LUX
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Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
Heftpreis 75 Pfy...
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LUX
H I S T O R I S C H E
R E I H E
Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
Heftpreis 75 Pfy.
LUX HISTORISCHE REIHE bringt in fesselnder Darstellung, plastisch und farbig, Zeitbilder und Szenen aus dem großen Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Menschen, Völker, historische Schauplätze und Landschaften aus allen Zeitaltern der Vergangenheit erstehen in bunter Folge vor dem Äuge des Lesers, Geschichte wird hier zur lebendigen Gegenwart. Jedes Heft gibt ein abgerundetes und in sich abgeschlossenes Bild des dargestellten Zeitraumes. Titel der ersten Hefte; 1. 2. 3. 4. 5.
6. 7. 8. 9. 10.
Sphinx am Strom Priester und Magier Götter und Helden Die Griechen Die Perserkriege
Die Tempel Athens Alexanderzug Pyrrhus — der Abenteurer Hannibal Untergang Karthagos
Titel der folgenden Nummern •' Kaiser ohne Krone Das Goldene Rom Die ersten Christen Caesaren und Soldaten Germanenzüge Die Hunnenschlacht Die Mönche von Monte Cassino Der Prophet Allahs Karl der Große Heiliges Römisches Reich Kaiser und Päpste Die Kreuzfahrer Friedrich Barbarossa Die Hohenstaufen Bürger und Bauern Die Humanisten Der Schwarze Tod Die Renaissance Neues Land im Westen
Fahrendes Volk Ritter und Landsknechte Kaiser der Welt Der Große Krieg Der Sonnenkönig Ruf übers Meer Der Preußenkönig Rokoko Im Schatten der Bastille General Bonaparte Kaiser Napoleon Kongreß in Wien Eiserne Straßen Der vierte Stand Verschwörer und Rebellen Sieg der Technik Bismarck Die rote Revolution Demokratie und Diktatur
und viele weitere Hefte. LUX HISTORISCHE REIHE bringt jedes Heft mit farbigem Umschlag, Illustrationen, Geschichtskundlichen Landkarten, Anmerkungen und Zeittafel.
VERLAG SEBASTIAN LUX - M U R N A U V O R M Ü N C H E N
LUX
HISTORISCHE
REIHE
4
OTTO ZIERER
DIE GRIECHEN DER BEGINN DER ABENDLANDISCHEN GESCHICHTE
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK • ÖLTEN
EINLEITUNG Im zweiten Jahrtausend vor Christus geht eine unbegreifliche Unruhe durch jene indogermanischen Völker, die in den nördlichen Alpen- und Balkanvorlanden seit Jahrhunderten ansässig gewesen sind. Ereignisse, die wir nicht kennen, geben diesen Völkerschaften — wir nennen sie Uritaliker und Urgriechen —• den Anstoß und den Mut, in die Hochgebirge einzudringen, sie in kühnen Wanderzügen mit ihren Sippen und ihren Herden zu durchqueren, um sich jenseits der Bergketten die gesegneten Landstriche der italischen und der griechischen Halbinsel als neue Wohnsitze zu erobern. Die Verzauberung durch den ewigen Frühling des Südens lockt immer weitere Scharen in das lebensgünstigere Klima, in die bewohnte Welt und an die blauen Meere der Südländer. Erst nach einem vollen Jahrtausend verebbt der Strom. Der Wechsel der Lebensräume dieser Völker aus dem Norden in den Süden ist der Beginn der Geschichte Italiens und Griechenlands und der Anfang der Geschichte des Abendlandes überhaupt. Die erste Kultur, die wir abendländisch nennen können, erblüht in den zerklüfteten Landschaften der griechisch gewordenen südlichen Balkanhalbinsel, auf den von Griechen besiedelten Inseln der Nachbarmeere und in den griechischen Kolonien entlang den gegenüberliegenden Küsten. Sie hebt sich schon bald von der Lebensart der alten mittelmeerischen und orientalischen Hochkulturen ab, die bis dahin die Weltgeschichte bestimmt haben. Später wird Italien dem von den Griechen heraufgeführten Europäertum neue Züge aufprägen, die sich in die Zukunft unseres Erdteils vererben. Erst in den Jahrhunderten nach Christus wird auch der Norden mitbestimmend, bis er — im Verlaufe des Mittelalters — die Führerrolle in der abendländischen Welt übernimmt. 2
Über die Gebirge und durch die Täler der Balkanhalbinsel dringen schon seit Jahrhunderten die kriegerischen Stämme der Urgriechen, die vorher an Drau und Save gesiedelt haben. Als um 1200 v.Chr. die Völkerwanderung zur Ruhe zu kommen scheint, bevölkern sich erneut die Gebirgswege mit ziehenden Scharen, die aus den Tiefen des dunklen Nordens kommen. Die Alteingesessenen beginnen dem Angriff der neu herandrängenden Massen zu weichen. Die Vertriebenen scharen sich um die Männer des kleinen Gaues Doris und werden deshalb später von allen Stämmen, die sie anfallen, Dorer genannt. Die „Dorische Wanderung" beginnt und setzt sich immer weiter nach Süden fort. Die uralten Steinburgen von Mykene und Tiryns, die von den frühesten urgriechischen Einwanderern aufgetürmt worden sind, versinken in Trümmer. Der Wanderzug der Dorer aber rückt weiter bis zur äußersten Grenze des Festlandes vor. In der von unzugänglichen Gebirgszügen umschlossenen Landschaft Lakonien auf dem Peloponnes wird die Stadt Sparta gegründet. Auch auf den Inseln suchen sie Land zu gewinnen, sie besetzen die Insel Ägina am Zugang zur Burgstadt Athen, sie erobern die Inseln Kreta und Rhodos und bald auch die südlichen Küstenstriche Kleinasiens. Die kriegerische Wanderung der Dorer hat auf der Halbinsel Attika, deren Mittelpunkt die urgriechische Akropolis von Athen ist, große Massen der Bevölkerung zusammengepreßt und zwingt sie, neues Land über See zu suchen. Eine zweite Wanderbewegung setzt ein, deren Pulsschlag J a h r um Jahr Kolonistenscharen aus den nichtdorischen Landstrichen an fremde Küsten, ferne Gestade und auf dünn besiedelte Inseln trägt. Diese Auswanderer, die auf dem griechischen Festlande heimatlos geworden sind und 3
von Landnot und Abenteuersinn zugleich in die weite Welt getrieben werden, nennen sich selber „Ionier", das heißt Wanderer. In jahrhundertedauernder Kolonisation breitet sich das Griechenvolk über die Mittelmeerwelt aus. Den Dorern bleibt die Vorherrschaft auf dem Peloponnes, sie behaupten das asiatische Gegenufer zwischen Rhodos und Halikarnaß und in Sizilien neben dem mächtigen Syrakus eine Eeihe von kleineren Handelsplätzen. Viel bedeutender aber ist der Kolonialraum der ionischen Seefahrer. Ihre Tochtersiedlungen beherrschen das asiatische Ufer von Phokäia bis Milet. Den Kranz der Inseln von Chalkidike bis Naxos bewohnt ionisches Volk, ihm gehören das Gestade an den Dardanellen, die taurische Küste, die Städte auf der Krim und im Kaukasusvorland; auf afrikanischem Strand gründen Ionier „fünf Städte" — die Pentapolis —, unter denen Cyrene als machtvollste später der Landschaft den Namen der Cyrenaika gibt. Fast alle diese weit vom Mutterland entfernten Kolonien behalten die weiche, ionische Mundart, ihre Städte liegen an günstigen Häfen und unter schirmenden Burgen. Sie fühlen sich zwar durch die Bande der Pietät mit der alten Heimat verbunden, erkennen aber keine politische oder staatsrechtliche Pflicht gegenüber den Gründerstädten an. Manchmal gruppieren sich die Gemeinden auf den Inseln oder an den fremden Küsten um ein gemeinsam verehrtes Heiligtum, zu dessen Unterhalt und Schutz sie Bündnisse schließen. So vereinigen sich zwölf ionische Städte um das Heiligtum auf dem Vorgebirge Mykale, andere Gemeinden wählen den Tempel des Apollo zu Delos, die Orakelstätte zu Delphi oder den Hain von Dodona zum Mittelpunkt. Für alle übrigen Stämme Griechenlands, die nicht dorisch und nicht ionisch sind, wird der Sammelname Äolier gebräuchlich. Sie leben nördlich des Korinthischen Golfes in Böotien, im thebanischen Gau. Zur griechischen Familie zählen auch die Thessalier des Nordens. Die Völkerschaften nördlich dieser griechischen Kerngebiete, vor allem die Makedonier, rechnen sich zwar selbst zum hellenischen Stamm, werden aber von den übrigen Griechen als halbe Barbaren betrachtet. Die gebirgigen Gaue im Osten und Nordosten — Epirus und Illvrien — werden von stammverwandten Völkern besiedelt, deren Sprache, Sitte und Kultur ungriechisch ist. 4
Ein lockeres Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit ist in der Sage erkennbar, die die Herkunft des hellenischen Volkes auf einen gemeinsamen Stammherrn „Hellen" zurückführt. Seine vier Söhne, Jon, Doms, Aiolos und Achaios, seien die Begründer der vier Zweige des Griechenvolkes geworden. * Es ist allen Griechen gemeinsam, daß sie nicht Länder kolonisieren, sondern nur Stadtgemeinden begründen. Hellenen werden die Schöpfer der ersten europäischen Stadtkultur. Der griechische Stadtstaat, die Polis, sitzt wie angeschwemmtes Röhricht, das ein Seeufer säumt, an den Rändern der alten Meere. Die Machtausstrahlung griechischer Städte reicht kaum ein paar Meilen ins Hinterland des Hafens. So weit der Pflug der Bürger die Erde furcht, so weit ist Hellas; so weit der Blick von der Burg reicht, ist hellenische Heimat inmitten fremder Welt. Was dahinter liegt und ringsum lebt, ist Barbarenland. Niemals lassen die siedelnden Ionier das blaue Meer, ihr mütterliches Element, aus den Augen. Immer schaukeln Schiffe vor ihren Häusern, immer bauen sie zuerst den Hafen und dann erst die Burg. Sie bilden nicht Reiche, sondern Bünde; ihre Kraft liegt nicht im Gehorchen, sondern in der persönlichen Unabhängigkeit und in der Vielfalt ihres Volkes. Sie fügen sich auf die Dauer nicht der Gewalt einzelner Mitbürger, sondern einzig dem allgemeinen und frei beschlossenen Gesetz der kleinen Gemeinschaft. * Am ionischen Ufer Kleinasiens kommen die Auswanderer durch die alteingesessene Bevölkerung in Berührung mit dem tausendjährigen Götterkult des Ostens. Die magischen Strahlen des fernen Babylon 1 vermischen sich mit dem Morgenlicht griechischen Denkens. In den Sagen von dem Jünglingsgott Adonis, Sinnbild des frühen Sterbens, und von der Totengöttin Persephone taucht zuerst die ungriechische Kunde von der Wiederkehr aus demSchattenreich auf; wie eine Verheißung dringt eine Ahnung von Jenseits und Unsterblichkeit ins Herz des ionischen Menschen. Adonis, der schöne, frühlingshafte Jüngling, den ein wilder Eber getötet hat, wird von der Liebesgöttin Aphrodite beklagt. Gerührt von den Bitten seiner Toch5
ter, erlaubt Zeus dem Dahingegangenen, jedes Jahr für wenige Tage wieder ins Leben zurückzukehren und sich unter dem warmen Blau des Himmels, unter Blüten und auf blumigen Wiesen des Daseins zu freuen. Wenn die frostgebannte Erde alljährlich zu neuem Blühen erwacht, begehen die Griechen rauschende Frühlingsfeiern und das Fest der Wiederkunft des Adonis. Tanz, Flötenspiel und Mädchenlachen erfüllen die Haine, die süße Verführungsgewalt der „Trägerin Hoffnung" ergreift die Seelen, und das Volk wirft sich freudiger denn je dem schönen Dasein in die ausgebreiteten Arme. Vom Wein erhitzt, hat sich eine lärmende Schar unter den Ölbäumen niedergelassen. Jünglinge lagern im Grünen, Männer prahlen von ihren Seefahrten und Kriegstaten, und den Greisen löst sich die Zunge, daß sie leuchtenden Auges von ruhmvoller Vorzeit berichten. Doch da verstummt plötzlich das Stimmengewirr, und Rufe mahnen zur Ruhe. Von einem Knaben herangeführt, steht am Eingang des Haines ein blinder Sänger, Homeros2, der weitberühmte, von Apoll gesegnete, der die Sagen der vergangenen Zeiten in tönende Verse gebracht hat. Seine würdige, kaum gebeugte Gestalt betritt tastend die erhöhte Steintafel, das Haupt mit der hohen Stirne ist von silbergrauen Locken umwallt, und die toten Augen scheinen in unabsehbare Ferne gerichtet. Zu den Tönen der siebensaitigen Lyra spricht er die Eingangsverse der „Ilias" vom unsterblichen Kampf um Troja. „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleussohnes Achilles, Ihn, der entbrannt den Achäern unnennbaren Jammer erregte Und so viel tapfere Seelen der Heldensöhne ins Totenreich Sendete, aber sie selbst zum Raub hinwarf den Hunden Und dem Gevögel umher. So ward Zeus' Wille vollendet: Als eines Tag's sich entzweiten in bitterem Zanke Atreus' Sohn,"der Herrscher des Volkes, und der edle Achill..."
Das Schicksal Homers verschwindet in der Dämmerung der ungeschriebenen Geschichte. Seine großen Epen — die „Ilias", der Sang vom Trojanischen Krieg, und die „Odyssee", die Heimkehrsage um Odysseus — werden von vielen wandernden Sängern aufgenommen und auf Volksfesten, Märkten und in den Königshallen vorgetragen. Der Sang vom gemeinsamen Streit und Sieg der griechischen Kolonisten um das kleinasiatische Uferland, aus dem sich der Anspruch der Ionier auf ihre neue Heimat jenseits des Agäischen Meeres ableiten läßt, schlingt sich wie ein vereinendes Band um alles, was griechische Sprache spricht. Unter dem Klang seiner Lieder tritt die Person des Sängers mehr und mehr ins Dunkel der Sage zurück. Nur noch Fabeln ranken um seine Herkunft und seine Gestalt. Schließlich streiten sieben Städte um die Ehre, Geburtsort Homers zu sein: Smyrna, Bhodos, Chios, Kolophon, Salamis auf Cypern, Argos und Athen. Der Name Homers steht am Anfang Europas . . . *
Der Quell der Dichtung ist angeschlagen. Ein Jahrhundert nach Homer wird zu Askra in Böotien Hesiod geboren3, der Sohn eines Hirten und selber einer jener Berghirten, die ihre Schafherden zwischen Helikongebirge und Copäis-See weiden. Als er in einen Prozeß verwickelt wird, verleidet ihm die Ungerechtigkeit der Richter die Heimat, und er wandert, wie so viele seiner Landsleute, denen die Unruhe und Enge des griechischen Festlandes nicht mehr behagt, nach Kleinasien aus. Schon als Hirte, auf den einsamen Höhen des Helikongebirges, hat er seine ersten Verse, Hausregeln und Bauernsprüche, niedergeschrieben. „Töpfer neidet dem Töpfer, den Zimmerer hasset der Zimmerer, Und so neidet dem Bettler der Bettler, der Sänger dem Sänger." Wie Homer den Kampf der Helden um Troja und die Irrfahrten des Dulders Odysseus besungen hat, so sammelt Hesiod die Vielfalt der Sagen und Fabeln um Götter und Halbgötter. 7
„Hesiod und Homer\.. sind es zunächst, welche den Griechen ihr Göttergeschlecht geschaffen, den Göttern ihre Namen gegeben, sowie Ehren und Künste unter sie verteilt und ihre Gestalten bezeichnet haben..." 4 Von den Uranfängen der Welt, dem Gang der Weltzeitalter und der Ordnung der allbelebten Natur, welche die Olympier, die Menschen und die dumpfen Geschöpfe der Wälder und Teiche umfängt, kündet Hesiods „Götterlied". „Auf du! Beginnen wir von den Musen, welche dem Vater Zeus mit Gesängen erfreu'n den erhab'nen Sinn im Olymp, Kündend alles, was ist und sein wird oder gewesen..." Dunkler wird der Ton, wenn Hesiod in den „Hausregeln" die Schicksale des Menschengeschlechtes beschreibt, das vom goldenen übers silberne und eherne zum irdischen Zeitalter hinabstieg. „...Was bleibt, ist trauriges Elend Sterblichen Menschengeschlechts — und nirgends Hilfe im Unheil!" * Langsam beginnt die gebundene Seele des jungen Griechenvolkes zu erwachen; sie drängt danach, sich in Stein, Ton und Farbe, in Sprache und Gedanken auszudrücken. Den Generationen, die nach den großen Sagenerzählern kommen, genügt es nicht mehr, zu fabulieren, Götter, Dämonen und Heroen zu beschwören. Homer und Hesiod kannten nur die Kunstmittel der Umschreibung oder bildhaften Verdeutlichung, wenn sie von geistigen Vorgängen oder von tieferen Regungen der Seele sprechen wollten. Wenn Achill mit seinem Gewissen zu Rate geht, so tritt die Gottheit in Menschengestalt an das Ohr des Helden und raunt ihm Worte einer höheren Verpflichtung zu. Der innere Konflikt wird in ein Zwiegespräch zweier äußerlich sichtbarer und sich gegenübertretender Partner aufgelöst. Die reifer und empfindsamer gewordenen Menschen des jüngeren Geschlechtes geben sich mit solch urtümlichem 8
Denken nicht mehr zufrieden; sie graben tiefer ins Geheimnis des Daseins und mühen sich um die Darstellung seelischer Stimmungen. Nach den Epikern treten die Lyriker 5 auf. Sie heben den Schleier des eigenen Innenlebens, sie versuchen, die vielfältigen menschlichen Erregungen in Worte zu fassen und erringen damit zugleich den sprachlichen Ausdruck für feinere, geistige Vorgänge.
