W. J. TOBIEN
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Die grauenvolle Nacht und 10 andere Horror-Stories
ZAUBERKREIS-VERLAG 7550 RASTATT Copyright 1976 by ...
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W. J. TOBIEN
1
Die grauenvolle Nacht und 10 andere Horror-Stories
ZAUBERKREIS-VERLAG 7550 RASTATT Copyright 1976 by Zauberkreis-Verlag, 7550 Rastatt, Karlsruher Straße 22 Printed in Germany
INHALT Die grauenvolle Nacht Die Lektüre Verständnis Fleischfresser Phänomen der Angst Was ist denn schon dabei? Fluch der Maschine Camping Mutter Cäsar Debbie 2
DIE GRAUENVOLLE NACHT Maud Deigstra hatte keine Sorgen und kannte das Wort »Problem« nur vom Hörensagen. Deshalb war es durchaus verständlich, daß sich ihre Eltern wunderten, als sie merkten, wie mit Maud eine Veränderung vorging. Philip Deigstra rief Dr. Wieman zu Hilfe. Aber auch sein Freund konnte kein zufriedenstellendes Gutachten abgeben, zuckte nur mit den Schultern, und sagte. »Das wird sich schon legen, Philip.« Doch Mauds Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag. Sie erschien nicht mehr zum gemeinsamen Essen. Das einzigste, was sie noch regelmäßig einhielt, waren die Verabredungen mit ihrem Freund, einem jungen Mann namens Peer Zarakow. Ihre Eltern versuchten vergeblich Kontakt zu dem jungen Mann zu schließen. Er kam mal in der Woche auf einen Drink herein, doch war er bei diesen Anlässen so verschlossen, daß Mauds Mutter ein unheimliches Gefühl beim Anblick des jungen Mannes nicht verleugnen konnte. In den Zeiten des Zusammenseins mit Zarakow lebte Maud auf. Dann sprach sie fröhlich wie eh und je, lachte herz erfrischend und war ganz die alte Maud. Wenn Zarakow gegangen war, ging eine seltsame Verwandlung mit ihr vor. Ihr Gesicht 3
wurde schlagartig ernst, sie verstummte, und dann ging sie langsam nach oben in ihr Zimmer und verriegelte die Tür. So ging es Woche für Woche. Zarakow kam, Maud lebte auf, um hinterher in eine noch schwerere Apathie zu verfallen. Es kam so weit, daß ihre Eltern den Besuch des jungen Mannes herbeisehnten, brachte er es doch fertig, ihnen Maud für ein paar Stunden so zu geben, wie sie sie kannten! Als Maud mit der Bitte herausrückte, mit Zarakow auszugehen, konnten ihre Eltern ihr kein »nein« entgegenhalten, denn sie hatte im Anschluß ihrer Bitte die Äußerung getan: »Wenn ihr es mir verbietet, laufe ich weg!« Als der Abend nahte, ging ihre Mutter hinauf und suchte ein klärendes Gespräch. Als sie eintrat, ohne vorher anzuklopfen, fand sie Maud auf dem Boden sitzend vor, auf ihren Knien ein dunkelrotes Buch von enormen Ausmaßen. Die Seiten, in denen sie blätterte, waren vergilbt und brüchig. Als Maud ihre Mutter gewahrte, erschrak sie und schlug das Buch zu. »Was willst du hier«, fragte sie, und versuchte dabei mit einer Hand den Titel zu verdecken. Doch ihre Mutter hatte schon genug gesehen. Ihre Beine gaben nach, und mit einem Seufzen ließ sie sich auf den Sessel hinter ihr fallen.
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»Was liest du da für ein Buch, Maud? Schämst du dich nicht, daß du noch vor kurzer Zeit eine Bibel in denselben Händen hieltest?« »Die Bibel?« Maud lachte gequält auf, »die Bibel, da liegt sie, ich brauche sie nicht.« »Kind!« Entsetzen schwang in ihrer Stimme mit, sie verschloß rasch die Augen, als sie die schwarz eingefaßte Bibel zerrissen und zerfleddert auf dem Boden liegen sah. »Aus dir spricht der Satan.« Ihre Stimme zitterte. »Du verleugnest dich.« Sie bekreuzigte sich. »Laß das«, schrie Maud verzweifelt. Als ihre Mutter das Kreuzzeichen schlug, hatte Maud sich herumgeworfen. Sie preßte die Hände vor das Gesicht. »Geh«, ihre Stimme überschlug sich, »geh, in Teufels Namen, geh!« In den Augen ihrer Mutter spiegelte sich die personifizierte Angst. Maud sprang auf, ergriff das rote Buch, preßte es fest an ihre Brust und murmelte eine Beschwörungsformel Luzifers. Ihre Mutter rannte wie von Furien gehetzt hinunter und stürzte in die Arme ihres Mannes, der sie verwundert und überrascht umschloß. »Du siehst aus, als sei dir der Leibhaftige begegnet, Schatz.« Philipp Deigstra lächelte. »Maud«, sagte seine Frau, »Maud, unser Kind ruft den Teufel, o Philipp, das ist entsetzlich.« Sie fing an zu schluchzen.
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Beruhigend strich er über ihr Haar. Natürlich war das Unsinn, was sie ihm da erzählte. Sie war ein bißchen verwirrt, zugegeben, aber deshalb brauchte sie nicht gleich solch haar sträubende Geschichten zu erfinden. »Beruhige dich erst mal, Belinda.« Er führte sie zu einem Sessel und drückte sie darauf nieder. »Nun erzähle mir alles noch mal in Ruhe, ja?« Belinda berichtete, was sie gesehen und erlebt hatte, und sein Gesicht wurde immer ernster. Nachdem sie geendet hatte, saß er ihr gegenüber und starrte zu Boden, lange Zeit, ohne ein Wort von sich zu geben. Als Philip Deigstra in meiner Praxis auftauchte, war ich doch überrascht. Wir waren zwar Klassenkameraden gewesen, hatten aber wenig Sympathien füreinander empfunden. Schon damals besaßen wir verschiedene Charaktere und gerieten oft aneinander. Daß Philip bei mir erschien, mußte folglich einen triftigen Grund haben, sonst wäre er zu meinen Kollegen gegangen. »Kollegen« muß ich in Anführungsstrichen sagen, denn unsere Sparte war eigentlich kein Beruf. Ich bin Wissenschaftler, Doktor der Medizin, übe aber dieses Wissen schon seit langem nicht mehr aus. Mein Spezialgebiet war seit Jahren die Bekämpfung des Bösen, speziell Teufelsaustreibung.
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»Was führt dich zu mir?« Ich bot ihm keinen Platz an, denn er hätte ihn ohnehin nicht angenommen. »Du mußt uns helfen«, sagte er mit seiner schwerfälligen Stimme. Ich merkte, daß es ihn plagte, mich um einen Gefallen zu bitten. »Um was handelt es sich? Du weißt, daß ich meine eigentliche Praxis nicht mehr ausübe. Was willst du also von mir?« Er druckste herum. Es störte mich nicht, ihn hilflos zu sehen. »Willst du nicht deutlicher werden?« drängte ich. »Also gut.« Er streckte sein Kinn vor und machte einen energischen Eindruck. So kannte ich ihn, das war der alte Philip Deigstra. »Meine Tochter Maud gehört anscheinend irgendeinem Teufelskreis an. Meine Frau und ich machen uns deswegen Gedanken. Kennst du einen gewissen Peer Zarakow?« Bei der Nennung des Namens horchte ich interessiert auf. »Sagtest du eben Zarakow?« vergewisserte ich mich. »Ja, weshalb, was ist mit ihm?« »Woher kennt ihr ihn?« fragte ich. »Setz dich doch«, bat ich ihn. Philip nahm Platz. »Maud hat ihn uns vorgestellt, wir selber haben ihn nur ein paarmal gesehen. Kennst du ihn?« Und ob ich Zarakow kannte. Meine Gedanken überschlugen sich. In meinem Kopf spürte ich das 7
schmerzhafte Ziehen, was sich immer bei Gefahr aus einer anderen Welt anzeigte. Philip hatte anscheinend bemerkt, wie ich erblaßte. »Was ist mit ihm?« schnappte er, »du kennst ihn doch, sag doch schon! Ike, was ist mit diesem Zarakow?« Ich überlegte rasch. Sollte ich Philip die Wahrheit sagen? Wahrscheinlich glaubte er mir nicht mal, denn die meisten Menschen hatten kein Gespür und schon gar keinen Glauben an etwas Übersinnliches, und Zarakow war ein übersinnliches Wesen, oder wie man sonst zu einem Vampir sagt. »Ist deine Tochter mit ihm befreundet?« fragte ich. »War sie schon mal allein mit ihm? So rede doch, Mann!« »Ja«, antwortete er mir, »sie ist mit ihm befreundet, und seit dem ist sie auch so sonderbar. Was soll das, Ike, was bedeutet das?« Ich blieb ihm fürs erste die Antwort schuldig. Was hätte ich auch sagen sollen? In meinem Schädel rumorte es wie verrückt. Zarakow war also wieder unterwegs. Das war eigentlich zu erwarten gewesen. Und nicht mal den Namen hatte er gewechselt. Warum eigentlich, überlegte ich, niemand kannte ihn, niemand wußte, wer er war und vor allen Dingen, was er war. Er hatte also nichts zu befürchten. Und daß der Vater seines neuen Opfers ausgerechnet ein Klassenkamerad von mir, von Ike Deventish, war, konnte er natürlich nicht ahnen. Ich entschloß mich rasch zu handeln. 8
»Wohnst du noch in deinem alten Haus?« »Ja, wieso?« »Ich werde mitkommen und mir deine Tochter ansehen, wenn du nichts dagegen hast. Deiner Frau kannst du ja erzählen, ich sei Arzt, was ja in gewissem Sinn auch richtig ist.« »Das wird wohl das beste sein, Ike.« Ich erhob mich hinter meinem Schreibtisch, ergriff den kleinen Schweinslederkoffer mit den wichtigsten Utensilien, die ich vielleicht brauchen würde, dann gingen wir zu seinem Wa gen und fuhren zu ihm nach Hause. Er hatte eine nette Frau. Ich kannte sie noch nicht. Er stellte mich unter meinem richtigen Namen vor und sagte, daß ich ein guter Arzt sei, der ihrer Tochter helfen wolle. Seine Frau machte einen apathischen Eindruck. Ihre Bewegungen waren zu langsam und wirkten zu stilisiert. Dann machte er mich mit seiner Tochter bekannt. Als Maud mir ins Gesicht sah, schlug mein Herz schneller. Ich spürte es, mit jeder Faser meines Körpers, ein jeder Gedanke wisperte mir zu: Vorsicht! Vor mir stand eine Infizierte, ich blickte in die Augen eines Vampirs. Beim Abendbrot saßen wir uns gegenüber. »Der Salat ist Ihnen ausgezeichnet gelungen, Belinda«, lobte ich Philips Frau. »Sie sind, so glaube ich, der geborene Schmeichler, Ike.« In den wenigen Stunden meines 9
Hierseins war sie ein wenig auf gelebt. Vielleicht lag es daran, daß sie unbewußt die Hilfe spürte, die von mir ausging, die Kraft, die es mir ermöglichte, mit dem Bösen fertig zu werden. Nach dem Essen räumten die beiden Frauen den Tisch ab, während Philip und ich hinüber in sein Arbeitszimmer gingen, Zigarren anrauchten und Kognak tranken. »Haben die beiden keinen Verdacht geschöpft?« erkundigte er sich. Ich leerte mein Glas. Über den Rand des Schwenkers blickte ich ihn an. Er machte einen nervösen und fahrigen Eindruck. Was sollte ich ihm antworten? »Was sollen sie bemerkt haben, Philip?« Ich war noch nicht bereit, ihm die Wahrheit zu sagen, wahrscheinlich würde er mich für verrückt halten. Ich würde erst mal abwarten. Vor eilige Offenbarungen waren nicht angebracht. »Wie spät ist es?« fragte Philip. Ich schaute auf meine Armbanduhr. »Halb acht.« »Dann wird er gleich kommen.« Ich nickte. Zarakow war pünktlich, das wußte ich. In mir stieg eine bisher unbekannte Angst hoch; als es klingelte, zerbrach das Glas zwischen meinen Fingern. Ich wickelte mir mein Taschentuch um die Hand.
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Wir hörten Mauds leichte Schritte. Sie lief zur Tür. Dann hörte ich Zarakows Stimme. Sie war vornehm und leise, und trotzdem verstanden wir jedes Wort. »Du kommst heute spät, Peer«, sagte Maud. Danach war es einen Moment ruhig. Wahrscheinlich küßte er sie. »Zehn Sekunden, Maud, ganze zehn Sekunden«, sagte Zarakow, »ich wurde aufgehalten.« Sie kamen den Flur entlang. Vor der Tür zu Philips Arbeitszimmer verhielten sie. Ich spürte Zarakow, und der spürte mich auch. »Habt ihr Besuch? Wer ist da drin?« »Ein Freund meines Vaters«, antwortete Maud. Ich sah Philip an. Er war blaß geworden. Seine Hände zitterten, als er mir ein neues Glas reichte. »Komm«, sagte ich zu ihm, »laß uns rausgehen und Zarakow begrüßen!« Er nickte knapp. Mein Herz schlug bis zum Hals, das Blut pochte durch meine Halsschlagader. Wir gingen ins Wohnzimmer. Da saßen die beiden Vampire. Zarakow sprang auf, als er mich sah. Mühsam preßte er die Lippen aufeinander. Während ich auf ihn zuging, die Hand ausgestreckt, öffnete ich mit der anderen meinen obersten Hemdknopf und zog das kleine Kreuz, das ich an einem goldenen Kettchen trug, heraus. Es baumelte auf meiner Krawat-
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te hin und her und spiegelte das Licht des Lüsters wider. Zarakow schlug die Augen nieder, als er mir die Hand schüttelte, und Maud rannte aus dem Zimmer. Philip hatte von dem Vorfall nichts bemerkt. »Freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte ich und hielt seine kühle Hand fest. Zarakows hübsches Gesicht verfinsterte sich, er zischelte, dann räusperte er sich. Ich wußte, daß seine beiden langen Reißzähne wieder zurückgegangen waren, denn jetzt öffnete er seine Lippen und zeigte zwei Reihen weißer, gleichmäßiger Zähne. »Angenehm, Dr. Deventish.«immer noch blickte er an mir vorbei. Rasch steckte ich den Kreuzanhänger wieder zurück. Zarakow hatte meine Bewegungen aus den Augenwinkeln verfolgt. Ausatmend sah er mir jetzt ins Gesicht. »Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen, Doktor.« »So?« »Mister Deigstra«, wandte er sich an Philip, »leider habe ich heute nicht mal Zeit für einen Drink, Sie entschuldigen, daß ich gleich wieder weg muß?« Philip nickte. »Aber natürlich.« »Es hat mich gefreut, Sie wieder mal zu sehen, Doktor, unsere letzte Begegnung war ja etwas ungewöhnlich in ihrer Art.«
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Da hatte er recht. In monatelanger Kleinarbeit hatte ich seinen nächtlichen Unterschlupf ausgemacht. Ich versteckte mich kurz vor dem Dunkelwerden in seinem Zimmer. Zehn Minuten nach Mitternacht kam er. Er hatte ein neues Opfer gesucht und auch gefunden, wie ich an seinem Mund sah. Noch immer lief eine Blutspur an beiden Mundwinkeln herab bis zum Hals. Er entdeckte mich, in der Dunkelheit konnte ich das rettende Kruzifix nicht finden und mußte flüchten, als er auf mich losging. Seitdem war er untergetaucht bis heute. Ohne Verabschiedung verließ Zarakow das Zimmer. Nachdem er draußen war, ließ ich mich der Länge nach auf ein Sofa fallen. Das Böse war mir soeben in seiner Karnation entgegengetreten. Das Böse in einer solchen Leibhaftigkeit wie es schlimmer nicht ging. Mir fielen die Schriftsteller ein, die über Vampire phantasiert hatten, Bram Stoker mit seinem schon klassischen Dracula. Doch was war das alles gegen das eben Erlebte? Es gab Vampire, und ich hatte eben mit einem gesprochen, hatte ihm die Hand gegeben und gespürt, wie ihm bei meinem Anblick die Reißzähne gewachsen waren. Als ich am Nachmittag Maud sah, war das Gefühl der Ohnmacht nicht so stark gewesen. Sie war auch ein Vampir, aber mit ihr würde ich fertigwerden. Doch gegen Zarakow? 13
Philip ließ mich in Ruhe. Er stand vor dem Kamin und starrte in das flackernde Feuer. Ich wußte nicht, ob er allmählich etwas zu ahnen begann, oder ob er noch in seiner Naivität dem Übersinnlichen verschlossen gegenübertrat. Kurz darauf kam Belinda ins Zimmer. Ihr Gesicht war verweint. »Maud ist mit ihm gegangen«, sagte sie unter Tränen, »einfach mit ihm gegangen, ohne ein Wort zu sagen, o Philip, ich verstehe sie nicht mehr.« Dann fiel ihr Blick auf mich. Ich erhob mich, langsam ließ die Spannung in mir nach, meine Beine trugen mich wieder sicher. »Sie kommt schon wieder, Belinda«, sagte ich bestimmt. »Be ruhigen Sie sich!« Sie nickte ohne Sinn, immer wieder; Philip nahm sie in sei nen Arm und gab ihr Halt. Er führte sie aus dem Zimmer. Unter der Tür drehte er sich um und sagte zu mir: »Ich bringe meine Frau auf ihr Zimmer, warte so lange. Im übrigen wäre es mir lieb, wenn du heute nacht bei uns bleiben würdest, Ike. Geht das?« »Gern«, antwortete ich, »auf mich wartet sowieso niemand.« Heute nacht würde ich hier schlafen, und heute nacht würde ich Zarakow wiedersehen, das wußte ich, und das Wissen ließ mich erschauern und trotzdem die Begegnung herbeisehnen. 14
Es ging auf die elfte Stunde zu. Wir saßen zu dritt in gemütlicher Runde. Mrs. Deigstra hatte sich wieder unter Kontrolle. Um 22 Uhr hatte sie uns einen schmackhaften Imbiß serviert. Pumpernickel mit Butter, Tomatenscheiben und Salatblättern, dazu Erdbeeren mit Syrup. Philip hatte aus seinem Arbeitszimmer einen vorzüglichen Sherry geholt. Zeitweilig kam sogar gute Laune auf, dann lachten wir gemeinsam, scherzten über vieles und sprachen ordentlich dem alten Sherry zu. Kurz vor dem Zubettgehen hatte Belinda einen reizenden Schwips. Ihre Augen strahlten glücklich. Anscheinend schienen die letzten Tage aus ihrem Gedächtnis gestrichen zu sein. Philip betrachtete wohlwollend seine Frau und freute sich daran, wie sie in unserer Gesellschaft aufzublühen begann. Wir beide sprachen viel aus unserer Schulzeit und entdeckten seltsamerweise viele Gemeinsamkeiten. Immerfort drohte Belinda mit ihrem Finger, wenn wir von der Studentenzeit er zählten. Wir waren zusammen in Europa gewesen. Ich belegte mehrere Semester Medizin, Philip Physik. In Heidelberg trieben wir es reichlich toll. Es war direkt ernüchternd, als die Uhr halb zwölf schlug. Es war nur ein dunkler, wohlklingender Gong, dennoch ließ er mich zusammenfahren. Meine Blicke suchten das Zifferblatt der Standuhr, und ich sah den kleinen Zeiger kurz vor der 12 stehen. 15
»Es wird Zeit«, sagte ich und bedauerte gleichzeitig meine voreiligen Worte. Belinda richtete sich kerzengerade auf. Ihr Blick verdüsterte sich schlagartig. Auch Philips Miene veränderte sich. Die Angst war unter uns. Angst vor etwas Unwirklichem. Dabei wußte ich genau, wovor ich mich fürchtete. Nur die beiden nicht. Sie hatten es nur im Gespür, sie fühlten die Beklemmung, die sich auf einmal breit machte, und ich merkte es. Ich wußte, daß in wenigen Minuten ein Vampir das Haus betrat, ein Vampir, der sich von mir durchschaut fühlte. Ein Wesen das sich seiner Haut wehren würde, wehren mußte, wollte es weiter existieren und sein Unwesen treiben. Und nicht genug damit, so unreal das auch klang, sie würde Verstärkung erhalten, von ihrem Herrn, von Zarakow, dem Fürsten dieses Distriktes, und ich mußte mich beider erwehren. Würde mir das Kreuz helfen? Würde ich Gelegenheit erhalten, die beiden Höllenwesen zu vernichten? Philip erhob sich langsam. Was wäre, wenn ich die Deigstras bat, noch aufzubleiben bis zum frühen Morgen? Oder was, wenn ich mich jetzt verabschieden würde? Nein, es ging nicht mehr, ich mußte es durch stehen; eine fürchterliche Angstwelle schnürte mir die Kehle zu. Ich merkte, wie meine Hände unkontrolliert zitterten. »Dein Zimmer ist schon fertig«, sagte Philip. »Komm, ich bringe dich hinauf.«
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Als ich Belinda die Hand zum Nachtgruß reichte, schaute sie mich an wie eine Seelenlose. Was war los mit ihr? Wußte sie, worum es in dieser Nacht gehen würde? Ahnte sie die Zusammenhänge um ihr einziges Kind, um Maud? Ich wußte es nicht. Momentan hatte ich auch andere Sorgen. Mehrere Probleme hatten sich vor mir aufgetürmt, die bewältigt werden mußten. Das Zimmer war sehr hübsch; es gefiel mir sofort. Es war groß und geräumig. An der Schmalseite stand das Bett, breit und riesig mit einem scharlachroten Baldachin. Ein Fenster hatte das Zimmer und einen Zugang zum Balkon, genau nebeneinander. Das Mobiliar war sehr geschmackvoll, mit vielen Kleinigkeiten, die das Auge gar nicht bemerkte, die aber einfach zum gemütlichen Wohnen gehörten. Dicht neben der Tür stand eine kleine fahrbare Bar mit diversen Getränken und einer Unzahl verschiedener Gläser. Durst würde also niemand leiden müssen. »Schlaf gut«, wünschte mir Philip. Dann ging er und zog die Tür hinter sich zu. Ich war allein mit meiner unerklärlichen Furcht. Ich verstand mich selbst nicht. Des öfteren hatte ich schon mit dunklen Mächten ringen müssen, und niemals hatte ich ein auch nur unbehagliches Gefühl verspürt, diesmal war es anders. 17
Ich bemerkte eine Tapetentür. Mit gemischten Gefühlen ging ich langsam darauf zu und öffnete sie. Als ich in den anschließenden Raum sah, mußte ich lachen. Ich befand mich im Bad. Auf dem Frisiertisch stand alles, was man brauchte, bevor man ins Bett ging. Sogar eine frische Zahnbürste stand in einem blauen Becher, sowie Seife, Lappen und mehrere Handtücher. Ich bereitete mich auf die Nacht vor. Nach fünf Minuten lag ich im Bett. Das Licht ließ ich brennen wie ein kleines Kind, das die Dunkelheit fürchtet. Auf den Nachttisch neben mir hatte ich das silberne, stilisierte Kruzifix gelegt, so daß ich es mit raschem Griff an mich bringen konnte. Das Kreuz war ein Geschenk meines Vaters, eines streng gläubigen Katholiken. Ich warf einen kurzen Blick darauf und spürte, wie eine Sicherheit mich umfing. Ich legte meine Fingerspitzen auf die feine Silberarbeit. Sofort durchfuhr mich eine beruhigende Wärme, die meinen Körper gefangenhielt. Ich glaubte, ich habe minutenlang so gelegen, die Augen weit geöffnet und die linke Hand auf dem Kreuz. Wahrscheinlich kam ich dadurch wieder zu mir, weil mir die Hand weh tat. Ich nahm meine Armbanduhr ab, dabei sah ich die Zeit: wenige Minuten vor zwölf. Sofort fiel mir alles wieder ein, und die alte Angst beherrschte mich. 18
Bald war es soweit. Mein Gott, dachte ich, hilf mir, steh mir bei . . . Ich glaube sogar, daß ich gebetet habe. Noch gab das Licht mir Sicherheit. Doch ich wußte genau, ich mußte Maud aus der Reserve locken. Ich mußte das Licht ausmachen. Je länger ich es hinausschob, um so unsicherer wurde ich. Kurz entschlossen erhob ich mich noch mal und schaltete das Licht aus. Die Dunkelheit sprang mich an wie ein wildes, reißendes Tier. Meine Augen waren noch an das Licht gewöhnt, und so spiegelten sie mir schattenhafte Verzerrungen vor. Irgendein Gebilde, wolkenhaft, stand vor meinem Bett. Jetzt verwischte es, ballte sich in anderer Form wieder zusammen und täuschte mir Wahrnehmungen vor. Ich blinzelte wütend. So ein Unsinn! Der wabernde Nebel löste sich endlich von meinen Augen und ermöglichte mir wieder, die natürlichen Schemen der Möbel auszumachen. Langsam ging ich zum Bett und legte mich nieder. Der Baldachin über mir knisterte leise. Es war schwerer Brokat, der sich durch sein Eigengewicht nach unten bauschte. Wo gab es heutzutage noch Himmelbetten? Lachhaft so ein altmodischer Zopf. Ich starrte in die Dunkelheit und hing meinen Gedanken nach. 19
Die Uhr auf dem Nachttisch tickte in nervenaufreibendem Gleichklang . . . Im Erdgeschoß schlug die Standuhr Mitternacht. Ich zählte die einzelnen Schläge . . . neun, zehn, elf, zwölf. Es war soweit! In wenigen Augenblicken würde Maud zu rückkommen. Unter der Decke ballten sich gegen meinen Willen die Fäuste. Meine ganze Haltung war verkrampft. Plötzlich hörte ich unten die Haustür schlagen. Ich zuckte zusammen. Maud war gekommen, ein Vampir im Hause. Ich richtete mich halb auf, schüttelte das Kissen im Rücken zurecht und wartete. Maud kam leichtfüßig die Treppe herauf. Ich hörte es daran, weil die Stufen, wie in beinahe jedem alten Haus, heftig knarrten. Das Warten wurde schon nach wenigen Sekunden unerträglich. Ich wußte, Maud stand vor der Tür, ihre Finger würden jetzt gerade über die Klinke streifen. Endlich wurde die Klinke niedergedrückt. Ich hielt den Atem an; da schob Maud langsam die Tür auf und huschte herein. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, es sah aus, als ob sie Fähnchen hinter sich herzog, als sie auf mich zutrat. Ich sah nur ihre Konturen. Mit einem Satz war ich aus dem Bett, riß das Kruzifix an mich, sprang zur Tür und knipste das 20
Licht an. Den Anblick werde ich nie vergessen! Maud stand vor mir, das Gesicht vor Überraschung verzerrt. Ihr Mund war weit aufgerissen, und die spitzen Vampirzähne blitzten. Sie fauchte wie ein Tier, das man in eine Falle gelockt hatte. »Bleib, wo du bist und komme nicht näher«, sagte ich mit krächzender Stimme und zitterte dabei vor ungezügelter Furcht. Maud machte einen Schritt auf mich zu. Sofort streckte ich ihr das Kruzifix entgegen. Schreiend wich sie zurück, riß die Arme vor die Augen und hechelte mich an. »Bleib stehen«, schrie ich, »bleib stehen, ich will mit dir reden. Dann nehme ich das Kreuz weg, hörst du?« Wieder zischte es zwischen den Zähnen. Es war ein furchtbares Geräusch. »Setz dich drüben hin, Maud«, sagte ich, »versuch nicht, mir zu nahe zu kommen, sonst werfe ich das Kreuz auf dich!« »Nein«, schrie sie, »nehmen Sie das Kreuz weg, bitte!« Ich hielt es hinter meinen Rücken. Maud ließ die Arme sinken und sah vorsichtig zu mir her über, ihr Gesicht war entstellt. »Setz dich da hin!« Ich deutete auf den Sessel in der gegenüberliegenden Ecke. Sie folgte meiner Aufforderung. Ich ging zum Bett und setzte mich so, daß ich sie im Auge behal-
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ten konnte. Ihre Hände um krallten die Lehnen, sie blickte mich ängstlich an. »Wo ist Zarakow?« fragte ich sie. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. Beim Sprechen sah ich die beiden spitzen Zähne. Maud war noch so in Erregung, daß sich die Zähne nicht zurückgebildet hatten. »Wo warst du?« »Wir waren draußen am Strand.« »Habt ihr jemand . . .« Ich zögerte und scheute mich, das Wort auszusprechen, doch es nutzte ja nichts. »Habt ihr jemand gebissen?« »Der Fürst hat einen erlöst«, antwortete sie. Ich erstarrte. Zarakow hatte seiner Gefolgschaft einen Neuen einverleibt. Das war grauenhaft. Ich mußte diese arme, blutleere Kreatur finden, bevor sie in der nächsten Nacht ebenfalls auf Opfersuche ging. In meinem Koffer hatte ich vier Holzpflöcke, einen für Maud, einen für Zarakow, und nun würde ich noch einen benutzen müssen. Bei dem Gedanken schauderte ich. »Und du?« »Ich sollte Sie...« Maud vervollständigte den Satz nicht. Das brauchte sie auch nicht. Ich wußte ohnehin, welchen Auftrag ihr Zarakow gegeben hatte. »Wo hast du Zarakow kennengelernt?« fragte ich sie. Es war eigentlich nebensächlich, aber ich mußte mit ihr reden, und sie in Sicherheit wiegen,
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um ihr dann völlig überraschend den Pflock ins Herz zu rammen. »Auf dem College«, sagte sie. »Auf dem College«, wiederholte ich fassungslos. »Was hatte Zarakow da zu tun?« »Er hielt einen Vortrag über schwarze Magie.« Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Wenn er nun außer Maud noch mehr Medien kennengelernt hatte? »Hat er noch eine Freundin?« Sie schüttelte den Kopf. Maud war ein bildhübsches Mädchen. Auch ihre Erregung hatte sich allmählich gelegt. Langsam gingen die Zähne wieder in die Normalform zurück. Jetzt lächelte sie sogar, und das sah nett aus. »Nein«, sagte sie selbstsicher, »außer mir hat Peer keine Freundin. Das weiß ich sicher.« »Maud«, fragte ich erschüttert, »wie soll das mit dir weiter gehen?« Ihre Augen suchten die meinen. Sie besaß die schönsten Augen, die ich je gesehen habe. Ihre Pupillen schillerten verlockend, fluoreszierende Pünktchen faszinierten mich. Ihre Hände fuhren empor zu ihrem Kragen, langsam knöpfte sie ihr Kleid auf. Sie erhob sich mit gleitenden Bewegungen und schlüpfte aus ihren Sachen. Sie war höchstens zwanzig Jahre alt und sah entzückend aus.
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Meine Blicke glitten über ihren Körper. Das Kreuz hinter meinem Rücken brannte in meinen Händen. »Ich komme«, flüsterte sie. Verführerisch kam sie vorsichtig auf mich zu. Ich begehrte sie. Ich wollte sie besitzen. Sie kniete vor mir nieder und legte ihre Lippen auf meine Knie. Eine unbegreifliche Erregung machte sich in mir breit. Ein herrlicher Duft entströmte ihrem jungen Körper. Sie richtete sich auf und legte ihre Hände um meinen Hals. Ich spürte ihren Körper, ließ das Kreuz los und umschloß sie. Dabei arbeitete mein Gehirn weiter. Ich wußte, daß sie mich zu ihrem Geliebten machen würde unter der Bedingung, daß sie mein Blut trinken durfte. Eine süße Schwere überfiel mich. Sanft küßte sie meine Lippen, sie liebkoste mein Kinn und küßte meinen Hals. Ich merkte, wie ihre Zähne meine Halsschlagader suchten . . . dabei fiel ihr Blick auf das Kreuz hinter meinem Rücken. Mit einem tierischen Aufschrei wich sie zurück. Dieser Schrei brachte mich in das wahre Leben zurück. Maud stand vor mir, den Mund weit aufgerissen, ihre Reißzähne blitzten, ihr Speichel lief wie Blut an den Mundwinkeln entlang. Mit einem Faustschlag warf ich sie zu Boden. Ohnmächtig fiel sie vor meine Füße. Mauds Ge24
sicht war fürchterlich entstellt. Ihre Brust hob und senkte sich, und ich sah, daß sie bald wieder zu sich kam. Ohne lange zu überlegen, eilte ich zu meinem Koffer und holte einen Holzpflock. Ich drückte ihr die Spitze unter die linke Brust. Als der Pflock in ihr Herz drang, taumelte ich hoch und ließ mich neben ihr zu Boden sinken. Meine Sinne hatten sich vor Entsetzen verwirrt. . . * Als ich wieder zu mir kam, summte mein Schädel wie verrückt. Mein erster Blick fiel auf die tote Maud. Ein unerklärlicher Zwang veranlaßte mich, ihr die Augen zuzudrücken. Ihr Gesicht war immer noch verzerrt, aber es waren keine Anzeichen mehr von Vampirzähnen zu bemerken. Auf einmal spürte ich die Gegenwart eines anderen. Ich war nicht allein! Ruckartig fuhr ich herum. Wie eine Furie stürzte Belinda Deigstra auf mich zu, ihre beiden langen Zähne zielten auf meinen Hals. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und die Hände nach vorn gestreckt. Sie packte mich und warf mich zu Boden. Sie kämpfte wie eine Wahnsinnige, wie eine Tigerin, der man das Junge genommen hat. Sie biß in meine Hände und versuchte mein Blut zu saugen. Ich riß mich los. Das Entsetzen, die fürchterliche Überraschung verliehen mir Riesenkräfte. 25
Ich weiß nicht mehr zu sagen, was mich mehr mitnahm, die Angst vor dieser neuerlichen Gefahr oder der Schreck, als Mrs. Deigstra sich auf mich stürzte. Wir beide lagen aufeinander und kämpften um unser Leben, verbissen und mit letzter Kraftreserve, die unsere Körper her gaben. Sie hatte sich in mich verkrallt, meine Haut brannte, wo ihre Fingernägel blutige Spuren hinterließen. Es gelang mir, Mrs. Deigstras Hals zu packen. Ich sah, wie ihre ohnehin schon unnatürlich geweiteten Pupillen sich vergrößerten. Die Iris rötete sich, sie schnappte nach Luft, ihr Keuchen sagte mir, daß ich den erbarmungslosen Kampf gewinnen würde . . . Ich hatte sie erwürgt. Ich rollte sie von mir herunter. Sie kam quer über Maud zu liegen. Es war ein entsetzlicher Anblick. Meine Nerven waren überstrapaziert. Ich war selbst zum Tier geworden und hatte aus purem Selbsterhaltungstrieb gehandelt, ohne etwas dabei zu empfinden. * Es dauerte eine Weile, bis meine Erregung nachgelassen hatte. Ich vermied es tunlichst, die beiden anzuschauen. Daß die Mutter auch infiziert war, versetzte mir im ersten Augenblick einen Schock. 26
Philip? Was war mit Philip? War auch er ein Vampir? Siedendheiß überflutete mich eine neue Angstwelle. Wie konnte ich den Faktor außer acht lassen? Kam er nicht schon die Treppe hinauf, schlich er nicht leise in Richtung meines Zimmers? Ich war schon ganz verrückt. Morgen früh, oder besser gesagt heute, würde ich die Sache in einem anderen Licht sehen, das wußte ich. Das beste würde es sein, ich begab mich zu Philip. Kurz entschlossen warf ich mir einen Morgenmantel über- wahrscheinlich Philips – und ging ins Erdgeschoß hinunter. Da ich nicht wußte, wo ein Lichtschalter war, mußte ich mich die Treppe im Dunkeln hinuntertasten. Ich muß ehrlich sein und zugeben, daß mich bei diesem Unterfangen ein unangenehmes Gefühl beschlich. Abgesehen davon, daß ich auch die Treppe herunter fallen könnte. Am Fuß der Treppe trat ich einmal ins Leere, bis ich wußte, daß ich wieder ebenen Boden unter mir hatte. Meine Rechte strich fühlend an der Wand entlang, da spürte ich das Gehäuse eines Lichtschalters. Aufatmend knipste ich das Licht an und orientierte mich. Vor mir erstreckte sich der türlose Eingang des Wohnzimmers, rechts ging ein Korridor ab, und da 27
war es die zweite Tür auf der rechten Seite; Philip hatte sie mir gezeigt, mit dem Hinweis, daß ich mich ruhig an ihn wenden könne, wenn ich etwas benötigen sollte. Benötigen tat ich zwar nichts, aber mein Anliegen war so primär wie nur irgendwas in dieser grauenvollen Nacht. Genau gegenüber lag Belindas Schlafzimmer. Die Tür stand spaltbreit offen. In dem Zimmer brannte kein Licht. Ich stand vor Philips Tür. Einen Moment zögerte ich noch. Wie sollte ich ihm schonend beibringen, daß seine Frau und seine Tochter tot waren? Wie würde er reagieren? Würde er meine Warnung vor Zarakow ernst nehmen? Ich beschloß es zu versuchen. Was hatte ich noch zu verlieren? Ich klopfte hart gegen die Holzfüllung. Schon nach wenigen Augenblicken öffnete Philip die Tür. Ich wich entsetzt zurück, als ich in die Mündung einer Pistole blickte. Philip trug noch seinen Anzug, nachts um halb ein Uhr, sein Gesicht schien mir verschlossener als sonst. »Du hast sie getötet«, sagte er. »Komm herein!« Er machte den Eingang frei und ließ mich ungehindert ein treten. Dabei hielt er immer noch die Pistole auf mich gerichtet. Meine Verblüffung war nicht in Worte zu kleiden, als ich mich in einen bequemen Sessel setzte, und Philip mir gegenüber Platz nahm. 28
Er eröffnete das Gespräch. »Ich wußte schon seit ein paar Wochen, was mit Maud los war. Ja, ich sehe dir deine Verwunderung an, Ike, aber es ist wahr. Du wirst es nicht für möglich halten, aber Maud hat es mir selber erzählt. Es war ein riesiger Schock für mich, wie du dir vorstellen kannst, und es dauerte sehr lange, bis mein Fassungsvermögen so geweitet war, um das Unerklärliche auch nur annähernd zu verstehen. Anfangs hielt ich es für Wichtigtuerei, für einen – zugegeben – sehr schlechten Scherz meiner Tochter, aber dann sah ich sie eines Nachts nach Hause kommen. Ich sah ihre Zähne.« Philip machte eine längere Pause, die er dazu nutzte, um sich eine Zigarette anzuzünden, dann erzählte er zögernd und schleppend weiter. »Und ich sah das Blut an ihren Lippen. Ich dachte zuerst, daß ich es nicht überleben würde, ich dachte, du mußt irgendwas tun, zur Polizei gehen, einen Arzt holen, aber irgendwas machen und nicht starr vor Angst dazustehen und immer nur denken: jetzt ist es aus, jetzt geht es nicht mehr weiter, verstehst du das?« Mechanisch nickte ich mit dem Kopf. Seine Erläuterungen eben hatten mir das Gefühl einer totalen Ohnmacht gegeben, sie ließen mich erkennen, daß nicht nur ich innerlich mit über menschlichen Mächten ringen mußte. Philip schlug die Beine übereinander. Die Asche an seiner Zigarette wurde länger. Er schwieg, und an seinem Blick konnte ich eine gewisse Verlegen29
heit erkennen, und eine Kälte gleichermaßen, die von dem Pistolenlauf, der nur noch wie zufällig auf mich gerichtet war, unterstrichen wurde. Nach einer Weile des Schweigens – meine Gedanken wirbelten wie Kugelblitze durch mein Hirn — ergriff Philip wieder das Wort. »Ich habe es nicht fertiggebracht. Es ging einfach nicht, Ike. Und dann fielst du mir ein, ja – und da habe ich dich hierhergebeten und wußte gleichzeitig, daß du die einzig möglichen Schritte unternehmen würdest, und wie du ja selbst erlebt hast, enttäuschtest du mich auch nicht!« Seine Stimme schwankte zwischen Ironie und Zynismus, eigentlich unverständlich in diesem Moment, und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, der Gedanke fraß sich mit einer fast schmerzenden Vehemenz in mein Gehirn und grub sich ein. An dem Aufleuchten meiner Augen, was in Augenblicken der Erkenntnis unweigerlich passiert, schlußfolgerte er richtig, daß ich seinen Plan durchschaut hatte. Gleichgültig lud er die Pistole durch. »Du hast zu engstirnig gedacht, lieber Ike, aber du mußt mich auch verstehen«, seine Stimme klang nun wie die eines Jungen, der einem etwas Wichtiges zu sagen hat, »die Gesellschaft würde mich für verrückt erklären, wenn ich diese Sache publik gemacht hätte. Immerhin leben wir im zwanzigsten Jahrhundert, und da glaubt niemand 30
an Vampire, Werwölfe oder Ähnliches, so ist das nun mal. Wie sollte ich mich also wehren?« An und für sich brauchte Philip nicht deutlicher werden, aber um Zeit zu gewinnen, fragte ich ihn: »Und wie hast du es dir weiter vorgestellt? Glaubst du ernsthaft, mit dem Tod deiner Frau und deiner Tochter ist alles aus der Welt geschafft?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht ganz, da bist noch du! Ich werde gleich die Polizei anrufen und ihr sagen, daß ich dich überrascht habe. Entweder kommst du ins Gefängnis oder in eine Anstalt, wenn du ihnen deine Theorie über Vampire erzählst. So einfach ist das.« »Du vergißt Zarakow«, erinnerte ich ihn. »Oh, laß den jungen Mann aus dem Spiel, Ike! Ach, ich vergaß, willst du einen Schluck trinken?« »Danke, nein, ruf die Polizei«, forderte ich ihn auf. »Wie du willst, Ike.« Philip stand auf und ging zum Telefon. Er hob den Hörer ab, verständnislos schüttelte er ihn. »Nichts zu hören, kein Freizeichen, wieder mal eine Störung!« Meine Nerven begannen zu vibrieren. Ich wußte, wer die Leitung zerstört hatte. Zarakow war draußen im Garten, oder schon im Haus. Philips Haus lag abgelegen vor der Stadt. Es gab weit und breit keine Nachbar-Villa, zu der man hinübergehen konnte, um zu telefonieren.
