THIERRY JONQUET
Die Haut, in der ich wohne Roman Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Hoffmann und...
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THIERRY JONQUET
Die Haut, in der ich wohne Roman Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Hoffmann und Campe
Die Originalausgabe unter dem Titel Mygale erschien 1984 bei Éditions Gallimard, Paris. 1. Auflage 2008
Copyright © 1984, 1995 by Éditions Gallimard, Paris Copyright für die deutschsprachige Ausgabe © 2008 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg www.hoca.de Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: C. H. Beck, Nördlingen Printed in Germany ISBN 978-3-455-03692-3
In einem Verlies leidet der Abiturient Vincent qualvoll Hunger und Durst, nachdem er bei einer Hetzjagd im Wald von einem Unbekannten entführt worden ist. Anfangs glaubt er noch an eine Verwechslung, doch dann wird ihm bewusst, was ihn mit seinem »Herrn« verbindet. Der lockert allmählich die Fesseln, gibt dem Jungen zu essen, macht ihm sogar Geschenke. Aber dies ist nicht das Ende der Folter – es ist der Eintritt in die subtil arrangierte Hölle, in die sich Vincents Leben verwandeln soll. Was die Figuren dieses außergewöhnlichen roman noir miteinander zu tun haben, enthüllt die brillant komponierte Handlung erst nach und nach. Thierry Jonquet webt ein bedrohliches Netz, in dem sich die Personen schicksalhaft verfangen.
ERSTER TEIL
Die Spinne
I
Richard Lafargue ging langsam, mit großen Schritten die Allee entlang. Der Kiesweg führte zu einem kleinen Teich, der von dem Gehölz gesäumt wurde, das sich entlang der Mauer um das Anwesen ausbreitete. Die Nacht war klar, ein Juliabend, am Himmel glänzte ein milchiger Funkenregen aus Sternen. Das Schwanenpaar hatte sich hinter den Seerosen verkrochen und schlief, die Köpfe unter die Flügel gesteckt, den Schlaf der Sorglosen. Das zierliche Weibchen schmiegte sich an das stattliche Männchen. Lafargue pflückte eine Rose und sog einen Moment lang diesen süßlichen, fast ekelerregenden Duft ein, bevor er umkehrte. Am anderen Ende der Lindenallee stand ein wuchtiger, reizloser Bau, das Wohnhaus. Im Erdgeschoss der Hauswirtschaftsraum, in dem Line, die Haushälterin, ihre Mahlzeiten einzunehmen hatte. Rechts davon heller Lichtschein und gedämpftes Brummen: Roger, der Fahrer, ließ in der Garage den Motor des Mercedes laufen. Durch die dunklen Vorhänge des großen Wohnzimmers fiel nur spärliches Licht. Lafargue hob den Blick zum ersten Stock und verweilte an den Fenstern von Èves Appartement. Ein schwacher Schimmer, ein Fensterladen, der einen Spalt weit aufgeklappt war, aus dem die Töne einer zarten Melodie nach draußen drangen, ein Klavier, die ersten Takte von The Man I Love… Außer sich vor Ärger, ging Lafargue mit lautem Schritt ins Haus, knallte die Tür hinter sich zu, rannte fast zur Treppe und eilte, ohne Atem zu holen, die Stufen hinauf.
Im ersten Stock angekommen, ballte er die Hände zu Fäusten, beherrschte sich dann aber und klopfte leise an. Er öffnete die drei Riegel, mit denen die Tür des Appartements von außen gesichert war. Hier lebte die Frau, die sein Klopfen so hartnäckig ignoriert hatte. Lautlos zog er die Tür hinter sich zu und trat in das Boudoir. Das Zimmer war in Dunkelheit getaucht, nur die Schirmlampe auf dem Klavier spendete ein gedämpftes Licht. Am Ende des Zimmers, das sich an das Boudoir anschloss, warf das harte Neonlicht des Badezimmers einen grellweißen Fleck an die Wand. Er ging im Halbdunkel zur Hi-Fi-Anlage und schaltete sie in dem Moment ab, als die ersten Takte des Lieds erklangen, das auf The Man I Love folgte. Er bändigte seine Wut und murmelte schließlich, ohne die Stimme zu einem Vorwurf zu heben, eine allerdings bissige Bemerkung über die Zeit, die man normalerweise vor dem Spiegel aufwendet, um sich zu schminken und das Kleid sowie den passenden Schmuck für eine jener Abendgesellschaften auszuwählen, bei denen er mit Ève des Öfteren zu Gast war. Anschließend ging er ins Badezimmer, und als er die junge Frau erblickte, die sich in einem dicken, blau schimmernden Kokon aus Badeschaum aalte, verbiss er sich einen Fluch. Er seufzte, sah ihr in die Augen. Die Herausforderung, die er in ihrem Blick zu erkennen glaubte, beantwortete er mit einem ironischen Grinsen. Schließlich schüttelte er, fast belustigt über solche Kindereien, den Kopf und ging hinaus… Unten, im Wohnzimmer, goss er sich an der Bar neben dem offenen Kamin einen Scotch ein und leerte ihn in einem Zug. Der Whisky brannte im Magen, ein Zucken durchlief sein Gesicht. Dann ging er zur Sprechanlage, die mit Èves Zimmern verbunden war, drückte den Knopf, räusperte sich
und brüllte, den Mund auf das Plastikgehäuse des Geräts gepresst: »Beeil dich, du Miststück, wenn ich bitten darf!« Als Richards Gebrüll in voller Lautstärke aus den beiden großen Lautsprechern dröhnte, die in die Wand zwischen Boudoir und Schlafzimmer eingelassen waren, zuckte Ève am ganzen Leib zusammen. Dann stieg sie ohne Eile aus der riesigen runden Badewanne und schlüpfte in einen Frotteebademantel. Sie setzte sich an den Frisiertisch, nahm einen Eyeliner und begann, mit raschen, kurzen Strichen die Augen nachzuziehen…
Mit Roger am Steuer verließ der Mercedes die Villa in Le Vésinet und fuhr nach Saint-Germain. Richard musterte Ève, die teilnahmslos neben ihm auf der Rückbank saß. Sie rauchte unbekümmert, führte die elfenbeinerne Zigarettenspitze in gleichmäßigen Abständen an ihre Lippen. Hin und wieder fielen die Lichter der Stadt blitzartig ins Wageninnere und malten für einen kurzen Moment gleißend helle Streifen auf ihr schwarzseidenes Etuikleid. Ève hatte den Kopf in den Nacken geworfen, und Richard konnte ihr Gesicht nur sehen, wenn die Zigarettenglut rot aufleuchtete. Sie blieben nicht lange auf dieser Gartenparty, zu der irgendein Geschäftemacher eingeladen hatte, der sich bei den besseren Kreisen der Umgebung wichtigtun wollte. Sie schlenderten – Ève am Arm von Richard – zwischen den Gästen umher. Im Garten spielte eine Kapelle leichte Musik. Vor den Tischen und Buffets, die zwischen den Bäumen der Auffahrt aufgebaut waren, bildeten sich kleine Grüppchen.
Es war unmöglich, allen Kletten der Gesellschaft aus dem Weg zu gehen, und so mussten sie ein paar Gläser Champagner auf das Wohl des Hausherrn trinken. Lafargue traf einige Kollegen, darunter ein Vorstandsmitglied der Ärztekammer. Man beglückwünschte ihn zu seinem letzten Beitrag in der Fachzeitschrift La Revue du Praticien. Im Laufe des Gesprächs sagte er sogar zu, als Podiumsgast an einer Veranstaltung über rekonstruktive Brustchirurgie auf dem nächsten Ärztekongress am Hôpital de Bichat in Paris teilzunehmen. Später verfluchte er sich dafür, dass er sich hatte überreden lassen, obwohl er die Bitte auch mit einer höflichen Absage hätte beantworten können. Ève hielt sich abseits und wirkte nachdenklich. Sie freute sich über die lüsternen Blicke, die ihr einige kühne Gäste zuwarfen, und genoss es, diese Blicke mit einer fast unmerklichen, verächtlichen Schnute zu erwidern. Dann ließ sie Richard für einen Augenblick stehen und wandte sich an die Musiker mit der Bitte, The Man I Love zu spielen. Als die ersten Takte erklangen, war sie schon wieder an Lafargues Seite. Den schmerzlichen Zug auf dem Gesicht des Arztes quittierte sie mit einem spöttischen Lächeln. Lafargue schlang behutsam den Arm um ihre Taille und zog sie etwas beiseite. Der Saxophonist setzte zu einem wehmütigen Solo an, und Richard hätte seine Begleiterin am liebsten geohrfeigt. Gegen Mitternacht verabschiedeten sie sich endlich von ihrem Gastgeber und kehrten in die Villa nach Le Vésinet zurück. Richard begleitete Ève in ihr Zimmer. Vom Sofa aus sah er zu, wie sie sich, anfangs gedankenlos, dann mit betonter Gleichgültigkeit, auszog, sich ihm dabei zuwandte und ihn mit ironischem Blick musterte. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, das Schamhaar direkt vor seinen Augen, stand sie mit gespreizten Schenkeln vor ihm.
Richard zuckte mit den Schultern, erhob sich und holte eine kleine, wie Perlmutt schimmernde Schatulle aus einem Fach des Bücherschranks. Ève legte sich auf ein Badetuch, das auf dem blanken Boden ausgebreitet war. Er kniete im Anzug neben ihr, öffnete die Schatulle und entnahm ihr eine Pfeife und kleine, speckige, in Silberpapier eingewickelte Kugeln. Er stopfte die Pfeife sorgfältig, entzündete den Pfeifenkopf mit einem knisternden Streichholz und reichte sie Ève. Sie nahm einige tiefe Züge. Ein schaler Duft verbreitete sich im Zimmer. Ève lag mit angezogenen Beinen auf der Seite, rauchte und ließ Richard nicht aus den Augen. Bald trübte sich ihr Blick und wurde glasig… Richard stopfte bereits die nächste Pfeife. Eine Stunde später ging er. Nachdem er die drei Riegel an ihrer Tür zugeschoben hatte, ging er in sein Zimmer, zog sich ebenfalls aus und betrachtete lange sein Gesicht im Spiegel, die grauen Haare, die zahlreichen tiefen Falten, die sein Gesicht zerfurchten. Er hielt die Hände offen vor sich, dann schloss er die Augen und machte eine Bewegung, als wollte er einen imaginären Gegenstand wegschieben. Als er schließlich im Bett lag, wälzte er sich stundenlang von einer Seite zur anderen und fand erst am frühen Morgen Schlaf.
II
Line, die Haushälterin, hatte an diesem Sonntag frei, deshalb hatte Roger das Frühstück zubereitet. Er klopfte lange an Lafargues Zimmertür, bevor er eine Antwort erhielt. Richard speiste mit großem Appetit, biss herzhaft in die frischen Croissants. Er war gut gelaunt, beinahe zum Scherzen aufgelegt. Er schlüpfte in eine Jeans, zog ein leichtes Hemd über, glitt in Mokassins und trat aus dem Haus, um im Garten spazieren zu gehen. Die Schwäne schwammen auf dem Teich umher. Als Lafargue im Fliederhain auftauchte, kamen sie zum Ufer. Er warf ihnen Brotreste zu und bückte sich, damit sie ihm aus der Hand fraßen. Dann schlenderte er durch den Park; die blühenden Rabatten bildeten lebhafte Farbtupfer im weiten Grün des frisch gemähten Rasens. Er ging zum Pool, einem etwa zwanzig Meter langen Schwimmbecken, das ganz am Ende des Parks angelegt war. Die Straße und selbst die benachbarten Villen verschwanden hinter einer Mauer, die das Anwesen vollständig umschloss. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte ein paar Züge, dann kehrte er ins Haus zurück. Vor der Küche hatte Roger ein Tablett mit Èves Frühstück auf den Tisch gestellt. Richard drückte im Wohnzimmer die Taste der Sprechanlage und brüllte: »AUFSTEHEN! FRÜHSTÜCKEN!« Anschließend ging er in den ersten Stock hinauf. Er entriegelte die Tür und trat ein. Ève lag im großen Himmelbett und schlief noch. Ihr Gesicht war unter den
Decken kaum zu sehen, ihr braunes Haar, ihre üppigen Locken bildeten einen dunklen Fleck auf dem mauvefarbenen Satin. Lafargue setzte sich auf die Bettkante, stellte das Tablett neben Ève. Sie tauchte die gespitzten Lippen in Orangensaft und biss lustlos in eine Scheibe Zwieback mit Honig. »Heute ist der Siebenundzwanzigste…«, sagte Richard, »der letzte Sonntag im Monat. Könnte es sein, dass Sie das vergessen haben?« Ohne Richard anzusehen, schüttelte Ève zaghaft den Kopf. Ihre Augen waren leer. »Wir fahren also in einer Dreiviertelstunde!«, nahm er den Faden wieder auf. Er ging aus dem Zimmer. Als er im Wohnzimmer war, brüllte er durch die Sprechanlage: »In einer Dreiviertelstunde, habe ich gesagt. Verstanden?« Starr ließ Ève das Gebrüll aus dem Lautsprecher über sich ergehen.
Nach dreistündiger Fahrt verließ der Mercedes die Autobahn und folgte einer kleinen, kurvenreichen Landstraße. Die Landschaft der Normandie lag wie betäubt unter der Sommerhitze. Richard goss sich ein Sodawasser mit Eis ein und bot auch Ève, die mit halboffenen Augen vor sich hin döste, eine Erfrischung an. Sie lehnte ab. Er schloss das Kühlfach. Roger fuhr schnell, aber sicher. Wenig später parkte er den Mercedes vor dem Portal eines Schlosses am Rand eines kleinen Dorfs. Ein Stück dichter Wald umgab den Landsitz, dessen Wirtschaftsgebäude, von einem hohen Zaun getrennt, bis an die ersten Häuser des Dorfs heranreichte. Auf dem Vorplatz sonnten sich einige Grüppchen von Spaziergängern. Frauen in weißen Kitteln und mit Tabletts voll bunter
Plastikbecher auf dem Arm gingen bestimmten Schrittes zwischen ihnen umher. Richard und Ève stiegen den Treppenlauf zum Eingang hinauf und meldeten sich dann an der Rezeption, hinter der eine stattliche Empfangsdame thronte. Sie lächelte Lafargue freundlich zu, drückte Ève die Hand und rief einen Krankenpfleger. Ève und Richard folgten ihm in den Aufzug und fuhren in den dritten Stock. Ein langer Flur führte durch eine Flucht von Zimmern, unterbrochen von Mauervertiefungen, in denen sich Türen befanden, die mit kleinen, rechteckigen Sichtfenstern versehen waren. Wortlos öffnete der Krankenpfleger die siebte Tür auf der linken Seite des Flurs. Er tat einen Schritt zur Seite, um das Paar eintreten zu lassen.
Auf dem Bett saß eine Frau, die trotz ihrer Falten und gebeugten Schultern sehr jung war. Die vorzeitige Alterung hatte tiefe Furchen in ihr noch kindliches Gesicht gegraben, ein schmerzvoller Anblick. Das ungekämmte Haar bildete eine verfilzte, struppige Mähne. Die vorstehenden Augen rollten ziellos in ihren Höhlen. Die Haut war an vielen Stellen von dunklem Schorf bedeckt. Ihre Unterlippe zitterte spastisch, der Oberkörper wiegte langsam, regelmäßig, wie ein Metronom, vor und zurück. Sie trug nur einen blauen Leinenkittel ohne Taschen. An ihren nackten Füßen baumelten Pantoffeln mit einem Pompon. Die Kranke schien die Besucher nicht bemerkt zu haben. Richard setzte sich neben sie, hob ihr Kinn an und drehte ihr Gesicht zu sich. Die Frau ließ es geschehen, nichts in ihrer Mimik verriet auch nur die Spur einer Empfindung oder einer Regung.
Richard legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Sie hörte auf, sich zu wiegen. Ève, die neben dem Bett stand, betrachtete die Landschaft durch das Fenster aus Sicherheitsglas. »Viviane«, murmelte Richard, »Viviane, mein Liebes… « Plötzlich stand er auf, packte Èves Arm. Er zwang sie, sich Viviane zuzuwenden, die sich wieder wiegte und verstört vor sich hin blickte. »Gib ihr…«, befahl er. Ève zog eine Pralinenschachtel aus ihrer Handtasche. Sie beugte sich vor und reichte sie der Frau, Viviane. Mit unkontrollierten Bewegungen schnappte Viviane danach, riss den Deckel ab und verschlang nacheinander gierig alle Pralinen. Mit ausdruckslosem Gesicht sah Richard ihr dabei zu. »Wir waren lange genug hier…«, seufzte Ève. Dann schob sie Richard sanft aus dem Zimmer. Der Krankenpfleger erwartete sie im Flur. Er schloss die Tür hinter ihnen ab, während Ève und Richard sich auf den Weg zum Aufzug machten. Sie kehrten zur Rezeption zurück, wo sie mit der Empfangsdame ein paar Worte wechselten. Ève winkte dem Chauffeur, der am Mercedes lehnte und die Sportzeitung L’Équipe las. Richard und Ève nahmen im Fond Platz, dann fuhr der Wagen über die Landstraße zur Autobahn und in Richtung Paris zurück zur Villa in Le Vésinet. Richard hatte Ève in ihre Zimmer im ersten Stock eingeschlossen und den Hausangestellten für den Rest des Tages freigegeben. Er ruhte sich im Wohnzimmer aus, knabberte an den kalten Gerichten, die Roger noch aufgetragen hatte, bevor er weggegangen war. Es war gegen siebzehn Uhr, als Lafargue sich hinter das Steuer des Mercedes setzte und nach Paris fuhr.
Er parkte in der Nähe der Place de la Concorde und ging in ein Gebäude in der Rue Godot-de-Mauroy. Mit dem Schlüsselbund in der Hand eilte er drei Stockwerke hinauf. Er schloss die Tür zu einem geräumigen Einzimmerappartement auf. Die Mitte des Raums nahm ein großes rundes Bett ein, das mit mauvefarbener Satinbettwäsche bezogen war, an den Wänden hingen erotische Grafiken. Auf dem Nachttisch stand ein Telefon mit Anrufbeantworter. Richard hörte die Kassette ab. In den letzten beiden Tagen hatte es drei Anrufe gegeben. Heisere, kurzatmige Stimmen: Männer, die Ève eine Nachricht hinterlassen hatten. Er notierte die Termine, die sie vorschlugen. Dann verließ er die Wohnung, hastete die Treppen hinunter und stieg in seinen Wagen. Zurück in Le Vésinet, drückte er auf den Knopf der Sprechanlage und rief die junge Frau mit schmeichelnder Stimme. »Ève, hörst du mich? Es sind drei! Heute Abend!« Er ging in den ersten Stock. Sie saß im Boudoir und malte an einem Aquarell. Eine heitere, liebliche Landschaft, eine von Licht überflutete Lichtung und, mit schwarzer Kohle gezeichnet, das Gesicht Vivianes. Richard lachte laut, wandte sich um, griff nach einem Fläschchen mit rotem Nagellack auf dem Frisiertisch und goss ihn über das Aquarell. »Sie werden sich wohl nie ändern?«, flüsterte er. Ève stand auf und stellte die Pinsel, die Farben, die Staffelei sorgfältig an ihren Platz zurück. Richard zog sie zu sich, bis ihr Gesicht fast das seine berührte, und säuselte dann: »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie sich so bereitwillig meinen Wünschen fügen… « Èves Gesichtszüge verzerrten sich; dumpf und schwer stieg ein langer, qualvoller Laut aus ihrer Kehle. Dann blitzte Zorn in ihren Augen auf, und sie schrie:
»Lass mich los, du Zuhälterschwein!« »Ah! Sehr witzig! Ja! Ich versichere Ihnen, Sie sind reizend, wenn Sie den Aufstand proben… « Sie hatte sich von ihm losgerissen. Dann brachte sie ihre Haare in Ordnung und zupfte ihre Kleidung zurecht. »Gut«, sagte sie, »wenn Sie darauf bestehen… Heute Abend? Wann fahren wir?« »Ich denke… sofort!«
Auf der Fahrt wechselten sie kein Wort. Schließlich trafen sie in der Rue Godot-de-Mauroy ein. »Machen Sie sich fertig. Der Besuch wird gleich hier sein«, befahl Lafargue. Ève öffnete einen Schrank und zog sich aus. Sie hängte ihre Kleider auf, dann warf sie sich in Schale: hohe schwarze Stiefel, Lederrock, Netzstrümpfe. Sie puderte ihr Gesicht hell, schminkte die Lippen scharlachrot und setzte sich aufs Bett. Richard verließ das Appartement und zog sich in die angrenzende Wohnung zurück. In der Trennwand zwischen den beiden Wohnungen war ein Spiegel eingelassen, der von einer Seite durchsichtig war und durch den er unbemerkt beobachten konnte, was sich in dem Zimmer abspielte, in dem Ève wartete. Eine knappe halbe Stunde später erschien der erste Freier, ein keuchender Sechzigjähriger mit puterrotem Gesicht. Der zweite kam erst gegen einundzwanzig Uhr, ein Apotheker vom Land, der Ève in regelmäßigen Abständen besuchte und sich damit zufriedengab, sie nackt in einem kleinen, abgezirkelten Bereich des Appartements auf und ab spazieren zu lassen. Schließlich traf der dritte ein, den Ève auf diese späte Stunde hatte vertrösten müssen, nachdem er am Telefon völlig gehetzt um ein Rendezvous gebeten hatte. Er war ein Sohn aus gutem
Haus, ein verkappter Homosexueller, der Beschimpfungen ausstieß und im Gehen masturbierte, während Ève ihm dabei behilflich war. Hinter dem Spiegel ergötzte sich Richard über das Schauspiel, wippte genüsslich im Schaukelstuhl, lachte leise und freute sich jedes Mal, wenn er in der Mimik der jungen Frau erkennen konnte, wie sie das alles anwiderte. Als alles vorbei war, ging er wieder zu ihr. Sie zog ihre Ledersachen aus und schlüpfte in ein schmuckloses Kostüm. »Perfekt! Sie sind einfach perfekt… Wunderbar und immer so geduldig! Kommen Sie«, murmelte Richard. Er reichte ihr den Arm und führte sie zum Essen in ein slawisches Lokal. Dort bedachte er die Musiker der Zigeunerkapelle, die sich um ihren Tisch drängten, mit Geldscheinen. Den Scheinen, die Èves Freier für die erbrachten Dienste auf dem Nachttisch zurückgelassen hatten.
… Versuche dich zu erinnern. Es war an einem Sommerabend. Die Hitze war grauenhaft, schwül, unerträglich drückend. Das Gewitter ließ auf sich warten. Du hast dich auf dein Motorrad gesetzt, wolltest damit durch die Nacht rasen. Die Nachtluft, dachtest du, würde dir guttun. Du fuhrst schnell. Der Wind bauschte dein offenes Hemd. Insekten zerplatzten auf deiner Schutzbrille, auf deinem Gesicht, aber dir war nicht mehr heiß. Es dauerte eine Weile, bis du dir wegen der beiden hellen Scheinwerfer Gedanken machtest, die sich hinter dir durch die Dunkelheit bohrten. Zwei elektrische Augen, die sich auf dich richteten und nicht mehr von dir abließen. Aus Angst holtest du alles aus deiner 125er heraus, aber der Wagen, der dir folgte, hatte einen starken Motor. Er konnte dir mühelos folgen.
Du fuhrst kreuz und quer durch den Wald, zuerst warst du nur beunruhigt, doch dann kroch Panik in dir hoch, wegen der Beharrlichkeit, mit der dich diese Scheinwerfer verfolgten. In deinem Rückspiegel konntest du sehen, dass der Fahrer allein war. Er schien nicht darauf aus zu sein, näher zu kommen. Endlich war das Gewitter da. Erst gab es einen Nieselregen, dann prasselte es los. Kurve für Kurve tauchte der Wagen wieder auf. Du warst durchnässt, hast gefroren. Die Tankanzeige der 125er begann gefährlich zu blinken. Der Sprit reichte nur noch für wenige Kilometer. Beim ziellosen Umherfahren im Wald hattest du dich verirrt. Du wusstest nicht mehr, in welcher Richtung das nächste Dorf lag. Die Straße war glitschig, du musstest langsamer fahren. Das Auto war mit einem Mal dicht hinter dir, hat dich beinahe überholt, wollte dich auf den Randstreifen abdrängen. Du hast gebremst, das Motorrad schleuderte herum. Als du den Motor wieder gestartet hattest, um in der Gegenrichtung davonzufahren, hörtest du das Quietschen seiner Bremsen: Auch er hatte gewendet und folgte dir weiter. Es war stockdunkel, und die Wassermassen des Wolkenbruchs nahmen dir die Sicht auf die Straße. Du hast das Vorderrad hochgerissen, um einen Hügel hinaufzupreschen, in der Hoffnung, durch das Gelände abkürzen zu können, doch im Schlamm rutschten die Reifen weg. Die 125er lag auf der Seite, der Motor war abgewürgt. Du hast versucht, sie wieder aufzurichten, keine leichte Angelegenheit. Endlich bist du wieder auf der Maschine gesessen; du hast mehrmals den Kickstarter runter getreten, aber jetzt war der Tank leer. Eine riesige Taschenlampe leuchtete im Unterholz. Der Lichtstrahl streifte dich, als du gerade losranntest, um dich hinter einem Baumstamm zu verstecken. Du tastetest im
Schaft deines rechten Stiefels nach der Klinge deines Wehrmachtsmessers, das du immer bei dir trugst… Ja, auch der Wagen auf der Straße hatte plötzlich angehalten, und als du sahst, dass die massige Gestalt ein Gewehr schulterte, spürtest du, wie sich dein Magen zusammenzog. Der Lauf war auf dich gerichtet. Der Schuss ging in den Donner schlagen unter. Die Taschenlampe lag auf dem Autodach. Dann erlosch sie. Du bist so schnell gerannt, dass dir die Luft wegblieb. Beim Versuch, durch das Gestrüpp zu entkommen, hast du dir die Hände aufgerissen. Von Zeit zu Zeit ging die Taschenlampe an. Ein Lichtstrahl leuchtete erneut hinter dir auf und erhellte deinen Fluchtweg. Du warst taub, dein Herz raste; du hattest Erdklumpen an den Stiefeln, die Schritte waren schwer. Du hast das Messer in deiner Hand fest umschlossen. Wie lange hat diese Verfolgungsjagd gedauert? Atemlos bist du in der Dunkelheit über gefällte Stämme gesprungen. Ein Baumstumpf brachte dich zu Fall, und schließlich lagst du auf dem durchweichten Boden. Im Dreck liegend, hast du diesen Schrei gehört: ein tierisches Brüllen. Er sprang auf deine Hand, zerquetschte sie unter seinem Stiefelabsatz. Du hast das Wehrmachtsmesser losgelassen. Dann stürzte er sich auf dich, seine Hände packten dich an den Schultern, eine wanderte zu deinem Mund, die andere schnürte deinen Hals ein, während er dir sein Knie in die Seiten rammte. Du hast versucht, ihm in die Hand zu beißen, hast aber nur einen Erdklumpen zwischen die Zähne bekommen. Er bog deinen Rücken durch und hielt dich fest. In der Dunkelheit aneinander geklammert, habt ihr euch eine Weile nicht gerührt. Es hörte auf zu regnen.
