Knaur
Science Fiction
Knaur Science Fiction Herausgeber Hans Joachim Alpers
Energiewesen aus dem All haben die Mensc...
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Knaur
Science Fiction
Knaur Science Fiction Herausgeber Hans Joachim Alpers
Energiewesen aus dem All haben die Menschheit unterjocht und halten sich Menschen wie Haustiere. Alle Versuche scheitern, die Fremdherrschaft abzuschütteln, denn die Energiewesen sind durch herkömmliche Waffen nicht verletzbar. Dennis Weiß, dessen Vater ein aufsehenerregendes Buch schrieb, das Freiheitskämpfer immer wieder beflügelte, wird zum Chronisten der Ereignisse. Schon unter der Fremdherrschaft als »Haustier« geboren, registriert er das Auftauchen der Rebellen und ihren scheinbar sinnlosen Kampf. Erst ein Naturereignis, eine Sonneneruption, bringt die entscheidende Wende … Thomas M. Disch hat in den letzten Jahren durch eine Reihe bissiger Romane von sich reden gemacht: »Camp Concentration«, »Echo Round His Bone« (Die Duplikate) oder »334« (Angouleme). »Die Herrschaft der Fremden« beweist erneut sein Talent, hervorragende Unterhaltung mit Satirischem zu würzen.
November 1979 Deutsche Erstausgabe © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München/Zürich 1979 Titel der bei Ace Books Inc. erschienenen Originalausgabe »Mankind Under the Leash« Copyright © Thomas M. Disch 1966 Ein Teil dieses Werks beruht auf der Kurzgeschichte »White Fang Goes Dingo« aus dem Worlds of If Magazin Copyright © Galaxy Publishing Corp. 1965 Aus dem Amerikanischen von Horst Pukallus Umschlagillustration Peter Tybus/Young Artists Gesamtherstellung Mohndruck, Gütersloh Printed in Germany ISBN 3-426-05719-0
THOMAS M. DISCH
DIE HERRSCHAFT DER FREMDEN Science-Fiction-Roman Deutsche Erstausgabe
DROEMER KNAUR
Für Ilja und Moritz, Nina und Lasso, Arko und Racker und alle guten Hunde.
Jeder Hund ist Löwe in seinem Hause. Alexander Pope Auf dem Halsband eines Hundes
Höchst glaubwürdiger und wahrer Bericht von den bedeutsamen Umwälzungen des Jahres 2037, mit Erläuterungen von allgemeingültigen Wertvorstellungen, wie auch Gedanken des Autors über das Wesen der Kunst, der Revolution und der Theologie.
1. Kapitel Worin ich geboren werde und die Dingos meinen Vater töten. Mein Name ist Weißzahn, aber natürlich ist das nicht mein richtiger Name. In Wirklichkeit lautet mein Name jetzt Dennis Weiß. Der alte Name gefällt mir besser; er stimmt mehr mit dem Bild überein, das ich von mir selbst habe. Aber vielleicht ist eine solche Einstellung bloß eine Nachwirkung aus jener Zeit, als ich nicht mehr war als ein Schoßhündchen. Manche Leute würden sagen, wenn man einmal ein Schoßhund war und sich an die Leine gewöhnt hat, könne man nie wieder ganz ein Mensch sein – in dem Sinne, daß man frei sei. Ich kenne mich damit nicht so aus. Natürlich ist es angenehmer, an der Leine zu gehen, aber man kann es lernen, nicht soviel Wert darauf zu legen. Ich habe es geschafft. Und dies ist in gewissem Sinn die Geschichte, wie ich das schaffte. Als Welpe … Doch schon fange ich an, die Erzählung zu verhunzen! Denn muß nicht die Mehrheit meiner Leser eine derartige Ausdrucksweise mißbilligen? Welpen, Schoßhunde, Meister, Leinen: die alten Begriffe haben mittlerweile unter den Eiferern beinahe die Eigenschaft der Obszönität angenommen. Und wer wagt es heutzutage, nicht zu den Eiferern zu gehören? 11
Doch wie soll ich die Geschichte meines Lebens als Schoßhund erzählen, ohne die Sprache eines Schoßhündchens zu gebrauchen, ohne aus seinem Blickwinkel zu berichten? Die Zeit muß doch sicherlich einmal ein Ende finden, da jeder Politiker und Philosoph sich hinter einer Maske aus kraft- und saftlosen Redensarten, die von Unwissenheit strotzen, zu verbergen hat. Will man denn von mir verlangen, daß ich Weißzahns Geschichte aus dem Gesichtswinkel eines Dingos erzähle? Unmöglich! Ein Mitglied des Hofes von Ludwig XVI. könnte seine Memoiren nicht in der derben Mundart eines Sansculotten niedergeschrieben haben – und mir muß man erlauben, über Weißzahn zu schreiben, wie Weißzahn über sich selbst geschrieben hätte. Bis auf weiteres wollen wir also Dennis Weiß beiseite lassen – und mir die Bemerkung gestatten, ohne weitere Vorreden zu führen, daß ich mich als Welpe ungewöhnlich glücklich fühlte. Wie hätte es auch anders sein sollen? Man hat mich in den besten Zwingern des Sonnensystems aufgezogen. Mein junger Körper war zum Tollen aufgelegt, also tollte ich herum. Meine Bildung erstreckte sich großzügig durch die gesamte Breite des menschlichen Wissens, und doch erlegte man mir über meine Neigungen hinaus keinerlei Zwang auf. Ich genoß die Gesellschaft meinesgleichen ebenso wie die unermeßlichen Freuden der 12
Leine. Zu guter Letzt war ich mir von frühester Kindheit an dessen bewußt, aus edelster Zucht zu stammen. Mein Vater Tennyson Weiß war ein bedeutender Künstler – möglicherweise der bedeutendste Künstler – in einer Gesellschaft, die Kunst über alles schätzte. Von diesem Ruhm färbte auf seine Nachkommen einiges ab. Später, wenn man erwachsen ist, mag die Berühmtheit des Vaters das erstarkte Selbstbewußtsein beengen, aber damals reichte sie völlig aus, um einem die Gewißheit zu geben, daß man als Schoßhund so wertvoll war wie überhaupt nur möglich. Sie verlieh mir ein Gefühl der Sicherheit. In was anderem besteht denn Glück als darin: eine Vorstellung vom eigenen Wert zu haben? Zweifellos nicht in der Freiheit. Denn diesen Zustand habe ich auch kennengelernt – o ja, und zwar sehr gut –, und ich darf jedermann versichern, daß er weit weniger zufriedenstellt. Wäre ich in meiner Kindheit frei gewesen, ich wäre nahezu unausweichlich ein niederträchtiger Hundesohn geworden. Wenn ich von meiner Kindheit spreche, die so idyllisch war, meine ich damit eigentlich meine ersten sieben Lebensjahre, denn kurz nach meinem siebten Geburtstag wurde ich Waise – das heißt, die Dingos nahmen mir meinen Vater, während Mütterchen Pluto und mich einfach der Obhut des Zwingers Schröder überließ und dann im Weltraum verschwand. So hätte sich schon 13
im Alter von sieben Jahren gewissermaßen von mir sagen lassen, daß ich frei war, und es war eine Situation, gegen die ich erbitterten Widerwillen empfand, da ich darin lediglich Geringschätzung sah. Heute begreife ich natürlich, daß der Zwinger Schröder ein wahres Paradies war, vergleicht man ihn mit dem, was man so den ›menschlichen Zustand‹ nennt. Damals standen mir zum Vergleich bloß die Jupitermonde zur Verfügung. Aber nun sehe ich, daß ich alles ein wenig durcheinanderbringe. Vielleicht wäre es besser, an die Sache in mehr chronologischer Reihenfolge heranzugehen. Es soll daraus eine richtige Erzählung werden.
Um mein Leben mit dem Anfang meines Lebens zu beginnen, wie es David Copperfield hält, will ich erwähnen, daß ich an einem Sonntagnachmittag im Jahre Unseres Herrn 2017 auf Ganymed, dem vierten Jupitermond, zur Welt kam. Auf Veranlassung meines Vaters begleitete ein ungeheurer Donnerschlag meine Geburt, unterstützt durch einen sehr hübschen Schauer von Meteoren und künstlichen Kometen. Diesen Naturwundern folgte ein Maskenspiel, von meinem Vater für eine überarbeitete Vivaldi-Kantate geschrieben, in dem verschiedene Weibsstücke des Zwingers die Rollen meiner Patenfeen spielten. Die elf Feen, die sie darstellten, wa14
ren Redlichkeit, Treue, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Höflichkeit, Güte, Gehorsamkeit, Heiterkeit, Sparsamkeit, Tapferkeit und Reinheit. Jede beschenkte mich mit einem kleinen Andenken, das ein Symbol für die jeweilige ideelle Gabe war, die sie mir zudachte, aber irgendwie hatte mein Vater vergessen, die zwölfte Fee einzuladen – Ehrerbietigkeit –, und das wirkte sich verhängnisvoll auf meinen Charakter aus. Soll ich von meinen ›frühesten Erinnerungen‹ berichten, begegne ich gewissen Schwierigkeiten, denn nach so langer Zeit kann ich nicht sicher sein, welche meiner vermeintlichen Erinnerungen in der Tat meine eigenen und welche von Mütterchen, Pluto oder irgendeinem anderen Hirn stammen, das mein Meister zufällig für mich angezapft haben mag. Zum Beispiel besitze ich eine deutliche Erinnerung an Papi (Entschuldigung, aber das ist der einzige Name, unter dem ich ihn kenne; was mich angeht, hat er keinen anderen), wie er voller Verlangen in meine Augen schaut und ein Gedicht aufsagt, an das ich mich ebenfalls klar entsinne, das i;h jedoch hier nicht zu wiederholen wage. Ich glaube, es stammt vom Grafen von Rochester. Papi trägt ein Hemd im byronischen Stil, mit bauschigen Ärmeln und weichem, weiten Kragen. Seine Hose ist aus schwarzem Samt und weist silbernen Schnurbesatz auf. Sein gelichtetes Haar, so blond, daß es fast weiß wirkt, hängt ihm 15
auf die Schultern. Seine Augen blicken im dunklen Blau des marsianischen Himmels drein, und ihr Blau wird von der außergewöhnlichen Bleichheit seiner Haut in einen noch höheren Kontrast gesetzt. Wie seine Kleidung und sein gedehntes A ist die Blässe reine Effekthascherei. Er hätte ohne weiteres sonnengebräunt gewesen sein können. Das ist bestimmt nicht meine Erinnerung. Vielleicht ist es Mütterchens Erinnerung, obwohl sie behauptete, als ich ihr das Gedicht vortrug, so etwas hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört (dabei versuchte sie unaufhörlich, ihr Gekicher einzustellen). Es kann ein Erinnerungsfetzen irgendeines aus dem Dutzend der Weibsstücke auf Ganymed sein, denn Papi war der Champion des Zwingers und durfte sich folglich durchaus dazu ermutigt fühlen, seine Gunst mit aller Freigebigkeit zu gewähren. Nach der Anzahl gezeugter Zwingerabkömmlinge, die für sich rechtmäßig seine Vaterschaft beanspruchen können, ist es offenkundig, daß Papi sich diesen Anregungen zugänglich zeigte. Ich bin niemals allen meinen Halbbrüdern und Halbschwestern begegnet (und weiß, daß ich nie allen begegnen werde). Eine andere Erinnerung, von der die Wahrscheinlichkeit größer ist, daß es sich wirklich um meine eigene handelt, ist ein Anblick Papis aus einem Blickwinkel von ungefähr einem Meter über dem Boden. Diesmal ist er 16
ganz herkömmlich nackt und lacht, daß ihm beinahe der Bauch platzt. An den Witz kann ich mich nicht entsinnen. Dies muß eine meiner letzten Erinnerungen an ihn sein, denn ich sehe noch hinter ihm das lebhafte Grün einer irdischen Wiese, und das Licht, das auf seinem Körper spielt, kann nur von der Sonne kommen, wie man sie auf unserem Heimatplaneten scheinen sieht, so und nicht anders. Trotz der verkürzten Ansicht, die meine Perspektive bedingt, vermag ich festzustellen, daß Papi den Körper eines Athleten besitzt – aber so war es ja mit jedem, als noch die Herrschaft der Meister bestand. Papi war in seinen somatischen Geschmacksrichtungen wirklich sehr bescheiden, er neigte mehr zu Cellini, während die Mehrheit eher einen MichelangeloStil bevorzugte. An meine Mutter, Clea Melbourne Clift, habe ich mehr Erinnerungen, aber keine ist so deutlich. Sie besaß eine Art klassischer Schönheit, gegen welche die Zeit mit ihrer grausamen Macht nichts auszurichten vermochte: eine vornehme Stirn; eine makellose Nase; Lippen, die aus Marmor gehauen gewesen sein könnten, so tadellos war ihre Aneinanderfügung. Tatsächlich gab es etwas an Clea Clift, von ihrer Zehenspitze bis zur höchsten Locke ihres tadellos frisierten Haars, das an das Werk eines Steinmetzen erinnerte. Clea hielt soviel von der Form. Sie wollte immer, daß Pluto und ich sie ›Clea‹ oder 17
noch lieber ›Miss Clift‹ nannten, und sie konnte erbost werden, wenn wir es uns in Augenblicken unüberlegter Zuneigung erlaubten, das schlichtere ›Mama‹ oder Papis leicht scherzhaftes ›Mütterchen‹ zu verwenden. Wären wir Franzosen gewesen, so hätte sie, wie ich zu behaupten wage, auf dem förmlichen vous bestanden und uns das familiärere tu verboten. Wie so viele Frauen ihrer Generation – der ersten, die unter der Herrschaft der Meister aufwuchs – war Clea ein wenig von blaustrümpfigem Sinn und achtete sehr zimperlich auf ihre Eigenständigkeit. Zu heiraten und den Namen Weiß anzunehmen – wie berühmt er auch war und wie stolz sie andererseits auch darauf sein mochte, mit ihm in Zusammenhang gebracht zu werden –, hätte im Gegensatz zu ihrem ersten Glaubensartikel gestanden: Die Geschlechter müssen in jeder Beziehung gleich sein. Pluto und ich wußten nie so recht, wie wir uns in Cleas Anwesenheit verhalten sollten. Sie wünschte nicht, daß wir in ihr eine Mutter sähen, sondern eher eine Art Freundin der Familie. Eine entfernte Freundin. Sie interessierte sich kaum für unsere Bildung und beschränkte ihre diesbezügliche Aufmerksamkeit darauf, uns mit kleinen Bruchstücken aus Geschichte und Kulturgut zu versorgen. Aus irgendeinem Grund besaß anscheinend die Sage vom Ohr van Goghs auf sie eine besondere Anziehungskraft, und sie übertrug sie in 18
mein behagliches Gravo-Pulsations-Kraftfeldkörbchen in einem Dutzend Variationen, in denen mit der Zeit die Person van Goghs immer mehr an den Rand rückte und statt dessen seine ›Freundin‹ in den Mittelpunkt trat. Alles, woran ich mich noch in bezug auf van Goghs Freundin entsinnen kann, ist jedoch, daß sie, wie Mütterchen, eine klassische Nase besaß sowie die Fähigkeit, Männer aus Liebe wahnsinnig zu machen. Es war Cleas Bestimmung gewesen, der erste Welpe zu sein, der auf dem Ganymed das Licht der Welt erblickte, wo sich derzeitig und noch für mehrere Jahrzehnte danach der führende Zwinger des Sonnensystems befand. Papi kam erst später zum Ganymed, nach dem großen Erfolg seines Romans Ein Hundeleben, mit dreiunddreißig Jahren. Papi zufolge wollte Clea Melbourne Clift mit ihm zuerst nichts zu tun haben. Erst als sich absehen ließ, daß sein literarisches Ansehen nicht die Flüchtigkeit eines Lieblings der Saison hatte und sich abzeichnete – das war noch wichtiger –, daß Cleas Zurückhaltung lediglich bewirkte, daß Kandidaten um sie herumscharwenzelten, die sie angesichts ihres überlegenen Charmes ansonsten nicht einmal anzusehen gewagt hätten, ließ sich Clea erweichen. Zu spät. Einen Monat früher hätte sie Papi noch in die Ketten der Monogamie schlagen können, wie er es ihr selbst mehrfach anbot; aber wie es dann stand, konnte sie froh sein, noch 19
die Position der ›Hauptgattin‹ zu erringen. Ihre Romanze ähnelte der von Romeo und Julia in der Hinsicht, daß das Unglück der Liebenden aus ihrem haarscharfen Versäumnis resultierte, einander ihre Uhren anzugleichen. Von Anfang an zankten sie. Ich entsinne mich vor allem an einen Abend (der sehr entscheidend für diese Geschichte war, denn in der Nacht danach erfolgte die Zeugung ihres Erzählers), an dem sämtliche Ursachen ihres Zerwürfnisses alle zugleich auf die Tagesordnung gelangten. Papi war seinen Pflichten als Erfolgsrüde ernster nachgegangen als gewöhnlich, und daher hatte er Clea nicht jenes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt, zu dem sie sich berechtigt fühlte. Überdies hatte er sich herabsetzende Bemerkungen über Cleas Interpretation einiger Lieder Schuberts geleistet. (Habe ich erwähnt, daß Clea Sängerin war? Nicht? Dann möchte ich hier sofort klarstellen, daß ihre Stimme nicht ihre wichtigste anziehende Eigenschaft war – für Papi zählte sie sogar überhaupt nicht zu ihren anziehenden Eigenschaften.) Während des Streits scheine ich Cleas schönes Gesicht mit meinen Augen zu sehen – normalerweise ist es von zarter Rosafärbung, nun jedoch aus Ärger gerötet –, also nehme ich an, daß diese Erinnerung ihren Ursprung in Papis Gedächtnis hat; die Klangfarbe jedenfalls, die vorherrschende Ironie, das Gefühl, daß alles, was er sagt, zwischen ›Gänsefüßchen‹ steht, stammt von 20
ihm. Aber vielleicht ist die ganze Erinnerungsszene nicht mehr als ein durchschaubarer ödipaler Traum, der sich als geliehene ›Erinnerung‹ tarnt. Oder noch schlimmer – haben sich vielleicht Wahrheit und Spinnerei, Geschehen und Wunschdenken so unentwirrbar ineinander verflochten, daß es selbst einen Tiresias überfordern müßte, sie aufzulösen? Na schön, dann muß ich eben ein Schwert zur Hand nehmen und das Knäuel in der Mitte zerhauen … Der Duft von Jasmin. Die Geschmeidigkeit von Cleas Haut unter meiner Hand. Alles in den rosafarbenen Schein eines Wüstenzwielichts getaucht. »Also wirklich, Clea«, höre ich meine Stimme sagen, »wir haben das doch schon alles diskutiert. Ich muß diese Dinge im Interesse des Zwingers erledigen … damit wir den Standard halten. Das kannst du doch wohl verstehen. Wirklich, du müßtest stolz darauf sein.« Sie entfernt sich und verschleiert ihre Schönheit wie ein bestürzter Tintenfisch in Schwaden tintenhaften Nebels. »Immer nur der Zwinger!« quengelt sie. »Würdest du mich tatsächlich so lieben, wie du's behauptest, wärst du nicht jede Nacht fort …« »Das ist es ja eben, Clea, mein liebstes Weib. Ich möchte doch nie fort von dir sein. Aber es ist meine Pflicht, meine Berufung.« »Und heute abend, bloß weil unser Meister dir dazu 21
den Anstoß gegeben hat …« »Ist das etwa kein guter Grund? Möchtest du keinen zweiten Sohn?« »Doch, aber …« »Und möchtest du nicht den besten Sohn« – gemeint bin ich –, »den du überhaupt haben kannst? Wenn ja, meine liebe Clea, na, dann ist heute nacht die richtige Nacht. Sei vernünftig, Liebling.« »Ach, vernünftig«, ruft sie mit dem größtmöglichen Abscheu. »Du wirst immer recht behalten, wenn du Vernunft als Argument anführst.« Aber schon begannen die schwarzen Nebel sie einzuhüllen. »Wenn dich Logik nicht überzeugen kann, dann will ich dir zeigen, was ich meine.« Papis Bewußtsein ruft nach dem Meister, und noch im gleichen Moment schließt sich das Geflecht der Leine um seinen und Cleas Geist, verbindet sie in telepathischer Feßlung. Eine Argumentation ist nicht länger möglich, der Verstand unterdrückt; nur die Vision hält an, und es handelt sich um eine Vision von mir, von Weißzahn, dem Sohn, den sie bekommen sollen, dessen Gestalt potentiell in dem chromosomatischen Muster vorhanden ist, das ihr Meister, ein bekannter Züchter, während der vergangenen Monate aus den Billionen möglicher Abwandlungen und Kombinationen, die ihm zur Auswahl standen, ausgewählt hat. 22
Ich muß sagen, daß diese Vision mir sehr ähnlich sieht. Das Gesicht gehört so zweifelsfrei mir wie jenes, daß mir jeden Morgen aus dem Spiegel des Badezimmers entgegenblickt. Freilich, inzwischen fehlen mir ein bis zwei der Zähne, die das Lächeln des Muster-Weißzahns so blendend machen, und auf meiner linken Wange habe ich eine kleine Narbe (man bemerkt sie nur, wenn ich erröte), die in der Vorausschau noch fehlte. Aber diese Abweichungen sind das Werk der Umwelt, keine Vererbung. Der Körper ist so hervorragend mit allen Vorzügen ausgestattet, wie sich's jeder nur erhoffen kann, doch macht sich mittlerweile auch hier die Umwelt bemerkbar (ich esse zuviel). Prächtige Hinterbeine und ein schöner Rumpfbau. Der Kopf ist schmal, ganz wie es der klassischen Beschreibung entspricht, aber dennoch mit beträchtlicher Intelligenz versehen. Und natürlich ist mein Charakter einwandfrei: Redlichkeit, Treue, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit … »Ach«, seufzt Clea, »also schön.« Ich küsse sie – oder vielmehr, Papi küßt sie –, und damit beende ich wohl besser dieses Erinnerungsbruchstück. An meinen ersten Besuch auf der Erde im Jahre 2024 habe ich nur eine ganz nebelhafte Erinnerung, denn dafür muß ich auf meine eigenen mnemonischen Quellen zurückgreifen. Mein hauptsächlicher Eindruck ist anscheinend der Sonnenschein, das echte, unnachahm23
bare Sonnenlicht der Erde. Organe, die sich unter gewissen Bedingungen entwickelt haben, werden sich naturgemäß unter eben diesen Verhältnissen am besten bewähren, und deshalb kann kein Ersatz, wie kunstfertig er auch immer angelegt sein mag, jemals genau dieses Gleichgewicht von Farbe und Intensität, diesen Wechsel von Nacht und Tag, Sommer und Winter, Dunst und Klarheit erzeugen, welches unsere Zellen jederzeit wiedererkennen, wonach sie verlangen, das sie ersehnen. Obwohl auf dem Ganymed geboren, wußte ich sofort: die Erde war meine Heimat. Aber sie gefiel mir nicht. In dieser Beziehung war ich zweifellos vom Vorbild meines Mütterchens beeinflußt, für das jeder Tag, den sie fern vom zivilisierten Leben des Jupiter verbringen mußte, qualvolle Langweile bedeutete. »Hier kann man nichts anfangen«, pflegte es zu jammern, sobald Papi von einem seiner häufigen Ausflüge ins Land zurückkehrte. »Hier gibt's nichts zu sehen und nichts zu hören. Ich verliere noch den Verstand.« »Es dauert ja nicht wesentlich länger, meine liebste Clea. Außerdem ist es hier für dich gut. Hier auf dem Land zu sein, frei von der Leine, ganz auf dich gestellt, das fördert das Selbstvertrauen und den Einfallsreichtum.« »Selbstvertrauen und Einfallsreichtum!« rief Clea und stampfte mit einem Fuß in goldenem Slipper auf. 24
»Ich will wieder die Leine. Aber ich mache mir nicht um mich Sorgen. Es geht um die Jungs. Es ist Wochen her, seit Weißzahn und Pluto irgendwelchen Unterricht erhielten. Statt dessen laufen sie in diesen Wäldern herum wie zwei wilde Indianer. Wie Dingos! Und wenn sie eingefangen würden?! Man fräße sie lebendigen Leibes auf.« »Unsinn. Man könnte meinen, dies wäre Borneo oder Kuba, so wie du daherredest. In den Vereinigten Staaten von Amerika des Jahres 2024 gibt es keine Dingos. Dies ist ein zivilisiertes Land.« »Und was ist mit diesen Leuten, von denen du erzählt hast, du hättest sie gestern kennengelernt? Wie hießen sie doch gleich? Die Nelsons. Sie waren Dingos.« »Sie waren nur arme Landleute, die sich hier aus dem bloßen Dreck das nackte Leben zusammenzukratzen versuchten. Sobald man sich ihnen einmal verständlich gemacht hat, sind sie sehr freundlich.« »Ich finde es scheußlich!« entgegnete Clea und strekkte sich in der kleinen Gravo-Nische des Fertighauses aus, das unser Meister uns zur Verfügung gestellt hatte, damit wir nicht ganz ohne Annehmlichkeiten auskommen müßten. »Mit ihnen zu reden. Ihren dreckigen Fraß zu essen. Du könntest dich mit einer Krankheit anstekken.« »Dann würde ich den Zwinger Schröder verständigen 25
und mich heilen lassen. Also wirklich, diese Gegend Minnesotas ist so zivilisiert wie irgendein Gebiet Ganymeds. Mir gefällt's hier. Ginge es nach mir …« »Ginge es nach dir, wären wir bald alle Dingos! Der Zwinger Schröder – erzähle doch mir nichts vom Zwinger Schröder! Man könnte glauben, du wärest noch nie dort gewesen. Hast du eigentlich schon die Art und Weise gesehen, wie man Schoßhunde auf der Erde behandelt?« »Nicht gerade wie im Zwinger Schröder, aber …« »Nun, ich habe es gesehen, und ich sage dir, es ist barbarisch! Diese armen Schoßhunde leben ja wie die Tiere. Ungefähr so wie vor der Herrschaft der Meister. Alle laufen sie ohne Leinen umher, ständig in diesem gräßlichen Sonnenschein, unter freiem Himmel, und immer durch dies ekelhafte Grünzeug …« »Es ist nur Gras, meine Liebe.« »Ich finde es abscheulich. Es ist abscheulich von dir, hier leben zu wollen. Warum du mit mir und den Kindern diese Hölle auf Erden aufzusuchen wünschtest, werde ich niemals begreifen.« »Ich habe es dir schon dutzendfach erklärt – meine Arbeit erfordert es. Ich kann die Fortsetzung nicht einmal anfangen, ehe ich einen Begriff vom Schauplatz habe … vom Gefühl, hier festzusitzen, ohne Hoffnung zu sein, sterblich …« 26
Mütterchen stieß einen gedämpften Keuchlaut des Entsetzens aus und bedeckte sich die Ohren. Allein die Vorstellung der Sterblichkeit – ja, bereits das bloße Wort – stürzte sie in Depressionen. Sie ging zum Arzneispender und wählte eine Leuchtrakete, wie sich ein Trank mit schwach euphorischer Wirkung nannte, den man aus dem LSD entwickelt hatte. Nach einem Weilchen halluzinierte sie in ihrer kleinen Gravo-Nische zufrieden vor sich hin. Pluto und ich hätten auch gern eine Droge gehabt, aber Papi versprach, er wolle uns statt dessen ein Kapitel aus Ein Hundeleben vorlesen. Mein Vater Tennyson Weiß gehörte zur ersten Generation von Menschen, die außerhalb der Erde heranwuchs. Er war im Jahre 1980 geboren worden – kurz nach den ersten Anzeichen des Herrschaftsantritts der Meister; und man hatte Papi als Findling auf den Stufen eines Kraftwerks entdeckt. Sein erster Meister war mehr an botanischen Exemplaren interessiert als an der Fürsorge für Findlinge, und deshalb erhielt er anfangs eine nur lückenhafte Bildung. Trotzdem war es eine Bildung, wie sie noch kein Mensch zuvor genossen hatte – mit Ausnahme von vielleicht John Stuart Mill; aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß John Stuart Mill dafür einen ziemlich hohen Preis entrichtet hat. Wenn ein Meister nachhilft, kann man so polyma27
thematisch werden, wie man nur möchte. Sprachen und Wissenschaft, Musik und Sport – alles, was mehr an Befähigung und Übung verlangt als an kreativen Erkenntnissen – können jemandem zur ›zweiten Natur‹ werden, ohne daß man dazu mehr Mühe aufwenden müßte, als es beispielsweise kostet, einen Roman von George Eliot zu lesen. Im Alter von drei Jahren wurde Papi verkauft oder weitergehandelt oder irgendwie für irgend etwas ausgetauscht (wie die Meister diese Angelegenheiten unter sich regeln, hat nie eines ihrer Schoßhündchen so recht erfahren; danach gefragt, antworteten die Meister immer mit einem Vergleich zum Goldstandard – aber wer hat jemals den Goldstandard begriffen?) und zum Asteroiden Ceres gebracht, wo einer der ersten bedeutenden Züchter dann seine Fähigkeiten voll ausbildete. Tatsächlich war es in der Hauptsache auf die Erfolge des Meisters auf Ceres zurückzuführen, daß das Studium und die Zucht des homo sapiens nach und nach die Beachtung zumindest aller jener Meister fand, die sich mit den Problemen der Erde befaßten. Ob wir dem Meister auf Ceres dafür Dank schulden oder nicht – das zu beurteilen steht mir nicht zu. Ich wünsche hier lediglich darüber Klarheit zu schaffen, daß Papi zwischen drei und zwanzig Jahren keinen besseren Meister und keine gründlichere Bildung hätte erhalten können. 28
Dann, als er zwanzig Jahre alt war, stellte man fest, daß er Leukämie hatte. Obwohl es ohne weiteres in den Fähigkeiten seines Meisters lag, ihn von dieser Krankheit, die ihn mit Siechtum und Tod bedrohte, zu heilen (was lag denn eigentlich nicht in den Fähigkeiten der Meister?), geschah nichts. Wie der Meister Papi erklärte, während er auf dem Krankenbett ruhte, betrachtete man es als unschick, mit grundlegenden genetischen Materialien herumzupfuschen, wie es zur dauerhaften Heilung Papis vonnöten gewesen wäre. Papi lehnte sich dagegen auf, und er erhielt die Versicherung, sein Fall werde in den höchsten Gremien der Meister debattiert, aber es könne eine unbestimmte Frist vergehen, bis man zu einer Entscheidung gelange. Unterdessen verfrachtete man Papi zurück zur Erde, ganz ähnlich, wie man wohl ein minderwertiges Produkt zurück in die Fabrik schickt. Dort, in einer erbärmlichen, überbelegten Klinik mit zuwenig Personal im Nordosten Minnesotas, gequält von der Einsicht, daß sein Tod oder Leben für die Meister nicht mehr war als eine Frage der Schicklichkeit, schuf er sein großartiges Werk Ein Hundeleben. Er begann am selben Tag zu schreiben, als sein Meister ihm mitteilte, daß seine Leukämie geheilt werden sollte und er nach Ceres heimkehren dürfe. Ein Hundeleben war ein epochales Werk – wie Luthers Bibel, Das Kapital oder Onkel Toms Hütte. Sogar 29
die Meister lasen und bewunderten es. Tennyson Weiß bekam den Nobelpreis, wurde in die Academie Française gewählt und war der erste Mensch, der im amerikanischen Kongreß zwei Sitze einnahm – einen als Hauptsenator Arizonas und einen als Abgeordneter des Wahlkreises 9 in Minnesota. Mehr als jeder andere Mensch beeinflußte er den Ausgleich zwischen den Menschen und ihren Meistern. Und genau aus diesem Grund hatten ihn die Dingos – jener kleine Teil der Bevölkerung, der sich der Herrschaft der Meister noch immer widersetzte – auf ihrer Schwarzen Liste vermerkt, um sich an ihm zu rächen. Aus Ein Hundeleben hatten sie ihren Namen bekommen. Erstaunlich an diesem Roman ist vornehmlich, daß er vollständig aus dem Gesichtsfeld eines Hundes erzählt wird – eines echten Hundes, eines Köters der Industriellen Revolution. Die Erfordernisse der Allegorie verzerren niemals die realistische Oberfläche, und doch … trotzdem hat niemals jemand Papi in der Beschreibung der wesensbedingten, unvorstellbaren Fremdheit der Meister übertroffen. Wie Wuff zu seinem Herrn Fredy Kopfsalat, so verhält sich der Mensch zum Meister. Der Vergleich ist nahezu unendlich anwendbar. Bevor es Ein Hundeleben gab, hatten die Dingos (das ist nach wie vor die gebräuchlichste Bezeichnung für all die Dissidentenelemente vor dem Jahre 2037, denn ob30
wohl sie sich alle möglichen wohlklingenden Bezeichnungen zulegten – Republikaner, Baptisten, Harvard Club, B'nai B'rith etc. –, vermochten sie sich niemals auf einen gescheiten Markennamen zu einigen, um ihre Revolution zu verkaufen) solche Begriffe wie ›Zwinger‹, ›Leine‹ und sogar ›Schoßhund‹ als Beleidigungen verwandt. Papis Buch drehte dann den Spieß um. Er nutzte die Doppeldeutigkeit aller Begriffe aus und verwandelte ihre Beleidigungen ins Positive. Dadurch entwickelte es sich zu einer Art von Anerkennung, ein Schoßhund zu sein; Domestiziertheit war dem Zustand der Wildheit offensichtlich überlegen. Man braucht nur den Unterschied zwischen einem Windhund und einem Wolf, einem teuflisch schlauen Dackel und einem gewöhnlichen Dingo ins Augenmerk zu fassen, um zu erkennen, warum die Meister von Natur aus sind, was sie eben sind: unsere Herren. Der Erfolg des Buchs hatte andere, eher frivole Folgen. Alle, die es lasen – jeder, der jemand war –, begannen plötzlich ihre Kinder nach berühmten Hunden zu benennen. Seit im 17. Jahrhundert die Pilgerväter das Meer überquerten, hat keine Generation von Welpen sonderbarere Namen erhalten. Das sieht man, zählt man nur jene auf, die ganz von sich aus einen beträchtlichen eigenen Bekanntheitsgrad erreichten: Rintintin, Snoopy, Lassie, Pluto, Alf, Schnipp und Idefix. 31
Der Grund warum Papi noch einmal die Erde aufgesucht hatte, obwohl man erwarten durfte, daß er von seinem letzten dortigen Aufenthalt nur unerfreuliche Erinnerungen besaß, war seine nach kurzer Kunstpause angefangene Arbeit an einem neuen Roman, der zu Ein Hundeleben eine Fortsetzung abgeben sollte. Er trieb seine Arbeit daran in vollständiger Verschwiegenheit vorwärts, in privater Tätigkeit, die selbst in transzendentesten Augenblicken des Kontakts mit der Leine auch seinem Meister keinen Zugang zu seinem Wirken gestatteten. Denn so etwas hätte Zweifel am Wert seines Werkes als einer original menschlichen Leistung zugelassen. Die Tage seiner Forschungen auf der Erde verwandelten sich in Wochen, die Wochen in Monate. Mütterchen benahm sich in ihrer Langeweile immer lautstärker, und da Papi tagsüber meistens nicht zur Stelle war, um sich ihre Klagen anzuhören, mußten Pluto und ich das meiste davon über uns ergehen lassen und endlos mit ihr Dreier-Bridge spielen. Das war keine sonderlich anregende Beschäftigung für zwei Jungen in unserem Alter (ich war damals sieben, Pluto zehn), und wir versuchten, wann immer es sich einrichten ließ, ihr aus dem Weg zu gehen. Wir verbrachten die Tage damit, durch die Wälder zu streifen und uns die unzähligen Seen und Flüsse der Umgebung anzuschauen. Sich zu 32
verirren war unmöglich, weil wir ein Peilgerät hatten, das uns angab, wie wir jeden unserer Schritte buchstäblich zurückverfolgen konnten. Wir beachteten keine der Vorsichtsmaßregeln, die Mütterchen uns einschärfte, und ich bin sicher, daß wir, hätten wir bloß soviel Glück gehabt, Dingo-Kindern zu begegnen, mit Freuden mit ihnen Freundschaft geschlossen und an ihren wilden Spielen teilgenommen hätten. Pluto und ich hatten uns damals gegenseitig satt. Teilweise lag das am Altersunterschied; zum Teil an der gemeinsamen Isolation (nach zwei Monaten wird man die Gegenwart von so gut wie jedem leid). Außerdem glaube ich jedoch, daß eine grundsätzliche Abneigung zwischen Pluto und mir besteht, die sich bis hinab in den Kern unserer Zirbeldrüsen erstreckt (welches Organ, wie uns Descartes sagt, der Sitz der Seele ist). Und so kam es ganz natürlich dazu, daß Pluto und ich es waren, die den Wagen entdeckten – seinen Volkswagen späten Modells; das Fahrzeug war umgekippt und begann soeben zu brennen, als wir es erreichten. Die Windschutzscheibe war durch Schrot zu einer undurchsichtigen Fläche geworden und der Fahrersitz dunkel von Blut. Wir sahen den Wagen in Flammen aufgehen und mußten sofort vor der Hitze zurückweichen. Es bedurfte keines Pfadfinders, um Papis Blutspur zum Waldrand zu folgen. Anscheinend lebte er derzeitig 33
noch, denn überall auf dem Wege in den Wald fanden sich Anzeichen der Auseinandersetzung. Ein- oder zweimal riefen wir laut seinen Namen, aber der Wald blieb totenstill. Gibt es einen besseren Vergleich? Ein Tag verstrich noch, ehe ein Suchtrupp des Zwingers Schröder die Reste des Scheiterhaufens aufspürte. Die Asche war über die ganze Wiese verstreut. Der Meister des Zwingers Schröder identifizierte die Blutspuren am Rande der Lichtung als von Papi und ausschließlich von ihm, und auch das an eine Eiche genagelte Ohr war, wie er feststellte, ohne den Anflug eines Zweifels ein Stück von Papi. Das abgetrennte Ohr bekam Clea. Vielleicht war es genau das, was sie seit jeher bloß von ihm gewollt hatte. Sie ließ ein besonderes Medaillon dafür anfertigen, um es darin aufzubewahren – als eine Art von Reliquie. Was seine Hauptsache betrifft, so durfte man davon ausgehen, daß die Dingos ganze Arbeit geleistet hatten, um sie aus der Welt zu schaffen. Unter normalen Menschen glaubte man weithin (und ich bin auch nicht völlig sicher, daß es unwahr ist), die Meister könnten einen Körper sogar noch aus Hackfleisch restaurieren. Am Schauplatz der Mordtat errichtete man ein Denkmal. Es bestand aus einer Statue Fredy Kopfsalats und Wuffs. Unter die bronzene Darstellung setzte man eine Tafel mit der Inschrift: 34
TENNYSON WEISS 1980-2024 Ein Märtyrer im Geiste der Domestikation Ferner stand darunter ein Zitat aus seinem Roman: ›Ach, welch ein Segen ist die Knechtschaft!‹ Später haben Dingos das Denkmal auf eine Art und Weise entstellt, die zu gräßlich ist, um sie hier zu schildern.