Der Vorgang des allmählichen Gestaltwerdens, dieses langsame Heraustreten der Volksseele aus dem Dunkel der Vorzeit erfüllt das Leben vieler Generationen; das Erwachen und Bewußtwerden des griechischen Menschen ist nicht das Werk eines einzelnen oder einiger Künstler, Poeten und Denker. Tausendmal haben die uralten Schicksalsmächte, Liebe, Haß, Sehnsucht, Schmerz, Freude, Zorn und Erfüllung, die Herzen ergriffen; tausendmal sind Gedanken gedacht, Gefühle empfunden worden, ehe die Saat aufgeht. Irgendwo leben Männer und Frauen, denen es gegeben ist, ihre innere Welt in Stein oder Erz darzustellen, andere malen Figuren, modellieren Vasen und Gefäße von neuer, reiner Gestalt, sie schnitzen, zeichnen und feilen. Es schlagen Herzen, die sich in Versen verströmen; Seelen wachen auf, die ihr innerstes Wesen in Liedern auszudrücken vermögen. Wer immer diese Künstler oder Dichter sind, sie werden zu Kündern einer Menschheit, die sich aus Geist und Schönheit eine neue Welt schafft.
* In ein Felsenhalbrund, das sich zur See hin öffnet, fällt der milde Schein der hellen Nacht. Mitten auf dem plattenbelegten Platz steht auf dreifachem Sockel das Marmorbild der Aphrodite, der Göttin der Liebe und der Schönheit. Wie eine Blüte aus dem Blattkelch steigt der schlanke Hals mit dem schöngeschnittenen Haupt aus dem gleichförmigen Umhang; der senkrechte Faltenwurf betont das Erhabene der Figur. Die Rechte der Göttin trägt als Sinnbild der Fruchtbarkeit den Granatapfel. 2(4)
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Aus dem Schatten blühender Bäume treten weißgekleidete Gestalten, eine lange Reihe sich in leisem Tanzschritt wiegender Mädchen, Blumenkränze winden sich um das Haar, lautlos und unwirklich füllt die Schar den heiligen Hain. Zum Spiel der Saiteninstrumente umkreisen die Jungfrauen das Standbild. Dann legen sie Blumengebinde um die Schultern der Göttin und gruppieren sich ihr zu Füßen. Dort, wo der Fels steil zur Küste abfällt, steht im Mondlicht eine schöngewachsene, dunkellockige Gestalt, die Kithara6 im Arm. Sie verharrt auf der Felsenbarre, während von unten das Grollen der Brandung heraufdringt. Ein Akkord erklingt, eine helle, glockenreine Stimme setzt ein: „Sammelt euch und naht der geweihten Stätte, wo eben der Hain in der Apfelblüte lieblich grüßt, darin der Altar der Göttin, duftend von Weihrauch. Innen plätschert Wasser durch die Apfelzweige kühl herab, von Bösen rings der Boden überwölkt, von zitternden Blättern rieselt nieder der Schlummer, und auf rossenährender Weide wachsen Lotosblumen. Süß von des Anis' Blüten steigt ein Hauch empor... Komm her, du Herrin des Haines, füll' in goldene Becher den Trank voller Anmut, zartgemischt mit festlicher Freude, Nektar gieß' in die Schalen..." Ein Mädchen, das den Kreis der Gespielinnen verlassen will, tritt aus der Schar und erwidert zum leisen Klang der Kithara: „Ach, welch schweres Schicksal ist uns auferlegt, Sappho, nur ungern verlaß ich dich!" Traurig entgegnet die Dichterin: „Reise glücklich und denke mein, denn du weißt ja, wir haben dich sehr gehegt. Wenn aber nicht, so muß ich wohl deiner gedenken; du hast vielleicht bald vergessen, wie schön unser Leben war, wie du Kränze von Veilchen oft und von Rosen gebunden hast 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.03.15 18:24:14 +01'00'
und dir festlich die Locken damit geschmückt, manche duftende Kette auch dir geschmiegt um den sanften Hals, die aus zärtlichen Blumen geflochten war."7 Die nächtliche Szene hat einen Lauscher; in den Schatten einer Felsspalte gepreßt, steht Alkaios, den das Schicksal lange Zeit von der heimlich Geliebten getrennt hat. Er möchte zu Sappho eilen und sie in die Arme schließen, aber er weiß, wie streng sich die Gemeinschaft dieser Mädchen von allen Männern absondert. Der Zwiegesang ist beendet, lachend und plaudernd zerstreuen sich die Tänzerinnen im Hain, Abschiedslieder erklingen, silbern tönen Flöten aus dem Schatten. Nur Sappho ist weiter hinaufgewandert, den steiler ragenden Klippen zu. Dort oben zwischen Land, Meer und Sternen läßt sie sich nieder und umfaßt das Bild, das den Hain belebt. Alkaios vermag sein Verlangen nicht länger zu zügeln, er verläßt sein Versteck und eilt zu ihr. „Ich bin's! Alkaios! "ruft er der Erschreckten zu, „mein Herz hat mich aus der Fremde zurückgeführt, nun laß mich zu deinen Füßen sitzen." Die Jungfrau hat sich erhoben, abwehrend hält sie das Saiteninstrument umklammert, doch als sie die flehende Miene des Mannes sieht, nimmt sie zögernd ihren Sitz wieder ein. Alkaios kauert sich vor ihr nieder. „Dies ist ein Reich der Mädchen", sagt sie streng, „kein Mann hat das Recht, in unsere Frühlingswelt einzubrechen." Sapphos Hand berührt leise und nachdenklich die Saiten der Kithara. „Was ist euch Männern die Liebe? Ihr strebt nach Erfolg und Besitz, ihr begehrt, ohne an die Seele zu denken. Ihr reißt an euch, ohne zu sehen, welches Maß von Vollkommenheit ihr oft zerstört." Sie weist in die märchenhafte Landschaft, die weiße Felsenküste, die rauschende Brandung und das dunkle, manchmal aufglitzernde Meer, den Hain, aus dem der Duft der Blüten herübergetragen wird. „Das ist es, was ich mit schmerzvoller Liebe umfange, die reinste Schönheit, das Zarte, Hohe, Natürliche des Daseins, die edleren Regungen des Herzens. Ich liebe diese jungen Geschöpfe. Aber wieder geht eine aus un11
serem Kreise fort, die sanfte Athis. Sehnsucht krankt in ihrem zarten Gemüt, Gram ist in ihrem Herzen. Sie wird uns rufen, doch ihre Stimme erreicht uns nicht mehr. Die dunkle Nacht trägt ihre Worte nicht übers Meer. Jedes in die Welt enteilende Mädchen reiß ich mir vom Herzen, denn ich sehe es hingehen in ein hartes, grausames Leben, dessen Ende Enttäuschung, Alltäglichkeit und Alter sind." „Ach Sappho", wirbt Alkaios, „treffen sich nicht unsere Seelen in dieser Stunde ? Das Festhalten des schönen unwiederbringlichen Augenblicks, die Freude an der göttlichen Sonne und die Bewunderung für Hesperos, den Abendstern, das schönste unter den Gestirnen, all das, was man unser Dasein nennt, muß man es nicht umarmen in einem einzigen Rausch, der uns mit den Göttern vereint...?" „Du verstehst mich nicht, Alkaios. Nichts vom Rausch der Schwärmer ist in mir, nichts von dunkler Entflammung. Klar wie die Sonne, schön wie der blühende Hain und groß wie das Meer will ich sein. Nicht Entfesselung ist mein Ziel, sondern Freude!" Sappho läßt leise die Saiten der Kithara erklingen: „Göttern gleich ist selig der Mann zu preisen, Der dir gegenüber sich setzen darf und Aus der Nähe deine bezaubernd süßen Worte vernimmt. Und dein Lachen, lockend und lieb, das wahrlich Mir das Herz so tief im Innern erschüttert." Stumm sitzt Alkaios zu ihren Füßen. Er ist gekommen, um diesem seltsamen Mädchen seine Liebe zu gestehen, nun aber weiß er, daß er eine Traumgestalt begehrt. Mit trauervollem Herzen reicht er Sappho das Geschenk, das der Braut galt und das nun Zeichen des Abschieds ist, einen Reif aus Gold. Ein korinthischer Meister hat darauf eine Schar tanzender Mädchen dargestellt. Wiegender Rhythmus bewegt die Gestalten, in ihren verschlungenen Händen halten sie blühende Zweige. Sappho hebt den breiten Armreif ins Mondlicht und betrachtet ihn versonnen. Mit dunkler Stimme, in der Entsagung und Schmerz schwingen, spricht Alkaios die Worte eines Tanzliedes. Lächelnd lauscht Sappho ihren eigenen Versen: 12
„Die kretischen Mädchen, die tanzten im Takt Rings um den schönen Altar auf jungen und zarten Füßen Über die kaum entsprossenen, weichen Blüten der Wiese." * Noch sind es nur Gefühle, in Worte 'gefaßte seelische Empfindungen, die in Versen von Glück, Sehnsucht und Trauer den Herzen „der Menschen entströmen, aber der Weg von innen nach außen ist aufgetan. Liebe und Schmerz schaffen die Sprache verfeinerten Ausdrucks; trotziges Aufbäumen wider das Schicksal führt schließlich zur selbstbetrachtenden, die Welt durchforschenden Nachdenklichkeit. Der Gefühlsdichtung folgt die Kunst des klaren Denkens, der Lyrik die Wissenschaft. Griechenland beschwört seine eigene Zukunft, es ruft als Trost gegen das unerbittliche Walten der Götter den Geist der Philosophie herauf.
Das Meer liegt wie schimmernder Türkis unter dem lichten Himmel, die langausholenden Wogen gehen wie Schatten darüber hin. Um die graue Felswand des Zephyrischen Vorgebirges weht der weiße Schleier der Brandung, in schwungvollem Bogen laufen die Küstenlinien Kretas in die Ferne; silbergraue Olivenwälder, niederes Gestrüpp von Immergrün und blühendem Ginster bedecken die Felsen. Über die Kimmung des Meeres, das sich zwischen Kap Zephyrium und der kleinen Insel Dia dehnt, steigt ein kleines, braunes Segel empor, allmählich wird auch der Schiffsrumpf deutlich — ein schwerbäuchiger Kasten, wie ihn Handelsfahrer lieben. Der Schiffer steuert die Landmarke Dia an, hinter der sich die sanfte Bucht von Knossos öffnet. Unter der lähmenden Mittagshitze schläft der Wind ein, schlaff hängt das Segel am Mast. Da strecken sich aus den Flanken des Kauffahrers dreißig Ruderpaare und greifen unermüdlich aus. Langsam schiebt sich das Schiff gegen Knossos heran. Auf dem Schutt dieser einst blühenden Stadt ist eine neue Siedlung erstanden, eingewanderte 13
Dorer und Eeste der kretischen Bevölkerung haben sie erbaut, brachten den Hafen in Ordnung und schufen eine aufstrebende Stadt. Der Herr des ankommenden Schiffes ist der Kaufherr Thaies aus Milet8. Er läßt die Kontrolle am Hafen über sich ergehen, bezahlt den Zoll, erteilt über seine Waren Auskunft und befiehlt dem Schiffsmeister, die Ladung zu löschen. Unbekümmert um die brennende Sonne, geht er durch die um diese Stunde menschenleeren Straßen. Sein Besuch gilt dem alten Freunde Epimenides, den er um seiner Weisheit und seiner Kenntnisse willen hochschätzt. Epimenides lebt in einem einfachen Holzhause außerhalb der Stadt, ganz nahe an der sagenumwobenen „Diktäischen Höhle". Ihn umweht ein Hauch von Geheimnis und Zauberei. Sein lang herabwallendes Gewand, das mit rätselhaften Zeichen bestickt ist, erinnert an orientalische Priester, an babylonische Magier oder ägyptische Gelehrte. Nun sitzen sich die beiden Männer in dem etwas düsteren, mit seltsamem Hausrat angefüllten Raum gegenüber. Vor ihnen steht ein großer, trichterförmiger, mit Darstellungen aus der Heldensage bemalter Krug, in dem dunkler Kreterwein mit Wasser vermischt wird. Thaies, der auch einen weitverzweigten Handel mit Tonwaren betreibt, stellt sachverständig fest, daß der Krug in korinthischer Werkstatt gefertigt ist. Obschon er selbst Töpfereiwaren aus Athen und Milet vertreibt, erkennt er neidlos an, daß die korinthischen Arbeiten immer noch die kunstvolleren sind. Die Freunde trinken sich aus den zweihenkeligen Schalen zu, dann plaudert Thaies von den Geschäften und Fahrten, die er seit ihrer letzten Begegnung unternommen hat. „Es ist lange her", sagt er, „seit wir uns das letztemal sahen, denn die Kretafahrt unserer Schiffe ist selten geworden. Der Handel Milets verlagert sich nach Ägypten. Seit König Psammetich dem hellenischen Kaufmann erlaubt hat, im Nildelta die Siedlung Naukratis zu gründen, ist schnell ein Markt von Weltbedeutung entstanden. Wir haben dort ein gemeinsames Heiligtum, das ,Hellenion'; Naukratis ist zum Treffpunkt aller Griechenschiffe geworden. Geschäftsleute aus Chios, Rhodos, Phokäa, Mytilene und Tenedos bevölkern den Markt dieser Stadt..." Epimenides hebt mit lächelnder Abwehr die Hand. 14
„Laß uns von dem Anderen, dem Wesentlichen sprechen, mein Freund! Mir ist es gleichgültig, ob der hellenische Handel in Naukratis gut oder schlecht ist. Ägypten hat mehr zu geben als Weizen, öl und Datteln." „Gut, lassen wir das...!" Thaies schweigt einen Augenblick, dann spricht er weiter. „Ich war eine Zeitlang aufmerksamer Zuhörer und Schüler in einer ägyptischen Priesterschule; übrigens nicht als einziger Hellene, ich traf dort den jungen Solon aus Athen... du kennst ihn?" „Natürlich, ich habe von ihm gehört. Aber sag, was erfuhrst du über den Isis-Kult, über die Geheimnisse des Totenreiches, der Totenbeschwörung und die heilige, uralte Bilderschrift? Du Glücklicher konntest den dunklen Zauber geheimer Beschwörung aus dem Munde der Männer hören, die wie keine Sterblichen sonst die Eätsel der Unterwelt zu lösen wissen!" Thaies ist aufgestanden und tritt in die Öffnung der Tür, durch die das Sonnenlicht in den dunklen Raum flutet. „Was kümmert mich ihre Zauberei...! Sieh die Sonne, das Meer, die Bäume und den blauen Himmel, das ist Wirklichkeit und wahres Leben! Was ich von den Priestern wissen wollte, waren allein ihre Kenntnisse in der Rechenkunst, in der Gestirn- und Wetterkunde; Dinge, die für mich als Seemann und Kaufherrn von Bedeutung sind." Epimenides greift nach einem ungehängten Amulett, als wünsche er die beleidigten Geister der Jenseitswelt zu besänftigen. „Was für Sorgen du hast, Thaies! Dein Herz ist von der Geschäftstüchtigkeit dieser Welt erfüllt, aber um das einzig Wichtige, um das Schicksal deiner Seele, kümmerst du dich nicht. Du hast dich wenig geändert!" Thaies trinkt mit langen Zügen aus der Weinschale. „Du solltest zur See fahren, Epimenides, und manches würdest du begreifen, was dir in Gesellschaft deiner Götter und Dämonen nicht bewußt wird. Anders sieht die Welt, wer sich in sich selbst verschließt, als wer ihr Auge in Auge gegenübertritt. Wenn du tagelang über die blauen Wasser fährst, einer Nußschale ausgeliefert, wenn sich ringsum kein Strand, keine Insel und kein ferner Berggipfel zeigen, dem Auge 15
Halt zu bieten, und du stehst sinnend am Bug des Schiffes, oder stürmische Winde fauchen daher, wühlen die grauen Wogen auf, schwere Wolkenbrüche werfen prasselnden Regen, du hast dich an den Mastbaum geschnallt und bangst — ein einsamer Mensch inmitten des endlosen, grausamen Alls —, dann, mein Freund, steigen andere Gedanken auf als hier auf sicherem Festlande. Du hast Zeit zu grübeln, Natur und Herz drängen sich gleichermaßen dazu. Angesichts des brausenden Meeres habe ich mich oft gefragt: Woher kommt das alles? Dann wieder wanderst du als Kaufmann durch fremde Länder, siehst andere Menschen, hörst Gebete vor den Altären unverständlicher Gottheiten, du stehst vor den riesenhaften Totenmalen vergangener Jahrtausende, den Pyramiden am Nilstrom. Der Hauch der Ferne, der Atem des Totenlandes und der Schrei des Steines nach Dauer berühren dich. Dann drängt sich die andere Frage auf: Was ist das alles — Werden und Vergehen, der unentrinnbare Kreislauf, der uns tödlich umschließt? Das ist die Nachdenklichkeit des Seefahrers und Reisenden, lieber Freund, sie ist unterschieden von der des Tempelpriesters..." In den Augen des Epimenides glüht das Feuer des Eiferers. „Du fragst nach Dingen, die lange ihre Antwort gefunden haben. Das Rätsel des Woher, des Wohin und der Bestimmung alles Daseins ist gelöst. Du kennst das große Geheimnis, das den Bund der Orphiker 9 vereint; wolltest du nur zu uns kommen, Thaies, du brauchtest nicht ferner mühsam zu grübeln, nicht länger nutzlos zu forschen!" „Grübeln und forschen, das gerade will ich!" erwidert Thaies heftig. „Mich befriedigt es nicht, das fertige Wissen von den Priestern und Sehern zu beziehen: Hier nimm es an! So und nicht anders ist die Welt! —Nein, wenn ich von Wissen spreche, verstehe ich darunter nur das, was ich selbst erforscht und eingesehen habe, was mich wirklich überzeugt." „Nicht jeder kann den langen Pfad der Erleuchtung gehen", entgegnet Epimenides, „aber um das Geheimnis der tiefinneren Offenbarung solltest du ringen, Thaies, das ist höchster Menschenzweck. Die ewigen Dinge hat uns Orpheus enthüllt. Niemand wird mehr erfahren, als ihm der Gott kundtat. . . " Der Kaufherr lächelt ungläubig. 16
Ägäisches Meer Die lateinischen Namen bedeuten: Mare Ionium = Ionisches Meer, Mare Aegaenm = Ägäisches Meer, Mare Creticum = Kreta-Meer, Creta = Kreta. Hellespontus m> Dardanellen, Propontis = Marmarameer, Athenae = Athen (Die Halbinsel, auf der Athen liegt, ist die Landschaft Attika)
