Gruselspannung pur!
Die Grachtenguhls von Amsterdam
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Konstapel Henk Bouwers ...
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Gruselspannung pur!
Die Grachtenguhls von Amsterdam
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Konstapel Henk Bouwers hielt an und spuckte auf das Pflaster des Leidseplein. »Schäm dich«, sagte sein Kollege Jan Kerk. »Wenn das jetzt ein Tourist fotografiert hat, dann kriegst du Ärger!« »Mir egal«, krächzte Bouwers. »Ich habe Halsschmerzen.« Die beiden uniformierten Beamten der Amsterdamer Stadtpolizei setzten ihre Fußstreife fort. Sie befanden sich an einem der beliebtesten Plätze der holländischen Hauptstadt. Kein Mensch, der Amsterdam besuchte, kam am Leidseplein vorbei. Die funkelnden Lichter der Bars und Cafes zogen die Besucher an wie Motten das Licht. Für Henk Bouwers und Jan Kerk sah die Zukunft weniger strahlend aus, denn sie ahnten nicht, daß sie gleich sterben sollten. Ganz in der Nähe lauerte der Tod auf sie… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! 2
Die uniformierten Polizisten schritten langsam am Cafe Reynders vorbei, wo sich die Künstler und Journalisten trafen. Eine Gruppe japanischer Touristen fotografierte nun wie auf Kommando tatsächlich die beiden Beamten in den dunkelblauen Uniformen. Jan Kerk hoffte, daß sein Kollege nicht schon wieder ausspucken würde. Doch Bouwers beherrschte sich ausnahmsweise. Schob sich ein paar Halspastillen in den Mund und lutschte sie im Eilverfahren. Die Japaner, sie versuchten vergeblich, in fünf Tagen alles Wichtige in Europa zu sehen und vor allem zu filmen, hasteten weiter. Von ihrem Reiseleiter wahrscheinlich Richtung Königliches Palais getrieben. Touristen aus aller Welt drängten sich über den belebten Platz. Zwischen dem Hotel Americain und dem Stadttheater, der Stadsschouwburg. Für die Polizisten, beide waren geborene Amsterdamer, ein alltäglicher Anblick. Nun trennten Bouwers und Kerk nur noch vierzig Meter Luftlinie von ihrem entsetzlichen Ende. Sie ließen den Leidseplein hinter sich und hielten auf die Leidsegracht zu… * »Ach du Scheiße!« sagte Henk Bouwers in seiner unverblümten Art. »Ein aufgebrochenes Auto! Und das kurz vor Schichtende!« Der Wagen war ein älterer Audi mit Kölner Kennzeichen. Er stand ziemlich waghalsig geparkt am Rand der Gracht. Nur dreißig Zentimeter neben dem linken Vorderreifen befand sich die Ufermauer des Kanals. Das Wasser wirkte in der Nacht schwarz und schwer wie Öl, obwohl dann viele der liebevoll restaurierten Grachtenhäuser angestrahlt waren. »Bestimmt wieder einer, der sein Autoradio nicht rechtzeitig ausgebaut hat«, brummte Jan Kerk. Er war schon ein paar Jahre länger im Dienst als sein aufbrausender Kollege. Und wußte, daß Amsterdam einen traurigen Rekord an aufgebrochenen Fahrzeugen hielt. Neuerdings gingen er und seine Kollegen härter gegen die Beschaffungskriminalität vor. Aber noch immer gab es in der holländischen Hauptstadt jede Menge Junkies, die Stoff brauchten und vor allem Geld, um ihn sich kaufen zu können. So raubten sie und stahlen, rücksichtslos und ohne jegliche Hemmschwelle. 3
Konstapel Henk Bouwers ging um die Kühlerhaube herum und leuchtete von vorne in das Fahrzeuginnere. Dabei näherte er seinen rechten Fuß dem Grachtenrand. Nur ein altersschwacher Eisenzaun trennte ihn von dem nassen Element. »Seit Jahren predigen wir den Touristen, daß sie ihre Autoradios ausbauen sollen, bevor sie hierher kommen«, grollte der junge Polizist. »Aber es ist, als ob du… Aaaaahh…!« Bouwers schrie vor Überraschung, nicht vor Entsetzen. Noch nicht. Etwas hatte sein rechtes Fußgelenk gepackt. Etwas, das in der Gracht gelauert hatte. Der Konstapel ließ seine Taschenlampe fallen. Nun spendete nur noch die nächste Straßenlaterne etwas Helligkeit. Und die war halb durch einen Baum verdeckt. Reaktionsschnell packte der Polizist seinen Gummiknüppel. Er vermutete hinter der Attacke einen durchgeknallten Fixer, der sich einen üblen Scherz mit ihm erlaubte. Aber das war kein hirnbenebelter Drogenabhängiger. Das Etwas zog unerbittlich und mit unglaublicher Kraft an seinem Bein! Schmerzhaft schlug der Beamte mit dem linken Knie auf dem Kopfsteinpflaster auf. Dann sauste sein Gummiknüppel nieder. Dreimal drosch er auf eine aufgedunsene weiße Kralle ein, die schon tief in sein Fleisch eingedrungen war. »Hilf mir, Jan!« Jetzt war es das pure Entsetzen, das aus seiner rauhen Stimme sprach. Er prügelte weiter mit seinem Schlagstock auf den Angreifer ein. Aber nicht, weil es etwas brachte. Sondern weil er es nicht ertragen konnte, ohne Gegenwehr von dieser Bestie geholt zu werden. Ein ekelhaftes Monstrum war das. Allein sein höllischer Gestank war schon betäubend. Und der Anblick der schwammigen Haut des ehemals menschlichen Wesens konnte einem den Magen umdrehen. Eine Wasserleiche! dachte Henk Bouwers. Aber wieso lebt der Tote? Mit seiner Einschätzung lag er gar nicht mal so falsch. Leider blieb ihm keine Zeit mehr, sich darüber zu freuen. Die Bestie spannte noch einmal die Muskeln an. Und riß den Fuß des Polizisten einfach ab! Der Konstapel war inzwischen halb wahnsinnig vor Schmerzen. Nun endlich griff Jan Kerk ein. Er hatte schnell noch per Handy einen Notruf an die Zentrale abgesetzt und dringend um Verstärkung gebeten. Zum Glück war das Präsidium an der Elandsgracht nicht weit entfernt. Fragte sich nur, ob die Zeit 4
reichen würde… Jan Kerk zog seine Dienstpistole. Er konnte nicht feuern, ohne seinen jungen Kollegen zu gefährden. Er mußte, einen anderen Schußwinkel finden. Inzwischen zog das Monster schon die Beine des fast ohnmächtigen Bouwers zu sich hinunter. Der Gummiknüppel war den Fingern des Konstapels entfallen. Er war bleich wie der Tod. Das Blut pulsierte aus seinem Fußstumpf. Jan Kerk ging leicht in die Knie. Jetzt hatte er die Kreatur im Visier. Zweimal hintereinander zog er den Stecher durch. Sah, wie die Geschosse in den ekelerregenden weißen Körper einschlugen. Der Kopf mit den heimtückischen toten Augen drehte sich nun grinsend dem älteren Polizisten zu. Kerk erstarrte. Er glaubte, vor Angst den Verstand zu. verlieren. Nicht nur, daß seine Patronen überhaupt keine Wirkung gezeigt hatten. Nun spürte er auch noch, wie ihn eine zweite Gestalt von hinten packte! Der zweite Unheimliche war womöglich noch größer als der erste. Im Gegensatz zu seinem Artgenossen war er aus dem schmutzigen Wasser der Gracht ans Ufer geklettert. Er verbreitete einen ähnlichen Pestgestank um sich herum. Und hatte übermenschliche Kräfte. Jan Kerk kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung. Er war im waffenlosen Kampf geschult. Hatte schon oft genug auf dem harten Großstadtpflaster Amsterdams gegen Messerstecher und Schläger gefightet. Aber dieser Gegner war kein Mensch! Ein kräftiger Griff reichte aus, um Kerks Pistolenhand zu brechen. Der Grachtenteufel packte den Polizisten wie eine Puppe. Hob ihn weit über den eigenen Schädel in die laue Nachtbrise. Und ließ ihn dann, mit dem Kopf voran, auf das Pflaster donnern. Jan Kerk war auf der Stelle tot. Er kriegte nicht mehr mit, wie der Todeskampf seines jungen Kollegen nach einer endlos erscheinenden Minute ebenfalls endete. Die beiden weißhäutigen Bestien verschwanden mit einem leisen Gluckern im schwarzen Wasser der Leidsegracht. Nicht ohne ihre Opfer mitzunehmen. Die Monster waren zufrieden mit ihrem Beutezug. Sie ahnten nicht, daß es einen Zeugen für ihren feigen Angriff gegeben hatte. Vincent van Euyen. Mark Hellmanns Freund hatte von einer nahen Brücke aus mit 5
stummem Entsetzen die hinterhältige Bluttat verfolgt. * Trotz seines holländischen Namens war Vincent van Euyen im thüringischen Weimar geboren und aufgewachsen. Am 14. Februar '99 war er dreiundvierzig geworden, zwei Tage nach Flohs neuntem Geburtstag. Seine Vorfahren waren schon vor langer Zeit aus den Niederlanden nach Deutschland ausgewandert. Immerhin wurde bei ihnen zu Hause noch häufig Holländisch gesprochen. Darum beherrschte der Dreiundvierzigjährige mit dem Kugelbauch und dem störrischen blonden Haupthaar diese Sprache fast genauso gut wie Deutsch. Der Fotoreporter hatte wegen der großen Entfernung nicht eingreifen können, hatte dem Polizisten nicht helfen können. Er war zwar keine Kämpfernatur, doch diese Tatsache ignorierte er stets dann, wenn Not am Mann war. Mehrmals hatte er das schon bewiesen und sich für sein Freunde vehement eingesetzt (Siehe die Bände 12 und 38!). Vincent kannte sich in schwarzmagischen Dingen aus. Darum wußte er, daß die Angreifer Ghuls gewesen waren. Und denen mit bloßen Händen gegenüberzutreten, kam einem Selbstmord gleich. Von seinem Platz aus mußte er den Molenpad hinuntergehen, dann nach links abbiegen und wieder nach rechts, um zum Platz des Überfalls zu gelangen. Und das dauerte. Vincent van Euyen war kein Sprinter, kein Wunder bei seinem Übergewicht, doch als er das schrille Winseln einer Polizeisirene hörte, die sich vom Leidseplein her näherte, legte er noch einen Zahn zu. Eigentlich hatte der Weimarer nur ein paar Tage Urlaub im Land seiner Vorfahren machen wollen. Aber irgendwie ließ ihn das dämonische Treiben nie los. Ob das an seiner Freundschaft mit Mark Hellmann lag, der als Kämpfer des Rings ein Auserwählter und Erzfeind der Hölle war? Vincent van Euyen hatte keine Ahnung. Er spürte nur die teuflische Bedrohung, die von diesen Grachtenghuls ausging. Und er wollte seinen Teil dazu beitragen, um sie zu besiegen. Der beleibte Mann keuchte wie ein Walroß. Neben dem Audi hielt inzwischen ein Toyota-Kleinbus mit der Aufschrift POLITIE, aus dem vier bewaffnete Beamte sprangen. Aber es gab nichts zu 6
sehen. Nur ein paar Blutflecken, einen einsamen Gummiknüppel und eine fallen gelassene, herrenlose Pistole. »Verdammt!« schimpft ein älterer Beamter, der sich umschaute. »Was ist hier passiert?« Vincent van Euyen hatte diese Worte gehört. »Ich habe alles beobachtet!« schnaufte er. Die Polizisten warteten ungeduldig, bis er wieder Atem geschöpft hatte. Der Reporter der Weimarer Rundschau konnte sie verstehen. Sie sorgten sich um ihre Kollegen. »Wir sind ganz Ohr, Mijnheer!« Doch als Vincent anfing, die Ghuls und ihren Überraschungsangriff zu beschreiben, verdüsterten sich die Mienen der Uniformierten immer mehr. Einer schnupperte unverhohlen an Vincents Atem. Wollte wohl checken, ob er eine Fahne hatte. Aber Vincent hatte an diesem Abend nur den scharf gerösteten holländischen Kaffee getrunken. Bisher. »Sie wollen uns wohl auf den Arm nehmen!« raunzte ihn der ältere Polizist an. »Das kann Sie teuer zu stehen kommen!« Und sie ließen ihn wirklich in ein Röhrchen pusten. Wie einen Alkoholsünder. Dann mußte er noch seine Ärmel aufkrempeln und die Armbeugen vorzeigen. Ob Einstiche vorhanden waren. Das hier war schließlich Amsterdam. »Er ist sauber«, meinte ein jüngerer Polizist fast enttäuscht. »Nur offensichtlich total verrückt!« Normalerweise war Vincent van Euyen die Ruhe selbst. Aber nun lief sein Gesicht rot an. Er richtete seinen Zeigefinger wie eine Waffe auf das Gesicht des Sprechers. »Es gibt Ghuls, melkmuil (Milchbart!) Es gibt auch Vampire und Blut-Schamanen und andere schwarzmagische Wesen! Wenn sie auch nicht in euren godverdomme Dienstvorschriften vorkommen!« Das Ende vom Lied war, daß die Beamten Vincents Personalien aufnahmen, seine Amsterdamer Hoteladresse notierten und versprachen, ein Protokoll seiner Aussage aufzunehmen. Er könnte ja morgen zum Unterschreiben ins Präsidium kommen. Oder nächste Woche. Oder irgendwann… Sie behandelten ihn wie einen armen Irren. Der Reporter kochte vor Wut, als er sich endlich trollen durfte. Es war schon nach Mitternacht. Er stiefelte geradewegs in eine Bar am Leidseplein. Eine Touristenfalle mit Oben-ohneBedienung. Vincent war so sauer, daß er keinen Blick für die 7
schaukelnde Götterspeise links und rechts von ihm hatte. Er bestellte sich ein Heineken-Bier und einen Genever zu astronomischen Preisen. Stürzte den Schnaps herunter und spülte mit dem Pils nach. Dann wischte er sich den Schaum aus dem Schnurrbart und zündete sich seine Pfeife an. Wütend war er auf die Beamten, doch die konnten ihn zum Glück nicht hören. »Ich werde euch schon die Ghuls auf dem Silbertablett servieren, ihr sturen Sesselfurzer! Und wenn es das letzte ist, was ich tue…« * Wie ein Raubfisch bewegte sich der Ghul durch das trübe Grachtenwasser. Kraftvoll und absolut tödlich. Er und seine Artgenossen waren auf Beutezug. Wie fast jede Nacht. Sie waren immer sehr vorsichtig gewesen. Darum war ihr abscheuliches Treiben lange unbemerkt geblieben. Es gab in Amsterdam genug Opfer für sie, nach denen kein Hahn krähte. Ausreißer. Junkies. Illegale Einwanderer. Viele von ihnen trieben sich Tag und Nacht in der Innenstadt herum. Wenn einer von ihnen verschwand, rief garantiert niemand die Polizei. Der Ghul war nicht besonders clever. Daß er und sein Artgenosse in dieser Nacht zwei Ordnungshüter angefallen hatten, machte ihm kein Kopfzerbrechen. Die Gier war einfach zu stark gewesen. Und sie war noch nicht gestillt. Denn als Leichenfresser machten sich diese Dämonen erst über ihre Opfer her, wenn sie schon länger tot waren. Deshalb hatten sie die sterblichen Überreste der Polizisten zu ihrem »Vorratslager« geschafft. Was wohl der Konsul zu ihrer Beute sagen würde? Doch bevor er sich weiter damit befassen konnte, wurde die Aufmerksamkeit des Ghuls abgelenkt. Er witterte wieder lebende Menschen. In seiner unmittelbaren Nähe. Die Bestie unterdrückte ein gieriges Aufstöhnen. So gut wie unsichtbar glitt sie durch das Wasser der Lijnbaansgracht. Auf ein kleines Hausboot zu… * 8
Ein dumpfes Geräusch ertönte. Gefolgt von einem mehr oder weniger lauten Plätschern. Bernd erhob sich fluchend aus seinem Bett. Es war verdammt schmal. Aber an Bord seines Hausbootes mußte jeder Zentimeter Platz ausgenutzt werden. Immerhin konnte er froh sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben. Der Aussteiger aus Deutschland war nicht der einzige, der sich Amsterdam als neue Heimat ausgesucht hatte. Seit einem halben Jahr lebte der gebürtige Augsburger nun auf dem Boot in der Lijnbaansgracht. »Was machst du?« Sandra zog sich die Bettdecke bis an ihre sommersprossige Nasenspitze. Die junge Frau stammte ebenfalls aus dem östlichen Nachbarstaat der Niederlande. Ebensowenig wie bei ihrem Freund hätte man sagen können, wovon sie eigentlich lebte. Dann und wann schleppte sie einen abenteuerlustigen Touristen ab und »verwöhnte« ihn für ein paar Scheine. Aber auch diese Geldquelle sprudelte nicht regelmäßig. »Ich seh nach, was da los ist!« brummte Bernd und schlüpfte in seine Jeans. »Das sind bestimmt wieder diese verdammten Punker von nebenan…« »Komm doch wieder ins Bett«, säuselte Sandra. »Nachher… Ich will ja nur verhindern, daß die uns wieder das Deck vollkotzen.« Mit diesen Worten stieg er die schmale Holztreppe hinauf, die von dem großen Wohn- und Schlafraum auf das winzige Sonnendeck des Bootes führte. Bernd öffnete die Luke. Für einen Moment fuhr eine Brise des kalten Nordsee-Nachtwindes in die Kabine. Fröstelnd kroch Sandra tiefer unter die Decke. »„Neeeeiiiiiinnnnn!!!« Der Entsetzensschrei hatte kaum noch menschlich geklungen. Schlagartig war das Mädchen hellwach. Sie fuhr hoch, als ob sie sich auf eine Reißzwecke gesetzt hätte. War das die Stimme von Bernd gewesen? Oder von jemand anderem? Wer war da draußen? Oder, besser gefragt: Was war da draußen? Automatisch tasteten die Finger der Deutschen nach dem Baseballschläger, der griffbereit neben dem Kojenbett lag. Ihre »Lebensversicherung« gegen unliebsame nächtliche Besucher. Warum hatte Bernd ihn nicht mitgenommen? Sandra würde es 9
nie erfahren. Die Nackte wälzte sich von der Matratze. Das Wohnboot wurde innen nur von der Nachttischlampe spärlich beleuchtet. Einige dumpfe Geräusche erklangen draußen auf dem kleinen Deck. Immerhin kein zweiter Schrei. Das Mädchen fühlte, wie die Panik in ihr hochkroch. Gleichzeitig versuchte sie sich einzureden, daß es ein gutes Zeichen sei, keine lauten Geräusche mehr zu hören. Aber das war ein Irrtum, ein tödlicher Irrtum. Bernd hatte die Luke nur halb hinter sich geschlossen. Sandra kniff die Augen zusammen und spähte in die Dunkelheit hinaus. Aber sie konnte keine Einzelheiten erkennen. Da draußen bewegte sich etwas. Aber was? Plötzlich wurde die Luke ganz aufgerissen. Ein Gegenstand polterte die drei Stufen hinunter, klatschte dann auf die Planken und rollte bis vor ihre Füße. Sandra kreischte wie eine Wahnsinnige, als sie erkannte, was dort hereingeworfen worden war. Der Kopf ihres Freundes Bernd! Das Gesicht des Toten war von namenlosem Entsetzen verzerrt. Er mußte vor seinem, schrecklichen Ende etwas Furchtbares gesehen haben. Und dieses Furchtbare kam nun die kleine Treppe herunter! Sandra blieb fast das Herz stehen. Sie hatte schon einige Horrorfilme gesehen, aber dieses Wesen übertraf jede KinoPhantasie. Allein schon der bestialische Gestank konnte einen umhauen. Das Monster mußte mindestens fünf Jahrhunderte in einer feuchten Gruft gelegen haben. Seine Haut war bleich wie die eines Albinos, dazu aufgedunsen und teilweise zerfressen. In seinen Augen glomm das Feuer der Hölle. Mit vorgestreckten Armen torkelte die Kreatur auf Sandra zu. Die Lippen waren zurückgezogen und entblößten ein kräftiges Gebiß. »Der Konsul wird sich freuen…« lallte der untote Killer auf Holländisch. Das Mädchen verstand zwar die Worte, aber nicht ihre Bedeutung. Sie wußte nur eins: Wenn sie nicht enden wollte wie Bernd, mußte sie schleunigst von hier verschwinden. Aber wie? Der Ghul drängte sich derweil zwischen sie und den einzigen Ausgang. Diese Hausboote waren in Gefahrensituationen die reinsten Todesfallen. Keine der Fensterluken war groß genug, um einen 10
erwachsenen Menschen entkommen zu lassen. Doch trotz des Schocks über Bernds schauriges Ende gab die junge Frau noch nicht auf. Sie hing am Leben. Schritt für Schritt kam der Ghul auf sie zu! Sein schneller Sieg über den Jungen aus Augsburg hatte ihn wohl leichtsinnig werden lassen. Das war Sandras Chance. Vielleicht konnte sie sie nutzen. Die Bestie hatte den Baseballschläger noch nicht bemerkt, den die Nackte halb hinter ihrem Rücken verbarg. Scheinbar fügte sich das Mädchen in ihr unabwendbares Schicksal. Kauerte hilfund teilnahmslos zwischen dem Kojenbett und einem mit Krimskrams überladenen Tisch. Gierig streckte der Ghul seine Klauen nach ihr aus. Da federte Sandra hoch, die Baseballkeule in beiden Händen! Die junge Frau war nicht besonders stark, aber die Angst verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Sie nahm Schwung, soweit das die engen Räumlichkeiten halt zuließen, und donnerte der Höllenkreatur das Holz mitten in die üble Visage! Das Sportgerät war keine weißmagische Waffe. Und konnte daher einem Ghul keinen ernsthaften Schaden zufügen. Aber es reichte, um den Unhold zwei Schritte zurücktaumeln zu lassen. Wie von einem Katapult geschnellt, sprang Sandra an ihm vorbei und hatte den kleinen Wohnraum mit einem einzigen Sprung durchmessen. Beinahe wäre sie auf dem Blut ihres Freundes ausgerutscht. Aber dann fing sie sich wieder und hetzte die kleine Treppe hinauf. Flankte über die Reling und lief den schmalen Alu-Steg entlang, der das Hausboot mit dem Ufer verband. Suchend blickte sie um sich herum. Aus dem mit unzähligen Grafittis verzierten Kahn nebenan schrammelten mehr oder weniger leise Punkgitarren. Die Bunthaarigen waren zu Hause. Ob sie bei ihnen Zuflucht suchen sollte? Nein! entschied Sandra. Nur weg von hier! Nur möglichst schnell möglichst viele Meter zwischen mich und dieses Monster bringen! Der Ghul glotzte verblüfft. Meist waren seine Opfer so geschockt, daß sie noch nicht mal ans Entkommen dachten. Sondern ihn anstarrten wie das Kaninchen die Schlange, von der es gebissen zu werden droht. Aber dann stieg die Wut in ihm hoch. Dieses Weib hatte es gewagt, entkommen zu wollen? Dafür würde er ihr einen besonders gräßlichen Tod bereiten… »Halt 11
