Scan by Schlaflos
Buch Die Erfindung einer Maschine, mit der man die Gefühle fremder Menschen auf der ganzen Welt erku...
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Scan by Schlaflos
Buch Die Erfindung einer Maschine, mit der man die Gefühle fremder Menschen auf der ganzen Welt erkunden kann, hat Hofmagier Leonardo Pegasus wenig Glück gebracht: Er hat seine Stellung verloren, sein Heim und fast sein Leben. Das Gerät ist lange Zeit als wenig beachtete Jahrmarktattraktion unterwegs, obwohl es die Schicksale einzelner Menschen vollkommen durcheinander bringt. Bis eines Tages die Regierung das Potential der Erfindung entdeckt und sie als ultimatives Kommunikationsmittel - und möglicherweise als Spionagewerkzeug verwenden will. Über das ganze Land verteilt, soll ein Netzwerk dieser Apparate entstehen. Doch als Pegasus seine Maschine erbaute, beschwor er unwissentlich einen bösartigen Geist, der tief im Innern der Mechanik lebt. Solange es nur einen einzelnen Apparat gab, war der Dämon dort gefangen. Durch die Vielzahl der Geräte aber bewegt sich der Geist bald im ganzen Reich und stiftet Unheil... Autor Nachdem Steve Cockayne über zwanzig Jahre lang für die BBC gearbeitet hat, unterrichtet er nun als Dozent für Medienkunde. In seiner Freizeit restauriert er ein altes Marionettentheater, das seine Familie lange betrieben hat und das er wieder beleben möchte. Er lebt in Leicestershire. Bereits von Steve Cockayne erschienen: DIE GLÜCKSSUCHER: 1. Die magische Münze. Roman (24328), 2. Die eiserne Kette. Roman (24329) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Steve Cockayne
Die eiserne Kette Die Glückssucher 2 Roman Ins Deutsche übertragen von Andreas I leckmann blanvalet Die englische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »The Iron Chain, Legends of the Land: Book two« bei Orbit/Time Warner Books, London. Um weithin weis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2005 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © by Meta Ventures 2003 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH Published by arrangement with Steve Cockayne. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Luserke/Slava Fedorov Redaktion: Alexander Groß VB • Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24329-7 ISBN-13: 978-3-442-24329-7 www.blanvalet-verlag.de
PROLOG Verhaltensregeln
Die Pastetenbäckerei »Wann kommt eigentlich der neue Magier, Ruthie?« Geoffrey Slater wusste, dass Ruth mal wieder einen missgelaunten Tag hatte, und rechnete kaum mit einer Antwort. Dennoch hatte er es sich nicht verkneifen können, sie erneut zu fragen. Die Reaktion fiel erwartungsgemäß barsch aus. »Mein Gott, Geoff- das hab ich schon heute Morgen nicht gewusst, und jetzt weiß ich es immer noch nicht. Halt einfach den Mund und iss deine Pastete.« Sie saßen im hinteren Teil der Bäckerei - ausgerechnet an dem Tisch, der wackelte. Ruth sah geistesabwesend zur Ladentür. Gerade trat eine Gruppe Lehrlinge ins schwache Sonnenlicht hinaus und ging zurück zum Palast. Die Mittagspause war fast vorüber, und die meisten Tische waren frei. Aus der Küche drang das Klappern des Tellerwäschers. Der Pastetenbäcker hatte die Rollläden am Büfett fast ganz heruntergelassen und spähte nur von Zeit zu Zeit durch den schmalen Spalt zu den Tischen, um zu sehen, ob er seinen Laden endlich bis zum Abend zusperren konnte. Seufzend schob Geoffrey den Teller beiseite. Ruths Schroffheit hatte ihm offenbar den Appetit verdorben. 5 Wie immer hatte er sich für Hammelfleischpastete mit Pastinaken entschieden, und wie immer hatte er sich darauf gefreut. Er bestellte stets das Gleiche und trank seinen Kaffee stets mit viel Milch und Zucker. Ruth bevorzugte ihn stark und schwarz und aß meist nicht mal eine Kleinigkeit, sondern rauchte nur zwei, drei stinkende Zigaretten. Gerade drückte sie die letzte aus. »Komm«, sagte sie barsch. »Zurück an die Arbeit. Setz dir die Mütze auf.« Widerwillig nahm Geoffrey die Mütze von der Bank, schob sie achtlos auf den Kopf und rückte sie nur flüchtig zurecht. Genau wie viele Lehrlinge trug er die traditionelle Kluft aus Mütze, Hemdbluse und Kniehose ungern, wollte sich aber nicht den Zorn der Bruderschaft der Magier zuziehen, der ihm blühen würde, wenn man ihn in anderer Kleidung anträfe. Ruth plagten solche Bedenken nicht: Kaum war der alte Magier gegangen, hatte sie aufgehört, ihre Mütze zu tragen. Geoffrey litt sehr unter seinem Aussehen. Mit kurzen, dicken Beinen und dünnem Bart wirkte er neben Ruth wie eine Witzfigur. Sie war einen vollen Kopf größer als er, und ihre langen Beine waren kräftig wie die eines Mannes und sahen in der schwarzen Kniehose der Bruderschaft hinreißend aus. Von keiner Mütze gebändigt, umgab langes Haar schwarz und ungekämmt ihr strenges Gesicht, und ihre kleine Nickelbrille ließ sie schlauer und kompetenter erscheinen, als er je sein würde. Geoffrey betete Ruth mit verzweifelter Sehnsucht an und wünschte, sie könnte irgendetwas Bewundernswertes an ihm finden. Bedrückt folgte er ihr zur Ladentür, und sie gingen ein kurzes Stück die Ringstraße entlang, bis sie scharf nach 6 links in eine steile, mit Kopfsteinen gepflasterte Gasse namens Straße der Bettler bogen, die sich zum Dienstbotentor an der Rückseite des Palasts hinaufwand. Ruth ging zügig vor, während Geoffrey mit seinen kurzen Beinen kaum mitkam. Heute saßen nur zwei, drei teilnahmslos dreinblickende Bettler auf dem Pflaster. Wie üblich schritt Ruth vernichtend geringschätzig an ihnen vorbei. Geoffrey taten die Bettler ein wenig Leid, doch er wollte die wenigen Münzen, die er noch in seiner Börse hatte, nicht mit ihnen teilen, denn er wusste, dass er bis zur Ankunft des neuen Magiers kein Geld bekommen würde. Ohne anzuhalten, passierten sie den dösenden Wachposten und nahmen den üblichen Weg durch das Gewirr der Dienstbotenflure, atmeten den nach Karbol riechenden Dampf der Palastwäscherei ein, schlängelten sich zwischen den Holzstapeln vor der Tischlerwerkstatt hindurch und arbeiteten sich am ausgefransten Seilgeländer der hinteren Wendeltreppe aufwärts, bis sie schließlich an die massive Eichentür kamen, hinter der sich die Werkstatt des Magiers befand. Sie hatten den schweren Eisenschlüssel gar nicht erst mitgenommen, denn sie hielten sich nicht mehr damit auf, die Tür abzuschließen: Drinnen gab es ohnehin kaum etwas, das irgendwer hätte stehlen mögen. Kaum waren sie eingetreten, begann der Hindernislauf durchs Vorzimmer. Dann bückten sie sich durch die niedrige Tür ins Halbdunkel der eigentlichen Werkstatt und zogen sich an ihre Plätze in einander gegenüberliegenden Winkeln des Gewölbes zurück. Geoffrey ging zu seinem Verschlag, wo Ofen und Amboss aufgebaut waren, Ruth in ihre Nische mit Regalen voller Bücher und Schriftrollen. Beide warfen sich auf ihre Matratze 7 und zogen die Stiefel aus. Geoffrey stellte sein Schuhwerk sauber nebeneinander, während Ruth ihre Stiefel unbekümmert liegen ließ, wohin sie gefallen waren. Dann schlössen beide die Augen. Da ihnen nichts Gegenteiliges aufgetragen worden war, hatten sie sich angewöhnt, nach dem Mittagessen ein kleines Schläfchen zu halten. Nach etwa einer Stunde unterbrach Ruth die Stille. Ihre Stimme hallte durch das große Gewölbe. »Alles wird sich ändern, wenn der neue Magier da ist.« »Wie wird es sich ändern, Ruthie?« Geoffrey seufzte glücklich - erleichtert, dass Ruth wieder gesprächig war. Bestimmt hatte sie darüber nachgedacht, was mit ihnen geschehen würde. Er war gespannt, welche Ideen sie hatte. »Na ja, ich schätze, wir müssen demnächst wieder im Großen Saal essen. Und ich kann nur noch freitags
rauchen. « »Können wir ihn nicht wegen der Pastetenbäckerei fragen?« »Fragen können wir natürlich. Aber ich würde mir keine großen Hoffnungen machen.« Beide genossen ihre Ausflüge zur Bäckerei, wenn auch aus verschiedenen Gründen: Geoffrey um des schlichten Vergnügens einer Hammelfleischpastete mit Pastinaken willen; Ruth, weil dieser Laden einer der wenigen Orte war, an dem sie als Raucherin geduldet wurde. Bis zu seinem plötzlichen Verschwinden hatte der alte Magier stets darauf bestanden, dass sie ihre täglichen Mahlzeiten in der förmlichen Atmosphäre des Großen Saals einnahmen - nicht aus Kleingeistigkeit, sondern einfach deshalb, weil der König es so angeordnet hatte. 8 Keiner von ihnen dreien hatte diese Weisung gemocht, denn der König hatte - obwohl auf seine Art ein mutiger, kluger und begabter Mann - wenig Interesse daran, was auf den Tisch kam, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit lieber auf die Einhaltung des höfischen Zeremoniells. Wegen dieser Vorliebe hatte die Mittagspause oft aus langen Ritualen bestanden, die nur ungern durch das Servieren ungenießbarer Mahlzeiten unterbrochen wurden. Glücklicherweise aber war den königlichen Beratern und Magiern und ihren Lehrlingen und Assistenten in grauer Vorzeit erlaubt worden, jeden Freitag an einem Ort ihrer Wahl zu essen, und während der alte Magier und Ruth die Gelegenheit genutzt hatten, sich in den Bierdunst von »Ausrufers Ruh« zu begeben, hatte Geoffrey es vorgezogen, sich in der Pastetenbäckerei unter die anderen Lehrlinge zu mischen. Erst seit dem plötzlichen Verschwinden des alten Magiers hatte Ruth begonnen, Geoffrey dorthin zu begleiten. Wenn er nun stolz neben ihr am Tisch saß, fühlte er sich gleich doppelt so groß wie sonst — und halb so schwer. Und er hatte insgeheim wahre Freude an den verstohlenen Blicken der anderen Lehrlinge. Dennoch hatte er immer wieder den Eindruck, Ruth gefalle es dort eigentlich nicht. Im Lauf des Nachmittags nahmen sie ihre getrennten Tätigkeiten wieder auf. Geoffrey schlich in seinem Verschlag herum, breitete die Werkzeuge zur Metallverarbeitung aus und heizte die Esse ein. Er wollte die Kette, die er gerade schmiedete, um ein paar Glieder verlängern. Auf seine Ketten war er stolz, und gerade arbeitete er an einem ganz besonderen Exemplar nach eigenem Entwurf. Ihre Glieder waren nicht - wie üblich oval, sondern rechteckig. Sehr konzentriert trat Geoffrey ein 9 paar Mal den Blasebalg und brummte zufrieden, als die Funken zu springen und zu fliegen begannen. Während er sich in seine Aufgabe kniete, trat allmählich ein Lächeln in sein rundes, angespanntes Gesicht. Ruth zog den Vorhang vor ihre Nische, zündete eine Kerze an und stieg auf den Hocker, um eine Schriftrolle aus dem obersten Regal zu ziehen. Sie schrieb Tagebuch und wollte sicher sein, dass weder Geoffrey noch sonst jemand sie dabei beobachtete. Fast den ganzen Nachmittag unterbrachen nur das Kratzen ihres Federkiels und Geoffreys gelegentliches Hämmern die Stille. Von Zeit zu Zeit trieb der durchdringende Geruch von Ruths Zigaretten durchs Gewölbe. Kurz vor der Teestunde aber unterbrach ein Klopfen an der Tür den Frieden. »Hallo?«, rief eine zaghafte Stimme. »Ist das die Werkstatt des Magiers? Wer ist denn da drin? Ich heiße Leonardo Pegasus - vermutlich eher als Meister Pegasus bekannt. Sieht aus, als wäre ich der neue Magier.« Der neue Magier Er war viel jünger als erwartet - wahrscheinlich nur vier, fünf Jahre älter als Ruthie - und groß gewachsen (er überragte sogar sie um einen halben Kopf), hatte aber schon den ersten Ansatz eines Buckels. Sein Bart war klein und gepflegt, und seine Gesichtszüge ließen Geoffrey an die Falken denken, die seit vielen Jahren in den alten Türmen über den Zinnen des Palasts nisteten. Seine Robe und sein Hut wirkten brandneu. Er betrachtete die beiden Gestalten in der Werkstatt. Ihre Anwesenheit verwirrte ihn unübersehbar. 10 »Wer seid ihr?«, wollte er schließlich wissen. »Ich hatte hier eigentlich niemanden erwartet.« »Wir gehören zum Inventar«, antwortete Ruth schnell. »Wir waren bei Eurem Vorgänger in der Lehre, beim alten Magier. Ich heiße Ruth und habe noch vier Jahre Ausbildung vor mir.« Sie komplimentierte ihn durchs Vorzimmer in die große Werkstatt. »Ich kann Euch gleich zeigen, wo alles steht. Und wenn Ihr sonst Hilfe braucht, um Euch in der Stadt zurechtzufinden und vielleicht zu erfahren, wo man ein gutes Bier bekommt oder so, dann fragt einfach mich. Oh, und das hier ist Geoffrey. Er hat noch sieben Jahre vor sich.« Beim Reden hatte sie sich vor Geoffrey geschoben, und der musste sich nun zur Seite biegen, um einen Blick auf den Magier zu erhaschen. »Tja, Ruth und... Geoffrey, ich freue mich, euch kennen zu lernen«, sagte der Magier und zwang sich ein Lächeln ab. »Ich bin sicher, wir werden uns prima verstehen. Vielleicht kann ich mir ja erst mal die Werkstatt ansehen. Und ein Kaffee wäre nett. Ich nehme an, hier gibt's eine Kaffeemaschine?« »In der Werkstatt eigentlich nicht«, erwiderte Ruth. »Der Alte hatte seltsame Ansichten über Kaffee, die Euch bestimmt nicht interessieren. Aber gleich um die Ecke gibt's ein nettes Cafe. Geoff, geh doch mal los und hol eine große Thermosflasche Kaffee. Und Meister Pegasus - möchtet Ihr Euch nicht setzen, solange wir warten? Leider haben wir keine Stühle, aber immerhin diese Matratzen. Sie sind schon etwas alt, erfüllen aber ihren Zweck. Genau, macht es Euch gemütlich. Ich sorge mal für etwas Licht.« Leonardo Pegasus machte es sich bequem und beobachtete, wie Ruth von Fenster zu Fenster ging und die lan11
gen, zerlumpten Vorhänge teilte und mit einem Ruck aufzog. Im durch die schmutzigen Sprossenfenster sickernden Tageslicht war die Werkstatt endlich zu erkennen: ein lang gezogener Saal mit hohem, auf Säulen ruhendem Gewölbe und beunruhigend unebenem Steinboden. Hier und da wuchs Unkraut aus den Ritzen der Fliesen, und der Magier fragte sich unwillkürlich, welche Pflanzen an einem solchen Ort gedeihen mochten. Die übel riechende Matratze, auf der er saß, füllte den Boden der engen Nische, die sich durch Vorhänge vor neugierigen Blicken schützen ließ, fast ganz. Die Wände hier waren hinter Regalen voller Bücher und allmählich zerbröselnder, total verstaubter Schriftrollen verschwunden. Am anderen Ende des Saals befand sich in einem Winkel eine Art Verschlag, der an das Gehege eines monströsen Tieres denken ließ. Auf dem Boden des Verhaus lag inmitten vieler alter, sperriger Geräte und Werkzeuge eine zweite Matratze, die von Ruths Nische aus gerade noch sichtbar war, aber doch so wirkte, als könnte sie der Matratze, auf der der Magier saß, in puncto Gestank gefährlich Konkurrenz machen. Entlang der Wände waren mit etwas Abstand zueinander abwechselnd schwere, fleckige Werkbänke und schwankend hohe Vitrinen aufgestellt, in denen sich Glasbehälter stapelten, die überwiegend kleine Mengen dunkelfarbiger Chemikalien enthielten und mitunter giftig aussehende Ablagerungen am Boden aufwiesen. Auch standen viele äußerst kompliziert anmutende Apparate herum, in die seltsam geformte Laborgefäße verschiedenster Größe integriert waren - alle durch spiralförmig, rechteckig oder gerade verlaufende Röhren verbunden und von einer Art Miniaturgerüst getragen. Der Vorgänger des Magiers war eindeutig Verfechter der Alchemie 12 gewesen, dieses traurigen, veralteten Wahnsystems, das in den letzten Jahrzehnten so in Verruf gekommen war. In der Werkstatt würde sich eine Menge ändern müssen, ehe Leonardo hier wirklich arbeiten konnte. Auf Bänken und Regalen verstreut und auch sonst da und dort entdeckte Leonardo außerdem Zeichen dafür, dass in der Werkstatt seit einiger Zeit gewohnt oder wohl eher gehaust wurde. Kleidungsstücke von Mann und Frau lagen gleichermaßen verschmutzt in kleinen Haufen in den Ecken. Brotkrusten, verschimmelnde Früchte und umgekippte Becher waren mehrfach zu sehen. Ein Nachttopf lugte schüchtern unter einer Werkbank hervor. All diese Gegenstände verbreiteten ein seltsames Aroma, das sich mit dem Gestank der Strohmatratzen, dem beißenden Duft der Chemikalien und natürlich dem Muff aus den Wäschehaufen zu einem widerlichen Geruchsteppich verbunden hatte, der in der stickigen Luft fast sichtbar Falten warf. Leonardo rang plötzlich nach Atem. »Hier stinkt's!«, platzte er heraus. »Mach doch mal die Fenster auf!« »Oh, Verzeihung«, erwiderte Ruth. »Ich schätze, wir merken das gar nicht mehr.« Durchaus anerkennend musterte Leonardo ihre große, sportliche Figur, als sie von der Werkbank kletterte, auf der sie sich auf die Zehenspitzen hatte stellen müssen, um das Oberlicht zu erreichen. Sie war leicht errötet und atmete schwer. »Der alte Knacker hat die Fenster nie geöffnet«, keuchte sie. »Sie klemmen, aber wenn Ihr wollt, versuch ich's noch mal.« »Mach dir darüber jetzt keine Sorgen«, sagte Leonardo. »Komm, setz dich mal zu mir.« 13 In diesem Moment aber quietschte die Flurtür, und ein Klappern und Schwappen kündigte an, dass Geoffrey zurückkam und Kaffee mitgebracht hatte. »Irgendwie finde ich das nicht richtig«, sagte Meister Pegasus grüblerisch. »Ich hab diese schöne Wohnung in der Westvorstadt und kann abends in mein Bett steigen, während ihr zwei auf grässlichen Matratzen schlafen und ständig in diesem furchtbaren Gestank leben müsst. Ihr Lehrlinge lebt unter lausigen Bedingungen. Ich wäre wirklich froh, wenn ihr eigene Wohnungen hättet.« »Mir gefällt's hier«, sagte Geoffrey. »Da hab ich mein Werkzeug und meine Sachen bei der Hand.« »Ich finde es furchtbar«, widersprach Ruth. »Jeder verdient doch einen anständigen Platz zum Schlafen. Ist Eure Wohnung hübsch? Ich würde sie gern mal sehen. Wie ist sie denn eingerichtet?« Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Sie hatten alle alten Werkbänke in den Korridor gewuchtet und dort gestapelt - genau wie die vielen Gefäße und Apparate. Nun bildete dieses Gerumpel auf dem Gang ein Hindernis, das den Vorbeikommenden Verrenkungen aufzwang, bis endlich die Palastarbeiter erschienen, um es fortzuschaffen. Die Werkstatt war gefegt und geschrubbt, die Wände frisch gestrichen worden, und Männer mit Brecheisen, Hämmern und Ölkannen hatten die Fenster aufgehebelt. Andere hatten jede Menge schwere Kabel installiert, durch die Strom fließen sollte, den der Magier - wie er erklärt hatte - für seine neuen Geräte brauchte. Und Kisten waren geliefert worden, Kisten, die geheimnisvolle Spiegel und Linsen enthielten, eng gewickelte Drahtspiralen, rätselhafte Kopfhörer, Zähler und stufenweise veränderbare elektrische 14 Widerstände - Dinge, die allesamt in einem Bett aus Sägemehl lagen, sodass Ruth und Geoffrey manchmal glaubten, in einem Alptraum gelandet zu sein, bei dem sie in mit Kleie gefüllten Behältern wühlen mussten, um Überraschungen herauszuziehen. Inzwischen war eine weitere Woche vergangen, und die drei saßen an ihrem Stammplatz in der Pastetenbäckerei. Obwohl Meister Pegasus - wenigstens im Grundsatz - für die Einhaltung des höfischen Protokolls war und die Notwendigkeit, ab und an im Großen Saal zu essen, zu schätzen wusste, hatte Ruth ihn überreden können, an mindestens vier Tagen in der Woche dem Beispiel seines Vorgängers zu folgen und sich eine weniger förmliche
Art der Stärkung zu gönnen. »Meine Wohnung? Natürlich kannst du mich dort besuchen kommen, wann immer du magst, Ruth«, sagte der Magier gerade. »Ich brauche ohnehin etwas Hilfe, um meine Schriftrollen, Entwürfe und Sachen zu ordnen und einzuräumen. Und vielleicht kannst du mir mit den Vorhängen helfen, wenn du schon da bist. Irgendwie schaffe ich es nicht, sie gerade aufzuhängen. Und du auch, Geoffrey«, fügte er hinzu. »Du kannst ebenfalls kommen, wenn du magst.« Er nahm einen Schluck Kaffee, schüttelte sich zum Entsetzen der beiden heftig und lächelte dann zögernd. »Gar nicht schlecht. Aber wie sind wir überhaupt auf die Wohnung gekommen? Eigentlich wollte ich mit euch doch über die neuen Geräte sprechen, die ich demnächst in Betrieb nehme, und euch das Prinzip der Empathiemaschine erklären, oder?« Die beiden Lehrlinge nickten und waren gespannt auf die Pläne ihres Meisters. »Natürlich unterscheidet sich mein Vorgehen grundsätzlich von all dem, wofür die alten Chemikalien 15 und Gerätschaften stehen«, fuhr Leonardo fort. »Es geht darum, bei dem, der die Maschine bedient, eine persönliche Erfahrung auszulösen, die direkt aus der Vorstellungskraft kommt. Die Maschine macht sich Erkenntnisse vieler neuer Wissenschaften zunutze - der Optik, des Magnetismus und anderer Forschungsfelder. Wahrscheinlich hat es noch nie etwas Vergleichbares gegeben. Darum bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir mit der Konstruktion bei null beginnen müssen. Eigentlich ist die Maschine noch nicht richtig erfunden, jedenfalls nicht im Detail.« Er versank kurz in Schweigen und wirkte in Gedanken verloren. Dann riss er sich unvermittelt zusammen und fuhr fort: »Jedenfalls muss ich ein Gehäuse dafür anfertigen lassen, und dann gibt es viele elektrische und optische Teile, von denen ich aber die meisten selbst bauen kann. Du, Ruth, musst meine Zeichnungen und Schaubilder ordnen. Und es gibt jede Menge knifflige Kleinteile, die besonders vorsichtig zu behandeln sind. Geoffrey, es gibt auch einige Sachen aus Metall, die du für mich herstellen kannst. Und die Namensschilder natürlich. Auf allem muss mein Name stehen. Dafür wäre doch Messing schön, oder?« Geoffrey brummte etwas in sich hinein und wischte seinen Teller dabei mit einem Stück Brot aus, Ruth trank den letzten Schluck bitteren Kaffee, und der neue Magier blickte in unbekannte Fernen, während die Hummerpastete mit Erbsen vor seiner Nase langsam kalt wurde. 16 Vorhänge anbringen Geoffrey saß zusammengesunken auf der Matratze und zählte mal wieder die Glieder seiner Lieblingskette. Er ließ sie nach links und rechts durch die Hände gleiten und freute sich an ihrem soliden Gewicht, an der gut geölten Glätte und fast anmaßenden Eckigkeit jedes Glieds, an der beruhigenden Ähnlichkeit der Teile und besonders an ihren kleinen, versteckten Unterschieden. In letzter Zeit verbrachte er viel Zeit mit seinen Ketten, weil es für ihn - wie er allmählich begriffen hatte - sonst kaum etwas zu tun gab. Geoffrey war mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden gewesen, bis Meister Pegasus gekommen war und begonnen hatte, alles auf den Kopf zu stellen und die altvertrauten Dinge wegzuwerfen. Wegen der Werkbänke und Chemikalien war er nicht weiter traurig gewesen, aber es hatte ihm nicht gerade gefallen, als einige merkwürdige neue Maschinen aufgetaucht waren, und es hatte ihm absolut nicht gepasst, dass Männer mit Brecheisen die Fenster aufgestemmt hatten. Die frische Luft, die nun mit jedem Windstoß hereindrang, hatte all die behaglichen Gerüche fortgeweht, und über der Werkstatt lag inzwischen eine kalte, strenge und feindselige Atmosphäre, die ihn verwirrte und auf eine Weise unruhig und unglücklich machte, die er absolut nicht verstand. Und dann war da Ruthie. Sie redete nicht mehr wie früher mit ihm. Eigentlich sprach sie überhaupt kaum noch mit ihm. Das hätte ihm nicht einmal etwas ausgemacht, wenn sie - wie früher so oft - schlecht gelaunt und sauer gewesen wäre, aber sie schien ihn einfach nicht mehr zu bemerken. 17 Die Kette entglitt Geoffreys kurzen dicken Fingern, rasselte unbemerkt zu Boden und bildete einen kantigen Haufen. Der Junge blickte verzweifelt in einen Winkel am anderen Ende des Gewölbes und versuchte, seinen langsamen Verstand auf Trab zu bringen. Und nach einiger Zeit begann ein zaghaftes Begreifen aufzuglimmen. Ihm wurde klar, dass Ruthie sich allein wegen Meister Pegasus so merkwürdig verhielt. Seit der Ankunft des neuen Magiers war sie völlig davon in Anspruch genommen, seine Aufträge zu erledigen, und wollte nichts mehr mit Geoffrey unternehmen. Er versuchte sich zu erinnern, wie es vor dem Verschwinden des alten Magiers gewesen war, doch ihm fiel nur ein, dass er sich wohl gefühlt und immer gewusst hatte, was von ihm erwartet wurde. Inzwischen wusste er ganz und gar nicht mehr, was irgendwer noch von ihm wollte. Meister Pegasus hatte ihm ein paar unwichtige Arbeiten gegeben, ihn ein paar Winkelträger schmieden, ein paar Namensschilder gravieren lassen, aber danach hatte er nichts mehr zu tun bekommen. Einmal hatte er Ruthie gefragt, aber sie hatte wieder einen ihrer missgelaunten Tage gehabt, und sein Erkundigen hatte rein gar nichts bewirkt. Meister Pegasus hatte er nicht fragen wollen, weil der fast immer zu unnahbar und zu wichtig wirkte. Deshalb ging Geoffrey den beiden inzwischen einfach aus dem Weg, wartete in seinem Verschlag auf die nächste Essenspause und hoffte, sie würden ihn demnächst endlich wieder bemerken. Vielleicht hatten sie ja eine ganz besondere Arbeit für ihn im Sinn. Ja, vielleicht machten sie sich deshalb so rar. Denn warum sonst sollten sie inzwischen alles gemeinsam tun und ihn links liegen lassen? Sie hatten ihn sogar dazu gebracht, allein essen zu gehen. In den letzten
18 Tagen hatte er allein zur Pastetenbäckerei gehen müssen, während sie im »Ausrufers Ruh« eingekehrt waren. Dort waren sie auch jetzt wieder. Geoffrey begriff, dass er eigentlich gar nicht wollte, dass sie zurückkamen. Er schniefte laut, und eine Träne lief ihm über die Wange. Es musste etwa gegen vier Uhr nachmittags gewesen sein, als die Tür endlich aufsprang und Geoffrey ihr Gelächter aus dem Vorzimmer in die Werkstatt dringen hörte. Bei ihrer Rückkehr schienen sie immer bester Laune, und das ließ Geoffrey sich elender fühlen als je. Heute wollte er nicht einmal mehr, dass die beiden ihn bemerkten. Er legte sich flach auf die Matratze, spähte verstohlen zwischen den Brettern des Verschlags hindurch und sah sie in die Werkstatt stolpern. Der Magier klammerte sich an Ruthies Arm und schien ziemlich unsicher auf den Beinen. Sie hielt ihn aufrecht und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Geoffrey nicht verstand. Doch die Antwort war deutlich zu vernehmen. »Ach was, wir brauchen doch nicht bis dorthin zu laufen - das ist viel zu weit«, rief der Magier, und seine Stimme schien zu zittern. »Wir gehen einfach in deine Nische und machen die Vorhänge zu. Ich glaube sowieso nicht, dass Dingsbums hier ist. Ich sehe ihn nirgendwo. Und wo wir gerade von ihm reden - was tut der eigentlich den ganzen Tag? Den müssen wir uns mal vorknöpfen.« Sie lachten erneut, als sie durch den Saal wankten. Geoffrey sah nicht, was dann geschah, weil ein sperriger Gegenstand - einer von den neuen Apparaten von Meister Pegasus - ihm die Sicht nahm, aber er hörte, wie der Vorhang vor die Nische gezogen wurde. Danach waren andere Geräusche zu vernehmen, die 19 sich teils nach einem Spiel, teils nach einem Kampf anhörten. Geoffrey verstand nicht, was vorging, doch er spürte, dass für ihn dabei kein Platz war. Traurig begann er wieder, an der Kette zu fingern. So ging es ein paar Wochen. Nach der Mittagspause schien so gut wie nichts erledigt zu werden, aber je mehr schwere Kisten vormittags geliefert und ausgepackt wurden, desto deutlicher nahm die Anlage des Magiers Gestalt an. Ruth half Meister Pegasus, die empfindlichen Einzelteile zu montieren und die komplizierten Geräte in die schweren Gehäuse aus Mahagoni einzupassen, die weiter in unberechenbaren Zeitabständen aus der Tischlerei kamen. Geoffrey durfte Abfall und leere Kartons wegräumen und bekam ab und an den Auftrag, eine Lasche oder einen Zapfen zu bauen oder ein weiteres Namensschild zu gravieren. Wenn mittags die Glocken des Instituts für Kalibrierung läuteten, begleitete Ruth den Magier ins »Ausrufers Ruh«, während Geoffrey sich auf seinen einsamen Weg zur Pastetenbäckerei machte, wo er wieder und wieder gezwungen war, den Spott der anderen Lehrlinge zu ertragen, wenn er allein am Tisch saß. Nach der Mittagspause war er in aller Regel sich selbst überlassen. Oft kamen die anderen beiden später nach und zogen sich kichernd in die Nische zurück, mitunter aber tauchten sie gar nicht mehr auf. Geoffrey hatte nie einen tiefen Schlaf gehabt und wusste, dass auch Ruth ein unruhiger Geist war. Nachts lag er oft wach in seinem Verschlag und mühte sich, einen Blick auf sie zu erhaschen, wenn sie im Nachthemd durch den Saal strich und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Als sie aufhörte, nachts in die Werk20 statt zu kommen, merkte er das natürlich sofort und begriff, dass etwas sehr im Argen liegen musste. Eines Tages nahm er seinen ganzen Mut zusammen und fragte sie, wohin sie nachmittags ging. Sie warf ihm daraufhin einen vernichtenden Blick zu und sagte verächtlich, er solle nicht dumm sein. Traurig wurde ihm klar, dass er wohl dumm sein musste und es eine Menge Dinge gab, die er nie begreifen würde. »Ich helfe Meister Pegasus dabei, in seiner Wohnung Vorhänge anzubringen«, erklärte Ruth gereizt. »Das ist sehr schwierig und dauert lange. Manchmal ist es zu spät, um zurückzukommen - dann darf ich bei ihm übernachten. « Geoffrey war über all dies sehr verblüfft. »Kann er seine Vorhänge nicht selbst anbringen?« »Es ist sehr schwer, das richtig hinzukriegen.« Jetzt sprach sie langsam und geduldig, als würde sie mit einem kleinen Kind reden. »Das verstehst du einfach nicht.« Damit hatte Geoffrey sich zu begnügen. Dann änderten sich die Dinge erneut. Eines Morgens prüfte Geoffrey gerade einen Schwung Scharniere, die er geschmiedet hatte, und zählte sie zum siebten Mal durch, als Ruth allein in die Werkstatt gestürmt kam. Aus irgendeinem Grund schien sie sehr aufgeregt, und ihr Gesicht war bleich. »Er will mit uns reden«, platzte sie heraus. »Er kommt!« Sekunden später rief der Magier beide ins Vorzimmer. »Ich hab mir eure Fortschritte angesehen.« Er schien noch unfreundlicher als sonst. »Es gibt noch viel zu tun, also muss jetzt schneller gearbeitet werden. Geof21 frey, ich habe inzwischen so viele Haken und Winkelträger, dass sie bis an mein Lebensende vorhalten werden. Nun musst du mir helfen, einige große Maschinen in Position zu bringen. Und der Strom muss angeschlossen werden. Weißt du, wie das geht? Ich brauche auch einen sicheren Platz für alle Ausrüstungsgegenstände, die nicht niet- und nagelfest sind. Darum möchte ich, dass du den Verschlag leer räumst.« Geoffrey musste ein völlig bestürztes Gesicht gemacht haben, denn der Magier schien einen Moment weich zu
werden. »Na gut, ich schätze, du kannst weiter dort schlafen, wenn Platz genug da ist.« Er wurde wieder aufgeregt. »Und Ruth - das Vorzimmer sieht noch immer aus wie ein Schweinestall. Ich bekomme demnächst Besuch, wichtigen Besuch... vielleicht sogar der König. Ich will, dass der Eingangsbereich... einfach... na ja... einladender wirkt. Im Moment sieht's da aus wie beim Trödler. Wirf den ganzen Müll in den Flur. Häng ein Bild an die Wand. Besorg ein paar Blumen oder so. Und wo ist deine Mütze? Ihr Lehrlinge seid eine Schande. Was wird der König denken, wenn ihr nicht mal eure Kluft tragt?« Verlegen schlurften Geoffrey und Ruth zur Tür. »Nein, Moment, ich bin noch nicht fertig. Ich will Kaffee. Warum müssen wir immer danach schicken? Ich will, dass hier bis Ende der Woche eine Kaffeemaschine angeschlossen wird. Und ich will ein paar Becher haben, weiß-blau gestreift, wenn ihr welche findet. Verstanden?« Sie hatten ihn noch nie so zornig gesehen. Einen Moment lang rührten sie sich nicht vom Fleck. »Also, worauf wartet ihr noch? Es gibt viel zu tun. 22 Lasst mich jetzt endlich in Ruhe und kümmert euch darum.« Also erledigte jeder für den Rest des Tages und auch in den nächsten Tagen seine Aufgaben in seiner Ecke der Werkstatt, und keiner sprach mit den anderen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Im Verschlag Bald nach diesem Vorfall weckten Geoffrey eines Nachts leise Schritte vor seinem Verschlag. Kaum hatten sich seine verschlafenen Augen ans Halbdunkel gewöhnt, sah er überrascht Ruths langgliedrige Gestalt am Eingang lehnen. Ohne dass sie ein Wort gesagt hatte, wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie hatte all ihre Heftigkeit verloren und wirkte matt und unglücklich. Sie schwiegen lange. Dann kam sie einen Schritt auf ihn zu. »Ach, Geoff«, sagte sie. »Ich bin in letzter Zeit so gemein zu dir gewesen, und das tut mir furchtbar Leid. Darf ich mich ein bisschen zu dir setzen?« Ihre Stimme klang kleinlaut, traurig und etwas zittrig, als habe sie geweint, und ehe Geoffrey antworten konnte, hatte sie sich schon auf die Matratze geworfen und die Bettdecke über sie beide gezogen. »Früher haben wir uns gut verstanden, stimmt's?«, sagte sie klagend. »Bis neulich. Und jetzt verbringe ich seit Wochen all meine Zeit mit Meister Pegasus und hab für meinen Geoffrey nicht ein Wort übrig. Wenn ich verspreche, wieder nett zu dir zu sein, verzeihst du mir dann? Sag bitte Ja! Bitte!« 23 Sie begann zu weinen, und Geoffrey, dem solche Situationen ganz neu waren, legte ihr vorsichtig den Arm um die Schultern. Ein paar Minuten zuvor wäre er in seinem Jammer und seiner Einsamkeit noch froh gewesen, wenn sie nie wieder in seine Nähe gekommen wäre, doch jetzt, da sie begonnen hatte, ihm zu erzählen, was los war, wollte er unbedingt, dass sie wieder Freunde wurden. »Natürlich verzeihe ich dir, Ruthie«, erwiderte er. »Magst du mir nicht sagen, wo dich der Schuh drückt?« »Ach, ich weiß nicht.« Sie schniefte laut und kuschelte sich näher an ihn. »Manchmal passieren Dinge einfach so, und ich lasse mich von ihnen mitreißen, und dann geht alles schief. Jetzt ist mir klar, dass ich ein dummes Mädchen gewesen bin, und ich möchte nur, dass alles wieder wird, wie es war. Verstehst du das, Geoffrey? Ja? Das ist gut. Können wir noch ein bisschen so liegen bleiben?« Staunend umarmte Geoffrey sie fester. Der beißende Geruch ihrer Zigaretten kribbelte ihm in der Nase, und in einer trüben Ecke seines Bewusstseins kitzelte ihn noch ein anderer Geruch, ein verwirrenden Moschusduft, der sich immer wieder verstohlen unter den Tabakgeruch mischte. Geoffreys Herz hatte zu hämmern begonnen, und er spürte ein Ziehen im Unterleib. Er merkte, dass Ruth nachdenklich begonnen hatte, mit dem Finger kleine Kreise auf seiner schlaffen Brust zu ziehen. »Darf ich dir einen kleinen Trick zeigen, Geoffrey?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, klang aber doch irgendwie selbstsicherer als zuvor. »Einen kleinen Trick, den ich gelernt hab, als ich jünger war. Es ist nichts Besonderes, aber vielleicht fühlen wir uns dann beide etwas besser.« Sie setzte sich langsam auf, zog sich mit einer plötzlichen Bewegung das Nachthemd über den Kopf und warf es weg, so dass es raschelnd an den Brettern des Verschlags landete. Darunter hatte sie zu Geoffreys Erstaunen nichts an. Dann warf sie sich mit lautem Stöhnen auf den Rücken, streckte die langen Arme aus und zog ihn zu sich heran. Es war noch früh, als sie am nächsten Tag erwachten, und das Erste, was Geoffrey sah, war Ruths Gesicht, das ihn vom anderen Ende der Matratze her beobachtete. Ehe er sich sammeln konnte, beugte Ruth sich vor und flüsterte ihm mit Nachdruck ins Ohr. »Gleich kommt Meister Pegasus. Er darf nichts davon erfahren — genauso wenig wie irgendwer sonst. Hast du verstanden? Das muss unser kleines Geheimnis bleiben, ja? Wir können das wieder tun, von mir aus schon bald, aber nur, wenn du versprichst, niemandem ein Wort davon zu sagen - unter keinen Umständen. Versprichst du mir das, Geoffrey?« »Natürlich, Ruthie. Ich kann Geheimnisse für mich behalten, selbstverständlich.« Er musterte sie beunruhigt. »Aber wie bald wird Meister Pegasus hier sein?« Als wollten sie diese Frage beantworten, begannen die Glocken des Instituts für Kalibrierung in diesem Moment
ihr Morgenläuten. Ruth sah Geoffrey missbilligend an, schien sich dann aber eines Besseren zu besinnen. »Keine Ahnung. Vielleicht in einer Stunde oder so. Ich schätze, ich hab Zeit, dir vorher noch was anderes zu zeigen.« 25 So lebte Geoffrey in den nächsten Wochen in seligem Taumel und konnte sein Glück kaum fassen. Er hätte am liebsten der ganzen Stadt laut verkündet, welche Herrlichkeit ihm widerfuhr, und musste sich mehrmals einschärfen, dass er Ruth versprochen hatte, darüber zu schweigen. Er wollte nicht riskieren, sie zu verletzen, und ganz gewiss wollte er nicht Gefahr laufen, Meister Pegasus zu verärgern. Deshalb hielt er sich streng an sein Versprechen und schwieg. Doch immerhin begann er endlich, einige der unergründlichen Dinge zu verstehen, über die die anderen Lehrlinge in der Pastetenbäckerei sprachen. Zwar beteiligte er sich auch weiterhin nicht an ihrem zotigen Gerede, konnte sich nun aber wenigstens entspannt zurücklehnen und ihnen mit überlegenem Lächeln zuhören. Kaum war der Meister abends nach Hause gegangen, kam seine Ruthie zu ihm in den Verschlag und zeigte ihm einen neuen Trick, und jeden Morgen schlich sie, ehe der Magier kam, wieder in ihre Nische zurück und überließ es Geoffrey, seine in der Nacht in alle Winde zerstreuten Gedanken zu sammeln, so gut er konnte. Tagsüber ging die Arbeit in der Werkstatt des Magiers recht ordentlich voran. Meister Pegasus war zwar nicht besonders freundlich zu seinen Lehrlingen, verlor ihnen gegenüber aber nicht wieder die Beherrschung, und alle schafften es, ihre Aufgaben ohne viel Geschwätz oder Theater zu erledigen. Eines Tages, als die neuen Maschinen schon kurz vor dem Probelauf standen, rief Meister Pegasus Geoffrey zu sich. »Ich habe eine wichtige und dringende Arbeit für dich«, erklärte er, und seine Stimme klang etwas netter als sonst. »Deine Namensschilder für die Maschinen ge26 fallen mir sehr. Sie sind wirklich gut und geben meiner Anlage erst das gewisse Etwas. Würdest du ein ganz besonderes Schild für mich anfertigen?« Geoffrey war von diesem Vorschlag begeistert und richtete sich stolz zu voller Größe auf, sodass sein Gewand sich bis knapp über die pummeligen Knie hob. »Selbstverständlich, Meister Pegasus. Es wird mir eine Ehre sein.« Der Magier warf ihm einen Seitenblick zu, in dem ein flüchtiges Misstrauen schimmerte. »Also, ich brauche ein Namensschild für den Korridor. Es soll an der Tür zum Vorzimmer angebracht werden. Und es muss groß sein - so groß wie möglich -und allen sagen, wer ich bin und was ich tue. Ich hab die Einzelheiten hier aufgeschrieben.« Er griff in eine Tasche seiner Robe und gab Geoffrey einen Fetzen Pergament. »Ich möchte es in dekorativer Schreibschrift, raffiniert, schwungvoll und ausgefallen, damit es mich bedeutend erscheinen lässt. Ja, raffiniert und bedeutend - darauf kommt's an. Aber nicht zu raffiniert«, ergänzte er hastig, »denn die Leute müssen es immer noch lesen und verstehen können. Meinst du, das schaffst du?« Langsam und sorgfältig las Geoffrey, was auf dem Pergament stand. Er war etwas enttäuscht, dass sein Name nicht auftauchte, aber dennoch sehr stolz darauf, dass Meister Pegasus ihn gebeten hatte, diese Arbeit zu erledigen. Am Nachmittag begann Geoffrey seine Aufgabe damit, die obere Tafel der schweren Eichentür mit einem Knotenseil sorgfältig auszumessen. Er zählte die waagrechten und senkrechten Knoten, schrieb ihre Zahl auf die 27 Tafel an seinem Gürtel und ging in den Verschlag, um ein schweres Messingblech in passender Größe und geeignete Metallsägen, Feilen, Bohrer, Schraubenzieher, Ahlen und Graviermeißel aufzutreiben. Dann zeichnete er die Umrisse des Schildes aufs Blech, und zwar nicht - wie sonst - sparsam am Rand, sondern genau in die Mitte der Messingplatte, klemmte sie mit Ruths Hilfe in den Schraubstock, sägte sie zu und feilte an den Rändern herum, bis sie glänzten. Danach bohrte er in den Ecken vier Löcher ins Blech und senkte sie an, damit die Schrauben glatt mit dem Schild abschlössen. Später zog er mit dem kleinsten Graviermeißel Hilfslinien für die Buchstabenreihen und zeichnete nach Anregungen eines seiner Musterbücher die Buchstaben vor, um sicherzugehen, dass sie den gleichen Abstand zueinander hatten und die volle Höhe der Zeile einnahmen. Dann erst begann er mit dem Gravieren. Als er den Meißel ins Messing trieb und die langen, glänzenden Späne Spiralen bilden und den Boden wie Korkenzieherlocken bedecken sah, merkte er, dass er diese Arbeit mehr genoss als alles, was er je erledigt hatte. Den Rest des Tages blieb er ganz in seine Aufgabe versunken. Und dann war es wieder Abend, also Zeit, von Ruthie einen neuen Trick zu lernen. Er war noch nie so glücklich gewesen. Gegen Ende der Woche schleppte Geoffrey einen Hocker in den Flur und brachte das Schild - wieder mit Ruths Hilfe - in die richtige Position, um die Ankörnung für die dicken Messingschrauben zu setzen. Dann bohrte er an den markierten Stellen und achtete darauf, nicht auf der Rückseite der Tür zu landen. Danach rief er wieder nach Ruth, und sie hielt das Schild erneut, 28 während er es festschraubte. Dafür nahm er seinen Lieblingsschraubenzieher, den großen mit dem glatten Holzgriff, der mal kaputtgegangen und repariert worden war. Der tiefe Riss im Holz und die grobe
Metallkrampe, mit der er geflickt war, fühlten sich warm und beruhigend an. Er stand noch immer auf dem Hocker, als er sein Werkzeug schließlich auf den Steinboden warf, tief einatmete und seine Arbeit kritisch prüfte. Das Schild sah wirklich beeindruckend aus und würde gewiss die Blicke aller Vorübergehenden anziehen. In eleganter Kursivschrift stand da: MAGISCHES THEATER: LEONARDO PEGASUS, OBERSTER MAGIER DES KÖNIGS Bitte klingeln »Ist das nicht schön geworden, Ruthie?« Er blieb noch ein wenig auf dem Hocker stehen und bewunderte das Ergebnis seiner Mühe. Ruth trat von einem Bein aufs andere, sagte aber nichts. »Ich nehme an, als Nächstes sollen wir eine Glocke bauen«, fuhr Geoffrey fort. »Damit die Leute klingeln können. Aber sieht das Schild nicht wirklich gut aus?« Er blickte nach unten und war kurz darüber irritiert, ausnahmsweise größer zu sein als sie. Doch Ruths aufwärts gewandter Blick war nicht - wie erwartet - auf das Schild gerichtet, sondern auf ihn. Langsam bemerkte er ihre besorgte Miene. »Was ist los, Ruthie?«, fragte er und fürchtete sogleich, er habe ein Wort falsch geschrieben oder das Schild schief aufgehängt. »Gefällt es dir nicht?« »Doch, das ist schon in Ordnung«, erwiderte sie geis29 tesabwesend. »Aber weißt du... es geht mir nicht um das Schild, Geoffrey. Es ist einfach so, dass ich... dass ich wohl ein Kind bekomme.« Dann brach sie in Tränen aus. »Ein Kind?« Geoffrey war völlig verblüfft. »Wieso bekommst du ein Kind?« »Du bist echt blöd!«, brachte sie schluchzend hervor. »Hast keinen Schimmer, was? Also hör mir zu. Ich bekomme ein Kind, und das können wir nicht ewig geheim halten. Die Leute werden es bald zwangsläufig merken. Also müssen wir wohl Meister Pegasus davon erzählen. Ich wüsste nicht, was wir sonst tun sollten.« Das Keuschheitsgelübde »Ein Kind?« Der Magier sah die beiden verständnislos an. »Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, bei den Vorlesungen an der Akademie etwas über Babys erfahren zu haben. Das gehört nicht zu den Dingen, mit denen Magier sich normalerweise beschäftigen. Ich schätze, ich kann das mal für euch nachschlagen, wenn es wirklich wichtig sein sollte. Ich hab meine Bücher noch nicht alle ausgepackt.« Die Stühle waren noch nicht gekommen. Deshalb lagen die drei recht unbequem auf den Steinfliesen um die neue Kaffeemaschine herum. Dieser unerlässliche Ausrüstungsgegenstand war erst am Vortag geliefert worden, und der empfindliche Mechanismus war noch nicht präzis eingestellt. In unberechenbaren Abständen ließ die Maschine darum siedend heiße Kaffeefontänen oder zischende Dampfwolken in unkalkulierbare Richtungen los. 30 Der Magier, dem sichtlich daran lag, wieder an die Arbeit zu gehen, nippte vorsichtig an seinem weiß-blau gestreiften Becher und blickte stirnrunzelnd auf die Empathiemaschine. Ruth versuchte, ihn aufzuhalten. »Ich hab das Gefühl, es ist wirklich recht dringend.« Sie hatte den Ärmel seiner Robe gepackt, um ihn am Aufstehen zu hindern. »Gibt es nicht Verhaltensregeln für Magier? Gilt für sie nicht das Gebot der Enthaltsamkeit? Die Leute werden ein Kind bemerken, meint Ihr nicht? Wir können es nicht ewig geheim halten. Und wenn die Leute es schreien hören, werden sie... na ja... nahe liegende Schlüsse ziehen. Stimmt's, Geoffrey?« Der hatte nicht zugehört, sondern polierte mit Andacht das Namensschild der Empathiemaschine. »Geoffrey?« Widerwillig wandte er den anderen seine Aufmerksamkeit zu. »Ja. Ich schätze, du hast Recht, Ruthie.« »Der Kerl ist einfach zu nichts nutze! Aber im Ernst, Meister Pegasus, wir müssen etwas unternehmen, ehe jemand herausfindet, dass ich schwanger bin. Ich denke, Ihr solltet die Bestimmungen über Enthaltsamkeit umgehend nachschlagen.« »Na gut.« Resigniert ließ Leonardo alle Hoffnung fahren, die Empathiemaschine noch an diesem Tag in Betrieb zu nehmen. »Aber wahrscheinlich endet das damit, dass wir alle Bücher auspacken müssen. Der Band, den ihr braucht, liegt garantiert ganz unten.« Er war aufgestanden und ging durch die niedrige Tür ins Vorzimmer. Deshalb drangen die nächsten Sätze nur leise zu ihnen herüber. »Aber wo du es gerade erwähnst, fällt mir ein, dass es wohl tatsächlich Bestimmungen zum Thema Enthaltsamkeit gibt. Doch ich bin ziemlich si31 eher, dass sie nur für Magier gelten, nicht für ihre Mitarbeiter oder Lehrlinge. Geoffrey, hol doch mal Werkzeug - Hammer und Meißel oder so.« Unter viel Schnaufen, Zerren und Fluchen gelang es ihnen, die große Kiste aufzubrechen, die sämtliche Bücher, Schriftrollen und Pergamente enthielt, die Meister Pegasus im Laufe seines Studiums an der Akademie der Magier zusammengetragen hatte. Alles war in Sägemehl gepackt, und die Kiste war so schwer, dass vier Männer nötig gewesen waren, um sie durch die Tür ins Vorzimmer zu bekommen. Vom Sägemehl zum Husten gebracht, zog der Magier wahllos eine Schriftrolle heraus, sah blinzelnd nach, wovon sie handelte, und warf sie dann vor die Tür eines angrenzenden Lagerraums. Die Rolle verfehlte ihr Ziel um einen guten Meter, überschlug sich
mehrmals und landete senkrecht an der Fußleiste, während Leonardo schon die nächste Rolle hervorgezogen hatte und auf ihren Inhalt prüfte. »Ich glaube nicht, dass ich im Moment eine davon brauche«, entschied er nach einer kurzen Pause. »Schmeißen wir sie einfach da rüber. Einräumen können wir sie später. Ich schätze, was ihr sucht, steht irgendwo in einem dicken Buch. Und die sind - wie gesagt - vermutlich ganz unten in der Kiste gelandet. Wahrscheinlich wegen der Stabilität.« Er hielt inne und dachte über die mechanischen Gesetze nach, die dabei im Spiel waren. Ruth hüstelte höflich. »Ach, Verzeihung«, fuhr der Magier fort. »Ich schätze, das bekommen wir auch heraus, während wir die Kiste weiter ausräumen. Geoff, du musst demnächst Holz bestellen und in einer Nische Regale für die Bücher bauen.« Er begann, skeptisch im Sägemehl zu wühlen. Schließlich waren die Bücher nach drei Kategorien 32 sortiert. Die größte Gruppe umfasste zwei Stapel und bestand aus einem sehr neu wirkenden Satz von sechsundvierzig gewichtigen Bänden, die alle in satten Ledergeruch gehüllt und deren Lagen fast durchweg noch nicht aufgeschnitten waren - ein deutliches Zeichen dafür, dass noch niemand in diese Bücher gesehen hatte. Der Titel der Serie, der in Goldbuchstaben auf die dramatisch gerippten Buchrücken geprägt war, lautete Verhaltensregeln für Magier und Berater. Der rechte Stapel bestand aus den Bänden I bis XXVII, der linke aus den Bänden XXIX bis XLVII. Leonardo war sich nicht sicher, ob er Band XXVIII je besessen hatte, merkte aber beiläufig, dass sein Fehlen ihm noch keine übermäßigen Unannehmlichkeiten bereitet hatte. Die zweitgrößte Kategorie von Büchern bestand aus elf Bänden verschiedener Größe, die unterschiedlich alt und auch sonst sehr verschieden waren. Die entzifferbaren Titel betrafen vor allem offizielle Zeremonien und Verfahren. Einer sprang Geoffrey aus irgendeinem Grund ins Auge: Wie man sich stärkt - Teil eins: Höfisches Protokoll für Frühstück, zweites Frühstück und Mittagessen. Obwohl die Seiten dieses Buchs überaus abgegriffen aussahen, konnte Geoffrey sich nicht erinnern, von einem Verhaltenskodex für das zweite Frühstück gehört zu haben. Nicht einmal der alte Magier, der es mit diesen Dingen normalerweise ziemlich genau genommen hatte, hatte je davon gesprochen. Die dritte und letzte Kategorie bestand aus einem sehr verschossenen, in Leinen gebundenen Oktavband mit dem Titel Grundprinzipien der Magie und einem völlig zerfledderten Taschenbuch, einer Broschüre in Kleinoktav mit dem Titel Magie für Anfänger: Wie du deine Freunde verblüffen kannst, die der Magier schnell, heim33 lieh und kommentarlos in eine Innentasche seiner Robe stopfte. Dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder den beiden großen Stapeln mit den identisch aufgemachten Büchern zu, die Ruth vorausschauend nach Zahlen geordnet hatte. Der Magier reckte den Kopf auf eine Seite, blinzelte und begann, die schimmernden Goldbuchstaben zu entziffern. »Artischocke bis Backgammon, nein, das ist es nicht, Bruchbude bis Cembalo auch nicht, aber Drehtür bis Eselsmilch, das ist er - hier in Band IX sollte es stehen. Leider ist er der IX. von unten.« Mit noch etwas Schnaufen, Zerren und Fluchen wurde der fragliche Band befreit und der Stapel - vor allem dank der Nähe zu Geoffreys dickem Bauch - vor dem Umkippen bewahrt. Schwungvoll zog der Magier ein Papiermesser aus der Robe und schnitt eine Lage auf, und zwar die Seiten, auf denen der Begriff mutmaßlich zu finden war. »Enthaltsamkeit, Enthaltsamkeit, Enthaltsamkeit«, murmelte er, während er mit dem Finger über die Seiten strich. Schließlich setzte er sich stöhnend auf. »Nein, hier steht nichts darüber. Was machen wir jetzt?« Ruth runzelte die Stirn. »Vielleicht steht es unter >Sexualität< oder >Ehe< oder >Jungfräulichkeit. Wir müssen eben weiter suchen. Es muss irgendwo sein - aber hoffentlich nicht in Band XXVIII.« Eine Dreiviertelstunde später waren die beiden Stapel gründlich zerstört, und die Bücher lagen überall auf dem Boden des Vorzimmers herum - meist mit dem Rücken nach oben und beim einen oder anderen vergeblich konsultierten Eintrag energisch aufgebogen. Die zuvor noch unberührten Seiten waren mit Dreck von den Dielen beschmiert. In einem etwas entfernten Win34 kel lag Geoffrey auf dem Bauch und hatte sich in Wie man sich stärkt - Teil zwei: Höfisches Protokoll für Nachmittagstee, Abendessen und Imbiss um Mitternacht vertieft, während Ruth und der Magier auf den Knien saßen und weiter konzentriert in den restlichen Bänden suchten. »Hier ist es«, rief Ruth schließlich triumphierend. »Im XXIII. Band. Eigentlich hätte der uns eher in die Hände fallen müssen. Das Stichwort lautet nicht Enthaltsamkeit^ sondern >Keuschheit< - darauf hätten wir schneller kommen können.« »Sehen wir uns das mal an«, sagte der Magier. Zusammen lasen sie den fraglichen Eintrag, während Geoffrey selig in die zweifelhaften Einzelheiten der Beschwörungen beim Opfern von Damaszenerpflaumenmus versunken blieb. »Das ist ganz schön unerbittlich«, stellte Ruth fest. »Lest es noch mal, aber jetzt bitte laut. Und Geoffrey -gib Acht. Das betrifft nämlich auch dich.« Der Magier hustete zwei-, dreimal und las dann Folgendes vor: 6.41: Das Keuschheitsgelübde Die Erfüllung der Pflichten eines Königlichen Beraters, Wahrsagers oder Magiers verlangt den hingebungsvollen Einsatz Alleinstehender von tadellosem Leumund. Menschen, die diese Berufe ausüben wollen
- sei es als Meister, Meisterin, Geselle oder Lehrling -, müssen einen feierlichen Eid ablegen, in dem sie erklären, für die Dauer ihres Amtes in völliger Keuschheit zu leben. Strengstens und unbedingt verboten ist ihnen jede Art von sexueller Beziehung mit Personen des anderen oder des gleichen Geschlechts oder mit anderen... 35 »Mit anderen?«, fragte Ruth skeptisch. »Steht hier«, erwiderte der Magier. »Darf ich weiter lesen?« ... Jeder Verstoß gegen dieses Gelübde - egal, ob vorsätzlich oder fahrlässig begangen -führt zur fristlosen Entlassung aus dem Amt und zieht zwingend die sofortige Verbannung auf einen entlegenen Außenposten des Königreichs nach sich, und zwar so lange, wie die Bruderschaft es für notwendig hält. »Ich möchte eigentlich nicht auf einen Außenposten verbannt werden«, jammerte Geoffrey. Diesen Worten folgte ein langes Schweigen. Alle dachten nach, welche Möglichkeiten ihnen blieben. »Müssen wir uns wirklich so genau an die Vorschriften halten?«, fragte Ruth schließlich zweifelnd. »Ich meine: Können wir das nicht irgendwie unter uns lösen?« »Tja«, sagte der Magier grüblerisch. »Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Ich habe einen Eid geschworen, wisst ihr, und müsste alles auf streng legale Weise tun - so, wie es da bestimmt ist.« Er zeigte flüchtig auf die am Boden verstreuten Bände. »Und was würde mir blühen, wenn ich Gesetze bräche und dabei ertappt würde? Etwas viel Schlimmeres als nur die Verbannung, nehme ich an. Ich sollte euch wirklich der Bruderschaft melden und das für solche Fälle vorgesehene Verfahren seinen Lauf nehmen lassen... tja.« Er rutschte unbehaglich auf seinen vier Buchstaben herum, dachte kurz über das nach, was er gesagt hatte, und fuhr fort: »Andererseits möchte ich eigentlich nicht für eine Verbannung verantwortlich sein. Es ist mal jemand verbannt 36 worden, den ich gekannt habe - genau genommen waren es sogar zwei, und es war für die beiden wirklich kein Vergnügen. Ich hab von ihnen übrigens nie wieder etwas gehört. Lasst mich nachdenken.« Diesen Worten folgte eine ausgedehnte Pause. Ruth zündete sich eine Zigarette an, und Geoffrey entschwebte erneut, vermutlich auf einem nach Damaszenerpflaumen duftenden Wölkchen. Schließlich schien der Magier zu einer Entscheidung gekommen zu sein. »Ich kenne da jemanden, der vielleicht helfen kann. Jemanden, der zufällig im Wohnungsamt arbeitet. Möglicherweise finden wir für euch einen netten Unterschlupf auf dem Land. Ihr müsstet natürlich aus der Bruderschaft austreten - das kann keiner von uns verhindern. Aber ich nehme an, ihr könnt eine andere Art Arbeit finden, wo sie nicht so pingelig sind, was das Privatleben angeht.« Seine Miene bekam kurz etwas Wehmütiges. »Und das Kind könnte in Sicherheit aufwachsen. Das ist vermutlich das Beste. Aber ich bin noch immer nicht überzeugt, ob ich wirklich...« Ruth beugte sich zu ihm vor, und ihr Benehmen schien sich unvermittelt zu ändern. »Na los, Leo«, flüsterte sie dem Magier zu, und ihre Stimme klang in Geoffreys Ohren, als streichle sie ihn. »Das sollte dir deine kleine Ruthie schon wert sein.« Das wenigstens glaubte Geoffrey vernommen zu haben, doch später kam er zu dem Schluss, er habe sich bestimmt verhört. Jedenfalls dauerte es den Rest des Nachmittags, das Durcheinander im Vorzimmer aufzuräumen, dann mussten die Regale gebaut werden, und danach war er nicht überrascht, als Ruth sagte, sie sei zu müde, um diesen Abend zu ihm zu kommen. Deshalb dauerte es bis zum folgenden Nachmittag, ehe ihre 37 Zukunft wieder Thema wurde. Doch als es endlich so weit war, geschah es auf sehr unerwartete Weise. Geoffrey hatte die Empathiemaschine an das Stromnetz angeschlossen und schraubte gerade das Namensschild aus Messing ans Gehäuse, während der Magier am Sicherungskasten herumnestelte. »Na also«, rief Meister Pegasus nun, wandte sich zu ihm um und stand inmitten eines nach Ozon riechenden Funkenregens. »Jetzt sollte er funktionieren, der Prototyp der Empathiemaschine. Und ich weiß auch schon, wie unser Eröffnungsexperiment aussieht. Kommt mal her, ihr zwei.« Geoffrey und Ruth blickten verständnislos auf das Gehäuse aus Mahagoni, das einer großen, mit diversen Extras ausstaffierten Kommode recht ähnlich sah. Oben am Gehäuse war ein Okular angebracht, das mit einer komplizierten Abfolge von Linsen ausgestattet und von einer geschwungenen Metallhaube geschützt war. Am Gehäuse war links und rechts ein senkrechter Keramikgriff an einem Scharnier befestigt, was ein wenig an die Hebel der Zapfanlage im »Ausrufers Ruh« erinnerte. An einem der Griffe hing schief ein massiger Kopfhörer aus Bakelit. An der Vorderseite des Gehäuses schließlich befand sich ein auf zwei stabile Winkelträger montierter Sitz aus gepolstertem Leder. »Ich erklär das besser mal«, begann der Magier zögernd. »Die Idee ist ein wenig abstrus. Das Prinzip der Empathiemaschine jedenfalls ist es, den Benutzer... wie soll ich sagen... in die Lage zu versetzen, seine Vorstellungen ungewöhnlich... plastisch zu erleben. So plastisch, als wären sie vollkommen real. Bis ins Detail sichtbar, spürbar, hörbar, und das alles, ohne dass er auch nur 38 aus dem Ledersitz aufstehen muss. Wenn ich diese Maschine einmal perfektioniert habe, will ich damit die Zukunft erproben. Das Gerät soll dazu dienen, sie zu testen, um zu sehen, wie sie sein wird. Und ich dachte, falls ihr zwei hier aufhören müsst - und danach sieht es ja stark aus -, möchtet ihr vielleicht darüber nachdenken, in
welches Leben ihr demnächst aufbrechen wollt. Probiert die Zukunft einfach mal an, als wärt ihr in einer Umkleidekabine - schaut mal, wie sie euch steht und ob ihr euch wohl darin fühlt. Dir wird das wahrscheinlich leichter fallen, Geoffrey. Du bist eher... wie soll ich mich ausdrücken... du siehst die Dinge unkomplizierter, denke ich. Fang einfach mal an.« Geoffrey trat zögernd vor, schob seinen massigen Leib auf den Sitz, beugte sich vor, um ins Okular zu spähen, legte die Hände um beide Griffe und ließ sich vom Magier den Kopfhörer aufsetzen. Einen Augenblick war es ganz dunkel, und er hörte keinen Laut. »Versuch, dich etwas zu entspannen, während ich die Maschine einstelle.« Die Stimme von Meister Pegasus klang etwas gedämpft. Er langte hinter den Apparat und drehte an den kleinen Reglern. »Nur eine minimale Drehung am stufenweise veränderbaren Widerstand und noch ein Tick mehr auf dem Verhältnisanzeiger... und noch zwei Zehntel nach links mit dem Gleichgewichtsregler... ja, das dürfte reichen. Nein, Moment... hier noch eine kleine Drehung... prima. Entspann dich immer schön weiter und versuch dir vorzustellen, wie du heute in einem Jahr lebst.« Der Magier blickte über Geoffreys Schulter ins Okular und schnaubte vor Ungeduld. »Nein, nicht du allein, du Tölpel. Versuch, dir dein ganzes Leben vorzustellen - sonst hat das, was wir hier machen, keinen Sinn.« 39 Nach ein paar vergeblichen Anläufen entdeckte Geoffrey, dass es ihm eigentlich gar nicht so schwer fiel, die Zügel der Selbstbeherrschung zu lockern und sich seinen Fantasien zu überlassen. Allmählich wurde er sich eines zwischen Rauschen und Zischen changierenden Geräuschs bewusst, das in unberechenbar wechselndem Rhythmus zu hören war und in dem Raum zwischen seinen Ohren hin und her zu springen schien. Vor seinen Augen nahmen langsam ruhelose weiße Formen Gestalt an, dehnten sich aus und zerbröselten dann sacht oder explodierten. Als das Bild Tiefenschärfe gewann, merkte Geoffrey, dass er aufs Meer sah, auf weiße Brecher, die an einen steinigen Strand rollten... Er hatte schon immer am Meer leben wollen. Jetzt blickte er in die Wellen, spürte, dass Gischt ihm energisch auf die Haut sprühte, und schmeckte, wie salzig sie war. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass er die Szene von oben betrachtete - als würde er den Strand durch die Augen eines Raubvogels sehen, der am Himmel stand. Er fragte sich, wie wohl das Haus aussehen mochte, das an der Küste auf ihn wartete, spielte an den beiden Griffen herum und stellte fest, dass er sich ganz einfach in der Luft drehen konnte. Und tatsächlich - über dem Strand stand einsam ein seltsames kleines Haus mit einem kleinen Garten drum herum... Er versuchte, näher an das Haus heranzukommen, und fand heraus, dass er die Griffe nur etwas anders drehen musste, um es im Sinkflug anzusteuern und sich so weit zu nähern, dass er ! in den winzigen Hof auf der Rückseite und sogar durchs Fenster in die Küche sehen konnte. Dort saßen ein i Mann und eine Frau am Tisch, aßen Hammelfleischpastete mit Pastinaken und tranken süßen Milchkaffee. Das waren doch sicher Geoff und Ruthie...? Sie aßen ge40 rade zu Abend. Aber sollte da nicht noch jemand in der Küche sein? Und tatsächlich - aus einer Ecke des Zimmers, die Geoffrey nicht sehen konnte, kam ein schwaches Schreien, und er sah die Frau aufstehen, in die Ecke gehen, sich bücken, um etwas hochzuheben... und es war das Baby; sie hielt ihrer beider Kind im Arm. So sollte es sein - Geoff, seine Ruthie und das Baby in einem Haus am Meer. Die Frau spielte mit dem Kind, und es wurde langsam ruhig. Unterdessen blieb der Mann auf seinem Platz am Tisch sitzen und aß seine Pastete. Jetzt schienen alle drei glücklich. Geoffrey machte es sich in seinem Ledersitz gemütlich, um die drei in aller Ruhe zu beobachten. Wenn er die Ohren spitzte, konnte er vielleicht sogar hören, was sie sagten... Dann versanken die Bestandteile des Bildes unvermittelt in Dunkel und Stille, weil der Magier Geoffrey den Kopfhörer abgenommen hatte. Der Junge war verwirrt und konnte den jähen Übergang zurück zur trostlosen Normalität kaum fassen. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand mit einem Faustschlag alle Luft aus den Lungen getrieben. Und dann begann ihm langsam die Erkenntnis zu dämmern. »Ja«, sagte er leise und wehmütig. »Das möchte ich. Mehr habe ich nie gewollt, als mit Ruthie und dem Baby an der Küste zu leben.« »Sehr schön«, sagte der Magier. »Danke, Geoffrey. Setz dich bitte da drüben hin. Jetzt bist du dran, Ruth. Schau dir mal an, was Geoffrey sich für dich gedacht hat.« Ruth trat langsam an die Maschine und ließ dem Magier Zeit, an den Reglern ein paar Einstellungen zu verändern. Danach saß sie ein paar Sekunden reglos - die Hände an den Keramikgriffen - im Ledersitz, riss 41 sich dann aber plötzlich den Kopfhörer herunter und sprang auf. »Gut«, sagte sie, nachdem sie zischend Luft geholt hatte. »Ich hab's gesehen. Können wir jetzt wieder an die Arbeit gehen?« Am Meer Das Haus, das Meister Pegasus und sein Bekannter vom Wohnungsamt für Geoffrey und Ruth fanden, war wirklich klein und abgelegen und bot einen freien Blick auf die ruhelose See. Es lag ein paar Tagesreisen von der Hauptstadt entfernt in einem unberührten und windgepeitschten Küstenstrich am Rand eines Dorfes, das indessen lange nicht so unberührt und windgepeitscht war wie viele der weiter draußen liegenden, unwirtlichen Außenposten des Königreichs, eher im Gegenteil: Zu bestimmten Zeiten des Jahres war das Dorf ein beliebtes Refugium für Stadtbewohner, die sich - warum auch immer - für kurze Zeit aus dem geschäftigen Treiben mit
seinen zahllosen Verantwortungen zurückziehen wollten. Manchmal sah Geoffrey diese Besucher in der Ferne im flatternden Mantel gegen den unerbittlichen Wind gekrümmt - über den Kieselstrand gehen. Manche hatten Kinder dabei, die sich an sie klammerten, andere wurden von reizbaren Hunden umkreist, doch die meisten gingen allein spazieren und schienen in einen Kokon windgepeitschter Gedanken versponnen und verkapselt. Geoffrey hatte den Eindruck, alle Überlegungen, die nicht im Hirn ihrer Erzeuger vertäut waren, sondern frei schwebten, würden gewiss für immer 42 fortgeweht. Das schien ihm eine gute Sache, und mitunter wünschte er sich, mehr Zeit am Strand verbringen zu können. Leider aber war Freizeit etwas, das Geoffrey nicht länger genießen konnte. Er durfte keine seiner - zugegeben begrenzten - magischen Fertigkeiten mehr ausüben, musste jedoch den Lebensunterhalt verdienen, und so war er erleichtert, bei seiner Ankunft zu entdecken, dass das Dorf dringend jemanden brauchte, der alle möglichen handwerklichen Aufgaben erledigen konnte. Der heftige Wind, die salzige Luft und die Wucht der Wellen führten in ihrem Zusammenspiel zu einer schier unendlichen Menge von Beschädigungen, deren Reparatur immer aufs Neue seine Aufmerksamkeit erforderte. Zäune, Tore und Bäume wurden umgeweht, Steinwälle stürzten ein, Eisenbeschläge waren rostanfällig, kein Anstrich hielt lange vor, und auch Ziegel und Schieferplatten schienen es kaum auf den Dächern auszuhalten. Geoffrey hatte rasch herausgefunden, dass ständiger Bedarf an seinen praktischen Fähigkeiten bestand, und obwohl die Arbeit nicht so aufregend war wie die eines Zauberlehrlings, hielt sie ihn doch auf Trab. Und er verdiente damit genug für drei, denn Geoffrey war jetzt Familienvater, und sein Verdienst musste nicht nur für ihn selbst, sondern auch für Frau und Kind reichen. »Hallo Ruthie. Hallo, kleiner Tom.« Es war an einem Dienstagabend im Vorfrühling. Die Stürme waren diesen Winter besonders schlimm gewesen, und Geoffrey hatte am Nachmittag den Pflaumenbaum von Mrs Crabb, der in der Woche zuvor umgeweht worden war, zu Brennholz verarbeitet. Erst hatte er ihn klein gehackt und die Scheite dann ein paar 43 sehr schöne Stunden lang mit mathematischer Präzision zu einem eng gepackten Stapel aufgeschichtet, lange und kurze Scheite dabei fest ineinander gesteckt und schließlich dafür gesorgt, dass die gekrümmten Scheite sich umeinander schmiegten, sodass sie ein kompliziertes, dreidimensionales Puzzle bildeten. Die wortkarge Mrs Crabb hatte ihn gleich nach der Arbeit entlohnt, schien aber nicht dazu aufgelegt, ihm ein Gespräch oder eine Stärkung anzubieten. Auf dem Heimweg freute sich Geoffrey deshalb auf eine Pause und einen hübschen Becher Tee. Als er durch den Vorgarten stapfte, begann es kräftig zu regnen. Er setzte sich seufzend an den schweren, stabil gebauten Küchentisch und wartete ungeduldig darauf, dass Ruth den Kessel zum Kochen brachte und seinen Becher vor ihn hinstellte. Aus irgendeinem ärgerlichen Grund machte sie sich nie die Mühe, die kleinen Untersetzer aus Kork zu benutzen, und weil Geoffrey keine Flecken auf der Tischplatte mochte, wartete er, bis sie wieder am Herd stand, ehe er heimlich ein Korkplättchen unter seinen Becher schob. »Hast du einen angenehmen Tag gehabt, Ruthie?« Ruth hatte einen furchtbaren Tag gehabt. Einen absolut entsetzlichen Tag, der aber in keiner Weise ungewöhnlich gewesen war, weil in letzter Zeit jeder Tag für sie absolut entsetzlich war. Wütend sah sie auf das rotgesichtige, schreiende Geschöpf in der Wiege hinunter. Ruth hatte sich zwar anfangs große Mühe gegeben, aber bald feststellen müssen, dass sie ganz und gar kein mütterlicher Typ war. Wenn der kleine Thomas ruhig gewesen wäre und sich gut benommen hätte, wäre es nicht so schlimm gewesen, doch es kam ihr so vor, als stelle er eine unsinnige Forderung nach der anderen, und sie 44 hatte überhaupt keine Zeit mehr für das, was ihr wichtig war. Der erzwungene Verzicht auf die magische Laufbahn war für Ruth ein schwerer Schlag gewesen, denn sie war im Grunde ihres Herzens ein ehrgeiziger Mensch und hatte schon früh ins Auge gefasst, eines Tages in die lichten Reihen der Magierinnen des Königreichs aufgenommen zu werden. Während der Schwangerschaft hatte sie gezwungenermaßen lange und intensiv über berufliche Alternativen nachgedacht, die es ihr erlauben würden, ihre Fähigkeiten einzusetzen, doch die Geburt des Kindes hatte all diese Überlegungen zu einem unwiderruflichen und zutiefst unwillkommenen Ende gebracht. Ruth merkte, dass sie inzwischen so gut wie alles an ihrem Leben verabscheute. Nach der kultivierten Atmosphäre im Palast und in der Hauptstadt schien das Dorf wirklich ein trostloser Ort. Die Leute waren stumpf und provinziell und ihre Vergnügungen primitiv; das Wetter war meist zu grässlich, um sich nach draußen zu wagen, und die gelegentliche Nähe von Urlaubern aus der Stadt erinnerte sie nur an all die schmerzlich vermissten Annehmlichkeiten der Metropole. Und Geoffrey war ein anstrengender Ehemann. Anfangs hatte Ruth sich noch schwach auf seine tägliche Heimkehr von der Arbeit gefreut, aber inzwischen war ihr seine Anwesenheit so gleichgültig wie seine Abwesenheit. Sie hatte entdeckt, dass der Hausputz und das Kochen, der Versuch, Geoffreys Launen zu befriedigen, und die Notwendigkeit, sich dauernd um das Baby zu kümmern, sie zwar ständig beschäftigt hielten, sie dabei aber doch stets gelangweilt war. Ihre einzige Abwechslung war das Tagebuch, in das sie noch immer von Zeit zu Zeit ein paar Notizen machte. 45 »Der Tag hat einfach ein paar Stunden zu wenig«, hörte sie sich sagen.
Geoffrey nippte vorsichtig an seinem Tee. »Du solltest öfter aus dem Haus gehen«, antwortete er knapp. »Was gibt's zum Abendessen?« Kaum wurde es dunkel, gingen sie schon ins Bett, um keine Kerzen zu verschwenden. Geoffrey nahm an, Ruthie habe ihm nun all ihre Tricks gezeigt, denn wenn sie unter der Bettdecke lagen, wandte sie ihm sofort brüsk den Rücken zu und starrte auf die Fensterscheiben, an] die der Regen schlug. Bedrückt lag Geoffrey auf seiner Betthälfte und stierte zu den Rissen an der Decke hoch. Und natürlich wurde jede Aussicht auf Schlaf sehr bald von einem neuen Ausbruch verzweifelten Babygeschreis zerstört, und einer von beiden musste widerwillig nach den Hausschuhen tasten und nach unten gehen, um sich um den Kleinen zu kümmern. Ihr Leben änderte sich bis in den Herbst hinein so gut wie gar nicht. Geoffrey machte Brennholz, reparierte Mauern, strich Türen und kletterte unsicher auf Dächern und Schornsteinen herum. Ruth ging auf den1 Markt, fegte das Haus, kochte Suppe, fütterte den kleinen Tom, kochte Haferbrei, wechselte seine Windeln, kochte Geoffrey Tee, wechselte wieder Windeln und I fand nur gelegentlich Zeit, kurz etwas in ihr Tagebuch zu notieren. »Was schreibst du da?«, erkundigte sich Geoffrey: eines Tages. »Das ist vertraulich«, stieß Ruth hervor. »Frag gar nicht erst, ich zeig's dir sowieso nicht. Und ich merk sofort, ob du es angerührt hast. Komm also ja nicht auf diese Idee.« Sie klappte das Buch geräuschvoll zu, schloss 46 es ins Büfett und warf den Schlüssel in ihre Handtasche. gin paar Tage darauf kam Geoffrey recht spät nach Hause. Seit dem Morgen hatte er das Laub auf den öffentlichen Grünflächen zusammengeharkt. Tom lag in seiner Wiege und schrie so laut wie immer, doch der Teekessel stand nicht auf dem Herd, und Ruth war nicht in der Küche. »Ruthie?«, rief Geoffrey. Er nahm an, sie müsse oben sein, doch als er hochging, war sie nicht da. Verblüfft stand er in der Schlafzimmertür. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, doch erst als er merkte, dass die Schranktür offen stand, begann er das Schlimmste zu fürchten. Dann sah er, dass Ruthies Kleider verschwunden waren - genau wie ihre Haarbürsten und ihre Ersatzbrille. Geoffrey rannte nach unten. Das Büfett, in dem sie ihr Tagebuch verwahrte, war ebenfalls leer. Thomas schrie noch immer so laut wie stets. Geoffrey betrachtete das dünne, rotgesichtige Geschöpf, das sich strampelnd in der Wiege krümmte. Er wusste nicht, wie er den Lärm abstellen sollte, wandte sich mit einem tiefen Seufzer ab, ging zur Spüle und ließ Wasser in den Kessel. Dann ging er rüber zum Herd und stellte fest, dass er kalt war. Mit einem zweiten Seufzer stierte er auf den schweren Kessel in seiner Hand, die nun zu zittern begonnen hatte, bis Wasser aus dem Kessel spritzte, den Geoffrey daraufhin an die Wand schleuderte. Dann setzte er sich an den Tisch und begann zu weinen. Später, als er merkte, dass Thomas noch immer schrie, stellte er die Speisekammer auf den Kopf, um etwas zu finden, womit er ihn füttern konnte. Noch später kam ihm der Gedanke, die Windeln müssten vielleicht ge47 wechselt werden. Er fragte sich, wo Ruthie saubere Windeln aufbewahrte. Ruthie kam an diesem Abend nicht zurück und am nächsten Abend auch nicht. Geoffrey reparierte den verbeulten Kessel und besserte die Stelle aus, wo der Putz von der Wand gefallen war. Von Zeit zu Zeit, wenn das Geschrei des Jungen unerträglich wurde, kümmerte er sich unwillig um seine Bedürfnisse. Zwischen diesen Pflichten suchte er das Haus nach einer Nachricht oder irgendeinem Zeichen von Ruth ab, das ihm Hoffnung machen könnte, doch er fand nichts dergleichen. Seine Ruthie war gegangen und hatte alles mitgenommen, was ihr gehörte, und nichts - außer dem kleinen Thomas -dagelassen, was Geoffrey daran hätte erinnern können, dass sie je hier gewesen war. Er wusste nicht, wie er klarkommen sollte. Während Tage und Wochen vergingen und aus Herbststürmen Winterstürme wurden, begann Geoffrey, sich allmählich damit abzufinden, dass Ruthie nie zurückkommen und er allein mit Thomas würde leben müssen. Er betrachtete das rote, schreiende Etwas in der Wiege und merkte, wie seine Fäuste sich langsam ballten. Bald würde das Geschöpf krabbeln und laufen lernen. Dann hatte Geoffrey eine Idee. Er ging zur Schublade neben der Spüle, in der er die wenigen persönlichen Dinge verwahrte, die er aus der Stadt mitgebracht hatte. Seine Lehrlingsmütze lag dort. Und eins von den Namensschildern, die er für den Magier graviert hatte. Dann seine Schreibtafel. Und ganz hinten in der Schublade lag, wonach er suchte. Er griff tief hinein und zog sie Glied für Glied heraus - die schwere schwarze Eisenkette. 48 ERSTES KAPITEL Das Haus am Meer Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger, Ausgabe 1 (im zweiten Jahr der Regentschaft von König Matthew) Leitartikel von Miss Garamond Seid gegrüßt, Bürger! Vielleicht darf die Verfasserin sich zunächst vorstellen und ein paar Worte über ihren Werdegang verlieren. Wahrscheinlich ist sie den Lesern noch unbekannt, denn sie ist erst vor kurzem in der Hauptstadt eingetroffen und hat davor in einer großen Stadt in den Nördlichen Außenposten gelebt, wo sie im Regionalbüro des Anzeigers einige Stellen bekleidet hat.
In den ersten Jahren dort übte sie eine sehr bescheidene Tätigkeit als Sachbearbeiterin im Schalterdienst aus und nahm Nachrichten entgegen, bis sie nach angemessener Frist das Glück hatte, zur Ausruferin befördert zu werden, und alsdann Neuigkeiten und Veranstaltungshinweise in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt zum Besten gab. Wie aber hat die Verfasserin ihre Freizeit verbracht? Nun, sie hat den Versuchungen des Müßiggangs wider49 standen und ihre Zeit dazu genutzt, die Arbeit der Regionalverwaltung bis ins Detail zu studieren und sich über die Angelegenheiten des Königreichs und der Hauptstadt genau zu informieren. Geduldig hat sie gewartet, bis sich ihr eine Gelegenheit bot, und zu gegebener Zeit ist diese Geduld belohnt worden. Denn als der Leiter des Regionalbüros des Anzeigers in Pension ging, hatte die Autorin das große Glück, vom Präsidenten der Regionalverwaltung einbestellt und mit dem frei gewordenen Amt betraut zu werden. Obwohl die Region weit von der Hauptstadt und dem Königspalast entfernt liegt, ist man dort in vielerlei Hinsicht weiter als in der Hauptstadt, besonders in Fragen der Ausbildung. So werden alle Kinder - egal, ob sie aus reicher oder armer Familie stammen - schon seit langem im Kindergarten in der Kunst des Lesens und Schreibens unterrichtet. Deshalb schien es der Verfasserin nahe liegend, den Menschen aktuelle Nachrichten auf schriftlichem Weg zugänglich zu machen. Also hat sie Männer und Frauen, die gut lesen und schreiben, aber auch abschreiben können, angeworben, und nach wenigen Monaten war die erste Ausgabe des Regionalen Veranstaltungsanzeigers gedruckt und konnte verbreitet werden. Aus Gründen, mit denen ich meine Leser nicht belasten will, erwies sich die Frühzeit dieses Anzeigers als Herausforderung für die Beharrlichkeit der Autorin, doch schon nach einigen Monaten begann ihr Weitblick Früchte zu tragen. Das Interesse am geschriebenen Wort begann das Interesse am gesprochenen Wort zu übertreffen, und während die Zahl der Ausrufer immer mehr abnahm, ging es mit den Redakteuren, Setzern und Druckern immer mehr bergauf. 50 All dies geschah natürlich noch zur Zeit der Herrschaft des alten Königs, und obwohl der Präsident der Regionalverwaltung die von der Autorin eingeführten Neuerungen sehr befürwortete, hatte der König die Sorge, diese Entwicklung könne nicht nur unsittlich, sondern auch unklug sein. Tatsächlich mussten noch viele Jahre vergehen, ehe der erste Anzeiger endlich auch in der Hauptstadt geduldet wurde, und meine Leser erinnern sich wohl noch gut daran, dass erst die letzten Regierungsjahre des alten Königs, dessen schwindende Kräfte seine Wachsamkeit etwas hatten einschlafen lassen, eine Liberalisierung brachten. Zu dieser Zeit hatte Prinz Matthew - der Sohn des Königs und ein vorausschauender, fortschrittlich denkender junger Mann mit ehrgeizigen Plänen schon begonnen, die Dinge in die Hand zu nehmen. Mit aller gebotenen Vorsicht schickte er einen Vertreter aus, der die Autorin auf ihrem Außenposten besuchte, um sich mit den Verfahren vertraut zu machen, durch die in unserer Stadt Nachrichten verbreitet wurden. Nach dem Tod seines Vaters haben den jungen König natürlich viele Aufgaben in Anspruch genommen, vor allem die Auflösung der Königlichen Beraterstäbe und die seit langem überfällige Verschlankung des Amts für Narren und Spaßvögel, aber dennoch hat die Autorin bald eine bemerkenswerte Chance erhalten. König Matthew hat sie in die Hauptstadt zitiert und sie angewiesen, dort ab sofort die Leitung des Anzeigers zu übernehmen - ein Angebot, das die Verfasserin schlechterdings nicht hat ablehnen können! Kaum in der Hauptstadt angekommen, hat sie sofort die Geschäftsführung übernommen, und da sie ohnehin über einen Mitarbeiterstab mit ausgewiesenen Fähigkeiten verfügt, hat sie innerhalb 51 kürzester Zeit die notwendigen Schritte unternommen, jedem Bürger der Hauptstadt die Lieferbarkeit des Nachrichten- und Veranstaltungsanzeigers zu garantieren. Bald darauf hatte die Verfasserin die Ehre einer Privataudienz beim König, bei der sie sich davon überzeugen konnte, dass er ein überaus ansehnlicher junger Mann von (gerade angesichts seiner Jugend) bewundernswerter Weisheit ist. Zudem bringt er den veralteten Sitten und Gebräuchen, die sein Vater so lange hochgehalten hat, eine lobenswerte Verachtung entgegen. Im Laufe der Audienz hat der König die vielen Veränderungen umrissen, die er gegenwärtig in der Verwaltung des Königreichs vornimmt. Erstens ist er sehr besorgt über das rasche Umsichgreifen aufsässigen und gesetzlosen Verhaltens auf den Straßen unserer Stadt. König Matthew ist besonders über die Gefahren beunruhigt, die von als »Wolfsjungen« bekannten mörderischen Jugendbanden ausgehen, die nachts in der Unterstadt herumstreunen, Angst und Verwüstung verbreiten und unvorsichtige Passanten terrorisieren. Er ist entschlossen, den Übeltätern mit Härte entgegenzutreten und die Herrschaft des Gesetzes ohne Wenn und Aber wiederherzustellen. Zweitens ist der König nach wie vor sehr unzufrieden darüber, wie Nachrichten und Veranstaltungshinweise innerhalb und außerhalb der Stadtmauern verbreitet werden, überlegt vor allem, wie der Informationsaustausch zwischen Palast und Bevölkerung verbessert werden kann, und ist bereit, der Verfasserin dabei eine wichtige Rolle zu übertragen. Der Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger wird sich künftig der Schirmherrschaft von König Matthew erfreuen und deshalb von nun an Königlicher Nachrichten- und Veranstaltungsanzei52 aer heißen. Die Verfasserin hat das einzigartige Privileg einer regelmäßigen Privataudienz beim König am ersten Werktag jedes Monats erhalten. Ziel der Audienz ist es, jede Angelegenheit von öffentlichem Interesse durch den Anzeiger unverzüglich in der Bürgerschaft zu verbreiten.
Die Verfasserin fühlt sich durch dieses Privileg tief geehrt und sieht der nächsten Gelegenheit, sich mit ihren Lesern auf diesem Wege auszutauschen, schon mit Freude entgegen. Auf Wiedersehen, liebe Mitbürger. Und lang lebe König Matthew! »Was ist deine früheste Erinnerung?« Das Bein des Küchentischs, schätz ich. Die Kette ist dann wohl meine zweite Erinnerung. Aber das Tischbein hab ich wirklich bis in alle Einzelheiten erforscht. Ich glaube, ich hab als kleiner Junge fast die ganze Zeit unterm Tisch verbracht und jeden Kratzer, jede Schramme, jedes Astloch des Beins erkundet. Wenn ich mich langweilte - und das tat ich meist -, hab ich mich am Tischbein gerieben und vermutlich auch daran herumgesabbert und Essen draufgeschmiert - vorausgesetzt, mein Vater hat daran gedacht, mir etwas zu essen zu machen. Ich schätze, das Bein war ursprünglich scharfkantig, aber im Lauf der Zeit hat das Reiben die Kanten abgerundet, und Maserung und Astlöcher standen wie ein Relief vor und bildeten eine dreidimensionale Welt im Miniaturformat. Es hat lange gedauert, ehe ich 53 eine Welt mit größeren Dimensionen kennen gelernt habe. Seit ich von zu Hause weggeschafft wurde, habe ich den Tisch nie mehr gesehen, bin aber sicher, ich würde ihn sofort wieder erkennen. Es ist seltsam, wie solche Dinge einen in die Vergangenheit zurückversetzen können. Die Kette? Ja, von der berichte ich gleich. Wenn ich so darüber nachdenke, fallen mir noch ein paar Dinge ein, die mich damals im Haus umgaben, zum Beispiel der Läufer zwischen Tisch und Tür, eine Art Flickenteppich, der nie sauber war und immer Wellen warf oder an einer Ecke umgeschlagen war. Er muss ursprünglich weiß und rot gewesen sein, doch im Lauf der Zeit war er an einigen Stellen fast schwarz geworden und an der Tür schon ganz ausgefranst. Ich schätze, ich hab den Läufer gemocht, denn als sie mich geholt haben ... Ich kann mich genau erinnern, wie die Frau sagte: »Erst mal müssen wir das Ding hier verbrennen«, und ich darauf zu weinen begann. Ich hab nicht viel geweint. Ich schätze, das hab ich mir schon in den ersten Jahren abgewöhnt, aber als die Frau den Läufer verbrennen lassen wollte, hat mich das irgendwie zum Heulen gebracht. Entschuldigung, ich bin abgeschweift. Es ist eigenartig, mit dir hier zu sitzen und die Geschichte zusammenzusetzen. Aber mir ist klar, dass das gut ist. Wenn ich dir erklärt habe, woher ich komme und was die Leute mir angetan haben, verstehst du vielleicht, warum ich gewisse Dinge tun muss, ehe ich zur Ruhe kommen kann. Ja, es gab das Tischbein und den Läufer, und natürlich hab ich dir versprochen, von der Kette zu erzählen. Wie der Fußboden aussah? Ich weiß nicht, warum, doch daran kann ich mich nicht erinnern. Blanke Dielen? 54 Linoleum? Fliesen? Es ist zwecklos, ich weiß es nicht mehr. Ich halte das aber auch nicht für wichtig. Doch an die Küchenmöbel erinnere ich mich noch, an die zwei Holzstühle, die Anrichte und die anderen Sachen. Große, schwere und klobige Möbel waren das - wie von jemandem getischlert, der von seinem Handwerk nicht viel verstand. Und das Geräusch, das die Stühle machten, wenn sie über den Boden schrammten! Jetzt fällt es mir wieder ein: Der Boden war mit roten Ziegeln gefliest. Ich erinnere mich sogar noch an die Risse in manchen von ihnen. Ich könnte sie dir aufmalen, wenn du willst, aber ich schätze, das interessiert dich nicht. Und dann war da mein Vater. Erst waren es vor allem seine Beine - mehr konnte ich von meinem Platz unterm Tisch aus nicht von ihm sehen. Und das Klopfen von Messer und Gabel konnte ich hören - oder von irgendwas anderem, das er auf dem Tisch benutzte und das wie Donnerschläge krachte. Er hatte dicke, muskulöse Beine und trug anscheinend immer dieselbe Kordhose und dieselben großen, schweren Stiefel. Seine Hose war ziemlich mitgenommen, da und dort bis aufs Gewebe abgewetzt und schien - genau wie die Stiefel - stets mit getrocknetem Matsch beschmutzt. Ans Gesicht meines Vaters kann ich mich - vom Bart abgesehen - eigentlich nicht erinnern, denn er hat mich selten hochgehoben und nie mit mir gespielt. Nein, ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, dass dies ungewöhnlich sei - schließlich bin ich, ehe ich weggebracht wurde, fast keinem Kind begegnet. Ich schätze, ich war damals neun oder zehn Jahre alt und schon fast so groß wie er, aber er muss sehr stark gewesen sein, viel stärker als ich... Verzeihung, ich greife schon wieder vor. 55 Und dann war da natürlich seine Stimme, an die ich mich genau erinnere. Weißt du, wie es sich anhört, wenn man versucht, einen Krug wieder zusammenzusetzen, einen großen Tonkrug, der in viele Stücke gegangen ist? Die gezackten Kanten machen ein irgendwie kratzendes Geräusch, aber mit einem hallenden Echo aus dem Innern des Krugs... Nein, das ist Quatsch, die Stimme meines Vaters kann nicht so geklungen haben, aber irgendwie hab ich sie wohl mit einem kaputten Krug verbunden, weil ich immer an so ein Gefäß dachte, wenn ich ihn sprechen hörte. Apropos - einmal hab ich so einen Krug zerbrochen und weiß, dass ich dafür bestraft wurde. Und natürlich erinnere ich mich noch an seine Worte, an bestimmte Sätze, die er immer wieder sagte. »Thomas, kannst du mir nicht unter den Füßen wegbleiben?«, war einer davon. »Lass das los, du kleiner Affe!«, ein anderer. Ich hatte natürlich keine Ahnung, was ein Affe ist, und war nicht sicher, ob er es wusste. Später hab ich herausgefunden, dass er aus der Stadt war. Darum nehme ich an, dass er vielleicht mal welche in der Menagerie gesehen hat. »Kannst du dich nicht ein paar Minuten lang benehmen, Tom?«, war noch so ein Satz von ihm. Egal, was ich tat, irgendwie wollte er immer, dass ich damit aufhörte. Ja, er wollte mich stoppen, weil ihm wohl
schon seit der Zeit, da ich krabbeln lernte, klar war, wie unterschiedlich wir waren. Er wollte, dass ich wie er war, spürte aber von Anfang an, dass ich nicht wie er sein würde, und das gefiel ihm nicht- überhaupt nicht. Es war von früh an deutlich, dass ich groß und dünn werden würde, und am Ende erwies ich mich zudem als recht unbeholfen. Mein Vater war ein stämmiger Mann, 56 praktisch veranlagt und sehr genau in dem, was er tat. Er hatte irgendein Handwerk gelernt, doch je größer ich wurde, desto deutlicher zeigte sich, dass ich in einer Fantasiewelt lebte und mich nie für handwerkliche oder technische Dinge interessierte, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Ich hatte nie Spielzeug - auch das kam mir damals nicht ungewöhnlich vor -, doch er gab mir immer sein Werkzeug zum Spielen: eine Kneifzange und eine Art Schraubzwinge. Ich begriff nicht, was das für Sachen waren, aber sie schienen mir ohnehin nicht interessant. Doch dann ließ er eines Tages seinen kleinen Block auf den Boden fallen, in den er Notizen, Skizzen und dergleichen eintrug. Ich war fasziniert von all den kleinen Zeichen und Schnörkeln. Zwar wusste ich noch nicht, was sie bedeuteten, doch sie gaben mir ein angenehmes Gefühl - ganz anders als die übrigen Sachen. Also blätterte ich den Block durch. Er ist unterdessen in der Küche herumgegangen und anscheinend langsam ärgerlich geworden. Als er mich schließlich unterm Tisch mit seinem Schreibblock sah, riss er ihn mir aus der Hand, brüllte mich an, was mir einfiele, damit rumzuspielen, und warf mir dann irgendwas aus Eisen hin, mit dem ich mich stattdessen beschäftigen sollte - ein Scharnier oder eine Lasche -, aber dafür habe ich mich natürlich nicht interessiert, und das machte ihn nur noch wütender. Nein, geschlagen hat er mich nicht. Er hatte seine Fehler - jede Menge sogar -, aber er hat nie die Hand gegen mich erhoben. Bis auf das eine Mal natürlich, aber davon erzähle ich später. Sein Mittel, mich zu bestrafen, war die Kette. Darum habe ich gesagt, sie sei die zweite Sache, an die ich mich erinnern kann, und da57 rum wohl hob ich so viel Zeit unterm Küchentisch verbringen müssen. Ich vermute, das begann, als ich zu krabbeln anfing und auf dem schmutzigen alten Läufer hin und her tollte. Zu dieser Zeit hat er wohl immer gesagt, ich solle ihm unter den Füßen wegbleiben. Also krabbelte ich unter den Tisch zurück, und wenn es mir langweilig wurde, mit dem Tischbein zu spielen, gab es ja immer noch die Kette. Und wenn die mich langweilte, konnte ich mich wieder ans Tischbein halten. Damals bin ich nie auf die Idee gekommen, an der Kette könne etwas ungewöhnlich sein. Ich konnte noch nicht absehen, welche Macht sie einmal über mein Leben gewinnen würde, und ich habe erst fahre später herausgefunden, dass er die Kette selbst geschmiedet hat. Nach einer Weile hab ich sie allerdings sehr gut kennen gelernt. Sie woraus schwarzem Metall, und ihre Glieder waren irgendwie rechteckig und raffiniert gearbeitet, glaube ich, mit kleinen facettierten Ecken und so. Ich mochte, wie sie sich anfühlte - sie war natürlich schwer, und die Glieder waren glatt und ein bisschen ölig. Manchmal hab ich an ihnen genuckelt und dann ein irgendwie stachliges und glitschiges Gefühl auf der Zunge gehabt. Natürlich war die Kette am Anfang nicht die ganze Zeit da. Ich glaube, mein Vater hat sie nur herausgeholt, wenn ich ungezogen war. Dann befestigte er ein Ende davon am Tischbein - mit einem Vorhängeschloss, schätze ich. Das andere Ende der Kette wurde natürlich an meinem Hals befestigt. Dazu hat mein Vater mir einen Eisenring angelegt, der sich an einem Scharnier öffnen und mit einem zweiten Vorhängeschloss schließen ließ. Deshalb habe ich mich nie weit von meiner kleinen Welt unterm Küchentisch entfernt. Und darum 58 sind das Tischbein und die Eisenkette die beiden frühesten Dinge, an die ich mich erinnere. Hier wohnen die, die nicht suchen, sondern finden »Die Stadt ist jetzt zu sehen. Schäl dich aus dem Bett, komm raus und schau sie dir an!« Gideon Blackwood zog die Radbremse, ließ Kittys Zügel los und schob sich nach links, während Peg nach rechts rückte, damit ihr Passagier einen guten Blick hatte. Sekunden später tauchte Rusty Browns sommersprossiges Gesicht zwischen den beiden auf. »Entschuldigung, bin wohl kurz eingenickt. Wie spät ist es?« Als Rusty sich durch die schmale Öffnung quetschte, rückte Peg noch ein Stück weiter in die Ecke des Kutschbocks und behielt die kleine Megan dabei vorsichtig im Arm. »Du Faulpelz«, lachte sie. »Es ist fast Mittag, und wir sind seit Stunden unterwegs. Los, setz dich zu uns und schau.« Rusty strich sich das rote Haar aus der Stirn, kletterte über die Bank und setzte sich zwischen die beiden. »Mit Rusty spielen!«, meldete sich Megan, und er hob sie mit vorgeblichem Widerwillen auf die Knie. Sofort begann sie, an einem losen Knopf seiner Lederjacke zu zerren. »Dort liegt der Hafen«, sagte Gideon und zeigte direkt voraus. »Und siehst du die hohen Gebäude da links? Das ist das Nordviertel, wo Onkel Joseph wohnt.« 59 Rusty ließ das Panorama auf sich wirken. Seit er die Hauptstadt vor Jahren verlassen hatte, hatte er nicht viel an sie gedacht, doch dieser Anblick brachte ihm die Erinnerung so lebhaft zurück, dass ihm die Augen kribbelten und er einen Kloß im Magen spürte. Seine Zeit dort war trostlos und erschreckend, aufregend, gefährlich und überwältigend zugleich gewesen, und am Ende hatte er keine andere Wahl gehabt als zu fliehen. In den Jahren
danach hatten ihn andere Dinge in Anspruch genommen, doch nun stellte er fest, dass er sich mit frischem Mut auf die Stadt einlassen konnte. Gideon hatte das Fuhrwerk auf der Kuppe eines sanften Hügels angehalten und die alte Kitty ausgespannt, damit sie am Wegrand grasen konnte. Vor ihnen fiel der Boden in drei Richtungen steil ab. Die Sonne brach nur halbherzig durch die Wolken und ließ das kunterbunte Mosaik der Felder, die Haken schlagenden Wege und die verstreuten Siedlungen recht verschwommen aus dem Dunst hervortreten. Die Landschaft schien unter einer Bettdecke zu liegen und zeigte nur schwach ihre Konturen, die sich erst steil und dann sanfter zur strahlenden Biegung des Flusses senkten. Und jenseits des Flusses lag die Stadt. Rusty bemühte sich, den Anblick langsam bis in alle Einzelheiten in sich aufzunehmen und mit dem verzerrten, verworrenen Chaos seiner Erinnerungen, die manchmal noch immer unerwartet durch seine Träume geisterten, in Einklang zu bringen. Ganz hinten rechts waren die glänzenden Dächer und Spitzen der Westvorstadt und die elegante Bogenbrücke aus Stein zu sehen, auf der die privilegierten Bewohner des Viertels täglich zur Arbeit und zurück gingen. Er konnte nur gerade so erkennen, dass sich eins der riesigen Segelschiffe der 60 königlichen Flotte der Brücke näherte. Es hatte die Masten schon umgelegt, wurde flussaufwärts gerudert und würde auf dem Weg zu seinem Liegeplatz gleich unter dem Mittelbogen hindurch gleiten. Der Hafen mit seinen Kränen, Masten, Segeln und Wimpeln verdeckte einen Großteil der Stadtmauer und ließ ihn die Wallanlagen nur da und dort sehen, bis sich links davon schließlich die tristen grauen Wohnblöcke und Hochhäuser des Nordviertels anschlössen. Diese Gegend war Rusty vertrauter. Obwohl er den Fähranleger von seinem Aussichtspunkt nicht genau erkennen konnte, wusste er, dass der Fluss, der dort breiter war, regelmäßig von einem alten Dampfschiff gequert wurde - demselben Schiff, auf dem er einst bei seiner Flucht als blinder Passagier mitgefahren war und sich im eiskalten Wasser an der Bordwand an einen Fender geklammert hatte. Dahinter erkannte er noch knapp, wie der Fluss die Stadt links in einem Bogen abschloss. Und über all dem ragte unerbittlich auf einem steinernen Hügel der Königspalast mit seinen Türmen, Toren und Flaggen auf, den das seltsame neue Dachgeschoss mit den sechs Ecken krönte, von dem es hieß, es beherberge die Kanzlei von König Matthew. »Ich hatte mir ja gedacht, dass du das würdest sehen wollen.« Rusty merkte, dass Gideon sein Pferd wieder angeschirrt hatte. »Weiter unten sieht man das nicht mehr. Erst am Fähranleger hast du wieder einen guten Blick auf die Stadt.« »Ja«, murmelte Rusty. »Danke. Ein seltsames Gefühl ist das - wer hätte das gedacht.« Er atmete tief und vernehmlich ein, und ein leiser Schauer durchfuhr ihn. Dann merkte er, dass Megan an seinen Hosenbeinen zerrte, und er gab ihr im Spaß einen Klaps. 61 »Rusty ist gemein«, sagte Megan. »Stimmt nicht«, erwiderte Peg, und ein mütterliches Strahlen milderte ihre gespielte Strenge. »Megan ist gemein.« Dann löste Gideon die Bremse und ließ Kitty antraben. Das Fuhrwerk rollte bergab, und bald war die Stadt außer Sicht »Weiter können wir dich nicht bringen«, sagte Gideon eine Stunde später. »Gib mir die Zügel und hol deine Sachen.« Rusty kletterte ins enge Fuhrwerk zurück, wo Peg sich mit Megan in eins der Betten gekuschelt hatte, ihr leise ein paar Strophen einer alten Ballade der Fahrenden vorsang und die Umgebung anscheinend nicht wahrnahm. Leise begann Rusty, seine paar Habseligkeiten in den Rucksack zu packen, kletterte wieder nach draußen und setzte sich zu Gideon auf den Bock. »Unser Weg führt nun nach Osten«, sagte dieser, »aber wir können dich an der Großen Kreuzung absetzen. Dort findest du leicht ein anderes Fuhrwerk, oder du wanderst zum Anleger, wenn dir das lieber ist. Aber pass auf die Wolfsjungen auf. Die sind schlimmer denn je. Jetzt jedenfalls springst du am besten ab. Peg - Rusty verlässt uns!« »Mach's gut, Schatz. Komm bald zurück.« Peg küsste ihn herzlich, während Megan noch mal an seinen Hosenbeinen zog. Gideon half ihm mit fester, trockener Hand ein letztes Mal beim Absteigen. Rusty suchte in der Tasche nach einer Münze. »Nicht doch, steck dein Geld weg«, sagte Gideon entschlossen. »Wir kennen uns schließlich mit Unterbrechungen seit der Kindheit. Die Welt hat uns ein paar 62 merkwürdige Dinge erleben lassen, im Guten wie im Schlechten. Aber du weißt, dass du mir stets willkommen bist.« Rusty fiel auf, dass sein Freund unbewusst ins förmliche Register gerutscht war, wie ihm das in feierlichen Augenblicken immer unterlief. »Und deine Freundschaft ist Lohn genug. Spar dein Geld also für Onkel Joseph. Der hat keine Skrupel, es dir abzunehmen! Und denk dran: Der Weg wird mich nächstes Jahr zur gleichen Zeit wieder hier durchführen - wie in jedem Jahr. Also, Rusty Brown, mach's gut, bis unsere Wege sich das nächste Mal kreuzen!« Er ließ das Pferd antraben, und der Wagen fuhr rasch davon.