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»Laß uns in die Stadt fahren, Philip«, sagte ich. Lieber saß ich eine Nacht im Gefängnis, als hier zu bleiben. »Gut«, erwiderte er, »ich hoffe, es stört dich nicht, wenn du im Pyjama fahren mußt. Jetzt sind ohnehin keine Menschen mehr auf der Straße!« Mir war alles recht. Wir gingen in die Garage. Philip knipste das Licht an. Der blaue Oldsmobile blitzte vor Lack. Wir stiegen ein, Philip startete. Nichts! Er versuchte es noch ein paarmal, mit dem gleichen Erfolg. Als ich ausstieg und nach vorn zur Motorhaube ging, hielt Philip die Pistole aus dem Fenster und zielte auf meinen Kopf. Ich öffnete die Haube. Philip stieg ebenfalls aus, weil er mich nicht mehr sehen konnte. Auf den ersten Blick sah ich die Bescherung. Der Verteilerfinger war weg. Zarakow mußte viel Zeit gehabt haben, denn er hatte auch sämtliche acht Zündkerzen herausgeschraubt, und zum Überfluß auch noch die Kabel durchschnitten. Ich sah Philip an. »So eine Bande«, sagte er ehrlich entrüstet. »Das ist nun schon das zweite Mal, wenn ich die mal erwische.« »Was machen wir nun«, fragte ich. »Wir gehen ins Haus und warten, bis es hell wird, dann ziehst du dich an, und wir nehmen den Bus, ganz einfach.«
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Er hatte im Augenblick den längeren Arm. Ich konnte nichts machen. Diesmal gingen wir gleich in sein Arbeitszimmer, und ich nahm auch einen Drink an. »Ich habe nichts gegen dich, Ike«, sagte er nach einem kräftigen Schluck, »aber jeder ist sich selbst der Nächste.« »Mich verwundert nur, daß du den Tod deiner Angehörigen so rasch überwunden hast. Außerdem verstehe ich deine Engstirnigkeit nicht.« »Was gibt es da nicht zu verstehen? Mit dem Tod meiner Frau und Tochter habe ich mich schon seit langem abgefunden, und inwieweit denke ich engstirnig?« »Zarakow ist auch ein Vampir. Er ist überhaupt daran schuld, daß die beiden auch zu welchen wurden, verstehe das doch endlich!« »Laß mich mit dem Unsinn in Ruhe«, winkte er ärgerlich ab. Ich zuckte mit den Schultern. »Nimm doch bitte den Revolver weg! Oder glaubst du, ich gehe auf dich los?« »Das weiß ich offengestanden nicht.« Er sicherte die Waffe aber und steckte sie in seine Jackentasche, aber so, daß er sie rasch wieder ergreifen konnte. Ich blickte auf meine Uhr. Nach eins. Bis zum Morgengrauen waren es noch fast vier Stunden.
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»Erzähl mir doch ein bißchen aus deinem Leben, Ike, wir wissen ohnehin nicht, was wir bis zum Morgen machen können!« Philip gab sich leutselig. Er schlug den charmanten Plauderton an, den man auf Partys pflegte, nicht aber in einem Totenhaus. Nur – was blieb mir anderes zu tun übrig? Es war eine angespannte Atmosphäre zwischen uns, dabei tranken wir Scotch mit Wasser, und im Laufe der vorgerückten Stunde hatte Philip verschiedene Gebäcksorten auf den Tisch gestellt. Er hatte Verständnis dafür, daß es mir nicht so recht munden wollte und ich nur trank. Währenddessen erzählte ich ihm wahre Episoden aus meinem Leben. Als ein Stein das Fenster zerschlug, schrak nicht nur ich zusammen. Im Moment des Glasklirrens hatte Philip auf den Stein geschaut, der zwischen den beiden Sesseln, in denen wir es uns bequem gemacht hatten, lag, während ich auf die zersplitterte Scheibe starrte. Auf das Gesicht hinter dem Glas! Auf Zarakows Gesicht! Wurde es nun durch die Spiegelung verzerrt oder täuschten mich meine übermüdeten Augen? Ich sah ihn lachen, mit weit offenem Mund ...! Im Augenblick des gegenseitigen Sehens huschte er aber auch schon wieder in die Dunkelheit zurück.
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Aus den Augenwinkeln schaute ich hin zu Philip. Er sah gebannt in Richtung meiner Füße, wo der Stein lag. Ich handelte in Bruchteilen von Sekunden. Ehe Philip seinen Blick vom Boden lösen konnte, war ich auf ihn zugesprungen. Wir kippten gemeinsam mit dem Sessel hintenüber, dabei fiel ich so unglücklich, daß ich mit dem Kinn – aus dem wuchtigen Schwung heraus – hart über den Fußboden schrammte. Meine Besinnung verließ mich für kurze Zeit. Philip hatte mehr Glück, er sprang sofort wieder auf die Füße. Unsicher schwankend wollte ich mich erheben, als Philip rücksichtslos die Pistole auf meinen Hinterkopf schlug. Ich mußte wie eine Säule umgefallen sein . . . In den ersten lichten Momenten nach dem Hieb hatte ich einen pelzigen Geschmack im Mund. Mein Schädel brummte. Ich wollte danach greifen und die Hände an die pochenden Schläfen pressen. Zuerst dachte ich, meine Arme wären eingeschlafen, ich bewegte sie krampfhaft, um das Blut wieder in Zirkulation zu bringen, da ergriff mich eine Panik derart heftig, so wie ich sie noch nie gespürt hatte. Ich war gefesselt, mein Körper, ohnehin nicht in der Lage, jemanden gefährlich zu werden – so schwach war mir zumute-, war mit Stricken umwickelt, angefangen an den Fußgelenken bis hinauf zu den Schulterpartien. Ich konnte nicht mal die Arme anwinkeln, um mir Erleichterung zu ver35
schaffen, sie waren fest an meinen Körper gebunden. Die Angst schüttelte mich, und meine Lippen formten Worte. Meine Lunge gab mir die Kraft, die ich brauchte, um meine Hilflosigkeit in die Nacht zu schreien, Hemmungslos forderte ich Hilfe, ein um das andere Mal. Es mußte mich jemand gehört haben, oder Philip hatte es sich anders überlegt, denn die Tür wurde geöffnet, leise und ruckartig. Mit der letzten Kraftreserve, die nur ein geschundener Körper aufbringen kann, drehte ich mich so herum, daß ich die Tür sehen konnte. Im Rahmen stand der Fürst der Nacht. Seinen Umhang hatte er nach hinten ausgebreitet, und sein Gesicht, von einer kränklichen Blässe gezeichnet, war verzerrt. Vor Gier und Wut. Er geiferte wie ein Tier und zischte mich an. Seine Pupillen hatten sich unnatürlich geweitet, hypnotisierend tasteten sie nach den meinigen. Da hatte ich keine Furcht mehr, langsam, mit tastenden Schritten kam er auf mich zu, ich blickte ihm entgegen. Dann stand er neben mir, er beugte das Knie und ergriff meinen Kopf. Danach streifte er meinen Kragen nach hinten und legte meinen Hals bloß, seine Zähne bissen sich fest und seine Lippen preßten sich saugend um die Wunde . . . Diese Schilderung gab Ike Deventish, Insasse der Nervenheilanstalt Scamshire. Er ist hier in lebenslanger Verwahrung. gez. Professor Skandle 36
DIE LEKTÜRE Sie hatte es sich richtig gemütlich gemacht. Auf dem Nachttisch stand eine Karaffe Rotwein, daneben eine Packung Pralinen und ein Päckchen Filterzigaretten. Amily Arguson lehnte sich in die aufgeschüttelten Kissen, seufzte zufrieden und griff nach dem Buch. Es war gar nicht einmal dick, klein und handlich. Aber der Inhalt sollte es in sich haben, hatte ihr der Verkäufer in der Bücherstube erzählt. Sie lächelte still vor sich hin, als sie daran dachte, daß Mister Gershwin ihr das Buch erst gar nicht geben wollte. »Es ist bestimmt nicht das Richtige, hatte er gesagt und ein anderes aus dem Regal geholt. Doch sie war beharrlich gewesen. »Ich möchte es aber haben.« Und im Geiste hatte sie hinzugefügt: Jetzt gerade! »Das Buch bringt kein Glück«, versuchte er es noch einmal. »Hier, das zum Beispiel kann ich Ihnen wärmstens empfehlen. Meiner Frau hat es sehr gut gefallen, Ma’m.“ »Ich nehme das da.« Sie hatte auf das Buch gezeigt, für das sie sich als erstes entschieden hatte. »Packen Sie es mir bitte ein!« Mr. Gershwin hatte zwar ein bißchen gebrummelt, aber letztlich entschied doch sein Geschäftssinn. Bevor sie aus dem Laden ging und überhaupt 37
nichts kaufte, sollte sie schon das Buch mitnehmen; gewarnt hatte er sie zur Genüge. Die Nachttischlampe warf gerade so viel Licht, daß sie deutlich lesen konnte. Mehr Licht war nur störend. Sie las noch einmal den Titel: »Das Tagebuch des Grafen Karnstein.« Ein wohliger Schauder überrieselte sie. Dann vertiefte sie sich in die Zeilen, die Graf Karnstein der Nachwelt hinterlassen hatte. Der Rotwein blieb ungetrunken, die Pralinen ungegessen und die Zigaretten ungeraucht. Mrs. Arguson gab sich der Spannung hin. Die Lektüre nahm sie so in Anspruch, daß sie ihre Umgebung total vergaß. Der Graf gab in seinen Aufzeichnungen unumwunden zu, daß er ein Vampir war. Er schilderte die Situation, als er gebissen worden war – von einem spanischen Grande. Nach wenigen Monaten erhielt er die Nachricht, daß sein Herr und Meister von einer aufgebrachten Menge gelyncht und gepfählt worden war, so daß er nie wieder aus dem Grab aufstehen konnte. » . . . ich war wie von Sinnen als ein Bote mir diese ungeheuerliche Nachricht überbrachte. Mein Herr war entmachtet worden, meuchlerische Hände hatten ihm den vernichtenden Pfahl in das Herz gestoßen.
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Mein Schmerz war so übermächtig, daß ich den Boten, der mir die furchtbare Depesche überbrachte, enthaupten ließ. Freund, Fremder, oder wer immer dieses liest, ich kann meinen Zustand nicht beschreiben, in dem ich mich befand. Mein Herz blutete. Vor Gram streute ich mir Asche auf mein Haupt.« Amily Arguson schrak hoch. Ein Kleiderbügel war zu Boden gefallen. Das Kleid sank langsam in sich zusammen, als ob jemand an einer unsichtbaren Strippe das Kleid sanft zu Boden gleiten ließe. Außer ihr war niemand in der Wohnung. Das wußte Amily genau. Schließlich wird man als ältere Dame vorsichtig und legt lieber zwei Ketten über das Türschloß als eine. An die Witzchen über den Mann unter dem Bett, glaubte sie schon gar nicht. Trotzdem schaute sie mit einer raschen Körperdrehung unter dem Bett nach. Natürlich lag da niemand. Sie mußte laut lachen. Automatisch tasteten ihre Finger nach den Zigaretten. Als die Zigarette brannte, las sie weiter. » . . . kam Contessa Angela de Oktriesse zu Besuch. Sie war von reizender Anmut. Ich liebte es, sie zu beobachten. Nicht etwa aus sündiger Gier. Diese Gedanken lagen mir so fern, wie die, daß ich es vielleicht über mich bringen würde, ihr Blut zu trinken.
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Die ersten Stunden mit ihr waren ein Labsal für mich. Ich genoß ihre Gegenwart mit jedem Atemzug. Dann kam der Abend, verflucht sei die Erinnerung daran. Die hübsche Contessa nächtigte im Schloß. Ihre Kammer war die schönste, die ich hatte. Als in der Nacht der Glockenstrang in ihrem Zimmer gezogen wurde, ging ich zu ihr, da die Dienerschaft in einem anderen Teil des Schlosses untergebracht war und ihr Läuten nicht hören konnte. Nie kann ich mein Entzücken in Worte kleiden, als ich sie vor mir stehen sah. Angetan in ein Nachtgewand aus chinesischer Seide, welches mir nichts von ihrem makellosen, liebreizenden Körper verhüllte. Ich habe lange dagestanden und sie nur angeschaut. Ich verzeih es mir nicht, so lange ich existiere. Es kam über mich. Bei allem Bösen dieser Erde, verflucht seien die Stunden, die doch die schönsten in meiner Erinnerung waren und es auch bleiben werden. Wir schliefen die ganze Nacht einträchtig nebeneinander. Der Hahnenschrei weckte mich Unglückseligen. Sie lag da, eine Schönheit, wie mein Auge sie noch nie erspäht hatte. Meine Augen ruhten auf ihrer wundersam heftig pulsierenden Halsschlagader. Ich konnte nicht an mich halten. Ich beugte mich über diese Schönheit und trank ihr Blut.« 40
Die Zigarettenglut verbrannte Amilys Fingerspitzen. Rasch stülpte sie den schon angesengten Filter in den Aschenbecher. Sie hörte ihren Herzschlag laut und deutlich. Sie lauschte auf irgendwelche Geräusche. Die Stille um sie herum war unerträglich. Sie könnte das Radio anstellen, das war eine Idee. Doch dazu mußte sie in das Nebenzimmer gehen. Du stellst dich an wie eine dumme, alberne Jungfrau, dachte sie amüsiert. Doch als im Nebenzimmer plötzlich ein Knarren zu vernehmen war, saß sie ruckartig aufrecht im Bett. Sie starrte auf die Tür. Das Knarren wiederholte sich, diesmal aus einer anderen Richtung. Dann klapperte ein Fensterladen. Amilys Handflächen wurden feucht. Sie schob das Buch zur Seite, dabei fiel ihr Blick auf die Umschlagkappe. »Wenn Ihnen die Haare zu Berge stehen, wenn Sie Schweißausbrüche haben oder wenn Sie seltsame, unheimliche Geräusche aus allen Ecken hören, dann haben Sie das Buch aufmerksam gelesen. Sehen Sie erst unter Ihrem Bett nach, bevor Sie das Licht ausmachen, und schlagen Sie mit dem Buch auf die Hand, die am Fußende ihres Bettes auftaucht. Angst 8t Schreck, Verlag«
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Amily atmete tief durch. So was Unsinniges, wie sie sich aufführte! Nach einem kräftigen Schluck Rotwein las sie weiter. » . . . die nächsten Tage waren eine Qual für mich. Meine Freunde merkten es mir an. Mein Wesen war verändert. Nachts lag ich wach und dachte an die junge Contessa. Es waren unvergleichlich schöne Gedanken, wild und erregend. Ich wußte, daß ich vom heutigen Tag an junge Frauen suchen würde. Ich wußte es und wehrte mich dagegen. Mein Innerstes war zerwühlt und unglücklich. Heute nacht würde ich durch die Dunkelheit streifen. Das Glück würde mir hold sein, ich wußte es . . .« Waren es nur die Buchseiten, die so raschelten, oder kam es wieder aus der Nebenstube? Amilys Blicke wechselten von den Zeilen hin zur Tür. Ohne Zweifel, die Geräusche kamen aus dem Wohnzimmer. Sie schlüpfte leise aus dem Bett. Unter ihr knarrte eine Diele. Atemlos verharrte sie auf der Stelle. Auch die Geräusche nebenan waren verstummt. Sie bückte sich und ergriff einen ihrer Schuhe. Mit diesem Schuh bewaffnet schlich Amily zur Tür. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte Angst. Viele Leute bekamen Angst, wenn sie allein in der Wohnung waren. Es reichte schon, wenn sie einen spannenden Film im Fernsehen sahen.
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Man identifizierte sich unwillkürlich mit dem Geschehen. Oder man las irgend etwas Spannendes, und schon dachte man in den Empfindungen der Romanfiguren, fühlte mit ihnen, ängstigte sich mit ihnen. Das alles wußte Amily, und trotz ihres Wissens glaubte sie eine furchtbare Wahrheit zu erfahren, wenn sie die Tür öffnen würde. Graf Karnstein schrieb, daß er von nun an jede Nacht unterwegs sein würde und . . . Mr. Gershwin hatte alles gewußt. Hätte sie doch bloß auf ihn gehört. Ihre Faust umspannte den Lederpumps. Die Hand zum Schlag ausgeholt, riß sie mutig die Tür auf. Die Dunkelheit in dem Raum fiel sie an wie ein Raubtier. Amily schrie, einfach aus Notwehr, denn zu sehen war niemand. Mit der freien Hand tastete sie nach dem Lichtschalter. Es klickte. Das Zimmer wurde in eine Helligkeit von 4 mal 60 Watt getaucht. Das Zimmer war leer, das Fenster geschlossen. Amily lachte hysterisch. Ihr Lachen brach ab, als schlagartig in ihrer Schlafstube und im Wohnzimmer das Licht ausging. Amily stand im Dunkeln, der Schuh entfiel ihren Händen. Ein Herzschlag setzte ihrem Leben ein Ende. Die Tageszeitung brachte am nächsten Tag eine kleine Notiz und eine große. In der kleinen infor43
mierte sie die Leser über das Ableben einer gewissen Amily Arguson, Diagnose Herzschlag. In der großen wurde über den überraschenden Stromausfall berichtet, der durch ein defektes Kabel entstand, und mehrere Straßenzüge im Dunkeln ließ ..
VERSTÄNDNIS Meine Nerven sind schon lange nicht mehr die besten. Der Krieg der Seelen, wie ich es nenne, hatte Ernte getragen. Mit all den Kleinigkeiten, die eine Frau fähig ist sich ausdenken, hatte meine Frau mein Nervenkostüm allmählich zerstört. Daß sie mich umbringen wollte, wußte ich seit dem Zeitpunkt, als ich einmal in die Küche kam und neben der Tasse Tee für mich eine Dose mit Rattengift stand. Seit diesem Tag trinke ich keinen Tee mehr. Ich wußte auch seit einiger Zeit, warum sie mir nach dem Leben trachtete. Sie hielt sich einen Geliebten. Vielleicht war es nur einer Art von Torschlußpanik zuzuschreiben, denn sie geht jetzt auf die Vierzig zu, und für ihr Alter hat meine kleine Frau noch eine recht attraktive Figur. Es war ein großer Schlag für mich, als ich zu dem Ergebnis kam. Jeder Mann fühlt sich unersetzbar, das gebietet schon die Selbstachtung, die 44
uns Männern in die Wiege gelegt wird. Oder würden Sie es gerne sehen, wenn Ihre Frau außer Ihnen noch einen anderen hätte? Na sehen Sie! Nur die Charaktere reagieren unterschiedlich. Ich zum Beispiel gönnte ihr die Resonanz. Warum auch nicht? Schließlich ist sie nicht mein Eigentum. Sie kann tun und lassen, was sie will. Nur eben nicht, mich umzubringen . . . Hätte sie das nicht versucht, wäre alles anders gekommen. Dann würde sie mich noch lieben. Jim würde wie eh und je zu uns ins Haus kommen und sich weiterhin ihrer annehmen. Aber umbringen laß ich mich nicht, nicht von Jim und auch nicht von meiner Frau. Dabei wissen die beiden bis heute noch nicht, daß ich sie durchschaut habe. Ich laß mir natürlich nichts anmerken. Nur bei dem Genuß der Speisen und Getränke achte ich penibel darauf, daß erst meine Frau kostet, bevor ich es mir schmecken lasse. Den Kognak, den sie Jim gibt, wenn er abends vorbeikommt, kann ich ebenfalls ohne Risiko trinken. Jim Kersten ist unser unmittelbarer Nachbar. Er ist Junggeselle, ein außergewöhnlich gut aussehender dazu. Deswegen bringe ich meiner kleinen Frau ja auch Verständnis entgegen. Ich nehme an, daß sie sich danach sehnte, in den Armen eines jungen, starken und hübschen Mannes zu liegen, der ihr vielleicht mehr geben kann als ich.
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Ich komme ausgezeichnet mit Jim aus. Er ist ein gescheiter Plauderer und weiß unerhört viel. Sein Lieblingsthema ist die Politik, darüber kann er stundenlang reden. Dabei drückt er sich gewählt aus wie ein Attache. Ich liebe es ihm zuzuhören, weil ich dabei eine ganze Menge lernen kann. Maggie, meine kleine Frau, ist Ärztin. Sie hat eine gutgehende Praxis in unserem Städtchen. Jim hatte eines Tages einen schweren Autounfall. Sie leistete ihm Erste Hilfe. Nach seiner Genesung kam er öfters zu Besuch, um sich zu bedanken, wie er sich ausdrückte. Na, und aus diesen Besuchen wurde bald ein freundschaftliches Verhältnis. Die beiden ergänzten sich wunderbar. Sie hatten gemeinsam viel zu bereden, bei dem ich leider nicht mitkam, weil mir die Bildung und das Wissen fehlen. Ich habe nun mal das College nicht besuchen können, weil meine Eltern ziemlich arm waren. Ich wurde Vertreter für Haushaltswaren. Vielleicht schaffe ich es und werde Generalvertreter. Das Zeug dazu habe ich, sagt mein Chef. Das wäre sehr schön. Dann würde ich vielleicht 600 Dollar im Monat verdienen und müßte nicht immer Maggie anschnorren, wenn ich Geld brauchte. Aber eigentlich ist Maggie sehr taktvoll. Sie läßt es mich nicht merken, daß ich abhängig von ihr bin. Jim ist Werbetexter. Von ihm stammt der Zahnpasta-Slogan der Firma »Whitfort«.
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Heute abend würde er wieder zu uns kommen. Ich glaube, Maggie hat schon Whisky besorgt. Seine Lieblingsmarke, Black & White. Trotzdem habe ich keine Angst, mit meiner kleinen Frau zu leben. Im Grund nehme ich nämlich an, daß sie gar nicht fähig wäre, mich umzubringen . . . Sie war oben und machte sich fertig. Wir wollten nach dem Essen noch auf einen Drink zu den Carpenters gehen, denen schuldeten wir schon seit zwei Wochen einen Besuch. Die Carpenters kannten Jim. Von Henry hatte ich ja auch den Tip bekommen, besser auf Maggie aufzupassen. Sie zog gerade ihren Morgenmantel aus. Darunter trug sie nur ein knappes Höschen. »Warte gefälligst draußen«, sagte Maggie. Ich zog die Tür wieder zu. Durch die Tür fragte ich: »Wann kommt Jim?« »Ist er noch nicht da?« »Nein, bislang nicht, Schatz.« »Er wollte doch pünktlich sein.« »Ja, aber was soll ich machen?« »Ruf ihn an! Vielleicht ist ihm etwas passiert.« »Wie du willst, Liebling.« Ich ging runter zum Telefon und rief Jim an. Er kam nach dem zweiten Läuten an den Apparat. »Kersten.« »Ja, hier Buck. Jim, sagen Sie mal, meine Frau macht sich Gedanken Ihretwegen. Sie wollten doch schon längst hier sein. Ist etwas passiert?« 47
»Nein, was soll denn passiert sein? Ich habe nur wieder etwas Kopfschmerzen und habe mich hingelegt. Dabei muß ich wohl eingeschlafen sein. Ich beeile mich.« »Ich sag Maggie Bescheid, vielleicht kann sie Ihnen etwas geben.« »Na fein, Buck, bis gleich.« »Bis gleich, Jim.« Ich ging wieder nach oben und klopfte an die Tür. »Darf ich reinkommen?« »Ja.« Maggie saß noch vor dem Toilettentisch und probierte Schmuck an. Die Ohrringe, die sie trug, waren ein Geschenk von mir zu ihrem letzten Geburtstag. Ich freute mich, daß sie ihr gefielen. »Gib mir doch mal die Opale!« Maggie zeigte auf das Schmuckkästchen. Ich trat näher und gab ihr den Ohrschmuck mit den Opalen. Ein Präsent von Jim. Sie waren wirklich bildhübsch und standen Maggie ausgezeichnet, besser als die, die ich ihr geschenkt hatte. »Was ist? Hast du angerufen?« »Aber natürlich, Liebling. Jim beeilt sich zu kommen. Er hatte Kopfschmerzen und sich ein wenig hingelegt, dabei wird er wohl eingeschlafen sein.« »Na hoffentlich ist es nichts Ernstes.« »Bestimmt nicht.« »Was verstehst du denn davon?« 48
»Ich meinte ja nur so, Schatz. Jim ist doch kerngesund. Was sollte er haben?« »Bist du fertig?« »Ich brauche nur noch mein Jackett anziehen und den Wagen aus der Garage holen.« »Wir können doch auch Jims Wagen nehmen.« »Von mir aus, gerne.« Ich merkte, daß sie nicht weiter reden wollte. Anscheinend hatte sie noch einiges zu erledigen. Ich ging nach unten und wartete auf Jim. Er war eher da als Maggie. Sein taubenblauer Maßanzug saß tadellos und betonte seine kräftige Figur noch mehr. »Ich hoffe, daß Sie meinetwegen keine Unannehmlichkeiten hatten, Buck.« »Aber woher denn, Maggie ist ja ohnehin noch nicht fertig.« »Na, dann bin ich ja beruhigt, Sie wissen ja, wie Frauen reagieren, wenn man sie warten läßt.« Ich nickte. »Ach, übrigens – macht es Ihnen etwas aus, wenn wir Ihren Wagen nehmen? Dann kann ich meinen in der Garage lassen.« »Aber warum denn.« Maggie kam die Treppe herunter. Sie sah wunderschön aus, angetan mit einem hautengen Seidenhosenanzug, der ihre Formen äußerst reizvoll betonte. Wir aßen zu dritt zu Abend. Maggie hatte im Geschäft nebenan kalte Platte richten lassen. Es schmeckte fabelhaft. Ich langte ordentlich zu. 49
Nach einem Black & White fuhren wir zu den Carpenters. Maggie saß vorne neben Jim, während ich es mir im Fond bequem gemacht hatte. Jim fuhr einen vollautomatischen 72er Thunderbird, einen Traumwagen. Der Abend war erfrischend kühl. »Ich habe was für Ihre Kopfschmerzen eingesteckt, Jim. Wenn sie nicht nachlassen, nehmen Sie nachher etwas von dem Zeug. Es schmeckt scheußlich, hilft aber vortrefflich.« »Sie sind ein Engel«, bedankte sich Jim. »Ich weiß gar nicht, woher die Schmerzen kommen. So was kenne ich sonst überhaupt nicht.« »Ich weiß, Sie sind ja kerngesund«, sagte ich. Maggie drehte sich zu mir um und sagte vorwurfsvoll: »Es ist gar kein Grund, daß du ironisch wirst. Jim hat ja auch jede Menge Probleme im Kopf, während du nur Staubsauger an den Mann bringen mußt.« »Das ist gar nicht so leicht, Maggie«, sagte Jim. Darauf lachten beide herzhaft los. Das tat mir weh. Immerhin hatte ich wirklich viel Mühe, mein Geld zu verdienen. Die Carpenters waren sehr reserviert, als wir ankamen. Maggie und Jim eilten gleich zur Bar, und Jim mixte ein paar Cocktails. Henry sah den beiden nach. »Armer Buck«, sagte er zu mir. »Wieso?« 50
»Na ja, ich meine nur so.« Anschließend setzten wir uns zusammen und unterhielten uns. Es wirkte alles ein wenig gequält. Maggie merkte es auch, deswegen verabschiedete sie sich auch frühzeitig. Ich beschloß, noch etwas bei den Carpenters zu bleiben. Henry versprach, mich nachher nach Hause zu fahren. Maggie und Jim gingen. »Merkst du denn gar nicht, welches Spiel hier läuft, Buck?« Ich spürte das Mitleid aus Angies Stimme. Henry gab seiner Frau recht. »Die beiden setzen dir doch Hörner auf, und du spielst den gutgläubigen Ochsen, mit dem sie machen können, was sie wollen. Ich verstehe dich nicht.« Es rührte mich zu wissen, daß ich in den Carpenters zwei Freunde hatte. »Es ist schon nicht so schlimm«, antwortete ich und meinte es auch so, »Maggie hat so eine Art zweiten Frühling. Versteht ihr? Im Grunde genommen liebt sie mich, mich allein. Das ist natürlich für euch schwer zu verstehen.« »Das verstehst du unter Liebe?« Angie sah mich zweifelnd an. Sie ist eine Frau von Grundsätzen und besitzt Rückgrat. Henry kann sich glücklich schätzen, eine so prachtvolle Frau zu haben. »Was soll ich denn machen?«
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»Laß dich scheiden!« Henry meinte es tatsächlich ernst. Ich war erschüttert. Wie konnte er an so was auch nur denken? Von Maggie scheiden lassen? Das war völlig undenkbar. Ich liebe sie doch, und sie mich auch. Diese Romanze mit Jim war doch wirklich nicht beachtenswert. Sie wird sich schon was dabei denken. Maggie ist eine kluge und gebildete Frau. Der weitere Verlauf des Abends war gemütlich. Zur elften Stunde mahnte Henry mich zum Aufbruch. »Du mußt morgen wieder früh raus, Buck, alter Knabe.« »Schlaf doch bei uns.« Angie stand auf. »O nein«, sagte Henry. »Er muß nach Hause.« »Henry hat recht«, sagte ich. »Vielen Dank für dein Angebot, Angie! Aber Maggie würde sich nur unnötig ängstigen.« Die Blicke, die sich die beiden zuwarfen, konnte ich nicht deuten, sie ließen sich aber auch nichts anmerken. Henry brachte mich nach Hause. Bei uns brannte noch Licht. Ich verabschiedete mich von Henry und ging ins Haus. Jim war schon gegangen. In der Wohnstube standen noch zwei Gläser und eine halbleere Flasche. Ich ging in Maggies Schlafzimmer. Sie las ein Buch.
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»Na, habt ihr wieder ordentlich alles durchgehechelt?« empfing sie mich. »Nein, wir haben nur wenig von dir gesprochen«, gab ich zur Antwort. »Ach, erzähle mir doch nichts! Ich kenne doch die beiden Klatschmäuler.« »Wir haben uns nur ganz allgemein unterhalten. Was hätten wir denn auch über dich reden sollen, Schatz?« »Stell dich nicht so an! Du weißt genau, wovon ich rede.« Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante und wollte ihre Hand ergreifen, doch Maggie entzog sie mir. »Laß das!« »Entschuldige bitte, aber wir haben ein bißchen mehr getrunken, als ich vertragen kann. Mein Schädel brummt fürchterlich.« Sie lachte. »Trink nicht so viel, wenn du es nicht verträgst.« Ich lachte ebenfalls. »Davon hören aber meine Kopfschmerzen auch nicht auf, selbst wenn ich noch so einsichtig bin.« »Dann nimm ein paar Tropfen aus der Flasche, die unten auf dem Tisch steht. Die helfen.« »Whisky?« »Unsinn, die Medizin.« »Diese wo die vielen X und Y auf dem Etikett stehen?« Sie wußte, daß ich kein Latein konnte.
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»Ja«, seufzte sie, »diese besagte, mit den vielen X und Y.« »Ich werde mich hüten, Schatz, da ist doch Gift drin.« Ihr Gesicht werde ich nie vergessen. Es wirkte mit einem Mal so seltsam, so unbeschreiblich dumm, wie ich es von Maggie überhaupt nicht gewohnt war. »Gift?« hauchte sie. »Aber ja«, bekräftigte ich. Sie konnte es anscheinend nicht fassen. »Gift?« stammelte sie noch mal. Langsam wurde es mir zu bunt. Ich zog ein längliches Fläschchen aus meiner Jackentasche und zeigte es ihr. »Das habe ich aus deiner Praxis genommen. Damit schläferst du doch die Tiere ein, wenn es jemand verlangt.« Das war eigentlich eine humane Art von Maggie. Die Tierliebhaber kamen mit solchen Anliegen lieber zu ihr als zum Tierarzt. Der hatte solch ein Gift nicht und erschoß die Tiere. Sie riß mir die Flasche aus der Hand und starrte auf das Etikett. Dabei flüsterte sie den Namen. Ich verstand ihn nicht. »Um Himmels willen«, sagte ich nach einer Weile dann, »du hast doch nicht etwa dem armen Jim davon gegeben?« Maggie sprang aus dem Bett, nackt, wie sie war, fuhr sie mich an. Ich verstand überhaupt nichts 54
mehr. Sonst neigte sie absolut nicht zu solchen Gefühlsausbrüchen. »Du Mörder«, schrie sie. Und immer wieder: »Du Mörder!« Ich erwehrte mich ihrer, indem ich sie auf das Bett stieß. Schluchzend wühlte sie sich in die Kissen und bereitete mir damit eine ungeheure Genugtuung. Dann sprang sie plötzlich wieder auf. »Buck, liebster Buck, wir müssen ihn retten! Das Ganze war doch nur ein Scherz von dir, nicht wahr? Sag doch!« »Aber ja«, beruhigte ich sie. »Ich habe es ihm vor zwanzig Minuten gegeben. 20 Tropfen, eine tödliche Dosis. Aber wir können ihm noch helfen, wenn wir einen Krankenwagen rufen. Sie müssen ihm sofort den Magen auspumpen.« »Lassen wir es doch lieber so, wie es ist«, schlug ich ihr vor. »Ich rufe die Feuerwehr, Buck, mein Liebling!« Sie weinte das erste Mal in unserer Ehe. Es sah lächerlich aus. »Nein«, bestimmte ich. »Du Scheusal, du Bestie«, schrie sie. Ihre Stimme war kurz vorm Überkippen. Ich gab ihr ein paar kräftige Ohrfeigen. Danach gab sie Ruhe. Sie sah mich an. »Du hast alles gewußt?« »Ja!« »Und das ist deine Rache?« 55
»Ja!« »Buck. Warum?« Ich überlegte einen Moment. Warum hatte ich das harmlose Medikament gegen ein tödliches Gift ausgetauscht? »Ich habe es halt getan, Maggie. Es ist nicht mehr zu ändern.« »Aber ist dir klar, daß das Mord ist?« Sie war auf einmal erstaunlich ruhig. Wahrscheinlich war der erste Schock vorbei. »Wieso?« fragte ich. »Es handelt sich doch dabei um ein Versehen von dir. Was soll ich damit zu tun haben?« »Du bist wahnsinnig, Buck!« »Das glaube ich nicht. Wie hätte ich sonst diesen genialen Plan ausdenken können? Daß er genial ist, mußt du zugeben.« Unten klingelte das Telefon. »Kann er das sein?« »Ja«, sagte Maggie mit tonloser Stimme. Anscheinend ging es ihr doch nahe. »Das Gift wirkt bei einem Menschen erst nach einer guten halben Stunde.« Wir gingen gemeinsam nach unten. Ich mußte Maggie mehr ziehen. Sie sträubte sich. Dann hob ich den Hörer ab. Natürlich erkannte ich sofort Jims Stimme. Ich drückte Maggies Kopf dicht an meinen, so daß sie mithören konnte. »Buck?« Jim keuchte mehr als gewöhnlich.
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»Ja, Jim, was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl?« »Buck?« Verstand er mich nicht? Oder erlaubte er sich einen Scherz? Allerdings wäre ein Scherz in seiner Lage etwas makaber gewesen. »Was ist mit dir?« Ich hatte Mitleid mit ihm und ging deshalb zum Du über, vielleicht beruhigte ihn das etwas. »Mein Magen . . . o Buck.« Er machte eine lange Pause, lang genug, um sich in einem Krampf zu winden. Maggie schrie in die Muschel. »Jim, er hat Gift in die Flasche getan, Jim, er wußte, daß wir ihn betrogen. Rufe die Feuerwehr! Dein Magen muß ausgepumpt werden. Beeil dich!« Ich ließ sie ruhig zu Ende schreien. Was konnte mir das schon schaden? Im Gegenteil, ihre Ereiferung zeigte mir, daß ich genau den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Er stöhnte jetzt schon lauter. Ich konnte hören, wie er sich übergab. »Leg dich hin«, riet ich ihm, »es tut dir bestimmt gut.« »Buck . . . hast du wirklich Gift. . . Buck.« Durch die Muschel klang seine Stimme krächzend. Dann mußten ihn Schmerzen gepackt haben. Er begann zu schreien. Maggie entglitt meinen Händen. Ohnmächtig stürzte sie zu Boden. Dadurch entging ihr der dramatischste Teil. 57
Zwischen seinen schmerzvollen Schreien kam er sekundenlang wieder zu sich. Dann beschuldigte er mich wüst. Dann bereute er wieder, anschließend fluchte er, und immer wieder diese Schreie. Es hörte sich nicht schön an, aber ich hatte ja Verständnis. Es ging, glaube ich, noch zwei Minuten. Dann hörte ich nur noch sein Röcheln. Wahrscheinlich baumelte der Telefonhörer an der Strippe und übertrug mir dadurch die letzten Sekunden im Leben des Jim Kersten. Als es vorbei war, legte ich auf. Während ich diese Zeilen schreibe, findet auf dem Friedhof in der Nähe eine Beerdigungsprozedur statt. Maggie wird wahrscheinlich gerade ihre Mittagsmahlzeit erhalten, wenn sich nicht der Irrenarzt mit ihr beschäftigt . . .