2. Kapitel Worin ich von meinem Meister schändlich vernachlässigt werde und meinem Bruder die Nase blutig haue. Die Meister … man erlaube mir, nun ein paar Worte über die Meister zu äußern. Vielleicht werden meine geschätzten Leser es mir zum Vorwurf machen, daß ich meine schlechtbezahlte Schreibe an einem Thema abstumpfe, das so fadenscheinig und abgedroschen ist wie die Meister. Heutzutage gilt es als gutes Benehmen, sich über diesen Gegenstand auszuschweigen, so wie es im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. höflich war, mit Fremden nicht über die Frage der Dreieinigkeit zu streiten. Ob der Sohn mit dem Vater aus einer Substanz bestand, aus gleicher Substanz oder vielleicht aus nur ähnlicher Substanz, das war eine Sache, die man am liebsten jedermanns eigenem Gewissen überließ. Diese Analogie reicht weiter, als ich ursprünglich aufzuzeigen beabsichtigte, denn die Meister waren unsere Götter, und obwohl ihre Altäre nun umgestürzt sind, haftet ihren leeren Schreinen und Tempeln noch etwas von Heiligkeit an (oder Unseligkeit, was fast das gleiche ist). Wenn Götter sterben, münzt man sie um zu Dämonen, und dann sind sie, falls sich überhaupt etwas ändert, unheimlicher als vorher. 36
Doch da die meisten Personen, die an der heutigen Kontroverse über die Wesensnatur der Meister teilhaben, im Gegensatz zu mir nicht den Vorteil der direkten Bekanntschaft mit ihnen vorweisen können, darf ich wohl zu Recht so etwas wie apostolische Autorität für mich beanspruchen – ein Unterschied, den mir, da bin ich sicher, nur wenige der Diskutanten mißgönnen werden. Soweit unsereins sie begreifen kann, läßt sich von den Meistern sagen, daß sie ein rein elektromagnetisches Phänomen sind – beschaffen aus einer ›Substanz‹, die man weder ›Materie‹ noch ›Energie‹ nennen kann, die aber nichtsdestotrotz ein Potential für beides besitzt. Aber auch das ist nicht völlig richtig, denn damit unterschlage ich das Neutrino. Das Neutrino ist ein subatomares Elementarteilchen, dessen Masse 0 ist, dessen Ladung auch 0 ist, dessen Drall jedoch immerhin + ½ beträgt. Nun, und den besten Kennern zufolge (als die sie selbst gelten können) sind die Meister mehr oder weniger (das hängt ab von noch ein paar anderen Dingen) mit diesem Drall gleichzusetzen. Als unmittelbares Ergebnis dieser wunderbaren Eigenschaften erreichte (sollte ich nicht lieber sagen ›erreicht‹?) die Macht der Meister kosmische Proportionen, und ihr Wissen näherte sich der Allwissenheit. Sie waren nicht von ausgesprochen ewiger Natur, aber was 37
besagt diese Einschränkung schon? Selbst schlicht als ein Kraftfeld betrachtet (oder ein entsprechendes Potential) waren sie als Ganzes hinsichtlich ihrer Dimension und ihres Horizonts mindestens vergleichbar mit dem Magnetfeld der Erde. Neben ihnen ist die Menschheit bedeutungslos und lächerlich – jedenfalls schien sie es in jener Zeit meistens zu sein. Wie für Jehova in seinen früheren, stärker anthropomorphen Tagen war es für die Meister nicht das geringste Problem, uns die Angelegenheiten der Erde zu entwinden und in ihre Hand zu nehmen. Sie waren, obwohl nicht unbedingt allmächtig, doch mächtig genug, soweit es uns anging, und wahrscheinlich auch meistenfalls für ihre Zwecke. Die Meister waren im strengsten Sinne des Wortes unberechenbar. Man konnte sich nur mit ihnen abfinden, sie verehren und das Beste hoffen. Das Beste, was sich erhoffen ließ, war die Leine. Trotz der vielen hundert Bücher, die schon darüber geschrieben worden sind, hat sich die Leine der Beschreibung stets entzogen: mit ihren Wellen von Erkenntnis, die den Geist durchbrausen; dem Gefühl, mit den transzendentalsten Kräften vereint zu sein, eine Speiche am Angelpunkt, um den sich das Universum dreht; der vollkommenen Sicherheit, die sie gibt; der Ekstase und verzehrenden Liebe. Natürlich erreichte man nicht immer solche Höhen. Manchmal äußerte sie sich nur in einem leichten, 38
nebelhaften Gefühl des Wohlbefindens – nicht mehr als das Fehlen von Unlust. Aber wäre die Leine nie mehr gewesen als ein Beruhigungsmittel, sie hätte die Menschen nicht so stark binden können, wie sie es tat, sie nicht dazu bringen können, die Knechtschaft zu lieben. Was war die Leine also wirklich? Vorausschicken will ich, was sie nicht war. Sie war keine telepathische Verbindung‹ zu den Meistern, jedenfalls nicht mehr, als ein Rucken mit der ledernen Leine am edelsteinbesetzten Halsband eines Pudels Sprechen ist. Gewiß, sie war das Mittel, mit dem sich die Meister mit uns verständigten – aber sie konnten sich nicht über mehr mit uns verständigen, als unser Geist zu begreifen imstande war, und ich kann jedem versichern, daß selbst unsere gewaltigsten Geistesriesen niemals die geistige Größe der Meister auch nur im entferntesten Ansatz ermessen könnten. Die Leine war ganz einfach ihre Berührung. Die Fluten von Ekstase, welche damit auftraten, waren nichts anderes als die Art der Meister, am Halsband zu ziehen. Eine Berührung ihrer Hand konnte das menschliche Nervensystem aus grobem Blei in glänzendes Gold verwandeln, oder sie versetzte ein menschliches Hirn buchstäblich mit Lichtgeschwindigkeit in den Zustand der Idiotie, aber sie konnte den Menschen, ohne daß es nötig gewesen wäre, die Natur des Menschentiers um39
zukrempeln, keineswegs zu etwas machen, das er nicht war; um es kurz auszudrücken, die Meister konnten uns nicht zu sich auf ihre Ebene erheben. So begehrenswert die Leine auch war, sie ließ sich nicht herbeizwingen. Sie kam, wie der Stand der Gnade, als Geschenk; oder überhaupt nicht. Wie oft ein Schoßhund an die Leine kam oder wie stark sie ausfiel, das hing vollständig von der Laune oder Gutwilligkeit des Meisters ab. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich eine andere weitverbreitete Falschvorstellung richtigstellen: die Meister sind nicht alle gleich. Sie besitzen einzelne, individuelle Persönlichkeiten, wie jeder Schoßhund bestätigen kann, der mehr als einen Meister hatte. Manche von ihnen schienen um das Wohlergehen ihrer Schoßhündchen schwer besorgt zu sein. (Welches Gewicht ein solches Interesse in der Gesamtheit des Daseins eines Meisters hat, werden wir niemals herausfinden, denn ein Schoßhund kann von seinem Herrn ausschließlich wissen, was für ein Interesse er an Schoßhunden hegt.) Andere steckten sie einfach in einen Zwinger und ließen sie darin faulenzen, unterzogen sich nur selten der Mühe, sie anzuleinen und sie auf die Wege der Meister zu führen. So ein Meister war der Meister des Zwingers Schröder. Binnen einer Woche nach dem Meuchelmord an unserem Vater kamen Pluto und ich in den Zwinger Schrö40
der. Clea sagte uns, es sei nur für kurze Zeit, und sie werde uns bald abholen. Vielleicht meinte sie es ursprünglich ernst, aber ich hatte von Anfang an das Gefühl, ihr Verhalten ähnele dem Vorgehen der Stiefmutter von Hänsel und Gretel. Ohne Zweifel wußte Clea genau, was für ein Quartier der Zwinger Schröder war, denn ein paarmal hatten wir gehört, wie sie sich bei unserem armen Vater darüber ausjammerte. Papi – davon waren wir überzeugt – hätte uns nie an einem so freudlosen Ort zurückgelassen. Aber Clea scherte sich nun, da Papi dahin und mit ihm der Glanz entschwunden war, der auf sie zu fallen pflegte, ganz einfach nicht länger um die beiden Welpen, die er ihr gemacht hatte. In rein äußerlicher Beziehung waren wir gut versorgt, das kann ich verbürgen. Der Zwinger Schröder (benannt nach einer winzigen Ortschaft, die einst an derselben Stelle stand und wovon es in der Zeit vor der Herrschaft der Meister hieß, man könne, ohne ein Spitzenfußballspieler zu sein, einen harten Köttel vom einen zum anderen Ende schießen) besaß eine ausgezeichnete Sportanlage, Warm- und Kaltbäder, Golfplätze und Tennishallen, es gab in allen Sportarten eine hervorragende Robot-Unterweisung, und die Zwingernahrung war mit aller exquisiten Schlichtheit zubereitet, deren nur die feinsten Geschmäcker fähig sind. Unsere Räume, sowohl die öffentlichen als auch die priva41
ten Räumlichkeiten, waren weitläufig, luftig und hell. Die zentrale architektonische Besonderheit des Zwingers Schröder, der Edelstein, für den alles andere nur die Einfassung abgab, war ein Nachbau der Kathedrale St. John the Divine in New York City, bis ins kleinste Detail dem Original entsprechend. (Warum? habe ich mich immer gefragt. Warum gerade sie? Warum nicht Notre-Dame, der Dom in Salisbury, die Liebfrauenkirche?) Der Nachbau der Kathedrale erhob sich inmitten einer englischen Gartenlandschaft mit den Sportplätzen. Natürlichkeit war bei allem der beherrschende Stil, und die Tatsache, daß alles, innen wie außen, auf unsere Bequemlichkeit abgestellt war, machte nichts weniger natürlich. Im Sommer unterzog man die Luft der Filterung und Kühlung, und im Winter versorgte uns die Kuppel, die den Zwinger umgrenzte, mit Wärme und trotzte den kurzen Wintertagen zusätzliche Stunden des Sonnenscheins ab, um uns warmes Licht zu spenden. Die Kuppel rund um den Zwinger durchmaß gut eineinhalb Kilometer, und innerhalb ihrer Grenzen waren wir samt unseren Annehmlichkeiten vor der Feindschaft der Dingos geschützt. Es wäre ein ideales Dasein gewesen – hätte sich bloß unser Meister ein wenig mehr um uns gekümmert.
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Mütterchen verließ uns am Tor zum Zwinger Schröder, als eines herbstlichen Nachmittags die Sonne sank. Außerhalb der Kuppel war der Bodenwuchs verwelkt, und die Äste der Bäume waren bereits entlaubt; drinnen jedoch leuchtete das Gras permanent in hochsommerlichem Grün, und obwohl auch unter der Kuppel die Blätter an den Bäumen sich röteten und abfielen, taten sie es immerhin in so langsamer, würdevoller Reihenfolge, daß man niemals den Eindruck von Verfall hatte. Mütterchen gab uns einen flüchtigen Abschiedskuß; dann schwebte sie, umstrahlt von barocken Lichtkegeln goldenen Glanzes, wie eine angeleuchtete Madonna Berninis, empor in den klaren blauen Oktoberhimmel. Während ihre Gestalt zu einem Pünktchen zusammenschrumpfte und endlich verschwand, spürten wir, wie sich auch unsere Leinen lösten (denn der Einfluß eines Meisters überschreitet nicht einige Dutzend Kilometer) , und wir standen plötzlich in geistiger Nacktheit in einer fremden Welt – einer Welt, von der wir, da sie der Schauplatz des gewaltsamen Todes unseres Vaters gewesen war, nicht erwarten durften, daß sie uns freundlich gegenüberstand. In mittlerer Entfernung erkannten wir den Hochbau der Kathedrale, und da wir annahmen, dabei handele es sich um die Verwaltung, schlugen wir die Richtung dorthin ein, indem wir dem Verlauf eines sauberen Kieswe43
ges folgten, der um einen Sportplatz führte, auf dem sich anscheinend gerade ein Wettkampf in vollem Gange befand. Fünf Jugendliche liefen kunterbunt in einem so gleichwertig bestrittenen Rennen eine Aschenbahn entlang, daß keiner von ihnen länger als für ein paar Augenblicke einen Vorsprung von wenigen Metern halten konnte. Etwas weiter entfernt widmeten sich andere junge Männer dem Diskus- und Speerwerfen, während sich auf dem Rasen, voneinander getrennt durch regelmäßige Abstände, angeordnet wie ein Punktmuster, Paare von Ringern bekämpften und dabei vor Anstrengung laut ächzten. Jeder dieser Sportler war blond, sonnengebräunt und besaß einen Körperbau, der den Eigenheiten entsprach, die Michelangelo für seinen David festgelegt hatte. Weder Pluto noch ich brachten es fertig, eine Ansammlung so schöner Menschen in einer so tadellosen Gartenlandschaft durch eine derartig profane Handlung wie das Erfragen des Weges durcheinanderzubringen, so wenig, wie es uns in einem Haus, das wir zum ersten Mal betraten, eingefallen wäre, auf dem Kaminsims die chinesischen Statuetten herumzuschieben. Freudlos setzten wir die Wanderung in Richtung der Kathedrale St. John fort. Der Meister auf Ganymed, von dem Pluto und ich unsere erste Bildung erhalten hatten, war kein begeisterter Archäologe gewesen, und deshalb gab es dort 44
kaum Nachbauten außer einigen Bauwerken von rein zweckbestimmter Art – eine verkleinerte Ausgabe von Schloß Hampton Court, ein paar palladianische Villen, dergleichen eben. Nichts Monumentales. Unser erster Eindruck von St. John beschränkte sich daher völlig unverhältnismäßigerweise allein auf die Ausmaße. Die Kathedrale ist ein reichlich gewöhnliches Bauwerk, aber ein großer Bau. Das Kinn hing mir herab, und mein Herz schlug doppelt so schnell, als ich meine Hand in die Höhe streckte, um den Torus am Sockel einer der riesigen Säulen hinten im Kirchenschiff zu berühren. Die Säule war kühl und prickelte; sie erinnerte mich daran, daß hier, was Stein zu sein schien, in Wahrheit weit weniger stofflich war: ein ungeheuer starkes Kraftfeld in einer Hülle aus Materie, deren Dicke nur Moleküle betrug. Diese kulissenartige Bauweise war es (doch möge man mir abnehmen, daß die Illusion perfekt war und die Kulisse restlos überzeugte), die für die Meister ›Architektur‹ zu einer Belanglosigkeit machte. Unter solchen Umständen war Großzügigkeit selbstverständlich, und alle Überlegungen galten nur dem Geschmack. Obwohl sie leer war, haftete der Kathedrale irgend etwas an, das in Pluto und mir den Wunsch erweckte, noch zu bleiben. Die bloße Großartigkeit des Bauwerks schien unsere unwichtigen Problemchen völlig auszulöschen. Was konnten denn wir schon unter einer Decke 45
zählen, die sich so hoch über uns befand? Es sind ihre Maße, die den Göttern die Herzen der Gläubigen gewinnen, nichts anderes. Der beste Gott ist immer ganz einfach der größte Gott. (Lieber Leser, entschuldige diese kleinen Abschweifungen vom wahren Pfade des roten Fadens der Erzählung. Eine meiner Schwächen betrifft die Theologie, aber ich muß es lernen, sie straffer zu zügeln.) Kurz nachdem wir die Kathedrale betreten hatten, kam hinter uns ein einzelner Gläubiger herein: eine junge Frau unbestimmbaren Alters (ich hätte sie auf achtzehn Jahre geschätzt – und wäre damit schwer auf die Schnauze gefallen), die Kleidungsstücke von ziemlich unwahrscheinlichem Schnitt trug und eine Haut von so weißer Beschaffenheit besaß, daß jede Geisha sie darum beneidet hätte. Unterm Eingang bekreuzigte sie sich und strebte dann mit solchem Schwanken und derartiger Unsicherheit durch den Mittelgang, daß man befürchten mußte, sie werde trotz der umfangreichen Stütze, die ihr Reifrock abgab, beim nächsten Schritt ganz gewiß hinfallen. Ihr schwarzes Haar war auf eine kunstvolle, verwickelte Art und Weise frisiert und gekrönt mit einem Hut von noch größerer Kompliziertheit – ein Gebilde aus Stoff, Blumen, Edelsteinen und Papiermache, das mit dem Hochaltar um die Aufmerksamkeit der Gläubigen wetteifern zu wollen schien. Es kam uns 46
geradezu wie eine Schande vor, daß außer Pluto und mir niemand anwesend war, um es gebührend zu bewundern. Als dieses wandelnde Spiegelbild der Mode die vorderste Bankreihe des Kirchengestühls erreicht hatte, vollführte es einen Knicks (im ersten Augenblick dachte ich, die Frau bräche nun wirklich zusammen), betrat dann die Bankreihe und kniete sich in andächtiger Haltung nieder, um in einem kleinen schwarzen, dem Ridikül entnommenen Buch zu lesen. Wir näherten uns der Frau mit allem Respekt, weil wir nicht wußten, ob es richtig war, in so einem Bauwerk nackt herumzulaufen. Das war meine erste Bekanntschaft mit dem Schuldgefühl, und sie mißfiel mir sehr. Schüchtern streckte Pluto eine Hand aus und lenkte die Aufmerksamkeit der Frau (nun konnte man ihr ansehen, daß sie doch nicht so jung war) auf uns, indem er an ihrem weiten Ärmel zupfte, und sie maß uns mit kühlem Blick. »Was ist los? Seht ihr nicht, daß ich lese? Warum wendet ihr euch nicht an einen Roboter? Dafür sind sie doch vorhanden. Na, steht nicht hier herum und haltet Maulaffen feil. Was wollt ihr? Antwortet!« »Bitte, Miss«, stotterte Pluto, »wir sind die neuen Welpen und wissen nicht, wohin wir sollen.« »Natürlich zu einem Roboter. Sehe ich vielleicht aus wie ein Roboter? Sieht das hier« – mit dem kleinen 47
schwarzen Buch deutete sie rundum in die Weite der Kathedrale – »etwa aus wie ein Klassenzimmer?« »Könnten Sie uns bitte zu einem Roboter bringen? Wissen Sie, wir kennen uns hier noch nicht aus.« »Reißt die Augen auf«, rief die Frau. Man sieht sofort, daß etwas Beängstigendes Roxanna Proust zu eigen war, als wäre die bloße Melancholie, in die sie sich einhüllte, eine aktive aggressive Kraft gewesen. Fast unablässig war sie von Gefühlen überschwemmt. Es kümmerte sie anscheinend nicht, wie mehr oder weniger geschmackvoll ihre Gefühle gerade ausfielen, solange sie davon nur genug hatte, um sie richtig auszukosten. Bevor wir sie störten, hatte sie in ihr Buch geweint, und noch während sie uns ausschimpfte, bebten in ihren Augenwinkeln – sie besaß dunkle Augen – zwei Tränen. Die Haut rings um die Augen war – wie durch die Anstrengung, die Tränen herausgequetscht zu haben – zu einem großen Dreieck von Fältchen verpreßt. Im Profil ragte ihre Nase weit nach vorn, aber der Nasenrücken war anständig glatt und scharf; ihr Kinn war klein und leicht zurückversetzt, und im Streß pflegte es zu zittern; das heißt, das war bei ihr ein Normalzustand. Sie trug einen Haufen Juwelen, vor allem Ringe, offenbar aufgrund der Vorstellung, ein Überfluß an Schmuck könne die allgemeine Dürftigkeit ihrer Person ausgleichen. Doch trotz allem erregte sie einen gewissen Ein48
druck von Schönheit, einer Schönheit von seltener, äußerst zerbrechlicher Art. Pluto erweichte unter dem Druck und begann zu heulen … nicht ohne eine bestimmte kindliche Berechnung, wie ich vermute. »A-aber wir wissen nicht, wohin! Wir sind Waisen. Wir sind ganz allein auf der Welt!« Roxannas Dreieck aus Fältchen verkleinerte sich unter der Einwirkung angestrengten Nachdenkens. »Was habt ihr gesagt, wie ihr heißt?« »Ich heiße Pluto, und das ist Weißzahn, mein kleiner Bruder.« »Euer Nachname, Kind!« »Weiß.« »Euer Vater war Tennyson Weiß? Der Tennyson Weiß?« Pluto nickte. Roxanna stieß einen Laut wie ein Raubvogel aus, der sich hinab auf eine Feldmaus stürzt. »Ihr armen, lieben Kleinen!« Während dieser Aufschrei unter den Gewölben der Kathedrale immer wieder widerhallte, legte Roxanna ihr Buch beiseite und drückte Pluto und mich in die dunklen, weiten Falten ihrer Kleidung, als wolle sie uns säugen. »Warum habt ihr das nicht sofort gesagt?! O meine kleinen Welplein! Meine süßen Lieblinge!« Mit solchen und anderen freundlichen Kosenamen führte sie Pluto und mich aus der Kathedrale. Erst an den bronzenen Torflügeln entsann sie sich ihres kleinen schwarzen Buches. Sie betrachtete 49
uns beide mit abschätzendem Blick, dann wies sie mit einem schwer mit Edelsteinen bestückten Zeigefinger auf mich. »Du! Lauf zurück und hol mir mein Buch, ja? Guter Hund!« Ich brannte nur zu sehr darauf, ihr gefällig zu sein, und zugleich war ich froh, für ein Weilchen aus ihrer Nähe verschwinden zu dürfen, denn ihre Gegenwart war ein wenig überwältigend, so wie der Duft aus einer zerbrochenen Parfümflasche in einem Zimmer. Als ich Roxannas Buch gefunden hatte, schlug ich aus Neugier die Titelseite auf und entdeckte, daß es sich nicht, entgegen meiner Annahme, um ein Gebetbuch handelte, sondern um ein französisches Buch, das mir völlig unbekannt war; es nannte sich A la Recherche du Temps perdu (Volume V: La Prisonnière) und war von jemandem namens Marcel Proust. Neben den Robotern und den Unterrichtsmaschinen, die sich um uns kümmerten, war es hauptsächlich Roxanna Proust, die für unsere weitere Erziehung die Verantwortung übernahm. Taute de mieux. Tant pis. Roxanna lehrte uns Französisch, las uns dabei lange Abschnitte ihres Lieblingsschriftstellers vor (nach dem sie ihren Übernamen ausgesucht hatte) . Noch heute kann ich, wenn ich es will, die Augen schließen und dann ihre Stimme hören, schrill aus lauter Beiehrsam50
keit: »Proust! Proust ist der große Denker unseres Zeitalters! Niemand außer Proust hat so gründlich die Tiefen des menschlichen Charakters ausgelotet, seine wirklichen und wahrhaftigen Abgründe. Niemand! Nur Marcel Proust!« Oft habe ich mich gefragt, ob sie je in ihrem Leben ein anderes Buch außer Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gelesen hat. Sie brachte uns Deutsch bei, indem sie uns von ihrem Proust eine deutsche Übersetzung lesen ließ. Sie unterrichtete uns in Literaturgeschichte, indem sie alle anderen Schriftsteller mit Proust verglich. (Natürlich konnte sich ihrer Auffassung zufolge überhaupt kein Autor mit ihm vergleichen.) Wäre es möglich gewesen, uns durch die Lektüre Prousts Mathematik zu lehren, so hätte sie auch das getan. Alle anderen Schriftsteller waren ihr zuwider, allerdings mit einer Ausnahme: Papi. »Er hatte ein gewisses Maß an literarischer Kunstfertigkeit vorzuweisen«, setzte sie uns kurz nach unserer Ankunft in Kenntnis. »Ich bin sicher, daß es ihm gelungen wäre, sich weiterzuentwickeln, wenn er sich an Proust ein Beispiel genommen hätte.« Es ist möglich, daß die Fürsorge, die Roxanna uns angedeihen ließ, nicht völlig darauf zurückzuführen war, daß sie sich selbstlos um die Entwicklung unseres literarischen Geschmacks sorgte. Sie war sich nur zu deutlich dessen bewußt, daß man ihre Begabung im 51
Zwinger Schröder nicht sonderlich zu schätzen verstand, denn man interessierte sich dort viel mehr für die Körperertüchtigung. Sie verschmachtete in der intellektuellen Düsternis des Zwingers, ganz so, wie Tschechows Drei Schwestern in der Provinz schmachteten, immer sehnsüchtig von dem wundervollen Tag träumten, da sie nach Moskau gehen könnten, der aber nie kommen sollte. Roxannas Moskau waren die Asteroiden, und vermutlich hoffte sie, durch Pluto und mich, die Söhne des berühmten Tennyson Weiß, eher dorthin zu gelangen als mit ihren eigenen begrenzten Möglichkeiten oder gar durch ihren eigenen Vater, bei dessen bloßer Erwähnung sie errötete. (Roxanna war auf einer nahegelegenen Farm in einer Familie mit dem unglückseligen Namen Stink zur Welt gekommen.) Die Bildung, die sie uns vermittelte, war ein Sammelsurium, aber es war niemand mit nur einem Bruchteil der Befähigung Roxannas zur Stelle, wie einseitig sie auch sein mochte. Die meisten Schoßhunde im Zwinger Schröder verlebten ihr Leben zwischen dem Sportplatz und dem Boudoir. Was mich angeht, so will ich gestehen, daß ich mehr Zeit mit Spielen und sportlichen Übungen zubrachte als in den Unterrichtszellen oder zu Roxannas Füßen. Ohne die intellektuelle Anregung und Unterstützung durch die Leine hat Literatur nie zu meinen natürlichen Neigungen gezählt. 52
Pluto war anders. Pluto las gern, und er saugte regelrecht begierig auf, was Madame Stink (wie sie im Zwinger Schröder allgemein hieß) ihm diesbezüglich zu bieten hatte. Unter ihrer Anleitung begann er selbst zu schreiben. Es überraschte nicht, daß sein anfänglicher Stil (im Alter von zehn Jahren erworben) von Proust abgeleitet war; im folgenden Jahr lasen seine Texte sich mehr wie Joyce, und als er auf dreizehn zuging, entwickelte er allmählich seinen eigenen Stil. Das war ein Tag, den er sich im Kalender anstrich – der Tag, als Pluto den eigenen Stil fand; ich entsinne mich noch genau, wie er über den Spielplatz gelaufen kam, um mich von einem etwas unbeholfenen turnerischen Wettkampf wegzuzerren. Ich war ein wenig mißmutig, denn es sah so aus, als solle der Sieger Weiß heißen, aber meistens tat ich Pluto den Gefallen, wenn es um seine Schreibtätigkeit ging, denn er hatte im Schröder keine anderen Zuhörer, und ich wußte, er war einsam. Er wollte mir Zeremonie (so lautete der Titel seines Werkes) nicht im Freien vorlesen, sondern bestand darauf, daß ich ihn in die Kathedrale begleitete, die jeden Tag leer war, außer am Sonntag, wenn der Meister seine Schoßhündchen zusammenrief und ihnen eine Stunde Leine mit voller Dosis gönnte. In der Kathedrale legte Pluto an, was er seine ›Gewänder‹ nannte, krude Kla53
motten, die er sich aus der Theatergarderobe zusammenklaubte, und beharrte darauf, daß ich das gleiche tat. »Dies wird ein feierliches Ritual sein«, verkündete er mir im Flüsterton. »Deshalb mußt du deine Hände falten – ja, so – und darfst kein Wort sprechen, bis ich fertig bin.« Er zündete eine Kerze an und ließ ein Band mit Orgelmusik laufen, die hier besonders hohl klang, weil es den Wänden an den akustischen Eigenschaften echten Steins fehlte. Die Kerze in der Hand, stieg er die Stufen zur Kanzel hinauf, abgestimmt mit der Musik, wo er dann mit halbwüchsig unausgeglichener Baritonstimme aus Zeremonie vorzutragen begann. »Zeremonie. Erster Teil: Anbetung der Muse. Oration von Plutonium Maria Weiß. Ahem! Kunst! Kunst ist eine Sache eitler Schönheit. Sie hat keinen Anteil an unserem Leben, oder doch nur sehr geringen, denn sie ist in Augenblicken großer Belastung so unzweckmäßig, wie sie bei allen wirklich wichtigen Anlässen nur dummes Zeug ist. Sie ist verwandt mit dem Tod. Ihre Größe ist die Größe eines Königs, der sich seinem Schicksal unterworfen hat. Sie ist defätistisch. Sie gehört nicht zu den Dingen, welche man Kindern vermitteln sollte, denn« – und hierbei blickte er mit ernstester Miene auf mich herab – »ein Übermaß davon könnte sie das Leben kosten. Kunst ist das Mittel, mit dem wir unseren Abgang 54
bekränzen, aber keine Art und Weise, um einen Tag zu beginnen.« Ich dachte, er sei fertig, und deshalb klatschte ich – ziemlich gedämpft, wie ich glaube. »Das ist nicht so wie Proust«, versicherte ich ihm. »Und ich würde sagen, man kann auch nicht behaupten, Joyce habe es stark beeinflußt.« »Ruhe! Das war nur der erste Teil. Der zweite Teil heißt ›Das Opfer‹, und für diesen Teil mußt du dich niederknien und die Hände ausstrecken, damit ich sie zusammenbinden kann.« Ich lachte, weil ich meinte, er mache einen Scherz. »Auf die Knie, du mieser kleiner Hurensohn!« schrie er mich an. Ich kann nicht behaupten, daß meine Reaktion nach seinem Wunsch ausfiel, seltsam wie er war; ich wies darauf hin, daß ich diesen Ausdruck schon in einem Roman von J.D. Salinger gefunden hatte. Es ist schwer zu sagen, wer von uns beiden für die Prügelei die Verantwortung trug. Pluto kam in offensichtlich überschäumender Wut von der Kanzel heruntergestürmt. Er schlug zuerst zu. Aber ich rief die ganze Zeit »Salinger, Salinger!«, so daß er darauf verweisen konnte, provoziert worden zu sein. Pluto war dreizehn, ich erst zehn; Pluto war gut einsfünfzig groß, ich kaum mehr als einszwanzig. Aber Pluto war ein Schlappschwanz, und meine drei Jahre Sport55
lichkeit machten uns zu fast ebenbürtigen Gegnern. Er trat und biß und fuchtelte herum, stieß ein wenig Kriegsgeschrei aus – allerdings wirklich schön laut –, doch ehe ich mich richtig aufgewärmt hatte, um es mit ihm aufzunehmen, trat er bereits den Rückzug an. Es gelang mir, in sein blödsinniges ›Gewand‹ einen anständigen Riß zu fetzen und es mit dem Blut aus seiner feinen Nase fein rot zu färben. Am Ende gab er zu, daß alles wahr sei, was ich über ihn gesagt hatte, und ich ließ ihn vom Fußboden aufstehen. Er rannte schnurstracks zum Kraftwerk und drückte den Notrufknopf, um unseren Meister zu alarmieren; so etwas hatte noch kein Schoßhund sich herausgenommen, denn der Meister des Zwingers Schröder mochte nicht gern belästigt werden. Es wunderte mich – bis heute wundert es mich –, daß ich es war, der eine Strafe erhielt, nicht Pluto. Er fing den Streit an. Eine blutige Nase! Was ist denn so schrecklich an einer blutigen Nase? Die Strafe war nicht streng. Gewissermaßen handelte es sich gar nicht um eine Strafe. Der Meister sorgte lediglich dafür, daß ich in Zukunft weniger zum Blutvergießen neigte. Er konditionierte mich unwiderruflich so, daß ich auf den Anblick von Blut, und sei es eine noch so geringe Menge, unweigerlich mit Übelkeit, Erbrechen und anschließender Ohnmacht reagiere. Während all 56
meiner Jahre als Schoßhund ist meine Konditionierung nie auf die Probe gestellt worden, später jedoch gab es solche Gelegenheiten, solche blutigen Anlässe … Aber ich greife voraus. Eines nach dem anderen.