III
Alex Barny lag auf dem Bett unter der Dachschräge wie in einem Käfig. Es gab nichts zu tun, nichts, als zu warten. Das Zirpen der Zikaden, das die Garrigue erfüllte, bildete eine aufdringliche Lärmkulisse. Durch das Fenster sah Alex die sonderbar gekrümmten Stämme der Olivenbäume, die in der Dunkelheit wie bizarr verkrüppelte Arme wirkten. Er wischte sich mit dem Hemdsärmel die Stirn ab, auf der ein säuerlicher Schweiß perlte. Die nackte, an einem Kabel hängende Glühbirne zog Myriaden von Stechmücken an; etwa alle Viertelstunde sprühte Alex eine Ladung Insektengift auf den Schwarm. Auf dem Zementboden breiteten sich die Kadaver zu einer schwarzen, mit winzigen roten Punkten gesprenkelten Aureole aus. Alex erhob sich mühsam und humpelte auf einen Stock gestützt aus dem Zimmer in die Küche des Gehöfts, das irgendwo zwischen Cagnes und Grasse verlassen in der Landschaft lag. Der Kühlschrank war prall gefüllt mit Lebensmitteln. Alex nahm eine Dose Bier heraus, riss den Verschluss ab und trank. Er rülpste laut, öffnete eine zweite Dose und trat aus dem Haus. Unterhalb der Hügel mit den Olivenhainen schimmerte in der Ferne das Meer im Mondlicht unter dem wolkenlosen Himmel. Vorsichtig ging Alex einige Schritte. In seinem Schenkel spürte er kurze, äußerst schmerzhafte Stiche. Der Verband schnürte die Muskeln ein. Seit zwei Tagen floss zwar kein Eiter mehr, doch die Wunde mochte sich nicht schließen. Die
Kugel hatte das Muskelfleisch durchschlagen, die Schlagader und den Oberschenkelknochen aber wie durch ein Wunder verfehlt. Alex lehnte sich mit einer Hand an einen Olivenbaum und schlug sein Wasser ab, sein Strahl spritzte auf eine Ameisenkolonne, die gerade mit einem erstaunlichen Haufen Reisig vorbeizog. Er setzte wieder die Bierdose an, gurgelte Schaum, spuckte ihn aus. Dann ließ er sich auf die Bank auf der Veranda fallen, atmete schwer und rülpste erneut. Aus der Tasche seiner Shorts zog er ein Päckchen Gauloises. Das Bier war auf sein T-Shirt gespritzt, das ohnehin schon voller Flecken und mit Staub bedeckt war. Durch den Stoff packte er eine Bauchfalte zwischen Daumen und Zeigefinger und zwickte sich. Er wurde immer dicker. In den drei Wochen erzwungener Untätigkeit, in denen er nichts anderes gemacht hatte, als sich auszuruhen und zu essen, hatte er stetig zugenommen. Er trat mit dem Fuß auf eine Zeitung, die gut zwei Wochen alt war. Der Absatz des Springerstiefels verdeckte das Gesicht auf der Titelseite. Sein Gesicht. Dazu eine fette Schlagzeile mit seinem Namen: Alex Barny. Ein anderes, kleineres Bild zeigte einen Mann, der den Arm um die Schultern einer Frau gelegt hatte. In ihren Armen hielt sie ein Baby. Alex räusperte sich und spie auf die Zeitung. Die Spucke und mit ihr einige Tabakkrümel klatschten auf das Gesicht des Säuglings. Alex spuckte noch einmal, diesmal traf er sein Ziel: das Gesicht des Polizisten, der seine Familie anlächelte. Des Polizisten, der nun tot war… Er kippte das restliche Bier auf die Zeitung, die Druckerschwärze zerfloss, rann über das Foto, weichte das Papier auf. Gebannt betrachtete er, wie sich die Flüssigkeit nach und nach über die Seiten ausbreitete. Dann trampelte er
so lange auf der Zeitung herum, bis nur noch Fetzen davon übrig waren. Ein Anflug von Angst überkam ihn. Seine Augen wurden feucht, aber es flossen keine Tränen. Das Schluchzen, das in seiner Kehle aufstieg, erstarb. Er war ratlos. Er zog die Binde glatt, die den Mull hielt, zupfte die Falte zurecht, machte den Verband straffer, indem er die Sicherheitsnadel an einer anderen Stelle befestigte. So saß er, die Handflächen auf die Knie gelegt, und schaute in die Nacht. In den ersten Tagen nach seiner Ankunft in dem Bauernhaus war es ihm nicht leichtgefallen, mit der Einsamkeit zurechtzukommen. Die Wunde hatte sich entzündet, er hatte etwas Fieber bekommen, seine Ohren brummten, die Zikaden sangen, und überdies war ihm schlecht. Oft, wenn er in die Garrigue spähte, bildete er sich ein, dort bewege sich etwas; die nächtlichen Geräusche machten ihm Angst. Er hatte immer seinen Revolver in der Hand, und wenn er sich schlafen legte, auf dem Bauch. Er fürchtete, verrückt zu werden. Die Tasche mit den Geldscheinen stand am Fußende des Betts. Immer wieder ließ er einen Arm über das Eisengestell baumeln, griff mit der Hand in die Bündel, drehte und wendete sie, betastete sie, freute sich, sie zu berühren. Manchmal geriet er in eine euphorische Stimmung und lachte plötzlich aus vollem Hals, denn eigentlich, dachte er, konnte ihm doch gar nichts passieren. Man würde ihn nicht finden. Hier war er sicher. Im Umkreis von mindestens einem Kilometer gab es kein Haus in der Nachbarschaft. Nur Touristen, Holländer oder Deutsche, die verfallene Häuser gekauft hatten und dort ihre Ferien verbrachten. Oder Hippies mit Schafherden. Einen Töpfer… Von denen hatte er nichts zu befürchten! Tagsüber beobachtete er manchmal die Straße und die nähere Umgebung. Mit dem Fernglas. Die Touristen
unternahmen Spaziergänge, pflückten Blumen. Ihre Kinder, zwei Mädchen und ein älterer Junge, waren außerordentlich blond. Die Mutter sonnte sich nackt auf dem Flachdach des Hauses. Alex beobachtete sie heimlich. Er ging ins Esszimmer, um sich ein Omelett zu machen. Er aß es direkt aus der Pfanne, den glibbrigen Rest tunkte er mit Brot auf. Dann warf er mit Dartpfeilen. Da er aber nach jeder Runde die Pfeile wieder einsammeln musste, wurde er des Spiels schnell überdrüssig. Auch einen Flipperautomaten gab es im Haus. Zu Beginn seines Aufenthalts hatte er noch funktioniert, vor einer Woche hatte er allerdings den Geist aufgegeben. Er schaltete den Fernseher ein. Er schwankte zwischen einem Western im dritten und einer Varietésendung im ersten Programm. Der Western erzählte die Geschichte eines Ganoven, der Friedensrichter geworden war, nachdem er das ganze Dorf in Angst und Schrecken versetzt hatte. Der Kerl war verrückt, er spazierte mit einem Bären umher, und sein Kopf saß schief: Der Friedensrichter hatte den Galgen überlebt… Alex drehte den Ton ab. Einmal hatte er einen Richter gesehen, einen echten Richter in roter Robe und mit diesem speziellen Kragen mit weißem Pelz. Das war im Pariser Palais de Justice gewesen. Vincent hatte ihn dorthin geschleppt, um bei einer Verhandlung des Schwurgerichts zuzusehen. Ein wenig verrückt war er schon immer gewesen, sein Freund Vincent, der einzige Freund, den Alex hatte. Heute steckte Alex in der Klemme. Vincent, dachte er, wüsste, was in einer solchen Lage zu tun wäre… Wie man aus diesem Loch herauskäme, ohne den Bullen in die Arme zu laufen, wie man die Scheine unter die Leute brächte, die mit Sicherheit registriert waren, wie man ins Ausland gelangte und
sich dort durchschlüge, bis Gras über die Sache gewachsen wäre… Vincent beherrschte Englisch, Spanisch… Vor allem hätte sich Vincent nicht so blöd drankriegen lassen! Er hätte gewusst, dass ein Bulle auftauchen würde, und von Anfang an mit der Kamera gerechnet, die in der Decke versteckt war und Alex’ Glanztat gefilmt hatte. Und was für eine Glanztat! Sein Gebrüll beim Betreten der Bank, der Revolver, den er auf den Kassierer gerichtet hatte… Vincent hätte die Stammkundschaft eines Montags berücksichtigt, vor allem diesen Polizisten, der montags dienstfrei hatte und immer um zehn Uhr kam, um Bargeld abzuheben und anschließend seine Einkäufe im Supermarkt nebenan zu erledigen. Vincent hätte sich eine Strumpfmaske übergezogen, in die Kamera geschossen… Alex hatte zwar eine Strumpfmaske getragen, aber der Polizist hatte sie ihm heruntergerissen. Vincent hätte gar nicht erst gezögert, sondern diesen Kerl sofort erschossen, der den Helden spielen wollte. Der dafür sogar zu sterben bereit war… Aber es war Alex gewesen, der einen Augenblick lang, für den Bruchteil einer Sekunde, wie gelähmt war vor Verblüffung. Bis ihm einfiel, was zu tun war: schießen! Alex, der sich hatte überraschen lassen, der dafür diese Kugel im Schenkel kassieren musste. Alex, dem das Blut die Hose tränkte, als er sich mit der Tasche voller Geldscheine hinausschleppte. Kein Zweifel, Vincent hätte sich besser aus der Affäre gezogen! Aber niemand wusste, wo Vincent steckte. Ob er tot war? Seine Abwesenheit hatte sich auf jeden Fall als Katastrophe erwiesen. Dennoch hatte Alex dazugelernt. Nach Vincents Verschwinden hatte er neue Freunde gefunden, die ihm falsche Papiere und dieses Versteck mitten in der provençalischen Garrigue besorgten. Beinahe vier Jahre war Vincent nun schon
weg. Alex hatte sich verändert. Der Hof seines Vaters, der Traktor, die Kühe – das war lange her. Er hatte als Rausschmeißer in einem Nachtclub in Meaux gearbeitet. Samstagabends hinterließen seine gewaltigen Pranken manchmal deutliche Spuren bei Gästen, die betrunken waren und über die Stränge schlugen. Alex hatte schöne Anzüge, einen dicken Ring, ein Auto. Er war fast ein Herr! Und da er nun schon einmal im Auftrag von anderen zuschlug, war er schließlich auf den Gedanken gekommen, dass es gar nicht so schlecht wäre, einmal für sich selbst zuzuschlagen. Und Alex hatte zugeschlagen, einmal, zweimal, dreimal. Spätabends, in Paris, in den besseren Vierteln, vor Nachtbars, Restaurants… Er hatte im wahrsten Sinn des Wortes die Ernte eingefahren: mehr oder weniger gefüllte Brieftaschen, Kreditkarten, die er besonders praktisch fand, wenn er seine inzwischen immer elegantere Garderobe kaufte. Dann hatte Alex genug davon, für letztlich lächerliche Beträge immer wieder seine Fäuste beschäftigen zu müssen. Würde er ein einziges Mal in einer Bank richtig zuschlagen, könnte er für den Rest seines Lebens auf derlei Kleinkram verzichten. Er fläzte sich in einem Sessel, den Blick auf den nunmehr flimmernden Bildschirm des Fernsehers gerichtet. Dicht neben seiner Hand rannte eine Maus entlang. Mit einer schnellen Bewegung streckte er den Arm aus und umschloss das kleine Pelztier mit seiner Hand. Er spürte das winzige Herz wild schlagen. Ihm fielen die Felder ein, die Reifen des Traktors, vor denen die Ratten flüchteten, die unsichtbaren Vögel in den Hecken. Er hielt die Maus dicht vor sein Gesicht und drückte mit der Hand langsam zu. Seine Fingernägel bohrten sich in das seidige Fell. Die Maus piepste schrill. Da sah er die
Zeitungsseite vor sich, die fette Schlagzeile, sein Foto, eingerahmt vom Geschwätz der Journalisten. Er stand auf, ging zur Haustür und schleuderte die Maus mit aller Kraft in die Nacht.
… Du hattest diesen schimmeligen Geschmack von Erde im Mund, diesen klebrigen Schlamm unter dir, dieses lauwarme und weiche Gefühl an deinem Oberkörper – dein Hemd war zerrissen –, den Geruch von Moos, von morschem Holz in der Nase. Und du spürtest den Klammergriff seiner Hände an deinem Hals, auf deinem Gesicht, die Finger, die dich unerbittlich gefangen hielten, das angewinkelte Knie, das sich in deine Nieren bohrte und auf das er sein ganzes Gewicht verlagerte, als wollte er dich in den Boden drücken, damit du darin verschwandst. Er keuchte, schnappte nach Luft. Du hast dich nicht mehr gerührt. Warten, einfach nur warten. Das Wehrmachtsmesser lag irgendwo zu deiner Rechten im Gras. Irgendwann in den nächsten Sekunden würde er seinen Griff lockern müssen. Mit einem Hüftschwung hättest du ihn dann zu Fall bringen, das Messer packen und ihn töten, diesem Schweinehund den Bauch aufschlitzen können! Wer war er? Ein Irrer? Ein Sadist, der anderen im Wald auflauerte? Sekundenlang seid ihr beide dort gelegen, qualvoll umschlungen im Dreck, und habt in der Dunkelheit auf euren Atem gehört. Wollte er dich umbringen? Dich zuvor vergewaltigen? Im Wald war es vollkommen still, nichts regte sich, als hätte es dort kein Leben mehr gegeben. Er sagte nichts, atmete jetzt ruhiger. Du hast darauf gewartet, was er tun würde. Würde sich seine Hand zwischen deine Schenkel schieben? Würde irgendetwas in der Art geschehen… Allmählich war es dir
gelungen, deinen Schrecken zu beherrschen, du warst bereit zu kämpfen, ihm deine Finger in die Augen zu bohren, nach seiner Kehle zu fassen, um ihn zu erwürgen. Aber nichts geschah. Du lagst da, unter ihm, wartetest. Da lachte er. Fröhlich, ungekünstelt, jungenhaft. Wie ein Kind, das gerade sein Weihnachtsgeschenk bekommen hat. Dann verstummte sein Lachen. Du hörtest seine Stimme, sie war gefasst, hatte keinerlei Beiklang. »Keine Angst, Kleiner, rühr dich nicht, ich werde dir nicht weh tun…« Seine linke Hand ließ deinen Hals los, um die Taschenlampe anzuknipsen. Das Messer war noch da, lag kaum zwanzig Zentimeter von dir entfernt im Gras. Doch er quetschte deine Hand noch stärker mit seinem Fuß, und dann schleuderte er das Messer weit weg. Es war deine letzte Chance… Er stellte die Taschenlampe auf den Boden, packte dich an den Haaren und drehte dein Gesicht in den gelben Lichtstrahl. Du warst geblendet. Er redete wieder: »Ja…du bist es!« Sein Knie drückte immer stärker in deinen Rücken. Du hast geschrien, aber er presste einen mit etwas getränkten Lappen auf dein Gesicht. Du hast dagegen angekämpft, das Bewusstsein zu verlieren, doch als er nach und nach seinen Griff lockerte, war es schon zu spät. Du fielst in die Schwärze der Nacht. Du hast lange gebraucht, bis du aus der Betäubung erwacht bist. Deine Erinnerungen waren verschwommen. War es ein hässlicher Alptraum gewesen, und in Wirklichkeit lagst du in deinem Bett? Nein, alles war dunkel wie die Nacht im Schlaf, doch du warst jetzt hellwach. Du hast geschrien, lange geschrien. Du hast versucht, dich zu bewegen, wolltest aufstehen.
Aber Ketten an Handgelenken und Knöcheln hinderten dich daran, ließen dir nur sehr wenig Bewegungsfreiheit. Du hast im Dunkeln den Boden abgetastet, auf dem du lagst. Er war hart, mit einer Art Wachstuch bedeckt. Und die Wand hinter dir war mit Schaumstoff gepolstert. Die Ketten waren fest darin verankert. Du hast einen Fuß gegen die Wand gestemmt und an ihnen gezogen, doch sie hätten auch wesentlich stärkeren Kräften nicht nachgegeben. Erst jetzt wurdest du dir deiner Nacktheit bewusst. Du warst nackt, vollkommen nackt mit Ketten an eine Mauer gefesselt. Hektisch hast du deinen Körper abgetastet, nach Wunden gesucht, die noch nicht zu schmerzen begonnen hatten. Doch deine zarte Haut war unverletzt, nichts tat weh. Es war nicht kalt in diesem dunklen Raum. Du warst nackt, aber dir war nicht kalt. Du hast um Hilfe gerufen, geschrien, gebrüllt… Dann hast du mit den Fäusten gegen die Wand getrommelt, an den Ketten gerüttelt, in ohnmächtiger Wut geheult… Es kam dir vor, als hättest du stundenlang um Hilfe gerufen. Du hast dich auf den Boden gesetzt, auf das Tuch. Du dachtest, man hätte dich unter Drogen gesetzt und alles wäre nur eine Halluzination, ein Rausch… Oder du wärst gestorben in dieser Nacht, mit dem Motorrad auf der Straße, und die Erinnerung an deinen Tod wäre dir im Moment nur abhanden gekommen, würde vielleicht wiederkehren? Ja, das war er, der Tod: im Dunkeln angekettet sein, und nichts würde je wieder zu dir dringen… Aber nein, du lebtest ja. Du hast geschrien, wieder geschrien. Der Sadist im Wald hatte dich in seine Gewalt gebracht; doch er hatte dir nichts getan, dir nicht die geringste Verletzung zugefügt.
Ich bin verrückt geworden… Auch das hast du gedacht. Deine Stimme war schwach, gebrochen, heiser, deine Kehle ausgetrocknet, du konntest nicht mehr schreien. Dann kam der Durst.
Du hast geschlafen. Als du aufwachtest, war der Durst da, lauerte im Dunkeln, erwartete dich. Geduldig hat er über deinen Schlaf gewacht. Unerbittlich und grausam schnürte er dir die Kehle zu. Ein rauer, zäher Staub lag auf deiner Mundschleimhaut, er knirschte zwischen den Zähnen. Nein, das war nicht einfach die Lust, etwas Erfrischendes zu trinken, das war etwas anderes, ein vollkommen unbekanntes Gefühl, dessen Name schmerzte wie ein Peitschenhieb: Durst. Du hast versucht, dich abzulenken. Du hast leise Gedichte aufgesagt. Das eine oder andere Mal bist du aufgestanden und hast um Hilfe schreiend gegen die Wand getrommelt. Du hast gebrüllt – ich habe Durst –, dann hast du gemurmelt – ich habe Durst –, schließlich konntest du nur noch eines denken: Durst! Wimmernd hast du gefleht, gewinselt, man möge dir zu trinken geben. Am Anfang, ganz am Anfang, hast du bedauert, dass du gepinkelt hattest. Du hast so sehr an den Ketten gezerrt, damit dein Strahl das Stück Tuch auf dem Boden, das dir als hager diente, nicht besudelte. Ein Fehler. Ich werde an Durst sterben. Ich hätte meine Pisse trinken sollen… Du hast wieder geschlafen. Waren es Stunden oder nur Minuten? Wie hättest du es wissen sollen, nackt, im Dunkeln, ohne jeden Anhaltspunkt… Viel Zeit war verstrichen. Plötzlich wusstest du es: Hier lag ein Irrtum vor! Man hatte dich verwechselt. Nicht du solltest so gequält werden. Du hast deine letzten Kräfte zusammengenommen und gebrüllt:
»Monsieur, ich flehe Sie an! Kommen Sie, Sie haben sich geirrt! Ich bin Vincent Moreau! Sie haben sich geirrt! Vincent Moreau! Vincent Moreau!« Da fiel dir die Taschenlampe im Wald ein. Der gelbe Lichtstrahl auf deinem Gesicht und seine dumpfe Stimme, die gesagt hatte: Du bist es! Du warst der Richtige.
ZWEITER TEIL
Das Gift
I
An diesem Montagmorgen stand Richard Lafargue früh auf. Er hatte einen schweren Tag vor sich. Kaum aus den Federn, schwamm er ein paar Züge im Pool, anschließend genoss er die Morgensonne beim Frühstück im Park und überflog zerstreut die Schlagzeilen der Tageszeitung. Roger wartete am Steuer des Mercedes auf ihn. Bevor er das Haus verließ, ging Lafargue zu Ève, die noch schlief. Er tätschelte sanft ihre Wange, um sie zu wecken und ihr einen guten Morgen zu wünschen. Sie richtete sich mit einem Ruck auf, war verstört. Die Bettdecke war von ihrem Körper geglitten. Richard betrachtete die anmutige Wölbung ihrer Brüste. Er strich zärtlich mit der Spitze des Zeigefingers über ihre Haut, von den Rippen bis zur Brustwarze. Sie musste lachen, ergriff seine Hand und führte sie zu ihrem Bauch. Richard schreckte zurück. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Auf der Schwelle drehte er sich um. Ève hatte die Bettdecke vollkommen abgestreift und streckte ihm die Arme entgegen. Jetzt war er an der Reihe zu lachen. »Idiot«, zischte sie, »du kommst doch um vor Lust!« Er zuckte die Schultern, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Eine halbe Stunde später war er im Krankenhaus in der Stadtmitte von Paris. Er leitete die international renommierte Station für Plastische Chirurgie. Dort praktizierte er jedoch nur
vormittags, die Nachmittage gehörten seiner Privatklinik in Boulogne. Er schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein, um die Krankenakte des Patienten zu studieren, der an diesem Tag operiert werden sollte. Seine Assistenten warteten ungeduldig auf ihn. Nachdem er sich die notwendige Zeit genommen und den Eingriff durchdacht hatte, schlüpfte er in den sterilen Chirurgenkittel und betrat den Operationssaal.
Wie in einem Amphitheater erhob sich über dem Operationssaal ein Halbrund mit Sitzreihen, die durch eine Scheibe vom OP-Saal getrennt waren. Zahlreiche Zuschauer waren anwesend, Ärzte, Studenten; sie lauschten der leicht verzerrten Stimme Lafargues, die über die Lautsprecher die Krankengeschichte darlegte. »An Stirn und Wangen sehen Sie große, keloidartige Verdickungen. Es handelt sich um Verbrennungen, die von der Explosion einer chemischen Wärmflasche herrühren. Der Nasenrücken ist praktisch nicht mehr vorhanden, die Augenlider sind zerstört. Sie sehen also eine typische Indikation für die Verwendung von zylinderförmigen Transplantaten… Diese werden wir sowohl am Arm als auch am Bauch entnehmen… « Mit dem Skalpell schnitt Lafargue bereits große Rechtecke aus der Bauchdecke des Patienten. Die Zuschauer über ihm pressten ihre Gesichter gegen die Scheibe. Eine Stunde später konnte er das erste Ergebnis vorweisen: zu flachen Zylindern vernähte Hautlappen, die von den Armen und vom Bauch des Patienten stammten und in das von den Verbrennungen verwüstete Gesicht transplantiert werden sollten. Ihre doppelte Verankerung würde es ermöglichen, die völlig zerstörte Gesichtshaut wiederherzustellen.
Danach wurde der Patient aus dem Operationssaal geschoben. Lafargue nahm seinen Mundschutz ab und beendete seine Ausführungen: »Bei diesem Patienten wurde der Operationsplan von den vordringlichen Maßnahmen bestimmt. Es versteht sich von selbst, dass diese Form des Eingriffs mehrmals wiederholt werden muss, bis man ein zufriedenstellendes Resultat erhält. « Er bedankte sich bei seinen Zuschauern für ihre Aufmerksamkeit und verließ den Operationssaal. Die Mittagszeit war bereits vorüber. Auf dem Weg in ein nahe gelegenes Restaurant kam Lafargue an einer Parfumerie vorbei. Er ging hinein, um ein Fläschchen Parfum zu kaufen, das er am Abend Ève schenken wollte.
Nach dem Essen fuhr Roger ihn nach Boulogne. Ab vierzehn Uhr hatte er Sprechstunde. Lafargue fertigte seine Patienten rasch ab: eine junge Mutter, die einen Jungen mit Hasenscharte geboren hatte, jede Menge Nasen – Montag war der Tag der Nasen: gebrochene Nasen, übergroße Nasen, schiefe Nasen… Lafargue tastete das Gesicht zu beiden Seiten der Nasenscheidewand ab, zeigte Fotos »vor und nach der Operation«. Die meisten Patienten waren Frauen, aber auch einige Männer befanden sich darunter. Nach der Sprechstunde las Lafargue die aktuellen amerikanischen Fachzeitschriften und brachte sich auf den neuesten Wissensstand. Um achtzehn Uhr holte Roger ihn ab.
Zurück in Le Vésinet, klopfte er an Èves Tür, zog die Riegel auf und öffnete sie. Ève saß nackt auf dem Hocker am Klavier, spielte eine Sonate und schien Richards Kommen nicht zu bemerken. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt.
Ihr schwarzes, gelocktes Haar fiel Strähne für Strähne über ihre Schultern, sie wiegte den Kopf, während sie in die Tasten griff. Er bewunderte ihren muskulösen Rücken, ihren Hüftschwung, ihre festen Pobacken… Plötzlich unterbrach sie die leichte, sehnsuchtsvolle Sonate und stimmte die ersten Takte jenes Stückes an, das Richard so sehr hasste. Sie summte mit rauer Stimme dazu, ließ die Bässe anschwellen. Some day, hell come along, the man I love… Dann unterbrach sie das Stück mit einem dissonanten Akkord und drehte sich schwungvoll auf dem Hocker zu ihm. Die Schenkel gespreizt, die Fäuste auf die Knie gestemmt, saß sie, obszön und herausfordernd, vor Richard. Für einige Sekunden waren seine Augen gebannt vom Anblick der braunen, gekräuselten Haare, hinter denen sich ihre Scham verbarg. Sie runzelte die Brauen und spreizte die Beine langsam noch weiter auseinander, steckte stöhnend einen Finger in den Schlitz und öffnete die Schamlippen. »Es reicht!«, schrie er. Linkisch streckte er ihr den Flakon entgegen, den er am Morgen gekauft hatte. Sie musterte ihn mit ironischem Blick. Er legte das Päckchen aufs Klavier und warf ihr einen Bademantel zu mit der Aufforderung, sie möge sich bedecken. Sie war mit einem Satz auf den Beinen, ging mit strahlendem Gesicht zu ihm, warf den Bademantel auf den Boden und schmiegte sich an ihn. Sie umschlang seinen Hals und rieb ihre Brüste an Richards Brust. Er musste ihr die Handgelenke umdrehen, um sich zu befreien. »Ziehen Sie sich an!«, befahl er. »Es war ein wunderbarer Tag. Wir gehen aus.« »Soll ich mich als Hure zurechtmachen?« Er packte sie an der Kehle, drückte ihr den Hals zu, hielt sie auf Abstand. Dann wiederholte er seinen Befehl. Sie stöhnte so schmerzvoll, dass er den Griff rasch wieder lockerte.
»Verzeihen Sie«, sagte er leise. »Ich bitte Sie, ziehen Sie sich an.« Er kehrte ins Erdgeschoss zurück, erwartete sie ängstlich. Um sich zu beruhigen, ging er die Post durch. Er hasste es, sich um die Organisation des Haushalts kümmern zu müssen, doch nach Èves Ankunft hatte er sich von der Angestellten trennen müssen, die diese Büroarbeit zuvor für ihn erledigt hatte. Er berechnete Rogers Überstunden, den nächsten bezahlten Urlaub von Line, irrte sich im Tarif, musste noch einmal nachrechnen. Er saß noch immer über dem Papierkram, als Ève im Salon erschien. Sie sah blendend aus und trug ein schwarzes, tief ausgeschnittenes Lamékleid. Eine Perlenkette schmückte ihren Hals. Als sie sich über ihn beugte, erkannte er den Duft, den er ihr geschenkt hatte, auf ihrer blassen Haut. Sie lächelte ihm zu und nahm ihn am Arm. Er setzte sich ans Steuer seines Mercedes, und nach einer kurzen Fahrt hatten sie den Wald von Saint-Germain erreicht, wo es von Spaziergängern wimmelte, die der milde Abend hinausgelockt hatte. Sie ging neben ihm, den Kopf an seine Schulter gelehnt. Anfangs schwiegen sie, dann erzählte er ihr von der Operation am Morgen. »Du ödest mich an…«, sagte sie leise. Er war ein wenig vor den Kopf gestoßen und schwieg. Sie hatte seine Hand genommen und beobachtete ihn belustigt. Sie zog ihn auf eine Bank. »Richard?« Er schien wie abwesend, sie musste ihn noch einmal ansprechen, bis er sich ihr zuwandte. »Ich würde so gern ans Meer fahren… Ich war schon so lange nicht mehr am Meer. Du weißt doch, wie gern ich
schwimme. Einen Tag, nur einen Tag am Meer… Dafür würde ich hinterher alles tun, was du willst… « Er zuckte die Schultern und antwortete, wenn es nur darum ginge, hätte er kein Problem. »Ich verspreche dir, dass ich nicht davonlaufe…« »Ihre Versprechungen können Sie sich an den Hut stecken! Außerdem tun Sie bereits, was ich will!« Verärgert winkte er ab, bat sie zu schweigen. Sie gingen noch ein wenig weiter bis zum Ufer der Seine. Jugendliche sausten auf Surfbrettern über das Wasser. Plötzlich rief sie laut: »Ich bin hungrig!« Richard schlug ihr vor, gemeinsam in einem nahe gelegenen Restaurant zu Abend zu essen.