Rusty schulterte den Rucksack und sah sich neugierig um. Er stand am Rand einer großen, zerfurchten Matschfläche, von der in alle Richtungen breite Straßen abgingen, auf denen Verkehr jeglicher Art unterwegs war. Hunderte von Karren und Fuhrwerken pflügten durch den Schlamm - genau wie alle möglichen anderen Fahrzeuge, ob groß oder klein, ob von Pferden gezogen oder von einem Motor getrieben. Manche kämpften sich mühsam von einem Ende der riesigen Kreuzung zum anderen, andere steckten fest und waren bis zu den Achsen im Matsch versunken. Das also war die Große Kreuzung, wo alle Landstraßen des Königreichs zusammenliefen und aus allen Teilen des Landes Waren und Reisende eintrafen, um umgeladen zu werden oder umzusteigen und an ihren Bestimmungsort weiterzureisen. Während Rusty sich vorsichtig vorarbeitete und versuchte, dem schlimmsten Matsch auszuweichen, konnte er im Chaos ringsum nicht die kleinste Spur von Organisation oder Methode erkennen. Fahrzeuge zeigten in 63 diese oder jene Richtung, und ihre Besitzer kämpften mit Hebeln und Reisigbündeln, Steinen und Brettern verzweifelt um festen Halt für die Räder. Reisende, die unterm Gewicht ihrer großen und kleinen Koffer fast zusammenbrachen, stolperten hierhin und dorthin, suchten vergeblich ein Beförderungsmittel zu ihrem Bestimmungsort, riefen sich gegenseitig um Hilfe an und sanken ab und zu im Schlamm ein, bis eine hilfreiche Seele anhielt, um sie zu befreien. Es gab keine Wegweiser, keine Signalflaggen und scheinbar auch sonst nichts, was die Reisenden und die für sie geeigneten Transportmittel irgendwie zusammenbringen konnte. Rusty legte die Hände fester um die Träger seines Rucksacks und sah sich verwirrt um. Ihm wurde unangenehm bewusst, dass er langsam nasse Füße bekam. »Stiefel, Mister?« Die kratzige Stimme gehörte einem kleinen Mädchen mit verdrecktem Gesicht, das hinter einem Wagen auftauchte, der in einem seltsamen Winkel vor Rusty im Schlamm lag. Sie hielt ein riesiges Paar Gummistiefel an den zerlumpten Kittel gedrückt, und Rusty sah, dass sie ein zweites, allerdings kleineres Paar an den Füßen trug. »Mieten Sie Ihre Stiefel hier, dann kommen Sie trockenen Fußes rüber!« Hinter ihr stand ein noch kleinerer Junge in ähnlichem Schuhwerk mit einem Schlitten voller Stiefel in verschiedenen Größen. »Ja, danke«, antwortete Rusty und gab ihr eine kleine Münze. »Weißt du, wie ich ins Nordviertel komme?« »Kein Problem, Mister. Seht Ihr den großen roten Wagen da hinten? Der bringt Euch hin - genau wie die kleinen Dreiräder, denen Ihr nur ein Fahrziel nennen müsst. Oder Ihr geht zu Fuß. Es ist nicht sehr weit. Seht - dort drüben fängt das Viertel schon an.« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Nase, während 64 der Junge ein Paar passende Stiefel vom Schlitten nahm. Mit Unterstützung der beiden Gassenkinder zog Rusty einen der undichten Schuhe aus und schob den Fuß in einen Stiefel, wobei er seine Socke sorgfältig festhielt. Dann wiederholte er die Prozedur mit dem anderen Fuß und stopfte beide Schuhe in den Rucksack. »Danke«, sagte er zu dem Mädchen. »Wie heißt du eigentlich?« »Maisie. Und das ist mein Bruder Ross. Stellt die Stiefel einfach in eine der Kisten, wenn Ihr sie nicht mehr braucht. Übrigens gefällt mir Eure Frisur, Mister.« Verlegen strich Rusty sich das rote Haar aus der Stirn. Während er mit unsicherem Gang aufs Nordviertel zuhielt, konnte er Maisie noch immer heiser rufen hören: »Stiefel, Mister? Stiefel, Ma'am?«, bis ihre Stimme in all dem Lärm nicht mehr auszumachen war. Mit zunehmendem Selbstvertrauen suchte sich Rusty seinen Weg durchs Getümmel der Fuhrwerk. Einige bewegten sich langsam, andere schienen für immer festzustecken, und eins war umgestürzt und würde sich kaum mehr aufrichten lassen. Gruppen von Reisenden bahnten sich schreiend und fluchend einen Weg und schoben Rusty kurzerhand beiseite, und dreckige Kinder sprangen flink herum und boten Stiefel, Erfrischungen oder Orientierungshilfe an und warben mitunter auch für Dienste vertraulicherer Art, was Rusty stark erröten ließ. Schließlich hatte er die Kreuzung überquert und konnte seine Stiefel, wie versprochen, in einen großen Behälter aus rohem Holz stellen, der die nüchterne Aufschrift »STIEFEL« trug. Jetzt kam er besser voran. Der Boden unter seinen Füßen war fest und steinig, und er merkte, dass die belebte Hauptstraße, der er nun folgte, ihn hinunter zum 65 Flussufer führte. Verstohlen zog er ein Stück Papier aus der Tasche. Nach Gideons Wegbeschreibung hatte er eine flüchtige Skizze gezeichnet, aus der hervorging, wie er den Wohnblock fand, in dem Joseph Blackwood Hausmeister war. Diesen Zettel durfte er niemanden sehen lassen, denn damals war Normalbürgern noch jeder Gebrauch von Karten verboten, doch Rusty hatte sich schon an eine gewisse Heimlichkeit gewöhnt und merkte sich rasch die nächsten Wegbiegungen, ehe er die Skizze wieder in die Tasche schob. Er nahm die Fähre über den Fluss, zahlte diesmal aber dafür. Dann suchte er sich einen Weg durch das Netz trister Gassen und Höfe, das die heruntergekommenen Wohnblöcke des Nordviertels miteinander verband. Von Zeit zu Zeit fing er den Seitenblick einer verdächtigen Gestalt auf, die ihn mit zusammengekniffenen Augen beobachtete, doch wenn er ihr direkt in die Augen sah, verschwand sie rasch in kleinen Seitenstraßen oder hinter Mauern. Er stellte bald fest, dass er sich am sichersten fühlte, wenn er entschlossen vorwärts ging und nicht nach links oder rechts sah. Schließlich stand er vor dem Gebäude, das Gideon ihm beschrieben hatte. Über der Flügeltür am Eingang verkündete ein einfaches, von Hand geschriebenes Schild: »Hier wohnen die, die nicht suchen, sondern finden.« Die Wohnanlage war eher breit als hoch, denn obwohl der Bau einige Stockwerke aufragte, erstreckte er sich zu
den Seiten hin deutlich weiter. Er hatte einen unglaublich unregelmäßigen Grundriss - als sei er wie zufällig aus Bauklötzen errichtet worden. An den Außenmauern zog sich ein kompliziertes Netzwerk wackliger Treppen, Stege, Balkone und Leitern kreuz und quer entlang, die alle planlos aus Holzresten und verschiedenen, mitei66 nander verknoteten Seilenden verfertigt waren. Gideon hatte ihn schon gewarnt: Die Erbauer hatten aus irgendeinem Grund vergessen, Treppenhäuser einzuziehen, und seit Generationen waren die Mieter zu Behelfslösungen gezwungen. Das gefiel natürlich nicht jedem, und so waren die meisten Bewohner des Hauses jung, gelenkig und ziemlich exzentrisch. Und die Wohnungen waren zu einem verlockend niedrigen Preis zu haben. Rusty verliebte sich sofort in das Haus. Nach Gideons Anweisung schob er sich durch den Haupteingang, wandte sich scharf nach rechts und stand schon nach ein paar Schritten vor einer schmalen, ramponierten Tür, die ein Messingschild mit der Aufschrift »J. Blackwood« trug, das im Lauf der Jahre Grünspan angesetzt hatte. Die Tür war nur angelehnt und öffnete sich quietschend, als Rusty sie behutsam aufdrückte. Er betrat ein schwach beleuchtetes Zimmer, das bis zur Decke mit wackligen Stapeln staubiger alter Holzmöbel voll gestellt war. In der hintersten Ecke des Zimmers saß im gelben Lichtkreis einer stinkenden Öllampe ein dicker Mann mit strähnigem Haar. Über einen kleinen Tisch gebeugt, spielte er vertieft und für sich allein mit einem Packen abgegriffener Karten. Als Rusty eintrat, sah er kurz hoch, stand aber nicht auf oder ließ sich anderweitig stören. Wenn das wirklich Gideons Onkel Joseph war, wies er jedenfalls kein sichtbares Zeichen der besonderen Fähigkeiten des fahrenden Volks auf. »Hallo«, murmelte der Mann. »Du bist bestimmt dieser Freund von Gideon. Ich heiße Joe Blackwood. Die vorletzte Wohnung im fünften Stock ist für dich. Der Schlüssel steckt vermutlich noch. Miete ist jeden Freitag fällig.« Er spielte weiter und beachtete seinen Besucher nicht mehr. 67 Als Rusty nach kurzem Stutzen begriffen hatte, dass das Gespräch beendet war, ging er, um seine neue Bleibe zu erkunden, war aber Augenblicke später zurück. »Mr Blackwood? Ich hab eine Frage, die vermutlich ziemlich dumm ist. Die Wohnung hab ich gefunden, aber ich weiß nicht recht, wie ich hochkommen soll.« Langsam sah Joe Blackwood zum zweiten Mal von den Karten auf, und es schien einen Moment, als habe er vergessen, wer Rusty war. »Stimmt, da führt keine Treppe hin«, sagte er dann. »Die hat vermutlich die letzte Mieterin mitgenommen. Ich kann dir eine Strickleiter geben - das sollte genügen. Aber vergiss nicht, sie einzuziehen, wenn du zu Hause bist. Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein. Der Knabe am Ende des Flurs lässt dich wahrscheinlich auf seiner Leiter hochklettern, bis du deine angebracht hast.« Bis Rusty den Weg über die Leiter des Nachbarn und über dessen Balkon genommen hatte, hatten schwere Regentropfen zu fallen begonnen; bis er sich Eintritt in seine Wohnung verschafft und am Balkon eine eigene Strickleiter angebracht hatte, regnete es gleichmäßig; bis er die Leiter ausprobiert und festgestellt hatte, dass sie zu kurz war, und darum ein zusätzliches Stück Seil bei Mr Blackwood gekauft hatte, hatte es sich eingeregnet; und bis er mit dem Zugang zu seiner Wohnung zufrieden war, war er nass bis auf die Haut. Als er endlich allein war, strich er durch die beiden Zimmer, probierte die Ausrüstung der winzigen Küche aus, schälte sich dabei aus seinen triefenden Klamotten und warf sie -Stück für Stück - auf den Boden. Als er nackt und tropfnass wieder auf den Balkon trat, fiel ihm ein, dass er weder ein Handtuch noch Sachen 68 zum Wechseln besaß und die Wohnung weder Bodenbeläge noch Möbel hatte. Es regnete noch immer und wurde langsam dunkel. Er sah über die nass glitzernden Dächer hinweg, und ihm wurde allmählich bewusst, dass er die Stadt erstmals von oben sah. Letztes Mal hatte er sie von unten gesehen, doch von jetzt an würde es anders sein. Er prägte sich jede Einzelheit ein. Es war genau so, wie er es zuversichtlich geahnt hatte. Nach kurzer Zeit schloss er die Augen und spürte, wie ihm schwere Regentropfen aufs Haar, ins Gesicht und auf Schultern und Brust fielen und an ihm herunterflossen. Er fühlte sich sauber, ausgekühlt und bereit für einen Neuanfang. Und nach einer Weile fragte er sich, wohin er seine Sachen hängen sollte. »Was hast du den ganzen Tag gemacht?« Na ja, zunächst mal hab ich eins bestimmt nicht getan: Ich bin nicht zur Schule gegangen. Das Dorf lag ziemlich abgelegen, und ich bin nicht mal sicher, ob es damals dort eine Schule gab. Doch selbst wenn - ich glaube kaum, dass mein Vater mich hingeschickt hätte. Natürlich wäre ich etwas besser klargekommen im Leben, wenn ich die Dinge richtig beigebracht bekommen hätte. Vielleicht wäre ich dann nicht auf diese Bahn geraten. Aber so, wie die Sache nun mal lag, musste ich das meiste im Lauf der Zeit eben selbst herausfinden, obwohl mir Mrs Crabb dabei geholfen hat. Von ihr erzähl ich dir gleich mehr. Hab ich erwähnt, dass das Dorf am Meer lag? Ich 69 glaube nicht. Viele Jungen wären wahrscheinlich begeistert, an der Küste aufzuwachsen. Mir dagegen hat es eigentlich nie was bedeutet, obwohl ich glaube, dass es meinem Vater gefallen hat, denn wenn er keine Arbeit bekam, ist er häufig am Strand spazieren gegangen, und nachdem ich laufen gelernt hatte, hat er mich oft mitgenommen. Mir hat es am Strand nicht besonders gefallen -für mich waren das einfach nur Steine; es war
anstrengend, auf den Kieseln zu gehen, und es war immer kalt und nass, und ich hatte Angst vor den Möwen. Aus all diesen Gründen hat mir das Meer nie viel bedeutet. Ich schätze, ich hab mich immer wieder beklagt, denn nach einer Weile hat mein Vater mich nicht mehr mitgenommen, sondern wieder zu Hause ans Tischbein gekettet. Letztlich war es mein Vater, der mir Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht hat. Ich glaube, er hat es widerwillig getan - also nicht, weil er wollte, sondern weil er musste. Normalerweise hat er mich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt und mir manches auf seinem kleinen Schreibblock gezeigt. »Sieh dir das lieber mal an«, sagte er dann. »Das ist langweilig, aber ich schätze, du wirst es lernen müssen.« Manchmal sagte er auch: »Pass auf- umso schneller sind wir fertig.« So hab ich gelernt, Buchstaben zu schreiben und zu Worten zu verbinden und kleine Zeichnungen und Skizzen zu machen. All das fand ich gar nicht langweilig. Ich mochte es, dass die Buchstaben einen Lautwert haben und die Laute zu Worten zusammentreten. Er zeigte mir auch Zahlen und schien sie für wichtiger zu halten, aber ich liebte die Buchstaben und Worte. Ja, ich glaube, meine Einführung ins Schreiben war schon recht seltsam, denn mein Vater hatte nur eine 70 sehr begrenzte Verwendung für Buchstaben - eigentlich brauchte er sie nur, um zu notieren, welche Materialien er für seine anliegenden Aufträge benötigte, oder um Schilder zu malen oder die Namen von Leuten auf Teekannen und dergleichen zu schreiben. Aber wie auch immer, wenn er daran dachte, haben wir stets ein wenig Zeit mit Schreiben verbracht, doch bald begann es ihn zu langweilen, und er legte den Block weg und gab mir wieder einen Schraubenzieher zum Spielen. An einen erinnere ich mich noch gut, weil er einen geflickten Griff hatte. Aber ich mochte keine Schraubenzieher und hab ihn immer wieder gebeten, mir das Schreiben besser beizubringen, und manchmal, wenn er gut gelaunt war, hat er das auch getan, doch meistens hat er mir einfach mit der Kette gedroht. Dann bin ich unter den Tisch gekrochen, um ihm aus dem Weg zu gehen. Es war ein großer, schwerer Tisch mit dicken, massiven Beinen. Es hat noch ein paar Jahre gedauert, ehe ich auf den Gedanken kam, ich könnte ihn bewegen. Wenn er den Eindruck hatte, ich sei brav gewesen, ließ er mich in Buhe und legte mir die Kette nicht an -das hatte ich nach einer Weile gelernt. Wenn er nicht im Haus war, konnte ich dann ein wenig im Zimmer herumstöbern oder sogar in den Hof hinaus, falls er die Hintertür offen gelassen hatte. Der Hof gefiel mir. Er war mit grauen, quadratischen Steinplatten gepflastert, von denen einige sehr interessante Bisse hatten; wenn man die Platten anhob, sah man, dass sich darunter seltsame Tiere wanden. Und dann war da natürlich der große Stapel Brennholz. Als ich groß genug war, hab ich versucht, ihn zu besteigen, bin eines Tages ausgerutscht und hab eine kleine Holzlawine ausgelöst. Dabei hab ich mich bestimmt verletzt, aber das kümmerte meinen 71 Vater überhaupt nicht - ihm ging es nur um sein Brennholz. Ich schätze, nach diesem kleinen Zwischenfall musste ich wieder mal an die Kette. Eines anderen Tages kam ich bis ans Tor am Ende des Hofs - ich glaube, er hat mich sogar erst gefunden, als ich schon draußen auf dem Feldweg herumlief. Davon war er absolut nicht begeistert und hat mich erst nach langer Zeit wieder von der Kette gelassen. Aber du hast mich nach der Schule gefragt, und ich glaube, ich hab Mrs Crabb erwähnt. Ich sollte wohl ein wenig von ihr erzählen, denn sie war die erste Erwachsene, die ich näher kennen gelernt habe - von meinem Vater natürlich abgesehen. Ich hab dir erzählt, dass er irgendein Handwerk gelernt hatte und deshalb oft zum Arbeiten außer Haus war. Er hatte eine große Leinentasche voller Werkzeug, die er neben der Hintertür aufbewahrte, sodass ich immer wusste, ob er daheim war oder nicht. Er hat mich jedenfalls nie mit zur Arbeit genommen. »Ich kann dich nicht mitnehmen, ich hab zu viel zu tun«, sagte er meist, manchmal aber auch: »Du musst hier bleiben - die Leute wollen keinen kleinen Jungen im Weg haben.« So oder so: Ich musste zu Hause bleiben und wurde wieder angekettet. Doch eines Tages beschloss er, mich mitzunehmen. Natürlich kam er trotz der großen Werkzeugtasche viel schneller voran als ich. Deshalb war ich außer Atem, als wir ans Ende des Feldwegs kamen, und hatte alle Mühe mitzuhalten. Jedenfalls langten wir schließlich an einem großen Haus an, das einsam am Meer stand. Dort lebte eine alte Dame - Mrs Crabb. Gut möglich, dass das Gebäude eine Art Pension oder Gästehaus war, doch als ich dorthin kam, war keine Saison, und es gab keine Besucher. 72 Natürlich konnte ich es damals nicht beurteilen, doch heute kommt es mir so vor, als ob Mrs Crabb wenig mit Kindern zu tun hatte, und ich schätze, sie war selbst für die damalige Zeit ziemlich altmodisch und hatte eine sehr barsche Art. Doch ich glaube, sie hat meine Gesellschaft irgendwie gemocht, denn nach diesem ersten Besuch hat mein Vater mich immer mitgenommen, wenn er etwas für Mrs Crabb zu erledigen hatte. Gewiss wären dir ihre sehr strengen Gewohnheiten sofort aufgefallen. Wenn wir dort waren, geschah alles stets auf genau gleiche Art, und wir waren eigentlich sehr oft dort, denn in Haus und Garten gab es immer was zu tun, und mein Vater kletterte mal auf die Leiter, mal in einen Baum, grub Löcher, lackierte Fensterrahmen oder tat andere Dinge. Nein, ich ging nie in den Garten - ebenso wenig wie Mrs Crabb, soweit ich mich erinnere. Sie und ich blieben stets im Haus.
Wenn wir bei ihr ankamen, begrüßte sie uns immer auf genau gleiche Weise. Mein Vater zog zwei-, dreimal am Klingelzug oder hielt mich bei guter Laune mitunter hoch, damit ich das tun konnte. Nach ein paar Augenblicken ging dann die Tür auf, und Mrs Crabb stand mit straff zurückgekämmtem grauem Haar und in langem schwarzem Kleid auf der Schwelle. Sie sagte stets dasselbe, nämlich: »Meine Güte - da kommt Mr Slater, pünktlich wie immer; und er hat den kleinen Tom dabei, der mir Gesellschaft leisten wird.« Dann sprach sie kurz mit meinem Vater und erklärte ihm, was er erledigen sollte, und er ging und machte sich an die Arbeit. Mrs Crabb führte mich dann in ein Zimmer, das sie ihren Salon nannte. Dort roch es ziemlich muffig, die Decke war sehr hoch, an den Fenstern hingen lange Vorhänge, und an den Wänden waren Bilder zu sehen, 73 die schon recht ausgeblichen waren. Mitten im Zimmer stand ein großer runder Tisch, auf dem immer eine dicke, flauschige Decke lag. Sie war dunkelblau und roch nach Mottenkugeln. Von dem Tisch ging etwas Schweres aus - wie eigentlich von allem in ihrem Haus. Mrs Crabb setzte sich dann an die eine Seite des Tisches und ich mich an die andere. Ich wusste immer, wo mein Platz war, denn dort stand ein Glas Milch - und ein Teller, auf dem genau ein Keks lag. Der war wirklich eine große Freude für mich. Bei meinem Vater gab es zum Essen nie einen Teller, und ehe ich zu Mrs Crabb kam, hatte ich noch keinen Keks oder dergleichen gesehen. Trockene Pastetenkrusten waren in der Regel alles, was ich bekam. Ich weiß inzwischen, dass es stets die einfachste, billigste und langweiligste Kekssorte war, doch damals war es das Aufregendste, was ich zu essen erhielt. Auf diese Stärkung folgte normalerweise ein langes Schweigen, weil Mrs Crabb nicht gerade gesprächig war. Doch eines Tages - und ich erinnere mich noch genau an ihre Worte, obwohl ich nicht sofort verstand, was sie meinte - sagte sie: »Dein Vater hat mir erzählt, dass dir Buchstaben gefallen.« Dann zog sie ein kleines Buch hervor und legte es mir auf den Tisch. Es war ein wunderbares Buch, und ich merkte sofort, dass es etwas Besonderes war, ganz anders als der Schreibblock meines Vaters. Es war fest eingebunden, hatte ein kompliziertes, reliefartig vorstehendes Muster auf dem Rücken und den Buchdeckeln und roch herrlich - nach einer Mischung aus Leder, Pfefferminz und einem Blütenduft, den Mrs Crabb vielleicht getragen hatte, als ihr Mann noch am Leben gewesen war. Ich blätterte die Seiten durch. Das Papier war dick, seine 74 Struktur ein wenig rau, und die Kanten waren nicht glatt, sondern irgendwie ungleichmäßig gezackt. Auf den Seiten standen Buchstaben, die sich natürlich zu Wörtern verbanden; diese Wörter ergaben kurze Zeilen, die Vierergruppen bildeten. Selbstverständlich handelte es sich um ein Gedichtbuch, doch damals hatte ich keine Ahnung, dass es überhaupt so etwas wie Gedichte gab. Wie gesagt: Wörter waren nur etwas, das mein Vater für seine Materiallisten brauchte. Ziemlich viele Wörter in den Gedichten waren für mich zu lang oder zu kompliziert oder zu fremd, um sie zu verstehen, doch ehe ich auch nur damit begann, konnte ich schon hören, welche Gestalt sie hatten, wenn Mrs Crabb sie mir mit ihrer harten, trockenen, alten Stimme vorlas, und bald fing ich an, zwischen Buchstaben, Wörtern, Rhythmen und Reimen Verbindungen zu sehen, und alles begann, zu einem faszinierenden, komplizierten und geheimnisvollen Muster zusammenzuwachsen. Dann wurde mein Vater mit der Arbeit fertig, und wir mussten nach Hause gehen. Ich durfte das Buch natürlich nicht mitnehmen, und als ich versuchte, mit ihm darüber zu sprechen, schien er nicht interessiert, und ich erwähnte es nicht wieder. Ich schätze, ich habe schon damals ein paar einfache psychologische Mechanismen gelernt. Später, als mein Vater nicht in der Küche war, gelang es mir, ein paar Blätter aus seinem Schreibblock zu mopsen; dann organisierte ich mir noch einen langen, flachen Bleistift aus seiner Werkzeugtasche und versuchte, selbst Gedichte zu schreiben. Anfangs hatte ich kaum eine Vorstellung davon, was ich da eigentlich tat, doch nach ein paar weiteren Besuchen bei Mrs Crabb ergaben die Dinge allmählich einen Sinn, und ich fing an, kleine zwei- oder vierzeilige Gedichte zu verfas75 sen, die nichts Besonderes zum Gegenstand hatten. Ich hab noch immer ein, zwei davon im Gepäck, doch sie sind wirklich ziemlich furchtbar, und deshalb möchte ich sie dir lieber nicht zeigen jedenfalls noch nicht. Ja, ich habe diese Gedichte eine ganze Reihe von Jahren vor meinem Vater verborgen gehalten. Der Küchentisch hatte eine Schublade, die sich auf Schienen vor- und zurückschieben ließ, die unter der Tischplatte angebracht waren. Mein Vater saß nie mit mir unterm Tisch und wusste vermutlich nichts von diesem Mechanismus, doch ich konnte meine Blätter und den Bleistift zwischen Tischplatte und Schienen klemmen und besaß dort ein sicheres Versteck. Natürlich hatte mein Vater trotz allem die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ich eines Tages beginnen würde, mich für seine Arbeit zu interessieren, und obwohl er bis zum Schluss nichts von meinen Gedichten erfuhr, wurde er immer unzufriedener mit mir. Klar, dass ich stets abenteuerlustiger wurde, je älter ich war, und immer wieder schnappte er mich dabei, wie ich versuchte, irgendwohin zu verschwinden. Dann wurde ich natürlich wieder angekettet. Und am letzten Tag fand er meine Gedichte. Danach wurde alles für immer anders. Tee mit den Nachbarn Rusty saß neben einem alten Klapptisch und drei Stühlen, von denen keiner zum anderen passte, auf dem Pflaster vor seinem Wohnblock. Er hatte die Möbel von Mr Blackwood gekauft, doch der wortkarge Hausmeister hatte ihm nicht helfen wollen, sie in seine Wohnung
76 zu transportieren. Rusty fragte sich gerade, wie er die neue Herausforderung angehen sollte, als ein kleiner, runder Mann mit kurzem, elegant gestutztem Bart um die Ecke kam. Rusty erkannte in ihm den Nachbarn, dessen Strickleiter er ein paar Tage zuvor benutzt hatte. »Wie willst du das alles bloß hochschaffen?«, fragte er. »Das hatte ich nicht bedacht«, erwiderte Rusty nachdenklich. »Ich habe Mr Blackwood um Hilfe gebeten, aber er hat wohl keine Lust, aus seinem Zimmer zu kommen.« Er hielt fragend inne. »Sie haben nicht zufällig ein paar Minuten Zeit?« »Doch, klar. Ich dachte schon, du würdest mich nicht fragen. Oben hab ich ein Stück Seil. Wir werden die Sache schon schaukeln. Und das am besten, solange es hell ist.« Es stellte sich heraus, dass Rustys Nachbar Paul Catalano hieß und Friseur war. »Nein, hier oben besuchen mich kaum Kunden«, sagte er und verpasste dabei Rustys Wuschelkopf an den Ohren den letzten Schliff. »Viele sind schon älter, und die Leiter würde ihnen den Rest geben. Und dann besteht ja immer die Gefahr, diesen seltsamen Wolfsjungen über den Weg zu laufen. Deshalb bin ich meistens auf Tour und besuche meine Kunden zu Hause — das bewahrt mich vor Unannehmlichkeiten, kann ich dir flüstern. Du hast übrigens wunderschönes Haar - tolle Farbe. Aber wo ist dein Scheitel? Den kann ich irgendwie nicht finden.« Als er mit Gideon und Peg auf der Landstraße unterwegs gewesen war, hatte Rusty kaum auf sein Erscheinungsbild geachtet und war sich inzwischen nicht mehr 77 sicher, was es mit seinem Scheitel - wenn überhaupt - auf sich hatte. »Das überlass ich Ihnen«, sagte er. »Sie bekommen das bestimmt hin.« »Gut, das wär's. Aber meine Güte, was ist denn das?« Paul zog Rusty geschickt einen kleinen, unbekannten Gegenstand aus dem Haar, der sich in einen Wirbel gemogelt hatte, und warf ihn gekonnt in hohem Bogen aus dem Fenster. »Also, wo waren wir stehen geblieben?« »Dabei, dass Sie Ihre Kunden zu Hause besuchen. Und davor hatte ich gefragt, wie Sie durch die Stadt kommen.« »Ja, natürlich. Wenn mein Kopf nicht angeschraubt wäre, würde ich ihn vergessen. Ich bin meist zu Fuß unterwegs; das hält mich fit, und ich hab ja nicht viel zu schleppen - nur meinen Kamm, einige Scheren und noch so ein paar Dinge. Man kann auch mit der Pferdebahn fahren oder mit der Droschke, aber das summiert sich, und so üppig haben wir's beide nicht, stimmt's? Halt mal still, solange ich dir den Nacken ausrasiere.« Ehe Rusty zu Hause ausgezogen war, um an der Akademie für Kartografie zu studieren, hatte seine Mutter sich um seine Haare gekümmert, und in ihrem unzureichenden Arsenal hatte es keine Haarschneidemaschine gegeben. Nun wand er sich auf seinem Stuhl unter der ungewohnt kitzligen Berührung der auf seinem Nacken ineinander scherenden Messer. »Stillhalten, du Lausejunge! Benimm dich - dann bin ich sofort fertig. Was kann ich dir noch über unsere wunderbare Stadt erzählen?« Rusty erfuhr von Paul beispielsweise von einem kleinen Straßenmarkt, auf dem er ein paar unentbehrliche Din78 ge für die Küche kaufen konnte. Im Schatten der Rückwand eines benachbarten Gebäudes fand er eine wacklige Reihe mit schäbigen Planen überdachter Stände, auf denen welkes Gemüse, überreife Früchte und ramponierte Gebrauchtwaren angeboten wurden. Die Händler wollten gerade schließen, und so kam er sehr günstig an eine Tüte mit Obst und Gemüse und an eine zweite Tüte mit Besteck und Kochgeschirr. Diese Last ließ den Aufstieg über die Strickleiter freilich zur Herausforderung werden, und Rusty nahm sich vor, beim nächsten Marktbesuch den Rucksack mitzunehmen. Schließlich saß er an seinem neuen Tisch und fragte sich, was er aus zwei Äpfeln, einer Kartoffel, einer Steckrübe und einer Banane mit einem kleinen Kochtopf, einem Fischvorlegemesser, drei Löffeln und einer Gabel würde zaubern können. Ehe er auf die Akademie gegangen war, hatte seine Mutter ihn nach Strich und Faden bekocht, und danach hatte Mrs Roberts, seine Vermieterin, die Kochpflichten übernommen. Er fragte sich, ob er bei einem der Händler ein Kochbuch würde kaufen können, doch dann fiel ihm ein, dass der Markt inzwischen längst geschlossen war. Vielleicht könnte ihm ein Nachbar aushelfen? Paul war sehr freundlich gewesen, doch Rusty wollte ihm nicht schon wieder zur Last fallen und beschloss deshalb, es in der Wohnung auf der anderen Seite zu versuchen. Als er von seinem Balkon auf den nebenan sah, entdeckte er, dass die Tür zur Nachbarwohnung einen Spalt offen stand. »Hallo?«, rief er. »Jemand daheim?« Es kam keine Antwort, und er beschloss, der Sache nachzugehen. Er zupfte sich die Hose zurecht und kletterte aufs linke Geländer. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er einen 79 langen Schritt zum nächsten Balkon machte, wo er eine unbeholfene Bauchlandung hinlegte, die ihn schmerzlos, aber unelegant vor das Fenster seines Nachbarn brachte. Es war kaum zu vermeiden, in die Wohnung zu sehen, und ihm war sofort klar, dass der Nachbar zu Hause war. Das Zimmer enthielt kein einziges Möbelstück, und Wände, Decke und Fußboden waren einheitlich weiß
gestrichen. Der Boden war mit einem Netzwerk miteinander verbundener Strahlen und konzentrischer Kreise geschmückt, zwischen denen sich verschiedene, nicht zu entschlüsselnde Symbole befanden, die in Schwarz und Gold hervorgehoben waren. Inmitten dieses Netzwerks stand jemand - die Nachbarin, wie Rusty annahm. Sie schien eine junge Frau zu sein, wohl etwa so alt wie er. Sie war sehr schlank und trug ein schwarzes Trikot, das vom Hals bis zu den Knöcheln reichte und nur ihre bleichen Hände und Füße sehen ließ. Ihr Haar war glatt und sehr blond, ihr Gesicht dagegen konnte Rusty nicht erkennen, weil die Frau gerade eine ungewöhnliche Abfolge von Stellungen turnte. Jetzt ruhte ihr Gewicht teils auf den nackten Füßen, teils auf den Händen, die ein kleines Stück hinter den Füßen fest auf den Boden gesetzt waren. Sie musste ungemein gelenkig sein, denn ihr Rumpf war steil nach oben gewölbt, während Arme und Beine fast gerade blieben. Einige Augenblicke sah Rusty wie erstarrt zu, während sie ihre Stellung beibehielt. Dann hob sie ganz langsam ein schlankes Bein, bis es senkrecht zur Decke zeigte, und nach kurzer Pause folgte das zweite Bein ebenso langsam. Schließlich war sie ohne das leiseste Gleichgewichtsproblem in den Handstand gewechselt. Auf die gestreckten Arme gestützt und die langen Fin80 ger gespreizt, bildeten Oberkörper und Beine eine reglose Senkrechte, und die bleichen Füße wiesen elegant himmelwärts. Ihr blondes Haar, das fast bis zum Boden hing, verbarg ihre Züge noch immer. Sie hielt ihr Gleichgewicht noch einen Moment, stieß sich dann unvermittelt vom Boden ab und landete auf den Füßen, nachdem sie die Beine einmal kurz gegrätscht hatte. Die Arme lagen nun entspannt am Körper an. Rusty atmete tief, aber lautlos aus. Etwas an diesem Bild rief eine Erinnerung in ihm wach, doch im Moment wusste er nicht, woran. Verblüfft starrte er das Gesicht an, das er nun erkennen konnte und dessen Züge reglos, leer und wie in Marmor gehauen wirkten. Dennoch hatten sie etwas unbestimmt Vertrautes. Nach ein paar Sekunden öffneten sich die Augen, und schrittweise zog wieder Lebhaftigkeit in die Gestalt ein, der allmählich bewusst zu werden schien, dass Rusty am Fenster stand. Nun schüttelte sie Arme und Beine aus und lächelte. »Komm doch rein«, sagte sie, und auch ihr schwacher Akzent schien ihm irgendwie vertraut. »Ich mach uns Tee. Übrigens heiße ich Alice. Schön, dich endlich kennen zu lernen.« Kurz darauf saßen sie schon im Schneidersitz auf dem Boden von Alices leerem Zimmer und hatten Schalen mit hellem, duftendem Tee in Händen, in den natürlich keine Milch gehörte. »Das ist nur eine Art Training«, sagte Alice gerade nachdenklich. »Es gibt eine Folge von Übungen, die ich jeden Tag absolviere. Damit habe ich schon als Kind angefangen, und inzwischen ist sie zu einem unverzichtbaren Teil meines Lebens geworden. Ich weiß wirk81 lieh nicht, was ohne diese Übungen aus mir geworden wäre.« Rusty sah sie an. »Seltsam. Ich war mal an einem Ort, wo ich etwas Ähnliches gelernt habe - natürlich nichts so Schwieriges wie das, was du eben geturnt hast. Es hat mir eigentlich gefallen, aber ich hab es seither nicht mehr versucht.« »Schwierig?«, fragte Alice und betrachtete gedankenverloren eins der Symbole auf dem Boden. »So hab ich das noch nie gesehen - wahrscheinlich, weil ich es nicht anders gewohnt bin. Aber du hättest nicht aufhören dürfen. Du solltest versuchen, damit weiterzumachen. « »Ja, das sollte ich wohl.« Rusty nippte nachdenklich an seinem Tee. »Seltsam, dass wir etwas so Eigentümliches gemein haben. Hast du wirklich schon als kleines Mädchen damit begonnen?« »Ja. Ich bin nicht in der Stadt aufgewachsen.« Sie zögerte, schien zu überlegen, ob sie mehr preisgeben sollte, entschied sich dafür und fuhr fort: »Ich stamme von einer der Inseln im Nordosten. Dort habe ich gelebt, bis ich siebzehn war.« Erneut folgte eine lange Pause. Dann sagte Rusty: »Der Nordosten. Dann bist du eine Inselbewohnerin.« Ihr regloses Profil gab nichts zu erkennen. »Das ist wirklich sehr seltsam. Meine Mutter stammt nämlich auch von den Inseln. Aber wir haben nicht dort gelebt, und eigentlich hat sie mir nie etwas von ihrer Insel erzählt. Ich hab erst nach ihrem Tod erfahren, dass sie überhaupt von dort war. Also bin ich ein halber Insulaner, doch ich bin noch nie dort gewesen. Meinst du, ich sollte mal hinreisen?« Rusty fragte sich einen Moment, ob er preisgeben sollte, dass er zudem ein halber Fahrender 82 war, entschied sich aber, erst mal nichts davon zu sagen. Während er noch darüber nachdachte, sah Alice ihn erstmals direkt an, und in ihren großen blauen Augen lag eine Ahnung von Klee, hohem Gras und Meer. »Natürlich musst du hinreisen. Wenn du das nicht tust, hast du dein Leben nur halb gelebt.« Ihre blauen Augen blieben noch kurz auf ihn gerichtet und sahen dann auf die halb volle Teeschale hinunter. »Aber vielleicht jetzt noch nicht.« Plötzlich wechselte sie das Thema. »Du musst mich wirklich für unhöflich halten. Was hast du vor, nun, da du in die Stadt gekommen bist?« Rusty stellte seine leere Schale auf den Boden. »Schwer zu sagen. Es hört sich blöd an, aber ich schätze, ich suche mein Glück. Obwohl ich nicht genau weiß, wonach ich da eigentlich suche. Ich war vor Jahren schon mal in der Stadt, weißt du...« Er zögerte und fuhr dann rasch fort. »Ich wollte eigentlich nichts davon erzählen, aber irgendwie unterhalte ich mich sehr gern mit dir.« Alice ermutigte ihn mit einem so kurzen wie warmherzigen Lächeln. »Ich hatte damals keinen allzu großen Erfolg. Ich hab als Bettler begonnen und mich irgendwie nach unten gearbeitet.«
»Nach unten?« »Nach unten. Ich hab sogar eine Zeit lang zu den Wolfsjungen gehört. Ich glaube, viel tiefer kann man nicht sinken.« Alice lächelte stärker. »Die Wolfsjungen? Ach wo, von denen hab ich ein paar kennen gelernt. Die sind gar nicht so übel wie ihr Ruf.« »Mag sein. Jedenfalls bin ich nicht scharf darauf, diese Erfahrung zu wiederholen. Ehe ich mich in der Unterstadt herumtrieb, war ich an der Akademie für 83 Kartografie. Ich hab ein wenig Zeichnen und Malen gelernt, aber keinen Abschluss. Ich denke, ich sollte erst mal irgendeine Arbeit finden, bis ich genauer weiß, was ich will. Ich hab etwas Geld, aber lange hält das nicht vor. Was machst du eigentlich beruflich?« Alice zuckte die Achseln. »Nichts Spannendes. Ich arbeite im Palast, in der Kanzlei. Es ist schwierig, dort Arbeit zu finden. Mr Considine könnte ich vielleicht mal fragen, doch der ist ziemlich heikel. Aber ich weiß, wo du dich erkundigen könntest.« »Nämlich?« »Beim Anzeiger suchen sie ständig Mitarbeiter. Ich hab früher mal dort gearbeitet und noch zu einigen Leuten Kontakt. Miss Garamond ist da jetzt Chefredakteurin - sie ist diejenige, die mit diesen gedruckten Veranstaltungsanzeigern begonnen hat. Neulich haben sie Leute für die Bildredaktion gesucht. Geh doch mal hin und stell dich bei ihr vor.« »Bei Miss Garamond? Gut, ich werd's versuchen. Danke, Alice.« Rusty stand auf und schüttelte sich, um seine Steifheit loszuwerden. An der Tür drehte er sich um und sah, dass auch Alice auf den Beinen war. Es entstand wieder eine Pause, und als Rusty schließlich die Stille brach, hatte sich sein Benehmen verändert. »Alice? Ich weiß, es klingt dumm, aber ich bin sicher, dass ich dir schon mal begegnet bin. Ich komme nur nicht darauf, wo.« Alice schien einen Augenblick in Gedanken versunken, ehe sie antwortete. »Ja. Ja, ich hab auch so ein Gefühl. Und ich komm auch nicht drauf, wo es war. Aber keine Sorge - einem von uns wird das schon einfallen. Schaffst du's allein nach Haus?« Rusty lächelte, und Alice fuhr fort: »Wenn du deine Übungen wieder 84 aufnehmen willst... ich meine, wenn du magst, kannst du abends gern mal vorbeikommen.« Rusty strahlte. »Das wäre toll. Sehr gern!« Als er diesmal auf seinen Balkon zurücksprang, landete er auf den Füßen. Das Reich der Träume Der Reisende Vergnügungspark der Brüder Constanzas hatte sein Lager auf einer Brache am Dorfrand aufgeschlagen. Das Geschäft der Brüder hatte einen eher bescheidenen Zuschnitt; darum gab es weder Plakate noch Handzettel, und bis zum Auftauchen der farbenfroh gestrichenen Fuhrwerke hatte niemand im Dorf von der bevorstehenden Ankunft erfahren. Zwei Tage später waren ein großes und ein mittleres Zelt errichtet, und die Schausteller hatten Schiffschaukeln und ein von Hand betriebenes Karussell aufgebaut, dazu ein paar weitere kleine Fahrgeschäfte sowie - in verschiedenem Abstand - einige Zielscheiben für den Auftritt der Bogenschützen. Zunächst war recht wenig los gewesen, aber zum Wochenende hatte der Betrieb zugenommen. Ein paar Schulkinder waren am späten Nachmittag gekommen, um Schiffschaukeln und andere Attraktionen auszuprobieren, und etwas später waren ihre älteren Geschwister anspaziert, um mit Pfeil und Bogen ihr Glück zu versuchen. Inzwischen war es früher Abend, und ein paar Erwachsene schlenderten nach den Geschäften des Tages über den Platz, um zu sehen, ob sie den Attraktionen etwas abgewinnen konnten. Zu dieser kleinen Schar gehörte auch Evie Täte. Sie 85 war für diese Woche mit Nähen und Flicken fertig, hatte den letzten Stoß ausgebesserter Kleidung abgeliefert und vertrieb sich nun die öde Stunde bis zum Öffnen des Wirtshauses. Evie verbrachte den Großteil ihrer Freizeit auf einem Hocker an der Ecke des Tresens. Im Allgemeinen zog es sie nicht gerade nach Hause zu ihrem missmutigen Mann und den kreischenden Kindern, und sie hatte entdeckt, dass das Wirtshaus die beste Alternative war. Normalerweise blieb sie an der Bar, bis der Wirt keine Lust mehr hatte, etwas auszuschenken, und die Nachzügler schließlich unter Drohungen oder sogar mit Gewalt rauswarf. Oft kam sie auf allen vieren nach Hause, und manchmal erwachte sie im Morgengrauen nach einigen sehr ungemütlich auf der Türschwelle verbrachten Stunden. Heute Abend hingegen lag all das noch vor ihr, und für den Moment war sie vollauf damit zufrieden, zwischen Buden und Fahrgeschäften herumzustreifen, bis die Zeit gekommen war, ins Wirtshaus zu gehen. Gedankenverloren beobachtete sie zwei Mädchen, die auf der Schiffschaukel vor und zurück schwangen. Mit ihren kleinen Händen hatten sie die mit Federbüscheln geschmückten Seile gepackt, und ihre Begeisterungsschreie drangen wie Pfeile durch die Luft. Dann wandte Evie sich dem Karussell zu, an dem oben die Worte »VERGNÜGUNGSPARK DER BRÜDER CONSTANZAS« umliefen, und zwar gegen den Uhrzeigersinn. Ein paar Kinder hielten sich mit etwas Mühe auf den knallbunt gestrichenen hölzernen Hunden und Hähnchen im Gleichgewicht, während ein paar Mütter mit Babys sicher in einer reich vergoldeten Kutsche saßen. Evies Blick ruhte kurz auf dem dunkelhaarigen jungen Mann, der kurbelnd in der Mitte des Karussells stand und dessen
nackter, schweiß86 überströmter Oberkörper periodisch im Sonnenlicht aufglänzte, das durch die zerfetzte Markise fiel. Wehmütig lächelnd wandte sie sich ab, hielt inne, um die halbwüchsigen Jungen und Mädchen zu beobachten, die bei den Schießscheiben herumlungerten, sah sich dann aber plötzlich inmitten von Leuten, die zu der kleinen Budengasse mit Nebenattraktionen drängten. Evie ließ sich im Strom dieser Besucher treiben und gewann rasch den Eindruck, die Buden hier seien für jemanden wie sie — also für Leute etwas reiferen Alters - vielleicht interessanter. Ein kleiner Auflauf hatte sich bei der ersten Bude gebildet, vor der eine recht wacklig aussehende Bühne stand, auf der ein dicker Clown quälend unmusikalisch eine kleine Trommel rührte. Als Evie ankam, beendete er seinen Auftritt gerade mit einem unangenehmen Trommelwirbel und verließ die Bühne, um einem imposant aussehenden Mann mit Schnurrbart Platz zu machen, der einen ramponierten Zylinder und einen schäbigen Gehrock trug. Die Gestalt hielt einen Moment inne, um so die gebannte Aufmerksamkeit der Menge auf sich zu ziehen, räusperte sich vernehmlich und legte los. »Meine Damen und Herren, liebe Jungen und Mädchen«, begann er dröhnend. »Ich bin Andrew Constanzas, Ihr untertänigster Diener. Meine Brüder und ich heißen Sie in unserem Reisenden Vergnügungspark willkommen. Sicher haben Sie schon das faszinierende Große Karussell ausprobiert und das Geschick der meisterhaften Bogenschützen bewundert.« Aus der Menge hinter Evie drang ein Kichern, das der Clown sofort mit einem giftigen Blick erstickte. »Sie haben die Schiffschaukeln und das Kettenkarussell gesehen und wer87 den mir sicher Recht geben, wenn ich sage: Den Constanzas kann in puncto Vergnügungsparks niemand das Wasser reichen.« Wieder war ein Kichern zu hören. »Doch heute haben wir die Ehre, die große Ehre, eine Attraktion zu präsentieren, die konkurrenzlos ist und zwischen Himmel und Erde nicht ihresgleichen hat. Was wir heute zeigen, ist absolut einmalig, meine Damen und Herren. Was wir hier präsentieren, ist im ganzen Königreich einzigartig.« Ein paar Zuschauer - auch Evie - runzelten die Stirn, doch diesmal gab es kein Gekicher. »Die Brüder Constanzas haben die wirklich große Ehre...« - er machte eine theatralische Pause - »... Madame Nina und ihr Reich der Träume zu präsentieren.« An dieser Stelle trat zu einem weiteren Trommelwirbel eine kräftig gebaute Frau in türkisfarbenem Kleid, das ein wenig zu lang war, und einem mit Federn besetzten Turban, der ein wenig zu klein war, aus dem Zelt auf die Bühne und begrüßte die Menge mit einer gestelzten Verbeugung. »Madame Nina ist aus der größten Stadt des Landes zu uns gekommen«, fuhr Andrew Constanzas fort. »Dort war sie beim mächtigsten Ratgeber im Gefolge des alten Königs in der Lehre; dort hat sie die geheimnisvollste aller Kommunikationskünste erlernt; von dort ist sie, meine Damen und Herren, zur Zeit der Großen Umstrukturierung durch König Matthew geflohen. Bei ihrer Flucht, hochgeschätztes Publikum, konnte sie nur mitnehmen, was sie am Leibe trug. Nur ihre Kleider... ihre Kleider und... die Geheimnisse des Reichs der Träume.« Jetzt hatte er die Menge in Bann geschlagen. »Doch mehr sage ich nicht. Wer könnte das Reich der Träume besser vorstellen als... Madame Nina selbst!« 88 Der Clown rührte erneut die Trommel. Andrew Constanzas trat beiseite, und Madame Nina schritt an den Bühnenrand. Ein paar Augenblicke musterte sie die Menge mit einer Miene, die von zeitloser Weisheit zeugte. Inzwischen kicherte niemand mehr. »Ich betrachte Ihre Gesichter«, begann Madame Nina mit einer Stimme, die die Zuschauer zu liebkosen schien, »und was sehe ich darin? Was, meine Damen und Herren, sehe ich darin? Etwa Glück und Zufriedenheit, hochgeschätztes Publikum? Nein, davon sehe ich nichts. Sehe ich Erfüllung, meine Damen und Herren? Oder Freude? Nein, auch davon sehe ich nichts.« Ein leises, unzufriedenes Gemurmel erhob sich in der Menge. »Was sehe ich also in Ihren Mienen, meine Damen und Herren? Weiß jemand von Ihnen, was ich sehe?« Sie hielt inne, als erwartete sie, jemand werde eine Antwort wagen, doch das tat keiner. »Ich sehe Traurigkeit, meine Damen und Herren. Kummer sehe ich, Elend und Erbärmlichkeit. Und während ich all dies sehe, hochgeschätztes Publikum, frage ich mich: Haben diese Leute beschlossen, so zu leben? Sicher nicht, sage ich mir, ganz bestimmt nicht, denn sie sind nett und anständig und verdienen es, glücklich zu sein - und nur das ist es ja, was sie wollen. Doch sie haben nicht, was sie sich wünschen. Und warum nicht, meine Damen und Herren? Warum haben diese anständigen, netten Leute nicht, was sie sich wünschen und was sie verdienen? Ich will es Ihnen sagen, meine Damen und Herren.« Diesmal sprach sie ohne Pause weiter, und ihre Stimme wurde immer heller. »Diese anständigen, netten Leute haben nicht, was sie verdienen, weil ihnen etwas im Weg steht.« Es herrschte erwartungsvolle Stille. »Ich wiederhole, meine Damen und Herren: Sie haben nicht, was 89 Sie verdienen, weil Ihnen etwas im Weg steht. Bei jedem von Ihnen mag es etwas anderes sein, aber das ist egal. Ich kann Ihnen allen helfen, meine Damen und Herren, jedem Einzelnen. Und ich will Ihnen sagen, wie Sie bekommen können, was Sie wollen, meine Damen und Herren. Ich will Ihnen sagen, wie Sie bekommen können, was Sie verdienen. Es ist ein Kinderspiel: Sie müssen herausbekommen, was Ihnen im Weg steht, und Sie müssen es zerstören.«
Madame Ninas Stimme hatte sich allmählich von verführerischem Murmeln zu schrillem Kreischen hochgeschraubt, doch in der Totenstille, die nun folgte, ließ sie die Stimme wieder fallen, sodass sie nur gerade eben noch zu hören war. »Und in den Grenzen des Reichs der Träume, meine Damen und Herren, können Sie genau das tun. In diesen Grenzen können Sie Ihre tiefste Sehnsucht ausfindig machen und vor Ihnen aufglänzen sehen, und einen Moment lang können Sie diese Sehnsucht sogar zu leben beginnen. Und dann, meine Damen und Herren, können Sie in den Grenzen des Reichs der Träume das schreckliche Ding finden, das Ihnen im Weg steht, und Sie können es zerstören - ja, Sie können das furchtbare Ding zerstören, und dann können Sie erreichen, wonach Sie sich am meisten sehnen.« Ein Murmeln ging durch die Menge. Madame Nina wandte sich ab und ging zum Zelteingang. Im letzten Moment erst fuhr sie unvermittelt wieder zu den Zuschauern herum und rief mit schrecklicher Stimme: »Also — wer fängt an?« Wie gebannt bewegte Evie sich vorwärts, drängte sich durch die Menge, erklomm die Bühne und schlüpfte durch einen Vorhang ins Zelt. 90 Drinnen war es dunkel, und ein schweres, ungemein süßes Aroma hing in der Luft, das Evie in der Nase stach, ihre Kehle wie mit einem Film überzog und ihr Bewusstsein benebelte. Sie konnte Madame Nina nicht sehen, hörte aber ihre Stimme, die nicht mehr kreischte, sondern wieder liebkosend war. »Wie heißt du, mein Kind?« »Evie, Madame. Evie Täte.« »Schön, Evie Täte. Tritt einen Schritt vor und sieh, was es zu sehen gibt.« Mit einer leichten Handberührung am Ellbogen wollte Madame Nina ihre Besucherin dazu bringen, vorzutreten, doch die bewegte sich nicht. »Hast du Angst, Evie?« »Ein bisschen, Madame.« »Das brauchst du wirklich nicht, mein Kind. Nun tritt vor.« Ein muffig riechender Samtvorhang strich Evie über die Wangen. Unsichtbare Hände zogen ihn beiseite, und sie spürte, dass ihr Kopf unter eine Art Metallhaube gedrückt wurde, die ihre Augen abschirmte und ihre Ohren bedeckte; und sie merkte, dass sie mit den Händen zwei kühle, glatte, senkrechte Griffe umklammerte, die sich anfühlten, als seien sie mit einer summenden Maschine verbunden. »Hab keine Angst, Evie«, fuhr die Stimme gedämpft, aber gut hörbar fort. »Spitz die Ohren, sieh genau hin und achte darauf, was du in den Händen spürst. Also - wonach sehnst du dich, mein Kind? Wonach sehnst du dich wirklich?« Ein verschwommener gelber Lichtpunkt tauchte langsam mitten in Evies Blickfeld auf, und sie konnte ein undeutliches Murmeln hören. Plötzlich atmete sie den 91 durchdringenden Geruch von Bier ein, hörte die beruhigenden Stimmen ihrer Zechkumpane und spürte den Hocker am Ende des Tresens vertraut an ihrem Hintern. Sie entspannte sich und begann, tiefe Zufriedenheit zu empfinden. »Ist es das, was du willst, Evie?« Sie nickte kaum sichtbar. »Bist du hier glücklich, Evie?« Sie nickte erneut, diesmal schon unsicherer. »Sieh genauer hin, Evie. Schau dir an, was dahintersteckt.« Plötzlich verwandelte sich das Bild. Kalte Herdasche war zu sehen. Martin saß verzweifelt in der Küche und starrte niedergeschlagen in die leere Pfanne. Dann hörte sie ihre Kinder nach der Mutter schreien und sah den leeren Stuhl am Tisch. Sie spürte ein plötzliches Frösteln, denn das war ja ihr Platz — der Stuhl, auf dem sie jetzt sitzen sollte. Unwillkürlich umklammerte sie die beiden Griffe fester. Das Bild flackerte vor ihren Augen. »Langsam, mein Kind, langsam. Das, wonach du dich am meisten sehnst, ist nicht aus der Welt.« Evie entspannte sich, und plötzlich wurde das Bild wieder scharf. Diesmal war die Szene in warmes Licht getaucht, und die ganze Familie saß gut gelaunt am Tisch, lachte und wollte mit dem Essen beginnen... »Das ist es also, wonach du dich im Grunde deines Herzens sehnst, mein Kind. Und nun sieh dir an, wie klein das ist, was der Erfüllung deiner Sehnsucht im Wege steht.« Nun war sie wieder im Wirtshaus, doch diesmal war das Bier schal und das Licht kalt und grau, und das ungehobelte Gerede vieler Stimmen hallte ihr höhnisch ins Ohr. Eine mächtige Woge des Hasses stieg in ihr auf. 92 Unvermittelt zersprang das Bild vor ihren Augen mit grellem Missklang in tausend Stücke, und plötzlich war sie wieder vor dem Zelt. Binnen Augenblicken hatte sie ihre Verwirrung überwunden und wusste, was sie zu tun hatte. Mit schnellen Schritten verließ sie den Vergnügungspark. Die Türen des Wirtshauses waren geöffnet, doch sie achtete nicht darauf. Ohne einen Schritt vom Weg zu tun, lief sie nach Hause und in die Küche, küsste den erstaunten Martin und hetzte zum Herd, um den Kindern Tee zu kochen. Im Vergnügungspark betrat derweil der nächste Kunde Madame Ninas Zelt.
»Wie hat dein Vater die Gedichte entdeckt?« Ich habe wohl schon erwähnt, dass ich schließlich von meinem Vater getrennt wurde. Man könnte vermutlich zutreffender sagen, er wurde von mir getrennt - jedenfalls wurde er eher weggebracht als ich. Darauf komme ich später zurück. Obwohl es viele Jahre dauern sollte, bis ich meinen Vater wieder sah, habe ich nie vergessen, was er mir angetan hat. Wir lebten in einem einsamen Haus an der Küste. Ich schätze, nur deshalb hat mein Vater so lange tun können, was er getan hat. Wir bekamen nie Besuch, und wenn es nicht zu Mrs Crabb ging, hab ich das Haus kaum verlassen. Die Dorfbewohner blieben weitgehend unter sich; wenn mich mal jemand bemerkte, achtete er nicht weiter auf mich. Ich nehme an, das wäre immer so weitergegangen, wenn die Milizsoldaten der Hauptstadt 93 in jenem Jahr nicht in unserem Dorf ihren Sporttag abgehalten hätten. Nein, ich glaube nicht, dass ich es darauf angelegt habe, gerettet zu werden, jedenfalls nicht bewusst. Aber irgendwie schien alles zusammengekommen zu sein, damit gerade das geschah. Ich versuche mal, mich genau an die Ereignisse jenes Tages zu erinnern. Jetzt fällt es mir wieder ein: Eigentlich hat es schon am Abend zuvor angefangen! Ich hab dir erzählt, mein Vater hat mich nur ein einziges Mal geschlagen. Das war am Vorabend des Sporttags der Stadtmiliz, als er meine Gedichte fand. Am Nachmittag hatte er irgendwo im Dorf zu tun. Das sah ich daran, dass seine Werkzeugtasche nicht neben der Tür stand. Obwohl es in der Küche keine Uhr gab, wusste ich, wann er zu erwarten war, denn im Dorf schlug eine Kirchturmuhr die Stunden, und er kehrte immer um die gleiche Zeit heim, weil er kurz vor Ladenschluss beim Pastetenbäcker vorbei sah, um ein paar Reste zum Abendbrot abzustauben. Nur wenn es regnete, kam er früher zurück, und an jenem Tag regnete es nicht. Deshalb nahm ich an, ich hätte Zeit genug, in Ruhe an meinen Gedichten zu arbeiten. Wie auch immer, ich saß unterm Tisch und kämpfte mit ein paar Zeilen, während die übrigen Blätter auf dem Boden verteilt waren, als die Tür plötzlich mit Schwung aufging und mein Vater ins Haus gestürmt kam. Ich hatte keine Chance, mein Tun zu verbergen, und kaum hatte er mich erblickt, kniete er schon am Boden und schnappte sich meine Zettel, um zu sehen, was darauf stand. Als er begriffen hatte, was ich da trieb, begann er zu toben, brüllte immer wieder »Was ist denn das? Was soll das denn sein?« und zerknüllte die Blätter in seinen großen Fäusten. Ich glaube nicht, dass er eine Antwort erwartete, denn als ich etwas sagen wollte, brüllte er einfach weiter, ich sei undankbar, er habe versucht, mir einen anständigen Beruf beizubringen, und das sei nun der Lohn. Ich verstand nicht, warum die Gedichte ihn so wütend machten, und versuchte so weit wie möglich wegzukriechen, doch er zog mich an der Kette zu sich heran. Da ich sie um den Hals hatte, blieb mir keine Wahl. Dann verpasste er mir mit der freien Hand ein paar Ohrfeigen, keuchte dabei und war knallrot im Gesicht. Ich hatte schreckliche Angst. Dann stieß er mich plötzlich zu Boden, stand auf und schrie ein paar Mal »Du dreckige kleine Bestie«. Danach schien er etwas ruhiger, ging zur Werkzeugtasche, nahm eine Pastete heraus und warf mir ein Stück davon zu. Ich erinnere mich, dass sie noch warm war. Bis dahin hatte ich längst gelernt, nicht zu weinen, und nach einer Weile bemerkte er mich gar nicht mehr. Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich die Augen öffnete, war es Morgen, und seine Werkzeugtasche war verschwunden. Klar, dass ich in einem schlimmen Zustand war: Irgendwann musste ich mir in die Hose gemacht haben, denn sie stank; auf dem Boden war Blut zu sehen, doch ich wusste nicht, aus welcher Wunde es stammte; natürlich tat mein Gesicht von den Schlägen weh, mein Hals war von der Kette wund, und vermutlich hatte ich am ganzen Leib blaue Flecken. Aber ich konnte mich kaum säubern, denn ich war ja noch immer ans Tischbein gekettet. Dann hörte ich draußen Lärm. Ich weiß nicht genau, wie alt ich damals war - vielleicht acht oder neun. Ich war schon recht groß und hager und vermutlich ein ziemlich unschönes Kind mit fahler Haut und strähnigem dunklem Haar, das immer wirkte, als müsste es ge95 schnitten werden. Aber egal, ich hatte herausgefunden, dass ich bei meiner Größe durchs Fenster gerade eben die Küste sehen konnte, wenn ich die Kette ganz straff zog und mich aufrichtete. Das Erste, was ich nun erblickte, war das Zelt; dann war da eine Reihe Fahnen, und dann gab es zwanzig oder dreißig Männer in gestreiften Badeanzügen, die um die Wette rannten, über Stangen sprangen, jubelten und einander auf die Schulter klopften. Später erfuhr ich, dass es Milizsoldaten aus der Stadt waren, die ihren Sporttag abhielten, doch damals konnte ich nur eine Menge Leute sehen, die sich amüsierten. Ich wollte unbedingt haben, was sie hatten, und rief nach ihnen, aber das Fenster war natürlich zu, und sie hätten mich ohnehin nicht gehört, weil sie viel Lärm machten. Dann hab ich mich gefragt, ob ich mich von der Kette befreien und runter zum Strand laufen könnte, und kam auf den Gedanken, ich müsste doch eigentlich nur den Tisch umkippen, um die Kette vom Tischbein zu ziehen und aus dem Haus zu kommen. Warum ich nicht schon früher zu fliehen versucht habe? Gute Frage! Ich nehme an, ich bin nie auf den Gedanken gekommen, es gäbe da draußen etwas, wohin zu fliehen sich lohnen würde. Und auf merkwürdige Weise war ich ja bis zu dem Abend, an dem mein Vater die Gedichte gefunden hatte, nicht wirklich unglücklich gewesen. Jetzt aber hatte ich einen flüchtigen Blick in eine andere Welt werfen können - eine Welt, in der die Menschen das Leben genossen. Ich dagegen steckte im Haus fest, hatte Schmerzen, war dreckig und fühlte mich elend. Plötzlich wollte ich meine Freiheit mehr als je etwas zuvor. Also kroch ich wieder unter den Tisch und
versuchte, ihn mit den Händen anzuheben, doch er be96 wegte sich nicht, weil er so schwer war und ich, obwohl ziemlich groß geworden, fast keine Kraft hatte. Dann aber erinnerte ich mich daran, dass ich meinen Vater mal eine schwere Truhe mit der Schulter hatte schieben sehen. Also richtete ich mich auf und spürte gleich, dass der Tisch sich ein wenig bewegte. Da wusste ich, dass ich es schaffen konnte, und in meiner Brust schien etwas zu explodieren. Es war, als würden aller Zorn und aller Hass, die in mir schlummerten, wach und als ließe diese Wut den Tisch durchs Zimmer schleudern und entzweibrechen. Dann humpelte ich zum Strand hinunter, und die Kette schleifte hinter mir her. Ich schrie um Hilfe, und die Milizsoldaten unterbrachen ihr Spiel. Ein Halbrund großer Gesichter starrte mich an. Einer hob mich hoch und fragte: »Wer hat dir das angetan, mein Junge?« Da endlich begann ich zu weinen. Während die Männer viel Wirbel um mich machten, kam - das weiß ich noch genau - mein Vater den Kieselstrand entlang, und zwei Milizsoldaten gingen auf ihn zu und fragten: »Ist das Ihr Sohn, Sir?« In diesem Moment habe ich den Kopf abgewandt und meinen Vater dann etwa dreißig Jahre lang nicht mehr gesehen. Das Seil und die Leiter »Miss Garamond? Ja, die ist in ihrem Büro. Kann sein, dass Sie ein paar Minuten zu ihr rein dürfen; vorhin schien sie recht gut gelaunt - oberste Treppe links. Der Nächste, bitte.« 97 Rusty schlug den Weg ein, den der Pförtner ihm beschrieben hatte, nahm mit jedem Schritt zwei Stufen und stand kurz darauf vor einer schäbigen Holztür, in die auf Augenhöhe ein kleines Fenster eingelassen war. Drinnen konnte er eine stattliche, grimmig wirkende Frau mittleren Alters erkennen, die eine große Brille trug. Sie saß in einer Rauchwolke hinter ihrem Schreibtisch, auf dem wild durcheinander Unterlagen, Bücher und Schriftrollen gestapelt waren. Zwar schien sie in ihre Arbeit vertieft, sah aber sofort hoch, als Rusty zögernd an die Scheibe klopfte. »Kommen Sie rein - schließlich kann ich nicht den ganzen Tag rotieren.« Rusty vermochte keinen Hinweis darauf zu entdecken, dass sie gut gelaunt war. Er schob sich vorsichtig durch die Tür. »Setzen Sie sich auf Ihre vier Buchstaben und sagen Sie mir, warum Sie hier sind. Suchen Sie sich einfach einen Stuhl aus und werfen Sie das Zeug auf den Boden. Zigarette?« »Nein danke.« Rusty rückte einen Stuhl in Miss Garamonds Blickrichtung und ließ sich unsicher auf der Kante nieder. Es entstand ein unbehagliches Schweigen, während sie ihn von oben bis unten musterte. »Hübsche Jacke«, meinte sie schließlich, und ihr Ton klang etwas milder als zuvor. »Die Frisur ist auch ganz anständig. Sieht aus wie von Paul.« »Von Paul Catalano? Ja, ich wohne direkt neben ihm. Er hat mir beim Einzug sehr geholfen.« »Das glaube ich sofort. Also, Herr Rotes-Haar-und-Lederjacke, was kann die Chefredaktion für Sie tun?« Rusty entspannte sich ein wenig. »Na ja, ich suche Arbeit und habe gehört, demnächst sollen im König98 liehen Anzeiger auch Bilder gedruckt werden. Ich kann ein wenig zeichnen...« »Haben Sie Arbeitsproben dabei?« »Nein... ich war an der Akademie für Kartografie, habe aber keinen Abschluss...« »Kartografie? Interessant. Was wissen Sie über den Anzeiger!« »Äh...« Ehe Rusty sich eine Antwort zurechtgelegt hatte, unterbrach sie ihn schon wieder. »Aber ich kann natürlich keine Karten veröffentlichen, denn die Bruderschaft der Kartografen hält ihre Sachen geheim, wie Sie bestimmt wissen. Obendrein sind sie durch die >Alte und unverbrüchliche Satzung< - oder so ähnlich - geschützt. Deshalb darf ohnehin nur die Bruderschaft Karten veröffentlichen und mein armer alter Anzeiger sicher nicht. Allerdings möchte ich künftig ein paar unserer Geschichten mit kleinen Illustrationen versehen, mit Porträts und Landschaften vielleicht. Sie können nicht zufällig Porträts anfertigen?« »Ich hab's nie probiert. Ich schätze, Landschaften sind eher was für mich.« »Das hab ich mir schon gedacht.« Miss Garamond blies eine lange Rauchfahne zur Decke hoch und fuhr dann fort: »Ich muss zugeben, dass mir vor allem Porträts vorschweben. Aber ein paar kleine Landschaftsbilder wären auch ganz hübsch. Und Stadtansichten natürlich, die bedeutende Gebäude oder spektakuläre Verbrechen zeigen. Die Wolfsjungen sind ja wieder unterwegs - da ließe sich vielleicht was machen. Und zur Abwechslung ein, zwei pittoreske Ansichten vom Lande.« »Die kann ich problemlos liefern. Ich bin auf dem 99 Dorf groß geworden und hab die Gegend ringsum oft skizziert.« »Ja.« Jetzt lächelte Miss Garamond, zündete sich erneut eine Zigarette an und zog den Rauch tief ein. »Ich hab mir gedacht, dass Sie nicht aus der Stadt kommen. Na schön, ich sag Ihnen, was ich tun werde, Mister... Wie heißen Sie eigentlich?« »Brown, Michael Brown.« Miss Garamond nickte. »Gut, Mr Brown. Gehen Sie runter, sprechen Sie mit den Leuten an der Pforte und sagen Sie ihnen, ich habe Sie
geschickt. Bringen Sie in Erfahrung, welche Geschichten wir diesen Monat drucken, und ziehen Sie dann mit Ihren Bleistiften oder Buntstiften oder womit auch immer los, und liefern Sie Ihre Sachen bis Mittwochabend ab. Ich zahle für alles, was wir drucken. Und ich überlege mir dann einen Honorarsatz für Sie. Zigarette?« »Nein danke, ich rauche ni...« »Natürlich nicht.« Miss Garamond schob die Brille zurecht, sah wieder auf ihre Papiere hinunter, blickte noch mal kurz auf und überraschte Rusty mit einem etwas anzüglichen Grinsen. »Dann mal los, Mr Brown. Schauen wir mal, aus welchem Holz Sie geschnitzt sind.« In Rustys schwindender Reserve war noch genug Geld, um sich mit einem Block Zeichenpapier und ein paar Bleistiften des Härtegrades 2B auszurüsten. Seine ersten Skizzen zeigten, wie von der Redaktion gewünscht, einige Gesamtansichten des Königspalasts, die er auf dem südlichen Abschnitt der Ringstraße aus verschiedenen Blickwinkeln angefertigt hatte. Eine Zeichnung zeigte im Vordergrund das Wachhäuschen; auf einer an100 deren flatterte eine Reihe Signalflaggen stolz im Hintergrund. Obwohl seine Handgelenke und Finger in den zwei Jahren, seit er das letzte Mal etwas gezeichnet hatte, an Gelenkigkeit verloren zu haben schienen, war er mit seinen Ergebnissen dennoch recht zufrieden. Der geraden Linien und rechten Winkel müde geworden, schlenderte er um den Palast herum zur Rückseite und warf mit ein paar Strichen die Straße der Bettler aufs Papier, und zwar aus der Froschperspektive. Den Vordergrund dominierte also Kopfsteinpflaster, während die Gasse sich weiter hinten ihrem Fluchtpunkt entgegenwand. Weil es ihm irgendwie selbstverständlich schien, saß er später auf dem Balkon seiner Wohnung und zeichnete eine detaillierte Luftansicht der Stadt - das Straßennetz, in das die Ruinen der Stadtmauer und die breite Durchgangsstraße Richtung Norden einschnitten; die Spitzen der Westvorstadt, die in der Ferne aufragten. Er stellte sich vor, wie die Stadt aus der Perspektive eines hoch oben in der Luft stehenden Turmfalken aussehen mochte... »Was machst du da?« Alices Stimme mit dem leichten Akzent störte ihn aus seiner Versenkung auf. »Hallo Alice, wie geht's? Stell dir vor, ich glaube, Miss Garamond gibt mir Arbeit. Ich zeichne gerade den Blick vom Balkon. Magst du mal sehen?« »Gern. Komm doch auf einen Tee zu mir.« »Sie können wirklich zeichnen, das muss ich Ihnen lassen«, sagte Miss Garamond, als sie ein paar Tage später Rustys Arbeit begutachtete. »Das hier kann ich auf jeden Fall brauchen, die da auch... bei dem da bin ich mir allerdings nicht so sicher.« Sie sah stirnrunzelnd 101 über ihre Brille hinweg auf die Luftansicht der Stadt. »Es ist natürlich gut, sehr gut sogar, missverstehen Sie mich da nicht. Aber so, wie es den Verlauf der Straßen zeigt... offen gesagt sieht das schon ein klein wenig nach einer Karte aus. Und da die Dinge in diesem Bereich etwas heikel sind, möchte ich mir nicht vorwerfen lassen, der Bruderschaft der Kartografen auf den Zeh getreten zu sein. Ich sag Ihnen, was ich tun werde: Ich nehme diese drei Zeichnungen hier und werde mir alles, was Sie künftig abliefern, ansehen. Aber keine Luftansichten mehr, klar? Lassen Sie Ihre Staffelei hübsch am Boden - dann kommen wir gut miteinander aus. Zigarette? Ach nein, Sie rauchen nicht, stimmt's?« Miss Garamond hielt inne, um sich erneut eine anzustecken. Nach ein paar nachdenklichen Zügen begann sie, zerstreut in dem Durcheinander auf ihrem Schreibtisch zu kramen, fand schließlich einen Fetzen leeres Pergament und kritzelte eine Notiz darauf. »Gut, Mr Brown.« Sie drückte ihm den Zettel in die Hand. »Wenn Sie den an der Kasse abgeben, bekommen Sie Ihr Honorar ausgezahlt. Und jetzt heben Sie Ihren Hintern vom Stuhl, gehen Sie und zeichnen Sie mir neue Bilder.« In den nächsten Wochen gewöhnte Rusty sich einen regelmäßigen Arbeits- und Schlafrhythmus an. Am ersten Donnerstag jedes Monats meldete er sich bei der Chefredakteurin, um seine Anweisungen zu empfangen, und am letzten Mittwoch kam er spät nachmittags zurück, um seine Zeichnungen abzuliefern. Danach holte er sich je nachdem, wie viele Bilder Miss Garamond drucken wollte - mal einen größeren, mal einen kleineren Geldbetrag ab. Indem er sich von Bauwerk zu Bau102 werk durch die Stadt arbeitete, begann er langsam, den Verlauf der Straßen aus anderer Perspektive neu zu entdecken: die vier Hauptdurchgangsstraßen; den unverwechselbaren Baustil der Geschäftsviertel und der Industriegebiete; die umliegenden Hafenanlagen und Vorstädte; ein paar Mal auch die schauerliche Einöde der völlig heruntergekommenen Unterstadt. Gelegentlich glaubte er, flüchtig verdächtige Banden der Wolfsjungen gesehen zu haben, hielt aber sorgfältig Distanz zu ihnen. Obwohl die Chefredakteurin ihm signalisiert hatte, der Anzeiger werde die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel und Droschken erstatten, die ihm bei beruflichen Fahrten entstehen würden, zog Rusty es meist vor, zu Fuß unterwegs zu sein, und griff nur dann auf einen fahrbaren Untersatz zurück, wenn die Zeit drängte oder die Umstände es erforderten. Er wurde eine anerkannte Figur in der Redaktion und merkte nach einiger Zeit, dass Miss Garamond ihn nicht jedes Mal persönlich sehen musste, obwohl sie offenbar stets ein freundliches Wort für ihn hatte. Als er einmal arglos über den Flur ging, wurde er plötzlich im Spaß von hinten attackiert, und zwei Hände fuhren ihm seitlich in den Haarschopf.
»Mr Brown, stimmt's?« Rusty erkannte die Stimme sofort. »Ich glaube, da sollte einer mal wieder bei seinem Freund, dem Friseur, vorbeischauen...« Obwohl Rusty den Wink mit dem Zaunpfahl verstand und Paul Catalano für einen längst fälligen Haarschnitt besuchte, war es seine andere Nachbarin, die ihn immer mehr beschäftigte. Er hatte Alices Angebot angenommen, ihm ihre Übungsfolge beizubringen, und ging jeden Mittwochabend zu ihr. Normalerweise war Rusty 103 als Erster zu Hause und wartete oben auf seiner Strickleiter, bis er Alice - gekleidet ins triste Grau der königlichen Kanzlei - unten ankommen sah. Alice verschmähte den Luxus einer Leiter und zog es vor, ein einfaches Seil hinauf- und hinunter zuklettern, was sie geschickt und beeindruckend flink tat. Wenn sie im fünften Stock ankam, verschwand sie in ihrer Wohnung, um sich ihr schwarzes Sporttrikot anzuziehen, während Rusty in seinem Schlafzimmer in alte, geflickte Shorts, ein abgetragenes Trikothemd und ein Paar dicke graue Socken schlüpfte, die schon sehr mitgenommen waren, aber irgendwie alle Umwälzungen der letzten Jahre überstanden hatten. Dann sprang er über die Lücke zwischen den Baikonen, und die beiden stellten sich am Rand der komplizierten, gitterartigen Zeichnung auf dem Fußboden einander gegenüber, um sich durch das zu arbeiten, was Alice »das Grundmuster« nannte. Rusty fand diese Übung anstrengend genug, hockte sich am Ende der zwanzig Minuten erschöpft auf den Boden und sah bewundernd zu, wie Alice mit ihren anspruchsvolleren Übungen fortfuhr. Während dieser Zeit schien ihr Bewusstsein an einem entlegenen, unzugänglichen Ort zu weilen - einem Ort, von dem Rusty bisher nur flüchtigste Umrisse hatte erkennen können. Erst wenn sie ihre Übungsfolge beendet hatte, nahm Alice ihren Besucher wieder wahr. »Das war das Muster der Möwe«, erklärte sie eines Abends, als sie es sich nach einer besonders Schwindel erregenden Abfolge von Loopings und Spiralen auf dem Fußboden bequem machte. »Eines Tages wirst du das auch lernen, da bin ich mir sicher. Aber für heute reicht es. Magst du mich jetzt zum Essen einladen?« Alice hatte ihm eine große, laute Taverne mit hohen 104 Decken schmackhaft gemacht, die gleich beim Markt um die Ecke lag und wo es eine sehr annehmbare Auswahl an Eintöpfen und Pasteten und ein überaus anheimelndes Kaminfeuer gab. Gestärkt und ausgeruht spazierten sie hinterher normalerweise noch um den Block, ehe sich jeder in die eigene Wohnung zurückzog. Eines Abends aber erstreckte sich ihr Spaziergang wie von selbst weiter als üblich. Sie querten die hellen Stellen und dunklen Flecken zwischen den hohen Wohnbauten, gingen längs der Kais am murmelnden Fluss entlang und schlenderten irgendwann untergehakt bis ans Ende des alten Holzanlegers, von dem tagsüber die Fähre ans andere Ufer fuhr. Während das Wasser unter ihnen plätscherte, küssten sie sich erst vorsichtig, dann leidenschaftlich. Schließlich riss Alice sich los und trat einen Schritt zurück. »Komm«, lachte sie und hakte sich wieder bei ihm ein. »Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.« Als sie an ihrem Wohnblock anlangten, schnappte sie sich ihr Seil und antwortete dann indirekt auf Rustys unausgesprochene Frage. »Ich glaube, deine Leiter ist da drüben. Aber... das war ein sehr schöner Abend, Rusty. Lass ihn uns bald wiederholen.« Mit diesen Worten verschwand sie das Seil hinauf zu ihrem Balkon. 105 Die dunkle Substanz Kaum war der letzte Kunde in der Dämmerung verschwunden, schloss Madame Nina den Zelteingang zum Reich der Träume, zog ihr schlecht sitzendes Gewand aus und warf es mit dem zu kleinen Turban auf einen Stuhl. Ohne Kostüm wirkte sie um einiges jünger, als sie ihre Besucher glauben machte. Sie war gut gebaut, bewegte sich forsch und hatte weiche, jungenhafte Gesichtszüge. Nachdem sie sich flüchtig durchs kurze, hochstehende Haar gefahren war, schaltete sie die Maschine aus, streckte sich einen Moment und machte sich dann daran, die Bude zu putzen. Sie löschte die beiden Räucherpfannen, fegte den Boden und zog die zerlumpten Samtvorhänge beiseite, die die Empathiemaschine vor den neugierigen Augen der Besucher verbargen. Dann setzte sie sich an den kleinen, zwischen Apparat und Generator gezwängten Tisch und zählte ihre Einnahmen. Es war mal wieder ein guter Tag gewesen, und sie malte sich ein paar Minuten aus, wie es wäre, künftig Hauptattraktion des Reisenden Vergnügungsparks der Brüder Constanzas zu sein. Sie dachte daran, mit welchen Worten Andrew Constanzas sie dem Publikum vorgestellt hatte - Worte, die wohl nicht in jeder Hinsicht völlig zutreffend gewesen waren. Sie bezweifelte zum Beispiel, dass ihr alter Freund Meister Pegasus die Dinge ähnlich gesehen hätte wie Andrew. Der frühere Besitzer der Empathiemaschine würde in ihr zweifellos eine Schwindlerin und Diebin erblickt haben, doch Nina tröstete sich damit, dass der Magier nie wirklich erkannt hatte, was in seiner Erfindung steckte, und dass nun wenigstens sie etwas 106 Positives zu Leuten brachte, die anders nie etwas davon mitbekommen hätten. Sie hatte sich anfangs nicht vorgestellt, dass sie ihr Gewerbe auf dem Jahrmarkt würde betreiben müssen, war Andrew und seinen Brüdern aber für die Möglichkeit dankbar, die sie ihr gegeben hatten.