„Von dem niemand genau weiß, ob, wann und wie er gelebt bat!" „Das sagen unsere Feinde! Orpbeus bat gelebt! Hätte er sonst den Bund begründen und seine Lebre hinterlassen können?" „0 nein, mein Freund!" widerspricht Thaies, „alle diese Geheimlehren und Zaubereien kommen aus Asien 3(4)
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herüber, ich kenne doch die Melodie der babylonischen Magier. Der Adoniskult, die Geheimlehre der Totengöttin und die Botschaft des Gottes Dionysos — all das ist nicht hellenisch, es sind Gedanken der Fremde, die nach dem Herzen unseres Volkes greifen. Im Grunde ist es Dämonenangst, die Furcht vor dem Abgrund des Todes. Homer kannte keine Göttin der Toten, wie sie heute von abergläubischen Leuten verehrt wird. Ich habe ihren Feiern beigewohnt, es waren die gleichen Opfer, die auch die Babylonier ihrer düsteren Göttin Labartu weihen. Sieh dich unter den Lebenden um, du wirst finden, daß überall der Zauber Babylons in ihren Herzen Gewalt gewinnt! Im Frühjahr feiern sie das Dionysosfest, das unseren Vorvätern gänzlich unbekannt war, nach dem Vorbild des babylonischen Alltotenfestes. Zum Schutz gegen Gespenster kauen sie Weißdornblätter und bestreichen die Türpfosten mit Pech. Für die Verstorbenen stellen sie Töpfe mit Sämereien und Erdfrüchten hin und werfen Honigkuchen und Leckereien in die Erdschlünde. Sind dann die Feiern unter Furcht und Schauern zu Ende, so rufen diese Toren den Seelen der Toten, vor denen sie sich fürchten, zu: ,Hinaus, das Totenfest ist zu Ende!' " „In Wahrheit, so ist es", sagt Epimenides, „aber was willst du dagegen anführen ? Ist es nicht wie der morgenkündende silberne Streif am Himmel, wenn die Menschen zu fühlen beginnen, daß zwar das Schattendasein der Unterwelt unausweichlich vor ihnen steht, daß es aber Mächte und Kräfte gibt, den Tod zu überwinden und Auferstehung und neues Leben zu gewinnen?" „Du sprichst von Fühlen, Epimenides, ich rede vom Wissen! Und die Hoffnung? Sie galt stets als Trügerin, die nur Dinge kennt, die es doch nicht gibt. Nein, Freund, ich werde nicht der Verführung dieser asiatischen Lehren erliegen, ich kann nicht an die Wiederkehr des Adonis, an die Auferstehung der Totengöttin und an den Todüberwinder Dionysos glauben, mich verlangt es nach vernünftiger Erklärung der Welt. Ich erbaue mir die Ordnung der Welt aus dem Wissen." „Höre mich an, o Thaies!" erwidert Epimenides, „wenn du fragst: woher kommt alles?, so antwortet dir Orpheus, daß es die Nacht und die gähnende Leere waren, der Drache mit den zwei Köpfen, aus dem das Weltenei geboren wurde." 18
„ H a l t ! " unterbricht Thaies den Eifernden. „Das sind alles verworrene, unbeweisbare Behauptungen. Wer an diese Märchen glaubt, wird über den Urgrund der Dinge nicht ernsthaft nachdenken. Ich will keine Ammenmärchen, sondern Erkenntnis. Und deshalb erscheint mir die Geheimlehre des Orpheus eher ein Hindernis für die Forschung als ein Hilfsmittel..." „Wie aber willst du das Geheimnis der Schöpfung ergründen, du, ein gebundener, dem Zufall unterworfener Mensch ? Ja, wenn wir Götter wären, wenn wir olympische Klarheit und Weisheit besäßen! Hast du niemals den Zwiespalt der Menschennatur empfunden? Das sehnsüchtige Aufstreben der Seele und das erdhafte Herabziehen durch die Schwere des Körpers ? Sagt dir nicht die Stimme in der eigenen Brust, daß du der Erlösung durch übersinnliche Kräfte bedarfst? .v Würdest du ein einziges Mal unsere nächtlichen Dionysosfeiern mit uns teilen, dieses Hinauswachsen und Steigern durch rhythmischen Gesang. Wein und Tanz und Weihrauch! Und dann, wenn sich der Seele Flügel zu regen beginnen, wenn du meinst, der Schwere deines Leibes entfliehen zu können und in die Reinheit des Geistes hinüberzutreten, immer aber mit dem unüberwindlichen Bewußtsein, sterblich zu sein und der Erde verhaftet zu bleiben — das ist Rausch und Erhebung, Höhe und Absturz zugleich!" „Ich wünsche weder den Rausch noch die Entfesselung. Nüchternheit lernte ich, Mut und Trotz. Mag es nutzlos sein oder nicht, ich erlernte die Geheimnisse der Welt mit klarer Denkkraft. Das verleiht keinen Rausch, aber es behütet auch vor ernüchterndem Hinabsturz, es enttäuscht nicht und führt zu wirklichen Ergebnissen..." „Indem du die Welt der Schatten verneinst, leugnest du auch das Licht, vermessen stellst du dich gegen das Reich der Dämonen und Götter, ein Wahnsinniger, der den Ewigen gleich sein will!" Thaies läßt sich nicht beirren. „Laß mich meine Meinung verdeutlichen. Der dumpfen Menge gilt die Verfinsterung der Sonne als schreckvolles Zeichen überirdischer Mächte. Ägyptische Gelehrte aber haben mir gezeigt, aus welchen Ursachen sie entsteht und wie man sie Jahrzehnte vorher vorausberechnen kann. Mit dieser Einsicht hat die Erscheinung jeden Schrecken 19
für mich verloren und ist zu etwas Begreiflichem geworden. Ähnlich scheint es mir mit vielen, wenn nicht mit allen Geheimnissen des Daseins zu sein. Man müßte das All erforschen, erklären, beherrschen, und die Welt wäre einfacher, natürlicher und von der Furcht befreit. Götter und Halbgötter, die Homer und Hesiod so kindlich mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet haben, setzen meinem ewig fragenden Verstände keine Grenze. Ich muß wissen und erkennen, sonst finde ich keine Ruhe." „Und wozu?" ruft Epimenides, „was steht am Ende deines Weges? Welcher Gott wartet auf dich, wenn du aus dem Dasein in den Abgrund der Unterwelt hinabstürzest?" „Kein Gott und kein Dämon erwarten mich, Freund. Es ist die selbstlose Liebe zur Weisheit, die Philosophie, die mich vorantreibt..." *
Ein Jahr nach dem Besuch des Thaies führt ein Schiff den Priester Epimenides ans kleinasiatische Ufer. Die sich immer mehr ausbreitenden Orphikergemeinden haben ihn als ihr Oberhaupt eingeladen, an den großen Feiern teilzunehmen. Auf dieser Reise sucht Epimenides auch den alten Freund auf, der als Berater bei König Krösus in Sardes in Kleinasien weilt. Oben auf der Burg von Sardes führt Thaies in Erinnerung an das Gespräch auf Kreta den Gast an eine der Fensteröffnungen und weist in das Tal hinunter, wo in der Niederung des Hermosflusses Arbeiterkolonnen beim Aufschütten hoher Dämme und bei der Anlage von Schleusen und Kanälen tätig sind. „Das hat die Wissenschaft zustande gebracht", sagt er. „Ich habe meine in Ägypten gesammelten, praktischen Kenntnisse dem König zur Verfügung gestellt und Pläne entworfen, um aus den Sümpfen fruchtbares Land zu machen." „Ach", lächelt Epimenides, „das ist also das einzige Ergebnis deiner Philosophie, ein paar Kanäle, die in hundert Jahren der Wind zugeweht haben wird, und Schleusen, die das nächste Hochwasser zerstört?" „Ja, Epimenides, das Wissen kann den praktischen Nutzen zum Zweck haben. Warum auch nicht? Haben wir nicht die Denkkraft ebenso zur Erhaltung unseres 20
Daseins mitbekommen, wie etwa Fäuste oder Zähne? Ich gestehe dir, seit unserer letzten Begegnung große Summen Geldes verdient zu haben... durch richtige Anwendung von Wissen und Geist. Meine Kenntnisse von den Gesetzen der Wetterbildung verrieten mir für dieses Jahr eine besonders günstige ölernte. Ich pachtete also durch Vermittlung meiner Freunde sämtliche Ölmühlen von Milet und Chios. Als dann die Ernte begann, mußte jedermann für die Ölpressen den Preis bezahlen, den ich verlangte." Thaies freut sich über das verdutzte Gesicht seines Gastes. Als er aber Trauer und Sorge im Angesicht des Freundes sieht, fährt er mit warmer Herzlichkeit fort: „Du hast natürlich recht, das Leben erschöpft sich nicht im Gedanken an das Notwendige und Nützliche. Auch die Philosophie greift darüber hinaus, sie strebt ebenso wie die mystische Lehre nach den höchsten Geheimnissen. Unsere Zeit hat begonnen, das Dasein als einsam und hoffnungslos zu empfinden, die alten Götter können uns nicht mehr alle Fragen beantworten. Die Wege scheiden sich, die Menschen erwachen zum Bewußtsein ihrer verschiedenen Art. So gehst du da und ich dort. Gib dich Dionysos hin und erhebe dein Herz in Entflammung zu deinem Gott! Mich aber laß bei jenem Wort verharren, das mir in Ägypten einst Solon sagte: ,Nur immerfort lernend altere ich.' " * Die uralte Handelsstraße, die, aus Mesopotamien kommend, Sardes von Osten her erreicht, verläßt kurz hinter dem Westtor der Stadt das Hermostal, übersteigt, sich nach Südwesten wendend, einen niederen Gebirgszug und endet an der Küste zwischen den beiden großen Handelsplätzen Smyrna und Milet im weitberühmten Ephesus. Es ist kein Zufall, daß die Hauptverkehrsader, die Kleinasien und den fernen Westen mit dem Herzen der älteren babylonischen Kulturwelt verbindet, diese Stadt als Zielpunkt gewählt hat. Sie ist eine Gründung der seetüchtigen Phöniker, wurde später von den Ioniern in Besitz genommen und weiter ausgebaut. Die Ionier haben sich im Laufe der Zeit friedlich mit der Urbevölkerung vereinigt und in der phantasiereichen und beweglichen Art ihres religiösen Empfindens die in Ephesus seit Urzeiten verehrte Göttin Kybele der hellenischen Mondgöttin Artemis gleichgesetzt. 21
Ionischer Geist und die naturhafte Frische des jugendlichen, eben erwachten Volkes, in de» uralten Boden phönikisch-asiatischer Tradition verpflanzt, bringen das geistige Leben zu verheißungsvollem Erblühen. Mit dem Götterglauben und den Gedanken und Lehren des Orients strömt eine Fülle von Anregungen in die ionisch gewordenen Küstenstädte Kleinasiens. Zwischen zauberischer Befangenheit, die ihm in Asiens vom Gedanken an Tod und Ewigkeit gebanntem Wesen begegnet, und dem eigenen Denken ringt das Griechentum um seine künftige Gestalt. Männer wie Epimenides, der sich in die düsteren Bereiche der Mysterien und Beschwörungen flüchtet, oder wie Thaies von Milet, der, von der Last der Weltangst befreit, kühn zur Klarheit des vernünftigen Denkens vorstößt, stehen sich wie die Pole dieser Tage gegenüber. Der geistige Himmel der Zeit ist von Wolken einer wesensfremden Welt bedeckt, aber die hellenische Vernunft müht sich, zur Klarheit vorzudringen. Inmitten dieser gärenden und sich bildenden Welt entsteht, als Sinnbild und Ausdruck des neuen Geistes, zu Ephesus der Neubau des Heiligtums. Am kleinasiatischen Ufer, am Endpunkt der weiten Straße nach Babylon und am Anlegeplatz der Ägyptenfahrer, in steter Berührung mit den großartigen Kulturen des Orients, hat man eine kühnere und anspruchsvollere Auffassung von den Aufgaben der Baukunst entwickelt, als auf dem Boden der hellenischen Heimat. Dort drüben stehen noch immer die schlichten Holzhütten, die groben, aus behauenem Feldstein zusammengefügten Herrenhäuser und die dorischen Tempel mit ihren Säulen aus Bundstämmen. Aus Ephesus aber kommt nun die erstaunliche Kunde vom Entstehen eines hellenischen Weltwunders; kühne Techniker aus Samos, die sich die Lehren Ägyptens zu eigen gemacht haben, unternehmen es, einen großen, steinernen Tempel zu errichten, der an Pracht und Größe sich würdig neben die Heiligtümer der älteren Völker stellen soll. Das Artemision, der weltberühmte Tempel der Artemis in Ephesus, und mit ihm der ionische Baustil entstehen in dieser Zeit. In denselben Jahren, als Thaies die Trockenlegungsarbeiten in Sardes durchführt, sind Ingenieure aus Samos dabei, die Sümpfe am Kaystros, rings um Ephesus, als Baugrund oder landwirtschaftlichen Boden zu gewinnen. Sie treiben angekohlte Stämme in den schwankenden 22
Grund, festigen ihn durch Weidengeflecht und versenken sandbeschwerte Felle. Nun entdecken auch die Ionier anscheinend zum ersten Male die reichen Marmorbrüche der nahen Berge; Arbeiterkolonnen beginnen steinerne Gebälkträger, Quadern und die Kundsteine für riesige Säulen auszuhauen; nach ägyptischem Muster werden Kollbahnen angelegt, die schweren Werkstücke zu befördern. Die mächtigen, tonnenschweren Steinträger werden durch Flaschenzüge und mit Hilfe von Sandsäcken, die sich selbst langsam entleeren, auf die Kapitelle der Säulen gesenkt, um einen gefährlichen Aufstoß zu vermeiden; Hebel, Flaschenzug und schiefe Ebene, alles, was Ägypten an technischer Lehre zu vergeben hat, ist am Werk. Frei, selbständig und einfallsreich entfaltet sich die ionische Kunst. Die Säule steigt in schlanker Schönheit empor; mit Fuß und sanft geschwungenem Säulenknauf wird sie zum selbständigen Bauglied, sie trägt ein verhältnismäßig leichtes Steingebälk und einen plastisch geschmückten Giebel. Der Tempel selbst trennt nach orientalischer Art die Halle der Beter vom AUerheiligsten, der „Cella". * Als das Artemision von Ephesus fertig ist und^die'Hellenen aller Küstenstriche, Inseln und Kolonien es zum Weltwunder erklären, fühlen sie, daß sie nicht nur nachschaffende Schüler, sondern selber Meister geworden sind und in der Lehre der älteren Völker ihr eigenes Wesen entwickelt haben. * So wie die Kunst, müht sich auch die Philosophie, eigene Wege zu gehen und frei zu werden von der Last der Vergangenheit und dem Gewicht fremder Ideen. Thaies hat als erster neue Tore aufgebrochen. Er*begnügt sich nicht damit, aus den Erkenntnissen des Verstandes wirtschaftlichen Nutzen oder technischen'Gewinn zu ziehen. Sein unstillbarer Forschergeist strebt nach denselben Zielen wie die inbrünstig glaubende Seele' des Epimenides, nach Erkenntnis und Lösung der letzten Kätsel. Er glaubt im Wasser den Urstoff zu erkennen, aus dem sich alle übrigen Erscheinungen der Welt gebildet haben. Die Erde erklärt 23
er, babylonischen Gelehrten folgend, für eine im Ozean schwimmende Scheibe. Seine wichtigste geistige Tat, die als solche auch von seinen Schülern verstanden wird, ist, daß er zuerst einen gemeinsamen Urgrund aller Dinge annimmt und damit den Gedanken der Einheit aller Schöpfung in die Wissenschaft einführt. Thaies hat den Ausblick auf das Reich des forschenden, vernünftig strebenden Geistes eröffnet, nach ihm kommen die Jünger, das Werk forzusetzen. Eine Straße wurde betreten, die glanzvoll ein neues Zeitalter heraufführen sollte; der Geist wurde geboren, der einst einen Erdteil vom andern scheiden würde. In dieser Zeit strahlt auch der Name des Philosophen Anaximander hell auf. Er ist ein Schüler und jüngerer Zeitgenosse des Thaies, der nach babylonisch-ägyptischem Vorbild den ersten Himmelsglobus konstruiert, die Theorie einer frei im Räume schwebenden Erde aufstellt, sie mathematisch begründet und die Weltentstehung aus feurigen Wirbeln der Urnebel erklärt. Er geht einen bedeutenden Schritt über seinen Meister hinaus, indem er sich von einem stofflichen Urgrund — sei er nun Wasser oder Feuer — abwendet und ein geistiges Prinzip, ein Weltgesetz, für den Anfang und das Schicksal alles Seienden erklärt. Zwischen Magie und Wissenschaft steht der geheimnisvolle Pythagoras aus Samos, der, von einem Tyrannen vertrieben, nach dem unteritalischen Kroton auswandert und dort eine religiös-wissenschaftliche Genossenschaft gründet. Der Geheimbund des Pythagoras breitet sich über die gesamte hellenische Welt aus. Auch Pythagoras war in Ägypten, ehe er zu lehren begann; in Ägypten lernte er Geometrie, von den Babyloniern übernahm er die geheimnisvollen Verhältnislehren. Gleich den Magiern des Zweistromlandes versteht er es, aus Saitenlänge und Spannung die Tonhöhe im voraus zu berechnen. Ergriffen vom Wunder der Zahlen, glaubt er, im Zusammenklang gesetzmäßiger Zahlenverhältnisse die Weltharmonie und in der Mathematik das große Ordnungsprinzip der Welt zu erkennen. In dieser Morgenstimmung des hellenischen Geistes lebt im Artemision zu Ephesus der große Seher und Denker Heraklit aus königlichem Geschlecht. Selber zu höchsten 24