ein!« Als der Ghul der jungen Frau nachsetzen wollte, war wie aus dem Nichts einer seiner Artgenossen aufgetaucht. Er lehnte an der niedrigen Reling des Sonnendecks und starrte den anderen Leichenfresser an. Im Gegensatz zu dem nackten Mörder des jungen Bernd war er in der Mode des 16. Jahrhunderts gekleidet. Mit Stulpenstiefeln, Spitzenhemd und breiter Schärpe unter dem dreiviertellangen Gehrock. Seine Kleidung war allerdings pitschnaß. Denn genau wie der andere Ghul kam er aus den Tiefen der Grachtenreiches… »Der Konsul«, murmelte der Verfolger von Sandra ehrfürchtig. »Du elender Narr!« schnarrte der Ghul in der antiken Tracht. Er hatte in jedem Ohrläppchen einen goldenen Ohrring. Obwohl ein gewisser Teil seines Gesichts von Leichenmaden und Salzwasser zerfressen war, hielt dieser Schmuck immer noch an seinem breiten Schädel. »Habe ich euch nicht gesagt, daß ihr niemals Polizisten holen dürft?« »Ich - wir…« Der rangniedere Dämon wand sich wie ein Schüler, der die Hausaufgaben vergessen hat. Sein Anführer, den er Konsul genannt hatte, trat auf ihn zu. »Keine Ausflüchte! Gleich zwei Männer in der Uniform der Amsterdamer Stadtpolizei habe ich in unserer Vorratskammer gefunden. Oh, ihr seid so dumm! Polizisten vermißt man! Man wird sie suchen. Mit einem Riesenaufgebot! Es wird zuviel aufgewühlt in meinen geliebten Grachten!« Mit diesen Worten packte er den rechten Arm des Ghuls und riß ihn einfach ab. Warf ihn in das Grachtenwasser. Mit einem Plumps ging das untote Körperglied in der schwarzen Brühe unter. »So, das ist deine Strafe. Um dieses Weibsbild werden wir uns kümmern. Ich habe da so ein Vorgefühl.« Die Fratze des Konsuls verzerrte sich noch mehr. »Vielleicht wird mir deine idiotische Tat doch noch einen großen Vorteil bringen…« * Sandra kam sich vor wie in dem deutschen Film »Lola rennt«. Nur daß Franka Potente in der rasanten Komödie bekleidet durch die Großstadtstraßen getrabt war. Und nicht splitternackt so wie sie selbst. Daß sie keine Faden am Leib trug, war ihr egal. 12
Die junge Frau konnte kaum einen vernünftigen Gedanken fassen. Immer wieder erschien der abgerissene Kopf ihres Freundes vor ihrem geistigen Auge. Sie hetzte die Leidsestraat entlang. Obwohl es nach Mitternacht war, herrschte in diesem Teil Amsterdams noch reger Betrieb auf den Straßen. Sandra lebte schon länger in der holländischen Hauptstadt, daher wußte sie, daß sich kaum ein Einheimischer hierher verirrte. Nur ausländische Touristen und Holländer aus der Provinz. Und von denen beachtete sie kaum einer. Wahrscheinlich glaubten alle, daß nackte Läuferinnen zum alltäglichen Stadtbild der weltoffenen Metropole gehörten. Während sie weiterlief, drehte sie sich einmal kurz um. Sie wollte checken, ob ihr der Ghul auf den Fersen war. So kam es, wie es kommen mußte. Sie stieß mit einem Mann zusammen. Sandra hatte soviel Schwung, daß der Passant strauchelte und auf Knie und Hände fiel. »Let op!« (Paß doch auf!) schimpfte er. Dabei wirkte sein Gesicht unter dem wirren blonden Haarschopf eigentlich freundlich. Aber niemand läßt sich eben gerne umrennen. »Entschuldigen Sie!« In ihrer Aufregung war Sandra in ihre Muttersprache verfallen. »Aber ich werde verfolgt…« »Sie sollten sich etwas überziehen«, meinte Vincent van Euyen, ebenfalls auf Deutsch. Er erhob sich ächzend und klopfte sich den Staub vom Anzug. »Sonst verlieren die Männer bei Ihrem Anblick noch die Beherrschung! So hübsch wie sie sind…« »Es ist nicht, was sie denken«, entgegnete die junge Deutsche hastig. »Es ist etwas Schreckliches passiert… Mein Freund…« Vincent van Euyen war ein Mann, der das Leben kannte. Als Reporter hatte er schon viele schlimme Dinge gesehen. Nicht nur, wenn er mit seinem Freund Mark Hellmann hinter Dämonen hergewesen war. Sein Journalisteninstinkt sagte ihm, daß mit dieser jungen Frau etwas nicht stimmte. »Sie sind Deutsche«, stellte der Mann von der Weimarer Rundschau fest. Sandra blickte sich wieder gehetzt um. Sie war ganz weiß um ihre sommersprossige Nase herum. »Stimmt. Ich heiße Sandra Rasp und komme aus Bielefeld. Es ist etwas Schreckliches geschehen…« 13
Der Reporter nickte ihr grüßend zu. »Vincent van Euyen.« »Dan beut u toch Nederlander?« »Nein, ich bin kein Niederländer, sondern Deutscher. Habe nur Vorfahren, die von hier stammen. Darf ich Sie zu einem Kopje Koffie einladen, Sandra? Und meinen Regenmantel können Sie auch gerne haben, wenn sie wollen…« Mit diesen Worten streifte Vincent seinen Trenchcoat von seinen runden Schultern. »Die Nächte sind doch noch recht kühl. Nehmen Sie schon. Ich habe ja den Anzug an. Und sollte mir doch kalt werden…« Er schaute sie lächelnd von oben bis unten an und hatte damit Erfolg. Das Mädchen nahm sein Angebot an. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen vertraue, Mijnheer van Euyen…« »Muß wohl an meinem Teddybär-Image liegen. Wollen Sie vielleicht ein paar Katzenpfötchen? Das beruhigt.« Er hielt ihr das offene Tütchen mit der Leckerei hin. Vincent selbst war beinahe süchtig nach dem Lakritzkonfekt. Sandra brachte ein Grinsen zustande, während sie den Trenchcoat überstreifte und ein Katzenpfötchen aus der Tüte nahm. Für ein paar Sekunden vergaß sie dank der drolligen Art des Weimarers die Todesgefahr, die sie bis eben verfolgt hatte. Seite an Seite überquerten die junge Frau und der dicke Reporter den Koningsplein. Sie ahnten nicht, daß untote Augen aus sicherer Entfernung jeden ihrer Schritte beobachteten… * »Ein Ghul hat deinen Freund getötet?« Vincent van Euyen sprach diesen Satz möglichst ruhig aus. Er wollte nicht so recht passen zu dem gemütlichen Nachtcafe, in das er Sandra geführt hatte. Aber es hatte keinen Sinn, dem Mädchen etwas vorzumachen. Ohnehin schien sie selbst sehr genau zu spüren, daß sie einen Blick in den Abgrund des absoluten Grauens geworfen hatte. Sie beugte sich auf dem antiken Stuhl vor. Die Einrichtung des Cafes stammte aus dem 19. Jahrhundert. Nostalgische Messinglampen verbreiteten gelbliches Licht. Eine Kulisse wie für einen Vampirfilm, dachte Vincent van Euyen. Aber ihm war klar, daß er es in diesem Fall eindeutig mit Ghuls zu tun hatte. Erst der 14
Überfall auf die beiden Polizisten. Dann Sandras Freund, der auf seinem Hausboot getötet worden war. In beiden Fällen spielte die Gracht eine Rolle. Vampire fürchteten das Wasser. Ghuls hingegen fürchteten überhaupt nichts. Sie waren mit Abstand die widerwärtigsten unter den Dämonen. Sogar viele ihrer Schwarzblüterkollegen hielten Abstand zu ihnen. »Was ist ein Ghul, Vincent?« Der Reporter und die junge Deutsche duzten sich. Erstens war das in Holland sowieso die Regel. Und zweitens paßte ihr Gesprächsthema nicht zum förmlichen Siezen. Sie waren im Handumdrehen Verbündete im Kampf gegen die Mächte der Unterwelt geworden. Der Weimarer senkte seine Stimme noch mehr. »Ein Leichenfresser, Sandra. Es tut mir leid.« Für einen Moment verzerrte sich ihr Gesicht vor Schmerz. Der Gedanke, wie ihr Freund Bernd von den grauenvollen Monstren verspeist wurde, schien ihr das Herz zu brechen. Doch dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Der Reporter reichte ihr ein sauberes Taschentuch. Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Du weißt viel über diese Dinge, Vincent. Wie kommt das?« »Ein guter Freund von mir, er wohnt in Weimar, weiß noch viel mehr darüber. Er ist sogar Experte. Verdient sich sein Geld als Dämonenjäger. Sein Name ist Mark Hellmann. Und das hier ist ganz eindeutig ein Fall für ihn. Ich werde ihm sofort von meinem Hotel aus eine e-mail schicken.« »Und die Polizei?« Vincent schüttelte den Kopf. »Aussichtslos. Als ich meine Zeugenaussage abgeben wollte, hat man mich für verrückt erklärt.« Und er berichtete der jungen Frau, was er an der Leidsegracht beobachtet hatte. Sie erschauderte. »Das ist ja entsetzlich, Vincent! Diese Bestien haben in dieser Nacht schon einmal zugeschlagen?« Der Reporter zog die Augenbrauen zusammen. »Wer kann schon sagen, wie oft das wirklich der Fall war? Und seit wann… Bedenke, wie viele Grachten es in Amsterdam gibt. Und die Flüsse. Die Amstel. Das U mit der Verbindung zum Ijsselmeer. Ich möchte wissen, seit wann diese Ghuls hier schon ihr Unwesen 15
treiben.« Plötzlich brannte Vincent van Euyen die Zeit unter den Nägeln. Ihm war gar nicht wohl in seiner Haut. Je eher sein Freund Mark in Amsterdam aufkreuzte, desto besser. Der Weimarer winkte den Kellner heran und bezahlte mit einem 25-Gulden-Schein. Der rundliche Reporter und die junge Frau im Trenchcoat überquerten den großen Platz Spui. Gingen an der Amsterdamer Universität vorbei. An dem Taxistand dort versuchte Vincent vergeblich, einen Wagen zu bekommen. Im Nachtleben der quirligen Metropole herrschte Hochbetrieb. Zum Glück ist es zu meinem Hotel nicht weit, dachte sich Vincent. Es ist bestimmt kein Vergnügen für Sandra, barfuß durch halb Amsterdam zu latschen… Obwohl viele der holländischen »Blumenkinder«, die aus den sechziger Jahren übriggeblieben waren, dies ganzjährig freiwillig taten. Und somit das Amsterdamer Straßenbild auflockerten. In den vergangenen dreißig Jahren hatten sich noch weitere Paradiesvögel dazugesellt: Punker, Rastas, Grufties, Tekkno-Kids. Und wie diese jugendlichen Grüppchen noch alle hießen. Mehrmals hatte der Reporter das ungute Gefühl, verfolgt zu werden. Doch wenn er sich umdrehte, war niemand zu entdecken. Jedenfalls kein Verdächtiger. Der Mann von der Weimarer Rundschau hatte ein Zimmer im Hotel »Die Port van Cleve« am Nieuwe Zijds Voorburgwal 178. Ein liebenswert altertümliches Gebäude mit hohen Wänden und schmalen Fenstern. Der Mann an der Rezeption nahm keinen Anstoß an Vincents ungewöhnlicher Begleiterin. Amsterdamer Nachtportiers waren tolerant und ganz andere Dinge gewöhnt. Als sie auf seinem Zimmer angelangt waren, ließ sich Sandra sofort in einen ledernen Clubsessel fallen. Die junge Frau war völlig erledigt. Und da sie jetzt erst mal in Sicherheit war, nahm ihre Anspannung etwas ab. »Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn du mir nicht im Weg gestanden hättest, Vincent.« Der Reporter grinste und schaltete sein Notebook ein. Gleichzeitig befestigte er sein Handy mit einem Interface an dem tragbaren Computer. Nun konnte er drahtlos e-mails senden und empfangen. »Tja, manchmal ist es eben doch ganz gut, daß wir Dicken 16
soviel Platz einnehmen.« »So dick bist du gar nicht«, murmelte Sandra freundlich, aber schlaftrunken. Im nächsten Moment war sie bereits eingeschlafen und fing leise an zu schnarchen. Vincent schielte zu ihr hinüber. Der Trenchcoat klaffte halb auf und gab den Blick auf ihren vollen Busen frei. Nach ein paar Sekunden stillen Bewunderns rief sich der Reporter zur Ordnung. Das Mädchen hatte Schreckliches erlebt, brauchte dringend Ruhe und Abstand. Und er selbst mußte seinen Freund alarmieren. Auf dem Notebook-Bildschirm baute sich das e-mail Formular auf. Vincent gab Marks Adresse ein und tippte: Beste Grüße aus Amsterdam. Du mußt dringend herkommen, Mark. Habe heute persönlich die Ermordung zweier Streifenpolizisten durch Ghuls beobachtet Kein Zweifel möglich. Die Polizei glaubt mir jedoch nicht. Weiteres Opfer ein junger Deutscher, der auf einem Hausboot lebte. Seine Freundin entging nur knapp… In diesem Moment wurden das Fenster und die Tür gleichzeitig eingeschlagen. Vincent fuhr auf. Der plötzlich hereinziehende Gestank raubte ihm den Atem. Die Unheimlichen waren zu fünft. Vincent hatte keine Chance. Geistesgegenwärtig schrieb er seinen Hilferuf zu Ende. Mark, sie sind in mein Hotelzimmer eingedrungen! Ich bin unbewaffnet. Räche mich bei den Höllenschergen! Dein Vincent van Euyen. Dann klickte der Reporter auf die Funktion »Senden«. Und betete zu Gott, daß die Übertragungswege nicht wieder einmal zusammengebrochen waren. Vincent van Euyen war keine Kämpfernatur, trotzdem war er fest entschlossen, sich nicht zu ergeben. So teuer wie möglich wollte er sich und Sandra »verkaufen«. Der rundliche Mann sprang auf, als einer der Ghuls auf ihn zuwankte. Vincent packte das Notebook und rammte es in die weit aufgerissene Schnauze der Kreatur. Allein der Anblick verursachte ihm schon Übelkeit. Die breiten Zähne hieben in das Hartplastik, als wäre es ein überdimensionales Käsebrötchen. Dann wurde die Tastatur zermalmt wie ein Knochen. Es knirschte, daß sich einem die Haar aufstellten. Das Mädchen schreckte dabei aus dem Schlaf hoch. 17
Zwei der Monster stürzten sich nun sofort auf sie! Sandra hatte keine Chance. Wütend wurde der Reporter, doch er gab die Hoffnung nicht auf. Er beobachtete nämlich, daß sie ihr Opfer nur festhielten. Und nicht sofort in Stücke rissen. Das mußte doch etwas zu bedeuten haben. Oder? Verzweifelt sah sich Vincent nach einer Waffe um. Er packte den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, mit beiden Händen. Und ließ ihn - auf den Schädel eines zweiten Unholds krachen, der ihn von der Seite packen wollte. Vergeblich. Um Leichenfresser auszuschalten, mußte man schon schwerere Geschütze auffahren. Man merkte dem Ghul an, daß er den Weimarer am liebsten sofort zerfleischt hätte, doch das Monster hielt sich zurück. Das überraschte Vincent. Er war von Solchen Kreaturen keine Rücksichtnahme gewöhnt. Den Grund sollte er bald erfahren. Auch der Reporter wurde nun von zwei bärenstarken Leichenfressern festgehalten. Genau wie das Mädchen. Eine der Bestien hatte ihr sogar noch eine Klaue auf den Mund gelegt, damit sie nicht schrie. Vincent wunderte sich, daß Sandra durch diesen Pestgestank noch nicht ohnmächtig geworden war. Der fünfte Ghul kam auf den Reporter zugewankt. Im Gegensatz zu seinen in Leichenlumpen gekleideten oder nackten Artgenossen trug er einen teuren, wenn auch klatschnassen Gehrock aus dem 16. Jahrhundert. Mit Brokatstickereien, Schärpe und schweren Stiefeln. Er mußte ein bedeutender Mann gewesen sein, bevor er sich in eine dämonische Bestie verwandelt hatte. »Du bist es!« sagte er in einem altertümlichen Holländisch zu Vincent van Euyen, nachdem er sich mehrere Minuten lang vor ihm aufgebaut hatte. Wie ein witterndes Tier. »Du wirst mich in mein Reich begleiten!« »Das Mädchen lassen Sie aber frei!« verlangte Vincent fast freundschaftlich. Der Ghul, den alle nur den Konsul nannten, lachte teuflisch. »Nein, das geht nicht. Sie hat zuviel gesehen. Wir nehmen sie deshalb mit. Als deine Buhle. Damit du bei Laune bleibst. Ich glaube nicht, daß dir unsere Weiber gefallen würden…« Und wieder riß er seinen ekelerregenden Rachen auf. Er fand seine eigene Bemerkung so urkomisch, daß er sich am liebsten totgelacht hätte. Wenn er nicht längst schon eine Leiche gewesen 18
wäre. Vincent empfand nichts als Ekel und Abscheu. Nur ganz tief in seinem Inneren regte sich ein kleiner Rest Neugier. Was hatte der Ghul im Gehrock gemeint mit seinem Satz »Du bist es?« Vorerst würde der Reporter das Rätsel nicht lösen können. Der Anführer gab den Abmarschbefehl. Die unheimliche Leichenfresser-Prozession trat mit ihren beiden Gefangenen den Rückzug an. Sie stiegen durch einen längst vergessenen Schacht in den Kellergewölben des alten Hotels in die Kanalisation hinab. * »E-mail für dich!« Ich schaute gerade nicht hin, weil ich mit geschossenen Augen einen Kopfstand machte. Bei meiner Berufung als Kämpfer des Rings und Dämonenjäger sind körperliche und geistige Fitneß überlebenswichtig. Deshalb war nicht ganz klar, was meine Freundin Tessa meinte. »Den haben wir doch schon gesehen, Tess! Ich wußte gar nicht, daß du so auf Tom Hanks stehst…« »Ich meine nicht den Film, Blödmann! Du, Mark Hellmann, hast eine e-mail bekommen. Kapiert?« Ich atmete ein letztes Mal tief in den Bauch und spannte dann die Beinmuskeln an. Stieß mich von der stützenden Wand ab und kam nach einer Rolle vorwärts auf die Beine. Meine Freundin Tessa, einunddreißig Lenze jung und ihres Zeichens Fahnderin bei der Kripo Weimar, fuhr sich durch ihre brünette Kurzhaarfrisur. Sie hockte an meinem Computertisch und machte gerade irgendwas an meinem Rechner. Was, wußte ich nicht genau. Dauernd kam sie mit neuen, angeblich nützlichen Programmen an. Ich verlor langsam den Überblick. Ich stellte mich hinter sie, legte die Hände zärtlich auf ihre Schultern und atmete ihr Parfüm tief ein. Tessa schmiegte ihre Wange an meinen nicht vorhandenen Bauch und saugte sich zärtlich an mir fest. Hach, das ging mir durch und durch. Ist es da ein Wunder, daß mir die e-mail in diesem Moment herzlich egal war? Tessas Fingernägel kratzten über meine Oberschenkel. 19
»Vielleicht solltest du die e-mail aufmachen, Mark.« »Ich möchte lieber etwas anderes aufmachen…« Mit meiner Rechten fuhr ich in den Rückenausschnitt ihres ärmellosen TShirts und suchte ihren BH-Verschluß. »Es könnte aber wichtig sein…« Da hatte sie recht. Es konnte wichtig sein. Und dann ging es häufig um Leben oder Tod. In meinem Job als Dämonenjäger und Mitglied der LIGA, einem weltumspannenden Netzwerks, das sich den Kampf gegen das Böse auf die Fahnen geschrieben hatte, wurde mein voller Einsatz verlangt. Privates kam dabei häufig zu kurz, zum Glück jedoch nicht immer. Erst kürzlich hatten wir auf einem Treff einiger LIGA-Mitglieder vereinbart, unseren Informationsaustausch zu verstärken (Siehe MH 51!). Also beugte ich mich über Tessa und klickte schweren Herzens auf die Funktion Lesen. Schon nach den ersten Zeilen waren jegliche erotischen Gefühle für den Moment eingefroren. Ein Seitenblick zeigte mir, daß es Tessa nicht anders ging. … habe heute persönlich die Ermordung zweier Streifenpolizisten durch Ghuls beobachtet… schrieb unser Freund Vincent van Euyen. Und dann: Mark, sie sind in mein Hotelzimmer eingedrungen! Ich bin unbewaffnet. Räche mich bei den Höllenschergen! Dein Vincent van Euyen. Ich fühlte mich, als hätte ich Kieselsteine im Hals. »Diese e-mail«, brachte ich hervor, »sie ist gerade gekommen?« »Ja, Mark. Vor drei, vier Minuten.« Wir schauten uns in die Augen. Und dachten vermutlich dasselbe. In diesem Augenblick befand sich der Reporter in der Gewalt der Leichenfresser. Vielleicht war er schon tot… Solange wir das nicht genau wußten, bestand noch Hoffnung. Deshalb mußten wir sofort handeln. Ich hatte bei meinen Kämpfen gegen die Mächte der Finsternis gelernt, daß es keine ausweglosen Situationen gibt. Auch wenn die Lage noch so verzweifelt scheint - man muß erst alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Klarheit zu gewinnen. Und das wollte ich tun, Ich zog mich rasch an. »Was hast du vor?« fragte Tessa. »Ich fliege nach Amsterdam. Sofort und mit der nächsten Maschine. Wenn ab Erfurt keine geht, dann eben ab Frankfurt. Mit 20