FLEISCHFRESSER Gertrud Olsen bückte sich und brach den Maronen-Röhrling kurz über dem Boden ab. Es war ein prachtvoller Pilz, mit großem dunkelbraunem Hut. Sie legte ihn in den Korb zu den anderen. Ihre Ausbeute war heute nicht besonders erfolgreich gewesen. Vielleicht lag es daran, daß sie heute zu spät aus dem Haus gegangen war. 58
Dabei stand sie schon um drei Uhr in der Nacht auf, weil das die beste Zeit war. Da lag der Wald noch einsam und verlassen da. Kein unvorsichtiger Wanderer hatte schon die Möglichkeit, ihre geliebten Pilze zu zertreten. Das erste Grau überzog den Himmel. Sie warf einen kurzen Blick auf das herrliche Schauspiel der Tagwerdung. Die alte Gertrud hatte vor einer wuchtigen Tanne einen neuen Fundplatz entdeckt. Steinpilze, eine ganze Familie. Lächelnd ging sie darauf zu. Sie liebte den Wald. Ihr machte es nichts aus, daß es noch finster war. Sie kannte sich hier aus. Hoch über ihr schrie ein Käuzchen, langanhaltend und klagend. Sie beugte sich über die Steinpilze und pflückte einen nach dem anderen. Ein Knacken ließ sie aufschrecken. War noch jemand zu so früher Stunde unterwegs? Sie sah sich um. Ringsum standen die Bäume dicht an dem schmalen Trampelpfad, den sie gekommen war. Weit sehen konnte sie nicht, obwohl ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt waren. Ach was soll’s, dachte sie, du hörst Gespenster. Den Schatten, der sich rasch hinter einen Baum drückte, als sie sich umdrehte, sah sie nicht. Sie hatte sich wieder ihren Pilzen zugewandt und summte leise vor sich hin. Ihr Korb füllte sich. Da knackte es wieder. Diesmal blieb sie gebückt stehen und lauschte. 59
Was war das? Ein Tier konnte es nicht sein. Es gab kein heimisches Waldtier, welches sich so dicht an einen Menschen gewagt hätte. Dazu war das Wild hier zu scheu. Vorsichtig wandte sie ihren Kopf und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Der Schatten hinter dem Baum preßte sich eng an die borkige Rinde. Wahrscheinlich war es der Wind, redete sie sich ein. Der fuhr durch die Baumwipfel und brach hie und da einen Ast ab. Sie wickelte sich ihre Jacke enger um die Schultern. Die Morgenkühle ließ sie frösteln. Sie warf noch einen kurzen Blick auf die Pilze vor ihr. Die konnte sie nachher – im Lauf des Tages — holen, denn hier in diese Schonung verlief sich ohnehin kein Mensch. Sie hob ihren Korb an und schickte sich an zurückzugehen. Der Unheimliche hinter dem Baum ließ sie passieren. Seine Augen glühten, als sie an ihm vorbei ging. Dann folgte er ihr. Er bemühte sich, im Gleichschritt mit ihr zu gehen, damit sie seine Schritte nicht hörte. Doch die alte Olsen spürte die Gefahr im Rücken. Sie verharrte auf der Stelle. Sofort blieb der Unheimliche auch stehen. Er öffnete seinen Mund, und ein schneeweißes, kraftvolles Gebiß wurde sichtbar. Die Zähne waren spitz 60
wie Messer. Seine Hände krümmten sich zu Krallen. Da drehte sich die Olsen um. Mit schreckgeweiteten Augen sah sie den Mann an. Der stieß ein Fauchen aus und kam auf sie zu. Die alte Frau war vor Schreck wie gelähmt. Nicht mal schreien konnte sie. Der Unheimliche in seiner dunklen Kluft kam immer näher. Sie starrte ihn an. Du lieber Himmel, schoß es ihr durch den Kopf, als sie die furchterregenden Zähne sah, ein Fleischfresser! Also stimmten die Schauermärchen doch. Kaum war sie zu dieser Erkenntnis gekommen, ließ sie den Korb fallen, drehte sich um, und rannte so schnell sie konnte zurück. Der Fleischfresser folgte ihr mit großen Schritten. Die alte Olsen hatte gegen den kräftigen Unheimlichen keine Chance. Bald hatte er sie eingeholt. Seine Krallenhände schlugen in ihr Genick. Die Olsen schrie auf vor namenlosem Entsetzen. Der Tod erbarmte sich ihrer. Noch bevor sie das Grauen begreifen konnte, starb sie. Der Unheimliche beugte sich über sie. Speichel tropfte in das tote Gesicht der Olsen. Es fiel ihm schwer, seine Mahlzeit hinauszuzögern. Er wußte, wie bösartig sein Herr darauf reagierte.
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Er warf sich die Leiche über die Schulter und drang mit seiner grausigen Last tiefer in den Wald ein. Wachtmeister Ernst Kulick trank vorsichtig den heißen Kaffee. Er verzog das Gesicht: Zichorienbrühe. Aber seine Frau war in der Beziehung kleinlich. Er blätterte eine vor ihm liegende Akte durch. Die alte Olsen war verschwunden. Ihre Tochter hatte gestern die Vermißtenanzeige aufgegeben. Ihre Mutter sei wie jeden Morgen in den Wald gegangen. Als sie zur Mittagszeit nicht zurückkehrte, habe sie befürchtet, daß ihrer Mutter etwas passiert sei. Natürlich hatte er sofort mit ein paar Freiwilligen die nahe Umgebung abgesucht. Sie waren auch etliche Kilometer in den Steigerwald vorgedrungen, doch außer dem Korb der Alten hatten sie nichts gefunden. Bis morgen würde er noch warten. Dann mußte er das Kommissariat in Würzburg verständigen. Die Olsen war nicht die einzige, die in der letzten Zeit verschwand. Vier Leute waren innerhalb der letzten Monate als vermißt gemeldet worden. Schon nach wenigen Stunden hatte man zwei Skelette gefunden. Sie wurden als die Überreste von zwei der Vermißten identifiziert.
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Aber konnte eine Leiche in so kurzer Zeit zu einem blanken Skelett zerfallen? Die Knochen mußten sauber abgenagt worden sein. Von Tieren? Im Dorf machte sich sofort das Märchen von Menschenfressern breit. Natürlich war das Unsinn. Aber Wachtmeister Kulick war so ehrlich zuzugeben, daß auch er noch keine vernünftige Erklärung für diese rätselhaften Vorfälle gefunden hatte. Irgend etwas steckte vielleicht doch hinter diesem Schauermärchen der Dorfbewohner. Kulick zuckte mit den Achseln und studierte weiter die Anzeige. * Doktor Grundner verschloß seinen Instrumentenkoffer. Er warf noch einen Blick auf den Toten. Dann verließ er das Zimmer und ging nach unten zu der Witwe. Er strich ihr hilflos über das Haar. »Sie müssen tapfer sein, Frau Rehsen.« »Ein Herzversagen, liebe Frau.« Er betrachtete die junge, gutaussehende Frau und verspürte Mitleid. »Wie konnte das nur passieren?« Als sie oben plötzlich Glas splittern hörten, schrie Frau Rehsen entsetzt auf. Doktor Grundner warf sich auf dem Absatz herum und stürmte die Treppe hinauf. Aus dem Zimmer, in dem der Verstorbene lag, hörte er Schritte. Das war doch nicht möglich.
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Vor der Tür verharrte er einen Moment. In diesem Augenblick wurde von innen der Schlüssel umgedreht. Doktor Grundner glaubte, an seinem Verstand zweifeln zu müssen. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. »Frau Rehsen«, schrie er, »rufen Sie den Wachtmeister! Rasch!« Er vernahm die Schritte, die zur Tür liefen. Dann hörte er, wie die Haustür zugeschlagen wurde. Vorsichtig faßte er die Klinke zum Schlafzimmer an. Da vernahm er von innen ein furchtbares Geräusch, als ob Knochen gebrochen würden. Er riß seinen Mut zusammen und rüttelte wie wild an der verschlossenen Tür. Umsonst! Ein meckerndes Lachen erklang hinter der Tür. »Herr Rehsen«, brüllte der Arzt aus Leibeskräften. Es war ein furchtbares Gefühl, einen Toten anzuschreien. Doch anscheinend war Rehsen gar nicht tot gewesen . . . Aber das war doch unmöglich! Rehsen war tot. Ganz offensichtlich hatte sein Herz aufgehört zu schlagen, aber die Geräusche von innen ließen ihn zweifeln. Wieder hörte der Doktor Glas splittern. Dann war es still im Zimmer. Er mußte etwas unternehmen. Nur was, verdammt noch mal! Seine Hände zitterten. Er gab
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sich den Befehl, langsamer zu atmen. Seine Phantasie begann, ihm verrückte Bilder vorzugaukeln. Der Wachtmeister betrat das Haus und stürmte nach oben. Frau Rehsen blieb unten, das Vorgefallene überstieg ihre Kräfte. »Was ist los«, polterte des Wachtmeisters sonorer Baß. »Kulick, Gott sei Dank, daß Sie da sind.« Doktor Grundner wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Vor einer Viertelstunde wurde ich zu Herrn Rehsen gerufen. Auf den ersten Blick sah ich, daß er tot war. Herzschlag! Ich ging runter zu seiner Frau, ja, und dann hörten wir Geräusche hier oben. Ich bin sofort nach oben gelaufen, und da hörte ich, wie jemand lachte.« Der Wachtmeister kümmerte sich nicht weiter um den Doktor. Er rüttelte an der Klinke. Dann ging er ein paar Schritte zurück. Mit voller Kraft warf er sich gegen die Tür. Beim ersten Ansturm brach sie aus den Angeln. Der Wachtmeister flog in den Raum. Sofort richtete er sich wieder auf und sah sich um. Ihm stieg ein würgendes Brennen die Brust hinauf, als er auf das Bett sah. Rehsen lag auf dem zerwühlten Bett. Die Brust war aufgerissen, das Herz fehlte! Doktor Grundner beugte sich stumm über den Toten und betrachtete die furchtbare Wunde. Dann entdeckte er, daß dem Toten die Beine abgerissen 65
worden waren. Fassungslos starrte er auf das Grauen. Wachtmeister Kulick zeigte auf das zerbrochene Fenster. »Das Tier muß da durchgekommen sein. Das war auch das Geräusch, das Sie gehört haben.« »Man hat ihm das Herz aus dem Leib gerissen und die Beine abgetrennt.« Doktor Grundner schluckte. »Der das gemacht hat, muß über unerklärliche Kräfte verfügen. Sehen Sie her!« Er ging zu dem Verstümmelten. In ihm war jetzt der Arzt erwacht. Er zeigte auf die Beinstummel. »Erst gebrochen, und dann mit bloßer Hand abgerissen. Das ist normalerweise unmöglich.« Die beiden Männer verließen das Zimmer des Grauens. »Darf ich mal von hier aus telefonieren, Frau Rehsen«, fragte Kulick. Sie nickte stumm. Der Arzt kümmerte sich um sie. Der Wachtmeister ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Die Haustür stand noch immer offen. Man konnte auf die Dorfstraße sehen, die menschenleer war. Noch ahnte niemand im Dorf, was sich ereignet hatte. Nur gegenüber stand — zwischen zwei Scheunen dicht an die Wand gepreßt – ein Mann und sah mit haßerfüllten Augen herüber. Kulick ließ sich mit Würzburg verbinden. 66
Nach zwei Minuten hatte er das Kommissariat. Von dort erhielt er nach Schilderung der Lage das Versprechen, daß man sich darum kümmern würde. Seufzend legte der Wachtmeister auf. »Jetzt werden wir bald weitersehen.« »Hoffentlich.« Doktor Grundner dachte an die Skelette, die sie gefunden hatten. Er ahnte, daß die schauerliche Reihe von Verbrechen noch kein Ende hatte . . . Günther Erickson, Polizeibeamter im SpezialDezernat zur Aufklärung von geheimnisvollen Verbrechen, lenkte seinen roten Capri über die Autobahn Richtung Prichsenstadt. Der Flitzer schaffte die Strecke in zwanzig Minuten. Er nahm die Ausfahrt und lenkte den Capri auf die Landstraße: örderberg 15 Kilometer. Zufrieden trat er das Gaspedal durch. Die Straße führte am Steigerwald, einem romantisch gelegenem Mischwald, entlang. Erickson genoß die Fahrt. Er war noch ziemlich jung, gerade Dreißig geworden, groß und schlank. Sein Gesicht trug ständig ein Lächeln, als ob er sich über alles Geschehene amüsieren wolle. Örderberg war nur ein kleines Dorf, das nicht mal auf der Landkarte erwähnt wurde.
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Dezernatsleiter Bernd Kümmersbach, Hauptkommissar, hatte Erickson ein paar Unterlagen übergeben. »Lesen Sie!« Das war die ganze Auftragserteilung gewesen. Erickson mußte lachen, als er daran dachte. Im Bayerischen Rundfunk liefen gerade Nachrichten. Er hörte aufmerksam zu. In seinem Beruf mußte man immer informiert sein. Vor der Wettervorhersage schaltete er ab. Vor ihm tauchte das Dorf auf. Er ging runter mit der Geschwindigkeit. Gemächlich fuhr er die Hauptstraße entlang. Die Einheimischen, die hier vor ihren Häusern saßen, blickten ihm mißtrauisch nach. Ein Neuer war immer ein Grund zum Mißtrauen, denn es kam selten vor, daß sich hierher jemand verirrte. Das Schild »Wache« hing direkt neben dem Gasthaus. Erickson parkte seinen Wagen und stieg aus. Er ging geradewegs in die Wache. Kulick und ein anderer Beamter namens Worchtel saßen im Büro und unterhielten sich. Als der Fremde eintrat verstummten sie. »Guten Tag.« »Was wollen Sie?« »Ich komme aus Würzburg.« Jetzt sprang Kulick auf. »Sind Sie die Hilfe, die man uns zugesagt hat?« 68
»Ich werd’s zumindest versuchen«, erwiderte Erickson lachend. »Gott sei Dank!« Kulick zeigte auf einen Stuhl. »Nehmen Sie doch Platz, Herr .. .« »Erickson«, stellte er sich vor. »Inspektor Günther Erickson.« »Oh«, Worchtel, ein älterer Mann mit verschlagenem Gesicht, erhob sich ebenfalls, »freut uns, daß Sie endlich da sind, Herr Inspektor.« »Den Inspektor wollen wir weglassen, einverstanden? Ich will niemand kopfscheu machen.« »Gut.« Kulick setzte sich wieder hin. »Ja, der Fall ist grauenhaft, Herr Erickson. Ich glaube, daß wir beide«, er zeigte auf Worchtel, »nicht damit fertig werden.« »Erzählen Sie mir, was passiert ist.« »Tja, das ist schnell erzählt. Es fing vor ein paar Monaten an. Da verschwanden vier Leute aus dem Dorf. Alles junge Leute. Zwei von ihnen fanden wir nach kurzer Zeit wieder . . . als Skelette. Dann verschwand vor zwei Tagen die alte Olsen. Sie ging jeden Tag, oder besser gesagt, jede Nacht in den Steigerwald.« »Was machte sie da?« »Sie sammelte Pilze. Nachdem wir das erste Skelett gefunden hatten, entstand im Dorf das Gerücht von Menschenfressern. Niemand konnte es sich erklären, nicht mal Doktor Grundner, wie eine Leiche innerhalb von wenigen Tagen zum Skelett werden kann.« 69
Erickson nickte. Das war tatsächlich unmöglich. »Und weiter!« Wachtmeister Kulick schluckte. Er blickte den Inspektor vielsagend an, dann senkte er seine Stimme. »Gestern wurde unser Doktor zu Rehsen gerufen. Rehsen ist der Lebensmittelhändler hier im Dorf. Er war an einem Herzschlag gestorben. Kaum war der Doktor unten bei der Frau, da hörten sie, wie oben im Zimmer des Toten Scheiben zersplitterten. Sofort rannte er nach oben. Doch die Tür war von innen abgeschlossen. Frau Rehsen kam zu mir und benachrichtigte mich.« Günther Erickson nickte. Das alles war ihm schon aus den Unterlagen bekannt. »Natürlich ging ich mit. Wir brachen die Tür auf und sahen den Toten.« Bei der Erinnerung an die schreckliche Szene brach ihm wieder der Schweiß aus. »Man hatte ihm die Beine abgerissen und das Herz herausgenommen. Doktor Grundner sagte, daß es ein unwahrscheinlich kräftiger Mensch gewesen sein mußte, denn er hatte alles mit bloßen Händen gemacht und kein Messer benutzt.« »Sagen Sie mir, wo ich den Arzt finde.« »Er wohnt am Ende der Straße. Gar nicht zu verfehlen. Es ist ein dunkelrot gestrichenes Blockhaus.« »Na schön.« Der Inspektor erhob sich. »Wo kann man hier übernachten?«
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»Im Gasthaus nebenan«, sagte Worchtel. »Bloß den Komfort den Sie gewohnt sind, werden Sie hier nicht finden.« Erickson blickte den Beamten nur kurz an. Wortlos drehte er sich um und verließ die Wache. Kaum war er draußen, sprang Worchtel zur Tür und schloß sie. »Warum das? Warum mußtest du den Mann einschalten? Meinst du, das hätten wir beide nicht auch allein geklärt?« »Genau, Sepp, das meine ich. Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Und je weniger ich damit zu tun habe, um so wohler ist mir, glaub mir das«, sagte Kulick. * Günther Erickson ließ seinen Wagen stehen und ging zu Fuß die Hauptstraße hinunter. Als er vorhin ins Dorf kam, saßen mehrere alte Leute vor der Tür. Jetzt war niemand mehr zu sehen. Vielleicht fürchteten sie sich vor einem Fremden. Es gab viele Dörfer, die ihre Abgeschiedenheit liebten. Er brauchte nicht weit zu laufen. Das Blockhaus war wirklich nicht zu übersehen. Es war zweistöckig. Die dunkelrote Farbe gab ihm etwas Außenstehendes. Es paßte einfach nicht hierher. Erickson klopfte. 71
Sofort wurde ihm aufgetan. Ein Mann, Mitte fünfzig, stand vor ihm und sah ihn abweisend an. »Was wollen Sie?« »Doktor Grundner?« »Nein, das ist mein Bruder. Was wollen Sie von ihm?« »Das würde ich ihm lieber persönlich erzählen.« Er lächelte den Mann freundlich an. »Wer ist da?« dröhnte eine Stimme aus dem Hausinnern. »Kommen Sie rein!« Der Mann gab die Tür frei. Erickson trat ein. »Gehen Sie weiter, gleich rechts durch die Tür!« Der Inspektor bedankte sich bei dem kauzigen Gesellen. Der Bruder des Arztes schickte sich an, die Treppe nach oben zu steigen. Erickson blickte ihm kurz nach, schüttelte den Kopf und betrat das ihm gewiesene Zimmer. Ein Mann mit eisengrauen Haaren kam ihm entgegen. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Bruder. »Was führt Sie zu mir?« »Inspektor Erickson vom Dezernat für außergewöhnliche Fälle.« »Freut mich, junger Mann. Kommen Sie, nehmen Sie Platz!« Die Wände des Zimmers bestanden aus Regalen, die dicht mit Büchern gefüllt waren. Es mußten mehrere tausend Bände sein.
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Seltsam, dachte Erickson, ein Landarzt und dann solch eine umfassende Bibliothek? Sie setzten sich in eine Ecke des Zimmers. Die Möbel waren alt und hatten Stil. »Möchten Sie was trinken? Whisky?« »Danke nein.« »Wieso kommen Sie zu mir?« »Sie sind Arzt, Sie haben die Toten gesehen, und. . .« »Den Toten, Herr Inspektor«, korrigierte der. »Ich habe nur einen Toten gesehen. Rehsen. Die beiden anderen waren zwar auch tot, aber zu einem Skelett würde ich nicht Toter sagen.« »Na schön.« Erickson fand Gefallen an dem Mann. »Dann eben den einen Toten. Er ist an einem Herzschlag gestorben?« »Hundertprozentig.« »Und anschließend riß irgend jemand dem Toten das Herz aus der Brust?« »So ist es!« »Was meinen Sie, wer das getan hat? Ich meine, Sie sind Arzt und können mir sagen, ob es fachgerecht gemacht wurde. Sie verstehen, was ich meine?« »Das war nicht der Fall. Der Tote ist regelrecht zerfleischt worden. Der Brustkorb wurde aufgerissen, die Rippen weggebrochen. Dann wurde das Herz entfernt, vorsichtig, aber ohne zu schneiden. Dann wurden dem Toten die Beine gebrochen. An
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den Beinstümpfen habe ich Zahnabdrücke gefunden.« Erickson richtete sich auf. »Das würde heißen..« » . . . das Märchen von den Fleischfressern könnte wahr sein. Das würde auch die gefundenen Skelette erklären.« Erickson saß einen Moment steif im Sessel. Natürlich hatte auch er schon von Menschenfressern gehört. Aber hier in Europa, mitten in Deutschland? »Das ist ja interessant, Doktor. Vielen Dank!« »Bitte, Inspektor. Ich habe eben nur medizinisch erklärt. Aber wenn ich mir das vorstelle, ich meine jetzt persönlich, wissen Sie, dann ist es das Furchtbarste, was ich je gesehen habe.« Der Inspektor verabschiedete sich rasch. Im Flur traf er den Bruder. »Mein Bruder Ronald«, stellte Doktor Grundner vor, »und das ist. . .« »Günther Erickson«, sagte der Inspektor rasch, »wir hatten ja schon das Vergnügen.« Ronald Grundner brummte irgend etwas Unverständliches und ging wieder nach oben. »Bitte sagen Sie niemand, wer ich bin, Doktor, auch nicht Ihrem Bruder. Kann ich mich darauf verlassen?« »Ich verstehe zwar nicht, warum. Aber von mir aus!« Sie reichten sich die Hände.
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Erickson ging und besorgte sich im Gasthaus ein Zimmer. Dann streckte er sich auf dem Bett aus und dachte lange nach. * Der Fleischfresser war im Dorf. Es war nachts, kurz vor elf Uhr. Er ging offen über die Hauptstraße und hielt Ausschau. Er hatte sich eine schwarze, bodenlange Kutte übergeworfen, um so gut wie unsichtbar zu sein. Das Dorf hatte keine Straßenbeleuchtung. In vereinzelten Häusern brannte noch Licht. Sein Herr hatte ihn losgeschickt. Er brauchte ein frisches Herz. Ein junges und vor allen Dingen ein gesundes, nicht so eins wie von seinem letzten Opfer. Außerdem verspürte er einen unbändigen Hunger. Seine Frau war wütend. Auch sie hatte in den letzten Tagen nicht genug bekommen . . . Die alte Frau war im Nu verschlungen. Vorn ging eine Haustür auf. Aus dem Gasthaus trat ein Mensch. Corf, der Fleischfresser, huschte schnell ins Dunkel. Er spähte angestrengt. Es war ein Mann, ein junger Mann. Corfs Rechte spannte sich zu einer mörderischen Klaue. Vorsichtig huschte er um das Haus herum, das ihm Deckung gewährt hatte. Der junge Mann vor ihm ging sorglos durch die finstere Straße. Er schwankte leicht. 75
Corf blickte sich um. Niemand außer dem Mann war jetzt noch auf der Straße. Nahrung, hämmerte sein Gehirn, für ihn und für Iogh, seine Frau. Und ein Herz für seinen Herrn . . . Schritt für Schritt schob Corf sich an sein Opfer heran. Der Mann blieb stehen. Ein Feuerzeug blitzte auf. Er steckte sich eine Zigarette an. Lauernd blieb Corf nur wenige Meter hinter ihm stehen. Da kam ihm plötzlich eine Idee. Ohne lange zu überlegen, huschte der Fleischfresser um das Haus herum. Diesmal würde er von vorn kommen. Er kannte das Dorf. Die Hauptstraße war praktisch die einzige im ganzen Ort. Die Häuser waren rechts und links davon errichtet. Corf ging an den Hinterfronten der Häuser vorbei. Jetzt mußte er sein Opfer schon überholt haben. Hinter dem nächsten Haus bog er rechts ein und näherte sich der Hauptstraße. Andreas Cublinsky hatte die Zigarette wieder weggeworfen. Sie schmeckte nicht. Außerdem dröhnte sein Schädel von dem Schnaps, den er unmäßig zu sich genommen hatte. Seine Schritte waren unsicher und schwankend. Nur noch zwei Häuser weiter, dann war er zu Hause. Er sehnte sich nach seinem Bett. Die Dunkelheit um ihn herum kam ihm gar nicht zum Bewußtsein. Er kannte es nicht anders. 76
Da hatte er die Ecke passiert. Ihm war es, als höre er den Atem eines Menschen. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte er eine Gestalt. Gleich darauf wurde er angesprochen. Ein Fenster, genau über ihm, war geöffnet worden, und Therese Rehsen beugte sich heraus. »Na, Andy, wieder ganz schön gezecht!« Als Corf die Frau hörte, zuckte er zurück. Seine Klaue entspannte sich. Das Opfer vor ihm, nur einige Zentimeter entfernt, schaute nach oben. »Ah, Therese. Na, wie geht’s? Alles gut überstanden?« »Was meinst du?« »Den Tod deines Alten natürlich. Jetzt steht dir niemand mehr im Weg. Wie ist’s, kann ich raufkommen?« »Scher dich zum Teufel!« keifte sie. »Ist ja gut, Therese. Die Spatzen pfeifen es ohnehin von den Dächern. Vielleicht habe ich auch mal Glück bei dir.« Er hörte, wie das Fenster zugeschlagen wurde. Lachend ging er weiter. Auf einmal vernahm er Schritte hinter sich. Während er weiterlief, lauschte er angestrengt. Es war kein Irrtum, jemand war hinter ihm. Wahrscheinlich einer aus dem Gasthaus, der sich einen Scherz mit ihm erlauben wollte. Ruckartig drehte er sich um. In der Dunkelheit konnte er nur Umrisse erkennen. Er wollte schon
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einen Scherz machen. Doch dazu kam er nicht mehr. Der Fleischfresser schlug zu. Im Augenblick des Todes erkannte Cublinsky seinen Mörder. Er schrie gellend vor Entsetzen auf... Therese Rehsen hörte Cublinskys Schrei. Im ersten Moment spielte sie mit dem Gedanken, sich nicht weiter darum zu kümmern. Doch dann siegte ihre Neugier. Sie ging zurück zum Fenster und öffnete es. Von unten klangen Geräusche zu ihr hinauf, die sie an platzende Seifenblasen erinnerten. Leise ging sie zurück und verließ das Zimmer. Nebenan im Schlafzimmer lag eine Taschenlampe. Im Schein der Lampe hoffte sie, mehr erkennen zu können. Es war eine kleine Lampe. Sie warf nur einen kleinen Lichtkegel, aber für ihre Zwecke würde es reichen. Therese beugte sich weit aus dem Fenster. Die Lampe in der Hand zitterte leicht. Sie sah Cublinsky liegen. Über ihm kniete ein Hüne von einem Mann. Als das Licht so plötzlich auf ihn fiel, blickte Corf verwirrt auf. Er sah die Frau oben am Fenster. Das Licht aus dem Zimmer zeigte ihm, wie hübsch sie war. Therese sah das Monster. Sie sah das blutverschmierte Gesicht. Das gab ihr den Rest.
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Entsetzt ließ sie die Taschenlampe fallen und schlug das Fenster zu. Sie bebte am ganzen Körper. Ihr wurde übel. Sie hatte einen Fleischfresser gesehen, und er sie auch! Bei dem Gedanken wollte ihr Herz aussetzen. Natürlich hatte er sie bemerkt. Mein Gott, dachte sie, wenn er nun raufkommt . . . Unten wurde kräftig gegen die Haustür gepocht. Das Monster . . .! Therese konnte im ersten Moment keinen klaren Gedanken fassen. Sie vernahm, wie die Haustür krachend aufgebrochen wurde. Der Fleischfresser war im Haus! Der Frau brach der kalte Schweiß aus. Rasch lief sie zur Zimmertür und schloß ab. Dann stellte sie – so schnell sie konnte – einen Stuhl an die Tür und klemmte die Lehne unter die Klinke. Sie wußte, daß das nicht viel nutzen würde. Wenn die Bestie die Haustür eingeschlagen hatte, würde es ihr keine Schwierigkeiten machen, die leichte Zimmertür aufzubrechen. Hastig blickte Therese Rehsen sich im Zimmer um. Da hörte sie die Schritte, die die Treppe heraufkamen, schwer und hohl. Jetzt hatte das Monster die Tür erreicht. Die Frau sah, wie die Klinke bewegt wurde. In höchster Angst rannte sie zum Fenster. Sie war hier im ersten Stock und hatte keine andere Möglichkeit. 79
Sie schrie gellend auf, als die Tür nach innen aufschlug. Das Monster stand im Raum! Mit weit aufgerissenem Maul kam es näher. Therese wich bis ans Fensterbrett zurück. Der Fleischfresser streckte seine Hände vor. Die Frau sah die mörderischen Klauen mit den langen, dolchspitzen Fingernägeln. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Abwehrend streckte sie die Hände nach vorn. Wie hypnotisiert blickte sie in die irre leuchtenden Augen der Bestie. Corf ließ sich Zeit. Seinen größter Hunger hatte er schon gestillt. Jetzt wollte er die Frau haben . . . Sie war hundertmal schöner als Iogh. Er wollte sie besitzen. Nicht töten, dazu gefiel sie ihm zu gut. Er mußte sie lebend haben. Therese hatte sich in diesem Augenblick entschlossen, zu springen. Sie drehte sich um, doch bevor sie aufs Fensterbrett steigen konnte, hatte Corf sie erreicht. Er packte sie an den Oberarmen und riß sie zurück. Therese schrie laut auf. Sie wehrte sich, so gut sie konnte. Corf packte sie vorsichtig und drehte sie zu sich um. Sie hatte sein Gesicht wenige Zentimeter vor Augen, diese dunkelbraune Fratze mit dem mörderischen Gebiß! Sie spürte seinen Atem; er roch nach Blut. Da endlich erlöste sie eine Ohnmacht. Sie sank in die Arme des Monsters.
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Corf nickte zufrieden. Er warf sich die Frau über die Schulter und stieg die Treppe hinunter. Vor dem Haus orientierte er sich kurz. Obwohl der Mann und die Frau geschrien hatten, hatte sich niemand darum gekümmert. Er lud sich die Leiche des Mannes auf die andere Schulter und setzte seinen Weg fort. Aber es sah ihn doch jemand! Im Haus des Arztes bewegte sich leicht die Gardine hinter dem Fenster im ersten Stock. Teilnahmslos blickten Augen dem Monster nach. Corf wußte, wer ihn verfolgte. Der Inspektor erwachte. Unten in der Gaststätte klapperte Geschirr. Verwundert blickte er an sich herunter. Er war voll bekleidet. Dann fiel es ihm wieder ein. Er hatte gegrübelt und mußte darüber eingeschlafen sein. Sein Blick fiel auf die Uhr. Die Leuchtziffern ließen ihn erkennen, daß es kurz nach Mitternacht war. Trotz der späten Stunde war unten anscheinend noch Betrieb. Erickson ging zum Waschbecken und wusch sich das Gesicht. Dann schickte er sich an, hinunterzugehen. Sein Reisekoffer lag noch im Wagen. In der Gaststube verstummten die Gespräche, als er eintrat. Außer dem Wirt und dessen Frau waren nur noch fünf Männer anwesend. Herr Beusel nickte seiner Frau zu. »Bring dem Herrn etwas zu trinken!« 81
Erickson setzte sich an einen Tisch. Die beiden Bauern, die daran gesessen hatten, standen auf und gingen an den Schanktisch. Der Inspektor tat so, als bemerke er es nicht. Frau Beusel, die Wirtin, stellte ein Glas Bier vor ihn hin. »Danke, das kann ich jetzt gebrauchen«, sagte er. »In zehn Minuten schließen wir die Gaststube«, teilte sie mit. »Das wird reichen.« Mit großen Zügen leerte er das Glas. Dann sah er sich um. Die Männer hatten die Köpfe gesenkt. Ihr vormals so angeregtes Gespräch wollte nicht mehr aufleben. Einer der Männer am Nebentisch erhob sich, warf eine Münze auf den Tisch und wollte gehen. Da wurde die Tür aufgestoßen. Ein Junge kam herein. Sein Gesicht war vom schnellen Laufen gerötet. Die Haare hingen ihm wirr im Gesicht. Über seine Wangen rannen Tränen. Er war höchstens sieben Jahre alt. »Vater«, schrie er, »wo ist mein Vater?« Der Wirt kam um den Schanktisch herum. »Er ist vor einer Stunde gegangen. Ist er denn nicht zu Hause?« »Nein.« Der Junge streckte seine Hand vor mit einem blutgetränkten Halstuch. Die Männer kannten es. Es hatte Andreas gehört.’ 82
»Wo hast du das her?« flüsterte der Wirt. »Es lag vor unserem Haus auf dem Boden. Ringsum war alles voll Blut.« Die Männer sahen sich an. Der, der eben gehen wollte, kam wieder zurück. »Das war der Schrei vorhin«, sagte er. »Ich habe keinen gehört«, behauptete der Wirt rasch. »Natürlich haben wir ihn alle gehört.« Der Mann wandte sich an die übrigen Männer. »Wir haben ihn gehört, und waren zu feige rauszugehen.« Einer der Männer wagte einen Einspruch. »Was hätten wir denn tun sollen?« »Helfen!« »Gegen den Fleischfresser? Du bist wahnsinnig. Wenn wir rausgegangen wären, wären wir alle tot.« Der Inspektor erhob sich. Sein Blick musterte die Anwesenden. Von ihnen schien tatsächlich keine Hilfe zu kommen. Er ging zu dem Jungen. »Zeigst du mir die Stelle, wo du das Tuch gefunden hast?« Stumm nickte der Junge. »Haben Sie eine starke Taschenlampe?« Inspektor Erickson wandte sich an den Wirt, der sich verschüchtert hinter den Schanktisch zurückgezogen hatte. »Ja natürlich.« Er zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Lampe. 83
Erickson nahm sie ohne Dank entgegen. »Ist jemand von Ihnen bereit, mitzukommen?« Fragend musterte er die Männer. »Ja, ich komme mit. Ich hätte schon vorhin rausgehen sollen.« Der Mann rutschte vom Hocker und kam auf Erickson zu. »Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber ich fühle, daß Sie helfen wollen.« Er reichte ihm die Hand. »Mit mir können Sie rechnen. Die Hasenfüße hier«, er zeigte in die Runde, »machen sich eher die Hosen voll. Ich heiße Richard Flansko. Nennen Sie mich Richard!« »Günther«, sagte Erickson und schüttelte dem Mann kurz die Hand. Es war ein kräftiger Händedruck. Der Mann war weit über fünfzig. Er hatte ein brutales Gesicht, das wie Leder aussah. Seine Figur wirkte nicht übermäßig kräftig, eher schwächlich. »Gehen wir.« Der Junge ging schweigend voran. Erickson mußte erst die Augen zusammenkneifen, um ein paar Umrisse in der Dunkelheit zu erkennen. Er knipste die Lampe an. Der Lichtkegel fraß sich in die Schwärze. Rasch folgten sie dem Jungen. Schon nach knapp 70 Metern blieb er stehen. Erickson ließ die Taschenlampe kurz kreisen. Links und rechts standen einfache Häuser. Weiter vorn, auf der rechten Seite, erkannte er das dunkelrote Haus des Doktors.
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Dann wandte er sich der Stelle zu, auf die der Junge gezeigt hatte. Der grelle Schein der Lampe ließ eine riesige Blutlache erkennen. Erickson bückte sich. Es war schon zum größten Teil in den Sand eingesickert. Die schwarze Färbung des Bodens deutete an, daß sich hier vor kurzer Zeit ein Drama abgespielt hatte. Richard kniete neben den Inspektor und starrte auf den Boden. »Sehen Sie hier, Günther.« Er zeigte auf kleine weiße Fetzen, die wie Papierschnipsel aussahen. Es waren winzige Fleischstücke . . . Erickson richtete sich auf. Der Junge stand noch immer stumm neben ihnen. Hilflos fuhr Erickson mit seiner Rechten durch die Haare des Jungen. Dann wandte er sich an den Mann. »Bringen Sie bitte den Jungen nach Hause, Richard! Ich werde inzwischen zur Wache gehen.« »Da werden Sie niemand mehr antreffen.« »Warum nicht? Es muß doch auch nachts jemand auf der Wache sein.« »Was soll hier schon in der Nacht passieren? Aber ich kann Ihnen das Haus des Wachtmeisters zeigen, wenn Sie wollen.« »Ja, natürlich. Aber bringen Sie bitte erst den Jungen nach Hause. Ich werde mich in der Zwischenzeit ein wenig umschauen.« Flansko nickte und ergriff den Arm des Jungen.
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»Komm, Walter! Deine Mutter wird sich sorgen.« Während der Junge und der Mann zwei Häuser weiter gingen und an die Haustür klopften, betrachtete Erickson noch mal die Stelle. Wenn sogar die Männer im Gasthaus den Schrei gehört hatten, mußten ihn die Bewohner der umliegenden Häuser erst recht gehört haben. Er leuchtete die Fassade des Hauses vor ihm ab. Direkt vor den Fenstern hatte sich die Bluttat ereignet. Er mußte den Besitzer sprechen. Vielleicht kam er dadurch weiter. Kurz vor der Haustür stolperte er über eine auf dem Boden liegende Taschenlampe. Verwundert bückte er sich und hob sie auf. Das Glas war zersprungen, die Birne kaputt. Was bedeutete das? Hatte jemand das Untier gesehen und die Lampe vor Schreck fallen lassen? Es überraschte ihn schon nicht mehr, als er die Haustür anleuchtete und entdeckte, daß sie aufgebrochen war. Einen Moment zögerte er, einzutreten. Was würde ihn erwarten? Ein neues Verbrechen? Kurz entschlossen überstieg er die am Boden liegende Tür und trat ein. Im Schein der Lampe suchte er einen Lichtschalter. Links an der Wand fand er ihn. Er knipste ihn an. Schlagartig war die unterste Etage in Licht getaucht.
