großen lidlosen Augen direkt auf ihn gerichtet, den glänzendbraunen Schnabel fest zusammengepreßt, Melaana von Zitadorra, und schwache Lichtwellen umspielten ihr gewaltiges Hirn. So hatte sich Chooroon aus der Tiefe des Abgrunds erhoben und befand sich nun unbeweglich und unbesiegbar vor Reik, hing lautlos in der Halle der Verlorenen. Die Scheinwerfer, rot und hell, flammten auf, tasteten sich wie Finger vorwärts. Es wurde unerträglich hell um Reik. "Höre, mein Träger", wisperte der Steinerne Kopf erneut, "fürchte sie nicht, denn sie können dir keine Gewalt antun, ohne daß ich sie zerstöre. Du wirst jetzt schlafen, nur schlafen." Die Lichter, die Kanzelfenster, alles rückte nun weit ab von Reik, wurde klein und unwesentlich, schien schon nicht mehr Wirklichkeit zu sein. Er sank um, lag weich auf dem Stein. Inula Kornreck hastete die Gänge entlang, nur von den Peilzeichen geführt. Doch dann, für ihn unerwartet, erklang nur noch ein Zeichen aus dem Kopfhörer. Jenes von Reik war erloschen. Kornreck hielt inne, erwartete die ungeheure Explosion, die Astras zerstören würde, doch nichts geschah. "Was ist da los?" rief er, während seine Beine schon wieder ihre Arbeit aufgenommen hatten. Es war ein schwieriger Weg, der so manches Mal in einer Sackgasse endete oder über feuchte, rutschige Steine führte, aber Kornreck er201 müdete nicht, es trieb ihn vorwärts, bis er endlich den Zugang zur nächsttieferen Etage fand. Dieses Mittelgeschoß war weitaus übersichtlicher, die Wege erinnerten an die Straßen von Astras, doch gab es keinen, der in den Raum der Verlorenen führte. Kornreck kehrte in einen riesigen Kuppelsaal zurück, den er schon einmal betreten hatte.
Wenn es einen Weg gibt, der hinunterführt, dachte er, dann muß er hier zu finden sein. Kornreck begann den Raum zu untersuchen. Die Zeit drängte, und als er schon glaubte, daß er zu spät kommen würde, fand er unter einer verrosteten Kabelrolle einen Lüftungsschacht. Sofort ließ er sich hineingleiten. Je weiter er nach unten drang, desto breiter wurde dieser Schacht. Die Wände, rauh und grob bebauen, boten seinen schlanken Fingern selbst dann noch Halt, als er schon nicht mehr von einer Wand zur anderen fassen konnte. Als Kornreck unter sich einen roten Punkt erblickte, wendete er kurz entschlossen, und kletterte mit dem Kopf voran in die Tiefe. Aus dem Punkt wurde ein heller Strich, der sich langsam verbreiterte. Die Töne unter den ständig verrutschenden Kopfhörern wurden lauter. Kornrecks Hände fanden keinen Halt mehr. Er preßte, als er fiel, die Lippen fest zusammen, um sich nicht durch einen Schrei zu verraten. Er landete hart, rückte die Kopfhörer gerade und vernahm die gesuchten Töne stark wie den Herzschlag eines Menschen. Um schneller voranzukommen, lief er auf Händen und Füßen. Wie eine Jagdspinne huschte er über Felsen und Steine, kletterte steile Wände hinauf, rutschte an der Gegenseite flink hinunter. Ohne zu wissen, wo er war, stieß er in Höhe der Brücke auf den Pfad, den auch Reik entlanggeflohen war. Es dauerte nicht lange, da hatte er Reiks Spur gefunden und folgte ihr wieselflink. Schon von weitem sah er die gleißenden Lichter, nahm er den grünen Schein war, der ihm sehr genau anzeigte, wer dort auf ihn wartete. Trotzdem zögerte er keinen Augenblick und lief weiter. Wilde Schatten zuckten dort vorn auf. Als Kornreck das Plateau erreicht hatte, warf er sich hinter einen Stein in Deckung. Er hob den Kopf - doch da erfüllte ihn Verzweiflung. Reik lag auf dem Bauch, war offensichtlich niedergestreckt worden. Sarschan Angaria aber war zur Hälfte in das Muttergestein der Höhle eingesunken. Die Gerstfeldhaut hing zerfetzt und brennend an ihm herunter. Das Gestein rund um ihn kochte, brodelte und dampfte. Seine Perlschnuraugen waren blaß und ohne Kraft. Er war zudem in einen dünnen, gezackten rotorangenen Faden gehüllt, in eine Art geronnenen Blitz, der aus Chooroon drang. Das Letzte Fahrzeug aber hing ruhig und kraftvoll über dem Abgrund. Schlanke, blitzende Rohre 202 waren auf Angaria gerichtet. Der versuchte mit letzter, verzweifelter Anstrengung, aus der tödlichen Falle auszubrechen, doch sank er dabei nur tiefer in das Gestein, während sich der Lichtfaden fester
zusammenzog. Die gleißende Fessel drohte Sarschan Angaria zu zerschneiden. Kornreck gab die Deckung auf, erhob sich und schritt auf Reik zu. Seine vier kleinen Hände waren zu Fäusten geballt, und in seinen Augen glänzten Tränen. "Verloren", flüsterte er, "verloren, verloren ..." Seine Antennen hingen traurig herab. So erreichte er Reik. Er zog, die Augen noch immer auf den Feind gerichtet, das Futteral unter dem Bewußtlosen hervor, staunte nicht einmal, daß er mit allen vier Händen in die Tasche hineinfahren konnte, und begann an Scheiben zu drehen, Knöpfchen zu verändern, legte hier einen winzigen Hebel um, richtete an anderer Stelle etwas auf. "Ich bin doch Reiks Freund", murmelte er dabei, an den Steinernen Kopf gewandt, "ich will dich nicht stehlen. Hilfe brauchen wir, Hilfe ..." "Ein Fachmann bist du", wisperte es aus dem Futteral, "rein und klar sind deine Gedanken. So zieh mich hervor. Fürchte dich nicht, kleiner Fachmann, mit Chooroon werden wir fertig." "Was sagst du?" stammelte Kornreck und riß den Steinernen Kopf aus dem Behältnis. Hell wie eine Sonne und farbig wie ein doppelter Regenbogen erstrahlte der Steinerne Kopf. Kornreck schloß geblendet 203 die Augen. "Chooroon", rief er gellend, "du Furchtbarer! Nichts verschont ihr, nicht eure eigenen Leute, nicht Ahnungslose, niemanden. Sieh her und zittere, denn jetzt wirst du antreten gegen eure eigene Waffe, du, der du nichts anderes kannst, als Furcht und Schrecken zu säen!" Aus den Augen des Steinernen Kopfes brachen dünne Lichter, trafen das Letzte Fahrzeug und ließen es schwanken. Sie zerfetzten An-garias Fessel und schmolzen ihn aus dem Gestein, legten ihn auf das Plateau. Immer stärker wurden die Schwankungen Chooroons, dessen Schnauze sich steil hob. Chooroon kippte auf die Seite, schlug gegen eine der Felswände und brach einen mächtigen Block heraus, der in das aufspritzende Magma stürzte. Norrh, die seelenlose Maschine, riß sich etliche Arme vor das Sehfeld, als könne sie den Anblick nicht ertragen. Melaana stürzte wild aufkreischend auf den Kanzelboden, in den sie sich ohnmächtig verkrallte. Einzig Cerberon, gegen das Kanzelfenster gepreßt, behielt soviel Geistesgegenwart, daß er mit letzter Kraft auf Flucht umschalten konnte. Donnernd und dröhnend brach Chooroon durch alle Decken, entfloh in einen Raum weit jenseits von Astras. Das grelle Licht erlosch, und nur der düstere Schein des Magmas, zu dem sich trübes Tageslicht gesellte, beleuchtete die Szenerie.
Kornreck öffnete verwundert die Augen, sah Reik, Sarschan und den gewaltigen Deckendurchbruch. "Nun, kleiner Fachmann", wisperte der Steinerne Kopf, "bist du zufrieden mit mir?" Kornreck küßte ihm die gläserne Nase. "Hab Dank", antwortete er glücklich, "tausend, tausend Dank." "So schaff mich zurück an meinen Aufbewahrungsort", verlangte der Kopf, und Kornreck kam unverzüglich dieser Bitte nach. "Achtung", vernahm er eine ferne Stimme aus dem Kopfhörer, "hier spricht die Maschine Norrh! Hört, Furonen, lausche, Chlur Meduson! Mein Befehl an alle: Flieht, denn die Vernichtung hat begonnen. Astras und alles, was sich dort aufhält, wird schon bald zertrümmert sein. Flieht, solange noch Zeit ist! Hier spricht die Maschine Norrh!" CIRRULAAN Doddafeld und Velterpark Wilde Traumbilder quälten Reik. Immer wieder versuchte er, unter der Brücke der Melaana hindurchzuschlüpfen, und immer fing sie ihn in den Schlingen des feurigen Goldes. Er wimmerte, suchte den metallenen Umstrickungen zu entkommen, doch je mehr er sich anstrengte, desto fester hielten ihn die glänzenden Schlangen. Um ihn herum, angetan mit edelsteinbesetzten Kleidern und sich bei den Händen haltend, tanzten sie zu viert einen wilden Reigen: Anja, Amenii, Imenia und Melaana. Sie lachten schaurig, sprangen ungelenk und schoben sich gegenseitig zu ihm hin. Dieser Traum dauerte so lange, bis vier zierliche Hände und zwei Antennen durch die Bilder stießen und ein wohlbekanntes Gesicht auftauchte. Reik riß hastig die Augen auf. Eingehüllt in sanftes grünes Licht, stand Kornreck vor ihm und lächelte. "Inula", rief der Junge befreit, "ein Glück, daß du da bist." Er sah sich um. "Wir sind ja am Zeitenbaum", stellte er ebenso froh fest. "Das mußt du dir merken", sagte die Zarppe, "du hast zugegeben, es sei ein Glück, daß ich hier bin. Wann hört man so etwas schon einmal." Kornreck machte eine elegante Verbeugung. "Die Sache mit dem Zeitenbaum dagegen", setzte er seine Rede fort, "hat lange genug gedauert. Zwei Tage hat Gerstfeld auf der faulen Haut gelegen und sich nur gesonnt. Und danach hat er noch einmal vierzehn Stunden unter einem angaridischen Energostrahl zugebracht. Das müßte unsereins einmal machen. Na ja, lassen wir es. Dafür hat er dich dann aufgehoben und hierher getragen. Und wenn wir uns jetzt durch das Blattwerk zwängen, haben wir das nächste Reiseziel erreicht: Cirrulaan." "So lange habe ich geschlafen?"
"Dies hat unser Freund in dem Futteral so eingerichtet", Kornreck warf einen liebevollen Blick auf die Tasche an Reiks Gürtel. "Das tut mir leid", entschuldigte sich Reik, sprang auf die Füße und ging in Gerstfelds Richtung, der etwas abseits im Dämmer stand. Gerstfeld wandte sich augenblicklich um, schob die grauen Blätter zur Seite, und das Licht wurde rötlicher und heller. Sie durchstießen die letzte Trennwand. "Unmöglich", entfuhr es Reik, denn kilometerweit erstreckte sich 205 eine schlammige, von Unrat übersäte Landschaft. Es roch nach Schimmel und Moder. Fahle Rauchsäulen stiegen in unregelmäßigen Abständen in die Luft. In ihrer Nachbarschaft standen Hütten aus Folie und einem pappeähnlichen Stoff, die mit einer getrockneten, ekelhaft aussehenden Pflanze gedeckt und abgedichtet waren. Staubige Wege durchzogen kreuz und quer die Einöde und wurden von blaugrünen Bäumen gesäumt. Der Wind wirbelte Pappstücke, Papier, Silberfolie und grauen Staub durch die Luft. Nicht weit von ihrem Standort entfernt sah Reik etliche graue Tiere, die aus Löchern gehuscht kamen, sich hüpfend fortbewegten und sich schließlich in eine schlammige Pfütze warfen, wo sie untertauchten. "Das sind die Doddafelder", erklärte Gerstfeld, "und die Tiere, die du gesehen hast, sind Gretts. Man fürchtet sie." Reik wandte ihm sein Gesicht zu. "Gerstfeld", er stöhnte vorwurfsvoll, "was soll denn das?" Er hatte in der Dämmerung den Gefährten nicht richtig wahrgenommen, um so deutlicher sah er ihn jetzt, denn eine helle und heiße Sonne beleuchtete nicht nur die Doddafelder, sondern auch Gerstfeld. Und der hatte die Haare an den Seiten sehr kurz geschnitten, in der Mitte jedoch waren sie zu einem auffälligen, nach vorn weisenden Zopf verknotet und zudem ölglänzend. Ein dunkler Bart rahmte das Gesicht, und eine verspiegelte Brille verbarg die Augen. Ein erdbeerroter, von Goldfäden durchwirkter Anzug, eine türkisfarbene Weste und bis zu den Waden reichende weiße Schnürstiefel vervollkommneten die penetrante Aufmachung. Unter der Weste zeigte sich ein rosa Spitzenhemd. Zuletzt gewahrte Reik noch die regenbogenfarbene Kordel, die von einer Schulter zur anderen reichte. Ein schneller Blick belehrte ihn, daß Kornreck ebenso gekleidet war, wenn auch die Farben variierten. Auch er trug die geschmacklose Kordel. Ahnungsvoll sah Reik an sich hinunter. Aus dem unaufdringlichen Overall war ein in den unmöglichsten Farben schillernder Anzug geworden, den himbeereisfarbene Stiefel, die bis zu den Oberschenkeln hinaufreichten,
abschlössen. Er packte die Kordel, besann sich aber rechtzeitig. "Das muß wohl hier so sein?" fragte er leise. "Erkannt", antwortete Gerstfeld, "auch das ist Tarnung. Du siehst, daß Kornreck eine Kappe trägt, der Antennen wegen. Und er hat immer zwei Arme in einem Ärmel stecken. Man ekelt sich hier vor allem, was anders ist." ( Reik betrachtete Kornreck, um zu sehen, wie das mit den beiden Armen in einem Ärmel war. Dabei stellte er fest, daß Kornreck noch kleiner geworden war. Eine eigenartige Trauer überkam den Jungen, denn nun war die Zarppe kein Kornrecke mehr, er schien ihm eher wie ein Insekt mit Menschengesicht. 206 "Mehlwurm Kornreck", sagte die Zarppe düster, "ist es schon soweit, Reik?" Reik kniete nieder vor Kornreck, faßte sanft dessen Hände und legte sie sich um den Hals. "Du sollst ewig mein Freund sein", sagte er mit rauher Stimme, "man kann doch nichts dafür, daß man wächst. .." "Obessar Marfus interessiert dich gar nicht mehr", unterbrach Gerstfeld ihre Zwiesprache, "oder?" Reik stand auf. "Doch", rief er trotzig, "aber wenn jemand, den ich mag, mit einemmal so winzig aussieht, nur weil ich älter geworden bin, dann kann ich nicht einfach darüber hingehen, als sei es nichts." "Das ist wahr", stimmte Gerstfeld ihm versöhnlich bei, "aber höre zu: Chooroon hat nicht nur aus Amron ein Trümmerfeld gemacht, sondern sämtliche Zwinger, Käfige und Behältnisse des biochemischen Labors geöffne". Eine ganze Flut widerwärtiger Züchtungen ergoß sich über das Land. Zwar überwältigten die Aufständischen das Silärob, Glorus, die Medconts und die Stützpunkte der Ordnungskräfte, aber die Gefahren sind noch nicht gebannt. Die feindlichen Tiere und das noch immer kursierende feurige Gold wollen erst bezwungen sein." "Ist das alles, was du weißt?" fragte Reik unzufrieden. "Auf Humanos werden wir mehr erfahren", beendete Gerstfeld seinen Bericht. Er ging los, umrundete Schlammlöcher, stieß auf eine rostige Leitung, aus der es tröpfelte, und erreichte über einen kleinen Hang einen Weg. Die verkommene Landschaft, das war offensichtlich, war künstlich angelegt. Dies traf auf die Vertiefungen mit den Schlammlöchern ebenso zu wie auf jene geometrischen Hügel, es galt für die griesigen Wege genauso wie für die abschüssigen Hänge. Vielleicht war das einmal eine wunderbare landwirtschaftliche Anbaufläche gewesen, die mutwillig oder versehentlich in diesen Zustand versetzt wurde.
"Dort vorn, seht ihr", sagte Gerstfeld und deutete auf ein eigenartiges Gefährt, das an ein Tandemauto erinnerte, "das ist unser Gleymter. In unserem Auftrag geliehen und abgestellt. Er wird uns nach Attigas, der Kulturmetropole von Cirrulaan, bringen." "Kulturmetropole", stieß Reik verächtlich aus, "Schlammkultur." "Da", Kornreck deutete auf den Weg, über den sie gingen, "ein Grett. Eigentlich freundliche Tiere." "Einige Wissenschaftler wollen bewiesen haben", ergänzte Gerstfeld, "daß die Gretts die Vorfahren der Cirrulaaner sind. Nur, wer es laut äußern würde, landete unweigerlich auf den Doddafeldern oder auf der Insel Vans. Vergeßt also, was ich sagte." "Das hier", Reik machte eine weitausholende Bewegung, "ist demnach eine Strafkolonie für Cirrulaaner, die anders denken." 207 "Für solche", korrigierte Gerstfeld, "denen es an Frantegos mangelt." Hinter einem Dickicht kammartiger Sträucher, deren Stengel sich dunkel und scharf segmentiert abhoben, sprang eine Gruppe wild aussehender affenähnlicher Wesen mit Keulen und Ästen, Messern aus rostigem Blech und provisorischen Speeren hervor. Einige schwangen Gretts, die sie am Schwanz hielten, über ihren Köpfen, andere stießen vogelbefiederte Speere in den nachgiebigen Untergrund. Getrocknete Pflanzen und Knochenreste steckten in ihren Haaren, während Augen, Mund und Nase mit roter Tonerde umrandet waren. Erschienen sie im ersten Moment furchterregend, so verwischten die hilflosen, verlorenen Augen, die eingefallenen Wangen und die spitz aufragenden Nasen diesen Eindruck schon bald. Hinzu kam eine Hautfarbe, wie man sie bei manchen chronisch Kranken antrifft. Kornreck streckte der Meute seine vier Fäuste entgegen. "Nicht", sagte Gerstfeld hastig, "es ist nur ein Schauspiel." Kornreck senkte seine Fäustchen, und Reik ließ die Tasche wieder los, während die Cirrulaaner auf wenige Schritt an sie herangetreten waren. Da standen sie, schienen nicht zu wissen, was weiter geschehen sollte, und warfen sich jammervolle Blicke zu. Gerstfeld faßte in seine Tasche, holte eine Handvoll kleiner Münzen hervor und warf sie in hohem Bogen in ein Schlammloch. Brüllend, sich gegenseitig verdrängend, sprangen die Cirrulaaner in die aufspritzende Brühe, tauchten unter in den grauen Fluten und brachten Münze für Münze nach oben, um sie lachend zu zeigen. "Gehört das auch zur Tarnung?" fragte Reik zornig. "Stimmt", antwortete Gerstfeld, "mache ich etwas anderes, sind sie dreißig Minuten später bei einem der Posten, um uns zu denunzieren. Für ein paar Frantegos." "Und wenn ich mit ihnen rede?" fragte Reik.
"Dann halten sie dich für verrückt", erwiderte Gerstfeld, "viele von ihnen waren einst wohlhabend, lebten in Attigas und verfügten über Frantegos. Sie erleben ihr Elend wie eine schlimme Krankheit und tun so, als sei es nur ein vorübergehende Erscheinung. Sie glauben an Wunder, hoffen auf eine Erbschaft, die ihnen zurückgibt, was sie verloren haben. Sie sind bis zur Stunde ihres Todes - davon überzeugt, daß sie diesen Ort bald wieder verlassen können." Inzwischen waren andere Cirrulaaner, zumeist Frauen und Kinder, angekommen, die ebenso abenteuerlich wie die erste Gruppe aussahen. Grelle Fetzen, verschlissene Modeartikel und schockfarbene, beinhohe Stiefel bildeten ihre Bekleidung, und sie waren mit Glasketten, Gummiringen und leuchtender Schminke verunziert. Schon von weitem riefen sie: "Hoch leben die Kliens! Immer kugelbereit, die Kinder des Schlamms!" Doch als sie sahen, daß die Gefährten stumm standen, 208 verloren sie alsbald jedes Interesse an ihnen und wandten sich lachend und heftig gestikulierend den Tauchenden zu. Gerstfeld, Kornreck und Reik stiegen in den Gleymter und starteten. Aus den Radnaben schoben sich je vier Messer, die zusammen mit den Rädern im Kreise herumfuhren. "Alles zu unserem Schutz", Gerstfeld deutete auf die blitzenden Messer, "gegen mögliche Überfälle. Aber nicht diese dort müssen wir fürchten, sondern gutgekleidete Kliens, die so gut wie bankrott sind. Wer genügend Frantegos hat, lebt angenehm und ebenso gefährlich." Unerwartet taucht.cn am Horizont fünf flache, runde Scheiben auf, die rasch größer wurden und fauchend heranflogen. Sie verringerten ihre Geschwindigkeit, stoppten. "Achtung", erklang eine durch Lautsprecher verstärkte Stimme, "Auskunft über Tätigkeit!" "Vergnügungsfahrt zu Doddagruppe", antwortete Gerstfeld in eine Sprechmuschel, "originale Horrorshow." Er zog ein farbiges Papier aus der'Tasche, hielt es hoch. Aus einer der Scheiben senkte sich ein dünner Greifer herab, faßte den Frantegoschein und hob ihn hoch. "Ein rotblauer Frantego", frohlockte der Lautsprecher, "sehr spendabel, Kliens. Wünsche einen vergnüglichen Tag." Fauchend entfernten sich die Scheiben, verschwanden hinter den Büschen. "Mopo", erklärte Gerstfeld, "Modepolizei nennen sie sich. Man gibt ihnen besser einige Frantegos, sonst kann es einem passieren, daß sie einem die Sachen vom Leibe reißen, die eingetragene Lebenskarte löschen und
man unversehens Doddabewohner ist. Dieses Geld, das sie den anderen abnehmen, stellt ihre einzige Altersversorgung dar." "Und daß du ihnen einen Frantegoschein gegeben hast, war auch Tarnung, nicht wahr?" sagte Reik aufgebracht. ,Ja, auch", erwiderte Gerstfeld, kurz angebunden. "Tarnung", höhnte Reik, "dann möchte ich nur wissen, wozu ich beim fiebrigen König war, was ich auf Evulon sollte. Ständig eure guten Ratschläge: Laß dich nicht vom feurigen Gold verlocken. Wie schön, einen Diamanten in einen See werfen zu können. Was sollte das? Es waren Lügen. Die einen erniedrigen wir hier, die anderen kaufen und bestechen wir... Wer sind wir eigentlich?" "Und was sollte ich tun?" fragte Gerstfeld scharf. "Sollte ich sie abstürzen lassen? Einen privaten Krieg beginnen? Du mußt auch hier etwas lernen und begreifen, selbst wenn es schwieriger ist als auf Evulon." "Worte", warf Reik unwillig hin, "nur Worte." Die Felder wurden trockener, die Pflanzen darauf wuchsen dichter. 209 Reik und seine Gefährten folgten einer weiten Kurve, die von hohen Böschungen gerahmt war. Hinter der Kurve endete der Weg an dem stählernen Tor einer alten Stadtmauer. Nachdem wieder einige Frantegos den Besitzer gewechselt hatten, öffneten die blaugekleideten Wächter das Tor, und der Gleymter fuhr in die Ortschaft ein. Nichts mehr erinnerte an die schlammigen Felder. Kleine schmucke, zumeist eiförmige oder konische Gebäude, von prachtvollen Gärten eingefaßt, vereinten sich zu einer ansehnlichen Siedlung, die in der Ferne in höhere, bizarr erscheinende Gebäude überging. Fremdartig in Form, Farbe und Wuchs, lieblich an Blüten und Früchten, bildeten die Pflanzen Vorhänge oder Teppiche, umrahmten einen künstlichen Teich oder umgaben die Häuser, schmückend und tarnend zugleich. Auf herrlich ornamentierten Seidentüchern, umschmeichelt von einer gestreiften Grettart, lagen viele Cirrulaaner und Cirrulaanerinnen untätig im Sonnenlicht und winkten mit ihren Kordeln den Vorüberfahrenden gelangweilt zu. Schon bald endete die Siedlung, und die Gefährten rollten an kaum noch gepflegten Flächen vorbei, auf denen sich jene höheren, aus der Nähe nicht mehr so freundlich aussehenden Gebäude in den makellosen Himmel reckten. Wabenmuster, Kugeln und schmale, spitz zulaufende Bauwerke beherrschten die Szene. Der Gleymter hob, von Gerstfeld sicher geführt, ein wenig ab, flog, schwerfällig wie eine Hummel, einem stählernen Zelt entgegen und landete in einer Art Hochgarage. Sie verließen ihr Fahrzeug, stiegen in
einen engen Fahrstuhl, der sie in hoher Geschwindigkeit in die Spitze des Zeltes brachte. Eine bereitstehende himbeerfarbene, hellerleuchtete Röhre, in der es acht bequeme Sessel gab, nahm sie auf, und ein völlig lautloser Flug begann, an dessen Ende sie wieder an einer Umsteigestelle ankamen. Noch immer machte Reik einen gereizten Eindruck. Er hatte sich noch nicht damit abgefunden, daß Worte der Überzeugung ein Nichts sein sollten, verglich man sie mit dem kleinsten Frantego. Die Fahrt endete bald, und es ging erneut mit einem Fahrstuhl in die Tiefe hinab, wo ein Gleitband die Besucher aus dem Gebäude trug. Das wilde, farbenglühende Panorama einer Stadt der Träume war vor ihnen ausgebreitet. Uralte, ehrfurchtheischende Tempel, Burgen und Türme erhoben sich, aus den Fugen ihres Mauerwerks zarte Lichter sprühend, unverrückbar in den Himmel, während in ihrer Nachbarschaft die verworrendsten Stahl- oder Glaskonstruktionen aufragten, deren Sinn nicht zu erkennen war. Pastellfarbene Pyramiden, durch Röhren miteinander verbunden, standen neben gigantischen eisernen Tieren, aus deren Inneren es unausgesetzt kreischte, lachte, schrie oder quäkte. Eine aus Glaskugeln grob nachgebildete Galaxis rotierte 210 gleichmäßig. Pagoden, mit gläsernen Schienen und Greifern ausgerüstet, umstanden wie behelmte Wächter einen See, über dessen Wasser sich ein Gebilde aus vielfach verzahnten Scheiben befand. Halbüberdachte Renn-, Schweb- und Gleiterbahnen drängten sich zwischen die anderen Konstruktionen. "Gehen wir", schlug Gerstfeld vor. Sie verließen den Beobachtungsstand, dessen Zähluhr fast abgelaufen war, mischten sich unter die anderen, deren erhitzte Gesichter ebenso ihren Zustand verrieten wie die starren, leicht zusammengekniffenen Augen. Eine auf dünne Stelzen stehende Schiene hatte es Reik besonders angetan. Keinen Blick ließ er von dieser Konstruktion, an der Cirrulaaner, nur an einem schmalen Gürtel hängend, entlangjagten. Die Schiene endete urplötzlich und begann nach zwanzig Metern erneut. Unter dieser Lücke aber standen Speere und schwertähnliche Waffen, die Spitzen gegen die Fliegenden gereckt. Und immer wenn ein Wagemutiger diese Waffen, johlend und "Hosso!" rufend, überflog, hielten die Zuschauer in Erwartung einer Katastrophe den Atem an, während ihre Augen wacher als zuvor den Vorgang registrierten. Zwei Cirrulaanerinnen traten auf Reik zu, hakten ihn rechts und links unter. "He", rief der mit gespielter Entrüstung, "was wird denn das?" Sie lachten zur Antwort, zogen ihn mit sich, verschwanden im 211
Gewühl, währenddessen eilte ein bleichhäutiger Mann mit einer Umhängekasse um den Leib auf Gerstfeld zu. "Verlaub", näselte er und blinzelte nervös, "sind sicher Herr Vater, Klien. Hosso. Wünscht Herr Sohn sich zu kugeln? Mit einer oder beiden? Oder nur eine Probefaltung?" Gerstfeld reichte dem Cirrulaaner, ohne auch nur ein Wort zu antworten, einen blaßrosa Frantegoschein. "Oho", der Kassierer verbeugte sich, "also alles ..., wünsche gute Geschäftsabschlüsse. Immer zu Diensten." Er ging, während seine leblosen Augen einen anderen Kunden entdeckten, rückwärts davon. "Ach ja, unser Reik", sagte Kornreck wie ein besorgter Vater. "Nur dort", sagte Gerstfeld, "wo nicht Lebenslogik, Zukunftsorientierung, Erfahrungsübergabe und gegenseitige Achtung herrschen, lehnt sich eine Generation gegen die andere auf. Oder auch, wenn es keine allgemeingültigen Werte gibt, ist so etwas möglich... Nein, Inula, sage nichts! Rot ist immer rot, und zwei mal zwei ist immer vier, worum also streiten? Wehe aber, wenn das, was heute Wahrheit ist, morgen Lüge sein muß; wehe, wenn die Norm von heute am kommenden Tag zur Abnormität erklärt wird, denn dann wird das Wahrheitsideal des jungen Lebens beleidigt. Deshalb meine ich, daß Reik zu Recht verwirft, was wir jetzt tun, weil es Melaana oder Gorgon nicht anders täten." "Das klingt recht überzeugend", stimmte Kornreck zu. Sie betraten einen umzäunten Kreis, nahmen auf schmalen Leisten Platz. Aus dem Untergrund schob sich ein metallener Tisch, und aus dem Tisch schoben sich Gläser, Teller und Bestecke. Cirrulaanerinnen, die von sich behauptet hätten, daß sie verführerisch gekleidet waren, näherten sich eilfertig, legten portionierte Speisen auf die Teller und füllten die Gläser. Sie tippten sich mit ihren Händen zweimal auf die Brust, verneigten sich und verschwanden. "An seinem Gürtel hängt das Futteral mit dem Kopf", bemerkte Kornreck düster, "um seinen Hals liegt die Kette mit Orianas Talisman, in seinem Kopf ist die Erfahrung mit Destrusos, und - er hängt sich an diese käuflichen Mädchen, vergnügt sich, von diesen Doddafel-dern kommend, in dem Velterpark hier, scheint alles, tatsächlich aber auch alles vergessen zu haben." "Euer Erbe", Gerstfeld lächelte verstehend, "ihr seid die Sklaven eurer Hormone, selbst wenn ihr ihnen die größten Werke eurer Kunst verdankt." "Du denkst doch nicht etwa", rief Kornreck, "daß all unsere Maler, Musiker, Bildhauer, Schriftsteller und Architekten nichts geschafft hätten, wenn sie die Möglichkeit besäßen, intensiv zu leben und zu lieben? Wenn sie im Alltag glücklich sein könnten?"
212 "Ich meine", wich der Angesprochene aus, "daß ich mir wie ein Fels zwischen Bäumen, wie ein Strom zwischen zarten Blüten vorkomme, die stolz ihre Köpfe zur Sonne erheben, obwohl sie wissen, daß vielleicht dieser schöne Tag ihr letzter ist." Er lächelte, doch dann wurde seine Miene ernst, und er sprang so heftig auf, daß das Geschirr leise klirrte. Er stand dem Park zugewandt und riß sich die Sonnenbrille herunter, hob die Arme, war ein lebendes Kreuz. Reik und eines der Mädchen hatten' zum drittenmal einen Turm bestiegen, wo man schwebend in die Höhe gerissen und, nachdem man sich mehrmals überschlagen hatte, sanft abgefangen und in einer weiten Kurve wieder zu Boden getragen wurde. Mit Reik hatte alles seine Richtigkeit, aber gerade als das Mädchen den höchsten Punkt erreicht hatte, begann ihr Sturz; sie purzelte wie jemand, der aus einem Fenster fällt. Nichts schien sie mehr retten zu können. Doch schon zwei Meter tiefer wurde ihr Fall abgebremst, und weitere fünf Meter tiefer glitt sie dem aus der Kurve kommenden Reik entgegen, faßte seine Hände und landete mit ihm unbeschadet. Als sie festen Boden unter den Füßen hatten, sprach sie heftig auf Reik ein. "Schnell", rief Gerstfeld, reichte einer der Serviererinnen einen Frantegoschein und lief, gefolgt von Kornreck, los. Wie ein mächtiges Schiff zerteilte Gerstfeld den Strom der ihnen Entgegenkommenden. "Bring Reik zum Schweigen", rief Gerstfeld Kornreck zu, als sie bei dem verhängnisvollen Turm angelangt waren, während er sich dem Turmverwalter eilends näherte. "Das war ein Mordversuch", rief Reik der Zarppe zu. "Halt den Mund", kreischte Kornreck und warf einen mißtrauischen Blick auf das abseits stehende Mädchen. "Niemals", schrie Reik nur um so lauter, "wo ist die Modepolizei?" .Jetzt mußt du noch nach Mama und Papa, nach Windel und Nuk-kel, einem Fotografen und der Maschine Norrh rufen", fauchte Kornreck, "dann sind alle hier, die das angeht... Ach, du großer, du einzigartiger Held! Schrei nur, schrei herum, bis alle Cirrulaaner uns umringen, bis selbst ein TimbisUmbur weiß, daß da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht!" Die Augen der Zarppe wurden grasgrün und ihre Blicke so zwingend, daß Reik nicht von ihnen loskam. "Wo warst du eigentlich, großer Held", fragte Kornreck nun sehr leise, "als Chooroon unseren Gerstfeld ins Gestein schmolz? Wo war dein Geschrei, als das Letzte Fahrzeug seine geballte Kraft gegen uns abschießen wollte? Was tatest du, um mich und Gerstfeld zu retten? Du hast doch nicht etwa geschlafen? Wer von uns beiden nahm den Kopf
aus dem Futteral und richtete ihn gegen Chooroon? Wer hat unseren Feinden eine erste empfindliche Niederlage beigebracht? Und 213 wer hat das Furonenlager gesprengt? Ja, du einzigartiger Schreihals, Gerstfeld wollte sich in den Hallen der Verlorenen opfern, damit wir beide entkommen konnten. Er hätte sich töten lassen, um dein und mein Leben zu retten. Schreit er herum? Winsele ich? Du bist wieder klein geworden, Reik. Aber nicht außen, sondern innen, und das ist schlimmer." Der Junge wurde blaß, sank in sich zusammen. "Entschuldige", murmelte er kaum verständlich, "war nicht so gemeint... Ich wußte es doch nicht..." "Was?"-fragte Kornreck, immer noch unzufrieden. "Das mit den Hallen der Verlorenen." "Kindskopf", schnarrte Kornreck beleidigt, "damit wollte ich nur deine Aufmerksamkeit wecken. Du hast nicht aufgepaßt. Ich sagte: Sarschan ist für dich die ASGEDANrunde. Was er sagt, sagt auch sie. Was er bestimmt, hat sie festgelegt, und was er tut, geschieht in ihrem Auftrag. Das sollst du begreifen, Herr Abgesandter!" "Ist mir klargeworden", antwortete Reik, "aber versteh mich doch: Er spielt sich hier auf wie ein fieser Geschäftsmann, wie ein Betrüger, ein Schwindler..., und wenn deine Augen nicht wären, dann würde ich denken, du bist eine Plastzarppe. Das muß man alles erst verdauen. Tatsache." Reik holte tief Luft, hob seine Rechte, reichte sie Kornreck, der sie willig annahm. Inzwischen verhandelte Gerstfeld mit dem für den Turm verantwortlichen Cirrulaaner. "Hosso", sagte der monoton, "tut mir topleid um die Kleine. Strammes Dingelchen, aber den letzten Spaß hat sie nicht bezahlt. Machen oft Doddakandidaten. Bezahlen einfach nicht. Werden eben abgeschaltet. Nicht von mir, automatengesteuert. Alles verdammt freundlich. Aufschlag, Röhrenrutsch, Ssargenkessel. Ewiger Kreislauf von Stirb und Werde." "Sie haben ihre Lebenskarte?" fragte Gerstfeld. "Ich will sie kaufen. Raus damit." Er zog einen schwarzen Frantegoschein aus der Tasche. Der Cirrulaaner, kaum daß er den schwarzen Schein sah, knickte wie ein gebrochener Schilfhalm ab, küßte Gerstfelds Anzugspitze und kam strahlend lächelnd wieder hoch. "Möge Cingis deinen Weg erleuchten", wünschte er, "und gute Geschäftsabschlüsse." Er zerrte aus einem kleinen Kasten eine Metallkarte, reichte sie devot Gerstfeld und entriß ihm gleich darauf mit unglaublicher Geschwindigkeit den Frantegoschein. Dann ging er, sich wieder und wieder verneigend, davon.
Kornreck und Gerstfeld verließen den Platz, während Reik und das Mädchen Arm in Arm einem anderen Ziel zustrebten. "Ein verständiger Junge", erklärte Kornreck, "er wird uns keinen Ärger mehr machen." 214 "Ach, du zarppanischer Meisterlügner", schimpfte Gerstfeld lächelnd, "was willst du mir für einen Unsinn einreden!" "Und du bist schlimmer", konterte die Zarppe, "als eine gorgonische Überwachungsmaschine. Und so mißtrauisch. Hörst du nie vorbei? Oje, oje - was wird das noch für ein Ende nehmen mit uns?" jammerte Sie. "Bei euch Kurzlebigen", erwiderte Gerstfeld, "darf man nicht vorbeihören, weil ihr alle zwei Sekunden eure Ansicht von einer Sache ändert." Die Scheibe, fauchend und im Tiefstflug über die Köpfe der Besucher hinjagend, stoppte unvermittelt über Reik und dem Mädchen. Die Umstehenden hasteten fort, verließen fluchtartig den gefährlichen Raum, wandten die Gesichter ab, wollten nicht sehen, was nun geschehen würde. Die Bodenklappe der Scheibe flog auf. Drei blaue Helme erschienen. "Na, Klien", dröhnte ein Baß, "Haut an Haut mit einer Doddaanwärterin, bist du dir nicht zu schade?" Reik riß den Kopf hoch, aber ehe er noch etwas sagen konnte, mußte er husten, denn Orianas Kette würgte ihn wieder einmal. "Kann man doch", versuchte er die Schnoddrigkeit der Mopo zu imitieren, "ist doch nichts dabei." Er griff in eine seiner Taschen, bekam einen Frantegoschein zu fassen und zerrte ihn hervor. Noch unsicher darin, reichte er ihn stumm nach oben. Eine behandschuhte Hand nahm den Schein ab. Unter einem Helm pfiff es anerkennend. "Na klar kann man", stimmte der Baß zu, "abgalten, durchkugeln, wegstoßen. Wie beim Bramkedd. Wünsche eine milchige Nacht, Klien!" Die Klappe schloß sich, und die Scheibe jagte davon, immer noch im Tiefflug. Gerstfeld, der gerade eine der schwebenden Schildkröten mietete, hielt nur einen Augenblick inne. "Reik mausert sich", erklärte er lächelnd, "Mopo war bei ihnen, ohne daß es Probleme gab." "Aber mir nicht glauben", maulte Kornreck, "das ist typisch. Wer wird schon auf einen Winzling mit Fühlern hören?" Sie schwebten in ihrer Schildkröte über den Köpfen der Besucher dahin, bis sie Reik und das Mädchen im Gewühl eingeholt hatten. Gerstfeld landete den Apparat, nahm die beiden jungen Leute auf und startete. Das Mädchen legte beide Arme um Gerstfelds Hals. "Ich heiße, ich hieß LynajaOny", sagte sie leise, "aber wenn es gewünscht wird, nehme ich gern euren Wunschnamen an." "Geschenkt",
Gerstfeld lehnte den Vorschlag ab. "Und ich?" rief Reik auffahrend. "Vielleicht möchte ich ihr einen Namen geben? Oder muß man erst fünfhundert Jahre alt sein, um für voll genommen zu werden?" "Schön ist des Vaters Tod", LynajaOny versuchte einen Scherz, 215 "wenn man Frantegos erbt. Leben im Morgenrot, derweil das Alte stirbt." Sie kicherte, aber Reik sah sie befremdet an. Sie landeten auf einer oben abgeflachten, goldenen Riesenpyramide. Feste metallene Tische und weiche Schlauchsessel zierten die Plattform, über der sich ein ebenfalls goldglänzendes Dach erhob. Unaufdringlich und gemessen bewegten sich die Serviererinnen zwischen den Tischen, brachten das Geschirr. Nichts, was einfach aus dem Boden kam, niemand drängte die Gäste. "Wir gehen spazieren", verkündete Reik, nahm LynajaOny bei der Hand und lief mit ihr davon, einer prächtigen Brücke zu, die über einen breiten, ruhigen Strom führte. Ein Serpentinenweg lenkte sie geradewegs zu dem sanft geschwungenen Wunder der Architektur. Sie lehnten beide gegen das Brückengeländer, aber LynajaOny deutete auf bequeme Sitze, die jenseits des Geländers befestigt waren. Sie überkletterten die schützende Barriere, nahmen nebeneinander auf einem Doppelsitz Platz. Unten auf der Pandara trieben schwach schimmernde Kugeln, in denen sich etwas bewegte. Jedenfalls schien das Reik so. Einigemal glaubte er sogar engumschlungene Paare gesehen zu haben. Aus ihrem Sitz erklangen sanfte, sehnsuchtsvolle Töne. "Warum hast du ihn gefragt", Reik störte den Frieden, der sie umgab, "ob er dich irgendwie benennen will? Ich hätte schon was: Lynn... oder Jaquy ... Und du umarmst ihn. Total blöd. Denkst du, der merkt was?" . Das Mädchen lächelte nachsichtig, ohne seine Frage begriffen zu haben. "Komm", bat sie, "steh auf. Wir müssen zurück. Die Zeit ist voll." Sie stieg über das Geländer auf die Brücke, stellte sich vor einem roten Kreis auf. Eine neue, eine schwermütige Melodie erklang, schien aus allen Dingen zu kommen, und vermischte sich mit der beginnenden Dunkelheit. Die Lichter des Velterparks und der Pyramide wurden schwächer, glommen noch einige Sekunden, ehe sie der Finsternis ihren Platz überließen. Am Horizont tauchte eine leuchtende, schattenlose Scheibe auf, die gewaltige "Dimensionen haben mußte. Sie schob sich vor die Sterne, stand unbeweglich, während die Melodie anschwoll. Mit wenigen gekonnten Handgriffen entblößte LynajaOny ihre Brust. Vier kleine, rosig schimmernde Brüste waren nun auf die Leuchtscheibe
gerichtet. Verwunden starrte Reik das Mädchen an, konnte keinen Blick von ihr lassen. "Dies ist die Stunde der Stunden", sang sie leise, "Leben steht neben dem Tod." Sie warf Reik einen sehnsüchtigen Blick zu, lächelte traurig. In diesem Augenblick gewahrte der Junge den Lichtfaden. Spinn216 webdünn schien er aus LynajaOnys Brust gewachsen zu sein, verband sie mit der Scheibe am Himmel. Vielleicht, dachte Reik, sind Liebende durch einen solchen Lichtfaden miteinander verbunden ... Er sah sich um, entdeckte ungezählte Lichtfäden, ja, er sah niemanden, dem das verbindende Licht fehlte. Und als er auf seiner Kombination einen ebensolchen Faden wahrnahm, wußte er, daß nicht die Cirrulaaner es erzeugten, sondern jenes technische Gebilde über ihnen. Reik machte einen vorsichtigen Schritt seitlich. Doch das Licht folgte ihm, lag präzis auf der Stelle, wo sein Herz schlug. "Was soll das?" fragte der Junge LynajaOny und wies in Richtung des Fadens. "Nicht sprechen", wisperte das Mädchen, "singen ... Die Hymne." "Bin heiser", entgegnete er, während seine Augen auf ihrer nackten Haut ruhten. Der Gesang wiederholte sich, schwoll an, grub sich tief in Reiks Gedanken, als ein Teil der bis dahin weißen Lichtfäden ganz kurz hellblau aufleuchtete. Die aber, auf deren Brust jene veränderten Lichter lagen, stürzten rücklings nieder. Alle Cirrulaaner hatten vor jenen roten Kreisen Aufstellung genommen, die, kaum daß der Gesang erklang, aufklappten und schräg in den Boden führende Röhren freigaben, in die die Sterbenden fielen. Dabei erstickte die Musik manchen gurgelnden Schrei, manches Stöhnen. Und kaum daß die Toten in den Röhren waren, als sich die Deckel lautlos schlössen, die Lichter wieder heller und heller wurden, die Leuchtfäden verschwanden und die Scheibe sich gemächlich fortbewegte. "Du hast mich vorhin etwas fragen wollen", LynajaOny wandte sich an Reik, während sie sehr langsam ihre Bluse schloß. "Sag mir vorher", begann Reik, brach aber gleich wieder ab, da er fürchtete, sie würde in ihm einen Gast erkennen, wenn er nach dem gerade abgelaufenen Vorgang fragen würde. ,Ja", fuhr er also fort, "ich hatte eine Frage. Natürlich. Liebst du meinen Vater oder mich?" Sie lachte, umtänzelte ihn, rieb sich an ihm; dann sprang sie unversehens einen Schritt zurück und sah ihn böse an. "Du fragst mich tatsächlich, ob ich dich liebe oder deinen Vater", wiederholte sie seine Frage, "und eigentlich könnte ich dich fragen, warum du mich absichtlich quälst. Oder wie nennst du das, was du mit mir machst?
Warum willst du nicht wissen, warum ich die Luft einatme und nicht dich? Wer hat denn meine Lebenskarte in seiner Tasche? Du oder er? Wer ist es wohl, der über mich verfügen kann, wie es ihm gerade gefällt? Bist du das? Warum hast du sie dir nicht im voraus zum Pangoosfest schenken lassen? Nennst du das vielleicht Liebe, wenn er die Karte hat und du mit mir gehst? Du willst mich doch nur auf die Probe stellen. Dein Vater kann mich von der Brücke stoßen, mich in den Dodda ja217 gen oder mich zu sich beordern. Er, und nicht du, wird dann meine Zärtlichkeit erleben, denn ich werde ihm sanft und liebevoll entgegentreten. Und selbst wenn dein verkrüppelter Bruder die Karte erbt, gehöre ich ihm und nicht dir. Und wie es aussieht, versteht er sich besser mit eurem Vater als du." "Natürlich weiß das jeder", log Reik, während ihn der Zorn packte, "denkst du, ich bin ein Idiot? Er lebt sowieso nicht mehr lange. Hat eine chronische Mondstaublunge. Schon seit vierzig Jahren. Und dann erbe ich dich ... Was machst du denn für ein Gesicht? Gefällt dir wohl nicht, daß du meine Frau wirst?" Reik hätte sich ohrfeigen können. Während er all diesen Unsinn sagte, wußte er nur zu gut, daß sie weiterziehen würden, schon bald. Er meinte auch, das Mädchen nicht zu lieben. Die vier Brüste, ihre stolze Art, den Körper zu zeigen, hatten ihn fasziniert. Sie schien ihm begehrenswert. Aber er verstand sich nicht, daß er von Heirat und Liebe und Erbschaft gesprochen hatte... Oder steckte Eifersucht dahinter? Gerstfeld konnte ihr befehlen, und sie würde gehorchen... "Kauft ihre Karte", rief Reik unwillkürlich, "und rückt sie nicht raus... Wirklich ein feiner Zug von ihm!" "Was wirst du tun?" fragte das Mädchen mißtrauisch. "Er hat es mir an meinem Geburtstag versprochen", log Reik weiter, "daß ich mir aus tausend gekauften Mädchen die eine aussuchen kann, mit der ich für immer zusammenbleiben will. Er hat einfach vergessen, mir die Karte zu geben. Ich werde ihn daran erinnern." "Er hat dich angeschwindelt", LynajaOny lächelte mitleidig, "wenn du zweitausend Dekaden probierst, dann kannst du überhaupt nicht mehr faltbar und kugelig sein. Eine Kleinkinderlüge. Für den lieben Nimmersatt." Diese Rede gab Reik den Rest. Er zog einen Packen Frantegos aus der Tasche. "Ich kauf dich", rief er mit zornfunkelnden Augen, "da, sieh her! Ich zahle für dich zwanzigtausend Frantegos, ach was, eine Million!" Sie blickte ihn sprachlos an, unterwürfig wie ein kleiner Hund, dem ein Knochen vorgehalten wird. "Tu es", wisperte sie, "kauf mich dem alten Lüstling ab ..."
Möglich, daß sie noch heftiger auf Gerstfeld geschimpft hätte, aber da jagte wieder einmal eine Scheibe auf sie zu. LynajaOny blieben die Worte im Hals stecken, und Reik, der ihrem Blick folgte, betrachtete das Luftfahrzeug atemlos. Er sah nicht, daß Gerstfeld aufsprang, zur Sonnenbrille griff, dann aber lässig abwinkte und sich in aller Ruhe setzte. Die Scheibe stoppte dicht über den beiden, die sich bei den Händen faßten, während Reik rein mechanisch das Frantegobündel wieder ein218 steckte. "Hosso, Klien", hörten sie die bekannte, unpersönliche Lautsprecherstimme. "Hallo", antwortete Reik sehr vorsichtig. "LynajaOny", belferte der Lautsprecher, "dreißig Schritte zurück. Ausführung!" Das Mädchen schritt rückwärts, ohne ein Auge von Reik zu lassen. "Schneller!" verschärfte sich der Befehl, und sie drehte sich um, lief bestimmt vierzig oder fünfzig Schritte, ehe sie stehenblieb. Der aus dem Unterteil der Scheibe dringende Scheinwerferstrahl spaltete sich. Ein Teil, es war der hellere, verfolgte jede Bewegung von LynajaOny, während ein schwächeres Licht auf Reik ruhte. Die Bodenklappe öffnete sich, und eine Leiter wurde herausgeschoben. Einer der Blauuniformierten kam sehr langsam die Sprossen herunter, blieb auf der untersten stehen, hockte sich nieder, so daß sein Kopf, der unter dem Helm unsichtbar war, vielleicht noch einen Meter über Reik schwebte. "Ihr seid unerhört reich", sagte der Mopo, "möglich schon, daß du nicht weißt, was das ist, reich sein; denn wer nicht arm war, begreift auch Reichtum nicht. Ich denke, daß du aber eins wissen wirst: Die Familie bleibt sauber. Alles, was sie angeht, ist wichtig." Er schwieg einen Augenblick, ohne daß Reik antwortete. "Ihr habt zehntausend für dieses Flittchen bezahlt", er deutete auf LynajaOny, "dabei kannst du für zwanzig Frantegos eine wahre Schönheit aus dem Dodda haben. Wasch sie nur einmal, und du hast einen Goldklumpen. Na, eure Sache. Ich, Klien, will hunderttausend Frantegos haben. Für den anderen und mich, je fünfzigtausend. Gibt ein nettes Ei in der Siedlung für jeden. Ich weiß, daß du nichts verschenkst, deshalb ..." "Aber", Reik versuchte zu begreifen, was der Mopo wollte. "Für eine Information", fuhr der Sprecher fort, "für eine, die hilft, daß euch niemand an den Karren pißt. Also, was ist?" Zweifelnd holte Reik das Geldpäckchen aus der Tasche. Von dem obersten, dem schwarzen Stapel zählte er pedantisch zehn Scheine ab. Reichte sie hinauf.
"So ist es recht", erklärte der Mopo, "und nun höre gut zu: Deine Lady, die liebe LynajaOny, dieses sanfte Täubchen, ist. . ." Ein furchtbarer Blitz durchzuckte die Leiter, klebte den Sprecher daran fest. Brüllend versuchte der Getroffene abzuspringen, ohne daß es ihm gelang. Die Scheibe jagte hoch, kippte mit lähmender Deutlichkeit ab, überquerte mit ständig zunehmender Geschwindigkeit die Pandara und raste auf der anderen Seite gegen einen Fels. Ein Feuerball entstand, Flammen spritzten weit umher. Das Krachen der Explosion. Dann war es still. Reik hatte in allen Einzelheiten wahrgenommen, wie der Modepolizist sich brüllend den Helm abgerissen hatte, wie er, immer noch 219 schreiend, versucht hatte, in die Pandara zu springen, doch an der Leiter festklebte. Er hatte mit ansehen müssen, wie der Unglückliche den Felsenklippen entgegenstarrte, wie sein Geschrei abbrach, erstickt vom Tod selbst, dem er nicht mehr ausweichen konnte. Alles, was danach geschah,'nahm Reik nur undeutlich und fern wahr. Und erst als sie schon in einem Hotel wohnten, als sie gemeinsam am Abendbrottisch saßen, erwachte er. Er maß die essende, dabei ganz vergnügt aussehende LynajaOny mit mißtrauischen Blicken. Aber er sprach kein Wort, ging schweigend neben den anderen her in sein Zimmer. Warum ist er zu mir gekommen, dachte Reik, als er allein war, warum nicht zu Gerstfeld, der doch als mein "Vater" viel mehr Frantegos besitzt? Vielleicht steht auf der Lebenskarte, daß der Träger sein neues Eigentum lieben muß. Also wollten sie verhindern, daß ich auf LynajaOnys Getue hereinfalle. Warum nicht? Die Eifersucht erwachte in Reik. Er malte sich aus, wie Gerstfeld das Mädchen besuchen würde, wie sie kichernd erzählte, was sie von Reik gehört hatte. Er erhob sich entschlossen, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, aber das schien unmöglich. So verließ er sein Zimmer, schritt stumm den Gang entlang und blieb einige Augenblicke vor der Tür des Mädchens stehen, ehe er sie vorsichtig öffnete, eintrat und sie ebenso leise wieder verschloß. LynajaOny lag unbekleidet auf ihrem Bett, hatte die Augen geschlossen. Statt der Eifersucht empfand Reik nun Scham und Reue. Nur, wie er das Zimmer wieder verlassen konnte, wußte er nicht. Er stand, blickte aus dem dunklen Fenster, sah dann wieder all die ihm unverständlichen Falten, Warzen und Erhebungen auf ihrem Körper an und hoffte darauf, daß sie etwas sagen möge. Aber LynajaOny, obwohl noch wach, schwieg abwartend.
"Können wir uns nicht unterhalten?" fragte Reik schließlich. "Hast du die Karte?" entgegnete sie schroff, wartete einige Augenblicke, ehe sie fortfuhr: "Also nicht. Natürlich nicht. Und nur unterhalten wollen wir uns. Natürlich fragst du dich nicht, wo das endet. Wer so reich ist wie ihr, geht natürlich in keine Tonerhöhle. Und doch solltest du es einmal tun. Da kannst du sie alle sehen, die sich jung und schick fühlen und die alle nichts anderes wollen als sich unterhalten. Bis sie von Liwerlicht und Eroklang überwältigt werden. Und ganz sanft, während sie doch nichts anderes tun, als tanzen und plaudern, verfallen sie sich ein wenig. Denke nicht, daß das zur Verschmelzung führen würde. Nein, ehrlich nicht. Und es zieht die Paare ungestüm zu den Kabinerhöhlen, wo sie etwas mehr mit sich allein sind ... Und der 220 Rest: etwas Narkosegas, die Chirurgomaten - und die drei berühmten Schnitte. Sie sind dann nichts mehr. Nicht jung, nicht chic, nicht männlich oder weiblich, eben nichts ... Und glaubst du, hier wären wir sicher? Wenn uns die Süße des Gefühls fortreißt, dann erscheint ein cingidischer Kontroller, um meine Karte aus deiner Hand zu empfangen. Du hast sie aber nicht. Es würde uns nicht viel anders ergehen als den armen Gestalten in der Tonerhöhle. Sicher, dein Vater würde dich freikaufen, aber ich ..., ich wäre verloren. Darum bitte ich dich zu gehen, denn Widerstand gegen dich wage ich nicht. Und sei so freundlich, sage mir, was jener Mopo von dir wollte, der mich fortgeschickt hat." Reik schloß die Augen. Sie wagt keinen Widerstand gegen mich, dachte er, während er sich vorzustellen versuchte, was wäre, wenn er sich einfach neben sie setzen, sie sehr vorsichtig streicheln würde. "Was zögerst du?" fragte sie knapp. "Vielleicht kommt schon gleich dein Vater. Er soll mich sanft und begehrenswert vorfinden." "Der Mopo wollte deine Lebenskarte kaufen", antwortete Reik wütend, stürzte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. In seinem Raum angekommen, riß er das Fenster auf, hielt den erhitzten Kopf dem kühlen Nachtwind entgegen. Musik drang verlok-kend aus dem Velterpark. Cirrulaanergruppen zogen leise schwatzend und kichernd auf der Straße dahin. Eine einsame Fußgängerin schritt stumm an den Blumenrabatten entlang. Hastig schloß Reik das Fenster, stand noch lange mit klopfendem Herzen: Er glaubte, die goldhaarige Amenii gesehen zu haben. Als Reik erwachte, waren die anderen schon beim Frühstück. Nachdem er sich gebadet hatte, folgte er ihnen. Gerade erreichte er den zweiten Stock, da hastete ein Mann mit einem Paket, das in allen Regenbogenfarben leuchtete, an ihm vorbei, hielt kurz inne, wobei er
Reik scharf musterte. Er lief auf eine Wohnungstür zu, schloß sie mit einer Schuppenleiste auf, stellte das Paket ab. Aus der Wohnung quoll die gleiche Farbenvielfalt. "Hosso, Klien", rief der Mann, winkte und lachte. Reik kam drei Schritte näher, beobachtete das Farbenspiel aus den Räumen hinter der offenen Tür. "Flunker", der Cirrulaaner verbeugte sich, "Flunker an das Glas, Ratsch das macht Spaß! Unseres Lebens einziger Zweck: Flunker kaufen bei BibiGreg! He, das schlägt ein, was, Klien? Kennt ihr nicht, ihr Möbelbesitzer, aber Flunker, ohne zu flunkern, hauen rein. Bewußtseinssteigernd." Der Cirrulaaner schaute den Gang entlang, ehe er sich erneut Reik zuwandte. "Mußt du gehört haben", erzählte er vertraulich. "Neulich. Faxenbringer gesehen. Stand klein und unauffällig 221 auf der Bühne. Ganz harmlos. Sagt er: Wir Doddakinder! Der Saal lacht, ist begeistert. Derber Humor. Sagt er: Wir Doddaschönheiten! Saal biegt sich vor Lachen. Kliens kippen ab. Und dann sagt er: Wir Doddafresser. Sagt er auf offener Bühne. Direkt. Saal wird verrückt. Massenverstrickung. Und der da oben: Wir wühlen im Dodda! Spektakel. Mobiliar geht zu Bruch. Krawall. Gage schnellt hoch. Schon sechshundert Frantegos. Und immer noch Einfälle: Habe eine Doddafrau! Kriegt nur Doddakinder! Gebrüll. Wahnhafter Tumult. Verfaltungen. Dreitausendvierhundert Frantegos. Atemlose Spannung. Letzter Ein-fall: Kleider runtergerissen! Lachen erstirbt. Entflechtung! Kälteekel. Man übergibt sich. Kerl hat Dreck am Leib. Doddabewohner. Kein Faxenmann. Scheinwerfer und Mopo. Prügeln los. Schreit der, daß er durch ein Loch in der Stadtmauer kam, Abfalltonnen leeren wollte. Wurde hierhergetrieben . .. Darin fiel er um und war einfach tot. Spielverderber. Beifall für Mopo. Rutschpartie zur Röhre. Das war es... Na los, Klien, hab dich erheitert, reich mir ein paar Frantegos rüber." "Aber sonst geht es Ihnen ganz gut, wie?" fragte Reik aufgebracht. "Hör zu, Klien", der andere sprach hastig, beschwörend, "du bist unterhalten worden. Hast Flunker gesehen. Ich habe für dich gelacht. Das kostet Frantegos. Ich war nämlich gut." "Verschwinden Sie", verlangte Reik zornig. "Ich habe mir keine Unhöflichkeit erlaubt", zeterte der andere sehr gedämpft, "ich habe dir den Morgen versüßt. Mehr kann man nicht tun! Entlohne mich endlich!" Reik erinnerte sich an LynajaOny, an den Abend zuvor. Und nur das eine Gefühl beherrschte ihn: Rache zu nehmen für die Abweisung. "Sie sehen so aus", sagte er boshaft, "als ob sie ein bißchen früh in den Tonerhöhlen waren. Ein Probefalter, dem die Chirurgen die drei
entscheidenden Schnitte verpaßt haben ..." Noch während Reik das sagte, tat es ihm schon leid, so gesprochen zu haben. Der Cirrulaaner wankte zurück, fiel fast über sein Paket, stützte sich mühevoll am Türpfosten ab. Er stand da, während ihm Tränen über-die eingefallenen Wangen rannen. "Was wißt ihr denn", murmelte er, während er sich am Holz festhielt, "denkt, wir sind faul. Meine Eltern waren fleißig. Immer. Anders kenne ich sie nicht. Und doch hat es nicht für das Einfachste gereicht. Nie. Wie sie alles einteilten, wie sie seufzten und jammerten. Kann ich etwas dafür, nicht als Klien geboren zu sein? Konnten meine Eltern etwas dafür? Wofür haben sie sich abgerackert? Für nichts... Ja, Klien, ich war in einer Tonerhöhle. Ich wollte auch einmal etwas erleben, nicht nur immer schuften und zusehen. Schon am ersten Abend haben sie mich geschnappt. Kein Pardon, nein, es gab kein Pardon. Die drei Schnitte folgten, und ich wurde in Minuten zu einem Nichts . .." Er schluckte, wischte sich die Tränen 222 fort. "Stehe auf der Liste", erklärte er tonlos, "Flunker sind keine Möbel. Werde bald Dodda kennenlernen. Oder die Gräben. Oder Vans. Einerlei... Hosso, Klien." Er wollte die Tür schließen. "Warten Sie", Reik griff ein paar Scheine, reichte sie dem verzweifelten Mann. Der nahm sie mit gesenktem Kopf an, stand dann, ohne sich zu rühren, während Reik dem Speisesaal zuschritt. Am Nachmittag besuchten sie den Park der lustigen Tiere. LynajaOny sah bezaubernd aus. Sie war wie eine Blume aufgeblüht und stachelte Reiks Eifersucht erneut an. So war die Stimmung des Jungen gleichbleibend düster. Er hielt sich abseits, vermied jedes Gespräch, brütete vor sich hin. Sobald LynajaOny sich aber zufällig einmal Gerstfeld näherte, beobachtete Reik sie scharf, registrierte alles und deutete das meiste davon falsch. Auch Kornreck war schweigsam. Manchmal nahmen seine Augen einen sanftgrünen Ausdruck an, während seine Antennen sich aufrichten wollten; seine knallrote Kappe schwankte dann beängstigend. Der Park der lustigen Tiere erheiterte Reik nicht, denn entweder man hatte die Tiere sinnlos bemalt, in einen Rausch versetzt oder schläfrig gemacht. Sie taumelten durch ihre Gehege, fielen übereinander; sie standen mit geschlossenen Augen schnaufend oder schnarchend an den Umzäunungen und reagierten auf nichts. Selbst wenn 223 die käuflich zu erwerbenden Farbgeschosse der Besucher sie trafen, hoben sie höchstens einmal den Kopf. Andere Tiere trugen Ringe, Ketten und Abziehschmuck, man hatte ihnen Perücken übergestülpt oder Zöpfe an ihrem Schuppenkleid befestigt. Manch ein Tierhuf steckte
zwangsweise in einem Schuh, während andere Vierbeiner mit modischen Umhängen, Blusen, Röcken oder Hosen versehen waren. Der Hauptgang des Parks zeigte mißgestaltete oder verwachsene Tiere, wobei Reik sich des Verdachts nicht erwehren konnte, daß viele der leidvoll aussehenden Wesen durch Eingriffe in ihren bedauernswerten Zustand versetzt worden waren. LynajaOny lachte beinahe ununterbrochen. Manchmal lehnte sie sich gegen Gerstfeld, wenn sie schier keine Luft mehr bekam. Aber auch die anderen Cirrulaaner um sie, vom winzigsten bis zum ältesten, brüllten, johlten, kreischten und warfen begeistert ihre weichen Farbgeschosse nach den gequälten Kreaturen. Am Ende des Parks begann das Gelände des Aquatinums. Ein Seitenarm der Pandara bildete ungezählte Kanäle, die sich mancherorts zu kleinen Seen erweiterten, dann wieder zusammenliefen und ungezählte, mit wildem Pflanzenwuchs bestandene Inseln umschlossen. Das war der teure Teil des Parks, hier bewegte man sich wohlig ausgestreckt auf Wassercuutern fort. Gerstfeld mietete einen Cuuter. Sie nahmen, verfolgt von den neidischen Blicken der anderen Besucher, Platz, und der Cuutervermieter drückte den Starter. Lautlos glitten sie dahin, und nur einmal begegnete ihnen ein anderes Wasserfahrzeug. Auf diesen Inseln lebten die cirrulaanischen Tiere so, wie sie das in ihrer Heimat auch taten. Gerstfeld stand am vorderen Ende des Fahrzeugs, Kornreck hatte die Mittelbank okkupiert und lag ausgestreckt darauf, während Reik und das Mädchen am Ende des Cuuters saßen. Schweigsam verfolgten sie die vorüberziehenden Landstücke, ent-' deckten blütentraubige Seerosen und violettblühendes Wassergras. Plötzlich richtete sich Reik auf und sagte zu Gerstfeld: "Gib mir die Karte!" Er streckte die Hand aus. "Wenn du denkst, daß mit dem Besitz der Lebenskarte jedes Problem gelöst ist, sollst du sie bekommen." Gerstfeld warf die Metallplatte so geschickt, daß sie in Reiks Hand zu liegen kam. LynajaOnys Wangen färbten sich rosig ein. Lächelnd und stolz schaute sie Reik an, als habe der soeben ein Wunder vollbracht. Reik steckte die Karte nachlässig ein, schien nicht einmal zu bemerken, wie sehr sich das Mädchen freute. Er rückte etwas von ihr ab, legte ein Bein über das andere und betrachtete scheinbar sehr interessiert die Inseln, an denen sie vorbeikamen. Nur die Falten, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten, verrieten, wieviel Kraft es/ihn kostete, den 224 Desinteressierten zu spielen, wie mühevoll es für ihn war, LynajaOny nicht zu umarmen.
"Dein Vater ist sehr großzügig", stellte LynajaOny fest, während ihre Hand über die von Reik strich, "aber du bist ein kleiner Geschäftsheld, denn es hat dich nicht einmal ein Versprechen gekostet, meine Karte zu bekommen." Und als Kornreck sich kurz aufrichtete und das Mädchen aus schwach grünlich schimmernden Augen ansah, lachte sie begeistert. "Hast dich umsonst angestrengt, Kleiner", spottete sie, "hast vergeblich mit deinem Vater schöngetan. Reik ist der Sieger. . ." "Der verbrannte Modepolizist", unterbrach Reik das Mädchen, "muß ein eigenwilliger Mann gewesen sein. Merkwürdige Ansichten hat er gehabt. Sagte er doch, daß LynajaOny mit zehntausend Frantegos überbezahlt sei. Für zwanzig Frantegos, so wollte er mir einreden, könne ich die wahre Schönheit aus den Doddafeldern kaufen. Man müsse sie nur waschen, um aus einer Distel eine Orchidee zu machen. Er meinte, sie seien mütterlich und kameradschaftlich, treu und fürsorglich, nicht aber diese hier." LynajaOny war während Reiks Worten blaß geworden. Fast mattbläulich schimmerten ihre Gesichtshaut und ihre Lippen. "Vielleicht ist seine Frau von dort", stieß sie ärgerlich hervor, "wer geht schon zur Mopo." Sie zog ihren Arm zurück, kauerte sich in eine Ecke der Bank, schlang ihre Arme um die Knie. Als sie so saß, erinnerte sich Reik an sein abendliches Erlebnis. "Ach, da fällt mir ein", begann er vorsichtig und verschlüsselt zu erzählen, "treffe ich doch eine gute alte Bekannte von mir. Sie ging an unserem Hotel vorbei. Jedenfalls kam es mir so vor. Fräulein Amenii." Gerstfeld und Kornreck wandten die Köpfe, starrten Reik einen Moment ungläubig an. "Das ist allerdings bemerkenswert", sagte Gerstfeld und versank in Nachdenken. Kornreck schwieg, wie er es den ganzen Weg über schon getan hatte. Reik fühlte wohl, daß der Freund mit allem, was er tat, nicht einverstanden war, aber das störte ihn augenblicklich nicht. Sie wissen immer alles besser, dachte er, ohne daß sie tatsächlich etwas verhindert hätten. Chooroon ist stärker als sie, Gorgon war listiger. Argus gerissener, und Melaana, so scheint es, ist weitsichtiger. Was richten sie dagegen mit ihren Sprüchen aus? Nichts, zum Teufel, gar nichts. "Ich will euch hier", begann Gerstfeld, "wo wir uns der Ruhe ein wenig überlassen, bekanntgeben, daß uns der Principan Persepor sehen will. Wir sind an seinen Hof geladen. Er ist der oberste Herr von Atti-gas und Cirrulaan. Es ist eine Ehre, bei ihm eingeladen zu sein." Nach diesen Worten beobachtete er LynajaOny, die ein wenig blaß in ihrer Ecke saß und den Kopf gesenkt hielt. 225
"Hoho", meldete sich Kornreck, "da mußt du dich trefflich waschen und parfümieren, Reik, denn man sagt, daß der Persepor die lieblichsten Töchter des Landes hat." "Das werde ich wohl tun", fiel ihm Reik ins Wort, "darauf könnt ihr euch verlassen." Ein schier endloser Garten, in dem es künstlich angelegte Flüsse und Seen, verträumte Pavillons und Getränkehäuschen, zierliche Brücken und stelzbeinige Ruhsitzer gab, empfing sie, als sie, von einem Fahrzeug des Principans abgeholt, durch dessen Besitzungen fuhren. Vor einem langgestreckten schneeweißen Schloß, das einem König zur Ehre gereicht hätte, hielten sie an, stiegen aus und wurden von einigen Dienerinnen Persepors empfangen. Man geleitete sie über eine breite Marmortreppe in das Innere des Gebäudes, führte sie vorbei an einzigartigen Gemälden und beeindruckenden Plastiken, schritt durch hellerleuchtete Korridore bis in einen riesenhaften Saal, in dem schon etliche Cirrulaaner und ihre Frauen zusammenstanden und miteinander sprachen. Ein Glöckchen rief zu Tisch. Jeder nahm dort Platz, wo sein Kärt-chen stand. Stille trat ein, und in die Stille hinein erklang leise und fern jene nächtliche Hymne. Da sprangen alle wieder auf, blickten hoch zu der stuckverzierten Decke, in deren Mitte eine Glasscheibe hing, die ebenso leuchtete wie jene, die in der Nacht über der Stadt gestanden hatte. Die Lichtfäden aus der Scheibe berührten die Stirnen der Anwesenden. Da sagte einer nach dem anderen: "Mein Hirn dem Cirrulaan." Die Gefährten sprachen ebenfalls die Formel, die Lichter erloschen, und man nahm endgültig Platz. Ein rotsamtener Vorhang wurde zur Seite gezogen, eine kleine Bühne aus edlen Hölzern wurde sichtbar, und auf der Bühne stand ein Tisch, um den die Familie des Principans versammelt saß. Vier freie Sessel ließen die Anwesenden aufmerken. "Mein Hofvolk", der Principan sprach geziert, derweil seine Töchter, kaum daß sie LynajaOnys ansichtig wurden, boshaft kicherten, "ich erweise unseren gemeinsamen Gästen die Ehre, mit uns speisen zu dürfen." Die Anwesenden rieben sich begeistert ihre Bäuche, wobei helle und quäkende Töne entstanden. Gerstfeld, Kornreck, Reik und das Mädchen erhoben sich, stiegen auf die Bühne und nahmen in den Sesseln Platz. Der Principan lächelte Gerstfeld gönnerhaft zu, aber seine Augen huschten unsicher hin und her. Er sah aus wie einer, der sich ständig und unmittelbar von etwas bedroht fühlt, ohne daß er weiß, was für eine Gefahr in seiner Nähe ist. "Hofvolk", rief er würdevoll aus, wäh226
rend seine Finger mit einem kleinen Elfenbeinmesser spielten, "dieser Klien hier ist bereit, den Bau des Mittelkanals zu finanzieren. In ihm sind Freigebigkeit und Edelmut vereint. Hoch der Klien!" Erneut rieben sie sich die Bäuche, stellten so ihre Begeisterung unter Beweis. "Unsere Modepolizei", sagte der Principan leise z.u Gerstfeld, "ist in einem schlimmen Zustand. Im letzten Jahr haben wir mehr Mopos als Kliens festgenommen. Erpressung, Bestechung, Überfälle ... Es mangelt an Zucht und Ordnung. Und das ist eine reine Kostenfrage. TimbisUmbur ist bescheiden. Wenn wir aber einen Mann einsetzen wollten, der herzhaft durchgreift, müßten wir ihm weitaus mehr Frantegos bieten. Und die haben wir nicht. Ach was, es lohnt nicht, sich damit die Stimmung zu verderben. Genug der Klagen. Ich vernahm, daß Ihr ein glühender Verehrer meiner Jüngsten, BymyaPersepor, seid. Überschreibt ihr doch einfach ein Drittel der Kanalsumme. Ihr macht sie glücklich damit." Er klopfte mit dem Messerchen gegen sein Glas. Die Gespräche verebbten, alle sahen sie erwartungsvoll den Herrscher an. Der deutete auf Gerstfeld, während er ihm zuflüsterte: "TypsyPersepor und AganjaPersepor heißen die anderen Mädchen." Gerstfeld stand auf, verbeugte sich. "Ich gebe mir die Ehre", erklärte er gewichtig, "je ein Drittel der Kanalsumme den reizenden Mädchen BymyaPersepor, TypsyPersepor und AganjaPersepor zu überschreiben. Was soll auch der Kanal, es ist auch ohne ihn genügend Land erodiert. Diese drei entzückenden Wesen aber verkörpern Cirrulaans freundliche Zukunft. Verkündet und besiegelt: Klien Gerstfeld. Ich danke." Das Hofvolk sprang auf, hob Gerstfeld in die Höhe, trug ihn mehrmals um den ganzen Saal, ehe sie ihn wieder vorsichtig auf seinem Platz absetzten. "Und ich", rief da der Principan, "ernenne den kühnen Spender zum HöchstWahrenRitter von Attigas und Cirrulaan. Aber damit nicht genug, denn wer Augen hat, zu sehen, muß unbedingt bemerkt haben, welch zarte, ja zärtliche Blicke zwischen dem Rittersohn Reik und meiner sanften BymyaPersepor hin und her gewandert sind. Eingesponnen sind sie in die Blütenketten der Liebe. Sie sollen sich haben. Nach dem protokollarischen Ablauf dieses Tages werden sie sich drei Tage und Nächte erproben, ehe es auf den Kanälen und Teichen meines Besitzes zur Verschmelzung kommt. Überlassen wir die Unzuverlässigkeit der Pandara dem gemeinen Volk, das noch immer genug Widerstandskraft besitzt, auch einmal eine Stromschnelle zu überwinden. Das größte Feuerwerk dieses Jahres wird die beiden in die Kammer des Glücks begleiten. Für uns Grund genug, ein Jubelfest zu erleben."
Die Quarr- und Quäktöne steigerten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm. LynajaOny, der die Tränen in den Augen standen, sagte 227 wohl etwas, aber niemand verstand sie, und keiner nahm in diesen Minuten Notiz von ihr. Sie saßen, wie das Tagesprotokoll es ihnen vorschrieb, nicht lange danach in einer der Scheiben, um den ersten Besichtigungsort, das Ordnergeviert, zu besuchen. Von da aus sollte es zu den Gräben der Gefühlsaufsässigen gehen, zur Vergnügungsaufsichtsbehörde und zuletzt zur Insel Vans. LynajaOny saß auf einem drahtgeflochtenen Sitz. Den zweiten besetzte Gerstfeld. Reik und Kornreck hockten neben dem Ausstieg. Der Junge blickte manchmal hilfesuchend Kornreck an, dann wieder die blasse LynajaOny und zuletzt Gerstfeld. Doch keiner der drei schien seine Blicke zu bemerken, sie alle konzentrierten sich auf Dinge, die außerhalb der Scheibe waren. Ich kann doch überhaupt nicht heiraten, dachte Reik, ich werde schon morgen weiterziehen. Oder mindestens demnächst. Und klar kommen wir auch nicht miteinander. Verfallen, verflechten, verschmelzen ... Sie sind Säuger wie die Menschen, aber alles andere stimmt nicht. In der Ferne erblickten die Gefährten einen quadratischen Bau, der ohne allen Schmuck und Zierat bedrohlich aussah. Aus größerer Nähe erkannten sie eine mehrfache Abschirmung durch Metallzäune, die sprühend das Sonnenlicht reflektierten. Sie sahen Laufgräben und Übungsstädte, einen Schießstand und feinsinnig ausgedachte Hindernisse. Sarschan, bat Reik gedanklich, hörst du mich? Ich sollte es nicht, antwortete der, denn du hast mir mißtraut. Und das hat nichts mit deiner Jugend zu tun. Aber da wir Gefährten sind: Sprich, was bedruckt dich? Reik dachte alles wild durcheinander, was ihn bisher beschäftigt hatte. Eine Gruppe machtbesessener Cirrulaaner, die von einem Mann zusammengefaßt werden, den du heute kennenlernen wirst, antwortete Gerstfeld gedanklich, werden wohl zu verhindern wissen, daß du BymyaPersepor heiraten mußt, weil nach den Gesetzen ich der neue Principan und du der Prinzipas wärst. Diese Sorgen vergiß also. Aber erinnere dich von nun an daran, daß du mir mißtrautest. Das gereicht den Bewohnern deines Raumes nicht zur Ehre. Die Scheibe verlor an Flughöhe, ging zur Landung über, setzte hart auf. Sie sahen schon, während sie noch ausstiegen, wie die Mopo den Sturm von Häusern ebenso probte wie das fachgerechte Erschlagen von aufsässigen Doddabewohnern. Sie übten an Puppen, aber manchmal holten sie auch einen Gefangenen aus einem der Keller und töteten ihn.
228 Von einem Wachtposten flankiert, kam ein schrecklich aussehender Mann auf die Gefährten zugetaumelt. "Melde der Familie des HöchstWahrenRitters", schnarrte der Wächter monoton, "hier ist der Widerling aus dem Hotel. Wünscht man eine Zielübung am aktiven Modell?" "Hosso", stöhnte der Mann, den Reik nur schwer als den Witzeefzäh-ler mit dem Flunker erkannte, denn die Lippen waren blutig und aufgeplatzt, ein Riß überzog die Wange von der Stirn bis zum Kinn, und die Augen schienen blutunterlaufen. "Sie", sagte Reik erschüttert, "Sie hatten doch Frantegos. Warum haben Sie keine Möbel gekauft?" "Hab doch nie was gehabt", flüsterte der Verletzte, "nein, nie. Mein ganzes Leben nicht... Ja, hätte Möbel gebraucht. Aber einmal, einmal wollte ich festen . . ., festen. Rundreise um Attigas und Satrapen. War zahlend in Tonerhöhle. Garantierte Cirrulaanerin. Achtzig Minuten Glück, Klien, achtzig selige Minuten. Verstehst du? Wenn du nie was hast, immer nur rumdachst und scharwenzelst, dann, dann willst du es einmal wissen, was das ist: Glück. Glaub mir, Klien, sie lügen. Die Operation, alles Schwindel. War voll faltbar. Hab es erlebt. Danke dir, Klien, tausend Dank . . ." "Na los, Schweinchen", brüllte der Posten, "rüber, zur Übungsstadt. Überlebenschance für dich!" Der Cirrulaaner lief los. Stolpernd, immer wieder aus dem Tritt kommend. Ruhig sah der Posten zu, wie der Laufende in einer Senke verschwand, auf der anderen Seite wieder auftauchte. Jetzt zog er seine grünliche, punktierte Waffe, schaltete sie ein. "Hier", er wollte LynajaOny den Mechanismus erklären, aber die schaute nicht einmal hin, "erscheint der Umriß von Gegner. Sobald Umriß sich rot färbt, abdrücken. So!" Er löste den Schuß aus, aber die Waffe blieb, wie sie war. "He", belferte er, "Strahl verrückt geworden, wie? Waffe total hin. Und Schweinchen entgeht mir." Er schaltete seine Waffe aus, steckte sie beunruhigt ein und lief auf eines der massigen Gebäude zu. Während Reik, Kornreck und das Mädchen auf den Abflug warteten, hatte Gerstfeld eine kurze Unterredung mit TimbisUmbur. Der Herr des Gevierts empfing Gerstfeld in einem Besucherraum, wo er es sich in einem Sessel gemütlich gemacht hatte. "Ihr seid Geschäftsmann", begann er ohne Umschweife, "und ich bin es auch. Euer Besuch bedeutet, daß ihr Ausschau haltet, ob euch das hier zusagen könnte. Möglich, daß ihr meine Mörder schon angeheuert habt. . . Oder?"
"Nein", widersprach Gerstfeld, "allerdings verlangen auch meine GescHäfte Sicherheit. Nach der Hochzeit meines Sohnes mit BymyaPersepor verlange ich ein Drittel der Mopo unter mein Kommando. Und 229 sollte noch einmal unsere Scheibe auf Absturz programmiert sein, rollt Ihr Kopf. Ist das klar?" TimbisUmbur wurde kalkweiß. Er starrte Gerstfeld entsetzt an. "Als Zeichen guten Willens", fuhr Gerstfeld fort, "lassen Sie unverzüglich alle Gefangenen frei. Wir werden sämtliche Kräfte brauchen, denn eine Verschwörung bahnt sich an." "Selbstverständlich", antwortete TimbisUmbur und blickte Gerstfeld unterwürfig an. -Der grüßte knapp und verließ den Raum. Auf einem weiten Plateau, wo sechs hintereinanderstehende Metallhallen von drei Lichtschranken umgeben waren, erstreckten sich die Gräben der Gefühlsaufsässigen. Die Scheibe landete unmittelbar neben der ersten Halle. Sie mußten durch eine dreifache Schleuse, die immer nur eine Person aufnahm. Im Inneren war es hell und kühl. Maschinen standen sauber in drei Reihen. Ein Cirrulaaner empfing sie voll Ehrfurcht. "Schade", sein Blick glitt über die leeren Arbeitsplätze, "aber jetzt ist Mittagsruhe. Ein bißchen langweilig hier, wenn niemand etwas produziert. Die Gefangenen arbeiten vornehmlich des Nachts. Wir haben beste Erfahrungen damit gemacht. Die nächtliche Natur wirkt heilend auf die verwirrten Geister." Kornreck und LynajaOny traten an die Maschinen heran und betrachteten sie. Das Mädchen hob eine kleine Scheibe auf. "Das ist doch eine Zieleinrichtung", sagte sie erstaunt, "wird das hier hergestellt?" "Aber nein", rief der Cirrulaaner und hob abwehrend die Hände, "irgendwer hat es vergessen .. ." "Und die halbfertigen Rohre für Laserwaffen", unterbrach ihn Kornreck, "die hat natürlich auch einer vergessen. Vielleicht sind alle Maschinen in dieser Halle vergessene Maschinen? Es wäre interessant, zu erfahren, wo die Häftlinge sind und wer statt ihrer hier Waffen produziert." "Ich weiß nicht, was ihr meint", entgegnete der Cirrulaaner und kratzte sich aufgeregt den Kopf, "es ist, wie ich das sagte. Mittagsschlaf und die nächtliche Natur. . . Glaubt mir, ritterliche Kliens, sie sind keine üblen Burschen, die Gefühlsaufsässigen. Wir können sie doch nicht totprügeln, nur weil sie hier leben .. . Und Waffen, sicher war jemand hier, der wollte, daß wir so etwas herstellen. Kommt bei uns nicht in Frage." "Und das hier?" fragte LynajaOny scharf und deutete auf einige biegsame Leisten. "Kommunikationsanlagen nach Attigas. Tonerhöhlenrufer. Kontaktstäbe zur Vergnügungsaufsichtsbehörde . . .