3. Kapitel Worin ich Julchen Schatzgold kennenlerne und nach Schwanensee fliege. Ich habe den Anfang meines Erwachsenendaseins immer im Alter von zehn Jahren angesetzt. Unterhalb dieser Altersstufe kann ich meine Erinnerungen nur anhand einiger Schlüsselereignisse rekonstruieren. Alles ist mehr oder weniger Vermutung. Von zehn Jahren an aber kann ich mich vollständiger Tagesabläufe erinnern, haargenau so, wie sie gewesen sind. Jener vollständige Tag, an den ich mich am liebsten erinnere, ist der 4. Oktober 2027, ein Mittwoch. An Mittwochen nahm Roxanna bei schönem Wetter immer Pluto und mich mit hinaus, in das Land außerhalb der Zwingerkuppel. Wir fuhren die staubigen Landstraßen in einem kleinen Spezialfahrzeug entlang, das einen Solarzellenantrieb sowie einen unsichtbaren, aber nichtsdestoweniger beruhigend sicheren Schutzschirm von solcher Stärke besaß, daß selbst die Meister, war er erst einmal angeschaltet, ihn nicht zu durchdringen vermochten. Nicht etwa, daß wir uns wegen einer derartigen Eventualität gesorgt hätten (wir wären nur zu froh gewesen, hätte sich ein Meister eingefunden, um uns an die Leine zu nehmen), aber seit dem Zwischenfall vor drei Jahren, als sie meinen Vater ermordeten, waren die 58
Dingos zu einer echten Landplage geworden. Sie hatten inzwischen noch mehrere Schoßhunde, die die Erde ausflugshalber besuchten, auf die gleiche Weise umgebracht, wonach zum Bestatten nichts als Asche blieb. Binnen einer halben Stunde konnten wir eine verlassene Farm erreichen, wo wir im Schatten eines überladenen Apfelbaums unseren Studien nachgingen, oder aber – wenn Roxanna gerade ungnädig war – die alten Gebäude der Farm mit ihren rostigen Maschinen auskundschafteten. Aber das Wohnhaus betraten wir nie. Ihm haftete noch zu stark die Aura von Dingos an, und Roxanna hatte es uns sowieso vollkommen verboten. Erst Jahre später gestand Roxanna uns ein, was wir uns sofort gedacht hatten – daß das nämlich die Farm ihrer Eltern gewesen war, die sie während des Großen Zusammenbruchs von 2003 aufgaben, als die ganze Wirtschaft jener Menschen, die sich noch immer gegen die Herrschaft der Meister stellten, endgültig und vollständig in die Brüche ging. Die Familie Stink (am Briefkasten war noch ihr Name zu entziffern) hatte sich mit ihren Kindern freiwillig beim nächsten Zwinger beworben; zufällig war das der Zwinger Schröder. Man hatte die Kinder aufgenommen, die Eltern jedoch als ungeeignet beurteilt und abgelehnt, wie es derzeitig mit den meisten älteren Freiwilligen geschah. Die Meister waren nicht länger darauf angewiesen, sich Schoßhunde 59
wilder Herkunft zu halten (die sich nie völlig domestizieren ließen), sondern züchteten sie mittlerweile selbst (so sah es für uns Schoßhündchen jedenfalls aus) und leisteten dabei bessere Arbeit als es jemals der Mensch hingekriegt hatte. Aus solchen Leuten wie der Familie Stink, Menschen eben, die man an Zwingern abwies, hat sich die Gesellschaft der Dingos entwickelt, wie wir sie heute kennen, und das erklärt zweifellos auch den Ruch von Säuerlichkeit, der so vielen von ihnen anhängt – auch Roxanna, wie bereits angedeutet worden ist. Es war spät an jenem Nachmittag, und Roxanna wedelte sich, des Lesens müde, mit einem parfümierten Taschentuch Frischluft zu, während sie Pluto und mir wilde Geschichten über ihre Kindheit auf dem Lande erzählte und darüber, wie anders es früher auf der Welt ausgesehen hatte. Sie berichtete von den Sauftouren ihres Vaters, die er an Samstagabenden durchführte, und davon, wie er nach Hause kam und Roxannas arme Mutter fürchterlich prügelte. Sie halte diese Prügelszenen nie mit eigenen Augen gesehen, sondern nur gehört, aber sie versicherte uns, sie seien fürchterlich gewesen. Für Pluto und mich bestätigten diese Geschichten nur unsere schlimmsten Vorstellungen von den Dingos. Ich allerdings war persona non grata, weil ich erst kürzlich meinem Bruder die Nase eingehauen hatte, und infolge60
dessen befand ich mich im Astwerk des Apfelbaums, höher als Pluto zu klettern wagte, und befaßte mich mit Problemen der Differentialrechnung, mit der ich mich seit kurzem beschäftigte. Plötzlich erschien mitten in der Luft, so nahe vor mir, daß ich es fast berühren konnte, ein Mädchen in ungefähr meinem Alter. Um seinen nackten, sonnengebräunten Körper wanden sich Spiralen bläulich-roten Lichts, und sein weißes Haar leuchtete im letzten Sonnenschein wie von innen heraus. »Hallo«, sagte es. »Mein Name ist Schatzgold, Julchen. Schatzgold ist mein Nachname, aber wenn du möchtest, darfst du Julchen zu mir sagen. Willst du nicht mit mir spielen?« Ich war außerstande zu antworten. Ich war wie versteinert – sowohl infolge ihres entzückenden Anblicks (ja, gewiß, ich war erst zehn, aber Kinder sind für dergleichen keineswegs unempfänglich – vielleicht sogar empfänglicher als wir) wie auch aufgrund der Bestürzung darüber, unter so unwahrscheinlichen Umständen einer Fremden zu begegnen. Schatzgold, Julchen machte einen Schritt auf mich zu und lächelte (immer sieht man in ihrem Gesicht das reizendste Lächeln mit den goldigsten Grübchen in den Wangen), und erst da begriff ich, was jedem wohlbehüteten Schoßhund sofort klar gewesen wäre: die unsichtbare Gegenwart ihres Meisters war es, die sie in dieser 61
Höhe am Schweben hielt. Für ihn war die Anti-Gravitation nur eine flüchtige Improvisation. Aber die Nachlässigkeit unseres Meisters hatte für uns sogar solche Alltäglichkeiten wie das Fliegen zu seltenen, wunderbaren Erlebnissen werden lassen. »Bist du nicht angeleint?« fragte sie, als sie sah, daß ich keine Anstalten machte, um ihr von meinem Ast in die Luft entgegenzutreten. »Nein … das ist im Moment keiner von uns.« Inzwischen waren auch Roxanna und Pluto unserer Besucherin gewahr geworden, aber weil sie sich gut fünf Meter unterhalb Julchens befanden, war es für sie ziemlich schwierig, an unserem Gespräch teilzunehmen. Es fiel mir selber schwer, es zu bestreiten, aber ich plapperte munter weiter. »Möchtest du einen Apfel?« fragte ich, pflückte einen aus dem Überfluß unter mir und bot ihn ihr an. Sie streckte eine Hand aus, doch dann zog sie sie mit schuldbewußter Miene zurück. »Mein Meister rät mir davon ab«, erklärte sie. »Er sagt, diese Sorte Essen sei für Dingos. Du bist doch kein Dingo, oder?« »O nein!« Ich errötete, und Julchen lachte. »Na, für meine Begriffe siehst du wie ein Dingo aus.« Ich hätte sofort merken müssen, daß sie mich an einem 62
Stück bloß aufzog, denn an unserer Domestiziertheit konnte es keinen ernsthaften Zweifel geben. Dingos tragen Kleidung, wogegen sich Schoßhunde (die sich ihres Äußeren niemals schämen) nur für die Bühne Kleidungsstücke anziehen, für Festveranstaltungen oder (wie Roxanna) aus Perversität. »Wenn du kein Dingo bist, warum beweist du's mir dann nicht und kommst von deinem blöden alten Ast runter?« Vom ersten Moment an habe ich mich in Julchen Schatzgolds Gegenwart wie ein Dussel benommen. Ich folgte ihrem Vorschlag und fiel hinab, ganz Newtons Lehren zufolge, und zwar genau auf Roxanna zu. Dann spürte ich mich plötzlich – mit einem seltsamen inneren Purzelbaum – vom Anti-Grav-Gürtel erfaßt, der Julchen umgab. Julchen kicherte und sauste zu mir herab, um meine Hand zu packen, und im selben Augenblick fühlte ich mich an die Leine genommen. Unter uns hatte Roxanna unterdessen die Besinnung verloren. Pluto versuchte in schlagartiger Nachdrücklichkeit, sie wieder aufzuwecken. Bei jeder Ohrfeige, die er ihr versetzte, stöhnte sie lüstern auf. »Was für ein dummes Spiel«, bemerkte dazu Julchen. Dann ließ sie meine Hand los und schoß in eine Höhe von zwanzig Metern empor, wo die Luft garantiert rein war; dort schwebte sie so sicher wie ein Pingpongball auf einem warmen Luftstrom. 63
»Fang mich!« rief sie, und dann segelte sie in einer langen Parabel fort, die hinter dem eingesunkenen Dach des alten Schuppens endete. »Und was ist mit mir?« zeterte Pluto. »Ich möchte auch fliegen.« »Wahrscheinlich bist du schon zu alt, aber ich werde sie mal fragen«, versprach ich ihm. Dann schwirrte ich auf und davon, um Julchen einzuholen, und für die nächsten zwei Stunden sah Pluto von mir und Julchen überhaupt nichts. Sie zwang mich zu einer wahren Verfolgungsjagd bis hoch empor in die Wolken, aber auch dicht hinweg über die Wipfel der umliegenden Wälder, worüber wir dahinhüpften wie Steine über die flachen Wasser des Lake Superior. Wir waren beide wundervoll ermattet, ehe sie zuließ, daß ich sie fing. Als ich wieder bei Atem war, fragte ich sie, aus welchem Zwinger sie stamme. »Ach, aus einem neuen Zwinger draußen in den Asteroiden. Wahrscheinlich hast du niemals von ihm gehört.« Sie machte aus einer Art von Heimatstolz eine Anmerkung. »Noch nicht.« »Und was treibst du hier? Ich meine, die Stink-Farm ist ja nicht eben ein intergalaktischer Verkehrsknotenpunkt. Wieso bist du überhaupt hier auf der Erde, wenn du in den Asteroiden einen hübschen Heimzwinger hast?« 64
»Tscha, mein Meister braucht neues Zuchtmaterial, und er hat mich mitgenommen, um ihm bei der Auswahl zu helfen. Auf der Erde ist alles billiger, und mein Meister muß auf jeden Pfennig achten. Das sagt er mir jedenfalls immer.« Ihre nächste Äußerung zeugte von großer Anhänglichkeit. »Was mich angeht«, sagte sie treuherzig, »ich bin auf Schwanensee lieber wohnhaft als an jedem anderen Ort des Universums.« Am liebsten hätte ich ihr unverzüglich erklärt, ich sei genau der gleichen Meinung, doch statt dessen legte ich ein gutes Wort für den Rugbyplatz und die Tennishallen im Zwinger Schröder ein. Julchen benahm sich auf einmal zurückhaltender. »Meine Güte, dann wirst du bestimmt nicht mitkommen wollen. Und ich habe mir soviel Hoffnungen gemacht …!« »Sei nicht so voreilig! Du mußt mich wenigstens fragen.« »Möchtest du mit mir nach Schwanensee kommen? Bitte!« Die Stimme ihres Herrn hallte in meinem Bewußtsein wider; sie wiederholte Julchens Bitte: Möchtest du? Ihr Meister? Nein – jetzt war er auch mein Meister! Ich brauchte Julchens Frage nicht zu beantworten, weil ihr Meister meine glückselige Zustimmung ihrem Bewußtsein umgehend übermittelte. Ihre Freude kam zu mir zurückgesprungen wie ein glänzend geschlagener 65
Tennisball in einem Freundschaftsspiel. »Und was ist mit meinem Bruder? Ihn könnt ihr doch auch gebrauchen, oder?« (Es ist erstaunlich, wie scheinheilig man mit zehn Jahren schon sein kann.) »Na, natürlich! Weiß seid ihr ja beide.« Ich war mehr als leicht entsetzt. Außer in Onkel Toms Hütte hatte ich niemals Rassenvorurteile kennengelernt. »Einige meiner besten Freunde …«, begann ich entrüstet. »Ach, doch nicht das Weiß, Dummerchen! Tennyson Weiß. Der berühmteste Romanautor der letzten fünfzig Jahre. Und ihr seid seine Söhne. Die einzigen Abkömmlinge, muß ich hinzufügen, die nicht schon von Spitzenzwingern vereinnahmt worden sind. Ich würde es mir nie erlauben, irgendeine abfällige Äußerung über den Zwinger Schröder zu tun, aber ich bin fest davon überzeugt, daß ihr mehr erreichen könnt. Wahrhaftig, ihr zwei seid mehr wert als alle übrigen Schoßhunde in dem Zwinger zusammen!« Heute ist mir selbstverständlich klar, daß solche Redensarten undemokratisch und subversiv sind, aber damals fühlte sich mein einfältiger Geist, verwirrt von den irrigen Wertvorstellungen der Meister, durch ein derartiges Kompliment geschmeichelt. Ich bedankte mich sogar bei Julchen dafür. »Ich habe dir meinen Namen gesagt. Du hast mir aber 66
noch nicht deinen Namen verraten.« »Weißzahn«, antwortete ich, damals natürlich noch schwer stolz darauf. »Weiß, Zahn. Das ist ein merkwürdiger Name. Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso du ›Zahn Weiß‹ heißen sollst. Ich glaube, ich nenne dich lieber Knautschi.« Ich hätte ihr damals und dort sofort widersprechen sollen, aber ich sorgte mich, ich könne sie verärgern und dadurch mein Ticket zu den Asteroiden verspielen. Und wie es sich daher ergab, war ich während der nächsten zehn Jahre meines Lebens allen meinen Freunden als Knautschi bekannt. Als Julchen und ich zur Stink-Farm zurückkehrten, mußten wir feststellen, daß Roxanna und Pluto es aufgegeben hatten, auf uns zu warten, und in dem durch den Schutzschirm unangreifbaren Fahrzeug zum Zwinger heimgekehrt waren. Julchen und ich schlugen die direkte Luftlinie ein, wir fegten über die Wipfel der zwielichtigen Wälder dahin, durch die Umsicht unseres Meisters gegen die Kühle des Oktoberabends geschützt. Binnen weniger Minuten nach unserer Ankunft hatte Julchens Meister mit dem Meister des Zwingers Schröder die Verbringung von Pluto und mir in den Zwinger Schwanensee vereinbart und geregelt. Roxanna erhob 67
den Einwand, sie könne an diesem entscheidenden Punkt unmöglich unsere literarischen Studien abbrechen. Entweder müßten wir im Schröder bleiben, oder man müsse ihr erlauben, uns zu den Asteroiden zu begleiten. Ich überlasse es dem Leser, darüber zu befinden, was sich Roxanna dabei wirklich dachte. Aber allen ihren Bitten und Beschwörungen gegenüber blieb der Meister von Schwanensee absolut gleichgültig. Roxannas Herkunft war ohne Wert; ihr Äußeres war von bestenfalls problematischer Schönheit; ihre literarischen Kenntnisse reichten nicht über ihre Verehrung Prousts hinaus, und ausgerechnet diesen Schriftsteller schätzte der Meister von Schwanensee sehr gering. Roxanna weinte; sie sank in Ohnmacht; sie raufte sich das Haar. Als Pluto endlich alle Fragmente seiner Dichtkunst zusammengekramt hatte und wir fertig zum Aufbruch waren, verabschiedete Roxanna uns mit einem Fluch. Der Flug zu den Asteroiden fand in der Nacht statt, als wir schliefen. Welche Hilfsmittel unser neuer Meister einsetzte, um uns zu transportieren, kann ich nicht sagen. Selbstverständlich keine solche Krudität wie etwa ein Raumschiff. Die Technologie der Meister ist eine Sache augenblicklicher Eingebungen, und was mich betrifft, so will ich einräumen, daß ich Maschinenbau wirklich nicht interessant finde. Wir erwachten unter dem gedämpften Schimmer von 68
Zwingerwänden, wie wir sie unser Leben lang gekannt hatten. Während unser Bewußtsein erwachte, reagierten die Wände auf die Beschleunigung unserer Neuralströme mit einer Verschiebung zu lebhafteren Farbmustern. Im ersten Moment befürchtete ich, wir wären noch im Zwinger Schröder. Doch da bemerkte ich einen Unterschied: Statt der unaufhörlichen Last der irdischen Schwerkraft herrschte hier nur eine schwache gravitationale Pulsation, ein sanftes An- und Abschwellen, das von meinem eigenen Herzen auszugehen schien. Ich spürte, wie sich die Leine des Meisters enger um meinen Geist legte (für die nächsten zehn Jahre sollte sie sich nie wieder ganz von mir entfernen, nicht einmal im Schlaf); ich lächelte und flüsterte ihm meinen Dank zu, weil er mich zu sich geholt hatte. Julchen war ebenfalls wach, und mit einem Wink ihres Arms löste sie zum Schall synthetischer Hörnerklänge die Wände des Zwingers auf, und ich sah die grenzenlose, schimmernde Welt der Asteroiden. Sie verschlug mir den Atem. Sie ist dein, sagte in meinem Kopf eine Stimme, die mir bald so vertraut werden sollte wie meine eigene Stimme. Hand in Hand schwebten Julchen und ich über diesen phantasmagorischen Spielplatz hinweg, und die Sphä69
ren des Himmels spielten für uns ihre Musik. Exotische Blumen erblühten wie Leuchtkugeln, verbreiteten herrliche Buketts schweren Parfüms. Farben umrankten uns in abstrakten, heiteren Mustern, während wir beide durch die wechselhaften Schwerkraftfelder hüpften und gaukelten, zwei in einem Generator gefangenen Staren gleich.
4. Kapitel Worin ich vollkommen glücklich bin. Es war das Paradies. Was kann ich anderes sagen? Oh, ich weiß, so hält man den Leser zum Narren. Ich weiß, daß ich es wenigstens versuchen muß. Aber man bedenke die Gewaltigkeit der Aufgabe; man berücksichtige, wie viele bessere Leute als ich es versuchten und scheiterten. Miltons Paradies ist schwer langweilig; sein Garten Eden, wie hübsch er auch auf den ersten Blick wirken mag, besitzt eine tödliche Eintönigkeit. Dante machte seine Sache erheblich besser, aber selbst viele seiner Bewunderer empfinden es als schwieriger, durch sein Empyreum zu rauschen, als die steile Stätte des Fegefeuers zu erklimmen oder durch die Pfühle der Hölle zu stapfen. Insgesamt ist es wohl am besten, man läßt den Himmel in den Händen der Gottheiten. Also erlaube man mir, mit etwas Leichterem zu beginnen, zum Beispiel mit Geographie … Der Zwinger Schwanensee bestand aus zwölf kleineren Asteroiden, die unser Meister kunstvoll zu einer Art von himmlischem Uhrwerk verarbeitet hatte. Die aufeinander abgestimmten Flugbahnen der zwölf Asteroiden waren so ausgezeichnet festgelegt, daß das gesamte Gebilde – von 12 Uhr zu 12 Uhr, wie es sich gehört – 71
einmal in hundert Jahren einen Kreis schloß. Daher war es möglich, bloß mit einem Blick an den Himmel das Jahr, den Monat, den Wochentag und – innerhalb weniger Momente – auch die Stunde festzustellen, vorausgesetzt natürlich, man konnte sich den Code merken. Der größte dieser Asteroiden, Tschaikowski, besaß einen Durchmesser von knapp fünfzehn Kilometer, und der kleinste von ihnen, Milhaud, war ein kärglicher Felsklotz von kaum eineinhalb Kilometern von Pol zu Pol. Die hauptsächlichen Räumlichkeiten des Zwingers und alle ständig betriebenen Anlagen befanden sich auf Tschaikowski, aber jeder Schoßhund konnte sich in breiten Luftschraubenstrahlen freizügig zwischen allen Asteroiden bewegen; das war auch möglich, indem er einfach sprang, wenn ihn der Hafer stach, denn überall außerhalb der Zwingerbauten betrug die Gravitation lächerliche 3 Prozent der Erdschwerkraft. Innerhalb des Zwingers hatten wir wohltuende 85 Prozent der Erdschwerkraft, genau wie im Zwinger Schröder. Schwanensee war mit den üblichen Methoden erbaut worden, verriet allerdings einen besseren Geschmack als andere Zwinger, die ich kennengelernt habe. Die Wände, die Böden, alle Bestandteile der Konstruktion, waren aus Kraftfeldern geschaffen, die mit mikroskopisch dünnen Schichten aus Materie – Atomen, Molekülen und so etwas – verkleidet waren. Der einzige ge72
meinsame Gegenstand in jedem Raum war eine Kontrollkonsole, mit der jedes Schoßhündchen umzugehen verstand. Diese Konsole diente der Regelung von Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Windgeschwindigkeit, Helligkeit, Dunsterscheinungen, Schwerkraft und Dimensionalität. Die Dimensionalitätskontrolle war außergewöhnlich vielseitig, und nur jemand, der von Beruf Architekt war und über lange Erfahrung verfügte (oder ein Meister), hätte sie völlig ausnutzen können. Die Mehrzahl von uns beschränkte sich auf eine gewisse Auswahl aus den ungefähr tausend Vorlagen: Ludwig-VI.-Stil, Graf Draculas Schloß, Bauernhof, Walbauch, Sahara, Serail-Dampfbad usw. Es gab einen speziellen Skalaregler, der den Grad von Realitätstreue oder Stilisiertheit der jeweiligen Kulisse justierte, und man konnte damit manchen unheimlichen Effekt erzielen, wenn man zum Beispiel ein total abstraktes Wohnzimmer in Bronxer Renaissance oder einen ultrarealistischen PleistozänSumpf fabrizierte. Und erst die Effekte, die sich hervorrufen ließen, wenn man auf der Skala hin und her flutschte …! Genug! Ich kann die Erinnerung an diese Dinge nicht ertragen. An das Glück … Stoizismus, Weißzahn, alter Junge, Stoizismus! Julchen und ich brachten unsere Zeit allerdings meist im Freien zu, wo wir zwischen den Asteroiden umher73
flitzten. Die zehn Asteroiden zwischen Tschaikowski und Milhaud waren, geordnet nach ihrer Größe: Strawinski, Adam, Pugno, Prokofieff, Delibes, Chopin, Glasunow, Offenbach, Glière und Nabokov. Wie meine lieben Leser sicher sofort aus dieser Auflistung ersehen haben, war der Meister von Schwanensee so etwas wie ein Ballettomane. Denn jeder dieser Asteroiden war nach einem Komponisten bedeutender Ballettmusik benannt – oder, um eine feine, aber vielsagende Unterscheidung zu machen, von Musik für bedeutende Ballette. Tatsächlich war der ganze Zwinger Schwanensee, waren alle dort ansässigen Schoßhündchen nur zu dem Zweck vorhanden, dieser einen Leidenschaft unseres Meisters zu dienen, die jedoch – wie ich eilends hinzufügen möchte – auch unsere Leidenschaft, unser ganzer Daseinszweck und nicht zuletzt unser größtes Glück gleich nach der Leine selbst war. Du meine Güte, ich hätte nie damit anfangen dürfen, eine Erklärung zu versuchen! Mir hätte klar sein sollen, daß es so enden müsse, mit dem Daherfaseln von Lobeshymnen. Wie ich vorhin angemerkt habe, pflegten Julchen und ich zwischen den Asteroiden herumzufliegen. Nun, und wenn wir das taten, geschah es im Tanz. Wir tanzten während unseres Aufenthalts im Zwinger Schwanensee fast die ganze Zeit, in all den zehn Jahren hörten wir so 74
gut wie gar nicht zu tanzen auf. Und sobald wir an einem der Asteroiden vorübersausten, löste unser Vorbeiflug eine Musikaufnahme aus – eigentlich ein miniaturisiertes elektronisches Orchester –, und zwar erklang dann jene Komposition des betroffenen Komponisten, die am besten unserer Geschwindigkeit, der Flugbahn, den idiorhythmischen Bewegungen und der Stimmung entsprach. Es konnten sich auch improvisierte Überleitungen zwischen den einzelnen Asteroiden ergeben, von irgendeinem in diesem zu irgendeinem in einem anderen Asteroiden gespeicherten Stück. Diese Übergänge waren häufig die bemerkenswertesten musikalischen Ereignisse (man stelle sich ein Zusammenwirken von Offenbach und Strawinski vor!), und sie ermutigten uns, niemals zu lange bei einer Geschwindigkeit zu bleiben, so daß wir vielmehr wie Irrlichter umherschwirrten. Der Zwinger verfügte über andere Maschinen, die dem gleichen Zweck sozusagen als Mannschaft von Bühnenarbeitern diente; sie sorgten für die Lichtanlagen, stellten Requisiten bereit, lieferten die Kulisse, wenn die Musik einmal mehr verlangte als eine allgemeine Untermalung mit Feuerwerk … Und die Apparate, die die Wohlgerüche freisetzten, waren mit den übrigen Elementen synästhetisch abgestimmt … Ja, und schließlich waren da noch Julchen und 75
ich sowie die restlichen Schoßhündchen. Das Ensemble. Für uns war der Zwinger Schwanensee gebaut, damit wir Wunder ohne Ende erleben könnten, daß wir Musik hätten, wohin wir uns wendeten. Ich sage, wir tanzten, aber das kann der Mehrzahl meiner Leser keine Klarheit darüber verschaffen, was wir wirklich taten. Für den durchschnittlichen Dingo ist der Tanz nur eine Leibesübung, die der Paarung vorausgeht. Sie gewährt ihm eine Erleichterung gewisser starker Spannungen durch gesellschaftlich gebilligte Kanäle. Wenn wir tanzten, handelte es sich natürlich nicht um eine so krude Angelegenheit. Alles was wir taten, was eine Person tun konnte, verwandelte sich zu einem Teil unseres Tanzes: unsere Essen, unsere Liebe, unsere geheimsten Gedanken und selbst unsere albernsten Scherze. Der Tanz integrierte alle diese grundverschiedenen Elemente in ein ästhetisches Ganzes; er ordnete die Nebensächlichkeiten des Lebens in gewaltige Gobelins ein. Nicht Kunst um der Kunst willen war unser Motto, sondern Leben um der Kunst willen. Wie könnte man Dingos so etwas erklären? Es kam zu keiner Verschwendung. Ich glaube, das war daran am wichtigsten. Kein Wort, kein Gedanke, kein Blick zwischen zwei Personen konnte verlorengehen, ohne daß wir die tiefere Bedeutung festhielten. Alles fügte sich zusammen, so wie in einem formvollendeten Musik76
stück jeder Takt in der gesamten Melodie seinen Platz besitzt. Da hatten wir wieder die alte romantische Vorstellung von der Synthese der Künste: den gleichen Gedanken, der Wagners Bayreuth beherrschte, Diaghilews Ballets Russes beflügelte. Allerdings besaß der Meister von Schwanensee auch die Mittel, um zu erreichen, wonach jene Männer sich nur strecken konnten; und seine hauptsächliche Hilfsquelle waren notwendigerweise seine heißgeliebten Schoßhündchen – also wir. Er verhätschelte uns, umhegte uns, ließ uns jede erdenkliche Pflege zukommen. Nicht nur körperliche Pflege (die hätte selbst der nachlässigste Meister garantiert); mehr sogar geistige Pflege. Zuviel Geistesschärfe konnte wirklich ein Nachteil sein. Papis Meister auf Ceres und Ganymed hatten ihre Schoßhunde intellektuell in übertriebenem Maße entwickelt, wie unser Meister es nie gutgeheißen hätte. Die erste Generation von Schoßhündchen war immer ein bißchen zu vergeistigt gewesen. Irgendwo sagt Pope von Shakespeare, er sei ein Hingeschliffener Diamant‹ gewesen. Na, was hätte wohl Shakespeare nicht alles von Pope gesagt? Wie wir das Leben betrachteten, war es nicht so wesentlich, besonders geistreich, kultiviert und gescheit zu sein, sondern vielmehr offen und ehrlich. Wir von der zweiten Generation empfanden den 77
Lebensstil unserer Eltern als zu trocken, überintellektualisiert und unbekömmlich zynisch. Wir wollten es schlichter haben, und weil das Material unserer Kunst unser eigenes Leben war, entwickelten wir selbst eine größere Schlichtheit. Wie der junge Werther kultivierten wir eine gewisse mutwillige Naivität. Wir machten nicht allein einen Tanz aus unserem ganzen Leben, wir verwandelten sogar die einfachsten Äußerungen – ein ›Danke‹ oder ›Ich bin so frei‹ – in eine Art von Rhapsodie.
Gewiß, es war das Paradies, aber was wäre in der Nähe von Schatzgold, Julchen denn nicht das Paradies gewesen? Wie Wuff irgendwo in Ein Hundeleben bemerkt: Es ist ganz schön, einen Herrn zu haben, aber ein Weibchen zu nehmen, das ist notwendig. Wie soll ich von ihr erzählen? Julchen ›in Worte fassen‹ zu wollen, ist das gleiche, als versuche man aus Quecksilber eine Plastik zu formen. Konstantes gab es nicht an ihr; nichts, das man ihre Eigenschaft hätte nennen können. Die Farbe ihres Haares wechselte mit jedem Tag; ihre Augen waren blau oder braun oder nußbraun, wie es gerade ihrer Stimmung entsprach; ihre Figur vermochte so geschmeidig wie der einer Nymphe zu sein oder so stramm wie bei Rubens. Das hing ganz von der Rolle ab, die sie spielte. 78
Julchen war nämlich in ihrem ganzen Wesen eine Schauspielerin. Ich habe sie alle Rollen des klassischen Repertoires tanzen sehen; ich habe sie beim Improvisieren gesehen; und wenn ich mit ihr an der Leine war, blickte ich in die fernsten Tiefen ihres zauberhaften Geistes. Niemals jedoch bekam ich bloß einen Anflug der echten, der wahren Schatzgold, Julchen zu sehen – es sei denn, man verstünde sie als eine unbegrenzte Kapazität zur Vorspiegelung. Sie war Lucrezia Borgia und Juliette in gleichem Maße; sie war beide Szenen von Giselle; sie war Odette und Odile, der schwarze Schwan und auch der weiße Schwan. Sie war, was sein zu können ihr gerade in den Sinn kam. Und sie war zauberhaft. Wir waren erst sechzehn, Julchen und ich, als uns unser erstes Kind geboren wurde. Das Hochamt, das anläßlich von Petites Taufe stattfand, beruhte auf dem üblichen römischen Muster und war um ganz entzükkende Kinderlieder bereichert. Mein Bruder Pluto leitete die gesamte Feierlichkeit und hielt zu Ehren dieses Anlasses eine Predigt in Versen aus eigener Feder. Da alle beim Zeremoniell Anwesenden mit ihm in telepathischem Kontakt standen, stimmte unsere Würdigung seines Vortrags haargenau mit Plutos eigener Meinung davon überein (er bewunderte sie selbst über alle Maßen), aber ich hatte kürzlich Gelegenheit, seine Dichtkunst mit mehr Abstand zu be79
gutachten, und da fragte ich mich doch sehr, ob … Aber meine Leser sollen selbst darüber entscheiden. Nachstehend finden sie den vollständigen Text von Plutos Worten. Sie sollen unter hellen Lichtern und bei leichtem Moschusduft vorgetragen werden, als wäre im Nebenzimmer für kurze Zeit der Windeleimer geöffnet worden. Wie die meisten Werke, die er damals produzierte, ist mit lauter Stimme und im Tonfall eines gregorianischen Gesangs zu deklamieren. Tolles Schmuckstück, Brodelnd heiße Freude! Käsekuchen, Käsekuchen, Bretzel, Bretzel, Käsekuchen! Liebste Freunde, laßt uns beten. Laßt uns Ringelreihen spielen! Petite jeune fille, jolie et bonne! Herr Wutz und Madame Flatter, Caracas Venezuela, oh! Käsekuchen, Käsekuchen, Bretzel, Bretzel, Käsekuchen! Vereinigung, glänzendes Ereignis, Feiert wie irr das kleine Mädchen: Petite jeune fille, jolie et bonne, hélas!