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Aufmerksam blickte er sich um. Eine breite Treppe führte in die obere Etage. Vorsichtig stieg er nach oben. Hier mußte er auch erst den Lichtschalter suchen. Er knipste die Lampe aus und steckte sie in seine Jackentasche. Vom Gang gingen nur drei Türen ab. Die mittlere war ebenfalls aufgebrochen. In diesem Augenblick verfluchte er sich, daß er seine Beretta im Wagen gelassen hatte. Einen Augenblick zögerte Erickson noch, dann trat er ein. Sein erster Blick fiel auf den zerbrochenen Stuhl neben der zersplitterten Türfüllung. Sonst aber war keine weitere Verwüstung zu erkennen. Nachdenklich sah er sich in dem Raum um. Gerade als er sich umdrehen wollte, hörte er, wie jemand die Treppe heraufkam. Ohne eine Geräusch zu verursachen, huschte er neben die Türöffnung. Lautlos tasteten seine Finger nach dem neben ihm liegenden, zerbrochenen Stuhl. Er ergriff ein Stuhlbein. Fest umschloß seine Faust die Waffe. Der Fremde hatte den Flur erreicht. Gebannt starrte Erickson auf den vorausziehenden Schatten. In den nächsten Sekunden mußte der Unbekannte im Raum stehen. Der Inspektor stand lauernd an die Seitenwand gepreßt, das Stuhlbein zum Schlag erhoben. Er konnte schon die Atemzüge des anderen hören. Da trat er in den Raum . . . 87
Erickson konnte den niedersausenden Schlag gerade noch aufhalten. Erschrocken sprang Doktor Grundner zurück. Günther Erickson atmete aus und ließ das Stuhlbein fallen. Er trat auf den Doktor zu. »Wie kommen Sie denn hierher?« »Dieselbe Frage kann ich auch an Sie richten.« Der Arzt hatte sich wieder gefaßt. Das war allerdings ein seltsames Zusammentreffen. Was hatte der Arzt hier zu suchen? Hatte er den Schrei auch gehört? Er mußte ihn gehört haben. Sein Haus stand nur ein paar Meter vom Tatort entfernt. »Ich war im Gasthaus, als ein Junge hereinkam und mich hierher holte. Sein Vater ist wahrscheinlich vor diesem Haus ermordet worden. Dann betrat ich dieses Haus. Auch hier muß der Mörder gewesen sein. Das beweisen die eingeschlagenen Türen.« »Ich wollte nach Frau Rehsen sehen.« »Rehsen?« Erickson war verwundert. »Die Frau des Toten, den man so entsetzlich verstümmelt hat?« »Ja.« »Und Sie wollten nach der Frau sehen?« »Ja.« »Zu dieser Zeit? Ist das nicht ein wenig ungewöhnlich?« »Ist nicht alles hier ungewöhnlich?« Der Doktor sah den Inspektor an. In seinen Augen flackerten Aufregung und Angst. Erickson nickte. 88
»Kommen Sie! Zeigen Sie mir das Haus des Wachtmeisters. Flansko scheint aufgehalten worden zu sein.« »Sagten Sie eben Flansko? Richard Flansko?« »Ja. Wieso?« Erickson blickte den Arzt erstaunt an. »Was ist mit ihm?« »Er ist derjenige, der das Märchen der Fleischfresser in Umlauf gebracht hat.« »Und?« »Hat er Ihnen seine Hilfe angeboten?« »Ja. Rücken Sie schon mit der Sprache heraus, Doktor!« »Ich kann mich ja auch irren, aber eins spricht für sich, Inspektor.« Der Arzt sah ihn ernst an. »Seine Tochter war das erste Opfer!« Therese Rehsen erwachte aus ihrer Ohnmacht. Im ersten Augenblick wußte sie nicht, wo sie sich befand. Verwirrt sah sie sich um. Sie lag auf einer Holzpritsche. Neben dem primitiven Bett stand ein Tisch und ein Stuhl. Das war das gesamte Inventar. Die Wände ringsum bestanden aus roh behauenen Holzstämmen. Fenster gab es keine. Dafür stand auf dem Tisch eine Petroleumlampe. Sie starrte in die Flamme. Urplötzlich fiel ihr das Vorgefallene wieder ein. Das Monstrum hatte sie mitgenommen. Fieberhaft irrten ihre Blicke im Raum hin und her. Sie stürzte auf die Tür zu und rüttelte an der Klinke. Vergebens. Sie war von außen verschlos89
sen. Wahnsinnig vor Angst trommelten ihre Fäuste gegen das Holz der Tür. »Hilfe, Hilfe!« Ihre Stimme kippte über. Die Tür wurde aufgerissen. Helles Tageslicht überflutete sie. Vor ihr stand Iogh, die Frau des Monsters. Iogh war fast genauso groß wie Corf. Die Haare hingen ihr in dicken Strähnen über die Schultern. Iogh hatte nur ein Auge. An der Stelle des anderen war eine brandrote Narbe. Sie hatte den Mund weit aufgerissen. Das fürchterliche Gebiß blitzte. Therese wich zurück. Iogh folgte ihr. Aus ihrem dunkelbraunen, zerrissenen Kleid holte sie ein Messer hervor. Noch bevor Therese ausweichen konnte, hatte die Fleischfresserin zugestoßen. Das Messer bohrte sich in den Oberarm der Frau. Therese stand an der Wand des Blockhauses und schrie.Iogh riß das Messer wieder zurück. Dann holte sie noch mal weit aus. Therese Rehsen war unfähig, sich zu rühren. Ihr Schrei war erstickt. Sie blickte in das Auge der Fleischfresserin und sah darin ungestüme Mordlust. In dem Augenblick stürmte Corf in das Blockhaus und riß seine Frau beiseite. Sie schrie wütend auf und zischte ihn an. Doch er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
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Therese stand da und starrte auf den Fleischfresser. Die Angst war so übermächtig in ihr, daß sie nur noch verständnislos das Monster ansehen konnte. Was bedeutete das? Corf sah die Wunde in ihrem Oberarm. Fasziniert starrte er auf das Blut, das aus der Stichwunde quoll. Therese war wie hypnotisiert. Sie wehrte sich nicht, als Corf vorsichtig ihren Arm hob, und die Wunde an seinen Mund führte. Seine Lippen umschlossen die Verletzung. Als er anfing, das Blut zu saugen, erlöste eine Ohnmacht Therese vor dem Grauen. Hätte Corf nicht ihren Arm gehalten, wäre sie zu Boden gestürzt. Verwundert blickte er auf die Frau. Vorsichtig nahm er sie hoch und legte sie aufs Bett. Iogh betrachtete ihn mißtrauisch. Warum legte er die Frau aufs Bett? Was sollte das? Sie hatte lange nichts mehr bekommen. Nun hatten sie ein Opfer, und Corf ließ sie ungeschoren . .. Das verstand sie nicht... Sie stieß ihn an. Brummend winkte Corf ab. Er riß sich einen Fetzen Tuch vom Umhang und wickelte ihn um die Armwunde der Frau. Er versorgte die Wunde, so gut er konnte. Es war eine ungewohnte Arbeit für ihn. Diese Frau durfte nicht sterben!
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Er richtete sich auf. Kaum stand er aufrecht, machte Iogh Anstalten, sich auf die Wehrlose zu stürzen. Corf fing den Arm seiner Frau ab und riß ihn nach hinten. Es knackte. Iogh schrie auf. Er hatte ihr den Arm ausgerenkt. Mit einem wuchtigen Hieb stieß Corf seine Frau aus der Hütte. Dann, nach einem Blick auf die schöne Frau, trat auch er auf die Waldlichtung. Sorgfältig schloß er die Tür. Er zog den Schlüssel ab und ließ ihn in den weiten Taschen seines schwarzen Umhangs verschwinden. Iogh hielt sich den Arm, doch kein Schmerzenslaut kam über ihre Lippen. Corf würde sich schon etwas gedacht haben. Er wußte immer, was er tat, dachte sie. Doch mit Corf war eine Veränderung vorgegangen. Er hockte mit dem Rücken an einem knorrigen Baum und starrte in den gleißend hellen Himmel. Seine furchtbar aussehenden Klauen spielten mit dem Sand zu seinen Füßen. Das Monster brummte vor sich hin. Dieses Herz konnte sein Herr nicht haben. Dieses nicht, dafür würde er sorgen .. . * In Örderberg herrschte helle Aufregung. Es gelang Wachtmeister Kulick nur schlecht, die aufgebrachten Leute zu beruhigen.
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Gut vierzig Personen hatten sich vor der Wache versammelt. Einer, den die Menge zu ihrem Wortführer gemacht hatte, trat vor. Kulick trat etwas näher an den neben ihm stehenden Inspektor heran. »Ein ausgekochter Typ«, wisperte er ihm zu, »Fensen Raiger. Er ist so was wie der Bürgermeister des Ortes. Wo es irgendwas zum Aufwiegeln gibt, ist er dabei. Er hält es für Politik, verstehen Sie?« »Kulick, uns reicht es jetzt.« Raigers Stimme dröhnte über die Straße. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und wippte auf den Zehenspitzen. »Das wäre nun der siebte Fall. Von der Leichenfledderei will ich gar nicht erst sprechen. Ich frage mich, wozu wir zwei Polizisten hier haben, wenn es einer Bestie gelingt, einen nach dem anderen abzuschlachten.« »So darfst du es nicht sehen«, hielt ihm Kulick vor. »Nein?« höhnte er. »Wie denn, wenn ich fragen darf?« »Wir tun unser Möglichstes. Das weißt du.« »Ha!« Er wandte sich der Menge zu. »Er tut sein Möglichstes. Da hört ihr’s! Ich frage euch: Was hat unsere werte Polizei bisher getan? Wenn sie erschien, war schon alles vorbei.« »Richtig!« klang es aus der Menge. Fäuste wurden geschüttelt.
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»Du weißt nicht, was du redest, Fensen«, schrie Kulick. Worchtel stand daneben und betrachtete die Menge mit amüsiertem Gesichtsausdruck. Ihn interessierte es nicht. Kulick war der Chef. »Ich weiß schon, was ich rede, Wachtmeister. Bisher habt ihr immer den Schwanz eingekniffen, wenn es darum ging, etwas zu unternehmen.« »Du hast es nötig, dein Maul aufzureißen, Bürgermeister. Als es damals hieß, ich brauche ein paar Männer, die mit mir den Steigerwald absuchen, habe ich dich nicht gesehen. Wo warst du, he?« Raiger merkte, wie Kulick ihm die Schau stehlen wollte. Er suchte nach passenden Worten, die seine Position wieder festigen würden, doch Erickson kam ihm zuvor. Er trat ein paar Schritte vor. Laut erhob er seine Stimme. »Ich bin Inspektor Erickson aus Würzburg. Wachtmeister Kulick hat um Hilfe ersucht. Wenn ich die Sache betrachte, verstehe ich auch, warum.« Raiger blickte erstaunt auf den Inspektor. Auch die übrigen vergaßen ihre Zwischenrufe. Gespannt hörten sie zu. »Heute nacht sind furchtbare Dinge im Dorf passiert. Ein Mann und eine Frau wurden wahrscheinlich getötet. Ich sage wahrscheinlich, weil wir die Leichen noch nicht gefunden haben. Der Mann hat noch schreien können. Laut und gellend. 94
Viele von euch müssen ihn gehört haben, doch keiner kam auf die Idee, ihm zu Hilfe zu eilen. Ich selber habe geschlafen, und zwar so fest, daß ich den Schrei nicht hörte. Genauso der Wachtmeister, dem euer Bürgermeister Nachlässigkeit vorwerfen will. Ich frage Sie, Herr Raiger, haben Sie den Schrei nicht gehört? Ich habe Sie doch unten im Gasthaus gesehen. Der alte Flansko hat mir versichert, daß der Schrei klar zu vernehmen war.« Erickson sah abwechselnd die vor ihm stehenden Leute an. Es waren durchweg Männer. Sobald einen von ihnen sein Blick traf, sahen sie zu Boden. »Ich glaube, es ist besser, wenn ihr nach Hause geht.« Den letzten Satz hatte er leise gesprochen, und doch zerstreuten sich die Männer. Nach zwei Minuten war keiner mehr zu sehen. »Feiges Pack«, grollte Kulick. »Das würde ich nicht sagen«, wandte Erickson ein. »Sie wissen bloß nichts mit der Situation anzufangen. Sie verspüren Angst vor etwas, was sie sich beim besten Willen nicht erklären können.« »Und Sie? Können Sie es sich erklären?« »Noch nicht«, gab Erickson zu. »Es ist aber auch eine verflixte Geschichte. Wenn ich bloß dahinterkommen würde!« »Wohinter?« fragte Erickson. »Was sich hier eigentlich abspielt, meine ich. Ich sehe keinen Sinn in den Greueltaten. Ehrlich, Inspektor: Glauben Sie an Fleischfresser?« 95
Günther Erickson zögerte etwas mit der Antwort. Er blickte die Hauptstraße entlang. Sie war wie leergefegt. Er schlug dem Wachtmeister auf die Schulter. »Lassen Sie uns reingehen!« Kulick ging voran. Worchtel blieb noch draußen. Er fühlte sich in die Aufforderung nicht mit einbezogen. Drin nahmen sie Platz. Kulick schraubte seine Thermosflasche auf und füllte zwei Becher. Einen davon reichte er dem jungen Kriminalisten. »Danke.« »Wollen Sie meine Frage nicht beantworten, Inspektor?« »Ob ich an Fleischfresser glaube? O ja, das tue ich. Und zwar intensiv.« Erickson blickte auf. Kulick war erstaunt. »Ich dachte immer, daß junge Polizisten real denken und an solche Schauermärchen nicht glauben.« »Normalerweise trifft das auch zu. Aber in diesem speziellen Fall bin ich überzeugt, daß es kein Märchen ist. Der Doktor hat die Fleischstückchen untersucht. Sie stammen von Cublinsky, zumindest von einem Menschen. Jetzt verstehe ich auch, warum man dem toten Rehsen die Beine abgerissen hat.« »Das ist scheußlich.« »Richtig.« Erickson nippte vorsichtig an dem heißen Kaffee. »Aber was noch scheußlicher ist, ist 96
die Tatsache, daß ich einfach nicht weiß, wo ich einhaken kann. Ich finde keinen Anhaltspunkt, Wachtmeister.« »Ich weiß auch nicht weiter.« »Es wird uns gar nichts anderes übrigbleiben, als den Wald noch mal durchzukämmen.« »Wissen Sie, wie groß das Gebiet ist, Inspektor?« »Ja, verdammt noch mal.« Erickson stand auf und trat ans Fenster. »Ich weiß es. Aber haben Sie einen besseren Vorschlag? Wir können doch nicht abwarten, bis diese Bestie einen Fehler macht.« »Natürlich nicht.« »Nur eines wundert mich. Wenn es sich wirklich um Fleischfresser handelt, dann verstehe ich nicht, warum sie in so unregelmäßigen Zuständen zuschlagen. Wir essen ja auch jeden Tag, und nicht nur alle paar Wochen.« Der Wachtmeister blickte hoch. Ihm war gerade eine Idee gekommen. »Mit der alten Olsen fing es vor drei Tagen an, Inspektor. Dann wurde Rehsens Leiche gefleddert. Anschließend verschwanden Cublinsky und Frau Rehsen. Das macht zusammen vier. Die gleiche Anzahl, ebenfalls vier Menschen, verschwanden vor ein paar Wochen. Dazwischen passierte nicht das geringste.« Erickson kam zurück an Kulicks Schreibtisch.
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»Sie wollen sagen: die ganze Sache wird gesteuert. Von irgend jemand, der genau weiß, was er will.« Kulick nickte heftig. »Genau, das meine ich.« »Kannibalismus.. .«, versuchte sich Erickson zu erinnern, »den gibt es ja wohl in den Tropen. Ich glaube auf Borneo. Ich bin kein Experte. Aber – soviel ich weiß – essen Kannibalen das Menschenfleisch nicht als Nahrung. Es hat etwas mit ihrer Religion zu tun. Man ißt das Fleisch von Menschen, deren Eigenschaften man sich aneignen will . . . Mut oder Intelligenz oder Macht.. . Der Priester .. . oder Schamane, wie die Priester da wohl heißen . .. bezeichnet die Opfer und schickt die Männer des Stammes aus, das Opfer zu töten. Es muß also jemand geben, der das Opfer befiehlt. Nehmen wir an, daß wir es hier mit Kannibalismus zu tun haben, dann muß es jemand geben, der dahintersteckt.« »Was kann derjenige damit bezwecken?« Erickson überlegte einen Moment. Er dachte an den Rehsen-Fall. Da hatte man dem Toten das Herz entnommen. Kam es diesem Mann im Hintergrund auf das Herz an? Seine Überlegungen teilte er dem Wachtmeister bewußt nicht mit. Er wollte die Phantasie nicht unnötig anheizen.
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Wie sagte der Wachtmeister? Vier Verschwundene vor einigen Wochen, und vier in diesen Tagen ... Wenn es dem Unheimlichen wirklich nur um die Herzen ging, dann müßte jetzt eine Pause eintreten. * Iogh verspürte fürchterliche Schmerzen. Die Schulter brannte wie Feuer. Corf kümmerte sich nicht um sie. Er saß schon den ganzen Tag an den Baum gelehnt und starrte vor sich hin. Sie war zu ihm gegangen, aber er hatte sie weggescheucht. Sie hielt die Schmerzen nicht mehr aus. Sie mußte sich Erleichterung verschaffen. Außer Corf kannte nur sie den Herrn. Ob der zu dieser Zeit da war? Sie versuchte es einfach. Iogh schleppte sich über die Lichtung, vorbei an Corf, der sie mit keinem Blick beachtete. Er hatte genug damit zu tun, an die Frau zu denken. Iogh wanderte durch den Wald. Sie wußte, daß im Wald Gefahren lauerten. Ihr Herr hatte von den Menschen erzählt, daß diese, wenn sie zu mehreren auftauchten, unbesiegbar seien. Die Menschen waren im Wald. Viele Menschen. Iogh huschte hinter einen Baumstamm und sah sie kommen. Angst verspürte sie nicht. Sie wußte, daß sie kräftig war.
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Die Menschen kamen in einer lang auseinandergezogenen Kette auf sie zu. Sie mußte Corf warnen. Ohne zu zögern, drehte Iogh sich um. Ihr häßliches Gesicht verzog sich vor Anstrengung, als sie einen Warnschrei ausstieß. Der Schrei ließ Mensch und Tier erstarren. Erickson hatte sich als erster wieder gefaßt. »Los weiter!« schrie er die erschrockenen Männer an. Wachtmeister Kulick entsicherte seine Dienstwaffe und rannte los. Seinem Beispiel folgten die Männer. Flansko hetzte hinter Erickson her. Da trat Iogh hinter dem Baum hervor. Sie hatte den Rücken gekrümmt und hechelte den Männern entgegen. Noch im Laufen begann Wachtmeister Kulick zu schießen. Seine Kugeln trafen ihr Ziel. »Hören Sie auf!« brüllte Erickson. »Ich will sie lebend, verdammt noch mal.« Er überholte Kulick und erreichte als erster die Fleischfresserin. Sie stand noch immer aufrecht, obwohl mehr als vier Kugeln sie getroffen hatten. Sie hatte noch so viel Energie, daß sie sich mit einem tierischen Schrei auf Erickson stürzte. Doktor Grundner, der sich als letzter entschlossen hatte, die Suche mitzumachen, stürmte nun auch herbei. Er riß Kulick den Revolver aus der Hand. Noch ehe Erickson etwas unternehmen konnte, hatte der Doktor abgedrückt. Er war Mediziner und wußte, wohin man schießen mußte, um einen Menschen zu töten. Die Fleischfresserin hat100
te zwar nicht viel Menschenähnliches, aber sie besaß ein Herz. Es wurde getroffen. Sie starb. Wütend wandte Erickson sich an den Arzt. »Warum haben Sie sie getötet?« »Sie wollte sie angreifen.« »Aber sie war schon verletzt. Sie war keine Gefahr mehr.« Erickson blickte den Arzt lange und nachdenklich an. Doktor Grundner wandte den Blick ab. »Hier ist eine Blutspur«, meldete Raiger weiter hinten. Der Bürgermeister hatte sich ihnen angeschlossen, um Solidarität mit seinen Mitbürgern zu beweisen. Der Inspektor ließ den Doktor stehen. Auf sein Zeichen hin setzten sich die Männer in Bewegung. Sie folgten der Blutspur, die die verletzte Iogh hinterlassen hatte. Corf hatte den Schrei seiner Frau gehört. Im Nu sprang er hoch und stürmte in die Hütte. Therese wich entsetzt zurück, als das Untier eintrat. Corf zögerte einen Augenblick. Seine Klauen formten sich zu mörderischen Krallen. Sein Gehirn hämmerte: Töte, töte! Er streckte eine Klaue vor und legte sie der Frau um den Hals. Da sah er ihre Augen. Angstverzerrt, um Mitleid bittend. Corf verspürte zum ersten Mal keine Lust zum Töten, nur eine unergründliche Müdigkeit. Er ließ von ihr ab. 101
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Unter der Tür stand sein Herr. »Töte sie!« Corf schüttelte seinen mächtigen Kopf. »Töte sie!« befahl sein Herr noch mal. Corf weigerte sich. Er röhrte laut auf und wollte damit zeigen, daß er die Frau nicht töten konnte. Doch sein Herr war unerbittlich. Er riß eine Pistole aus seiner Jacke. Ohne zu zögern, schoß er. Therese Rehsen wurde von dem Aufprall der Kugel an die Wand geschleudert. Sie starb, noch ehe sie zu Boden fiel. Der Knall des Schusses spornte die Männer noch mehr an. Sie begannen zu laufen, Erickson vorneweg. Er ahnte einen Zusammenhang. Sie erreichten die Blockhütte. Entsetzt blieben sie stehen. Das Monster kämpfte mit seinem Herrn. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Niemand mischte sich ein. Der Fleischfresser hatte den Mann umklammert und biß zu. Ein fürchterlicher Schrei gellte über die Lichtung. Dieser Schrei riß die Männer aus ihrer Erstarrung. Es waren über zwanzig Männer. Als sie ihre Waffen zogen, hatte die Bestie keine Chance mehr. Er hatte sich in den Mann verbissen und zerrte kauend wie ein Tier an einem Stück Fleisch. Die Männer drückten ab. Sekundenlang dröhnte die Lichtung von den Abschüssen. Dann war Ruhe. 102
* Inspektor Erickson berichtete seinem Chef, Hauptkommissar Kümmersbach. »Die Sachlage war eigentlich logisch, Chef. Der Bruder von Doktor Grundner war ein bekannter Afrika-Forscher, bis er vor ein paar Jahren durch ein Tropenfieber auf den Tod erkrankte. Körperlich erholte er sich wieder. Aber sein Verstand war getrübt. Er lebte unter der Zwangsvorstellung, er müsse Experimente mit Kannibalen machen, um das Geheimnis ihres Mordtriebs zu enträtseln. Er fand zwei Wesen in einem der letzten Stämme, die noch dem Kannibalismus erlegen waren. Sie wurden ihm hörig und gehorchten aufs Wort wie abgerichtete Hunde.« »Hat denn seine Umgebung in Afrika nichts von diesem makabren Treiben bemerkt?« wollte der Hauptkommissar wissen. »Wahnsinnige, die einer fixen Idee verfallen sind, wissen sich zu tarnen und kommen auf die verwegensten Einfälle«, erklärte Erickson. »Als er sich nicht mehr länger tarnen konnte, beschloß er, nach Europa zu fahren. Er brachte es fertig, daß ihm die Reise organisiert wurde und – das ist das tollste – seine beiden Kannibalen mitreisen durften. Wie er das zustande brachte, wird noch ermittelt. Er hatte in Europa ein Ziel: seinen Bruder Doktor Grundner in örderberg.« Erickson machte eine Pause und steckte sich eine Zigarette an. 103
»Weiter, erzählen Sie!« forderte der Chef. »Der Doktor widersetzte sich zuerst. Aber in gesunden Tagen war Ronald seinem jüngerem Bruder immer überlegen gewesen an Intelligenz und Energie. In seinem Wahn war er das natürlich um vieles mehr. Der Doktor mußte stillhalten und schweigen.« »Und der Vorfall mit dem herausgerissenen Herzen?« »Doktor Grundner wollte Herzspezialist werden. Aber dazu hatte es nicht gelangt. Er landete in einer Landpraxis. Aber in Büchern und Träumereien beschäftigte er sich immer noch mit Herzexperimenten. Da bot ihm unversehens das Schicksal Material für seine Experimente an. Da die Kannibalen immer nur Skelette zurückließen, konnten die fehlenden Herzen nie entdeckt werden. Bis Rehsen starb. Da hatte Corf keine Zeit gehabt. Er wurde überrascht. Und der Wachtmeister kam zu schnell. Damit hatten die Brüder nicht gerechnet. Das war ihr Fehler.« Der Chef erhob sich. »Von diesen Fehlern leben wir, mein Junge. Übrigens, in Ihrem Büro liegen neue Unterlagen auf dem Schreibtisch. Bitte lesen Sie sie ...!«
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PHÄNOMEN DER ANGST Die Anzeige hatte gelautet: »Furchtlose Männer und Frauen gesucht«. Mehr nicht, keine genaueren Angaben über Zweck und Ausführung der zu erwartenden Aufgaben. Vier hatten sich gemeldet. Drei Männer und eine Frau. Sie wußten nicht, was sie erwartete und wie sie entlohnt würden. Alle vier waren sich einig darüber, daß sie einen gewissen Anreiz gespürt hatten, als sie die Anzeige lasen. Sie befanden sich in einer Villa im Tessin. Die Anreisekosten hatte der Auftraggeber getragen. Die waren nicht zu knapp, denn zwei Interessenten kamen aus Südamerika, einer aus Schweden, und die Frau war gebürtige Griechin. Die Anzeige war weltweit aufgegeben worden. Henry Dumont, der Auftraggeber, hatte sich aus dem Stoß der Briefe wahllos vier herausgegriffen. Diese vier Leute waren nun angekommen. Nach einem gemeinsamen Abendbrot wurden ihnen Verträge vorgelegt. Jedem in seiner Heimatsprache. Aufmerksam studierten sie die Kontrakte. Die ersten Zweifel wurden laut. Velas Cochui protestierte als erste. »Einiges gefällt mir absolut nicht, Monsieur.« Dumont lächelte verständnisvoll. »Das dachte ich mir, Madame.« Sie sprachen nach gemeinsa105
mer Übereinkunft französisch. »Aber anders geht es leider nicht.« They Gonzales nickte. »Dieser Satz hier: . . . wenn Sie nach zwei Tagen noch am Leben sind, erhalten Sie von dem EndUnterzeichner 25 000 Deutsche Mark.« »Ist die Summe nicht ausreichend?« »Es kommt darauf an, was verlangt wird«, meldete sich Buck Lester. »Ich war überzeugt, daß Sie furchtlos sind, meine Herrschaften.« Der vierte in der Runde, Jens Haverström, lachte leise. »Furchtlos heißt nicht gleich lebensmüde, Monsieur.« »Es kommt noch besser«, sagte die Griechin. »Hier steht: Im Verlauf der Versuchsreihe auf den Gebieten des Okkultismus, der Parapsychologie und des Animismus ist es möglich, daß labile Gefühlseinstellungen zu einer leichten Schizophasie (Sprachverwirrtheit) oder zu einer anhaltenden Schizophrenie führen können. Sollte bei Ihnen eine Seelenspaltung eintreten, verpflichte ich mich, 50 Prozent der festgesetzten Summe Ihren Angehörigen auszuzahlen. — Was bedeutet das, Monsieur?« »Das, was Sie soeben verlesen haben. Mehr nicht.« Der Butler räumte den Tisch ab und brachte Sherry. Nachdem er draußen war, ergriff der Schwede das Wort.
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»Ich bin Stuntman, Monsieur Dumont, und mache im Film halsgefährliche Sachen. Furcht ist mir unbekannt. Aber mit dunklen Mächten einen Zweikampf auszutragen, traue ich mir nicht zu.« »Dem schließe ich mich an.« Gonzales erhob sich und ging zur Tür. Dumont machte keine Anstalten ihn zurückzuhalten. Als Gonzales die Tür erreicht hatte, ging sie wie von selber auf. Ein Bär von Mann stand im Rahmen. Er stand einfach nur da, die Arme vor der Brust verschränkt. Aber die Augen, die Gonzales unverwandt anstarrten, sagten ihm, was ihn erwarten würde, sollte er es wagen, weiterzugehen. »Ich rate Ihnen, Torso nicht mal anzufassen. Sollten Sie es darauf ankommen lassen, würde er sie töten.« Gonzales war ein athletischer Typ und bisher keiner Rauferei aus dem Weg gegangen. Doch diesmal gab er nach und kam wortlos auf seinen Platz zurück. Dumont triumphierte. »Ich wette, Monsieur, daß Sie noch nie in Ihrem Leben, solch eine Angst ausgestanden haben wie in diesem Moment. Sie wußten, daß das, was ich Ihnen sagte, die Wahrheit war. Sie wären tot, wenn Sie Torso berührt hätten. Zugegeben, ein scheußlicher Gedanke. Im übrigen, meine Herrschaften, auch Torso ist durch meine Zwei-Tage-Schulung der Furcht gegangen. Er ist stumm, wahnsinnig, und was das wichtigste ist, mir absolut ergeben. Aber das will nicht heißen, 107
daß es keiner von Ihnen schaffen kann, unbeschadet die Schulung zu überstehen. Ich selbst habe sie durchgemacht. Ich bin zu Erkenntnissen gekommen, die einfach und unglaublich sind. Dabei stehe ich keineswegs mit dunklen Mächten in Verbindung. Ich habe mich seit Jahren mit dem Phänomen der Angst beschäftigt, meine Herrschaften, und meine Erkenntnisse werden Sie exakt durchexerzieren. Dazu sind Sie hergekommen.« Buck Lester, der bisher ruhig auf seinem Platz verharrte, stand langsam auf und ging zu Dumont. Er war klein und gedrungen, dennoch hatte er eine gefährliche Ausstrahlung, als er so vor Dumont stand und die Hände in die Hüften stützte. »Monsieur, gehe ich recht in der Annahme, daß es uns nicht möglich ist, Ihr Haus vor Ablauf der zwei Tage zu verlassen?« »Ja.« »Ich würde sagen, das nennt man schlicht und einfach Freiheitsberaubung.« »Ganz so drastisch würde ich es nicht formulieren, Monsieur. Ich bin Wissenschaftler und brauche in der Endphase meiner Arbeit eine gewisse Hilfe, die Sie mir leisten werden.« »Einverstanden«, erklärte Lester. »Das würde aber auch auf einer freiwilligen Basis gehen.« »Eben nicht, dazu sind die Tests zu riskant.« »Und Sie sind der Meinung, daß wir uns zwingen lassen, Ihren Wahnsinn mitzumachen?«
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Dumonts Gesichtsausdruck veränderte sich. Die eben noch freundliche Miene wurde bösartig. Seine Lippen formulierten unverständliche Worte. Er hielt die Augen geschlossen. Die Anwesenden sahen ihn erstaunt an. Lester trat auf ihn zu und schüttelte ihn leicht. »Monsieur?« Dumont schlug die Augen auf. Lester wich zurück. Solch blutunterlaufene Augen hatte er noch nie gesehen. Dumont sprang auf und machte Anstalten, auf Lester loszugehen. Dieser hob abwehrend die Arme und ging Schritt für Schritt zurück. Da hatte Dumont sich wieder unter Kontrolle. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer durch eine Tapetentür, die direkt hinter seinem Sessel in der rückwärtigen Wand angebracht war. Ratlos sahen die vier sich an. Die Griechin räusperte sich, doch als sie merkte, daß die Augen der drei Männer auf sie gerichtet waren, wurde sie rot und senkte den Kopf. »Schöne Bescherung«, sagte Gonzales, der den Schreck, den Torsos Anblick ausgelöst hatte, noch nicht losgeworden war. »Ein verrückter Wissenschaftler, und ein ebenfalls verrückter stummer Killer. So was kommt doch nur im Film vor.« »Aber im Film«, meinte der Schwede, »kommt zum Schluß der Held, rettet die Schöne aus den
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Händen des Wahnsinnigen und zündet das Schloß an.« Lester hatte sich wieder gefangen. »Und was wird aus den anderen Mitgefangenen?« »Für die ist es leider meistens zu spät.« »Sollten Sie noch mehr solcher beruhigenden Geschichten kennen, denken Sie bitte an die Verfassung Ihrer Mitleidenden und verschonen Sie uns damit.« Velas Cochui warf Haverström einen strafenden Blick zu. Der Schwede lachte über das ganze Gesicht. Er schien sich als einziger köstlich zu amüsieren. »Unser Gastgeber ist ein seltsamer Kauz, ohne Frage, aber trotz allem interessiert mich sein Unterfangen. An der Grenze zum Wahnsinn zu stehen, stelle ich mir mit meiner bescheidenen Phantasie doch sehr attraktiv vor.« »Ihre Phantasie ist nicht nur sehr beschränkt, sondern gleichzeitig recht makaber, Monsieur.« Gonzales sprach leise. »Ich heiße Jens«, stellte Haverström sich vor. »Wenn wir schon dazu verdammt sind, zwei Tage auf beschränktem und vielleicht sogar auf äußerst gefährdetem Raum zusammen zu agieren, können wir uns ruhig beim Vornamen nennen. Meinen Sie nicht auch?« »They«, sagte Gonzales anstelle einer Antwort. »Mich nennt man Buck, und meine Freunde sagen Old-Buck, sucht es euch also aus«, bemerkte Lester. 110
Die Griechin sagte als letzte: »Mein Vorname ist etwas selten. Aber wenn Sie sich an Velas gewöhnen können, soll es mir recht sein.« »Na fein«, sagte Haverström, »die Verschwörer haben sich miteinander bekannt gemacht. Das Komplott kann begonnen werden. Was schlagt ihr vor? Erst den feinen Monsieur erschießen, oder den Verrückten totschlagen?«Keiner lachte. »Ich meinte ja nur.« »Durch deine blöden Scherze kommen wir auch nicht weiter.« Es war Lester anzumerken, daß er zornig war. »Der Bursche ist tatsächlich übergeschnappt. Ist es euch nicht klargeworden, was das bedeutet: Experimente mit dem Okkultismus, Animismus und der Parapsychologie? Wer sich damit intensiv beschäftigt, läuft wirklich Gefahr, durchzudrehen.« »Oh, Old-Buck, ich habe keinesfalls die Absicht, mich mit solch finsteren Wörtern herumzuprügeln. Wobei mir noch nicht mal klar ist, was dieser blödsinnige Animismus für eine Bedeutung haben soll. Kann mich mal jemand freundlicherweise darüber aufklären?« »Animismus, lieber They«, korrigierte Lester ungehalten, »das heißt Beseelung des Unbeseelten. Viele Naturvölker machen daraus ihre Religion. Alles hat für sie eine Seele: der Stein, der Baum, der Bach und das Tier. Verstehst du es jetzt?« »Was bleibt mir anderes übrig?«
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»Trotzdem müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir hier wieder heil herauskommen«, sagte die Griechin. »Die senilen Gefühlsausbrüche passen überhaupt nicht zu Ihnen, Madame.« Dumonts Stimme schwebte plötzlich im Raum. Sie schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen. Die Köpfe der vier ruckten herum. Höhnisch lachend fuhr Dumont fort. »Ihre Reaktion sagt mir, daß ich Sie richtig eingeschätzt habe, meine Freunde. Aber ersparen Sie es sich ruhig. Sie werden mich ohnehin erst sehen können, wenn ich es wieder für richtig halte. Momentan spreche ich per Lautsprecher zu Ihnen. Ich habe Ihrem Gespräch zugehört. Sie müssen mich schon entschuldigen. Eigentlich liebe ich es gar nicht, zu lauschen, dennoch kommt man manchmal nicht umhin. Im übrigen, Ihr Einvernehmen voraussetzend, werden wir mit der ersten Versuchsreihe beginnen. Ich dachte mir, daß wir mit Madame Cochui anfangen. Ich sehe Sie erschrecken, Madame. Sie brauchen wirklich nichts zu befürchten. Sie werden nicht allein sein. Ihre Freunde können über Monitor bei Ihnen sein, außerdem haben sie die Möglichkeit, Ihnen zu helfen.« Die Griechin war blaß geworden. Sie sprang auf und klammerte sich an Lester. »Er ist wahnsinnig. Bitte helfen Sie mir, Buck!« »Ja doch, ja, Sie brauchen keine Angst zu haben.« Mit einer hilflosen Geste streichelte er ihr 112
Haar. Selbst Gonzales lächelte nicht mehr. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt, und Haverström brachte nicht mal mehr ein Grinsen zustande. Entschlossen, sich zur Wehr zu setzen, standen die drei Männer um die Griechin herum und bildeten einen Schutzwall aus Leibern. Als die Tür aufging, begann Gonzales zu zittern. Velas Cochui schrie gellend auf. Mit langsamen, kleinen Schritten, die nicht zu seiner riesigen Statur passen wollten, kam Torso auf sie zu. Er fegte mit einem einzigen Hieb die drei Männer zur Seite, ergriff die schreiende Griechin und schleppte sie aus dem Zimmer. Haverström kam als erster wieder auf die Beine, er stürzte zur Tür und rüttelte in ohnmächtigem Zorn an der Klinke. Seine Mühe war vergeblich, denn die Tür, aus schwerem Eichenholz, war fest verriegelt. Als der Schwede, seiner Hilflosigkeit bewußt, zurückkam, erklang die Stimme von Dumont. »Ihr Handeln war unklug, Monsieur, doch zum Glück hatten Sie sich noch unter Kontrolle. Sehen Sie nun zur Seitenwand hinüber!« Geräuschlos glitten die Holzwände zurück, und gaben einen Bildschirm von vier mal zwei Metern frei. Augenblicklich bekamen sie ein Bild. Man konnte ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer erkennen, bestehend aus einer großen, ausziehbaren Couchecke, einem die ganze Zimmerseite einnehmenden Schrank mit wertvoller 113
Intarsienarbeit und mehreren senffarbenen Sesseln, nebst einem ovalen, kreideweißen Tisch von höchstens dreißig Zentimeter Höhe. Über dem Bild lag ein Fadenkreuz, gräulich durchschimmernd nur, so daß es nicht den Anblick des Gezeigten stören konnte. Dumont kommentierte knapp. »Gleich wird Madame Cochui erscheinen, Messieurs. Das Fadenkreuz werden Sie sicher schon bemerkt haben. Die Bedeutung ist ganz simpel. Links unten am Bildschirm«, die drei Männer schauten gleichzeitig hin, »sehen Sie den Ansatz eines Gewehrkolbens. Er ist beweglich, und im gleichen Maße, wie Sie ihn handhaben, geht das Fadenkreuz mit. Der Abzug, Messieurs, funktioniert. Sie haben zwei Schüsse zur Verfügung. Sobald Ihr gewünschtes Ziel im Zentrum des Fadenkreuzes erscheint, drücken Sie ab. Sofort wird dieser Gegenstand in dem Raum, den Sie ja gut übersehen können, getroffen. Ist alles klar, Messieurs? Zwei Schüsse sind im Magazin, mehr nicht. Überlegen Sie gut, wann es sich lohnt, abzudrücken.« Im gleichen Moment betraten Torso und – in seinen Armen - Velas Cochui das Zimmer. Lester stürzte zum Bildschirm, hastig richtete er das Fadenkreuz auf Torsos Kopf. Ohne zu überlegen drückte er ab. Verwundert betrachteten die Männer die Szene. Unerschüttert ging das Monstrum zur Couch. Dort ließ es die Griechin fallen, drehte sich um und verließ das Zimmer wieder. 114
Sie konnten die Angst in den Augen der Griechin erkennen. Sie ballten vor Zorn die Fäuste. Gonzales schrie. »Dumont, Dumont, du Schwein, kannst du mich hören?« »Ja«, dröhnte es durch den Raum. »Laß sie raus! Hörst du? Nimm mich statt ihrer! Aber laß die Frau da raus!« »Ihre Einstellung finde ich sehr galant, Monsieur Gonzales. Doch ich muß mich an meine Aufzeichnungen halten. Aber ich kann Sie beruhigen: Sie sind der nächste.« Gonzales erstarrte. Damit hatte er nicht gerechnet. Völlig verschüchtert setzte er sich an den Tisch und betrachtete mit müden Augen den Bildschirm. Die Griechin hatte sich inzwischen aufgerichtet, ihr Mund war weit aufgerissen. Wahrscheinlich schrie sie vor Angst. »Ich erspare Ihnen besser die Tonübertragung, Messieurs«, meldete sich Dumont wieder. »Ach so, ehe ich es vergesse: Monsieur Lester, jetzt funktioniert das Gewehr wirklich. Ich hatte damit gerechnet, daß Sie in überschwenglichem Leichtsinn auf meinen Mitarbeiter schießen würden. Deswegen arbeitete das Gewehr noch nicht. Aber von jetzt an können Sie sich fest darauf verlassen. Ich werde nun den Lautsprecher in Madames Raum einschalten. Somit ist sie in der Lage, Sie zu verstehen. Sprechen Sie ihr Mut zu! Sie wird ihn benötigen. Und bitte, vergessen Sie nicht: nur zwei Schuß!« 115
Es knackte, die Verbindung war unterbrochen. Buck Lester, am ganzen Körper zitternd, ergriff das Wort. Praktischerweise blieb er gleich am Gewehrkolben stehen. »Velas, hören Sie mich? Können Sie mich verstehen?« Sie sagte irgend etwas. »Velas, wir können Sie leider nicht hören, nicken Sie mit dem Kopf, wenn Sie mich hören.« Sie nickte. »Na bitte, so hoffnungslos ist die Lage also gar nicht. Hat man Ihnen etwas angetan?« Ein Kopfschütteln war die Antwort. Hilfesuchend wandte sich Lester an Haverström. »Sag auch was, verdammt noch mal!« »Hallo, Velas-Mädchen! Wenn wir hier raus sind, lade ich Sie zu einem Fischessen ein. Einverstanden? Zahlen tun natürlich Sie, weil ich total blank bin. Oder paßt es Ihnen nicht, Mädchen?« Die Griechin hatte das Kamera-Auge ihr gegenüber entdeckt. Ihr tränenverhangenes Gesicht versuchte ein Lächeln, dann nickte sie. »Fein«, dankte der Schwede. Es war seltsam, mit einer Frau zu sprechen, die man nur auf einem Bildschirm sah. »Old-Buck hat sich soeben entschlossen mitzuschnorren. Aber das überlegen wir uns noch mal, was?« Er verstummte, als er sah, daß Velas Cochui verzweifelt die Hände vor ihr Gesicht schlug. Sie 116
konnten sehen, wie ihr Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Lester krampfte die Hand um den Kolben, Haverström wandte sich einfach ab. Es ging über seine Kräfte, das mit anzusehen. Da sah Gonzales, der bislang nur unbeteiligt auf den Bildschirm geglotzt hatte, die Schlange. Sie kroch über dem Boden auf die Griechin zu. Aufgeregt informierte er die anderen. Lesters Stirnadern schwollen zu dicken Strängen an. In dem Moment meldete sich Dumont wieder. »Für einen Augenblick habe ich die Verbindung zu Madame unterbrochen. Machen Sie sich bitte keine Gedanken! Die Schlange ist ungiftig. Verschwenden Sie also bitte keinen Schuß, vielleicht bereuen Sie es gleich! Im übrigen, Monsieur Lester, sagen Sie der Madame ruhig, was ich Ihnen eben gesagt habe. Sie wird es ohnehin nicht glauben. Sie werden mir auch gleich recht geben, daß es interessant ist, solche Studien zu betreiben. Sie können nun wieder zu ihr sprechen.« »Ich werde Sie umbringen, Dumont«, knurrte Lester, bebend vor Zorn. Dann sprach er beschwörend auf die Griechin ein. »Velas! Alles noch okay? Hören Sie mir zu! Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll. Nehmen Sie Ihre Füße auf die Couch, dann kann Ihnen absolut nichts passieren. Dieser Verrückte hat nämlich eine Schlange in den Raum gelassen . . .«
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Irgendwie hatte er es falsch angefangen. Velas zuckte zusammen, erkannte die Schlange kurz vor ihren Füßen. Sie konnten sehen, wie sie aufschrie. Dann warf sie sich auf die Couch. Ihre Hände, zu Fäusten geballt, hämmerten auf ein Kissen ein. »Beruhigen Sie sich, bitte, so beruhigen Sie sich doch! Das Biest ist ungefährlich. Glauben Sie mir, es ist ungiftig! Es kann Ihnen gar nichts tun.« Lester schrie. Dieses Schreien schien sie irgendwie zu beruhigen. »Schlangen sind fast blind, Velas. Sie nehmen ihre Umgebung nur durch ihre Zunge wahr. Sie kann dich nicht sehen, Mädchen. Knie vorsichtig auf den Boden und rühr dich nicht! Sie wird dich spüren und auf dich zugekrochen kommen, doch sie wird dir nichts tun. Glaube mir das! Wenn sie dann dicht vor dir ist, versuche langsam mit der Hand über ihren Kopf zu kommen! Ganz langsam, hörst du! Ihr Biß kann dich zwar nicht töten, ist aber sehr schmerzhaft. Das wollen wir doch vermeiden, nicht wahr. Dann mußt du blitzschnell reagieren, das Vieh dicht hinter dem Kopf packen und kräftig zudrücken. Nach wenigen Sekunden wird sie tot sein. Hast du alles kapiert, Mädchen?« Velas nickte langsam. Dann tat sie so, wie Lester es ihr geraten hatte. Die Schlange kam tatsächlich auf sie zugekrochen. Auf der Stirn der Griechin perlte der Schweiß, aber sie behielt die Nerven. Nach einer Minute lag die Schlange erwürgt vor ihr auf dem Boden.