Sie setzten sich unter eine Laube, ein Kellner nahm ihre Bestellung auf. Sie aß mit großem Appetit, er rührte seinen Teller kaum an. Sie kämpfte mit einem Langustenschwanz, den sie nur unter großer Mühe und mit kindlichen Grimassen aufknacken konnte. Er musste darüber lachen. Als sie ebenfalls lachte, erstarrten Richards Gesichtszüge. Mein Gott, dachte er, manchmal scheint sie fast glücklich zu sein! Es ist nicht zu fassen! Wie ungerecht! Lafargues Stimmungswandel war ihr nicht entgangen. Sie beschloss, die Situation auszunutzen. Sie beugte sich zu ihm und flüsterte in sein Ohr… »Hör mal, Richard, seit wir zu essen begonnen haben, lässt mich der Kellner dort nicht aus den Augen. Ich kann etwas verabreden mit ihm, für später… « »Halten Sie den Mund!« »Doch, wirklich! Ich gehe zur Toilette, verabrede mich mit ihm und lasse mich hinter einem Busch vögeln.«
Er war von ihr weggerückt, sie flüsterte weiter, diesmal lauter, und grinste dabei. »Du willst das doch, oder nicht? Du könntest von einem Versteck aus dabei zusehen, ich würde es so einrichten, dass ich ganz in deiner Nähe wäre. Sieh ihn dir an, er platzt fast vor Lust… « Er blies ihr den Rauch seiner Zigarette direkt ins Gesicht. Aber sie hielt noch immer nicht den Mund. »Nein? Wirklich nicht? Einfach so, ich hebe mein Kleid und… Früher, am Anfang, hat dir das doch gefallen.« Tatsächlich hatte er Ève »am Anfang« durch die Wälder von Vincennes oder Boulogne geführt und sie gezwungen, sich nächtlichen Spaziergängern hinzugeben, während er, im Gebüsch versteckt, ihre Erniedrigung beobachtete. Aus Angst vor einer Polizeirazzia, der Katastrophe schlechthin, hatte er schließlich das Studio in der Rue Godot-de-Mauroy gemietet. Seither zwang er Ève in regelmäßigen Abständen zwei- oder dreimal im Monat zur Prostitution. Das genügte, um seinen Hass zu besänftigen. »Sie haben sich heute vorgenommen, unausstehlich zu sein«, sagte er, »fast könnte ich Sie bedauern!« »Das soll ich dir glauben?« Sie reizt mich, dachte er, sie will mir weismachen, sie habe sich behaglich eingerichtet in dem Schmutz, in den ich sie gestoßen habe, sie will mir weismachen, sie finde Gefallen an ihrer entwürdigenden Behandlung… Sie ließ nicht locker, wagte es sogar, dem Kellner aufmunternd zuzuzwinkern, der prompt bis über beide Ohren rot anlief. »Kommen Sie, wir gehen! Wir sind schon viel zu lange draußen. Wenn Sie mir unbedingt ›gefallen‹ wollen, dann schauen wir morgen Abend nach Ihren Verabredungen, oder vielleicht schicke ich Sie auch ein wenig auf den Strich… «
Ève lächelte und nahm seine Hand, um nicht die Fassung zu verlieren. Er wusste, wie furchtbar all diese bezahlten Umarmungen für sie waren und wie sie jedes Mal litt, wenn er sie zwang, sich zu verkaufen. In solchen Augenblicken sah er manchmal durch den Einwegspiegel zwischen den beiden Appartements, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und sich ihr Gesicht verzerrte, wenn sie ihren Schmerz zu verbergen suchte. Dann freute er sich über ihr Elend, denn das war sein einziger Trost… Sie kehrten in die Villa nach Le Vésinet zurück. Sie lief durch den Garten, schlüpfte flink aus ihren Kleidern und sprang mit einem Freudenschrei ins Schwimmbecken. Sie tollte im Wasser herum, verschwand immer wieder für kurze Zeit, in der sie die Luft anhielt, unter der Wasseroberfläche. Als sie aus dem Pool kletterte, hüllte er sie in ein großes Frotteetuch und rieb sie kräftig trocken. Sie ließ ihn gewähren und betrachtete dabei die Sterne. Dann begleitete er sie zu ihren Räumen, wo sie sich wie jeden Abend auf die Matte legte. Er stopfte die Pfeife mit Opium und reichte sie ihr. »Richard«, murmelte sie, »du bist wirklich der größte Schweinehund, den ich je erlebt habe…« Er saß bei ihr, bis sie alles geraucht hatte. Er musste sie nicht zwingen, ohne ihre tägliche Dosis bekam sie schon seit langem Entzugserscheinungen…
Nach dem Durst kam der Hunger. Zur Trockenheit in deiner Kehle, die sich anfühlte, als ob scharfkantige Steinchen die Schleimhäute zerfetzten, kamen starke, schwer zu lokalisierende Schmerzen tief im Bauch; Hände, die dir den Magen zusammendrückten, Galle und Krampfe aufsteigen ließen…
Seit Tagen – ja, um solche Schmerzen zu haben, mussten schon viele Tage vergangen sein – krümmtest du dich in diesem Loch. War es ein Loch? Nein… jetzt hattest du den Eindruck, dass das Zimmer, in dem du angekettet warst, ziemlich groß sein musste, doch du konntest es nicht mit Sicherheit sagen. Das Echo deiner Schreie von den Wänden, deine an die Dunkelheit gewöhnten Augen erlaubten es dir, die Mauern deines Kerkers zu erahnen. Du warst im ständigen Delirium, endlos lange Stunden vergingen. Du lagst zusammengesunken auf deinem hager, bist nicht mehr aufgestanden. Für kurze Augenblicke hast du dich manchmal gegen deine Fesseln gewehrt, hast in das Eisen gebissen und dabei geknurrt wie ein wildes Tier. In einem Dokumentarfilm über die Jagd hattest du früher einmal Aufnahmen von einem Fuchs gesehen, der mit der Pfote in eine Falle geraten war und sich Fetzen für Fetzen die Haut abriss, bis das Fangeisen sich lockerte. Dann konnte das Tier, wenn auch verletzt, entkommen. Du aber brachtest es nicht fertig, in deine Handgelenke oder deine Knöchel zu beißen. Sie waren trotzdem blutverschmiert, weil das Metall die Haut aufschürfte. Sie brannten und waren geschwollen. Wenn du imstande gewesen wärst, einen klaren Gedanken zu fassen, hättest du Angst gehabt vor Wundbrand, einer Infektion oder der Fäulnis, die bei den Gliedmaßen beginnend deinen ganzen Körper vergiften könnte. Aber du hast nur von Wasser geträumt, von Sturzbächen, Regen, egal von was, Hauptsache, man konnte es trinken. Du uriniertest nur noch unter großen Mühen; bei jedem Harnlassen wurden die Schmerzen in deinen Nieren heftiger. Ein langes Brennen zog sich bis in dein Glied, aus dem nur wenige heiße Tropfen kamen. Eigenartigerweise hast du ruhig geschlafen. Von Erschöpfung übermannt, bist du in tiefen Schlaf gefallen, doch das Erwachen war grauenhaft, von
Halluzinationen begleitet. Grässliche Gestalten lauerten dir im Dunkeln auf, bereit, sich auf dich zu stürzen und dich zu beißen. Du glaubtest, spitze Krallen auf dem Zement scharren zu hören, Ratten, die im Dunkeln lauerten und jede deiner Bewegungen mit ihren gelben Augen beobachteten. Du hast nach Alex gerufen, aber der Schrei endete immer wieder in einem Röcheln. Wäre er da gewesen, er hätte die Ketten herausgerissen, er hätte gewusst, wie man es machen muss. Alex hätte eine Lösung gefunden, er hätte den Kopf aus der Schlinge gezogen. Alex! Bestimmt suchte er dich, seit du verschwunden warst. Aber seit wann? WANN?
Dann kam Er. Ob es Tag oder Nacht war, wusstest du nicht. Da hinten, rechts von dir, ging leise eine Tür auf. Ein strahlendes Rechteck, das dich anfangs blendete. Die Tür schloss sich wieder, aber Er war hereingekommen. Seine Gegenwart war im ganzen Kerker zu spüren. Du hast den Atem angehalten, auf das kleinste Geräusch gelauscht, hast dich in panischer Angst an die Wand gekauert wie eine Schabe, die vom Tageslicht überrascht wurde. Du warst nur noch ein Insekt, gefangen im Netz einer übersatten Spinne, die dich als Vorrat für künftige Mahlzeiten aufbewahrte. Sie hatte dich gefangen, um in aller Ruhe von dir zu kosten, wenn sie Lust bekäme, dein Blut zu lecken. Du hast dir ihre haarigen Beine, ihre großen, erbarmungslosen Kugelaugen vorgestellt, ihren weichen, von Fleisch wabernden, gelatineartigen Bauch und ihre Giftzangen, ihren schwarzen Mund, der das heben aus dir saugen würde. Plötzlich blendete dich ein starker Scheinwerfer. Da standst du, die einzige Person auf der Bühne deines nahenden Todes, geschmückt für den letzten Akt. Du erkanntest die Umrisse einer Gestalt, die drei oder vier Meter entfernt vor dir in einem
Sessel saß. Aber im Gegenlicht des Scheinwerfers konntest du die Gesichtszüge des Ungeheuers nicht erkennen. Er hatte die Beine über einander geschlagen, das Kinn auf seine Hände gestützt und betrachtete dich ohne jede Regung. Du hast eine übermenschliche Anstrengung unternommen, um dich aufzurichten, und auf den Knien wie beim Gebet hast du um etwas zu trinken gebettelt. Die Worte kamen nur schwer verständlich aus deinem Mund. Du hast ihm deine Hände entgegengestreckt und ihn angefleht. Er rührte sich nicht. Du hast deinen Namen gestottert: Vincent Moreau, ein Irrtum, Monsieur, es ist ein Irrtum, ich bin Vincent Moreau. Dann hast du das Bewusstsein verloren. Als du wieder zu dir gekommen bist, war er verschwunden. Du hast die Verzweiflung kennengelernt. Der Scheinwerfer war noch immer an. Du hast deinen Körper gesehen, die Pusteln voller Eiter auf deiner Haut, die Schmutzspuren, die Schrammen von den Ketten, deine unsagbar langen Fingernägel. Das grausame weiße Licht brachte dich zum Weinen. Es verging viel Zeit, bevor er wiederkam. Er setzte sich erneut in den Sessel gegenüber. Vor seine Füße hatte er einen Gegenstand gestellt, den du sofort erkannt hast. Einen Krug… Wasser? Du bist auf die Knie, auf alle viere, mit hängendem Kopf. Er kam näher. Er goss das Wasser aus dem Krug in einem Schwung über deinen Kopf. Du hast die Pfütze vom Boden aufgeleckt. Mit zitternden Händen hast du dein Haar ausgepresst, um das Wasser von deinen Handflächen zu lecken. Er holte einen weiteren Krug, den du gierig in einem Zug ausgetrunken hast. „Daraufhin jagte ein heftiger Schmerz durch deinen Bauch, und du hast dich in einem Schwall entleert. Er sah dir zu. Du hast dich nicht weggedreht zur Mauer, um seinem Blick zu entgehen. Zusammengekrümmt zu
seinen Füßen, hast du dich erleichtert und warst glücklich, getrunken zu haben. Du warst ein Nichts, du warst nur noch ein durstiges, hungriges und gequältes Tier. Ein Tier, das einmal Vincent Moreau geheißen hatte. Da lachte er wieder dieses kindliche Lachen, das du im Wald gehört hattest.
Er kam häufig, um dir zu trinken zu geben. Im Gegenlicht des Scheinwerfers kam er dir riesengroß vor, und sein Schatten erfasste, gewaltig und angsteinflößend, das ganze Zimmer. Aber du fürchtetest dich nicht mehr, denn er gab dir ja zu trinken. Das war für dich das Zeichen, dass er dich am Leben erhalten wollte. Später brachte er eine Blechschüssel, die mit einer rotbraunen Brühe gefüllt war, in der Fleischklöße schwammen. Er tauchte seine Hand in die Brühe, packte dich an den Haaren und zwang deinen Kopf in den Nacken. Du hast aus seiner Hand gegessen, seine Finger abgeleckt, von denen die Soße tropfte. Es schmeckte gut. Er ließ dich auf allen vieren weiteressen, du hast den Kopf tief in den Blechnapf gesteckt. Du hast nichts übrig gelassen von dem, was dein Herr dir zu essen gab. Die Zeit verging, und die Brühe war immer dieselbe. Er kam in deinen Kerker, brachte dir Blechnapf und Krug und schaute dir beim Essen zu. Dann verschwand er wieder, und jedes Mal lachte er. Allmählich bist du wieder zu Kräften gekommen. Du hobst dir ein wenig Wasser auf, damit du dich waschen konntest, und du erledigtest dein Geschäft immer am selben Ort, rechts von dem Wachstuch. Unbemerkt war die Hoffnung zurückgekehrt: Dein Herr hing an dir…
Alex sprang aus dem Bett. Motorgeräusch hatte die Stille in der Garrigue zerrissen. Ein Blick auf die Armbanduhr, es war sieben Uhr früh. Er gähnte. Sein Mund war verklebt, die Zunge betäubt vom Alkohol – erst Bier, dann Gin –, den er in der Nacht hinuntergestürzt hatte, damit er einschlafen konnte. Er griff nach dem Fernglas und richtete es auf die Straße. Die holländische Familie fuhr in einem Land Rover, die Kinder hatten Schaufeln und Eimer dabei… Ein Ausflug ans Meer. Die junge Mutter trug einen Bikini, und der dünne Stoff spannte sich über ihren schweren Brüsten. Alex hatte eine Morgenlatte… Wie lange hatte er mit keiner Frau mehr geschlafen? Sechs Wochen mindestens. Ja, die Letzte war ein Bauernmädchen gewesen. Schon so lange her. Sie hieß Annie, eine Freundin aus der Kindheit. Er sah sie mit ihrem roten Haar, ihren Zöpfen wieder vor sich auf dem Schulhof stehen. In einem anderen, fast vergessenen Leben, dem von Alex, dem Bauerntölpel. Kurz vor dem Banküberfall hatte er seine Eltern besucht. Sie schufteten auf ihren Feldern wie eh und je. An einem verregneten Nachmittag war er mit seinem Wagen, einem Ford mit röhrendem Auspuff, auf den Hof gefahren. Sein Vater erwartete ihn an der Treppe zum Haus. Alex war stolz auf seine Anzüge, seine Schuhe, an denen nicht mehr der Stallgeruch haftete. Der Vater war natürlich nicht sehr begeistert. Das ist doch kein anständiger Beruf, in Nachtclubs den Kraftprotz zu spielen. Aber offensichtlich sehr einträglich: Er sah vornehm aus, sein Sohn! Und die Hände mit den manikürten Fingernägeln, das hatte Eindruck auf den Vater gemacht. Das Eis schmolz, und er hieß ihn mit einem freundlichen Lächeln willkommen.
Sie hatten sich im Wohnzimmer einander gegenübergesetzt. Der Vater hatte Brot, Wurst, Pastete und einen Liter Rotwein geholt und zu essen begonnen. Alex hatte lediglich eine Zigarette geraucht und den Wein im Senfglas stehen lassen. Die Mutter sah ihnen zu, ohne sich zu setzen, ohne ein Wort zu sagen. Auch Louis und René waren da, die Knechte. Worüber hätten sie sich unterhalten können? Über das Wetter und wie es in den nächsten Tagen sein würde? Alex stand auf und klopfte seinem Vater liebevoll auf die Schulter, bevor er auf die Hauptstraße des Dorfs hinausging. Hinter den Fenstern der Häuser wurden verstohlen die Vorhänge bewegt: Man beobachtete heimlich den jungen Barny, diesen Tunichtgut, wollte ihn sehen… Alex betrat das Café des Sports und spendierte eine Lokalrunde, um Eindruck zu schinden. Ein paar Alte spielten Karten und klopften beim Aufdecken kräftig mit der Faust auf den Tisch, ein oder zwei Jungen bearbeiteten den Flipper. Alex war stolz auf seinen Erfolg. Er schüttelte Hände, trank ein Glas auf das Wohl von allen. Auf der Straße begegnete ihm Madame Moreau, Vincents Mutter. Sie war eine schöne Frau gewesen, groß, schlank, elegant. Doch nach dem Verschwinden ihres Sohnes war sie plötzlich wie geschrumpft, sie sah verhärmt aus und kleidete sich nur noch nachlässig. Mit gebeugtem Rücken und schleppendem Schritt ging sie zum Einkaufen. Jede Woche erschien sie pünktlich wie zur Messe in der Gendarmerie von Meaux, um sich nach dem Stand der Ermittlungen im Fall ihres Sohnes zu erkundigen. Seit vier Jahren. Es gab keine Hoffnung mehr. Sie hatte in zahllosen Zeitungen Anzeigen mit Vincents Foto aufgegeben, ohne Erfolg. Die Gendarmen hatten ihr erzählt, dass in Frankreich jedes Jahr Tausende verschwinden würden, und häufig würde man nie wieder etwas von ihnen hören. Vincents Motorrad
stand in der Garage, die Gendarmen hatten es ihr zurückgebracht, nachdem es untersucht worden war. Vincents Fingerabdrücke waren darauf. Die Maschine war mit verbogenem Vorderrad und leerem Tank auf einem Hügel gefunden worden. Im Wald hatte man jedoch nicht die geringste Spur entdecken können…
Alex hatte die Nacht im Dorf verbracht. Am Abend gab es Tanz, es war ein Samstag. Annie war da, immer noch so rothaarig wie früher, aber ein wenig in die Breite gegangen. Sie arbeitete in der Konservenfabrik im Nachbardorf, legte Bohnen ein… Alex hatte einen Blues mit ihr getanzt, bevor er sie in den nahen Wald abschleppte. Dann schliefen sie miteinander auf den Liegesitzen seines Autos in einer ziemlich unbequemen Stellung. Am nächsten Tag hatte Alex seine Eltern umarmt und war weggefahren. Acht Tage später überfiel er eine Filiale der Crédit Agricole und erschoss den Polizisten. Im Dorf hatten wahrscheinlich alle die Zeitungsausgaben mit Alex’ Bild und dem Familienfoto des Polizisten auf den Titelseiten aufbewahrt. Alex öffnete den Verband; die Narbe brannte, die Wundränder waren krebsrot. Er verteilte den Puder, den sein Kumpel ihm gebracht hatte, auf seinem Schenkel, dann verband er die Wunde wieder und drückte dabei eine frische Kompresse darauf. Er hatte noch immer einen Steifen, sein Glied schmerzte beinahe. Wütend masturbierte er und dachte dabei an Annie. Er hatte nicht viele Mädchen gehabt. Er musste sie immer bezahlen. Als Vincent noch da war, ging alles besser. Vincent liefen die Mädchen haufenweise hinterher. Sie gingen oft gemeinsam tanzen. Alex setzte sich an die Bar und trank ein
Bier. Er beobachtete, wie Vincent es drehte. Mit seinem hübschen Lächeln kriegte er die Mädchen leicht rum. Dabei sah er aus, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Er bewegte den Kopf auf seine liebenswürdige Art, und dann liebkosten seine Hände auch schon von den Hüften bis zu den Schultern die Rücken der Mädchen. Er brachte sie an die Bar, um ihnen Alex vorzustellen. Wenn alles gut lief, war Alex nach Vincent dran, aber es klappte nicht immer. Einige meinten, sie müssten sich zieren. Sie wollten nichts von Alex wissen, der so stark und behaart war wie ein Bär, stämmig, kräftig… Nein, sie zogen ihm den zarten, bartlosen und empfindlichen Vincent mit seiner hübsche Fresse vor!
In seinen Erinnerungen versunken, masturbierte Alex. Sein gutes Gedächtnis spulte wie im Film alle Mädchen vor seinem geistigen Auge ab, die sie auf diese Weise geteilt hatten. Und Vincent, dieser Schuft, dachte er, hat dich im Stich gelassen. Jetzt ist er vielleicht in Amerika und legt Schauspielerinnen flach! Das Foto einer Nackten – aus einem Kalender – schmückte die weiß gekalkte Wand an der Längsseite des Bettes. Als er fertig war, wischte Alex seine Hand mit einer Kompresse ab und ging in die Küche hinunter, um Kaffee zu kochen. Während das Wasser auf dem Herd warm wurde, schob er die schmutzigen Teller zur Seite, die sich im Ausguss stapelten, und streckte seinen Kopf unter den Wasserhahn. Langsam trank er den dampfenden, starken Kaffee und kaute dazu auf den Resten eines alten Sandwichs herum. Draußen war die Hitze erdrückend, die Sonne stand schon hoch am Himmel. Alex schaltete das Radio ein, auf RTL lief gerade die Quizsendung »La Valise«. Der »Koffer«, den es zu gewinnen
gab, war ihm völlig egal, aber er fand es lustig, wenn die ratlosen Mitspieler keine Antworten auf die Fragen wussten und so das ausgelobte, heiß ersehnte Geld verloren… In seinem Koffer jedoch – es war kein Koffer, sondern eine Tasche – steckten vier Millionen Francs. Ein Vermögen. Er hatte die Bündel neuer, knisternder Banknoten ein ums andere Mal gezählt. Im Lexikon hatte er die Personen nachgeschlagen, deren Gesichter auf den Scheinen abgebildet waren: Voltaire, Pascal, Berlioz. Er setzte sich auf das Sofa und machte sich wieder an sein Puzzle; mehr als zweitausend Teile. Langeais, ein prächtiges Schloss in der Touraine. Bald würde er es fertig haben. Am ersten Tag hatte er im Speicher mehrere Schachteln mit Modellbausätzen der Marke Heller gefunden. Mit Klebstoff, Farbe und Aufklebern hatte er daraus Stukas, Spitfires und ein Auto, einen Hispano-Suiza von 1935, zusammengesetzt. Sie standen sorgfältig bemalt auf ihren Plastikständern neben dem Sofa auf dem Fußboden. Anschließend hatte Alex, da es keine Modellbausätze mehr gab, das Gehöft seiner Eltern, die beiden Gebäude, die Nebengebäude, das Hoftor gebastelt… Aus aneinandergeklebten Streichhölzern entstand eine schiefe, kindliche Nachahmung, die rührend aussah. Nur der Traktor fehlte: Alex schnitt ihn aus einem Stück Karton aus. Als er dann den Speicher noch einmal gründlich durchsuchte, fand er schließlich das Puzzle.
Das Gehöft, auf dem er sich versteckte, gehörte einem seiner Freunde aus dem Nachtclub, dessen Rausschmeißer er war. Hier konnte man wochenlang bleiben, ohne Gefahr zu laufen, dass sich ein neugieriger Nachbar zu ungelegener Zeit auf den Hof verirrte. Der Freund hatte ihm auch einen Ausweis besorgt, doch jetzt war sein Gesicht überall bekannt, und sein
Konterfei hing wahrscheinlich in jedem Polizeirevier des Landes. Die Bullen mochten es gar nicht, wenn man einen von ihnen umlegte. Die Puzzleteile wollten sich einfach nicht ineinanderfügen. Er saß an einem Stück Himmel, ausschließlich blau, sehr schwierig zusammenzusetzen. Die Türmchen des Schlosses, die Zugbrücke, das alles war noch ganz einfach gewesen. Nur der Himmel… Leer und heiter, trügerisch… Alex wurde ungeduldig, rührte in den Teilen, begann ständig von neuem, das Bild zusammenzusetzen, und mischte die Teile dann wieder. Nahe der Holzdiele, auf der er puzzelte, krabbelte eine Spinne über den Fußboden. Ein fettes, widerliches Tier. Sie begann in einer Ecke an der Wand ihr Spinnennetz zu bauen. Der Faden quoll gleichmäßig aus ihrem runden Unterleib. Sorgsam und fleißig kletterte sie hin und her. Mit einem Streichholz verbrannte Alex das Netz, das sie gerade begonnen hatte. Die Spinne geriet in Panik, inspizierte die Aufhängungen, suchte nach dem Feind, der dort vielleicht auf sie lauerte. Da ein brennendes Streichholz in ihren Genen jedoch keine Gefahr signalisierte, spann sie schließlich weiter.
Sie spann unermüdlich, knüpfte den Faden, befestigte ihn an den Unebenheiten der Wand, nutzte jeden Holzsplitter. Alex hob eine tote Fliege vom Fußboden auf und warf sie in das nagelneue Netz. Die Spinne eilte herbei, inspizierte den Eindringling von allen Seiten, verschmähte ihn aber. Alex erkannte den Grund für ihre Gleichgültigkeit: Die Fliege war tot. Er humpelte zur Eingangstreppe und fing vorsichtig einen Nachtfalter, der sich unter einem Dachziegel versteckt hatte. Dann warf er ihn in das Spinnennetz.
Der Falter schlug mit den Flügeln, um sich aus den klebrigen Fäden zu befreien. Sofort war die Spinne wieder zur Stelle, und nachdem sie ihre Beute mit ihren großen Beinen auf den Rücken gelegt hatte, begann sie einen Kokon um das Insekt zu spinnen und trug den Schmetterling anschließend in einen Mauerriss, um ihn für ein künftiges Festmahl aufzubewahren.
Ève saß am Frisiertisch und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Ein kindliches Gesicht mit großen, traurigen Mandelaugen. Mit dem Zeigefinger strich sie sich über das Kinn, fühlte die Haut und den Knochen, den Abdruck der Zähne durch die fleischigen Lippen. Sie hatte blühende Wangen, eine Stupsnase mit vollkommenem Schwung, fein modelliert. Sie drehte leicht den Kopf, stellte den Spiegel schräg, staunte über den eigenartigen Ausdruck, den der Spiegel zurückwarf. Ein Übermaß an Vollkommenheit, das Unbehagen an dieser allzu blendenden Schönheit weckte. Kein Mann hatte ihrer Verführung je widerstanden, keiner war ihrem Blick gleichgültig begegnet. Nein, kein Mann konnte ihr Geheimnis lüften: Sie besaß eine undurchdringliche Aura, die jede ihrer Gesten begleitete, sie in eine Wolke von betörender Mehrdeutigkeit tauchte. Sie lockte sie alle an, zog ihre Blicke auf sich, weckte ihr Begehren, spielte mit ihrer Verwirrung, sobald sie in ihre Nähe kamen. Dass ihr die Männer so offensichtlich verfielen, verschaffte ihr eine Gelassenheit, die durchaus zweischneidig war: Ève hätte sie gern abgewiesen, sie in die Flucht gejagt, wäre gern abstoßend gewesen, und dennoch war die Faszination, die sie unbeabsichtigt ausübte, ihre einzige Rache. Diese Makellosigkeit war der reine Hohn. Sie schminkte sich, dann holte sie die Staffelei aus der Schutzhülle, legte Farben und Pinsel zurecht und wandte sich
wieder dem Bild zu, an dem sie gerade malte. Es war ein Porträt von Richard, derb und grob. Sie hatte ihn mit gespreizten Schenkeln auf einem Barhocker dargestellt, als Transvestit mit einer Zigarettenspitze zwischen den Lippen, rosarotem Kleid, Strumpfhaltern an den Beinen und schwarzen Seidenstrümpfen, hochhackigen Schuhen, aus denen seine Füße hervorquollen… Er lachte dümmlich, wirkte eher einfältig. Seine lachhaften falschen Brüste, die mit Chiffon ausgestopft waren, hingen jämmerlich an seinem schlaffen Bauch herab. Das Gesicht, das sie mit pedantischer Akribie wiedergegeben hatte, war von geplatzten Äderchen durchzogen… Beim Anblick des Bildes hörte man unwillkürlich die raue, rauchige Stimme dieser grotesken, erbärmlichen Gestalt, die Stimme einer abgehalfterten Schlampe…
Nein, dein Herr hat dich nicht getötet, aber das hast du später bedauert. Er behandelte dich jetzt besser. Er goss immer wieder Wasser über dir aus, deine Dusche. Er spritzte dich mit lauwarmem Wasser aus einem Gartenschlauch ab, gönnte dir sogar ein Stück Seife. Der Scheinwerfer blieb an. Du hattest die Dunkelheit gegen einen blendend hellen Tag eingetauscht, einen künstlichen, kalten, nicht enden wollenden Tag. Wenn er nach dir sah, saß dein Herr stundenlang in einem Sessel vor dir und beobachtete jede deiner Bewegungen. Zu Beginn dieser »Beobachtungen« wagtest du nicht, etwas zu sagen, aus Angst, seinen Zorn zu wecken, aus Angst, dass dann Dunkelheit, Durst und Hunger wiederkämen, um dich für etwas zu bestrafen, von dem du noch immer nicht wusstest, was es war, und für das du, so schien es, büßen solltest.
Dann bist du mutiger geworden. Schüchtern hast du dich nach dem Datum erkundigt, um zu erfahren, wie lange du hier schon eingesperrt warst. Lachend antwortete er: 23. Oktober… Seit über zwei Monaten hielt er dich nun schon gefangen. Zwei Monate, in denen du Hunger und Durst gelitten hattest – wie oft hast du aus seiner Hand gegessen, zu seinen Füßen den Kopf in den Blechnapf gesteckt, wie oft hat er dich mit dem Wasserstrahl abgeduscht? Du hast geweint, gefragt, warum er dir das alles antat. Dieses Mal blieb er stumm. Du blicktest in sein undurchdringliches, von weißen Haaren gekröntes Gesicht, ein Gesicht, das eine gewisse Erhabenheit besaß, das du vielleicht schon einmal irgendwo gesehen hattest. Er kam in deinen Kerker, setzte sich und blieb, unerschütterlich. Er verschwand und kam später wieder. Die Alpträume, die dich zu Beginn deiner Gefangenschaft verfolgten, ließen dich in Ruhe. Vielleicht gab er dir Beruhigungsmittel in dein Essen. Die Angst blieb natürlich, aber sie hatte sich auf etwas anderes verlagert: Du warst sicher, du würdest am Leben bleiben, sonst hätte er dich längst getötet, dachtest du… Er hatte nicht vor, dich siechen, verrecken, bis zum Tod zusammenschrumpfen zu lassen. Er plante etwas anderes.