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Bedenkt man einmal, daß sie am Anfang ihres Lebens derartiges mit auf den Weg bekam, glaube ich, hat sie sich ganz ordentlich gemacht. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, da diesbezügliche Fragen sich bei diesem Thema ganz von selbst aufdrängen, daß Schwanensee keine Promiskuität kannte. Das eigene Dach war uns heilig, das Ehebett achteten wir wie einen Schrein. Darin unterschieden wir uns von der zynischen Sittenlosigkeit unserer Vorfahren – nicht durch Mangel an Libido, sondern infolge eines Übermaßes davon. Für uns war die Monogamie ein Zustand unaufhörlicher Leidenschaftlichkeit. Alles andere hätte uns einfach weniger gegeben. Überdies hatte unser Meister eine fixe Idee, die er selbst ›organische Zucht‹ nannte, und vielleicht nährte er manchmal unsere natürliche Neigung zur Monogamie, indem er in den gepflegten Gärten unserer Gedanken jedes Unkraut der Liederlichkeit ausmerzte, um seinen Zuchtgrundsätzen treu zu bleiben und nebenbei die Preise in der Höhe zu halten. Es mag zutreffen, daß die Neue Domestiziertheit der 20er und 30er Jahre, wie manche zeitgenössische Kritiker behaupten, ein hochgradig artifizieller Zustand war – ein Manierismus des Daseins, wenn nicht gar bloß eine Marotte. Aber kann man den gleichen Vorwurf nicht auch gegen die viktorianische Sentimentalität erheben? Gegen das islamische System der Harems? Über81
haupt gegen alle Institutionen? Der Unterschied zwischen Volkstümlichkeit und Modetorheit besteht aus dem Grad, nicht aus der Art. Was ich durch meine Darlegungen klarstellen will, ist ganz einfach, daß wir uns, obwohl wir in Schwanensee zehn Jahre lang lebten, immer treu waren; Julchen war mir treu und ich dem Schatzgold, Julchen. Und sollte jemand es wagen, das Gegenteil auch nur anzudeuten, wird er mir dafür geradestehen müssen – und ich beabsichtige keine geringere Entschädigung anzunehmen als den Verfall seines Lebens. Es war das Paradies. Wirklich, liebe Leser, es war fast das Paradies. Krankheiten und Schmerzen waren aus unserem Dasein verbannt, und es kann der Fall sein (denn ich weiß von keinen Ereignissen, die etwas anderes belegen), daß für uns, solange wir uns an der Leine befanden, sogar der Tod seinen Stachel verloren hatte. Frauen brauchten nicht länger ihre Kinder unter Mühsal zu gebären, und Männer aßen nicht länger das Brot im Schweiße ihres Angesichts. Unser Glück kam nicht herunter zur Langeweile, und kein Nachgeschmack von Schuld beeinträchtigte unsere Vergnügungen. Doch das Paradies besitzt einen beachtlichen Fehler, betrachtet man es unter dem erzählerischen Gesichtspunkt. Es ist antidramatisch. 82
Perfektion gibt keinen guten Handlungsfaden ab, denn sie führt nicht weiter. Perfektion fühlt sich immer so ganz wohl, wie sie ist. Folglich gibt es nicht viel mehr über den Zwinger Schwanensee zu berichten, höchstens eines: Er gefiel mir. Mir gefiel es dort; und zehn Jahre lang blieb die ganze Geschichte meines Lebens darauf beschränkt. Und damit, indem wir unterstellen, daß diese Zeitspanne nun verstrichen ist, kommen wir zum Jahre 2037. Infolge der derzeitigen Deklination zwischen Glasunow und Chopin weiß ich noch, es war August. Wir hielten uns in einem geräumigen, mit Marmor gepflasterten Hof auf, wo Julchen der vierjährigen Petite beibrachte, wie man Pirouetten drehte. Der Himmel flakkerte heftig, und die Begleitmusik von Jagdhörnern kündete uns Besucher aus dem Weltraum an. Ich zauberte schnell einen Triumphbogen aus der Konsole, um unseren Gästen einen angemessenen Empfang zu bereiten. Die Schwerkraft schaltete ich auf formellere 1,05 G hoch, und die arme kleine Petite geriet ins Trudeln und klatschte auf den Boden, zwar erschrocken, aber sie kicherte. Die Hörner verklangen, und dann hallte fürchterliches metallisches Klirren durch die Luft, als schlage man einen Amboß – aber nein, es kam nur durch den Triumphbogen ein Schoßhund zu uns herübergeschrit83
ten. Er trug einen Panzer klassischer Art, mit jeder Menge Leder und einem Haufen pomphaften Flitterkrams, und sein Gesicht war hinter einer grotesken eisernen Maske verborgen. Er winkte fröhlich mit einem Kettenmorgenstern und rief uns zum Amboßklirren seiner Schritte seine Begrüßung zu. »Hoi-ho! Hoi-ho!« Der volle Klang seiner tadellosen Heldentenorstimme schien das Amboßklirren zu einem schwachen Seufzen von Geigen zu machen. Nur ein paar Schritte von uns entfernt ließ er seinen Kettenmorgenstern lossausen, und das Werkzeug wirbelte hoch über unsere Köpfe empor; auf dem Scheitelpunkt seines Flugs verwandelte es sich in ein prächtiges Feuerwerk, und im selben Moment ergriff unser Besucher mit seiner rechten Hand meinen Unterarm. Ich hätte seine Geste durchaus erwidert, aber die Umhüllung aus Leder und Eisen rings um sein starkes Handgelenk vereitelte jede solche Absicht. Mit seiner freien Hand nahm er den eisernen Helm ab, und als ich aufblickte (denn wie wir so Zeh an Zeh standen, waren meine Augen in Höhe der auf seiner Brustplatte eingravierten Medusa), sah ich das blonde Haar und die blauen Augen von Wagners Siegfried. »Hallochen«, sagte ich freundlich. Schatzgold, Julchen wiederholte meinen Gruß, während Petite, immer darauf bedacht, sich in den Vordergrund zu spielen, bei 1,05 G nochmals eine Pirouette zu vollführen versuchte 84
und dabei unweigerlich auf den Hintern fiel. »Ich bin Sankt Bernhard vom Titan«, sagte der Gast mit markerschütternder Stimme. »Alle gerechten und gottesfürchtigen Männer sind meine Freunde, wogegen die Schurken, nennt man meinen Namen, aus Furcht erbeben.« »Freut mich zu hören. Mein Name ist Weißzahn, und hier ist meine Frau – Schatzgold, Julchen –, und das zu deinen Füßen ist unsere Tochter Petite. Wir alle heißen dich im Zwinger Schwanensee willkommen, Sankt Bernhard.« Nun ertönte eine sanftere Musik (ich glaube, die Venusbergmusik aus Tannhäuser), und Sankt Bernhard wandte sich dem Triumphbogen zu, um dann ehrfürchtig auf ein Knie zu sinken. In der Mitte des Triumphbogens entstand ein schimmriger goldener Schein, und innerhalb seines Glanzes, wie ein Diamant in einer Fassung aus Gold, erschien eine Frau von einer Schönheit, die mit den Göttern wetteifern konnte. Meine Mutter. »Mütterchen!« rief ich. »Ich meine … Clea! Was für eine Überraschung!« »Ja, nicht wahr? Wie lange ist es jetzt her? Dreizehn Jahre? Oder vierzehn? Du zählst keinesfalls länger zu den Welpen, mein Lieber – und wer ist denn das?« (Es war Petite, die sich völlig unaufdringlich zusammenge85
klappt hatte und Clea durch das A ihrer Beine ansah.) »Ich bin Großmutter geworden! Man stelle sich das einmal vor! Aber man sieht es mir nicht an, was? Ich sehe noch so jung aus wie an jenem Tag, als dein Vater mich kennengelernt hat.« Obwohl es sich hierbei um die reine Wahrheit handelte, hatten die Jahre sich doch in anderer Beziehung ausgewirkt. Gewisse Sonderlichkeiten ihres Charakters hatten sich inzwischen zu voller Reife entwickelt, hauptsächlich eine Ignoranz gegenüber anderen Leuten, die an Autismus grenzte. Deshalb machte sie sofort mit ihrem egozentrischen Auftritt weiter und blieb achtlos für meine Bemühungen, ihr Julchen vorzustellen. »Und da wir gerade von deinem Vater sprechen, ich nehme an, du hast bereits meinen neuen Gefährten kennengelernt?« Die betuliche Art und Weise, wie sie ihre Hand auf Sankt Bernhards in Leder gewickelten Oberschenkel legte, beraubte die Benennung ›Gefährte‹ jeglichen umschreibenden Sinns, der ihr zugedacht gewesen sein mochte. »Er war's, der darauf bestand, daß wir einen kleinen Abstecher nach Schwanensee einlegen. Ich hatte erst keine große Lust, denn es ist schwerlich ein Ort von höherem Interesse. Nichts vom Range des Titan, den man mit vollem Recht ein zweites Bayreuth nennen kann! Es dürfte dich interessieren, zu erfahren, daß Sankt Bernhard unser führender titanischer Tenor 86
ist. Zweifellos hast du von seiner aufsehenerregenden Lohengrin- Interpretation gehört, und was den Ring der…« »Um ehrlich zu sein, Clea«, unterbrach ich sie entschlossen, »weißt du, wir sind hier keine großen Wagner-Fans. Unser Meister neigt mehr zum französischen und russischen Ende des Spek …« »Wie ich sagte, Sankt Bernhard meinte, wir müßten einfach einmal hier hineinschneien, damit er dich und Pluto kennenlernen könne – Pluto ist doch auch hier, oder? –, denn zufällig, stell dir das vor, ist Sankt Bernhard euer Bruder.« »Aber … Mütterchen … ist das nicht reichlich …? Ich meine, wenn er mein Bruder ist, liegt dann nicht – entschuldige den Ausdruck – Inzucht vor?« Sankt Bernhards Faust griff nach der Streitaxt, die an seiner Hüfte hing, aber Clea hielt ihn zurück. »Unsinn, Weißzahn! Er ist nicht mit mir verwandt. Du solltest dich schämen, so etwas überhaupt nur zu denken! Du weißt, daß dein Vater einige hundert Kinder gezeugt hat. Sankt Bernhard ist sein Sohn, den ihm Sieglinde vom Titan schenkte, Jahre bevor ich Tennyson Weiß begegnete. Ich vermute, man kann sagen, wenn du darauf bestehst, Haare zu spalten, daß Sankt Bernhard dein Halbbruder ist. Aber mit mir ist er so wenig verwandt wie es dein Vater war – oder vielmehr, es handelt 87
sich um genau das gleiche Verhältnis.« In Anerkennung dieses unerwarteten verwandtschaftlichen Bandes neigte ich meinen Kopf, doch Sankt Bernhard, unzufrieden mit sparsamen Gesten, stampfte vorwärts, um mich seinerseits in titanischer halbbrüderlicher Umarmung zu umklammern, aber ich entzog mich ihm, indem ich mich schnell an die Konsole setzte. »Ein Fest!« verkündete ich. »Dieser Anlaß verlangt ganz eindeutig nach Gelage und Gesang.« Ich löschte den Triumphbogen und wählte eine angelsächsische Festhalle in sehr behutsamer Stilisierung, aber mit einem Automatik-Akrobaten. Julchen hüllte sich im Handumdrehen in ein paar Meter Brokat und setzte sich einen Spitzhut auf; ich zog mir geeignete Kleider in Goldbraun an. Wir verständigten Pluto, und nach kurzer Zeit kam er in den Gewändern eines Kardinals. St. Bernhard, ein getreuer und frommer Ritter, mußte wieder auf ein Knie fallen und den Ring des Kardinals küssen. »Met her!« brüllte ich die Roboter an, die sich als Diener tummelten (alle in angemessener Weise in Baumwollflanell gekleidet). »Bringt gebratenen Eber! Wildbret! Hekatomben von Braten!« »Hekatomben ist anachronistisch, Knautschi«, beriet mich Julchen. »Na, wenn du so eine Kennerin des Mittelalters bist, 88
dann bestell du doch!« Und das tat sie auch – obendrein in Althochdeutsch. Wie sie mir später verriet, half ihr unser Meister allerdings bei den unregelmäßigen Verben ziemlich nach. Als sie fertig war, ergänzte Petite in Englisch ihre Bestellung von Krokanteis. Während wir vor dem Essen schon einmal ein paar Runden Met tranken, vollführte der Automatik-Akrobat seine Kunststückchen, und ein Robot-Hanswurst kam an den Tisch und erzählte köstlich anzügliche Scherze, die St. Bernhard anscheinend für noch immer so ausgezeichnet hielt wie vor tausend Jahren, als man sie zum ersten Mal erzählte. Vielleicht lag es am Met. Was den Alkoholgehalt betraf, so war das Zeug vollkommen harmlos, aber durch die Leinen lieferten uns unsere Meister genau jenen Grad an Berauschtheit, den jeder von uns anstrebte. Clea unterrichtete uns über ihre vergangenen dreizehn Jahre (und sie waren in der Tat ungefähr so verlaufen, wie man es von ihr erwarten durfte, urteilte man nach der Wirkung, die sie auf sie ausgeübt hatten: Auf Titan herrschte ein sehr wagnerianischer Stil – ganz Cleas Geschmack –, alles voller Leidenschaft und riesenriesengroß); dann erzählte Pluto von der Zeit unserer Vernachlässigung und unserer anschließenden Erlösung aus jenem öden Zustand, aber ich glaube nicht, daß Clea davon etwas hörte, denn unterdessen kitzelte St. Bernhard sie ununterbrochen. Nach dem Gang mit 89
den Fischgerichten und einem Ferkel mit Trüffel sangen Clea und St. Bernhard gemeinsam für uns den 2. Akt aus Tristan und Isolde. Um nicht zuhören zu müssen, ließ sich Julchen an der Leine sternhagelvoll machen. Danach und einige weitere Runden Met später schlug St. Bernhard vor, uns ein Beispiel seiner Geschicklichkeit im Axtwerfen zu geben. Auf Titan kostet man das Mittelalter noch einmal so richtig aus. Wir stellten die eichene Tafel, an der wir geschmaust hatten, hochkant und malten eine menschliche Gestalt als Ziel darauf. St. Bernhard ließ es sich nicht ausreden, daß wir gegen ihn wetten müßten. Ich hatte meine Zweifel, ob er noch etwas zu leisten imstande war, denn zu diesem Zeitpunkt fiel ihm schon das Aufrechtstehen recht schwer – aber jedesmal traf die Axt genau an der Stelle, die er voraussagte. Petite war begeistert. »Hoi-ho, Mädchen! Ergötzt dich dieser Spaß?« St. Bernhard hob Petite auf seine Schulter. »Würdest du gerne mitmachen?« Sie nickte mit verzücktem Lächeln und leuchtenden Augen. »Also, Sankt Bernhard, hör mal – genug ist genug. Falls du meinst, du könntest jetzt den Wilhelm Tell singen, kann ich dir versichern, daß meine Tochter ihn nicht im Repertoire hat.« »Ach, laß ihm sein Vergnügen«, empfahl Clea. »Das ist besser, als ginge er auf ein Schoßhündchen los.« 90
»Genau darum mache ich mir ja Sorgen, weil er auf ein Schoßhündchen losgehen will … mit seiner Axt. Wenn du soviel Vertrauen zu ihm hast, Mütterchen, warum stellst du dich nicht als Ziel zur Verfügung?« »Das habe ich schon oft getan. Es ist schrecklich langweilig. Ich meine, man steht ja einfach bloß da. Es wäre mir lieber, du hättest ihn nicht so aufgemöbelt. Wenn's mehr wird, als ihm bekommt, führt er sich immer so auf. Am Ende wird er dann sentimental. Wie ich das hasse!« Mittlerweile hatte St. Bernhard unsere Petite vor der Eichentafel aufgestellt und zwanzig Schritte rückwärts getan, um zu zielen. Die Klinge seiner Axt war so lang wie ein volles Drittel der Körpergröße meiner Tochter. »Halt, Wahnsinniger!« schrie ich, doch zu spät – schon wirbelte die Axt auf Petite zu, sie schien zu torkeln, während sie sich um ihren Schwerpunkt drehte. Ich stürzte vorwärts, wie um sie mitten im Flug abzufangen … Nur ruhig, mein Freund, keine Sorge! Dein Meister gibt acht und wird euch kein Übel zustoßen lassen. Nur die Ruhe, nur ruhig. Hätte ich mir nicht selber zuviel Met genehmigt, wäre die Erinnerung seitens der Leine nicht erforderlich gewesen. Denn worum sollte ich mich im Zwinger Schwanensee sorgen, wo mein Meister unablässig über mich wachte? 91
Als St. Bernhard seine Vorführung zu seiner und Petites ungeheuren Zufriedenheit beendet hatte, trat ich zur Eichentafel und riß die Axt heraus. »Und nun«, sagte ich leichthin, »werde ich euch zeigen, wie wir in Schwanensee die Axt zu werfen verstehen. Julchen, komm her!« Julchen, die bis zu diesem Moment am Ende ihrer Leine durchs Himmelreich geschwebt war, kam ruckartig mit einem Ausbruch echter Furcht zur Besinnung. »Knautschi, bist du verrückt geworden? Ich denke überhaupt nicht daran!« Aber rasch nahm ihr Gesicht wieder einen friedlicheren Ausdruck an, und ich erkannte, daß unser Meister auch ihr seine Beruhigung zugeflüstert hatte. Sie stellte sich vor der Tafel auf. Ich begann meine Demonstration mit einem Axtwurf, der säuberlich zwischen Julchens Beinen ins Ziel ging und ihr dickes Brokatkleid ans Holz nagelte. Dann brachte ich von unten her einen Wurf an, der die Spitze ihres Spitzhuts kappte. Danach vollführte ich mehrere tadellose Würfe, bei denen ich Julchen den Rücken zukehrte. St. Bernhard blieb angesichts dieser Kühnheit der Atem weg. Ich beschloß meine Darbietung mit einem Wurf, womit ich die Axt nicht auf normale Weise, sondern mit der Klinge seitwärts schleuderte, so daß sie sich wie ein Kreisel um den Griff drehte. Ich verbeugte mich, als St. Bernhard mir donnernden 92
Beifall spendete. »Vielen Dank«, sagte ich, ebenso für die Unterstützung meines Meisters wie auch für St. Bernhards Beifall. »Du bist großartig! Du bist wahrhaft ein Meisterwerfer! Nun bin ich stolz darauf, daß du mein Bruder bist. Komm, wir müssen uns in feierlichem Band einander verschwören – ewige Bruderschaft im Blute geloben. Blutsbruderschaft!« Mit diesen Worten löste St. Bernhard die lederne Umhüllung von seinem rechten Handgelenk und schnitt sich mit einem edelsteinbesetzten Dolch ins bloße Fleisch. »Du bist an der Reihe«, sagte er und reichte mir das blutige Werkzeug. »Wir werden unser Blut vermischen, dann sind wir bis ans Ende aller Zeit …« Mein ausgiebiges Würgen unterbrach St. Bernhard (ich hatte sehr reichlich getafelt), und mit Bedauern muß ich hier gestehen, daß mein Mageninhalt der einzige Beitrag blieb, den ich zur Besiegelung unserer Blutsbruderschaft leistete. Ich entsinne mich nur seiner ersten Flüche(»Wotan! Fricka!« etc.), die er ausstieß, ehe ich, sobald mein Magen leer war, mit einem Schlag das Bewußtsein verlor.
Als ich erwachte, befand ich mich im Sturz durch das Weltall. Pluto war so freundlich gewesen, St. Bernhard 93
meine eigentümliche Schwäche zu erklären (dabei verschwieg er allerdings seine Rolle bei ihrer Entstehung), und um eine Art von Entschädigung zu liefern, hatte St. Bernhard darauf bestanden, daß wir ihn und Clea auf ihrem Ausflug zur Erde begleiteten. Pluto und Julchen hatten sich abgeneigt gezeigt, weil sie fürs Wagnerische noch weniger Interesse hegten als ich, aber überraschenderweise war unser Meister durchaus dafür gewesen. So waren wir alle acht (sechs Schoßhunde, zwei Meister) unverzüglich aufgebrochen, und wir erreichten die Erde praktisch in Nullkommanichts. Die Morgensonne glitzerte in übertriebener Helligkeit auf dem Wasser des Lake Superior, und dort stand wieder in unmittelbarer Entfernung die Kathedrale St. John the Divine. Kann es möglich sein, daß ich niemals wieder die unschuldigen Freuden jener Zeit erleben soll? Daß ich Schwanensee nie, nie wiedersehen soll und kein weiteres Mal zwischen den so vertraut gewordenen Asteroiden umherschwirren darf? Und kann es wahr sein, daß diese Verbannung meine freie Wahl gewesen ist? O ihr Himmel, wenn ich mich an euch erinnere – so wie jetzt –, so klar, so lieb, dann will all meine Willenskraft dahinschmelzen, und es verlangt mich danach, zu euch zurückzukehren. Nichts, nichts auf der Erde gleicht – und kaum etwas vermag sie auch nur im geringsten anzu94
deuten – den unnachahmlichen Möglichkeiten unter den freudenvollen Kuppeln der Meister. Nein, nichts! Es war das Paradies – und es ist ganz und gar dahin.
5. Kapitel Worin das Schlimmste geschieht. Kaum hatte ihr Fuß den Erdboden berührt, da verfiel Schatzgold, Julchen in eine ihrer gefühlvollen Stimmungen und bettelte unseren Meister an, er möge uns hinaus zur Stink-Farm bringen, wo sie mich kennengelernt hatte. Ich schloß mich ihrer Bitte an, weniger aus Sentiment als aufgrund des Bedürfnisses, der Gegenwart St. Bernhards zu entfliehen (der sich irgendwie in die Vorstellung verrannt hatte, wir befänden uns in der Nachbarschaft des Schwarzwalds). Wie gewöhnlich gab unser Meister unserer Laune nach. Während Petite umherstreifte, um die düsteren Gehölze zu erforschen (die auf ihre Weise ebenso realistisch waren wie alles, was man der Konsole entlocken konnte), saßen Julchen und ich an der denkbar lockersten Leine und bestaunten die Veränderungen, die die Zeit bewirkt hatte, nicht nur an uns (denn immerhin hatten wir uns ja inzwischen vom Welpentum zur Reife entwickelt, und nun ertönten ringsum die lustigen . Kreischer unseres eigenen lieben kleinen Welpen), sondern auch an der Gegend ringsum. Das Dach des Schuppens war eingefallen, und im Obstgarten und auf den umliegenden Weiden hatten wilde Schößlinge sich angewurzelt und gediehen prächtig. Julchen schwelgte ge96
radezu in all diesem Verfall, etwa so, wie die jungen Damen des 18. Jahrhunderts die Wiederbelebung der Gotik mit ihrem Schund auf Bestellung ausbadeten, und ihre Begeisterung über die Rückkehr in die Vergangenheit war so groß, daß sie unseren Meister anflehte, die Leine zu lösen! »Bitte!« winselte sie. »Nur dieses eine Mal. An der Leine fühle ich mich hier draußen so zurückgehalten, so anachronistisch. Ich möchte erfahren, wie die Wildnis wirklich ist.« Unser Meister tat, als nehme er sie gar nicht wahr. »Bitte, bitte!« quengelte sie lauter, so daß man fast schon von einem Anbellen hätte sprechen können. Nanu, nanu, immer mit der Ruhe, besänftigte in meinem Kopf eine Stimme (und natürlich auch in Julchens Kopf). Was bedeutet das, meine Lieben, meine Lieblinge, meine Schoßhündchen? Na, ihr seid doch so gut wie gar nicht angeleint! Wollt ihr denn zu Dingos werden? »Ja!« antwortete Julchen. »Nur für heute nachmittag möchte ich mal ein Dingo sein.« Ich war entsetzt. Doch gebe ich zu, daß ich gleichzeitig ein wenig Erregung verspürte. Soviel Zeit war vergangen, seit ich ohne Leine gewesen war, daß eine so primitive Anwandlung auf mich durchaus ihre Anziehungskraft besaß. Es findet sich stets ein gewisses morbides Vergnügen daran, in die 97
Uniform des Gegners zu schlüpfen, ein Doppelagent zu werden. Wenn ich euch von der Leine freigebe, habt ihr keine Möglichkeit, um mich zurückzurufen. Ihr müßtet warten, bis ich wiederkomme. »Das ist uns recht«, versicherte Julchen. »Wir bleiben auf der Farm.« Ich kehre morgen früh zurück, Kleines. Wartet auf mich. »Oh, das werden wir, das tun wir«, versprach Julchen und ich wie im Wechselvortrag. »Mich auch«, forderte Petite, als sie auf Wunsch des Meisters prompt von ihrem Streifzug zurückkehrte. Und dann war er fort, und wir lösten uns geistig von den Leinen, worauf wir in einen solchen Wirbelwind, ein so stürmisches Tosen der Gedanken gerieten, daß mehrere Minuten lang keiner von uns ein Wort herausbrachte. An der Leine kann man eine ganze Anzahl von Gedanken zugleich walzen, bevor man sich bewußt damit befaßt, und nun, da die Leine fort war, mußten wir lernen, selektiv und langsam zu denken statt in klarer linearer Reihenfolge. Ein lebhaftes Rosa färbte Julchens Wangen, und ihre Augen funkelten plötzlich in ungewohntem Glanz. Ich begriff, daß dies wahrscheinlich das erste Mal in ihrem Dasein als Schoßhündchen war – das heißt, in ihrem 98
ganzen Leben –, daß sie sich völlig ohne Leine bewegte. Wahrscheinlich fühlte sie sich benommen. Mir jedenfalls ging's so, obwohl mir ja das Gefühl nicht fremd war, ohne Leine zu sein. »Hallo, Erdenmensch«, sagte sie. Ihre Stimme wirkte verändert, irgendwie schärfer und schneller. Sie pflückte einen Apfel von den Zweigen über uns und rieb ihn an ihrer samtgleichen Haut. »Du solltest so etwas nicht essen, denk dran«, ermahnte ich sie. »Es könnten Krankheitserreger daran sein.« »Ich weiß.« Sie biß hinein und bot dann den Rest des Apfels mir an, wobei sie ein Lachen unterdrücken mußte. Das war eine sehr offensichtliche literarische Anspielung, aber ich sah keinen Grund darin, den Apfel abzulehnen. Ich nahm einen großen Bissen. Als ich die andere Hälfte des Wurms sah, die im Apfel zurückblieb, beendete ich unseren kleinen historisch-moralischen Einakter augenblicklich. Es war Julchen, die die alte Pumpe entdeckte und sie buchstäblich in Schwung brachte. Das Wasser schmeckte unzweideutig nach Rost, aber das zog ich dem Geschmack, der in meinem Mund war, bei weitem vor. Den Kopf in Julchens Schoß, während ihre Finger mein Haar zausten, schlief ich mitten am hellen Tag ein. 99
Als ich aufwachte, brannte die Hitze der nachmittäglichen Sonne mir in jeder Pore, und ich war klamm von Schweiß. In den Bäumen rundum verursachte der Wind ein unregelmäßiges Geräusch; eine Krähe stieß im Astwerk über uns einen heiseren Schrei aus und flatterte davon. Ich beobachtete ihre unsichere Flugbahn in einer Mischung aus Belustigung und ungewissem Mißbehagen. Dies war's, sterblich zu sein. »Womöglich kriegen wir einen Sonnenbrand«, bemerkte Julchen träge. »Ich glaube, wir sollten lieber ins Haus gehen.« »Das wäre aber ein Übergriff«, sagte ich dazu, da ich mich noch entsann, wie nachdrücklich Roxanna uns das Haus verboten hatte. »Um so besser«, erwiderte Julchen, die das romantische Erlebnis noch nicht satt hatte, für einen Tag ein Dingo zu sein. Im Wohnhaus hingen staubige Strähnen aus klebrigem Zeug von der Decke – Spinnengewebe –, und der Fußboden, der mächtig knarrte, war bedeckt mit Papier, das die Zeit persönlich von den Wänden geschält hatte. In einem der oberen Räume fand Julchen Schränke und Schubladen voller modriger Klamotten, darunter auch ein paar Baumwollkleider, die etwa die richtige Größe für ein zehnjähriges Mädchen besaßen. Man konnte sich schwer vorstellen, daß Roxanna jemals so klein gewe100
sen sein sollte – oder so arm. Ich verspürte ein unbestimmtes Schuldgefühl, weil ich dieses Fenster zu ihrer Vergangenheit geöffnet hatte, und als dann eines dieser Kleidchen zwischen meinen Händen zerbröckelte, vom Alter morsch, war mir plötzlich auch ein bißchen gespenstisch zumute. Ich betrat mit Julchen ein anderes der oberen Zimmer, und darin stand eine breite, gepolsterte Apparatur von etwa einem Meter Höhe. Die Polsterung stank grauenhaft. »Knautschi, schau nur – ein Bett! Ein echtes Bett! Na, so ein antikes Stück wäre in den Asteroiden ein Vermögen wert.« »Kann sein«, entgegnete ich. »Vorausgesetzt allerdings, man bekäme den Gestank raus.« »Betten müssen verfallen – genauso wie Kleidung.« Ich setzte mich auf die Bettkante und erzeugte damit ein harsches, metallisches Quietschen, das stark dem Geräusch der alten Pumpe ähnelte. Julchen lachte und sprang neben mich aufs Bett. Es knarrte, das Knarren steigerte sich zu einem Knacken, dann entstand ein Krachen. Julchen lachte wie besessen, als das Bett zusammenbrach. Als ich sie mit ausgebreiteten Gliedmaßen an meiner Seite auf dieser kuriosen Apparatur liegen sah, überkam mich auf einmal eine Empfindung, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Denn obwohl wir bereits jahrelang mit101
einander intim, bekannt waren, hatte ich nie zuvor ein so dringliches Verlangen nach Julchen empfunden. Zweifellos war auch das eine Folge des Fehlens der Leine. »Julchen«, sagte ich, »ich werde dich jetzt beißen.« »Grrr«, knurrte sie spielerisch. »Wau-wau«, antwortete ich. »Ich auch mitmachen, ich auch mitmachen!« krähte Petite und kam ins Zimmer gestürzt. Sie war jedoch sehr schnell wieder draußen, wo sie im Garten ein Loch aushob, um darin Onkel Pluto zu begraben. Bevor der Nachmittag verstrichen war, hatte sie außerdem Gruben für Clea, St. Bernhard und die ganze abwesende Familie Stink angelegt. Schatzgold, Julchen ist mein Goldschatz. Wir verbrachten alle drei die Nacht im Wohngebäude der Farm, inmitten von unaufhörlichem Knirschen und Knarren des alten Holzes und unheimlichem Gehusche im Gemäuer. Petite schlief in einer kleinen Wiege, die einmal Roxanna gehört haben mußte. Bei Sonnenaufgang waren wir auf den Beinen und verließen, wobei wir schwer zitterten, sofort das Haus, um unter den Apfelbäumen zu warten. Wir froren und hatten Hunger, und aus dem vom Tau triefnassen Gras summten Schwärme feindseliger Insekten auf, um sich auf unse102
rer nackten Haut niederzulassen und sich von unserem Blut zu nähren. Drei oder vier davon schlug ich kaputt, aber diese geistlosen Wesen griffen uns weiterhin unverdrossen an, gegenüber der offenkundigen Gefahr völlig gleichgültig. Nicht einmal in den ödesten Zeiten im Zwinger Schröder waren wir Schoßhunde derartig mühseligen Unannehmlichkeiten ausgesetzt gewesen. Ich begann unter diesen Umständen den Gebrauchswert von Kleidung zu begreifen und wünschte mir, ich trüge noch die goldbraunen Klamotten von der gestrigen Festivität. Die Sonne hatte sich nahezu in mittägliche Höhe emporgeschwungen, als Julchen sich schließlich an mich wandte. »Was glaubst du«, fragte sie, »was nicht in Ordnung ist, Knautschi?« Mittlerweile war es unsinnig geworden, so zu tun, als stehe alles bestens, aber ich konnte auf ihre Frage nur mit einem kummervollen Blick antworten. Vielleicht erhielten wir eine Strafe dafür, daß wir unbedingt die Leine hatten ablegen wollen. Vielleicht – wie undenkbar das auch wirkte – hatte unser Meister uns vergessen. Vielleicht … Aber wie sollte ein Schoßhund fähig sein, die Taten seines Meisters zu begreifen? Vor allem eine so verantwortungslose, unfaßbare und gedankenlose Tat wie das
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unter einen kleinen Welpen – unter Horden von Dingos! Als unser Hunger unerträglich stark war, stopften wir uns mit Äpfeln, Kirschen und sauren Pflaumen voll, ohne länger auf Wurmlöcher zu achten . Den ganzen Nachmittag lang und bis zum späten Abend warteten wir auf die Rückkunft unseres Meisters; endlich trieben Kälte und Dunkelheit der Nacht uns zurück ins Haus. Den folgenden Morgen brachten wir erneut mit sinnlosem Warten zu, doch diesmal waren wir zimperlich genug, um Kleidung zu tragen – Hosen und Jacken in verblichenem Blau und aus Gummi fabrizierte Stiefel. Fast alles andere war bis zur Unbrauchbarkeit morsch. Unser Meister kehrte nicht zurück. »Julchen«, sagte ich schließlich (Petite hatte ich zum Blaubeerenpflücken weggeschickt, um ihr so lange wie möglich die Neuigkeit unserer grundlegend veränderten Lage zu ersparen), »wir sind auf uns allein gestellt. Unser Meister hat uns verlassen. Er möchte uns nicht länger haben.« Julchen begann zu weinen, veranstaltete zwar kein großes Geheul, aber die Tränen rollten in gleichmäßigem Fluß schneller über ihre Wangen, als ich sie fortküssen konnte. Dennoch muß ich zugeben, daß sich Julchen unserem unvermuteten Zustand des Ausgesetztseins erheblich rascher anpaßte als ich. Sie hatte Spaß an den Herausforderungen dieser archaischen, dingomäßigen Exi104
stenz. Ohne Zweifel half ihr dabei ihr schauspielerisches Talent. Jeden Tag, während ich einen hohen Hügel in der unmittelbaren Umgebung erstieg, um aus vollem Halse, aber ohne Hoffnung und ebenso ohne irgendeinen sichtbaren Erfolg, nach unserem Meister zu rufen, tat Julchen so, als mache sie im Wohnhaus so etwas wie Frühjahrsputz. Sie säuberte die Fußböden, wusch und staubte alles ab, lüftete die modrigen Möbel und fauligen Matratzen und stellte Experimente mit den interessanten frischen Gemüsen an, die in den Gärten zwischen dem Unkraut wuchsen. (Nebenbei, Rüben schmecken sehr gut, wenn man sie im Wasser eines rostigen Topfes kocht und zur Verbesserung des Aromas ein bißchen Gartenerde beigibt.) Nach Ablauf einer Woche suchte ich den Hügel nur noch gelegentlich auf. Ich war davon überzeugt, daß unser Meister niemals zu uns zurückkehren werde. Der Gedanke an eine solche Grausamkeit und Gleichgültigkeit – nach all den Jahren im Zwinger Schwanensee – ging beinahe über mein Vorstellungsvermögen. Während ich Julchen bei ihren seltsamen Tätigkeiten auf der Farm half, entwickelte ich eine gewisse Achtung für die Technologie, die die Erde vor der Herrschaft der Meister besessen hatte. Ich entdeckte und reparierte einen Mechanismus, der besonders nützlich war: ein grobes steinernes Rad von ungefähr neunzig Zentime105
tern Durchmesser und zehn Zentimetern Dicke, das sich durch ein Fußpedal in eine Drehbewegung versetzen ließ. Wenn man ein Stück Metall an das in Drehung befindliche Rad hielt, sprühte die Maschine Funken, und mit diesen Funken wiederum konnte man trockenes Kleinholz anzünden. Das so entfachte Feuer konnte man in verschiedenen erfindungsreichen Geräten im Innern des Wohnhauses am Brennen halten. Feuer besitzt eine weitreichende Nutzanwendbarkeit, aber da ich sicherlich davon ausgehen darf, daß meine werten Leser sich damit auskennen, will ich in dieser Hinsicht nicht weiter abschweifen. Ich möchte nur noch beiläufig erwähnen, daß mich Julchen, als wir am Abend an einem Kaminfeuer saßen, das munter prasselte, mit echter Bewunderung ansah! Und ich betrachtete sie ebenso – denn sie war im Feuerschein einfach zauberhaft, viel entzückender, als ich sie je zuvor gesehen hatte, meinte ich sogar. Der Feuerschein machte die Konturen ihres Gesichtes weicher, bis ich nur noch ihr entspanntes, zufriedenes Lächeln und den Glanz ihrer Augen wahrnahm, einen Glanz, der seine Helligkeit nicht vom Feuer zu borgen, sondern vielmehr aus ihrem innersten Wesen zu stammen schien. »Mein Prometheus«, sagte sie leise. »Meine Pandora«, entgegnete ich, und mir kam ein Bruchstück einer alten Dichtung in den Sinn, in seiner 106
Aussage tröstlich und schrecklich zugleich. Mit gedämpfter Stimme trug ich es Julchen vor. »Und wie sie dort erstrahlen, so leuchten wieder hier Der Frühling und die Menschen, Erbarmender, vor dir. Und wieder blühn wird Hoffnung dem menschlichen Geschlecht, Und grünen wird die Saatflur, und walten im Land das Recht.« Julchen erbebte bühnenreif. »Knautschi«, sagte sie, »unsere einzige Hoffnung ist, daß wir einen Weg finden, um nach Hause zu gelangen .« »Nenn mich nicht Knautschi«, sagte ich in für mich unüblich schroffem Ton zu ihr. »Wenn du mich nicht Weißzahn rufen willst, bleib lieber bei Prometheus.« Tag um Tag verstrich, ohne daß sich irgendwelche Anzeichen für eine Rückkehr unseres Meisters ergaben. Je länger wir auf der Farm blieben, um so unvermeidlicher drohte uns die Entdeckung. Im Laufe meiner Ausflüge zum Hügel hatte ich manchmal von den Landstraßen Staubwolken aufwirbeln sehen, und obwohl ich mich immer in Deckung und abseits der Straßen hielt, war mir klar, daß bisher bloß Glück und ganz und gar nichts anderes als Glück unsere Gefangennahme verhindert 107
hatte. Meine Vorstellungskraft schrak davor zurück, sich auszumalen, was aus uns werden würde, falls wir den Dingos in die Hände fielen. Ich brauchte nur das entstellte Denkmal meines Vaters anzuschauen (an dem ich an allen jenen Tagen, da ich den Hügel erklomm, unausweichlich vorbeikam), um an sein entsetzliches Schicksal erinnert zu werden, und dabei handelte es sich ja keineswegs um eine Erinnerung, die in jemandem Zuversicht zu erwecken vermochte. Deshalb entschied ich, daß Julchen, Petite und ich uns zu Fuß auf den Weg zum Zwinger Schröder machen mußten, wo wir zwar weniger glücklich sein würden als in den Asteroiden, aber immerhin in Sicherheit. Aber ich hatte keine Ahnung, wie wir dorthin gelangen sollten. Damals, vor vielen Jahren, waren wir, wenn wir mit Roxanna zur Stink-Farm hinausfuhren, vom Robot-Fahrer hingebracht worden: ein weiter Bogen, grob südwestliche Richtung. Aber ich hatte mir nie die Mühe gemacht, mir den Weg zu merken. In jedem Fall war es nicht ratsam, die Straßen entlangzuwandern. Ich begann neue Streifzüge durch die umliegenden Wälder und suchte nach einem Aussichtspunkt, von dem aus ich die Kathedrale oder sonst irgendein Wahrzeichen der Zivilisation zu erkennen hoffte. Schließlich erspähte ich auch etwas in dieser Art: Auf der anderen Seite eines Sumpfes erhob sich ein Hügel; und über 108