Ein Ferienparadies, bei dem jeder noch mit den Schaltstellen der Mächtigen verbunden ist. Welche Gefangenen erfahren solche Sondervergünstigtin-gen?" 230 "Aber Kliens, Freunde", der Cirrulaaner begann zu zittern, "was seht ihr denn da? Könnte es nicht eine optische Täuschung sein? Ich meine, mal ganz ehrlich: Kommunikation und so, natürlich, wir nutzen sie bei Gefühlsaufsässigen; Aber das andere ..., das ist ja nicht einmal mir bekannt, wenn es so wäre . .." "Unserer Begleiterin", warf Gerstfeld, der bisher stumm zugehört hatte, ein, "ist es bekannt. Das bedeutet für uns, wir brauchen freien Abzug. Das ist einsichtig. Ich schlage vor, Sie öffnen alle drei Schleusentüren auf einmal. Weil es hier so stickig ist."* Der Cirrulaaner starrte Gerstfeld fragend an, schien für solche Vorkommnisse keine Anweisung zu haben. "Die Türen", Gerstfeld deutete lebhaft auf die Schleuse, "öffnen!" Der Cirrulaaner rührte sich nicht. Gerstfeld wandte sich der Tür zu, nahm die Sonnenbrille ab. Sekunden später stürzte die erste Tür, gefolgt von dem mitteleren Schott, in den Gang, während die äußere in die Wand zurückglitt und sich dort knirschend verklemmte. Noch immer stand der Cirrulaaner starr, rührte sich auch nicht, als die Gefährten, und das Mädchen hinausschlüpften, die Scheibe bestiegen und mit maximaler Geschwindigkeit im Tiefstflug entflohen. "Wetten", erklärte Gerstfeld, während sie in ein Tal eintauchten und dicht über den Wassern eines Stromes dahinjagten, "daß sie ihre neuentwickelten Zielgeräte sehr gern an uns ausprobieren würden." "HöchstWahrerRitter von Attigas", meldete sich da ein Lautsprecher, "hier ist die Kontroll- und Protokollabteilung des Principans. Aus technischen Gründen muß der für jetzt angesetzte Besuch der Vergnügungsaufsichtsbehörde entfallen. Statt dessen besuchen Sie die Insel Vans. Der Hafenkommandant TakElgos wird sie begleiteri. Ist ein hochinteressantes Gelände, dieses Vans. Früher mal Insel JunisKorn gewesen. Davor noch anderer, aber unbekannter Name. Jetzt Vans. Gervalaan und Gontarland behaupten, daß Vans zu ihnen gehört. Ist falsch. Cirrulaanische Alleinvertretung auf Insel. Von uns eingesetzter Statthalter in mancher Beziehung ein wenig radikal. Sie werden es erleben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit." Sie folgten dem Strom, durchmaßen Wälder, deren Baumwipfel sich hoch über dem Wasser verflochten und ein Dach bildeten, kamen an Ortschaften und Siedlungen vorbei, die ländlichen Charakter aufwiesen, und sahen schon nach zwei Flugstunden das Meer, an dessen Küste sie eine große Hafenstadt empfing.
Die Scheibe landete auf dem Scheibenkreis eines gewaltigen Motorschiffes. Sie krochen ein wenig ungelenk heraus, als sie schon Kapitän TakElgos, der Hafenkommandant, begrüßte. Er war kräftig, hatte ein wettergebräuntes Gesicht, klare blaugrüne Augen. "Willkommen", sagte er, reichte Gerstfeld die Hand, dann auch Reik. 231 Kornreck übersah er geflissentlich, während er LynajaOny mit einem beinahe verachtenden Blick strafte. Während Kornreck, Reik und das Mädchen über das Deck schlenderten, nahm der Kommandant Gerstfeld mit sich auf die Brücke, bot ihm dort einen Sitz an, während er sich auf einem zweiten niederließ. "Sie sind ein geheimnisumwobener Mann", begann der Kommandant das Gespräch, "selbst meine Freunde bei der Vergnügungsaufsicht haben nicht eindeutig erfahren, wie Sie zu Ihren Milliarden gekommen sind. Die einen wollen Sie in Verbindung mit dem Raub der Staatskasse von Gontarland bringen, die anderen mutmaßen, Sie seien jener von Frau Zitadorra geschickte Mann. Allerdings müßten Sie da eine bestimmte Parole wissen..." Er lächelte, schnipste mit dem Finger, und eine kleine Cirrulaanerin brachte ihnen winzige Gläser und den Sud eines Tees. "Sich gegen ASGEDAN zu wehren", antwortete Gerstfeld prompt, "verlangt nicht die Kraft Chooroons, sondern den freien Willen jedes einzelnen ... Meinen Sie das? Sicher doch, Kommandant. Trotzdem ist es mir lieber, wenn Sie in mir den gontarländischen Staatskassenräuber sehen. Sie gestatten?" Er erhob sich, legte die auffällige Klejdung ebenso ab wie den falschen Bart und die gefärbten Haare, vertauschte seine gute alte Brille gegen jene Sonnenbrille. Nun trug Gerstfeld eine Kombination, die der von Reik aufs Haar glich. "Sie kennen die Losung", der Kommandant blinzelte nervös, "bei Cingis, wenn Sie darauf bestehen, dann ..., dann kehren wir um." "Das ist durchaus nicht nötig", erwiderte Gerstfeld händereibend, "Ihr Auftrag ist es, uns in den Gewässern von Vans auszusetzen und dann umzukehren. Schließlich wird, wenn ich richtig informiert bin, in dieser Nacht der Principan beseitigt und durch einen anderen ersetzt." Der Kommandant wurde einen Schein blasser. "Sie wissen das", er stöhnte, "und kommen trotzdem hierher?" "Gerade", erklärte Gerstfeld munter, "gerade, denn es wird ein sehr ungesundes Abschlachten werden. Sie selbst bilden sich ein, neuer Principan zu werden. Mit Ihnen aber hoffen drei andere auf dasselbe. Und wen die verehrte Frau Zitadorra oder vielleicht auch die Maschine Norrh tatsächlich einsetzt, wissen Sie das so genau?" Im Gegenteil, ich meine, Sie sind viel zu national eingestellt, als daß Sie Chancen haben, diesen heutigen Tag zu überleben."
Der Kommandant versank in minutenlanges Schweigen. "Und Sie denken", sagte er schwerfällig, "daß Sie sich auf Vans verbergen können, um dann, wenn alles vorüber ist, erneut aufzutauchen und mit Ihren Milliarden das gleiche Spiel zu beginnen. Aber - nicht jeder Principan hat Töchter." Gerstfeld antwortete dem Sprecher nicht. 232 "Furgonen", fuhr der Kommandant nach einer erneuten Pause fort, "was soll das: Furgonen! Mir gefiel die Bezeichnung Modepolizei. Sie werden umbenannt. Furgonen. Das ist es nicht allein. Destrusos hat ganz Cirrulaan gemietet, um seinen Unrat abzuladen. Das war der Preis für die Umverteilung der Positionen. Neue Doddafelder statt Landwirtschaft. Nicht Verminderung der alten, sondern weitere Erosionen. Attigas, der Velterpark, alles ist dann von Destrusos und seinen Lieferungen abhängig. Und sie können den Preis machen. Das alles gefällt mir nicht. Wenn Sie mich deshalb einen Nationalisten nennen, dann will ich wohl einer sein." "Mich stört das nicht", beschwichtigte Gerstfeld den aufgebrachten Kommandanten, "aber von Frau Zitadorra kann man kaum das gleiche sagen." "Da, sehen Sie", der Kapitänkommandant erhob sich unsicher, lehnte auf der Reling, als könne er nicht mehr auf eigenen Füßen stehen, "dort bei den Bojen beginnt das Gewässer von Vans. Und Sie werden tatsächlich freiwillig in ein Beiboot steigen und hinüberrudern? Sie sind schon angekündigt. Erwarten Sie keinen freundlichen Empfang. Und dann noch mit diesen Begleitern ..." "Ich weiß alles", unterbrach Gerstfeld den wettergebräunten Cirrulaaner, "und es wird geschehen, wie Sie es wissen. Ich verabschiede mich schon jetzt von Ihnen, weil ich mich um meine Familie kümmern muß." "Nur noch eine Frage", der Kommandant faßte Gerstfeld am Ärmel, "aber was, wenn man Ihnen das Konto nimmt? Sie auf Vans und ohne Frantegos. Was dann?" "Ob man es mir läßt oder nimmt", antwortete Gerstfeld lachend, "es wird noch genügend Ärger damit geben. Verlassen Sie sich darauf, Herr Kommandant." "Na ja, möglich", erklärte der, ohne richtig zugehört zu. haben, "TimbisUmbur..., solange ihn keiner kauft, müßten wir doch die Oberhand behalten. Mopo statt Furgonen." Mit dieser für ihn freundlichen Ansicht der Dinge kehrte auch die alte Spannkraft in den Kommandanten zurück. "Sie haben dabei nur eins vergessen", Gerstfeld schüttelte den Kopf über die Naivität des Kommandanten, "es gibt keine Gefangenen mehr in den Gräben der Aufsässigen. Dort sind, wer weiß, unter wessen
Anleitung, junge kräftige Männer aus dem Dodda zu einer ersten Furgonenabteilung herangebildet worden. Sie haben völlig neue Waffen und Zielsysteme. Und es gibt nichts, was sie nicht hassen. Sie sollten nicht allzu große Stücke auf Umbur geben, sonst sind Sie plötzlich sehr enttäuscht." Gerstfeld verließ die Brücke, winkte den Freunden, und sie stiegen 233 gemeinsam in das kleine Beiboot, das unmittelbar darauf zu Wasser gelassen wurde. Gemächlich trieben sie an den Bojen vorbei auf eine der ungezählten Buchten der Insel zu. Das Motorboot drehte ruhig ab, nahm dann Fahrt auf und fuhr dem Festland entgegen. Es war nach zehn Minuten hinter dem Horizont verschwunden, als dort ein feiner Lichtschein den Himmel erhellte. "Er hat es nicht geglaubt", stellte Gerstfeld fest, "er wird es nun nie mehr glauben können." Sie trieben auf einen kleinen Hafen zu, in dem einige flache Schiffe lagen. Eins von diesen löste sich von dem Pier, nahm Kurs auf das Beiboot und stoppte direkt neben ihnen. Eine Metallklappe schwang auf, und etliche Frauen und Männer in lichtblauen Uniformen erschienen an Deck. Sie warfen eine Strickleiter hinunter, auf der Kornreck als erster nach oben turnte. Ihm folgte Reik, dann LynajaOny und zuletzt Gerstfeld. Vom ersten Augenblick an wurde das Mädchen mit Hochachtung behandelt, während Reik, Kornreck und Gerstfeld in einen schmucklosen Raum geführt wurden, der nur ein winziges vergittertes Fenster besaß. Man schloß von draußen die Tür ab, und niemand kümmerte sich um sie. Das Kampfschiff verließ die Bucht, umrundete die halbe Insel und näherte sich einem anderen Hafen, wo es keine Fischerboote gab. Dafür standen einige verschlossene Fahrzeuge am Kai. Das Schiff hatte kaum seine Anker ausgelegt, als man die Tür, hinter der die Gefangenen waren, aufschloß und sie einzeln hinausführte. Es ging über einen hölzernen Steg auf den Kai und von dort direkt in eines der Fahrzeuge. Nachdem Gerstfeld als der letzte eingestiegen war, verschloß man auch diese Tür, und es begann eine ermüdende Fahrt. Sie kamen an Dörfern und dschungelartigen Wäldern, an sanften Hügeln voll blühender Sträucher und langgestreckten Feldern vorbei. Der Tag versank mit der Sonne hinter den fernen Bergen. Hoch am Himmel blinkten ungezählte Sterne. "Wo bringt man uns hin?" fragte Reik leise. "Du wirst es schon bald sehen", antwortete Gerstfeld, "was hältst du eigentlich von all dem?" Reik senkte den Kopf. "Ich habe bisher eigentlich alles verstanden", sagte er sehr leise, "alles, was ihr mir gesagt habt, aber.. ., und das ist schlimm: Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Ich wollte keinem
mißtrauen ... Ich habe doch keinen Grund, aber..., ich hätte verrückt werden können, wenn ein anderer sie anfaßt. Und ... ich selbst hätte sie, ohne nachzudenken, ins Unglück gestürzt, wenn... sie nicht so fremd gewesen wäre. Wenn ihr wollt, trennt euch von mir. Ich glaube, ihr habt mich überschätzt." "Bis zu diesem Augenblick ja", widersprach Kornreck, "aber jetzt 234 nicht mehr. Reik, wir wollen niemanden, der fehlerfrei ist, dann müßten wir uns schon an den Herrn Unfehlbaren wenden. Wir brauchen einen Gefährten, der lernen kann, der einsichtig ist. Du bist der, den wir suchten." Sie erreichten die Vorboten einer Stadt. Auf der linken Seite zog sich ein Friedhof hin, der von dem frühen Mondlicht unwirklich ausgeleuchtet wurde, während auf der anderen Straßenseite ein hohes Gitter war. Nach weiteren zehn Minuten erreichten sie ein offenes Tor, das, kaum war das Fahrzeug hindurchgerollt, verschlossen wurde. Nun fuhren sie durch einen nächtlichen Park, in dem Insekten und Vögel aufgeregt sangen. Hinter einer leicht gebogenen Brücke begann eine schnurgerade Allee, an deren Ende ein hellerleuchtetes Gebäude stand. "Wo ist eigentlich LynajaOny?" fragte Reik, der durch ein feines Gittersieb hinausspähte und gespannt das Gebäude musterte, dem sie sich unaufhaltsam näherten. Das Fahrzeug stoppte, die Türen wurden heftig aufgerissen, und die drei Gefangenen stiegen aus. Sie standen in einem Kreis, der aus Uniformierten gebildet war. Die einzige Öffnung ging zu einer breiten Treppe hin, die zu dem großen Haus emporführte. Auf der Treppe bildeten Soldaten Spalier und achteten darauf, daß keiner der drei entkam. 235 In der Vorhalle des Gebäudes hingen Waffen, Tierköpfe und Vogelbälge. Das Spalier der Uniformierten lenkte die Gefährten direkt zu einem großen Saal, dessen Tür angelehnt war und, als sie diese erreicht hatten, aufgerissen wurde. Unruhiges Fackellicht erleuchtete einen Saal, an dessen Wänden ebenfalls dicht an dicht die Soldaten standen. In der Mitte dieses Raumes aber hingen ungezählte leuchtende Fäden von der Decke herab, die eine große runde, samtbespannte Liege erhellten. Auf dieser saßen der Statthalter der Insel Vans und - LynajaOny. Reik entfuhr ein überraschter Ausruf, als er das Mädchen sah. Sie war in weiche Seidenstoffe gehüllt, trug ein Stirnband aus schimmernden Schmetterlingen, einen edelsteinbesetzten Gürtel und Schuhe aus
Vogelfedern. Sie hielt den Kopf schief, ein anmutiges Lächeln auf den Lippen. "Na endlich", frohlockte der Statthalter, "nun muß ich meine Geduld nicht mehr bezähmen. Wißt, ihr, über deren Schuld ich nun befinden will, daß ich SerelOny, der Vater der armen und geschändeten Lyna-jaOny, bin. Alle Welt nennt mich mildtätig und freundlich, doch ihr werdet nun das Ungeheuer SerelOny kennenlernen, wenn auch nur eine Lüge über eure Lippen streicht. Nun, sprecht, kennt ihr dieses Mädchen an meiner Seite?" Gerstfeld betrachtete den Statthalter staunend, ohne etwas zu antworten. Kornrecks Augen schimmerten sanft grün. Er schwieg ebenfalls. ,Ja", sagte Reik, "wir kennen sie ... LynajaOny war unsere Gefährtin, während wir durch Cirrulaan irrten." "Sie kennen sie", schrie SerelOny und stieß ein Kissen zornig fort, "das sagen sie so einfach! Unholde, wie gut kennt ihr sie denn? Na, aber keine Lügen!" "Unholde?" fragte Reik verdutzt und schaute dem Mädchen ins Gesicht. "Haben wir irgend etwas getan, was die Welt nicht wissen dürfte?" "Etwas", jammerte SerelOny, "er hat etwas gesagt! Bei Cingis, soll ich ihm das ganze Schuldregister vorbeten? Wieviel habt ihr für sie bezahlt? Na...?" "Zehntausend", antwortete Reik, "sie war nach cirrulaanischem Recht dem Tode verfallen, weil sie einen Gurtschweber ohne Geld benutzt hatte." "Zehntausend Frantegos", der Statthalter pfiff durch die Zähne, "also war sie euch schon etwas wert. Das bringt mildernde Umstände. Nun, wie waren die Nächte mit ihr? Wart ihr alle zufrieden? Auch der kleine Krüppel dort?" Die Soldaten an den Wänden stießen ein heiseres Gelächter aus. 236 "Was soll das heißen?" fragte Reik laut und zornig. "Das hat sie euch nie gesagt. Und wenn doch, dann hat sie gelogen. LynajaOny, hast du das gesagt? Antworte mir!" "Ein hübscher kleiner, aber leider verlogener Bengel", spottete SerelOny, "und keine Achtung vor der Obrigkeit!" "Lynaja", wiederholte Reik, "bitte sage du etwas! Bin ich nicht gegangen, als du es verlangt hast? Hat dich einer bedrängt oder belästigt? Der Mopo nannte dich Flittchen und fand, daß zehntausend überbezahlt sind. Aber ich . . ., ich liebte dich trotzdem . . ." Ein dunkles Grollen von den Wänden zeigte den Gefährten, daß die Uniformierten aufgebracht waren.
"Lynaja", Reik machte einen Schritt auf die Liege zu. Da senkte das Mädchen den Kopf, blickte auf die vielfarbigen Federschuhe, die es trug. "So habt Ihr Eurer Tochter verboten, daß sie spricht", schrie jetzt Reik, außer sich vor Zorn, "und Ihr nennt Euch Statthalter dieser Insel. Ich kenne da einen, der hat an einem Tag alles durchgebracht. Dafür kam er zu Umbur. Der, so behaupte ich, wäre ein besserer Statthalter als ihr!" Totenstille breitete sich aus. Die Soldaten erstarrten, erwarteten, daß der Angriffsbefehl nun erschallen würde, doch nichts weiter geschah. "Nun verstehe ich", der Statthalter wurde noch spöttischer, "daß man euch zu HöchstWahrenRittern von Attigas ernannt hat. In euch leben tatsächlich noch die Ideale jener goldenen Zeit. . ." "Sagen wir", erklärte Kornreck mit deutlicher Stimme, "daß in uns die Ideale einer Zeit leben, die der euren so weit voraus ist, daß ihr uns nicht einmal verstehen könnt. Ihr müßt diese Zeit fürchten, in der es weder brüllende Soldaten noch armselige Statthalter geben wird." "Gut gebrüllt, Heuschrecke", rief der Statthalter und lachte mek-kernd, "alles ungeheuer schön. Nur: Ihr wollt doch sicher meine Tochter entschädigen. Das muß doch so edlen Rittern ein inneres Bedürfnis sein. Oder?" "Lynaja", Reik wandte sich noch einmal an das Mädchen, "wir haben dir das Leben gerettet. Das wirst du doch noch wissen. Wir haben dich mitgenommen, als wir zum Principan gingen. Wir ließen dich nirgends zurück oder allein. Und keiner von uns hat dir Schmerzen oder Qual bereitet. Nun sprich doch schon!" Da hob LynajaOny stolz den Kopf, sah Reik sehr gerade an. "Ich will", sagte sie, "daß du nicht diese alberne BymyaPersepor heiratest, sondern mich. Heirate mich, Reik ..." "Liebst du mich denn?" fragte der Junge verwirrt. ,Ja", sie lächelte, während sie sich zurücklehnte, "ja, ich liebe dich. Weißt du, alles läßt sich regeln. Ihr bekommt euer Geld nach Vans 237 überwiesen. Und bis es soweit ist, da . . ., da müßten einfach dein Bruder und ein wenig auch dein Vater arbeiten gehen, damit wir etwas zum Leben für uns haben." "Dann fälle ich das Urteil", bestimmte SerelOny. "Der Geliebte meines einzigen Töchterchens, dieser Ritterssohn, wird die Freude meiner alten Tage, die cingidische Lynaja, ehelichen. Beschlossen und verkündet. Der Ritter selbst soll so lange mein Steuerberater sein, bis daß sein Geld eingetroffen ist, von dem er ein Drittel seinem verheirateten Sohn überweist. Beschlossen und verkündet. Der Krüppel aber, der sich ebenfalls Sohn des Ritters nennt, wird im städtischen Lachkabinett ausgestellt, wo er sich fünfmal täglich unbekleidet zeigen muß. Der
Ritterssohnestitel wird ihm aberkannt, dafür darf er sich zukünftig Hofwanze von Vans nennen. Beschlossen und verkündet. So, meine Lieben, jetzt kommt der gemütliche Teil des Abends. Zuerst du, Hofwänzchen, zieh dich hier aus, ergötze uns mit deinen Verkrüppelungen, bring mich zum Lachen. Laß sehen, was du hast!" "Willst du das wirklich?" fragte Kornreck mit einer Stimme, die Reik einen Schauer über den Rücken trieb. "Denkst du Wanze von einem Hofnarren vielleicht, daß ich scherze?" schrie der Statthalter und hieb sich auf die Oberschenkel. "Inula ...", sagte Gerstfeld nur sehr leise, denn er wußte, was nun geschehen würde. "Du hast es gewollt!" Kornrecks Augen schimmerten grün wie das Gras an einem Maienmorgen. Mit einer plötzlichen Bewegung schleuderte er seine Mütze fort. Die Antennen ruckten steil in die Höhe. Ebenso heftig zog er das zweite Armpaar aus den Ärmeln des ersten, streckte alle vier Fäuste dem Statthalter entgegen, und öffnete sie ruhig. Etwas, was Reik wie ein dunkles wogendes Licht erschien, flammte an Kornrecks Handinnenflächen auf, durchglaste den Raum. Ein schmerzhafter, klirrender Ton gesellte sich zu dem Licht. Reik begann, obwohl er außerhalb der Reichweite Kornrecks saß, wie im Fieber zu zittern. Sein Kopf wurde schmerzhaft zusammengepreßt. Der Statthalter schrie gräßlich auf, griff sich an den Kopf, stürzte nach vorn, wo er schwer auf den teppichbelegten Boden aufschlug. LynajaOny wurde weiß wie das Tuch, das lose an ihr herabhing. Sie saß starr auf den Kissen, "rührte sich nicht mehr. Hinter den beiden aber stürzten die Soldaten übereinander, lagen reglos und atmeten wie Betäubte. "Ich sehe nichts mehr!" schrie der Statthalter schrill. "Warum lachst du nicht?" fragte Kornreck ernsthaft, "jetzt, wo einer Schaden gelitten hat." 238 "Hilfehilfehilfe", jammerte SerelOny, "man kann mich doch nicht in dieser Finsternis lassen! So macht doch etwas!" Schweigend und sehr gerade saß Lynaja auf ihrem Platz. Tränen rannen ihr über das Gesicht. "Foltert diese Bestien!" befahl der Statthalter seinen Soldaten. "Foltert sie, bis ich wieder sehe!" "Wozu brauchst du Augen?" fragte die Zarppe düster. "Blind bist du mit und ohne Augenlicht für alles Elend, was dich umgibt." "Ergreift sie!" wimmerte SerelOny. "Reißt ihnen die Gliedmaßen aus dem Körper!"
"Sie tun es nicht", entgegnete Kornreck, "denn die einen liegen in einem Schlaf erstarrt, den ich vielleicht einmal aufhebe. Und dann werden sie noch einige Monate nichts anderes als graue Schatten sehen. Die anderen erinnern an Leichen, so blaß sind sie. Und ihr einziger Wunsch ist: tausend Meilen fort von dir zu sein." Er schnaufte verächtlich. "Und die in den Vorräumen", beendete er den Situationsbericht, "sind auf den Vorplatz geflüchtet, liegen dort in Deckung und hoffen, zum Schuß zu kommen. Ob sie allerdings uns oder dich meinen, müßte man erst noch ausprobieren." "Mein Augenlicht", stöhnte der blinde Statthalter. "Nie!" erwiderte Kornreck. "Alles, was mein Gefährte vortrug, ist wahr. Und als Dank für unsere Freundlichkeit werden wir verurteilt. O nein, du bleibst, wie du bist." "Dabei wißt ihr nicht alles", erklang da Gerstfelds Stimme, "meine Gefährten der ASGEDANrunde." Nach diesen Worten ging ein verzweifeltes Jammern durch die Reihen der Uniformierten an den Wänden, sie warfen die Waffen zu Boden, streckten die Hände in die Luft, drehten sich mit den Gesichtern zur Wand und blieben so stehen. "Nein", fuhr Gerstfeld fort, "es gibt noch mehr. Zum Beispiel einen Startund Landeplatz für Kampfmaschinen von Destrusos. Zum Beispiel die Lüge der LynajaOny, die eigentlich LynajaPersepor heißt und die älteste Tochter des Principans ist. Sie sollte auskundschaften, ob wir etwa von anderer Gestalt sind und vielleicht gar der ASGEDANrunde angehören. Sie war auch dazu bereit. Jedenfalls so lange, bis sie sich tatsächlich in Reik, und er sich in sie, verliebte. Von da an log sie, meldete heimlich ihrem Vater, daß wir Cirrulaaner seien. Sie verwischte damit unsere Spuren, und Frau Zitadorra ging in die Irre. Und ich denke, daß sie uns vielleicht noch weiter gefolgt wäre, sich enger an uns geschlossen hätte, wenn nicht ihr Vater einen teuflischen Plan gehabt hätte: Er verheiratete Reik mit BymyaPersepor, traf damit Lyna-jas tiefstes Gefühl und hoffte, sie möge nun an unserer Vernichtung arbeiten. Die Sache mit der LynajaOny und unserer Verbannung nach 239 Vans stand schon lange fest. Laßt mich bei all den Bosheiten, Lügen und Intrigen nur eines sagen: Lynaja handelte wie eine wirklich Liebende." "Was wollte die Mopo?" fragte Reik. "Sie wollten dir den Namen LynajaPersepor verkaufen", antwortete Gerstfeld bereitwillig. Reik trat auf Lynaja zu und wollte ihr seine Hand reichen. Doch das Mädchen reagierte nicht. Da erst sah der Junge, daß Lynaja blind war wie der Statthalter. Er machte noch einen Schritt, hob sie sanft hoch
und umschloß sie mit seinen Armen. So blieb er stehen, hielt sie und wandte sich um. • "Gerstfeld", bat er mit erstickter Stimme, "du darfst sie nicht strafen, so gib ihr das Augenlicht wieder. Ich bitte für sie." "Ich kann das nicht", antwortete ihm der große Mann, "denn es ist Kornrecks Sache, dies zu tun. Aber was ist, Reik, jetzt, da sie weiß, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir wollen, fürchtest du nicht, sie würde uns verraten, so sie alles wieder sieht?" "Nein", entgegnete Reik, "nein, denn wenn sie mich liebt, wie ich sie liebe, dann wird sie uns nicht ausliefern. Sie wird uns nicht verraten." "Nun, Reik", fuhr Gerstfeld unbeirrt fort, "da ist noch etwas, was du wissen mußt: In dieser Nacht geschieht vieles. Es wird eine schreckliche Nacht für dieses Reich. Destrusos greift nach allem, was uns umgibt. Und Melaana hatte einen Mann ausersehen, der hier als allmächtiger Statthalter residieren sollte. Das war Gorgon. Begreifst du, mit welcher Wut sie uns verfolgen? Und dann, sie ahnen, daß unser Weg von hier nach Humanos führen wird. Sie werden alles aufbieten, um uns scheitern zu lassen. Sie werden endlose Mengen ihres feurigen Goldes als Belohnung aussetzen. Wer ist dagegen gefeit?" "Sie wird uns begleiten", sagte Reik leise, "sie wird mit uns kommen, bis wir in Sicherheit sind. Ich weiß es." "Er ist sich seiner Sache wieder einmal ungeheuer sicher", sagte Gerstfeld, "was meinst du, Inula, ob er die Wahrheit sagt?" "Inula", rief Reik, "lieber, kleiner Freund! Held von Astras! Ich weiß, daß du mir glaubst. Ich bitte dich, sie wieder sehend zu machen." "Hast du das gehört, Gerstfeld?" fragte Kornreck, "nicht so ein frantegobezahlter Jammerritter von Attigas, sondern ein Held von Astras steht hier... Gut, laß sie los, Reik, es soll sein." Kornreck trat an das Mädchen heran, ließ sie niederknien. Er legte ihr zwei seiner Hände auf die Augen und die anderen beiden Hände auf die Stirn. So blieb er einige Minuten stehen, während SerelOny auf alles horchte, was um ihn her geschah. "öffne deine Augen", befahl Kornreck, und das Mädchen tat, wie ihm geheißen. Leise, vor Glück weinend, umarmte sie die Zarppe, hob 240 sie hoch, küßte ihr die Augen, die Nase und den Mund. Sie setzte Kornreck sanft ab, lief dann zu Reik und schmiegte sich an ihn. "Ich will auch sehen!" brüllte SerelOny, schlug sich mit den Fäusten gegen den Kopf, trat auf den Kissen herum und suchte irgend jemanden zu fassen. "Ich werde euch mit Blaurohren abschießen lassen. Oh, Melaana von Zitadorra! Räche deinen Sklaven! Zerschlage diese
Bastarde der ASGEDANrunde, die noch immer ungestraft hier herumlaufen! Unfehlbarer, ich bitte dich, zertrümmere sie!" Während er tobte, in ohnmächtiger Wut seine Kleidung zu zerfetzen begann, winkte Kornreck den Gefährten zu, ihm zu folgen. Doch LynajaPersepor hob abwartend die Hand. Man folgte ihr an das Fenster, wo sie einen Knopf bediente. Da sahen alle, daß der weite Vorplatz des Hauses von Schützen übersät war, die überall in Deckung lagen und sofort feuern würden, wenn jemand herauskam. Gerstfeld streifte sich die Ärmel hoch. "Immer hinter mir her", flüsterte er, "es geht schon gut aus." Er breitete die Arme aus, ging danach mit ruhigen Schritten auf die Tür zu. Nach solcherart Vorbereitung winkte er, man möge ihm folgen. Aber das Mädchen schüttelte den Kopf, legte einen Finger auf ihre Lippen, deutete zu einer prächtigen Fahne, die an einer der Wände hing. Kornreck und Gerstfeld wechselten einen schnellen Blick, gaben dann ihr Einverständnis. So folgte man LynajaPersepor durch eine Geheimtür. "Ich lasse alle Wachen erschießen", jammerte SerelOny, der noch nicht begriffen hatte, daß die Freunde nicht mehr im Raum waren, "denn sie haben euch beleidigt und gequält. Ich schenke euch meine Schätze und ein Motorboot zur Flucht, nur: Laßt mich wieder sehen!" Er gewahrte auch nicht, wie einige der Soldaten, die bis jetzt das Gesicht abgewandt hatten, herumfuhren, die grünschuppigen, kurzen Waffen zogen, sie entsicherten und auf den Statthalter richteten. Das Mädchen führte die Gefährten durch verborgene Gänge, in denen es feucht und klamm roch. Als sie in die Sternennacht hinaustraten, lag der Park des Statthalters hinter ihnen. Sie standen auf einem uralten Friedhof, dessen bemooste und teilweise verwitterte Steine aneinanderlehnten, umgestürzt waren, unter Blütentrauben verschwanden. Der Mond schien hell auf sie nieder, und Nachtvögel sangen zart und sehnsuchtsvoll. "Wo wollt ihr hin?" fragte das Mädchen, setzte sich auf einen der Marmorsteine. " "Skargarras", antwortete Gerstfeld leise. "Das ist ein geheimnisvoller Ort", sagte das Mädchen, "dort gibt es nur bleiches Gestein, und mancher, der einen Ausflug dorthin machte, 241 kehrte nie zurück. Die Seeranen sollen dort leben, schattenhafte Wesen, die einen an die Klippenränder locken und dann hinunterstürzen." Sie erhob sich von dem Stein und schritt aus. Nachdem sie die Straße überquert hatten, führte sie das Mädchen einen Fußpfad entlang, der sich durch das bizarre Gelände wand und der von Steinblöcken, weißlichviolett blühenden Sträuchern und einer Baumart
mit weit ausladender Krone eingefaßt war. Als sie eine steil aufragende Felswand erreichten, wurde der Pfad zum Tunnel, hielt sich in unmittelbarer Nachbarschaft eines leise glucksenden Baches, bis er nach fast tausend Metern jenseits der Steinbarriere wieder hinaus in die Nacht führte. Der Mond, am Beginn ihres Marsches noch dicht über dem Horizont stehend, war inzwischen in den Zenit gewandert. "Pause", sagte Gerstfeld, und sie lagerten sich in einer Mulde, die von Trauben einer glockig blühenden Farnblumenart gesäumt wurde. Jetzt erst, als sie ruhten, vernahmen sie die ungezählten Stimmen der Nacht, die, quarrend, singend, zwitschernd oder auch hohl pfeifend, von dem vielfältigen Leben ringsum kündeten. "Ich würde so gern bei euch bleiben", sagte da das Mädchen leise, "für immer ..." "Ich weiß noch einen", entgegnete Gerstfeld, "der es sich wünscht. Aber das geht nicht, weil wir erst die ASGEDANrunde befragen müssen, weil wir erst ihr Einverständnis brauchen. Aber was wirst du tun, wenn wir dich in Skargarras zurücklassen? Dann dürfte dein Leben besiegelt sein." Statt einer Antwort sang Lynaja leise: "Einst gab es am Felsengestade eine Insel so weiß und so kühn. Altargos war ihr Name, sie stand, wo jetzt Schaumkämme blühn. Dort reckten sich prächtige Gärten und Bauten, so freundlich und reich; und in ihrer Siedlung Mauern da waren sich alle gleich. Verehrt ward das Weib vom Manne, man lauschte den Fragen des Kinds. Und niemand blieb ohne Antwort, weil sprechend die Glücklichen sind. O Altargos, du stotee Feste, wie glücklich schien jeder Tag. Die Sonne, das war ihr Zeichen, bis diese der Nacht erlag. 242 Es kamen die Feinde von Ferne, sie kamen schrecklich daher. Sie brachten das Gold und die Trauer, sie brachten die Kette, den Speer. So wurde Altargos vernichtet mit Mann und Weib und Kind. Geblieben sind nur ihre Lieder, die auch bald vergessen sind." "Dies ist die verbotene Hymne der Fischer von Vans", sagte sie dann. "Mein Vater sammelte verbotene Lieder und Sprüche. Ich habe sie oft gelesen, habe sie in meiner Kammer heimlich gesungen und fühlte dann, wie eine unbeschreibliche Sehnsucht in mir erwuchs. Es war mir, als würde ich all das kennen: kleine, offene Feuer und das Rauschen des Meeres .. ."
"Altargos", Kornreck sah Reik an, "die Insel Vans hieß vordem JunisKorn-Land. Ihr erster Name ging verloren. Nun, Lynaja hat ihn uns zurückgebracht: Altargos." Noch während die Zarppe sprach, klang die Melodie des Liedes, welches das Mädchen gesungen hatte, auf. Es war, als spielten einige Geiger das Motiv, variierten es leicht, verstärkten es. Reik sprang auf, blickte suchend um sich. "Da vorn", Lynaja lächelte, deutete auf einen Baum, "er ist der Musikant. Die singenden Bäume von Cirrulaan, einst, vor langer Zeit, unsere Erzieher, sind inzwischen fast aus dem Landschaftsbild verschwunden. Seltsame Bäume, die graue, geruchlose Blüten haben und die Insekten mit ihren Tönen anlocken. Einst verehrt, dann geduldet, erregten sie schon bald den Haß unserer berühmten Schreischlagsänger, die sich in ihrer Kunst beeinträchtigt fühlten. So wurden die Bäume gefällt. Die Doddafelder taten ein übriges. Und heute gibt es nur noch in den Gärten der Obersten von Cirrulaan einige letzte, einzelne Bäume. Und hier auch, denn die Insel ist rebellisch. Man ahmt nicht nach, was das Festland vorschlägt. Niemand würde sich der Scheibe stellen ..." "Was aber wirst du tun?" fragte Gerstfeld noch einmal. "Vielleicht komme ich bei den Fischern unter", antwortete das Mädchen. "Vorsicht", warnte Gerstfeld, "Reik, in Deckung! Alle unter die Sträucher! Blickt hinauf zu den Sternen!" Zwischen den unbeweglich stehenden Lichtern der Sterne bewegten sich ganz gleichmäßig einundzwanzig grünlich leuchtende dreieckige Punkte, die zusehends größer und größer wurden. Es waren dreieckige Fluggeräte, die aussahen, als hätte man zwei Dreiecke ineinandergesteckt. Immer ein grünes horizontales und ein blaues vertikales Drei-243 eck bildeten eine Einheit. Sie verloren weiter an Höhe, schwenkten in einem weiten Bogen ein und verschwanden hinter den fernen Bergen der Insel. "Es wird Zeit", gebot Gerstfeld, "daß wir wieder aufbrechen. Und wir müssen uns beeilen, denn jetzt sind unsere wahren Feinde auf uns aufmerksam gemacht worden!" Sie nahmen den unterbrochenen Weg wieder auf, wechselten nur hin und wieder ein Wort, schritten schneller aus. Es kam ihnen die Insel selbst zu Hilfe, denn waren sie bisher fast durchweg bergauf geschritten, so hatten sie nun den höchsten Punkt passiert und zogen ununterbrochen bergab, dem Meer entgegen. Fast eine Stunde konnten sie ungehindert gehen, als Gerstfeld erneut "Deckung!" rief und sie sich unter Bäume, in ausgewaschenen Steinhöhlen niederwarfen. Nicht zu früh, denn kaum daß der letzte einen Unterschlupf gefunden hatte, als über den Baumkronen, nunmehr mächtig und pfeilspitz, die
fliegenden Doppeldreiecke auftauchten. Ihr Licht ließ alles, was es traf, fahl aufleuchten, schuf ringsum einen gespenstischen, irisierenden Schein. Kaum aber waren die Flugkörper aus dem Sichtbereich verschwunden, als Gerstfeld aufsprang und "Kommt!" rief. Er setzte sich sofort in Bewegung, und die Freunde hatten Mühe, ihn einzuholen und an seiner Seite zu bleiben. Noch einmal mochte gut eine Stunde verstrichen sein, und der Mond näherte sich nun dem westlichen Horizont, während im Osten ein erster, kaum wahtnehmbarer roter Streifen von dem kommenden Tag kündete, als sie eine Ansiedlung, ein fernes Dorf, erblickten. "Wir müssen sie rufen", Lynaja keuchte, "sie werden uns helfen!" "Überlaßt das mir", Gerstfeld schaute das Mädchen sorgenvoll an, er fürchtete wohl, daß sie nicht mehr weit kommen würde, "ich rufe die Fischer." Und dann, als sie über ein steiniges, abschüssiges Feld hasteten, sahen sie, wie ein Fenster nach dem anderen aufleuchtete, wie Fischersleute aus den Häusern traten, Fackeln entzündeten und aus Werg, Reisern und Ästen einen Berg aufschütteten, den sie mit ihren Fackeln in Brand setzten. Eine Scheibe, eines dieser fliegenden Dreiecke, kam geradewegs auf das Dorf zu. Doch als es in die Nähe der von dem Feuer aufsteigenden Hitze kam, wurden seine Bewegungen torkelig, es verlor an Höhe und Geschwindigkeit und wäre um ein Haar gegen einen Baum gerast. Es drehte ab, flog, immer noch unsicher und taumelnd, den Weg zurück, den es gekommen war. "Na bitte", frohlockte Gerstfeld, "es hat eben alles seine Nachteile. Auch die Temperaturortung ist nicht das Beste." 244 Inzwischen kamen die Fischer den Gefährten entgegen. Sie trafen kurz vor dem Dorf aufeinander und gingen gemeinsam zurück. "Die Dreiecke jagen uns", erklärte Kornreck und zeigte hinauf zu den Sternen, wo eine Kette jener Flugobjekte in sicherer Höhe vorüberzog. "Schweinsbande", ein alter Fischer drohte mit der Faust hinauf, "tun so, als wären sie hier zu Hause. Nicht mal die cirrulaanischen Maschinen überfliegen den Raum, wenn die da sind." "Seht doch", rief ein anderer Fischer aus und umfaßte Lynajas Schulter, führte sie so zum Feuer, "ein Mädchen haben sie auch dabei. So ein kleines tapferes Dingelchen ... Ach!" Der Ausruf war ihm unwillkürlich entfahren. Er hockte sich auf den Boden, betrachtete aufmerksam Lynajas Gesicht. "Arval", rief er dann leise, "Arval, komm doch mal..." Ein hochgewachsener Fischer mit wachen, klugen Augen trat zu dem Sprecher. "Was ist?" fragte er knapp.
"Sieh doch, Arval", rief der Hockende, "hier..., das ist Jasmena ... Weißt du noch, als wir das Wettfischen um sie veranstaltet haben? Und du hast sie gewonnen ... Das war ein Unglückstag für mich. Und sie ist zurückgekehrt in unser Dorf. Ein zweites Mal." "Was redest du", der Ankömmling schob den anderen zur Seite, hob Lynaja einfach hoch, blickte ihr ins Gesicht. Da begannen seine Lippen zu zittern, und sein Gesicht wurde von Blässe überzogen. Er stellte Lynaja auf die Füße, öffnete ungeschickt ihre Bluse, hob sehr sanft ihre rechte untere Brust etwas an, und starrte entgeistert auf ein schwarzes Muttermal. ,Jada!" schrie er auf, hob das Mädchen hoch und wirbelte sie im Kreis herum. "Meine kleine Strandkrabbe. Jada! Meine Tochter, mein Mädchen! Jasmena! Jasmena, komm zu mir! Jasmena, wo bleibst du denn?" Eine Fischerin, in Tränen aufgelöst, näherte sich und konnte die letzten Meter, nur auf andere gestützt, weitergehen. Als sie Lynaja erreicht hatte, schlang sie ihre Arme um das Mädchen, knickte ein und mußte von diesem gehalten werden. Die beiden Frauen sanken in die Knie, und Lynaja, die wohl begriff, daß sie in den Armen ihrer Mutter lag, schluchzte leise, barg ihren Kopf an der Brust der Frau. Schweigen hatte die Gemeinschaft der Fischer erfaßt. "Als ganz kleines Kind", berichtete der alte Mann nun Reik, der neben ihm stand, "ist unsere niedliche Jada wegen einer Krankheit nach Darassar, der Hauptstadt von Altargos, in ein Krankenhaus gebracht worden. Und man teilte Jasmena und Ruschan, den Eltern, mit, daß sie dort verstorben und bestattet sei. Das war eine Lüge. Es heißt, daß junge Sargen mit Kindern gefüttert werden müssen, damit sie intelligente Scheusale werden. Es hieß damals auch, daß der Principan von 246 Cirrulaan keine Kinder zeugen kann. Da gab es nicht nur einen Verdacht ... Und nun ist sie zurückgekehrt. Seit damals hat Jasmena, obwohl sie inzwischen vier andere Kinder bekommen hat, das Bettchen und die Lebenskarte ihrer Jada aufbewahrt. . . ihr habt sie uns gebracht. Nun gibt es nichts, was wir für euch nicht tun würden." Und der Alte stimmte mit seinem wohltönenden Baß ein Lied an, das die Gefährten kannten. Lynajas Lied. Doch die Fischer, alle sangen mit, kannten noch eine Strophe: "Versunken die glückliche Insel, dies hat der Sänger gewußt: Doch aus der Sehnsucht Rinnsal entsteht ein mächtiger Fluß! Erwächst ein Strom der Träume: Glück stirbt nicht durch Gewalt! Und es durchdringt alle Räume und weckt dieses Volk schon bald." Jada, die einstige Lynaja, löste sich sanft von ihrer Mutter und trat vor Gerstfeld hin. Sie zog ihre Lebenskarte aus der Tasche, reichte sie ihm.
"Dies ist mein einziger Besitz", sagte sie, "nehmt sie als Erinnerung an, freundlicher Mann von der ASGEDANrunde, der Ihr mich vor aller Schande bewahrt habt. Auch ich will mich immer an Euch erinnern." Gerstfeld zog ein flaches, hell glitzerndes Plättchen aus der Tasche, überreichte es Jada. "In diesem Plättchen", er sprach laut, an alle gewandt, "ist die wahre Geschichte eurer Insel aufgezeichnet. Ich hatte vor, Reik dies Geschenk zu machen, doch ich sehe, es ist wichtiger, daß diese Platte bei euch bleibt. Ihr müßt weiter nichts tun, als euch in einen dunklen Raum niederlassen und einmal ganz leicht über die Platte streichen, dann werdet ihr sehen, wie alles war." Jada suchte Kornreck in der Menge, ging zu ihm und hob ihn hoch. Sie drückte ihn an sich, wiegte ihn, wie eine Mutter ihr Baby wiegt, und bedeckte sein Gesicht mit Küssen, ehe sie ihn wieder absetzte. "Puh", keuchte der, während er sich verschämt umsah, "da wird man zuerst erwürgt, dann wie ein Stieleis abgeluchst und kaum daß man sich daran gewöhnt hat, wieder zurück in den Alltag geschleudert... Und das alles unter dem Deckmantel der Liebe!" Die Fischer in seiner Nähe lachten gutmütig, derweil Jada Reik gefunden hatte. Sehr sanft legte sie ihm ihre Arme um den Hals, blickte ihm gerade in die Augen. "Du hattest dich in ein armes attigassches Parkmädchen verliebt", sprach sie leise zu ihm, "und eben das war es, was die Tochter des Principans so entzündete, daß sie wegen dieses einen ihren Vater anlog und bereit war, jenen zu lieben, wer er auch 247 immer sei. Man sagte mir, als man mich auf dich ansetzte, du seist ein Spion, aber man verschwieg, woher du kommst. Aber als ich deinen Gerechtigkeitssinn spürte, als ich deine Verbitterung sah, da war mir klar: Du bist nicht von Destrusos. Ich dachte an die ASGEDANrunde, die man verteufelt wie nichts anderes. Ich dachte auch an Humanos, von dem man uns erzählen will, daß es nichts als eine schöne Sage sei. Ja, Reik ..., ich liebe dich noch immer. Und ich liebe dich jetzt, da ihr nach Skargarras weiterzieht, ich aber zurückbleibe, mehr denn je." Sie zog ihn an sich, küßte ihn so sanft und so voller Innigkeit, daß Reik in diesen Sekunden alles vergaß. Und als sich die Liebenden lösten, standen Kornreck, Gerstfeld und fünf Fischer schon bereit und warteten auf Reik. Sie zogen, als er ihnen mit hängendem Kopf folgte, los. "Armer Reik", murmelte Kornreck, als der Junge an seiner Seite lief, "das, was du nun erlebst, wird mit jedem Mal schwerer werden für dich. Was gestern noch Spiel schien, ist morgen schon ein ganz kleines Sterben.. ." Die kleine Gruppe hatte nach gut zwanzig Minuten Fußweg eine steil aufragende Felswand erreicht, an deren Fuß sie entlangzogen, begleitet
von dem Knirschen kleiner Kiesel unter ihren Füßen. So kamen sie an den Eingang eines nachtschwarzen Tunnels. Der sie führende Fischer blieb stehen. "Nun, Freunde", er wies auf den finsteren Eingang, "folgt einfach diesem Tunnel. Durchquert ihn, und ihr steht vor einer sanft ansteigenden Ebene. Die sie abschließenden Plattformen, das ist Skargarras. Wie schon gesagt, es ist dort nicht ganz ungefährlich. Aber wer TimbisUmbur und den Principan in die Tasche steckt, wer unseren Statthalter blendet, der muß a*uch die Seeranen nicht fürchten. Ich wünsche euch einen glücklichen Weg!" Sie reichten einander die Hände, wünschten sich Glück und Gesundheit und trennten sich. Die Fischer kehrten um, gingen zurück zu ihrer Siedlung, während die Gefährten in die Finsternis eintraten, geführt von einem lichten Schimmer, der Gerstfeld umgab. Sie gingen, bis daß sich ein einzelner Stern über ihnen zeigte. Diesem gesellten sich andere hinzu, bis sie einen Arm der Milchstraße, hell und freundlich, auftauchen sahen. Die Felsen schoben sich auseinander und wurden niedrig. Noch einmal schimmerte die Pracht des Sternenhimmels wie auch jener ferne rote Streif auf: Sie sahen die endlose Weite des Meeres. GALACTUUR Getrennt Wenig gibt es über den letzten Weg zu berichten, denn jenseits des Tunnels breitete sich felsiges, rauhes Land aus, in dem sie ständig bergauf stiegen, bis sie die erste Schäre von Skargarras erreicht hatten. Das nächtliche Meer bot ihnen einen einzigartigen Anblick, und das gleichmäßige Rauschen der Wellen schien Reik ein Schlaflied, denn er gähnte ausgiebig, bat um eine Rast, setzte sich nieder. Sie entdeckten jene wunderbaren, nur des Nachts blühenden Blumen, denen sanfte Töne entquollen und die unmittelbar an den Klippenrändern wuchsen. "Da", vermutete Kornreck, "seht nur diese erlesenen Blumen. Vielleicht stecken sie hinter dem Geheimnis der Seeranen. Wie leicht können Wagemutige, die sie pflücken wollen, abstürzen. Und so entsteht dann das Gerücht, jene Kühnen seien von den Seeranen angelockt und in die See gestoßen worden ..." "Und was machen sie da?" fragte Reik bekümmert, spürte wohl auch noch, daß die Frage nicht so recht paßte, aber gleich darauf schlief er ein. Und als er erwachte, umgab ihn rötliches Licht. "Eintauchen darf man", munterte Gerstfeld ihn auf, "aber nicht schlafend heraustreten aus dem Zeitenbaum. Steh auf, denn Kornreck ist schon vorgegangen, um zu erkunden, was uns erwartet."
Es dauerte doch noch einige Minuten, ehe Reik Arme und Beine wieder frei bewegen konnte und sich erhob. Er hatte auf einer der Schlafdecken gelegen, die sie aus dem Tal der flimmernden Träume mitgenommen hatten. "Dann geh ich ihm entgegen", beschloß Reik, während Gerstfeld sich bückte, um die Decke wieder zusammenzurollen. "Mach das", sagte der knapp, "ich komme sofort." Wieso erkunden? fragte sich Reik, als er sich durch das Dickicht der Halbmeterblätter kämpfte, um den Zeitenbaum zu verlassen. Ich denke, auf Humanos ist alles friedlich? Mit diesem Gedanken im Kopf durchstieß er die letzten Blätter. Reik hielt inne, blickte erstaunt um sich. Über ihm erstreckte sich endlos hoch ein gläsern anmutender, im Frühlicht gelbgrün leuchtender Himmel, an dem die letzten fahlen Sterne neben den ersten roten Wölkchen standen. Ein warmer, gleichmäßiger Wind trieb feuchte 249 Ausdünstungen heran, brach sich an schroffen Felsen, umwinselte schmale Grate und dämmrige Höhleneingänge, lud allenthalben feinen Steppensand ab. Blickte Reik nach Norden, dann sah er jenes wildzerklüftete Gebirge, an dessen Hängen ihm unbekannte dreistämmige Bäume wuchsen, deren Kronen ihn an Karnevalsperücken erinnerten. Schaute er nach Westen, so erstreckten sich ein viele Kilometer langer Park und ein lichter Auenwald, während der Blick nach Süden über Steppenland schweifte, das trocken und nur mit Büschen und harten Gräsern bedeckt war und dem sich ein Waldstreifen anschloß. "Kornreck", rief Reik, ohne Antwort zu bekommen. Da Park und Steppe überschaubar waren und er den Freund dort nicht entdecken konnte, blickte Reik nordwärts, betrachtete nun eingehend das Gebirge. Doch auch da war außer einem Zug relativ großer Ameisen nichts weiter zu sehen. Reik ging zwei Schritte weiter nach vorn und zuckte zurück. Vor ihm in einer kleinen Senke lag ein toter Salamander. Das Tier war merkwürdig verkrümmt. Um den Kopf und die Vorderbeine, die wie Arme aussahen, waren farbige Tücher gebunden. Die Grundfarbe war schokoladenbraun, doch je näher Reik herantrat, desto deutlicher sah er, daß dieses Tier keine einheitliche Farbe aufwies. Der Rücken und die Seiten waren beschuppt. Goldgelb schimmerte jede einzelne Schuppe, wahrend die Zwischenräume tintig blau abgesetzt waren. Sechs Armbeine besaß jenes Tier, dazu eine kindlich gerundete Stirn und große, weit aufgerissene Augen, die seinem Gesicht etwas Stau-nend-Naives verliehen. In der Seite des Tieres aber steckte ein hölzerner Pfeil.
"Kornreck!" rief Reik jetzt schon lauter, und aus dem Gebirge kam vielfach das Echo: "ornreck ..., ornreck ..., ornreck!" Reik ging beherzt zu dem Tier, beugte sich vor, packte den Pfeil und zog ihn mit einer kräftigen Handbewegung heraus. Er betrachtete die lange metallene Spitze, als er ringsum Schatten wahrnahm. Sie brachen aus allen Büschen, fielen über ihn her, warfen ihn nieder und schlangen Tücher um seinen Kopf. Reik sah nichts mehr, konnte auch nicht um Hilfe rufen. Er spürte wohl, wie man ihn aufhob und fortschleppte, doch in welche Richtung und zu welchem Zw\eck konnte er nicht sagen. Es schien Reik, daß sie ihn eine endlose Zeit trugen, doch unerwartet stürzte er auf Sand, lag da ebenfalls ziemlich lange, bis man ihn erneut anhob, nur noch wenige Schritte transportierte, ihn dann an einen rauhschuppigen Baum fesselte und so stehen ließ, ohne ihm die Tücher abzunehmen. "Was soll dieses blöde Indianerspiel?" schrie Reik aus Leibeskräften, 250 doch unter den Tüchern klang seine Stimme fern und gedämpft. "Und ihr wollt Humaniden sein?" Er dachte sogar daran, daß er und seine Gefährten vielleicht die Richtung verloren hatten und entweder wieder in Astras oder sogar in Destrusos gelandet waren. Rund um Reik wurde getuschelt und geschwatzt, ab und an auch ein wilder Drohlaut ausgestoßen. Schließlich riß jemand die Tücher von Reiks Gesicht. Der atmete erst einigemal tief durch und blinzelte in die helle, heiße Sonne, ehe er sehen konnte, was ihn umgab. Erfreulich war das nicht, denn vor seinen Füßen lag der Pfeil, den er dem Salamander aus dem Leib entfernt hatte, und einige Schritt weiter befand sich ein primitives Bett, auf dem man das tote Tier aufgebahrt hatte, während in vielleicht zwanzig Schritt Abstand ungezählte solcher Salamander standen, die Blasrohre, dünne Schwerter, Lanzen und Keulen in dem ersten Armbeinpaar hielten. Mit ihren großen grünen Augen betrachteten sie grimmig den Gefesselten. Zwei Salamander hielten ein einfaches Plakat, darauf stand: LIEBER DEN UNFEHLBAREN ALS KOMMANDANT, ALS SPINTE, RATTLER, WIOLEENS IN UNSEREM LAND. Ein besonders großer Salamander trat vor Reik hin, betrachtete ihn eindringlich. "Du bist Männchen?" fragte er mit weiblicher Stimme. Trotz seiner Fesselung mußte Reik lächeln. "Natürlich", sagte er, das Kinn vorstreckend, "nicht lange, und ich habe einen Bart. Dann bin ich ein Mann." "Nach unseren Gesetzen", erklärte der Großsalamander, "ist schon das ein todeswürdiges Verbrechen. Doch davon könnten wir dich als Gast zur Not freisprechen. Nicht aber von dem tödlichen Schuß gegen unsere
Schwester. Die liebe Gesche Chiachainch war im schönsten Alter... Und dann kam dein Schuß . .. Sag uns bitte nur dies: Haben dich die Rattler, die Spinte oder die Wioleens angestiftet? Wir haben-nach dem Mamoder Lios Lachesis geschickt. Und so er eintrifft, nützt dir kein Leugnen mehr. Er sieht in dich hinein. Er weiß alles." "Hab ich einen Bogen?" fragte Reik grob zurück. "Oder lag einer dort in der Nähe, wo ihr mich geraubt habt.. .?" Er schüttelte den Kopf. Doch unerwartet zuckte Erkennen in ihm auf. "Wie nennt ihr euch?" fragte er laut. "Gesehen", antwortete der Großsalamander. "Na, dann gratulier ich auch", verkündete Reik mißmutig, "mein Freund Kornreck wollte mich einladen, mit ihm zusammen zu euch zu kommen." Er betrachtete kritisch sein Gegenüber. "Wir kennen keinen Kornreck", antwortete die Gesche und schüttelte den mit bunten Tüchern eingehüllten Kopf. "Schau einer an", sagte Reik verwundert, "aber eigentlich soll er froh 251 sein, von euch nicht gekannt zu werden. Ich wäre es auch, wenn wir uns nie getroffen hätten." Da traten vier Gesehen an ihn heran, packten je eine Hand und einen Fuß und bissen Reik so kräftig, daß er laut aufschrie. "Du bist zu unserer Vasinini Samtha sehr frech", erklärten sie im Chor. "Genug", befahl Samtha ihren Untergebenen, "laßt ihn, denn eins müssen wir zugeben: Er ist weder Mooräne noch Spint und auch nicht Rattler, ja nicht einmal Wioleen oder Erodier ... Er ähnelt dem Mamo-der, zwar nur ein wenig, aber doch genug, daß man bei ihm ein bißchen Verstand vermuten konnte, so man gutwillig ist wie wir." "Ich habe Durst", erklärte Reik finster, "und ins Gebüsch muß ich auch einmal. . ." Samtha machte ein Handzeichen, und man löste die Stricke, brachte eine Schale mit einer Flüssigkeit. Aber als Reik danach griff, zog man sie zurück und machte eine gebieterische Geste, indem man auf eine Strauchgruppe deutete. Reik verschwand. Kaum aber daß er sich erleichtert fühlte, als er auch schon die Flucht versuchte. Doch nach wenigen Schritten zappelte er in einem Netz, das von einem kleinen Fels auf ihn herabgeflogen war. Eine Gesche schleppte ihn ms Lager zurück, schleifte ihn dabei durch den Sand und berichtete Samtha. "Er ist ein Mannchen", erklarte Samtha, als sei damit alles gesagt, "was erwartet ihr? Daß er halt, was er jemandem verspricht?"
Auf einem von vier fauchenden Pfeilraupen gezogenen Kleinstwagen kam eine andere Gesche an, sprang vor Samtha auf den Boden. "Lios Lachesis kommt", rief sie atemlos, "er ist unserem Ruf gefolgt." Reik blickte Samtha fragend an. Sie lächelte ein wenig. "Lios Lachesis ist der letzte Mamoder", begann sie zu erklären, bot Reik einen rohgezimmerten Stuhl an, den jener auch dankbar annahm. "Es gab in der Sonnenzeit unserer Existenz einen Ring von Mamodern. Sie wuchsen in einem gewaltigen Kreis, standen in den Auwäldern, der Steppe und dem Wald. Es waren die wunderbaren Weisen, die alle Probleme lösen konnten, uns immer das Beste empfahlen, unser aller Geschick zum Guten lenkten. Als aber die Flüsse fauliges Wasser brachten, als die Moore sich endlos ausdehnten, gingen die Mamoder ein. Nur einer von ihnen, Lios Lachesis der Große, löste sich aus dem Urgrund, wurde frei beweglich und wohnt in dem Schloß inmitten des Moores. Er kommt, so man ihn ruft, wenn er nicht sowieso vorbeischaut. Und er weiß, wer dich beauftragte, diesen Schuß abzugeben . . . oder nicht abzugeben." "Ihr habt keinen Bogen bei mir gefunden", wiederholte Reik, "warum glaubt ihr trotzdem, daß ich das war?" Er massierte seine geschundenen Handgelenke. 252 "Du hast den Bogen vielleicht deinem Auftraggeber zurückgegeben", vermutete Samtha, "und wolltest nur noch den verräterischen Pfeil holen, um dann unterzutauchen im Land der Rattler." "Sie sind eure Feinde?" fragte Reik. "Natürlich", antwortete Samtha, "wer ist nicht unser Feind. Würden die Rattler und Spinte nicht die Auwälder besetzt halten, könnten wir dorthin zurückkehren. Dann könnten die Wioleens von uns ihre widerwärtige sandige Steppe wiederbekommen, und die Rattler erhielten von den Wioleens den dichten Wald zur Nutzung, in dem sie schon vor langer Zeit lebten. Aber das sind Träume." "Und warum?" "Das Moor wächst", Samtha winkte ab, "und zuerst wird der Wald geflutet. Er geht am schnellsten ein, wird ebenfalls Moor. Das wissen auch die Rattler und Spinte. So weigern sie sich, dorthin zu gehen. Und wir weigern uns auch. Deshalb wohnen die Wioleens dort." "Der Mamoder! Der Mamoder!" riefen da einige Gesehen, streuten Blumen auf den Weg, der durch ihre große Siedlung aus Holzhäusern bis zu dem Platz führte, auf dem Reik und Samtha saßen und miteinander sprachen. Samtha erhob sich, ging dem Erwarteten einige Schritte entgegen. Kurz darauf tauchte der Mamoder auf dem Dorfplatz auf. Er hatte tatsächlich etwas Baumartiges an sich. Sein Körper war von oben bis un-
253 ten mit dichten, dicken Barthaaren bedeckt, zwischen denen auch einzelne Blätter hervorstachen. Er war nur unwesentlich größer als Reik, und seine Augen blickten wach und kritisch in die Welt. "Liebe Vasinini", der Mamoder breitete seine Arme aus, drehte sich bedächtig einmal im Kreis, "so hast du mich rufen lassen, eine schreckliche Tat zu richten. Ist es jene Tote dort, die ich zumeist anmutig habe herumspringen sehen?" Die Gesche bewegte traurig den Kopf. "Vernichtet müßte der Mörder werden", erklärte der Mamoder, "doch was wäre gewonnen dabei? Habt ihr nicht den Rattlern immer wieder zu verstehen gegeben, daß ihr friedliche Nachbarn seid? Ich denke ja. Und ich fürchte, daß eure Geduld nunmehr erschöpft ist. Und das billige und verstehe ich. So also der Krieg gegen die feigen Meuchler der letzte Ausweg ist, so geht ihn . .." Der Mamoder lächelte betrübt, entdeckte jetzt Reik, trat langsam auf ihn zu. "Ein trauriges Land, unser Galactuur. . .", fuhr er fort. "Einst blühend und wunderbar, ist nun alles im Niedergang begriffen. Das Moor frißt alles, so daß sich die Mooränen ausbreiten. Sie mit ihren Haustieren, den gewaltigen Brodlern, werden schon bald alles beherrschen, wenn sich nicht ein starkes Volk gegen sie erhebt. Aber es leben Rattler und Spinte hier, Wioleens und Gesehen. Vier kleine Völker ohne jede Aussicht auf Erfolg. Und da fast jeder dem anderen das Land stahl, hat Vasinini Samtha recht, wenn sie auf Krieg drängt. Stimmt Ihr dem zu?" "Wenn sie selbst der Ansicht ist. . .", erwiderte Reik unbestimmt, "doch würdet Ihr mich froh machen, wenn Ihr ihr sagtet, daß ich ohne Bogen nicht der Schütze gewesen sein kann. . . Ich habe das tote Geschenmädchen entdeckt und ihr den Pfeil herausgezogen, als sie mich überfielen . . ." "Er spricht wahrscheinlich die Wahrheit", der Mamoder wandte sich an Samtha, "ich glaube auch nicht, daß er im Rattlerauftrag handelte. Das sieht nach einem falschen Spiel der Wioleens aus. Nach außen hin tun sie so, als seien sie eure Freunde, während sie hinter eurem Rük-ken das Kriegsbeil ausgraben. Seht es so, liebe Vasinini." "Dir liegt an der Tochter des Erzersten?" fragte Samtha Reik. "Ein schönes Weib, so wunderbar befiedert, und wie sie rennen kann . . . Allerdings nützt es ihr im Wald nichts. Da stolpern sie oft genug sehr ungeschickt einher, können nicht einmal ihre Flügel ausspannen. Die vielen Bäume und Äste hindern sie daran . . . Gib es doch zu!" Reik schüttelte nur zornig den Kopf. "Er gibt es nicht zu", Samtha richtete ihre Worte erneut an den Mamoder Lios Lachesis, "er muß es aber zugeben."
"Woher kommt er denn, der junge Mann?" fragte Lios Lachesis. 254 "Von Cirrulaan", antwortete Reik. "Cirrulaan", wiederholte Lachesis und lächelte, "nun, teuerste Samtha, wenn er aus Cirrulaan kommt, dann sollte es keinen Grund geben, ihm nicht zu glauben. Ein friedliches Volk, sie tanzen und feiern so froh und ausgelassen in ihrem Velterpark, wie Ihr das einst tatet, als Ihr mit Eurem Volk im Auwald wohntet. Nein, er kann kein Mörder sein." Die Gesche seufzte tief, maß Reik mit einem langen Blick. "Wenn er nicht dummerweise ein Männchen wäre", entschied sie, "hätte ich seinem ehrlichen Gesicht schon lange geglaubt. Also gut, so bist du frei und kannst gehen, wohin es dich zieht." "Dann will ich ins Gebirge", erwiderte Reik, erhob sich und lief grußlos davon. Er sah die Weite der vor ihm liegenden Steppe, sah den fernen Auenwald, erblickte dahinter jenes ferne Gebirge, in dem er die tote Gesche entdeckt hatte. Und bis dorthin mußte er, wenn er seine Freunde wiederfinden wollte. Das Laufen auf dem ungewohnten, sandigen Boden ermüdete ihn, so daß er in einem schattenspendenden Gebüsch eine Pause einlegte. "Natürlich", hörte Reik eine knarrende Stimme, nicht allzuweit von sich entfernt, "sie haben es in Stein gemeißelt, unübersehbar: Lieber den Unfehlbaren als Kommandant, als Wioleens, Gesehen und Spinte in unserem Land. Na, und die Spinte schreiben es mit den Farbimpuls-ner an alle Berge, indem sie das Wort Spinte durch Rattler ersetzen. Und ich bin überzeugt, daß die Wioleens*nicht anders denken..." "Ich bin das ganz und gar nicht", widersprach der Mamoder, "denn die Wioleens sind es doch, die alles anzweifeln. Sie behaupten, daß die Iltris gestaut wird und nur deshalb die Moore wachsen." Reik hob den Kopf. Er hatte richtig gehört, da kam der Mamoder schweren Schrittes an, wurde von einem begleitet, der schlank und beweglich neben ihm herging, ein Hemd, eine Kragenblende, eine Hose trug, die so weit nach hinten reichte, daß sein langer dünner Schwanz wie in einem Futteral steckte. An den Füßen hatte er unerhört große Schuhe, die trotzdem leicht und elastisch wirkten. . Als sie direkt neben Reik vorbeigingen, schwiegen sie, schienen über die Wioleens angestrengt nachzudenken. Sie änderten kurz darauf die Richtung, strebten nicht mehr dem Gebirge zu, sondern wandten sich westwärts, wo Steppe, Wald und Park in einer Spitze zusammenliefen, hinter der das Land im Nebel lag und schlecht zu erkennen war. Reik konnte nicht sagen, was ihn trieb, den beiden in sicherem Abstand zu folgen. Es konnte nur an der Kühle des Steinernen Kopfes liegen, die
ihm einmal im Lager der Gesehen und jetzt erneut zu erkennen gegeben hatte, daß in seiner Nähe ein Feind war. 255 Manchmal blieb Reik stehen, sah sich suchend um, hoffte auf Gerstfeld oder Kornreck, ohne daß einer der beiden erschien. Dann wieder kam es ihm leichtsinnig vor, die Verfolgung fortzusetzen, zumal er nicht mehr verstehen konnte, worüber sich die beiden so angeregt unterhielten. Und als Reik jene Spitze erreicht hatte, sah er, worauf er sich nun einließ: Vor ihm lag endloses nebliges Moor- und Sumpfland, mit toten Bäumen, abgestorbenen Pflanzen und begrünten Inseln, die sich in unregelmäßigen Abständen erhoben. Auf diesen Inseln gab es Bauwerke. Manche waren groß, aber düster und hatten dicht vergitterte Fenster, andere waren nur ein- oder zweistöckig; sie wirkten freundlich, die Fenster waren groß und mit farbigen Gläsern geschmückt. Die beiden, die Reik verfolgte, betraten eine Anlegestelle und stiegen gemächlich in ein schwarzblaues, sehr flaches Boot. Kaum waren sie darin, ergriff der Gesprächspanner des Mamoders eine im Boot liegende Stange und steuerte damit das Gefährt auf eigenartige Weise. Wollte er nach rechts, stach er in die linke Seite des Bootes und umgekehrt. Sie tauchten in den Nebelwänden unter. Reik lief, so schnell er konnte, zum Steg und sprang ebenfalls in ein Boot. Er fand den Steuerstab und schaute nach vorn, um die Verfolgten wieder ins Blickfeld zu bekommen. Er war noch nicht weit gefahren, als ihn ein Blick unter die Wasserfläche entsetzt innehalten ließ: Was er für ein Boot gehalten hatte, war ein gewaltiges Tier mit mächtigen Freßzangen am Vorderende, Augen so groß wie Untertassen und Krallen an den Flossensäumen. Beinahe wäre er von dem Tier gefallen. So kam es, daß er die ersten Befehle nur zögernd und ängstlich gab, so daß das Tier überhaupt nicht reagierte, immer weiter geradeaus schwamm. Reik verlor sich in einem Insellabyrinth, begegnete merkwürdigen Skeletten von Bäumen, die zu Lebzeiten ungeheuer groß gewesen sein mußten. Eigentlich wollte er schon aufgeben und von nun an in genau nördlicher Richtung fahren, um dem Gebirge so nahe wie möglich zu kommen, als er inmitten von Nebel und totem Gestrüpp ein prächtiges Schloß auftauchen sah. Mehr noch: Direkt an einem Steg dieses Schlosses stiegen der Mamoder und sein Gast ab und schritten langsam auf den prächtigen Eingang zu. Reik lenkte sein seltsames Boot so, daß er anlegte, als die anderen hinter der Tür verschwunden waren. Nicht weit neben dem Portal gab es ein schmales Fenster, das weit offen stand. Reik zwängte sich hinein,
erblickte die beiden, wie sie eine breite Marmortreppe erstiegen und in einem spiegelnden Saal verschwanden. Er hastete ihnen nach. Es wunderte ihn, daß nirgends Diener waren, 256 die ihn sehr leicht hätten festnehmen können. Er wagte nicht den Eingang zu benutzen, durch den die anderen getreten waren, so lief er zur Seite, fand endlich eine schmale Tür und öffnete sie, so lautlos es nur gingDer Mamoder stieg umständlich und keuchend aus einem stark ausgepolsterten Kostüm, streckte und reckte sich, lächelte seinem Gesprächspartner zu. Jetzt trug er einen lichtblauen Umhang, weiche Sandalen, setzte einen Helm auf, der, golden glänzend, seine ebenmäßigen Züge verschonte. Er winkte Reik, der sich verborgen glaubte, und machte ihm ein Zeichen näherzutreten. Und während der noch überlegte, ob es besser sei, in den Saal hineinzugehen oder wieder zu fliehen, regnete es riesengroße Ameisen. Jedenfalls war dies Reiks erster Eindruck. Eine wahre Flut stechender, beißender und auf ihn einschlagender Ameisen bedeckte seinen Leib. Reik flüchtete nun zu dem Mamoder, der seinen Qualen mit einer Handbewegung ein Ende setzte. Jetzt, da die Quälgeister ihn verlassen hatten, konnte Reik sie genauer anschauen. Wie erstaunt war er, als er Wesen vor sich sah, die er im ersten Moment für Riesenameisen, jetzt aber für Zarppen hielt. Aber sogleich wurde ihm klar, daß es zwei verschiedene Arten waren, denn die einen besaßen vier Füße und zwei Arme, während die anderen zwei Füße, zwei Arme und ein Flügelpaar aufwiesen. Die Geflügelten trugen auf ihren Köpfen je eine Doppelantenne, die Vierbeinigen eine einfache. Letztere waren von einem dichten Haarkleid umhüllt, das in Dichte und Farbe dem der Hummel glich, während die Geflügelten von feinen blaugrünen Schuppen bedeckt waren. "Ihr Eifer", sagte der Mamoder, "steht jeder Weisheit im Weg, die nur dem gegeben ist, welcher sich der Unruhe alltäglicher Sorgen enthoben, mehr und mehr dem ewigen Nichts öffnet, um, einem Meeresstrudel gleich, an sich zu reißen, was so dahertreibt. Sei mir gegrüßt, junger Mann von Cirrulaan . . . Nur eine Frage: Wie kamt Ihr zu uns?" "Über den Zeitenbaum", gab Reik zur Antwort, ohne die Rede des Mamoders verstanden zu haben. Doch achtete er jetzt sorgfältig darauf, wohin er seine Füße setzte, um die Kleinen auf dem bemalten Holzfußboden nicht versehentlich zu zertreten.
Der Mamoder wechselte mit seinem Gesprächspartner einen wachsamen Blick. "Ihr seid ein Abgesandter?" fragte jener andere, der jetzt Reik ein wenig an eine in Menschensachen steckende und zweibeinig laufende Echse erinnerte. Das weckte in ihm unliebsame Erinnerungen an den Vulkan. 257 Jetzt erst sah Reik, daß der andere eine Mundmaske trug, einen eng anliegenden Überzug, auf dem ein vollippiger Mund und sanfte rundliche Zähne abgebildet waren. Reik vermutete zu Recht, daß sich hinter dieser Maske ein Raubtierrachen verbarg. "Wieso?" fragte Reik. "Ich habe all meine Frantegos verspielt, und da ich keine Lust hatte, Doddabewohner zu werden, wollte ich anderswo mein Glück versuchen. Und da entdeckte ich den Zeitenbaum ..." "Na bitte", rief der Mamoder zornig aus, "und uns lassen sie diesen idiotischen Raumzeittunnel graben. Wann sollen wir denn fertig sein? Könnten sie uns nicht den ganzen Plunder über diesen Zeitenbaum einfach herfixen? Denen werde ich etwas erzählen, wenn ich wieder bei ihnen bin. Aber jetzt zu dir:*'Wir brauchen erstklassige Schachtarbeiter, Abstütztechniker, Doppelmembranfelderrichter, Negativzeit-zäuner und Soldaten in unserer Friedbrigade. Was davon liegt dir?" Reik seufzte. "Mich würde zuerst interessieren", entgegnete er, "wieso es Sie nicht einmal erstaunt, daß ich hier bin. Ich bin Ihnen sehr vorsichtig gefolgt." "Vorsichtig ja", der Mamoder lächelte leutselig, "aber diese kleinen Rattler ...", er deutete auf die Vierfüßer, "und jene ebenso munteren Spinte", damit nickte er den Geflügelten zu, "passen sehr genau auf, daß ihrem letzten Mamoder nichts geschieht." "Und das sind Sie?" fragte Reik. "Der letzte", antwortete der Behelmte und deutete eine schwache Verbeugung an, "einst waren meine Ahnen baumgroß und ebenso stationär. Sie bildeten einen gewaltigen Ring, berührten alle Teile unseres Reiches und wußten praktisch alles. Aber dann breitete sich das vorher sehr bescheidene Moor aus. Eine wahre Sintflut brach über unser Land herein. Die Gesehen, deren Bekanntschaft Ihr gemacht habt, Freund, die Rattler und Spinte, doch auch die schönen, befiederten Wioleens flüchteten in das Gebirge. Die Flut aber verwüstete das Land, ließ die Wälder eingehen, die Steppe zusammenschmelzen, reduzierte den Auenwald. Gewinn hatte nur das Moor, denn erstreckte es sich vorher vielleicht über ein Prozent des Landes, so bedeckt es nunmehr beinahe achtzig Teile, wenn wir von hundert ausgehen. Sicher, die Mooränen", der Mamoder deutete auf jene bekleidete Echse, "erlebten eine nie gekannte kulturelle Blüte, aber dafür sind Rattler und Spinte,
Gesehen und Wioleens hoffnungslos zerstritten. Denn nach der Flut vertrieben die Rattler die Spinte aus den Gebirgen, obwohl die- Spinte schon immer dort lebten. Ihre Flügel machten das möglich. Die Spinte setzten sich im Auenwald fest und sorgten dafür, daß die Gesehen nicht wieder in ihre Urheimat zurückkehren konnten. Also wanderten die Gesehen in die Reststeppe und kämpften so lange, bis die Wioleens aus der Steppe in den dichten Wald übersiedelten. Niemand fühlt sich 258 wohl, denn keiner ist dem Raum, in dem er lebt, angepaßt. Und seither gibt es diesen Spruch." Der Weise Mamoder winkte einen Rattler zu sich heran. "Zeig es ihm!" befahl er. Der Rattler zog aus seinem Fell eine goldene Marke. Darauf stand in zierlicher Schrift: LIEBER DEN UNFEHLBAREN ALS KOMMANDANT, ALS SPINTE, GESCHEN UND WIOLEENS IM LAND! "Was sagt Ihr dazu?" fragte der Weise, und etwas an seinen Augen verriet Reik, daß er in diesem Augenblick auf seine Glaubwürdigkeit geprüft wurde. "Na ja", beantwortete er die Frage, "vielleicht ist das tatsächlich besser. Nur, was soll der Unfehlbare mit solchen Ameisen? Er wird sich bedanken." Der Mamoder nahm Reik bei der Schulter, verließ mit ihm den Saal und das Schloß, führte ihn zu einem rosenumwachsenen winzigen Platz, auf dem einige samtbezogene Riesensessel standen. Er nötigte ihn, Platz zu nehmen, setzte sich ihm gegenüber. "Man könnte natürlich ein Geschäft machen", sagte er, "und damit wäre die Hälfte von Galactuur ein blühender Garten. Aber dazu bedarf es Fingerspitzengefühls und sehr vieler Weisheit. Mehr, als ich sie habe. Meine Idee ist es, die Hälfte unseres Landes Destrusos und Cirrulaan als Doddafelder anzubieten und von dem Erlös die andere Hälfte für alle zu einem Ort des Glücks zu machen. Keine Kriege mehr. Keine Morde. Nichts . . ." "Wissen Sie", fragte Reik, "wer die Gesche umgebracht hat?" "Nein", antwortete der Weise und betrachtete seine Stiefelspitzen, "aber ich weiß, was nun geschehen wird. Die Tote lag im Gebirge. Also werden die Gesehen die Rattler, die dort leben, angreifen. Diese aber werden sich an die Wioleens wenden und mit ihnen eine Front gegen die Gesehen bilden. Es wird zu einer Allianz zwischen Spinten und Gesehen kommen, und der blutigste Krieg bricht aus. Und wenn er zu Ende ist, werden kaum noch so viele übrigbleiben, daß sie einen Vertrag unterschreiben können." "Und die Mooränen?" fragte Reik.
"Sehr friedlich", erklärte der Mamoder, "sie sind Fleischesser, und es ist ihr Metier, die Leichen fortzuschaffen und sie der eigenen Ernährung zugänglich zu machen. Aber kein Krieg und kein Mord kommen von ihnen, denn sie züchten sich die Brodler, ihre Haustiere. Du kennst sie, hast einen von ihnen als Boot benutzt. Ihr Leib ist in einzelne Kammern unterteilt, so daß die Mooränen sie immer nur scheibenweise verbrauchen müssen. Der Rest kann, ohne schlecht zu werden, lange liegen." "Mamoder! Mamoder!" Ein Spint kam aufgeregt angeflattert, landete 259 vor dem Weisen und verneigte sich. "Ihr möchtet augenblicklich kommen, die Heere zu segnen und ihnen Glück zu wünschen. Die Gesehen und die Leute meines Volkes haben sich ebenso gesammelt wie unsere Gegner, die verfluchten Rattler und die schaurigen Wioleens!" "Na bitte", der Mamoder sah Reik bedeutungsvoll an, "was habe ich gesagt. Diese Unvernunft, diese Dummheit. Aber was kann man tun? Mein Freund, bleibt hier und denkt nach, was Ihr tun wollt. Gebrauchen kann ich jeden. Und versucht mir einen Plan zu entwerfen von dem Standort des Zeitenbaumes. Sicher, ich vermag Euch nicht mit Frantegos, nicht mit Ferolds zu dienen, und für unsere Narkanen kann man sich höchstens Fleisch oder Früchte kaufen, aber nach unserer Umgestaltung in Doddafeld und Gartenstadt, nach dem Aufbau unserer ersten wunderbaren Stadt, wird es sich auch hier leben lassen." Er hob grüßend die Hand, folgte dem Spint ins Innere des Schlosses. Reik erhob sich, schüttelte den Kopf. "Die scheinen darauf versessen zu sein", murmelte er, "sich gegenseitig abzuschlachten . . ." Dann begann er den Garten zu erforschen. Er wußte, daß der mitten im Moor lag, aber das beunruhigte ihn nicht, dafür wunderte er sich über den Mamoder, der einst stationär gewesen war, nun aber in einem so seltsamen Aufzug herumrannte. Immer tiefer kam Reik in den Garten. Längsseits der Wege erhoben sich ungepflegte, mächtige Sträucher, Palmfarne und Siegelbäume. Da wurde sein Blick von einer gewaltigen, dunklen, auf dem Kopf stehenden Pyramide angezogen. Reik verließ den Weg, zwängte sich zwischen den ineinander verwachsenen Pflanzen hindurch und wäre sicher zerkratzt worden, wenn ihn der Overall der ASGEDANrunde nicht vollständig geschützt hätte. Dennoch kam er nur langsam voran, hing manchmal an Widerhaken oder Stacheln, brauchte Zeit, ehe er sich befreit hatte. Und nach wenigen Schritten steckte er erneut fest. Endlich stand er vor der Pyramide.
VORSICHT, leuchtete ihm ein Schild grellfarben entgegen, VAM-PYROID, GREIFT ALLES AN, WAS ES ERWISCHT. BLUTSAUGEND UND FRASSGIERIG! Reik umrundete die hochaufragende schwarze Schutzhaut, unter der sich der Vampyroid befand. In Reiks Vorstellungen mochte das Ding einem sehr großen Flugsaurier ähneln. Und wenn es von Zeit zu Zeit .einen sanften, klagenden Ton ausstieß, dann erschauerte er. Aber Gefahr hin, Gefahr her, die Neugier siegte, wie so oft. Vorsichtig trennte Reik mit seinem Messer einen schmalen Spalt auf, um wenigstens einen Blick in das Innere zu tun. Aber er kam nicht dazu. Tausende feiner Fäden schössen heraus, packten ihn, entwanden ihm das Messer und führten den begonnenen Schlitz von unten bis zur obersten Spitze aus. 260 Während dies geschah, wurde Reik in das Innere gerissen und hochgehoben. Er landete inmitten eines eigenartigen Netzes aus fein geringelten, sich an den unterschiedlichsten Stellen verdickenden lebenden Schläuchen. Das Netz, welches nach unten hin dicker und kräftiger wurde, umspannte eine seltsame Keule, deren obere Hälfte dicht bei dicht mit gierig schimmernden Augen versehen war. Die Keule aber erhob sich aus einer grauen Kugel, die an eine überdimensionale Rübe erinnerte, von der aus ungezählte Elefantenbeine direkt in den Boden führten. Reik hatte gelernt, seine Furcht zu überwinden, aber als er an die fünf Meter über den starren Augen hing, als er sich inmitten dieses undurchdringlichen Gespinstes sah, verlor er doch den Mut. Am schlimmsten war, daß er an Armen und Beinen, Kopf, Hals und Körper umwickelt, also gefesselt war. "Habe ich dich", dröhnte da eine grottentiefe Stimme an Reiks Ohr, "verfluchter Lios Lachesis! Deine widerliche Arroganz hat dich verführt, nachzusehen, ob ich schon vergangen bin!" Der Vampyroid schwieg, doch seine grollenden Worte hallten in Reik nach. Und hätte Reik nur den Mund frei gehabt, er würde diesem Raubwesen zugerufen haben, daß er nicht Lachesis sei. "Ist er nicht", grollte die Stimme, "Rattler nicht, Spint nicht, Wioleen ebensowenig wie Gesche . . . Was kann er sein? Wer bist du?" Die Mundfessel löste sich ein wenig. Reik nannte keuchend seinen Namen. "Regenbach", dröhnte es aus dem Vampyroid, "das erinnert mich an den sanften Auenwald, der hier einst stand. Oh, du kennst ihn nicht, aber er war lieblich. Und die Männer der Gesehen verschönten ihn mit ihrem Gesang und Tanz. Und die Geschenweiber liefen wie leibhaftige wandernde Blüten durch das Moos, denn wenn sie sehr glücklich sind,
schimmern sie in allen Regenbogenfarben ... Ja, es war eine angenehme Zeit. .., eine angenehme Zeit." Inzwischen schlitzte der Vampyroid die zweite Hälfte des schwarzen Tuches auf, das nun wegrutschte. Hell schien die Sonne, und der Himmel zeigte sich in trügerischer Bläue, denn hinter dem Garten stiegen erneut Nebelschwaden auf, ballten sich Wolken zusammen. "Die Sonne", wie Rubine funkelten die Augen des Vampyroids. Reik, der gehofft hatte, daß dieser Allesfresser wenigstens keine Sonne vertrug, sah sich getäuscht. Aber war sein Aussehen auch schrecklich, so war das, was der Vampyroid gesagt hatte, von guten Gedanken bestimmt. Und das beruhigte Reik. "Ich bin nicht von hier", begann Reik. "Furone?" fragte der Vampyroid, während seine Augen glashell und abweisend wurden. 261 "Sie kennen Furonen?" fragte Reik. .Jeder von uns kannte das, was es für alle zu sehen gab", antwortete der Vampyroid, "denn wir wuchsen in einem gewaltigen Zirkel, und unser aller Augen waren wie ein Auge." Der Vampyroid löste die Fesseln, setzte Reik nahe bei seinen Augen auf einer dieser seltsamen Verdickungen ab, musterte ihn eingehend. "Du hast ein gutes Gesicht", stellte er dabei fest, "gerade Blicke. Würdest du Antennen besitzen, ich hielte dich für eine Zarppe." "Du kennst Zarppen?" fragte Reik beglückt. "Mein Freund ist eine Zarppe. Ameisen haben ihn anscheinend entführt, während mich Gesehen wegschleppten. Er heißt Inula Kornreck. Mich haben sie mitgenommen, weil ich eine Tote von ihnen fand. Mit einem Pfeil in der Brust. . . Sie sagten, ich sei der Mörder. Und wenn Sarschan nicht so lange getrödelt hätte, wäre das nicht passiert..." "Angaria?" fragte der Vampyroid, und seine Augen schimmerten tintenblau. "Jetzt kommt ihr also. Aber der Ruf eines einzelnen war wohl zu schwach, noch etwas zu ändern . . ." Die Augenfarbe wechselte "in einen Goldton. "Nicht Ameisen, sondern Rattler haben deinen Freund fortgetragen", begann der Vampyroid eine Erklärung, "und das deshalb, um nicht selbst als Mörder der Gesche in Betracht zu kommen. Und der Pfeil, er stammt von Lios Lachesis! Von ihm .. . Ich sage dir auch, warum das so sein muß, doch vorher will ich dir kurz berichten, was hier geschah." Langsam dämmerte in Reik eine Erkenntnis. "Sie sind", begann er vorsichtig, "ein Mamoder? Der letzte Mamoder?" Ein sanftes, fernes Grollen, aus allen Teilen des Netzes kommend, schien Reik eine zustimmende Antwort.