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»Bravo, Mädchen! Das hast du ganz großartig gemacht. Wirklich, keiner von uns hätte es besser machen können.« Lester atmete tief aus. Ein leichtes Knacken kündigte Dumonts Stimme an. »Meinen Glückwunsch, Monsieur Lester! Sie haben gute Nerven. Eine äußerst günstige Voraussetzung für die Versuche mit Ihnen. Nun noch mal zu Madame Cochui, Messieurs. Leider sehe ich mich aus wissenschaftlichen Gründen gezwungen, die Verbindung per Ton zu ihr zu unterbrechen. Madame muß sich verlassen und auf sich allein gestellt vorkommen. Nur so kann ich genaue Studien betreiben, Sie verstehen?« »Nein, das können Sie nicht machen, Dumont.« »Leider doch, Monsieur Lester. Aber trösten Sie sich. Sie können nach wie vor Madame Cochui sehen.« »Sie sind verrückt, Dumont, vollkommen verrückt. Wissen Sie nicht, welche Konsequenzen ihr Tun nach sich ziehen kann? Es braucht nur einem von uns etwas zu passieren, und Sie werden zur Rechenschaft gezogen.« »Beobachten Sie bitte genau!« war die Antwort Dumonts. Dann schaltete er einfach ab. Gonzales erhob sich. Seine Bewegungen waren langsam und schienen gezielt, als ob er etwas zu tun beabsichtige. Er ging auf Lester zu.
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»Erschieß sie«, forderte er. Dabei blickten seine Augen mit dem stumpfen Glanz eines Menschen, der mit seinen Nerven am Ende war. »Es ist besser für sie.« Als Lester entschlossen den Kopf schüttelte, schluchzte er auf. Es wirkte für einen Außenstehenden belustigend. Der 80 Kilo schwere Mann stand einfach da und weinte. »Habt ihr nicht gesehen in welcher Verfassung sie ist? Dieser Sadist wird sie quälen, bis sie durchdreht.« Wieder schüttelte Lester den Kopf. »Kommt gar nicht in Frage«, entgegnete der Schwede an seiner Stelle. »Wir kommen hier heraus, so wahr ich Zeit meines Lebens ein Hundesohn war.« »Eben nicht«, antwortete Gonzales schwer schluckend. Die drei Männer saßen am Tisch. Momentan wurde die Griechin nicht belästigt. Sie hockte auf der Couch, völlig in sich zusammengesunken. Man konnte sehen, daß sie fertig war. Mit einem Mal sprang sie auf. Ihre Blicke huschten wie wahnsinnig hin und her, dann preßte sie sich die Hände auf die Ohren und schüttelte sich. Dabei riß sie weit den Mund auf. »Schwingungen, Messieurs«, vernahmen die Männer Dumonts Stimme. »In einer physikalischen Größe von zehn Kilohertz.«
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»Dumont!« brüllte Lester. »Sie bringen sie um. Das hält kein Mensch aus.« »Warten Sie ab, Monsieur! Ich werde etwas hinuntergehen. Was halten Sie von vier Hertz?« »Das hält kein Organismus aus.« Lesters Stimme überschlug sich. »Mein Gott, das dürfen Sie nicht!« »Schauen Sie hin!« Dumonts Stimme klang mitleidlos. Mit der Griechin ging eine Veränderung vor. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schien sich der Decke entgegenstrecken zu wollen. Dabei zitterte und schwankte sie. Ihr Körper empfing die Schwingungen wie eine Membrane. »Ich gehe höher, Messieurs.« Velas Cochui krallte ihre Nägel in ihr Gesicht. Aus ihrem Mund mußten fürchterliche Schreie kommen. Die Männer bebten vor ohnmächtigem Zorn. »Fünf Hertz! Wenn sie das übersteht, hat Madame Cochui den Vertrag zur vollsten Zufriedenheit erfüllt.« Nun würden sie das Ende der Griechin erleben . .. Da stürmte Gonzales zu dem Gewehrkolben. Ehe die beiden Männer ihn daran hindern konnten, hatte er den Kopf der Griechin anvisiert und abgedrückt. Er traf genau. Der Einschlag der beiden Projektile riß die Frau nach hinten. Augenblicklich wurde das Bild abgeschaltet. 121
»Das war Mord, Monsieur Gonzales«, dröhnte Dumonts Stimme. Dem Amerikaner liefen Tränen über das Gesicht. Dann brach er zusammen. Hilfreich hoben der Schwede und der Amerikaner den zusammengebrochenen Gonzales auf. Sie setzten ihn auf einen Stuhl. Lester schlug ihm leicht ins Gesicht. Nach kurzer Zeit kam Gonzales wieder zu sich. Verwirrt blickte er sich um. »Was ist geschehen?« stammelte er. Dann fiel es ihm wieder ein. Kraftlos erhob er sich, ging zum Fenster und lehnte sich gegen das Glas. Sein Blick fiel auf das Gitter. Auch hier war kein Durchkommen möglich. Siedendheiß erinnerte er sich der Tapetentür. Er wollte zu der Wand hinübergehen, als die Tür geöffnet wurde. Torso stand im Rahmen. Sein einfältiges Gesicht zeigte keine Gemütsregung. Zielstrebig ging er auf Gonzales zu. Dieser wich zurück bis zur rückwärtigen Wand. Lester und Haverström warfen sich einen kurzen Blick zu, dann, nach einer stillen Übereinkunft, stürzten sie gemeinsam über Torso her. Der Hüne knurrte nur, schüttelte die beiden Männer von sich und ging weiter auf Gonzales zu. Im selben Moment sprang Haverström ihn von hinten an. Seine Fäuste krallten sich um den Hals des Taubstummen. Mit aller Kraft drückte er zu. Torso ergriff Haverströms Hände, löste sie mühelos von seinem Hals, dann schleuderte er den
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Schweden quer durch den Raum. Gemächlich folgte er ihm. Nun begann auch Haverström zu schreien. Die Angst vor diesem menschgewordenen Tier raubte ihm jede Bewegungsfreiheit. Torso packte ihn, riß ihn hoch, hielt ihn an der Hemdbrust fest und drückte seinen Kopf nach hinten. Der Schwede rang nach Luft, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Das Untier öffnete seinen stummen Mund und röhrte irgendwelche unartikulierten Laute. Dann aktivierte er alle Muskelkraft und brach Haverström das Genick. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß er einen Toten in den Händen hielt, ließ er ihn los. Wie eine Marionette, die ein Puppenspieler fallen läßt, sackte der Schwede in sich zusammen. Lester hatte von all dem nichts mitbekommen. Stöhnend drückte er sich hoch und versuchte, die Situation zu erkennen. Da lag Haverström. So unmöglich verrenkt, wie er auf dem Boden lag, war es Lester klar, daß der Schwede tot war. Sein Blick glitt hinüber zu Gonzales. Auch dieser lag zusammengesunken auf dem Boden. Hastig stürzte er hin zu ihm und untersuchte ihn. Tot! Wahrscheinlich Herzschlag . . . Langsam begann er durchzudrehen. Alle waren sie tot. Wie konnte das passieren, und was war dieser Dumont für ein Mensch, daß er solche Scheußlichkeiten durchführen konnte? Schlagartig wurde er von hinten gepackt. Ehe er sich zur Wehr setzen 123
konnte, erhielt er einen Schlag gegen die Schläfe. Er versank in ein Wattemeer von Dunkelheit. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, fühlte er sich, als ob er 48 Stunden lang auf den Beinen gewesen wäre. Sein Schädel schmerzte, und die Zunge lag wie ein dicker Schwamm im Mund. Die Augen taten ihm weh, und die linke Schläfe pochte wie verrückt. Er erhob sich und sah sich um. Sein erster Eindruck war, er befände sich in einer Gruft. Die Luft war stickig, rings um ihn waren nur nackte Felswände, von denen klares Wasser herabrieselte. Inmitten der Höhle stand ein schwerer, handgeschnitzter Sarg aus Eichenholz mit Bronzescharnieren und einem silbernen Wappen auf dem Deckel. Langsam trat er heran und betrachtete das Wappen. Er erkannte einen Löwen, zu beiden Seiten des Hauptes von Myrthen umrankt, das Maul weit aufgerissen, und in der linken Vorderpfote steckte ein Nagel. Sein Wappen . . . Das Wappen der Lester. Wie so viele Amerikaner hatten auch seine Eltern sich ein Wappen anfertigen lassen. Es wurde als Briefsignum benutzt, als Ring- oder Halsschmuck getragen, oder in Bildform an die Wand gehängt. »Der genagelte Löwe«.
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Dieses Wappen originalgetreu bis ins kleinste Detail, war auf dem Sarg befestigt. »Können Sie mich hören, Monsieur?« Die dröhnende Stimme konnte ihn nicht mehr schrecken. Er hatte sie schon erwartet und wäre erstaunt gewesen, wenn sie ausgeblieben wäre. »Sie befinden sich unter meinem Haus in einem Keller. Ich habe ihn etwas herrichten lassen. Er sieht wie eine Höhle aus und hat nur einen Ausgang. Sie können sich darauf verlassen, daß dieser für Sie versperrt ist. Ich habe einen Lift installieren lassen. Momentan ist die Kabine hier oben. Von da unten gibt es keine Möglichkeit nach oben zu kommen. Ich bedaure aufrichtig, daß Ihre Freunde umgekommen sind. Torso hat eigenwillig gehandelt. Das hat mich verbittert, denn nun muß ich auf viele interessante Experimente verzichten, die ich mit Ihren Freunden vorhatte.« Dumont machte eine längere Pause. Wahrscheinlich erwartete er eine Antwort von Lester. »Ich bemerke mit Befremden, daß Sie nicht mehr so zugänglich sind wie zu Anfang unserer Versuchsreihe. Das verwundert mich, Monsieur. Um noch einmal auf Torso zurückzukommen, ich bin seiner überdrüssig geworden, er ist ungehorsam und wird dadurch zu einer Gefahr für mich und meine wissenschaftliche Arbeit. Deswegen habe ich mir gedacht, ich schicke ihn zu Ihnen hinunter und gebe ihm den Befehl, Sie zu töten. Daß es dazu nicht zu kommen braucht, liegt bei Ihnen, 125
Monsieur. Sie werden sicher schon den Sarkophag bemerkt haben. Geben Sie sich keine Mühe, ihn zu öffnen! Es wird Ihnen unmöglich sein. Zu gegebener Zeit wird er sich von selbst öffnen. Aber mein Anliegen war, Ihnen zu sagen, daß unter dem Sarg ein Messer liegt. Es ist für Sie als Waffe gedacht. Mit bloßen Händen haben Sie gegen Torso keine Chance.« Lester bückte sich mühselig und hob das Messer auf. In einem Horngriff steckte eine stilettartig dünne, zweischneidige Klinge. Er hob seinen Kopf und starrte in die Leuchtröhren über sich. Sie waren gitterartig angebracht und leuchteten jede Ecke des Felsenkellers aus. Nirgends gab es einen Platz, an dem er sich verbergen konnte, wenn Torso herunterkam. Also mußte er notgedrungen einen Kampf Mann gegen Mann austragen. Er sah auf den Sarg. Was hatte Dumont gesagt? Zu gegebener Zeit würde er sich von selbst öffnen? »Monsieur? Sind Sie bereit?« »Wozu?« rief Lester ins Leere des Raumes. »Um Torso zu töten.« »Dumont, hören Sie mir bitte zu! Lassen Sie den Mann nicht hier herunter. Hören Sie? Sie haben doch schon genug Unheil angerichtet. Lassen Sie mich heraus!« Der Mann war verrückt. Er würde hier nicht lebend herauskommen, wenn Dumont nicht zur Vernunft kam.
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»Es hat doch keinen Nutzen für Sie, wenn Sie mich auch noch sterben lassen. Das hat doch nicht das geringste mehr mit wissenschaftlichen Versuchen zu tun, Dumont. . .« Er verstummte, denn er vernahm ein Summen. Der Lift wurde betätigt. »Dumont. . ., nehmen Sie Vernunft an! Ich bitte Sie!« Lester schrie jetzt seine Wut heraus. »Sie sind ein Killer, ein wahnsinniger Killer!« Das Summen des Lifts verstummte. Gehetzt suchte Lester die Wände ab. Wo würde Torso herauskommen? Er vernahm ein Scharren und wirbelte auf dem Absatz herum. Da, auf der linken Längsseite hinter ihm, wich ein Stück nackten Felsens zurück. Die Natursteine schabten aneinander. Jetzt erschien der massige Leib von Torso in der meterbreiten Öffnung. Wieder erklang das Scharren, und fugenlos schloß sich der Fels wieder. Dann ertönte das Summen. Dumont holte den Lift nach oben. Torso blieb, dümmlich grinsend, an der Wand stehen. Er trug nur eine dreiviertellange Hose. Die Hände hatte er bisher auf dem Rücken gehalten; jetzt nahm er sie vor. Lester erstarrte. Torso trug in jeder Hand eine gut zehn Zentimeter lange Stahlkette, an deren Enden jeweils eine
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pfundschwere Metallkugel mit Stacheldornen befestigt war. Betont vorsichtig machte er ein paar Schritte nach vorn. Lester ging die gleiche Anzahl zurück. Die unsichtbar angebrachten Lautsprecher dröhnten wieder los. »Monsieur, ich dachte mir, auch Torso solle seine Chance bekommen. Aber um die Sache etwas zu komplizieren, werden wir am besten das Licht löschen. Ich hoffe, ich handele in Ihrem Sinne. Vergessen Sie nicht, Torso ist taubstumm, Sie haben also den Vorteil des Hörens.« Nach dem letzten Satz von Dumont schloß Lester die Augen, aber er preßte die Lider nicht fest zusammen, um nicht nachher rote Punkte vor den Augen zu haben, die ihm eventuell die Orientierung erschwerten. Nach wenigen Sekunden öffnete er sie wieder. Pechschwarze Dunkelheit umgab ihn. Er lauschte angestrengt in die Finsternis und konnte Torso kommen hören. Seine Schritte waren zwar nicht auszumachen, weil er barfuß war, aber er hörte das leise Klirren der Ketten. Torso kam direkt auf ihn zu. Er hatte zwar einen Vorteil, aber Taubstumme entwickeln ein anderes System, um Gefahr zu bemerken. Sie haben einen ausgeprägten Geruchssinn und überempfindliche Nerven, die selbst den leisesten Lufthauch verspüren.
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Lester mußte sich langsam bewegen. Er hörte den leisen Atem des Mannes direkt vor sich. Es konnten sie höchstens zwanzig Zentimeter voneinander trennen. Auch Torso mußte ihn bemerkt haben. Ohne lange zu zögern, stieß Lester zu. Er traf auf einen Widerstand, drang dann aber in irgend etwas ein. Ruckartig riß er das Messer wieder zurück und stieß noch mal zu. Torso schrie. Diese kehligen, unmodellierten Laute klangen furchtbar hilflos, doch Lester kannte jetzt kein Erbarmen. Er stach immer wieder in den muskelbepackten Körper. Seine Hand, die das Messer umklammerte, war naß. Torso röchelte nur noch. Dann gab es ein unverkennbares Geräusch: sein Gegner war zu Boden gegangen. Schwer atmend zog Lester sich zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Schlagartig ging das Licht an. »Bravourös, Monsieur!« Lester, der immer noch gepreßt atmete, sah hinüber zu Torso. Der Taubstumme lag in einer riesigen Blutlache. Sein nackter Oberkörper war regelrecht zerfetzt von den wütenden Messerstichen. Angeekelt wandte er sich ab, zufällig geriet der Sarg in seine Blickrichtung. Er spürte, wie das Blut in seinen Schläfen zu pulsieren begann. Der Sargdeckel wurde langsam nach oben gedrückt. Dabei sah er deutlich die beiden Hände, die
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diese Arbeit verrichteten. Es waren schmale, feingliedrige Hände. Die Hände einer Frau. »Monsieur?« Er zuckte zusammen und suchte die Lautsprecher. »Bis hierher haben Sie sich fabelhaft verhalten. Meine Bewunderung. Nun aber haben Sie es mit etwas Übersinnlichem zu tun: mit einem Vampir. O ja, Monsieur, mit einem Vampir!« Das letzte Wort schrie Dumont. Die Frau richtete sich auf. Sie war schön. Sie hatte langes blondes Haar, war aber unnatürlich blaß. Ihr Gewand bestand aus langen, weißen Rüschen. Sie wandte sich Lester zu und blickte ihn an. Lester stand da, unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen. Er wußte, daß es so etwas nicht gab. Vampire waren das Produkt der blutrünstigen Phantasie von Schriftstellern, die mit der Angst der Menschen Geld verdienten. Das wußte er, das redete er sich ein, und doch spürte er sein Herz bis zum Hals klopfen. Die Konfrontation mit solchen Fabelwesen ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Vor ihm stand ein Vampir. Die Frau war inzwischen näher gekommen. Sie lächelte ihn an, sein furchtsamer Blick suchte die Reißzähne. Er sah sie auch. Da wußte er mit einem Mal, daß es Wirklichkeit war. »Monsieur, ich habe mich mit Parapsychologie befaßt.« Dumonts Stimme klirrte vor Fanatismus. »Ich wußte, wo es Vampire gab. Ich suchte sie und 130
fand auch einen. Ich holte ihn in mein Haus. Ich studierte ihn. Es klingt unglaublich, aber vor Ihnen steht ein Vampir. Ich selber habe nur eine Möglichkeit, mich vor ihm zu schützen. Das Kruzifix, das fürchten Vampire! Aber Sie haben keine Waffen gegen sie. Sie sind machtlos.« Lester zitterte vor Angst. Der Vampir streckte die Hand nach ihm aus. Die Augen lockten ihn. Komm her! Komm her zu mir! Werde mein Geliebter! Mechanisch trat er einen Schritt vor, obwohl sich ihm die Nackenhaare sträubten, legte er seine Arme um die Frau. Er fühlte nichts mehr. Er streichelte ihr Haar, begann mit einem Zipfel ihres Gewandes zu spielen und kicherte fröhlich. Er verspürte Lust zu tanzen und wollte zu seiner Mutter, ja, zu seiner Mutter. Wo war sie? Und wer war die Frau in seinem Arm? Er stieß sie von sich, ging hinüber zu Torso und strich ihm die Haare aus der Stirn. Warum stand er nicht auf? Schlief er? Ach, das war egal. Er legte sich neben ihn und schlief ein. Sein Kopf lag in der Blutlache. Aber er war zufrieden, ein glückliches Lächeln verzauberte sein Gesicht in die Miene eines Kindes. »Viola, ich glaube, das reicht.« Dumont trat aus dem Lift. Mit gerunzelten Augenbrauen betrachtete er die beiden Männer auf dem Boden, die sich noch vor wenigen Minuten so verbissen bekämpft hatten. 131
»Du wirst von mal zu mal besser, Darling. Nicht mal auf der Bühne hast du so überzeugend gespielt.« Dumont lächelte und küßte die Frau. Dann wurde seine Miene ernster. »Schade, daß er nicht durchgehalten hat. Er hätte mir noch dienlich sein können. Ruf doch bitte den Arzt an und erkläre ihm die Sache, du weißt ja, wie bei den anderen. Ach ja, regle bitte auch noch die Anzeigen. Wie immer in allen Weltzeitungen gleicher Wortlaut: Furchtlose Männer und Frauen gesucht!«
WAS IST DENN SCHON DABEI? Dieser verfluchte Alkohol! Mir dröhnte immer noch der Schädel wie nach einer Rauferei mit einer kompletten Schiffsbesatzung. Recht geschah mir! Wenn der Kreislauf nicht mehr stimmt, soll man halt die Finger von diesem Teufelszeug lassen. Aber wem sage ich das? Bei einem Klassentreffen gehört es sich eben, daß man mitmacht, wenn man sich an die verflossene Schulzeit erinnert. Die ehemaligen Kameraden waren so behäbig geworden wie wahrscheinlich man selbst. Die damals attraktiven Mädchen hatten alle mehr Speck auf den Knochen als ein Zuchtkalb. Die meisten von uns hatten schon selbst Kinder, die die Schulbank drückten. 132
Manchmal entstehen bei so einem Treffen dumme Ideen, die man einst ausheckte, allerdings noch mit einer vitalen Jugend beschenkt, die heute einem zweiten Frühling mit verkalkten Arterien und gichtigen Knochen gewichen ist. Einer von uns schwärmte dabei von dem »Kommando Mutig«. Walter Borchert, damals unser bester Fußballer, heute treuer Familienvater und Automobilverkäufer, kam auf den vertrackten Einfall, dieses glorreiche Kommando zu wiederholen. Unsere alkoholgeschwängerten Hirne griffen diesen Vorschlag begeistert auf. Josephine Heuzenberger, eine kleine Dicke, für die ich damals Obst geklaut hatte, um einen Kuß zu erheischen, ergriff sofort die Initiative. Es wurde gelost. Jeder von uns Männern bekam noch einen Kognak und einen Zettel mit der Nummer 1 bis 14. Die gleiche Anzahl Zettel mit derselben Beschriftung wanderte in einen Hut. Erika Porosky zog. Die erste Zahl lautete zwölf. Ich schaute auf meinen Zettel. Eine böse Zahl starrte mich an: 12. Ich meldete mich und wurde unter Johlen in die Mitte unserer trunkenen Versammlung geschoben. Das Kommando Mutig war so eine Art Viereckenraten. Jeder nahm eine Ecke, während ein anderer hinausging und anschließend Vorschläge machte, was der einzelne, deren Ecke gerade dran 133
war, tun mußte. Nur, bei unserem Spiel wußte man im voraus, über wen es galt den Stab zu brechen. Ich stand etwas unsicher auf meinen Beinen und suchte krampfhaft einen Halt für meine Augen, um nicht umzufallen. »Wir schicken ihn in Herberts Supermarkt«, lallte Freddy, Innenarchitekt von Beruf. »Er muß eine Pulle Kognak holen, ohne zu zahlen.« »Au ja«, grölte Walter, unser bester Fußballer. »Kommt nicht in Frage«, entschied Maria Pennicke, »so was gilt nicht.« »Schade«, maulte der Fußballer. »Ich möchte andere Vorschläge hören«, sagte Maria. Ich blickte sie dankbar an, daß sie mich davor gerettet hatte, zum Dieb zu werden. »Dann soll er eben die Frau vom jetzigen Direktor verführen«, schlug Ernst Gernomann vor. »Solche Schweinereien schon gar nicht.« Maria war bis heute noch unberührt, glaube ich. Deswegen verstand ich ihre Empörung. Aber der Alkohol hat nun mal enthemmende Wirkung, das entschuldigte Ernst’s Vorschlag. Außerdem war die Frau des Direktors schon 56 Jahre alt. »Ich hab’s.« Detlef Ohnekarp stieß erst mal kräftig auf, bevor er weiterredete. Gespannt blickten wir ihn alle an. Ich hatte mich inzwischen auf den Boden gesetzt, weil mir schlecht wurde. Der Wirt vom »Ochsenhorn« hatte inzwischen neue Flaschen auf die Tische gestellt.
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»Er soll eine Nacht auf dem Dorffriedhof verbringen.« Ich nickte nur. Mein umnebelter Zustand ließ mir keine Möglichkeit der Defensive. Irgendeiner wurde noch gewählt, mich zu begleiten, glaube ich. Meine Haushälterin erzählte mir heute morgen, daß ich total betrunken nach Hause gebracht worden sei. Dabei zog sie ein Gesicht, als ob sie mich hätte ausziehen müssen. Später erfuhr ich, daß sie es tatsächlich tun mußte. Zum Frühstück hatte ich schon einen Gast. Unseren Fußballer. Zu meiner Befriedigung war er genauso fertig wie ich. Wir leerten gemeinsam eine Kanne Kaffee und aßen reumütig einen sauren Hering und eine trockene Semmel. »Bei so was kenne ich kein Mitleid«, hatte meine Haushälterin gesagt. Ich fühlte mich noch nicht in der Stimmung, ihrer Streitsucht Widerstand zu leisten. »Worauf haben wir uns bloß eingelassen, Werner?« jammerte Walter. Ich stellte mich dumm. »Was meinst du?« »Kommando Mutig«, half er mir auf die Sprünge. »Was ist damit?« »Warst du wirklich so betrunken?« »Total«, log ich. 135
Er erzählte mir noch mal alles von vorn. Heute nacht mußten wir beide auf dem Friedhof schlafen, und zwar von Einbruch der Dunkelheit an bis zum Morgengrauen. Wir hatten Januar. Die Nächte waren eiskalt. Und diese verdammte Bande jagte uns in die Nacht hinaus auf den Friedhof. * Wir trafen uns um 19.30 Uhr. Ich hatte zwei Pullover angezogen, darüber ein Jackett und meinen dicksten Wintermantel. Walter hatte sich ähnlich eingemummelt. Er trug sogar noch eine Pudelmütze und Handschuhe. Eine Abordnung der Saufgesellschaft von gestern nacht brachte uns auf den Friedhof und machte noch ein paar überflüssige Witze. Dann hauten sie ab. Um zwanzig Uhr wurde das Tor geschlossen. Wir drückten uns in eine Ecke. Ein altes Muttchen kam kurz vor acht Uhr und zündete eine kleine Laterne an. Diese rammte sie dann in den steinhart gefrorenen Boden auf einem Grab und verharrte kurz. Dann trippelte sie mit eiligen Schritten zum Ausgang. Wir warteten sicherheitshalber bis halb neun Uhr, dann spazierten wir die Grabreihen entlang. Es war schon lange dunkel. Wir mußten vorsichtig sein, daß wir nicht stolperten und stürzten. Wir wollten zur Kapelle. Denn wenn wir die Nacht draußen bleiben würden, wären wir am
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Morgen erfroren. Im Radio hatten sie 19 Grad Frost angesagt. Der Winter hatte die Gräber mit einem wärmenden Schneekleid versehen. Nur wo dumme Menschen einzelne Gräber vom Schnee befreit hatten, fror der Efeu, und Blumen starben in der barbarischen Kälte. Der Weg war von den Besuchern ausgetreten worden und ließ sich bequem gehen, bis er vor einer zehn Zentimeter hohen Steinmauer endete. Dahinter standen die Bäume dicht an dicht. »Geh du mal vor, Werner!« Warum flüsterte man auf Friedhöfen? Den Toten war es doch egal . . . Mit gemischten Gefühlen ging ich vor. Ich sah so gut wie nichts. Ich holte mir eine Menge Schrammen und Kratzer. Endlich tastete meine Linke eine Wand entlang. »Wir sind da«, sagte ich betont laut. Wir umrundeten die Kapelle und fanden nach wenigen Augenblicken den Eingang. Er war nicht abgeschlossen. Wir traten ein. Hier drin war es noch dunkler. Vorsorglich hatte ich eine Stabtaschenlampe mitgebracht. Ihr Schein warf groteske Schatten an die Wände der Kapelle. »Ein bißchen unheimlich hier«, sagte Walter. Ich konnte ihm nur recht geben.
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Der Lichtkegel riß Bankreihen aus dem Dunkel, einen kleinen Altar im Hintergrund und ein riesiges Holzkreuz mit der gefolterten Christus-Figur. Unsere Schritte hallten unnatürlich, als ob vier Männer durch die Kapelle gingen. Wir setzten uns auf die vorderste Bank. Walter hatte zwei Taschenflaschen Rum mit, die uns von innen her wärmten. Ich hatte die Lampe auf den Knien so liegen, daß der Lichtkegel uns beide traf und wir uns gegenseitig sehen konnten. Trotzdem uns hier schützende Mauern umgaben, war es unangenehm kalt. Gottlob, daß Walter an den Rum gedacht hatte! Ich blickte regelmäßig auf meine Armbanduhr. Der Zeiger schien wie festgenagelt. Noch einen Schluck, dann waren die beiden Taschenflaschen leer. Es war noch nicht mal Mitternacht. . . Wir starrten gerade so schön vor uns hin, schweigend, wie es sich in einer Kirche gehört, als die Lampe zu zucken anfing. Normalerweise ist so etwas nichts Besonderes. In unserem Fall erschraken wir zu Tod. Walter ergriff meine Hand. Er drückte so kräftig zu, daß ich vor Schmerz aufschrie. »Bist du verrückt geworden?« »Die Lampe«, sagte er atemlos. »Das sehe ich selber.« »Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, flüsterte er.
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»Beschwer’ dich bei der Firma, welche die Batterien herstellt«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Daß mir selber mulmig war, wagte ich nicht einzugestehen. Wahrscheinlich wäre Walter Hals über Kopf davongestürzt. Und soviel Mut, allein hier zu bleiben, würde ich mein Lebtag nicht zusammenbringen, und wir hätten uns blamiert. Unsterblich! Zwei Mannsleute rennen davon, weil eine Taschenlampe zu zucken beginnt. Doch als sie vollständig ihren Geist aufgab, mußte ich mich ganz schön beherrschen, um mich nicht gehenzulassen. Walter war dicht an mich herangerückt. Ich spürte, wie er zitterte. Umgekehrt war es leider genauso. »Mir ist kalt«, versuchte ich mich herauszureden. »Mir auch.« »Komm, bewegen wir uns ein bißchen, damit das Blut wieder zirkuliert.« Er war einverstanden. Wir erhoben uns, faßten uns an den Händen und gingen langsam auf und ab. Wir wußten, daß vor uns fast zwei Meter in der Breite und mindestens fünf Meter in der Länge Platz war. Die vollkommene Dunkelheit raubte uns aber doch jegliche Orientierung. Obwohl wir langsam Fuß vor Fuß setzten, stießen wir gegen irgend etwas. Zuerst ich, dann Walter. Ich tastete das Hindernis ab, dabei mußte ich Walters Hand loslassen. Es war der Altar. Folglich 139
mußten wir in einer Linie zurückgehen, dann würden wir auf die Bankreihe stoßen. Ich fühlte hinter mich. Walter war nicht mehr da. Siedendheiß schoß mir das Blut in den Kopf. Wo war er? Eben hatte er doch noch hinter mir gestanden. »Walter!« rief ich. »Was ist?« Erleichtert atmete ich auf. So eine Narrheit von mir, anzunehmen, er wäre verschwunden. Doch er mußte etliche Meter von mir entfernt sein. »Ich stehe hier am Altar. Wo bist denn du, zum Teufel?« schimpfte ich. »Hoffentlich kurz vorm Ausgang.« Die Stimme aus der totalen Finsternis hatte etwas Erschreckendes. »Mir reicht es. Ich verschwinde. Egal, was die von mir behaupten.« Ich mußte zugeben, daß er recht hatte. Es war Wahnsinn, in einer stockdunklen Kapelle zu übernachten. Ich hörte seine vorsichtigen Schritte, die sich immer mehr von mir entfernten. »Die Tür ist verschlossen«, sagte Walter mit dumpf klingender Stimme. »Das ist doch nicht möglich«, fiel mir ein. »Als wir hergekommen sind, war die Tür doch nicht abgeschlossen. Es steckte auch kein Schlüssel. Hast du gehört, daß inzwischen jemand abgeschlossen hat?«
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Es dauerte eine Weile, bis Walter kaum verständlich sagte: »Nein!« »Na eben! Und wir hätten es doch hören müssen. Hier in der Kapelle macht doch alles Krach, was man anfaßt.« Ich glaubte, Walter getröstet zu haben. Stille . . . »He, Walter?« Walter hämmerte plötzlich wie ein Verrückter gegen die Tür. Dabei schrie er Worte, die das Echo völlig verzerrte und die ich nicht verstand. Nach einer Weile hörte er erschöpft auf. Er tastete sich zu den Bänken zurück. Seine Füße schlurften. Langsam kam er näher. Bei der ersten Bank erwartete ich ihn. Dann begann eine furchtbare Zeit. Wir saßen stumm nebeneinander und versuchten, uns gegenseitig zu wärmen. Irgendwann mal ließen sich Geräusche hören. Da wisperte es. Es knirschte und schabte. Zwischen den Bänken schlurfte es. Ich wollte mit Walter darüber sprechen. Er war eingeschlafen. Vorsichtig löste ich mich von ihm und ging einem der Geräusche nach. Ich hatte keinen Erfolg. Aber ich wurde sicherer in der Dunkelheit. Da! Eine Bank hatte deutlich geruckt. »Ist da jemand?« rief ich. Das hätte ich nicht tun dürfen. Ich bekam einen kräftigen Hieb in den Nacken. Gleichzeitig begann ein schauerliches Rumpeln in 141
der Kapelle. Immer wenn ich einen Schritt in welche Richtung auch immer machen wollte, stieß ich auf Widerstand. Bald konnte ich die Schläge nicht mehr zählen, die ich einstecken mußte. Die meisten davon waren harmlos. Aber sie stärkten mein Selbstbewußtsein nicht. Was mochte mit Walter lossein? Ich rief immer wieder seinen Namen. Ohne Antwort! Ich mußte einen sicheren Platz suchen. Der Altar fiel mir ein. Ich tappte in die Richtung, wo ich ihn vermutete. Ich hatte manches Hindernis zu überwinden und manchen Schlag einzustecken, bis ich ihn fand. Ich tastete mich um ihn herum und stellte fest, daß zwischen Altar und Rückwand nur ein knapper Meter frei war. Das war mein Versteck. Ich ließ mich auf den Boden nieder. Ich zog Jacke und Mantel über den Kopf und verschränkte die Arme. Ich hörte und spürte nichts mehr. Bald muß ich die Besinnung verloren haben. Freddy, der Innenarchitekt, rüttelte mich wach. Ich war sofort da und erhob mich. Um den Altar standen lauter ehemalige Klassenkameraden und grinsten. Als mein Blick über sie hinging, entdeckte ich plötzlich etwas, das mein Herz stocken ließ. In der Wand neben dem Altar gab es eine zweite Tür, die verschlossen war. In der Dunkelheit hatten wir sie nicht gesehen. 142
»Walter!« rief ich. »Mensch, du hast an der falschen Tür gerüttelt.« Ich sah mich nach Walter um. Kameraden hatten ihn in einem Trümmergewirr von zerbrochenen Bänken gefunden. Er saß da und umklammerte eine Latte wie eine Waffe. Ich lief zu ihm hin. Aber dann würgte es mich. Walter sah uns mit den Augen eines Irren an und erkannte uns nicht.