Normalerweise dachte Nina nicht lange über das Schicksal der Kunden nach, deren Kupferstücke ihre Taschen füllten. Sie hielt sie für Narren, die dumm genug waren zu glauben, ihr Leben würde sich durch die paar Sekunden ändern, die sie durch ein billiges Okular gesehen hatten, aber wenn sie sich beim Verlassen der Bude besser fühlten als beim Betreten, war das doch wenigstens etwas. Die erste Frau des Tages zum Beispiel, diese Evie, war aus dem Zelt nach Hause gestürmt und hatte sich bestimmt vorgestellt, mit ihrem nichtsnutzigen Ehemann freudig einen Neuanfang machen zu können, doch Nina fragte sich, wie lange es ihr wohl gelingen würde, einen Bogen um die Taverne zu machen. Und die anderen - der Rabauke, der Spieler, der kleine Dieb? Wie schnell würden sich ihre guten Vorsätze in Luft auflösen, wenn sich die erste Euphorie gelegt hatte? Aber sie hatten ihr Zelt glücklich verlassen, und vielleicht war das alles, was sie realistischerweise erwarten konnte. Während Nina den Haufen Kleingeld in Etappen vom Tisch in die Hand strich und in der Rocktasche versenkte, verlagerte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Empathiemaschine. Widerwillig gestand sie sich ein, dass der Apparat begonnen hatte, ihr Probleme zu bereiten. Sie hatte zwar herausgefunden, wie sich seine Grundfunktionen steuern ließen, doch es gab immer noch Sachen, die sie nicht verstand. Die Bedienungsanleitung 107 war seit langem verlegt (wenn es je eine gegeben hatte), und sie musste selbst herausbekommen, wie das Gerät im Detail arbeitete. Zum Beispiel wäre es gut zu wissen, welche Knöpfe sie zu drücken hatte, damit die Maschine sich von selbst reinigte. Denn jetzt war es wieder Zeit, das aufwändige Putzen zu erledigen. Nina stand auf und legte ein paar Schalter am Generator um. Sekunden später sprang der Apparat summend wieder an. Sie schleppte einen Barhocker vor die Maschine, setzte den Kopfhörer auf, legte die Hände um die Griffe und sah blinzelnd durch das Okular. Nach ein paar kleinen Änderungen an den Griffen nahm das vertraute Bild Gestalt an. Nina stand in einem kleinen, leeren, sechseckigen Raum, der weder Fenster noch Türen hatte. Wände, Decke und Boden waren fleckig hellgrau, und das Licht schien diffus und fad von allen acht Oberflächen auszustrahlen. Sie wusste, dass diese Oberflächen eigentlich schneeweiß sein sollten, doch ihr war klar, dass sich bei regelmäßigem Betrieb der Maschine immer mehr Staub und Dreck ablagerte und den zunehmenden Grauschleier bewirkte. Würde sie den Raum nicht täglich putzen, dann würden die Wände so lange nachdunkeln, bis sie mattschwarz wurden und das Licht völlig ausschlössen. Das durfte auf keinen Fall geschehen - so viel war Nina klar, obwohl sie nicht genau wusste, warum. Sie drehte noch mal an den Reglern, und ein kleiner Metallspachtel kam von der Decke geschwebt. Resigniert nahm sie das Werkzeug und begann, die Ablagerungen erst von der Decke, dann von den Wänden zu kratzen, bis sie schließlich einen lockeren, etwa faustgroßen Haufen beisammen hatte. 108 Nina hatte den Eindruck, diese Ablagerungen bestünden aus all dem, was ihre Kunden zurückließen. Wenn sie in die Kabine traten, fühlten sie sich schlecht, doch wenn sie raus kamen, ging es ihnen gut. Daraus schloss Nina, dass die Substanz, die sie jeden Tag abkratzte, irgendwie aus den negativen Empfindungen ihrer Besucher bestand - wenn das denn möglich war. Es war eine Substanz, die sich nach Ninas Überzeugung in dem sechseckigen Raum nicht ansammeln durfte, doch sie hatte noch keine Methode gefunden, um sie vollständig zu entfernen. Jeden Abend fegte sie sie in eine Ecke, doch am nächsten Abend musste sie sie wieder von den Wänden kratzen. Und Tag für Tag wurde der Haufen ein wenig größer. Sie kniete sich hin und strich mit den Fingern durch den Abfall. Kaum berührte sie ihn, da kribbelten ihre Hände ein wenig, und es schien, als würde der Haufen ein dünnes, knisterndes Zischen von sich geben. Sie sah ihn sich genauer an. Auf den ersten Blick hatte er schwarz gewirkt, doch nun stellte sie fest, dass er ein wenig glitzerte und jedes Staubpartikel ein eigenes Flimmern zu verbreiten schien, das mal anilinrot, mal kobaltblau war und sich ständig veränderte. Der Staub blieb an den Fingern haften, und für einen unbehaglichen Moment hatte Nina das Gefühl, er sei womöglich lebendig. Sie verwarf diesen Gedanken eilends, drückte den Haufen zu einem festen Ball zusammen und schob ihn in der Hoffnung weg, demnächst einen Weg zu finden, ihn für immer loszuwerden. Als sie aufstand, stellte sie fest, dass der Ball in Augenhöhe schon kaum mehr zu sehen war. Vielleicht machte sie sich ja ganz unnötig Sorgen. 109 Kaum hatte sie den Kopfhörer abgestreift und die Augen vom Okular genommen, kaum also war sie ins Hier und Jetzt zurückgekehrt, da fiel Nina ein, dass die Brüder gleich im großen Zelt das Abendessen ausgeben würden. Also beschloss sie, die Maschine für heute abzuschalten. Unwillkürlich leckte sie einen Finger ab, um den letzten Rest Rückstand loszuwerden. Der schmeckte irgendwie dunkel und bitter, zugleich aber wie mit bunter, kribbelnder Süße durchsetzt, die Wärme durch ihren Körper strömen ließ, sie entspannte und ihr zuzurufen schien, sie solle diese Empfindungen in vollen Zügen genießen. Es war ein herrlicher, verführerischer, leicht beängstigender Geschmack. Zu ihrer Überraschung stellte Nina fest, dass er ihr gefiel. Also leckte sie noch einen Finger ab. Vor dem Zelt konnte sie Leon Constanzas mit der Kelle auf den Kochtopf schlagen hören. Das Abendessen war fertig. Nina zögerte einen Moment und beschloss dann, lieber noch ein paar Minuten in dem sechseckigen Zimmer zu bleiben. ZWEITES KAPITEL
Roger der Blinde Königlicher Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger, Ausgabe 5 (im zweiten Jahr der Regentschaft von König Matthew) Leitartikel von Miss Garamond Seid gegrüßt, Bürger! Die Leser haben sicher gemerkt, wie schwer es bisher war, den Königlichen Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger zu erstehen. Natürlich ist auch der Verfasserin schmerzlich bewusst, dass die Nachfrage das Angebot in den letzten Monaten in nicht mehr zu duldendem Maße überstiegen hat. Nun aber hat sie die angenehme Pflicht, die Leser zu informieren, dass endlich Abhilfe winkt und auch andere, sehr erfreuliche Entwicklungen in nächster Zukunft Früchte tragen werden. Mit gnädiger Unterstützung König Matthews wird der Königliche Anzeiger demnächst auf modernsten Druckmaschinen hergestellt. Diese Technologie wird für hohe Auflagen sorgen und gewährleisten, dass der Anzeiger künftig selbst bei stärkster Nachfrage in ausreichender Stückzahl verfügbar ist. Die neuen Maschinen werden unter persönlicher Aufsicht von Kevin Considine - dem 111 Obersten Ingenieur, den König Matthew für einen begrenzten Zeitraum freigestellt hat - gebaut und installiert. Mr Considine arbeitet eng mit dem Anzeiger zusammen, um die schnelle und reibungslose Einführung der neuen Technologie und der damit verbundenen neuen Arbeitsweisen zu gewährleisten. Wir freuen uns, Mr Considine beim Anzeiger willkommen zu heißen, und bedanken uns herzlich bei König Matthew dafür, diese Veränderung ermöglicht zu haben. Doch es gibt noch weitere aufregende Neuigkeiten! Sicher sind unsere Leser von den schönen Illustrationen begeistert, die inzwischen viele Texte begleiten. Die Chefredakteurin hatte das große Glück, einen bemerkenswert begabten jungen Zeichner als Mitarbeiter verpflichten zu können - Mr Michael Brown, dessen Landschaften schon alle Teile des Königlichen Anzeigers belebt haben und dessen Fähigkeiten wir in Zukunft noch stärker nutzen wollen. Darum ist Mister Brown kürzlich auf den neu geschaffenen Posten des Leitenden Bildredakteurs berufen worden, auf dem er sich besonders darum kümmern wird, eine Gruppe von Malern und Illustratoren zu einem Team zusammenzuführen, ihre Arbeit zu koordinieren und so auch die Bereiche Porträtkunst und Ornamentik zu stärken. Diese Anstrengungen werden den Anzeiger sicher in ein frappierend lebendiges Kaleidoskop aus Worten und Bildern verwandeln, das zweifellos breiteste Leserschichten anspricht. Doch vielleicht beginnt dieser Bericht aus dem Innenleben des Anzeigers die Leser allmählich zu ermüden (die Verfasserin jedenfalls hat genug davon). Wenden wir uns darum wichtigeren Dingen zu, vor allem der 112 rasch ansteigenden Woge von Kummer und Sorge, die gegenwärtig Bürger aller Stände wegen des immer gewalttätigeren und zunehmend ungesetzlichen Verhaltens auf den Straßen unserer Stadt heimsucht, für das organisierte Banden von als Wolfsjungen bekannten Jugendlichen verantwortlich sind. Diese Vorfälle haben König Matthew sehr beschäftigt. Nach gründlichem Nachdenken hat er der Verfasserin bei der monatlichen Privataudienz die folgenden Beschlüsse mitgeteilt, die zu veröffentlichen Vorrecht des Anzeigers ist. Erstens sind die Sonderbeauftragten des Königs im Lauf der letzten Wochen in geheimer Mission in jeden Winkel der Stadt vorgedrungen und haben sich in Tavernen, am Arbeitsplatz und auf den Straßen unter Menschen aller gesellschaftlichen Schichten umgehört. Nun steht zweifelsfrei fest, dass es in der Stadt kaum einen Menschen gibt, der von der kalten Hand der Gesetzlosigkeit unberührt geblieben ist. Banditentum, Vergewaltigung und Mord gelten inzwischen als alltäglich und beschränken sich nicht mehr nur auf die Nachtstunden und die stinkenden Winkel der Unterstadt, sondern geschehen am helllichten Tag auf jeder Straße, in jeder Vorstadt, ja selbst vor den Toren des Königspalasts (und haben einmal sogar - denkwürdig genug -in der Redaktion des Königlichen Anzeigers stattgefunden). Es ist nun klar erwiesen, dass ehrliche und angesehene Leute ihrer Arbeit in ständiger Angst nachgehen. Diese Situation kann der König nicht länger hinnehmen. Zweitens ist die Stadtmiliz als offizielle Einheit zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung eindeutig überfordert und längst nicht mehr geeignet, ihre Pflicht zu erfüllen. Wie die Leser vermutlich wissen, ist die Mit113 gliedschaft in der Stadtmiliz traditionell gemäß der Alten und Unverbrüchlichen Satzung vom Vater auf den Sohn übergegangen. Obwohl dieses Verfahren viele Jahrhunderte zufrieden stellend funktioniert hat, haben die Söhne der Stadtmilizionäre in letzter Zeit leider wenig Neigung gezeigt, die Aufgaben ihrer Väter zu übernehmen, und aus unbekannten Gründen die verführerischeren Reize des Trinkens, des Spiels und gewisser junger Frauen vorgezogen. Um es kurz zu machen: Die früher stolze Miliz ist in letzter Zeit zu einem kleinen Trupp älterer und schwacher Herren geschrumpft, deren Zahl und körperliche Tüchtigkeit täglich abnimmt. Der König hat sich daher gezwungen gesehen, die Miliz aufzulösen und eine neue, schlagkräftigere Einheit zu schaffen, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Drittens hat die Königliche Leibgarde einen gewissen Fang - den Anführer der Wolfsjungen - nach einem Aufklärungseinsatz in der Unterstadt mit Waffengewalt in den Palast gebracht, wo der König ihm eine Außerordentliche Privataudienz gewährt hat. Nach langen, ausführlichen Gesprächen hat der König - wenn auch nur widerwillig - zugestanden, aufgrund der detaillierten Kenntnis der Wolfsjungen von allen Wegen und Stegen und selbst von der Kanalisation und aufgrund ihrer großen Zahl und beeindruckenden Disziplin sei die
Aufstellung einer schlagkräftigen neuen Truppe zur Bewahrung von Recht und Ordnung nicht ohne aktive Zusammenarbeit mit Fang und seinen Kumpanen realisierbar. Viertens freut sich der König deshalb mitzuteilen, dass ab sofort die Königliche Wolfsjungen-Miliz gebildet wird. Diese Einrichtung unter der Leitung von Fang wird die volle und förmliche Verantwortung für alle Aufgaben 114 übernehmen, die zur Durchsetzung von Recht und Ordnung, zur Bestrafung der Gesetzesbrecher und zu verwandten Dienstleistungen gehören, wie sie von Zeit zu Zeit von König Matthew angeordnet werden mögen. Die oben erwähnte Miliz wird aus einem Sonderetat der Königlichen Finanzverwaltung finanziert und demnächst nach endgültiger Auflösung der alten Stadtmiliz nämlich - ihre Arbeit aufnehmen. Der König ist überzeugt, dass diese Initiative auf den Straßen unserer Stadt wieder Frieden und Sicherheit einziehen lassen wird. Die Verfasserin weiß sich mit ihren Lesern in dem Wunsch einig, die Königliche Wolfsjungen-Miliz möge erfolgreich arbeiten, und hofft, dass diesem kühnen Schachzug von König Matthew ruhigere Zeiten folgen. Auf Wiedersehen, liebe Mitbürger. Und lang lebe König Matthew! Die Brüder Constanzas Die Wagen des Reisenden Vergnügungsparks der Brüder Constanzas zogen von Dorf zu Dorf über Land. Wo sie Station machten, bot Madame Nina ihren besonderen Dienst an, und die Besucher ließen in der Empathiemaschine schwarze Reste zurück. Andrew, George und Leon Constanzas waren in einem Wanderzirkus aufgewachsen, den ihre Mutter mit eiserner Hand geführt hatte. Die verstorbene Madame Constanzas hatte - wie viele Fahrende - leidenschaftlich an Familientraditionen geglaubt. Deshalb hatten 115 auch ihre Söhne, als sie sich daranmachten, ein eigenes Reisegewerbe zu betreiben, das Ritual des gemeinsamen Essens beibehalten, und alle setzten sich jeden Abend bei Sonnenuntergang im großen Zelt an eine lange, aufgebockte Platte. Das Zelt hatte stets nur diesem einen Zweck gedient, und obwohl die für Auf- und Abbau der Attraktionen zuständigen Hilfskräfte sich regelmäßig darüber beklagten, in harter Arbeit ein Zelt errichten zu müssen, das jeden Tag nur kurz benutzt wurde, blieben die Brüder hart und bestanden darauf, dass sich die Truppe hier jeden Abend vollständig versammelte. Von den Mitgliedern der Schaustellerfamilie, den Budenbesitzern, den Handlangern und sogar von Klapsi, dem ungeselligen und unmusikalischen Clown - von allen wurde erwartet, zusammen zu Abend zu essen, und alle konnten die Möglichkeit nutzen, Dinge von gemeinsamem Interesse zu besprechen und das Ende eines weiteren erfolgreichen oder weniger erfolgreichen Arbeitstags zu feiern. Mit Gehrock und Zylinder war Andrew, der älteste Bruder, die auffälligste Gestalt. Seine Aufgabe war es, den Aufführungen beizuwohnen, die täglichen Schwierigkeiten zu lösen und die Schausteller ständig zu ermuntern, anzustacheln und zu zwingen, sich den Besuchern möglichst vorteilhaft zu präsentieren. George, seiner Natur nach eher zurückhaltend, war für die Buchführung verantwortlich. Das System, nach dem er arbeitete, war allen ein Rätsel, da es auf einer Weste mit acht oder neun Taschen beruhte, zwischen denen ständig Bündel von Geldscheinen und Hände voll Münzen in einer Abfolge, die noch immer niemand durchschaut hatte, hin und her wanderten. Leon, der jüngste Bruder, war fürs Kochen zuständig. 116 »Diese Madame Nina ist schon wieder zu spät dran. Soll ich sie noch mal rufen?« Andrew, der am Kopf der Tafel saß, blickte auf, als sein Bruder ihm die erste Portion Eintopf in die Schüssel füllte. Es war Andrews Idee gewesen, Nina in die Truppe aufzunehmen, doch nun beunruhigte ihn ihr unberechenbares Verhalten zusehends. »Ich weiß nicht recht, Leon. Ihre Maschine scheint ziemlich viel Wartung zu brauchen. Und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Madame Nina Unglück anzieht. Ich mag sie eigentlich nicht hier im Zelt haben. Was meinst du, George?« Die zwei Kopfreihen wandten sich gleichzeitig dem Ende des Tisches zu, an dem George saß. »Ihre Bude läuft gut«, meinte der. »Die Einnahmen steigen.« Ein, zwei Köpfe nickten. »Aber es gehört sich nicht, jeden Abend zu spät zum Essen zu kommen.« Leon ging um den Tisch herum und füllte eine Schüssel nach der anderen. »Mutter hätte sich das nicht gefallen lassen. Schausteller leben zusammen, arbeiten zusammen und essen zusammen, hat sie immer gesagt. Aber, Andrew, auch ich finde, dass etwas mit ihr nicht stimmt. In den letzten Wochen hat sie sich ganz in sich selbst zurückgezogen.« Bei dieser Bemerkung nickten mehrere am Tisch. »Heute zu Beginn der Vorstellung hat sie sich ziemlich merkwürdig verhalten«, warf Clown Klapsi ein. »Sie hat mich fast von der Bühne gedrängt und schien mich gar nicht gesehen zu haben - als wäre sie in Gedanken ganz woanders gewesen.« »Das ist mir auch aufgefallen«, sagte Andrew nachdenklich. »Aber ihr Sermon war besser als je zuvor. Als 117 würde sie tatsächlich empfinden, was sie da redet - und womöglich sogar daran glauben.«
Zu dieser Beobachtung nickten noch mehr Leute. Die Truppe aß eine Zeit lang schweigend weiter. Leon hatte das Kochtalent seiner Mutter geerbt, und eigentlich ärgerte sich niemand richtig über das Ritual der gemeinsamen Mahlzeit. »Ihre Bude läuft gut«, wiederholte George nach einer Weile. Leon ging unauffällig am Tisch entlang, sammelte dabei die Schüsseln ein und verschwand dann, um sich um die Nachspeise zu kümmern. »Ich sag euch, was wir tun werden«, erklärte Andrew schließlich. »Klapsi, wenn sie sich auf der Bühne noch mal merkwürdig verhält, sag mir das sofort. George, behalt die Einnahmen im Auge... aber das tust du ja sowieso. Und Leon...« - der dritte Bruder tauchte gerade wieder auf, auch wenn ein riesiger, dampfender Marmeladenstrudel ihn fast verbarg - »... sorg du dafür, dass sie nicht zu viele Abendessen versäumt. Auch wenn wir sie vielleicht nicht besonders mögen, wollen wir sie trotzdem nicht hungern lassen. Aber jetzt...« - er sah mit Wohlgefallen, wie Leon seinen Teller füllte - »... wieder ran an den Speck.« Unterdessen war Nina noch immer in ihrer Bude, kauerte vor der Empathiemaschine und war ins abendliche Putzen vertieft. Es half alles nichts: Der Haufen mit der dunklen Substanz wurde jeden Tag größer, und es wurde immer schwieriger, sie von den Wänden zu kratzen. Der Stoff schien immer hartnäckiger zu werden -als würde er einen eigenen Willen entwickeln. Selbst während des Tages konnte Nina sich nicht von dem Gedanken an die bedrohlichen Ablagerungen losreißen. Er 118 lastete wie ein schweres Gewicht auf ihr, wie eine ständige Drohung, die nur durch ausdauerndes abendliches Abspachteln der Wände in Schach gehalten werden konnte. Und in den letzten Tagen hatte Nina eine innere Leere zu spüren begonnen, aus der sich rasch eine Art Gier nach ihrer Putzstunde entwickelt hatte. Zwar verschaffte ihr das Abspachteln, Fegen und Säubern weder Freude noch Zufriedenheit, doch sie erwartete aufgekratzt den Moment, da sie sich den Rest der dunklen Substanz von den Fingern lecken und spüren würde, wie der Stoff auf ihrer Zunge explodierte und im Mund, in der Kehle und im Magen ein intensives Wechselspiel der Gefühle auslöste. Dann konnte sie - wenigstens für einen Moment - die Besucher vergessen, die Bude und die erbärmliche Notwendigkeit, den sechseckigen Raum Tag für Tag aufs Neue zu putzen. Als sie endlich mit der Arbeit fertig war, entspannte sie sich und ließ die seltsame Mischung aus Schmerz- und Lustgefühl von ihr Besitz ergreifen. Manchmal tat es gut, sich vorzustellen, die Substanz sei lebendig, streichle und beruhige sie und nehme sie in sich auf. »Nicht aufhören«, murmelte Nina. »Nur noch ein bisschen.« Wie als Antwort schien sich die dunkle Substanz zu bewegen. Dann erklang von hinten ein taktvolles Hüsteln. Erschrocken riss Nina sich den Kopfhörer von den Ohren. »Madame Nina?« Es war Leon. »Seid Ihr bald fertig? Ihr wollt doch sicher nicht wieder die Nachspeise verpassen, oder?« 119 Ein Fahrrad für zwei In dem heillosen Durcheinander, das Joe Blackwoods Wohnung bis zum letzten Winkel füllte, stand ein altes, unverwüstlich wirkendes Tandem. Rusty hatte das merkwürdige Ding schon kurz nach seinem Einzug entdeckt, als er mit dem Hausmeister um die Möbel gefeilscht hatte. Ein paar Monate später, als es wärmer wurde, kam er auf den Gedanken, das Tandem könnte ihm einen Vorwand dafür liefern, mehr Zeit mit Alice zu verbringen. Die beiden hatten sich weiter jeden Mittwochabend getroffen, um ihre Übungen zu machen und sich dann im Wirtshaus zu stärken, doch den Rest der Woche schien Alice diverse Verpflichtungen zu haben, die viel Energie beanspruchten und wenig Zeit ließen. Das erklärte sie Rusty eines Mittwochabends im Frühling, als sie sich an einem Tisch im kleinen Garten hinterm Gasthaus eine Flasche Bier teilten. »Montags gehe ich mit ein paar Kollegen ins Ausrufers Ruh<«, sagte sie. »Dienstags bin ich beim Gymnastikkurs. Donnerstags leite ich einen eigenen kleinen Kurs.« Rusty zog die Brauen hoch. »Das gehört zu meiner Arbeit im Palast - und die ist vertraulich, tut mir Leid. Freitags hab ich wieder meinen Gymnastikkurs und muss mich danach aufs Wochenende vorbereiten. Deshalb kann ich mich nur mittwochs mit dir treffen.« Sie wechselte geschickt das Thema: »Aber du bist ganz schön gewitzt, dass sie dich beim Anzeiger so schnell befördert haben. Deine eigene kleine Abteilung zu leiten - das gefällt dir doch bestimmt.« »Es ist etwas entmutigend, um ehrlich zu sein«, erwi120 derte Rusty nachdenklich. »Einige Künstler sind... nun ;a... ziemlich schwierig. Die wollen alles nach ihren eigenen Vorstellungen erledigen. Aber Miss Garamond hat mir sehr geholfen.« »Hast du sie anfangs nicht ein wenig unheimlich gefunden?« »Doch, aber eigentlich ist sie ziemlich witzig, wenn man sie etwas näher kennt. Und überhaupt nicht unheimlich.« Rusty merkte, dass es Alice gelungen war, ihn abzulenken. »Aber was treibst du eigentlich am Wochenende?« »Ach, alles Mögliche. Manchmal brauche ich etwas Zeit für mich allein. Und manchmal muss ich mit meinen Leuten dieses und jenes bereden...« »Mit den Inselbewohnern?« Alice nickte und wirkte einen Augenblick sehr verschlossen. Rusty wusste, dass sie während ihrer Jahre in der Stadt die Verbindung zur rätselhaften Welt der Inseln gehalten hatte, doch er wusste auch, dass sie darüber selbst
mit ihm nicht sprechen wollte, und verstand von solchen Dingen genug, um ihr Bedürfnis nach Diskretion zu achten. Alice sah ihn noch einen Moment nachdenklich an und nahm dann seine Hände. »Ach, Rusty... du bist ein so netter Kerl, und ich könnte dich wirklich sehr lieb gewinnen... und vielleicht glaubst du, ich würde dir etwas verheimlichen ...« - Rustys Lippen öffneten sich ein wenig, als er Atem holte - »... aber, weißt du, es kann sein, dass meine Leute mich bald woanders hinschicken.« Sie blickte auf den verwitterten Eichentisch hinunter. »Und ich hab den Eindruck, dass es demnächst so weit ist.« »Soll das heißen, du verlässt die Stadt?« 121 Alice nickte. »Gut möglich, aber ich weiß nicht genau, wann. Vielleicht im Spätsommer.« Ihre blauen Augen schienen auf einen unbekannten Punkt in der Ferne gerichtet, und einen atemberaubenden Moment lang sah Rusty in ihnen wieder hohes Gras, Klee und das Meer. »Aber lass uns bis dahin auf jeden Fall das Beste aus der Situation machen.« Hilflos betrachtete Rusty ihre bleichen Hände mit den schlanken Fingern und ihre Gelenke mit den kaum sichtbaren Sommersprossen. »Hast du denn jedes Wochenende was vor?« Sie brach die Anspannung mit einem Lächeln. »Nein, nicht jedes Wochenende.« »Bist du schon mal Rad gefahren?« Wie sich herausstellte, hatte Alice am übernächsten Wochenende Zeit. Es war ihre Idee, an die Küste zu radeln, irgendwo zu übernachten und erst am Tag darauf in die Stadt zurückzukehren. Rusty übernahm es, Joe Blackwood das Tandem abzuschwatzen, und verbrachte ein paar Abende damit, es mit Schraubenschlüssel und Ölkännchen wieder fahrbereit zu machen. Nach einem zeitigen Frühstück an einem Kaffeestand fuhren sie die leere Nordstraße hinunter, wandten sich dann flussaufwärts zum Fähranleger und strampelten mit dem Tandem rüttelnd und schüttelnd den mit groben Kopfsteinen gepflasterten Kai entlang. An der Landungsbrücke hielten sie unvermittelt an, denn sie sahen sich einem neu errichteten Kontrollpunkt gegenüber, dessen glänzende, rot-weiß gestreifte Schranke ihnen den Weg zur Fähre versperrte. Aus dem neben der Schranke stehenden Häuschen näherten sich zwei verlegen wirkende Gestalten. Rusty und Alice stiegen vom Rad. 122 »Dürften wir die Herrschaften nach dem Zweck ihrer Reise fragen?« Einer der beiden war etwas kleiner als Rusty, der andere ein wenig größer. Beide hatten einen ziemlich gebeugten Gang und trugen ganz neue, steif wirkende Uniformen aus dicker, dunkelblauer Baumwolle, die nicht so aussahen, als seien sie schon mal gewaschen worden. Auf dem Kopf hatten sie Schiffchen aus dem gleichen Material, die sie sich offenbar mit trotzigem Vorbedacht unterschiedlich aufgesetzt hatten, und an den Schiffchen prangten Messingabzeichen in Form eines Wolfskopfs. An den Füßen trugen sie brandneue, schwarz glänzende Stiefel, die schwer, steif und unbequem aussahen. Ihre Fingernägel waren lang, scharf und schmutzig. Unter den Schiffchen spähten die bleichen, verhärmten, hungrig aussehenden Gesichter zweier Jugendlicher mit kleinen Augen und unregelmäßigen Zähnen hervor. Aus solchen Figuren also bestand die ach so gerühmte Königliche Wolfsjungen-Miliz. »Sir?« »Oh, Entschuldigung«, sagte Rusty und hörte auf, die beiden Uniformträger, die immerhin etwas von ihm wissen wollten, fasziniert zu mustern. »Wir machen einen Kurzurlaub. Wir sind Touristen.« Von dieser Enthüllung offenbar überrascht, zogen sich die beiden Jungen in ihr Häuschen zurück. Durchs Fenster konnten Rusty und Alice sie einige dicke Loseblattsammlungen wälzen sehen. Alice gab Rusty einen Stups. »Sind die nicht süß?«, kicherte sie. »Sie müssen nachschlagen, was sie jetzt machen sollen.« Rusty, der weniger locker war, lächelte grimmig. Kurz darauf öffnete sich die Schranke, und die Köpfe der Wolfsjungen erschienen wieder im Eingang des Häuschens. »Gute Reise, meine Herrschaften. Uns liegt nur Ihre Sicherheit am Herzen.« Ein paar Stunden später hatten sie einen öden Küstenstreifen erreicht, dessen breiter, langweiliger Kieselstrand hügelige Dünen von einer bewegten See trennte. Mit heiseren Schreien stießen Möwen vom Himmel. Rusty und Alice ließen das Tandem stehen, schlenderten Arm in Arm, genossen ihr Schweigen, hoben Muscheln und Treibholz auf, legten sich in die Dünen, nickten kurz ein, wachten auf und küssten sich. Später radelten sie in gemütlichem Tempo die Straße am Meer entlang, kamen an einem einsamen, leer stehenden Häuschen vorbei und erreichten kurz darauf ein ruhiges Dorf. In einer Pastetenbäckerei genossen sie ein improvisiertes Abendessen, folgten den Angaben des Verkäufers und erreichten bald ein einsames Haus am Meer, dessen Torpfosten ein Messingschild zierte, das schon Grünspan angesetzt hatte und auf dem sie nur noch das Wort ZIMMER lesen konnten, das in sehr schräger Kursivschrift gehalten war. Sie läuteten, doch es blieb still. Als sie das Warten schon aufgeben wollten, öffnete sich die Tür doch noch quietschend, und eine alte Frau musterte sie misstrauisch. »Es ist doch noch Winter. Für mich hat die Saison noch nicht begonnen.« Sie wollte die Tür bereits schließen, hatte aber wohl den niedergeschlagenen Gesichtsausdruck der beiden bemerkt, denn sie hielt inne und schien
etwas sanfter zu werden. »Aber wenn Sie eine Unterkunft suchen, kann ich Ihnen damit vermutlich dienen. Zwei Zimmer, stimmt's?« 124 Rusty und Alice sahen einander kurz an. »Zwei?«, fragte Rusty zweifelnd. »Zwei«, sagte Alice. Es gab keinen zweiten Ausflug ans Meer, und obwohl er Alice weiter jeden Mittwochabend sah, spürte Rusty eine zunehmende Spannung und merkte, dass ihre gemeinsame Zeit dem Ende zuging. Eines Mittwochs im Spätsommer waren sie in Alices Wohnung und turnten wie üblich ihre Übungsfolge. Dazu hatten sie sich in einander gegenüberliegenden Winkeln des seltsam abstrakten Gitters in Positur gestellt, das den Fußboden in zahllose Sektionen teilte. Rusty hatte begonnen, einiges von seiner alten Gewandtheit zurückzugewinnen. Mit Alices Hilfe hatte er das Grundmuster mit den sechs elementaren Stellungen aufs Neue gemeistert und konnte sich ihr nun - wenn auch zögernd - bei einigen anspruchsvolleren Figuren anschließen. An diesem Mittwochabend hatten sie gerade den letzten Abschnitt der Figur des Tauchers erreicht, die eine sehr komplizierte Bewegungsabfolge im Handstand enthielt, und waren nun in der Ruhephase. Die Füße in der Luft, die Zehen zur Decke gestreckt, standen sie Kopf, sahen einander aus gegenüberliegenden Winkeln des Gitters an und trieben für Momente in einem grenzenlosen Meer der Ruhe. Rusty hingen die Socken wie üblich in Ziehharmonikafalten um die Knöchel, und Alices blondes Haar bildete auf dem Fußboden einen Kreis. Die spätsommerliche Sonne warf ein fahles Orange durchs Fenster. »Rusty?« Alices Stimme störte seinen Frieden sanft. Ihr kopfstehendes Gesicht verriet keinerlei Anstrengung. 125 »Hmmpf?« Rusty, der nicht so fortgeschritten war, kämpfte von Zeit zu Zeit um sein Gleichgewicht. »Ich hab dir doch gesagt, die Inselbewohner könnten mich von hier abberufen?« Rusty veränderte seine Stellung ein wenig. »Tja, und jetzt ist es bald so weit. Sehr bald sogar.« Sie passte sich seinem leichten Stellungswechsel mit einer kaum wahrnehmbaren Veränderung ihrer Positur an. »Du hast bei den Übungen enorme Fortschritte gemacht. Ich hoffe, du behältst sie bei, wenn ich... na ja, wenn ich nicht mehr hier bin.« »Das denk ich doch.« Es fiel ihm jetzt schwerer, das Gleichgewicht zu halten. »So werde ich mich...« Er spürte, wie er zu kippen begann, versuchte sich zu fangen und spreizte die Beine kurz seitwärts. Alice machte eine winzige Bewegung und schloss die Augen. Diesem Zeichen folgend, atmete Rusty ein paar Mal tief ein, bis er spürte, dass Schultern und Brustkasten wieder zur Ruhe kamen. Einen Moment später fuhr er fort: »... so werde ich mich an dich erinnern.« »Das ist natürlich ein schöner Gedanke, aber du solltest es nicht nur deshalb tun.« Mit einer fließenden Bewegung schlang Alice ihre schlanken, schwarz gekleideten Beine umeinander, und es schien fast, als seien sie nun verknotet. Rusty eiferte ihr unwillkürlich nach und versuchte recht unbeholfen das gleiche Manöver. »Langsam«, rief Alice. Doch weil er sich nur auf seine Beine konzentriert und sein Gleichgewicht vernachlässigt hatte, verlor Rusty nun die Balance und landete der Länge nach am Boden. Alice blieb derweil reglos in ihrer strengen Senkrechten. »Hast du dir wehgetan?« 126 »Ich glaube nicht. Tut mir Leid, Alice. Ich weiß, dass ich es eigentlich besser kann.« Alice dachte darüber nach. Dann streckte sie unvermittelt die Glieder, sprang auf die Beine, querte das Gitter mit einem mühelosen Radschlag, kniete neben Rusty nieder, beugte sich zu ihm runter und küsste ihn auf die Stirn. »Na, ist das besser?« Sie musterte ihn einen Moment, schniefte dann plötzlich und fuhr sich hastig mit dem schmalen Handgelenk über die Augen. »Das verstehst du doch, oder? Ich halte wirklich viel von dir, Rusty, und vielleicht kommt eines Tages die Zeit für uns, aber jetzt geht das nicht, wirklich nicht. Es tut mir Leid, furchtbar Leid. Komm.« Das war das einzige Mal, dass Rusty Alice hatte weinen sehen. Am Abend, als die letzten Fetzen Orange am Himmel verglommen, machten sie ihren üblichen Spaziergang am Fluss. Später stiegen sie traurig zum letzten Mal zu ihren getrennten Baikonen hinauf. Und als Rusty am nächsten Tag aus der Redaktion nach Hause kam, war Alices Seil verschwunden. Da wusste er, dass sie gegangen war. »Und dann hat man dich weggebracht?« Na ja, nicht sofort. Die Männer von der Miliz haben mich wieder ins Haus begleitet - wohin hätten sie mich auch bringen sollen? Dann kamen die beiden Frauen, die den rot-weißen Flickenteppich wegwarfen, von dem 127 ich dir erzählt habe. Danach ging es einige Zeit ziemlich durcheinander. Ich weiß noch, dass ich auf der Pritsche eines Fuhrwerks durchgerüttelt wurde; dann kam ich irgendwohin, wo man mir alle Sachen ausgezogen und mich mit sehr kaltem Wasser und einer grobkörnigen Seife gewaschen hat, die irgendwie angebrannt roch. Das gefiel mir gar nicht, aber ich hab Wasser ja nie gemocht. Dann hat mich ein Mann, der hinter einem großen Schreibtisch saß, gemustert. Er hatte eine Brille -ein Instrument, das ich noch nie gesehen hatte und das mich sehr faszinierte. Danach wurde ich in ein kaltes, klotziges graues Haus gebracht, wo viele Kinder in zerlumpter
Einheitskleidung herumliefen. Ich vermute, das war ein Waisenhaus. Ich weiß noch, dass ich in einem langen Saal mit mehreren Reihen Betten geschlafen hab und mit den anderen in einem großen Kreis im Hof herumgehen musste. Und ich erinnere mich, dass ich dort ständig angeschrien wurde - einmal sogar nur, weil ich einen Löffel fallen ließ. Nach kurzer Zeit ist dann jemand gekommen und hat mich mitgenommen, ein großer Mann mit Bart. Er hat nicht viel mit mir geredet. Ich nehme an, er war sehr früh am Morgen angelangt - jedenfalls stand er an meinem Bett, als ich die Augen aufschlug. Er brachte noch sein Gespräch mit jemandem, den ich nicht sah, zu Ende, fragte dann so etwas wie: »Ist das der Junge?«, wandte sich an mich und sagte: »Thomas? Thomas Slater? Zieh dich an und pack deine Sachen. Ich will, dass du mitkommst.« Ich besaß nicht viel. Ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln, ein kleines Notizbuch, das ich irgendwo aufgetrieben hatte, und natürlich die alte Eisenkette, die aufgerollt unter meinen Sachen lag. Diese Kette schien 128 mich überallhin zu begleiten. Dann saß ich mit dem großen Mann in einer Kutsche. Ich weiß noch, dass die Straße sehr holprig war, doch nach einiger Zeit wurde die Gegend immer flacher, und wir kamen in eine Stadt. Ich hatte noch nie so viele Menschen gesehen. Wir fuhren durch die Stadt, und dann tauchte wieder ein großes Haus auf, doch diesmal war es nicht klotzig, sondern sah irgendwie lustig aus und hatte viele Spitzen, Türme und Türmchen und ein steiles Dach und hohe, spitzbogige Fenster und Türen. Das war- wie ich später erfuhr - die Akademie für Kartografie. Die Akademie sollte für die nächsten fünfzehn Jahre mein Zuhause sein und ähnelte in mancher Hinsicht dem Ort, an dem wir hier sind. Vielleicht ist Zuhause das falsche Wort, denn schließlich war es dort nicht wie in einer Familie, und niemand hat sich besonders um mich gekümmert, aber irgendwie hab ich gemerkt, dass ich mich in das Leben dort gut einfügen konnte, und hatte von Anfang an das Gefühl, alles, was dort geschah, habe einen Zweck, und wenn ich mich benehmen und an die Regeln halten würde, dürfte ich dort mitmachen. Ich schätze, das war das Wichtige: mitmachen zu dürfen in einer wohlgeordneten Welt. Dieses Gefühl hatte ich unter dem Küchentisch meines Vaters nie gehabt dort lernte ich nur, ruhig zu sein und allem aus dem Weg zu gehen, obwohl sich das vermutlich später tatsächlich noch als nützlich erwies. Und im Waisenhaus hatte es natürlich einen festen Tagesablauf bei strenger Disziplin gegeben, doch das alles schien irgendwie sinnlos und reiner Selbstzweck. Die Akademie dagegen hatte tatsächlich einen Sinn, und das spürte ich von Anfang an. 129 Der große Mann ließ mich beim Pförtner am Haupteingang und fuhr in der Kutsche davon. Der Pförtner sagte kein Wort, führte mich nur eine dunkle Treppe hinunter, übergab mich einem anderen Mann in gestreifter Schürze und sagte: »Der ist für Sie, Mr Roberts. Er heißt Thomas Slater.« Dann meinte Mr Roberts: »Gut, Tom, suchen wir mal einen Schlafplatz für dich.« Er führte mich einen Flur entlang und eine große, breite Treppe hinauf in ein riesiges Zimmer. Ich hatte nie zuvor ein so großes Zimmer gesehen. Es hatte einen Steinboden und große, spitzbogige Fenster, und an einem Ende war eine große hölzerne Flügeltür, die mit eisernen Ziernägeln beschlagen war, während am anderen Ende eine Reihe massiver Steinplastiken stand - jede in ihrer eigenen Nische. Ich entdeckte später, dass es sich bei diesen Statuen um große Kartografen des Vergessenen Zeitalters handelte - um Simeon den Maschinenbauer, Albert Albertsen, Roger den Blinden und all die anderen. In diesen Nischen durften die jüngsten und unwichtigsten Dienstboten schlafen. Mein Platz sollte hinter Roger dem Blinden sein, wo ein paar Decken zusammengerollt auf mich warteten. Dort habe ich die nächsten fünfzehn Jahre auf hartem Stein geschlafen. Ich hätte längst in die Unterkünfte der älteren Bediensteten wechseln können, wenn ich gewollt hätte, doch mir gefiel es in meiner Nische zu Füßen von Roger dem Blinden sehr gut - also blieb ich. Anfangs fühlte ich mich in dem Saal etwas verloren, wenn die anderen schnarchend in ihren Nischen lagen, aber ich hatte ja noch meine Kette und die Vorhängeschlösser. So habe ich mich zunächst immer an Rogers Fußgelenk gekettet und gespürt, wie mich eine große Sicherheit überkam. Nein, ich hab damit aufgehört, als ich älter wurde. Oder 130 ich habe es jedenfalls nur noch dann und wann gebraucht. Kaum hatte ich mich in der Nische eingerichtet, wurde ich gleich wieder mitgenommen, und man gab mir etwas zu tun. Da stand ich nun - einfach ins Leben der Akademie geworfen und gezwungen, mich durchzuschlagen. Niemand hat sich je die Mühe gemacht, mir zu erklären, wozu die Akademie dient und was dort geschieht, und es hat eine ganze Reihe von Jahren gedauert, ehe ich einen vollständigen Überblick hatte, doch mein Vater hatte mir beigebracht, den Mund zu halten und gehorsam zu sein, und genau das tat ich. Ich musste nur zuhören, lernen und allein zurechtkommen. Schließlich entdeckte ich, dass die Akademie der Ort war, an den junge Männer und Frauen kamen, um zu lernen, wie man auf wissenschaftliche Weise Karten anfertigt, und dass auch die Bruderschaft der Kartografen ihre geheime Bibliothek unten im Kellergewölbe aufbewahrte. Natürlich hatte dort nur Zugang, wer schon den Kleinen Akademischen Eid geschworen hatte. Diesen Zwecken also diente das Gebäude, und seit meinem ersten Tag dort hatte ich diese Bestimmung gespürt und mich darum so leicht einfügen können. Natürlich war ich als Dienstbote an der Akademie, nicht als Student, aber ich denke, ich war ein guter Bediensteter, gewissenhaft und fleißig. Und indem ich ein guter Diener war, habe ich allmählich gelernt, was ich weiß. Nein, angefreundet hab ich mich eigentlich mit niemandem - außer vielleicht mit einem, wenn man den einen Freund nennen kann, aber von ihm erzähle ich dir später. Ich war ein stilles Kind; mein Vater hat mich nie
ermuntert, den Mund aufzumachen. Deshalb hielten die anderen gewöhnlich Abstand zu mir, doch 131 ich glaube, letztlich hab ich ihnen doch einen gewissen Respekt abgenötigt - vor allem, weil ich tat, wie mir geheißen, und weil ich nichts vergaß. Das Dienstbotenwesen an der Akademie war ziemlich kompliziert. Du würdest vermutlich von Hierarchie sprechen. Jedenfalls wäre es für mich leicht möglich gewesen, an einem Ort zu bleiben und nie herauszufinden, was irgendwo anders vorging, doch weil ich ein guter Bediensteter war, habe ich mich hocharbeiten können. Bis ich erwachsen wurde, war ich fast überall in der Akademie eine Zeit lang beschäftigt und habe den Betrieb dabei in- und auswendig kennen gelernt. Ich begann in der Küche, wo ich vor allem für Mr Roberts arbeitete und Hunderten von Speckstreifen die Schwarte abschnitt und dergleichen. Dann war ich eine Zeit lang im Park beschäftigt und habe Gras gemäht und Kies geharkt. Eine kleine alte Dame war für die Gartenarbeit verantwortlich. Diese Tätigkeit hat mir nicht besonders gefallen - vermutlich, weil sie mich an die Arbeit meines Vaters erinnert hat. Dann bin ich wieder woanders hingekommen und Kellner in der Mensa geworden. Das war sehr nützlich, denn ich schnappte alle möglichen Gespräche auf, meist bei den Studenten, mitunter bei den Dozenten und manchmal sogar bei den Meisterkartografen am Professorentisch. Dadurch habe ich eine Menge gelernt. Ich war ziemlich schockiert über die studentischen Essgewohnheiten - manchmal stiegen sie sogar auf Tische und Bänke! Die Herrschaften am Professorentisch dagegen hatten tadellose Manieren. Eine Meisterkartografin - eine komische Alte übrigens, schweigsam und gebeugt - saß immer etwas von den anderen entfernt und war während des Essens die ganze Zeit am Schreiben. Ich konnte sehen, dass sie 132 Buchstaben und Worte in kleine Gitter aus schwarzen und weißen Quadraten eintrug, und habe später herausgefunden, dass diese Gitter Kreuzworträtsel heißen. Eines Tages hat sie ein paar liegen lassen, die ich unter meiner Livree aus der Mensa schmuggeln konnte. Als ich sie mir näher ansah, schienen sie wirklich interessant, und ich fand bald heraus, wie sie funktionieren. So lag ich in meiner karg bemessenen Freizeit eingerollt zu Füßen Rogers des Blinden und begann, zur Abwechslung mal keine Gedichte zu schreiben, sondern mir Kreuzworträtsel auszudenken. Als die anderen Dienstboten entdeckten, was ich da tat, gingen sie mir noch mehr aus dem Weg. Nein, herumgehackt haben sie eigentlich nicht auf mir. Natürlich gab es unter den jungen Dienern der Akademie nicht wenig Schikane, und die Großen nahmen sich die Kleinen öfter mal vor, aber ich habe das nie erleiden müssen. Ich war von früh an ein großes, dünnes Kind gewesen und ziemlich linkisch, und meine Livree hat mir nie richtig gepasst, doch ich war nie das, was du ein geborenes Opfer nennen würdest. Vielleicht wegen meiner Größe oder meiner Schweigsamkeit, vielleicht aber auch, weil ich nach dem, was ich bei meinem Vater erlebt hatte, Grausamkeiten gegenüber völlig immun war. Egal warum: Sie ließen mich in Ruhe, und das war mir sehr recht. Später - ich schätze, mit fünfzehn, sechzehn Jahren -wurde ich zum akademischen Diener befördert. Sie merkten, dass ich gut schreiben und rechnen konnte. Also ließen sie mich den Kleinen Akademischen Eid schwören. Danach durfte ich in der Bibliothek arbeiten und den Kartografen Karten aus den Regalen holen und sie zurückbringen, wenn sie nicht mehr gebraucht 133 wurden. Die Regale reichten bis zur Decke hinauf, und manchmal musste ich eine Trittleiter benutzen, um an die obersten Ablagen zu kommen. Ich durfte mir die Karten nicht ansehen, und um ehrlich zu sein: Selbst wenn ich es mal schaffte, einen kurzen Blick darauf zu werfen, sagten sie mir kaum etwas, aber das System, nach dem sie geordnet waren, habe ich genau kennen gelernt - all die merkwürdigen Signaturen, die jedes Dokument eindeutig kennzeichneten und mir sagten, wo es aufzubewahren war. Jede Karte wurde zusammengerollt in einer Art ledernem Zylinder aufbewahrt, und jeder Zylinder hatte eine kleine durchsichtige Tasche, in der die Signatur steckte. Ich habe dieses Ordnungssystem wirklich lieben gelernt. Es war für mich wie ein zweites Zuhause, und ich habe sogar ein eigenes kleines System für meine Gedichte und Kreuzworträtsel entworfen, von denen ich bis dahin eine ziemliche Sammlung aufgebaut hatte. Später habe ich sogar das Siegel der Bruderschaft auf die neuen Karten drücken dürfen; das Wachs zu schmelzen und den großen Prägestempel zu benutzen, gab mir das Gefühl, ganz schön wichtig zu sein. Danach durfte ich mich um den kleinen Laden kümmern, in dem die Studenten Pergament, Tinte und die speziellen Fadenrollen für die Kartografiemaschinen kauften, die sie auf Exkursionen einsetzten. Ich war damals etwa so alt wie die meisten Studenten, und einige von ihnen - Jungen wie Mädchen - schienen ganz gern mit mir zu plaudern. Ich schätze, ich war für sie als Kuriosität von gewissem Interesse, und begann, meine Schüchternheit ein wenig zu verlieren und etwas geselliger zu werden. Ich entdeckte sogar, dass ich den Neuen recht hilfreich sein konnte, indem ich ihnen den 134 Weg zeigte und ihnen sagte, wo sie dieses und jenes finden konnten. Ein, zwei Mädchen schienen sich auch in anderer Hinsicht für mich zu interessieren, doch das machte mir Angst, weil ich es damals nicht verstand. Sie müssen gespürt haben, dass ich mich unbehaglich fühlte, denn kurz darauf ließen sie es bleiben. Aber im Großen und Ganzen verstand ich mich mit den Studenten gut, und das kam mir bei meiner nächsten
Arbeit zustatten, die darin bestand, den Dozenten im Hörsaal zu helfen. Ich musste ihre Unterlagen bereitlegen und Karten aufhängen. Manchmal musste ich auch Dinge abschreiben, und sie waren von meinem Schreiben und Lesen sehr beeindruckt. Dann war da noch die Ausrüstung, die sie für praktische Übungen nutzten -die Oktanten und Maßbänder und all die anderen Apparate und Instrumente, die alle aufgebaut und einsatzbereit sein mussten, wenn die Studenten kamen. Ich habe vermutlich schon erwähnt, dass ich kein großes Talent fürs Mechanische habe, doch eigentlich musste ich ja nur die Geräte aus dem Lagerraum holen und aufbauen. Wie man sie bediente, wurde den Studenten dann von den Übungsleitern gezeigt. Das war das Beste, denn wenn die Vorlesung begann, gab es für mich bis zum Ende der Veranstaltung nichts mehr zu tun, und ich konnte hinten im Hörsaal auf der Galerie stehen und lauschen. Natürlich war das streng genommen nicht erlaubt, denn um Vorlesungen zu besuchen, hätte ich den Großen Akademischen Eid schwören müssen, und das durfte keiner der Bediensteten. Ein, zwei Dozenten waren in dieser Hinsicht sehr genau, Professor Octavian zum Beispiel, der mich immer bis zum Ende seiner Vorlesung draußen auf dem Flur stehen ließ. Doch den meisten Lehrern, vor allem v 135 den jüngeren, schien meine Anwesenheit nichts auszumachen, und einige sagten sogar, sie seien froh, dass ich mich für den Lehrstoff begeistere. So begann ich, auch etwas über die Wissenschaft der Kartografie selbst zu lernen, und das war natürlich sehr interessant. Von Zeit zu Zeit musste ich auch in die Stadt, um Besucher der Akademie - mitunter recht wichtige Leute vom Kutschenhalt bis zur Hochschule zu begleiten. Ein paar Mal bin ich sogar mit der Kutsche in die Hauptstadt gereist, um Besucher abzuholen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht allein reisen wollten. Beim ersten Mal begleitete mich noch einer der älteren Bediensteten - wohl um sich davon zu überzeugen, dass ich alles richtig machte -, doch später wurde mir das Fahrgeld ausgehändigt, und ich durfte allein reisen. Ich schätze, ich hatte mich inzwischen als vertrauenswürdig erwiesen. Jedenfalls lud die Akademie immer wieder namhafte Besucher ein, seien es andere Professoren oder Mitglieder der Händler-Bruderschaften oder sogar Angehörige des Königlichen Gefolges. Einmal kam zum Beispiel Dr. de Voonik, der Oberste Kalibrator, ein anderes Mal der Oberste Königliche Ingenieur. Und eines Tages musste ich mich mit einem Magier treffen, genauer gesagt mit dem Obersten Magier des Königs. Und danach änderte sich wiederum alles. 136 Bildhauerei Die dunkle Substanz klebte in dicken, ungleichmäßigen Streifen an allen Wänden des sechseckigen Raums, trübte das Licht und zerlegte die Umgebung in helle, gezackte Strahlen und klobige, unförmige Blöcke aus Dunkelheit. Entschlossen kratzte Nina an dem Belag herum, bis ihr die Finger und Handgelenke wehtaten, doch irgendwie schien ihr Spachtel von Tag zu Tag kleiner und der Raum immer größer zu werden, während die kriechende schwarze Masse sich auf jeder Oberfläche breit machte, die Luft mit einer giftigen, erstickenden Süße erfüllte und sogar durch die Poren ihrer Haut drang. Nina hatte längst jede Hoffnung begraben, dem Raum sein ursprüngliches Weiß zurückzugeben, doch ihr war klar, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun musste, um die dunkle Substanz in Schach zu halten - die Ablagerung durfte auf keinen Fall völlig überhand nehmen. Manchmal sehnte sie sich danach, sich dem sirupartigen Gift einfach zu überlassen, nachzugeben, zurückzuweichen und alle Hoffnung zu verabschieden, doch in einem Winkel ihrer Seele wusste sie, dass sie nie mehr ans Tageslicht kommen würde, wenn sie sich diesem Raum überließe. So kämpfte sie mit aller Kraft, die sie noch aufbringen konnte, um den Erhalt der letzten dünnen Lichtstreifen. Die Decke, an die sie schon lange nicht mehr herankam, war gänzlich schwarz, und zwar unwiderruflich, doch Nina hatte die Wände bis dort hinauf abgekratzt, wohin sie mit den Armen reichte, hatte dann auch den Boden abgespachtelt und nun so viel Rückstand wie möglich zu einem kompakten Haufen zusammengefegt, 137 der in der Mitte des Raumes lag. Jetzt kniete sie im Halblicht vor der dunklen Substanz und klopfte sie wie eine monströse Sandburg zurecht. Ich könnte damit modellieren, dachte sie. Ich könnte daraus ein Kaninchen oder einen Fisch formen, wie ich das als kleines Mädchen immer am Strand gemacht habe. Ich könnte dieses Zeug in einen Gefährten verwandeln, in einen Spielkameraden. Zögernd zog sie hier eine Furche, formte dort einen Hügel. Ich könnte daraus einen Freund erschaffen. Nina umspannte den Haufen mit den Armen und spürte, wie er unter ihrem Druck ein wenig nachgab. Ja, dachte sie, jetzt beginnt das Zeug, sich irgendwie menschlich anzufühlen. Wie jemand, der auf dem Fußboden sitzt. Mit unters Kinn gezogenen Knien. Und mit um die Schienbeine geschlungenen Armen. Und auf die Knie gestütztem Kopf-ja, der Kopf liegt seitlich auf den Knien. Ja, so säße mein Freund da. Sie drückte sich an die dunkle Substanz, begrub ihr Gesicht darin und überließ sich kurz dem bitteren, inzwischen so vertrauten Geschmack. Unwillkürlich setzten ihre Hände die Erkundung fort. Nina stellte fest, dass die Substanz sich sogar wie ein Freund anfühlte. Ja, das war die schmale Hand mit den langen, geschwungenen Nägeln, die nur locker zugriff. Das hier war das Rückgrat, das da die Rippen, hier waren die scharfen Rückenwirbel zu spüren und dort sogar die Zwillingsgrate der Schulterblätter. Und das waren die
Haare. Die dunkle Substanz fühlte sich fast wie langes, geschmeidiges Haar an, durch das flüsternd der Wind streicht. Nina fuhr mit ihren Lippen durch das Haar, prüfte die Struktur und spürte die nach Moschus riechende Wärme. 138 Und das war das Gesicht, seitlich an die Knie geschmiegt. Ninas Lippen erkundeten ein schräg liegendes Auge, dessen Lid geschlossen war, einen kantigen Wangenknochen, die wächserne Beschaffenheit der Haut, die Feuchtigkeit der Lippen. Einmal mehr schien der dunkle Stoff sich zu beleben und massierte ihre Lippen und ihre Zunge mit scharfen Stichen und weichen Wellen, mit Wärme und Schmerz zugleich und verbreitete in ihrem Körper ein Glühen, das in den Lenden kitzelte. Erschrocken wich Nina zurück, wurde dabei aber unvermittelt gebremst. Eine schmale, sehnige Hand packte sie am Unterarm und zog sie wieder nach vorn, und eine heisere Stimme flüsterte ihr flammend und doch wie Honig ins Ohr: »Nina? Hab keine Angst. Ich bin dein Freund. Du kannst mir vertrauen.« Ein unerwartetes Geständnis »Wenn du den Kopf nicht still hältst, bekommst du noch die Ohren abrasiert!« »Entschuldige, Paul. Ich versuch jetzt, daran zu denken.« Rustys Nachbar verpasste ihm einen längst überfälligen Haarschnitt, den ersten seit Alices Abreise. »Du hast so schönes Haar. Wirklich schade, dass du es nicht pflegst.« »Paul, du bist fast schon so schlimm wie meine Mutter. Aua!« Rusty zuckte zusammen, als Paul ihm erneut mit sanfter Gewalt das Kinn auf die Brust drückte, um 139 sich seinen Nacken vorzunehmen. »Aber du hast Recht -ich schätze, ich habe die Dinge schleifen lassen. In letzter Zeit hat sich alles etwas gehäuft, weißt du - die Arbeit und andere Sachen.« Paul trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu prüfen, und nickte weise. »Tja, ich schätze, das passiert jedem von uns dann und wann. Macht dir diese Miss Garamond das Leben schwer?« »Nein, die nicht - jedenfalls nicht richtig«, erwiderte Rusty nachdenklich. »Obwohl mir jetzt, wo du das sagst, auffällt, dass sie mal eine sonderbare Bemerkung über meine Frisur gemacht hat. Aber wenn ich so darüber nachdenke, gibt es in der Firma eigentlich kaum ein Problem, das ich nicht lösen kann, wenn ich mich etwas hineinknie. Es ist eher...« »Was anderes?« »Was anderes, ja.« Dieser Feststellung folgte von beiden Seiten aufforderndes Schweigen, das nur ab und zu von Pauls Scherenklappern unterbrochen wurde. Schließlich trat er einen Schritt zurück und klopfte sich gedankenverloren mit dem Kamm an die Schneidezähne. »Ja, ja. Tja, ich denke, du bist fertig, aber versuch bitte, dir wenigstens ab und an die Haare zu kämmen. Hast du noch Zeit für einen Kaffee?« »Ja, gern. Ich muss heute Abend kaum noch was entwerfen. « Rusty nestelte das Frisiertuch aus dem Kragen und begann, sich zerstreut nach einem Besen umzusehen. »Da im großen Schrank. Nimmst du Milch und Zucker?« Sie setzten sich an den Küchentisch. Rusty rührte mechanisch den Kaffee um und starrte in die feine Porzel140 lantasse, die auf dem Untersetzer klirrte. Einen Augenblick später merkte er, dass Paul ihn ansah. »Es liegt an ihr, stimmt's? An dem Mädchen, mit dem du dich jeden Mittwochabend getroffen hast?« Rusty nickte. »An Alice, ja. Aber sie wohnt nicht mehr hier. Sie musste wegziehen.« »Das ist aber schade. Es sah so aus, als würdet ihr euch prima verstehen.« »Wirklich? Ich weiß nicht. Ich hab sie ja immer nur ein paar Stunden pro Woche gesehen. Aber ich vermisse sie sehr, Paul. Plötzlich kommt mir alles so schwer vor.« »Na, du kennst ja das Sprichwort: Es wird sich schon jemand anders finden - im Meer schwimmen viele Fische. Ich hätte ja gedacht, die Mädchen würden bei dir Schlange stehen, wo du so ein hübscher Junge bist.« Rusty brachte ein mattes Lächeln zuwege und nippte halbherzig an seinem süßen Milchkaffee. »Weißt du was?«, fuhr Paul lebhaft fort. »Am Freitag besuchen mich ein paar Freunde. Es gibt Schnittchen und was zu trinken. Du könntest doch dazu stoßen, wenn du Zeit hast.« »Danke, Paul. Gern.« Paul war ein gutherziger, gastlicher Mensch, und auch seine Freunde waren sehr aufgeschlossen und umgänglich, doch obwohl Rusty sich ihnen an ein paar Freitagabenden anschloss, fühlte er sich ihrem kleinen Kreis nicht wirklich zugehörig. Und obwohl er feststellte, dass er inzwischen mit einigen Nachbarn im Haus ein Begrüßungsnicken tauschte, hatte er noch immer nicht das Gefühl, in der Hauptstadt auch nur einen echten Freund gefunden zu haben. Ein Grund dafür war, dass die Arbeit beim Anzeiger ihn allmählich sehr viel Zeit 141 und Energie kostete. Seit seiner unerwarteten Beförderung war er für ein lose verbundenes Team von Malern und Zeichnern verantwortlich, für das er wechselnde Mitglieder gewinnen und dessen Arbeit er koordinieren
musste, und es hatte sich gezeigt, dass es nicht leicht war, mit Künstlern klarzukommen. Doch je mehr ihn seine Arbeit beanspruchte, desto leichter konnte er Alice wenigstens eine Zeit lang vergessen. Eines Morgens saß er wie üblich in dem engen Kabuff, das ihm als Büro diente. Zwischen hohen Aktenschränken hockte er unter dem schmierigen Dachfenster an seinem kleinen Schreibtisch, sichtete die Tagespost und fragte sich, wie viele dringende Aufgaben vor dem Mittagessen auf ihn zukommen mochten, als plötzlich die Tür aufflog und ein massiger, extravagant gekleideter Mann mittleren Alters auf der Schwelle stand. Es war Norman Loxley, ein Künstler, der zu Rustys festen Mitarbeitern zählte. Ohne jede Einleitung fing Loxley sofort an, mit durchdringender, ja dröhnender Stimme auf ihn einzuschimpfen. »Ihr verdammten Kerle, ihr glaubt, ihr könnt uns allen vorschreiben, wie wir unsere Arbeit zu machen haben.« Rusty hatte sich allmählich an solche Ausbrüche gewöhnt und setzte eine Miene auf, die höfliche Aufmerksamkeit ausdrückte. »Ich bin Künstler. Ist das so schwer zu begreifen? Ich zeichne, ich male, ich drücke mich aus, ich empfinde. Du und deinesgleichen -ihr wollt uns bloß eure kleingeistigen Vorstellungen aufzwingen. Ihr wollt uns in Reih und Glied stehen sehen, uns eine Nummer verpassen und uns Weisungen erteilen.« Seine Gesichtsfarbe nahm allmählich ein gefährliches Puterrot an. »Ihr wollt, dass wir nach eurer dummen kleinen Pfeife tanzen und all unser Tun nach 142 eurer blöden Zweckmäßigkeit ausrichten - nur, damit es in euren idiotischen Zeitplan passt...« Rusty nickte höflich und merkte dann, dass der Wortschwall vorübergehend versiegt war und von einer wirren Folge unverständlicher Laute und Gesten abgelöst wurde. Rasch packte er die Gelegenheit beim Schopf, seine Sicht der Dinge vorzutragen, ehe Loxley seine einschüchternde Sprachmacht zurück gewann. »Norman, du hast nun mal einen Vertrag mit dem Anzeiger.« Rusty nahm irgendeinen Zettel und hielt ihn hoch. »Erinnern wir uns beide kurz, was hier drinsteht. Wir verlangen von dir gar nicht, dass du deine Gefühle ausdrückst. Wir wollen nur, dass du akkurate Zeichnungen von Gegenständen und Ereignissen oder zu Themen anfertigst, die dir von Zeit zu Zeit von der Chefredakteurin oder ihrem Vertreter genannt werden.« Bei der bürokratischen Sprache, die er zu verwenden gezwungen war, wand er sich innerlich vor Verlegenheit, nahm aber an, sein Gegner sei zu überreizt, um das zu merken. »Das verstehst du doch, Norman, oder? Wir haben das schon ein paar Mal durchgekaut.« Loxley beugte sich über den Schreibtisch, schnappte Rusty das Blatt aus der Hand und riss es theatralisch in Fetzen - zum Glück, ohne sich erst mit der Lektüre aufgehalten zu haben. »Das halte ich von deinem Vertrag. Und das. Und das.« Er verstreute die Papierschnipsel in mehrere Richtungen. »Und wenn es nach mir geht, mein kleiner Herr Grün oder Braun oder wie immer du heißen magst, dann können du und deinesgleichen in der Hölle schmoren. Denn eines lass dir gesagt sein: Ich hab schon gemalt und gezeichnet, als du noch in den Windeln gelegen hast und...« 143 Innerlich seufzend ließ Rusty noch eine Flut von Beleidigungen über sich ergehen. Er hatte schon einige ähnliche Wortwechsel mit Loxley gehabt und wusste, dass er bis zum abschließenden theatralischen Schmettern der Bürotür kaum noch etwas würde sagen müssen. Und er wusste, dass Loxleys Arbeit pünktlich und tadellos auf seinem Schreibtisch landen würde. Rusty war sich noch nicht ganz darüber im Klaren, welchen Nutzen diese erhitzten Wortwechsel jeder Seite bringen mochten - wenn sie denn einen Nutzen hatten. In seinem Künstlerteam besaßen einige ein ähnliches Temperament wie Loxley, und ein Teil davon lieferte die Arbeit ebenfalls stets pünktlich ab, ein anderer Teil hingegen nicht. Außerdem gab es eine ganze Reihe von Mitarbeitern, die ihre Zeichnungen zwar pünktlich abgaben, aber nur mittelmäßig waren, und es gab einen, dessen Beiträge eigentlich grauenhaft waren, auf den man sich aber stets verlassen konnte, wenn es darum ging, rasch einen Lückenbüßer zu zeichnen. Es gab sogar ein, zwei Mitarbeiter, die zuverlässig gute Beiträge rechtzeitig und ohne Theater liefern konnten, doch sie waren schwer zu bekommen, weil sie meist anderswo gebraucht wurden. Resigniert gelangte Rusty zu dem Schluss, dass sich an all dem in absehbarer Zeit wohl wenig ändern würde. »... und ich hoffe, du achtest künftig darauf, du Jungspund, denn diesmal meine ich es wirklich ernst. Ich hab die Nase von euresgleichen voll bis obenhin. Hast du das gehört? Bis obenhin!« Das erwartete Schmettern der Tür versetzte Rusty unvermittelt ins Hier und Jetzt zurück. Er quetschte sich seitlich am Schreibtisch vorbei, drehte auf allen vieren eine Runde auf dem Bürofußboden und sammelte die 144 Schnipsel des Blattes ein, das Loxley zerrissen hatte. Als er sich danach wieder an den Schreibtisch setzte, nahm er die Post erneut zur Hand und versuchte, irgendwie an das anzuknüpfen, womit er vor Loxleys Auftritt beschäftigt gewesen war. Dann erst bemerkte er, dass die Glocken des Instituts für Kalibrierung längst geläutet, aber niemand daran gedacht hatte, ihm den Kaffee zu bringen, den er zum zweiten Frühstück trank. Rustys Pflichten als Leitender Bildredakteur banden ihn oft bis weit über die offizielle Arbeitszeit hinaus an sein beengtes Büro. Wenn er schließlich überzeugt war, alles geschafft zu haben, was an diesem Tag - realistisch betrachtet - zu schaffen war, überquerte er die Straße und kehrte im »Ausrufers Ruh« ein. Dort verbrachte er noch ein, zwei Stunden - mal mit Kollegen, mal allein - und machte sich dann auf den einsamen Heimweg zu seinem Wohnblock. Diesmal war er in Gesellschaft von Miss Garamond, die ihre Arbeit zufällig gleichzeitig beendet hatte.
»Eins muss man der Königlichen Wolfsjungen-Miliz lassen«, sagte Miss Garamond und kämpfte dabei mit dem komplizierten und schlecht funktionierenden Mechanismus ihres alten Schirms. »Seit es sie gibt, kommt man viel leichter über die Straße.« Die beiden traten im Gleichschritt vom Bordstein, als zwei ganz und gar nicht zueinander passende Wolfsjungen den Abendverkehr mit einem Wink zum Halten brachten. Ihre Stiefel sahen inzwischen besser eingelaufen und bequemer aus, doch in den steifen weißen Stulpenhandschuhen der Verkehrspolizei schienen sie sich noch immer ausgesprochen unbehaglich zu fühlen. »Früher hat es ewig gedauert, bis man hier über die Straße kam - auch wenn 145 es nicht regnete«, fuhr Miss Garamond fort. Sie waren auf der anderen Straßenseite angelangt und rückten unter dem ausgefransten Schirm zusammen, weil der Regen stärker wurde. Rasch schritten sie den Hügel hinauf und wichen dabei Pfützen aus. Kurz darauf tauchten links die einladenden Lichter von »Ausrufers Ruh« auf. Miss Garamond besuchte dieses Gasthaus nicht oft, doch als gewissenhafte Vorgesetzte legte sie Wert darauf, gelegentlich ein Glas mit ihren Mitarbeitern zu trinken. Stets erwies sich dabei, dass sie fast mit jedem mithalten konnte. Die beiden schoben sich in eine Ecknische, Rusty mit einer Flasche Bier, Miss Garamond mit einem etwas kleineren Flachmann. »Zigarette? Ach nein, Sie rauchen ja nicht. Tut mir Leid, es ist einfach hoffnungslos mit mir. Aber Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mir eine anstecke, oder?« Sie saßen eine Zeit lang freundlich schweigend da. Zwischen ihren Zügen unternahm Miss Garamond diverse Versuche, den Schirm so hinzustellen, dass er trocknen konnte. Schließlich kam ihr Rusty, der von Natur aus etwas praktischer war, zu Hilfe. Anerkennend beobachtete sie seine Bemühungen. »Danke, jetzt klappt es wohl. Hoppla - na bitte. Vielleicht können wir jetzt zu den Dingen kommen, die mir durch den Kopf gehen. Hat Ihnen der alte Trottel Loxley nicht heute Morgen eine Szene gemacht?« Rusty lächelte und war inzwischen entspannter. »Daran gewöhne ich mich allmählich - er tut das ja alle paar Wochen. Inzwischen macht es mir kaum noch zu schaffen, aber es kostet jedes Mal viel Zeit.« Miss Garamond kippte sich mit militärischer Präzision einen Schluck hinter die Binde und musterte Rusty 146 dann über ihre Brillengläser hinweg. »Ist der Kerl diesen Ärger denn wert? Sie können ihn jederzeit an die Luft setzen, wenn Sie wollen - vielleicht besser möglichst bald.« »Ich weiß. Aber seine Arbeit ist gut, und er liefert sie stets pünktlich ab.« »Na, das ist natürlich allein Ihre Entscheidung. Es ist ja Ihre Abteilung, und die müssen Sie leiten, wie Sie das für richtig halten. Aber irgendwas ist doch faul, oder? Wenn es nicht an diesem Loxley liegt, dann an etwas anderem. Ich spüre einfach, dass Sie sich über etwas ärgern - Sie sind in letzter Zeit ganz anders als sonst.« Sie zog die Brauen hoch. »Gibt es etwas, womit Tantchen Ihnen helfen kann?« Die unerwartete Besorgnis in ihrer Stimme überraschte Rusty. »Nein danke, eigentlich nicht. Wenigstens komme ich mit der Arbeit inzwischen immer besser zurecht. Noch eine Flasche?« »Na ja, noch ein Fläschchen vielleicht.« Als Rusty von der Theke zurückkam, wollte Miss Garamond das Thema noch immer nicht fallen lassen. »Na los, erzählen Sie, was Sie bedrückt. Geht's um ein Mädchen?« Er zögerte und wusste nicht recht, ob er sie ins Vertrauen ziehen sollte. Sie sah ihn weiter über die Brille hinweg an. »Ja, ich schätze, darum geht's«, sagte er schließlich. »Es hat da ein Mädchen gegeben, doch sie musste fortziehen. Das passiert mir immer wieder. Ein paar Monate ist das jetzt her, aber es gelingt mir einfach nicht, sie mir aus dem Kopf zu schlagen. Sie war ein ganz besonderer Mensch. Jemanden wie sie habe ich noch nie getroffen.« 147 Miss Garamond rückte ihre Brille zurecht. »Ich schätze, in Ihrem Leben hat es noch nicht allzu viele Mädchen gegeben, stimmt's?« Sie schien viel mehr mitzubekommen, als Rusty erwartet hatte. Beim Antworten konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Nein, nur ein paar. Als Erste kam Laurel. Die habe ich kennen gelernt, als wir beide etwa sieben Jahre alt waren, und es ist seltsam, doch auch sie ist fortgezogen. Sie stammte aus einer Familie von Fahrenden.« Miss Garamond musterte ihn scharf, verfolgte diesen Punkt jedoch nicht weiter. »Aber ab und an taucht sie plötzlich auf«, fuhr Rusty fort. »Das letzte Mal bei der Beerdigung meiner Mutter. Sie hat zwei Kerzenhalter gestohlen und war tags darauf erneut verschwunden.« »Hört sich nicht gerade nach der idealen Partnerin an«, warf Miss Garamond trocken ein. Rusty lächelte schwach. »Dann gab es Eileen. Mit der hatte ich als Teenager ein paar Abenteuer.« Miss Garamond runzelte die Stirn, und Rusty spürte ihre unausgesprochene Frage. »Die waren alle ziemlich harmlos. Aber ihr Vater hat mich nicht besonders gemocht und letztlich dafür gesorgt, dass sie sich nicht weiter mit mir getroffen hat. Ich hab seit langem nicht mehr an Eileen gedacht. Und gesehen hab ich sie seit Jahren nicht mehr.« Er starrte eine Zeit lang seine Flasche an. Miss Garamond unternahm keinen Versuch, ihn beim Sinnieren zu stören. »Aber Alice war anders. Wenn wir zusammen waren, hatte ich das Gefühl, wir wären zwei Hälften ein und derselben Person. Das
habe ich sonst nie bei jemandem empfunden. Und jetzt ist es so, als hätte ich einen Teil meiner selbst verloren. Ich glaube nicht, dass ich sie je vergessen werde.« 148 Miss Garamond musterte ihn eine ganze Weile und zündete sich schließlich eine neue Zigarette an. »Ich weiß nicht, ob es hilft«, begann sie langsam, »aber ich hab mal eine recht ähnliche Erfahrung gemacht. Das ist lange her. Damals war ich wirklich noch sehr jung.« »Als Sie in einer der Grenzprovinzen gelebt haben?« »In einer Grenzprovinz? Nein, das ist sogar noch länger her. Ich war sehr jung, und er war etwas älter. Ich hab ihn nur eine sehr kurze Zeit gekannt. Aber ich habe viel von ihm gehalten - wirklich sehr viel.« Jetzt war es an Rusty, sich in Geduld zu üben. »Na ja, ich denke, die Einzelheiten sind nicht wichtig. Aus diesem und jenem Grund durften wir uns jedenfalls nicht mehr sehen. Ich habe von ihm seit... ach, seit dreißig Jahren nichts gehört. Aber seither hat es keinen anderen mehr gegeben, denn das schien mir irgendwie sinnlos zu sein.« Sie hantierte mit ihrem leeren Fläschchen herum. Unsicher, was er sagen sollte, spielte auch Rusty mit seiner Flasche. »Davon hatte ich keine Ahnung«, wagte er schließlich zu sagen. »Ist es im Lauf der Zeit denn besser geworden?« Miss Garamond lächelte schwach. »Eigentlich nicht. Ich glaube, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke. Vermutlich ist es meine Arbeit, die mich all die Jahre hat weitermachen lassen.« »Ja.« Hinterhältig öffnete sich eine alternative Zukunft vor Rusty. »Auch ich hab meine Arbeit.« Plötzlich griff die Chefredakteurin überraschend kraftvoll nach seinem Handgelenk. »Nein, nein, nein, das dürfen Sie sich nicht antun, das dürfen Sie nicht! Sie sehen doch, was aus mir geworden ist — eine mürrische alte Schachtel, die keine Freunde, keine Familie 149 und auch keinen Partner hat, zu dem sie abends heimkommen kann. Ist es das etwa, was Sie wollen? Ich weiß, es ist hart, aber wenn Sie es jetzt fertig bringen, sie zu vergessen, können Sie privat neu anfangen.« Sie kam schwankend auf die Beine. »Ich geh jetzt nach Haus. Sie bleiben hier und holen sich noch was zu trinken. Und behalten Sie das Mädchen hinter der Theke im Auge. Ja, die mit den braunen Haaren. Die sieht Sie schon den ganzen Abend an. Nein, kümmern Sie sich nicht um den Schirm - das schaffe ich schon. Na los, setzen Sie sich in Bewegung. Machen Sie schon!« Und mit diesen Worten schlurfte Miss Garamond - noch immer mit ihrem widerspenstigen Schirm kämpfend - in den Regen hinaus, während Rusty verdutzt die braunhaarige Bedienung musterte. »Was hat der Magier für dich getan?« Sie hatten mir gesagt, ich solle den Magier am Stadtrand abholen, an der Großen Kreuzung. Ich glaube, er konnte sich nicht besonders gut orientieren, deshalb sollte ich ihn in der Kutsche zur Akademie begleiten. Ich war schon mehrmals zu diesem Knotenpunkt gereist, um verschiedene Leute zu treffen, und es war dort immer etwas verwirrend, weil die Kreuzung und alles, was an ihr zusammenströmte, nicht gerade gut organisiert war. Eigentlich war gar nichts organisiert: Die Kutschen und Fuhrwerke kamen einfach an und luden ihre Fahrgäste ab, wo es gerade passte, und es war immer matschig; die Passagiere wankten durch den Dreck und versuchten, einen passenden Anschluss zu finden - kei150 ner schien das Chaos zu durchschauen, und niemand wusste, von wo es wann weiterging. Es gab Scharen von Kindern, die Botschaften austrugen und Getränke verkauften, doch auch ihnen schien niemand Anweisungen zu geben. Alles geschah völlig planlos. Jedenfalls suchte ich mir einen leicht erhöhten Aussichtspunkt und wartete ab - das schien mir die beste Taktik. Ich weiß noch, dass ich beim Warten dachte, ein wenig Organisation würde der Kreuzung bestimmt gut tun, irgendein Verfahren, um die Leute auf dem Laufenden zu halten und wissen zu lassen, wo sie Kutschen und Fuhrwerke zu verschiedenen Reisezielen fänden. Und wie du weißt, habe ich dort dann schließlich gearbeitet und ziemlich viel verändert, doch ich greife schon wieder vor. Zu all dem kommen wir noch, aber jetzt erzähle ich dir erst mal, wie ich den Magier getroffen habe. Ich wusste, was er tragen würde, denn ich hatte eine Beschreibung seines Habits bekommen, und schließlich entdeckte ich ihn, einen großen Mann mit kurzem Bart, ziemlich unansehnlich und etwas unbeholfen - also vermutlich wie ich. Er trug eine lange, rot- und goldfarbene Robe, einen breiten Hut und große, schicke Stiefel, die in all dem Matsch recht praktisch waren, und er hatte eine Ledertasche dabei, die wohl seine Reisesachen enthielt. Mich hat beeindruckt, wie klein sie war - das weiß ich noch genau. Ich schlug mich zu ihm durch und erklärte ihm, die Akademie habe mich geschickt. Er schien etwas durcheinander und sagte, er sei das Reisen nicht gewohnt und habe seine Brille verloren. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, an der Kreuzung einen ambulanten Optiker aufzutun, und ist erst auf mich eingegangen, nachdem ihm das gelungen war. Schließlich hat er es tatsächlich ge151 schafft, eine neue Brille zu bekommen... vielleicht hat er aber auch nur seine alte gefunden, ich weiß es nicht mehr. Danach jedenfalls ließ er sich von mir an die Hand nehmen, merkte dann jedoch, dass er seine Tasche verloren hatte, und dieses Problem zu lösen, kostete noch etwas Zeit. Wir fanden ein paar kleine Mädchen, die aufsammelten, was die Leute verloren, und es wieder an die Eigentümer verkauften, aber dann hatte er natürlich
kein passendes Geld, und ich glaube, ich musste die Gebühr für ihn bezahlen. Bis dahin hatten wir so viel Zeit vergeudet, dass die Kutsche ohne uns abgefahren war. Also galt es, eine andere zu finden, und als wir endlich unterwegs waren, begann es schon zu dunkeln, und wir mussten in einem Gasthof übernachten und konnten erst am nächsten Tag Weiterreisen. All das war natürlich ermüdend und unbequem, aber es bedeutete auch, dass ich mich ziemlich lange mit dem Magier unterhalten konnte. Während der Fahrt ging das zwar nicht, weil er in der Kutsche saß, während ich draußen auf dem Bock hocken musste, denn ich war ja nur ein Dienstbote, doch im Gasthof saßen wir zusammen, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Er fragte nach meinem Namen, und ich antwortete: »Tom Slater, Sir.« Das fand er sehr interessant und sagte: »Wir sind uns schon einmal begegnet, Tom. Erinnerst du dich an mich?« Ich verneinte, und er berichtete, er sei es gewesen, der mich vor vielen fahren aus dem Waisenhaus geholt und in die Akademie gebracht habe. Nachdem er mir das erzählt hatte, war mir mitunter, als könnte ich mich schwach an ihn erinnern. Dann hat er mich ausgefragt, was ich in all den fahren an der Akademie gemacht und welche Arbeiten ich erledigt habe, und ich erzählte ihm von meinen ver152 schiedenen Tätigkeiten. Ich hab ihm sogar von meinen Gedichten und Kreuzworträtseln und von meinem Ordnungssystem berichtet, und er schien an all dem sehr interessiert. Dann erzählte ich ihm, dass ich den Übungsleitern assistiert und Vorlesungen gehört habe, doch dann war Schlafenszeit, und er ging in seine Kammer hinauf während ich mich zu den übrigen Bediensteten in den Stall legte. Nach all den fahren bei Roger dem Blinden war das seltsam, doch ich hatte meine Kette dabei und fühlte mich darum nicht völlig allein. Am nächsten Morgen hat der Magier wenig mit mir geredet und schien beim Frühstück wieder etwas verwirrt, doch irgendwie habe ich ihn rechtzeitig in die Kutsche setzen können, und kurz vor Mittag erreichten wir die Akademie. Ich half ihm beim Aussteigen, vergewisserte mich, dass er seine Tasche und seine Brille dabeihatte, und zeigte ihm den Weg, den er einschlagen musste. Als ich mich von ihm verabschieden wollte, hieß er mich mit einer Handbewegung warten und begann, in der Innentasche seiner Robe zu kramen. Ich dachte, er würde mir etwas Geld geben, doch er reichte mir nur ein kleines Stück Pergament, auf dem sein Name - Meister Pegasus stand, dankte mir für meinen Beistand und sagte, er halte mich für einen sehr intelligenten jungen Mann und könne mir vielleicht helfen, eines Tages in eine Situation zu kommen, in der ich mehr aus mir machen könne. Ich wusste nicht recht, was er damit meinte, sollte es aber bald herausfinden, jedenfalls sah ich ihn danach nicht wieder. Er ging zu seiner Besprechung oder tat, was man sonst von ihm erwarten mochte, und als er wieder zurück in die Hauptstadt reiste, begleitete ihn ein anderer Diener. 153 Ein paar Tage später erfuhr ich, was er mit der Bemerkung, er könne mir helfen, gemeint hatte. Das muss in den Sommerferien gewesen sein, denn es wohnten gerade keine Studenten in der Akademie. Ohne sie war es immer sehr ruhig. Jedenfalls half ich deshalb auch nicht bei den Vorlesungen, sondern war wieder in der Küche eingeteilt. Ich erinnere mich noch, dass ich gerade einen großen Kochtopf scheuerte, als Mr Roberts erschien und mich aufforderte mitzukommen. Er brachte mich zur Direktorin der Akademie, deren Assistent mich erst warten ließ und dann zu ihr führte. Ich war noch nie zur Direktorin zitiert worden. Sie nahm ihre Mahlzeiten nicht mit den anderen Professoren und Dozenten ein und hielt keine Vorlesungen, und ich glaube nicht, dass sie viel Zeit hatte, mit Bediensteten zu sprechen. Sie saß mitten in einem großen Zimmer an einem gewaltigen Schreibtisch. Auf dem Boden lag ein Teppich, und in der Ecke stand ein Stativ mit einem langen Teleskop. In ihrem Rücken befanden sich drei große, spitzbogige Fenster, sodass ich ihr Gesicht im Gegenlicht schlecht erkennen konnte, doch sie schien eine recht zierliche Dame zu sein und sprach mit leiser, kratziger Stimme. »Setz dich hin, Tom, und lass dich anschauen«, begann sie. Also setzte ich mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, und sie musterte mich ziemlich lange. Dann sagte sie: »Ich habe gehört, du bist ein sehr aufgeweckter junger Mann.« Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte, und murmelte nur: »Danke, Ma'am, ich hoffe, Ihren Erwartungen zu genügen.« Dann erklärte sie: »Es sieht so aus, als hättest du einen Sponsor. Weißt du, was das bedeutet?« »Ich glaube ja, Ma'am«, erwiderte ich, und sie fragte: »Was hältst du davon, hier Kartografie zu studieren?« 154 Zuerst mochte ich nicht glauben, was ich gehört hatte. Mein Herz begann heftig zu pochen, und ich schätze, wenn ich mich nicht am Stuhl festgehalten hätte, wäre ich auf den Teppich gefallen. Doch ich vermochte mich zu beherrschen und sagte etwas wie: »Danke, Ma'am, das würde mir sehr gefallen.« Sie meinte: »Also gut- du wirst deine Pflichten als Dienstbote bis zum Beginn des nächsten Studienjahrs weiter erfüllen und dich dann mit den neuen Studenten für das Kartografiestudium einschreiben.« Ich glaube, ich brachte noch »Vielen Dank, Ma'am« heraus, und sie sagte: »Mein Assistent wird dir alle nötigen Unterlagen geben.« Dann nickte sie ihm zu. Er musste die ganze Zeit hinter mir gestanden haben, führte mich nun aus dem Zimmer und gab mir die Papiere. Und ein paar Minuten später war ich wieder in der Küche und schrubbte Kochtöpfe. Erst einige Stunden darauf fiel mir ein, dass die Direktorin dieselbe alte Dame war, die für die Gartenarbeiten verantwortlich war. Das verblüffte mich sehr, und ich weiß noch immer nicht recht, was ich davon halten soll. Ninas letztes Abendessen Nach der ersten, beunruhigenden Begegnung mit ihrem neuen Gefährten dachte Nina gar nicht gern daran, dass
sie die Empathiemaschine eigentlich weiter warten musste. Stattdessen löschte sie jeden Abend, kaum dass der letzte Kunde gegangen war, die Räucherpfannen, fegte die Bude, schaltete die Maschine aus und schloss die Vorhänge, um den Apparat nicht zu sehen. 155 Dann zwang sie sich, die Hände von den Schaltern zu lassen, verließ die Bude, schloss den Eingang hinter sich und setzte sich mit den Übrigen zum Abendessen. Schweigend hockte sie da und aß kaum etwas. Das Reden und Lachen der anderen kam und ging, blieb aber seltsam entfernt — wie ein wellenförmiges Hintergrundgeräusch, das sie völlig kalt ließ. Es hatte zu regnen begonnen, und das Trommeln der Tropfen auf dem Zeltdach vermischte sich mit den Stimmen zu einem konturlosen Geräuschteppich. Von Zeit zu Zeit spürte Nina sich vom einen oder anderen Gefährten gemustert Andrew Constanzas betrachtete sie mit einem verdutzten, fragenden Gesichtsausdruck, George mit eiserner Habgier, Klapsi mit kalter Gleichgültigkeit. Nur in der Miene von Leon Constanzas konnte sie eine Spur echter Sorge entdecken, und von ihm wandte sie die Augen ab, denn sein stilles Mitleid machte ihr Angst und deprimierte sie zugleich. Sie hielt sich an der Tischkante fest, konzentrierte sich auf die Falten der weißen Decke und bemühte sich nach Kräften, das Zittern in ihren Händen zu unterdrücken. »Mögt Ihr etwas Käse, Madame Nina?« Diese Frage ließ sie erschrocken herumfahren und direkt in Leons Gesicht sehen, der sich weit zu ihr hinübergebeugt hatte. »Danke... nein... ich... Entschuldigt mich.« Sie hatte sich nicht mehr in der Gewalt, stand schwankend auf, drängelte sich zwischen ihren Nachbarn hindurch und floh Hals über Kopf aus dem Zelt. Schon im nächsten Moment rannte sie keuchend über die Wiese, auf der die Schausteller Halt gemacht hatten, und wäre auf dem nassen Gras ein paar Mal beinahe ausgerutscht. Der Regen ließ ihr das Haar in feuchten 156 Strähnen ins Gesicht fallen. Dann war sie endlich in der Sicherheit ihrer Bude, riss die Vorhänge auf, griff mit nervösen Fingern nach den Schaltern, tastete nach dem Kopfhörer... ... und war wieder in dem sechseckigen Raum. Dort war die Atmosphäre nun völlig verdüstert, und Nina begriff, dass der Kampf gegen die dunkle Substanz endgültig verloren war. Es schauderte sie. Dann merkte sie, dass sie nicht allein war. Auch ihr Freund war da. »Ich habe dich vermisst«, zischte die vertraute Stimme, und Nina spürte einen erschreckend drohenden Unterton darin. »Aber ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist. Ja, ich bin froh, denn ich kann dir helfen, Nina. Bitte vertrau mir.« Nina konnte ihren Gefährten kaum erkennen, spürte aber, dass er aufrecht in der Mitte des Raumes stand. Das lange schwarze Haar fiel ihm über die breiten Schultern; die langen Glieder waren entspannt, die wächserne Haut war kühl und trocken. »Komm zu mir, Nina.« Wider Willen trat sie einen Schritt vor... »Komm näher.« ... und noch einen Schritt... ...und dann packten sie zwei Hände bei den Schultern, und ein elektrischer Schlag schien durch Ninas Körper zu fahren. »Ich kann dir helfen, Nina. Was wünschst du dir?« Die Stimme klang jetzt sanfter. »Ich weiß nicht«, hörte Nina sich antworten und merkte, dass ihre Wangen tränennass waren. »Ich will diesen Raum nie mehr sauber machen. Ich bin so müde. 157 Ich möchte einfach nur... einfach nur, dass alles aufhört. Kann ich nicht bei dir bleiben?« Die Hände lockerten ihren Griff. Nina konnte den Körper ihres Gefährten spüren und seinen Moschusduft riechen. »Natürlich kannst du bleiben, Nina.« Jetzt schien die Stimme sie zu liebkosen. »Du kannst bei mir bleiben, solange du willst. Sag es einfach nur. Sag einfach: >Ich will bleiben.<« Plötzlich klang die Stimme wieder bedrohlich. »Sag es.« »Ja«, sagte Nina leise und unsicher. »Sag es, Nina.« »Ja.« Ihre Stimme war nur noch ein kaum hörbares Flüstern. »Ich will bleiben.« Langsam packten die Hände wieder fester zu, und mit panischem Schrecken bemerkte Nina plötzlich, dass sie sehr stark waren, viel stärker als sie selbst. Ihr stockte der Atem. »Du tust mir weh.« Sofort spürte sie sich mit gewaltiger Kraft rückwärts geschleudert und knallte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass ihr der Atem aus den Lungen fuhr. Schwindel erregend drehte sich der Raum um sie. Sie fühlte sich benommen und hatte den Eindruck, ihr Körper werde von innen nach außen gestülpt. Dann sprang irgendwo eine Falltür auf, und sie spürte, wie sie von einer dunklen, bitteren, zähflüssigen Flut zerstörerischer Energie verschlungen wurde, und vernahm ein betäubendes Gezeter wild durcheinander schreiender, zischender und
höhnender Stimmen. Hilflos ließ sie sich von der Schwärze überwältigen, durchtränken, besiegen. Die Stimmen schwollen in unerträglichem Crescendo an und klangen danach langsam ab... 158 ...bis sie allmählich in Stille übergingen. Dann war sie verlassen, gebrochen und allein. »Meine Güte, was war denn das?« Leon Constanzas ließ die Kakaokanne fallen und stürzte in den Regen hinaus. Er war sich nicht sicher, ob die schrillen, Grauen erregenden Schreie von einer oder mehreren Stimmen herrührten, doch ihm war sofort klar, dass sie aus der Bude von Madame Nina gekommen waren. Er fand sie ausgestreckt vor ihrer Maschine auf dem Boden. Mit der Linken umklammerte sie noch immer einen der beiden Griffe, und den Kopfhörer hatte sie um den Hals. Ihre Augen und ihr Mund waren weit geöffnet. Als er sich über sie beugte, zeigte ihr Gesicht keinerlei Reaktion. Leon merkte, dass einige ihm gefolgt, aber am Eingang stehen geblieben waren und in die Bude starrten. »Was ist passiert?«, wollte Andrew Constanzas wissen. »Keine Ahnung. Ich glaube, sie lebt, aber sie kann mich nicht sehen. Wir bringen sie besser in ihren Wohnwagen und legen sie ins Bett.« Das Reich der Träume war weder am nächsten noch am übernächsten Tag geöffnet. Auch am dritten Tag blieb Madame Ninas Zustand unverändert, doch nun war für den Reisenden Vergnügungspark die Zeit gekommen, weiterzuziehen. »In diesem Zustand wird sie uns keine Kundschaft bringen«, sagte George Constanzas. Die Truppe saß wie üblich zum Essen an der langen Tafel beisammen, und Leon hatte - weil sich das am letzten Abend vor dem 159 Aufbruch so gehörte - einen riesigen Kochschinken aufgetischt. »Nein«, bestätigte Andrew. »Und ich sehe nicht, wie wir sie mitnehmen sollen. Schließlich wissen wir nicht, wie lange dieser Zustand noch andauern wird.« Er hielt einen Moment gedankenverloren inne. Dann schien ihm eine Idee zu kommen. »Ich denke, wir könnten sie ausstellen, als >Schlummernde Hirtenmaid< oder so. Allerdings dürfte sie kaum noch als Maid durchgehen.« »Kommt gar nicht in Frage«, sagte Leon aufgebracht. »Das hätte Mutter niemals gutgeheißen, sondern respektlos genannt. Und ich hätte ihr da nur Recht geben können. Auch wenn wir Madame Nina nicht besonders gemocht haben und sie recht verschroben gewesen sein mag, sie war doch eine von uns.« Einige nickten, sogar der menschenfeindliche Klapsi. »Ich kenne da einen Ort«, fuhr Leon einen Augenblick später fort, »wo man sich um Leute kümmert, die nicht selbst für sich sorgen können. Er ist ziemlich in der Nähe und heißt, glaube ich, Haus der Ruhe oder so. Bringen wir sie doch dorthin!« »Und wer soll das bezahlen?«, wollte George wissen. Sie einigten sich schließlich darauf, es sei für alle Seiten das Beste, Nina dort unterzubringen - vorausgesetzt natürlich, die Kostenfrage ließe sich lösen. Ein paar Tage später beobachteten die Patienten überrascht, wie ein knallbunt bemalter Konvoi von Schaustellerfuhrwerken auf dem hügeligen Rasen vor dem Haus der Ruhe vorfuhr. Zwei Männer stiegen vom ersten Wagen und gingen ein wenig zaghaft die Treppe zum Haupteingang hinauf. Der größere der beiden trug einen Gehrock und einen ramponierten Zylinder. Der klei160 nere und etwas jüngere hatte eine Kochschürze umgebunden. An der Tür wurden sie von einem graubärtigen Mann mittleren Alters empfangen, der sich hastig etwas vom ausgefransten Pullover strich, das wie Pastetenkrümel aussah. »Hallo«, sagte der Mann mit leicht gedämpfter Stimme, als habe er noch etwas Essen im Mund. »Ich bin Geoffrey, der Pförtner vom Dienst. Was kann ich für Sie tun?« »Tja, also, wir haben da draußen in einem unserer Fuhrwerke eine Frau«, begann Leon verlegen. »Es sieht so aus, als hätte sie einen schlimmen Schock erlitten. Sie bewegt sich nicht und sagt keinen Ton. Können Sie etwas für sie tun?« »Natürlich«, erwiderte Geoffrey und schluckte runter, was er noch im Mund hatte. »Das Haus der Ruhe weist keinen Leidenden ab. Wo ist die unglückliche Dame denn?« Unterdessen war ein dritter Mann, der eine seltsame Weste mit vielen Taschen trug, von einem anderen Fuhrwerk nachgekommen und fragte knapp und sachlich: »Wie viel wird das kosten?« »Meine Güte, George«, sagte der Mann mit der Kochschürze verärgert. »Hilf uns einfach, sie ins Haus zu bringen.« Alles doppelt Als Rusty sich wieder zum Tresen durchdrängelte, kam ihm das Lächeln des Mädchens hinter der Theke tatsächlich schwach vertraut vor. 161 »Was darf's sein?« Durchaus reserviert strich sie sich die ziemlich zotteligen braunen Haare aus der Stirn. »Äh... noch mal das Gleiche, bitte, schätz ich.« Es war inzwischen spät, und Rusty fühlte sich leicht beschwipst. Er wartete, bis sie seine leere Flasche vom Tresen genommen und ihm eine neue hingestellt hatte. »Ich weiß, es
klingt blöd, aber... kennen wir uns nicht?« Sie lachte. »Ich hab mich schon gefragt, wann bei dir endlich der Groschen fällt. Ich bin Eileen, Eileen Gilbert. Und du bist Michael Brown, stimmt's? Rusty? Ziemlich schwer, deinen Rotschopf zu verwechseln. Wir sind aus demselben Dorf. Jetzt sag nicht, du hast mich vergessen!?« »Eileen! Ja, natürlich!« Theatralisch pochte Rusty sich mit zwei Fingern an die Schläfe. »Tut mir Leid, ich war wohl ein wenig... in Gedanken. Aber was treibst du denn dort? Ich meine natürlich: hier? Das ist bestimmt schon fünf, sechs Jahre her, was?« »So lange nun auch wieder nicht. Erinnerst du dich nicht, dass wir uns bei der Beerdigung deiner Mutter kurz unterhalten haben? Ehe dich dieses Mädchen, das mit den Fahrenden gekommen war, entführt hat. Hieß sie nicht Laurel?« Ein ungeduldiger Ruf vom anderen Ende der Theke unterbrach ihr Gespräch. »Ja, Sir, ich komme sofort, Verzeihung.« Sie wandte sich wieder zu Rusty um. »Hier wird's zur Sperrstunde hin immer etwas hektisch. Und ich will nicht unverschämt sein, aber du siehst wirklich so aus, als solltest du jetzt nach Haus gehen und dich ins Bett legen.« Reuig strich Rusty sich den Pony aus der Stirn. »Vermutlich hast du Recht, wie du ja auch früher meist Recht hattest. Vielleicht sehen wir uns an einem anderen Abend?« 162 Mit leicht vorwurfsvoller Miene schob sie ihm seine Flasche über die nasse Theke zu und wartete, während er nach Kleingeld suchte. Von der anderen Ecke des Tresens kamen erneut ungeduldige Rufe. »Ja, Sir, ich komme.« Sie drehte sich noch mal zu Rusty um. »Morgen arbeite ich nicht den ganzen Abend. Treffen wir uns doch am späten Nachmittag hier - dann haben wir Zeit, uns auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen.« Als Rusty am nächsten Tag ins »Ausrufers Ruh« kam, waren so viele Leute auf ein Feierabendbier im Lokal, dass er Eileen erst nicht entdecken konnte, doch dann hörte er sie aus einer Nische an der linken Seite der Kneipe nach ihm rufen. »Ich hab einen Tisch für uns ergattert. Und ich hab dir das Gleiche wie gestern bestellt. Aber diesmal mit einem Glas dazu. Das ist dir hoffentlich recht.« Sie hatte die Bedienungskluft gegen ein Kleid mit Blumenmuster getauscht und ihr Haar, das eigentlich so widerspenstig war wie das seine, mit ein paar Klemmen aus Schildpatt sorgfältig festgesteckt. Als Rusty sich ihr gegenüber in die Ecke schob, lächelte sie, und ihm fiel auf, dass sie ziemlich attraktiv war. Einen Moment lang blickten sie einander schweigend an. »Gut siehst du aus«, sagte sie schließlich. »Jedenfalls besser als gestern Abend. Aber du scheinst viel dünner geworden zu sein. Isst du denn anständig?« Plötzlich errötete sie. »Entschuldigung, das war wirklich furchtbar grob von mir. Ich meine, es geht mich ja eigentlich nichts an, stimmt's?« Vorsichtig schenkte Rusty sich ein Glas Bier ein. »Nein, du hast ja Recht«, sagte er dann. »Ich schätze, ich 163 vernachlässige mich ein wenig. Vermutlich wegen meiner Stelle beim Anzeiger - dort bin ich seit fast einem Jahr beschäftigt. Die Arbeit ist recht interessant, aber auch ziemlich anstrengend. Und wenn ich dann nach Hause komme, ist mir eigentlich nie richtig nach Essen zumute. Höchstens danach, mir an einer Bude eine Pastete zu holen.« Er hatte erwartet, die Unterhaltung würde mit dem höflichen Austausch von Förmlichkeiten beginnen, doch zu seiner Überraschung bewegte sie sich von Anfang an auf recht intimer Ebene. »Und wohin kommst du nach Hause? Ich meine, lebst du allein?« »Ich hab eine Wohnung im Nordviertel. Das Haus hat einen merkwürdigen Namen - angeblich wohnen dort die, die nicht suchen, sondern finden. Vielleicht hast du schon mal davon gehört. Und... ja, ich lebe allein.« Er hatte Alice erwähnen wollen, überlegte es sich im letzten Moment aber anders. »Das Haus derer, die nicht suchen, sondern finden? Ja, das kenne ich. Da gibt's doch nirgendwo Treppen, stimmt's? Hört sich an, als hätte man dort viel Spaß.« Lächelnd trank sie einen winzigen Schluck aus ihrem Glas. »Spaß?« Rusty runzelte die Stirn, als hätte er die Bedeutung dieses Wortes seit einiger Zeit vergessen. »Ja, am Anfang war es wohl so. Ich hab mich einfach inzwischen daran gewöhnt.« Sie lehnten sich zurück und sahen einander erneut an. Diesmal war es Rusty, der das Schweigen brach. »Und was machst du hier? Musst du dich nicht mehr um deinen Vater kümmern?« Er verstummte, denn mit plötzlicher Gewalt überfiel ihn die böse Erinnerung an den großen, missmutigen Dr. Gilbert, der Eileen verbo164 ten hatte, sich mit ihm zu treffen, und ihr Stubenarrest verordnet hatte. »Daddy fühlt sich noch immer sehr schlecht.« Eileen blickte in ihr Glas. »Er geht inzwischen eigentlich kaum noch aus dem Haus. Offen gesagt kann er auch fast nicht mehr reden. Und dann habe ich entdeckt, dass er beinahe sein gesamtes Geld ausgegeben hat. Deshalb musste ich in die Hauptstadt ziehen und mir Arbeit suchen. Die alte Oma Hopkins geht täglich zu ihm, um zu kochen und sich um den Haushalt zu kümmern - meine Güte, die ist inzwischen bestimmt schon fünfundneunzig Jahre alt. Ich besuche ihn, sooft ich kann. Aber ich glaube kaum, dass er sich noch an dich erinnern würde.« Rusty legte eine genau berechnete Pause ein und meinte dann: »Man sollte seinem Gedächtnis in diesem Punkt wohl auch besser nicht auf die Sprünge helfen.« Plötzlich lachten sie beide los. »Weißt du noch, wie wir damals ins Dorf zurückkamen, nachdem wir eine Nacht bei den Fahrenden verbracht
hatten? Daddy war fuchsteufelswild! Hast du zu diesen Leuten eigentlich noch Kontakt?« »Zu Gideon Blackwood und Peg? Ja, die sehe ich noch von Zeit zu Zeit. Sie haben ihr Kind dann übrigens Megan genannt. Das ist inzwischen ein richtig aufgewecktes kleines Mädchen geworden. Und neulich hab ich gehört, dass sie ein zweites Kind erwarten. Aber erinnerst du dich noch an ihr Essen? Wir hatten ja gedacht, es würde etwas richtig Exotisches geben, doch dann...« Sie lachten wieder. »Sag mal, wo wir gerade von Essen reden...«, begann Rusty vorsichtig. »Hast du schon ein bisschen Hunger?« Eileen sah sehr niedergeschlagen aus. »Es tut mir wirklich Leid, weißt du. Ich würde gern noch bleiben, aber 165 ich muss gleich woandershin. Ich hab Spätschicht in einem anderen Lokal. Doch vielleicht kann ich dich abends mal bekochen. Natürlich nur, wenn du es möchtest. Am Samstag hätte ich wieder Zeit.« Sie trank ihr Glas rasch leer und stand auf. Rusty tat es ihr nach. »Samstag, ja, das wäre toll.« Er begleitete sie nach draußen. Der Trubel auf der Hauptstraße hatte schon stark nachgelassen, und die Verkehrspolizisten hatten ihren Posten geräumt. »Gut, dann also am Samstag. Und, Rusty...« Plötzlich griff sie nach seinem Arm. »Es war wirklich sehr schön, dich zu sehen. Pass auf dich auf.« Dann war sie verschwunden. Rusty schlenderte zu seiner Nische zurück und füllte den Rest seines Biers langsam wieder in die Flasche um. Eileen, grübelte er. Ja, es wäre schön, sie wieder zu sehen. »Donnerwetter, Sie sehen aber schick aus«, stellte Miss Garamond fest, als sie Rusty ein paar Wochen später kurz vor Feierabend begegnete. »Sie haben ja sogar Zeit fürs Kämmen gefunden. Jetzt erzählen Sie mir nicht, die Bedienung vom >Ausrufers Ruh< steckt dahinter.« Rusty brauchte auf diese Frage nicht zu antworten - sein breites Lächeln verriet ihr alles, was sie wissen musste. »Ich möchte Ihre Verabredung ja nicht stören«, fuhr Miss Garamond beinahe entschuldigend fort, »aber ich hab da eine Idee, die Sie vielleicht interessiert. Hoppla...« Sie trat beiseite, als ein Angestellter, der mühsam einen riesigen Aktenstapel balancierte, vorbeikam. »Können wir also kurz zu mir ins Büro hochgehen? Nur für ein paar Minuten?« Um keine Schwierigkeiten zu verursachen, folgte Rusty ihr widerwillig. Kaum war die Bürotür hinter ihnen ge166 schlössen, ließ Miss Garamond sich auf ihren Stuhl fallen und griff nach ihren Zigaretten. »Sie rauchen nicht, stimmt's?«, fragte sie gewohnheitsmäßig, als sie sich eine ansteckte. »Hören Sie, es geht um die Karten. Sie erinnern sich doch noch an die Luftansicht, die Sie mal gezeichnet haben? Die, von der ich sagte, wir könnten sie nicht veröffentlichen?« Rusty war stehen geblieben und sah aus dem Fenster. Unten im engen Hof traten einige Wolfsjungen heftig auf die ausgestreckt am Boden liegende Gestalt eines alten Bettlers ein. »Wie ich sehe, tun die Patrouillen ihr Bestes, um die Straßen sauber zu halten«, sagte er nachdenklich. »Ja, die Karten. Von denen würde ich noch immer sehr gern ein paar für den Anzeiger zeichnen. Aber soweit ich weiß, ist die Situation unverändert, oder? Es gibt weiterhin die Bruderschaft der Kartografen und die Alte und Unverbrüchliche Satzung und so weiter. Ich weiß nicht, was wir da tun können.« Er wandte sich zu Miss Garamond um und sah, dass sie die Füße unbeschwert auf den Schreibtisch gelegt hatte und gerade eine große Rauchwolke ausblies. »An sich haben Sie Recht. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass die Bruderschaft - bei gewissem Druck von geeigneter Stelle - womöglich bereit ist, bei der Interpretation der Satzung ein paar Anpassungen vorzunehmen. Natürlich rein auf Ermessensgrundlage.« Sie schürzte die Lippen und zog die Brauen hoch. »Von geeigneter Stelle?« »Von Seiten des Königs, Herzchen - von Seiten König Matthews. Es mag zwar nichts zu bedeuten haben...« -sie nahm einen langen, gierigen Zug - »...aber er hat vor ein paar Tagen bei der Audienz etwas gesagt, das mir 167 erst später aufgefallen ist - leider, denn sonst hätte ich ihn gleich danach gefragt. Aber es hörte sich irgendwie so an, als würde er über das Ganze noch mal nachdenken. Was genau hat er bloß gesagt? Etwas darüber, welche Dinge er als Nächstes angehen will? Ja, genau, und dann hat er eine ewig lange Liste möglicher Projekte abgespult. Sie wissen schon - die Flaggenjunker, die Große Kreuzung, den ganzen Hokuspokus. Und ich könnte schwören, dass er in diesem Zusammenhang auch die Kartografie erwähnt hat - dieses ganze Zeug über das Zeichnen von Karten, über Geheimhaltung und die Bruderschaft und all den Kram. Es wäre eine sehr gute Nachricht für uns, wenn er tatsächlich vorhätte, in diesem Bereich einiges zu ändern.« Rusty sah weiterhin aus dem Fenster. Als er schließlich antwortete, klang er ein wenig verwundert. »Ja, das könnte wirklich sein, nicht? Stellen Sie sich das mal vor - Karten als Ergänzung zu den Artikeln im Anzeiger. Nicht nur Worte und dazu Ansichten von Gebäuden und ländlichen Idyllen, sondern auch richtige Karten, die den Lesern zeigen, wo die Dinge passiert sind. Wir könnten sogar eine kleine Beilage herausbringen - so was wie einen Kurzen Führer durch die Hauptstadt des Königreichs.« Sein Blick, der einen Moment Richtung Himmel gewandert war, konzentrierte sich wieder auf den Innenhof. Die Wolfsjungen waren verschwunden, und der Bettler lag zusammengesunken an einer Mauer und rieb sich mit müder Resignation die Rippen. Dann merkte Rusty, dass Miss Garamond sich vom Schreibtisch erhoben hatte, auf ihn zugekommen war und ihm nun so sanft wie verschwörerisch die Hand auf die Schulter legte.
»Sie haben schon ein besonderes Talent, stimmt's, Mr 168 Brown? Wenn es um Landkarten und Stadtpläne geht? Nein, sagen Sie nichts, denn ich weiß es genau.« Rusty klopfte das Herz, und er musste sich Mühe geben, um zu begreifen, was die Chefredakteurin ihm sagte. »... Wir könnten etwas ganz Außergewöhnliches auf die Beine stellen«, erklärte sie gerade, wobei ihre Finger ihn fester an der Schulter fassten und sich dann wieder lockerten. »Aber wir sollten nicht zu früh in Begeisterung ausbrechen, sondern behutsam vorgehen. Ich habe nur gesagt, dass der König sich die Sache vielleicht noch mal durch den Kopf gehen lässt. Und ich jedenfalls werde die Ohren spitzen. Sollte ich etwas hören, werden Sie es als Erster erfahren - versprochen! Aber jetzt wollen Sie Ihre Kellnerin doch sicher nicht länger warten lassen, was?« »Ach, Rusty, du musst doch nicht schon gehen, oder?« Verschlafen zog Eileen ihn am Arm, damit er wieder zurück ins Bett kam. Er beugte sich über sie und tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Nase. »Es. Geht. Nun. Mal. Nicht. Anders. Leider. Hab ich nicht gesagt, dass ich erst noch in meine Wohnung muss, ehe ich ins Büro gehen kann? Zu Hause steht meine Aktentasche - mit allen Unterlagen, die ich für die Besprechung brauche.« Doch Eileen gab nicht so schnell auf. »Ach, komm, du alter Miesepeter. Wir können noch eine halbe Stunde kuscheln, wenn du ausnahmsweise auf deine blöden Übungen verzichtest.« Etwas widerwillig, aber nicht wirklich widerstrebend ließ Rusty sich zurück unter das geblümte Federbett ziehen. Eileen mochte Blumenmuster aller Art, und vieles in 169 ihrer kleinen, sauberen Wohnung - das Porzellan, die Polster und sogar die Lampenschirme - war damit verziert. Weil sie sich die meisten Sachen aber über längere Zeit stückweise zugelegt hatte, passten die Muster weder der Farbe noch der Größe nach zusammen. Darum wirkte die Wohnung wie ein Blumenladen, den einige entlaufene Wahnsinnige umdekoriert haben. Die Kontraste waren so schreiend, dass die Bewohner darin mitunter fast zu verschwinden schienen. In den letzten Monaten hatten die beiden fast ihre gesamte Freizeit zusammen verbracht, manchmal in Rustys schmutziger, spärlich möblierter Wohnung, immer öfter hingegen in Eileens komfortabler ausgestattetem Apartment in der Strauchrabatte, einer Wohnanlage, die ihren Namen vermutlich dem schmalen, mit Büschen bepflanzten Grünstreifen vor dem Haus verdankte und ebenfalls im Nordviertel lag - im losen Gassengewirr zwischen Nordstraße und Fähranleger, also noch weiter vom Stadtzentrum entfernt als Rustys Wohnung. Eileen war eine häusliche junge Frau, die ihre freien Abende am liebsten daheim verbrachte, und Rusty hatte die Gasthäuser und Kneipen der Stadt vorübergehend für Hausmannskost und kitschige Behaglichkeit aufgegeben. Das einzig Beunruhigende war das feierliche Porträt von Eileens Vater, das von seinem Platz auf der Kommode mit strengem Stirnrunzeln auf sie beide herabblickte. »Findest du es nicht etwas blöd, dass wir uns zwei Wohnungen leisten?« Eileen hatte sich auf den Ellbogen gestützt, strich mit dem Fingernagel sanft die flache Senkrechte entlang, die Rustys Brustkorb in der Mitte teilte, und glitt gelegentlich zu dem weicheren Dreieck unterhalb der Rippen weiter. »Wir verbringen fast jede 170 Nacht miteinander und könnten eine Menge Geld sparen, wenn wir zusammenziehen würden.« »Ich glaube, dein Vater wäre davon nicht gerade begeistert.« Über dieses Thema hatten sie schon mehrmals gesprochen, und Rustys erste Verteidigungslinie war gut gesichert. »Der brauchte es ja nicht zu wissen. Außerdem ist es albern, immer hin und her laufen zu müssen. Am Ende haben wir noch alles doppelt.« »Aber würdest du wirklich gern bei mir wohnen?« Rusty wusste schon, wie ihre Antwort lauten würde. »Wir würden ja nicht bei dir leben, sondern bei mir.« »Was gefällt dir an meiner Wohnung nicht? Ich fühle mich da inzwischen richtig zu Hause - ohne Treppen und so.« Eileen rollte sich auf ihn, und ihr dichtes braunes Haar strich ihm über Gesicht und Hals. »Was mir bei dir nicht gefällt?« Sie zog die Brauen hoch. »Das kann ich dir genau sagen: Deine Wohnung starrt vor Dreck, du hast keine Möbel, nicht mal ein anständiges Bett, deine Nachbarn sind alle plemplem, und Treppen gibt's auch keine.« Sie kicherte. »Abgesehen davon ist es bei dir eigentlich ganz nett.« Wider Willen fand Rusty diese Bemerkungen amüsant. »So hab ich noch nie darüber nachgedacht... Nein, bitte hör auf damit, bitte - ich muss jetzt wirklich aufstehen!« Er kämpfte sich unter ihr hervor, setzte sich auf die Bettkante und begann, nach seinen ringsum verstreuten Sachen zu suchen. »Wann kommst du zurück? Ich hab heute Abend frei und muss zwar die Teppiche kehren, kann uns aber trotzdem was kochen.« 171 »Ich schätze, ich bin zur üblichen Zeit wieder da.« Er stand halb angezogen in der anderen Ecke des Zimmers und kämpfte mit einer widerspenstigen Socke. »Aber die Strauchrabatte ist eigentlich nichts für Leute wie uns. Hier wohnen doch fast nur Familien.«
Eileens Schweigen brachte den Wortwechsel aus dem Rhythmus. Als Rusty sich zu ihr umdrehte, sah er, dass sie sich im Bett aufgesetzt hatte und die Knöpfe ihres geblümten Nachthemds schloss. Dazu lächelte sie rätselhaft. »Rusty, es gibt da etwas, das ich dir sagen sollte. Komm her.« Sie nahm seine Hand. »Ich wollte nicht darüber sprechen, solange ich nicht sicher war. Ich glaube, die Strauchrabatte ist inzwischen genau das Richtige für uns. Denn ich schätze, wir sind bald eine Familie.« Der Flaggenmeister Kevin Considine, der Oberste Königliche Ingenieur, hatte eine anstrengende Woche. Er merkte es daran, dass seine Hände noch etwas stärker als sonst zitterten. Zum Königlichen Anzeiger abgeordnet worden zu sein, behagte ihm gar nicht, und da von ihm erwartet wurde, nebenher weiter die üblichen Pflichten in der Königlichen Kanzlei zu erfüllen, schien er nie genug Zeit zu finden, irgendeine Aufgabe richtig zu erledigen. Das plötzliche Verschwinden seiner Assistentin Alice war sicher nicht geeignet, diese Situation zu verbessern, da er die Post nun selbst öffnen und Besorgungen persönlich erledigen musste. Und heute lag das Gespräch mit dem Flaggenmeister an. 172 Seit König Matt seinen Obersten Ingenieur angewiesen hatte, hinsichtlich der Flaggen etwas zu unternehmen, hatte ihm die nun bevorstehende Auseinandersetzung auf der Seele gelegen. Wenn Alice erreichbar gewesen wäre, hätte sie den Flaggenmeister in Empfang nehmen und alles Erforderliche tun können, ihn sich unwohl fühlen zu lassen, um ihn dann nach sorgfältig berechneter Wartezeit ins Chefzimmer zu schicken. Kevin Considine hatte den Eindruck, ohne Alices Unterstützung geriete er schon dadurch sofort ins Hintertreffen, dass er gezwungen war, seinen Gegner selbst in Empfang zu nehmen. Er grübelte noch über mögliche Folgen dieses Umstands nach, da sah er sich schon von den Ereignissen überholt, denn als er von dem Schaltplan aufblickte, in den er sich vertieft hatte, stellte er fest, dass der Flaggenmeister aufmerksam, aber mit steinerner Miene in der Mitte seines Büros stand. Er war ein kleiner, drahtiger Mann weit jenseits der fünfzig und hatte tiefe Falten im schmalen, vom Wetter gegerbten Gesicht. Sein Bart und seine Mähne waren grau und widerspenstig und wirkten recht ungepflegt. Der Flaggenmeister trug das überkommene Gewand seiner Zunft, das aus einer knittrigen himmelblauen Kniehose und einer engen, ebenfalls himmelblauen Hemdbluse bestand, auf der ein silbernes Flaggenmotiv prangte. Seinen Aufzug vervollständigten silberfarbene Kletterstiefel und silberne Armbänder. Kevin musste daran denken, dass die Flaggenhisser zu den wenigen Palastarbeitern gehörten, die sich noch an die überkommenen Sitten und Gebräuche hielten. »Ah, Herr Flaggenmeister. Danke, dass Sie so pünktlich sind. Aber stehen Sie doch bequem!« 173 Schweigend nahm der Flaggenmeister eine leicht entspanntere Haltung an, musterte den Ingenieur aber weiter aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen. Kevin Considine drückte die Kuppen seiner langen, dünnen Finger aneinander, um ihr Zittern ein wenig zu kaschieren. »Flaggenmeister, Flaggenmeister. Der König hat mich gebeten, mit Ihnen über die Veränderungen zu sprechen, die zur Zeit in der Nachrichtenübermittlung geplant werden. Vielleicht haben Sie bereits gerüchteweise davon gehört.« Endlich brach der Flaggenmeister sein Schweigen. »Einige Gerüchte habe ich in der Tat gehört, Sir.« Er sprach so barsch wie undeutlich, und Kevin bemerkte mit starkem Widerwillen, dass seine Finger vom Rauchen gelbbraun waren. »Helfen Sie mir bitte, meine Kenntnisse aufzufrischen, Flaggenmeister: Welches sind die täglichen Pflichten Ihrer Mannschaften?« Der Flaggenmeister legte los, als würde er etwas auswendig Gelerntes herunterleiern: »Die Mannschaften stehen eine Stunde vor Tagesanbruch auf, Sir. Im Morgengrauen bringt ein Königlicher Bote eine kleine Pergamentrolle mit den Tageslosungen in die Flaggenwache. Der Flaggenmeister - also ich, Sir - bricht das Siegel, liest die Losungen und überträgt sie in den Flaggenkode, der als langer Pergamentstreifen an einer Staffelei befestigt wird. Dann kopieren sechs Flaggenjunker die Losungen auf Pergamentzettel, rufen mit mir die Flaggenwerker und deren Lehrlinge herbei und geben ihnen diese Zettel, anhand derer die Flaggen in die Reihenfolge gebracht werden, die den Losungen des Tages entspricht.« Der Flaggenmeister hatte bis jetzt langsam 174 und recht distanziert gesprochen, doch je weiter er mit seinem Referat kam, desto schneller und lebhafter wurde er. »Die sechs Abordnungen begeben sich alsdann mit den entsprechend aneinander gereihten Flaggen zu den Fahnenmasten. Die Flaggenjunker und ihre Mannschaften sind - wie Sie wissen - für die Beflaggung der drei Stadttore, der Hafenmeisterei und verschiedener anderer öffentlicher Gebäude verantwortlich. Der Flaggenmeister - also meine Wenigkeit — und seine Mannschaft hingegen sind für die Flaggen zuständig, die auf dem Dach des Königlichen Palastes wehen. Haben die Abordnungen ihre Fahnenmasten erreicht, erklettern sie sie. An gewissen Masten sind - wie Sie wissen - Leitern von verschiedener Länge angebracht. Die Masten am Westtor sind sogar über eine Wendeltreppe erreichbar. Und am Königspalast steigt man erst über Treppen und Leitern auf, muss zum Schluss aber ein Stück Palastmauer erklettern.« Er machte eine kurze Pause und wischte sich mit einem krummen, gelbbraunen Finger einen Schweißtropfen von der Stirn. »Wenn alle Mannschaften ihre Position eingenommen haben, Sir, werden die Flaggen an den Masten befestigt und aufgezogen -zuerst am
Königspalast, dann gleichzeitig an allen anderen Orten. Danach steigen die Mannschaften wieder ab und kehren in die Flaggenwache zurück, um sich zu erholen und zu stärken. Und eine Stunde vor der Abenddämmerung machen sie sich erneut auf, holen die Flaggen wieder ein und bringen sie zurück in die Wache, wo sie für den nächsten Tag vorbereitet werden. « Kevin Considine drückte die Fingerkuppen fester aneinander. »Das ist eine harte und gefährliche Arbeit, Sir. Es gibt 175 immer wieder Unfälle, vor allem unter den jüngeren Männern und Frauen. Die sind ja eigentlich noch Jungs und Mädchen, wenn sie ihre Lehre bei uns anfangen, und sind sich der Gefahren gar nicht recht bewusst. In den letzten zwölf Monaten haben wir zwei Mädchen, die noch in der Ausbildung waren, verloren - und einen Flaggenjunker, der viel Erfahrung hatte. Kaum lässt die Wachsamkeit auch nur kurz nach, passiert ein Unglück.« Der Flaggenmeister schwieg einen Moment und hielt den grauhaarigen Kopf gebeugt. Dann fuhr er langsamer fort: »Wir lieben unsere Arbeit, Sir, trotz aller Gefahren. Und wir passen aufeinander auf. Wir haben wirklich Teamgeist. Den gibt es ja heutzutage kaum noch.« Unvermittelt hielt der Flaggenmeister inne, als wäre ihm bewusst geworden, dass er zu viel gesagt hatte. Gegen Ende seines Vortrags war er unwillkürlich ein paar Schritte auf den Obersten Königlichen Ingenieur zugegangen und korrigierte diese Unschicklichkeit nun unauffällig. Kevin Considine schwieg ein paar Sekunden und erklärte dann: »Tatsächlich sind Sie, Flaggenmeister, und Ihre Mitarbeiter uns allen ein Vorbild, auf das das Königreich kaum verzichten kann.« Der Flaggenmeister sah ihn noch immer misstrauisch an. »Doch der rasende Fortschritt führt nun mal dazu, dass zu gegebener Zeit auch solche Dinge verschwinden müssen. Was würden Sie beispielsweise sagen, wenn ich Ihnen berichtete, dass es in Jahresfrist möglich sein wird, Flaggenbotschaften allein durch elektrische Impulse stündlich zu verändern, ohne dass jemand den Fuß aus der Flaggenwache setzen muss? Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass man künftig weder auf Leitern steigen noch Fassaden erklettern muss - es sei denn, um 176 dann und wann eine Flagge einzuholen, die der Sturm beschädigt hat?« Kevin hielt inne und fuhr dann leiser fort: »Sagen Sie mir bitte, wie viel Personal Sie gegenwärtig in der Flaggenwache beschäftigen.« Der Flaggenmeister antwortete mit unbewegter Miene. Sollte er Schreck oder Sorge über das empfinden, was er gerade erfahren hatte, verrieten das weder seine Stimme noch seine Züge. »Vierunddreißig Männer und Frauen, Sir - acht Lehrlinge, neunzehn Flaggenwerker, fünf Flaggenjunker, einen Leitenden Flaggenjunker und mich, Sir, den Flaggenmeister.« »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass die Flaggenwache binnen Jahresfrist nur noch aus zwei Lehrlingen, drei Flaggenwerkern und Ihnen bestehen wird?« Ein aufmerksamer Beobachter hätte womöglich gesehen, dass sich die buschigen Brauen des Flaggenmeisters kaum merklich hoben. »Ich würde sagen, Technik ist eine großartige Sache, Sir. Und dass ich nicht erwartet hätte, solche Entwicklungen zu erleben, und bis vor kurzem glaubte, selbst meinen Kindern sei das nicht vergönnt.« Ein paar Sekunden schien er in Gedanken versunken, sammelte sich aber rasch wieder. »Ist das alles, Sir? Wir haben in der Wache nämlich heute noch ein paar Wimpel zu reparieren, und die Flaggen müssen am Abend natürlich noch immer eingeholt werden.« »Ja, das ist alles, Flaggenmeister. Bitte informieren Sie Ihre Mitarbeiter über die kommende Entwicklung.« »Jawohl, Sir.« Der Flaggenmeister salutierte rasch, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Kevin Considine hingegen zerbrach sich noch einige Zeit den Kopf darüber, ob sein Gespräch ein Erfolg gewesen war. 177 Die übrige Woche war für Kevin ebenso unangenehm. Er musterte die Beflaggung besorgt auf Zeichen von Unzufriedenheit seitens der Flaggenwerker, doch die Botschaften wurden so genau wie immer aufgezogen, und nur ein etwas stärkeres Spiel der Seile, an denen die Flaggen hingen, zeigte denen, die es zu deuten wussten, dass vielleicht etwas nicht stimmte. Die Leute beim Anzeiger waren frustrierend wie immer. Diese Chefredakteurin eine große, unordentliche Frau - hatte irgendwie die Gabe, gleichzeitig präzis und unbestimmt zu sein und an einem Tag strikte Anweisungen zu erteilen, um am Tag darauf selbst dagegen zu verstoßen. Und dann gab es da diesen Jungen in der Lederjacke, diesen Leitenden Bildredakteur namens Michael Brown, der einerseits ziemlich scharfsinnig, andererseits aber irgendwie ärgerlich schräg war und immer so unbeteiligt und außenstehend wirkte, als hätte er eigene Pläne und kümmere sich kaum um andere Dinge oder Menschen. Immerhin war endlich Freitag, und Kevin konnte all das für zwei Tage vergessen. Kevin Constanzas hatte den Namen Considine gleich angenommen, als er zum Arbeiten in die Hauptstadt gekommen war, denn er meinte, er würde es nicht weit bringen, wenn er seinen Familiennamen beibehielte, der eng mit heruntergekommenen Zirkuszelten und schäbigen Vergnügungen verbunden war. Das mochte treulos erscheinen, doch es war Kevin immer wichtig zu wissen, wann der Reisende Vergnügungspark der Brüder Constanzas in der Gegend war, und es war ihm ein Anliegen, die Vettern ein- oder zweimal im Jahr zu besuchen - natürlich unauffällig. Es konnte nie schaden, Verbindung zu halten. 178 Diese Woche hatte der Vergnügungspark sein Lager - wie üblich - auf einem schmuddeligen Schottergrundstück
an der Nordstraße aufgeschlagen, das jenseits des Fähranlegers und der Großen Kreuzung am äußersten Stadtrand lag. Die Geschäfte waren schlecht gegangen, wie es in dieser unfreundlichen Ecke des Landes oft der Fall war, und als Kevin ins Gemeinschaftszelt kam, sah er seine Vettern und den Rest der Truppe missmutig am langen Tisch hocken und in Kanincheneintopf stochern. »Hallo George, Andrew, Klapsi, hallo zusammen. Wo ist Leon?« In diesem Moment tauchte der dritte Vetter mit einem sich gefährlich biegenden Tablett Bratäpfel auf. »Kevin! Greif zu! Leider ist die Vanillesoße etwas klumpig geworden. Ich hab den Eindruck, in dieser Gegend ist die Milch nicht ganz frisch. Wie geht's, wie steht's in der Großstadt?« So saßen sie bei Bratäpfeln, Käsekuchen und Kaffee zusammen und tauschten Klatsch und Neuigkeiten aus, bis die Kerzen heruntergebrannt waren. Andrew berichtete lebhaft vom Kommen und Gehen der für den Auf- und Abbau der Zelte zuständigen Arbeiter und von der Fluktuation der Budenbesitzer, George sprach knapp vom Niedergang des Geschäfts, Leon ließ sich trostlos über die seltsamen Eigenschaften der hiesigen Milch aus, und Kevin berichtete zurückhaltend von den Entwicklungen im Palast. Schließlich begann er zu gähnen. »Tut mir Leid, Jungs, aber die letzte Woche war sehr anstrengend. Kann ich irgendwo übernachten?« »Der alte Wohnwagen von Madame Nina ist vermutlich das Beste, was wir dir bieten können«, erklärte Leon. »Sie ist nicht mehr bei uns, aber ihre ganze Aus179 rüstung liegt noch im Wagen. Die wirst du erst mal umräumen müssen, um Platz zum Schlafen zu finden.« »Was für eine Ausrüstung? Was hat Madame Nina denn getrieben?«, fragte Kevin schläfrig und war ein wenig verärgert über die Aussicht, jede Menge Gerumpel aus dem Weg räumen zu müssen, ehe er sich würde schlafen legen können. »Sie hat es das Reich der Träume genannt«, erklärte Andrew. »Das war irgend so ein Quatsch - Wahrsagerei oder so. Ich weiß nicht, warum wir das Zeug eigentlich behalten haben.« »Weil es Kunden angelockt hat«, brummte George. Kevin zündete in dem überfüllten Wohnwagen ein paar Kerzen an und warf einen Blick auf die verstaubten Gerätschaften, die fast den gesamten Fußboden einnahmen. Der Henker mochte wissen, was das mal gewesen war, doch Kevin faszinierten von jeher alle Maschinen, und ihm war klar, dass er nicht würde einschlafen können, ehe er den Apparat nicht wenigstens oberflächlich untersucht hätte. Also hockte er sich in eine frei gebliebene Ecke und wischte etwas Staub von der Maschine. Sofort erkannte er ein mit Linsen ausgestattetes Okular und verschiedene andere optische Instrumente. Und das da war ein Kopfhörer. Also gab es hier etwas zu hören und zu sehen... Wenn Kevin Maschinen berührte, zitterten seine Finger nicht mehr. Plötzlich flink und neugierig geworden, begannen sie die Erforschung der kleineren Hebel auf der Rückseite des Apparats. Ja, das mussten die verschiedenen Größeneinstellungen sein... doch um welche Größen mochte es gehen? Und was waren das für Griffe an den Seiten des Gehäuses? Kevin kam zu dem Schluss, den Apparat in Betrieb nehmen zu 180 müssen, um diese Dinge erforschen zu können. Er spähte durch die Hintertür des Wohnwagens ins Dunkel und erkannte mit Mühe den Clown Klapsi, der sich zum Abschminken über ein Wasserfass gebeugt hatte. »Hallo, da drüben! Gibt's hier irgendwo Strom?« »Leg dich bloß schlafen!«, fuhr Klapsi ihn an, merkte dann aber, mit wem er es zu tun hatte, und wurde lammfromm. »Oh, Verzeihung, Mr Kevin. Ich dachte, es wäre jemand anders. Na, weil Sie es sind - warten Sie bitte einen Moment...« Kurz darauf sprang das Gerät knisternd, bebend und widerwillig an. Kevin Constanzas setzte sich den Kopfhörer auf, sah durchs Okular, drehte an den kleinen Schaltern und registrierte rasch noch die kleinste Veränderung in Klang und Bild. Nachdem er mit seinen Vorbereitungen zufrieden war, langte er nach den beiden an den Seiten der Maschine angebrachten Griffen, bog die Handgelenke, machte ein paar schnelle Bewegungen und atmete dann tief, vernehmlich und sehr erstaunt ein. Er musste mehr erfahren. Er ließ die Schalter los und fuhr mit den Fingerspitzen an der Oberkante des Gehäuses entlang, bis er ein paar Verschlüsse ertastet hatte. Kaum hatte er sie geöffnet, ließ sich die Deckplatte mit allen daran befestigten optischen Bestandteilen aufmachen und enthüllte das Innenleben von Madame Ninas Apparat. Unwillkürlich tastete Kevin nach einer Kerze und hielt sie so, dass er die Maschine mustern konnte. Rasch machten sich Augen und Finger mit dem Mechanismus vertraut. Er drehte Zahn- und Schneckenräder mal in die eine, mal in die andere Richtung, erforschte die Feinheiten der Mechanik, blinzelte durch die Linsen, passte sie an seine Augen an, stellte sie scharf, machte sich mit den 181 Kabelsträngen vertraut und verfolgte jede Leitung von der Quelle zu ihrer Verzweigung und weiter bis zum Ziel... Schließlich sank er erschöpft auf das ungemachte Bett. Aus dieser Perspektive sah er erstmals die rückwärtige Verschalung der Maschine, an der eine Art Namensschild aus Metall befestigt war, das mit der Zeit fleckig geworden war. Als er die Kerze ans Schild hielt, konnte er die Gravur mit knapper Not entziffern: Empathiemaschine (Prototyp) Konstrukteur: L. PEGASUS Pegasus, dachte Kevin. Wer hätte gedacht, dass mir der noch mal begegnet?