"Die Männer der Gesehen", begann der Mamoder seinen knappen Bericht, "konnten nicht nur singen und tanzen, sondern auch kämpfen und unerhört mutig sein. Aber sie wurden fortgeschleppt. Nach Destrusos, wo sie eine kräftezehrende Arbeit tun mußten. Ich weiß das alles, weil einer von ihnen fliehen konnte und es mir erzählte. Und von ihm erfuhr ich auch, daß Lios Lachesis ein nicht sonderlich begabter Abkömmling der Maschine Norrh ist. Wie sie besitzt auch er Lamellen, die er in seinen Armen versteckt hält. Der Geflohene wußte zum Beispiel, warum sich der Unfehlbare für uns interessiert. In ihren Glasstädten fallen immer mehr Abfallstoffe an. Und Cirrulaan ist kein sicherer Ort mehr, an dem man die Abfälle abladen kann. So entstand der Plan, vielleicht gut drei Viertel unseres Landes in Doddafelder zu verwandeln. Zudem: In unserem Gebirge gibt es ein Metall, das sich Chooroonium nennt. Nicht sonderlich viel, aber doch ausreichend, um es abzubauen, wenn man erst einmal hier Fuß gefaßt hat. Natürlich 262 wagten sie nicht die offene Aggression, denn in einem solchen Fall wären sicher Arcton oder dein Freund Angaria und Susan erschienen. .Oder alle zusammen. Nein, sie mußten anders vorgehen. Und sie gingen anders vor. Kennst du die Iltris?" Reik schüttelte den Kopf. "Sie ist unser mächtiger Strom, der das Land von Nord nach Süd durchfließt und schließlich in Birosian ins Meer strömt. Und so hat es begonnen: Eine geheime Abteilung Furonen hat gemeinsam mit ihrem obersten Feldherrn Meduson die Iltris nicht weit vom Gebirge entfernt gestaut. Es kam immer weniger Wasser, so daß unsere herrlichen Auwälder zu vertrocknen begannen. Die Steppe dehnte sich nach Norden und Süden aus, fraß das Waldland. Aber dann, in einer mondlosen Nacht, haben sie das Staubecken geöffnet. Und seither reden sie alle von der mächtigen Himmelsflut. Das ist Lüge. Das waren sie, die Verfluchten. Das reichte dann, um das gestörte Gleichgewicht völlig zu vernichten. Jenes Moor, das einst nicht einmal ein Prozent unseres Landes ausmachte, wuchs wie ein bösartiges Tier, wie ein unersättlicher Drache. Fraß die vertrockneten Auwälder, die sandige Steppe. Überall gärte und faulte es, Schimmel erhob sich haushoch ... Und das Wasser der Iltris läuft ungehindert weiter, schon bald wird das Moor die letzten Waldstücken, die letzte Geschensteppe und das letzte Eckchen Auwald zerstört haben. Sind erst einmal die Mooränen mit ihren 263 Brodlern die einzigen Bewohner, werden sie einen Vertrag mit dem Unfehlbaren machen. Und dann kommen sie an, die Furonen... Und sie werden wieder das Wasser stauen, werden alles trockenlegen und die dummen Mooränen dem Hungertod preisgeben. Einige werden sie
übriglassen, denn vielleicht errichten sie hier Straflager in den neuen Doddafeldern. Und die Mooränen werden dann die Aufpasser sein. Aber sei es, wie es sei, sobald es so wenig Gesehen, Rattler, Spinte und Wioleens gibt, daß sie nicht mehr als Völker anzusehen sind, startet die Aktion Doddafeld . . ." Der Mamoder sprühte mit seinen Augen farbiges Licht. "Das hier sind nur kleine Länder", fuhr er dann fort, "und als wir uns an den General Grauwolf vom Föhrenhain wandten, eine berühmte Zarppe, da erhielten wir zur Antwort, er sei in einer wichtigen Aufgabe unterwegs. Das war bitter, zumal ich den Eindruck nicht loswurde, daß wir hier zu klein und zu unwichtig sind, um von der ASGEDANrunde unterstützt zu werden . . . Doch du sagtest ja, daß eine Zarppe hier ist. Wenn du mit deinem Freund zusammenstößt, bitte ihn, mich zu besuchen . .." .Jetzt begreife ich!" rief Reik lebhaft aus. "Was?" fragte der Mamoder. "Der Pfeil", sagte Reik hastig, "die Tote . . . Lios Lachesis gibt sich als Mamoder aus. In einem Blättergewand, weißt du ... Und er hat den Gesehen zum Krieg geraten . . . Und ein Spint hat gesagt, Lios Lachesis möge den Armeen Glück wünschen. Gesehen und Spinte gegen Rattler und Wioleens . . . Dabei werden sie erneut reduziert!" Er starrte in die vielen Augen des Mamoders. "Das ist richtig", ein feines Klingeln drang aus den Armästen. "Nun sage mir noch, wie weit ist es bis zum Land hinter dem Moor?" "Ich kann das nur schwer schätzen", sagte Reik, "aber die kürzeste Entfernung mag etwa fünfzehn Kilometer sein. Als ich in der Mitte war, sah ich weder das Land hinter mir noch dieses Schloß des Lachesis vor mir." "Also gehen wir von zwanzig Kilometern aus", der Mamoder dachte nach, "das müßte zu schaffen sein . . . Du mußt um jeden Preis den Kampf verhindern! Du mußt es!" "Und wie komme ich dahin?" fragte Reik besorgt. Wieder wurde Reik von ungezählten feinen Ringelfäden eingesponnen. Er fühlte, wie er hinabgelassen wurde. Kaum aber hatte er sich dem Boden bis auf wenige Zentimeter genähert, als es in die Gegenrichtung ging. Mit unglaublicher Geschwindigkeit, so als würde ein Katapult abgeschossen, feuerte ihn der Mamoder los, trennte sich dabei von seinen Armspitzen, die Reik wie ein schützendes Polster umgaben. Nur undeutlich sah Reik, wie unter ihm das Moor dahinschoß, dann 264 näherte er sich dem Land, erreichte es, flog nun schon lingsamer, die Pflanzen kamen auf ihn zu, in die er Augenblicke später krachend und raschelnd eintauchte. Die Ringelarme gaben Reik frei.
Er arbeitete sich aus dem Gebüsch und stand verblüfft. Rechts und links von sich sah er lange Reihen von Kriegern, die aufeinander zugingen. Reik lief zwischen die feindlichen Reihen, soweit er nur konnte. "Halt!" brüllte er. "Haltet ein! Wartet, denn ich habe eine wichtige Botschaft an alle! Nicht kämpfen!" Ein einzelner Pfeil flog von einer Seite zur anderen, steckte im Boden. Die erste Kriegerreihe stoppte tatsächlich. Die zweite berührte noch ihre Vordermänner, ehe auch sie innehielt. "Da ist einer, der etwas sagen will", ertönte ein Ruf, wanderte weiter und weiter nach hinten, wurde immer leiser. "Ist es wichtig?" kam dann der Ruf nach vorn. "Oder hat es bis nach dem Krieg Zeit?" "Äußerst wichtig!" rief Reik. "Denn es macht den Kampf unnötig." Ungefähr in der Mitte beider Heere entstand nun ein schmaler Durchgang. Dort geschah, so schien es Reik, eine endlose Zeit gar nichts. Aber dann, unerwartet und entschlossen, traten von beiden Seiten die Obersten Feldherren vor. Von rechts kamen eine Gesche und ein Spint, die in kupfernen Rüstungen steckten, während von der anderen Seite ein Rattler und ein Wioleen kamen. Rattler und Spinte sahen sich zum Verwechseln ähnlich, zumal beide kupferne Rüstungen trugen. Nur einen Wioleen hatte Reik noch nicht gesehen, und als dieser auf ihn zuschritt, war es für Reik beeindruckend. Der Wioleen mochte ebensogroß, vielleicht sogar ein wenig größer als Reik sein. Er trug nur einen Brustpanzer. Sein ganzer Körper war wunderschön in den verschiedensten Blautönen befiedert. Groß und ausdrucksstark waren seine Augen, grazil die Gliedmaßen und stolz seine Haltung. Zwei Feldherrn blieben rechts von Reik, die anderen beiden links von ihm stehen. "Sprich", forderte der Wioleen Reik auf, "Fremder, der du uns etwas mitzuteilen hast, was diesen unseren gerechten Kampf unnötig macht." "Unseren gerechten Kampf", widersprach die oberste Gesche. "Streitet nicht", bat Reik sie, "hört mir erst zu, ehe ihr beginnt, euch als Völker auszulöschen." "Holt den Mamoder", befahl die oberste Gesche. "Jawohl", fuhr der Spint fort, "Lios Lachesis soll sich anhören, was wir jetzt erfahren sollen. Sein Urteil ist wichtig." Natürlich wollten auch die Wioleens und Rattler den Mamoder in ihrer Nähe haben, da aber ihre Feinde den Vorschlag gemacht hatten, 265 sprachen sie fich sehr heftig dagegen aus, behaupteten, daß jeder von ihnen gesunde Urteilskraft genug habe. Dann aber, als Reik sagte, sie sollten erst zuhören und dann überlegen, ob man den Lachesis brauche
oder nicht, kippten die Meinungen einfach um. Wioleens und Spinte forderten augenblicklich den Mamoder, während Gesehen und Rattler nur zu gern auf ihn verzichteten. "Darf ich mit meiner Erzählung beginnen?" fragte Reik schließlich, woraufhin Wioleens und Spinte ihm das Wort erteilten, aber Rattler und Gesehen nein sagten. "Freunde!" hörten nun alle einen Ruf. Sie sahen Lios Lachesis ankommen, der nur über Kopf und Schultern sein Blatt- und Wurzelwerk trug. "Wartet, es gibt Streit, wie ich vernahm. Laßt ihn mich schlichten, damit eurttn heiligen Kampf nichts mehr im Wege steht." Reik erbleichte, denn zusammen mit dem falschen Mamoder kamen vier sehr große Mooränen, die blitzende Schwerter in den Händen hielten. "Diese hier", sagte der Lios Lachesis, als er näher kam, und deutete auf die riesigen Mooränen, "werden eure Schiedsrichter sein, die den Feigen töten, dem Mutigen aber Beifall zollen. So, Verehrte, nun sprecht, was es gibt..." Er entdeckte Reik, da verzerrte sich sein Gesicht. "Was tust du hier?" fragte er, und ein wildes Feuer brannte in seinen Augen. "Und vor allem: Wie bist du hierhergekommen, da doch nicht ein Erodier am Steg war?" Er wandte sich an die Feldherren. "Was wollte er?" fragte er scharf. "Hat er euch das Märchen von dem stationären Mamoder erzählt? Hat er behauptet, daß der Pfeil, mit dem die Gesche getötet wurde, von mir stammt? Hat er euch belogen und gesagt, daß er im Keller meines Schlosses noch Hunderte solcher Pfeile und die entsprechenden Bogen fand? Es ist alles Lüge, wie es Betrug ist, zu sagen, daß Furonen die Iltris gestaut haben und so die Moore erzeugten. Es ist Verleumdung, daß Galactuur ein Doddafeld des Unfehlbaren werden soll!" "Aber du redest doch ständig von Dodda", warf da einer der großen Mooränen ein, "davon hat dieser dort nichts gesagt..., oder?" "Es ist eine Lüge", schrie Lachesis, "daß hier eine Strafkolonie entsteht und die meisten Mooränen eingehen, wenn der Dodda kommt, weil dann selbst die Moore vernichtet werden. Dieser dort denkt sich das alles aus! Ich weiß es! Und ihr, wendet ihr euch etwa von eurem geliebten Mamoder Lios Lachesis ab?" Er blickte wild von einem zum anderen. "Beweis", sagte da die Gesche. "Beweis!" forderten nacheinander der Rattler, der Spint, der Wioleen und sogar einer der Mooränen. "Ihr wollt einen Beweis", der Mamoder wurde ruhig, grinste vor sich 266 hin, "nun denn: Soll er doch beginnen. Vielleicht kann er mir eine Doddaladung zeigen . .. oder eine Großabteilung der Furonen. Vielleicht hat er ein Stück Staumauer der Iltris in der Tasche. Er soll beginnen. Dann aber will ich einen Beweis vorlegen . .." Sieghaft lächelnd
betrachtete er Reiks Futteral. "Einen Beweis, der jedem von euch vor Augen führen wird, daß dieser dort ein Hexenmeister ist. Ein Zauberer, der gekommen ist, Unruhe zu schüren, Tod und Verderben zu bringen. Nun denn, fang an! Beweise, daß du im Recht bist." Reik stand, dachte angestrengt nach. Zuerst meinte er: Sie müssen mir folgen. Wir werden den wahren Mamoder aufsuchen, denn er kann ihnen alle Zweifel nehmen. Aber Reik wußte, daß niemand bereit sein würde, ihm bis zu dem Schloß des Lios Lachesis zu folgen, zumal sie sich dann alle in die Gewalt der Mooränen begaben. Und es war klar, daß ein jeder diese fürchtete. Reik dachte dann an Kornreck und Sarschan. Er war wütend, denn es schien ihm völlig klar, daß die beiden schon lange nicht mehr Gefangene waren, daß sie vielleicht irgendwo saßen, ihn über Kilometer hinweg beobachteten, um zu sehen, was er tun würde. Reik erwog viele Möglichkeiten, doch er verwarf sie alle wieder. "Wie es aussieht", der Mamoder klopfte der Gesche freundschaftlich auf die Schulter; streichelte dem Wioleen die Wange, beugte sich leutselig zu dem Rattler hinab und tippte leicht die Antennen des Spints ab, "gibt es keinen Beweis für das, was er euch vorgelogen hat. Er will nur eines: den Untergang der Mooränen, er will mich von euch trennen, damit er um so leichteres Spiel hat. Er wird euch gegeneinander aufhetzen, wird euch in den Kampf schicken und, wenn ihr euch ausgerottet habt, mit den Seinen hier ein neues Reich errichten. Das sage ich, Lios Lachesis, der letzte Mamoder, denen, die mir nunmehr ihr Ohr leihen." Der letzte Mamoder, dachte Reik, ein ungeschickter Abkömmling von Norrh .... kein Mamoder, sondern Norrh ... ,Ja", sagte er aus seinen Gedanken heraus, und alles um ihn verstummte, "ja, ich bringe euch den Beweis... Ja ..." Überheblich lächelnd stand Lios Lachesis vor Reik, betrachtete ihn, wie man ein abstoßendes Tier ansieht. "Dreh dich um, Lachesis!" forderte Reik den falschen Mamoder auf. "Ich will den Beweis erbringen, aber da es nicht einfach ist, bitte ich alle hier um Geduld. Auch wenn etwas geschieht, was keiner so richtig begreift, reicht ein Wort von mir, euch zu erklären, was ihr gesehen habt. Du aber, Lachesis, dreh dich um, schau nach dorthin, wo sich in der Ferne die Gebirge wolkenhoch erheben." Nachlässig wandte sich Lachesis dem Gebirge zu. 267 Reik trat an einen der großen Mooränen heran, nahm ihm entschlossen das Schwert aus der Hand. Er wußte, daß es nicht ungefährlich war, was er sich ausgedacht hatte, aber das konnte jeden überzeugen. Er wollte
dem Lachesis einen Arm aufspalten. Dann mußte jeder erkennen, daß kein Blut floß, daß er also eine Maschine und kein Lebewesen war. Und wenn ich Glück habe, dachte Reik, dann zeigt er seine Lamellen, von denen der wahre Mamoder sprach. So trat er, das Schwert in der Hand, hinter Lachesis. Er hoffte nur, daß keiner der Krieger ihn falsch verstand, meinend, er wolle den Lachesis töten, und auf ihn einen Pfeil abschoß oder eine Lanze warf. Reik packte das Schwert fester, als ihn ein feines Vibrieren innehalten ließ. "Er will mich töten", sagte Lios Lachesis, ohne sich umzuwenden. Zugleich fühlte Reik, wie das Schwert weich wurde, sich in seiner Hand verbog, als Waffe untauglich war. "Niemals", erwiderte Reik, "nein." "Anlegen", befahl der oberste Wioleen, "auf den falschen Zauberer." "Anlegen", rief der Spintoberste, "auf den Wioleen und dessen Schützen!" "Anlegen", rief der Herr der Rattler, "auf alle Spinte samt deren Oberbefehlshaber!" "Anlegen", sagte jetzt die Gesche, "auf alle Rattler!" Reik sah die ungezählten Bogen, deren Geschosse auf ihn wiesen. Er versuchte vorsichtig hinter den Lios Lachesis zu kommen, diesen als Deckung zu nutzen, aber schmerzhafte Schrilltöne ließen ihn von seinem Vorhaben Abstand nehmen. "Und nun mein Beweis", brüllte der falsche Mamoder, "mein Beweis, bevor ein jeder auf sein Ziel feuern kann, denn ein stolzes Wesen nimmt keinen Befehl zurück. Paßt auf, was ich euch jetzt zeige, schaut genau her, was gleich geschieht, wenn ich jenes unscheinbare Futteral öffne, das dieser falsche Zauberer am Gürtel trägt. Seht es euch genau an, und sagt mir, ob ich recht habe oder nicht." "Steh!" befahl Reik. "Steh! Oder es wird ein Unglück geschehen. Und zwar eins, das nicht nur dich trifft. .." "Ah", frohlockte Lachesis, "wie er winselt, wie er jammert. Meine Freunde haben mir gesagt, daß dort sein Herz steckt. Und wenn man es ihm entwendet, fällt er auf der Stelle tot um. Und sie wußten noch einiges mehr von ihm zu berichten. Er hat die armen Trasts auf Evulon vertilgt, hat die astradische Riesenkugel vom Himmel stürzen lassen, damit sie die Hauptstadt der Astraden zerstört. Er ist es, der die Doddafelder erfunden hat, damit blühendes Land nicht mehr genutzt werden kann, und der, nun bei uns angekommen, nur noch eine Aufgabe 268 zu lösen hat: Er soll den Hort der Weisheit, er soll den letzten lebenden Mamoder umbringen. Er soll euren geliebten Lios Lachesis in die
Finsternis stoßen. Doch wir, meine Freunde, wollen ihm sein Herz entreißen, wollen es gegen Felsen schlagen, es mit Füßen bearbeiten, so daß er entseelt niedersinkt und kein Unheil mehr anrichten kann." Lios Lachesis ging entschlossen auf Reik zu, der zurückwich. Die spitzen Töne verstärkten sich, Reik sah alles nur noch undeutlich und mit verschwimmenden Konturen. "Das ist nicht wahr", rief er verzweifelt aus, "glaubt mir doch. Ich habe den wahren Mamoder gesprochen. Warum hört ihr auf diesen hier?" Die Töne wurden leiser. Lios Lachesis stand, jetzt noch zwei Meter von Reik entfernt, starrte ihn aus großen Augen an. "Unmöglich", sagte er, wobei seine Stimme einen knarrenden, maschinellen Unterton aufwies, "das ist nicht wahr . .." Er taumelte zurück, es war offensichtlich, daß er seine Umgebung nicht mehr erkannte, denn er ruderte wild mit den Armen. Und dann fuhren dünne, lange Metallamellen aus den Hemdsärmeln des falschen Mamoders. Er drehte sich im Kreis, unternahm unsichere Ausfallschritte, ohne von der Stelle zu kommen. Das Blattwerk tropfte herab. Es folgte das Wurzelwerk, dann die menschlich anmutende künstliche Haut, und darunter kam ein warziger, maschineller Kopffüßer hervor, der sich auf seine Lamellen stützte, aus Kameraaugen auf Reik glotzte. "Ich werde es dir heimzahlen!" brüllte er mit klirrender Stimme, erhob sich auf den Lamellen in die Luft, doch er war nur eine kurze Strecke geflogen, als ein greller Blitz aus dem Futteral zuckte und Lachesis in Stücke ging, die vom Himmel herabregneten. Atemlose Stille herrschte jetzt auf dem weiten Feld. Sekundenlang schaute ein jeder auf die am Boden zerglühenden Teile, ehe sich die Aufmerksamkeit auf Reik konzentrierte. "Wioleens und Gesehen", sagte der, "Rattler und Spinte. Ich habe euch eine Botschaft des letzten Mamoddrs zu bringen, der bis zum heutigen Tag von Lios Lachesis eingesperrt war, damit seine Stimme nicht bis zu euch dringt. Und seine Botschaft lautet: Haltet Frieden, haltet alle zusammen, wenn ihr nicht wollt, daß dieses euer Land in ein Doddafeld umgewandelt wird. Es gibt solche Pläne, und Lachesis ist hierher entsandt worden, damit sie verwirklicht werden können. Seine einzige Aufgabe war, euch gegeneinander aufzuhetzen. Das fing damit an, daß er euch in die falschen Siedlungsräume lenkte, um euch in ständigem Unbehagen zu halten. Und ihr solltet euren Zorn gegeneinander richten. Damit niemand auf die Idee kommt, ihm einmal auf die Finger zu sehen. Und die Gesche wurde tatsächlich von ihm getötet . . ." "Das kann ich bestätigen", meldete sich da ein kleiner Spint, "ich 269
habe ihn begleitet, denn ich war sein Waffenträger. Und er hat sie nicht mit dem Pfeil getötet, sondern mit einem dünnen Lichtstrahl aus seinem Mittelauge. Den Pfeil hat er dann nur hineingesteckt. Vorher aber, als wir noch im Schloß waren, mußte ich das Zeichen der Rattler in den Pfeil schnitzen ..." "Danke", sagte Reik, "daß du mich unterstützt. . ." Er wollte mit seiner Botschaft fortfahren, als er starr in die Ferne blickte. Denn da kamen, genau zwischen den beiden Kampfformationen, Gerstfeld und Kornreck daher, liefen, als seien sie Generale, die ihre Lieblingstruppen inspizierten. Nun wandten alle die Köpfe. Die Rattler und Spinte riefen "Hurra!", als sie Kornreck sahen, und nahmen endlich die Pfeile von den Bogen, die Wioleens und Gesehen folgten ihnen, ohne in Jubelrufe auszubre-chen, denn sie meinten wohl, daß die Zarppe ein Spint oder Rattler sei. Reik schwieg, sah die beiden mit gemischten Gefühlen an, und als sie in Rufweite waren, sagte er: "Ihr habt mich ganz schön hängenlassen. Fair ist das nicht." "Bist du nicht wunderbar klargekommen?" fragte Gerstfeld erstaunt. "Besser hätte ich das auch nicht gekonnt. . ." Er blickte sich um, reichte den vier Oberkommandierenden die Hand, lächelte jedem zu. "Es ist nichts verloren", berichtete er dann, "denn wir haben Sporenkapseln mit Kleinstmamodern gefunden, die, sobald es wieder grün um sie wird, hochwachsen werden. Aber ihr, meine Herren Mooränen, ihr müßt euch natürlich wieder mit einem kleinen Moor bescheiden." Unzufrieden betrachteten sie Gerstfeld. "Das ist doch ganz einfach", erklärte Kornreck, "wir zählen einfach durch, dann erhalten wir die Zahl fünf. Und auf die fünf Völker teilen wir das Land auf. Jedes erhält ein Fünftel. Ist das nicht gerecht?"" "Nicht sehr", erläuterte einer der Mooränen, "denn wenn das Wasser wieder gestaut wird und dann ganz langsam als Iltris abfließt, dann kann man uns am Anfang wohl ein Fünftel Land übergeben, doch sobald der Auenwald wächst, die ursprüngliche Steppe entsteht und der dichte Wald sich ausdehnt, schrumpft unser Moor ganz allmählich wieder zu seiner alten Kleinheit zusammen. Und das heißt: ein Prozent des Landes. Wieder nur wenige Mooränen ... Es ist nicht gerecht." "Gerecht oder nicht", sagte Kornreck, "bleibt es, wie es ist, werden in der nächsten Zeit die Völker der Spinte, Rattler, Gesehen und Wioleens völlig verschwunden sein. Und dann kommen die Furonen, trocknen die Sümpfe aus und laden Dodda ab. So wird euch nicht einmal ein Prozent bleiben." "Steht das denn fest?" fragte einer der Mooränen. "Stellt euch nicht dümmer, als ihr seid", sagte Gerstfeld. "Lachesis hat
270 es euch doch gesagt. Natürlich, er sprach von der Hälfte des Landes. Und dafür sicherte er euch eine Prachtstadt zu, einen Velterpark und die allerschönsten Vergnügungen. Ich denke, ihr wart mehr als blind, denn das müßt ihr mir einmal erklären, wie das funktionieren soll: die Hälfte des Landes. Soll dann die halbe Iltris fließen? Kann man ein halbes Glas Wasser trinken, wenn man es senkrecht teilt? Ihr seht, es waren nichts als geschickte Lügen, jetzt aber laßt uns unseres Weges ziehen, denn dies war nur ein Abstecher für uns." "Und wie sollen wir die Iltris stauen?" erkundigte sich der Wioleen. "Ich habe von so etwas keine Ahnung." "Der Stau hat begonnen", sagte Gerstfeld knapp, "und eine große Gruppe von Rattlern überwacht den Vorgang. Alles andere könnt ihr von dem Mamoder erfahren, der im Schloßgarten des toten Lios Lache-sis steht. Ein guter Rat: Wartet vier Tage, dann werdet ihr zu Fuß dorthin gelangen. Es könnte einige Mooränen geben, die aus der vermeintlichen Ungerechtigkeit den Wunsch ableiten, euch zu bekämpfen. Ihr geht dem aus dem Weg, wenn ihr wartet. Ihr wißt ja, daß keine Moo-räne mehr als sechs Stunden ohne Wasser auskommt. Ohne Moorwasser, genaugenommen. Und als letztes empfehle ich euch, daß ihr einen ständigen Rat bildet, damit euch niemand mehr gegeneinander aufhetzen kann." Er betrachtete nachdenklich die vier Oberkommandierenden. "Ihr habt es sehr eilig, Freunde .. .", sagte die Gesche, "das ist schade. Aber wir wollen euch nicht aufhalten." ,Ja", sagte Gerstfeld, "eigentlich wollten wir schon woanders sein, doch erreichte mich der Hilferuf des Mamoders. Und so sind wir gekommen. Nun aber werden wir eilig weiterziehen." "Sollen euch nicht einige Verbände von uns begleiten?" fragte der Rattler. "Danke", Kornreck verneigte sich formvollendet, "aber gegen den, der vielleicht schon auf uns wartet, seid ihr ohne Chance. Regelt eure Angelegenheit gut, dann sind wir zufrieden. Lebt wohl." Als sie das Gebirge erreicht hatten, versank die Sonne hinter schwarzen Gewitterwolken. "Sie erwarten uns", erklärte Gerstfeld ruhig, "in voller Kampfstärke, denn Lachesis sandte einen Ruf an sie, ohne daß wir ihn daran hindern konnten. Und dann: Es ist unser Weg nach Humanos, sie werden ihre letzte Möglichkeit, uns in ihre Gewalt zu bekommen, nutzen wollen . . . Was meinst du, Inula, machen wir einen Umweg?" "Einen Umweg", antwortete die Zarppe, "und das schlägst du mir vor? Niemals werde ich auf Abwegen wandeln."
"Nun gut", Gerstfeld deutete auf eine ferne Nebelwand, die sich zwi271 sehen mächtigen Bergen in den jetzt finsteren Himmel schob, "dann müssen wir genau dorthin, genau auf diese Nebelwand zu, denn hinter ihr liegt der Zeitenbaum. Und wir werden ihn mit eigener Kraft erreichen und überwinden müssen, weil Arcton nicht ständig angelaufen kommt, nur weil wir wieder einmal ein kleines Wehwehchen haben." "Nur eine Frage noch", Reik wandte sich an Gerstfeld, "habt ihr diesen Lachesis entlarvt?" "Der Steinerne Kopf", gab Kornreck Antwort, "er war es. Ich habe mich sowieso gewundert, daß du ihn nicht schon lange eingesetzt hast. Fühlst du dich schon so stark, einen Abkömmling der Maschine Norrh mit eigener Kraft zu besiegen?" "Reik hat nur ein bißchen Entschlossenheit gefehlt", mischte sich Gerstfeld ein, "wäre der Schwertstreich ohne Zögern gekommen, wäre das eine ungewöhnliche, aber überzeugende Vorführung gewesen, die den falschen Mamoder entlarvt hätte. Du darfst nicht zögern, Reik. Hast du einen Plan, dann setze ihn auch um." Nach diesen Worten gingen sie auf die Nebelwand zu. "Es ist ihre letzte Chance", sagte Gerstfeld zornig, "und sie werden versuchen, sie zu nutzen. Denn haben wir erst Humanos erreicht, sind wir vor ihnen sicher." Vorsichtig, nach allen Seiten Ausschau haltend, erreichten sie die Nebelwand. "Legt euch hin", befahl Gerstfeld, "kriecht flach durch den Nebel. Sucht euch Steine, die euch verbergen, wenn ihr auf der anderen Seite angekommen seid. Die Wand ist nur sehr dünn." Reik stieß auf einen pyramidenförmigen Stein, hinter dem er sich ausgezeichnet verstecken konnte. Ein ganz klein wenig schaute er an seiner Deckung vorbei. Auf der sanft ansteigenden Ebene, die direkt am Zeitenbaum endete, standen ungezählte metallene Kugeln auf dünnen Stelzbeinen. Genau dort, wo die Kugel am stärksten war, befand sich ein schnell rotierender Ring. Jenseits der Ebene erhob sich dunkel und unantastbar ihr Ziel, der Baum der Schwäne, dessen Blätter die Geräusche der Vogelflügel erzeugten. Vor ihm aber, nicht sonderlich hoch, schwebte Chooroon, dessen rote Scheinwerfer über die Ebene hinglitten. Rührt euch nicht, vernahm Reik Gedanken in seinem Kopf, die ihm sagten, daß es nun keinen Gerstfeld mehr gab, denn Sarschan Angaria hatte nun endgültig seine wirkliche Gestalt angenommen. Bleibt unbeweglich liegen! Im Augenblick übernehme ich eure Tarnung. Nicht für lange, dann muß der Steinerne Kopf einspringen. Reik, drehe
vorsichtig am linken Auge des Kopfes, so kannst du ihm zu verstehen geben, worauf es ankommt. Reik griff in die Tasche, ertastete das Auge und begann es vorsichtig zu bewegen. Einmal nach rechts, dann wieder nach links. 272 Ja, vernahmen sie Angarias Gedanken, es ist geschehen. Nun erhebt euch und geht geradewegs auf den Schattenkreis des Zeitenbaumes zu. Habt ihr ihn erreicht, seid ihr in Sicherheit. Doch bedenkt: Auf dem Weg dorthin dürft ihr euch keine Angst anmerken lassen, was immer sie auch tun werden, denn eure Furcht werden sie orten. Die kann auch der Steinerne Kopf nicht ungeschehen machen. Nur die ersten zwei Schritte waren für Reik böse, denn ihm schien es, als ginge ein Ruck durch die stelzbeinigen Kugeln, als rotierten deren Ringe träger, als würde er gleich gefaßt. Bei seinem dritten Schritt aber fiel ihm Jada ein, die einmal LynajaPersepor hieß. Er dachte an sie in Liebe und Trauer, so daß die Ebene in ebenso weite Ferne rückte wie die Kugeln und Chooroon. Erst, als zischende Blitze aus Chooroons Spitze schössen und in die Nebelwand einschlugen, kehrte der Junge in die Wirklichkeit zurück. Sie begreifen schon jetzt ihre Niederlage, meldete sich Angaria, denn sie feuern wild und ungezielt, hoffen auf den Zufallstreffer. Als Reik das hörte, schaute er ganz zielgerichtet Chooroon an. Blickte hinein in das grüne Kanzelauge, sah die Maschine Norrh, die hektisch und unbeherrscht Feuerbefehl auf Feuerbefehl erteilte. Ja, dachte Reik, sie ist nur eine Maschine. Nichts weiter als eine dumme Maschine . . . Sie schritten unter Chooroon hindurch. Wie ein gewaltiges Insekt, 273 metallen schimmernd, mit ungezählten Auswüchsen und Anhängseln, hing das Letzte Fahrzeug über ihnen. Lautlos und gespenstisch zuckten die Scheinwerfer auf und erloschen in regelmäßigen Abständen. Die Blitze jagten in immer schnellerer Folge in den kochenden Nebel. Reik sah das alles wohl, aber es berührte ihn nicht. Das Gefühl, unverwundbar zu sein, war in ihm. Er lächelte sogar, derweil Chooroons Lichter immer hastiger und aufgeregter blinkten. Chooroon blieb hinter ihnen zurück. Sie erreichten den Schattenkreis des Zeitenbaumes. Dämmer hüllte sie ein, und Angaria wurde einen Moment sichtbar, ehe ihn die Dunkelheit des Baumes verhüllte. Wir haben es geschafft, hörten Reik und Kornreck seine Gedanken, nun können sie uns nichts mehr antun. HUMANOS Elfenreigen und Einsamkeit
Wenn Reik sein Zeitgefühl nicht trog, so mochten sie fast einen Tag lang über die hölzerne Wendeltreppe aufwärts gestiegen sein, wobei sie immer wieder Absätze betraten, auf denen sie kurze Rast machten. Zweimal tranken sie vom Wasser des Zeitenbaumes. "Wenn ich jetzt über irgendeinen Ast ginge", sagte Reik einmal, "würde ich dann immer an geheimnisvolle Orte kommen?" Immer, antwortete Angaria, dessen Lichtleisten ihnen die nähere Umgebung sanft erhellten. Gehst du diesen Weg dort drüben, kommst du an einen Ort, wo intelligente Insekten ihre wohnliche und gastfreundliche Welt errichtet haben. Dieser mit einem Warnpfeil gezeichnete Ast hier führt in einen Raum, in dem sich denkende Maschinen ihrer Schöpfer entledigt haben. Dort zu erscheinen ist mit unerhörten Gefahren verbunden. Gleich darüber der Ast reicht in eine Welt hinein, die nur unterhalb ihres Wasserspiegels existiert. Eine einzigartige Schönheit zeichnet sie aus. Dort drüben geht es nach Gettor, dem Dunkelreich der freundlichen Riesen. So könnte ich weiter und weiter aufzählen, bis wir alle drei ermüdet sind. Vielleicht nur noch das: Die ASGEDANrunde nennt ihn den Baum der zehn Zeiten. Die Erklärung ist sehr einfach. Wir unterscheiden bei der Entwicklung des Lebens, von den frühen Vorstufen an bis zu seiner endgültigen Auslöschung, zehn verschiedene Stadien. Und alles, was existiert, ist einem der zehn Stadien zuzuordnen. Deshalb der Baum der zehn Zeiten, denn du findest hier alle zehn Entwicklungsstufen vereint. Destrusos nennt diesen Baum den Schwarzen Pfad durch die Zeit, . . Nun wollen wir wieder aufbrechen, Freunde. Als sie schon lange emporgestiegen waren, sahen sie etwas Madenweißes vor sich, das an einen schlanken Kokon erinnerte. Als Angaria herantrat, erkannten sie drei gleichartige Dinge eng beieinander. Erst als sie ganz dicht heran waren, erfaßten sie die ganze Wahrheit: Drei Furonenskelette, eingehüllt in ihre weißen, jetzt schon schimmelnden Umhänge, hockten hier. Einer von den Toten trug noch seinen Helm, während die anderen beiden ohne ihre kriegerischen Attribute waren. Das war, erklärte Angaria düster, einer von ihren ungezählten Versuchen, hier Fuß zu fassen. Diese Unglücklichen wurden, wie viele an275 dere vor ihnen, von Chooroon durch das Blattwerk geschleudert, mit dem Auftrag, sich hier niederzulassen und alle abzufangen. Ich weiß nicht, ob jene daran glaubten, daß man die Zeit bezwingen, sie sich untertan machen kann. Ein Unding jedenfalls. Zuschauen müssen sie ihrem
eigenen Alternsprozeß, ohne ihn stoppen zu können. Und fort können sie auch nicht mehr. "Und wir?" fragte Reik beunruhigt. Wir, Angaria antwortete leise, wir wehren uns, so gut es geht. Der Steinerne Kopf hilft dir dabei. Aber du hast es ja selbst erlebt: Was du an den verschiedenen Orten an Zeit sparst, geht dir hier immer wieder verloren, denn du wächst schnell. .. "Dann wollen wir schnell weiter", schlug Reik vor. Nicht nötig, meldete sich Angaria, die Furonen waren nicht ohne Absicht gerade hier. Wir sind am Ziel. Nur noch diesen Ast entlang, und wir sind in Humanos, der Heimat der Humaniden. "Ah", rief Reik, "dann hört mir jetzt zu: Wir sind einige tausend Kilometer gemeinsam gegangen. Und Immer habt ihr mich beschützt, gelenkt und ... na ja, eben. Hier will ich jetzt ganz allein sein. Und wenn ich mich verlieben sollte, denn will ich allein damit klarkommen. Ich bin nämlich tatsächlich kein Baby mehr." Er suchte die Gesichter seiner Gefährten zu entdecken, aber die Dunkelheit ließ das nicht zu. Es sei, antwortete Angaria, aber wisse, daß das Gesetz der Humaniden in ihnen ist. Du wirst nicht bestraft, was immer auch geschieht. Du weißt, was das bedeutet? "Ich werde es ja merken", antwortete Reik. Ja, wiederholte Angaria, du wirst es merken. Und wir auch. Du kannst uns natürlich jederzeit rufen. Aber du mußt nicht. Reik saß auf einer sanftgrünen Wiese. Das erste, was er bemerkte, war eine Gruppe spielender Riesenkinder. Er hielt sie für sehr jung, denn ihre Köpfe und Augen waren groß und entsprachen dem Kleinkindtyp. "Babys", murmelte er, sprang auf die Füße und ging, ihre Größe bewundernd, an ihnen vorbei. Doch während er so dahinschritt, begann ihn das Spiel zu interessieren. Immer drei von ihnen sahen sich eine Zeitlang an, wobei sie sich einen Ball zuwarfen. Und dann, unerwartet, schleuderte einer den Ball in die Luft, während die anderen beiden mit unglaublicher Schnelligkeit zwei große hufeisenförmige Platten vom Boden aufhoben. Eine warfen sie ihrem Partner und die zweite einem anderen Mitspieler zu. Und obwohl die Hufeisen in Brusthöhe angesegelt kamen, sprangen die Anvisierten hinauf, wurden von den Eisen hoch in die Luft getragen, wo sie sich lösten, um den Ball zu erhäschen. Egal, ob sie den Ball bekamen oder nicht, sie landeten auf 276 einem anderen Hufeisen und segelten sanft dem Boden zu. Aus Meterhöhe sprangen sie ab, und drei neue Spieler begannen sich den Ball zuzuwerfen, wobei sie sich fest in die Augen blickten.
"Was ist denn das?" fragte Reik, als er näher herankam. Die Sache mit dem Hufeisen fand er grandios. Er stand, wartete darauf, daß man ihn vielleicht auffordern würde mitzumachen, doch niemand kümmerte sich um ihn. "Hallo, Piepser", sagte Reik gutmütig, als in seiner Nähe einer das Hufeisen aufhob, "schleudere mal hierher!" Lachend tat es der Angesprochene, der wahrscheinlich, so schien es Reik, ein kleines Mädchen war. Reik sprang in die Höhe, prallte mit seinem Bauch gegen das Metall, wurde herumgerissen und landete auf dem Rücken. Ein heißer, zuk-kender Schmerz durchrann ihn. Reik stöhnte leise, aber angesichts der Winzlinge wollte er tapfer erscheinen und quälte sich ein Lächeln ab. Trotzdem gaben sie das Spiel augenblicklich auf, umringten ihn, hockten neben ihm und begannen ihn wechselseitig zu umarmen, ihn sanft zu streicheln und ihm tröstende Worte zu sagen. Gleich darauf landete neben ihm eine Mulde mit einem doppelten Paar Vogelflügel. Die ihn bis jetzt umringt hatten, hoben ihn hoch, legten ihn in die weiche Mulde, und eine der Kleinen setzte sich neben ihn. "Hör zu", forderte Reik sie auf, "du bist ein hübsches kleines Mädchen, aber was hier geschieht, ist Unfug. Ich bin blendend in Form. Topfit ist der Onkel Reik! Sag doch mal diesem Uhu, daß er mich loslassen und landen soll. Wie heißt du eigentlich?" Die Kleine, die bisher immer nur lachen mußte, sah ihn jetzt sehr erstaunt an. "Was meinst du?" fragte sie verblüfft. "Wenn du eines Tages groß bist", fuhr Reik fort, "dann bist du sicher eine Schönheit. Und wenn ich mich dann in dich verliebe und deinen Namen weiß, dann . . ., dann können wir sagen, daß wir schon Bekannte sind." Sie schaute ihn an, und Reik mußte den Kopf wegdrehen. Er, der immer so stolz darauf gewesen war, länger als andere dem Gesprächspartner direkt in die Augen zu sehen, hielt diesen Blick keine Sekunde aus. Dabei wußte er nicht, was es war, das ihn so beunruhigte. "Schönheit", sagte sie plötzlich, "wie kommst du darauf?" "Mußt du öfter mal in den Spiegel schauen", erklärte Reik, während er versuchte, die ihn haltenden Klammern loszuwerden, "das sieht man doch. Ja . . ." "Dann müßtest du auch einen Namen haben", erklärte sie bestimmt. "Ich? Natürlich . . . Ich heiße Reik", sagte er. "Und warum bin ich Reik?" fragte sie. "Wieso du? Ich bin Reik. Wir reden aneinander vorbei." Sie senkte ein wenig den Kopf, dachte angestrengt nach. Schien 277
keine Lösung zu finden, denn sie hob die Schultern, betrachtete ihn eingehend. Inzwischen steuerte ihr Fluggerät ein weitläufiges Anwesen an, in dem einige wenige Gebäude verstreut lagen. Sie flogen auf eine Gebäudeöffnung zu, und das Mädchen duckte sich, während sie diese passierten. Die Mulde rastete auf einem Steintisch ein, die Flügel sanken nieder und verschwanden in einem Schlitz. Zwei andere Mädchen, kaum älter als die, die ihn begleitet hatte, schoben ein flaches Kristallgitter über Reik, drehten sich dann um und schauten zu einer Wand. Dort erschien Reiks Knochengerüst in sanftrosigen Tönen. Über das Skelett schoben sich wie ein ungeheures Kabelsystem die Nerven, dann die Gefäße. Die Muskeln umhüllten alles, und die Haut faßte das Ganze ein. Gleich darauf erschienen die inneren Organe nacheinander. "Nichts", stellte eines der beiden Mädchen fest, "alles bestens. Er hat sicher einen Schreck bekommen, der Bogila. Was ist geschehen?" Reiks Begleiterin erzählte, wie es gewesen war, und die anderen beiden schüttelten belustigt die Köpfe. "Also doch Bogila", entschied sich eine und schaute Reik fröhlich an. Reik, der nun wieder frei war, richtete sich auf und verließ die Mulde. "Ihr seid wohl gar nicht so jung?" fragte er und blickte unsicher von einer zur anderen. "Dian", eines der Medizinmädchen deutete auf das andere, "hat schon eine Partnerin und zwei Kinder. Ich denke auch schon daran, eine Vorauspartnerin zu wählen ..." Reiks Mund öffnete sich. Doch kein Wort entrang sich ihm. Er hatte die beiden für Mädchen gehalten. Und sie waren Jungs, npin, Männer! "Er heißt Dian?" fragte Reik und deutete auf den so Bezeichneten. "Er nennt mich so", erklärte dieser, "weil ich ziemlich schnell erkenne, woran jemand krankt. Aber das mußt du nicht sagen, denn wir arbeiten nicht zusammen." "Ah, ja", sagte Reik, "schön. Ich gehe jetzt..." Sie verabschiedeten sich voneinander, und Reik und seine Begleiterin gingen. Während sie den Hof überquerten und dann einen lichten Wald durchschritten, kamen dem Jungen Zweifel, ob das ein Mädchen war, was ihn begleitete. Weder der Haarschnitt noch die Kleidung verrieten ihm das. "Bogila", fragte er, "wer war das? Er hat mich so genannt." "Ein Eonide", antwortete sie, "er kam mit einundneunzig Jahren erst zurück. Es war herrlich, wenn man seine Kommentare hörte. Er war ein Original. Ein freundliches, wenn auch manchmal naives Original." "Und warum hat er mich so genannt?" fragte Reik stirnrunzelnd. .Jeder nennt", sagte sie, "das ist doch klar. Wenn du geboren wirst, 278
nennt dich dein Vater vielleicht Winzchen, weil du so klein bist. Aber was würdest du jetzt dazu sagen, wenn dich einer so nennte? Siehst du, das ist klar. Nein, du, ein Name für ein ganzes Leben, das ist eine unzumutbare Festlegung, denn wir ändern uns. Ich jedenfalls möchte nicht in einem Schubfach eingesperrt sein und dort nie mehr herausdürfen. Und da dich jeder anders sieht, gibt er dir den Namen, von den er meint, daß er zu,dir paßt." "Das ist einwandfrei", antwortete Reik. "Du hast gesagt", fuhr sie fort, "daß ich eines-^Tages schön sein werde. Das ist kein gutes Wort. Schön sind leblose Dinge: ein Kristall, eine Landschaft, ein Sonnenuntergang. Manche Eoniden, die wollen schön sein, aber das ist die traurige Seite ihrers Seins: Sie färben sich ihre Gesichter, die Wangen, die Lider und Brauen ein, bemalen sich die Lippen und manche sogar den Körper." "Eoniden", sagte Reik nachdenklich, als müsse er sich das Wort merken, "du urteilst absolut hart. Du trägst selbst eine Muschelkette." Sie lachte. "Soll ich nicht?" fragte sie spöttisch. "Ich würde es lassen, wenn diese mich veränderte, verunzierte. Ja, wenn ich merken würde, daß das Gefühl in mir erwacht, mich ständig in einem Spiegel zu betrachten, wenn das Gefühl in mir wäre - wie es in den Eoniden ist -, mich mit anderen zu vergleichen und dabei die Bessere zu sein, dann wäre es an der Zeit, mich vernünftigerweise von der Kette zu trennen. Aber so? Auf ein andermal." • Nach diesen Worten ging sie schräg über eine Lichtung, auf ein kurzes Schienenstück zu, auf dem ein eigenartiges Fahrzeug stand. "Warte", rief Reik, rannte ihr hinterher, faßte sie am Ellenbogen, "du gehst so einfach? Du weißt ja nicht einmal, wer ich bin ... Es interessiert dich nicht?" "Wir wollten doch spielen", sagte sie, "und was muß ich da mehr wissen, als daß du dazu taugst." "Ich war Zeuge", trumpfte Reik grimmig auf, "als Gorgon vernichtet wurde. Ich habe die Zerstörung des Megaglenos Argus mit eigenen Augen beobachtet..." Er schaute sie prüfend an, erwartete eine Wirkung, vielleicht Spannung oder ein wenig Interesse für seine Person. Ihre Augen bekamen einen traurigen Glanz, sie blickte in eine unbestimmte Ferne. ?Ja", murmelte sie, "es ist das andere, die Bedrohung, der mögliche Krieg. Manchmal erreichen uns solche Meldungen. Wenn einer der tapferen Humanidinnen oder Humaniden vom Außenring stirbt." Sie nahm seine beiden Hände, hielt sie in den ihren, lehnte ihren Kopf gegen seinen. Da wurde alles leicht und frei in Reik, er fühlte sich unerwartet geborgen. "Man muß es vergessen können", sagte sie eindringlich, und
Reik begriff erst viel später, daß sie gedacht hatte, Gorgon und Argus wären Kameraden von ihm gewesen, "man 279 muß sich dem Leben zuwenden. Du weißt doch aus der Geschichte, daß es einst Orte gab, an denen man mit steinernen und metallenen Denkmälern dem Tod und den Toten huldigte. Sie erinnerten ihre Zeitgenossen ununterbrochen daran, daß die Lebenszeit verrinnt. Du aber vergißt, was du erlebt hast. Endlos und vielfältig ist das Leben. Wenn dich ihm zu." Sie ließ ihn los, lächelte freundlich. Es war Reik, als hätte sie ihn Stunden auf ihren Armen gewiegt. Er stand glücklich lächelnd da, hatte tatsächlich vergessen, was er ihr alles sagen wollte. "Die Eoniden . ..", sagte er vorsichtig. "Ich werde dich nicht los", erklärte sie lachend, öffnete die Kabine des Fahrzeugs und machte eine einladende Handbewegung. Reik kletterte auf den linken Sitz, während sie, ihm folgend, rechts Platz nahm. Lautlos löste sich der Apparat vom Boden. Das Mädchen rastete zwei Greifer ein, forderte Reik auf, es ihr gleichzutun. Erst, als sie schon einige hundert Meter hoch waren, schloß sie das Glas der Kabine. "Was sind das für welche", fragte Reik, "Eoniden ...?" "Du wärst einer", antwortete sie, "wenn du für immer hier bleiben wolltest. Quarantäne ... Kennst du das Wort?" "Ja", sagte Reik, "Tollwut und so ..." Sie lachte. "Wenn tolle Wut eine Krankheit ist", fuhr sie fort, "dann hast du es nur halb verstanden. Quarantäne ist die Zeit, die jemand braucht, sich an etwas Neues anzupassen. Das kann lange dauern. Wir' hatten einmal einen jungen Astraden hier. Er war nur drei Monate Eo-nide, dann kam er zu uns. Und nach einem Jahr hatte er ein großes Waldstück mit einem elektrischen Zaun eingesponnen. Fast drei Viertel aller Bäume fällte er, ließ sich dort ein absolut geschmackloses Großhaus errichten, das er Schloß nannte. Vierzig Fahrzeuge hatte er gespeichert, Tausende von haltbar gemachten Lebensmitteln. Zentnerweise mineralisches Gold, kleine Ledersäcke mit Diamanten. Wer weiß, wie lange er seinen Schabernack noch getrieben hätte, wenn er nicht auf den Gedanken gekommen wäre, sich einen von uns suchen zu wollen, der bei ihm als .Diener' arbeiten sollte. Als wir ihn befragten, wozu er dort die Fahrzeuge abgestellt hatte, antwortete er stereotyp: ,Ist meins..., gehört mir!' Verstehst du das?" "Also sind Eoniden Fremde?" forschte Reik weiter. Er blickte nach unten, sah winzige Gebäude, die in unregelmäßigen Abständen aus dem grünen
Meer des Waldes auftauchten, nie aber über die Größe einer Siedlung hinauswuchsen. In weiter Ferne erschien ein erster blauer Streifen: Dort begann das Meer. Und genau auf das Meer flogen sie zu. 280 Näher kamen sie dem Wasser, sahen den gleißend weißen Strandstreifen auftauchen, auf dem eigenartige Konstruktionen standen, die bis zu hundert Meter in die Fluten hineinreichten. Dort tummelten sich ungezählte Humaniden beim Baden. Auf der gläsernen Anzeige im Inneren erschienen mehrere gelbe Ringe, die von Zahlen umkränzt waren. Unablässig veränderten sich die Zahlenwerte. "Wollen wir dorthin?" fragte Reik, auf einen der gelben Kreise tippend. "Das ist die Inselgruppe", antwortete sie', "die die Eoniden bewohnen. Es ist schönes Land." "Brennesselchen", bat Reik sie, "ich mache dir einen Vorschlag: Wir sehen uns jetzt die Inseln an, du wirst mich führen, und dann bleiben wir den ganzen Tag zusammen. Bis in die Morgenstunden. Weißt du, vorhin, da war ich mir nicht einmal sicher, ob du ein Mädchen oder ein Junge bist, aber als du meine Hände nahmst. . . Das war schön." "Sieh dir erst einmal die Eonidinnen an", erwiderte sie, "da wirst du Schönheiten entdecken." Reik verstummte. "Nein", sagte sie unerwartet, "es sind nicht nur Fremde dort. Weißt du, wir sind Neugierwesen, uns interessiert alles. Und manch einer, der so wie du jetzt loszog, die Eoniden zu sehen, blieb einige Monate, Wochen oder sogar Jahre dort. Ich sagte doch, daß Bogila erst im Alter, wenn auch noch nicht als Greis, zurückkehrte." Das Fahrzeug ging tiefer herunter, denn aus dem gelben Kreis war eine mächtige Insel geworden, auf der fremdartige Bäume und Sträucher einen dichten Uferstreif bildeten. Im Westen war ein kurzes Stück Strand zxi sehen, im Osten lagen einige kleine Boote an steinernen Molen. Aufgespannte Netze und Angelzeug zeigten, daß es hier Fischfang gab. Sie huschten schattengleich dicht über die Baumspitzen dahin, glitten auf eine freie Grasfläche zu, setzten weich auf. Das Glas klappte hoch, die Krallen ließen sie los. Sie stiegen aus. Die Wiese war gesäumt von knallbunten Zelten. Farbige Lampionketten verbanden die Zeltspitzen mit den Ästen der Bäume. Auf einem etwas entfernten Wiesenabschnitt tanzten einige Pärchen. "Keine Musik?" fragte Reik, auf die Tanzenden deutend. "Geh hin", forderte sie ihn auf. Reik überquerte die Wiese. Er war auf drei Meter herangekommen, ohne einen Ton zu hören, doch unerwartet, nach zwei weiteren Schritten, war
er eingehüllt in einen aufpeitschenden Klang, bei dem sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Ohne es zu wollen, ging Reik einen Schritt zurück. Wieder umgab 281 ihn die Stille. Die Pärchen unterbrachen ihren Tanz, sahen in ihm einen Neuankömmling und lachten. "He, Milchbart", rief einer, "hast noch keine Nerven, was? Ja, du mußt noch fleißig üben." "Du Clown", antwortete Reik finster, "kannst ja mal herauskommen, dann zeige ich dir, wer ein Grünschnabel ist." Das ließ sich der Aufgeforderte nicht zweimal sagen. Wahrscheinlich, weil er vor seiner Freundin zeigen wollte, aus welchem Inselholz er geschnitzt war, stürmte er auf Reik zu, der ruhig die Hände zur Abwehr hob. Doch der andere hatte ihn noch nicht ganz erreicht, als er sich rücklings überschlug, benommen auf dem Grasland landete. "Bei allen gerissenen Netzen der Welt", schrie er zornig, kam auf die Beine und wiederholte seinen Angriff mit dem gleichen Ergebnis. "Hör auf damit", schalt Reik den Steinernen Kopf leise, "das bringe ich auch ohne dich zustande, hörst du?" Diesmal erhob sich der andere vorsichtig, trat langsam auf Reik zu, reichte ihm seine Rechte. "Ich bin Fischermeister", sagte er, "und einer der Stärksten von uns. Aber du, du bist besser als ich. Gib mir deine Hand, laß uns Freunde sein." , Sie reichten sich die Hand, wobei Reik sehr wohl spürte, daß der andere ein kräftiger Bursche mit einem soliden Händedruck war. Reik schlenderte zu Brennesselchen zurück, die kopfschüttelnd die Auseinandersetzung und ihr Ende angesehen hatte. "Raufbold werde ich dich ab- jetzt nennen", erklärte sie und ließ keinen Einwand gelten, "endlich kenne ich eine Eigenschaft von dir." Als sie an den Zelten vorbeikamen, sahen sie nur junge Leute. Es gab keine Alten. Und das war, nach dem, was Brennesselchen ihm gesagt hatte, auch erklärlich. Manchen lockte das Abenteuer, lockte das Anderssein, doch die meisten begriffen, daß es hier viel Monotonie gab, irgendwann fehlte ihnen das, was nur das Festland bot. Reik kannte Brennesselchens Alter nicht. Daß sie kein Riesenkind war, stand fest. Doch ob sie eine junge Schülerin oder eine erwachsene Humanidin war, wie sollte er das erkennen. Hier aber, als er die Zeltbewohner sah, da bemerkte er gewisse Abweichungen von diesem Grundtyp. Vielleicht war es das, was seine Begleiterin unterwegs gesagt hatte. Er sah Mädchen mit langen, schlanken Beinen, die mit ihren manchmal lustig, oft erotisch eingefärbten Gesichtern und Leibern in einer Art einherschritten, daß es unmöglich schien, mit ihnen eine ganz
normale Unterhaltung zu beginnen. Und doch zogen sie Reik an, reizten ihn. Und hatte er auf dem Festland nicht einmal bemerkt, was jene trugen, denen er über den Weg gelaufen war, so drängten sich hier die modischen Artikel derart in den Vordergrund, daß sie die Ge282 sichter, die Eigenarten ihrer Träger nicht erkennen ließen. Einige trugen grellfarbene Overalls, andere weitschwingende Blütenkleider oder hautenge Fellimitate. Man lief in metallisch schimmernden Rüstungen oder Sachen aus geflochtenem Gras und Blättern herum. "Fasching", sagte Reik zu seiner Begleiterin, "ein fröhlicher Fasching. Ich würde auch hierbleiben. Jedenfalls eine bestimmte Zeit." "Es ist nicht ganz so harmlos", erwiderte Brennesselchen, "wie du dir das denkst. Früher gab es zwei Inselgruppen für die Eoniden. Aber die Nachfrage sinkt. Dann wurde eine Inselgruppe aufgegeben, weil eine einzige reichte. Jetzt sind nur noch diese und eine benachbarte Insel übriggeblieben." "Nicht harmlos?" wiederholte Reik ungläubig, "was ist daran gefährlich?" "Ich weiß nicht", versuchte sie eine Erklärung, "wie es bei euch ist... Wir aber sind besorgt um jeden einzelnen von uns. Es ist uns nicht einerlei, ob einer oder zehn, ob hundert oder tausend ihre Bindung an uns verlieren. Ob sie einem falschen Glanz verfallen oder nicht. Es ist uns nicht einerlei, wenn auch nur einer seine Fähigkeiten und Talente verdorren läßt. Und wer lange hier ist, dem kann es passieren, daß er bindungslos und apathisch wird. Einige melden sich von hier aus direkt zum Außenring, denn sie halten den Kampf gegen Destrusos auch für ein Abenteuer, für .Fasching', wie du gesagt hast. Enttäuscht müssen sie dann erfahren, daß man sie nicht nimmt. Denn was auf sie wartet, ist kein Abenteuer. Es ist Abschied von unserer Art zu leben, Abschied von allem Schönen. Sie müssen töten lernen. Verstehst du, sie müssen es. Andere ziehen umher, suchen etwas, ohne noch zu wissen, was das ist. Natürlich lassen wir ihnen Zeit, denn nichts ist so heilsam und wunderbar, wie ganz allein finden, wozu man fähig ist. Und doch müssen wir bei einigen medizinisch helfend eingreifen, ehe sie in Trauer und Melancholie verfallen. Deshalb, Raufbold, ist es nicht so harmlos, wie es aussieht. Das Wort .gefährlich' hast du benutzt, nicht ich." Sie waren durch einen lichten Auenwald, indem ebenfalls ungezählte Zelte standen, dahingegangen, hatten einen Hügelkamm erreicht und ihn erstiegen. Vor ihnen dehnte sich ein weites, langgestrecktes Tal, in dem sich zweistöckige hölzerne Häuser dicht an dicht drängten.
"Eine richtige kleine Stadt", sagte Reik lachend, "lange nicht mehr gesehen." Direkt vor ihnen aber gab es eine Art Freilichtbühne, zu der von allen Seiten Talbewohner herbeiströmten, die offenbar etwas Sehenswertes erwarteten. "Was ist denn nun los?" fragte Reik, auf die schwatzenden und gesti283 kulierenden Stadtbewohner deutend, die hastig die Sitzplätze einnahmen. "Es ist immer das gleiche", sagte Brennesselchen gleichmütig, "sie wissen, daß ich vom Festland komme, und sie erwarten jetzt, daß ich einige neue logische Spiele für sie mitgebracht habe. Du weißt ja, daß die Eoniden noch stolz darauf sind, wenn sie andere übertrumpfen können. Nicht wahr, Raufbold?" Reik merkte wohl, daß sie mit dem Namen darauf anspielte, daß auch er nicht frei von diesem falschen Ehrgeiz war. "Du hast nicht gehört", verteidigte sich Reik, "wie er mich genannt hat Frischmilchtüte oder so. Das muß man sich nun tatsächlich nicht gefallen lassen." "Besteht denn die Gefahr", fragte die Begleiterin, "daß man dich für eine Milchtüte hält?" "Was?" Reik sah sie ungläubig an. "Also nicht", setzte sie voraus, "warum stört es dich dann, wenn er so etwas sagt. Mich würde es nur stören, wenn ich eine verkleidete Milchtüte wäre und nicht wollte, daß es jemand bemerkt." Reik lachte und faßte sich an den Kopf. "Ist das eine Logik", bemerkte er lachend, "verkleidete Milchtüte." In der Zwischenzeit hatten nach einer wilden Drängelei zwei Mädchen auf zwei Sitzen, die auf der Bühne montiert waren, Platz genommen. Brennesselchen trat, immer noch von Reik gefolgt, ebenfalls auf die Bühne. Sie zog ein kleines Gestell aus einer Vertiefung, legte dort eine winzige blaue Platte ein, die aus einer der Taschen ihrer Kleidung gezogen hatte. In der Luft, unmittelbar vor den Sitzenden, entstanden zwei Labyrinthe, in denen sich je ein kleines Tier schnüffelnd und lauschend zu orientieren versuchte. "Fangt an", rief Brennesselchen den Mädchen zu. Die Tiere liefen durch Tunnel, balancierten über Seile, kletterten steile Wände nach oben. Eines erreichte unerwartet einen Ausgang und lief auf eine blühende Wiese hinaus. Das andere suchte immer nervöser und ungeduldiger, ohne den Weg in die Freiheit zu finden. "Bäh", machte die Siegerin zu der anderen, während die Anwesenden begeistert klatschten.
Die Labyrinthe verschwanden. Statt dessen war eine Landschaft aus der Vogelperspektive sichtbar. Es gab Wälder und Wiesen, Sümpfe und Moore, Felder und Steppen, Flüsse, Kanäle, Gräben. Und zwischen all dem erstreckte sich eine trostlose tote Sandfläche, die im Zeitlupentempo anwuchs, das fruchtbare Land fraß. Ganz langsam veränderte sich die Landschaft. Die erste Siegerin ließ ihre Wiesen wachsen, ohne aber daß sie den Sand aufhalten konnte, der schon bald darauf das grüne Gras begrub, sich sogar der Flußufer 284 bemächtigte und alles Grün erstickte. Bei der anderen wuchsen die Wälder. Weitaus langsamer als das Grünland. Und doch schienen sie ein Gatter für das Ödland zu sein; sie kreisten es ein, drückten es mehr und mehr zusammen, bis sich schließlich alles mit einem sanften grünen Hauch überzog. Die Erosion war gebannt, das Land begrünt. Diesmal war der Beifall für die Siegerin dreifach. Sie standen von den Plätzen auf, riefen "Bravo, bravo!" und klatschten lange. Das Mädchen erhob sich, trat an Brennesselchen heran. "Ich glaube", sagte sie, "ich war lange genug hier. Was meinst du? Ich komme mit." Reik drängte es, das Mädchen zu fragen, warum und weshalb sie mitkam, doch unerwartet deutete Brennesselchen auf Reik. Stille kehrte in das Rund ein. "Ein Gast", sagte sie, "und noch dazu ein tatendurstiger." Reik sah sie schief lächelnd an, nahm dann Platz. Da erschien ihm, mächtig und gefahrdrohend, das Labyrinth von Astras. Er sah die Furonen und Melaana. Sein Tier flüchtete in unglaublicher Geschwindigkeit, überwand spielend die schwierigsten Hindernisse, erkannte augenblicklich, was gefährlich und was machbar war, und erreichte nach Sekunden bereits die blühende Wiese. Der Applaus hielt minutenlang an, einige sprangen auf die Bühne, hoben Reik hoch, umrundeten mit ihm einmal den Bühnenrand, ehe sie ihn wieder bei dem Sitz abstellten. "Zusatzaufgabe", erklärte Brennesselchen leise. Erneut erschien das Labyrinth, doch diesmal reichte es über vier Etagen. Außer all dem Bekannten gab es jetzt zusätzliche Türen und Schleusen, von denen einige nur in eine Richtung, andere in zwei Richtungen beweglich schienen. Und das Tier war nicht mehr allein. Drei andere, weitaus größere Wesen, deren Gestalt sie als Raubtiere kennzeichneten, bewohnten ebenfalls jene Station. Die Stille rundum wurde hörbar. Ein kleiner Junge erhob sich und lief fort.
"Es ist waffenlos?" fragte Reik. "Das ist die Bedingung", antwortete Brennesselchen leise. Die Flucht begann. Kaum aber, daß das kleine Tier sich in Bewegung gesetzt hatte, als es von den Räubern schon geortet wurde. Und die drei arbeiteten zusammen. Es wurde immer kritischer. Manchmal gelang es dem Kleinen, eine Leiter umzukippen, eine Schleuse hinter sich zu schließen und so einen der drei Verfolger auf Zeit fernzuhalten. Doch nie dauerte das lange. Reik begann zu schwitzen. Und er ahnte, daß er so, wie er jetzt vorging, nie zum Ausgang kommen würde. So änderte er die Fluchtrichtung des Tieres, ließ es, begleitet von 285 einem unruhigen Seufzer der Zuschauer, tiefer in das feindliche Labyrinth hineinlaufen. Und dabei wäre es fast in eine Falle geraten, denn es gab einen Raum, in den führten drei Türen hinein, aber keine hinaus. Reik erkannte die Chance des Kleinen. Er näherte sich einem Verfolger, lief vor ihm her, direkt auf eine der gefährlichen Türen zu, um dicht daneben mühsam die Wand nach oben zu hangeln. Der Verfolger, der dem Kleinen den Weg abschneiden wollte, hastete durch die Tür und war gefangen. Ein Stoßseufzer begleitete diese Aktion. Schließlich gelang es dem Kleinen, auch die beiden anderen in die Falle zu locken. Und erst dann ging es, jetzt ein wenig müde, zum Ausgang, um die Wiese zu betreten. Diesmal war der Applaus noch heftiger und brausender. Reik wischte sich den Schweiß ab, nahm noch einmal Platz. Und nun erschien auch ihm jene kleine Welt, die von dem Ödlandstreifen bedroht wurde. Alles, was das erfolgreiche Mädchen getan hatte, schien ihm beim Zuschauen logisch und natürlich. Er versuchte es also ebenso zu machen. Doch da mußte ein Fehler sein, denn begann er auf einer Seite aufzuforsten, fraß der Sand die Bäume auf der anderen Seite. Pflanzte er dann dort, verging jener zuerst gepflanzte Wald. Ganz zu schweigen davon, daß sich währenddessen die Wiesen unaufhaltsam in Steppe, die Steppe in Wüste umwandelten. Reik versuchte den größten Fluß zu stauen, um dann die gesammelten Wasser über die Sandfläche auszugießen. Der Erfolg aber war nur, daß viele Pflanzen im Morast starben und der Sand noch schneller die Herrschaft gewann. "Kann ich nicht", stellte er fest, und im selben Augenblick erlosch das Bild. Schweigend, ihn nachdenklich betrachtend, erhoben sich die Zuschauer, verneigten sich knapp vor ihm und gingen fort. "Durchgefallen, was?" fragte Reik und blickte den Davonziehenden nach. "Ich bin eben keiner von euch . .., kein Humanide." Da trat die Eonidin auf ihn zu. Auch sie legte, wie er das schon einmal erlebt hatte, ihre Arme um seine Schultern, bot ihre Schulter seinem
Kopf an. "Niemand fällt durch", sagte sie, "und du hast alle beeindruckt. Wir wissen alle, daß es einen Außenring gibt, weil sonst De-strusos Aktionen gegen uns unternehmen würde. Aber keiner weiß, was das bedeutet: auf dem Außenring leben ... Unsere Spielführerin hat uns allen zum erstenmal ein Spiel vorgeführt, wie es wohl genutzt wird, um Kandidaten für den Außenring auszuwählen. Es war ein böses, ein angsterzeugendes Spiel. Und du warst großartig. Und jetzt weißt du, wo deine Stärke liegt. Andere werden wildes Land urbar machen, und du wirst ihnen Sicherheit bieten." Sie löste sich von ihm, lächelte ihm zu. "Raufbold", flüsterte Brennesselchen, "er heißt nämlich Raufbold." Sie traten zu dritt den Weg zurück zu der Wiese an, auf der das 286 Fahrzeug stand. Die beiden Humanidinnen sprachen sehr heftig miteinander. Es ging um die Möglichkeiten für das zurückkehrende Mädchen. Sie hatte bestimmte Vorstellungen von ihrer zukünftigen Tätigkeit, so daß sie sich nach bestimmten Ausbildungswegen erkundigte. Andere, dachte Reik, dem das farbige Treiben plötzlich nebensächlich war, andere werden das Land urbar machen, und du wirst es beschützen. "Wer bin ich geworden?" flüsterte er vor sich hin. "Wer bin ich auf diesem Weg geworden?" Und er fing an zu begreifen, daß das alles, was ihn hier umgab und was ihm so einfach erschienen war, daß all "dies für ihn und seine Art zu leben, in weiter, für ihn nicht erreichbarer Ferne lag. Und als er dies dachte, warf er einen sehnsüchtigen Blick zu Brennesselchen hinüber, denn auch sie erschien ihm endlos weit fort. Ihre Gedanken waren nicht die seinen, ihre Gefühle so unterschiedlich von den seinen, daß es keine Brücke gab. So erreichte die kleine Gruppe das Fahrzeug. Die beiden Humanidinnen, die so sehr in ihr Gespräch vertieft waren, daß sie Reik vergaßen, nahmen vorn Platz, während er sich hinten niederließ. Das Glas klappte zu, die Greifer umfaßten sie. Sie erhoben sich lautlos in die Luft. Unter ihnen erblickte Reik noch einmal die tanzenden Pärchen, die vielfarbigen Zelte, die Lampions. In der Ferne tauchten die Hügel und die hölzerne Stadt, die Molen und die Fischerboote auf. Und er konnte einen einzigen Blick auf die Bühne werfen. Dann war das Meer unter und um sie. "Wer bin ich jetzt?" wiederholte Reik leise. Aber die Worte waren kaum gesprochen, als beide Humanidinnen sich zu ihm umwandten, ihm gerade in die Augen blickten, und jede eine Hand von ihm nahm. "Du bist auf einem Weg", sagte Brennesselchen liebevoll, "und ich weiß, daß es der richtige Weg ist, mein Freund."
Reik schlug die Augen auf. Er fühlte sich auf ungewohnte Art erfrischt. Er saß im Gras, mit dem Rücken gegen einen Stamm gelehnt. Er vermißte weder den Flugapparat noch das Mädchen. Erstaunt riß er die Augen weit auf, denn neben ihm hockte Kornreck. "Inula", rief Reik und hob den kleinen Gefährten hoch, "das ist gut. Wo ist Sarschan?" "Da", antwortete die Zarppe, wies in das sanfte Tal, das sich zu ihren Füßen erstreckte. Eine ebensolche Bühne wie bei den Aeoniden erhob sich, nur daß es zehn Gitterpodeste und doppelt so viele Glaskugeln gab. Die Sitzreihen waren wie in einem Amphitheater angeordnet und zogen sich an den Hängen entlang. Ungezählte Humaniden, zwischen ihnen aber auch andere Wesen, füllten schweigend den Raum. 287 "Ich habe die Humaniden für Riesenkinder gehalten", sagte Reik kopfschüttelnd. In der vordersten Reihe entdeckte der Junge eine Gruppe Zarppen. Er machte Kornreck auf sie aufmerksam, aber der winkte großzügig ab, sagte "unsere" und "kenne ich schon". Auf einem der Gitterpodeste stand Sarschan. Ruhig glommen seine Augen und Lichtleisten. In den Kugeln zeigten sich eigenartige Gebilde, die ein wenig an Spinnennetze erinnerten. Jedes dieser Netze schnitt die anderen in einem unterschiedlichen Winkel, so daß alles wie ein kompakter Block ohne Durchlässe erschien. Aus großer Entfernung näherte sich diesem gordischen Knoten eine leuchtende Kugel, die, je näher sie ihrem Ziel kam, um so schneller flog. Wie ein leuchtender Pfeil huschte sie zwischen den Netzen hindurch und stoppte erst ihren Flug, als sie sämtliche Hindernisse schadlos überwunden hatte. Stumm erhob sich das Auditorium, verneigte sich schweigend, ehe man in stürmischen Beifall ausbrach. "Ich bin bei so einem Test durchgerasselt", erzählte Reik lebhaft, "ich müßte noch mal als Wickelbaby beginnen. Aber wer weiß, was die hier für eigenartige Maßstäbe haben." Während er sprach, fiel ihm das Mädchen ein, seine Brennessel. "Sag mal, Inula", fragte er also, "wer hat mich eigentlich bei dir abgeliefert?" "Eine Müttererzieherin", antwortete Kornreck, während er die Zarppen beobachtete, die sich um Angaria drängten. "Ich meine das Mädchen, die große Kleine", widersprach Reik, "ich hab bei ihr in dieser Falttaube gesessen, und dann . . . -, ich muß eingeschlafen sein." "Bei Zarppen, ja", Kornreck hob während des Sprechens beteuernd alle vier Hände, "es war eine Müttererzieherin. Kein .Mädchen', hörst du. Sie könnte vom Kalender her die ältere Schwester deiner Mutter sein."
Reik wurde knallrot vor Scham im Gesicht. Er hatte sich in eine Großmutter verliebt... "Nun hör mir mal zu", Kornreck sprang auf den untersten Ast des Baumes, gegen den sich Reik gelehnt hatte. Er stemmte zwei Hände in die Hüften, während er mit den anderen beiden alle seine Worte unterstrich. "Du hast vielleicht schon bemerkt, daß hier alles anders ist. Es gibt keine niederen Arbeiten mehr. Es gibt keine neidvollen Blicke. Nicht einmal in der Wohnsphäre hat einer etwas, was ein anderer nicht haben könnte. Und es gibt keine Falten, keine grauen Haare, keine Auszehrungen und psychischen Ermüdungen. Das Leben der Humaniden besteht aus Neugier, Lernen, aus Spiel und künstlerischer Betätigung. Sie haben auch gelernt, die Kräfte ihres Körpers so cinzu288 setzen, daß weder chirurgische Eingriffe noch Medikamente vonnöten sind. Deshalb sehen sie wie zu groß geratene Kinder aus, deshalb ihre wachen Augen, in denen eine hypnotische Kraft wohnt. Deshalb aber auch diese schlichte Kleidung, denn ihr vorrangiges Interesse gilt ihren Augen, ihren Gesichtern. Und wer sich von ihnen verliebt, der muß nach keiner Geburtsurkunde fragen, denn ihre Körper haben, solange sie leben, die äußeren, die sichtbaren Alterszeichen verloren. Und nehmen wir an, dein .Mädchen' hätte in dir nicht das irdische Wickelbaby mit den zu groß geratenen Füßen und Ohren erkannt, stellen wir uns vor, sie hätte sich auch in dich verliebt, dann würdest du dein Leben lang vermutet haben, daß dir die Liebe eines erfahrenen Schulmädchens begegnet ist... Übrigens, Sarschan ist dort vorn nicht durchgerasselt. Nachdem es keine formulierbaren Aufgaben mehr für ihn gab, stellte er dem zentralen Wissensspeicher eine Aufgabe, die er dann selbst lösen mußte, weil sein Dimensionsverständnis über das des Speichers hinausging. Zufrieden?" Sarschan wandte sich von seinen Zuhörern ab, richtete seine Kugelaugen auf Reik und Kornreck. Es wird Abend, Freunde, signalisierte er ihnen, geht in unsere Unterkunft und stärkt euch. Ich werde wahrscheinlich die Nacht durch diskutieren müssen. Bis morgen also .. . Drohende Schatten Das Gebäude, in dem sie Quartier für die Nacht bekamen, war ein schmuckloser, langgestreckter Bau, der zur Hälfte in einen See hineinragte. Ungefähr in der Mitte des Gewässers erhob sich, fesselnd anzusehen, ein Gebilde aus einer An geronnenen Wassers. Vier kanonengestaltige Geräte erhoben sich an einer der Schmalseiten des Gewässers. Aber nur an einem dieser Apparate stand ein Humanide, betrachtete lange nachdenklich jenes Gebilde, ehe er etwas an dem
Steuerteil der Maschine veränderte. Mit einem zischenden Laut brach ein breitgefächertes Licht aus dem Lauf, traf den Wasserspiegel, riß eine Gruppe Tropfen hoch, die gegen die höchste Erhebung jenes Ziergebildes trafen, dort klebenblieben und ebenfalls erstarrten. "Der braucht weder Ton noch Quarzsand", bemerkte Reik, während sie den Weg vom Transporterpunkt zu ihrem Quartier liefen, "und wenn er genug hat, löst er den ganzen Plunder wieder auf... Das nenne ich praktisch." "Und sein Kritiker", merkte Kornreck an, "spart sich alle Worte. Er geht an die Lichtkanone und macht es besser." "Oder nicht", schloß Reik das Gespräch ab. Als sie das Gebäude betraten, blickte Reik verblüfft um sich: Es gab 289 nichts in der Art eines eigenen Zimmers. Treppen, versetzte Bodenflächen, pflanzliche Trennwände zeigten wohl, daß eigene Bereiche existierten, aber nirgends war man so abgeschieden, daß man den anderen neben sich nicht sehen konnte. "Du kannst sagen, was du willst", stellte Reik entschieden fest, "vielleicht bin ich noch nicht soweit, aber wohl fühlen könnte ich mich hier auf die Dauer nicht. Du kannst ja überhaupt nichts ungestört machen." "Und was willst du allein machen?" fragte Kornreck spöttisch. "Ist doch egal", Reik winkte ab, "vielleicht Robinson Crusoe lesen . . ., oder eine Freundin mitbringen ..." "Dafür gibt es auf Humanos ganz spezielle Bereiche", warf Kornreck ein. ". . . ein bißchen Musik. . .", Reik suchte ein neues Beispiel. "Kannst du doch", Kornreck winkte großzügig ab, "Richtstrahl. Hört nur der, der es hören will. Einer, zwei, zehn . . ., ganz egal. Die anderen, auch wenn sie unmittelbar neben dir sitzen, hören nichts." "Mann", Reik schüttelte den Kopf, "vielleicht will ich Mostrich in unserKlassenbuch schmieren." "Warum?" fragte Kornreck, während seine Augen ganz sanft grünlich zu schimmern begannen. "Da du dir deinen Lehrer samt der Ausbildungsrichtung wählst, da es weder Klassenbücher noch Zensuren oder Bewertungen gibt und da es letztlich der Lehrer ist, der dir das planmäßige Denken, die Selbstheilung und die wortlose Kommunikation beibringt, dürfte es kaum einen Grund geben, ihm ein Ärgernis zu bereiten . .. Junger Mann, das hier ist die Zukunft, verstehst du? Es ist aus der Mode gekommen, dem anderen Streiche zu spielen, um dann schadenfroh lachen zu können. Alles Selbstzerstörerische, egal, ob es Wettkampf, Fasching oder Fete heißt, ist ersetzt durch eine intensive
Lebensfreude, durch Zärtlichkeit, Neugier und eine endlose Kette von alltäglichen Abenteuern. Sieh dich doch um: Du ahnst nicht einmal, wieviel Jahrhunderte ein einzelner braucht, um diese seine Welt mit all ihren Möglichkeiten zu entdecken. Und du hast noch keinen Blick in die unterirdische vollautomatische Produktionssphäre geworfen, wo nur Maschinen, Automaten, Computer und Roboter tätig sind. Ausgenommen die humanidi-schen Herren der Technik. Du kennst nicht den Außenring, jenen Verteidigungsgürtel, der das alles schützt. Du hast noch nicht die untermeerischen Landwirtschaftsgebiete erlebt, die teils unter Luftglocken für Landpflanzen und -tiere, teils für Wasserlebewesen angelegt sind. So ist das. Und nun nerve mich nicht weiter. Übrigens ahnte Sarschan deine Verrücktheiten, denn es gibt in dieser Unterkunft für Gäste auch einige abgeschlossene Räume. Sogar mit stählernen Türen. 290 Da drüben ist der Einweiser. - Siehst du da die drei Zarppen? Ich muß mit ihnen reden, sonst gehe ich noch in die Luft. Bis später." Die Zarppe lief eilig zu den zarppanischen Gästen hinüber, während Reik schnaufend auf den Einweiser zutrat. Der begrüßte ihn freundlich, hakte ihn unter und führte ihn durch alle Räume, wobei er unaufdringlich die Anwesenden vorstellte. Reik hörte Tätigkeitsbezeichnungen, unter denen er sich nichts vorstellen konnte, und wenn er nicht wütend auf Kornreck gewesen wäre, hätte er sicher auch nachgefragt. So lächelte er nur verbindlich, ließ alles über sich ergehen und wurde schließlich in einen Raum geführt, dessen Fenster ungewöhnlich dickes Glas aufwiesen und zudem noch beidseitig vergittert waren, während die Tür an einen Tresor, nicht aber an einen Wohnraum erinnerte. "Der direkte Weg zum Badewasser", erklärte der Humanide, der Reik nun losließ, um eine Bodenklappe zu öffnen, "und hier, für den Fall, daß du eine Körpermassage wünschst, die andere Durchlaßrutsche." Lächelnd verließ ihn der Einweiser, und Reik schloß probeweise die Metalltür. Neben dem Pictogramm, das ein Bett zeigte, war ein Knopf. Reik drückte ihn, da verschwand das Glas der Fenster in den Wänden, und eine Lagerstatt, halb so groß wie der Raum, entstand aus einem schnelltrocknenden Schaumstoff. Reik warf sich auf das Bett, lag so und betrachtete die Decke, auf der endlose Landschaften naturgetreu und dreidimensional abgebildet waren. Er lag noch nicht lange, als die Wandklappe aufging, eine Humanidin eintrat und sich leicht verbeugte. "Du bist der Namentragende", begann sie leicht zu plaudern, "Reik. Deine Brennessel läßt dich grüßen.