Einige Zeit später änderte er auch das Ritual der Fütterung. Dein Herr baute einen Klapptisch und einen Hocker vor dir auf. Er gab dir eine Plastikgabel und ein Plastikmesser, wie man sie im Flugzeug bekommt. Ein Teller ersetzte den Napf. Und kurz darauf bekamst du richtige Mahlzeiten: Obst, Gemüse, Käse. Es bereitete dir riesige Freude zu essen, immer wieder fielen dir dabei die ersten Tage deiner Gefangenschaft ein…
Du warst noch immer angekettet, aber dein Herr kümmerte sich um die Entzündungen, die das Reiben des Metalls an deinen Handgelenken verursacht hatte. Du hast eine Salbe auf die Wunden aufgetragen, er legte eine elastische Binde auf die Haut unter dem eisernen Armband. Alles ging besser, aber er sagte nichts. Du hast ihm dein Leben erzählt. Äußerst aufmerksam hörte er dir zu. Du konntest sein Schweigen nicht ertragen. Du hattest das Bedürfnis zu reden, die Geschichten, die Anekdoten aus deiner Kindheit endlos zu wiederholen, du hast dir den Mund fusselig geredet, um dir und ihm zu beweisen, dass du kein Tier warst! Wieder einige Zeit später wurde deine Nahrung schlagartig besser. Du bekamst Wein und schmackhafte Gerichte vorgesetzt, die er wahrscheinlich von einem Traiteur anliefern ließ. Das Geschirr war luxuriös. An die Wand gekettet, nackt auf deinem Hocker sitzend, hast du Kaviar, Lachs, Eis und Kuchen in dich hineingestopft. Er setzte sich neben dich, servierte dir die Gerichte. Er brachte einen Kassettenrecorder mit, und ihr hörtet Chopin, Liszt. Auch was das demütigende Kapitel deiner Notdurft anbelangte, zeigte er sich menschlicher, jetzt stand dir ein Toiletteneimer zur Verfügung, der immer greifbar war. Eines Tages schließlich erlaubte er dir, zeitweise die Mauer zu verlassen. Er löste dich von den Ketten und spazierte mit dir im Gewölbe umher, wobei er dich an der Leine führte. Mit langsamen Schritten gingst du im Kreis, immer um den Scheinwerfer herum. Damit die Zeit schneller verging, brachte dein Herr Bücher. Klassiker wie Balzac, Stendhal… Am Gymnasium hattest du sie gehasst, doch hier, allein in deinem Kerker, bist du im Schneidersitz auf deinem Wachstuch gesessen oder hast dich auf den Klapptisch gestützt und sie verschlungen.
Mit der Zeit wurden deine Beschäftigungen immer vielfältiger. Dein Herr sorgte für Abwechslung. Du hattest eine Hi-Fi-Anlage, Schallplatten, sogar einen Schach computer: Die Zeit verging schnell. Er hatte die Helligkeit des Scheinwerfers gedämpft, damit er dich nicht mehr blendete. Ein Stofffetzen milderte das Licht, und das Kellergewölbe füllte sich mit Schatten, mit deinem vervielfachten Schatten. Im Zuge dieser Veränderungen, als dein Herr keine brutalen Anwandlungen mehr zeigte und dir deine Einsamkeit durch all den Komfort erträglicher wurde, hast du deine Angst vergessen oder zumindest verdrängt. Deine Nacktheit, die Ketten, die dich fesselten, schienen nicht dazu zu passen. Und die Spaziergänge an der Leine wurden fortgesetzt. Du warst ein wohlerzogenes, intelligentes Tier. Du hattest Gedächtnislücken, in manchen Augenblicken fühltest du schneidend scharf die Unwirklichkeit deiner Situation, ihre absurde Realität. Ja, du branntest darauf, deinen Herrn auszufragen, doch seine Reaktion auf deine Fragen war nicht ermunternd, er begnügte sich damit, für deine Behaglichkeit zu sorgen. Was du gern zu Abend essen würdest, ob dir die Schallplattenaufnahme gefallen habe… Wo war das Dorf, wo deine Mutter? Sie mussten dich doch suchen? In deiner Erinnerung verblassten die Gesichter deiner Freunde und verschwanden schließlich in einem dichten Nebel. Du konntest dich nicht mehr erinnern, wie Alex aussah, welche Farbe sein Haar hatte… Du hast laute Selbstgespräche geführt, dich beim Summen von Kinderliedern ertappt, weit zurückreichende Erinnerungen stiegen heftig und wirr in dir hoch; längst vergessene Bilder aus deiner Kindheit tauchten plötzlich und überraschend klar in dir auf, um wieder in einem Dunstschleier zu verschwinden. Die Zeit dehnte sich aus, zog sich zusammen, du wusstest nicht mehr, war es eine Minute, zwei Stunden oder zehn Jahre her?
Dein Herr bemerkte dieses Unbehagen, und um es einzudämmen, gab er dir einen Wecker. Entzückt hast du den Lauf der Zeiger beobachtet und dabei die Stunden gezählt. Eine fiktive Zeit: War es zehn oder zweiundzwanzig Uhr, Dienstag oder Sonntag? Das spielte keine Rolle; du konntest wieder Ordnung in dein Leben bringen, zur Mittagszeit bin ich hungrig, um Mitternacht müde. Es war ein Rhythmus, etwas, an dem du dich festhalten konntest. Mehrere Wochen waren vergangen. Unter den Geschenken deines Herrn fandest du einen Zeichenblock, Stifte, einen Radiergummi. Du hast gemalt, am Anfang noch ungelenk, später kehrte deine frühere Geschicklichkeit zurück. Du hast Porträts ohne Gesicht gemalt, Münder, zusammengewürfelte Landschaften, das Meer, gewaltige Klippen, eine riesige Hand, die Wellen aufwühlte. Du hast die Zeichnungen mit Tesafilm an die Wand geklebt, um den nackten Beton zu vergessen.
Im Stillen hattest du deinem Herrn einen Namen gegeben. Du wagtest es natürlich nicht, ihn so anzusprechen. Du nanntest ihn »Mygale«, die Vogelspinne, zur Erinnerung an die Schrecken der Vergangenheit. Mygale, ein Name, bei dem man unwillkürlich an etwas Weibliches denkt, der Name eines widerwärtigen Tiers, das weder zu seinem Geschlecht noch zu der außerordentlichen Raffinesse passte, die er bei der Auswahl seiner Geschenke an den Tag legen konnte… Trotzdem passte dieser Name zu ihm, denn er war wie eine Vogelspinne langsam und hinterhältig, grausam und erbarmungslos, gierig und unbegreiflich in seinen Plänen, die irgendwo in diesem Haus verborgen waren, in dem er dich seit Monaten eingesperrt hielt, ein Luxusnetz, eine vergoldete Falle; er war der Kerkermeister, du der Gefangene.
Du hattest es aufgegeben, zu weinen, dich zu beklagen. In materieller Hinsicht war dein neues Leben nicht mehr schwer. Zu jener Jahreszeit – war es Februar oder März? – hättest du in der Schule sein sollen, es wäre dein letztes Schuljahr gewesen, und jetzt warst du hier, gefangen in diesem Kerker. Und an deine Nacktheit hattest du dich bereits gewöhnt. Die Scham war erloschen. Nur die Ketten waren unerträglich.
Es war wahrscheinlich im Mai, wenn deine eigene Zeitrechnung zutraf, vielleicht aber auch früher, als sich etwas Sonderbares ereignete. Dein Wecker zeigte halb drei. Mygale, die Vogelspinne, kam, um nach dir zu sehen. Er setzte sich wie üblich in den Sessel, um dich zu beobachten. Du hast gezeichnet. Er stand auf und kam zu dir. Du bist aufgestanden, um ihm die Stirn zu bieten, aufrecht. Eure beiden Gesichter berührten sich fast. Du sahst seine blauen Augen, das Einzige, was sich in seinem sonst undurchdringlichen, starren Gesicht bewegte. Mit zitternden Fingern fuhr er an deinem Hals entlang. Er betastete deine Wangen, deine Nase, zwickte dich vorsichtig in die Haut. Dein Herz klopfte zum Zerspringen. Seine Hand, eine heiße Hand, kehrte zu deiner Brust zurück, sie strich sanft und behände hinab zu deiner Hüfte, deinem Bauch. Er betastete deine Muskeln, deine glatte, unbehaarte Haut. Du hast dich über den Sinn dieser Gesten getäuscht. Ungeschickt hast du ihn flüchtig im Gesicht gestreichelt. Mygale gab dir eine heftige Ohrfeige und presste dabei die Zähne zusammen. Er befahl dir, dich umzudrehen, dann setzte er seine Untersuchung systematisch fort. Es dauerte mehrere Minuten. Als es zu Ende war, hast du dich hingesetzt und dir die Wange gerieben, die noch immer von der Ohrfeige brannte.
Lachend schüttelte er den Kopf, strich mit der Hand durch dein Haar. Und du hast gelächelt. Mygale ging hinaus. Du wusstest nicht, was du von dieser neuen Nähe halten solltest, die eine Revolution in eurer Beziehung war. Doch solche schwierigen Überlegungen waren beängstigend und hätten einer geistigen Anstrengung bedurft, zu der dir seit langem die Kraft fehlte. Du hast dich wieder an deine Zeichnung gesetzt und nicht weiter darüber nachgedacht.
II
Alex hatte das Puzzle aufgegeben. Er war in den Garten gegangen und schnitzte an einem Holzstück, einer Olivenbaumwurzel. Mit dem Messer höhlte er das trockene Material aus und schälte nach und nach, Schnitt für Schnitt, die ungestalte, aber immer deutlicher erkennbare Form eines Frauenkörpers heraus. Zum Schutz vor der Sonne trug er einen großen Strohhut. Mit einem Bier in der Hand war er so sehr in diese sorgfältige Arbeit vertieft, dass er seine Verletzung nicht mehr spürte. Zum ersten Mal seit langer Zeit war Alex entspannt. Beim Klingeln des Telefons zuckte er heftig zusammen. Fast hätte er sich mit der Spitze seines Taschenmessers verletzt; er ließ das Wurzelstück fallen und hörte wie versteinert das Klingeln. Ungläubig rannte Alex zum Haus und starrte auf das Telefon: Wer konnte wissen, dass er hier war? Er griff nach seinem Revolver, dem Colt des Polizisten, den er abgeknallt hatte. Die Waffe war viel besser als seine eigene… Zitternd nahm er den Hörer ab. Vielleicht war es ein Händler aus dem Dorf, die Post, irgendeine Kleinigkeit, oder jemand hatte sich verwählt… Er kannte die Stimme. Es war der ehemalige Fremdenlegionär, bei dem er sich nach dem Überfall auf die Bankfiliale versteckt hatte. Der Kerl war für eine hübsche Summe bereit gewesen, Alex zu verarzten. Die Kugel, die den Schenkelstrecker durchschlagen und am hinteren Schenkel wieder ausgetreten war, hatte nicht herausoperiert werden müssen. Er hatte Antibiotika und Verbandsmaterial besorgt und die Wunde auf die Schnelle genäht. Es war sehr schmerzhaft, aber der Legionär hatte auf
seine Erfahrung gepocht, dass er danach wieder einigermaßen auf dem Damm wäre. Da Alex steckbrieflich gesucht wurde, kam eine ordentliche Behandlung in einem Krankenhaus nicht in Frage.
Das Gespräch war kurz: Der Besitzer des Hauses war in irgendeine Prostitutionsgeschichte verwickelt, innerhalb der nächsten Stunde war mit einer gerichtlichen Hausdurchsuchung zu rechnen. Er riet Alex, so schnell wie möglich zu verschwinden… Alex hielt dies ebenfalls für angebracht und murmelte einige Dankesworte. Der Legionär legte auf. Mit der Waffe in der Hand ging Alex im Kreis. Er heulte vor Wut. Jetzt fing alles wieder von vorn an… die Flucht, die Treibjagd, die Angst davor, geschnappt zu werden, die Panik, sobald irgendein Uniformierter auftauchte. Er suchte eilig seine Sachen zusammen, packte sein Geld in einen Koffer. Er zog den Leinenanzug an, den er in einem Schrank gefunden hatte. Er war ein wenig zu weit, aber darauf kam es jetzt nicht an. Der Verband an seinem Schenkel beulte die Hose aus. Nachdem er sich frisch rasiert hatte, warf er eine Tasche mit Kleidung zum Wechseln und seinen Toilettensachen in den Kofferraum des Wagens. Es war ein Citroën CX, den der Fremdenlegionär für einen Monat gemietet hatte. In dieser Hinsicht sei alles in Ordnung, hatte er behauptet. Nachdem er den Colt im Handschuhfach verstaut hatte, fuhr Alex los und ließ das Tor zu dem umzäunten Grundstück sperrangelweit offen stehen. Unterwegs begegnete ihm die holländische Familie, die vom Strand zurückkehrte.
Auf den Hauptverkehrsstraßen wimmelte es von Touristen und Verkehrspolizisten, die hinter jedem noch so kleinen Busch versteckt auf Verkehrssünder lauerten. Alex war schweißgebadet. Seine falschen Papiere würden keiner noch so oberflächlichen Überprüfung standhalten, denn sein Foto war in der Fahndungskartei. Er musste unverzüglich nach Paris zurückkehren. Dort würde es leichter sein, ein neues Versteck zu finden und abzuwarten, bis Gras über die Sache gewachsen und seine Wunde gänzlich verheilt wäre. Dann würde es an der Zeit sein, zu überlegen, wie er das Land verlassen könnte, ohne an der Grenze geschnappt zu werden. Wohin sollte er gehen? Alex hatte keine Ahnung… Er erinnerte sich an kurze Gespräche, die er bei Treffen mit seinen »Freunden« mitbekommen hatte. In Südamerika war man angeblich sicher. Doch er durfte keinem trauen. Sein Reichtum war für viele nur allzu verlockend: Geschwächt, verwundet, angsterfüllt und in eine Geschichte verwickelt, die eine Nummer zu groß für ihn war, ahnte er dunkel, dass die Zukunft möglicherweise nicht rosig sein könnte. Schon beim bloßen Gedanken an das Gefängnis fuhr ihm der Schreck in alle Glieder. Der Tag, als Vincent ihn in Paris zum Palais de Justice geschleppt hatte, um einen Strafprozess zu verfolgen, war eine seiner schrecklichsten Erinnerungen, und sie verfolgte ihn erbarmungslos: Bei der Urteilsverkündung hatte der Angeklagte jämmerlich zu heulen begonnen. In seinen schlimmsten Alpträumen sah Alex immer wieder dieses von Schmerz und Ungläubigkeit verzerrte Gesicht. Er schwor sich, immer eine Kugel aufzubewahren für den Fall, dass sie ihn erwischen würden.
Er mied Autobahnen und Hauptverkehrsstraßen, die zur Ferienzeit zweifellos von einer Armee von Verkehrspolizisten überwacht wurden, und erreichte Paris über kleine Landstraßen. Er hatte nur eine Anlaufstelle, den ehemaligen Fremdenlegionär, der jetzt für eine private Wach- und Schließgesellschaft arbeitete und der ihm bereits bei seiner verzweifelten Flucht nach dem Debakel in der Bank weitergeholfen hatte. Alex machte sich keine Illusionen über die Selbstlosigkeit dieses Helfers: Er schielte nach dem Geld, hatte es aber nicht allzu eilig mit der Auszahlung. Wenn über die Sache erst einmal Gras gewachsen wäre, wenn man die Scheine tatsächlich in Umlauf bringen könnte, würde noch Zeit genug sein… Der Legionär wusste genau, dass Alex ihm ausgeliefert war, sowohl, was die Behandlung seiner Verletzung, als auch, was seine Flucht ins Ausland anbelangte. So unübersichtlich sein neues Leben auch war, Alex würde nicht über die Grenze gehen, um geradewegs Interpol in die Arme zu laufen… Alex hatte keine Verbindung zu einem internationalen Netz, das die nötigen Sicherheitsgarantien bot. Und er sah den Augenblick kommen, an dem sein Mentor ihm den Preis für ein einwandfreies Untertauchen, einen glaubwürdigen Pass und einen ruhigen und verschwiegenen Zielort nennen würde: einen hohen Anteil an der Beute des Überfalls. Alex verspürte einen unüberwindlichen Hass gegen alle Leute, die sich ihres Wohlstands in ihren maßgeschneiderten, eleganten Anzügen erfreuten und sich bei Frauen auskannten: Er war der Bauerntölpel geblieben, mit dem man nach Belieben umspringen zu können glaubte. Er fand Unterschlupf in einem kleinen Einfamilienhaus im Speckgürtel von Paris, in Livry-Gargan, einer Wohnsiedlung, die zum Département Seine-Saint-Denis gehörte. Nachdem er
ihn dorthin gebracht hatte, befahl ihm der Fremdenlegionär, sich nicht zu rühren, und wie zuvor auf dem Bauernhof hatte Alex einen randvoll gefüllten Kühlschrank, ein Bett und ein Telefon vorgefunden. Er richtete sich ein, so gut er konnte, nutzte aber nur ein Zimmer. Die Nachbarhäuser standen teilweise leer – zu vermieten – oder waren von Bankangestellten mit regelmäßigem Lebensrhythmus bewohnt, die morgens früh aufstanden und erst am Abend nach Hause zurückkehrten. Zudem war der Vorort wegen der Ferienzeit seit Anfang August entvölkert. Alex machte es sich ungeniert bequem, die Leere um ihn herum beruhigte ihn ein Stück weit. Der Fremdenlegionär beharrte darauf, dass er sich im Haus einschloss. Er selbst fuhr für einige Wochen ins Ausland. Er würde seinen Schützling erst Wiedersehen, wenn er zurückkehrte. Alex solle sich also still verhalten und bis September warten. Fernsehen, tiefgekühltes Essen zubereiten, Schlafen und Patiencen waren sein einziger Zeitvertreib…
III
Richard Lafargue empfing den Vertreter eines pharmazeutischen Unternehmens aus Japan, das einen neuen Typ von Silikon entwickelt hatte, wie es in der plastischen Chirurgie üblicherweise für Brustprothesen verwendet wurde. Er hörte aufmerksam zu, als der kleine Klinkenputzer sein Angebot rühmte, da es angeblich leichter zu spritzen und zu handhaben war… Der Japaner war Feuer und Flamme für sein Produkt. Richard wurde am Telefon verlangt. Sein Gesicht verdüsterte sich, seine Stimme wurde dumpf, zitterte. Er dankte seinem Gesprächspartner für den Anruf, dann entschuldigte er sich bei dem Vertreter dafür, dass er ihn nun verabschieden müsse. Sie verabredeten einen neuen Termin für den folgenden Vormittag. Lafargue zog seinen Arztkittel aus und lief zu seinem Mercedes. Roger schickte er nach Hause, er wollte lieber selbst fahren.
Er raste in Richtung Périphérique und fuhr dann auf die Autobahn in Richtung Normandie. Er drückte aufs Gas, hupte wütend, wenn ein Wagen nicht schnell genug auf die rechte Spur wechselte, damit er überholen konnte. Er brauchte weniger als drei Stunden, bis er in der psychiatrischen Anstalt eintraf, in der Viviane lebte. Vor dem Schloss sprang er aus dem Mercedes und nahm in Riesenschritten die Treppenstufen zur Rezeption. Die Empfangsdame holte den Psychiater, der Viviane behandelte.
Mit ihm zusammen stieg Richard in den Aufzug und ging zur Tür des Krankenzimmers. Der Psychiater deutete mit der Hand auf das Sichtfenster aus Plexiglas. Viviane hatte einen Anfall. Sie zerriss ihr Hemd und stampfte heulend mit den Füßen auf, wobei sie sich die Haut aufkratzte, die schon blutige Striemen aufwies. »Seit wann?«, brachte Richard keuchend hervor. »Seit heute Morgen… Wir haben ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, sie dürfte bald Wirkung zeigen.« »Sie sollten sie nicht in diesem Zustand lassen. Verdoppeln Sie die Dosis. Das arme Kind…« Seine Hände zitterten. Er drückte die Stirn an die Zimmertür, biss sich in die Oberlippe. »Viviane, meine Kleine… Viviane… Öffnen Sie, ich will zu ihr.« »Davon raten wir ab: Der Anblick eines anderen Menschen bringt sie noch mehr in Rage«, wandte der Psychiater vorsichtig ein. Erschöpft und ausgelaugt kauerte Viviane in einer Ecke des Zimmers und kratzte sich mit ihren Nägeln, obgleich sie kurz geschnitten waren, blutige Wunden ins Gesicht. Richard trat ins Zimmer, setzte sich auf das Bett und begann auf Viviane mit sanfter Stimme einzureden. Sie heulte wieder, tobte aber nicht mehr. Sie war außer Atem, ihre irren Augen bewegten sich in alle Richtungen, sie zog die Lippen hoch, zischte etwas zwischen den Zähnen hindurch. Allmählich beruhigte sie sich, ihr Atem wurde gleichmäßig. Lafargue konnte sie in die Arme nehmen und sie wieder ins Bett bringen. Er saß neben ihr, hielt ihr die Hand, streichelte ihre Stirn, küsste sie auf die Wangen. Der Psychiater blieb in der Tür stehen, die Hände in die Taschen seines Kittels vergraben. Er näherte sich Richard, nahm ihn am Arm. »Kommen Sie…«, sagte er, »sie muss jetzt allein sein.«
Sie kehrten ins Erdgeschoss zurück und gingen Seite an Seite einige Schritte durch den Park. »Es ist furchtbar…«, sagte Lafargue. »Ja… Sie sollten nicht so häufig kommen; es hilft ihr nicht, und Sie leiden nur darunter. « »Nein! Ich muss sie besuchen!« Der Psychiater schüttelte den Kopf; er begriff nicht, warum Richard unbedingt darauf bestand, dieses jammervolle Schauspiel mit anzusehen. »Nein… ich komme wieder! Jedes Mal!«, beharrte Lafargue. »Sie rufen mich an, nicht wahr?« Seine Stimme war gebrochen, er weinte. Er gab dem Arzt die Hand und ging zu seinem Wagen.
Auf der Rückfahrt nach Le Vésinet fuhr Richard noch schneller. Der Anblick Vivianes verfolgte ihn. Das Bild ihres wunden und besudelten Körpers – ein Wirklichkeit gewordener Alptraum, der ihn quälte… Viviane! Mit einem langen Aufheulen, das die Musik des Orchesters übertönte, hatte alles begonnen, dann hatte er Viviane gesehen, mit zerrissenen Kleidern, blutverschmierten Schenkeln, verstörtem Blick… Line hatte frei. Aus dem ersten Stock hörte er Klavierspiel. Er lachte laut, ging zur Sprechanlage und brüllte hinein: »Guten Abend! Mach dich zurecht, du sollst mich ablenken!« Die in die Wände des Boudoirs eingelassenen Lautsprecher vibrierten. Er hatte die höchste Lautstärke eingestellt. Der Lärm war nicht auszuhalten. Ève bekam vor Schreck Schluckauf. Diese verdammte Anlage war die einzige von Lafargues Perversionen, an die sie sich nicht hatte gewöhnen können.
Er fand sie zusammengesunken am Klavier sitzend, die Hände gegen die schmerzenden Ohren gepresst. Mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen und einem vollen Glas Scotch in der Hand blieb er im Türrahmen stehen. Sie wandte sich ihm zu, war entsetzt. Sie wusste, was diese Krisen bedeuteten, die ihn zu einem solchen Auftritt bewegten: Im vergangenen Jahr hatte Viviane insgesamt drei solcher Anfälle von Selbstzerstörung gehabt. Richard traf es zutiefst, er konnte es nicht ertragen. Er musste sein Leid lindern. Ève lebte nur, damit diese Mission erfüllt wurde. »Los, mach schnell, du Schlampe!« Er hielt ihr den Scotch hin, und als sie das Angebot ausschlug, packte er die junge Frau an den Haaren und riss ihren Kopf nach hinten. Sie musste das Glas in einem Zug leeren. Er packte sie am Handgelenk, zog sie ins Erdgeschoss, stieß sie auf den Rücksitz des Wagens. Es war zwanzig Uhr, als sie das Studio in der Rue Godot-deMauroy betraten. Mit einem Fußtritt in die Nieren beförderte er sie auf das Bett. »Zieh dich aus, schnell!« Ève zog sich nackt aus. Er öffnete den Schrank, warf die Kleider wahllos auf den Teppich. Sie stand vor ihm und weinte leise. Er reichte ihr den Lederrock, die Korsage, die Stiefel. Sie zog sich an. Dann deutete er auf das Telefon. »Ruf Varneroy an!« Ève zögerte einen Augenblick, schluchzte vor Abscheu, doch Richards Blick war schrecklich, dämonisch; sie musste den Hörer nehmen und die Nummer wählen. Nach kurzer Wartezeit nahm Varneroy ab. Er erkannte sofort Èves Stimme. Richard blieb hinter ihr stehen, jeden Augenblick bereit, ihr ins Gesicht zu schlagen.
»Liebste Ève«, gurrte die näselnde Stimme, »haben Sie sich von unserem letzten Treffen erholt? Und jetzt brauchen Sie Geld? Wie nett, dass Sie an den alten Varneroy denken!« Ève verabredete sich mit ihm. Hocherfreut kündigte er an, er werde in knapp einer halben Stunde da sein. Varneroy war ein Verrückter, den Ève eines Nachts auf dem Boulevard des Capucines »aufgegabelt« hatte, zu der Zeit, als Richard sie noch zwang, ihre Freier auf der Straße zu suchen. Seitdem waren sie zahlreich genug, um die Darbietungen zu gewährleisten, die Lafargue alle zwei Wochen von ihr forderte; und so konnte sich Richard immer diejenigen unter den Anrufern aussuchen, die sein Bedürfnis nach Erniedrigung der jungen Frau am besten befriedigten. »Strengen Sie sich an und seien Sie gut…«, höhnte er. Dann schlug er die Tür hinter sich zu und war verschwunden. Sie wusste, dass er sie jetzt hinter dem Einwegspiegel beobachtete. Die Behandlung, die Varneroy ihr zudachte, war von einer Art, die gewisse zeitliche Abstände zwischen seinen Besuchen erforderlich machte. Ève empfing ihn deshalb nur nach den Anfällen Vivianes. Varneroy akzeptierte die Zurückhaltung der jungen Frau ohne Wenn und Aber, und nachdem er mehrmals auf seine kurzfristigen Anrufe hin abgewiesen worden war, hatte er sich damit zufriedengegeben, Ève eine Nummer zu hinterlassen, unter der sie ihn erreichte, wenn sie bereit war, sich seinen Neigungen hinzugeben. Varneroy traf völlig aufgekratzt ein. Er war ein kleiner Mann mit rosiger Haut und einem Schmerbauch, gepflegt und liebenswürdig. Er nahm seinen Hut ab, hängte sorgfältig seine Jacke auf und küsste Ève auf beide Wangen, bevor er seine Umhängetasche öffnete und die Peitsche herausholte.
Richard beobachtete dieses Spektakel mit Genugtuung, seine Hände krallten sich in die Armlehnen des Schaukelstuhls, es zuckte in seinem Gesicht. Unter Varneroys Kommando führte Ève einen grotesken Tanz auf. Die Peitsche knallte. Richard lachte schallend, aber dann überkam ihn plötzlich Übelkeit, er konnte das Schauspiel nicht länger ertragen. Ève gehörte ihm, er hatte ihr Schicksal geformt, ihr Leben gestaltet. Ihre Qual erfüllte ihn mit Ekel und Mitleid. Varneroys feixendes Gesicht schmerzte ihn so sehr, dass er aufsprang und nach nebenan stürmte. Mit offen stehendem Mund und erhobenem Arm hielt Varneroy verdutzt inne. Lafargue riss ihm die Peitsche aus der Hand, packte ihn am Kragen und warf ihn hinaus. Der Mann verstand die Welt nicht mehr und rannte, ohne seine Habseligkeiten zurückzufordern, stumm vor Schreck die Treppe hinunter.
Richard und Ève blieben allein zurück. Sie war auf die Knie gefallen. Richard half ihr, sich aufzurichten und zu waschen. Sie schlüpfte in das Sweatshirt und die Jeans, die sie getragen hatte, als Richards Gebrüll aus der Sprechanlage sie überrascht hatte. Wortlos fuhr er sie in die Villa zurück, entkleidete sie und legte sie auf das Bett. Mit überaus sanften, zärtlichen Gesten strich er Salbe auf ihre Wunden und brachte ihr heißen Tee. Er stützte sie, führte die Tasse an ihre Lippen und ließ sie kleine Schlucke trinken. Dann zog er die Bettdecke über ihre Brust, streichelte ihr Haar. Der Tee enthielt ein Schlafmittel, und es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war. Er verließ das Zimmer und ging in den Park zum Teich. Die Schwäne schliefen Seite an Seite, steckten die Köpfe unter die
Flügel, das zierliche Weibchen schmiegte sich an den kräftigeren Leib des Männchens. Er bewunderte ihren Frieden, beneidete sie um diese unbeschwerte Ruhe. Er weinte. Jetzt, nachdem er Ève aus Varneroys Händen gerettet hatte, begriff er, dass dieses Mitleid – er nannte es Mitleid – seinen Hass gebrochen hatte. Aber dieser grenzenlose, unmäßige Hass war das Einzige, wofür er lebte.
Mygale spielte häufig Schach mit dir. Die Vogelspinne überlegte immer lange, dann wagte sie einen Zug, mit dem du nie gerechnet hättest. Manchmal griff sie dich unvorbereitet an, ohne darauf zu achten, ob ihre Figuren gedeckt waren, sie folgte einem plötzlichen Impuls, machte trotzdem keinen Fehler. Eines Tages entfernte Mygale die Ketten und stellte ein Sofa dorthin, wo dein Lager war. Du hast darauf geschlafen, den ganzen Tag auf seidenweichen Kissen herumgelümmelt. Die schwere Kellertür blieb aber weiterhin fest verriegelt… Mygale bot dir Süßigkeiten an, amerikanische Zigaretten, er erkundigte sich nach deinen musikalischen Vorlieben. Eure Gespräche wurden lockerer. Humorvolles Geplapper. Er hatte dir einen Videorecorder geschenkt und brachte Filme mit, die ihr euch zusammen angesehen habt. Er kochte Tee, servierte dir Früchte- und Kräutertees, und wenn du depressiver Stimmung warst, öffnete er eine Flasche Champagner. Kaum waren die Gläser geleert, füllte er sie wieder. Du warst nicht mehr nackt: Mygale hatte dir eine bestickte Stola geschenkt, ein wunderschönes Tuch in einer luxuriösen Verpackung. Mit deinen dünnen Fingern hattest du es aus dem Papier gewickelt. Dieses Geschenk war eine große Freude für dich.
