Geister-
Krimi � Nr. 7 � 7
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Geister-
Krimi � Nr. 7 � 7
János Véreb �
Die grünen Krallen � des Druden �
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Die Tür knarrte noch einmal und fiel danach ins Schloß. Ben Lothan saß allein im Old Gallows. Die Petrollampe unter der holzgetäfelten Decke rußte ein wenig. Der schmuddelige Vorhang an der Eingangstür bewegte sich lautlos. Um sein Bierglas kreiste eine dreiste Fliege, neben ihm das einzige Lebewesen in dem halbdunklen Gastraum der einsam gelegenen Kneipe. Die Frau, die ihm das Bier vorgesetzt hatte, diese Greisin mit dem schwarzen Kopftuch über dem brandroten Haar, das in seiner Farbe zu ihrem methusalemischen Alter gar nicht paßte, rumorte in dem Nebengelaß hinter der Theke und hatte versprochen, ihm ein Abendessen zu machen. Ben Lothan jagte die Fliege fort, nahm sein Glas und trank. Das Bier war frisch, gut gekühlt und würzig. Das hatte er hier nicht erwartet, und er erwartete nun auch nichts Besonderes, als er Schritte hörte. Die Tür öffnete sich – diesmal ohne Knarren. Ein junges Mädchen tauchte auf. Ihr goldrotes Haar schimmerte trotz des kläglichen Lichtes der Petrollampe. Sie sah ihn an, und die dunklen Augen, die im scharfen Kontrast zur Haarfarbe standen, weiteten sich. »Sie haben Ihr Bier schon, Mister?« »Ja«, erwiderte er. »Natürlich. Sie sehen es doch. War die alte Frau nicht Ihre Großmutter? Wissen Sie denn nicht, daß Sie mir ein warmes Abendessen…?« Er verstummte, weil das Mädchen ängstlich wie ein gehetztes Wild nach allen Seiten blickte, ans Fenster eilte und in den trüben Abend hinaussah. Von ihrem ihm unerklärlichen Verhalten animiert, hatte Ben Lothan sich erhoben und war neben das Mädchen getreten, das vielleicht zwanzig sein konnte und nicht verheiratet zu sein schien. »Ist was?« fragte er sie flüsternd. 3 �
»Hören Sie es denn nicht? Draußen…«, hauchte sie. Kalt kroch es ihm über den Rücken, als er weit draußen im Dunkel der Nacht die zittrige Stimme einer Frau vernahm, die eine uralte Greisin sein mußte. »Verstehen Sie, Mister?« Ben verstand jedes Wort: Leise, leise, kommen Mäuse, und aus diesen werden Riesen. Er preßte sein Gesicht nun ebenfalls gegen die Scheibe und versuchte draußen die Dunkelheit zu durchdringen. Er sah ein Licht, das im Rhythmus des Spruches tanzte. »Mein Gott, Smildy ruft die Riesen des Druden. Sie hören es doch auch, ja?« Das Mädchen hatte ihm sein Gesicht zugewandt und blickte ihn voller Angst an. Ben Lothan, Großstädter aus Liverpool, den ein Motorschaden überhaupt nur hierhergeführt hatte, konnte über die Angst des Mädchens nicht lachen. »Zum Teufel…« »Nein, nein! Rufen Sie den Teufel nicht an, sonst kommt er oder der Drude selbst. Maria und Josef – Haaaa…« Irrsinnig laut war ihr Schrei, und bevor Ben Lothan irgend etwas begriff, war das Mädchen schon mit einem Satz auf den nächsten Tisch gesprungen. Danach sah er erst die beiden Mäuse, die neben der Theke in ihrem Schlupfloch verschwanden. Du großer Himmel, dachte er leicht erschüttert, zwei kleine Mäuse können dieses Mädchen zum Wahnsinn treiben? Ein neuer Schrei ertönte: »Da sind sie. Da sind die Riesen des Druden! Ben Lothan brach der Schweiß aus. War er noch bei Verstand? Er sah Gestalten, die an Old Gallows vorbeigingen. Ihr Schritt stampfte. Sie gingen leicht nach vorn gebeugt, ihre Arm pendelten. Sie kamen aus der Nacht. Wo sie waren, gab es Licht, das sie sichtbar machte. Sie gingen in die Nacht hinein in Richtung des Hochmoores. Sie hatten mit einem einzigen Schritt 4 �
die acht Yard breit Straße überquert. Hinter Ben Lothans Stirn hämmerten die Gedanken. Die Stimme einer alten Frau. Und Mäuse. Und Riesen. Und den Druden. Draußen erlosch das Licht. Die zittrige Stimme war in der Nacht verklungen. Das Girl stand wieder neber Ben Lothan, blaß wie der Tod, es zitterte vor Angst. Ben Lothan fühlte sich auch nicht besonders wohl in seiner Haut. »Die alte Frau, die mir das Bier gebracht hat, ist nicht Ihre Großmutter?« fragte er behutsam. »Nennen Sie mich Denise, wie es alle tun«, bat sie und fuhr fort: »Diese alte Frau gibt es nicht – wirklich nicht. Sie haben Smildy gesehen. Sie haben mit ihr gesprochen. Sie hat Ihnen das Bier gebracht. Denn wir haben kein Faßbier, und solche Gläser, wie sie eins auf Ihrem Tisch stehen haben, besitzen wir auch nicht.« Sie wehrte nicht ab, als er sie bei der Hand nahm und an seinen Tisch führte. Er zwang sie, Platz zu nehmen und tat es ihr nach. »Nun erzählen Sie einmal der Reihe nach, Denise. Wenn es diese alte Frau nicht gibt, dürfte es auch das Bier nicht geben, das vor mir steht.« Er streichelte ihren Handrücken. Nach wie vor zitterte sie am ganzen Leib. Sie berichtete: »An dieser Stelle hat einmal ein Galgen gestanden. Darum heißt diese Schenke so. Um 1507 ist eine Smildy als Hexe hier aufgehängt worden. Sie hatte brandrotes Haar, trug ein schwarzes Kopftuch, und ihr Gesicht war ein Meer von Falten und Runzeln. Sie haben Smildy gesehen und gesprochen, Mr. Lothan. Sie hat Ihnen ein Bier und ein Glas gezaubert, aber sie muß trotzdem Angst vor Ihnen gehabt haben, sonst hätte sie meine Mäuse nicht in ihre Riesen verwandelt.« »Sie haben von den Riesen des Druden gesprochen, Denise? Wer ist das?« 5 �
»Der Drude ist Smildys Sohn. Die beiden streiten sich immer um die Riesen, aber nur Smildy kann sie verzaubern. Der Drude mit den grünen Krallen kann es nicht. Ich habe immer Angst, wenn ich in der Nacht das Licht sehe, Mr. Lothan. Dann weiß ich, daß entweder Smildy umgeht oder der Drude kommt. Sind aber die Riesen zu sehen, dann wird irgendwo rund ums Hochmoor jemand umgebracht. Jedesmal sieht ein anderer, wenn der Todesschrei des Opfers erklingt, die grünen Krallen des Druden in der Nacht leuchten.« Kopfschüttelnd blickte Ben die hübsche Denise an, deren Kußlippen sich langsam wieder mit Blut füllten und die kaum noch zitterte. »Dann verstehe ich Ihre Eltern nicht, Sie so spät in der Nacht allein zu lassen, Denise.« Ihre Augen funkelten nun wie dunkle Sterne, und das Licht der Petrollampe gab ihnen eine unbeschreiblich zärtliche Wärme. »Ich habe keine Eltern mehr. Ich bin auch nicht allein im Haus. Meine Tante ist hier.« »Warum ließ sie sich nicht sehen?« »Tante Betty ist taub.« Denise führte ihn kurz an das Bett der Alten. Beide, Ben Lothan und Denise Gordon, hielten sich gegenseitig fest, als sie in den Schankraum zurückkamen: auf dem Tisch stand ein Abendessen, und aus zwei Schüsseln dampfte es. »Das darf doch nicht wahr sein?« murmelte Ben Lothan, war mit drei weiten Schritten am Tisch, blickte in die Schüsseln und roch den appetitanregenden Duft, der ihm in die Nase stieg. Dann rannte er in das Nebengelaß hinter der Theke, dort befand sich die Küche. Auch ein Ofen. Davor stand er. Zuerst war er bei seiner Probe äußerst vorsichtig, danach legte er beide Handflächen auf die Herdplatte. Sie war kalt. Eiskalt. In der Küche gab es auch keine Gerüche. 6 �
Ben Lothan stellte fest, daß dieses geheimnisvoll gezauberte Essen prächtig mundete. Es war auf Porzellan serviert, das die Jahreszahl 1506 zeigte, dazu ein altes Wappen. Ben Lothan spürte eine rechtschaffene Müdigkeit. Vier Flaschen Bier und ein halbes Dutzend Gin hatten ihm inzwischen die nötige Bettschwere besorgt. Seine Gedanken waren so träge geworden, daß er weder an Smildy, die Hexe, dachte, noch an den Druden und dessen leuchtende Krallen oder an seine beiden Riesen. Auch an den Zauberspruch, durch den aus Mäusen diese Riesen gemacht worden waren, erinnerte Ben Lothan sich nicht mehr, als er gegen dreiundzwanzig Uhr in sein Zimmer ging und sich hinlegte. Wenige Minuten später war er eingeschlafen. * Ben Lothan schreckte aus dem Schlaf auf und blinzelte in grelles Licht. Die Kalte stand ihm bis zum Hals in seinem Körper. Überall verspürte er Schmerzen. Woher kam das Licht? Warum war es so saukalt? Hatte er sich freigestrampelt und lag sein Bettzeug am Boden? »Können Sie nicht sprechen oder wollen Sie nicht?« fragte ihn eine barsche Stimme. Die grelle Lichtquelle wanderte etwas zur Seite und blendete nicht mehr. Wo bin ich denn bloß? fragte sich Ben Lothan ratlos, und woher kommt dieser Mann, der mich mit seiner verdammten Lampe blendet? »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« knurrte Lothan und fühlte den Polstersitz seines Wagens. Einen Sekundenbruchteil später begriff er, daß er hinter dem Steuer seines defekten Austin saß und nun anfing, mit den Zähnen zu klappern. 7 �
»Ich bin Sergeant Brook von der Straßenpolizei, und wer sind Sie?« Er war drauf und dran, durchzudrehen. Er mußte in dieser Nacht, nachdem sein Motor ausgesetzt hatte, wenigstens zeitweise verrückt gewesen sein, denn womit sollte er sich erklären können, bis auf den Slip nackt hinter dem Steuer zu sitzen? Mantel, Anzug, Ober- und Unterhemd, Strümpfe und die Schuhe dazu lagen auf dem Hintersitz. Einfach so hingeworfen. Sergeant Brook leuchtete ihm beim Anziehen. »Mann, wie haben Sie das bloß geschafft?« fragte der Beamte mit gutmütigem Spott. »Waren Sie etwa voll?« Er war stocknüchtern gewesen, als er in Pomrike abgefahren war. Er hatte den ganzen Tag über außer dem Bier zum Mittagessen überhaupt kein alkoholisches Getränk angerührt Aber er hatte im Old Gallows vier Flaschen Bier und bestimmt sechs Gin getrunken. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Mister?« knurrte ihn der Sergeant wie eine gereizte Dogge an. »Zum alten Galgen? Da wollen Sie gewesen sein? Wo gibt's denn den Old Gallows, Mister?« Dann schnaufte er, als Ben Lothan behauptete, der Gasthof liege eine Meile entfernt. Inzwischen stand Sergeant Brook nicht mehr allein neben dem Austin. Sein Kollege, der als Driver den Wagen Caesar-8 fuhr, hörte fassungslos zu. »Soso – im Old Gallows haben Sie übernachtet und sind dann von mir in Ihrem Wagen geweckt worden. Wenn Sie nun noch behaupten, ich hätte Sie ausgezogen hinter das Steuer geklemmt, würde ich doch empfehlen, sich von uns ins nächste Krankenhaus fahren zu lassen.« Es fehlte nicht viel, und Ben Lothan hätte dazu seine Zustimmung gegeben. 8 �
»Starten Sie doch mal«, forderte ihn Brook in einem derartig aufreizenden, gutmütigen Ton auf, daß Lothan ihm am liebsten mit nacktem Hintern ins Gesicht gesprungen wäre. Einen Moment später war ihm die Lust dazu restlos vergangen. Der Motor seines Austin lief – einwandfrei. »Na, dann wünschen wir Ihnen gute Fahrt, Mister«, sagte Sergeant Brook schließlich nur. Es war kurz nach drei Uhr, als er losfuhr. Es gab keinen Mond am Himmel, keinen einzigen Stern. Es herrschte tiefste Dunkelheit. Hinter ihm wurden die abgeblendeten Lichter des Streifenwagens kleiner. Er spähte in die Nacht, hatte seine Scheinwerfer aufgeblendet und suchte sich die Augen nach dem Old Gallows aus. Nach acht Meilen Fahrt kam er nach Lester, einem Dorf mit elf Häusern, einer windschiefen Kapelle und zwei kleinen Gasthöfen. Aber keines von beiden war das Old Gallows. Er entschied sich, beim »Loch Ness« zu läuten, vorher vergewisserte er sich, ob seine Straßenkarte auch dieses Nest am Rand des Hochmoores verzeichnet hatte. Darauf war Lester zu finden, aber kein einsam liegender Gasthof, der sich Old Gallows nannte. Ein Mittvierziger mit mürrischem Gesicht öffnete ihm und sagte ja, als Ben Lothan ihn fragte, ob ein Zimmer frei sei. Der wortkarge Wirt schlappte die Treppe hinauf, öffnete eine Tür, schaltete das Licht an und forderte den Gast durch Kopfnicken auf, einzutreten. Wie angewurzelt blieb Ben auf der Türschwelle stehen. Er kannte dieses Zimmer. Darin hatte er sich um dreiundzwanzig Uhr zum Schlaf niedergelegt, nur hatte es da dieses Zimmer im Old Gallows gegeben, und genau das sagte er dem immer noch mürrisch dreinschau9 �
enden Wirt. Der duckte sich, machte den Rücken krumm, deutete mit der rechten Hand zur Treppe und sagte nur ein Wort: »Raus!« Viel früher, als Lothan es hatte erwarten können, stand er wieder auf der Straße. Langsam begriff er, daß man in diesem Dorf von dem Gasthof »Zum alten Galgen« nichts hören wollte. Er versuchte sein Glück bei der »Maria Stuart«, wo es sogar einen von innen her beleuchteten Klingelknopf gab. Oben in der ersten Etage wurde ein Fenster geöffnet, und bevor Ben Lothan seine Frage nach einem freien Einzelzimmer loswerden konnte, vernahm er die polternde Stimme: »Schlafen Sie im Old Gallows! Für einen Gast wie Sie haben wir nie Platz!« Und lärmend wurde das Fenster wieder geschlossen. Der Wirt des »Loch Ness« hatte den Besitzer der »Maria Stuart« telefonisch vorgewarnt. Fluchend setzte sich Ben Lothan wieder hinter das Steuer seines Wagens und verließ mit unfrommen Segenswünschen das ungastliche Lester. Nebel war in den letzten Minuten aufgekommen. Die Sicht wurde immer schlechter, er fuhr langsam und langsamer, und auf einmal ging es nicht weiter, weil er mit dem Wagen von der Straße abgekommen war und festsaß. Wenn mir jetzt Smildy über den Weg läuft, dachte Ben Lothan kochend vor Wut über sein Mißgeschick in dieser Nacht, dann drehe ich ihr den Hals um. Und damit wurde in ihm all das wieder lebendig, von dem er nicht wußte, ob er es erlebt oder nur geträumt hatte. Die Nebel kamen lautlos von allen Seiten heran und umschlossen den Austin und den Mann darin immer enger. Ben Lothan achtete nicht darauf. Er lauschte nur, denn er vernahm ganz weit in der Ferne wieder Smildys zitternde Stimme. Sie sprach abermals einen Zau10 �
berspruch. Riesen, Riesen, gehet leise, werdet wieder kleine Mäuse! Er kniff ein wenig die Augen zu, als er vor seinem Wagen ein Mäusepaar im Nebel verschwinden sah. Er hatte es wiedererkannt: es war dasselbe Mäusepaar gewesen, das im Old Gallows neben der Theke sein Schlupfloch hatte. * Es paßte alles zusammen: Der Schotte John McPeer, seine halblange Pfeife, der Kamin mit den knisternden Scheiten, die alte Pracht im Arbeitszimmer des Rechtsanwaltes, der Lüster aus Gablonz und die Portiere anstelle einer Tür. Rechtsanwalt McPeer zog an seiner Pfeife, musterte seinen Neffen belustigt und sagte dann: »Ich soll dir also glauben, daß du nicht weißt, ob deine Erlebnisse in der letzten Nacht Traum oder Wirklichkeit waren, Ben?« Lothan blieb bei der Wahrheit und sagte ja. Er zog seine Brieftasche heraus, öffnete sie und entnahm ihr ein Stück Papier, auf dem ein Wappen skizziert war. »Onkel, wenn alles Traum war, wie komme ich dann zu dieser Zeichnung? Dieses Wappen befand sich auf der Unterseite der Fleischplatte, ich habe es dort abgemalt.« Er übergab es ihm. John McPeer warf einen Blick darauf und zuckte zusammen. »Verdammt noch mal, Ben«, donnerte er seinen Neffen an, »dieses Wappen gehört den Gordons. Nicht denen, die den Gin herstellen, sondern den Gordons, die König Artus drei Araber schenkten.« »Sklavenhändler, Onkel?« »Deine Geschichtskenntnisse sind mehr als miserabel. Die Gordons an König Artus Hof schenkten ihm drei arabische Vollblüter-Pferde, wenn du das besser verstehst.« In diesem Augenblick 11 �
bewegte sich die Portiere, und ein Mädchen mit rotem Goldhaar betrat das Arbeitszimmer des Rechtsanwaltes John McPeer. »Ben, ist dir nicht gut?« fragte McPeer ahnungslos seinen Neffen. Der starrte Denise Gordon entgeistert an. Denise, die Besitzerin von Old Gallows! Das Mädchen mit einer Akte in der Hand fühlte sich durch den starren Blick des jungen Mannes etwas irritiert und warf dem Älteren einen hilfesuchenden Blick zu. »Ben, du kennst Denise?« fragte der Anwalt verwundert. Der konnte sich aus seiner Überraschung befreien. »Wenn du mir bestätigst, daß die Dame Denise Gordon heißt, dann muß ich zugeben, sie in der vergangenen Nacht in Old Gallows kennengelernt zu haben.« »Zum Donnerwetter, ja, Denise heißt mit Hausnamen Gordon.« Die Zwischenfrage kam von der jungen Dame mit dem roten Goldhaar: »Mister, was wissen Sie vom Old Gallows?« Sie hatte Ben Lothan angesprochen. McPeer kam dazwischen: »Ihnen ist Old Gallows ein Begriff, Denise?« Sie nickte etwas verkrampft. »Ein übler Begriff in unserer Familiengeschichte. Eine Urahne mit Vornamen Smildy, mehr ist nicht überliefert…« Den Rest erzählte Ben Lothan schnell: »… wurde im Jahre 1507 als Hexe aufgehängt. Dort, wo der Galgen stand, betrieb wenig später die Familie Gordon die Kneipe ›Zum alten Galgen‹, nicht wahr?« »Ja, Mister, ja, aber woher wissen Sie? Außer zwei, drei Personen in unserer Familie weiß niemand davon. Wo können Sie diese Jahreszahl 1507 gehört haben?« Ihm war gar nicht mehr lustig zumute. Er glaubte, die vergangene Nacht ein zweites Mal zu erleben. Er sah sich wieder im Old Gallows am Tisch sitzen, und ebenfalls an seinem Tisch in der Gaststube saß Denise Gordon, die ihm jetzt als Bürokraft 12 �
gegenüberstand. »Miß Gordon, Sie haben es mir in der vergangenen Nacht, als Smildy mir mittels ihrer Zauberkraft ein Bier und ein warmes Essen auf den Tisch gestellt hatte, im Old Gallows selbst erzählt.« »Ich, Mister?« Plötzlich mußte ihr etwas Ungeheuerliches klargeworden sein. »Woher wissen Sie, daß Urahnen meiner Familie einmal einen Gasthof betrieben haben, der tatsächlich den Namen Old Gallows trug?« »Seit 1510 – stimmt's, Miß Denise?« »Ja, nun, da Sie diese Jahreszahl genannt haben, erinnere ich mich wieder.« »Dann sollen Sie sich auch daran erinnern, daß wir beide, Sie und ich, gestern abend bis dreiundzwanzig Uhr im Gasthof ›Zum alten Galgen‹ zusammensaßen, Smildy ihren Zauberspruch durch die Nacht rufen hörten und dann die beiden Riesen des Druden sahen, die vorher Ihre Mäuse gewesen waren.« Das war dem Rechtsanwalt ein bißchen zuviel. »Ben«, sagte er und schwieg bestürzt, weil er Denise Gordons Gesicht sah, in dem sich das nackte Entsetzen breitgemacht hatte. Ben flüsterte: »Leise, leise kommen Mäuse und…« Denise preßte ihre Hände gegen die Schläfen, wich zurück, stieß ein gepreßtes Nein aus, beachtete die Akte nicht, die sie hatte fallen lassen, und rannte im nächsten Moment aus John McPeers Arbeitszimmer. »Hör auf, Ben! Erzähle mir die Story von der letzten Nacht noch einmal«, forderte McPeer seinen Neffen auf und erhob sich, um hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Als Ben Lothan zu berichten begann, machte er sich Notizen. »Und meine Angestellte Denise ist mit deiner Denise im Old Gallows identisch, Ben?« vergewisserte er sich zum Schluß. 13 �
»Ja. Hat deine Denise vielleicht auch eine Tante, die Betty heißt?« Es überraschte ihn gar nicht, seinen Onkel nicken zu sehen. »Hat sie. Diese Tante ist ein armer Mensch.« »Ich weiß, Onkel. Nach einem Schlaganfall ist sie vollkommen taub geworden. Sie ist gelähmt und zahnlos, sie ist etwa sechzig Jahre alt und hat unter dem rechten Ohr eine ziemlich große Warze.« John McPeer ließ den Kugelschreiber fallen und blickte seinen Neffen sprachlos an. »Ben, bitte die Flasche und mein Glas.« Ein Zeichen, daß der Anwalt einer handfesten Stärkung bedurfte. Er trank einen Dreistöckigen in einem Zug. »Wenn ich nicht wüßte, daß Denise und du euch noch nie gesehen habt, dann müßte ich jetzt annehmen, du wolltest mich auf den Arm nehmen.« Er ergriff hastig den Telefonhörer, wählte eine Nummer und meldete sich dann. Er sprach mit Denise Gordons Vater. Es wurde ein langes Gespräch. Herr Gordon äußerte den Wunsch, diesen ihm unbekannten jungen Mann, der so unfaßbar viele Einzelheiten aus der Geschichte der Gordons kannte, kennenzulernen. Ben Lothan freute sich über diese Einladung, und darüber, daß sein Oheim zugesagt hatte, mitzukommen. Er hatte das Gefühl, in diesem Fall gar nicht genug Zeugen haben zu können. Nach dem Telefonat blickte ihn sein Onkel an und schüttelte den Kopf. »Was ist denn nun schon wieder, Onkel?« »Eine Eigentümlichkeit, Ben. Im normalen Sprachgebrauch ist Drude ein weiblicher Nachtgeist, eine Hexe oder Zauberin, also niemals männlich. In deiner Story aber spukt ein Drude mit grünen Krallen herum. Hier ist etwas nicht normal, Ben.«
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*