dessen Höhe verlief eine Starkstromleitung! Wo es Elektrizität gab, dort waren zweifelsfrei auch Meister. Als die Meister sich erstmals den Menschen zu zeigen begannen – 1982 –, bestanden sie darauf, die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über alle Kraftwerke, Staudämme, Generatoren sowie Rundfunk- und Fernsehsender zu erhalten. Ohne irgendwie deren Verwendungsfähigkeit für die Zwecke der Menschen zu beeinträchtigen (vielmehr führten sie sogar ein paar erhebliche Verbesserungen ein), bauten die Meister die bereits vorhandenen Anlagen zu einer Art von elektromagnetischer Super-Luxus-Kureinrichtung um und aus. Mit der Zeit überschritten ihre Erweiterungen und Verbesserungen natürlich sowohl die menschlichen Bedürfnisse als auch den Verstand der Menschen. Was begreift die Kuh von der Musik, die man ihr im Stall vordudelt, außer vielleicht, daß sie davon in gute Stimmung gerät? Menschliche Arbeit konnte nach den Angaben der Meister Gerätschaften herstellen, die das Verständnis der Menschen weit überstiegen. Aber auch die menschliche Arbeitskraft verlor ihren Wert, als die Meister – selbst eine nachgerade unerschöpfliche Energiequelle – weiterhin blieben und immer mehr Angelegenheiten in die eigenen Hände nahmen, die Schwerarbeit Automaten übertrugen, die Menschen von der Last des 109
Gewöhnlichen und Alltäglichen befreiten, die ihnen beständig Anlaß zur Klage gegeben hatte. Wenigstens befreiten sie davon jene, die diese Freiheit anzunehmen beabsichtigten – die, kurz gesagt, dazu bereit waren, ihre Schoßhunde zu werden. Obwohl die Neuerungen der Meister die primitive Technologie der 80er Jahre im wesentlichen verdrängt hatten, unterhielten sie noch ein modifiziertes Netz von Stromleitungen (hauptsächlich zum Vorteil der undankbaren Dingos), das die Welt in einem geheimnisvollen geometrischen Muster umspannte und welches nur die Meister begreifen und in Betrieb halten konnten. Diese Hochspannungsdrähte waren es, zu denen die Meister kamen, um sich in der Elektrizität zu baden und zu tummeln, und deshalb beschloß ich, mich mit meiner Familie an ihrem Netzwerk zu orientieren; auch wenn es keine Möglichkeit gab, sich an die Meister zu wenden, wenn sie in der Luft dem Verlauf der Drähte in die eine oder andere Richtung nachschwebten, konnten wir doch, indem wir ihrem Verlauf folgten, zu einem Generatorgebäude oder Kraftwerk vorstoßen, vielleicht sogar zu jenem, das an den Zwinger Schröder grenzte, womöglich zu irgendeinem anderen, denn Zwinger lagen stets in der Nähe von Kraftwerken. Sobald wir die Stromleitung erreicht hatten, vermochten wir den Rest unserer Wanderung völlig sicher 110
zurückzulegen. Kein Dingo würde es wagen, in die Domänen der Meister einzudringen. In bester Laune lief ich zurück zur Farm. Julchen holte gerade Wasser aus der Pumpe. »Trample nicht so durch den Garten, Knautschi«, rief sie mir entgegen. »Wir werden die Tomaten im kommenden Winter bitter nötig haben.« »Das ist … jetzt egal … Schatzgold, Julchen!« Ich war schnell und zügig gelaufen und bei der Ankunft außer Atem. »Ich habe den Heimweg gefunden … Wir können jetzt losziehen … nach Hause, nach Hause … juhuuu!« Ich taumelte zu Julchen, gab ihr hastig einen Kuß und entleerte dann das Wasser aus dem Kübel über meinen Kopf, und mir schauderte vor rasender Freude und Kälte. Ich fühlte mich prachtvoll – fast wie an der Leine. Julchen stand nur wie versteinert da. Ich küßte sie noch einmal. »Du Vieh, du bist ja klatschnaß!« Kleidungsstücke haben eindeutig Nachteile, zu deren wesentlichsten (sobald man sich einmal an die Unbequemlichkeit des Tragens an sich gewöhnt hat) ihre Saugfähigkeit gehört. »Julchen, ich habe einen Heimweg gefunden! Es ist ganz bestimmt wahr. Wir sind praktisch schon daheim.« Und ich erzählte ihr von der Stromleitung und was sie für uns bedeutete. 111
Julchen zog ein nachdenkliches Gesicht. »Na, ich glaube, das heißt wohl, daß wir die Farm nun verlassen müssen?« »Müssen?! Bei allen Meistern, Julchen, drängt's dich denn etwa nicht, schnellstens von hier zu verschwinden?« »Ich weiß es nicht. Es ist hier allmählich fast so etwas wie unser eigener Zwinger geworden. Alles war so nett, so friedlich. Und ich habe noch nicht einmal richtig angefangen, kochen zu lernen! Weißt du, was Petite heute mitgebracht hat? Eier! Wir können …« »Du willst in dieser Wildnis bleiben, auf allen Seiten von Dingos umzingelt? Niemals wieder an die Leine kommen? Und in dieser archaischen, stinkigen, vergammelten, dreckigen, schmierigen Umgebung …« Julchen begann jämmerlich zu weinen, und ich mäßigte mich, weil ich einsah, daß ich zu stark übertrieben hatte. »Ohne dich wäre es in jeder Beziehung derartig abscheulich gewesen. Es war ganz nett, Julchen, aber nur durch dich. Wenn wir heimkehren, wird unser Meister dich bestimmt weiterhin das Kochen lernen lassen, davon bin ich überzeugt. Und er wird dir eine viel bessere Küche zur Verfügung stellen, als du sie hier hast. Mit einem elektrischen Herd.« Diese Aussicht besserte ihren Gemütszustand, und ich nutzte die Gelegenheit. »Aber du weißt, daß wir heimkehren müssen. Wir brauchen 112
die Leine. Bleiben wir hier, wären wir bald nicht besser als die Dingos.« »Wahrscheinlich hast du recht. Vermutlich, ja.« »Das ist die richtige Einstellung! So, wann können wir fertig zum Aufbruch sein? Besorge du uns irgend etwas, worin sich Nahrung mitnehmen läßt. Decken eignen sich gut, schätze ich, und außerdem dienen sie uns nachts zum Warmhalten. Und schau einmal nach, ob du Schuhe findest, die Petite passen. Wenn wir morgen sehr früh aufbrechen, dürften wir keine Nacht unter freiem Himmel zu verbringen haben, aber man kann nie wissen …« Während Julchen uns Rucksäcke bastelte, ging ich in den Werkzeugschuppen. Dort befand sich ein altes Werkzeug, mit dem umzugehen ich umständehalber beinahe prädestiniert war – eine Axt. Es handelte sich um keine Axt in der prunkvollen mittelalterlichen Machart, wie St. Bernhard eine mittrug, aber auch in dieser schlichten Ausführung war sie lebensgefährlich genug, um eine beträchtliche Anzahl von Dingos in Stükke zu hacken. Ich stellte fest, daß es hier schwieriger war, das Ding nach einem Ziel zu werfen als in Schwanensee, weil die Schneide der Klinge ebensooft in die falsche wie in die richtige Richtung zeigte, wenn die Axt das Ziel traf. Als ich sie erprobte, ließen sich damit jedoch ganze Armladungen von heruntergebrochenen 113
Dachbalken des Schuppens zerhauen. Nimm das! Und das! Hoi-ho! Sieh zu, wie du das verdaust! In meinem Grimm machte ich mich daran, die mörderischen Eigenschaften meiner Waffe buchstäblich noch zu verschärfen. Ich hatte nämlich bemerkt, daß die Funkenmaschine an einem Stück Metall, hielt man es im geeigneten Winkel dagegen, eine äußerst scharfe Kante erzeugte. Nach geduldigem Üben hatte ich die eiserne Klinge der Axt so geschärft, daß die leiseste Berührung ins Fleisch schnitt. Nun sollten, dachte ich mir, die Dingos nur kommen! Am nächsten Vormittag brachen wir auf. Petite war, weil sie noch immer glaubte, es sei alles nur ein Spiel, ungeheuer lustig und geschwätzig, wogegen ihre Eltern sich keineswegs in so guter Laune befanden. Julchen war in nachdenklicher, melancholischer Stimmung, weil wir die Farm verlassen mußten (obwohl sie meine Auffassung teilte, daß wir keine andere Wahl besaßen), und ich war nervös und reizbar. Hinter der Höhe, von der aus ich die Stromleitung erspäht hatte, kamen wir in ein Gehölz von mit dichtem Gestrüpp durchsetzten Kiefern, Birken und Balsampappeln. Im Wald bestand keine Möglichkeit, die Geschwindigkeit unseres Vorankommens zu beurteilen. Man kann die Sonne als Kompaß nehmen und sogar als Uhr, solange man keinen Wert auf allzu große Genauigkeit legt, aber als Geschwindigkeits114
messer taugt sie überhaupt nichts. Wir zogen dahin, und als es so schien, als hätten wir die Strecke zur Stromleitung schon zwei-, dreimal zurückgelegt, waren wir noch immer unterwegs . Julchen fing an, mißmutig zu werden; und ich war daraufhin stinksauer. Danach war sie erbittert, und ich schmollte. Aber wir hielten uns deswegen nicht auf. Das Unterholz zupfte an unseren Hosenbeinen, der Morast am Rande der Sümpfe, die wir umgehen mußten, schmatzte an unseren Stiefeln. Und wir marschierten immer weiter. Petite, die auf meinen Schultern saß, machte sich einen gewaltigen Spaß daraus, die Moskitos zu erschlagen, die sich auf meiner Stirn niederließen. Und wir gingen weiter. Die Sonne schwebte groß und dunkelrot hinter uns am Horizont, quergestreift mit niedrigen, zerzausten Wolken; vor uns schob sich hinterm Hügel eine bleiche Mondsichel empor – und über den Hügel, ein schwarzes Gespinst vor dem blauen Himmel, verlief die Stromleitung. Julchen ließ ihren Rucksack fallen und lief den Abhang hinauf. »Meister!« schrie sie. »Meister, wir sind zurückgekommen! Nehmt uns wieder an die Leine! Nehmt uns wieder auf. Bringt uns nach Hause.« Die Starkstromleitung war kahl und still, nur ihre Drähte wiegten sich leicht im schwachen Wind. Julchen 115
umklammerte den hölzernen Mast und rief nach oben zu den tauben Drähten. »Meister, deine Schoßhündchen sind zu dir zurückgekehrt! Wir lieben dich! MEISTER!« »Die Meister hören dich nicht«, sagte ich nachsichtig zu ihr. »Andernfalls kämen sie ja.« Julchen stand auf, rückte tapfer ihre Schultern zurecht und stieg den Hang wieder herab, an dessen Fuß ich stehengeblieben war; sie hatte keine Tränen in den Augen. Aber ihre Lippen waren zu einem freudlosen, unguten Lächeln verpreßt. »Ich hasse sie«, erklärte sie laut und deutlich. »Aus ganzem Herzen hasse ich sie.« Dann fiel sie in Ohnmacht und mir in die Arme. Petite blieb wach, um mir während der frühen Abendstunden Gesellschaft zu leisten. Wir lauschten den abendlichen Geräuschen von Getier und Vögeln und versuchten zu erraten, um was es sich jeweils handelte. Dem Mond zufolge war es ungefähr 21 Uhr, als unvermittelt ein vollständiges, unbeeinträchtigtes Schweigen das Land einhüllte. »Das ist merkwürdig«, sagte ich. »Was ist merkwürdig, Papa?« »Daß man überhaupt nichts hört, wenn die Grillen still sind. Keinen Ton. Müßten die Drähte nicht summen? Man müßte sie doch ganz leise hören können. Aber diese hier geben keinen Mucks von sich. Ich glaube, sie sind wohl kaputt.« 116
»Wohl kaputt?« wiederholte Petite. »Sind die Meister kaputt? Werden die Dingos uns jetzt auffressen? Ob sie mich vorher noch mal ins Bad lassen? Wenn ich mich fürchte, muß ich …« »Nein, Petite-Schätzchen, die Drähte sind kaputt, nicht die Meister. Die Meister sterben nicht. Erinnerst du dich nicht, was ich dir kürzlich über Gott erzählt habe?« »Aber das war eben Gott.« »Mit den Meistern ist es das gleiche, nur auf andere Art und Weise. Und nun leg dich schlafen. Dein Papa hat nur laut nachgedacht, und deine Mami hat bloß so getan, als ob sie sich fürchtet. Du weißt, daß deine Mami immer irgend etwas schauspielert.« »Aber warum ist Gott nicht von dem Mast runtergekommen, als Mami ihn gerufen hat?« »Vielleicht ist diese Leitung außer Betrieb, mein Schatz. Vielleicht ist sie irgendwo unterbrochen. Morgen gehen wir an ihr entlang und finden es heraus. Und wahrscheinlich war das mit dem Geräusch sowieso nur ein Irrtum. Kann sein, daß es nur ein Aberglaube ist, daß die Drähte summen würden, und bloß Dingos sind abergläubisch. Durch die ganze dicke Isolation um die Drähte können uns die Meister wahrscheinlich nicht hören. Worauf sollten sie denn hier draußen auch achten? Morgen finden wir einen hübschen Zwinger, Petite, kei117
ne Sorge.« Petite schlief daraufhin ein, ich jedoch vermochte nicht zu schlafen. Am nördlichen Horizont strahlten gewaltige Säulen aus Licht. Sie glühten am schwarzen Himmel weißlich und ließen die Sterne verblassen, während sie zuckten, verflogen, erneut aufflakkerten. Die Nordlichter. Aurora borealis. Besonders dort liebten es die Meister, sich zu erholen und im Spiel zu entspannen. Zwischen den Elektronen des Van-Allen-Gürtels fühlten sie sich daheim, und wo er an den Magnetpolen der Erde deren Atmosphäre berührte, waren sie seinem Verlauf gefolgt und hatten durch kontrollierte Ionisation der Luft diese Säulen aus Licht geschaffen, die die Menschen schon immer bestaunten und deren Regeln ihrer supravisuellen Geometrie ihnen stets Anlaß zum Rätseln bot. Diese wechselhaften Muster waren die allergrößte Freude der Meister, und eben deshalb, weil die Erde von allen Planeten im Sonnensystem den stärksten Van-Allen-Gürtel besaß, hatte dieser Planet sie ursprünglich so angezogen. Mit der Menschheit hatten sie sich erst zu befassen begonnen, als man in den 60er Jahren ein paar Kernexplosionen im Van-Allen-Gürtel auslöste. Die Nordlichter waren in dieser Nacht unglaublich schön, und ich schlußfolgerte daraus, daß die Meister
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ihren armen, verirrten, geplagten Schoßhündchen heimleuchteten. Aber es war ein kaltes Feuer und fern, und es spendete mir kaum Trost. »Und wie sie dort erstrahlen, so leuchten …«, murmelte ich. Julchen, die immer einen leichteren Schlaf hatte, regte sich. »Entschuldigung«, nuschelte sie, wahrscheinlich viel zu schläfrig, um zu wissen, wieso sie sich zu entschuldigen hätte. »Schon gut«, sagte ich. »Morgen finden wir sie. Morgen. Morgen …« Julchen lächelte und entglitt fast unmerklich wieder in ihren Schlaf. Am nächsten Tag folgten wir der Leitung nach Norden. Sie verlief entlang einer asphaltierten Straße, die durch Risse und Erhebungen beschädigt war, aber zu Fuß kam man darauf trotzdem besser vorwärts als im Dickicht zu ihren Seiten. Wir kamen nun langsamer voran, denn ich hatte gemerkt, daß meine Knie die zweifache Belastung durch meinen Rucksack und Petite nicht länger tragen wollten, und wir mußten uns Petites weniger leistungsfähiger Gangart anpassen. Ein kaum noch leserliches Schild gab die Entfernung nach Schröder mit zwölf Kilometer an. Wenn wir auf der Straße blieben (wir hielten die Drähte über unseren Köpfen für einen ausreichenden Schutz gegen Dingos), 119
bestand guter Grund zur Hoffnung, daß wir den Zwinger im Laufe des Nachmittags erreichten. In regelmäßigen Abständen sahen wir – von der Straße zurückversetzt – verlassene Farmen, und zweimal verbreiterte sich die Straße, und die Ruinen standen dicht beisammen; das waren Ortschaften. An solchen Stellen verzweigten sich die Leitungen in alle Richtungen, aber der Hauptstrang führt weiter zum Zwinger Schröder. Die Masten bestanden aus roh behauenem Kiefernholz und waren mit Kreosot rotbraun gefärbt, einer sah aus wie der andere, bis … Julchen bemerkte es, als wir uns bereits in der näheren Umgebung des Zwingers befanden. An den Masten führten dünne silbrige Linien hinauf und hinab, die im Sonnenschein metallisch glitzerten. Bei genauerer Betrachtung erkannte man, daß diese Linien senkrechte Reihen dekorativer Elemente in einfachen Wiederholungsmustern bildeten. Ein häufiges Muster bestand aus ineinander verschlungenen Kreisen, die reihenweise durch gerade Striche verbunden waren; das sah so aus:
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Ein anderes Muster bestand aus einer gewöhnlichen Zickzacklinie:
Das am häufigsten sichtbare Muster ähnelte einer in Reihen angeordneten Darstellung von TrockenelementSchaltschemata.
Tatsächlich waren alle diese Muster nichts anderes als Schaltbilder. Für eine Verzierung war es viel zu krud, und in jeder anderen Beziehung war es bloß Unsinn, so daß ich so121
fort wußte, daß dieser Quatsch nicht von den Meistern stammte. Diese Markierungen ließen in ihrer ganzen barbarischen Beschaffenheit viel eher auf Dingos schlußfolgern! Aber welcher Dingo würde es wagen, sich den Heiligtümern der Meister so weit zu nähern? Der Zwinger konnte nur noch ein paar hundert Meter weit entfernt liegen. Ich begann bezüglich unserer Sicherheit Schlimmes zu ahnen. Doch ehe ich mich richtig damit befassen konnte, diese Gefahr einzuschätzen, bemerkten wir eine andere und viel ernstere Bedrohung. »Knautschi!« schrie Julchen. »Ihr Götter und Meister, schau dir das bloß an! Das Kraftwerk!« Ich riß Petite an mich und hastete sofort an Julchens Seite. Normalerweise verwehrte ein Anti-ZyklonSchutzgatter, das auf einer Länge von hundert Metern auch an die Straße grenzte, den Zutritt ins Kraftwerk, aber wir durften es nun vergessen, weil es nur noch Schrottwert besaß. Seine Gestänge, jetzt krumm und schief wie entlaubte Eichen, ragten in unheimlicher Silhouette gegen den hellblauen Sommerhimmel empor. Die Pfeiler, an denen die Hochspannungsdrähte ins Unterwerk eingeführt worden waren, lagen wie metallene Goliaths verstreut umher. Die Kabel, die aus dem Kraftwerk führten, waren zertrennt und hingen schlaff über den Resten des 122
Schutzgatters, dann und wann vom Wind in Schwingung versetzt. Alles, alles war zerstört. »Es ist in die Luft gesprengt worden«, sagte ich. »Das ist doch unmöglich!« »Von den Dingos?« »Würde ich sagen. Aber wie haben sie das fertiggebracht?« Es war einfach unbegreiflich. Eine so primitive Attacke wie diese hätte unmöglich Erfolg haben dürfen, nachdem die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts mit ihrem gesamten reichhaltigen Arsenal gegen die Meister versagt hatte. Gewiß, die Kernexplosionen im VanAllen-Gürtel hatten sie geärgert, doch damals wie heute bezweifle ich, ob es in der Macht der Menschen liegt, irgendwie einen Meister zu töten. Wie sollte es denn möglich sein? Wie könnte man etwas bekämpfen, das keine Dimensionen besitzt, wovon man nicht einmal vergleichsweise Begriffe kennt, die bei einer symbolischen Einschätzung ihrer Natur helfen könnten? Ganz gewiß nicht, indem man da und dort unbedeutende Kraftwerke sprengt; nicht einmal, wenn man sie allesamt in die Luft zu jagen vermöchte. Genausogut ließe sich darauf hoffen, daß man einen Löwen mit einem Reisig zu erschlagen vermag. Die Meister lagen außerhalb der Einwirkungsmöglichkeiten bloßer Technologie. 123
Jenseits des Gatters, irgendwo zwischen dem Wirrwarr zertrümmerter Maschinerie, erklang ein Stöhnen. Eine Frauenstimme wiederholte immer nur ein einziges Wort. »Meister, Meister …« »Das ist kein Dingo«, sagte Julchen. »Da drinnen sitzt irgendeine arme Sau von Schoßhund. Knautschi, ist dir eigentlich klar, daß das heißt, daß alle Schoßhunde aufgegeben worden sind?« »Scht! Mit solchem Gerede bringst du bloß Petite zum Weinen.« Wir durchquerten das Gatter an einer Stelle, wo ein gestürzter Pfeiler es beim Aufprall mit sich niedergerissen hatte. Die Frau, die so jammerte, kniete nur ein paar Schritte weit hinter dieser Lücke, das Gesicht von uns abgewandt. Sie benutzte den verbogenen Querbalken eines Pfeilers als eine Art von Betstuhl. Wie ein anständiger Schoßhund war sie nackt, aber ihre Haut war von zahlreichen blauen Flecken verfärbt, und ihre Beine waren auffällig zerschrammt. Das Haar, obwohl verfilzt und dreckig, zeigte noch Anzeichen der Domestiziertheit. Als ich dieses bemitleidenswerte Spottbild eines einst schönen Schoßhündchens erblickte, fiel mir zum ersten Mal auf, wie gräßlich wild Julchen aussah; sie stak in barbarischen Klamotten, ihre zierlichen Füßchen standen in plumpen Gummistiefeln, ihr Haar war zu einem zwar praktischen, jedoch alles andere als kunst124
vollen Knoten verwunden und mit Stoffstreifen befestigt. Wir müssen wie Dingos ausgesehen haben. Die arme Frau hörte mit ihrem Gejammer auf und drehte sich nach uns um. Langsam wechselte ihre Miene den Ausdruck von Verzweiflung zu schierer Fassungslosigkeit. »Vater«! stieß sie bestürzt hervor. »Roxanna!« rief ich. »Bist du's?«
6. Kapitel Worin ich die Ehre einer Frau verteidige und mit welchen schweren Folgen. Es war niemand anderes. Sie war magerer als früher; die Zeit hatte ihrer Schönheit zumindest in dem Maße zugesetzt, daß man sie beim besten Willen nicht länger für achtzehn halten konnte – oder für achtundzwanzig. Ihre Nase jedoch, ihr Blick und ihr Verstand – die waren noch so scharf wie damals. Kein Zweifel, dies war Roxanna Proust geb. Stink. Roxanna allerdings ließ sich nicht so leicht davon überzeugen, daß ich beileibe nicht ihr Vater war, sondern nur ihr kleiner Weißzahn, ihr ehemaliger Schüler, nun jedoch zu einem Mann herangewachsen. »Aber diese Kleidung …«, sagte sie halsstarrig. »Diese Jacke würde ich jederzeit erkennen, es ist die, wo der unterste Knopf fehlt. Und diese Stiefel mit den roten Rändern. Und ein Bartwuchs von einer Woche. Mein leibhaftiger Vater!« Aus Entgegenkommen zog ich die Jacke aus, aber aus irgendeinem Grund verspürte ich einen Widerwillen dagegen, auch meine Hose abzustreifen. Vielleicht ist die Kleidung die Ursache der Scham, nicht umgekehrt, wie es die Schöpfungsgeschichte haben will. So kurz und klar wie möglich erklärte ich Roxanna, wie unser 126
Meister uns zur Farm gebracht und dann dort im Stich gelassen hatte, wie wir uns dann aus dem Wohngebäude der Farm Kleidungsstücke besorgten, um zu Fuß zum Zwinger Schröder zu gelangen – zufällig Kleidungsstükke ihrer Eltern. »Und Pluto und deine Mutter – du sagst, sie haben euch begleitet?« fragte Roxanna, indem sie ihre Falten der Nachdenklichkeit restaurierte. »Und wo sind sie jetzt?« »Ich habe gehofft, du wüßtest es, Roxanna. Ich dachte, Pluto ließe es sich nicht nehmen, dir einen Besuch abzustatten. Ich weiß, daß er dir jedes seiner neuen Bücher schickt.« »Nein. Nein, anscheinend ist es ihm nicht eingefallen, mich zu besuchen. Dies ist das erste Mal, daß ich von eurer Anwesenheit auf der Erde erfahre. Aber was …« – ihr Gesichtsausdruck unterzog sich einer sehr subtilen Veränderung, als habe sie heimlich mit Kopfrechnen begonnen – »… für eine freudige Überraschung!« Hier kam die Unterhaltung zu einem peinlichen Stillstand, weil Julchen und ich uns nicht unhöflicherweise ausschließlich über unsere Probleme äußern wollten, wenn Roxanna so offensichtlich in der Tinte saß, und Roxanna schien innerlich von irgendwelchen diffizilen Erwägungen beansprucht zu werden. »Hast du seine Stoßgebete auf die Gewandung gele127
sen?« fragte Julchen zwecks Beendigung dieses verlegenen Schweigens. »Ganz Schwanensee ist der festen Meinung, daß es Plutos bislang bestes Werk ist. Seine neuen Zeremonien sollen absolut mitreißend sein.« »Ich habe es angefangen, aber irgendwie konnte ich nicht … ich bin nicht damit zurechtgekommen. Ich stelle häufig fest, daß die modernen Autoren … so was habe ich schon oft erlebt … dagegen ist Proust allerdings …« Unsicher sank ihre Stimme herab und verstummte, und sie massierte sich geistesabwesend ihre nackten, knochigen Schenkel. Ich bemerkte, daß ihre Haut mit kleinen schwarzblauen Druckstellen übersät war, vornehmlich an den Schenkeln und ihrem Unterleib, zu klein, um blaue Flecken von Hieben zu sein, aber zu zahlreich, um ihre Herkunft zufälligen Umständen zu verdanken. Sie seufzte schwer, ein Seufzen, das mehr ausdrückte als bloß die qualvolle Langweiligkeit des Lebens im Zwinger Schröder, mehr als nur den Verlust ihres Meisters. Es war ein unbeschreiblich kummervoller Laut, doch zugleich auf perverse Weise genüßlich. »Das Scheusal …!« flüsterte sie, offenkundig nicht für unsere Ohren bestimmt. »Das schmutzige verfickte Scheusal!« Dann widmete sie sich, als wären ihre beiden letzten Äußerungen lediglich zwischen zwei großen Klammern aufgetreten, wieder dem vorherigen Gesprächsstoff. 128
»Um bei der Wahrheit zu bleiben, in letzter Zeit lese ich erheblich weniger als früher. Nicht einmal Proust, nicht einmal er hat noch … was er einst hatte. Nein, nicht mal Proust …« Auch diese Worte verklangen in einem Gemurmel, so daß wir uns am Ende nicht ganz sicher waren, ob sie tatsächlich ›nicht einmal Proust‹ wiederholte oder ›das Scheusal Proust‹ nuschelte. »Und außerdem ist ja jetzt diese Revolution. Und es fällt schwer, sich aufs Lesen zu konzentrieren, solange überall so eine Revolution im Gang ist.« »Ach so, ja, die Revolution«, sagte ich. »Kannst du uns darüber ein bißchen mehr erzählen?« Roxannas Berichterstattung entfaltete sich reichlich unklar, denn beiläufig belauschte Unterhaltungen und unfundierte Mutmaßungen waren die Quellen, auf die sie sich stützte. Selbst die Bezeichnung Revolution erwies sich als Irreführung. Überdies war ihr gesamter Bericht mit einer solchen Menge von Seufzern, Verwünschungen und Flüchen sowie Klagen durchwachsen, daß eine vollständige Wiedergabe eine Orgie von Wiederholungen wäre; deshalb schreibe ich hier nicht die wirre Geschichte nieder, die uns Roxanna an jenem Nachmittag vortrug, sondern zähle die Tatsachen auf, wie sie später von den Behörden und Zeitungen ermittelt und bekanntgemacht worden sind. Der Juli war ein Monat mit ungewöhnlicher Sonnen129
fleckenaktivität gewesen. Die Meister waren massenhaft zur Erde geströmt, weil sie mit den dynamischen auroralen Phänomenen rechneten, die sich solchen Perioden anzuschließen pflegten – und viele, so wie unser Meister, brachten ihre Schoßhündchen mit. Kurz nach unserer Ankunft, an dem Nachmittag, als Julchen und ich von der Leine losgelassen worden waren, erfolgte aus der Mitte einer Ansammlung von Sonnenflecken eine solare Eruption von außerordentlicher Intensität, die die Meister sozusagen aus den Latschen gekippt hatte. Daraufhin geschah alles so wie in einem Haus, das völlig von der Elektrizität abhängt. Alles in Betrieb: Kühlschrank, Kühltruhe, Herd, Klimaanlage, Toaster, Bügeleisen, Kaffeeautomat, volle Beleuchtung, Fernsehen und auch noch die Modelleisenbahn im Keller. Dann schlägt auf einmal ein Blitz ein – BLAMM! –, und es gibt einen Kurzschluß. Beleuchtung aus, Motoren stehen still, Leitungen durchgeschmort, Fernseher kaputt. Die Meister waren natürlich nicht kaputt. Sie sind aus stärkerem Material gemacht als Toaster. Aber während sie sich erholten … Roxanna selbst war relativ gut davongekommen, denn als die Lichter erloschen, saß sie auf den Stufen der Kathedrale. Aber sie sah, wie es passierte. Es war so gewesen, als hätte alles nur als eine unwichtige Idee in 130
den Gedanken Gottes existiert und als wäre Gott nach einem kleinen Päuschen plötzlich weitergegangen und hätte seine Idee vergessen. Schoßhunde, die in Luftschraubenstrahlen durch die Weiträumigkeit der Sporthalle segelten, sausten nun durch noch viel größere Weiträumigkeit. Alle, die sich in den Obergeschossen der Zwingerbauten aufhielten, befanden sich unvermittelt im Sturz zur Erde, angezogen von deren Schwerkraft, und das obendrein mit Beschleunigung. Die Glücklicheren, wie Roxanna, hatten nur Prellungen erlitten oder sich den Knöchel verstaucht. Andere fanden den Tod. Das Unheil war schrecklich gewesen. Der Zwinger Schröder – oder was davon übrig war – geriet in Panik. Aber das Grauenvollste stand noch bevor. Überall überrannten die Dingos, die schneller als die bestürzten Schoßhunde begriffen hatten, was sich abspielte, die Zuchten und Zwinger. Im ersten Grimm ihrer Insurrektion verübten die so entfesselten Wilden viele Grausamkeiten. Müttern entriß man die Welpen, um sie in den Höhlen von Dingos aufzuziehen; die Rüden, soweit sie Widerstand leisteten, ermordete man roh vor den Augen ihrer Gefährtinnen, und die armen Weibchen … Na, was sollte man schon von Dingos erwarten? An diesem Punkt ihrer Darstellung brach Roxanna in Tränen aus, vollkommen dazu außerstande, den Rest in 131
irgendeiner erkennbaren zeitlichen Reihenfolge zu berichten. »O dieses Scheusal!« jaulte sie. »Ach, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie ich ihn hasse! Als er mich an jenem Abend sah, ließ er mich von zweien seiner Kreaturen in sein Zelt bringen, und dann … ach, es war so abscheulich! Wozu er mich nicht alles zwang! Diese Erniedrigung! Ach, ich könnte ihm Gift geben! Das Scheusal! Aber er gibt mir keine Chance. Ach, wenn ich nur daran denke … Wenn ihr nur wüßtet …« Während sie diese Schmährede immer weiter fortsetzte, rieb sie sich das spärliche Fleisch ihrer Schenkel, verdunkelt von der Vielzahl dieser seltsamen kleinen Quetschungen, zusehends heftiger. »Erinnerst du dich noch, was ich dir vor vielen Jahren von meinen Eltern erzählt habe? Wie mein Vater am Samstagabend immer ins Dorf ging und dann vollgetankt zurückkam? Wie er meine arme Mutter geprügelt hat? Wie ich oben an der Treppe gelauscht habe? Wie gern ich alles gesehen hätte? Aber jetzt kenne ich mich aus! Denn er ist genauso. Auch so ein Scheusal! Ein lüsternes, dummes, stinkiges, flegelhaftes Scheusal!« Insgesamt brauchte Roxanna eine gute Stunde, um ihre Geschichte auszubreiten, denn sie besaß eine Begabung dafür, in leidenschaftliche Beschimpfungen auszubrechen oder in Abschweifungen abzugleiten, die jeden Bewunderer von Insel Felsenburg in Entzücken versetzt 132
hätte. Ich für meinen Teil, ich bevorzuge eine klare, gerade Linie. Ihre sprachlichen Auswucherungen begannen mir mit der Zeit sogar beträchtlich auf die Nerven zu fallen, sobald ich begriffen hatte, daß es in der näheren Umgebung von bewaffneten Dingos wimmelte und Roxanna in Schröder als Sklavin ihres Häuptlings Bruno Schwarzkopf leben mußte. »Roxanna«, sagte ich und versuchte, sie aufzurichten, »Julchen und ich werden dir helfen, von hier zu fliehen. Wir bringen dich zur Farm. Dort wird dich niemand suchen. Aber es ist besser, wir brechen augenblicklich auf. Wir haben schon zuviel Zeit damit vergeudet, hier herumzusitzen und zu quasseln.« »Es ist zu spät«, sagte Roxanna mit einem Seufzer, der nicht nur Resignation, sondern auch eine gewisse Selbstzufriedenheit ausdrückte. »Es ist bereits zu spät.« Die lange Abhängigkeit von der Autorität Prousts hatte von Roxannas Charakter ihren Tribut gefordert, und obwohl ich durch diese Erwähnung möglicherweise einiges vorwegnehme, sollte ich es wohl hier ein für allemal festhalten: Bedauerlicherweise war Roxanna ausgerechnet so etwas wie eine Masochistin. »Roxanna«, sagte ich, diesmal mit mehr Nachdruck, »du mußt mit uns kommen.«
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»He, Mister«, ertönte aus nicht zu großer Entfernung ein gutmütiger Zuruf, »suchen Sie sich ein eigenes Liebchen!« Mit mulmigem Gefühl wandte ich mich dem Ankömmling zu, einem unregelmäßig gewachsenen Knubbel Fleisch mit rotem Gesicht und krummen Beinen, gekleidet in Khaki, der verkrustet von Schmutz und Schmiere war. Er stand auf der anderen Seite des Gatters, die Arme in die Hüften gestemmt, und entblößte mehrere miserabel geformte, von Fäulnis geschwärzte Zähne zum Zwecke dieser Art von Grinsen, von dem ich mittlerweile weiß, daß es ein wohlwollendes Lächeln‹ sein soll. Obwohl er nicht viel größer war als einen Meter sechzig, waren sein Brustkorb und seine Arme so wuchtig und dick, daß sie beinahe deformiert wirkten. In einer fleischigen Hand hielt er etwas, das aussah wie eine gläserne Angelrute. »Ich heiße Bruno Schwarzkopf, Mister. Bruno Schwarzkopf, und ich bin in dieser Gegend der Befehlshaber des RIK. Zur Zeit beschäftigen wir uns mit der Wiedereingliederung dieser verdammten Schoßhündchen. So, nun komm mit heim, altes Mädchen. Du weißt, ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht von anderen Hunden beschnuppern lassen.« Er lachte, etwa so, wie ein Stier lachen würde, könnten Stiere lachen. Das also war ein Dingo! Dieser erbärmliche, mißgestaltete Zwerg. So viele Jahre lang hatte man sie als 134
Bedrohung empfunden – und nun, im Augenblick der Konfrontation, stellte sich heraus, daß es sich um nichts Ärgeres handelte als um einen genetischen Ulk. Genüßlich ließ ich meinen gerechten Zorn bis zum Höhepunkt emporschwellen. »Du bist nicht Roxannas Herr. Sie wird nicht mit dir gehen.« »Ach nee!« »Bitte, sei vernünftig«, mischte sich Roxanna ein. »Ich muß mit ihm gehen.« Aber ihr Körper unterstützte ihren Widerspruch nicht; sie war aus Furcht lahm. Ich schob sie hinter mich und nahm meine Axt vom Boden. Schon das müßte ihn in die Flucht schlagen, dachte ich zuversichtlich. Sein Grinsen verbreiterte sich. »Was ist los mit dir, Bürschchen? Bist du so ein gottverdammtes Schoßhündchen? Oder was ist?« »Dingo!« fuhr ich ihn mit Verachtung an. »Setz dich zur Wehr!« Bruno griff mit einer Hand auf seinen Rücken und nahm dort irgendwelche Einstellungen an einem umgeschnallten Apparat vor; er war ungefähr so groß wie ein Rucksack. Dann kletterte er durch ein Loch im Gatter und schwang seinen langen, flexiblen Stab. »Äxte!« höhnte er. »Nicht möglich! Bevor man sich versieht, laufen hier eines Tages welche mit Pfeil und Bogen herum.« 135
Ich trat dem Dingo entgegen, der sich nun auf dieser Seite des Gatters befand, meine Axt bereit, im Herzen Mord, wie es so heißt. Mit der Linken hielt ich mich an einer Metallstrebe eines gestürzten Pfeilers fest und benutzte sie als Stütze. Meine Knie waren nämlich sehr wacklig, aber wie ich erfahren habe, soll das in derartigen Situationen nicht ungewöhnlich sein. Bruno ließ das Ende der gläsernen Angelrute an den Pfeiler schnellen. Ein Funke spritzte auf, und mir war plötzlich schwindelig. Dann saß ich auf dem Erdboden. Zwischen dem weißen Flackern von Momenten der Bewußtlosigkeit sah ich über mir Brunos Zahnfäulegrinsen. Wild schlug ich nach seinem Gesicht. Die Axt traf mit einem dumpfen Bong! den Pfeiler. Wieder ließ Bruno den langen Stab vorwärtsschnellen. Er berührte mein linkes Bein am Knie. Der Schmerz durchzuckte meinen ganzen Körper und entrang meinen Lippen einen Schrei. »Prächtige Ladung, was, Kerlchen? Hervorragend für den Kreislauf. Falls du an technischen Sachen Interesse hast, so etwas ist ganz leicht herzustellen. Es ist ein elektrischer Treiberstab. Treiberstäbe sind eigentlich für Rindviecher gedacht, aber bei kleinerem Viehzeug bewähren sie sich noch besser.« Er schnalzte mir das Ding quer über den Nacken und 136