Erkenntnissen strebend, verachtet er die in Aberglauben und Dumpfheit befangene Menge. Die gewaltigen Bilder, die seine Seele schaut, wirft er in titanischen, knappen Sinnsprüchen in die Welt. Ein zweiter Prometheus, ruft er in stolzer Einsamkeit, erhaben über das Menschengewühl, sein Leid und sein Wissen nur den Unsterblichen zu. Er, dem nichts hoch und erhaben genug ist, um am Anfang des Seienden zu stehen, nimmt den Weltentstehungsgedanken des Anaximander wieder auf. Der reine Geist, das Gesetz, das Sinnvolle, ist der Urgrund der Schöpfung. Heraklit prägt dafür das Wort „Logos", das vernunfterfüllte Denken. Als sinnfälligste Verkörperung dieses geistigen Beginns sieht er das lebendige, göttliche Feuer an, Symbol ewigen Wechsels, Segens und der Zerstörung. „Alles fließt...!" „Du kannst nicht zweimal in denselben Fluß steigen, denn anderes und immer wieder anderes Wasser strömt dir z u . . . ! " Diesem Werden und Vergehen unterliegt auch die Menschheit. „Krieg ist der Vater von allem, der König der Erde heißt Kampf. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die zu Freien, die andern zu Sklaven..." Die Natur ist für Heraklit „der Gottheit lebendiges Kleid". Ein Abglanz jenes Urgefühls der jungen Hellenen, das Welt, Götter und Menschen in einem Kreis umfing, liegt über dem Denken des Weisen von Ephesus. Aber der Orpheus-Kult wirft dunkle Schatten über seine Gedanken. Ähnlich wie der Orphiker lehrt Heraklit, daß die Seele des Menschen in den Kreislauf des Weltfeuers einbezogen ist, bei der Geburt „in den Leib hinabgezogen und getrübt wird, und nun den Herren Wasser und Erde fronen muß...". Wenn aber, so lehrt Haraklit, ein Weltenjahr — 360mal ein Menschenalter von 30 Jahren, gleich 10800 irdischen Jahren — vorüber ist, dann sinken Geister, Leben, Erde und Körper, Tiere, Pflanzen und Menschen im großen reinigenden Brande des Weltfeuers dahin, und eine neue Periode des Schicksals nimmt ihren Anfang. Während die „Vielen" schon mit dem Verzucken des Lebensfunkens 4(4)
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vergehen, erlischt das Feuer der „Weisen" erst im allgemeinen Weltbrande. „Einsicht zu haben ist höchste Tugend, und Weisheit ist es, Wahres zu reden und zu tun, gemäß der Natur, der man sich anheimgibt... Einklang des menschlichen Handelns mit der Weltvernunft — dem Logos — sei die Norm des Lebens..." * Überall erwacht der Geist der Kritik, die Hellenen versuchen in zunehmendem Maße die Kraft ihres Geistes an Gegenständen, vor die ehedem heilige Scheu eine Mauer der Ehrfurcht gelegt hat. Wie zweiflerisch und nüchtern die geistige Oberschicht des aus Kinderträumen erwachenden Volkes unter diesem Vorgang der Entfaltung zu werden beginnt, beweist ein Satz des Xenophanes, den der fahrende Sänger vor gläubigem Volke auszusprechen gewagt hat: „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angedichtet, Was bei Menschen nur immer als Schimpf und Schande gilt: Untreue, Diebstahl und gegenseitigen Trug." Der neugeborene Geist der Philosophie rüttelt am alten Olymp, die Kluft zwischen Wissen und Glauben wird sichtbar. Noch ist die Wissenschaft Angelegenheit einer kleinen, geistigen Auslese, und das Volk steht abwartend, mißtrauisch und ohne Verständnis abseits. Aber schon weht es auch die Seelen der „Vielen" an, ohne daß sie einen Halt in der ihnen nicht zugänglichen Philosophie finden. Sie spüren, daß ihr schwankendes Dasein noch fragwürdiger, noch rätselhafter und unsicherer geworden ist, und sie flüchten schwärmerischer und inniger in das Dämmerlicht der Geheimkulte. Mehr denn je ergreift das Gefühl der Ausweglosigkeit und des Verlassenseins inmitten einer schönen und doch so mitleidlosen Welt die Herzen der Hellenen. Kurz ist der Tag, an dem noch die Sonne scheint. Easch sind Jugend, Kraft und Schönheit vorüber, dann kommt unausweichlich und gnadenlos die unendliche Nacht. In derselben Zeit, in der sich im Denken der großen Weisen die griechische Klarheit und Nüchternheit aus den 26
Fesseln der Mystik löst, Philosophie und Künste als Ausdruck eigener Lebensart erstehen, stürzt der andere Teil der Hellenen nur noch tiefer in Hoffnungslosigkeit hinab. Der Sänger Anakreon aus Teos, dem die Philosophie den Glauben an Götter und Mysterienkulte geraubt hat, ohne ihm ein anderes Lebensfundament zu geben, findet am Ende nur noch dies als Sinn des Daseins: die köstlichen Augenblicke zu schlürfen und den Tag zu nützen. Er, der in jungen Jahren so viel frohe Trink- und Liebeslieder gedichtet hat, schreibt an der Schwelle des Grabes die hoffnungslosen Verse: „Schon ergraut sind mir die Schläfen, auf dem Kopfe weiß die Haare; Holde Jugend ist entschwunden, greisenhaft sind meine Zähne; Von der Zeit des süßen Lebens ist nicht viel mehr mir geblieben. So muß aufschluchzend ich oftmals vor dem Totenreich erschauern, Denn entsetzlich ist des Hades Schlucht, beschwerlich ist der Abstieg In die Tiefe. Wer hinabsteigt, weiß den Weg nicht, der zurückführt..." DER BÜRGER In derselben Zeit, in der hellenischer Geist zum Bewußtsein zu erwachen beginnt, vollzieht sich die großartige Ausdehnung der griechischen Wirtschaft und die zweite Kolonisation der Mittelmeerwelt. Ohne einheitliche, staatliche Organisation, ohne bedeutende Kriegsflotten oder Bündnishilfe, nur auf die einzelne Stadt und den persönlichen Mut gestützt, stoßen die Hellenen vor in einen Raum, der zum großen Teil im Besitz mächtiger Nachbarn ist. Als in der Vorzeit die Stammväter der Hellenen das kretisch-mykenische Seereich stürzten und ablösten10, waren sie gefürchtete Piraten, Plünderer und Abenteurer, kaum aber weitschauende Kaufleute, die verstanden hätten, das Erbe der Besiegten weiterzuführen. Die Handelsbeziehungen, Seefahrtsstraßen und fremden Märkte, die einst von Knossos und Mykene beherrscht wurden, waren 27
herrenloses Gut geworden und fielen in andere Hände als die der Sieger, die in dieser Zeit noch nicht das Meer beherrschten. Die Erschütterung der Macht- und Lebensverhältnisse im östlichen Mittelmeer durch den Einbruch griechischer Völkerwellen führte jene Weltenstunde herauf, die von den phönikischen Küstenstädten Sidon und Tyrus geschickt genützt wurde. In den verödeten Raum älterer Handelsinteressen stießen Phöniker von der syrischen Küste nach, eine stetige Welle ihrer Kolonisation ging seither von Osten nach Westen über die Mittelmeerküsten. Als geschickte Kaufleute verzichten sie von Anfang an auf politische Herrschaftsansprüche, sie gründen keine Staaten oder Machtmittelpunkte, aber sie bauen überall ihre wirtschaftliche Stellung so weit als möglich aus, gründen Niederlagen und Umschlaghäfen, Stützpunkte und Pflanzstädte, die allmählich gleich einem Netz die Welt des Mittelmeers überziehen. Die Fernwege zum metallreichen Westen, die besten Ankerplätze und alle jene Küstenstriche auf Cypern, Malta, in Afrika, Sizilien oder Spanien, deren Hinterland Bodenschätze, landwirtschaftliche Reichtümer oder deren Lage guten Markt verspricht, werden phönikisches Einflußgebiet. Lange Zeit gab es für dieses lose zusammenhängende Handelsreich nur einen einzigen Widerpart, wenn man von der fortgesetzten Seeräuberei der Hellenen in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer absieht. Das sind die Etrusker, ein Volk von unbekannter Herkunft, das sich an der mittelitalischen Küste niedergelassen hat und von dort aus Handel und Piraterie mit gleichem Erfolg betreibt. Sagen und Lieder sprechen davon, daß der Stamm aus der kleinasiatischen Landschaft Lydien durch die einwandernden Ionier vertrieben worden sei und mit all seiner fremdartigen Kunstfertigkeit und seinem Händlergeschick eine neue Heimat auf der italischen Halbinsel gesucht habe. Die Etrusker haben sich bis in die Po-Ebene ausgebreitet, in der Gegend des Tiberflusses die kriegerischen Latinerstämme unterworfen und sich als Herren über die kleinen, aufgesplitterten Gemeinden gesetzt, die sich von Zeit zu Zeit durch Zuzug aus dem Norden verstärken. Von Mittelitalien aus beginnen die Etrusker, in die paradiesische Landschaft Campanien einzudringen und sie zu kolonisieren. 28
So stehen sich, wenigstens im Westen des Meeres, phönikische Kaufleute und etruskische Seeräuber im steten Gleichgewicht der Kräfte gegenüber. Dieses verwickelte System von Interessen, Spannungen, Handelsbeziehungen und wirtschaftlichen Stützpunkten wird nun von den kolonisierenden Griechen gestört. Die weltpolitische Lage erleichtert das Vordringen hellenischer Kaufleute im Machtbereich der phönikisch-etruskischen Handelsplätze; denn eben damals ist die gesamte Aufmerksamkeit der phönikischen Mutterstädte Sidon und Tyrus auf ihr eigenes Hinterland gerichtet, aus dem sich drohend die Gefahr assyrischer Welteroberung erhebt. Im Kampf um die besten Plätze finden sich jetzt aber die Gegner von einst gegen die Griechen zusammen. Etrusker und Phöniker verbinden sich, weil sie gleichmäßig von der immer stärker werdenden hellenischen Konkurrenz, vom Vordringen der Griechenstädte und der Rührigkeit der neuen Handelsmacht beengt werden. Die am Kreuzungspunkt aller Seefahrtsstraßen gelegene Insel Sizilien wird zum Hauptschauplatz phönikisch-hellenischer Gegnerschaft, die Landschaft Campanien, in die von Norden her die Etrusker, von Süden die Griechen eindringen, ist die brennende Grenzzone auf italischem Boden. Der griechische Kaufmann, der in dieser großartigen Zeit geistigen und wirtschaftlichen Aufbruchs in die Fremde fährt, geht in eine feindselige Welt. Ohne die politische Hilfe einer geschlossenen Nation hinter sich, nur auf seine eigene Kraft vertrauend, unternimmt er es, mit der Unbeschwertheit eines Menschen, der vom Bewußtsein jugendlicher Überlegenheit durchdrungen ist, die älteren Mächte herauszufordern. * DORION AUS MASSALIA WÜNSCHT SEINEM F R E U N D E T I R O N VON ATHEN GLÜCK UND G E S U N D H E I T ! „Lange habe ich geschwiegen, teurer Geschäftsfreund. Es ist nicht leicht, die alte Vaterstadt zu verlassen und in der Fremde von neuem zu beginnen. Aber 29
nun, nach Jahren rastloser Arbeit, darf ich sagen: ich habe es geschafft! Meine Übersiedlung nach Massalia 11 ist geglückt, ich habe mich durchgesetzt und kann daran denken, meinen Handel weiter auszudehnen. Dabei rechne ich auf deine bewährte Unterstützung. Damit du ein klares Bild unserer wirtschaftlichen Lage bekommst, will ich dir einen Überblick über die Vergangenheit und die Zukunftsaussichten meiner neuen Heimat geben. Die Kolonie Massalia ist von Auswanderern der Stadt Phokäa vor etwa einem Menschenalter gegründet worden; sie liegt wenige Meilen westwärts der Mündung des Ehonestromes.und da die umwohnenden Barbaren weniger zum Krieg als zum Handel neigen, muß man die Wahl dieses Platzes als besonders glücklich bezeichnen. Heute besitzt unsere Stadt bereits eine Anzahl öffentlicher Gebäude, reiche Tempel und schützende Mauern; der Hafen ist mit Kaianlagen und Molen versehen und durch ein großes Leuchtfeuer an der Einfahrt gekennzeichnet. An den Nachbarküsten liegen Schwestergemeinden im Osten und Westen, an den Fuß des Alpengebirges schmiegt sich Emporiä, im Land der Ligurer wächst der Hafen des „Herakles Monaccus". Manche Kaufleute sagen vielleicht mit Recht: Ihr Leute aus Massalia seid mit eurer Kolonisation zu weit nach Westen gegangen, denn die nächsten hellenischen Stützpunkte liegen in Süditalien und an der Ostküste Siziliens, also in West-Hellas. Und tatsächlich müssen wir zugestehen, daß uns die Übermacht der Phöniker schwer zu schaffen macht, unsere Kriegsruderer liegen in stetem Kampf mit den Galeeren der Stadt Karthago. Wir stehen inmitten einer fremden Welt auf Vorposten. Die großen und reichen Inseln Sardinien und Korsika, die Balearen und die afrikanische Küste werden von karthagischen Kaufleuten beherrscht, sie sind mit phönikischen Handelsniederlassungen übersät. Diese Geizhälse wollen das ganze Geschäft für sich allein, ängstlich hüten sie ihre Vorrechte und lassen keinen ehrlichen Kaufmann aufkommen, der nicht ihrem Bunde angehört. Denke dir nur, Tiron, sie haben alles, was westlich der Cyre. 30
naika liegt12, kurzerhand für ihr unantastbares Einflußgebiet erklärt! Wir mußten es mehr als einmal erleben, daß sie unsere Kauffahrer, die an die nordafrikanische Küste verschlagen worden waren, aufgriffen und ertränkten. Wie ein pressender Ring liegt die Feindschaft um uns. Die Karthager haben sich mit den Etruskern in Mittelitalien zusammengetan, einer Nation von Piraten, die nicht einmal in ihrem heimatlichen Gau in Frieden lebt. Sie sind in ständige Reibereien mit den Einwohnern der kleinen Stadt Rom verwickelt; in Campanien treffen ihre Interessen zudem scharf auf die der aufstrebenden Griechenstadt Neapel. Karthager und Etrusker verstehen sich ausgezeichnet, sofern es gegen die Hellenen geht. Meine Geschäftsfreunde aus den unteritalischen Kolonien, ja selbst aus Syrakus auf Sizilien, versichern mit aller Bestimmtheit, daß uns Hellenen über kurz oder lang ein schwerer Kampf um die Insel Sizilien, vielleicht um die Behauptung im westlichen Meere bevorsteht. Trotz dieser Sturmzeichen kann ich mit gutem Gewissen sagen, daß unser Handel gewaltig an Umfang und Gewinn zugenommen hat. Die Barbaren brauchen unsere Waren und bezahlen dafür mit wertvollen Rohstoffen, deren Wert sie kaum abschätzen können und die wir zu höchsten Preisen auf sizilischen Märkten absetzen. Da sich der Handel über alle politische Gegnerschaft hinwegsetzt, machen wir sogar mit Karthago Geschäfte, wenn sie uns vorteilhaft erscheinen. Was uns sehr bekümmert, lieber Freund, ist die Unmöglichkeit, die kostbaren Metalle wie die karthagische Konkurrenz direkt aus den afrikanischen Gebirgen zu beziehen. So sind wir gezwungen, in Karthago zu kaufen und die Zwischenhändlergewinne zu bezahlen. Für Kupfer ist der Preis so hoch, daß sich fast die Fracht selbst von Cypern her lohnen würde. Damit unsere neue Geschäftsverbindung recht in Gang komme, füge ich eine Liste der Waren bei, die du, mein lieber Freund, in Athen für den westlichen Markt kaufen solltest und die ich dir zu annehmbaren Preisen abnehmen würde: Thunfische und Pökelfische von den Dardanellen, Ochsenhäute aus Thessalien, ägyptisches Segeltuch, phönikisches Weizenmehl,
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Weihrauch aus Syrien, Zypressenholz aus Kreta, phrygische Sklaven und vor allem die feineren Genuß, mittel wie Weintrauben und Feigen (kandiert) aus Ehodos, Birnen und Äpfel aus Euböa (getrocknet), Nüsse und Mandeln aus Paphlagonien, Datteln aus Syrien, auch die üblichen Erzeugnisse Athens, wie Tonwaren aller Art und billigen Silberschmuck. Dafür biete ich dir direkt oder durch meine Geschäftsfreunde in Syrakus zu günstigen Liefer- und Zahlungsbedingungen an: Schweine und Käse aus unserem Land, syrakusanischenWein, libysches Elfenbein, Pardelfelle aus Afrika, Purpurstoffe, Kissen, Teppiche und prachtvolle Ruhebetten (elfenbein- und goldeingelegt, sowie in einfacherer Ausführung) aus den berühmten karthagischen Werkstätten, Leder, wie es nur die Landschaft Cyrenaika zubereitet, und spanisches Silber in Barren. Bevor ich schließe, spreche ich noch eine Bitte aus. Hier anlegende Seeleute erzählten mir von politischen Kämpfen in der alten Heimat; sie behaupten, die Bürger seien sogar mit Waffen gegeneinander vorgegangen. Nun war ich in den Jahren, in denen ich mein Geschäft aufbaute, so sehr in Anspruch genommen, daß ich keine Zeit fand, die Verhältnisse in Athen zu verfolgen. Da aber auch in unserer Stadt die Spannung zwischen der Volkspartei und dem Adel recht bemerkbar ist, muß ich wohl oder übel wieder mehr Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten nehmen; denn wie hätte ich ein Recht, mich über Zustände zu beklagen, auf deren Gestaltung ich keinen Einfluß genommen habe? Klügere sehen sich vor — das Geschehene sieht auch ein Kindlein! —, an dieses Wort Homers will ich mich halten. Es wäre mir sicherlich von großem Nutzen, Einzelheiten über die politische Entwicklung in Athen zu erfahren, auch ist die Liebe zur alten Heimat in meinem Herzen nicht erlöscht. Sei versichert, mein Tiron, daß gleich mir ganz Massalia Bildseite rechts: o b e n : Altgrieclüsche Musikszene; Xyra und Kithara reichen in die kretisch-mykenische Zeit zurück; verschiedene Erzeugnisse der Vasenkunst; M i t t e : Homer, der von Sagen umgebene Urvater der europäischen Dichtung; die Opfer (rechtes Bild), die den Göttern dargebracht wurden, waren Reinigungs-, Sühne-, Dank- oder Bittopfer; u n t e n : Dionysos-Festzug.