dem Zug dorthin sind es von Weimar nur gute zweieinhalb Stunden.« Ich hatte kaum zu Ende gesprochen, als Tessa schon die Nummer Erfurter Flughafens in das schnurlose Telefon tippte. Eine knappe Minute später hörte ich sie dann sagen: »Okay, dann eben ab Frankfurt…« Nächster Anruf. Zugauskunft. Dauerte. Kein Wunder, wo die immer mehr Personal abbauen. Doch es klappte. »Pit? Hier Tessa. Mir fiel ein, daß du heute in der Polizeidirektion Nachtdienst hast. Es gibt da ein Problem mit Vincent. Sieht ziemlich ernst aus. Kannst du als Hauptkommissar vielleicht mal bei den holländischen Kollegen deine Fühler ausstrecket!? Wenn ich als Jung-Kommissarin dort anrufe, wirkt das nicht so gut. Ja, Mark ist auch hier. Er will gleich nach Amsterdam aufbrechen…« Sie reichte mir den Hörer. »Pit will dich sprechen.« »Hallo?« Ich schilderte meinem besten Freund, dem Hauptkommissar Peter Pit Langenbach, mit knappen Worten die Situation. »Scheiße.« Ich konnte förmlich vor mir sehen, wie sich sein imposanter Schnurrbart sträubte. Auch er konnte den rundlichen Reporter gut leiden. Die Aussicht, daß er vielleicht das Opfer von Ghuls geworden war, hatte ihn natürlich sofort in Alarmbereitschaft versetzt. »Ich werde sofort die holländischen Kollegen informieren, Mark. Durch den Polizeiaustausch habe ich ganz gute Verbindungen zu ihnen (Siehe MH12!). Da läßt sich bestimmt was machen. Damit du etwas Hilfe vor Ort hast.« »Danke, Alter. Du bist doch der Beste. Ich rufe an, sobald ich in Holland bin.« Dann beendete ich das Gespräch. Tessa hatte mit gespieltem Zorn die Hände in die Hüften gestemmt. »Der Beste! Und was ist mit mir?« »Du bist natürlich die Beste.« Ich nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuß. »Jetzt muß ich aber zum Bahnhof. Ein Taxi muß her.« Das war kein Problem. Die Taxizentrale versprach, uns sofort einen Wagen zu schicken. Mein stahlblauer BMW war in der Werkstatt, und mit Reisetasche wollte ich mich nicht auf Tessas Sozius zwängen. War zu gefährlich. Bevor ich mich von ihr verabschiedete, griff ich mir meine Reisetasche, die stets gepackt neben der Wohnungstür steht. Als 21
Kämpfer des Rings muß ich öfter spontan verreisen. Aus meinem Einsatzkoffer hingegen nahm ich diesmal nur das RunenHandbuch und das schwarzmagische Standardwerk »Ars niger et damnatus« mit. Außerdem die beiden Holzkreuze. Weder meinen armenischen Silberdolch noch meine SIG Sauer P 6 mit den Silberkugeln würde ich bei einem internationalen Flug mitnehmen dürfen. Aber das machte nichts. Ich hatte ja meinen weißmagischen Siegelring, der einst von dem französischen Seher Nostradamus angefertigt worden war (Siehe MH 31!). Mit ihm konnte ich jede normale Waffe weißmagisch aufladen. »Sei vorsichtig!« sagte meine Freundin zum Abschied. »Ich liebe dich.« »Ich liebe dich auch.« Als ich aus der Tür des Etagenhauses in der Florian-GeyerStraße trat, wartete das Taxi bereits mit laufendem Motor. Ich ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. Und mußte mich beherrschen, um nicht »Oh nein!« zu sagen. »Hallöchen, Mark!« Hinter dem Lenkrad saß Freddy Bimba. Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Wohin darf ich dich in meiner Luxuskarosse denn kutschieren, hehehe?« Ich sagte es ihm. Der hagere Junge mit den braunen Locken war eigentlich ein netter Kerl. Er hatte nur die Angewohnheit, pausenlos zu reden. Und zwar hauptsächlich in Form von Witzen und Anekdoten. Außerdem stand er total auf Struppy. Ein achtzehnjähriges Girl mit grünen Haaren, das in Wirklichkeit Mechthild Schaumburg-Klöten hieß. Und seit Freddy rausgekriegt hatte, daß sie zu meinem Bekanntenkreis zählte, versuchte er über mich an sie ranzukommen. »Hast du Struppy mal wieder gesehen?« fragte er, während er beschleunigte. Ich tat so, als hätte ich seine Frage nicht gehört. Wir bretterten die Fuldaer Straße hoch. Zum Hauptbahnhof waren es nur ein paar Minuten. Vielleicht hätte ich besser zu Fuß gehen sollen. Aber nun war es zu spät. »Na, egal. Komm ich heut' nicht, komm' ich morgen, hehehe. Da fällt mir ein - kennst du den, Mark? Warum wäre der Bahnhofsvorsteher von Leipzig mal beinahe verhaftet worden? Na? Na?« »Ich weiß nicht, Freddy.« 22
»Weil er 'Zurücktreten!' gebrüllt hat, als Honeckers Sonderzug einfuhr. Hehehehe…« Ich hatte es aufgegeben, diese Stimmungskanone bremsen zu wollen. Es wäre sinnlos gewesen. Gegen Freddy Bimba war kein Kraut gewachsen. »Oder: Ein Österreicher, ein Wessi und ein Ossi kommen in den Himmel. Petrus sagt zum Österreicher: Du hast gelogen. Welche Strafe willst du freiwillig haben? Antwort: Hundert Stockschläge auf den nackten Hintern. Gleiche Frage an den Wessi, der auch geschwindelt hat. Antwort: Ebenfalls hundert Stockschläge. Jetzt kommt unser Mann. Und der sagt: Ich habe mehr als alle anderen gelogen, deshalb will ich vierhundert Stockschläge, aber bindet mir vorher den Wessi auf den Arsch, hehehehe…« Ich zwang mich zu einem Lächeln, damit der Taxifahrer Ruhe gab. Meine Gedanken waren allerdings schon in Amsterdam, bei Vincent van Euyen… Freddy bremste vor dem Hauptbahnhof. Während ich bezahlte, gab der Braungelockte noch einen Witz zum besten: »Frage, wo geht's denn hier zum 'Aufschwung Ost'? Antwort: Immer den Bach runter, hehehe…« Den kannte ich noch nicht, deshalb mußt ich nun wirklich lachen. Zugfahrt und Flug verliefen reibungslos. Als ich auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol eintraf, wurde ich von einer gutaussehenden Blondine abgeholt. Diese Frau war ganz eindeutig kein Ghul… * Brigadier Dina van Velsen hatte an diesem Morgen Frühschicht. Als die Kripobeamtin der Amsterdamer Stadtpolizei im Präsidium an der Elandsgracht 117 eintraf, fand sie eine Notiz auf ihrem Schreibtisch. Sie sollte sich sofort bei ihrem Vorgesetzten melden, bei Commissaris Doorn. Auf dem Weg zu seinem Büro nestelte Dina an ihrem Bustier. Habe ich nun zugelegt, oder ist das Oberteil beim Waschen eingelaufen? fragte sie sich. Ihr Vorgesetzter jedenfalls hatte keinen Blick für ihre weiblichen Reize. Commissaris Doorn entsprach überhaupt nicht dem 23
Klischee des gemütlichen Holländers. Sein Gesicht war hochrot. Er befand sich offenbar im Dauerstreß. »Pflanz dich auf den Stuhl da, Dina.« Die Fahnderin mit den kurzen, blonden Haaren nahm vor seinem Schreibtisch Platz. Doorns Büro war winzig. Immerhin hatte man an der Wand hinter ihm noch Platz für ein großes Porträt der Königin gefunden. »Ich habe einen Fall für dich, Dina. Zwei unserer Kollegen sind spurlos verschwunden. Konstapel Henk Bouwers und Konstapel Jan Kerk. Zuletzt haben wir einen Hilferuf von ihnen empfangen. Von der Leidsegracht. Doch als Verstärkung eintraf, waren sie weg. Wie vom Erdboden verschluckt.« Die Fahnderin machte sich Notizen. »Irgendwelche Spuren? Zeugen?« Der Commissaris seufzte. »Hier wird die Geschichte kompliziert. Am Ort ihres Verschwindens haben wir einen Gummiknüppel und eine Dienstpistole gefunden, die den Kollegen gehören. Und einen großen Blutfleck, der im Labor noch analysiert wird. Es gibt auch einen Zeugen, einen gewissen Vincent van Euyen…« »Wurde er schon vernommen?« Doorn verdrehte die Augen Richtung Himmel. »Dieser van Euyen muß total durchgeknallt sein, Dina. Er faselte etwas von Leichenfressern oder so. Jedenfalls von irgendwelchen Dämonen, die unsere Kollegen in die Gracht gezerrt haben sollen.« »Ich würde trotzdem gerne mit ihm reden.« »Es ist ja noch komplizierter, Dina. Dieser van Euyen ist inzwischen selbst verschwunden. Jedenfalls behauptet das ein gewisser Kripo-Hauptkommissar Langenbach aus Weimar in Duitsland…« Dina van Velsen verstand die Welt nicht mehr. »Was hat der denn damit zu tun?« »Dieser van Euyen stammt wohl aus Weimar und hat einen Hilferuf in seine Heimat abgesetzt. Jedenfalls scheint dieser Hauptkommissar die Ghul-Story ebenfalls zu glauben. Und es kommt noch besser. Ein gewisser Mark Hellmann will hier aufkreuzen. Das muß so eine Art Dämonenjäger sein…« »Dämonenjäger?« Doorn zuckte mit den Schultern. »Ich beauftrage dich jedenfalls damit, diesen Mark Hellmann nicht aus den Augen zu lassen. Wer weiß, was der hier für Unfug anrichten wird. Jedenfalls kommt er 24
mit der ersten Maschine aus Frankfurt.« Dina schielte auf ihre Uhr. »Ich soll also Kindermädchen für diesen Hellmann spielen und gleichzeitig das Verschwinden unserer Kollegen aufklären?« »Wir sind im Moment knapp an Personal«, antwortete ihr Vorgesetzter schlicht. Dina van Velsen kniff die Lippen zusammen, sagte aber nichts. Sie würde sich ohnehin beeilen müssen, wenn sie diesen Dämonenjäger nicht verpassen wollte. Ein paar Minuten später war sie in ihrem Honda Civic unterwegs nach Schiphol. Und kam gerade noch rechtzeitig zum Gate, als die ersten Passagiere der genannten Maschine den Ankunftsbereich verließen. Die Polizistin kritzelte HELLMANN auf einen großen Zettel, den sie sich vor ihr viel zu knappes Oberteil hielt. Dina hatte sich unter einem deutschen Dämonenjäger irgendwie ein verknöchertes Männchen im schwarzen Anzug vorgestellt. Beladen mit mittelalterlichen Schmökern und behängt mit Knoblauch-Girlanden, um Vampire fernzuhalten. Um so erstaunter war sie nun, als ein hochgewachsener und breitschultriger, fast noch junger Mann auf sie zusteuerte. Ein verdammt gutaussehender junger Mann, wie sie fand. Dinas Äuglein leuchteten. * Es stank entsetzlich in diesem unterirdischen Amsterdam. Vincent van Euyen sagte sich, daß der Pesthauch seiner leichenfressenden Entführer alle anderen Gerüche überlagerte. Auch die der Kanalisation. Und den des abgestandenen Grachtenwassers. Immerhin hatten die Ghuls berücksichtigt, daß ihre Gefangenen unter Wasser nicht überleben konnten. Ihnen selbst machte das Tauchen ohne Gerät nichts aus. Sie waren ja schon längst tot. In einem kleinen Kahn schoben sie Vincent und Sandra durch den nächtlichen Grachtengürtel der holländischen Hauptstadt. Der Reporter aus Weimar hatte völlig die Orientierung verloren. »Hast du eine Ahnung, wo wir sind, Sandra?« »Das hier könnte die Keizersgracht sein. Aber beschwören will 25
ich es nicht.« Mit ihren dämonischen Kräften zerrten die Unholde den Kahn durch das schwarze Wasser wie ein Speed-boat. Der Mann und die Frau mußten sich mit beiden Händen an der Reling festklammern, um nicht über Bord zu gehen. Vincent dachte an Flucht. Aber es war unmöglich. Er würde nie schnell genug schwimmen können, um diesen Höllenwesen zu entkommen. Schließlich gelangten sie zu einem schmalen Grachtenhaus, das reichlich unbewohnt und baufällig aussah. Es hatte den typischen Treppengiebel. Die Fenster waren zugemauert. Wahrscheinlich, um Obdachlose fernzuhalten. Der Konsul öffnete eine Pforte, die man von dem dunklen Kanal aus kaum erkennen konnte. Dann zerrten die Ghuls ihre Opfer auf einen schmalen Landesteg, der teilweise mit Moos überwuchert und verfault war. Kein Fuß schien ihn seit langer Zeit betreten zu haben. Jedenfalls kein menschlicher… Die Leichenfresser stießen den Reporter und die junge Frau durch eine Halle, die nur von schwachen Petroleumfunzeln erleuchtet wurde. Die Erfindung des elektrischen Lichts schien an diesem Haus vorübergegangen zu sein. Wahrscheinlich stammte es aus dem 16. Jahrhundert, wie so viele Amsterdamer Gebäude. Vincent bemerkte, daß Sandra Rasp zitterte. Vor Angst oder vor Kälte? Ohne zu fragen, legte er schützend den Arm um ihre Schultern. Die Ghuls quittierten seine Geste mit einem hämischen Lachen, das wie Hyänengebell klang. Sie schleppten ihre Gefangenen eine schmale Treppe hoch. Vincent erinnerte sich, daß Grachtenhäuser aus Platzgründen nur höchstens acht Meter breit sein durften. Im oberen Stockwerk des Ghulquartiers gab es eine Art Thronsaal. Dem Reporter war sofort klar, wer hier das Zepter schwang. Der Dämon in dem Gehrock, der von seinen Artgenossen ehrfürchtig der Konsul genannt wurde. In dem großen Raum lungerten noch weitere Leichenfresser herum. Ihre großen weißen Körper leuchteten in dem schummerigen Halbdunkel wie übergroße Maden. Dazu paßte auch der infernalische Gestank, der über allem lag. »Ich habe Angst, Vincent«, wisperte Sandra. Der Reporter strich beruhigend über ihren Rücken. »Sie werden uns nichts tun.« »Wie kannst du da sicher sein?« 26
»Wenn sie das gewollt hätten, dann wären wir schon lange tot.« Der Konsul schritt auf einen Rokokosessel zu, der fast so modrig und verwest war wie sein Besitzer. Immerhin hielt er die Last des schwarzmagischen Körpers noch aus, als sich der Konsul setzte. »Willkommen in meinem Reich«, höhnte er. »Ich hoffe, ihr fühlt euch wie zu Hause. Denn dies hier wird nun auch euer trautes Heim sein.« Vincent hatte sich inzwischen an das altertümliche Holländisch gewöhnt. Aber die Bedeutung seiner Worte ließen Sandra fast zusammenbrechen. Sie war nahe dran, einen hysterischen Anfall zu bekommen. Mark Hellmanns Freund ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste. »Was wollt ihr von uns? Warum haltet ihr uns hier fest?« »Spiel nicht den Unwissenden! Vor den Mächten der Hölle gibt es keine Geheimnisse. Ich habe sofort erkannt, wer du bist.« »Ich bin Vincent van Euyen! Aber was…?« »Unsinn!« schnitt der Konsul dem Reporter das Wort ab. »Du wohnst vielleicht zur Zeit im Körper dieses dicken Mannes. Aber dein wahrer Name ist Tiridates. Ich grüße dich, großer Partherkönig!« Und er machte eine ironische Verbeugung im Sitzen. * Die Blondine stellte sich mir als Brigadier Dina van Velsen vor. Sie arbeitete bei der Kriminalabteilung der Amsterdamer Stadtpolizei. Auf den ersten Blick hätte man sie für eine Zwillingsschwester meiner Tessa halten können. Allerdings hatte Dina mehr Holz vor der Hütten. Und ihre Stimme klang so rauh, als wenn sie mit Dieselkraftstoff gurgeln würde. Wie viele ihrer Landsleute sprach sie auch Deutsch. Mein Freund Pit hatte also seine Verbindungen zur holländischen Polizei spielen lassen. Ich war jedenfalls froh, nicht ganz allein in einer fremden Stadt nach Vincents Verbleib schnüffeln zu müssen. »Sind Sie auch Polizeibeamter, Mijnheer Hellmann?« Sie führte mich zu einem Honda Civic, der auf einem der riesigen Flughafen-Parkplätze stand. »Nein, ich bin kein Polizist. Wollen wir uns nicht duzen? Ich 27
heiße Mark. Das ist hier in Holland doch üblich, oder? Ich bin ja schon mal hier gewesen. Vor einem knappen Jahr. War ein harter Fall damals.« (Siehe MH 12!) Dina öffnete mir die Beifahrertür und hob interessiert die Augenbrauen. »Was war das für ein Fall?« »Es ging um eine Vampirhorde, die aus einer Parallelwelt eingedrungen ist und die Menschheit vernichten wollte.« Die Polizistin warf mir einen mißtrauischen Blick zu und tastete unwillkürlich nach ihrer Dienstwaffe. Die Bewegung sagte mir mehr als tausend Worte. Dina van Velsen hielt mich für einen Wahnsinnigen. Bestenfalls. Trotzdem setzte sie sich hinter das Lenkrad und startete den Wagen. Es war Zeit für ein paar Erklärungen, fand ich. »Dina, diese Dinge sind nicht leicht zu begreifen. Bevor man sie kennengelernt hat, hält man sie für unmöglich. Ich hätte mir früher auch nie träumen lassen, daß ich mal so eine Art Dämonenjäger werden würde. Aber ich bin es. Die deutsche Polizei hat mich schon öfter als Berater für unerklärliche Fälle engagiert…« Die Holländerin nickte. Ihr Blick sagte: Du kannst mir ja viel erzählen, du armer Irrer! Ich blieb cool. Ich mußte mir keine Mühe geben, jemanden von der Existenz übersinnlicher Kräfte zu überzeugen. Das taten meine Feinde früher oder später ganz von selbst. Leider. »Wohin fahren wir?« »Ins Präsidium. Leider sind wir ziemlich machtlos gegen die vielen Autodiebstähle. Deshalb stellen wir meine Karre in der Polizeigarage ab. Danach zeige ich dir das Hotel, in dem dein Freund abgestiegen ist. Kann man bequem zu Fuß erreichen.« »Und was ist mit dem Ort, an dem deine beiden Kollegen verschwunden sind?« Dina horchte auf. »Du bist gut informiert.« »Ja, Vincent hat es noch geschafft, mir eine e-mail zu schicken. Unmittelbar, bevor er von Ghuls überfallen wurde.« Wieder warf mir die blonde Holländerin einen seltsamen Blick zu. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob ich meine Zwangsjacke in meiner Reisetasche transportierte. Ich gab mich weiterhin gelassen. Der Honda Civic quälte sich durch das Verkehrschaos. Offenbar kamen wir der Innenstadt immer näher. Außer den vielen 28
Radfahrern bemerkte ich, daß es fast überall eine Gracht oder einen Kanal zu geben schien. Bei diesem Anblick wurde mir mulmig zumute. Ideale Angriffs- und Rückzugswege für die verdammten Leichenfresser. Auch als wir endlich vor Vincents Hotel standen, ließ mich dieser Gedanke nicht los. »Gibt es hier in der Nähe eine Gracht, Dina?« Sie lachte. »Sicher. In Amsterdam gibt es überall in der Nähe eine Gracht. In diesem Fall die Singelgracht. Zwei Straßen hinter dem Hotel. Wieso?« »Ich habe da so einen Verdacht.« Wieder warf mir die holländische Polizistin einen seltsamen Blick zu, sagte aber nichts. Wir betraten das nostalgisch anmutende Hotel »Die Port van Cleve«. Als Dina dem Portier ihren Polizeiausweis präsentierte und nach Vincent van Euyens Zimmer fragte, wurde das Gesicht des Hotelangestellten schlagartig tomatenrot. »Eine Unverschämtheit!« flüsterte er mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Das Zimmer sieht aus, als ob eine Rockband dort mit ihren weiblichen Fans eine Orgie gefeiert hätte! Auf solche Gäste wie Mijnheer van Euyen können wir verzichten. Das Zimmermädchen wäre fast in Ohnmacht gefallen, als sie vorhin saubermachen wollte. Vor allem dieser bestialische Gestank… Wäscht sich Mijnheer van Euyen denn nicht? Seife und Duschgel befinden sich doch im Bad.« Spätestens bei dem Wort »Gestank« schrillten meine Alarmsirenen. Auch Dina hatte wohl inzwischen kapiert, daß etwas oberfaul war. Wir ließen uns von einem Pagen zu Vincents Zimmer führen. Ich erstarrte. Hier hatte eindeutig ein Kampf stattgefunden! Das Fenster war zerbrochen, die Tür eingeschlagen, Möbel umgestürzt. Ein zerstörtes Notebook lag mitten auf dem Teppich. Damit mußte mir mein Reporterfreund die e-mail geschickt haben, bevor die Bestien ihn erwischt hatten. Und über allem lag ein wahrer Höllenmief. Und das, obwohl durch das zerbrochene Fenster frische Meeresluft hereinströmte. Dina zog ihre sommersprossige Nase kraus. »Bah! Hier riecht es ja nach halbverwesten Wasserleichen!« Ich kommentierte ihre Worte nicht. Die Polizistin würde von selbst herausfinden, daß wir es mit Ghuls zu tun hatten. Allerdings ahnte ich noch nicht, wie bald… 29
Daß in Vincents Hotelzimmer ein Kampf stattgefunden hatte, war offensichtlich. Während wir die Einzelheiten checkten, wanderten meine Gedanken zurück zu den Begegnungen, die ich in letzter Zeit mit Leichenfressern gehabt hatte. Der Ghulkönig Brutus Kasput in Berlin war schon ein zäher Knochen gewesen (Siehe MH13!) Immerhin hatte ich durch ihn die heilende Funktion meines Siegelringes kennengelernt, nachdem ich durch den Giftstachel seines Skorpions beinahe meinen Arm verloren hätte. Aber Torturus, der Geister-Ghul aus der versunkenen Ostseestadt Vineta, hatte es auch in sich (Siehe Band 30!). Ob es eine Verbindung zwischen ihnen und dem aktuellen Fall in Amsterdam gab? »Mark!« Dinas Ruf riß mich aus meinen Überlegungen. Sie hatte Einweghandschuhe übergestreift und damit das Notebook angehoben. Deutlich zeichneten sich Zahnabdrücke auf dem Hartplastik der Verkleidung ab. Sie hielt mir den Computer unter die Nase. »Was für ein Tier mag wohl in den Rechner gebissen haben?« Ich ersparte mir eine Antwort. Denn nun war der letzte Zweifel ausgeräumt. In den Ausbuchtungen, die die Zähne hinterlassen hatten, befand sich Ghulschleim. Plötzlich hatte ich eine Idee. Vincents dämonische Entführer würden wohl kaum durch die Hotellobby marschiert sein. Sie hatten sich gewiß unbemerkt angeschlichen. Dafür boten sich im nächtlichen Amsterdam die Grachten geradezu an. Wenn es eine Verbindung zwischen dem Hotelkeller und den Kanälen gab… Ich wandte mich an den Pagen, der mit käsigem Gesicht in der Nähe der offenen Tür herumlungerte. »Können wir einen Blick in den Keller werfen?« Als Angestellter eines internationalen Hotels verstand er natürlich perfekt deutsch. »Wie Sie wünschen, Mijnheer. Folgen Sie mir.« Es paßte Dina van Velsen gewiß nicht, daß ich nun die Ermittlungen in die Hand nahm. Aber ich las aus ihrem Blick außer Ärger auch noch einen Hauch Bewunderung heraus. War ich jetzt in ihren Augen kein Irrer mehr? Fand sie Gefallen an mir? Wenn, dann hatte sie einen guten Geschmack. Jetzt kommt das große Aber: Früher hätte ich mir solche Gelegenheit nicht entgehen lassen. 30