erzeugte dort einen Streifen aus Schmerz. Ich brüllte vor Qual – ich konnte nicht anders. »Es war meine Idee, ihn wie eine Rute zu konstruieren. So kann man leichter damit umgehen.« Er fuhr mit der Spitze der Rute über meinen rechten Arm. Jedes Fetzchen Bewußtsein, das mir verblieb, schien sich in meiner Hand zu konzentrieren. Ich umklammerte den Griff der Axt, bis der Schmerz in meiner Hand furchtbarer war als die schmerzhaften Zuckungen, die meinen ganzen Körper schüttelten – bis mir die Besinnung vollends schwand. Als ich erwachte – ob Sekunden oder Minuten später, weiß ich nicht –, hörte ich Roxanna hysterisch lachen. Ihr hatte Bruno schon ihren Teil verpaßt. »Geh weg!« schrie Julchens Stimme, so schrill, daß ich sie kaum erkannte, und ihr nächster Aufschrei klang noch schriller. »Laß meine Tochter in Ruhe!« Ein Funkenknacken, dann ein Schrei Petites. »Weißzahn!« rief Julchen. »O ihr Meister – Weißzahn!« Sie hatte mich Weißzahn gerufen! Nicht Knautschi, nicht Prometheus. Sondern Weißzahn! Ich sprang auf die Füße, und die Axt war nun lediglich eine Verlängerung meiner Faust. Wie nie zuvor – nicht einmal an der Leine – fühlte ich mich hellwach und munter, meiner selbst absolut sicher. Mein Körper war eine lodernde Flamme! O Mann! 137
Bruno hatte wieder damit aufgehört, Petite zu traktieren, und legte nun seine dreckigen Klauen an Julchen. Er merkte es, als ich mich ihm über die Trümmer des Kraftwerks näherte und drehte sich gerade rechtzeitig um, so daß der Axthieb seine Brust traf. Ich hatte ihn gar nicht blutigschlagen wollen. Das hätte ich mir nicht leisten können. Es war bloß meine Absicht gewesen, das Aggregat auf seinem Rücken zu zerhacken. Aus seiner Brustverletzung schoß ein entsetzlicher Blutstrom, ein dicker, weinroter Strahl. Die Axt in meiner Hand war augenblicklich rot. Es war grauenhaft. Ich hatte noch nie jemanden so bluten sehen, nie zuvor. Es war hundertmal schlimmer als die Verletzungen, die ich bei Pluto oder St. Bernhard gesehen hatte. Gräßlich war's! All das Blut! Ich wand mich vor Übelkeit und Brechreiz und sackte auf Brunos hingestreckte Gestalt nieder. Das letzte Bild, an das ich mich vor meiner unausbleiblichen Ohnmacht entsinne, war das von Roxannas tränennassem Gesicht, als sie herbeistürzte, um den gefällten Dingo in ihre Arme zu nehmen. »… in dieser Zeit der P(KRACK!)rüfung und neuen P(KRACK!)otenzen …!« Jedesmal, wenn der Redner ein P aussprach, gab das Lautsprechersystem ein scheußli138
ches Krächzgeräusch von sich: P(KRACK!) Die Menge tobte. An Händen und Füßen gefesselt, wand ich mich auf der Rückbank aufwärts, um einen besseren Überblick zu erhalten. Wir fuhren mit höchstens 20 km/h durch die Straße einer Stadt und mitten durch eine solche Ansammlung, eine so gewaltige Masse von Dingos, daß ich am liebsten sofort wieder das Bewußtsein verloren hätte, derartig stanken diese Wilden. »Jawohl – neue P(KRACK!)otenzen! Und Hoffnung hat wieder P(KRACK!)latz in den schwergep(KRACK!)rüften Herzen – dank des lnduktanz-Korps! Denn die Vorsehung selbst hat ihr diesen P(KRACK!)latz …« Nach und nach übertönte ein immer lauteres Grölen der Dingo-Horden die Stimme des Sprechers (die aus einem Metalltrichter auf dem Dach des Jeeps kam); es erhob sich rund um das Fahrzeug und pflanzte sich dann zu den Massen an der Spitze und am Ende des Zuges fort, die es aufgriffen und in diese barbarische Hymne einstimmten: »Diode! Triode! Höchste Kathode! Lade unsre Herzen mit hundert Ampere! Hüte unsre Ohm, schaff ein Lichtermeer Rings um all unsere Stätten her! 139
Wir singen diese Ode Auf dem Weg zum Sieg, Du zeigst uns die Methode Für den Weg zum Sieg! Führ sicher uns, Kathode, Auf dem Weg zum Sieg! Hurra!« Julchen befand sich zwar bei mir auf der Rückbank, aber zwischen uns saß ein bewaffneter Dingo und unterband jeden Versuch, ein Gespräch anzufangen, durch leichtere Stöße mit seinem Gewehrkolben. Ich vermochte jedoch mit Grimassen die Frage auszudrücken, die mich am meisten beschäftigte: ›Petite?‹ Aber Julchen konnte zur Antwort nur sorgenvoll die Achseln zucken und den Kopf schütteln. »Wohin sind wir unterwegs?« fragte ich den Dingo. Er antwortete mit einem Stoß seines Gewehrkolbens gegen meine unteren Rippen. »Wo sind wir hier?« Der Gewehrkolben schien es nicht zu wissen. Ich beschränkte mich auf philosophisches Schweigen. Als die Menge mit ihrem beknackten Heuler fertig war, fing der Redner wieder mit dem patriotischen Gelärme nach seinem Geschmack an. »Wir müssen diese Gelegenheit am Schop(KRACK!)f ergreifen! Denn auch wenn Blut und Schweiß und Tränen und P(KRACK!)lak140
kerei der P(KRACK!)reis sind, den die Geschichte uns abp(KRACK!)reßt …« Eine Frau drängte sich durch die besessene Menge zum Wagen, der sich langsam, aber unaufhaltsam durch das Gewimmel schob. Sie warf mir einen Blumenstrauß ins Gesicht und sich selbst – so gut es unter den gegebenen Umständen ging – hinterher an meinen Hals. »Zeig's ihnen, Junge!« schrie sie, während sie mich abküßte. »Zeig's ihnen!« kreischte sie noch immer, als die Männer im Khaki sie fortzerrten. Ich hatte das Gefühl, daß sie, hätte sie gewußt, was ich war – nämlich ein Schoßhund –, weniger freundlich gewesen wäre, womöglich aber nicht minder demonstrativ. Zu meinem Glück jedoch hatte der Fahrer des Jeeps, ein Major des sogenannten Induktanz-Korps, die Voraussicht aufgebracht, mir seinen Mantel umzulegen, und der schützte mich beinahe so gut wie Unsichtbarkeit. Der Zug hielt an einem provisorischen Flugplatz, der vorher ein Stadtpark gewesen war; dort ließ am Ende einer mit grobem Kies bestreuten Startbahn gerade eine Ford Trimotor ihre Motoren warmlaufen. Als der Jeep neben dem Flugzeug hielt, sahen wir, wie man unter Roxannas nörgliger Aufsicht eine Bahre in die Kabine verlud. »Du Scheusal!« heulte sie durch das Stottern und Spotzen der Flugzeugmotoren, sobald sie mich erblick141
te. Als Bruno an Bord verstaut war und man uns vor der Gewehrmündung in die Maschine führte, variierte sie ihren Auftritt mit stärker entfalteter Phantasie. »Axtmörder! Schurke! Judas! Aber jetzt haben sie dich an den Hammelbeinen erwischt, Junge! Jetzt wird man dir Saures geben! Ich wünschte bloß, ich könnte dich mit meinen eigenen zwei Händen abmurksen. Aber ich habe getan, was ich konnte … ich habe ihnen gesagt, wer du bist … wer dein Vater war. Tennyson Weiß! Du hättest die Gesichter sehen sollen, die sie da machten! Und nun bekommst du, was er gekriegt hat … er und seine Kopfsalat-Statue. Ha!« Der Fahrer des Jeeps begann sie zurückzudrängen. »Schicken Sie mir sein Ohr, Feldmarschall! Und ihres auch. Und ihre Knochen. Ich mahle sie mir zu Mehl und backe mir Brot daraus!« Als wir endlich sicher (sozusagen jedenfalls) an Bord der Maschine waren und man die Luke geschlossen hatte, beruhigte uns unser Wächter dahingehend, daß uns nichts so Schreckliches erwarte, wie Roxanna es uns verhieß. »Man sollte meinen, sie sei gar kein zivilisierter Mensch, so wie sie herumkrakeelt. Hängen ist das Schlimmste, was euch passieren kann, seid also ganz beruhigt. Vor dem Gerichtsgebäude in St. Paul haben wir einen Galgen, daran können wir fünf zugleich aufhängen. Mann, das müßten Sie mal sehen, es läuft wie am Schnürchen! O Mann! Aber glauben Sie nichts von 142
dem Quatsch, den sie da gefaselt hat, wir würden Leute in Stücke hauen oder so … das gibt's bei uns nicht … nicht länger jedenfalls.« »Könnten Sie mir bitte sagen«, erkundigte ich mich jetzt (anscheinend hatte er nun bessere Laune als vorher im Jeep) bei ihm, indem ich mich in diesen geschraubten Dingo-Redensarten versuchte, »wo meine Tochter ist?« »Die Kleine? Die Dame, die sich eben von Ihnen verabschiedet hat, kümmert sich um sie. Sie hat sich darum beworben, ihre Adoptivmutter zu werden, und deshalb…« »Petite? Bei dieser Menschenfresserin! O nein!« Julchen zerrte an ihren Fesseln, während das Flugzeug über die Startbahn rollte. »Halten Sie sofort diesen Apparat an! Ich muß meine Tochter wiederhaben!« Doch als das Flugzeug vom Boden abhob, sah Julchen die Sinnlosigkeit weiterer Beschwerden ein. Durch die Fenster an der rechten Seite der Kabine konnte man die Sonne sinken sehen, ungefähr fünf Grad über dem Horizont; daher wußte ich, daß wir nach Süden flogen. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß eine so winzige Flugmaschine nur ein paar hundert Kilometer zurückzulegen vermochte, ohne zum Auftanken landen zu müssen. Ich wußte, daß in südlicher Richtung bedeutende Zwinger lagen – Anoka, St. Cloud usw. –, aber der 143
Geographie der Dingos und ihren Siedlungen hatte ich niemals Beachtung geschenkt. Doch unser Wächter hatte eine Ortschaft erwähnt: St. Paul. »Was soll geschehen, wenn wir in St. Paul sind?« fragte ich. »Werden wir dort freigelassen? Oder in einen Kerker geworfen?« Der Wächter lachte. Was so lustig war, verriet er uns allerdings nicht. »Soll ich vor Gericht gestellt werden? Ich verlange Geschworene aus meinen Kreisen! Ich bin unschuldig. Julchen kann es bezeugen. Ich hatte nicht die Absicht, ihn …« Als könne er sich damit von meinen Angaben überzeugen, trat der Wächter zu Bruno in den Vorderteil der kleinen Kabine und untersuchte Bruno. Ich starrte aus dem Fenster und die Propeller an, die sich mühselig dahinschraubten, und wünschte, ein Meister wäre hier, um ihre ungehobelte Tätigkeit zu unterstützen. Man rief den Wächter nach vorn, wo er sich mit dem Piloten beriet, und ich versuchte unterdessen, Julchen mit hohlem Zuspruch zu ermutigen. Es glich fast einer Erleichterung, als das störrische Verhalten des Flugzeugs (wie kann Luft so holprig sein?) unsere Aufmerksamkeit von den längerfristigen Scherereien ab und auf die Schwierigkeiten des Augenblicks lenkte. Der Wächter kam zurück und gab be144
kannt, daß der linke Motor ausgefallen war und der rechte es auch nicht viel länger machen werde. Die Maschine verlor an Höhe (ich konnte mir allerdings nicht so recht vorstellen, woher er das wissen wollte, denn inzwischen war es stockdunkel, und ich sah keinerlei Anhaltspunkte). Ich mußte ihm dabei behilflich sein, verschiedene Metallgerätschaften zur offenen Luke hinauszuwerfen. Daraufhin gewann das Flugzeug wieder an Höhe (sagte man uns), aber es erzeugte nach wie vor regelwidriges Gehuste und Geknirsche. Der Wächter ließ uns Fallschirme anlegen und erklärte uns, wie sie funktionierten. Man brauchte nur zu springen, bis zehn zu zählen, an einem kleinen Ring zu ziehen und zu warten, ob alles klappte. »Sind Sie schon einmal damit gesprungen?« fragte ich den Wächter, während wir an der offenen Luke vor dem schwarzen Nichts unter uns standen. »Ja, einmal. War nicht gerade ein Vergnügen.« »Aber es hat geklappt? Geht es normalerweise gut?« »Ja. Die Gefahr liegt weniger darin, daß er sich nicht öffnen könnte, sondern darin, wie man landet. Man kann sich leicht ein Bein brechen, und wenn man in einen ungünstigen Wind gerät …« »Ade, Schatzgold, Julchen!« schrie ich. »Warte auf mich! Ich befreie dich so schnell wie möglich!« Und dann fiel ich, das Flugzeug war schon nicht län145
ger über mir, nur sein Brummen und Tuckern, das sich entfernte. Die Sterne erloschen, als ich durch Wolkenbänke stürzte. Ich zählte bis fünf, dann konnte ich ganz einfach nicht darauf kommen, welche Zahl die nächste war, also zog ich am Ring, der Fallschirm faltete sich auseinander, die Gurte auf meiner Brust strafften sich mit einem Ruck und rissen mich in die Senkrechte, und danach hatte ich einige Minuten lang nichts anderes zu tun, als träge an dem Gurtwerk zu baumeln und meine buchstäblich überstürzte Flucht zu bereuen, denn es war keineswegs ausgeschlossen, daß ich mich nun dummerweise über dem Meer befand. Bei der Landung prallte ich mit meinem Steißbein gegen irgendwelchen hinderlichen Beton und vertrat mir den Fuß. Urplötzlich gingen ringsum Flutlichter an, und Stimmen brüllten gegensätzliche Befehle. »Eine ausgezeichnete Landung, Sir. Eine erstaunliche Landung, würde ich sagen. Ich hoffe, Sie sind wohlauf, Sir?« Der Mann, der mich so anredete, trug einen gleichartigen Mantel wie ich. Er besaß einen bemerkenswerten Franz-Josef-Schnurrbart und stützte sich auf einen mit Schnitzereien verzierten Stock. Niemals zuvor und niemals wieder habe ich ein so runzliges Gesicht gesehen, außer auf Reproduktionen von Rembrandt. »Oh, vollkommen«, erwiderte ich. »Mit wem habe ich die Ehre?« 146
Seine Hand zuckte zu einem steifen Salut hoch. »Captain Frangle, Sir. Mir untersteht diese Besserungsbude hier, Sir.« »Besserungsbude?« »Na, so sagen wir halt hier. Wie heißt das doch gleich wieder? Heutzutage gibt's so viele neue Wörter für soviel alte Dinge, daß ich gelegentlich mal eines vergesse. Wiedereingliederungszentrum – das ist es! Für die gottverdammten Schoßhunde, Sie wissen ja.«
7. Kapitel Worin ich in N. Gogols Schuld stehe. Wir wollen nun nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten. Über Wahrscheinlichkeiten wollen wir lieber schweigen. Daß ich mit dem Fallschirm ruck, zuck mitten in eine feindliche Anlage gesprungen war (die bestens abgeworfene Bombe hätte nicht sauberer ins Ziel treffen können, als ich durch blinden Zufall dort landete), ist so unwahrscheinlich, daß mich nur die unbestreitbare Tatsache, es selbst erlebt zu haben, davon abhält, Verlegenheit zu verspüren, wenn ich es wahrheitsgetreu berichte. In der Belletristik wäre ein solcher Zufall ein unverzeihlicher Ausrutscher; in der Historie dagegen geschehen solche Sachen ständig. So, nun zurück zu la chose véritable … »Sie haben mich erwartet?« fragte ich unschlüssig. Captain Frangle zwirbelte geschickt eine Schnurrbarthälfte. »Man hat Gerüchte gehört … da ist ein Wort gefallen, dort eines … Nichts, wonach man sagen könnte, es geht um dieses oder jenes, verstehen Sie … nichts von Genauigkeit, aber immerhin …« »Gerüchte, sagen Sie? Was denn für Gerüchte?« »Oh – vages Gerede, Sir! Völlig vage und unklar. Fast unglaubwürdig, aber immerhin …« Und der Captain zwinkerte mir bedeutungsvoll zu. 148
»Aber immerhin?« Ich blieb hartnäckig. »Was ich damit meine … ich wollte sagen … immerhin sind Sie ja nun hier, wie man sieht. Und das beweist, finde ich, daß es immerhin doch etwas mit dem Gerede auf sich hatte. Andererseits kann das aber auch genau das Gegenteil beweisen. Ich bin selbstverständlich weit davon entfernt zu entscheiden, ob es nun das eine oder andere beweist. Sie wissen es ja gewiß ohnehin besser als ich, Major.« Er verstummte im Tonfall kriecherischer Bescheidenheit. Dann drehte er sich nach zweien seiner Untergebenen um, die die Falten des Fallschirms aufzurollen begonnen hatten, und befahl ihnen, sich gefälligst zu sputen – in vollkommen entgegengesetztem Ton. Nun war ich glücklicherweise seinerzeit schon gut genug mit jener prächtigen Komödie Der Revisor des russischen Dichters Nikolai Gogol vertraut, um eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Situation von Gogols Held und meinem Geschick zu erkennen. Der Adler an der Schulter meines geliehenen Mantels hatte Captain Frangle anscheinend zu der Annahme verleitet, ich sei sein Vorgesetzter; und allem Anschein nach hatte er den Besuch eines Vorgesetzten erwartet – allerdings ohne sonderliche Begeisterung. Es bestand Hoffnung, daß es mir gelang, den Bluff für eine Weile aufrechtzuerhalten; jedoch spielte ich eine Rolle, die nur im Freien glaubhaft wirken konnte, denn 149
unter dem Mantel und den Gummistiefeln war ich so nackt wie Laokoon. »Eine Tasse Kaffee, Major? Oder bevorzugen Sie ein … äh … stärkeres Getränk? Hm? Etwas, das Sie wieder in Schwung bringt und die Laune hebt … hm? Ich meine natürlich, falls Sie keine Bedenken gegen ein Gläschen haben … oder zwei? Hm?« Während er so daherredete, schob sich Captain Frangle einer erleuchteten Tür am Rande des Geländes immer näher. »Zuerst habe ich ein paar Fragen, Captain, wenn's Ihnen nichts ausmacht.« »Aber keinesfalls, Sir! Absolut nicht! Vor Ihnen haben wir nichts zu verbergen, Sir. Unsere Herzen … unsere Hände … alles steht Ihnen zur Inspektion offen, als wenn Sie … und auch unsere Taschenbuchsammlung, har-har, wenn Sie den Scherz gestatten! Fühlen Sie sich völlig ungehindert, Major! Sie können sich hier in unserer kleinen Besserungsanstalt ganz wie daheim fühlen.« »Wieviel Offiziere sind hier außer Ihnen? Und wie viele Wachen?« »Offiziere? Na, Lieutenant Mosely natürlich. Tüchtiger Mann, der Mosely. Ich glaube, Sie haben ihn schon während der Evakuierung Schröders kennengelernt.« »Ach so, Mosely. Und wo ist Mosely?« »Als Sie landeten, war er gerade unter der Dusche. Ich vermute, er zieht sich jetzt an. Dürfte jeden Moment 150
aufkreuzen. Außerdem kann man noch Palmino dazurechnen. Er ist bloß so ein Stabsfeldwebel, aber er hält die Funkbude und den Generator in Betrieb. Wir kämen ohne Palmino nicht gut zurecht. Aber er ist kein Gentleman … nicht vom Schlage wie Sie und ich, Major. Ferner sind da Dr. Quilty und der Pastor. Der Pastor dürfte wahrscheinlich mit Ihnen eine Glaubensangelegenheit zu diskutieren wünschen, Sir. Bezüglich dieser gottverdammten Schoßhunde. Wissen Sie, er meint, sie hätten alle eine Wiedertaufe nötig … na, verstehen Sie mich richtig, ich habe nichts gegen Wiedertäufer … auch einige meiner besten Freunde … verstehen Sie? Aber der Schock – dagegen habe ich Einwände … soviel Strom! Ich finde, daß …« »Später, Captain. Wie viele Wächter sind vorhanden?« »Sie kennen ja zweifellos meinen letzten Bericht zu diesem Thema. Es läßt sich nichts hinzufügen. Die Lage ist nur noch schlimmer geworden: Desertationen, Betrügereien, Sabotage … Ich brauche Wachen, um die Wachen zu bewachen, das können Sie mir glauben. Verstehen Sie, nachdem nun die Aufregung vorbei ist und der Alltag wieder losgeht, sind die Freiwilligen alle … verstehen Sie? Und nur die Armeeangehörigen … die alten Korps-Mitglieder, so wie ich …« »Ich habe mich nicht nach Entschuldigungen erkun151
digt, Captain. Nur nach einer Zahl.« »Einhundertzwanzig. Sogar weniger. Glaube ich jedenfalls. Hören Sie, Sir, ich kann Ihnen erklären, wieso…« »Hundertzwanzig? Für wie viele Schoßhunde?« »Über die genaue Zahl bin ich mir selbst nicht so sicher. Sie ändert sich andauernd. Ich begreife das auch nicht. Aber dieser Gefängnisbau war auch nie dafür …« »Captain!« Im gebieterischsten Tonfall. »Die Zahl!« »Dreizehntausend, Sir. Plus oder minus ein paar hundert.« »Ein Wächter für hundert Schoßhunde! Wie halten Sie sie überhaupt unter Kontrolle?« »Ach, das ist kein Problem. Notfalls ließe sich das mit zehn Wachen schaffen. Schließlich sind sie ja bloß Schoßhunde. Es ist ja nicht so, als ob … ich meine, sie sind anders als wir. Sie wirken gar nicht richtig … wie sagt man dazu … menschlich? Sie kennen ihren Platz, und an dem bleiben sie. Und außerdem sind sie reichlich geknickt, sie glauben, ihre Meister hätten sie als Sklaven an uns zurückverkauft.« »Als Sklaven! Die Meister? Aber das verhält sich doch nun ganz und gar nicht so?« »Natürlich ist es nicht buchstäblich wahr, aber woher sollten sie's denn wissen, hm?« Captain Frangle hatte seine vorherige forsche Plumpvertraulichkeit teilweise 152
zurückerrungen, nachdem der schlimmste Teil der Befragung nun vorbei zu sein schien, und neigte wieder dazu, die Richtung zur offenen Tür einzuschlagen. »Captain Frangle, ich habe Ihnen nicht erlaubt, sich beiseite zu schleichen!« »Nein, Sir, gewiß nicht! Ich dachte nur … wäre es Ihnen nicht angenehmer …« »Machen Sie sich keine Sorgen um mein Befinden, Mister! Ich interessiere mich ausschließlich für die Leitung dieses Wiedereingliederungszentrums. Oder sollte ich sagen: Mißleitung? Ich habe einen Verdacht, Captain … einen Verdacht …« Zittrig vor Erregung, lauschte Captain Frangle meiner dem Stegreif entsprungenen Kritik mit höchster Aufmerksamkeit und sichtlichem Schrecken. »Verdacht, Sir? Darf ich fragen, inwiefern? Darf ich fragen … gegen wen?« »Ha! Glauben Sie etwa, das würde ich so ohne weiteres ausplaudern? Damit würde ich's Ihnen zu leicht machen, Sir. Oder wenn nicht Ihnen, dann doch demjenigen, der die Verantwortung trägt … für diese Verbrechen.« »Ich nicht! Nein, da wären Sie vollkommen falsch unterrichtet worden, Sir … Es mag vielleicht sein, daß sich in der Portokasse diese oder jene kleinere Unregelmäßigkeit ermitteln läßt, ich weiß es nicht … ich müßte 153
es nachprüfen … allerdings dürfte das Tage beanspruchen … und außerdem habe ich meine eigene Art der Buchführung … sie ist sicherer, nur müßte ich sie Ihnen zuerst erläutern …« »Zuerst, Captain, wünsche ich, daß Sie alle Wächter hier im Hof antreten lassen, wo ich sie sehen kann. Veranlassen Sie, daß dieser Lieutenant Sowieso sich darum kümmert.« »Lieutenant Mosely.« »Der, ja, genau. Und ich wünsche, daß die Quartiere mit allen ihren Räumlichkeiten haargenau in dem Zustand bleiben, in dem sie gegenwärtig sind. Die Männer sollen sich hier in Unterhosen und Socken versammeln. Auch die Offiziere. Vorwärts, Captain!« Während Captain Frangle die wenigen Wächter herausscheuchte, die durch die Neuigkeit von meiner so plötzlichen Ankunft noch nicht herbeigelockt worden waren, zog ich mich zurück in den Schatten und legte mein weiteres Vorgehen fest. Sobald sämtliche Wächter und die vier anderen Offiziere in Reih und Glied vor mir aufgebaut standen, ließ ich mir von Captain Frangle den Eingang zu den Quartieren zeigen. »Moselys Zimmer befindet sich in diesem Gebäude?« »Im ersten Obergeschoß, Sir. An der Tür steht sein Name.« »Und Ihr Zimmer, Captain?« 154
»Ich bewohne das dritte Obergeschoß. Dazu muß ich erklären, Sir … bevor Sie hinaufgehen … nicht alles, was ich dort aufhebe, ist im Sinne des Wortes mein Eigentum. Es sind Dinge, die ich hier in Besitz habe, weil Bekannte und Freunde im Ort sie mir zur sicheren Aufbewahrung anvertrauten … Bürger, die Furcht vor den Anarchisten hatten, den Vandalen, Sie wissen ja, wie es zuging …« »Begeben Sie sich zu Ihren Männern, Captain Frangle, und sehen Sie zu, daß sie Haltung bewahren. Ich dulde keine Laschheiten. Keine Unterhaltungen auf dem Hof, auch nicht unter den Offizieren.« »Wie Sie befehlen, Sir.« »Bevor Sie gehen, Captain – Ihre Uniform. Lassen Sie sie auf …« Wie hieß das Wort? Ich konnte mich nicht an die Bezeichnung erinnern! »… auf dem Dingsbums dort.« »Die Koje, meinen Sie? Aber Major, berücksichtigen Sie meine Position – meine Würde. Was sollen denn die Leute denken, wenn sie mich draußen in meiner … mich im gleichen Aufzug wie sie sehen?« »Möglicherweise haben Sie recht.« »Oh, vielen Dank, Major, ich wußte, daß Sie für mich Verständnis haben.« Captain Frangle wollte sich entfernen, aber ich hielt ihn erneut zurück. »Ich habe Ihnen nicht gestattet, sich zu verdrücken, Captain. Nichtsdestoweniger muß ich auf einer vollstän155
digen, lückenlosen Inspektion bestehen. Aber Sie dürfen meiner Anweisung hier Folge leisten statt draußen in Anwesenheit Ihrer Männer. Wenn ich von meiner Inspektion in den Obergeschossen zurückkehre, erwarte ich, daß ich Sie hier entkleidet antreffe.« Mit diesen Worten (die garantierten, daß der Captain keine Gelegenheit fand, um sich mit Mosely oder sonstwem, der womöglich mit schärferem Blick mein Theater durchschaute, zu verständigen) wandte ich dem Captain den Rücken zu und ging über eine Wendeltreppe nach oben. Lieutenant Moselys Zimmer zeugte von einer pedantischen Beachtung kleiner militärischer Förmlichkeiten. Die Wände waren im selben Olivgrün vollgeschmiert wie der Wandschrank und das Bettgestell. Die Uniformen im Wandschrank waren säuberlich aufgereiht wie zu tatsächlicher Inspektion. Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß ich wirklich völlig unbeobachtet war, nahm ich seinen besten Dienstanzug heraus und stieg in die Hose. Der Lieutenant besaß zum Glück eine gute Figur, und die Hose paßte mir einigermaßen anständig. Das Hemd war mir am Kragen etwas zu weit, aber diesen Mangel behob ich, indem ich die Krawatte fester anzog. Die Krawatte! Sie war nahezu der Untergang meines ganzen schönen Plans. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich eine Krawatte gebunden, und wäre es mir eingefal156
len, so ein Ding tragen zu wollen, hätte ich es mir nicht eigenhändig umbinden müssen. Ich versuchte, das Geschlinge mit ein bis zwei Knoten zu improvisieren, brachte aber nichts zustande, was irgendwie dem Gebilde ähnelte, das ich um Frangles Hals gesehen hatte. Verzweifelt durchwühlte ich Moselys Feldkoffer, weil ich hoffte, darin eine bereits gebundene Krawatte zu entdecken. Statt dessen fand ich sein Exemplar der Dienstvorschriften, die auf Seite 58 Instruktionen über die militärisch korrekte Dienstkleidung enthielten. Während der Wecker auf dem Fensterbrett sich durch die Minuten tickte, fummelte ich mit diesem Streifen aus Seide herum, der einen wirklich in den Wahnsinn treiben konnte. Endlich entsprach es dem Vorbild (ziemlich lasch). Danach jedoch war ich in eine so wirre Verfassung geraten, daß ich beinahe vergaß, die silbernen Schulterstücke von Moselys Jacke zu entfernen und sie gegen die schönen Stücke mit dem goldenen Eichenlaub vom Mantel auszutauschen, den ich bis dahin getragen hatte. Dann versuchte ich in Moselys Ausgehschuhe zu steigen. Das jedoch war zwecklos. Sie waren um Größen zu klein. Ich versuchte mein Glück im Nebenzimmer. (Capt. Dr. med. C. Quilty, besagte das Schildchen an der Tür.) Quiltys Schuhe waren zwar nicht so blitzblank geputzt, aber sie paßten mir wie angegossen. Um den Diebstahl 157
zu tarnen, hinterließ ich in Quiltys Schuhschrank Moselys Paar Ausgehschuhe. Als letzten Ausstattungsgegenstand legte ich mir aus dem Stapel von Kram, den ich aus Moselys Feldkoffer gewühlt hatte, ein zerfleddertes Exemplar von So lacht der Landser zu. Nunmehr tadellos in eine Ausgehuniform gekleidet, kehrte ich zum inzwischen entblößten, leicht verstimmten Captain Frangle im unteren Stockwerk zurück. »Ich habe gefunden, wonach ich suchte, Captain. Sie können sich wieder anziehen und folgen mir dann hinunter in den Hof.« Drunten gelang es Captain Frangle, durch Erheben der Hand für Ruhe zu sorgen (und diese Leute hatten strammstehen sollen!). Nachdem er seine Kerle gehörig zusammengestaucht hatte, ließ ich ihn Lieutenant Mosely verhaften. Man fesselte ihn mit Handschellen an Händen und Füßen und knebelte ihn. »Ich halte in meiner rechten Hand«, verkündete ich dann mit meiner theatralischen Stimme, »den Beweis dafür, daß dieser Mann, den hier jeder als Mosely kennt, in Wahrheit ein Betrüger ist, ein Spion, ein Agent und Werkzeug der Meister. Er erregte zum ersten Mal in Schröder den Verdacht des Oberkommandos, als man ihn dort allein in das gesprengte Kraftwerk schleichen sah …« Unter den Männern vernahm man Keuchen. 158
»Captain, haben Sie ein Steinrad oder sonst irgend etwas, das sich zum Feuermachen eignet?« »Ich habe ein Feuerzeug.« »Zünden Sie dieses vorgebliche Witzheft bitte an. Der Schaden, der uns bereits zugefügt worden ist, kann nicht rückgängig gemacht werden, aber wenigstens diesen Bericht soll der Feind nicht erhalten. Gebe Gott, daß wir das Komplott noch rechtzeitig aufgedeckt haben.« Während das Witzheft verbrannte, stemmte sich Lieutenant Mosely gegen die Fesseln. Mmmph! machte er. Mmmph! Nn! Nn! Mmmph! »Captain, ich nehme an, Sie haben eine Zelle, worin dieser Mann in Einzelhaft die Zeit absitzen kann, bis er abgeurteilt wird?« »Sicherlich haben wir Zellen, aber gegenwärtig stekken in jeder zehn Schoßhündchen. Wir sind voll belegt … stinkvoll, wie ich bereits erwähnte … aber wenn Sie's anordnen, natürlich …« »Verlegen Sie aus einer Zelle die Schoßhunde sonstwohin. Mosely ist strengstens zu isolieren. Er wird zweimal täglich Wasser und Brot erhalten – unter meiner persönlichen Aufsicht. Der Mann ist als teuflisch hinterlistig bekannt. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Was seine Unterkunft angeht, die nehme ich mir persönlich vor. Womöglich sind dort noch weitere Dokumente versteckt.« 159
»Jawohl, Sir. Ist das alles, Sir? Kann ich die Männer abtreten lassen?« »Noch nicht. Erst will ich Mosely hinter Schloß und Riegel sehen, dann werden Sie mich durch das Gefängnis führen. Wenn ich bis morgen warte, kann der gesamte Zweck meiner Inspektion fehlschlagen. Ich darf annehmen, Sie verstehen, was ich meine, Captain?« »Vollkommen«, versicherte mir der alte Knabe. »Kristallklare Sache.« Um jedoch bei der Wahrheit zu bleiben: Er wirkte durchaus ein wenig verwirrt. Aber es war leicht genug, sich so auszudrücken, daß er mich verstand. »Und dann, mein lieber Captain, dürfen Sie mir Ihr System der Buchführung erklären.« Und das verstand Captain Frangle vollkommen; die Sache war für ihn kristallklar. Die militärische Disziplin ist von so wundervoller Wirkung, daß die Wachmannschaft bis um zwei Uhr morgens auf dem Hof stand und die ganze Zeit still blieb wie Kirchenmäuse. Unterdessen aß ich (die beste Mahlzeit seit meiner Ankunft auf der Erde und überdies die willkommenste meines ganzen Lebens) und machte mich anschließend mit Frangle auf, um das Gefängnis zu besichtigen. Es war … Unbeschreiblich: die Überfüllung; stickige, stinkige Luft; ungenügende sanitäre Verhältnisse. Da man das bißchen Elektrizität, das der Notstromgenerator des 160
Gefängnisses erzeugte, für das Sicherheitssystem verbrauchte, kam das einzige Licht in den Zellen durch die vergitterten Fenster. Der Bau war so finster wie das Mittelalter. Ich sah Elend über Elend, eines am anderen. Und dies war nur ein Gefängnistrakt! »Wieviel solche Abteilungen gibt es?« »Außer dieser noch neun.« Schon nachdem ich an einigen der Zellen vorbeigegangen war, mit dem Strahl einer Taschenlampe diese traurigen Haufen noch bewundernswerter Gestalten (entschieden edler als die erbärmlichen Figuren der Wachen auf dem Hof) angeleuchtet, ihre kummervollen, flehentlichen Blicke gesehen hatte, reichte es mir. Ich fühlte mich von Mitleid verzehrt, und unter dessen Flamme schwelte Zorn. Oft kamen Welpen, weniger selbstbeherrscht als ausgewachsene Schoßhunde, an die Gitterstäbe und streckten ihre kleinen Hände heraus, bettelten um Nahrung. Captain Frangle schlug sie mit rohem Geschnauze auf die Finger. Ich schäme mich, eingestehen zu müssen, daß ich dieses Verhalten duldete, weil ich befürchtete, er könne eine allzu humanitäre Einstellung als zu wenig dingohaft empfinden und Verdacht schöpfen … »Ach, Sir«, flehte ein Welpe, »haben Sie nicht ein Stückchen zu essen? Um Himmels willen, Sir, nur ein wenig Essen!« 161
»Essen! Ich werde dir Essen geben, du kleiner Hurensohn! Du wirst diese Faust zu schmecken bekommen, wenn du nicht sofort wieder nach hinten verschwindest. Essen? Wenn du Hunger hast, mußt du dich an deinen Vater wenden … falls du weißt, wer das ist. Draußen gibt's genug Nahrung, wären diese Herren bloß dazu bereit, sich um's Heranschaffen zu kümmern.« Diese Äußerung schien mir die Grenzen jeder angebrachten oder unangebrachten Strenge zu überschreiten. Das sagte ich auch zum Captain. »Aber es ist doch ihre eigene Schuld, Major, verzeihen Sie, daß ich darauf bestehen muß. Wir haben aus Hunderten von Männern Arbeitstrupps gebildet, damit sie auf den verlassenen Farmen im umliegenden Land die Ernte einholen. Es ist August, und das ganze Zeug vergammelt. Die Vögel fressen alles weg, und diese gottverdammten Schoßhunde sind zu faul, um bloß eine Hand zum Fressen ans Maul zu heben.« Das schien mir ziemlich unglaubwürdig zu sein, aber ich beschloß, diesbezüglich eine zuverlässigere Quelle zu befragen – falls mir zu so etwas noch die Zeit blieb. Zeit – das war mein Problem! Denn obwohl ich mich verpflichtet fühlte, das volle Gewicht meiner flüchtigen, aber nichtsdestoweniger eindrucksvollen Autorität zum Wohl und (wenn möglich) für die Freiheit dieser dreizehntausend Schoßhunde einzusetzen, war mir 162
ganz klar, daß jede Stunde, die ich bei Frangle zubrachte, meine Entlarvung immer unausweichlicher machte. Meine Maske zersetzte sich, zerfiel … wenn ich sie noch in dieser Nacht befreien konnte, erwies ich damit nicht nur den Gefangenen einen Dienst, sondern hatte selber Nutzen von ihrer Flucht, denn ihre bloße Menge würde mein eigenes Untertauchen erheblich erleichtern. »Ich beabsichtige, alle zehn Abteilungen zu besichtigen, aber es ist nicht nötig, daß Sie mich begleiten. Geben Sie mir einfach die Schlüssel. Sowohl die Schlüssel zu den Abteilungen wie zu den einzelnen Zellen.« »Leider ausgeschlossen, Major. Wissen Sie, wir verwenden keine Schlüssel. Alles wird durch Elektrizität erledigt. Sie wissen ja, sie ist einfach unschlagbar … die Elektrizität.« Er legte anscheinend viel Wert darauf, diese seine Auffassung zu betonen, und ich nickte sehr angetan. »Die Elektrizität ist der stärkste Diener der Menschheit«, plapperte er, dadurch ermutigt, munter weiter. »Sie ist das Tor in die Zukunft. Eine Art von moderner Wunderlampe. Ich liebe die Elektrizität, und die Elektrizität liebt mich.« »Prächtig. Ich liebe sie auch. Aber wer ist hier der Elektriker – der Mann, der dazu imstande ist, diese Türen zu öffnen? Ich möchte mit dieser Inspektion auch noch einmal fertig werden.« 163
»Einen Elektriker im Sinne des Wortes haben wir nicht. Palmino, der Stabsfeldwebel, hält die Sache für uns in Gang … sozusagen als Amateur. Er ist weder ein Gentleman noch ein Fachmann, verstehen Sie? Aber er hält die Sache in Betrieb.« »Zeigen Sie mir den Schaltkasten für die Zellen, und schicken Sie Palmino zu mir. Sie können inzwischen die Zeit nutzen, um Ihre Buchhaltung in Ordnung zu bringen.« Sprachlos vor Dankbarkeit ergriff Frangle meine Hand. Er konnte sich auch die Worte sparen, denn er hatte mir soeben fünf Hunderterscheine der DingoWährung in die Hand gedrückt. Ich schob die Handsalbung in meine Tasche, und Captain Frangle traten Tränen der Rührung in die Augen.