In jener Nacht schlief Kevin unruhig und träumte zusammenhanglose Dinge. In diesen Bruchstücken kamen der Flaggenmeister vor, die beiden abgestürzten Lehrlinge, die schwerfällige Druckmaschine des Anzeigers, die unerreichbare Madame Nina, die empfindliche und verlockende Funktionsweise der geheimnisvollen Maschine von Meister Pegasus und schließlich auch die elektrischen Geräte, die die Nachrichten auf den Flaggen kontrollieren und sie vielleicht wie ein Orchester oder ein Chor zum Klingen bringen sollten... Als Kevin im Morgengrauen erwachte, hatten diese Bruchstücke eine klar erkennbare Gestalt gewonnen. Madame Ninas Maschine konnte Botschaften, die aus der Vorstellungskraft eines Menschen stammten, verstehen und in elektrische Impulse verwandeln. Und wenn die Flaggen erst angemessen verändert waren, würden sie elektrische Impulse empfangen und in chiffrierte Signale verwandeln. 182 Die Maschine würde elektrische Signale erzeugen. Und die Flaggen würden sie übertragen. Kevin war noch nicht ganz sicher, was das alles ergab, aber eines war ihm klar: Er musste diese Maschine haben. Beim Frühstück entschuldigte sich Kevin bei seinen Vettern dafür, den Besuch abkürzen zu müssen. »Tut mir Leid, Leute. Vorhin ist ein Signal aufgezogen worden, das mich in die Stadt zurückruft. Dringend.« Er lächelte bekümmert, war aber zuversichtlich, dass keiner der drei den Flaggenkode zu deuten wüsste. »Ich fürchte, da kann man nichts machen.« »Schade«, sagte Leon. »Aber wir kommen im Herbst noch mal.« »Klar«, fuhr Kevin fort. »Und danke für eure Gastfreundschaft - es war wunderbar.« Als er das Zelt fast schon verlassen hatte, hielt er inne. »Ach, das hätte ich beinahe vergessen.« Er ließ seine Stimme absichtlich gleichgültig klingen. »Wollt ihr die alte Maschine eigentlich loswerden? Ich könnte sie vielleicht auf Ersatzteile ausschlachten lassen.« »Nimm sie ruhig«, erwiderte George. »Die nimmt nur Platz weg.« »Mit der kann sowieso niemand was anfangen«, sagte Andrew nachdenklich. »Aber du musst dich darum kümmern, dass sie abgeholt wird«, ergänzte Leon. »Vielleicht können die im Palast ein Fuhrwerk schicken?« 183 Hallo Fremder! Paul Catalano pflegte gerade die Utensilien seines Berufs, nahm Scheren und Haarschneidemaschinen auseinander, säuberte und ölte Kleinteile, schärfte Klingen und ersetzte hier und da etwas. Kaum hatte er alles auf einem karierten Tuch auf dem Küchentisch ausgebreitet, da tauchte zu seiner Überraschung ein zotteliger Rotschopf auf dem Balkon auf. Paul sprang vom Stuhl auf und reichte ihm die Hand. »Hallo Fremder, willkommen an Bord!« Rusty, der etwas aus der Übung war, was die in seinem alten Wohnblock erforderliche Klettertechnik betraf, wuchtete sich schwerfällig über die Balustrade und stand keuchend in der Tür, bis Paul ihn aufforderte, Platz zu nehmen. »Hier, ich schieb den alten Kram etwas beiseite - das geht ganz schnell. Dann kannst du mir deine Neuigkeiten erzählen. Magst du einen Kaffee?« »Gern.« Rusty war noch immer ziemlich außer Atem. »Du liebe Güte, du klingst nicht besonders gut in Form. Hält dein Mädchen dich nicht genug auf Trab?« Paul musterte ihn prüfend von oben bis unten. »Ich bin sicher, deine Hose war nicht so eng, als du noch hier gewohnt hast.« Rusty grinste. »So ist das wohl, wenn man verheiratet ist. Aber es hat seine Vorteile, Paul. Du solltest es auch mal versuchen.« »Das ist hoffentlich nicht dein Ernst, oder?« Paul stellte vorsichtig Tassen und Untersetzer auf den Tisch. »Zucker? Entschuldige, dass ich frage, aber ich hab ein Gedächtnis wie ein Sieb. Möchtest du, dass ich dir die 184 Haare schneide, wo du schon hier bist? Ich will nicht unverschämt sein, aber sie könnten es brauchen.« »Eigentlich, Paul, wollte ich fragen, ob du nicht bei uns vorbeisehen könntest. Eileen überlegt, das Haar kürzer zu tragen, und sie kommt ja nicht mehr so viel herum, jetzt, wo sie, du weißt schon...« Paul setzte beschämt seine Tasse ab. »Ach, was wirst du jetzt von mir denken! Ich hab dir sicher schon gesagt, dass ich allmählich vergesslich werde, oder? Entschuldige bitte vielmals. Wann ist denn das glückliche Ereignis? Lange kann es ja nicht mehr dauern.« »Es könnte praktisch jeden Tag so weit sein«, sagte Rusty. »Ich bin eigentlich gekommen, um bei Joe Blackwood ein paar Möbel zu kaufen, falls er was Passendes hat. Und Eileen geht's gut, aber natürlich hat sie die Arbeit hinter der Theke einschränken müssen. Deshalb sind wir etwas knapp bei Kasse. Jedenfalls...«, begann er, stürzte den letzten Schluck Kaffee hinunter und fuhr fort, »...schwing ich mich jetzt besser wieder runter und schau bei Blackwood vorbei. Danke für den Kaffee.« Er ging zum Balkon. »Bis bald«, rief Paul fröhlich. »Komm vorbei, wann immer du in der Gegend bist.« Hinter der Tür mit ihrem verfärbten Messingschild saß der massige Joe Blackwood - wie immer ins Kartenspiel vertieft - über den Tisch gebeugt im Halbdunkel. Rusty fragte sich kurz, ob es noch dieselbe Partie sein mochte wie vor zwei Jahren, als er beim Einzug bei ihm angeklopft hatte. Vorsichtig schob er sich zwischen den Stapeln
alter Möbel hindurch und hustete dezent, um seine Anwesenheit zu melden. »Mr Blackwood?« 185 Bedächtig spielte der Hausmeister noch eine Karte aus, legte dann sein Blatt ab und sah zu dem Eindringling hoch. »Ach, du - ein Kumpel von Gideon, stimmt's? Was machst du hier? Ich dachte, ich bekomm dich nie wieder zu Gesicht.« »Ich wohne jetzt in der Strauchrabatte.« Blackwood drehte sich ein wenig, um Rusty direkt anzusehen. In seiner Miene schien ein schwacher Anflug von Interesse zu liegen. »Du hast sie geheiratet, was? Das Mädchen, dem du was Kleines eingepflanzt hast.« Rusty lachte. »Ich schätze, das kommt in etwa hin. Aber hör mal, Joe - das Baby ist demnächst fällig, und ich such noch ein paar Sachen, ein Kinderbett und vielleicht einen Hochstuhl. Ich weiß nicht so recht, was sonst.« Zum ersten Mal sah er, wie Joe Blackwood sich auf die Beine wuchtete. Der Hausmeister verließ seinen Kartentisch und musterte die ringsum verteilten Möbelstapel von oben bis unten, als würde ihr Vorhandensein ihn überraschen. »Ich schätze, wir finden schon was. Das hier vielleicht?« Er langte ins Halbdunkel hinauf und hob etwas herunter, das sich als zusammenklappbare Campingliege entpuppte, auf der sehr viel Staub und ein Stapel brüchiger Lampenschirme lagen. »Hmm, das ist noch nicht das Wahre, aber warte mal...« Kurz darauf hatte Rusty die gesuchten Möbel auf den Gehsteig bugsiert und sah sich nun nach einer Transportmöglichkeit um. Zu seiner Überraschung wollte Blackwood, der sonst nicht großzügig war, partout keine Bezahlung annehmen. »Wir müssen alle unser Scherflein beitragen«, mur186 melte er schüchtern. »Letztlich sind wir ja miteinander verwandt.« Sein Gesicht hellte sich plötzlich auf. »Ich hab Nachricht von Gideon. Er kommt in etwa vier, fünf Wochen hier durch und hat gesagt, du sollst ihn und seine Familie dann besuchen - natürlich nur, wenn du nicht zu beschäftigt bist. Sie haben zum zweiten Mal Nachwuchs bekommen — diesmal einen Jungen.« »Rusty!« Eileen atmete schnell und keuchend. »Ich glaube, es geht los. Hol besser Frau Dings. Die weiß, was zu tun ist.« Die Hausmeisterin in der Strauchrabatte, deren Name sich irgendwie niemand merken konnte, residierte auch in einem düsteren Kellerraum, unterschied sich aber in jeder anderen Hinsicht von Joe Blackwood. »Ach du meine Güte, warum passieren solche Sachen immer zur ungünstigsten Zeit? Das hat mein Ted ständig gesagt, als ich meine Kinder bekam, aber eigentlich ist die Zeit für nichts je richtig, machen Sie es sich also bequem, und sehen wir uns das Bein mal an...« Rusty war zwölf Treppen nach unten gehetzt, auf dem Absatz im zweiten Stock aber über ein paar Mülleimer gestolpert und hatte sich den Fuß ziemlich schmerzhaft verrenkt. »Das ist doch jetzt nicht wichtig. Wir sollten uns besser beeilen.« »Ach, keine Sorge, guter Mann, mein erstes Kind hat sich viel Zeit gelassen, aber meinen Ted hat das ohnehin nicht interessiert, und Hebammen dürfen in der Hauptstadt sowieso nicht mehr praktizieren — wussten Sie das denn gar nicht? Das hat dieser König Matthew angeordnet, der das für zu altmodisch hält oder so, aber ich kann Ihnen versichern, ich sehe das ganz anders, die 187 Leute hören ja nicht auf, Kinder zu kriegen, wie auch mein Ted gesagt hat, als ich das dritte bekam...« »Hebammen dürfen nicht mehr praktizieren? Aber wer kommt dann, um bei der Geburt zu helfen?« Erregt sprang Rusty auf. Seine Hosenbeine waren aufgerollt, und ein Fuß stand in einem Becken mit kaltem Wasser. »Keine Sorge, guter Mann, ich schicke meine Enkelin los, die heute ausnahmsweise da ist. Früher kam sie immer, um meinen Ted zu besuchen. Sie wird jemanden finden. Ich würde ja selbst gehen, doch leider kommt demnächst jemand wegen des Papageis, und ich weiß nicht genau, wann. Maisie?« Ein verwahrlost wirkendes Mädchen von etwa zwölf Jahren erschien in der Tür. »Hallo, Mister. Sie kenne ich doch. Was ist mit Ihrem Fuß?« »Jetzt nicht, Maisie«, rief ihre Großmutter dazwischen. Rusty erkannte das Mädchen wieder, das ihm an der Großen Kreuzung ein Paar Stiefel vermietet hatte. »Hallo, Maisie. Du bist ganz schön gewachsen.« »Maisie«, unterbrach ihre Großmutter, »lauf zur Straßenecke. Die Frau dieses Herrn liegt in den Wehen. Hol jemanden, und zwar fix!« »Aber Oma...« »Fix, hab ich gesagt!« Kaum war Rusty wieder die Treppen zu Eileen hochgehumpelt, hatte Maisie ihre Aufgabe offenbar schon erledigt, denn kurz darauf ließ ein lautes Pochen an der Wohnungstür die werdenden Eltern zusammenfahren. Auf dem Abtreter standen zwei verlegen wirkende Wolfsjungen und scharrten mit den Füßen - der eine trug einen Haufen schmuddeliger Tücher, der andere 188 hatte ein ramponiertes Handbuch unterm Arm. Trotz seiner Aufregung entging Rusty nicht, dass ihre Uniformen inzwischen verwaschen und zerrissen waren und die langen Zehennägel begonnen hatten, durch ihre lädierten
Stiefelspitzen zu sehen. »Mr Brown?« »Was macht ihr denn hier?« »Wir sind der Hebammendienst der Königlichen Miliz. Vielleicht können Sie uns zum Bett der Dame führen... und etwas Wasser aufsetzen.« Weil Rusty nicht wusste, was er sonst tun sollte, ging er in die Küche und ließ Wasser in den Kessel. DRITTES KAPITEL Der rothaarige Junge Königlicher Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger, Ausgabe 17 (im dritten Jahr der Regentschaft von König Matthew) Leitartikel von Miss Garamond Seid gegrüßt, Bürger! Die Leser mögen es kaum für möglich halten, doch seit der Bildung der Königlichen Wolfsjungen-Miliz ist schon ein Jahr vergangen. Auch die Verfasserin ist erstaunt, wie schnell die Zeit verfliegt. Obwohl wir alle gerade anfangs vor vielen Hindernissen standen, kann der Königliche Anzeiger nun mit Freude feststellen, dass die Probleme dank der beharrlichen Entschlossenheit von König Matthew zum größten Teil bewältigt sind und die Bürger auf den Straßen unserer Hauptstadt endlich wieder die Sicherheit und den Seelenfrieden genießen können, die sie seit langem erwarten durften. Dank der wachsamen Teamarbeit und unerbittlichen Disziplin der von den Königlichen Wolfsjungen gebildeten Patrouillen haben die Bürger einen sensationell schnellen Rückgang tödlicher Übergriffe erleben können. Auch die Zahl der Raubüberfälle, Messersteche191 reien und anderer Angriffe ähnlich betrüblicher Natur ist stark rückläufig. Zudem verzeichnen wir eine erfreuliche Verringerung an Stadtstreichern, Bettlern, Obdachlosen und anderen unerwünschten Personen, die früher unsere Höfe und Seitenstraßen heimsuchten -und damit auch einen starken Rückgang jener Plagen und Unannehmlichkeiten, denen bisher täglich ausgesetzt war, wer aus dem einen oder anderen Grunde diese Seitenwege benutzen musste. Darüber hinaus haben Bürger, die täglich (ob per Kutsche, per Kraftfahrzeug oder zu Fuß) auf den Durchgangsstraßen unterwegs sind, gewiss eine erstaunliche Verbesserung des Verkehrsflusses bemerkt - und das, obwohl auch Fußgänger die Straßen inzwischen erheblich leichter überqueren können als früher. Das ist zum Großteil auf die selbstlose und engagierte Arbeit der von den Königlichen Wolfsjungen gebildeten Verkehrspolizei zurückzuführen, der ersten einer ganzen Reihe privatisierter Einrichtungen des ehemals öffentlichen Dienstes, von deren Anstrengungen alle Bürger in Kürze profitieren dürften. Zu diesen Einrichtungen werden unter anderem Feuerwehr, Wasserversorgung und Müllabfuhr gehören, für die demnächst ebenfalls die Wolfsjungen verantwortlich sind. Einige Bürger werden schon die Vorzüge des Hebammendienstes kennen gelernt haben (besonders erfreulich ist, dass gerade dieser Dienst dem Leitenden Bildredakteur des Anzeigers, Mr Michael Brown, und seiner jungen Gattin Eileen bei der reibungslosen Geburt ihrer Tochter Ashleigh kürzlich von größter Hilfe gewesen ist). In der Privataudienz, die der Regent der Chefredakteurin des Anzeigers monatlich gewährt, hat König Matthew sich sehr zufrieden über die Fortschritte dieses 192 Unternehmens gezeigt. Es ist nun seine erklärte Überzeugung, dass es der Königlichen Wolfsjungen-Miliz erlaubt sein sollte, ihre Aktivitäten unter Leitung von Meister Fang fortzusetzen, ohne dass der Palast sich weiter in die täglichen Geschäfte einmischen müsste, was es König Matthew erlauben würde, sich mit anderen Dingen zu befassen, zumal mit den Alten Bruder- und Schwesternschaften, der Großen Kreuzung und den Signalflaggen. Zunächst zu den Alten Bruder- und Schwesternschaften: Wie alle wissen, wurden sie von den Ersten Königen gegen Ende des Vergessenen Zeitalters gestiftet. Ihre Pflichten, Vorschriften und Privilegien sind in der Alten und Unverbrüchlichen Satzung niedergelegt. Dort heißt es, Zweck der Sieben Bruder- und Schwesternschaften sei es: ...durch eifriges Lernen und Forschen auf bestimmten Gebieten des menschlichen Strebens einen Bestand von Kenntnissen zu entwickeln; Hege und Pflege dieses Wissens sowie den Gebrauch, den seine Hüter und Anwender davon machen, zu beaufsichtigen; Sicherheit und Geheimhaltung dieses Wissens zu gewährleisten; es vor jedem Übergriff unzureichend fachkundiger oder nicht voll vertrauenswürdiger Personen zu schützen. Vielleicht wissen die Leser schon, dass sich von diesen sieben Zünften die Schwesternschaft für Medizin und Geburtshilfe letzten Monat freiwillig entschieden hat, sich umgehend aufzulösen und ihre Aktivitäten fristlos einzustellen. Da wäre es doch zweckmäßig, nun auch die Bruderschaft der Magier und die der Narren als völlig bedeutungslos aufzulösen, denn beide haben viele 193 Mitglieder verloren und sind längst unglaubwürdig. Die Bruderschaft der Eichmeister und die Schwesternschaft der Handwerkerinnen hingegen bieten Dienstleistungen an, die weiter als nützlich und lobenswert einzustufen sind - deshalb dürfen sie mit ihrer Arbeit fortfahren und bleiben vorläufig unbehelligt. Hinsichtlich der Bruderschaft der Kartografen und der Schwesternschaft der Spediteure aber ist sich der König noch nicht recht
sicher. Er will sich zunächst den Kartografen zuwenden, der zurückhaltendsten und verschwiegendsten Zunft. Vielleicht wissen die Leser wenig von den Aktivitäten dieser öffentlichkeitsscheuen Organisation, doch die Verfasserin darf noch nicht ganz offen darüber sprechen. Immerhin aber sei festgestellt, dass die Bruderschaft in den geheimen Gewölben der Akademie für Kartografie eine umfangreiche Sammlung von als Karten bekannten Dokumenten besitzt, die sich - sollte sie einmal allgemein zugänglich werden - für die Bürgerschaft sicher als beispiellos wertvoll erweisen wird. Der König überlegt nun, ob und wie dieses Ziel zu erreichen ist. Alsdann zu den Signalflaggen: Dem König ist seit langem klar, dass die traditionelle Bedienung und Wartung der Flaggen durch dreißig bis vierzig langjährige, hochqualifizierte Mitarbeiter unter Leitung des Flaggenmeisters umständlich, langsam und ineffizient ist. Auch will er die Flaggenwärter den enormen Risiken und Gefahren ihres Berufs nicht weiter aussetzen. Nach reiflicher Überlegung hat er deshalb entschieden, dass eine neue Technik, die auf elektrischen Impulsen beruht, welche über Stromleitungen aus der Königlichen Kanzlei übertragen werden, eine überlegene Alternative der Flaggensteuerung bietet und enorme Verbesserungen in puncto Geschwindigkeit, Flexibilität und Sicherheit bringt. Der 194 König hat daher seinen Obersten Ingenieur, Mr Kevin Considine, beauftragt, sich ganz der Entwicklung dieser Technik zu widmen und die Verantwortung für ihre Installation und ihr reibungsloses Funktionieren zu übernehmen. Die Verfasserin hat kürzlich im Gespräch mit Mr Considine mit Interesse erfahren, dass darüber hinaus verschiedene Hilfsgeräte entwickelt werden, die sicher weitere neue und unschätzbare Anwendungsmöglichkeiten bieten (aufmerksame Leser erinnern sich vielleicht daran, dass Mr Considine bis vor kurzem damit beschäftigt war, im Gebäude des Königlichen Anzeigers die neue Druckmaschine aufzustellen und einzurichten). Schließlich ist sich der König bezüglich der Großen Kreuzung auch weiterhin der ernsten Schwierigkeiten, mit denen Reisende dort zu kämpfen haben, quälend bewusst, doch leider hat er dafür noch keine Lösung gefunden. Die Bürger dürfen jedoch sicher sein, dass zu gegebener Zeit umfassend und energisch gehandelt werden wird, um dieses Problem so zu beheben, wie es dem König und seinen Ratgebern angemessen scheint. Auf Wiedersehen, liebe Mitbürger. Und lang lebe König Matthew! »Und wie hat es dir gefallen, Student zu sein?« Wahrend der letzten Ferientage wurde ich allmählich nervös, denn ich wusste ja, dass sich erneut alles ändern würde. Ich schlief natürlich noch immerzu Füßen 195 von Roger dem Blinden, wurde nun aber gefragt, ob ich nicht in ein neues Zimmer im Studentenflügel ziehen wolle, doch ich sagte, ich würde lieber dort bleiben, wo ich mich wohl fühle. Na ja, vielleicht ist »wohl fühlen« nicht ganz der richtige Ausdruck, denn ich hatte in der steinernen Nische nie wirklich gut geschlafen, doch ehrlich gesagt hab ich auch sonst nie irgendwo gut geschlafen. Dort jedenfalls habe ich mich wenigstens zu Hause gefühlt, und so einen Ort brauchte ich auch. Also ließen sie mich schließlich bleiben. Während dieser wenigen Tage hatte ich wieder begonnen, die Kette zu verwenden. Wenn ich ängstlich oder aufgeregt war - so hatte ich festgestellt -, konnte ich eine gewisse Kraft aus ihren Gliedern ziehen, die mir irgendwie den nötigen Mumm gab zu ertragen, was auch immer kommen sollte. Am ersten Morgen des neuen Studienjahrs stand ich zur üblichen Zeit auf, öffnete die Vorhängeschlösser und legte die Kette weg. Dann machte ich mich zurecht, so gut ich konnte, musste mich diesmal aber ins Gewand der Studenten werfen, also ein Barett aufsetzen und einen schwarzen Kittel überziehen. Dann ging ich in den Keller zu den Kesseln und warf die Dienstbotenlivree in einen Ofen. Ich weiß noch, dass ich in diesem Moment dachte: »Nun gibt es kein Zurück mehr.« Es war noch früh, und die Studienanfänger wurden erst im Laufe des Vormittags erwartet. Also spazierte ich durchs Gebäude und die Gärten. Ein, zwei Bedienstete sahen mich und wünschten mir Glück, und ich weiß noch, dass Mr Roberts recht freundlich zu mir war. Die meisten aber sahen bloß weg, und ein, zwei sagten ziemlich gemeine Sachen wie »Mal sehen, wie lange du durchhältst« oder »Du stellst dir bestimmt selbst ein 196 Bein«. Nach einer Weile kamen die ersten Kutschen, und die jungen Männer und Frauen stiegen mit ihren Kisten und Schrankkoffern aus. Einige hatten ziemlich viel Gepäck dabei. Ich ging hin und stellte mich zu ihnen in den Ehrenhof vor der Akademie. Alle schienen mir sehr jung - ich schätze, ich war damals fünf, sechs fahre älter als die meisten, und der Großteil wirkte sehr nervös. Darum gab es auch kaum ein Gespräch. Damals hab ich den jungen mit den roten Haaren zum ersten Mal bemerkt. Vermutlich war mir klar, dass die meisten Studenten Söhne und Töchter reicher Leute aus der Hauptstadt waren - Kaufmannskinder oder so -, doch dieser junge stammte offenbar aus einer armen Familie, denn auf seine Kniehose waren Flicken gesetzt, und in seiner ganzen Körperhaltung unterschied er sich von den anderen. Seine Bewegungen ließen ihn irgendwie geschmeidig wirken, und doch erinnerte er mich etwas an eine Marionette - als habe ihm niemand beigebracht, wie man sich richtig benimmt, und es mag gut sein, dass dem so war. Ich hatte noch nie jemanden mit einer solchen Haarfarbe gesehen, und einen Studenten mit Hund auch noch nicht. Ach, hab ich den kleinen Hund noch nicht erwähnt? fa, er hatte einen komischen braunen Hund an der Leine, dessen Namen ich eher erfuhr als seinen eigenen, denn als er mit ihm sprach, nannte er ihn Dusty. »Platz, Dusty«, war das Erste, was ich ihn sagen hörte, und ich merkte an seiner Aussprache, dass er nicht aus der Hauptstadt war. Aber Dusty
wollte nicht still sitzen, er war zu aufgeregt von all dem Neuen, das es zu sehen und zu riechen gab, und plötzlich riss ersieh los, rannte über den Rasen und zog die Leine hinter sich her. Natürlich hetzte der Junge ihm nach und versuchte, ihn einzufangen. 197 Mir war selbstverständlich klar, dass das Ärger geben würde, denn Studenten durften den Rasen nicht betreten. Prompt rief die alte Frau, die sich um die Anlagen kümmerte: »Komm her, junger Mann!« Da hatte er die Leine allerdings schon zu fassen bekommen und ging mit dem Hund zu ihr hinüber. Sie fragte: »Wie heißt du, junger Mann?«, und ich konnte nicht verstehen, was er antwortete. Sie aber verstand ich gut, und sie sagte: »Also, Mr Brown, Sie sollten eigentlich wissen, dass Studenten auf dem Rasen nichts verloren haben.« Er ließ den Kopf hängen und wirkte beschämt, sie aber meinte: »Und was den Hund anlangt, na, darüber sprechen wir besser später.« Sie lächelte ein wenig, als sie das sagte, und auch ich musste lächeln, denn ich wusste ja, dass sie keine Bedienstete war, sondern die Direktorin der Akademie, aber der Junge wusste das natürlich noch nicht. Jedenfalls waren die meisten Studenten inzwischen angelangt, und einige Bedienstete kamen raus, um sie auf ihre Zimmer zu führen. Später mussten sich alle im Großen Hörsaal versammeln, wo die Professoren erklärten, wie der Lehrbetrieb vonstatten gehen würde, Stundenpläne verteilten und dergleichen mehr. Während dieser Prozedur bemerkte ich den rothaarigen Jungen erneut - oder besser: Ich bemerkte seinen Hund, denn plötzlich wurde es in der Reihe vor mir unruhig, und dann spürte ich, wie mir etwas gegen die Knöchel stieß - der Hund natürlich. Ich muss vor Schreck aufgesprungen sein, denn plötzlich sahen mich alle an, und der Professor, der gerade redete, wirkte recht verärgert und sagte: »Bitte Ruhe unter den Studenten!« Dann muss er mich erkannt haben, denn er fügte hinzu: »Slater, Sie sollten doch wirklich wissen, wie 198 man sich hier beträgt.« So hatten nun natürlich alle meinen Namen erfahren. Dann erst merkte ich, dass der rothaarige Junge direkt vor mir saß, denn er erhob sich halb und sagte: »Entschuldigung, Sir, mein Hund ist abgehauen«, und der Professor fragte: »Ihr Hund?« Ich schätze, er wurde irgendwann eingefangen, denn nach einer Weile ging der Vortrag weiter, und alle beruhigten sich wieder, doch an diesem Punkt beschloss ich, dass mir der rothaarige Junge mächtig auf die Nerven ging, weil er sich offensichtlich nicht anständig zu benehmen wusste und keinen Respekt vor den Vorschriften hatte. Später hab ich das natürlich alles ganz anders gesehen, und wenn ich damals schon gewusst hätte, wie viel Ärger er mir noch bereiten und was ich alles würde tun müssen, um diese Scharte wieder auszuwetzen, hätte ich vielleicht einen sehr weiten Bogen um ihn gemacht. Aber du hast mir gesagt, ich darf nicht vorgreifen - deshalb sage ich dazu erst mal nichts mehr. Jedenfalls hab ich nach diesem Vorfall zu ihm Abstand zu halten versucht. Eigentlich hielt ich bald zu allen Abstand, denn irgendwann in der folgenden Woche bemerkte mich eine Übungsleiterin auf der Galerie des Hörsaals und rief mir zu, ich solle ihr ein Gerät holen, das sie brauche. Ich wollte schon aufstehen, als mir einfiel, dass die Dinge sich geändert hatten. Also entgegnete ich: »Tut mir Leid, Ma'am, Sie sollten wohl eher den Saaldiener darum bitten.« Kaum hatte ich das gesagt, war es mir peinlich, und ich glaube, auch ihr war die Sache ziemlich unangenehm, denn sie hatte sich wohl irgendwie an mich erinnert. Jedenfalls rief sie einen Bediensteten und setzte ihre Vorlesung fort. Natürlich sprach sich der Vorfall schnell herum. So erfuhren alle Studenten, wer ich war, und viele - die mit 199 reichen Eltern nämlich - wollten nun nichts mehr mit mir zu tun haben. Außerdem hatte ich die Angewohnheit, mich in der Akademie von Zeit zu Zeit an Fleckchen zurückzuziehen, die sie nicht kannten. Und natürlich war ich in der Nacht nicht bei ihnen im Studentenflügel, sondern kettete mich Abend für Abend an Roger den Blinden. Zudem war ich auch etwas älter als die meisten - und ein ziemliches Stück größer. So kam es wohl, dass fast alle in mir allmählich einen komischen Vogel sahen, der eigentlich nicht zu ihnen gehörte. Und wegen all dem hab ich mich langsam von den anderen isoliert gefühlt. Ich war nicht wirklich als Student akzeptiert, gehörte aber natürlich auch nicht mehr zur Dienerschaft. Doch wie auch immer, ich besuchte weiter die Veranstaltungen, hörte aufmerksam zu, machte mir Notizen und stellte Fragen. Die Arbeit war interessant, und ich verstand allmählich immer mehr von Kartografie. Es gab auch einige Vorlesungen zu Themen wie Betriebswirtschaft und Buchführung, die sich noch als sehr nützlich erweisen sollten, obwohl mir das damals nicht klar war. Zwar fühlte ich mich also als Student nicht recht wohl, habe meine Zeit aber sicher nicht verschwendet. Natürlich gab es ein paar Studenten, die aus dem einen oder anderen Grund nicht zu den übrigen passten. Der rothaarige Junge, dieser Rusty, wie sie ihn nannten, gehörte natürlich zu diesen Außenseitern und schien die Gesellschaft seines Hundes jedem anderen Kontakt vorzuziehen. Die beiden wirkten zusammen sehr glücklich, was mich auf eine schwer verständliche Weise ärgerte. Dann gab es da noch einen Jungen namens Charles und ein Mädchen namens Sally, die sich schon vor der Akademie gekannt haben mussten. Sie schienen ein Pärchen 200 zu sein, denn sie liefen die ganze Zeit Hand in Hand herum, und die Leute nannten sie Charlesally. Auch die zwei gingen mir ganz schön auf die Nerven. Und dann gab es noch ein paar Studenten aus armen Familien, die bald unter sich blieben, weil niemand etwas mit ihnen zu tun haben wollte. Doch ich kümmerte mich um all das möglichst wenig, arbeitete fleißig und bestand alle theoretischen Prüfungen, aber dann kam die Exkursion am Ende des ersten Studienjahrs. Ich hatte natürlich schon eine recht genaue
Vorstellung davon, was da zu erwarten war, denn ich war in früheren fahren Assistent des Übungsleiters gewesen. Alle Studenten kamen zusammen, und ein Dozent erklärte uns die Übung, bei der man in einen fremden Teil des Landes reiste, dort Gelände vermaß und Beobachtungen zusammentrug und aus all diesen Daten schließlich eine Karte anfertigte. Als alle verstanden hatten, was zu tun war, meinte der Dozent, wir sollten zu viert oder fünft arbeiten, jede Gruppe reise an einen anderen Ort, und jeder dürfe sich aussuchen, mit wem er zusammenarbeite. Ich wusste natürlich, was passieren würde. Die meisten Studenten - die reichen und beliebten - hatten schon heimlich entschieden, mit wem sie zusammenarbeiten würden, bildeten rasch Gruppen und suchten sich ein hübsches Reiseziel aus. Unter den anderen wurde erst mal verhandelt, und schließlich blieb eine Hand voll Leute übrig, die niemand mochte und mit denen keiner arbeiten wollte. Sie hingen natürlich zusammen in der letzten Gruppe fest - ob sie wollten oder nicht. Klar, dass Charlesally übrig geblieben waren, die mit ihren widerlichen Kosenamen und ihrem Knut201 sehen und Händchenhalten fast jeden gegen sich eingenommen hatten. Dann war da noch der rothaarige Junge mit seiner merkwürdigen Art - den und seinen stinkenden Hund wollte selbstverständlich auch niemand in der Gruppe haben. Und ich war natürlich auch noch da. Die Dozentin notierte sich unsere Namen und gab uns die Unterlagen für unser Exkursionsziel - einen furchtbar entlegenen Fleck im Gebirge. Dabei sah sie uns zweifelnd an und erwartete offensichtlich, wir würden scheitern. Das war ein sehr entmutigender Beginn unserer Exkursion. Natürlich hatte sie völlig Recht, aber zu diesem Zeitpunkt wusste das noch keiner von uns. Kevin und der König König Matthew war seit einiger Zeit nicht in seiner Kanzlei auf dem Dach des Palasts gewesen und hätte den Obersten Ingenieur normalerweise im Thronsaal empfangen, doch diesmal hatte Mr Considine gebeten, vom Protokoll abzuweichen. Der König war insgeheim recht froh, mal aus dem Alltagstrott rauszukommen. Meister Fang und die Probleme mit den Wolfsjungen gingen ihm allmählich mächtig auf die Nerven; seine Armeen machten beim Feldzug im Grenzgebiet keine Fortschritte; er begann die unbarmherzigen Fragen von Miss Garamond langsam zu fürchten; bei den endlosen Verhandlungen mit der Bruderschaft der Kartografen war er in eine Sackgasse geraten; für das Verkehrschaos an der Großen Kreuzung schließlich hatte er noch immer keine Lösung gefunden. 202 Als der König zwischen Schornsteinen hindurch übers Flachdach des Palastes auf die Kanzlei zuging, erwartete er, die graue Flügeltür werde sich öffnen, doch das unterblieb aus irgendeinem Grund. Also drückte er sanft gegen den linken Flügel und hatte dabei das Gefühl, er schleiche verstohlen in die eigene Kanzlei. Offensichtlich hatte niemand Vorkehrungen getroffen, ihn anständig zu empfangen, denn in dem einst so transparenten, nun aber rundum fensterlosen Großraumbüro ging das Summen von Stimmen und Maschinen unvermindert weiter, und Reihen von Angestellten und Bürodienern - wie vorgeschrieben in graue Uniform gekleidet - blickten weiter leer auf ihre elektrische Schreibmaschine oder ihren Abakus, redeten miteinander, tranken Kaffee und taten, was sie auch sonst an einem Mittwochvormittag taten. Als der König die Tischreihen mit einem raschen Blick überflog, entdeckte er jemanden, den er kannte - eine kleine, dicke, kraushaarige Frau, die während der Regentschaft seines Vaters zu den Leitenden Clowns im Amt für Narren und Spaßvögel gehört hatte, nun aber einen Posten in der Königlichen Kanzlei hatte annehmen müssen. »Veronique? Tut mir Leid, Sie zu behelligen, aber...« Erschrocken blickte die Frau auf, und der König bemerkte, dass sie noch immer die traditionelle Schminke ihres früheren Arbeitsplatzes trug, ihrer Gesichtsmaske inzwischen allerdings einen anderen Ausdruck gegeben hatte. »Mensch, das ist ja König Matt!« Hastig sprang sie auf und wandte sich den anderen zu. »He, Leute, Matt ist da. Steht auf, aber schnell!« Es war plötzlich ziemlich laut, weil alle fallen ließen, was sie gerade in der Hand hatten, und eilends aufstan203 den, wobei so manches Pergament, der eine oder andere Kaffee und hier und da ein Abakus auf dem Boden landete. Ein nervös wirkender Kevin Considine tauchte im Laufschritt aus einem seitlichen Büro auf und strich sich das Gewand glatt, als er zum König hastete. »Entschuldigung, äh, Matt...« - er benutzte die informelle Anrede, die der König bei seinem Amtsantritt eingeführt hatte - »... hab gerade keinen Assistenten, da geht's etwas drunter und drüber.« Der König, der noch immer sehr erstaunt darüber war, von niemandem empfangen worden zu sein, merkte, dass Kevins Hände etwas stärker zitterten als sonst. »Kein Problem«, erwiderte er diplomatisch. »Übrigens habe ich nicht viel Zeit. Fangen wir also gleich an, und schauen wir mal, was du uns zu zeigen hast. Obwohl ein Kaffee schon ganz nett gewesen wäre.« »Also auf ins Forschungslabor! Bitte hier entlang!«, rief Kevin, wies mit beiden Händen die Richtung und presste dabei die Fingerkuppen zusammen. »Veronique, Kaffee!« Sie schlängelten sich zwischen den Tischreihen hindurch, stiegen auf der anderen Seite des Großraumbüros eine enge Eisentreppe hinunter und kamen erneut in einen lang gestreckten Raum ohne Fenster, der wie die Kanzlei von grellem Kunstlicht erhellt wurde, aber keine Möbel enthielt. Nur zwei große, identisch wirkende Maschinen
waren zu sehen, deren graue Metallgehäuse sich an den Kopfseiten des Raums gegenüberstanden. Die Luft war von Ozongeruch und elektrischem Summen erfüllt. »Ich kann Euch leider keinen Stuhl anbieten«, sagte Kevin. »Wie Ihr seht, geht's hier noch ziemlich spartanisch zu.« 204 Der König nickte geistesabwesend. »Sag mir doch noch mal, was wir uns hier eigentlich ansehen.« »Ich hab noch keinen Namen dafür. Vielleicht nenne ich es Universales Empathie-Netzwerk. Oder jedenfalls so ähnlich.« »Empathie, Empathie - woran erinnert mich dieses Wort bloß?«, fragte der König ratlos. »Keine Ahnung. Vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten«, warf Kevin eilends ein. »Nun zu den Flaggen, die...« »Empathie. Ich bin sicher, dieses Wort irgendwoher zu kennen.« Den König beunruhigte deutlich genug eine vage Erinnerung. »Wenn es wichtig ist, fällt es Euch vermutlich bald wieder ein«, sagte Kevin, dem sehr daran lag, keine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, woher seine Ideen stammten. »Das nehme ich an. Was hat es mit dieser Netzwerksache nun auf sich?« »Also, wie Eure... äh... Majestät sich gewiss erinnern, haben Sie mir befohlen, ein Verfahren zu entwickeln, um die Signalflaggen mit Hilfe elektrischer Impulse zu bedienen.« Der König nickte. »Nun, äh, Majestät werden bemerken, dass...« »Denk bitte dran und nenn mich Matt.« »Natürlich, klar, also Matt, Ihr seht ja, dass beide Maschinen hier auf dem Gehäuse eine Reihe kleiner Flaggen haben...« - der König musterte die Fahnen - »... und dazu ein Fernrohr. Das Prinzip ist einfach, die technischen Einzelheiten aber sind etwas komplizierter. Die von den Flaggen gezeigten Signale werden durch elektrische Impulse gesteuert, die von den Maschinen erzeugt werden. Und das Fernrohr jeder Maschine ist auf 205 die Flaggen seines Gegenübers gerichtet.« Er hielt inne, um sich zu vergewissern, dass der König ihn verstand. »Die Fernrohre dechiffrieren die Signale und verwandeln sie wieder in elektrische Impulse. Anders gesagt: Die Maschinen können auf große Entfernung miteinander kommunizieren. Wie Ihr sicher bemerkt habt, sind sie nicht miteinander verbunden - weder durch Leitungen noch durch Hebel oder hydraulische Vorrichtungen.« Er hielt inne, als erwarte er Szenenapplaus. Der König runzelte die Stirn, ehe er wohl überlegt antwortete. »Das klingt alles recht vernünftig. Signale, die von einer Maschine zur anderen durch die Luft gesandt werden. Und was wird aus den Impulsen, die die zweite Maschine erzeugt?« »Ach ja«, fuhr Kevin hastig fort. »Das ist der eigentliche Clou. Sehen wir uns doch eine der Maschinen näher an.« Die beiden grau gekleideten Männer hatten bisher etwa in der Mitte zwischen den Apparaten gestanden und gingen nun zum einen Ende des lang gezogenen Raums. Während der König gut gebaut war und den Bart kurz trug, war sein Oberster Ingenieur deutlich schmächtiger, hatte dunkle Haare und ging - trotz seiner noch recht jungen Jahre - schon ziemlich gebeugt. »Jede Maschine hat ein Okular, einen Kopfhörer und links und rechts einen Griff. Wer an diesen Griffen dreht, erzeugt Impulse, die in elektrische Signale umgewandelt werden. Und Okular und Kopfhörer empfangen Impulse vom Fernrohr und wandeln sie in Bilder und Laute um. So kann, wer die erste Maschine bedient - nennen wir ihn Sender-, sich vorstellen, was er mag, und wer die zweite Maschine bedient - nennen wir ihn Empfänger -, wird sehen, hören und fühlen, was der 206 Sender sich vorgestellt hat.« Kevin war nun sehr lebhaft geworden. »Stellt Euch das mal vor! Wenn man von diesen Maschinen nur genügend hat, kann man ein ganzes Netzwerk aufbauen, das vielleicht das gesamte Land von einem Ende zum anderen umspannt. Die Leute könnten ihre Gedanken und Vorstellungen jedem schicken und überallhin. Ihr als König könntet Euch in ein und demselben Moment an Euer ganzes Volk wenden. Ihr brauchtet keine Redakteure und keinen Anzeiger mehr. Wir könnten die Erfindung Universales EmpathieNetzwerk nennen.« Kevin sah, dass der König die Stirn runzelte. »War ja nur ein Vorschlag«, fügte er eilends hinzu. »Aber stellt Euch das mal vor!« König Matthew stand kurze Zeit reglos da und starrte auf einen Fleck an der Decke. Als er schließlich etwas sagte, klang er beinahe ehrfurchtsvoll. »Gut«, erklärte er leise. »Ich denke, Ihr solltet an dieser Sache weiterarbeiten.« In diesem Moment wurden sie von lautem Geklapper unterbrochen, das von der Treppe her zu ihnen drang. »Kaffee gefällig?«, fragte Veroniques kratzige Stimme. » Was ist auf der Exkursion passiert?« Zuerst mussten wir die Theodoliten und all die anderen zur Landvermessung nötigen Geräte zusammensuchen. Danach gingen wir in die Stadt, um herauszufinden, wann eine Kutsche in die Berge fuhr. Es stellte sich heraus, dass früh am nächsten Tag ein Gespann abgehen sollte, und wir verabredeten uns für den kommenden Morgen an der Haltestelle. Ich war natürlich früh 207 dran, denn man hatte mich dazu ausersehen, die Instrumente zu tragen. Kurz danach kam der rothaarige Junge mit seinem Hund, doch Charlesally waren verspätet. Tatsächlich hätten sie die Kutsche beinahe verpasst, tauchten aber im letzten Moment auf, lächelten und entschuldigten sich vielmals. So schafften wir es doch noch
gerade rechtzeitig, und niemand war den beiden wirklich böse. Die Straße in die Berge hinauf war ziemlich schlecht und die Kutsche alt und wacklig. Deshalb konnten wir während der Reise eigentlich nichts besprechen und keine Pläne machen. Und als wir den Gasthof erreichten, in dem wir Quartier beziehen wollten, brach die Dunkelheit schon fast herein. Als wir unsere Sachen abgeladen und die Zimmer angewiesen bekommen hatten, war gerade noch Zeit für ein spätes Abendessen, und dann meinten Charlesally, es wäre doch nett, noch was zu trinken. So kamen wir auch am Abend nicht dazu, unsere Exkursion vernünftig zu besprechen. Wir hatten zwei Zimmer unterm Dach. Charlesally bezogen natürlich das eine, und ich richtete mich mit dem rothaarigen Jungen und seinem Hund nebenan ein. Als der Abend zu Ende war, gingen wir alle die Treppe hoch. Charlesally verschwanden sofort in ihrem Zimmer, und die Geräusche, die kurz darauf durch die Wand drangen, waren eindeutig. In unserem Zimmer standen zwei Betten - eins neben der Tür, das andere unterm Fenster. Ich setzte mich auf das Bett bei der Tür, zog mich recht verlegen aus und schlüpfte eilig in mein Nachthemd. Der Junge versuchte, den Hund dazu zu bringen, auf der Decke im Zimmerwinkel zu bleiben. Dann stand er auf, zog sich seine Sachen einfach so vom Leib und warf sie auf den Boden. 208 Er schien völlig unbefangen, und es war nicht zu vermeiden, dass mir auffiel, wie hübsch er war. Sein Körper war kleiner und schlanker als der meine und wirkte sehr jugendlich und weich. Er musste gemerkt haben, dass ich ihn betrachtete, denn er lächelte mich an. Das aber war mir peinlich, und ich schaute weg. Als ich wieder hinsah, hatte er sich aufs Bett geworfen. Er war weiter nackt - nur Socken hatte er noch an, und die waren ihm auf die Knöchel gerutscht. Der Hund war zu ihm aufs Bett gesprungen, und er streichelte ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Das hat mich angeekelt, und ich hab mich zur Wand gedreht und bin eingeschlafen. Als ich, wie gewohnt, im Morgengrauen aufstand, sah ich, dass Herr und Hund eng aneinander geschmiegt im Bett geschlafen hatten. Der Junge hatte sein Nachthemd noch immer nicht angezogen - vielleicht, weil es eine recht warme Nacht gewesen war, vielleicht, weil er einfach keines hatte. Jedenfalls lag er mit dem Bücken zu mir auf der Seite. Ich weiß noch, dass mir sein Bückgrat und seine Schulterblätter auffielen - wie zart sie wirkten! Wie die eines Mädchens! Dann begann ich mich traurig zu fühlen, denn er hatte seinen Hund, und Charlesally hatten einander, ich aber hatte niemanden. Und dann habe ich mich - ohne recht zu wissen, warum - neben sein Bett gekniet, einen Finger ausgestreckt und begonnen, dem Umriss seines Schulterblatts zu folgen. Als ich merkte, was ich tat, zog ich mich eilends zurück. Mir fiel auf, dass meine Hand schwitzte und mein Herz raste. Meine Berührung musste ihn aufgeweckt haben, denn er drehte sich zu mir um, sah mich vor dem Bett knien und fragte: »Was ist los?«, und ich sagte, was mir als Erstes einfiel: »Ich dachte, ich hätte was gehört.« Das klang vermutlich ziemlich blöd, doch 209 es schien ihm zu genügen, denn er wandte sich wieder ab, schlang die Arme um den Hund und schlief gleich wieder ein. Ich dagegen zitterte am ganzen Körper, aber natürlich hatte ich meine Kette eingepackt. Also schmuggelte ich sie unter mein Kopfkissen, und sie schien ein wenig zu helfen. Beim Frühstück war von Charlesally nichts zu sehen, und der Junge sagte kein Wort darüber, was in der Nacht geschehen war - vielleicht hatte er es auch vergessen. Ich fragte ihn, ob er glaube, die beiden würden auch nur ein wenig arbeiten, und er meinte, er habe da seine Zweifel, denke aber, wir müssten einfach das Beste aus der Situation machen. Dem konnte ich nur beipflichten, und so herrschte zwischen uns beiden wenigstens ein gewisses Einvernehmen. Als die zwei dann auftauchten, waren nur noch Toast und Kaffee da, aber endlich saßen wir mal alle zusammen und konnten besprechen, was wir vorhatten. Während dieser Besprechung begann ich, die drei richtig einzuschätzen. Ich hatte vor, die Instrumente zu benutzen, wie wir es gelernt hatten, genaue Berechnungen durchzuführen und die Karte zu zeichnen, wie man uns das gezeigt hatte, doch es stellte sich heraus, dass Busty - den bei seinem Namen zu nennen mir aus irgendeinem Grund schwer fiel - andere Vorstellungen hatte. Er glaubte, wenn wir auf unserer Wanderung die Landschaft ringsum genau beobachteten und jeder sich Notizen machte, könnten wir daraus ein Bild zusammenfügen, das die verschiedenen Beobachtungen eines jeden vereine, und brauchten uns nicht so sehr auf Messungen zu stützen. Mir war nicht wohl dabei - es schien mir sehr ungenau -, doch Sally war von der Idee ganz begeistert, vor allem wohl, weil sie nicht recht wusste, 210 wie man die Instrumente bedient. Charles, der- wie ich langsam herausfand - im Grunde faul war, meinte, er sei mit allem einverstanden, was die anderen vorschlügen. Schließlich einigten wir uns auf den Kompromiss, jeder solle sich Notizen machen, aber auch reihum eine Weile die Instrumente benutzen, damit wir wenigstens ein paar Daten in der Hinterhand hatten, falls Rustys Ansatz scheitern sollte. Von da an empfand ich einen gewissen Respekt vor Rusty. An diesem Morgen begriff ich, dass der Junge eigenständige Ideen hatte und die Regeln nicht nur um des Brechens willen brach. Und ich begann einzusehen, dass er etwas hatte, das mir fehlte, eine Qualität, die mir gerade erst an ihm bewusst wurde. Ich erfuhr in den nächsten Tagen mehr darüber, aber damals hätte ich sie noch nicht benennen können, und selbst heute weiß ich nicht, ob ich es wirklich kann. So sind wir unsere Aufgabe also angegangen, und bald bekamen wir Ergebnisse, die verwendbar schienen, und
zeichneten sogar ein paar vorläufige Teile unserer Karte. Eigentlich zeichnete und malte allein Rusty. Er verwendete schwarze Tinte und einen Tuschkasten, und kaum hatte ich seine erste Skizze gesehen, wusste ich, dass unsere Karten etwas ganz Besonderes sein würden. Sie schienen ein eigenes Leben zu haben und brachten das Pergament fast zum Glühen. Trotz meiner Vorbehalte begann ich, Rusty zu bewundern, und dachte, unsere Gruppe könnte vielleicht doch etwas richtig Gutes auf die Reine stellen. Jeder von uns musste das gespürt haben, denn nach dem ersten Tag wurden wir alle etwas entspannter. Nach dem Abendessen tranken wir wieder ein paar Gläser zusammen und begannen, uns beim Vornamen zu nen211 nen. Mitunter verhielten sich nun sogar Charlesally wie zwei eigenständige Menschen, obwohl keiner von beiden - wie ich schon früh geargwöhnt hatte -je viel zur Exkursion beigetragen hat. Bald aber begriff ich, dass Rusty Instinkt oder besser Intuition für das Zeichnen von Karten hatte und dass diese Intuition weit über alles hinausging, was ich mit meinen Instrumenten, mit Hilfslinien und Geometrie je würde erreichen können. Während ich Höhen und Winkel maß und in mein Notizbuch eintrug, schien er irgendwie in der Lage, die Landschaft aus der Vogelperspektive zu betrachten und diesen Anblick aufzusaugen. Und wenn er ihn dann malte, schuf er etwas, das mehr war als nur eine einfache Karte: etwas Lebendiges, das einen quasi vom Pergament ansprang und beinahe die Seele des Landes auszudrücken schien. Natürlich hätte ich damals kein Wort wie »Seele« benutzt, und ich fühle mich noch heute nicht wohl dabei, aber ich habe seither andere derlei sagen hören, und dieses Wort scheint doch besser als jedes andere auszudrücken, was ich dir beschreiben will. Ich habe oft zu verstehen versucht, was ich in jenen wenigen Tagen fühlte, und glaube nicht, dass ich damals auch nur im Ansatz begriff, was in mir vorging. Weißt du, obwohl ich heimlich bewunderte, was der Junge konnte, machte er mich zugleich wirklich wütend: Dieses Theater, das er um seinen Hund veranstaltete! Dass die beiden beim Spielen völlig aufeinander bezogen waren! Dass ihm ein Talent zu Gebote stand, das meine Fähigkeiten haushoch überstieg, ein intuitives Begreifen der Landschaft nämlich, eine natürliche Fähigkeit, Notizen und Skizzen in etwas zu verwandeln, das ein Eigenleben, eine Seele hatte! Wütend machte er mich auch, weil seine Arbeit so schön war... und weil 212 ich - es fällt mir nicht leicht, das zu sagen - immer deutlicher sah, dass auch er selbst schön war. Nachts hab ich oft an seinem Bett gekniet und ihm beim Schlafen zugesehen, und immer hatte er den Arm um seinen Hund gelegt. Ich merkte, dass ich mir wünschte, ich würde da im Bett liegen und er hätte den Arm um mich, nicht um das blöde Vieh geschlungen. Nein, natürlich hab ich ihm nichts davon gesagt. Ich war vernünftig genug, das zu lassen, doch ich wusste wirklich nicht, wie mir geschah - solche Gefühle hatte ich noch nie gehabt. Ob ich in ihn verliebt war? Ja, ich schätze schon, obwohl ich auch diese Formulierung nicht verwendet hätte. Weißt du, all das habe ich erst recht spät in meinem Leben erfahren. Ich hatte zuvor keine Gelegenheit dazu, und nun vermochte ich einfach nicht zu verstehen, wie mich jemand so wütend, aber auch so sehnsüchtig machen konnte, dass es mich innerlich zu zerreißen schien. Ja, ich war damals wohl wirklich verliebt. Es war nur gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich glaube, es war am vierten oder fünften Tag der Exkursion, als alles schief ging. Der Tag begann wie üblich. Ich weiß noch, dass Charlesally wie immer zu spät zum Frühstück kamen und der Junge auf einer Bank draußen vor dem Fenster saß und sich Strümpfe und Stiefel anzog. Ich musterte von der Seite her sein Knie, das er abwechselnd beugte und streckte, und war fasziniert vom Spiel der Sehnen, das auf der Haut kleine Wellen schlug und zugleich auf den komplexen Mechanismus darunter verwies, bis Sally ihren Kaffeebecher auf die Tischplatte knallte und mich aus der Versunkenheit riss. 213 Schließlich machten wir uns am späten Vormittag auf den Weg, stiegen höher als an den Tagen zuvor und verloren uns um die Mittagszeit irgendwie alle aus den Augen. Ja, jetzt erinnere ich mich - da war eine kleine Nebelbank am Hang, das war der Grund. Keine Ahnung, woher sie gekommen war, doch ich weiß noch, dass ich plötzlich von unten Stimmen und das Heulen des Hundes hörte. Also rannte ich zurück, um zu sehen, was los war. Ich habe nie genau herausgefunden, was passiert ist. Der Gastwirt meinte, es könnten Banditen gewesen sein. Als ich den Jungen fand, stand er jedenfalls einfach wie angewurzelt im Nebel und konnte nicht reden, und seine Augen schienen nichts wahrzunehmen. Der Hund lag zu seinen Füßen, und auch er bewegte sich nicht. Irgendwie haben wir die beiden zurück in den Gasthofgebracht und den Jungen ins Bett gelegt. Dort ist er dann geblieben, bis die Kutsche am Ende der Woche kam, um uns wieder abzuholen. Ohne ihn waren wir mit der Karte natürlich keinen Federstrich vorangekommen, und ich war wütend, weil er die Exkursion zu einem Misserfolg hatte werden lassen. Ich wusste, dass ich deshalb wahrscheinlich durchs Examen fallen würde, doch als ich ihn hilflos im Bett liegen sah, merkte ich, dass ich ihm nicht lange böse sein konnte, und spürte dann, dass ich bei ihm bleiben wollte, um sicher zu sein, dass er einigermaßen wohlauf war, und um als Erster mit ihm zu sprechen, wenn er endlich wieder zu Bewusstsein käme. Also blieb ich die ganze Zeit bei ihm, und Charlesally beschlossen, sie könnten ruhig auch wieder ein wenig ins Bett gehen, und so hab ich die beiden in den nächsten Tagen die ganze Zeit im Hintergrund rodeln hören. 214 Der Junge schien Fieber zu haben, warf sich im Bett herum und wand sich mal nach links, mal nach rechts. Ab und an setzte er sich plötzlich auf, öffnete die Augen und begann, sinnlose Sachen zu rufen - etwas über
jemanden namens Laurin oder Laurel und über ein Geheimnis. Dann fiel er schweißüberströmt in die Kissen zurück und schlief wieder ein. Ich bin mir nicht sicher, ob er in diesen Tagen überhaupt mal richtig bei Bewusstsein war. Er hat partout nichts essen oder trinken wollen und anscheinend keinen von uns erkannt, nicht mal seinen Hund. Ich verbrachte etwas Zeit mit dem Schreiben von Gedichten, doch als ich sie später las, schämte ich mich über das, was ich zu Papier gebracht hatte. Darum hab ich sie weggeworfen. Vor allem aber fühlte ich mich in diesen letzten Tagen sehr traurig, weil mir klar war: Egal, was zwischen mir und dem Jungen gewesen war - es war so gut wie vorbei. Und ich wusste: Bald würde ich ihn verlieren, obwohl ich ihn natürlich nie gehabt hatte. Als ich das begriff, ging ich zu meinem Bett, langte unters Kissen und zog die Kette hervor. Dann kehrte ich an sein Bett zurück und hielt sie in den ausgestreckten Armen. Das eine Ende ließ ich so baumeln, dass das letzte Kettenglied sein Brustbein berührte, und ich erinnere mich, dass ich dabei genau hörte, was Charlesally nebenan wieder trieben, und dass mich auch das traurig machte. Dann zeichnete ich mit der Kette langsam die Landschaft seines Körpers nach und beobachtete, wie sich das letzte Glied um seine Kehle schlängelte, leicht über seine Rippen sprang, über seinen weichen Bauch strich und einen kleinen Kreis um seine Hüfte drehte. Während ich das tat, schien er sich ein wenig zu bewegen 215 und schauderte etwas, und das machte mich irgendwie noch trauriger. Dann hörte ich den Gastwirt rufen, die Kutsche sei gekommen. Also legte ich die Kette rasch weg und musste mir die Augen wischen, damit die anderen mich nicht so sahen. Und dann war die Exkursion vorbei, und natürlich hatten wir unsere Aufgabe nicht erfüllt. Die falsche Art Dunkel Kevin Considine war mächtig erleichtert. Trotz des chaotischen Beginns war das Treffen mit dem König viel besser gelaufen als erwartet und hatte mit der Erlaubnis geendet, das Universale Signalnetzwerk - so wollte er es nun nennen - zu entwickeln und die gesamte damit verbundene Planung, die Produktion von Geräten und ihre Aufstellung und Inbetriebnahme zu überwachen. Es hatte einen heiklen Moment gegeben, als der König sich doch noch an den wahren Ursprung der Empathiemaschine zu erinnern schien, doch das hatte Kevin abwenden können, wofür er sich im Stillen beglückwünschte. Nach dem Treffen war er in sein Büro zurückgekehrt und hatte gleich die erforderlichen Anweisungen aufgelistet und erteilt. Nun war es Abend geworden, und er hatte nichts Dringendes mehr zu tun. Gerade streckte er sich wohlig, da durchfuhr ihn ein Gedanke, der ihn vom Schreibtisch aufstehen und durch die kleine Glasscheibe seiner Tür spähen ließ, ob die Kanzlei menschenleer war. Dann stieg er zufrieden die Treppe ins Labor hinunter. An einer der Empathiema216 schinen gab es etwas, das ihm noch immer Sorgen bereitete. Er schaltete das fragliche Gerät ein und setzte sich ans Kontrollpult. Zufällig war es die Maschine, die er von seinen Vettern, den Brüdern Constanzas, bekommen und mit einem zusätzlichen Metallgehäuse versehen hatte, damit sie niemand erkannte. Das andere Gerät, das die Techniker des Palasts nach seinen Anweisungen gebaut hatten, schien bis jetzt keinerlei auffälliges Verhalten zu zeigen. Doch in der ersten Maschine war etwas, das vielleicht Madame Nina oder ein früherer Besitzer zurückgelassen hatte und das seine Probeübertragungen regelmäßig störte. Klar, dass er es identifizieren und entfernen musste, ehe er dem Netzwerk voll vertrauen konnte. Er setzte den Kopfhörer auf, legte die Hände vorsichtig an die Griffe und stellte das Okular ein, bis er mit dem Testsignal zufrieden war. Dann arbeitete er sich schnell und konzentriert durch die Reihe von Vorstellungsbildern, mit denen er prüfte, ob die Maschine einwandfrei funktionierte. Erst dachte er an einen auf der Gitarre angeschlagenen Dur-Akkord, dann an einen Regenbogen am Himmel, schließlich an eine Axt, die einen Baumstamm spaltet. Weil er herausgefunden hatte, dass es zur Vorbereitung nichts Besseres als ein echtes, gravierendes Problem gab, ließ er als Nächstes ein paar Prognosen durch die Maschine laufen und hoffte so zu ermitteln, wie die Königliche Kanzlei nach dem Weggang von Alice wieder volle Arbeitsleistung erreichen könnte. Das brachte einige recht plastische Bilder, doch Kevin rechnete nicht ernsthaft mit konkreten Ergebnissen und ließ die Bilder sich deshalb nach kurzer Zeit sanft auflösen. 217 Dann zauberte er einen Besen aus dem Nichts, fegte die restlichen Bild- und Geräuschreste beiseite und konzentrierte sich ganz auf den leeren Raum, der nun übrig war. Wie üblich erschien zunächst nur ein gleichmäßiges Grau, und das einzige Geräusch war ein gedämpftes Zischen. Kevin runzelte die Stirn, und vor seinen Augen tauchte langsam ein trüber, schmutzroter Fleck auf, während das Geräusch sich zu tiefem Dröhnen steigerte. Dann lächelte er, und aus dem Rot wurde ein fröhliches Gelb, wobei das Geräusch heller wurde und sich in ein vergnügtes Trällern verwandelte. Und kaum zog Kevin die Brauen hoch, da tanzten schon kleine grüne und blaue Schnörkel in den Ecken des Bildes, während das Geräusch eine packende Folge von Frequenzveränderungen durchlief. Zufrieden hieß er den Besen noch einmal kurz kehren und ließ seine Gefühle dann abklingen, bis nur noch stilles Dunkel vor ihm lag... ... oder doch vor ihm hätte liegen sollen. Doch einmal mehr stellte er ärgerlich fest, dass es die falsche Art Dunkel und die falsche Art Stille war. Das Dunkel hätte umfassend, kühl und endlos, die Stille tief, bodenlos und
unendlich sein sollen, doch so war es nicht. Das Dunkel war kompakt, intensiv und geschlossen, die Stille wirkte schmal, flach und seltsam befristet. Kevin wollte in einer unendlichen und zeitlosen Leere treiben, hatte aber eher das Gefühl, in einer engen, stickigen Gefängniszelle zu hocken. Und er spürte, dass er zwar allein sein wollte, es aber ganz und gar nicht war. Es war noch etwas da, das er nicht sehen oder hören, aber irgendwie spüren konnte, vielleicht durch die Griffe. Die ließ er nur kurz los, um sich die schwitzenden Handflächen an den Hosenbeinen abzureiben. 218 Kein Zweifel: Madame Nina hatte etwas für ihn in der Maschine gelassen, einen kleinen, dunklen Raum, aus dem es kein Entkommen gab und in dem irgendein unangenehmes Wesen zugegen war. Kevin spitzte die Ohren. Ja, er konnte eindeutig etwas hören - ein schwaches, periodisch auftretendes Zischen, wie es schien. Es kam direkt von vorn, und zwar aus großer Nähe. Und mit dem Geräusch schien ihn warme Luft anzuwehen. »Hallo? Kannst du mich hören?« Wieder das Zischen, diesmal etwas lauter. Schnell und äußerst konzentriert langte Kevin an die Rückseite der Maschine, veränderte leicht ein paar eher unbedeutende Parameter und fummelte an den Griffen herum. »Hallo? Hallo, wer ist da?« »Hallo Kevin.« Die Stimme war sehr schwach, doch ihre Worte waren unmissverständlich. Fiebrig erregt gab Kevin den Griffen eine Vierteldrehung, um die Lautstärke zu erhöhen. »Hallo, ja, ich bin Kevin. Wer bist du?« Die Antwort war noch immer schwach und klang heiser, doch es handelte sich eindeutig um eine Frauenstimme - träge, zärtlich und verlockend. »Hallo Kevin. Ich bin Lee. Ich möchte deine Freundin sein. Du kannst mir vertrauen.« »Hast du je deinen Abschluss gemacht?« Nein - und der rothaarige Junge auch nicht. Während der Rückfahrt vom Gebirge kam er ein wenig zu Bewusstsein, und als wir ihn vor dem Haus absetzten, in dem er ein möbliertes Zimmer hatte, schaffte er es allein 219 hinein. Wir sahen ihn die Treppe hochgehen und fuhren dann zur Akademie weiter, um die Instrumente abzugeben. Es waren noch Ferien. Also nahmen Charles und Sally eine andere Kutsche und reisten heim, während ich mich wieder in meiner Nische einrichtete und zu grübeln begann, was mir blühen würde. Tja, es stellte sich heraus, dass ich bis zum Beginn des neuen Studienjahrs wieder als Bediensteter arbeiten sollte, und meine Vorgesetzten waren nicht sehr erfreut, als sie erfuhren, dass ich meine Livree verbrannt hatte, aber schließlich durfte ich doch bis zum Ende der Ferien meine Pflichten erfüllen. In diesen paar Wochen war ich sehr ängstlich, fragte mich, was passieren würde, wenn die Ergebnisse der Exkursion bekannt gegeben wurden, und hielt mich so weit wie möglich von allen fern. Den rothaarigen Jungen hätte ich gern gesehen, aber irgendwie brachte ich den Mut nicht auf, bei ihm vorbeizuschauen. Als die Ergebnisse verkündet wurden, waren meine Prüfer noch weit weniger erfreut und verboten mir, das Studium fortzusetzen, gestatteten mir aber, als Dienstbote an der Akademie zu bleiben. Darüber dachte ich eine Weile nach und kam zu dem Schluss, dass das für mich nicht in Frage käme. Ich hatte zu studieren versucht und war gescheitert, wollte nun aber nicht wieder in meine alte Existenz rutschen. Das sagte ich ihnen, und sie entgegneten, dann müsse ich gehen. Ich wusste natürlich nicht, was ich nun tun sollte. Vermutlich hatte ich nicht geglaubt, dass es so weit kommen würde. Aber da es nun mal so war, blieb ich keinen Tag länger, sondern packte meine Klamotten sowie Gedichte, Kreuzworträtsel und Kette, verließ die Akademie und ging langsam Richtung Innenstadt. Ich 220 achtete eigentlich nicht darauf, wohin, und war wohl etwas benommen. Schließlich jedenfalls fand ich mich vor dem Haus wieder, in dem der Junge zur Untermiete wohnte. Da dachte ich mir, ich könnte bei dieser Gelegenheit mal herausfinden, was er nun so trieb. Mein Herz klopfte heftig, als ich läutete. Nach einiger Zeit kam eine untersetzte Frau mit Staubwedel an die Tür. Ich fragte sie, ob ihr Untermieter zu Hause sei, und sie antwortete: »Mr Brown? Nein, der ist verschwunden, und ich glaube nicht, dass er wieder auftaucht.« Da sagte ich das Erste, was mir einfiel - dass ich ihm nämlich etwas ausgeliehen hätte, ein paar Zeichnungen, und sie ließ mich in sein Zimmer hinauf. All seine Kleider waren fort, und auch von dem Hund fehlte jede Spur. Nur ein paar Bücher waren noch da -und einige Karten, die an der Wand steckten. Ich nahm zwei, drei davon ab, breitete sie auf dem Bett aus und saß eine Weile da und betrachtete sie, doch irgendwie wirkten sie leblos. Plötzlich waren sie nur noch x-beliebige Karten - vielleicht sehr gut gemacht, aber nicht mehr. Die Zeichnungen, die er auf der Exkursion angefertigt hatte, wollte ich nicht anrühren, doch es gab ein paar alte Karten, die womöglich das Dorf zeigten, in dem er aufgewachsen war. Ich sah gleich, dass er viel jünger gewesen war, als er sie gemacht hatte - sein Strich war noch nicht so sicher, und die Beschriftung wirkte recht kindlich. Doch irgendwie enthielten diese Karten mehr von ihm als die neueren Zeichnungen. Deshalb nahm ich ein paar davon und stopfte sie zu den anderen Sachen im Rucksack. Dann kam die Frau an die Tür und fragte, ob ich noch etwas brauchte. Ich verneinte, und so war es Zeit zu gehen. Natürlich wusste ich nicht, wohin, und Geld hatte ich
221 auch keines. Also begann ich mich im Gehen zu fragen, womit ich meinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Klar, dass es keinen Sinn hatte, dabei an Kartografie zu denken, denn da war ich durchgefallen, und als Diener wollte ich gewiss nicht wieder arbeiten. Also dachte ich an die anderen Dinge, die ich konnte - die Gedichte, die Kreuzworträtsel -, und hatte schließlich eine Idee. Ich hatte in der Stadt Bettler gesehen, von denen einige die Passanten einfach anschnorrten, doch das brachte ich nicht fertig. Andere verkauften Kleinigkeiten wie Schnürsenkel oder Streichhölzer, und manche hatten Kunststücke verschiedenster Art gelernt. Eine Frau zum Beispiel spielte ein Lied auf der Geige, immer dasselbe Lied, doch die Leute schienen dafür gern ein paar kleine Münzen lockerzumachen. Dann gab es einen Schlangenmenschen, einen dunkelhäutigen Jungen, der seine Glieder zu verknoten pflegte. Ich wusste, dass ich nichts dergleichen tun könnte, erinnerte mich dann aber eines alten Mannes, der mit Farbkreide Bilder aufs Pflaster gemalt hatte. So kam ich auf meine Idee. Natürlich konnte ich keine solchen Bilder malen - aber Kreuzworträtsel aufs Pflaster zeichnen. Zum Glück hatte ich von der Akademie her noch ein paar Stück Kreide dabei. Also suchte ich mir eine Stelle, wo der Gehsteig breit war, zeichnete ein Gitter auf den Boden, trug einige Worte ein und fragte die Leute dann, ob sie die fehlenden Worte ergänzen könnten. Wenn es ihnen nicht gelang, gaben sie mir eine Münze, und manchmal taten sie es auch, wenn sie die Lösung gefunden hatten. So habe ich einige Jahre meinen Lebensunterhalt verdient. Ich musste von Stadt zu Stadt ziehen, denn die Leute hätten sich gelangweilt, wenn ich zu lange geblieben wäre, doch ich stellte fest, dass ich - egal, wohin ich 222 kam - genug einnahm, um ein, zwei Tage Essen und auch eine Unterkunft zu bezahlen, wenn es zu kalt war, draußen zu schlafen. Da und dort wurde ich von der Bürgermiliz oder anderen Bettlern verjagt, doch nach einiger Zeit bekam ich ein Gefühl dafür, welche Plätze geeignet waren, und nach einer Weile erkannten mich die Leute. »Da kommt der Mann mit den Kreuzworträtseln«, sagten sie dann. So schien es, als hätte ich etwas gefunden, das mich vorläufig nicht auf dumme Gedanken kommen ließ. Ich verdiente natürlich nie genug, um mit Fuhrwerk oder Kutsche reisen zu können, und ging stattdessen viel zu Fuß. Oft war das kein Vergnügen, denn die Wege waren schlecht, doch mancherorts wurden neue Trossen gebaut - die Königlichen Landstraßen. Dort ließ es sich viel angenehmer gehen. Beim Wandern hatte ich viel Zeit zum Nachdenken und begann, über mein Leben nachzugrübeln, darüber, wie es war und wie es hätte sein können. Ich begriff, dass alles für mich viel besser gelaufen wäre, wäre ich aus einem guten Elternhaus gekommen, und dass ich viel bessere Aussichten gehabt hätte, wenn ich mein Examen bestanden hätte und Kartograf geworden wäre. Dann dachte ich an meinen Vater und an den rothaarigen Jungen auf der Akademie und begriff allmählich, dass diese beiden Menschen Schuld daran hatten, wie alles gekommen war. Und ich begann zu denken, ich hätte wohl ein paar Rechnungen zu begleichen. Nachts war es am schlimmsten. Wenn ich im Dunkeln wach lag, begann ich mich über alles zu ärgern, grub dann immer im Rucksack nach meiner Kette und den anderen Sachen und stellte fest, dass es mir in ihrer Gesellschaft besser ging223 Seltsam, aber ich habe über all das noch nie gesprochen. Irgendwie schien es mir immer sehr schwer, darüber zu reden. Aber wenn ich mit dir hier im Zimmer sitze, geht alles ganz leicht. Du musst eine Gabe haben vielleicht die Fähigkeit zuzuhören. Ich glaube nicht, dass ich eine wahre Gabe besitze, und als ich das erste Mal jemanden traf, der ein überragendes Talent hatte, hat mir das gar nicht gefallen. Aber bei dir ist das anders. Du nutzt deine Gabe, um mir zu helfen. Und das gefällt mir. Eines Tages erreichte ich eine Hügelkuppe und sah in der Ferne die Hauptstadt liegen. Ich konnte die Kaserne des Wachregiments und den Palast erkennen, von denen Flaggen wehten, und dann waren noch schemenhaft ein paar Turmspitzen, der Fluss und die Masten der großen Schiffe im Hafen zu sehen. Seit ich den Magier damals an der Großen Kreuzung abgeholt hatte, war ich nicht mehr in der Hauptstadt gewesen, und das ließ mich neu nachdenken. Der Magier war einmal mein Wohltäter gewesen und hatte die Studiengebühren bezahlt, damit ich die Akademie besuchen konnte. Wenn ich ihm erzählte, was geschehen war, würde er womöglich erneut mein Gönner werden. Ich wusste, dass er für den König arbeitete, und beschloss daher, zum Palast zu gehen und zu bitten, ihn besuchen zu dürfen. Am Palasttor befand sich eine Zugangsschleuse, und ich sah, dass man eine Magnetkarte brauchte, um durch die Sperre zu gelangen. Also ging ich zum Hintereingang und kam dabei durch eine kleine, mit Kopfsteinen gepflasterte Gasse, die Straße der Bettler hieß, obwohl niemand in Sicht war, der um Almosen bat. An diesem Tor saß nur ein einfacher Posten in seinem Wachhäuschen. Ich kauerte mich hin und durchsuchte meinen 224 Rucksack nach dem kleinen Stück Pergament, das der Magier mir gegeben hatte. Zum Glück besaß ich es noch. Auf der Karte stand sein Name, Leonardo Pegasus. Ich zeigte sie dem Posten und sagte, ich hätte einen Termin. Der Posten sah sie sich an und reichte sie dann einem Kollegen. Sie gingen ein paar Namenslisten durch und sagten mir schließlich, es tue ihnen sehr Leid, aber Meister Pegasus habe den Palast verlassen, als der neue König den Thron bestiegen habe, und das sei nun schon bald drei fahre her. Da war ich sehr bedrückt. Ich hatte nicht viel Geld, also ging ich die Straße der Bettler wieder hinunter und immer weiter, bis ich einen Platz gefunden hatte, wo ich mein Kreuzworträtsel aufs Pflaster malen konnte. Rasch merkte ich, dass alle Leute einfach vorbeihetzten, ohne von mir oder dem Kreuzworträtsel Notiz zu
nehmen. Dann fiel mir auf, dass mir in der Stadt nicht ein einziger Bettler begegnet war. Ich fragte mich gerade, warum, als drei abgerissen wirkende Gestalten auf mich zukamen, von denen zwei nackte Füße mit langen Zehennägeln hatten, während der Dritte schwarze Stiefel trug, die alt und ramponiert waren. Direkt vor mir blieben sie stehen - mitten auf dem Kreuzworträtsel. Ich wollte sie schon verjagen, da fiel mir auf, dass sie Reste einer Uniform trugen: verwaschene blaue Jacken und Käppis mit Abzeichen. Einer von ihnen, der mit den Schuhen nämlich, bellte: »Steh auf, du Abschaum! Weißt du nicht, wer wir sind?«, und ich sagte, es täte mir Leid, aber das wüsste ich wirklich nicht. Da schnauzte er: »Wir sind das Mobile Kommando der Königlichen Wolfsjungen-Miliz, und es ist unsere Pflicht, dich darüber zu informieren, dass Betteln auf den Straßen der Hauptstadt nicht mehr geduldet wird.« 225 Bevor ich etwas antworten konnte, gab er den beiden anderen ein Zeichen, und sie packten mich an den Armen, und der mit den Stiefeln trat mich ein paar Mal. Dann schleiften sie mich übers Pflaster und stießen mich in den Laderaum eines Lastwagens, der sofort davonraste. Es war sehr laut, und die Abgase stanken furchtbar. Ich fand keinen Halt und schlitterte auf der Ladefläche hin und her. Als der Wagen endlich anhielt, zerrten sie mich wieder raus. Ich befand mich in einem großen Hof mit hohen Mauern ringsum und fragte: »Wo habt ihr mich hingebracht?«, und der mit den Schuhen sagte: »Das ist das Stadtgefängnis, du Abschaum.« Sie traten mich noch ein paar Mal und warfen mich in eine dunkle Zelle, und ich hörte, wie die Tür zufiel und abgeschlossen wurde. Die Signalwache Leonardo Pegasus genoss das zurückgezogene Leben auf dem Land. Er war erst seit ein paar Jahren im Dorf, gehörte inzwischen aber zum Inventar des »Pflugs«, des örtlichen Gasthofs, wo man ihn im Schankraum normalerweise Gläser und Flaschen einsammeln sah und wo er mitunter, wenn der Wirt unterwegs war, Thekendienst schob. Die Arbeit war anstrengend, überforderte ihn aber nicht und ließ ihm viel Zeit, um an den verschiedenen Geräten herumzubasteln, die er auf dem Heuboden hinterm Gasthof stehen hatte, und mit den Stammgästen die Zustände im Land zu bereden - mit dem pensionierten Lehrer, den Ladenbesitzern und Handwerkern des Dorfs sowie den Bauern. Ab und an gönnte sich Leonardo den Luxus, sich in Erinnerungen an seine Jahre in der Hauptstadt und seine Entlassung durch König Matthew zu ergehen, und manchmal dachte er sogar an Nina. Er versuchte, nicht zu viel an sie zu denken, denn sie hatte getan, als sei sie seine Freundin, ihn dann aber, als er am verwundbarsten war, verraten und seine gesamte Ausrüstung gestohlen, sogar die Empathiemaschine. Wenn Leonardo zu lange darüber nachdachte, wurde er noch immer wütend. Mitunter fragte er sich, was Nina mit der Maschine angefangen haben mochte - wenn sie überhaupt eine Verwendung dafür gefunden hatte. Doch dann bremste er sich und hielt sich vor Augen, dass all diese Ereignisse weit in der Vergangenheit lagen und er nun ein neues Leben hatte. An einem verregneten Dienstag im Frühsommer machte zur Mittagszeit ein alter Bauer namens Zacharias Flint einen seiner seltenen Besuche in der Schankstube des »Pflugs«. Von seinen Tweedsachen tropfte das Wasser, und seine Stiefel hinterließen auf den Fliesen eine Schlammspur. Zacharias trottete direkt auf Leonardo zu, der an diesem Tag zufällig hinter der Theke stand, zog ein dickes Bündel Geldscheine aus der Jacke und warf eine Lokalrunde nach der anderen. Leonardo machte das zunächst nicht weiter stutzig, doch als der Bauer nach einer Stunde schon die vierte Runde bestellte, musste er feststellen, dass er langsam neugierig wurde. Zacharias hatte einen kleinen Bauernhof in den Hügeln, wo das Land nicht gerade fruchtbar war, und konnte sich von seinen Erträgen bekanntermaßen kaum über Wasser halten. Leonardo musste nun doch über die Quelle seines plötzlichen Reichtums nachdenken, doch er hatte nicht lange zu grübeln, denn bald lehnte 227 der Bauer sich vor und vertraute ihm mit einer Fahne, die Leonardo zusammenzucken ließ, an: »Bei mir gab's 'nen warmen Regen.« »Ach? Glück gehabt!« »Leute des Königs sind auf meinen Hof gekommen, im Ernst. Die wollten das alte Stück Ödland kaufen - du weißt schon, oben auf dem Hügel.« »Ach? Wofür das denn?« Im Dorf passierte nicht viel, und eine so außergewöhnliche Nachricht weckte Leonardos Neugier. »Keine Ahnung. Sie haben irgendwas von einer Signalwache oder so erzählt. Sieht aus, als würden die jetzt überall gebaut. Mach uns noch 'ne Runde - und trink diesmal mit.« Zacharias musste wenig später auf seinen Hof zurück und tauchte nicht mehr im »Pflug« auf. Erst ein paar Wochen darauf kam Leonardo dazu, Nachforschungen zu seiner Geschichte anzustellen. Als es richtig Sommer und das Wetter immer besser wurde, beschloss er nämlich eines Nachmittags, in die Hügel zu wandern, die sich hinterm Dorf erhoben. Als er sich dem Hof von Zacharias näherte, entdeckte er zu seiner Überraschung eine nackte, frisch angelegte Schotterpiste, die gnadenlos durch die Landschaft schnitt und zu einem neu wirkenden Gebäude führte, das genau auf dem öden Gelände stand, das der Bauer kürzlich verkauft hatte. Der niedrige Bau war aus schmutzgelben Ziegeln errichtet und sehr hässlich. Von seinem Flachdach wehte eine Flaggenreihe. Verblüfft näherte sich Leonardo dem Gebäude und trat durch die offene, nicht gestrichene Tür. Das Innere bestand aus einem lang gezogenen, kahlen Raum, in dem zwei Männer in Arbeitsanzügen auf ein paar Kisten 228
saßen und aus Blechbechern Tee tranken. Um sie herum lagen verschiedene große Geräte sowie Kabeltrommeln und Werkzeugkästen. Der eine Mann hatte viele Falten und war schon recht alt, der andere war sehr viel jünger, vielleicht noch keine zwanzig. Sie ließen den Blick schweifen und nahmen die Ankunft ihres Besuchers recht gelassen. »Guten Tag, meine Herren«, sagte Leonardo fröhlich. »Ich bin zufällig vorbeigekommen und konnte nicht widerstehen -« »Ihr dürft hier nicht -«, begann der junge Mann. »Sei still, Terry«, unterbrach ihn sein Kollege. »Gib unserem Besucher eine Tasse Tee. Setzen Sie sich, Chef. Wir machen gerade Pause.« Leonardo ließ sich vorsichtig auf der Kante einer Kiste nieder und nahm einen großen, sehr willkommenen Schluck starken, süßen Tee. »Woran arbeitet ihr zwei denn hier?«, wollte er wissen. »Wir dürfen nicht -«, begann der Jüngere. »Sei still, Terry. Lass mich das dem Herrn erklären.' Obwohl wir auch nicht viel darüber wissen.« Der Alte zog eine Tabaksdose aus der Tasche und begann sich eine Zigarette zu drehen. »Dieser Bau heißt Signalwache. Von hier werden Nachrichten durch die Luft gesendet, hat man mir erzählt. Die Flaggen habt Ihr doch bemerkt, oder?« Leonardo nickte begeistert. Seit Verlassen der Hauptstadt hatte er keine Signalflaggen mehr gesehen und war sehr verdutzt, sie an einem so abgelegenen Ort zu finden. »Und die Maschinen, die wir hier auspacken, müssen irgendwie mit den Flaggen verbunden werden...« 229 »Wir haben ein Buch dabei, wo alles genau erklärt ist«, warf der Jüngere hilfsbereit ein. »Sei still, Terry. Ich werde das dem Herrn schon sagen.« Der Alte zündete sich die Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und kratzte sich eine Weile am Kopf, ehe er fortfuhr. »Tja, ich schätze, das war's auch schon, Chef. Das Gerät da drüben haben wir bereits in Betrieb genommen. Sehen Sie es sich ruhig an, wenn Sie mögen.« »Er darf doch nicht -« »Sei still, Terry.« Leonardo stand vorsichtig auf und ging quer durch den Raum zu der Maschine, die leise summte. Sie steckte in einem eckigen grauen Metallgehäuse, dessen Oberfläche mit Schaltern, Skalen und blinkenden Lichtern gespickt war. Auf dem Gehäuse befand sich ein Okular, neben dem ein Kopfhörer mit Ringelschnur eingestöpselt war. An den Seiten des Gehäuses waren zwei senkrechte Griffe angebracht. Leonardo fühlte sich merkwürdig atemlos, als er den Kopfhörer behutsam aufsetzte. Dann wurde ihm bewusst, dass die Männer ihm aufmerksam zusahen. »Darf ich?« »Er darf doch n -« »Sei still, Terry. Nur zu, Chef. Lassen Sie das Gerät aber bitte heil.« Leonardo blickte durchs Okular und drehte ein wenig an den Griffen. Kein Zweifel: Das war eine Empathiemaschine, und sie entsprach bis ins Detail dem Apparat, den er selbst vor vielen Jahren entworfen hatte. Aber wer hatte sie gebaut? Und warum war sie ausgerechnet hier gelandet? Langsam ließ er die Griffe los und kehrte wieder zu den anderen zurück. »Wie haben Sie das Ding genannt?« 230 »Es heißt -« »Terry, jetzt reicht's aber! Nein, Chef, das weiß ich wirklich nicht genau.« Der Alte zuckte die Achseln. »Signalmaschine, so könnte man's wohl nennen. Wie gesagt, die werden gerade überall installiert. Der richtige Name steht wahrscheinlich irgendwo in dem Buch.« »Hat jemand das Ding mal Empathiemaschine genannt?« »Nein, Chef, nicht dass ich wüsste. Empathiemaschine? Nein, ich glaube nicht. Terry, schenk dem Herrn doch noch eine Tasse Tee ein.« »Wie lange hast du im Gefängnis gesessen?« Wie sich herausstellte, blieb ich dort nicht lange. Die Nacht verbrachte ich in einer Zelle, doch am nächsten Morgen kamen die Wächter, verprügelten mich wieder und führten mich in einen großen Raum, der wie ein Klassenzimmer wirkte. Dann wurden ungefähr zwanzig weitere Gefangene hereingebracht. Ich fragte die Wächter, was nun geschehen würde, und sie sagten: »Das wirst du schon rechtzeitig erfahren.« Dann war Getrappel auf dem Flur zu hören, und der Oberaufseher schrie: »Auf die Knie, Abschaum, vor Meister Fang!«, und alle knieten nieder, sogar die anderen Wächter. Dann rauschte Meister Fang herein, und seine Kleidung zeigte schon, wie wichtig er war. Seine Uniform ähnelte denen der Wächter, sah aber viel neuer aus und war überall mit kleinen Teilchen besetzt, die aus Gold zu sein schienen. Auf dem Kopf hatte er einen Dreispitz mit langen schwarzen Federn, die mit 231 goldenen Spangen befestigt waren. Um die Schultern trug er einen langen schwarzen Umhang mit scharlachrotem Futter und Goldverschluss. Seine Stiefel waren groß, sahen neu aus und glänzten. Die
Zehennägel konnte ich also nicht sehen, doch seine Fingernägel waren sehr lang und scharf, fast wie Klauen. Sein Gesicht wirkte hinterhältig - er hatte schmale, gelbliche Augen, eine große, verbogene Nase, lange Zähne und einen zottigen Bart, der mit Hilfe kleiner schwarzer Schleifen zu Spitzen frisiert war. Meister Fang musterte uns ein paar Augenblicke. Als er schließlich zu reden begann, klang seine Stimme hart, angestrengt und grausam. »Ihr seid Abschaum«, sagte er. »Und ihr seid hier, weil ihr in den Straßen der Stadt beim Betteln erwischt wurdet. Lasst euch gesagt sein, dass wir hier keine Schändung öffentlicher Räume mehr dulden und es Pflicht der Königlichen Wolfsjungen-Miliz ist, alle Bettler, Stadtstreicher und anderes Gesindel aufs Strengste zu bestrafen.« An diesem Punkt begann eine Gefangene zu protestieren, man habe ihr die Erwerbsgrundlage genommen, und sie habe keine andere Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch ehe sie ausgeredet hatte, gab Meister Fang den Wächtern ein Zeichen, und ein paar standen auf, gingen zu ihr und verabreichten ihr vor aller Augen eine Tracht Prügel. Danach wagte keiner mehr, ihn zu unterbrechen. »Vielleicht begreift ihr jetzt langsam, wie es euch ergehen wird, wenn ihr euch fürs Hier bleiben entscheidet«, fuhr Meister Fang fort. »Aber ihr dürft den Mut nicht verlieren, denn ihr bekommt bei eurer Entscheidung Unterstützung. Die Königliche Wolfsjungen-Miliz ist sehr stolz, eine mitfühlende Organisation zu sein, 232 ünd war schon immer bereit, bei aller Gerechtigkeit Milde walten zu lassen.« Seine kleinen Augen sprangen bei diesen Worten hin und her, und ich weiß noch, dass ich dachte, selbst mein Vater habe gnädiger gewirkt als dieser Mann. »Wir haben kein Interesse, euch hier zu behalten - sofern euch der Nachweis gelingt, euren Lebensunterhalt auf ehrbare Weise verdienen zu können«, fuhr Meister Fang fort. »Darum sind wir bereit, jedem Gefangenen oder jeder Gruppe von Häftlingen die sofortige Freilassung zu gewähren, der oder die uns eine detailliert ausgearbeitete Geschäftsidee präsentiert, die- bevorzugt im Anhang - eine gründliche Marktanalyse und eine genau kalkulierte Einnahmen-Ausgaben-Rechnung enthalten muss. Bei Vorliegen dieser Unterlagen darf der Gefangene beziehungsweise dürfen die Häftlinge gehen und in Freiheit bleiben - natürlich unter der Voraussetzung, dass die Geschäftsidee erfolgreich umgesetzt wird. Bis dahin«, schloss er und musterte die Versammelten mit so wölfischem wie anzüglichem Blick, »werdet ihr wieder in eure Zellen gebracht und regelmäßig verprügelt. Ihr habt jetzt eine Stunde, um eure Idee zu entwickeln.« Nach diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und rauschte von dannen. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, standen alle -Wächter wie Gefangene - auf, und der Oberaufseher sagte: »Also, Abschaum, ihr habt den Meister vernommen. Euch bleibt eine Stunde - kommt also gefälligst in die Gänge!« Alle Gefangenen sahen einander verdutzt und tief erschrocken an, doch mir fiel bereits etwas ein. Also ging ich rasch durchs Zimmer und fragte die anderen, was sie getan hatten, bevor sie Bettler geworden waren. Zwei Frauen - von denen die eine gerade vor aller Augen verprügelt worden war - hatten früher 233 als Ausruferinnen gearbeitet, und zwei Männer waren mal Flaggenwerker gewesen. Diesen vieren erzählte ich meine Idee, und wir kamen zu dem Schluss, womöglich zusammenarbeiten zu können. Natürlich hatte ich den Vorteil, gut mit Worten und Zahlen zu sein, und an der Akademie hatte ich ja sogar etwas Betriebswirtschaft gelernt. Seltsam, doch diese Vorlesungen waren nicht gerade beliebt, und längst nicht alle Studenten passten gut auf; der Dozent aber sagte, viele von uns würden noch merken, dass seine Veranstaltungen der nützlichste Teil des Studiums seien, und jetzt schien es, als würde er tatsächlich Recht behalten. Als die Stunde um war, wurden wir zurück in unsere Zellen gebracht und erneut verprügelt, doch ich hatte meine Sachen noch, also auch Pergament und Tinte, und konnte mit der Ausarbeitung meiner Idee beginnen. Ich weiß nicht, ob Meister Fang wirklich glaubte, jemand würde einen Vorschlag entwickeln (die Wächter jedenfalls machten uns das gewiss nicht leicht), doch schließlich konnte ich eine Geschäftsidee vorlegen, die so gründlich durchdacht und kalkuliert war, dass ich und die anderen vier schließlich entlassen werden mussten. Das Letzte, was Meister Fang zu mir sagte, war:» Wir behalten dich im Auge, Slater - also keine krummen Touren.« Dann verpassten uns die Wächter noch eine Abreibung, und wir waren frei. Stimmt, ich sollte dir erzählen, welche Idee ich eigentlich hatte. Ich wusste zwar nicht viel über die Stadt, denn ich hatte sie immer nur kurz besucht, aber der Ort, an dem ich doch etwas Zeit verbracht hatte, war die Große Kreuzung. Ich wusste recht gut, was sich da zutrug, und kam zu dem Schluss, es wäre wirklich nützlich, den Verkehr dort besser zu organisieren, damit die 234 leute wussten, welche Kutsche sie zu nehmen hatten und wo und wann sie abfuhr. Wir mussten so schnell wie möglich Geld verdienen, also drehte ich als Erstes auf der Kreuzung eine Runde und sprach mit allen Kutschern und Chauffeuren. Natürlich fanden es alle furchtbar, dass kein Reisender gleich das richtige Fahrzeug fand. Also fragte ich sie, ob sie mich dafür bezahlen würden, die Passagiere rechtzeitig zu ihnen zu bringen, und sie sagten, das täten sie gern, doch offenbar glaubte keiner von ihnen, ich würde das schaffen. Wie auch immer, ich schrieb mir all ihre Bestimmungsorte und Abfahrtszeiten auf, nahm dann ein Stück Pergament, zeichnete ein großes Gitter darauf, trug alle Orte und Zeiten ein und nannte das Ganze Abfahrtsplan. Währenddessen hatte ich die Flaggenwerker in die Unterstadt geschickt, damit sie aus den Ruinen altes Rauholz herbeischafften und daraus einen hohen Beobachtungsturm bauten, der direkt an der Kreuzung
stand, nach Norden sah und dem Fluss den Rücken kehrte. Oben drauf setzten sie eine Kabine mit einem großen Fenster, an dem ich mit dem Fahrplan sitzen, die Kutschen und Fuhrwerke beobachten und die Glocken des Instituts für Kalibrierung hören konnte, während die Ausruferinnen neben mir saßen und alle Abfahrtszeiten und Reiseziele über Megafon bekannt gaben, damit jeder es hörte. Tja, die Idee war ein großer Erfolg, und bald lief der Verkehr an der Kreuzung wie geschmiert. Die Wolfsjungen kamen ab und an vorbei, um mich zu kontrollieren, aber ich merkte, dass selbst sie beeindruckt waren, und nach einer Weile fanden sie sich - gegen einen kleinen Obolus - bereit, sich nicht mehr einzumischen. Natürlich hatte ich durchaus Probleme. Einige Fahrer wollten 235 mich betrügen und mir nichts zahlen, doch da wies ich die Ausruferinnen einfach an, die Abfahrtszeiten ihrer Kutschen nicht mehr bekannt zu geben, sodass sie keine Fahrgäste mehr bekamen. Daraufhin zahlten sie sehr rasch, was sie schuldig waren. Dann gab es da eine Kinderschar, die Botschaften überbrachte, Besorgungen erledigte, wasserdichte Stiefel verlieh und so weiter. Ihre Anführerin war ein Mädchen namens Maisie. Sie waren verärgert und sagten, ich hätte ihnen ihre Arbeit weggenommen, doch ich konnte sie davon überzeugen, dass sie mehr davon hätten, für mich zu arbeiten. So schleppten sie bald Koffer und verkauften Erfrischungen und schienen damit ganz zufrieden. Ich schätze, Maisie und ein paar andere Mädchen haben sich nebenher mal so, mal so etwas Geld dazuverdient, doch ich hielt es für besser, mich nicht näher danach zu erkundigen. So begannen sich die Dinge nach einigen Jahren wirklich gut zu entwickeln. Ich war nicht reich, verdiente aber genug, um eine kleine Wohnung im Nordviertel zu mieten - in einem Block, an dem ein Schild mit der eigenartigen Devise »Hier wohnen die, die nicht suchen, sondern finden« hing. Auch allen, die für mich arbeiteten, ging es gut, und auf der Kreuzung lief es reibungsloser denn je. Zudem führte ich im Lauf der Zeit weitere Verbesserungen ein. Ich beschäftigte kolonnenweise Bettler, die im Gefängnis gelandet waren, und ließ sie auf den heruntergekommenen Grundstücken der Unterstadt Steine sammeln, mit denen sie dann durch den Matsch der Großen Kreuzung Straßen und Wege bauten, damit die Leute leichter vorankamen. Auch ließ ich ein paar große Wegweiser anfertigen, die 236 es den Reisenden noch leichter machten, zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu gelangen. So schien ich endlich etwas gefunden zu haben, worin ich gut war, doch dann geschahen ein paar Dinge, die mich langsam wieder wütend machten. Als Erstes kam ein Mann vom Palast, stellte sich mir als Kevin Considine vor und sagte, König Matt sei sehr erfreut über das, was ich erreicht habe. Dann fragte er mich, was ich davon hielte, eine Reihe Signalflaggen auf meinem Beobachtungsturm installieren zu lassen und so ein Teil des Universalen Signalnetzwerks zu werden. Nun, das jagte mir ziemliche Angst ein, denn ich hatte hart für das gearbeitet, was ich besaß, und glaubte, wenn dieses Netzwerk erst meine Abfahrtszeiten übermittelte, würde ich bald wieder auf der Straße stehen und betteln - genau wie all meine Mitarbeiter, mit Ausnahme vielleicht von Maisie und ihren Mädchen. Also sagte ich ihm, er solle verschwinden und seine Ideen woanders klauen. Damit schien er absolut nicht zufrieden, und einen Monat später zeigte mir jemand im Königlichen Anzeiger einen Artikel der Chefredakteurin Miss Garamond, in dem es hieß, der Abfahrtsplan und die Verbesserungen an der Großen Kreuzung seien allesamt vom König ersonnen worden, während ich mit keinem Wort erwähnt wurde. Das machte mich aufs Neue wütend, doch in derselben Ausgabe stand etwas, das mich noch zorniger stimmte: Der Leitende Bildredakteur - so hieß es da werde demnächst zum zweiten Mal Vater, und sein Name sei Michael Brown. Das rief viele Erinnerungen in mir wach, die mich lange nicht mehr gequält hatten. Ich war in den letzten fahren so damit beschäftigt gewesen, für den reibungs237 losen Verkehr auf der Großen Kreuzung zu sorgen, dass ich den rothaarigen Jungen ganz vergessen hatte, und jetzt entdeckte ich plötzlich, dass auch er die ganze Zeit in der Hauptstadt gelebt hatte. Ich stellte mir vor, wie er mit seinem beeindruckenden Titel und seinen feinen Klamotten in einem gemütlichen Büro saß, anschließend zu seiner netten, kleinen Familie ins traute Heim zurückkehrte und im Großen und Ganzen ein sehr angenehmes Leben führte. Und unterdessen hockte ich bei Wind und Wetter auf meinem Turm, und links und rechts von mir saß eine Ausruferin und brüllte sich die Seele aus dem Leib, jeden Tag musste ich mich aufs Neue mit Kutschern und Chauffeuren ums Geld streiten, jedem seinen Lohn auszahlen und die Wolfsjungen schmieren, damit sie mich in Ruhe ließen. Und obendrein wickelte Maisie hinter meinem Rücken ihren Nebenerwerb ab, der viel Unruhe und Unannehmlichkeiten brachte. Und abends setzte ich dann auf der stinkenden Fähre über den Fluss, kehrte in mein nacktes kleines Zimmer im Wohnblock zurück und kletterte per Strickleiter fünf Stockwerke hoch, nur um mich schlafen zu legen - und das in dem Wissen, dass am nächsten Tag alles von vorn beginnen würde. So begriff ich, dass ich zwar meinen Lebensunterhalt verdiente und den Leuten vielleicht sogar etwas Gutes tat, dass es in der Stadt aber andere gab, denen es viel besser ging als mir - und die womöglich dachten, sie seien besser und bedeutender als ich. Doch ich wusste, dass sie ihre Position nicht verdienten und ich ihnen würde zeigen müssen, dass sie mich nicht länger ignorieren konnten. 238 Lees Raum In der Stadt war es Nacht geworden, und der Palast lag im Dunkeln. Im Labor unter der Königlichen Kanzlei
aber brannte noch eine einzelne Lampe. Dort stand Kevin Considine über die Empathiemaschine gebeugt. Sein Körper war angespannt, und er atmete flach und vernehmlich. Kevin war ganz auf die Maschine konzentriert und erforschte weiterhin die abgeschlossene, beengende Dunkelheit des schwarzen, sechseckigen Raums, der irgendwo in dem Apparat existierte - denn irgendwo in dieser Dunkelheit konnte er noch immer die Gegenwart des unsichtbaren Wesens spüren, das sich Lee nannte. »Wer bist du, Lee? Und was für ein Raum ist das hier?« »Was das für ein Raum ist? Einer, der sich in jeden Ort verwandeln kann, den du dir wünschst, Kevin«, flüsterte das Wesen. » Und auch ich kann alles sein, was du möchtest. Ich hoffe, du lässt mich deine Freundin sein.« »Es ist so dunkel hier. Ich wünschte, ich könnte dich sehen.« »Natürlich wirst du mich sehen, Kevin. Aber dafür musst du mir einen neuen Raum schaffen, in dem es hell ist. Und du musst einen Eingang für mich bauen, Kevin, einen Eingang zu meinem neuen Raum. Dann können wir durch den Eingang ins Licht treten, du und ich, und du wirst sehen, was du sehen sollst.« »Einen anderen Raum, Lee? Was denn für einen Raum?« »Gebrauch einfach deine Vorstellungskraft, Kevin, 239 mehr musst du nicht tun. Gebrauch einfach deine Vorstellungskraft - ich bin sicher, davon hast du jede Menge.« Diesen Worten folgte eine gespannte Stille. Kevin langte nach den Griffen der Empathiemaschine und versuchte, tief zu atmen und seine Vorstellungskraft so einzusetzen, wie Lee befohlen hatte. Da erschien erst schwach, dann deutlicher ein Umriss vor ihm - der Umriss eines großen Torbogens, der einen Moment reglos in der Luft hing. Dann loderte plötzlich ein blendendes Licht hinter dem Torbogen auf, und ein hohles, zischendes Seufzen erklang, als würde Druckluft aus einem Zylinder entweichen. In diesem Moment sah Kevin für den Bruchteil einer Sekunde die Silhouette einer flinken, gelenkigen Gestalt im Gegenlicht, die direkt vor ihm davonflitzte. »Lee?« »Mir nach, Kevin!« Der Klang der Stimme verriet ihm, dass hinter dem Torbogen ein größerer Raum lag. Atemlos, geblendet und betäubt näherte Kevin sich der Schwelle. Als seine Augen sich langsam an die Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte er, dass sich hinter dem Durchgang ein großes, sechseckiges Gemach öffnete, in dessen sechs Wänden sich mittig jeweils ein Torbogen befand. Zwischen den Bögen türmten sich Reihen von Wandleuchtern, deren Kerzen ein sanftes, bernsteinfarbenes Licht warfen, das den ganzen Raum in einen gleichmäßig goldenen Glanz tauchte. In der Mitte stand ein großes, breites, kunstvoll geschnitztes Bett, das mit schwarzem Satin bezogen war und irgendwie an einen unheimlichen Altar erinnerte. Über dem Bett hing ein Trapez von der gewölbten Decke. Und auf dem Trapez saß mit baumelnden 240 Beinen ein Wesen, das - wie Kevin annahm - Lee sein musste. Er zögerte und strich mit den Fingern über die Seiten des Torbogens. »Hab keine Angst, Kevin.« Jetzt erkannte er, dass Lee eine Frau war, eine große, sportlich wirkende junge Frau mit langem Haar, das voll und schwarz war. Sie hatte dunkle, ein wenig schräg stehende Augen, hohe, scharf konturierte Wangenknochen und dunkelrot schimmernde Lippen. Ihre Haut war gelblich, glatt und wächsern. Sie trug ein kurzes schwarzes Trikot, das ihre langen, wohlgeformten Arme und Beine sehr vorteilhaft zur Geltung brachte. Ihre langen Fingerund Zehennägel waren im Rot ihrer Lippen lackiert und schienen sehr scharf. Die ganze Gestalt erinnerte Kevin an eine exotische Tänzerin, die er mal in einem jener Etablissements bewundert hatte, die er gelegentlich mit Kollegen besuchte. Er spürte, wie seine Füße widerwillig vorwärts gezogen wurden. »Was soll das? Was geht hier vor?« Da krümmte Lee mit einer sanft fließenden Bewegung ihren Körper, glitt vom Trapez, fiel aufs Bett und landete leicht auf den Knien, die Schultern zurückgelegt, die Oberschenkel ein wenig gespreizt. Kevins Füße schoben sich zwei weitere Schritte vor. »Lee?« Ihre Lippen öffneten sich leicht, und Kevin konnte kurz ihre scharfen weißen Zähne sehen. Langsam hob sie die Hand an die Kehle und fuhr dann plötzlich mit einem scharfen Fingernagel die Vorderseite ihres Trikots hinunter, so dass es entzweiriss und raschelnd aufs Bett fiel. Darunter hatte sie nichts an. Kevin machte noch einen Schritt vorwärts. In all seinen Adern pochte das Blut. 241 »Lee? Was hat das...?« Lachend klopfte sie auf das schwarz bezogene Bett. »Na los, Dummerchen. Erklärungen gibt's später.« Diesmal brauchte Kevin keine weitere Ermunterung. Tee bei Nacht Einige Stunden nach dem Ende der normalen Arbeitszeit tastete Rusty sich die drei Treppen in der Strauchrabatte hoch, kramte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, öffnete die Tür und betrat die Wohnung. Es sah nicht so aus, als sei Eileen für ihn aufgeblieben, denn das Wohnzimmer war - wie üblich - dunkel. Durch die halb offene Tür zu Ashleighs Zimmer drang der schwache Schein eines Nachtlichts, in dem Rusty das Profil seiner schlafenden Tochter, die sich den Daumen in den Mund gesteckt hatte, gerade noch erkennen konnte. Sie
hatte ihr Lieblingsstofftier im Arm, einen ramponierten Hund namens Mister Woofie. Ein zweites Nachtlicht glomm im Schlafzimmer, das Rusty und Eileen inzwischen mit dem kürzlich zur Welt gekommenen Max teilten. Das Baby schlief selig im Kinderbett. Eileen dagegen war noch nicht fest eingeschlafen und drehte sich zu Rusty um, kaum dass er sich auf die Bettkante gesetzt hatte. »Wieder Überstunden gemacht?«, murmelte sie verschlafen. »Ja, jedenfalls einige. Danach haben wir noch ein, zwei Gläser gehoben. Ich konnte wirklich nicht ablehnen.« Rusty hatte sein Cape noch an und zog nun die dicken braunen Schuhe aus. 242 »Wieder mit diesem Gordon, nein, Simon Loxley?« Eileen war sehr an den diversen Redaktionsintrigen interessiert und immer neugierig, was Rustys Kollegen so trieben, obwohl sie keinen von ihnen persönlich kennen gelernt hatte. »Mit Norman, ja. Es ist immer das Gleiche: Er denkt, er weiß bei allem am besten Bescheid, und muss uns sein Wissen immer und immer wieder unter die Nase reiben. Wir bewegen uns nur im Kreis und kommen zu nichts. Seit mindesten drei Jahren geht das nun schon so.« Ein Schnürsenkel hatte sich verknotet, und Rusty konnte im Dämmerlicht nicht genau sehen, was er tat. »Warum setzt du ihn nicht an die Luft, wenn er so viel Ärger macht?«, fragte Eileen. »Wie heißt seine Frau noch mal?« Rusty konnte sich in diesem Moment nicht erinnern, ob Loxley überhaupt verheiratet war, und da er Eileens Frage für recht unwichtig hielt, wich er ihr kurzerhand aus. »Es ist gar nicht so leicht, Leute loszuwerden. Miss Garamond will, dass alles strikt nach Vorschrift geschieht. Dieser verdammte Schnürsenkel! Wo ist die Nagelschere?« Eileen legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Ruhig Blut, Schatz, es ist nur ein Schnürsenkel. Also, was gibt's Neues von Miss Garamond? Hat sie heute was gesagt? Du weißt schon, wegen der Kartografen.« Rusty gab den Kampf mit dem Senkel auf und wandte sich seiner Frau halb zu. »Ja. Tut mir Leid, das ist mir bei all den anderen Sachen völlig entfallen. Miss G. hat mich heute Morgen gerufen und mir eine Art Vorschau auf das gegeben, was sie diesen Monat im Leitartikel schreiben wird. Anscheinend hat der König —« 243 »Füße von der Bettdecke, Schatz«, unterbrach ihn Eileen. »Oder lass mich dir wenigstens erst die Schuhe ausziehen.« Sie nahm erst den einen, dann den anderen Schuh in die Hände und zog sie ihm von den Füßen, ohne sich um die Senkel zu kümmern. Rusty verzog ärgerlich das Gesicht. »Du weißt doch, dass ich das hasse. Ich will sie immer erst aufknoten. Wo hast du sie hingetan?« »Das ist doch jetzt nicht wichtig. Was wolltest du gerade sagen? Über den König und die Kartografen?« »Ach ja.« Rusty, der inzwischen im Schneidersitz auf dem Bett saß, schüttelte sein Cape einfach ab und ließ es zu Boden gleiten. »Endlich ist es so weit. Der König hat beschlossen, die Karten zu veröffentlichen. Scheinbar hat er im Gesetz eine Lücke entdeckt - in der Alten und Unverbrüchlichen Satzung, du weißt schon. Und es wird eine Art Wettbewerb darum geben, wer Herausgeber wird. Ich hatte gehofft, der Anzeiger würde sich daran beteiligen, aber Miss G. hat es sich anscheinend noch mal anders überlegt.« »Wie schade«, murmelte Eileen und drückte dabei seinen Arm. »Du hättest schrecklich gern daran teilgenommen, stimmt's?« »Stimmt. Aber ich glaube, das kann ich immer noch. Ich meine, schließlich hab ich ein besonderes Talent zur Kartografie. Du weißt ja, dass ich die Dinge wie aus der Luft wahrnehmen kann. Und ich hab da eine Idee. Vielleicht ist es Zeit, mich beruflich zu verändern. Ich hab gedacht, ich könnte mich doch einfach auf eigene Faust bewerben.« Eileen war nun hellwach und schaltete die Nachttischlampe ein. Vom Kinderbett drang ein gedämpftes Glucksen herüber, das kurz darauf wieder abklang. 244 »Magst du einen Tee?«, fragte Eileen. »Ich kann sowieso erst einschlafen, wenn wir das besprochen haben.« Einige Minuten später saßen sie in der winzigen, blitzblanken Küche. Vor ihnen auf der geblümten Tischdecke standen Tassen mit Blumenmuster, und Eileen trug ihr geblümtes Nachthemd. Rusty hatte noch immer seine Bürosachen an - bis auf Schuhe und Strümpfe. Eileen rührte nachdenklich in ihrem Tee. »Wären wir dann etwas besser dran? Ich meine, in den letzten Jahren war es hier schon ziemlich eng, und jetzt ist auch noch Max da.« Sie legte den Löffel vorsichtig auf die Untertasse. Rusty runzelte die Stirn. »Das hängt natürlich von der Nachfrage ab. Aber ich schätze, die Leute werden die Karten ziemlich nützlich finden, und gut werden sie sein, da bin ich mir absolut sicher. Also sollte die Nachfrage recht groß sein. Ich hab ein paar Kalkulationen gemacht, siehst du...« - er zog ein lädiertes Stück Pergament aus der Innentasche seines Jacketts - »... und ich schätze, wir werden bald besser dran sein. Sehr viel besser sogar.« »So gut, dass wir uns eine größere Wohnung leisten können?« Beiden war schmerzlich bewusst, dass es seit der Geburt von Max unangenehm eng bei ihnen wurde. »Das denk ich doch. Wahrscheinlich können wir in eine Wohnung mit zwei, drei Schlafzimmern irgendwo im Nordviertel ziehen. Und falls das Geschäft wirklich gut läuft, können wir unsere Fühler sogar in die Westvorstadt ausstrecken.«
»In die Westvorstadt? Oh, Rusty, wirklich?« Er klopfte sich innerlich auf die Schulter, denn er hatte schon vermutet, die Aussicht, im Stadtviertel mit 245 dem höchsten Prestigewert zu wohnen, werde seine Frau für seine Pläne einnehmen. »Ich schätze Ja. Vielleicht nicht sofort, aber doch in ein paar Jahren.« »Die Westvorstadt! Daddy wird schwer beeindruckt sein.« Eileen kippte den restlichen Tee in den Ausguss. »Du bist ein alter Fuchs. Gehen wir jetzt wieder ins Bett?« »Wie hast du es geschafft, bemerkt zu werden?« Es dauerte noch etwa ein Jahr, bis ich endlich meine Chance bekam. Die Große Kreuzung lief inzwischen fast reibungslos, und ich hatte mich daran gewöhnt, regelmäßig die Fahrpläne zu überarbeiten, die Wolfsjungen zu schmieren, von den Fahrern und von Maisies Mädchen Geld einzutreiben und dazwischen die mitunter auftretenden Probleme zu lösen. Die Ausruferinnen, die Flaggenwerker und die übrigen Helfer wussten, was sie zu tun hatten, und hielten den Betrieb meist wie geschmiert am Laufen. Ab und an hatte ich die eine oder andere neue Idee. Erst kürzlich war mir aufgegangen, dass die Passagiere vielleicht gern etwas lesen würden, um sich beim Warten die Zeit zu vertreiben. Also verkauften Maisies Mädchen inzwischen den Königlichen Anzeiger, und wenn mir etwas Zeit blieb, sah auch ich hinein. Es erwies sich als durchaus interessant, über die Ereignisse in der Stadt informiert zu sein. Vor allem las ich den Leitartikel von Miss Garamond - besonders, da sie meinen alten Feind Mr Brown ab und 246 212 erwähnte. So konnte ich im Auge behalten, was er vor hatte. Natürlich hab ich auch verfolgt, was Kevin Considine und König Matthew so trieben. Considine hatte mich noch ein, zwei Mal besucht, dann aber wohl begriffen, dass ich meine Meinung über das Signalnetzwerk nicht ändern würde, und war nicht wieder aufgetaucht. Eines Tages aber stand im Leitartikel von Miss Garamond etwas, das mich wirklich interessierte. Der König schien endlich beschlossen zu haben, bei der Bruderschaft der Kartografen durchzugreifen: All ihre Karten sollten reproduziert und öffentlich verkauft werden, doch das eigentlich Spannende war, dass die Bruderschaft die Publikation nicht selbst übernehmen, sondern dass eine Art Wettbewerb stattfinden sollte, dessen Gewinner die Karten herausgeben durfte und damit vermutlich eine Stange Geld verdienen würde. Nun, noch am gleichen Nachmittag trank ich mit Maisie einen Kaffee - ja, wir haben uns mitunter zusammengesetzt, aber nur, um geschäftliche Dinge zu besprechen. Ich zeigte ihr, was ich gelesen hatte. Sie überflog den Artikel, verzog das Gesicht und sagte dann: »Warum nehmen Sie nicht auch an dem Wettbewerb teil, Mr Slater? Das passt doch prima zu ihrem Metier.« Und ich meinte: »Red keinen Unsinn, Maisie - so was ist nichts für Leute wie uns.« Später aber dachte ich noch mal darüber nach und kam zu dem Schluss, dass ich tatsächlich einiges von Kartografie verstehe, obwohl ich keinen Abschluss habe, und dass ich tatsächlich weiß, wie man ein Geschäft führt; auch hatte ich durch die Arbeit an der Großen Kreuzung viel über die Geografie der Hauptstadt gelernt - warum sollte ich es da nicht versuchen? Dann stellte ich mir vor, wie es wäre, in einem schicken 247 Neubau hinter einem großen Schreibtisch zu sitzen, Leute zu haben, die mir Kaffee brachten, in einer noblen Wohnung zu leben und mit einer Benzinkutsche durch die Gegend zu fahren. Und ich dachte, so werden Mr Brown und Mr Considine und all die anderen - selbst Meister Fang - von mir Notiz nehmen. Also beschloss ich, am Wettbewerb teilzunehmen. Es stellte sich heraus, dass jeder Teilnehmer dem König eine minutiös ausgearbeitete Geschäftsstrategie einreichen und der Verfasser des besten Entwurfs die Erlaubnis bekommen sollte, die Karten zu veröffentlichen. Das fand ich sehr ermutigend, denn ich hatte ja für die Große Kreuzung schon mal eine Geschäftsidee mit allen Kalkulationen zu Papier gebracht, und diese Planung war ein enormer Erfolg gewesen. So nahm ich an, es würde mir keine großen Probleme bereiten, einen überzeugenden Vorschlag für die Publikation der Karten zu präsentieren. Für die Interessenten war eine Versammlung im Palast anberaumt, also ging ich am betreffenden Abend hin, wurde ein paar Treppen hochgeführt, breite Treppen mit hübschen Läufern, und musste dann über ein Flachdach gehen. Das schien mir irgendwie nicht richtig, doch dann wurde ich in einen Saal im neuen Teil des Palasts gewiesen, der wohl Kanzlei hieß. Dort waren etwa dreißig bis vierzig Leute versammelt und drängten sich um einen großen Tisch, auf dem alle möglichen Speisen und Getränke aufgebaut waren. Ich beschloss, mir die Wartezeit mit Essen zu vertreiben, stellte aber fest, dass nichts vom Büfett nach irgendetwas schmeckte. Dann traf der König ein, und alle sollten sich während 248 seiner Ansprache hinsetzen. Jeder bekam einen Packen Unterlagen ausgehändigt, damit wir verstanden, was verlangt wurde. Der König hatte ein paar Schaubilder an eine Art Staffelei heften lassen und musste uns das nun alles erklären. Er war ganz anders, als ich erwartet hatte: Er wirkte jünger als ich, war sehr gründlich, präzise und sachlich. Wie auch immer, er wies darauf hin, unsere Konzepte müssten zu einem bestimmten Termin fertig sein, und wollte dann wissen, ob es noch Fragen gebe. Natürlich meldete sich eine ganze Reihe Leute zu Wort, bis er sich schließlich entschuldigte, uns aber herzlich aufforderte, uns am Büfett zu bedienen.