Ich war wirklich ein schlimmer Finger gewesen! Aber seit einiger Zeit war ich meiner Tessa treu. Ich hatte erst im Laufe der Monate zu schätzen gelernt, was ich wirklich an ihr hatte. Wir folgten dem uniformierten Jungen über eine steile Treppe. Dabei arrangierte es Dina so, daß sich ihr knappes Oberteil immer wieder in mein Gesichtsfeld schob. Ich spürte, wie mir dieses wilde Fieber in die Hose rutschte. Mein Treueversprechen stand auf dem Prüfstand. Die Kellergewölbe des alten Hotels waren unübersichtlich und weitläufig. Hier gab es Lagerräume aller Art, Heizungsanlagen, eine Personalkantine und jede Menge Türen, die seit einem Jahrhundert nicht geöffnet worden zu sein schienen. Aber mein feiner Geruchssinn wies mir den Weg. Als Nichtraucher konnte ich mich auf die Sensibilität meines Zinkens verlassen. Ich folgte dem allmählich schwächer werdenden Ghulgestank wie ein Jagdhund. Wir kamen zu einer Pforte aus dicken Eichenbohlen, die von der anderen Seite her förmlich zermalmt worden war. »Nanu!« staunte der Page. »Das habe ich ja noch nie erlebt, daß die offen ist.« Er schob sie weiter auf und wollte hindurchgehen. Zu spät erkannte ich die Gefahr. Mein Ring flammte auf, zeigte mir die dämonische Aktivität. Doch da waren schon zwei widerwärtige Ghulkrallen vorwärts geschossen und hatten dem überrascht schreienden Jungen die Uniform zerrissen! * Vincent van Euyen verstand die Welt nicht mehr. Hatte dieser Leichenfresser-Konsul nur noch Maden im Gehirn? Warum hatte er ihn, den Reporter, mit Tiridates angesprochen? Und ihn als »großen Partherkönig« bezeichnet? Der Bildreporter wußte so gut wie nichts über die Parther. War das nicht so ein Volk aus der Antike gewesen, zu Zeiten der alten Römer und Griechen? Über diese Geschichtsepoche hatte er sich als Jugendlicher nur aus Asterix-Comics informiert. Und in denen waren die Parther nicht vorgekommen… Doch die Verwirrung ging noch weiter. Der Konsul machte eine herrische Geste. Einige seiner 31
Artgenossen schlurften davon und kehrten mit einer grausigen Last zurück. Mit den toten Körpern der beiden Streifenpolizisten Henk Bouwers und Jan Kerk. Sandra schlug beim Anblick der Leichen die Hände vor das Gesicht. Vincent biß die Zähne zusammen. Was führte dieser Ghul-Satan im Schilde? Die Unholde warfen die toten Polizisten zu Füßen des Reporters hin. Der Konsul beugte sich gespannt vor. »So, großer Tiridates. Nun zeige uns deine Kunst.« Vincent kniff die Augen zusammen. Was sollte er machen? Er hatte keinen blassen Schimmer. Weder davon, wer dieser verflixte Tiridates war. Noch, worin dessen Kunst bestehen sollte. Aber es hatte offenbar keinen Sinn, das diesen Ghuls begreiflich machen zu wollen. Vincent van Euyen stand da, starrte auf die Leichname in den blauen Uniformen, deren Ermordung er vor wenigen Stunden hatte mit ansehen müssen. »So, du willst also nicht?« Der Ghulherrscher deutete die Ratlosigkeit des Reporters falsch. »Dann werden wir wohl nachhelfen müssen!« Er stieß einige Worte in einer unverständlichen Sprache hervor. Ein großer Ghul mit halb abgefaultem Schädel packte die entsetzte Sandra und setzte ihr ein rostiges Bajonett an die Kehle. »Du hast die Wahl, Tiridates. Entweder du erweckst jetzt sofort diese beiden Männer zum Leben. Oder mein Diener schneidet deiner Gespielin die Kehle durch!« * Der Page starb fast vor Angst. Kein Wunder. Der Ghul war ein grauenerregender Anblick. Sein ehemals großer und muskulöser Körper war bereits halb verwest. Die Haut so bleich wie bei einem Grottenolm. Ich wußte aus bitterer Erfahrung, daß die Bestie bärenstark sein würde. Der Leichenfresser hatte seine Klauen in den Hals des Jungen gegraben und ihn gegen die Kellerwand gepreßt. »Godverdomme! Was ist das?« rief Dina. 32
Inzwischen startete ich durch. Zwar hatte ich weder meine SIG mit den Silberkugeln noch meinen Silberdolch bei mir. Trotzdem mußte ich dem Pagen natürlich helfen. Mit einem Karatetritt hämmerte ich meinen linken Fuß gegen die Brust des Ungeheuers. Ich wußte, daß ihm das nichts ausmachen würde. Aber vielleicht ließ er wenigstens von seinem Opfer ab und stürzte sich statt dessen auf mich. Und so war es auch. Wir standen uns in dem engen Kellerraum sprungbereit gegenüber. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, daß die holländische Polizistin ihre Dienstwaffe gezogen hatte. Sie trat neben mich. Der Page war ohnmächtig zu Boden gesackt. Der Leichenfresser kam auf uns zu. Sein stinkendes Maul öffnete sich voller Vorfreude. Gleich zwei Brocken Frischfleisch vor seiner Nase. Ihm mußte es vorkommen wie ein Glückstag. Aber diese Suppe würde ich ihm gründlich versalzen. Dina senkte ihre Waffe. Zog den Stecher durch. Vorschriftsmäßig wollte sie ihrem Gegner in die Beine schießen. Sie traf ihn auch. Aber der Leichenfresser marschierte unbeeindruckt weiter. Zwei weitere Geschosse jagten in seinen untoten Körper Nichts. Diesen Schock mußte die Polizistin erst einmal verdauen. Ich hatte inzwischen eines der einfachen Holzkreuze aus meinem Jackett gezogen. Der Anblick des christlichen Symbols ließ die Bestie unwillkürlich zurückzucken. Dadurch gewann ich eine kleine Atempause. Ich nutzte sie sofort aus. Durch die Nähe des Ghuls war mein Siegelring schon längst erwärmt. Er glühte auf. Ich drückte das Kleinod gegen das rotblau-goldene Hexenmal, das sich auf meiner linken Brustseite befindet. Durch diesen Fleck in der Form eines siebenzackigen Sterns werden die Kräfte des Rings aktiviert. Ein blauer Strahl, einem Laser ähnlich, schoß aus dem Metall. Mit dieser Lichtsäule schrieb ich das keltische Wort für »Waffe« aus dem altgermanischen Runenalphabet Futhark auf das Kreuz. Mit großen Augen bemerkte Dina, was ich tat. Für einen Augenblick wurde das Kreuz in einen Schimmer blauen Lichts gehüllt. Keine Sekunde zu früh! Der Ghul hatte sich von seinem ersten Schock erholt und griff 33
wieder an. Doch seine Gier nach Menschenfleisch wurde ihm zum Verhängnis. Ich wich seinen Klauen aus und verpaßte ihm zunächst mit dem Kreuz einen Schlag auf den Schädel. Er jaulte auf. Das Symbol des Guten verursachte ihm heftige Schmerzen. Entsetzt riß er sein ekelhaftes Maul auf. Ich zog meinen Arm zurück. Stieß dann wieder vor. Und rammte ihm die schimmernde weißmagische Waffe so tief es ging in seinen Rachen. Ich konnte meine Finger gerade noch zurückziehen, bevor seine Zähne zuschnappten. Der Ghul würgte. Aber das Holz saß zu fest. Dina und ich beobachteten, wie sein Schädel von innen her blau zu leuchten begann. Die Intensität des Lichtes wurde immer stärker. Der Leichenfresser torkelte. Begann mit beiden Armen wahllos um sich zu schlagen. Er prallte mit dem Kopf gegen eine der Kellerwände. Schließlich versuchte er, das Kreuz mit seinen Krallen zu entfernen. Aber er konnte es nicht berühren, ohne durch die starke Energie gewaltige Schläge abzubekommen. Es dauerte noch ein paar Minuten, dann war er endgültig von seiner schwarzmagischen Existenz erlöst. Ich bedankte mich in Gedanken bei dem genialen französischen Seher Nostradamus, der einst diesen Ring hergestellt hatte. Darum waren auf dem Kleinod neben einem stilisierten Drachen auch die Initialen M und N dargestellt. Für Michel de Notre Name, wie der Prophet eigentlich hieß. Neuerdings nahmen wir die Buchstaben auch für unsere ewige, über die Jahrhunderte andauernde Freundschaft: Mark und Nostradamus. M und N waren auch die Anfangsbuchstaben meiner Vornamen. Da sich das N auf dem Ring auch als H interpretieren ließ, blieb noch die Deutung für Mark Hellmann. »Ich kann nicht glauben, was ich gerade gesehen habe«, meinte die blonde Polizistin endlich. Sie starrte auf die qualmenden, sich auflösenden Reste des Monsters. Ich kümmerte mich inzwischen um den Pagen. Abgesehen von dem Schock hatte er nur ein paar Hautabschürfungen erlitten. »So geht es den meisten Menschen, wenn sie erstmals mit Dämonen zu tun haben, Dina. Du bist in bester Gesellschaft.« »Ich muß gestehen, daß ich dir nicht geglaubt habe, Mark. Aber allmählich beginne ich zu begreifen. Vincent van Euyen hatte wohl recht. 34
Es müssen Ghuls gewesen sein, die meine Kollegen angegriffen haben.« Ich freute mich über den raschen Sinneswandel der Holländerin. Aber noch besser hätte es mir gefallen, wenn ich eine Spur von meinem Freund gefunden hätte. »Ich will mal checken, was sich hinter dieser Pforte verbirgt«, kündigte ich an. »Soll ich mitkommen?« »Verarzte lieber den Pagen, Dina. Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, haben mich die Aasfresser schon verdaut.« Mit meinen flapsigen Sprüchen hatte ich die junge Frau halbwegs beruhigen wollen. Trotzdem paßte ich natürlich, auf wie ein Schießhund, nachdem ich in den fast völlig dunklen Gang hinter der Pforte eingetaucht war. Wenn hier ein Ghul gelauert hatte, konnten auch noch weitere Artgenossen im Hinterhalt liegen. Ich faßte mein Holzkreuz fester. Ich hatte es aus den Überresten des Leichenfressers wieder herausgezogen. Der Gang führte tiefer. Ich tastete mit der linken Hand an den feuchten Wänden entlang. Ansonsten verließ ich mich auf meinen Geruchssinn. Und außer dem überwältigenden Ghulgestank nahm ich jetzt noch etwas anderes wahr. Abgestandenes, brackiges Wasser. Bald darauf drang auch ein leises Plätschern an mein Ohr. Und dann wäre ich beinahe ins kalte Naß gefallen. Abrupt hörte unter meinem rechten Fuß der Erdboden auf. Ich spürte, daß ich auf einer morschen Planke stand. Mit der Schuhspitze tastete ich an ihrem Rand entlang. Hier war ein Ufer. Die Reise war zu Ende. Direkt vor mir mußte sich ein geheimer Kanal oder unterirdischer Fluß befinden, der vermutlich in eine Gracht münden würde. Immerhin wußte ich jetzt, wie die Unholde meinen Freund Vincent entführt hatten. Und ich war mir sicher, daß er noch lebte. Erstens hatten wir in dem Hotelzimmer keinen einzigen Blutstropfen gefunden. Und zweitens hätten sie nicht diesen Aufwand treiben müssen, nur um ihn zu massakrieren. Der Reporter lebte. Und ich war mir sicher, daß ich ihn befreien konnte.
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* Vincent van Euyen schwitzte wie noch nie zuvor in seinem Leben. Trotz der feuchtkalten Atmosphäre in dem Leichenfresserhaus rann ihm der Schweiß über den Rücken. Die Ausweglosigkeit seiner Situation hatte er deutlich vor Augen. Wenn er nichts tat, würde Sandra Rasp sterben. Die Ghuls waren offenbar fest davon überzeugt, daß er, Vincent, dieser verdammte Tiridates war. Und Tote zum Leben erwecken konnte. Also mußte er die Polizisten wieder auferstehen lassen. Aber das gehört nicht gerade zu den Tätigkeiten, die ein Reporter draufhaben muß, dachte der dickliche Mann mit bitterer Ironie. Doch er mußte jetzt handeln. Man merkte dem Konsul an, daß sein Geduldsfaden arg strapaziert wurde. Also beschloß Vincent, auf Zeit zu spielen. Seine ganze Hoffnung ruhte auf seinem Freund Mark. Mit jeder verstrichenen Minute stieg die Wahrscheinlichkeit, den Dämonenjäger in den Raum platzen zu sehen. Mit seiner SIG Sauer in der Rechten und dem armenischen Silberdolch in der Linken. Diese Vorstellung gab dem Weimarer Hoffnung. Er würde diesen Leichenfressern eine Komödie vorspielen. Möglichst lange. Als erstes breitete Vincent die Arme aus, als ob er die Leichen vor sich segnen wollte. Dabei murmelte er einige für die Ghuls unverständliche Worte. Vielleicht hielten sie es ja für Parthisch. In Wahrheit war es die tschechische Aufforderung für: »Die Fahrkarten bitte!« Vincent hatte diese Worte auf einer Zugreise nach Prag ein paarmal gehört. Sie hatten sich in seinem Gedächtnis eingeprägt. Bisher waren die Leichenfresser nur mäßig beeindruckt. Und auch die toten Polizisten machten keine Anstalten, aufzuspringen und herumzulaufen. Verständlicherweise. Nun kniete sich der rundliche Reporter nieder und legte seine Handflächen auf einen der Leichname. In diesem Moment durchzuckte ihn ein ungeheurer Schock. Es war nicht der Ekel, einen Ermordeten anfassen zu müssen. Sondern das Gefühl, als ob in seinem Inneren ein Damm gebrochen war. Vincent erblickte plötzlich den Euphrat und den Tigris, die beiden mächtigen Ströme Mesopotamiens. Sie verwandelten Land 36
in fruchtbares Land. Und die Bauern dieser Region knieten vor ihm nieder. Denn er, Vincent van Euyen, war ihr Herrscher. Bin ich jetzt völlig verrückt geworden? dachte sich der Reporter. Das Wasser des Euphrat floß ruhig in der Sommerhitze. Wirkte fast so glatt wie ein Spiegel. Und in diesem Spiegel erkannte Vincent nun sich selbst. Der Schnurrbart war weg. Ebenso der wirre, blonde Haarschopf. Sein Bart war zu winzigen Zöpfen gedreht, die mit kostbaren Perlen geschmückt waren. Sein Haar war lang und eingeölt. Auf dem Kopf trug er eine Art Kronreif aus purem Gold. Sein Körper war auch nicht untersetzt und dicklich, sondern drahtig. Und in eine purpurfarbene Toga gehüllt, über der er einen Brustpanzer aus Silber trug. Aus diesem kostbaren Metall waren auch die Beinschienen an seinen nackten Waden. Tiridates, sagte sich der Weimarer. Ich weiß nicht warum, aber ich bin Tiridates! Als ihm das klargeworden war, offenbarte sich ihm auch das Wissen des Partherkönigs. So, als ob sich Vincent an etwas Halbvergessenes aus seiner Kindheit erinnern würde. Und er erkannte: Tiridates wußte, wie man Tote zum Leben erweckte! Natürlich konnte Vincent van Euyen von einem Moment zum nächsten auch fließend Parthisch sprechen. In der Sprache des antiken Reichs rief er die Seelen der ermordeten Polizisten aus der Totenwelt zurück. Es dauerte eine gewisse Zeit. Aber dann füllte sich der halbdunkle Raum des Ghulhauses mit wehmütigen, schrillen Lauten. Vincent/Tiridates bemerkte, wie Sandra am ganzen Leib zitterte. Aber es war zu spät, um aufzuhören. Er tat das hier auch für sie. Wenn er die Toten erweckte, würden die Ghuls das Mädchen nicht sofort ermorden. Möglicherweise. Das Wehklagen wurde nun immer lauter. Aber der dickliche Reporter sprach weiterhin mit fester Stimme die parteiischen Beschwörungsformeln, als ob er nie etwas anderes getan hätte. Und dann kamen die Schatten. Langsam schwebten sie ein. Schienen sich plötzlich aus dem Nichts zu materialisieren. Der Totenbeschwörer verstärkte seine Bemühungen. Vincent hatte den Kopf in den Nacken geworfen und die Augen geschlossen. Doch auch ohne hinzusehen bemerkte er, wie sich ihm die feinstofflichen Wesen näherten. Zwei Schatten, die sich an ihre Körper fast schon nicht mehr erinnerten. 37
»Sterne, strahlt herab! Erde, brich auf! Unterwelt, öffne dich! Nicht Seiende, kehrt in das Sein zurück!« Vincent van Euyen rief diese Sätze auf Parthisch. Dann spürte er, wie die Schatten der Ermordeten durch seine geschlossenen Augen in ihn hineinströmten. Sie benutzten seinen Körper als Leitbahn. Die Energie der Geistwesen raste durch sein Nervenkostüm. Er spürte, wie die Leichen unter seinen Händen zu vibrieren begannen. Da erklang eine kräftige Stimme. »Waar ben ik?« (Wo bin ich?) Der Reporter öffnete die Augen. Er fuhr zusammen. Es war der ältere der beiden ermordeten Polizisten, der gesprochen hatte! Nun setzte sich der Liegende halb auf. Trotz seiner schweren Verletzungen war der Beamte zweifellos am Leben. Er sprach und atmete. Nun rührte sich auch sein Kollege. Vincent van Euyen war einer Ohnmacht nahe. Er hatte zwei Leichen wieder zum Leben erweckt! * Ich redete dem Pagen ein, daß wir ihn vor einem verrückten Serienmörder gerettet hätten. Doch bevor wir den Täter verhaften konnten, sei er durch das unterirdische Gewässer getürmt. Zum Glück schluckte der Junge die Geschichte und würde wohl darauf verzichten, die Öffentlichkeit in Panik zu versetzen. Dina mußte erst einmal den Schock verdauen. Ich lud sie zum Frühstück ein, nachdem sie Vincents Zimmer offiziell polizeilich versiegelt hatte. Ein paar Häuser neben dem Hotel fanden wir ein kleines Cafe. Die Leute am Nebentisch - offenbar Touristen - rauchten Marihuana. Sie waren jung, trugen schrille Klamotten und hatten die Nasen und Lippen gepierct. Die Polizistin sagte nichts. Schließlich waren wir in Amsterdam. Was das für unseren Fall bedeutete, wurde mir allerdings erst bei Dinas nächster Bemerkung klar. »Leichenfresser, die aus Grachten auftauchen. Ich kann es immer noch nicht fassen, Mark. Schlimmer hätte es nicht kommen können.« 38
»Wieso?« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kopje Koffie. »Allein hier im Innenstadtbereich gibt es siebentausend alte Patrizierhäuser, die alle unter Denkmalschutz stehen. Sie alle sind direkt von den Grachten aus erreichbar. Ganz zu schweigen von den unzähligen Hausbooten, die ihren festen Platz in den Grachten haben.« Das bedeutete eine Unzahl von möglichen Opfern, die direkt durch die Ghuls gefährdet waren. Schlimm. Aber ein Grund mehr, der Sache auf den Grund zu gehen. »Diese Leichenfresser kommen nicht wie durch Zauberschlag aus dem Nichts«, dachte ich laut nach. »Meist gibt es einen Friedhof, eine Gruft oder einen anderen Rückzugsbereich, von dem aus sie ihre Opfer holen. Eine Art Operationszentrale.« Dina blinzelte mich bewundernd an. »Wie können wir diesen Ort finden? Mit deinem Ring?« »Möglich. Aber Amsterdam ist groß, und wir haben nicht viel Zeit. Kannst du mich in eine Bibliothek begleiten?« Die junge Polizistin glotzte mich an, als hätte ich ihr einen eindeutigen Antrag gemacht. Ich wußte genau, was sie dachte. Viele Leute halten mich wegen meines muskulösen Körpers für einen Dummkopf, der außer dem Telefonbuch keine Lektüre kennt. Mit diesem Irrtum habe ich keine Probleme. Ich binde auch nicht jedem auf die Nase, daß ich Völkerkunde und Geschichte studiert habe. Obwohl mir das für meine Berufung als Kämpfer des Rings schon sehr oft nützlich gewesen ist. »Ich suche nach alten Legenden und Stadtgeschichten«, fügte ich hinzu. »Oft findet man in solchen Dokumenten Hinweise auf Übersinnliches. Die Menschen früherer Jahrhunderte wußten sich oft besser vor dem Schrecken zu schützen als die Leute der Gegenwart.« »Wir können es ja mal in der Universitätsbibliothek versuchen…« Die Polizistin und ich stiefelten los. Ich kam mir fast vor wie in Weimar, meiner kleinen Heimatstadt. Alle wichtigen Gebäude waren in der Nähe und somit gut zu Fuß zu erreichen. Wir mußten nur den Nieuwe zijds Voorburgwal hinunterlatschen und einen Platz namens Spui überqueren, und schon standen wir vor der Bibliothek. Natürlich war auch dieses historische Gebäude mit einer Seite an einer Gracht gelegen. »Wozu eigentlich die vielen Grachten?« fragte ich, während wir 39
den Bau betraten. »Ursprünglich waren es Verteidigungsgräben, Mark. Aber schon im Mittelalter haben die Amsterdamer gemerkt, daß sich viele Waren besser auf Kähnen vor die Haustür transportieren lassen. Holland war immer eine Seefahrernation. Die Waren wurden von den Schiffen auf Boote umgeladen und dann direkt zu den Handelshäusern geschafft. Außerdem hat man die Grachten damals als Kanalisation genutzt…« Ich rümpfte die Nase. Inzwischen waren wir in der historischen Abteilung angelangt. Schnell fand ich mich zurecht. Ich habe schon in unzähligen Bibliotheken nach Hinweisen auf höllische Mächte gestöbert. Zielsicher griff ich mir ein dickleibiges Buch aus dem 16. Jahrhundert. »Ich wußte gar nicht, daß du Holländisch lesen kannst.« »Kann ich auch nicht, Dina. Aber in der guten alten Zeit haben Gelehrte ihre Werke noch auf Latein verfaßt. Und diese Sprache habe ich im Studium bis zum Umfallen gepaukt. Ohne Latein kein Geschichtsstudium. - Sieh selbst.« Ich schlug das Vorsatzblatt des Wälzers auf. OCCULTA PHILOSOPHIA. Amsterdam 1598. Scheinbar interessiert beugte sich die Polizistin über meine Schulter. Dabei gewährte sie mir tiefe Einblicke in ihr Oberteil. Sofort fiel mir das lateinische Wort für das Körperteil ein, daß sich in höchstem Maße von dem Tal der Sinne angesprochen fühlte. Ich versuchte die »Reaktion« auch gar nicht zu verbergen, dachte kurz an meine Tessa zu Hause in Weimar und konzentrierte mich auf das Buch. Dazu zwingen mußte ich mich schon. Es war offenbar von einem anonym gebliebenen Gelehrten verfaßt worden, der Geschichten aus dem Volk zusammengestellt hatte. Teilweise Legenden, die schon damals von Generation zu Generation mündlich weitergegeben worden waren. Schauergeschichten, in langen Winternächten am heimischen Herd erzählt. Ich vergaß die Zeit und die Welt um mich herum. Nicht mal an Dina dachte ich, nur in den Augenblick, wenn sie durch Handauflegen oder anderweitigen Körperkontakt auf sich aufmerksam zu machen versuchte. Sie war schon ein Luder. Aber ein süßes. Sie würde schon den Kerl finden, der zu ihr paßte. Ich fand nun etwas, das mir brauchbar erschien. »Die Höllenfahrt des Konsuls«, übersetzte ich die lateinische 40