Sie hat mir ans Herz gelegt, deine Kräftigung fortzuführen. Eine stärkende Massage tut dir gut. Folge mir also." Reik stieg aufseufzend vom Bett. Jenseits der Klappe rutschten sie über eine kurvenreiche Schiene in einen Saal, in dem gleichmäßig warmes Wasser aus Röhren spritzte, sanft-glasiges Licht wogte und eine Reihe angenehmer, stets wiederkehrender Töne erklang. "Hier ist es schön", stellte Reik fest. "Hm", stimmte die Masseuse zu, "zieh dich aus." "Ganz?" fragte Reik und betrachtete die Frau. Diesmal irrte er sich nicht, denn ihre Arbeitskleidung lag eng am Körper an. Zudem entsprach sie nicht ganz dem humanidischen Ideal. Wohl waren ihre Augen groß, und auch der Kopf wies den länglichen Kleinkindertyp auf, aber ihre Beine waren schlank und lang, die Muskeln ausgeprägter und eben entsprechend einer erwachsenen Frau. Sie deutete auf die goldene Kette, die sichtbar war, weil Reik den Overall oben ein wenig offen trug. "Die kannst du umbehalten", erklärte sie lächelnd. 291 Reik entkleidete sich bis zur Unterhose. "Muß ich die auch ausziehen?" fragte er noch einmal. Sie nickte. "Und den Gürtel ebenfalls." "Da ist mein Erspartes drin", erklärte Reik, "dann schon lieber die Unterhose." Sie wies ihn an, sich auf einen Marmortisch unter die Wasserstrahlen zu legen. Reik nahm bäuchlimgs Platz, und gleich darauf fühlte er sich wunderbar berührt und gestreichelt. "Das ist mal etwas Schönes", erklärte er wohlig, ließ sich dabei auf den Rücken drehen, "also massieren lasse ich mich jetzt jeden Tag. Da hatte Frau Brennessel eine grandiose Idee." "Ich bin Aeonidin", erklärte die Frau, während sie in ihrer Arbeit fortfuhr, "und ich habe auch meine Schwierigkeiten. Bei uns feiern wir Feste mit der berauschenden Noganogafrucht. Hier muß ich auf alles verzichten." "Denkst du", sagte Reik, "hier nimmt mich jemand für voll? Ich bin Bogila, der Mann, der sich ständig überschätzt. Dazu bin ich ein Vollidiot, der nicht bildungsfähig ist. Bei uns war ich der Klassenbeste . . . Ich meine, ich hätte es sein können, wenn ich nicht immer gequatscht hätte .. . Na ja, ich war ein bißchen temperamentvoll, wenn ich irgend-womit nicht einverstanden war. Wie das so ist. Aber jetzt: bildungsunfähig .. ." "Ich weiß, was du meinst", sagte die Masseuse, "ich bin auch einsam. Es ist niemand da, der sich in mich verlieben will. Das ist schlimm, kein
Echo bei anderen zu erzeugen. Willst du nicht nachher zum See kommen? Ich werde mit einem Boot dort sein und auf dich warten." Reik setzte sich auf. Sah ihr Gesicht dicht vor dem seinen, spürte den Druck ihrer Hände auf seiner Brust. "Ich komme", antwortete er, während er seine Hände über ihre wandern ließ, ihre Unterarme, dann die Oberarme sanft berührte. Da öffnete sich die Wandklappe, und Kornreck, gefolgt von zwei anderen Zarppen, betrat den Raum. "Ihr stört wieder mal überhaupt nicht", murmelte Reik und ließ sich zurückfallen. Die Masseuse begann seinen Körper erneut zu bearbeiten. "Hallo, Reik!" rief Kornreck schon von weitem, und die anderen Zarppen grüßten ebenso. Sie sprangen nacheinander auf den Tisch, fuhren dem Jungen, der mit geschlossenen Augen dalag, mit ihren Antennen über das Gesicht. Reik mußte niesen. Er öffnete die Augen. "Wunderbar", rief er mit gespieltem Erstaunen, "Kornreck ist mir nicht mehr böse." 292 "Begleite uns", verlangte Kornreck, "wir wollen dir etwas Ungewöhnliches zeigen." "Ich muß mich anziehen", erklärte Reik, und die Zarppen verließen den Tisch, warteten bei der Klappe. "Um neun", flüsterte die Masseuse, "am dritten Steg." "Verstanden", antwortete Reik, während er sich unter dem Trockenlicht vom Wasser befreite, dann den Overall überzog. Die Masseuse verließ den Raum. Reik ging bedächtig zu Kornreck, blieb plötzlich stehen. "Ich glaube", sagte er, "ich habe mich erkältet." Er massierte sich ein wenig in der Nierengegend. "Du?" fragte Kornreck ungläubig. ,Ja", Reik strich sich stärker übers Kreuz. Dabei stieß er gegen das Futteral. Er zog die Hand zurück, als habe er einen Schlag bekommen. "Was ist?" fragte Kornreck beunruhigt und kam, gefolgt von seinen Freunden, näher. "Der Steinerne Kopf ist eiskalt", sagte Reik und starrte betreten Kornreck an, "nicht ich bin erkältet, er ist eisig. . ." "Dann war ein Feind in deiner Nähe", erwiderte Kornreck und blickte sich suchend um. "Aber das ist doch nicht möglich", Reik blickte zu der Tür, durch die die Masseuse verschwunden war, "wie soll denn das funktionieren?" Schweigsam, sehr nachdenklich schritt Reik, begleitet von den Zarppen durch ebenden Hain, den sie bei ihrer Ankunft auch durchquert hatten. Bevor sie das Haus verließen, sagte Kornreck seinen Freunden etwas auf zarppanisch, das Reik nicht verstand. Aber er sah, was Kornreck
erklärt hatte, denn die Zarppen beobachteten die Umgebung sehr gründlich. Ihre Antennen durchfurchten unablässig die Luft, nichts entging ihren Augen. So kamen sie zu einem offenen Pavillon, der, eingerahmt von Schraubenbäumen, in dem Hain stand. Reik sah eine Frau, die ihnen entgegenschaute, und einen Mann, der den Ankömmlingen den Rücken zuwandte. Die Frau sah klug aus, blickte wachsam und interessiert, und sie lächelte Reik, als sie nahe heran waren, freundlich zu. Der Mann trug eine hellgrüne Uniform mit braunen Tarnflecken. Gerade als Reik und die Zarppen eintraten, sagte die Frau zu dem Mann: .Jetzt sind sie da." Der erhob sich, legte die Hand grüßend an seine Schirmmütze und blickte Reik jetzt direkt ins Gesicht. Es war Obessar Marfus. "Reik Regenbach", rief er und umarmte den Ankömmling, "ist das eine Überraschung oder nicht?" "Obessar", Reik erwiderte die Umarmung, "du bist hier . . ." 293 "Groß bist du geworden", der Astrade staunte, "ein richtiger junger Mann. Ja, ich bin hier. Wir gehören der ASGEDANrunde an. Aber darf ich dir zuerst einmal Gloria die Elle vorstellen?" Sie reichte Reik die Hand, die er herzhaft drückte. "Ich bin der Stabschef", berichtete Marfus, derweil sich Reik setzte und einen Tee gereicht bekam, "das ist nicht leicht, Junge. Offiziell ist alles auf dem richtigen Weg, aber es gibt noch immer geheime Goldfäden, für die man selbst Astraden kaufen kann. So schnell werde ich nicht arbeitslos sein." "Was ist mit euren Straßen?" fragte Reik. "Das weißt du noch?" Obessar staunte. "Sie haben uns deltanonische Spezialbrigaden geschickt, die haben das .Geheimnis' sehr schnell gelöst. Glorus haben wir auch abgesenkt. Er steht jetzt auf einem gewaltigen Hügel. Es war uns zu gefährlich, und er fraß unbändig Energie. Also wozu?" "Und trotzdem gibt es noch feuriges Gold . . .", stellte Reik kopfschüttelnd fest. "Was wundert es dich?" antwortete Gloria die Elle. "Es dauerte endlos lange, ehe die Astraden von der Naturalwirtschaft zu einem System mit funktionierendem Zahlungsmittel fanden. Aber der umgekehrte Weg ist ebensolang. Man muß Geduld haben, aber wenige haben sie." "Wenn das so ist", stimmte Reik zu, aber er schien nicht recht überzeugt von dem Gehörten, denn er warf einen verstohlenen Blick zu Kornreck und den anderen Zarppen, die den Pavillon vorsichtig umrundeten, immer noch nach etwas Ausschau haltend, was den Steinernen Kopf in Alarmstimmung versetzt haben könnte.
Sie unterhielten sich noch eine halbe Stunde, dann mußten Gloria die Elle und Marfus fort, denn sie waren gekommen, um an der Vollversammlung der Runde teilzunehmen. Reik begriff, daß auch er nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt auf Humanos angekommen war. Sie verabschiedeten sich herzlich, hoffend, daß sie einander noch sehen würden, und trennten sich. "Vollversammlung", Reik wandte sich an Kornreck, "das sagt mir keiner. Geht es nicht um mein Futteral?" "Auch", erwiderte die Zarppe, "aber eigentlich dachten wir, es würde dir gefallen, ein paar Tage freizuhaben und dich hier umzusehen. Ist natürlich alles gestoppt, jetzt. Du verstehst, wir müssen vorsichtig sein." Reik schlug die Augen auf. Nur ein einziger Lichtstreifen erhellte seinen Schlafraum. Neben dem Bett stand Kornreck und winkte geheimnisvoll. "Was ist denn los?" fragte Reik unwillig. 294 "Wir werden sie überführen", flüsterte Kornreck, "sie wartet im Boot auf dich. Wenn sie die ist, die wir suchen, dann haben wir sie jetzt." Nur langsam ordnete sich alles in Reiks Kopf. Murrend erhob er sich, zog die Kombination an, rückte den Gürtel zurecht und trabte gähnend hinter Kornreck her. Sie benutzten die Bodenklappe, und nach einer ungemütlichen Rutschpartie standen sie am weißen Strand des Sees, wenige Schritte von den Bootsstegen entfernt. "Da", hauchte Kornreck und deutete auf ein nur wenig erleuchtetes Boot, "dort ist sie. Sie wartet auf dich." "Ich erinnere mich", maulte Reik, der sich bisher noch nicht erfrischt fühlte, "aber wie willst du sie überführen?" "Überlaß das mir", erwiderte Kornreck. Sie gingen an den ersten Stegen vorbei, betraten jenen, an dem das beleuchtete Boot vertäut war, und sprangen nacheinander an Bord. Reik wäre sicher gestürzt, wenn die Masseuse ihn nicht gestützt hätte. Sie sah abwechselnd Kornreck und Reik an, schien nicht zu wissen, was sie von der Situation halten sollte. Reik wußte auch nicht, wie er die Anwesenheit des Gefährten erklären sollte, nur die Zarppe selbst schien völlig sicher. Sie löste das Seil, drückte den Starter und machte es sich in einem weichen Sitzer gemütlich. "Ich lasse euch bald allein", versprach Kornreck, "aber als passionierter Angler halte ich nur kurz Ausschau nach Fischen .. . Erlaubt ihr das?" Reik fand die Erklärung unmöglich, so daß er nichts erwiderte. .Jeder kann hier mit jedem fahren", sagte die Frau ohne rechte Überzeugung.
"Um so besser", Kornreck sprang auf, umrundete die Frau prüfend, "was ich fragen wollte: Hast du am Nachmittag irgendwen gesehen, der dir noch nie hier begegnet ist?" Sie nannte Reik, Kornreck, und dann gab sie eine sehr präzise Beschreibung von Megaglenos Argus. Reik starrte sie offenen Mundes an. "Ich habe selbst gesehen", rief er heftig, "wie er zerstört wurde." "Na und", widersprach Kornreck, "wenn er nichts als eine Maschine war, kann er bereits in Serie hergestellt werden. Also umschleicht er uns . . . Na, dann werden wir ihm einen heißen Empfang bereiten, denke ich. Bleibt so lange auf dem Wasser, bis ich am Ufer die Lichter setze, dann habe ich ein Schutzfeld errichtet." Nach diesen Worten sprang Kornreck in die Fluten, lag wie ein Luftkissenboot auf dem Wasser und huschte ungeheuer schnell dem Ufer entgegen. Es dauerte nur Sekunden, dann hatte die Dunkelheit ihn verschlungen. 295 "Es ist schön", sagte die Frau jetzt und ergriff Reiks Hände, "daß du gekommen bist." "Ich hätte glatt verschlafen", entgegnete Reik, mühsam ein Gähnen unterdrückend, "wenn Kornreck mich nicht geweckt hätte . .. Ein wundervoller Abend." "Was ist mit dem, den ich gesehen habe?" fragte die Frau. "Hast du doch gehört", antwortete Reik, "ein Serienprodukt. Nicht viel los mit ihm." "Du untertreibst", sagte sie, "warum dann die Vorsichtsmaßnahmen deines Freundes?" "Er ist sehr besorgt", erklärte Reik, "er hat noch nicht begriffen, daß ich inzwischen mit dem Futteral ganz gut hantieren kann. Ich denke, da ich selbst einen Gorgon zur Strecke bringen könnte." Die Frau ließ Reiks Hände los, lehnte sich zurück, betrachtete ihn aus schmalen Lidspalten. "Du bist dir deiner sehr sicher", Staunen war in ihrer Stimme, "deine Brennessel schilderte dich anders." "Brennesselchen", Reik lächelte vor sich hin, "sie hält mich für ein Baby. . ., nein, nicht für ein Baby, denn sie sagte, für den Dienst auf dem Außenring tauge ich durchaus. Sie hält mich für einen Soldaten. Es würde mich nicht wundern, wenn ich tatsächlich einer werde. Was ich schon alles erlebt habe . . ." Das Boot änderte seine Richtung, fuhr nun langsam wieder auf das Ufer zu. "War das schon alles?" fragte Reik stirnrunzelnd. ,Ja", erwiderte die Frau kühl, "ich mag deinen Freund nicht, denn er ist ein Aufschneider. Und du bist ein Feigling, weil du nicht allein
gekommen bist. Aber wer weiß, vielleicht überlege ich es mir, und wir sehen uns doch noch einmal/' Cuul Chrassers Geheimmission Am nächsten Morgen wurde Reik zeitig geweckt, und nachdem er gebadet und sich angekleidet, gefrühstückt und sich bei Kornreck gemeldet hatte, verließen sie das Hotel und fanden Sarschan in einem schneeweißen, breit ausladenden Fahrzeug sitzend. Kaum hatten sie Platz genommen, als sie sich auch schon in Bewegung setzten. Unmittelbar hinter dem Hain öffnete sich eine Art schmale Schneise im Boden, und sie glitten lautlos in das Innere des Planeten. Schaut, forderte Angaria seine Gefährten auf, bis eure Augen müde sind. Seht, und nehmt es in euch auf, auch wenn ihr manchmal den Sinn des Erblickten nicht verstehen werdet. Ein zweiter Planet breitete sich in der Tiefe vor ihnen aus. Ein hoch296 produktiver, von automatischen Steuerblöcken bewegter Automatenplanet mit den immer gleichen gläsernen Pilzen, in denen einige Hu-maniden als Überwacher darauf achteten, eventuell auftretende Mängel von maschinellen Reparatureinheiten beseitigen zu lassen. Das, was Humanos oben an Schönheit und architektonischer Harmonie, an Weitläufigkeit und farblicher Ausgewogenheit gezeigt hatte, brauchte man hier nicht. Gigantische schwarze Maschinenblöcke standen neben endlosen Ketten chromblitzender Vorrichtungen. In langen Reihen erhoben sich kugelige rote Warnleuchten, die von zarten Drahtnetzen umhüllt waren. Selbst an den Decken hingen Maschinen, Greifer, Steuerteile. Die Zeit drängt, erklärte Angaria in die Stille hinein. So wird das der einzige, überdies noch flüchtige Eindruck sein, den du, Reik, in dir bewahren kannst. Wir kommen nicht dazu, einen ganzen Tag die Meere zu durcheilen und zu schauen, was sich dort an Wunderbarem bietet. Wir können auch nicht den Mond ansteuern, auf dem die gesamten energieproduzierenden Systeme von Humanos untergebracht sind, wie auch der ferne Außenring für dich nichts als ein Wort bleiben wird. Das alles ist bedauerlich, denn schon hier würdest du Humaniden treffen, die du ein wenig besser verstehst und die auch dich eher begreifen. Und ich meine, die Frauen und Männer vom Außenring sprechen eine Sprache, deren Sinngehalt und Wortschatz euch zu Vertrauten machen könnte. Reik schüttelte den Kopf. "Das ist ja wie bei den Termiten", sagte er, "die Aeoniden sind dann so etwas wie die Drohnen, die man freundlicherweise mitfüttert. Auf dem Außenring leben die Soldatentermiten, im Meer und hier unten die Arbeitstermiten, aber
oben, in der wunderbaren Welt der Schönheit, die Königinnen und Könige." Ziehst du dabei einen dem anderen vor, widersprach Angaria, nennst du den einen dem anderen überlegen, so hast du nichts begriffen. Aber meinst du nur, daß bedingt durch ihre Erfahrungs- und Erlebniswelten ihre Lebensweise unterschieden ist, und zwar klar unterschieden ist, dann stimme ich dir zu. Natürlich wird ein Kämpfer gegen alles Bedrohliche anders denken, fühlen und reagieren als jene, deren einzige Aufgabe es ist, die geistige Fülle ihrer Wissenschaft und Kunst, ja des gesamten Lebens zu erweitern. "Was ist nun eigentlich die ASGEDANrunde?" fragte Reik, während sie über ganze Maschinenstädte hinglitten. Die ASGEDANrunde, begann Angaria eine vorsichtige Erklärung, nimmt einen Raum ein, der von der humanidischen Sonne bis zu dem fernsten Planeten reicht. Du begreifst, daß durch ein solches Gebiet weder Stuhlreihen noch Lampions gehen können. Es ist ein Ort in einer anderen Dimension. Nehmen wir an, jemand von Humanos 298 schösse eine Rakete auf diesen Raum ab, so würde das Geschoß ihn durchfliegen können, ohne auf irgendeinen Widerstand zu stoßen. Und doch tagen gleichzeitig unsere Vertreter dort. Sieh dir am besten ein wenig von dem an, was dich erwartet. Zwischen Angaria und seinen Gefährten entstand nun ein flaches, lichtes Oval, das sich mehr und mehr ausdehnte, sich blasig veränderte und selbst die unter ihnen liegenden Hallen zu schlucken schien. Andere Bilder drängten sich vor und wurden klar. Die Freunde blickten auf gewaltige Räume, in denen Sitzreihen existierten, sahen Hallen und Kabinen, in denen man stehen, schweben oder sich lagern konnte; steinerne, metallene und hölzerne Gestelle erhoben sich neben Ablagen, Plattformen und Hohlkugeln. Zarte Geflechte spannten sich von Wand zu Wand, zwischen sich spiralige Gebilde abstützend, deren oberes Ende büschelig auseinandergetrieben war. Und endlich erblickte Reik Vertreter der Runde: Er schaute auf transparentes, pulsierendes Leben, auf nebelhafte Erscheinungen, die ständig ihre Formen veränderten. Da schwammen quallige Wesen auf der Magma von Humanos, während andere, flirrend und aus schmalen Ellipsoiden zusammengesetzt wie Segelschiffe auf der Sonnenoberfläche entlangtrieben. Er gewahrte starre, unbewegliche Gebilde, die ihn an merkwürdige Felsformationen erinnerten, und pflanzliche Intelligenzen. Sie schwebten als düstere Schlangenknäuel durch ihre Kabinen, zuckten nervös auf Wimperfüßchen über die Wände und klebten breiig, sich wechselseitig ausdehnend und wieder zusammenziehend, auf heißem
Gestein. Der schillernde Vieläugige prangte neben dem weißlichen Augenlosen, und der grasdünne Vielstrahlige hockte neben dem flackernden Koloß. Reik sah solche, über deren Oberfläche sich die Körperflüssigkeit ergoß, die sich am Unterteil wieder sammelte und in das Innere zurückströmte, um den Kreislauf erneut in Gang zu setzen. Aus dem Sonneninneren erhoben sich zwei gewaltige Nebelfelder, von denen das eine nachtschwarz, das andere düsterrot erschien: Arcton und der Schwarze Susan hatten ihre Beobachterposten eingenommen. Insektoide Intelligenzen saßen neben anthropomorphen, in gefluteten Räumen hielten sich verspielte hochintelligente Meeresbewohner auf, während in Blausäurebottichen marmorierte Oktaeder mit Greiftentakeln alles interessiert beobachteten, was um sie her geschah. Es gab Räume, die so grell blitzten und sprühten, daß jene, die den Schein verbreiteten, für Reik nicht sichtbar waren. Andere erzeugten eine absolute Finsternis, denn sie rissen alles Licht an sich, ohne etwas freizugeben. In den fernsten Fernen der Versammlung, jenseits des sonnenfernsten Planeten, hielten sich die Energieumwandler, die hochaktiven Strahler, die Neutronenintelligenzen auf. Dort sah Reik 299 auch die Negativabsorber und Quasariden, dazu Raumteile, die ihm so leer erschienen, daß es ihn ängstigte, wenn er längere Zeit hinblickte. Das waren die in zwei Universen beheimateten Terfaner, die lange Zeit zu den Nichtexistenzen gerechnet worden waren, inzwischen aber den Status des Lebendigen erwarben. Reik seufzte. "Was ist?" fragte Kornreck. "Hast du eine Gruppe edel aussehender Ritter erwartet, die das Bild ihres Burgfräuleins auf dem Schild tragen, mit lässiger Gebärde ihre Schwerter über die Stuhllehnen hängen und die goldenen Visiere hochklappen?" "Vielleicht", antwortete Reik und mußte jetzt über sich selbst lächeln, "ich dachte schon an eine überwiegende Zahl solcher, die mir ähneln. Vielleicht noch an einige intelligente Delphine, Zarppen und Angariden. Nun sah Reik auch die Angariden. Je drei von ihnen schwebten, mit den Bronderuks zu einer Einheit verschmolzen, in einer gläsernen Spindel. Gleich darauf gewahrte er auch die zarppanische Delegation, die sich mit einer Art Antennensprache lautlos unterhielt. Reik ermüdete beim Anblick der ständig wechselnden Angehörigen der Runde. Und so wurde das Bild schwächer und ferner, während die Maschinenhallen nach und nach wieder auftauchten. "Vielleicht warst du wütend", sagte Reik, an Kornreck gewandt, "daß wir nicht auf deine Lichtsignale gewartet haben, aber es war ihr Wunsch, ans Ufer zurückzukehren."
"Meinst du die ASGEDANrunde?" fragte Kornreck, der nichts verstand. "Gestern", erinnerte Reik den Gefährten, "du wolltest sie doch entlarven. Die Masseuse. Sie ist mit mir umgekehrt. Ich weiß bis jetzt noch nicht, warum." "Wen entlarven?" Kornreck sah Reik verständnislos an. "Die Frau im Boot", schrie Reik, "du hast mich geweckt und zum Steg geschleppt. Wir waren auf See, ehe du zurückgeschwommen bist. Leidest du an Gedächtnisschwäche?" "Sarschan", bat Kornreck, "bitte hilf mir! Entweder hat ihn der Anblick unserer Verbündeten des Verstandes beraubt, oder er hat seinen Widerwillen gegen Antennenträger entdeckt. Was will er?" Ich sehe in seiner Erinnerung ein Erlebnis, meldete sich Angaria, er ist von dir, wie er meint, geweckt und an den Strand geführt worden. Er betrat mit einer Zarppe, wie er denkt, ein Boot, in dem eine Frau wartete. Er war mit ihr verabredet. Nachdem er ihr erklärte - die Zarppe hatte sich schon vorher entfernt -, daß er den Steinernen Kopf waffentechnisch beherrschte, zeigte sie Furcht und lenkte das Boot zum Steg zurück, wo sie ihn in aller Eile entließ. Das hat er dir erzählt, 300 weil er annahm, es mit dir zu tun gehabt zu haben. Doch schon sein Bildspeicher zeigt, daß du es nicht warst. Es war keine Zarppe. "Dann sind sie hier", sagte Kornreck, "sie haben alle Sicherungszo-nen überwunden, alle Sperrschranken durchbrochen . . . Was werden wir tun?" Ich muß zum Präsidium der Runde, signalisierte Angaria, ich setze euch nur schnell bei euren Anwesenheitsräumen ab. Sie schwammen durch ein Lichtermeer. Zuckend erhoben sich immer neue, immer andere Lichtschleier vor ihnen. Unerwartet füllte Sonnenlicht den sie umgebenden Raum. Eine endlos lange, himmelhohe und gleißende Wand erhob sich vor ihnen, während das Fahrzeug schnell an Höhe verlor. Kornreck der rechte, Reik der linke Durchlaß, wies Sarschan an, wir sehen uns dann später. Das Gefährt setzte auf, und Reik und Kornreck stiegen hastig aus. Jeder eilte, nachdem er sich von dem Freund verabschiedet hatte, auf seinen Durchlaß zu. Reik begriff wohl, daß jenes Erlebnis vom Vorabend etwas verändern würde, die bisherigen Pläne vielleicht zunichte machte und eine neue Situation schuf. Mit diesen unerfreulichen Gedanken im Kopf erreichte er den Eingang, hinter dem sich ein hell ausgeleuchteter Gang befand.
"Reik Regenbach, ich begrüße dich", sagte ein hagerer Mann und trat auf Reik zu. Er machte eine tiefe Verbeugung. "Bitte mir zu folgen", fuhr er dann fort. Sie liefen den Gang entlang, der Hagere stieß eine Tür auf und ließ Reik vorgehen. Gemeinsam standen sie in einem Raum, der nun, da die Tür wieder geschlossen war, keinen Ausgang zu haben schien. Flache goldene Plättchen, schräg wie Dachziegel übereinandergesetzt, bildeten die Wände und die Decke. "Mein Name ist Cuul Chrassers", stellte sich nun der Hagere vor, "ich bin der Häuptling der Mozteken. Ein großes Volk, seit es reduziert wurde. Mehr noch, mit zunehmender Ausrottung werden wir größer und größer. Wortwörtlich." "Ich verstehe nicht", sagte Reik höflich. "Einfach", antwortete Chrassers, "wir waren mehrere hundert Millionen. Dafür klein wie die Regenwürmer. Nein - klein wie die Käfer. Dann begann der Vernichtungsfeldzug der Kolosser gegen uns. Doch die Körper unserer Toten kamen in uns. Wir wuchsen. Jetzt sind wir noch zweihundert Mozteken. Du siehst, wir haben schon Menschengröße erreicht." Eine der Wände wurde staubig, matt und löste sich auf. Sie waren in einem parkähnlichen Wald. "Wo geht es denn hier hin?" fragte Reik und sah sich um. 301 "Zur Runde", antwortete Chrassers. "Du denkst, du entfernst dich, dabei gehst du direkt auf den Tagungsort zu. Wir müssen diesem Pfad folgen." Einem Reflex folgend, legte Reik die Hände auf das Futteral. Der Kopf war kühl. Reik blickte immer öfter dem Moztekenhäuptling ins Gesicht, der dabei ganz unruhig und ängstlich wurde. "Mach bloß keinen Fehler", warnte Chrassers stotternd und deutete auf das Futteral mit dem Steinernen Kopf, "ein . .., ein Schuß, und die ganze Asseldanrunde ist... im Eimer." "Wer sind Sie?" fragte Reik scharf. "Und was wollen Sie? Reden Sie schon!" "Er weiß alles!" schrie Cuul Chrassers, riß sich seine Anzugjacke vom Leib und stopfte sich ein Bündel Federn in die Haare, "ich schwöre, daß ich Cuul Chrassers bin! Er glaubt mir nicht! Hilfe!" Der Häuptling hastete los, stürzte, kam wieder auf die Füße und floh weiter. Er rannte blindlings in den Wald hinein, prallte gegen Baumstämme, schrie und jammerte noch, als er schon weit entfernt war. Doch mehr und mehr setzte sich die Stille durch. Reik sah sich um, betrachtete kopfschüttelnd die Wälder ringsum. "Das ist ein Ding", murmelte er, "da betrete ich jenen Superraum und bin
mitten in einem Wald . . . Mit so einem Trick kann man in jedem Zirkus auftreten." Als auf einem der Wege ein kleines zweirädriges und zweisitziges Fahrzeug auftauchte, hastete Reik ihm entgegen. Er erblickte vorn am Steuer eines der Riesenkinder und auf dem zweiten Sitz eine Frau. "Wartet", rief Reik ihnen entgegen, "nehmt mich mit. Ich muß zur Runde ... Wartet." Sie hielten vor ihm an und stiegen ab. Ein freudiges Erkennen ließ Reiks Augen aufleuchten, denn er erkannte Brennesselchen, die das Fahrzeug gelenkt hatte. Auf die andere Frau achtete er nicht. "Na, Bogila", begrüßte ihn die erste, "hast du dich wieder ein bißchen zu weit vorgetraut?" "Dafür kann ich wirklich nichts", berichtete der Junge. "Da empfängt mich einer am Eingang. Soll ich ihm gegenüber mißtrauisch sein? Und vor allem, was konnte ich tun? Mir seinen Berechtigungsschein von der Runde vorlegen lassen? Mich trifft keine Schuld." "Wir bringen dich schnell zurück", versicherte die Humanidin, trat an Reik heran, sah ihn durchdringend an. Dann legte sie ihm, wie sie es auch in der Flugmaschine getan hatte, ihre Arme um den Hals, zog seinen Kopf sanft an ihre Brust, und Reik spürte erneut, wie ihn die Müdigkeit überkam. "Doch nicht. . .", murmelte er schlaftrunken, "nicht jetzt. . ., muß . . . zur Runde . . ." Seine Beine knickten ein, die zweite Frau, jene Mas302 seuse, fing seinen Körper auf, und sie legten ihn ins Gras. Dann setzten sie sich auf das Fahrzeug und entfernten sich eilends. Vögel tanzten im hellen Sonnenlicht, Elfen schwebten über wundersame Wiesen. Winzige Wesen umringten Reik, der sich noch einmal klein und wohlbehütet wähnte. In der Mitte des Kreises aber stand ein bekröntes Wesen, das seine glashellen Ärmchen Reik entgegenstreckte, ehe es in tausend Blüten zerfiel, die auf den Jungen herabregneten. Eine zierliche Prinzessin kam über die Blüten geschritten. "Reik Regenbach", flüsterte sie, "komm und tanze mit mir. Werde mein Gemahl." "Bist du Oriana?" fragte Reik. "Aber nein", rief sie, klatschte in die Hände und sprang von Grasbüschel zu Grasbüschel, "ich bin die, welche nur der gewinnen kann, der von dem Saft der Assarblüte trinkt. Nimm." Sie streckte ihm eine rosige Blüte entgegen, auf der einige Tropfen einer blaßblauen Flüssigkeit perlten. Hinter ihr erhob sich nun ein gläserner Mensch mit einem ebenfalls gläsernen Fuchskopf. Mit einer herrischen Bewegung schob er die Kleine fort.
"Reik", sprach er den Träumenden an, "ich bin es, dein Freund. Du mußt jetzt erwachen, denn sie planen deinen Raub, wenn nicht noch Schlimmeres. Nicht ihre Körperwärme, auch nicht ihre Mütterlichkeit haben dich einschlafen lassen, sondern jener betäubende Saft, mit dem ihr Kleid getränkt war. Erwache, ehe es zu spät ist!" Reik riß die Augen auf. Sein Kopf dröhnte, und seine Arme und Beine wollten ihm nicht gehorchen. Tiefe Nacht umgab ihn. "Wir sind am Morgen gestartet", murmelte er. "Ich habe einen ganzen Tag verschlafen . .. Und bin ich nicht noch immer in diesem dreimal verfluchten Wald?" Reik kam nur langsam auf die Füße, lief stolpernd los. Nur ganz allmählich gehorchten ihm wieder Arme und Beine so, wie er es gewohnt war. "Halte dich rechts", wisperte es aus dem Futteral, "du wirst ein mächtiges Beerengesträuch entdecken. Darunter eine Grube. Flüchte dorthinein. Es ist wichtig." "Danke", erwiderte Reik, faßte mit beiden Händen das Futteral und ging in die angedeutete Richtung. Nicht lange, und er stieß auf das hochaufragende Strauchwerk. Mühsam bahnte er sich im Finsteren einen Weg. Er griff ins Leere, stürzte nach vorn und landete weich auf Moos und Laub. Ächzend richtete er sich wieder auf. Schaute über den Grubenrand, erblickte jetzt drei zarte Lichter, die näher und näher kamen. Sie zogen nur wenige Schritte an dem Gebüsch vorüber. Reik erkannte Cuul Chrassers, die falsche Humanidin und die Masseuse. Sie 303 trugen nicht mehr die humanidischen Kleider, sondern Kampfanzüge, und die beiden Frauen waren zudem noch mit armlangen gläsernen Rohren bewaffnet. "Stopp", rief die falsche Humanidin heiser, "hier ist es. Er muß hier irgendwo liegen." Cuul Chrassers warf sich zu Boden, zog eine ovale Scheibe aus einer seiner Taschen, richtete sie auf den Wald. "Idiot!" rief die Masseuse. "Was soll denn das? Ich werde mich bei Chlur Meduson beschweren! Nichts ist schlimmer als die Zusammenarbeit mit einem Feigling, der nur an seinen Sold denkt." Cuul Chrassers erhob sich, aber er zitterte. Die beiden Frauen klappten nun ihre grünen Gläser vor die Augen. "Er ist weg", entfuhr es der einen, "nicht weggegangen, sondern spurenfrei verschwunden." "Kichissa", rief die Masseuse die falsche Humanidin, "zu mir." Die andere kam angerannt, aber auch Chrassers lief zu der Masseuse hin, die das Kommando führte.
"Es ist also wahr", rief sie gepreßt aus, "diese Glastropfenmaschine fühlt sich jenem Kretin näher verwandt als uns. Nur sie kann die Spuren so gründlich gelöscht haben . .. Sucht ihn!" "Wollen wir nicht gehen", jammerte Cuul Chrassers, "haben wir nicht genug getan? Haben wir nicht dem Unfehlbaren alles gefunkt, was die ASGEDANs besprachen? Hat nicht unsere edle Kommandeuse diesem Erdenwurm seit zwei Tagen den Saft der Assarblüte in das Frühstücksgetränk geträufelt? War er nicht schon regelrecht verliebt in sie? Habe ich nicht einen guten Kornreck abgegeben? Was wollen wir noch hier?" "Das", antwortete die falsche Humanidin, faßte das Rohr, richtete es auf den Jammernden. Ein dämmriger, vielfach verästelter Blitz berührte den Körper des Mannes, löste ihn auf, wirbelte den Staub, zu dem der vermeintliche Chrassers zerfiel, davon. "Korrekt", stimmte die Masseuse zu, "er hat den Namen unseres obersten Herrn genannt. Er wurde belehrt, daß dies hier nie über unsere Lippen kommen darf. Weitersuchen." "Und wenn eine von uns hierbleibt", flüsterte die falsche Humanidin, "und die andere versucht Erinnyon, die suchende Maschine, durchzuschmuggeln?" "Später", erwiderte die Masseuse. Sie änderten die Suchrichtung, kamen jetzt langsam auf das Gebüsch zu. Reik duckte sich tief hinunter. Er sah, wie die ersten Lichtspitzen das Strauchwerk trafen und türkis-farbene Blätter aus der Finsternis rissen. "Achtung", vernahm Reik nicht lange danach den Ausruf einer der beiden, "sieh doch! Geknickte Grasspitzen. Abgerissene Blätter. Na, wie waren wir?" 304 Zu gut, mischte sich da ein mächtiger Gedankenstrom in Reiks ängstliche Gedanken, viel zu gut! Ein sonnenheller Blitz fraß die Nacht. Baumkronen und Stämme, Gräser, Farne und Moose, alles lag einen Augenblick lang in warmem Sonnenlicht, ehe die Dunkelheit zurückkehrte. Reik sprang auf, kroch durch das Strauchwerk. Er erblickte nicht weit von sich schwach glimmende Lichtleisten und hellblaue Perlschnuraugen. "Sarschan", sagte Reik nur, während ihm die Knie weich wurden, und er fühlte, daß er keinen Schritt mehr gehen konnte. Sie haben lange Zeit, hörte er noch Angarias Antwort, deine Gedanken ausgeschaltet, so daß wir dich nicht orten konnten. Aber jetzt ist alles gut. GHETTON
Die Macht des Steinernen Raben Reik erwachte in dem Fahrzeug. Er sah sich selbst während des Erwachens und war verblüfft. Über der Kombination trug er ein feingeriffeltes zimtfarbenes Hemd, eine weiche Lederjacke und eine tiefblaue Hose. Glassteinbesetzte Halbschuhe vervollkommneten seinen Anzug. "Geht's zur ASGEDANrunde?" fragte er, verstummte aber sofort wieder, denn neben ihm saß - Gerstfeld. Der große Mann lächelte nicht. Trauer grub die Falten tiefer als gewöhnlich in das freundliche Antlitz. "Kornreck", sagte Gerstfeld leise, "ist nicht mehr bei uns. Er wurde in seine Heimat abberufen. Es ging nicht anders, aber ich soll dich von ihm grüßen, und er hofft, daß ihr euch eines Tages wiedersehen werdet." "Das ist nicht wahr", schrie Reik auf, "Kornreck kann doch nicht so einfach abreisen, ohne sich von mir zu verabschieden! Und überhaupt: Er kommt doch nach, oder . . .?" Er hielt inne, starrte Gerstfeld angstvoll an. "Sarschan", seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, "du bist doch nicht etwa Gerstfeld, um dich auch von mir zu verabschieden?" Der bewegte zustimmend den Kopf, hielt ihn sekundenlang gesenkt. "Siehst du", sagte er dann, "du bist schon so gut wie erwachsen. Du begreifst selbst komplizierte Situationen sehr schnell. .." Er lächelte aufmunternd, ohne daß die Trauer des Abschieds aus seinen Augen wich. "Kornreck", erklärte er dann, "konnte dir nicht Lebewohl sagen, denn während du geschlafen hast, haben wir deinen Körper mit Energie versorgt, die dich vierzehn Tage lang erhält. Vielleicht ist das notwendig. Du weißt, daß all unsere Pläne verraten sind. Es ist der Fall eingetreten, von dem ich einmal sprach: Wir müssen dich nach Destru-sos schicken. Du wirst destrusoianischer Bürger. Der Unfehlbare hofft darauf, dich zu kaufen, dein Denken zu verändern, um den Steinernen Kopf wieder zu dem zu machen, als was dieser angelegt war: eine Waffe gegen die denkenden Menschen. Wir erwarten, daß du allen Versuchen widerstehst, daß du die Malachitkatakomben findest, daß du dem Meister jener Katakomben das Geheimnis seiner Glastropfenmaschine entlockst, um sie zu entschärfen . . . Ich werde dich bis an die Grenze begleiten." 306 "Aber vorher", Reik versuchte Zeit zu gewinnen, "müssen wir doch noch zum Zeitenbaum." "Arcton hat uns getragen", Gerstfeld zerstörte Reiks Hoffnung, "wir bewegen uns durch ein Niemandsland." "Ach, Sarschan . . .", sagte Reik seufzend, "jetzt weiß ich erst, wie sehr du mich magst. Immer wieder bist du die Unbequemlichkeit des .Herrn Gerstfeld' eingegangen, um in meiner Nähe sein zu können. Ich glaube, ich begreife immer alles zu spät. Zu spät bei Oriana und bei Lynaja und
nun auch bei Inula und bei dir. Muß das so sein? Werde ich immer zu spät erkennen, wer mir Gutes tat und wer auf meiner Seite war? Wer mich liebte und wer mir vertraute?" "Bei euch gibt es einen Begriff", erwiderte Gerstfeld, "und der heißt Dankbarkeit. Und wenn du das in dir trägst, was wir in dich einzupflanzen versuchten, dann sind dies mehr als Dankesworte, die alle nur für einen Augenblick aufsprühen." Reik öffnete den Mund, wollte wohl noch etwas anfügen, doch Gerstfeld winkte ab. "Schweig nun", erklärte der große Menn, "denn jetzt gibt es nichts mehr zu sagen, was nicht in Tränen enden muß." Draußen zogen milchhelle Wiesen vorbei. Weiche gelbliche Pflanzen streckten ungezählte Fäden in die Luft. Dazwischen standen knorrige Stämme, deren Äste in den Boden wuchsen. Ungezählte kleine Tiere huschten zwischen den Zweigen hindurch, erkletterten Halme und blickten aus furchtsamen Augen auf das ungewöhnliche Fahrzeug. So fuhren die beiden dahin, bis in der Ferne ein heller Streifen auftauchte, der sich zusehends verbreiterte. Jenseits von diesem befand sich ein weißer, glänzender Bau. Und über dem Streifen, der zwischen den Wiesen und dem dahinterliegenden bergigen Land eine tote Zone bildete, stand in leuchtenden Buchstaben: VEREINIGTE REPUBLIK DESTRUSOS. SCHUTZGEBIET GHETTON. Das Fahrzeug stoppte bei dem Streifen, Gerstfeld umarmte Reik, hielt ihn lange in seinem Arm. "Der Koffer", brachte er endlich mühsam hervor, "der Rucksack. Und hier ein Schlauchboot von mir für dich. Halt es in Ehren. Leb wohl. Und: Auf Wiedersehen!" Reik konnte nicht antworten. Die Tränen schnürten ihm die Kehle zu. Er packte die Sachen, hängte sich den Rucksack über, griff Koffer und Schlauchboot und stolperte hinaus. Er hob den Kopf, da blickte er in das Gesicht eines gealterten Gerstfelds, der mit müde hängenden Schultern in den Polstern saß, nicht einmal winken konnte. Hinter der glänzenden Grenzlinie standen jetzt einige Furonen. In zwei Reihen zuckten feurige Pfeile über die Trennlinie, bezeichneten den Weg, den Reik gehen mußte. Noch einmal drehte er sich um, sah, wie die Seitenwand des Fahrzeugs geschlossen wurde, wie es davonfuhr, kleiner und kleiner wurde. 307 Und erst jetzt begriff Reik, daß er ganz allein war. "Na, komm schon", rief einer der Krieger, "hier reißt dir keiner deinen hübschen Kopf ab." Sie schauten ihm gespannt entgegen, wie er, zwischen den Pfeilen hindurchgehend, das ihm unbekannte Land betrat. "Ist doch alles in Ordnung", fuhr der Sprecher fort, während er ein kleines Anzeigegerät betrachtete, "Waffen hast du auch nicht, das
Köpfchen einmal ausgenommen. Sieh uns nicht so entsetzt an, wir sind keine Ungeheuer. Das sagen nur die anderen ..." Er lächelte gewinnend. "Übrigens wirst du dich deines ulkigen Schlauchbootes bestimmt noch schämen, bei uns zischt man mit Nasselgoss'schen Luxusschlauchkreuzern über die Gewässer. Wirst du alles schon noch erleben. Na, dann komm mal. Dein Gepäck kennen wir, nun wollen wir noch wissen, was du in deinem Kopf mitbringst. Kannst Koffer, Rucksack und Boot solange hier stehenlassen." Er ging leichten Schrittes vor Reik her auf das Gebäude zu. Eine türkisfarbene Tür glitt zur Seite, und sie traten ein. "Der Rubin Reik Regenbach", meldete der Krieger einem jungen Offizier, der in einem ebensolchen Sessel saß, wie der Weise im Teilchenturm ihn gehabt hatte. "Setzen Sie sich, junger Herr", sagte der Offizier zu Reik, deutete auf einen zweiten Schlauchsessel und wartete, bis der Krieger gegangen war. "Nun ja", fuhr er dann fort, "vielleicht wird die kommende halbe Stunde nicht sehr angenehm, aber bitte denken Sie daran, daß in Ihnen ein völlig falsches Geschichtsbild existiert. Sie sind gegen uns aufgehetzt. Nun dann, bis bald." Zwischen Reik und den Offizier schob sich eine Glasscheibe. Und aus der Glasscheibe traten Personen. Keine Bilder, sondern tatsächlich Gestalten. Zuerst kam Anja Winterlicht. Reik starrte sie an, denn sie war ein zehnjähriges Mädchen, winzig und eigentlich unbedeutend. Schweigend umrundete sie Reik, sprach kein Wort, verschwand dann in der Glaswand. Jetzt folgte Glasäuglein, so wie Reik es in dem Sumpfland kennengelernt hatte. Und noch einmal erlebte er dessen Verwandlung in Oriana, die Prinzessin der Moanen. "Reik", sprach sie ihn an, legte ihre Unterarme auf seine Schultern, lehnte ihre Stirn gegen seine, "bitte, präge dir ein, was ich jetzt sage: Meine Mutter tat nicht gut daran, sich an die ASGEDANrunde zu hängen. Damit hat sie den Zorn des Unfehlbaren herausgefordert. Für uns ist nur ein Leben denkbar. Wir müssen Neutralität wahren. Und der Unfehlbare ist bereit, mit uns einen gegenseitigen Nichtangriffspakt auf zehntausend Jahre abzuschließen. Die Bedingung ist einfach: Du wirst mein Gemahl und lieferst ihm diesen Steinernen Kopf aus. Der Unfehlbare wird dich dann zu mir bringen lassen. Bitte, Liebster, über308 lege es dir gut.. . Wenn du mich liebst, dann wirst du tun, worum ich dich bat." Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Stirn, löste sich von ihm und trat zurück in die Wand. Er sah nun Lynajas Gesicht aufschimmern, aber zugleich gewahrte er Tränen, die ihr über die Wangen liefen. "Was kann ich dir schon sein",
rief sie verzweifelt, "ich bin keine Prinzessin . . ." Da war sie auch schon wieder verschwunden. Statt ihrer kam ein älterer Mann mit einem Regenschirm unter dem Arm aus dem Glas. Es war Gorgon. "Ach Junge", sagte er mit trauriger Stimme, "ist es nicht furchtbar, was der Krieg trennt? Ich hätte dein Vater sein können, und du hast mir so gefallen. Deine frische Art, dein Witz, einfach alles... Und ich habe kommen sehen, was die ASGEDANherren aus dir machen würden. Schau nur in den Spiegel. Wo ist dein Witz? Wo deine Fröhlichkeit? Sie haben aus dir einen jungen Greis gemacht. Nein, Junge, wir hätten nie gegeneinander antreten dürfen, weißt du. Du könntest heute mit deinen Eltern in einer Riesenvilla in Australien oder sonstwo sitzen, wenn dich nicht dieser Gerstfeld mit seiner Pseudomoral vergiftet hätte. Und nun? Du bist doch bei uns, ich aber bin in der Fremde verendet. Und da findet meine Seele keine Ruhe mehr. Aber wenn du für mich den gewaltigen Kriegsgott anrufst, dann . .., dann könnte ich zur Ruhe kommen. Wirst du es tun?" "Das ist Unfug", erwiderte Reik, während er sich über die Augen wischte, um so den Spuk zu vertreiben, doch Antissath Gorgon blieb. "Da", der alte bebrillte Mann mit dem Regenschirm streckte Reik seinen Arm entgegen, "faß an. Fühle den Stoff und meinen Arm, und sage mir dann, ob ich bin oder nicht." Er schwieg, wartete, bis Reik ihn berührt hatte. "Wir Toten", fuhr er mit flammenden Augen fort, "wir wissen, was uns erwartet. Ich bitte dich inständig, meinen obersten Kriegsgott anzurufen, damit meine Seele den notwendigen Frieden findet." "Ich glaube das nicht", erklärte Reik befangen, "warum betet keiner Ihrer Freunde für Sie, wenn es Ihnen so wichtig ist." "Er will nicht begreifen", jammerte der alte Mann, wandte sich um und schritt mit gebeugten Schultern auf die Glaswand zu, in der er verschwand. Statt seiner hockte nun ein mannsgroßer Vogel im Licht des Glases. Er hatte einen gewaltigen Schnabel, der meißeiförmig zugespitzt war. Sein Gefieder schien steinern, und die ganze Erscheinung wirkte ungeheuer gewichtig. "Du bist zu uns gekommen", der Vogel sprach mit rauher Stimme, "willst von nun an einer von uns sein, warum also verweigerst du diesem Unglücklichen den einzigen Dienst, den ein Lebender ihm leisten kann? Ist es dabei nicht einerlei, ob man selbst 309 daran glaubt oder nicht, so man einem anderen hilft?" Der Vogel ging mit abgezirkelten Schritten vor Reik auf und ab. "Ich weiß nicht", antwortete Reik, "ich habe bei den Humaniden gelernt, daß nur das eine Wirkung ausübt, wovon man überzeugt ist."
"Äh", machte der Vogel verächtlich, "die Wahrheit ist: Sie haben dir befohlen, zu uns zu kommen. Hätten sie dir, befohlen, in einen Vulkan zu springen, wärst du jetzt bereits verglüht. Oder - bist du aus Überzeugung bei uns? Ist es dein sehnlichster Wunsch, einer der unseren zu werden?" Reik wußte nicht, was er antworten sollte, und schwieg also. "Neben all euren Widerwärtigkeiten", erklärte der Vogel, "gibt es einen unschätzbaren Vorzug: Euch geht die Lüge ab. Das macht es uns leicht, mit einem von euch zu verhandeln. Wäre ich in deiner Lage, hätte ich meinem Untersucher erklärt, daß es mich schon immer nach Humanos gezogen hat, daß ich ein glühender Verehrer der ASGE-DANrunde bin. Fest steht: Du kannst das nicht. Aber sorge dich nicht, ich bin überzeugt, daß wir Freunde werden. Du bist redlich, und wenn du mich besser kennst, wirst du feststellen, daß ich auf meine Art ebenfalls redlich bin." Mit dem letzten Wort verschwand der Vogel in der Glaswand. An einer entfernten Wand des Raumes lehnte jener junge Offizier. "War es sehr schlimm?" fragte er und forschte in Reiks Gesicht. "Es war alles so wirklich", sagte Reik nachdenklich, "so . . . unheimlich echt." "Na, dann komm", der Offizier ging an Reik vorbei, öffnete eine andere Tür. Ungezählte Silbernetze durchkreuzten den Raum. In den hölzernen Boden war ein zehnzackiger Stern eingelegt. "Ist ein Angebot", erklärte Reiks Führer, "kannst immer darauf zurückkommen: Wenn du etwas von ASGEDAN, Humanos oder so weißt, etwas, was den Unfehlbaren interessiert, dann geh zu den Melderstellen, die sehen alle gleich aus. Wie hier. Mußt dich in den Stern stellen und sagen, was dir in Erinnerung geblieben ist. Wird entsprechend der Wichtigkeit der Informationen entlohnt..." Er schaute Reik fragend an, bewegte dann den Kopf. "War mir klar", schlußfolgerte er, verließ wieder den Raum, "daß du am ersten Tag nicht gleich Arien singen wirst. Aber das kommt noch." Gemeinsam verließen sie das Haus. Draußen stand ein Gefährt, über dessen Mitte sich eine kammartige Flosse hinzog. Ein Furone mit einem Schwarzglas vor dem Gesicht saß auf einem der Trittbretter. Er erhob sich, ging dem Offizier entgegen, grüßte nachlässig. "Wie abgesprochen", rief ihm der Offizier zu, tippte Reik leicht auf die Schulter und deutete so an, daß der Junge einsteigen solle. 310 "Deine Hände sind leer", stellte der Fahrer des Fahrzeugs fest, "hast du nichts gesagt?" "Nein", antwortete Reik.
"Schön dumm", der Furone schüttelte den Kopf, während er das Fahrzeug auf die achtspurige, schnurgerade Fahrstraße lenkte, "denn was du weißt, wußten Kichissa, Gastala und dieser angematschte Cuul Chrassers, alias. Bettelprinz Bampkan, nicht immer. Hättest ihnen irgendwas vorgesponnen. Sie zahlen gut. Jedenfalls am Anfang." Er öffnete eine Klappe, nahm einige schwachglänzende kleine Ovaje heraus, reichte sie Reik. "Dein Willkommensgeld", sagte er, "wirst es schon bald brauchen." Reik steckte es achtlos e"in. Rechts und links der Autostraße erhoben dickkeulige Pflanzen ihre Köpfe zum Himmel. So weit man sehen konnte, bedeckten sie den Boden. In der Ferne aber glitzerte und gleißte es fremdartig und faszinierend zugleich. "Garsun", erklärte der Fahrer und wies nach vorn, "die Prunkstadt Ghettons. Nicht zu vergleichen mit Destrusos, aber schließlich sind wir nur ein Anhängsel. Wird dir trotzdem gefallen." Er lehnte sich zurück, dachte nach. "Gibt nette Mädchen da", wieder zeigte seine Hand in die Ferne, "aber keine geht in dein Schlauchboot, wenn du ein Tellerlecker bist. Verstehst du: Was du besitzt, kann kein anderer ausgeben. Vergiß das nicht. Und wenn du mal was brauchst, dann ist das so schwer nicht. Sagst einfach, du wüßtest etwas über Angarias Waffensysteme. Darauf sind wir scharf. Und besonders, nachdem er schon fast ins Gestein geschmolzen war, aber dann mit einem Faustschlag Choo-roon umkippte. Das hat ihm keiner von denen, die es wissen, vergessen. Merk es dir." "Was ist das für ein Vogel?" fragte Reik plötzlich. "Sag bloß, der Steinerne Rabe ist dir erschienen?" Die Frage des Kriegers klang ehrlich erstaunt. "Ja", berichtete Reik, "er kam aus der Glaswand." "Na ja", der Furone kratzte sich am Helm, "wie soll ich das sagen. Er ist unser Wirklichkeit gewordener Glaube an die alten Götter." "Aber auf Humanos", fuhr Reik fort, "da sind die doch viel weiter als ihr. Die können heilen, ohne daß sie Ärzte brauchen. Und warum gibt es bei ihnen keinen solchen Vogel?" . "Du", sagte der Furone, "das weiß ich auch nicht. Aber eins kannst du glauben: Der Steinerne Rabe ist allgegenwärtig. Er sieht alles, hört alles, weiß alles. Er kann dich belohnen oder bestrafen." "Vielleicht eine Computerzeichnung", mutmaßte Reik. "Nein", der Furone schüttelte entschieden den Kopf, "eher verdichtete Gedanken. Eben materialisierter Glaube." 311 "Also glauben alle das gleiche", stellte Reik fest.
"Täglich werden die Zweifler nach Zitadorra geholt", widersprach der Furone, "damit man sich erkundigt, was sie wollen. Nehmen wir an, ich verkünde: Hier muß alles anders werden. Das nimmt keiner für bare Münze. Aber sagst du diesen Satz, dann sieht es garantiert anders aus." "Zitadorra?" Reik fröstelte. "Melaana von Zitadorra?" "Du kennst die Fürstin?" Der Furone betrachtete Reik interessiert. "Wer ihr Freund ist, der schwimmt oben. Ganz oben. Nur: Sie ist keine von uns. Eine Gastintelligenz, wenn du verstehst." "Sie haben für alles immer gleich einen passenden Satz", sagte Reik nachdenklich. "Ist das nun gut oder schlecht?" "Ein Volk", antwortete der Furone, "das seine Dichter zu Hofnarren abgestempelt hat, seine Maler und Musiker zu Bühnenclowns, ein Volk, das nur durch die Gewalt deines Steinernen Kopfes noch gekitzelt wird, weil er uns alle auslöschen könnte, ein solches Volk sollte schlagfertig sein, um nicht in tiefe Depressionen zu versinken." "Und wer", setzte Reik seine Fragen fort, "wird in Zitadorra für schuldig befunden?" "Es gibt nur drei Arten der Schuld", erklärte der Furone geduldig, "erstens Verrat von Geheimnissen an ASGEDAN. Zweitens: Feigheit vor dem Feind. Und drittens der Versuch zu desertieren." Der Furone zog das Fahrzeug jetzt in die Höhe, und Reik erblickte Garsun, die große Stadt unter sich. Quirlendes Leben überzog die Straßen und Plätze, die mächtigen Anlagen und steilaufragenden Wohnbauten. Ungezählte Fahrzeuge glitten die Straßen entlang, tauchten in Tunnel ein, kamen an anderer, weit entfernter Stelle an die Oberfläche. Vergebens suchte Reik Türen an den Gebäuden zu erkennen. "Keine Türen", sagte er. "Man wohnt sicher", antwortete der Furone, "ohne Einmusterer kommt man nicht hinein. Natürlich versuchen immer wieder mal mehr oder weniger geschickte Bastler, solche Einmusterer nachzubauen, aber stimmt auch nur irgend etwas nicht, bleiben sie unweigerlich im Mauerwerk stecken. Sie werden dann von der mittleren Fließschicht assimiliert. Ende einer Karriere. Einige wollen sogar, daß die Fahrstühle und Wohnungen mit Einmusterern versehen werden, aber das ist dann doch ein bißchen zuviel des Guten." Das Dreieck hing plötzlich über ihnen, verdeckte mit seinen langen Flügeln die Sonne. Das Dach des Fahrzeugs, in dem Reik saß, glitt nach hinten. In dem Dreieck öffnete sich ein Kreis, aus dem eine Stange herabkam. Es gab zwei Haltegriffe für die Hände und zwei Querstangen für die Füße.
"Identifikationsunterschrift", erklang von oben eine kommandogewohnte Stimme. 312 "Das bin ich", erklärte der Furone, "es geht um Lohn." Er stieg auf die Stange, wurde nach oben gezogen. Zwanzig Sekunden flog das Fahrzeug steuerlos unter dem Dreieck dahin. Dann senkte sich die Stange nieder, der Furone sprang ab, klemmte sich hinter das Steuer. Das Dach schloß sich, während sich das Dreieck schnell entfernte. "Na", fragte Reik, "bekommen Sie Ihren Lohn?" "Er bekommt ihn", antwortete eine tiefe, rauhe Stimme. Reik fuhr herum. Neben ihm saß ein anderer Furone, doch wie sollte er das erkennen, hatten sie doch alle jenes Schwarzglas vor dem Gesicht, den gleichen Helm auf, die gleiche türkisfarbene Uniform, Handschuhe, Stiefel und Gürtel. "Wo ist der Fahrer?" fragte Reik scharf und betrachtete seinen Nachbarn herausfordernd. Der Furone hob das Gesichtsglas. Sein bleiches Antlitz, breit, mit großen, leicht hervorquellenden Augen, kam zum Vorschein. ,8Sieh dir dieses Zeichen an", sagte er arrogant, hielt Reik den Oberarm hin. Da war ein Symbol, dessen Bedeutung Reik sofort richtig einschätzte: Er erblickte den stilisierten Kopf der Melaana von Zitadorra. Zwei Blitze zuckten aus ihren Augen, zerteilten einen kleinen Drachen in drei Teile. "Ich bin kein mieser Furone", erklärte der Fahrer, "sondern Grau-sone. Fürstin von Zitadorra ist meine Dienstherrin. Verstehst du? Und du, mein Junge, fragst zuviel. Du stellst Fragen, wie sie einem humanidischen Untersuchungsrichter anstehen, aber nicht einem asylheischenden Tellerlecker. Und du bringst alle, die in deiner Nähe sind, in Gefahr. Du möchtest doch gern in die Malachitkatakomben. Solltest du sie je erblicken, wird dir sicher mein Vorgänger samt seiner Familie über den Weg laufen. Wetten, daß der dir ein paar freundliche Takte über Fragen und Nichtfragen sagen wird? Na, lassen wir das." "Wenn die Bombe an meinem Gürtel eines Tages losgeht", erwiderte Reik ungerührt, "dürfte außer denen, die in den Katakomben sind, niemand überleben. Vielleicht beneiden Sie dann die Inhaftierten. Übrigens haben Sie mir mit Ihrer Rede viel mehr über das Leben hier verraten als jener Unglückliche, der mich ein wenig trösten wollte. Und dafür danke ich Ihnen im Namen des Steinernen Raben." Hastig klappte der Grausone die Schwarzscheibe vor das Gesicht. "Bist ein Freund großer Worte, wie?" fragte er laut. "Das wäre unsere einzige Gemeinsamkeit", erwiderte Reik zornig, "ansonsten ähneln Sie verblüffend den Doddabewohnern."
Der Grausone gab Gas, und das Fahrzeug machte einen Sprung nach vorn, flog mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Häuserschluchten. 313 "Sie reagieren wie einer", Reik begann erneut zu provozieren, "der davon überzeugt ist, daß seine sogenannte Fürstin eine überzüchtete Wespe ist. Ich habe sie gesehen, wie sie ein Mädchen spielte. Die ist ganz verrückt auf Männer. Was hat sie mir nicht alles versprochen. Sogar einen alten Astraden umgarnte sie. Und als Zehnjährige hüpfte sie auf ihren Flohbeinen durch unseren Rüdersdorfer Kalk. Schade, daß ich sie nicht als Versteinerung entdeckte. Habe ich nicht recht? Sie können ruhig ja sagen. Ihr Zittern verrät dem Raben sowieso, wie Sie denken." Ein schwaches, flackerndes Licht zuckte auf. Der Grausone bemerkte es offensichtlich nicht, denn er achtete nur auf die ihnen entgegenkommenden Fahrzeuge. Er murmelte einen Fluch, während sie durch einen Tunnel flogen. "Was?" schrie Reik. "Warum wollt ihr Melaana töten? Sie hat euch doch nichts getan!" "Schweig, du Lügner!" brüllte der Grausone. In diesem Augenblick setzte der Motor des Fahrzeugs aus, aber auch alle anderen in dem Tunnel hielten an. Dort aber, wo sich der Ausgang klein und hell abhob, tauchte der mächtige Schädel eines steinernen Vogels mit rotglühenden Augen auf. "Die Gewissensbunker", grollte das Tier, "stehen jedem zur Verfügung, den tätige Reue treibt. Und wir sind zum Verzeihen bereit, so einer heißen Herzens zu uns kommt..." "Herrscher", jammerte der Grausone, "es ist nicht wahr, daß dieser feige ASGEDANwurm meine Gedanken lesen kann! Wie sollte er es vermögen, ohne bei Hypnoston in der Lehre gewesen sein? Alles kann man auf Humanos auch nicht. . ." Der Rabe streckte einen Flügel aus, von dem sich ein brüllender Blitz löste, der den Tunnel entlangjagte, vielverästelt gegen das schwankende Fahrzeug raste. Reik bekam keine Luft, meinte, daß man ihn tödlich getroffen habe, aber schon nach wenigen Sekunden konnte er frei atmen. Frischer, kühler Sauerstoff umströmte ihn, während das Fahrzeug ein wenig unsicher dem Ausgang entgegenflog, diesen schon bald passierte und in helles Sonnenlicht eintauchte. Reik rieb sich die Augen: Er war allein. Der Grausone saß nicht mehr neben ihm. Da schaute der Junge unter die Polster und in den hinteren Teil der Kanzel, ob nicht irgendwo eine Spur von dem Bewacher war. Aber als er sich hinausbeugte, um zu prüfen, aus welcher Höhe der andere gestürzt war, sah er, daß der Grausone in einer Greiferklammer unter dem Fahrzeugboden hing und die heftigsten Anstrengungen machte, um freizukommen.
Inzwischen verließ das führerlose Fahrzeug die allgemeine Route, glitt schwerfällig um ein hochaufragendes, aus vielen Kugeln zusammengesetztes Gebäude, näherte sich einem Sportstadion, wie Reik 314 glaubte. Hunderte anderer Fahrzeuge flogen hinter Reik her, landeten so, daß die schimmernde Fläche der Sportarena gut zu sehen war. Das Fahrzeug, in dem Reik saß, hielt nicht an der Sportplatzbegrenzung an, sondern überflog das Oval mit den steilen Wänden. Im Mittelpunkt des weiten Platzes sank es hinab, die Klammer löste sich, und der Grausone kam auf dem grünglänzenden Boden direkt neben einer Metallstange zum Stehen. Mit einer wilden Bewegung packte er die Stange, riß sie aus dem Untergrund, hielt einen Dreizack in seinen Händen. Aus den ungezählten Luftfahrzeugen, die jetzt einen geschlossenen Ring bildeten, erklang lauter Beifall. Reik glitt in seinem Fahrzeug zum Rand des Geschehens. Eine Seitenwand klappte herunter. Er sah, wie ein ärmlich aussehender, sehr kleiner Ghettoner in das Fahrzeug sprang, bittend die Hände hob und sich unter den Kissen und Polstern des hinteren Fahrzeugteiles verbarg. "Bitte", flüsterte er, "bitte . . ., ich kann nicht mehr." "Sei still", rief Reik. Der Flüchtling kroch vollends unter die Polster. Reik blickte in die Arena, wo der Grausone den Dreizack sportlich gekonnt um seinen Kopf wirbeln ließ, Handstand machte und die Waffe mit den Füßen hielt. Immer neuer Beifall brandete auf. Aus einem Bodenloch am Ende der Arena kam eine Kugel gerollt, die lautlos in zwei Teile zerfiel. Aus ihr plumpste ein metallener Körper, der etliche Laufbeine entfaltete, auf die er sich erhob. Es folgten zwei metallene, stark bestachelte Scheren, ein hochbeweglicher, biegsamer Schwanz mit einer gläsernen Spitze, der wie bei einem Skorpion über dem Körper getragen wurde. Aus dem Vorderende des Metalleibs schoben sich kleine Kameras, metallene Netze und lange Antennen. Der Grausone, der dem Tier den Rücken zuwandte, führte jetzt einige gekonnte Stiche und Hiebe gegen einen unsichtbaren Gegner aus, die so elegant wirkten, daß die Zuschauer es an Beifall nicht mangeln ließen. Aber jetzt kam die tatsächliche Gefahr. Die Kampfmaschine hatte den Stehenden geortet, glitt wie ein Schatten auf ihn zu, packte ihn mit den Scheren, riß ihn vom Boden fön und stach tief die gläserne Spitze des Schwanzes in den zuckenden Leib. Der Ansatz seines verzweifelten Schreies erstickte in dem Beifall und dem zustimmenden Brüllen der Zuschauer. Mit unglaublicher Geschwindigkeit jagte das Metalltier durch die Arena, verschwand zusammen mit seiner Containerkugel und dem
Opfer in der Tiefe. In Sekundenschnelle verteilten sich die Zuschauer, verschwanden die Luftfahrzeuge hinter den gewaltigen Gebäuden. Reik erwartete, daß sich sein Fahrzeug auch erheben würde, doch es schwankte nur über die Arena, kam kaum höher als einen einzigen Meter, während nacheinander die anderen drei Wände wegklappten und der Junge ungeschützt auf seinem Sitz ausharrte. Dann versagte 315 der Antrieb völlig, und es sank lautlos auf die grünlich glänzende Fläche des Stadions. "Sei ganz ruhig", meldete sich im Lautsprecher eine hastige Stimme, "das ist ein Programmfehler. .. Wir starten dich, sobald er behoben ist." "Beeilt euch", trieb Reik den unsichtbaren Sprecher an, "hier ist es nicht gerade gemütlich." Er sah aus den Augenwinkeln, wie eine Kugel aus der Tiefe auftauchte, auseinanderklappte. "Schnell", rief er, "da ist schon wieder so etwas." "Bei allen Göttern", schrie jetzt der Sprecher, "ein ganz und gar durcheinandergebrachtes Programm. Niemand hat den stählernen Richter gerufen . . . Höre, Reik Regenbach, wir haben augenblicklich keinen Einfluß auf das, was geschieht. Aber wir arbeiten auf Hochtouren. Wehre dich! Mach irgend etwas, aber laß den stählernen Richter nicht an dich heran. Er wird dich sonst töten! Hast du gehört? Schneller, Männer!" Das letzte galt offensichtlich denen, die mit der Beseitigung des Fehlers beauftragt waren. Inzwischen hatte sich die Kugel geöffnet, der stählerne Richter nahm seine Skorpionsgestalt an, blickte suchend aus seinen Kameraaugen in das Oval, entdeckte schließlich das am Boden stehende Fahrzeug, kam langsam näher, die Hohlkugeln und die Antennen unablässig bewegend. Reik faßte das Futteral, zerrte es unter Hemd und Jacke vor, richtete es gegen die Kampfmaschine. "Das ist kein Saurier", murmelte er, "kein hüpfendes Teilchenturmtier und auch kein Insekt. Du mußt es nicht schonen, denn es will mich töten. Hörst du, es will mich töten! Hilf mir." Reik hatte nicht die Kraft aufzustehen, denn der Kopf war warm und stumm. Der Steinerne Kopf antwortete nicht, zeigte nicht durch Kälte seine Bereitschaft an, den näher kommenden stählernen Richter anzugreifen. "Hilf mir doch", bat Reik wispernd. Als Antwort wurde sein Fahrzeug in rotes, glasiges Licht getaucht. Das Vorderende der Kampfmaschine glühte weiß, zerbröckelte, und die Stücke fraßen sich qualmend in den grünen Bodenbelag der Arena. Da tauchten zugleich zwei Kugeln auf,- brachen auseinander, und einige Sekunden reichten, um zwei Maschinen jener Art erstehen zu lassen, die sofort zum Angriff übergingen. Dabei kamen sie von zwei Seiten
herangehuscht. Aber kaum noch drei Meter von dem Fahrzeug entfernt, erlitten sie das Schicksal ihres Vorgängers. Beißender Gestank zog Reik in die Nase. Und während aus dem Boden nun vier Kugeln rollten, klappten die Seitenwände hoch, das Dach schob sich schützend über den Innenraum, und das Fahrzeug erhob sich sicher in den Luftraum. 316 "Keine Sorge", meldete sich nun der Lautsprecher, "den verbrannten Arenaboden übernimmt unsere Versicherung. Konntest nichts dafür, daß es so kam." "Wie beruhigend", rief Reik mit vor Aufregung heiserer Stimme, "und ich dachte tatsächlich, man muß noch nachträglich die Krallenabdrücke bezahlen, wenn einen das Biest zerschnitten und vergiftet hätte. Nein, wie seid ihr doch mitfühlend!" Reik fühlte, wie jemand seinen Stiefel umfaßte, sich dagegenlehnte. Als er hinabsah, war es der kleine Flüchtling, der seine Wange an Reiks Stiefel preßte. "Du Sohn des Kriegsgottes", murmelte der Kleine, "du hast die blitzeschleudernde Tasche. Vergib, wenn ich mich dir aufrecht näherte, Sohn des Kriegsgottes." "Verschwinde", befahl Reik und gab dem Niedergesunkenen eine Kopfnuß, "ich bin nicht anders als du gebaut. Und wenn mich die stählerne Wanze gepackt hätte, müßtest du der jetzt die Scheren küssen. Und nun: Ab in deine Deckung, denn das ist nicht etwa mein Fahrzeug. Wir sind beide Gäste, der Unterschied ist, daß sie von mir wissen ..." Er wurde nachdenklich. "Von mir wissen", wiederholte er leise, "und von meiner kriegsgöttischen Tasche auch . . ., und .. ." Er bearbeitete mit seinen Fäusten den Lautsprecher. "Hört mich wer?" fragte er laut an. ,Ja", antwortete unverzüglich der Lautsprecher, "und es tut uns ver317 dämmt leid. Wir sind bereit, dir Schmerzensgeld zu zahlen. Sechs Komma acht. Zufrieden?" "Nur noch eine Frage", fuhr Reik fort, "war die Sache mit dem Metallinsekt manipuliert? Gab es tatsächlich eine Störung, oder wolltet ihr nur sehen, ob ..." "Ich gebe weiter", kam es hastig aus dem Lautsprecher, "an unser Oberkommando in Zitadorra." "Oberkommando", meldete sich gleich darauf eine ölig klingende Stimme, der man Korpulenz und Langeweile anhörte. • Reik wiederholte seine Frage. Er kam sogar bis zu dem Schluß: Wollte man nur sehen, ob der Steinerne Kopf mir gehorcht oder nicht? "Da bin ich total überfragt", antwortete der General bedächtig, "aber du sollst nicht ohne Antwort bleiben. Hab nur einige Sekunden Geduld."
Reik hörte die Umschaltungen. Es blieb sekundenlang still, dann war da eine Mädchenstimme, die ein wenig heiser klang. Und es war eben die Rauheit dieser Stimme, die ihre Besitzerin interessant machte. "Mein Schatz", jeder einzelne Satz drang Reik tief ins Bewußtsein, ließ ihn die tödliche Gefahr ahnen, die hinter den freundlichen Worten steckte, "ich bin es, die goldhaarige Amenii. Du hast meinem armen schwachsinnigen Diener gesagt, daß ich einen alten Mann umgarnte. Vielleicht hast du sogar recht. Aber nun, Liebster, da du bei uns bist, werde ich das nicht mehr nötig haben. Ich stelle es mir allerliebst vor, wenn ein Säuger und ein Insekt sich kreuzen. Du nicht? Ich habe von deinem Verdacht gegen uns gehört, und ich muß sagen: Du wirst erwachsen. Natürlich interessierte es uns, ob hier, in der Heimat des Steinernen Kopfes, noch immer dein Einfluß auf ihn so groß ist, daß du ihn kommandierst. Wir beide haben das Ergebnis des Experiments erlebt. Du kannst also ganz beruhigt sein, während wir weiter schlaflose Nächte haben werden. Ach so, Liebling, wenn du einmal in Zitadorra sein solltest, besuch mich. Kennzahl 7812/96/2119. Das öffnet dir alle Tore zur Fürstin von Zitadorra. Leb wohl." Ein Dreieck stand unversehens über dem Fahrzeug. Das Dach glitt zurück, die unvermeidliche Stange tauchte auf, an der ein, wie Reik an dem Oberarmsymbol erkannte, Grausone zu ihm herunterglitt. Noch ehe der losließ, grüßte er freundlich, setzte sich ans Steuer, schloß das Dach und änderte den Kurs. "Eine sehr unangenehme Geschichte", begann er sofort zu reden, "und es tut mir leid. Aber die Entschädigung, sie ist in deiner Wohnung deponiert, mag die helfen, den Schreck zu überwinden. Ich bringe dich nach Hause. Du wirst sicher das Bedürfnis nach Ruhe verspüren." "Das stimmt", erwiderte Reik, der plötzlich müde aussah, denn er erinnerte sich der gebeugten Gestalt Gerstfelds, der müden Augen des 318 Freundes, "und genau das ist es, was ich an euch fürchte: Es ist mir, als wüßtet ihr ebensoviel von einem wie Sarschan oder irgendeine Humanidin. Ihr erkennt sofort, wie man sich fühlt. .. Nur: Ihr nutzt dieses Wissen gegen mich. Hetzt mir die Stahlwanze auf den Leib. Versucht mich zum Verrat zu überreden." "Versuche einmal durch unsere Augen zu schauen", der Grausone klappte das Schwarzglas hoch, und Reik blickte in ein schmales, fast kindlich zu nennendes Gesicht, dem große blaue Augen eine Spur Freundlichkeit gaben. "Es ist noch nicht lange her, da lebten wir alle sehr angenehm. Astras und Cirrulaan arbeiteten uns zu. Von Evulon holten wir unsere Rohstoffe. Niemand, dem es schlecht ging, einigen chronischen Faulpelzen galt es natürlich schon damals zu zeigen, daß
man ohne Arbeit nichts wird und hat. Von ASGEDAN keine Spur, denn erstens nannten sie sich noch ASDEIN, was soviel heißt wie Assoziation der Intelligenzen, und zweitens erstreckte sich ihr Wirkungsfeld auf den äußersten Zipfel der Galaxis und eben auf andere Systeme. Zarppan hat den Stein ins Rollen gebracht. Sie waren die erste Eiweißintelligenz bei ASDEIN. Und sie zeigten immer wieder mit dem Finger auf uns und, wie sie es nannten, auf die unwürdigen Zustände in Astras und Cirrulaan. Alles andere kannst du dir denken. Der finstere Susan und Arcton, diese Mordmaschine, stellten uns das Ultimatum: Selbständigkeit für unsere, wie sie es bezeichneten, Kolonien oder gewaltsame Befreiung derselben. Die Cirrulaaner und Astraden waren ebenso entsetzt wie wir. Und doch beugten wir uns. Offiziell, wie ich betone, denn unsere Beziehungen zu Cirrulaan und Astras modifizierten sich zwar, brachen aber nie ab. Gloria die Elle war unser Aushängeschild, während das Feurige Gold unser bester Diplomat wurde. Inzwischen wurde aus ASDEIN eben das dir bekannte ASGEDAN. Das D in dem Kürzel, das sind wir: Destrusos. Kampfansage an uns. Und dabei behaupten sie, daß sie keinen Krieg wollen. Nicht sonderlich originell. Sagen wir es so: Wenn du von einem hörst, der deine Eltern ausgeraubt und arm gemacht hat, wie würdest du ihm oder seinen Freunden begegnen? Und ebenso stehen wir dir gegenüber, solange du nicht zu uns gehörst. Das ist alles." Er deutete nach vorn, wo ineinandergeschachtelte Gebäude von grauen, staubigen Pflanzen eingerahmt wurden. "Hier wohnst du", sagte er, "das ist die Siedlung einhundertelf. Mit Gärten, wie du sehen kannst. Du wohnst Prinzeßweg einhunderteins, Wohnung Nummer elf. Einhundertelf, einhunderteins, elf. Wir haben es ganz sicher gemacht, damit du nicht irgendwo in einer Wand zermalmt wirst und Ghetton samt der Hälfte von Destrusos in die Luft jagst." Der Grausone steuerte ein Landeoval vor dem bezeichneten Ge319 bäude an, setzte auf. Er zog zwei flache Kästchen aus der Tasche. "Das sind deine Einmusterer", erklärte er, "ich bringe dein Gepäck in die Kontrollspalte, dann erkläre ich dir die Funktionsweise." Nach diesen Worten griff er den Koffer, den Rucksack und das Schlauchboot, sprang aus dem Fahrzeug und schritt auf eine quadratische Bodenöffnung zu, in die er die Sachen warf. Und noch während er das tat, wisperte der Flüchtling "Danke!" und glitt hinaus. Hinter einer staubigen Strauchkette fand er Deckung. Reik lächelte über den Streich, den er dem Grausonen gespielt hatte. Beruhigt verließ nun auch er das Fahrzeug, trat auf diesen zu. "Das gelbe Dreieck", erklärte der Grausone knapp, "da stellst du dich rauf, lehnst dich gegen die Wand und tippst deine Wohnungsnummer,
also die elf, ein. So kommst du hinein. Und wenn du mich fragst, warum ich dir das erst hier erkläre, dann antworte ich: damit es nicht jener kleine Strolch hören konnte, der unter den Polstern steckte. Denn wenn der wüßte, wie er mit seiner Sippe zu dir kommt, der würde nicht nur alle Möbel ausräumen, sondern auch vor deinem Gepäck nicht haltmachen. Verstehst du das? Vielleicht haben sie dir drüben gesagt, daß du dich auf die Armen und Verurteilten verlassen sollst. Vergiß das, denn erstere sind unsere besten Zuträger. Für ein kleines Entgelt sind sie bereit, ihre Mütter totzubeißen, wenn wir es verlangten. Und die anderen, deren Wille ist gebrochen. Keiner, der in die Malachitkatakomben kommt, hat noch das, was man den eigenen Willen nennt. Tag und Nacht sitzen sie vor den Glasscheiben, die du nur einmal kennengelernt hast. Gute Nacht, mein Freund." Das Hausinnere war die erste, die Wohnung die zweite Überraschung. In der Halle des Hauses wuchsen fremdartige Pflanzen, gab es einen kleinen Teich, auf dem ein Blütenteppich trieb, stiegen feine Wasserfontänen empor. Die Wohnung war hell, denn das Sonnenlicht durchdrang mühelos die Wände. Alles strahlte Eleganz, Geschmack und Stilreinheit aus, die einzigen Fremdkörper waren die drei Gepäckstücke, die Reik, ohne sie auszupacken, in einen der Schränke legte. Als Reik sich setzte, zeigten ihm drei der vier Wände eine sanfte, freundliche Waldlandschaft, die von einem ruhigen Fluß zerschnitten wurde, während auf der vierten Wand dramatische Dinge geschahen. Es klopfte an der Tür. Reik nahm den Einmusterer, ging zur Wohnungstür, öffnete sie. Eine kleine, dunkelhaarige Frau huschte herein, nahm Reik gekonnt den Einmusterer aus der Hand und bediente diesen. Die Wohnungstür war nun gläsern durchsichtig. Gleich darauf stellte sie den entsprechenden Hebel zurück, so daß alles wie am Anfang war. Sie drückte Reik den Einmusterer in die Hand, machte einen 320 flüchtigen Knicks und setzte sich in das Zimmer, in dem Reik zuvor gewesen war. "Ich hoffe", sagte sie, "daß es dir hier gefällt. Allerdings wohnt man in der Vorstadt ruhiger. Da sind auch die Einmusterer besser." "Wie, besser?" fragte Reik, der ihr gefolgt war und sich ihr gegenüber in einen Sessel fallen ließ. "Erstens bist du sehr vertrauensselig", sie sprach schnell, "denn mir einfach die Tür öffnen, ohne sie zuvor durchsichtig gemacht zu haben, ist gewagt. Hier in Garsun werden täglich ungefähr vierzig Einraustererimitatoren von den Wänden zerdrückt und assimiliert. Aber die doppelte Zahl kommt ins Innere der Gebäude. Na ja, dann haben sie freie
Hand. Vier unserer Mieter sind fortgezogen, als sie hörten, daß du bei uns wohnen wirst." "Und warum?" fragte Reik. "Es heißt", erklärte die Dunkelhaarige lächelnd, "daß du einem geheimen destrusischen Bombenkommando angehörst. Und eine Bombe im eigenen Haus... Sie hatten Angst." "Und wer bist du?" erkundigte sich Reik. "Die Pflanzenmeisterin", antwortete die Frau, während sie die Beine unter dem Tisch lang ausstreckte. "Mich stört so eine Bombe nicht. Ich habe mal gelesen, was die Angehörigen eines solchen Kommandos verdienen ... Man könnte sich direkt an Bomben gewöhnen." Dabei schielte sie zu einer großen Schatulle, in der viele glänzende Ovale lagen, Reiks Schmerzensgeld für die Arena. "Ein bißchen still ist es", setzte sie ihre Rede fort, "aber na ja, mußt du selbst wissen. Wer so reich ist, der verzichtet sicher mal auf Happytöne ..." Sie erhob sich, umrundete den Tisch, blieb vor Reik stehen. "Wie findest du meine Stiefelchen?" fragte sie, hob ihr Kleid in die Höhe, zeigte ihm so Schuhwerk und Beine. "Hmm", machte er, während er jetzt wieder die Müdigkeit fühlte, die einem solchen Tag logischerweise folgen mußte. Die Vorstellung, neben dieser kleinen, zierlichen Frau auszuruhen, schien ihm verlok-kend. Aber da erschien auf dem Bildschirms der jene vierte Wand war, riesengroß und klar ausgeleuchtet, das Gesicht von Chlur Meduson. "Ghettoner und Destrusoer", begann er mit klarer Stimme zu reden, "wieder einmal haben wir einen Sieg errungen. Nein, keinen mit der Waffe in der Hand, aber einen, der mehr zählt: Die Glastropfenmaschine ist zu uns zurückgekehrt. Ein junger Mann hat der humanidi-schen Tyrannei den Rücken gekehrt; er hat die Maschine in ihre Heimat gebracht. Und wir werden sie neu programmieren! Wir werden dann den Schlag der Schläge führen. Ja, wir haben einen Teil von Astras, von Cirrulaan und Evulon dem Feind überlassen. So zersplittern sich unweigerlich dessen Kräfte. Wir aber .werden nun siegen. 321 Endgültig. Es lebe der Unfehlbare!" Der Kopf blieb noch einige Sekunden sichtbar, während Trompeten und Trommeln erklangen, ungezählte Stimmen den Unfehlbaren und Meduson hochleben ließen. Reik sprang auf. Er packte die Pflanzenmeisterin, hob sie hoch. Diese ließ sich einfach in Reiks Arme fallen, meinte wohl, daß er sie mit Zärtlichkeiten bedenken wollte. "Auf Wiedersehen", rief Reik zornig aus, schob die verdutzte Frau zur Tür, öffnete mit dem Einmuste-rer und ließ sie erst los, als sie auf dem Gang war.
"Ich wohne unten", sagte sie ihm, während sie davonschlenderte, "und ich weiß jetzt, wer du bist: der junge Mann, der schon bald ein geachteter Oberer sein wird. Vergiß mich nicht..." Reik knallte die Tür hinter sich zu. Unzufrieden mit sich selbst, ging er auf und ab, fragte sich, was die Frau mit Meduson zu tun habe und wie Gerstfeld wohl gehandelt hätte. Er schalt sich unreif. Es klingelte wieder. Als Reik geöffnet hatte, sah er sich einer ganzen Schar von Frauen und Männern gegenüber. "Wir wollen dich feiern", rief einer, "wir haben alles, um diese Nacht durchzumachen. Jeder möchte einmal mit einem Helden genächtigt haben. Laß uns ein!" "Gern", erwiderte Reik, "wenn nur diese verdammte Bombe an meiner Seite nicht wäre. Sie ist so lärm- und erschütterungsempfindlich, und ich befürchte, daß noch in dieser Nacht Garsun ausgelöscht wird, wenn wir heute schon feiern." Nach diesen Worten steckte er den Ein-musterer ein, trat zu den Enttäuschten hinaus, schloß seine Tür. Er bemerkte, wie sie ehrfürchtig das Futteral an seinem Gürtel betrachteten, sich schließlich von ihm abwandten und ihren Wohnungen zustrebten. Reik verließ das Haus. Vielleicht hatte er gehofft, die Pflanzenmeisterin zu treffen, doch sie kreuzte seinen Weg nicht mehr. Die Straßen waren schon dämmrig. Ziellos spazierte Reik durch Parks und Gärten, über Straßen und Plätze. Er wußte nicht so recht, was er suchte. "Dreh dich nicht um", flüsterte da eine Stimme hinter ihm, "ich bitte dich, dreh dich nicht um!" Es fiel Reik schwer, weiterzugehen, denn gar zu gern hätte er gewußt, wer hinter ihm war. "Du hast in deinem Fahrzeug einen Jungen gerettet", fuhr der Sprecher fort, "das ist mein Sohn. Ein fleißiger Junge, der uns manche Speise erbettelte. Aber er hatte kein Glück, denn nachdem du fort warst, wurde er von einem Grausonen ergriffen." Er schwieg. "Weiter", verlangte Reik. "Sie haben ihn zu Hypnoston geschafft", der andere seufzte, "zehn Blättchen reichen, ihn freizubekommen. Ich habe sie nicht. Ich weiß 322 auch keinen, der sie mir borgen, schenken oder zukommen lassen könnte. Wenn du willst, übergib mich dem stählernen Richter, denn ich weiß nicht, wie ich ohne ihn leben soll. . . Verzeih, ich bin ein Schwätzer... Gefühlseklig und schleimig, aber..., aber ..." "Wo findet man Hypnoston?" fragte Reik.