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Anteil an den Geschicken unserer schönen Stadt Athen nimmt, in der wir die Mutter aller ionischen Kolonien erblicken." * Um die Verwirrung der politischen Zustände Athens, von denen der Kaufherr aus Massalia in seinem Briefe spricht, verstehen zu können, ist es notwendig, weiter in die Vergangenheit zurückzugreifen. Vor langer Zeit haben die lonier in der Küstenebene des Cephisus-Flusses die Stadt Athen erbaut. Von weitläufigen, sanften Gebirgszügen umkränzt, liegt sie in einer lieblichen Landschaft, überragt vom gelbweißen Felsenhaupt der Akropolis13. In der geschichtlichen Epoche, in der Dorion schreibt, ist Athen eine kleine Landstadt, deren Häuser- und Einwohnerzahl sich mit keiner der Hauptstädte Ägyptens, Syriens oder Mesopotamiens messen kann. Der Großteil der attischen Bevölkerung erwirbt seinen Lebensunterhalt als Bauern und Hirten in der nördlichen Landschaft Diacria. An der Landspitze Attikas, bei Kap Sunion, steigen die Berge höher an, die Bewohner dieses Gaues sind gezwungen, ihre Nahrung auf dem Meer zu suchen, das die Klippen und Buchten umbrandet; sie sind Fischer und Matrosen. Die kargen Berge bieten jedoch Ersatz für die mangelnden Äcker, denn sie führen Silberadern, die im Laurionmassiv14 abgebaut werden. Dieses Silber ist die nie versiegende Quelle attischen Reichtums. Aber die Silbergruben und die besten Äcker Diacriens befinden sich in den Händen weniger alteingesessener Adelsgeschlechter. Die Masse der Menschen, die auf dieser engen Halbinsel zusammengedrängt ist, lebt kärglich und wandert zum Teil in die Stadt ab, wo sie sich von Töpferei und anderem Handwerk mühsam nährt. Die Ausfuhrmöglichkeiten Athens sind beschränkt und ungünstig. Die athenischen Kaufleute müssen die Erzeugnisse der keramischen Industrie, die Silberwaren und Gewebe zu dem kleinen Naturhafen der Bucht, nach Phaleron verfrachten, um sie verschiffen zu können. Zudem liegt die Konkurrenz der handelsmächtigen und industrialisierten Dorer vor der attischen Haustür: die Insel Ägina, die Stadt Megara, und in günstiger Verkehrlage, zwischen 34
zwei Buchten und an der Bündelung von Straßen, das mächtige und kunstreiche Korinth. Alle diese Umstände, die Landschaft und Schicksal gleichermaßen über Athen verhängt haben, liegen wie ein steter Alpdruck auf seinen Menschen. Aber trotz aller Sorgen weht von See her ein Hauch von Freiheit und Weite über die Stadt; der Silberspiegel des Meeres,' der von der Höhe der Akropolis aus zu sehen ist, lockt in die Ferne, zu Entdeckung und Eroberung; der azurblaue, samtweiche Himmel, der die Landschaft wie ein hohes Zelt überspannt, ruft die Bewohner der schönen Stadt in die Bereiche der Künste und der Wissenschaften. * Nach hellenischer Art haben all die kleinen Inseln und Städte, die in der engen Umgrenzung des Meeres oder der Gebirge liegen, ihre eigene Geschichte, deren Ablauf freilich untereinander ähnlich ist. Wie auch andere Gemeinden, hat Athen in der Vorzeit unter Königen gelebt, die zugleich Richter, Priester und Führer im Kriege gewesen sind, doch ist ihre Macht schon lange vor dem endgültigen Sturz des Königtums auf die vornehmen Geschlechter übergegangen. Der letzte König Athens hat um das Jahr 800 seine Würde freiwillig in die Hände von vier Archonten, führenden Begierungsbeamten, den Häuptern der mächtigen Adelsfamilien, gelegt. Zuerst lassen sich die Archonten auf Lebensdauer, dann auf zehn Jahre wählen. Der wachsende Widerstand der Bürger begrenzt die Amtszeit schließlich auf ein einziges Jahr. Viel hat die Herabsetzung der Amtszeit am Zustand des Staatswesens nicht geändert, denn es bleiben doch immer dieselben Menschen und die gleichen aristokratischen Familien, die sich im Glänze der Macht sonnen. Die ausgeschiedenen Archonten ziehen sich auch keineswegs aus dem politischen Getriebe zurück, sondern treten in den Areopag, den Bat der Alten, und bilden die Staatsaufsichtsbehörde; sie kontrollieren also die Tätigkeit ihrer eigenen Brüder und Vettern. In zahlreichen Kleinstaaten zeichnet sich zur selben Zeit mit der zunehmenden Entfaltung des hellenischen 35
Charakters eine Weiterentwicklung des Adels ab, indem aus den großen Familien gewalttätige oder politisch ehrgeizige Einzelpersönlichkeiten erwachsen und den Versuch unternehmen, sich zu Tyrannen, zu Alleinherrschern, aufzuwerfen. So geschieht es auch in Athen, als sich der adelige Kylon erhebt und mit Waffengewalt die Vorherrschaft seiner Standesgenossen zu brechen versucht. Kylon hat keinen Erfolg; er unterliegt und wird mit seinen Freunden erschlagen. Der vereinigte Adel bleibt der Tyrann Athens. Die Kämpfe, die sich die anderen Adelsgeschlechter untereinander geliefert haben, geben den übrigen Schichten des Volkes Atem, sich nun auch für ihr Recht zu regen. In zwei Wellen drängt hinter dem waffengewaltigen Adel die Bürgerschaft nach und fordert Anteil an der Gestaltung des Staates. Da sind zunächst die durch Handel, Grundbesitz oder Anteil an den Bergwerken reich gewordenen Großbürger, die nicht länger schweigend dem Hader der Aristokratenfamilien zusehen wollen, einem Hader, der auch ihr Schicksal entscheidet. Schließlich wird unter den harten Schuldgesetzen, dem lastenden Steuer- und Zinsdruck auch die Unzufriedenheit der kleinbäuerlichen Bevölkerung, der Pächter, Hirten und Fischer immer spürbarer und bedroht allmählich die sichere Euhe der bisherigen Herren. Diese Umstände veranlassen die Adelsgeschlechter, ihrer Vorherrschaft eine bessere Grundlage als die der reinen Gewalt zu geben. Sie beauftragen einen der Ihren, Drakon, ein Gesetzeswerk zu schaffen, auf das sie sich mit mehr Recht als auf die Schwerter stützen können. Doch diese Gesetze des Adels werden mit Blut geschrieben. Hart wird jede Freiheit unterdrückt, nur der finanzkräftige Großbürger soll die politischen Grundrechte mit dem Adel teilen dürfen; wer eine teure Kriegsrüstung bezahlen kann, erwirbt zugleich mit dem Gewicht der Waffen die Vollbürgerrechte. Panzer, Helm und Schild eines Schwerbewaffneten — des Hopliten — kosten genau so viel wie ein kleines Bauerngut. Auf diese Weise stehen zwei Drittel aller Grundeigentümer, vor allem aber die Handwerker, Seeleute und Kleinbauern, außerhalb des enggezogenen Kreises der Bürgerschaft. Eine Klasse, zu der sich Adel und Groß36
bürgertum zusammengeschlossen haben, beherrscht den Staat, und im Sinne dieser Herrenschicht sind die Gesetze abgefaßt. Der Bund der Großbürger mit dem Adel ruht auf dem Reichtum als gemeinsamem Fundament. Was der Adel mit dem Schwert an sich gerissen, hat der reich gewordene Bürger durch Finanzgeschäfte erbeutet. Für ein Darlehen gelten 25—30 Prozent Zins als üblich. Wird aber auf das Haus eines Töpfers oder Silberschmiedes, auf den dürftigen Acker eines Bauern als Zeichen der Belehnung der „Hypothekenstein" gesetzt, so ist das ein fast sicheres Zeichen bevorstehenden Besitzwechsels. Vermag ein säumiger Schuldner seine Verpflichtungen nicht durch Hingabe des gesamten Eigentums zu erfüllen, so verfällt er selber samt Weib und Kind dem Anspruch des Gläubigers und kann, nun mit seinem Leibe haftend, als Sklave verkauft werden. Die einzige Möglichkeit, unter derartigen Gesetzen zu existieren, ist unablässige Arbeit. Aber selbst größter Fleiß kann den Töpfern, Matrosen und Bauern bald nicht mehr ihr bescheidenes Dasein garantieren; denn zu den inneren Spannungen treten in zunehmendem Maße die Schwierigkeiten des Staates im wirtschaftlichen Wettbewerb mit den umliegenden Gemeinwesen. Als damals in alten Tagen die Dorer aus Nordgriechenland nach Süden vorgestoßen waren, hatten sie die ionische Bevölkerung in die Enge der Halbinsel Attika gepreßt und waren selber auf dem weiten Bogen, der von Megara bis Troezen die Saronische Bucht in der Nähe von Athen südlich umgrenzt, sitzen geblieben. Rivalität und Stammeshaß schwelten seitdem zwischen Dorern und Ioniern. Mit dem Aufblühen des weit ausgreifenden Handels wandelte sich die alte Voreingenommenheit der kriegerischen Bauern zum Machtkampf der Kaufleute. Die dorischen Städte Megara und Ägina versuchten, den zum Meere drängenden Handel der Athener zu unterbinden und ihre Industrie von den Märkten zu verdrängen, sie legten auf gewisse Waren Einfuhrsteuern und verlangten das Monopol für den Handel mit den berühmten korinthischen Vasen und Schalen. Die arbeitende Bevölkerung Attikas sah sich in einer doppelten Gefahr. Die ungünstige Lage zum Meer, das Fehlen eines Hafens und die Feindseligkeit der Dorer 37
drohten den eigenen Export zu erdrosseln; Habgier und Eigennutz der Geschlechter machten zudem die Lage im Innern immer unerträglicher. Da den Adels- und den reichen Handelshäusern nunmehr der Großteil des Bodens gehörte, ließen sie ohne Rücksicht auf den Inlandsbedarf die karge Ernte auf den teuersten auswärtigen Märkten verkaufen oder sie zwangen die Armen, das heimische Getreide zu übersteigerten Preisen abzunehmen. Woher aber sollte das Geld kommen, wenn nicht durch umfangreichen und billigen Export! Das stete Anwachsen der Bevölkerung ließ nur noch die Wahl, Außenhandel zu treiben oder zu verelenden. An der Pforte zum offenen Meere, dicht vor den Toren Athens, aber saßen die neidischen und wachsamen Nebenbuhler Ägina und Megara, u n d ihre Insel Salamis lag wie ein Wachhund vor dem athenischen Ausschlupf. Der Kreis schien tödlich geschlossen. Etwa ein halbes Jahr, nachdem Dorion aus Massalia an seinen Freund Tiron geschrieben hatte, lief ein schwerbeladenes Frachtschiff der Firma Tiron in den Löwengolf ein und steuerte die Hafeneinfahrt von Massalia an. Als das große Segel niedergeholt war und das Schiff mit schweren Trossen am Kai festgemacht hatte, ging der Beauftragte des Athener Handelshauses zum Kaufhof Dorion und überbrachte dem Handelsherrn zusammen mit der Warenliste des eingelaufenen Schiffes ein persönliches Schreiben seines Patrons. In dem Brief sprach Tiron nach einigen einleitenden Sätzen der Freude über die wiederangeknüpften Beziehungen von den politischen Vorgängen in der alten Heimatstadt. „Seit deiner Abfahrt aus Athen, mein Dorion, haben sich die Verhältnisse immer mehr zugespitzt. Die Preise stiegen, die Verschuldung wuchs, und der Übermut des Adels wurde nicht geringer. Die verzweifelten Handwerker und die enteigneten Landleute drängten zum Umsturz. Verzeih die harten Worte gegen den Adel, lieber Freund, ich weiß, daß du selber aus ehrwürdigem Geschlecht geboren bist und der Adelspartei nahestehst! Aber du wirst dich auch daran erinnern, daß ich stets — obschon ich mich heute zu der wohl38
habenden Klasse der Bürger rechnen darf — für die Rechte der Armen eingetreten bin und eine demokratische Verwaltung wünsche. Da wir uns früher stets gut verstanden, obschon wir verschiedene politische Auffassungen hatten, hoffe ich dies auch für die Zukunft. Ich schlage vor, wir bleiben bei unserer Freimütigkeit, alles so zu sagen, wie es unserer Überzeugung entspricht, und die ehrliche Meinung des Gesprächspartners zu achten. Nun laß mich fortfahren! Sicherlich ist von den Ereignissen der letzten Zeit soviel Kunde zu dir nach Massalia gedrungen, daß du von der Einnahme der vor Athen liegenden Insel Salamis durch unsere Truppen gehört hast.Das Hauptverdienst am siegreichen Ausgang des Krieges gebührt Solon, einem der klügsten und untadeligsten Männer, die in unserer Stadt jemals gelebt haben. Er entstammt einem uralten, adeligen Geschlecht, das aber verarmt ist und daher nicht mehr viel Einfluß besitzt. In jüngeren Jahren hat Solon große Reisen gemacht; man erzählt sich, er habe mit dem weisen Thaies zusammen in Ägypten studiert. Die Blicke seiner Mitbürger lenkte er zuerst auf sich, als er den Krieg um Salamis im Augenblick des verzweifelten Verzichts zu neuem Feuer entfachte. Nach dem unglücklichen Verlauf der ersten Kämpfe um die Insel war es bei Todesstrafe verboten worden, über die Salamis-Megara-Frage weiterhin öffentliche Reden zu halten. Da geschah es, daß der fünfunddreißigj ährige Solon eines Tages den Stein der Ausrufer am Marktplatz bestieg und ein flammendes Gedicht vortrug: seine Elegie über Salamis! Damit ihn aber niemand antasten konnte, stellte er sich wahnsinnig und gebärdete sich, als spräche ein Dämon aus ihm. Aufpeitschend klangen uns die Verse ins Ohr: „Auf gen Salamis! Laßt um die köstliche Insel uns kämpfen! Denn von uns zu schütteln die drückende Schmach ist es Zeit." Tatsächlich wurde der Krieg bald darauf neu begonnen und endete mit der glücklichen Einnahme der Insel. Die störende Sperre für den athenischen 39
Seehandel war beseitigt. Seither hatte Solon großen Einfluß im Eate der Stadt. Als die Unzufriedenheit der Massen und der Übermut des Adels (vergib meine Offenheit!) immer mehr anwuchsen und ein allgemeiner Bürgerkrieg bevorzustehenschien,schlugSolonvor,dieBürgerschaft sollte eine völlige Neuordnung des Zusammenlebens vornehmen. Die Volksversammlung folgte dem Rufe, übertrug Solon als erstem Archonten die Führung der Staatsgeschäfte und die Aufgabe der Erneuerung der gesellschaftlichen Zustände. Die aufrüttelnden Verse, die Solon bei seiner Amtsübernahme zum Volk von Athen sprach, sind indessen mahnendes und forderndes Allgemeingut der Stadt geworden. Ich will dir eine Probe davon aufschreiben: ,Also wandert von Haus zu Haus das gemeinsame Übel; Auch das verrammelte Tor hält's deiner Wohnung nicht fern, Über die hohe Mauer klettert's und dringt ins Inn're, Magst du auch selbst vor Angst flüchten ins tiefste Versteck. Daran befahl mir mein Herz euch zu mahnen, o Volk der Athener! Gesetzloser Zustand beschwert endlos unsere Stadt. Gutes Gesetz aber schafft Ordnung und Heil für jegliches Tun, Und dem Gesetzlosen legt zügelnde Fesseln es an, Trotziges mildert, Gelüste beschwichtigt und Übermut dämpft es. Eh' noch es aufwächst, vertilgt wird das Verhängnis im Keim. Recht, das gebeugt war, richtet es grad, und von Leidenschaft tolle Herzen besänftigt es rasch. Aufruhr zwingt es in die Knie, Streites unreine Gluten erstickt es. Auf das Gesetz nur Gründet das Gute der Mensch, baut er Beständiges auf!' 40
Hörst du, mein Dorion, die Kunde aus Griechenland? Jene Botschaft einer vielleicht schöneren Zeit, in der der Mensch frei und würdig zu leben berufen sein wird: ,Auf das Gesetz gründet das Gute der Mensch!' — auf das vom freien Volke beschlossene Gesetz, dem sich alle zu beugen haben. Wir sind keine Ägypter und Assyrer, die vor einem Großkönig im Staube liegen, wir haben nichts gemein mit den Barbaren des Nordens und Westens, die in Unwissenheit und Aberglauben unter dem Zwang ihrer Könige ein Sklavenleben führen. Es war wie ein neues Beginnen, der Anfang zu bewußterer und stolzerer Gemeinschaft, als Solon das Volk vom Rande des Bürgerkrieges zurückriß. Das Gesetz, auf dessen unparteiischer und erhabener Größe der Staat ruhen sollte, galt auch für die unterlegene Partei. Solon lehrte uns, daß wir nur dann auf das Recht bauen könnten, wenn wir bereit wären, es auch unseren besiegten Feinden zuzubilligen. In den Tagen des Aufstandes hatten sich einige der Rebellen auf die Akropolis, an den Altar der Pallas Athene, geflüchtet, waren aber entgegen menschlichem und göttlichem Brauch von ihren haßerfüllten Feinden gemordet worden. Diese Blutschuld wurde nun von der Stadt gewaschen, damit das Gesetz seinen Einzug in Reinheit und Makellosigkeit halten konnte. Der große Magier Epimenides von Kreta erschien, und das gesamte Volk unterwarf sich seinen Bußübungen und Weihen. Dann versammelten sich die Bürger zu nächtlichen Fackelzügen, Weihetänzen und Chorgesängen. Die Eingeweihten feierten ihre geheimnisvollen Mysterien, von denen aber keiner spricht, und so will auch ich um der Heiligkeit des Gegenstandes willen schweigen. Unsere Altäre wurden neu geweiht, und das Vertrauen in den Schutz der beleidigten Götter kehrte kraftvoll zurück. In diesen Tagen, da jeder von gutem Willen erfüllt war, erließ Solon seine ersten Verordnungen. Zunächst verbot er die Kornausfuhr, die ein Verbrechen an der Gemeinschaft war. Dann untersagte 41
er die Scbuldsklaverei und veranlaßte, daß die in Leibeigenschaft verkauften Bürger auf Staatskosten befreit wurden. Um aber solche Mißstände für die Zukunft zu verhindern, senkte er durch Staatserlaß sämtliche Schuldenlasten um ein Drittel, begrenzte den Umfang des privaten Grundbesitzes und ordnete das Münzwesen neu. Gerade diese Maßnahme wird dich als Kaufmann besonders interessieren. Wir haben ja bisher mit den Münzen gerechnet, die aus Kleinasien oder Ägina zu uns kamen. Seit einigen Jahren schlägt nun der Tyrann von Sardes neue Münzen aus reinem Gold und reinem Silber; dies Verfahren übernahm Solon, und seit kurzem prägt auch Athen aus dem Silber des Laurion wunderschöne dicke Minen- und Drachmenstücke. Über die neue Verfasung, die Solon dem Staate geschenkt hat, werde ich bei anderer Gelegenheit sprechen. Für heute genug mit den Neuigkeiten! Eines muß ich noch sagen: So Großes Solon für uns getan hat, fürchten doch viele, daß sich an ihm bald erfüllen wird, was er kürzlich schrieb: ,Mußt nur wahrhaft Großes wollen, Wenig werden Dank dir zollen!' Denn obschon die Bürgerschaft ihn bewundert, der Adel ihn als Oberhaupt anerkennt und die armen Leute ihn verehren, gibt es doch Menschen, die ihn hassen. Solon hat sich übrigens über sein eigenes Werk seltsam geäußert. Man erzählt sich, daß ihn vor einigen Wochen ein Ratsmann gefragt habe, was die Gesetze in Wahrheit'seien. Solon soll zur Antwort gegeben haben: ,Ein Spinnennetz, in''dem sich die kleinen Mücken fangen, während die großen die Fäden zerreißen...'"