Inspektor Harry Donald von der Mordkommission dachte schon intensiv an den Feierabend, als Sergeant Milton ihm wortlos ein Fernschreiben vorlegte, das Scotland Yard abgeschickt hatte: An alle Polizeistationen Schottlands. »Was soll ich mit dem Käse, Milton?« sagte er unwirsch und schob den Tickertext zur Seite. »Legen Sie ihn ab.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »In fünf Minuten habe ich Feierabend und bin danach bis Montag früh acht Uhr für niemanden aus diesem Bau zu sprechen.« Er grinste genußvoll. Wenig später fuhr er in seinem MiniCooper vom Hof. Je länger Harry unterwegs war, um so leerer wurde die Straße und um so weiter lagen auch die einzelnen Dörfer auseinander. Harry pfiff zufrieden vor sich hin, er hatte ein komplettes, langes Wochenende vor sich, und kein Mensch wußte, wo er aufzutreiben war. Wer fuhr denn auch um diese Jahreszeit ins Hochmoor? Er! Und in Lester, im »Loch Ness«, sagte der Wirt Tom Chinook: »Hallo, Harry!« und strahlte über das ganze Gesicht, und Inspektor Donald erwiderte: »Hallo, Tom!« und klopfte ihm auf die Schulter. Danach tranken beide einige Scotch, später ging Harry Donald hinauf bis unters Dach. In der Kammer, in der nie jemand hatte übernachten wollen, war er zu Hause. Seit sieben Jahren, als er mal in Lester im Nebel steckengeblieben war, bewohnte er diesen kleinen Raum mit der schrägen Decke und den schiefen Wänden, und die zwei Pfund, die er dafür im Monat zahlte, taten ihm nicht weh. Wasser gab es draußen auf dem Gang. Die Toilette war eine 15 �
Etage tiefer. Er hatte sieh damit abgefunden, doch dann erst fühlte er sich pudelwohl, als er in die alte Hose gestiegen war, den noch älteren Pullover mit dem Rollkragen angezogen hatte und die plumpen Filzpantinen an den Füßen hatte. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, ging er wieder nach unten, sagte im Schankraum Hallo, und ebenso freundlich begrüßten ihn drei Männer aus diesem trostlosen Nest Lester am Rand des Hochmoores. Unaufgefordert setzte sich Inspektor Harry Donald zu ihnen, bestellte eine Runde und hörte sich dann den Dorfklatsch an. Unauffällig hatte sich Tom Chinook dem Tisch genähert. Er mischte sich in die Unterhaltung ein. »Es hat da in der Montagnacht einen jungen Engländer gegeben, der warf nur einen Blick in mein Zimmer Nr. drei, und schon raspelte der die Story vom Old Gallows herunter. Natürlich habe ich ihn rausgeworfen und Temple von der ›Maria Stuart‹ angerufen. Der hat ihn dann auch auflaufen lassen, diesen verdammten Lord.« Tom Chinook hatte die Lacher auf seiner Seite. Draußen hielt ein Wagen. Die Männer in der Gaststube achteten kaum darauf. Sie blickten auch nicht zur Tür, als sie geöffnet wurde. Zwei Männer traten ein. Der Jüngere hatte gegrüßt, der Ältere nur genickt. Der Wirt sah auf und saß auf einmal so steif, als ob er einen Ladestock verschluckt hätte. »Können wir Zimmer Nummer drei und Nummer vier haben?« fragte der junge Mann, der sich nicht anmerken ließ, das Erstaunen des Wirtes bemerkt zu haben. »Hallo, Mr. Chinook«, sagte da der Ältere laut und kam mit ausgebreiteten Armen auf den Wirt zu, dessen Verwirrung nun jedes Maß überstiegen hatte. Er begriff nicht, warum Rechtsanwalt John McPeer so freundlich zu ihm war, obwohl er den 16 �
Anwalt vor fünf Jahren erst nach mehrfachem Mahnen bezahlt hatte, weil es ihm doch so schwer fiel, sich vom Geld zu trennen. Sein Entsetzen wurde noch größer, als McPeer den jungen Mann als seinen Neffen vorstellte. Mit keinem Wort erwähnte der Anwalt zu wissen, daß Chinook seinen Neffen in der Montagnacht hinausgeworfen hatte. Er ging mit ihnen nach oben, zeigte ihnen die Zimmer, kam allein wieder herunter und wurde von Harry Donald an der Theke abgefangen. »Was war das, Tom?« Der schüttete ihm reinen Wein ein. »Was wollen die um diese Jahreszeit in Lester, Harry?« Der spottete: »Vielleicht im Old Gallows mal gut zu Abend essen.« In der nächsten Sekunde glaubte Inspektor Harry Donald von Mördern umgeben zu sein. Tom und die drei am Tisch versuchten ihn mit ihren Blicken zu erdolchen. Dann standen die drei schon, hatten die Münzen auf dem blanken Tisch klingen lassen, um wortlos vorbei zur Tür nach draußen zu gehen. An der Theke stand Inspektor Harry Donald allein. Tom Chinook war auch verschwunden. Mr. Harry Donald bekam Grund, sich über das eigenartige Verhalten einiger Männer aus dem Dorf Lester Gedanken zu machen. In Zimmer drei saß Ben Lothan auf seinem Bett. Sein Oheim stand am Fenster und blickte auf die Straße hinunter. »Du bleibst dabei, daß die Möbel in diesem Zimmer umgestellt worden sind, Ben?« Der drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Man hat sie sogar noch ausgewechselt. Wo ist denn die alte Truhe? Wo der klobige Eichenschrank mit den beiden Türen? Und dieses Bett, das ist doch noch keine zehn Jahre alt. Was ich aber in der Montagnacht zu sehen bekam, hatte seine dreihundert Jahre auf dem 17 �
Buckel.« Der Anwalt schien auf Ben Lothans Worte nicht geachtet zu haben. »Drei Mann haben gerade den Gasthof verlassen. Schade, so sind wir gleich mit dem Inspektor allein!« Zusammen gingen sie nach unten in die Schankstube. »Hallo«, rief Inspektor Harry Donald und setzte sich zu ihnen. Er, der sonst so verschlossene Mann, war mitteilungsbedürftig, weil er sich über Tom Chinook und die drei Ureinwohner aus diesem Nest maßlos geärgert hatte. Er brachte ein Gespräch in Gang. Draußen hielt ein Wagen. Niemand achtete darauf. Die drei Männer drehten sich ahnungslos um, als die Tür geöffnet wurde. Die haben mir noch gefehlt, dachte Ben Lothan entsetzt, als er in den neuen Gästen Miß Denise Gordon und ihren Vater erkannte. Woher kommen die denn? fragte sich der Anwalt ratlos. Er wußte hundertprozentig, den beiden Gordons sein Reiseziel für dieses Wochenende nicht verraten zu haben. Dieses Treffen schien wirklich reiner Zufall zu sein. Alle beteuerten es sich gegenseitig. Inspektor Harry Donald kam sich überflüssig vor und wollte sich verabschieden, als schon wieder zwei Gäste eintraten – die kannte er. »Hallo Melissa! – Hallo Walt!« Mit ausgebreiteten Armen ging Harry Donald auf seine Halb-Freunde zu, die beide über ihr Gesicht strahlten und über die Anwesenheit des Inspektors erfreut waren. Zu den anderen sagten sie flüchtig guten Abend, ließen sich von Tom Chinook das Gepäck nach oben bringen und nahmen etwas später zusammen mit dem Inspektor an einem anderen Tisch Platz. Oscar Gordon, Denises Vater, sah Ben Lothan mitten im Gespräch auf einmal an. »Nur die Neugier hat uns in diese triste Gegend gebracht, Mr. Lothan. Denise und ich hätten uns gern mal das Zimmer angesehen, das Ihrem Bericht nach in seinem 18 �
Aussehen mit dem in Old Gallows identisch war.« Der Anwalt stöhnte in komischer Verzweiflung: »Sehen können Sie das Zimmer, nur ist es mit seinen Möbeln nicht mehr der Raum, den mein Neffe hier bei seinem ersten nächtlichen Besuch gesehen haben will…« »Gesehen hat!« berichtigte Ben Lothan seinen Onkel. Der Jurist erwiderte: »Das behauptest du, aber du kannst es nicht beweisen. Also, lieber Herr Gordon, Ihre Fahrt zum Hochmoor ist umsonst gewesen. Nun, mein Neffe und ich hatten uns auch nicht viel versprochen, nur eins ist in diesem Dorf merkwürdig: Man darf einem Einwohner gegenüber keine witzige, ironische oder spöttische Bemerkung über den Old Gallows machen. Sie reagieren sauer darauf.« Wenig später schickte McPeer den Wirt mit dem von ihm hergestellten Abendbrot zurück, weil es kalt und ungenießbar war. Der polterte im Weggehen: »Wir sind kein Hilton und auch kein Carlton. Sie sind in Lester, und wenn es Ihnen hier nicht paßt, können Sie ja ausziehen.« »Seltsame Geschäftsmethoden«, murmelte Oscar Gordon und sah diesem Grobian von Wirt entgeistert nach. »Mich hat er mitten in einer Nebelnacht hinausgeworfen, weil ich eine Bemerkung über sein Zimmer drei gemacht hatte.« McPeer lehnte sich zurück und schien sich zu amüsieren. »Man scheint aus dem Old Gallows ein Heiligtum gemacht zu haben. Es wäre doch interessant zu erfahren, warum die Leute in Lester so bedacht darauf sind, daß bloß kein einziges böses Wort über diese uralte Galgenkneipe gemacht wird.« Wenig später kam der Wirt mit der Fleischplatte zurück, den Rand hielt er mit Hilfe eines Serviertuches fest. Tom Chinook hatte die Platte noch nicht abgesetzt, als Ben Lothan fragte: »Sagen Sie mal, Mr. Chinook, warum machen die Leute hier in Lester um diesen blöden Gespensterschuppen Old 19 �
Gallows so viel Wind?« Im nächsten Augenblick brüllte Chinook auf. Die schöne, schwere Fleischplatte mit dem Rinderbraten und der Soße darauf lag umgedreht auf dem Boden. Ben Lothan kniete neben der Fleischplatte, stöhnte laut los und rief seinen Onkel. Der hockte sich neben ihn. Die beiden Gordons taten es ihm nach. In der Zwischenzeit wollte der Wirt die Fleischplatte an sich nehmen, kam aber nicht heran, weil Ben Lothan ihn zurückstieß. Deutlich war auf der Rückseite der Fleischplatte das Wappen der Gordons zu sehen, aber das Wappen in jener Form und jenem Aussehen, wie es um 1510 herum dargestellt wurde. Wie unglaubwürdig klang Tom Chinooks Beteuerung, diese Platte in seinem »Loch Ness« noch nie gesehen zu haben und nicht zu wissen, wie sie in seinen Besitz gekommen sei. Er rief seine Frau, die sah die Platte und bevor ihr jemand etwas hatte sagen können, fragte sie ihren Mann ganz und gar entgeistert: »Tom, woher haben wir denn diese Fleischplatte?« Kein Wunder, daß die drei anderen Gäste nun herankamen. So lernte man Miß Melissa Phyll und Walt Osborne kennen, die der Inspektor vorstellte. »Gordon?« echote Walt, als der Anwalt Vater und Tochter vorgestellt hatte. Bei Nennung dieses Namens standen Mr. und Mrs. Chinook da wie kleine Kinder, die sich vor Angst in die geballte Hand bissen und dabei nicht mehr ruhig stehen konnten. Blaß war ihr Gesicht und die Augen unnatürlich groß. »Nein!« schrie Mrs. Chinook auf, bekam ihren Mann zu fassen und riß ihn mit sich. Auf dem Weg zur Küche schrie sie gellend: »Nein, er hat uns doch gesagt, daß es die Gordons nicht mehr gibt.« 20 �
In der Gaststube des »Loch Ness« rückte man eng zusammen. Obwohl Ben Lothan wirklich keine Lust hatte, seine Gespensterstory schon wieder zu erzählen – er mußte es. Er begann: »Es war Nacht, stockdunkle Nacht, und ich war in meinem Austin unterwegs…« Die sechs Menschen hörten ihm zu, und Ben Lothan wurde es nicht bewußt, wie stark er sein gespenstisches Erleben noch einmal in jeder Szene miterlebte. Er hörte weit in der dunklen Nacht Smildy den Zauberspruch sagen, und er wiederholte ihn: Leise, leise, kommen Mäuse, und aus diesen werden Riesen! Kaum hatte Ben die letzte Silbe des Spruches über die Lippen gebracht, als in der Küche ein höllischer Lärm zu hören war. Der ganze Gasthof schüttelte sich wie unter einem Erdbeben. Der Boden schwankte, die Scheiben in den Fenstern klirrten, und da zersprang auch schon eine, und aus der Küche kam schreiend, den nackten Wahnsinn in den Augen, Mrs. Chinook gerannt, und sie stammelte: »Er hat… Sie nicht, aber er… Der Drude hat ihn geholt… der Drude…« Neben der Theke brach sie zusammen, und Inspektor Donald war nicht schnell genug, um sie aufzufangen. Der Lärm in der Küche war verklungen. Mr. Walt Osborne kümmerte sich um die bewußtlose Wirtin. Inspektor Donald, McPeer, Ben Lothan, und Oscar Gordon schauten in die Küche hinein, die ein einziger Trümmerhaufen war. In der Küche gab es nicht einmal mehr eine Decke und auch keinen Fußboden. Oben und unten war ein Loch! Auch in der Wand nach draußen war ein Loch. Der große Küchenherd, auf dem mehr als zehn große Töpfe Platz fanden, lag draußen zwischen den Sträuchern und – war in sich verbo21 �
gen! Es gab keinen einzigen heilen Topf mehr. Auch der letzte war wie eine dünnwandige Konservendose zerdrückt. Die großen Löffel sahen nicht besser aus, der Feuerhaken stellte keine Ausnahme dar, und Tisch und Stuhl waren so klein wie Brennholz. Das alles war innerhalb einer halben Minute zerstört worden? Aber von wem denn? Riesen gab es doch gar… »Nein…«, hauchte Oscar Gordon und blickte Ben Lothan an, als ob er der Teufel selber sei. »Nein, das darf nicht wahr sein. Das kann nicht sein. Das ist unmöglich, aber Sie, Mr. Lothan, Sie haben eben den Zauberspruch gesagt, und da ist das hier passiert.« Es kroch Ben Lothan kalt über den Rücken, weil er drauf und dran war, es auch zu glauben, und er hatte doch in der Nacht, als er im Old Gallows so gut gegessen und getrunken hatte, die beiden Riesen gesehen, die Smildy aus Denises Mäusen hatte werden lassen. Er hatte sie gesehen, und er hatte sie gehört. Länger konnte er den Blick der anderen nicht mehr ertragen. Er brüllte los: »Ihr gehört doch alle ins Irrenhaus, wenn Ihr glaubt, das wäre alles durch den blöden Spruch geschehen. Paßt doch mal auf, wie der wirkt…« Und bevor ihn jemand in seinem Vorsatz einhalten konnte, rasselte er zum zweitenmal an diesem Abend Smildys Zauberspruch herunter. »Nein! Nein…!« schrien hinter den Männern an der Tür die beiden Frauen, doch Ben Lothan war nicht zu stoppen. Er vollendete das Aufsagen des Spruches und flog im nächsten Moment durch die Luft – durch das Loch in der Wand nach draußen in den Garten, wo die total zerstörte Kücheneinrichtung lag. Er war der letzte, der eine solche Flugreise gemacht hätte, aber 22 �
er war der erste, der wieder zum Bewußtsein kam, und mit noch halb verschleiertem Blick sah er, wie die Wirtin sich ihren Mann über die Schulter warf und mit ihm in die Nacht hinein verschwand. Tom Chinook konnte von diesem ungewöhnlichen Transport nichts mehr bemerken. Er war tot. Sein Mörder, der die Kräfte eines Riesen gehabt haben mußte, hatte ihm buchstäblich den Hals umgedreht. Niemand wollte Ben Lothan diese Angaben glauben. Mr. Osborne bestätigte sie. »Ich habe es auch gesehen, nur nicht so eindeutig wie Mr. Lothan.« Er wischte sich das Blut von der aufgeschlagenen Lippe und schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Erklärung für das Verhalten der Wirtin. – Mein Gott, wohin kommen wir, wenn wir an die Wirkung dieses dummen Spruches glauben! Aber Sie hatten kaum die letzte Silbe ausgesprochen, da sprang die Wirtin hoch, benutzte mich als Wurfgeschoß, ich prallte gegen die Männer an der Tür und wurde dennoch nicht von ihnen aufgehalten. Ich flog nach draußen.« Schmerzhaft verzog er sein Gesicht. »Mir tun alle Rippen weh.« Die beiden Frauen -, Denise Gordon und Melissa Phyll –, klagten als einzige nicht. »Unsinn!« fauchte Ben Lothan. »Das alles hier hat mit meinem Zauberspruch überhaupt nichts zu tun. Bitte…« Ihn ritt der Teufel. Ben Lothan zitierte den anderen: Riesen, Riesen, gehet leise, werdet wieder kleine Mäuse! Die beiden Frauen schrien, als ob man sie heimtückisch erdolcht habe. »Mäuse… Da, Mäuse – verjagt sie doch, die Mäuse.« Ein Mäusepaar lief zwischen den Trümmern herum und ließ 23 �
sich durch das gellende Geschrei der beiden Frauen nicht stören. McPeer warf einen Steintopf nach ihnen und mußte sie voll getroffen haben, doch da glaubte auch Ben Lothan zu fühlen, wie sich seine Haare sträubten. Die Mäuse befanden sich im Moment, als der Steintopf sie erschlagen mußte, einen guten Yard von der Einschlagstelle entfernt und verschwanden nun unter einem der herabgestürzten Deckenbalken. Besonders eilig hatte das Mäusepaar es nicht gehabt. Die beiden Frauen schrien nicht mehr. Von der Gaststube fiel immer noch Licht auf diesen Trümmerhaufen. Ben Lothan duckte sich unter den Spießrutenblicken der anderen. Er wagte nicht einmal mehr an Smildys Zaubersprüche zu denken. * Die Beamten aus Crocky waren wieder zurückgefahren und hatten Inspektor Harry Donald noch viel Glück gewünscht. Ihnen waren die Ereignisse in Lester viel zu unheimlich, und sie hatten nur noch mit Widerwillen gearbeitet, als sie die Gespenstergeschichte komplett erfahren hatten. »Wer kann hier von Mord sprechen? Wo ist der tote Tom Chinook zu sehen? Nein, Kollege, bis auf die rätselhafte Zerstörung der Küche dieses Gasthofes gibt es für mich und meine Beamten hier nichts zu tun. Wir werden uns wieder darum bemühen, wenn die Versicherungsgesellschaft an uns herantritt.« Alle Gäste waren ins »Maria Stuart« umgezogen, und der Wirt Frank Evergeen hatte sie mit süßsaurem Gesicht herzlich empfangen. Ben Lothan kippte einen Gin nach dem anderen, und das alles auf nüchternen Magen, so daß John McPeer um seinen Neffen zu fürchten begann. Der wehrte heftig ab. »Ich werde nicht betrunken. Auch dann 24 �
nicht, wenn ich die ganze Flasche leer mache. Oheim…« Mit seiner Pause machte er es überaus spannend. Niemand ahnte, worauf er hinauswollte. »Gerade erst habe ich das Gesicht von Tom Chinooks Frau unterbringen können: sie gleicht Smildy aufs Haar!« Er sprach von der Hexe, die ihn im Old Gallows mit Bier und warmem Abendessen versorgt hatte. Walt Osborne lachte anzüglich, während Melissa Phyll ihn musterte, als ob er die Pest an sich habe. Nur der Inspektor verzog keine Miene. »Boy«, sagte der Anwalt und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der schüttelte sie belästigt ab. »Ihr tut hinterher immer so, als ob es das nie gegeben habe, was gerade erlebt worden ist.« Er ließ sie stehen, aber er nahm seine Ginflasche mit. Dann löste der kleine Haufen sich zögernd auf. Zuerst verschwand der Rechtsanwalt, nach ihm die Gordons, dann zogen sich Melissa Phyll und Walt Osborne zurück, zuletzt verschwand der Inspektor in seinem Zimmer. Der Wirt Frank Evergeen war nun endlich in seiner Schankstube allein. Vom Hochmoor herunter heulte der Wind, er schien voller Regen zu sein. * Zum Frühstück trafen sie sich alle wieder, und Ben Lothan und sein inzwischen auf drei Personen angewachsener Anhang erfuhren, was Walt Osborne und Melissa Phyll ins Hochmoor getrieben hatte: sie waren Botaniker und auf der Jagd nach selten gewordenen Moosarten, die nur im Herbst zu finden waren. Gleich nach dem Essen erkundigte sich Ben nach der nächsten Station der Straßenpolizei. 25 �
»Gibt es hier doch keine«, behauptete der Inspektor. Frank Evergeen mußte heran und Auskunft geben, der nun mürrisch vor der Gesellschaft stand und sagte: »Wer hat denn den Unfug behauptet? Ich möchte wetten, daß seit Jahr und Tag kein Streifenwagen der Straßenpolizei ums Hochmoor herumgefahren ist.« Ben Lothan fühlte den fragenden Blick seines Onkels auf sich ruhen, und er wußte, was der damit sagen wollte. Er legte seine Serviette auf den Tisch und fragte den unfreundlichen Wirt: »Kann ich mal telefonieren?« Er durfte und kam bald wieder zum Tisch zurück. Ihm war der Appetit vergangen. Er hatte mit der Leitstelle der Straßenpolice telefoniert und erfahren, daß es bei ihr weder einen Streifenwagen Caesar-8 gab, noch einen Sergeanten mit Namen Brook und daß in der Nacht zum 3. Oktober gegen drei Uhr kein Fahrzeug der Straßenpolizei im Bereich des Hochmoores gewesen sei. Zum Teufel, fragte sich Ben Lothan in Gedanken, wer war dann dieser Sergeant Brook, der mich um diese frühe Morgenstunde hinter dem Steuer meines Austins fand und weckte? Etwa auch ein Gespenst, aber keines aus dem 16. Jahrhundert, sondern eins aus dem 20., das Auto fahren konnte? Die Gordons verspürten nicht die geringste Lust, bei diesem unfreundlichen Wetter vor die Tür zu gehen, darum nahmen sie die Einladung der beiden Botaniker gern an, mit ihnen und dem Inspektor Bridge zu spielen. Ben Lothan und sein Oheim waren froh, allein zu sein. Ben hatte McPeer in seinen Austin gepackt, und bald lag das kleine Nest Lester hinter ihnen. Ben Lothan wollte seinem Onkel die Stelle zeigen, an der er in seiner ersten Gespensternacht von der Straße abgekommen war und sich festgefahren hatte. Nachdem Ben Lothan zum zehntenmal, und wiederum vergeblich, angehalten hatte, konnte ihn der Anwalt nicht mehr überre26 �
den, noch einen elften Versuch zu machen. Vielleicht würde er die Stelle doch noch finden? »Oheim, es gibt sie nicht!« sagte sein Neffe und ließ bei jedem Wort die Faust gegen sein Lenkrad krachen. »Es hat den Sergeanten Brook nicht gegeben und seinen Streifenwagen Caesar-8 nicht. Ich glaube sogar, daß es den toten Tom Chinook nicht gibt. Den lebendigen ebenfalls nicht. Onkel, du bist doch Jurist und von Berufs wegen gezwungen, deine Gedanken in logischen Bahnen zu bewegen. Versuch du doch mal in dieses Tohuwabohu System hineinzubringen. Vielleicht kommen wir dann zu einem Punkt, der uns ahnen läßt, wie man im Bereich von Horrorgeschichten zu denken hat.« Die Wolken hingen tief. Das vergammelte Gras war zerfetzt und unansehnlich geworden. Überall waren Pfützen zu sehen, aber kein Stück blauer Himmel, und auch nichts vom nahen Hochmoor. »Wir haben mit unserer Gespensterstory die Polizei aus Crocky buchstäblich verjagt, Oheim. Hätten wir dich nicht dabeigehabt und den Inspektor, man hätte uns bestimmt zu einem Psychiater geschleppt, aber ist die Küche im ›Loch Ness‹ ein Trümmerhaufen oder nicht, Onkel?« Er wendete den Wagen und wollte wieder nach Lester zurückfahren. Mitten in diesem Vorgang legte ihm der Anwalt die Hand auf den Arm. Ben Lothan stoppte den Wagen. »Was ist denn?« »Weißt du, wo der Moorbauer wohnt, der dich nach deinem Steckenbleiben wieder auf die Straße gezogen hat, Ben?« »Klar. Er nannte sich Haso.« »Und du würdest ihn wiedererkennen?« »Natürlich.« »Dann suchen wir ihn einmal auf.« Es gab das Dorf, in dem dieser hilfsbereite Moorbauer wohnen 27 �
sollte, aber es gab ihn persönlich darin nicht. »Haso? Ein Patrick Haso hat bei uns noch nie gewohnt«, sagte ihnen ein alter Mann, der an der Pumpe stand und einen Eimer mit Wasser füllen wollte. Sie mußten ihm glauben. Allzuschwer war es auch nicht, denn der Ort bestand aus sieben armseligen Häusern, doch Ben Lothan gab sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden. Er machte sich die Arbeit, überall anzuklopfen. Umsonst! Sein hilfsbereiter Moorbauer befand sich nicht unter den Bewohnern. Da schien John McPeer die goldrichtige Idee zu haben. »Das planlose Suchen hat keinen Zweck mehr. Wir müßten versuchen herauszufinden, warum man in Lester den Namen Old Gallows, und alles was mit diesem Galgengasthof zusammenhängt, wie ein Tabu behandelt. Vielleicht finden wir dabei die Schlüssel zur Lösung dieses Horrorfalles.« Ben Lothan sah seinen Onkel scharf an: »Du zweifelst also nicht an meinem Verstand, Oheim?« Der erwiderte, ohne gezögert zu haben: »Das habe ich von Anfang an nicht getan, nur habe ich nie an Gespenster geglaubt und –, ich will ehrlich sein, Ben –, bei allem, was ich bisher erlebt habe, fällt es mir schwer, daran zu glauben.« »Und die Kraft der Zaubersprüche, Onkel?« Der zuckte mit den Schultern. »Und die total zerstörte Küche des »Loch Ness«, Onkel?« Der stellte die Gegenfrage: »Warum war auch die Polizei aus Crocky nicht in der Lage, die drei Propangasflaschen zu finden, mit denen Tom Chinook seine Gasherdbatterie betrieben hat?« Ben Lothans Antwort ließ nicht auf sich warten: »Wer in der Lage ist, Wände zu zerstören oder einem Menschen buchstäblich den Hals umzudrehen, der kann auch drei Gasflaschen verschwinden lassen.« 28 �
»Der kann also auch Tom Chinook und seine Frau verschwinden lassen. Deswegen brauchen sie nicht tot zu sein, und daß du in der Wirtin erst so spät Smildy, die Hexe, erkannt haben willst, kommt mir verdächtig vor. – Nein, nein, Ben, damit will ich dir nicht zu nahe treten. Da ist etwas Undefinierbares, das nicht alle Menschen spüren können. Ich habe es zweimal erlebt, daß Mordverdächtige –, und den vorliegenden Beweisen nach mußten sie Mörder sein –, mir, ihrem Anwalt, sagten sie seien unschuldig und ich spürte, daß sie unschuldig waren, aber ich konnte es nicht beweisen. Es schien sinnlos zu sein, um ihre Freiheit ernsthaft zu kämpfen, doch weil es dieses Undefinierbare in mir gab, kämpfte ich damals um die Wahrheit und brachte sie ans Licht. Hier scheint es mit deinem so späten Wiedererkennen der Smildy ebenso zu sein, doch ebensogut kann ich mich irren. Fahr los, Boy. Ich bin gespannt, was wir in Lester erfahren und warum die Menschen aus dem Old Gallows ein Tabu gemacht haben.« * Einer Mauer aus eiskalter Abneigung standen sie in Lester gegenüber. Pater Shannon zum Beispiel würdigte die beiden Fragesteller keines Wortes und knallte ihnen die Tür vor der Nase zu. Ebenso unfein zeigte sich der Lehrer der einklassigen Schule. Zum Schluß gab es als letzte Hoffnung nur noch Archibald Duke, den alten Schwätzer, aber als sie vor dessen Haus anhielten, verzichteten sie beim Anblick von sieben wandelnden Kleiderschränken darauf, den Austin zu verlassen. Lesters Patrioten schirmten ihren Archibald Duke vor neugierigen Fremden hermetisch ab. Mit einem Null-Ergebnis kamen sie ins ›Maria Stuart‹ zurück. Die anderen spielten immer noch Bridge. 29 �
*
Nach dem Mittagessen regnete es. Niemand hatte Lust, Ben Lothan nach draußen zu folgen, doch dann war zu seiner Überraschung Denise Gordon bereit, mit ihm eine Fahrt im Austin zu wagen. »Wohin soll es denn gehen, Mr. Lothan?« Ihr Goldhaar schimmerte trotz der tristen Beleuchtung des trostlosen Regentages; und ihre dunklen Augen blinkten neugierig. Im gleichen Moment mußte Ben Lothan daran denken, daß er mit ihr als Besitzerin des Old Gallows einen Abend verbracht hatte. Eine verrückte Vorstellung, aber ihm schien sie gar nicht so verrückt, besonders jetzt nicht, als er dieselbe Denise Gordon nun in seinem Austin neben sich sitzen hatte. »Ich will mit Ihnen die Stelle suchen, wo einstmals das Old Gallows gestanden hat, Denise. Na, steigen Sie jetzt nicht aus?« »Nein.« Er bewunderte ihren Mut. »Ich bin gar nicht mutig, aber viel neugieriger als feige.« Er lachte über ihre Formulierung und freute sich bei der Entdeckung, daß sie ein patenter Kerl war. Der Austin brachte sie aus Lester hinaus. Hier und dort starrte man dem Wagen auffallend lange nach. »Ich begreife diesen Haß nicht, den man uns in diesem Kaff so ungehemmt merken läßt«, sagte er zu seiner hübschen Begleiterin. »Er ist unsinnig, er ist lächerlich. Er hat gar keine Bedeutung. Herrgott, ja, ein paar alte Frauen mögen an Smildy, an den Druden und an seine Mäuseriesen glauben. Diesen Komplex könnte ich verstehen, ich würde die Gruppe abergläubischer Menschen mit einem ironischen Lächeln abtun, doch hier hat ein 30 �
komplettes Dorf, vom Einfältigsten angefangen über den Lehrer bis zum Pater, das Old Gallows zum Tabu gemacht. Und das verstehe ich nicht! Das ist…« »Aufpassen, der Bus!« unterbrach sie ihn. Er zuckte nicht einmal zusammen, aber seine Hände verkrampften sich um das Lenkrad, und die Knöchel wurden weiß. Starr blickte er durch die Windschutzscheibe und den im Takt arbeitenden Scheibenwischerblättern nach draußen und hielt seinen Wagen genau auf Kurs. Einen Bus gab es auf der Straße nicht. Aber irgendwo im Regen gab es Smildy, denn er hörte schon wieder ihre Stimme, und deutlich vernahm er den Anfang ihres Spruches. Da trat er auf die Bremse. Es kümmerte ihn nicht, als Denise Gordon mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe stieß und nach vorn flog. Der Wagen schlingerte, weil das rechte Hinterrad blockierte. Er fing das Schleudern ab, brachte ihn am Straßenrand zum Stehen und zog die Handbremse an, als sie wie erlöst ausstieß: »Mein Gott, war das knapp. Der Bus hätte uns plattgewalzt…« Ben Lothan wunderte sich nicht einmal darüber, weil er einfach keine Zeit dazu hatte. Weil er auf Smildys Riesen wartete; sie waren ihm wichtiger als der Bus. Draußen lief der Regen über die Windschutzscheibe. Der Wischer arbeitete nicht mehr. Die Sicht wurde schlechter. Diese irrsinnige Gottverlassenheit des Hochmoores hatte sich nach allen Seiten breitgemacht und versuchte auch die letzten Impulse zu ersticken. Smildys Stimme war nicht mehr zu hören. Der Regen hatte sie verschluckt, vielleicht auch der Wind. Einmal drehte sich Ben Lothan nach seiner Mitfahrerin um, nahm aber die Prachtbeule 31 �
an ihrer Stirn nicht wahr. »Ben, warum hat der Bus hinter uns angehalten?« Was ging ihn dieser Bus, den es nicht gab, an? Seine Antwort kam nicht. Denise Gordon wunderte sich darüber nicht. Er wartete auf die beiden Riesen des Druden, der wiederum Smildys Sohn war. Gerade versuchte er sich vorzustellen, wie er die Riesen in seiner Erinnerung hatte, und wie sie aussahen, als Denise Gordon aufschrie: »Sie steigen aus! Sie steigen aus…« Im gleichen Moment hörte er hinter seinem Wagen auch schon den schweren Schritt der Riesen auf der Straße. Und dieser Schritt klang genauso wie in der Nacht im Old Gallows! Angst überfiel ihn, hundsgemeine, unbeherrschbare Angst. Der Starter drehte, der Motor sprang an. Im Mittelspiegel sah er die Riesen des Druden herankommen. Sie liefen. Sie wurden immer schneller. Sie wollten ihm nicht die Chance geben, zu entkommen. Er warf den Gang ein, gab Gas, und sein Wagen schoß mit durchdrehenden Pneus davon. Dritter Gang… Sie waren immer noch hinter ihnen. Der Austin zog heulend durch die Kurve. Die Riesen hatten den Weg abgeschnitten und kamen über die Böschung herunter. Irrsinnig vor Angst schrie Denise Gordon! Ben Lothan preßte die Zähne zusammen und begriff, daß sie um ihr Leben flohen. Die Fratzen der Riesen waren unbeschreiblich. Ihre Augen spien Höllenfeuer aus, Mordlust, Grausamkeit und Freude am Quälen. Durch die Kurve und Gas geben! Der Regen wurde zum Wolkenbruch. Auf der Windschutzscheibe lag ein Wasserfilm, der kaum noch zu durchblicken war. Der Mittelspiegel zeigte, daß die beiden Riesen etwas zurückgeblieben waren. 85 Meilen pro Stunde verriet der zitternde Zeiger des Tachos. 32 �
Eine wahnsinnige Geschwindigkeit für die Bergstrecke am Rand des Hochmoores. »Ben, sie werden schneller! Ben, mein Gott, und hinter ihnen — hinter ihnen sehe ich die grünen Krallen des Druden!« Ben Lothan trat das Gaspedal bis zum Bodenbrett durch. Der Austin hatte einen regelrechten Satz gemacht und flog wie eine Rakete, die unentwegt beschleunigt, der nächsten Kehre zu. Rechts wurde sie von einer aufragenden Felswand begrenzt und links von einem Abgrund. Er war nicht besonders tief. Schnell einen Blick in den Mittelspiegel. Ben Lothan duckte sich unwillkürlich, als er hinter den beiden Riesen die grünen Krallen entdeckte, die Peitschen schwangen, und mit Peitschenhieben wurden Smildys Riesen angetrieben, noch schneller zu werden. Der Drude wollte sie nicht entkommen lassen! Der Drude war hinter ihnen her. Der Drude bediente sich der unbeschreiblich häßlichen Monster und schlug gnadenlos auf sie ein. Vollgas stehenlassen! Denise Gordon hatte die geballte Hand in den Mund gesteckt, um nicht laut aufzuschreien. Ben Lothan fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach und seine Hände am Lenkrad naß wurden. Sie schossen der Kehre entgegen. Keine hundert Yards trennten sie noch. Ben Lothan ließ den Fuß auf dem Gaspedal stehen. Wenn doch nicht dieses nervenzerreibende Trampeln der beiden Riesen so dicht hinter dem Wagen zu hören gewesen wäre. Er fühlte, wie sich das Stampfen der säulendicken Riesenbeine in sein Inneres hineinfraß und es auszuhöhlen drohte, und Denise Gordon war mit ihrer Angst zu einem Mammutsender geworden, der unerträgliche Störimpulse ausstrahlte. Den Fuß auf dem Gaspedal stehenlassen! Wieder ein Blick in den Mittelspiegel. Hinter den Riesen waren immer noch die grünen Krallen des Druden zu sehen, aber keine 33 �
Spur von ihm selbst. Und wie die Monster gepeitscht wurden! Denise Gordon umklammerte seine linke Schulter. Er machte nicht den Versuch, sie abzuschütteln. Der Wasserfilm auf der Windschutzscheibe riß weit auf. Ein Schatten fiel in den Fond. Ben Lothan schrie nun so laut wie Denise Gordon. Einer der beiden Riesen hatte mit einem unbeschreiblich weiten Satz den Wagen übersprungen, stand nun am Scheitelpunkt der Kehre, hielt beide Arme von sich gestreckt und seine Pranken so, daß sie zu jeder Sekunde den Wagen wie ein Spielzeug fassen konnten. Ein Entkommen gab es nicht mehr. Die Riesen der Smildy hatten sie eingeholt! »Ben, warum sagst du nicht den anderen Spruch…?« schrie Denise Gordon ihn voller Verzweiflung an, und als ob gerade ein Schleier vor seinen Augen zerrissen sei, erkannte er, was er versäumt hatte. »Riesen, Riesen, gehet leise…« Sein Zauberspruch kam zu spät. Die Felswand rechts der Kehre war erreicht, und erreicht war der Riese, der mit den Zähnen fletschte. »Ben…« Denise Gordons wahnsinnig lauter Schrei mischte sich mit dem Brüllen der beiden Monster. Im gleichen Moment raste der Austin durch das Monster wie durch eine Nebelwand – aber nicht aus Nebel war der Felsen hinter dem Monster. Das Krachen des Wagens, in dem das Glas kreischte und die sich verbiegenden Bleche schrien, hörten Ben Lothan und Denise Gordon nicht mehr. Der Wind kam vom Hochmoor und fachte die Flammen aus dem brennenden Austin noch mehr an. *
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Dr. Raleigh hatte alle Hände voll zu tun und kam kaum zum Nachdenken. Erst als er auch Mr. Walt Osborne behandelt hatte, gönnte er sich eine Pause, aber da standen diese beiden Beamten bei ihm und fragten ihm fast ein Loch in den Bauch. Inspektor Harry Donald war genauso lästig wie seine Kollegen aus Crocky. »Nein«, erwiderte der Doc, »die Verbrennungen sind bei keinem der Betroffenen sehr schlimm. Miß Gordon und Mr. Lothan hatten unverschämtes Glück, daß Mr. Osborne so schnell zur Stelle war, als sie gegen die Felswand gefahren waren und er sie aus den Flammen zerrte.« Dann sah der Arzt die beiden Beamten erstaunt an. »Natürlich können Sie sie verhören. Bloß wünsche ich Ihnen viel Spaß dabei.« Wie er es mit dem letzten Satz gemeint hatte, erfuhren sie, als sie Miß Gordon und Mr. Lothan befragten, wie es zu dem unerklärlichen Unglück gekommen war. Harry Donalds Kollege aus Crocky kochte schnell vor Wut, als er von den beiden Riesen hörte, von den grünen Krallen des Druden und von Smildys Zauberspruch. In der Ecke des Zimmers, dicht am Fenster, stand der Hobby-Botaniker Walt Osborne und grinste anzüglich. Sein Grinsen fiel Harry Donald auf. Barsch befragte er ihn. Osborne behielt sein Grinsen bei. »Sir«, sagte er höflich und bereitwillig, »vielleicht war Mr. Lothan, als das Unglück passierte, Miß Gordon gegenüber gerade mal kein Gentleman.« Das hätte er nicht sagen sollen. Lautlos wie ein Schatten war der an Händen und Kopf verbundene Ben Lothan aufgesprungen, an dem Beamten aus Crocky vorbei, hatte den Inspektor zur Seite gedrückt, und dann war es auch schon soweit. Der Botaniker, Lothans Retter, schrie auf, der junge Mann aus Liverpool verzog schmerzhaft sein Gesicht und 35 �
hielt seine rechte Hand fest, Harry Donald mischte sich ein und sagte scharf: »Aber Mr. Lothan, man schlägt doch nicht.« Walt Osborne blutete aus der Nase. Lothans Faustschlag hatte unter Druck gestanden und war sauber angekommen. Denise Gordon strahlte den Engländer an, der ihrer Meinung nach auf die anzügliche Bemerkung des Botanikers mit der einzig richtigen Antwort eingegangen war und ihm die Nase etwas deformiert hatte. »Inspektor«, schnaubte Ben Lothan, weil ihn seine rechte Hand unbeschreiblich schmerzte, »man macht auch solche dreckigen Bemerkungen nicht. Muß dieser Herr eigentlich dabeisein, wenn Sie uns befragen?« Wenn Blicke hätten töten können, Ben Lothan wäre in diesem Augenblick ein toter Mann gewesen. Der vor Wut bebende Mr. Osborne war in dieser Sekunde zu seinem unversöhnlichen Feind geworden. »Ferkel!« sagte Lothan so laut, daß es Osborne unbedingt hören mußte, als er im Flur die Tür schloß. »Er hat Ihnen und Miß Gordon das Leben gerettet, Mr. Lothan«, hielt ihm der Inspektor vor. »Ohne sein heldenmütiges Eingreifen wären Sie beide verbrannt.« »Trotzdem gibt ihm das nicht die Erlaubnis, eine Dame zu beleidigen, Inspektor.« Dessen Kollege aus Crocky übernahm das Verhör. »Sie bleiben dabei, daß Ihr Wagen von zwei schemenhaften Riesen verfolgt wurde?« »Schemenhaft?« unterbrach ihn Denise, und ihre dunklen Augen strahlten grell vor innerlicher Erregung und standen in wunderbarem Kontrast zu ihrem herrlichen Goldhaar. »Ich wenigstens habe Smildys Riesen ganz deutlich gesehen. Du nicht auch, Ben?« Der nickte. »Bloß kann ich ihr Aussehen nicht exakt beschrei36 �
ben.« »Danke, ist auch nicht nötig«, sagte der Beamte aus Crocky. »Wirklich nicht. Und als einer der beiden Riesen über Ihren Wagen hinweg nach vorn gesprungen war, da fuhren Sie durch den Riesen hindurch, als ob er bloß aus Nebel sei?« Einen Moment lang zögerte Ben Lothan mit seiner Antwort, dann sagte er fest: »Selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich für verrückt erklären – ja, ich sah nur den Riesen vor mir. Keine Spur mehr von der Straße oder ihrer Kehre. Auch keine Spur vom Abgrund auf der einen Seite und der Felswand auf der anderen.« »Und im Mittelspiegel sahen sie die grünen Krallen des Druden, und diese Krallen hielten Peitschen und trieben damit die Riesen an, schneller zu laufen, nicht wahr?« Die Worte des Inspektors aus Crocky trieften vor Ironie. Ben Lothan begriff, daß er sich mit seiner wahrheitsgemäßen Aussage in eine heikle Situation begeben hatte, und vielleicht wäre seine Antwort weniger heftig gewesen, hätte er den Ärger nicht in Denise Gordons Augen gesehen. »Ja, mit diesen Peitschen sind die Riesen geschlagen worden.« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Der Inspektor aus Crocky wandte sich an seinen Kollegen Donald. »Mir reicht es. Ich bin nicht hierhergekommen, um mich auf den Arm nehmen zu lassen.« Donald warf hastig ein: »Vergessen Sie nicht, was ich selbst erlebte, als im Gasthof ›Loch Ness‹ der Spuk hauste.« Harry Donald wurde angefahren: »Kommen Sie mir bitte nicht mit diesem Blödsinn, Kollege. Zum Teufel, wo ist der tote Tom Chinook? Wo ist seine Frau geblieben? Und wo die Propangasflaschen? Ich habe wirklich nicht erwartet, daß Sie an diesem Blödsinn festhalten könnten, Donald.« Der Kollege aus Crocky beendete schließlich die Meinungsver37 �
schiedenheiten: »Die Pflicht fordert mir ab, Aberdeen Mitteilung zu machen.« Die Drohung zog bei Harry Donald nicht. »Viel Spaß, Sir.« Seine Worte trieften vor Hohn. »Kommen Sie bloß nicht eines Tages vor Angst schlotternd an und erzählen mir, vor den Mäusen oder den Riesen des Druden davongelaufen zu sein.« Die Tür krachte ins Schloß. Die Lampe an der Decke pendelte. Der nette Kollege aus Crocky stampfte die Treppe hinab. Kurz darauf verließ er in seinem Dienstwagen Lester. An einem Fenster der ersten Etage des »Maria Stuart« standen Denise Gordon, Ben Lothan und Inspektor Harry Donald. Letzterer hatte in dieser Sekunde beschlossen, sich im Bereich des »Loch Ness« noch einmal umzusehen und nach den verschwundenen Propangasflaschen zu suchen. * John McPeer, als geborener Diplomat vermittelte zwischen seinem Neffen und dem schnauzbärtigen Brillenträger Walt Osborne. Er war so klug, bei dieser Versöhnung weder Denise Gordon noch Melissa Peel hinzuzuziehen. Beide Damen waren darum sprachlos, als sie die Streithähne friedlich am Tisch sitzen sahen. Der Wirt mochte von seinen Gästen nichts mehr wissen und ließ sie von seiner dreizehnjährigen Tochter June bedienen. Dem Anwalt war aufgefallen, daß June Evergeen, die Tochter des Wirtes, weder zusammenzuckte, noch die Ohren spitzte, wenn man in ihrer Gegenwart über das Old Gallows sprach. Sie brachte John McPeer gerade ein Glas Porter und wurde feuerrot, als er ihr fünf Shilling Trinkgeld gab. »Sir, das ist zuviel«, sagte die Kleine verschüchtert und verle38 �
gen. »Das kann ich nicht annehmen.« Er strich über ihren Kopf. »Stecks ruhig ein, June, aber wenn du besonders freundlich sein willst, dann bring mir in einer Viertelstunde noch ein Glas Porter auf mein Zimmer, ja?« Weder Ben Lothan noch die anderen am Tisch achteten darauf. Man war sich nach dieser Versöhnung ein Stück nähergekommen, und auch Denises Vater, Oscar Gordon, war der Ansicht, sowohl Melissa Phyll wie Walt Osborne seien ganz passable Menschen. Natürlich sprach man über das Geschehen, bei dem der Austin in Flammen aufgegangen und vollkommen ausgebrannt war. Dank John McPeers Bankkonto brauchte Ben Lothan dem ausgeglühten Trümmerhaufen nicht nachzutrauern, weil sein Oheim ihm als Ersatz einen nagelneuen Austin geschenkt hatte. Der Wagen war schon nach Lester unterwegs. Der Anwalt verabschiedete sich und ging auf sein Zimmer, um sich ein wenig mit June zu unterhalten. Der Anwalt setzte sich später wieder zu der Gruppe. In eine Pause und eingetretene Stille am Tisch sagte er: »Erst seit zwei Wochen hat man in Lester vor dem Old Gallows, dieser Smildy und den beiden Riesen Angst. Seitdem hat das Gespenstische von einem Moment zum anderen von allen Einwohnern Lesters Besitz ergriffen. Das hat mir unsere nette, kleine June erzählt.« »Und June hat keine Angst?« fragte Walt Osborne, und die anderen bewunderten ihn ob seines schnellen und logischen Denkens. »Nein, weder vor dem Old Gallows noch vor dieser Smildy und ihren Riesen, auch nicht vor deren Sohn, dem Druden.« »Und das glauben Sie, Mr. McPeer?« »Ja, das glaube ich, Mr. Osborne, denn June Evergeen war in der fraglichen Zeit, in der das Gespenstische von allen Menschen in Lester Besitz ergriff, bei ihrer Tante, die auf der anderen Seite 39 �
des Hochmoores wohnt.« In diesem Augenblick war das Toben eines Mannes zu hören, Schläge fielen, und dann hörte eine wie erstarrt am Tisch sitzende Runde June Evergeens gellende Schreie, dazwischen Mr. Frank Evergeens wütende Drohungen: »Ich schlage dich tot, wenn du noch einmal ein Wort darüber sagst! Ich schlage dich tot, du verdammtes Balg.« Vor allen anderen war Walt Osborne in der Küche des »Maria Stuart«, und ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß seine rechte Hand verbrannt und verbunden war, riß er damit dem tobenden Wirt die Tochter aus den Händen und schrie den Mann an: »Noch einen Schlag, Mr. Evergeen, und ich hau Ihnen die Bratpfanne über den Schädel.« Nach ihm drängten sich der Inspektor, der Anwalt, Ben Lothan und Oscar Gordon in die Küche hinein. In der Ecke hielt June ihre Mutter schluchzend umklammert und weinte sich bei der verstörten Frau aus. Vor dieser Überzahl kapitulierte der Wirt. »Raus!« sagte er mit rauher Stimme und einem Ausdruck in den Augen, der nicht mehr viel Menschliches besaß. »Raus, oder ich mache von meinem Hausrecht Gebrauch und werfe Sie alle auf die Straße.« Da schob sich der Inspektor in den Vordergrund, drückte Walt Osborne zur Seite und tippte den Wirt an: »Sie werfen niemanden auf die Straße, Mr. Evergeen. Sollten Sie es doch versuchen, dann sorge ich dafür, daß Sie zwei Stunden später in Untersuchungshaft sitzen – wegen Irreführung der Polizei. Wie lange wollen Sie dieses Theater noch durchführen und Tom Chinook und seine Frau in Ihrem Keller vor uns verstecken?« Von der Tür her erklärte John McPeer: »Mr. Evergeen, ich lehne es ab, Ihre Verteidigung zu übernehmen.« Der Anwalt war sich klar, daß er so etwas gar nicht sagen durfte, aber er wollte 40 �
dem Inspektor Schützenhilfe geben. In der Ecke am Fenster neben dem großen Herd schluchzte Evergeens Frau auf, die ihren Mann schon hinter Gittern sitzen sah. Der Wirt selbst wechselte die Farbe im Gesicht und schnappte nach Luft. »Lassen Sie Tom Chinook und seine Frau aus dem Keller kommen, Evergeen!« schnarrte der Inspektor. »Oder soll ich sie holen?« Das war wieder unverhüllte Drohung. Außer dem Anwalt blickten alle anderen sich ratlos an. Tom Chinook war gar nicht tot? Der Drude hatte ihm nicht den Hals umgedreht? Ben Lothan hatte plötzlich rasende Kopfschmerzen. Eine Hand legte sich auf seinen Arm, und diese Berührung tat ihm gut. Denise Gordon stand dicht bei ihm. Er spürte ihre Nähe, er fühlte ihren Körper und nun auch ihren Atem. »Das kann doch nicht stimmen, Ben?« Hilflos zuckte er mit den Schultern. Da hörte er den Inspektor zu Frank Evergeen sagen: »Machen Sie keinen Unsinn. Vergessen Sie nicht, daß ich fest zufassen kann.« Von der Ecke am Fenster blickten Evergeens Frau und Tochter ihm nach. Dann tauchten Frank Evergeen mit Tom Chinook und seiner Frau und Inspektor Donald aus dem Keller wieder auf. Fassungslos flüsterte Ben Lothan der hübschen Denise zu: »Ich weiß jetzt, daß ich ein Spinner bin.« Es war ihm nicht leichtgefallen, diese Behauptung über seine Lippen zu bringen. * Ben Lothan konnte sich über seinen flammneuen Austin nicht � 41 �
richtig freuen, der vor dem Gasthof stand und vor einer knappen Stunde erst vorgefahren worden war, obwohl ihn sein Oheim nun schon zum drittenmal gefragt hatte, ob er über den Wagen begeistert wäre. Ben wurde mit der Tatsache nicht fertig, daß Tom Chinook und dessen Frau sich in Frank Evergeens Keller versteckt gehalten hatten und heimlich von ihrem Kollegen ohne Wissen von dessen Frau oder Tochter versorgt worden waren. Lothar wanderte im Zimmer seines Onkels auf und ab, während der Anwalt gemütlich im breiten Ledersessel saß und ShagPfeife rauchte. Die Nervosität seines Neffen schien ihn nicht zu berühren. Dafür explodierte Ben Lothan. »Onkel, ich verstehe dich nicht. Ich kann deine Ruhe nicht begreifen. Ich begreife überhaupt nichts mehr.« Der nickte zu jeder Behauptung seines Neffen. »Glaubst du, ich würde das alles ordnen können? Bist du wirklich der einfältigen Ansicht, ich könnte unser Erlebnis im ›Loch Ness‹ vergessen haben? Ben, erinnere dich, welche Frage ich vorhin unserem Inspektor stellte, aber auch er kann nicht sagen, wodurch die Küche im ›Loch Ness‹ zerstört, zerfetzt, zertrümmert wurde. Sicher, an die Riesen glaube ich auch nicht.« »Dann brauchst du auch nicht an Smildy zu glauben, Onkel«, hielt ihm der Neffe erregt vor, »an die Kraft der Zaubersprüche, an den Druden, oder an meinen Unfall mit Denise. Oder daran, daß uns Osborne aus den Flammen rettete.« Der legte die Shag-Pfeife in den Aschenbecher und fragte: »Ben, würdest du mich zur Unfallstelle fahren? Ich möchte sie mir gern einmal ansehen.« Dem verschlug es die Sprache. »Jetzt, Onkel? Um halb zehn Uhr abends?« McPeer schmunzelte. »Die Geisterstunde beginnt erst um Mit42 �
ternacht, aber wenn du keine Lust hast, Ben…« Er hatte wirklich keine, fuhr seinen Onkel natürlich dennoch, vorher hatte er nur dem Inspektor gesagt, wohin sie fahren würden. John McPeer hielt die weitreichende japanische Taschenlampe in der Hand, während sich die Scheinwerfer des neuen Wagens durch die naßkalte Schwärze des Abends ihren Weg suchten. Einsam und verlassen lag die Straße am Rand des Hochmoores. Lautlos wischten die Blätter des Scheibenwischers das Regenwasser von der Windschutzscheibe. »Ben, zwischen dem 23. und 25. des vergangenen Monats wurde alles, was sich um Old Gallows dreht, in Lester zum Tabu«, sagte ihm sein Onkel und blickte dabei geradeaus. Er erwartete auf seine Bemerkung keine Antwort, sonst hätte er seinen Neffen nicht aufgefordert, doch noch einmal den Zauberspruch auszusprechen, in dem Mäuse aufgefordert wurden, leise zu gehen. Mit aller Kraft trat Ben Lothan auf die Bremse. Die Pneus heulten kurz, dann stand der Austin. Ben Lothan starrte seinen Onkel entgeistert an. »Ich soll? Du willst – jetzt? Mitten in der Nacht, Onkel? Nein, nein…« Und bei jedem Wort schüttelte er erregt den Kopf. Mit beiden Händen hielt er sich am Lenkrad fest. John McPeer war die Ruhe selbst. Der Klang seiner Stimme kam aus der belebenden Kraft seiner Sicherheit. »Vorhin hast du dich einen Spinner genannt, jetzt trittst du den Beweis an, an das Gespenstische doch zu glauben, sonst würdest du den Zauberspruch sagen, Ben.« Der wurde sich gar nicht bewußt, seinen Onkel anzuschnauzen: »Gut, wenn du verdammter Narr es haben willst! Paß auf, aber schrei mir nicht die Ohren voll, wenn Smildys Riesensöhne dich liebevoll erdrücken sollten.« 43 �
Er holte tief Luft. Der Motor blubberte im Leerlauf. Die Nacht war dunkel. Kein Stern stand am Himmel. Vom Mond keine Spur. Die Lichter von Lester waren längst hinter ihnen verschwunden. Leise, leise, kommen Mäuse, und aus diesen werden Riesen! Der letzte Ton war verklungen Kein Stern stand am wolkenverhangenen Himmel, aber die Nacht war nicht mehr so dunkel wie eben. Weit in der Ferne schimmerte es schwach. Ganz schwach. Ben Lothan schnalzte, lockerte die gespannten Zügel ein wenig und wollte gerade zur Peitsche greifen, als die beiden Pferde anzogen. Die armen Tiere mußten sich in der Dunkelheit den Weg suchen, dabei war die Straße in einem Zustand, der einfach unbeschreiblich war. »Den Tagelöhnern jede Kraft aus dem Leib peitschen, das Silber bei geilen Weibern verprassen oder mit Kumpanen versaufen – das kann er. Aber nicht einmal den Versuch machen, die Straße auszubessern, das sieht dem gottlosen Hasting mal wieder ähnlich. Warum ist dieser ketzerische Schloßherr bei seiner Geburt nicht vom Teufel eigenhändig geholt worden.« McPeer preßte seinem Neffen die Hand vor den Mund. »Bei allen Heiligen und bei der Jungfrau Maria, wie kannst du derartige Reden führen, du Sohn meiner Schwester? Du…« Er flog zur Seite, verschwand vom Kutschbock, schrie auf und lag im Schlamm eines Schlagloches, aber eines besonders großen, von denen es auf diesem Weg noch übergenug gab. Fluchend zog sich John McPeer wieder auf den Bock. Nun war er es, der an dem Grafen Hasting kein gutes Haar ließ, bis Ben Lothan seinem Oheim den Rat geben mußte, endlich zu schwei44 �
gen, denn gleich würden sie vor dem Old Gallows halten. Über der Tür des einsam gelegenen Gasthofes brannte nur ein kümmerliches Licht in einer schmutzigen Sturmlaterne. Am Trog stand kein einziges Pferd, und aus dem Stall war kein Stampfen oder Schnauben zu vernehmen. McPeer ließ schon den bronzenen Klöppel auf die leicht gewölbte Metallplatte fallen und verlangte mit dem durchdringenden Klopfen Einlaß in den Gasthof. Eine Frauenstimme im Haus fragte, wer draußen sei. »McPeer, der Advocatus des Grafen«, stellte McPeer sich vor und sagte noch ungeduldiger: »Nun mach auf, Denise Gordon, oder liegt die liebe Tante Betty schon wieder mal im Sterben und du kannst keinen Gast beherbergen?« Die Antwort dieser Denise Gordon bestand darin, die beiden Männer einzulassen. Sie sah wunderbar aus, und wie ein Fluß, der flüssiges Gold führt, wirkte ihr Haar, das sie schulterlang trug. Ihre dunklen Augen funkelten im Licht der flackernden Kerze. Ja, dachte McPeer mit ein wenig Wehmut im Herzen, ich möchte auch noch einmal so jung wie Ben sein, aber dann vergaß er den Wechselblick zwischen den beiden, und er nickte erfreut, als Denise Gordon ihm versprach, ihm warme Decken zu bringen und seine nasse Kleidung am Kamin zu trocknen. Die Katze mit den bernsteingelben Lichtern blitzte Ben Lothan an. Der junge Mann hatte Denise einen begehrlichen Blick zugeworfen, den sie leidenschaftlich erwiderte. Die Katze miaute laut, als Ben sie nicht beachtete, sondern nur Augen für die Besitzerin des Old Gallows hatte. »Ja, komm schon, Shuckett!« lockte er sie endlich und brauchte es kein zweitesmal zu sagen, denn mit einem Satz saß sie auf seiner Schulter und schmiegte ihren Kopf unter Schnurren an sein Gesicht. »Wie du, Denise«, sagte er ihr und lachte dröhnend auf, 45 �
als es wild und katzenhaft in ihren dunklen Augen flammte und Leidenschaft ihrem Gesicht einen unbeschreiblich schönen Ausdruck verlieh. Dann streichelte er die Katze, die noch lauter schnurrte. Advocatus McPeer hatte inzwischen seine verschmutzte durchnäßte Kleidung abgestreift, sich in die warmen Decken gehüllt und nahm nun am Tisch neben dem Fenster Platz, genau unter der Öllicht-Lampe, die an einer schweren schmiedeeisernen Kette hing. Denise Gordon nahm diese Kleider und trug sie hinaus. Der Advocatus schmunzelte, als er sah, wie sein Neffe dem gutgebauten Mädchen folgte. So ein Draufgänger war er früher selbst einmal gewesen. Hier schien mehr im Spiel zu sein als eine heiße Liebesnacht, denn eigenartigerweise hatte sein Neffe sich seiner Zärtlichkeiten mit Denise noch nie gerühmt, wie es sonst nach anderen Eroberungen fast stets der Fall war. Die Küchentür wurde geöffnet und eine alte Frau, die McPeer im Old Gallows nie gesehen hatte, betrat den Schankraum, in der einen Hand eine große Fleischplatte, auf der das Fleisch dampfte, und in der anderen eine Schüssel mit Brei, der auch nicht kalt war. »Den Wein bringe ich sofort, Herr«, sagte die alte Frau, unter deren schwarzem Kopftuch brandrotes Haar leuchtete, das im krassen Kontrast zu den Tausenden von Falten in ihrem Gesicht stand. »Es möge Ihnen und dem anderen Herrn munden.« »Hm… muhhh… hmmm…« brummte und kaute und schluckte McPeer, der sich die erste Scheibe Fleisch schon in den Mund gestopft hatte und nun den Holzlöffel in den Brei stieß und dabei schnupperte, weil sein Duft so würzig roch. Er wunderte sich, wie schnell die Alte wieder aus der Küche zurück war, den Krug mit Wein und zwei Becher abstellte, um dann wieder zu verschwinden. Er achtete gar nicht darauf, daß sie lautlos die Küchentür hinter sich schloß. 46 �
Denise Gordons Schrei konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen. Na, Ben würde noch seine liebe Arbeit mit diesem temperamentvollen Frauenzimmer bekommen, das nun an seinem Tisch stand und fassungslos die Platte mit den dampfenden Fleischstücken anblickte. »Und der Brei? Und der Wein? Maria und Josef«, sie zuckte nicht wie sonst zusammen, als Ben ihr einen Klaps auf die Verlängerung ihres Rückens gab. Sie sagte auch nicht wie sonst, halb strafend, halb scherzend: »Laß das.« Sie stotterte: »Advocatus, bei allen Heiligen, woher habt Ihr dieses Essen? Woher den Wein?« Der hatte sich mit seinen fettriefenden Fingern das vierte saftige Fleischstück in den Mund geschoben und ließ es erst einmal zwischen den Zähnen auf der Zunge zergehen, bevor er sich anschickte, ihre Frage zu beantworten. Ben war derweil nicht faul gewesen und hatte sich einen Becher voll Wein gefüllt und getrunken. »Himmel und Hölle, Denise«, stieß er aus, »hast du diesen köstlichen Tropfen aus dem Weinkeller des Grafen stehlen lassen oder ihn als Liebeslohn…?« Da schrie sie die Männer an: »Ich habe gar keinen Wein im Haus. Ich habe auch kein Fleisch in der Kammer, kein einziges Gramm, und Ihr, Advocatus, sitzt hier und schmaust. Und wann sollte ich den Brei gekocht haben? Ich mag keinen, und Tante Betty kann ihn auf den Tod nicht ausstehen.« »Aber er ist gut, Denise«, sagte der Advocatus und begann dann erst zu begreifen, daß sich hier etwas Ungeheuerliches abgespielt haben mußte. Er schluckte schnell, warf dem gewaltigen Rest auf der Platte einen entsagungsvollen Blick zu, machte hastig das Kreuzzeichen, bevor er sich hinter dem Tisch erhob, und folgte den beiden in die Küche. Er dachte dabei nicht an die Decken, in die er sich gehüllt hatte. 47 �
Er trat darauf, kam zu Fall, und der Aufprall seines Körpers wurde nicht gehört, weil gerade die Küchentür ziemlich laut ins Schloß gefallen war. Er sah Sterne und Sonnen, glaubte, der Kopf sei ihm auseinander geflogen, als zwei Hände, nicht groß aber kräftig, ihn anfaßten, und ihm halfen aufzustehen. Und wieder sah er die alte Frau, die ihn so eigenartig anblickte, er schaute auf dieses Meer von Falten und Runzeln in ihrem Gesicht, und er blickte wiederum auf das brandrote Haar unter dem schwarzen Kopftuch. »Der Herr sollten ein wenig besser aufpassen«, sagte sie. Es klang so, als ob sie es eilig habe. Da erklärte sie auch schon den Grund für ihre Eile: »Ich muß nach draußen, wo meine beiden Söhne auf mich warten, Advocatus McPeer.« Das verschlug ihm die Sprache, denn er wußte genau, daß er dieser alten Frau mit dem schwarzen Kopftuch und dem brandroten Haar noch nie begegnet war. Woher wußte sie dann, daß er ein Rechtsgelehrter war? Er begriff auch nicht, daß sie schon an der Tür stand und in die Nacht hinausging. Alles kam ihm so schnell, so unheimlich lautlos und so unwahrscheinlich eigenartig vor. Da hörte er in der Küche Denise Gordon schreien. Unwillkürlich mußte er an die gelähmte Tante Betty denken, die in diesem Augenblick zu beneiden war, weil die zahnlose Alte taub war und seit Jahr und Tag keinen Laut mehr vernommen hatte. Krampfhaft die Decken zusammenhaltend, stand McPeer in der Küchentür und schaute verständnislos zu, wie sein Neffe jeden Topf und jede Pfanne anfaßte und bei jedem Tun den Kopf schüttelte. Noch weniger verstand er, warum Denise Gordon bei jedem Tun seines Neffens schrie: »Siehst du? Siehst du?« Aber dann begriff er schließlich. Und weil er alles wahrnahm, begriff er das Vorgefallene gar nicht mehr. Im Ofen brannte kein Feuer. Topfe und Pfannen waren kalt. Im 48 �
Old Gallows sollte es kein Gramm Fleisch und auch keinen Wein geben. Denise Gordon schrie nicht mehr. Sie hielt sich an Ben Lothan fest und zitterte am ganzen Leib. Der fühlte sich in seiner Haut nicht sehr wohl. Gelassen gab sich der Advocatus, der blitzschnell erkannt, hatte, daß von ihrem Erlebnis kein Sterbenswort bekannt werden durfte, sonst hängte man sie alle drei wegen Hexerei auf, wie man Smildy an diesem Platz gehängt hatte, weil sie eine Hexe gewesen war. Bestimmt standen die Platte mit Fleisch, die Schüssel mit Brei und der Wein nicht mehr auf dem Tisch, dachte der Mann und blickte in den Schankraum. Alles stand noch da! Da begann der Advocatus McPeer auch zu zittern. Nun machte er kein hastiges Kreuzzeichen, jetzt beschwor er mit seinem Kreuzzeichen den Himmel, ihm zu helfen, aber um auf andere Gedanken zu kommen und das Entsetzen loszuwerden, erzählte er von der Alten, die nach draußen gegangen war, weil in der Nacht ihre beiden Söhne auf sie warteten. Der Schritt dieser Söhne war zu hören! »Heilige Jungfrau…«, schrie Denise Gordon auf, ließ Ben Lothan los, war mit einem Satz am Fenster und preßte ihr Gesicht gegen die Scheibe, um es im nächsten Moment zurückzureißen und sich zu Boden zu werfen. Ben Lothan, der ratlos neben ihr kniete, während durch die Nacht der Schritt schwerer Männer dröhnte, kam nicht dazu, sie etwas zu fragen. »Die Söhne des Druden – die Söhne des Druden«, verstand er, und das Entsetzen riß ihn hoch, zum Fenster hin, an dem schon sein Onkel in die Nacht spähte. Mit ihm zusammen sah er die beiden Monster einer unwahrscheinlich kleinen und uralten Frau folgen, die quer über das karge Gelände in Richtung auf 49 �
das Hochmoor zulief. Verzweifelt fragten sie sich, wie sie bei dieser tiefen Finsternis draußen etwas sehen konnten, als der Wind ihnen Worte zutrug. Die beiden Männer am Fenster erstarrten beim Klang der zittrigen und alten Stimme, zu der ein tanzendes Licht gekommen war, das sich im Rhythmus der Worte bewegte. … werdet wieder kleine Mäuse! Denise Gordon hatte keine Kraft mehr zu schreien, sie röchelte nur noch, und weil es auf einmal draußen in der Nacht nichts mehr zu sehen gab, weder diese Alte, noch die beiden unwahrscheinlich großen Riesen, noch das tanzende kleine Licht, drehten die beiden Männer sich nach ihr um, und ihr Blick folgte automatisch ihrer ausgestreckten zitternden Hand, die auf zwei Mäuse deutete, die sich gerade anschickten, in dem Schlupfloch neben der Theke zu verschwinden. »Ben, Smildys Mäuse!« Der Ruf verklang. Ben Lothan wischte sich über die Stirn, blickte nach links und sah seinen Oheim das gleiche tun. Der Wagen stand. Der Motor drehte nicht rund. Die Zündung war ausgeschaltet. Die Nacht war dunkel, naß und kalt und am Himmel kein einziger Stern zu sehen. Warum haben wir hier angehalten, fragte sich Ben Lothan und wurde diese Halluzination nicht los, zum zweitenmal im Old Gallows gewesen zu sein. Neben sich hörte er seinen Oheim lachen. »Ben, jetzt kenne ich dein Old Gallows, aber auch diese Denise und Smildy. Mein Gott…« Er lachte schon nicht mehr. Er strich sich noch einmal über die Stirn. Er sah seinen Neffen mit Mißtrauen an, und der blickte zurück und fragte sich, wann er die Innenbeleuchtung angeschaltet hatte. 50 �
»Du, dein Zauberspruch, Ben…« Der Anwalt wich vor seinem Neffen unwillkürlich zurück, und voller Ahnungen fragte er: »Bist du gerade auch im Old Gallows gewesen, Boy?« »Ja, aber in dem Old Gallows um 1510 herum, Onkel. Du warst der…« »Advocatus des Grafen Hasting. Ich habe das Fleisch mit den Fingern gegessen, du hast den Wein gelobt.« »Ich habe mir in der kalten Küche weder die Finger an den Töpfen noch an den Pfannen verbrannt.« Stumm bot Ben Lothan seinem Onkel eine Zigarette an. Der Anwalt, der sonst nur Pfeife rauchte, nahm sie dankbar an. Hastig inhalierte er den Rauch, ebenso hastig rauchte auch sein Neffe. »Was ist mit uns passiert, nachdem du den Zauberspruch gesagt hattest, Ben? Großer Himmel, allmählich muß ich Tom Chinooks Aussagen als lautere Wahrheit hinnehmen, der dem Inspektor gegenüber behauptete, er habe sich zusammen mit seiner Frau bei Frank Evergeen im Keller verstecken müssen!« Der junge Mann aus Liverpool ging darauf nicht ein. »Smildy konnte ich nicht gut erkennen, sie war schon zu weit entfernt, als ich ans Fenster trat, aber die Riesen waren nicht zu übersehen, und diese Riesen, Onkel, waren dieselben, die ich bisher jedesmal sah. Und die Stimme war Smildys Stimme. Fahren wir weiter? Willst du immer noch die Stelle sehen, an der ich gegen die Felswand geprallt bin?« »Ja«, sagte er. »Jetzt unbedingt.« Er sah sie. Der Lichtkegel aus seiner japanischen Lampe beleuchtete die Unglücksstätte. Der ausgebrannte Wagen war nicht zu übersehen. Ben bezeichnete die Stelle, an der er durch einen der Riesen gefahren und gegen die Wand geprallt war. »Ohne Osbornes Eingreifen hätten Denise und ich hier unsere Feuerbestattung gefunden, Onkel. Ein Glück, daß wir beim Auf51 �
prall aus dem Wagen geschleudert wurden.« An diesem Platz gab es wirklich nicht viel zu sehen. Der naßkalte Abend war nicht dazu angetan, draußen zu verweilen. Sie saßen schon wieder im Wagen, als Ben Lothan seinem Onkel sagte: »Mit diesem Abend können wir doch nichts Gescheites mehr anfangen. Bist du einverstanden, wenn wir noch bis zu zehn Meilen weiterfahren?« McPeer drückte die Zigarette im Ascher aus und lehnte sich dann zurück. Die Scheinwerfer des Wagens stießen ihre Lichtkegel gegen die braunrötlich gefärbte Felswand. Eine halbe Meile weiter verlief die Straße wieder gerade am Rand des Hochmoores vorbei. Bis zum nächsten Dorf waren es noch mehr als zehn Meilen. »Du willst nicht bis zum nächsten Dorf, Ben?« Der schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte das Old Gallows suchen und es finden, Onkel.« Der hatte sich inzwischen wieder ein wenig gefangen und konnte über die Bemerkung seines Neffen lachen. »Einverstanden, aber nur unter der Bedingung, daß du keinen der beiden Zaubersprüche mehr aufsagst, Boy.« Von Ben Lothan kam keine Antwort. Gerade als der Anwalt ihm einen forschenden Blick zuwerfen wollte, löschte er die Innenbeleuchtung des Wagens und nahm die Fahrt wieder auf. Die Straße führte in engen Kehren ziemlich steil von einem Höhenrücken bergab zum Plateau, auf dem das Hochmoor lag. Der Austin nahm Kurve auf Kurve. »An diese Serpentinen erinnere ich mich gar nicht mehr, als mich die Beamten des Streifenwagens unbekleidet hinter dem Steuer meines Wagens aufgefunden und geweckt hatten.« »Die es dann nicht gab, Ben.« »Ja, die es dann nicht geben sollte.« 52 �
Die Straße verlief wieder gerade, und Ben Lothan konnte seine Aufmerksamkeit etwas mindern und sich mehr auf die Unterhaltung mit seinem Oheim konzentrieren, aber dann zog der erste Nebelschwaden quer über die Fahrbahn. »Sollten wir nicht doch lieber umkehren, Ben? Denk daran, daß du nach deinem letzten Besuch von Lester im Nebel von der Straße abgekommen bist.« »Und der Bauer, der mich und den Wagen wieder auf die Straße zog, den gibt es auch nicht! Onkel, jedesmal, wenn ich so etwas Gespenstisches erlebt habe, bin ich zutiefst davon beeindruckt, aber es vergehen keine dreißig Minuten, und die Zweifel werden in mir wach. Ich frage mich: Was ist Einbildung und was Wirklichkeit? Ich bin bereit zu schwören, daß mich ein wirklicher Moorbauer wieder auf die Straße gezogen hat und kein Gespenst!« Sie fuhren in eine Nebelwand hinein. Ben Lothan war bei ihrem Auftauchen sofort mit der Geschwindigkeit heruntergegangen. Angespannt blickten beide Männer durch die Windschutzscheibe, aber nur einmal korrigierte ihn der Anwalt, als Ben zu weit rechts fuhr. Schlagartig wurde der Nebel dünner. Kaum hatten sie die Nebelbank hinter sich gelassen, als vor ihnen ein Rotlicht aufleuchtete. »Polizei«, sagte Ben Lothan verwundert, der deutlich die in rot leuchtenden Buchstaben erkannt und gelesen hatte. »Doch nicht deine Freunde, die es nicht gibt, Ben?« fragte der Anwalt. Er spottete nicht, denn, dazu hatte er keinen Grund. »Wenn ich dir eine Zigarette anbiete, sind es meine Freunde, die mich vor dem Old Gallows geweckt haben, Onkel.« Der brummte Zustimmung, Ben verringerte die Geschwindigkeit, erkannte zwei Beamte in Uniform neben dem Streifenwa53 �
gen und sagte dann: »Nein, das sind meine Bekannten nicht, aber ist es nicht blödsinnig, daß wir uns beide fragen müssen, ob diese Polizeibeamte echt oder Gespenster sind, die uns diese verdammte Smildy schon wieder auf den Hals geschickt hat?« »Du glaubst also doch an sie, Ben?« Darauf konnte er keine Antwort geben, denn man forderte ihn auf, seine Fahrzeugpapiere zu zeigen. Zwei stämmige Beamten standen neben seinem Wagen, beleuchtet von den Scheinwerfern ihres Streifenfahrzeuges. Ben Lothan dachte sich nicht viel dabei, als er den untätig herumstehenden Beamten fragte: »Welchen Rufnamen hat ihr Wagen?« Der sagte ohne zu zögern: »Caesar-8, Sir.« In diesem Augenblick sagte der andere Beamte: »Gratuliere, Sir, zu Ihrem neuen Wagen, nur eine Kleinigkeit stört mich. Wir haben heute Samstag und in ganz England…« Bissig fiel der Schotte John McPeer dem Beamten ins Wort: »Wir sind hier nicht in England, wir sind in Schottland. Hoffentlich begreifen Sie das endlich einmal – Sie und diese Briten aus England!« Ben Lothan, dem jungen Mann aus Liverpool und damit im berüchtigten England geboren und auch Engländer, so sahen es wenigstens alle treuen Schotten, brach der kalte Schweiß aus. Hatte sein Onkel, der Anwalt, denn nicht bemerkt, daß Smildy ihnen schon wieder ihre Hexenkünste zum besten gab? Einen Streifenwagen Caesar-8 gab es bei der Straßenpolizei nicht, und eben war ihnen gesagt worden, der Rufname des Patrouillenfahrzeuges würde so heißen. Scharf erwiderte der gemaßregelte Beamte: »Sir, ob ich begreifen kann oder begreifen will, das überlassen Sie gefälligst mir, auf jeden Fall weiß ich, daß sowohl in Schottland wie in England Samstags alle Zulassungsstellen geschlossen sind. Dieser Wagen aber ist heute, an einem Samstag, zugelassen worden. Das habe 54 �
ich zu überprüfen, aber das kann ich hier nicht überprüfen. Darum fordere ich Sie auf, unserem Caesar-8 zu folgen. Ich hoffe, Sie werden keine Schwierigkeiten machen, sonst müßte sich, mein Kollege zu Ihnen setzen.« Ben Lothan verzweifelte, als sein Onkel immer noch nicht reagierte, als zum zweitenmal die Bezeichnung »Caesar-8« fiel. Wütend über diese geistige Schwerfälligkeit, die er ihm gar nicht zugetraut hatte, ließ er seinen Blick hin und herpendeln, doch das brachte ihn keinen Schritt weiter, bis ihm plötzlich eine Idee durch den Kopf schoß. Der Beamte hielt immer noch seine Fahrzeugpapiere und die Driverlizenz in der Hand. Plötzlich griff er danach und wollte sie ihm aus den Fingern reißen. Es gelang ihm nicht, der Beamte reagierte schneller, als er erwartet hatte, war einen Schritt zurückgesprungen und hatte durch die Nacht gebrüllt: »Aber Sir.« Murmelnd stieß Ben Lothan durch die Zähne: »Verdammt noch mal, der ist echt.« Er versuchte schnell ein verlegenes Grinsen aufzusetzen und sich damit bei dem erbosten Streifenbeamten zu entschuldigen. Der nahm die Entschuldigung in dieser Form nicht an. Der Motor blubberte im Leerlauf. Lautlos fraßen sich die gebündelten Strahlen der Scheinwerfer durch die dunkle Nacht, die nicht ganz still war. Darum fiel es John McPeer nicht schwer, seinem Neffen, von den anderen ungehört, zuzuflüstern: »Ramm den Caesar am Heck, Ben!« Der liebe Oheim hatte demnach doch nicht auf beiden Augen gesessen und geschlafen. Ben Lothan trat unauffällig und behutsam das Kupplungspedal durch und beugte sich vor. McPeer beugte sich ebenfalls vor, dann legte Ben den ersten Gang ein. Der Anwalt John McPeer verwickelte den Beamten, der die Papiere immer noch in der 55 �
Hand hielt, in ein Zwangsgespräch. Darin stellte er sich als Rechtsmensch vor und drohte dem Beamten eine Beschwerde bei oberster Behörde an, die ihn zeit seines Lebens nicht mehr froh werden lassen würde. Diese Drohung konnte den Beamten nicht erschüttern. Ben hatte in dieser Zeit alle Vorbereitungen zum Rammen getroffen. Er riß das Steuer herum, die Vorderräder schlugen nach rechts ein, der Motor brüllte auf, die Kupplung packte und wie eine Rakete schoß der flammneue Austin auf den Streifenwagen der Straßenpolizei zu und krachte gegen den Kofferraum. »Bist du des Teufels, Ben? Warum fährst du wie ein Idiot? Wir haben doch wirklich Zeit. Geh runter mit dem Tempo!« brüllte ihn John McPeer an und schlug ihm dabei auf die Schulter. Der Austin wurde im gleichen Moment gebremst. Ben Lothan brummte: »Ich fahr ja schon langsamer, Oheim, aber, Himmel und Hölle, was wäre daraus geworden, wenn Caesar-8 kein Schemen gewesen wäre, sondern echt, und ich hätte mit meinem Rammversuch dem Schlitten den Kofferraum zerquetscht?« Das Stöhnen an seiner linken Seite zwang ihn, noch behutsamer zu fahren. »Dann habe ich nicht geträumt, wir wären von einer Polizeistreife kontrolliert worden, Ben?« Der Anwalt mußte ziemlich durcheinander sein, sonst hätte er diese Frage wohl kaum gestellt. »Von Smildys Streife, Onkel John. Du und ich, wir wissen doch, daß es keinen Streifenwagen Caesar-8 gibt.« »Hast du denn tatsächlich deine Papiere in der Tasche, Ben?« Der mußte nun anhalten, um das zu kontrollieren. Bei eingeschalteter Innenbeleuchtung zeigte er sie seinem Oheim, der leicht verkrampft wirkte. Um so bissiger und angriffslustiger war Ben Lothans Lachen. »Mich bekommt diese verdammte Smildy mitsamt ihren beiden Monstren und ihrem Druden nicht mehr in die Gewalt.« 56 �
»Und wenn du plötzlich nichts anderes denkst, als auf dem Kutschbock zu sitzen und zwei Pferde zu lenken, Ben? Wenn du überzeugt bist, von Schloß Hasting unterwegs zu sein zum Old Gallows? Wenn das der Fall ist, hat Smildy dich längst wieder in ihren Fängen, und du bist machtlos.« Der Austin stand immer noch auf der gottverlassenen Landstraße am Rande des Hochmoores mitten in der naßkalten, sternenlosen Nacht. Die Innenbeleuchtung brannte noch. Ben Lothan hatte sich gerade mit der falschen Hand gegen die Stirn geschlagen und verwundert ausgestoßen: »Warum erlebe ich alles ganz anders, wenn Smildy ihre verdammten Hexenkünste mit moderner Technik vermischt? Oheim, du mußt dieser Besatzung des Streifenwagens auch mißtraut haben, sonst hättest du mir doch nicht den Tip geben können, das Heck des Schlittens zu rammen. Oder?« Der überhörte den saloppen Ausdruck Schlitten. »Ben, meine Erfahrungen mit der Hexe sind nicht besonders gut und umfangreich, darum kann ich keine beurteilende Antwort geben. Da wir schon so lange unterwegs sind, können wir auch das letzte Stück noch abfahren. Vielleicht finden wir im nächsten Dorf eine Kneipe, wo wir uns bei einem guten Scotch mal in Ruhe unterhalten können.« Er streifte den Ärmel zurück und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Das Wort blieb ihm im Hals stecken. Ben Lothan hatte das Tun seines Onkels verfolgt und alles begriffen. Die Uhr im Armaturenbrett war in ihrer Aussage klar und deutlich. Seitdem sie das »Maria Stuart« in Lester verlassen hatten, waren achtzehn Minuten vergangen! Keine mehr und keine weniger. Der Wagen hatte in diesen achtzehn Minuten neun Meilen zurückgelegt. 57 �
Der Austin war im gemütlichen Bummeltempo gefahren worden. Ein Beweis, daß die Hexenerlebnisse nur Sekundenbruchteile in Anspruch genommen hatten -, auch der Aufenthalt im Old Gallows! »Die Sache wird immer unheimlicher, Ben«, sagte der Anwalt, nachdem er sich mit diesen kümmerlichen achtzehn Minuten abgefunden hatte, die erst vergangen waren, seitdem sie das »Maria Stuart« verlassen hatten. »Ich habe einen anständigen Dreistöckigen nötig. Weißt du, ob es im nächsten Dorf eine Kneipe gibt?« »Da gibt es eine, Oheim.« »Dann fahr doch endlich weiter, Ben!« * Inspektor Harry Donald, dem John McPeer insgeheim Mangel an Phantasie nachgesagt hatte, schien auch wirklich keine zu besitzen, sonst hätte er keine Männchen auf Papier gemalt, sondern versucht die Hexe Smildy darzustellen mit ihren beiden Mäuse-Riesen und dem Druden, der an Stelle der Hände Krallen haben sollte, und sie wären auch noch grün gewesen und hätten im fluoreszierenden Licht geleuchtet. Er malte nun schon auf dem dritten Blatt Papier Männchen. Sie sahen alle gleich aus: Kugelkopf mit Punktaugen, Stachelhaare, Strichhals, dann eine verquetschte Null als Leib, und oben dran rechts und links je einen Strich, das waren die Arme und die Beine. Sein alter Freund Tom Chinook und dessen Frau Mary schwitzten in der Zeit Blut. Seitdem er sie unbeschreiblich grob zusammengestaucht hatte, hatten sie den letzten Rest ihrer sturen schottischen Dickköpfigkeit verloren und waren nur noch 58 �
ein zitterndes Bündel – eingeschüchtert und verwirrt. Inspektor Harry Donald war drauf und dran, die Miene seines Kugelschreibers leerzuschreiben, als er begann den vierten Bogen Papier zu beschmieren. Natürlich mit seinen dickbauchigen Strichmännchen. »Harry…«, machte Tom Chinook den zaghaften Versuch an die Vertraulichkeit vergangener Zeiten anzuschließen, die zwischen ihnen so lange Bestand gehabt hatte, bis der Inspektor es gewagt hatte, im »Loch Ness« über das Old Gallows einen Witz zu machen. Als Quittung darüber waren ja die drei Lester Einwohner an seinem Tisch aufgestanden und hatten grußlos die Schankstube verlassen, und Tom Chinook hatte Luft aus ihm gemacht. Und diesen Schmorzustand wollte Inspektor Harry Donald noch eine Weile beibehalten. Tom wie seine Mary sollten mit ihrem letzten Wissen über diese verfluchte Hexe Smildy herausrücken, denn schließlich hatte er die Drohung seines Kollegen aus Crocky nicht vergessen, ihn bei der vorgesetzten Behörde anschwärzen zu müssen. Natürlich wollte er seinem lieben Kollegen diesen Spaß versalzen. Er beobachtete Mary Chinook. Diese Frau unternahm unwillkürlich den Versuch in den Boden zu kriechen, was aber nicht klappte. Harry Donald benutzte seinen Kugelschreiber als Zeigestock und deutete auf Mary Chinook. »Du erinnerst dich doch noch daran, daß in eurem ›Loch Ness‹ die Fleischplatte auf den Boden gefallen war. Wir alle wollten wissen, woher diese Platte mit dem alten Gordon-Monogramm kam. Du und Tom habt bei dieser Gelegenheit erfahren, daß sich Nachkommen dieser Gordons aus dem Old Gallows bei euch aufhielten. Nicht wahr, Mary, daran erinnerst du dich noch?« 59 �
Sie machte ein Essig-Gesicht und sagte mit piepsender Stimme. »Nein, daran erinnere ich mich nicht, Harry. Ich weiß von einer Fleischplatte nichts.« »Ich auch nicht, Harry!« bockte Tom Chinook und nickte verkrampft. »Natürlich nicht«, bestätigte Harry Donald und lächelte drohend. »Natürlich weißt du auch nicht, Mary, daß du aufgeschrien und gesagt hast, während du Tom beim Händchen nahmst: ›Nein, er hat uns doch gesagt, daß es die Gordons nicht mehr gibt!‹ Und du Tom, du verunglückter Lügner, kannst dich an Marys Geschrei in eurer Gaststube nicht mehr erinnern. Bestimmt nicht mehr.« Er nahm sich einen Schluck Scotch zur Brust, ließ die beiden dabei aber nicht aus den Augen. Sie verfügten über kein gutes Sitzfleisch mehr und rutschten auf ihrem Stuhl hin und her. Besonders Tom Chinook schien sich in seiner Haut unwohl zu fühlen. Harry Donald verstand das, denn er und Tom waren so etwas wie Freunde, bis dann das Old Gallows zwischen ihre Freundschaft gekommen war und sich als Sand im Getriebe entpuppt hatte. Darum wandte er sich an Tom und nicht an die verbissen dasitzende Mary mit ihrer Sauertopf-Miene. »Tom, du kannst bei anderen gern den dummen Lügner spielen. Das ist dein Bier und nicht meins. Bei mir kannst du mal wieder versuchen, dich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Verdammt noch mal, du Vollidiot, womit hast du deine Küche in die Luft gesprengt, und wohin hast du die drei Propangasflaschen verschwinden lassen?« Kaum hatte er seine Fragen losgelassen, als er schon wußte, damit ein riesiges Loch aufgerissen zu haben, das keinen Grund besaß, und in diesen Abgrund waren seine Frau und er bis zum Nimmerleinstag verschwunden. 60 �
Tom Chinook war aufgesprungen. »Harry, wir – Mary und ich – oder ich allein soll? Ja, zum Teufel, ich bin nicht reif für die Klapsmühle! Ich sprenge doch nicht meinen eigenen Schuppen in die Luft! Würdest du mir das zutrauen?« Da zischte der Inspektor dazwischen. »Ich traue keinem von euch mehr über den Weg, sonst würdest du mir endlich sagen, warum ihr Spinner in diesem Kaff aus dem Old Gallows plötzlich ein Heiligtum gemacht habt. Los, raus mit der Sprache, du alter Schwätzer! Rede endlich! Warum hast du dich mit deinem Zerberus bei Evergeen im Keller versteckt gehalten? Rede, du Witzfigur von Mann!« Im nächsten Augenblick verfluchte Harry Donald sich selbst, als er erkannte, welche Wirkung seine Worte bei Tom gehabt hatten. Der hatte auf stur geschaltet und fragte mit wütendem Gesichtsausdruck: »Wer soll denn dieser Zerberus sein, Harry?« Wut ist nie gut, und der Inspektor war wütend über sich und gab seiner Wut nach. Darum antwortete er ohne lange nachzudenken: »Der Zerberus ist ein Höllenhund mit drei Köpfen, und damit habe ich deine süße, liebe, kleine, verlogene Mary gemeint. Weißt du es nun?« Wie eine Marionette erhob sich Mary Chinook, sah ihren Angetrauten eiskalt an –, wie nur Ehefrauen ihren Mann ansehen können –, und sagte mit der Stimme eines aus dem Paradies gejagten Erzengels: »Tom, wenn du mit mir jetzt nicht dieses Zimmer verläßt, um mich von der Anwesenheit dieses Gentlemans zu befreien…« Und genau wie es überall Ehefrauen tun, sagte sie den Schluß des Satzes nicht. Tom Chinook wußte auch so, was sie ihm hatte liebflüstern wollen. »Mary…«, säuselte er und versuchte Harry Donald einen giftigen Blick zuzuwerfen, bloß war der mit Saccharin gewürzt und 61 �
nicht mit Arsen, »du warst die längste Zeit mein Freund!« Damit griff er nach Marys Arm, schob seine Hand darunter und bewegte sich mit ihr zur Tür. »Geht doch zum Teufel«, gab ihnen Harry Donald noch mit auf den Weg, warf den Kugelschreiber aufs Papier, sah, wie sie sein Zimmer im »Maria Stuart« verließen und nahm sich die Flasche Scotch zur Brust. Aber richtig. Verdammt noch mal… * An Mortoncastle war nur der Name schön, sonst war das Dörfchen in jedem Punkt noch dreimal trostloser, langweiliger, öder und mieser als Lester. Dafür lag es viel näher beim Hochmoor. Von Mortoncastle aus benötigte man nur eine gute Meile, um schön tief im Schlamm und Morast sitzen zu können. Aber darauf waren nur die wenigen Touristen im Sommer neugierig, wenn über dem Hochmoor die Hitze stand und die großen Schafherden sicher die schmalen Landbrücken zwischen den trügerischen Gebietsstreifen benutzen, um von einer wilden Weide zur anderen zu gelangen. Die Schafe, denen man nachsagte, sie seien so furchtbar dumm, kannten diese Landbrücken besser als der beste Leithund aller Herden. Und von Schafen und von dem letzten verdammten und verregneten Sommer war die Rede, von den halsabschneiderischen Viehhändlern und daß der Wollepreis so elendig tief gelegen habe, und darum war auch der letzte Schotte bei Bill froh, daß mit dem Auftauchen der beiden Fremden das zum Hals heraushängende Thema nun zu Ende war. John McPeer hatte einen Blick für durstige Kehlen und orderte 62 �
eine Lokalrunde, und damit das Bier nicht so trocken die Kehle herunterrinnen mußte, dazu auch noch einen Scotch. »Aber keinen Sprit!« sagte der Anwalt zu Bill, dem Wirt, der vom Rasieren nichts hielt und stolz auf seinen verwilderten Bart war. Der warf sich in die Brust, rollte empört mit den Augen, ließ seinen prachtvollen Baß orgeln und behauptete, den besten Scotch rund ums Hochmoor auszuschenken. »Hat er auch! – Bill hat den besten Scotch. – Bill…«, und er konnte stolz auf die Zustimmung von allen Seiten sein. Zehn Minuten später, nach der dritten Lokalrunde, saßen Ben und McPeer bei den Einwohnern von Mortoncastle, daß zweiundsechzig Häuser aufwies und in dem zweihundertvierundsiebzig Menschen wohnten. »Wir haben zuerst in Lester im ›Loch Ness‹ bei Tom Chinook gewohnt«, sagte Ben Lothan und ließ damit seinen ersten Versuchsballon hoch, hatte er denn eine Ahnung, ob man hier ungestraft über das Old Gallows seinen Spaß machen konnte? Man nickte stumm auf seine Mitteilung über das »Loch Ness«. Und man nickte stumm über seine Mitteilung, nun im »Maria Stuart« bei Frank Evergeen zu wohnen. Man stimmte zu, als er erzählte, daß Tom Chinook und seine Frau Mary wieder aufgetaucht seinen und sie sich bei Frank Evergeen im Keller versteckt gehalten hätten. Schließlich widersprach man nicht, als er sagte, das alles wäre die Schuld Gordons, Oscar Gordons mit seiner Tochter Denise, den die beiden stammten in direkter Linie von den ersten Besitzern des Old Gallows ab. Nach weiteren stummen Nicken gab Ben Lothan sich geschlagen, er erzählte nichts mehr. Er hatte auch zu viel getrunken. Besonders hatte es der von seinem Onkel spendierte Scotch ihm angetan. Er war kaum noch in 63 �
der Lage, die Augen aufzuhalten. Sein linker Nachbar klopfte ihm mit der Hand auf die Schulter. Der sollte diesen Unsinn doch einstellen. Begriff der nicht, daß er einfach zu kaputt und schlapp war? »He, hallo, Sir. Sir, Mann Gottes, wachen Sie doch auf«, hörte er aus weiter Ferne rufen. Nun war das Klopfen auf seiner Schulter plötzlich nicht fern, sondern hautnah. Er wurde hin und hergeschüttelt. Auf einmal war noch eine zweite Stimme vorhanden, die klar und deutlich die Aufforderung aussprach: »He, Sir, machen Sie die Augen auf. Mann, Himmel noch mal, das ist doch Barrister McPeer!« Dieser Name besaß die Kraft, Ben Lothan aus seinem Bleischlaf, aus dem er einfach nicht wachwerden konnte, zu wecken. Er blinzelte das Licht an. Das Licht der Innenbeleuchtung seines Wagens, und das grelle Licht aus einer Taschenlampe, die ihm genau in die Augen leuchtete. Darum riß er den angewinkelten Arm hoch, schützte damit seine Augen und fühlte, wie sein Blick starr wurde, der zufällig die Uhr im Armaturenbrett gestreift hatte. Seitdem sie das »Loch Ness« verlassen hatten, waren einundzwanzig Minuten vergangen. Ganze einundzwanzig Minuten! Und mitten auf freier Strecke in ihrem Wagen schlafend, waren sie von zwei Motorradfahrern bei eingeschaltetem großen Licht angetroffen worden, und die hatten es nun geschafft, sie zu wecken. »Aber Sie sind doch gar nicht blau«, sagte der Blonde mit herzerfrischender Offenheit, der den Anwalt erkannt hatte und sich als ehemaliger Klient des Anwaltes vorstellte. »Mortoncastle?« wiederholten beide Motorradfahrer danach zur gleichen Zeit. »Mortoncastle? Nein, den Namen haben wir 64 �
noch nie gehört. Wo soll denn dieses Mortoncastle liegen?« »Das nächste Dorf heißt schlicht Cliff und hat zwei Kneipen. Nach Cliff müssen wir, weil wir dort wohnen, Sir.« Natürlich waren die beiden Motorradfahrer bereit, ihnen vorauszufahren und sie bis zur nächsten Kneipe zu lotsen. Dankend nahmen sie John McPeers Einladung zu einem Drink an. »Fängst du schon wieder so an wie bei Bill?« hielt ihm Ben Lothan vor. »Bei Bill in Mortoncastle…«, sagte der Anwalt und fügte nach kurzer Pause hinzu: »Langsam aber sicher bekomme ich vor mir selbst Angst. Wir waren bei Bill in seiner Kneipe, haben mit Männern an einem Tisch gesessen und getrunken, und wir waren doch nicht dort und haben nichts von dem erlebt, was wir als Erinnerung in uns tragen. Ben, das Ganze ist nicht mehr unheimlich, es hat – gefährliche Formen angenommen.« Der fuhr bei Sicherheitsabstand langsam hinter den beiden Motorradfahrern her und zuckte lässig mit den Schultern: »Bis auf den Unfall mit Denise und mir ist eigentlich doch gar nichts passiert, Onkel.« »So? Und wieso ist Chinooks Küche in die Luft geflogen? Und wer hat sie in die Luft fliegen lassen? Und wer hat alle Bewohner von Lester derartig beeindruckt, daß sie aus dem Old Gallows ein Heiligtum gemacht haben?« Ben Lothan hatte nicht zugehört. Sein Interesse hatte der Uhr im Armaturenbrett gegolten. Inzwischen fuhren sie seit sieben Minuten hinter den beiden Männern aus Cliff her, und diese vergangenen sieben Minuten waren für den jungen Mann aus Liverpool der Beweis, daß diese Männer keine Schemen waren wie die Besatzung des Caesar-8, von der sie gestoppt worden waren, kaum nachdem die geglaubt hatten, das Old Gallows verlassen zu haben. Die ersten Häuser von Cliff wurden durch die Lichtkegel aus 65 �
der Dunkelheit geholt. Deren Fenster waren nicht erleuchtet. Im Bereich des Hochmoores ging man im allgemeinen früh zu Bett, besonders in dieser späten Jahreszeit, in der es fast nur den kalten Wind und ununterbrochen Regen gab. »By Bessie« strahlte die dürftige Neonreklame und zeigte die liebliche Bewohnerin des Loch Ness, wie sie nach Vorstellung von Werbeleuten auszusehen hatte. Ihr einziges Strahlauge, das linke glich einem zu weich gekochten Ei und auch Bessies Kopf sah nicht besonders gut aus, dafür aber war der Schlangenkörper so lang wie die Front der Kneipe breit war. Und das alles in Neon. »Schrecklich…«, sagte John McPeer und mehr nicht, als ihn sein ehemaliger Klient auf die Leuchtreklame aufmerksam machte und fragte: »Sieht das nicht gut aus, Sir?« Der Wirt war sein einziger Gast und setzte sich gern zu ihnen. Er winkte ab, als er hörte, woher seine beiden Gäste kamen. »Aus Lester?« sagte er abfällig. »Die spinnen doch auf einmal alle. Seit Ende des letzten Monats läßt sich hier kein Mensch mehr blicken. Die trinken ihr Bier und ihren Gin nur noch in Lester. Ist denn wirklich Toms Küche in die Luft geflogen?« Neugierig sah er seine beiden Gäste an, und auch die zwei Motorradfahrer blickten gespannt auf. Mal erzählte der Anwalt, mal berichtete Ben Lothan. Von dem Old Gallows war an diesem Abend öfter die Rede. Lachend legte sich der Wirt zurück, als Ben Lothan Smildy, deren Riesen-Mäuse und den Druden mit den grünen Krallen ins Gespräch brachte. »Ich habe von dem Blödsinn gehört, aber nicht daran glauben wollen. Großer Himmel, diese Narren in Lester sollen dieses arme Weib, die Smildy, in ihrem Grab ruhen lassen. Sir…«, er blickte Ben Lothan an, »wollen Sie uns wirklich nicht verraten, wie der Text der beiden Zaubersprüche lautet?« 66 �
Ben Lothan kroch es kalt über den Rücken. Er warf seinem Onkel einen forschenden Blick zu. McPeer hatte sein Gesicht hinter dem Bierglas versteckt und trank gerade. Gutmütig war der Spott der beiden Lotsen aus diesem Dorf. McPeers ehemaliger Klient sprach den Anwalt an. »Sir, Sie glauben doch bestimmt nicht an diesen horrenden Unfug. Warum sagen Sie Ihrem Neffen nicht, er soll uns verraten, wie die beiden Zaubersprüche lauten? Ich würde sie bei meiner Alten probieren. Mann, Henry, wenn ich die in eine Maus verwandeln könnte! Was – Henry? Beim dritten Mal würde es keinen schiefen Haussegen mehr bei uns geben. Wetten?« Die Männer stimmten in sein Lachen ein, aber Ben Lothan und sein Onkel lachten nicht. Einer machte dem anderen in Gedanken Vorwürfe, diesen Punkt ins Gespräch gebracht zu haben. Dann drängten alle drei, der Wirt und die beiden lotsenden Motorradfahrer. »Ich gebe noch eine Runde«, erklärte der Wirt und sah Ben Lothan herausfordernd an. Der Anwalt übersah diesen Blick nicht, beugte sich zu seinem Neffen herüber und flüsterte ihm zu: »Den Spruch, der mit den Riesen beginnt, Ben, den kannst du doch aufsagen.« Der ballte unter dem Tisch die Hände und fühlte, wie schweißnaß die Finger waren. Seinem Geschmack nach hatten sie in dieser Nacht genug erlebt, und wenn er an die Brandwunden an seinen Armen und an drei Fingern dachte, tauchte die Felswand vor seinen Augen wieder auf, die von einem der Riesen verdeckt worden war, als er im Austin die Kehre viel zu schnell angefahren hatte. »Also gut«, gab er widerwillig nach und kippte den Inhalt seines Glases. »Aber auf Ihre Gefahr.« »Zuerst trinken wir noch einen«, stoppte der Wirt, kam mit der Flasche und füllte die Gingläser nach. Er schenkte sie randvoll. 67 �
Ex – hieß es und ex wurde getrunken! Ben Lothan sah in grinsende Gesichter. Nur sein Onkel John McPeer grinste nicht. Und er selbst nicht. Riesen, Riesen gehet leise, werdet wieder kleine Mäuse! Vor seinen Augen verschwanden die grinsenden Gesichter. Die beiden Motorradfahrer trugen keine Lederbekleidung mehr, keine Fahrerbrille über der Stirn, und der Wirt suchte vergeblich nach seinem altmodischen Kneifer auf der Nase. Die Zigaretten und die Gasfeuerzeuge waren vom Tisch ebenso verschwunden wie John McPeers Shagpfeife mit der Tabakdose aus Blech. Der flammende Docht auf der schillernden Öllache im Tonkrug drohte flackernd zu verlöschen, als der Wirt gegen den Tisch stieß, entsetzt auf ein Paar Mäuse deutete, die langsam über die verzogenen Dielen seiner Schankstube liefen und unter der breiten Fuge der windschiefen Außentür nach draußen verschwanden. »Die waren ja weiß… Maria und Josef, weiße Mäuse bringen den Tod ins Haus. Oder nicht, Advocatus?« Wie ein Mensch, der vor dem Hungertod steht, starrte der den Gelehrten der Rechtswissenschaften an, von dem er wußte, daß er hauptsächlich im Dienst des Grafen Hasting stand. Der Advocatus kam nicht mehr dazu, dem Wirt darauf zu antworten. Plötzlich blitzte Stahl auf. Klobige Stühle kippten um und donnerten zu Boden. Der Wirt schrie gellend nach seinem Knecht, der irgendwo in einer Kammer schlafen mußte. Ben Lothan warf sich zwischen die Streitenden, handelte sich einen Tritt ein und flog in die Ecke. Er sah Mond und Sterne, als er mit dem Kopf aufschlug, und für einen Augenblick verließen ihn alle Kräfte. »Herr mit dem Geld!« gellte die Aufforderung durch die Schankstube, und der Advocatus sah sich auf einmal sowohl vom Wirt wie von den beiden jungen Männern bedroht, die in 68 �
mörderischer Lust ihm ihre Dolche zeigten und ihn eingekreist hatten. »Misch dich nicht ein, Ben«, schrie der Advocatus seinem Neffen zu, der sich lautlos aufgerafft hatte und mit einem Stuhl gerade den Wirt niederschlagen wollte. Ben Lothan kam nicht mehr dazu. Der Knecht des Wirtes raste herein, eine Keule in der Hand, aus ihr machte er ein Wurfgeschoß und warf sie dem fremden jungen Mann mit dem erhobenen Stuhl an den Kopf. Der ließ Stuhl und sich selbst fallen. Der Knecht raffte seine Keule wieder auf, sprang zu den anderen Banditen und fragte den Wirt grinsend: »Soll ich ihm den Schädel weichschlagen, Herr?« Da wußte der Advocatus, daß sein Leben kein Silberling mehr wert war. »Ich gebe euch alles«, stieß er aus. Der Wirt grinste schmierig und verschlagen. »Auch die beiden Pferde und den Wagen, mit dem ihr und euer Neffe gekommen seid, hoher Herr?« höhnte er fragend. Advocatus McPeer nickte verschüchtert. Der Wirt blickte seinen Knecht nur an. Der begriff, was er zu tun hatte. Er klemmte sich die schwere Eichenkeule unter den linken Arm, bückte sich, griff nach dem Neffen des Advocatus und warf ihn wie einen Sack voller Mehl über die Bank, um ihn geschickt wie ein Taschendieb am Marientag auszuplündern. Als der Lederbeutel mit den klingenden Gold- und Silbermünzen auf den Tisch fiel, glomm in den Augen aller die Habgier auf. Der habgierigste war der Wirt. Er setzte dem Advocatus mit diabolischem Grinsen sein Messer an den Hals. »Raus mit dem Mammon, hoher Herr, oder Graf Hasting darf Ihre stinkenden Knochen im nächsten Frühjahr einsammeln las69 �
sen, um sie draußen auf dem Anger verscharren zu können.« Niemand achtete auf Ben Lothan, der lang gestreckt auf der Bank lag und leicht mit den Augen blinzelte. Seine Bewußtlosigkeit hatte nicht lange gedauert, ein gutes Zeichen, wie hart sein Kopf war. Er sah, in welcher aussichtslosen Lage sich sein Oheim, der berühmte Advocatus McPeer, befand und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, ihm zu helfen. Aber außer den höllischen Zaubersprüchen der Hexe Smildy sah er weit und breit keinen Ausweg, ihrer Lage in dieser Räuberhöhle ein anderes Gesicht zu geben. Und wenn es ihn die Seligkeit kostete und er sie dem Teufel verschreiben mußte, er konnte doch nicht zulassen, daß man den Oheim und ihn in diesem Gasthaus am Rand des Moores ermordete und ihre Leichen in den brakigen Schlamm versenkte. Die beiden jungen Kerle spien dem Onkel ins Gesicht. Der Blonde schlug mit dem Griff seines Dolches gegen dessen Ohr. McPeer brüllte vor wahnsinnigen Schmerzen auf. »Merkst du was, du kluger Gottseibeiuns?« verhöhnte ihn der Wirt. »Wir wollen mehr als dein Geld, das du bei dir trägst. Wir wollen auch deine Schätze, die du zu Hause hast, und auch die in den Verstecken. Henry, schneide ihm mal ein bißchen das linke Ohrläppchen ein, damit er begreift, daß wir keinen Witz machen. Solche hohen Herren glauben immer, wir hundertmal von ihnen betrogenen Teufel machten Scherze, wenn wir mal das Maul aufreißen und verlangen, auch etwas von ihrem Reichtum haben zu wollen, den sie ungestraft zusammengerafft, zusammengestohlen, zusammenbetrogen und zusammengemordet haben. Bei der heiligen Jungfrau, schneid ihm das Ohr ein!« Ben Lothan, auf den niemand mehr achtete, sagte Smildys wirksamen Zauberspruch: Leise, leise kommen Mäuse und aus diesen werden Riesen! Da war die Gaststube zu niedrig. 70 �
Da war plötzlich das Haus zu klein! Da stand Smildy unter ihnen, und mit ihrer zirpenden Stimme schien sie Boden, Wände und Decke zu sprengen. »Wer hat die Riesen des Druden gerufen?« fragte sie, und sie trug wieder das schwarze Kopftuch. Darunter lugten die brandroten Haare hervor. Ihr Gesicht war voll von tausend Runzeln und Falten. Häßlich war die Hexe anzusehen und doch wiederum nicht. Irgend etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes ging von ihr aus, aber auch Grausiges, das trat jetzt zutage, als sie den Wirt anlachte, der vor Entsetzen zurückgewichen war und seinen Dolch hatte fallen lassen. Draußen in Dunkelheit und Nacht dröhnten Schritte auf, aber sie verklangen, sie kamen nicht näher. Unsichtbare Kräfte begannen an der verschlossenen Tür zu rütteln. Das Haus begann in seinen Fugen zu beben. Durch die Ritzen der Decken und Bretter rieselte Staub, Erdreich und vermoderter Torf. Es roch überall alt, stickig und hexisch. Es roch nach Schwefel, Hölle, Moor und ewigem Pein-Feuer. Mit einem Satz war Ben Lothan von der Bank, hatte sich auf die beiden jungen Räuber geworfen, die vor Entsetzen nicht mehr in der Lage waren, einen Abwehrgriff zu tun und ihnen die Morddolche entrissen. So bewaffnet ging er auf den verstört wirkenden Knecht zu, der vergessen hatte, daß er noch eine Keule besaß. »Gib sie her!« schnarrte Ben Lothan ihn an, und der andere händigte sie ihm ohne zu zögern aus. Er schrie nicht einmal auf, als Ben ihn mit einem Keulenstreich zu Boden schmetterte, sich dann den Wirt vornahm, auch ihn niederschlug, um sich im nächsten Augenblick herumzureißen, denn hinter seinem Rücken war die Tür des Gasthofes aufgebrochen worden, und jemand stürmte von draußen herein. 71 �
Ben Lothan schrie nicht auf, als er in das teuflischgrinsende Gesicht des Druden blickte, der seine grünen Krallen nach ihm ausgestreckt hatte, um ihm Keule und Dolch zu entreißen. Ben Lothan, der nie erfahren hatte, was die Knappen der Adeligen und Fürsten in der Schwertschule zu lernen hatten, ging leicht auf den Beinen tänzelnd zurück, zeigte nichts von seiner unheimlichen Angst vor dem entsetzlichen Druden, benutzte seine Ellbogen, um Smildy, die sich auf ihn stürzen wollte, in die Ecke zu schleudern, riß plötzlich seine erbeutete Keule hoch, schlug zu –, und schlug mit der Keule durch den Druden hindurch, als ob er aus Nebel sei, den man in Kleidung gesteckt hatte. Gellend und schauerlich war das Hohnlachen des Hexenmeisters anzuhören. Ben Lothan kroch es kalt über den Rücken. Widerlich klang Smildys knochentrocknes Lachen, aber unbeschreiblich scheußlich und entsetzlich zugleich sahen die grünen Krallen des Druden aus. Sie schnellten vor. Sie wollten Ben Lothan würgen! Sie wollten ihm den Hals umdrehen! Da flog kochendheißes Öl durch die Gaststube. In einem Anfall wildester Verzweiflung, geschüttelt von Entsetzen, Grauen und Teufelsangst, hatte John McPeer zum Öllicht gegriffen und das heiße Öl dem Druden ins Gesicht geschüttet. Nur noch das winzige Licht über der Tür zum Hof brannte. In der Gaststube konnte man kaum die Hand vor Augen sehen, aber daß das heiße Öl den Druden nicht getroffen hatte, erkannten sowohl der Advocatus wie dessen Neffe. Wie von tausend Teufeln verfolgt rasten die beiden jungen Räuber aus dem Gasthof nach draußen und hatten kaum die Straße erreicht, als ihr gellendes Schreien aufklang. Ben Lothan begriff, was das darauf folgende Hohngelächter zu bedeuten hatte, das so stark war, daß es die Schindeln vom Dach 72 �
des Gasthofes fegte, als ob eine starke Orkanbö darüber hinweggezogen sei. Die beiden Riesen der Smildy und des Druden hatten die jungen Banditen abgefangen und ihnen den Hals umgedreht, hieß es doch nicht umsonst um das ganze Hochmoor herum: Sind die Riesen zu hören oder zu sehen, dann wird irgendwo jemand umgebracht und jedesmal sieht jemand die grünen Krallen des Druden. Er, Ben Lothan, sah sie. Sie griffen wieder nach ihm. Sie wollten ihm auch den Hals umdrehen, wie draußen die beiden Riesen die jungen Räuber gemordet hatten, deren Schreien verstummt war. Er wurde sich nicht klar, wann, wie und warum er Smildy zu fassen bekommen hatte. Ben Lothan hielt sie fest. Sie war federleicht. Sie wog überhaupt nichts. Sie war weniger als Luft und dennoch zu halten. Sie war anders als der Drude, ihr Sohn. Sie war mehr… Er schleuderte sie den grünen Krallen und dem Druden entgegen, und im gleichen Moment gab es einen Blitz, und tausend Donner ringsum dröhnten auf, der Gasthof schüttelte sich wie unter einem Fieberanfall und, alle Balken und Bretter krachten und kreischten… … und Ben Lothan blickte den Wirt an ihrem Tisch an, die beiden jungen Männer, die sie nach Cliff gelotst hatten und seinen Onkel. Niemand sprach ein Wort. Der Wirt griff zur Flasche und wollte nachschenken. Er konnte es nicht. Seine Finger besaßen keine Kraft mehr, die Flasche zu halten. 73 �
Die beiden jungen Männer wischten sich den Schweiß aus dem Gesicht. McPeer und sein Neffe warfen sich einen Blick zu, der Bände sprach. Jetzt hatte der Wirt es geschafft, die Flasche aufzuheben, aber dann konnte er nicht eingießen. Auch nicht mit zwei Händen. Beide zitterten so sehr, daß der Ginstrahl aus dem Gießer der Flasche weit neben dem Glas den Tisch benetzte. Mittlerweile hatte Ben Lothan wieder so viel Speichel gesammelt, daß er sprechen konnte. »Noch einen Spruch gefällig?« fragte er krächzend. Seine Frage brach den Bann, der über der Gaststube »By Bessie« lag. Der Wirt hielt sich mit beiden Händen seinen Kopf fest und stöhnte: »Großer Gott, und das im Spätherbst 1973. – Hexen aus dem Mittelalter, Mäuse-Riesen, ein Gasthof als Räuberhöhle, ein Drude mit grünen Krallen! Zur Hölle, ich sage nie mehr, die Leute in Lester seien Spinner! Aber… aber…« Er schlug gegen seine Stirn. »Aber das gibt es doch nicht! Zaubersprüche! Das sind doch Sprüche! Das ist Quatsch.« Da machte ihm Ben Lothan den Vorschlag: »Soll ich den von den leisen Mäusen noch einmal sagen?« Die beiden jungen Leute standen schon absprungbereit an der Tür, um rettend das Freie und die Nacht zu gewinnen. »Denkt daran, daß euch die Riesen den Hals umgedreht haben«, erinnerte sie Ben Lothan daran, und er brachte nicht einmal den Anflug eines Lächelns zustande, als sie beide an ihren Hals griffen und ihn mit den Händen abdeckten. Zögernd kamen sie zurück und setzten sich wieder. Der Wirt war wieder Herr über seine Arme und Hände und schenkte nach. Abermals randvoll. Sie alle hatten eine Stärkung nötig. 74 �
Ben Lothan wischte sich über den Mund. »Das war das letzte Mal, daß ich einen der beiden Zaubersprüche über die Lippen gebracht habe«, versicherte er und schüttelte sich, weil er unwillkürlich an die grünen Krallen des Druden denken mußte. »Sir«, fragte der Wirt mit Bewunderung und Angst in der Stimme, »wirken die Zaubersprüche nur, wenn Sie sie aussprechen?« »Ja, bis jetzt wenigstens. Wir haben im ›Maria Stuart‹ nur einmal die Probe gemacht. Natürlich habe ich mich da zurückgehalten, aber ich weiß erst seit meinem Aufenthalt hier, daß ich mit dem Riesen-Spruch kleine Mäuse herbeizaubern kann. Haben Sie eigentlich eine Hilfskraft, die Ihnen hin und wieder zur Hand geht?« Der Wirt zögerte mit seiner Antwort. Er sah aus wie ein Mensch, der Angst hatte, mit seiner wahrheitsgemäßen Antwort könne er sein Leben verlieren. »Ja«, sagte er endlich leise, »soll ich ihn rufen?« Sie wollten ihn nicht sehen. Niemand hatte mehr Lust zu trinken. Auch keine Lust sich zu unterhalten. »Verrückt« stieß der junge blonde Mann aus und rückte unwillkürlich ein Stück von Ben Lothan ab. »Ja –, verrückt«, wiederholte der Mann aus Liverpool, »aber jetzt klingt es Ihnen bestimmt nicht verrückt oder unglaubwürdig, wenn ich vor Ihnen wiederhole, daß ich und mein Onkel in Mortoncastle in einer Kneipe waren, kurz bevor sie uns beide eigentümlich tief schlafend in unserem Wagen auf der Landstraße antrafen und uns weckten?« Der Wirt ›By Bessie‹ konnte sich nicht erklären, daß sie alle zusammen genau dasselbe erlebt hatten –, er sowohl wie die beiden jungen Leute aus dem Dorf, der Anwalt und der Mann aus Liverpool, der mit seinem Zauberspruch das alles in Gang gesetzt hatte. 75 �
»Ich vermute, daß ich noch eins draufgeben könnte«, meinte Ben Lothan und sollte dann sagen, was er vermutete. Da weckte im Auftrag des Wirtes der junge blonde Mann dessen männliche Hilfe. Verschlafen kam der nach knapp zehn Minuten und fragte unfreundlich, während er das grelle Licht der Neonröhre anblinzelte: »Was soll‘n der Blödsinn?« Darauf gab ihm sein Boß keine Antwort. »Hast du geträumt, Jeff?« »Verdammt, ja, aber deswegen einen zu wecken, Chef.« Der nahm den Tadel gelassen hin. »Jeff, hast du geträumt, wir, also du, ich und Henry und…« Da hielt sich Jeff, kein Adonis in Opas knöchellangem Nachthemd, an der Tür fest und starrte die Gäste an, als ob sie direkt aus der Hölle gekommen wären und noch nach Schwefel riechen würden. »Das… das… Nein, das darf nicht wahr sein! Das kann auch nicht wahr sein. Chef, diese beiden Gentlemen… ich schwöre es Ihnen, die habe ich noch nie gesehen. Noch nie, aber das sind ja genau die… Lieber Himmel, wie soll ich das bloß sagen? Chef, wie sagt man so was?« Und er tanzte von einem Bein auf das andere, zeigte immer noch Entsetzen. Er schien sich selbst nicht allzusehr zu trauen und erwartete Hilfe von seinem Boß. Der ließ seinen Jeff, der nicht mehr halbschlafend war, nicht aus den Augen, als er fragte: »Und diese beiden Gentlemen haben wir vier versucht auszuplündern. Stimmt's, Jeff?« Neben dem armen Teufel von Jeff stand ein Stuhl und auf den ließ er sich fallen. »Könnt ich was zu trinken kriegen, Chef?« fragte er wie ein Mann, der an seinem Verstand zweifelt und darum nicht wagt, die anderen anzusehen, weil sie ihm vielleicht sagen würden, er gehöre in die Klappsmühle. Der Wirt schenkte ihm ein, und noch einen, und zwischendurch versuchte er ihm einiges zu erklären und machte damit 76 �
alles noch schlimmer, denn eine große Leuchte war Jeff nicht, darum verstand er zum Schluß gar nichts mehr. Darum meinte er auch, sein Chef würde ihn auf den Arm nehmen, und richtig böse geworden fiel er dem ins Wort: »So doof wie Sie mich halten, bin ich nun doch nicht, Chef. Ich hab's geträumt und sie alle haben‘s erlebt… hähä! Besoffene Gesellschaft! Sauft mal schön weiter. Mich könnt ihr…« Und so unrecht hatte er nicht. Man hatte ihm einfach zu viel zugemutet, und als sie wieder ohne ihn in der Gaststube saßen, sahen sie es auch ein. Henry rieb schon wieder seinen Hals, und der Wirt fragte ihn, warum. »Weil es mir weh tut! Weil ich immer intensiver glaube, einer der beiden Riesen hätte mir wirklich den Hals rumgedreht.« Schüchtern sagte der junge blonde Mann: »Mir geht es nicht anders. Also, wenn ich versuche mich zu erinnern, wie die beiden Riesen ausgesehen haben, die uns draußen schnappten…« McPeer unterbrach. Er hatte Verständnis für ihre Gefühle. »Aus eigenem Erleben weiß ich, daß es irgendwo eine Kraft gibt, die einem mit aller Gewalt einreden will, man habe es wirklich erlebt und nicht nur lebhaft geträumt. Eine Reise in die Vergangenheit, und sollte sie noch so kurz sein –, selbst eine Reise um eine Sekunde in die Vergangenheit hinein –, so eine Reise gibt es nicht. Und auch wir haben sie nicht wirklich erlebt. Wir alle haben diese Reise geträumt.« Der Querschuß kam von einer Seite, von der er ihn nicht erwartet hatte. »Und wie konnte ich Denise im Old Gallows als Besitzerin antreffen und einen Tag später schon in deiner Kanzlei als Sekretärin? Dieselbe Denise, lieber Oheim?« Der hielt dem Wirt sein leeres Ginglas hin. »Noch einen, bitte.« Er bekam ihn. Er trank ihn. Und dann gab er zu, darauf keine 77 �
Antwort zu wissen. Er machte den Vorschlag, die Runde aufzuheben und meinte abschließend: »Ich habe schon gemütlichere Kneipenstunden erlebt.« Und damit waren Smildy, die beiden Riesen und der Drude wieder bei ihnen. Sie fuhren mit Ben Lothan und McPeer nach Lester zurück. Im flammneuen Austin. Nur wußten Ben Lothan und John McPeer es nicht. Und die Hexe Smildy, die Riesen und der Drude mit seinen grünen Krallen hielten sich auf der Heimfahrt der beiden Männer, die leicht unter Alkohol standen, keusch zurück. Warum sollten Geister das nicht auch mal sein können? * Der Austin stand am anderen Morgen immer noch vor »Maria Stuart«, und Ben Lothan, der mal schnell einen Blick nach draußen geworfen hatte, nickte beruhigt, denn allmählich traute er der Smildy zu, daß sie auch Auto fahren könne. Daß es regnete, gehörte zur Jahreszeit um das Hochmoor. Daß das Frühstück –, und obwohl es Sonntag war und die Kirchenglocke von Lester so schön läutete –, immer mieser wurde, Ham and eggs waren kalt, der Tee auch, das Brot trocken und die Butter zur Miniportion zusammengeschrumpft –, gehörte nun mal zu diesem scheußlichen Dorf. Melissa Phyll dachte nicht daran, ihren Ärger an der kleinen June auszulassen, aber sie beauftragte das Mädchen, den Vater zu rufen. Der kam auf Schlappen. Rasiert war er auch noch nicht. Nun, das konnte sein Sonntagsvergnügen sein. Er baute sich vor seinen ungeliebten Gästen auf und schnarrte: »Was gibt es denn jetzt schon wieder?« Der Inspektor war der Meinung, ihn auf Vordermann bringen 78 �
zu müssen, und sagte mit zuckersüßem Tonfall: »Mr. Evergeen, mein Bericht zur Polizeistelle nach Crocky ist noch nicht abgegangen.« Der spielte Schnecke und zog sich absichernd in sein Schneckenhaus zurück. Dabei war sein Rücken so krumm geworden, wie es bei einem Menschen normalerweise gar nicht möglich war. Aus dieser Haltung heraus sagte er: »Stecken Sie sich Ihren Bericht an den Hut. Um mir das zu sagen, haben Sie mich rufen lassen?« »Nein!« zischte ihn Melissa Phyll an. »Sondern weil das kein Frühstück ist – eher eine Zumutung.« Dieser einmalige Wirt erklärte ihnen kalt: »Dann ziehen Sie doch aus. Wann darf ich Ihnen die Koffer heruntertragen, Miß… oder sind Sie eine Madam?« Denise Gordon kochte auf kaltem Weg. Krampfhaft unterdrückte sie den Wunsch, Mr. Frank Evergeen ihr eiskaltes Rührei an den Kopf zu werfen, aber bitte mit Teller. Sie nahm ihre vor Trockenheit krumm verzogene Scheibe Brot und klopfte ihm damit hochkant auf die Knöchel der linken Hand. Frank Evergeen zuckte zusammen und stöhnte, hatte seine linke Hand zurückgerissen und sagte im drohenden Ton: »Bis um zehn habe ich Sie rausgeschmissen, Miß. Verlassen Sie sich drauf.« Was sollten ihm die anderen sagen? Der Anwalt hatte hilflos mit den Schultern gezuckt und dann mit Widerwillen einen Schluck Tee getrunken. »Ein Gesöff!« tobte der Hobby-Botaniker Osborne und suchte in seinen Hosentaschen seine Zigaretten. Niemand machte den Versuch, ihm mit seinen auszuhelfen. Walt Osborne rauchte nur seine Gauloise und verschmähte jede Zigarette englischer Herstellung. Als er wieder herunterkam, rauchte er schon. Mit einem Blick 79 �
hatte er die drei Frühstückstische überflogen und festgestellt, daß niemand mehr einen Bissen gegessen hatte. »Wo bekommen wir in diesem gottverlassenen Nest bloß heute, am Sonntag, ein vernünftiges Frühstück?« fragte er und blieb hinter Melissa Phylls Stuhl stehen, die die Nase rümpfte, weil sie den unbeschreiblichen Geruch der französischen Zigarette einfach nicht ausstehen konnte. »Walt, wenn du mich noch lange räucherst, wird mir auch der Appetit auf das Mittagessen vergangen sein«, hielt sie ihm vor. Hastig trat er mit einer gemurmelten Entschuldigung zurück und ging bis zum Fenster. Er zuckte zusammen, und Denise Gordon, die es bemerkt hatte, fragte sich in Gedanken, was es draußen wohl Interessantes geben könnte, denn bisher hatte sie nicht entdeckt, daß ein Blick auf die Straße zur Neugier reizen konnte. »Pater Shannon scheint uns besuchen zu wollen«, machte Osborne die Mitteilung. Der Anwalt lachte. »Uns besuchen? Höchstens den Wirt, um ihm wegen dieses Frühstücks den Segen der englischen Kirche zu geben.« Der nicht ausrottbare Gegensatz zwischen Engländer und Schotten war in dieser Bemerkung wieder zutage gekommen, und wer ein echter Schotte war, der vergaß den Briten nie, daß sie einmal Untertan der Krone von Schottland gewesen waren. Legal natürlich. Schließlich war es auch ganz legal gewesen, als Maria Stuart von der Elisabeth von England nach neunzehnjähriger Gefangenschaft 1578 hingerichtet wurde. Sie mußte also ein paar Jährchen später sterben als Smildy, die man 1507 am Rande des Hochmoores aufhing und vorher zur Hexe erklärt hatte. Ganz legal natürlich… »Der Pater betritt den Gasthof«, teilte Walt Osborne von sei80 �
nem Beobachtungsplatz am Fenster mit, blickte wieder nach draußen, um von der Stille hinter seinem Rücken gezwungen zu werden, sich abermals umzudrehen. Auch Ben Lothan traute seinen Augen nicht. Er saß neben Denise Gordon am Tisch und flüsterte ihr das unverständliche Ereignis ins Ohr. Frank Evergeen trug immer noch seine Schlappen und war nach wie vor nicht rasiert, aber er schleppte auf einem Riesentablett Ersatz-Ham and eggs herein und drei bauchige Teekannen. »Entschuldigung«, sagte er höflich, und grüßte dann nach allen Seiten freundlich. Er murmelte etwas von einem ungewollten Versehen, tauschte die Brotkörbe aus, die Eier mit Speck und die Kannen mit Tee, und für seine freundliche Tochter June hatte er noch freundlichere Blicke übrig. John McPeer kam sich wie in einem Irrenhaus vor, in dem sich die Szene völlig unmotiviert von einem Moment zum anderen verändert hatte. Auch die anderen an ihrem Frühstückstisch konnten diesen Wechsel nicht begreifen und warfen sich gegenseitig hilflose und fragende Blicke zu. »Bitte, Mr. Osborne, wollen Sie nicht noch einmal zulangen?« forderte ihn Frank Evergeen auf, der Wirt der »Maria Stuart« – so strahlend freundlich wie draußen das Wetter unfreundlich war. Die Stimmung unter seinen Gästen schlug sofort um, der Duft des frischgebratenen Baconspecks stieg ihnen in die Nase, und kurz darauf blickte der vor Zufriedenheit strahlende Wirt auf still vor sich hin schmausende Gäste herab. Leutselig wie ein Medizinmann, dem es gerade gelungen war, seine zweibeinige Hammelherde übers Ohr zu hauen, nickte und lächelte er breit. Die nächste Überraschung an diesem seltsamen Sonntagmorgen in Lester ließ nicht lange auf sich warten. Pater Shannon in höchster Eile –, denn seit dem so schönen 81 �
Läuten der einzigen Kirchenglocke in Lester waren fast fünfzehn Minuten vergangen, und er hatte gleich die Messe zu lesen –, bat John McPeer und dessen Neffen, nach der Kirche noch einmal ins »Maria Stuart« kommen zu dürfen, um mit ihnen über das Old Gallows zu reden. Inspektor Harry Donald saß vor seinem Frühstück, als ob ihm der Himmel vernagelt sei und starrte abwechselnd den vollkommen veränderten Wirt an und den vor lieblicher Freundlichkeit strahlenden Pater Shannon, der auf einmal das Gegenstück von Pater Brown aus dem TV geworden war. Melissa Phyll tuschelte mit Walt Osborne, aber hin und wieder sprach sie so laut, daß auch die anderen verstanden, was sie sagte, nur Ben Lothan und Denise Gordon hörten nichts davon, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. »Oh, bitte ja, Ben. – Oh, bitte nein, lieber Ben… Lieber Ben. – Oh, Ben, du bist so lieb… Wirklich lieb von dir, Ben.« John McPeer, eingefleischter Junggeselle, hörte es mit Grausen und sah in Gedanken schon die Schlingen, Fallstricke und Gruben, die Denise Gordon, seine reizende Sekretärin mit dem roten Goldhaar, seinem Neffen gestellt hatte, um ihn einzufangen. In diesem Augenblick erkannte er, daß das Mittelalter mit seiner Hexenverbrennung gar keine so schlechte Zeit gewesen war für Männer, die Junggesellen bleiben wollten. Wahrscheinlich hatte sich diese Smildy damals auch einen Mann an die Leine gelegt und der hatte die Riesengefahr dann im letzten Moment erkannt und dann… John McPeer zuckte mit den Schultern und hatte volles Verständnis für diesen Unbekannten, der sich um 1500 herum trotz allem seine Freiheit bewahrt hatte. Armer Ben, dachte er und hatte tiefstes Mitleid mit seinem Neffen, bei der Schlange Denise wirst du bald nichts mehr zu lachen haben, aber er war klug genug, sich in das Spiel der beiden nicht einzumischen. Doch bevor er sich versah, hatte er den ersten 82 �
Zauberspruch schon lautlos, über seine Lippen gebracht –, jenen Spruch, in dem aus Mäusen Riesen wurden, aber in der Gaststube des »Maria Stuart« veränderte sich nichts und Smildys Riesen dachten gar nicht daran, hier zu spuken. Nur Ben Lothan hatte neben der Hexe Macht über ihre Gespenster; er konnte sie kommen und gehen lassen. Pater Shannon hielt sein Versprechen und suchte John McPeer und seinen Neffen nach der Messe im Gasthof auf. Er war nicht mehr der arrogante Mann, der ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, sondern der freundliche Geistliche, der für die Schwächen der Menschen so großes Verständnis hatte – auch für seine eigenen. Nur war er dem Geschmack des Anwalts nach in Sprache und Ausdruck zu salbungsvoll. Der Anwalt hatte das Gefühl, der gute Pater Shannon versuche bei jeder Aussage den häßlichen Boden der schmutzigen Mutter Erde zu verlassen und sich himmelwärts zu begeben. Darum unterbrach er ihn und holte ihn mit seiner Frage trotz allem wieder auf die Erde zurück. »Mit anderen Worten, Pater, Sie gehörten auf einmal auch zu denen, die ums Goldene Kalb tanzten… also die im Gasthof ›Zum alten Galgen‹ so etwas wie ein Heiligtum sahen, nicht wahr?« »Aber ein schottisches, Mr. McPeer!« machte ihn der Pater darauf aufmerksam, und seine blauen Augen schauten so treu, daß es sogar Ben Lothan nun weh tat. Der Anwalt überhörte den Einwurf. »Aber erklären können Sie es nicht, Pater?« »Nein. Nein, wirklich nicht. Ich befand mich vorhin schon auf dem Weg zur Kirche, freute mich, weil so viele aus der kleinen Gemeinde es für ihre Sonntagspflicht hielten, dem Gottesdienst beizuwohnen und von allen Seiten…« Er versuchte schon wieder Engel zu spielen und wollte die 83 �
Erde verlassen, doch John McPeer holte ihn abermals auf den harten Boden der Wirklichkeit zurück. Pater Shannon wand sich. »Ich kann es nicht erklären, Mr. McPeer. Ich weiß nicht, warum ich von einem Augenblick zum anderen das Ganze als eine dumme, törichte und unglaubwürdige Spukgeschichte ansah. Wie gesagt, ich befand mich auf dem Weg zur Kirche, als diese ganze Old-Gallows-Geschichte für mich auf einmal Nonsens war. Es kam wie ein Blitz über mich.« Pater Shannon ging, der Inspektor kam und setzte sich zu ihnen. Der Anwalt erzählte ihm, worüber sie mit dem Geistlichen gesprochen hatten. »Er sagte uns: Es kam wie ein Blitz über mich.« Der Inspektor nickte so heftig, daß der Anwalt verstummte. Auch Ben Lothan sah ihn fragend an. »Wie es über Frank Evergreen kam. Auch er änderte sich von einem Augenblick zum anderen und ist nach wie vor die Freundlichkeit selbst. Er geht auch nicht in die Luft, wenn man einen Witz über Smildy, das Old Gallows oder über den Druden mit den grünen Krallen macht. Er lacht mit, Gentlemen.« Und er lachte auch, der gute Inspektor Harry Donald, der gerade beschlossen hatte, gleich zum »Loch Ness« hinüberzugehen, um mal nachzusehen, ob Tom Chinook und seine grantige Mary inzwischen ebenfalls wieder normal geworden waren. Er trank noch einen Scotch, bedankte sich bei dem Anwalt für den guten, abgelagerten Tropfen und ging. Gehen wollte auch Ben Lothan, nur wußte er noch nicht, wie er sich absetzen konnte. Sein Oheim bestätigte sich nicht als Sklavenhalter und sagte: »Laß deine Denise nur nicht warten, Ben. Nur nicht…« Alter Esel, dachte der junge Mann aus Liverpool unfreundlich, als er die Treppe hinunterging und böse auf den Oheim war, der mit seinen vierundfünfzig Jahren gewiß noch nicht zu den Alten 84 �
zählte. Er lief Walt Osborne, dem Botaniker und Gouloise-Raucher, in die Arme. Der sah Ben Lothan in wetterfestem Mantel, wasserdichten Schuhen und angeknöpfter Kapuze. »Bei dem Wetter wollen Sie raus, Mr. Lothan?« »Bin ich aus Zucker?« fragte der zurück, machte einen Bogen um den Botaniker, sah Denise schon an der Tür stehen und nickte ihr zu. »Und warum soll ich nicht noch schnell einmal frische Luft tanken? Morgen mittag bin ich schon wieder in Liverpool und bekomme den Smog aus erster Hand.« Damit ließ er Osborne stehen und eilte Denise nach, die schon vor das Gasthaus getreten war. Man sah sie noch zusammen die Hauptstraße überqueren und neben dem Shop in die Gasse einbiegen, und von dort an verlor sich ihre Spur. Der Erdboden schien Denise Gordon und Ben Lothan verschluckt zu haben –, oder waren beide von der Hexe Smildy geholt worden? In Lester gab es nachmittags schon die ersten Stimmen, die es behaupteten. Ganz Lester, auch Pater Shannon, hatte wieder aus dem Old Gallows ein Heiligtum gemacht –, natürlich ein schottisches… * Denise Gordon und Ben Lothan waren das erste Liebespaar, das sich die verwitterten Ruinen von Schloß Hasting als Ziel aussuchten, aber von den alten Steinen sahen sie herzlich wenig, denn auch sie schlossen beim Küssen die Augen und bestätigten ungewollt ein bis zum Tage nicht geklärtes Phänomen, das bisher jeder wissenschaftlichen Deutung gespottet hatte. Und es regnete. 85 �
Vom Hochmoor kam der Wind. Es war lausekalt. Aber die beiden bemerkten nichts davon –, und welcher Verliebte friert schon? Die Ruinen von Schloß Hasting lagen im Mittelpunkt einer kreisrunden Ebene, die von allen Seiten von niedrigen Bodenwellen umgeben war. Der breite Wassergraben, der dem Bau in vergangenen Zeiten Schutz gewährt hatte, war längst zugeschüttet und nicht mehr zu sehen. Von dem prachtvollen Schloß zeugten nur noch diese kümmerlichen Ruinen, von denen in zehn Jahren auch nichts mehr zu sehen war. So weit der Blick reichte, nirgendwo waren sie höher als ein Yard. Der Boden schien die Brocken aufzusaugen, oder sollten die Leute aus Lester in den vergangenen Jahrhunderten heimlich die Ruinen abgetragen und damit ihre Häuser errichtet haben? Der herrliche Dauerkuß zwischen Denise Gordon und Ben Lothan nahm auch mal ein Ende und auch ihr Blick tief in die Augen des anderen. Und dann stellte Denise fest, daß sie in einer matschigen Pfütze stand und Ben bemerkte mit Mißvergnügen, daß ihm das ablaufende Regenwasser durch einen Schlitz den Rücken herunterlief. »Darling, dein Rücken ist ja ganz naß. Du wirst dich erkälten, Ben«, sagte sie besorgt, und ihr Blick war voller Unruhe und ihre Hände so weich, die seine Wangen streichelten. »Und du hast bestimmt schon nasse Füße, Darling«, sagte er besorgt, und wieder ging er bei ihr mit seinem Blick auf Tauchstation, und nun streichelte er ihre Wangen. Beide benahmen sich, wie Verliebte sich überall auf der Welt benehmen. Ihm lief nach wie vor das Regenwasser über den Rücken, und sie stand nach wie vor in der breiigen Pfütze, und beide wußten es nun, aber sie taten nichts, um es abzuändern. Sie hatten keine Zeit dazu, weil sie sich wieder küßten. 86 �
Doch dieser Kuß war anders als der erste Dauerbrenner, weil sie beide nicht mehr allein waren. Eine Stimme war bei ihnen. Smildys zittrige, zirpende Stimme. Ganz nah. Denise hörte die Hexe ihren Zauberspruch sagen und Ben auch. Leise, leise kommen Mäuse… Sie besaßen nicht mehr die Kraft, sich zu trennen. Nach wie vor hielten sie sich umschlungen. Es schien, als ob Smildy sie mit ihrem Zauberspruch banne. … und aus diesen werden Riesen! »Jesus, Maria«, stieß Denise aus und klammerte sich an Ben. Voller Entsetzen blickte sie von der Zinne über den breiten Wassergraben hin in die Tiefe und sah auf der anderen Seite Smildys Riesen stehen, die drohend zum Schloß schauten. Aber noch drohender waren die grünen Krallen des Druden, die sich über den Graben hinweg bewegten und sich dabei öffneten und schlossen. Ben trennte sich von Denise, bückte sich und riß seine Armbrust hoch, legte auf den Druden an, der zwischen den Riesen stand, und schoß. Während der Bolzen durch die Luft auf sein Ziel zuraste, schrie Denise gellend: »Der Drude wird uns holen, Ben! Der Drude wird uns holen…« Er aber lachte, um im nächsten Augenblick kalkweiß im Gesicht zu werden, denn der Pfeil war durch den Druden geflogen, ohne ihn zu verletzen. Das gräßliche Lachen des teuflischen Hexenmeisters, dessen Ausdünstungen nach dem Schwefel der Hölle rochen und Übelkeit erzeugten, klang den beiden jungen Menschen auf dem Wehrgang der Mauer, die Schloß Hasting hinter dem Wassergraben schützte, so schauerlich in den Ohren wie das Rasseln der Knochen einer Armee Skelette. 87 �
Wie aus dem Boden gewachsen tauchte vor dem Druden und den beiden Riesen ein altes Weib auf, mit tausend Falten und Runzeln im Gesicht, und unter dem schwarzen Kopftuch leuchteten feuerrot die Haare. »Heilige Jungfrau«, stammelte Denise und glaubte dem Wahnsinn nahe zu sein, »da steht auch Smildy, die Hexe! Die Hexe, Ben.« Der nickte verkrampft, und seine rechte Hand hatte sich um den Kolben seiner Armbrust verschraubt. Er starrte hinüber zu der Gruppe, die noch untätig war, aber aus den Geschichten anderer wußte er, daß Smildy, der Drude und ihre Riesen sich immer viel Zeit ließen, bis sie sich mit teuflischer Lust ihre Beute holten und sie vernichteten. Denise stieß ihn an. »Ben, die Sonne! Die Sonne…«, flüsterte sie. Er fühlte das nackte Entsetzen über seine Haut kriechen. Die Sonne begann sich zu verfinstern, aber nicht so wie bei einer Sonnenfinsternis. Etwas schob sich vor sie, und dieses Etwas wurde immer dichter und schluckte immer mehr Licht. Er legte seinen Arm um Denise, bekam ihre hartgeflochtenen Goldhaar-Zöpfe zu fühlen, aber auch die Angstkälte, die von ihr ausging, und ihr Zittern. Sie beide waren allein in Schloß Hasting. Der Graf mit seiner Familie, dem Gesinde und den Reisigen hatten vor drei Tagen das Schloß verlassen, um zum Hof des Königs zu reiten, der im Dovanshir das große Reiter- und Kampffest veranstaltete. Weit und breit gab es keine Hilfe, und wer wagte es schon, gegen diese verdämmte Hexe, den Druden und die beiden Riesen zu kämpfen, die den großen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen hatten? Es wurde dunkler und kälter, der Regen wurde stärker und der Wind auch. Die Wolken schwebten tiefer, vom Hochmoor kamen die Nebel heran, und aus dem schützenden Wassergra88 �
ben stiegen die Dämpfe hoch, und sie rochen nach Schwefel. »Ich bin ja bei dir, Denise! Ich bin bei dir…«, flüsterte er ihr zu und konnte seinen Blick von den vier Höllengestalten nicht nehmen. Das Grausige nahm ihnen die Kraft, zu atmen. Einer der beiden Riesen hatte Smildy ergriffen, packte sie wie einen Stein und schleuderte sie quer über den Wassergraben zum Wehrgang der Mauer hinauf. Da hatte Ben schon mit seiner Armbrust den zweiten Bolzen abgeschossen, aber auch sein Geschoß flog durch Smildy hindurch, als sei sie gar nicht vorhanden. Mit krächzendem Lachen landete sie ein paar Schritte entfernt vor ihnen auf dem Wehrgang. Sie zeigte ihnen ihren zahnlosen Mund, ließ ihre Augen das satanische Grinsen von des Teufels Großmutter versprühen und musterte Ben Lothan mit der wollüstigen Gier eines Weibes, das ein Kind der Medusa sein mußte. War die Sonne am Himmel auch verdunkelt und Smildy vor ihnen auf dem Wehrgang –, mit dem Anflug von selbstmörderischen Mut wollte sich Denise auf diese widerliche Hexe stürzen, die ihr ihren Ben rauben wollte, als die Luft vom dröhnenden Lachen des Druden erfüllt war und er im hohen Bogen heranflog, um dicht neben seiner Mutter Smildy zu landen. Eine Kraft, die eisige Kälte mit sich führte, versuchte von Denise und Ben Besitz zu ergreifen und sie zu lähmen. Ben Lothan, der sich der letzten Predigt des Schloßkaplans erinnerte, nahm sich dessen Rat zu Herzen, machte ein Kreuzzeichen, schickte ein Stoßgebet zur heiligen Jungfrau Maria, stieß Denise zurück und warf sich den grünen Krallen des Druden entgegen, die gerade nach ihm griffen. Gott im Himmel, warum hilfst du mir nicht, fragte er sich in Gedanken. Er versuchte vergeblich die Krallenarme in seine Gewalt zu bekommen. Er griff hindurch! 89 �
Er bekam sie nicht zu fassen! Aber er hörte das höhnische Lachen des grausigen Druden. Da flogen zwei Schatten heran. Sie landeten zwischen Smildy und Drude. Die beiden Riesen hatten in einem gewaltigen Sprung den Wehrgang oben auf der Mauerkrone erreicht und schleuderten Ben Lothan zur Seite. »Dreht beiden den Hals rum!« stieß der Drude aus, und seine Krallen hatten auf einmal die Form von zwei kelchförmigen Gefäßen, seine Augen leuchteten in Bernsteingelb, und zum höllischen Kichern Smildys kam sein teuflisches Lachen, während sich die beiden Monster lautlos auf Denise und Ben stürzten, die gellend um Hilfe schrien. Denise fühlte sich hochgerissen und durch die Luft geschleudert. Wie ein Stein, dem man beim Wurf eine schnelle Drehung mitgegeben hat, drehte sie sich in der Luft um ihre eigene Achse. Neben sich hörte sie Ben schreien, der zur höchsten Turmspitze geschleudert worden war, das Kreuz darauf traf und es abriß. Er glaubte, alle Rippen seiner linken Brustkorbseite wären bei dem Aufprall zu Bruch gegangen, als er neben dem schmiedeeisernen Kreuz in die Tiefe und auf den Wassergraben abstürzte. »Ben…! Ben…« Denise rief um Hilfe! Er raste in die Tiefe. Das Kreuz neben sich. Er hörte Smildy lachen, den Druden und die Riesen. Er hörte, wie sie die Hölle anriefen und Luzifer anbeteten. »Ben…« Verzweifelt, dem Wahnsinn nah, klang Denises Schrei um Hilfe. Da stoppte sein Sturz. Da griffen unsichtbare Gewalten nach ihm, und er brüllte im nächsten Augenblick auf, als er begriff, wieder von den Pranken eines Riesen gehalten zu werden. Die Hexe Smildy mit ihrer Zauberkraft hatte ihn wieder zum 90 �
Wehrgang hinaufgeholt. Er brauchte nicht im kalten Wasser des Schloßgrabens zu ertrinken. Er sollte auf der Mauerkrone zu Tode gequält werden –, zusammen mit seiner Denise. Ben vernahm nur Bruchstücke eines Zauberspruches in einer ihm unbekannten Sprache:… lê do limis… lê do limis…! Die Krallen des Druden glühten von innen heraus. Das Grün wurde zum flammenden Fanal, des Druden Gesicht zur Fratze, und darüber, die Visagen der Monstren, und das alles wurde von den aber tausend Runzeln und Falten, von dem schwarzen Kopftuch und den feuerroten Haaren Smildys umfaßt… ihr Gesicht war größer als der Drude und die beiden Riesen zusammen. Die Hölle war nach Schloß Hasting gekommen. Die Hölle mit ihren Flammen, mit ihrem Schwefelgestank, mit dem pestilenzialischen Geruch der Todsünden und der Verdammten. Der Moder aus den Gräbern der Selbstmörder breitete sich über dem Wehrgang aus, die Sonne verhüllte am hellen Tag ihr Gesicht und verdunkelte, dafür glühten die Krallen des Druden, und sie schnellten plötzlich aus Smildys Schattengesicht heraus, griffen nach Ben und Denise, bekamen sie zu fassen und hielten sie fest. Die besaßen keine Kraft mehr, um Hilfe zu rufen. Sie hatten sich mit ihrem Schicksal abgefunden und jagten in Gedanken ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel, er möge ihrer Seele gnädig sein, als sie das teuflische Jubeln der Riesen hörten, den satanischen Wonnegesang Smildys und das Hohnlachen des Druden, in dessen Krallen sie sich befanden. Der Drude wirbelte sie immer schneller im Kreis herum. Schloß Hasting verlor seine Konturen. Alles wurde lang, undeutlich und schemenhaft. Der Himmel war ein schmutziggrauer Stich. Der hölzerne Schutz des Wehrganges ein dunkelbraunes Nichts. Schatten gleich die Riesen mit der Hexe Smildy. Und immer schneller drehte sich der Drude, und immer schneller wirbelten 91 �
Denise und Ben in seinen Krallen herum. Das grüne Leuchten konnte nicht mehr folgen. Grüne Flammenbahnen blieben zurück. Sie wurden von Umdrehung zu Umdrehung stärker, greller, heißer und tückischer. Die Hölle zeigte immer deutlicher ihre Macht. Die Hölle ließ sie nicht mehr los. Und wie dröhnend das teuflische Jubeln der Riesen klang, der satanische Wonnegesang der Hexe und das Hohnlachen des sich herumwirbelnden Druden! Denise und Ben hatten mit dem Leben abgeschlossen. Das Blut drang ihnen mit immer stärker werdenden Kräften zum Kopf und nahm ihnen mit mitleidsvoller Macht mehr und mehr die Möglichkeit, noch klar zu denken. Die Hexe Smildy… Schloß Hasting und der Wehrgang… Die Riesen… Und der Wassergraben am Fuß der Schloßmauer… Und der Drude mit den grünen Krallen… In diesem Augenblick ließ er beide gleichzeitig los, und sie flogen davon, als ob eine Steinschleuder sie davongeschnellt hätte. Sie begriffen, im hohen Bogen von der Mauerzinne zu fliegen. Sie sahen unter sich den Wassergraben, und sie sahen, wie sie darauf abstürzten. Der Wasserspiegel raste ihnen entgegen. Er flog zu ihnen hoch. Die Mauerbrüstung entfernte sich immer weiter, immer schneller von ihnen, und dann kam der gewaltige Aufprall, und die Wasseroberfläche war so hart wie eine Felswand, und Erde und Himmel rissen für sie auseinander und rasten zusammen mit ihnen in das gewaltige, grenzenlose Loch, das sich aufgetan hatte. Es war nicht einmal mehr Smildys satanischer Wonnegesang zu hören.
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Dr. Raleigh war nicht allein nach Lester gekommen. Unterwegs hatte er die beiden Wagen ein paarmal im Rückspiegel gesehen, aber sich nichts dabei gedacht. Erst als sie auch vor dem »Maria Stuart« hielten, fragte er sich, was diese fünf Gentlemen zu dieser, Jahreszeit in die verlassenste Ecke Schottlands getrieben hatte, in der es außer Regen und Wind höchstens noch eine Handvoll Gespenster gab, die sich nicht ausrotten lassen wollten. Er dachte nicht mehr an diese fünf Gentlemen, als er nach seinem Besuch bei Ben Lothan am Bett von Denise Gordon Platz nahm und bei ihr die gleichen Symptome feststellte. Oscar Gordon, um seine Tochter besorgt, stand zusammen mit dem Anwalt an der Tür und blickte den Arzt fragend an, der gerade sein Besteck wieder absetzte und es einpackte. Hilflos hob der Arzt seine Schultern und ließ sie wieder fallen. »Gentlemen, Mr. Lothan wie auch Miß Gordon leiden an den Folgen eines unerhört schweren Schocks. Beide müssen ein unbeschreiblich entsetzliches Erlebnis gehabt haben, gegen das ihr Autounfall eine vergnügte Tagestour gewesen ist… Gentlemen, es gibt keine andere medizinische Erklärung für den Zustand, in dem sie sich befinden. Sie dürfen mir…« Was sie dürfen sollten, erfuhren sie nie, weil Inspektor Harry Donald ohne anzuklopfen eingetreten war und nun mit Mr. Gordon flüsterte, der zuerst erstaunt aufsah, überlegte und dann zögernd nickte. Dr. Raleigh hatte darauf kaum geachtet und mit dem Anwalt, der sich hier nun überflüssig vorkam, das Zimmer verlassen. Er nahm die Einladung zu einem Drink an, und in der Gaststube sagte er auf McPeers Frage: »Man kann nur abwarten und hoffen, daß keine Folgeschäden auftauchen. Gibt es denn keine Erklärung dafür, was sie zwischen den Ruinen von Schloß 93 �
Hasting erlebt haben?« Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Wir wissen nichts. Wenn Pater Shannon nicht den Vorschlag gemacht hätte, einen Spürhund einzusetzen, der sonst verirrte Schafe sucht, wir wüßten bis jetzt nicht einmal, wo wir sie suchen sollten.« Er blickte zur Tür, durch die Melissa Phyll und Walt Osborne eintraten, beide im intensiven Gespräch mit den fünf Männern vertieft, die zusammen mit dem Doc ins »Maria Stuart« gekommen waren und gute Bekannte der Hobby-Botaniker sein mußten. Miß Phyll und Mr. Osborne blickten zu ihnen herüber, grüßten flüchtig den Doc und nahmen in der anderen Ecke der Gaststube Platz. »Doc, wir alle waren erstaunt, wie sehr sich Osborne um Denise Gordon und meinen Neffen sorgten. Er drängte darauf, daß Sie sofort alarmiert wurden. Tja, man lernt Menschen erst nach dem dritten Blick kennen, und auf die Emotionen beim berüchtigten ersten Blick soll man sich besser doch nicht zu sehr verlassen…« Der Inspektor kam herein, begleitet von Oscar Gordon, und der schien äußerst erregt zu sein. Harry Donald trat an den Tisch, an dem Walt Osborne und Melissa Phyll mit den fünf Herren saßen und sich intensiv, aber leise unterhielten. Er unterbrach abrupt das Gespräch. Er sagte laut und schnarrend zugleich: »Mr. Osborne, Miß Phyll, Sie sind verhaftet…! Gentlemen, ich bitte Sie, zur Seite zu treten.« Diese Aufforderung war an die fünf Herren gerichtet. Totenstille in der Schankstube des »Maria Stuart«, John McPeer stutzte, weil weder Miß Phyll Erschrecken zeigte, noch Walt Osborne, und dann stutzte er, weil diese fünf Gentlemen sich nicht von ihren Plätzen erhoben, obwohl sich Harry Donald gerade als Inspektor der Kriminalpolizei ausgewiesen hatte. Einer der Gentlemen hielt ihn jetzt am Revers fest und zog ihn zu sich herab, um ihm etwas zuzuflüstern. »Was gibt's denn da?« fragte Dr. Raleigh, dem das Getue am 94 �
anderen Tisch auch befremdlich vorkam. Der Anwalt war ahnungslos und wußte auf diese Frage keine Antwort. Das Spiel nahm immer befremdlichere Züge an. Alle, auch der Anwalt, wurden von Inspektor Harry Donald, nachdem er mit dem fremden Gentleman ein paar Minutenlang geflüstert hatte, gebeten den Schankraum zu verlassen. »Haben Sie Lust, auf meinem Zimmer noch einen zur Brust zu nehmen, Doc?« machte John McPeer ihm den Vorschlag, und der Arzt, der an die vorgeschrittene Abendstunde dachte, nahm dankend an. Zur Not gab es im »Maria Stuart« bestimmt noch ein Bett, in dem er schlafen konnte. Das Geräusch startender Motoren trieb John McPeer ans Fenster, und kaum hatte er einen Blick nach unten auf die Straße geworfen, als er den Doc heranrief. »Sehen Sie sich das an, Doc! Zuerst verhaftet der Inspektor unsere beiden Botaniker, und nun läßt er sie nicht nur mit den fünf Männern wegfahren, er schüttelt ihnen auch noch zum Abschied die Hand. Ich möchte zu gern wissen, welche krumme Tour da geritten worden ist.« Fünf Minuten später trat June, Frank Evergeens Tochter ein, und bat sie, in die Gaststube zu kommen, wo Inspektor Donald sie erwarte. Der Anwalt staunte nicht schlecht, als er dort Tom Chinook und seine Mary wie Frank Evergeen mit Frau und Tochter antraf. Als letzter kam Inspektor Harry Donald. Ihm war nichts anzumerken, und er schien innerlich völlig unbewegt zu sein. Er nahm Platz, erhob sich wieder, griff zu seinem Bierglas, trank hastig und verriet sich mit dem hastigen Trinken. Inspektor Harry Donald kochte vor innerlicher Erregung, und seine Erregung sprang auf alle über –, genauso wie ein Zündfunke, und als es gerade überall gezündet hatte, da sah er sich um, als ob er aus einem schweren Alptraum wachgeworden sei, und sagte: »Ich gebe meine Erklärung erst ab, wenn auch Miß 95 �
Denise Gordon und Ben Lothan wieder auf den Beinen sind…« � *
Denise Gordon und Ben Lothan standen zum zweitenmal zwischen den kümmerlichen Ruinen von Schloß Hasting, und ihr Blick ging in die Runde. Es gab Smildy, die Hexe, nicht mehr, und er, Ben Lothan, konnte ohne Gefahr die Zaubersprüche aufsagen, denn die beiden Riesen würden ebensowenig erscheinen wie der Drude mit den grünen Krallen. Es gab auch das Old Gallows nicht mehr, wie es Caesar-8 nie gegeben hatte, und das Dorf Mortoncastle mit Bills Kneipe. Und es gab es das alles nicht mehr, weil es Walt Osborne und Melissa Phyll im Bereich des Hochmoores nicht mehr gab. Sie waren vor einer Woche von fünf Beamten des CIC abgeholt und unter schärfster Sicherheitskontrolle nach London gebracht worden – sie und ihre computergesteuerten teuflischen Geräte mitsamt den Minisendern und Empfängern, die sie ziemlich freigiebig verteilt hatten. Ben trat seinen Zigarettenstummel aus und lehnte sich gegen die niedrige Ruinenmauer. Er sah Denise unentwegt an, als er sagte: »Ausgerechnet ich mußte als erster in diesen großangelegten Testversuch hineingeraten, der auf der Gespenstergeschichte des Old Gallows und der Hexe Smildy aufgebaut war, und auf das Geschlecht der Gordons, die nach 1507 an der Galgenstätte die Kneipe betrieben. Zufall, Zufall und Zufall reihten sich aneinander, Denise. Da hatte mich ein höllischer Apparat, der Psychowellen erzeugte und Erlebnisträume, dich im Old Gallows sehen lassen, und dann stand ich kurz darauf, nun wieder vollkommen unbeeinflußt, bei meinem Onkel in der Kanzlei, und ich sah dich, dieselbe Denise. Daß wir, mein Oheim, dein 96 �
Vater, du und ich nach hier fuhren, das der Inspektor Lester auch als Ziel hatte, das brachte ein Spiel in Gang, wie es sich Walt Osborne und Melissa Phyll, diese beiden Kybernetiker und Elektroniker, nicht besser wünschen konnten. Sie hatten die Gordons an Ort und Stelle. Dazu die durch Psychowellen beeinflußten Bewohner des Dorfes. Die erste Panne passierte, als die von den beiden Wissenschaftlern präparierte Küche des ›Loch Ness‹ in die Luft flog. Um nicht in Verdacht zu geraten, suggerierten Sie Tom und seiner Frau mit Hilfe ihrer Apparate ein, sich bei Evergeen im Keller zu verstecken. Die zweite Panne kostete uns beiden um ein Haar das Leben. Osborne rettete uns im letzten Moment aus den Flammen, aber er gab mit seiner Melissa immer noch nicht auf. Er wollte London und dem Kriegsministerium beweisen, daß sein verdammter Computer in der Lage war, die Einwohner eines ganzen Dorfes und noch mehr Menschen dazu in eine Welt zu versetzen, die es in Wirklichkeit nicht gab. Dich und mich berieselte man abermals mit diesen tückischen Psychowellen als wir das ›Maria Stuart‹ verließen, und dabei unterlief ihnen die dritte Panne. Die Psychowellen trieben uns nach hier zu den Ruinen, dann hetzte man uns Smildy, die Riesen und den Druden mit seinen verfluchten grünen Krallen auf den Hals. Der Computer, der diese höllischen Geschichten steuerte –, je nach dem, wie stark unsere Angst-Impulse von den Minisendern bei ihm einliefen, die wir als Wanzen irgendwo in einer Naht unserer Kleidung sitzen hatten –, muß durchgedreht haben oder ein Sadist gewesen sein… Na, Denise, du weißt ja, was wir beide hier durchmachen mußten…« Sie nickte. Beide schwiegen eine Weile. Es fiel ihnen schwer, das alles für ein tückisches Spiel halten zu müssen. »Ich verstehe nicht, warum man uns kein absolutes Schweigegebot auferlegt hat, Ben. Wenn diese schreckliche Sache eine 97 �
geheime defensive Kriegswaffe sein soll, dann würde man doch Wert darauf legen, daß niemand davon erfährt.« Er lachte sie aus. »Erzähle deine Erlebnisse mal einem dritten. Jeder wird dich für übergeschnappt erklären, Denise. Ich würde es selbst nicht glauben, käme ich auf die Idee, es mir zu erzählen.« Da fragte sie ihn leise, während sie sich verliebt an ihn schmiegte: »Würdest du wirklich nie mehr jenen Zauberspruch sagen, mit dem Smildy aus Mäusen Riesen werden ließ, Ben?« Der sah sie entsetzt an und stieß aus: »Nie mehr, Denise, ich schwöre es. Nie mehr will ich Smildy sehen, ihre Riesen und ihren Sohn, den Druden mit den grünen Krallen.« Und als wenn sie Furcht vor neuen Ereignissen hatten, liefen Denise Gordon und Ben Lothan um ihr Leben und nach Lester zurück. ENDE
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