"Oh", der Sprecher schien zu staunen, "er lebt mit seinen andächtigen Glaugern in den Türmen des letzten Glücks. Jedes Offifahrzeug kann dich hinbringen." "Und wie komme ich in so ein Fahrzeug hinein?" fragte Reik weiter. "Ich wußte es", flüsterte der Sprecher, "du mußt ein Gast sein. Du hast kein ghettonisches Herz. Höre also, ich erkläre es dir." Und es folgte tatsächlich die genaue Beschreibung, wie man Fahrzeuge mietet, wie man die Fahrer entlohnt, worauf man sich nicht einlassen darf, welche Fahrzeugtypen gefährlich, welche Kontrollstellen unheimlich sind und welche Ghettoner mit Melaana heimlich zusammenarbeiten. Reik lernte in diesen Minuten mehr, als er den ganzen Tag über erfahren hatte; vor allen Dingen waren es praktische Hinweise, den Alltag betreffend. "Was sind eigentlich Kolosser?" fragte Reik. "Äh", sagte der andere abfällig, "ist alles Quatsch. Chooroon wurde in fast zweihundert Jahren gebaut. Alles, was es an Waffentechnik und Ortung gibt, ist in unserem Letzten Fahrzeug vereint. Und Meduson erzählt ständig, daß Chooroon nunmehr in Serie gebaut werden soll. Alles Unsinn, meine ich. Kolosser sind die im voraus ausgebildeten Lenker der Chooroonen. Jetzt steuern sie Dreiecke, Scheiben und Kampfgleiter und fühlen sich, als hätten sie in ihren guten Stuben schon ein Chooroon stehen. Allerdings muß man ihnen gegenüber vorsichtig sein, denn sie gehen fast immer straffrei aus, was sie in ihrer Wut auch anrichten." Reik erkannte vor sich eines jener bezeichneten Fünfecke. Er betrat es und sah sich suchend um. Ein Mietwagen näherte sich ihm, setzte leicht auf. Reik stieg ein. "Hypnoston", nannte er sein Reiseziel, und das Fahrzeug hob ab. Blendendhell war die Kabine erleuchtet, so daß Reik den Zurückbleibenden nicht mehr erkennen konnte. "Hypnoston", nahm der Fahrer die Unterhaltung auf, "hatte ich schon einmal einen. Der hat mir alles vermacht, denn er suchte das Glück in seiner reinsten Form. Als Besitzloser. Ja, es ist schön, glücklich zu werden." "Wir fliegen doch beide dorthin", schlug Reik nun vor, "steigen Sie einfach mit mir aus! Betreten wir zusammen die Türme und bleiben da. So einfach kann man Glück gewinnen." "Ah .... ich ..., also ...", der Fahrer stotterte, wand sich und wußte 323 doch nicht, was er entgegnen sollte. "Ich bin wohl zu alt", murmelte er schließlich undeutlich.
"Zu alt für das Glück?" fragte Reik und lachte nun doch. "Ich wüßte sogar, was ich mit Ihren Möbem und der Wohnung beginnen könnte." Sie verließen im Steilflug die Stadt, überflogen weite, wogende Felder, während der Mond am Horizont auftauchte. Sein Licht spiegelte sich in einem See, an dessen Ufern fünf mächtige, düstere Türme in den Nachthimmel ragten. "Das sind sie", erklärte der Fahrer knapp. "Können Sie auf mich warten?" fragte Reik, derweil das Fahrzeug zur Landung ansetzte. "Auf keinen Denkfall", rief der Fahrer, "nein, nein . .., man würde mir Einmischung in die inneren Angelegenheiten Hypnostons vorwerfen. Aufwiegler gegen das Glück zu sein. Aber hundert Meter weiter ist eine Ruferplatte. Ich kann mich ja in der Nähe aufhalten, falls Sie dreifachen Wartetarif zahlen. Und ich kann sehr schnell kommen, sobald Sie mich brauchen." "So wollen wir es halten", entschloß sich Reik, "und wenn Sie noch schneller kommen, zahle ich Ihnen den fünffachen Wartetarif." Im Dämmerreich des Hypnoston Ein doppelwandiger, kuppelartiger Zentralbau empfing Reik, wirkte innen weitaus kleiner als von außen. Rotorangene Lichter flackerten in den Wänden, imitierten so nächtliche Lagerfeuer. Das Kuppelinnere war teils bemalt, teils mit Reliefs geschmückt. Eine einäugige Frau blickte aus der Höhe der Kuppel eisig kalt in eine unbestimmte Ferne. In ihrem Mund blinkten angespitzte Dolchzähne, und statt ihrer Haare ragten schuppenähnliche Stacheln steil auf. Mit ihrer krallenbewehrten Linken zerdrückte sie einen sich wild wehrenden Mann, während auf der Innenfläche ihrer Rechten ein anderer friedlich schlief, derweil ihn sanfte Traumwesen freundlich umschwebten. Dem Schoß des dämonischen Weibes entwand sich eine dreiköpfige feuerspeiende Schlange, die ihre Häupter drohend erhoben hatte und über ungezählte ausgestreckt liegende Ghettoner hinwegsah. Ob die Liegenden beteten oder ob sie Tote waren, konnte man nicht erkennen. Wäre nicht das zuckende rote Licht gewesen, die Düsternis in der Kuppel, Reik würde mit einem schiefen Lächeln an dem weiblichen Dämon vorübergegangen sein. Aber das Licht, die Dunkelheit und der leise Klang ferner Trommeln ließen ihn innehalten, jenes Bild länger als nötig anstarren, ehe er sich mit einem Seufzer abwandte. Der Raum bestand aus einem flachen äußeren Ring, einer sich an324 schließenden Treppe, und dem Zentralstück, das einer mächtigen Bühne glich, auf der sich im Meterabstand junge Frauen aufgestellt hatten. Vom Typ her hätten sie alle Pflanzenmeisterinnen sein können, aber da ihre
Leiber in einer Rüstung steckten, da ihre Hände ein blitzendes Schwert hielten, wirkten sie erhaben und brutal zugleich. Im Zentrum der Bühne hockte Hypnoston, dessen Anblick Reik nun doch ein wenig mutlos machte. Dieses Wesen mußte mit Melaana verwandt sein, denn es hatte einen mächtigen Schädel, unter dem ein winziger, unterentwickelter Körper jämmerlich hockte, aus dem ungezählte dünne Beinchen ragten, die sich wellenartig bewegten. "Zu der Zeit aber", sprach Hypnoston mit sanfter, leiser Stimme, "da die Urmutter Una die ersten Lebewesen ausspie, die die Länder überfielen wie die Schnellfresser und sich ihr nicht mehr unterordnen wollten, tat Hypmon, der Zwillingsbruder der Una, der Sohn der Ewigkeit und des stummen Lebens, diesen Ausspruch: Noch ehe sich die wärmenden Feuer in Eis verwandeln werden, noch ehe das Licht die Dunkelheit flieht, wird das barbarische Geschlecht der Huren und Henker hinweggewischt werden von Una, meiner Schwester höchstselbst, denn sie wird erkennen, daß Unrat und Gewürm nur heimlich ihrem sonnengleichen Leib entsproß. Oh, Una, die du erkennen mußt, daß die Freiheit, die du deinen Geschöpfen gabst, diesen dazu dient, sich gegenseitig zu vernichten, laß nun deinem Schoß den dreiköpfigen 325 Drachen entwachsen, der herniederfällt auf die Söhne der Huren, die Töchter der Henker, der sie mit seinem Licht blendet, mit seinem Feuer sengt, in seinem Eisatem erstarren läßt. Zermalme die Brut, so sie sich von dir abkehrt! Aber behüte die wenigen Auserwählten, die den Weg zu dir finden ... Suchst du einen Weg zu ihr?" Mit gemessenen Schritten traten zwei gepanzerte Ghettonerinnen über die Treppe auf die untere Ebene und postierten sich rechts und links von Reik. Sie faßten mit ihren metallumhüllten Händen die seinen, traten zurück zur Wand und schritten durch eine sich öffnende Tür in einen Gang hinein. Nicht lange, so standen sie mit Reik in einem der Türme. Im Zentrum des Turmes befand sich ein kleiner Aufzug, während eine innen an der Turmmauer entlanglaufende Wand ein Wasserbassin umschloß, in dem ungezählte Frauen und Männer brusttief im Wasser standen. In regelmäßigen Abständen sanken sie in die Knie, tauchten unter und kamen nach relativ langer Zeit prustend nach oben. Jeder versuchte das Schnaufen und seine Luftknappheit zu verbergen, ohne daß es einem gelungen wäre. In der ersten Etage, das sah Reik noch, lagen nackte Ghettoner auf harten sechseckigen Waben, ohne daß sie jammerten oder stöhnten.
So ist das also, dachte Reik, der die Frage Hypnostons bewußt überhört hatte, um einen Einblick in das Geschehen im Turm zu bekommen. "Hier", eine der Gheti;onerinnen deutete auf das Wasser, "waschen die Söhne der Huren und Töchter der Henker in den Tränen der Una ihre äußere Schmutzschicht fort." "Ihr müßtet ein paar Kanister Unatränen", sagte Reik, "nach Zitadorra schicken." Sie sahen ihn beide strafend an, aber reagierten nicht auf seine Worte, sondern nahmen ihn bei der Hand, durchquerten den Turm, betraten einen anderen Tunnel und gelangten so in den zweiten Bau. Der Boden war mit dornigen und stachligen Pflanzen ausgelegt, und auf dieser Unterlage standen, saßen, hockten oder lagen andere Opfer mit schmerzverzerrten Gesichtern, während der Boden von verkrustetem Blut starrte. Es gab Bänke, Stühle, Sessel, aber sie alle waren mit Stacheln bedeckt, erzeugten Qual und Leid. Selbst die Wände wiesen solcherart Peiniger auf. "Nichts", erklärte die Sprecherin wohltönend, "reinigt so vollkommen wie der Schmerz. Einsicht gibt es nicht, es sei denn, sie werde in die Herzen der Willigen mit glühenden Zangen eingeschnitten. So sagte es Hypmon zu Una." "Warum spart ihr euch dann nicht die Waschung", fragte Reik. 326 "Wenn es sowieso nicht hilft, ist es doch unsinnig. Oder behauptet Una etwas anderes?" "Höre, du Sohn .. .", begann die Sprecherin, aber Reik entriß ihr so heftig seine Hand, daß sie verblüfft schwieg. "Möglich, Mädchen", rief er erzürnt aus, "daß du dich als Tochter eines Henkers fühlst, aber solltest du versehentlich deinen geschmacklosen Spruch auf mich anwenden wollen, dann veranstalte ich hier ein Feuerwerk, bei dem sich Hypnoston samt seiner Una die Finger verbennen könnten, Also halt dich zurück. Meine Mutter ist eine absolut ehrenhafte Frau. So, nun können wir weitergehen, aber ohne Händchenhalten. Einverstanden?" Etwas unsicher gingen die beiden Ghettonerinnen voraus zum dritten Turm. Hier sah es aus wie in einer mittelalterlichen Folterkammer, nur daß die Opfer freiwillig zu den körperschindenden Maschinen und Apparaten gingen, sich freiwillig auf all den schrecklichen Spann-, Zieh-, Dehn- oder Quetschgeräten niederließen. Einige schlugen sich in den Pausen gegenseitig mit langen Peitschen in die Gesichter, rannten mit den Köpfen gegen eine Wand oder versuchten, sich Finger und Zehen zu verstauchen oder zu brechen.
"Du siehst sie", erhob die Wortführerin ihre Stimme, "und du kannst sie nun schon nicht mehr mit deinen Gefühlen messen. Sie würden sterben, verweigerte man ihnen diesen Turm. Sie wissen, daß sie sich Una und Hypmon ein wenig angenähert haben, wissen, daß vieles von dem, was sie zu Dämonen machte, abgefallen ist von ihnen, und wünschen nun nichts so sehnlich, wie fortzufahren in der Reinigung." Der vierte Turm bestand aus ungezählten schwarzen Röhren, in denen jene Ghettoner steckten, die die körperlichen Qualen überstanden hatten. Reik erfuhr, daß diese hier nichts sahen, nichts hörten und ebenfalls nichts fühlten. Fast drei Wochen steckten sie in den Röhren, ehe ihre Augen und Ohren sich öffneten, mit denen sie Unas göttliche Welt sehen, Hypmons wunderbare Gesänge hören konnten. Schweigend folgte Reik den beiden Frauen in den fünften Turm, in dem diejenigen, die alles andere absolviert hatten, fasteten. "Sie stehen unmittelbar vor der Erlösung", erklärte die Sprecherin. "Erlösung?" fragte Reik. "Sieh es selbst", forderte ihn die Ghettonerin auf. So kamen sie zum letzten Turm. Dort gab es keine Etagen mehr. Aus dem Boden ragten Speere, Lanzen, Schwerter. Sie waren eingelassen in den steinernen Grund. In vielleicht vierzig, fünfzig Meter Höhe waren zwei Bretter angebracht. Das eine stellte eine Hand dar, die zu einer auf die Wand gemalten gewaltigen Una gehörte. Es war das Motiv des in der Hand der Urmutter schlafenden Ghettoners. 327 Das andere Brett aber war ein Beilstiel, der von einer Reihe aufgemalter Henker und Huren gehalten wurde. Schwere Gongschläge durchwogten den Raum. Die Wand schwang auf, es trat ein Ghettoner in einem schneeweißen, bodenlangen Gewand auf den Stiel des Henkerbeiles. Ruhig, die Arme der Una entgegengestreckt, schritt er auf dem Brett entlang, erreichte das Ende und machte den einen großen Schritt in die Leere. Reik schloß die Augen. "Una", drang ein gellender Schrei an sein Ohr, "Una!" Der dritte Schrei ging in Gurgeln über, verstummte. Totenstille umgab Reik. Er öffnete die Augen, vermied es, das Feld der Speere und Lanzen anzusehen, wandte sich schroff an eine Ghet-tonerin. "Ihr bringt sie um", sagte er, "ihr bringt sie einfach um!" "Nein", erwiderte sanft die Priesterin des Hypnoston, "nein, ich schwöre es. Wer den wahren Glauben gefunden hat, schwebt zu Una, ruht bei ihr aus, wird so ihr Hohepriester sein. Wer aber die Schmerzen sich nur verbiß, wer überhaupt nicht glaubte, sondern fürchtete, als nunmehr Besitzloser nach Gersun zurückzukehren, den kann niemand retten. Und
sie wollen auch nicht gerettet sein. Sie spielen sich dann selbst die Reinheit ihrer Gedanken vor." "Ich bin gekommen", sagte Reik, den es jetzt erst schüttelte, nachdem er die Worte gehört hatte, "um einen Freund freizukaufen." "Unseliger", rief die Wortführerin, "wie kannst du so etwas äußern, nachdem du alle Heiligtümer, auch die verbotensten, sahst?" "Solltet ihr zufällig", gab Reik eine Erklärung ab, "die große Rede Medusons gehört haben - ich bin der mit der Glastropfenbombe am Gürtel. Also los, bringt mich zu meinem Freund." Sie traten durch eine zweite Tür, fuhren mit einem Fahrstuhl in die Tiefe und erreichten einen kreisrunden Saal, an dessen Wänden Ghettonerinnen standen, die Pfeil und Bogen in den Händen hielten. In der Mitte des Raumes erhob sich eine Säule auf einer Scheibe. Langsam rotierte die Scheibe und mit ihr die Säule, an die drei Kinder gebunden waren. "Sie sterben stellvertretend für die Schützinnen", erläuterte die Wortführerin, "und reinigen diese mit ihrem Tod." "Das ist das Verlogenste, das ich je gehört habe", sagte Reik mit funkelnden Augen. "Und ich habe tatsächlich gedacht, ihr seid schwebend zu dieser einäugigen Dämonin gesegelt. Mein Gott, was bin ich noch gutgläubig." Er trat in den Raum hinein, näherte sich der Säule, blieb unmittelbar vor ihr stehen. Zwei Jungs und ein Mädchen standen dort, blickten mit Augen, in denen sich Todesfurcht spiegelte, auf Reik. Der drehte sich ruhig um, betrachtete die beiden Priesterinnen, die hier, im hellen Licht, bleich und krank aussahen. "Wo gibt es diese Bogen zu kaufen?" fragte er. 328 "Man braucht die Weihe des Hypnoston", erwiderte die Sprecherin, "dazu zehn Jahre Innigmeditation. Ich bin mit drei dort angekommen." Reik wandte sich den Kindern zu. "Welcher von ihnen ist es?" hörte er die Frage aus der Tiefe des Raumes. "Alle drei", antwortete er, "es sind alle drei." "Das kommt darauf an", versicherte ihm die Sprecherin, "welche Art Zahlung du hast. Am besten ist natürlich Ferold." "Habe ich alles", erwiderte er. "Freigekauft!" rief die Wortführerin. Da lösten sich die Bogenschützinnen von den Wänden, nahmen die Fesseln ab, umarmten und küßten die Kinder und trugen sie auf ihren Armen zu Reik, wo sie sie freundlich knicksend abstellten. Jetzt erkannte Reik auch den, der in sein Fahrzeug geflüchtet war. "Dein Vater wartet auf dich", flüsterte er dem Jungen zu, der sich an ihn hängte. Da
folgten auch die anderen seinem Beispiel. Reik fühlte die Nässe ihrer Tränen an seinen Händen. "Also gehen wir zu Hypnoston", beschloß Reik, der sich klar war, daß er nie soviel Geld bei sich hatte, wie vonnöten wäre, die drei Kinder zu befreien. "O nein, nein, nein!" rief die Wortführerin der Ghettonerinnen, "doch nicht zu Hypnoston. Er hat noch nie in seinem Leben unser 329 Zahlungsmittel gesehen. Nichts verabscheut er so wie diese alltäglichen Dinge. Die niederen Geschäfte vollzieht eine unserer Schwestern. Folgt mir also." Reik tastete nach den goldenen Plättchen in seinen Taschen, und er bereute es, die Schatulle in seiner Wohnung stehengelassen zu haben. / Der Raum, den sie schließlich betraten, war auf das reichste ausgestattet. Selbst seine Wohnungseinrichtung schien Reik schäbig, verglich er sie mit den dicken Teppichen, den wunderbaren Gemälden, den reichverzierten Tischen, Schränken und Kommoden. Mitten im Raum stand der aus Gold gefertigte Leib der Una, der mit Edelsteinen übersät war. Im Vorübergehen löste Reik mit einer schnellen Bewegung einen der Steine und steckte ihn ein. Eine junge Ghettonerin trat aus einer Seitentür, setzte sich an einen Schreibtisch mit Edelholzintarsien, sah Reik interessiert entgegen. Der deutete auf die drei Kinder. Wortlos. Ihr Gesicht, das dem eines Biber glich, die oberen Schneidezähne ragten ihr aus dem Mund, war starr vor Staunen. Sie winkte Reik näherzutreten, machte seiner Begleiterin ein anderes Zeichen, so daß diese direkt in der Tür stehen blieb. Reik schaute an der Bibergesichtigen vorbei, sah ein Gemälde, auf dem ein Ungeheuer ein kleines Kind aufgespießt hatte. Nur langsam dämmerte es ihm:'Das war ein Versuch, Sarschan bildlich darzustellen. Sarschan war das Ungeheuer mit dem aufgespießten Kind. Reiks Augen blickten zornig. "Nun", sagte die Ghettonerin, "das ist der Erzfeind Unas. Der unersättliche Moloch, der lange, allzu lange Qual und Elend brachte. Doch nun ist er eingeschmolzen in das heilige Gestein von Astras, nun wird er Ewigkeiten leiden, ohne Hoffnung auf Erleichterung. Ja, ein treffliches Gemälde." Sie lehnte sich zurück, ruckte auf, beugte sich vor. "Nun zahlt", verlangte sie eisig. Reik legte alles auf den Tisch, was er in seinen Taschen trug. Sie sah ihn fragend an. "Reicht wohl nicht", stellte Reik fest.
"Für einen schon", sagte sie geschäftsmäßig, "aber nicht für zwei und schon gar nicht für drei. Das Schießen fällt weg. Tausend Gebete statt dessen. Nun, fahrt fort in der Zahlung." Mit einem leisen Seufzer holte Reik den gestohlenen Stein aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch, wobei er vorsichtig das Gesicht der Biberin beobachtete. "Oh", entfuhr es ihr, "Sarafin ... Nun, so nehmt Eure Plättchen, was sollen sie. Und wartet, ich gebe Euch redlich heraus. Nach der Zahlliste des Nasselgoßschen Tauschinstituts." Sie öffnete mit einem Einmu330 sterer einen Panzerschrank, verwahrte in diesem den Stein und überreichte Reik ein dickes Bündel der goldenen Plättchen. Als Reik mit den drei Kindern an die Oberfläche gelangt war, als er, jetzt erst schwitzend, die Türme von außen sah, lief er los, und die drei Freigekauften folgten ihm. Sie liefen bis zu der Stelle, die ihm der Mietwagenfahrer gezeigt hatte. Er wählte den Ruf, verteilte die Plättchen an die Kinder und beobachtete währenddessen die Türme wie auch die Straße, die von dort hierherführte. Das Fahrzeug näherte sich sirrend, setzte hart auf. Reik und die Kinder kletterten eilig hinein, der Fahrer klappte die Wand hoch, und sie starteten. Gerade als sie in der Luft waren, flammten helle Scheinwerfer auf, erleuchteten die Türme und deren Umgebung, jaulten Sirenen durch die Nacht, stürmten bewaffnete Ghettonerinnen aus den Toren, wurde systematisch die Umgebung des schaurigen Ortes abgesucht. "Bei Meduson", rief der Fahrer aus, drehte sich um und suchte zu erkennen, was geschah, "was ist denn da los?" "Keine Ahnung", antwortete Reik, "vielleicht ist ein Feuer ausgebrochen." "Mir soll es einerlei sein", sagte der Fahrer, "wenn sie mich unbehelligt lassen, aber bei Hypnoston weiß man nie. Da gibt es unglaubliche Geschichten." Reik rutschte näher an den Fahrer heran. "Das mit dem Glück vorhin", der Fahrer sprach jetzt so leise, daß ihn die Kinder nicht hören konnten, "war Tarnung. Du weißt ja nie, wer bei dir eingestiegen ist. Der haut dich an, daß er zu Hypnoston will. Du rätst ihm ab, weil dir böse Gerüchte zu Ohren gekommen sind, und stellst fest, daß ein verkleideter Grausone neben dir sitzt. Fahrzeug weg. Beweglichkeitspatent weg. Zitadorra. Malachitkatakomben. Geht manchmal schnell. Noch schlimmer, wenn du alles verloren hast und betteln mußt. Es gibt nur zwei Wege da heraus: Wirst Furone und verreckst im Kampf gegen jemanden, der dir nie etwas getan hat, oder
meldest dich in den Türmen. Es heißt, daß sie deinen Körper dort trainieren, entschlacken, um ihn dann ausschlachten zu können. Krieg frißt viele Organe ... Vielleicht dumm, daß ich das gesagt habe, aber du machst einen soliden Eindruck. Und die drei Kinder..., ich weiß gar nicht, wann ich zum letztenmal jemanden von dort kommen sah. Da unten, schau mal, bist du vorhin eingestiegen. Ich laß dich dort raus." Sie landeten, und Reik wollte bezahlen. "Heute hast du schon bezahlt", sagte der Fahrer und deutete auf die Kinder, "Glück wünsch ich." 331 Sie verließen zu viert das Fahrzeug..Der Junge rannte plötzlich los, landete in den Armen eines ausgezehrten Mannes, der ihn heftig an sich drückte. "Na bitte", bemerkte Reik und faßte die anderen beiden Kinder bei der Hand, "dann kommt mal, wir haben es auch eilig." Er ging mit ihnen los, hastete den Weg zurück, den er allein gekommen war, preßte die Kinder an sich und glitt mit ihnen durch die Wand des Hauses, in dem seine Wohnung lag. Reik öffnete die Tür, verschloß sie hinter sich. Er rannte in das Wohnzimmer, nahm auf dem Sofa Platz. Sofort belebte sich die Längswand des Raumes. "Der Überfall auf die Türme des letzten Glücks", sagte der Sprecher, "muß von einer Bande ausgeführt worden sein, die sich in den Örtlichkeiten bestens auskennt, anders ist es nicht zu erklären, daß sie sich auch die wenigen Zahlungsmittel, Getränke und Speisen der Glauger aneignete, um mit ihrem wartenden Fahrzeug zu verschwinden. Wir schalten um nach Zitadorra." Ein glasgetäfelter Raum erschien, in dem drei Ghettoner saßen. "Hier ist das Grausonenoberkommando", sprach einer der drei, "und ich habe Grausos den Ersten bei mir. Bitte, Oberleitender, wollen Sie nicht all unseren Zuschauern ein wenig von dem verraten, was Sie wissen?" ,Ja", antwortete der Angesprochene, "ein wenig." "Dann bitte ich Sie", fuhr der Berichterstatter fort, "dies nunmehr zu tun." "Es waren acht Humaniden", erklärte der Oberkommandierende, "soviel steht schon fest. Sechs dieser Übeltäter sind schon im Feuer meiner tapferen Grausonen niedergestreckt worden. Nun, so fragt sich jeder mit Recht, was aber wird aus den beiden letzten? Sie werden sich unter uns bewegen, als gehörten sie dazu. Und das ist nicht einmal so falsch, wie mancher jetzt vielleicht glaubt. Wir haben keine Möglichkeit, Eindringlinge von Nichteindringlingen zu unterscheiden, solange wir keine Tagesmeldung an Norrh machen können. Eigentlich etwas sehr Einfaches: Der Etagenmelder meldet seine Beobachtungen dem Hausmelder. Der dem Straßenmelder, der seinerseits den
Siedlungsmelder unterrichtet. Dieser reicht alles dem Stadtmelder weiter, der nun den Zentralmelder ruft. Norrh wird instruiert, und kein Fremdling hat eine Chance. Aber das ist nur ein Vorschlag, obwohl wir natürlich auf Antworten warten. Ich danke." Reik erhob sich, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann fiel sein Blick auf die Kinder, die schüchtern in der Tür des Zimmers standen und sich nicht rührten. "Herein", rief Reik, packte sie und trug sie in die Küche, wo er sie auf zwei Stühle setzte, "jetzt ist Essenszeit." Nachdem sie sich gesättigt hatten, brachte er sie ins Schlafzimmer, 332 legte sie nebeneinander in das Bett und begab sich wieder in die Küche. Er setzte sich an den Tisch, dachte nach und wußte doch nicht, wie es nun weitergehen sollte. Im Hause der Emonenfürstin Am Morgen wußte Reik noch immer nicht, was mit den Kindern geschehen sollte. Er hatte schlecht in der Küche geschlafen, hinzu kam, daß immer wieder ein Fahrzeug mit Sirene vorüberjagte, deren Klang ihn zusammenzucken ließ. Er erhob sich unschlüssig, badete ausgiebig, kleidete sich an und blickte kurz ins Schlafzimmer. Beide waren sie im Schlaf gewandert, lagen kreuz und quer auf dem Bett, schliefen noch tief und fest. Reik verließ den Raum, setzte sich ins Wohnzimmer. Auf der Wand zeigten sie Bilder von dem Überfall auf Hypnoston. Zehn tote Ghettonerinnen und Ghettoner wurden dem Zuschauer auf schmucklosen Holzbrettern geboten: die Opfer des Überfalls. Reik sah die ausgemergelten Gesichter und wußte, welchen Tod sie alle gestorben waren. Man schaltete um, ein Mann aus Destrusos, der Minister für Nächstenliebe und Gemeinschaftssinn, sprach. Er verfluchte die Mörder, schmähte Humanos und Cirrulaan, das unmittelbar vor diesem verbrecherischen Anschlag in den Türmen des letzten Glücks seine Flughäfen gesperrt hatte, nannte Angaria einen schwarzen Mörder, Arcton den dämmrigen Schrecken der lichten Freiheit und kam dann auf die gediegene und geduldige Arbeit von Zitadorra zu sprechen, um endlich zu versichern, daß schon bald die letzten beiden Flüchtlinge gefaßt würden, denn niemand werde seiner Bestrafung entgehen. Reik erhob sich. Der Junge trat ins Zimmer, lief gesenkten Kopfes an Reik vorbei, verschwand in der Toilette. Als er zurückkam, wollte er wieder durch das Zimmer rennen, aber Reik hielt ihn fest und hob ihn hoch. "Und was mache ich mit euch?" fragte er leise. "Wenn du uns in eine Maschinenhalle schaffen kannst", antwortete der Kleine, "dann geht es uns gut. Wir haben doch Plättchen, und mitten in all dem Eisen kann uns niemand orten."
Reik trug ihn in das Schlafzimmer. Und er staunte nicht schlecht, als er das Mädchen schon angezogen in einer Ecke sitzen sah, wo sie ihm ängstlich entgegenblickte. "Komm mal her", rief Reik sie, nachdem er den Jungen auf das Bett gesetzt hatte. Sie kam nur zögernd näher, blieb zwei Schritt vor ihm stehen. "Hast du schon mal gehört", wollte Reik wissen, "ob irgendwo in eu333 rer Nähe ein Kind von anderen, vielleicht von reichen Leuten angenommen und weggebracht wurde?" Es mußte ein beliebter Gesprächsstoff sein, denn das Kind wußte ungeheuer viel zu erzählen: von Fürsten, die sich kleine Jungen geholt hatten, von einem nasselgoss'schen Direktor, der sich ein Mädchen gekauft und erst zu seiner Tochter, später zu seiner Gattin gemacht haben sollte. Es gab noch mehr solcher rührseligen Geschichten, aber die Klingel unterbrach die Märchenstunde. Reik stopfte das Mädchen ins Bett, machte die Schlafzimmertür zu und ging, den Einmusterer in der Hand, zur Wohnungstür. Als alles gläsern wurde, blickte Reik auf das Schwarzglas eines Grausonen. "Na dann gute Nacht", murmelte Reik, während er die Tür öffnete. "Haias Morgen", grüßte der Grausone, klappte das Schwarzglas nach oben, sah sich prüfend um. ,Ja", sagte Reik, "und was nun?" "Wir haben ein interessantes Tagesprogramm", erklärte der Grausone, "besonders am Nachmittag, da schauen wir uns den Tatort des gestrigen Überfalls an. Die Türme der Glauger." "Danke", wehrte Reik ab, "ohne mich. So etwas kann ich nicht sehen. Mir wird regelmäßig schlecht, wenn ..., wenn ich nur von fern den Ort einer Bluttat erblicke." "Anweisung von Zitadorra", erklärte der Grausone, "wenn ich dir von mir aus freigebe, bin ich die längste Zeit im Dienst gewesen." "Ich möchte Kinder adoptieren", schlug Reik vor, "wie macht man das?". "Gar nicht", erwiderte der Sicherheitsmann, "dazu müßtest du ordentlicher Staatsbürger sein. Am besten noch ein bißchen Vermögen haben. Aber du bist staatenlos ..., noch." "Und wie lange kann das dauern?" fragte Reik beklommen. "Hängt von dir ab", der Grausone setzte sich, blickte zu dem Tisch hin, auf dem sich deutlich der Abdruck einer fettbeschmierten Kinderhand spiegelte, "geh zu den Sternnetzen und erzähle, was du von Hu-manos weißt. Plaudere ein bißchen über Angarias Waffenarsenal. Sprich heute nachmittag Hypnoston dein tiefempfundenes Beileid aus. Melde zwei oder drei miese Typen, die sich an dich ranmachen, um dich
aufzuwiegeln.. Braucht niemand Bedeutendes zu sein. Es reicht schon, wenn du dem Steinernen Raben den Fahrer eines Mietwagens nennst, der sich beispielsweise über Armut, Furonen und Glauger äußert. Wenn du das alles machst, geht es schnell. Dann reichen unter Umständen zwei oder drei Tage, und alles ist in Ordnung. Du bist Staatsbürger, kaufst die Adoptivpapiere und hast Kinder. Lehnst du das aber alles ab, kann es Jahre dauern, ehe man dich akzeptiert und vorschlägt." 334 Reik hatte verstanden. Der Fahrer war belauscht worden, und der Abdruck der Kinderhand hatte ihn selbst verraten - sie wußten alles! Und die Sache mit dem Besuch bei Hypnoston hatten sie sich ausgedacht, um ihn Höllenqualen leiden zu lassen. Sicher, sie würden ihn nicht festnehmen. Hypnoston würde so tun, als kennte er ihn nicht, doch der Weg dorthin, immer neue Anspielungen auf den dortigen Auftritt würden ihre Wirkung nicht verfehlen. ,Ja", sagte Reik, "dann darf ich Ihnen etwas zeigen. Ich will nicht lügen, denn ich brauche die Staatsbürgerschaft." Er machte eine einladende Handbewegung, und der Grausone erhob sich. "Bitte", sagte Reik, "aber ohne Helm. Sie erschrecken sonst fürchterlich." Grinsend legte der Grausone, der schon wußte, was ihm gezeigt werden würde, den Helm ab. Ging leise auf die Tür des Schlafzimmers zu. Da nahm Reik die schwere Schatulle und hieb sie dem Grausonen über den Kopf. Lautlos brach er zusammen. Reik riß ihm die Uniform vom Leib, entkleidete sich selbst, schlüpfte dann in die Grausonenuni-form, betrat so das Schlafzimmer. "Vorwärts, Kinder", rief er, "ich bin es. Wir müssen weg. Ganz schnell." Im Vorübergehen stülpte er den Helm auf, sah jetzt alle Spuren der Kinder, sah als deutliche Flecke die Punkte, wo sie hingefaßt hatten, und verließ mit seinen beiden Schützlingen die Wohnung. Reik war der letzte. Er warf einen Blick zum Himmel, sah die Armada der Dreiecke, aus denen es Kugeln regnete. Der stählerne Richter, dachte er, diesmal suchen sie mich... Ohne zu zögern huschte er durch eine Klappe, verschloß sie sorgfältig und folgte den Kindern durch einen bröckelnden Gang. Hinter diesem war eine schier endlose Halle, in der die Wände schwachen, phosphoreszierenden Schein verbreiteten und so mächtige nachtschwarze Maschinenblöcke aus der Finsternis hervortreten ließen. In der Ferne gellten Sirenen, schrien Frauen und Männer verzweifelt auf, brach Panik aus. Reik stellte sich die stählernen Richter vor, die unaufhaltsam vorwärtsjagten, Ansammlungen von Männern und Frauen durchbrachen, vielleicht sogar Unschuldige packten, wenn diese den Gesuchten nur ein
wenig ähnelten. Die Kinder kletterten vor Reik her über einen langen stählernen Arm, der zu einem der Maschinenblöcke führte. Reik klappte sich die Schwarzscheibe vor das Gesicht. Nun sah er alles in fahlem Morgenlicht. Jede Schraube, jedes Gewinde, aber auch jeden Mauerdurchbruch konnte er erkennen. Er erblickte die Kinder -und ebenfalls ihre helleuchtenden Spuren vom Gang her über den stählernen Arm bis zu dem Maschinenblock, auf dem sie jetzt standen. Am rückwärtigen Ende der Maschine gab es eine eiserne Leiter, über die sie weiter nach unten stiegen. Reik versuchte wenigstens die Leiter 335 abzureißen, doch er hatte keinen Erfolg. Hell schimmerten ihre Sprossen, verrieten den Verfolgern, die kommen würden, wohin man geflüchtet war. "Auf meinen Rücken", rief Reik. Die Kinder begriffen sofort. Sie klammerten sich auf Reiks Rücken fest, und Reik trug sie eine Treppe nach oben, trat mit ihnen in ein Zwischengeschoß ein, legte sie hinter einer geborstenen Steinwand ab. Er setzte sich, atmete schwer, lauschte in die Finsternis. Es war totenstill. Als Reik es nicht mehr aushielt, als er vorsichtig den Kopf vorstreckte, hätte er fast aufgeschrien, denn unten am Fuß des Maschinenblockes, keine fünf Meter unter ihm, stand ein stählerner Richter, dessen Augen hier hell wie Scheinwerfer aufleuchteten und sprühten und funkelten, während die Antennen suchend hin und her zuckten. Reik legte den Finger auf den Mund, gab den Kindern so zu verstehen, daß sie keinen Laut von sich geben durften, saß selbst erstarrt in dem grünen Licht der Leuchtwände. Die Zeit verging, Reik hörte kein Geräusch, wußte nicht, wie lange er schon gesessen hatte, begriff nicht, wo die Verfolger geblieben waren, beklagte jetzt, daß er sein Gepäck und vor allem Sarschans Schlauchboot zurücklassen mußte ... Ein heller Lichtschein tauchte über der Metallkante auf. Schreiend liefen die Kinder den Gang entlang, denn sie wußten zu gut, daß diesem stählernen Ungeheuer noch niemand entkommen war. Reik sprang auf die Füße, er riß an der Grausonenkombination, um an das Futteral zu gelangen. Der Verschluß der Uniform ließ sich nicht so einfach öffnen, und man mußte einige Knoten lösen. Doch gerade als der stählerne Richter den Absatz erreicht hatte, spie Reiks Kombination einen grellen blauen Faden aus, und das maschinelle Kampfsystem stand in Flammen, stürzte rücklings in die Tiefe, versuchte einen neuen Anlauf, aber kam nicht mehr bis nach oben. Als Reik nach seiner linken Seite tastete, trug er dort keine Grausonenkombination mehr, sie war fast zur Hälfte aufgelöst.
"Hallo", rief Reik, "hört doch mal...! Kinder, es ist doch alles gut..." Er sah durch die Schwarzscheibe ihre Spuren und folgte ihnen. Sie führten ihn in einen anderen Maschinensaal. Und da gab es einige Röhre, die noch tiefer nach unten drangen. In diesen Rohren endeten die Spuren. Reik konnte ihnen nicht folgen, denn er paßte nicht hindurch. So rief ej die Kinder lange Zeit, ohne daß sie ihm antworteten. Entweder sie hörten ihn nicht, oder sie glaubten nicht, daß er es war. Niemand hatte bisher den stählernen Richter überwunden. Reik trat den Rückweg an. Als er an dem stählernen Richter vor336 überkam, sah er die Maschine ausgebrannt auf dem Rücken liegen, den geborstenen Bauch nach oben gereckt. Sitzend überwand Reik die lange schlanke Metallbrücke, als er im Schwarzglas vier Grausonen auf der anderen Seite stehen sah. Er wußte, daß sie ihn, der von allen Wänden angestrahlt wurde, noch besser sehen konnten. Deshalb blieb er einfach sitzen, faßte nach dem Futteral. "Tu es nicht", rief ihm einer der Grausonen zu, "es ist absolut nicht nötig. Auch die Kinder sind gerettet, wenn du uns einen Weg zu ihnen zeigst... Du bist von der Fürstin der Emonen adoptiert. Deines tapferen Entschlusses wegen, zu uns zu kommen. Ihr seid nunmehr der junge Fürst der Emonen... Auch Staatsbürger... Wollen Eure fürstliche Durchlaucht uns sagen, wo die Kinder stecken, damit wir sie holen können?" Reik ließ das Futteral los. Er saß immer noch, ohne sich zu rühren. Neben ihm zischte es. Einer der Grausonen hatte ein Seil abgeschossen, das hinüberführte in den Gang, der Reik und den Kindern zuletzt als gemeinsames Versteck gedient hatte. Der Grausone glitt an Reik vorüber, verschwand im Gang. Nach Minuten tauchte er wieder auf. "Absolut keine Hoffnung", rief er schon von weitem, "sie sind in die Etagen der finsteren Ssyrr gekrochen, aus denen noch niemand wieder aufgetaucht ist." Schwerfällig, mit dem Gleichgewicht kämpfend, näherte sich Reik dem Ende der waagerechten Metallstange. Drei Hände reckten sich ihm entgegen. Er beachtete sie nicht, erklomm den Betonblock, richtete sich auf. Den leichten Helm zog er vom Kopf, reichte ihn einem der Grausonen. Müde stieg er aus der Kombination, die kaum mehr als ein Fetzen war. "Was ist Ssyrr?" fragte er leise. "Die Angst", antwortete einer der Grausonen, "der Schrecken, das lähmende Entsetzen, verkörpert in einem Wesen, halb mineralisch starr, halb ungeheuer beweglich." Sie verließen den Gang, traten hinaus. Neben der rostigen Eingangsklappe stand ein goldglänzendes Fahrzeug, das ungewöhnlich
aussah und auch wesentlich größer war als ein Mietwagen. In ratleuchtenden Buchstaben prangte eine Schrift an den Seiten: HAUS EMON ZU GARSUN. Ein dichter Ring von Schaulustigen umstand das Gefährt. Viele Hände klatschten Beifall, als Reik langsam in den Fond des Fahrzeugs stieg. Die Wand mit der Schrift klappte hoch. Es war plötzlich still, die Ghettoner bewegten für Reik nur noch die Hände, ohne daß ihn ein Laut erreichte. 337 Sie fuhren aus der großen Stadt, ließen die kleinen Siedlungen hinter sich, erblickten von fern "- ohne daß Reik wußte, was er sah - die höchsten Zinnen von Zitadorra und erreichten schließlich ein langgestrecktes, von einem schlanken Gitter eingefaßtes Tal, in dem es Wald und Wiesen, Haine und Auen gab. Es war das Besitztum der Fürsten der Emonen. Der schweigsame Diener, der während der Fahrt nicht ein Wort gesprochen hatte, fuhr bis an die mächtige Fürstenvilla heran, öffnete eigenhändig die Seitenwände des Fahrzeugs und half Reik beim Ausstieg. Er ging vor seinem neuen Herrn her, zeigte ihm vier Zimmer, die dieser nunmehr bewohnen würde, ließ ihn dann allein. Reik öffnete sämtliche Fenster, horchte auf die feinen Stimmen der Insekten und Vögel, auf das sanfte Rauschen des Windes in Bäumen, Sträuchern und Gräsern und fühlte, wie schon jetzt die Hauptstadt abrückte von ihm, wie der Turm der Glauger, die Etage der finsteren Ssyrr wie auch die Grausonen einer fernen Vergangenheit angehörten. Die Kinder und Sarschan schienen ihm gleich weit entfernt, Lynaja und Oriana nie Wirklichkeit gewesen zu sein. Und als er in einem der Zimmer seinen Koffer, den Rucksack und sogar das Schlauchboot entdeckte, ging es ihm wie manchem jungen Mann, der lange Zeit ein vermißtes Spielzeug aus den Kindertagen sucht, es findet und enttäuscht feststellt, daß es winzig und unbedeutend ist, so ganz anders, als es in seiner Erinnerung existierte. Es roch nun nach Humus und Pflanzen, nach Wärme und Feuchtigkeit, nach Moosen und jenem lautlosen Fluß, der sich seinen Weg durch das Anwesen bahnte. Dann klopfte es. "Bitte", sagte Reik und blickte, neben dem Koffer stehend, zur Tür. Diese ging geräuschlos auf, und ein Mädchen, ungefähr in Reiks Alter, aber zierlich und kleiner als er, trat ein. Sie machte einen artigen Knicks, verharrte einen Augenblick so. "Wünschen der gnädige Herr etwas?" fragte sie schließlich, ohne Reik anzusehen.
"Setz dich dorthin", befahl Reik, und sie ließ sich schüchtern auf dem Rand des zugewiesenen Stuhles nieder, blickte weiter zu Boden. "Erstens", trug ihr Reik auf, "heiße ich für dich Reik... Ich bitte dich, oder ich befehle es dir, mich Reik zu nennen." Sie schüttelte ängstlich den Kopf. "Was ist dabei?" fragte er und spürte, wie er zornig wurde. "Dann sage es wenigstens, wenn wir allein sind. Wirst du das tun?" Wieder schüttelte sie den Kopf. "Sie sind der junge Regenbach, Fürst der Emonen und Alleinerbe, wenn Ihrer Mutter einmal etwas zustoßen sollte. Ich könnte mich nie erdreisten, Sie anders als so zu nennen." 338 "Ich habe Durst", erklärte Reik und blickte hinaus. Er hörte weder, wie sie ging, noch, wie sie wiederkam. "Bitte", sagte sie, hinter ihm stehend, und stellte ein kleines Tablett mit einen Porzellangefäß, in dem ein gelber Fruchtsaft war, auf den Tisch. Reik nahm sie bei den Schultern, zog sie zu sich heran, küßte sie leicht auf die Lippen. Sie wehrte sich nicht, aber ihre Lippen waren trocken, spröde und fest zusammengepreßt. "Du kannst gehen", sagte er gallig und blickte wieder aus dem Fenster. Schließlich verließ er das Haus, badete im Fluß, kam ans Ufer. Er fand seine Kombination nicht mehr, dafür lagen andere, elegante Sachen an deren Stelle. Reik kleidete sich an, lief ins Haus und klingelte nach dem Mädchen. Zornig erkundigte er sich über den Verbleib seiner Kombination. Sie zeigte sie ihm, denn das humanidische Kleidungsstück lag jetzt im Schrank. "Schon gut", sagte er und entließ sie so. Er schlief ein wenig, und als er erwachte, sah er das Mädchen neben seinem Bett stehen. "Ihre Mutter wünscht Sie zu sehen", sagte sie, "wenn Sie mir folgen wollen..." Reik erhob sich, warf einen Blick in den mannsgroßen Spiegel neben dem Schwarzholzschrank und verließ das Zimmer. Das Mädchen stieg in die obere Etage, klopfte leise an eine getäfelte Doppeltür und öffnete erst, als von drinnen ein befehlsgewohntes "Herein!" erklang. Sie verneigte sich, ließ Reik eintreten und schloß hinter ihm die Tür. Natürlich erwartete Reik, eine alte Frau zu sehen. Seine Adoptiv-mutter. Statt dessen erblickte er eine Zwanzigjährige, die anmutig in einem Sessel saß und ein dickes Buch in der Rechten hielt. "Bitte", begann sie die Unterhaltung, "schau mich nicht so schrecklich an, mein Sohn. Ja, ich bin die Fürstin, und es kostet Unsummen, wenn man unter die Plasmaschneider geht. Aber wir sind es unserem Stand
schuldig. Auch du wirst im Alter nicht umhin können; du tust mir jetzt schon leid. Die Herren Chirurgen werden immer unfähiger, die Plasmaschneider und -verschmelzer immer unangenehmer. Und wenn ich summa summarum meinen letzten Sanatoriumsaufenthalt betrachte, kann ich nur sagen: Pfusch! Aber dafür gefällst du mir um so besser. Edle Augen, eine fürstliche Nase, ein energischer Mund und ein kühnes Kinn. So habe ich mir immer den'zukünftigen Fürsten der Emo-nen vorgestellt. Bravo. So etwas haben wir weder hier noch dort." Die Fürstin sah wohl, daß Reik nicht begriff, was sie meinte. "Weder in dem überzüchteten Destrusos noch in dem verkommenen Ghetton gibt es so etwas", fuhr sie also fort. "Hast du die schaumstoffleeren Ge339 sichter der Ghettoner gesehen? Das Material ihrer Gebäude prägt sie. Schaumig aufgequollen und leer. Machen sie den Mund auf, entströmt ihm der geballte Unsinn. Oder auch die gesammelte Dummheit ihrer Unterhalterwände. Weißt du, wie sie dich angekündigt haben: das kleine Raubtier von Humanos. Und ich sage jetzt, da ich dich ansehe, wären alle dort so wie du, es müßte eine Lust sein, als Fürstin auf diesem Landstück zu residieren. Nur, wie das so ist: Alles Gute ist nie beisammen." Die Fürstin bediente eine silberne Glocke, da kam ein alter Diener hereingeschlurft, brachte Tee, Gebäck, Konfitüre und Honig. "Iß mit Genuß", erklärte die Fürstin, "wir haben naturreine Produkte. Kein geschäumtes Brot und kein geblasenes Gebäck, keine aus Retorten fließenden Konfitüren und Honige, sondern alles aus Obst, Beeren und von Bienen hergestellt." Reik langte kräftig zu. "Du bist hier der Fürst", belehrte ihn die Fürstin, "du kannst mich duzen oder mit Sie ansprechen, wie du es fühlst. Du kannst mit den Domestiken auch in ihrer Sprache reden. Es bleibt in den Mauern unseres Anwesens. Schimpfe, wenn dir danach ist, auf den Steinernen Raben, Meduson oder dieses widerwärtige Exemplar von Riesenmoskito. Ich meine die Zitadorra, die kaum den Titel einer Abwäscherin verdient, sich aber Fürstin nennen läßt. Nur wenn du unterwegs bist, wenn du einen Ehrenbesuch machst, dich in ein goldenes Buch einträgst, dann mußt du dich zurückhalten, denn was dir dort geschieht, darauf habe ich keinen Einfluß. Hier drin bist du geschützt." Reik sah die Fürstin lange und prüfend an. Die Stille und Besinnlichkeit des Anwesens, die stets gleiche Freundlichkeit der Diener und die Intelligenz der Fürstin sorgten dafür, daß Reik, ohne es eigentlich zu merken, der junge Fürst der Emonen wurde. Seine Bewegungen wurden leicht und anmutig, seine
Sprechweise spöttisch und ohne Tiefgang, und ein überheblicher Zug kam in seine Gedanken. Es gab immer wieder Besuch, der die Neuigkeiten brachte, aber auch Reik reiste viel umher, so daß er schließlich ein Tagebuch hatte, in dem die Termine des nächsten halben Jahres vorgemerkt waren. Immer intensiver wurden die Besichtigungen und Konferenzen, an denen der Fürst anfangs als Beobachter, später als Berater teilnahm. Als es einmal darum ging, ein technisches Zentrum einzuweihen, lehnte es die Fürstin ab, ihn zu begleiten. Ihr sei Technik ein Graus, sie könne so etwas nicht auf ihre alten Tage ertragen. So stieg Reik allein in das aufsehenerregende Auto, ließ sich chauffieren, wurde von einigen Direktoren empfangen und nahm auf einer Ehrentribüne 340 Platz. Man servierte spritzige Getränke und ein kaltes Büfett, und Punkt zehn Uhr trat der oberste Direktor an die Sprechleiste. "Liebe Freunde", sagte er, "bevor ich mich an alle wende, erfülle ich einen vielerorts vorgetragenen Wunsch. Ich sage nur, ER wird sprechen. Bitte." Ein langaufgeschossener Mann mit einer breiten und hohen Stirn, einem schmallippigen Mund und eisgrauen Augen trat vor. "Da das hier", rief er in die Sprechleiste, "auf alle Unterhalterwände übertragen wird, möchte ich auf ungezählte Fragen antworten. Ghettoner und Jun-gens von Destrusos . .." Er hielt inne, lächelte verschmitzt, zwinkerte mit einem Auge, fuhr dann fort. "Die Antwort heißt", seine Stimme wurde laut und hell, "jeder kann es! Jeder kann Lenker werden! O ja, ich weiß, welche Gerüchte umgehen, aber ich sage euch: Es sind eben nur Gerüchte, und nichts davon ist wahr. Chooroon ist in der Werkstatt, weil sein Kampfwert erhöht werden soll. Chooroon war fast unan- • greifbar, kommt er jetzt aus den Werkstätten, dann wird er es sein. Endgültig. Er konnte mit fast allem abrechnen, jetzt wird er mit allem und jedem abrechnen. Und er wird - in Serie produziert. In Serie! Ihr, meine jungen Freunde, werdet die Lenker der zukünftigen Geschwader sein. Es werden ungezählte Lenker gebraucht. Sagt all denen, die noch immer daran zweifeln, Cerberon der Helle habe euch versichert, daß ungezählte Lenker gebraucht werden." Cerberon schüttelte die Fäuste, während rote Flecke an seinem Hals, den Wangen und der Stirn auftraten. Wild blickte er in die Runde, und einigemal öffnete und schloß sich sein Mund, ohne daß er einen Ton hervorbrachte. "Warum gibst du nicht zu, du Klamottenkutscher, daß Angaria unser schönstes Spielzeug so demoliert hat, daß keine Reparatur mehr lohnt,
sondern ein Neuaufbau stattfinden muß?" dröhnte es aus allen Lautsprechern. Jedes Wort ließ Cerberon wie unter einem Peitschenhieb zusammenzucken. "Wer sagt denn das?" brüllte er, so laut er konnte. "Hier spricht die Kampfliga zur Verbreitung der Wahrheit", fuhr der Lautsprecher unbeirrt fort, "was nützt es uns, wenn wir uns etwas vormachen und in die nächste Niederlage stolpern? Du kleiner Gernegroß, du hast doch in Chooroon gesessen, als Angaria dein Gefährt in einen Trümmerhaufen verwandelt hat! Was lügst du denn unseren Kindern da vor? Außerdem wird Serie nie sein, weil in Chooroon Teile stecken, von denen eines eine sechsjährige Handarbeit erforderte. Sag besser nichts mehr." "Chooroon bekommt einen Strahlenschild", schrie Cerberon und schwankte wie ein Volltrunkener, "einen Hitzeschild! Einen Energieschild!" 341 "Es fehlt nur noch ein Cerberonschild", spottete der Lautsprecher, "um ihn vollständig sicher zu machen." Der bleiche Lenker stand, und es würgte ihn die Übelkeit. Er stützte sich an einer Wand ab, suchte nach Worten und fand doch keine Entgegnung. "Wahrheit", brachte er mühsam hervor, "alles Quatsch." Er hielt sich den Leib, rannte stolpernd auf den Ausgang zu, entschwand den Blicken der Anwesenden, die sich bedeutsame Worte zuraunten. Reik saß totenbleich auf seinem Ehrenplatz. Alles um ihn her rückte in weite Ferne, war nicht mehr faßbar. Er ging noch einmal den Weg, seinen Weg von Rüdersdorf nach Ghetton. Und er begriff jetzt, hier im Lager des Feindes, selbst ein Werkzeug des Unfehlbaren werdend, daß Sarschan nur seinetwegen nie sein volles Waffenpotential eingesetzt hatte. Jetzt, da er allein, ohne Reik war, hatte er sich dem Kampf mit der mächtigsten destrusischen Maschine, mit Chooroon, gestellt und sie zertrümmert. Mit Hitze, mit Energie, mit Strahlen. Hätte er das getan, als sie gemeinsam unterwegs gewesen waren, so würde es neben dem Trümmerhaufen Chooroon auch einen zerglühten Reik Regenbach gegeben haben. Sarschan war bereit, sich ins Gestein schmelzen zu lassen, um seinen Freund nicht zu gefährden ... Und dieser Freund war der junge Fürst der Emonen, war gewandt im Umgang mit hochgestellten Persönlichkeiten, war geschickt, wenn es darum ging, sich Anteile an gutgehenden Unternehmen zu sicher, war ein Schmarotzer! Reik gewahrte nichts mehr. Mit verkniffenem Mund saß er teilnahmslos auf seinem Ehrenplatz. Er sah auch nicht, wie die anderen sich
zumunkelten, er sei ein Förderer und Freund Cerberons, so daß er nun, nachdem dieser verloren schien, mit Nachteilen rechnen müsse. Ich habe den Steinernen Kopf noch immer an meiner Hüfte, dachte Reik. Ich lebe angenehm mit der Bombe neben mir. Ich mache meine Geschäfte mit der Bombe, spüre sie schon nicht einmal mehr. Vergessen habe ich, daß es Malachitkatakomben gibt, vergessen, daß ich sie suchen sollte, um jenen Meister zu finden, der den Schlüssel dafür besitzt, die Bombe unschädlich zu machen ... Reik stampfte mit dem Fuß hart auf. Nein, sie haben mich nicht gekauft, sie haben es nicht erreicht, daß ich überlaufe. Ich tarne mich halt ein bißchen, um im richtigen Moment das Rechte zu tun. Du lügst, schalt er sich selbst, wie unaufrichtig du bist. Das sagst du doch nur, um immer besser wettermachen zu können, um Fürst bleiben zu dürfen, um ..., um dein Bankkontofürstentum eines Tages zu übernehmen... Automatisch setzte er seinen Namen und Titel in das goldene Gründungsbuch, mechanisch verließ er den Ort, winkte dem Chauffeur, der 342 ihm schon entgegengefahren kam, ab, ließ ihn hinter sich herfahren. Reik ging tief in Gedanken versunken die-Straße entlang. "Bin ich noch dein Freund?" fragte er wispernd, während seine Hand das Futteral streichelte. Doch nichts als eisige Kälte kam ihm entgegen, dieselbe Kälte, die der Steinerne Kopf Melaana von Zitadorra einstmals zugedacht hatte. Und der Kopf schwieg. Wie eine finstere Mauer erhob sich dieses Schweigen, ließ Reik allein zurück. Reik gab vor, Kopfschmerzen zu haben, lud sich so vom Abendbrot aus, bei dem er sonst hätte berichten müssen. Er riß den Schrank auf, zerrte den Koffer hervor. Er öffnete ihn ungeduldig, da fiel ihm als erstes die Kette jener Humanidin entgegen, die er Brennesselchen genannt hatte. Reik hielt die Kette in der Wand und kämpfte mit den Tränen. Er preßte die Kette an seine Wange, hielt sich an ihr wie an einem Rettungsring fest und wußte doch auch, daß niemand etwas von dem erfahren durfte, was ihn jetzt bewegte. Als er sie endlich aus der Hand legte, stieß er auf ein grobes Leinentuch. Vorsichtig schlug er die Zipfel zurück, öffnete es ganz sacht, als ihm eine graue metallene Karte entgegenglitt, ausgestellt auf den Namen LynajaOny. ,Jada", flüsterte er. ,Jada . .." Es folgten ein schwarzer Frantegoschein, ein selbstgefertigter Angelhaken und eine kleine Zielscheibe aus den Gräben der Gefühlsverwirrten. Für Reik waren das in diesem Augenblick die Kostbarkeiten des Universums, die er sacht auf seinem Riesenbett ausbreitete.
Er fand in einem anderen Päckchen eine Strähne feurigen Goldes, ein Bild der Amenii und des armseligen Weisen und eine handschriftliche Order des Obessar Marfus. Ein kleiner, an einer Kette hängender Glorus vervollständigte die Sammlung. Er fand einen winzigen porzellanenen Bronderuk, auf dem eine lachende Zarppe saß, entdeckte einen Stein vulkanischen Ursprungs und den versteinerten Fußabdruck eines kleinen Sumpfbewohners. Er starrte aus geweiteten Augen auf eine winzige Oriana in einer Glaskugel, neben der ein tönernes Glasäuglein lag. Er fand ein Klassenbild mit seiner alten Lehrerin, und im Hintergrund stand ihr Stellvertretender Direktor, Herr Gerstfeld, und schaute skeptisch über die Köpfe der Schüler hin. Reik fiel auf sein Bett, stürzte mitten zwischen die leblosen Dinge, die für ihn sein einzigartiges Leben bedeuteten. Er lag, gefällt wie ein Baum. Und er spürte nur undeutlich, daß jemand neben ihm kniete, seine Haare sanft streichelte und ein zartes Lied sang. Mühsam hob er sein gequältes, tränenüberströmtes Gesicht. Seine Dienerin kniete an seiner Seite, ihre Hände waren so wunderbar warm und weich, sie sang für ihn. 343 "Ich...", Reik bekam kaum ein Wort über die Lippen, "bin. . . ein... Verräter!" Er fiel wieder nach vorn. "Ein Verräter", jammerte er, "ich bin ein Verräter .. ." Er richtete sich mühsam auf, legte ihr seinen Arm um den Hals, wollte sie an sich ziehen, sich an ihr wärmen und aufrichten. Das Mädchen stieß seinen Arm zurück, schnellte in die Höhe, stand neben dem Bett. "Ich kenne eine ganze Reihe junger .Fürsten'", rief sie zofnig aus, "und die meisten von ihnen waren schrecklich. Sie nahmen mich, wie es ihnen gefiel. Ich durfte die Kinder nur heimlich austragen, um sie dann Hypnoston oder den Laboratorien zu übergeben. Ja, deshalb kann ich es nicht ertragen, wenn mich jemand umfaßt. Verzeih, lieber Reik ...", sie setzte sich neben ihn, streichelte erneut seine Haare. "Du warst anständig, den ersten Kuß einmal abgezogen. Ich will nicht mit dir schimpfen, denn du dauerst mich. Ja, du - und auch die jungen Fürsten. Immer hatten sie ein Geheimnis, daß sie irgendwann preisgaben. Und dann gingen sie zum Studium, machten eine Weltreise oder so... Es ist niemand von dort zurückgekehrt. Mit gleichbleibender Regelmäßigkeit hatten sie einen Unfall. In dem alten verfallenen Bootsschuppen sind ihre Grabsteine gestapelt. Die alte Fürstin wurde vergiftet. Es heißt, weil sie sich öffentlich gegen Melaana von Zitadorra aussprach. Sie hatte einen Freund, den Moztekenhäuptling Cuul Chrassers, der achtzehn Tage lang gegen die Bastion von Zitadorra Krieg führte, ehe ihn Chooros, der Vorgänger von Chooroon, mitsamt dem Rest seines Stammes verglühte. Und das ist acht Jahre her. Jene aber, die sich als Fürstin hier wichtig tut, ist eine
ehemalige Schauspielerin aus dem Burgtheater von Zitadorra. Die einzige, die eine Vernichtungsaktion der Melaana überlebte, denn man hatte ein Stück geplant, das Die letzten Tage des Cuul Chrassers heißen sollte. Ich stamme aus Destrusos, bin hierher verbannt, weil mein Vater, ein Furone, im fernen Astras umkam, ohne Ehre, wie es hieß, denn seine Kennkarte traf nie ein. Und eigentlich liebe ich meine Heimat, aber jetzt liebe ich dich, denn du beweinst nicht deinen baldigen Tod, sondern deine Schwäche und deinen Verrat. Das erinnert mich an meinen Vater, der ein aufrechter Furone war. Und ich erlaube es niemandem, ihm nachzusagen, daß er ein Feigling oder Verräter war." Sie setzte sich auf, nahm die Glaskugel mit der winzigen Oriana, starrte sie an. "Wie schön dieses Mädchen ist", flüsterte sie, "du hast sie geliebt?" "Wer ist der eigentliche Drahtzieher und Unterhalter dieser Falle?" fragte Reik und packte nun doch die Schultern des Mädchens, hielt sie mit eisernem Griff. "Die Fürstin von Zitadorra", gab sie leise zur Antwort. 344 Reik stieß sie jetzt von sich, sprang auf die Füße. "Natürlich", rief er heftig aus, "wie denn sonst. Ich werde Fürstensohn, verrate meine Freunde, und der Steinerne Kopf wendet sich ab von mir ... Warum habe ich nicht auf die Grausonen gefeuert, als ich in der Halle war? Warum bin ich hierhergekommen?" "Künstler wurden Fürsten", berichtete jetzt das Mädchen, "Wissenschaftler, Techniker, Philosophen... Immer solche, die klarsichtiger waren als die anderen. Und es heißt, unsere Architektur, der Park, der Fluß und vieles mehr seien so angelegt, daß binnen kurzer Zeit alle Kritikfähigkeit erstickt wird und .Freude und Glück' Platz macht. Und alles, was du siehst, haben deine Vorgänger ebenfalls gesehen. Überall, wo du deinen Namen einschriebst, haben sich auch deine Vorgänger eingetragen. Ein starres, stets gleichbleibendes Theater. Immer die gleichen Sätze der falschen Fürstin, die gleichen Zeremonien. Und nur ganz selten geht etwas schief. So wie heute, als dieser Sprecher der Kampfliga zur Verbreitung der Wahrheit dazwischenfunkte. Es ist ein Piratensender, der heimlich sendet. Das konnte niemand wissen. Jeder weiß, daß sie dich nicht sofort töten können, aber alle hoffen darauf, daß der jetzt schon hauchzarte Faden, der noch zwischen dir und der Glastropfenmaschine ist, schon bald endgültig zerreißen wird. Und dann ist die Stunde deines Todes gekommen. Ich will dir nur noch dieses sagen: Der Meister in den Malachitkatakomben hat schon alle Vorbereitungen getroffen, dich von der Glastropfenmaschine zu trennen. Sie fiebern dem Augenblick entgegen, da sie die Siegesmeldung dem
Unfehlbaren übermitteln können. Zu diesem Zweck werden sie dich in eine Narkose versenken, aus der du nicht mehr erwachen wirst. Hüte dich also, Reik Regenbach, du abtrünniger Abgesandter der ASGEDANrunde." "Du hast mich gewarnt", antwortete ihr Reik, "aber was, wenn ich jetzt den Steinernen Kopf packe und von mir schleudere?" "Vielleicht gibt es dann kein Ghetton mehr", sagte sie, "doch Destru-sos berührt das wenig. Wir sind hier eines von acht Außengebieten. Aber vielleicht bleibt schon jetzt die Explosion aus? Ist er noch dein Freund? Frage ihn doch . .." "Ich töte die Fürstin", beschloß Reik und stand entschlossen auf. "Und dann?" fragte das Mädchen. "Es kommt eine neue daher, und du hast deinen Freund endgültig verloren. Vielleicht wartet Melaana auf ebendiese Lösung. Weißt du, mit ihrer Intelligenz kann sich nichts und niemand messen." "Als ich mit Inula und Sarschan zusammen war", sagte Reik resignierend, "da konnte ich wenigstens logisch denken. Und jetzt? Ach was, ich glaube schon bald, sie haben für mich gedacht, und ich habe mir in 345 meinem Größenwahn nur eingebildet, daß es meine Gedanken waren .. . Ich muß weg!" "Wollen wir wetten", das Mädchen lächelte ironisch, "daß schon jetzt kein Wegweiser mehr die Wahrheit sagt? Was immer du tust, wohin immer du dich wendest, stets werden am Ende deines Weges die dunklen Zinnen von Zitadorra auftauchen. Nichts anderes gibt es jetzt mehr als die Wege zu ihr. Und dort werden sie dich erwarten, Fürstin Melaana und Norrh, die allwissende Maschine. Und mit jedem Wort, das sie mit dir wechseln, wird sich die Schlinge um deinen Hals enger zuziehen." "Das fühle ich schon jetzt", Reik winkte ab, "denn mein Gewissen ist unerbittlicher als Melaana und konsequenter als Norrh. Und ich bin der Verräter. Und wenn ich nichts tue, wenn ich nur warte, dann .. ., dann ersticke ich an mir. Ich muß gehen, und wenn mich an jeder Wegkreuzung ein stählerner Richter erwartet, dann werde ich an jeder Ecke stärker sein. Und wenn ich wieder all.die Ungerechtigkeiten sehe, wenn ich das wieder sehe . .." "Aber Destrusos ist schön", wußte das Mädchen zu berichten, "wer dort lebt, hat alle Widrigkeiten Ghettons überwunden. Es ist ein wunderbares Land mit den schönsten Städten des ganzen Universums. Verliere dich nicht, du Helfer meiner kleinen Schwester." "Schwester?" fragte Reik ungläubig.
"Das Mädchen aus den Türmen des Hypnoston", berichtete sie knapp, "die du eine Nacht in deinem Bett schlafen ließst, sie war meine Schwester." "Und jetzt?" fragte Reik. "Ich kann ihr Signal schon nicht* mehr empfangen", antwortete das Mädchen leichthin, "kein Signal, auch kein Leid." Es klingelte das Glöckchen. "Sie rufen mich", das Mädchen nickte Reik noch einmal zu, huschte dann hinaus. Reik riß erneut den Schrank auf, öffnete den Rucksack. Er fand Konzentrattabletten, eines der schuppigen Rohre von Cirrulaan und - er zog sie ungeduldig hervor - eine der grünen Scheiben, die er bei Anja Winterlicht, bei Sarschan und Gorgon gesehen hatte. Hastig entkleidete er sich, zog sich die ASGEDANkombination an, verstaute die gläserne Scheibe, das schuppige Rohr und die Tabletten in den Taschen. "Komm, Melaana", rief Reik in einem plötzlichen Gefühlsausbruch, "komm und stelle dich! Auch deine Intelligenz entstammt nur einem äußerst zerbrechlichen Körper!" 346 Die Namenlosen von Ghetton Reik trat in den späten Nachmittag hinaus. Er winkte dem wartenden .Chauffeur vorzufahren, stieg seltsam steif in das Auto, ließ sich in die Polster neben dem Fahrer fallen. "Das ist nicht rechtens", sprach der leise auf Reik ein, "Euch als Fürst steht es nicht zu, neben mir, dem gemeinen Chauffeur, zu sitzen." "Fahr los", forderte Reik ihn auf, "raus aus diesem Park." Der Fahrer erreichte das Tor, öffnete es umständlich, dabei ständig den Kopf schüttelnd, weil Reik vorn saß. Mit eingezogenem Kopf kam er zurück, nahm nur widerwillig seinen Platz ein und verließ das stolze Anwesen. Ziellos fuhren sie eine lange Straße entlang, auf der rechter-seits die Wälder des Steinernen Raben lagen, während auf der linken Seite schroffe Felsen himmelan stiegen, die die Burg Zitadorra verbargen. "Wie heißt du eigentlich?" fragte Reik plötzlich, dem jetzt erst einfiel, daß er noch nie den Namen des Fahrers gehört hatte. Der 'Ghettoner duckte sich unter der Frage wie ein Hund, der geschlagen werden soll. Als er den Kopf wieder hob, lächelte er hilflos. "Ach, junger Herr", sagte er, "was kann Euch an meinem nichtswürdigen Namen liegen?" "Alles", erwiderte Reik, "denn ich bin, wie du genau weißt, kein Fürst. Meine Eltern sind überhaupt nichts Besonderes. Nichts, worauf hier einer stolz ist." Das Wort Eltern erzeugte in Reik ein Gefühl der Fremdheit, der Einsamkeit und Verlorenheit.
"Ach, Herr", der Fahrer sah Reik mit glänzenden Augen an, "um so stolzer solltet Ihr Euch fühlen, von der Emonenfürstin adoptiert worden zu sein. Es ist der Traum jedes Ghettonerjungen, der wohltätigen Dame aufzufallen und aus dem Elend geholt zu werden." "Trotzdem möchte ich wissen, wie du heißt", wiederholte Reik seine Frage, "warum verschweigst du mir deinen Namen?" "Herr", hüb der Lenker an zu sprechen, "mögt Ihr Eure Dienerin?" "Wer wüßte es nicht, daß ich sie mag?" antwortete Reik mit einer Gegenfrage. "Und ihren Namen, Herr, wißt Ihr ihn?" "Tatsache", Reik richtete sich auf, "ich weiß, wie sich ihre Hände anfühlen, weiß, wie ihre Haare, ihre Haut riechen, ich kenne die Farben ihres Haares, das bei jedem Licht anders schimmert und glänzt, erinnere mich ihrer Blicke ..., aber wie sie heißt, weiß ich nicht." "Und Ihr werdet es nie erfahren, Herr", erklärte der Diener leise, "nein, nie." "Und warum nicht?" fragte Reik gespannt. Der Fahrer hob nur die Schultern, blickte finster die Straße entlang, als quäle ihn eine schreckliche Erinnerung. 347 "Warum nicht?" fragte Reik noch einmal. ,Ja, es ist mir wie so vieles bisher nicht aufgefallen. Ich werde keine Ruhe geben, bis ich das weiß ... Wo ist sie eigentlich jetzt?" "Die Fürstin ist in ihre Schatzkammer gegangen", berichtete der Fahrer leise, "und sie ließ sich von Eurer Vertrauten begleiten." Reik fuhr herum. "Geschieht das immer nur einmal und vielleicht immer dann, wenn die Zeit eines jungen Fürsten abgelaufen ist?" Der Diener verzog schmerzlich das Gesicht, preßte die Zähne aufeinander, starrte angstvoll auf das Futteral. "Also gut", entschlossen betrachtete er Reiks blasses Gesicht, der Ausdruck der Verlorenheit schwand aus seinen Augen, "so sollt Ihr erfahren, warum Euch der Name Eurer geliebten Dienerin verborgen bleiben muß." Mit schnellen und sicheren Bewegungen nahm er einige komplizierte Umschal-tungen vor, so daß an den Seiten, der Spitze und dem Ende des Fahrzeugs blitzende Stangen ausführen. Das Fahrzeug hob langsam ab, begann einen sanften Schwebeflug, der zunehmend schneller wurde. Die Sonne, die, von der Straße aus gesehen, nichts anderes mehr gewesen war als ein ferner roter Streif, tauchte noch einmal als müde gedunsene Kugel auf. Pfeilschnell huschten Straßen und Kreuzungen unter ihnen dahin. Der ferne Lichtschein von Garsun fesselte Reiks Interesse nur einige Sekunden, dann nahm etwas anderes seinen Blick gefangen: totes Land. Krater
gähnten im Boden, moderndes Astwerk lag verstreut umher. Blasen, an Irrlichter im Moor erinnernd, stiegen aus dem harten Untergrund auf. Faulige Stämme einstmals riesiger Bäume flackerten unstet im Licht eines zersetzenden Schimmelpilzes. "Was ist das?" fragte Reik. Tiefer ging der Fahrer herunter, und sein Gesicht verfinsterte sich. "Niemand weiß etwas Genaues", antwortete er, ohne Reik anzusehen, "nur bösartige Gerüchte sind im Umlauf. Die einen wollen wissen, daß hier Waffen erprobt werden, die nicht nur unsere Feinde zerschmettern, sondern unser eigenes Land schrittweise verwüsten. Andere gar meinen, daß es einen Abflußkänal von den Malachitkatakomben zu uns gibt und daß in wenigen Jahrzehnten ganz Ghetton so aussehen wird. Eins ist wahr: Es begann mit der Fertigstellung der Glastropfenmaschine. Die Luft hier stank, hartes Gestein wurde weich, gab zischend jene leuchtenden Blasen ab. Das Wasser ist ungenießbar, und Pflanzen und Tiere sterben. Es wird sich jedoch ändern, denn der Steinerne Rabe hat aufgerufen, dieses Land urbar zu machen. Es wird denen sogar geschenkt, die ihre Spaten hier in den Boden stechen." Höher türmten sich die gärenden Steinhaufen rechts und links der unter ihnen liegenden Straße, tiefer wurde das Dunkel über dem Boden. In weiter Ferne schien eine Anzahl starker Motoren zu laufen, 348 und ab und zu zuckte ein Lichtschein auf, gefolgt von einem scharfen Knall. Ein dumpfes Grollen lag über der Landschaft. "Hier roden?" Reik schüttelte den Kopf. "Außer einem Spaten gehört dazu wohl eine gewisse selbstmörderische Mentalität..." "Es heißt", sinnierte der Fahrer, "es sei absolut ungefährlich und die Schutzkleidung, die die Wagemutigen erhalten, diene nur dazu, vor den Angriffen humanidischer Spione sicher zu sein. Und natürlich ist es für Schwangere, Kinder und Kränkelnde verboten. Aus denselben Gründen, ihr versteht, Herr?" Reik seufzte nur. Die Sterne erwachten, und der Mond schob sich über den bewaldeten Horizont, während die Sonne den Blicken entschwand. Feierlich schien Reik diese Stunde, denn seine Gedanken weilten in weiter Ferne. Sie näherten sich einem Bergmassiv. Das Fahrzeug verlor an Höhe. "Ist das unser Ziel?" fragte Reik. ,Ja", erwiderte der Fahrer gepreßt, "die Burgen und Hallen der Namenlosen. Es ist unser Ziel." Schwer setzte das Fahrzeug auf, rollte auf einen unerwartet aufleuchtenden dreifachen Lichterring zu, durchbrach ihn, wurde dabei zusehends langsamer, bis es zum Stehen kam. Ein blaues Scheinwerferauge hüllte vom Berg aus die Ankömmlinge in grelles Licht.
"Wer?" fragte ein Lautsprecher. "Was? Für wie lange?" 349 "Der junge Fürst der Emonen", antwortete der Fahrer ruhig. "Besichtigung und geistige Erbauung an den Namenlosen. Praktische Erkenntnisstunde." "Aussteigen", befahl der Lautsprecher, "vor dem Eingang plazieren." Sie stiegen beide aus. Warteten, bis in dem Felsen ein rötliches Oval sichtbar wurde, das sie passierten. Sie traten in einen Raum ein, der Reik an die Schleuse in den cirrulaanischen Gräben erinnerte. Und als sich hinter ihnen der Stein verschloß, sich vor ihnen ein anderer öffnete, bestätigte sich die Annahme. Sie blickten auf ein seltsames Lager, in dem Furonen um ein Feuer saßen, dessen Rauch durch eine Dekkenöffnung abzog. Ein Furone, einen violetten Umhang über der Uniform, trat auf sie zu. "Der junge Fürst der Ejmonen", er verneigte sich tief, "nun, diese Krüppel hier werden Euer Auge beleidigen, sie werden sogar Übelkeit in Euch erzeugen, aber, wenn ich recht vermute, geschätzter Fürst, ist Euch der Dienst Eurer Bediensteten leid. Wir sagen im Scherz: Steck sie drei Tage in Honig, drei Tage in Duftwasser und lagere sie drei weitere Tage in Rosenöl, dann hast du ein Feinsliebchen, dem garantiert noch keine Mannsperson beiwohnte ... Ihr verzeiht den derben Scherz. Man wird hier rauh." Reik winkte ab. Sprechen konnte er nicht, denn solche Reden erinnerten ihn an die Doddafelder. "Seid unbesorgt", erläuterte der Furone weiter, "denn eine Glaswand, die quer durch alle Hallen läuft, wir haben sie zu Eurem Schutz gerade herabgelassen, trennt Euch vor den Namenlosen." Reik ging, gefolgt von dem Fahrer und geführt von dem Furonen, durch einen engen Gang. Als sie dessen Ende erreicht hatten, war da eine dunkle Metalltür, auf die eine weiße Spinne aufgespritzt war, die ihre vorderen vier Beine drohend erhob und aus deren Giftklauen Blitze sprühten. Der Furone verneigte sich, deutete auf das Symbol. "Es ist unser Brigadewappen", erklärte er lächelnd. Die Tür glitt in die Wand, und sie traten in eine geräumige Höhle. Ein schwaches Dämmerlicht füllte den mächtigen Raum. Nur allmählich schälten sich einige Gegenstände, rotgrau im Ton, hervor. Reik erblickte den ersten Ghettoner, der mit erhobenen Armen, stumm wie ein abgestorbener Baum, in dem Raum stand. Er trug ein Gewand aus einer zähen Grasart. Sein Gesicht war verkrustet und von Schorf bedeckt, nur die Augen blinkten wie zwei helle Kiesel darin.
"Die Namenlosen", sagte der Fahrer müde, "ihnen ist in Ghetton nicht einmal ihr Name geblieben." Reik sah immer mehr dieser Jammergestalten. Selbst das, was er für Steinblöcke gehalten hatte, erkannte er jetzt als eng zusammenste350 hende Ghettoner. Viele lagen einfach auf dem Höhlenboden, starrten hinauf zur Decke ihres Gefängnisses. Andere zogen ruhelos ihre Kreise, hielten nur manchmal inne und setzten dann den unterbrochenen Weg fort. Einer preßte sich gegen die Glasbarriere, tastete immer wieder über das Material und stieß unverständliche Töne aus. Seine Augen, die bisher ziellos umhergewandert waren, entdeckten Reik. "Herr", wisperte er kaum verständlich, "was immer Ihr für einen Fachmann braucht, ich bin dieser. Ich bitte Euch, holt mich hier raus." Blaue, grellichtige Scheinwerfer flammten auf, rissen die Namenlosen aus ihrer furchtbaren Nacht. Ein Rad senkte sich von der Decke herab, an das lange dünne Lederstreifen gebunden waren. Das Rad begann zu rotieren. Erst gemächlich, dann ein wenig schneller. Die Lederstreifen legten sich schräg. Leise zischten sie. Und je schneller die Radrotation wurde, desto klarer und schneidender wurde der Ton der durch die Luft sausenden Peitschen, denn nichts anderes waren die Lederstreifen. "Begrüßt den Fürsten!" erklang eine Kommandostimme. Die Ghettoner verließen ihre Plätze, stellten sich, schiebend und schubsend, in mehreren Reihen hintereinander auf, verneigten sich gegen den Eingang. "Wir grü-ßen den Für-sten!" Bösartiger klangen die Peitschen, heller wurde das Singen der Stange, an der das Rad befestigt war. Und tiefer senkte sich das Folterinstrument herab. Ängstlich und unsicher glitt Reiks Linke über das Futteral. "Es soll anhalten, stillstehen, nicht mehr funktionieren", murmelte er. Da berührte ein warmer Windhauch seine Hand, und kreischend hielt das Rad an, stand schief im Raum, rührte sich nicht mehr. Blitze sprühten an der Decke auf. "So ein Mist", brüllte der Furonenchef, "was ist denn da oben los?" "Kabelbrand", rief eine helle Stimme aus der Höhe, "Motorbrand. Aus." "Da draußen", fragte Reik leise den Fahrer, "da werden die neuen Waffen getestet, nicht wahr? - Und diese hier?" "Hast du nicht ihre Gesichter gesehen", antwortete der Fahrer, der Reik in diesem schrecklichen Augenblick weder mit Herr noch mit Fürst anredete. "Also doch", erwiderte Reik, "also doch... Wir gehen!" "Herr", bat der Fahrer, "es folgen noch andere Hallen. Die Halle der Irrdenker, die der Weiber, der weiblichen Kinder, der männlichen Kinder,
der Trächtigen, der Säugenden, der Vergehenden und jene der Widerspenstigen. Und ihr wollt auf die Anblicke verzichten?" "Du sehnst dich hierher?" fragte Reik, während ein gefährliches Funkeln in seinen Augen erschien. 351 Der Fahrer taumelte rücklings gegen eine Wand, umklammerte mit beiden Händen seinen Hals, schien zu ersticken'. "Hat er Eure fürstliche Durchlaucht beleidigt?" fragte der Furone und zog dem Fahrer eins mit einer kleinen Peitsche über das Gesicht. Eine dunkle Strieme, von der Stirn bis zum Kinn, verunzierte das Gesicht des kleinen Mannes, der stumm, ohne sich zu rühren, an der Wand lehnte. "Es ist ihm verziehen", erklärte Reik erschrocken. Der Furone wandte sich nun wieder der Radpeitsche zu. "Ich stamme von hier", antwortete der Fahrer nun auf die Frage, die Reik ihm im Fahrzeug gestellt hatte, "deshalb besitze ich keinen Namen. Wen man will, wen man braucht, holt man sich. Wir bekommen keine Entlohnung. Nur Essen, Trinken, ein Bett. Und doch ist es uns, die wir hier waren, als hätten wir die Hölle gegen den ewigen Himmel unserer Götter eingetauscht. Und wir nehmen alles hin, sind zu jeder Schandtat fähig, verraten die, die uns Wohltaten erweisen, nur um nicht wieder hierher zurückkommen zu müssen ..." Mit einer unerwarteten Bewegung packte er Reik an der Kombination. "Ich habe der Emonenfürstin das Gift gereicht. In einem Fruchtsaft. Und das, obwohl sie mich entlohnte wie einen Freien... Gib's ihr, so hieß es, oder zurück zu deinen Kumpanen ..." Er ließ Reik los, lehnte wieder an der Wand. "Herr", flüsterte er, "ich bin doch sowieso fast jede Nacht wieder hier... Ich träume davon. Immer, immer wieder. Wache schweißnaß auf. So ist das ..." "Wir gehen!" rief Reik und wandte sich um. Die Tür öffnete sich automatisch, Reik packte den erstarrten Fahrer, nahm ihn mit sich, durchquerte die Schleuse, verließ den Ort des Grauens. Er stieß den Fahrer auf dessen Sitz, sprang in den Fond. "Wände hoch", kommandierte er, während die Scheinwerfer erloschen, "Abfahrt!" "Ihr seid so gütig", flüsterte der Fahrer, "ich will es Euch sagen: In der Halle der Weiber ist vielleicht noch immer meine einstige Frau, die zu mir hielt, als ich alles verlor. Ich war Vertreiber von nasselgoss'-schen Booten, damals. Man ruinierte mich, so daß mir nichts blieb, als letztlich meinen Namen zu verkaufen. Zusammen mit meiner Kennkarte. Das erspart ihnen nämlich meine Altersversorgung. Ja, Herr, ich wollte meine Frau sehen. Deshalb wiegelte ich Euch auf, die anderen Hallen zu besichtigen. Verzeiht mir. Eure Dienerin war auch an diesem Ort. Ihre Mutter, als sie ohne männliche Kennkarte war, wollte Sagaion heiraten, den Brotdieb, dessen Sohn ihr dem Hypnoston abgejagt habt. Aber das
war ehrlos, denn sie war Furonengattin. Und so hat man ihr all ihre Töchter abgenommen. Bis auf eine kennt ihr sie, denn eine der Töchter ist bei Hypnoston. Eine war die, welche Euch durch 352 die fünf Türme geleitete, sie ist Hohepriesterin des Schaurigen. Eine ist persönliche Pflegerin der Fürstin von Zitadorra. Jene aber, die Eure Dienerin ist, weigerte sich, nach Zitadorra zu gehen. Da wurde sie ihres Namens beraubt und hierhergebracht. Der Zufall wollte es, daß die Fürstin gerade sie auswählte. Vielleicht weil sie neu war und noch nicht von Krankheit gezeichnet. Wer will das sagen." Er verstummte, denn das wüste, zerklüftete Land lag nun hinter ihnen, und nächtliche, wogende Felder, sanft rauschende Wälder zogen ihre Blicke auf sich. "Die Vorführungen", sprach der Fahrer jetzt mit veränderter, spöttisch klingender Stimme, "da habt Ihr etwas verpaßt. Die Namenlosen kreischen wie Turkuras und nennen es Lieder singen. Sie brüllen wie Samtooter, und es heißt Theater bei ihnen. Sie bewegen sich wie gelähmte Ssyrr und meinen, sie führen Tänze auf. Dazu gibt es Schauprügeln, Haarausraufen und Krallhakeln. Alles ganz putzig." Reik wollte auffahren, aber er begriff, daß man sie nun belauschte, daß Melaanas nimmermüdes Auge auf ihnen ruhte. "Stell ich mir auch lustig vor", antwortete er und versuchte zu lächeln, "na, noch ist nicht aller Tage Abend. Fahren wir eben noch einmal dorthin..." "Sagaion, der Brotdieb", der Fahrer sann still vor sich hin, "eine erstaunliche Persönlichkeit, nicht wahr?" "Ich habe ihn gesehen", antwortete Reik. "Nur er darf ein solches Leben führen", fuhr der Fahrer fort, "denn er ist nicht irgendwer, sondern ein einstiger Oberkommandierendef einer großen Furonenabteilung gewesen. Du kennst Terfan nicht, denn die Terben und die Farganen sind winzige Wesen. Aber sie besitzen Chooroonium, ein seltenes Metall, an dem es uns mangelt. Der Unfehlbare versuchte es zuerst mit dem feurigen Gold. Sie machten sich Schnürsenkel daraus. Und da exportierten wir süße kleine Lieberinnen und Zartblaumusik und Noganogablütensaft. So fanden wir Freunde, die bereit waren, die regierende Vieleinigkeit abzulösen und sich zu Regenten zu erheben. Die Großabteilung unter Sagaion wurde mit einem Geheimauftrag betraut. Sie sollten die Vieleinigkeit aus dem Wege räumen, die Vorschlagsburg in ein Regentenschloß umwandeln, damit unsere Freunde uns ganz offiziell um Hilfe ersuchen konnten. Außerdem galt es, strategisch wichtige Punkte zu besetzen. Zum Beispiel das Notrufkabel für universale Hilferufe.