Überschrift. »Was?« Dina horchte auf und legte wieder ihre Hand auf meinen Oberschenkel. »1512 lebte in Amsterdam ein mächtiger Mann namens Johan Zwart. Er war ein mächtiger Kaufherr und bekleidete auch noch öffentliche Ämter. Dieser Zwart war krankhaft machtbesessen. Gräßliche Gerüchte waren über ihn im Umlauf. Er soll sich mit den Mächten der Hölle verbündet haben, um seinen Einfluß und Reichtum noch weiter zu vergrößern. Eines Tages hat er dann den Bogen überspannt. Er tötete seine Frau, die sich seinen schwarzmagischen Beschwörungen widersetzte. Angeblich soll er auch ihre Leiche verspeist haben, obwohl das nie bewiesen werden konnte.« Die Polizistin erbleichte. »Schließlich wurde Johan Zwart hingerichtet, Dina. Aber dann geschah etwas Seltsames. Seine Überreste verschwanden von dem ungeweihten Acker außerhalb Amsterdams, wo man damals die Mörder verscharrte.« »Du meinst, er ist wieder auferstanden oder so was?« »Sagen wir: Er stolpert als Ghul mit einem unnatürlichen dämonischen Keim in sich herum. Dieser Johan Zwart scheint ein skrupelloser, aber kluger Mann gewesen zu sein. Wenn der Ghulterror wirklich seit Jahrhunderten existiert, braucht man ein solch böses Gehirn. Damit der Untergrund der Untoten nicht auffliegt. Und weiterhin Nahrung kriegt…« Dina van Velsen legte nachdenklich den Zeigefinger an ihre sinnlichen Lippen. »Dann sollten wir rauskriegen, wo genau in Amsterdam dieser Johan Zwart damals gewohnt hat. Vielleicht können wir da ansetzen… Oh, verdammt!« Bei ihren letzten Worten war ihr Blick an mir vorbeigeglitten. Ich saß vor dem Fenster, von dem aus man die Singelgracht erkennen konnte, und fuhr herum. Und dann erkannte ich trotz der Entfernung, was da unten vor sich ging. Eine junge Frau schrie verzweifelt um Hilfe. Sie stand nichtsahnend am Ufer der Gracht. Plötzlich kam eine grauenvolle Leichenfresser-Kralle aus dem trüben Wasser geschossen und wollte sie in die Tiefe zerren! * 41
Henk Bouwers starrte entsetzt auf seinen abgerissenen Fuß. Dort, wo seine Uniformhose endete, war nur noch ein Stumpf zu erkennen. Aber er lebte. Die Wunde hatte sich wieder geschlossen. Genau wie bei seinem älteren Kollegen Jan Kerk, dem von einem Ghul der Schädel eingeschlagen worden war. Nun lagen sie inmitten einer Gruppe von gräßlich grinsenden Monstern auf dem Estrich eines düsteren Hauses. Vor ihnen stand ein dicker Mann, der ein normaler lebender Mensch zu sein schien. Obwohl er einen ziemlich verwirrten Eindruck machte. »Hölle!« fluchte Jan Kerk. »Was ist passiert?« »Ganz einfach«, erwiderte Vincent van Euyen mit tonloser Stimme. »Sie beide sind an der Leidsegracht von Ghuls angegriffen worden, also von Leichenfressern. Diesen Kreaturen da drüben. Die Bestien haben sie getötet und in ein Grachtenhaus irgendwo in Amsterdam geschafft. Ich heiße Vincent van Euyen und wollte eigentlich meine Ferien in Holland verbringen. Nun hat sich aber herausgestellt, daß ich die Wiedergeburt des Partherkönigs Tiridates bin. Dadurch war ich in der Lage, Sie und Ihren Kollegen wieder zum Leben zu erwecken. Es war mir ein Vergnügen.« Die beiden Streifenpolizisten starrten einander entgeistert an. Es war offensichtlich, daß sie den Reporter für verrückt hielten. Aber war nicht die Situation, in der sie sich befanden, ebenfalls jenseits allen Begreifens? »Schluß mit der Märchenstunde!« Schneidend erklang die Stimme des Konsuls. Er beugte sich auf seinem Sessel vor. »Mächtiger Tiridates, ich bin nun überzeugt, dich vor mir zu haben. Die Einflüsterungen der Hölle haben mich nicht getäuscht. Aber die Erweckung der Toten scheint deine Kräfte erschöpft zu haben. Ich gewähre dir eine Ruhepause, allein mit deiner Buhle. Aber wenn ich dich wieder zu mir rufe, wirst du mir die Zukunft deuten. Du, Tiridates, bist ab sofort mein ganz persönlicher Hellseher!« * Wir sprangen wie auf Kommando auf. Warfen dabei unsere 42
Stühle um. Dutzende von Studenten brachten mißbilligende Kommentare. Aber hier ging es um ein Menschenleben. Und da zählte jede Sekunde. Dina van Velsen und ich stürmten die breite Treppe der Universitätsbibliothek hinunter. Stießen dabei junge Leute beiseite, die einfach nur gelangweilt herumstanden. Links von der Treppe begann die Schmalseite des Gebäudes, die zur Gracht hin errichtet worden war. Das Mädchen kreischte wie wild und klammerte sich an einer Platane fest. Viele tausend Bäume säumten die Kanäle und Gräben der holländischen Hauptstadt. Doch der Ghul zog unbarmherzig an ihrem Bein. Inzwischen war auch sein Schädel aus dem Wasser aufgetaucht. Die abstoßende bleiche Haut lag wie eine Teigschicht über dem nackten Knochen. An einigen Stellen krochen Maden auf der Bestie herum. Ich riß das Holzkreuz aus meiner Tasche. Wie ein Pirat sein Entermesser, so nahm ich das weißmagische Symbol quer zwischen die Zähne und stieß mich vom Ufer ab. Mit einem Hechtsprung landete ich in der Gracht! Die Brühe schlug über mir zusammen. Ich konnte in dem trüben Wasser kaum etwas erkennen. Aber das war auch nicht nötig. Die böse Existenz des Leichenfressers in meiner Nähe spürte ich mit allen Nerven und Sinnen. Das Scheusal warf sich herum. Es hatte erkannt, daß ich ihm gefährlich werden konnte. Immerhin ließ es den Knöchel des Mädchens los. Das hatte ich erreichen wollen. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie Dina van Velsen das völlig verstörte Opfer aus der Gefahrenzone riß. Dann mußte ich mich ganz auf den Gegner konzentrieren, der mir ans Leben wollte! Der Ghul schlug wild mit seinen Leichenklauen nach mir. Ich machte einen Schwimmstoß zur Seite. Das Kreuz hatte ich nun in der rechten Faust. Den linken Arm und beide Beine brauchte ich, um mich über Wasser zu halten. Ganz knapp nur rasten die Krallen des Unholds an meinem Hals vorbei. Drei Zentimeter weiter, und meine Kehle wäre zerfetzt worden. Ich drückte mein Kreuz gegen den Arm des Leichenfressers. Er heulte wild auf. Doch dann schossen seine Beine unerwartet unter der Wasseroberfläche auf mich zu. Plötzlich hatte er mich in einer Art Ringer-Umklammerung. Ich konnte meinen Unterleib nicht mehr bewegen! Nun schluckte ich Grachtenwasser, stieß es hustend wieder aus. 43
Der Ghul packte mich an den Haaren. Mit einem Ruck riß er meinen Kopf unter Wasser. Die Bestie wollte mich ertränken. Und sie war stark. Da gab es keinen Zweifel. Schwimmen konnte ich nicht mehr. Wir sanken gemeinsam tiefer. Der Leichenfresser brauchte keine Atemluft. Ich dagegen schon. Irgendwo hatte ich gelesen, daß die meisten Grachten nur zwei Meter tief sind. Aber man kann auch in einem flachen Tümpel ersaufen, wenn man keinen Sauerstoff mehr kriegt. Oder sogar in einer Badewanne. Der verdammte schwarzmagische Stinkbock schien in Hochform zu sein. In der öligen Brühe erschien sein weißlicher Dämonenkörper über mir wie eine Zentnerlast, die mich direkt in die Hölle drücken würde. Der Ghul brauchte nur zu warten, bis meine Lungen aufgaben. Lange konnte das nicht mehr dauern. Ich konzentrierte meine ganzen verbleibenden Kräfte auf das Kreuz. Es war gut, den Siegelring an meiner Hand zu spüren. Er war erwärmt und prickelte. Das Kleinod erinnerte mich in jedem Moment meines Lebens daran, daß ich der Kämpfer des Rings war. Und niemals aufgeben durfte. Ich preßte meinen rechten Arm eng an den Körper und stieß ihn blitzartig vor. Das Kreuz traf den Leichenfresser genau ins rechte Auge! Seine Gliedmaßen begannen wild zu zucken. Die eiserne Umklammerung lockerte sich etwas. Ich setzte nach. So hart ich konnte, drückte ich das Kruzifix gegen seinen höllischen Schädel. Selbst in dem Kanalwasser war plötzlich die Schwingung zu spüren, die von dem unscheinbaren Kruzifix ausging. Sie wirkte wie ein Störsender auf die dämonische Ausstrahlung des Ghulmonsters. Die Macht des Leichenfressers war gebrochen. Und ich merkte genau, wie der Funke unnatürlichen Lebens in ihm für immer erlosch. Mit ein paar verzweifelten Schwimmstößen gelangte ich wieder an die Oberfläche. Mein Mund war so weit aufgerissen, daß ich Fritten und Heringe quer hätte verputzen können. Luft! Kann es etwas Köstlicheres geben? Ich paddelte keuchend und hustend ans Ufer. Dina reichte mir eine Hand. Die Gute war inzwischen nicht untätig gewesen. Offenbar hatte sie Verstärkung angefordert. Zwei Streifenwagen mit der Aufschrift POLITIE auf den Türen parkten zwischen der Singelgracht und der Universitätsbibliothek. Einige Männer und Frauen in dunkelblauen Uniformen drängten die Schaulustigen 44
zurück. Ich bemerkte, daß auch Dina ihren eingeschweißten Polizeiausweis gut sichtbar an ihre Jacke gehängt hatte. »Alles in Ordnung, Mark?« In ihrer Stimme schwang Besorgnis mit. Ich klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. Versuchte dabei, einen neuen Hustenanfall zu unterdrücken. »Den schlimmen Finger habe ich ruhiggestellt, Dina. Der belästigt keine Mädchen mehr. Was ist aus dem Opfer geworden?« »Ich habe sie sofort ins Krankenhaus schaffen lassen, ins Akademisch Medisch Centrum. Sie hat einen Schock erlitten. Und du brauchst trockene Klamotten!« Wie zur Bestätigung nieste ich. Die Polizistin hatte recht. Mit einer Lungenentzündung konnte ich keine Ghuls jagen. Meine Reisetasche mit meiner Kleidung befand sich noch in Dinas Honda. Und der parkte beim Polizeipräsidium. Es war, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Kurz entschlossen drückte sie mir einen Wohnungsschlüssel in die Hand. »Damit kommst du in mein Apartment. Konstapel Cuypers fährt dich hin.« Sie deutete auf einen schnurrbärtigen Polizisten in mittleren Jahren. »Ich hole deine Tasche, erstatte kurz Bericht und komme dann nach. Es dauert nicht lange. Du kannst schon duschen und Kaffee kochen.« »Woher weißt du, daß ich Kaffee kochen kann?« »Ich habe eine Kaffeemaschine.« Schulterzuckend gab ich nach. Mir war jetzt wirklich kalt. Als ich zu Cuypers in den Streifenwagen stieg, dachte ich an meinen Freund Vincent. Wie es ihm jetzt wohl ging? * Der Reporter hockte in einem kleinen Raum auf einem breiten Ehebett. Nur eine blakende Petroleumlampe spendete trübes Licht. Die Fenster waren von außen mit Holzbrettern vernagelt worden. Das hatte er geprüft. Vor der abgeschlossenen Tür standen zwei Ghuls. Jedenfalls vermutete Vincent van Euyen, daß es zwei waren. Ab und zu hörte er ihre schlurfenden Schritte. Und dumpfe Laute, die sie miteinander austauschten. Aber der sicherste 45
Beweis für ihre Anwesenheit draußen war der betäubende Gestank. Er hatte zunächst geglaubt, sich daran zu gewöhnen. Fehlanzeige. Inzwischen hatte der Weimarer einigermaßen verarbeitet, was mit ihm geschehen war. Sein Bewußtsein kam ihm jetzt vor wie die Festplatte eines Computers. Und plötzlich war ein neues, umfangreiches Programm bei ihm abgespeichert worden. Dieses Programm hieß Tiridates. Genaugenommen war es wohl nichts Neues, sondern in den Tiefen seiner Seele versteckt gewesen. Jetzt lag es so klar vor ihm, als hätte er immer schon darüber verfügen können. Vincent van Euyen beherrschte Worte, die er nie gelernt hatte. Er erinnerte sich an Orte, wo er nie gewesen war. Fruchtbare Gärten im Wüstensand. Häfen am Persischen Golf. Der gemütliche Dicke erlebte noch einmal Schlachten mit, in denen er von seinem Streitwagen aus Speere in die Körper seiner Feinde getrieben hatte. Und er befragte wieder das Orakel im Tempel. Richtete seinen Blick in die ferne Zukunft der Welt. »Ich kapier das alles nicht!« Sandras Seufzer riß Vincent aus seinen Überlegungen: Für den Moment ließ er sein »Tiridates-Bewußtsein« ruhen und wandte sich der jungen Deutschen zu. Tränen kullerten aus ihren Augen. Sie lag zusammengerollt wie ein Embryo auf der feuchten Matratze des Bettes. »Was ist denn los?« Schnaufend erhob sich der beleibte Reporter und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sandra trug immer noch seinen Trenchcoat. Darunter war sie nackt. »Das fragst du noch? Diese Höllenbestien reißen meinem Freund den Kopf ab! Dann laufe ich dir in die Arme. Du rettest mich - aber dann wird alles noch viel schlimmer! Wir sitzen hier in diesem Rattennest, wo sie uns nie wieder weglassen wollen! Und was ist mit dir?« Sie rückte von ihm ab, als fürchtete sie sich plötzlich vor ihm. Wahrscheinlich tat sie das auch. »Was für ein Spiel spielst du, Vincent? Du hast Tote wieder lebendig gemacht. So etwas kann es nicht geben. Das ist wider die Natur!« »Ich mußte es tun. Sie wollten dich sonst umbringen, schon vergessen? Ich wußte bis vorhin überhaupt nicht, daß ich es 46
kann.« »Ich glaube dir kein Wort!« Die junge Frau verbarg ihren Kopf zwischen den Armen. An ihren zuckenden Schultern konnte man erkennen, daß sie weinte. Vincent atmete tief durch. Er überlegte, was er ihr Aufmunterndes sagen konnte. Nach einer Viertelstunde brach er das Schweigen. »Hast du schon mal was von Wiedergeburt gehört, Sandra?« Sie nickte schniefend. »Buddhistische Lamas und so werden wiedergeboren. Wenn sie sterben, suchen sie ein Kind aus, in dessen Körper sie zurückkehren.« »So in etwa, obwohl es noch komplizierter ist. Jedenfalls hat es wohl vor tausenden von Jahren einen König namens Tiridates gegeben. Er regierte in Parthien und verstand sich auf die Kunst der Nekromantie.« »Der was?« »Der Totenbeschwörung.« »Woher weißt du das?« »Ich weiß es nicht. Dieses Wissen habe ich sozusagen von Tiridates geerbt.« Sandras Verzweiflung war allmählich der Neugier gewichen. »Und was wollen diese leichenfressenden Grottenolme von dir?« »Ich soll für sie in die Zukunft blicken. Das konnte Tiridates nämlich auch. Und der Oberghul, den sie den Konsul nennen, kriegt es trotz seiner schwarzmagischen Fähigkeiten nicht hin.« »Warum grinst du plötzlich so, Vincent?« »Weil ich gerade gemerkt habe, daß ich wirklich etwas hellsehen kann. Ich bin mir zum Beispiel absolut sicher, daß mein Freund Mark schon in Amsterdam ist. Und daß er uns bald aus diesem Höllenloch befreien wird.« In diesem Moment öffnete sich die Tür. Der Pestgestank verzehnfachte sich. Einer der Ghuls machte eine auffordernde Bewegung. »Der Konsul will dich jetzt sehen.« * Commissaris Doorn war ein harter Mann. Nie hatte er vor dem Verbrechen kapituliert. Auch von seinen 47
Leuten verlangte er bedingungslosen Einsatz. In den letzten Jahren hatten sie ein paar entscheidende Schlachten gewonnen. Amsterdam war etwas sicherer geworden. Aber etwas war eben noch nicht genug. New York setzte da ganz andere Maßstäbe. Dort wurde gegenüber Verbrechern und Verbrechen die NullToleranz propagiert. Der Fall mit den beiden verschwundenen Streifenbeamten irritierte ihn. Doch jetzt verwirrte ihn noch etwas ganz anderes. Er bemerkte, daß Dina van Velsen einem Zusammenbruch nahe war. Den meisten Leuten wäre ihr Verhalten ganz normal erschienen. Aber Doorn war ein guter Beobachter. Kleine Details sagten ihm, daß seine Mitarbeiterin etwas Entsetzliches gesehen haben mußte. Sie saß ihm in seinem Büro im Präsidium an der Elandsgracht gegenüber und gab einen Zwischenbericht ab. »Was ist dieser Hellmann für ein Typ, Dina?« Hysterisch lachte sie auf. »Oh, groß und muskulös wie ein Ruderchampion, Commissaris. Schmucker Kerl. Würde ich nicht von der Bettkante schubsen…« Ihr Vorgesetzter zuckte innerlich zusammen. Solche Sprüche waren sonst überhaupt nicht ihre Art. Ein weiterer Beweis dafür, daß die Polizistin völlig durch den Wind war. »Behindert er die Ermittlungen?« »Was? Äh, nein. Ganz und gar nicht. Er, wie soll ich sagen…? Er kennt sich aus. Mit Dingen.« »Mit Dingen? Was für Dingen?« Dina wand sich wie ein Aal. »Mit Ermittlungsdingen, äh, Spuren oder so. Wo wir dann die dings - die Täter…« Commissaris Doorn schlug mit der geballten Faust auf den Tisch, daß die Kaffeetasse tanzte. »Jetzt reicht's mir aber!« brüllte er. »Wir sind kein Liebespaar, und das hier ist nicht unsere erste Verabredung! Du mußt nicht wie ein Schulmädchen stottern, Dina!« Sein Wutausbruch schien sie mit einem Schlag ernüchtert zu haben. »Also gut«, brachte die Fahnderin hervor. »Wir haben Grund zu der Annahme, daß in Amsterdam eine Bande von Leichenfressern ihr Unwesen treibt. Sie zerren ihre Opfer in die Grachten. Ich habe selbst innerhalb der letzten drei Stunden gleich zwei von diesen - diesen Dingern gesehen. Das hätte ich nie für möglich 48
gehalten. Ich hätte nie geglaubt, daß es so etwas Grauenvolles gibt!« Der Commissaris stutzte. Dina van Velsen war eine gute Mitarbeiterin. Wenn sogar sie kurz vor dem Ausrasten war, dann mußte an der Sache was dran sein. Eine peinliche Pause entstand. »Führt die Ermittlungen weiter«, schnarrte der Vorgesetzte schließlich. »Aber ich will immer genau wissen, wohin ihr geht. Kapiert? Du gibst stündlich ein Lebenszeichen, sonst kannst du für den Rest deiner Karriere Streifenwagen polieren!« Dina nickte. Nun wirkte sie schon wieder wie in Trance, Kopfschüttelnd blickte Doorn ihr nach. Dann nahm er den Telefonhörer ab und tippte eine Nummer ein, die er auf einem Zettel notiert hatte. * Vincent van Euyen wurde wieder zu dem unheimlichen Konsul geführt. Aber diesmal erwartete die Kreatur den Reporter in einer winzigen fensterlosen Kammer. Allein. Offenbar sollte niemand anders hören, was zwischen dem Menschen und dem Höllenwesen besprochen wurde. Der Weimarer stutzte. Im Schein der Petroleumlampe fiel ihm ein Ölgemälde auf, das an der holzgetäfelten Wand hinter dem Ghulherrscher hing. Es stellte einen Mann in vornehmer Kleidung des 16. Jahrhunderts dar. Mit Spitzenhemd, Knebelbart und breitem Hut mit Feder. Ein wenig wie die Männer auf Rembrandts berühmtem Bild Die Nachtwache. Doch die Ausstrahlung des Porträtierten war abgrundtief böse. Der Konsul hatte Vincents Blick bemerkt. Er lachte. Es klang, als ob Ratten über ein Blechdach trappeln würden. »Gefällt es dir, o mächtiger Tiridates? Der Pinselquäler hat mich gemalt, als ich noch jung und schön war, hehehe… Aber das ist ferne Vergangenheit, wie du weißt. Erzähle mir lieber etwas über meine Zukunft!« Der Reporter schwitzte, was nicht nur an der schlechten Luft in dem Verschlag lag. Der Konsul hockte in einem unbequem aussehenden Sessel mit hoher Lehne. Er sollte wahrsagen? Aber wie? 49