FLUCH DER MASCHINE Ich saß noch in meinem Arbeitszimmer und studierte eine Abhandlung über die Telekinese. Das Thema hatte mich so fasziniert, daß ich völlig die Zeit vergaß. Ungehalten blickte ich auf, als es klingelte. Die Uhr zeigte 10 Minuten nach Mitternacht. Ich ging in den Flur und betätigte die Wechselsprechanlage. »Wer da?« »Ich bin’s. Erik.« »Zu so nachtschlafener Zeit?« »Laß mich rein! Es ist wirklich wichtig.« Seufzend drückte ich auf den Summer. Erik war völlig außer Atem. Er hatte gar nicht erst den Lift benutzt, sondern war die drei Treppen nach oben gelaufen. 143
»Entschuldige bitte die späte Störung«, sagte er. »Ich weiß, daß du es nicht liebst, so spät noch gestört zu werden. Aber wenn ich dir erzähle, was mich herführt, wirst du munter wie ein Fisch im Wasser.« »Müde bin ich nicht. Komm erst mal rein!« Wir gingen ins Wohnzimmer, dort mixte ich uns einen Drink. Nachdem wir Platz genommen hatten, kam Erik zur Sache. »Wie du weißt, arbeite ich an der maschinellen Teleportation von Lebewesen. Mein Traum ist es, Menschen aus der Vergangenheit zu uns in die Gegenwart zu führen, berühmte Persönlichkeiten. Nun, ich habe vor kurzem meine Arbeit abgeschlossen, die Maschine ist einsatzbereit, und ich möchte sie in deinem Beisein ausprobieren.« Im ersten Augenblick war ich sprachlos, dann funktionierte mein Gehirn wieder einwandfrei. »Soll das heißen, daß du heute irgend jemand aus der Vergangenheit holen wirst, und . . .« Vor Aufregung begann ich zu stottern. »Ja, genau, Rob. Endlich habe ich es geschafft, meine Theorie ist bewiesen, daß heißt noch nicht ganz, und wiederum doch. Hier!« Erik zog aus seinem Jackett eine kleine Schachtel. »Weißt du, was das ist?« Er gab mir die Schachtel. Mit fahrigen Fingern öffnete ich sie. Darin lag ein schwarzer Käfer, wie ich ihn noch nie vorher gesehen hatte. Oder doch? Ich überlegte kurz, da fiel es mir ein. Vor mir lag 144
ein Skarabäus, ein heiliger Käfer aus der Zeit der Pharaonen. »Und nun sieh dir das an!« Er zog ein Bild aus der Tasche, einen Vier-Farben-Druck, der offenbar aus einem Buch herausgetrennt war. Er stellte einen ägyptischen Pharao dar in vollem Königsschmuck auf dem Thron. »Das ist Sethos I.«, erklärte er. »Sieh dir bitte seinen Amulett-Schmuck auf der Brust an! Was fällt dir dabei auf?« Ich brauchte nicht lange zu raten. Auf den ersten Blick drängte sich mir der Skarabäus auf, der in der Mitte des Schmucks nicht zu übersehen war. Ich zeigte auf den goldenen Käfer in der Schachtel. »Ist das eine Kopie von diesem Skarabäus?« Erik schüttelte strahlend den Kopf und behauptete glücklich: »Nein. Es ist der Skarabäus selbst. Man weiß gar nicht, wo der Königsschmuck von Sethos I. geblieben ist. Ich habe ihn mit meiner Maschine in unsere Zeit und auf diesen Tisch da geholt. Weißt du, was das heißt?« Ich nickte. Diese Vorstellung war so ungeheuerlich, daß ich nichts sagen konnte. »Du bist also überzeugt. . .«, wagte ich zu fragen. »Aber ja! Hast du eine Lupe zur Hand? Komm«, bedrängte er mich erregt. »Vergleiche diesen Skarabäus auf dem Bild mit meinem . . . Da! Sieh doch!« Durchs Eriks aufgeregten Schrei wurde ich erneut aus meinen Gedanken gerissen. Ich traute 145
meinen Augen nicht. Der Käfer löste sich langsam auf, ohne irgendwelche Rückstände zu hinterlassen. »Er löst sich in Luft auf«, stammelte Erik. Dieser seltsame Auflösungsprozeß war in wenigen Sekunden vollzogen. Wir beide saßen noch eine Weile sprachlos da. Als Theoretiker war ich es nicht gewohnt, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Selbst Erik, der Theorie und Praxis in sich vereinte, konnte sein Staunen nicht unterdrücken. »Das ist ungeheuerlich. Also ist dieser Wiedererscheinungsvorgang nur zeitbedingt. Innerhalb einer bestimmten Zeit verschwinden die geholten Objekte wieder.« »Wie viele solcher Versuche hast du schon unternommen?« »Der Skarabäus war der erste.« »Dann weißt du also nicht, wie verschiedene Organismen reagieren?« »Nein, woher auch?« »Es ist also möglich, daß dieser Vorgang – wie mit dem Käfer eben – sich ohne weiteres auch bei einem Menschen ereignen könnte?« »Natürlich.« »Laß uns zu dir fahren, Erik!« Meine Aufregung war verständlich. Erik selbst hatte nicht einen Moment lang ruhig auf seinem Platz gesessen.
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Wir beeilten uns, zu seinem Wagen zu kommen. Meiner stand schon in der Garage. Es hätte zu lange gedauert, ihn erst herauszuholen. Wir brauchten genau zwölf Minuten bis zu seinem Haus und gingen gleich in den Keller, wo Erik sein Labor eingerichtet hatte. Ich erspare mir die detaillierte Schilderung der Einrichtung, da ich nicht über das Fachwissen verfüge, um jedes Reagenzglas, Kabel und Glasröhrchen exakt zu benennen. Die Hauptsache im Keller war die Maschine. Ein imposantes Monstrum, vollkommen mit Metall verkleidet, so daß eine Einsichtnahme in ihren Innenbau unmöglich war. Von ihr führte ein zolldickes Kabel zu einem Schaltbrett, auf dem es von Knöpfen, Schaltern und Hebeln nur so wimmelte. Erik nahm gleich vor dem Schaltbrett Platz und begann zu justieren. Seine Hände glitten geschickt über die mir unbekannten Schalteinheiten, und mehrere verschiedenfarbige Glühbirnen leuchteten auf. Aus der monströsen Maschine führte seitlich ein mannsgroßer Schacht heraus. Wahrscheinlich erschienen da die Geholten. Ich hielt den Atem an. »Wen wollen wir holen, Rob?« fragte er mich. »Ich weiß ja nicht, welche, äh, Kapazität, wenn ich es mal so laienhaft ausdrücken darf, deine Maschine hat. Es kann ja sein, daß du in einem bestimmten Zeitabschnitt operieren mußt.« »Es bestehen keine Grenzen, Rob.« 147
Ich mußte schlucken. »Dann würde ich vorschlagen, den Mann zu holen, dem unser Land seinen Namen verdankt.« »Vespucci den Florentiner?« »Ja, Amerigo Vespucci«, antwortete ich. Erik nickte. Er tippte eine Zahlenreihe, darunter war die Jahreszahl 1498, dann drehte er verschiedene Knöpfe, schob Regler hin und her, und die Maschine begann zu summen. „Wahrscheinlich gaben die kraftvollen Generatoren, die von dem Strom angetrieben wurden, dieses Geräusch von sich. Ich ließ mich auf einen Stuhl nieder und harrte der Dinge. Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich. Ich konnte es nicht genau definieren. Irgend etwas lag in der Luft, das spürte ich in meinem Unterbewußtsein. Eriks Gesicht glühte. Die Aufregung trieb ihm das Blut in die Wangen. Sekundenlang dröhnte die Maschine lauter als vorher, dann war sie mit einem Schlag still. In dem Auffangschacht machte sich ein dünner Rauch breit, dazu ein fluoreszierendes Flimmern, das glitzerte wie ein wabernder See. Der Rauch verdichtete sich zu einer Figur, die mehr und mehr menschliche Formen annahm. Ich sah fassungslos zu und geriet außer mir vor Staunen, vor Schauern, vor Glück . . . *
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Es dauerte seine Zeit, bis meine Erregung abgeklungen war. Ich hatte mir ein Taxi genommen und war nach Hause gefahren. Allmählich gewöhnte sich meine Vorstellungskraft an das ungeheuerliche Phänomen. Immerhin hatte ich es mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich hatte mit der Erscheinung gesprochen. Ja, ich hatte, mit Vespucci gesprochen, der über 450 Jahre tot war! Wir hatten spanisch gesprochen, da mein Italienisch nicht so geläufig war. Vespucci beherrschte alle damals üblichen Sprachen. Er hatte sich nicht gewundert, in unser Jahrhundert gerissen zu werden. Er war vielleicht der nüchternste von allen großen Entdeckungsreisenden. Er sah alles, was er entdeckte, so, wie es war. Er suchte keine Wunder – und erwartete auch keine. So war ihm wohl auch die Reise in unser Jahrhundert wie eine der Reisen um die damals neue Welt vorgekommen. Ich weiß nicht mehr, was ich ihn gefragt habe. Sicher habe ich nur »Hallo, Mister Vespucci« gesagt und habe ihm dann nur fassungslos zugehört, so wie ihn die Eingeborenen von Nord-, Mittelund Südamerika angehört haben, die er vor fast 500 Jahren als erster Europäer besuchte. Es ist mir so, als ob er dauernd gesprochen hätte. Was hat er nur gesagt? An manches glaubte ich mich erinnern zu können. Manches aber nahm ich 149
mit in den Traum, der mich die ganze Nacht über beschäftigte. War vielleicht alles nur ein Traum gewesen? Das Frühstück schmeckte nicht schlecht. Ich hatte Kaffee, Toast, Lachsschinken und darüber eine Scheibe Käse mit Tomatenscheiben. Wie das gestern Erlebte noch deutlich vor meinem geistigen Auge war, so genau wußte ich mit einem Mal, daß ich sofort zu Erik mußte. Ich spürte eine Gefahr. Eilig lief ich in die Tiefgarage. Das dumpfe Dröhnen hinter meiner Stirn nahm zu, je mehr ich mich seinem Haus näherte. Sein Wagen stand noch genauso vor der Tür wie er ihn gestern hatte stehenlassen. Ich ersparte mir das Klingeln, da ich wußte, daß die Haustür stets offenstand. Ohne zu zögern, rannte ich in den Keller. Ich riß die Tür auf, sah das mächtige Monstrum von Maschine – und davor lag mein Freund Erik. Er war tot! Der Boden war blutbesudelt. Als ich mich zu Erik hinunterbückte, erkannte ich, daß er erst seit wenigen Minuten tot sein konnte. Die Haut war noch warm. Angeekelt wandte sich mich ab; dabei fiel mein Blick auf das laufende Tonbandgerät. Mit fahrigen Fingern spulte ich das Band zurück und ging auf »Wiedergabe«. * Mit klopfendem Herzen lauschte ich Eriks Stimme.
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» . . . Versuchsreihe Nr. 3, das zweite menschliche Lebewesen. Ich habe mich entschlossen, einen Anhänger der Göttin Kali zu holen. Dieser Kult hatte mich schon immer fasziniert. Sind diese Menschen wirklich so blutrünstig, wie die Überlieferung behauptet? Ich werde der erste Mensch sein, der das untersuchen kann. Es ist jetzt genau 5.27 Uhr, die Justierung verlief erfolgreich . . .« Unwillkürlich schaute ich auf meine Uhr. 5.32 Uhr! » . . .da, der Kontrast wird schärfer, ein Mann erscheint, es ist wieder gelungen, es ist gelungen, aber mein Gott, das darf doch nicht. . . um Himmels willen . . . das Messer . . . nein . . ., nein . . .« Das letzte »Nein« gellte noch in meinen Ohren, als ich plötzlich spürte, daß außer mir noch jemand im Raum war. Mir fiel die Uhrzeit ein. Es waren erst fünf Minuten vergangen, Vespucci war gestern mindestens sieben Minuten bei uns. Als ich mich vorsichtig umdrehte, sah ich den Mörder Eriks hinter mir stehen. Er trug einen sariartigen Umhang, und in der Rechten hielt er ein gekrümmtes Messer mit blutigroter Klinge. Ich war wie gelähmt. Sein braungebranntes Gesicht mit dem schmalen Schnurrbart verzerrte sich zu einem satanischen Grinsen, als er langsam auf mich zukam. Da wurde auch ihm die Zeit zum Verhängnis. Mitten im Gehen zerfloß er. Ich fing noch einen 151
letzten, verständnislosen Blick auf, dann war er weg .. . Nachdem ich mich erholt hatte, wütete ich im Keller wie ein Berserker. Ich zerschlug sämtliche Armaturen, Glühbirnen und Schalttafeln. Dann machte ich mich über die verfluchte Maschine her. So gut es ging, zerstörte ich sie. Anschließend suchte ich Eriks Unterlagen und verbrannte sie. Zum Schluß rief ich die Polizei, nannte allerdings keinen Namen, und machte, daß ich nach Hause kam . . .
CAMPING Sie waren jetzt schon über sechs Stunden gelaufen. Das Wetter war herrlich, nicht zu heiß wie sonst in diesem Monat. Der Julitag hatte mit 26 Grad eine noch angenehme Temperatur. Trotzdem hatte Claudia für heute genug. Auch Ernst war nicht abgeneigt, zu rasten. Immerhin schleppte er den Rucksack mit der ganzen Ausrüstung: Zelt, Schlafsäcke und diverse Kleinigkeiten wie Kocher, Konserven und ein paar Limonadenflaschen. Bis zum Torfhaus hatte sie ein amerikanischer Tourist mitgenommen. Jetzt waren sie im idyllischen Harzwald und völlig fertig von dem anstrengenden Fußmarsch.
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»Mir reicht’s für heute, Ernst.« Claudia ließ sich einfach auf einem moosüberwachsenen Baumstamm nieder. Wahrscheinlich hatte ihn ein Sturm gefällt. Die verzweigten Wurzeln waren noch tief im Erdreich verwachsen. »Wollen wir nicht noch ein bißchen, Claudie? Vielleicht treffen wir auf eine Hütte oder sonst was. Allmählich stinkt es mir, im Zelt zu schlafen. Ich spüre keine Knochen mehr. Schuld ist dieser verdammt harte Boden, außerdem habe ich die Viecher allmählich über, die man morgens im Schlafsack findet.« »Es war deine Idee, diese Tramptour. Außerdem ist es gar nicht so schlimm, im Zelt zu schlafen. Da stört uns wenigstens niemand.« Ernst mußte schmunzeln. Recht hatte sie. »Na, von mir aus«, gab er nach. Er ließ den Rucksack auf den Boden fallen. »Wird auch bald dunkel. Immerhin haben wir schon halb neun Uhr.« In den nächsten Minuten waren sie beschäftigt, das Zelt aufzurichten. Der Boden war so weich, daß die Heringe erst gar nicht halten wollten. Dann versuchte es Claudia. Unter ihren geschickten Händen klappte es. »Hunger habe ich nicht. Willst du was?« »Das war ja schon keine Frage mehr«, beschwerte sich Ernst. »Aber gut, dann esse ich noch ein paar Kekse, wenn du nichts dagegen hast.«
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»Von mir aus.« Schnippisch warf sie ihre Haare mit einer raschen Kopfbewegung nach hinten. »Ich glaube, da drüben rieselt ein Quellchen. Ich werde mal sehen, ob es zum Waschen und Zähneputzen reicht.« »Tu das! Ich versuche inzwischen mit den Keksen meinen Magen zu betrügen.« Claudia ging über die kleine Lichtung und tauchte in dem hüfthohen Dickicht unter. Er sah nur noch ihren Kopf mit den langen Haaren und ihren Oberkörper. Eingeschnappt biß er in einen Butterkeks und spülte das trockene Zeug mit Limonade hinunter. Claudia kam rasch zurückgelaufen. »Es reicht«, rief sie. Ernst nahm die beiden Kulturbeutel und lief Claudia entgegen. Gemeinsam gingen sie zu dem kleinen Rinnsal. Sie machten gründlich Abendtoilette. Das Wasser war eisigkalt und genau die richtige Erfrischung nach diesem warmen Tag. Langsam kam die Dunkelheit auf. Erst verschwand die Umgebung in einem diesigen Grau, dann versank sie in einem sauberen Schwarz. Hand in Hand gingen Claudia und Ernst in ihr Lager zurück. Fröhlich plappernd krochen sie in die Schlafsäcke. Ernst stand noch mal auf und verzurrte die Verschnürung im Zeltinnern. Er gab Claudia noch einen Kuß und kam dabei trotz Müdigkeit ein wenig ins Schmusen.
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Doch da ein Schlafsack eher hemmend wirkt, legten sich beide nach gut zehn Minuten auf den Rücken und versuchten einzuschlafen. Ernst stellte noch eine dumme Frage. »Schläfst du schon, Claudie?« »Ja.« »Na, dann gute Nacht.« »Gleichfall, Schatz.« Jeder wußte vom anderen, daß er noch seinen Gedanken nachhing. Dazu waren sie einfach zu jung, um übergangslos einschlafen zu können. Aber nach wenigen Minuten hörte Ernst Claudias regelmäßige Atemzüge. Sie schlief. Im Zelt war es stockdunkel. Ernst starrte gegen die spitz zulaufende Zeltplane über sich. Er war hellwach. Seltsam, vorhin war er so müde gewesen. Er lauschte auf die mannigfaltigen Geräusche des nächtlichen Waldes. Er hörte, wie die Baumstämme knarrten, wenn hoch oben der Wind ihre Spitzen beugte, hörte das wispernde Rauschen der Blätter und die vorsichtigen Rufe der Vögel. Da er nichts von Ornithologie verstand, gelang es ihm nur, den Schrei eines Käuzchens auszumachen. Dieser aber jagte ihm einen gehörigen Schreck ein, denn es klang so hohl, so fremdartig und so geheimnisvoll, daß er sich mutwillig räusperte, um seinen Ohren einen anderen Ton zu bieten.
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Draußen mußte viel Getier um diese Zeit herumlungern, überlegte Ernst. Bestimmt auch ein paar Schlangen. Unangenehmer Gedanke! Beneidenswerte Claudia, legt sich einfach hin und schläft ein . . . Ernst verspürte plötzlich ein ungeheures Verlangen nach einer Zigarette. Zu dumm, zu dieser Jahreszeit war es zu riskant, im Wald zu rauchen, selbst im Zelt. Wie leicht konnte ein Funke auf ein trockenes Gras- oder Moosbüschel überspringen, und dann hatten sie den gefährlichsten Waldbrand. Da fiel ihm der kleine Bach ein. Wenn er sich da hinsetzte, die Asche ins Wasser schnippte und gut aufpaßte, konnte eigentlich nichts passieren. Wieder schrie ein Käuzchen, diesmal näher als vorhin. Ernst zuckte zusammen. Gleich darauf schalt er sich einen Narren. Wie konnte man sich nur so dumm haben. Als Mann von 22 Jahren sollte man doch darüber hinaus sein, um bei einem Vogelschrei Angst zu bekommen. Eigentlich war der Appetit auf die Zigarette verflogen. Aber vor sich selbst mußte er nun mal weitermachen, von wegen der Selbstachtung, dachte er, und stand vorsichtig auf. Claudia schlief fest. Leise suchte er im Rucksack nach den Zigaretten, nahm sich eine heraus und ergriff das Feuerzeug. Dann machte er sich an der Innenverschnürung zu schaffen. Sie ging erstaunlich schwer auf. 156
Mit der Linken schlug er die Türplane auf und kroch ins Freie. So gut es ging, befestigte er die lose Plane wieder. Dann stemmte er die Hände in die Hüften und schaute sich um. Viel zu sehen war nicht, abgesehen vom Waldrand rings um ihn. Die Bäume zeichneten sich schemenhaft gegen eine weit entfernte Blässe ab. Der Himmel war zu bewölkt, als daß er den Mond hätte sehen können. Hoffentlich renne ich nicht gegen einen Baum, dachte er, und schickte sich an, zum Bach zu gehen. Die Hände weit nach vorn gestreckt, tastete er sich durch das Gestrüpp. Er dachte mit gemischten Gefühlen an die Gruselfilme, die er gesehen und über die er sich so amüsiert hatte, aber in einem dunklen Hochwald sah alles anders aus. Der kleine Bach murmelte noch genauso munter wie vorhin. Bald wäre er in das Wasser getreten, weil er gerade die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Er setzte sich an den Uferrand, steckte die Zigarette zwischen die Lippen und schnippte das Feuerzeug an. Der grelle Schein der Gasflamme biß in seinen Augen, so daß er sie notgedrungen schließen mußte. Nachdem er aber in die züngelnde Flamme geblinzelt hatte, ging es einigermaßen. Tief sog Ernst den Rauch ein, dann hielt er das Feuerzeug hoch. Schatten waberten auf ihn zu. Im 157
Wasser des Baches wanderten kleine Lichtpünktchen umeinander. Der Baum links von ihm schien sich zu strecken. Die Rinde veränderte ihre Form wie zerlaufenes Wachs an einer Kerze. Obwohl die Umgebung unheimlich verändert wirkte, ließ Ernst die Flamme noch brennen. Seit wenigen Sekunden hatte er ein Gefühl, als ob ihn jemand beobachten würde. Er starrte nach vorn, über den Bach hinweg, wo eine kleine Schonung durch einen Drahtverhau begrenzt war. Hinter ihm knackte ein trockener Ast. Es war ein heller, scharfer Laut. Ernst ließ vor Schreck das Feuerzeug fallen. Die Dunkelheit fiel über ihn her. Er spürte die Angst. Der junge Mann sprang hoch, dabei rutschte er auf glitschigen Steinen aus und fiel der Länge nach ins eiskalte Wasser. Das wirkte wie eine Ernüchterung. Die nassen Haare hingen ihm in die Stirn. Ärgerlich wischte er sie nach hinten. Fluchend spuckte er das Wasser aus, das er in den Mund bekommen hatte. Er richtete sich auf und blieb in dieser Stellung wie ein Sprinter vor dem Start stehen. Am Rande der Tannenschonung stand, von einem schmeichelnden Lichtschein umgeben, eine junge Frau, wunderschön anzusehen, angetan mit einem fein gewebten langen, weißen Kleid.
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Ernst begann an seinem Verstand zu zweifeln, eine momentane Lähmung zwang ihn, gebeugt im kalten Wasser zu verharren. Die Frau stand einfach da und sah zu ihm herüber. Sie bewegte sich nicht. Kein Wort kam über ihre Lippen. Die Lähmung ließ nach. Ruckartig richtete Ernst sich auf und wollte die Flucht ergreifen, als er erstmals ihre Stimme vernahm. »Lauf’ nicht fort! Bleib hier, du hast nichts zu befürchten!« Er warf sich bebend vor Angst herum und wollte laufen, doch seine Füße schienen festgenagelt zu sein. »Komm her zu mir! Fürchte dich nicht! So komm doch!« Mein Gott, dachte Ernst, ich bin verrückt. Mich hat’s erwischt, ich bin total übergeschnappt. Die Frau sprach weiter. »Warum zögerst du? Hast du Angst vor mir?« Jetzt bewegte sie sich. Sie kam leichtfüßig auf ihn zu. Sein Mund bewegte sich, da merkte er, daß er schrie. Er schrie vor hemmungsloser Angst. Als die weiße Gestalt nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, konnte er sehen, wer auf ihn zukam. Er sah die Zähne. Er sah das Rote um ihre Pupillen. Dann verhalf ihm eine gnädige Laune der Natur zu einer Ohnmacht. . . Als Claudia am Morgen erwachte, bemerkte sie, daß Ernst nicht neben ihr lag. Sie dachte, er wäre 159
schon am Bach. Dort fand sie ihn auch. Seine kastanienbraunen Haare waren schneeweiß, sein Gesicht um Jahre gealtert. Er erwachte, als sie ihn schüttelte und immer wieder seinen Namen rief. Ihr Entsetzen war nicht zu beschreiben, als sie merkte, daß Ernst sie nicht mehr erkannte. Er war nett und lächelte. Aber er wußte nicht, wie er hieß und wer sie war ...
MUTTER Ein Tag war wie der andere. Nie unterbrach eine Abwechslung das langweilige Alltagsgetue. Mutter hockte oben in der schäbigen Kammer und las in der Bibel. Wohlbemerkt, sie las laut. Deswegen hatte Vater sie auch in die Kammer gesteckt, damit wir nichts hören konnten. Uns erlaubte er weder darin zu lesen noch in die Kirche zu gehen. Pastoren waren Leute, die er nicht mochte. Wenn Mutter oben in der Kammer saß, was sie den größten Teil des Tages tat, dann hielt Vater sich in der Küche auf. Ich saß dann bei ihm und sah zu, wie er trank. »Ich trinke nur, um zu vergessen«, sagte er zu mir. Ich verstand ihn. Er war nett zu uns, gerade wenn er getrunken hatte. Dann erzählte er viele Geschichten, am liebsten die, wie er Mutter ken160
nengelernt hatte, und wir waren so naiv, uns diese Geschichte immer wieder anzuhören. Vaters Schwester war vier Jahre jünger als er und wohnte auch bei uns. Sie kochte für uns. Mutter tat das schon lange nicht mehr. Wir sahen sie eigentlich überhaupt nicht mehr. »Sie liest die Bibel«, sagte Vater, »und hat keine Zeit für uns.« Dann schaute seine Schwester ihn immer mit einem Blick an, der ihn verstummen ließ. Unser Haus war alt. »Hier lebte schon Großvater«, erzählte uns einmal Tante Alwine, »und Großvater hatte das Haus von seinem Vater geerbt, und wenn Vater mal nicht mehr sein wird, dann wird der älteste von euch das Haus bekommen.« Gustav war der älteste von uns dreien. Er versprach uns, daß wir alle drin wohnen durften. »Allein ist es hier viel zu einsam«, sagte er. Er nahm uns das Versprechen ab, daß wir immer in diesem Haus zusammen wohnen würden. Da Erich und ich außer diesem Haus nichts anderes kannten, fiel es uns nicht schwer, Gustav unser großes Ehrenwort zu geben. Erich sagte sogar: »Ich schwöre bei Gott.« Dafür schlug Vater ihm eine runter. Darauf annullierte Gustav den Schwur. Die Bekräftigung »Gott« ersetzte er durch »Luzifer«. Seitdem genoß Gustav Vaters besonderes Wohlwollen. Das äußerte sich darin, daß Gustav zusammen mit Vater ins Dorf durfte.
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Davon zehrten wir drei über ein Jahr. Gustav war als Bruder doppelt so interessant für uns geworden. Ihm gefiel das. Er sonnte sich in unserer Bewunderung. Die Geschichten von den Maschinen, die krachend und stinkend und unheimlich schnell auf vier Reifen durch die Gegend fahren sollten, nahmen wir Gustav natürlich nicht ab. Außerdem hatte er angeblich auch einen riesig großen Vogel gesehen, der viele Meter hoch über ihn hinwegflog. Vater meinte, die Vögel hießen Flugzeuge, und sie seien aus Metall so wie sein Feuerzeug. Aber wir glaubten es selbstverständlich nicht. Als Erich Vaters Feuerzeug in die Luft hielt und dann rasch seine Hand wegzog, fiel das Ding auf die Erde. Also konnte das nicht stimmen. Aber die Neugier für diese Monstren blieb. Nach genauer Schilderung Vaters, der alles wußte, gaben wir langsam nach und lachten nicht mehr, wenn Gustav von den schnellen Autos und den noch schnelleren Flugzeugen erzählte. Einmal, Vater und ich saßen wieder in der Küche zusammen, Tante Alwine backte einen Napfkuchen, einmal fragte ich ihn, warum Erich und ich nicht auch mal raus aus dem Haus durften und uns die Menschen ansehen, die angeblich zu Hunderten in einem Haus zusammen wohnten. Vater wurde richtig böse und schimpfte mich einen undankbaren Lümmel, der noch nicht entscheiden könne, was gut und was schlecht für ihn 162
sei. Ich solle noch ein paar Jahre warten, bis ich groß genug wäre und er es verantworten konnte, mich aus dem Haus zu lassen. Bis dahin sollte ich nicht mehr so dumme Fragen stellen. Dadurch, daß wir nicht aus dem Haus durften, wurde unsere Phantasie immer zügelloser. Es gab Abende, Vater war oben bei Mutter und erzählte ihr die Neuigkeiten des vergangenen Tages, da löcherten wir Tante Alwine, uns mehr über die Dinge draußen in der Welt zu erzählen. Gustav saß dann nur lächelnd mit am Tisch, denn er verfügte ja schon über einige Kenntnisse vom Leben außerhalb unseres Hauses. Tante Alwine gab sich redlich Mühe, uns zufriedenzustellen. Aber ihre Erzählung war so unzulänglich, daß wir meist mehr fragten, als sie wußte. Dann wurde sie böse und schalt uns naseweis. Am nächsten Morgen erzählte sie es Vater. Meist bekamen wir eine morgendliche Strafpredigt, in die wir geschickt unsere unbeantworteten Fragen vom Abend einflochten und so doch alles erfuhren, was unsere wißbegierigen Hirne schier unersättlich aufsogen. Nach neun Uhr am Abend, wenn wir ins Bett mußten, kam Mutter aus ihrer Kammer und ging in der untersten Etage herum, wobei sie sich lebhaft mit Vater unterhielt. Dabei sprach sie so leise, daß es uns selbst beim angestrengtesten Lauschen nicht möglich war, sie zu verstehen.
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Das war dann ein Wispern, Flüstern und Raunen. Ab und an erklang Vaters Baß, er sagte irgend etwas Belangloses, wie: »Heute hatten wir wieder scheußliches Wetter«, oder: »Es ist eine schlimme Zeit.« Eigentlich fiel es uns nicht allzu schwer, auf Mutters Anblick verzichten zu müssen. Ihr Bild hing unten im Salon, in rissigen Ölfarben aufgetragen, wobei ihr Gesicht eine fast leidend zu nennende Miene zeigte. Vater hatte die Sitzordnung am Tisch so eingerichtet, daß er mit dem Rücken zu dem Bild saß. Mutter hatte blaue Augen. Doch sie schienen einen nie direkt anzusehen. Ich saß manchmal stundenlang vor dem Porträt und suchte ihren Blick. Immer wieder wich sie mir aus. Ich sprach auch des öfteren mit ihr. Dann lehnte ich mich bequem zurück, ließ meine Augen auf ihrem übermäßig rot gemalten Mund liegen und bildete mir ein, tatsächlich Antwort zu erhalten. Das waren für mich die schönsten Momente des Tages. Aber seitdem Tante Alwine mich dabei überraschte, wie ich vor Mutters Bild meine Monologe aufsagte, verbot sie mir ab sofort, diesen Unsinn auch nur einmal zu wiederholen. Seltsamerweise, und für mich völlig unbegreiflich, erwähnte Tante Alwine von diesem Vorfall dem Vater gegenüber nicht eine Silbe. »Das bleibt unter uns, Friedrich«, sagte sie. Dann fuhren ihre Hände über mein Haar, eine Geste voller Zärtlich164
keit, die ihr anscheinend hinterher leid tat. Sie drehte sich brüsk um und ließ mich stehen. Ich war verwirrt und schaute zu Mutter hinüber. Da sah sie mich zum ersten Mal an. Ihre Augen waren weiter geöffnet als sonst, fast schien es mir, als blicke sie mir direkt in die Augen. Ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten. Da hielt ich es nicht länger aus. Ich stürzte aus dem Salon. Wieder verlief ein Tag wie der andere. Selbst Gustav hatte bei uns an Popularität verloren. Dafür drängten wir Vater mehr und mehr, uns aus dem Haus zu lassen. Erich war 11 Jahre alt und ich nur ein Jahr jünger. Wir waren auch skrupelloser geworden. Vater wurde mit uns nicht mehr fertig. Seitdem wir das bemerkten, taten wir nur noch das, was wir für richtig hielten. Wir saßen jetzt öfter mit Tante Alwine zusammen, die immer stiller wurde. Auch sie hatte begriffen, daß sie bei uns nicht mehr ankam. Darauf legte sie eine Duldsamkeit an den Tag, die uns entwaffnete. Unsere derben Spaße, die wir noch vor wenigen Wochen mit ihr trieben, verloren ihren Reiz, als wir sie mal weinen sahen. Erich bemerkte als erster ihre Hilflosigkeit. Seitdem waren wir nett zu ihr. Dafür verlangten wir aber auch gewaltige Gegenleistungen. Sie mußte jetzt stundenlang von der Zeit erzählen, als Mutter noch ein normales Leben führte und sich ganztags im Haus aufhielt und für Vater
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und für uns die Wäsche säuberte, Strümpfe stopfte und die Mahlzeiten zubereitete. Wir hörten ihr gebannt zu und konnten nicht genug hören . . . Vater war jetzt ständig betrunken. Bislang kam jeden zweiten Tag der Pastor zu uns. Er war meist ein langweiliger Gesellschafter. Es kam vor, daß er zur gegebenen Zeit erschien, sich einfach zu uns setzte und in Grübeln verfiel. Dabei war sein Gesicht so finster, daß wir es nicht wagten, ihn zu stören oder gar anzureden. Selbst Vater brachte es nicht fertig, diese Besuche zu unterbinden, ja, an verschiedenen Tagen saß er sogar mit in der Runde. Dann sprachen die Erwachsenen über belanglose Dinge, und nur ein letzter Rest Gehorsam den Erwachsenen gegenüber gebot uns, still sitzen zu bleiben. Unerklärlicherweise versuchte der Pastor nicht ein einziges Mal über die Bibel zu reden, ja, er erwähnte sogar das Wort »Gott« nicht. Das erschien uns anfangs seltsam, aber die Macht der Gewohnheit besiegte auch uns. Bald schon dachten wir nicht mal an die Aufgabe, die der Herr Pastor eigentlich hatte. Bis dann der Zeitpunkt kam, an dem er uns nicht mehr besuchte. In der ersten Zeit erzählte Vater uns, daß er krank sei und nicht aus dem Haus könne. Aber nach ein paar Wochen sagte er uns die Wahrheit. Wir erfuhren, daß der Herr Pastor sich weigerte, zu kommen, aus Gründen, die wir ja doch noch nicht verstehen würden. 166
Wir wußten, daß er in einer Kirche wohnte. Das war ein großes Gebäude, größer als unser Haus, mit einem riesigen Turm, in dem übermächtige Glocken läuteten, die die Menschen dazu anhielten, jeden Sonntag zum Gebet zu kommen. »Warum können wir da nicht hin, Vater?« fragte ich mal. »Es ist mir lieber so«, antwortete er langsam und leise, »glaube es mir, es ist besser für euch. Nie dürft ihr dahin gehen! Versprichst du mir das?« Seine Stimme klang sanft und freundlich und doch so eindringlich, daß ich nicht anders konnte, als mit dem Kopf zu nicken. »Ich verspreche es dir, Vater.« Seitdem sprach Vater überhaupt nicht mehr mit mir. Er schüttelte nur seinen Kopf, wenn ich ihn ansprach, als Zeichen, daß ich keine Antwort von ihm zu erwarten hätte. Ein paar Tage später... Es war ein verregneter, trüber Nachmittag. Schwer hingen die Wolken am Himmel und tauchten alles in diesiges Licht. Dazu wehte ein stürmischer Wind, es war ein Wunder, daß er es nicht fertig brachte, den Regen zu vertreiben. Er heulte um das Haus herum, pfiff durch den Kamin im Salon und ließ die schweren Fensterläden im Erdgeschoß heftig poltern. Zwei Männer, mit weißen, langen Kitteln fuhren in einem knallroten Gefährt auf vier Reifen vor. Wir bestaunten das Auto. Oben auf dem Dach drehte sich ein Licht. Als wir unsere Köpfe aus dem 167
Fenster streckten, konnten wir das dumpfe Brummen des Motors hören. Rasch schlossen wir das Fenster. Im Flur trafen wir die beiden weißgekleideten Männer wieder. Zwischen ihnen lag Tante Alwine auf einer Trage. Sie hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Wir rannten in die Küche zu Vater. Er hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und war betrunken. Er konnte uns auch nicht weiterhelfen. Inzwischen hatten die beiden Männer Tante Alwine in das Auto geschoben und waren weggefahren. Erich und Gustav fingen an zu weinen. Auch mir schössen die Tränen in die Augen. Ich schluchzte: »Ich gehe zu Mutter. Ich gehe jetzt zu Mutter.« Meine Brüder schienen mich nicht zu verstehen, da sich keiner von ihnen entschloß, sich mir anzuschließen. Folglich stieg ich allein die Treppe nach oben zu Mutters Kammer. Hier oben war kein Fenster, über mir waren gleich die Dachziegel. Einige waren undicht, so daß der Regen durchrinnen konnte. Es war schummrig. Ich stand vor der Kammertür und streckte die Hand nach der Klinke aus. Mit der freien Hand wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Entschlossen öffnete ich die Tür. Erschrocken blieb ich auf der Schwelle stehen. Mutter lebte im Dunkeln. Ich konnte nicht mal meine Hand vor den Augen sehen. Vorsichtig rief ich: »Mutter! 168
Mutter, schläfst du? Antworte doch! Tante Alwine ist weg, und Vater ist betrunken.« Ich bekam keine Antwort. Intuitiv tastete ich links nach dem Rahmen und spürte den Nachttisch. Darauf fühlte ich Streichhölzer und etwas weiter davon entfernt einen Kerzenständer. Mit zitternden Händen riß ich ein Streichholz an und brachte eine Kerze zum Brennen. Der flackernde Lichtschein huschte über die Wände, das schräge Dach und dann über Mutter. Sie saß in einem alten, verstaubten Ohrensessel. Mit weit aufgerissenen Augen trat ich automatisch auf den Sessel zu. Dabei geriet mein Fuß leicht an ein Sesselbein, und als dann das Skelett zu rutschen anfing, konnte ich nicht mehr an mich halten. Gellend schrie ich auf und rannte nach unten. An den folgenden Tagen brachten alle Zeitungen die Meldung von der »Toten Frau in der Mansarde«. Die einen berichteten von dem Ehemann, der sich nicht von der geliebten Frau nach dem Tod trennen konnte. Die anderen erzählten von dem Vater, der seinen unmündigen Kindern die Mutter erhalten wollte, obwohl sie gestorben war. Alle aber meldeten, daß die Tote gefunden worden war von einem zehnjährigen Jungen – mit schlohweißen Haaren . . .