In das Tuch eingehüllt, hast du dich auf den Kissen zusammengerollt und Zigaretten geraucht oder leckere Bonbons gelutscht, während du auf den täglichen Besuch von Mygale gewartet hast, der nie mit leeren Händen kam. Seine Großzügigkeit schien keine Grenzen mehr zu kennen. Eines Tages ging die Kellertür auf. Unter großen Mühen schob er ein riesiges Paket auf Rollen vor sich her. Er blickte stolz auf das Seidenpapier, das rosarote Geschenkband, den Blumenstrauß und lächelte… Dann hat er dir das Datum genannt: der 22. Juli. Seit zehn Monaten warst du jetzt sein Gefangener. Du warst einundzwanzig geworden… Freudig bist du um das große Geschenk getanzt, hast lachend in die Hände geklatscht. Mygale half dir, das Geschenkband zu lösen. Du hast die Form sofort erkannt: Es war ein Klavier, ein Steinway. Du hast dich auf den Hocker gesetzt und zu spielen begonnen. Zuerst waren deine Finger noch ungelenk, doch allmählich kehrte das Gefühl zurück. Dein Spiel war alles andere als brillant, aber du weintest vor Freude… Und du, ja du, Vincent Moreau, das Haustier dieses Ungeheuers, der Hund der Vogelspinne, der Affe oder der Wellensittich, du hast Mygale, hast dem, der dich gebrochen hat, die Hand geküsst und glücklich gelacht. Er hat dich zum zweiten Mal geohrfeigt.
Alex langweilte sich zu Tode in seinem Versteck. Schläfrig, mit verquollenen Augen, verbrachte er die Tage vor dem Fernseher. Er vermied jeden Gedanken an die Zukunft und beschäftigte sich, so gut er konnte. Anders als auf dem Bauernhof erledigte er mit hingebungsvoller Sorgfalt den Haushalt, spülte sogar ab. Alles war tadellos sauber. Stundenlang bohnerte er das Parkett, scheuerte er die Töpfe.
Sein Schenkel tat ihm kaum noch weh. Die Wunde vernarbte mit einem quälenden Juckreiz, aber die Schmerzen waren verschwunden. Statt mit einem Verband war sie nur noch mit einer Kompresse bedeckt. Nach ungefähr zehn Tagen in seinem Versteck hatte Alex eines Abends einen genialen Einfall, zumindest war er davon überzeugt. Er sah sich ein Fußballspiel im Fernsehen an. Mit Ausnahme von Karate hatte er sich nie besonders für Sport interessiert. Die einzigen Zeitschriften, die er für gewöhnlich las, waren Fachblätter für Kampfsportarten. Er sah zu, wie der Ball über das Spielfeld geschossen wurde, döste mit offenen Augen, schlürfte einen Rest Wein. Als das Fußballspiel zu Ende war, blieb er liegen und ließ den Fernseher weiterlaufen. Es folgte eine Ratgebersendung zum Thema Plastische Chirurgie. Eine Reportage berichtete über Lifting und Gesichtschirurgie. Dann folgte ein Interview mit dem Leiter einer Station für Plastische Chirurgie an einem Pariser Krankenhaus: Professor Lafargue. Wie versteinert lauschte Alex seinen Ausführungen. »Die zweite Phase«, erklärte Lafargue mit Hilfe einer Skizze, »besteht aus einem Eingriff, den wir ›Abschaben‹ der Knochenhaut nennen. Es handelt sich um einen wichtigen Zwischenschritt. Ziel ist, wie Sie hier sehen können, der Anschluss der Knochenhaut an das Unterhautfettgewebe, damit dieses neu fixiert werden kann… « Über den Bildschirm flimmerten Bilder von veränderten, wiederhergestellten, neu geformten, verschönerten Gesichtern. Die Patienten waren nicht wiederzuerkennen. Alex verfolgte aufmerksam die Ausführungen und ärgerte sich darüber, dass er einige Fachbegriffe nicht verstand… Als der Nachspann kam, notierte sich Alex den Namen des Arztes – Lafargue – und des Krankenhauses, in dem er arbeitete.
Das Foto auf seinem Ausweis, die eigennützige Gastfreundschaft des Fremdenlegionärs, sein auf dem Dachboden des Hauses verstecktes Geld… langsam, aber sicher fügte sich alles zusammen! Der Kerl im Fernsehen hatte behauptet, eine Korrektur der Nase sei ein harmloser Eingriff, genauso wie das Absaugen von Fettgewebe in bestimmten Gesichtszonen… Mit dem Skalpell konnte eine Falte sozusagen ausradiert werden! Alex ging ins Badezimmer, betrachtete sich im Spiegel. Er tastete sein Gesicht ab, den Wulst auf der Nase, die viel zu runden Wangen, das Doppelkinn… Es war ganz einfach! Der Arzt hatte von zwei Wochen gesprochen – in zwei Wochen hat man ein neues Gesicht! –, ein Gesicht verschwindet und ein anderes ersteht. Nein, ganz so einfach war es nicht: Erst müsste der Arzt davon überzeugt werden, ihn zu operieren, einen von der Polizei gesuchten Mörder… Dazu bedurfte es eines ausreichend starken Druckmittels, damit er schwieg, die Operation kunstgerecht ausführte und ihn ziehen ließ, ohne die Polizei zu verständigen. Ein Druckmittel… Vielleicht war Lafargue verheiratet, hatte Kinder? Wieder und wieder las Alex auf dem Notizzettel Richards Namen, die Anschrift des Krankenhauses… Je länger er darüber nachdachte, desto mehr begeisterte ihn sein Einfall: Mit einer Veränderung seines Gesichts würde sich seine Abhängigkeit von dem Fremdenlegionär erheblich verringern. Die Polizei würde ein Phantom jagen, einen Alex Barny, den es nicht mehr gab; es würde viel einfacher sein, außer Landes zu kommen! In dieser Nacht schlief Alex nicht. Am nächsten Tag stand er im Morgengrauen auf, beeilte sich im Bad, schnitt sich das Haar und bügelte sorgfältig den Anzug und das Hemd, die er
von dem Bauernhof mitgenommen hatte. Der CX stand in der Garage…
Mygale war entzückend. Seine Besuche dehnten sich aus. Er brachte dir Zeitungen, nahm häufig die Mahlzeit mit dir ein. Im Keller herrschte eine stickige Hitze – es war August –, er stellte einen Kühlschrank auf, den er regelmäßig mit Obstsäften auffüllte. Zu deiner Garderobe waren ein leichter Morgenrock und Pantoffeln hinzugekommen.
Im Herbst begann Mygale damit, dich zu spritzen. Er kam mit der Spritze in der Hand zu dir. Auf seine Anordnung hin hast du dich auf das Sofa gelegt und dein Hinterteil entblößt. Ein kurzer Stich mit der Nadel in die Fettschicht deines Hinterns, und schon war die durchsichtige, leicht rosa gefärbte Flüssigkeit, die du in der Spritze gesehen hattest, in dir. Mygale ging sehr vorsichtig vor und achtete darauf, dir nicht weh zu tun, aber das Serum war nach der Injektion ziemlich schmerzhaft. Dann verteilte es sich in deinem Gewebe, und der Schmerz verschwand. Du hast Mygale nicht gefragt, was er da behandelte. Du warst vollauf beschäftigt mit deinen Zeichnungen, dem Klavier, und diese intensive künstlerische Beschäftigung füllte dich aus. Was bedeuteten schon die Spritzen, wo Mygale doch so zuvorkommend war. Beim Klavierspielen hast du schnell Fortschritte gemacht. Mygale bemühte sich sehr und verbrachte Stunden mit der Suche nach Partituren in Musikalienhandlungen und Kunstantiquariaten. Im Keller stapelten sich die Handbücher und Kunstbände, die dir als Vorlage dienten.
Eines Tages hast du ihm gestanden, welchen furchteinflößenden Namen du ihm gegeben hattest. Ihr wart gerade beim Essen. Der Champagner war dir ein wenig in den Kopf gestiegen. Rot vor Verlegenheit, hast du ihm dein Vergehen gebeichtet – du hast »mein Vergehen« gesagt –, und er hat sich nachsichtig gezeigt, hat gelächelt. Die Spritzen hast du weiterhin regelmäßig bekommen. Eine kleine Unannehmlichkeit in deinem müßigen Leben.
Zu deinem zweiundzwanzigsten Geburtstag hat er den Keller möbliert. Der Scheinwerfer verschwand, er wurde durch eine Schirmlampe ersetzt, die ein mildes Licht verströmte. Zu dem Sofa kamen Sessel, ein Couchtisch, Sitzkissen. Ein dicker Teppich bedeckte nun den Boden. Vor geraumer Zeit schon hatte Mygale eine Duschkabine mit Falttür in eine Ecke deines Verlieses eingebaut. Ein CampingWaschbecken sowie eine chemische Toilette machten die Ausstattung komplett. Sogar an einen Vorhang hatte Mygale gedacht, um dein Schamgefühl zu achten. Du hast den Frisiertisch ausprobiert und an der Farbe der Handtücher herumgemäkelt. Mygale hat sie ausgetauscht. Eingeschlossen in deinem engen Verlies, hast du von Weite, von Wind geträumt. Du hast Fenster auf die Wände gemalt, die trügerisch echte Ausblicke gewährten. Rechts eine in Sonnenlicht getauchte Gebirgslandschaft, die mit dem weißen Funkeln des ewigen Schnees bedeckt war. Ein Halogenspot, der auf die Gipfel gerichtet war, überzog diese scheinbare Öffnung zur Außenwelt mit einer blendenden Helligkeit. Links an der Wand hast du in Blau schäumende Wellen nachgebildet. Die orangeroten Töne eines glühenden Abendhimmels ganz hinten, eine sehr gelungene Täuschung, erfüllten dich mit Stolz.
Zusätzlich zu den Spritzen gab Mygale dir verschiedene Medikamente, bunte Pillen, geschmacklose kleine Lutschbonbons, Ampullen, die du trinken musstest. Die Etiketten waren von den Verpackungen abgerissen worden… Mygale fragte dich, ob du dir Sorgen machen würdest? Du hast mit den Schultern gezuckt und gesagt, du habest Vertrauen zu ihm. Mygale streichelte deine Wange. Da hast du seine Hand in deine genommen, um ihm einen Kuss auf die Handfläche zu geben. Er erstarrte, einen Augenblick lang dachtest du, er würde dich erneut ohrfeigen, aber seine Gesichtszüge lösten sich wieder, und er überließ dir seine Hand. Du hast dich umgedreht, damit er die Freudentränen nicht sah, die in deine Augenwinkel stiegen…
Deine Haut war fahl, weil du ohne Tageslicht lebtest. Mygale stellte eine Sonnenbank bei dir auf, und du hast Sonnenbäder genommen. Du warst glücklich, als dein Körper eine kupferbraune Farbe annahm, du hattest keine Streifen und hast diese eindrucksvolle Wandlung deinem Freund gezeigt, du warst glücklich, wenn er ebenfalls seine Zufriedenheit erkennen ließ. Tage, Wochen, Monate vergingen in scheinbarer Monotonie, doch tatsächlich waren die Glücksmomente zahlreich und tief: Die Lust, die du am Klavier oder beim Zeichnen empfunden hast, erfüllte dich mit Freude. Jegliches sexuelle Verlangen in dir war erloschen. Äußerst verlegen hast du dich bei Mygale danach erkundigt. Er gab zu, dass dein Essen entsprechende Stoffe enthielt. Damit du dich nicht quälen musst, meinte Mygale, denn außer mir siehst du ja niemanden. Ja… das konntest du gut verstehen. Er hat dir versprochen, dass du bald herauskommen und ohne diese Mittel auch bald wieder Lust empfinden würdest.
Wenn du nachts in deinem Verlies allein warst, hast du manchmal dein schlaffes Glied gestreichelt, doch die Enttäuschung, die du dabei empfandest, verging bei dem Gedanken an dein baldiges »Herauskommen«. Mygale hatte es versprochen, du brauchtest dir also keine Sorgen zu machen…
IV
Alex machte sich auf den Weg nach Paris; er fuhr vorsichtig und hütete sich, auch nur die kleinste Verkehrssünde zu begehen. Er hatte lange überlegt, ob er den Bus oder die Métro nehmen sollte, aber das war keine gute Idee: Lafargue war ganz bestimmt mit dem Auto unterwegs, und dem musste er folgen können. Alex parkte auf der Straßenseite gegenüber dem Eingang des Krankenhauses. Es war noch früh am Morgen. Zwar konnte sich Alex denken, dass der Arzt nicht im Morgengrauen zum Dienst kommen würde, doch er musste zuerst das Terrain sondieren, auf dem er sich bewegte… Auf einem großen Schild an der Mauer dicht neben dem Eingangstor war aufgelistet, welche Abteilungen das Krankenhaus hatte und wie die Ärzte hießen. Auch Lafargues Name stand auf dem Schild. Alex ging zuerst ein wenig spazieren und setzte sich dann auf eine Caféterrasse, von der aus er den Personaleingang des Krankenhauses mühelos beobachten konnte. Gegen zehn Uhr hielt endlich ein Wagen an der Ampel einige Meter vor der Terrasse, wo Alex wartete: ein Mercedes mit Chauffeur. Alex hatte Lafargue gleich erkannt, der auf dem Rücksitz saß und Zeitung las. Der Mercedes wartete an der Ampel, dann bog er in die Allee ein, die zum Parkplatz des Krankenhauses führte. Alex sah Lafargue aussteigen. Der Chauffeur wartete eine Zeitlang im Auto, da es jedoch sehr heiß war, setzte er sich schließlich ebenfalls auf die Terrasse des Cafés.
Roger bestellte ein Glas Bier. Sein Chef hatte heute einen wichtigen Eingriff vor und wollte anschließend sofort vom Krankenhaus zu einer Sitzung in seine Klinik nach Boulogne fahren. Lafargues Wagen war im Département 78, Les Yvelines, zugelassen. Alex kannte die Kennzeichen aller Départements auswendig. Außerdem hatte er sich in der Einsamkeit auf dem Gehöft die Zeit damit vertrieben, sich alle Nummern der Reihenfolge nach ins Gedächtnis zu rufen und mit den Zahlen zu spielen: In der Zeitung stand, ein Greis von 80 Jahren habe wieder geheiratet – 80? 80 war das Département Somme… Der Chauffeur schien es nicht eilig zu haben. Er stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch, löste Kreuzworträtsel und war völlig darin vertieft. Alex bezahlte und ging in die Postfiliale neben dem Krankenhaus. Von dort konnte er das Portal zwar nicht sehen, aber es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn sich der Onkel Doktor ausgerechnet in der nächsten Viertelstunde davonmachen würde. Er schlug im Telefonbuch nach. Lafargue war ein häufiger Name, er füllte Seiten… mit oder ohne s, mit einem oder zwei f… Lafargues mit einem f und ohne s gab es nicht so viele. Und es waren noch weniger Ärzte darunter. Im Département 78 genau drei: Einer wohnte in Saint-Germain, der zweite in Plaisir und der dritte in Le Vésinet. Von diesen dreien musste einer der richtige sein. Alex notierte sich die Adressen. Bei seiner Rückkehr ins Café stellte er fest, dass der Chauffeur noch immer wartete. Um die Mittagszeit deckte der Kellner die Tische ein. Er schien mit dem Chauffeur gut bekannt zu sein, denn er fragte ihn, ob er heute im Café essen würde. Roger verneinte. Sein Chef habe es heute eilig, nach Boulogne zu fahren. Sobald er aus dem OP kommen würde, gehe es los.
Tatsächlich tauchte der Chirurg wenig später auf. Er stieg in den Mercedes, der Chauffeur setzte sich ans Steuer. Alex folgte dem Wagen. Sie fuhren von der Innenstadt in Richtung Boulogne. Es war nicht besonders schwierig, ihnen auf den Fersen zu bleiben. Alex kannte ja das ungefähre Fahrziel. Roger parkte vor einer Klinik und vertiefte sich wieder in sein Kreuzworträtsel. Alex notierte sich den Straßennamen auf einem Zettel. Er misstraute seinem Gedächtnis. Die Warterei dauerte ewig. Alex setzte sich in einer Grünanlage auf eine Bank und ließ den Mercedes nicht aus den Augen. Er hatte seinen Wagen offen gelassen, damit er sofort losfahren könnte, wenn der Arzt überraschend auftauchen würde.
Die Sitzung zur Planung der anstehenden Operationen dauerte etwas mehr als eine Stunde. Richard sagte kaum ein Wort. Er war blass, hatte eingefallene Wangen. Seit der Geschichte mit Varneroy lebte er wie ein Automat. Alex war gerade in einen Tabakwarenladen gegangen, um sich einen Vorrat an Zigaretten zu besorgen, als Roger, der Lafargue in der Halle der Klinik erblickt hatte, die Fondtür des Mercedes öffnete. Alex eilte zu seinem CX und fuhr in gebührendem Abstand hinterher. Als er sah, dass der Wagen eindeutig Richtung Le Vésinet fuhr, gab er die Verfolgung auf. Wozu sollte er das Risiko eingehen, entdeckt zu werden, er kannte ja die Adresse. Später fuhr er dorthin. Lafargues Villa war imposant, umgeben von einer Mauer, die den Blick auf die Fassade verwehrte. Alex betrachtete die anliegenden Häuser. Die Straße war menschenleer. Die Sache duldete keinen Aufschub mehr. Alex bemerkte, dass die Fensterläden der Nachbarvillen geschlossen waren. Im August war Le Vésinet wie ausgestorben… Es war sechzehn Uhr, Alex zögerte. Er wollte
das Anwesen des Arztes noch am selben Abend in Augenschein nehmen, doch er wusste nicht, was er bis dahin tun sollte. Da ihm nichts Besseres einfiel, beschloss er, im nahen Wald von Saint-Germain spazieren zu gehen.
Gegen einundzwanzig Uhr kehrte er nach Le Vésinet zurück und parkte seinen CX in angemessener Entfernung zu der Straße, in der Lafargue wohnte. Die Abenddämmerung war schon angebrochen, aber man sah noch alles deutlich. Er kletterte auf die Mauer einer benachbarten Villa, um in den Park blicken zu können, der Lafargues Haus umgab. Gut getarnt vom dichten Blattwerk einer Rosskastanie, deren Krone in alle Richtungen ausgriff, setzte er sich rittlings auf die Mauer. Von weitem konnte ihn niemand sehen, und wenn jemand auf der Straße vorbeikäme, würde er ganz zwischen den Zweigen verschwinden. Er sah den Park, den Teich, die Bäume, den Swimming-Pool. Lafargue aß im Freien zu Abend, eine Frau leistete ihm Gesellschaft. Alex grinste. Keine schlechte Entdeckung für den Anfang. Ob sie auch Kinder hatten? Nein… dann würden sie mit ihren Eltern essen. Vielleicht waren sie aber auch in den Ferien. Oder noch klein und schliefen bereits. Lafargue war in den Fünfzigern; wenn er überhaupt Kinder hatte, mussten sie zumindest halbwüchsig sein… und dann waren sie an einem solchen Sommerabend nicht schon um zehn Uhr im Bett! Außerdem brannte kein einziges Licht im Haus, weder im Erdgeschoss noch im ersten Stock. Nur eine schwache Gartenlaterne neben dem Tisch, an dem das Ehepaar Platz genommen hatte, spendete spärliches Licht. Zufrieden verließ Alex seinen Beobachtungsposten und sprang auf den Bürgersteig. Er verzog das Gesicht: Sein noch sehr empfindliches Bein quittierte die sportliche Übung mit
einem stechenden Schmerz. Er kehrte zu seinem CX zurück, um dort den Einbruch der Nacht abzuwarten. Nervös rauchte er eine Zigarette nach der anderen, zündete jede neue an der Glut der alten an. Um zweiundzwanzig Uhr dreißig kehrte er zu der Villa zurück. Die Straße war noch immer so leer wie zuvor. In der Ferne ertönte eine Autohupe. Er ging die Mauer um Lafargues Anwesen entlang. Ganz am Ende stieß er am Bürgersteig auf eine große Holzkiste, in der Schaufeln, Rechen und andere Geräte des Straßenbauamts lagerten. Er kletterte auf die Kiste, setzte die Hände auf die Mauer, hievte sich hoch und landete mit einem kalkulierten Sprung im Park. Hinter einem Busch kauernd, wartete er: Wenn es einen Hund gäbe, würde er gleich losbellen. Aber es tat sich nichts… Er musterte die Sträucher ringsum, während er an der Mauer entlangschlich. Er suchte nach einer Stelle im Park, von wo aus er auf dem Rückweg die Mauer überwinden könnte… Eine künstliche Grotte beim Teich diente den Schwänen als Nachtlager. Sie war an die Mauer gebaut und erreichte eine Höhe von mehr als einem Meter. Alex grinste und probierte sie aus. Es war ein Kinderspiel, zurück auf die Straße zu gelangen. Beruhigt ging er weiter in den Park hinein und umrundete das Schwimmbecken. Lafargue hatte sich ins Haus zurückgezogen, niemand hielt sich mehr im Garten auf. Im oberen Stockwerk fiel Licht durch die geschlossenen Fensterläden. Leise Musik drang aus den Fenstern. Klaviermusik… Es war keine Schallplatte; das Stück brach ab und setzte dann wieder ein. Auf der anderen Hausseite waren die Fenster erleuchtet. Alex presste sich an die Hauswand, suchte Deckung unter dem Efeu, das die Fassade bedeckte: Auf eine Balustrade im ersten Stock gelehnt, betrachtete Lafargue den Himmel. Alex hielt den Atem an. Etliche Minuten verrannen so, schließlich schloss der Arzt das Fenster.
Alex zögerte einen Moment: Sollte er es riskieren und in das Haus eindringen oder nicht? Ja, er wollte sich wenigstens einen ungefähren Eindruck von den Räumen verschaffen, damit er wusste, was ihn erwartete, wenn er die Frau des Chirurgen kidnappen würde. Das Haus war groß, und aus allen Fenstern im oberen Stockwerk drang Licht. Lafargue und seine Frau mussten getrennte Schlafzimmer haben. Alex wusste Bescheid: In der Bourgeoisie hielt man es oft so! Mit dem Colt in der Hand stieg er die Stufen der Außentreppe hinauf, drehte den Türknauf. Kein Widerstand. Sanft drückte er die Flügeltür auf. Er trat einen Schritt ins Haus. Ein großes Zimmer links, ein anderes rechts, dazwischen eine Treppe… Das Zimmer der Frau lag wohl auf der rechten Seite. Eine reiche Frau steht nicht früh am Morgen auf. Alex müsste nur warten, bis Lafargue weggefahren wäre, und dann zu ihr gehen, um sie noch im Schlaf zu überraschen. Geräuschlos schloss er die Tür. Ebenso leise erreichte er den Teich, kletterte auf die Grotte und sprang über die Mauer. Alles war perfekt. Nein! Nicht alles: Roger, der Chauffeur… Er spielte den Diener, aber vielleicht gab es auch eine Haushälterin? Ein Dienstmädchen bei der Hausarbeit, das passte gar nicht in seine Pläne. Alex fuhr auf die Périphérique, er achtete noch immer peinlich genau darauf, nicht zu schnell zu sein oder sonst wie aufzufallen. Es war Mitternacht, als er in seinem Einfamilienhaus in Livry-Gargan ankam.
Am nächsten Morgen kehrte er in aller Frühe nach Le Vésinet zurück. Aufs Äußerste gespannt, lauerte er vor Lafargues Haus in der festen Überzeugung, dass noch eine Hausangestellte
eintreffen würde. Bei der Entführung von Lafargues Frau durfte es keine Zeugen geben: Angesichts der Forderung – entweder du machst mir ein neues Gesicht, oder ich töte deine Frau – würde der Chirurg kapitulieren, aber wenn noch jemand etwas von der Entführung mitbekommen würde, irgendein Angestellter, ein Gärtner, egal wer, würde er ohne zu zögern die Polizei benachrichtigen, und Alex stünde mit seinem Plan ganz schön im Regen! Alex hatte Glück. Lafargue beschäftigte zwar ein Dienstmädchen, aber Line war zwei Tage zuvor in Urlaub gefahren. Von den fünf Wochen Urlaub, die ihr der Arzt jährlich gewährte, nahm sie drei im Sommer, um ihre Schwester im Morvan zu besuchen, und den Rest im Winter. Den ganzen Vormittag über tauchte niemand bei Lafargue auf. Alex wiegte sich schon halb in Sicherheit und fuhr nach Paris. Er wollte die Arbeitszeit des Chirurgen überprüfen. Vielleicht arbeitete er nicht jeden Tag? Wenn er sich einen freien Tag in der Woche gönnte, musste Alex dies in Erfahrung bringen! Er hatte vor, sich unter irgendeinem Vorwand im Sekretariat von Lafargues Station danach zu erkundigen. Der Chauffeur wartete wie jeden Tag auf der Terrasse der Brasserie gegenüber dem Krankenhaus auf seinen Chef. Alex war durstig und bestellte ein Glas Bier an der Bar. Er hatte gerade zu einem Schluck angesetzt, als er Roger eilig aufstehen sah. Lafargue stand auf dem Parkplatz und rief nach seinem Chauffeur. Sie unterhielten sich kurz, dann gab Roger dem Chirurgen die Schlüssel des Mercedes und ging zu Fuß in Richtung der Métrostation. Alex saß bereits hinter dem Steuer seines CX. Lafargue fuhr wie ein Irrer. Aber nicht in Richtung Boulogne. Überrascht sah Alex ihn in Richtung Périphérique und Autobahn abbiegen.
Die Aussicht, ihm über eine lange Strecke folgen zu müssen, gefiel ihm überhaupt nicht. Ohne die Rücklichter des Mercedes aus den Augen zu lassen, dachte er nach… Lafargue hat Kinder, überlegte er. Ja, sie sind in den Ferien, er hat soeben die Nachricht erhalten, dass eines von ihnen erkrankt ist, und jetzt fährt er hin. Warum hat er früher als sonst zu arbeiten aufgehört und seinen Chauffeur nach Hause geschickt? Vielleicht hat der Dreckskerl eine Geliebte? Ja, das musste es sein… Aber eine Geliebte, die er einfach so, am helllichten Tag, besuchte? Was hatte diese Sache zu bedeuten? Lafargue raste, überholte die Autos eines nach dem anderen. Alex klemmte sich hinter ihn, schweißgebadet aus Angst vor einer Verkehrskontrolle an einer der Mautstellen… Der Mercedes hatte die Autobahn verlassen. Sie fuhren jetzt über eine kurvenreiche Landstraße – kein Grund für den Mercedes, das Tempo zu drosseln. Alex war kurz davor, die Verfolgung abzubrechen, aus Angst, aufzufallen, doch Lafargue schaute nicht ein einziges Mal in den Rückspiegel. Viviane hatte wieder einmal einen Anfall, der Psychiater hatte ihn wie versprochen angerufen. Richard wusste, was dieser Besuch für seine Tochter bedeutete, es war schon der zweite innerhalb von wenigen Tagen… Wenn er an diesem Abend nach Le Vésinet zurückkehren würde, würde er von Ève nicht verlangen, Varneroy anzurufen… Nach all dem, was geschehen war, kam das nicht mehr in Frage! Aber wie sollte er sich dann trösten? Der Mercedes parkte vor dem Tor zu einem Schloss. Eine schlichte Tafel besagte, dass es sich um eine psychiatrische Anstalt handelte. Verblüfft kratzte sich Alex am Kopf. Ohne auf den Psychiater zu warten, ging Richard zu Vivianes Zimmer hinauf. Es war derselbe Anblick wie bei seinem letzten Besuch: Seine Tochter wurde von wilden Zuckungen geschüttelt, stampfte mit den Füßen auf, versuchte sich selbst zu verstümmeln. Er ging nicht zu ihr hinein. Er lehnte mit der
Stirn am Sichtfenster und weinte leise. Der Psychiater, von seinem Eintreffen unterrichtet, eilte zu ihm. Er stützte Lafargue auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss. Sie zogen sich in sein Büro zurück. »Ich werde nicht wiederkommen«, sagte Lafargue. »Es ist zu viel. Ich ertrage es nicht, verstehen Sie?« »Ich verstehe Sie…« »Benötigt sie etwas? Wäsche vielleicht… Irgendetwas…« »Fassen Sie sich, Monsieur Lafargue! Am Zustand Ihrer Tochter wird sich nichts mehr ändern! Halten Sie mich bitte nicht für gefühllos: Sie müssen es akzeptieren, wie es ist. Sie wird noch lange in diesem bedauernswerten Zustand bleiben, unterbrochen von Anfällen wie gerade eben… Wir können ihr Beruhigungsmittel geben, sie mit Neuroleptika vollpumpen, doch im Grunde können wir nichts für sie tun, und Sie wissen das. Wir können nicht wie in der Chirurgie den Krankheitsherd herausschneiden.« Richard hatte sich beruhigt. Nach und nach fasste er sich und wurde kühler. »Ja… Zweifellos haben Sie recht.« »Ich… Ich möchte Sie um Ihre Zustimmung bitten: Gestatten Sie mir, dass ich Sie nicht mehr anrufe, wenn Viviane…« »Ja«, fiel ihm Richard ins Wort, »rufen Sie nicht mehr an… « Er stand auf, verabschiedete sich von dem Psychiater und stieg wieder in seinen Wagen. Alex sah ihn aus dem Schloss kommen. Er folgte ihm nicht. Er war sich zu neunundneunzig Prozent sicher, dass Lafargue entweder nach Le Vésinet, nach Boulogne oder ins Krankenhaus zurückfuhr.