Das Lastschiff aus Athen, das diesen Brief nach Massalia brachte, bleibt nicht das einzige. Die Geschäftsverbindung kommt in Gang, und schon ? glauben die beiden Kaufleute, die Zukunft gewonnen zu haben, als die fortdauernden Feindseligkeiten im Westmeer die Fäden zerreißen. Ein Schiff Tirons wird von etruskischen Piraten 42
gekapert, einige über diesen Vorfall gewechselte Briefe erreichen aus unbekannten Ursachen nicht ihr Ziel, und längere Zeit ist Schweigen zwischen der entfernten Kolonie und dem hellenischen Mutterland. Dann aber kommt unversehens mit einem Segler, der aus Syrakus sizilischen Schwefel nach Salamis bringt, ein langes Schreiben Dorions an Tiron von Athen. „Verzeih, mein Tiron, die lange Frist, die ich verstreichen ließ, ehe ich daran denken konnte, die abgebrochene Beziehung wieder zu erneuern. Zu meiner Entschuldigung nenne ich neben dem Übermaß von öffentlichen und privaten Geschäften vor allem auch jene Ereignisse, die zum Verlust deines wertvollen Schiffes geführt haben; kurz, es ist in der Zwischenzeit allerhand geschehen, was meine ganze Zeit in Anspruch genommen hat. Die Feindschaft zwischen uns und den phönikischen Händlern, von der ich schon in einem früheren Briefe sprach, hat sich fast bis zum offenen Kriege verschärft. Die etruskischen Piraten nehmen lebhaften Anteil an der Politik der brutalen Heimtücke, die man gegen unseren Handel anwendet. Du selbst hast es ja bei: der Kaperung deines Seglers erfahren! Seit die phönikischen Mutterstädte, Sidon und Tyrus, in den Machtkreis des Neubabylonischen Reiches unter Nebukadnezar 15 geraten sind, hat die westliche Phönikerstadt Karthago mehr und mehr die Führung der Kette von Niederlassungen an sich gerissen, die sich von Sizilien bis zu den Säulen des Herkules 16 dehnt. Die altphönikischen Gemeinden auf Malta, in Westsizilien und auf den Baleareninseln stehen nun ganz unter karthagischer Vormundschaft. Wie du vermutlich durch deine sizilischen Geschäftsfreunde weißt, arbeitet man zur Zeit fieberhaft an der Befestigung der Hafenstädte Lilybäon, Drepana und Panormus auf Sizilien, jener alten phönikischen Stützpunkte, die ihre Front nur allzu offen gegen den Ostteil Siziliens kehren, wo Syrakus, Akragas und Gela, die hellenischen Konkurrenzstädte, liegen. Wir Bürger Massalias, die so oft das Netz der karthagischen Spinne berühren, haben schwer unter Seekämpfen mit phönikischen und etruskischen Handels43
störern zu leiden. Unser Geschäft wurde dadurch empfindlich getroffen. Nun ist zwar ein Vertrag geschlossen, aber ich glaube nicht an seine Dauerhaftigkeit und nicht an seine beruhigende Wirkung. Beide Parteien haben sich eine Frist vor der unvermeidlichen Auseinandersetzung erkauft. Wir mußten zugestehen, daß die Ligurische Küste, die Baleareninseln und eine Linie vom Vorgebirge der Artemis nach Norden unseren Wirtschaftsraum begrenzten. Das ist sehr bitter, wenn man daran denkt, welch riesige und reiche Märkte damit dem karthagischen Monopol vorbehalten sind: die Küsten der spanischen Halbinsel, ganz Afrika, Korsika, Sardinien und das Land Etrurien in Mittelitalien. Auch innerhalb unserer Stadtmauern herrscht Unfrieden. Die Parteikämpfe zwischen Adel und Volk haben sich verschärft. Ständig lauert die Gefahr einer Tyrannis über uns. Wie kürzlich in Syrakus und Akragas die Führer des Adels versucht haben, die Alleinherrschaft an sich zu reißen, so stehen auch hier einige der mächtigsten und einflußreichsten Geschlechter auf dem Sprung, sich in den Sattel zu setzen. Ich bin zwar selber der festen Überzeugung, daß die durch Besitz in erhöhtem Maße am Staate interessierten und durch Tradition zum Herrschen berufenen Familien über die Menge unverständigen und kurzsichtigen Volkes regieren sollen, aber die Tyrannis widerstrebt sowohl meiner Meinung über die persönliche Freiheit des Bürgers wie auch all dem, was ich geschäftlich wünschen könnte. Da man mich als vernünftigen und nicht unbegüterten Mann kennt, wurde ich bei der letzten Wahl in den Rat gewählt. Ich gehöre nun zu dem Ausschuß der drei führenden Männer Massalias. Inmitten dieses Wustes von Sorgen, Aufregungen und neuen Plänen fiel mir vor wenigen Tagen dein Brief über Solon wieder in die Hände. Es war wie ein Wink der Götter, ich las ihn noch einmal mit Aufmerksamkeit und empfand — durch die veränderten Verhältnisse bewegt — das lebhafteste Bedürfnis, Genaueres über die vielgepriesene Solonische Staatsverfassung zu hören. Denn auch wir planen eine 44
gründliche Eeform unserer Gesetzgebung, wobei ich in eingehender Kenntnis der athenischen Verhältnisse mitwirken möchte." In dem Antwortbriefe des Tiron stand zu lesen: „Zuerst die geschäftlichen Dinge, mein guter Freund! Der Verlust meines Dreiruderers ,Arethusa' hat mich selbstverständlich hart betroffen, war das Schiff doch seine 64 Minen wert, die Ladung ungerechnet. Den Göttern sei Dank, daß ich nur ein Drittel der Fracht auf eigene Eechnung stehen hatte, der Rest gehörte anderen Kaufleuten, die den Schaden mit mir teilen. Ich hatte den Frachtvertrag durch einen Sachwalter schriftlich aufsetzen lassen, andernfalls käme ich wohl aus dem Prozessieren nicht heraus! So aber brauche ich nur meinen eigenen Schaden zu verschmerzen und nicht auch noch den fremder Geschäftsleute. Ich will dir auch erklären, wie ich wieder in die Lage kam, eine neue Massaliafahrt — wenn auch auf fremdem Schiff — zu unternehmen. Ich erfuhr, daß der reiche Apollotempel zu Delos von seinen Tempelschätzen Darlehen vergibt und fuhr zur Insel hinüber. Der Vertrag, in dem ich mich auf genaue Reiseroute, Art und Gewicht der Ladung festlegen mußte, kam zustande. Der Tempel leiht mir für die Beschickung des Marktes von Massalia ein Talent, wobei freilich wegen des weiten und gefahrvollen Weges, der zunehmenden Seeräuberei und der Kriegsgefahr der Zinsfuß 30 Prozent beträgt. Ich hoffe, mein lieber Dorion, daß du mir sowohl in der Bezahlung meiner Güter wie auch beim Einkauf verständnisvoll entgegenkommst. Das übrige wird dir mein Agent erzählen. Und nun zu deinem letzten Schreiben! Ich freue mich, dich im Rate von Massalia zu wissen und werde dir gern die Grundzüge der Solonischen Verfassung darlegen. Laß mich einige Verse des großen Staatsmannes vorausschicken: ,Soviel Teil an der Macht, als billig ist, gab ich dem Volke, Nahm an Berechtigung nichts, noch gewährt' ich zu viel. 4:5
Auch sorgt' ich für die Gewaltigen und reicher Begüterten, Daß man Anseh'n nicht schädige wider Gebühr. Also stand ich mit mächtigem Schilde und schützte sie beide, Doch vor beiden zugleich — schützt' ich das heilige Recht.' Ja, mein Dorion, vor beiden zugleich hat Solon das heilige Recht geschützt! Sein Grundgedanke beim Bau der neuen Verfassung war, daß Rechte Pflichten voraussetzen. Ein Adeliger, der mit seinem großen Vermögen bedeutende Steuern bezahlt und somit einen gewichtigen Beitrag zum öffentlichen Haushalt leistet — so erklärte Solon —, sollte auch mehr Anteil an den politischen Ämtern haben als etwa ein Töpfergeselle, der viel lockerer an die Stadt gebunden ist. Dieser vermag sein gesamtes Hab und Gut in Bündel zu schnüren, seine Töpferscheibe unter den Arm zu nehmen und auszuwandern, er wird bald eine andere Heimat gefunden haben. Der Haus- und Landbesitzende jedoch ist unlösbar s im Staat verwurzelt. Aus solcher Erwägung hat Solon die Bürger nach dem jährlichen Ertrag ihrer Vermögen in vier Klassen eingeteilt. Die Einschätzung wird von Staats wegen vorgenommen und auf einen Vergleichswert in Scheffeln Getreide umgerechnet. Die ,Fünfhundert-Scheffelmänner' können die höchsten Staatsämter bekleiden, im Kriegsfalle dienen sie als Ritter; die d r e i hundert-Scheffelmänner' stehen der ersten Klasse bis auf nur wenige nebensächliche Unterschiede gleich; die ,Zweihundert-Scheffelmänner' besetzen die mittleren und unteren Ämter und dienen in selbstbeschaffter Panzerrüstung; die ,Thetes' — die Lohnarbeiter — bleiben steuerfrei und leisten dem Staate ihren Beitrag als Ruderer und Leichtbewaffnete. Sie nehmen zwar an den Volksversammlungen teil und dürfen ihre Stimme abgeben, sind aber selbst nicht wählbar. Künftig soll jeder Athener, der von freigeborenen Eltern abstammt, das Vollbürgerrecht nach Maßgabe der vier Klassen haben. 46
Die drei höchsten Staatsämter der bisherigen Ordnung sind erhalten geblieben. Der Archon führt auf ein Jahr die Regierung, der Basileus — der Opferkönig — vertritt das Volk gegenüber den ewigen Mächten, leitet die Festspiele und übt den Blutbann. Der Polemarch 17 spricht im Gerichtsgebäude Recht, ihm stehen wegen der großen Zahl der Bürgerschaft sechs Hilfsrichter zur Seite. Eine vollendete Ordnung, möchte man meinen! Aber leider enttäuschte sie alle Parteien. Die menschliche Maßlosigkeit kam zum Vorschein. Die Niederen hatten sich mehr Rechte erhofft, die Adeligen klagten über die Zugeständnisse ans Volk; die Bauern seufzten trotz Zinssenkung und Schuldennachlaß noch immer unter der Last der Hypotheken; die Handwerker wollten nicht nur wählen, sondern sie wünschten auch gewählt zu werden, und die Kaufleute und Großgrundbesitzer verlangten mehr Vorrechte vor den Besitzlosen und waren zudem untereinander uneins. Mit vollem Recht hat Solon nach Stiftung der neuen Ordnung vor der Volksversammlung erklärt: ,Ich hab's vollendet, wie ich's damals euch versprach. Gesetze schrieb ich euch, gerechte, welche klar bestimmen, was in Gutem und in Bösem Recht. Doch hätt' ein andrer Mann, ein Lump, der Frevel sinnt und giert nach Gut, statt meiner euch geführt : der hätt' das Volk in Zaum nicht halten können... Nach allen Seiten mußt ich wehren, schützen, droh'n, und wie ein Wolf, den Hunde hetzen, wandt' ich mich.' Mich dauert Solon! Er überragt alle anderen Männer im Staate und ist doch überall von Unvollkommenheit umgeben, mit der er sich herumschlagen muß. Er ahnt wohl selbst den Untergang seines großartigen Werkes. 47
Im Kriege gegen Megara tat sich ein junger, reicher Adeliger namens Pisistratos, ein Vetter SoIons, durch Umsicht und Tapferkeit hervor. Die Volksmenge, besonders die Gebirgsbauern der Gegend, in der die Güter des Pisistratos liegen, umjubelten den Helden und trugen ihn wie ein Götterbild auf den Schultern. Solon warnte vor solchem Überschwang und sagte, es sei in einem Staate für die Freiheit aller nicht gut, wenn ein einzelner vergöttert werde. Bei einem Pisistratos zu Ehren veranstalteten Gastmahl sprach er zu dem Volksliebling gewandt die unmißverständlichen Verse: ,Oft schon rissen gewaltige Männer den Staat in den Abgrund, Knechtschaft bringt der Tyrann leicht dem törichten Volk. Läßt man zu sehr ihn erstarken, ist's hinterher schwer, ihn zu halten: Klug ist, wer vorher bedenkt, was er tut.' Bald danach gab der große Bürger persönlich das Beispiel des Verzichts. Er, dem jedes Machtstreben fern lag, empfand, daß seine Übermacht die freie Entwicklung des politischen Lebens erdrückte. So verließ er Athen und ging in die Fremde..." * Eegelmäßig wechselten in den folgenden Jahren die Briefe zwischen Athen und Massalia. Fest und unzerreißbar war das Band zwischen der Mutterstadt und der Hellenen-Kolonie im fernen Westen. In dem letzten Schreiben, das Dorion erst erhielt, als der Freund in Athen bereits den dunklen Weg zum Hades gegangen war, hielt Tiron noch einmal schmerzliche Überschau über die Enttäuschungen seines Lebensausklangs. „Alter Freund! Nun ist doch alles anders gekommen, als wir in jüngeren Jahren erwarteten und als wir es als freiheitsliebende Männer hofften. Ach, wenn ich an diese Entwicklung zurückdenke! Die alten Parteistreitigkeiten und der Kampf um Salamis, die Feindschaft mit Megara loderten wieder auf, Kriegsgeschrei erfüllte all diese Jahre, bis end48
lieh das Gemeinwesen in größte Gefahr geraten war. Da übertrug die Volksversammlung — uneingedenk des Kates, den der weise Solon einst gegeben hatte —, alle Machtmittel des Staates dem Feuerkopf Pisistratos. Ja, Dorion, wir haben Megara geschlagen! Wir haben Salamis wiedergewonnen! Sieggekrönt sind unsere Soldaten zur Akropolis gezogen und haben vor den Altären den Hymnus der Freude gesungen... Aber die alte Bürgerfreiheit ist dahin, und Pisistratos ist seither Tyrann18. Zuerst schuf er sich, auf die Ergebenheit seiner Gebirgsbauern gestützt, eine Leibwache und erlangte endlich unter allerlei Vorwänden die Alleinherrschaft. Freilich regiert er mit Mäßigung und Klugheit, ist auch nicht unbeliebt, aber es lastet doch schwer auf allen politisch Denkenden, sich des Anteils an der Führung der öffentlichen Geschäfte beraubt zu sehen. Auch fürchten viele, daß der gute Tyrann das unwiderstehliche Machtinstrument, das er geschaffen hat, dereinst in weniger würdige Hände weitergeben könnte, und wer schützt uns dann vor dem schlechten Tyrannen! Die von Solon geschaffenen Schranken der Staatsgewalt sind gefallen, der Wille und die Meinung eines einzelnen entscheiden. Wie groß aber war Solon! Ohnmächtig gegenüber dem Staatsstreich, trat er dennoch um der Heimat willen an die Seite des Tyrannen, ihn wenigstens zu beraten und zu zügeln. Doch wie bald haben wir den Weisen verloren! Nach seinem Wunsche wurde er verbrannt und seine Asche über die Insel Salamis, um die er so heiß gekämpft hatte, verstreut. Uns Männern der Volkspartei war es, als verwehten unsere Hoffnungen mit dem Winde von Salamis. Ach, Dorion, Freund und Begleiter auf dem dunklen Pfade des Daseins, wohin treibt es uns? Wir planen, arbeiten und schaffen, aber das blind waltende Schicksal wirft uns die Lose; sagt man doch, daß selbst die olympischen Götter sich vor dem Schicksal fürchten, dem sie ohnmächtig unterliegen. Was aber wollen wir Sterblichen von der Zukunft erhoffen? 49