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CÄSAR Der Flug von Amerika hierher war verhältnismäßig bequem gewesen. Dafür war die Fahrt in einem schlecht gepolsterten Eisenbahnabteil um so unmöglicher. Wir wurden nur entschädigt durch die typisch englische Landschaft, die vier Stunden lang an unseren Fenstern vorbeizog. Weit angelegte Rasenflächen, gestutzte Strauch- und Baumgruppen und ausgedehnte parkähnliche Wälder — solche Landschaftsstrukturen waren wir in Amerika nicht gewohnt. Meine Frau saß mir gegenüber und machte mich immer wieder auf neue Entdeckungen aufmerksam. Endlich erreichten wir unser Ziel. Mitten im Herzen von Norfolk, dicht bei Norwich und nur knapp 30 Meilen von der Küste entfernt. Ich erwähne bewußt nicht das Städtchen, welches unser genaues Ziel war. Die Einwohner würden es mir verübeln, wenn ich sie ins Gerede brächte. Wir wurden abgeholt. Traditionsgemäß mit einer von zwei Pferden gezogenen Kutsche. Der Mann, der uns begrüßte, machte einen mürrischen Eindruck. Ich bin Psychiater und habe gelernt, Menschen einzustufen. Dieser hier war ein 170
Urtyp des Pyknikers, gedrungen und muskellos, trotzdem kräftig wirkend. Sein Gesicht hatte ein stupides Aussehen, betont durch wimpernlose Augenlider, aufgeworfene Nase und breitflächige Lippen. Seine Zähne dagegen waren makellos. Sie waren echt, das merkte ich. Meine Frau hielt sich während der paar Schritte zur wartenden Kutsche dicht bei mir. Sie hatte Angst. Der Mann kümmerte sich nicht darum, ob wir einstiegen. Meine Frau hatte schon Platz genommen, da fuhr er los. Ich konnte gerade noch aufspringen. Wütend beschwerte ich mich. Doch der Mann scherte sich nicht darum. Stur sah er geradeaus. Ich entschloß mich, bei seiner Herrschaft Beschwerde einzulegen. Dieser Gedanke gab mir Genugtuung. Wir fuhren ungefähr zwanzig Minuten, dann tauchte vor uns ein moderner, enorm weitflächiger Bungalow auf. Ich war etwas überrascht. Ich hatte eher ein altes Herrschaftshaus erwartet, im viktorianischen Stil, mit vielen Gipsverschnörkelungen. Vor dem Haus erwartete uns Mrs. Byrell. Sie begrüßte uns überschwenglich. In ihrer Stimme klang echte Freundlichkeit mit. »Das ist schön, daß Sie schon gekommen sind, Mr. Morlog«, wandte sie sich an mich, »und Ihre Gattin haben Sie auch mitgebracht. Wie schön!« Ich musterte sie kurz. Sie war so um die vierzig herum, hatte etwas Fett angesetzt und erschien mir ganz resolut. Ihr Gesicht glänzte vor Wonne. Sie 171
schüttelte uns kräftig die Hände. Danach bat sie uns ins Haus, zeigte uns die Zimmer und ließ uns allein. Unter der Tür sagte sie noch: »Mein Mann und ich erwarten Sie um sechs Uhr zum Diner. Ziehen Sie sich bitte um, ja?« Verwundert blickten wir beide uns an. Dann brachen wir in schallendes Gelächter aus. Nachdem wir uns einigermaßen beruhigt hatten, machten wir uns daran, die Schränke mit den für uns bereitgehaltenen Kleidungsstücken zu begutachten. Außer einem Aktenkoffer, in dem unsere persönlichsten Utensilien untergebracht waren, durften wir nichts mitbringen. So hieß es jedenfalls bei der schriftlichen Bitte um Konsultation. Der Scheck über 5000 Dollar hatte mich überzeugt, den etwas ungewöhnlichen Auftrag anzunehmen. Als wir die Schränke öffneten, bekamen wir einen gehörigen Schreck. Sie waren zwar dicht gefüllt, aber nicht mit den landesüblichen Kleidern. Bei der Durchsicht der Kleidung fühlten wir uns ins römische Weltreich zurückversetzt. Wir sahen Togen über Togen, und für meine Frau waren lange und kurze, weiße Leinenkleider im römischen Stil vorhanden. Stumm machten wir uns daran, uns umzuziehen. Meine Frau wählte eines der langen Kleider, weit ausgeschnitten und von schmalen Trägern gehalten. Ich kleidete mich in eine orangefarbene To172
ga. Malerisch warf ich mir den Rest des langen Tuches über den linken Arm. So ausstaffiert gingen wir hinunter ins Erdgeschoß. Mrs. Byrell erwartete uns schon. Sie trug eines dieser kurzen Kleider und hatte eine schwergoldene Kette um den dicken Hals. »Mein Mann erwartet uns schon«, sagte sie. Dann geleitete sie uns zu einer Tür. Wir traten hindurch und mußten eine lange, hell ausgeleuchtete Treppe hinuntersteigen. Der Bungalow war tief unterkellert. Ich zählte 23 Stufen. Unten angekommen, traten wir in einen Saal, der mich sofort an Hollywood erinnerte. Alles war so täuschend nachgemacht, als ob wir uns zu Cäsars Zeiten zu einem Festmahl versammelt hätten. Der Tisch war aus massiven Stämmen zusammengekeilt, die Wände waren mit immensen Tüchern verkleidet und der Boden nackter Fels. Alles war grell von zwei Leuchtkörpern beleuchtet, und der Felsboden war angenehm warm. Der Tisch brach bald unter der Last zusammen, und anstelle der Stühle hatte man vier lederbespannte Liegen aufgestellt. An der Stirnseite des mächtigen Tisches hockte Cäsar. »Mein Mann«, sagte Mrs. Byrell, ging zu ihm hin und fiel vor ihm auf die Knie. Es wirkte etwas seltsam, die dickliche Frau in dem kurzen Gewand, kniend vor dem schmächtigen Kerl.
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Mr. Byrell sah urkomisch aus. Seine Halbglatze hatte er durch eine Efeuranke verdeckt, seine zehn Finger zierten mindestens zwölf Ringe. Auch er trug so eine lächerliche Toga wie ich. Mit einer knappen Handbewegung scheuchte er seine Frau weg. Dann blickte er mich lange an. »Wer bist du?« Seine fistelnde Stimme paßte zu ihm. »Doktor Morlog, Sir«, sagte ich. »Und dieses Weib ist deine Gemahlin?« »Ja, Sir, Doktor Susan Morlog begleitet mich auf meinen Reisen.« »Kommt näher, fürchtet euch nicht.« Sein dünner, ringbesetzter Zeigefinger deutete uns an, näher zu kommen. Wir taten ihm den Gefallen. »Ein hübsches Weib«, sagte er anerkennend. »Wo stammt sie her, Medicus? Ist sie eine Römerin wie du? Oder hast du sie aus einem fernen Land mitgebracht?« »Aus Amerika, Sir«, sagte ich wenig feinfühlig, denn alles erschien mir als Komödie aufgeführt zu werden. Mrs. Byrell erschrak sichtlich, und der CäsarVerschnitt verfärbte sich leicht ins Rötliche. »Antworte mir geziemlich, Medicus, sonst lasse ich dich den Löwen vorwerfen«, donnerte er mit seiner hohen Stimme. Ich bin zwar Psychiater und als solcher dafür da, die Marotten der Leute zu zer-
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reden, aber solch einen inszenierten Unsinn machte ich nicht mit. »Komm«, sagte ich zu Susan, »gehen wir nach oben und verschwinden wir von hier.« Wir machten Anstalten, zu gehen, wurden aber von Mrs. Byrell mit flehender Stimme zurückgehalten. »Bitte, bitte bleiben Sie! Ich beschwöre Sie.« »Was soll das Theater?« wandte ich mich an sie. »Soll ich mich hierhersetzen und dem Spieltrieb Ihres Mannes zusehen? Dafür haben Sie uns extra aus Amerika kommen lassen? Ihr Mann ist normal, seine Vorliebe für römisches Gehabe ist der Einfall eines nicht ausgelasteten Gehirnes. Wir gehen!« »Frevler!« brüllte Mr. Byrell mit überschnappender Stimme. »Du wagst es, mich, Cäsar, den Kaiser des altrömischen Reiches zu demütigen? Wehe dir und deinem Weib!« Ich lachte ihm frech ins Gesicht, ergriff Susans Hand und wollte gehen. Da klatschte Mr. Byrell in seine mageren Hände. Sogleich erschien der Kutscher. Der Pykniker trug ein enges Lederwams und hielt in der rechten Hand ein römisches Kurzschwert. »Wirf’ sie ins Verlies!« befahl Mr. Byrell. Der Kutscher kam langsam auf uns zu. Die Situation hätte komisch sein können, wenn nicht dieses Schwert gewesen wäre. Ich hatte mich früher als Hobby-Archäologe betätigt und erkannte, daß das Schwert echt war. 175
»Hören Sie«, sagte ich dem Kutscher. »Machen Sie keinen Unsinn! Lassen Sie uns durch!« Er knurrte nur etwas Unverständliches. Ich merkte allmählich, daß die Sache auszuarten begann. Der Mann stand kurz vor uns. Ich hob die Hand, um ihn beiseitezuschieben. Da holte er mit dem Schwert aus und schlug mir die Breitseite ins Gesicht. Unter dem wuchtigen Hieb taumelte ich zur Seite und stürzte zu Boden. Susan schrie entsetzt auf. Meine Linke tastete vorsichtig zu meiner Wange. Als ich meine Hand ansah, war sie blutverschmiert. Der Mann stand ruhig vor uns, als wäre nichts geschehen. Ich warf einen kurzen Blick zu Mrs. Byrell. Sie bot einen jämmerlichen Anblick. Ihr Mann hingegen hatte sich aufgerichtet. Mit kleinen, ruckartigen Schritten trippelte er auf uns zu, ergriff Susans Arm, packte sie und zog sie fort von mir. Da der ledergekleidete Kutscher immer noch das Schwert auf mich gerichtet hielt, zog ich es vor, keinen weiteren Widerstand zu leisten. Dieses schurkische Spiel mußte ja bald vorbei sein. Dann würde dieser lächerliche Cäsar zähneklappernd ankommen und sich entschuldigen. Ich würde allerdings dafür Sorge tragen, daß er in Behandlung kam. Gegen den Kutscher würde ich Strafanzeige wegen Körperverletzung erstatten.
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Mr. Byrell war durch einen Vorhang in ein Nebenzimmer getreten. Wahrscheinlich versuchte er jetzt, sein Mütchen an meiner Frau zu kühlen. Aber da würde er genau an die Richtige geraten. Meine Frau hatte einen mehrmonatigen Kursus in Karate absolviert und war durchaus in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Daß sie sich so ohne weiteres mitschleifen ließ, lag wahrscheinlich daran, daß sie einen Schock erlitten hatte, als er Bursche mich niederschlug. Gespannt wartete ich auf irgendwelche Geräusche hinter dem Vorgang. Ich mußte sogar lächeln, als ich daran dachte, was »Cäsar« bevorstand. Im Grunde genommen war er zu bedauern. Mrs. Byrell begann nun laut zu jammern. »Er bringt sie um, mein Gott, Mister Morlog, er wird Ihre Frau töten.« Ich sah sie verständnislos an. Dann hörte ich den Schrei. Susan! Ein furchtbarer Schrei, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte. Ohne zu überlegen, sprang ich hoch. Der alte Mann warf sich augenblicklich auf mich, doch mir verlieh das Entsetzen eine bisher ungeahnte Kraft. Mit einem klatschenden Fausthieb stieß ich ihn zu Boden. Das Römerschwert schlitterte über den Felsboden und blieb halb unter dem Tisch liegen. Der Mann blutete aus Mund und Nase und schien ohnmächtig zu sein. Mit raschen Schritten eilte ich auf den Vorhang zu. Kurz bevor ich ihn erreichte, sprang Mr. Byrell 177
hervor. Vor Schreck gelähmt, wich ich zurück. In beiden Händen hielt er eine Königskobra hoch über seinen Kopf. »Ich habe sie getötet, Medicus!« schrie er. »Sie lebt nur noch wenige Sekunden. Geh zu ihr! Geh zu ihr und sieh es dir an!« Ich stieß ihn beiseite und riß den Vorhang zurück. Da lag sie, Susan, meine kleine Frau. Aus weit aufgerissenen Augen blickte sie mich an, ihre Lippen bewegten sich, aber ich konnte kein Wort verstehen. In ohnmächtiger Pein beugte ich mich über sie, ergriff ihren Kopf und hob ihn vorsichtig an. Dabei liefen mir Tränen über das Gesicht. Ich zerbiß mir die Lippen. Ich brachte kein Wort heraus, ich sah Susan nur an. Dieser Blick, voll des Entsetzens und der Angst, ihre bebenden Nasenflügel und die krampfhaft zuckenden Lippen. Ich wollte fragen, wo sie von der Kobra gebissen worden sei. Ich mußte die Wunde aufschneiden und aussaugen. Ich mußte sie retten. Lieber Gott, ich hatte doch nur sie! Susan bemühte sich verzweifelt etwas zu sagen, noch einmal riß sie ihren Mund auf und stöhnte furchtbar, dann ruckte ihr Kopf nach hinten und die Augen brachen. Mehrere Minuten kniete ich neben ihr auf dem Boden. Klagend schauten ihre toten Augen mich an, vorwurfsvoll. Langsam wurde mir bewußt, daß sie tot war. 178
Übermannt von nicht zu bewältigenden Schmerzen brach ich neben meiner Frau zusammen. In einem weißen, steril wirkenden Zimmer kam ich wieder zu mir. Ein Berufskollege beschäftigte sich wochenlang mit mir. Er sagte, daß Mr. Byrell in Sicherheitsverwahrung gebracht wurde. Und er sagte mir, auf welchem Friedhof Susan liegt. Später durfte ich nach Hause. Momentan sitze ich an meinem Schreibtisch. Mein Blick fällt auf die Schlinge am Fensterkreuz. Ich glaube, es ist besser, wenn ich nun aufstehe . . .
DEBBIE Es war gar nicht einfach, so eine Sache aufzuziehen. Ich hatte fast einen ganzen Monat gebraucht, um die verfluchten Gören in meine Hand zu bekommen. Jeden Tag hatte ich sie beobachtet. Ich stand am Schulhof und merkte mir ihre Eigenschaften. Ich merkte mir auch die Zeiten, zu denen die Schule aus war, und wann sie abgeholt wurden. Montag und Dienstag kam der Vater, Donnerstag und Freitag die Mutter. Mittwochs war die Schule schon um 15 Uhr aus. Anscheinend war das den Eltern zu früh, denn mittwochs gingen sie die zwei Kilometer zu Fuß nach Hause.
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Die Kleine war ausgesprochen hübsch. Auch ihr Bruder war nett anzusehen. Trotzdem waren es zwei unerzogene Rabauken. Ich hatte, sie vorigen Mittwoch angesprochen, ob ich sie nicht ein Stück Weges mitnehmen könne, da hatten sie nur frech gelacht, mir die Zunge herausgestreckt und waren weggelaufen. Da hatte mich die Wut so gepackt, daß ich anhalten mußte, ich war im Moment nicht fähig, zu fahren. Aber heute würden sie mir nicht entwischen. Ich hatte einen guten Plan. Der würde klappen. Mein Gott, wenn Annabelle noch bei mir wäre . . . und auch Billy . . . Aber meine Kinder waren ja nicht mehr da. Sie waren weg, dem eigenen Vater gerichtlich weggenommen. Als ich auf den Beamten losging, der meine Tochter und meinen Sohn holen wollte, steckten sie mich für ein halbes Jahr ins Gefängnis. Widerstand gegen die Staatsgewalt nannten sie es. Ich wollte meine Kinder nicht hergeben und kämpfte um sie. Daß ich dabei gegen den Staat kämpfen mußte, war ja nicht meine Schuld. Warum nahm er sie mir auch weg? Der Beamte wurde frühzeitig pensioniert. Ich hatte ihm auf den Kopf geschlagen. Wenn der Mann nicht so angegeben hätte, wäre ich in wenigen Stunden mit meinen Kindern über die Grenze gegangen. Ich habe ihn angefleht, mir einen Vorsprung zu lassen. Ich hatte doch kein Verbrechen begangen. 180
Meine Frau hat sich von mir scheiden lassen. Ihr sind die Kinder zugesprochen worden, weil sie angeblich besser für sie sorgen kann. Die Schlampe hatte sich einen reichen Fabrikanten geangelt. Meine Ersparnisse sind bei der Scheidung draufgegangen. Das alles sagte ich dem Polizisten. Doch der war stur. Da habe ich den Hammer genommen, und in dem Augenblick tauchte Sheela auf. Meine ehemalige Frau schrie, und der Chauffeur ihres neuen Freundes verprügelte mich. Manchmal spüre ich noch einen stechenden Schmerz im Hinterkopf. Der Chauffeur war kräftig. Er schlug immer wieder zu. Ich schrie vor Angst und bat ihn, aufzuhören. »Mörder, Mörder«, schrie er und prügelte mich weiter. Als ich schon auf dem Boden lag, stieß er mich mit Füßen, dahin wo er gerade traf. Sheela stand daneben und lachte. »Gib ihm den Rest, diesem Satan«, plärrte sie. Da trat er mir ins Gesicht. Ich spuckte Zähne und Blut. Der Polizist überlebte. Der Chauffeur kam straffrei davon. Mein Gesicht ist seitdem entstellt. Ich habe in meinem Haus jeden Spiegel zerstört, um mich nicht sehen zu müssen. Aber die Blicke der Leute auf der Straße sind furchtbar. Daran habe ich mich noch nicht gewöhnt. Sie schauen voller Mitleid auf mich, und hinter meinem Rücken tuscheln sie über mich. 181
Ich habe mir einen Bart wachsen lassen, er verdeckt meine unglücklich zusammengewachsene Oberlippe. An meiner rechten Hand fehlen drei Finger. Ich steck’ die Hand meistens in die Jackentasche. Daß ich mich rächen werde, weiß ich. Dieses Wissen hält mich aufrecht. . . In wenigen Minuten wird die Glocke schrillen, dann stürmen die Kinder aus dem Haus, und die beiden werden dabei sein. Ich hatte sie ja heute morgen gesehen. »He, Sie, was machen Sie hier?« Ich zuckte zusammen, als mir jemand seine Hand auf die Schulter legte und mich unvermittelt ansprach. Meine Haltung verkrampfte sich und stellte sich völlig auf Abwehr ein. Langsam, ohne eine verdächtige Bewegung zu machen, drehte ich mich um. Hinter mir stand ein Mann in schäbiger Kleidung, Ende 50, schätzte ich auf den ersten Blick. Er hatte erstaunlich helle Augen. Die Augenbrauen waren ärgerlich gewölbt. Seine Hand lag noch immer auf meiner Schulter. Er verstärkte den Druck. Ich stöhnte auf. Seit dem bewußten Tag konnte ich nicht mal mehr den leisesten Schmerz aushalten. »Was machen Sie hier?« wiederholte er seine Frage. Ich musterte ihn rasch. Er machte einen kräftigen Eindruck, zu kräftig für mich. Ich verhaspelte mich vor Aufregung.
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Er herrschte mich an. »Sprechen Sie deutlicher! Ich kann Sie nicht verstehen, Mann.« »Ich warte auf meinen Jungen«, brachte ich hervor. Der alte Mann lachte. »Seit zwei Wochen sehe ich Sie hier schon herumstreichen, aber bisher haben Sie noch nie jemand abgeholt. Erzählen Sie mir also keine Märchen! Was wollen Sie hier?« »Lassen Sie meine Schulter los!« bat ich ihn. »Ich denke gar nicht daran. Erst sagen Sie mir, warum Sie sich hier herumtreiben.« Ich blickte mich um. Niemand war zu sehen. Die Schule lag so abgelegen, daß uns niemand sehen konnte. Der Alte zerstörte meinen Plan. »Wird’s bald?« Ich merkte, wie er ungeduldig wurde, außerdem schmerzte meine Schulter verteufelt. Ich versuchte seine Hand abzuschütteln, doch er hatte fest zugepackt, ich schaffte es nicht. »Sie tun mir weh, Sir«, sagte ich. »Ich gehe gern hier spazieren. Dann betrachte ich mir meine alte Schule. Ist das verboten?« »Die Schule ist erst vor vier Jahren gebaut worden. Ich bin der Hausmeister. Sie schmecken mir nicht, Mister. Ich glaube, wir werden zur Polizei gehen, da können Sie dann Ihre Geschichte erzählen.« So weit durfte es nicht kommen . . . Ich riß mich los. Es tat furchtbar weh. Gerade als ich weglaufen
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wollte, schlug er mir seine Faut gegen die Brust. Da sah ich rot. Hinter ihm lag ein faustgroßer Stein. Ich bückte mich blitzschnell, ergriff den Stein und schlug auf den Alten ein, schon beim zweiten Hieb fiel er um. Mich packte das Entsetzen. Dann rannte ich wie von Furien gehetzt davon . . . Die Erinnerung an diese Tat plagte mich. Verdient hatte der Bursche es schon, aber das war keine Entschuldigung. Ich hatte einen großen Fehler begangen . .. Fuhr in meinem Wagen langsam durch die Straßen und hatte kein Ziel. Die Polizei suchte den Täter. Von mir wußte sie nichts, und niemand konnte ihr etwas sagen. An der Straße stand ein Mädchen. Es trug verwaschene Jeans, ein Cordhemd und darüber eine Militärjacke. Alles in allem sah es verwahrlost aus. Es hielt mich an. »Können Sie mich ein Stück mitnehmen, Mister?« »Steig ein!« »Mistwetter«, sagte das Girl. Es regnete draußen. Das Polster färbte sich dunkel, wo meine Beifahrerin sich hinsetzte. Sie schüttelte die nassen Haare und fragte: »Sind Sie Reisender?« »Nein.« »Bei dem Wetter unterwegs? Zum Vergnügen?« Wieder beschränkte ich mich auf ein Nein. Es ging sie nichts an.
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»Gesprächig sind Sie gerade nicht, Mister, hä?« »Stimmt.« »Warum nehmen Sie dann jemand in Ihrem Wagen mit, wenn Sie nicht sprechen wollen?« »Sprechen will ich schon«, sagte ich, »nur nicht über mich.« Sie war ein aufgewecktes Mädchen. Ihr Nicken sagte mir, daß sie Verständnis hatte. Das fand man selten bei so jungen Leuten, ich sagte es ihr. »Ach, das glaubt auch keiner«, wich das Girl aus. »Die Jugend besitzt noch ein Geschenk, das wir schon längst abgeben mußten, und das macht sie mächtig uns gegenüber. Da ist es auch verständlich, daß sie völlig andere Ansichten hat.« »So wild ist das gar nicht, Mister.« »DeLane«, stellte ich mich vor. »Debbie.« »Ein hübscher Name.« »Tun Sie mir einen Gefallen, Mister DeLane, fangen Sie nicht auch wie die anderen an! Hübscher Name, und überhaupt ein süßes Kind und so weiter. Ich weiß, wie die alten Knacker an die Sache rangehen.« »Gut«, sagte ich, »obwohl das mit dem süßen Kind wirklich stimmt. Nur, du kleidest dich ein bißchen unvorteilhaft für deinen Typ, Debbie.« »Es ist aber bequem«, rechtfertigte sie sich.
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Ich mußte auf die Bremse treten, weil sich vor uns eine Menge Wagen stauten, es ging nur noch im Schrittempo weiter. »Was ist denn bloß wieder los?« Sie kurbelte ihr Fenster runter und streckte den Kopf ins Freie, so konnte sie an der Autoschlange vorbeisehen. Ich merkte, wie sie erschrak. »Da vorne steht ein Streifenwagen. Ich glaube, die kontrollieren jeden Wagen.« Mit dem eben gesagten versetzte sie mir ungewollt einen Schock. Wahrscheinlich war die Kontrolle wegen des alten Hausmeisters. Verdammt noch mal, das sah nicht gut aus. Hätte ich die Kleine nicht bei mir gehabt, wäre ich zurückgefahren. »Ich möchte aussteigen, Mister DeLane«, sagte sie plötzlich. »Angst vor der Polizei?« »Na, sagen wir lieber, ich liebe sie nicht.« »Seit meiner Militärzeit kann ich auch keine Uniformen mehr ausstehen, Debbie.« Ihre Bitte kam mir wie gerufen. Ich hielt den linken Arm aus dem Fenster, wartete eine Lücke ab, dann wendete ich. Hier auf der Seite floß der Verkehr wieder zügig. Doch wir waren schon zu nahe an dem KontrollStop gewesen. Die Polizisten hatten uns gesehen. Ich sah im Rückspiegel, wie sich ein Polizist auf seine schwere Maschine warf und hinter uns herbrauste. In wenigen Sekunden hatte er uns eingeholt.
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Er überholte und winkte mit der Rechten auf und ab. Ich wägte blitzschnell ab, wie ich mich verhalten sollte. Wenn ich hielt, könnte der Polizist gefährliche Fragen stellen. Würde ich flüchten, hätte ich allerdings keine Chance durchzukommen. Ich entschloß mich anzuhalten. Meine schweißnassen Hände lenkten den Wagen an den Straßenrand. »Laß mich reden, Debbie«, sagte ich zu ihr, »hab keine Angst!« Da war der Beamte auch schon abgestiegen. Mit langsamen Schritten trat er an meinen Wagen und nestelte dabei an seiner Revolvertasche. Mein Herz schlug so laut, daß es die anderen bestimmt hörten. »Aussteigen«, brummte er unfreundlich. Wir stiegen aus. Die vorbeifahrenden Leute gafften aus den Wagen, einige fuhren sogar langsamer, damit ihnen nichts entgehen konnte. »Papiere!« Auffordernd streckte er seine Hand aus. Ich gab ihm meine Brieftasche. Er nahm den Führerschein und meine Identitycard. Die verschiedenen Kreditkarten schienen ihn nicht zu interessieren. Aufmerksam studierte er meine Papiere. »Warum sind Sie zurückgefahren?« Er informierte sich noch mal an Hand meines Ausweises, dann fragte er: »DeLane?« Ich gab mir große Mühe, glaubwürdig zu sein. »Das war sozusagen das schlechte Gewissen, Sir.« 187
»Wieso«, schnappte er sofort nach. Hoffentlich nahm er mir die Rolle des reumütigen Sünders ab. Zerknirscht sagte ich. »Sie wissen doch, warum, Sir, ich bin vorhin ein paar Meilen zu schnell gefahren. Aber die Straße war ganz leer, und ich habe niemand gefährdet, das müssen Sie mir glauben. Ich konnte ja nicht wissen, daß unsere Polizei alles merkt. Es tut mir leid, Sir!« Ich musterte aufmerksam sein Gesicht. Es war noch genauso streng wie zuvor. Jedoch zeichneten sich an seinen Mundwinkeln einige Lachfalten ab. Bestimmt amüsierte er sich über mich. »So so.« Wieder blätterte er meine Papiere durch. Ich wußte, was er suchte. Eintragungen in meinem Führerschein über irgendwelche Verkehrsvergehen. Glücklicherweise konnte er da nichts finden. Debbie stand neben mir wie ein Häufchen Unglück. Jetzt sah der Polizist sie an. Ich merkte, wie sie sich duckte. Doch der Beamte bemerkte es nicht. »Erinnern Sie Ihren Vater an unsere Vorschriften, mein Fräulein! Diesmal will ich es noch dabei belassen, Sie zu verwarnen, Mister DeLane. Wir haben etwas Wichtigeres zu tun. Wir suchen nämlich einen Mörder, wissen Sie? Hier im Ort wurde der Hausmeister der Schule erschlagen.« Debbies Augen weiteten sich. »Nein«, flüsterte sie, »mein Gott, das ist ja furchtbar!«
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»Na ja, Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Fräulein. Wir schnappen den Halunken noch heute.« »Hoffentlich, Sir«, sagte ich. »Wissen Sie denn schon, wer die Tat begangen hat?« »Wir haben unseren Verdacht, Mister. Aber Sie müssen verstehen, daß wir niemand in unsere Ermittlungen einweihen können. Guten Tag!« Er gab mir meine Brieftasche wieder. »Fahren Sie weiter!« »Auf Wiedersehen, Sir! Steig ein, Debbie!« Im Wagen steckte ich mir erst mal eine Zigarette an. »Kann ich auch eine haben?« Ich gab ihr Feuer. Dann fuhr ich weiter. Der Polizist wendete und fuhr wieder zurück. In den nächsten Minuten sprachen wir kein Wort. Das Nikotin beruhigte meine Nerven. Auch Debbie wurde merklich ruhiger. Nach einer zweiten Zigarette sagte sie. »Ist das nicht furchtbar, Mister DeLane?« »Sag ruhig Frank zu mir!« »Wie kann ein Mensch nur so tief sinken, daß er einen Mord begeht? Verstehen Sie das, Frank?« »Nein, Debbie.« Ich schüttelte zur Bekräftigung den Kopf. Nachträglich konnte ich es auch nicht verstehen. Im Grunde genommen erinnerte ich mich auch nur noch schemenhaft an den Vorfall. Ich hatte gar nicht die Absicht gehabt, den alten Mann zu er189
schlagen . . . Warum mußte er auch so aufdringlich werden! Die plötzliche Kontrolle hatte mich gewarnt. Ich wußte jetzt, mein größter Fehler wäre, wenn ich Hals über Kopf wegziehen würde, wie ich es eigentlich vorhatte. Ich mußte mich zusammenreißen und wieder zurückfahren, schließlich stand ich nicht unter Verdacht. Die Polizei stand vor einem Rätsel, und ich hatte nicht das geringste zu befürchten. Die Erkenntnis der eigenen Sicherheit ließ mich laut werden. Debbie sah mich verwundert an. »Finden Sie das komisch, Frank?« Die Kleine war verdammt klug. Ich beeilte mich, zu versichern, daß ich nur gelacht hatte, weil ich daran dachte, wie wir den Polizisten hinters Licht geführt hatten. Dann fragte ich sie: »Weswegen hattest du eigentlich Angst vor ihm?« »Ich bin von zu Hause abgehauen, verstehen Sie?« »Mal eine vertrauliche Frage: Wie alt bist du eigentlich?« Sie blickte mich von der Seite an. Anscheinend überlegte sie, ob sie mir die Wahrheit sagen konnte. »Ich bin gerade 18 Jahre geworden. Also noch zu jung, um selbständig zu sein, nicht wahr?« Der glückliche Ausgang des eben Überstandenen ließ mich übermütig werden. »Schon«, antwortete ich. »Aber ich habe einen guten Vorschlag. Was hältst du davon, wenn du für eine gewisse Zeit zu mir ziehst? Ich habe genügend Platz in meinem Haus. Und wenn du es für richtig hältst, zurückzu190
gehen, denn früher oder später wirst du das tun, dann gehst du einfach. So lange bleibst du einfach bei mir. Abgemacht?« »Ihre Frau wird ganz schöne Augen machen, wenn ich auftauche.« »Rede nicht von meiner Frau!« Meine Stimme mußte seltsam geklungen haben, denn Debbie entschuldigte sich sofort. »Schon gut, Debbie, meine Frau hat sich von mir getrennt. Das konntest du nicht wissen. Wie steht es nun? Ziehst du zu mir?« »Na, ich weiß nicht so recht.« Ihr Zögern war verständlich. »Sie sind ein Mann, und ich bin ein junges Mädchen, da liegt es auf der Hand, daß . . .« Sie sprach nicht weiter, aber ich wußte auch so, was sie meinte. Ich lachte. »Du hast nichts, aber auch nicht das geringste zu befürchten, Debbie. Ich betrachte dich als meine Tochter, denn ich habe auch eine Tochter und einen Sohn.« Die plötzliche Erinnerung an Annabelle und Billy ließ mich verstummen. Anscheinend merkte Debbie, was mit mir los war. Sie legte ihre Hand auf meinen rechten Arm und drückte ihn leicht. »Ihre Frau hat Ihre Kinder mitgenommen, Frank?« Es ging sie absolut nichts an. Dennoch konnte ich nicht umhin, und ich nickte. »Sie lieben Ihre Kinder?« Wieder mußte ich nicken, automatisch, ohne nachzudenken. 191
»Ich habe Verständnis, Frank, wirklich. Kann ich für ein paar Tage zu Ihnen ziehen?« »Ja, natürlich, Debbie.« Meine Stimme klang scheußlich belegt. Ich räusperte mich. Nach fünf Minuten zügiger Fahrt erreichten wir Denison. Ich fuhr den Wagen in die Garage. Dann gingen wir ins Haus. Debbie wirbelte aufgeregt durch sämtliche Zimmer und unterzog alles einer gründlichen Inspektion. Ich nahm mir inzwischen einen Whisky. Nach einer Weile kam Debbie zurück ins Wohnzimmer. »Ach, haben Sie es schön hier, Frank. Darf ich das fünfeckige Zimmer oben haben? Bitte, ja?« »Gern.« Das Zimmer hatte Annabelle gehört. Es war noch vollständig eingerichtet, so wie Annabelle es verlassen hatte. »Au fein«, jubelte Debbie. Es klang so echt und so glücklich, daß ich aufstand, sie kurz entschlossen in meine Arme nahm und fest an mich drückte. In den ersten Sekunden leistete sie Widerstand. Ich streichelte den schmuddeligen Kopf. Dann schob ich sie von mir und sah sie von oben bis unten an. »Marsch unter die Dusche!« kommandierte ich. »Zu Befehl!« Sie salutierte. Während sie im Bad beschäftigt war, ging ich zum Kaufmann. Mein Haus stand auf einem kleinen Hügel. Die Landschaft war so hübsch, daß ich mich damals so192
fort entschloß, das Haus zu kaufen, kaum daß ich es richtig gesehen hatte. Die paar hundert Meter hatte ich in wenigen Minuten geschafft. Im Laden war nicht viel Betrieb. Mrs. Custom war die einzige Kundin. Mrs. Refferston, die Inhaberin, grüßte mich freundlich und setzte dann ihr Gespräch mit Mrs. Custom fort. Sie unterhielten sich über die Tat an dem Hausmeister vom Nachbarort. »Was ich Ihnen sage, Mrs. Custom, unsere Gesetze sind viel zu lasch für solche Menschen. Die arme Frau von diesem Mann. Ich habe ihr schon eine Kondolenzkarte geschickt. Sie kann einem wirklich leid tun.« »Als ich von dem Mord gehört habe, dachte ich, mich trifft der Schlag. So was kommt doch sonst nur in New York vor. Oder in Boston oder Chikago.« »Ja, ja, Mrs. Custom, das Verbrechen zieht immer mehr aufs Land. Das ist traurig, aber wahr. Wir sind vor solchen Leuten auch nicht mehr sicher. Sheriff Parker ist rübergefahren. Vielleicht kann der den Fall klären. Sie wissen doch, wie neulich bei uns eingebrochen wurde, hat der Sheriff den Strolch schon nach zwei Stunden gefaßt.« Mrs. Custom, das Klatschmaul von Denison, zerknautschte ein paar Ballen groben Stoffes und entschied sich dann für einen mit vielen großen Blumen und gelben Punkten. Mrs. Refferston schnitt ihr vier Meter davon ab. Dann reichte sie 193
ihr noch ein Riesenpacket Cornflakes über den Ladentisch. »Mit dem, was noch offen steht, macht es dann zusammen 17 Dollar.« Die Frau zahlte und ließ noch ein paar Spitzen über Mabel Cornelius los, ein Mädchen, das erst vor zwei Wochen nach Denison gezogen war. Sie lebte hier mit einem jungen Mann namens Jim Denis zusammen. Natürlich war das Grund genug zu klatschen. Ich verstand mich mit Jim ganz gut. Die beiden hatten mich schon des öfteren zum Essen eingeladen. Es waren nette, unkomplizierte Leute, mit denen man sich vernünftig unterhalten konnte. »Sind Sie fertig, Mrs. Custom, oder lohnt es sich für mich nicht mehr zu warten. Dann komme ich eben morgen wieder. Wenn Sie bis dahin fertig sind, heißt das.« »Pah«, sagte sie schnippisch und warf mir einen vernichtenden Blick zu. Dann ging sie aus dem Laden, und ich konnte meine Wünsche äußern. Der Laden von Mrs. Refferston war der typische General Store, den man in Nordamerika in jeder Kleinstadt findet. Hier gab es so gut wie alles. Ich kaufte zwei große Wandspiegel und einen kleineren für das Bad. Dazu noch verschiedene Lebensmittel. »Keine Fertiggerichte, Mister DeLane?« wunderte sie sich.
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»Nein«, sagte ich. »Und bitte noch Schinken, Aufschnitt und Käse, je ein halbes Pfund.« Dann erstand ich noch ein paar Büchsen Cola. Als ich, mit den Sachen beladen, zu meinem Haus ging, bereute ich es doch, nicht den Wagen genommen zu haben . . . Debbie war noch im Bad. Ich lud die Sachen in der Küche ab, nahm den Badezimmerspiegel und ging hinauf. Durch die Tür hörte ich das Plätschern des Wassers. Ich klopfte. »Ja?« »Ich habe hier einen Spiegel, Debbie. Den braucht doch eine junge Dame, um sich schön zu machen.« »Fein, ich habe ihn schon gesucht. Kommen Sie rein! Die Tür ist nicht abgeschlossen.« »Achtung, halte das Handtuch vor! Ich stürme.« Sie lachte schallend auf, als ich ins Badezimmer rannte, vorbei an der Wanne, bis hin zur Wand, in der noch der Haken steckte, an dem der Spiegel hing, bevor ich ihn zerschlug. Ich hängte den neuen Spiegel an. Beim Ausrichten sah ich mein Konterfei. Angeekelt wandte ich mich ab. Debbie saß in der Wanne, bis zum Hals mit Schaum bedeckt. »Haben Sie nicht einen Morgenmantel für mich, Frank?« 195
»Nimm erst mal meinen, nachher kannst du die Sachen von meiner Frau anprobieren. Sie hat ungefähr deine Größe. Darunter wird auch ein Bademantel sein.« Ich verließ das Bad. Unter der Tür rief ich ihr zu. »Vergiß nicht, deine Haare zu waschen!« »Wird gemacht, Chef.« Ich ging wieder nach unten. Mir fuhr plötzlich durch den Sinn, daß es mir nichts ausmachte, als ich von meiner Frau sprach. Seltsam, hatten sich meine Empfindungen so rasch geändert? Hing es mit Debbie zusammen? Ich benahm mich wie ein grüner Junge, der zum ersten Mal mit seiner Freundin allein war. Oder besser gesagt, wie ein Vater, der eben erfahren hat, daß ihm eine Tochter geschenkt worden war. Ich hatte das Gefühl, Debbie schon seit ewigen Zeiten zu kennen. Sie erinnerte mich an Annabelle. Annabelle. . . Billy . . . Der plötzliche Schmerz im Hinterkopf raubte mir die Besinnung. Ich stürzte zu Boden. * Als ich die Augen aufschlug, beugte sich Debbie über mich. Ich lag auf der Couch, sie hatte mich aufgehoben und hingelegt. Ihr Gesicht drückte Besorgnis aus. »Geht es Ihnen besser, Frank? Als ich aus dem Bad kam, fand ich sie hier auf dem Boden. Sie sind ohnmächtig gewesen. Ober eine halbe Stunde.«
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»Es geht schon. Vielen Dank, Debbie! Der Kreislauf, weißt du. Bei so einem alten Mann wie ich kommt es schon mal vor, daß er umkippt.« »Alter Mann, na hör mal, Frank.« Sie war ehrlich empört. Zum ersten Mal hatte sie mich geduzt. Ich fand das richtig so. »Mit 42 soll man zwar in den besten Jahren sein. Aber ich verzichte lieber auf die besten Jahre und wäre lieber zwanzig Jahre jünger.« Debbie erhob sich. »Ich habe uns was zu essen gemacht. Hast du großen Hunger?« »Noch größer als groß.« Während sie in die Küche ging, erholte ich mich ein wenig. Der Schmerz im Hinterkopf bohrte noch dumpf, aber es ging mir schon wieder einigermaßen. Vorsichtig stand ich auf. Aus der Küche drang ein köstlicher Duft von gebratenem Fleisch. Ich setzte mich an den Tisch und wartete. Debbie kam mit dem Tablett herein und deckte. Es gab gut durchgebratene Steaks, kleine runde Mohrrüben mit zerlassener Butter übergossen und Bratkartoffeln. Dazu für sie eine Dose Cola und für mich ein Bier. Es schmeckte köstlich. Debbie winkte geschmeichelt ab, als ich sie lobte. »Das ist auch das einzige, was ich einigermaßen kann.« Nach dem Essen plauderten wir noch. Sie erzählte mir ihre Geschichte.
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»Ich bin nicht von zu Hause abgehauen, Frank! Ich habe nämlich kein Zuhause! Meine Eltern gaben mich in ein Heim, als ich drei Jahre alt war. Na ja, ich will nichts dramatisieren. Solche Geschichten wie meine hört man überall. Eigentlich ging es mir auch gar nicht mal so schlecht. Die Schwestern im Heim waren meistens nett. Man konnte mit ihnen auskommen. Als ich noch kleiner war, fiel es mir auch nicht schwer, mich der Ordnung anzupassen. Aber jetzt, als Achtzehnjährige, na ja, da hat man eben so seine Einstellung zum Leben, verstehst du?« Und ob ich sie verstand. Kein Mensch läßt sich gern ein System aufzwingen, vor allen Dingen dann nicht, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat. Debbie war so offen zu mir, daß es mich rührte. Sie zeigte mir ein bislang unbekanntes Vertrauen. »Ich habe vorhin flüchtig erwähnt, daß meine Frau sich von mir scheiden ließ und die beiden Kinder mitgenommen hat.« Sie entgegnete nichts. Sie saß ruhig mir gegenüber und sah mich an. »Es war für mich eine schwere Zeit. Meine Kinder bedeuten mir alles, aber meine Frau hat es sogar verstanden, mir die Erlaubnis zu nehmen, die beiden wenigstens sehen zu können.« »Das finde ich gemein. Liebst du deine Geschiedene noch?« Ich überging ihre Frage.