Einige Leute redeten miteinander, und ich kannte zwei, drei von ihnen, aber keinen gut genug, um ihn anzusprechen. Außerdem waren alle besser angezogen als ich und wirkten wichtiger. So bin ich nur zwischen ihnen herumgegangen und habe aufmerksam beobachtet und gelauscht. Mr Considine war da - ich glaube allerdings, er hat nur bei der Organisation der Veranstaltung geholfen. Jedenfalls hatte er keinen Packen Papier unterm Arm, doch mir war so oder so nicht danach, mit ihm zu reden. Ich hatte eben beschlossen, nach Hause zu gehen, als ich am anderen Ende des Raums jemanden entdeckte, den ich in der Tat kannte, bisher aber nicht bemerkt hatte - Rusty Brown, den rothaarigen Jungen, mit dem ich an der Akademie zu tun gehabt hatte. Es war eine ganze Weile her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte, und natürlich war er auch kein Junge mehr. Ich wusste aus dem Königlichen Anzeiger, dass er inzwischen den Namen Michael Brown vorzog. Er schien langsam ein wenig Fett anzusetzen, sich dafür aber etwas aufrechter zu halten; sein Haar war gepflegter, seine Miene wirkte weniger weich. Er stand da und 249 sprach mit ein paar Leuten, die ziemlich wichtig aussahen, und mir fiel auf, dass er gekleidet war wie sie, also eine Art geschneiderte graue Uniform mit Schlips trug. Es war nicht zu übersehen, dass alle sich untereinander kannten, und ich kam nicht umhin zu bemerken, wie selbstsicher, ja überheblich sie schienen. Und dann begriff ich mit einem Gefühl schrecklicher Leere im Bauch, dass Brown einer von ihnen geworden war-dass er nun zu denen gehörte, die die Hauptstadt regierten. Und schließlich dämmerte mir, dass einer dieser Leute - vielleicht er selbst, vielleicht ein anderer - den Wettbewerb gewinnen würde und ich auf keinen Fall die leiseste Chance hatte. Ich wollte mich schon verdrücken, da drehte er sich um, sah mich und lächelte plötzlich übers ganze Gesicht, was ihn wieder wie ein Kind wirken ließ. Dann kam er auf mich zu, streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Meine Güte - wenn das nicht Tom Slater ist!« Das war mir peinlich, und ich spürte wieder die alte Wut, denn ich hatte mir vorzustellen begonnen, wie er sich in seinem Erfolg sonnte und mein Scheitern genoss, doch eigentlich schien es ihn wirklich zu freuen, mich zu sehen. Dennoch nahm ich seine Hand nicht, sondern sagte nur: »Hallo Rusty.« Wir unterhielten uns ein wenig, doch er entschuldigte sich bald. Ich denke, da hatte er bereits genug von mir, denn er rüstete sich zum Gehen. Also wartete ich, bis er die Versammlung verließ, und folgte ihm heimlich. Ich weiß nicht recht, warum. Ich hatte keine besonderen Absichten - damals noch nicht -, wollte aber wissen, wo er wohnte. Zu meiner Überraschung nahm er die Ringstraße und bog dann auf die Nordstraße. Ich rechnete die ganze Zeit damit, er werde nach links in die 250 Westvorstadt abbiegen, doch er ging immer geradeaus, und schließlich sah ich ihn in ein Gebäude im Nordviertelgehen, allerdings auf der besseren, der Unterstadt abgewandten Seite. Dann ging ich ins Bett. Und ich weiß noch, dass ich an diesem Abend dachte: Jetzt weiß ich, wo ich dich finde, Michael Brown. Jetzt weiß ich, wo du wohnst. Am nächsten Tag begann ich, mein Geschäftskonzept zu entwerfen, doch das Wiedersehen mit Michael Brown hatte mich mutlos gemacht. Ich glaube, ich war schon damals überzeugt, den Wettbewerb nicht zu gewinnen. So nahm ich mein Konzept immer wieder zur Hand, um es gleich darauf beiseite zu schieben, verließ meinen Schreibtisch, um mal dies, mal jenes zu erledigen, und habe mich nicht sehr konzentriert oder besonders angestrengt. Ich schätze, es war zu dieser Zeit, dass ich das Interesse an der Großen Kreuzung zu verlieren begann. Ich sagte mir, die anderen könnten ja ab und an ein paar Tage nach dem Rechten sehen. Das bedeutete natürlich, dass ich aufhörte, den Fahrplan so oft zu aktualisieren, wie ich es hätte tun sollen, und dann begannen die Dinge natürlich langsam schief zu gehen. Die Leute fingen an, ihre Anschlüsse zu verpassen, und daraufhin wollten die Fahrer keine Gebühren mehr zahlen. Auch die Wolfsjungen bekamen ihr Schmiergeld nicht mehr und begannen darum, mir jede Menge Schwierigkeiten zu machen. Natürlich gerieten auch Maisies Mädchen außer Kontrolle. So begann die Große Kreuzung langsam wieder in dem Chaos zu versinken, in dem ich sie vorgefunden hatte. Doch inzwischen kümmerte mich das - um ehrlich zu sein - längst nicht mehr. 251 VIERTES KAPITEL Jm Labyrinth Königlicher Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger, Ausgabe 72 (im siebten Jahr der Regentschaft von König Matthew) Leitartikel von Miss Garamond Seid gegrüßt, Bürger! Die Verfasserin kann wie immer nicht glauben, wie schnell die Zeit vergeht. Auch die Leser werden sicher staunen, dass König Matthew bereits vor sechs Jahren den Thron bestiegen hat und nun ins siebte Jahr seiner Regentschaft tritt. Vielleicht ist dies der geeignete Moment, innezuhalten und zu bilanzieren, welche Entwicklungen das Wohlbefinden aller Bürger in so kurzer Zeit haben steigern können. Erstens herrschen auf den Straßen unserer Hauptstadt - nach einer Zeit fast anarchischer Verhältnisse - wieder die frühere Ordnung und der alte Anstand. Die Bettler, Stadtstreicher und Kriminellen, die vor einigen Jahren noch eine tägliche Bedrohung der gesetzestreuen Bürger darstellten, sind nicht mehr zu sehen - außer vielleicht
in den wenigen noch nicht sanierten Ecken der Unterstadt. Der Verkehr auf unseren Straßen - frü253 her von ständigen Staus und Verspätungen geplagt -fließt jetzt so glatt und diszipliniert, dass unsere Verkehrspolizei stolz darauf sein kann. Unsere Gehsteige und Rinnsteine - einst gleichbedeutend mit Dreck und Verkommenheit - werden nun täglich gereinigt und sind meist schmutzfrei. Die Königliche Wolfsjungen-Miliz verkörpert Recht und Ordnung und beherrscht alle Stadtviertel. Darum können die Bürger beruhigt schlafen und sicher sein, dass auf Feuer, Überschwemmungen, Unfälle und jeden anderen Notfall sofort und effektiv reagiert wird. Jenseits der Stadtmauern geht der Feldzug an der Südgrenze des Landes energisch und unbeirrt weiter, während das stetig größer werdende Netz der Königlichen Landstraßen allen Reisenden schnellen und sicheren Zugang in jeden Winkel des Königreichs bietet. Große Anerkennung für diese Errungenschaften gebührt natürlich der Wolfsjungen-Miliz, für deren unerschütterliche Teamarbeit und Disziplin die Bürger viele Gründe haben, dankbar zu sein. Besonderes Lob gebührt selbstverständlich Meister Fang, dem Anführer der Miliz. Und wirklich hat die Verfasserin vom König bei der monatlichen Privataudienz erfahren, er werde in Anerkennung seiner herausragenden Verdienste einen Sitz im Gremium der Obersten Berater erhalten und künftig bei seinem neuen Titel genannt, also Hochmeister Fang, Leiter der Innenbehörde. Hochmeister Fang wird frisch renovierte Büros neben dem Thronsaal beziehen, wo er - falls der König seinen Rat sucht - zu jeder Tages- und Nachtzeit zu erreichen ist. Sicher stimmen alle Bürger mit der Verfasserin in dem Wunsch überein, Hochmeister Fang möge in seiner neuen, so wichtigen Position durchschlagend erfolgreich sein. Zweitens erwarten im Bereich Kommunikation jeden 254 Bürger große Verbesserungen. Die Verfasserin (eigentlich der Bescheidenheit verpflichtet, mitunter aber kühn genug, davon abzuweichen) darf stolz vermelden, dass der reich bebilderte Königliche Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger weiter monatlich erscheinen wird, und zwar jetzt in so hoher Auflage, dass niemand mehr über aktuelle Entwicklungen im Unklaren sein muss. Und so groß ist der Erfolg des Anzeigers in der Hauptstadt, dass es inzwischen Pläne gibt, ihn über die Königlichen Landstraßen in einige größere Städte der Provinzen und Randgebiete auszuliefern, deren Bewohner also in Kürze der Segnungen teilhaftig werden, die wir schon lange genießen. Drittens breitet sich das Universale Signalnetzwerk unter der Leitung von Kevin Considine, dem Königlichen Oberingenieur, weiter aus. Inzwischen sind in den Büros eines jeden Zweigs der Königlichen Verwaltung Signalmaschinen installiert, und an strategisch günstig gelegenen Orten wurde ein das Königreich umspannendes Netz von Signalwachen errichtet. Mr Considine bestätigt, dass die leitenden Verwaltungsbeamten in allen Ecken des Königreichs nun nicht nur mit dem Palast, sondern auch untereinander unmittelbar Kontakt aufnehmen können. Und diese Verbindung wird nicht nur visuell und akustisch, sondern auch über die Vorstellungskraft und die Empfindungsfähigkeit hergestellt. (Die Verfasserin bekennt, ziemlich verblüfft über die fantastische Technik zu sein, die diese Wunder ermöglicht, und versichert, dass sie und ihre Mitarbeiter das Signalnetzwerk für die tägliche Redaktionsarbeit nutzen und sich nur noch schwer vorstellen können, wie sie früher mit ihren Aufgaben zurande gekommen sind!) In den nächsten Monaten wird das Netz — so Mr Consi255 dine - weiter ausgebaut und dann nicht nur der Wirtschaft zugänglich gemacht, sondern jedem Bürger, der sich damit auszustatten wünscht. Leider gibt es einen Ort in unserer Stadt, der an den Vorteilen der neuen Ära des Friedens und der Sicherheit noch nicht teilhat. Ich spreche natürlich von der Großen Kreuzung. Wer sie zu besuchen gezwungen ist, den braucht man nicht erst auf ihre vielen Mängel hinzuweisen. Der König bedauert sehr, dass an der Kreuzung trotz seiner ständigen Bemühungen, dort zumindest etwas Ordnung zu schaffen - weiterhin erschreckende Misswirtschaft und ein verheerendes Ausmaß an Fehlinformation herrschen. Sicher teilen alle Bürger unsere Empörung - und zwar nicht nur über die organisatorischen Mängel, sondern auch darüber, wie offenkundig rings um die Kreuzung Bestechung, Korruption, Erpressung und Prostitution haben blühen können. Schweren Herzens fühlt der König sich nunmehr verpflichtet, die Bürger zu informieren, dass die Verantwortung für all diese Mängel bei einem gewissen Thomas Slater liegt, der den Lesern vielleicht besser unter dem Titel des Aufsehers der Großen Kreuzung bekannt ist - einem Titel, den er sich selbst gegeben hat. Der König stellt fest, dass seine Geduld mit Mr Slater erschöpft ist und er die vielen krassen Berufs vergehen, die unter der Ägide dieses Mannes gediehen sind, nicht länger hinnehmen wird. Daher hat er Hochmeister Fang beauftragt, sich der Sache anzunehmen und der Königlichen Wolfsjungen-Miliz entsprechende Weisungen zu erteilen. Die Bürger können sicher sein, dass nun schnell und entschieden gehandelt wird, damit dieses lästige und störende Individuum vor Gericht kommt. Die Verfasserin jedenfalls wird (aus Gründen, die den Leser 256 nicht belasten sollen) seinen Sturz und seine Demütigung freudig begrüßen. Vielleicht darf die Autorin ihren monatlichen Leitartikel diesmal mit ein paar Bemerkungen in eigener Sache beenden. Unser Leitender Bildredakteur, Mr Michael Brown, wird uns demnächst auf eigenen Wunsch verlassen und sich auf ein neues, spannendes Unternehmen konzentrieren. Wie die Leser wissen, hat die Bruderschaft der Kartografen nach langwierigen Verhandlungen großzügig
angeboten, all ihre Schätze öffentlich zugänglich zu machen, vor allem also die Geheimkarten-Sammlung, die denen, die sie zu lesen vermögen, die gesamte Topografie unseres Königreichs bis ins kleinste Detail illustriert. Diese Karten dürfen nur mit Königlichem Privileg veröffentlicht werden, und die Leser werden noch wissen, dass ein offener Wettbewerb darum stattgefunden hat. Alle Beiträge dieses Wettbewerbs haben dem König inzwischen zu kritischer Prüfung vorgelegen, und es ist uns eine freudige Ehre mitzuteilen, dass der Entwurf von Mr Brown gesiegt und unser geschätzter Kollege daher vorschriftsgemäß das Privileg bekommen hat. Infolgedessen hat Mr Brown gebeten, aus seinen Pflichten beim Anzeiger entlassen zu werden. Obwohl wir uns sehr ungern von einem Mitarbeiter trennen, den wir so außerordentlich wertschätzen, sind wir doch überzeugt, dass unser neuer Bildredakteur, Mr Norman Loxley, diesen Posten zu gegebener Zeit genauso gut ausfüllen kann, und wünschen ihm wie Mr Brown bei den neuen Herausforderungen den größten Erfolg. Auf Wiedersehen, liebe Mitbürger. Und lang lebe König Matthew! 257 »Was ist nach dem Treffen aus der Kreuzung geworden?« Nun, wie gesagt, nach dem Treffen im Palast verlor ich den Mut. Es musste vier, fünf Jahre her gewesen sein, dass ich die Große Kreuzung übernommen hatte, und sie war inzwischen mein Lebensinhalt geworden. Anders als manch anderer, den ich hier erwähnen könnte, hatte ich nie Zeit, Freundschaften zu schließen, mit Bekannten auszugehen oder zu heiraten - ich hatte nur Zeit zum Arbeiten und zum Schlafen. Und das alles schien so ungerecht! Ich war davon überzeugt, etwas für die Hauptstadt Nützliches getan zu haben, etwas, das mir eine gewisse Anerkennung eintrüge und mich zu einem richtigen Mitglied der Gemeinschaft werden ließe. Und dann traf ich Brown und die anderen, sah, wie weit sie es gebracht hatten, begann, ihr Leben mit dem meinen zu vergleichen, und begriff, dass ich ihren Vorsprung nie würde aufholen können. Und genau in diesem Moment gab ich auch den Versuch dazu auf. Ich schätze, ich dachte seither immer öfter: Wenn man mich nicht meiner guten Taten wegen bemerkt, dann vielleicht wegen des Gegenteils. Aber das klingt eigentlich etwas zu bewusst. Ich glaube, ich hab das gar nicht mit Bedacht getan - das sieht im Nachhinein nur so aus. Für einige Leute hat es wahrscheinlich gewirkt, als hätte ich mir die Störung des Verkehrs vorgenommen, vielleicht sogar in einem Anfall von Trotz - wie ein Kind, das nicht bekommt, was es will. Aber nein, so war es wirklich nicht geplant - glaube ich wenigstens. Wie gesagt, ich kümmerte mich einfach nicht mehr um meine Arbeit. Nichts davon schien mir noch der Mühe wert. Also gab ich auf. 258 Anfangs merkte allerdings niemand, was geschah. Die Ausrufer hatten ja ihre Abfahrtspläne und riefen einfach weiter aus, was auf dem Papier stand. Manchmal saß ich noch oben auf dem Turm bei ihnen, manchmal auch nicht, aber daran waren sie gewöhnt, und ich glaube kaum, dass sie sich zunächst etwas dabei dachten. Aber natürlich stimmten die Daten im Fahrplan nicht mehr allzu lange, denn schließlich war keiner der Kutscher und Chauffeure bei mir angestellt. Also hatte es nie in meiner Macht gelegen, ihnen zu sagen, wann sie kommen und gehen sollten; vielmehr hatten sie stets ihren eigenen Zeitplan gemacht, und zwar so, wie es ihnen am besten passte. Klar, dass sie ihn dann und wann änderten - manchmal nur mit den Jahreszeiten, mitunter aber auch, weil ein bestimmtes Ziel gerade beliebt war und sie zu recht seltsamen Zeiten zusätzliche Fahrten anboten. Und natürlich hing alles von den Informationen ab, die mir die Fahrer gaben, doch die waren immer schon schwer festzunageln gewesen, vermutlich, weil sie dachten, ich würde dann mehr Geld von ihnen verlangen, was ich mitunter ja auch tat. Die Fahrer hatten es also nie darauf angelegt, mir zu begegnen. Aber genau damit habe ich mein Geld verdient - damit, den Kutschern nachzulaufen, ihre Abfahrtszeiten herauszufinden und meinen Plan entsprechend zu ändern. Dieses Nachlaufen war langweilig, ermüdend und zeitaufwändig und darum das Erste, worauf ich verzichtete, als ich die Lust an meinem Unternehmen verlor. Also erfuhr niemand mehr von den Fahrplanänderungen. Und darum verloren die Kutscher allmählich Fahrgäste, machten dafür natürlich mich verantwortlich und gingen mir bald 259 noch mehr als früher aus dem Weg. Ich habe nie verstanden, warum sie nicht einfach zu mir in den Turm gekommen sind, damit ich den Fahrplan wieder anpasse, aber irgendwie hatten sie wohl einfach aufgehört, mir zu trauen. Schließlich kamen doch ein paar Fahrer zu mir, allerdings waren sie da schon sehr wütend. Sie warfen mir vor, ich würde ihr Geschäft durch das Ausrufen falscher Abfahrtszeiten ruinieren, meinten, Maisies Mädchen lenkten die Passagiere ab und hätten Schuld an deren Verspätungen, und klagten, die Wolfsjungen hätten wieder begonnen, herumzuziehen und den Leuten Angst einzujagen. Dann sagten sie, sie würden mir kein Geld mehr zahlen. Tja, das rüttelte mich dann doch etwas auf, und ich antwortete, dann würde ich verhindern, dass sie mit ihren Wagen auf die Kreuzung kämen, und sie könnten sich ja ihr Auskommen anderswo suchen. Da begannen sie, untereinander zu murren, gingen schließlich aber wieder an die Arbeit. Ich hoffte, damit sei der Fall erledigt. Dem war natürlich nicht so. Ein paar Tage später hatte ich zufällig Zeit, einen Blick in Miss Garamonds Leitartikel im Anzeiger zu werfen, und entdeckte, dass sie sich auch über die Große Kreuzung ausgelassen, mich namentlich erwähnt und mich nicht nur als inkompetent hingestellt hatte- was schon schlimm genug war-,
sondern sogar als eine Art Verbrecher anprangerte. Ich schätze, wenn man es partout darauf anlegte, mochte man die Dinge so interpretieren können, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, Worte wie Korruption oder Bestechung zu verwenden. Ich hatte doch immer bloß versucht, meinen Lebensunterhalt zu verdienen und die Dinge so geschmiert am Laufen zu hal260 ten, wie es mir nur möglich war. Ich gebe es offen zu: Ich war über das, was ich im Anzeiger lesen musste, sehr aufgebracht, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, las ich noch, Michael Brown habe den Wettbewerb um die Veröffentlichung der Karten gewonnen. Ich stellte mir vor, wie er mit seiner Familie in eine schicke Wohnung in der Westvorstadt zog und vielleicht einen eigenen Wagen und eigene Dienstboten hatte. Dann dachte ich an mich und daran, welche Richtung mein Leben nahm. Ich musste mir eingestehen, dass die Kreuzung auf große Probleme zusteuerte und ich wohl schon sehr bald darum würde kämpfen müssen, nicht völlig lädiert aus der ganzen Sache herauszukommen. All das geschah an einem Dienstag. Keine Ahnung, warum ich das noch weiß, doch dieser Tag erwies sich für mich als furchtbar. Am späten Vormittag kamen einige Flaggenwerker, die sonst die Kutscher abklapperten, um für mich Geld zu kassieren. Sie sagten, eine Reihe Fahrer würde sich weigern zu zahlen. Ich erwiderte, sie sollten sich keine Sorgen machen, ich würde zu den Wolfsjungen gehen und mit ihnen darüber reden, diese Fahrer von der Kreuzung fern zu halten. Wie sich aber herausstellte, konnte ich mir die Mühe sparen, denn die Wolfsjungen kamen zu mir. Sie hatten einen neuen Anführer, Sergeant Gash, der eine schicke Uniform trug, wie sie ähnlich Meister Fang damals im Gefängnis getragen hatte, aber mit weniger Gold besetzt. Sergeant Gash trat vor, während die anderen Wolfsjungen, die ich ja alle kannte, ein wenig hinter ihm zurückblieben, mit den Füßen scharrten und leicht betreten dreinblickten. Ich wollte wie üblich zur Brieftasche greifen, doch als ich zu erklären ansetzte, was zu erledigen war, sah Sergeant Gash mich an, als sei ich ein Stück 261 Dreck, sagte: »Ich hoffe, Sir, Sie wollen mir kein Bestechungsgeld anbieten«, erklärte, Bestechung sei eine strafbare Handlung, und fuhr dann fort, die Kreuzung sei ein öffentlicher Ort und ich hätte kein Recht, jemanden daran zu hindern, dort legalen Geschäften nachzugehen. Ehe mir eine Antwort eingefallen war, schloss er: »Ich würde Ihnen raten, Sir, dafür zu sorgen, dass hier in der Nähe keine weiteren ungesetzlichen Handlungen stattfinden, denn meine Milizionäre werden regelmäßig wiederkommen, um sich davon zu überzeugen, dass Ihre Geschäfte korrekt und anständig abgewickelt werden.« Dann salutierte er, und alle wandten sich um und gingen. Dieses Gespräch musste sich unter den Fahrern herumgesprochen haben, denn kurz darauf beschlossen auch die anderen Kutscher, mir nichts mehr zu zahlen. Dann kamen meine Geldeintreiber zu mir und sagten, da es nichts mehr abzukassieren gebe, habe es wohl keinen Sinn mehr, dass sie blieben. Also ließen sie mich im Stich und suchten sich neue Arbeit. Doch damit nicht genug. Ich bekam noch immer etwas Geld von Maisie und ihren Mädchen - teils aus dem Verkauf des Anzeigers, teils aus anderen Tätigkeiten. Es war gerade genug, um die Ausruferinnen zu bezahlen, die inzwischen allerdings nicht mehr viel auszurufen hatten. So hatte ich natürlich kein Geld, die Bettler zu entlohnen, die die Steine heranschafften, mit denen ich die Fahrbahnen laufend ausbessern ließ. Also breitete sich auf der Kreuzung bald wieder der Matsch aus, und die Botenjungen gingen die wasserdichten Stiefel suchen, doch es stellte sich heraus, dass sie weggeworfen worden waren, weil keiner geglaubt hatte, wir würden sie wieder brauchen. 262 Als ich Maisie das nächste Mal sah, vermied sie es, mich anzusehen, und mir war klar, dass schon wieder etwas los war. Sie wollte erst gar nicht mit mir sprechen, berichtete aber schließlich, Sergeant Gash habe sie besucht und ihr gesagt, sie dürfe mir kein Geld mehr geben, weil es ungesetzlich sei, wenn jemand - wie er sich ausdrückte - von Einkünften aus gewerbsmäßiger Unzucht lebe. Zudem könne öffentliche Prostitution auf keinen Fall länger geduldet werden. Ich fragte Maisie, was ihre Mädchen nun tun würden, und sie wirkte noch verlegener als zuvor. Schließlich sagte sie, der Sergeant habe angeboten, ihnen allen ehrbare Arbeit in der Kaserne zu besorgen. Dann begann sie zu weinen und sagte: »Es tut mir so Leid, Mr Slater, uns hat es hier bei Ihnen sehr gefallen, aber wir müssen nun mal unseren Lebensunterhalt verdienen.« Sie nahm einen Moment meine Hand und war dann verschwunden. Da war mir klar, dass meine Karriere an der Großen Kreuzung zu Ende ging. Bald darauf musste ich den Ausruferinnen sagen, dass ich sie nicht mehr bezahlen konnte, und natürlich ließen auch sie mich im Stich, und ich war nun ganz auf mich allein gestellt. Ich hatte nicht die Stimme, Nachrichten auszurufen, und konnte darum nur auf meinem Beobachtungsturm sitzen und zusehen, wie alles auf der Kreuzung langsam zerfiel. In jenem Jahr hatte es viel geregnet, und ohne ständigen Nachschub an Steinen fingen die Straßen fast sofort an, im aufgeweichten Untergrund zu versinken. Dann blieben die Wagen allmählich wieder im Dreck stecken, und die Wegweiser kippten um, sodass keiner wusste, wo er fand, was er suchte - und inzwischen gab es natürlich niemanden mehr, der ihm helfen konnte. Unterdessen begannen die 263 Fahrer, nach jedem trockenen Fleck zu suchen, wo sie ihre Wagen noch abstellen konnten, und waren sich deshalb wieder alle im Weg. Bald schon würde niemand mehr vermuten, dass ich der Kreuzung einmal einen
wunderbaren Verkehrsfluss beschert hatte. Am Ende war nur noch der Turm übrig. Meine Wohnung im Nordviertel musste ich aufgeben, weil ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte, und die Kabine auf dem Turm war mein einziger Unterschlupf. So holte ich eines Tages meine Sachen aus der Wohnung - herzlich wenig also, nämlich nur, was ich schon zur Akademiezeit besessen hatte. Damit richtete ich mich in der Kabine ein und betrachtete von dort die Ruinen dessen, was ich aufgebaut hatte. Das war eine traurige Zeit, doch dann entsann ich mich, eines immerhin zu besitzen, womit ich mich womöglich besser fühlen würde. Das war natürlich die Kette. Sie lag noch auf dem Boden meines Rucksacks, unter den Zeichnungen von Michael Brown. Ich brachte es nicht über mich, mir seine Arbeiten anzusehen. Obwohl ich eine ganze Reihe von fahren nicht an die Kette gedacht hatte, stellte ich nun, da ich ihre Gliederzwischen den Fingern hindurchgleiten ließ, fest, dass ich noch immer einige Kraft aus ihr ziehen konnte. Also packte ich die Vorhängeschlösser aus und kettete mich an einen Turmpfosten. Er war dick und abgerundet und erinnerte mich ein wenig an das alte Tischbein in der Küche meines Vaters. Nun fühlte ich mich recht geborgen, saß da, beobachtete Regen und Matsch und wartete ab, was da kommen würde. Einmal mehr musste ich nicht lange warten. Zuerst fuhren die Kutscher ihre Wagen allesamt auf die Seite, damit die Kreuzung in der Mitte passierbar wurde. Bald 264 Darauf kamen Wolfsjungen in großer Zahl. Ich hörte sie, ehe ich sie sah, und was ich hörte, war eine Art rhythmischer Gesang, dessen Text ich erst nicht verstehen konnte, weil es so stark regnete. Schließlich aber begriff ich, dass sie nur einen Ruf skandierten, den sie ständig wiederholten, und dann verstand ich auch, was sie da riefen: »Hau ruck! Hau ruck! Hau ruck! Hau ruck!« Dann tauchten sie auf. Es müssen mindestens vierzig gewesen sein, die in zwei langen Reihen marschierten und einen Schlitten zogen. Im Schlitten standen Hochmeister Fang und Sergeant Gash, schwangen die Peitsche und wirkten sehr aufgeblasen. Ich schätze, sie hatten sich für den Schlitten entschieden, weil er wohl das einzige Fahrzeug war, mit dem man eine Chance hatte, in diesem Matsch voranzukommen, jedenfalls kamen sie mit ziemlicher Geschwindigkeit näher, und als sie am Fuß des Turms angelangt waren, rief Hochmeister Fang zu mir hinauf: »Thomas Slater, ich habe einen Haftbefehl für Euch. Ihr seid angeklagt, Bestechungsgeld zu zahlen und anzunehmen, öffentliche Flächen zweckwidrig zu nutzen, den Willen des Königs zu unterminieren, Baumaterial zu stehlen, der Bevölkerung falsche Informationen zu liefern, Erpressungen zu verüben und Zuhälterei zu begehen. Seid Ihr bereit, Euch zu ergeben und friedlich mitzukommen?« Darauf wollte ich nicht antworten, vergewisserte mich darum nur, dass die Vorhängeschlösser an meiner Kette richtig saßen, warf die Schlüssel hinaus in den Regen und hörte sie irgendwo vor dem Turm auf den Boden klatschen. Hochmeister Fang warf daraufhin Sergeant Gash einen kurzen Blick zu, und der ließ sechs seiner Leute nach den Schlüsseln suchen. Es amüsierte mich sehr, sie in diesem Matsch auf alle viere gehen zu 265 sehen. Dann befahl Fang den Übrigen mit lauter Stimme, den Turm zu stürmen. Ich beobachtete sie von oben. Die meisten waren barfuss, und wer noch Stiefel anhatte, zog sie aus und warf sie weg. Dann begannen etwa zwanzig, mit nackten Füßen den Turm zu erklettern, nutzten dabei die Zehennägel zum Festhalten und schrien und brüllten beim Näher kommen. Natürlich hatte ich den Turm nicht dafür geplant, so ein Gewicht auszuhalten, und der weiche Boden war vermutlich kein besonders gutes Fundament, das der Regen obendrein verhängnisvoll aufgeweicht haben musste, denn plötzlich merkte ich, dass das ganze Gerüst langsam zur Seite kippte. Ich klammerte mich an die Oberseite, als es zu Boden krachte, doch ein paar Wolfsjungen wurden darunter begraben, und ich schätze, das verlängerte die Liste meiner Verbrechen um einen weiteren Tatbestand. Als das Gerüst auf den Boden schlug, zersplitterte es mit gewaltigem Krachen. Ich war noch immer an das geklammert, was von der Kabine übrig geblieben war, während die überlebenden Wolfsjungen darum kämpften, sich aus dem Morast zu retten. Mir fiel auf, dass sie recht froh schienen, die Leichen ihrer Kameraden als* Trittsteine nutzen zu können. Es hatte natürlich keinen Sinn, sich der Festnahme widersetzen zu wollen, denn es gab noch immer viel zu viele Wolfsjungen, und ich war nach wie vor an die Beste meines Pfostens gekettet. Also hoben sie mich einfach hoch und drehten mich ein paar Mal, bis die Kette sich um mich gewickelt hatte und ich mich nicht mehr bewegen konnte. Dann hackten sie das restliche Holz weg und warfen mich auf ihren Schlitten. Bis dahin war ich durchnässt und durchgefroren und konnte nicht ge266 nau sehen, was sie machten. Ich hörte nur ihren Jubel und den prasselnden Regen. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war das Gesicht von Hochmeister Fang, der heimtückisch auf mich herabblickte und dabei böse lächelte. Dann bin ich wohl ohnmächtig geworden. Die Turmresidenzen Als Rusty erfuhr, dass er den Wettbewerb gewonnen hatte, wurde ihm trotz einiger Bedenken rasch klar, dass er den Kontakt zur Akademie für Kartografie wieder würde herstellen müssen. Deren Direktorin hatte nach langwierigen Verhandlungen der Reproduktion von Originalkarten zugestimmt, bestand aber darauf, dass unter keinen Umständen etwas aus den Beständen entfernt wurde.
Rusty beschloss darum, die Woche vorläufig zwischen Hauptstadt und Akademie zu teilen. Jeden Montag trotzte er nun dem Chaos der Großen Kreuzung, ertrug die Unannehmlichkeiten einer Reise mit der Kutsche und erreichte gegen Abend die abgelegene Kleinstadt, in der die Akademie lag. Die Direktorin und ihre Mitarbeiter brachten ihm nur ein Mindestmaß an Höflichkeit entgegen, aber er hatte sich dort ohnehin nie wohl gefühlt. Es widerstrebte ihm deshalb, die Nächte in der frostigen Atmosphäre des Gästeflügels der Akademie zu verbringen. Stattdessen nahm er ein Zimmer in der Stadt, und zwar bei Mrs Roberts, seiner alten Vermieterin. Nachdem er sich leidlich gesund geschlafen hatte und die Zerrungen und blauen Flecken von der Kutschfahrt nicht mehr so schmerzten, verbrachte 267 er den Dienstag und den Mittwoch unter den misstrauischen Augen des Bibliothekars der Akademie und kopierte die Karten gewissenhaft Planquadrat für Planquadrat auf neues Pergament. Am Donnerstagmorgen schließlich trat er die Rückreise in die Hauptstadt an. Freitags marschierte er schnellen Schrittes die Nordstraße hinunter und am verfallenen Abschnitt der alten Stadtmauer entlang, bis er das neue Gewerbegebiet erreichte, in dem der Michael Brown Verlag angesiedelt war. Ein geschäftstüchtiger Bauunternehmer hatte ein Stück der alten Stadtmauer renoviert, die schlimmsten Schäden repariert und sechs etwas provisorisch anmutende Unterkünfte für neue Büros und Lager geschaffen. Mit dem Königlichen Privileg im Rücken hatte Rusty Kredit bekommen, um auf eine davon eine Anzahlung leisten zu können, und hier war es, wo er seine Firma aufbaute. Sie lag der hohen Mauer gegenüber, die das Hafengelände umgab, und man hatte eine hübsche Aussicht auf eine struppige Weide, auf der mitunter eine Herde Wildziegen friedlich graste. Am Freitagmorgen traf sich Rusty zur wöchentlichen Besprechung mit seiner Assistentin Charlotte, die vorläufig seine einzige Mitarbeiterin war. Über Bechern siedend heißen Instantkaffees erklärte Charlotte ihm dann, welche Probleme sie gerade mit Anstreichern, Bauarbeitern oder Schildermalern hatte, zeigte ihm die irgend relevanten Briefe, die im Lauf der Woche eingegangen waren, und berichtete ihm dann - und das war das Wichtigste — von jeder noch so kleinen Schwierigkeit mit der Druckmaschine. Dieses entscheidende Gerät hatte er gebraucht vom Anzeiger erworben, wo es vor kurzem ausrangiert worden war, und obwohl es noch einige lästige Defekte aufwies, hoffte Rusty zuver268 sichtlich, es werde seine Karten zu gegebener Zeit in einer Qualität vervielfältigen, die es erlaubte, sie auf den Markt zu bringen. Zufrieden mit der Entwicklung der Dinge am Firmensitz, verbrachte Rusty die nächsten paar Stunden stets damit, durch die Hauptstadt zu spazieren und endlos viele Buchhändler und andere Ladenbesitzer abzuklappern, von denen er hoffte, sie würden sein Produkt anbieten. Beim Spazieren aber hielt er die Augen offen und machte sich Notizen. Mitunter schienen ihm die Karten, die er an der Akademie kopierte, das Wesen der Orte nicht recht auszudrücken, die sie darzustellen vorgaben, und obwohl es eigentlich nicht im Rahmen seines Privilegs lag, merkte Rusty oft, dass er da und dort nach eigenem Stilgefühl ein wenig nacharbeiten musste. Manchmal sprang er von der Straße einfach in einen Durchgang oder in einen Innenhof und nahm dann von so mancher Straße und manchem Gebäude einen überraschenden Anblick in sich auf. Hin und wieder machte er einen spontanen Umweg und erkundete das Gassengewirr zwischen den Durchgangsstraßen. Mitunter blieb er mitten auf der Straße stehen und sah nach oben, und manchmal kletterte er auf einen Turm und blickte hinab. Während dieser wenigen ruhigen Stunden konnte Rusty die Probleme von Büro und Familie vergessen und ungestört durch Straßen, Höfe und Seitengassen bummeln, wobei er sich dann nur der Stadt um sich herum bewusst war. Wenn er am Abend wieder in die Firma kam, zog er sich in sein Zeichenbüro im Obergeschoss zurück, verbrachte den Rest des Arbeitstags bei schwindendem 269 Licht vor der Staffelei, nahm seine subtilen Änderungen an den Karten vor und ergänzte sie um jene kleinen individuellen Einzelheiten, ohne die er sie Charlotte und der Druckmaschine nicht übergeben wollte. Dann ging er nach Hause in die Strauchrabatte und widmete das Wochenende seiner Familie. Die erste Karte, die als Blatt 1 zum Verkauf angeboten wurde, stellte das Zentrum der Hauptstadt mit Palast, Ringstraße, Markt und Durchgangsstraße Richtung Süden bis zur Höhe von »Ausrufers Ruh« dar. Blatt 2 zeigte das Verwaltungs-, Blatt 3 das Geschäftsviertel, Blatt 4 das Industriegebiet. Rusty plante, danach Blatt 6 (Westvorstadt) und Blatt 7 (Hafen, Nordviertel, Große Kreuzung) folgen zu lassen. Die Publikation von Blatt 5 (Unterstadt) war vorläufig aufgeschoben, da es über das Gebiet wegen großräumiger Abrissarbeiten im Laufe der letzten Jahre keine aktuellen Informationen gab. Anfangs verkauften die Karten sich schlecht, da es den Bürgern - wie sich erwies - am nötigen kartografischen Wissen mangelte, um die in den Blättern enthaltenen Informationen deuten zu können. Doch mit widerwilliger Unterstützung der Akademie wurde dieses Problem schließlich durch Kurzlehrgänge behoben, die allen Käufern kostenlos angeboten wurden. Das verursachte natürlich unvorhergesehene Ausgaben, und darum arbeitete der Michael Brown Verlag einige Zeit länger mit Verlust, als sein Eigentümer kalkuliert hatte. Nach etwas mehr als einem Jahr aber hatten die Verkäufe ein ansehnliches Niveau erreicht, Charlotte leitete eine stets wachsende Mitarbeiterzahl, und Familie Brown konnte endlich eine Wohnung mit vier Schlafzimmern in der begehrten
Westvorstadt beziehen. 270 »Schade, dass wir uns keine Wohnung mit Fahrstuhl leisten konnten«, klagte Eileen. Sie war gerade von einer Einkaufstour zurückgekehrt, hatte sich in ihren blumengemusterten Sessel fallen lassen und gönnte ihren Beinen etwas Erholung, nachdem sie die acht Treppen in den vierten Stock hochgestiegen war. »Ich hab ein Paket getragen!«, prahlte Ashleigh. »In der einen Hand hatte ich ein Paket und in der anderen Mister Woofie! Warum hat Max kein Paket getragen?« »Max ist noch klein«, erklärte Eileen, die ihren Sohn den Großteil der Treppen hatte hinauftragen müssen. »Er schafft es noch nicht allein zu unserer Wohnung hoch.« Rusty, der am Tisch saß, blickte abwesend von der Karte auf, die er studiert hatte. »Hier hat es mal einen Fahrstuhl gegeben - wusstest du das nicht? Der Hausmeister hat mir davon erzählt. Es war eine von den alten Kisten mit Pony-Antrieb, und als der Fahrstuhlführer in Rente ging, konnten sie keinen Nachfolger finden. Der Schacht ist noch da, doch alle Zugänge sind inzwischen lange zugesperrt, und jeder hat seinen Schlüssel zurückgeben müssen. Aber hör mal, Eileen, das haben wir doch alles schon durchgesprochen. Die Turmresidenzen sind das Beste, was wir uns leisten können. Ich weiß, sie sind nicht das Modernste und schon etwas heruntergekommen. Aber wir wohnen in der Westvorstadt, wie du es dir gewünscht hast. Und wir haben diesen Ausblick! Schau dir den Himmel an - er ist heute Abend unglaublich.« Rusty stand auf und ging zum Fenster, wo sich ihm die ganze Stadt im warmen Abendlicht darbot. Die Aussicht hier war ganz anders als früher im Wohnblock 271 derer, die nicht suchen, sondern finden - dort hatte er Richtung Süden gesehen. Und sicher war dieser Ausblick eine Verbesserung gegenüber dem in der Strauchrabatte, wo es praktisch gar keine Aussicht gegeben hatte. Ihr Wohnzimmer in den Turmresidenzen wies nach Südosten, und man sah vom Hafen ganz links bis zur Kaserne des Wachregiments ganz rechts. Unter ihm erstreckte sich das breite Rechteck eines vernachlässigten Rasens, der den Bewohnern der Turmresidenzen vorbehalten war. Dahinter funkelten die vergoldeten Turmspitzen der Westvorstadt, zwischen denen hier und da die gekräuselte Oberfläche des Flusses sichtbar war. Und jenseits des Flusses ragte die eckige, den Horizont dominierende Silhouette des Palastes auf, von dessen Zinnen Reihen von Signalflaggen munter flatterten. Beim Betrachten seines Reichs überkam Rusty ein Gefühl der Ruhe. »...ich schau gleich mal«, sagte Eileen gerade. »Kannst du den Teekessel aufsetzen, falls du in die Küche gehst?« »Ich komme«, erwiderte Rusty, den dieser Hinweis auf den Haushalt wieder auf die Erde katapultiert hatte. »In welche Becher kommt denn der Tee für die Kinder?« Ein paar Stunden später saßen Rusty und Eileen in ihren Sesseln links und rechts vom Kamin unter dem missmutigen Porträt von Dr. Gilbert, das mitten auf dem Kaminsims stand und das Zimmer beherrschte. Rusty bemühte sich wie stets nach Kräften, das Bild zu ignorieren, sah nach draußen und beobachtete, wie die letzten Lichtstreifen am Himmel verblassten. Ashleigh und Max waren zu Bett gebracht, und das Geschirr vom Abendessen stand noch ungespült in der Küche. 272 »Ob wir uns dieses Jahr wohl Urlaub leisten können?«, fragte Eileen ins Zimmer hinein. Stirnrunzelnd rechnete Rusty im Stillen die Finanzen durch. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Aber Gideon, Peg und die Kinder dürften in ein paar Wochen hier durchkommen. Wir könnten doch einige Tage mit ihnen reisen - so wie letztes Jahr. Natürlich nur, wenn du willst«, fügte er hinzu, denn er spürte, dass Eileen von dieser Idee nicht begeistert war. »Ach, ich weiß nicht, Rusty«, entgegnete sie. »Langsam ist es recht eng in ihrem Wagen - Megan und Liam werden ja allmählich groß. Ich finde auch, Peg achtet manchmal nicht genug auf Sauberkeit. Und bei Regen ist es nicht sehr angenehm. Na, und außerdem sind sie... du weißt schon...« »Fahrende?« »Tut mir Leid, das klingt bestimmt furchtbar, aber...« Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Kurz darauf schien Eileen ein anderer Gedanke zu kommen. »Wie dem auch sei, ich finde, ich sollte wirklich mal wieder Daddy besuchen. Der wird auch nicht jünger, fürchte ich. Und er sieht seine Enkelkinder ja so gern.« »Warum eigentlich nicht«, pflichtete Rusty ihr in sorgfältig neutralem Ton bei. »Aber ich brauche doch nicht mitzukommen, oder? Ich hab im Büro jede Menge zu tun.« Eileens Vater hatte seine alte Feindseligkeit gegen den Schwiegersohn vollauf beibehalten, und Rusty hatte schon lange aufgehört, seine Frau bei diesen Besuchen zu begleiten. »Nein, nicht nötig, dass du mitkommst. Ich wünschte nur, es wäre leichter, mit ihm Kontakt zu halten. Ich kann wirklich nur ein, zwei Mal im Jahr hinreisen, und die Post scheint ewig unterwegs zu sein.« 273 Rusty hatte eine Idee. »Weißt du was? Vielleicht können wir uns eine dieser Signalmaschinen zulegen. Wenn wir die hätten, könntest du jederzeit mit ihm Verbindung aufnehmen. Gibt es nicht bei seinem Dorf inzwischen eine Flaggenwache?« »Ich hab so einen Apparat noch nie benutzt«, erwiderte Eileen unsicher. »Ist das schwierig? Und wir müssten doch zwei kaufen, einen für uns und einen für ihn, stimmt's? Wie sollen wir uns das im Moment leisten?« »Inzwischen werden auch kleine Geräte gebaut, die man zu Hause benutzen kann.« Rusty erwärmte sich
allmählich für seine Idee. »Die Flaggen könnten wir auf dem Dach anbringen - das wäre genau der richtige Ort dafür. Vielleicht können wir uns die Kosten mit ein paar Nachbarn teilen. Und ich könnte die Geräte womöglich über die Firma kaufen — schließlich wäre der Apparat auch für die Arbeit ziemlich hilfreich. Stell dir mal vor: Du könntest mit deinem Vater Verbindung bekommen, wann immer du willst. Und mit allen, die auch so ein Gerät haben.« »Ja. Vielleicht sollten wir darüber nachdenken.« Eileen war schon fast überzeugt. »Wir wären die Ersten hier, die so ein Gerät hätten. Das wäre doch was, oder?« » Wie wurdest du bestraft?« Es war anfangs alles sehr verwirrend. Sie haben mich natürlich eingesperrt, und ich schätze, ich hab eine ziemlich lange Zeit in der Zelle gesessen. Verschiedene Leute kamen mich besuchen. Einige verhörten mich, an274 dere brachten mir Essen, und ab und an kamen ein paar Wolfsjungen vorbei, um mich zu verprügeln. Ich hab mich ziemlich zu Hause gefühlt, wenn sie das taten - wie in alten Zeiten, schätze ich. Das war allerdings der einzig heimelige Zug. Sie haben mir sogar den Rucksack mit allen Habseligkeiten weggenommen - ich musste also auf meine Kette verzichten. Da hab ich ein bisschen Krach geschlagen, und sie mussten mich an die Wand ketten. Ihre Kette war allerdings merkwürdigerweise aus einem glatten, glänzenden, bläulichen Metall und fühlte sich absolut nicht richtig an. Ich bekam keinen Besuch von Freunden oder Verwandten - vor allem wohl, weil ich weder Freunde noch Verwandte hatte. Es gab natürlich meinen Vater Geoffrey, aber selbst wenn er gewusst hätte, dass ich in Haft war, wäre er kaum gekommen. Einmal allerdings ist Maisie aufgekreuzt, aber ich wollte nicht mit ihr sprechen und hab darum wohl etwas gesagt, das sie auf die Palme gebracht hat. jedenfalls weiß ich noch, dass sie sich unvermittelt umgedreht und das Besuchszimmer verlassen hat, und ich schätze, sie ist nie wiedergekommen. Schließlich gab es eine Art Prozess. Das war natürlich eine reichlich einseitige Angelegenheit. Hochmeister Fang leitete die Verhandlung. Er saß an einem erhöhten Schreibtisch, und hinter ihm prangte die Zeichnung eines großen Wolfskopfs an der Wand. Fang befragte eine ganze Reihe von Zeugen. Ein paar Kutscher sagten aus, ich hätte Geld von ihnen verlangt und gedroht, sie von der Kreuzung zu vertreiben, wenn sie nicht zahlten. Dann erklärten einige Passagiere, sie hätten falsche Informationen bekommen, und einige von Maisies Mädchen gaben zu Protokoll, ich hätte ihnen Geld abge275 presst. Auch Sergeant Gash ließ sich sehen und erklärte, ich hätte ihn bestechen wollen. Dann brachten sie einen meiner Bettler bei, der aussagte, ich hätte ihn zum Stehlen von Bauholz und Ziegeln in die Unterstadt geschickt. Schließlich erschien Kevin Considine - bleicher und schwächer als je - vor Gericht und erklärte, ich hätte meinen Turm nicht zum Teil seines Signalnetzwerks machen wollen und damit die Wünsche des Königs missachtet. Nach all dem wandte sich Hochmeister Fang fast so an mich, als wäre er erst nachträglich auf diese Idee gekommen, und fragte, ob ich etwas zu sagen hätte. Nun, ich hatte ja keine Möglichkeit gehabt, mich auf die Verhandlung vorzubereiten, und keinerlei Beistand, und natürlich war ich noch ziemlich verwirrt und durcheinander von den Schlägen, die ich immer wieder kassiert hatte - deshalb wiederholte ich nur, was ich Hochmeister Fang schon gesagt hatte, als er mich verhaßete: dass ich nur versucht hätte, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, und überzeugt sei, etwas Gutes für die Stadt getan zu haben. Die letzte Bemerkung war zweifellos ein Fehler, denn sie ließ den Saal vor Lachen brüllen, und als das Gelächter verebbte, sagte der Hochmeister: »Ich glaube nicht, dass wir weitere Erklärungen seitens des Gefangenen benötigen.« Dann gab er den Wächtern ein Zeichen, und sie führten mich ab. Eine Zeit lang saß ich wieder in der gleichen Zelle, bekam das gleiche Essen und die gleiche Prügel, aber immerhin schickten sie keine Leute mehr vorbei, um mich zu verhören. Ich weiß nicht, womit ich die Zeit totgeschlagen habe. Ich hätte vermutlich gern etwas Sport getrieben und wäre gern ein wenig in der Zelle auf und ab gegangen, aber natürlich war ich noch immer 276 mit der seltsamen blauen Kette an der Wand vertäut. Manchmal dachte ich an meinen Vater und manchmal an Michael Brown, doch es waren wieder und wieder die quälend gleichen Gedanken, die ich irgendwann wohl einfach ausgeknipst habe. Überhaupt schien ich bald nur noch zu vegetieren und an kaum etwas zu denken. Ich weiß nicht, wie lange ich so vor mich hin gedämmert habe, doch eines Tages wurde ich plötzlich verlegt. Ein paar Wolfsjungen kamen in die Zelle, und ich dachte, es würde wieder die übliche Abreibung am Mittwoch geben, doch sie öffneten die Vorhängeschlösser und zerrten mich raus auf den Hof. Das war ein ziemlicher Schock für mich, weil ich seit meiner Verhaftung kein Tageslicht gesehen hatte und meine Augen sich anfangs gar nicht daran gewöhnen konnten. Ich sah nur blendende Helle und musste die Lider schließen, doch dann spürte ich, dass ich unsanft in einen anderen geschlossenen Raum geworfen wurde. Erst dachte ich, es sei wieder eine Zelle, doch als es zu holpern begann, begriff ich, dass ich in einem Transporter gelandet war und mit anderen Gefangenen verlegt wurde. Nach einer Weile konnte ich endlich etwas erkennen und rief dem Fahrer die Frage zu, wohin wir gebracht würden, doch er sagte nur: »Das erfahrt ihr früh genug.« Ein paar Stunden später hielt der Transporter vor einem großen Flügeltor. Wir wurden wieder herausgeholt und stellten fest, dass wir an einem abgelegenen Ort gelandet waren. Ringsum war die Gegend unwirtlich, alles war
mit violettem Kraut überwachsen, und in der Ferne lagen blaue Berge. Hinter dem Tor befand sich ein großes, von einer hohen Mauer umschlossenes Lager. Ich schätze, es war eine andere Art Gefängnis, doch diesmal schlössen sie uns nicht in Zellen ein, sondern wir kamen in einen Schlafsaal und konnten uns im Lager frei b e wegen. Am nächsten Tag wurden einige von uns in ein niedriges Gebäude in einer Ecke der Anlage gebracht. Natürlich hatten die Wolfsjungen hier zu bestimmen, doch sie schienen freundlicher als die in der Stadt, nicht ganz so brutal, und ihre Uniformen sahen sauberer aus. Ein Sergeant namens Maggot, der auch Ausbilder war, erklärte, wir würden nun einen ehrlichen Beruf lernen und freigelassen, sobald wir eine Festanstellung bekämen. Mir war nicht recht klar, wie ich irgendeine Anstellung finden sollte, solange ich noch im Gefängnis saß, doch davon abgesehen klang die Idee ziemlich gut. Der ehrliche Beruf, den Ausbilder Maggot für uns im Sinn hatte, war der eines Signalmaschinentechnikers. Maggot klärte uns über das Netzwerk von Signalmaschinen auf, das im ganzen Land errichtet wurde, und wie wichtig es in Zukunft sein werde. Wenn wir lernen würden, wie das Gerät funktioniert - so fuhr er fort -, könnten wir schließlich ehrliche Arbeit bei Betrieb und Wartung dieser Apparate finden. Maggot schien ein freundlicher Mann zu sein, war etwas älter als die übrigen Wolfsjungen, sprach langsamer und hatte einen anderen Akzent als die Leute aus der Hauptstadt. Dann meinte er noch, die Ausbildung sei nicht verpflichtend - wer wolle, könne wieder ins alte Gefängnis zurückkehren. Ich schätze, über diese Alternative brauchte keiner von uns lange nachzudenken. Sicher, als mir das Signalnetzwerk das letzte Mal begegnet war, hatte ich mich ihm verweigert, doch das war mir nicht eben gut bekommen. Also beschloss ich, diesmal sei es sinnvoller, 278 mitzuspielen und zu sehen, was das Netz mir bieten konnte. Der Unterricht begann sofort. Im Saal waren sechs Signalmaschinen aufgebaut, und Maggot war unser Lehrerein guter Lehrer übrigens, sehr geduldig und gründlich. Manchmal ging er die Dinge für meinen Geschmack zu langsam an, doch den anderen Gefangenen schien das gerade recht, und so hielt ich den Mund. Ich muss dort mindestens ein Jahr lang Maschinen auseinander genommen und wieder zusammengebaut haben und hatte große Mühe, all die winzigen Teile richtig zusammenzusetzen. Ich habe wohl schon erzählt, dass ich in puncto Technik nicht besonders begabt bin. Deshalb hat mir die Arbeit auch nie wirklich gut gefallen, aber am Ende habe ich die Prüfungen doch gerade so geschafft. Insgeheim interessierte ich mich allerdings viel mehr für manches von dem, was ich bei aufgesetztem Kopfhörer durchs Okular sah, doch Maggot hat diese Art von Neugier nicht gefördert. Er erklärte in seiner geduldigen Art, im Unterricht gehe es darum, die Technik des Apparats zu verstehen, und nach unserer Freilassung hätten wir jede Menge Zeit, das Netz auf eigene Faust zu erkunden. Doch ich hatte ein, zwei Dinge gesehen, die ich für wirklich interessant hielt, und nahm mir vor, sie mir bei Gelegenheit genauer anzusehen. Nach der Ausbildung bekamen wir unser Diplom, und Maggot erklärte, wir würden nun in eine andere Einrichtung überstellt, in der uns mögliche Arbeitgeber besuchen und mit uns sprechen könnten. So hätten wir die Chance, ehrliche Arbeit zu finden. Er wünschte uns zum Abschied viel Glück, und wir landeten einmal mehr in einem Transporter. 279 Die neue Einrichtung befand sich, wie sich erwies, wieder in der Hauptstadt, und zwar am Nordrand des Geschäftsviertels, direkt an der Ringstraße. Kaum waren wir angekommen, stellte ich fest, dass es sich dabei um die alte Städtische Menagerie handelte. Anscheinend hatte einer der Vorfahren des Königs ein flüchtiges Interesse an wilden Tieren gehabt und die Menagerie kurzzeitig zu einer großen Attraktion der Hauptstadt gemacht. Schließlich aber hatte er das Interesse daran verloren, und die Tiere waren allmählich gestorben, ohne dass neue Jungtiere angeschafft worden wären. Danach hatten die Käfige lange leer gestanden, bis der Hauptstädtische Wiedereingliederungsdienst eine neue Verwendung für sie gefunden hatte. Wir alle durften uns einen eigenen Käfig aussuchen. Jeder verriet etwas über seinen früheren Bewohner, und ich fand es interessant, dass alle meine Mithäftlinge sich ein Gefängnis aussuchten, das mehr oder weniger zu ihnen passte. Es gab Käfige mit Schaukeln und Ästen, die früher wohl Affen oder andere Klettertiere beherbergt hatten. Dann gab es welche mit Becken, in denen Wassertiere gelebt haben mussten, Seelöwen vielleicht. Andere hatten Tunnel und waren offenbar für in Bauen lebende Geschöpfe gedacht, während wieder andere groß, leer und ohne Dach waren, als hätten sie Tiere beherbergt, die sich am liebsten in der Sonne aalen. In dem Käfig, den ich mir aussuchte, gab es eine Art Hindernisstrecke, die aus einem Baumstumpf, einem kurzen Mauerabschnitt und einem Graben bestand. Mein Vorgänger hatte ein festes Schema entwickelt, diese Hindernisse zu überwinden, und dabei einen breiten Pfad geschaffen, dessen Umriss dem einer Amöbe glich und auf dem er wohl Tag für Tag endlose Runden gedreht hatte. 280 Unter dem Namen Arbeitnehmerbörse war die Menagerie wieder eröffnet worden, und nun konnten die Leute hereinspazieren, um uns anzuglotzen - mich und meine kletternden, sich aalenden, buddelnden oder schwimmenden Kollegen. Einige Besucher warfen uns Nahrungsmittel zu, andere lachten und zeigten mit dem Finger auf uns, aber keiner schien besonders interessiert, uns eine Stelle anzubieten. Bald achtete ich nicht mehr auf sie und bemühte mich in keiner Weise darum, mich vor ihnen in Szene zu setzen, sondern beschäftigte mich
stattdessen mit dem Inventar meines Käfigs. Ich stellte fest, dass Baumstumpf, Mauer und Graben mehr Möglichkeiten boten, als die tief eingetretene Spur meines Vorgängers zunächst nahe gelegt hatte. Ich setzte mir deshalb die Aufgabe, herauszubekommen, wie viele Möglichkeiten es geben mochte, meinen Käfig - sei es im oder gegen den Uhrzeigersinn - auszuschreiten, und viele Monate lang war dies der einzige Fixpunkt meines Daseins. Manchmal kletterte ich über den Baumstumpf, ehe ich durch den Graben kroch, und manchmal kroch ich erst durch den Graben und kletterte dann über den Stumpf. Mitunter variierte ich diese Praxis, indem ich um die Mauer herumlief, ehe ich über den Stumpf kletterte, oder indem ich durch den Graben kroch, nachdem ich um die Mauer herumgelaufen war. Ich achtete überhaupt nicht mehr auf die Welt jenseits der Gitterstäbe oder auf die Leute draußen. Wenn man mir etwas zu essen in den Käfig warf, aß ich. Und wenn ich müde wurde, schlief ich. Gut möglich, dass das ewig so weitergegangen wäre, doch eines Tages, als ich gerade aus einem Nickerchen erwachte, hörte ich überrascht eine Stimme nach mir rufen. Sie war mir unbekannt und hatte einen irgendwie 281 fremden, weichen Akzent. Zuerst konnte ich nicht verstehen, warum ein Fremder sich für mich interessieren mochte. Ich fragte mich sogar, ob ich geträumt hatte, denn ich hatte von Häftlingen erzählen hören, die sich eingebildet hatten, Stimmen zu vernehmen, doch als ich aufblickte, merkte ich, dass wirklich jemand da war. Die Stimme gehörte einer groß gewachsenen alten Dame mit grauem Haar und Brille, die ein langes Kleid trug. Und diese alte Dame war es, die sich als meine Retterin erwies. Die sechs Bögen Als Veronique am Donnerstagmorgen zum Palast kam, schob sie ihre Magnetkarte wie üblich in den Schlitz der Zugangsschleuse, wartete auf das Surren und Klicken des Apparats und ging dann durchs Tor, über den Hof, ein paar Treppen hinauf und über das Dach zur Königlichen Kanzlei. Während ihrer Jahre als Leitender Clown im Amt für Narren und Spaßvögel war Veronique ihre Arbeit erstaunlich diszipliniert angegangen, und in ihrer neuen Stellung als Ressortleiterin in der Kanzlei hatte sich daran nichts geändert. Sie hatte sich angewöhnt, genau fünfzehn Minuten vor Beginn der Bürozeit in der Kanzlei einzutreffen; man konnte stets sicher sein, sie während der Geschäftszeit auf ihrem Posten zu treffen; sie erlaubte sich nie, ihre Essens- und Erholungspausen über die festgesetzte Zeit hinaus auszudehnen - und sie legte besonderen Wert darauf, ihren Arbeitsplatz sauber zu hinterlassen und das Licht auszumachen, wenn sie abends ging. 282 Veronique kam fast immer als Erste und ging beinahe stets als Letzte. Deshalb war sie an diesem Donnerstag über den schmalen Lichtschlitz unter der Tür von Kevin Considines Büro recht erstaunt. Sie konnte sich der wenigen Male entsinnen, da Considine im Büro der Letzte gewesen war, doch bisher hatte er stets peinlich genau darauf geachtet, beim Weggehen das Licht auszumachen. Stirnrunzelnd schlängelte sich Veronique zwischen den reihenweise angeordneten Schreibtischen hindurch, bis sie zu ihrem Arbeitsplatz kam, wo sie ihre große Handtasche mit Strickzeug, belegten Broten, Zigarren, drei Flaschen Milch und verschiedenem Krimskrams abstellte. Dann schaltete sie ihr Gerät für die Verwaltungsarbeit an, fischte die Zigarren und die Milch aus der Tasche und ging in die Ecke, in der die Kaffeemaschine stand. Sie murmelte leise vor sich hin, während sie die schmutzigen Becher, die sich am Vortag angesammelt hatten, zusammensuchte, die Milchflaschen aufs Regal stellte und die Sicherung eindrehte, um die Kaffeemaschine mit Strom zu versorgen. Nach dem ersten Kaffee und der ersten Zigarre konnte sie stets klarer denken und sich um alles kümmern, was der Morgen bringen mochte. Sie zündete sich eine Zigarre an, nahm einen tiefen Zug, hustete ein paar Mal und wartete, dass die Kaffeemaschine ihre Morgengabe lieferte. Während das Gerät fauchend, spuckend und zischend loslegte, glitt Veroniques Blick erneut zum Lichtstreifen unter Kevin Considines Tür. Was tun? Letztlich schien es ihr das Vernünftigste, sich zu vergewissern, ob Mr Considine wirklich so unwahrscheinlich früh ins Büro gekommen war, und andernfalls das Licht auszuschalten. Sie ging zu seiner Tür und drückte sie auf. 283 Überrascht stellte sie fest, dass Mr Considine am Schreibtisch eingeschlafen war und leise schnarchte. Er trug nur einen leicht schmuddeligen Slip, und seine übrigen Sachen waren im ganzen Zimmer auf dem Boden verstreut. Mit einem vernehmlichen Atemzug trat Veronique zu dem Schlafenden. »Mr Considine? Kevie-Boy?« Sie stieß ihn vorsichtig an und stellte dabei entsetzt fest, dass er an Rücken und Schultern zerkratzt war und da und dort etwas blutete. Sekunden später hob er den Kopf und sah sie verschlafen an. »Veronique? Was machst du denn hier? Wie spät ist es?« »Spät genug, um mit der Arbeit zu beginnen«, erwiderte Veronique. »Es ist Donnerstagmorgen. Was hat denn unser alter Oberingenieur getrieben? Keine faulen Sachen, will ich hoffen! Bist du die ganze Nacht im Büro gewesen?« Kevin setzte sich auf und versuchte, sich zu besinnen. »Ja«, sagte er schließlich. »Ich musste länger bleiben. Das Signalnetzwerk macht jede Menge Probleme. Ich kann es mir nicht leisten, hinter dem Zeitplan zurückzubleiben — das alles ist sehr dringend. Ich muss eingeschlafen sein. Tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe.« Er kam schwankend auf die Beine und begann, seine Sachen einzusammeln. Veronique beobachtete ihn argwöhnisch und war vom Zustand seiner Unterwäsche widerwillig fasziniert.
»Na ja, du bist ja schon ein großer Junge. Ich nehme also an, du weißt, was du tust. Aber ich schätze, nachts schläft es sich zu Hause im Bett doch besser. Magst du einen Kaffee?« Kevin lehnte sich gerade gegen einen Aktenschrank 284 und hatte einige Schwierigkeiten damit, in seine Hosenbeine zu finden. »Gute Idee, Vero, danke.« Dem folgte eine unbehagliche Pause, in der beide überlegten, wie sie die Begegnung am besten beenden konnten. »Besser, wir sprechen mit niemandem darüber«, sagte Kevin schließlich. »Dann also Stillschweigen«, willigte Veronique ein. »Nimmst du Milch und Zucker?« Der Tag erwies sich für Kevin als ausgesprochen ermüdend. Am liebsten hätte er die Signalmaschine angeworfen und noch mehr Zeit mit seiner neuen Freundin Lee verbracht, doch sein Gefühl sagte ihm, es wäre tollkühn, das während der Bürozeit zu versuchen. Lustlos durchwühlte er die Papiere auf seinem Schreibtisch. Ein stets wachsender Stapel Briefe wartete darauf, von ihm zur Kenntnis genommen zu werden. Er sah kurz auf eine Akte mit dem Titel Universales Signalnetzwerk-Fortschrittsbericht. Anders als er Veronique gegenüber behauptet hatte, schritt die Ausbreitung des Signalnetzwerks planmäßig voran, und im ganzen Land wurde gerade an strategischen Punkten ein ausgedehntes Netz von Signalwachen errichtet. Er warf den Bericht beiseite, ohne sich mit Einzelheiten zu befassen. Am späteren Vormittag musste Kevin die monatliche Sitzung der Ressortleiter der Kanzlei besuchen, die - wie er aus zermürbender Erfahrung wusste — viel Zeit fressen und unergiebig sein würde. Und es gab in vielen Büros weiter Probleme mit den Geräten für die Verwaltungsarbeit — Probleme, die sicher den Rest der Zeit verschlingen würden, die er an diesem Tag sonst vielleicht noch gehabt hätte. 285 Kevins Sehvermögen, sein Gehör und sein Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn waren durch die Ereignisse der Nacht — mochten sie nun wirklich geschehen sein, oder mochte er sie sich bloß eingebildet haben - noch in Mitleidenschaft gezogen, gebeutelt, angegriffen, aus dem Gleichgewicht geraten. Dennoch gelang es ihm mit Hilfe von Veroniques Kaffee einigermaßen, sich durch das stumpfsinnige Treiben des Tages zu schleppen, ohne übermäßigen Argwohn zu erregen. Kevin war nicht sicher, ob er wirklich darauf vertrauen konnte, dass Veronique den Mund hielt, kam aber nach einigem Nachdenken zu dem Schluss, sie habe eigentlich keinen Beweis dafür, dass er etwas Schlimmeres getan hatte, als eine Nacht schlafend über seinem Schreibtisch zu verbringen. Schließlich schleppte sich die Arbeitszeit dem Ende zu. Die Deckenbeleuchtung wurde reduziert, und ein Arbeitsplatz nach dem anderen versank im Dunkeln, als die Kollegen ihre Verwaltungsgeräte ausmachten und ihre Tischlampen löschten. Bald war nur noch Veronique in der Kanzlei - glaubte sie jedenfalls. Aus seinem dunklen Büro aber beobachtete Kevin durch die angelehnte Tür, wie sie ihre vielen Habseligkeiten zusammensuchte und die Kaffeemaschine vom Stromnetz nahm. Methodisch arbeitete sie sich zum Ausgang vor, während ihm jede Minute wie eine Stunde erschien. Er kochte vor Ungeduld, als sie - den Türgriff schon in der Hand - noch einmal stehen blieb und zögerte. Schließlich aber zuckte sie die Achseln und machte sich auf den Heimweg. Kevin zwang sich noch kurz zur Reglosigkeit und wartete, bis der Klang ihrer Schritte verhallt war. Schließlich war er überzeugt, die Luft sei rein, trat in die Dunkelheit 286 hinaus, schlängelte sich zwischen den Tischreihen hindurch und machte sich an den gefährlichen Abstieg in sein Labor. Ein paar Augenblicke stand er unentschlossen da, unsicher, ob er sein Experiment fortsetzen sollte, und einen Moment unfähig, sich von der quälenden Erinnerung an Veroniques argwöhnischen Gesichtsausdruck zu befreien. Dann sah er auf seine Hände, merkte, dass sie um einiges heftiger zitterten als sonst, und begriff, dass er keine Wahl hatte. Er ging weiter und schaltete die Empathiemaschine ein. »Etwas nach links... tiefer... tiefer... gut so... weiter, ja... prima...« Lee hatte die langen, geschmeidigen Beine um Kevins Oberkörper geschlungen und kratzte ihm mit den gebogenen Zehennägeln den Rücken. Einige Minuten fuhr sie damit fort, während Kevin zufrieden stöhnte. Dann löste sie sich unvermittelt von ihm, sprang vom Bett hoch, ergriff das Trapez und schwang sich flink in eine sitzende Position. »Was machst du denn, Lee?«, murmelte Kevin gereizt. »Komm wieder ins Bett.« »Ich werde langsam unruhig, Kevin. Das passiert bisweilen.«. Sie ließ sich in den Kniehang hinunter, und ihr schwarzes Haar strich ihm leicht über die Brust. »Es gefällt dir mit mir, stimmt's? Und es gibt vieles, was wir später noch anstellen können. Aber jetzt, Kevin, möchte ich, dass du etwas für mich tust. Dagegen hast du doch nichts, oder?« »Ich glaube nicht.« Kevin rollte sich auf die Seite, setzte sich auf und strampelte sich die schwarzen Laken 287 aus Satin von den Beinen. »Ich meine, natürlich nicht! Worum geht's denn?« Lee richtete sich wieder auf, sprang mit einem kleinen Satz vom Trapez aufs Bett zurück und setzte sich neben
ihn. Kevin stellte erstaunt fest, dass sie dabei ihr schwarzes Babydoll gegen einen schwarzen Trainingsanzug und Laufschuhe getauscht haben musste. » Um die Bögen, Kevin.« Sie zeichnete mit langen Fingernägeln ein breites Kreissegment aufs Laken, um die sechs Rundbögen anzudeuten, die die mit Kerzen übersäten Wände des Raums voneinander trennten. Hinter jedem Bogen war nur Schwärze zu sehen, denn ihre Augen waren durch den Glanz der vielen Kerzen ringsum geblendet. »Ich will wissen, was jenseits der Bögen ist. Aber allein komm ich da nicht hin. Du musst mich hinbringen, Kevin. Tust du das für mich?« Ihr bleiches Gesicht hatte einen flehentlichen Zug. »Ich schätze, einer davon führt in den schwarzen Raum, in dem ich dich gefunden habe.« Kevin fiel auf, dass die Bögen vom Bett aus alle gleich aussahen. »Aber ich weiß nicht, welcher. Kannst du nicht einfach nachschauen gehen? Ich meine, warum brauchst du meine Hilfe?« »Das ist dein Baum, Kevin, nicht meiner. Weißt du nicht mehr, dass du ihn für mich geschaffen hast? Er ist deiner Vorstellungskraft entsprungen. Und was immer hinter diesen Bögen liegt, entstammt auch deiner Vorstellung. Und, Kevin...«- plötzlich bemerkte er ein Stocken in ihrer Stimme - »... ohne dich komm ich da nicht hin. Wenn du nicht da bist...« - sie begann zu weinen -»...kann ich nichts tun. Ich kann mich nicht bewegen und nicht sprechen. Es ist fast, als existierte ich dann gar nicht - als wäre ich nur da, wenn du auch da bist.« 288 Kevin nahm sie verlegen in die Arme. Sie schien plötzlich kleiner und schwächer als zuvor. »Es tut mir Leid, Lee. Ich hatte nicht bedacht... mir war nicht klar... Natürlich bring ich dich hin. Komm, wisch dir die Tränen ab. Also, durch welchen Bogen sollen wir gehen?« Mit neuem Schwung sprang Lee auf und wies ihm mit einem langen roten Fingernagel die Richtung. Kevin stand auf, gesellte sich zu ihr und bemerkte flüchtig, dass er nun genau den gleichen Trainingsanzug trug wie sie. Gemeinsam ließen sie den funkelnden Kerzenschein hinter sich und betraten einen langen, geraden Gang ohne besondere Merkmale, der sich bis zu einem fernen Fluchtpunkt vor ihnen erstreckte. »Komm!« Plötzlich begann Lee zu rennen, und Kevin, der wenig Sport trieb, stellte fest, dass er kaum mit ihr Schritt halten konnte. Er hatte schon Seitenstechen, da kamen sie unerwartet an eine kurze Treppe, purzelten die Stufen hinunter und landeten unsanft auf einem polierten Eichenboden. Als sie sich aufsetzten und streckten, fühlte Kevin plötzlich Übelkeit in sich aufsteigen. Einen Moment dachte er, das sei eine Folge ihres Sturzes, doch dann merkte er, dass der Boden sanft hin und her schwang. Als er sich umsah, stellte er fest, dass er in einem achteckigen Zimmer war. Diesmal sorgte eine große Öllampe, die an Messingketten von der Decke hing, für die Beleuchtung, und ihr unangenehmer Duft verstärkte die Übelkeit noch. Die Decke war niedrig und - wie Wände und Fußboden - mit polierten Eichenbrettern getäfelt. Wie zuvor hatte jede der acht Wände in der Mitte einen Torbogen, doch diesmal war jeder Bogen von zwei runden, messingumrandeten Bullaugen flankiert. Einen 289 Moment hatte Kevin das unbehagliche Gefühl, er werde durch ihr dickes Glas beobachtet. »Sind wir auf einem Schiff?« Lee kletterte die Wand hoch, um durch ein Bullauge zu sehen. »Da draußen ist Wasser.« »Sieht ganz so aus. Und ich bin kein besonders guter Seemann. Können wir zurückgehen?« Aber jeder Torbogen sah gleich aus, und desorientiert, wie Kevin war, wusste er nicht mehr, durch welchen sie gekommen waren. Lee hingegen hatte sich schon für einen Ausgang entschieden, stand direkt vor der Schwelle und wartete auf die Erlaubnis, sie zu überschreiten. Diesmal stieg der Gang steil an. Kevin keuchte rasch, doch Lee griff nach seiner Hand, und es schien fast, als würde sie ihn mitziehen. Seine Füße berührten kaum den Boden, und er spürte Fahrtwind im Haar. Dann quetschten sie sich durch einen engen Spalt... ... und standen in einem schwach erleuchteten Raum, in dem überall Kisten und Kartons gestapelt waren. Die Luft war muffig und roch nach feuchtem Holz und Sägemehl. Durch eine Ritze zwischen zwei Stapeln konnte Kevin Lee keuchend husten hören. »Hier gefällt es mir nicht, Kevin. Ich bekomme keine Luft. Versuchen wir's woanders.« Sie fanden einen Ausgang, quetschten sich hindurch und krochen bald auf allen vieren durch einen langen, niedrigen Tunnel. Je weiter sie kamen, desto flacher wurde er. Nun ging es nur noch sehr langsam voran, und Kevin merkte, dass das Licht zwar nicht heller, aber bleicher und diffuser wurde. Erschrocken stellte er fest, dass er durch Lees Körper hindurch Einzelheiten des Tunnels erkennen konnte. Bald war ihre lichtdurchlässige Gestalt kaum mehr als ein vager Umriss. 290 »Hier gibt's nichts.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Wir müssen umkehren, Kevin. Vor uns ist nichts mehr.« Mit knapper Not schaffte es Kevin, in dem engen Tunnel zu drehen, und half dann auch Lee unter großen Anstrengungen, die Kriechrichtung zu ändern. Lees Körper war inzwischen fast schwerelos, und ihre Glieder schienen kaum noch in der Lage, sich eigenständig zu bewegen. Zentimeter für Zentimeter arbeiteten die beiden sich durch den Tunnel zurück und kamen schließlich an einen Ort, den sie zuvor wohl übersehen hatten: einen leeren, weißen, neutralen Raum, von dem in alle Richtungen - wie Speichen eines Rades - Durchgänge abgingen.
Im Hintergrund war ein schwaches Summen zu hören, das dezent beruhigend klang. Erschöpft sanken sie nebeneinander nieder und stellten fest, dass der Boden kühl, weich und angenehm war. Die Luft schien frischer, und sie spürten, wie die verhängnisvolle Schwäche sie allmählich verließ. »Was sind das alles für Orte?«, murmelte Kevin. »Ich hab die Orientierung verloren. Wie kommen wir wieder dorthin, wo wir losgegangen sind?« »Ich glaube, jetzt ist alles in Ordnung.« Lee klang wieder etwas stärker und selbstbewusster. »Mr können hier ausruhen, Kevin. Schlaf einfach - wenn du aufwachst, bist du wieder zu Hause.« Ihre Stimme gewann ihre alte Verführungskraft zurück und lullte ihn sanft ein. »Und wenn du das nächste Mal kommst, sehen wir uns wieder.« Sie drängte sich näher an ihn und umschlang ihn mit Armen und Beinen. »Gute Nacht, Kevin.« Er konnte die Augen nicht länger offen halten. »Gute Nacht, Lee.« 291 »Und wie hat die alte Dame dir beim Davonkommen geholfen?« Als ich sie nach mir rufen hörte, habe ich aufgesehen. »Junger Mann?«, meinte sie, und das überraschte mich, weil ich mich schon seit einiger Zeit nicht mehr für jung hielt. Sie stand ganz nah an den Stäben meines Käfigs und musterte mich konzentriert, als interessiere sie sich wirklich für mich. Sie sah recht ungewöhnlich aus, war groß und dünn, hielt sich sehr aufrecht und hatte ein langes Kleid an. Ihre grauen Zöpfe trug sie fest um den Kopf geschlungen, und ihre kleine Brille hatte einen Goldrand. Es war schon einige Zeit her, dass ich mich unterhalten hatte, deshalb erwiderte ich einfach nur ihren Blick und antwortete nicht sofort. Dann fragte sie wieder »Junger Mann?«, und ich stand auf und ging zu ihr. »Junger Mann«, sagte sie ein drittes Mal. »Ich sehe Euch schon eine Weile dabei zu, wie Ihr die verschiedenen Hindernisse in Eurem Käfig überwindet.« Ich wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte, und antwortete schließlich wohl, so würde ich mir die Zeit vertreiben - ich hätte ja sonst nicht viel, womit ich mich beschäftigen könnte. Daraufhin erklärte sie mir, sie komme von einem Ort, wo man Leuten helfe, die ihren Orientierungssinn verloren hätten, und fragte mich, ob ich sie dorthin begleiten wolle. Ich versuchte ihr zu erklären, ich sei zum Signalmaschinentechniker ausgebildet worden, doch sie unterbrach mich rasch und meinte nur, das sei möglicherweise hilfreich. Dann ging sie den Wächter holen. Ich fragte mich, ob sie zurückkommen würde, doch sehr bald war sie mit dem Wach292 mann wieder da. Er trug einen großen Schlüsselbund in der Rechten und sperrte zu meinem Erstaunen tatsächlich den Käfig auf. Und das Allerbeste: In der Linken hielt er etwas, das ich erst nicht bemerkt hatte meinen Rucksack mit allen alten Sachen, den die Wolfsjungen während meiner Haß aufbewahrt haben mussten. Und dann sagte er mir, ich sei frei. Die alte Dame nahm mich mit zu ihrer Kutsche, und Minuten später passierten wir das westliche Stadttor, überquerten den Fluss und kamen durch die Westvorstadt. Doch ich machte mir kaum die Mühe, aus dem Fenster zu schauen, sondern wollte mir nur meine alten Sachen ansehen. Ich versenkte die Hände im Rucksack und kämpfte mich durch Buch- und Pergamentschichten, bis ich ganz unten die Kette erfühlte. Ich zog sie kurz hervor, merkte dann aber, dass die alte Dame mich sehr seltsam ansah, und ließ sie deshalb rasch wieder verschwinden. Doch selbst in dieser kurzen Zeit hatte ich gespürt, wie etwas von ihrer alten Kraft durch die Fingerspitzen in mich überging. Nach einer Weile fühlte ich mich deutlich besser. Also zog ich ein paar alte Karten heraus, die der rothaarige Junge gezeichnet hatte, breitete sie vor mir aus und studierte sie. Es war beinahe, als würde ich alle dort abgebildeten Orte erneut besuchen, so klar und kraftvoll waren sie gestaltet. Wenn ich's mir recht überlege, sollte ich nicht »erneut besuchen« sagen, denn ich war ja an keinem der Orte je gewesen, und doch hatte ich das Gefühl, sie schon mal gesehen zu haben. Schließlich hatte ich meinen Hunger fürs Erste gestillt, packte die Karten weg, blickte auf und merkte, dass die Kutsche die Stadt längst verlassen hatte und wir über Land holperten. Die alte Dame sah mich nun 293 freundlicher an. Ich wirkte sicher sehr unhöflich und undankbar, doch sie zeigte keinerlei Verärgerung. »Die Karten sind sehr schön«, sagte sie. »Habt Ihr die gezeichnet?« Ich berichtete, sie gehörten jemandem, den ich mal gekannt hätte. Ein Teil von mir wollte mehr erzählen, ein anderer Teil aber schärfte mir immer wieder erfolgreich ein, ich sei noch nicht so weit. Inzwischen hatte ich völlig den Überblick verloren, wohin die Reise ging, schätzte aber, wir waren Richtun Nordwesten unterwegs und inzwischen auf die alte Holperpisten jenseits der gut ausgebauten Königlichen Landstraßen gelangt. Unsere Reise dauerte einige Tage, und wir übernachteten in Herbergen - in recht komfortablen Herbergen übrigens, in denen ich sogar ein eigenes Zimmer bekam. Die alte Dame erwies sich als gute Begleiterin und schien zu wissen, wann es Zeit zum Re den, wann zum Schweigen war. Am Ende der Reise hatte ich recht viel darüber erfahren, wo sie lebte und was sie tat. Es stellte sich heraus, dass wir an einen Ort namens »Haus der Ruhe« unterwegs waren, den sie leitete, dass sie Kathleen hieß, ihr offizieller Titel aber »Hüterin des Platzes« lautete, und dass sie schon als junge Frau dorthin gekommen war. Das Haus der Ruhe schien dazu gedacht, Menschen, die in der einen oder anderen Weise die Orientierung
verloren hatten, zu helfen, und wer dort hinkam, durfte bleiben, solange er es brauchte. Einige Leute waren offenbar jahrelang dort gewesen. Aber natürlich weißt du darüber schon alles, stimmt's? Wie auch immer - obwohl ich von der alten Dame mancherlei erfuhr, achtete ich darauf, von meinem Leben nicht zu viel zu verraten. Ich erzählte ihr immerhin, dass ich eine Zeit lang Kartografie studiert hatte, 294 und sie sagte, auch das halte sie für nützlich. Das brachte mich zu der Frage, welche Art Arbeit sie eigentlich für mich vorgesehen habe. Dazu äußerte sie sich recht vage und meinte, es gebe jede Menge Möglichkeiten, es sei aber sinnvoller, solche Überlegungen erst nach der Ankunft anzustellen. Dann fragte ich sie nach der Signalmaschine, und sie antwortete, bis jetzt hätten sie noch keine, doch einige Leute im Haus der Ruhe würden so ein Gerät für eine gute Anschaffung halten. Kaum fing ich an, Fragen zu stellen, wurde eigentlich alles etwas vage, doch es schien wirklich, als sei das Haus der Ruhe ein interessanter Ort. Also dachte ich mir: »Geh halt mit - du hast ja sonst nichts vor.« Wir fuhren auf einer schnurgeraden, flachen Straße, als ich einen lang gestreckten Graswall erblickte, der quer durch die Landschaft vor uns lief und auf dem eine Reihe kleiner, knorriger Räume wuchs. Die alte Dame hatte ein Buch gelesen, sah nun aber unvermittelt auf und sagte: »Wir sind da. Das ist der Grenzwall. Das Haus der Ruhe hat keine Tore.« Tatsächlich fuhr die Kutsche im Zickzack durch eine Bresche im Wall, und dann sah ich das Haus in der Ferne in einem flachen Talgrund stehen. Dahinter stiegen Hügel auf, und einmal konnte ich kurz einen Berg mit verschneiter Spitze erkennen. Links und rechts von uns lagen Getreidefelder und Wiesen, auf denen Vieh stand. Dann und wann drehten Leute, die dort arbeiteten, sich zu uns um und winkten. Als wir uns dem Haus näherten, fiel mir als Erstes auf, dass es viel größer war als erwartet - riesig, weitläufig, aus gelben Ziegeln, mit grauen Dachschindeln und vielen Schornsteinen, von denen einige rauchten. Als wir näher kamen, gingen die Felder in Rasen und mit Bedacht angelegte Gärten über, und ich sah 295 Leute zu zweit oder zu dritt spazieren. Einige spielten auf einem gepflasterten Platz mit gewaltigen Steinfiguren, und jemand saß an einer Staffelei und malte. Das Haus war fast so groß wie die Akademie, wirkte aber freundlicher, weniger amtlich, mehr wie ein Zuhause. Und jetzt, da ich schon eine Zeit hier bin, fühle ich mich langsam wirklich daheim. Die Kutsche hielt auf dem Kies, und ich hörte eine Glocke läuten. Die alte Dame wurde plötzlich sehr forsch und sagte: »Tja, ich hab viel zu tun und schätze, du magst was zu Mittag essen. Ach, da ist ja meine Enkelin - die kann dir helfen, dich zurechtzufinden.« So wurde ich an eine viel jüngere Frau weitergereicht, die vielleicht fünf, sechs Jahre nach mir geboren worden war. Sie hatte glattes blondes Haar, war ziemlich dünn und trug einen verschossenen alten Trainingsanzug und Turnschuhe. Sie sagte, sie heiße Alice und sei die Sportleiterin. Dann führte sie mich in einen großen Speisesaal, der dem an der Akademie recht ähnlich war. Dort setzten wir uns an einen der langen Tische und aßen in Scheiben geschnittene Fleischpastete. Als ich die Pastete probierte, hatte ich ein überaus merkwürdiges Gefühl in der Brust breitete sich Wärme aus, doch der Magen fühlte sich ganz leer an. Wenn ich nun darüber nachdenke, habe ich den Eindruck, es war eine Mischung aus Geborgenheit und Besorgnis, aber damals hatte ich natürlich keine Möglichkeit, innezuhalten und das Gefühl zu analysieren. Beim Essen stellte Alice mir ein paar Fragen und sagte dann, an diesem Nachmittag gebe es keinen Sportunterricht; sie könne mich also herumführen, wenn ich das wolle. So spazierten wir durch das Haus und die Gärten, und ich sah Leute miteinander reden, 296 spielen oder musizieren, an Skulpturen arbeiten oder auf Wanderungen gehen. Alice versuchte mir zu erklären, worum es sich bei dem Ganzen handelte, doch es fiel wir schwer, alles zu begreifen. Ich denke, sie hat gemerkt, dass ich müde wurde, denn sie besorgte mir ein Zimmer zum Schlafen und ließ mich allein, damit ich mich etwas erholen konnte. Kaum war sie gegangen, kramte ich meine Kette aus dem Bucksack, schlang sie mir um den Oberkörper, legte mich hin und schlief ein. Nach ein paar Tagen suchte ich mir einige gelegentlich anfallende Arbeiten. Ich half ein wenig in der Küche, wie ich es schon an der Akademie getan hatte, und kümmerte mich dann auch ein bisschen um die Malsachen und um das Werkzeug zum Bildhauern. Nach einer Weile rief ich sogar eine Arbeitsgemeinschaft Kreuzworträtsel ins Leben, für die sich immerhin ein paar Leute interessierten. Ich schätze, man kann also sagen, dass ich mich hier gut eingelebt habe. Das Namensschild des Magiers Ein paar Tage (oder Nächte) nach seiner peinlichen Begegnung mit Veronique verbrachte Kevin Considine wieder einige Stunden mit Lee. Diesmal waren die beiden auf eine fast kreisförmige Lichtung mit einer von Gänseblümchen übersäten Wiese gelangt, von der aus sieben schattige Pfade in verschiedene Richtungen zwischen den Bäumen verschwanden. Kevin und Lee lagen auf dem kurzen, federnden Rasen, und auf dem Tuch zwischen ihnen waren die Reste ihres Picknicks ausgebreitet. 297 »Was sind das alles für Orte, Kevin? Ich verstehe das immer noch nicht.« Lee lag mit aufgestützten Ellbogen auf dem Bauch, hatte das Rückgrat im spitzen Winkel hochgebogen und massierte sich mit den Zehen die Schultern. Kevin lag auf dem Rücken und blickte ins Gitterwerk der Zweige über ihnen. »Darüber habe ich viel nachgedacht. Inzwischen glaube ich, dass sie etwas mit meinem Netzwerk zu tun haben.