»Ich warte.« Die Stimme des Ghulherrschers klang lauernd. »Mach mich nicht wütend. Du bist zwar die Wiedergeburt eines großen Zauberers. Aber ich habe dich trotzdem in der Hand. Vergiß das nicht!« Vincent schwitzte stärker. Ihm blieb nichts anderes übrig, als in dem Teil seines Gedächtnisses zu graben, der für ihn wie ein fernes, unbekanntes Land war. Seine »Tiridates-Erinnerung«. Der Reporter schloß die Augen. Plötzlich hörte er eine Stimme in seinem Inneren. Eine Stimme, die ihm seltsam vertraut vorkam. Obwohl sie in einer völlig unbekannten Sprache zu ihm redete. »Ich warte auf eure Befehle, Herr.« Wer bist du? dachte Vincent. »Man nennt mich Phokas, Herr. Euer Leibsklave. Ihr habt lange geschlafen. Es ist gut, daß ihr wieder wach seid.« Dieses madengefüllte Leichengezücht will, daß ich ihm die Zukunft deute. Wie soll ich das machen? »Denkt einfach daran, Herr. Zum Beispiel an morgen. Und dann sagt, was ihr seht. Ihr habt die Fähigkeit. Sie wurde euch von den Göttern verliehen.« Das beruhigte Vincent ungemein. Wenigstens war dieser Tiridates also nicht mit den Mächten der Hölle im Bund gewesen. Ob dieser Phokas ihn aus der Gewalt der Ghuls befreien konnte? Kaum war dem Reporter dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, als auch schon die Antwort kam. »Leider nein, Herr. Ihr habt selber ungeheure Kräfte, die erst wieder erweckt werden müssen. Aber ich kann Hilfe holen.« Hilfe holen? »Ja, Herr. Zum Beispiel euren Freund, an den ihr dauernd denkt. Mark Hellmann.« Vincent van Euyen stimmte zu. Neue Hoffnung keimte in ihm auf. Nun erschien ihm auch die böse Existenz des Konsuls schon etwas weniger bedrohlich. Er spürte, daß die Stunden dieser Kreatur gezählt waren… Der Reporter öffnete den Mund und wandte sich dem Ghulherrscher zu. »Ich werde dir sagen, was kommen wird, Konsul. Ich sehe einen Friedhof. Einen vom Wasser überspülten Gottesacker…« Der Konsul beugte sich gespannt vor. * 50
Dina van Velsen lebte in dem grünen Amsterdamer Vorort Buitenveldert, Ihr uniformierter Kollege setzte mich vor einem modernen Apartmenthaus ab. Obwohl ich mich in eine Decke gehüllt hatte, war der Beifahrersitz des Streifenwagens naß, als wären zwei Dutzend Windeln ausgelaufen. Die billigen, die ohne Wer-weiß-was-ich-Schutz. Der Polizist nahm es mit holländischer Gelassenheit. »Das ist ja nur Wasser. Was glaubst du, wie viele Verdächtige mir schon in den Wagen gekotzt haben…« »Ich will es gar nicht wissen. Igitt.« Wir verabschiedeten uns mit Handschlag. Frierend hetzte ich in den dritten Stock hoch, wo das Namensschild »van Velsen« auf Dinas Wohnung verwies. Der Schlüssel paßte. Das Apartment wirkte auf mich wie eine übergroße Pralinenschachtel. Die Wände waren pink gestrichen. Plüschtiere in allen Größen lümmelten sich auf den Möbeln und dem Teppich. Die einzigen lebenden Bewohner waren einige Goldfische, die in ihrem Aquarium ungerührt ihre Bahnen zogen. Ich erinnerte mich an Dinas Wunsch und setzte in der Mini-Küche Kaffee auf, während ich mir die nassen Klamotten vom Leib riß. Dabei war ich mit den Gedanken bei dem Ghul-Überfall. Die widerliche Kreatur hatte ihr Opfer am hellichten Tag angegriffen. Die beiden anderen Untaten waren nachts geschehen. War das ein Alarmsignal? Wurden die Leichenfresser plötzlich dreister? Und wenn ja, warum? Fragen über Fragen, die ich so schnell wie möglich klären mußte. Aber erst mal sprang ich unter die Dusche und wusch mir das stinkende Grachtenwasser vom Körper. Mein Ringkampf mit dem Ghul hatte meinen Eigengeruch auch nicht gerade verbessert. Ich kam mir vor, als sei ich selbst dem Grab entstiegen. Dankbar griff ich nach der Duschlotion. Plötzlich fuhr ich zusammen. Du bist nicht mehr allein in der Wohnung! Dieser Gedanke pflanzte sich sofort in mein Bewußtsein. Gleichzeitig machte ich mich über mich selber lustig. Es würde natürlich Dina sein, die meine Reisetasche aus dem Präsidium geholt hatte. Trotzdem warf ich einen Kontrollblick auf meinen Siegelring. Nichts. Keine Warnung vor schwarzmagischer 51
Aktivität. »Dina!« rief ich. »Ich bin unter der Dusche!« Keine Antwort. Schnell frottierte ich mich ab und wickelte mir das Badetuch um die Hüften. Dann lauschte ich. Es war totenstill. Abgesehen von dem gedämpften Rauschen, das von der nahen Autobahn herüberdrang, über die mich der Polizist hergefahren hatte. Lautlos schlich ich zur Tür der kleinen Naßzelle und öffnete sie. Meine Blicke schweiften durch den Wohnraum, blieben an dem einen oder anderen riesigen Plüschtier hängen. Die Fische im Aquarium hatten noch nicht mal ihre Schwimmrichtung geändert. Und doch stimmte hier etwas ganz und gar nicht. Aber was? Und dann fiel es mir auf. Der Geruch. Klar, aus der Küche drang ein leichter Kaffeeduft. Aber er wurde von etwas anderem überlagert. Etwas, das entfernt an Weihrauch aus einer Kirche oder Räucherwerk aus einem Tempel erinnerte. Die Gestalt tauchte wie aus dem Nichts auf. Plötzlich stand sie in der Verbindungstür zwischen dem Schlafzimmer und dem Wohnraum. Und es war eindeutig nicht Dina van Velsen. Der Eindringling hatte die bronzefarbene Haut eines Mannes, der im Nahen Osten seine Heimat zu haben schien. Sein altertümlicher Kinnbart war eingeölt und geflochten. Außer einem Hüfttuch aus rotem Stoff und einem breiten Kupfergürtel trug er nur einen Umhang, der seine kräftigen Arm- und Brustmuskeln nicht verhüllte. Er redete mich in einer Sprache an, die ich noch nie gehört hatte. Und trotzdem verstand ich ihn. Sicherlich dank der magischen Kräfte meines Rings. »Man nennt mich Phokas, edler Mark Hellmann. Mein Herr schickt nach dir…« * Wie gebannt lauschte der Konsul den Erzählungen des Vincent van Euyen. Was er da zu hören bekam, gefiel ihm ausgezeichnet. »Die Gräber des überschwemmten Friedhofs werden sich öffnen. Es ist ein uraltes Gelände, aus der Zeit der Stadtgründung Amsterdams. Du wirst die Wesen von dort zu deinen Untertanen machen, Konsul…« 52
Es war gar nicht mal gelogen, was der Reporter sagte. Es war allerdings nur die halbe Wahrheit. Er verschwieg, daß diese längst verwesten Untoten von Mark Hellmann vernichtet würden, bevor sie Schaden anrichten konnten. Doch dann erkannte er noch etwas anderes. Etwas, das ihn völlig aus der Bahn warf. Der Katzenpfötchennascher riß den Mund auf wie ein Karpfen auf dem Trockenen. Seine Gedanken verwirrten sich. Das Herz drohte auszusetzen. Taumelnd hielt er sich an dem schweren Tisch vor sich fest. »Was ist mit dir?« zischte der Ghul. So etwas wie menschliches Mitgefühl kannte er nicht. Aber wenn die Wiedergeburt von Tiridates zusammenklappte, wer sollte ihm dann die Zukunft voraussagen? Dieser dicke Mann konnte ihm noch sehr nützlich sein. Und zwar lebend… Vincent schnaufte. Er schüttelte den Kopf. Seine Gesichtsfarbe wechselte zwischen krebsrot und totenbleich. Der Konsul rief seine Ghulgarde herein. Wies die beiden Kreaturen an, den Reporter zu stützen und in sein Quartier zurückzubringen. »Er soll sich ausruhen«, kommandierte der Unheimliche. »Weitere Befehle, Exzellenz?« Ein dritter Leichenfresser hatte sich in den Raum geschoben, während seine Artgenossen den halb ohnmächtigen Vincent wegschleiften. Der Konsul nickte. Sein halb verfallenes Gesicht verzerrte sich zu einem sadistischen Grinsen. »Bringt diese beiden Polizisten in den Saal. Jetzt, wo bewiesen ist, daß Tiridates Tote wieder erwecken kann, brauchen wir sie nicht mehr. Darum werde ich sie höchstpersönlich feierlich abschlachten. Und diesmal landen sie in unseren Mägen, bevor sie jemand auferstehen läßt!« Der zweite Ghul stimmte in das schaurige Gelächter seines Herrn und Meisters mit ein… * Von meiner Überraschung hatte ich mich rasch erholt. Für mich als Dämonenjäger ist es ja nichts Ungewöhnliches, daß plötzlich Wesen aus dem Nichts auftauchen. Außerdem sagte, mir mein Instinkt, daß ich von diesem Phokas nichts zu befürchten hatte. Auch mein Ring schwieg immer noch. Zwar war es mächtigen 53
Dämonen möglich, ihn zu täuschen. Aber diesem Besucher fehlte einfach die abgrundtief böse Ausstrahlung. Er konnte nicht zur schwarzmagischen Zunft zählen. »Wer ist dein Herr, Phokas?« fragte ich deshalb. Ich mußte versuchen, an mehr Informationen heranzukommen. Stolz richtete sich der muskulöse Araber noch mehr auf. »Ich diene dem großen Tiridates. Dem mächtigsten Herrscher; den das Partherreich jemals gehabt hat und haben wird!« Obwohl ich Geschichte studiert habe, sagte mir das nicht viel. Ich wußte nur, daß die Parther in der Antike im Gebiet des heutigen Iran und Irak gelebt hatten. Im Zweistromland von Euphrat und Tigris. Wieso hatte dieser Tiridates seinen Diener zu mir geschickt? »Ich kenne deinen Herrn nicht, Phokas…« Der Diener zog mißbilligend die Augenbrauen zusammen. »Tiridates ist der unglaublichste unter allen Herrschern der Welt! Er regiert nicht nur weise unser mächtiges Land, er versteht sich auch auf die Zauberkünste. Nur Tiridates kann den Herrn des Todes in seine Schranken verweisen. Mein Herr schwimmt auf dem Strom der Zeit. Was unsere Sterblichkeit verbirgt, ist kein Geheimnis für ihn. Weder das, was vergangen ist, noch das, was kommen wird.« Jetzt war ich noch verwirrter als vorher. Ich mußte meine Gedanken erst mal ordnen. »Willst du auch einen Kaffee, Phokas?« Die Sitte des Kaffeetrinkens kam schließlich aus dem Nahen Osten, doch er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Dieser Leib bedarf keiner Speise.« Er war also ein feinstoffliches Wesen. Mit exakt denselben Worten hatte vor einiger Zeit mein väterlicher Freund Nostradamus Speis und Trank abgelehnt (Siehe MH 31!). Auch bei ihm hatte ich feststellen müssen, daß er ein Geist war. »Mein Herr ist in Gefahr, Mark Hellmann!« fuhr der Diener eindringlich fort. »Die Leichenfresser wollen ihm ans Leben.« Ich horchte auf. War das etwa eine Falle? Aber woher wußten die Ghuls, daß ich hinter ihnen her war? Und warum war diesem seltsamen Tiridates bekannt, daß ich gegen die Mächte der Hölle kämpfte? Mein Zögern schien Phokas wirklich wütend zu machen. Seine großen Hände öffneten und schlossen sich ungeduldig. »Gürte 54
deine Lenden mit blitzenden Waffen und ziehe in die Schlacht gegen das Böse! Ich würde selbst gehen. Aber dieser Körper ist nur ein Trugbild und kann nicht kämpfen. Leider!« Bedauernd starrte der Diener auf den Krummdolch, der in seinem Gürtel steckte. Unwillkürlich mußte ich grinsen. Momentan waren meine Lenden nur mit einem Badetuch bedeckt. Phokas glaubte wohl, ich würde über ihn lachen. Und das brachte ihn vollends in Rage. »Auch wenn der große Tiridates jetzt in dem Körper dieses Vincent van Euyen steckt, bleibt er doch der mächtigste…« »Wie war das?« »Die Seele meines Herrn lebt im Körper eines gewissen Vincent van Euyen«, sagte der Mann aus dem antiken Parthien. So, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Allmählich kapierte ich. Dieser Partherkönig mußte als Vincent van Euyen wiedergeboren worden sein. Das mußte ich erst mal verdauen. In diesem Moment hörte ich, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. »Mark?« rief Dina. »Ich hatte im Präsidium noch einen Zweitschlüssel! Und deine Reisetasche habe ich… liiiiiiih!!« Plappernd war die holländische Polizistin in ihre rosa Bonbonschachtel-Wohnung gestiefelt. Nun erblickte sie Phokas, der immer noch in der Tür zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer stand. Mit verschränkten Armen. Dina ließ vor Schreck mein Gepäck fallen und riß ihre Dienstwaffe heraus. »Laß die Kanone stecken!« riet ich ihr, während ich einen Schluck Kaffee nahm. »Erstens ist Phokas harmlos und zweitens ein Geist. Du triffst also höchstens die Wand. Oder eines deiner putzigen Plüschtiere!« Die Blondine war kreidebleich geworden. Einen Moment lang herrschte Totenstille. Ich trat auf sie zu und griff mir meine Reisetasche. Das, was der feinstoffliche Parther mir berichtet hatte, war eigentlich unvorstellbar. Ich wußte aber jetzt: Vincent lebte und war in Gefahr, ob nun mit Tiridates im Leib oder nicht. Und ich war jetzt der einzige, der ihm wirklich helfen konnte. Ich ließ das Handtuch fallen und schlüpfte in Unterhose und Jeans. Jetzt war keine Zeit für falsche Schamhaftigkeit. Trotzdem bekam ich mit, daß Dina einen langen Hals machte. Um möglichst viel mitzubekommen. 55
»Weißt du, wo die Ghuls Vincent gefangenhalten?« fragte ich, während ich mir ein weißes T-Shirt über den Kopf zog. »Ja!« antworteten Dina und Phokas im Chor. Überrascht starrten wir drei uns gegenseitig an. Ich grinste. »Und wo?« Wieder öffneten beide gleichzeitig den Mund. Ich drohte mit dem Finger. »Die Dame zuerst, Phokas!« Der Diener zog die buschigen Augenbrauen zusammen. Aber er schwieg. »Dieser Konsul Johan Swart«, begann Dina, »hat damals an der Keizersgracht gewohnt. Das habe ich in alten Einwohnerregistern gecheckt. Eine der besten Adressen in Amsterdam. Nach seinem Tod hat niemand mehr in dem Haus gewohnt. Und das, obwohl die Wohnungsnot in unserer Stadt fast schon sprichwörtlich ist.« Ich nickte ihr zu und schaute nun Phokas erwartungsvoll an. »Es stimmt«, bestätigte er. »Ein Haus an dem Kanal, den sie Keizersgracht nennen. Armselig im Vergleich zum Palast des Tiridates. Dieses Haus ist verflucht. Es ist bis unter das Dach voll mit den verfaulenden Wesen der Unterwelt.« Ich hatte mich inzwischen komplett angezogen. Schlüpfte zum Schluß in die Turnschuhe. »Ich will so schnell wie möglich dorthin, Dina. Gibt es eine Möglichkeit, sich dem Haus unauffällig zu nähern? Vielleicht mit einem Boot oder…?« »Da habe ich noch eine bessere Idee«, meinte die Polizistin. Sie schien sich langsam davon erholt zu haben, mich in ihrer Wohnung mit einem parthischen Geist Kaffeetrinken zu sehen. »Wir nehmen ein Grachtenfiets!« * Sandra Rasp jammerte lauthals, als die Ghuls den völlig erledigten Vincent van Euyen auf das Ehebett warfen. Gleich darauf verdrückten sich die Höllenkreaturen und schlugen die Tür des Gemachs hinter sich zu. »Was haben diese Bestien mit dir gemacht?« Das Mädchen reagierte panisch. Der rundliche Reporter schnaufte. Einerseits, weil er sich langsam wieder besser fühlte. Und andererseits, weil Sandra ihn sanft streichelte. Vincent konnte nicht gerade behaupten, daß ihn diese Berührungen kaltließen. Er war 56
schließlich auch nur ein Mann. Und die junge Bielefelderin war verdammt hübsch. Doch der Gedanke an seine Vision ließ jedes erotische Gefühl in ihm sofort wieder ersterben. Schnaufend rappelte sich der sympathische Dicke wieder auf. Es gelang ihm, seinen Körper in eine sitzende Position zu bringen. »Mir geht's gut, Sandra. Ein Schwächeanfall, nichts weiter. Ich habe die Zukunft gesehen. Und es war so… Ich kann jetzt nicht darüber reden. Viel schlimmer ist im Moment etwas anderes.« »Was denn?« Das Mädchen hatte sich immer noch an Vincent van Euyen geklammert. Der korpulente Mann war für sie wie ein Rettungsanker der Normalität. Wenn er verschwand, würde sie hier allein unter diesen Bestien sein. Und das würde sie auf der Stelle wahnsinnig werden lassen. Da gab es für Sandra keinen Zweifel. »Die Polizisten«, brummte Vincent. »Diese Teufel wollen die Beamten diesmal endgültig töten. Und verspeisen.« »O nein!« Die Blonde schlug die Hände vor das Gesicht. Ihr Körper zuckte in einem Weinkrampf. »Aber da haben sie sich getäuscht!« Vincent van Euyen sprang so abrupt auf, daß die Bettfedern lautstark protestierten. Auf seiner Stirn schwoll eine Zornesader, so dick wie ein kleiner Finger. Er breitete die Arme aus. Und ballte die Fäuste. Sandra riß die Augen auf. Es war, als ob sich der Reporter der Weimarer Rundschau verwandeln würde. Sie hatte vor Jahren im Fernsehen den Film »Dr. Jeckyll & Mr. Hyde« gesehen. Von dem friedlichen Wissenschaftler, der zu einem brutalen Gewaltmenschen wurde. Und so ähnlich war es hier auch. Der Dreiundvierzigjährige hatte sozusagen zwei Seelen in seiner Brust. Den gemütlichen, Katzenpfötchen-Lakritz naschenden Vincent van Euyen. Und den geheimnisvollen König Tiridates. Und Tiridates war, wie die meisten Herrscher seiner Zeit, auch ein Krieger. Das sollten die Ghuls schon bald schmerzhaft zu spüren bekommen. »Solange ich noch einen Atemzug tue, werden hier keine Menschen geopfert!« blaffte der Reporter. Er hatte zu niemandem Bestimmten gesprochen. Mit wachsendem Entsetzen sah Sandra 57
zu, wie er von der Schmalseite des Bettes eine halb verrostete Eisenverstrebung abriß. Mit diesem improvisierten Knüppel in der rechten Faust nahm Vincent van Euyen vor der Tür der Kammer Aufstellung. Dann atmete er einmal tief ein. Und trat das Schloß aus der Verankerung! * Ein Grachtenfiets ist eine Art Tretboot. Seite an Seite strampelten Dina und ich in einem dieser Fahrzeuge die Keizersgracht entlang. Es war ein friedliches Bild. Man hätte uns für ein Touristenpärchen halten können. Frischverliebte, die sich an den prachtvollen Bürgerhäusern links und rechts des Wasserlaufs erfreuten. Die roten und braunen Fassaden mit den weißen Fensterrahmen und den traditionellen Giebeln hatten etwas Unverwechselbares. Unter normalen Umständen hätte ich es genossen. Aber ich war in Gedanken schon bei dem Grauen, das uns erwartete. Wie groß dieses Entsetzen wirklich war, davon konnte ich mir noch kein Bild machen… »Ist das Johan Zwarts Haus?« Ich zeigte auf ein schmales Gebäude. Dina lachte. »Nein, das ist das Haus mit den Köpfen.« »Haus mit den Köpfen?« »Ja, Mark. Es wird so genannt, weil sein Giebel von sechs behelmten Köpfen geschmückt wird. Siehst du? Der Legende nach hat einst eine taube Dienstmagd nachts eine Einbrecherbande überrascht und die Schurken allesamt geköpft. Zur Erinnerung an diese Tat hat man diesen Giebel geschnitzt.« »Wirklich nett.« Ich grübelte schon darüber nach, wie ich mich den Ghuls zum Kampf stellen sollte. Meine wichtigsten Waffen hatte ich in Weimar lassen müssen. Ohne meine SIG Sauer mit den Silberkugeln und meinen armenischen Silberdolch würde es kein Spaziergang werden. Immerhin hatte ich noch meine Holzkreuze. Und die Abschrift des schwarzmagischen Werkes Ars Niger et Damnatus. Die Bannformeln des Adolphus van Weyden würden hoffentlich 58
zünden. Dieser üble Bursche hatte sich gut ausgekannt mit den Mächten des Bösen. Schließlich war er selbst Teufelsanbeter gewesen, als er im Jahre 1523 dieses Standardbuch verfaßt hatte. Man mußte den Feind schließlich kennen. Ich hatte dieses Werk schon mehrmals zu Rate ziehen können, um letztlich dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Das Wasser plätscherte in den kleinen Schaufelrädern, mit denen wir uns fortbewegten. Flache Rundfahrtboote überholten uns, andere Grachtenfietsen und Wassertaxis kamen uns entgegen. Diese Kanäle waren nicht nur eine Touristenattraktion, sondern wurden auch als Transportwege benutzt. Das machte die Bedrohung durch die Leichenfresser nur noch viel schlimmer, weil unberechenbar. Dina brach das Schweigen, in das sie sich in den letzten paar Minuten gehüllt hatte. »Wenn ich daran denke, wie viele Fälle der Vermißtenabteilung jetzt aufgeklärt werden können…« Sie lachte humorlos. Ich wußte, was sie meinte. Wenn das Treiben der Ghuls jahrhundertelang unbemerkt geblieben war - wie viele Menschen würden ihnen dann zum Opfer gefallen sein? Ich hätte gerne etwas gesagt, um sie aufzumuntern. Aber sie sprach schon weiter. Zeigte auf ein Haus am linken Grachtenufer. Unweit der Einmündung in den Fluß Amstel. »Da ist es, Mark. Dieses düstere Gemäuer mit den vernagelten Fenstern. Wie oft bin ich daran vorbeigegangen. Oder geradelt. Oder mit dem Boot gefahren. Ohne zu ahnen, daß…« Sie vollendete ihren Satz nicht. Das war auch nicht nötig. Ich spürte die negative Ausstrahlung des Grachtenhauses so deutlich, als ob eine Teufelsfratze auf das Dach gemalt worden wäre. Mein Ring erwärmte sich ebenfalls unmißverständlich. Je näher wir herankamen, desto stärker wurde seine Alarmfunktion. Die Polizistin fischte ihr Handy aus der Tasche. Ich kriegte mit, wie sie es aktivierte. Dann bellte sie einige Sätze in den Apparat und schaltete ihn wieder aus. Ich musterte inzwischen die Fassade des Hauses. Es gab in jedem der drei Stockwerke drei hohe schmale Fenster, dicht nebeneinander. Offenbar hatten sich noch nicht einmal die Kraker, wie die Hausbesetzer in Amsterdam genannt wurden, an dem Gebäude zu schaffen gemacht. Jedenfalls waren die Fenster seit dem 16. Jahrhundert verbarrikadiert. Fast unglaublich in einer so lebendigen, überbevölkerten Stadt. 59