Nun sind wir reich geworden, unser Handel hat uns Geld, Häuser und schönbemalte Schiffe gebracht, aber wir haben alles mit den dahinschmelzenden Jahrzehnten unseres Daseins bezahlt. Wir sind alt und wissen das gähnende Tor der Unterwelt vor uns. Du weißt, daß ich seit langem Hörer des Pythagoreischen Bundes bin. In Geheimnissen suche ich den Trost, den weder das Dasein noch der Gedanke an die olympischen Götter zu geben vermögen. Laß mich mit dem nachdenklichen Vers eines unserer Dichter schließen, er möge auch für unseren, sich zum Abend neigenden Lebenstag gelten: ,Lasse den Schlaf dir nie auf die Lider der Augen sich senken, Eh du im Geist dreimal das Erlebte des Tages gemustert: Was ist geleistet? Wo hab ich gefehlt? Was hab ich versäumet? Gehe vom Ersten zum Letzten es durch mit prüfendem Ernste; Findest du Schlechtes, erschrick; des geleisteten Gutes erfreu dich!' "
* Die Entwicklung der Staatsformen zur Tyrannei erfaßt die ganze hellenische Welt. In Korinth herrscht Perianders Sohn, in Sikyon Kleisthenes, auch auf den Inseln haben Alleinherrscher die Macht. Auf Samos macht sich Polykrates zum Tyrannen. Viele Familien, die sich der drückenden Herrschaft des Diktators nicht fügen wollen, verlassen die alte Heimat und wandern nach Süditalien aus. Unter diesen Emigranten ist auch der Philosoph Pythagoras. Im Osten jener gärenden und ringenden Hellenenstaaten steigt eben in diesen Jahrzehnten die gewaltigste aller Tyranneien wie geballtes Gewölk empor. Ein neuer asiatischer Großstaat nähert sich erobernd den Grenzen des hellenischen Lebensraumes: die Perser des Königs Cyrus 1 9 sind aufgebrochen. Die Botschaften aus dem Westen des Meeres lassen erkennen, daß dort ebenfalls die Mauern der Feindschaft höher wachsen. Massalia meldet neue Kämpfe mit Etruskern und Karthagern. 50
Als die Einwohner des kleinasiatischen Phokäa versuchen, am dünnbesiedelten Strande der Insel Korsika eine neue Kolonie zu gründen, erliegen sie trotz der Unterstützung durch Massalia dem phönikischen Haß. Die mächtigen Herren der afrikanischen Hauptstadt Karthago erklären das westliche Mittelmeer als „geschlossenes Meer", zu dem keine fremde Macht Zutritt haben sollte. Und doch lebt unter dem sich langsam verdüsternden Himmel ein Geschlecht, das zu sehr der Gegenwart verhaftet ist, als daß es in Sorgen um die Zukunft versunken wäre. Auch in den von Tyrannen beherrschten Städten und angesichts der von West und Ost gleichermaßen nahenden Gefahr treibt der bunte Daseinsstrom des Hellenenvolkes in unerhörter Lebendigkeit dahin. _ Der ausgedehnte Handel bringt immer noch goldenen Überfluß, so daß in den Häusern der Vornehmen der Luxus überhandnimmt und die Hallen von Flötenspiel und Gesang widerhallen. Weder die dunklen Geheimlehren noch die Warnungen der Staatsmänner können die Gegenwartsfreude dieses Geschlechts zerstören. So sagen die Tarentiner von sich: „Die anderen Menschen mögen durch Fleiß und andauernde Arbeit erreichen, daß sie die Mittel für ihr künftiges Leben erwerben. Wir Tarentiner aber, die wir beständig heben und alle Freuden des Daseins genießen, wir wollen nicht erst künftig leben: wir leben bereits jetzt."20 Besonders hoch schätzt man Wohlleben und Üppigkeit in Kleinasien. „In ihrer luxuriösen Lebensweise legten die Lyder großartige Gärten an, in deren kühlen Schatten sie ein Schlemmerleben führten. Sie hielten es für angenehmer, von den Sonnenstrahlen überhaupt nicht getroffen zu werden, und feierten tagelang in den Hainen, in lockerer Gesellschaft, der Wein floß in Strömen, und es fehlten keinerlei Genüsse.. .21 Überall finden sich gleichgesinnte Menschen zusammen, die als besten Lebensinhalt den Genuß des köstlichen Augenblicks erkennen. Bei ausgedehnten Gastereien, trinkend, von Musik umschmeichelt, geben sie sich dem schönen „enteilenden Tage" hin. Möge die Zukunft bringen, was sie will, das Heute gehört dem, der es festhält. 51
Das sind die Tage, von denen der kleinasiatische Dichter Anakreon singt: „Den Pokal, mein Junge! Gib mir einen Trunk! Doch heute gieße Wasser zehnfach in den Mischkrug, von dem Wein dazu nur fünfmal, denn nicht roh und nicht zu dreist will ich im Bausch des Zechens schwärmen. Ei, so laßt uns heute nicht mehr mit Geschrei und wüstem Johlen ein Gelag beim Weine halten wie Barbaren! Nur behaglich Trinken wir bei schönen Liedern..." * Etwa um die Zeit, als Solon die Athener zu erneuter Kriegsanstrengung gegen die Insel Salamis aufrief, hörten die Hellenen vom Untergang des Weltreiches Assyrien. Das Ereignis spielte sich weit im Osten, beinahe am Rande der übersehbaren Welt, in Ländern ab, wohin nur selten ein Grieche verschlagen wurde und von denen man daher keine klare Vorstellung besaß. Die griechischen Lebensinteressen wurden durch diese Machtverlagerung zunächst nicht berührt. Griechische Schiffe kreuzten weiterhin durch die Meere, und Kolonisten zogen aus, ihre Städte „wie einen an barbarische Küsten angewebten Saum" zu gründen. Von den weiten Gebieten, die sich hinter den Hafenstädten der Fremde dehnten, drangen meist nur phantastische Gerüchte herüber. So kam die Kunde vom Sturz des großen und für die Völker Asiens so schrecklichen Assyrerreiches nur wie der Nachhall fernen Donners zu den Ohren der Hellenen. Kaufleute und Matrosen, die nach Ägypten, Phönikien oder zu den Kolonien am Kaukasus fuhren, brachten verworrene Berichte über das, was sich im Lande am Euphrat und Tigris abspielte; sie nannten dabei den Namen der kriegerischen Meder. Dieses wilde Bergvolk aus dem westiranischen Hochland habe den tödlichen Streich gegen die assyrische Wunderstadt Ninive geführt und den Babyloniern Nebukadnezars zur Herrschaft verholfen. Die Meder hatten von den iranischen Gebirgen aus ihren Machtbereich nach Osten fast bis zum Indusstrom 52
ausgedehnt; im Westen griffen sie weit nach Kleinasien vor. Der Name ihrer Hauptstadt Ekbatana, einer Großstadt mit starken Ringmauern und prunkvollen Palästen, ging wie der eines Wunders durch die Welt. Bald tauchten medische Unterhändler auch in Kleinasien auf, es waren Männer in weiten, faltigen Gewändern, die ihre Barte nach assyrischer Weise gesalbt und zu länglichen Vierecken gestutzt trugen. Sie überraschten durch ihre gründliche Bildung. Aber den Unterhändlern folgten rasch die Truppen, es kam zum Kriege zwischen Medien und Lydien. Das blühende Reich Lydien lag schon im Vorhof der Hellenen und war ein Teil ihrer eigenen Welt. Es grenzte an die kleinasiatischen Griechenkolonien und umfaßte das ausgedehnte Land zwischen Mittelmeer, Ägäis, Schwarzem Meer und dem Halys-Fluß. Lydien unterhielt rege Wirtschaftsbeziehungen zu den großen griechischen Handelsstädten, und überall im Lande begegnete man Hellenen. Am Hofe des Lyderkönigs zu Sardes spielten die griechischen Berater, Ingenieure, Kaufleute und Baumeister eine bedeutende Rolle. Thaies von Milet hatte längere Zeit als Freund des Königs dort gelebt. Nicht anders war es am Ufer des Schwarzen Meeres, wo sich mehr als ein Dutzend hellenischer Hafenstädte in lydisches Hoheitsgebiet einschoben. Deshalb geriet ganz Griechenland in Bewegung, als die Lyder in dem medischen Kriege unterlagen und alle östlich des Halys-Flusses gelegenen Besitzungen verloren; bedeutete doch das Schicksal der Freunde Gefahr und Bedrohung des altgewohnten Lebensraumes. Durch die hellenische Welt ging ein befreiendes Aufatmen, als wenige Jahrzehnte nach dem Unglück der Lyder die bedeutsame Kunde aus dem Osten kam, daß Medien nun seinerseits das Opfer der Perser geworden war. Die Perser lebten seit uralten Tagen in viele Stämme aufgesplittert in den westlichen Gebirgsketten des iranischen Hochlandes, besonders in der Landschaft Persis südöstlich der Mündungen von Euphrat und Tigris. Als sie die geschichtliche Bühne betraten, waren sie längst keine Barbarenhorden mehr. Die Jahrhunderte hatten sie in die Schule genommen und ihnen die Kenntnisse der älteren Kulturen des Zweistromlandes vermittelt. Aber noch immer waren es vor allem ihre Religion und Lebens53
form, die sie von den Völkern der großen Stromtäler unterschied. Einige Zeit vor ihrem großen Aufbruch hatte Zoroaster22, als Heiliger verehrt, unter ihnen gelebt und die alten Überlieferungen zu einem System der Religion zusammengefaßt. „Sechs gute Geister umschwebten ihn: Wahrhaftigkeit, Weisheit, Demut, Gesundheit, Unsterblichkeit und Heiligkeit..." heißt es im Buch ,,Zend Avesta". Die Weite des Alls, so lehrte Zoroaster, ist vom Widerstreit zweier gegensätzlicher Gewalten erfüllt. Zwischen den Polen des Lichtgottes Ornmzd, der auf hohem Himmelsthrone, von Engeln und guten Geistern umgeben, sitzt, und seinem finsteren Zwilhngsbruder Ahriman, dem Gott der Tiefe, steigt und fällt wie ein Wasserfall flutenden Lichtes der unendliche Strom des Daseins. Über die Stufen des Alls wandert alles Leben seinen Schicksalsweg zu Himmel oder Hölle, zur Ewigkeit oder zum Tode. Einst aber wird das sternengewaltige Ringen im Gericht enden. Dann erheben sich die Geister der Toten von den Türmen des Schweigens, der lichte Gott thront als Richter und scheidet Gerechte und Ungerechte. Glücklich der Mensch, der zu Lebzeiten sein Unsterbliches zum Reiche des Ormuzd gelenkt hat. Die Sonne, das große Feuer der Reinheit, und der Sonnengott sind die Vorkämpfer des Guten; denn Licht und Flamme sind die erhebenden, säubernden Kräfte des Weltalls. Darum dürfen die heiligen Feuer nicht durch Leichenverbrennung verunreinigt werden. Die Toten werden in ummauerten Plätzen der Einöde ausgelegt und den Geiern dargeboten. Schlicht und hoheitsvoll ist der Gottesdienst dieses Volkes, es flüchtet mit seiner Weltangst und Todesfurcht nicht ins heilige Dämmerlicht der Tempel, nicht in die Unterwürfigkeit und Selbstaufgabe des Orientalen, sondern betet mit frei erhobenem Antlitz und ausgebreiteten Armen zur Sonne, der zu Ehren auf Anhöhen und Berggipfeln die Altarfeuer brennen. Dem Perservolk ist aus einem der edelsten Geschlechter ein kraftvoller König erstanden, Cyrus aus dem uralten Geschlecht der Achämeniden. Er sammelt die zerstreuten Stämme und gibt ihnen in der Bergstadt Susa einen Mittelpunkt. Dann bricht er 54
mit einem gepanzerten Heer zum großen Erobererzug auf; die Täler des Ostens tun sich auf, und Welle auf Welle brausen die persischen Reitergeschwader in die Ebenen am Mündungsgebiet der großen Ströme Euphrat und Tigris. Auf wuchtigen Schlachtrossen sitzen die Krieger mit eisernem Spitzhelm und Kettenhemd. Wenn ihr Angriff mit starrenden Lanzen und geschwungenen Krummschwertern in langer, blinkender Kette über die lehmigen Flächen brandet, hält kein Fußvolk und kein Kampfwagen stand. Hinter den Kavalleriemassen laufen bloßfüßig die Scharen der Bogenschützen. Von weidengeflochtenen Schilden gedeckt, versenden sie ihre langschäftigen Pfeile. Allen voran stürmen auf schnaubenden Rossen die Kriegsfürsten in silber- und goldgetriebenen Prunkrüstungen mit geschlossenen Helmvisieren; purpurne oder weiße Mäntel flattern um ihre Schultern, und knatternde Banner wehen ihnen zu Häupten. Diese unbesiegbare Armee wird von einem überlegenen Feldherrn geleitet und nimmt im ersten Ansturm das Mündungsland der Ströme, reitet dann nordwärts — an der drohenden Bastion Babyloniens vorüber — gegen Ekbatana und das Mederreich. Als Medien die Beute des Siegers geworden ist, zittert das unterworfene Volk vor der unvermeidlich erscheinenden Gewaltherrschaft. Es erinnert sich der Härte Assyriens und fürchtet Ausplünderung und Zwangsverschikkung. Aber nichts dergleichen geschieht, König Cyrus erweist sich als einer der wenigen Staatsmänner, die aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Er weiß, warum der Haß der Welt das einst glanzvolle Ninive hinweggefegt hat, und er ahnt, daß es keine auf Macht begründete Verewigung der Herrschaft gibt. So bleiben die Besiegten unbehelligt, die neuen Herren greifen weder in ihre Lebensgewohnheiten noch in Religion, Eigentumsverhältnisse und örtliche Angelegenheiten ein. Wo die Perser einmarschieren, setzen sie Statthalter ein, nehmen die Burgen in militärische Obhut und begnügen sich mit den bisherigen Steuern. Diese in der Kriegsführung des Orients ungewohnte Menschlichkeit gewinnt den Eroberern mehr als alle Feldzüge vermocht haben. Die Völker fügen sich willig in das neue Reich, und 55
die persischen Truppen dürfen ohne Furcht vor Aufständen im Rücken ihre Kriegszüge fortsetzen. Der Ruf der Milde geht ihren Vorhuten voraus. Die Gegner kämpfen mit halber Kraft, ohne den Mut, den Verzweiflung verleiht; die Niederlage birgt keine Schrekken für sie. Die schwachen Königreiche Kleinasiens fallen Cyrus wie reife Früchte zu, seine Reiter tragen die Feldzeichen bis zur Schwarzmeerküste, wo die hellenischen Kolonien freiwillig die Tore öffnen, und bis zum Halys-Fluß, der Grenze des ehemaligen Mederreiches. Jenseits davon beginnt das Königreich Lydien, der Machtbereich des Königs Krösus von Sardes23, und zugleich der Lebensraum der Hellenen. Krösus haben die Götter alles gegeben, was sich ein Sterblicher an Glück und Reichtum wünschen kann. Als Solon nach Schaffung der athenischen Verfassung seine Vaterstadt verließ, besuchte er auch Sardes und wurde von Krösus empfangen. Der König thronte mit prunkvollem Festgewand, das edelsteinblitzende Diadem auf dem gesalbten Haupte, von Würdenträgern, Offizieren und Frauen umgeben, auf dem vergoldeten Sessel, Nubiersklaven fächelten ihm mit Straußenwedeln Kühlung zu. ,,Hast du je etwas Prächtigeres gesehen?" fragte Krösus und umfaßte mit einer großartigen Handbewegung den Saal, das Gefolge und sich selbst. „Ja, einen Pfau!" soll Solon erwidert haben. ,,Am dritten oder vierten Tage seines Besuches führten die Diener des Königs den Gast in den Schatzkammern herum und zeigten ihm alles, was Großes und Herrliches da sei. Nachdem Solon alles betrachtet hatte, richtete Krösus die Frage an ihn: Hast du, mein athenischer Gastfreund, je einen Mann gesehen, der glücklicher war als ich?"24 „Doch", sagte Solon und nannte einen längst Verstorbenen. Als Krösus verwundert wissen wollte, warum der Gast das Glück eines Toten dem seinen vorziehe, antwortete der Athener mit einem Wort, das der gesamten antiken Welt unvergeßlich blieb: „Niemand ist vor seinem Tode glücklich zu preisen!" Bestürzt wandte sich Krösus ab; er wollte die tiefe Wahrheit nicht erkennen. Gerade jetzt, da die Gefahr 56