Ich hab dir ja schon von dem Netzwerk aus Signalmaschinen erzählt, das ich in der wirklichen Welt bauen lasse... ich sollte wohl besser sagen: in meiner anderen Welt...« »In der Welt, in die du gehst, wenn du nicht bei mir bist, Kevin? In der großen Welt mit Tausenden und Abertausenden von Menschen? In der Welt der Frauen und Männer?« »Genau. Und ich baue das Netzwerk, damit alle miteinander reden können, egal, wo sie sind. Wenn ich meine Signalmaschine benutze, ist es, als ginge ich in eine Art geheimen Raum...« »In den schwarzen Raum, in dem du mich gefunden hast, Kevin?« »In den schwarzen Raum, genau. Na ja, die anderen Leute, die das Netzwerk benutzen, haben ihre eigene Signalmaschine, und ich schätze, sie haben alle ihren eigenen Geheimraum - und jeder ist anders als alle anderen ...« »Und diese geheimen Räume besuchen wir?« »Genau. All die Korridore, Gänge und Tunnel, in denen wir uns dauernd verlaufen, sind die Verbindungskanäle zwischen den Räumen. Was wir bisher also erforscht haben...« »...ist das Innenleben deines Signalnetzwerks.« 298 Nachdenklich rollte sich Lee auf den Rücken und hob langsam erst die Beine, dann den Oberkörper, bis sie fast senkrecht stand und ihr Gewicht auf den Schultern lag. Kevin betrachtete sie einen Moment, ehe er fortfuhr. »Die Erforschung des Innenlebens -ja, das ist es. Und jeder geheime Ort, jede Schnittstelle, von der sich die Wege verzweigen, hat etwas vom Charakter des Menschen, dem er gehört. Deshalb unterscheiden sie sich natürlich alle so deutlich voneinander. Es gibt diesen Wald, aber es hat auch ein Schiff und ein Lagerhaus gegeben - und unser Schlafzimmer gibt es natürlich auch.« Ein schiefes Lächeln schlich sich auf Kevins Gesicht. » Und was ist mit dem engen Tunnel, in dem ich zu verblassen begann?« »Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht. Ich glaube, das war ein Teil des Netzwerks, der noch nicht fertig ist und den noch niemand nutzt. Deshalb gibt es dort nichts, nicht einmal genug Luft. Darum konntest du dort auch nicht richtig atmen.« Er beobachtete, wie Lee die Beine langsam spreizte, bis ihre Kopf stehende Gestalt einem schlanken T ähnelte, wobei die Zehen in genau entgegen gesetzte Richtungen wiesen. Sie hielt diese Position kurz, rollte sich dann unvermittelt nach vorn ab und landete direkt vor Kevin kniend im Gras. »Kevin?« Er setzte sich auf und betrachtete sie. Ihr bleiches Gesicht mit den hohen Wangenknochen war jetzt vollkommen ernst. »Lee?« » Was wäre, wenn ich dein Netzwerk erkunden wollte? Ganz allein? Während du in deiner anderen Welt bist?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Kevin grüblerisch. »Würdest du dich denn darin zurechtfinden?« Kaum hatte er 299 das gefragt, fiel beiden die Absurdität der ganzen Idee auf, und sie brachen gleichzeitig in Lachen aus. Plötzlich sprang Lee mit einem wilden Schrei auf ihn zu, und Kevin merkte gerade noch, dass ihrer beider Kleidung verschwunden war. Dann purzelten sie vergnügt ins hohe Gras am Rand der Lichtung. Ein paar Minuten später ging die Unterhaltung weiter. »Wenn hier jemand den Weg nicht findet, Kevin Constanzas...« - Kevin war kurz darüber beunruhigt, dass Lee ihn bei seinem geheim gehaltenen Geburtsnamen genannt hatte - »...dann du! Lässt du mich das Netzwerk also erkunden? Sag Ja, Kevin, bitte! Ich mach auch so weiter, wenn du Ja sagst...« »Schon gut, schon gut.« Kevin wusste, dass die Zeit langsam drängte, und hatte nach seinen Sachen zu suchen begonnen. »Ich schätze, es gibt keinen Grund, warum du das Netzwerk nicht ein wenig erforschen solltest. Aber sei bitte zurück, wenn ich wiederkomme.« »Darf ich wirklich losziehen, Kevin?« »Natürlich darfst du. Wirklich.« Lee stand langsam auf. Kevin merkte, dass sie plötzlich größer und stärker schien als zuvor. »Das wird so toll, Kevin, so toll...« Kaum stand sie vor ihm, begannen ihre Muskeln leicht zu zittern, so als würde sie elektrisch geladen. Ihr Körper schien fast wie eine Lampe zu glühen, und Kevin wurde eines schwachen Summens gewahr, das die Luft um Lee herum erfüllte und dessen Tonhöhe nach und nach anstieg. Lees Augen wurden größer. Ihre gespreizten Finger zitterten. Dann öffneten sich die Lippen ein wenig. »Ich kann nicht länger stillhalten«, murmelte sie. »Kevin...« 300 Und plötzlich war sie mit einem Windstoß in Blitz und Donner verschwunden. »Lee?« Unbeholfen wuchtete Kevin sich auf die Beine. Er hatte keinen Schimmer, wo Lee geblieben und ob sie gerannt oder geflogen war oder sich einfach in Luft aufgelöst hatte. Er konnte noch nicht mal sagen, auf welchem der sieben Wege sie die Lichtung verlassen haben mochte. Nur eins war sicher: Sie war nicht mehr da. Willkürlich entschied er sich für einen der Pfade und ging los. »Lee? Lee, lass mich hier nicht allein.« Der Wald lag jetzt hinter ihm, und er trottete einen schmalen, steinigen Weg zwischen hohen Mauern entlang. Kurz darauf erreichte er einen beflaggten Hof, von dem verschiedene Pfade abzweigten. Er kam gerade
rechtzeitig, um etwas grell aufleuchten und blitzschnell durch sein Gesichtsfeld zischen zu sehen, und folgte dem Pfad, auf dem das Licht verschwunden war. Allmählich wurde der Weg ebener und breiter, und Kevin merkte, dass er nun auch abwärts führte. Bald eilte er in großen Schritten einen Hang hinab. Sekunden später erschreckte ihn ein weiteres Aufblitzen, diesmal direkt hinter ihm. Er fuhr herum und stolperte dabei fast über seine Füße, doch es war zu spät, etwas zu erkennen. Und jetzt tauchten weitere Pfade, Kreuzungen und Abzweigungen auf, und Kevin schien fliehend unter Artilleriesperrfeuer zu liegen oder von einem Feuerwerk überschüttet zu werden; leuchtend helle Gegenstände zischten wie verrückt links und rechts an ihm vorbei, und Böller detonierten blendend und betäubend über und unter ihm, bis er schließlich durch einen verwüsteten Saal taumelte, wo sich ringsum Torbögen und Pfade 301 öffneten und der Krach immer lauter, das Licht immer greller wurde und von allen Seiten auf ihn einstürmte, bis seine Sinne erschöpft waren und er nichts mehr zu fassen vermochte. Dann wurde endlich alles ruhig... ... und er hörte in der Stille Lees Stimme. »Danke, Kevin«, flüsterte sie. »Danke.« Danach war es wirklich still. Am nächsten Tag kam Veronique wie üblich fünfzehn Minuten vor Arbeitsbeginn in die Kanzlei, warf ihre Sachen auf den Schreibtisch und ging wie stets zur Kaffeemaschine, wo sie ihr Morgenritual begann. Von diesem Platz aus konnte sie die Tür zu Mr Considines Büro sehen und stellte erleichtert fest, dass heute kein Licht durch den Türschlitz am Boden fiel. Als aber der Kaffee gerade brodelnd in ihren Becher zu tropfen begann, bemerkte sie ein anderes Licht - einen schwachen Schein, der vom Labor aus durchs Treppenhaus hochdrang. »Was hat der Kerl denn jetzt wieder angestellt«, murmelte sie und hob theatralisch die balkendick nachgezogenen Brauen. Widerwillig ließ sie ihren Kaffee stehen, klemmte sich eine Zigarre zwischen die Zähne und stieg die schmale Treppe hinunter, um Kevins neuester Untat nachzugehen. Im Labor brannten alle Lampen, und Veronique konnte die Gestalt von Mr Considine problemlos erkennen. Er lag mit ausgestreckten Armen und Beinen etwa in der Mitte des Zimmers auf dem Boden - in recht würdeloser Haltung zwar, aber diesmal glücklicherweise wenigstens ordentlich angezogen. Er war tief eingeschlafen und atmete regelmäßig. Die Signalmaschine aber, die er benutzt hatte, war weniger gut weggekommen. 302 Vier schwarz gewordene Bolzen markierten den Ort, an dem die Maschine gestanden hatte. Dazwischen ragte aus einem Loch im Fußboden ein dickes, zerfetztes Elektrokabel, dessen glänzende Kupferenden verdreht und ausgefranst waren, als hätten riesige Hände sie auseinander gerissen. Nach der Spur der Kratzer und Furchen zu urteilen, musste die Maschine aus der Verankerung gebrochen worden sein und sich mindestens zweimal überschlagen haben, ehe sie in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers auf der Seite liegen geblieben war. Nachdem Veronique sich vergewissert hatte, dass Mr Considine erneut nichts Schlimmes zugestoßen war, untersuchte sie die Reste der Signalmaschine. Das Gehäuse fühlte sich heiß an, und beißender Rauch kam in blassen Wölkchen aus den Ritzen der Verschalung. Lose Drähte ragten hier und da hervor. Das Okular, die beiden Griffe und andere vorspringende Teile waren abgebrochen und bildeten auf dem Boden eine Trümmerspur. Alle Instrumente und Messgeräte waren zerschlagen, und hin und wieder fiel ein loses Kleinteil scheppernd zu Boden. Die Rückseite des Gehäuses, die ursprünglich an der Wand gestanden hatte, lag offen vor Veronique, und schnell fiel ihr Blick auf ein rechteckiges Metallschild, das vermutlich mal geglänzt hatte, nun aber zu einem stumpfen Grün verblichen war. Vorsichtig wischte sie den Staub weg und reckte den Kopf zur Seite, um den Text zu entziffern: Empathiemaschine (Prototyp) Konstrukteur: L. PEGASUS 303 Veronique fiel die Kinnlade herunter, und die Zigarre landete unbemerkt auf dem Fußboden. »Pegasus, der alte Zauberknabe!«, murmelte sie ungläubig. »Dann ist das sein Werk! Na, wer hätte das gedacht? Wer hätte das für möglich gehalten?« Sie bemerkte nun das ferne, gedämpfte Plaudern ihrer Kollegen, die oben an ihren Schreibtischen einzutrudeln begannen. Rasch nahm sie eine Hand voll Staub und verteilte ihn auf dem Namensschild, um dessen abgründige Botschaft zu verbergen. Kaum hatte sie das getan, begann Kevin sich zu rühren. »Morgen, Mister C.«, sagte Veronique. »Das wollen wir uns jetzt wohl zur Gewohnheit machen, was? Und Kaffee soll's bestimmt auch wieder sein?« Ein Haarschnitt für die ganze Familie »Um Himmels willen, was war das denn?« Eileen fuhr erschrocken von der Signalmaschine zurück und zog hastig den Kopfhörer ab. Einen Moment später erschien Rustys fragendes Gesicht in der Tür zum Gästezimmer, in dem das Gerät aufgebaut war. »Was ist passiert? Gibt's ein Problem?« Er streckte seiner Frau die Hände entgegen. »Nein, alles in Ordnung. Es war nur ganz kurz... und hat vermutlich nichts zu besagen... ich hatte Verbindung mit Daddy...«
In diesem Moment schrillte die Türglocke. »Wer mag das sein?«, stieß Eileen hervor. »Ach, bestimmt Paul. Ich weiß nicht, warum er unbedingt heute kommen musste. Die Wohnung ist total unaufgeräumt.« 304 »Du wolltest doch, dass wir alle vor unserer Reise die Haare geschnitten kriegen«, erinnerte Rusty sie. »Das stimmt wohl, aber ich bin noch lange nicht mit dem Packen fertig. Und ich glaube kaum, dass du damit überhaupt schon begonnen hast. Am besten, wir lassen ihn mit den Kindern anfangen und packen derweil die Koffer. Nein, mach dir keine Umstände, ich geh schon. Du setzt Teewasser auf; ich schätze, er möchte etwas trinken.« In den Jahren, seitdem Rusty nicht mehr dort wohnte, wo er bei seiner Ankunft in der Hauptstadt eingezogen war, hatte er den Kontakt zu seinen alten Nachbarn allmählich verloren - bis auf den zu Paul Catalano, der noch immer regelmäßig vorbeikam und sich der verschiedenen Frisuren der Familie annahm. Rusty füllte den Kessel, warf dabei einen kurzen Blick durch die Küchentür und sah, dass Paul etwas kahler und beleibter war als früher, aber noch immer so gut gelaunt wie stets. »Hast du nie überlegt, sie wieder wachsen zu lassen?«, fragte Paul, als Eileen ihn ins Wohnzimmer komplimentierte. »Sie waren doch fantastisch, als sie etwas wilder aussahen.« »Ich hab keine Zeit mehr, mich mit meinen Haaren aufzuhalten«, erwiderte Eileen. »So ist es einfach viel praktischer. Gehen wir hier rein?« »Hallo Paul.« Rusty lächelte übers ganze Gesicht, als er ihm die Hand schüttelte. »Wie steht's an meinem alten Wohnsitz?« »Wie eh und je«, erwiderte Paul. »Die Mieter kommen und gehen, und der alte Onkel Joe hockt noch immer im Keller zwischen seinen Möbeln. Aber das ewige Rauf- und Runterklettern auf der Strickleiter wird nicht 305 leichter, das muss ich leider sagen. Ihr habt es wirklich gut, hier so schön zu wohnen.« »So toll, wie es aussieht, ist es auch nicht«, meinte Eileen. »Die Hausverwaltung schafft nicht mal alle dringenden Reparaturen, der Garten ist in furchtbarem Zustand, und ich glaube kaum, dass der Aufzug je wieder funktioniert.« »Aber ihr habt diese sagenhafte Aussicht«, widersprach Paul. »Sieh dir den alten Knaben an - schleicht rüber, um mal wieder einen Blick zu riskieren!« Tatsächlich war Rusty ans Fenster gegangen, um Ashleigh und Max zu rufen, die vier Stockwerke tiefer auf dem Rasen vor dem Haus spielten. Als er runtersah, drangen ihm ihre grellen, aufgeregten Stimmen entgegen. Sie spielten Bockspringen und setzten abwechselnd über die gebeugte Gestalt des anderen. Ashleigh war größer, schlanker und anmutiger als ihr Bruder. Sie hatte die Sommersprossen ihres Vaters geerbt, und ihr langes, dunkelrotes Haar wehte ihr beim Laufen, Hüpfen und Radschlagen wie eine Fahne vom Kopf. Max hatte - wie seine Mutter - kurz geschnittenes Haar, dessen Braunton dem von Eileen glich. Er war stämmiger als seine Schwester und weniger flink zu Fuß und schien damit das ideale Sprungbrett für Ashleighs Turnvorführungen, und seine kräftigen Beine waren wie geschaffen, ihr festen Absprung zu ermöglichen. Vom Anblick der intuitiven Teamarbeit der Kinder entzückt, ließ Rusty sie noch eine Runde auf dem Rasen drehen, ehe er rief: »Ash! Maxie! Paul ist da! Wer will als Erster?« »ICH!«, riefen sie zugleich, hörten auf zu spielen und rannten seitlich ums Gebäude herum zum Eingang. Beide liebten Paul über alles. Der Friseur hatte zwar keine 306 Kinder, traf bei den zweien aber anscheinend immer den richtigen Ton. »Mit deinem herrlichen vollen Haar hab ich immer ewig zu tun, Ashleigh - also fang ich besser mit dir an«, sagte er, als die beiden kurz darauf keuchend in der Wohnung standen. »Bei dir dagegen brauche ich nur zwei Minuten, stimmt's, Maxie? Üb doch einfach etwas Flöte, während du wartest. Na, junge Dame, was soll ich diesmal mit deinen Spitzen machen?« »Ich weiß nicht.« Ashleigh betrachtete sich ernst im Spiegel. »Innenrolle oder Außenrolle? Ich möchte wie Charlotte aussehen - die Frau aus Daddys Büro.« »Allmählich beschäftigt sie sich ganz schön viel mit ihrem Aussehen«, sagte Eileen zu Rusty, als sie im Schlafzimmer die Feriensachen zu packen begannen. »Meinst du, wir sollen das unterstützen? Schließlich ist sie noch ein kleines Mädchen.« »Ach, das macht doch nichts«, erwiderte Rusty. »Außerdem macht Paul so gern viel Wirbel um sie. Kümmere dich gar nicht um die beiden. Was war denn da vorhin mit der Signalmaschine?« »Tja, das war etwas seltsam.« Eileen hörte auf zu packen, setzte sich auf die Bettkante und redete erst weiter, als Rusty sich zu ihr gesellt hatte. »Wie gesagt, ich hatte Verbindung mit Daddy...« »Und wie geht's ihm?« »Er erwartet uns morgen, mich und Maxie jedenfalls - so weit ist alles in Ordnung. Bist du sicher, du kommst mit Ashleigh klar?« Dieses Jahr sollte Ashleigh erstmals mit ihrem Vater Urlaub machen, während Max seine Mutter begleitete. In den letzten Jahren hatten die Browns und die Blackwoods einige Male die Ferien zusammen verbracht, und Ashleigh war - anders als ihr 307
Bruder - sofort vom provisorischen Leben- ihrer fahrenden Freunde begeistert gewesen. Vater und Tochter sollten zwei Wochen mit den Blackwoods unterwegs sein, und Ashleigh sprach seit Wochen von kaum etwas anderem. »Sie freut sich schon mächtig darauf«, versicherte Rusty seiner Frau. »Es wird bestimmt sehr schön. Und sie ist so gern mit Liam und Megan zusammen - die drei verstehen sich prima. Aber was war denn nun mit der Signalmaschine?« Eileen sah eine Weile nachdenklich auf den blumengemusterten Bettbezug, und Rusty wartete auf ihre Antwort. Das Flötenspiel von Max klang gedämpft zu ihnen herüber. »Es ist traurig, mit Daddy Verbindung zu haben«, begann Eileen schließlich. »Zwar ist es fast, als wäre ich mit ihm im selben Raum, aber irgendwie scheint er immer schwerer erreichbar zu sein. Als läge ein Schleier zwischen mir und ihm, eine Art verstaubte Tüllgardine - und jedes Mal, wenn ich es wieder versuche, scheinen noch mehr Gardinen im Weg zu sein. Er ist noch da, er lebt hinter all diesen Schichten, und irgendwie ist er genau wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war und er mich immer auf sein Knie gesetzt hat - aber jetzt scheint er so weit entfernt zu sein.« Sie fegte unwillkürlich ein Staubkorn von der Frisierkommode und fuhr dann fort: »Und manchmal spüre ich seinen Schmerz. Normalerweise versucht er ihn vor mir zu verbergen, aber manchmal vergisst er das - in letzter Zeit übrigens öfter und öfter. Ach Rusty, es ist schlimm, ihn auf diese Weise verschwinden zu sehen. Ich wünschte, wir könnten für ihn da sein.« Eine dunkle Wolke schien über ihr Gesicht zu ziehen. 308 Rusty hielt Eileens Hand so lange, wie er es ihr in dieser Situation schuldig zu sein glaubte. »Es tut mir so Leid«, sagte er schließlich. »Das muss furchtbar sein. Aber morgen um diese Zeit bist du doch schon bei ihm. Und weißt du, ich denke noch immer, für mich ist es besser, ihm aus dem Weg zu gehen.« Diesen Worten folgte ein kurzes Schweigen. Beide merkten, dass Max nicht mehr Flöte spielte. Rusty wechselte das Thema. »Aber du hast mir noch immer nicht erzählt, was mit der Maschine los war.« »Ach ja.« Sie sah stirnrunzelnd zu ihm hoch. »Als ich gerade Schluss machen wollte... es schien, als sei einen Moment lang jemand anders da gewesen... als wäre jemand irgendwie... durchs Bild gesaust... Das hat mich sehr erschreckt.« »Eine technische Störung vielleicht? Oder sogar ein Kobold?« Im Büro hatte Rusty im Lauf der Zeit den Jargon rund um das Signalnetzwerk aufgeschnappt. »Nein, das war keine Störung. Es war wirklich, wie ich gesagt habe: als wäre da noch jemand anders.« Eileen runzelte erneut die Stirn. »Es dauerte nur einen Moment. Ich bin nicht mal sicher, ob es eine Frau oder ein Mann gewesen ist. Aber es war, als hätten wir eine Art Unterhaltung gehabt. Es ging zwar sehr schnell, aber ich bin trotzdem sicher, dass wir eine Art... Austausch hatten.« Ihre Miene wirkte einen Moment verblüfft. »Einen Austausch? Über etwas Spezielles? Die Leute sehen tatsächlich manchmal kleine Geschöpfe, weißt du Kobolde, wie gesagt. Niemand scheint zu wissen, worum es sich dabei eigentlich handelt.« »Es klingt wahrscheinlich blöd«, sagte Eileen langsam, »aber ich glaube, es ging ausgerechnet um die Arbeit im Haushalt.« 309 »Um Hausarbeit?« Rusty lachte. »Steckt die jetzt sogar schon das Signalnetzwerk an?« In diesem Moment rief Paul aus dem Nebenzimmer nach ihnen. »Mit den Kindern bin ich fertig. Ashleigh sieht natürlich bezaubernd aus, aber ich fürchte, Maxie ist ein wenig gerupft worden. Wie auch immer, wer ist der Nächste?« »Geh du.« Eileen wandte sich wieder dem Schrankkoffer zu. »Ich muss erst etwas Ordnung in die Socken bringen.« Bald waren die Kinder wieder zum Spielen draußen, und Rusty war mit Paul allein. »Erinnerst du dich noch an das Mädchen, das neben dir gewohnt hat?«, murmelte Paul beim Haarschneiden. »Die mit den seltsamen Turnübungen?« »Alice?« Plötzlich schlug Rusty das Herz bis zum Hals. »Genau die. He, halt still, du bist ja schlimmer als Maxie! Ja, Alice. Die hat neulich mal vorbeigeschaut. Ist zufällig in der Gegend gewesen, nehme ich an. Sie hat gefragt, wie es dir geht, und erzählt, dass sie woanders Arbeit bekommen hat - als Tanzlehrerin, glaube ich. Das war schon eine seltsame Kleine.« »Hat sie sonst noch was erzählt?« »Ich glaub nicht. Hoppla, da sind ja ein paar graue Haare! Die solltest du noch nicht haben - du bist doch noch ein Junge.« »Ich bin dreißig«, sagte Rusty mit leicht bestürzter Miene. Die Erwähnung von Alice hatte ihn durcheinander gebracht. Seit langem in der Tretmühle des Familienlebens gefangen, versuchte er, nicht zu viel an die Frauen 310 zu denken, die er früher gekannt hatte. Alice, die Inselbewohnerin, war die letzte gewesen... Und obwohl er mit Eileen eigentlich nicht unglücklich war - ihr Zusammenleben war durchaus angenehm -, konnte er es doch nicht lassen, mitunter darüber nachzudenken, wie die Dinge hätten sein können. Alice tauchte manchmal noch immer in seinen Träumen auf, doch inzwischen - das war ihm klar - träumte er häufiger von Laurel. Laurel die
Fahrende, Laurel mit ihrem seltsamen Zauber, ihrer ungestümen Art und ihrem unvorhersehbaren Kommen und Gehen. Er fragte sich, was aus ihr geworden sein mochte und wie sein Leben verlaufen wäre, wenn die Dinge sich anders entwickelt hätten ... Doch in diesem Moment wurde sein Gedankengang durch das Auftauchen Eileens unterbrochen. »Möchtet ihr noch Tee?«, fragte sie. »Und lasst mich den Boden fegen. Hier sieht's ja aus wie im Schweinestall.« »Warum wartest du nicht, bis wir fertig sind?«, fragte Rusty zweifelnd. »So was erledigt man am besten sofort«, erklärte Eileen und kramte im Besenschrank nach Handfeger und Müllschaufel. »Leah hat mir gesagt, ich darf keinen Müll herumliegen lassen.« »Leah?«, fragte Rusty. »Wer ist denn Leah?« Eileen hielt inne und schien verdutzt. »Keine Ahnung. Der Name ist mir einfach in den Sinn gekommen. Aber egal - das geht ganz schnell.« Auf allen vieren fegte sie die Haare zusammen. »Na, sieht das nicht besser aus?« Sie räumte Müllschaufel und Handfeger in den Schrank zurück. »Ich mach jetzt Tee. Den Boden kann ich ja gleich noch mal fegen.« 311 »Und wie gefällt dir das Haus der Ruhe?« Nachdem ich mich hier zurechtgefunden hatte, merkte ich, dass niemand sich besonders darum kümmerte, was ich tat. Also beschloss ich, mich einfach ins Leben hier einzufügen und den Dingen eine Zeit lang ihren Lauf zu lassen. Nach einer Weile stellte ich fest, dass ich meine Geschichte erzählen wollte, und kaum hatte ich das erkannt, fand sich bald jemand, mit dem ich reden konnte - und das bist natürlich du, Nina. Ich hatte nie die Möglichkeit, meine Geschichte zu erzählen. Ich glaubte vermutlich nicht, dass sich jemand dafür interessieren könnte, aber irgendwie nimmst du tatsächlich Anteil an meinem Schicksal, obwohl ich eigentlich nie etwas über dich erfahren habe - wie du hierher gekommen oder warum du geblieben bist und so. Aber mir gefallen unsere kleinen Nachmittagssitzungen sehr. Ich schätze, du bist, was man eine gute Zuhörerin nennt. Ach ja, ich wollte dir doch von dem anderen Menschen erzählen, den ich hier kennen gelernt habe. Ich glaube, ich habe die Pastete erwähnt, die ich am ersten Tag gegessen habe - Hammelfleisch mit Pastinaken. Nach einer Weile merkte der Koch, dass ich jedes Mal Nachschlag haben wollte, wenn dieses Gericht auf der Karte stand, und es stellte sich heraus, dass die Pasteten gar nicht aus der Küche kamen, sondern vom Schmied gebacken wurden - offenbar gab es über seiner Esse einen Ofen zum Brotbacken. Bei Alices Führung hatten wir die Schmiede wohl ausgelassen. Also machte ich mich eines Tages auf die Suche danach. Es stellte sich heraus, dass sie im letzten 312 Winkel des Geländes versteckt im Wald lag. Es war ein recht verfallener Ziegelbau mit hohem Schornstein und Wellblechdach. Und der Geruch nach Gebackenem lag in der Luft. Als ich mich näherte, spürte ich eine gewisse Spannung aufkommen und fühlte mich etwas unsicher auf den Beinen. Die Tür stand offen, und das Erste, was ich beim Eintreten sah, war ein Stück Kette an einem Eisenhaken neben der Tür. Die Kette fiel mir ins Auge, weil sie ungewöhnlich war: Sie hatte seltsam geformte Glieder, rechtwinklig und an den Ecken facettiert - genau wie bei meiner Kette. Da klopfte mir das Herz bis zum Hals. Nur mit Mühe konnte ich den Blick von der Kette losreißen, aber schließlich zwang ich mich, den Best der Werkstatt zu inspizieren. Natürlich gab es Amboss und Esse, einen riesigen Blasebalg und verschiedene Werkzeuge, die von den Deckenbalken hingen. Und dann sah ich den Schmied. Er stand mit dem Bücken zu mir und fummelte an etwas in der Esse herum, doch er musste mich kommen hören haben, denn er fragte: »Magst du eine Pastete? Ein Schwung ist gleich fertig.« Diese Stimme kannte ich natürlich, diese gesprungene Stimme, die an einen zerbrochenen Krug denken ließ. Ehe der Schmied sich also umdrehte, wusste ich, dass er mein Vater war. Ich hatte ihn seit über zwanzig fahren nicht gesehen, doch er sah praktisch aus wie früher. Im Sekundenbruchteil des Erkennens aber brachte ich es fertig, mir nichts anmerken zu lassen, denn ich hatte beschlossen, mich ihm nicht zu erkennen zu geben, zumindest nicht gleich. Und natürlich erkannte er mich nicht, weil ich ja noch ein kleiner Junge gewesen war, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten. 313 Als ich am Abend ins Bett ging, konnte ich nicht einschlafen - nicht einmal meine Kette konnte mir dabei helfen. Und als ich auf meiner schmalen Pritsche lag, begann der ganze alte Groll wieder in mir aufzusteigen, und ich dachte an all das, was mein Vater mir angetan hatte, und daran, was aus meinem Leben hätte werden können, wenn ich einen besseren Anfang gehabt hätte, und dann dachte ich an Michael Brown und wie erfolgreich er geworden war. Da wusste ich, dass ich die Dinge nicht einfach auf sich beruhen lassen konnte, sondern für ein wenig Ausgleich würde sorgen müssen. Viel mehr hab ich dir nicht mehr zu erzählen, Nina- wir sind bald fertig, fetzt ist es Zeit, dir zu berichten, was ich tun musste, und dann teilst du mein Geheimnis. Es hat mir gut getan, mit dir zu reden. Ich hoffe, es wird auch für dich die Sache wert gewesen sein. FÜNFTES KAPITEL Im Haus der Ruhe
Königlicher Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger, Ausgabe 112 (im zehnten Jahr der Regentschaft von König Matthew) Leitartikel von Miss Garamond Seid gegrüßt, Bürger! Jüngere Leser mögen sich kaum noch der Zeit entsinnen, da an den Südgrenzen des Königreichs keine Invasionsgefahr bestand. Nicht erst seit der Regentschaft von König Matthew, sondern schon zur Zeit seines Vorgängers hat keine der beiden Kriegsparteien die Oberhand gewinnen können. Nach reiflicher Überlegung hat der König darum - in Abstimmung mit Hochmeister Fang - beschlossen, dass es so nicht bleiben darf und die Angelegenheit direkt anzugehen ist. Also hat er sich mit einer kleinen Beratergruppe in die Grenzregion begeben, um sich selbst von der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte zu überzeugen. Auch hat er erklärt, er werde das Kommando über den Feldzug erforderlichenfalls selbst übernehmen. Dem König war es daher zum ersten Mal seit fast zehn Jahren unmöglich, die Chefredakteurin des Anzeigers 315 zur monatlichen Privataudienz zu empfangen. Stets bestrebt, den gewohnten Austausch zwischen Palast und Volk zu gewährleisten, hielt er es indessen gnädigerweise für angebracht, den Leiter der Innenbehörde, Hochmeister Fang, an seiner Stelle Audienz halten zu lassen. Vor kurzem genoss die Verfasserin daher das Privileg, im Beisein eines Sonderkommandos der Königlichen Wolfsjungen-Palastwache vom Hochmeister in seinem Büro neben dem Thronsaal empfangen zu werden, fand den Austausch mit ihm überaus aufschlussreich und hat mit besonderem Interesse seine Meinung zu einigen Angelegenheiten erfahren, die für die Bürgerschaft bestimmt von großer Bedeutung sind. Erstens hat der Hochmeister versichert, dass Recht und Ordnung in unserer Stadt zwar effektiver denn je durchgesetzt werden, Sicherheit und Frieden aber zwangsläufig ihren Preis haben. Die Bürger sollten sich die vielen weit reichenden und kostspieligen Reformen vor Augen halten, die der Hochmeister hat durchführen müssen, um den gegenwärtig so glücklichen Zustand zu erreichen. So sind - um nur ein Beispiel zu nennen — nach jüngsten Berichten über plündernde Banden junger Frauen, die Unschuldige angreifen, jetzt Sonderpatrouillen in die Westvorstadt und ins Nordviertel entsandt worden. Der König hat sich sehr bemüht, solche Zusatzleistungen - wenn irgend vertretbar - aus vorhandenen Geldern zu finanzieren. Hochmeister Fang möchte aber deutlich machen, dass es so nicht ewig weitergehen kann und darum Maßnahmen bevorstehen, um die für die Bürger erbrachten Leistungen auf eine solidere finanzielle Basis zu stellen. Die Leser sind sicher auch der Meinung, dass eine bescheidene Erhöhung der haupt316 städtischen Steuern nur ein kleines Opfer bedeutet, und der Hochmeister ist überzeugt, dass alle Bürger ihren Beitrag stolz, dankbar und prompt leisten werden. Als Beispiel der neuen Wohltaten, die auf die Bürgerschaft zukommen, hat der Hochmeister den Straf- und Besserungsdienst der Königlichen Wolfsjungen genannt. Der Hochmeister ist entschlossen, jeden Übeltäter strengst möglich zu bestrafen, egal, ob es um Kapitalverbrechen oder Bagatelldelikte geht, um kleinste Vergehen (wie Verkehrsbehinderung oder das Wegwerfen von Abfällen in Straßen oder Parkanlagen) oder skandalöseste Fälle von Korruption und Betrug - wie beispielsweise im berüchtigten Fall von Mr Slater, dem selbst ernannten Leiter der Großen Kreuzung, dessen himmelschreiende Untaten und nur allzu verdienter Untergang in den Leitartikeln des Anzeigers mehrfach ausführlich zur Sprache gekommen sind. Zweitens ist der Hochmeister sehr erfreut über die prächtigen Fortschritte, die Entwicklung und Bau des Königlichen Signalnetzwerks unter Leitung von Mr Considine gemacht haben. Für jede Abteilung der Königlichen Wolfsjungen wurden modernste Signalmaschinen angeschafft, die sich, was die rasche Übermittlung von Informationen anlangt, als äußerst effizient erwiesen haben - und zwar im Hinblick auf Pläne und Aktivitäten von Übeltätern, hinsichtlich Verkehrsbehinderungen und Unfällen auf den Straßen und Flüssen des Königreichs und sogar im Hinblick auf die Verbreitung von Nachrichten über die Ereignisse vom Tage (was die Verfasserin aus eigensüchtigen Gründen zugegebenermaßen mit einer gewissen Sorge erfüllt). Das Signalnetzwerk umfasst inzwischen jede einigermaßen wichtige Behörde und Einrichtung der Hauptstadt und brei317 tet sich zügig auf die größeren Städte in Provinzen und Außenposten aus. Und in wenigen Jahren soll man es auch in den meisten Kleinstädten und Marktflecken nutzen können. Es ist sehr erfreulich, dass in jüngster Zeit nicht mehr nur Behörden und Körperschaften das Netzwerk nutzen, sondern auch die Zahl der Privatleute, die von diesem unschätzbaren Dienst Gebrauch machen, erheblich gestiegen ist. Tatsächlich sind bereits viele Bekannte der Verfasserin stolze Besitzer der Minisignalmaschine, die eigens für Privathaushalte entwickelt wurde und den bequemen täglichen Kontakt mit Verwandten und Bekannten ermöglicht - egal, wie weit entfernt sie leben. Alle Nutzer haben sich rundum zufrieden über die vielen Vorzüge geäußert, die sie nun genießen können. In Verbindung mit der zunehmenden privaten Nutzung hat die Verfasserin amüsiert von einigen Fällen Kenntnis erhalten, in denen Besitzer von Signalmaschinen überraschenden Kontakt mit jenen unbekannten Geschöpfen gehabt haben, die als »Kobolde« populär geworden sind. Dazu hat Mr Considine, der Königliche Oberingenieur, Folgendes bekannt zu geben:
Kontakte mit »Kobolden« sind bisher meist von kürzester Dauer gewesen. Obwohl diese Geschöpfe normalerweise ein neckisches oder lustiges Wesen an den Tag zu legen scheinen, sollten alle überraschenden Kontakte mit gewisser Vorsicht behandelt und jedes bedrohliche oder unheimliche Vorkommnis der Königlichen Signalabteilung zur Untersuchung gemeldet werden. Die Bürger dürfen aber sicher sein, dass die überwältigende Mehrheit dieser »Kobolde« von Natur aus friedlich und 318 verspielt ist und ihre Gesellschaft viel ungefährliches Vergnügen bietet. Das bestätigt die Autorin gern aus persönlicher Erfahrung! Drittens und abschließend legt Hochmeister Fang Wert auf die Feststellung, dass die Schwierigkeiten, denen die Reisenden an der Großen Kreuzung so lange ausgesetzt waren, bald der Vergangenheit angehören, weil bei den Königlichen Wolfsjungen demnächst eine eigene Verkehrsabteilung gebildet wird. Dieser neue Dienst soll nicht nur die Große Kreuzung beaufsichtigen, sondern auch alle Kutscher und Chauffeure kontrollieren, die dort ihr Geschäft betreiben und demnächst abgestimmt und reibungslos zu agieren haben. Der Hochmeister ist sicher, dass diese Neuerungen die Reisenden schneller und effizienter vorankommen lassen. (Wäre der Verfasserin eine laxe Zwischenbemerkung gestattet, würde sie wohl einwerfen, diese Aussage komme ihr vage bekannt vor.) Abschließend hat Hochmeister Fang daran erinnert, dass König Matthew von der Südgrenze so rechtzeitig zurückerwartet wird, dass er seine nächste monatliche Privataudienz in der üblichen Weise abhalten dürfte. Wir schließen uns dem Wunsch des Hochmeisters an, der König möge den Truppen einen erfolgreichen und fruchtbaren Besuch abstatten und rasch und sicher in die Hauptstadt zurückkehren. (Sollte sich seine Rückkehr wider Erwarten verzögern, wird die Audienz natürlich weiter unter Leitung von Hochmeister Fang stattfinden.) Ganz zum Schluss wie üblich etwas Persönliches: Die Verfasserin hatte jüngst das Vergnügen, einen Abend 319 mit einem alten Kollegen zu verbringen, mit Mr Michael Brown. Nach seinem Ausscheiden beim Königlichen Anzeiger ist er in den letzten Jahren als Besitzer des Michael Brown Verlags sehr bekannt geworden, dessen Stadtpläne in allen Bücherregalen rasch zu einem vertrauten Anblick geworden sind. Die Verfasserin berichtet nur zu gern, dass es Michael und seiner jungen Familie ausgezeichnet geht. Sicher werden auch die Leser ihnen wünschen, sie mögen weiterhin gesund bleiben und in Wohlstand leben. Auf Wiedersehen, liebe Mitbürger. Und lang lebe König Matthew! Brief der Hüterin des Platzes im Haus der Ruhe, gerichtet an den Rat der Weisen Liebe Schwestern und Brüder, wieder einmal ist die Zeit der Balladensänger gekommen. Vor fünf Tagen haben sie ihren jährlichen Besuch begonnen, und ihre Anwesenheit dient mir als probate Erinnerung, dass mein Bericht an euch - wie stets überfällig ist. Im Laufe der letzten zwölf Monate ist im Haus der Ruhe viel passiert, und wenn ihr zu gegebener Zeit am Ende dieses Berichts angelangt seid, werdet ihr vielleicht verstehen, warum es mein letzter Bericht sein soll. Viele Jahre habe ich das Haus und die Anlagen ringsum gehütet, doch nichts ist für die Ewigkeit, Schwestern und Brüder, und ich glaube, nun ist die Zeit gekommen, Platz zu machen und die Leitung in jüngere, 320 frischere Hände zu legen. Die Welt um uns herum verändert sich in Schwindel erregendem Tempo, und ich fühle mich allmählich alt und schwach. Und wenn ich euch die furchtbaren Ereignisse erzählt habe, die hier kürzlich stattgefunden haben, werdet ihr mich vielleicht verstehen. Aber lasst mich am Anfang beginnen. Vor zwölf Monaten, kurz nachdem die Balladensänger sich schließlich auf den Weg nach Norden gemacht und wie stets meinen Jahresbericht mitgenommen hatten, fielen mir gewisse Anzeichen dafür auf, dass jenseits unserer Wälle längst nicht alles in Ordnung ist. Zunächst einmal ist die Zahl derer, die unser Haus besuchen, nach vielen Jahren gleichmäßigen Tröpfelns in letzter Zeit ständig gestiegen. Wie ihr wisst, ist es seit langem unser Grundprinzip, keinen Besucher abzuweisen. Und niemand, der bei uns lebt, soll zum Gehen aufgefordert werden, wenn er oder sie noch nicht bereit ist, der Welt jenseits unseres Geländes zu begegnen. Einige unserer treuesten altgedienten Helfer - wie Nina die Zuhörerin - sind schon fast so lange hier, wie ich mich erinnern kann, und Geoffrey der Schmied ist sogar eher gekommen als ich. Das Leben in unserem Haus ist durch diese Menschen sehr bereichert worden, und manchmal kann ich kaum glauben, dass ich mir wünsche, von ihnen zu scheiden. Doch wir können unseren Gästen kaum mehr ausreichende Schlafstellen bieten, und unsere Bauernhöfe liefern kaum noch genug Essen für alle. Ich frage mich inzwischen, Schwestern und Brüder, ob gewisse Ereignisse in der Welt dort draußen nicht eine Erklärung für die zunehmende Zahl unserer Gäste nahe legen. Vielleicht geschieht etwas unter den Ver321 wundeten in der Stadt, vielleicht läuft da draußen eine unheilvolle Kraft frei herum, die die Menschen in immer größerer Zahl den Schutz unseres Hauses suchen lässt. Wie ihr wisst, habe ich die Angelegenheiten des Königreichs und der Hauptstadt stets ziemlich distanziert beobachtet, da ich nur selten in die Stadt komme und mein Wissen um die Neuigkeiten des Tages — vorsichtig gesagt - bruchstückhaft ist. Manchmal aber frage ich mich, ob die unaufhaltsame Zunahme unserer häuslichen Schwierigkeiten nicht mit den rücksichtslosen Reformen von König Matt und Hochmeister Fang zusammenhängt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Ertrag unserer Bauernhöfe sich in den letzten Jahren ständig verschlechtert
hat. Ich spreche hier nicht von einer mageren Ernte, die die fetten Jahre dann und wann unterbrechen mag - unser Ertragsverlust nimmt von Ernte zu Ernte gleichmäßig und unvermindert zu. Die Bauern runzeln die Stirn, wissen sich das Geschehen aber nicht zu erklären, und ihre Mütter und Großmütter können sich nicht erinnern, eine solche Entwicklung je erlebt zu haben. Aber so aufreibend diese Probleme auch sein mögen, sie sind doch von eher schlichter Natur. Nein, wenn es nur darum ginge, mehr Gäste aufzunehmen und dabei mit weniger Lebensmitteln auszukommen, wäre meine Sorge nicht so groß, wie sie ist. Was mich viel mehr beunruhigt, ist das Gefühl, dass etwas in der Natur selbst geschieht, ein Nachlassen des Lichts, eine erbarmungslose Drehung gegen den Uhrzeigersinn - als ob das große Wesen selbst an einer namenlosen Krankheit litte. In diesem Frühling beispielsweise war ich erstaunt, dass Möwenschwärme den Pflügen auf unseren Feldern 322 folgten. Ihr und ich, Schwestern und Brüder, wir sind auf den Inseln aufgewachsen, wo Möwenschreie zum Alltag gehören - hier aber, vier ermüdende Tagesreisen vom Meer entfernt, sind Möwen ein wirklich ungewöhnlicher Anblick. Ich frage mich, warum sie so weit von ihrem üblichen Weg abgekommen sind. Im Haus der Ruhe haben wir oft mit Menschen zu tun, die ihren Orientierungssinn verloren haben, aber dass dies nun auch Vögeln passiert, ist wirklich eine neue Erfahrung! Man kann sich schwer dem Gefühl entziehen, ein kleiner, aber entscheidender Bestandteil im Mechanismus der Natur sei von seinem Platz entfernt worden. Und zur Sommersonnenwende hat sich ein weiterer beunruhigender Vorfall ereignet. Am Abend der kürzesten Nacht des Jahres habe ich nach alter Gewohnheit einen langen Spaziergang auf dem Wall gemacht, der das Gelände um das Haus der Ruhe umgibt. Dabei hat mich - wie schon mehrfach - meine Enkelin Alice begleitet, deren aufmerksame Gesellschaft ich sehr schätze. Wir folgten dem schmalen Pfad, der sich auf dem Wall entlangwindet, einem Pfad, der immer wieder durch knorrigen Schlehdorn führt, den eine meiner Vorgängerinnen dort in langen Reihen pflanzen ließ. Diesmal war es Alice, die merkte, dass etwas nicht stimmt. Wir hatten vielleicht ein Viertel des Weges geschafft, als sie mich mit einer leichten Berührung am Ellbogen zum Anhalten brachte. »Oma«, fragte sie, »ist dir am Schlehdorn nichts Ungewöhnliches aufgefallen?« »Eigentlich nicht«, antwortete ich. Alice nähert sich den Dingen oft aus einem ganz eigenen Blickwinkel. Deshalb habe ich keine Fragen gestellt, sondern geduldig gewartet, was sie mir erzählen würde. 323 »Kommt der Wind hier immer aus derselben Richtung?« »Aus Nordost, glaube ich«, erwiderte ich und wies ihr recht unsicher die Richtung. »Aus Nordost, ja.« Sie nickte langsam. »Und der Wind geht durch den Schlehdorn, und der Schlehdorn beugt sich unter seiner Wucht?« Mit plötzlicher Angst begann ich zu begreifen. Bei uns kommt der Wind meist aus einer Richtung und beugt Bäume und Büsche entsprechend. Von früh aufwachsen sie krumm und weisen recht bald alle nach Südwesten. Nun sah ich mir den Schlehdorn genauer an und merkte, dass etwas nicht stimmte. »Der Schlehdorn zeigt mal hierhin, mal dorthin«, sagte Alice. »Was mag das zu bedeuten haben, Oma?« Natürlich wusste ich darauf keine Antwort. Es war ein weiteres Rätsel, das mein ohnehin großes Unbehagen noch anwachsen ließ. Obwohl Alice nichts weiter sagte, war mir klar, dass sie meine Unruhe spürte. Den Rest des Spaziergangs nahm sie mich am Arm, und ihre Sorge steigerte meine Beklommenheit noch. Aber vielleicht, Schwestern und Brüder, haltet ihr diese Entwicklungen gar nicht für besonders bedeutend. Ich finde es schwierig, irgend plausibel zu erklären, wie die Dinge zusammenwirken mögen, um ein solches Unbehagen in mir auszulösen. Isoliert betrachtet, stellt mich keine der Entwicklungen vor Probleme, die ich nicht bewältigen könnte. Ich kann nur sagen, dass ihre Verknüpfung eine beängstigende, in schwachen, trüben Farben changierende Atmosphäre geschaffen hat, in der einige sehr beunruhigende Ereignisse stattgefunden haben, die in den schrecklichen Vorfällen der letzten Woche gipfelten. Darüber werde ich euch jetzt berichten. 324 Schwestern und Brüder, seit langem führe ich in meinen Briefen jede wirklich seltsame Gestalt auf, die im Berichtszeitraum über die Schwelle dieses Hauses getreten ist. Deshalb muss ich nun ein wenig von einem jungen Mann erzählen, den ich bei einem meiner gelegentlichen Besuche in der Hauptstadt kennen gelernt habe. Ich bereue es tief, dass ausgerechnet ich diesen Menschen zu uns eingeladen habe und dass er infolge meiner Nachlässigkeit die Schreckenstaten hat begehen können, die hier vorgefallen sind. Aus euch zweifellos bekannten Gründen verbieten mir die Regeln dieses Hauses, seinen Namen zu nennen. Doch ich habe schon gesagt, dass ich ihn in der Stadt getroffen habe, und zwar bei meinem üblichen Besuch im Hauptstädtischen Zentrum für Wiedereingliederung, wo der junge Mann darauf wartete, aus den Klauen des Besserungssystems entlassen zu werden. Als ich ihn in seinem Käfig beobachtete, ist mir etwas aufgefallen, und ich habe lange dagestanden und versucht, herauszubekommen, was er eigentlich tat. Als er mal so, mal anders durch den Käfig zog, merkte ich, dass er feste Bewegungsabläufe abspulte - als habe er die in seinem Gefängnis installierten Hindernisse im Geiste zu verschiedenen Parcours verbunden und arbeite sich nun an ihnen ab. Besonders angetan war ich von seinem ausgeprägten Raum- und Richtungsgefühl. So kam ich auf die Idee, er könne unter entsprechender Anleitung vielleicht eines Tages ein nützliches Mitglied unserer Gemeinschaft werden. Also lud ich ihn ein, mich in meiner Kutsche ins Haus der Ruhe zu begleiten.
Vielleicht hätte ich früher misstrauisch werden sollen, denn auf unserer viertägigen Reise schwieg er fast immer, hörte lieber zu, als dass er auch nur ein Wort 325 sagte, und verbrachte viel Zeit mit der Betrachtung einer Sammlung von Landkarten und Schaubildern sowie mit der Musterung anderer Gegenstände, die er im Rucksack hatte. Damals vermutete ich, die plötzliche und unerwartete Entlassung aus der Haft habe ihn wohl in einen Schockzustand versetzt. Mit anderen Sorgen beschäftigt, tat ich sein seltsames Verhalten als harmlos ab und zog nicht die Schlüsse, die ich - rückblickend betrachtet - hätte ziehen sollen. Bei unserer Ankunft im Haus der Ruhe stellte ich den jungen Mann Alice vor, die ihn in den Speisesaal brachte. Nun musste ich mich auf andere Dinge konzentrieren und dachte deshalb nicht mehr an ihn, bis ich am späteren Nachmittag wie üblich mit Alice eine Tasse Tee in ihrer Kammer trank. Im Gespräch erwähnte sie, sie habe den jungen Mann übers Anwesen geführt und ihm dann einen Schlafplatz gegeben. Als sie davon erzählte, schien ihre Körpersprache ein gewisses Unbehagen auszudrücken, doch zunächst wollte sie die Sache nicht offen ansprechen. »Oma, war es wirklich richtig, ihn herzubringen?«, fragte sie mich schließlich. »Ich weiß nicht recht, was du meinst«, erwiderte ich. Sie goss Milch in meinen Tee und reichte ihn mir. »Na ja, seit ich hier bin, habe ich viele Menschen kennen gelernt, die die Orientierung verloren haben«, begann sie zögernd. »Und ich hab versucht, jedem auf die eine oder andere Weise zu helfen. Denn kaum hatte ich den Bogen raus, merkte ich, dass man sich unterschiedlichen Leuten auf verschiedenen Wegen nähern muss. Dann lernte ich allmählich, welche Art von Dingen für den Einzelnen hilfreich sein könnte. Ich schätze, nach einer Weile habe ich unsere Gäste in Typen einzuteilen 326 begonnen, obwohl mir klar ist, dass man so nicht denken soll. Aber dieser Mann... entspricht einfach keinem Typ. Ich hab wirklich noch nie jemanden wie ihn kennen gelernt.« Statt zu antworten, musterte ich sie mit fragendem Blick, bis sie fortfuhr. Schließlich schweifte sie ab, wie ich gehofft hatte. »Oma, was meinen wir eigentlich, wenn wir jemanden als verirrt bezeichnen?« »Nun, ich schätze, dass er nicht weiß, wo er ist. Vielleicht weiß er es auch, weiß aber nicht, wohin er nun gehen soll.« »Und was tun wir, um ihm zu helfen?« »Wir ermutigen ihn, darüber nachzudenken, woher er gekommen ist. Und dann unterstützen wir ihn vielleicht dabei, den Ort zu erforschen, an dem er sich befindet. Und mit etwas Glück begreift er schließlich, dass er von dem Punkt, an dem er ist, in die Richtung zurückgehen muss, aus der er kam, um letztlich an seinen Bestimmungsort zu gelangen. Aber all das hast du doch sicher schon als kleines Mädchen gelernt?« »Natürlich. Ich wollte es mir nur noch mal klar machen. Jetzt nimm an, du triffst jemanden, der weiß, woher er kommt.« »Und?« »Und wohin er geht.« »Und?« »Nun, als ich mit diesem Mann sprach, hatte ich das Gefühl, er sei so einer. Er weiß, woher er kommt und wohin er geht. Er scheint nur nicht zu wissen, wo er sich befindet. Ich spürte, dass er großen Kummer erlitten hat, und hatte das merkwürdige Gefühl, dass er erneut auf großen Kummer zusteuert. Und schlimm war, dass er es 327 auch zu wissen und sogar zu wollen schien. Völlig seltsam auch, dass es ihm egal war, wie es dazu kommen konnte. Das heißt: Ihm ist klar, dass er im Haus der Ruhe ist, zugleich aber scheint er ausgesetzt zu sein, zu treiben und jedes Gefühl dafür verloren zu haben, wo er sich befindet.« Sie sah gedankenverloren in ihre leere Tasse. »Und daran können wir nichts ändern, stimmt's?« Darüber grübelte ich eine Weile. Alice schenkte uns Tee nach, den wir schweigend tranken. »Was sollen wir also machen?«, fragte ich schließlich. »Ich meine, er hat dich zwar beunruhigt, aber wir können ihn doch nicht einfach auffordern zu gehen. Das widerspräche den Regeln unseres Hauses. Außerdem hat er noch nichts Schlimmes getan. Jedenfalls nicht, seitdem er hier ist.« Alice saß am Fußende ihres Bettes und hatte die Beine geradezu verknotet - ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich unbehaglich fühlte. »Wahrscheinlich nicht«, sagte sie schließlich. Dann schien sie sich zu fassen. »Nein, natürlich nicht. Ich muss meine Gefühle einfach vergessen und ihn behandeln wie alle anderen, ihm also helfen, seinen Weg zu finden. Weißt du, ich hab daran gedacht, ihm meine Tanzklasse schmackhaft zu machen, aber ich bin mir noch nicht sicher.« »Dann vertrau deiner Intuition«, sagte ich sofort. »Die hat dich noch nie getäuscht. Und wir können doch tun, was wir für alle tun, die Schlimmes erlebt haben: Wir können versuchen, ihn dazu zu bringen, seine Geschichte zu erzählen.« »Wem? Nina?«, schlug sie vor.
»Ja, Nina. Ich schätze, er braucht unsere beste Zuhörerin.« Mir fiel auf, dass sie die Beine noch immer ver328 schlungen hielt. »Er hat dich durcheinander gebracht, was? Sieht aus, als müsstest du deine innere Mitte wieder finden.« Sie nickte bekümmert, und ich erhob mich zum Gehen. Als ich die Tür hinter mir schloss, hatte sie schon mit der ersten Figur ihrer Übungsfolge begonnen. Die Rückkehr der Herumtreiberin Nach der Zerstörung seiner Signalmaschine dauerte es einige Tage, ehe Kevin Considine sich wieder stark genug fühlte, die Erforschung des Netzwerks fortzusetzen. Er untersuchte die Überreste des Geräts sorgfältig, entschied dann widerstrebend, eine Reparatur sei nicht mehr wirtschaftlich, und machte sich daran, die Aufstellung einer neuen Maschine in seinem Labor vorzubereiten. Die Techniker, die das Gerät montierten, warfen ihm einige neugierige Seitenblicke zu, als sie den Haufen verhedderter Trümmer in der Ecke sahen, aber Kevin gab ihnen keine Erklärung, sondern herrschte sie an, weiterzuarbeiten und keine Zeit zu verlieren. Kaum hatte er sich davon überzeugt, dass das neue Gerät ein-satzfähig und richtig angeschlossen war, schickte er die Männer mit der knappen Bemerkung weg, alles, was sie im Labor gesehen hätten, sei geheim und vertraulich. Am Ende des Arbeitstags, als die Bürokräfte gegangen waren, stahl Kevin sich ins Labor und schaltete die neue Maschine ein. Er wollte Lee unbedingt treffen. Doch es war kein Zeichen von ihr zu sehen. Der Raum mit Bett, Trapez und Torbögen war leer und kalt, und die Kerzen waren heruntergebrannt. 329 »Lee?«, rief Kevin. »Lee?« Aber keine Antwort - nur das spöttische Echo seiner eigenen Stimme. Seufzend durchschritt er den erstbesten Torbogen und begann, nach ihr zu suchen. Kevin suchte Nacht für Nacht, konnte aber nicht die leiseste Spur von Lee finden. Er irrte durch Flure und Treppenhäuser, zog durch teils vertraute, teils unbekannte Räume, und wenn er feststellte, dass er keine Kraft mehr hatte, legte er sich hin und schlief ein. Jeden Morgen fand Veronique ihn über die Schalttafel der Maschine gesunken, und jeden Morgen weckte sie ihn mit einem Becher Kaffee und einer neuen sarkastischen Bemerkung. Doch Kevin hatte ein dickes Fell, dem beißender Spott und ähnliche Feinheiten der Unterhaltung nichts anhaben konnten. Jeden Morgen richtete er sich so gut wie möglich her und schleppte sich nach oben an seinen Schreibtisch. Inzwischen hatte er jedes Interesse an seiner Arbeit, das er früher besessen haben mochte, verloren. Für Denkschriften und Berichte hatte er nur ein verständnisloses Blinzeln übrig, saß bei den endlosen Besprechungen nur da und glotzte wie ein Zombie an die Wand, fuhr seine Mitarbeiter ohne ersichtlichen Grund an, ließ Mahlzeiten halb aufgegessen stehen und schaffte es nur selten nach Hause, um seine Sachen zu wechseln. Wäre er ein genauerer Beobachter der menschlichen Natur gewesen, so wäre ihm womöglich aufgefallen, dass die Leute Umwege machten, um ihm nicht zu begegnen, nur mit ihm sprachen, wenn es unvermeidlich war, und ihm mitleidige und besorgte Blicke zuwarfen. Das Signalnetzwerk und seine anderen Projekte dümpelten vor sich hin, und die Aufgaben wurden von 330 gleichgültigen Sachbearbeitern erledigt, die von Kevins sorgfältig entworfener Strategie, seinen exakt berechneten Zielen und Ergebnissen nichts wussten und nichts wissen wollten. Nur Veronique, die kürzlich zur Leiterin der Kanzlei befördert worden war, hatte eine gewisse Vorstellung davon, was vorging, doch sie hatte ihre Gründe, den Mund zu halten. Jedenfalls drang nichts von alledem auch nur ansatzweise in Kevins ramponiertes Bewusstsein. Er wollte nur eines: Lee finden. Nach vielen Nächten des Suchens begann er sich zu fragen, ob ihn sein Orientierungssinn verließ. Die Gänge des Netzwerks ähnelten einander verblüffend, und obwohl er an wichtigen Stellen Markierungen hinterlassen hatte, schien er sie nicht wieder finden zu können. Eines Tages aber, als er einen seiner immer selteneren Ausflüge vor die Mauern des Palasts machte, lief er auf der Suche nach einer Erfrischung die Nordstraße entlang und stieß auf einen Bücherstand mit einer farbenprächtigen Auslage der Stadtpläne aus dem Michael Brown Verlag. Kevin fragte sich, ob er nicht eine Art Karte zeichnen könnte, die ihm den Weg durchs Netzwerk weisen würde. Er durchwühlte die Taschen seiner langsam ausfransenden Kleidung nach Münzen und kehrte mit ein paar Karten, die er in einer braunen Papiertüte unter den Arm geklemmt hatte, in den Palast zurück. Als Veronique später den Kopf durch die Tür steckte, um ihn an die nächste Besprechung zu erinnern, fand sie Kevin auf allen vieren am Boden. Vor ihm lagen große Bögen knisternden Pergaments. Die nächsten Nächte saß Kevin nun mit einer Schreibunterlage auf den Knien an der Signalmaschine und 331 brachte mühsam jeden Richtungswechsel und jeden Raum, durch den er kam, zu Papier. Jede Nacht rang er darum, einen kleinen Ausschnitt des Netzwerks zu kartieren, doch wenn er sich seine Skizze in der Nacht darauf ansah, fand er sie stets nutzlos. Zu seiner Verblüffung schienen sich die Anordnung der Räume, die Winkel, in denen die Korridore von ihnen abzweigten, und auch Steigung oder Gefälle der Gänge mal nur wenig, mal ganz und gar verändert zu haben, wann immer er sie aufs Neue aufsuchte. Schließlich musste Kevin sich seine Niederlage eingestehen und begriff, dass das Netzwerk ständig wuchs, sich veränderte und entwickelte, und zwar
viel schneller, als er damit Schritt halten konnte, obwohl er doch - welche Ironie! - der Schöpfer des Netzwerks war. Wenn er als Erfinder schon nicht mehr mitkam, dann zweifelte er allerdings daran, dass jemand anders dazu in der Lage wäre. Da begriff Kevin, dass das ganze Netz außer Kontrolle geraten war. Und als ob das noch nicht genug wäre, hatte er Lee noch immer nicht gefunden. Verzweifelt riss er seine Karten erst in Streifen, dann in kleine Fetzen. Als Veronique ihm am nächsten Morgen Kaffee brachte, fand sie ihn zusammengebrochen auf dem Boden des Labors inmitten bizarren Kartenkonfettis. Und dann, in der Nacht darauf, war Lee wieder da. Sie hockte im schwarzen Trikot auf ihrem Trapez -genau wie damals, als Kevin sie das erste Mal gesehen hatte -, ließ ein langes, nacktes Bein baumeln und malte mit gebogenem Fuß verführerische Kreise in die Luft. Das andere Bein hatte sie unters Kinn gezogen, und ihr Kopf war - anscheinend voll konzentriert - übers Knie gebeugt. Im gelben Kerzenschimmer sah Kevin, dass sie sich die langen, roten Zehennägel schärfte. Mit dem 332 Ergebnis zufrieden, blickte sie einen Moment später auf. »Hallo, Kevin. Willkommen daheim.« »Lee! Ich hab dich vermisst. Wo bist du gewesen?« Kevin spürte in ihren schrägen Augen für den Bruchteil einer Sekunde kalte Feindseligkeit aufblitzen, doch dieser Eindruck war so schnell vorbei, dass er sich sagte, er müsse sich getäuscht haben. Dann ließ Lee sich flink aufs Bett gleiten und zog dabei in einer fließenden Bewegung ihr Trikot aus. »Ich hab dich auch vermisst, Kevin.« Sie klopfte auf die schwarzen Satinlaken und schenkte ihm dabei ein Lächeln. Ihre Zähne waren weiß, ebenmäßig und messerscharf. Brief der Hüterin des Platzes im Haus der Ruhe, gerichtet an den Rat der Weisen (Fortsetzung) Nach meinem Gespräch mit Alice dachte ich mir eine Entschuldigung aus, um der Küche einen Besuch abzustatten, während der junge Mann dort arbeitete. Da er nichts zu tun hatte, verwickelte ich ihn in ein Gespräch, in das ich die Bemerkung einflocht, es wäre vielleicht eine gute Idee, wenn er jemandem seine Geschichte erzählen würde. Zu meiner Überraschung pflichtete er dem sofort bei, und ich sagte, Nina dürfte ihm eine hilfreiche Zuhörerin sein. Ihr erinnert euch wahrscheinlich noch an die Geschichte von Ninas Ankunft im Haus der Ruhe, Schwestern und Brüder. Sie tauchte vor acht bis zehn Jahren 333 auf - eine Schaustellertruppe hatte sie beim Pförtner abgegeben und war danach verschwunden. Damals konnte Nina nicht reden und nicht mal allein aufrecht stehen. Sie hatte offenbar einen furchtbaren Schock erlitten und war völlig hilflos. Selbst als sie endlich wieder sprechen konnte, vermochte sie sich zunächst an nichts Persönliches zu erinnern. Wir mussten sogar einen Namen für sie erfinden, ehe ihr endlich und allmählich wieder Teile ihrer Lebensgeschichte einfielen. Kaum aber begann sie ihr Gedächtnis und ihre Orientierung schrittweise zurückzugewinnen, da erwies sie sich als eine der begnadetsten Zuhörerinnen, denen ich je begegnet bin, und es ist ein großes Glück für uns, dass sie sich nie entschlossen hat, unser Haus zu verlassen. Doch zurück zu meinem Bericht. Ich sorgte dafür, dass der junge Mann Nina vorgestellt wurde, und hoffte, er werde mit ihrer Hilfe seine Geschichte langsam zusammensetzen und sein Zielbewusstsein wiedererlangen. Hocherfreut beobachtete ich, dass er Nina sehr bald regelmäßig besuchte, um ihr seine Geschichte Stück für Stück zu erzählen. Mir fiel zwar auf, dass Alice ihn dennoch weiterhin mied, doch da Nina mir nichts Ungewöhnliches berichtete, dachte ich eine Weile kaum noch an ihn. Erst als es um die Signalmaschine ging, kreuzten sich unsere Wege wieder. Ich habe zuvor wohl schon erwähnt, dass ich die Hauptstadt nicht mehr oft besuche, aber wenn man dort ist, kommt man um das ewige Gerede über das Königliche Signalnetzwerk kaum herum. Ihr habt mir in eurem letzten Brief geschrieben, die Fühler des Netzwerks würden inzwischen sogar schon bis zu den Äußeren Inseln reichen, und ich habe mit Interesse gelesen, dass ihr euch dazu entschlossen habt, auf dem Hügel neben 334 dem Heiligtum eine Signalwache einzurichten. Wie ihr wisst, denke ich seit einiger Zeit, das Netzwerk könnte den Kontakt zwischen uns beschleunigen und erleichtern. Also habe ich mich schließlich entschieden, eurem Beispiel zu folgen und eine Signalmaschine im Haus der Ruhe aufstellen zu lassen. Als ich zu diesem Entschluss gekommen war, fiel mir ein, dass fachkundiger Beistand direkt zur Hand war. Der seltsame junge Mann hatte mir gegenüber erwähnt, der Straf- und Besserungsdienst habe ihn zum Signalmaschinentechniker ausgebildet, und ich hielt es für eine gute Idee, ihn um Hilfe bei der Installation der Anlage zu bitten. Bei unserem Nachmittagstee erzählte ich Alice davon, und zu meiner Überraschung reagierte sie ziemlich besorgt. »Hast du denn keine Angst vor Kobolden?«, fragte sie mich. »Vor Kobolden?«, fragte ich zurück. »Ach, Oma, wann hast du den Anzeiger das letzte Mal gelesen?«, wollte sie wissen und wirkte dabei - wie mir schien - recht verzweifelt. »Wir haben doch ein Abonnement! Du solltest dich wirklich stärker bemühen, Kontakt zur Außenwelt zu halten.« Ich musste zugeben, kaum Muße zu haben, in Zeitschriften zu schmökern.
»Oma, was mach ich bloß mit dir?«, erwiderte sie klagend. »Jeder hat doch schon von Kobolden gehört! Das sind die seltsamen kleinen Geschöpfe, die den Leuten manchmal im Netz begegnen.« Mein Gesichtsausdruck offenbarte völlige Ahnungslosigkeit. »Tja, niemand scheint zu wissen, woher die Kobolde 335 kommen und was sich eigentlich dahinter verbirgt«, fuhr Alice fort. »Es heißt, sie sind meist harmlos, aber ich begreife nicht, wie man sich da so sicher sein kann.« »Gute Güte«, sagte ich. »Ich hatte keine Ahnung, dass es solche Dinge gibt. Hältst du sie wirklich für gefährlich? Denn weißt du, Alice... die Signalmaschine ist bereits angekommen. Ich habe den seltsamen jungen Mann, den du nicht leiden kannst, gefragt, ob er uns helfen könnte, sie aufzubauen. Er schien ganz begeistert und bastelt vermutlich gerade oben daran herum.« In Alices Gesicht trat eine gewisse Anspannung, und unwillkürlich begann sie die Beine wieder in der mir so vertrauten Weise zu verknoten. Ich gönnte ihr ein paar Minuten Ruhe, und allmählich schien sie sich zu lockern. »Vermutlich bin ich nur albern«, sagte sie dann. »Schließlich haben inzwischen viele Leute diese Maschine. Bestimmt läuft alles prima. Kümmere dich nicht um mich.« »Kommt gar nicht in Frage«, versicherte ich ihr. »Und jetzt trink deinen Tee, ehe er kalt wird.« »Und was hast du im Haus der Ruhe so getrieben?« Ach ja, das Haus der Buhe. Der eigentliche Grund, weswegen ich dorthin gebracht wurde, war ja die Signalmaschine - diesen Vorwand hatte man mir jedenfalls genannt. Wie gesagt, die Bedingung für meine Entlassung aus der Menagerie war, eine Anstellung in dem Beruf zu finden, für den ich ausgebildet worden war. Das hatte ich 336 der alten Dame gegenüber bei unserem ersten Gespräch selbstverständlich erwähnt. Sie schien mir damals an der neuen Technik recht interessiert, doch als wir ins Haus der Ruhe kamen, geriet die Idee in Vergessenheit. Eigentlich machte mir das kaum etwas aus, weil ich mich mit vielen anderen Dingen beschäftigen konnte. Es gab natürlich meine Arbeit - die gelegentlich anfallenden Beschäftigungen wie Küchenhilfe und so -, und es gab meine kleinen Sitzungen mit dir, Nina. Es ist sehr interessant, mich an all die Einzelheiten meiner Geschichte zu erinnern und zu entdecken, wie sie sich wieder zusammensetzen lassen. Das hat mir - wie du schon anfangs prophezeit hast - geholfen, die Orientierung zurückzugewinnen, und mir sogar ein paar Ideen geliefert, was ich als Nächstes zu tun habe. Ich verspreche dir, darauf bald einzugehen. Und nun lerne ich auch meinen Vater nach so vielen fahren gewissermaßen ein zweites Mal kennen und höre einige Bruchstücke seiner Geschichte. Er scheint sich fast immer abseits zu halten und kaum unter Leute zu gehen. Manchmal setzt er sich abends in den Gemeinschaftsraum - einmal habe ich ihn ein Brettspiel mit ein paar anderen spielen sehen -, doch meist werkelt er lieber in seiner Schmiede herum, hämmert am Amboss diversen Krimskrams zurecht oder backt einen Schwung Pasteten. Er hat neben der Esse eigens einen Ofen dafür gebaut, und zwar einen ziemlich großen - ich schätze, er backt dort jede Menge davon. Der Ofen hat eine lange Backstellage, die auf Schienen läuft und sich auf kleinen Bädern herausziehen lässt. So etwas zu bauen, ist absolut typisch für ihn. Und natürlich hat er seine eigene Kette, genauso eine wie ich - davon hab ich dir doch schon erzählt, oder? 337 Ich habe mir angewöhnt, ab und zu bei ihm vorbeizuschauen, und das scheint ihm nichts auszumachen. Meist hat er ein paar Schnapsflaschen in der Schmiede versteckt - natürlich ist Alkohol im Haus der Ruhe nicht erlaubt, aber manchmal setzen wir uns zusammen und trinken ein, zwei Gläser. Die Schmiede ist nicht der angenehmste Ort zum Sitzen, und mein Vater hat nicht einmal Stühle. Darum lassen wir uns meist auf der Backstellage nieder. Wie alles, was mein Vater anfertigt, ist sie sehr stabil, und ich schätze, wenn wir uns mal ein paar Kissen besorgen, können wir dort recht gemütlich sitzen. Nein, ich hab ihm noch nicht erzählt, wer ich bin, und sicher ahnt er es auch nicht. Mitunter spricht er von seiner Zeit als Zauberlehrling, und einmal hat er sogar eine Frau erwähnt - ich glaube, sie hieß Ruth. Er schien etwas Besonderes für sie zu empfinden, hat aber nie von einem Kind erzählt oder darüber, wie er ins Haus der Ruhe gekommen ist. Irgendwie scheint es in seinem Leben einen ausgedehnten Bereich zu geben, der absolut leer ist - als seien ihm Dinge widerfahren, die er lieber vergessen wollte. Das kann ich natürlich verstehen, doch ich schätze, er sollte wirklich mal mit dir reden, Nina. Ich bin sicher, du würdest die Wahrheit herausfinden. Übrigens hab ich mir überlegt, seinem Gedächtnis etwas auf die Sprünge zu helfen, bin im Moment aber noch recht unentschlossen, wie. Früher oder später fällt mir bestimmt etwas ein. Das ist eigentlich immer so. Entschuldigung, ich wollte ja von der Signalmaschine erzählen. Wie gesagt, in dieser Hinsicht ist eine ziemlich lange Zeit nichts passiert, aber natürlich habe ich wie üblich stets die Ohren gespitzt, wenn ich unter Leu338 ten war, und ab und an Gesprächsfetzen mitbekommen, die mir Hinweise darauf gaben, was hinter den Kulissen vor sich ging. Übrigens war es im Haus der Ruhe nicht gerade schwierig, solche Dinge herauszufinden. Schließlich hatte ich das schon an der Akademie geschafft, obwohl die Leute dort viel verschwiegener waren. Darum ist es mir hier recht leicht gefallen. Ich vermute, du weißt mindestens so viel über all diese Dinge wie ich - brems mich also bitte, wenn ich etwas falsch verstanden habe.
Merkwürdigerweise habe ich ziemlich viel von Alice erfahren, der Sportleiterin, obwohl sie seit dem Tag meiner Ankunft nie mehr Lust zu haben schien, sich mit mir zu unterhalten. Sie ist eine sonderbare junge Frau - sehr bleich, sehr dünn und sehr ernst. Ich bin nie in ihre Kurse gegangen, denn die Leute dachten wohl, das sei für mich nicht das Richtige, aber wer ihre Veranstaltungen besuchte, schien sehr davon begeistert. Ich hörte einige sagen, die Übungen hätten sie die Welt ganz neu sehen gelehrt, hätten ihren Blickwinkel verändert, würden sie die Dinge nun viel klarer erkennen lassen und so weiter und so fort. Nichts von diesem Gerede schien mir auch nur im Ansatz vernünftig, aber ihre Schüler halten offensichtlich große Stücke auf sie. Bei einem großen Gemeinschaftspicknick im Park sah ich sie mal auf eine Gartenmauer klettern, in den Handstand gehen und auf Händen über die ganze Mauerlaufen. Das beeindruckte mich, wenn auch widerwillig, und ich begriff, dass sie in dem, was sie tat, ziemlich gut sein musste. Doch Alice hatte immer etwas an sich, das mich beunruhigte. Ich spürte es schon, wenn ich nur sah, wie sie ging, und ich spürte es weit mehr, als ich sie auf den Händen laufen sah. Sie bewegte sich sehr gelenkig, 339 und das flößte mir ein seltsames, halb ängstliches, halb zorniges Gefühl ein, das ich irgendwie kannte, anfangs aber nicht einordnen konnte, obwohl mir klar war, dass es zu einer lange vergangenen Zeit gehörte. Das ließ mir keine Ruhe, bis mir endlich jener Tag an der Akademie einfiel, an dem ich den rothaarigen Jungen und seinen Hund zum ersten Mal gesehen hatte. Der Junge hatte sich genauso bewegt, schien diese Fähigkeit aber verloren zu haben, als ich ihn später wieder traf. Doch als ich ihn beobachtet hatte, hatte ich das gleiche Gefühl gehabt, das Alice nun wieder in mir wachgerufen hatte - und ich wusste, dass ich dagegen früher oder später etwas unternehmen musste. Was mir an Alice aber vor allem auffiel: Sie mochte mich nicht. Ich habe nicht herausgefunden, woran das lag. Natürlich war sie nie wirklich grob oder feindselig zumir, doch sie schien nicht lange mit mir reden zu wollen, sondern entschuldigte sich immer gleich und eilte davon. Einmal wollte ich von ihr wissen, was sie von der Signalmaschine hielt, und obwohl sie sich nicht ins Gespräch ziehen ließ, merkte ich sofort, dass ihr die ganze Sache nicht behagte. Das war nun allerdings sehr interessant, weil ich wusste, dass die alte Dame - also Kathleen, die Hüterin des Platzes - ihre Großmutter ist, und weil ich auch wusste, dass beide ziemlich viel Zeit miteinander verbrachten, denn wenn ich nachmittags in der Küche half, baten sie mich manchmal, ihnen Tee zu bringen, und dann sah ich, dass sie stets ins Gespräch vertieft waren. So begriff ich allmählich, dass die zwei viele Gedanken teilten und sich wohl stark beeinflussten, doch über eines schienen sie unterschiedlicher Meinung zu sein: über die Signalmaschine. Ich vermutete, die alte Dame 340 wollte für das Haus der Ruhe ein Gerät anschaffen, während Alice davon gar nicht begeistert war. Das war wirklich interessant, weil ich den Eindruck hatte, die alte Dame ziehe sich Alice als Nachfolgerin heran. Und das bedeutete: Selbst wenn die Maschine installiert wurde, konnte Alice durchaus irgendwann beschließen, sie entfernen zu lassen. Wenn ich den Apparat also nutzen wollte, durfte ich keine Zeit verlieren. Als ich mir all dies noch durch den Kopf gehen ließ, traf ich eines Tages auf dem Flur zufällig die alte Dame. Sie sagte mir, die Signalmaschine sei angekommen, doch die Männer von der Auslieferung hätten gleich weiterfahren müssen. Und dann fragte sie mich, ob ich die Einzelteile nicht auspacken und den Apparat in Betrieb nehmen wolle. Natürlich war ich einverstanden, doch wie sich zeigte, war das leichter gesagt als getan, denn die gelieferte Maschine war eine von den schweren, altmodischen Kisten. Die alte Dame hatte sie vermutlich ausgesucht, weil sie billiger als die modernen Geräte war, doch es gab nur an einem einzigen Ort Platz dafür: in einem kleinen, sechseckigen Turmzimmer unterm Dach. Also brauchte ich Hilfe, um die Maschine an Ort und Stelle zu bringen. Und selbst als ich diese Schwierigkeit bewältigt hatte, gab es immer noch das Problem der Stromversorgung. Das Haus hatte zwar einen Generator, doch der belieferte nur den Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss. Also musste ich mir ein langes Kabel besorgen und es verlegen lassen. Dann mussten die Flaggen in die Takelage eingefügt und aufgezogen werden, und das war ebenfalls ein großes Problem, denn die Fahnen brauchen steten Wind, und es stellte sich heraus, dass der Wind hier ständig aus einer anderen Richtung kommt, was die 341 Flaggen nicht aushalten. Von meiner Ausbildung her wusste ich natürlich, dass die Flaggen in diesem Fall an hohen Masten aufgezogen werden können, doch die alte Dame hatte - warum auch immer - keine bestellt. Ich habe den Verdacht, Alice hat sie ihr ausgeredet, was wirklich schade ist, weil ich sie liebend gern die Masten hätte hochklettern sehen, um die Flaggen aufzutakeln. Als ich jedoch nachfragte, bekam ich zu hören, für Masten reiche das Geld nicht und ich müsse mit dem Vorhandenen auskommen. Schließlich konnte ich die Flaggen an einem der Schornsteine befestigen und brachte meinen Vater sogar dazu, eigens einen Ausleger dafür zu schmieden. Leider war der Schornstein nicht hoch genug, und deshalb konnte die Maschine nur aus bestimmten Richtungen Signale empfangen. Wir bekamen ein ziemlich undeutliches Signal aus der Hauptstadt, doch die größte Enttäuschung war, dass wir von den Inseln nicht das Geringste empfangen konnten. Ich habe alles Mögliche versucht, diesem Problem beizukommen, und letztlich eine Kollegin von Kevin Considine in der Königlichen Kanzlei erreicht, eine komische Person namens Veronique. Sie erzählte mir, dass wir sogar mit einem richtigen Mast keine Verbindung zu den Inseln bekommen würden, weil einfach zu viele
Berge im Weg seien. Ich fragte sie, was dagegen unternommen würde, und sie berichtete, man plane, entlang der Küste eine Kette von Relaisstationen zu bauen. Daraufhin fragte ich sie, wann es so weit sein würde, und sie meinte, Meister Considine sei in letzter Zeit nicht allzu wohlauf, und sie könne deshalb keine Prognose wagen. Damit brach sie die Verbindung ab. Zu meiner Überraschung schien die alte Dame sich 342 an all dem nicht weiter zu stören. Alice war sehr viel beunruhigter - ich sah, wie sie die Beine auf ihre seltsame Weise ineinander verschlang, doch sie sprach mich nie auf die Anlage an, und so erfuhr ich auch nie, worüber sie sich Sorgen machte. Für mich hingegen hätte es nicht besser kommen können. Die alte Dame hatte nicht das geringste Interesse an der Signalmaschine, solange sie nicht mit den Inselbewohnern - was auch immer das für Leute waren - in Kontakt treten konnte. Also wurde die Maschine einfach nicht benutzt, und ich hatte sie für mich allein. Nicht dass ich mit jemandem Verbindung hätte aufnehmen wollen - schließlich kannte ich ja niemanden. Nein, ich interessierte mich mehr für ein paar andere Dinge im Netz, genau genommen für die seltsamen kleinen Wesen namens Kobolde. Die schienen wirklich spannend zu sein. Ich war ihnen in der Ausbildung ein, zwei Mal zufällig begegnet, doch damals hatte ich keine Möglichkeit, sie richtig kennen zu lernen, und auch der alte Maggot hatte mich nicht dazu ermuntert, fetzt aber hatte ich genau die passende Gelegenheit. Ich hätte praktisch, wann immer ich Lust hatte, oben in den Turm verschwinden können, doch es schien mir besser, die Erkundung der Signalmaschine bei Nacht durchzuführen. Das war zwar unlogisch, denn wäre ich entdeckt worden, hätte es weit verdächtiger ausgesehen, an dem Gerät zu nachtschlafender Zeit herumzufummeln, doch ich empfand ein überwältigendes Bedürfnis nach Heimlichkeit. Auch dachte ich, es würde mich sicher ein paar Sitzungen kosten, das Gesuchte zu finden, doch ich schaffte alles Notwendige innerhalb weniger Stunden, und als der Morgen graute, lag ich gesund, wohlbehalten und angekettet im Bett. 343 In der Nacht, die ich für mein Experiment wählte, hatte ich zuvor meinen Vater in der Schmiede besucht. Wir hatten uns inzwischen angewöhnt, nach dem Abendessen noch ein paar Gläser zu trinken - oder jedenfalls hatte er sich das angewöhnt, ohne dass ich ihn allzu stark animieren musste. Ich ließ ihn in dem Glauben, ich würde genauso viel trinken wie er, achtete aber darauf, einen klaren Kopf zu behalten, und schüttete den meisten Schnaps weg, wenn er nicht hinsah. Wie üblich endeten wir nach ein paar Stunden einträchtig zusammengesunken auf der Pastetenstellage, und mein Vater war - wie bei diesen Anlässen die Regel eingenickt. Schließlich gab ich ihm einen Gute-Nacht-Stups, er antwortete mit einem Grunzen, und ich brach auf. In jener Nacht war beinahe Vollmond, und ich fand den Weg durch den Wald, ohne viel Schmutz an die Stiefel zu bekommen. Nach ein paar Minuten kam das Haus der Ruhe in Sicht. Wie erwartet, waren alle Fenster dunkel, doch auf dem Rasen vor dem Hauptgebäude lief jemand herum. Ich schätze, in einem Gebäudekomplex von der Größe des Hauses der Ruhe gibt es immer ein paar Leute, die aus dem einen oder anderen Grund nicht schlafen können. An der Akademie für Kartografie jedenfalls war es so gewesen, und langsam stellte ich fest, dass es hier auch so war. Zu den unruhigen Geistern gehörte natürlich ich, doch es zeigte sich, dass auch die Sportleiterin dazuzählte. Als ich in dieser besonderen Nacht um die Ecke zum Hauptgebäude bog, sah ich zu meinem Erstaunen eine einzelne Gestalt im Pyjama über den Rasen tollen. Und noch erstaunter war ich, als ich in ihr Alice erkannte. 344 Ich vermutete, ihr Treiben habe Methode jedenfalls war sie mir nie als leichtfertig impulsiver Mensch erschienen -, doch ich wurde aus dem, was ich sah, zunächst nicht schlau. Ich nehme an, sie hat ihre Übungen gemacht, wenn auch zu einer seltsamen Tageszeit, doch ihre Bewegungen sahen eigentlich eher wie ein Tanz aus. Einen Moment vergaß ich mein Vorhaben und trat vorsichtig näher - fasziniert von dem, was ich sah. Alice wirkte wie in einer Art Trance und war gewiss in einer eigenen, sehr fremden Welt. Sie sprang und wirbelte herum, schlug Flickflacks über den Rasen und reckte sich aufwärts, um das Rückgrat im nächsten Augenblick schon wieder nach hinten durchzubiegen. Kaum hatte ich sie ein paar Minuten beobachtet, begann ich eine Art innerer Logik in ihrer Bewegungsfolge zu spüren: Ich hatte den Eindruck, sie tanze zu einer Musik, die nur sie hören konnte. Das zog mich zugleich an und stieß mich ab, und einen Moment war ich versucht, die Signalmaschine zu vergessen und einfach zu bleiben, um sie zu beobachten. Dann kam ich zur Besinnung und zog mich wieder ins Dunkel zurück. Jedenfalls bin ich ziemlich sicher, dass sie mich nicht gesehen hat, obwohl ich ihr recht nah war - sie hat auf meine Anwesenheit nämlich in keiner Weise reagiert. Einen Moment fühlte ich mich unbehaglich, als hätte ich etwas gesehen, das ich nicht hätte sehen dürfen, doch dann schärfte ich mir ein, dass ich mich auf mein Vorhaben konzentrieren musste. Also stahl ich mich leise ins Haus und ließ Alice mit ihrem geheimnisvollen Ritual allein. Ich hatte kein Problem, das große Treppenhaus hochzufinden, denn der Mond schien durch das prächtige Fenster am Etagenabsatz, doch als ich unters Dach ge345 kommen war, musste ich mich um einiges behutsamer vorarbeiten. Ich nahm mir vor, in Zukunft eine Lampe
mitzubringen. Schließlich hatte ich die schmale Stiege zum Turmzimmer hinauf geschafft und stellte fest, dass ich dort wieder gut sehen konnte, weil der Raum sechs Fenster hat und der Mond noch immer strahlend am Himmel stand. Mitten im Zimmer thronte die Signalmaschine genau so, wie ich sie ein paar Tage zuvor verlassen hatte. Ich klopfte mir den Staub von den Kleidern und machte mich daran, das Gerät einzuschalten. Ich hatte mich gefragt, ob ich mich an den Apparat erst würde gewöhnen müssen, doch zufällig war ich an einer Maschine genau dieses Typs ausgebildet worden. So hatte ich im Handumdrehen alle Schalter richtig eingestellt, und ohne es recht zu merken, hockte ich schon auf dem Sitz und blinzelte mit aufgesetztem Kopfhörer ins Okular, als hätte ich nie etwas anderes getan. Anfangs war es dunkel und still. Das beunruhigte mich nicht, denn ich wusste: Sollte ein Kobold oder etwas anderes da sein, würde ich es früh genug merken, wenn ich nur leise und reglos blieb. Und tatsächlich hatte ich nach ein paar Minuten langsam das Gefühl, etwas zöge mich am Nacken. Es war ein ganz sanftes Ziehen - so sanft, dass es mich nicht mal erschreckte, als es einsetzte, doch es war beharrlich und sehr bestimmt. Als ich nicht sofort reagierte, kam es wieder, und als ich es erneut ignorierte, meldete es sich ein drittes Mal, diesmal aber etwas deutlicher und ein wenig früher. Halb fasziniert, halb widerwillig unterwarf ich mich ihm und ließ mich führen. Ich wusste in diesem Augenblick schon, dass die Dinge sich nicht so entwickeln würden, wie ich erwartet 346 hatte. Als mir Leute von den Kobolden erzählt hatten, hatte ich mir darunter kleine, verspielte, wendige und schelmische Geschöpfe vorgestellt, beinahe ätherisch und vermutlich fast schwerelos. Schnell aber merkte ich, dass das Wesen, das mich führte, ein Geschöpf ganz anderer Art war. Als ich mich zögernd Schritt für Schritt in die Leere bewegte, die sich vor mir ausdehnte, wurde ich ringsum langsam eines schwachen, diffusen Leuchtens gewahr, das nicht so stark war, als dass ich Einzelheiten hätte erkennen können, aber gerade eben hell genug, um eine ungefähre Vorstellung meiner Umgebung zu bekommen. Ich sah nun, dass ich durch eine Art Korridor mit niedriger Decke und unebenem Fußboden ging. Türen oder Fenster gab es keine, doch von Zeit zu Zeit kam ich links und rechts an Öffnungen vorbei - an Abzweigungen vom Hauptflur, die in einem mal spitzeren, mal stumpferen Winkel ansetzten und mal stärker, mal schwächer aufwärts oder abwärts gerichtet waren und anscheinend nicht selten im Bogen an ihren Ausgangspunkt zurückführten. Von Zeit zu Zeit signalisierte mir mein unsichtbarer Führer durch ein leichtes Ziehen, dass ich rechts oder links abbiegen und einem anderen Gang folgen sollte. Nach einer Weile begriff ich, dass ich durch die Gänge eines bizarren Irrgartens lief, eines verrückten Labyrinths von unberechenbarer Geometrie, in dem es keine waagrechten Oberflächen, senkrechten Wände oder rechten Winkel gab. Es dauerte nicht lange, und mein Orientierungssinn hatte mich vollständig verlassen, doch ich machte mir klar, dass all dies im Innern der Signalmaschine passierte, mithin in meiner Vorstellungswelt. So konnte ich mir einreden, ich brauchte mir 347 um Banalitäten wie Raum und Zeit keine Sorgen zu machen. Während ich noch über diese Dinge nachdachte, merkte ich, dass das Ziehen im Nacken stärker und dringlicher wurde, als wäre ich an einem Seilende, und die Person am anderen Ende zöge langsam immer kräftiger. Am Ende eines Seils? Unwillkürlich legte ich die Hand an die Kehle. Was ich dort ertastete, fühlte sich nicht nach einem Seil an: Um den Hals hatte ich ein grob geschmiedetes eisernes Band, das mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert war. Und an diesem Halsband hing kein Seil, sondern eine Kette, eine schwere Eisenkette. So begann ich allmählich zu begreifen, was mir widerfuhr. Die Kette musste beim Gehen irgendwie kürzer geworden sein, denn als ich um die nächste Ecke bog, bekam ich das Wesen, das am anderen Ende zog, endlich kurz zu sehen. Es war ein kleines Geschöpf, dünn und gebeugt, und es bewegte sich unbeholfen schlurfend voran. Ich runzelte die Stirn, denn ich vermochte es mit nichts in Verbindung zu bringen, was ich je gesehen hatte. Bevor ich aber Gelegenheit bekam, mir das Wesen genauer anzusehen, war es um die nächste Ecke verschwunden. Nun aber wurde das Licht immer schwächer, die Abzweigungen folgten einander immer schneller, die Decken wurden niedriger und die Winkel der Verzweigungen immer verrückter. Es war nun selbst für mich schwierig, die Vertikale und die Horizontale noch auseinander zu halten, als ob die Verzerrungen der Geometrie sogar die Schwerkraft verzerren würden. Ich wusste nicht länger, ob ich stand, lag oder kroch, und im letzten Licht glaubte ich sogar, meinen unheimlichen Füh348 rer eine Decke entlang trippeln zu sehen. Inzwischen konnte ich seine Schritte hören, seufzende Schritte, die mich an im Staub schleifende Knochen denken ließen. Und ich konnte sein zischendes Atmen und seine pfeifenden Lungen vernehmen. Und während es mich unaufhaltsam in den Strudel des Labyrinths zog, begann ich seinen Gestank zu riechen - eine üble Mischung aus Öl und Rauch, Eisen und Sägemehl, verrottenden Lebensmitteln und einem ungewaschenen Körper. Und dann waren wir plötzlich am Ziel - einem heißen, stickigen Raum, dunkel und verdreht, niedrig und abgeschlossen. Endlich waren wir einander nah genug, um uns berühren zu können. Und dann redete das Geschöpf mich an.