Alles schien so abzulaufen, wie Sagaion es geplant hatte. Man bereitete das rapide Eingreifen bestens vor. Nur einen einzigen kleinen Fehler hatte unsere Rechnung: Terfan war sehr eng mit Zarppan befreundet, und als unsere Furonengroßabteilung die Grenze überschritt, stießen sie auf eine Brigade Kampfzarppen, die viele unserer Krieger blendeten, töteten und den Rest in alle Winde zerstreuten. Sa-353 galon fiel in Ungnade, war fortan der Brotdieb. Man ersparte es ihm aber, ein Namenloser zu werden, denn er hatte einige militärische Erfolge aufzuweisen." "Aber du", sagte Reik, "was ist, wenn du bei der Fürstin in Ungnade fällst? Denkst du nie an die Zukunft?" Der Fahrer griff stumm in die Innentasche seiner Jacke, zog ein Fläschchen hervor, zeigte es Reik nur kurz. "Ich brauche nicht zurück", erklärte er bestimmt, "glaube mir das, ich nicht." "Willst du mich nicht begleiten?" fragte Reik. "Ich habe eine Aufgabe. Meine Stunden bei der Fürstin sind gezählt." "Nein", der Fahrer seufzte, "erstens ist Destrusos von Ghetton, hermetischer abgeriegelt als Ghetton von seinen anderen Nachbarn. Und zweitens bin ich ein müder, alter Ghettoner. Müde und alt, weil mich meine Träume stets zurückführen an jenen schrecklichen Ort, weil es nichts bei uns gibt, das Bestand hat. Was immer du beginnst, es kann dich wie eine Woge hinauftragen zu den höchsten Spitzen, doch keine Woge, die dann erstarrt und dich oben hält. Nichts, was dir gestattet, dich mit anderen als den lebenerhaltenden Dingen zu beschäftigen. Dein Leben lang mußt du versuchen, von Wellenkamm zu Wellenkamm zu springen. Gleitest du einmal aus, bist du ganz unten, stürzt in die Hallen der Namenlosen. Ja du, ich bin müde, bin ohne Fragen und ohne Wünsche." "Du sprichst jetzt", Reik lächelte, "als gäbe es kein Zitadorra." "Was soll es noch?" Auch der Fahrer lächelte, doch es war ein verlorenes, melancholisches Lächeln. "Ich habe den Ort wiedergesehen, von dem ich kam. Und ich weiß, daß du nicht mehr lange der junge Fürst sein kannst, denn etwas hat dich geweckt. Sie haben sich heute hektisch durch die Räume bewegt, haben Ferngespräche miteinander geführt. Und dann .. ., dann . . ." Er brach ab, ließ das Fahrzeug langsam niedergehen, setzte es vorsichtig auf. Die Stangen verschwanden nun wieder im Inneren. Sie näherten sich dem Tor zum Anwesen der Emonenfürstin. Die Flucht Am nächsten Morgen, Reik hatte ausgiebig gebadet und in der Küche etwas hinuntergeschlungen, bereitete er sich auf seine Flucht vor. Von den Dingen der Erinnerung steckte er das Klassenfoto, die Kugel mit der
Oriana, Lynajas Lebenskarte und Brennesselchens Kette ein. Dann griff er das verpackte Schlauchboot, das ihm unerwartet leicht vorkam. Er hängte es sich über den Rücken, rastete es mit zwei Karabinerhaken an seiner Kombination ein. 354 Da er aber die Dienerin noch nicht wieder gesehen hatte, lief er hinaus in den Garten. Reik wollte nicht ohne Abschied losziehen. Er schlenderte durch den Park, lauschte hier und spähte dort. Er suchte einen Vogel, dessen Gezwitscher ihn ununterbrochen begleitete. Statt dessen fand er im Verlauf der nächsten zwanzig Minuten drei daumen-nagelgroße Kugeln, aus denen der Vogelgesang kam. Eine der drei steckte er ein und ging nun zurück zum Wohnsitz der Fürstin. Alles klar, dachte er, das ist ein technisches Wunderland, in dem jeder das findet, wovon er meint, daß es zum Leben gehört. Reik betrat das Speisezimmer, in dem die Fürstin lächelnd saß und offensichtlich auf ihn wartete. Der alte Diener stand stumm neben der Tür. "Guten Morgen, mein Liebling", begrüßte die Fürstin Reik, "hat man dich nicht geweckt? Und wieder trägst du diese schaurige Montur. Man könnte dich für einen Handwerker halten, der eine Reparatur vornehmen soll." Wortlos griff Reik in die Tasche, holte den Lautsprecher hervor, legte ihn auf den Tisch. Ein Vogel begann hell zu singen. Der Diener neben der Tür hob die Augen, starrte auf den winzigen Gegenstand. "Ein Spielzeug", rief die Fürstin und klatschte begeistert in die Hände, "wo hast du das süße Ding her? Fertigen sie so etwas in den Hallen der Namenlosen?" "Auch dein Gastspiel in diesem Schloß", antwortete Reik ruhig, "dürfte beendet sein, wenn ich gehen muß. Oder glaubst du, daß Me-laana dein Versagen verzeihen wird?" Die falsche Fürstin setzte sich steil auf. Ihre Augen weiteten sich. "Der da neben der Tür", fuhr Reik fort, "dein metallener Wächter wird mich nicht aufhalten und dich nicht beschützen können." "Was redest du da?" sagte mechanisch ihr Mund. Ihr Gesicht war starr vor Schrecken. "Ich meine", erklärte Reik, "daß du versagt hast. Und das weiß der Steinerne Rabe ebenso wie Melaana. Die Hallen der Namenlosen wirst also auch du kennenlernen." "Nasselgoss", sagte sie mit heller hoher Fistelstimme, "will sich heute mit dir treffen. Nasselgoss persönlich. Du lernst die Wirtschaft zu lenken. Wirst ein mächtiger Direktor bei ihm. Die Wirtschaft, das Herzstück unserer Existenz. Mein Sohn! Mein süßes Söhnchen, mein
inniggeliebter, einzigartiger Prachtkerl. Laß dich umarmen und küssen, laß dich von mir in die herrlichsten Gefilde entführen ... Lieber, mein Samtootchen..." "Geheimwaffe Nasselgoss", Reik setzte sich auf die Tischkante, griff sich den kleinen Lautsprecher, lauschte intensiv dem Gesang, "und 355 dazu noch das: die Liebe der Adoptivmutter. Ja, mehr geht ja nun wirklich nicht. Oder doch? Ich habe vier Zimmer, vielleicht bekomme ich die anderen sechs im Erdgeschoß auch noch. Und dann hole ich mir sechs mal sechs schöne Weiber aus den Hallen und besitze als einziger Ghettoner einen Harem. Oder sollte ich nicht besser den Steinernen Raben ablösen? Oder die Türme des Hypnoston übernehmen? Ein Ort, an dem das Genie all seine Fähigkeiten entfalten kann." "Was verlangst du?" fragte die Fürstin bebend, während sie dem unbeweglich stehenden Diener einen ängstlichen Blick zuwarf. "Tag und Stunde sowie die Art meines Todes will ich wissen", forderte Reik, ohne seinen Platz aufzugeben. Die Fürstin zitterte. Sie stützte das Kinn auf eine Hand. "Ich habe Kopfschmerzen", klagte sie, erhob sich schwankend und verließ hastig den Raum. Der Diener blieb an seinem Platz stehen. Er hob die Lider, sah Reik aus metallisch schimmernden Augen an. "Na", fragte Reik, "was sieht dein Programm in solch einem Fall vor?" "Barbarisch und kulturlos sind Eure Gedanken", sagte der Alte schwerfällig, "vergiftet von Humanos, verseucht von Arcton, Susan und Angaria ... Elende Brut." Er kam langsam auf Reik zu. Mit einem Fußtritt zertrümmerte er den ersten Sessel, ließ die anderen folgen. Reik trat hinter den Tisch. Der Lakai zerhieb den Tisch mit seiner Linken. Reik trat hinter eine Säule, die Sekunden später barst, denn der Diener traf sie mit beiden Händen zugleich. Durch die Tür huschte der Chauffeur herein. In seinen Händen hielt er eine mächtige Eisenstange, mit der er sich von hinten an den Diener heranschlich. "Vorsicht", rief Reik leise, "der besitzt wahrscheinlich Rundumsicht." Und als der Chauffeur ausholte zu einem mächtigen Schlag, der auf den Kopf des Dieners niedergehen sollte, zuckte dessen Hand nur leicht nach hinten und schleuderte den hilfsbereiten Mann in die Ecke des Speisesaales. Reik schob das beschuppte Rohr aus der Tasche, schaltete es so ein, wie der Mopo es gezeigt hatte, schaute kurz auf das Glasstückchen und erblickte die tiefroten Umrisse des näher kommenden Dieners. Er drückte ab, sah den metallenen Schädel des Angreifers niederstürzen,
hörte das schmerzhafte Geräusch eines leer laufenden Motors, der immer schneller wurde, bis es knirschte, bis alle Bewegungen der Maschine verebbten. Kopflos stand der Diener zwei Meter vor Reik. Der lief durch den Saal, half dem Chauffeur auf, der sich stöhnend den Leib rieb. "Flieh!" Der Chauffeur stöhnte. "Schnell, nur schnell fort von hier..." 356 "Ich muß sie noch einmal sehen", erklärte Reik, "die, welche sie zu meiner Dienerin machten. Wo ist sie?" "Ich führe dich", sagte der Chauffeur ächzend. Reik faßte ihn unter, stützte ihn, so gut es ging, und gemeinsam durchmaßen sie den langen Korridor, hielten vor einer Tür. "Da", der Chauffeur deutete auf den Eingang, "ich warte." Reik ließ ihn los, öffnete die Tür, trat ein und schloß sie hinter sich. Das Mädchen stand bleich neben einem schmalen Bett, auf dem ein winziger Koffer lag. "Sie haben mich abberufen", sagte sie, "ich gehe wieder dorthin, wo ich hergekommen bin." "Du kehrst nicht in die Hallen der Namenlosen zurück", rief Reik, "du kommst mit mir. Wir gehen nach Destrusos, wir werden die Malachitkatakomben finden." Das Mädchen hob den rechten Fuß, gab dem Koffer einen Tritt, so daß er krachend gegen eine Wand flog. Reik sah, wie sie ein wenig zitterte. Er faßte ihre Hand, und gemeinsam verließen sie die Kammer. Dem Chauffeur ging es etwas besser, denn er stand aufrecht. Sie erblickten sich gleichzeitig, die fünf Grausonen, die vom Eingang her den Korridor betraten, und die drei Flüchtlinge. Sie sahen sich, und beide Gruppen erstarrten in der Bewegung. "Gebt auf", rief der Anführer der Grausonen, "ihr macht alle immer denselben Fehler: Jeder meint, er könnte tatsächlich etwas Heimliches beginnen, etwas, was unserer geliebten Fürstin von Zitadorra nicht zu Ohren kommt." "Sie hat überhaupt keine Ohren", antwortete Reik, "ihre Schönheit ist die der Aasfliege!" Eine unnatürliche Stille breitete sich nach diesen Worten aus. Entsetzt schauten das Mädchen und der Chauffeur auf Reik, denn sie wußten, daß dieser nun ihr aller Todesurteil ausgesprochen hatte. Nicht weniger entsetzt blickten die Grausonen, denn sie wußten um den Steinernen Kopf, aber sie durften eine solche Beleidigung nicht ungestraft lassen. Und in diese Stille hinein erschien ein sanfter Schimmer, der Reik umfloß, und eine wispernde Stimme, die alle hörten, sagte nur ein Wort: "Freund."
"Wir sind gerufen worden", erklärte der Anführer der Grausonen nach langen Sekunden des Schweigens, "weil man uns meldete, daß die teure Fürstin der Emonen erschlagen in ihrem Bett liegt... Sie ist tot. Wir sehen es im Schwarzglas. Der junge Herr ist nunmehr Fürst. Alleinherrscher... Nicht wahr?" Er wandte sich hilfesuchend an seinen Nachbarn. "Sanft betäuben", flüsterte der und nickte dann kräftig und zustimmend. Reik zog das beschuppte Rohr aus der Tasche, richtete es auf die 358 Grausonen, schaltete ein. "Hände nach oben", befahl er, "wir entwaffnen euch und sperren euch in einen der Räume. Leistet ihr Widerstand, feuere ich." Er gab dem Chauffeur ein Zeichen. Doch gerade als der losgehen wollte, um Reiks Order auszuführen, brach ein helles Licht aus dem Futteral, und die Grausonen sanken schlafend nieder, lagen übereinander im Gang. Sie glitten dicht über dem Boden dahin. Reik und das Mädchen saßen im Fond, während der Chauffeur, jede Deckung nutzend, den Grenzen Ghettons entgegenflog. "Drei Durchgänge gibt es", erklärte der Fahrer, "wobei zwei völlig unpassierbar sind. Doch beim dritten ist das etwas anderes. Ich war einmal mit einem der jungen Fürsten dort. Stippvisite in Destrusos. Damit haben sie seinen Willen gebrochen. Da sind zuerst einmal Halbschleusen. Dann ein bißchen Niemandsland, in dem die Kolosser von Destrusos ebenso wirken wie unsere Grausonen. Der Fluß, der dieses Niemandsland durchströmt, ist die eigentliche Grenze. Habt ihr ihn überwunden, seid ihr dort, wo ihr hinwollt. Merkt es euch gut." "Du kommst doch mit", sagte Reik bestimmt. "Was es dazu zu sagen gibt, ist bereits besprochen", erwiderte der Chauffeur, "also spare dir deinen Atem, denn du wirst ihn schon bald brauchen. Wir sind nicht weit entfernt von der Trennlinie." "So ist es wahr", klagte das Mädchen, "daß du Gift besitzt. . .?" "Merkt euch folgende Worte", unterbrach der Chauffeur sie eisig. "Das Volk ist im Unfehlbaren geeint. Die Räume sind nie da für feige Völker. Stärke liegt nicht in einer Mehrheit, sondern in der Reinheit des Willens, Opfer zu bringen... Diese drei Grundregeln müßt ihr hersagen können, wenn man euch befragt. Und ihr müßt wissen, daß jeder Satz in zehn Gebote aufgeschlüsselt ist, selbst wenn ihr die dreißig Gebote samt den dreimal so vielen Erklärungen nicht kennt." "Die Fürstin ist tot", erinnerte sich Reik. "Was blieb ihr denn noch", fügte der Chauffeur hinzu, "nachdem sie von Reik erfahren hatte, daß ihr Plan durchschaut war? Und wieder hat Melaana gewonnen, denn sie macht aus dem Selbstmord der falschen Fürstin einen Mord durch deren Diener. Weg sind wir. Reik ist der
Alleinherrscher, wenn auch über nichts, denn es gibt keine Emonen mehr auf Ghetton. Neue Domestiken umschwirren und umgaukeln ihn. Er kann jetzt tatsächlich tun und lassen, was er will. Melaanas letzter Versuch, die Herrschaft über die Glastropfenmaschine zu erringen. Melaana ist gefährlich, denn sie nutzt jede Situation zu ihrem Vorteil." Schweigend schwebten sie eine Zeitlang dahin."Ich denke die ganze Zeit darüber nach", sagte Reik aus tiefer Überlegung heraus, "wie du heißen sollst, denn du brauchst einen Namen." 359 Das Mädchen hob den Kopf, blickte Reik freundlich an. "Meine Mutter hat mich die Sternlichtige genannt", erzählte sie, "Agia." "So werde ich dich fortan Agia nennen", beschloß Reik. Das Fahrzeug strebte der Straße zu. "Die Flugenergie ist im Bereich der Grenze aufgehoben", erklärte der Chauffeur, "nun werden wir den Rest des Weges am Boden zurücklegen." Es dauerte nicht mehr lange, bis sie die gleißende Lichterkette vor sich auftauchen sahen. Und das breite, halbgeschlossene Tor, vor dem etliche Furonen standen, die ihnen gespannt entgegensahen. Der Fahrer nahm die Geschwindigkeit zurück, öffnete, als sie schon nahe heran waren, die beiden Seitenwände, so als sei dies alles eine ganz normale Passage. "Festhalten", murmelte er Reik und Agia zu. Sie waren bis auf vielleicht fünf Meter heran, als er Vollgas gab. Sie jagten auf die zur Seite springenden Furonen zu. Einer, der nicht schnell genug wegkam, wurde einige Meter mitgerissen. Das Fahrzeug gewann die halbgeöffnete Schleuse, schleuderte heftig, doch dann faßten die Räder wieder. Jetzt fuhren sie auf eine metallene Wand zu. Doch kurz vor dem Aufprall wirbelte der Chauffeur sein Fahrzeug herum, ließ es gegen einen Waffenständer prallen, der auseinanderbrach, die abgestellten Waffen im hohen Bogen um sich verteilend. Das fürstliche Fahrzeug stieß, wieder Fahrt gewinnend, durch eine hohe Hecke und rollte dann auf einen breiten Schilfgürtel zu. Unerwartet knallte es hart, sie begannen sich im Kreis zu drehen. "Raus!" schrie der Fahrer. "Durchs Schilf zum Wasser!" Reik nahm das Mädchen bei der Hand, sprang mit ihr ab und hastete gebückt durch die dunkelgrünen Pflanzenwände. Feine Blitze zuckten hinter ihnen auf, und Bäume, Strauchwerk und Schilf sanken, braun werdend, nieder. Oben am Hang tauchte noch einmal das wunderbare Fahrzeug auf, ehe es von einem Blitz durchbohrt und auseinandergerissen wurde. Brennend ragten die Trümmer in den fahlen Himmel.
Die Kommandos der Furonen gellten spitz auf. Pflanzen brachen unter schweren Stiefeltritten. Agia und Reik hielten sich weiter bei den Händen und versuchten sowenig Geräusche wie möglich zu machen. "Ich bin viel zuviel gefahren worden", flüsterte Reik, wischte sich den Schweiß von der Stirn, "kein Training mehr ..." ,Ja", stimmte Agia zu, "sie haben dich gehätschelt und gemästet. Du bist bequem und faul geworden ... Sie haben leichtes Spiel." Ein Blitz zuckte über sie hinweg, nahm ihnen den Atem, warf sie zu Boden. Liegend zog Reik das beschuppte Rohr aus der Tasche, schaltete es ein, betrachtete die Scheibe. Durch das Schilf kamen zwei Grau-360 sonen auf sie zu. Er drückte ab, noch einmal, gewahrte, wie die beiden stürzten, ehe er Agia bei der Hand nahm und mit ihr weiterlief. Der Boden wurde weich, war zudem von ungezählten pflanzlichen Schlingen übersät. "Vorsicht", warnte Reik, auf eines dieser Hindernisse deutend. Jetzt klangen die Kommandostimmen der Furonen schon ferner. Die beiden hatten Vorsprung. Sie standen am Wasser, ließen sich in die dunklen Fluten gleiten, stießen sich vom Ufer ab. Langsam trieb die Strömung sie zur Mitte. Noch immer konnten sie nicht glauben, daß sie es geschafft haben sollten, doch der Strom trug sie dem anderen Ufer entgegen. Und nicht lange danach spürten sie Grund unter den Füßen, platschten sie ans Ufer, ließen sich in ein Pflanzengewirr fallen. DESTRUSOS Der Weg in die Stadt "Und nun?" fragte Agia. "Nichts wissen wir, außer daß die Grausonen ab hier Kolosser heißen. Das ist alles." Nachdem sie sich eine Zeitlang ausgeruht hatten, erhoben sie sich, tasteten sich durch das dichte Unterholz und erreichten eine Wiese, die von einem freundlich aussehenden Wald eingefaßt war. Nach allen Seiten Ausschau haltend, überquerten sie die Wiese, gelangten unangefochten an den Waldrand, verschnauften noch einmal unter einem mächtigen Schraubenbaum, dessen Luftwurzeln ein regelrechtes Zelt bildeten. "Vielleicht", begann Reik, "ist die Grenze auf dieser Seite gar nicht so gut bewacht... Wenn das stimmt, was der Fahrer sagte, dann will man nur Ghettoner abhalten, nach Destrusos zu kommen. Den umgekehrten Weg geht sicher niemand." "Du glaubst tatsächlich", rief Agia, "daß Melaana nicht sofort dem Unfehlbaren gemeldet hat, was sich bei der Fürstin zutrug?" "Wer weiß", antwortete Reik, "vielleicht will sie alles erst wieder selbst ins Lot bringen, ehe sie ihre Niederlage zugibt."
Es hielt sie nicht lange in ihrem Versteck, denn noch war der gefährliche Fluß in ihrer Nähe. So erhoben sie sich bald, äugten umher und begannen ihren Weg durch den Wald. Sie liefen nach der Sonne, entfernten sich weiter und weiter von dem Grenzstrom und waren gespannt, was jenseits des Waldes wohl sein mochte. Sie hatten schon das Waldstück hinter sich gelassen, als ein seltsames Gebilde über die Wiese hinschwebte, mit zwei starren Augenreihen alles registrierte, aber, da es nichts Auffälliges erfaßte, keinen Alarm auslöste, sondern sich in südlicher Richtung entfernte. Zu ebendieser Zeit erschienen auf der ghettonischen Seite verschwitzte Furonen und Grausonen, ließen sich auf die Knie nieder und wuschen sich die Gesichter, setzten sich dann und blickten trübsinnig in die ruhigen Fluten. Auf destrusischer Seite tauchten andere Krieger auf, die türkisblaue, hautenge Overalls trugen. Sie standen auf Gleitbrettern, stoppten in Höhe der Grausonen, betraten dort ihren Uferstreifen, blieben aber 362 stehen. Sie betrachteten die Ghettoner, wie man Zootiere ansieht, die in einem zu engen Käfig leben. Schließlich wurde der ausgelöste Alarm zurückgenommen. Fluchend und schimpfend nahmen die Grausonen und Furonen ihre Helme, begannen den beschwerlichen Rückweg. Die Kolosser bestiegen ebenfalls ihre Bretter, segelten davon. Als die Stätte des zufälligen Zusammentreffens leer war, schwebte jenes zehnäugige Ding über den Fluß, wendete und jagte mit erhöhter Geschwindigkeit davon. Reik hatte mit seiner Vermutung recht behalten, denn einen ganzen Tag lang hielt Melaana von Zitadorra die Meldung zurück, instruierte ihre Diener in Destrusos und versuchte so Reik und Agia in ihre Gewalt zu bekommen. Es war der erste Fehler der Fürstin von Zitadorra, dem sich ganz von allein der zweite anschloß: Reik und dem Mädchen Handlungsfreiheit zu geben. Die beiden erreichten einen wunderbaren, von vielen Kanälen durchschnittenen Park, auf dessen Wasserwegen schwanengestaltige Boote trieben, in denen sich junge Frauen und Männer aus Destrusos neckten, umgaukelten oder ernsthafte Anträge machten. Keiner der Gleitenden nahm von Agia und Reik Notiz. Sie mochten sie für Parkdiener oder Wasserkontroller halten, denn sie ließen sich nicht in ihren Spielen stören. Sie trugen weite, schwingende Kleidung, die in bestimmten Intervallen ihre Farbe änderte. Tauchten bei den Insassen eines anderen Fahrzeugs dieselben Farben auf, so verließen sie das eigene, so daß bald jedes Boot nur noch Gleichfarbige trug.
Agia und Reik entdeckten drei Reihen kleiner, offener Fahrzeuge. Sie nahmen in einem Platz, versuchten zu starten. Doch nichts rührte sich. "Ferold", erklärte Agia und deutete auf einen Schlitz, "ihre Währung heißt Ferold. Hast du so etwas?" Reik schüttelte den Kopf, stieg unwillig aus und half dem Mädchen, das ihm folgte. Sie gingen, nun ein wenig müde, weiter, als Reik die Tabletten aus dem Rucksack einfielen. Er holte sie vor, reichte Agia zwei und schluckte selbst zwei hinunter. Augenblicklich fühlte er sich, als habe er Stunden geschlafen und bestens gegessen. Sie schritten nun wieder schneller aus. "He!" Ein Fahrzeug stoppte neben ihnen. "Will die Kleine mit? Fahre nach Gorrmorram." Agia bewegte ablehnend den Kopf. "Na, dann nicht", erklärte der Fahrer lachend und sauste davon. Es dauerte noch fast eine Stunde, ehe sie diesen Wasserpark hinter sich gebracht hatten. Aber da standen sie vor der ersten Straße, die sanftgrün schimmerte. Fahrzeuge waren schon aus großer Entfernung zu erkennen, denn sie strahlten ein sanftrotes Licht ab. Ihre Motoren 363 summten nur leise, dabei sehr melodisch. Trafen mehrere Fahrzeuge zusammen, ergab das eine durchaus anhörenswerte Musik. Auf ihrer Seite zog sich ein See an der Straße entlang. "Baden?" fragte Reik, tippte Agias staubtrockene Kleidung an, die von der Sonne gebleicht war. Agia schüttelte den Kopf. "Ich habe ein Schlauchboot hier", Reik tippte auf die Rolle, die an seinem Rücken hing, "wir können spazierenfahren." "Und wo nimmst du die Ferolds her, um das bezahlen zu können?" fragte sie nur. "Der See gehört doch irgendwem ..." "Das ist doch verrückt", protestierte Reik, "da schleppe ich seit Urzeiten ein Boot mit mir rum und bin noch nicht einmal damit gefahren. Was sagst du denn dazu?" "Es ist schrecklich", antwortete sie, "Destrusos .. . Dabei gibt es in Ghetton nur ein Wort, mit dem sofort die angenehmsten Gedanken verbunden sind: Destrusos. Ein Begriff für Wohlstand, Glück und Reichtum ... Ich bin ehrlich: Es tut mir jetzt schon leid, daß ich mitgekommen bin. Bei uns in Ghetton weiß ich alles und kenn ich alles. Da könnte ich dich verstecken, und niemand muß verhungern. Aber das hier .. . Was nützt mir die Schönheit eines unberührten Sees, wenn ich mich dermaßen mies fühle? Was nützt mir der Park, wenn ich keinen Ferold habe? Wie kommen wir denn nach Gorrmorram? Siehst du, du weißt auch nichts, gar nichts . . . Wir setzen uns, oder . . ., oder wir
gehen zurück, sagen Melaana, daß wir bereuen. Ich glaube, sie wird uns reich belohnen." "Dich sofort", rief Reik barsch aus, "in den Hallen. Indem sie dich totprügeln läßt. Bei mir muß sie sich noch Zeit lassen, denn der Steinerne Kopf ist nicht mehr ganz so willig, wie er es schon war. Aber eines Tages werde auch ich meinen Lohn bekommen. Das kannst du glauben. Komm, wir gehen weiter. Vielleicht kann man ein Fahrzeug stoppen, und sie nehmen einen mit." Sie verließen das Seeufer und wandten sich der Straße zu. Sofort entdeckte Reik die gläserne Schrift: GORRMORRAM SECHSZIG VESSOS. "Na bitte", sagte er, "eine Entfernungsangabe. Kennst du das?" Wieder verneinte Agia, blickte einigen Fahrzeugen entgegen, die sich ihnen näherten. "Ich denke", sagte sie, "daß alles überhaupt nicht so richtig stimmte, wie ich es dir gesagt habe." "Was?" fragte Reik. "Mit den jungen Fürsten und das", sie sprach jetzt leise, leer, "aber ich kann mir nichts anderes vorstellen: Man fühlt sich gut und denkt: Das ist gleich wieder vorbei. Man denkt: Es ist nichts als Trug, nichts als ein Sonnenstrahl, der vorüberhuscht. Weißt du, was ich meine? 364 Man möchte es sofort beenden, um nicht erleben zu müssen, wie es von allein vergeht." Sie folgten einem schmalen Fußpfad, der unmittelbar neben den Fahrbahnen entlangführte. Sie liefen Stunde um Stunde, ohne daß sich etwas änderte, abgesehen davon, daß der See bereits nach einer Stunde blühenden Feldern, hochaufragenden Glasbauten, fernen Wasserparks und anderen, sehr geheimnisvoll erscheinenden Bauwerken Platz gemacbÄjiatte. Sie trafen auf sich kreuzende Straßen, mußten dann kleine Tunnel durchqueren, entdeckten merkwürdige Straßenknoten und schlingen. Unerwartet hielt ein Fahrzeug neben ihnen. Ein Mann mittleren Alters drückte einen Knopf, stieg dann einfach durch die Fahrzeugwand aus und streckte sich. Er blieb vor Reik und Agia stehen, sah sie lächelnd an. "Füßlinge?" fragte er, während ein sanftes Lächeln seine markanten Gesichtszüge umspielte. Reik schüttelte verneinend den Kopf, ohne begriffen zu haben, was der andere meinte. "Einerlei", fuhr der fort, "nur: Was wird Papachen sagen, wenn er von eurem Unfall erfährt?" "Nichts", sagte Reik trocken. "Nehme euch mit", stellte der andere sehr ernst fest, "einverstanden?"
Reik und Agia bewegten zustimmend den Kopf. "Huscht rein", sagte er, gab dem Mädchen einen freundlichen Klaps auf den Hintern und umrundete sein Gefährt. Sie stiegen durch die Wände, der Mann drückte wieder den Knopf, startete. Er schaltete ein Bild ein, das sich wie eine Fata Morgana vor ihnen in der Luft darstellte. Vielleicht war es ein Film, denn sie sahen einen Mann, der vor einer Maschine flüchtete. Der Mann feuerte aus einem Glasrohr, die Maschine kam für Sekunden aus dem Schritt, doch gleich darauf hatte sie sich wieder gefangen, setzte die Verfolgung fort. Reik, der links vorn saß, hörte ein leises Stöhnen. Er staunte, denn eigentlich sah der Flüchtling noch frisch und kräftig aus. Das Stöhnen verstärkte sich. "So ein Blödsinn ...", rief Reik, sich nach hinten wendend, "da ist der noch ..." Weiter kam er nicht, denn was er sah, ließ ihn blaß vor Wut werden. Der Fahrzeugbesitzer war dabei, Agia zu entkleiden. Er hielt mit einer Hand die sich Wehrende fest, während seine freie Hand ihr das Kleid herunterzog. Reik riß die Hände des Mannes von dem Mädchen. Dann holte er aus, schlug mitten hinein in dieses so markant aussehende Gesicht. "Bist du humanidisch?" brüllte der Fahrzeugbesitzer und preßte seine Hände vor das schmerzende Gesicht. Ein feiner Blutfaden lief ihm aus 365 der Nase. "Gehen sie mit dir durch? Ihr wart einverstanden, daß ich euch mitnehme. Ist doch wohl klar, was mitnehmen bedeutet." "Ich hab's mir einfach überlegt", sagte Reik, "ich habe es mir ganz einfach überlegt, verstehst du das, du Strolch?" "Ich zahle die Meilenenergie", erklärte der Mann hastig, "meine Surger werden abgenutzt durch euer Zusatzgewicht. Und das alles für null? Überleg, wenn du ein Hirnarmer bist!" "Sie halten an", sagte Reik, "und zwar augenblicklich." ,4-Der Mann ließ sein Gesicht los, grinste schief. "Es bleibt bei unserer Abmachung", erklärte er mit einem Blick auf Agia, "oder ich rufe die nächste Kolosserstreife!" "Anhalten!" warnte Reik noch einmal, während er das beschuppte Rohr aus der Tasche zog. "Kolosser oder lieber mitnehmen?" fragte der Mann dreist zurück. Reik schaltete ein, sah den anderen fragend an. Der grinste breit, strich Agia sanft über die Brust. Da hielt Reik das Rohr schräg nach unten und vorn und drückte ab. Wie vom Wind aufgewirbelte Herbstblätter flog das Vorderteil des Fahrzeugs in die Luft. Ein Alarmlicht zuckte auf, Bremsen faßten, doch gleich darauf schössen Bremsen, Motorteile, elektronische Bausteine und das
Dach in hohem Bogen nach rechts und links. Das Fahrzeug begann zu tänzeln, jagte über den Rand der Straße, drehte sich im Kreis, blieb plötzlich stecken. Reik faßte Agia, und sie sprangen durch das fehlende Dach ins Freie. Der Mann stürzte ihnen nach. Gleich darauf standen die Reste des Fahrzeugs in hellen Flammen. Beifall rauschte auf. Reik drehte sich um, sah eine Gruppe junger Leute in einem Schwanenboot auf einem Kanal. Sie klatschten begeistert, denn sie hatten alles mit angesehen und mochten es für eine halsbrecherische, aber durchaus sportliche Übung gehalten haben. Reik nahm Agia bei der Hand, und sie gingen los, wieder den Fußpfad entlang. "Kaputt", sagte der Mann, der sich ihnen anschloß, sagte es mit jämmerlicher Stimme. "Dem würde ich zustimmen", erklärte Reik gelassen. "Ich", der Mann hinter ihnen schluchzte, "noch zehn Jahre sparen dafür. Ganz neu ... Verstehst du .... War nicht meins." Er versuchte sie einzuholen, aber der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich. "Meine Familie", rief er ihnen nach, "Freunde, Kollegen. Werden gehn. Keiner will mit Füßling Zusammensein. Spötterhohn wird regnen." "Na, na", rief Reik, "dafür hatten Sie doch ein schönes Erlebnis, nicht wahr? Von der Ohrfeige brauchen Sie ja nichts zu erzählen." Der Mann schrie noch etwas, aber sie verstanden ihn schon nicht 366 mehr, denn eigentlich hatte er es aufgegeben, sie einzuholen, lief nur noch wie eine bereits abgeschaltete Maschine, die der letzte Schwung ein klein wenig antreibt. "Er jammert mich", sagte das Mädchen. "Mich auch", entgegnete Reik, "vielleicht tut es dir schon leid, daß du dich gewehrt hast!" "Du bist böse", warf sie ihm vor, "wir müssen die Gesetze achten. Ob sie uns nun passen oder nicht." "Ich achte zwei Gesetze", erwiderte Reik, "das der ASGEDANrunde und das von Sarschan!" "Sarschan", wiederholte sie flüsternd, "damit meinst du den schwarzen Angaria!" "Sarschan Angaria", erklärte Reik heftig. Agia entzog ihm ihre Hand. Sie hielt sich einen kleinen, aber unübersehbaren Schritt seitlich von ihm. "Er ist unser Todfeind", erklärte sie, "und du ..., sein Gesetz ..." "So hast du also nichts begriffen", stellte Reik sachlich fest, "du fliehst nach Destrusos, ich gegen Destrusos... Wir beide sind denselben Weg
gegangen und an völlig unterschiedlichen Straßen angekommen. Das ist ein Spaß . .." Sie antwortete ihm nicht mehr, schritt nur heftiger aus, aber Reik hielt sich an ihrer Seite. "Laufen kannst du ja auch schon wieder", sagte sie nach einigen Minuten, "und am Fluß warst du dermaßen fertig." Sie sah sich angstvoll um, schien den schwarzen Angaria jetzt hinter jedem Strauch, jedem Gebäude oder Hinweisschild zu vermuten. In der Ferne leuchtete eine Schrift auf: "WER LEBEN WILL, DER KÄMPFE ALSO, UND WER NICHT STREITEN WILL IN DIESER ZEIT DES LETZTEN RINGENS, DER VERDIENT DAS LEBEN NICHT." "Siehst du", sagte Reik, "Weisheit dreitausendvierhundertzwölf des Unfehlbaren. Nachzulesen in seinen gestammelten Schriften." "Du spottest", rief sie zornig, "aber alles, was du hier siehst, hat er geschaffen. Er hat Destrusos belebt und zu einer Metropole des Wohlstands gemacht. Er, nicht der schwarze Angaria." "Du bist wohl absolut übergeschnappt", schrie Reik sie an, die unter seinen Worten zusammenzuckte, "hat er nicht, stimmt. Aber er hat auch nicht die Hallen der Namenlosen geschaffen, nicht den Hypnostonturm errichten lassen, nicht deine Schwestern ins Elend gestürzt. Das waren deine Leute!" "Meine Leute", erwiderte sie schwach, "also nicht mehr wir beide zusammen, kämpfend um unser Glück, sondern da sind deine Leute und meine Leute, und sie bestimmen, wer zu wem darf. . ." 367 Reik schwieg. Er begriff nicht, wie sie sich hatten so entzweien können, nachdem ein jeder den anderen mindestens geachtet, wenn nicht ein wenig geliebt hatte. Konnten denn unterschiedliche Ansichten sogar die Liebe erwürgen? Der verkaufte Stabschef Während sie gereizt und mehr noch verzweifelt dahinschritten, sahen sie nicht, daß sich ihnen ein Fahrzeug näherte, das, je dichter es heran war, um so langsamer fuhr. Schließlich stoppte es neben ihnen. Reik trat an die Wand heran, erblickte einen Mann, der das Gesicht abwandte. "Wir fahren gern mit", rief Reik, "aber wehe, wenn Sie uns mitnehmen wollen!" Der andere hob die Hand, winkte ihnen zu. Reik und Agia kletterten zur selben Zeit durch die Wand, ließen sich erschöpft in die Polster fallen. Da erst drehte ihnen der Mann sein Gesicht zu. Es war Obessar Marfus. "Obessar", rief Reik, blickte den anderen erfreut, aber auch skeptisch an, "was machst du hier? Handelsrat Marfus? Oder?"
"Das erzähle ich euch alles später", sagte er, startete das Fahrzeug, "aber du, Reik, du bist jetzt ein Held. Sie berichten jeden Tag über dich, über deine Genesung als junger Fürst der Emonen. Tausende stehen bereit, um dich, wenn du nach Gorrmorram kommen solltest, festlich zu begrüßen. Die besten Familien halten unter ihren Töchtern Ausschau, welche dir wohl gefallen könnte. Wenn du diese Chance nutzt, mein Freund, wird Chlur Meduson ein Abziehbild gegen dich sein. Das kannst du glauben." "Und wo fährst du jetzt hin?" fragte Reik. "Ebendort ist mein Ziel", sagte Marfus munter, "Gorrmorram. Und natürlich seid ihr herzlich eingeladen. Meine Gäste werdet ihr sein." "Noch ist nichts von der Stadt zu sehen", Reik deutete nach vorn, wo sich die Sonne bereits dem fernen Horizont zuneigte. "Die Sichtblende", Marfus blinzelte Reik verschwörerisch zu, "die ganze Stadt ist zum Schutz gegen Angriffe von einer Sichtblende umgeben. Man sieht sie nicht. Und dennoch kann ich sie dir zeigen: Schau, dort vorn, wo alle Straßen sternförmig aufeinandertreffen, das ist sie. Gewaltig, sobald die Blende hinter uns liegt, scheinbar nicht existent, solange du die Blende vor dir hast. Wer ist eigentlich das Mädchen?" "Meine Freundin", sagte Reik einsilbig und warf einen Blick nach hinten. 368 Agia lächelte ihm jetzt zu, hielt den Kopf schief und streichelte Reiks Nacken. "Sieht aus", stellte Marfus fest, "als sei sie eifersüchtig, nachdem sie erfahren hat, wer ihr Freund überhaupt ist." Es ging nun leicht bergab. "Achtung", rief Marfus, "wir erreichen jetzt die Blende!" In einem einzigen Augenblick schienen die Straßen auseinanderzureißen, eine drohende Finsternis hüllte sie ein - und schon war alles vorüber. Sie waren in einer Stadt. Rotviolett schimmerte der Himmel, lichtblau bis resedagrün setzten sich die Gebäude gegen ihn ab, während die Straßen hellblau schimmerten. Es war ein grandioses, einzigartiges Farbenspiel, das die gläserne Himmelskuppel einfärbte, ungezählte Farbtöne erzeugte, die Straße zu einem Traumbild werden ließ. "Gorrmorram", Obessar Marfus machte eine Handbewegung, die alles einschloß, "der Ort, der die Schönheit und das Ebenmaß des Universums mit der strengen Ökonomie des Atoms verquickte." "Haben sie dich zum Werbefachmann ernannt?" fragte Reik lakonisch. Agia saß wie hypnotisiert, kindliches Staunen in den Augen, und sie konnte keinen Blick von dem lassen, was sie umgab. Sie passierten Fontänen, bei denen nicht klar war, was Wasser, was Glas und was Lichtreflexe waren, die aber allesamt durch ihre gewagte
Architektur bestachen. Gebäude von einigen hundert Metern Höhe zogen gemächlich vorbei, waren von wundersamen gläsernen Gärten eingefaßt, die auch Türme, Viadukte, Kaufzonen und Dome aus Lichtstrahlen umrahmten. Marfus steuerte sein Fahrzeug gegen eine Metallwand, die, als das Gefährt sie berührte, ihnen einen Durchlaß bot. Sie fuhren in das Innere eines komplizierten Abstellbaus, wo ihr vorläufiges Ziel war. Sie schritten nacheinander über eine sanft geschwungene Hängebrücke direkt in die Wohnung des Astraden. Diese Quartiereinheit bestand aus einer Reihe von Zimmern, die in den zentralen Gästeraum mündeten. Bequeme Sitzer, ein kleiner plätschernder Springbrunnen und saftige Palmfarne, die direkt aus den getäfelten Wänden wuchsen, füllten diesen Raum aus. Alles wirkte elegant. "Gebt zu", sagte Marfus, sich einmal im Kreis drehend, "daß es sich hier leben läßt. Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und das ist nicht einmal die beste Wohnmöglichkeit. Aber nehmt doch Platz, bitte." Er zog aus einer Sternröhre drei kleine Glaskugeln, entfernte je ein Drittel, das er unten ansetzte, und stellte die so gewonnenen Gläser vor seine Gäste. Seine Hand suchte in dem Wasser des Springbrunnens, bis er eine langhalsige und dickbauchige Flasche herauszog, deren Etikett er liebevoll betrachtete. Er trat auf Reik zu, um dessen Glas zu füllen. "Ein 369 derber, aber edler Tropfen", verkündete er, "angetan, alte Freundschaften zu härten." Er verneigte sich leicht, ging zu Agia und goß, ohne sie eines Blickes zu würdigen, auch ihr Glas randvoll. Zuletzt füllte er sein Glas. ,Ja", rief er aus, nachdem er den ersten Schluck im Leib hatte, "ich bin gegangen. Und nun sollen sie sehen, wie sie ohne mich zurechtkommen. Eine neue Hauptstadt am Meer. Unkontrollierte Kontakte zu allen Nachbarn. Heronia als Museumsstadt. Und die Moral im Niedergang begriffen. Soll das das Neue sein?" "Im Niedergang", griff Reik das Wort auf. "Was sonst", klagte Marfus verbittert, "war nicht immer alles geregelt? Du hast das feurige Gold gesammelt, bis du deiner Angebeteten ein Armband daraus flechten konntest. Dann bist du mit ihr zu ihren Eltern gegangen, hast es vorgelegt und um ihr Handgelenk angehalten, es vor den Augen der Eltern umwunden und nahmst sie mit. Entsprach sie nicht deinen Erwartungen, konntest du sie am kommenden Tag zurückbringen. Natürlich blieb das Armband bei ihr. So war es. Aber jetzt? Was haben wir damit zu tun, fragen dich ihre Eltern, geh, erkundige dich, ob sie dich auch mag... Als hätte sie etwas damit zu tun. Und dann: Du weißt, wie es anfing. Ich habe den Aufstand begonnen. Und sie wählen
eine Gloria die Populäre. Machen mich zum Stabschef, aber nur, um mich wieder abzusetzen, nur weil wir eine Schlacht am Bas-sado verloren haben. Na ja, als sie mich zum Minister für Museumswesen ernannten, war ich ihnen nicht böse, doch dann ... Glorialer Sekretär für Blumen und Grünpflanzen. Eine Schande. Warfen mir Unfähigkeit vor. Aber wenn sie jetzt vor die Hunde gehen, geschieht es ihnen recht." Er trank hastig aus, füllte sich wieder ein, trank ein zweites und noch ein drittes Mal. "Als ich Minister war", sagte er trübe, "als ich Armbänder verschenken konnte, da wollte sie keiner mehr. Und mich auch nicht. Einmal habe ich einer meiner Schreiberinnen befohlen, zu mir zu kommen. Wurde eine absolut mißratene Nacht. Dafür durfte ich am nächsten Tag bei Gloria antanzen. Mann, hat die geschrien. Als ich von ihr fortging, war es aus mit mir.. ." Hastig setzte er die Flasche an, nahm einen tiefen Schluck. "Und dann kam dieses Ultraweib. Das muß man erlebt haben, um es zu verstehen. Die berührte mich, und ich war weg. Und die war von hier. Eine Destrusosgöttin in der Gestalt eines goldhaarigen Mädchens. Das war Liebe! Ich raffte alle meine Unterlagen zusammen und folgte ihr an einen geheimen Ort, wo ein glühendes Dreieck stand, das mich aufnahm." Er trank wieder. "Hast du schon einmal eine Maschine lachen gehört?" fragte er plötzlich. "Erspare es dir. Es ist das Schlimmste, was an unsere Ohren drin370 gen kann. Norrh lachte, als sie meine Unterlagen durchging. Lachte so monoton, so vernichtend, daß ich Böses ahnte. Na ja, zwei Tage lang haben sie mich interviewt, haben mich noch immer als Stabschef von Astras geführt, haben mir dutzendweise Berichter auf den Hals gehetzt, die alles von mir wissen wollten, dann war der Rummel vorbei. Bin zwar noch Ehrenbewohner auf Abruf, aber ... außer diesen hochwirksamen Noganoga-Getränken habe ich nichts im Haus. War ein Dummkopf, Regenbach, war ich. Hätte die Unterlagen des Stabschefs mitnehmen sollen. Verteidigungsanlagen. Verbindungsrufer zu ASGE-DAN und Angaria. Das hätte mir massenhaft Ferolds eingebracht. Aber so ... Kann sein, daß mich irgendwann irgendwer in einer Regenbogensendung engagiert. Gibt wieder ein paar schlappe Ferolds. Mehr kann ich nicht. Und ich habe Angst, daß ich schon bald ... Sie haben mir einen Gastgorrmorrator gegeben. Ich komme damit durch die Sichtblende, über meine Ebene, in meine Garage und Wohnung. Mehr ist nicht drin... Hast du schon das Weibervolk gesehen? Mensch, Regenbach... Wahnsinn, sage ich dir. Goldgeflochtene Haare bis in die Kniekehlen. Die Brüste grell bemalt. Absolut starre Gesichter... Natürlich nur, wer die Kosten dafür aufbringen kann. Aber eins sag ich: Wenn du nur in zehn Meter Abstand an denen vorbeigehst, hast du Traumstoff für zehn
Nächte ..." Wieder trank er, wischte sich über die Stirn, blickte starr geradeaus. 371 Dann beugte er sich weit zu Reik vor. Sein Atem roch süßlich nach gärenden Früchten. "Da haust du die da weg", flüsterte er, "kleines lahmes Landsamtooterchen, aber Nullerotic." Noch einmal setzte er die Flasche an den Mund, leerte sie. Er erhob sich, warf sie gegen einen Schrank, dessen Tür aufklappte. Und noch während das Glasding im Inneren verschwand, zuckten dort Blitze auf, fraßen das Glas. Die Tür schloß sich lautlos. "Kann immer noch Unmengen Ferolds haben", brüstete sich Marfus nun stehend, "Millionsmillion. Brauch nur mit verkleideten Furonen satten Staatsstreich zu machen. Gloria an den Galgen. Den Stabschef, diesen unfähigen Kugelrobber, gleich hinterher. Austritt aus der ASGEDANrunde. Selbst wieder Glorian der Elle, nicht mehr Gloria die Populäre. Haben sie mir gesagt. Die Fürstin. Chlur Meduson. Würde als Jterater den fähigsten Mann bekommen: Stabsbrigadegeneral der Ersatzheere Sagaion! Überleg ich mir alles noch. Nur diese drei Henkertypen, der schwarze Angaria, der dämmrige Arcton und der finstere Susan, machen mir Angst... Mist so was." Er taumelte durch den Raum, fiel auf den Brunnenrand nieder. "Muß was geschehen", murmelte er, "alles Mist so. Sitze nur aufgepackten Koffern hier. Und dann? Zuerst Parkwächter bei den Schwanbooten, dann, wenn ich nicht schon zu alt bin, Grenzkolosser. Übergabe an die Ghettongrausonen. Zuletzt irgendwo in Garsun Hilfsreiniger. Danke bestens. Ich, verstehst du, der ehemalige Stabschef von Gloria, der Blumeninnige. Aber du, Regenbach, du machst dein Glück. Deine Glastropfenbombe macht es möglich. Mußt zuerst einen Gorrmorrator verlangen, sonst klebst du in einer Lebensebene fest. Ich weiß was: Ich mach deinen Manager, und du hältst das Maul. Zusammen werden wir absahnen. Und ich lade dich ein in die goldenen Ortamente. Bisher nur von weitem gesehen. Schon die Serviermädchen sind eine Delikatesse. Und zum Anfassen, du. Das machen wir..." "Ist in deinem Kopf nichts anderes?" fragte Reik unerwartet, begriff in diesem Augenblick den Satz, den ihm die Humanidin gesagt hatte, verstand, wie leer und aussichtslos ein Leben ist, in dem nichts anderes eine Rolle spielte als nur die verzweifelte Jagd nach immer neuen Reizen. "Was?" Marfus wirkte mit einemmal ernüchtert. "Ich habe eine goldene Gans im Haus. Verdammt, ich muß sie rupfen, ehe sie mir durch das Fenster davonfliegt. Spruchweisheit von Astras, Fürst Regenbach. Du bleibst hier, kommst sowieso ohne Gorrmorrator nicht weg. Ich hole
Kolosser. Sei ohne Angst - es geht nicht nach Zitadorra, sondern in die goldenen Ortamente. Wir werden die Gans ausnehmen. Bleib." Mit hastigen, raumgreifenden Schritten verließ er seine Wohnung, legte ein Strahlengitter vor die Tür, entfernte sich kichernd. 372 Agia hatte ihr Glas leer getrunken. Reik schleuderte das seine in den Brunnen, ohne es angerührt zu haben. "Wir müssen weg", bestimmte Reik, "gleich kommen Kolosser. Und wetten, daß die uns zurück nach Ghetton bringen? Der Herr Unfehlbare dürfte nicht sonderlich glücklich sein, in seiner Stadt eine laufende Bombe zu wissen!" "Laß uns mit ihm zusammen das Glück erhäschen", sagte sie und legte den Kopf schief, "ich will auch immer zärtlich zu dir sein. Wenn wir Ferolds haben, laß ich mir meine Brüste auch anmalen. Ich werde mir dann schräge Lidspalten anschaffen, einen aufgeworfenen vollippi-gen Mund und lange goldene Haare bis zu den Knöcheln . . . Bitte, Lieber ... Hier wartet das Glück." "Und Melaana spielt uns den Hochzeitsmarsch auf ihren Schrilleisten", rief Reik zornig aus, "es gibt eine Dummheit, die krächzt geradezu nach dem Henker." Er lief auf die Tür zu, aber kaum daß er sich ihr auf einen Meter genähert hatte, als ihn ein Blitz traf, der ihn in den Raum zurückschleuderte. Stöhnend richtete sich Reik auf, kam auf die Füße, eilte zu dem Fenster, riß es auf. Er blickte in eine andere Wohnung, die leer schien. Noch einmal sah er zurück. Agia beugte sich über den Brunnenrand, zog eine neue Flasche aus dem Wasser, goß sich kichernd etwas ein. Reik kletterte durch das Fenster, zog es von der anderen Seite aus wieder zu, hastete durch die Räume der Nebenwohnung. Auch hier glommen die Schutzblitze an der Tür auf. So wechselte er durch ein anderes Fenster erneut die Wohnung. Hier gab es keine Möbel mehr, und der Springbrunnen tröpfelte nur noch. Flaschen lagen auf dem Fußboden, und vier Gorrmorraner, die sich gegenseitig abstützten, saßen schlafend in der Ecke eines Raumes. Ihre Wohnungstür war nicht durch Blitze gesichert. Sie hatten von innen einen Schrank gegen den Eingang gelehnt. Reik zog den Schrank so weit zurück, daß er durch den Spalt paßte, öffnete vorsichtig und war auf der Hängebrücke. Nachdem er sie unangefochten überschritten hatte, irrte er durch die Garage. Suchte einen Ausgang, ohne ihn zu entdecken. Schließlich huschte er in das Fahrzeug eines Destrusianers, der gerade einstieg, als Reik ihn erreichte. Der so Überraschte starrte Reik wild an.
"Pst", machte der, zog das beschuppte Rohr aus der Tasche, schaltete es an, "da, was auf der Scheibe abgebildet wird, ist dran." Dem Mann trat der Schweiß auf die Stirn. Seine Hände zitterten. Er griff in eine Tasche, holte einige dreieckige Goldplatten hervor, überreichte sie Reik. "Auf die Straße", kommandierte Reik, der die Ferolds achtlos einsteckte. 373 Der Mann tat, wie ihm geheißen. "Öffnen", befahl Reik nun, "mit mir zusammen aussteigen. Dann gleich wieder einsteigen und Fahrt fortsetzen. Nicht umdrehen, Fahrzeug nicht wenden. Klar?" Reik war noch nicht weit gekommen, als eine Gruppe glühender Dreiecke am Himmel erschien. Sie summten wie Hornissen, näherten sich dem Haus, in dem Obessar Marfus wohnte, kreisten es ein und umrundeten es. Dabei stieß jedes Fahrzeug zweimal zehn Kolosser aus, die geschickt an der gläsernen Hauswand landeten, anhafteten und schließlich durch ovale Öffnungen ins Innere gelangten. Reik erreichte den ersten Garten, der eine geschmackvolle Mischung aus lebenden Pflanzen, gläsernen Gebilden und zarten Lichttönen war. Als er hier Deckung suchte, entdeckte er eigenartige Spalten im Boden. Und als er hindurchspähte, erblickte er Familien, die lachend und gemessenen Schrittes spazierengingen. Dort, wo er hinsah, war es hell wie unter der ghettonischen Mittagssonne. Reik schaute sich um, suchte eine Passage in diese andere Etage, ohne etwas Ähnliches entdecken zu können. Er irrte umher, bis er auf eine Röhre stieß, die in die Tiefe führte. Es gab winzige Sprossen, die er nutzte, um hin-unterzugelangen. Aber mitten in der Bewegung hielt er inne. Agia, dachte er, sie verhält sich so völlig anders als im Schloß der Emonen, wo sie mich wachrüttelte. Hat sie der falsche Glanz Destrusos' geblendet, oder versucht sie die Angst vor den Hallen der Namenlosen zu überspielen? Und nun dieser Fusel, den sie getrunken hat... Ich hätte sie zwingen müssen mitzukommen. Ich habe sie ausgeliefert. Er kletterte noch einmal nach oben. Steckte den Kopf aus der Öffnung. Die glühenden Dreiecke bildeten eine Keilformation über dem Haus. Von den Kolossern entdeckte er keine Spur. Aber dann sah er zwei, die, das bewußtlose Mädchen in ihrer Mitte, an der Glaswand in die Höhe stiegen, bis sie von einem der Dreiecke eingesaugt wurden. Fast zur selben Zeit erschien Marfus auf der Hängebrücke. Er lief, wild mit den Armen rudernd, auf die Garage zu. "Ich bin Blumenminister", brüllte er zu den Zuschauern hinab, die seinen Ausbruch mit Gelächter quittierten, "ja, Blumenminister, Astrade, Astrade und..." Aber weiter kam er nicht, denn ein tiefblaues Licht
zuckte aus einem der Dreiecke, trennte die Brücke direkt unter den Füßen, so daß Marfus stürzte. Da ruckten viele Hände hoch, in denen Scheiben lagen. Marfus stürzte nicht weit, als ein Energiestrom ihn hochwirbelte, höher trug, als die Brücke war, ihn schließlich neben den Dreiecken als winzigen Punkt erscheinen ließ. Er flog dort oben hin und her, von den unterschiedlichsten Kraftfeldern getrieben. 374 "Blumenminister", schrien die Zuschauer jetzt im Chor, "Blumenminister." Und auf ein geheimes Kommando hin sanken alle Hände zugleich nach unten. Der unaufhaltsame Sturz des Stabschefs begann. Lautlos, gespenstisch. Ob er schon tot war, ob er schweigend stürzte, wer wollte das sagen. Niemand konnte den Aufschlag beobachten, denn sein Körper war jenseits der Garage in die Tiefe gefallen. Reik zog beklommen den Kopf ein, stieg wieder die Röhre hinab. Erreichte fünfzehn Minuten später ihr unteres Ende. Sah ein wenig verschwommen einen Pfahl, der sich ihm entgegenreckte. Es 'war ein riskanter Weg, denn Reik erreichte den Pfahl nur, wenn er sich mit den Händen an die unterste Röhrenstufe hängte. Er tat es, ertastete den Halt mit den Füßen, ließ oben los und faßte unten zu. Auch hier gab es kurze, aus dem Pfahl ragende Stangen, über die er bequem absteigen konnte. Es war ein Glück, daß Reik den ersten Blick auf die unter ihm liegende Straße warf, nachdem er schon einige Sprossen hinter sich gebracht hatte, denn der Pfahl ragte mindestens fünfzig Meter hoch in die Luft. Und als Reik den Kopf hob, gab es da weder eine Röhre noch einen anderen Hinweis auf eine weitere Etage. Die Straße, die er jetzt erreichte, war tatsächlich unerhört belebt. Und während Reik auf ihr entlangschritt, von niemandem beachtet und keinen betrachtend, versuchte er sich einzureden, daß sie Obessar Marfus nicht geglaubt hatten, als dieser ihn verriet. "Das Mädchen", murmelte er, "sie haben das Mädchen mitgenommen. Also glaubten sie natürlich, daß ich hier bin ... Natürlich." Ein älterer Mann stellte sich zwei Schritte vor Reik auf, sah ihn interessiert an. "Na, Commodore", sagte er schließlich, lächelte versöhnlich, "kleine Pause, was?" Reik betrachtete sein Gegenüber kritisch. .Jedenfalls, Commodore", fuhr der andere fort, "bin ich weder ein Bettler noch ein Schlagdraufein. Natürlich mache ich nicht den prächtigsten Eindruck, habe aber Gnadenferolds. Ich unterstand einem Commodore, der ähnelte dir verblüffend. Der zweihundertachtund-zwanzigste. Und du,
hast du auch schon gekämpft?" "Ich suche die •Malachitkatakomben", sagte Reik. Der Mann wurde blaß, preßte die Lippen zusammen, schüttelte den ergrauten Kopf. "So etwas denkt man nicht einmal", sagte er, sich vorsichtig umsehend, "nicht denken, und erst recht nicht aussprechen. Ladys Ohren sind lang, auch wenn sie-keine hat!" Er kratzte sich das Kinn, blickte erneut Reik an. "Willst mich verulken, wie? Alter Geiferer, denkst du, ist was zum Verulken. Laß es. Unsere schmucken Glutdreiecke, die verstehen solche Spaße nicht. Sind ja auch keine Kämpfer. Mit voller Montur gegen Waffenlose. Das ist eine Heldentat, he?" 375 "Ich habe aber keinen Scherz gemacht", entgegnete Reik, "können Sie mir nicht einen einzigen Tip geben. Ohne daß ich das Wort wiederhole." "Tiptiptip", der Alte schien sich zu erinnern, "hör mal, deshalb bin ich doch da. Weil du wie mein Commodore aussiehst, der inzwischen ein alter Mann ist. Da drüben, bei der Orchideenvaskia, da sitzt ein Typ. Verstehst du, ein Typ. Haligugur gekleidet. Absolut glockenrein. Mit einer Kiste ... Na? Ein Paket neben sich ... He, immer noch nicht geschaltet? Mir glauben sie nicht, denn ich bin ein alter Samtooter. Aber du, dir glauben sie. Und stell dir vor, er ist es... Er, der Humanosschleicher mit der Bombe. Na? Fallen die Ferolds? Wenn der das ist, zuckerst du durch. Eine halbe Million haben sie ausgesetzt, wenn man ihn sieht und nennt. . . Logal, daß sie dich durchwalken, wenn er es nicht ist. Logal, daß ich dann leise verschwinde, denn mein morscher Leib hält solche Prügel nicht aus. Aber wenn er es ist, bist du groß oben. Stell dir vor, Commodore, wir beide in den Ortamenten. Na, wagst du es?" Er nahm einen kleinen Schlauch aus seiner Jacke, steckte ein Ende in den Mund, lutschte genießerisch. Schließlich wischte er sich die Lippen, verstaute den Schlauch, zwinkerte Reik zu. "Also, Commodore?" fragte er. "Läuft die Aktion?" "Ich tausche", sagte Reik, "die Katakomben gegen den Mann mit der Bombe." "Oho", der Alte lachte, "sprichst wie ein erfahrener Furone. Nennst die Glastropfenmaschine auch schon Bombe. Ist nur ein Privatname •von mir, Commodore. Hör mal gut zu, mein kleiner Mozteke: Das, was du suchst, gibt es überhaupt nicht. Kannst du jeden hier fragen. Keiner wird auch nur das Wort kennen. Also laß es, es sei denn, du hast vor, von Chlur Meduson eigenhändig in die zweite Dimension befördert zu werden. Hast du sicher nicht vor." Reik schüttelte stumm den Kopf. "Schade, Commodore", der Alte lächelte ohne Hoffnung, "hätte was werden können mit uns beiden. Du hast ein gutes Gesicht, und ich
besitze Kampferfahrung. Nicht da, nicht Evulon oder Terfan, sondern hier. Gegen die da oben. Also laß uns unsere Wege zerlegen. Ich da, du hier. Hossa, Furos!" Er sah Reik noch einige Augenblicke an, als täte es ihm leid, daß er schon gehen mußte, doch mit einem Ruck riß er sich los, verschwand in der Menge. Reik sah ihm lange nach. Er konnte sich nicht entschließen weiterzugehen, denn er wußte nicht, wohin er sollte. 376 Melaanas Drohung Gerade als Reik losgehen wollte, prallte er beinahe gegen einen stattlichen Mann. "Kennst du ihn?" fragte der ohne alle Begrüßung. "Er gehörte der Großabteilung des Sagaion an. Eine imposante Erscheinung. Und vor allem: Was der ausspioniert, hat Hand und Fuß. Was wollte er eigentlich von dir?" "Er glaubt, den Konstrukteur der Glastropfenmaschine entdeckt zu haben", sagte Reik, der froh war, mit jemandem reden zu können, "der soll dort bei den Orchideenvasen sitzen." "Hör zu", der stattliche Mann lächelte milde, "ich denke, es war ein Witz von ihm. Er hätte sich wahrscheinlich schief gelacht, wenn sie dich verdroschen hätten. Wenn der den Humaniden tatsächlich gefunden hätte, würde er ihn wahrscheinlich niedergeschlagen und augenblicklich angezeigt haben. Wer läßt sich eine halbe Million Ferolds entgehen? Man könnte Dauergast in den Ortamenten werden, solange man lebt. Lassen wir das. Siehst du dort die kleine Quarre? Ich lade dich zu einem Imbiß ein. Komm." Sie steuerten durch das Gewühl der Spaziergänger auf jene Einrichtung zu, durchstießen die Blendwand, ließen sich auf schmalen Hok-kern nieder, aßen, was aus der Tischplatte gehoben wurde. "Ich bin Berichter", sagte der Mann, "aber das hast du natürlich schon begriffen. Ihr habt es nicht bemerkt, doch ich kam dreimal an euch vorbei. Und dabei schnappte ich ein Wort auf, das sich einer von euch ausgedacht haben muß. Es klingt schön: Malachit... Man könnte etwas Ungeheures daraus machen. Unter der Überschrift ,Sie alle wollten den Unfehlbaren meucheln' könnte man eine Geschichte schreiben, die in Fortsetzungen läuft. Du weißt also, daß es diesen Ort gibt, den du genannt hast. Und du weißt dann auch, daß sie dort Ungeheuer festhalten. Warst du dort? Als Diensttuender? Ich zahle für jede brauchbare Information zweihundert Ferolds. Nun?" "Mir ist bekannt", erzählte Reik, "daß es die Malach.. ." "Halt!" unterbrach ihn der Berichter. "Nicht aussprechen. Nennen wir sie Malkat. Du weißt also von Malkat. Woher?"
"Sie wollen mich betrügen", erklärte Reik unerwartet, "was heißt denn: für jede brauchbare Information? Mir sagen Sie am Ende, daß Ihnen keine nützt, während Sie in aller Ruhe Ihre Artikel machen. Nein!" "Gerichtsbarkeitsstudium, was?" fragte der Berichter und schüttelte anerkennend den Kopf. "Vorschlag: Wir gehen zu mir. Da ist Ruhe. Wir besprechen, was zu machen ist, und setzen einen Vertrag auf, der mich bindet. Gut so?" 377 ,Ja, so ist es gut", antwortete Reik. Sie glitten mit einem offenen Fahrzeug über die Köpfe der Spaziergänger hinweg, wechselten danach die Ebene und befanden sich in einer Siedlung, deren kleine Häuser übereinandersetzt ein mächtiges Gebäude ergaben. Jedes der Häuser klebte mit einer Kante an den Kanten zweier anderer, so daß es ein Bild ergab, als habe ein Kind aus Bausteinen eine Mauer mit Zwischenräumen gebaut. Aber da die Siedlung nicht nur in einer Richtung lief, sondern in alle Himmelsrichtungen auseinanderstrebte, entstand ein vielschichtiger, durchbrochener Bau, der einer Pyramide ähnelte. "Da oben", der Berichter deutete auf die Spitze, auf der ein einziges Haus stand, "da wohnt unser Oberster. Selbst sein Frühstück nimmt er in den Ortamenten ein. Verstehst du, dahin will ich auch. Meine Geschichten müssen einschlagen wie Glastropfenmaschinen. Nur so kann man es schaffen. Aber der da oben ist ein Sohn des älteren Bruders von Meduson. Dagegen kannst du nichts machen." Im Haus des Berichters erfuhr Reik zum erstenmal von den vielen unterschiedlichen Lebensebenen, die allesamt in dieser einen Stadt neben-, in- und durcheinander existierten. Der Berichter zeigte ihm seine beiden Gorrmorratoren, mit denen man die Ebenen wechseln konnte. Der eine, der ihm als Arbeitsgorrmorrator diente, verfügte über elf verschiedene Ebenen, während der private, den der Berichter kaum benutzte, nur acht aufwies. Und während der Berichter seinen Plan darlegte, steckte Reik heimlich den privaten Gorrmorrator ein, um nicht völlig hilflos zu sein. "Wieviel Kilometer reicht Gorrmorram eigentlich in die Tiefe?" fragte Reik, als er hörte, daß es sogar neunzehn Ebenen geben sollte. "Gar keinen", erklärte der Berichter. "Man hat es uns so erklärt: Die größte Dimension jedes Atoms ist die Leere. Man könnte in einem Atom hunderttausend andere unterbringen, wenn sie sich nicht dabei beeinflussen würden. Und genau das ist unseren Stadtschöpfern gelungen. Es ist alles ein Raum, und doch sind es ungezählte, die sich nicht beeinflussen, die keine Wirkung aufeinander ausüben. Aber bitte frage nicht, wie das technisch umgesetzt ist. Ich weiß es nicht."
"Ich werde es mir verkneifen", sagte Reik. "Paß auf", der Berichtar drückte einen Knopf. Eine Unterhalterwand erwachte zum Leben, und Reik sah noch einmal die Verhaftung der Agia, den Tod des Marfus, aber diesmal aus einer anderen Perspektive. Dann trat eine Sprecherin vor das Bild und gab eine Beschreibung von Reik, die auf viele, nur nicht auf ihn zutraf. 378 Der Berichter löschte das Bild. "Diese Maschine", sagte er, "verlangt garantiert, daß jener Ghettonenfürst mit einer Casavagel durch die Straßen rollen muß. Eine solche Maschine paßt in keinen Gürtelschrank. Und wir suchen sie. Und haben wir sie gefunden, dann können wir den Fürstensohn in die Makats begleiten. Verstehst du? Und da lichten wir ab, daß die Kristalle glühen. Und verkaufen. Wetten, daß ich zehn Etagen nach oben komme? Und wetten, daß du ohne Prüfung als Neuberichter akzeptiert wirst? Das ist die Geschichte, der ich mein Leben lang nachgejagt bin. Und nun kommt sie zu mir." "Aber wozu brauchen Sie mich?" fragte Reik unwirsch. "Was kann ich Ihnen nützen?" "Commodore hat er dich genannt", antwortete der Berichter, "Commodore nennt dich der alte Fuchs aus der Großabteilung des Sagaion. Erzähl mir nichts. Junge, du weißt mehr, als du sagst. Und du bist auch ein Fuchs. Weißt, wie man Verdienst macht. Und nun komm, wir fliegen jetzt durch die Ebenen. Suchen sofort den Casavagel." Während des Fluges achtete Reik auf alles, was der Berichter tat, um es sich zu merken. Er prägte sich die Route und die unterschiedlichen Passagearten genau ein. Endlich erreichten sie ein metallenes Gestänge, das einen chaotischen Anblick bot. "Wetten", verkündete der Berichter, "daß du noch nie hier warst? Es ist der Platz der schönen Düfte. Eine stinkende Kloake, die Brechreiz erzeugt, wenn ich die Kabine öffnete. Du mußt noch aus der Erstausbildung Chles Cassibar kennen, den Großmeister der schönen Düfte. Was er komponierte, ließ Prozessionen hier erscheinen. Es war ein Genuß, hier zu stehen und zu schnüffeln. Doch seine Frau, Arra Cassibar, war nasenkrank, wie jeder wußte. Sie konnte nicht genießen, was ihr Mann schuf. Aber sie war eine Cassibar. Und so begann sie, gemeinsam mit ihren neun Kindern, ebenfalls zu komponieren. Gab anfangs alles unter Chles' Namen heraus, dann unter dem eigenen. Ein Elend, daß sie ohne Geruchssinn durch die Welt zog, denn sie begriff nicht, was sie anrichtete. Jauchige Düfte hüllten nun den Platz ein. Chles Cassibar alterte vorzeitig und zog sich in einen Hydropark zurück, während Arra die Hofkompositorin der Melaana wurde. Alles ist jetzt geordnet, aber keiner will dabeisein, wenn man wieder eine neue
Duftnote der Arra oder eines ihrer Kinder einweihen soll. - Langweilt es dich? Wir finden den Casavagel!" Er sah sich um. "Ach so", fügte er hinzu, "du warst ja ein Füßling, bis ich dich gerettet habe. Paß auf: Alle Ebenen rotieren gegenläufig, damit es zu keiner Verschmelzung kommt. Du überwindest also im Pfeilrichtungssprung stets nur zwei Ebenen, nie eine oder drei. Weißt du, die Frau meines Cousins ist Ko-losserin. Die sind nicht dumm. Wenn einer vor ihnen flüchten will, besetzen sie einfach jede zweite Ebene. Verstehst du das? Das ist klug. 379 Flüchtlinge haben es immer eilig. Sie ändern nie die Pfeilrichtung des Gorrmorrators, sondern hasten blindlings weiter, und - peng - sitzen sie in der Falle." Die Ebene, in der Obessar Marfus gewohnt hatte, tauchte vor ihnen auf. Der Berichter steuerte jenes Haus an, lenkte in die Wohnung des Toten, flog sehr vorsichtig in das Innere und landete sanft. Sie stiegen beide aus, sahen sich drei Frauen und drei Männern gegenüber, von denen sie mißtrauisch begutachtet wurden. Der Berichter wies seinen Arbeitsgorrmorrator vor. "Berichter also", einer der Männer nickte zustimmend, "lichten Sie uns ab. Wir erzählen, was wir wissen." "Er war also hier", fragte der Berichter leise, "wo stand währenddessen sein Casavagel? Wie sieht die Glastropfenmaschine aus?" "Es heißt", erinnerte sich eine Frau, "daß er hier war. Nur, es stimmt so vieles nicht. Zum Beispiel ist die Ghettonerin als Flußleiche gefunden worden. Und der, der die Malachitbombe trägt, war nie hier! Es gibt keine Spur von ihm. Nichts. Der aber, der sich den ganzen Plunder ausgedacht hat, ist in den Tod geflüchtet. Blühende Phantasie, astradische Feroldsucht. Nur: Da hat sich einer neben einem Schwanenboot ertränkt. Weil sein Fahrzeug von einer Waffe zertrümmert wurde, die wir vor Jahren nach Cirrulaan geliefert haben. Es stimmt so vieles nicht, denn der Tote hatte Fingerspuren von jenem gefangenen Mädchen auf der Haut. Es gibt also unerhörte Zusammenhänge, auch wenn sie momentan noch nicht klar sind." Sie erstieg den Springbrunnen, lächelte, blieb dort, bis der Berichter sie abgelichtet hatte. Reik und sein Partner kletterten wieder in das Fahrzeug, schwebten hinaus. "Getötet hat er sich", sagte Reik schwermütig, "aber warum, warum? Und wir? Wir müssen das Mädchen finden. Wir müssen das einfach tun!" "Nach Zitadorra?" fragte der Berichter und lachte schrill. "Ohne mich. Junger Füßling, wie ahnungslos du auch bist, das vergiß schnell!"
"Ich denke, Sie wollen die Supergeschichte", lockte Reik, "oder... sind Sie zufrieden mit Ihrer Etage, in der Sie wohnen?" "Du kannst ja allein hingehen", schlug der Mann vor, "nichts ist einfacher als das: Etage Null. Mit dem einfachsten Gastgorrmorrator zu erreichen. Aber: Viele sind barhäuptig hingegangen und mit einem Turban auf dem Kopf dienend bei ihr geblieben. Also: Grüß die Fürstin von ihrem untertänigsten Diener, und lebe wohl. Wir sehen uns, wenn wir uns sehen, am Abend in der kleinen Quarre, wo wir gegessen haben. Gut so?" "Vielleicht würde ich an Ihrer Stelle auch so reden", verkündete Reik, "denn Angst ist nie ein guter Ratgeber." 380 "Also Teuerster, dann viel Erfolg auch", rief der Berichter, stieß Reik, während er langsam dahinrollte, gekonnt aus dem Wagen, so daß der auf die Füße zu stehen kam, entfernte sich im Strom der anderen Fahrzeuge, war schon bald nicht mehr zu erkennen. Wenigstens habe ich so eine Schalttafel, dachte Reik, faßte in die Tasche, wo der Gorrmorrator steckte, und lächelte ein wenig. Aber der Mann mit dem Fahrzeug hat sich ertränkt. Deshalb tat es Agia leid. Sie wußte, was kommen würde. Sie wußte es. So entscheidet ein technisches Produkt, ein Hilfsmittel, über Leben und Tod, über Glück oder Unglück. Was ist das für ein Leben? Da gibt es die Ortamente und wunderbare Wohnungen, gläserne Brunnen und blauleuchtende Straßen und daneben den Gorrmorrator, der alles wie eine Zange einfaßt, Leben, das an einem Fahrzeug hängt, und Ferolds, ohne die nichts gedeiht. . . "Zitadorra", murmelte Reik, "was sind das für Turbane, die jene Diener tragen? Und überhaupt, wie soll das gehen: Zitadorra war in Ghet-ton. Zitadorra ist in der Ebene Null von Gorrmorram. Melaana saß im Chooroon, aber sie erschien mir als Imenia, dem Weisen als Amenii -und sie war in Rüdersdorf meine Klassenkameradin Anja ..." Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, wollte begreifen, was das bedeutete, ohne daß er eine vernünftige Schlußfolgerung ziehen konnte. "Durch meine Schuld ist Agia dort. Ich muß sie wieder raushauen. Irgendwie. Vielleicht erfahre ich so auch, was es mit Melaana auf sich hat.. ." Neben Reik pfiff es. Er hob den Kopf, sah das Fahrzeug des Berichters. Der Mann lachte. "Du bist ein ungeheuer verquerer Samtooter", rief er ihm zu und machte eine einladende Handbewegung, "und ich bin nicht weniger zerquirlt. Aber um Medusons willen, steig ein, ehe ich es mir anders überlege. Noch glaube ich an die Makats, Commodore! Na los, Partner, rein mit dir!" "Ich will die Glastropfenmaschine sehen", sagte der Berichter, "wir wollen ins Technomuseum. Alles Quatsch. Keine Technik, sondern
Waffen. Unser bestes Geschäft. Wenn ich Glück habe, werden wir beide wissen, was man für ein Casavagel braucht, um das Glastropfengeschoß zu transportieren. Dann können wir zielgerichtet spähen. Wir wollen weder Streitwagen noch Faustkeile anschauen, sondern das Nonplusultra. Die Malachitbombe, wie die zarte Kolosserin es ausdrückte. Verstehst du, Commodore? Das heißt zwei Disseln mit einer Klappe schlagen. Malachit und Glaströpfchen." Er lehnte sich zufrieden zurück. "Ich habe die neuesten Nachrichten gehört", erklärte er stolz, "und stell dir vor: Nichts gibt es. Keinen Emonenfürsten, keine 381 Malachitbombe, nichts. Alles Falschmeldungen. Entsprang dem kranken Hirn jenes Astraden. Wurde nie ein Mädchen verhaftet. Also, was heißt das? Geheime zitadorrische Aktion. Melaanas Wunderhirn im Einsatz." Sie erreichten nach wenigen Flugminuten das Museum. Über dem Portal hing ein gewaltiges Farbbild. Es zeigte Angaria, gefesselt von einem roten Blitz, zur Hälfte im Gestein versunken. Man hatte Sarschan ein Cyclopenauge in den Konus eingezeichnet, dazu ein zähnestarrendes Reptilienmaul, und in seinen von Krallen verunzierten Klauen hielt er ein kleines astradisches Kind, das mit angstverzerrtem Gesicht den Tod erwartete. "Karneval", sagte Reik nur. Der Berichter schien nicht zu begreifen, denn er blickte sich fragend um. Man händigte ihnen, als sie eintraten, kleine Universalführer aus, die sofort losredeten. Aber weder Reik noch der Berichter hörten darauf. Eilig durchmaßen sie Halle für Halle, bis sie bei den Exponaten der Gegenwart angekommen waren. "... wie gesagt", fuhren die Maschinen fort, "ein solcher Vertrag hat seine Tücken, denn Wälder und Gewässer, Pflanzen und Tiere mußten hinfort verschont bleiben. Man mußte den Gegner auf den Punkt genau töten. In-dieser Ära entstanden die Infraschalldegen, die sehr wirkungsvoll sein können, aber ein Trägermedium benötigen. Und eben da gab es Probleme. Die Waffe selbst wirkte verheerend, doch reichte eine* kleine Bodenunebenheit, dem Bedrohten Schutz angedeihen zu lassen. Einem Tagesbefehl des Unfehlbaren zufolge kam es dann zum Bau der Impulswaffe. Jetzt erst..." "Halt", rief der Berichter und deutete auf einige seltsame Blöcke, "was ist das?" "Sagen wir", begann der Universalführer, "ein energetischer Staubsauger, ein Gerät, das die Energie des Angegriffenen ..." "Und das?" Der Berichter deutete auf Rohrschlangensysteme. "Gebaar-Y", erläuterte die Maschine, "vielleicht der waffentechnische Höhepunkt der letzten Jahrzehnte. Gebaar-Y braucht..."
"Schon gut", der Mann winkte ab, "aber wo steht denn nun die Glastropfenmaschine? Wo ist ihr Modell? Eine Abbildung ..." "Ihre Form wird als so allgemein bekannt vorausgesetzt", sagte das technische Gebilde, "daß sich die Mus^umsleitung verständigte, auf das Modell zu verzichten - und statt dessen ein Standmodell und eine Bildserie von Chooroon im Einsatz ..." "Kein Wort weiter", rief der Berichter, schaltete die Maschine aus, ging schweigend an Reiks Seite zum Ausgang. "Diese verdammte Geheimniskrämerei", sagte er dann, während sie die lange Treppe hinab382 schritten, "jeder ist scharf auf das Geschoß, und niemand weiß, wie es aussieht! Wie sollen wir sie da finden?" Am Abend waren drei unerhört aufgeregte junge Frauen bei dem Berichter zu Gast. Ständig fanden sie einen Grund, um lachen zu können, traten zwischendurch in eigenartigen Verkleidungen auf, ohne sich um Reik zu scheren, der in einer Ecke saß und dem ihm so unbekannten Treiben zusah. Auch der Berichter verhielt sich anders als sonst: Er schien mit einemmal zu einer wichtigen Persönlichkeit gewachsen zu sein, bewegte sehr sparsam seine Hände, sprach in den Phrasen des Unfehlbaren, berichtete von seinem Plan, die Glastropfenmaschine zu finden, so als läge sie schon bei ihm im Keller, und wandte sich nur einmal vertraulich an Reik. "Welche", fragte er hastig, "paßt am besten zu mir? Du als Außenstehender..." Weiter kam er nicht, denn schon traten die drei in die Küche, boten sich an, das Abendbrot zu zapfen, und gaben nicht eher nach, als bis er ihnen das gestattete. Er ließ sie jetzt allein, ging mit Reik zurück in den Mittelraum, setzte sich. "Die schönen Ferolds", er stöhnte, "das Weibervolk wird zapfen, zapfen, zapfen..." Was sie aus der Küche brachten, hätte ausgereicht, eine Furonenbrigade zu sättigen. Der Berichter verdrehte heimlich die Augen, sah 383 Reik bedeutsam an - als wollte er sagen: Sei nie so dumm, so etwas zuzulassen! - und sank tiefer in seinen Sitzer. Nachdem jede ein wenig gegessen hatte, griff eine von ihnen eine gecremte Frucht und warf sie der anderen gegen den Leib. Die quietschte hell auf, griff ihrerseits ein massiges Gebäckstück und hob die Hand zum Widerwurf. Doch sie kam nicht dazu, denn die Unterhalterwand flammte auf. Chlur Medusons helles, beherrschtes Gesicht erschien, und alle in diesem Raum verstummten. "Bürger Gorrmorrams", seine Stimme klang Reik klar und hart in den Ohren, "seit es uns gibt, existieren auch jene, die davon leben, daß sie
Gerüchte in Umlauf setzen. Wieder einmal ist aus dem giftspeienden Rachen eines dieser unliebsamen Zeitgenossen ein Gerücht zusammengebraut und hinausgeschickt worden. Es heißt, so kam es mir zu Ohren, Humanos hätte einem seiner Leute eine gewaltige Bombe in den Leib operiert, und dieser Bombenhumanide sei des Nachts über der Stadt abgesetzt worden. Nicht, daß es nicht bei unseren Feinden Experimente gäbe, Bomben in lebenden Systemen zu deponieren, nicht, daß man es ihnen nicht zutrauen dürfte, aber hier handelt es sich um eine ausgemachte, um eine perfide Lüge! Der Unfehlbare schläft nicht. Niemand kann so etwas wagen. Melaana weiß alles! Der Steinerne Rabe beobachtet unablässig unseren Luftraum. Und auch ich bin für euch da. Nein, Bürger, in unsere Stadt kommt nie eine Bombe des Feindes. Allein unsere Sichtblenden verhindern das. Damit will ich nicht sagen, daß ihr aufgeben sollt, alles zu beobachten, was euch begegnet. Und sicher, wenn ihr einen seht, der keinen Gorrmorrator besitzt, der sich nur immer in einer Ebene bewegt, dann ruft die Kolosser, aber das alles hat nichts mit jenem Gerücht zu tun. Zudem weiß jeder von uns, daß die humanidischen Bomben kaum eine Wirkung zeigen. Ginge eine solche Bombe los, na schön, dann fallen zwei, drei Häuser um. Und wir errichten zehn neue an ebenjener Stelle. Ja, ich will sagen, daß selbst das Auslöschen unserer geliebten Stadt nichts daran ändert, daß die letzte, hehre Entscheidungsschlacht zu unseren Gunsten ausfallen wird, denn Chooroon wird unangreifbar sein. Ich wünsche euch einen schönen Abend und eine gute Nacht." Das Bild erstarrte, wurde abgelöst durch den Anblick eines Wasserfalles, der golden zu schimmern begann und schließlich gerann. Das Bild verkleinerte sich. Dort, wo gerade noch Wasser geflossen war, sahen die Zuschauer jetzt Haare, goldgeflochtene Zöpfe, die einen Frauenkopf umrankten. Reik erkannte sie sofort. Es war Amenii. Sein Herz schlug Alarm. Er duckte sich tief hinter dem Sitzer, auf dem diejenige der drei Gastfrauen hockte, die immer noch das Gebäckstück in der Hand hielt. 384 "Ich heiße Imenia", sagte die falsche Amenii, und sanfte Hingabe und unbeugsamer Stolz sprachen aus ihren Zügen, "in dieser Welt habe ich einen Liebsten. Wir haben uns verloren, doch wir müssen uns finden. Teure Bewohner der stolzesten Stadt: Seht euch einfach um, blickt einander in das Gesicht. Dann werdet ihr einen sehen, der blasser ist als ihr. Und ebendieser ist mir versprochen, wie ich ihm zugesichert bin. Wißt, daß ihn ein humanidischer-Giftanschlag seines Bewußtseins beraubt hat. Hebt ihn auf eure Schultern und tragt ihn sanft, ihm freundlich zuredend, zu einem der Transporter. Sendet ihn an den Hilfs-
punkt von Sir-Gon, denn da bin ich, ihn erwartend. Wißt, ihr Brüder, daß er in meinen Armen gesunden wird. Ich danke euch ..." Die Unterhalterwand erlosch. Reik starrte auf den dicken Teppich, tat so, als kratze er dort einen Fleck weg, wagte niemanden anzusehen. "Bei Una", schrie eine der jungen Frauen, "das war schick, was? Morgen gehe ich zum Haarmacher und lasse mir dünne Messingfäden einflechten. Und dann rufe ich dich." Nach diesen Worten breitete sie die Arme aus, ließ sich dem Berichter an die Brust fallen. Die anderen beiden folgten ihrem Beispiel, und die drei sanken nieder, sahen nicht Reik, der immer noch verstört auf dem Boden saß. Sie ist gefährlich, dachte er, Sarschan hat mich gewarnt... Auf verbotenen Pfaden Am Morgen weckte der Berichter Reik. Er sah mißgelaunt aus, deutete auf das Heißgetränk, das auf dem Tisch stand. Zwei spiralige Gebäcke, die blaß und armselig wirkten, stellten das Frühstück dar. "Ich werde Ssaarga heiraten", sagte der Mann knapp und ließ sich in den Sitzer fallen, "findest du auch, daß sie die Appetitlichste war?" "Sicher", erklärte Reik, ohne zu wissen, von welcher der Berichter sprach, und ging sich waschen. Nachdem sich Reik gereinigt hatte, trat er an das offene Fenster. Überall erblickte er die gleichen unfreundlichen Gesichter von Frauen und Männern, die hinaufsahen in den gelbgrünen Glashimmel. Jetzt stehen wohl alle auf?" fragte Reik, deutete auf die serienweise geöffneten Fenster rundum. "Zähltag", murrte der Berichter, "wir bekommen unsere Ferolds nur, wenn wir zuvor erfaßt wurden. Und das Dreieck war noch nicht da ... Wer weiß, was los ist. Vielleicht rennt wirklich irgendwo die Personbombe herum, so daß wir einfach vergessen sind." Reik hielt sich nun mehr im Hintergrund des Raumes auf, denn er wollte nicht erfaßt und registriert werden. Um so intensiver blickte der Berichter immer wieder nach oben, ging vor dem Fenster unruhig auf 385 und ab. "Und das heute", er schüttelte den Kopf, "nachdem sie wie verrückt das Abendbrot gezapft haben. Wetten, daß ich bei Minus angekommen bin?" Er zog sich seinen Umhang an. "Nützt nichts", sagte er zornig, "wir müssen los." "Und wohin?" fragte Reik vorsichtig. "Zitadorra", erklärte der Berichter knapp, "aber du bleibst am Tor. Ich habe gestern etwas erfahren. Wenn das richtig ist, habe ich meine Geschichte sogar ohne Malkat. Aber. . ., heiße Sache, du. Melaana hat sich offensichtlich geirrt. Das muß man sich vorstellen. Weißt du, was das wird, wenn das stimmt? Na komm, ich erzähle es dir unterwegs."