Alex wollte im angrenzenden Ort etwas zu Mittag essen. Auf dem Marktplatz wurden überall Stände aufgebaut. Er dachte nach. Wen besuchte Lafargue dort bei den Verrückten, in
diesem Rattenloch? Wenn es ein Kind war, musste der Chirurg es sehr ins Herz geschlossen haben, sonst würde er nicht einfach seine Arbeit sausen lassen und auf der Fahrt Kopf und Kragen riskieren. Plötzlich hatte er einen Einfall. Er schob seinen noch halbvollen Teller mit fettigen Pommes frites in die Tischmitte und verlangte die Rechnung. Dann ging er über den Markt, kaufte einen großen Blumenstrauß, eine Schachtel Bonbons und fuhr zur Irrenanstalt. In der Halle trat er an die Rezeption. »Möchten Sie einen Patienten besuchen?«, fragte die Empfangsdame. »Äh… ja!« »Den Namen, bitte.« »Lafargue.« »Lafargue?« Sie blickte ihn dermaßen irritiert an, dass Alex befürchtete, einen Fehler begangen zu haben. Vielleicht besuchte Lafargue nur eine Geliebte, die hier als Krankenschwester arbeitete… »Aber… Haben Sie Viviane schon einmal besucht?« »Nein, es ist das erste Mal… Ich bin ihr Cousin.« Die Empfangsdame musterte ihn. Sie zögerte einen Augenblick. »Sie können Sie heute leider nicht besuchen. Es geht ihr nicht gut. Hat Ihnen Monsieur Lafargue nichts davon gesagt?« »Nein, ich sollte… also eigentlich hätte ich schon lange einmal hierher… « »Das verstehe ich nicht: Ihr Vater war erst vor einer knappen Stunde hier, das ist aber auch zu dumm… « »Vermutlich konnte er mich nicht mehr erreichen. Ich bin schon seit heute Morgen unterwegs.«
Die Empfangsdame schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. Dann nahm sie die Blumen und die Bonbons an sich, legte sie auf ihren Schreibtisch. »Ich werde sie ihr später geben, heute hat es keinen Sinn. Kommen Sie.« Sie nahmen den Aufzug. Vor Vivianes Zimmer wies sie auf das Sichtfenster. Als er Viviane erblickte, schreckte Alex zurück. Sie lag in einer Zimmerecke und starrte mit leerem Blick auf die Tür. »Ich kann Sie leider nicht zu ihr lassen, Sie verstehen… « Alex verstand. Er hatte Schweiß an den Händen, und ihm war übel. Er warf noch einen Blick auf die Verrückte und hatte das Gefühl, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber das bildete er sich zweifellos nur ein. Rasch verließ er die Klinik. Selbst wenn Lafargue diese Irre abgöttisch liebte, er könnte sie kaum aus dieser Anstalt entführen. Nein… Er musste Lafargues Frau als Geisel nehmen. So unauffällig wie möglich fuhr er nach Paris zurück. Es war später Abend, als er sein Versteck in Livry-Gargan erreichte.
Am nächsten Morgen bezog er wieder Posten vor Lafargues Villa. Er war angespannt, die ganze Nacht hatte er über seinem Plan gebrütet und sich das Leben nach der Gesichtsoperation ausgemalt. Um acht Uhr kam Roger allein zu Fuß und mit der L’Équipe unter dem Arm. Alex parkte fünfzig Meter vor der Einfahrt. Er wappnete sich mit Geduld, gewöhnlich machte sich Lafargue kurz vor zehn auf den Weg ins Krankenhaus. Um halb zehn fuhr der Mercedes vor. Roger stieg aus dem Wagen, um das schmiedeeiserne Tor zu öffnen, hielt noch
einmal an, um den Torflügel zu schließen. Alex war erleichtert, als er Lafargue davonfahren sah. Das Beste wäre, wenn er die Frau im Schlaf überraschen würde. Er durfte nicht zögern. In den vergangenen Tagen hatte Alex keine weiteren Hausangestellten gesehen, doch man konnte nie wissen… Er parkte seinen Wagen genau vor der Einfahrt zu Lafargues Haus. Dann öffnete er das Gartentor und betrat den Park, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Die Hand in der Jackentasche, ging er zum Haus. Die Fensterläden rechts im oberen Stockwerk waren geschlossen. Alex wunderte sich über ein Detail, das ihm bislang nicht aufgefallen war: Die Fenster waren von außen verriegelt. Dennoch hatte er dort das Licht gesehen, und in jenen Räumen hatte jemand Klavier gespielt. Er zuckte die Schultern und setzte seine Inspektion fort. Inzwischen hatte er das Haus umrundet und stand vor der Eingangstreppe. Er atmete tief durch und öffnete die Tür. Das Erdgeschoss entsprach dem Bild, das er bei seiner abendlichen Erkundung gewonnen hatte: ein großes Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer mit gut gefülltem Bücherschrank, in der Mitte eine Treppe ins obere Stockwerk. Mit dem Revolver in der Hand ging er die Stufen hinauf. Hinter einer Tür mit drei Riegeln hörte er jemanden singen. Alex konnte es kaum fassen, der Arzt war offenbar ebenfalls verrückt. Seine Frau einzusperren… Aber vielleicht war sie ein Flittchen, er würde schon seine Gründe haben… Behutsam schob er den ersten Riegel auf. Die Frau sang noch immer. Dann den zweiten Riegel, den dritten… Und wenn das Türschloss zusätzlich verschlossen war? Sein Herz klopfte, als der Schnapper zurückfuhr. Ohne in den Angeln zu knarren, öffnete sich langsam die Tür.
Die Frau saß am Frisiertisch und schminkte sich. Alex drückte sich an der Wand entlang, damit sie ihn nicht im Spiegel sah. Sie wandte ihm den Rücken zu, nackt, völlig in ihr Make-up vertieft. Sie war schön, besaß eine schlanke Figur, ihre Pobacken waren straff. Alex bückte sich, um seinen Revolver auf den Teppich zu legen. Mit einem Sprung stürzte er sich auf sie und ließ seine Faust auf ihren Nacken niedersausen. Er hatte seine Kraft fachmännisch dosiert. Sie lag reglos auf dem Teppich. Alex zitterte. Er fühlte ihren Puls, hätte sie gern gestreichelt, aber dazu war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Er kehrte ins Erdgeschoss zurück. An der Bar nahm er sich eine Flasche Scotch und trank einen kräftigen Schluck. Er ging zur Toreinfahrt, öffnete sie weit und parkte den CX direkt vor dem Aufgang zum Haus. Dann lief er wieder ins Zimmer hinauf. Die Frau hatte sich nicht bewegt. Er fesselte sie sorgfältig mit einem Strick, den er aus dem Kofferraum des Wagens mitgebracht hatte, klebte ihr den Mund mit Heftpflaster zu und wickelte sie dann in den Bettüberwurf. Er nahm den reglosen Körper der Frau in seine Arme, trug ihn die Treppe hinunter und verstaute ihn im Kofferraum. Dann genehmigte er sich einen zweiten Schluck aus der Whiskyflasche und ließ sie auf dem Boden stehen. Er setzte sich hinters Steuer und fuhr davon. Auf der Straße ging ein altes Ehepaar mit Hund spazieren, doch die beiden beachteten ihn nicht weiter. Er fuhr nach Paris und durchquerte die Stadt von Ost nach West auf dem Weg nach Livry-Gargan. Dabei hatte er ständig den Rückspiegel im Auge. Niemand folgte ihm. Als er ankam, öffnete er den Kofferraum und trug Madame Lafargue, die noch immer in den Bettüberwurf gewickelt war, in den Keller. Um ganz sicherzugehen, band er den Strick an
einer großen, mit Kunststoff überzogenen Motorradkette fest, die an einem Wasserrohr hing. Er löschte das Licht und ging hinauf, um wenig später mit einem Topf voll eiskalten Wassers zurückzukommen, den er über dem Kopf der jungen Frau ausleerte. Sie versuchte zu strampeln, doch die Fesseln behinderten sie. Sie stöhnte immer wieder, konnte jedoch nicht laut schreien. Alex lächelte im Dunkeln. Sie hatte sein Gesicht nicht gesehen und würde ihn folglich nicht beschreiben können, wenn er sie wieder laufen ließe. Wenn er sie je laufen ließe. Denn der Chirurg würde sein altes wie sein neues Gesicht auf jeden Fall beschreiben können… Das Gesicht des Mannes, der einen Polizisten getötet und Frau Professor Lafargue entführt hatte. Deshalb würde er Lafargue und seine Frau nach der Operation wohl beseitigen müssen.
Er ging wieder hoch in sein Zimmer, zufrieden, dass der erste Teil seines Plans geglückt war. Er würde warten, bis Lafargue am Abend nach Le Vésinet zurückkehrte und zu seiner Überraschung feststellte, dass seine Frau verschwunden war. Dann würde er ihn besuchen und ihm das Geschäft vorschlagen. Er würde hart verhandeln müssen. Aber der Professor würde schon noch sehen, mit wem er es zu tun hatte! Er schenkte sich ein Glas Wein ein, schnalzte mit der Zunge, nachdem er das Glas geleert hatte. Was sprach eigentlich dagegen, dass er sich die Frau vornahm? So ließe sich das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden! Geduld!, sagte er sich, erst kümmerst du dich um Lafargue, für Unterhaltung ist später immer noch Zeit…
DRITTER TEIL
Die Beute
I
Es ist entsetzlich! Alles fängt von vorn an… Du begreifst es nicht, oder vielmehr, du hast Angst davor, dass du es nur zu gut begreifst: Dieses Mal wird die Vogelspinne dich töten! Seit drei Tagen hat Mygale kein Wort mit dir gesprochen. Er brachte dir das Essen ins Zimmer, aber er hat dich nicht einmal angesehen… Als er in das Appartement in der Rue Godot-de-Mauroy gestürmt war, um den Peitschenhieben ein Ende zu setzen, mit denen Varneroy, dieser Irre, dich quälte, warst du sprachlos vor Verwunderung. Lafargue hatte zum ersten Mal Mitleid gezeigt. Bei der Rückkehr nach Le Vésinet war er zärtlich, machte sich Sorgen um deinen Zustand. Er strich Salbe auf die Wunden, und fassungslos hast du bemerkt, wie seine Augen sich mit Tränen füllten… Am Morgen hast du gehört, wie er in die Nervenklinik aufbrach. Aber er kam schneller als sonst zurück, schlug dich nieder, und jetzt bist du wieder gefangen in diesem Kerker, angekettet im Dunkeln. Die Hölle beginnt von vorn, genau wie damals vor vier Jahren, als er dich im Wald einfing. Er wird dich töten. Mygale ist verrückt geworden, noch verrückter, als er ohnehin schon war. Ja, Viviane hat einen neuen Anfall erlitten, er hat sie in der Normandie besucht. Und er hat es nicht ausgehalten. Es genügt ihm nicht mehr, dich zu prostituieren. Was wird er sich jetzt ausdenken? Dennoch, in den vergangenen Monaten hatte er sich sehr verändert. Er war nicht mehr so bösartig. Zwar brüllte er noch
immer in seine verfluchte Sprechanlage, um dich zu erschrecken… Am besten wäre es zu sterben. Du hattest nie den Mut, dir das Leben zu nehmen. Er hat jede Auflehnung in dir im Keim erstickt. Du bist sein Eigentum geworden! Du bist sein Eigentum geworden! Du bist niemand mehr! Du hast oft davon geträumt davonzulaufen, doch wohin hattest du gehen sollen, so wie du jetzt aussiehst? Zurück zu deiner Mutter, zu deinen Freunden? Zu Alex? Würde er dich überhaupt wieder erkennen? Mygale hat gewonnen… Er hat dich für immer an sich gekettet. Du hoffst, dass dieses Immer ein schnelles Ende findet. Dass er damit aufhört, dass er aufhört, dich nach Belieben zu formen! Er hat den Knoten fest angezogen, du kannst dich nicht bewegen. Der Zementboden des Kerkers schürft deine Haut auf. Das Seil reibt an den Brüsten, drückt sie zusammen. Sie schmerzen. Deine Brüste…
Deine Brüste…Er hatte irrwitzig viel Sorgfalt darauf verwendet, sie wachsen zu lassen. Einige Zeit nach den ersten Spritzen begannen sie sich herauszubilden. Anfangs hast du nicht darauf geachtet, hast das müßige heben, das du führtest, für das Auftauchen der Fettpölsterchen verantwortlich gemacht. Doch jedes Mal, wenn Mygale dich besuchte, tastete er deine Brust ab und nickte. Es bestand kein Zweifel. Entsetzt hast du zugesehen, wie deine Brüste anschwollen, Form annahmen. Tag für Tag hast du dein Glied umklammert, aber es blieb zum Verzweifeln schlaff. Oft hast du geweint. Mygale tröstete dich. Alles würde gut werden. Ob dir etwas fehle? Ob er dir etwas schenken könne, was du noch nicht hattest? Ja, er war so liebenswürdig, so umsichtig.
Irgendwann hast du aufgehört zu weinen. Um zu vergessen, hast du gemalt, stundenlang am Klavier gesessen. Mygale kam immer häufiger. Es war zum Totlachen. Seit zwei Jahren kanntet ihr euch jetzt, er hatte jede Scham in dir ausgelöscht; am Anfang deiner Gefangenschaft hattest du sogar deine Notdurft vor ihm verrichtet, doch diese Brüste verbargst du vor ihm. Ständig hast du deinen Morgenmantel zurecht gezogen, damit der Ausschnitt nichts entblößte. Mygale ließ dich einen Büstenhalter anprobieren. Es war nicht nötig: Deine harten, festen Brüste brauchten keine Unterstützung. Dennoch fühltest du dich wohler mit Büstenhalter. Wie du dich an die Ketten, an das Verlies, an die Spritzen gewöhntest, so hast du dich nach und nach an diesen neuen Körper gewöhnt, bis er dir schließlich vertraut wurde. Was nützte es auch, darüber nachzugrübeln? Und dein Haar erst… Anfangs schnitt Mygale dir die Haare. Dann ließ er es wachsen. Waren die Spritzen, die Pillen, die Ampullen schuld daran, dass es so üppig wuchs? Mygale brachte dir verschiedene Shampoos, schenkte dir ein Bürstenset. Du hast Spaß an der Haarpflege gefunden. Du hast verschiedene Frisuren ausprobiert, einen Pferdeschwanz, schließlich hast du dir Locken gedreht und das Haar seither so getragen.
Er wird dich umbringen. Es ist heiß im Verlies, jetzt kehrt der Durst zurück… Vorhin hat er dich mit eiskaltem Wasser bespritzt, aber du konntest nichts davon trinken. Du wartest auf den Tod; nichts ist mehr von Bedeutung. Du erinnerst dich an die Schule, das Dorf, die Mädchen – die Mädchen…An deinen Freund Alex. Nichts davon wirst du je Wiedersehen. Du hattest dich an die Einsamkeit gewöhnt: Dein einziger Gefährte war Mygale. Hin und wieder überkam dich
Heimweh, befielen dich Depressionen. Er gab dir Beruhigungsmittel, überhäufte dich mit Geschenken, dieser Schweinehund, alles nur, um dich hierher zu bringen… Warum wartete er? Wahrscheinlich brütete er über noch ausgeklügeltere Qualen, plante eine perverse Inszenierung deines Todes… Ob er selbst Hand an dich legen oder dich irgendeinem x-beliebigen Varneroy ausliefern wird? Nein! Er erträgt es nicht mehr, wenn andere dich berühren, dir zu nahe kommen, das hast du genau gesehen, als er auf diesen verrückten Varneroy losging! Er verletzte dich immer mit seiner Peitsche. Vielleicht hast du einen Fehler begangen? In letzter Zeit hast du dich öfter über ihn lustig gemacht… Sobald er in dein Zimmer trat, hast du, wenn du gerade am Klavier gesessen hast, The Man I Love gespielt, ein Lied, das er hasste. Oder du fordertest ihn heraus. Er lebte schon seit vielen Jahren allein. Vielleicht hatte er eine Geliebte? Nein…er kann nicht lieben. Du hast bemerkt, wie sehr es ihn verwirrte, wenn er dich nackt sah. Du bist sicher, dass er dich begehrte, aber es widerstrebte ihm, dich zu berühren, was freilich nur verständlich war. Und doch begehrte er dich. Du warst immer unbekleidet in deinem Zimmer, einmal hast du dich auf dem Klavierhocker zu ihm gedreht, die Schenkel gespreizt, deine Scheide vor ihm entblößt. Du hast gesehen, wie sein Adamsapfel zuckte, sein Gesicht rot anlief. Das hat ihn wohl noch verrückter gemacht: dass er dich begehrte, nach allem, was er dir angetan hatte. Dass er dich begehrte, trotz dessen, was du warst! Wie lange wird er dich in diesem hoch schmoren lassen? Beim ersten Mal, nach der Verfolgungsjagd im Wald, hattest du acht Tage im Dunkeln gelegen. Acht Tage! Das hat er dir später gestanden.
Hättest du ihn nicht aufgereizt, würde er sich heute vielleicht nicht auf diese Weise rächen. Aber es ist Unsinn, so zu denken…Es ist wegen Viviane. Viviane, die seit vier Jahren völlig übergeschnappt ist. Je länger es anhält, desto deutlicher wird, dass es unheilbar ist. Und er kann sich nicht damit abfinden. Er kann nicht hinnehmen, dass dieses Wrack seine Tochter ist. Wie alt ist sie jetzt? Sie war sechzehn, dann ist sie jetzt zwanzig Jahre alt. Und du warst zwanzig und bist jetzt vierundzwanzig… Ist es nicht ungerecht, mit vierundzwanzig zu sterben? Zu sterben? Aber du bist doch schon seit zwei Jahren tot. Vincent ist vor zwei Jahren gestorben. Das Phantom, das ihn überlebte, hat keine Bedeutung. Du bist ein Phantom, aber auch ein Phantom ist imstande, zu leiden, unendlich zu leiden. Du willst nicht mehr, dass er an dir herumfummelt, ja, herumfummeln ist der richtige Ausdruck, du hast dieses Spiel satt, diese krankhaften Manipulationen an deinem Körper. Du wirst wieder leiden. Gott weiß, auf welche Ideen er noch kommen wird. Er ist ein Folter experte, das hat er dir schon bewiesen. Du zitterst, würdest gern rauchen. Dir fehlt das Opium, gestern hat er dir noch etwas gegeben. Dieses Ritual am Abend, wenn er zu dir kommt, die Pfeifen stopft, gehört zu deinen größten Freuden. Beim ersten Mal hast du dich erbrochen, dir war schlecht davon. Doch er bestand darauf. Es war an jenem Tag gewesen, als du nicht mehr die Augen davor verschließen konntest, dass dir Brüste wuchsen! Er überraschte dich, als du dich in deinem Verlies allein glaubtest und weintest. Um dich zu trösten, hat er dir eine neue Schallplatte mitgebracht. Doch du hast ihm deine Brüste gezeigt, es schnürte dir die Kehle zu, du hast kein Wort herausgebracht. Er ließ dich kurz allein, und wenige Minuten später kam er zurück: mit einer Pfeife, kleinen, speckigen
Kugeln, den nötigen Utensilien. Ein vergiftetes Geschenk. Mygale ist eine Spinne mit vielerlei Giften. Du hast dich überreden lassen, und seither verlangst du das Rauschgift, wenn er bisweilen dieses tägliche Ritual vergisst. Der Abscheu, den du in der ersten Zeit vor dem Opium hattest, ist lange vorbei. Eines Tages bist du nach dem Rauchen in seinen Armen eingeschlafen. Er saß neben dir auf dem Sofa, hielt dich an sich gedrückt, als du die letzten Züge aus der Pfeife nahmst. Mechanisch streichelte er deine Wange, seine Hand strich über deine glatte Haut. Ungewollt hattest du ihm bei deiner Verwandlung geholfen: Du hast nie einen Bart gehabt. Wie alle Jungen hatten Alex und du auf den ersten Flaum gewartet, der sich über der Lippe zeigen sollte. Alex schaffte es sehr schnell zu einem Schnurrbart, der erst schütter war, dann dichter wurde. Bei dir zeigte sich nicht das kleinste Barthaar. Ein Problem weniger, um das Mygale sich kümmern musste. Aber es spielte ohnehin keine Rolle. Die Östrogenspritzen hätten dich sowieso bartlos gemacht. Trotzdem hast du dich darüber geärgert, dass du mit deinem Mädchengesicht, wie Alex immer sagte, seinen Erwartungen so sehr entsprochen hast… Dieser feingliedrige Körper mit den schlanken Fesseln und Handgelenken hat Mygale um den Verstand gebracht. Eines Abends fragte er dich, ob du auch homosexuell wärst. Du hast nicht verstanden, was er mit dem »auch« meinte. Nein, du warst nicht schwul. Gewiss, manchmal spürtest du einen Kitzel, aber weiter war es nie gegangen. Mygale war nicht schwul, wie du anfangs vermutet hattest, an dem Tag, als er zu dir gekommen war und dich berührte… Du hattest diese Untersuchung für eine Liebkosung gehalten. Damals warst du noch angekettet, erinnerst du dich? Es war ganz am Anfang. Zaghaft hast du die Hand nach ihm ausgestreckt. Und er hat dich geohrfeigt!
Du warst fassungslos darüber. Aus welchem Grund hielt er dich gefangen, wenn nicht, um dich als Sexspielzeug zu missbrauchen? Du hattest keine andere Erklärung für das, was er dir antat… Ein besessener, schweinischer Päderast, der sich ein gefügiges Spielzeug zulegen wollte! Bei dem Gedanken packte dich die Wut, dann aber sagtest du dir: Was solls, ich spiele mit, soll er doch mit mir machen, was er will, eines Tages entwische ich ihm, und dann komme ich mit Alex zurück und schlag ihm die Fresse ein! Aber das Spiel lief anders, Schritt für Schritt, ohne dein Zutun. Mygale hatte die Regeln aufgestellt: das Gänsespiel deines Niedergangs… Ein Feld Leiden, ein Feld Geschenk, ein Feld Spritze, ein Feld Klavier spiel… Ein Feld Vincent, ein Feld Ève!
Lafargue hatte einen anstrengenden Nachmittag hinter sich: eine mehrstündige Operation an einem Kind mit Gesichtsverbrennungen, dem in geduldiger Kleinstarbeit Hautlappen transplantiert wurden, weil sich die Haut am Hals zusammengezogen hatte. Vor dem Krankenhaus verabschiedete er Roger, dem er freigegeben hatte, und fuhr dann, nach einem Zwischenstopp bei einem Blumenhändler, wo er einen wunderschönen Blumenstrauß binden ließ, allein nach Le Vésinet zurück. Als er sah, dass die Haustür sperrangelweit offen stand, ließ er vor Schreck die Blumen fallen und stürzte entsetzt die Treppe hinauf. Die Tür zu Èves Zimmer war entriegelt, der Klavierstuhl umgestoßen, eine Vase zerbrochen. Ein Kleid und Unterwäsche lagen auf dem Fußboden verstreut, der Bettüberwurf war verschwunden. Schuhe mit hohen Absätzen standen neben dem Bett.
Richard überlegte: Das Eingangstor stand offen, obwohl Roger es am Morgen verschlossen hatte. War ein Lieferant gekommen? Vielleicht hatte Line noch Bestellungen aufgegeben, bevor sie in die Ferien gefahren war… Aber wo war Ève? War sie geflohen…? War der Lieferant gekommen, hatte niemanden im Haus angetroffen und auf Èves inständiges Flehen hin die Tür aufgesperrt? Richard schwirrte der Kopf, er geriet in Panik. Warum hatte sie die Kleider nicht angezogen, die sie offensichtlich auf dem Bett bereitgelegt hatte? Und warum fehlte der Bettüberwurf? Die Geschichte mit dem Lieferanten war nicht stichhaltig. Allerdings wäre es schon einmal beinahe so weit gekommen, nämlich vor einem Jahr, als Line freihatte. Zufällig war Richard gerade in dem Moment nach Hause gekommen und hatte Ève hinter der Tür sprechen hören. Er hatte den Lieferanten beruhigt: Es sei alles in Ordnung, seine Frau durchlebe gerade eine schwere Depression, nur zu ihrem Schutz seien die Schlösser angebracht worden… Line und Roger hatten sich mit derselben Erklärung über Èves Zustand zufriedengegeben und stellten keine weiteren Fragen. Außerdem pflegte Richard einen liebevollen Umgang mit der jungen Frau und erlaubte ihr seit einem Jahr immer häufiger, das Zimmer zu verlassen… Manchmal aß sie im Erdgeschoss zu Abend. Die Irre verbrachte ihre Tage mit Klavierspiel oder malte. Nichts schien ungewöhnlich zu sein. Ève wurde mit Geschenken überhäuft. Einmal hatte Line das weiße Tuch gelüftet, das die Staffelei bedeckte, und dabei jenes Bild erblickt, das Richard als Transvestiten am Tresen eines Nachtclubs darstellte: Eindeutig, die Hausherrin tickte offenbar nicht richtig! Es war Monsieur hoch anzurechnen, dass er sich mit diesem Zustand abfand: Er hätte sie besser in eine Anstalt gebracht. Aber wenn das herausgekommen wäre, die Frau von
Professor Lafargue im Irrenhaus! Wo doch schon seine Tochter dort war!
Richard ließ sich verzweifelt auf das Bett fallen, er hielt das Kleid in den Händen und schüttelte immer wieder den Kopf. Das Telefon klingelte. Er hastete ins Erdgeschoss, um abzunehmen. Eine unbekannte Stimme. »Lafargue? Ich habe deine Frau…« »Wie viel wollen Sie? Sagen Sie es ohne Umschweife, ich werde zahlen…« Richards Stimme klang gebrochen. »Reg dich ab, ich will dein Geld nicht, es ist mir scheißegal! Na ja, wir werden sehen, was du noch drauflegen kannst… « »Ist sie am Leben, bitte, sagen Sie es mir!« »Aber sicher!« »Tun Sie ihr nichts, bitte…« »Keine Sorge, ich werde sie nicht ramponieren…« »Was wollen Sie?« »Ich muss dich treffen. Wir haben etwas zu besprechen.« Alex nannte Ort und Zeit: noch am selben Abend um zweiundzwanzig Uhr vor dem Drugstore Opéra. »Woran erkenne ich Sie?« »Lass das meine Sorge sein! Ich kenne dich… Komm allein, und keine Tricks, sonst macht sie eine schlimme Viertelstunde durch.« Richard willigte ein. Der Mann legte grußlos auf. Richard griff, wie Alex einige Stunden zuvor, nach einer Flasche Scotch und nahm einen kräftigen Schluck. Um sich zu vergewissern, dass nicht noch mehr Unheil angerichtet worden war, ging er in den Keller hinunter. Die Türen waren verschlossen, wenigstens dort war alles in Ordnung.
Wer war dieser Kerl? Zweifellos ein Verbrecher. Dennoch forderte er kein Lösegeld, zumindest nicht sofort. Er wollte etwas anderes: aber was? Der Anrufer hatte nichts über Ève gesagt. In der ersten Zeit von Vincents Gefangenschaft hatte Richard dessen Anwesenheit verbergen können. Sicherheitshalber hatte er seinen damaligen Chauffeur und die Haushälterin entlassen; Roger und Line waren erst eingestellt worden, als er die Situation mit Ève einigermaßen im Griff hatte. Er befürchtete, die Polizei könnte ihm auf die Spur kommen. Vincents Eltern ließen nicht locker und stellten Nachforschungen an, er wusste es, denn er las die örtliche Tageszeitung… Sicher, alles war glatt gelaufen, er hatte Vincent mitten in der Nacht überrascht, an einem gottverlassenen Ort, er hatte alle Spuren beseitigen können, doch wer weiß? Da er selbst wegen Viviane Anzeige erstattet hatte, war es durchaus möglich, dass die beiden Fälle durch irgendeinen lächerlichen Zufall in Verbindung gebracht werden konnten… Es war viel Zeit vergangen. Sechs Monate, ein Jahr, zwei Jahre waren schnell um, nun waren es schon vier… Über die Sache war Gras gewachsen. Und wenn der Kerl gewusst hätte, wer Ève war, hätte er nicht »deine Frau« gesagt. Er glaubte, Ève sei mit Richard verheiratet. Manchmal zeigte sich Lafargue mit ihr, und die Leute glaubten, das junge Ding wäre seine Geliebte… Seit vier Jahren hatte er jeden Kontakt zu seinen alten Freunden abgebrochen, die seinen vollkommenen Rückzug im Wahnsinn Vivianes begründet sahen. Der arme Richard!, dachten sie, schon wieder so ein Schicksalsschlag: Zehn Jahre ist es her, dass seine Frau bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, und jetzt ist seine Tochter in der Irrenanstalt. Er ist wirklich zu bedauern…
Richard führte Ève lediglich Geschäftspartnern und Arbeitskollegen vor, und bei den wenigen Empfängen, die er besuchte, wunderte sich niemand über die Frau an seiner Seite. Das übliche Getuschel, das die Auftritte seiner »Geliebten« auslöste, erfüllten ihn mit Genugtuung und Stolz über sein fachliches Können. Dieser Verbrecher konnte also gar nichts wissen von Vincent. So viel war klar. Aber was wollte er?