Der Mann, der in die Funkbude kam, trug auf seinem Kopf schwarzes Haar, das so durch Schmutz und Öl verpappt war, daß es wie ein Maschinenteil wirkte. Seine speckige Haut war zerfressen von Jahrzehnten der Akne, und seine schmalen Augen, vergrößert durch dikke Brillengläser, glitzerten vor Triefäugigkeit. Er war kleinwüchsig; er war übergewichtig; er war eine erbärmliche Figur. Kurzum, er entsprach haargenau meinen Vorstellungen von einem Dingo. 164
Der Dingo grüßte zackig. »Major Jones? Stabsfeldwebel Palmino befehlsgemäß zur Stelle, Sir.« Ich erwiderte seinen Gruß und hoffte, dabei einigermaßen überzeugend zu wirken, aber ich schrak davor zurück, ihm irgendwie zu antworten. Wie redete ein Offizier einen Stabsfeldwebel an? Es gab ganze Welten von Förmlichkeiten, in die ich noch nie einen Einblick erhalten hatte. Mit Frangle war ich dank undeutlicher Erinnerungen an Romane und VonStroheim-Filme zurechtgekommen. Meine Maske brökkelte, bröckelte … »Schön, Palmino«, sagte ich und drehte ihm den Rükken zu, gab Geistesabwesenheit vor. »Öffnen Sie im Gefängnis die Abteilungen. Ebenso die Zellen. Für meine Inspektion. Sofort.« Ich wandte mich zum Gehen. »Das ist leider nicht möglich, Major Jones. Sie können nur nacheinander geöffnet werden. So heißt es in der SBV.« Wie zum Hohn fügte er hinzu: »Standardbedienungsvorschrift, Sie wissen ja.« »Meine Befehle übergehen die Vorschriften, Palmino. Sie werden meinen Anweisungen gehorchen.« Der Dingo lachte laut. »Das bezweifle ich, Sir. Wenn Sie einen Vorschlag gestatten, Sir – ich glaube, Sie werden meinen Anweisungen gehorchen.« Palmino entnahm seiner Schreibtischschublade eine Pistole und richtete die Mündung auf mich. 165
Offenbar war das Spielchen vorüber. Meine Maske war dahin. »Wie …?« »Es gab ein Dutzend Anzeichen, Sir – mindestens ein Dutzend. Aber ich muß doch die Art und Weise bewundern, wie Sie die anderen überrumpelt haben. Künftig, wenn ich Ihnen weiterhelfe, wird freilich alles etwas leichter für Sie sein.« »Weiterhelfen?« »Unterbrechen Sie mich nicht, Sir«, befahl er, jedoch in kriecherischem Ton. »Ich wollte Ihnen gerade erzählen, wie ich alles herausgefunden habe. Zuerst einmal kam über Funk eine Warnung, daß aus einem Flugzeug, das sich auf dem Flug von Duluth nach Sankt Paul befand, ein Schoßhund entkommen sei« – (So, dachte ich, dort ist also Julchen!) –, »der zuletzt den Mantel eines Majors trug. Das war ein sehr aufschlußreicher Hinweis für mich, Sir. Die Meldung kam ein paar Augenblicke nach Ihrer Landung. Da konnte ich mir im Handumdrehen zwei und zwei zusammenrechnen .« »Mir weiterhelfen, sagten Sie?« »Und dann bemerkte ich, daß man zwischen dem Saum Ihres Mantels und dem Rand Ihrer Stiefel ungefähr fünf Zentimeter nacktes Bein sehen konnte, wenn man genau hinschaute, wogegen Sie später, als Sie aus dem Quartier zurückkamen, plötzlich eine Uniform tru166
gen, die mir verdammt nach Lieutenant Moselys Ausgehuniform aussah. Aha, sagte ich da zu mir, hier ist was faul an der Geschichte!« »Ich habe Geld, wenn Sie daran interessiert sind …« »Schließlich sprach ich Sie, als ich vorhin eintrat, als Major Jones an, falls Sie belieben, sich daran zu entsinnen. Wogegen der Name des Majors, den wir erwarten, Worthington lautet. Als Sie keine Einwände dagegen erhoben, Jones genannt zu werden, hatte ich endgültig den Eindruck, daß alles sich zusammenfügt. Wie die Teile eines Puzzles. Ganz plötzlich war mir alles klar.« »Wie wäre es mit fünfhundert Dollar?« »Sie hören mir nicht zu! Schoßhunde sind doch alle gleich … Snobs! Sie halten sich für soviel besser als wir, und Sie sind nicht einmal die Kugeln wert, die es brauchte, um Sie umzulegen. Wäre mir nicht so an Ihrer Hilfe gelegen, würde ich … ich würde Sie gern einmal für eine Weile in meinem Körper leben lassen. Das würde es Ihnen schon zeigen!« Palminos Augen befeuchteten sich noch stärker; aus Erregung zitterte in seiner Hand die Pistole. »Was ist es denn, das Sie wollen? Vernünftiges, meine ich.« »Ich möchte ein Schoßhund sein.« »Sicher, das wollen wir alle. Alle dreizehntausend. Aber die Meister sind fort. Sie haben uns verlassen.« 167
»Sie werden zurückkehren. Wir warten auf sie. Hier.« »Für Sie mag das ja machbar sein, aber ich kann nicht ewig hier herumsitzen. Wenn der echte Major Worthington eintrifft …« »Wir bereiten ihm ein anständiges Begräbnis. Und Mosely auch. Ich habe den Scheißkerl Mosely noch nie leiden können. Und Frangle – bei dem müssen Sie kräftig die Daumenschrauben anziehen. Oh, wir werden unseren Spaß haben, während wir warten, Sir, das dürfen Sie mir glauben! In den Zellen sind ungefähr fünftausend wunderhübsche Frauenzimmer, Sir. Fünftausend – gottverdammt!« »Wirklich, Palmino, wenn Sie ein Schoßhund werden wollen, schlagen Sie den falschen Weg ein. Ich weiß Ihre Mitarbeit zu schätzen, aber kein Meister würde die Handlungen billigen, die Sie im Sinn haben.« »So? Na, wenn ich dann Ihnen gehöre, können Sie ja meinen Charakter verbessern. Ich habe nichts dagegen. Wahrscheinlich werde ich mir nachher selber besser gefallen. Sie können meine Akne heilen und mir eine tiefe, tönende Stimme geben. Sie können mir zweimal zwanzig Augen machen und mich randvoll mit Hormonen und süßen Tugenden stopfen. Ich bin bereit. Aber bis dahin darf ich mir ruhig noch etwas Spaß gönnen.« »Ich brauche Zeit, um mir Ihr Angebot zu überlegen. Allein.« 168
»Eine Viertelstunde gebe ich Ihnen. Aber berücksichtigen Sie eines – wenn Sie nicht mit mir arbeiten, dann arbeiten Sie gegen mich. Und in letzterem Fall wird Captain Frangle über Major Jones alles erfahren. Denken Sie daran – und glauben Sie nicht, Sie könnten mich so hereinlegen wie Mosely, denn ich habe schon vier Männern, guten Freunden von mir, zu verstehen gegeben, woher der Wind weht. Und ich habe nicht die Absicht, Ihnen zu verraten, welchen vier. Aber überlegen Sie sich das alles in Ruhe selbst.« Ich zog mich in Moselys Unterkunft zurück. Das Fenster über dem Bett war nicht vergittert, und vom Fensterbrett aus war es bis nach unten ein läppischer Sprung von kaum vier Meter Höhe. Niemand würde mich beobachten, weil die Wachmannschaft noch im Hof angetreten stand. Es mußte leicht sein, über die Felder zu entfliehen, sich auf dem Wege nach St. Paul und Schatzgold, Julchen in anderen leerstehenden Farmgebäuden zu verbergen. Welchen Sinn sollte es denn haben, diese vielen tausend Gefangenen zu befreien? Was besaßen sie denn, wofür sich eine Flucht gelohnt hätte? Warum sollten sie überhaupt das Leben riskieren? Ihre einzige Hoffnung war – darauf hatte Palmino deutlich genug hingewiesen – die Rückkehr der Meister, und von Gefängnismauern ließen sich die Meister nicht aufhalten. 169
Ich hockte auf dem Fenstersims, bereit zum Sprung, und meine Füße baumelten schon unterhalb der roh gehauenen Steine, woraus das Sims bestand, als ich aus einiger Entfernung eine Tenorstimme vernahm, unbeschreiblich traurig, eine Stimme, die mit ihrem melancholischen Refrain selbst ein so unerbittliches Herz wie das Palminos hätte schmelzen können. »A! che la morte ognora è tarde nel venir a chi desia, a chi desia morir!« (Was ich ungefähr folgendermaßen übersetzen würde: Ach! wie säumig der Tod sich um jenen schert, um jenen, um jenen, der zu sterben begehrt!) Der letzte Akt von Il Trovatore! Und der Sänger war St. Bernhard! Cleas zittriger Sopran gesellte sich zu St. Bernhards Stimme. Ich weiß, es war unvernünftig – es war Wahnsinn –, aber ich beschloß in diesem Moment, wohl oder übel zu bleiben. Meine Mutter hatte keine Bedenken gehabt, mich im Stich zu lassen, als ich nicht viel mehr war als ein Welplein, aber das hätte mein Gewissen nie beruhigt. Ich mußte Mütterchen aus den Klauen der Dingos befreien.
8. Kapitel Worin wir einige der traurigen Folgen der Domestikation kennenlernen können. »Und dies«, erklärte Dr. Quilty, indem er mit seiner schwammigen Hand auf gewisse krude Erhebungen aus Ziegeln wies, die keine Fenster hatten, »sind die Öfen.« »Ziemlich groß«, bemerkte ich höflich. (Ich hätte gerne hinzugefügt: und scheußlich. Aber einer der wichtigsten Ratschläge, die mir Palmino erteilte, hatte gelautet, ich solle mich aller ästhetischen Bewertungen enthalten. Der durchschnittliche Dingo war viel zu vertraut mit dem Häßlichen, um sich sonderlich daran zu stören, es sei denn, in ganz extremen Fällen.) »Früher haben wir Gas benutzt, aber inzwischen hat der Hersteller, der uns damit belieferte, zugemacht. Jammerschade … Gas ist viel geeigneter. Aber die gesamte chemische Industrie ist jetzt zum Teufel … oder wenigstens dahin unterwegs. Auch daran tragen die Meister die Schuld. All diese Jahre der freien Energieversorgung haben unsere technologischen Fähigkeiten geschwächt. Zum Glück konnte Frangle die Öfen umstellen lassen.« »Worauf? Elektrizität?« Der Arzt lachte nervös, als sei ein besonders taktloser Scherz gemacht worden. »Schwerlich! Wir nehmen 171
Holz. Sie wären überrascht von den Temperaturen, die man damit erreichen kann. Das Problem ist allerdings, diese gottverdammten Schoßhunde dahin zu bringen, daß sie in den Wald gehen und Holz fällen. Ohne große Mengen an Brandholz können wir die Kapazität der Öfen nicht voll ausnutzen.« »Wie steht es mit ihrer Kapazität?« »Soviel ich weiß, soll man, wenn der Betrieb rund um die Uhr läuft, zwanzigtausend spielend schaffen können. Aber natürlich wird nicht rund um die Uhr gearbeitet. Und weil es die gottverdammten Schoßhunde sind, denen die Schwerarbeit zufällt, erreichen wir die volle Kapazität nicht im geringsten, nicht einmal bei den Öfen, die in Betrieb sind. Das Ganze läuft fußlahmer als ich!« »Wieviel schaffen Sie denn?« »Nicht über fünfhundert. Und das nur an guten Tagen. Sie sehen sofort, daß das nicht im entferntesten unserem Soll entspricht. Im Idealfall sollte dieser Laden hier sogar Gewinn abwerfen.« »Sie meinen, indem man die Asche als Dünger verkauft?« »Sagen Sie mal, das ist etwas, darauf bin ich noch gar nicht gekommen! Bisher ist die Asche immer weggekippt worden. Möchten Sie den Betrieb einmal besichtigen? Sind Sie an solchen Angelegenheiten interessiert?« 172
»Durchaus, Dr. Quilty. Nach Ihnen!« »Wir sind gleich … Oh …! Einen Moment bitte, Major. Meine Füße! Seit einigen Tagen stimmt mit ihnen irgend etwas nicht. Sie sind so seltsam geschwollen … ich begreife es nicht.« »Vielleicht liegt es nicht an Ihren Füßen«, meinte ich mit gedämpftem Auflachen. »Sind vielleicht Ihre Schuhe geschrumpft?« Höflichkeitshalber lächelte Dr. Quilty matt, während er seine Schuhbänder lockerte. Ein fetter Kerl war er, dieser Dr. Quilty: selbst so eine kleine Anstrengung, die es kostete, sich über seine Schuhe zu beugen, ließ ihn rot anlaufen und raubte ihm schier den Atem. Sein Fleisch hing ihm an den Unterarmen und im Gesicht in Säcken herab, und sein gewaltig dicker Bauch war ein überdeutlicher Hinweis auf des Menschen seit undenklichen Zeiten vorhandene Bindung an die Schwerkraft und den Tod. Quilty führte mich, indem er hinkte, um die Ecke des Gebäudes, und dahinter sahen wir Grüppchen lustloser Schoßhunde bei der Tätigkeit, auf gleiche Länge zersägtes Holz von einem Stapel vor dem Gefängnistor zu einem Stapel innerhalb des Geländes zu schleppen und dort aufzuschichten. Der ganze Stumpfsinn, an dem nahezu fünfzig Schoßhunde teilnehmen mußten, war von nur einem nachlässigen Wächter beaufsichtigt. 173
»Sehen Sie sich das nur an«, sagte Quilty verächtlich. »Sie bringen bei der Arbeit nicht mehr Muskelkraft auf als ein paar alte Weiber. Bei diesen athletischen Gestalten sollte man doch meinen, sie seien wenigstens dazu imstande, ein paar Längen Holz durch die Gegend zu tragen.« »Könnte es möglicherweise an ihrer Moral liegen? Vielleicht bräuchten sie andere Arbeit … woanders. Kann es nicht möglich sein, daß die Öfen auf sie … depressiv wirken?« »Nein, glauben Sie's mir, Major, ganz egal, was für Aufgaben man ihnen zuteilt, sie leisten immer nur die gleiche halbherzige Arbeit. Und wieso sollte diese Art von Arbeit denn depressiv auf sie wirken? Ich verstehe Sie nicht, Major.« Ich errötete, darüber verärgert, so offen gewesen zu sein. Für meine Begriffe war dergleichen einfach grausig. »Ob sie womöglich mehr Einsatzbereitschaft zeigten, würden sie mehr … im eigenen Interesse arbeiten? Oder wenigstens nicht so vollständig dagegen?« »Was könnte mehr als das hier in ihrem Interesse sein? Was glauben Sie wohl, woher ihre Nahrung kommt?« »Sie wollen doch wohl nicht sagen, Dr. Quilty, daß … daß diese Öfen …« »Sie liefern für dies Gefängnis jeden einzelnen Laib 174
Brot, jawohl, Major. Wir sollen eigentlich Selbstversorger sein. Und wir wären es auch, würden diese gottverdammten Schoßhunde die Sache bloß richtig anpacken!« »Ach, es handelt sich um so eine Art von Öfen! Nun, dann muß es selbstverständlich andersgeartete Gründe für ihre Apathie geben, nehme ich an. Vielleicht haben sie kein Interesse daran, mehr Brot zu backen, als sie selbst zum Verzehr brauchen. So wie der Große Böse Wolf nur vom einen in den anderen Tag lebte, falls Sie diese Geschichten kennen.« »Kann nicht behaupten, daß das der Fall wäre, Major, denn ich komme leider nicht so häufig zum Lesen, wie ich's gerne hätte. Aber der entscheidende Punkt ist – sie backen ja nicht einmal soviel. In den Abteilungen sind Schoßhunde, die müssen Hunger leiden, weil diese Brüder hier keinen Tropfen Schweiß vergießen, außer man hilft ihnen mit der Peitsche nach. Sie besitzen einfach keinen Sinn für die Konsequenzen ihres Verhaltens. Sie wollen zu essen, aber nicht die Mühe damit haben, für ihr Essen zu sorgen. Darauf läuft es beinahe hinaus.« »Sicher übertreiben Sie, Dr. Quilty.« »Zuerst kommt's einem kaum glaubhaft vor, ich weiß. Aber nehmen Sie ein anderes Beispiel. An manchen Tagen schickt man zweihundert Schoßhunde, Männer und Frauen, auf die alten Felder im Land ringsum, damit sie Kartoffeln und Rüben und solches Zeug 175
ausgraben. Na, und diese Schoßhündchen kommen von ihrem Tagewerk zurück und bringen nicht mehr als zehn Pfund Kartoffeln per capita. Das ist Latein, wissen Sie – wir Ärzte haben ja die Pflicht, Latein zu lernen. Zweitausend Pfund Kartoffeln für dreizehntausend Gefangene! Und niemand kann mir weismachen, sie hätten keinen Appetit, verdammt noch mal, denn sie verhungern uns ja nachgerade!« »Es muß irgendwie mit ihrer Herkunft zusammenhängen«, theoretisierte ich unvorsichtigerweise. (Palmino hatte sich dazu sehr deutlich geäußert: »Ein Major sollte nie irgend etwas sagen, das irgendwer für originell halten könnte.«) »Sie sind in der Erwartung aufgewachsen, daß sie ihre Nahrung jederzeit einfach ohne weiteres bekommen. Und sie haben eine entschiedene Abneigung gegen jede Art von Arbeit entwickelt. Das ist verständlich.« »Ich kann nicht behaupten, es zu verstehen«, sagte Quilty, schüttelte den Kopf und brachte damit seine Hängebacken ins Schlabbern. »Jeder muß arbeiten – so ist das Leben nun einmal.« »Arbeiter, ja – die müssen natürlich arbeiten. Doch vielleicht haben die Schoßhunde – die gottverdammten, muß man wohl sagen –, eher eine Einstellung wie wir selbst, Dr. Quilty. Vielleicht fühlen sie sich – wie irrig das auch sein mag – wie Offiziere und Gentlemen.« 176
»Glauben Sie, ein Arzt hat keine Arbeit?« fragte Quilty in außerordentlicher Befremdung. »Es gibt kaum schlimmere Tätigkeiten, würde ich sagen, als in anderer Leute Pusteln herumzustochern, ihnen in den Hals zu schauen und ihnen den Finger in den pons assinorum zu schieben!« »Sie haben recht, Dr. Quilty. Vollkommen – aber glauben Sie nicht auch, daß trotz allem ein grundsätzlicher Unterschied zwischen unseresgleichen und gewöhnlichen Arbeitern besteht? Wie Sie selber andeuten, ist Arbeit erniedrigend, und wenn jemand ohne sie auskommen kann …« »Erniedrigend? Das habe ich nicht gesagt! Ich mache meine Arbeit gern, Major. Ich brauche sie. Ich könnte ohne sie nicht leben. Aber das heißt nicht, daß ich so tun müßte, als wäre sie immer ein reines Vergnügen. Arzt sein ist ein Beruf, so wie jeder andere, und er hat ebenso seine üblen Seiten wie jeder … Major? Major, ist irgend etwas? Fühlen Sie sich nicht wohl? Ihr Gesicht ist so …« Meine plötzliche Blässe rührte von dem her, was ich unvermittelt empfand: Furcht. Nur ein paar Meter entfernt stand St. Bernhard, und er musterte mich eindringlich. Er gehörte zu den Holzschleppern. Er lächelte, allerdings noch unsicher, und kam auf mich zu. »An deinen Platz mit dir!« schnauzte der Wächter. St. Bernhard schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. 177
»Weißzahn! Brüderlein, bist du's?« Seine Arme schlossen sich um mich in brüderlicher Umarmung von unwiderstehlicher Kraft. »Wache, zu Hilfe!« brüllte ich. »Diesen Wahnsinnigen festnehmen! Weg mit ihm! Ins Gefängnis mit dem Kerl, in Einzelhaft!« Verblüffung verdunkelte St. Bernhards freundliche Miene. Als der Posten ihn fortzerrte, versuchte ich, ihm mit jeder Menge Grimassen und Gezwinker zu verstehen zu geben, daß er nichts zu befürchten hatte. »Wenn dieser Bursche in Einzelhaft soll, kommt Mosely dann jetzt in eine Gemeinschaftszelle?« erkundigte sich der Wächter. »Nein! Mosely bleibt in Einzelhaft. Sicherlich finden Sie doch irgendwo ein Loch für diesen Knaben, bis ich die Zeit habe, um ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. Ah, ich weiß was – sperren Sie ihn in mein Zimmer und stellen Sie einen Posten vor die Tür. Und …« – dies flüsterte ich dem Mann ins Ohr – »… springen Sie nicht zu grob mit ihm um. Ich möchte, daß er noch in guter Verfassung ist, sobald ich mich um ihn kümmern kann. Dann werde ich ihm derartig die Hölle heiß machen, daß er sich wünscht, er hätte sich an jemand anderem vergriffen, bei Gott!« Ich kehrte zurück zu Quilty, sehr besorgt, daß dessen Verwirrung in jedem Moment zu einem Verdacht wer178
den könne. »Gottverdammte Schoßhunde«, brummte ich. »Ich glaube, sie sind ganz einfach alle verrückt.« Für diesen Zwischenfall mit St. Bernhard schien mir das eine verflucht schlechte Erklärung zu sein, aber glücklicherweise stellte sie Quilty zufrieden. Aus lauter Begeisterung lebte er regelrecht auf. »Wahnsinn, ja – genau das ist auch meine Theorie, Major! Hätten Sie die Zeit übrig, ich würde Ihnen einen Fall vorführen, den ich seit einiger Zeit aufmerksam beobachte und der auch Ihr Interesse finden könnte. Das extremste Beispiel dieser Art. Die klassischen Symptome einer Psychose. Eine wunderbare Zwangsneurose. Es würde nur einen Moment dauern. Dann könnten wir ja, wenn Ihnen daran liegt, zur Besichtigung der Öfen zurückkehren.« »Auf ins Tollhaus, mein lieber Dr. Quilty! Zeigen Sie mir alle Ihre Irren! Einen Tag damit herumzukriegen, Verrückten zuzuschauen, dürfte wesentlich unterhaltsamer sein als ein Blick in den Ofen.« »Prächtig. Wenn wir bloß etwas langsamer gehen könnten, falls Sie erlauben, Major. Es wird immer schlimmer mit meinen Füßen.« Hier ist es wohl nun an der Zeit zu erläutern, daß ich bis dahin von jedem Versuch Abstand genommen hatte, mich mit St. Bernhard oder Clea in Verbindung zu setzen, obwohl das mein dritter Tag im Mädchenheim St. 179
Cloud war (darum hatte es sich bei diesem Gebäude bis kurze Zeit vor dem Umsturz gehandelt, dann baute man es zu einem Gefängnis um, und mittlerweile hat man es wieder für den ursprünglichen Zweck verwendet). Bis zu dem Zeitpunkt, da ich tatsächlich ihre Flucht ermöglichen könnte, wäre es eine sinnlose und gefährliche Geste gewesen, sie von meiner Gegenwart in Kenntnis zu setzen. Gefährlich deshalb, weil wahrscheinlich Palmino von meiner besonderen Beziehung zu ihnen erfahren müßte und dann ein zusätzliches Druckmittel gegen mich besäße – oder sogar eine Möglichkeit fände, um mich zu hintergehen. Ich wagte mir gar nicht auszudenken, zu welchen Handlungen seine grausame und lüsterne Natur ihn verleiten könnte, käme er dahinter, daß Clea meine Mutter war! Es hatte mir bereits alle Überzeugungskraft abverlangt, ihn dazu zu bringen, Moselys Leben zu schonen, doch vermochte ich nicht Palminos allabendliche ›Verhöre‹ des unglücklichen Lieutenants zu verhindern (für die die Allgemeinheit mich verantwortlich machte), wenngleich die mitleiderregenden nächtlichen Schreie, die aus der Einzelzelle drangen, mich zu Tränen rührten, während ich, versteckt in der Funkbude, qualvolle Stunden absaß. Ich gab mir Mühe, Palminos schädliche Einflüsse zu meiden, so gut es ging, und verbrachte meine Zeit mit den anderen Offizieren – indem ich in einschränkender 180
Weise auf Captain Frangles Habsucht einwirkte oder den Pastor oder Dr. Quilty auf ihren Runden begleitete, wenn sie heilten oder tauften. Von diesen zwei Männern war der letztere mehr nach meinem Geschmack, eine Gunst, die Quilty erkenntlich zu schätzen wußte. »Ich bin ein Skeptiker, genau wie Sie. Cogito, ergo sum. Ich zweifle, also bin ich. Frei nach Descartes.« Diese Äußerung hatte Quilty im Laufe einer Diskussion über die reichlich grobschlächtigen missionarischen Taktiken des Armeepastors gemacht. »Wie der unsterbliche Sigmund Freud glaube ich an die Macht des Verstandes. Vermutlich lernen Sie Militärs nicht viel über Psychologie? Für Sie muß all das tiefsinnige Zeug ja eine wahre terra incognita sein.« »Ich nehme an, ich weiß wenig über Psychologie, soweit sie nicht im Zusammenhang mit militärischen Strategien steht.« Das war nach meiner Überzeugung genau die Antwort, die ein echter Major gegeben hätte. »Ja … nun, gewiß, das ist ein ganz spezieller Zweig dieser Wissenschaft. Allgemeiner betrachtet, dürften Sie jedoch wahrscheinlich kaum viel mehr gelesen haben als Das Leben des Menschen. Dafür aber kennen Sie das sicher in- und auswendig – was, Major?« »Ach …« (Ich hatte nie von diesem Buch gehört.) »… teilweise. An andere Teile entsinne ich mich nur schwach, ziemlich undeutlich.« 181
»Vermutlich überrascht es Sie, daß ich es zu den psychologischen Werken zähle. Aber es ist wirklich eine der gründlichsten Untersuchungen auf diesem Gebiet, die jemals aus der Feder eines Menschen geflossen sind. Und zugleich ist es doch auch sehr praxisnah.« »So eine Einschätzung habe ich in der Tat noch nicht gehört, Dr. Quilty. Erklären Sie mir das ruhig näher.« »Sie kennen bestimmt die Stelle, wo es heißt: ›Sind die Götter ungnädig, beten die Menschen zu Füßen von Dämonen.‹ Nun würde unser Pastor das wahrscheinlich in streng religiösem Sinn interpretieren – und er hätte damit natürlich nicht ganz unrecht. Aber dieser Satz drückt auch eine wichtige psychologische Erkenntnis aus. Oh, meine Füße!« »Was ist denn?« »Nichts, nur so ein Zwicken. Ich wollte gerade auf etwas hinaus … darauf nämlich, daß das, was unser Pastor Taufe nennt, in der Geschichte der Psychologie als ehrwürdige therapeutische Methode bekannt ist. Ich würde wetten, das wußten Sie nicht, oder?« »Nein, tatsächlich nicht.« »Ist aber so. Wir Psychologen pflegten sie Schockbehandlung zu nennen. Hier sind wir schon, Major. Hier sind die Durchgedrehten untergebracht – in dieser ganzen Abteilung werden Sie keine geistig normale Seele finden. Und dies, möchte ich betonen, sind nur die 182
schlimmsten, die hoffnungslosen Fälle. ›Autismus‹ heißt der Fachbegriff, mit dem wir Psychologen ihren Zustand bezeichnen.« »Mir gefällt es hier. Es ist so ruhig. Viel erholsamer als in den anderen Abteilungen. Dies Summen erinnert mich an einen Bienenstock.« »Hier ist es so ruhig, daß wir in diesem Trakt nicht einmal Wächter brauchen. Diese Leutchen sitzen bloß den ganzen lieben langen Tag herum und brabbeln ihren Quatsch daher oder hören dem Quatsch zu, den andere daherbrabbeln. Unmöglich, irgend etwas davon zu verstehen. Morgens essen sie einen Schlag Kartoffelbrei, abends einen Teller Suppe – aber nur, wenn man ihnen alles in die Hand drückt. Andernfalls würden sie nur dasitzen und allmählich verhungern. So sind sie – Schoßhündchen!« »Wie erklären Sie sich ihren Zustand, Dr. Quilty?« »Geistige Umnachtung, das ist meine Theorie. Der Schock, den sie am SF-Tag erlitten« (SF-Tag für Sonnenflecken-Tag war die Bezeichnung der Dingos für jenen Tag, an dem die Sonnenflecken den Meistern die ›Sicherungen‹ herausschlugen), »muß für sie ein traumatisches Erlebnis gewesen sein. Infolge desselben zogen sie sich immer mehr in ihr Innenleben zurück, bis …« (der Arzt beendete seinen Satz mit einer weiträumigen Gebärde, die alle fünf Reihen von Zellen erfaßte) »… 183
die Sache so aussah.« In etwas gemäßigterem Tonfall machte er eine Ergänzung. »Natürlich ist das nur eine Theorie.« »Für mich klingt sie ganz vernünftig, Dr. Quilty. An Ihrer Stelle wäre ich weniger bescheiden.« »Sind Sie davon angetan? Dann kommen Sie, ich zeige Ihnen meinen interessantesten Patienten. Ein Fall für die Lehrbücher. Wäre bloß der gute Professor Freud noch unter den Lebenden! An diesem Fall hätte er seine helle Freude gehabt!« Wir erstiegen eine Treppe aus Metall, die zur dritten Reihe von Zellen hinaufführte, und gingen einen langen Korridor hinab, der uns immer weiter von dem wenigen Licht entfernte, das durch die schmutzigen Dachfenster eindrang. Dort am Ende des Korridors stand inmitten einer Anzahl von Welpen und jüngeren Schoßhunden, die aufmerksam bis an den Rand eines hypnotisierten Zustands lauschten, indem er im Takt zum non-kantabilen Rhythmus seines Vortrages schwankte, mein Bruder Pluto. Ich erkannte sofort, was er da rezitierte: Stoßgebete auf die Gewandung aus seinem letzten Buch der Zeremonien. Dies kurze Werk ist für zwei antiphonale Chöre von jeweils fünfzig Stimmen und Kammerorchester geschaffen und für das Zeremoniell gedacht, womit der Zelebrant sich die drei ›geweihten‹ Prunkstücke (bzw. die ›Gewandung‹) anlegt. Dies Zeremoniell kann 184
ein recht eindrucksvolles Schauspiel sein, aber unter diesen begrenzten Verhältnissen konnte es nur Pathos oder Geringschätzung erzeugen. Als Meßhemd trug Pluto ein besudeltes Unterhemd ; sein Meßgewand war ein aus der Bäckerei geklauter Mehlsack; als Ring diente ihm eine alte, rostige Mutter. Doch trotz dieser unbestreitbaren Lächerlichkeit seiner Erscheinung bot Plutos Auftritt nicht nur Anlaß zur Belustigung. Die Getragenheit des Werkes selbst – das ich nachstehend aus dem Gedächtnis wiedergebe – minderte diesen Eindruck außerordentlich stark. Stoßgebete auf die Gewandung (Anlegen des Chorhemdes) Schneeweißer Seifenschaum Zitronengelb Der schwarze Krater Beinbleicher Balsam (Anlegen des Meßgewandes) Farbenfrohe Tracht Fransen aus gelber Spitze Farbenfrohe Tracht Spitze mit Silber