»Berühre mich, Thomas«, zischte es. »Streck den Arm aus und fass mich an. Willst du nicht genau das?« So streckte ich den Arm aus. Mein Gegenüber war ein dünnes Etwas, kaum mehr als Haut und Knochen, und die Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leib. Ich konnte seine Rippen und Rückenwirbel, seine Armknochen und Schulterblätter erkennen. Sein übler Körpergeruch und sein scheußlicher Atem stachen mir in die Nase. Und da - um Hals und Körper geschlungen, zwischen stockdürren Schenkeln und auf schmalen Schultern -waren die rechteckigen Glieder der schwarzen Eisenkette zu sehen. Als das Wesen seine Stellung veränderte, tat mir das Rasseln der Kette in den Ohren weh, und plötzlich wollte ich das Geschöpf befreien, es vom Gewicht seiner Fesseln erlösen. Erneut legte ich die Hand an die Kehle, und nun ging das Vorhängeschloss auf, und das Halsband fiel von mir ab, doch statt seine Kette fortzuwerfen, schlang das Geschöpf sie nur noch fester um sich. Dann, während ich wie angewurzelt dastand, 349 fiel es auf die Knie, stöhnte, weinte und wiegte sich vor und zurück. »Ich kann meine Ketten nicht abwerfen, Tom Slater!«, jammerte es. »So leicht bin ich nicht zu befreien! Weißt du nicht, was du tun musst, um mich zu erlösen?« Plötzlich drang von der Decke über uns Knall um Knall, als ließe ein Riese Bleigewichte enorm laut auf einen massiven Tisch fallen. Inzwischen hatte ich erbärmliche Angst, doch der Krach schien mein Gegenüber beruhigt zu haben. »Du warst einst gefesselt, Tom Slater«, flüsterte das Wesen. »Du lagst in Ketten, und ein Teil von dir wird in Ketten bleiben, bis du getan hast, was du tun musst. Denn es gibt Leute, die dich dorthin gebracht haben, wo du heute bist, Tom Slater. Es gibt Leute, die dich dorthin gebracht haben, und es gibt Leute, die dich für das verspottet haben, was du bist. Du wirst in Ketten bleiben, bis alle alten Rechnungen beglichen sind. Das ist es, was du tun musst, Tom Slater. Das musst du tun.« Und das Geschöpf säuselte nun immer wieder: »Das musst du tun.« In diesem Moment drang von irgendwo über mir plötzlich ein blasser Lichtschimmer, als ob jemand eine schwache Öllampe angezündet hätte, und ich konnte endlich das Gesicht des Geschöpfs erkennen. Ich schätze, ich wusste schon, was mich erwartete. Trotz der fauligen Zähne und der roten Augenränder waren die vielen Sommersprossen auf den eingesunkenen, schmutzigen Wangen nicht zu verwechseln - genauso wenig wie der dreckige und verfilzte dunkelrote Haarschopf. Als das schwache, flackernde Licht hervorhob, wie eingefallen die knochige Gestalt war, brach der Junge in heiseres, höhnisches, hysterisches Lachen aus, ließ dabei 350 die Glieder seiner Kette knirschen und wiegte sich vor und zurück, bis ihm schließlich Tränen über die pockennarbigen Wangen zu fließen begannen. Dann verschwanden die Geräusche und Bilder überraschend, und ich fand mich - erschöpft zusammengesunken - über den Schaltern der Signalmaschine im kleinen Turmzimmer wieder. Da wusste ich, dass der Kobold, den ich getroffen hatte, kein Feind, sondern ein Verbündeter war. Brief der Hüterin des Platzes im Haus der Ruhe, gerichtet an den Rat der Weisen (Fortsetzung) Ich gehöre nicht zu denen, die durch kleine Rückschläge leicht aus dem Tritt zu bringen sind, Schwestern und Brüder. Das habe ich immer für eine meiner Stärken gehalten und entsprechend geschätzt, doch in letzter Zeit ist mir langsam klar geworden, dass diese Eigenschaft unter bestimmten Umständen auch eine Schwäche sein kann. In jüngster Zeit hat es zu viele Rückschläge gegeben, Schwestern und Brüder, und die Sache mit der Signalmaschine hat die schwere Bürde meiner Enttäuschungen noch weiter wachsen lassen. Hätte ich der Intuition meiner Enkelin mehr Aufmerksamkeit geschenkt, wäre vielleicht nichts von dem, was passiert ist, geschehen. Hätte ich die Dinge persönlich in die Hand genommen, hätten die Ereignisse sich vielleicht ganz anders entwickelt. Aber es ist immer töricht, darüber nachzugrübeln, was hätte sein können. Alice war es wegen der Signalma351 schine unbehaglich zumute, und sie hat mir ihre Meinung dazu kundgetan, doch ich wollte das überhören. Der junge Mann hat mir gesagt, ohne Masten würde das Gerät nicht richtig funktionieren, und auch das habe ich ignoriert. Ich habe dem jungen Mann gesagt, dafür sei kein Geld mehr da, und obwohl das die reine Wahrheit war, ist mir inzwischen klar, dass sich mit etwas Einfallsreichtum wohl eine andere Lösung des Problems hätte finden lassen. Doch stattdessen beschloss ich, mich mit der ganzen Sache erst wieder zu beschäftigen, wenn Geld dafür da wäre. Also stand die Signalmaschine vernachlässigt in ihrem Turm. Ich wusste das, habe mich aber nie an den Apparat gesetzt. Und auch Alice wollte aufgrund ihrer Vorbehalte gegen das Gerät nicht daran arbeiten. Und selbstverständlich wusste der seltsame junge Mann, der die Maschine installiert hat, dass sie dort oben stand. Ich habe mir einzureden versucht, ich hätte unmöglich eine Ahnung haben können, wozu er das Gerät letztlich eingesetzt hat, doch im Grunde meines Herzens weiß ich: Hätte ich Alices Bedenken mehr Beachtung geschenkt, dann hätte ich vielleicht noch etwas zu unternehmen vermocht, um die schrecklichen Ereignisse, die das Haus der Ruhe nun überrollt haben, abzuwenden. Doch was geschehen ist, ist geschehen. Ich weiß nun von den Nachtstunden, die der junge Mann heimlich im Turm verbracht hat. Ich weiß, dass er sich auf rätselhafte Weise an die Maschine angeschlossen hat und es zu einer unerklärlichen Vereinigung mit dem schauerlichen Geist gekommen ist, dem bösen Geschöpf, diesem
Kobold, der darin gewohnt hat. Und ich weiß, dass der Kobold ihn zu seinen furchtbaren Taten bewogen hat - Taten, die einen solchen Schatten auf dieses Haus geworfen haben, dass ich meinen Posten nur noch räumen und traurig in die trostlose Abgeschiedenheit der Inseln zurückkehren kann. Die erste dunkle Ahnung, dass etwas nicht in Ordnung war, stieg in mir auf, als es im Speisesaal keine Pasteten mehr gab. Ich habe nie großen Appetit auf schweres Essen gehabt, in den letzten Jahren weniger denn je. Deshalb esse ich seit einiger Zeit nur noch selten in unserer Mensa. Doch vor einigen Tagen - ja, so was passiert mir mitunter noch heute! - spürte ich ein plötzliches Verlangen nach Hammelfleischpastete mit Pastinaken und dachte kurz an Geoffrey den Schmied und an den Backofen, den er in seiner Werkstatt gebaut hatte. Als ich aber in den Speisesaal kam, stellte ich enttäuscht fest, dass es keine Pasteten gab. Damals habe ich dem keine größere Bedeutung zugemessen, sondern etwas anderes - aber was bloß? - bestellt und nicht weiter darüber nachgedacht. Im den nächsten Tagen aber bekam ich zufällig ein paar Unterhaltungen mit, in denen Klagen darüber laut wurden, dass keine Pasteten auf der Speisekarte standen, und schließlich habe ich auch mit Alice bei unserem Nachmittagstee darüber gesprochen. Trotz ihrer schlanken Gestalt hat meine Enkelin einen gesunden Appetit und - wie viele hier - eine Vorliebe dafür, ab und an ein Stück Pastete zu essen. »Es ist vermutlich nicht wichtig, Oma«, sagte sie, »aber schon seit Tagen hat es keine Pasteten gegeben. Meinst du, Geoffrey könnte etwas passiert sein?« Ich war noch immer nicht weiter besorgt. Geoffrey ist ein Einzelgänger, der sich mit sich selbst am wohlsten 353 fühlt und mitunter tagelang in der Abgeschiedenheit seiner Schmiede bleibt. »Er ist gern allein, und es ist immer das Beste, so was zu respektieren«, erwiderte ich, merkte dabei aber, dass Alice wieder begonnen hatte, die Beine zu verknoten. »Da steckt mehr dahinter«, sagte sie schließlich. »Er ist nämlich eigentlich gar nicht mehr allein. Ich hab jemanden abends zu ihm gehen sehen - den seltsamen jungen Mann, der dir bei der Signalmaschine geholfen hat.« »Der Mann, den du nicht magst?« Sie nickte widerstrebend. »Und einmal hab ich ihn von dort zurückkommen sehen«, fuhr sie fort. »Es war schon spät. Ich konnte nicht schlafen und war deshalb runter auf den Rasen gegangen, um ein paar Figuren zu turnen. Er hat mich kurze Zeit beobachtet, weiß aber wohl nicht, dass ich ihn bemerkt habe. Aber ich bin sicher, dass er nach Alkohol roch, nach Schnaps sogar. Ach, Oma...« - sie war inzwischen sehr aufgeregt -»... ich bin sicher, da ist was faul. Können wir nicht rüber zur Schmiede gehen und nachschauen?« Widerwillig stimmte ich zu. Wir ließen unseren Tee stehen, holten uns aus dem Magazin zwei Paar feste Stiefel und machten uns auf den schlammigen Weg durch den Wald. Von Angst getrieben, war Alice mir bald ein Stück voraus, während ich in gemächlicherem Tempo folgte, froh, meiner Enkelin ihren Willen zu lassen, und noch immer ohne jede Sorge um den Schmied. Als wir uns der Werkstatt näherten, genoss ich den Duft von Waldblumen und feuchter Erde, doch dann fiel mir auf, dass der übliche Geruch von Holzfeuer, heißem Eisen und frisch gebackenen Pasteten völlig fehlte. Erst da begann ich schließlich zu ahnen, dass etwas nicht 354 stimmte. Dann hörte ich Alice nach mir rufen. Besorgt beschleunigte ich meine Schritte. In der Schmiede merkten wir sofort, dass seit Tagen niemand dort gewesen war. Die Luft - normalerweise glühend heiß und verraucht - war muffig und kalt. Alice stand bei der Esse und hatte die Hand an die schwere Eisentür des Ofens gelegt. »Fass an«, forderte sie mich auf. Ich tat es, und die Tür war kalt. »Sieht aus, als wäre er fortgegangen«, schlug ich vor. Alice schüttelte den Kopf. Als ich mich umschaute, sah ich Geoffreys Mantel am üblichen Nagel hängen, und sein Werkzeug lag wie sonst auch auf der Werkbank verstreut; sogar seine Stiefel standen nebeneinander in der Ecke. In einer anderen Ecke lag ein mittelgroßer Haufen leerer Flaschen. Während ich diese Einzelheiten registrierte, hatte Alice die Ofentür aufbekommen. Verspätet fiel mir auf, dass es schwach nach verkohltem Fleisch roch. »Sehen wir besser mal hier nach«, sagte Alice mit schwankender Stimme. Sie sah noch bleicher aus als sonst. Kaum hatte sie die Ofentür weit geöffnet, nestelte sie an den Verschlüssen herum, die die Backstellage an Ort und Stelle hielten. Die Stellage war solide gebaut und sehr schwer, doch zu zweit konnten wir sie schließlich auf ihren Schienen aus dem Ofen wuchten. Obendrauf lagen nicht etwa verbrannte Pasteten, sondern die verkohlten Überreste einer Leiche. Einen Moment standen wir hilflos da. »Ist es Geoffrey?«, brachte Alice schließlich hervor. »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte ich und merkte, dass auch meine Stimme schwach war. »Aber ich glaube, das hier kenne ich. Das hat Geoffrey gemacht.« 355 Was da ein paar Mal um den Leichnam gewickelt und mit diversen Vorhängeschlössern gesichert war, die ihn fest an die Stellage banden, war eine schwere Eisenkette mit rechteckigen Gliedern. Kratzen, bis es wehtut »Kratz mich noch ein wenig... nein, etwas tiefer... ja, genau...«
»Du magst es, wenn ich dich kratze, was, Kevin? Ich kratz dich noch mehr, wenn du willst. Wie ist es so? Gefällt dir das?« »Huh, das fühlt sich seltsam an. Was machst du da?« »Ich schreibe nur meinen Namen.« Kevin und Lee lagen auf dem großen Bett. Es war eine lange, anstrengende Nacht gewesen, und die - am Abend noch frischen - Kerzen in den Wandleuchtern waren fast heruntergebrannt. »Wo bist du eigentlich die ganze Zeit gewesen?«, wollte Kevin schließlich wissen. »Warum warst du nicht hier bei mir?« »Du hast mich doch auf Erkundungsreise geschickt, Kevin. Du hast gesagt, ich könnte losziehen.« Lee streckte ein Bein quer über ihn und begann, seine Schulter mit den Zehennägeln zu kratzen. »Ich bin an allen möglichen Orten gewesen. Und es gab jede Menge anderer Leute, die mich treffen wollten.« »Andere Leute?« Kevin war erschrocken. »Ich will dich mit niemandem teilen. Autsch, das tut weh! Musst du mich denn so heftig kratzen?« »Armer Kevin - hat so eine empfindliche Haut!« 356 Sie streichelte seine Schulter sanft mit dem Fußballen. »Besser so? Du willst doch nicht, dass ich mich langweile, oder? Außerdem ist es ja nicht so, dass du mich mit anderen teilst, Kevin. Denn jeder sieht mich anders. Sag bitte, dass du mir nicht böse bist. Du bist doch nicht böse, Kevin, oder?« Sie drehte sich auf die Seite, schob dabei das andere Bein unter seinen Körper und begann, sanft an seinem Brustkorb zu kratzen. »Ah, das ist schön. Aber was meinst du mit >anders Inwiefern sieht jeder dich anders?« »Das ist etwas schwer zu erklären, Kevin.« Sie verschränkte die Füße hinter seinem Oberkörper und drückte vorsichtig zu. »Doch was du siehst, bin schließlich nicht ich, stimmt's?« Sie runzelte die Stirn. »Oder nur zum Teil. Das meiste stammt von dir - aus deiner Vorstellungskraft. Hast du das noch nicht bemerkt?« Plötzlich drückte sie viel stärker zu, und Kevin holte zischend durch die Zähne Luft. »Sachte, du brichst mir ja die Rippen!« Lee lächelte undurchsichtig, und Kevin spürte den Druck nachlassen. »Aber hör mal, wenn das alles aus meiner Fantasie stammt - wie bist du dann wirklich? Ich meine, kann ich je sehen, wer du bist?« Die Kerzen flackerten bereits und würden gleich verlöschen. »Du willst sehen, wer ich wirklich bin?« Lees Stimme hatte begonnen, lauter und zugleich höher zu werden. »Willst du das, Kevin Constanzas? Willst du das wirklich?« Plötzlich rollte sie sich mit erstaunlicher Kraft auf den Rücken, hielt dabei Kevins Oberkörper und Arme mit kräftigen Beinen umschlossen, wuchtete ihn auf sich und schlang ihm zugleich die schwarzen Satinlaken um die Beine. 357 »Willst du das, ja?« Ihre Zehennägel kratzten ihn am Rücken, und ihre Fingernägel krallten sich in seinen Hals. »Hör auf, das reicht!«, keuchte Kevin atemlos. »Du tust mir weh! Sei doch vorsichtig!« Er versuchte sich freizukämpfen, doch seine Beine waren hoffnungslos in den Laken verfangen. »Armer Kevin!« Nun verhöhnte sie ihn. »Ich soll's ihm sanft besorgen!« Plötzlich jagte sie ihm die Nägel tief ins Fleisch, so dass sein Blut aus vielen Wunden strömte. Tief erschrocken stellte Kevin fest, dass er sich nicht rühren konnte, sondern wie mit Eisenketten angeschmiedet war. »Hat er's denn nie mit einer richtigen Frau getrieben?« Mit einem wütenden Brüllen rollte sie ihn wieder auf den Rücken, schwang sich rittlings auf ihn, drückte ihm den Atem ab, ließ ihre Krallen wild über seine Brust, seinen Bauch, seine Kehle fahren, badete in dem hervorquellenden Blut und zischte und fluchte und spuckte ihn an, während sein Widerstand immer schwächer wurde. Im schwindenden Licht schien ihr Zorn schließlich abzuklingen. »Hat Kevin jetzt genug? Ist er müde?« Die Stimme klang wieder liebevoll. Dann zog Lee in einem letzten Aufwallen von Zorn den Arm zurück und schlitzte ihm mit den Fingernägeln die Kehle auf. Das Letzte, was Kevin sah, war ihr Gesicht - eine brutale, verzerrte Maske des Hasses. Veronique hatte immer den Verdacht gehabt, mit Mr Considine werde es ein böses Ende nehmen. Als sie am nächsten Morgen mit einem Kaffee ins Labor kam, war 358 sie beim Anblick seines übel zugerichteten Leichnams daher zwar einen Moment betroffen, musste sich aber eingestehen, nicht allzu überrascht zu sein. »Zu viele Spätschichten. Das ist nichts für Heranwachsende« - mehr sagte sie den Wolfsjungen nicht, die den Todesfall untersuchen kamen. Später aber erinnerte sich Veronique an das Namensschild aus Messing, das sie an der Rückseite der Signalmaschine entdeckt hatte, das Schild, auf dem der Name ihres ehemaligen Kollegen gestanden hatte, des in Ungnade gefallenen Magiers Leonardo Pegasus. Wenn Leonardo Pegasus die Maschine gebaut hatte, überlegte Veronique, dann konnte er womöglich auch herausfinden, welche Probleme der Apparat verursacht hatte. Vielleicht war es also Zeit, ihr Geheimnis mit jemandem zu teilen. Veronique wartete auf eine Gelegenheit, sich aus der Kanzlei zu stehlen. Als die Luft rein war, nahm sie still und heimlich ihre Handtasche, schlich sich aus der Tür und schlug auf kurzen, stämmigen Beinen den Weg Richtung Thronsaal ein. »Und was hast du jetzt vor?«
Tja, sicher freust du dich, dass ich endlich Zukunftspläne habe, Nina. Ich schätze, das ist die letzte unserer kleinen Unterhaltungen. Ich werde unsere Sitzungen vermissen, werde es vermissen, hierzu sitzen und draufloszureden oder einfach die schöne Aussicht auf den Rasen mit den Wäldern und den Bergen dahinter zu genießen. Kaum zu glauben, dass ich Alice erst vor ein paar Tagen da draußen im Gras gesehen habe, als sie 359 ihre merkwürdigen Übungen gemacht oder was auch immer getrieben hat. Wie gesagt, ich hatte nicht die Zeit, es herauszufinden, doch es hat mich wirklich fasziniert. Du hattest aber wohl Recht, als du zu Beginn unserer Gespräche meintest, ich sei noch nicht so weit für all das, und leider glaube ich nicht, dass ich noch lange im Haus der Ruhe bleibe. Sollte ich aber zurückkommen, würde ich wohl sehr gern am Turnkurs teilnehmen und etwas mehr über diese Seite der Dinge erfahren. Ich habe mich immer für die verschiedensten Muster, Schemata und Systeme interessiert. Wie gesagt, es gab die Gedichte und die Kreuzworträtsel und natürlich die Kartografie, und ich erkenne jetzt, dass all diese unterschiedlichen Dinge in den fahren auf der Großen Kreuzung zu einer Art Ganzem zusammenkamen. Und Alices Zeug, na, das schien alles in ganz anderer Weise zusammenzubringen. Darum bin ich wirklich versucht, etwas Zeit darauf zu verwenden und mehr darüber zu erfahren. Aber erst mal ist das unmöglich. Warum, erkläre ich dir gleich. Ich hab von der Nacht erzählt, in der ich die Signalmaschine erkundet habe. Nach diesem Abenteuer war ich völlig erschöpft und musste ein paar Tage im Bett bleiben, ehe ich mich fähig fühlte, irgendwas in Angriff zu nehmen. So etwas wie in jener Nacht hatte ich noch nie erlebt. Natürlich hatte ich im Hinterkopf, dass nichts davon wirklich geschehen war, doch als ich ins Labyrinth gezogen wurde, war alles so lebhaft und bezwingend, dass ich die übrige Welt total vergaß. So wurden das Haus der Ruhe, das Turmzimmer, die Signalmaschine, das Labyrinth und das Geschöpf darin meine ganze Wirklichkeit. Hinterher fand ich es sehr schwer zu begreifen, dass das Ganze ausschließlich in meiner 360 Fantasie stattgefunden hatte - bloß mit ein wenig Unterstützung des rätselhaften Phänomens, das mir im Labyrinth begegnet war. Ich bin ziemlich sicher, dass dort etwas war, das von außen kam, nicht aus mir, doch das meiste über die Kette, den rothaarigen jungen und die anderen Dinge... konnte nur von mir stammen, stimmt's? Inzwischen kennst du mich sicher gut genug, um zu wissen, dass ich mich nie viel mit Fantasien beschäftigt habe - außer vielleicht mit Gedichten. Darum glaube ich, in der einen Nacht an der Signalmaschine etwa das an Fantasien durchlebt zu haben, was ich sonst in meinem ganzen Leben zusammengebracht hätte. Vielleicht ist es da nicht erstaunlich, dass ich danach eine Ruhepause brauchte. jedenfalls hab ich ein paar Tage fiebrig und unruhig geschlafen und geträumt und bin nur aufgewacht, um gleich wieder einzuschlafen. Als ich endlich wieder zur Besinnung kam, merkte ich, dass ich nun genau wusste, was ich zu tun hatte. Was mir am Haus der Ruhe gefällt, ist unter anderem, dass die Bewohner so ziemlich tun dürfen, was sie wollen. Wo ich sonst gewesen bin - im Haus meines Vaters, im Waisenhaus, in der Akademie, im Gefängnis und in der Menagerie - ging es meist sehr autoritär zu, und selbst als ich die Große Kreuzung leitete, war alles strikt und hierarchisch organisiert. Deshalb war es eine nette Abwechslung, einige Zeit in so lockerer Atmosphäre zu leben. Ich will damit sagen: Wäre ich an einem der anderen Orte ein paar Tage im Bett geblieben und hätte meine Pflichten vernachlässigt, hätte ich sofort Ärger bekommen. Und du weißt ja: Als ich eine kleine Auszeit von der Großen Kreuzung nahm, ist alles fast sofort schief gegangen und nie wieder ins Lot gekommen. Aber hier 361 scheint niemand allzu besorgt, wenn du mal nicht auftauchst. Sie wursteln einfach ohne dich weiter, und wenn du schließlich doch erscheinst, ist niemand böse. Alle sagen nur: »Schön, dass du wieder da bist.« Nun, als ich wieder auf den Beinen war, kam ich zu dem Schluss, dass ich ein paar Sachen mit meinem Vater zu klären hatte, die nicht länger aufgeschoben werden konnten, und dass es danach Zeit für mich wäre, in die Hauptstadt zurückzukehren und die Dinge zwischen mir und meinem alten Freund Mr Brown zu regeln, dem Kartenverleger. Also ging ich am Abend meinen Vater besuchen, und wir tranken wie üblich ein paar Gläser- ja, ich weiß, das dürfen wir nicht, aber du verpetzt mich nicht, oder? Dann sagte ich ihm, was ich ihm sagen musste, und zeigte ihm meine Kette, und er zeigte mir seine. Danach tranken wir noch ein paar Gläschen, und schließlich schlief er ein. Als ich ihn dort liegen ließ und die Tür schloss, wirkte er sehr zufrieden, warm und gemütlich, und ich empfand sogar kurz so etwas wie Zuneigung für ihn. In dieser Nacht schlief ich - zum ersten Mal seit langer Zeit - sehr gut. Natürlich hätte ich mich eigentlich direkt in die Stadt aufmachen sollen, doch es gab noch etwas, das ich hier zu erledigen hatte. Ich hoffe, du hältst es nicht für albern, Nina, doch ich hab dich unbedingt ein letztes Mal treffen müssen, um dir meine Geschichte zu Ende zu erzählen, denn ich bin - wie du weißt - ein sehr gewissenhafter Mensch, und wenn ich etwas anfange, möchte ich es anständig abschließen. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass ich dich nicht antreffen würde! Der letzte Abend mit meinem Vater war ein Donnerstag, und als ich dich besuchen wollte, stellte sich heraus, dass du ein langes Wo362 chenende genommen hattest und irgendwohin gereist warst. Jemand hat mir dann erzählt, alte Schaustellerfreunde seien in der Gegend gewesen, und du seist aufgebrochen, um dich mit ihnen zu treffen. So
schien es, ich musste bis zu unserem normalen Termin am Dienstagnachmittag warten, um meine Geschichte zu beenden. Einerseits war das natürlich gut, denn wir haben uns immer am Dienstagnachmittag getroffen, und irgendwie wäre es nicht richtig gewesen, unsere letzte Sitzung an einem anderen Tag stattfinden zu lassen. Andererseits aber war es ziemlich nervenaufreibend, weil ich so schnell wie möglich verschwinden wollte. Tut mir Leid, wenn das keinen Sinn ergibt, Nina, aber ich verspreche, gleich wird sich alles klären. Weißt du, mir war klar, dass man meinen Vater über kurz oder lang vermissen würde, aber ich sagte mir, er sei ja oft lange Zeit allein in seiner Werkstatt gewesen, und ich käme vermutlich ein paar Tage über die Runden, ehe jemand stutzig würde und Nachforschungen anstellte. Nach zwei Tagen wurde ich also tatsächlich etwas ruhiger, doch dann dachte ich wieder an die Pasteten. Ich glaube, es war Sonntagmittag, als ich in der Mensaschlange stand und hörte, wie jemand vor mir den Koch fragte, warum es keine Pasteten gebe. Der Koch sagte nur, die seien nicht unbedingt täglich zu haben, aber bestimmt komme demnächst wieder ein Schwung. Da wusste ich, dass ich nicht mehr lange sicher war, doch ich musste dich noch immer treffen, Nina, und beschloss deshalb, jedem aus dem Weg zu gehen und die Augen offen zu halten. Ich packte meine Sachen, denn mir war klar, dass ich das Haus der Ruhe womöglich in aller Eile würde verlassen müssen. Dann begab ich mich an den einzigen 363 Ort, den ich für sicher hielt - ins Turmzimmer also, wo die Signalmaschine steht. Von dort hat man einen guten Blick in den Wald, sodass ich es sofort mitbekommen hätte, wenn etwas passiert wäre. Um mich ein wenig abzulenken, schaltete ich sogar das Gerät ein, doch ich hatte seine Möglichkeiten wohl vorläufig erschöpft, denn außer Dunkelheit und Stille konnte ich diesmal nichts entdecken. Also saß ich nur da, beobachtete und wartete ab. Zwei volle Tage verbrachte ich dort oben, und man kann wohl sagen, es waren die nervenaufreibendsten Tage meines Lebens. Aber ich bin froh, dass meine Nerven hielten, denn es geschah nichts - alle gingen einfach ihren üblichen Beschäftigungen nach. Offenbar wurden die Pasteten doch nicht so sehr vermisst. Und dann sah ich dich heute Morgen aus dem Urlaub zurückkommen, und wie du siehst, bin ich wie üblich zu unserer Sitzung aufgetaucht. Aber jetzt müssen wir die Dinge etwas beschleunigen, Nina, denn ich habe die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut und die alte Dame und ihre Enkelin vor einiger Zeit den Pfad einschlagen sehen, der durch den Wald zur Schmiede führt. Und jetzt kommen sie zurück und scheinen ein wenig in Eile. Also muss ich mich nun auf den Weg machen, Nina -tut mir Leid, dass alles so gehetzt endet, aber ich hab ja noch eine Verabredung mit Mr Brown, und wie du vielleicht bemerkt hast, habe ich all meine wenigen Habseligkeiten dabei, also ein paar Sachen zum Wechseln, einige alte Karten und Gedichte und so. Aber eins möchte ich dir noch zeigen - genau, meine alte Kette. Sie ist mir ein guter Freund gewesen, diese Kette, und du hast nun schon so viel darüber gehört, dass es schade wäre, wenn ich sie dir zum Abschied nicht zeigen würde. 364 Nein, bleib sitzen, ich bring sie dir rüber. Aber ich fürchte, ich muss das jetzt wirklich etwas beschleunigen. Nein, halt ganz still. Du brauchst gar nichts zu tun... Tut mir wirklich Leid, dass es so enden muss, Nina, aber ich hab dir inzwischen zu viel erzählt, weißt du. Ich hab dir ganz einfach zu viel erzählt... Brief der Hüterin des Platzes im Haus der Ruhe, gerichtet an den Rat der Weisen (Fortsetzung und Schluss) Schwestern und Brüder, ich wünschte, die Entdeckung von Geoffreys Leiche im Ofen hätte das Ende des Schreckens bedeutet, doch leider erwartete mich an diesem entsetzlichen Tag noch ein furchtbares Ereignis. Kaum hatte ich die Kette mit den rechteckigen Gliedern gesehen, wusste ich, wer für dieses Verbrechen verantwortlich sein musste. »Der junge Mann?«, fragte ich Alice. »Der junge Mann«, erwiderte sie langsam. »Ob er noch im Haus ist?« Alice dachte kurz nach und runzelte dabei die Stirn. »Ich glaube, ich hab ihn seit ein paar Tagen nicht gesehen«, sagte sie schließlich. »Aber heute ist Dienstag, stimmt's? Wenn er noch da ist, dürfte er bei Nina in der Sitzung sein.« Die Vorstellung, was dort gerade vorfallen mochte, versetzte uns einen panischen Schreck, und wir flohen aus der Schmiede, rannten zum Haus zurück und liefen in wilder Hast quer über den Rasen vor dem Haupt365 eingang, was die Leute aufscheuchte, die dort im Kreis saßen und den Balladensängern zuhörten. Kaum im Haus, drang uns von Ninas Sitzungszimmer her ein entsetzlicher Schrei ins Ohr. Sekunden später hämmerten wir schon gegen ihre Tür, mussten aber feststellen, dass sie - wie üblich - von innen abgesperrt hatte. Als wir Hilfe geholt hatten, um uns Zutritt zu verschaffen, war es bereits zu spät. Nina war tot im Sessel zusammengesackt, und die Spuren der Kette prangten wie ein unheimliches Halsband an ihrer Kehle. Das Fenster hinter ihr stand offen, und die Vorhänge wehten ins Zimmer. Natürlich durchkämmten wir sofort Haus und Anlagen und schickten sogar Suchtrupps in die Hügel und auf die Felder, doch es zeigte sich bald, dass uns die Beute entwischt war. In der Abenddämmerung rief ich alle Bewohner auf dem Rasen zusammen, um ihnen die Neuigkeiten mitzuteilen. Danach bat ich Alice, sie durch das
Besinnungsritual zu führen. Natürlich haben wir die Miliz verständigt, doch ohne Signalmaschine wird unsere Botschaft lange brauchen, um anzukommen, und es ist deshalb unwahrscheinlich, dass die Miliz uns irgendwie helfen kann. Wir wissen nicht, wohin der junge Mann unterwegs ist. Wir kennen noch nicht mal seinen Namen. Nur Nina kannte seine Geschichte, und gerade sie kann uns leider nicht mehr helfen. Und damit, Schwestern und Brüder, endet mein Bericht über die Ereignisse der letzten zwölf Monate. Im Haus der Ruhe ist heute Abend wieder Stille eingekehrt, doch die Bewohner gehen ihren Geschäften wie betäubt nach, und ich habe den Eindruck, dass der einst so lebendige Puls unserer Einrichtung vorläufig ausgesetzt hat. Einige 366 reden offen davon, das Haus für immer zu verlassen, aber wenn sie sich das erst gründlich überlegt haben, wird mancher vielleicht doch bleiben und sich dem Wiederaufbau dessen widmen, was wir hier einmal hatten. Sicher aber werden viele nicht dauerhaft bleiben wollen, da die Atmosphäre durch die Ereignisse vergiftet ist. Morgen früh brechen die Balladensänger auf, und mein Bericht wird - unterschrieben und versiegelt - mit ihnen reisen. Was mich anlangt, versteht ihr nun bestimmt, warum ich mich nicht länger in der Lage sehe, hier zu bleiben, da ich doch die Last der Verantwortung für das Geschehene trage. Ich habe noch ein paar unbedeutende Dinge zu erledigen, doch in einigen Tagen werde ich den Wagen nach Norden nehmen und zu euch, meine Verwandten, auf die Inseln zurückkehren. Angesichts derart verheerender Widrigkeiten bin ich froh, wenigstens mit einer guten Nachricht aufwarten zu können. Meine Enkelin Alice, die mich in meiner einsamen Mission so lange unterstützte, hat mir zu verstehen gegeben, dass sie bleiben möchte, um den Schaden, den unsere Gemeinschaft erlitten hat, wieder gutzumachen und die Arbeit fortzuführen, die ich vor so vielen Jahren begonnen habe. Ich bestimme sie daher zu meiner Nachfolgerin und bin sicher, auch ihr werdet Alice - genau wie ich - Glück auf dem Weg wünschen, den sie eingeschlagen hat. Mir bleibt nichts mehr zu sagen. Ich nehme schweren Herzens vom Haus der Ruhe Abschied, doch ich sehe unserem Wiedersehen in der Heimat nach so vielen Jahren mit Freude entgegen, Schwestern und Brüder. Möge das Große Wesen uns mit gutem Rat beistehen! Eure Kathleen 367 SECHSTES KAPITEL Der Kobold und die Maschine Königlicher Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger, Ausgabe 183 (im sechzehnten Jahr der Regentschaft von König Matthew] Leitartikel von Miss Garamond Seid gegrüßt, Bürger! Zweifellos sind die Leser schockiert und traurig darüber, dass den Obersten Ingenieur, Mr Kevin Considine, bei Erfüllung seiner Amtspflichten in der Königlichen Kanzlei unerwartet der Tod ereilt hat. Die genauen Umstände seines Ablebens sind noch unklar und werden derzeit von der Ermittlungsbehörde der Königlichen Wolfsjungen untersucht. Bekannt ist bisher Folgendes: Eine leitende Mitarbeiterin der Kanzlei hat Mr Considines nackten Leichnam beim üblichen morgendlichen Kontrollgang über die Flure in seinem Labor gefunden. Das Opfer wies erhebliche Kratzwunden an Kehle, Bauch und anderen Körperteilen auf und soll verblutet sein. Über diese Wunden hinaus gibt es Anzeichen dafür, dass der Tote auch Verletzungen intimerer Natur erlitten hat. Der Vorfall ist sofort der Ermittlungsbehörde gemeldet wor369 den, deren Stellungnahme wir weiter unten veröffentlichen. Bei einem so traurigen Ereignis wäre es normalerweise angebracht, ein paar persönliche Worte von König Matthew zu drucken. Man hat die Chefredaktion aber wissen lassen, der König sei nach dem von ihm geleiteten Feldzug an der Südgrenze des Reichs zwar endlich in die Hauptstadt zurückgekehrt, vorläufig aber noch unpässlich und habe die Regierungsarbeit bisher nicht wieder aufnehmen können. Einstweilen hat die Verfasserin daher das Vergnügen, den folgenden Nachruf zu veröffentlichen, den Hochmeister Fang der Redaktion bei der monatlichen Privataudienz zugänglich gemacht hat. Kevin Considine gehörte von Beginn an zu den wichtigsten Mitarbeitern des von König Matthew bei Amtsantritt ins Leben gerufenen Ingenieurteams. Zu Mr Considines Verdiensten gehört die Entwicklung und Inbetriebnahme einer vollständigen Produktlinie eng aufeinander abgestimmter Geräte, die die Arbeit der gesamten Königlichen Verwaltung auch weiter maßgeblich unterstützen werden. Zu diesen Apparaten gehören Schreib- und Verwaltungsmaschinen und damit verbundene Geräte, die das Abfassen offizieller Mitteilungen und ähnlicher Schriftstücke erleichtern, aber auch Beleuchtungsanlagen und Jalousien, die eine produktive Arbeitsatmosphäre garantieren, und natürlich die Getränkeautomaten, die die Mitarbeiter mit Heißgetränken versorgen. In letzter Zeit hat Mr Considine seine Arbeitskraft fast ausschließlich der Entwicklung und Installation des Königlichen Signalnetzwerks gewidmet. Diese innovative Technologie, die inzwischen allen bestens bekannt 370 ist, hat in den letzten Jahren fast alle Facetten des täglichen Lebens verändert. Es ist momentan schwer vorstellbar, wie sich die Entwicklung des Netzwerks jetzt, da ihm die leitende Hand von Mr Considine fehlt,
vorantreiben lässt. Doch der Fortschritt muss weitergehen, und wir sind zuversichtlich, dass sich das Netzwerk auch ohne seinen Erfinder in den nächsten Jahren fortentwickeln und den Bürgern noch viele weitere Vorteile und Annehmlichkeiten bringen wird. Wir werden das Andenken Mr Considines in Ehren halten und hoffen, noch viele Jahre von dem großen Werk zu profitieren, das er initiiert hat. Hier nun die Stellungnahme von Meister Gash, dem Leiter der Ermittlungsbehörde der Königlichen Wolfsjungen: Unsere Abteilung ermittelt zur Zeit in mehrere Richtungen, um die Ursache des vorzeitigen Endes von Mr Considine zu klären. Uns liegt vor allem daran, jede mögliche Information über die immer häufigeren Begegnungen mit als »Kobolden« bekannten Geschöpfen zu bekommen. Diese »Kobolde« sind offenbar eine große Plage für die Nutzer des Signalnetzwerks, und wir haben Grund zu der Annahme, dass Mr Considine in den letzten Monaten seines Lebens mehrfach auf die eine oder andere Weise mit diesen »Kobolden« Kontakt hatte. Uns liegt sehr viel daran, künftig jeden derartigen Vorfall abzuwenden, da wir nicht wollen, dass die »Kobolde« zu einer Gefahr für die Gesellschaft werden. In diesem Zusammenhang haben wir einige sehr nützliche Hinweise von einer Miss Veronique Moreau bekommen, die den so tragisch verstorbenen Mr Con371 sidine am Tatort gefunden hat. Ein von Miss Moreau entdecktes Messingschild wurde zu Untersuchungszwecken beschlagnahmt, und nun bemühen wir uns, zu einem Meister Leonardo Pegasus - einem Magier im Hofstaat des alten Königs, der uns vermutlich bei der Untersuchung helfen kann - Kontakt herzustellen. Auch versuchen wir, die Familie von Mr Considine ausfindig zu machen, da seine sterblichen Überreste der Bestattung harren. Wer diesbezüglich Hinweise geben kann, möge sich unverzüglich melden. In der Zwischenzeit sollten die Bürger beim Gebrauch des Signalnetzwerks alle gebotene Vorsicht walten lassen und jeden ungehörigen Vorfall sofort der zuständigen Behörde melden. Die Leser werden der Verfasserin sicher darin beipflichten, dass der Tod eines so geschätzten Mitglieds der Königlichen Verwaltung überaus beklagenswert ist. Mit Fug und Recht kann man sagen, dass unser Königreich ohne den einzigartigen Beitrag von Mr Considine ganz anders aussähe. Der Autorin bleibt Platz genug, noch ein Thema von allgemeinem Interesse anzusprechen. In letzter Zeit wurde von einigen grundlosen nächtlichen Angriffen berichtet. In allen Fällen sind die Opfer ihren rechtmäßigen Geschäften innerhalb der Stadtmauern nachgegangen. Ein Überfallener war sogar Mitglied der Königlichen Wolfsjungen-Miliz! Nach Augenzeugenberichten handelt es sich bei den Angreifern um eine Gruppe von Mädchen oder jungen Frauen, die zerlumpte Sachen tragen und bizarr geschminkte Gesichter und kurz geschnittenes Haar haben. 372 Diese Individuen verbergen sich in der Regel auf Mauern oder Dächern, springen ihre Opfer von oben an und jagen ihnen dadurch einen schlimmen Schreck ein. Zufällig gehört auch unser Leitender Bildredakteur, Mr Norman Loxley, zu den Angegriffenen, ist zum Glück aber nicht ernstlich verletzt worden. Weiter unten haben wir eine Skizze von Mr Loxley abgedruckt, die den von ihm gewählten, etwas überspannten Titel »Angriff der Katzenmädchen« trägt. Natürlich wurde die Königliche Wolfsjungen-Miliz alarmiert - die Bürger können also sicher sein, dass jeder weitere derartige Vorfall unerbittlich verfolgt wird und die Täter festgenommen und aufs Strengste bestraft werden. Abschließend wünscht die Verfasserin König Matthew baldige Genesung. Angesichts der vielen beunruhigenden Vorfälle der letzten Wochen kann man nur inständig hoffen, dass das Königreich rasch wieder friedlichere Zeiten erlebt! Auf Wiedersehen, liebe Mitbürger. Und lang lebe König Matthew! Rusty bekommt Besuch Bedrückt betrachtete Rusty die große, von Hand gezeichnete Karte auf dem großen Tisch unterm Dachfenster seines Büros. Am oberen Rand der Karte stand Stadtplan, Blatt 5: Unterstadt gekritzelt. Darunter hatte jemand den Zusatz 14. Entwurf gestrichen und mit Bleistift 15. Entwurf notiert. Rusty rieb sich entnervt die Schlä373 fen und fragte sich, ob die seit langem fällige Karte der Unterstadt je fertig würde. Seit Gründung des Michael Brown Verlags und der Herausgabe der ersten fünf Blätter der Pläne der Hauptstadt hatte Rusty in jährlichem Rhythmus eine Reihe weiterer Serien veröffentlicht. Vor allem die ersten achtundvierzig Blätter der Regionallandkarten waren sehr erfolgreich gewesen, und inzwischen waren die zweiten achtundvierzig Karten so gut wie druckreif. Der Plan der Unterstadt hingegen wollte und wollte nicht fertig werden, sondern schien sich Rustys Zugriff immer aufs Neue zu entziehen. Vielleicht lag es daran, dass die Leute in der Stadtverwaltung immer wieder ihre Ansichten darüber änderten, was aus dem Bezirk werden sollte. Ständig ließen sie irgendwo ein altes Gebäude abreißen und anderswo einen Neubau errichten, entschieden sich dann um, ließen Projekt um Projekt fallen und schickten mal die Bauarbeiter, mal den Abrissunternehmer fort. Vielleicht rührten Rustys Probleme mit dieser Karte wirklich vom Wankelmut der Städtischen Behörden her - vielleicht aber hatten sie auch mit etwas weniger Greifbarem zu tun, das eher dem Charakter der Unterstadt entsprang. Rusty wusste von seinen Streifzügen durch die Stadt, wie schwierig es war, im verschlungenen Netz der Wege und Stege, der verfallenen Bauten und leeren Grundstücke die
Orientierung zu behalten, und er wusste auch, dass die Unterstadt bei jedem Besuch ein anderes Gesicht zu zeigen schien. Manchmal fragte er sich, ob bei Nacht unsichtbare Hände am Werk waren und die Topografie immer wieder veränderten, die Geometrie eigentümlich verzerrten, die per Kompasspeilung penibel eingenordeten Zeichnungen fehlerhaft 374 werden ließen, kurzum: Schaden um des Schadens willen anrichteten. Reuig erinnerte er sich daran, fast ein Jahr seiner Jugend in der Unterstadt verschwendet, in zweifelhafter Gesellschaft gelebt, auf jede Autorität gepfiffen und sich und andere körperlich und seelisch gequält zu haben. Damals hatte er in jugendlicher Überheblichkeit geglaubt, dort jeden Bordstein, jede Gosse, jede kleinste Einzelheit zu kennen. Nun zweifelte er, dass es tatsächlich so gewesen war - und er bezweifelte, dass es ihm je gelingen würde. Rusty zog die Lesebrille ab und schob sie in die Brusttasche. Dann stand er auf, streckte vorsichtig den Rücken durch und ging zum großen, nach Norden weisenden Dachfenster. Er dachte daran, dass es dieser Ausblick gewesen war, der ihn letztlich bewogen hatte, das Gebäude zu mieten. Mochte im Vordergrund auch eine struppige Wiese liegen, um die sich niemand kümmerte, das Fenster bot eine weite Aussicht auf die hohen Masten im Hafen und die wuchtigen Wohnblöcke des Nordviertels. Zwischen den Bauten war immer wieder der funkelnde Fluss zu sehen, hinter dem gerade noch ferne Hügel zu erkennen waren. In ruhigen Augenblicken genoss es Rusty, den vierzehn Wildziegen beim Grasen zuzuschauen. Heute befanden sie sich ganz rechts, beinahe außer Sicht, und arbeiteten sich durch das büschelige Gras am Fuß der hohen Ziegelmauer, die den Hafen umgab. Rusty sah genau hin, zählte acht weiße und fünf graue Ziegen und fragte sich flüchtig, was mit der sechsten geschehen sein mochte. »Mr Brown?« Rustys Assistentin Charlotte unterbrach mit zaghafter Stimme seinen Gedankengang. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, leise und ohne überflüssiges 375 Theater in Rustys Büro und sogar in sein Bewusstsein zu schlüpfen. »Nur ein paar Minuten, falls Sie nicht beschäftigt sind.« Er nickte, und sie setzten sich. »Na, was liegt heute Morgen an?« Charlotte lächelte zu Rustys üblicher Einleitungsfloskel. Sie hatten sich längst vom Ritual fester wöchentlicher Sitzungen verabschiedet. Rusty traute es Charlotte zu, das Geschäft wie geschmiert zu führen und ihn darüber auf dem Laufenden zu halten, was im Verlag von Tag zu Tag geschah. »Es sind wieder Andrucke der zweiten Serie Regionallandkarten zur Fahnenkorrektur eingetrudelt«, begann Charlotte sofort, »und zwar Blatt 63 bis 66. Dann ist einiges Material zu dieser Konferenz eingetroffen, bei der es um den Orientierungssinn geht oder so. Und im Lauf des Tages kommen die Bauarbeiter - hoffentlich jedenfalls -, um die Wand im Keller zu reparieren. Wir sollten wirklich darauf achten, dass das ordentlich erledigt wird. Ach, und es hat schon wieder einer unserer Zeichner aufgehört - jetzt haben wir nur noch zwei und sollten uns überlegen, wenigstens einen neu einzustellen. Und die Signalmaschine ist noch immer kaputt -die Flaggen wehen weiterhin falsch.« Sie hielt inne, während Rusty sich eine Notiz machte. »Und dann wartet unten ein Mann auf Sie. Ein seltsamer Typ, sehr groß, langes, schwarzes Haar. Er sagt, er heißt Tom Slater.« »Tom Slater?« »Tom Slater - glaube ich jedenfalls.« »Dann bringen Sie ihn besser mal rein. Danke, Charlotte. Mit dem hatte ich an der Akademie zu tun.« Als Rusty an diesem Abend gemütlich zu Hause im Sessel saß und aus dem Fenster sah, ging ihm noch immer das Treffen mit seinem alten Bekannten durch den 376 Kopf. Diesmal riss ihn Eileens Stimme aus seinen Gedanken. »Ashleigh, ich brauch den Tisch gleich fürs Abendessen - räum ihn bitte ab und wisch ihn sauber. Und Rusty, wenn du nicht zu sehr damit beschäftigt bist, aus dem Fenster zu sehen, könntest du das Besteck bereitlegen.« Ashleigh sammelte die Blätter des Briefes zusammen, an dem sie schrieb. Seit sie mit ihrem Vater zum ersten Mal Urlaub auf der Landstraße gemacht hatte, stand sie in regelmäßigem Austausch mit Liam Blackwood. Die beiden Kinder hatten sich rasch eng befreundet, und da die Wagen der Fahrenden in aller Regel nicht mit so modernen Geräten wie Signalmaschinen ausgerüstet waren, mussten sie auf altmodische Weise Kontakt halten und ihre leidenschaftlichen Briefe dem ziemlich unberechenbaren Netz der Kuriere und Boten anvertrauen, die noch immer für sich in Anspruch nahmen, die Post in alle Winkel des Landes zu befördern. »Und wo ist Max?«, fragte Eileen gerade. »Ash, such ihn bitte, wenn du deine Sachen weggeräumt hast, ja? Und beeil dich, Rusty, das Essen ist gleich fertig.« »Warum muss immer ich das machen?«, maulte Ashleigh auf dem Weg zur Tür nach alter Gewohnheit vor sich hin. »Er trödelt wahrscheinlich nur wieder wie üblich im Keller herum.« Kurz darauf sah Rusty seine Tochter unten auf dem Rasen auftauchen. Statt direkt in den Keller zu gehen, wo Max erfahrungsgemäß spielte, blieb sie kurz auf dem Rasen und übte Flamingo-Kicks, die sie in ihrem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Rusty lächelte auf dem Weg in die Küche. Als Ashleigh jünger gewesen war, hatte er sie für einige Übungsfolgen interessieren wol377 len, die Alice ihm beigebracht hatte und die er noch immer von Zeit zu Zeit turnte. Doch obwohl seine Tochter
sich als erfreulich gelenkig erwies, hatte sie bald das Interesse an der recht strengen Figurenfolge verloren und war schließlich auf diese erheblich aggressivere Art gestoßen, überschüssige Energie loszuwerden. »Die beiden sind unglaublich unterschiedlich«, sagte Rusty zu Eileen. »Was meinst du, was Maxie so treibt, wenn er stundenlang für sich allein spielt?« »Ich schätze, er kommt mehr nach mir«, erwiderte Eileen abwesend und goss dabei die Kartoffeln ab. »Ich hab auch viel allein gespielt. Wenigstens fängt er sich nicht ständig Ärger ein. Anders als Ash - die wird langsam wirklich unberechenbar. Jedenfalls wissen wir immer ungefähr, wo Max ist.« Rusty ging ins Nebenzimmer, deckte den Tisch und sprach dabei etwas lauter, um die Unterhaltung fortzusetzen. »Ach, was ich sagen wollte - erinnerst du dich, dass ich mal von einem Tom Slater gesprochen habe, mit dem ich an der Akademie zu tun hatte?« »Das weiß ich nicht mehr so genau«, kam Eileens Stimme aus der Küche. »War nicht ein Slater vor Jahren in diese Verkehrsgeschichte verwickelt? An der Großen Kreuzung?« »Stimmt, genau der.« Rusty hielt inne und war kurz unsicher, wo Löffel und Gabel für den Nachtisch hingehörten. »Er ist heute im Verlag aufgetaucht. Ich hab ihn seit Jahren nicht gesehen. Am Ende habe ich ihm eine Stelle angeboten. Eigentlich wollte ich das gar nicht, doch ich schätze, er wird sich schon einarbeiten.« »Soll er nicht ein etwas zwielichtiger Charakter sein? Hat er nicht im Gefängnis gesessen?« »Ach, so schlimm ist er gar nicht. Klar, er hat einen 378 ziemlich buntscheckigen Lebenslauf, aber immerhin hat er mir alles ganz offen erzählt. Und er kennt sich ein wenig mit Kartografie aus - jedenfalls so gut wie ich -, und eine Ausbildung zum Signalmaschinentechniker hat er auch gemacht. Und einer unserer Zeichner hat neulich gekündigt, also hab ich gedacht, ich gebe ihm eine Chance.« »Ich schätze, das musst du entscheiden - es ist ja dein Geschäft.« Eileen hatte sich kurz vom Herd abgewandt und wischte Wasser auf, das sie verschüttet hatte. »Die Sache ist die...« - Rusty war wieder in die Küche gegangen, um Sets zu suchen - »...er, Tom Slater also, ist gerade erst zurück in die Stadt gekommen und hat noch keine Unterkunft. Ich hab mich gefragt, ob wir...« Eileen musterte ihn argwöhnisch - »... na ja, eigentlich hab ich gesagt, er kann unser Gästezimmer haben. Natürlich nur, bis er was gefunden hat.« Diesem Bekenntnis folgte eine kurze Stille, in der Eileen den Mopp ausdrückte und wieder in den Besenschrank stellte. Schließlich wandte sie sich Rusty zu und wischte sich dabei den Staub von der Schürze. »Du lernst es nie, stimmt's?« Ihre Verzweiflung schien in letzter Zeit nicht mehr mit allzu viel Zuneigung durchsetzt. »Du sollst deine blöden Ideen doch erst mit mir besprechen! Ich hab nämlich wirklich genug von deinen verrückten Untermietern. Und deshalb lautet meine Antwort diesmal Nein. Ist der Tisch jetzt gedeckt?« Rusty war nicht so dumm, den Streit gleich fortzusetzen, und schwieg lieber. Kurz darauf sprang die Tür auf, und Ashleigh und Max kamen herein. »Wasch deine Hände, Maxie, bevor deine Mutter sie sieht«, sagte Rusty schnell. »Und Ash, hol die Teller.« 379 Später, nachdem der Abwasch erledigt und Max schlafen gegangen war und Ashleigh noch zu ihrer Freundin Davina hatte gehen dürfen, die eine Etage tiefer wohnte, sprach Rusty das Thema Tom Slater erneut an. »Wir nutzen das Zimmer doch eigentlich gar nicht«, erklärte er, »abgesehen davon, dass die Signalmaschine dort steht. Und du hast gesagt, wir könnten ein wenig zusätzliches Geld gut brauchen.« »Das stimmt schon«, räumte Eileen widerwillig ein. »Du hast ihm also bereits gesagt, dass er kommen darf? Aber mach ihm gefälligst klar, dass das nur eine Übergangslösung ist. Verstanden, Rusty? Und um Himmels willen, frag mich das nächste Mal erst!« Besuch für Leonardo Leonardo Pegasus wunderte sich manchmal, wie er es geschafft hatte, als Vollzeitmagier zu arbeiten: Jetzt, wo er im Ruhestand war, hatte er viel mehr zu tun als je in den Tagen, da er noch mit allen Verpflichtungen eines gefragten Leistungsträgers belastet war. Sein neuer Arbeitgeber - der Wirt der Gaststätte »Pflug« - wurde langsam alt und verließ sich mehr und mehr darauf, dass Leonardo die Gäste an der Theke bediente, sich um den Keller kümmerte und mit den Lieferanten abrechnete. Und er erwartete von ihm, den Schankraum nach Feierabend zu fegen und zu wischen. Oma Hopkins hatte diese Arbeit ein Jahr zuvor im Alter von einhundertsechs Lenzen endlich aufgegeben und erklärt, sie brauche mehr Zeit für ihren Gemüsegarten. Es hatte sich als gar nicht leicht erwiesen, sie voll zu ersetzen. 380 Und obendrein hatte Leonardo noch eine weitere Arbeit. Jeden Montag zog er seine schweren Stiefel an und trottete in die Hügel hinterm Dorf zur unbemannten Signalwache hinauf, die im Zuge der Ausweitung des Königlichen Signalnetzwerks errichtet worden war. Dort war er in Teilzeit als Aufseher beschäftigt. Meist verlangte ihm das nur wenig mehr ab als Gras zu mähen und Messing zu putzen, doch mitunter, wenn es einen Defekt an Flaggen oder Signalmaschine gab, reaktivierte Leonardo sein lange vernachlässigtes technisches Wissen, um den Fehler zu ermitteln und zu beheben. All dies ließ ihm kaum Zeit für seine zwei leidenschaftlichen Hobbys, nämlich für die Kneipsitzungen am Donnerstagabend mit seinem Freund, dem pensionierten Schulmeister, und natürlich für die Komplexe
Empathiemaschine. Dieses Gerät, das nach vierzig Jahren noch immer in den Kinderschuhen steckte, nahm inzwischen fast den gesamten Dachboden des Stallgebäudes hinterm Gasthaus in Beschlag. Leonardo war sich noch immer nicht recht sicher, was er mit der Komplexen Empathiemaschine anfangen wollte, wenn alles erst bis ins Letzte ausgearbeitet wäre, doch er wusste, wie wichtig es war, solche Dinge nicht schleifen zu lassen. Deshalb versuchte er, sich wenigstens alle vierzehn Tage ein wenig damit zu beschäftigen. Eines Dienstags schob Leonardo Thekendienst, kümmerte sich um die gelegentlichen Bestellungen einer kleinen Hand voll Gäste und sann über den notorisch unberechenbaren Dienstag nach. Der Montag ist in Ordnung, dachte er, man kann sich immer darauf verlassen, dass es dann ruhig ist. Mittwochs dagegen ist die Woche schon halb rum - klar, dass es da langsam voller wird. Und donnerstags ist ja beinahe schon Wochen381 ende. Am Freitag und Samstag ist es natürlich immer voll. Und sonntags ist mittags viel Betrieb, während es abends ruhig ist, weil die Leute am Montagmorgen wieder früh rausmüssen. Doch dienstags weiß man einfach nie, wie das Geschäft wird. Nebulöse Sache. Leonardo schüttelte ratlos den Kopf. Unvermittelt riss ihn eine barsche Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien, aus seiner Träumerei. »Aufwachen, Magier Superhirn! Lange nicht gesehen!« »Veronique? Was machst du denn hier?« Er hatte den Blick deutlich gesenkt und konnte nun das krause Haar des kleinen Clowns gerade eben über den Tresen stehen sehen. »Da mach dir jetzt mal keine Gedanken drüber, mein alter süßer Hexer. Streck einfach den Finger aus und zaubere uns zwei Bier.« »Hock dich an die Theke«, sagte Leonardo. »Dann sehe ich dich wenigstens.« In diesem Moment setzte ein überraschender Gästeandrang ein, und Leonardo hatte bis Feierabend keine Möglichkeit mehr, mit seiner Freundin zu reden. »Was tut sich denn so in der Hauptstadt?«, fragte er dann, um das Eis zu brechen. »Die haben richtig Mist gebaut«, erwiderte Veronique kurz und bündig. »Das Signalnetzwerk ist völlig danebengegangen. Considine, der alte Geier, ist von Kobolden oder ähnlichem Getier abgeschlachtet worden, und jetzt hat niemand einen Schimmer, was zu tun ist. Totales Chaos! Alle rennen wie kopflose Hühner herum. Aber ich hab das hier gefunden.« Sie griff in die Tasche und zog ein angelaufenes Messingschild hervor, auf dem Leonardos Name stand. »Sieht aus, als wäre der kleine 382 Kevie ein richtiger Schlingel gewesen. Sie vermuten, er hat sich manches von deinen alten Sachen unter den Nagel gerissen und unter neuem Namen als seine Erfindung ausgegeben. Und jetzt wollen sie, dass du zurückkommst und das Ganze für sie in Ordnung bringst.« Sie hielt inne, um sich eine ihrer kurzen, stinkenden Zigarren anzuzünden. »Und sie glauben, ich könnte dich vielleicht dazu überreden.« »Wer hätte das gedacht!« Leonardo hatte gerade ein Glas abgetrocknet und stellte es nun auf seinen Platz im Regal. »Es ist bestimmt schon zehn, nein, eher fünfzehn Jahre her, dass dieser Jungspund von König mich rausgeworfen hat. Und jetzt will er mich zurückhaben. Ich hoffe, das lassen die sich ordentlich was kosten.« Beeindruckt vom neu erworbenen Geschäftssinn ihres alten Freundes hob Veronique die Brauen. »Darauf kannst du Gift nehmen«, gab sie zurück. »Das Dumme ist, dass du schon mit der nächsten Kutsche kommen sollst. Geht heute Abend eine ab?« Leonardo lächelte matt. Veronique war wirklich ein sehr großstädtischer Clown und hatte über das Leben auf dem Lande noch jede Menge zu lernen. »Heute Abend nicht, meine Gute. Und morgen auch nicht. Offen gesagt - nicht vor Montag. Ich fürchte, wir werden eine kleine Verzögerung ertragen müssen. Natürlich brauche ich einen Tag oder so, um dafür zu sorgen, dass der Betrieb in meiner Abwesenheit weitergeht. Aber ich schätze, vor allem haben wir einfach...« — er zählte es an den Fingern ab - »...sechs Tage, um an alte Zeiten anzuknüpfen.« Ein verschwörerisches Grinsen schlich sich in die Miene des Clowns. »Wir sitzen hier also sechs Tage fest?« 383 Leonardo nickte unergründlich. »Dann können wir ja noch einen trinken«, sagte Veronique, und Leonardo langte nach zwei Flaschen. Der perfekte Untermieter Rusty war am Mittwochmorgen gerade beim Rasieren, als er die krächzende Hupe des Kuriers vom Hof heraufdringen hörte. »Kannst du hingehen, Eileen?«, rief er. »Ich brauche hier noch ein paar Minuten.« »Ich versteh dich nicht«, kam gedämpft ihre Erwiderung. »Was hast du gesagt?« »Kannst du eben zum Kurier runtergehen?«, wiederholte Rusty. »Ich rasiere mich gerade. Das geht doch ganz schnell.« »Ich bin noch beim Abwaschen«, rief Eileen aus der Küche, »und die Kinder sind auch noch nicht für die Schule fertig. Kann das nicht bis morgen warten?« »Aber, Mama...« - das war Ashleighs Stimme -»...ich erwarte Post von Liam. Die kommt fast immer mittwochs.« »Dann geh du doch runter, wenn es so wichtig ist«, rief Rusty. »Mist, jetzt habt ihr's geschafft: Ich hab mich geschnitten! Muss ich in diesem Haushalt denn alles selbst erledigen?«
»Aber ich bin mit den Haaren noch nicht fertig«, jammerte Ashleigh. »Ich sehe unmöglich aus, absolut unmöglich. So kann ich doch nicht runtergehen. Mama, sag Max, er soll laufen!« »Ich kann meine Hausaufgaben nicht finden«, kreisch384 te Max. Rusty hörte, wie sein Sohn bei der wahllosen Suche nach seinen Heften mancherlei hektisch auf den Kopf stellte. Nachdem das kurze Zeit so gegangen war, öffnete sich die Tür zum Gästezimmer mit charakteristischem Quietschen. »Ich könnte doch runtergehen?« Es war Toms Stimme, die sich da ins Spektakel mischte. »Ich bin schon fertig, und es sieht ja so aus, als wärt ihr alle beschäftigt.« Rusty kam aus dem Badezimmer und wischte sich Blut und Rasierschaum vom Gesicht. »Danke, Tom. Das wäre wirklich eine Hilfe. Maxie? Welche Farbe hat denn das Heft, in dem du gestern deine Aufgaben gemacht hast?« Bis Tom mit der Post zurückgekommen war, hatte Rusty sein Gesicht bereits verpflastert, war Ashleigh mit ihren Haaren beinahe zufrieden und hatte Eileen sich auf alle viere begeben, um unsichtbare Flecken vom Küchenboden zu entfernen. Nur Max war weiter panisch und kroch auf der Suche nach seinen Heften unter den Sesseln herum. Als Toms schlaksige Gestalt ins Wohnzimmer trat, begann Ashleigh in wilder Vorfreude, von einem Bein aufs andere zu hüpfen. »Nur zwei Briefe«, sagte Tom neckend und hielt sie hoch. »Der cremefarbene Umschlag ist für Mr und Mrs M. Brown - der sieht interessant aus.« Er gab Rusty den Brief. »Und der andere hier ist weiß und wirkt ziemlich langweilig. Soll ich den wegwerfen?« »TOM!«, schrie Ashleigh und balancierte dabei zwischen Lachen und Weinen. »Ach, sieh an, hier steht, er ist für Miss Ashleigh Brown.« Tom lachte. »Dann solltest du ihn wohl besser mal öffnen.« 385 Ashleigh schnappte sich den Brief und sauste in ihr Zimmer. Unterdessen hatte Rusty den anderen Umschlag geöffnet. »Eine Einladung zur Einzugsparty«, rief er zu Eileen hinüber. »Von Charles und Sally. Erinnerst du dich noch an die beiden? Offenbar sind sie in eine der neuen Siedlungen in der Unterstadt gezogen.« »Eine Party?« Eileen tauchte nervös in der Küchentür auf. »Wann? Haben Charles und Sally auch Nachnamen? Und wer soll auf die Kinder aufpassen? Sieh mal, wie spät es schon ist! Im Moment habe ich einfach keine Zeit, darüber nachzudenken. Ash, Maxie, seid ihr so weit?« »Klar.« Ashleigh pflanzte sich - noch ganz in Liams Brief vertieft - im Flur auf. »Ich kann meine Hefte noch immer nicht finden!«, rief Max von irgendwo unter dem Sofa. Tom langte hinter ein Kissen. »Max«, sagte er ruhig, »suchst du etwa nach denen hier?« Am späteren Vormittag konnte Charlotte Rusty endlich dazu bewegen, sich die Mauer des Lagerraums im Keller des Michael Brown Verlags persönlich anzuschauen. »Sehen Sie, Mr Brown, das ist nur mit Brettern verschalt. Und auf der anderen Seite ist überall feuchte Erde, sodass das Holz einfach verrottet, sehen Sie, hier... und hier auch. Ich hab schon mal neue Bretter anbringen lassen, aber die sind genauso kaputtgegangen wie die alten. Also hab ich den Bauunternehmer gebeten, nachzubessern, aber letztes Mal ist er einfach nicht aufgetaucht, und ich hab stundenlang seinetwegen im Büro bleiben müssen, obwohl Maisie Ge386 burtstag hatte, und jetzt meint er, er kommt bestimmt heute, allerdings eher später, aber er kann nicht genau sagen, wann.« Während Charlotte Luft holte, bohrte Rusty vorsichtig mit dem Finger an einem morschen Brett herum. Das verrottete Holz gab sofort nach, und als er die Hand zurückzog, hatte er einen Halbmond aus Erde unterm Fingernagel. »Gut, ich denke, das sollten wir wirklich richtig vermauern lassen. Natürlich müssen wir dafür den ganzen Kram wegräumen.« Bei diesen Worten zeigte Rusty auf einen Haufen Pappkartons, in denen frisch gedruckte Landkarten versandfertig bereitlagen, machte dann aber eine unbestimmte Pause und schien den Faden verloren zu haben. Charlotte wartete höflich, bis er sich gesammelt hatte. »Das Lager sollte wirklich ordentliche Wände bekommen«, fuhr Rusty dann fort. »Bitten Sie doch Mr Slater, mit den Bauarbeitern zu reden.« Darüber schien Charlotte erstaunt zu sein. »Ja, gut - wie Sie wünschen.« Als Rusty in der Mittagspause aus seinem Fenster blickte, sah er, dass Charlotte auf die struppige Weide gegangen war und ihre Butterbrote an die Ziegen verfütterte. Aus Jahren gemeinsamer Arbeit wusste er, dass sie das nur tat, wenn sie verärgert oder gekränkt war. Gegen vier Uhr nachmittags kam sie wieder in sein Büro, um einen Teil der Fahnen abzuholen. »Ist Landkarten Zwei fertig?«, fragte sie knapp. »Blatt 63 hab ich geschafft«, erwiderte er. »Es liegt da drüben. Und mit der 64 bin ich fast fertig. Bis Feierabend ist das bestimmt erledigt. Blatt 65 und 66 dürften Anfang nächster Woche so weit sein.« 387 Charlotte blieb, wo sie war, und machte keine Anstalten, die korrigierte Fahne zu holen. »Stimmt was nicht?«
»Nein, eigentlich ist alles in Ordnung...« Rusty war sofort klar, dass dem nicht so war. »Na ja, ach, ich weiß nicht - es ist nur so, dass...« - jetzt stürzten die Worte nur so aus ihr hervor - »... na, Sie haben immer mich gebeten, mich um die Bauarbeiter zu kümmern und dergleichen, immer hab ich so was erledigt, und jetzt heißt es plötzlich: Mr Slater redet mit den Arbeitern, Mr Slater tut dies, Mr Slater tut das...« Sie zog ein erstaunlich großes Taschentuch hervor und begann sich die Augen zu tupfen. »Ich hab das Gefühl, ich bedeute Ihnen nicht mehr das Geringste.« »Aber Charlotte, nicht doch - reden Sie doch keinen Unsinn.« Er ging zu ihr und nahm sie in die Arme. »Niemand könnte Sie je ersetzen. Sie sind so lange hier wie ich. Aber ich weiß doch, wie beschäftigt Sie sind. Sie haben bestimmt jede Menge andere wichtige Dinge zu erledigen. Aber wenn Sie mit den Bauarbeitern reden wollen...« Sie hielten einander noch einen Moment umarmt, bis sie von einem dezenten Hüsteln gestört wurden. »Verzeihung«, sagte Tom. »Ich dachte, Sie hätten mich klopfen hören. Ich wollte bloß sagen, dass ich die Signalmaschine endlich in Ordnung gebracht habe. Ich dachte, Sie wollen sie sich vielleicht anschauen.« Als die Bauarbeiter schließlich tatsächlich auftauchten, war es kurz vor Feierabend, und es stellte sich heraus, dass Charlotte eilig gehen musste, um ihre Schwester zu treffen. Tom spürte die Klemme, in der sein alter Bekannter saß, sofort. »Ist schon gut, Rusty«, sagte er. »Mir macht's nichts 388 aus, länger zu bleiben, um den Jungs zu erklären, wie es aussehen soll, wenn es fertig ist. Warum gönnst du dir nicht mal einen richtigen Feierabend?« »Danke«, erwiderte Rusty, »wirklich sehr nett von dir.« Als er das Gebäude verließ, führte Tom die beiden Männer bereits in den Keller. »Gute Nacht, Charles. Gute Nacht, Sally«, rief Rusty seinen in der Haustür stehenden Gastgebern zu. »Es war wirklich schön, euch wieder zu sehen.« »Ja, danke für den hübschen Abend. Es war nett, euch kennen zu lernen«, fügte Eileen hinzu. »Ihr müsst uns unbedingt bald besuchen.« »Auf jeden Fall«, antworteten Charles und Sally wie aus einem Munde. »Passt auf, wo ihr hintretet.« Die Tür schloss sich leise. Rusty und Eileen konnten ein Weilchen gedämpfte Musik und Gemurmel hören, als sie die noch unbefestigte Straße hinuntergingen. »Gott sei Dank ist das vorbei«, stöhnte Eileen verdrossen, als sie außer Hörweite waren. »Was für langweilige Leute! Wann, sagtest du, hast du die zwei das letzte Mal gesehen?« »Seit meiner Zeit an der Akademie nicht mehr, schätze ich«, antwortete Rusty nachdenklich. »Aber hör mal, Charles ist doch in Ordnung. Ich glaube, er war heute nur etwas geistesabwesend. Es ist bestimmt nicht einfach für ihn - bei all der Verantwortung. Und der Himmel mag wissen, was mit Sally los war, doch sie hat das Herz am richtigen Fleck. Aber ich finde, wir hätten wirklich etwas länger bleiben können. Schließlich muss ich morgen nicht ins Büro.« »Ach, die können mich mal«, stieß Eileen hervor. 389 Sie war von den Vorzügen von Charles und Sally unübersehbar alles andere als überzeugt. »Lass uns eine Droschke nehmen.« »Warum gehen wir nicht zu Fuß?«, schlug Rusty vor. »Die Regenwolken haben sich verzogen, und es dauert nur eine halbe Stunde oder so. Wir könnten die Nordstraße nehmen und an der Bude einen Kaffee trinken.« Ohne einander zu berühren, liefen sie schweigend den Östlichen Boulevard entlang und bogen dann nach rechts auf die Ringstraße. Vor ihnen ragte der Palast mit seinen dunklen Fenstern auf, dessen mit Zinnen bekrönte Silhouette ein gezacktes Loch in die mondbeschienene Wolkenlandschaft schnitt. Die Straße der Bettler lag wie ausgestorben da, und sogar die Nordstraße schien verödet. Als sie an der Kaffeebude ankamen, wischte der Kellner bereits die Tische ab und stellte die Stühle hoch. »Tut mir Leid, Herrschaften. Heute Abend war wenig los. Ich hätte Ihnen einen Kaffee ausgegeben, aber ich hab den Rest leider gerade weggekippt.« Während sie weitergingen, machte Rusty einen neuen Versuch, das Gespräch in Gang zu bringen. »Schon gut, wahrscheinlich war es tatsächlich eine lausige Party«, räumte er ein. »Aber wenigstens können wir jetzt, wo wir Tom haben, ab und zu mal abends ausgehen.« »Wahrscheinlich.« Nach kurzem Nachdenken schien sich Eileens Laune zu bessern. »Ja, stimmt schon. Vielleicht hab ich mich in Tom getäuscht. Und mit den Kindern scheint er wirklich gut auszukommen.« »Er gehört beinahe zur Familie«, versuchte Rusty sie aufzumuntern. »Und er kümmert sich wirklich um unser aller Wohlergehen. Komm, gib's zu - er ist ein prima Untermieter.« 390 »Ja, stimmt. Aber es dauert ewig, bis das Bad frei ist.« Als sie nach Hause kamen, war die Wohnung ganz still. Die Kinder waren in ihren Zimmern, und Tom lag auf dem Sofa vor dem Kamin und schmökerte im Königlichen Anzeiger. Während Eileen bei Max die Decken in Ordnung brachte, setzte sich Rusty zu Tom ans Feuer. »Alles in Ordnung?«
»Tadellos«, antwortete Tom und faltete den Anzeiger zusammen. »Zum Abendbrot waren wir ein paar Pasteten essen. Dann kam ein Regenschauer, und die beiden konnten nicht mehr draußen spielen. Also hab icrf sie mal die Signalmaschine ausprobieren lassen, nur eine halbe Stunde lang - ich hoffe, das war in Ordnung. Danach sind sie ohne Murren ins Bett gegangen. Ich könnte mich an die Onkelrolle direkt gewöhnen.« »Die Signalmaschine?« Eileen war von ihrem Kontrollgang durch die Kinderzimmer zurück. »Hältst du das wirklich für eine gute Idee?« »Ach, Schatz«, beruhigte Rusty sie. »Tom ist der größte Experte in Signalmaschinen. Er hat ein Diplom und alles Mögliche.« Am nächsten Morgen schliefen beide Kinder lange, und Rusty musste sie schließlich zum Frühstück aus den Betten holen. »War es nett gestern Abend mit Tom?«, fragte Eileen. »Tom ist in Ordnung«, sagte Max. Das war wirklich ein Lob, denn er war ein äußerst wortkarges Kind. »Er hat uns die Signalmaschine gezeigt«, schwärmte Ashleigh. »Ich hab einen Kobold gesehen - glaub ich jedenfalls. Das war vielleicht gruselig! Dürfen wir heute wieder an den Apparat?« 391 Rusty und Eileen sahen sich an. »Vielleicht eine Viertelstunde - falls ihr brav seid«, erwiderte Rusty vorsichtig. »Zehn Minuten und keine einzige mehr«, erklärte Eileen. »Wir sind nicht Familie Krösus.« Die Rückkehr des Magiers Als die Kutsche den Hügel zur Hauptstadt hinunterrumpelte, leerte Veronique das letzte Bier und warf die Flasche aus dem Fenster. »Eins hab ich dir immer lassen müssen, Vero«, stellte Leonardo angeschlagen fest. »Du kannst wirklich punktgenau trinken. Wie viele Flaschen, sagtest du, würden wir für die Reise brauchen?« »Elf.« »Und wie viele haben wir leer gemacht?« »Elf. Na ja, eigentlich zehn. Eine hab ich für zu Hause gebunkert. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.« Der Magier fand das sehr lustig. »Eine bunkern - das gefällt mir. Genau wie die alte Veronique. Eine bunkern...« Es dauerte einige Zeit, bis er sich beruhigt hatte. »Sieh mal, wir sind fast da. Wir sollten uns wohl ein wenig herrichten.« »Schön wär's, wenn das noch so einfach wäre«, gab der Clown zurück. »Warum hat uns früher wohl niemand durchschaut?« »Ich bin mir ziemlich sicher, dass man mich durchschaut hat«, meinte Leonardo, und sie prusteten erneut minutenlang vor Lachen. Ein plötzlicher, unangekündigter Halt ernüchterte die beiden schließlich. 392 »Was ist?« Leonardo reckte den Kopf aus dem Kutschenfenster und stellte fest, dass ihr Gefährt in einer Schlange stand, die sich erstreckte, so weit das Auge sah. »Was ist los?« »Die Große Kreuzung ist los«, erklärte Veronique. »Heutzutage muss man Schlange stehen, um sie zu erreichen. Das ist schon seit den... wie hieß das noch? ...Rationalisierungsmaßnahmen so. Du weißt schon, so eine Umstrukturierungskiste. Eine strunzdumme Bande ist das - die würde es nicht mal organisiert kriegen, bei einer Nutte das Dekolletee zu finden.« »Dann hat es wohl eine Menge... Rationalisierungsmaßnahmen gegeben, was?«, wollte Leonardo wissen. »Eine Schraube ohne Ende ist das. Kaum haben sie etwas geändert, ändern sie es gleich wieder. Als dieser Hochmeister Fang ins Spiel gekommen ist, ist alles noch schlimmer geworden. Und seit der König unpässlich ist...« »Unpässlich?« »Das ist die offizielle Formulierung. Aber seit Jahren hat ihn niemand gesehen. Ich schätze, Fang hat ihn irgendwo eingebuchtet. Aber Mund halten, mein alter Hexenmeister. So was darf man nicht öffentlich sagen heutzutage nicht.« »Hört sich an, als hätte ich eine Menge aufzuholen«, sagte Leonardo. »Aber auf der Großen Kreuzung hat doch immer ein ziemliches Durcheinander geherrscht. Damit muss man einfach leben, nehme ich an.« »Die sollten Tom Slater zurückholen«, meinte Veronique. »Das mag ein zwielichtiger Typ sein, aber wenigstens lief alles wie am Schnürchen...« »Tom Slater?«, unterbrach Leonardo sie. »Den Namen kenne ich doch! Tom Slater sagst du...« 393 In diesem Augenblick störten zwei Wolfsjungen das Gespräch, grinsten anzüglich durchs Kutschenfenster und wirtschafteten reichlich aggressiv mit ihren Klemmbrettern herum. »Die Papiere, Herrschaften - Personalausweis, Reiseberechtigungsschein, Fahrtenbuch, Versicherungsnachweis, Reiseziel-Avis, Gepäckliste, grüne Fahrkarte, gelbe Mappe... Verzeihung, Sir, hab ich was Witziges gesagt?« Die Kutsche brauchte bis zum Abend, um ans vordere Ende der Schlange zu rücken. Unterdessen war Leonardo die ganze Zeit damit beschäftigt, die Wolfsjungen davon zu überzeugen, dass er allen behördlichen Ansprüchen der neu und so effizient organisierten Verwaltung der Großen Kreuzung genügte, während Veronique einer Abordnung streikender Kutscher erst am Abend klar machen konnte, dass weder sie noch Leonardo vorhatten,
sich den Wolfsjungen als Streikbrecher anzudienen. Als es dunkel wurde, fielen sie in einen unruhigen Schlaf, wurden aber nach ein paar Stunden durch aggressives Hämmern an die Kutschentür unsanft geweckt. Leonardo stellte entsetzt fest, dass ihm fünf, sechs Mädchen gegenüberstanden. Ihre jugendlichen Gesichter blickten grimmig und waren mit den frechen Nasen und Schnurrhaaren kleiner Säugetiere bemalt, ihr kurz geschnittenes Haar stand stachlig vom Kopf, und ihre zerlumpten Sachen bedeckten kaum ihre pubertierende Gestalt. Zwei, drei Mädchen hatten fies aussehende Messer in der knochigen Faust. »Hände hoch!«, befahl die Anführerin mit durchdringender Stimme. Leonardo war völlig verängstigt und gehorchte eilends, Veronique hingegen hatte andere Vor394 Stellungen. Sie langte in die Handtasche, zog einen schweren schwarzen Revolver und feuerte ein paar Warnschüsse über die Köpfe der Angreifer. »Zieht Leine, ihr kleinen Biester!«, knurrte sie. Die erschrockenen Mädchen gehorchten unverzüglich und waren im nächsten Augenblick spurlos verschwunden. Leonardo brachte die Arme langsam wieder in ihre normale Stellung. »Was waren das denn für welche?«, keuchte er und war von der Kaltblütigkeit seiner Freundin mächtig beeindruckt. »Katzenmädchen.« Veronique schien völlig ungerührt und wischte ihre Waffe mit einem großen Taschentuch ab. »Zu meiner Zeit wurde man von Wolfsjungen angegriffen«, sagte Leonardo erinnerungsselig. »Die wussten ihre Opfer wirklich zu vermöbeln.« »Die Wolfsjungen sind inzwischen unter die ehrbaren Leute gegangen«, erwiderte Veronique. »Na ja, irgendwie jedenfalls. Aber diese Mädchen haben den Bogen raus. Die sind wirklich geschickt, kann ich dir sagen. Und ganz schön süß dabei, einige wenigstens.« »Veronique, du treibst mich zur Verzweiflung«, stöhnte Leonardo. »Hast du je daran gedacht, dir mal einen Freund mit Manieren zuzulegen?« Am nächsten Morgen mussten die beiden die letzte Hürde - den Fähranleger - nehmen und konnten dann endlich eine Droschke anhalten und auf der Nordstraße zum Palast fahren. Statt an der Straße der Bettler auszusteigen und durchs Dienstbotentor zu gehen, rief Veronique dem Kutscher zu, sie auf dem Ring zum Haupteingang zu fahren. 395 »Ich schätze, du willst den Palast nicht unbedingt durch die Hintertür betreten.« Sie grinste anzüglich. »Leider.« »Sehr richtig«, gab Leonardo steif zurück. »Wenn man dabei ist, nach Jahren in der Wildnis im Triumph zurückzukehren, kann man es auch mit Stil tun.« Veronique hatte sich eine zusätzliche Magnetkarte für die Zugangsschleuse am Vordertor organisiert, und nachdem sie sich und ihrem Begleiter Zutritt zum Palast verschafft hatte, führte sie Leonardo über den Hof, durch eine kleine Tür, vertraute Flure entlang, an seiner alten Werkstatt vorbei (die inzwischen - welch Ironie! zu einer Toilette umgebaut worden war) und schließlich die Treppe hinauf zum Thronsaal. Eine Verwaltungsbeamtin bestätigte ihre Ankunft mit einem kaum sichtbaren Nicken. »Meister Leonardo Pegasus und Miss Veronique Moreau«, gab Veronique gespreizt zum Besten. »Wir sind mit dem König verabredet.« Die Beamtin musterte die beiden argwöhnisch. »König Matthew ist weiter unpässlich«, sagte sie schließlich. »Doch Hochmeister Fang erwartet Sie. Nehmen Sie bitte noch einen Moment Platz.« Eine Stunde verstrich. Andere Besucher kamen und wurden in den Thronsaal gelassen, während Leonardo und Veronique völlig unbeachtet blieben. Schließlich weckte Vero ihren Freund mit einem Stoß in die Rippen. »Ich schätze, ich sollte wieder auf meinen Posten gehen, Superhirnchen. Kommst du allein zurecht?« »Keine Sorge«, antwortete der Magier, der es seit langem gewohnt war, warten zu müssen. »Geh du zurück in die Kanzlei. Vielleicht können wir nachher was trinken.« »Gut, Zaubermeister«, krächzte Veronique. Im nächsten Moment war sie verschwunden, und Leonardo war sich selbst überlassen. Nach einer weiteren Stunde sprach er die Beamtin in aller Vorsicht an und rang ihr die widerwillige Zusage ab, sie werde versuchen, Hochmeister Fang auf sein Anliegen anzusprechen. Nachdem sie noch einen glücklicheren Besucher in den Saal geführt hatte, kam sie schließlich mit steinerner Miene auf Leonardo zu. »Verwaltungsirrtum«, sagte sie ohne den leisesten Anflug von Bedauern. »Sie müssen zur Ermittlungsbehörde, Ostflügel, dritter Stock. Finden Sie das?« Müde machte Leonardo sich auf und trottete den langen Flur entlang. Die Nummernschildchen Die Treppenbeleuchtung in den Turmresidenzen funktionierte - wie üblich - nicht. Rusty tastete sich im Halbdunkel aufwärts, schloss die Wohnungstür auf, hängte seinen Mantel an der überfüllten Garderobe neben dem Eingang auf einen Haken und bückte sich, um sich der Schuhe zu entledigen. Er zog sich gerade die dicken, grauen Strümpfe hoch, die ihm wie üblich widerspenstig um die Knöchel schlotterten, als er Eileen aus dem Wohnzimmer rufen hörte. »Du bist spät dran - wir haben schon gegessen.« Ihre Stimme hatte einen unverkennbar feindseligen Unterton.
»Ich hab schließlich nicht gewusst, wann du kommst. Das sagst du mir ja nie. Kann sein, dass ein Rest im Herd steht, falls du darauf noch Appetit haben solltest.« 396 397 Als Rusty ins Wohnzimmer kam, sah er die mit einem gelben Staubtuch bewaffnete Eileen verbissen das Kaminsims putzen. Das schien ihm für diese Tageszeit eine etwas seltsame Beschäftigung zu sein, doch er zog es wohlweislich vor, keinen Kommentar abzugeben. Das Klappern des Geschirrs verriet ihm, dass Tom an der Spüle stand und abwusch. Die Kinder waren nirgends zu sehen. Eileen rückte das Porträt ihres Vaters sorgfältig zurecht und wandte sich dann zu Rusty um. Ihr Gesichtsausdruck zeigte ihm sofort, dass eine Erklärung gefordert war. »Entschuldigung«, sagte er zögernd. »Ich hab gar nicht gemerkt, wie spät es geworden ist. Es ist nämlich so, dass ich länger im Büro bleiben musste, um mit Landkarten Zwei fertig zu werden. Ich hab dir doch vom Redaktionsschluss erzählt oder etwa —« »Ich bin über deine Termine bestens informiert«, stieß Eileen hervor. »Bist du allein im Verlag gewesen?« »Charlotte hat mir geholfen«, gab Rusty widerwillig zu. »Sonst hätte es noch länger gedauert.« »Warum hab ich diese Charlotte eigentlich nie kennen gelernt? Hat sie kein Zuhause, wo sie abends hingehen kann? Ich weiß ja noch nicht mal, ob sie verheiratet ist.« »Verheiratet? Da bin ich mir nicht sicher... früher mal, glaube ich. Ihr Mann hat sie verlassen, genau - oder ist er gestorben? Ach, jetzt erinnere ich mich: Sie hat einen Sohn, und ihre Schwester —« »Wie auch immer, ich finde, du verbringst zu viel Zeit im Büro und zu wenig mit deinen Kindern. Ich weiß gar nicht, was die beiden die ganze Zeit so treiben. Ich hab 398 sie kaum noch unter Kontrolle. Sie scheinen mehr Zeit mit Tom zu verbringen als mit mir.« Rusty wollte gerade etwas sagen, das er sicher bereut hätte, doch da kam Tom mit einem Tablett ins Zimmer, auf dem drei dampfende Becher Kakao standen. »Verzeihung, ich störe hoffentlich nicht, oder?«, fragte ihr Untermieter mit ziemlich dick aufgetragenem Taktgefühl. »Warum setzen wir uns nicht und trinken was Feines?« Diese Unterbrechung zur rechten Zeit besserte die angespannte Stimmung vorübergehend. Rusty und Eileen folgten Toms Vorschlag und ließen sich in den beiden Sesseln nieder. »Verzeihung«, sagte Tom und wies mit dem Fuß Richtung Couchtisch. »Kannst du das eben mal aus dem Weg räumen?« Rusty erhob sich halb aus dem Sessel, um die Sachen auf dem Tisch beiseite zu schieben. »Was sind das denn für Dinger?«, fragte er Eileen. Auf der voll gepackten Tischplatte lagen zwischen all dem üblichen Zeug ziemlich viele kleine, mit Nummern versehene Schildchen, die an kurze Fadenstücke gebunden waren. »Das gehört Maxie, glaube ich. Er sagt mir ja nie, was er so macht.« »Das ist was für die Schule«, erläuterte Tom. »Er hat mir davon erzählt.« Eileen warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Ach, ich hab ihn übrigens die Signalmaschine benutzen lassen, um irgendwas zu überprüfen. Nur für ein paar Minuten vor dem Schlafengehen. Ich hoffe, das ist in Ordnung?« Rusty und Eileen sahen sich an und runzelten die Stirn, doch keiner von beiden wollte darauf eingehen. 399 »Wo ist Ash?«, fragte Rusty nach einer Weile. »Sie liegt doch noch nicht im Bett, oder?« »Ich glaube, sie sitzt gerade an der Signalmaschine«, sagte Tom. »Das hat wohl was mit ihren Selbstverteidigungskursen zu tun. Ich kann sie fragen, wenn du willst.« Doch als sie ins Gästezimmer sahen, war von Ashleigh keine Spur zu finden. Eine eilige Prüfung ihres Zimmers brachte das gleiche Ergebnis. »Oh nein, nicht schon wieder«, stöhnte Eileen. »Ich glaube, das lasse ich mir nicht mehr lange gefallen.« »Wahrscheinlich ist sie nur kurz bei Davina«, vermutete Rusty. »Sie sagt ja nicht immer Bescheid, wenn sie bloß eine Treppe tiefer geht.« Doch eine Stunde später hatten sie noch immer nichts von Ashleigh gehört. »Ich warte, bis sie zurückkommt, falls du dich schlafen legen willst«, bot Rusty seiner Frau an, um den Anschuldigungen zuvorzukommen, mit denen er rechnete. »Nur um sicher zu sein, dass sie wohlauf ist.« Doch er musste vor dem Kaminfeuer eingeschlafen sein, denn erst nach Mitternacht riss ihn das Öffnen der Wohnungstür aus dem Schlaf. Er bekam seine Tochter flüchtig zu sehen, aber statt ins Wohnzimmer zu kommen, verschwand sie sofort im Bad. Behutsam klopfte Rusty an die Tür. »Ash?«, rief er besorgt. »Ash, ist alles in Ordnung?« Doch er konnte nur das Duschwasser laufen hören. Als Ashleigh schließlich auftauchte, war sie in ein Badetuch gewickelt und hatte sich ein Handtuch um die frisch gewaschenen Haare gebunden. Dass ihr Vater mit ihr reden wollte, schien sie einen Moment nervös zu machen. 400 »Tut mir Leid, Daddy«, begann sie, kaum dass sie sich gefasst hatte. »Ich war mit Leuten unterwegs... mit Freunden. Und ich hab nicht darauf geachtet, wie spät es war. Danach musste ich noch meine Haare waschen, und jetzt bin ich echt müde.«
»Dann geh am besten schlafen«, sagte Rusty halb erleichtert, halb besorgt. »Wie wär's mit einem Gutenacht-kuss für deinen Vater? Aber Ashleigh - wir zwei werden morgen früh miteinander reden müssen.« »Schon klar. Logisch.« Doch als Rusty am nächsten Tag aufstand, strebte seine Tochter bereits aus der Tür und sah in Schulblazer und mit Barett ausgesprochen sittsam aus. »Hab's eilig«, rief sie ihm über die Schulter zu. »Wandertag. Hat Mama dir nichts davon erzählt? Ich muss früh los, um den Bus zu kriegen.« Damit hatten Rusty und Eileen sich vorerst zufrieden zu geben. Als Rusty an diesem Vormittag allein an seinem Schreibtisch saß, fiel es ihm schwer, sich auf die Belange des Michael Brown Verlags zu konzentrieren, denn es belastete ihn, nicht zu wissen, wie er mit Ashleighs immer unberechenbarerem Verhalten umgehen sollte. Er nahm an, dass entweder er oder Eileen mit dem Mädchen ein ernstes Wort würde reden und sie vor der Gefahr würde warnen müssen, die nächtliche Straßen für eine schutzlose junge Frau bedeuten. Dieser Auseinandersetzung sah er nicht gerade freudig entgegen. Und was war mit Max? Schenkten sie ihm genug Aufmerksamkeit? Obwohl er anscheinend nie in irgendwelchen Ärger geriet, schien er zunehmend in einer eigenen, selbstgenügsamen Welt zu leben. 401 Dann fiel Rusty auf, dass eigentlich weder er noch Eileen wussten, wie Ashleigh und Max ihre Freizeit verbrachten - und das schon seit einiger Zeit. Ihm wurde klar, dass er keine Ahnung hatte, mit wem sie sich trafen, was sie taten und wie sie dachten. Der einzige Erwachsene, mit dem sie zu reden bereit schienen, war Tom. Rusty runzelte die Brauen und ließ die Arbeit weiter unbeachtet vor sich liegen. Schmerzlich gestand er sich ein, dass er noch nicht einmal eine konkrete Vorstellung davon hatte, worüber sie mit Tom sprachen. Er fragte sich, ob es klug wäre, mal mit ihm über die ganze Sache zu reden, hielt es dann aber für vernünftiger, das erst mit Eileen abzustimmen. Obwohl ihn Toms Anwesenheit in der Wohnung nicht weiter beunruhigte, spürte er doch, dass Eileen immer unbehaglicher zumute wurde. »Mr Brown?« Das war Charlottes Stimme. »Haben Sie da Blatt 691 Ist das bald fertig? Entschuldigung, ich sehe ja, dass Sie beschäftigt sind, aber es geht darum, dass die Bauarbeiter noch immer nicht gekommen sind, um die Wand zu mauern - Mr Slater möchte nun wissen, ob er nach ihnen schicken soll. Und das hier hat der Kurier gebracht; ich dachte, es wäre vielleicht wichtig.« Als sie verspätet merkte, dass ihr Chef nicht in Gesprächslaune war, legte sie den Brief vor ihm auf den Schreibtisch und zog sich zurück. Rusty starrte einige Zeit auf das mittelgroße Pergament, ehe er begriff, worum es sich handelte. Ach ja, diese Konferenz zum Thema - wie war das noch? -Orientierungssinn. Die fand dieses Jahr irgendwie früher statt als erwartet. Er hatte sich eigentlich darauf 402 gefreut, ein paar Tage in einem netten, kleinen Marktstädtchen zu verbringen und ein wenig aus der Hauptstadt herauszukommen. Die Richtung zu finden, war von jeher eines seiner Lieblingsthemen. Er hatte stets die Gelegenheit genutzt, sich mit verschiedenen Theorien darüber vertraut zu machen und sich mit Menschen auszutauschen, die in verwandten Bereichen arbeiteten wie er. Nun aber zweifelte Rusty langsam, ob er die Zeit würde erübrigen können, das diesjährige Treffen zu besuchen. Im Moment war einfach zu viel los — nicht nur im Büro, sondern auch daheim. Wehmütig überflog er die Liste der Vortragsthemen und Referenten. Herkömmliche Methoden der Orientierung sind sie in der Welt der Signalmaschine noch gültig? Prof. Ernest Octavian, Akademie für Kartografie Na, dieses Referat hätte er vermutlich ausfallen lassen. An der Akademie hatte er genug Vorlesungen des alten Octavian im Halbschlaf über sich ergehen lassen und wusste nur zu gut, was er sagen würde. Neue Dimensionen der Genauigkeit bei der Kompasspeilung Dr. K.R.G. de Voonik, Institut für Kalibrierung Das würde natürlich staubtrocken und ungefähr so schwungvoll wie eine alte Schildkröte werden, doch er musste gestehen, dass de Vooniks beinahe weltentrückte Genauigkeit ihm klammheimlich Freude bereitete. 403 Wie man Laien die Grundlagen der Kartografie vermittelt Mr Michael Brown, Michael Brown Verlag Mit einem flauen Gefühl im Magen stellte Rusty fest, dass sein Name braun auf weiß auf der Liste der Referenten stand. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er vor Monaten in einem schwachen Moment zugestimmt hatte, auf der diesjährigen Tagung einen Vortrag zu halten. Quälend unschlüssig wog er die zu erwartenden geschäftlichen Konsequenzen einer so späten Absage gegen die Probleme und Widrigkeiten ab, die damit verbunden waren, zu einer Zeit, da er wirklich sehr beschäftigt war, an einer Konferenz teilzunehmen. Noch immer unentschlossen, drehte Rusty das Tagungsprogramm um. Me zweimal dieselbe Straße nehmen Bausteine zu einer Theorie, wie die Fahrenden ihren Weg finden Prof. Laurel Greening, Universität der Feld- und Seitenwege
Einen Moment hatte Rusty das Gefühl, ihm stocke das Herz. Laurel? Die Fahrende Laurel? Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen? Zehn Jahre? Fünfzehn Jahre womöglich? Wie betäubt arbeitete er die Liste weiter ab, ohne noch zu registrieren, was er da las. Er schätzte, dass es mindestens fünfzehn Jahre her sein musste, seit er Laurel zum letzten Mal getroffen hatte. Bei der Beerdigung seiner Mutter war das gewesen. Und weitere zehn Jahre früher etwa hatte er sie das vorletzte Mal gesehen, im Zirkus nämlich. Und noch früher waren 404 die beiden kurz zusammen in die Dorfschule gegangen. Er hatte sich oft gefragt, was Laurel in den letzten Jahren getrieben haben mochte, und hier war die Antwort: Sie hatte sich zu einer Hochschulkarriere entschlossen! Rusty stellte sich vor, wie sie in einem futuristisch wirkenden Büro ihrer merkwürdigen, neu gegründeten Universität saß und Denken und Taten der Fahrenden studierte, vor Scharen ehrfürchtiger Studenten Vorlesungen hielt und Bücher schrieb. Er fragte sich, ob sein alter Freund Gideon Blackwood etwas über die Universität der Feld- und Seitenwege wissen mochte. Erwähnt hatte er sie jedenfalls gewiss nicht... Einmal mehr wog Rusty die Gründe für und gegen die Teilnahme an der Konferenz ab. Diesmal brauchte er dafür nicht lange. Es würde ihm doch sicher gelingen, innerhalb weniger Tage ein Referat zusammenzuschustern ... »Charlotte!«, rief er. »Ich möchte für diese Konferenz ein Zimmer buchen! Lassen Sie Mr Slater die Signalmaschine hochfahren.« »Ich glaube, die ist schon wieder kaputt«, rief Charlotte aus dem Nebenzimmer zurück. Bis zum Feierabend waren die Bauarbeiter noch immer nicht gekommen, und die Signalmaschine funktionierte auch noch nicht richtig. Rusty sah, dass Tom das Gehäuse des Apparats geöffnet hatte und weit vorgebeugt mit einem Schraubenzieher im Gerät herumstocherte. »Ich möchte jetzt wirklich bald mein Zimmer gebucht bekommen«, sagte Rusty. »Hältst du es für möglich, dass du die Maschine noch heute Abend reparieren kannst?« »Es dürfte nicht mehr lange dauern«, murmelte Tom 405 abwesend. Rusty wartete noch ein Weilchen, während Tom zu Ende brachte, woran er werkelte. Schließlich richtete er sich auf und wandte sich seinem Chef zu. »Na ja, ich werde wohl noch ein paar Stunden brauchen. Von mir aus bleib ich gern länger, um das zu erledigen, wenn du Feierabend machen willst. Gib mir einfach die Schlüssel - ich sperr ab, wenn ich fertig bin.« »Danke, Mann«, erwiderte Rusty. »Ich schätze, ich sollte heute wirklich mal früh ins Bett.« Er zwinkerte Tom zu. »Bis später dann.« »Ja, bis später«, sagte Tom und verschwand wieder unter der aufgeklappten Gehäuseplatte. Als Rusty nach Hause kam, war Ashleigh noch nicht von ihrem Schulausflug zurück, und Max war nach unten gegangen, um sich in den alten Ställen und Nebengebäuden einmal mehr endlos womit auch immer zu beschäftigen. Rusty traf im Flur auf Eileen. Sie war schon wieder auf allen vieren und bearbeitete diesmal den Teppichboden mit Handfeger und Müllschaufel. »Die Wohnung starrt vor Dreck«, klagte sie. »Ich putze jeden Tag durch, aber irgendwie wird es nicht besser. Ich glaube, auch wenn ich zweimal täglich putzen würde, wäre der Effekt gleich null.« »Wir sollten mit Ashleigh ein ernstes Wort reden, wenn sie nach Hause kommt«, sagte Rusty vorsichtig»Red du mit ihr«, fuhr Eileen ihn an. »Mich behandelt sie ja, als wäre ich Luft.« »Von mir nimmt sie auch kaum Notiz. Meinst du, sie würde Tom zuhören?« »Tom? Bist du wahnsinnig? Ich bin sicher, es liegt nur an ihm und der blöden Signalmaschine, dass es so weit 406 gekommen ist. Die haben ihr doch die ganzen verrückten Ideen in den Kopf gesetzt.« Rusty musterte sie verblüfft. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte er schließlich. »Was hat denn Tom damit zu tun? Sie ist einfach in der Pubertät, mehr nicht. Dafür kannst du Tom kaum verantwortlich machen. Vermutlich gehört ihr nur mal der Kopf gewaschen.« In diesem Moment ging die Wohnungstür auf. Ashleigh kam rein, schlich auf Zehenspitzen durch den Flur und verschwand in ihrem Zimmer. »Na bitte, hier kommt deine Gelegenheit«, sagte Eileen. »Das überlass ich dir. Ich muss mich ums Abendessen kümmern.« Sie erhob sich blitzschnell, lief in die Küche und knallte die Tür hinter sich zu. Rusty blieb noch einen Moment stehen, um sich zu sammeln, ging dann ans Ende des Flurs und klopfte bei seiner Tochter. »Ashleigh«, rief er. »Würdest du bitte mal herkommen?« »Ich hab zu tun.« »Bitte, Ashleigh - ich möchte dich nicht holen müssen.« Kurz darauf tauchte Ashleigh auf. Sie war bereits umgezogen und trug von den Schulsachen nur noch das Barett. »Setz dich an den Tisch.« Gleich darauf saßen sich Vater und Tochter am Esstisch gegenüber, auf dem Maxie erneut jede Menge Nummernschildchen hatte liegen lassen. Nach kurzem Schweigen nahm Ashleigh eins davon und fing an, daran herumzunesteln. »Ashleigh, sieh mich bitte an. Und nimm die Mütze ab, verflixt noch mal. Du bist hier nicht in der Schule.«
407 »Keine Lust«, gab sie beleidigt zurück. Rusty beschloss, die Mützenfrage erst mal nicht weiter aufzubauschen. »Wo bist du gestern Abend gewesen? Deine Mutter und ich... wir haben uns Sorgen gemacht.« »Das hab ich dir doch schon gesagt. Ich war mit ein paar Freunden zusammen und hab nicht darauf geachtet, wie spät es ist. Tut mir Leid.« »Was für Freunde?« Rusty wurde langsam ärgerlich. »Und hör endlich auf, mit diesen blöden Schildchen zu spielen.« Plötzlich blickte Ashleigh auf, und ihre jugendliche Miene glühte vor Trotz. »Freunde eben«, wiederholte sie. »Aus der Schule. Aus dem Selbstverteidigungskurs. Keine Ahnung. Was geht dich das eigentlich an?« »Ich bin dein Vater. Es geht mich was an, mit wem du deine Zeit verbringst. Und es geht mich was an, wenn du am Abend noch raus gehst und ich nicht weiß, was du treibst.« »Reg dich doch nicht so auf. Du würdest das sowieso nicht verstehen. Und ich muss noch meine Hausaufgaben erledigen. Kann ich jetzt gehen?« Beide waren aufgestanden. Ashleigh wirbelte herum, um einen theatralischen Abgang hinzulegen, stieß dabei aber mit Eileen zusammen, die gerade mit einem Tablett voller Teller und Gläser aus der Küche kam. Krachend ging das Geschirr zu Bruch, und Mutter und Tochter landeten auf dem Boden. Ashleigh kam als Erste auf die Beine. Zu spät merkte sie, dass ihr Barett bei dem Zusammenprall verrutscht war, und Rusty sah entsetzt, dass ihre langen, fälligen, roten Locken verschwunden waren und sie inzwi408 schen einen hässlichen, ausgefransten Kurzhaarschnitt trug. »Ashleigh«, keuchte Rusty fassungslos. »Wer hat dir das angetan?« »Das hab ich selbst gemacht!«, schrie das Mädchen und drückte die Mütze an die Brust. »Ich bin alt genug, um mir die Haare zu schneiden, oder? Ich bin alt genug, um jede Menge Dinge zu tun, die du mir gern verbieten würdest! Jedenfalls gefallen mir meine Haare so! Was mischst du dich da ein!« Damit stürmte sie in ihr Zimmer und knallte die Tür zu. Eileen war noch immer dabei, sich aufzurappeln. »Es ist furchtbar«, sagte sie schließlich, und Rusty sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. »Was haben wir bloß falsch gemacht? Ich mag mir gar nicht vorstellen, was Paul dazu sagen wird. Nein, lass mich in Ruhe, ich muss das Chaos aufräumen. Such nach Max, wenn du dich nützlich machen willst.« Eileen wollte offensichtlich nicht getröstet werden. Also verließ Rusty die Wohnung zu einem Rundgang durch die vielen Nebengebäude, in denen Max wohl irgendwo spielte. Als er die acht Treppen hinunter sprang, rüttelte er in jedem Stockwerk an den Türen des alten Fahrstuhlschachts, doch alle schienen fest verschlossen. Im Erdgeschoss aber entdeckte er zu seiner Überraschung, dass die Türen angelehnt waren. Dahinter lag ein unförmiger Haufen, der mit einer alten Plane abgedeckt war, unter der sich aber nur jede Menge Gartengeräte befanden, die vermutlich der Hausmeister dort deponiert hatte. Rusty schloss die Türen zum Schacht wieder und ging ums Haus herum zur Rückseite der Wohnanlage, wo einige Nebengebäude standen, die als Ställe für die 409 Ponys des Fahrstuhlführers gedient hatten. In der ersten Box stand eine Schubkarre, in der sich weitere Gartengeräte türmten. Die zweite Box schien bei oberflächlicher Betrachtung leer, doch als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, merkte Rusty, dass fast in der Mitte der Box etwas auf dem Boden lag. Blinzelnd kniete er sich im Dämmerlicht hin, um den kleinen Gegenstand zu begutachten. Als er erkannte, worum es sich handelte, begann sein Herz zu pochen. Es war eine tote Ratte. Und sie hatte ein kleines Schildchen um den Hals gebunden, das die Nummer 376 trug. »Hallo, Dad.« Rusty schrak zusammen, als er die helle Stimme seines Sohnes neben sich hörte. »Toll, du hast 376 gefunden. Ich hab mich schon gefragt, wo sie geblieben ist. Ist sie tot? Wie schade.« Unwillkürlich fuhr sich Rusty mit den Händen übers Gesicht. »Max, was hast du hier unten getrieben, um alles in der Welt?« Er packte den Jungen am Arm. »Komm mit hoch. Das werden wir mit deiner Mutter besprechen müssen.« »Ratten?« Eileen war entgeistert. »Du hängst Ratten Nummern um den Hals? Du dummer Junge! Weißt du denn nicht, dass diese Viecher alle möglichen Krankheiten verbreiten? Was hast du dir bloß dabei gedacht?« Max wirkte völlig unbeeindruckt. »Keine Panik, Mama, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. In dieser Gegend sind sie alle ziemlich sauber. Nur in der Unterstadt haben sie ab und zu Krankheiten verbreitet. Und die meisten hat es ja ohnehin bei der Rattenbekämpfung erwischt. Aber es ist wirklich spannend: Wir geben ihnen Nummern - also die anderen Kinder und ich -, und dann können wir ihre Spur in der ganzen 410 Stadt verfolgen. Sie benutzen Kanalisationsrohre und Abwasserkanäle, und einige legen wirklich große Entfernungen zurück.« Rusty und Eileen hörten so entsetzt wie fasziniert zu. Sie hatten Max noch nie so lebhaft gesehen. »Und wer sind diese anderen Kinder?«, fragte Eileen leise. »Die hab ich nie getroffen, weißt du, aber ich hab über die Signalmaschine mit ihnen Kontakt. Tom hat mir
gezeigt, wie das geht. Es gibt eine Art Klub, und wir tauschen untereinander Nummern, und es gibt Preise, wenn man die Ratten findet, die die längsten Strecken zurückgelegt haben...« »Du wirst nichts davon mehr tun, hast du verstanden?«, schrie Eileen. »Nie wieder, kapiert? Kapiert? Jetzt wasch dir die Hände, nein, leg dich in die Wanne. Wasch dich überall. Und komm wieder her, wenn du damit fertig bist.« Sie wartete, bis Max ins Bad gegangen war. »Ich würde ihn am liebsten selbst abschrubben«, tobte sie, »obwohl er schon zwölf ist! Ratten in den Ställen! Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir hier wohnen bleiben sollen!« Aus heiterem Himmel fuhr sie Rusty an: »Und du hast diesen so genannten Freund von dir angeschleppt, diesen Verbrecher, diesen Verrückten, und er hat meinen Kindern die furchtbaren Unsitten angewöhnt, mit Ratten zu spielen und sich sonst wo herumzutreiben, aber du denkst nur an deine Konferenz und deine dämlichen Karten...« »Ich könnte mal mit dem Hausmeister reden«, schlug Rusty vor. »Wegen der Ratten.« »Was kann der schon unternehmen? Du hast doch gehört, was Max gesagt hat! Die wimmeln in der ganzen Stadt herum!« 411 »Auf dem Land hatten wir auch welche«, erinnerte Rusty sie. »Ich würde am liebsten zurück aufs Land ziehen!«, blaffte Eileen ihn an. »Zurück ins Dorf! Zu Daddy. Er braucht mich ohnehin. Und die Kinder braucht er auch. Die bekommt er ja nie zu sehen. Dort wären sie wenigstens vor Irren wie Tom sicher!« »Du kannst Tom doch nicht die Schuld ge -« »Und ob ich das kann! Ich gebe ihm Schuld an allem! Und ich sage dir, was du tun wirst! Du wirst ihn rausschmeißen! Ich will ihn keine Nacht mehr in meinen vier Wänden haben!« In diesem Moment ging die Wohnungstür auf. Tom Slater kam aus dem Büro zurück. »Sag es ihm«, verlangte Eileen eisig. »Und zwar jetzt. Ich geh schlafen. Und wenn er morgen früh noch hier ist...« Rusty begab sich eilends in den Flur, um seinen Gast abzufangen. »Wollen wir nicht noch ein Bier trinken gehen?«, schlug er matt vor. »Wir müssen leider etwas Ernstes bereden.« Die Berichte von Mr Considine Das Büro von Meister Gash war stickig und fensterlos und schien mindestens doppelt so hoch wie breit. Diesen Eindruck verstärkten hohe, graue Aktenschränke aus Metall, die seinen kleinen Schreibtisch auf drei Seiten umgaben, und der harte, senkrechte Lichtstrahl der nackt an der Decke hängenden Lampe. Als Leo412 nardo kurz vor Feierabend endlich vorgelassen wurde, stieg der kleine, reichlich untersetzte Gash gerade von einer wackligen Holzleiter, die rechts an den Schränken lehnte. Er hatte ein Bündel gammlig wirkender Papiere unterm Arm, das er auf den Schreibtisch knallte, ehe er sich in seinen hölzernen Drehstuhl fallen ließ. »Setz dich«, keuchte er schwer atmend. »Früher war ich mal sehr sportlich, auch wenn man das heute nicht für möglich halten mag. In meinem Revier war ich schneller als jeder Schurke, bin über Mauern gesprungen und hab Bettler mit bloßen Händen in Stücke gerissen. Aber das ist natürlich alles den Bach runtergegangen, als sie mich hinter diesen Schreibtisch gesteckt haben. Willst du Kaffee? Kakao? Sonst etwas?« »Nein danke«, antwortete Leonardo. Im Laufe dieses langen Tages, an dem man ihn in einem Büro nach dem anderen hatte warten lassen, hatte er fast ununterbrochen - mal aus Tassen, mal aus Bechern - Unmengen Kakao und Kaffee getrunken. »Aber sehr freundlich von Ihnen.« »Ich schätze, du willst dir das hier ansehen«, sagte Gash und zeigte auf den Papierstapel. »Ich werde daraus nicht schlau. Zieh Leine, siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?« Letzteres galt dem bedauernswerten Kollegen, der zufällig gerade die Tür geöffnet hatte. »Tschuldigung. Aber ich erzähl dir jetzt mal, was ich weiß.« »Über die Kobolde?«, erkundigte sich Leonardo zögernd. »Kobolde? Ja, so hat er sie genannt. Ich hab mich nicht so dafür interessiert«, erklärte Gash, »aber Kevin Considine hatte einen ausgewachsenen Koboldfimmel. Doch dann hatte er ja den kleinen Unfall, und ich Blödmann 413 hab die ganzen Berichte aufgehalst bekommen. Von mir aus kannst du die behalten.« »Was steht denn drin?« Leonardo befingerte zweifelnd das oberste Blatt. »Ach, alles Mögliche. Niemand hat wirklich was über die Kobolde gewusst - mit Ausnahme des jungen Considine natürlich, aber ich fürchte, der kann dir nicht mehr viel helfen. Man nimmt an, dass Kobolde ihn abgesägt haben, obwohl ich mir da nicht so sicher bin. Jedenfalls hatte er uns gebeten, einen Aufruf an die Bürger zu veröffentlichen. Den haben wir in den Königlichen Anzeiger gesetzt, und dieser Haufen hier ist das Ergebnis. Wie gesagt, für mich ergibt nichts davon einen Sinn, aber du kannst es gern mal probieren. Willst du sonst noch was wissen?« »Kann ich hier irgendwo...?« »Tschuldigung, ja, klar. Wir haben ein kleines Büro für dich leer geräumt - einfach den Gang runter, direkt neben der Kaffeemaschine.« Das Büro, zu dem Meister Gash Leonardo den Weg gewiesen hatte, war angenehm geräumig, hatte ein
mittelgroßes Sprossenfenster zum Ehrenhof des Palastes und war bis auf Tisch und Stuhl ausgeräumt. Kaum hatte Leonardo sich an die Arbeit gemacht, streckten ab und zu Leute den Kopf durch die Tür und fragten nach einem 422/f oder manchmal auch nach einem B 19. Natürlich konnte Leonardo ihnen nicht helfen, fragte sich aber, welchem Zweck das Zimmer zuvor gedient haben mochte. Das Tageslicht schwand rasch. An diesem Ende des Flurs gab es offenbar keinen Strom, aber Gash hatte Leonardo vorausschauend mit ein paar Öllampen ver414 sorgt. Bei ihrem gelb flackernden Licht machte der Magier sich nun an die gründliche Durchsicht der Papiere und begann die Lektüre mit dem Bericht, der obenauf lag. Eine Miss Davina Wright, dreizehn Jahre alt, hatte sich an der Signalmaschine ihres Vaters anscheinend oft mit einem unbekannten, vielleicht nur eingebildeten Freund unterhalten. Vor zwei Monaten dann hatte sie die Wohnung verlassen und war bisher nicht zurückgekehrt ... Ein Mr Norman Loxley hatte unter Kopfschmerz und Schlaflosigkeit gelitten und vermutet, das hänge mit der Arbeit an der Signalmaschine im Zuge seiner Tätigkeit als Bildredakteur des Königlichen Anzeigers zusammen. In einem Wutanfall hatte er das Gerät eines Tages aus dem Bürofenster geschleudert, woraufhin die Beschwerden sofort aufgehört hatten... Eine Miss Maisie Rowland hatte die Signalmaschine ihrer Schwester Charlotte übertrieben lange und völlig gedankenlos benutzt. Ihr Verhalten war »wild und ungebührlich« geworden, was der Verfasser des Berichts allerdings nicht weiter erläutert hatte. Nachdem das Gerät vom Netz genommen worden war, hatte Miss Rowland sich ins Bett geflüchtet und war dort einige Wochen geblieben... Eine Mrs Paola Mezzoforte hatte ihren Ehemann, der per Signalmaschine sieben Stunden ununterbrochen mit einer unbekannten Person gesprochen hatte, zornig zur Rede gestellt. Mr Mezzoforte hatte seine Frau daraufhin angegriffen und brutal erschlagen... Nachdem er zehn, zwölf weitere und ziemlich ähnliche Berichte gelesen hatte, kam Leonardo allmählich zu dem Schluss, es müsse tatsächlich einen Zusammen415 hang zwischen dem Gebrauch der Signalmaschine und den verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten - ob sie nun bloß bizarr, schon unvernünftig oder (wie im Fall von Mr Mezzoforte) geradezu kriminell waren - geben. Was aber, fragte sich Leonardo, geschah da eigentlich genau? Falls die Leute wirklich Botschaften bekamen, die sie zu diversen Formen merkwürdigen Verhaltens anstachelten, wer oder was sandte dann diese Botschaften? Und warum? Er begann die Lektüre des nächsten Berichts. Eine Mrs Eileen Brown, die längere Zeit über die vom Ehemann installierte Signalmaschine Kontakt zu ihrem Vater gehabt hatte, hatte einen Putzzwang entwickelt und war nicht davon abzuhalten, die Wohnung sogar zu den unmöglichsten Tageszeiten zu reinigen. Auf Befragen hatte Mrs Brown erklärt, ein Bekannter namens Leah oder Leigh habe sie ermuntert... Leonardo saß kerzengerade da. Draußen war es inzwischen stockdunkel, und der flackernde Schein der stinkenden Öllampe war seine einzige Lichtquelle. »Leigh?«, flüsterte er besorgt. »Leah? Wo ist mir so ein Name bloß schon mal begegnet?« In diesem Moment aber riss ihn das unverwechselbare Geräusch, mit dem jemand mit schwerem Stiefel eine Bürotür aufstößt, aus seinen Spekulationen. Dieser Jemand war Veronique. »Hier haben sie das alte Genie also abgeladen«, krächzte sie. »Hübsch sitzt du da, die Nase in deine Unterlagen gesteckt. Ich wette, du hast noch keinen Bissen gegessen! Und wo willst du heute Nacht schlafen? Darüber hast du doch garantiert noch nicht nachgedacht, du dummer, alter Sack!« Betreten sah Leonardo sie über die Brille hinweg an. 416 »Los, lass den ganzen Mist liegen«, sagte seine Freundin einigermaßen verzweifelt. »Du kommst jetzt mit und wirst auf Vordermann gebracht.« »Früher bin ich immer ins >Ausrufers Ruh< gegangen«, erinnerte sich Leonardo. »Das >Ausrufers Ruh«, gluckste Veronique. »Ja, das gibt es noch, und es sieht fast genauso aus wie eh und je. Bist du bereit?« »Kann ich das hier eben zu Ende -« »Nein«, unterbrach sie ihn. »Leg das jetzt hin und lies morgen weiter. Schließlich macht die Kneipe in einer Stunde zu.« Reisevorbereitungen »Charlotte?«, rief Rusty. »Haben Sie kurz Zeit? Ich hab den Vortrag für die Konferenz fertig.« Wie erwartet, hatte es fast zwei Tage gedauert, das Referat zu entwerfen und aus dem Entwurf den fertigen Text zu stricken. Deshalb waren die Korrekturen des lang erwarteten Blattes 69 natürlich noch immer nicht ganz fertig, doch Rusty ging davon aus, in den wenigen Tagen bis zu seiner Abreise noch Zeit genug dafür zu haben. Er drehte das Manuskript in den Händen und schob die Blätter auf der ramponierten Eichenplatte hochkant zurecht, bis sie übereinander lagen, doch immer wieder schien irgendein Blatt partout aus dem Papierstoß sehen zu wollen... »Mr Brown?« Charlotte hatte sich wie stets lautlos genähert. »Wenn Sie mir das Manuskript jetzt geben, kann
ich bis Feierabend davon noch Kopien ziehen. Ach ja, 417 und wenn Sie es schaffen könnten, mit Landkarte 69 fertig zu -« »Das erledige ich schon noch, Charlotte - versprochen. « »Ja, selbstverständlich. Ach, die Bauarbeiter sind übrigens aufgetaucht. Ich glaube, Mr Slater hat sie sich gerade vorgeknöpft. Gibt es sonst noch was?« »Ich glaube nicht, Charlotte.« Rusty merkte, dass sie nicht darauf aus war, sich lange in seinem Büro aufzuhalten. »Bitten Sie Mr Slater doch, kurz zu mir hochzukommen, wenn er mit den Bauarbeitern fertig ist.« Er konzentrierte sich auf die nächste Aufgabe, auf die letzten Korrekturen des heiß ersehnten Kartenblatts 69 nämlich, und merkte nicht, dass sie das Zimmer verließ. Wie immer, wenn Rusty sich auf Fahnenkorrekturen konzentrierte, versank er völlig in seiner Arbeit, ergänzte mal hier, mal dort eine kleine Einzelheit und trat mitunter einen Schritt vom Tisch zurück, um den Gesamteindruck der Zeichnung einzuschätzen. Es mochte eine, es mochten zwei Stunden vergangen sein, ehe er merkte, dass Tom in der Tür stand und sich so zurückhaltend umsah, wie es einem Mann seiner Größe nur möglich war. »Ach Tom, hallo. Entschuldige, aber ich hab dich nicht kommen hören. Rein mit dir, setz dich.« Er legte die Arbeit beiseite und wandte sich seinem Besucher zu. »Hör mal«, sagte Tom schnell. »Bevor du fragst, ich hab eine andere Unterkunft gefunden. Sei also ganz unbesorgt. Ich hatte mir übrigens seit einiger Zeit darüber Gedanken gemacht.« Rusty konnte ein erleichtertes Seufzen knapp unterdrücken. »Was da neulich abends passiert ist, tut mir 418 Leid«, brachte er reumütig vor. »Es war ziemlich peinlich, aber du weißt ja, dass Eileen sich mitunter seltsame Dinge in den Kopf setzt. Man kann dann einfach nicht vernünftig mit ihr reden - na ja, ich jedenfalls kann es nicht.« »Es ist doch nichts Schlimmes passiert«, erwiderte Tom. »Und vermutlich ist es einfach an der Zeit weiterzuziehen. Ist bei euch inzwischen alles wieder in Ordnung?« Rusty presste die Lippen aufeinander und wand sich ein wenig im Stuhl hin und her. »Einigermaßen. Eileen ist noch reichlich aufgebracht wegen der Kinder. Und ich glaube, sie möchte eigentlich nicht, dass ich auf die Konferenz fahre. Aber ich sage ihr immer wieder, ich bin doch nur ein paar Tage weg. Und ich nehme die kleine tragbare Signalmaschine mit, falls sie Verbindung mit mir aufnehmen will. Ist die jetzt eigentlich repariert?« Tom lehnte sich zurück und streckte seine langen Beine aus. »Ja, alles erledigt. Und ich lass den Akku aufladen, falls es dort keinen Strom geben sollte. Dadurch wird das Gerät etwas sperrig, aber ich schätze, das ist die Sache wert.« »Danke«, erwiderte Rusty. »Hör mal, es tut mir Leid, dass ich dich nicht mitnehmen kann. Ich glaube, es würde dir gefallen. Aber du bist in meiner Abwesenheit im Büro unentbehrlich. Es hat mir nie richtig geschmeckt, alles Charlotte zu überlassen. Vielleicht kannst du nächstes Mal mitfahren.« »Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte Tom locker wie immer. »Ich hätte sowieso hier bleiben müssen, um dafür zu sorgen, dass die Bauarbeiter die Bude nicht zum Einsturz bringen.« 419 »Super. Danke, Kumpel.« Rusty wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Das Gespräch war also vorbei, und Tom zog los, um sich um die Signalmaschine zu kümmern. Es gab nun keine Unterbrechung mehr, bis die Glocken des Instituts für Kalibrierung zur Mittagspause läuteten. Als Rusty ein paar Minuten später ans Fenster schlenderte, sah er Charlotte draußen auf der Weide stehen. Die Ziegen hatten sich in einem Halbkreis um sie versammelt und kauten mit nichts sagender Miene die Brote, die sie ihnen hinwarf. Seitdem seine Eltern ihm verboten hatten, im Fahrstuhlschacht und in den Nebengebäuden zu spielen, hatte Max erneut begonnen, Flöte zu üben. Aus seinem Zimmer drang immer wieder ein und dieselbe Tonfolge. Der Junge machte stets den gleichen Fehler an genau derselben Stelle, und jedes Mal begann er wieder von vorn - wohl in der Hoffnung, wenn er die Melodie nur oft genug wiederholte, würde sich der Fehler irgendwann von selbst beheben. »Kannst du mal ein paar Minuten mit der Musik aufhören, Maxie?«, rief Rusty. Die Bemühungen seines Sohns begannen ihm langsam auf die Nerven zu gehen. Das schrille Trällern endete abrupt, und Max streckte den Kopf aus der Tür. »Was kann ich denn sonst tun?«, klagte er. »Erst lässt du mich nicht draußen spielen, und jetzt lässt du mich nicht üben. Was soll ich denn anfangen?« »Wie wär's mit etwas, das keinen Lärm macht?«, schlug Rusty vor. »Merkst du nicht, dass ich versuche, mich zu konzentrieren? Hast du keine Hausaufgaben zu erledigen?« 420 »Doch, ich schätze schon.« Die Tür knallte wieder zu. Rusty setzte sich im Sessel zurecht und machte sich erneut an den Text seines Vortrags. Er würde am nächsten Tag auf die Konferenz reisen und mühte sich ab, sich einzuprägen, was er zu sagen hatte. »Kann ich mir deine Lederjacke leihen, Dad?« Ashleigh hatte ein paar Tage Stubenarrest bekommen, durfte inzwischen aber gelegentlich wieder nach draußen - unter der strikten Voraussetzung allerdings, dass sie zu einer
vertretbaren Zeit daheim war. Rusty seufzte. Die Stunde vor dem Abendessen -einst eine ruhige Zeit häuslichen Friedens - war in den letzten Wochen zu einer aufreibenden Abfolge familiärer Plänkeleien verkommen. Er sehnte sich geradezu danach, all dem ein paar Tage zu entfliehen. »Lass dich mal ansehen. Ist die Jacke in den Schultern nicht ein bisschen zu breit?« »Mann, Dad. Alle tragen sie jetzt so. Hast du denn überhaupt keine Ahnung?« »Vermutlich so gut wie keine«, entgegnete Rusty sarkastisch. »Und offenbar jedenfalls nicht auf Gebieten, die dich interessieren könnten.« Als Ashleigh sich vor ihm hin und her drehte, ging die Küchentür auf, und Eileen erschien mit einem Tablett, auf dem Sachen für das Abendessen standen. Diesmal konnte sie einen erneuten Zusammenstoß gerade noch vermeiden. »Ash! Was glaubst du denn, wie du aussiehst?«, fuhr sie ihre Tochter an. »Diese Jacke hab ich immer gehasst. Und hast du etwa keinen besseren Rock? Der ist ja praktisch in Fetzen. Und du willst doch wohl nicht ohne Strümpfe aus dem Haus!« »Schon gut.« Beleidigt verschwand das Mädchen wieder in ihrem Zimmer. 421 Kurz darauf klingelten Ashleighs Freunde, und nachdem Eileen das Outfit ihrer Tochter ein zweites Mal kontrolliert hatte, gab sie ihr schließlich die Erlaubnis, zu ihnen runterzugehen - nicht ohne ihr allerdings vorher noch mal eingeschärft zu haben, unbedingt rechtzeitig wieder daheim zu sein. Max wurde zur üblichen Zeit ins Bett geschickt, und Rusty und Eileen blieben auf, warteten auf ihre Tochter und tranken Kakao. »Kommst du klar, während ich weg bin?«, fragte Rusty. »Ach, hör schon auf«, erwiderte Eileen schroff. »Wir wissen doch beide genau, dass du auf deine dämliche Tagung fahren wirst, ganz egal, was ich dazu sage. Ich schätze, Charlotte wird dich begleiten, was?« »Charlotte?« Rusty war erstaunt. »Nein, Charlotte und Tom kümmern sich um den Verlag.« Er merkte, wie Eileen bei der Erwähnung ihres ehemaligen Untermieters zusammenzuckte. »Der Betrieb muss ja weitergehen, auch wenn ich nicht da bin.« In diesem Moment öffnete sich die Wohnungstür, und Ashleigh tauchte wieder auf - aufgeregt und atemlos, aber pünktlich. »War's schön?«, wollte Rusty wissen, doch als sie in den Lichtkreis der Zimmermitte trat, fiel ihm die Kinnlade herunter. Er hatte Ashleigh schon früher mit geschminktem Gesicht gesehen, zum ersten Mal aber erblickte er sie in einer solchen Bemalung. Die ausgefransten roten Haare rahmten eine kalkweiße Grundierungscreme, und ein stümperhaft gehandhabter schwarzer Augenbrauenstift hatte den jugendlichen Zügen die plumpe Illusion von schrägen Mandelaugen und dünnen schwarzen Lippen sowie die unverwechselbare Knopfnase und die Schnurrhaare einer Katze verpasst. 422 Als Ashleigh sah, wie anklagend ihre Eltern sie anstarrten, wandte sie den Blick ab. »Was ist denn?«, murmelte sie in einer Mischung aus Trotz und Verlegenheit. »Das ist bloß Schminke, sonst nichts. Das ist nur ein bisschen Spaß.« »Geh sofort ins Bad«, sagte Eileen mit zitternder Stimme. »Und komm ja nicht wieder raus, ehe du das nicht abgewaschen hast. Und zieh diese furchtbaren Klamotten aus. Ich ertrag es nicht, dich so zu sehen - ich ertrag es einfach nicht. Verstanden?« Ohne noch ein Wort zu sagen, floh Ashleigh aus dem Zimmer. Eileen starrte Rusty beinahe hasserfüllt an. »Dann fahr doch zu deiner beschissenen Konferenz«, zischte sie. »Mach, was du willst. Aber so, wie ich mich gerade fühle, kannst du von Glück sagen, falls ich noch hier sein sollte, wenn du zurückkommst.« In dieser Nacht schlief Rusty schlecht und schreckte immer wieder hoch, kaum dass er eingedöst war. Ihm war undeutlich bewusst, dass Eileen sich neben ihm hin und her wälzte. Lebhafter hingegen fand er sich in miteinander verwobene Traumstränge verstrickt, die ihre Netze - ob er schlief oder wachte - um ihn schlangen. Die abgebrochenen Melodien, die Max wieder und wieder auf der Flöte intonierte, wanden sich durch die Absätze seines Vortrags, die er halb im Kopf behalten, halb wieder vergessen hatte, und der strenge Ton von Eileens drastischen Worten lieferte zu all dem die Interpunktion. Und im Zentrum des Gewebes schimmerte Ashleighs zerbrechliche Gestalt. Denn mehr als alles andere war es Ashleighs bestür423 zende Verwandlung, die ihm in dieser Nacht den Schlaf raubte. Ashleigh mit ihrem grotesk geschminkten Gesicht und ihrem rigoros kurz geschnittenen Haar. Ashleigh, die die alte Lederjacke achtlos über die schmalen Schultern geworfen hatte. Ashleigh, deren lange Schulmädchenbeine der zerlumpte Rock und die zerrissenen Strümpfe mehr entblößten als bedeckten. Ashleigh, so begriff er, war nicht mehr sein kleines Mädchen - denn am Abend zuvor hatte er in seiner Tochter zum ersten Mal den zarten Prototyp einer Frau erkannt. Bis zum Morgen wälzte er sich unruhig auf seinem Lager hin und her, während auch Eileen sich neben ihm ruhelos herumwarf und vielleicht in einen eigenen Alptraum verstrickt war. Am anderen Ende der Wohnung dagegen schliefen die beiden Kinder tief und friedlich in ihren schmalen Betten.