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»Ich habe im Gefängnis gesessen, Debbie, ein halbes Jahr lang, weil ich auf einen Beamten losging, als er meine Kinder holen wollte. Sheela hatte mich schon vorher mit einem anderen betrogen. Der Mann hat eine Unmenge Geld. Das Gericht sprach ihm und meiner geschiedenen Frau die Kinder zu. Er könnte ihnen mehr Sicherheit bieten, behauptete man.« Ich erzählte. Alles, was mich bewegte, und von dem ich glaubte, daß ich damit nicht fertig werden würde. Vom Reden bekam ich eine trockene Kehle. Anscheinend hatte ich den Faden verloren. Es war schon spät, Zeit zu Bett zu gehen. Debbie wünschte mir eine gute Nacht und ging nach oben. Ich ging in mein Zimmer. Es war aufgeräumt. Seltsam . . . Wahrscheinlich hatte Debbie, während sie zum ersten Mal durch das Haus stöberte, rasch Ordnung gemacht. Mein Schreibtisch hatte sich verändert. Kein Blatt lag mehr umher, die Schreibmaschine war zugedeckt, die Bleistifte lagen symmetrisch nebeneinander, und das Bild von Billy und Annabelle war abgestaubt. Ich suchte mir ein paar Blätter zusammen, legte Blaupapier dazwischen und spannte das Ganze in die Maschine ein. Ein paar Minuten hockte ich hinter dem Schreibtisch und überlegte. Dann stand ich auf und legte eine LP von Jose Feliciano auf. Die Gitarrenmusik hatte eine mystische Wirkung auf mich. Ich sah minutenlang auf das kleine Bild. Annabelles grünblaue Augen mus199
terten mich. Sie schienen mir zuzurufen: »Komm, Pa! Komm zu uns, bitte!« Ich mußte zu ihnen, jetzt sofort, ohne Zeit zu verlieren. Die Uhr an der Wand zeigte zwanzig Minuten vor Mitternacht. Langsam stemmte ich mich hoch. Ich ergriff mein Jackett und verließ leise das Haus. Draußen war alles ruhig. Kein Mensch war mehr auf der Straße. Die Nacht war kühl und erfrischend. Ich holte den Wagen aus der Garage und fuhr die zwei Meilen aus Denison raus über die Landstraße. Der Grenzweg zwischen Oklahoma und Texas war ohnehin nur wenig befahren. Zu dieser Zeit traf man niemand mehr an. Teilweise fuhr ich dicht am Red River entlang, so daß die Scheinwerfer den Fluß aus dem Dunkel rissen. Hier auf diesem Abschnitt floß der Red River noch ruhig und gemächlich. Als Kinder waren wir in seinen Fluten umhergetollt. Hier hielten wir unsere ersten wilden Piratenspiele ab. Hier verkörperten wir Jungen unsere Vorbilder Sir Francis Drake und Columbus. Ich liebte den Fluß. Ich bog nach Süden, Richtung Fort Worth ab. Für diese Strecke brauchte ich knapp zwei Stunden. Fort Worth war der Kreuzungspunkt mehrerer Verbindungsstraßen. Dann brauchte ich nicht mehr lange bis nach Dallas. Inzwischen war es 15 Minuten vor drei Uhr geworden. Selbst die hartnä200
ckigsten Nachtschwärmer waren jetzt von den Straßen verschwunden. Dallas zeigte sich mir von seiner trostlosesten Seite. Ich schlängelte mich durch das Autobahnnetz und erreichte die östlichen Vororte. Hier lag alles wie ausgestorben. Kein Geräusch, außer dem meines Wagens, war zu vernehmen. Die Villen die hier links und rechts der Straße lagen, bewiesen den Wirtschaftsaufschwung der Bewohner. Von einer drohenden Währungskrise war überhaupt nichts zu spüren. Ich verlangsamte das Tempo. Der Suchscheinwerfer riß mein Ziel aus der Dunkelheit. Die Villa von Derrick Webster blendete mich fast. Ich hielt an und stieg aus. Wie oft war ich schon hier gewesen? Wie oft hatte ich hier geklingelt? Und wie oft hatte man mich von der Tür gejagt wie einen Bettler? Die Villa war von einer drei Meter hohen Mauer umgeben. Auf der Mauerkrone steckten Glasscherben, dicht bei dicht. Ich schaltete alle Lichter an meinem Wagen aus. In der Straße stand nicht eine Lampe. Das Haus selber wurde von zwei mächtigen Scheinwerfern angestrahlt. Sie mußten irgendwo im Garten installiert sein. Ich ging zum Eingangstor. Probeweise rüttelte ich an der Klinke. Natürlich war sie verschlossen. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich nicht das Tor überklettern solle. Anfangs war es leicht, aber in der Höhe verjüngten 201
sich die Eisenstäbe zu Speerspitzen, die vielleicht ein Artist überflanken könnte. Ich ließ den Plan fallen und ging an der Mauer entlang. Sie war fugenlos glatt und bot keinerlei Möglichkeiten mit den Füßen Halt zu finden, um sie zu übersteigen. Ich trat ein paar Schritte zurück. Dort, ein oder zwei Meter hinter der Mauer, erkannte ich schemenhaft einen Baum. Ich erinnerte mich, ihn bei meinen vorherigen Besuchen gesehen zu haben. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, war das ein alter Baum mit eng verwachsenen Zweigen. Da fiel mir mein Abschleppseil ein. Ich lief zurück zum Wagen und holte es mir. Es war aus reißfestem Nylon und hatte an beiden Enden eine weitläufige Stahlspirale, die sich zum Ende hin immer mehr öffnete. Wenn ich Glück hatte, würde die Spirale sich in dem Geäst verfangen, und ich könnte mich hochhangeln. Ich schätzte den Abstand. Dann warf ich das Seil. Es knackte ziemlich laut, als es drüben aufschlug. Ich zog an dem Seil. Es hatte sich nicht verhakt und rutschte über die Mauerkrone zurück. Wieder versuchte ich es, mit dem gleichen Resultat. Endlich, nach dem vierten Versuch spannte sich das Seil, als ich prüfend daran zog. Es mußte drüben gefaßt haben. Vorsichtig stieg ich an der Mauer hoch. Es klappte besser, als ich angenommen hatte. 202
Ich stand oben und blickte hinunter ins Schwarze. Man hat in solchen Augenblicken keinerlei Gefühl, wie hoch man steht. Ich konnte nicht den Boden erkennen. Trotzdem sprang ich. Ich schlug der Länge nach hin und stieß mir den Kopf an. Einen Moment blieb ich liegen und atmete tief ein und aus. Dann erhob ich mich. Mein Ziel war hell angeleuchtet, aber meine Umgebung war stockdunkel. Ich lief zweimal gegen einen Baum. Dann erreichte ich den Vorplatz. Daß mich jemand bemerken könnte, war unwahrscheinlich. Ich umrundete das Haus. Hinten war eine Blumenveranda nachträglich angebaut, und da stand ein Fenster spaltbreit auf. Ich stieg ein. An die Veranda schloß sich ein Wohnsaal an. Die Tür dazu stand offen. Hier drin war es einigermaßen hell. Alles war so luxuriös eingerichtet, wie ich es mir vorgestellt hatte. Leise schlich ich quer durch den Raum. Natürlich waren im Haus alle Türen unverschlossen. Ich hatte keine Schwierigkeiten mehr. Ich ging an der Küche vorbei. Jetzt nachträglich kann ich nicht mehr sagen, was mich bewog, das Messer mitzunehmen. Ich steckte das Tranchiermesser ein. Kinder hatten ihre Zimmer meist im Obergeschoß. Ich ging die Treppe hinauf und stand vor einem Flur, von dem sechs Türen abgingen. Aus meiner Jackentasche holte ich mein Taschentuch
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und wickelte es mir um meine verkrüppelte Rechte. Dann drehte ich vorsichtig den Türknauf der ersten Tür. Ich hatte Glück. Annabelle lag in einem Himmelbett. Ihre blonden Haare hatten sich wunderhübsch um ihr kleines Gesicht verteilt. Stumm verharrte ich am Fußende. Ich verfolgte jede Kontur ihres hübschen Gesichtes mit meinen Blicken. Meine Hände verkrampften sich. Ich stand da, blickte auf meine kleine elfjährige Tochter und weinte in hemmungsloser Ohnmacht. Leise setzte ich mich zu ihr auf den Bettrand. Vorsichtig berührte ich ihre Hand. Ich wollte sie an mein Gesicht drücken, sie küssen und für immer festhalten. Mein Arm stieß an das Messer in meiner Innentasche. Ich kam wieder zu mir. Meine kleine Annabelle sah so glücklich aus, im Schlaf hatte sich ihr Gesicht zu einem Lächeln verwandelt, und ich nahm dieses Bild in mich auf. Hilflos wischte ich mir mit dem Arm über die Augen, dann stand ich auf und verließ ihr Zimmer. Warum durfte ich nicht bei ihr bleiben? Warum nahm man mir die Rechte, die jeder andere Vater hat? Warum nahm man mir das Recht auf meine Kinder? Billy. Ich mußte noch zu Billy. Er schlief nebenan. Sein Zimmer sah genauso unordentlich aus wie alle Zimmer von Jungen in seinem Alter. Für seine neun Jahre war Billy schon 204
sehr groß. Er hatte das Kopfkissen aus dem Bett geworfen und lag verkehrt herum. Bei seinem Anblick versiegten meine Tränen. Nicht umsonst hatte ich ihm eingeprägt, daß ein Mann nicht weinen darf. Billy hatte seit jeher einen festen und tiefen Schlaf. Deswegen konnte ich es riskieren, sein Gesicht zu streicheln. Er schlief ungestört weiter. Ich küßte seine Stirn. Plötzlich fiel mir Sheela ein. Das auf mich einstürmende Haßgefühl ließ mich zusammenzucken. Ich riß mich los und verließ Billys Zimmer. Das Nebenzimmer war unbewohnt. Ich hetzte weiter zur nächsten Tür. In dem Nachbarraum schlief der Chauffeur. Ich kannte nicht mal seinen Namen. Er schnarchte mit zufriedener Miene. Ich nestelte das Messer hervor. In dem Moment knarrte eine Bohle unter meinen Füßen. Der Chauffeur warf sich herum. Vor Schreck blieb ich stehen, in der rechten taschentuchumwickelten Hand das Tranchiermesser. So verharrte ich über eine Minute, doch ich brachte nicht fertig, was ich tun wollte und ließ verwirrt das Messer sinken. Ich reagierte wie ein Automat. Nachdem ich das Tranchiermesser eingesteckt hatte, verließ ich das Zimmer des Chauffeurs. Vor Annabelles Tür blieb ich noch kurz stehen. Ich lehnte mich gegen den Rahmen und starrte auf die gegenüberliegende Wand.
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Wie ich aus dem Haus gekommen war, konnte ich hinterher nicht mehr sagen. Ich stand an der Mauer, erklomm den Baum, löste aus seiner Krone die Spirale und sprang auf die Mauer. Es war mir im Augenblick gleich, ob jemand die Straße entlangkam. Ich sprang und landete genau vor den Füßen eines Liebespärchens. Die beiden hatten sich eng an die Mauer gepreßt. Das Mädchen schrie gellend auf. Auch dem Jungen mußte der Schreck mächtig in die Knochen gefahren sein. Kein Wunder, wenn mitten in der Nacht direkt aus dem Himmel eine schwarze Gestalt auf einen zuspringt. Aber er hatte sich erstaunlich rasch wieder gefaßt. Vielleicht nahm er an, ich sei ein Spanner oder ein ähnlich unliebsamer Zeitgenosse. Jedenfalls drückte er sein Mädchen ein Stück weg und nahm eine drohende Haltung gegen mich ein. »Was wollen Sie, Mister?« Er rollte das R wie ein Südländer. Bei diesen Burschen sitzt das Messer immer ziemlich locker. Ich nahm mich in acht. »Nichts, Mister. Ich wohne hier und gehe zur Arbeit.« »Über die Mauer?« »Was dagegen?« »Meine Braut hat sich sehr erschrocken. Entschuldigen Sie sich bei ihr!« Ich erkannte von den beiden nur die Schemen. Das Mädchen hatte sich gegen die Mauer gelehnt. Sie sah mich an. 206
»Na wird’s bald?« Der Bursche wurde ungeduldig. »Entschuldigen Sie, Madam«, sagte ich, um meine Ruhe zu haben. »Nimmst du die Entschuldigung an, Penny?« »Nein, Roger, ich habe mich furchtbar erschrocken.« »Sie hören, was meine Braut gesagt hat, Mister?« »Sie wird sich schon beruhigen, und ich hab’s eilig.« Ich wollte an ihm vorbeigehen. Er ließ mich zwei Schritte machen, dann trat er mir in die Kniekehlen. Ich fiel vornüber, direkt aufs Gesicht. Ich spürte einen blutigen Schleier vor den Augen. Als ich an meine Stirn tastete, merkte ich, daß mein Gesicht blutüberströmt war. Mir fiel das Jahr 1945 ein. Okinawa! Ich war damals 15 Jahre alt und hatte auf einem alten Frachter angeheuert. Unsere Crew schmuggelte Waffen nach Japan. Wir landeten auf Okinawa. Unsere Feinde empfingen uns erst freundlich, dann richteten sie ein Fest aus. Für mich war das damals ein riesengroßes Abenteuer. Ich war mit Haut und Haaren Waffenschmuggler. Damals wußte ich noch nicht, was wir mit den Lieferungen für Schaden anrichteten. Spät am Abend, die halbe Crew war an Land und flegelte sich mit japanischen Kurtisanen am Strand herum, gesellte ich mich zu meinem Kameraden und kam gerade rechtzeitig, um mit anzusehen, wie die Partisanen meine Kameraden töteten. Sie bemerkten mich und schossen, eine Kugel verletzte meine Augenbraune. Das Blut lief mir übers 207
Gesicht. Da wuchs ich über mich selbst hinaus. Ich warf zwei Handgranaten in die anstürmenden Frauen, worauf ich die Flucht ergriff. Ich schwamm hinüber zu unserem Frachter. Wir stachen eilig in See . . . Daran mußte ich denken. Wie eine Furie sprang ich den Mann an. Ich bekam seine Kehle zu fassen. Er versuchte verzweifelt frei zu kommen und trommelte seine Fäuste auf meine Seiten. Sein Mädchen schrie wie eine Wahnsinnige. Sie hatte Angst um ihren Freund. Durch diese Schreie kam ich wieder zur Besinnung. Ruckartig ließ ich ihn los. Das Mädchen schrie noch immer. Ich brüllte sie an: »Sei ruhig, verdammt noch mal! Sei endlich ruhig. Hörst du!« Doch sie schrie weiter. Da gab ich ihr eine Ohrfeige. Wimmernd sackte sie in sich zusammen. Plötzlich gingen die Lichter an der Gartenpforte an, sie tauchten alles in gleißendes Licht. Der Junge lag zu meinen Füßen. Das Mädchen hockte dicht neben ihm und zitterte. Ich rannte, so schnell ich konnte, zum Wagen, startete und raste los. Hinter mir setzte ein Höllenlärm ein. Anscheinend waren alle angrenzenden Häuser zum Leben erwacht. Im Nu war die Straße hinter mir taghell erleuchtet. An jeder Eingangspforte flackerten Lichter auf. Ich machte, daß ich so rasch wie möglich von hier fortkam.
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Völlig am Ende kam ich zu Hause an. Den Wagen ließ ich vor der Tür stehen. Es war 7 Uhr. Die Morgendämmerung überflutete den Horizont. Debbie schien noch zu schlafen. Ich ging in mein Zimmer und legte mich hin, ohne mich vorher auszuziehen. Kaum lag ich auf dem Bett, war ich auch schon eingeschlafen. * Am frühen Nachmittag arbeitete ich im Garten. Debbie hatte mich um 13 Uhr geweckt. Sie hatte schon das Essen zubereitet. Während sie im Haus Ordnung schaffte, schnitt ich die Oleanderhecke, die meinen Hintergarten umzäumte. Ich hatte mir hier ein paar Blumen gepflanzt. Diese beschäftigten mich zeitweilig stundenlang. Es machte mir Spaß, in der Erde zu wühlen. Ich hatte mich völlig in die Arbeit vertieft, als ich angesprochen wurde. Mabel und Jim standen vor mir und schauten mir belustigt zu. »Das hätte unser Garten auch mal nötig, Frank. Aber mein Jim hat ja andere Vorstellungen von Freizeitgestaltung. Ihm würde es nie in den Sinn kommen, Gartenarbeit zu verrichten.« »Jedem das Seine«, grinste Jim. Ich bemerkte, wie er mir über die Schulter sah. Ich folgte seinem Blick und gewahrte Debbie. Sie trug ein Hauskleid von Sheela und sah darin entzückend aus. Ihre schon frauliche Figur war nicht zu übersehen, und ich merkte es Jim Denis an, daß 209
er auch zu der Erkenntnis gekommen war. Bestimmt dachte er, was ich alter Knacker mit so einem Mädchen anfangen könnte. »Hello«, sagte Debbie und kam näher. »Hello«, grüßte Jim immer noch verwirrt. »Guten Tag!« Mabel war logischerweise sachlicher. Einen Moment standen wir alle ein wenig betroffen herum. Jim faßte sich als erster. »Sie haben uns ja gar nichts von ihrer Nichte erzählt, Frank.« »Ich bin nicht seine Nichte«, erklärte Debbie. »So?« Ich konnte förmlich lesen, was Jim dachte. Mabels Gesichtsausdruck ließ auch auf ziemlich schlechte Gedanken schließen. »Ich habe Debbie durch Zufall getroffen. Sie verbringt hier so eine andere Art Urlaub.« Jim versuchte die Situation zu retten. »Kommen Sie doch heute mit Ihrer netten Bekanntschaft zu uns. Zum Abendessen, so um 20 Uhr. Einverstanden?« »Gern, Jim. Das heißt, wenn es Ihnen keine Schwierigkeiten macht, Mabel.« »Reden Sie nicht immer so einen Unsinn, Frank, dann also um acht Uhr. Legere Kleidung würde ich vorschlagen. Hinterher können wir noch ein bißchen Tischtennis spielen.« Die beiden verabschiedeten sich, und Debbie und ich gingen ins Haus zurück.
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Wir nahmen uns jeder einen Fruchtsaft und setzten uns ins Wohnzimmer. »Die machen einen netten Eindruck«, sagte sie. »Ja«, antwortete ich, »Mabel und Jim sind so ziemlich die einzigen hier in Denison, mit denen man vernünftig reden kann.« »Wissen die das mit deiner Frau?« »O Debbie!« Ich mußte lachen. »Irgend jemand in so einer Kleinstadt erfährt immer alles, und von diesem Irgend jemand erfahren es dann sämtliche Mitbürger, so war es, und in Zukunft wird sich daran auch nichts ändern.« »Dann wird das ja mit mir auch bald überall bekannt sein.« »Das ist anzunehmen, Debbie. Aber mach dir darüber keine Gedanken! Ich habe ein dickes Fell.« Sie lenkte vom Thema ab. »Gehen wir heute abend hin?« »Ja, das heißt wenn du Lust hast. Sonst rufe ich an und sage ab.« Das war ihr aber auch nicht recht. »Nein, nein, Lust habe ich schon, nur damit bestätigen wir das Gerede.« »Das wäre der Fall, wenn wir nicht hingehen würden. Außerdem, was sollten wir für ein Gerede bekräftigen? Es gibt doch absolut nichts, worüber es sich lohnt zu reden.« »Das wissen wir, aber du hast doch eben gesagt, daß die Leute anders denken.«
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»Ich sagte nur, wenn einer etwas weiß, dann weiß es bald der ganze Ort.« »Das kommt auf dasselbe heraus.« Die Debatte war unsinnig. Ich konnte mir nicht erklären, was mit Debbie los war. Ich beschloß, meine Gartenarbeit fortzusetzen. Debbie wollte sich noch eine Weile hinlegen, um sich auszuruhen, wie sie sagte. Dabei konnte ich ihr anmerken, daß sie Wert darauf legte, allein zu sein. Nachdem die Hecke fertig gestutzt war, machte ich mich daran, den Rasen zu mähen. Die Maschine machte einen Höllenlärm. In dem Inferno der krachenden Kolben, und beim Anblick der sich drehenden Schneidemesser kam mir eine Idee. Ich mähte Spur für Spur und wußte dabei, daß morgen etwas geschah, das ich heute nacht vorbereiten würde und das mich ein gutes Stück weiterbrachte auf meinem Weg der Rache. * Schweigend aßen wir zu Abend. Es ist hier so Sitte, vor jeder Party ordentlich zu essen. Das hat zwei Gründe. Erstens verträgt man mit gefüllten Magen mehr, denn zum Willkommen gibt es bereits mehrere Drinks, und zweitens sind die kalten Büffets meist nicht so kräftig bestückt. Debbie hatte alles schmackhaft zubereitet. Allmählich stieg sie in meiner Achtung. Sie vereinigte eine ganze Menge Talente in sich. Nicht genug, daß 212
sie hervorragend kochen konnte, sie führte auch den Haushalt mit einer beinahe schon impertinenten Ordentlichkeit. Es kam mir so vor, als kannten wir uns schon seit Jahren. Ihre Gegenwart beruhigte mich. Ich genoß sie. Nachdem Debbie den Tisch abgeräumt hatte, nahm ich mir einen Kognak. Genußvoll nippte ich an dem Glas und lehnte mich zufrieden zurück. »Schenkst du mir auch einen ein?« Ich hörte sie in der Küche rumoren. »Kognak oder Whisky?« »Dasselbe, was du hast.« Ich tat ihr den Gefallen. Wir saßen uns noch einige Minuten gegenüber, ohne ein Wort zu reden. Debbie sah zu Boden. Ich betrachtete sie. Was war nur mit ihr los? »Debbie?« »Ja?« »Ist etwas mit dir?« »Was soll schon sein?« »Bedrückt dich etwas?« Sie zögerte mit der Antwort. »Du bist ein, wie soll ich sagen, Frank, du bist so ein anderer Mensch, so vollkommen anders als die Männer, die ich bisher kennengelernt habe.« »Das ist nett, daß du das sagst, Debbie.« Ohne zu antworten, stürmte sie aus dem Zimmer. Mittlerweile war es auch schon an der Zeit, sich fertig zu machen.
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Ich ging nach oben. In meinem Schlafzimmer – ich hielt es abgeschlossen – sah es aus, als hätte ein Tornado gewütet. Für Debbie wäre es bestimmt eine dankbare Aufgabe gewesen, hier Ordnung zu schaffen, aber ich stehe auf dem Standpunkt, daß junge Damen nicht in das Schlafzimmer gehören. Mein blauer Anzug hing mehr recht als ordentlich auf einem Bügel. Die dazu passende Krawatte zog ich aus dem Sideboard, in dem eigentlich nur die Socken liegen. Da mein Gast wahrscheinlich länger brauchte, konnte ich mir Zeit lassen. Ich zündete mir eine Zigarette an, die Asche mußte ich in ein Wasserglas stippen, da ich mir seit Monaten vorgenommen hatte, im Schlafzimmer nicht mehr zu rauchen. Auf dem Fensterbrett standen noch ein paar Dosen Bier. Ich öffnete eine und trank sie halbleer. Dann sah ich auf die Uhr. Es war soweit. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, huschte Debbie an mir vorbei. Bevor ich etwas entgegnen konnte, begann sie aufzuräumen. Mein Gesichtsausdruck mußte nicht sehr wirkungsvoll ausgesehen haben, denn sie lachte laut auf. »Ich habe vorhin durchs Schlüsselloch gekiebitzt, Frank. Du hast allen Grund abzuschließen. So wie das hier aussieht.« Ich kam wieder zu Wort. »So kann sich der Mensch irren. Als ich dich gestern mitnahm, dachte ich, du wärest eine Gammlerin, und genau das Gegenteil von ordnungsliebend.« 214
»Nun hast du dich vom Gegenteil überzeugt.« Sie wurde energisch. »Geh schon runter, in zwei Minuten komme ich nach!« Da sie mich überhaupt nicht mehr beachtete, ging ich hinunter. Was blieb mir auch anderes übrig? Nach genau zwei Minuten war sie tatsächlich unten. Sie hatte sich hübsch zurechtgemacht. Das fiel mir jetzt erst auf. Ihr Überfall kam ja auch zu überraschend. Das Kleid hatte ich Sheela zu unserem 11. Hochzeitstag geschenkt. Es gefiel mir immer noch. Wir mußten uns jetzt beeilen. Die paar Meter hätten wir zu Fuß gehen können, aber auch in der Beziehung sind wir Amerikaner konsequent. Es gehört zwar schon lange nicht mehr zum Beweis der Gesellschaftsfähigkeit, ein Auto zu fahren, aber die Tradition wird dennoch fortgesetzt. Schon unsere jüngsten Vorfahren, die Cowboys, dachten nicht mal im Traum daran, mehr als zehn Meter zu Fuß zu gehen. Debbie hatte sich gerade richtig hingesetzt, als wir schon wieder aussteigen mußten. Mabel und Jim wohnten in einem hübschen Haus. Es war eine zweistöckige Villa aus Ziegelsteinen, die rötlich eingefärbt waren. Die Fenster hatten europäische Maße, für meinen Geschmack zu klein, und der Vorgarten war ungepflegt. Wild wachsende Büsche hatten den Plattenweg überwu-
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chert, und die Hecke sah aus wie ein Vorbote des Dschungels. Debbie fand das alles furchtbar romantisch und nannte mich einen Spießer, weil ich mir erlaubte meine Meinung zu sagen. Mit einem vierstimmigen »Hello« wurden wir begrüßt. Jim und Mabel hatten noch die Shefers eingeladen. Kim Shefers war eine durchaus attraktive Frau. George, ihr Mann, war sich dessen vollauf bewußt. Obwohl er schon zwei junge Burschen aus seinem Haus prügeln mußte, weil Kim ein Verhältnis mit ihnen hatte, lud er immer wieder fremde Leute, hauptsächlich männlichen Geschlechts, zu sich ein. Aber es war noch jemand anwesend. Sheriff Lloyd Parker kam aus dem Nebenzimmer und reichte Debbie die Hand. »Freut mich, Sie begrüßen zu können.« Seine Stimme klang rauh, aber er hatte einen freundlichen Unterton, den er bei mir wieder fallen ließ. »Tag, Frank! Sie sehen blendend aus. Direkt aufgeblüht.« »Ihnen sieht man Ihre Arbeit aber auch nicht an, Lloyd.« Kim kam mit einem Tablett voll Drinks an. Wir nahmen uns jeder einen und gingen in das Wohnzimmer. Aus den Stereolautsprechern erklang die smarte Stimme von Andy Williams.
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Während der Sheriff sich mit George unterhielt, beschäftigte sich Jim mit Debbie. Ich bemerkte Mabels wütende Blicke. »Bei Jim beginnt jetzt schon der zweite Frühling«, scherzte ich, aber Mabel ging darauf nicht ein. Kim setzte sich zu uns. »Na, altes Haus«, sprach sie mich an, »dich sieht man auch immer seltener.« Sie hatte die unangenehme Angewohnheit, jeden zu duzen. Ich ging zwar nicht auf ihre direkte Art ein, blieb aber im Jargon. »Das macht die Arbeit, aber wenn Sie George ins Ausland schicken, würden Sie mich schon öfter zu sehen bekommen.« »O Frank, du gehst aber ganz schön ran.« Dabei lachte sie und zeigte mir ihr teures Gebiß. Ich machte noch ein bißchen Konversation, dann wandte ich mich an den Sheriff. »Ich habe gehört, daß Sie sich auch mit dem Mord an dem alten Mann beschäftigen, Lloyd? Sind Sie schon weitergekommen?« George sah mich mit großen Augen an. Er verstand wahrscheinlich nicht, wie ich auf einer Party solch ein Thema ansprechen konnte. Sheriff Parker nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. »Nun, man könnte sagen, daß sich einige Thesen bewahrheitet haben.« »Welche?«
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»Seit wann interessieren Sie sich so für unsere Arbeit, Frank?« Verlegen sah ich zu Boden. Was sollte ich darauf antworten? Zum Glück half mir George ungewollt aus meiner momentanen Verlegenheit. »Uns ist es allen sehr nahegegangen, Lloyd. Immerhin ist dieser Mord in unmittelbarer Nähe geschehen.« »Richtig«, bestätigte ich. »Sie wissen ja, wie das ist, wenn man so was immer nur aus der Zeitung erfährt. Dann berührt es einen nicht sonderlich. Aber eine plötzlich Konfrontation, das ist doch etwas anderes.« Parker wollte mir gerade antworten, als Mabel wütend an uns vorüberlief. Ihr auf dem Fuß folgend Jim. Die Szene, die sich dann draußen im Korridor abspielte, bekamen wir sämtliche mit. Mabel machte ihm eindeutige Vorwürfe . . . Und zwar über sein »unnatürliches« Interesse an der kleinen Debbie. Es war uns Zuhörern peinlich, das alles mitzukriegen. Debbie stand mit hochrotem Kopf neben Kim. Verzweifelt sah sie mich an. Ich nickte ihr zu. Ohne uns zu verabschieden, brachen wir auf. Debbie hatte sich gleich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Ich hatte sie gehen lassen. Was hätte ich auch machen sollen? Was konnte die Kleine dafür, daß Jim nach anderen Frauen verrückt und seine Frau wahnsinnig eifersüchtig war? 218
Aber diese Gedanken konnten mich nicht von dem ablenken, was mir in den letzten Stunden pausenlos durch den Kopf ging. Der fruchtlos endende Abend hatte mein Vorhaben begünstigt. Debbie würde heute nicht mehr herunterkommen, vielleicht nahm sie sogar eine Schlaftablette, um das peinliche Erlebnis zu vergessen. Ich ging zum Schreibtisch, schloß die unterste Lade auf, und entnahm ihr eine längere Konservendose. Vorsichtig steckte ich sie in die Jackettasche. Dann ging ich zurück zum Wagen und fuhr los. Kurioserweise war das Tor diesmal nur angelehnt. Eigentlich hätte mir dieser Umstand zu denken geben müssen. Aber ich war wie von Sinnen, weil ich meine beiden Lieblinge wiedersehen würde. Wieder war das Haus von zwei Scheinwerfern angestrahlt. Mit bedächtigen Schritten ging ich durch den Garten. Diesmal hatte ich mir vorgenommen, meinen Plan auszuführen. Nichts würde mich zurückhalten. Um mich herum säuselte der Wind durch die dichtstehenden Büsche und machte es mir so gut wie unmöglich, unterschiedliche Geräusche auszumachen. Natürlich rechnete ich damit, daß Webster durch meinen vorherigen Besuch gewarnt war. Bestimmt hatten die beiden jungen Leute eine ungefähre Beschreibung von mir gegeben, und Sheela 219
kannte mich natürlich gut genug, um zu wissen, wer hier gewesen war. Doch daran durfte ich nicht denken. Rasch lief ich zur Haustür. Auch sie war unverschlossen. Ein Geräusch hinter mir ließ mich zusammenfahren. Ich blinzelte gegen die Scheinwerfer und konnte nichts erkennen, trotzdem sagte mir mein Gefühl, daß da jemand war. Mir brach der Schweiß aus. »Ist da wer?« flüsterte ich. Als Antwort vernahm ich nur ein Knacken, das entsteht, wenn ein trockener Ast bricht. Natürlich konnte das auch der Wind sein, der sich in den Baumwipfeln verfing. Doch ich spürte die Angst vor einem Menschen. Ich stürzte zurück in den dunklen Garten. Blind suchte ich mir einen Weg und stieß gegen das Tor. Ich konnte den Schrei nicht unterdrücken, als ich feststellte, daß es verschlossen war. Irgend jemand mußte in meiner unmittelbaren Nähe sein. Mit zitternden Fingern versuchte ich das Tor zu öffnen. Umsonst. Statt dessen konnte ich aus den Augenwinkeln einen Schatten erkennen, der in dem Moment, als ich mich umdrehte, hinter den Büschen verschwand. Vor Furcht halb verrückt, ergriff ich die Konservendose. Kleine Wurfpfeile klapperten darin. Ich zwang mich zur Ruhe und ergriff einen der Pfeile. Es waren solche mit kleinen Stahlspitzen und bun-
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ten Plastikverdickungen am Ende, wie man sie im Spiel verwandte. Ich hütete mich die Spitze zu berühren, denn sie war mit Gift bestrichen, das ich von einer meiner Reisen aus Südamerika mitgebracht hatte. Curare! Nun konnte er kommen. Ich war gewappnet. Wahrscheinlich war es der Chauffeur. Wer sonst hätte zu dieser Zeit durch den Garten schleichen können. Schritt für Schritt drang ich in den Garten ein. Meine Rechte hielt den Pfeil hoch . . . wurfbereit. Da sah ich den Schatten wieder. Gebückt huschte er zwei Meter an mir vorbei. Ich durfte nicht länger zögern. Meine Rache sollte beginnen. Als erster war der Chauffeur dran. Mit voller Kraft schleuderte ich den Pfeil gegen den Schatten. Der Schrei zeigte mir an, daß ich getroffen hatte. Der Chauffeur gab keinen Ton von sich. Um ihn brauchte ich mich nicht mehr zu kümmern, das wußte ich. Aufrecht ging ich ins Haus. Das Zimmer des Chauffeurs ließ ich links liegen. Zwei Pfeile hatte ich noch; einen für Sheela und einen für Webster. Vor Annabelles Tür verharrte ich kurz, ich brachte es nicht über mich, weiter zu gehen, ohne einen Blick auf meine Tochter geworfen zu haben. Sie schien friedlich zu schlafen. Leise zog ich die Tür wieder zu. »Was machst du denn hier?« Ich konnte Sheelas Stimme unter tausenden heraushören. Sie stand 221
unter dem Türrahmen, im Morgenmantel, eine Zigarette im Mundwinkel. Ihr Anblick war so ordinär, daß ich, ohne lange zu überlegen, auf sie zustürzte. Erschreckt wich sie zurück. Im gleichen Moment trat der Chauffeur aus dem Zimmer! Er trug nur seine Pyjamahose . . . »Was hast du, Liebling?« fragte er. Dann gewahrte er erst mich. Abrupt blieb ich stehen. »So ist das also!« sagte ich. »Du betrügst auch deinen jetzigen Mann. Recht geschieht ihm!« Ich griff mir schnell den zweiten Pfeil. »Bleiben Sie stehen!« herrschte ich den Chauffeur an, der Anstalten machte, auf mich loszugehen, »Curare vertragen selbst Sie nicht. Dein Mann, Sheela, hat es schon zu spüren bekommen. Draußen im Garten liegt er.« Als Sheela laut auflachte, verstand ich die Welt nicht mehr. Ich hatte ihr soeben gesagt, daß ihr Mann tot sei. »Derrick?« Sie lachte noch lauter. »Derrick ist gar nicht hier, mein Lieber. Geschäftsreise, verstehst du?« »Nein«, stammelte ich. »Du lügst, sag, daß du gelogen hast!« Ihr Lachen überschlug sich. Der Chauffeur fiel mir ein, gemeinsam lachten sie wie irr, daß die Kinder wach wurden. Verschlafen zog Annabelle ihre Tür auf und steckte ihr Köpfchen heraus. »Was gibt’s denn, Mammi?« 222
Da erkannte sie mich. »Papi!« Ihr Schrei klang so anhänglich, daß ich alles um mich herum vergaß, die Dose und den Pfeil fallen ließ und mit langen Schritten auf sie losstürmte. Sie kam mir auf halbem Weg entgegen. Schluchzend lag sie in meinem Arm. Ich preßte sie fest an mich und flüsterte immer wieder ihren Namen. Viel Zeit ließen uns die beiden nicht. Brutal riß mich der Chauffeur hoch. Annabelle stürzte aus meinen Armen und fiel auf den Boden. Dieser Anblick verlieh mir ungeahnte Kraft. Ich schlug den Mann zu Boden, ich spürte dabei nicht mal den Schmerz an meiner Faust. Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn, statt dessen fielen mir Sheelas Worte ein: Derrick ist gar nicht hier. Wen hatte ich dann getötet? Mein Gott! Der plötzlich auf mich einströmende Gedanke raubte mir für Bruchteile von Sekunden die Besinnung. Billy! Wo war er? Durch den Lärm hier hätte auch er wach werden müssen. Aber seine Tür war geschlossen. Mit angehaltenem Atem ging ich auf Billys Zimmer zu. Mit eiskalten Händen öffnete ich die Tür. Annabelle und Sheela sahen mir verständnislos zu. Der Chauffeur lag noch immer ohnmächtig auf dem Boden. Mein Herz krampfte sich zusammen,
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als ich in das Zimmer sah. Ein Lichtschimmer vom Flur her fiel auf Billys Bett. Ein trocknes Schluchzen brach aus meiner Kehle, dann stürmte ich auf meinen Sohn zu. Ich riß ihn aus dem Bett, noch während er schlief, und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Billy erwachte und fing vor Schreck zu schreien an. »Billy, Liebling, nicht weinen, hörst du?« Ich preßte seinen Kopf gegen meine Schulter. »Daddy ist doch hier, Billy, bitte, nicht weinen . . .« Dann versagte meine Stimme. Von einem Weinkrampf geschüttelt, setzte ich ihn vorsichtig aufs Bett. Er faßte sich ziemlich schnell. Genau wie seine Schwester war er erst überrascht mich zu sehen, doch dann begrüßte er mich. »Hey, Daddy.« »Hey, Billy«, erwiderte ich. »Bleibst du jetzt bei uns?« Ich schüttelte den Kopf. Benommen sagte ich: »Daddy muß wieder weiter, du weißt doch. Du verstehst das doch?« Stumm nickte er. Hinter mir begann sich der Chauffeur wieder zu regen. Sheela stand noch sprachlos unter der Tür und sah mich mit groß aufgerissenen Augen an. Ich raffte mich auf. Ich ging zu Annabelle, streichelte ihre Wange und verließ das Haus. Ich durchquerte den Garten. Siedendheiß fiel mir der Schatten von vorhin ein. 224
Wer mag das gewesen sein? Ich suchte die Stelle auf. Da sah ich den Umriß des zusammengesunkenen Körpers. Es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen. Ich kniete nieder und riß ein Streichholz an. Die Flamme verbrannte mir die Fingerkuppen. Ich merkte es nicht. Ich kniete neben Debbie...! Ich starrte auf den dunklen Klumpen vor mir, ich hörte ihre Stimme, hörte ihr Lachen . . . spürte im Innersten die Schuld, spürte ihre Sorgen und erkannte den Entschluß, mir helfen zu wollen. Ich sah im Geist, wie sie mich beobachtete, wie sie sich in meinen Wagen schmuggelte und heimlich mitfuhr. Ich sah sie, wie sie im nachtdunklen Garten leise hinter mir herschlich. Ich verspürte ihren Schmerz, als der Pfeil sie traf. Ich wußte, daß mein Leben nun endgültig verpfuscht war, daß es für nichts eine Entschuldigung geben würde. »Verzeih mir, Debbie«, flüsterte ich. Dann wartete ich neben ihr kniend und hielt ihre Hand, bis Sheriff Lloyd Parker mich festnahm.
ENDE
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