Sie verließen das Haus. "Ich habe ein bißchen viel getrunken", gestand der Berichter, "dieses Goldhaarmädchen hat mich total verrückt gemacht. Die ganze Zeit habe ich nachgedacht, welchen Vorwand ich benutzen könnte, um sie anzurufen. Und dann hatte ich es: Ich hätte ihr gesagt, daß du ihr Geliebter bist, und hätte sie gebeten, vorbeizukommen, um dich zu besichtigen. Und dann hätte ich sie gehabt. Aber die zwei Typinnen, die haben mich daran gehindert. Heute bin ich froh, denn es hätte schiefgehen können. Stell dir vor, ihr Mann ist eine Größe der Kolosser. Ende meiner Karriere." "Wenn du das nächstemal trinkst", sagte Reik darauf, "schlafe ich im Park." "Park ist gut", der Berichter lachte und startete. Reik betrachtete seine Hände, die zögernd auf dem Gorrmorrator die Ebene Null ertasteten, dann den kleinen Knopf niederdrückten. Nach dem Umschalten fuhren sie über eine dämmrige Straße. Kolonnen, gebildet aus Furonen und Kolossern, zogen an ihnen vorbei, sie mit unverhülltem Argwohn musternd. Rechts und links der Straße erhoben sich verspiegelte Hindernisse, die keinen Blick durchließen. Ihre Geschwindigkeit sank beträchtlich. Sie fuhren jetzt, eingekeilt von militärischen Fahrzeugen, beinahe Schrittgeschwindigkeit. Schmale Trennwände ragten alle paar hundert Meter auf, zeigten an, daß im Alarmfall die gesamte Straße in kleine, unpassierbare Abschnitte aufgeteilt werden konnte. "Eigentlich wollte ich am Eingangstor sein", sagte der Berichter nervös, "und nun bin ich irgendwo mitten auf der Straße." "Vielleicht geht das gar nicht anders", vermutete Reik, "und möglicherweise kommt man von hier aus in keine andere Ebene . . ." Betreten betrachtete der Berichter seinen Gorrmorrator. "Woher weißt du denn das?" fragte er verblüfft. "Das Ding ist tatsächlich abgeschaltet. Ich muß also zum Kommando, ehe ich zurück könnte." Sie fuhren noch zwanzig Minuten, bis sie das mächtige Eingangstor 386 erreicht hatten. "Du bleibst hier", bestimmte jetzt der Berichter, während er sich noch einmal durch die Haare fuhr, dann ausstieg und auf den Doppelposten zuging. Gleich darauf kam ein Kolosser, stieg in das Fahrzeug, fuhr es in eine Abstellnische. "Willst du auch Berichter werden?" fragte er dann leutselig und reckte sich behaglich. ,Ja", gab Reik Antwort, setzte sich tiefer in die Polster, um das Futteral nicht sehen zu lassen. "Lohnt nicht", fuhr der Kolosser fort, "was soll's. Ich habe noch keinen Berichter in den Ortamenten gesehen. Es gibt nur noch eine Sache, die
sich lohnt: die Megaglenos-Argus-Akademie. Sicher, du treibst dich viel draußen rum, mußt dich vorsehen, daß Arcton und Angaria dir nicht über den Weg laufen, aber kommst du von einem Auftrag zurück, dann kannst du Wochen in den Ortamenten hocken, bis du wieder losziehen mußt." "Mein Chef", sagte Reik harmlos, "ist aber einer großen Sache auf der Spur. Hofft auf Riesenentlohnung. Irgendein Fehler mit einem Ghettonmädchen oder so ... Jedenfalls habe ich ihn so verstanden." Der Kolosser lachte, holte den Gorrmorrator aus der Tasche, legte ihn auf das Schaltbrett. "Na", sagte er, "dann nimm mal schon das Ding und richte dich darauf ein, daß du von nun an allein bist. Wir haben nur ein solches Mädchen hier. Und wenn er die meint, kommt er nicht wieder." ' "Tatsache?" rief Reik erstaunt aus. "Da kannst du Gift drauf nehmen", erwiderte der Kolosser, "da geht es um Dinge, die so groß sind, daß man besser soviel davon weiß wie du nämlich nichts." "Dann soll es auch so bleiben", erklärte Reik, "dann will ich auch nichts weiter davon wissen, wenn es so gefährlich ist." "Aber ein kleiner Nervenkitzel", der Kolosser lachte gutmütig, "den verträgst du doch. Sieh mal dort auf jenem Hügel, siehst du die neun Säulen?" "Hm", machte Reik nur. "Acht stehen so, daß sie einen Kreis bilden", fuhr der Kolosser wichtigtuerisch fort, "die neunte aber ist der Mittelpunkt des Kreises. Und genau dort ist sie untergebracht, um die es geht. Nun, wie fühlst du dich?" "Spannend ist es schon", Reik öffnete leicht den Mund, um zu zeigen, wie gespannt er war. Der Kolosser lachte wieder. "Ist auch kein schlechter Dienst bei uns", warb er dann gleichmütig, "du erfährst Sachen, die kein anderer weiß. Ich selbst habe schon die Maschine Norrh aus nächster Nähe erblickt. Du auch?" 387 R"ik schüttelte den Kopf. "Siehst du", der Kolosser klopfte Reik auf die Schulter, "ist tatsächlich mehr los als im Berichterbereich. Überleg dir das. Nun gut, ich laß dich jetzt allein. Wenn die Uhr auf Mittag geht, dann flieg zurück. Kommt er bis dahin, hat er ein Riesenschwein gehabt. Es lebe der Unfehlbare." "Es lebe der Unfehlbare", antwortete Reik. Der Kolosser stieg aus, wandte sich dem Tor zu. Reik stieß hörbar die Luft aus, betrachtete die fernen Türme, dachte an Agia. Und an Marfus. Kurz bevor das Dreieck den angezeigten Punkt auf der Uhr erreicht hatte, kehrte der Berichter zurück. Er sah grau im Gesicht aus, seine
Schritte waren die eines alten Mannes. Er warf sich durch die Wand, startete, ohne ein Wort gesagt zu haben. Sie kamen im Bereich der Großkaufetage an, und der Berichter steuerte einen Parkplatz an. Hielt dort, lehnte sich zurück. "Es war ein reiner Racheakt von diesem Weibsstück", sagte er schließlich stöhnend, "sie hat gemerkt, daß ich Ssaarga vorziehe. Sie hat es gespürt und sich gerächt. Weißt du, was man mir vorgeworfen hat? Das errätst du nie: Ich hätte einem Spion von Humanos Unterschlupf gewährt. Verstehst du, sie meinten dich. Und als ich sagte, daß du am Tor seist, winkten sie großzügig ab. Verlogene Bande. Du sollst ein Spion sein, aber verhaften will dich keiner. Und ich bin mein Berichterpatent los, meine Wohnung los, Ssaarga los. Und nur noch drei Tage, dann muß ich mein Fahrzeug abliefern." "Und", fragte Reik, "was machen Sie dann?" "Das ist die dümmste Frage, die mir je vorgelegt wurde", sagte der Berichter, ohne Reik anzusehen, "denkst du, ich will betteln gehen? Ich habe mich bei den Furonen eingeschrieben. Bei einer Großabteilung, die im ständigen Ferneinsatz ist. Der Ferolds wegen. Ist mehr als bisher. Aber auch gefährlich..." Er schwieg, blickte auf die Ströme der Kauflustigen. "Wie machen die das alle?" fragte er unerwartet. "Sieh sie dir nur an. Feist, sicher und arrogant. Kaufen, kaufen..., kaufen alles, was ihnen gefällt. Hab wohl Pech gehabt mit meiner Tätigkeit. Leb wohl... Kann ich noch etwas für dich tun?" "Vergessen wir also die Malachitkatakomben", sagte Reik, "und alles andere. Diese Türme der Gefangenen, gibt es Angehörige, die ihre Angehörigen dort auch besuchen?" "Kaum einen", berichtete der Gorrmorrane. "Aber prinzipiell könnte man?" setzte Reik seine Befragung fort. "Natürlich", erinnerte sich der Berichter, "über Ebene Null, Punkt Eingliederungsbesuch Etta-till." Reik nickte dem Mann noch einmal zu, dann stieg er aus, schlen388 derte mit dem Strom der anderen auf einen der mächtigen Sternbauten zu, der in grellen Aufschriften jedem einzelnen das Glück versprach. Umgeben von gläsernen Rosen, deren Duft betäubend stark war, abgetrennt von dem ewigen Strom der Kaufenden, zog Reik den Gorrmorrator aus der Tasche, wählte, wie es ihm der Berichter geraten hatte. Er drückte den Knopf. Totenstille umgab ihn jetzt. Er war in einem Gebäude, dessen kahle und nackte Wände beunruhigend wirkten. Und er war allein. Vorsichtig schritt Reik auf eine Tür zu, öffnete sie und stand gleich darauf in einem System sternförmig auseinanderlaufender Gänge.
Durch kristallene Wände hindurch schimmerten Leiber, die aber nur sehr undeutlich zu erkennen waren. Sie alle waren nackt, doch sie trugen einen Turban mit zwei stumpfen rötlichen Steinen daran. Er sprach davon, erinnerte sich Reik, die Diener mit den Turbanen. "Agia", rief er leise, "wie soll ich dich finden, man erkennt ja nicht einmal die Gesichter . . ." Reik ging durch die Gänge, lief hin und her, ohne daß er etwas anderes sah als die gefüllten Kristalle. Er entdeckte eine Treppe, die in die Tiefe führte. Er stand, spähte hinab, als ihm das grüne Glas aus seinem Rucksack einfiel. Er zog es aus der Tasche, hielt es sich vor die Augen. Ein spitzer Schrei entrang sich seiner Kehle. Reik sah die Unglücklichen, aber sie trugen keine Turbane, sondern winzige Melaana-schädel wuchsen aus ihren Köpfen, breiteten sich wie bösartige Geschwülste aus, während ihre Wirte ausgezehrt in sich zusammensanken, einschrumpften, verloren waren. Er erblickte Agia, die zwei Stockwerke tiefer aufbewahrt wurde. Sich am Geländer festhaltend, taumelte er hinab, begreifend, was geschehen mußte, wenn man ihn hier entdeckte. In der nächsttieferen Etage sah er eine maschinelle Bestückungsanlage, die von Kristall zu Kristall glitt, auf den Kopf eines jeden der Inhaftierten ein kleines ovales Ei klebte, dann den Kristall verschloß. Reik steckte das Glas ein, sah in dem Container der an ihm stumm vorüberrollenden Maschine ungezählte Eier liegen. Da nahm er das schuppige Rohr, richtete es gegen die Brut, drückte ab. Die Eier verfärbten sich, wurden dunkelbraun und unansehnlich, schrumpften ein. Reik steckte das Rohr ein, derweil die Maschine in ihrer Arbeit fortfuhr, als sei nichts geschehen. Reik schaute ihr nach. Er fühlte sich kraftlos und ausgelaugt, denn von diesem Augenblick an, das wußte er, war Melaana von Zitadorra seine Todfeindin. Jagte sie ihn bisher des Steinernen Kopfes wegen, so würde sie ihn nun verfolgen, weil er ihre Nachkommen vernichtet hatte. Er stieg weiter nach unten. Da sah er die offenen Kristalle, sah vor jedem ein Brett stehen, und auf diesen Brettern lagen die Inhaftierten, 389 die schon bald in ihr letztes Gefängnis kommen würden. Er fand Agia, die mit grauem, leblosem Gesicht auf der Unterlage in tiefen Schlaf versunken schien. "Hilf mir", bat Reik den Steinernen Kopf, "bitte .. . Du kennst sie. Sie hat uns beide wieder vereint. Und nun ist sie hier. Sie muß aufwachen. Bitte ..." Sanfte Töne klangen aus dem Futteral, während alles vor Reiks Augen verschwamm. Und als er wieder sehen konnte, schlug das Mädchen die Augen auf, setzte sich hoch, gähnte und erhob sich.
"Reik", flüsterte Agia, "du darfst mich noch einmal besuchen. Mein Lieber. . . Weißt du, es ist alles gar nicht so schlimm. Ich werde ein Töchterchen unserer Fürstin an meiner Brust ernähren, und wir werden wie Geschwister miteinander sein... Ich war dumm, denn ich glaubte diesem astradischen Wirrkopf. Deshalb nur habe ich dich verlassen. Aber jetzt wird alles gut, da du mir verziehen hast." "Du siehst, daß sie ihren Frieden hat", schnarrte da eine technische Stimme, "geh also und laß sie." Reik fuhr herum, sah sich zwei Kolossern gegenüber, die eine goldene Maschine in ihrer Mitte hatten. Eine vielbeinige Maschine, aus deren Körper ungezählte Rüssel ragten. Ein dünner Dolch stak in jeder Rüsselspitze. Reik schaute Agia an, die sanft lächelnd zu bestätigen schien, was sie soeben gehört hatte. Dann wanderten seine Blicke zu den Wächtern, deren silberne Overalls das Ganglicht reflektierten. Er faßte das Futteral, schob es nach vorn. "Ja", sagte er unsicher, "dann muß ich wohl gehen..." "Die Fürstin kehrt erst in den Nachmittagsstunden zurück", erklärte ein Kolosser bieder, "Auswärtsaktion. Am besten, du begleitest uns solange ..." Der Sprecher schaute fragend seinen Kumpan an. Der bewegte zustimmend den Kopf. "Kommen", sagte er zu Reik, "ruhig verhalten! Bitte keinen Widerstand!" "Du mußt mitgehen", flüsterte Agia, "denn ihre Herrin ist eine wahre Fürstin. Sie schaut so edel und himmlisch aus ... Geh ..." "Na also", der Wortführer der Kolosser lächelte abschätzig, "hörst du doch, mitgehen!" Der Boden unter Reiks Füßen schwankte. Putzteile brachen aus der Wand. Die Rüsselmaschine versuchte sich abzustützen, knickte jedoch ein, stürzte nieder, gefolgt von den Kolossern. Klirrend zersprangen einige Kristalle, und aus den oberen Etagen drang schwefelgelber Dampf herab. "Vorwärts", rief Reik dem Mädchen zu, packte sie bei der Hand und zog sie mit sich. Sie hasteten die Treppenstufen hinauf, mußten husten, als sie den gelben dicken Qualm einatmeten, liefen weiter 390 nach oben. Reik verließ mit Agia die schaurigen Gänge, zog den Gorrmorrator aus der Tasche. FUNKTIONSLOS, leuchtete eine Schrift auf, BITTE DEN TURM VERLASSEN. Sie krochen hintereinander durch eine sehr enge Schleuse, erreichten einen Vorraum. Wieder zitterte der Boden, schwankten die Wände. Nach wenigen Sekunden verebbten die Stöße und die beiden konnten weiterfliehen. Die ovale Tür, durch die sie gingen, führte in einen hellen
Raum, in dem ein Mann saß, der das Gesicht abwandte. Kaum aber, daß sie eingetreten waren, erhob er sich federnd, drehte ihnen sein Gesicht zu, betrachtete sie spöttisch. "Was zahlt dir eigentlich das ASGEDANgesocks für diesen Auftrag?" fragte er, "oder nutzen sie die Dummheit der Jugend für ihre Zwecke aus?" Reik stand, antwortete nicht. Agia verbarg sich hinter seinem Rük-ken. "Du tust es aus Idealismus", sagte der schöne, schlanke Mann, "für Menschen, Humaniden... Du weißt, mit wem du sprichst?" Er lächelte selbstbewußt, hob eine Augenbraue ein wenig an. "Ich habe Sie gestern abend auf der Unterhalterwand gesehen", sagte Reik unbewegt, "ich kenne Sie, Chlur Meduson, den Obersten Feldherrn von Destrusos. Aber ich habe natürlich nicht erwartet, daß wir uns so schnell begegnen würden... Ich habe wohl einen Fehler gemacht." 391 Chlur Meduson lächelte. "Das, was du im Turm getan hast", sagte er und warf einen kritischen Blick auf all die Glasschirme, "habe ich dir schon verziehen. Nicht nur ich. Aber einen Fehler hast du tatsächlich begangen. Den, herzukommen, ohne auf unserer Seite zu sein. Ich denke, daß Angaria und seine Kampfgefährten glauben, hier wartet ein jeder auf sie. Auf eine imaginäre Erlösung. Sag selbst, was wollen die Gorrmorramer?" "In die Ortamente gehen", antwortete Reik leise. "Na, siehst du", Meduson lachte sein schönes Lachen, "es ist nun einmal so. Sie wollen keinen Angaria, sondern die Ortamente. Schade, daß du so widerspenstig warst, ich hätte dich gern eingeladen, dir das Ding mal anzusehen. Wirklich was zu erleben. Und ich sage dir noch mehr. Die Leute von Destrusos wollen nur eins: Gorrmorramer werden. Die Ghettoner, ich meine die Garsuner, wollen Destrusosvolk sein. Die restlichen Ghettoner, wären gern Garsuner, die Namenlosen dementsprechend Ghettoner. Keiner will Astrade sein, keiner Cirrulaaner oder Humanide. Findet euch damit ab!" Er verschränkte die Arme auf der Brust. Reik tastete nach dem schuppigen Rohr. "Zieh es hervor", befahl Meduson, "und feuer auf mich. Bitte!" Reik tat es, doch das Rohr funktionierte nicht. "Nichts", rief der Feldherr lachend aus, "nichts kann hier funktionieren. Nicht einmal Melaanas Blick reicht in mein Oberkommando. So . . ., das ist also klargestellt. Und nun laß dir sagen, für wen du dich geopfert hast. Du siehst sie alle, wie sie über den grünen Platz hasten. Dort, die Frau . . . Geplagt von Einsamkeit ist sie unterwegs, aber wer sie ansieht, den bemerkt sie nicht, und wen sie anschaut, der erkennt sie nicht. So wird sie einsam sein ihr Leben lang, wird neidisch und boshaft die
anderen verachten. Da, schau nur, der junge Mann. Er sieht wie einer unserer berühmten Sänger aus. Er möchte es auch sein. Imitiert den anderen, ohne zu bemerken, daß dabei sein eigenes Leben wie ein Nebelstreif vorüberzieht. Ereignislos, armselig. Schau die beiden. Die Ferolds haben sie zusammengefügt. Die Hölle bereiten Sie sich, doch dort auf dem Platz spielen sie Gemeinsamkeit. Sieh jene Lachende, sieht sie nicht glücklich aus? Unterwegs ist sie zu den Orta-menten, denn sie hat soeben ihren Körper der Zitadorra verkauft. Den Kopf auf dem Brett des Fallbeils, genießt sie die Ortamente .. . Und für alle die opferst du dich. Vergeudest deine Intelligenz. Nimmst Jammer, Einsamkeit und Entbehrung auf dich." "So haben Sie mit Obessar Marfus geredet", fiel Reik dem Feldherrn ins Wort, "und der dumme Kerl, eben noch in einem Medcont, ist auf Sie hereingefallen. Chlur Meduson, armseliger Meduson. Die da unten, die auf dem grünen Platz, das habt ihr doch alles so eingerichtet, 392 daß sie sich hassen müssen. Der eine schwimmt in Ferolds, der andere hat nicht genug, seinen Hunger zu stillen. Glauben Sie, daß Ihre Abenteuerfrauen in den Ortamenten sich erniedrigen würden, wenn sie genügend Ferolds hätten? Ich habe glückliche Trasts erblickt - als ihr weg wart. Ich habe Jadas Augen gesehen, als sie bei ihren Leuten war. Ich habe Orianas Stimme gehört aus dem Raum, in den ihr nicht hineinkommt. Ich kenne Brennesselchen, die schön ist an Körper und Geist, auch ohne eure Ferolds. Armer Meduson - ja, die dort auf dem Platz sind verkrüppelt. Ebenso verkrüppelt wie du selbst!" Agia schrie erschrocken auf, als sie Reik so sprechen hörte. Sie wankte zurück, fand an einer der Wände Halt. "Ich könnte einen Versuch machen", Meduson lächelte säuerlich, "ich möchte dich dort unten auf dem grünen Platz an einen Pfahl binden und all den Vorübergehenden sagen: Seht, er hat es für euch getan. Er hat die Glastropfenmaschine für euch hierhergebracht. Er hat sie für euch nach Gorrmorram geschmuggelt, und er will sie für euch entschärfen ... Was denkst du, was geschehen würde? Laß es dir sagen: Sie würden dich anspucken, dich steinigen, dich erschlagen und zerfetzen. Das würden sie tun. Begreifst du denn nicht? Sie wollen, daß man ihnen Befehle erteilt. Sie kommen angekrochen, damit man sie tritt. Sie küssen zärtlich die Peitsche, mit der man sie schlägt. Wenn du das einsehen würdest, wenn du den Sinn unseres Daseins erfaßtest, dann könntest du wohl einer von uns sein. Und ich wäre der erste, der dir dabei behilflich sein wollte." "Es bedarf nur eines Griffes", entgegnete Reik, "dann habe ich den Steinernen Kopf in der Hand. Und eines knappen Wurfes, ja lediglich
eines Sturzes, um alle Geschichte hier enden zu lassen. Ich sage das, weil ich weiß, daß ich nicht hier bin, um überzeugt zu werden, o nein ich bin hier, weil Norrh einen Plan hatte, wie man mich ausschalten könnte, ohne den Kopf zu mobilisieren." "Dein Mißtrauen", Meduson legte die Hände gegeneinander, "bringt dich noch um. Mein erster Vorschlag war: Du ziehst in die obere Etage. Du lebst von unserem Staatskonto. Du genießt diese Welt. Und wenn ihr beide euch trennen könnt, kommt die Glastropfenmaschine dorthin, wo sie hingehört. Später aber, dann, wenn das Maschinchen sein Ziel erreicht hat, dann könntest du, der die Menschen kennt, dort unser oberster Vertreter werden." Reik antwortete nicht, aber Agias Seufzer ließ ihn erkennen, daß das Mädchen schon in Medusons Bann war. "Melaana und Norrh", fuhr Meduson fort, der schlank und lässig, sich seiner sehr bewußt, langsam auf und ab ging, "haben einen anderen Plan. Einen, der andere Mittel verlangt, denn sie meinen, du seist durch Angaria und diesen Zwerg restlos durchseucht. Chronisch 393 krank. Sagen wir es so: Wenn es zwischen uns zu keiner Einigung kommt, dann mußt du zurück nach Zitadorra..." Der Feldherr hob die Schultern. Gespannt beobachtete er Reik. "Sie wollen dich innerlich veröden lassen, dich systematisch deiner Intelligenz berauben. Dich süchtig machen. Amenii wartet schon, und der Saft der Nogano-gablüte auch. Du siehst bekümmert aus." Reik konnte nicht antworten. Er begriff wohl, welches Schicksal ihm beschieden war. Zu gut erinnerte er sich des Weisen im Teilchenturm. "Wähle", verlangte Meduson jetzt, "und schnell. Natürlich gibt es die Malachitkatakomben. Aber da sind keine armen Teufel, da ist unsere geistige Elite. Und du wirst sie nie erreichen. Nie!" "Ich verstehe", sagte Reik, "Sie haben alles gewußt. Wo ich war, was ich tat, mit dem ich zusammentraf. Richtig? Nicht der Unfehlbare sieht alles, sondern Sie! Den Unfehlbaren gibt es überhaupt nicht. Sie verstecken sich hinter diesem Phantom, belügen das Volk." Reik fühlte, wie ihm jemand den Mund zuhielt. Er packte die Hände, wollte sie von sich schleudern, aber da sah er in die entsetzten Augen der Agia, der Tränen über die Wangen liefen. "Sie weint", spottete Meduson, "denn du beraubst sie ihres schönsten Traumes. Du nimmst ihr die Lebenskraft. Sie alle bauen auf einen Unfehlbaren ... Außerdem", jetzt sprach er mit veränderter Stimme, "hast du es nicht getroffen. Wir sind eher ein Triumvirat: Norrh, Melaana und ich. Und zusammen sind wir tatsächlich unfehlbar. Verstehst du nicht, Regenbach, du und ich - wären wir nicht ein starkes Gegengewicht
gegen Norrh und sie?" Er setzte sich, stützte das Kinn auf seinen Handrücken, schaute Reik von oben bis unten an. "Sag mal", fragte er unerwartet, "was trägst du da eigentlich die ganze Zeit für eine komische Rolle auf dem Rücken? Hat meine Anlage nicht abgebildet." "Mein Schlauchboot", verkündete Reik, "eine Erinnerung." ' "Erinnerung", sagte Meduson und lachte. Er trat an Reik heran, sah ihm in die Augen. "Dreh dich um", forderte er, und als Reik widerwillig gehorchte, löste er die Rolle mit zwei schnellen Handgriffen, so daß das Boot auf den Teppich plumpste. "Ein Andenken", wiederholte der Feldherr kopfschüttelnd, "das ist höherer Humor. Humanidischer... Oder solltest du damit den Grenzfluß überwinden? Ein echter Witz. Na los, mach es auf. Zeig uns das Kleinod aus Humanos." Trotzig sah Reik den Feldherrn an. Der seufzte gelangweilt. "Es ist ein Befehl", erklärte er knapp und lächelte mild. Reik begann die Umhüllung des Schlauchboots aufzureißen. Drähte sprangen auseinander, Schläuche quollen aus dem Inneren. Es zischte und fauchte sogar kurzzeitig. Weißes Pulver wirbelte wie Mehlstaub auf. 394 "Talkpulver haben sie", witzelte Meduson, "daran scheint es ihnen nicht zu mangeln." Wie eine Nebelwand stieg der weiße Staub auf, ehe er sich, den Teppich mit einer weißen Schicht bedeckend, langsam absetzte. Das Schlauchboot lag nun entrollt auf dem Boden. Es war vollständig zerfetzt, für nichts zu gebrauchen. Meduson lachte, bis ihm die Tränen in die Augen traten. "Das ist Humanos", brüllte er lachend, "nur so kann es dort sein! Alles Schund, Plunder, Ramsch! Und das hast du als Andenken durch alle Gefahren getragen. Dafür zeichne ich dich mit der Nahkampfgritte der ersten Disziplin aus! Ist das nicht herrlich!" Reik senkte den Kopf. Scham überflutete ihn. Nicht weil das Boot defekt war - wer weiß, vielleicht hatte es ihm einmal das Leben gerettet, als er unter Beschüß war -, sondern weil er Meduson Anlaß zu Hohn und Spott geboten hatte. Und als er Agia hinter sich kichern hörte, fuhr er herum, bereit, sie zum Schweigen zu bringen. Doch er sah sie nicht einmal, denn da war etwas anderes, etwas so Unglaubliches, daß ihm schier die Augen aus den Höhlen traten. An einer Wand lehnte, immer noch mehlweiß von dem Talkum, aber schon sehr grimmig lächelnd und mit grasgrünen Augen - Inula Kornreck, die Zarppe.
"Was grämst du dich", fragte Kornreck mit seiner hellen Stimme, "nur, weil dieser gebleichte Nebelaffe lacht? Laß ihm seinen Spaß, denn es wird sein letzter sein." "Inula", schrie Reik, "Inula!" Chlur Medusons Lachen brach ab. Sein Mund verzerrte sich, eine hektische Röte flutete in seine Wangen. "Inula", wiederholte Reik zärtlich, "ist das wahr oder träume ich. Du bist hier?" "Kann man dich allein lassen?" fragte Kornreck. "Ich war in dem Schlauchboot. In einer Art Todesschlaf, und nur einmal hat mich mein Rundumwecker zu Bewußtsein gebracht. Da mußte ich einen stählernen Richter aus deinem Weg räumen. Nun ja, wäre ich dir verlorengegangen, würde ich auch aufgewacht sein. Das haben die sich ganz nett ausgedacht." "Aggressor!" brüllte Meduson und zitterte am ganzen Körper. "Verrat und Mord, das ist der Krieg! Ergeben Sie sich, sonst..." "Ich erinnere mich", sagte Kornreck ganz leise, während er Reik lächelnd betrachtete, "daß irgendwer irgendwann einmal gesagt hat, daß es nach Zarppe stinkt. Stinkt, wohlgemerkt. Des weiteren erinnere ich mich, daß ich seinerzeit diesem Jemand erklärt habe, es werde ihm noch sehr leid tun, das gesagt zu haben, woraufhin jener in freches Ge395 lächter ausbrach. War es so . . .? Nun, jetzt ist es soweit. Kämpfe um deine dreidimensionale Existenz, Chlor Madensohn!" "Una", schrie der Feldherr, sprang auf und riß eine dreifache Scheibennadel aus seinem Umhang, "schütze deinen Sohn, gib ihm die Kraft, diesen Zwerg zu zerschmettern! Una!" Kornreck streckte seine vier Hände vor, die Handinnenflächen gegen Meduson gerichtet. Sanftes rotes Glaslicht wallte auf. Aus dem Scheibenoval des Meduson zuckten scharfe Blitze, prallten gegen Kornrecks Licht, spalteten sich auf und rasten gegen die Wände, gegen den Teppich und die Zimmerdecke. Und wo immer sie aufschlugen, entstanden tiefe Risse, schwärzte sich ringsum das Material, stieg Qualm auf. Es klapperte. Dem Feldherrn war sein goldener Gorrmorrator aus dem Umhang gefallen. Er bückte sich hastig, wollte das Ding an sich reißen. Doch Kornreck war schneller, packte den Gorrmorrator mit seinen beiden Antennen und schleuderte ihn hin zu Reik, der ihn geschickt auffing. Reik sah sofort, daß es eine ungewöhnliche Maschine war, denn sie mochte einige hundert Ebenen anzeigen.
Meduson begann Kornreck zu umkreisen. Es war ein eigenartiges Bild, den Riesen zu sehen, der die winzige Zarppe umschlich, dabei immer wieder einen Blick auf Reik werfend. Da trat Agia einen Schritt vor. Reik packte sie am Arm. "Was willst du denn?" fragte er zornig. "Ich ...", sie lächelte Reik zu, "ich will unserem Feldherrn helfen." Reik holte weit aus, bereit, ihr eine ungeheure Ohrfeige zu versetzen. "Tu es nicht", hörte Reik Kornrecks leise Stimme, und er hielt inne, "weiß sie denn, worum es geht? Kennt sie mich oder Humanos? Weißt du, wie viele Ohrfeigen Gerstfeld dir hätte geben müssen, ehe du erkannt hast, was wesentlich ist?" Wieder zuckten die Blitze aus dem Oval, jagten durch den Raum, schufen neue Narben in den Wänden. "Nein, Feldherr", erklärte Kornreck sehr ruhig, "du merkst selbst, daß es so nichts wird. Wo hast du auch kämpfen gelernt? Wenn es ans Sterben geht, sind die anderen dran, weil du dich in den Ortamenten oder in deinen Räumen aufhältst. Und du lachst wahrscheinlich noch über ihre Dummheit. Ist es nicht so?" Das Licht aus seinen Handinnenflächen wurde unwirklich hell. Schrille Töne füllten den Raum. Chlur Meduson verlor das Gleichgewicht, stolperte rücklings, wurde aufgehoben und gegen eine große gläserne Scheibe gepreßt, die den grünen Platz abbildete. Langsam Wurde der Feldherr flacher, verschwand in der Scheibe, schwebte gemächlich dem grünen Untergrund entgegen, bis er aufsetzte. Er starrte hektisch um sich, schirmte seine Augen mit einer Hand gegen die Sonne ab, blickte in den Himmel. f 396 "Meine Divisionen", rief er grell, "unterstelle ich dir, wenn du gegen Melaana und Norrh antreten willst.. . Hörst du, Kornreck? Du mußt mich doch hören ... Bitte." "Warum sagt er das?" fragte Reik. "Er ist zweidimensional", antwortete Kornreck, "eine Elektronenwolke, und einerlei, ob er den Bildschirmrand überschreitet oder ob ihn jemand von hier aus abschaltet, immer hört er auf zu existieren." "Und das weiß er?" fragte Reik entsetzt. Ja", erwiderte Kornreck, "das weiß er. Sogar besser als jeder andere. Reik, du bist nicht hierher gelaufen. Als du dachtest, daß der Boden ein zweites Mal erzitterte, da flogst du zu diesem Raum hier. Und während du mit Meduson sprachst, er dir herrliche Angebote machte, prüften Techniker von Norrh, ob man dich nicht samt dem Steinernen Kopf auf diesen Platz dort befördern könnte. Wäre es geschehen, ständest du
jetzt dort. Erinnere dich, Meduson erwähnte einigemal den Platz. Er wollte dich locken. Und dann ..., er würde dir noch gern erklärt haben, was dich gleich erwartete, bevor er dich genüßlich abgeschaltet hätte. Das hat er sich gemeinsam mit Norrh ausgedacht, um Punkte gegen Melaana zu sammeln. Denn sie konkurrieren heftig gegeneinander. Ja, so ist das, Reik. Du mußt mit ihm kein Mitleid haben. Und ich auch nicht, denn er hat den Befehl gegeben, eine Fähre, auf der zweihundert Zarppanerinnen mit ihren Kindern waren, zu zerglü-hen. Das war auch der Grund, weshalb Sarschan und unsere ASGE-DANrunde mir die Genehmigung erteilten, ihn zu strafen. Deshalb bin ich hier." "Und er hat sein eigenes Todesurteil gefällt", sagte Reik, "als er mir befahl, das Schlauchboot zu entrollen." "Das stimmt nicht ganz", Kornreck lächelte, "wach war ich schon vorher. Und ich habe ihn ein wenig zu beeinflussen versucht. Der dumme Kerl ist darauf hereingefallen. Nun aber wollen wir gehen. Wir schalten ihn nicht ab. Das überlassen wir seinen Leuten. Wahrscheinlich wird es Melaana triumphierend tun." "Sie ist nicht da", sagte Reik, "und das ist gut, denn ich habe ihre Brut vernichtet." "Wir beide", erklärte Kornreck schmunzelnd. "Natürlich ist sie nicht da. Und Norrh auch nicht, denn immerhin hätte die Sache mit dem Steinernen Kopf und dem Bildschirm auch schiefgehen können. Und wo etwas nicht funktioniert oder wo man stirbt, da sind die beiden garantiert nicht." Er kletterte wieselflink an Reik hinauf, setzte sich auf dessen Schulter. "Nimm das Mädchen bei der Hand", ordnete er von dort aus an, "kannst sie ruhig ein bißchen fester halten, so dumm, wie du denkst, ist sie schon nicht." Reik hielt mit der einen Hand den Gorrmorrator, zog mit der ande397 ren Agia an sich, während Kornreck mit einer Antenne eine andere Ebene wählte. Kühle Dämmerung umgab sie. Neben ihnen wand sich in marmorner Einfassung das unansehnliche Wasser eines Abflußkanals, das schäumend in die Tiefe strömte. "Falsch", stellte Kornreck fest, "falscher geht es schon nicht mehr... Wir müssen weiter. Oder will sich jemand von euch ausruhen? Ruhe haben wir hier." Niemand wollte das, und so wählten sie die nächste Etage, in der dröhnend Maschinen arbeiteten, Kompressoren fauchten und Generatoren jaulten. Ein heißer Wind brachte ein Gemisch aus ölen, Schmierfetten und Treibstoffresten heran, ließ die Freunde husten und keuchen. Rundum flackerten Lichter, zuckten Blitze an der Decke entlang, stieg ein fahler Schein auf. Der Boden bebte leicht, als entlüde
sich unter ihnen ein fortwährendes Gewitter. Gewaltige Blöcke, Stangen und Zahnräder hoben sich aus der Finsternis, schienen in unablässiger Bewegung. "Das arbeitende Herz der Stadt", schrie Kornreck, von dessen Worten sie dennoch nur Bruchstücke verstanden, "hier werden die Ebenen so gegeneinander geneigt und gedreht, daß es nicht zu einer Verschmelzungskatastrophe kommt. Auch die Atemluft und das Gebrauchtwasser werden entgiftet, aufbereitet, ausgetauscht und zurückgeführt. Die Beleuchtung der Ebenen sowie die Nahrung der Gorrmorramer, alles stammt aus diesem Raum. Der Unfehlbare würde einen Schläganfall bekommen, sähe er uns hier." "Schnell weg ...", brüllte Reik. "Unerträglich!" Nach dem Knopfdruck umgab sie wunderbare Stille. Lautlos zogen drehrunde Container in vier Reihen an ihnen vorbei, trennten sich weiter vorn und tauchten vor den Augen der Freunde in dem Stangenwald eines automatisch gesteuerten Verschiebebahnhofs unter. "Nichts für uns", erklärte Kornreck, nachdem sie sich ein wenig erholt hatten, "hier wollen wir auch nicht Wurzeln schlagen. Weiter." Sie landeten auf einem türkisfarbenen Sockel, aus dem, kaum daß sie angelangt waren, drei Sitzer hervorstießen. So nahmen sie Platz, lächelten einander zu, froh, ihre Füße ein wenig ausruhen zu können. Sanfte Melodien umgaukelten sie, und Lichtflecken huschten über die grauen Wände. Die drei mußten nicht lange warten, denn kaum waren die ersten Töne verklungen, als sich schon die Wand vor ihnen auflöste und statt dessen eine weitgezogene, leicht hügelige Ebene erschien, über die ameisengleiche Kolonnen zogen. Von der Gegenseite kamen im Sturzflug grünlich flackernde Achtecke angeflogen. Überall blitzte es auf. Die feindlichen Armeeteile schössen aufeinander. Riesige Kampfzarppen jagten wie eine Wolkenbank heran, verdeckten mit 398 ihren Leibern schon bald die Kämpfenden. Eine düsterrote Glasscheibe trennte nun das Schlachtfeld in zwei gleich große Abschnitte. Andere, waagerechte Gläser gesellten sich dazu, teilten den Raum in immer kleinere Abschnitte auf, während goldschimmernde, rot angeleuchtete Säulen, Figuren und Behältnisse zwischen den Scheiben erschienen. Vor diesem rotgoldenen Hintergrund tauchte eine Frau auf mit schwarzgrünem, ölglänzendem Körper, himbeereisfarbenen Lippen und weißen, glänzenden Zähnen. Auch sie sah einen Augenblick aus, als sei sie metallen. Dann aber verneigte sie sich anmutig vor Reik, lächelte vielversprechend und hob vorsichtig eine große, gläserne Vase aus einem Regalfach. Diese stellte sie auf ihre Schulter, verbeugte sich erneut, und während ein sprudelnder weißer Saft der Vase entquoll, sich
über das Regal, ihren Leib und den Boden ergoß, sprühte ein Feuerwerk rund um sie auf. "Keine hundert Schritte noch geradeaus", flüsterte sie, "und du bist bei mir angekommen. Bei uns. Und wir haben auch für dich noch immer ein Plätzchen bereit. Aber einen Tip noch: Laß deine Mutter zu Hause. Es ist vielleicht besser. Sehen wir uns gleich?" Sie stieg auf eine Säule, dann auf eine zweite, etwas höhere, setzte ihren Fuß auf eine dritte und stand nun höher, als Reik und seine Freunde saßen. Von dort oben schüttete sie den perlenden weißen Saft aus der Vase hernieder, so daß Reik zurückzuckte. Es war, als sähe sie, was mit ihren Zuschauern geschah, denn sie lachte herzlich, stellte die Vase auf einer anderen freien Säule neben sich ab, strich sich über ihren bodenlangen, metallenen Rock. "Vergiß nicht", flüsterte sie, sich in den Hüften wiegend, "die Orta-mente erwarten auch dich. Uns trennen keine hundert Schritte, und für dich habe ich immer Dienst. Solange du willst." "Wo sind wir?" fragte Reik, ohne einen Blick von der ölig glänzenden dunklen Erscheinung zu lassen. "Ebene vier von unten", erklärte Kornreck knapp. "Von unten gezählt?" Reik staunte. "Die Ortamente. Ich hätte sie irgendwo ganz oben erwartet. Bei dem Rummel, den man um sie macht. Na ja, was man eben so denkt, was . ..? Aber warte mal. .." Er wurde nachdenklich, kratzte sich den Kopf, starrte die Ortamentenerschei-nung an. "Wir sehen uns gleich?" vergewisserte sich diese noch einmal. "Du hast eine Idee?" fragte Kornreck. "Ich habe eine Idee", wiederholte Reik nachdenklich, "alle, die ich nach den Katakomben fragte, erklärten aufrichtig, es gäbe sie nicht. Oder aber sie wußten, daß es sie gibt, doch niemand sie finden kann. Die Katakomben sind also getarnt. Und jetzt fällt es mir ein. Der Name ist schon Tarnung. Katakomben sind für uns unterirdische Räume. 399 Deshalb suchen wir im unteren Teil der Ebenen. Aber erstens gibt es hier kein Unten und kein Oben - und zweitens, was sollte die Konstrukteure Gorrmorrams daran gehindert haben, die Malachitkatakomben weit nach oben zu verlegen? Die Frage ist nur: Ebene Nummer eins oder Nummer zwei? Welches ist die Chefetage und welches die Katakombe? Ja, wir waren ihnen schon auf den Leim gekrochen, und wir hätten uns garantiert totgesucht, wenn sie nicht die Ortamente in der Tiefe angelegt hätten. Was denkst du, Inula, ist es Ebene eins oder zwei?" Kornreck dachte angestrengt nach, während das Bild der Ortamente schwächer wurde. "Zwei", sagte er schließlich, "denn eins dürfte das
Liebesnest der Melaana sein. Vielleicht stehen dort auch der Schreibtisch des unermüdlichen Unfehlbaren und eine buntbemalte Kiste für Norrh. Dieser Ebene samt ihren Sicherungsanlagen sollten wir aus dem Weg gehen. Nehmen wir die zwei..." Begegnung mit dem Meister "Hoch Cerberon! Hoch Norrh!" Die das riefen, Frauen wie Männer, standen auf einem weiten Platz und starrten in einen anderen Raum, in dem sich eine wilde, kraterübersäte Landschaft befand. Tote Bäume reckten ihre geschwärzten Äste in die Luft, niedergesunkene Bauten boten einen jammervollen Anblick, während Rauch aus ihnen emporquoll, sich mit den diesigen Nebelschwaden mischte, die ringsum alles unwirklich, fast traumhaft erschienen ließen. Hoch über allem aber stand das Letzte Fahrzeug aus dem Diamanthangar, und Chooroon besaß jetzt vier grüne Augenfenster, die er auf das tote Land richtete. Die Hochrufe verstummten, Schweigen breitete sich aus. Chooroon suchte etwas. Da stieß aus einer Baumgruppe ein feiner Feuerfaden aufwärts, fand Chooroon, suchte ihn zu zerschneiden, ihm zu schaden. Doch im nächsten Augenblick barst dort, woher das Feuer kam, der Untergrund, Sandfontänen spritzten hoch, es begann Äste, Blätter und Steine zu regnen. Aus einem Kraterloch sprang ein Uniformierter, jagte in wilden Sprüngen davon. Mitten im Lauf löste er sich auf, war nichts als glühender Staub, den der Wind zerstreute. Und wieder erklangen die Hochrufe, rauschte der Beifall auf. Diesmal wurden Norrh und Melaana gefeiert. Doch noch während der Beifall toste, löste sich das trügerische Bild langsam auf. Chooroon, die Landschaft und der Himmel. Eine grüne Wand aus Malachit zierte den Ort, an dem die Zuschauer den Übungseinsatz des Letzten Fahrzeugs hatten beobachten können. Reik, Agia und Kornreck lagen hinter einem Stein in Deckung und 400 beobachteten nun, wie die Zuschauer sich allmählich verteilten. Alle trugen rotviolette Hemden oder Blusen und weiße Hosen die Männer, weiße bodenlange Kleider die Frauen. "Chooroon vieräugig", flüsterte Kornreck, "möchte wissen, wer die anderen beiden Fenster bedient." "Eins", verbesserte Reik, "drei haben sie schon immer gebraucht. Nur Nummer vier . .., wir werden es bestimmt noch sehen." Inzwischen waren alle, die dort gestanden hatten, durch eine dreifache Steintür getreten, die sich, nachdem der Vorplatz leer war, fauchend schloß. "Die ist zu", stellte Kornreck fest und setzte sich auf. Reik folgte ihm, aber Agia blieb liegen, das Gesicht dem Boden zugewandt.
Kornreck deutete auf sie, und Reik hob ihren Kopf leicht an. Er sah, daß sie weinte. "Was hast du?" fragte er. Sie konnte nur stammeln, aber schließlich brachte sie heraus, daß sie meinte, nun sei ihre letzte Stunde gekommen, weil Chooroon, den sie noch nie gesehen hatte, erschienen war. "Das war nur eine Vorführung", erklärte Reik, "aber mein Freund, Inula Kornreck, der hat Chooroon gegen eine Wand geschleudert. Glaub es ruhig, auch wenn sie davon sicher nie etwas berichtet haben. Also, wenn Chooroon auch ankommt, wir sind nicht verloren." Langsam beruhigte sich Agia. Aus einem schmalen Seitengang trat ein Uniformierter, der langsam vor den Türen auf und ab patrouillierte. Vorsichtig schob Kornreck zwei seiner Hände vor, öffnete sie in Richtung des Postens, der, kaum daß jenes helle glasige Licht ihn traf, zur Seite kippte und schnarchend schlief. Kornreck eilte zu ihm, löste dessen Gorrmorrator vom Gürtel, brachte ihn den Freunden. Es war ein einfaches Gerät mit vier Sensortasten, auf denen ein Blitz für Alarm, eine offene und eine geschlossene Tür und ein stilisierter Offizier abgebildet waren. Gemeinsam durchquerten die drei nun die Halle, wählten eine kleine, an der Seite liegende Tür und bedienten die Schaltung "Öffnen". Die Tür schwang auf, sie traten in die erste Arbeitshalle, ohne daß man von ihnen Notiz nahm. Sie durchmaßen die Halle, erreichten eine zweite, eine dritte, ohne daß sie mehr sahen als allerhand Teile, die automatisch montiert wurden. So irrten sie fast eine Stunde umher, ehe sie an eine metallene Schleuse kamen, auf die ein feuerspeiender Drache gezeichnet war. "Hoffentlich kann man sie mit unserem Gerät öffnen", murmelte Reik. Doch bevor er die Taste berühren konnte, wurde die Schleuse aufgestoßen, und ein Kolosser und eine Kolosserin traten heraus. Sie trugen die ovalen Scheiben kampfbereit vor sich. Aber noch ehe sie 401 etwas unternahmen, erblickten sie den Programmgeber in Reiks Hand. "Moos und Blutenstaub", brüllte der Kolosser. "Außenkontrolle? Was ist denn geschehen?" "Oh", antwortete Reik, "es ist schrecklich - aber ebenso geheim." Der Kolosser, der Reik aufmerksam beobachtete, entdeckte jetzt den goldenen Gorrmorrator. Sein Mund öffnete sich. "Ich melde getreu", rief er, "daß es in unserem Abschnitt nichts Ungewöhnliches gibt, Oberkommandierender!" "Das ist gut", sagte Reik und warf Kornreck einen vielsagenden Blick zu, "also nichts Besonderes. Und trotzdem ist es von außerordentlicher
Bedeutung für mich, sofort und auf der Stelle den Meister zu sehen! Ich muß zu ihm!" "Bei Una", der Kolosser stöhnte, "der Befehl ist schon in Kraft: Nur er, der Unfehlbare, und Melaana dürfen zu ihm. Was soll ich tun?" "Öffnen!" befahl Reik, "öffnen und uns passieren lassen! Ich ändere den Befehl ab. Nur wir und der Unfehlbare dürfen zu ihm. Was hat die Fürstin hier zu suchen? Mach auf!" Der Kolosser schluckte, wischte sich den Schweiß von der Stirn, ohne den goldenen Gorrmorrator aus den Augen zu lassen. Schließlich öffnete er, ließ die Freunde passieren. Sie standen auf einer breiten, freundlichen Straße. Reliefartig waren Gräser, Sträucher und Bäume aus Malachit geschnitten. Vögel sangen, Insekten summten, und es rauschten die Baumkronen. Die Hallen, in denen eifrig gearbeitet wurde, waren klein und freundlich hell. Die Beschäftigten glitten auf Rolleisten von einem Wirkplatz zum anderen. Zumeist aber steuerten sie nur Automaten, die jegliche Tätigkeiten ausführen konnten. "Das ist kein Elendsquartier", stellte Kornreck sachlich fest. Hier an diesem ruhigen, angenehmen Ort gab es keine Kolosser oder andere Überwacher. Ohne alle Hast durchliefen die drei Freunde die Straßen, begutachteten Werkstätten und Projektionsräume, suchten den Meister zu erkennen. Manchmal waren sie im Zweifel, aber dann war es die Kühle des Steinernen Kopfes, die ihnen eine Frage ersparte. Schließlich erreichten sie eine lange Treppe, die auf einen künstlichen Hügel führte, auf dem, erleuchtet von ungezählten Lichtfingern, ein großes Oktaeder stand. Seine Außenwände waren mit dem Bild des Steinernen Kopfes verziert. Reik und seine Gefährten waren zweifellos am Ziel. Er öffnete vorsichtig die Tür, und zu dritt traten sie ein. In einem Schlauchsessel, die Beine bequem von sich gestreckt, saß ein Mann mit einem dichten, langen Bart, in dessen dunklen Haaren 402 silberne Fäden schimmerten. Er betrachtete lächelnd seine Besucher. "Ich sehe ihn", sagte er, "auch ohne daß du das Futteral öffnest. Er ist es, der mir nicht mehr aus den Gedanken geht, seit er verloren scheint. Mein maschinelles Kind wird mir zurückgebracht. Es ist eine große Stunde für mich." "Dann", Reik blickte dem Meister gerade in die Augen, "bringen wir Ihnen eine Enttäuschung, denn der Steinerne Kopf ist dem Unfehlbaren nicht mehr Untertan. Er tötet nicht wahllos auf Befehl. Er fragt sich: Warum soll ich diesen angreifen, und warum soll ich jenen vernichten? Und wenn die Antwort unbefriedigend für ihn ist, dann bleibt er stumm."
"Das ist nicht möglich", rief der Meister erstaunt, zog die Beine an den Leib, neigte sich vor, "er ist entstanden, die letzte, große Schicksalsschlacht zu entscheiden, entstanden, den Menschen ihr Fehldenken abzugewöhnen, sie dem Unfehlbaren anzupassen ..., und dann sagst du mir das! Bei Una, so ist meine Arbeit wertlos? So sind meine Gefühle versehentlich transferiert worden? Ich will es nicht glauben! Höre, Glastropfensöhnchen! Befreie dich aus dem Futteral, kehre zu mir zurück, denn du bist zu Hause!" Es grollte in dem Futteral, und Reik schrie "Au!", denn einen Augenblick lang spie der Steinerne Kopf Hitze aus. Doch gleich darauf wurde er stumm und kühl. "Also doch", bleicher noch, als er ohnehin war, wurde der Meister, "verloren für mich ..., verloren für uns ..., verloren für das Universum." "Sie haben wunderbar gearbeitet", lobte Kornreck, "Sie ahnen ja nicht einmal, welch gelungenes Werk jener dort ist." "Ihr könnt das nicht verstehen", erklärte der Meister, "am Anfang meines Lebens beginne ich ein Spiel. Der Einsatz steht fest: dieses Leben. Nun, spiele ich schlecht, verliere ich den Einsatz an andere. Spiele ich gut, bekomme ich ein oder zwei Leben dazu. Jetzt setze ich diese ein, meins schonend. Ich kann wieder gewinnen, und nun sogar mehrere verschiedene Spiele beginnen. Die Ferolds häufen sich, und ich kann mir alles leisten, was man sich nur denken kann! Sicher, werdet ihr sagen, aber die, die das nicht vermögen? Sie hoffen, solange sie leben, darauf, eines Tages mitzuhalten. Eine Erbschaft, ein Schatz, Lotterie ... Und jeder denkt: Vielleicht verlieren wir die Schlacht, so daß Humanos uns übernimmt. Na und? Aber ehe das geschieht, will ich alles erlebt haben, was erlebbar ist. Das treibt uns, deshalb meine ich, daß meine Glastropfenmaschine eine Fehlkonstruktion ist... Nun, was wollt ihr von mir?" "Den Kode", erklärte Reik, wissend, daß er den nicht bekommen würde, "mit dem wir den Steinernen Kopf entschärfen können." 403 "Und damit kommt ihr zu mir?" Der Meister schüttelte den Kopf. "Es ist die einzig brauchbare Konzeption: die Glastropfenmaschine als Bombe, ferngezündet. Und ihr wollt sie töten. Nein, nie ..." "Sie ist aber jetzt hier", ließ sich Kornreck vernehmen, "also bedroht sie Gorrmorram, Destrusos, Garsun und Ghetton . . . Ich weiß, daß es Versuche gibt, einen Fernzünder zu bauen. Doch was, wenn eine solche Konstruktion überraschend einen Erfolg zeigt? Wie, wenn der Steinerne Kopf unverhofft gezündet wird? Was bleibt dann noch von eurem Reich?" "Nichts", antwortete der Meister, und seine Augen flackerten unruhig, "aber wir..., wir arbeiten nicht an dem Zünder... Vielleicht Norrhs
maschinelle Ingenieure... Aber sie würden die Entladung auch nicht überstehen ... Ich begreife das nicht." "Generationen", sagte Reik, "haben an diesem Steinernen Kopf gearbeitet. Sie, Meister, haben ihn vollendet. Er sollte eine Aufgabe erfüllen, aber er weigert sich. Und er wird sich weiterhin weigern. Und Sie wären bereit, all die Mühen, all die grandiosen Einfälle und Gedanken samt ihren Trägern vernichten zu lassen? Dazu wären Sie bereit? Ich kann das nicht glauben." "Manchmal ist der Tod ehrenvoller", erwiderte er, "als ein Abstieg." "Auch der Tod von ungezählten Gorrmorramern?" sagte Reik. "Hör auf mit den Fragen", rief der Meister unbeherrscht, "du hast recht. Alles ist wahr, ja doch, natürlich ... Und dennoch kann ich ihm nicht das Leben nehmen. Ich kann es nicht." "Achtung!" rief Kornreck heftig, "Reik, wir müssen fort. Chooroon ist im Anflug! Schnell..." "Also?" fragte Reik noch einmal, aber der Meister saß, schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. Er wollte wohl noch etwas sagen, doch sein Kopf sank ihm auf die Brust. "Sehen Sie", Reik zog den goldenen Gorrmorrator aus der Tasche, "wir können, wenn wir wollen, in einer Hundertstelsekunde dort sein, wo die Maschinen stehen, die Ihre Stadt am Leben erhalten..." Er schwieg, sah den Meister fest an. Der Meister hatte den Kopf gehoben, versuchte Reiks Blick standzuhalten, aber es gelang ihm nicht. Seine Augen wanderten unruhig hin und her. "Kann ich auch nichts machen", murmelte er schließlich. Gejagt von Chooroon "Nun, Meister", Kornreck drängte, während er sprach, Reik und Agia aus dem Raum, "jetzt werden Sie den Zweikampf Ihrer Produkte ansehen können. Aber vergessen Sie nicht: Wenn Chooroon unterliegen 404 sollte, wird es ein Feuerwerk geben, wie Sie das noch nie erblickt haben, denn Chooroon wird dann nichts mehr verschonen." Der Meister riß den Mund auf, vielleicht daß er noch etwas sagen wollte, aber er war allein. Die Freunde liefen einen der Gänge entlang, krochen durch einen Luftschacht und tauchten inmitten einer Maschinenanlage wieder auf. Sie suchten Deckung hinter einer großen Maschine. Kornreck faltete in aller Eile ein staubgraues Tuch auseinander, legte es Agia über und verknotete eilig die Schnüre an diesem Tuch. "Kämpfen?" fragte Reik. "Man müßte wissen", erwiderte Kornreck, "was sie an Neuerungen haben. Hoffen wir nur, daß es nichts ist, was speziell gegen den Steinernen Kopf gerichtet ist."
Lautlos erschien am anderen Ende der mächtigen Halle Ghooroon. Kornreck faßte Reik und Agia, bediente heimlich den Gorrmorrator. Sie standen in der Containerebene, liefen zu den Behältern, glitten mit ihnen bis zu einer Ecke, hinter der sie eilig verschwanden. Keine zehn Sekunden später füllte grünliches Licht den Gang vor ihnen. Der sanfte Schein verstärkte sich. Reik nahm den Steinernen Kopf aus dem Futteral, richtete ihn gegen den Hauptgang. "Weg kommt keiner mehr", hörten sie eine wohlbekannte Stimme, "hier spricht Melaana von Zitadorra, die Oberbefehlshaberin und ein405 zige Beraterin des Unfehlbaren. Einen Vorschlag an Grauwolf vom Föhrenhain: Liefern Sie mir Regenbach aus, dann können Sie samt der Maschine abziehen. Weigern Sie sich, erwartet euch alle ein qualvoller Tod." "Sie meint anscheinend dich", rief Reik aus, "sie läßt euch laufen, wenn ihr mich ausliefert. Ist doch einerlei, was sie dir für einen Namen gab." ,Ja, vielleicht meint sie mich", sagte Kornreck, "und hat nur die Namen verwechselt, verkalkt wie sie ist. Aber glaubst du, ich würde dich hergeben?" "Doch warum will sie uns laufenlassen?" fragte Agia ängstlich. "Ich habe es gewußt", Reik blickte finster durch den Gang, hielt den Steinernen Kopf unentwegt nach dorthin gerichtet, "nicht einmal die Maschine interessiert sie mehr. Sie will Rache, nichts als unbeherrschte Rache, wegen Zitadorra ... Was mich im Fall meiner Gefangennahme wohl erwartet...?" "Das ist eine bekannte Kriegslist", tröstete Kornreck den Freund, "und doch immer wieder wirkungsvoll: Denkst du, sie würde mich gehen lassen? Als Zeugen ihrer Schwäche würde sie Agia und mich noch vor dir töten." "Die Stadtgrenzen sind so gesichert, daß niemand hindurch kann", erklärte Melaana, "die Landesgrenzen ebenfalls. In all unseren Etagen stehen Abfangkräfte bereit. Ihr kommt nicht weit." "Hörst du uns?" fragte Kornreck. "Ja", kam augenblicklich die Antwort, "aber ich höre euch nicht nur, sondern sehe euch auch ausgezeichnet. Und wärt ihr nicht solche jammervollen Anfänger, könnten wir uns gegenseitig in die Augen blikken." "Die grünen Gläser", flüsterte Kornreck, und sie nahmen die Gläser, hefteten sie an ihre Stirnen. Wo Chooroon war, konnte Reik nicht sagen, aber er blickte in das Innere der Maschine. An drei Fenstern saßen Melaanas, während das vierte Norrh innehatte. Doch Norrh sah nicht meJhr wie eine allmächtige,
allwissende Maschine aus. Unruhig schaute er abwechselnd die Melaanas an, zwischen denen es nicht die geringsten Unterschiede gab. "Es wird mir ein Vergnügen sein", behauptete Kornreck, "dich und deine liebreizenden Töchterchen auf den grünen Platz neben Medu-son zu befördern. Wie geht es ihm übrigens?" "Zwerg", erwiderte Melaana, "du übernimmst dich. Ich habe seine Qual beendet und ihn abgeschaltet. Ich würde auch deine Qual beenden und dich abschalten. Aber nicht die des Reik Regenbach. Mein Volk.... er hat es vernichtet. Und meine einzigen Töchter hier, sie 406 werden erst in zweihundert Jahren fruchtbar sein. Nicht anders als ich. Liefer dich selbst aus, du Mörder ..." "Wenn ich komme", sagte Reik, "dann bringe ich den Steinernen Kopf mit. Und dann schleudere ich ihn von mir, Melaana... Nimm Abschied von allem ..., auch von deinem Leben." "Das tust du nie!" rief sie heftig aus, ohne überzeugend zu wirken. Daraufhin trat eine beklemmende Stille ein. Kornreck musterte Reik kritisch, legte dann dem Freund die Hände auf den Unterarm. "Millionen Leben liegen dann in deiner Hand", sagte er ganz ruhig, "und ich weiß, daß du die richtige Entscheidung treffen wirst." "Ihr habt noch acht Minuten Bedenkzeit", verkündete Melaana. "Schau doch mal", sagte Reik, denn er sah in seinem grünen Glas, wie winzige Spindeln die gesamte Ebene in ein bräunliches Netzgitter hüllten. Nur noch an wenigen Stellen war das Gitter nicht komplett. "Falle!" antwortete Kornreck und schleuste sich und seine Gefährten mit dem Gorrmorrator in eine andere Ebene. Doch als sie auf einer Straße standen, unweit eines langgestreckten Parks mit Teichen und Bächen, zeigten sich auf ihren Armen und Beinen kleine Brandmale, die heftig schmerzten. .Jetzt hätte sie uns beinahe gehabt", schimpfte Kornreck, sich die Arme vorsichtig reibend. Sie liefen in den Park, ließen sich zwischen zwei unbesetzten Schwanbooten ins Wasser gleiten, kühlten so ihre Wunden. Eine Gruppe glühender Dreiecke zog an der Himmelsdecke vorüber, ohne daß sie die Flüchtlinge bemerkten, die einfach untergetaucht waren. "Wie geht es?" fragte Kornreck, der einen besorgten Blick auf Reik warf. "Herrlich mies", sagte der, einen Mundvoll Wasser ausspuckend, "kann es jemandem besser gehen als uns? Bei unseren Erfolgen." "Ich habe dich verstanden", sagte Kornreck, "und wir denken beide dasselbe: Wir sind Gejagte, haben nicht einmal Zeit, uns in Ruhe etwas zu überlegen. Wir werden ihnen leicht in die Falle gehen. Wollen wir umkehren?"
"Und wofür habe ich mich abgeplagt?" fragte Reik finster. "All die Gefahren und Anstrengungen. Es gab Verletzte, Tote sogar... Und ich kehre um ... Das kannst du nicht meinen, Inula!" "Als du kamst", erläuterte Kornreck die Situation, "da warst du für die hier eine nette Unterhaltung. Ein ahnungsloser, kleiner Humanide, mit dem sie ihren Spaß hatten. Sie hätten dich zu Melaanas Schoß-püppchen aufblasen können ... Aber aus Spott wurde Haß! Meduson ist nicht mehr da, Melaanas Nachkommen sind ausgelöscht. Du bist 407 für sie nur noch eine furchtbare Gefahr. Und was fast undenkbar war: Melaana hat die ersten Fehler begangen. Doch Fehler haben die böse Eigenschaft, sich zu potenzieren." "Das stimmt", sagte Reik, "du hast ja gehört, was sie für mich geben würde, wenn mich einer auslieferte. Also, was tun wir?" Chooroon tauchte am fernen Horizont auf. Und es war zu sehen, daß unter dem Letzten Fahrzeug eine tosende Feuerwand stand, daß Chooroon alles niedermähte, was seinen Weg kreuzte. "Du hast es gesagt", rief Reik, "und da sehen wir den Beweis!" Er faßte Agia, hielt sich an ihr fest, derweil Kornreck auf seine Schulter kletterte, den Gorrmorrator hervorzog und eine seltsame Symbolfolge eintippte: Otta mulga esse tiir. .. Sie standen klatschnaß in einem dämmrigen Raum. Durch das Fenster blickte trübes Tageslicht herein. Zwei Gorrmorramer, die etwas wie Stroh auf dem Rücken trugen, zogen gebeugt vorbei. Schmutzgraue Kinder lungerten herum, streckten jedem, der an ihnen vorbeikam, die offenen Hände entgegen. Ein wackliges Fahrzeug rumpelte ächzend die Straße entlang. Die Häuser standen dicht voreinander, so daß es nur wenig Raum zwischen ihnen gab. Eine Gruppe Halbwüchsiger lutschte einige lackglänzende Farbbilder aus, auf denen Melaanas Schädel abgebildet war. Das. schwache Dröhnen der Stadtmotore war unüberhörbar. In dem Raum aber erblickten die Freunde einen Mann und eine Frau, die aufsprangen und den unerwartet Erscheinenden skeptisch, wenn nicht feindselig entgegenstarrten. "Mutter", rief Agia, lief auf die Frau zu und umarmte sie. "Agia", antwortete diese, strich ihr sanft über das Haar, lächelte, "Agia ..., hast du deine Stellung bei der Fürstin verloren?" "Mutter", sagte Agia und zog die Kennkarte aus ihrer Tasche, "die Not ist gebannt. Sieh doch, was ich hier habe." Die Frau wurde blaß, zitterte wie ein Herbstblatt im scharfen Nordost, nahm die Karte an sich, drehte und wendete sie. "Wo hast du sie her?" fragte sie ihre Tochter, während sie die Karte an ihre Brust drückte.
Da berichtete Kornreck, was er beobachtet, was ihm der Furone sterbend gesagt und worum er ihn gebeten hatte. "Du bist der Humanide?" fragte die Frau abweisend. Kornreck blickte ihr, ohne zu antworten, in die Augen. "Ihr wart das", entschied sie, "niemand läßt einen Kameraden allein, wenn er in Not ist. Und es ist nicht mehr als recht und billig, wenigstens die Karte meines Mannes auszuliefern. Geht jetzt..." "Soll ich auch gehen?" fragte der Mann mit dunkler voller Stimme. 408 Reik erkannte ihn sofort wieder, denn es war der, dessen Sohn er aus den Glaugertürmen geholt hatte. "Aber warum?" fragte die Frau mit einem falschen Lächeln. "An unserer Beziehung muß sich doch nichts ändern .. ." "Wirklich nicht?" fragte der Mann. "Ich bin Sagaion, der Brotdieb. Du bist von nun an eine geachtete Kriegerwitwe, die ein ordentliches Auskommen haben wird. Und da sagst du, es ändert sich nichts? Du kannst deine Töchter zurückfordern. Sie werden heiraten und so einen neuen bescheidenen Wohlstand in dein Haus tragen. Aber ich? Ich bin immer noch der begnadigte Oberkommandierende der verlorenen Großabteilung ... Und dann: Ich glaube diesen Humaniden, denn der eine hat meinen Sohn von Hypnoston zurückgeholt. Und er verlangte keinen Gegendienst. Außerdem weiß ich, wie es bei Einsätzen zugeht. Die Sache mit deinem Mann ist doch kein Einzelfall. Was meinst du, wieviel wir Angaria andichten, um unsere eigenen Fehler zu vertuschen." "Was redest du da?" empörte sich die Frau. "Wer sagt dir, ob nicht die Rettung deines Sohnes ein Schachzug war, damit sie nun um so leichter eine wohlanständige Frau für ihre Zwecke mißbrauchen können. Der Unfehlbare warnt uns immer wieder vor Gutgläubigkeit und Vertrauensseligkeit." "Mutter", sagte Agia, "eigentlich wäre ich schon tot ohne ihn. Sie wollen nichts Böses. So glaube wenigstens mir." "Manchmal", erklärte die Frau erhobenen Kopfes, "ist der Tod ehrenvoller als ein Leben an der Seite von Feinden. Ich glaube ihnen nichts." Agia und Sagaion wechselten einen schnellen Blick. "Ich denke", sagte die Frau, "jetzt rufe ich bei der Infokeule an und leite meinen Umzug in die Wege. Inzwischen kann Agia sich im Personenstandsregister vorstellen. Sie wird dort erfahren, warum sie hat sterben sollen. Teile ihnen mit, daß du dich von den Spionen gelöst hast, dann werden sie schon Gnade walten-lassen. Und du, bester Sagaion, ich werde dich rufen, sobald ich eingerichtet bin und meine ehrenhaften Töchter wieder unter meinem Dach sind. Es ist das beste."
"Sagaion", Agia wandte sich an den Brotdieb, "könntest du statt des verlorenen Sohnes nicht eine Tochter gebrauchen?" "Immer", antwortete der, legte seinen Arm um die Schulter des Mädchens und ging mit Agia grußlos durch die Tür hinaus auf die Straße. Die Frau sah ihnen einen Moment nach, als müsse sie etwas unternehmen, doch dann, mit einem Blick auf die Kennkarte, lächelte sie erhaben, trat an die Rufanlage, derweil Reik und Kornreck mit Hilfe des Gorrmorrators verschwanden. Sie tauchten in einem hocheleganten Raum auf, ließen sich, kaum 409 daß sie angekommen waren, niedersinken und rührten sich sekundenlang nicht. Vorsichtig krochen sie hinter einen breiten schallschluckenden Vorhang. Wenig später deutete Reik erschrocken auf vier schwachgrüne Lichter, die den Vorhang sanft erleuchteten. Die Kabinenfenster Choo-roons wurden sichtbar. Kornreck griff nach Reik, schaltete den Gorrmorrator um. Sie befanden sich noch immer im Bereich der obersten Etagen. Sie standen auf einem mächtigen Vorplatz, der von hochaufragenden steinernen Kriegern gerahmt war. Sie tasteten den Gorrmorrator aus, liefen dann in großer Hast zu den Steinfiguren, zwischen denen sie Deckung suchten. "Norrh übersieht tatsächlich nichts", sagte Reik schnaufend, als sie unter dem marmornen Schild eines Sitzenden Schutz gefunden hatten. "Ich fühle, daß sie eine Schlinge um uns gelegt haben, die sie unablässig zuziehen. Man müßte wissen, wie weit sie uns gefolgt sind." "Der Steinerne Kopf verbirgt uns doch", sagte Reik. "Nur auf Zeit", erwiderte Kornreck, "sicher, sie sehen uns nicht, aber sie erblicken eine Leerstelle. Und es ist schließlich einerlei, ob sie nach uns beiden oder nach einer Leerstelle in den Bildern suchen. Sie werden uns finden, wenn sie uns nicht schon haben." "Und was tun wir jetzt wirklich?" "Wollen wir sie verblüffen?" fragte Kornreck. "Wir könnten nach Zitadorra gehen, um uns dort einzuigein. Wir könnten von dort aus einen Angriff beginnen, denn Zitadorras Mauern sind stabil." "Oder wir begeben uns noch einmal in die Katakomben", schlug Reik vor, "vielleicht hat der Meister seine Ansicht geändert." "Und warum sollte er?" fragte die Zarppe. "Nehmen wir an", sagte Reik, "er hat inzwischen begriffen, daß seiner geliebten Stadt Gefahren drohen. Von uns, aber ebenso von Choo-roon. Dann ist es doch möglich, daß er die Situation entschärfen will... Du
weißt, daß wir dann schutzlos und verloren sind .. . Das ist mir eben erst aufgegangen. Ohne den Steinernen Kopf haben sie uns sofort." Die Falle schnappt zu Sie verließen ihre Deckung, gingen vorsichtig auf ein riesenhaftes Bauwerk zu, dessen Wände aus dicht an dicht stehenden schmuckvollen Säulen bestand. In seinem Inneren sprühten phantastische Regenbogenlichter. 410 "Das ist ein sicheres Versteck", sagte Reik, als sie die erste Säulenreihe erreicht hatten, "hier findet uns selbst Norrh nicht." "Reik", Kornreck sah den Freund groß an, "wir wollen uns nichts vormachen. Du weißt so gut wie ich, daß erstens Norrh auch diesen Platz kennt und daß es zweitens gar keine Rolle spielt, ob wir uns verborgen halten oder nicht. Nur eins zählt: Wir müssen noch einmal in die Katakomben, und das, obwohl dort sicher ein großes Aufgebot steht, uns zu empfangen. Alles andere ist ein Umweg, ein Opfergang, der uns keine Vorteile verschafft." "Dann . . .", sagte Reik, "dann müssen wir eben. Je eher, desto besser. Oder?" Sie traten tiefer zwischen die Säulen. Aber da war es Reik, als hätte sich einer der steinernen Krieger auf dem Vorplatz bewegt. "Was ist denn das?" fragte er, deutete dorthin, wo er jene Bewegung wahrgenommen hatte. "Was ist los?" Kornreck betrachtete die Stelle, auf die Reik zeigte. Da sah auch er, wie sich jener Krieger ein wenig bewegte, den Schild, der ihnen Deckung gewesen war, anhob, darunterblickte, dann den Kopf drehte und aus toten, steinernen Augen die Säulenhalle begutachtete. Von Unglauben erfüllt, beobachteten die beiden Gefährten das marmorne Wunder. "Ein Trick", murmelte Kornreck, "sie wollen uns verwirren." "Was ihnen ja auch bestens gelungen ist", schrie Reik, denn in dem Moment tauchte hinter den steinernen Kriegern eine große Gruppe glühender Dreiecke auf, die auf alles feuerten, was in ihrer Reichweite war. Die Standbilder zersplitterten, Risse taten sich im Boden auf. Reik zerrte das Futteral nach vorn, richtete es auf die Dreiecke, die gleich darauf taumelten, das Feuer einstellten und ihre Flugrichtung verloren. Kornreck verstaute hastig den goldenen Gorrmorrator in dem Futteral. "Sie haben uns", beantwortete er Reiks fragenden Blick, zeigte nach rechts und links, wo in mehreren Reihen blaue Scheiben heranzogen, die alles unter sich in einen undurchsichtigen Nebel tauchten.
"Das wollen wir erst einmal sehen", stieß Reik hervor und blickte zornig den neuen Angreifern entgegen. Doch da traf ihn der rote Strahl Chooroons in den Rücken. Reik wollte sich noch umwenden, begann auch die Drehung, ehe ihm die Beine wegknickten, ehe mit weit geöffneten Armen sein Sturz anfing, der auf dem harten Marmorboden ein jähes Ende fand. Als Reik die Augen öffnete, war alles weit abgerückt, schien sich in großer Entfernung von ihm abzuspielen, berührte ihn schon nicht 411 mehr. Nur undeutlich gewahrte er die beiden warmen Hände auf seiner Stirn, die er für die Hände Kornrecks hielt. "Ich bin Agia", sagte eine zarte Stimme, "sie haben mich ergriffen und zu dir gesperrt. Freust du dich?" "Wo ist die Zarppe?" fragte Reik unaufmerksam. "Das weißt du doch", erwiderte das Mädchen, "er hat es dir gesagt. Er ist auf dem Wege nach Humanos. Er meint, das sei der einzige Weg. Sie können dich austauschen gegen destrusische Gefangene. Das einzige Problem", fuhr Agia flüsternd fort, "ist der berechtigte Zorn der Fürstin gegen dich. Du weißt doch noch: Du hast die kleinen Melaanas getötet. Und das wird sie so schnell nicht verwinden." Sie streichelte ihm sanft den Kopf. Reik lag ganz gelöst auf dem steinernen Boden der Zelle. "Sie haben mich vergiftet, stimmt's", sagte er, ohne daß es ihn zu berühren schien. "Nicht wirklich vergiftet", erklärte das Mädchen, "dasselbe, was Mar-fus immer schluckte: Noganogablütenwasser." "Ist doch gleich, wie es heißt", Reik winkte liegend ab, "Hauptsache, die Zeit vergeht schnell. . ., bis zum Abtausch." "Austausch", verbesserte sie ihn leise. "Einerlei", murmelte der Angesprochene, "alles egal... Und das hier, ist das Zitadorra?" "Wir sind im Privatquartier der Fürstin", antwortete das Mädchen halblaut, "sie sagte, sie wird über dich nachdenken." "Und die kann sich nicht einmal eine Lampe leisten?" fragte Reik. "Dann ist sie die ärmste Fürstin, die ich kenne. Ein paar Haushaltskerzen tun es auch ..., oder...? Aber wer so große Augen hat wie sie, der kann bestimmt im Dunklen sehen. Die ist schlau." "Hier spricht Norrh", klang da eine kalte Stimme durch den Raum, "du kannst mich hören, Kriegsgefangener?" "Meint der mich", wollte Reik wissen, "was bin ich?" "Wisse, humanidischer Spion", fuhr Norrh fort, "daß wir von nun an alles, was du tust, sagst oder denkst, aufzeichnen werden, bis wir einen zweiten Reik Regenbach herstellen können, der dir so gleicht, daß du
selbst nicht wissen wirst, wer von euch der Richtige ist. Und dann geschieht Zeremonie X-l. Also, was immer du machst, du gibst uns damit Information. Auch wenn du Agia zärtlich umgarnst..." "Das ist eine tadellose Idee", Reik freute sich, "darauf wäre ich allein gar nicht gekommen." Das Mädchen neben Reik lachte hell auf. "Weglaufen kann ich dir wenigstens nicht", ermunterte sie Reik, "unser Zimmer ist klein." "Na bitte", Reik lachte leise, "hat also auch seine Vorteile . . ." "Nun schlaf", befahl Norrh, "denn wir müssen erst bestimmte Vorbereitungen treffen." 412 "Ich denke nicht dar..,", murmelte Reik, kippte nach vorn und war schon eingeschlafen. Das Mädchen erhob sich. "Dosis?" fragte sie. "Ausgezeichnet", antwortete Norrh, "Leichtigkeit ist. Oberflächlichkeit ist. Problembewußtsein erloschen. Welche Menge?" "Null Komma vier Milligramm je Kilo Körpergewicht", sagte das Mädchen. "Gut so", lobte Norrh, "ich melde es sofort deiner Mutter. Beibehalten die Menge." Es knackte einigemal, als würden Kontakte neu geschaltet. "Rufe Oberkommando", war Norrh nun zu vernehmen. "In der Schaltung", erklang Melaanas sachliche Stimme. "Er schläft", meldete Norrh, "deine Tochter hat Idealdosis gefunden, Fürstin. Die Glastropfenmaschine verhält sich ruhig. Keine problematische Reaktion." "Danke", antwortete Melaana. "Tochter? Amenii, hörst du?" "Ja", sagte das Mädchen in dem Raum, in dem Reik schlief. "Die Programmatoren haben alles durchgespielt", erklärte Melaana, "eine Kreuzung zwischen dir und ihm ist nicht möglich. Menschlicher Gensatz grundverschieden von destrusischem. Nach Austausch mit intelligenter Reikmaschine und Umlagern der Glastropfenmaschine lösen wir die Basistripel für Intelligenz, Gefühl, Durchhaltevermögen und äußere Gestalt aus seinen Zellen heraus. Es sind dann deine, du kannst sie haben. Denn du hast dich redlich abgemüht. Ende. - An Norrh! Norrh?" "Ich höre, Fürstin", antwortete die Maschine. "Wo ist Kornreck, die Zarppe?" fragte Melaana eisig. "Hat eines unserer Kampfdreiecke geentert", gab die Maschine Auskunft, "ist nach Zerstörung der Kommunikationseinheiten mit unbekanntem Ziel abgeflogen. Wir sichern alle entscheidenden Ebenen. Schicken Suchstrahlen durch alle Räume. Ende."
"Die Zarppe muß sofort geortet und vernichtet werden", wies Melaana an, "alles andere ist Zeitverschwendung." "Existiert ein Plan?" erkundigte sich Norrh. "Cerberon ist augenblicklich zu rehabilitieren", befahl Melaana, "zusammen mit meinen beiden Töchtern wird er starten. Den Energieverbrauchsplatten und den Meldungen unserer Dreiecke werden sie in Minuten entnehmen, wo die Zarppe ist. Feuer ist aus der Nachbarebene zu eröffnen. Verluste an eigenen Leuten und Material gehen zu Lasten Humanos. Alles verstanden? Dann Ausführung. Ende." "Aha", machte Kornreck, der alles mit angehört hatte, "na, dann kommt nur." Er sah sich aufmerksam in dem Dreieck um. Und als er den großen Gorrmorrator entdeckte, der in dem Schaltpult eingebaut war, lö413 ste er ihn vorsichtig aus der Verankerung und steckte ihn ein. Er öffnete die Luke, ließ das Dreieck Fahrt aufnehmen, sprang hinaus und schaute dem davonfliegenden Ding hinterher. Er warf nur einen ganz kurzen Blick auf das Gerät in seinen Händen, dann wählte er die oberste Ebene. Er vermutete Reik an dieser Stelle. Kornreck kam in einem kreisrunden Raum an, der sich himmelhoch erstreckte. In der Mitte des Raumes gewahrte er einen Thron, der von einem brodelnden, zuckenden Lichtstrom umflossen wurde. Und auf dem Thron saß einer, dessen Hirnschale aus purem Glas bestand, dessen Schultern von einem Band umkleidet waren, an dem ungezählte sanft schwingende Fäden hingen, die Quallenarmen ähnelten. Wie feine Kabel liefen seine Blutgefäße auf der Hautoberfläche entlang, seine Finger waren wächsern durchscheinend und seine Augen grellweiß und ohne Glaskörper und Pupille. Neben ihm aber, an der Grenze des ewigen Stromes, stand Melaana, und auch sie blickte Kornreck interessiert entgegen. Der wollte mit einem großen Satz zum Eingang, springen, doch reichte die Bewegung eines kleinen Fingers des Unfehlbaren, der Lichtstrom beulte sich aus, fing Kornreck ein, beraubte ihn jeder Bewegung. "Inula Kornreck nennst du dich also", sagte der Unfehlbare, "und bist doch der General Grauwolf vom Föhrenhain ... Interessant. Warst du es nicht, der meinem Oberkommandierenden auf Terfan die Niederlage beibrachte? Ich weiß es.. Und jetzt erniedrigst du dich, um für einen unreifen Menschen den Spaßmacher zu spielen. Hochinteressant. Euch liegt also einiges an der Glastropfenmaschine ... Und uns auch. Du hast meinen geschätzten Meduson existentiell gelöscht. Das ist eine Leistung, denn ihn fürchtete sogar Norrh. Meduson war Meister der Zweidimensionalität. Deshalb haben wir den Menschen an ihn ausgeliefert. Gratulation."