SIEBTES KAPITEL Der Fahrstuhlschacht Königlicher Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger, Ausgabe 191 (im sechzehnten Jahr der Regentschaft von König Matthew) Leitartikel von Miss Garamond Seid gegrüßt, Bürger! Es ist zweifellos bekannt, dass den Bewohnern der Hauptstadt weiter endlos viele zermürbende Hindernisse begegnen - unbesonnene Fußgänger laufen ständig Gefahr, von grausamen Banden junger Frauen angegriffen zu werden, die inzwischen allgemein »Katzenmädchen« heißen; Benutzer des Königlichen Signalnetzwerks sind dauernd den Schikanen geheimnisvoller Wesen namens »Kobolde« ausgesetzt; Reisende an der Großen Kreuzung müssen trotz unermüdlicher Anstrengungen der Behörden noch immer ewige Verspätungen und Schwierigkeiten erleiden. Bedauerlicherweise ist König Matthew nach seiner so lange verschobenen Rückkehr aus der Grenzregion noch immer unpässlich. Die Leitung des Königreichs bleibt daher vorläufig in den Händen von Hochmeister Fang, dem Leiter der Innenbehörde, und die Verfasserin 425 freut sich, den Lesern garantieren zu können, dass der Sicherheit der Bürger wie stets alle gebotene Aufmerksamkeit zuteil wird. Bei der monatlichen Privataudienz hat der Hochmeister es gnädigerweise für angebracht gehalten, die vielen Initiativen aufzuzählen, die inzwischen ergriffen wurden, um im Alltag der Hauptstadt die frühere Ordnung und den alten Anstand wiederzuerlangen. Erstens hat der Hochmeister - was die Angriffe der »Katzenmädchen« betrifft - persönlich garantiert, sofortige und entschlossene Maßnahmen zu ergreifen, um diese Bedrohung für immer von unseren Straßen zu verbannen. Die Königliche Wolfsjungen-Miliz hat ihre Patrouillengänge verdoppelt, und es ist bereits zu einer Reihe von Verhaftungen gekommen. In einem Bericht von Meister Gash, dem Leiter der Ermittlungsbehörde der Königlichen Wolfsjungen, heißt es: Infolge verstärkter Patrouillen nach wiederholten Angriffen von »Katzenmädchen« sind einige Personen festgenommen und streng verhört worden. Dabei hat die Ermittlungsbehörde die bemerkenswerte Entdeckung gemacht, dass die Angreiferinnen nicht - wie allgemein vermutet - Stadtstreicher oder Bettler sind, sondern anständige junge Frauen und Mädchen aus guter Familie, die absichtlich zerlumpte Sachen angezogen und ein widerspenstiges Verhalten angenommen zu haben scheinen, um die Ordnungskräfte in Verruf zu bringen. Der tiefere Sinn dieses eigenwilligen Verhaltens hat sich als schwer bestimmbar erwiesen, doch die Patrouillen werden ihre vorbeugende Arbeit vorläufig fortsetzen, und die Bürger können sicher sein, dass sehr bald wieder vollständige Ordnung herrschen wird. 426 Hochmeister Fang erklärte, er habe zusätzlich eine Reihe dieser jungen Frauen zu einem persönlichen Gespräch eingeladen und sei nach gründlicher Erforschung ihrer Einstellungen und Beweggründe zu dem Schluss gekommen, ihr Verhalten sei einer Frustration geschuldet, der Unterdrückung der natürlichen Impulse gesunder junger Frauen nämlich. Mit anderen Worten: Obwohl diese Mädchen bereits eine erhebliche körperliche und geistige Reife besitzen, fühlen sie sich von den Behörden missachtet oder unterschätzt und von jeder irgend relevanten Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen und sehen sich daher gedrängt, ihre Fähigkeiten durch das einzige Mittel zu verwirklichen, das ihnen - wie sie glauben - zur Verfügung steht: durch grundlose Gewalt. Nach langem Nachdenken gibt Hochmeister Fang daher Folgendes bekannt: Es ist offensichtlich, dass die Mädchen und jungen Frauen der Hauptstadt gewaltige Reserven an jugendlicher Energie und Vitalität haben, die - da geeignete Betätigungsmöglichkeiten fehlen - in letzter Zeit leider in Ausbrüchen betrüblichen Fehlverhaltens Ausdruck fanden. Da wir den aufrichtigen Wunsch haben, diesen aufgeweckten und talentierten jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, eine positive und nützliche Rolle im öffentlichen Leben zu spielen, sind wir froh und stolz, die Bildung einer neuen Abteilung der Königlichen Wolfsjungen-Miliz zu verkünden, die künftig als Königliche Katzenmädchen-Kadetten firmieren wird. Die Kadetten werden zunächst von erfahrenen Mitgliedern der Miliz ausgebildet und angeleitet, sollen auf längere Sicht aber als Schwesterorganisation der Wolfsjungen arbeiten, also in allen Bereichen von Polizei und Öf427 fentlichem Dienst eine vollwertige Rolle spielen. Die Kadetten nehmen Bewerbungen von jungen Frauen ab vierzehn Jahren entgegen. Wir sind sicher, dass diese Initiative binnen weniger Monate einmal mehr das Übel grundloser Angriffe aus unseren Straßen verbannen wird. Auch die Verfasserin möchte ihre Zuversicht zum Ausdruck bringen, dass die Umleitung von Energien, die bisher bedauerlicherweise verschwendet wurden, den jungen Frauen der Hauptstadt, ihren Familien sowie der gesamten Bürgerschaft zahllose Vorteile bringen wird. Was zweitens das Königliche Signalnetzwerk anlangt, ist es sehr besorgniserregend, dass die Benutzer auch weiterhin mit der Plage der »Kobolde« konfrontiert sind. Meister Gash hat zahlreiche Berichte über beunruhigende Vorfälle gesammelt und verglichen und sich die Dienste eines anerkannten Fachmanns auf diesem Gebiet gesichert, der sich - wie innig zu hoffen steht - als fähig erweisen wird, das Problem zu lösen. Hochmeister Fang hat daher folgende Erklärung abgegeben:
Wir sind zunehmend besorgt über die geheimnisvollen und beunruhigenden Aktivitäten der »Kobolde«, die das Königliche Signalnetzwerk heimgesucht haben, und über das bizarre und unvernünftige Verhalten, das seither bei vielen Nutzern des Netzwerks beobachtet wurde. Der vorzeitige Tod von Mr Considine, dem früheren Oberingenieur, hat es uns leider erschwert, diesem Ärgernis zu begegnen. Wir sind deshalb sehr froh, uns die Dienste von Meister Leonardo Pegasus exklusiv gesichert zu haben, an den sich einige Bürger vielleicht 428 noch erinnern werden, da er während der Regentschaft von König Roderick die Stellung des Obersten Magiers bekleidete. Als Erfinder vieler grundlegender Elemente des Königlichen Signalnetzwerks genießt Meister Pegasus großes Ansehen, und die Bürger dürfen sicher sein, dass niemand besser als er geeignet ist, die Koboldplage zu erforschen und zu bekämpfen. Die Bürger wissen zweifellos, dass noch kein Nachfolger für Mr Considine ernannt wurde. Da keine moderne Regierung mehr ohne umfassendes, zuverlässiges Signalnetzwerk auskommt, kündigen wir hiermit an, ab sofort persönlich die Leitung des Königlichen Signalnetzwerks zu übernehmen. Die Verfasserin hofft zuversichtlich, dass die geballte Kompetenz von Hochmeister Fang und Meister Pegasus das Signalnetzwerk entscheidend verbessern wird. Bis Redaktionsschluss konnte der Aufenthalt von Meister Pegasus nicht ermittelt werden, doch die Autorin ist erpicht darauf, schnellstens ein Interview mit ihm zu führen. Darüber hinaus kann sie den Bürgern persönlich und aus eigener Erfahrung versichern, dass es in diesem Lande keinen besseren, netteren und engagierteren Menschen gibt als ihn. Was drittens die Große Kreuzung angeht, konnte der Hochmeister leider weder hinsichtlich des Streiks der Kutscher noch hinsichtlich der immer länger werdenden Fahrzeugstaus auf den Zufahrtsstraßen von positiven Entwicklungen berichten. Diese Stagnation soll der vorübergehenden Abordnung der Wolfsjungen-Patrouillen geschuldet sein, die sich mit den Angriffen der Katzenmädchen befassen mussten. Im Licht des oben Berichteten hofft die Verfasserin aber, in der nächsten 429 Ausgabe des Königlichen Anzeigers einige Fortschritte vermelden zu können. Auf Wiedersehen, liebe Mitbürger. Und lang lebe König Matthew! Der Tanz der Leitern Rusty zog die Strümpfe aus und warf sie in eine Ecke seines Gasthauszimmers. Dann streckte er sich zufrieden auf das große Messingbett und massierte die Zehen sanft an den beiden Zierknöpfen am Fußende. Es war der letzte Abend der Tagung. Sein Vortrag war gut angekommen und hatte beträchtliches Interesse gefunden. Die übrigen Referate hatten - wie erwartet -eine große, manchmal überraschende Bandbreite von Zugängen zum sehr allgemein gestellten Thema des Orientierungssinns eröffnet. Doktor de Voonik vom Institut für Kalibrierung, der über die Genauigkeit von Kompasspeilungen referierte, hatte ihn mit seiner peinlich genauen Gliederung der Messung bis in feinste Abstufungen gleichermaßen erfreut und verärgert. Joanna Peterson, eine junge Vogelkundlerin, hatte ihn mit ihrer neuen Theorie über die augenscheinliche Störung des Orientierungssinns bei Möwenschwärmen fasziniert, die vor kurzem die Küste verlassen und sich ins Landesinnere gewagt hatten. Völlig rätselhaft war Rusty jedoch das undeutliche Gemurmel jenes Meteorologen geblieben, der wohl versuchte, Änderungen der vorherrschenden Windrichtung zu erklären, und bald hatte er sich dabei ertappt, aus dem Fenster auf den Marktplatz 430 zu blicken und sich zu fragen, was hinter den tadellosen Ladenfronten liegen mochte. Professor Octavians Vorlesung hatte er sich dann geschenkt und die Zeit genutzt, das eigene Navigationsvermögen in den verlockenden Seitengassen und Durchgängen der kleinen Stadt aufzufrischen. Von Laurel Greening war nichts zu sehen, bis sie am letzten Nachmittag ziemlich abgehetzt in den Hörsaal kam, gerade noch rechtzeitig das Podium betrat und ihren Vortrag hielt. Rusty merkte erst hinterher, dass nichts von dem, was sie gesagt hatte, bei ihm angekommen war, da ihn ihre schiere Ausstrahlung völlig in den Bann geschlagen hatte. In den Jahren seit ihrer letzten Begegnung war sie eine elegante und selbstbewusste Frau geworden. Sie hatte das lange, dunkle Haar überraschend unbekümmert hochgesteckt, und ihr schlichtes Kostüm gab nur den zartesten Hinweis auf ihre Herkunft aus einer Familie von Fahrenden. Kaum hatte sie ihren Vortrag beendet, war sie von Bewunderern umlagert, und Rusty hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden. Etwas verärgert fiel ihm ein, dass er am Abend mit de Voonik zum Essen verabredet war, doch er hoffte noch immer, es werde sich eine Möglichkeit ergeben, mit Laurel zu sprechen, bevor er tags darauf nach Hause reisen würde. Es waren ein paar anstrengende Tage gewesen, und Rusty gönnte sich ein Schläfchen, doch nach einigen Minuten weckte ihn von unten Lärm. Er ging ans Fenster und blickte auf die schmale, mit Kopfsteinen gepflasterte Straße hinab. Direkt unter ihm zogen vier junge Männer einen schweren Karren voller Holzleitern, von denen jede mit Blumen und Bändern in einer anderen Farbfolge geschmückt war. Die Burschen arbeite431 ten sich die Häuserreihen entlang und brachten unter jedem Fenster im ersten Stock eine Leiter an - wohl zur Vorbereitung des Leitertanzes, der abends stattfinden sollte. Die Organisatoren der Tagung sorgten jedes Mal dafür, dass es am letzten Abend eine Unterhaltungseinlage gab, und dieses Jahr sollte es der in der Stadt beliebte Leitertanz sein. Rusty sah zu, wie die jungen Männer eine der farbenprächtig geschmückten Leitern vom Karren
hievten, an die Wand unter seinem Fenster lehnten und an zwei Winkelträger banden, die offenbar zu genau diesem Zweck an der Hauswand befestigt waren. »Guten Abend«, rief er den vieren zu. »Nette Nacht dafür.« »Abend, Chef«, bekam er zur Antwort. »Lassen Sie bitte nachher Ihr Fenster auf. Für die Tänzer, wissen Sie. Aber Ihr Geld stecken Sie besser ein - für alle Fälle.« »Man kann nicht vorsichtig genug sein«, erwiderte Rusty. »Aber ich freue mich schon darauf.« Die jungen Männer waren fertig und zogen zum nächsten Haus weiter. Als Rusty sich umdrehte und ins Zimmer sah, blieb sein Blick an der tragbaren Signalmaschine hängen, die verkabelt auf dem Tisch am Fuß des Bettes stand. Verärgert fiel ihm ein, dass er noch immer keine Zeit gefunden hatte, sich bei Eileen zu melden. Aus irgendeinem Grund hatte er den Apparat nicht richtig zum Laufen bringen können, obwohl er sicher war, Toms Erklärungen verstanden zu haben. Na ja, dachte er, vermutlich habe ich Zeit genug für einen letzten Versuch, ehe ich losgehen muss. Doktor de Voonik füllte seinen Brandy vorsichtig in den so fein wie präzis skalierten Kristallzylinder um, aus dem er immer trank, und blinzelte kritisch auf die Maß432 einteilung. Er war ein sehr dünner, glatzköpfiger Mann von an die sechzig Jahren, der enge schwarze Kleidung trug und einen kleinen, peinlich korrekt getrimmten Bart hatte. »Haargenau«, sagte er schließlich. »Oder doch innerhalb einer vollauf akzeptablen Schwankungsbreite, wenn man die, äh, der Exaktheit nicht eben förderlichen Umstände berücksichtigt. Oh, Entschuldigung.« Er wandte sich Rusty zu, als bemerke er ihn zum ersten Mal. »Soll ich Ihren Brandy auch ausmessen? Das kann ich nicht dringend genug empfehlen und finde es - was mich anlangt - heutzutage unerlässlich, um meinen Konsum mit der höchsten noch praktikablen Genauigkeit zu überwachen. « »Schon gut, danke, Doktor«, erwiderte Rusty, der sich noch für jung genug hielt, um einen weniger durchdachten Zugang zu solchen Dingen zu wählen. »Aber schmecken tut er prächtig.« Nippend saßen sie in nachdenklichem Schweigen an ihrem Ecktisch im bis auf den letzten Platz gefüllten oberen Speisesaal eines der besten Restaurants der Stadt. Durch die offenen Fenster konnten sie schwach die entfernte Musik der Leitertänzer hören. Vorhin hatte Professor Octavian mit ihnen zu Abend gegessen, war nach dem Käse aber gegangen und hatte sich damit entschuldigt, er wolle früh schlafen gehen. »Nennen Sie mich doch Wazzo«, sagte de Voonik nach einer Weile. »Das tun alle meine Bekannten, obwohl ich absolut nicht weiß, warum. Ich muss übrigens gestehen, dass mich Ihr kleiner Vortrag gestern fasziniert, ja in Bann geschlagen hat. Es ist überaus erfrischend, mal etwas von unseren, äh, kaufmännisch denkenden Brüdern zu hören. Ich muss gestehen, dass mich 433 eine kleine Sache die ganze Zeit nicht losgelassen hat. Vielleicht können Sie mich aufklären...« Während er sprach, war die Musik draußen allmählich lauter geworden, und einige Gäste reckten den Kopf zum Fenster, um einen guten Blick auf das Unbekannte zu haben, das gleich stattfinden sollte. Auch Rusty hätte gern erforscht, was da kommen würde, wollte seinem Begleiter gegenüber aber nicht unhöflich erscheinen, der in gleicher Lautstärke weiterredete und den die Unruhe sichtlich kalt ließ. »... Vielleicht haben Sie kurz Zeit, mir das zu erklären«, sagte de Voonik gerade. »Wie kalkulieren Sie bloß im Voraus die Auflage Ihrer Landkarten und Stadtpläne? Die, äh, Nachfrage lässt sich doch erst dann feststellen, wenn das Produkt auf dem Markt ist. Und dann ist es doch bestimmt schon zu spät...« In diesem Moment jedoch kam es zu einer Störung, die selbst de Voonik nicht übergehen konnte. Direkt unter den Fenstern waren plötzlich Schritte zu hören, und dann setzten die Leitertänzer unvermittelt in den Speisesaal und tollten in ausgelassener Polonäse zwischen den Tischen hindurch. Es waren meist junge Männer und Frauen, deren Kittel und Mützen mit bunten Streifen und bimmelnden Glöckchen geschmückt waren. Manche hatten eine Mundharmonika oder ein Tamburin dabei und spielten eine wilde Melodie, bei der längst nicht alle den Takt hielten. Während die Tänzer sich zwischen den Tischreihen hindurchschlängelten, standen einige der unbefangeneren Gäste auf und schlössen sich der Polonäse an, die schließlich den Weg zurücknahm, den sie gekommen war. Dann schwangen sich die Kostümierten aus den Fenstern und glitten auf den Leitern wieder auf die Straße hinunter. 434 Man hörte die Musik in der Ferne verschwinden, während die ziemlich sprachlosen Restaurantbesucher allmählich wieder ihre Fassung zurückgewannen. De Voonik kippte den Rest seines Brandys und bestellte einen neuen. »Null Komma vier Dezi, bitte«, wies er den Kellner an. »Nein, bringen Sie mir besser null Komma vier zwei fünf Dezi. Wazzo de Voonik will sich heute Abend amüsieren.« Rusty fragte sich, welche Formen das Amüsierbedürfnis seines Kollegen annehmen würde. Durchaus neugierig beobachtete er, wie de Voonik einen erheblich größeren Messzylinder aus der Aktentasche zog und aufs Neue begann, seinen Hochprozentigen umzufüllen. »Akzeptabel. Vollauf akzeptabel.« De Voonik schien endlich mit dem Ergebnis seines Dekantierens zufrieden. »Aber jetzt haben wir natürlich ein Problem.« Rusty hob eine Braue.
»Die Teilung der Zeche, Mr Brown, die Teilung der Zeche.« Rusty hob die zweite Braue. »Verstehen Sie, mein junger Kollege«, fuhr de Voonik fort, »Sie und ich hatten vier Gänge, wobei meine Suppe allerdings etwas teurer war als Ihre. Doch der alte Geizkragen Octavian, der nach meiner Erfahrung schon immer schwierig war, hat das Fleisch verschmäht und nur Suppe, Fisch und Käse bestellt. Und während wir beide uns eine Flasche Wein geteilt haben -« »Zwei Flaschen, genauer gesagt«, unterbrach ihn Rusty. Ihm fiel auf, dass de Voonik langsam etwas undeutlich sprach. »Ja, zwei Flaschen, so ist das wohl - wie nachlässig 435 von mir! Während wir uns also zwei Flaschen Wein geteilt haben (und zwar absolut gerecht!), hat Octavian nur das klitzekleinste Bier bestellt, null zwo! Und jetzt genießen wir zwei hier natürlich Brandy - Sie ziemlich beherrscht, ich mit allenfalls letzten Resten von Beherrschung, aber unter sorgfältigster Prüfung der Menge, die ich zu mir genommen habe. Und wie ich schon anfangs berechnet hatte, ist der knauserige Obolus, den unser Kollege bei seinem Rückzug hinterlassen hat, nicht ausreichend, um seine Ausgaben zu begleichen. Also...« »Warum übernehmen wir nicht einfach die Differenz und teilen sie durch zwei?«, schlug Rusty vor. »Durch zwei teilen?« De Voonik schien über diese Idee erstaunt. »Ein überaus interessanter Vorschlag vielleicht sollte ich darüber ein wenig nachdenken. Doch es gibt eine weitere Schwierigkeit. Eine unmittelbare Schwierigkeit, offen gesagt.« Er nahm einen weiteren großen Schluck Brandy, wartete, bis sich der restliche Alkohol im Zylinder wieder beruhigt hatte, und sah erneut blinzelnd auf die Skalierung. »Wir haben für zwei Personen Kaffee bestellt, doch ich habe mir erlaubt, Professor Greening an unseren Tisch einzuladen. Das wird es freilich nötig machen, Kaffee für drei zu bestellen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« »Nein«, lachte Rusty. »Das stört mich gar nicht.« Zufällig betrat Laurel genau in diesem Moment den Speisesaal und kam in einem langen, rot- und goldfarbenen Abendkleid, das in nichts an ihr zurückhaltendes Kostüm vom Nachmittag erinnerte, zwischen den Tischreihen auf sie zugerauscht. Als sie an ihren Tisch trat, erhoben sich die beiden Männer zur Begrüßung, und Rusty klopfte plötzlich beklommen das Herz. Laurel gab beiden einen herzlichen Kuss. 436 »Wazzo, wie schön, dich wieder zu sehen.« Jetzt, wo sie längst erwachsen war, hatte ihre Stimme etwas mild Abgeklärtes bekommen. »Und Rusty - was für eine wunderbare Überraschung! Ich hatte keinen Schimmer, dass du es so weit gebracht hast. Ich hab dich nicht mehr gesehen, seit... wie lange ist das jetzt eigentlich her?« Sie setzten sich an den Tisch. De Voonik winkte den Kellner heran und orderte einen zusätzlichen Kaffee für Laurel und weitere null Komma sieben fünf Dezi Brandy für sich. Während die drei auf die Bestellung warteten, versuchten sie vorsichtig, zwischen Laurels ruhiger Selbstsicherheit, Rustys jungenhafter Nervosität und de Vooniks stets manischerer Trunkenheit die Balance zu halten. Die Etikette vermochte sich - wenn auch nur knapp - zu behaupten, und die beiden Männer ließen Laurel das Tempo vorgeben. Eine Zeit lang tauschten sie einigermaßen schicklichen Klatsch über ihre Kollegen auf dem Gebiet des Orientierungssinns aus, und Rusty registrierte durchaus interessiert, dass de Voonik bisher ungeahnte anarchische Züge zu zeigen begann. Nach einer Weile entspannte sich die Atmosphäre langsam, und Rusty merkte, dass Laurel unterm Tisch ihr Knie an seines drückte. Schließlich kam die Rechnung, und sie überredeten de Voonik, es sei Zeit, aufzubrechen. Er erwies sich als recht unsicher auf den Beinen, und Laurel und Rusty hatten Schwierigkeiten, ihn die Treppe hinunterzugeleiten. »Ich schätze, wir müssen ihn in sein Hotel bringen«, sagte Laurel ziemlich amüsiert. Während sie de Voonik untergehakt die Hauptstraße entlangzogen und sich zwischen den Leitern ihren Weg 437 suchten, hörten sie in der Nähe erneut die Musik der Tänzer. Plötzlich schwangen sich etwa zwanzig Leute aus den Fenstern des nächsten Gebäudes, rutschten ein paar Leitern herunter und hätten die drei Heimkehrer fast umgeworfen. »Ja!«, grölte de Voonik und schrak unvermittelt aus seiner Apathie. »Der Leitertanz! Jetzt beginnt Wazzos Wochenende!« Abrupt befreite er sich aus den Armen seiner ihn stützenden Kollegen und taumelte den Tänzern nach, wobei seine spindeldürren Arme und Beine wie bei einem riesigen, unbeholfenen Insekt kreiselten. Rusty und Laurel sahen sich mit offenem Mund an. »Lassen wir ihm den Spaß«, sagte Laurel schließlich. »Ich nehme an, du kennst ihn schon?«, wollte Rusty wissen. »Wazzo? Ja, der kippt oft bei solchen Tagungen um. Er blamiert sich in der Regel mal so, mal so. Eigentlich wirkte er auf mich dieses Jahr vergleichsweise beherrscht.« Sie sahen de Voonik in der Ferne ein letztes Mal kurz auftauchen, als er den Tänzern eine Leiter hinauf folgte. Seine Beweglichkeit schien wieder voll da zu sein. »Ich könnte dich doch bis zu deinem Gasthof begleiten«, schlug Rusty vor. »Wo bist du denn untergebracht?« »Im gleichen Wirtshaus wie du«, erwiderte Laurel und umarmte ihn lächelnd. »Was solche Dinge anlangt, hab ich den Bogen so ziemlich raus.« Plötzlich merkte Rusty, wie nah ihre Gesichter einander waren - sehr viel näher, als es für Berufskollegen
angebracht war, ja so nah, dass er ihren warmen Atem auf der Wange spürte. Und dann kehrte für einen Moment eine Ahnung des kalten Feuers zurück, das früher auf dem Grund ihrer dunklen Augen gebrannt hatte; eine Ahnung des Zaubers und des Geheimnisses, aber auch des Schadens, den sie einst über sein Leben gebracht hatte; eine Ahnung des Geheimnisses, das sie vor so vielen Jahren an ihn weitergegeben hatte; eine Ahnung so vieler Dinge, die so lange in ihm geschlummert hatten, dass er ihr trauriges Vorhandensein beinahe, aber eben nicht ganz vergessen hatte. Beinahe, aber nicht ganz. Einen Augenblick fühlte er sich fast versucht. »Du solltest dich schämen«, schimpfte Rusty empört. »Ich bin inzwischen ein anständig verheirateter Mann.« »Das sind die Schlimmsten«, entgegnete Laurel. »Na komm, es erfährt doch niemand.« Ein paar Stunden vergingen. In der Stadt war es ruhig geworden. Der Leitertanz war für dieses Jahr vorbei, und die Leitern standen verlassen an den Mauern, während die Tänzer zu ihren Familien und ins warme Bett zurückgekehrt waren. Sogar Doktor de Voonik hatte schließlich schwankend in sein Gasthaus gefunden und war auf allen vieren die Treppe hinauf in sein Zimmer im ersten Stock gekrochen. Und am anderen Ende der Stadt schliefen zwei heimliche Liebende in der gleichen Etage erschöpft und gesättigt ihren sündigen Schlaf. Darum sah niemand die hagere Gestalt, die lautlos und vorsichtig Sprosse für Sprosse die Leiter unter Rustys Fenster hochstieg. Niemand hörte die Hände, die verstohlen die Schalter der Signalmaschine am Fuß des Bettes bedienten. Und niemand spürte, dass Kabel 438 439 den Apparat mit den beiden Messingknöpfen des Bettgestells verbanden. Jedenfalls sah, hörte oder spürte in diesem ruhigen, kleinen Marktstädtchen niemand etwas davon. Doch als die beiden, die da im Messingbett schlummerten, in den frühen Morgenstunden erwachten und einander aufs Neue umarmten, begann das unsichtbare Netz des Signalnetzwerks sehr leise, dabei aber - paradox genug - in kalter, mitleidloser Einfühlung zu schwingen. Die drei Fenster »Mama, die Signalmaschine klingelt!« Eileen war sofort wach. Im Halblicht konnte sie Max, dessen kräftige Gestalt nervös in der Schlafzimmertür tänzelte, nur schemenhaft erkennen. »Das ist wahrscheinlich Papa, Max. Er hat gesagt, er meldet sich von seiner Konferenz. Ich geh mal nachsehen und du legst dich wieder ins Bett.« Verschlafen tastete sie sich durch den Flur zum Gästezimmer, wo bis vor kurzem noch Tom Slater gewohnt hatte; verschlafen setzte sie sich an die Signalmaschine und zog den Kopfhörer auf die Ohren; verschlafen drehte sie an den Seitengriffen und spähte durchs Okular. Nach und nach wurde das Bild scharf. Sie stand in einem kleinen, leeren, sechseckigen Raum ohne Fenster und Türen. Wände, Decke und Boden waren in fahlem, mal hellerem, mal dunklerem Grau gehalten. Das trübe Licht schien diffus und stumpf aus den acht Flächen ringsum zu sickern. Eileen erkannte den Raum sofort. Hier war sie schon 440 gewesen, und zwar oft. Und sie wusste, dass die Flächen blütenweiß sein sollten, dass sich darauf aber beim Gebrauch der Maschine Staub oder Schmutz ablagerte und sie allmählich verfärbte. Und ihr war klar, dass Wände, Decke und Boden sich ohne ihr tägliches Putzen langsam verdüstern, irgendwann unausweichlich mattschwarz sein und jedes Licht ausschließen würden. Und ohne genau zu begreifen, warum, wusste Eileen, dass dies nicht passieren durfte. Kaum hatte sie etwas an den Seitengriffen gedreht, schwebte wie üblich ein kleiner Metallspachtel vor ihr in der Luft. Resigniert nahm sie das kleine, unzulängliche Werkzeug und machte sich einmal mehr daran, die Ablagerungen zu entfernen. »Eileen?« Eine heisere Stimme störte sie aus ihren Gedanken auf. Über die plötzliche Unterbrechung erschrocken, ließ sie den Spachtel fallen. »Wer ist da?« Kniend suchte sie im Staub nach ihrem Werkzeug. »Kümmere dich nicht um den Spachtel, Eileen«, sagte die Stimme. »Schau dir einfach an, was es zu sehen gibt.« »Diese Stimme kenne ich doch! Wer bist du?« »Kümmere dich nicht darum, wer ich bin. Schau dir einfach an, was es zu sehen gibt.« Sie blickte auf. Am Rand ihres Gesichtsfelds schwebte eine fast immaterielle Gestalt, doch Eileen merkte, dass ihre Augen sich sträubten, sie direkt anzusehen, weil vor ihr eine große Holzleiter stand, die mit welken, verschrumpelten Blumen und zerfetzten, verdreckten Bändern geschmückt war. Und jetzt sah Eileen auch, dass sie nicht in einem Raum kniete, sondern auf dem Boden eines tiefen, sechseckigen Schachts, der über ihr ins Unendliche zu ragen schien. 441 »Steighoch, Eileen«, sagte die Stimme. »Steig die Leiter hoch und schau, was es zu sehen gibt.« »Was ist hier los? Wo ist Rusty? Wo ist mein Mann?« »Steig einfach hoch.« Die Stimme war jetzt fester und tiefer, ihr Ton befehlend. Ungehorsam kam nicht in Frage. Also stieg Eileen hinauf. Qualvoll hievte sie sich Schritt für Schritt die Leiter hoch. Die verwelkten Blumen knisterten an ihrem Baumwollnachthemd, und die dreckigen Sprossen schwärzten ihre Handflächen und
Fußsohlen. Dann tauchte in der Wand vor ihr ein Fenster auf. Sie hielt inne, spähte durch die verschmierte Scheibe und versuchte, dem, was sie sah, einen Sinn abzugewinnen. Sie erkannte eine kleine, von ihr abgewandt kniende Gestalt... einen Jungen... und zwar Max, ihren geliebten Sohn... Aber war da nicht noch etwas im Zimmer? ...Ja, dem Jungen gegenüber standen kleine Tiere wie Soldaten reihenweise da und blickten erwartungsvoll mit im Halbdunkel rötlich schimmernden Augen zu ihm auf... und sie hatten kleine Schildchen um den Hals, die alle eine Nummer trugen... »Max!«, schrie sie. »Max! Wie oft muss ich dir das noch sagen? Lass die Ratten in Ruhe! Du fängst dir alle möglichen Krankheiten ein! Komm her, Maxie, komm zu Mama...« Doch der Junge reagierte nicht. Vielleicht konnte er sie ja nicht hören. Verzweifelt wollte Eileen an die Scheibe klopfen, doch das Fenster war ein kleines Stück zu weit entfernt, ein kleines Stück außerhalb ihrer Reichweite ... »Steig die Leiter hoch, Eileen.« Wieder kletterte sie aufwärts. Die Arme und Beine 442 taten ihr weh, und beim Ein- und Ausatmen kratzte der Hals. Dann tauchte in der Wand vor ihr ein zweites Fenster auf. Wieder spähte Eileen durch die Scheibe. Diesmal sah sie eine junge Frau, die ihr - genau wie zuvor der Junge - den Rücken zuwandte. Sie saß im Bademantel an einer Frisierkommode, betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und trug vorsichtig schwarze und weiße Schminke auf die Wangen auf... Trotz der unheimlichen weißen Grundierung, der schrägen Katzenaugen, der grotesken Knopfnase und der fröhlich spottenden Schnurrhaare war das Gesicht im Spiegel unverwechselbar... Plötzlich verzog das Mädchen die Miene, fletschte die Zähne, bekam funkelnde Augen und knurrte gefährlich... »Ashleigh!«, schrie Eileen. »Was haben sie mit dir gemacht?« Wieder keine Reaktion. Verzweifelt wollte Eileen an die Scheibe klopfen, doch erneut war das Fenster knapp außerhalb ihrer Reichweite. »Steig die Leiter hoch, Eileen.« Und sie stieg noch höher, obwohl sie vor Müdigkeit schon ganz schwach war und ihr Tränen der Wut, der Enttäuschung und der Erschöpfung übers Gesicht liefen. Dann tauchte in der Wand vor ihr ein drittes Fenster auf. Wieder spähte Eileen durch die Scheibe. Diesmal war ein großes Messingbett zu sehen, dessen Fußende zum Fenster wies und dessen Gestell an jeder Ecke einen Messingknopf hatte. Im Bett lagen ein Mann und eine Frau. Beide waren nackt, und über das, was sie trieben, konnte kein Zweifel bestehen. Die Frau hatte Eileen den Rücken zugewandt und hockte mit nach hinten gewor443 fenem Kopf rittlings auf dem Mann. Ihr langes, dunkles Haar schwang hin und her, während sie ihr Becken kreisen ließ... Der Mann lag flach auf dem Rücken, und sie konnte sein Gesicht nicht sehen, während sein Kopf sich sprunghaft nach links und rechts drehte... Dann aber hob er kurz den Kopf, und trotz der geschlossenen Lider und des weit aufgerissenen Mundes erkannte Eileen ihn sofort. »Rusty!« Doch wiederum stieß ihr schmerzerfüllter Schrei auf taube Ohren. »Rusty!« Wildes Herzklopfen schien Eileens ganzen Körper anschwellen zu lassen, bis sie jäh merkte, dass sie nicht mehr konnte. Sie spürte, wie ihre Füße allmählich den Halt verloren und ihre blasigen Hände die Leiterpfosten langsam losließen. Plötzlich rutschte und polterte sie abwärts und bekam nur da und dort kurz eine Sprosse zu fassen. Zerrissene Bänder gerieten ihr ins Haar, und welke Blumenstiele schlitzten ihr Nachthemd auf, bis sie schließlich so dumpf wie unbeholfen auf den Boden schlug. Sie war völlig erschöpft, und der Aufprall hatte ihr die Luft aus den Lungen getrieben. Da aber sah sie über sich am Fuß der Leiter die hagere Gestalt ihres Peinigers stehen. Und schließlich konnte sie auch sein Gesicht erkennen. »Tom Slater«, schluchzte sie. »Was geht hier vor? Warum tust du das?« »Warum ich das tue? Ich hab doch gar nichts getan, Eileen. Nichts von dem, was du gesehen hast. All das haben sich die Mitglieder deiner Familie selbst angetan. Ich hab dich die Dinge nur sehen lassen, wie sie sind.« 444 »Du bist wahnsinnig! Ich bring dich um! Wo bist du?« »Wo ich bin? Weißt du nicht, wo ich bin? Kennst du diesen Ort denn nicht? Wirklich nicht?« Tom Slater begann zu lachen, und sein bitteres, böses, dämonisches Gelächter hallte von den Wänden wider und reichte aus tiefer Vergangenheit bis weit in die unbekannte Zukunft. Dann verschwand die ganze Szenerie unvermittelt, und Eileen fand sich ausgestreckt auf dem Boden des Gästezimmers wieder. Die Signalmaschine ragte über ihr auf, der Kopfhörer hing ihr um den Hals, das Nachthemd war zerrissen, und ihre Hände und Füße waren dreckig. »Ashleigh! Max!« In Sekundenschnelle war sie auf den Beinen. Ashleighs Zimmer lag am nächsten. Eileen
rüttelte an der Tür, doch die wollte nicht aufgehen. Etwas blockierte die Klinke. Wieder und wieder warf sie sich gegen die Tür, bis sie schließlich nachgab. Als Eileen ins Zimmer platzte, sah sie, dass Ashleigh die Kommode unter die Klinke geschoben haben musste. Das schmale Bett war leer, und ein am Bettpfosten vertäutes Seil baumelte aus dem Fenster. »Ashleigh?« Verzweifelt warf Eileen die Möbel um, wühlte alles durch und konnte noch immer nicht verstehen, was geschah. Hilflos blickte sie im leeren Zimmer umher. Dann erschien geräuschlos eine Silhouette vor dem Nachthimmel des Fensterausschnitts und sprang leise ins Zimmer. »Ashleigh? Ashleigh, mein Schatz? Wo bist du gewesen?« Eileen schaltete das Licht ein. Das erschrockene Geschöpf, das im grellen Schein der Deckenlampe vor ihr stand, war nur noch schwer als ihre Tochter zu erken445 nen. Ashleigh war barfuss, und ihre langen Beine waren voller Matsch und Dreck. Ihr dünnes Hemd war in Fetzen gerissen und bedeckte kaum die junge Gestalt. Das kurze rote Haar stand ihr in wilden Fransen zu Berge, und ihre unreifen Züge waren mit zerlaufenem Makeup verschmiert. Und von den geöffneten Lippen tropfte Blut aufs Kinn und lief an Hals und Kehle herab. Einen Augenblick sahen Mutter und Tochter einander in stummem Unverständnis an. Dann fuhr Ashleigh mit einem wilden Fauchen herum und verschwand wieder durchs Fenster. Bis Eileen über all die umgekippten Möbel geklettert war, die im Weg lagen, war ihre Tochter schon nicht mehr zu sehen. In panischer Angst stürzte sie zu Max ins Zimmer. Ihr Sohn lag zusammengerollt im Bett und schlief tief und fest. Sie rüttelte ihn unsanft an der Schulter. »Max! Max! Wach auf! Pack deine Sachen!« »Was ist los?«, murmelte der Junge verschlafen. »War das Dad an der Signalmaschine?« »Das ist jetzt unwichtig!« In ihrer Panik erschien Eileen nur sofortige Flucht denkbar. »Wir gehen! Wir ziehen zu Großvater! Wir können hier nicht einen Moment länger bleiben!« »Kommt Dad mit? Und Ashleigh?« »Keine Ahnung, aber ich glaube nicht. Später vielleicht. « »Und Tom?« »Tom?« Einen Augenblick war Eileens wahnsinnige Energie gebrochen. »Tom?« »Ja. Kann Tom nicht mitkommen? Ich spiele so gern mit ihm. Er wohnt inzwischen im Fahrstuhlschacht. Hab ich dir das nicht erzählt?« Eileen starrte mit ungläubigem Entsetzen in das of446 fene, nach oben gewandte Gesicht ihres Jungen. Dann lief sie klopfenden Herzens ins Schlafzimmer, stieg auf einen Stuhl und zerrte die Koffer vom Kleiderschrank. Der Magier und die Chefredakteurin »Hier entlang, Pegasus! Du wirst mich nie schnappen, wenn du immer wieder Pausen einlegst!« Leonardo Pegasus war nie ein großer Sportler gewesen, und die unermüdliche Verfolgung seiner Beute durchs verworrene Labyrinth des Signalnetzwerks erwies sich für seinen schon recht alten Körper als zu anstrengend. Müde wuchtete er sich einmal mehr auf die Beine, spähte ratlos in verschiedene Richtungen, entschied sich schließlich für den Weg, der ihm am plausibelsten schien, und trottete schwankend weiter voran. »So ist's besser! Jetzt erwischst du mich gleich! Kannst du mich schon sehen?« Am fernen Ende des Gangs war im schwachen Licht eine spindeldürre Silhouette zu erkennen, die spöttisch von einem dünnen Bein aufs andere hüpfte. Leonardo ermannte sich einen Moment zu dem Glauben, er hole langsam auf, doch dann sprang sein Widersacher mit höhnischem Gelächter in die Luft und verschwand Rad schlagend in eine Abzweigung. Keuchend setzte der Magier seine beharrliche Verfolgung fort, bis die Beine sein lastendes Gewicht nicht mehr tragen konnten. Nach Luft schnappend lehnte er sich an die nächste Wand. So konnte es nicht weitergehen. Wenn seine Suche je erfolgreich sein sollte, musste er sich eine andere Verfolgungsmethode ausdenken... 447 »Meister Pegasus?« Das war die Stimme von Gash, die sich plump in Leonardos Vision drängte. Weil seine Konzentration zerstört war, zog der Magier gereizt den Kopfhörer ab und schaltete die Signalmaschine aus. »Was ist denn jetzt schon wieder? Begreifst du nicht, dass ich beschäftigt bin?« »Tschuldigung, Meister. Weißt du, ich versuch ja, dich nicht zu stören, aber es ist nun mal so, dass diese Person vom Anzeiger da ist, um ein Interview zu machen. Sie lässt fragen, ob du nicht ein paar Minuten Zeit für sie hast.« »Schätzungsweise ja«, erwiderte Leonardo unwillig. »Bring sie rein. Und versuch, die Kaffeemaschine auf Trab zu bringen.« Es war bereits ein paar Wochen her, seit der Magier beauftragt worden war, mit dem Problem der Kobolde fertig zu werden. Nach einigen Tagen langwieriger Verhandlungen mit Hausmeistern und Lagerverwaltern hatte er endlich einen Aktenschrank und ein paar ramponierte Sessel in sein provisorisches Büro geliefert bekommen, und nach noch schwierigeren Verhandlungen mit Veroniques Behörde, der Königlichen Kanzlei also, war eine überzählige Signalmaschine zu seinem persönlichen Gebrauch aufgestellt worden, die allerdings erst durch die
Verlegung vieler Meter Verlängerungskabel benutzbar wurde. Doch obwohl Leonardo sich seit Wochen die meiste Zeit des Tages über den Apparat beugte, hatte er keine wesentlichen Fortschritte gemacht, und die Kobolde rannten weiter begeistert im ganzen Netzwerk Amok. Sogar die Kaffeemaschine erwies sich als unzuverlässig. Und nun stand ihm eine weitere unerwünschte Unterbrechung bevor. Müde fand er sich damit ab, auch diesen Arbeitstag als unergiebig abzuhaken. 448 »Hallo. Ich schätze, wir machen es uns besser mal gemütlich.« Er lächelte halbherzig. Sein Gast erwies sich als hoch gewachsene, breitknochige Frau etwa seines Alters, die ein wenig schlampig angezogen war und eine große Brille mit dunklem Gestell trug. Sie schien sich etwas unbehaglich zu fühlen. »Hallo, Meister Pegasus. Hoffentlich störe ich nicht. Hab mir gedacht, ich sollte diesmal besser persönlich vorbeikommen. Ich bin übrigens die Chefredakteurin des Anzeigers.« Sie setzten sich in die beiden Sessel. Miss Garamond plapperte nervös weiter. »Wir beschäftigen ja keine Ausrufer mehr. Inzwischen arbeite ich fast nur noch für den Königlichen Anzeiger. Wie dem auch sei, ich sitze an einem Artikel über die Kobolde, der in der nächsten Ausgabe erscheinen soll. Vielleicht könnten wir damit loslegen, wie -« »Ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Leonardo und blickte dabei verloren aus dem Fenster. »Wissen Sie, ich muss dieses Problem im Signalnetzwerk untersuchen, aber ich habe natürlich nichts mit dessen ursprünglichem Entwurf zu tun. Den hat dieser Kevin gemacht, wie hieß er noch gleich...?« »Kevin Considine«, sprang sein Gast ihm bei. »Considine, genau. Übrigens war das einer von denen, die vor Jahren für meinen Rausschmiss aus dem Palast gesorgt haben. Am Ende hat er wohl völlig den Boden unter den Füßen verloren, was? Ganz unter uns: Ich finde, er hat sein Schicksal vollauf verdient - aber drucken Sie das ja nicht! Es ist schon witzig, dass ich nach all den Jahren zurückgerufen wurde, um das Chaos zu lichten, das er hinterlassen hat, was?« »Wirklich witzig, stimmt. Und was haben Sie bis jetzt unternommen?«, fragte Miss Garamond. 449 Leonardo runzelte die Stirn. Durchs Sprossenfenster sah er vor bedecktem Himmel einen Turm des Palasts, den unpassenderweise eine kleine Möwenschar umkreiste. »Was ich unternommen habe?«, wiederholte er schließlich und seufzte. »Nach viel sieht's jedenfalls nicht aus. Das Problem ist, dass die Signalmaschine, die ich zur Verfügung gestellt bekommen habe, eigentlich nicht leistungsstark genug ist. Und es scheint auch keine Karten oder Schaubilder vom Netzwerk zu geben, deshalb bringe ich die Geografie der ganzen Anlage allmählich völlig durcheinander. Aber ich schätze, einen Erfolg habe ich doch zu verbuchen: Ich verstehe inzwischen immerhin etwas von den Kobolden.« »Interessant.« Leonardo bemerkte flüchtig, dass sein Gast ein Klemmbrett hervorgezogen hatte und sich Notizen zu machen begann. »Und was haben Sie herausgefunden?« »Na ja, den ersten Hinweis fand ich in den Berichten, die Gash gesammelt hat. Wissen Sie, einige Kobolde hatten Namen. Merkwürdig war aber, dass diese Namen sich sehr ähnlich waren: Lee oder Leigh oder Leah, manchmal Leroi oder Levi, aber letztlich doch alle mehr oder weniger gleich. Also kam ich auf die Idee, dass all diese Kobolde vielleicht ein und derselbe Kobold sind, der verschiedenen Leuten in unterschiedlicher Gestalt erscheint. Inzwischen bin ich mehr oder weniger zu dem Schluss gekommen, dass hinter allem nur ein einziges Geschöpf steckt.« Er runzelte die Stirn. »Und dieses Geschöpf ist sehr boshaft. Ich schätze sogar, es ist schlimmer als nur boshaft. Bösartig ist wahrscheinlich der treffendere Ausdruck - vielleicht sogar böse, obwohl ich dieses Wort nicht mag. Und natürlich ist es sehr mächtig.« 450 Der Magier schien kurz in Gedanken versunken. Schließlich half seine Besucherin ihm erneut auf die Sprünge. »Wissen Sie denn sonst noch was über Lee?« Auf diese Frage folgte eine weitere lange Stille. »Nur noch eines«, sagte der Magier schließlich. »Es mag nichts zu bedeuten haben, könnte andererseits aber ziemlich wichtig sein: Lee ist nämlich meine eigene Schöpfung, müssen Sie wissen. Aber das ist viele Jahre her. Ich schätze also, dass all dies irgendwie meine Schuld ist.« Ihm fiel auf, dass Miss Garamond eifrig auf ihr Klemmbrett schrieb. Er atmete tief ein und fuhr fort: »All das hat vor langer Zeit während der Regentschaft des alten Königs begonnen. Damals war ich noch ein sehr junger Magier und entwickelte ein Gerät namens Empathiemaschine, das zu seiner Zeit ziemlich berühmt war. Doch ich nehme nicht an, dass Sie alt genug sind, um sich noch daran zu erinnern.« Miss Garamond lächelte bei Leonardos kläglichem Versuch von Galanterie. »Doch, ich erinnere mich durchaus daran. Und zwar sehr genau. Aber fahren Sie fort. Sie sagten gerade, Sie hätten Lee erschaffen?« »Ja. Mit der Empathiemaschine habe ich dem König bei einigen Entscheidungen geholfen, aber zwischendurch habe ich sie auch für ein eigenes Projekt genutzt. Damals interessierte ich mich sehr dafür, wie das menschliche Hirn arbeitet. Deshalb setzte ich die Maschine bei ein paar kleinen Experimenten ein, überwiegend im Selbstversuch. So manches, was ich dabei herausfand, war sehr spannend. In der Maschine fanden sich tatsächlich Gestalten, die sich wohl am ehesten mit den Figuren eines Marionettentheaters vergleichen lassen. Jede dieser Gestalten schien eine andere Seite mei451 nes Wesens zu verkörpern. Vermutlich kann man sagen, Lee sei meine, äh, Nachtseite gewesen. Er verkörperte
all die verheimlichten Bestandteile meiner Person, von denen niemand wusste, weil niemand von ihnen wissen sollte. Und von manchen dieser Elemente habe nicht einmal ich etwas gewusst, jedenfalls nicht gleich. Aber das Ganze war nur als ein persönliches Experiment zu meinem Privatvergnügen gedacht. Niemand sonst sollte darin verwickelt werden.« Der Magier sah auf den Fußboden und verschränkte die Hände immer aufs Neue, um sie gleich wieder zu lösen. Das erinnerte an zögernde Ringer, die sich anspringen, um alsbald voneinander abzulassen. »Dieser Lee hat also die dunkle Seite Ihres Wesens verkörpert?« »So kann man es wohl nennen, ja. Aber all das war ziemlich ungefährlich, dachte ich jedenfalls, denn es spielte sich nur in der Empathiemaschine ab, also quasi hinter verschlossenen Türen. Und ich glaubte, ich sei der Einzige, der je Zutritt dazu haben würde. Doch dann kam mir der Apparat abhanden und geriet jemand anderem in die Hände.« »Das hört sich an, als wären Sie etwas unvorsichtig gewesen. Wie ist das denn passiert?« »Na ja, die Maschine ist mir gestohlen worden. Ich möchte nicht darüber reden, was da im Einzelnen geschah, aber ich schätze, es war wirklich meine Schuld. Meine Fehleinschätzung jedenfalls. Sagen wir einfach, ich habe jemandem vertraut, dem ich nie hätte trauen dürfen. Und danach haben anscheinend noch andere die Maschine benutzt, ohne dass einer ihr wahres Potenzial begriffen hätte. Und Lee saß die ganze Zeit in der Maschine, sammelte die dunklen Seiten ihrer Benutzer 452 und wurde immer größer und mächtiger. Und dann kam Kevin, äh...« »Considine.« »Kevin Considine, danke. Der hat sich die Empathiemaschine unter den Nagel gerissen und scheinbar irgendwie in sein Signalnetzwerk integriert. Dann hat er Lee ins Netz entkommen lassen. Und darum ist jetzt das ganze Königreich in Gefahr.« »Und Sie sollen Lee aufspüren?« »Genau. Aber im Moment habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Lee ist stärker und schneller als ich. Und ich werde langsam entsetzlich müde.« Nachdem Leonardo sein Herz ausgeschüttet hatte, ließ er sich ausgelaugt in den Sessel zurücksinken und sah seine Besucherin zum ersten Mal richtig an. Miss Garamond erwiderte seinen Blick in unergründlichem Schweigen. »Kenne ich Sie nicht irgendwoher?«, fragte Leonardo schließlich. »Verzeihung«, erwiderte sein Gast. »Wie unhöflich von mir. Ich hab mich gar nicht richtig vorgestellt. Mein Name ist Ruth Garamond, und natürlich kennen Sie mich. Wir haben zusammen gearbeitet, ach, das muss jetzt etwa vierzig Jahre her sein.« Sie musterten einander eine Zeit lang wortlos. »Ruthie«, sagte der Magier dann. »Ruthie Garamond. Ach du meine Güte! Mein allererster Lehrling! Nein, Moment, ihr seid doch zu zweit gewesen, oder? Wie hieß der Junge noch?« »Geoffrey. Geoffrey Slater.« Miss Garamond lächelte leicht. »Geoffrey, genau. Der hat doch Harnmelfleischpastete mit Pastinaken so gemocht. Jetzt fällt mir alles wieder 453 ein. Und ihr beide musstet bei mir aufhören, weil...« Leonardo wurde rot. »Schon gut. Ja, ich war schwanger und durfte nicht Zauberlehrling bleiben - wegen des Keuschheitsgelübdes.« Leonardo nickte. »Wir sind ans Meer gezogen. Dort wurde das Baby auch geboren. Wir haben es Tom genannt, Tom Slater. Er hat sich dann gut entwickelt. Aber ich hab etwas Schreckliches getan.« Miss Garamond zögerte eine Weile und verlor plötzlich die professionelle Selbstbeherrschung. Ihr Klemmbrett glitt zu Boden, und sie hatte Tränen in den Augen. »Ich bin weggelaufen und hab Geoffrey mit dem Baby sitzen lassen. Und ich bin nie zurückgekehrt.« »Also hat Tom seine Mutter nie kennen gelernt?« »Stimmt.« Ruth schniefte. »Und seinen Vater auch nicht.« »Hat Geoffrey ihn denn nicht großgezogen?« »Doch, hat er. Aber er ist nicht Toms Vater.« »Das verstehe ich nicht.« »Du bist sein Vater, Leo. Du bist Tom Slaters Vater. Ich hab nur so getan, als ob Geoffrey der Vater wäre, weil...« Leonardo starrte sie mit offenem Mund an. »... weil ich dich schützen wollte. Ich war in dich verliebt, Leo. Und ich glaube, ich bin es noch immer. Es hat nie einen anderen gegeben. Selbst nach all den Jahren.« Nach diesen Offenbarungen hatten die beiden sich jede Menge zu erzählen - sei es aus ihrer gemeinsamen Zeit, sei es aus den seither vergangenen Jahrzehnten. Draußen wurde es langsam dunkel, die Möwen flogen davon, und der scharfe Umriss des Palastturms verschmolz allmählich mit der Dunkelheit ringsum. Die gelb beleuchteten Fenster erloschen eins nach dem anderen, 454 bis durch Leonardos Scheibe nur noch ein konturloses schwarzes Rechteck zu sehen war. »Ich frage mich, was aus Tom geworden ist«, sagte der Magier schließlich. Er war aufgestanden und zündete die
Öllampen an. »Ich hab ihn einige Zeit im Auge behalten. Er hat Kartografie studiert, aber das ist mindestens fünfzehn Jahre her, wenn nicht zwanzig. Ich weiß nicht, was er dann getrieben hat.« »Oh, das kann ich dir sagen«, erwiderte Ruth. »Er ist hier in die Hauptstadt gekommen und hat sich einige Zeit um die Große Kreuzung gekümmert - wusstest du das nicht? Er ist sogar fast so was wie eine Lokalberühmtheit geworden, aber ich hab nie Kontakt zu ihm aufgenommen. Wozu auch? Ich wollte ja nicht ihn treffen, sondern dich, Leo, aber das durfte ich wegen des dummen Keuschheitsgelübdes nicht. Also wollte ich auch Tom nie treffen. Ich glaube, ich hab es ihm richtig übel genommen, dass ursprünglich er es war, der mich um deine Nähe gebracht hat. Und dann gab es diesen Skandal, über den ich im Anzeiger berichtete. Ich glaube, ich habe wirklich ein paar ziemlich hässliche Dinge über ihn geschrieben. Wie dem auch sei, er landete für ein paar Jahre im Gefängnis. Doch inzwischen lebt er wieder in der Hauptstadt, ist bis jetzt aber nicht weiter in Erscheinung getreten. Er hat bei einem Bekannten von mir eine Stelle bekommen, bei Michael Brown, dem Jungen, der die Landkarten und Stadtpläne verlegt. Er war dort sogar Untermieter, in der Westvorstadt, in einer Wohnanlage namens Turmresidenzen.« »In den Turmresidenzen?«, fragte Leonardo. »Das ist ja ein Ding! Dort hab ich früher auch gewohnt. Lass uns demnächst doch da vorbeigehen und ihn besuchen -natürlich nur, wenn du magst.« 455 »Das wäre eine schöne Überraschung für ihn, was?«, sagte Ruth nachdenklich. »Seine alten Eltern kommen mal kurz zum Tee vorbei. Was meinst du?« »Ich bin mir nicht ganz sicher«, entgegnete Leonardo. »Wir könnten ein paar Teilchen mitbringen. Oder Kekse. Aber hör mal, ich hab heute noch nichts gegessen. Hast du nicht Lust, ins >Ausrufers Ruh< zu gehen? Die müssten schon offen haben.« Der leere Fleck Als Rusty aufwachte, stellte er erleichtert fest, dass er allein war, was ihn übrigens nicht sonderlich überraschte. Sein Schädel dröhnte von dem Brandy, den er am Abend getrunken hatte, doch selbst als er geduscht, sich angezogen und gefrühstückt hatte, fühlte er sich noch benommen, verwirrt und durcheinander. Er versuchte erneut, Eileen zu erreichen, hatte aber so wenig Erfolg wie zuvor. Also baute er Signalmaschine und Akku ab und verstaute sie im Gepäck. Dann ging er auf den Marktplatz, wo die Kutscher darauf warteten, die Teilnehmer der Tagung in ihre Heimatorte zurückzubringen. Ihm fiel auf, dass die Leitern nicht mehr an den Häuserfronten lehnten, und während sein Gefährt über die Zufahrt zur Königlichen Landstraße holperte, stieg ihm der unverwechselbare Geruch von brennendem Holz in die Nase. Auf einem Feld am Stadtrand waren die Leitern provisorisch zu einem riesigen Scheiterhaufen zusammengesteckt, dessen Rauch nun in die Kutsche drang. Mit einem raschen Blick auf die übrigen Passagiere schloss Rusty das Fenster. Dann legte er den 456 Kopf an die Rückenlehne, machte die Augen zu und glitt in einen unruhigen Schlaf. Ein paar Stunden später reihte sich die Kutsche noch in einem Vorort der Hauptstadt in die Schlange der Fahrzeuge ein, die zur Großen Kreuzung wollten. Um die Verzögerungen und das Chaos dort zu umgehen, beschloss Rusty, vorzeitig auszusteigen und seine Reise zu Fuß zu beenden. Das wäre eine gute Gelegenheit, vor der Rückkehr in die Turmresidenzen im Verlag vorbeizuschauen und zu sehen, ob alles in Ordnung war. Er überquerte mit der Fähre den Fluss, ging mit raschen Schritten die Nordstraße hinauf und versuchte dabei die ganze Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Als er in den Verlag kam, stellte er verärgert fest, dass im ganzen Gebäude niemand zu finden war. Es gab keine Spur von Tom oder Charlotte, und auch die übrigen Mitarbeiter schienen sich unter der Hand einen freien Tag genehmigt zu haben. Druckmaschinen und Reißbretter standen verlassen da, und in der Halle, wo sich Maschinenlärm und Gespräche normalerweise zu einem dichten Geräuschteppich verwoben, war es vollkommen still. Rusty nahm sich vor, am nächsten Tag ein ernstes Wort an die Belegschaft zu richten, und wollte sich auf den Heimweg machen. Doch als er nach dem Schlüsselbund griff, hörte er aus der Ferne ein Weinen. Er blieb einen Moment reglos stehen, um festzustellen, woher es kam. Aus dem Keller, schien ihm. Beunruhigt sprang er die Treppe ins Lager hinunter. Was er dort erblicken musste, war die reine Verwüstung. Die Kartons mit den frisch gedruckten Landkarten waren allesamt aufgerissen, und auf dem Boden lag das zerfetzte Papier kniehoch. Die Bretter, die das Loch in der Wand abgedeckt hatten, waren weggerissen, die Pla457 ne der Bauarbeiter war in eine Ecke gefeuert und Erdreich weggeschaufelt worden, sodass die Ziegen von der benachbarten Wiese ungehindert in den Keller hatten gelangen können. Sechs von ihnen mummelten gerade stillvergnügt an den Resten seines Lagerbestands. Und hinten in der Ecke entdeckte er Charlotte. Sie war zu Boden gesunken und weinte untröstlich. Rusty kämpfte sich durch den mit Papiermüll übersäten Raum, scheuchte dabei in aller Eile die Ziegen aus dem Keller und kniete sich dann neben sie. »Charlotte, was ist passiert? Waren das die Bauarbeiter?« Sie gab keine Antwort. Vorsichtig schob er ihr die Hand unters Kinn und hob ihr tränennasses Gesicht. »Ach, Mr Brown, es tut mir so Leid«, brachte sie schluchzend und schwer atmend hervor. »Aber das waren nicht die Bauarbeiter. Das war Mr Slater. Er hat versprochen, nach dem Rechten zu sehen. Er hat gesagt, ich könnte mir wegen Maisie ruhig ein paar Tage freinehmen - er würde sich in Ihrer Abwesenheit um den Verlag
kümmern. Mir hat das gar nicht gefallen, aber er hat mir hoch und heilig versichert, bei ihm sei alles in besten Händen...« »Mr Slater? Tom hat Sie weggeschickt? Tom hat das angerichtet?« Charlotte nickte unglücklich und brach wieder in Tränen aus. Schließlich gelang es ihnen, die restlichen Ziegen zu verjagen und die Mauer provisorisch zu reparieren. »Gehen Sie jetzt besser nach Hause«, sagte Rusty behutsam. »Es ist schon in Ordnung, Charlotte. Nichts von alledem ist Ihre Schuld. Wir sehen uns morgen früh und überlegen uns dann, was zu tun ist.« Charlotte lebte irgendwo im Nordviertel, musste also 458 in eine andere Richtung als Rusty. Darum trennten sich die beiden vor dem Verlag. Ein schwacher Nieselregen beschwerte die Luft mit stickiger Feuchtigkeit. Fassungslos und kaum in der Lage zu begreifen, was geschehen war, ging Rusty längs der alten Stadtmauer nach Hause, stolperte über glitzernde Ziegelbrocken, die sich aus dem Mauerwerk gelöst hatten, und starrte mit leerem Blick über die gekräuselte Oberfläche des Flusses auf die fernen Dächer der Westvorstadt. Tom hat das also getan, dachte er. Vielleicht hatte Eileen doch Recht gehabt, was Tom anging. Aber warum sollte er so etwas tun? Was hatte er vor? Und würde er es wagen, noch mal im Verlag zu erscheinen? Rusty fiel auf, dass er noch nicht einmal wusste, wo sein früherer Freund inzwischen wohnte. Es dämmerte bereits, als er die Brücke am Westtor erreichte. Die Lichter des abendlichen Verkehrs spiegelten sich im Wasser, gebrochen und gemildert von den kleinen Wellen und von dem leichten Sprühregen, der nun eingesetzt hatte. Als Rusty die Wohnanlage betrat, fiel ihm auf, dass die Tür zum alten Fahrstuhlschacht wieder offen stand. Unwillkürlich trat er sie zu und nahm sich vor, am nächsten Morgen mit dem Hausmeister darüber zu reden. Als er die acht Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg, begann er sich den Kopf zu zermartern, was er Eileen sagen sollte. Doch in der Wohnung erwartete ihn die letzte Überraschung. Als er die Eingangstür öffnete, sah er, dass der Flur dunkel war. »Eileen«, rief er, »ich bin wieder da. Was gibt's denn zum Abendessen?« Keine Antwort. »Maxie? Ash? Wo ist Mama?« Noch immer kein Laut. Verdutzt drückte er die Tür zum Schlafzimmer auf und 459 setzte sich aufs Bett, um sich im Halbdunkel die Schuhe auszuziehen. Dabei saß er mit dem Rücken zum Kleiderschrank und merkte deshalb nicht gleich, dass die Koffer verschwunden waren. Ja, er machte sich sogar noch eine Tasse Tee und setzte sich damit vor den kalten Kamin, ehe ihn die Wahrheit wie ein Keulenschlag traf. Als er auf das Kaminsims starrte, fiel ihm auf, dass das gravierte Porträt von Eileens Vater, das er vom ersten Tag an gehasst hatte, nicht mehr an seinem Platz stand. Auch nachdem es schon lange zu dunkel geworden war, um etwas zu erkennen, saß Rusty noch zusammengesunken, erschöpft und verwirrt im Sessel und stierte auf den leeren Fleck, während sein Tee, der in einer Tasse mit Blumenmuster vergessen neben ihm stand, langsam kalt wurde. Rusty ging am nächsten Tag nicht in den Verlag und am Tag darauf auch nicht. Einige Zeit ging er sogar nicht mal vor die Tür. Ziellos lief er in der Wohnung herum, zog sich gar nicht erst an, lebte von den Resten in der Speisekammer und stapelte seine ungewaschenen Tassen und Teller in der Spüle. Nach einer Weile kam er auf die Idee, die Signalmaschine einzuschalten und Kontakt mit Eileen zu suchen, doch das Gerät im Haus ihres Vaters war offenbar vom Netz genommen, und ihm fiel kein Ort ein, wo sie sonst sein könnte. Danach wollte er sich mit der Ermittlungsbehörde der Königlichen Wolfsjungen in Verbindung setzen, um drei Personen vermisst zu melden, doch der Beamte, an den er letztlich geriet, war ihm keine Hilfe. »Wir haben im Moment sehr viel zu tun, Sir - Streik im Verkehrswesen, Kobolde und was sonst noch alles. 460 Natürlich kann ich eine Vermisstenanzeige aufnehmen, und wir versuchen, jemanden bei Ihnen vorbeizuschicken, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Aber ich schätze, die drei tauchen früher oder später wieder auf. So ist das meistens.« Ab und an schreckte ihn die Türklingel aus seiner Melancholie. Einmal hatte er Besuch von Charlotte, die wissen wollte, wann er wieder ins Büro komme. Sie berichtete ihm, der Rest der Belegschaft habe bereits Konkurs gewittert und das Weite gesucht; sie sei nun die Letzte im Verlag. Beschämt über den Zustand seiner Wohnung, hatte Rusty sie nicht über die Schwelle gelassen, sondern sie schließlich mit dem Gehalt für einen Monat weggeschickt und ihr versprochen, sich bei ihr zu melden, wenn er entschieden habe, was zu tun sei. Nach einigen Tagen tauchte ein Mann von der Großen Kreuzung auf, um das Gepäck zu liefern, das Rusty nach der Rückkehr von der Konferenz in der Kutsche gelassen hatte, und präsentierte ihm die dazugehörige Rechnung. Doch von Eileen, Ashleigh und Max kam kein Lebenszeichen. Also blieb Rusty in der Wohnung, denn er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Manchmal lag er apathisch auf dem Sofa und starrte an die Decke, während der Regen in dicken Tropfen die Scheiben herunterlief. Mitunter lag er in der Badewanne, vergaß, sich einzuseifen, und hielt nur den Waschlappen, bis das kalt gewordene Wasser seine Haut runzlig gemacht hatte und zum Teil schon durch den undichten Stöpsel gesickert war. Die meiste Zeit aber saß er im Zimmer von Ashleigh oder Max, atmete das schwindende Aroma ihrer Gegenwart ein und strich unablässig über die Bezüge ihrer kalten,
leeren Betten. 461 Dann klingelte eines Nachmittags wieder die Signalmaschine. »Und wie hast du schließlich Rache genommen?« Das hätte Nina mich vermutlich gefragt, wenn sie noch unter uns weilen würde. Ich muss sagen, dass ich meine kleinen Unterhaltungen mit ihr ziemlich vermisse, und manchmal stelle ich mir noch immer vor, mit ihr zu reden. Ich schätze aber, die Idee der Rache hätte ihr nicht gerade gefallen. Sie hätte mich wahrscheinlich dazu ermuntert, mich mit den Gegebenheiten abzufinden, vielleicht aber auch dazu, mir meine negativen Gefühle einzugestehen und mich dann allmählich davon zu lösen. Deshalb ist es womöglich besser, dass sie nie wissen wird, was ich letztlich getan habe. Was ihr widerfahren ist, tut mir wirklich Leid. Nichts davon war ihre Schuld, aber sie würde sicher verstehen, dass ich keine Wahl hatte. Und natürlich hab ich ihr nicht erzählt, was genau mit meinem Vater passiert ist. Aber was für ein Vater er war, hab ich ihr berichtet. Denn hätte ich einen richtigen Vater und eine richtige Familie gehabt, wäre vielleicht nichts von alledem geschehen. Aber ich kann Nina nichts mehr erzählen. Also erzähle ich es dir, Michael Brown - dem kleinen rothaarigen jungen, der sich vor vielen fahren an der Akademie für ein ach so cleveres Kerlchen gehalten hat. Als ich dich endlich hier in den Turmresidenzen erwischte, warst du natürlich kein Kind mehr: Dein schönes rotes Haar wurde da und dort schon grau und begann stellen462 weise sogar auszufallen. Aber dir habe ich es zu verdanken, kein Diplom gemacht zu haben. Du bist derjenige, der all das besaß, was ich nie haben würde. Und du hast mich auf den Weg gestoßen, der mich dorthin geführt hat, wo ich heute bin. Also warst immer du es, der dafür eines Tages würde büßen müssen. Als ich meine Strafe verbüßt hatte und in die Hauptstadt zurückkam, war es nicht sehr schwierig, dich aufzuspüren. Deine Landkarten prangten in der Auslage jedes Bücherstands, und deine Adresse stand auf jedem Stadtplan - also musste ich nur eines Tages in deinem Verlag auftauchen und nach Arbeit fragen. Du bist immer ein weichherziger Geselle gewesen und hast dich fast überschlagen, einem alten Freund zu helfen, den das Schicksal gebeutelt hatte. Kaum war ich bei dir angestellt, tat ich einfach, was ich seit jeher am besten kann: Ich beobachtete, hörte zu und machte mich nützlich, und nach einer Weile glaubten die Leute allmählich, sie könnten mir trauen. Also hatte ich viel Zeit, mich über deine Geschäfte kundig zu machen, deine Verlagspost zu lesen und natürlich an den Signalmaschinen herumzubasteln und daran ein paar Veränderungen vorzunehmen. Und dann hatte ich Gelegenheit, mich mit ein paar Kobolden zu befreunden und sie dazu zu bringen, mir ein wenig zu helfen. Als ich von der Tagung erfuhr, war mir klar, dass meine Stunde endlich gekommen war. Es war nicht gerade schwierig, die Bauarbeiter zu überreden, bei passender Gelegenheit einfach nicht aufzutauchen, und es war auch nicht sonderlich schwer, auf eigene Faust ein paar kleine bauliche Veränderungen vorzunehmen. Nur dieses Mädchen Charlotte war ein Problem - sie hat mir als Einzige wirklich Schwierigkeiten gemacht, weil von 463 der ganzen Belegschaft nur sie dir gegenüber tatsächlich loyal war. Doch als ich herausfand, dass sie eine Schwester mit vielen Problemen hat, war mir sofort klar, dass ich diese Schwester einsetzen konnte, um mir Charlotte vom Hals zu halten, wenn es nötig sein sollte. So war es letztlich nicht besonders schwer, dein Geschäft zu ruinieren. Doch während all das geschah, nahm ich mir zugleich mit voller Kraft deine Familie vor. Es war wirklich ein Glücksfall, dass ihr ein überzähliges Zimmer zu vermieten hattet, und ein noch größeres Glück war es, als ich entdeckte, dass ausgerechnet dort eure Signalmaschine stand. Ich glaube, deine Frau hat mir nie vertraut - also musste ich vorsichtig vorgehen und mich ernsthaft bemühen, der perfekte Untermieter zu sein, aber das hat sich zweifellos gelohnt. Und der Junge und das Mädchen waren überhaupt kein Problem. Kaum hatte ich ihnen gezeigt, wie man die Maschine bedient, liebten sie es, damit zu spielen, und meine Kobolde führten sie in null Komma nichts auf die schiefe Bahn. Ich musste wirklich kaum etwas tun, nachdem ich ihre kleinen Schwächen entdeckt hatte -den Rest haben sie eigentlich selbst erledigt. Nach all dieser Vorarbeit war mein kleines Kunststück bei der Tagung nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nachdem ich mich über die gute Frau Professor Greening kundig gemacht hatte, fiel es meinen netten Kobolden nicht schwer, sie dazu zu bringen, die alte Bekanntschaft aufzuwärmen. Jetzt war nur noch eine kleine Manipulation an der tragbaren Signalmaschine nötig. Aber da besaß ich ja schon dein völliges Vertrauen. Du hast meine Anweisungen peinlich genau befolgt, und ich musste nur dafür sorgen, dass das Gerät im entscheidenden Moment in Betrieb war. 464 Als ich in jener Nacht die Verbindung zu deiner Frau herstellte, hätten die Dinge einfach nicht besser laufen können. Natürlich musste ich bei euch ausziehen, als das Mädchen widerspenstiger wurde und nachts immer länger wegblieb. Ich hab einen Schlafplatz im alten Fahrstuhlschacht gefunden und hier die letzten paar Wochen ziemlich angenehm gelebt. Meine einzige Gesellschaft waren Ratten. Es hat mir ziemlich gefallen, wieder auf hartem Boden zu schlafen - das erinnert mich an mein altes Quartier in der Akademie zu Füßen von Roger dem Blinden. Und natürlich hab ich die Antenne auf dem Dach des Hauses angezapft, um zu verfolgen, wie sich die
Dinge entwickeln. Das ist wirklich alles sehr interessant. So habe ich zuerst deine Existenzgrundlage zerstört, Michael Brown, und dann deine Familie. Ich hatte überlegt, ob ich den letzten Schritt machen und auch dich zerstören sollte, aber ich finde das nicht unbedingt nötig. Ich glaube, ich sollte dich lieber einfach leiden lassen. Einst hab ich dich um all die Dinge beneidet, Michael, die du hattest und die ich nicht besaß, doch jetzt habe ich dir all diese Dinge Stück für Stück genommen. Du siehst noch nicht mal mehr gut aus. Du hast deine hübsche, gelenkige Gestalt verloren, das schöne rote Haar fällt dir aus, und nun bist du auf dem besten Wege, auch deinen so nett geordneten Verstand zu verlieren. Deshalb ist es jetzt vielleicht Zeit, Schluss zu machen. Heute Nachmittag habe ich einige alte Sachen aus meinem Rucksack durchgesehen. Die alten Gedichte und Kreuzworträtsel sind noch da, obwohl sie inzwischen ziemlich ramponiert sind. Einst schien es faszinierend, 465 mit Worten und Buchstaben spielen zu lernen und zu begreifen, wie man damit kleine Welten erschafft, doch letztlich sind dabei nur ein paar alberne Tricks herausgekommen - Tricks, bei denen ich irgendwie an die junge Frau im Haus der Ruhe denken muss, die immer so blöd auf den Händen lief. Wenn ich all diese Aufzeichnungen heute betrachte, erkenne ich, worum es sich dabei tatsächlich handelt: um einen Haufen Altpapier. Sicher, ich habe deine alten Landkarten noch, diese kindischen Kritzeleien, die du wahrscheinlich schon vor Jahren vergessen hast. Es macht mich ein wenig traurig, sie mir anzusehen, mir den Jungen vorzustellen, der sie gezeichnet hat, und mich zu fragen, was geschehen wäre, wenn die Dinge anders gelaufen wären. Als Letztes ist da natürlich die alte Eisenkette, die mein Vater geschmiedet hat. Sie ist das Älteste, was ich besitze, und wenn ich ihre Glieder durch die Finger gleiten lasse, ist es fast, als könnte ich noch etwas von ihrer alten Macht spüren. Diese Kette war immer bei mir und hat mich stets daran erinnert, woher ich komme. Und jetzt spricht sie zu mir und ermahnt mich, dass ich noch eine letzte Aufgabe zu erledigen habe. Und danach, Michael Brown, danach sind wir wirklich quitt. Die Abfallpatrouille »Ich glaube, er wohnt im vierten Stock, Leo«, keuchte Miss Garamond. »Brauchst du eine Pause, bevor wir hochsteigen?« Nach einigen ziemlich quälenden Wochen der Unent466 schlossenheit hatten Leonardo und Ruth sich endlich dazu durchgerungen, den Turmresidenzen einen unangekündigten Besuch abzustatten, um ihren so lange verlorenen Sohn zu überraschen. Der Magier, der eine zerknitterte Kekstüte hielt, hatte denselben Weg nehmen wollen, den er früher immer zum Palast und zurück zu seiner Wohnung gegangen war, und das doch schon recht alte Paar war nun ziemlich außer Atem. »Die Treppe können wir uns sparen«, antwortete der Magier. »Es gibt einen Fahrstuhl. Oder es gab jedenfalls mal einen. Mit Ponyantrieb. Ich hab früher immer ein paar Takte mit dem Fahrstuhlführer geplaudert. Damals war hier alles ziemlich vornehm.« Er kramte in den Taschen seines Mantels. »Vermutlich hab ich sogar noch irgendwo den Schlüssel. Um Himmels willen, was ist denn das?« Er warf sein unerwünschtes Fundstück eilends weg. »Ah ja, das hier ist er wohl.« Doch als es ihm endlich gelungen war, die Tür zum Schacht aufzuschließen, war kein Fahrstuhl zu sehen. Eigentlich war gar nichts zu sehen - nur ein verstreutes Durcheinander ramponierter Pergamente, an denen die Ratten genagt zu haben schienen. »Sieht nach Gedichten aus«, bemerkte Ruth und blinzelte in die Vertiefung hinab. »Ich wünschte, die Leute wären nicht so furchtbar unordentlich. Aber egal - wo ist denn jetzt dieser Fahrstuhl? Kann man den irgendwie rufen?« »Das hat eigentlich nie funktioniert«, räumte Leonardo ein. »Normalerweise hab ich ihn schließlich doch immer suchen müssen. Komm, gehen wir hoch. Vielleicht steht er auf der nächsten Etage.« Doch als sie das erste Stockwerk erreichten, war vom Fahrstuhl weiterhin nichts zu sehen, und auch als sie 467 sich die nächsten Treppen hochgeschleppt hatten, erging es ihnen nicht besser. »Jetzt lohnt sich die Mühe kaum noch«, schnaufte Ruth. »Gehen wir einfach weiter.« Doch wenn Leonardo eines war, dann methodisch, und als seine Freundin zu Ende gesprochen hatte, drehte er schon den Schlüssel im Schloss. Als die Tür aufging, begrüßte sie aber nicht der erhoffte Fahrstuhl. Stattdessen sahen sie sich entsetzt zwei Beinen gegenüber, die so hoch in der Luft hingen, dass sich die großen, schweren Stiefel direkt vor ihren Augen langsam drehten - erst ein Stück nach links, dann ein Stück nach rechts. Bei jeder Bewegung war von oben ein trockenes, knirschendes, quietschendes Geräusch zu hören. Erschrocken sahen sie einander mit offenem Mund an. Dann drängten sie sich grob an jemandem vorbei, der nach unten hetzte, und schleppten sich, so schnell sie konnten, in den vierten Stock hinauf. Doch gerade als sie dort an die Fahrstuhltür kamen, sprang im angrenzenden Korridor eine Tür auf, und ein ungepflegter Mann stürzte heraus. Er trug ein schmuddeliges Nachthemd, und sein schütteres Haar mochte vielleicht mal dunkelrot gewesen sein. »Michael!«, rief Ruth. »Michael Brown! Was ist passiert? Du siehst ja furchtbar aus! Was ist denn los?«
»Ich habe gerade per Signalmaschine eine wirklich seltsame Nachricht bekommen.« Rusty schien etwas benommen. »Ich denke, wir müssen im Fahrstuhlschacht nachsehen.« Doch da lenkte ihn der Anblick von Miss Garamonds Begleiter ab. »Meister Pegasus!«, rief er verdutzt. »Was macht Ihr denn hier?« »Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, erwiderte 468 Leonardo. »Die erzähl ich dir lieber später. Mist, jetzt hab ich die Kekse fallen lassen.« Inzwischen hatte er den Schlüssel ins Schloss gesteckt. Als die Tür aufging, machten alle drei große Augen. In der unteren Hälfte der Öffnung hing der Oberkörper des Mannes, dessen Beine sie ein Stockwerk tiefer hatten baumeln sehen. Es war ein groß gewachsener Mann mit abgezehrten Zügen und strähnigem, schwarzem Haar. Sein gebrochener Hals steckte in einem verrosteten Eisenhalsband, das mit einem großen Vorhängeschloss gesichert war. Von diesem Halsband lief eine lange schwarze Eisenkette mit rechteckigen Gliedern ins Halbdunkel am oberen Ende des Schachts. Die Kette quietschte leise, während die Leiche sich bedächtig nach links und rechts drehte. Die Türen längs des Korridors öffneten sich, und Nachbarn traten heraus, um nachzusehen, was der Krach im Treppenhaus zu bedeuten hatte. Die Ratten verschwanden derweil - von keinem bemerkt - mit Leonardos Keksen fröhlich die Treppe hinunter. »Ich glaube, ich will nicht mehr länger hier bleiben. Nicht nach all dem, was passiert ist. Das ist nicht mehr die Stadt, die es einmal war.« Leonardo schüttelte langsam den Kopf. Inzwischen war es Abend. Rusty hatte seine Gäste davon überzeugen können, keine Gesellschaft mehr haben zu wollen, und Leonardo und Ruth hatten ihn in den Turmresidenzen allein gelassen, zuvor aber versichert, sie würden am nächsten Tag wiederkommen. Jetzt saßen sie in ihrer üblichen Ecknische im »Ausrufers Ruh« und ließen sich die Ereignisse der letzten Stunden durch den Kopf gehen. 469 »Armer Tom«, sagte Ruth. Schweigend dachten sie über das Schicksal ihres Sohnes nach, und vorsichtig fanden sich ihre Hände quer über die Tischplatte. »Aber du hast ganz Recht, was die Stadt anlangt«, fuhr Ruth schließlich fort. »Ich mach dir keinen Vorwurf, dass du hier verschwinden willst. Doch was wird aus deiner Arbeit als Koboldverfolger? Musst du die nicht irgendwie zu Ende bringen?« »Darüber habe ich schon nachgedacht«, antwortete Leonardo. »Wenn wir Tom begraben haben, möchte ich zurück in mein Dorf. Warum soll ich meine Arbeit nicht von zu Hause aus erledigen, solange Meister Gash damit zufrieden ist? Dort hab ich schließlich meine Komplexe Empathiemaschine stehen, in deren Entwicklung ich jahrelange Arbeit gesteckt habe. Die ist viel leistungsstärker als alles, was sie im Palast haben. Wenn ich meine Maschine einsetzen kann, habe ich eine kleine Chance, Lee zu schnappen. Außerdem steht gleich auf dem nächsten Hügel eine Signalwache.« »Du könntest deine Maschine also ans Netzwerk anschließen?« Beide stellten fest, wie erleichternd es war, wieder über praktische Dinge zu reden. »Genau.« Der Magier begann, sich langsam für das Thema zu erwärmen. »Und dann heißt es ja auch überall, die schlauesten Leute würden heutzutage von zu Hause aus arbeiten. Aber einen Haken hat die Sache...« Ruth griff in ihre Tasche, fand eine Zigarette, zündete sie an und inhalierte. »Tschuldigung«, sagte sie dann. »Du rauchst doch nicht, oder?« »Nein«, antwortete Leonardo. »Das ist eine der wenigen Sünden, die ich nie ausprobiert habe. Was wollte ich gerade sagen?« 470 »Du hast von einem Haken gesprochen.« »Ja, richtig.« Er zögerte einen Moment, denn er wusste nicht recht, wie er fortfahren sollte. »Die Sache ist die... also, weißt du... na ja, es ist einfach so, dass ich eigentlich nicht allein ins Dorf zurückkehren möchte. Nicht nach dem, was passiert ist. Und wo ich dich jetzt wieder getroffen habe...« Ruth hatte zu lächeln begonnen. »Soll das eine Art Heiratsantrag sein?« »Ja«, antwortete Leonardo langsam. »Ja, ich schätze schon.« »Dann willst du mich also nach vierzig Jahren tatsächlich zu deiner Angetrauten machen?« Nach kurzem Schweigen brachen beide in befreites Gelächter aus. Die Leiche Tom Slaters blieb ein paar Tage im Fahrstuhlschacht hängen, bis schließlich ein Kommando der Abteilung Abfallbeseitigung der Königlichen Wolfsjungen kam, um sie fortzuschaffen. Rusty achtete kaum auf die Wolfsjungen. Er stand noch immer unter Schock, spukte weiter in der Wohnung herum, legte sich ständig in die Badewanne, strich wieder und wieder über die Bettbezüge und fertigte gelegentlich auftauchende Besucher barsch ab. Während all dieser Tätigkeiten begriff er langsam, dass Tom Slater hinter allem gesteckt hatte, was seiner Familie und seinem Verlag in den letzten Wochen widerfahren war. Manchmal fragte er sich, warum sein alter Freund sich so entschlossen darangemacht hatte, sein Leben zu zerstören; oft aber starrte er nur auf die Wand und dachte gar nichts. Nachdem das einige Tage so gegangen war, rüttelte das plötzliche Klingeln der Signalmaschine im Gäste471 zimmer Rusty eines Nachmittags aus seiner Apathie. Als er an den Apparat ging, meldete sich der so wenig hilfsbereite Beamte von der Ermittlungsbehörde der Königlichen Wolfsjungen.
»Mr Brown? Bezüglich Ihrer Vermisstenanzeige? Stimmt es, dass zu den von Ihnen aufgeführten Personen eine Miss Ashleigh Brown gehört, fünfzehn Jahre alt?« »Ashleigh? Meine Tochter? Ja?« Plötzlich schwitzten seine Handflächen, und er musste sich anstrengen, die Griffe der Signalmaschine umklammert zu halten. »Es hat sich da etwas ergeben. Ich glaube, wir haben eine Neuigkeit für Sie.« »Können Sie mir sagen -« »Wir schicken jemanden vorbei. Tut mir Leid, aber so sind unsere Verfahrensregeln - ich kann nichts dafür. Und wir haben natürlich noch immer zu wenig Personal. Darum müssen Sie vermutlich mit einem Kadetten vorlieb nehmen.« Dann war die Verbindung unterbrochen, und nun schien es Rusty, als würde er stundenlang rastlos im Wohnzimmer auf und ab gehen, aus dem Fenster starren und auf das Klingeln der Türglocke warten. Diese endlose Zeitspanne wurde nur durch das entfernte Läuten des Instituts für Kalibrierung strukturiert. Endlich entdeckte er unten im Hof jemanden, der die blaue Uniform der Katzenmädchen trug und quer über den Rasen auf den Haupteingang der Turmresidenzen zukam. Als die Botin den vierten Stock erreichte, stand Rusty bereits ungeduldig auf der Schwelle. »Ja?« Vor ihm stand eine zierliche Gestalt in steif wirkender neuer Uniform, die ihr etwas zu groß war. Auch die Stie472 fei glänzten ein wenig zu sehr. Das Haar, das die makellosen Züge unterm Schiffchen umrahmte, war kurz, abstehend und dunkelrot. »Hallo, Dad«, sagte Ashleigh verlegen. »Ich dachte, ich entscheide mich besser für was Anständiges.« »Ash!« Rusty konnte die Tränen nicht zurückhalten. »Komm her!« Und sie fielen einander in die Arme. Königlicher Nachrichten- und Veranstaltungsanzeiger, Ausgabe 193 (im siebzehnten Jahr der Regentschaft von König Matthew) Leitartikel von Miss Garamond Seid gegrüßt, Bürger! Die Verfasserin bittet ihre Leser wegen der äußersten Kürze dieses Leitartikels (deren Gründe gleich deutlich werden) um Nachsicht. Auf Befehl von Hochmeister Fang wird der Anzeiger nach dieser Ausgabe nicht weiter in der gegenwärtigen Form erscheinen. Nachdem die verschiedenen Kommunikationstechnologien in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht haben, wünscht der Hochmeister, dass das Königliche Signalnetzwerk unter seiner persönlichen Leitung künftig das wichtigste Medium zur Verbreitung aller Informationen ist, an denen die Gesellschaft Interesse haben dürfte. Die Bürger können sich darauf freuen, künftig in der Sicherheit ihres Zuhauses oder ihres Büros den Netzwerkbericht in stets aktuali473 sierter Fassung zu empfangen. Der Autorin wurde garantiert, diese Veröffentlichung werde - trotz der neuartigen Form ihrer Präsentation - weiter alle Vorzüge des alten Königlichen Anzeigers haben, darüber hinaus aber viele neue Beiträge bringen, deren Natur zu enthüllen sich der Hochmeister noch nicht in der Lage sah. Die Leser mögen vielleicht erstaunt darüber sein, dass die Verfasserin dieses Artikels ihren Posten als Chefredakteurin schon gut sechzehn Jahre bekleidet und sich darum entschieden hat, die anstehende Neuorganisation des Pressewesens als geeigneten Vorwand dafür zu nehmen, ihre Stellung aufzugeben und sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Die Autorin ist keine junge Frau mehr (auch wenn ihre Mitarbeiter ihr das immer wieder weismachen wollen). Darum will sie der Hauptstadt Lebewohl sagen und ihre letzten Jahre friedlich auf dem Land verbringen, wo - da sei der Leser sicher - Herausforderungen und Möglichkeiten ganz anderer Natur auf sie warten. Abschließend möchte die Verfasserin: erstens ihren Lesern für ihr Vertrauen aufrichtig danken; zweitens ihren Mitarbeitern für jahrelange unerschütterliche Loyalität ihre Wertschätzung ausdrücken; und drittens allen Bürgern als Empfänger des Netzwerkberichts viele Jahre der Unterhaltung und Belehrung wünschen. Ohne unsere Leser hätte es keinen Königlichen Anzeiger gegeben, und ohne den Anzeiger wäre das Leben in unserem Königreich nicht, was es heute ist. Zum Schluss möchte die Verfasserin ihre nachdrückliche Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass unter 474 den Händen von Hochmeister Fang jeder, wirklich jeder Bürger darauf vertrauen darf, eine glückliche, blühende und sichere Zukunft zu haben. Lebt wohl, liebe Bürger! Und lang lebe König Matthew!