Lafargue kam zu früh zum Treffen mit Alex. Er lief auf dem Bürgersteig auf und ab, während ständig Leute in den Drugstore hineingingen oder herauskamen. Alle zwanzig Sekunden warf er einen Blick auf seine Uhr. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Arzt allein war, trat Alex endlich auf ihn zu. Richard taxierte das grobschlächtige, kantige Gesicht. »Bist du mit dem Auto da?« Richard deutete auf seinen Mercedes, den er in der Nähe geparkt hatte. »Gehen wir…« Alex bedeutete ihm, dass er sich hinter das Steuer setzen und losfahren solle. Er hatte den Revolver aus der Tasche geholt und auf sein Knie gelegt. Richard hoffte, eine Schwäche an ihm zu entdecken. Zuerst sagte Alex nichts. Er begnügte sich mit Anweisungen wie »geradeaus«, »links«, »rechts«. Der Mercedes entfernte sich aus dem Viertel um die Oper und machte sich auf eine lange Reise durch Paris, von der Place de la Concorde zu den Kais an der Seine, von der Place de la Bastille bis zur Place Gambetta… Alex wandte den Blick nicht vom Rückspiegel. Als er sicher war, dass Richard die Polizei nicht eingeschaltet hatte, entschloss er sich, die Verhandlungen zu beginnen.
»Du bist Chirurg?« »Ja… Ich leite die Abteilung für Rekonstruktionschirurgie an der… « »Ich weiß. Du hast auch eine Klinik in Boulogne. Deine Tochter ist plemplem, sitzt in einer Irrenanstalt in der Normandie – du siehst, ich weiß eine Menge über dich… Und deine Frau, die kann sich sehen lassen, aber momentan ist sie in einem Keller an einen Heizkörper gefesselt, also hör mir gut zu, sonst siehst du sie nie wieder! Du warst neulich im Fernsehen… « »Ja, vor einem Monat habe ich ein Interview gegeben«, nickte Richard. »Du hast erzählt, wie du Nasen reparierst, die runzlige Haut alter Leute glättest und so weiter«, fuhr Alex fort. Richard begriff und seufzte. »Die Bullen suchen mich, weil ich einen von ihnen umgelegt habe. Ich bin also erledigt, wenn ich kein anderes Gesicht kriege. Und jetzt kommst du ins Spiel… Im Fernsehen hast du gesagt, dass man nicht viel Zeit dazu benötigt. Ich ziehe diese Sache hier allein durch, niemand sonst weiß davon. Ich habe nichts mehr zu verlieren! Wenn du versuchst, die Polizei zu verständigen, wird deine Frau in ihrem Loch verhungern. Versuch nicht, mich reinzulegen, ich sage es dir noch mal, ich habe nichts zu verlieren. Die Bullen werden nicht aus mir herausbekommen, wo sie ist. Wenn du mich verpfeifst, wird sie verhungern. Kein schöner Tod… « »Gut. Ich bin einverstanden.« »Kann ich mich darauf verlassen…« »Selbstverständlich. Wenn Sie mir versprechen, ihr nichts zu tun.« »Du liebst sie, was?«, sagte Alex. Richard hörte sich mit belegter Stimme »ja« antworten.
»Wie machen wir es? Du nimmst mich im Krankenhaus auf, äh, nein, in deiner Klinik, das ist besser… « Richard umklammerte fest das Lenkrad. Es musste ihm gelingen, diesen Kerl nach Le Vésinet zu locken. Es war offensichtlich, das Pulver hatte er nicht gerade erfunden. Sonst wäre er nicht so naiv. Er hatte nicht einmal daran gedacht, dass er Richard unter der Betäubung wehrlos ausgeliefert war. Ein Dummkopf, der sich einbildete, er könne seine Haut retten, indem er Ève gefangen hielt. Es war lächerlich, vollkommen lächerlich! Aber zuerst musste er ihn dazu bringen, mit ihm nach Le Vésinet zu kommen: In der Klinik waren Lafargue die Hände gebunden, dort könnte sein bescheuerter Plan tatsächlich aufgehen, denn Richard dachte natürlich nicht daran, die Polizei einzuschalten… »Hören Sie«, sagte er, »eine Operation benötigt eine gewisse Vorbereitung. Dazu sind mehrere Voruntersuchungen notwendig, ist Ihnen das klar?« »Verarsch mich bloß nicht…« »Aber nein… Wenn Sie in die Klinik kommen, wird man Ihnen eine Menge Fragen stellen… « »Ich denke, du bist der Chef?«, murmelte Alex überrascht. »Das schon, aber Sie müssen zugeben, je weniger Leute Sie sehen, desto besser. Sie werden schließlich gesucht.« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Ich schlage vor, wir fahren zu mir nach Hause. Ich zeige Ihnen anhand von Zeichnungen, was ich für Sie tun kann, eine neue Nase… Das Doppelkinn sollte man entfernen und so weiter… « Alex war misstrauisch, aber er willigte ein. Alles schien wie am Schnürchen zu laufen: Der gute Onkel Doktor hatte Schiss um seine Maus. Als sie in Le Vésinet waren, forderte Lafargue Alex auf, es sich bequem zu machen. Sie saßen im Arbeitszimmer. Richard
kramte in Fotosammlungen und fand das Bild eines Mannes, der Alex einigermaßen ähnlich sah. Mit einem weißen Filzstift übermalte er Strich für Strich die Nase und formte dann in Schwarz einen neuen Nasenumriss. Alex schaute ihm fasziniert zu. Mit dem Doppelkinn verfuhr Lafargue genauso. Mit der Hand skizzierte er rasch ein Porträt von Alex zum gegenwärtigen Zeitpunkt, frontal und im Profil, dann ein anderes, das den künftigen Alex zeigte. »Super! Wenn du mich so hinkriegst, brauchst du dir keine Sorgen um deine Frau machen… « Alex nahm die erste Zeichnung und zerriss sie. »Und kein Phantombild für die Bullen nach der Operation, haben wir uns verstanden?«, drohte er. »Wo denken Sie hin. Für mich zählt nur, dass ich Ève wiedersehe!« »Ève heißt sie also? Tja… Ich werde mich auf alle Fälle absichern…« Lafargue konnte er nichts vormachen: Natürlich wollte der Kerl ihn nach der Operation beseitigen. Ihn und Ève… »Hören Sie, wir sollten keine Zeit verlieren. Ich muss Sie untersuchen, bevor ich diese Operation vornehmen kann. Ich habe hier im Keller ein kleines Labor eingerichtet, wir können sofort anfangen.« Alex zog die Augenbrauen hoch. »Hier?« »Selbstverständlich«, erwiderte Richard lächelnd, »ich arbeite häufig außerhalb des Krankenhauses!« Sie standen beide auf, und Richard wies den Weg nach unten. Der Keller war sehr groß, es gab mehrere Türen. Lafargue öffnete eine, schaltete das Licht an und ging hinein. Alex folgte ihm. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, konnte er nur staunen: ein langer, mit zahllosen Apparaten versehener Labortisch, ein Vitrinenschrank voller Instrumente. Mit dem
Revolver in der Hand ging er in diesem OP-Saal im Kleinformat umher. Vor dem Operationstisch blieb er stehen, musterte den starken Scheinwerfer, der ausgeschaltet über allem thronte, fasste die Narkosemaske an, inspizierte die Glasballons, von denen er nicht wusste, was sie enthielten. »Wofür ist das alles?«, fragte er. »Nun ja… Das ist mein Labor.« »Aber du operierst nicht hier?« Alex deutete auf den Tisch, den großen Scheinwerfer. Im Großen und Ganzen sah alles so aus wie in der Fernsehreportage aus dem Operationssaal. »Natürlich nicht an Menschen! Aber wir sind gezwungen, Experimente zu machen… an Tieren.« Richard spürte die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Sein Puls raste, aber er versuchte, sich nichts von seiner Angst anmerken zu lassen. Alex nickte, Richard hatte ihn in Verlegenheit gebracht. Ja, natürlich, er wusste ja, Ärzte machten jede Menge Experimente mit Affen und so… »Sag mal, dann brauche ich doch eigentlich nicht in die Klinik. Du kannst mich doch hier operieren, oder? Wenn alles da ist, was man dazu braucht…«, schlug er vor. Lafargues Hände zitterten. Er vergrub sie in den Taschen. »Was meinst du? Oder gibt es ein Problem?« »Nein… es fehlen vielleicht noch ein oder zwei Dinge.« »Wie lange muss ich nach der Operation das Bett hüten?« »Nur ganz kurz. Sie sind jung, von kräftiger Statur, und der Eingriff ist nicht besonders kompliziert. « »Dann könnte ich den Verband gleich abnehmen?« »Auf keinen Fall! Sie müssen mindestens acht Tage damit warten«, erläuterte Richard.
Alex ging nachdenklich im Zimmer auf und ab und musterte dabei die Apparate. »Und es gibt keine Komplikationen, wenn du es hier machst?« Lafargue beruhigte ihn. Nein, es gab eigentlich kein Risiko… »Das heißt, du willst es allein machen, ohne Krankenschwester?« »Das spielt keine Rolle, ich kann mich selbst um alles kümmern. Man muss sich nur Zeit dazu nehmen.« Alex lachte laut und klopfte dem Arzt kräftig auf die Schulter. »Weißt du, was?«, sagte er. »Ich werde es mir bei dir bequem machen, und du operierst mich, sobald du kannst… Sagen wir, morgen?« »Ja… Morgen, wenn Sie wollen… Bleibt die Frage, wer sich während Ihrer Genesung um Ève kümmert. « »Das lass mal meine Sorge sein, sie ist in guten Händen…« »Ich dachte, Sie wären allein?« »Nein, nicht ganz, lass das meine Sorge sein, niemand wird ihr etwas zuleide tun… Du operierst mich morgen. Dann bleiben wir beide acht Tage hier. Deine Haushälterin hat Ferien, den Chauffeur rufst du an, dass er morgen nicht kommen soll… Wir holen die Sachen, die uns noch fehlen. Du musst dir im Krankenhaus freinehmen. Komm, gehen wir… «
Sie kehrten ins Erdgeschoss zurück. Alex forderte Richard auf, Roger zu Hause anzurufen. Als Richard das Gespräch beendet hatte, brachte Alex ihn in das Schlafzimmer im ersten Stock. Er befahl ihm, in Èves Appartement zu gehen. »Warum sperrst du deine Frau ein? Ist sie nicht brav?« »Sie… na ja, sie hat seltsame Anwandlungen…« »Wie deine Tochter?«
»Ein wenig, manchmal…« Nachdem er Lafargue eine gute Nacht gewünscht hatte, schob Alex die drei Riegel vor. Er schaute sich das andere Schlafzimmer an und trat dann aus dem Haus, um eine Runde im Park zu drehen. Dieser Ève würde die Zeit in Livry-Gargan allmählich lang werden, aber wenn Alex in zehn Tagen Lafargue töten würde, dann könnten sie ihn alle mal! In zehn Tagen würde Ève vielleicht ebenfalls schon tot sein – aber was machte das schon?
Am nächsten Morgen weckte Alex Richard in aller Frühe. Er fand ihn bekleidet auf dem Bett liegend. Alex bereitete das Frühstück, sie aßen zusammen. »Wir fahren in deine Klinik, und du holst, was du brauchst. Kannst du mich heute Nachmittag operieren?«, fragte er. »Nein… dazu müssen erst Untersuchungen gemacht werden, Blutabnahme und so weiter. Sobald ich die Ergebnisse habe, können wir beginnen. Das wird etwa morgen Vormittag sein…« Alex war zufrieden. Der Doktor machte einen ehrlichen Eindruck. Er setzte sich selbst hinter das Steuer des Mercedes und fuhr mit Lafargue nach Boulogne. Vor der Klinik setzte er ihn ab. »Lass dir nicht zu viel Zeit… Ich bin misstrauisch!« »Keine Sorge, ich bin in einer Minute wieder zurück.« Richard ging in sein Arbeitszimmer. Die Sekretärin war von seinem frühen Kommen überrascht. Er bat sie, im Krankenhaus anzurufen und seine Teilnahme an der Morgenvisite abzusagen. Dann stöberte er in einer Schublade, griff aufs Geratewohl nach zwei Fläschchen, überlegte einen Augenblick und holte dazu eine Schachtel Skalpelle hervor,
die, so dachte er, Alex noch mehr beeindrucken und ihn endgültig davon überzeugen würde, dass er »mitspielte«. Als er zum Auto zurückkam, las Alex die Etiketten auf den Medikamenten, öffnete das Etui mit den Klingen und räumte alles sorgfältig ins Handschuhfach. Zurück in Le Vésinet, gingen sie in das Kellerlabor. Lafargue entnahm dem Mann Blut. Er beugte sich über ein Mikroskop, untersuchte oberflächlich die Blutbeschaffenheit, träufelte ein paar Tropfen Reagenzien darauf, die gerade zur Hand waren, und befragte Alex schließlich über seine früheren Erkrankungen. Alex beobachtete Lafargue dabei, schaute ihm über die Schulter und warf sogar einmal einen Blick durch das Mikroskop. »Gut«, sagte Richard, »alles in Ordnung. Wir brauchen nicht bis morgen warten. Sie sind bei bester Gesundheit! Ruhen Sie sich den Tag über aus. Essen Sie heute nichts zu Mittag, am Abend werde ich Sie dann operieren!« Er trat an Alex heran, tastete seine Nase, seinen Hals ab. Alex zog den Entwurf seines neuen Gesichts aus der Tasche, entfaltete das Papier. »Bleibt es dabei?«, fragte er und deutete auf die Zeichnung. »Ja… Es bleibt dabei!«, bestätigte Lafargue.
Alex ruhte sich einige Stunden auf Lafargues Bett aus, der im anderen Schlafzimmer eingeschlossen war. Er hätte gern ein Schlückchen getrunken, aber das war nicht erlaubt. Um achtzehn Uhr holte er den Chirurgen. Er war nervös: Die Vorstellung, auf einem Operationstisch zu liegen, war ihm schon immer unheimlich. Richard beruhigte ihn, hieß ihn, sich auszuziehen. Zögernd legte er den Revolver beiseite. »Denk an deine Frau, Doktor…«, murmelte Alex, als er sich hinlegte.
Richard knipste den großen Scheinwerfer an. Das weiße Licht blendete Alex. Er kniff die Augen zusammen. Kurz darauf tauchte Lafargue in weißem Kittel mit Mundschutz über ihm auf. Alex lächelte, er war beruhigt. »Fangen wir an?«, fragte Lafargue. »Fangen wir an… Und keine Dummheiten, sonst siehst du deine Frau nie wieder!« Richard schloss die Tür des Labors, griff nach einer Spritze, trat zu Alex. »Diese Spritze dient Ihrer Entspannung… In einer Viertelstunde werden Sie einschlafen… « »Gut… Und keine Dummheiten!« Die Nadelspitze drang kaum spürbar in die Vene ein. Alex sah, wie der Chirurg sich über ihn beugte und lächelte. »Und keine Dummheiten, hörst du…« Plötzlich fiel er in Schlaf. In der letzten Sekunde, die er noch bei Bewusstsein war, begriff er, dass irgendetwas Außerordentliches geschehen würde. Richard riss den Mundschutz herunter, schaltete den Scheinwerfer aus und hievte den schweren Körper des Mannes auf seine Schultern. Er öffnete die Labortür, trat in den Flur und ging schwankend zu der anderen Kellertür, die von dort abging. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, trug er Alex zu der mit Schaumstoff gepolsterten Wand. Das Sofa, die Sessel und ein paar andere Dinge, die Vincent gehört hatten, standen noch immer da. Er kettete Alex an die Wand, schloss dabei die Eisen enger. Dann kehrte er ins Labor zurück, holte einen Katheter aus einem Schrank und fixierte ihn in einer Vene am Unterarm: Selbst gefesselt würde Alex, sobald er erst einmal aufgewacht wäre, immer noch ein wenig zappeln und Richard daran hindern, ihn erneut zu betäuben… Lafargue war überzeugt, dass dieser verzweifelte Verbrecher genügend Kraft
aufbrächte, um einer klassischen Folter zumindest eine Zeitlang zu widerstehen. Und Richard hatte keine Zeit zu verlieren… Er zog seine Arztschürze aus und ging nach oben, um sich eine Flasche Scotch und ein Glas zu holen. Dann setzte er sich in den Sessel vor Alex. Das Betäubungsmittel war nur schwach dosiert, sein Gefangener würde bald aufwachen.
II
Langsam tauchte Alex aus der Bewusstlosigkeit auf. Lafargue stand auf und ohrfeigte ihn kräftig, damit er schneller wieder zu sich kam. Alex sah die Ketten, das Durcheinander der Möbel in dem Kellerraum, die komischen aufgemalten Fenster, das Meer, das Gebirge… Alles war vorbei. Aber er würde nie preisgeben, wo er die Frau gefangen hielt, sollte man ihn doch foltern, der Tod erschreckte ihn nicht. Der Arzt beobachtete ihn vom Sessel aus und nippte an einem Glas. Es war Whisky, die Flasche stand auf dem Boden. Dieser Hund! Er hatte ihn reingelegt. Dieser verfluchte Kerl hatte nur geblufft… Alex sah sich… ja, er sah sich in seiner ganzen Erbärmlichkeit. »So…«, begann Lafargue, »Ève befindet sich also in einem Keller, wo sie an einen Heizkörper gekettet ist. Allein. « »Sie wird verhungern… Du wirst nie erfahren, wo sie ist!«, schrie Alex. »Haben Sie sie missbraucht?« »Nein… Ich hatte große Lust, es ihr ordentlich zu besorgen, aber ich wollte es mir für später aufheben. Ganz schön dumm von mir, was? Jetzt wird sie keiner mehr besteigen. Nie mehr… Dort, wo sie jetzt ist, taucht erst in zwei Wochen wieder jemand auf! Sie wird vor Hunger, vor Durst verrecken. Und nur wegen dir… Hat sie wenigstens gut gebumst?« »Halten Sie den Mund«, zischte Lafargue mit zusammengepressten Zähnen. »Sie werden mir schon sagen, wo sie ist… «
»Nie im Leben, und wenn du mich in Stücke reißt, du Arschgesicht, ich sage nichts! Eher beiß ich ins Gras! Und wenn du mich nicht umbringst, kriegen mich die Bullen. Ich bin so oder so erledigt, und deshalb ist mir das alles scheißegal.« »Aber sicher doch, Sie armer Trottel, Sie werden reden…« Richard trat zu Alex, der ihm ins Gesicht spuckte. Er hatte Alex’ Arm mit dem Handrücken an der Wand fixiert, die Kette umschloss das Handgelenk straff, zusätzlich unterstützt von extrastarkem Isolierband, sodass es Alex unmöglich war, den Arm auch nur einen Millimeter zu bewegen. »Schau!«, sagte Richard. Er deutete auf den Katheter, der in der Vene steckte. Alex schwitzte, begann zu schluchzen. Auf diese Weise wollte es der Schweinehund also aus ihm herausbekommen… mit Hilfe eines Medikaments. Richard zeigte ihm eine Spritze, die er auf den Katheter setzte. Langsam drückte er das Serum hinein. Alex brüllte, versuchte an den Ketten zu rütteln. Vergeblich. Jetzt war das Mittel in ihm, floss in seinem Blut. Übelkeit überkam ihn, allmählich vernebelte sich sein Bewusstsein. Er hörte auf, zu schreien, sich zu sträuben. Wie durch einen Schleier erkannte er Lafargue, der unentwegt lächelte. »Wie heißt du?« Richard riss ihn an den Haaren hoch, denn sein Kopf war auf die Brust gefallen. »Barny… Alex.« »Erinnerst du dich an meine Frau?« »Ja…« Nach wenigen Minuten nannte Alex ihm die Anschrift des Hauses in Livry-Gargan.
Ein Lufthauch streift über den Fußboden. Du windest dich, versuchst dich zur Seite zu drehen, du presst die Wange auf den Boden und saugst dieses bisschen Kühle auf. Deine Kehle brennt, ist trocken. Das Heftpflaster auf deinen Lippen ziept. Die Tür wird geöffnet, das Licht geht an. Es ist Mygale. Er stürzt auf dich zu. Warum sieht er so mitgenommen aus? Er schließt dich in die Arme, reißt das Heftpflaster vorsichtig vom Knebel, bedeckt dein Gesicht mit Küssen, nennt dich »meine Kleine«, dann sieht er nach den Fesseln, knotet sie auf. Deine tauben Glieder schmerzen, mit einem Mal zirkuliert das Blut wieder ungehindert. Mygale hält dich in seinen Armen, drückt dich an sich. Seine Hand fährt dir durchs Haar, streichelt deinen Kopf, deinen Nacken. Seine Arme heben dich hoch, er trägt dich aus diesem Kellerloch. Ihr seid nicht in Le Vésinet, sondern in einem anderen Haus… Was hat das zu bedeuten? Mygale stößt mit dem Fuß eine Tür auf. Dahinter liegt die Küche. Ohne dich abzusetzen, nimmt er ein Glas, füllt es mit Wasser, gibt dir langsam, in kleinen Schlucken, zu trinken… Du hast das Gefühl, kiloweise Staub geschluckt zu haben; nichts fühlte sich je so angenehm an wie jetzt das Wasser in deinem Mund. Mygale trägt dich in ein dürftig möbliertes Wohnzimmer. Er bettet dich auf einen Sessel, kniet sich vor dich hin, lehnt seine Stirn an deinen Bauch, seine Hände umschlingen deine Taille. Du betrachtest das alles wie von außen, als wärst du eine unbeteiligte Zuschauerin eines unbegreiflichen Spiels. Mygale ist verschwunden. Er kehrt mit dem Bettüberwurf zurück, den er im Keller liegen gelassen hat; er wickelt dich darin ein, trägt dich nach draußen. Es ist dunkel. Vor dem Haus parkt der Mercedes. Mygale lässt dich sanft auf den Beifahrersitz hinunter, setzt sich hinters Steuer.
Er erzählt dir eine aberwitzige Geschichte. Du hörst kaum zu. Ein Verbrecher hat dich gekidnappt, um ihn zu erpressen… Armer Mygale, er ist verrückt, er kann die Wirklichkeit nicht mehr von seinen Inszenierungen unterscheiden. Nein… Trotz dieser Sanftheit, die er an den Tag legt, weißt du genau, dass er dich quälen wird, um dich zu bestrafen… Vor einer roten Ampel wendet er dir sein Gesicht zu. Er lächelt, streichelt wieder dein Haar. Bei der Ankunft in he Vésinet trägt er dich ins Wohnzimmer, legt dich aufs Sofa. Er läuft mit schnellen Schritten in dein Zimmer, kehrt mit einem Bademantel zurück, hilft dir hinein und verschwindet erneut… Als er wieder auftaucht, trägt er ein Tablett: Es gibt etwas zu essen, zu trinken… Er gibt dir ein paar Pillen, du weißt nicht, wofür, es ist unwichtig. Er fordert dich auf zu essen, beharrt darauf, dass du Joghurt und Obst zu dir nimmst. Als du satt bist, fallen dir die Augen zu, du bist erschöpft. Er bringt dich in den ersten Stock, legt dich auf dein Bett. Bevor du einschläfst, siehst du noch, dass er sich zu dir gesetzt hat, dir die Hand hält.
Du erwachst… Eine diffuse Helligkeit umgibt dich, es ist bestimmt Vormittag. Mygale ist da, sitzt neben dir in einem Sessel. Er schläft, die Tür zu deinem Zimmer steht offen. Deine Beine schmerzen noch, die Fesseln hatten sie stark eingeschnürt. Du drehst dich auf die Seite, um Mygale besser zu sehen. Du rufst dir diese irrwitzige Geschichte in Erinnerung, die er dir erzählt hat… Ach ja, ein Verbrecher auf der Flucht verlangte von Mygale eine Gesichtsoperation. Und du warst seine Geisel! Die Müdigkeit übermannt dich, du sinkst wieder in einen unruhigen Schlaf, von Alpträumen unterbrochen. Es sind
immer dieselben Bilder: das höhnische Lachen Mygales; du liegst auf diesem Tisch, geblendet von einem riesigen Scheinwerfer. Mygale trägt einen weißen Kittel, eine Operationsschürze, eine weiße Haube, er sieht dir beim Aufwachen zu, lacht. Dieses Lachen hallt dir in den Ohren, du willst weiterschlafen, aber nein, die Betäubung lässt nach…Es dauert, du kommst von weither, deine Traumbilder sind noch lebendig, und Mygale lacht… Du drehst den Kopf, dein Arm ist festgebunden, nein, beide Arme sind festgebunden… In der Vene deines Ellbogens steckt eine Nadel, sie ist mit dieser Flasche verbunden, die Infusion tropft langsam aus der Serumflasche, die sacht über deinem Kopf schaukelt… Dir ist schwindlig, aber nach und nach durchfährt dich ein heftiger Schmerz, ein Stechen da unten, weit unten, irgendwo im Unterleib, und Mygale lacht. Deine Schenkel sind gespreizt, es tut weh. Deine angewinkelten Knie sind festgeschnallt, hängen über stählernen Schalen… Ja… Wie auf einem dieser gynäkologischen Untersuchungsstühle, auf denen… Ah! Dieser Schmerz an deinem Glied, es sticht bis in die Bauchhöhle, du versuchst den Kopf zu heben, willst sehen, was da los ist, und Mygale lacht noch immer. »Warte, mein kleiner Vincent… ich helfe dir…« Mygale hat einen Spiegel genommen; er stützt deinen Nacken, stellt den Spiegel zwischen deine Beine. Du siehst nichts als einen Haufen blutiger Kompressen und zwei Schläuche, die mit Flaschen verbunden sind… »Bald wirst du mehr sehen!«, sagt Mygale und erstickt fast an seinem Lachen. Ja… Du begreifst, was er dir angetan bat. Die Spritzen, die Brüste, die dir gewachsen sind, und jetzt das.