»Oh, Mann«, murmelte Dina van Velsen. »Ich würde lieber für den Rest meines Lebens im Vondelpark pennen, als eine Nacht in dieser Gruft zu verbringen.« Ich überlegte immer noch, wie wir in das Gebäude eindringen konnten. Vielleicht sollte ich Phokas um Rat fragen? Der Diener von Tiridates hatte sich allerdings buchstäblich in Luft aufgelöst, nachdem ich versprochen hatte, seinen Herrn rauszuhauen. »Mark!« Dinas Entsetzensschrei riß mich aus meinen Überlegungen. Aber da war es schon zu spät. Unser Grachtenfiets wurde wie von einer Riesenhand in die Tiefe gerissen! * Die Leichenfresser waren verblüfft. Wären sie Menschen gewesen, man hätte auf ihren Mienen grenzenlose Überraschung ablesen können. Der Mann, den sie vor einer Viertelstunde noch halbtot auf das Bett geworfen hatten, trat ihnen nun wie ein zorniger Racheengel entgegen! Aber sie waren keine Menschen, sondern Wesen der Unterwelt. Aus ihren widerwärtigen Visagen konnte man nichts anderes ablesen als Gier nach Menschenfleisch und hündische Unterwürfigkeit. Dem Konsul würden sie überallhin folgen. »Zurück mit dir, Dicker!« befahl der größte der Leichenfresser Vincent. »Du kommst erst wieder raus, wenn der Konsul es wünscht!« Sie wunderten sich nicht darüber, daß der völlig untrainierte Vincent van Euyen die massive Holztür einfach eingetreten hatte. Das war ihr Fehler. »Höllenbrut!« fluchte der Mann mit der Eisenstange brüllend. Er hätte in diesem Moment selbst nicht sagen können, ob er Vincent oder Tiridates war. »Ihr werdet keinen Menschen mehr in den Abgrund der Furcht ziehen!« Sandra wunderte sich über seine blumigen Worte. Aber der Reporter gab ihr jetzt sowieso Rätsel auf. Er wirkte wie ausgewechselt. Ob an dieser Geschichte mit der Wiedergeburt doch etwas dran war…? Das Mädchen zitterte um Vincents Leben. 60
Doch der rundliche Schnurrbartträger stürzte sich wie ein Berserker auf die drei Ghuls. Er schwang die Metallstange über seinem Kopf wie eine Streitaxt. Das schien die Bestien zunächst zu erheitern. Sie wiegten sich in Sicherheit. Kein normaler Mensch konnte den unnatürlichen Lebensfunken in ihnen löschen. Schon gar nicht mit einer in ihren Augen derart jämmerlichen Waffe. Aber Vincent war in diesem Moment kein normaler Mensch mehr. Sondern die Wiedergeburt eines der weisesten Magier der Weltgeschichte. Der größte der Leichenfresser versuchte gar nicht erst, den Hieb des Reporters abzuwehren. Er hielt sogar regelrecht seinen Schädel hin. Das war ein Fehler. Natürlich wußte Vincent/Tiridates, daß man einen Ghul nicht mit einem einfachen Schlag vernichten konnte. Darum zitierte er laut und deutlich einen jahrtausendealten Zauberspruch. Menschheitswissen aus Zeiten, als die Bedrohung durch Geister und Dämonen noch Alltag gewesen war. »Zurück nach Plutonien!« Der Reporter rief diesen Satz auf Parthisch, als seine Eisenstange den Kopf des Leichenfressers berührte. Der Schlag war noch nicht einmal besonders hart gewesen. Aber die Wirkung war beeindruckend. Die Bestie verging auf der Stelle! Der Körper schmolz förmlich. Wie eine Skulptur aus Butter, die auf eine riesige, weißglühende Herdplatte gestellt wird. Ein grauer Schatten löste sich mit einem schrillen Schrei aus dem vernichteten Leib. Er fuhr abwärts. In die Unterwelt, nach Plutonien. So hatte man die Höllenwelten in der Antike genannt. Die anderen Ghuls keuchten auf. Das hatten sie nicht erwartet. Jeder von ihnen hatte schon seit ewig langer Zeit Angst und Schrecken bei ihren hilflosen Opfern verbreitet. Daß ihnen jedoch jemand beherzt mit der Waffe in der Hand entgegentrat, war neu für sie. Trotzdem - oder gerade deswegen - stürzten sie sich geifernd auf Vincent van Euyen. Sandra kreischte erschreckt auf, als die beiden Monster ihren Beschützer in die Zange nehmen wollten. Mit ihren widerwärtigen Krallen konnten sie problemlos große Stücke Fleisch aus seinem 61
Körper reißen. Der Katzenpfötchenmann stand breitbeinig da. In seinem Inneren hatte nun Tiridates das Zepter in der Hand. Der Magier von königlichem Geblüt, der auch kämpfen konnte. Unbekannte Erinnerungen tosten vor Vincents geistigem Auge vorbei. Er war wieder ein Jüngling, dem von geduldigen Lehrern die Kunst der Verteidigung und des Angriffs beigebracht wurde. Er lernte Bogenschießen und Fechten mit Schwertern. Kurze Speere mußte er auf Strohpuppen werfen. Und er übte sich in dem blutigen Handwerk der Pankreation. Die besten Trainer aus Rom und Sparta hatten dem jungen Tiridates diese Mischung aus Faust- und Ringkampf beigebracht. Über alle diese Fähigkeiten konnte der untrainierte Körper des dicklichen Vincent plötzlich verfügen. Einer der Ghuls griff von hinten an. Listig tat Vincent, als ob er es nicht bemerkt hätte. Er verließ sich ganz auf sein Gehör. Als das Monster nahe genug herangekommen war, machte der Reporter einen blitzschnellen Ausfall mit der Spitze der Stange. Er traf den Leichenfresser ins Auge! Die Bestie taumelte zurück. Vincent drehte sich zur Seite, um sich mit dem Rücken gegen die Wand zu stellen. Da griff der andere Ghul von vorne an. Seine Krallen rasten durch die Luft, auf das Gesicht des Weimarers zu. Der Reporter knickte in den Knien ein und unterlief die Attacke. Die Klauen des Monsters hieben ins Leere. Bevor der Unhold abwehren konnte, machte seine Schläfe mit der Schlagwaffe Bekanntschaft. »Zurück nach Plutonien!« brüllte Vincent abermals. Die Worte taten sofort ihre Wirkung. Die abstoßenden Gliedmaßen der stinkenden Horrorfigur weichten auf. Mit einem gellenden Laut löste sich auch aus diesem Leichnam ein feinstoffliches Wesen. Es verschwand dorthin, woher es gekommen war. In die Dämonenwelt. Jetzt war noch ein Leichenfresser übrig. Vincents Attacke auf sein Auge war dem Monster nicht sehr gut bekommen. Immerhin hatte es genug Verstand, um einem direkten Kampf mit dem vor Wut rasenden Reporter auszuweichen. Der Ghul stürzte sich statt dessen auf Sandra! Das geschockte Mädchen wollte in die Kammer zurückweichen, deren Tür immer noch sperrangelweit offenstand. Die Bestie griff 62
nach ihr. Da war Vincent heran. Mit einer Schnelligkeit, die niemand dem beleibten Mann zugetraut hätte, hechtete er auf den Leichenfresser zu. Der Ghul spürte noch kurz einen Luftzug, als die Eisenstange heranschoß. »Zurück nach Plutonien!« Der Leichenfresser wurde zu einer geleeartigen Masse, bevor seine widerwärtigen Krallen das Mädchen berühren konnten. Auch sein Geist entwich mit schrillem Kreischen in die Unterwelt. Sandra schlang ihre Arme um Vincents Nacken. »Ich kann nicht glauben, was ich hier eben gesehen habe!« »Das Leben ist eben voller Überraschungen, Sandra.« Die Kampfeslust des Reporters war noch nicht abgekühlt. Im Gegenteil. Vincent schien jetzt erst warm geworden zu sein. Er nahm das Mädchen bei der Hand und zog sie hinter sich her auf die Treppe zu. »Hab keine Angst, Sandra. Bleib nur dicht bei mir, dann kann dir nichts geschehen. Ich habe schon ganz andere Kämpfe gewonnen!« Er tauchte wieder ein in die Tiridates-Erinnerungen seiner Seele. Und sah, wie seine treuen Soldaten im Pfeilhagel eines wilden Bergstammes fielen. Er selbst, der König, wehrte die Angriffe mit seinem Schwert ab. Dann stürmte er an der Spitze seiner verbliebenen Männer auf das Gebirgsnest zu. Eine andere Gedächtnis-Szene bestand aus dem Angriff von riesenhaften Skorpionen auf sein Land. Mutationen, die nur durch höllischen Einfluß entstanden sein konnten. Tiridates stellte sich ihnen ganz allein entgegen. Mit einigen Zaubersprüchen beschwor der die Fluten des Euphrat. Der Fluß reckte sich zu einer riesigen Flutwelle empor, die sich plötzlich in ätzende Säure verwandelte. Dampfend ergoß sich die todbringende Flüssigkeit auf die Skorpione. Tiridates hatte schon entsetzliche Gefahren durchlitten. Und da sollte er vor einem Haufen Leichenfresser Angst haben? Mit Sandra im Schlepptau ging Vincent van Euyen die Treppe hinunter. Da ertönten vor ihm gräßliche Schreie. Er beschleunigte sein Tempo und packte den Eisenknüppel fester. Der Reporter riß das widerstrebende Mädchen hinter sich her auf den Versammlungssaal der Ghuls zu. Riß die Tür auf. Ihm bot sich ein Bild des Grauens. 63
Vincent füllte seine Lungen Leibeskräften: »Aufhören!«
mit
Luft
und
brüllte
aus
* Ich schluckte Wasser, bevor ich mich von der ersten Überraschung erholt hatte. Das dunkle Grachtenwasser schlug über uns zusammen. Ich hatte mich in der Tretmechanik des Grachtenfietses verfangen. Verzweifelt zappelnd versuchte ich mich freizuschwimmen. Und dann sah ich sie. Die weißlichen Körper der Ghuls schienen zu leuchten. Es mußten mindestens ein Dutzend sein. Unter Wasser nahm ich sie zunächst nur schemenhaft wahr. Mein Ring glühte förmlich angesichts dieser geballten Ladung Schwarzmagie. Verdammt! Die untoten Monster mußten uns erwartet haben. Ich griff nach dem Kreuz in meiner Tasche. Unter Wasser waren unsere Bewegungen natürlich langsamer. Ein Seitenblick fiel auf Dina. Sie hatte den Mund zu einem stummen Schrei weit geöffnet. In großen Blasen entwich die Atemluft. Ich hätte ihr gerne signalisiert, daß sie sich die Puste lieber sparen sollte. Aber dazu kam ich nicht mehr. Denn nun fielen die Ghuls über mich her! Ich stieß mich von dem Tretboot ab, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Dem ersten Gegner rammte ich mein Kreuz mitten in seine abstoßende Visage. Aber durch den Widerstand des Wassers lag nicht soviel Druck hinter meinem Vorstoß. Jedenfalls wurde er nur kurz zurückgeschleudert. Nicht vernichtet. Die Leichenfresser bewegten sich in der Gracht so schnell und sicher wie riesige Raubfische. Das Wasser war ihr Element. Ich fragte mich, warum sie uns überhaupt so tief unter die Oberfläche hatten ziehen können. Angeblich waren doch die Grachten nur höchstens zwei Meter tief. Eine Frage, über die ich mir später Gedanken machen konnte. Jetzt mußte ich erst mal überleben. Und das war gar nicht so einfach. Die Ghuls drehten mich durch die Mangel. Schon blutete ich aus 64
mehreren Kratzwunden, die sie mir mit ihren Krallen geschlagen hatten. Die sich mit dem Wasser vermischenden Ströme meines Lebenssaftes schienen ihre Gier noch mehr anzuheizen. Ich hieb mit dem Kreuz wild um mich. Aber es war als Waffe zu schwach, um den dämonischen Keim dieser uralten Kreaturen zu löschen. Da mußte ich es schon mit meinem Ring weißmagisch aufladen. Und dafür würden mir die Leichenfresser wohl kaum eine Pause gönnen. Ich kämpfte weiter, während mir der Atem knapp wurde. Es war verdammt hart. Wenn ich einen Ghul mit einem Karatetritt zurückgeworfen hatte, hingen mir zwei seiner Artgenossen schon wieder am Hals. Aber mir fiel auf, daß sie mich offenbar lebend fangen wollten. Hätten sie mich in Stücke reißen sollen, wären sie nicht derart zurückhaltend vorgegangen. Rechte Freude darüber kam bei mir trotzdem nicht auf. Dina war inzwischen überwältigt worden. Ich konnte trotz des trüben Wassers erkennen, wie sie von einigen Ghuls schwimmend davongezogen wurde. Gleich darauf hatten mir meine Gegner das Kreuz entwunden. Es schwebte auf den Grund der Gracht. An jedem meiner Arme und Beine hing eine der Bestien. Sie hielten mich mit ihren übermenschlichen Kräften fest. Dann bugsierten sie mich in die Richtung, in der auch die holländische Polizistin verschwunden war. Nun konnte ich erkennen, warum die Unholde unser Fahrzeug in die Tiefe hatten ziehen können. Die Gracht war vor dem Haus des Konsuls wesentlich tiefer ausgebaggert. Zufall? Oder ging es auf das Konto der Untoten? Momentan war mir das egal. Als erstes wollte ich nur noch atmen. Das Grachtenhaus der Ghuls schien nur über einen Unterwassereingang zu verfügen. Um es betreten zu können, mußte man also tauchen. Dort schafften uns die Leichenfresser jetzt in das Innere des Gebäudes. Hier gab es einen kleinen Anlegesteg. Wahrscheinlich im Kellergeschoß. Einige Ratten flitzten herum. Die Tiere schienen keine Angst vor den Ghuls zu haben. Wahrscheinlich hatten sie längst begriffen, daß die bleichen Gesellen nur auf vermodertes Menschenfleisch scharf waren. Unsere Feinde schnauften triumphierend. Stießen kehlige Laute aus, als sie uns aus dem Wasser zogen. 65
Ich sog erst mal meine Lungen voll mit dem kostbaren Sauerstoff. Sogar der modrige Leichengeruch um uns herum erschien mir plötzlich erträglich im Vergleich zum qualvollen Ersticken unter Wasser. »Schafft sie zum Konsul!« kommandierte ein besonders ekelhaft aussehender Untoter mit halb abgefaultem Unterkiefer. Wir hatten also richtig getippt. In diesem Haus waren wir an der richtigen Adresse. Allerdings war das nur ein schwacher Trost. Dina und ich hatten Vincent befreien sollen. Jetzt waren wir selbst gefangen. Die unheimlichen Gestalten hatten uns die Arme auf den Rücken gedreht. Seite an Seite wurden wir eine steile Treppe hochgetrieben. Auch Dina war entwaffnet worden. Sie sah reichlich derangiert aus, das Haar war zerzaust, und das ohnehin schon knappe Oberteil hatte überhaupt keine Funktion mehr. Es war zerfetzt. Dina wandte mir ihr erhitztes Gesicht zu. »Mark, das hier ist wahrscheinlich der falsche Moment für so etwas. Aber ich hätte gerne ein Kind von dir!« Wenn mich nicht die Leichenfresser brutal von hinten gestoßen hätten, wäre ich aus allen Wolken gefallen. Frauen sind doch immer für eine Überraschung gut. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ob sie deshalb so viele Plüschtiere in ihrem Apartment bunkerte? Standen sie für ihre Sehnsucht nach einem Kind? »Das kommt jetzt etwas plötzlich, Dina. Außerdem bin ich liiert.« »Ich wußte es schon, als ich dich auf dem Flughafen sah. Der oder keiner! Unsere Gene passen bestimmt perfekt zusammen!« Über meine Gene hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Momentan kümmerte mich mehr das nackte Überleben. Von mir und Dina und natürlich von meinem Freund Vincent. Bevor ich noch etwas entgegnen konnte, wurden wir in einen größeren Versammlungssaal geschleift. Dort hockte auf einem Lehnsessel ein Ghul in Kleidung des 16. Jahrhunderts. An den Wänden aufgereiht warteten jede Menge seiner Artgenossen in verschiedenen Stadien des Verfalls. Und inmitten des Raumes knieten zwei Männer in holländischen Polizeiuniformen! Ich erstarrte. Was hatte das zu bedeuten? Waren die Beamten doch nicht getötet worden, wie Vincent es beobachtet hatte? Oder 66
hatten die Bestien inzwischen weitere Polizisten gefangen? Gleich darauf bekam ich die Antwort. »Das sind ja Jan Kerk und Henk Bouwers«, raunte mir Dina zu. »Die Kollegen, nach denen ich fahnden soll. Dann habe ich meine Aufgabe ja erfüllt.« Sie schnaubte selbstironisch durch die Nase. Ich musterte Johan Zwart. Um keinen anderen konnte es sich bei dem Anführer handeln. Er hatte sich halb aufgerichtet. Wandte sich mir zu. Wahrscheinlich spürte er instinktiv, daß von mir die größte Bedrohung für sein schwarzmagisches Imperium ausging. Von mir und meinem Ring. Er leuchtete kräftig. Die Wärme des Metalls prickelte auf meiner Haut. Wenn ich nur irgend etwas in die Hände bekommen könnte, was sich in eine weißmagische Waffe verwandeln ließ! »Wer bist du?« Johan Zwarts Stimme klang so bedrohlich wie das Knarren eines Sargdeckels. Er hatte offenbar in einem altertümlichen Holländisch gesprochen. Trotzdem verstand ich ihn. Das mußte magische Ursachen haben. »Ich heiße Mark Hellmann.« Ein lauernder Ausdruck erschien auf dem verwüsteten Gesicht des Oberghuls. »Ich habe geahnt, daß mein neuer Freund Tiridates um weißmagische Hilfe bitten würde. Er weiß die Ehre noch nicht zu schätzen, mein Berater sein zu dürfen, hehehe… Er wird nicht erfreut sein, euch hier gefangen zu sehen. - Nehmt ihm den verdammten Ring ab!« Den letzten Satz bellte er als Befehl an seine Artgenossen. Ich ballte die Faust, obwohl mich die Kreaturen mit eisernen Griffen festhielten. Niemals würde ich meinen Siegelring hergeben. Ich war schließlich der Kämpfer des Rings. Mit aller Kraft wehrte ich mich, als sie versuchten, mir das Schmuckstück vom Finger zu ziehen. »Ihr Stümper!« keifte Johan Zwart. »Muß man denn alles selbst erledigen?« Er erhob sich von seinem Lehnstuhl. Mit einigen Sätzen hatte er den Raum durchquert. Dorthin, wo ich mir mit den anderen Ghuls ein Handgemenge lieferte. Das haßverzerrte Gesicht des Anführers näherte sich mir. Seltsam, was für Details sich manchmal einprägen. Mir fielen seine goldenen Ohrringe auf. Wie bei einem Piraten. Vier oder fünf Leichenfresser hielten mich immer noch fest. Darum konnte ich keine Hand heben, als John 67
Zwart, der Konsul, plötzlich einen langen Dolch unter seinem Gehrock hervorzog. »So macht man das!« brüllte er seine Anhänger an. Und rammte mir die Stichwaffe bis zum Anschlag in die Kehle. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich hörte noch, wie eine bekannte Stimme »Aufhören!« brüllte. Es waren die letzten Worte, die ich vernahm. Ich, Mark Hellmann, war tot! * Vincent van Euyen konnte nicht mehr verhindern, daß sein Freund Mark Hellmann starb. Der Konsul scherte sich nicht um den Ruf des Reporters. Sondern stach erbarmungslos zu. Der sympathische Reporter hatte diese Szene bei seinem Blick in die Zukunft vorausgesehen. Die Vision hatte ihn beinahe kollabieren lassen. Er war noch ungeübt mit Tiridates' Fähigkeiten. Deshalb hatte er nicht sagen können, wann genau Mark Hellmann sterben würde. Der tote Körper des Dämonenjägers sank zu Boden. Eine blonde Frau warf sich schluchzend über ihn. Vincent sprang in den Versammlungssaal. Mit einer Leichtfüßigkeit, die ihm keiner zugetraut hätte. »Ah, mein hochgeschätzter Berater Tiridates!« begrüßte ihn Johan Zwart ironisch. »Dieser Narr und diese Metze dort wollten dich befreien, scheint mir. Hast du keine besseren Verbündeten, großer Partherkönig?« Und der Sprecher schickte sich an, den Ring nun endgültig von Mark Hellmanns schlaffen Fingern zu ziehen. Vincent van Euyen flog auf ihn zu, wie von einem Katapult geschnellt. Der dicke Reporter wußte selbst nicht, woher seine Kraft plötzlich kam. Sie war einfach da. Und das war die Hauptsache. Er rammte dem Ghul-Anführer seine beiden Schuhabsätze vor die Brust. Johan Zwart torkelte einige Schritte zurück. Und der Freund des Dämonenjägers wütete furchtbar zwischen den Ghuls, die immer noch um Mark Hellmanns Leiche herumstanden. »Zurück nach Plutonien! Zurück nach Plutonien! Zurück nach Plutonien!« 68
Mit kurzen, blitzschnellen Hieben schlug Vincent einen Schädel nach dem anderen ein. »Packt ihn!« brüllte Johan Zwart. Die übrigen anwesenden Ghuls kamen drohend näher. Sie bildeten einen undurchdringlichen Kreis um Vincent, den toten Mark Hellmann, die unbekannte blonde Frau und Sandra, die nicht von der Seite des Reporters gewichen war. Auf die beiden Polizisten achtete momentan niemand. Vincent kniete neben der Leiche des Dämonenjägers nieder. Die Situation erschien ausweglos. Wenn jetzt nicht die Magie von Tiridates half, war alles verloren. * Ich war schon einmal tot gewesen. Vergiftet vom Skorpion des Ghulkönigs Brutus Kasput, den ich in Berlin gejagt hatte. Damals war meine Seele aus meinem Körper entwichen. So wie jetzt. Ich war als Geistwesen durch den Raum geschwebt, hatte am Ende eines unsichtbaren Korridors eine Tür zum Licht gesehen. Von der ich mich magisch angezogen gefühlt hatte. Und dann war da die Stimme meines Schwesterleins gewesen. Meiner toten Schwester, mit der ich als Kind so oft gespielt hatte. In den ersten zehn Jahren meines Lebens, an die ich absolut keine Erinnerung hatte. Sie wollte mich bei sich haben. Die Sehnsucht war ungeheuer groß gewesen. Doch ich war als Kämpfer des Rings für eine Aufgabe auserwählt, vor der ich mich nicht einfach drücken konnte. Ich hatte gegen das Böse zu kämpfen. Dort, wo normale Sterbliche keine Chance hatten. Diese Dinge traten wieder in mein Bewußtsein, als ich meinen toten Körper auf dem Boden des Grachtenhauses liegen sah. Ich kriegte alles aus der Vogelperspektive mit. Die Verlockung, einfach in das gleißende und überirdisch schöne Licht zu treten, war ungeheuer groß. Doch da bemerkte ich, wie sich Vincent van Euyen über meinen Leichnam beugte. Der Reporter tat Dinge, die ich bei ihm nie für möglich gehalten hätte. Er schien wirklich eine Art Beschwörung vorzunehmen. Mein Freund legte eine Hand auf die zerfetzte Kehle meines Körpers. Die andere auf mein Herz. Dann sprach er 69