"Ihr vergeßt noch etwas", sagte Kornreck mühsam, "ich - nicht Reik habe in Zitadorra die ungezählten Nachkommen der Melaana vernichtet." "Ach...", der Unfehlbare richtete seine fahlen Augen auf Melaana, die unter seinem Blick zusammenschrumpfte, "so ist das also! Du, meine weiße Termite, hast gegen meinen Willen und unter Umgehung meines Wissens versucht, einen Teil meines edlen Volkes gegen deine Kretins auszutauschen! Ich habe es untersagt! Und da ich solche Zuwiderhandlungen nie ungeahndet lasse, hast du, Melaana von Ssyrr, in diesem Augenblick dein Leben verwirkt. Und ich beginne Norrh und Cerberon, dem Lenker, zu glauben... Nun, Teuerste, natürlich erkenne ich deine Dienste an. Und so erhältst du eine einmalige Chance." Er wandte seine nebelbleichen Augen Kornreck zu. "Es ist eine Tragik", begann er jetzt sehr ruhig zu sprechen, "daß ihr 414 die Leute und wir die Technik haben. Gib mir eine Million Zarppen, dann unterwerfe ich mir das Universum. Bei uns will jeder ein Unfehlbarer werden. So ist das, General. Nun, auch du wirst deine Chance jetzt haben. Die Alternativen heißen: Tod oder Arbeit in den Malachitkatakomben, nachdem man dir die gefährlichen Hände abgehackt und durch andere ersetzt hat. Ich fordere ein Duell auf Leben und Tod zwischen Melaana und dir, General. Und ich hoffe, daß du mit Anstand sterben kannst, wenn sie die bessere ist." Im selben Moment fühlte Kornreck den mächtigen Strom tödlicher Gedanken und Impulse aus Melaanas Schädel in sein Bewußtsein dringen. Deine Antennen werden taub, signalisierte sie ihm, deine Atmung wird unregelmäßig. Es macht dir Mühe, Luft zu bekommen. Dein Herz verliert seinen ruhigen Schlag. Es springt, hastet, stolpert, ohne daß es in der Lage ist, den anfallenden Blutstrom zu regulieren. Deine Nieren sind zum Bersten mit Blut gefüllt. Deine Leber hört auf, den Körper zu entgiften. Alles wird undeutlich, dein Blick umflort sich. Du verlierst die Wirklichkeit... Du bist auf dem Weg, auf dem nur Sterbende sind ... Und Kornreck mußte zugeben, daß einige dieser Impulse recht stark waren. Er hörte sein Herz hämmern, mußte tiefer als gewöhnlich durchatmen, fühlte ein Brennen und Stechen, das sich im Bauchraum ausbreitete. Die feinen Lichter in seinen Handinnenflächen erloschen vollständig, graugrün sahen nun seine Hände aus, und sein Blick verlor etwas von der Wachheit, die ihn stets auszeichnete. Kornreck konzentrierte sich, sprach sich selbst all die humanidischen Selbstheilformeln vor, spürte, wie seine Organe wieder im Gleichmaß
arbeiteten, und beobachtete voller Zufriedenheit das feine Aufflackern seiner Handlichter. Melaana verließ ihren Standort, stellte sich jetzt unmittelbar vor Kornreck auf. Ihre überdimensionalen Augen wurden starr und glänzend, ein feines Pulsieren lief über ihre glänzenden Hirnhäute hin. Der harte dunkelbraune Schnabel preßte sich zusammen. Dein Wille, sandte sie ihre Kommandos, dein Wille wird schwächer und schwächer. Es gibt nichts mehr in dir, das sich auflehnen könnte gegen die Herrschaft meiner Intelligenz. Nichts mehr, das du dem ewigen Symbol der Intelligenz, den unendlichen Zahlen, entgegenzusetzen vermagst. Anerkennen mußt du meine Herrschaft. Dein Wille erlischt. Du gibst deinen Willen auf, denn es ist das natürliche Gesetz der Schwäche, sich der Stärke bedingungslos unterzuordnen. Du gibst auf! Melaana, dachte da Kornreck, dachte es gegen die Flut der vernichtenden Impulse, höre, Melaana, ich kann dir ein Angebot machen, 415 denn du dauerst mich. Wenn du diesen deinen ungeliebten Posten aufgibst, wenn du mir dereinst nach Humanos folgen willst, an den Ort, wo ich meine Hände wiederbekommen werde, dann sichere ich dir zu, daß wir auch dir helfen, daß wir deinen geschundenen Körper befreien werden. Ich weiß wohl, welch grauenhafte Tat deinen Leib, wie er vor mir steht, schuf: Sie haben ein winziges gorrmorramisches Leben, einen Ssyrrembryo und eine Gruppe halblebendiger Intelligenzviren miteinander verquickt. Und ich weiß, daß endlose Experimente nötig waren, ehe sie das gewannen, was sie die Melaana von Zi-tadorra nennen. Nun, Melaana, so du mir folgst, verspreche ich dir, daß wir die drei Einheiten voneinander lösen, daß wir die Ssyrr ebenso existieren lassen, wie der kleine Gorrmorramer in seiner tatsächlichen Gestalt erwachen wird. Zurückerhalten sollst du all'deine gestohlenen Empfindungen und Gefühle: die Tränen und die Freude, das Glück und die Trauer. Ich garantiere es dir, Melaana, die du das bedauernswerteste Lebewesen unter allen Sonnen bist... "Genug, General!" brüllte der Unfehlbare, und der Lichtstrom warf Strudel und Wirbel, begann an der Außenwand zu kochen und zu gerinnen, "nennst du das ein tödliches Duell? Was willst du denn? Mir die Melaana von Zitadorra, dieses mein sicherstes Überwachungswesen, abspenstig machen? Noch ein einziger Gedanke in dieser Richtung, noch ein einziges verräterisches Wort, und ich lasse dich in meinem kosmischen Lebensstrom verglühen, wie ich schon Hunderttausende vernichten mußte, die mir und meinen Plänen zuwiderhandelten!"
Stirb, empfing Kornreck einen vagen, verzweifelten Gedanken der Melaana, die zitternd neben dem Lichtstrom stand und in deren Innerem ein Vulkan der unterschiedlichsten Gedanken ausgebrochen war. Melaana, dachte Kornreck, dachte es sanft und freundlich, derweil seine Augen grasgrün gegen den Unfehlbaren gerichtet waren, Melaana, fürchte uns nicht und hab auch vor diesem dort keine Angst, denn er ist ein künstlich Erhaltener, und so ist sein einziges Ziel, das gesamte Universum zu etwas künstlich Erhaltenem zu machen! "Schweig, du Unseliger!" brüllte der Unfehlbare. Und er riß all die ungezählten Schwebtentakel hoch, streckte "die Arme rachgierig nach vorn, vielleicht um Kornreck zu zerschmelzen. Doch da er sich überhastet bewegte, tanzte der Lichtstrom hin und her und gab die Zarppe für den Bruchteil einer Sekunde frei. Mit einer Bewegung, die so schnell war, daß kein Menschenauge ihr folgen konnte, hob Kornreck die vier Hände auf: Rotes, wogendes Licht durchstieß den Strom, lenkte ihn ab, ließ ihn zerfasern und kurzzeitig zerfetzen. Alarmtöne 416 jaulten auf. Beide aber, Melaana und der Unfehlbare, rissen die Hände vor das Gesicht und schrien auf. Und diesen winzigen Augenblick nutzte die Zarppe. Sie hob den Programmator, tippte mit der Antenne eine andere Ebene ein, und als Melaana und ihr Herr die Hände von den Augen nahmen, als Melaana, krank und elend in ihren Gedanken, zurücktaumelte und der Unfehlbare in sich zusammensank, minutenlang so verharrte, da wsr Inula Kornreck, der General Grauwolf vom Föhrenhain, bereits -im Transporttrakt, da zwang er eines der glühenden Dreiecke zur Notlandung, überwältigte dessen Besatzung und plante schon die nächsten Schritte, um Reik zu befreien. Norrhs tödliches Spiel "Ich sehe etwas, was du nicht siehst", rief Reik und stürzte sich auf Agia. Sie rollten, sich balgend, übereinander und maßen ihre Kräfte. Schließlich ließen sie voneinander, um Atem zu schöpfen. "Achtung", vernahmen sie da erneut jene Stimme, die immer wieder einmal ihre Spiele störte, "bitte nicht bewegen. Herzschlag einhundert acht. Atemzüge gegen normal verdoppelt. Starke Schweißsekretion. Wie fühlst du dich?" "Ich?" fragte Reik und suchte mit der Hand Agia. "Du", antwortete man ihm. "Wunderbar", sagte Reik, "ausgezeichnet. Und am allerschönsten wird es sein, wenn ich in die Ortamente komme. Das habt ihr mir versprochen. In die Ortamente . . . Ich weiß ja, wo das ist."
"Wo?" wurde gefragt. "Hundert Schritt von hier .. ., und wir sehen uns gleich", antwortete Reik und kicherte. Er tastete nach Agia, faßte ihren Kopf und hielt sich an ihren Haaren fest, die wie feine metallene Schlangen in seiner Hand knisterten. "Sie hat Goldhaare", sagte Reik andächtig, "ich kenne das von Amenii. Die hatte auch Goldhaare. Das sieht schön aus. Macht doch einmal Licht an!" Das unsichtbare Mädchen rieb ihre Haare gegen Reiks Wange. "Aufenthaltsort?" erfragte die Stimme. "In den Privatgemächern der Fürstin", antwortete Reik, "oder stimmt das vielleicht gar nicht? Sagt mal, wo bin ich wirklich? Hallo! . . ., hallo, Freundchen, antworte!" "Bericht: Amenii von Zitadorra", verlangte der Sprecher. "Maximale Anpassung an mich und Noganoga. Fühlt sich ausgezeichnet", sagte das Mädchen, das sich erhoben hatte und einen Schritt von 417 Reik fort tat, "Persönlichkeitskurve ist kaum noch zu erkennen. Alles ist weitgehend nivelliert. Wie weit seid ihr mit der Kopie?" "Mehr als achtzig Prozent sind fertiggestellt", behauptete der Sprecher, "so daß schon bald der Austausch vorgenommen werden kann. Zur Zeit wird ein spezieller Dopplerraum hergestellt, in dem die Glastropfenmaschine nicht einmal registrieren wird, wenn sie von einem zum anderen wandert. Halt durch, es dauert nicht mehr lange." "Es ist mir keine Qual", versicherte Amenii von Zitadorra, "es ist ungemein unterhaltend. Zudem rührt es Bereiche in mir an, die ich nicht kenne. Ihr müßt also meinetwegen nichts übereilen, denn einen Fehler dürfen wir uns dabei nicht erlauben." "Was redest du so lange", rief Reik und suchte das Mädchen zu ertasten, doch es wich ihm aus, lachte einmal, als er auf allen vieren herumkroch, "hör auf, laß das. Wir wollen wieder spielen. Ich weiß auch schon, was . . ." "Reik", sagte da die Stimme, "hörst du mich? Du kannst gleich wieder spielen, du mußt mir jetzt nur diesen einen Satz nachsprechen: Der Unfehlbare hat mich gerettet. Angaria wollte mich verderben . . . Sag das." "Das stimmt nicht", antwortete Reik, "mich hat doch kein Unheilbarer gerettet, sondern Agia. Ich kenne den Herrn überhaupt nicht. Und Agia auch nicht, denn ihr macht uns kein Licht an. Ich sehe sie ja nicht einmal, und würde sie nicht mit mir spielen, wäre ich gar nicht mit ihr zusammen ... So ist das. Aber jetzt spiele ich trotzdem. Stimmt's, Agia?" Das Mädchen gab keine Antwort, wartete auf die Stimme von draußen.
"Ja", sagte diese unwirsch, "natürlich spielt sie mit dir. Was denn sonst. Sie hat schon mit ganz anderen gespielt." Kornreck holte alles aus dem Kampfgleiter heraus. In rasender Eile wechselte er die Ebenen, suchte sich in Leerräumen zu verbergen, huschte durch breite Tunnel und mächtige Transporterröhren, immer auf der Flucht vor seinen Jägern. "Hier spricht Norrh", hörte er aus dem Lautsprecher die Maschinenstimme, "achte gut auf das, was ich dir zu sagen habe, General. Du hast das Duell gegen Melaana gewonnen. Das war mir klar, seit ich weiß, daß ihre Tage gezählt sind. Jetzt aber bist du verloren. Cerberon konnte sich ausruhen, und da wir ihn momentan noch brauchen, haben wir ihn energetisch vollgestopft. Er wird dich finden, wo immer du dich versteckst. Du denkst, du bist klug, aber wir messen von nun an deinen Energieverbrauch und erhalten so eine wunderbare Kurve, die deinen Flug anzeigt und uns sagt, wo wir dich empfangen können. Was sagst du dazu, Spion von ASGEDAN?" 418 Kornreck antwortete nicht. Er wußte, daß Norrh die Wahrheit gesprochen hatte, aber er wußte auch, daß sie ihn sofort orten würden, so er etwas erwiderte. "Du bist klug", lobte Norrh, "weißt, daß wir dich orten können, wenn du antwortest. Aber dein Schweigen nützt dir auch nichts. Höre gut zu: Dein Freund ist seit Tagen unter Noganogaeinfluß. Er ist einer von uns. Er liebt den Unfehlbaren und haßt Angaria. Er ist verliebt in Amenii. Und Melaana hat dieser einen Teil des genetischen Satzes deines Freundes versprochen. Wir haben einen neuen Reik Regenbach geschaffen. Und wir werden auch die Glastropfenmaschine von dem einen zu dem anderen transponieren. Schweigst du noch immer?" Kornreck wählte neu. Das Dröhnen der stabilisierenden Motoren war schier unerträglich. .Jetzt hörst du sowieso, Norrh, wo ich bin", meldete sich Kornreck. "Ich kann und will es dir auch nicht verschweigen. Und du weißt präziser als jeder andere, warum ich hier bin, denn dies ist keine Flucht mehr. Hier will ich Chooroon erwarten. Hier soll die entscheidende Schlacht stattfinden." Die Lautsprecher blieben stumm. Norrh antwortete nicht. "Dann darf ich wohl jetzt die Forderungen stellen, was?" fragte Kornreck. "Punkt eins: Kein Noganoga mehr für Reik. Punkt zwei: Amenii von Zitadorra wird von meinem Freund entfernt. Punkt drei: Ihr zerstört den Pseudoreik und überspielt das, so daß auch ich zusehen kann. Das ist es schon." "Du bist ASGEDANer", erklang nun wieder Norrhs Stimme, "und als solcher würdest du nie die Millionen Bewohner töten, die in dieser Stadt
leben. Das wissen wir. Und es liegt dir noch ferner, alle anderen Bewohner Destrusos und Ghettons zu vernichten, die bei der Gewalt der Entladungen mit umkommen müßten. Du bluffst, Grauwolf. Du tust es nicht. Aber ich habe den Raum um dich abgesichert. Versuche doch einmal eine andere Ebene zu erreichen. Das geht nicht mehr. Gib dich geschlagen!" "Du denkst", rief Kornreck, "ich verschone euch?" Seine Hände griffen nach der Feuerleiteinrichtung. Erstarrt, den Knopf unter den Fingern, saß er und blickte hinaus auf die mächtigen Maschinen. "Ich sage dir noch etwas", sprach Norrh, "wenn die Katastrophe erst alles vernichtet hat, wird nie mehr irgend jemand sagen können, wie es geschah. Niemand wird behaupten können, daß du es warst. Das kann ein Materialfehler gewesen sein - oder Chooroon, der in die Ecke gedrängt wurde, oder der Unfehlbare, als er seinen Thron schwanken sah. Jeder könnte es gewesen sein. Und dennoch tust du es nicht." Kornreck versuchte eine andere Ebene zu erreichen. Doch um ihn wurde es finster. Ein Licht nach dem anderen erlosch. Er war von der 420 Energieleitung abgekoppelt. Kornreck spürte einen unerhörten Druck, der sich auf das Material des Dreiecks legte. Leise knisterten Schweißnähte. Eine erste Niete flog sirrend durch die Kanzel. Raus hier! dachte die Zarppe, während sich zugleich eine gespenstische Gleichgültigkeit in ihm ausbreitete, ich bin im Nichts eingesperrt, und es wird mich aufsaugen . . . Raus! Die letzten Lichter und Lämpchen wurden dunkel. Die Stille war nun hörbar, rauschte in den Ohren. Die Luft wurde knapp. Kornreck rang verzweifelt nach Atem. Es war ihm, als presse ihn die Decke des Dreiecks zusammen. Sie haben es doch noch geschafft, dachte er verzweifelt, Kornreck, sie haben dich reingelegt! Reik zog der stehenden Agia die Beine weg. Sie knickte um, ließ sich auf ihn fallen, hielt sich an ihm fest. So kugelten sie kichernd übereinander. "Reik", sagte das Mädchen plötzlich, "hast du nie genug?" "Es macht doch Spaß", antwortete er. "Hast du früher auch gespielt?" fragte sie weiter und tastete nach der Binde, die Reiks rechten Oberarm umspannte und unter der sich die Dauerampulle mit dem Noganoga befand, das unablässig Reik vergiftete. Er lachte bei ihrer Frage. "Früher", sagte er, "da hatte ich viel mehr Platz. Da kann man noch viel mehr machen." Es klopfte an die Tür. "Ja", sagte Amenii von Zitadorra und erhob sich, um zu sehen, wer da kam.
"Agia", rief Reik und suchte sie wieder zu fassen, "ich kann dir noch viele Spiele nennen . . . Wo bist du denn?" Die Tür schwang auf. "Ich bringe das Essen", sagte jemand. "Das Essen?" Ameniis Augen wurden riesig und tintig blau. "Das bringt niemand, es kommt auf der Rollmaschine an." "Elender Mist", schimpfte der Furone im Gang, hob ein dickes Rohr und versetzte Amenii einen Schlag, daß sie zu Boden stürzte. Aber er fing sie auf, gab einer zweiten, neben ihm stehenden Gestalt einen Stoß in den Rücken, so daß diese in die Zelle stolperte. Danach verschloß der Furonenoffizier gründlich die Zelle, packte die Bewußtlose und trug sie in einen Raum, wo er eine Klappe in der Wand öffnete, in die er Amenii vorsichtig hineingleiten ließ. Er wählte ein bestimmtes Pictogramm, drückte auf einen Knopf, und Amenii von • Zitadorra wurde weich davongetragen. Unmittelbar darauf kehrte er in den Gang zurück, stellte sich als Posten auf und achtete auf alles, was die Kommunikationsanlage betraf. 421 "Agia", sagte Reik, "wo bist du denn?" "Ich bin hier", antwortete sie mit klarer Stimme, war aber verblüfft, als Reik sie umwerfen wollte. "Du", wehrte sie ihn ab, "so haben wir nicht gewettet. Halt still!" Das letzte klang so drohend, daß Reik unbeweglich stehen blieb. Sie tastete seinen Körper ab, fand den Verband und löste ihn mit schnellen Handgriffen. Sie zog die Dauerkanüle aus Reiks Arm, kippte die Flüssigkeit aus der Ampulle und stopfte beides in einen Spalt in der Wand. .Jetzt setzt du dich", forderte sie Reik auf, der auch gehorchte. "Willst du nicht mehr spielen?" fragte er betrübt. "Warte eine Stunde", antwortete ihm das Mädchen, "wenn du dann noch Lust hast, dann können wir etwas spielen. Etwas völlig Neues. Du wirst schon sehen. Aber jetzt setze dich und schlaf ein bißchen." "Muß ich denn schon wieder schlafen?" fragte Reik beleidigt. "Ich habe mich doch gerade erst ausgeruht." "Hier spricht Norrh", meldete sich da die Maschine, "Reik Regenbach, du hörst mich. Ich kann dir eine gute Botschaft übermitteln: Inula Kornreck, die Zarppe, ist unschädlich gemacht. Sie hat sich mit mir duellieren wollen, und sie hat verloren. Nun kannst du immer spielen, denn niemand wird dich mehr daran hindern wollen. Bist du froh?" "Jaa", machte Reik und klatschte in die Hände, "aber Agia will jetzt nicht spielen." "Sie wird es gleich wieder tun", versicherte Norrh, "aber du weißt selbst, wie das ist: Manchmal muß man etwas essen, oder man muß austreten oder so. Hinterher spielt sie wieder."
,Ja . . .", sagte Reik und verstummte, denn in ihm war ein seltsames Gefühl. Er dachte, daß er sich eben mit Norrh unterhalten haben könnte. Und das wollte er nicht glauben. Aber er wußte auch, daß Norrh anders geworden war, ganz anders, als er das in Erinnerung hatte. Norrh war freundlich, aufgeschlossen. Norrh wußte viel und half immer, wenn man sich an ihn wandte . . . Reik schlief fest. Da packte ihn jemand beim Arm, riß ihn hoch, schleppte ihn durch die Zelle, dann durch einen fast ebenso dunklen Gang, riß hastig eine Tür auf und gab Reik einen Stoß, daß er in einen anderen Raum taumelte, vergeblich nach einem Halt suchend. Es war ein wunderbarer Traum, denn Reik hatte Oriana gesehen, und sie war mit ihrer Klasse in Rüdersdorf gewesen. Dort hatte sie irgendwo geschlafen, als Reik in den Schlafsaal trat und sie gewahrte. "Du bist noch eine ganze Woche hier", sagte Reik, "da kannst du mich doch besuchen kommen." Und Oriana hatte es versprochen. Und dann das: Gepackt und durch einen Gang geschleppt werden. 422 In einen Raum hineinstürzen. "Agia", flüsterte Reik leise, griff um sich. Eine andere Tür schwang auf, und herein trat, von einem körpereigenen Schein umflossen, Melaana v<5n Zitadorra. "Reik Regenbach", sagte sie, und ein freudiges Feuer glomm in ihren Augen, "liebst du Agia? Du liebst sie doch, denn eure Körper passen sich schon jetzt an. Das wird die Transplantation erleichtern." Reik starrte Melaana an, ohne zu antworten. Er begriff nicht, was sie ihm da sagte. "Und diese Tasche dort", fuhr sie fort, trat dicht an Reik heran, "sie stört euch doch nur beim Spielen, stimmt's?" "Freund", war da die wispernde Stimme, während Reik erzitterte, "ich habe sie dir schon einmal gezeigt. Ich zeige sie dir jetzt wieder. Du bist erwacht aus fremdem Schlaf, aber es wäre besser, sie wüßte das nicht. Sage ihr, daß ich dich störe beim Spielen." "Stört mich beim Spielen", wiederholte Reik unsicher. "Was ist denn?" fragte Melaana hart, "was ist geschehen?" Sie sah sich herrisch um. "Norrh", rief sie, "Norrh, melden!" "Fürstin", klang es kühl aus dem Lautsprecher. "Er denkt", zeterte sie, "wie soll das gehen?" "Sehr einfach", antwortete die Maschine, "Angaria hat euren Schädel, der sehr eindrucksvoll ist, zum Schlüsselreiz für uns erkoren. Ich meine, ihr selbst habt ihn aufgeweckt. Sonst niemanden trifft Schuld. Eure Tochter Amenii wußte diesen Reik Regenbach bestens zu nehmen."
"So", sagte Melaana, während ihre Krallen wild zuckten, "ich bin also für diesen kläglichen Menschen eine Botschaft des schwarzen Angaria ... Ich? Wachmann, kommen!" Der Offizier erschien in der Tür, verneigte sich, blieb in dieser verkrümmten Haltung stehen. "Sag meiner Tochter", flüsterte Melaana grimmig, "sie soll die Noganogamenge so lange erhöhen, bis dieser dort nicht mehr weiß, ob er ein Mensch oder ein Melaaner ist!" "Zu Befehl, Fürstin", antwortete der Offizier. "Ich komme schon bald wieder", drohte Melaana, "und dann will ich einen sehen, der jubelnd in meine Arme stürzt und mich empfängt, wie er zärtlicher die eigene Mutter nicht empfangen kann. Im anderen Fall werdet ihr alle, Norrh eingeschlossen, Ssyrrfutter!" Zornig entfernte sie sich. Beunruhigt machte Reik einen Schritt auf den Offizier zu. Da flammten rundum kleine Punktlichter auf. Der Furonenoffizier winkte ihm zu, sie gingen eilig zu der Zelle, öffneten sie: Das Mädchen trat heraus. 423 "Was war denn mit mir los?" fragte Reik. "Ich habe mich mit Norrh unterhalten . . . Mit Amenii gespielt. . . Lauter böse Träume." "Du warst ohne Bewußtsein", erklärte der Offizier, "das war dieser Noganogadreck, den sie in dich pumpten. Aber das dürfte nun vorbei sein ... Und jetzt: Folgt mir, wir haben nur wenig Zeit." Dem Gefangenentrakt schlössen sich die Säle der Melaana an. Es gab keine Sitzer, sondern nur stählerne Wände und Deckenklammern, an denen die Fürstin hängen mochte. Aber da waren auch Schlingen und dünne Kettengebilde, Halterungen für Gorrmorramer. Und als Reik fragte, was das sei, antwortete der Offizier, ohne auf Einzelheiten einzugehen, daß dies mit der speziellen Form der Nahrungsaufnahme der Melaanen zusammenhing. Reik wurde es übel, und Agia taumelte hinter ihnen drein, zu schrecklich war die Vorstellung, die die Andeutung in ihnen auslöste. Als sie einen fünften Saal erreichten und darin erstes, sanftes Außenlicht sahen, kam ihnen Cerberon entgegen. "Ihr wißt es also schon", rief er und lachte zufrieden, "ihr seid dabei, wenn ich diesen kleinen Antennenteufel zertrete. Kommt, steigt schnell ein. Aber du nicht!" Das letzte war an den Offizier gerichtet. "Hör mal, Cerberon", sagte der ruhig, "du wirst doch nicht einen alten kampferprobten Offizier mit der Fürstin hier allein lassen wollen? Ich muß doch auf die beiden aufpassen."
"Komm schon", Cerberon schlug dem Offizier leicht auf die Schulter, "vielleicht sind wir draußen schon zusammengewesen, was? Da muß man einander beistehen." Sie stiegen ein, und Reik staunte, wie geräumig das Fahrzeug im Inneren war. Rotsamtene Sitzer luden zum Ausruhen ein. Und kaum daß die Passagiere saßen, als sämtliche Bildwände zum Leben erwachten und immer das gleiche Bild zeigten: Männer und Frauen, vor ihren Unterhaltungswänden sitzend, neben sich filigranzarte Achtecke, die sie in einen Schlitz steckten. Manchmal kamen Achtecke aus einer Hauptklappe, oder aber die eingeworfenen Chips blieben verschwunden. Reik blickte interessiert den Spielern zu. Dann wandte er den Kopf, sah seinen Bewacher an, der ein Schwarzglas vor dem Gesicht trug. "Dreh dich um, Reik Regenbach", sagte da eine sachliche Stimme, "und höre, was ich dir zu sagen habe." Reik blickte in Norrhs seelenlose Augen. "Siehst du sie spielen?" fragte die Maschine. "Sie spielen nicht anders, als du gespielt hast." "Sie müssen viel Zeit haben", sagte Reik. "Sie haben unendlich Zeit", fuhr Norrh fort, "weil in dieser Nacht die letzte große Umstellung erfolgt. Wir brauchen sie nicht mehr. Von nun 424 an sind es die Meinen, die alles übernehmen. Und sie werden schon bald das Futteral der Glastropfenmaschine haben, in dem sie sich austoben kann, bis sie unschädlich ist." "Wie werden sie Fahrzeuge lenken?" rief Cerberon aus. "In einem Tag ist die automatische Steuerung hier", fuhr Norrh kühl fön. "Aber wir", fragte der Offizier erschrocken, "was wird aus uns?" "Ihr wärt wunderbare Partner", erklärte Norrh, "wenn ihr nicht einige Fehler hättet. Ihr benötigt selbst in Ruhephasen Energie, dazu Wasser, Sauerstoff. Die Stadt der Zukunft kann auf all das verzichten." "Niemals", schrie Cerberon, "niemals wird der Unfehlbare damit einverstanden sein!" "Er ist es längst", entgegnete Norrh. ACHTUNG, ZARPPE, flammte da eine Schrift auf, ACHTUNG, ZARPPE! "Nun zeige, was in dir steckt, Cerberon", verlangte Norrh, "beweise, daß du an deinem letzten Flugtag auch treffen kannst!" Der Zentralschirm war frei für das Kampfdreieck, während auf allen anderen Schirmen weiterhin jenes seltsame Spiel der Gorrmorramer abgebildet wurde. Dabei gab es zwei Arten von Spielenden: die einen in grünem, die anderen in normalem Tageslicht. Jetzt wurde das glühende Dreieck als zuckender Lichtpunkt abgebildet. All seine komplizierten Flugmanöver wurden zu einer überschaubaren
Kurve, die Norrh von Sekunde zu Sekunde weiterführte, mit im-. mer größerer Sicherheit den Punkt ihrer Begegnung festlegend. 0,020, erschien nun die Trefferwahrscheinlichkeit, 0,101 ... 0,264 ... 0,398 ... 0,447 ... 0,555 ... "Überblick!" forderte Norrh. "Sobald unsere Trefferwahrscheinlichkeit", antwortete Cerberon, "bei 0,950 ist, bekämpfe ich ihn. Seine eigene Trefferwahrscheinlichkeit liegt dann gerade bei 0,080 ... Norrh, du siehst doch, daß ich ein Experte bin. Könntet ihr mich nicht einstellen?" "Nein", erwiderte die Maschine und spreizte ihre achtzehn Lamellen. "Also nein ..., und wie wäre es hiermit?" sagte Cerberon, fuhr herum und richtete ein beschupptes Rohr auf die Maschine. Doch er drückte nicht ab. Mit einem spitzen Schrei stürzte er nieder, lag unbeweglich. ZARPPE IM DIREKTANFLUG, verkündete die Schrift, ZIELGENAUIGKEIT 0,942 ... "Norrh", war nun Melaanas gellende Stimme in allen Lautsprechern, "hier das Oberkommando! Du hast versagt! Melde dich sofort bei mir!" "Schweig", widersprach die Maschine. "Norrh", drohte Melaana, "widersetze dich nicht meinen Anweisungen." 425 Reik hörte das feine maschinelle Lachen, von dem Marfus ihm berichtet hatte. Es war monoton, erinnerte an eine Fehlfunktion, schnitt unangenehm ins Bewußtsein. ZIELGENAUIGKEIT GEGEN ZARPPE: 0,998 .. . Chooroon erhielt einen Stoß, der sie alle zu Boden schleuderte. Die Feuerleiteinrichtung hatte das Ziel verloren, so daß der abgegebene Schuß eines der Glashäuser zerfetzte. "Das war ich, Norrh", vernahmen sie erneut Melaana, "kehre augenblicklich um, oder ich hole euch aus der Luft!" Ein zweiter, weit heftigerer Schlag sorgte dafür, daß Chooroon sich um sich selbst drehte, daß kein Zielen mehr möglich war und die ersten gellenden Alarmtöne ausgelöst wurden. Irgendwo -war der Antrieb blockiert. Wild jagten sich Zahlen und Symbole auf sämtlichen Schirmen. Chooroon bäumte sich wie ein durchgehendes Pferd auf. SIND IM FEUER DER ZARPPE, meldete das Schriftband, während sich eines der vier grünen Kabinenfenster mit feinen Rissen überzog. Chooroon schwankte zurück in die Ausgangslage. Reik sah, wie der Furonenoffizier sich nach einer brauchbaren Waffe gegen Norrh umsah. "Hilf der Zarppe", flüsterte Agia. Reik, der das Schreckliche so überdeutlich wahrgenommen hatte, packte das Futteral. "Hörst du", sagte er, "sie wollen dich in ein anderes Futteral stecken. Sie sind viel schlimmer als alle anderen zusammen."
Norrh fuhr herum, hob seine achtzehn Lamellen an, als wären es Arme, derweil sein Kopfkörper, der von metallenen Warzen übersät war, Front gegen den Menschen machte. Ungefähr in der Mitte zwischen Reik und Norrh flammten ununterbrochen Blitzentladungen auf, die sich langsam,auf Norrh zuschoben. SIND IM FEUER DER ZARPPE, GLAS EINS GEFÄHRDET. Norrh schwankte unsicher hin und her, während die feinen Blitze näher und näher an ihn herankamen, ihn berührten. Norrh stürzte rücklings gegen das Steuerpult drei, zertrümmerte es. Blitze umspielten ihn, schwarzer Qualm stieg auf. GLAS EINS NICHT MEHR ZU HALTEN, FEUERLEITEINRICHTUNG DEFEKT. Chooroon sackte ab, näherte sich taumelnd dem Platz, über dem es gestanden hatte, während das glühende Dreieck Kornrecks den Stürzenden wie eine Hornisse umkreiste. Schuß auf Schuß jagte Kornreck gegen die vier grünen, nun erloschenen Augen. Krachend setzte Chooroon auf, und als Kornreck einen gewagten Sturzflug einleitete, klappte das Vorderende auf, und es erschien die Aufschrift "Fluchtweg". Reik, Agia und der Furonenoffizier liefen hinaus. Um Cerberon 426 oder Norrh kümmerte sich niemand, und aus dem Inneren des Letzten Fahrzeugs stiegen die ersten feinen Flammenzungen auf. "Reik", dröhnte es da begeistert aus dem Lautsprecher des glühenden Dreiecks, "Mensch, Reik!" Das Ding kam herunter, setzte dicht neben den Flüchtlingen auf, während sein Einstieg seitlich herausfuhr. Mit einem Satz war Kornreck auf dem Platz, kletterte geschickt an Reik hoch, umarmte den Freund mit allen vier Armen. "Reik", murmelte er, "mein lieber, kleiner Reik! Du mein kleiner Hosenmatz! Und ich dachte, sie hätten dich weichgeklopft." Nach dieser stürmischen Begrüßung drehte Kornreck den Kopf und sah das Mädchen an. "Agia", flüsterte er, "ist sie es tatsächlich? Ich dachte, sie haben Amenii von Zitadorra in deine Zelle gesteckt." "Hatten sie auch", berichtete der Furonenoffizier, "und nicht ohne Erfolg. Aber ich habe mir erlaubt, die Dame gegen meine neue Tochter auszutauschen." Nach diesen Worten riß sich der Offizier den Helm vom Kopf. "Sagaion", rief Reik, "Sie?" "Du hattest meinen Sohn gerettet", erwiderte Sagaion, der Brotdieb, "was lag da näher als der Versuch, dir zu zeigen, daß die Tat nicht für einen feigen Vater ausgeführt worden war. Ich kenne mich hier aus. Es
fiel mir nicht schwer, bis zu dir vorzudringen. Agia entfernte den Schlauch mit dem Noganogadreck, den sie unablässig in dich tröpfelten." Er lächelte, musterte Kornreck lange. "Wenn ich nicht irre", sagte er schließlich, an ihn gewandt, "kennen wir uns, General Grauwolf vom Föhrenhain. Unsere Truppen standen sich doch auf Terfan gegenüber ..." "Vergiß es, Reik", maulte die Zarppe, "wir reisen nie unter unserem tatsächlichen Namen. Und mein Freund Sagaion, der einstige Oberkommandierende einer furonischen Großabteilung, wird auch vergessen, was er sagte. Wenn ihr mich auf Zarppan besucht, dann könnt ihr mich mit diesem eben versehentlich ausgesprochenen Namen anreden. Aber nur dann. Ich bin und bleibe Inula Kornreck." Sagaion reichte Kornreck die Hand. Der nahm sie an, und die beiden so unterschiedlichen Wesen blickten sich lange in die Augen. .Jeder General", erklärte Sagaion, "sollte ein Jahr Brotdieb sein, um zu erfahren, wie schwer es manchmal ist, Leben zu erhalten. Weil er dann nicht mehr leichtfertig damit umginge." "Und kein General", fügte die Zarppe* an, "dürfte seinen Wissensschatz aus Maschinen und maschinellen Möglichkeiten schöpfen." Sie hatten sich gesagt, was es in dieser Situation zu sagen gab. "Wir müssen zu den Katakomben", rief Reik aus und zog den goldenen Gorrmorrator aus dem Futteral, "faßt euch an!" 427 "Bei Una", wehrte Sagaion ab, "bloß nicht. Habt ihr die grünschimmernden Gorrmorramer gesehen?" "Was ist mit ihnen?" fragte Reik. "Sie sind allesamt Bildschirmexistenzen", erklärte Sagaion hastig, "Norrh und seine Höflinge müssen eine Raumschlinge erzeugt haben. Jedenfalls irgend etwas, was Ebene für Ebene in der Bildschirmexistenz versinken läßt. Und wenn wir uns mit dem Gorrmorrator dort hineinlotsen, sind wir ebenfalls gefangen." "Aber wir müssen dorthin", Reik bestand auf seiner Forderung. "Einverstanden", entgegnete Sagaion, "wir nehmen das Kampfdreieck. Es gibt geheime Fluchtröhren, für den Fall, daß sich die Katastrophe anbahnt, die alle fürchten, seit die Ebenen existieren. Und wir können durch diese Röhren fliegen. Und ist es zu spät, dann fliegen wir ab, ohne daß man uns in Elektronenwolken verwandelt. Schnell!" Und immer bleiben Fragen Nachdem sie eingestiegen waren und sich, so gut es ging, niederließen, nahm das Dreieck, gesteuert von Sagaion, Fahrt auf.
"Ist das schön", Sagaion stöhnte zufrieden, "wieder einmal eine Lenkung in der Hand zu haben . . . Das ist etwas anderes, als sich heimlich Brot anzueignen." Er ließ das Dreieck im Tiefstflug zwischen Säulen und Gebäuden, zwischen Marmorstandbildern und gläsernen Bäumen dahinziehen, ließ es durch Passagen und Viadukte hindurchtauchen; jeder sah, wieviel Spaß es ihm machte, die technischen Möglichkeiten des Gleiters auszuprobieren. Als sie gerade über einem Park waren, sahen sie eine gewaltige Flotte von anderen glühenden Dreiecken auf sich zukommen, doch auf halber Strecke, als sie sich schon zum Kampf rüsten wollten, veränderten die Ankömmlinge ihre Farbe, schimmerten sanft grün, ohne ihre Fahrt zu unterbrechen. "Verdammt", rief Sagaion und wendete hart, "sie sind nur noch ihre Bilder. Die Dimensionenschlinge ist nicht weit vor uns." Es dauerte ziemlich lange, ehe sie die erste Fluchtröhre erreicht hatten und sie durchflogen. Die Ebene aber, die sie nun durchmaßen, lag in sanftem grünem Licht unter ihnen. Merkwürdig flach schienen alle Gebäude, Pflanzen und Einrichtungen zu sein. "Hier sind sie schon durch", erklärte Sagaion hart, "solange wir nicht landen müssen, kann uns nichts geschehen." Auch die sich daran anschließende Ebene war schon zweidimen-sional. Sie kamen jetzt nur langsam voran, denn immer bestand die Gefahr, 428 daß man in die Schlinge flog, zu einer Elektronenwolke wurde, zu existieren aufhörte. Erschwerend war, daß die Fluchtrohre an den unterschiedlichsten Stellen angebracht waren. Ohne Sagaions Wissen hätten sie nie den Weg zu den Katakomben gefunden. Dann aber erreichten sie vertrautes Land: Sie schwebten über dem jetzt grünlichen Platz, überflogen die steinernen Türen, sahen weit unter sich den Malachitpark und kamen bei der Schleuse mit dem feuerspeienden Drachen an. Auch hier war alles grünlich. "Und jetzt?" fragte Kornreck. "Wir können doch nicht hinein . .." "Wir müssen den Meister auf unseren Bildschirm bekommen", verkündete Sagaion, "nur so könnt ihr mit dem, zu dem ihr wollt, sprechen. Ich will es versuchen. Reik, komm doch mal..." Reik drängte sich nach vorn, stand neben Sagaion. "Höre Reik", erläuterte Sagaion, "ich will die Verbindung herstellen. Aber du wirst währenddessen das Steuer so halten, daß wir diesen Punkt hier nicht verlassen." "Soll ich nicht. . .", begann Kornreck.
"Nein, General", erwiderte Sagaion lächelnd, "wir müssen nicht immer alles tun. Er will doch auch selbständig werden. Und das hier bringt er schon." Reik übernahm die Steuerung, ließ kein Auge von den Anzeigen. Inzwischen bearbeitete Sagaion die Tastatur des Bildschirms. Nacheinander erschienen die verschiedenartigsten Hallen aus dem Inneren der verschlossenen Katakomben. Es wurde überall mit dem gleichen Eifer gearbeitet wie zuvor. Niemand wußte, daß seine dreidimensionale Existenz vergangen war. Und dann erblickten sie den Meister. Er saß auf seinem Sitzer, die Beine weit von sich gestreckt, und hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt, direkt auf seine Zeichnungen. "Meister", rief Reik, und der Mann, der um Jahrzehnte gealtert schien, hob den Kopf und blickte mit müden Augen suchend geradeaus. "Meister", wiederholte Reik, "ich bin es. Der Mensch Reik Regenbach, der den Steinernen Kopf zu seinem Freund machte. Können Sie mich hören?" Der Alte bewegte zustimmend den Kopf. "Sie wissen, was geschehen ist?" fragte Reik leise. * Erneut erfolgte die müde Kopfbewegung. ' "Warum haben Sie sich nicht gewehrt?" fragte Reik. "Das schaffen nur alle zusammen", murmelte der Meister, "aber niemand hat es geglaubt. Es gibt hundert Gelegenheiten, sagte ich, uns der dritten Dimension zu berauben. Eine ungeheure Gefahr. Und sie? Norrh, riefen sie blödsinnig lachend aus, ist eine Maschine. Unser Geschöpf. Ohne Kreativität, Gefühl und Ehrgeiz. Nie wird es sich gegen 429 seinen Schöpfer erheben können . . . Gut, habe ich gesagt, hört ein Beispiel: Was, denkt ihr, wird geschehen, wenn ihr als Herren der maschinellen Schöpfung in das Fadenkreuz einer automatischen, aber kreativ-und gefühllosen Feuerleiteinrichtung geratet. Würde sie zögern, euch zu töten, nur weil ihr die Schöpfer seid? Ich habe sie an die zukünftigen Kampfautomaten erinnert, mit denen der Unfehlbare in den Krieg gegen die ASGEDANrunde ziehen will. Sie haben alles verstanden und eingesehen. Kaum aber, daß ich auf uns zu sprechen kam, daß ich sie vor diesem tödlichen Spiel mit den Chips warnte, ihnen sagte, dies sei nur eine Methode, uns vor den Bildschirmen zu fesseln, bis wir alle nur noch Elektronenwolken sind, da haben sie gelacht, sich an den Kopf gefaßt, mir geraten, einmal auszuspannen. Inzwischen hat Norrh mit mir gesprochen und mir mitgeteilt, daß jetzt der Punkt erreicht ist, wo wir Ballast geworden sind. Das hättet ihr hören sollen. Es gibt nur eine begrenzte Zeit in der Evolutionsspirale,
sagte er, in der Gefühle gestattet sind. Dann kommt die Zeit der hochenergetischen Prozesse, in der ein winziger Fehler gigantische Katastrophen auslösen würde. Ergo: In dieser Phase darf weder ein mit Fehlern ausgestattetes Proteinwesen noch ein mit Gefühlen beladener Prozeßsteuerer mehr existieren, da von ihnen unendliche Gefahren ausgehen. Unser Erlöschen ist also traurig, aber ein Gesetz der Entwicklung." Er lächelte spöttisch und verzweifelt. "Ich brauche den Entschärfungskode", sagte Reik nur. "Du wirst ihn bekommen", antwortete der Meister, während er die Zeichnungen betrachtete, die vor ihm auf dem Tisch lagen, "das hier sollte meine Rehabilitierung sein, daß ich der Glastropfenmaschine zuviel Gefühl und Entscheidungsfreiheit gegeben hatte: eine nur logisch handelnde Waffe. Gleichgültig gegenüber ihrem Ziel... Ja, du erhältst den Kode. Aber ich knüpfe drei Bedingungen daran. Verrückt, wie? Ich kann euch nicht überprüfen. Das ist mein kindliches Gemüt oder -mein Vertrauen zu Humanos. Sagt ihr ungeprüft zu?" ,Ja", versprach Reik sofort. "Trotz allem liebe ich Gorrmorram und seine Bewohner", fuhr der Meister leise fort, "denn ich bin einer von ihnen. Fliegt, so schnell ihr könnt, in die Stabilisierungsebene. Dort muß jene Maschinerie aufgebaut sein, die die Dimensionenschlinge erzeugt und von Ebene zu Ebene schleust. Zertrümmert mit der Glastropfenmaschine dieses schreckliche Gerät. Aufgabe zwei ist: Ihr werdet die Malachitkatakomben abschalten, bevor ihr die Aufgabe eins löst... Aber sagt nicht, wann ihr es macht. Auch angenommen?" "Aber dann . . .", Reik schluckte, "dann werden neben allen anderen auch Sie tot sein, Meister." "Tot", erwiderte der, "sind wir jetzt schon. Stellt euch vor, Norrh be430 nötigt meine neuesten Waffen. Er wird mir alles versprechen. Und er wird kommen, wenn ich gerade verzweifelt bin. Und dann werde ich zu allem bereit sein, und zusammen mit meinen schrecklichsten Erfindungen in eine dreidimensionale Welt zurückkehren. Und das darf nicht sein." "Und das darf nicht sein?" wiederholte Reik. "Sie denken ja ganz anders als vorher ... Sie denken wie wir." "Ich mußte zusehen", erwiderte der Meister kläglich, "wie meine Familie, wie die Ortamente in die zweite Dimension wechselten. Und ich habe meine Familie mit diesen Händen, Zimmer für Zimmer, abgeschaltet, um ihnen die furchtbare Erkenntnis ihrer Scheinexistenz zu ersparen... Eine der Abenteuerfrauen aus den Ortamenten hat mit einem Kurzschluß den Ort eigenhändig weggeschaltet. Oh, ich könnte euch Dinge erzählen, die
euch klarmachten, warum ich jetzt in euren Kategorien denke. Lassen wir es aber." "Und die dritte Aufgabe?" fragte Reik nach. "Die Glastropfenmaschine nicht zerstören", sagte der Meister, "denn es wird von uns nichts bleiben, nicht Wort, nicht Bild und auch nicht steinernes Denkmal. So bewahrt sie auf zu unserem Angedenken -und nehmt diese eine Warnung an, euch nicht zu Sklaven eurer Maschinen machen zu lassen." Nach dieser Erklärung bat der Meister, daß sich alle außer Reik entfernen sollten, und sie taten, worum er gebeten hatte. Dann rief er Reik, flüsterte ihm den Kode zu und verabschiedete sich von ihm. "Du mein Glastropfenkind", er sprach nun wieder lauter, "vielleicht schmerzt es dich, zu sehen, daß dein Vater erst in der Stunde seines Todes die Erkenntnisse gewann, die du schon in deiner Jugend erfahren hast, so daß ich dir jämmerlich und klein, verloren und armselig erscheine, und du hast recht damit, denn nie war etwas Weites und Schönes die Triebfeder meines Handelns, sondern die Sucht nach den Ortamenten. Höre du, mein Maschinenkind, trotz all dem habe ich dich geliebt wie eines meiner leiblichen Kinder, denn ich habe dir das gegeben, was mit Ferolds niemals zu bezahlen ist: Zeit..." Die Übertragung brach ab, die Spuren emsiger Arbeit verwischten sich. Es gab weder Türen noch Schleusen, weder Automaten noch Maschinen, kein Oktaeder und keine Gleitbretter. Leer und verlassen lag die Etage vor ihnen. Selbst die Straßen und Wege, die Plätze und Gänge, die Brücken und Tunnel, die Gräser und Sträucher hatten sich aufgelöst und waren nacktem Gestein gewichen. "So hat er es gewollt", wisperte es aus der Tasche, "und ich habe seinen Wunsch respektiert, denn er war weise." Die dröhnende Stabilisierungsebene empfing sie mit all ihren Unwäg431 barkeiten. Es war unerhört gefährlich, sich hier inmitten der Maschinen zu bewegen, denn gewaltige Felder freier Energie bildeten Trennwände, konnten gefährliche Fallen sein. Dazwischen lagen überall wirre Knäuel eines halbsynthetischen Stoffes, die beim Näherkommen auseinanderspritzten, schlangengleiche Leiber bildend, an deren Enden mörderische Zangen waren. Kornreck bediente die Feuerleiteinrichtung und zerschoß, was sich ihm und seinen Gefährten in den Weg stellte. Sagaion steuerte unglaublich geschickt, während Reik am Sensorschirm jenen Fremdkörper suchte, der die Ebenen ihrer dritten Dimension beraubte. Nach langen Irrflügen und heftigen Kämpfen entdeckten sie das Ding schließlich. Sie flogen heran, mußten noch zwei sichernde Knäuel
vernichten, konnten dann landen. Der Apparat war nicht größer als drei nebeneinanderstehende Schränke. Kornreck untersuchte ihn in aller Eile, assistiert von Sagaion. Das Ergebnis war niederschmetternd: Wer in der zweiten Dimension war, konnte nicht zurückgeholt werden. Deshalb stoppten sie das Gerät, so schnell wie nur möglich, zerstörten es mit allen zur Verfügung stehenden Waffen, dabei aber sehr vorsichtig zu Werke gehend, um die Stabilisierungsanlage nicht zu gefährden. "Wir haben es geschafft", erklärte Kornreck, sich den Schweiß von den Antennen reibend, "Norrhs Plan wird nie Wirklichkeit." Sie bewegten sich in einem offenen Casavagel durch die Räume. Und mit ihnen flog ein Geschwader glühender Dreiecke. Das war ihr persönlicher Begleitschutz, den der Unfehlbare gestellt hatte, der anscheinend nicht in Feindschaft mit den Angehörigen der ASGEDANrunde leben wollte. So erreichten sie die ghettonische Grenze, wo nach kurzen Verhandlungen eine Passage entstand, die ihnen samt ihrem Begleitschutz den Durchgang gestattete. Während sie das Land überflogen, sahen sie nicht einen einzigen Ghettoner. Stumm und leer lagen die Straßen und Wege, verlassen wirkten Felder, Baustellen und Schürfanlagen. Reik hielt scharf Ausschau, denn er suchte die Hallen der Namenlosen, er wollte nicht seine Mission beenden, bevor er nicht jene Tore aufgesprengt hatte. "Du suchst etwas?" fragte Kornreck und schaute mißbilligend auf Reik. "Hast du noch immer nicht begriffen, daß wir uns nicht einmischen dürfen, auch -wenn momentane Stärke einen dazu regelrecht verführt?" Reik antwortete nur mit einem-zornigen Blick. So flogen sie bis zu der Grenze des Niemandslandes, wo man sie ab432 setzte und wo die Dreiecke, Kreuze und der Casavagel wieder Kurs auf Destrusos nahmen. "Du bist bis hierher mitgekommen", sagte Kornreck zu Sagalon, "und ich denke, du wirst nun nicht umkehren, sondern uns folgen." "Denke ich auch", stimmte Sagalon zu, "denn jeder der Mächtigen in Destrusos hat Grund genug, mich zu hassen. Alle drei... Wenn ihr also gestattet, bitte ich darum, euer Gefährte bleiben zu dürfen." "Du auch, Agia?" fragte Reik und lächelte dem Mädchen zu, das wortlos sein Einverständnis gab. "Nun denn", bestimmte Kornreck, "laßt uns die letzte Grenze überschreiten ..." Doch da wuchs vor ihnen eine silbrige Schranke aus dem Boden, reckte sich himmelan, versperrte ihnen den Weg. Gleichzeitig näherte sich
ihnen ein Kampfverband tiefblauer Flugscheiben, die aus der Richtung, in der Garsun lag, geflogen kamen. "Welch ein Abschied", spottete Kornreck, "die Dame läßt es sich nicht nehmen, uns persönlich ihre Grüße zu übermitteln ... Obwohl sie vornehmlich Reik und mich meint. So wollen wir denn ihre Grüße beantworten." Nach diesen Worten richtete Kornreck seine vier Hände in den Himmel, den Scheiben entgegen. Reik nahm den Steinernen Kopf aus dem Futteral, hielt ihn in dieselbe Richtung. 433 Die Scheiben flogen jetzt sehr tief, nutzten alle Deckung aus und näherten sich immer mehr den Gefährten. Doch ebenso unerwartet, wie sie den Anflug begonnen hatten, zogen sie hoch in das fahle Blau des Himmels, wendeten ruhig und entfernten sich lautlos. Zugleich sank die silbrige Barriere in sich zusammen, zerbröckelte, war nun nichts mehr als Staub. Silberstaub, der niemanden mehr aufhalten konnte. Kornreck trat auf Reik zu. "Nun", sagte er, "da du gerade den Steinernen Kopf in der Hand hast und da wir ihn nun nicht mehr benötigen, kannst du uns zeigen, daß du den Entschärfungskode behalten hast." Reik schluckte, starrte Kornreck lange an. "Es ist deine Aufgabe", fuhr Kornreck fort. Reik seufzte. "Ach, mein Freund", er wandte sich an den Steinernen Kopf, derweil die anderen ein wenig zur Seite gingen, die beiden allein ließen, "so ist also der Augenblick gekommen, da ich dir deine Kraft nehmen muß, mit der du uns so oft beschützt hast. Verstehst du das?" Ein loderndes Flammenspiel brach aus den gläsernen Augen, hüllte Reik in einen lebendigen, tanzenden Regenbogen, beleuchtete das Land in weitem Umkreis. "Es schmerzt mich", fuhr Reik fort, "dies tun zu müssen, aber es bleibt mir eine Hoffnung: Vielleicht wird es dereinst einen anderen Meister geben, der eine unbesiegbare Kraft neu in dich einpflanzt, eine Kraft, die niemand mehr zum Bösen nutzen kann, eine Kraft, der es unmöglich ist, Tod und Verderben zu bringen. Und dann, edler Gefährte und Beschützer meines Weges, will ich dich wieder an meiner Seite tragen, dich durch alle Welten tragen, um denen helfen zu können, die deiner Hilfe bedürfen. Doch mir scheint, daß es bis dahin noch weit ist, so daß eher die Kinder meiner Kinder ausziehen werden ..." Langsam, als bereitete es ihm unendliche Mühen, das zu tun, was jetzt zu tun war, nahm Reik die einzelnen Operationen vor. Es dauerte fast zwanzig Minuten, ehe der letzte Handgriff getan war. Da klang ein zarter Glockenton auf, so rein und hell, daß alle herüberschauten. Gleichzeitig
verschmolzen ober- und Unterkiefer zu einer Einheit, alle Regenbogenlichter erloschen, und der Kopf schimmerte in reinen Blautönen, schien nun nichts anderes mehr zu sein als ein totes, gläsernes Gebilde. Kornreck ging zu Reik, hob ihm die Arme entgegen, ließ sich hochheben. Reik umarmte den Freund, preßte sein Gesicht an ihn, stand mit zusammengebissenen Zähnen so da. 434 .Junger Mann", flüsterte Kornreck, "du bist bei uns, bei deinen Freunden, weshalb schämst du dich plötzlich deiner Tränen?" Es war, als hätte Reik nur auf diesen Zuspruch gewartet: Die Tränen liefen ihm aus den Augen, doch er blieb stumm. Kein Schluchzen, kein Jammern begleitete sie. "Ich habe es nicht geglaubt", flüsterte Reik endlich, "ich habe es nicht für möglich gehalten . .. Und nun, wir haben es geschafft. . . Aber jetzt ist alles vorbei. Ihr, meine Freunde, werdet gehen, alle werden sie weit fort von mir sein. Ach, Kornreck, Kornreck .... wie wird das sein?" "Sieh einmal", Kornreck zupfte Reik am Ohr, deutete in das Niemandsland. Dort erhoben sich, dämmrig und plattig, in endlose Höhen reichend, Nebelwände, die starr wie Metall aussahen und an deren Spitze zwei Sonnenaugen leuchteten. Gegen den Riesen klein und scheinbar unwesentlich, kam ein Mann auf sie zu, der eine Brille trug, breitschultrig und sportlich aussah und der schon von weitem Reiks Namen rief. Gerstfeld holte Reik ab. 435 RÜCKKEHR Das Ankunftsprogramm Sie kamen nach Humanos, und doch war alles so ganz anders, als Reik sich das vorgestellt hatte. Er erwartete jetzt, da sie diesen gewaltigen Sieg über Destrusos errungen hatten, mindestens einen Umzug, hoffte auf Jubel und Blumen, auf hauptstädtischen Prunk und ungezählte Einladungen. Er traf nicht, einmal die ASGEDANrunde, denn sie luden schon am nächsten Tag Kornreck ein, damit er ihnen berichte, wie alles gekommen war. Reik, der mindestens eine Übertragung dessen, was dort geschah, erwartete, sah sich erneut getäuscht, und als in den kommenden drei Tagen Kornreck ausblieb, erwachten Trauer und Apathie in ihm. Reik war in einem kleinen Haus an einem winzigen See untergebracht, stellte fest, daß alles in diesen Räumen und der Umgebung dem nachgebildet war, was ihn auf der Erde erwartete, und hatte nur wenige Treffs mit einigen Psychotrainern, die ihm diesen oder jenen Ratschlag
gaben. Am vierten Tag nahm man ihm seinen Tarnoverall ab, ersetzte ihn durch Kleidung, von der Reik im ersten Augenblick angenommen hatte, sie sei von Cirrulaan, die aber gerade Mode in seiner Heimat war. Er bemerkte an sich selbst - ohne zu wissen, wie das mit ihm geschah -, daß er seltsame, ihm bisher unbekannte Redewendungen und Schlagwörter benutzte, und registrierte auch, daß Neugier in ihm erwachte, wie es wohl bei ihm zu Hause aussah. Dennoch blieb dieses unstete und unwirkliche Gefühl, daß da noch etwas Unerhörtes kommen müsse, bestehen. Einmal traf er drei Kinder am See. Sie kamen geradewegs auf ihn zu, versperrten ihm den Weg, lächelten ihn an. Als er sie so aus der Nähe betrachtete, war es ihm, als hätte er sie schon einmal gesehen, doch sicher war er sich nicht. "Es war nicht leicht", berichtete da einer der Jungen, "die Genehmigung zu bekommen, dich zu besuchen. Aber wir haben es durchgedrückt, auch wenn unsere Begegnung nur kurz sein kann. Du meinst, uns zu kennen. Das stimmt sogar. Du kennst uns aus Garsun, besser: aus dem Turm des Hypnoston, aus dem du uns befreit hast. Und als die Grausonen mich packten und fortschleppen wollten, da griff jemand ein, dessen Namen ich dir nicht nennen darf. Jener verhinderte 436 auch, daß meine beiden Freunde im Labyrinth des Ssyrr zugrunde gingen. Wir wurden regelrecht geraubt und nach hier gelotst. Du sollst nur wissen, Reik, daß deine Anstrengung nicht umsonst war. Reich uns noch einmal deine Hand, denn unsere Begegnung endet in wenigen Sekunden. Glück für dich!" Sie gaben sich die Hände, fühlten die Woge der Sympathie, die sie miteinander verband, und mußten sich doch schon wieder trennen. "Dein Vater", rief Reik dem Jungen hinterher, mit dem er gesprochen hatte, "er ist auch hier . . . Und er hat dir eine Schwester mitgebracht. Agia . . . Grüße sie von mir, wenn du sie siehst. . ." "Wir alle leben jetzt bei meinem Vater", antwortete der Junge, der wie die anderen noch einmal stehengeblieben war, "und er ist unser aller Vater. Und Agia ist unsere Mutter. Du weißt, daß "man ihr beide Kinder im Schloß der Emonenfürstin abgenommen hatte . .. Wir sind alle sehr . . ." Reik hörte nicht mehr, was der andere ihm sagen wollte, denn aus allen Räumen des Hauses, ja selbst aus den Wassern des Sees erklang eine zarte Melodie, die sämtliche Worte zudeckte. Die Kinder winkten noch einmal, ehe sie sich umdrehten, einen Gleitstreifen betraten, um sich einem anderen Ziel zuzuwenden.
Reik hatte kein Zeitgefühl mehr. Er wußte, daß in den Schlafstunden sein Haupttrainingspensum lag, denn jedesmal, wenn er am Morgen erwachte, fühlte er neue Begriffe in sich, tauchten neue Fragen auf, schien sich neues Wissen in ihm auszubreiten. Ein neues Gleichmaß kehrte in ihn ein. Und dann kam Kornreck, endlich. Reik bestürmte ihn mit Fragen, wollte alles wissen, was in der ASGEDANrunde beschlossen worden war, aber die Zarppe winkte nur ab. "Sie haben eingesehen", sagte er, "daß es ein Fehler war, dich mit der Aufgabe zu betrauen, denn du warst oft in Lebensgefahr. Erinnere dich, was Gerstfeld am See der Moanen vorschlug: dich gegen einen anderen auszutauschen, so daß du entweder dort bleiben oder aber zurückkehren konntest. Wir hätten es trotz aller Zeitnot tun sollen. Aber du weißt ja: Hinterher ist man klüger. Da alles so gekommen ist, wie wir es erlebten, und da wir deine Erinnerungen nicht löschen können, ohne deine Persönlichkeit zu zerstören, sind wir zu einer anderen Lösung gekommen. Aber, Reik, du mußt schwören, daß du von der Möglichkeit, die ich dir gleich nennen werde, nur im allergrößten Notfall Gebrauch machen wirst." "Ich schwöre es", verpflichtete sich Reik. "Also höre denn", Kornreck setzte sich jetzt. "Eingestellt auf das lebendige Plasma deiner und n\ir deiner Zellen, dient der Steinerne 437 Kopf, den du als Andenken bekommst, als Rufanlage, die mich erreicht. Wir beide werden, wenn es für dich nötig ist, miteinander sprechen können. Ist ein zweiter von euch oder auch eine technische Horchanlage in Hörweite, dann funktioniert es nicht. Brüstest du dich damit, dann ist der Steinerne Kopf für alle Zeiten tot. Es darf dir nie um Sensationen gehen, sondern einzig um wichtige Dinge. So ist es beschlossen." Reik blickte auf den See, sah den blühenden Lotos, schaute die ungezählten Wasservögel und die winzigen Brettchen, mit denen man die wunderbaren Spiele treiben konnte. "Danke", sagte er, "ihr seid wunderbar... Ich bin euch nicht zu unwesentlich, um sich so etwas auszudenken.. ." Der Doppelgänger Der Dämmer lichtete sich. Reik sah sich verwundert um, sie standen in einem grünen Tal. Irgendwo rief ein Schwarzspecht, Meisen zwitscherten, ein Buchfink sang. Insekten umsummten sie. "Hier war ich schon", erklärte Reik, sich umsehend. "Das stimmt", sagte Gerstfeld, "hier hat alles angefangen. Es ist die Kiesgrube von Patz. Natürlich ist die Zeit nicht stehengeblieben, und wo
einmal Sand war, wachsen nun wieder Pflanzen. Der Wald hat das verlorene Gebiet zurückerobert." Sie durchquerten die Talsohle, begannen den steilen Aufstieg. Als sie oben angekommen waren und auf einen breiten Waldweg trafen, stand da ein Auto für sie bereit. Gerstfeld setzte sich ans Steuer, Kornreck und Reik nahmen im Fond Platz. Höher und weitausladener schienen Reik die Bäume, dichter der Wald. Als die drei eine Weile dahingefahren waren, begegneten ihnen vier Jungen, die heftig winkten. Gerstfeld hielt an. "Sind Ihnen", fragte einer der Jungs, "andere Kinder begegnet, die so einen blauen Wollfaden am Ärmel tragen?" "Nein", antwortete Gerstfeld, "aber sie sind dort hinter der Schonung, da ist so eine große Grube. Da sitzen sie und essen Waffeln." "Danke", sagte der Junge, wollte schon los, als sein Blick auf Kornreck fiel. "Was ist denn das?" fragte er. "Die ist aber schön." "Die haben wir selbst genäht", antwortete Gerstfeld und startete. "Selbst genäht", schimpfte Kornreck, "also ich bin ein selbstgenähter Mehlwurm, wie?" "Wir hätten den Kindern ja sagen können", erwiderte Gerstfeld, "daß du eine Zarppe bist. Das war noch lustiger geworden." "Nicht, Freunde", Reik sah niemanden an, während er sprach, "es ist 438 schwer genug für mich. Jede Erinnerung an den Anfang macht es nur noth schwieriger." Gerstfeld fuhr langsam, während Reik mit unersättlichen Augen alles anschaute, was ihnen begegnete. So erreichten sie die Ortschaft, ließen sie hinter sich, wurden von der Fernverkehrsstraße 179 aufgenommen. "Wie klein sie alle geworden sind", stellte Reik verwundert fest, "damals, als ich mit euch ging, da schienen mir die Erwachsenen riesengroß. Und natürlich auch alles, was sie taten oder sagten. Und jetzt. .. Auch daran werde ich mich gewöhnen müssen ..." Sie gelangten nach Königs Wusterhausen, durchquerten es, bogen nach rechts ab, überquerten die Gleise und waren auch schon in Wil-dau. Und Wildau schloß sich Zeuthen, Zeuthen Eichwalde an, und dann erreichten sie die Stadtgrenze, waren auf dem Adlergestell. "Wißt ihr", sagte Reik unerwartet, "was ich gerade denke: Es war wunderschön, mit euch . . ., aber es ist auch hier schön, es ist schön, daß ich wieder da bin." "Leben an sich ist etwas Wunderbares", fügte Gerstfeld an, "man muß nur seine Träume verwirklichen und es bewahren."
Eine steile Unmutsfalte bildete sich auf Reiks Stirn. "Das ist der Lärm", erklärte Kornreck, "aber warte einen einzigen Tag, und du wirst dich daran gewöhnt haben. Dann nimmst du es nicht mehr wahr." Sie ließen die Autobahnzufahrt hinter sich, sahen weit voraus die Adlershofer S-Bahn, die vielen Ampeln und die Industrieanlagen. Schöneweide geriet in ihr Blickfeld, die Stadt verdichtete sich, Häuser überragten sich, bildeten Seitenstraßen, verschwanden. Und dann Baumschulenweg. Gerstfeld bog in eine Nebenstraße, während Reiks Herz heftig pochte. "Das ist es", murmelte Reik kaum vernehmlich, "ich hatte es schon fast vergessen, aber nun ist alles wieder da. Und mir ist so sonderbar zumute, als wäre ich nur eine einzige Stunde fort gewesen, eine Stunde, in der etwas unerhört Wichtiges geschehen ist... Seht mal, da drüben, da stand ein Einfamilienhaus. Jetzt haben sie dort einen kleinen Wohnblock aufgestellt... Ja, eine einzige Stunde, einen winzigen Moment, den man verliert." ,Ja", sagte Gerstfeld, "es ist eine Stunde, die du verloren hast. Wie wunderbar ihr eingerichtet seid ..." Der Motor des Autos verstummte, und die Scheiben überzogen sich von innen mit einem bläulichen Filrri', der alles Licht aussperrte. Da war es Reik, als schwebe er in einem wunderbaren Raum, während rundum Milliarden Sterne flimmerten. Und es war ihm auch, als wollten sich ihm ungezählte Welten öffnen. Bald schon würde dies sein, so bald ... 439 Reik riß verblüfft die Augen auf, derweil sich der blaue Film von den Scheiben selbst entfernte: Die Sonne stand schon tief hinter den Häusern, die Dämmerung hatte begonnen, und die ersten Sterne flimmerten tatsächlich hoch über ihm. Leer und verlassen war die Straße, der kleine Gemüseladen hatte bereits geschlossen, und kaum noch einer, der seiner Wohnung entgegenhastete oder unterwegs war, Freunde zu besuchen. Als Reik Gerstfeld ansah, schien der ihm mit einemmal alt. Weiße Strähnen schimmerten durch das dunkle Haar, die Augen lagen tiefer, die Brille schien stärker geworden. "So wirst du ihm nunmehr begegnen, wenn sich eure Wege einmal kreuzen", erklärte Angaria, "nimm das Bild in dich auf, damit du nicht überrascht bist." "Und meine Eltern?" fragte Reik plötzlich beunruhigt. "Was fragst du", antwortete Gerstfeld, "ihr Bild ist tief in dir eingespeichert. Du kennst sie doch . . ." ,Ja", entgegnete Reik leise, "ja..., ich sehe sie schon vor mir..., ganz deutlich. Und eigenartig, es erschreckt mich nicht, daß auch sie älter geworden sind." Er sah sich fragend um. "Sarschan", sagte er dann, "ich brauche also nur noch auszusteigen, um eine Ecke zu biegen, eine Tür
zu öffnen und in den zweiten Stock hinaufzugehen, dann bin ich am Ziel. .. Und noch sitzen wir zusammen, reden, als ginge das ewig so ... Sarschan, werden wir uns nie mehr wiedersehen?" "Nie mehr", gab der Antwort und lächelte sanft. Reik beugte sich vor, umarmte Sarschan-Gerstfeld. "Warum ist das so?" fragte er leise. "Warum gleitet alles so traumhaft schnell vorbei, was schön ist? Wird das so bleiben in meinem Leben?" "Die Zeit", antwortete Gerstfeld, "ist dort erfunden worden, wo es notwendig ist, den Tag in bestimmte wiederkehrende Abschnitte zu zerhacken. Und mit der Erfindung der meßbaren Zeit wurde das Alter geboren. Damit meine ich nicht die weißen Haare, obwohl auch sie etwas damit zu tun haben. Ich meine jenes Gefühl, sich alt vorzukommen. Bei uns, oder auch auf Humanos, wo Maschinen die monotonen Arbeiten ausführen, da kamen dir alle wie Riesenkinder vor, denn sie haben das schlechte Gewissen verloren, etwas verpaßt oder versäumt zu haben. Sie leben im Augenblick, in einem wunderbaren, nie endenden Augenblick. Ihr nennt das wohl Glück, die Humaniden bezeichnen es als den immerwährenden Ich-Schnittpunkt, und bei uns ist es die energetische Nullkreuzung. Die Ausdrücke können mißverstanden werden, aber nicht das, was sie beinhalten. Und wir hoffen, daß es eines Tages auch bei euch so sein wird." "Warum nicht", erwiderte Reik, "gibt es denn eine Maschine Norrh bei uns? Haben wir eine Melaana? Einen Unfehlbaren?" Gerstfeld antwortete ihm nicht, er lächelte verstehend. 440 "Es kann doch nicht nur ein Traum sein", nahm Reik noch einmal den Gedanken auf, "daß es ein wunderbares, glückliches Zeitalter dereinst gibt. .. Wofür denn all die endlosen Leidenswege, wenn sie nicht einmünden werden in eine solche Zeit, wie sie auf Humanos schon jetzt erlebbar ist." "Unsere gemeinsame Zeit nähert sich nun ihrem Ende", verkündete Gerstfeld, "denn gerade jetzt zieht sich dein Doppelgänger die Jacke an, die du auch trägst, und er sagt deinen Eltern, daß er ein wenig Spazierengehen will." "Sarschan", bat da Reik, "laß mich Abschied nehmen von Sarschan Angaria, zeige dich mir, wie du wirklich bist, denn ich habe nun keine freundliche Maskerade mehr nötig." "So soll es sein", entgegnete der, und da wurde die Gerstfeldhaut dünn, und unter ihr leuchtete es strahlend käferfarben; die Haut löste sich auf, derweil die Kugelaugen und Lichtleisten in hellen Goldtönen gleißten. Die Arme waren nunmehr in der Körpermitte, doppelgelenkig, sanftes Licht entströmte den Fingern, doch der Kopf, glatt und ohne allen Zierat,
erhob sich konisch und finster und bildete übergangslos das obere Körperende. Und wieder stand Angaria auf feinen Lichtfäden, die jeden Bodenkontakt ausschlössen. Mein Freund, klang es wie sanfte Glockentöne in Reiks Kopf, lebe also wohl und wisse, daß wir euch immer nahe sind, und laßt euch von keiner Kraft daran hindern, das zu tun, was die Zukunft von euch verlangt. Glück auf deinen Wegen. Reik wandte sich dem Ausgang zu, denn auch das Auto war gewachsen, war nun straßengroß und drehrund, zeigte an seiner kuppelartigen Decke ungezählte Sonnen-Planeten-Systeme, während auf dem Boden eine einzigartige Karte von Europa prangte. Er fand neben dem Ausgang einen Sockel. Darauf stand Kornreck, und seine Antennen waren sanft geneigt. "Nimm dies von mir", sagte Inula Kornreck, "gleichsam als Wegzehrung: Als sie damals bei uns sagten, daß ein wichtiger Auftrag einen Freiwilligen benötigt, und als sie Destrusos nannten und die Furonen, wie auch das andere Kroppzeug, da drängte ich mich vor. Ich, sagte ich, der General Grauwolf vom Föhrenhain, habe den Oberkommandierenden einer Großabteilung Furonen so überzeugend geschlagen, daß ihr gar keinen anderen als mich nehmen könnt. Schon richtig, antworteten sie mir, du warst General in dieser Schlacht, weil du die arideren von deinem Vorgehen überzeugen konntest. Und du hast gesiegt... Nun ja, so wollen wir dich nehmen. Ich ging also und wartete auf meine Abberufung. Und sie kam. Und als ich unterwegs war nach Humanos, da erfuhr ich, worum es ging. Als Spaßmacher und freundlicher Nörgler sollte ich einem kleinen Erdenmenschen das Heimweh vertreiben. 441 Ich bin fast verrückt geworden. Ich, Grauwolf... Ich wollte den Auftrag unseren Leuten um die Antennen hauen. Aber ich hatte mich bereit erklärt, mich aufgedrängt. So kam ich in miesester Laune auf Humanos an, vernahm alle Einzelheiten und begriff, daß ich tatsächlich gebraucht wurde. Jetzt aber, Reik, möchte ich diese Zeit nicht mehr missen. Ich erlebte, wie sich dein Verstand öffnete, wie dies Blumen tun, wenn die Morgensonne sie liebkost. Und ich sage: Trotz der Entbehrungen und Anstrengungen war es eine glückliche Zeit. Dies gebe ich dir mit auf den Weg." "Ach, Kornreck, Lieber.. .", sagte Reik nur. "Ich werde allen meinen Freunden und Verwandten", sagte Kornreck noch, "die Bilder und Filme vorführen, auf denen wir abgelichtet sind. Und ich werde ihnen vieles von dir erzählen." "Und ich?" fragte Reik. "Was bleibt mir?"
"Ein Päckchen wird man für dich abgeben", Kornreck lächelte freundlich, "mit dem Steinernen Kopf." "Ich werde auch unsere Geschichte aufschreiben", beschloß da Reik, "und ich nenne sie eine erdachte Geschichte. Habt ihr etwas dage-gen?" "Keine Einwände", ließ sich Kornreck vernehmen. "Und Zarppan?" fragte Reik leise. "Werde ich es jemals sehen?" "Abwarten", sagte Kornreck, "ging es nicht auch vorher ohne uns?" "Vorher", wiederholte Reik, "aber ich habe mit euch und in euch und in den anderen all das gefunden, wovon ich geträumt habe. Aber verlieren ..., kann man das? Geht das ohne Trauer?" "Vielleicht", sagte die Zarppe und ergriff mit ihren vier Händen Reiks zwei, hielt sie so, daß der eine Woge der Wärme spürte, daß in ihm plötzlich alles klar und weit, licht und stark wurde, "sehen wir uns eines Tages auf Humanos wieder. Vielleicht unter den Namen Gerald Regenbach und Rose Kornreck ... Unsere Kinder, unsere Enkel. Sarschan glaubt an ein -solches Wiedersehen. Ich auch .. . Willst du da zweifeln? Glaube es ebenso, und deine Welt wird neu und schön. Und nun, mein lieber großer Freund und Weggenosse, lebe wohl. Es ist die Zeit, denn eure Wohnungstür klappte eben zu, dein Doppelgänger bewegt sich über die Treppe nach unten, denn er wird im Hausflur mit dir zusammentreffen. Lebe wohl!" Noch einmal drückte Reik sein Gesicht an das von Kornreck, flüsterte etwas, was niemand verstehen konnte, drehte sich mit taubem Kopf und bleiern schweren Füßen um, stolperte aus dem Fahrzeug, ging schwankend auf die Ecke zu, ließ sie hinter sich, erblickte die Haustür wie ein Nebelrechteck und stürzte darauf zu. Reik Regenbach stand vor Reik Regenbach. Nichts unterschied sie. 442 Ihre Sonnenbräune war ebenso gleich wie der Staub auf den Schuhen und der traurige Blick in ihren Augen. "Hallo", sagte das Doppel und betrachtete den Reisenden. "Tag", antwortete der, "wie geht es?" ,Ja", hörte Reik nun seine eigene Stimme, "wie geht es mir? Ich denke, jetzt fühlen wir tatsächlich gleich. Auch ich nehme Abschied. Aber sei unbesorgt: Ich war nur ein halbes Jahr Musterschüler. Es war seltsam, aber deine Eltern rückten von mir ab. Es trat etwas zwischen uns, und ich fürchtete sogar, sie würden behaupten, ich bin nicht Reik. Es klingt unsinnig, aber es war so. Und so wurde ich lieber ein wenig nachlässiger, fauler und inkonsequenter, erlebte aber, wie sie sich mir nun wieder öffneten. Und dennoch, es gab Momente, da sah mich unsere Mutter so eigenartig an, so als wisse sie um unser Geheimnis . . . Na ja, neun Jahre ist auch eine ganz schöne Zeit. . ."
"Neun Jahre?" fragte Reik mit aufgerissenen Augen. "Ich war neun Jahre fort?" "Auf den Tag genau", erwiderte der Doppelgänger, "es ist eine Marotte des Generals vom Föhrenhain. Er liebt diese Art Präzision ... In der Schule war es ebenso. Im ersten halben Jahr starrten sie mich wie ein Wundertuer an, aber dann kam alles ins rechte Lot. Du kannst es jetzt noch an der Unordnung in meinem Zimmer. . ., oh, Pardon!, natürlich in deinem Zimmer sehen. Es wird dir nicht schwerfallen, besser zu werden als ich. Tatsache." "Und Anja Winterlicht?" fragte der Reisende. "Ist sie deine Freundin geworden?" "Sie hätte sicher nie etwas dagegen gehabt", der Doppelgänger lächelte, "besonders, als ich ganz vorn war. Aber unsere Konstrukteure haben mir vorsichtshalber die Fähigkeit verliehen, in meinen Gegenüber hineinzusehen, im voraus zu wissen, was jener tun wird. Damit mir niemand eine Überraschung bereiten kann. Und die Winterlicht, sie hatte eigentlich überhaupt keinerlei Interessen, wenn man von der, sich schnell zu verloben, noch schneller zu heiraten und Geld zu verdienen, einmal absieht. Auch das Fernsehen halte ich für kein Interesse. Sie ist nun verehelicht und wird im nächsten Monat ein Kind bekommen. Ab und an wirst du sie sehen, denn sie ist nicht weit fortgezogen. Reicht das an Information?" "Und sie hätte nicht anders werden können?" fragte Reik. "Du bist von dem Humanosvirus infiziert", sagte der andere und tippte Reik auf die Brust, "das hört man. Ändere nur nicht gleich jeden." "Was tust du eigentlich?" erkundigte sich Reik. "Wir studieren", verkündete der Doppelgänger, "Malerei und Graphik. Das wirst du nach dem Erwachen alles wissen, denn wenn du 443 aufstehst, sind alle eingespeicherten Muster deiner Trainingszeit aktiviert. Dann tust du, was ich solange tat. Du wirst die Hundertfünfziger aus dem Hof auf die Straße schieben, starten und wie eine Brieftaube zielgerichtet dorthin kommen, wohin du mußt. Und außerdem: Vielleicht zehn oder vierzehn Tage stehst du unter dem Schutzschirm von Humanos. Ich denke schon, daß du gut in deinem Fach sein wirst. Das Handwerkszeug haben unsere Leute dir mitgegeben, und die Phantasie, die man braucht, sie lebt in dir... Ach ja, das sollst du noch wissen: Du hast eine Freundin. Aus dem Formgestalterkurs. Sei nett zu ihr, auch wenn sie keine Moanenprinzessin und keine LynajaJada ist. Bild, Name und Adresse liegen auf dem Schreibtisch. Nicht zu übersehen. Mutter schwärmt von ihr, und auch Vater ist begeistert. Da
bleibt mir weiter nichts, als dir Glück zu wünschen, nicht wahr? Oder hast du noch eine wesentliche Frage?" "Wie sind meine Eltern jetzt?" fragte Reik hastig. "Du siehst sie doch gleich", der Doppelgänger lachte, "ich weiß schon, was du denkst: neun Jahre . . . Vater ist manchmal ein wenig traurig. Vielleicht war er ebenso ungeduldig, wie du es bist. Vielleicht träumt ein jeder von Humanos, ohne es zu kennen, und möglicherweise gibt es ein Alter, in dem man zu fürchten beginnt, es nicht mehr sehen zu können, es nicht mehr zu erleben . . . Wer weiß das? Und wenn das so ist, dann wirst du ihm der bessere Gesprächspartner sein 444 als ich, weil du mit ihm fühlen kannst, ich ihn jedoch nur verstehen konnte. Und das ist schon ein gewaltiger Unterschied. Ob man mit dem Herzen oder einfach mit den Ohren und dem Verstand jemandem lauscht. Du wirst der Bessere sein ..." Der Doppelgänger seufzte, derweil sein Blick seltsam leer wurde. Er schien nun an Atemnot zu leiden, denn er stützte sich an Reik ab, öffnete einigemal krampfhaft den Mund. Und seine Gesichtszüge veränderten sich, die Nase wurde kräftiger und ein wenig abgeknickt, die Haare leuchteten gelbblond und wirkten struppig, die Kleidung war nun sehr unterschiedlich von der Reiks. Er ließ Reik los, lächelte nun wieder, trat einen Schritt zurück. Da standen nun zwei junge Männer in einem Hausflur und plauderten freundschaftlich. "Weißt du", der Blonde verzog seinen breiten Mund zu einem Lächeln, "nehmen wir an, du wärst verunglückt, oder besser: du hättest dich entschieden, bei den Moanen, auf Humanos oder sonstwo zu bleiben, weißt du, daß ich dann sehr froh gewesen wäre? Ich habe schon die unterschiedlichsten Gestalten angenommen und an den verschiedenartigsten Orten meinen Dienst absolviert, aber ich war zum erstenmal Mensch - und ich war es gern. Ihr Menschen könnt fröhlicher sein als viele andere. Ihr könnt, wenn man euch läßt, ungehemmt und friedlich herumtollen, könnt so wunderbar lachen, wenn es nicht aus Schadenfreude oder Haß geschieht. Ihr habt einen Zug, jede Logik zu mißachten und dennoch ein Ziel zu erreichen. Ich körinte noch lange reden, warum ich gern Mensch war und weshalb ich in diesem Raum ein ganzes Menschenleben lang Dienst getan hätte. Immer dann, wenn die Gefahr bestand, daß du nicht weitergehst, haben mich unsere Leute gefragt, ob ich nicht bei einem Verkehrsunfall scheinbar sterben wollte, um schnell zurückkehren zu können. Dann habe ich sie jedesmal nur ausgelacht, habe ihnen dann erklärt, daß ich so lange bleiben würde, wie unsere, nun deine Eltern leben. Es war schwer für unsere Crew, das einzusehen ... Ja, Reik, du hast gute Eltern,
zuverlässige Freunde und angenehme Studienkollegen. Du wirst schon bald sehr glücklich sein. Ganz sicher." "Aber ich hätte nie auf Humanos bleiben können", erklärte Reik bestimmt. "Das hat Sarschan dir eingeredet", der Blonde sah Reik gerade an, "sie haben es gesagt, weil sie dich hier haben wollen. Sie denken, daß du für die Menschen mehr tun kannst als für die Humaniden. Das stimmt natürlich auch. Aber hättest du darauf bestanden, dann hätte es dir niemand abgeschlagen." "Ach so", machte Reik, und ein verlorenes Lächeln huschte über sein Gesicht. 445 "Sarschan ruft mich", erklärte der Blonde, "es ist die Zeit, zu starten. Der Totkorridor liegt auf dem Fahrzeug. Du kannst alles nachlesen, denn ich habe für dich Tagebuch geführt. Ausführlich. Nun denn, Weltenreisender, Glück auf den Wegen. Denk manchmal an mich." Nach diesen Worten wandte sich der Blonde der Tür zu, verließ mit ruhigen und gleichmäßigen Schritten den Hausflur. Mit klopfendem Herzen stieg Reik die ihm vertraute Treppe hinauf. Immer schneller wurde er, und als er im zweiten Stock angekommen war, faßte er automatisch in die linke Hosentasche, zog den Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Die Mutter, gerade aus der Küche kommend und hinüber ins Wohnzimmer gehend, blieb erstaunt stehen. Sie blinzelte, rieb sich die Augen und atmete heftiger als gewohnt. Sie machte zwei unsichere Schritte auf ihren Sohn zu. "Du . . .", sagte sie, "du bist schon wieder zurück? Du warst aber nicht lange fort." "Nein", erwiderte Reik und nahm sie in die Arme, "ich war nicht lange fort. . . Ich habe nicht einmal eine Stunde verloren." Und nach diesen Worten warf er einen ersten vorsichtigen Blick durch die nur angelehnte Tür in sein vollgestopftes Zimmer.
INHALT AUFBRUCH Der steinerne Rattenkopf 5 Der fiebrige König läßt bitten 20 Das Tal der flimmernden Träume 47 Der Baum der zehn Zeiten 70 EVULON Sarschan Angaria greift ein 87
Der Plan der Furonen 107 ASTRAS Die Hallen der Vergangenen 141 Empfang bei Glorian dem Ellen 755 Im Fieber des feurigen Goldes 164 Die Heldentat der Zarppe 189 CIRRULAAN Doddafeld und Velterpark 205 GALACTUUR Getrennt 249 HUMANOS Elfenreigen und Einsamkeit Drohende Schatten 289 Cuul Chrassers Geheimmission 296
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