immer bedrohlicher von Osten heraufzog, schrie sein Herz nach immer neuer Bestätigung des Glückes. Er schickte an die Orakelstätten der hellenischen und ägyptischen Nachbarn reiche Gaben; dem Gotte Apollo und seinem Tempel zu Delphi schenkte er goldene Dachziegel und goldene Löwen. Dafür erhielt er, wie Herodot berichtet, die Auskunft: „Wenn du den Halys-Fluß überschreitest, so wirst du ein großes Reich zerstören." Der Lydierkönig triumphierte. Im Rat der Götter war es beschlossen, daß er dem erwarteten Angriff der Perser zuvorzukommen und über den Halys vorbrechen sollte. Fieberhaft begann er zu rüsten, seinem Glück den Ruhm des siegreichen Feldherrn anzufügen. * Die Unruhe im hellenischen Kleinasien wird deutlicher, die Unsicherheit des politischen Lebens drückt auf die Gemüter. Aus den griechischen Kolonialstädten brechen größere Gruppen von Auswanderern fluchtartig nach Sizilien auf, unter ihnen der Sänger und Philosoph Xenophanes. In der Stadt Priene führt der weise Bias den Rat der Stadt. Hier wird mit den einberufenen Gesandten anderer Ionierstädte der Vorschlag besprochen, auszuwandern, ehe der Perser die hellenische Freiheit knechte. Wie in Altvätertagen sollen die Griechen Kleinasiens ihre Familien und Besitztümer auf Schiffe verladen und noch einmal als Volk zu neuer Landnahme ausfahren. Durch die Handelsverbindungen mit den italischen Kolonien weiß man, daß die große Insel Sardinien nur dünn besiedelt ist und Raum für alle Hellenen der ionischen Küste bieten könnte. Zusammen mit den vielen Griechenstädten rings am Tyrrhenischen Meer würde sich der Kranz von Massalia über Neapel und Süditalien nach dem hellenischen Sizilien schließen; Karthagern und Etruskern zum Trotz könnte ein großhellenisches Reich erstehen. Aber die Ionier dieser Tage sind nicht mehr die stürmischen Seefahrer der Helden- und Abenteurerzeit. Besitz und Reichtum haben sie mit starken Ketten an die Stätten ihres Glückes geschmiedet, so daß sie nicht mehr zur Unbeschwertheit und Kühnheit der Wander jähre zurückfinden. Die Pläne zerschlagen sich. 57
Selbst angesichts der näherrückenden Gefahr geht durch die eigenwillige Griechenwelt kein Zug der Einigkeit. „Nützlich wäre der E a t gewesen, den Thaies von Milet den Ioniern gab. Er empfahl ihnen, einen gemeinsamen Rat zu errichten, und zwar zu Teos, das etwa in der Mitte Ioniens liegt. Die einzelnen Städte sollten dabei ihre Einrichtungen ungeschmälert beibehalten, als wenn sie nicht dazu gehörten." 25 Aber selbst diese Stimme der rettenden Vernunft schlagen die Griechen in den Wind. Während sie über ein lockeres Bündnis ihrer bedrohten Welt streiten und reden, stauen sich die persischen Heerhaufen wie anschwellende Bergbäche jenseits der Halysgrenze. Griechenland aber geht Stadt neben Stadt, Insel neben Insel seinen von Freiheits- und Unabhängigkeitswillen bestimmten Weg, ohne sich um Nachbarn oder Zukunft zu kümmern. Bald gibt es in den kleinasiatischen Seestädten Parteien, die dem Perser das Wort reden und den Frieden durch Zins an den fremden Herrscher zu erkaufen wünschen. In jenen Jahren hat Solon die zornigen Verse geschrieben: „Wenn ihr ob eurer eigenen Verruchtheit einst Leiden erdulden müßt, Schiebt dann nicht schamlos den Göttern die Schuld in die Schuhe! Habt ihr doch selbst den Tyrannen beflissen die Leiter gehalten. Wundert euch nicht, wenn man zum Dank mit Knechtschaft euch lohnet. Einzeln schleicht jeder von euch auf füchsischer Fährte, doch wo ihr Als Versammlung erscheint, wie seid ihr da töricht und feige! Immer schielt ihr nach Worten und hört auf der Schmeichler Gerede, Doch, was verborgen geschieht, darauf habt in eurer Torheit nicht acht."
* Ein Jahrzehnt nach dem Tode Solons bricht das erwartete Unwetter im Osten los. König Krösus selbst entfesselt das Verhängnis, indem er, der vermeintlichen Aufforde58
rung des Orakels gehorchend, den Halys mit Kriegsvolk überschreitet. Ein Jahr später hat er „ein großes Reich zerstört" — sein eigenes. Mit den zurückströmenden Truppen, dem Schwall der Flüchtlinge, erreicht Krösus seine verlorene Hauptstadt Sardes, um an der Stätte früheren Glückes den Tod zu suchen. Schon ist der Scheiterhaufen zur Selbstverbrennung bereit, als Cyrus in die Stadt einreitet und die Tat verhindert. Auch diesmal erweist sich der Perser als berechnender Sieger. Er beläßt Krösus sein Privatvermögen, den Palast und die Menschenwürde, ja, er zieht ihn als Ehrengast an seinen Hof. Das Land erhält freilich einen persischen Statthalter und fremde Besatzung. Nun fallen auch die Hellenenstädte mit den leuchtenden Namen: das Ephesus des Gelehrten Heraklit, das Colophon des Dichters Xenophanes, das Samos des Pythagoras und das Priene des Bias. Um Milet, die Stadt der Philosophen Thaies, Anaximander und Anaximenes, schließen die Eroberer einen Belagerungsring. Sogar die festlandnahen Inseln werden von den Persern in kühnem Ansprung genommen. Und immer noch ist Griechenland ohne Entschluß, ohne Taten! „Sie sangen, tanzten und jubelten noch am Bande des Abgrunds.. ," 26 „Während die Männer von Samos in dem ,die Blume der Samier' genannten Vergnügungspark ihre Zeit vertändelten, setzten die Perser mit Kähnen und Fischerbooten über und nahmen die stark befestigte Stadt..." 2 7 Als die Panzerreiter des Cyrus vor den Mauern Prienes erscheinen, die Kaufleute ihre wertvollste Habe zusammenraffen und auf die Schiffe verladen, die Töpfe mit Münzen vergraben und Schätze einmauern, steht Bias lächelnd inmitten des Aufruhrs. Gefragt, ob nicht auch sein Herz von Sorgen schwer sei und ob er nichts mitzunehmen habe, spricht er das Wort, das der antiken Welt nicht minder teuer wird, wie jenes andere, das Solon einst zu Krösus gesagt hat: „Ich trage all das Meine mit mir." * 59
-iT-1 • ;«>„ ;=+ 7iim Pulverfaß" zwischen dem Osten J X X n seworL'.Griechenland wird den Verlust S e s Kolo^iflreiches am Ostufer des Agäischen Meeres nicht vergessen. An diesem Brennpunkt soU sichzwe! Generationen später der große Brand der Perserkriege entzünden, der Abend- und Morgenland erstmals in der Geschichte in Flammen setzen wird.
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ANMERKUNGEN *) Hauptstadt und Mittelpunkt der Landschaft und des Reiches Babylonien bzw. des Neubabylonischen Reiches; — 2) seine Heimat war das ionische Kleinasien; um die Gestalt des Dichters ranken sich viele Legenden, zu denen wahrscheinlich auch seine Blindheit gehört; von den vielen Dichtungen, die Homer zugeschrieben werden, geht mit größter Wahrscheinlichkeit die Zusammenfassung der „Hias" auf ihn zurück, während die Verfasserschaft der ,»Odyssee" vielfach bestritten wird; — s) lebte um 700 v.Chr.;— 4) nach Herodot; — 6) Epik: Bezeichnung für alle erzählende Dichtung zum Unterschied von Drama und Gedicht; Lyrik: ursprünglich von der Lyra, einem Saiteninstrument, begleiteter Gesang; später gefühlsbetonte, stimmungshafte Selbstaussage des Dichters in gebundener Form; — 6) Leier, deren Saiten mit einem Hornplättchen geschlagen wurden; — 7 ) Verse der Sappho, der ältesten lyrischen Dichterin des Altertums, um 650 v.Chr.; — 8) um 600 v.Chr., griech. Philosoph und Mathematiker; — 9) religiöse Bewegung ohne Tempelkult; Erlösungsreligion, verbunden mit dem Glauben an die Seelenwanderung, bis ins späte Altertum lebendig; — 10) 1400—1200 v.Chr.; — u
) auch Massilia, griech.undröm. Name für Marseille;— 12 ) Landschaft in
Nordafrika, östl. Teil Libyens; —
ls
) bedeutet Oberstadt; Burgberg in
Athen, in mykenischer Zeit (2. Jt.) befestigt, dann Sitz der athenischen Könige, seit dem 6. Jh. Tempelberg; — u ) Das erzreiche Bergland (Silber, Blei, Zink) lag an der Südostspitze Attikas;— 16 ) 605—562v.Chr.; eroberte auch Jerusalem, führte die Einwohner in die „Babylonische Gefangenschaft"; — 16
) die Meerenge von Gibraltar mit den „Säulen", den Bergen auf den euro.
päischen und afrikanischen Landspitzen; die Phöniker beanspruchten für ihre Schiffe die alleinige Durchfahrt in den Ozean; — 17) ursprünglich ein militär-politisches Amt); —
1S
) 560—527 v. Chr.; — 19) auch Kyros, der
Große oder der Ältere genannt; Begründer des persischen Großreiches, gest. 529 v. Chr.; — ao) nach dem Geschichtsschreiber Theopomp, gest. 377 v. Chr.; — 21) nach Berichten aus dem 5. Jh. v.Chr.; — 22) persisch: Zarathustra; genaue Lebenszeit unbestimmt (zwischen 1000 n. 500 v.Chr.), lehrte den Widerstreit des Lichtes und der Finsternis, des Guten und des Bösen, des lichten Ormuzd und des finsteren Ahriman; Aufgabe des Menschen sei es, sich für eines zu entscheiden; —2S) letzter König von Lydien, um 550 v.Chr.; — 24) nach dem Bericht des Dichters Anakreon, 6. J h . v. Chr.; — 26) nach Herodot; — 2 8 ) nach Klearchos, gest. 401 v.Chr.; — 27) nach Athenaios, 3. J h . n. Chr.
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ZEITTAFEL Seit 2000 v.Chr.
Einwanderung der indogermanischen Urgriechen aus dem Drau-Save-Gebiet auf die „griechische" Halbinsel; sie werden durch die Begegnung mit der kretischen Kultur beeinflußt und gestalten sie um (Mykenische Kultur).
Seit 1200 Dorische Wanderung als letzter großer Vorv.Chr. stoß der urgriechischen Nord-Süd-Wanderbewegung; Zusammenbruch der tretischmykenischen Kultur; die Dorer besiedeln vor allem den Peloponnes (Sparta). Unter dem Druck und im Zuge der Einwanderung erste griechische Kolonisation auf den Ägäischen Inseln und in Kleinasien; später auch am Schwarzen Meer. Um 800 v.Chr.
findet in Homers Werk die Erinnerung an die Wander- und Kolonisationszeit ihren dichterisch verklärten Ausdruck. Homer gibt dem Glauben an die olympischen Götter feste Umrisse.
Seit 800 säulenumstandene Tempel. v.Chr. 750—500 Zweite Kolonisation der Griechen inünterv.Chr. • italien („Großgriechenland") und auf Sizilien mit Ausläufern bis Spanien und Südfrankreich (u.a. Gründung von Massalia = Marseille). Im gleichen Zeitraum Übergang vom (Heer-) Königtum zur Adelsherrschaft und Aufgliederung der Stämme in Kleinststämme, Inselund Stadtstaaten und bäuerliche Gemeindestaaten. Erweiterung des Handels; Gewerbe auf der Grundlage der SkiavenWirtschaft; Athen geht zur Geldwirtschaft über. Seit 700
„Archaische Kunst", ausdrucksvoll, herb und streng. Ausbildung der lyrischen Dichtung (Höhepunkte: Sappho, Alkaios, Anakreon). 62
Um 700
Der Dichter Hesiod stellt der allzu vermenschlichten Götterwelt des Homer einen sittlich geläuterten Götterhimmel entgegen.
Um 650
Unterwerfung der kleinasiatischen Griechenkolonien durch die Lyder; sie werden nach 546 den Persern (Cyrus) tributpflichtig; Handelskonkurrenz der Btrusker Mittelitaliens und der Phöniker.
Um 630
Gesetzgebung des sagenhaften Drakon in Athen. Nach Zerstörung Ninives Aufteilung des Assyrerreiches unter Meder und Babylonier. Geschichtsschreibung. Beginn der verstandesmäßigen Erklärung der Natur (Naturphilosophen: Thaies, Anaximander, Anaximenes u.a.); Begründung einer Sittenlehre (Heraklit, Pythagoras, Xenophanes); religiöse Philosophie der Orphik.
606 Seit dem 6. Jh.
594/93
Verfassung des Solon in Athen zur Überbrückung der Gegensätze zwischen Adel und Volk; sie wird abgelöst durch die Alleinherrschaft (Tyrannis) des Pisistratos.
559—522
Der persische König Cyrus (Kyros) erobert die Reiche der Meder, der Babylonier, das kleinasiatische Lydische Reich und die kleinasiatischen griechischen Kolonien und begründet das Großpersische Reich, das sein Nachfolger Kambyses um Phönikien, Zypern und Ägypten erweitert.
Um 510
Sturz der Tyrannis in Athen, Übergang zur athenischen Demokratie.
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Alle Rechte vorbehalten. Einbandgestaltung: Karlheinz Dobsky Kartenzeichnungen: Anton Eckert; Illustrationen: H. Q. Strick Druckerei: Dr. P. P. Datterer & Cie. - Inhaber Sellier - Freising
Der Leser, der die in diesem Heft geschilderten Ereignisse im großen Rahmen weiterverfolgen will, wird auf die spannend geschriebene Weltgeschichte
BILD DER JAHRHUNDERTE von OTTO Z I E R E R verwiesen. In neuartiger, eindrucksvoll erzählender Darstellung behandelt Otto Zierer im „Bild der Jahrhunderte", dem der Text zu dem vorliegenden Heft im wesentlichen entnommen ist, die Geschichte des Abendlandes und der Welt von ihren Anfängen bis zur Gegenwart.
Gesamtauflage über 2 Millionen Bände Der Umfang des Geschichtswerkes beträgt rund 8000 Seiten. 189 ausgewählte Kunstdrucktafeln und 124 historische Karten ergänzen den Text. Jeder Band enthält im Anhang Anmerkungen, ausführliche Begriffserklärungen, Zeittafeln, Quellen- und Literaturnachweise. Das zum Gesamtwerk gehörende „Historische Lexikon" bietet in 12000 Stichwörtern und 500 Bildern einen Querschnitt durch die Universalgeschichte. Der Registerband mit Sach- und Namensverzeichnis und einer Inhaltsübersicht über das Gesamtwerk und Lux-Historischen Bildatlas mit 131 sechsfarbigen Karten 18,5 X 25,5 cm sowie 72 Seiten historische Bilder und Texte ergänzen das „Bild der Jahrhunderte". Preis des Werkes Rotleinenausgabe Registerband
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