Worte in einer unbekannten Sprache. Eine Sprache, von der ich erst später erfuhr, daß es Parthisch war. Und auch ihre Bedeutung kannte ich in diesem Moment nicht. »Sterne, strahlt herab! Erde, brich auf! Unterwelt, öffne dich! Nicht Seiender, kehre in das Sein zurück!« Der Raum erfüllte sich mit klagenden, schrillen Lauten. Gleich darauf begriff ich, daß diese Laute von mir selbst kamen. Der Schatten, der ich in diesem Moment war, wehrte sich gegen die Aussicht, wieder dem Auf und Ab des Menschendaseins ausgesetzt zu sein. Vincent van Euyen drängte mein Bewußtsein unerbittlich in meinen Körper zurück. Und ich war ihm dankbar. Trotz der Schmerzen, die ich plötzlich verspürte. Denn die Schmerzen waren ein Beweis dafür, lebendig zu sein. Und ich liebte das Leben. Es gab Menschen, die mich liebten und mich brauchten. Meine Zeit war noch lange nicht reif. Während mich der Reporter ins Dasein zurückholte, waren die Ghuls natürlich nicht untätig geblieben. Sie griffen uns auf weiter Front an. Das bemerkte ich, als ich wieder in meinem Körper war und mühsam die Augen aufschlug. Noch eine Minute, und sie würden uns in Stücke reißen. Doch nichts geschah. Die Leichenfresser kamen nicht näher als zwei Meter an unsere kleine Gruppe heran. Es war, als würden sie gegen eine unsichtbare Wand laufen. Die grauenerregenden Gestalten griffen nach uns. Doch eine unsichtbare Plexiglasabschirmung schien zwischen den Kräften der Hölle und uns zu stehen. Stöhnend hob ich den Kopf. Dina bedeckte mein Gesicht mit Küssen. »Du lebst! Vater meiner Kinder, du bist wieder lebendig!« Ich verzog den Mund. Diesen Zahn würde ich ihr schleunigst ziehen müssen. Aber erst mußten wir hier raus. Und zwar lebend: Mir war schwindlig. Kein Wunder. Ich mußte jede Menge Blut verloren haben. Die Stichwunde an meinem Hals war nun allerdings geschlossen. Wahrscheinlich hatte ich das auch meinem Freund Vincent zu verdanken. Er klopfte mir grinsend auf die Schulter. »Keine Zeit für Erklärungen, Mark. Irgendwie ist dieser Alleskönner Tiridates in meinen armen alten Körper geraten. Er hat mir auch geflüstert, wie man auf die Schnelle einen magischen Schutzwall zwischen 70
uns und diese Aasfresser zieht. Fürchte nur, der wird nicht mehr lange halten!« Ich war zwar schwächer als sonst, aber nicht zu müde zum Kampf. Und in der Not konnte sich jeder Mensch noch einmal steigern. Das wütende Geheul der Ghuls schien die Wände des Hauses erbeben zu lassen. Unsere Lage war ziemlich bescheiden. Der Reporter, die beiden Frauen, die beiden Polizisten und ich hockten in einem magischen Zirkel, dessen Begrenzungen langsam nachzugeben schienen. Johan Zwart stachelte seine Artgenossen zum Angriff auf. Es mußten mindestens dreißig Leichenfresser sein. Und wir hatten nur eine Waffe, nämlich Vincents Eisenstange. Ich hoffte nur, daß dieser sagenumwobene Tiridates meinem Freund noch ein paar Tricks geflüstert hatte. Sonst konnten wir nämlich einpacken. Allein dieses Gebrüll der Leichenfresser konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Plötzlich wurde mir klar, daß ich mich getäuscht hatte. Sicher, die gräßlichen Gestalten schrien sich vor Wut und Haß die Lungen aus den vermoderten Leibern. Aber der Lärm hatte noch eine weitere Quelle. Eine sehr erfreuliche, wie ich glaubte. Das Dröhnen eines Hubschrauber-Rotors. Kaum war mir diese Idee gekommen, als auch schon eines der mit Bohlen verrammelten Fenster von einer Explosion zerfetzt wurde. Tageslicht strahlte hinein. Bisher war der gesamte Raum nur von wenigen Kronleuchtern und Petroleumlampen schlecht beleuchtet worden. Die Ghuls drehten sich unwillig um. Die reine Luft des Frühsommertages und die Sonnenstrahlen schienen ihnen schon Unwohlsein zu bereiten. Und das war erst der Anfang. Ein zweites Fenster wurde aufgesprengt. Zwei »Apache«Kampfhubschrauber mit holländischen Kennzeichen hingen in der Luft über der Keizersgracht. Man hatte von den Maschinen aus nicht nur die Fensterläden zerschossen. Sondern auch Seile an der Außenfront des Ghulhauses verankert. Nun kamen in rasend schneller Reihenfolge ein halbes Dutzend Bewaffneter an diesen Seilen runtergerutscht. Sobald sie hier den Boden berührt hatten, lösten sie ihre Karabinerhaken. Rollten ab und eröffneten das Feuer. 71
Arme tapfere Narren! dachte ich zerknirscht. Denn normale Munition hilft nicht gegen schwarzmagische Wesen. Doch gleich darauf war ich es, der sich verwundert die Augen reiben mußte. Insgesamt sechs Ghuls vergingen nun gleichzeitig unter den gezielten Schüssen der Befreier! Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Denn nun wandte sich mir einer der Overall-Männer zu. Das breite Kreuz und der mächtige Schnurrbart waren unverkennbar. Pit Langenbach stand vor mir. Seines Zeichens Hauptkommissar bei der Weimarer Kripo! »Fang auf, Mark!« brüllte er. Zog eine Waffe aus seinem Patronengürtel und warf sie mir herüber. Keinen Augenblick zu früh. Denn schon hatte einer der Leichenfresser den magischen Bannkreis durchbrochen und wollte mir an die Kehle. Ich ließ mich nach hinten fallen und zog den Stecher durch. Schoß sozusagen aus der Hüfte. Obwohl ich ihn nur streifte, verging er sofort. Kein Wunder. Die Pistole, mit der ich ihn getroffen hatte, war meine eigene SIG Sauer P 6. Geladen mit weißmagischen Silberkugeln. Der Gefechtslärm und das infernalische Gebrüll der Ghulbande erfüllten das Haus. Die Kämpfer in den Overalls hatten sich verteilt und schossen ruhig und gezielt. Sie hatten offenbar alle geweihte Silberkugeln in den Läufen ihrer Pistolen. Damit muß man sparsam umgehen. Diese Munition wächst nicht auf Bäumen. Ich erledigte noch zwei weitere Ghuls. Ihre Reihen lichteten sich zusehends. Die Bestien zogen sich heulend vor Wut zurück. Holländische Befehle wurden gebellt. Einige der Uniformierten setzten ihnen nach. Ich wollte auch hinter ihnen her. Aber Pit legte mir die Hand auf die Schulter. »Mach mal halblang, Mark. Du siehst selbst aus wie eine lebende Leiche, ehrlich gesagt.« Wenn du wüßtest, wie recht du hast, dachte ich. Daß meine Gesichtsfarbe nicht gerade dem guten alten DDR-Produkt Spreequell-Himbeerkirsch-Limo entsprach, konnte ich mir denken. Schließlich hatte ich ja reichlich Blut verloren, als ich erstochen worden war. »Mark!« Jetzt erst erkannte ich Tessa. Ihr schönes Gesicht war unter einem Leicht-Stahlhelm mit Visier verborgen gewesen, den sie bei dem Einsatz getragen hatte. Nun ließ sie ihn fallen und warf sich 72
in meine Arme. Dina van Velsen erdolchte die Weimarerin mit Eifersuchtsblicken. »Das ist meine Freundin Tessa Hayden«, stellte ich die Fahnderin vor. »Kommissarin der Kripo Weimar. Und diese Lady ist Brigadier Dina van Velsen, Stadtpolizei Amsterdam.« Die beiden Frauen reichten sich die Hände. Es war Abneigung auf den ersten Blick. »Interessant«, bemerkte die Holländerin frostig. »Und wieso sind Weimarer Beamte mitten in Amsterdam im Einsatz? Haben Sie daheim nicht genug Verbrechen, die es aufzuklären gilt?« »Das nennt man Amtshilfe, Brigadier«, mischte sich nun ein rotgesichtiger Overallträger ein. Er stellte sich mir als Commissaris Doorn vor. »Ich war es, der Mijnheer Langenbach und Mevrouw Hayden angefordert hat. Bis heute habe ich nicht an diese Geschichten mit den lebenden Leichen geglaubt. Bis heute…« wiederholte er mit Blick auf die Ghul-Überreste um uns herum. »Aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Dina. Und deshalb habe ich einen Mann angerufen, der wohl öfter mit Schurken aus dem Jenseits zu tun hat. Peter Langenbach.« Der Holländer klopfte seinem deutschen Kollegen auf die Schulter. »Wir haben beschlossen, daß er und Mevrouw Hayden sofort persönlich kommen und uns bei dem Einsatz, helfen. Nachdem wir deinen letzten Telefonbericht über dieses Haus erhalten haben, sind wir gestartet. Wir mußten uns nur noch die 'Apaches' von der Armee ausleihen.« »Grenzübergreifende Zusammenarbeit«, ergänzte Pit. »Wenn holländische Polizisten Drogenkuriere bis nach Aachen und Münster verfolgen dürfen, können wir auch in Amsterdam Ghuls jagen!« Wir lachten. Da bemerkte ich, wie die Hauptperson dieses denkwürdigen Tages still und mit hängenden Schultern neben mir stand. »Vincent, mein Freund«, sagte ich und schüttelte ihm die Hand. »Du hast ein echtes Wunder vollbracht. Ich verstehe allerdings immer noch nicht, was es mit diesem Partherkönig auf sich hat. Bist du Tiridates? Oder ist er du?« Vincent van Euyen grinste wehmütig, »Wenn ich das nur selbst wüßte, Mark. Seele des Menschen - wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen - wie gleichst du dem Wind!« 73
Die vollbusige Blondine schmiegte sich an den Reporter. »Wie poetisch, Vincent!« »Kein Wunder!« säuselte mein Freund. »Das war ja auch ein Zitat von Goethe.« In diesem Moment kam einer der Polizisten im Kampfanzug und erstattete bei Commissaris Doorn zackig Bericht. Die Miene des Holländers verfinsterte sich. »Die Bestien sind vernichtet. Bis auf eine. Sie hat einen meiner Leute getötet und ist durch die Gracht entkommen. Dieser Ghul mit den Ohrringen und dem Gehrock…« »O nein!« Ich faßte mir an die Stirn. »Ausgerechnet ihr Anführer konnte flüchten. Der Konsul!« »Wenn's weiter nichts ist«, tönte Vincent ausnahmsweise überheblich. »Ich weiß, was dieser Aasfresser plant…« * Johan Swart tauchte bis auf den Grund der Gracht. Nur einmal hob er noch den Kopf, als er schon einen Sicherheitsabstand zwischen sich und diese verdammten Flugmaschinen gebracht hatte. Sie standen immer noch in der Luft gegenüber von seinem Haus. Sein Haus mit den reichlich gefüllten Vorratskellern. Er würde es wohl nie wiedersehen! Eiskalte Wut befiel ihn. Noch nie hatten es die Menschen gewagt, sich ihm entgegenzustellen. In den vielen Jahrhunderten seines untoten Lebens hatte er immer genügend Opfer gefunden, die um Gnade gewinselt hatten. Und das gefiel dem brutalen Dämon natürlich besonders gut. Seine Rache würde furchtbar sein. Während er diesen Entschluß faßte, schwamm er mit kräftigen Stößen die Keizersgracht hinunter. Nach einem Umweg über die Brouwersgracht gelangte er in den Amsterdamer Hafen. Johan Zwart brauchte dringend Verstärkung. Ergebene Untote, die ihm in seinem Kampf zur Seite standen. Wenn er sie erst mal aus ihren Gräbern geholt hatte, würden sie schon bald danach lechzen, selber Leichen verspeisen zu dürfen. Er kannte das. Schließlich hatte er schon genug friedliche Tote zu seinesgleichen gemacht. Zu gierigen Ghuls. Und an dem Platz, an den er sich erinnerte, gab es reichlich 74
»Rekruten« für seine Leichenfresser-Armee. Dort, wo ein ganzes Dorf vor langer Zeit aufgegeben worden war, als die Deiche brachen. Zwischen Monnickendam und Katwoude. Dort wartete ein ganzer Friedhof voller Kadaver auf ihn… * Die Nacht war ruhig. Hier, am Ortseingang von Monnickendam, deutete nichts auf die pulsierende Metropole Amsterdam hin, die sich nur wenige Kilometer südwestlich von hier befand. Der kleine Ort schien ein verschlafenes Fischernest zu sein. Halb zugepflastert mit Wochenendhäuschen der gestreßten Großstädter. Zwischen dem untergegangenen Dorf und dem Ijsselmeer befand sich eine Landzunge. Wer immer den Friedhof auf dem Meeresgrund erreichen wollte, mußte diesen Streifen Land überqueren. Also brauchte ich nur geduldig zu warten. Und ich wurde nicht enttäuscht. Noch einige Stunden vor Mitternacht hörte ich plötzlich ein platschendes Geräusch. So, als ob ein amphibisches Großtier an Land kommen würde. Von meinem Beobachtungsposten aus hatte ich einen guten Ausblick. Wozu auch das Nachtsichtgerät beitrug, das mir die holländische Polizei geliehen hatte. Deshalb wußte ich genau, daß dort kein Tier kam. Allerdings auch kein Mensch. Halb aufgerichtet erschien der Ghul auf dem schmalen Strandstreifen. Johan Swart tat genau das, was Vincent vorausgesagt hatte. Es war wirklich erstaunlich. Das Wasser floß aus dem schweren Gehrock des Ghulherrschers. Einem Menschen hätte es Probleme bereitet, mit dieser vollgesogenen Kleidung zu schwimmen. Aber Johan Zwart mußte man mit anderen Maßstäben messen. Ich wartete, bis er nahe genug an mich herangekommen war. Dann trat ich aus meinem Versteck hervor. »He, Aasfresser!« Nun erst hatte mich der Ghul wahrgenommen. Kein Wunder. Ich hatte kombiniert, daß er als Schwarzblüter meinen geheimnisvollen Ring mit seiner starken Ausstrahlung wittern würde. Darum hatte ich das Kleinod in Tessas Verwahrung 75
belassen. Trotz ihrer Proteste war sie in Amsterdam geblieben. Ich wollte diese Revanche allein durchstehen. Dem Wesen gegenübertreten, das mich getötet hatte. »Mark Hellmann!« In dem fahlen Mondlicht sah ich, wie sich die Visage des Konsuls verzerrte. »Bist du eine Katze, die neun Leben hat? Dein Freund Tiridates macht es wohl möglich, wie? Aber nicht, wenn ich dich erst einmal verspeist habe!« »Laß den Unsinn!« knurrte ich. »Kämpfen wir lieber. Mann gegen Mann. Oder Mann gegen Aasfresser, genauer gesagt.« »Du hast ein vorlautes Maul, Mark Hellmann. Zu meiner Zeit hat man solchen Kerlen wie dir die Zunge herausgeschnitten!« Er zog seinen langen Dolch, mit dem er mich vor kurzem ermordet hatte. Ich folgte seinem Beispiel. Aus meinem Gürtel zog ich den armenischen Silberdolch, den Pit ebenfalls aus Weimar mitgebracht hatte. Als Polizeibeamter durfte er natürlich bewaffnet fliegen. Außerdem hatte man Tessa und ihn in einer Luftwaffenmaschine nach Amsterdam gebracht. Da galten sowieso andere Spielregeln als in der zivilen Luftfahrt. Ich war nach der Befreiung aus dem Ghulhaus von einem Polizeiarzt gründlich durchgecheckt worden. Bis auf eine gewisse Blutarmut fehlte mir anscheinend nichts. Sogar die Narbe an meinem Hals war kaum noch zu sehen. Allerdings hatte ich sie auch mit der heilenden Funktion meines Siegelringes »nachbehandelt«… Der Konsul und ich umkreisten uns lauernd wie zwei jugendliche Schläger kurz vor dem Kampf. Die frische Brise von der Nordsee her machte sogar den Ghulgestank halbwegs erträglich. Johan Zwart stieß vor. Aber es war nur eine Finte gewesen. Er täuschte nochmals an, warf dann blitzschnell sein Messer von der einen in die andere Hand. Ein guter Trick. Fast wäre ich darauf reingefallen. Nun kam die Klinge von links. Und näherte sich bedrohlich meinem Rippenbogen. Aber ich tauchte noch rechtzeitig weg. Nebenbei verpaßte ich dem Ghul eine trockene linke Gerade. Er würde es zwar nicht so spüren wie ein menschlicher Gegner. Aber es konnte nichts schaden, ihm ein paar Dinger unterzujubeln. Mein Gegenangriff kam überraschend. Trotzdem traf ich den Körper des Untoten nicht. Lediglich sein Gehrock wurde aufgeschlitzt. Das reichte leider nicht aus, um ihn zu vernichten. Johan Zwart konnte einen Tritt bei mir landen. Ich taumelte 76
zurück. Mit einem gräßlichen Röhren stürzte sich der Unheimliche auf mich. Seine gelben Zähne gierten danach, in mein Fleisch zu schlagen. Ich machte eine Rolle rückwärts. Damit hatte er nicht gerechnet. Und dann setzte ich alles auf eine Karte. Am Boden kniend warf ich meinen armenischen Silberdolch nach meinem Gegner. Die Klinge drang in seinen untoten Leib wie ein heißes Messer in Butter. Johan Zwart jaulte noch einmal auf. Dann erstrahlte sein uralter untoter Leib in dem gleißenden Licht der Weißmagie, die ihr Werk tat. Wie ein reinigendes Gewitter. Was dann nach wenigen Sekunden zu Boden sank, war nur noch Schlacke. Der letzte Grachtenghul von Amsterdam hatte aufgehört zu existieren. * Ich lag auf dem Hotelbett im »Die Port van Cleve«. Nach der Begegnung mit den Schattenseiten der holländischen Hauptstadt hatte ich mich entschlossen, noch zwei, drei Tage Erholung dranzuhängen. Wer weiß, was mich in Weimar schon wieder erwarten würde. Es polterte an der Tür. Dann öffnete sie sich einen Spalt breit. Meine Hand zuckte zur SIG Sauer. Aber mein Ring reagierte nicht. Kein Wunder. Es war ja auch kein schwarzmagisches Wesen, sondern Tessa. Allerdings brauchte ich einen Moment, um meine Freundin zu erkennen. Ihr Gesicht war nämlich hinter einem Turm von Paketen versteckt, die sie vor sich herschleppte. Ich stieß langsam die Luft aus. Meine Nerven waren wirklich nicht die besten. Etwas Entspannung würde mir guttun. »Was hast du denn da?« fragte ich. Schnaufend stellte Tessa ihre Last ab. Genau wie Pit hatte sie als Belohnung für den gefährlichen Einsatz Sonderurlaub bekommen. Vom thüringischen Innenminister persönlich. Der Bürgermeister der Stadt Amsterdam hatte sich nämlich bei ihm für die Heldentaten seiner Beamten bedankt… »Ein paar Kleinigkeiten, Mark. Ich verstehe überhaupt nicht, daß du hier so faul rumliegen kannst! Amsterdam ist ein einziges 77
Shopping-Paradies. Ich war mit Dina einkaufen…« »Mit Dina?« Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Klar! Wir beide sind jetzt so!« Sie legte Zeigefinger und Mittelfinger übereinander. »Wir haben so viel gemeinsam! Arbeiten beide für die Polizei, interessieren uns für Sport…« … und für denselben Mann, ergänzte ich in Gedanken. Aber ich schaffte es dieses eine Mal, meine große Klappe zu halten. »Zeig mir doch mal deine - Kleinigkeiten«, bat ich Tessa unschuldig. Offenbar tat sie nichts lieber als das. Während sie auspackte, plapperte meine Freundin weiter. »Hier sind Schuhe aus der Kalverstraat. Topmodern. In der Kalverstraat gibt es ein Schuhgeschäft neben dem anderen. Und dieses Sommerkleidchen ist eigentlich viel zu teuer. Aber süüüüüß, oder? Gefallen dir diese kleinen Holzschuhe, Mark? Ein Andenken - echt holländisch eben…« »Keine Plüschtiere?« Diese Frage hatte ich mir nicht verkneifen können. Wenn Tessa von ihrer neuen Freundin Dina geschmacksmäßig angesteckt worden war, konnte ich mich schon mal auf die Invasion der rosa Elefanten und blauen Riesenmäuse gefaßt machen. Immer noch besser als Ghuls und Werwölfe. Doch statt einer Antwort fing ich einen seltsamen Blick von Tessa auf. Wortlos verschwand sie mit einem Päckchen im Bad. Hatte ich sie gekränkt? Doch bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte, kehrte sie zurück. In einem absolut sündhaften Neglige. Schwarzen Strümpfen mit Naht und hochhackigen Pumps. Ihre Figur kam in dieser Verpackung betörend zum Ausdruck. Es verschlug mir glatt den Atem. »Dina hat mir auch das Nuttenviertel gezeigt«, berichtete Tessa im Plauderton. »Es wird 'de Walletjes' genannt. Dort sitzen die Girls in den Schaufenstern, während solchen lüsternen Typen wie dir die Zunge bis auf den Boden hängt. Da wollte ich mal ausprobieren, wie so ein Löcherbody an mir auf dich wirkt…« Ich federte vom Bett hoch und kam auf sie zu. »Er steht dir prima.« »Das könnte ich auch von dir behaupten.« Mit gespielt zittriger Hand zeigte Tessa auf meinen Gürtel. »Wie meinst du?« stellte ich mich dumm. Tessa bog den Kopf zurück und bot mir ihre feuchten Lippen an. 78
»Küß mich endlich! - Nimm mich!« Tja, Freunde, da mußte ich ran. Endlich. Und es gab noch lange kein…
ENDE
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