Als die Betäubung ganz nachgelassen hat, als du wieder bei vollem Bewusstsein bist, hast du lange geheult, sehr lange geheult. Er ließ dich dort im Keller liegen, auf dem Tisch im Operationsraum festgeschnallt. Er kehrte zurück. Beugte sich über dich. Er lachte in einem fort, als wollte er nicht mehr aufhören. Er hatte einen Kuchen mitgebracht, einen kleinen Kuchen mit einer Kerze darauf. Einer einzigen Kerze. »Lieber Vincent, wir feiern jetzt den ersten Geburtstag von jemandem, mit dem du bald Bekanntschaft schließen wirst: Ève!« Er zeigte auf deinen Unterleib. »Alles dort ist verschwunden! Ich erkläre es dir. Von nun an bist du nicht mehr Vincent. Du bist Ève. « Er teilte den Kuchen, nahm ein Stück und drückte es dir ins Gesicht. Du hattest nicht einmal mehr die Kraft zu schreien. Grinsend verspeiste er das andere Stück. Er entkorkte eine Flasche Champagner, füllte zwei Sektgläser. Nachdem er sein Glas leer getrunken hatte, kippte er dir das andere ins Gesicht. »Na, kleine Ève, mehr hast du mir nicht zu sagen?« Du hast ihn gefragt, was er mit dir gemacht hat. Es war ganz einfach. Er schob den Operationstisch in den anderen Teil des Kellers, wo du bis dahin gelebt hattest. »Meine liebe Freundin, ich konnte während des Eingriffs keine Fotoaufnahmen machen, die zeigen könnten, wie ich vorgegangen bin… Gleichwohl wird diese Art von Operation recht häufig vorgenommen, ich werde sie Ihnen mit Hilfe eines kurzen Films erläutern. « Er stellte den Projektor an. Auf der Leinwand sah man einen Operationssaal. Ein Sprecher kommentierte… »Nach einer Hormonbehandlung, die sich über zwei Jahre erstreckt hat und die von zahlreichen medizinischen
Beratungsgesprächen begleitet war, können wir nun an Herrn X eine Vaginalplastik vornehmen. Nachdem wir den Patienten in Vollnarkose versetzt haben, beginnen wir den Eingriff mit einem 1,2 Zentimeter langen Schnitt um das Vorhautblatt, anschließend lösen wir die komplette Penisschafthaut bis zur Peniswurzel. Dabei wird das Gefäßnervenbündel ventral ebenfalls bis zur Wurzel freigelegt. Dasselbe Vorgehen erfolgt dorsal. Es geht darum, die vorderen Penislappen mit den Schwellkörpern zur Peniswurzel hin zu verlegen. « Du konntest dich nicht losreißen vom Anblick dieser Männer, deren behandschuhte Hände Zangen hielten und Skalpelle führten, um damit ins Fleisch zu schneiden, wie Mygale es bei dir getan hatte. »Anschließend wird der Skrotalsack durch einen bogigen Schnitt hinten an der Peniswurzel im Abstand von drei Zentimetern zum Anus abgetrennt und geöffnet. So gelangt man zu einer Isolierung der Harnröhre und zur Aufspaltung der beiden Schwellkörper entlang der Penisnaht.« Mygale lachte und lachte… Manchmal stand er auf, um die Bildeinstellung zu korrigieren, kam dann zu dir zurück und tätschelte deine Wange. »Im dritten Operationsabschnitt erfolgt der Aufbau der Neovagina zwischen der bulbären Harnröhre und dem Rektum, wobei die Einstülpung des Hautschlauchs mit einem ins Rektum eingeführten Finger kontrolliert wird. Hier haben wir jetzt eine Neovagina mit einer Weite von vier Zentimetern und einer Tiefe von circa zwölf bis dreizehn Zentimetern… hier wird das vordere Ende der Penisschafthaut wie ein Futteral vorne vernäht, hier der Hautschlauch in die Neovagina eingeschlagen… Zur Bildung der Neoklitoris wird die Glans penis so weit von den oberen Hautschichten befreit, bis an der Glansspitze ein
voll innerviertes Hautareal verbleibt. Dann resezieren wir die überschüssige Skrotalhaut, die wir sehr dünn gelassen haben, und formen daraus die äußeren Schamlippen. Hier sehen Sie unseren Patienten einige Monate nach dem Eingriff. Das Ergebnis ist sehr zufriedenstellend: Die Vagina hat die richtige Größe und ist voll funktionstüchtig, die Klitoris ist erregbar und empfindlich, der Ausgang der Harnröhre befindet sich an der richtigen Stelle, so dass es zu keinen Komplikationen beim Urinieren kommt… « Der Film war zu Ende. Irgendwo in deinem Unterleib, im Zentrum des Schmerzes, hat sich etwas zusammengezogen. Du wolltest urinieren. Du hast es Mygale gesagt…Er legte dir eine Sonde, und dieses eigenartige Gefühl war die erste bewusste Wahrnehmung deines neuen Geschlechts. Du hast wieder losgeheult. Es war grauenhaft, du konntest nicht einschlafen. Mygale spritzte dir Beruhigungsmittel. Später hat er dich losgebunden, um dich auf die Beine zu stellen. Du bist mit winzigen Schritten immer im Kreis gegangen. Die Sonde baumelte zwischen deinen Beinen, und auch diese Schläuche, die mit Flaschen verbunden waren, die die Wundflüssigkeit aufnahmen. Mygale hielt eine davon in der Hand, die andere steckte in der Tasche deines Bademantels… Du hattest keine Kraft mehr. Mygale holte dich aus dem Keller und brachte dich in einem kleinen Appartement unter. Es gab ein Boudoir, ein Schlafzimmer… Zum ersten Mal seit zwei Jahren hast du dein Gefängnis verlassen. Die Sonne strömte über dein Gesicht. Es tat gut. Deine »Genesung« dauerte sehr lange. Die Sonde war weg, und auch die Flaschen. Zurück blieb lediglich dieses Loch zwischen deinen Beinen. Mygale zwang dich, einen Stent zu tragen, der in deiner Vagina steckte. Das sei unbedingt notwendig, sagte er, sonst würde die Haut wieder zusammenwachsen. Du hast ihn monatelang getragen,
monatelang. An einer Stelle weiter oben warst du sehr empfindlich: Dort war deine Klitoris. Die Zimmertür blieb immer verschlossen. Durch die ebenfalls geschlossenen Fensterläden hast du einen Park und einen kleinen Teich mit Schwänen gesehen. Mygale besuchte dich jeden Tag und blieb stundenlang. Ihr habt viel über dein neues Leben gesprochen. Darüber, was aus dir geworden ist… Was du geworden bist. Du hast wieder Klavier gespielt, gemalt… jetzt, wo du Brüste und dieses Loch zwischen den Schenkeln hattest, blieb dir nichts anderes übrig, als das Spiel mitzuspielen. Fliehen? Nach so langer Zeit zu dir nach Hause zurückkehren? Nach Hause? Warst du wirklich dort zu Hause, wo Vincent gelebt hatte? Was würden wohl diejenigen sagen, die ihn gekannt hatten? Du hattest keine Wahl. Kostüme, Make-up, Parfüm… Und eines Tages brachte Mygale dich in eine Allee im Bois de Boulogne. Dich konnte nichts mehr erschüttern. Heute sitzt dieser Mann neben dir und schläft. Es kann nicht bequem sein, wie er sich in den Sessel drückt. Als er dich im Keller fand, hat er dich geküsst, dich in seine Arme geschlossen. Die Tür steht offen. Was hat er nun vor?
Richard schlägt die Augen auf. Er hat Kopfschmerzen. Ein seltsames Gefühl: die ganze Nacht an Èves Bett gewacht zu haben, dann ein Rascheln, ein knisternder Stoff – die Bettdecke oder Ève, die aufwachte, im Morgenlicht auf ihn wartete… Sie ist da. Liegt mit weit geöffneten Augen im Bett. Richard lächelt, steht auf, rekelt sich, nimmt auf der Bettkante Platz. Er spricht mit ihr, kehrt wieder zu diesem absurden »Sie« zurück, das er eingeführt hat und das er immer bricht, wenn er voller Hass seinen Schmutz über ihr ausgießt.
»Jetzt geht es Ihnen schon besser«, sagt er. »Alles ist vorbei. Ich… nun, es ist vorbei, Sie können gehen, ich werde mich um die Papiere kümmern, deine neue Identität, das lässt sich arrangieren, weißt du? Du gehst zur Polizei und sagst ihnen…« Er war erbärmlich, Richard hörte nicht auf, seine Niederlage einzuräumen. Eine totale und beschämende Niederlage, die zu spät kam, um einen Hass zu strafen, der bereits erloschen war.
Ève stand auf, nahm ein Bad und zog sich an. Sie ging hinunter ins Wohnzimmer. Am Ufer des Teichs kam Richard wieder zu ihr. Er hatte Brotstücke in der Hand, die er den Schwänen zuwarf. Sie bückte sich über den Teichrand, lockte die Tiere mit Pfiffen an. Sie kamen, fraßen aus ihrer Hand und verdrehten die Hälse zum Schlucken. Es herrschte strahlender Sonnenschein. Sie kehrten gemeinsam zum Haus zurück. Beim Pool setzten sie sich nebeneinander in die Hollywoodschaukel. Lange saßen sie so wortlos Seite an Seite. »Richard«, sagte Ève schließlich, »ich möchte das Meer sehen… « Er drehte sich zu ihr, betrachtete sie mit seinem unermesslich traurigen Blick und nickte. Sie gingen ins Haus, Ève holte eine Tasche, packte ein paar Sachen ein. Richard wartete im Wagen auf sie. Sie fuhren los. Sie ließ das Seitenfenster hinunter und wollte den Wind fühlen, streckte ihre Hand zum Fenster hinaus. Er bat sie, damit aufzuhören, Insekten oder Rollsplitt könnten sie verletzen. Richard fuhr schnell, schnitt die Kurven wie ein Irrer. Sie bat ihn, langsamer zu fahren. Es dauerte nicht lange, bis die Steilküste vor ihnen auftauchte.
Der Kiesstrand von Etretat war dunkel vor Menschen. Die Touristen drängten sich am Wasser. Es war Ebbe. Sie gingen unter der Steilküste spazieren, folgten dem Weg, der sich am Fels entlangschlängelt und in einen Tunnel mündet, durch den man an einen anderen Strand gelangt, vor dem sich die »Hohle Nadel«, ein besonders spitzer Kreidefelsen, erhebt. Ève fragte Richard, ob er den Roman von Maurice Leblanc gelesen habe, diese verrückte Geschichte von den Banditen, die sich in einer Höhle dieses spitzen Felsens verborgen hatten. Nein, Richard kannte das Buch nicht… Lachend, jedoch mit einem Hauch Bitterkeit in der Stimme, sagte er, dass ihm sein Beruf nur wenig freie Zeit lasse. Aber Arsène Lupin, den kennt doch jeder!, meinte sie hartnäckig. Sie drehten um und gingen zurück in die Stadt. Ève war hungrig. Sie setzten sich auf die Terrasse eines Fischrestaurants. Sie bestellte einen Teller mit Austern und Meeresschnecken. Richard kostete die Zange einer Meeresspinne und ließ sie ihr Mahl allein beenden. »Richard«, fragte sie, »was hat es mit dieser Entführungsgeschichte auf sich?« Er erzählte ihr noch einmal, wie er bei seiner Rückkehr nach Le Vésinet das Zimmer verlassen, die Schlösser aufgebrochen vorgefunden hatte, wie sehr ihr Verschwinden ihm Angst eingejagt hatte. Und wie er sie schließlich gefunden hatte. »Und was ist mit dem Verbrecher? Hast du ihn laufen lassen?«, bohrte sie misstrauisch nach, ungläubig. »Nein, er ist im Keller angekettet.« Seine Stimme war leise, klang eintönig. Ève verschluckte sich beinahe. »Richard! Wir müssen sofort zurück, du kannst ihn doch nicht einfach so krepieren lassen.« »Er hat dir weh getan. Etwas anderes hat er nicht verdient!«
Sie schlug mit der Faust auf den Tisch, um ihn zur Vernunft zu bringen. Sie kam sich vor wie im absurden Theater, ihre gefüllten Weißweingläser, das liegen gebliebene Stück vom Krebs und dazu dieses unglaubliche Gespräch über den Kerl, der in Le Vésinet hilflos im Keller schmorte! Er sah weg, war abwesend. Sie bestand darauf, zurückzufahren. Er willigte ohne weiteres ein. Sie hatte das Gefühl, sie hätte ihn bitten können, sich von der Klippe zu stürzen. Er hätte ohne Widerrede gehorcht.
Es war bereits später Abend, als sie das Anwesen betraten. Er ging voran, als sie die Treppe in den Keller hinunterstiegen. Er schloss die Tür auf, machte Licht. Da hockte der Kerl auf den Knien, die Arme ausgestreckt, gefesselt an den Ketten, die sie so gut kannte. Als Alex den Kopf hob, stieß sie einen langen Schrei aus – das Wehklagen eines verwundeten Tiers, das nicht versteht, was mit ihm geschieht. Entsetzt, niedergeschmettert deutete sie auf den Gefangenen. Dann rannte sie in den Flur, fiel auf die Knie und übergab sich. Richard kam herbeigelaufen und half ihr, indem er ihr die Stirn hielt.
Das also war der letzte Akt! Mygale hatte diese abenteuerliche Verbrechergeschichte, diesen aberwitzigen Roman erfunden, um dich in Sicherheit zu wiegen. Er hat dich mit seiner Zärtlichkeit umgarnt, hatte deiner Laune nachgegeben und war ans Meer gefahren, um dich in einen endlosen Abgrund des Grauens zu stoßen! Und dieses hinterhältige Verhalten, das darin gipfelte, dass du Alex gefangen wieder gefunden hast, wie du selbst vor vier Jahren gefangen warst, hatte nur das eine Ziel, dich noch ein
wenig mehr zu brechen, dich, wenn das überhaupt möglich war, dem Wahnsinn noch näher zu bringen… Ja, das war sein Plan! Nicht deine Demütigung durch Prostitution, nachdem er dich kastriert, zerfleischt, vernichtet hatte, nachdem er deinen Körper zerstört hatte, um daraus einen anderen zu schaffen, ein Spielzeug der huste. Nein, das alles war nur ein Witz, das Vorspiel zu seinem eigentlichen Plan, der dich in den Wahnsinn stürzen sollte wie seine Tochter… Und da du bisher alle Qualen überstanden hattest, trieb er das grausame Spiel noch weiter! Stück für Stück hatte er dich klein gemacht, deinen Kopf in den schwarzen Sumpf gesteckt, aber er ließ dich nicht ertrinken, sondern zog dich immer wieder am Schopf heraus, um dir zuletzt diesen vernichtenden Schlag zu versetzen: Alex! Mygale war kein Wahnsinniger, er war ein Genie. Wer sonst hätte sich eine so sorgfältig inszenierte Steigerung der Qual ausdenken können? Dieser Dreckskerl musste weg! Bei Alex war nichts zu holen, das wusste er wahrscheinlich genau…Er hatte gewiss nicht vor, ihn dieselben Torturen erleiden zu lassen. Alex war ein echter Trottel, du hast dich oft über ihn amüsiert, früher machtest du mit ihm, was du wolltest, er wäre dir überallhin gefolgt, wie ein Hund. Mit ihm konnte Mygale nichts anfangen: Die ausgeklügelten Grausamkeiten, die du erlebt hast, würden bei ihm nicht ziehen. Vielleicht würde er dich zwingen, mit ihm zu… Ja, er war angekettet, nackt wie ein Wurm, das war es, was Mygale wollte! Es genügte seinem Rachedurst nicht, einen von euch in der Hand zu haben, er musste euch beide kriegen. Vier Jahre, Mygale hatte vier Jahre gebraucht, um Alex zu finden. Wie um alles in der Welt war es Mygale gelungen, an ihn heranzukommen? Du hattest nie etwas verraten!
Mygale war da, bei dir. Er half dir. Auf dem Boden eine Pfütze von Erbrochenem. Mygale murmelte zärtliche Worte, meine Liebe, meine Kleine, er bemühte sich um dich, wischte dir den Mund mit einem Taschentuch ab… Die Tür zum anderen Zimmer stand offen. Mit einem Satz warst du im Laborraum, hast ein Skalpell vom Operationstisch genommen, die Spitze der Klinge auf Mygale gerichtet. Dann bist du langsam auf ihn zugegangen.
III
Nun standen sie sich gegenüber in diesem Betonkeller, im grellen Neonlicht. Ganz ruhig ging sie auf ihn zu, das Skalpell in der Hand. Richard rührte sich nicht. Im Verlies hatte Alex zu brüllen angefangen. Er hatte gesehen, wie Ève in die Knie gegangen und aus seinem Sichtbereich gekrochen war, jetzt sah er sie in der Türöffnung mit einem Messer in der Hand auf Mygale zugehen. »Mein Revolver, Kleine!«, brüllte er. »Mein Revolver! Hierher, er hat ihn hier liegen lassen!« Ève betrat noch einmal das Verlies, nahm Alex’ Waffe an sich, die tatsächlich einfach auf dem Sofa gelegen hatte. Richard war nicht einmal zusammengezuckt, er stand im Flur, aber er wich nicht zurück vor dem Lauf, der sich auf ihn richtete. »Ève, ich flehe dich an, erklär es mir!« Verdutzt hielt sie inne. Zweifellos war dies wieder so ein Trick von Mygale, diese vorgetäuschte Verblüffung. Aber dieses Mal sollte der Dreckskerl nicht so einfach davonkommen! »Keine Sorge, Alex«, rief sie, »jetzt kriegen wir dieses Stück Mist dran!« Auch Alex begriff nicht allzu viel. Woher kannte sie seinen Namen? Ob Lafargue ihn ihr gegenüber erwähnt hatte? Aber natürlich: Es war ganz einfach… Lafargue hielt seine Frau eingesperrt, und heute ergriff sie die Gelegenheit, ihren Ehegatten loszuwerden! »Ève, töte mich, wenn du willst, aber sag mir, was los ist!«
Richard hatte sich an die Wand gelehnt zu Boden gleiten lassen. Er saß einfach da. »In Wirklichkeit bin ich dir völlig egal. Ich bin dir völlig egal. Ich bin dir völlig egal.« Ihr anfängliches Murmeln endete in wütenden Schreien. Ihre Halsmuskeln traten hervor, ihr Blick war hohl, sie zitterte am ganzen Leib. »Ève, ich flehe dich an, erkläre mir…« »Alex! Alex Barny! Er war dabei, er war… Er hat Viviane vergewaltigt, er hat sie sogar von hinten genommen, während… während ich sie festhielt! Du hast immer geglaubt, ich sei allein gewesen, ich habe es dir nie gesagt, ich wollte nicht, dass du ihn suchst, genauso wie mich… Aber er ist genauso schuld daran wie ich, dass deine Tochter übergeschnappt ist, verdammter Dreckskerl! Und ich habe für alles den Kopf hingehalten!« Alex hörte, was diese Frau schrie. Was erzählt sie da? Ein übler Streich, den mir die beiden da spielen, dachte er. Die wollen mich verrückt machen… Dann musterte er aufmerksam Lafargues Frau, ihren Mund, ihre Augen… »Ah! Du wusstest nicht, dass wir zu zweit waren«, fuhr Ève fort: »Aber ja, Alex war mein Kumpel! Der Arme hatte nicht viel Glück bei den Mädchen… Ich musste sie für ihn… musste den Kuppler spielen. Mit dieser Zicke ist es nicht gelaufen, sie wollte nichts davon wissen! Sie ließ sich gern befummeln, knutschte gern, aber sobald ich meine Hand unter ihren Rock schob, war Schluss! Da mussten wir eben ein wenig nachhelfen.« Richard schüttelte ungläubig den Kopf, er war am Boden zerstört von Èves Brüllen, der schrillen Stimme, mit der sie schrie. »Ich habe sie als Erster bestiegen. Alex hat sie festgehalten, sie wehrte sich… Während ihr euch in der Kneipe den Bauch
vollgeschlagen habt, getanzt habt, war’s nicht so? Dann habe ich sie Alex überlassen. War ein Fest für ihn, wie du dir vorstellen kannst, Richard. Sie hat geheult und gelitten… Weniger als ich allerdings, nach allem, was du mir angetan hast. Ich bring dich um, Mygale. Ich bring dich um!«
Nein, Mygale hatte nicht das Geringste geahnt. Du hattest es ihm nie gesagt. Als er dir gestanden hat, warum er dich verstümmelt hatte – wegen der Vergewaltigung von Viviane, die darüber wahnsinnig geworden war –, hast du beschlossen zu schweigen. Deine einzige Rache war es, Alex vor ihm zu schützen. Mygale hatte keine Ahnung, dass ihr zu zweit wart. Du hast auf dem Operationstisch gelegen, als er dir von jenem Juliabend vor zwei Jahren erzählte. Es war an einem Samstag gewesen. Die Schulferien hatten gerade begonnen. Du solltest nach England fahren, und er, Alex, sollte bei seinem Vater auf dem Hof bleiben und bei der Feldarbeit helfen. Ihr habt herumgelungert, eine Tour durch die Cafés gemacht, Tischfußball und flipper gespielt, dann habt ihr zu zweit eine Kunde auf dem Motorrad gedreht. Es war warm. In Dinancourt, einem größeren Marktflecken dreißig Kilometer entfernt, war ein Jahrmarkt. Alex schoss an der Schießbude auf Luftballons. Du hast in der Zwischenzeit nach den Mädchen Ausschau gehalten. Es waren genügend da. Am späten Nachmittag hast du die Kleine entdeckt. Sie war hübsch. Sie ging am Arm eines Opas, na ja, er war jedenfalls viel älter als sie. Wahrscheinlich ihr Vater. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid. Ihr Haar war blond gelockt, und ihr noch kindliches Gesicht war nicht geschminkt. Sie gingen zusammen mit anderen spazieren, und man sah ihnen auf Anhieb an, dass sie nicht vom Land waren.
Sie setzten sich auf die Terrasse eines Cafés. Später streifte das Mädchen weiter allein über den Jahrmarkt. Du hast sie ganz freundlich angesprochen, wie du es immer getan hast. Sie hieß Viviane. Ja, der grauhaarige Kerl war ihr Vater. Am Abend war Tanz auf dem Marktplatz. Du hast Viviane gefragt, ob ihr euch dort treffen könntet. Sie wollte schon, aber ihr Vater! Sie waren zu einer Hochzeitsfeier in das Dorf gekommen. Das Gasthaus befand sich in einem ehemaligen Schloss und lag etwas abseits, in seinem Park wurden häufig Empfänge und Feste gegeben. Sie musste beim Hochzeitsessen dabei sein. Du konntest sie überreden: Sie würde am Abend kommen, hierher, zur Pommesbude. Das Mädchen war ziemlich gutgläubig, und es war hübsch. Im Laufe des Abends bist du öfter in der Umgebung des Schlosses herumgestreunt. Für die Hochzeit hatte man ein Orchester kommen lassen, nein, keine Dorfkapelle mit einem Akkordeonspieler, sondern ein richtiges Orchester, die Jungs spielten Jazz und trugen weiße Smokings. Die Fenster des Gasthauses waren geschlossen, damit das blecherne Geschmetter der Blaskapelle vom Volksfest nicht zu den feinen Leuten drang. Viviane kam gegen zehn Uhr. Du hast sie zu einem Drink eingeladen. Sie nahm eine Cola, du einen Scotch. Du hast mit ihr getanzt, Alex schaute zu. Du hast ihm zugezwinkert. Bei einer langsamen Ballade hast du Viviane geküsst. Ihr Herz pochte laut an deiner Brust. Sie wusste noch nicht, wie man küsst. Sie kniff die Augen zu. Und nachdem du ihr gezeigt hattest, wie es geht, bohrte sie ihre Zunge so weit in deinen Mund, wie sie nur konnte! Ein unbeholfenes Ding. Sie roch gut, nach teurem Parfum, es war nur ein Hauch, nicht wie bei den Mädchen aus der Gegend, die literweise Eau de Cologne über sich schütteten. Beim Tanzen hast du ihren nackten Kücken gestreichelt, ihr Kleid hatte einen tiefen Ausschnitt.
Ihr seid durch die Straßen des kleinen Orts spaziert. In einer Toreinfahrt hast du sie wieder geküsst. Jetzt ging es besser, sie stellte sich ein wenig geschickter an. Du schlüpftest mit deiner Hand unter ihr Kleid, fuhrst an der Innenseite ihres Schenkels hinauf bis zu ihrem Slip. Sie war erregt, aber sie machte sich los. Sie fürchtete, ihr Vater könnte mit ihr schimpfen, wenn sie zu lange wegbliebe. Du hast sie nicht bedrängt. Ihr seid auf den Dorfplatz zurückgekehrt. Ihr Vater war aus dem Gasthaus herausgekommen, um seine Tochter zu suchen. Er sah euch beide, du hast den Kopf zur Seite gedreht und bist weitergegangen. Von weitem hast du beobachtet, wie sie miteinander sprachen. Er schien wütend zu sein, doch dann lachte er und ging wieder ins Gasthaus zurück. Viviane kam zu dir zurück. Ihr Vater hatte ihr erlaubt, noch ein wenig länger zu bleiben. Ihr habt getanzt. Sie presste sich an dich. Im Halbdunkel hast du ihre Brüste gestreichelt. Eine Stunde später wollte sie zurückgehen. Du hast Alex ein Zeichen gegeben. Auf die Ellbogen gestützt und eine Bierdose in der Hand, hatte er an der Bar neben der Tanzfläche gewartet. Du hast Viviane angeboten, sie auf dem Rückweg zu begleiten. Hand in Hand seid ihr um das Schloss gegangen. Lachend hast du sie hinterher im Park ins Gebüsch gezogen. Sie protestierte, lachte aber auch. Sie hatte große Lust, bei dir zu bleiben. Ihr habt euch an einen Baum gelehnt. Sie küsste dich, das konnte sie jetzt schon gut. Sie ließ es zu, dass du ihr Kleid ein wenig hochschobst. Plötzlich hast du nach ihrem Slip gegriffen und ihn heruntergerissen, während du ihr mit einer Hand den Mund zuhieltest. Alex, der ganz in der Nähe wartete, griff nach ihren Händen, drehte ihre Arme auf den Rücken und drückte sie zu Boden. Er hielt sie fest, während du zwischen ihren Beinen knietest. Alex schaute dir dabei zu.
Anschließend hast du Viviane festgehalten, die wild mit ihren Armen und Beinen strampelte, als Alex sie von hinten nahm. Alex gab sich nicht damit zufrieden, ihr dasselbe anzutun, was du ihr bereits angetan hattest. Er wollte mehr. Er tat ihr beim Bumsen zu sehr weh, sie wehrte sich verzweifelt, riss sich los. Sie schrie wie am Spieß. Du hast sie verfolgt, sie am Fuß gepackt. Du konntest sie festhalten. Du wolltest sie eigentlich ohrfeigen, aber als du zum Schlag ausholtest, landete deine Faust mitten in ihrem Gesicht. Sie schlug mit dem Hinterkopf gegen einen Baumstamm und verlor das Bewusstsein, ihr Körper zuckte spastisch. Später erzählte dir Mygale, dass er die Schreie hörte, während das Orchester im Gasthaus The Man I Love spielte. Er war sofort in den Park gerannt. Er sah, wie du im Gras knietest und versuchtest, Viviane am Knöchel zu packen, um sie am Schreien zu hindern. Alex hatte sofort das Weite gesucht und sich ins Unterholz verzogen. Viviane schrie in einem fort. Du musstest abhauen. Du warst aufs Geratewohl losgestürmt, der Kerl hinter dir her. Da er sich gerade den Bauch vollgeschlagen hatte, konntest du ihn mühelos abhängen. Alex wartete am anderen Ende des Dorfs mit dem Motorrad auf dich. In den folgenden Tagen warst du sehr nervös. Der Kerl hatte dich gesehen, beim Getränkestand und auf der Wiese hinter dem Gasthaus, als du für den Bruchteil einer Sekunde zögertest, bevor du dich für eine Fluchtrichtung entschieden hattest… Aber du stammtest nicht aus dem Dorf, du lebtest weit entfernt. Allmählich ließ deine Sorge nach. Eine Woche später bist du nach England abgereist und erst Ende August wieder zurückgekommen.
Mygale suchte lange. Er kannte dein ungefähres Alter. Hatte eine Vorstellung von deinem Gesicht…Er hat nicht die Polizei gerufen. Er wollte dich selbst erwischen. Er durchkämmte die Gegend, bezog nach und nach immer mehr Dörfer in seine Nachforschungen ein, lauerte im ganzen Umkreis an Fabriktoren, an Schuleingängen. Drei Monate später sah er dich in einem Café gegenüber dem Gymnasium in Meaux. Er folgte dir, spähte dich aus, machte sich Notizen über deine Gewohnheiten. Bis zu jenem Abend Ende September, als er dich im Wald einfing. Er ahnte nichts von Alex, er konnte es nicht wissen… Und deshalb sitzt er hier vor dir, völlig am Ende, dir ausgeliefert…
Richard war wie betäubt. Ève, auf den Knien, richtete mit ausgestrecktem Arm den Revolver auf ihn; der Zeigefinger am Abzug war durch den Druck weiß geworden. Mit dumpfer Stimme wiederholte sie immer wieder dieselben Worte: Ich bring dich um. »Ève. Ich hatte doch keine Ahnung… Das ist einfach nicht gerecht!« Seine späte, unangebrachte Reue erschütterte Ève zutiefst, ihre Wachsamkeit ließ ein wenig nach. Auf diesen Moment hatte Richard gewartet. Schlagartig riss er einen Fuß hoch und traf den Unterarm der jungen Frau, die mit einem Schmerzensschrei die Waffe fallen ließ. Er sprang auf, griff sich den Revolver, stürzte in den Raum, in dem Alex angekettet war. Er feuerte zweimal. Am Hals und ins Herz getroffen, erschlaffte Alex’ Körper in den Ketten, mit denen er gefesselt war. Dann kehrte Richard in den Flur zurück, beugte sich über Ève, half ihr auf die Beine, kniete sich selbst nieder und hielt ihr den Revolver hin.
Schwankend stand sie auf, streckte sich, atmete tief durch, stellte sich breitbeinig vor Lafargue hin, zielte und kam mit dem Lauf immer näher an seine Stirn. Er sah sie starr an, sein Blick gab kein Gefühl preis, als ob er absichtlich eine neutrale Haltung einnehmen wollte, damit Ève von jedem Mitleid verschont bliebe. Als ob er wieder Mygale werden wollte, die Vogelspinne mit den kalten, undurchdringlichen Augen. Ève sah ihn in seiner ganzen Schwäche, gebrochen, vernichtet. Sie ließ den Revolver fallen. Sie ging ins Erdgeschoss hinauf, lief in den Park, hielt atemlos vor dem Eingangstor inne. Die Sonne schien, das Licht funkelte auf dem blauen Wasser des Pools. Dann kehrte Ève um, ging in die Villa zurück und die Treppe in den ersten Stock hinauf. Sie betrat ihr Zimmer, setzte sich auf das Bett. Dort stand die Staffelei, ein Tuch war darübergeworfen. Sie riss es herunter und betrachtete lange das niederträchtige Bild: Richard als Transvestit mit aufgeschwemmtem Gesicht, runzliger Haut. Richard als alte Prostituierte. Mit langsamen Schritten ging sie wieder in den Keller hinunter. Die Leiche von Alex hing noch immer an den Ketten. Auf dem Zementboden hatte sich eine große Blutlache ausgebreitet. Sie hob Alex’ Kopf an, hielt für einen Moment dem Blick seiner toten Augen stand und verließ dann den Kerker. Richard saß im Flur, die Arme am Körper, die Beine steif von sich gestreckt. Auf seiner Oberlippe spielte ein leichtes Zucken. Sie setzte sich neben ihn, nahm seine Hand und ließ den Kopf auf seine Schulter sinken. Leise flüsterte sie: »Komm… wir müssen die Leiche wegschaffen…«
Der berühmte plastische Chirurg Richard Lafârgue hält seine Partnerin Ève in einem Appartement im ersten Stock seiner Villa gefangen. Sie darf es nur einmal im Monat verlassen, wenn das Paar eine junge Frau in der Nervenheilanstalt besucht. Nach diesen Ausflügen zwingt Richard seine Partnerin dazu, Sex mit Fremden zu haben, während er sie durch einen Einwegspiegel beobachtet…