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(Anlegen des Ringes) Marineblaue Klunker Samtschwarzer Eiter Dunkelgoldenes Ocker Schwärzlich-schwarzes Schwarz »Verstehen Sie, was ich meine?« fragte Quilty und ruckte mit seinem Ellbogen an meinen Rippen herum. »Er ist so vollkommen hinüber, wie's ein Verrückter nur sein kann. Irre wie ein Irrlicht. Alle sind sie's.« »Anscheinend ist er bemerkenswert unverändert geblieben.« »Wieso?! Haben Sie diesen Burschen schon einmal irgendwo gesehen? Wann?« Günstigerweise ersparte mir die Ankunft zweier Wächter eine weitere Lücke in meiner Tarnung; mit sich führten sie die schattenhafte Gestalt eines Weibsbildes in Handschellen. »Entschuldigen Sie, Major«, sagte der eine Wächter, »aber über Kurzwelle kam vorhin die Anweisung, diese Frau sich nach ihrem Sohn umschauen zu lassen. Die beiden sind gegebenenfalls nach St. Paul zu bringen.« »Das ist er«, sagte das Weibsstück und deutete mit der Hand. »Das ist mein Sohn Pluto.« Also hatte Roxanna mittlerweile die Möglichkeit ausgeplaudert, daß sich unter den gefangenen Schoßhun186
den mein Bruder und meine Mutter befinden mochten! Diesen Moment hatte ich gefürchtet. »Ausgezeichnet!« schnarrte ich im dingohaftesten Ton. »So etwas habe ich erwartet. Bevor sie abtransportiert werden, möchte ich sie aber lieber noch verhören. Bringt sie in meine Unterkunft zu dem anderen Gefangenen. Ich komme unverzüglich.« Clea trat vor, obwohl ihr meine Stimmlage unvertraut war, um mich im Zwielicht zu betrachten, aber ich drehte ihr schroff den Rücken zu. »Abführen! Wir dürfen keine Zeit verlieren!« Als wir vier – St. Bernhard und Clea, Pluto und ich – in der Unterkunft des unglücklichen Lieutenant Mosely versammelt waren, erläuterte ich ihnen, wie ich an meine gegenwärtige, so angenehme Position gelangt war. Nur Pluto nahm meinen Bericht ruhig und ohne wiederholte Zwischenrufe und Äußerungen des Unglaubens auf – und ich vermute, das lag schlichtweg daran, daß er in Wirklichkeit nicht mir zuhörte, sondern den schöneren Stimmen seiner eigenen überlegenen Innenwelt. »Unmöglich!« behauptete Clea mit Entschiedenheit. »Du kannst doch nicht erwarten, daß wir dir ein solches Märchen glauben. Mitten in der Nacht mit dem Fallschirm in einen Gefängnishof gesprungen! Im Mantel eines Majors! Erzähl noch einen!« 187
»Aber wenn er es zu berichten weiß, Clea«, wandte St. Bernhard ein, »muß es die Wahrheit sein. Weißzahn würde doch keinen Blutsbruder anlügen.« »Das Problem ist nicht, ob ihr mir glaubt – es besteht darin, wie wir fliehen sollen. Es darf nicht so weit kommen, daß man euch nach St. Paul befördert. Das ist die Hauptstadt der Dingos. Am sichersten wäre es, ihr könntet zwischen den Millionen anderer verlassener Schoßhunde untertauchen. Wieso hat man dich denn überhaupt herauspicken können, Clea?« »Die Dingos waren da und riefen mich und Pluto beim Namen. Sie behaupteten, die Meister holten uns zurück. Natürlich wußte ich nicht, ob man ihnen glauben könne, aber ich dachte mir, alles müsse besser sein als das Herumlungern in dem Loch. Also meldete ich mich, ehe sonst jemand auf diesen Gedanken verfiel.« »Ich habe bereits mehrere Fluchtpläne erwogen«, vertraute uns St. Bernhard an. »Ist es gefahrlos, sie in diesem Raum laut auszusprechen? Ja? Wie wäre es, wenn wir einen Tunnel graben? Unter der Mauer hindurch. Als ich einmal im Keller der Bäckerei war, habe ich bemerkt, daß er einen Fußboden nur aus Erdreich besitzt. Erde – das erspart uns die halbe Arbeit. Stellt euch vor, wieviel schwerer es fiele, sich durch Stein zu graben! Wenn wir also hier anfangen und in die westliche Richtung graben …« 188
»Aber von hier bis zur Mauer sind es doch über hundert Meter!« »Um so besser! Diese Kerkerknechte dürften damit rechnen, daß wir an einen solchen Versuch an einer anderen Stelle beginnen. Nach meiner Meinung kann der Tunnel, wenn zwei von uns in jeder Nacht durcharbeiten, in einem Monat fertig sein.« »In einem Monat!« höhnte Clea. »Aber ich soll noch heute abend verschleppt werden!« »Hm! Damit sieht die Lage freilich anders aus. Na, aber für diesen Fall habe ich ja einen zweiten Plan. Hier, laßt mich euch etwas zeigen …« Er zerrte die Bettücher von der Koje und riß sie in lange Streifen. »Diese Streifen knoten wir zusammen … zu einer Strickleiter … so. Hier, Weißzahn, nimm dieses Ende! Ich nehme das andere. Und nun zieh! Jawohl! Fester! Aaarg! Hmmm. Kennt jemand von euch einen besseren Knoten?« »Wozu brauchen wir eine Strickleiter?« erkundigte ich mich. Vom Fenster der Unterkunft bis zum Boden war es ja nur eine Höhe von rund vier Metern, wie St. Bernhard, da er während der letzten Stunden hier festgesessen hatte, bereits aufgefallen sein mußte. »Ich dachte, wir beide könnten die Posten im südwestlichen Turm überwältigen – dem mit den hübschen Zinnen –, dann alle über die Treppe nach oben steigen und mit der Strickleiter hinabklettern.« 189
»Aber ich kann den Posten einfach befehlen, uns nach oben zu lassen.« »Um so besser. In diesem Fall stehen wir lediglich vor der entscheidenden Aufgabe, dafür zu sorgen, daß unsere Knoten halten. Geht ein Doppelknoten drüber-unddrunter und drunter-und-drüber oder drunter-unddrüber und drüber-und-drunter? Ich krieg's nie hin.« »Aber wir brauchen gar nicht auf den Turm, Sankt Bernhard. Ginge es bloß darum, wie wir aus dem Gefängnis verschwinden, könnten wir mühelos in diesem Zimmer aus dem Fenster springen.« »Du meinst, wir müssen gar keine Strickleiter verwenden?« Irgendwie zeugte seine Stimme von schrecklicher Enttäuschung. »Aus diesem Gefängnis einen Weg zu finden, ist nicht das ganze Problem, Sankt Bernhard. Denk an die vielen tausend anderen Schoßhunde, die außer uns in Frangles Gewalt sind. Was soll aus ihnen werden? Ja, und dann besteht noch die Schwierigkeit, wie wir Palmino, der hinter meine Maskerade gekommen ist, hereinlegen könnten. Ich habe allen Anlaß zur Annahme, daß er meine letzten Maßnahmen aufmerksam verfolgt hat. Und er wird alles tun, damit ich hierbleibe, denn nur durch mich kann er hier ein erhebliches Maß an Macht ausüben, nur durch mich kann er auf ein Leben in den Asteroiden hoffen, sobald das alles vorbei ist. Das Pro190
blem ist also weniger, wie wir aus dem Gefängnis fliehen, sondern vielmehr, wie wir ihm entfliehen. Palmino – er verkörpert die wahre Schwierigkeit.« »Vielen Dank, Major Jones, aber das ist nicht länger mehr der Fall«, sagte Palmino, indem er ins Zimmer trat und seine kleine Pistole zückte. »Nun ist es die wahre Schwierigkeit, mit ihm zu fliehen.« »Würdest du uns deinem Bekannten bitte vorstellen, Weißzahn?« bat Clea mich sorglos. »Mutter, das ist Stabsfeldwebel Palmino. Palmino, dies ist meine Mutter, Miss Clea Melbourne Clift.« Clea hielt Palmino ihre Hand hin, und er streckte ihr unwillkürlich seine Pistolenhand entgegen. Mit energischem Zugriff entwand Mütterchen Palmino die Pistole. »Und nun entschuldigen Sie sich für diese ungehobelte Störung bei meinem Sohn, junger Mann, und dann, wenn ich bitten darf, erklären Sie uns genauer, wovon Sie reden.« »Es tut mir leid. In Ordnung? Und Ihnen wird's bald auch leid tun. Jetzt hat man uns nämlich aufs Korn genommen. Ich habe Funkmeldungen aufgefangen. Sie kommen noch heute abend in Massen.« »Wer? Warum? Wieso?« »Die Truppen aus Schröder und Fargo. Sogar eine Einheit aus der Hauptstadt. Anscheinend weiß man, daß Sie hier sind und jetzt diesen Laden leiten. Wissen Sie, 191
inzwischen war etwas los, das ich Ihnen noch nicht erzählen konnte. Irgendwie habe ich es auch nicht so eilig damit gehabt. Gestern nachmittag kreuzte nämlich dieser Major Worthington auf, um seine Inspektion einer meiner Freunde. Er schoß auf …« »Aber ich hatte Ihnen doch gesagt, daß ich damit nicht einverstanden bin! Ich kann es mir nicht leisten, in einen Mord verwickelt zu werden! Es steht schon übel genug.« »Es war kein Mord. Wie ich es sehe, war es Notwehr. Aber wie es sich ergeben hat, ist das ohnehin gleichgültig, denn der Posten zielte schlecht und verwundete Worthington bloß. Er konnte entwischen. Er verständigte das Induktanz-Korps, und nun marschieren Truppen auf, um das Gefängnis zu stürmen.« »Dann ist alles aus! Sie haben alles verdorben! Wir sind erledigt!« »Nein – warten Sie, bis ich mit meinen Erklärungen fertig bin. Vielleicht sind wir so gut wie gerettet. Ich habe die Meister angefunkt, und …« »Befinden sich hier noch Rundfunkgeräte in Gebrauch?« fragte St. Bernhard. »Ich habe einige ganz zauberhafte Aufzeichnungen alter Rundfunkprogramme gehört. Kennen Sie die Hörspielreihe Paul Temple? Echt spannungsgeladen! Es überrascht mich allerdings zu 192
erfahren, daß die Meister sich die Dingo-Programme anhören.« »Was ich gefunkt habe, war eher so etwas wie ein SOS-Ruf und kein Programm. Seit Worthington fort ist, habe ich praktisch pausenlos um Hilfe gefunkt. Wenn jemand es abgehört hat, macht das jetzt auch keinen Unterschied. « »Sind Sie mit ihnen in Kontakt gekommen? Das ist die wichtigste Frage.« »Ich glaube, ja. Mit irgendwem habe ich Verbindung erhalten. Aber wie soll ich sagen, wer es war? Die ganze Verständigung geschah durch Morsezeichen. Jedenfalls unterstelle ich, daß es die Meister gewesen sind. Den ganzen Morgen hindurch haben wir verhandelt, bevor wir zu einer Abmachung gelangten. Ich habe versprochen, allen Schoßhunden aus dem Gefängnis zu helfen, und sie versprachen mir dafür, daß ich und vier Freunde mit den Schoßhunden gehen und in einem Zwinger leben dürfen. Nun dreht's sich also bloß noch darum, heute um Mitternacht sämtliche Schoßhunde am Nadelfelsen zu versammeln.« »Warum müssen wir das Gefängnis verlassen? Ist das ein Trick?« »Es hängt irgendwie zusammen mit dem Kraftfeld. Es ist an Stellen stärker, die spitz zulaufen. Dreizehntausend Schoßhunde dürften gut zweitausend Tonnen wie193
gen, und die Meister teilten mir mit, sie seien noch vom SF-Tag erschöpft. Sind Sie der Meinung, daß wir ihnen trauen können?« »Das müssen wir wohl, außer Sie sehen eine Möglichkeit, wie sich einer Belagerung standhalten ließe. Aber wie sollen wir bis Mitternacht alle dreizehntausend Schoßhunde aus dem Gefängnis bringen? Was für einen Grund könnten wir Frangle aufschwatzen? Die Leichtgläubigkeit dieses Mannes muß doch auch Grenzen kennen.« »Keine Ahnung«, sagte Palmino und schüttelte ratlos seinen schmierigen schwarzen Krauskopf. »Ich dachte, wir könnten mit meinen Männern eine ganze Anzahl von Schoßhunden zur Arbeit nach draußen schicken, den Rest durch dieses Fenster. Einen nach dem anderen. In irgendeiner unauffälligen Weise.« »Den Rest? Alle dreizehntausend?« »Es ist heikel, ja«, stimmte Palmino zu und kratzte sich mit seinen dreckigen Krallen am Kopf. »Verflucht heikel.« Pluto, der bis dahin nicht zu erkennen gegeben hatte, daß er sich irgendwie von den Angelegenheiten betroffen fühlte, die wir diskutierten, erhob sich plötzlich aus der Ecke, wo er, in seiner Selbstversunkenheit einem Ghandi gleich, sich hingekauert hatte, und erhob seinen von der rostigen Mutter gezierten Finger, um sich in 194
lehrerhaftem Tonfall an uns zu wenden. »Nun vernehmet meinen Plan …«
9. Kapitel Worin wir Salami sehen können und fast alle Gefangenen entfliehen. Der große Fluchtplan scheiterte beinahe im Keim, weil Pluto mit seinen alten blöden Fürzen von Theaterkunst auf einer Arena bestand. »Rundtheater, guter Gott!« rief ich. »Das hier sind Dingos, keine Elisabethaner, Junge! Unterlinge, ungewaschene Massenmenschen, der stinkige Pöbel, der nicht den Unterschied zwischen einem Holbein und einem hohlen Kopf kennt. Was sagte denn Bizet, als er sich hinsetzte, um das Toreador-Lied zu schreiben? Wenn sie merde haben wollen, sagte er, will ich ihnen merde geben. Hier geht's um Massenkultur. Du bist jetzt in Hollywood. Mach dir das mal langsam klar!« »Aber eine Vorderbühne! Das wäre doch … das wäre regelrecht ungehörig. Hamlet ist auf einer Zentralbühne gespielt worden. Für Marlowe war sie gut genug. Sie war gut genug für Jonson. Sie genügte Shakespeare. Und mir genügt sie auch.« »Amen, Bruder«, sagte Clea und klatschte in die Hände. »In Bayreuth hat man eine Vorderbühne benutzt«, wagte St. Bernhard zu bemerken. Logik gehörte nicht zu seinen Stärken. 196
»Und wenn sie gut genug für Wagner war, dürfte sie auch für uns gut genug sein«, sagte ich, dankbar für jede Unterstützung. »Illusion – das ist unser Kniff. Die Leute wollen von Herzen gern betrogen werden! Außerdem, wenn wir nicht wenigstens ein bißchen einen schönen Hintergrund in Farben vorzuweisen haben, wie sollen wir dann alle zum Tor hinausbekommen? Dies ist keine Kunst um der Kunst willen, sondern um unseretwillen.« »Philister!« knirschte Pluto. »Nun gut, heute abend soll die Aufführung nach deinen Vorstellungen laufen, aber sobald wir damit über die Provinz hinausgehen …« »Sobald wir wieder in Schwanensee sind, lasse ich ganz bestimmt die Finger davon. Aber jetzt ist es wohl höchste Zeit, daß wir an die Arbeit gehen. Clea, die Damen sollen sofort damit anfangen, Kostüme zu nähen und ihren Massenauftritt zu proben. Berücksichtige, daß Sex alles ist. Wir haben viel Zeit auszufüllen, also zeigen wir nichts, ehe die Zuschauer nicht danach schreien, und dann bloß zur Hälfte. Palmino, Sie müssen den Exodus organisieren, aber daraus darf keine halbe Sache werden. Halten Sie sich nicht beim Stil auf, sorgen Sie vor allem dafür, daß der Hintergrund dunkel ist. Pluto, du kannst St. Bernhard den Text einhämmern.« »Aber er ist ja noch gar nicht geschrieben.« »Zu spät, Junge, zu spät. Trichtere ihm den Text jetzt ein und schreib ihn auf, wenn wir wieder in Schwanen197
see sind. Genauso hat Shakespeare gearbeitet. Was mich betrifft, so werde ich den Rest des Tages damit zu tun haben, Frangle davon zu überzeugen, daß Salami die Lösung der Probleme ist, die er mit der Moral seiner Truppe hat.« »Nicht Salami«, widersprach Pluto. »Salome …!« »Salami«, entgegnete ich unerbittlich. »Denk dran – du bist jetzt in Hollywood.« »Salami?« fragte Captain Frangle und zupfte leicht verblüfft an seinem Schnurrbart. »Nun, ich meinerseits … das heißt, inoffiziell gesprochen … ich glaube, das könnte, äh, recht schön werden … kann man das so sagen? Die Bibel und das alles, gewiß … aber nichtsdestoweniger …« »Nichtsdestoweniger …?« »Die Männer, wissen Sie … die Männer sind, ganz allgemein ausgedrückt, von rohem Schlage. Nicht etwa, daß ich nicht ein bißchen … wie sagt man? … Kultur …? zu schätzen wüßte, verstehen Sie. Ich habe mich immer für einen Mann mit intellektuellen Neigungen gehalten, aber nichtsdestotrotz …« »Oh, die Männer, was die angeht, so darf ich Ihnen versichern, daß es ihrerseits keinerlei Entrüstung über diese Aufführung geben dürfte. Sie kennen natürlich die Geschichte der Salami?« 198
»Natürlich. Das heißt … vielleicht könnten Sie mein Gedächtnis ein wenig auffrischen?« »Selbstverständlich.« Ich erzählte ihm die Geschichte mehr oder weniger so, wie man sie von Matthäus und Markus, Wilde und Hofmannsthal sowie aus dem Film mit Rita Hayworth (der Pluto inspiriert hatte) kennt. Dem Himmel sei gedankt für die Filmarchive im Zwinger Schröder! Pluto hatte die ursprüngliche Geschichte im Interesse erhöhter Vulgarität leicht überarbeitet. »Und all diese Klopse stehen in der Bibel?« fragte Frangle verunsichert, als ich meine Darstellung beendet hatte. »Bis ins letzte genau so.« »Und das wollen sie als Bühnenstück aufführen – hier?« »Wenn ich es richtig verstanden habe, übernehmen fünfhundert oder mehr der schönsten Weibsstücke der Besserungsanstalt die Rollen der Haremssklavinnen. Salami selbst bietet einen solchen Anblick purer Keuschheit, daß Worte sich nicht zur Beschreibung eignen.« »In dieser Beziehung könnte es freilich ein großes Erlebnis sein. Was, Major? Ich habe immer die Ansicht vertreten, daß die religiöse Bildung wesentlich für den moralisch einwandfreien Zustand einer Armee ist. War es nicht Napoleon, der sagte, eine Armee reise auf den 199
Schwingen ihrer Seele? Zu viele Kommandeure sind heutzutage aus Bequemlichkeit dazu bereit, die spirituellen Gesichtspunkte der Führung zu vernachlässigen.« »Zu diesen Offizieren habe ich Sie niemals gezählt, Captain Frangle.« Frangle lächelte und zupfte einen Bartzipfel zu einem Ausdruck bescheidener Selbstzufriedenheit und das andere Ende zum Ausdruck ungezügelter Erwartung zurecht. »Wann geht der Spaß los?« »Um einundzwanzig Uhr dreißig, Captain. Pünktlich um einundzwanzig Uhr dreißig.«
Pünktlich um einundzwanzig Uhr dreißig ging der Vorhang auf, und einhundertvierzehn Mann Wachpersonal sowie drei Offiziere des Wiedereingliederungszentrums St. Cloud schnappten wie aus einem Munde nach Luft, als sie ihren ersten Eindruck von Herodes' Palast in Galiläa erhielten, glanzvoll erleuchtet durch die vier Scheinwerfer, die wir von den Wachtürmen geholt hatten. Die Kulisse war als unendliche Perspektive gestaltet, die Lotosornament-Säulen, gothische Deckengewölbe, marmorne Pfeiler, vergoldete Karyatiden und Spitzbogenfenster mit noch großmächtigeren babylonischen Motiven dahinter umfaßte – ein Riesenwandgemälde, in dem die gemeinsame Leistung von über zweihundert 200
Schoßhunden steckte und das entsprechend kunterbunt geworden war; die Zusammenstellung floß freizügig von einem zum anderen Stil über, von Poussin zu Chirico und dann zu Constable, so freimütig natürlich, wie eine Quelle über die verschiedensten Kieselsteine dahingluckert. Jeder Quadratzentimeter glomm im erregenden Funkeln eines Edelsteins, denn die Farbe war noch frisch und klebrig. Das Orchester begann mit der Ouvertüre – einer hastig rekonstruierten Version von Geschichten aus dem Wienerwald, die entgegen ihrem ursprünglichen Charakter einen schwer orientalischen Klang aufwies, und zwar infolge der verwendeten Instrumente: Wasserrohre und Rohr-Xylophone, Mülleimer-Blechmusik und eine Gruppe Streichmusiker mit Stacheldraht und Bettfedern. Als die Wirkung dieser herrlichen Klänge allmählich nachließ, trat Pluto in hohepriesterlicher Gewandung und Rauschebart mitten auf die Bühne und fing im belehrendsten Tonfall an zu deklamieren. »Und siehe …!« Und siehe, von rechts und links strömte der Chor aus Herodes' Frauen und Konkubinen auf die Bühne, insgesamt tausend an der Zahl. Sie füllten die Bühne und zugleich den Gefängnishof. Nicht einmal Salomon in all seiner Pracht hatte es so gut. »Und siehe, es begab sich in jenen Tagen, daß Hero201
des, den man Herodes Antipasto nannte, Vierfürst war in Galiläa …« Am Ende der Schlange, die der Chor bildete, betrat Herodes Antipasto die Bühne, mit einem Wanst wie Falstaff, Schuhgröße 54, einer Nase aus Kitt und einem langen, grauen Schnurrbart, dem Captain Frangles nicht unähnlich, raffte seine luxuriösen Gewänder und tänzelte mit den haarigen Beinen, völlig außer Takt mit dem Orchester, doch kniff er zur lautstark geäußerten Freude der Zuschauer da und dort in ein Hinterteil. »Herodes jedoch war ein grausamer König, dem nichts mehr gefiel als seines Bruders Weib, Herodias Antipasto, und der Tochter von seines Bruders Weib, Salami Antipasto.« Herodias trat auf, schwenkte ihre Boa. Ebenfalls Salami, in einer Sänfte, die acht Nubier trugen. Vorerst hielt Salami ihre Schönheit hinter den Vorhängen ihrer Sänfte verschleiert, nur einmal lugte sie kurz heraus, um mir zuzuzwinkern. »Haben Sie das gesehen?« rief Frangle, der neben mir saß. »Haben Sie gesehen, wie sie nur mir zugezwinkert hat?« »Nun begab es sich in jenen Tagen, daß Herodes, Vierfürst von Galiläa, eine große Party veranstaltete, zu der er alle einlud. Er lud die Römer mit ihren Weibern ein …« Die Römer und ihre Weiber kamen auf die Bühne gestapft. »Die Ägypter und ihre Weiber.« Es kamen die Ägypter und ihre Weiber. »Die Nubier und ihre Wei202
ber.« Die sofort auftraten. Und außer ihnen noch viele Völkerschaften mehr, jede mit ihrem besonderen National-Striptease. Aber irgendwie, ganz egal, wieviel Herodes einlud, der Hof schien überhaupt nicht voller zu werden. Als endlich alle auf der Party versammelt waren, schlug Pluto einen unheilvollen Ton an. »Aber eine Person hatte Herodes zu seiner großen Party einzuladen vergessen, und als diese Person sah, daß man sie draußen in der Kälte hatte stehen lassen, war sie sehr zornig, und siehe, man nannte ihn Sankt Bernhard den Täufer.« Unter gewaltigem Klirren von Mülleimern trat der Genannte auf. St. Bernhard sang das Toreador-Lied aus Carmen, jedoch mit bearbeitetem Text, der seinen Verdruß darüber, nicht eingeladen worden zu sein, zum Ausdruck brachte, und außerdem den Vierfürsten dafür ausschalt, die Frau seines Bruders geheiratet zu haben. Das erledigt, stimmte er gemeinsam mit Mütterchen (als Salami) das Liebesduett aus La Boheme an. »Und siehe, Herodes erbleichte in wildem Grimm, und er befahl seinen Schergen, den Täufer in den tiefsten Kerker zu werfen, und siehe, Sankt Bernhard der Täufer erschlug dreihundert Krieger mit dem Kieferknochen eines Esels.« Und in der Tat, zwanzig Minuten lang wütete St. Bernhard nach beiden Seiten, verbreitete ringsum Tod 203
und Verderben. Es wimmelte auf der Bühne von Sanitätern mit Tragbahren und Krankenschwestern und frischen Verstärkungen. Man konnte kaum zu seiner Rechten abräumen, da hatte er zur Linken schon wieder alles niedergehauen. Und die ganze Zeit sang er dabei! Er lieferte einen wunderbaren Kampf, und die Unbedarften im Parterre fanden ihn großartig, aber die Übermacht war einfach zu groß, und am Ende packte man ihn und schleppte ihn fort. Um Herodes' Sieg zu feiern, strömten zu den Klängen des Triumphmarsches aus Aida eintausend weitere Tänzerinnen herein. Plutos Vortrag beschrieb nun, wie ungeheuer leidenschaftlich der Täufer und Salami einander liebten, Herodes jedoch fest entschlossen war, ihnen den Weg zu verbauen, weil er Salami selber liebte. Salami wendet sich an ihre Mutter Herodias, die ihr einredet (und diesen Teil hatte Pluto aus dem Film mit Rita Hayworth entlehnt), vor dem Vierfürsten den Tanz der Sieben Schleier zu tanzen, denn für einen Genuß dieser Art hat Herodes ihr einen Gefallen versprochen. Salami glaubt, dieser Gefallen werde St. Bernhards Freilassung sein, aber die grundschlechte alte Hexe Herodias bittet statt dessen um seinen Kopf auf silbernem Teller! Welch eine Hinterlist! So war es jedenfalls vorgesehen, aber an der Stelle, wo der große Auftritt der Antipastos folgen sollte, Herrn und Frau, wurde plötzlich ein Ballett von Sklavin204
nen dazwischengeschoben. Pluto winkte mir wie wahnwitzig, ich solle hinter die Bühne kommen. Ich entschuldigte mich bei Frangle, Quilty und dem Armeepastor, verließ meinen Platz in der ersten Reihe und schlich mich hinter die Kulisse, um zu erfahren, was nicht in Ordnung war. »Herodes ist desertiert«, meldete Clea in gequältem Tonfall und hielt seine abgelegten Prunkgewänder in die Höhe. »Er konnte es nicht abwarten und ist mit den Ägyptern zum Nadelfelsen abgehauen.« »Sind die Schoßhunde inzwischen draußen?« fragte ich. Überflüssigerweise, denn ich sah mit eigenen Augen, daß unter der Aufsicht Palminos und seiner vier Freunde – die sich freiwillig gemeldet hatten, um der Aufführung fernzubleiben und die Wachtürme zu bemannen – noch immer ununterbrochen Massen von Schoßhunden zum Gefängnistor hinauszogen. Viele Schoßhunde liefen sofort von den Seitenkulissen, sobald ihr Auftritt auf der Bühne endgültig beendet war, unter die Menge, die sich hinaus in die Freiheit wälzte. »Erst sechstausend sind draußen«, bekannte Pluto. »Durch den verspäteten Anfang sind wir zehn Minuten hinter dem Zeitplan, aber wir holen langsam auf. Das Problem ist Herodes. Wir haben vergessen, einen Ersatzmann zu verpflichten, und niemand kennt die Rolle.« 205
»Jemand muß an seiner Stelle weitermachen – soviel ist wohl klar. Es ist mir gleichgültig, wen du aussuchst.« »Wir dachten …«, begann vorsichtig St. Bernhard, »du könntest …« »Sieh mal, mein Lieber, die anderen Schoßhunde haben ja gar keine richtige Ahnung davon, was hier Sache ist«, sagte Clea. »Es ist leicht für die Mädchen, auf die Bühne zu gehen und ein bißchen Bauchtanz vorzuführen, aber der Schauspieler, der den Herodes gemimt hat, war außer sich wegen der Vulgarität des Stücks. Und wir dachten uns, weil du doch inzwischen die Dingos so gut kennengelernt hast …« »Aber mittlerweile kennen sie mich auch ganz gut.« »Mit dem ausgestopften Bauch, dem falschen Schnurrbart, der Kittnase und ein wenig Rouge und Wimperntusche werden sie dich bestimmt nicht wiedererkennen. Bitte, Weißzahn, mach uns jetzt keine Schwierigkeiten. Wir können die armen Sklavinnen nicht die ganze Nacht lang tanzen lassen.« Clea nutzte ihre Abwesenheit von der Bühne, um mich auf die Rolle vorzubereiten, und zum Schluß ihrer Aufdringlichkeit war ich besser darauf eingestellt, den Herodes zu spielen, als auf die Rückkehr an meinen Platz, und daher gab ich nach. Außerdem mag ich, wie Pluto genau gewußt hatte, Laientheater ganz gern. Meine erste Szene, jene mit Herodias, ließ sich leicht 206
durchziehen. Wir handelten die Abmachung aus, daß Salami ihren Schleiertanz vorführen und St. Bernhard dafür den Kopf verlieren solle. Dann durfte ich mich hinsetzen und zuschauen, und während des Schleiertanzes hatte ich nichts anderes zu tun als auf allen vieren hinzukriechen, sobald Mütterchen einen der sieben Schleier entgleiten ließ, ihn an mich zu reißen und aus Geilheit wie ein Wolf zu heulen. Gerechtigkeitshalber muß ich erwähnen, daß ihr Tanz auch nicht weniger Würdigung verdiente. Der erste Schleier entblößte Mütterchens Arme – das anmutigste und elfenbeinhafteste Paar Arme, das je eines Vierfürsten Stiernacken umschlang, mit Händen wie zwei Täubchen, geziert von langen, halbmondrunden Fingernägeln, die selbst der trübe Aufenthalt im Gefängnis nicht zu verderben vermocht hatte. Der zweite Schleier enthüllte Mütterchens klassische Nase und ihre wie aus Marmor gemeißelten Lippen, die sie, als der Schleier fiel, zu einem verlockenden, verheißungsvollen Lächeln teilte, erregender als der Kuß so mancher anderen Frau. Mit dem dritten Schleier brachte Mütterchen soviel Zeit herum, als habe sie es mit dem Gordischen Knoten zu schaffen, und als er endlich davonschwebte, brachen die Zuschauer in ein Gebrüll der Begeisterung aus. Mütterchens Beine waren lang, kräftig und besaßen eine 207
geschmeidige Muskulatur. Wenn sie sich im Takt zum Klirren der Zimbeln und Kreischen der Streichinstrumente bewegten, konnte man glauben, daß die Wissenschaft der Anatomie keine weiteren Geheimnisse auf Lager hätte. Eine solche Schlußfolgerung wäre jedoch verfrüht gewesen. Das Orchester hatte sich im Verlauf des Tanzes stetig verkleinert und war leiser und langsamer im Tempo geworden. Nach jedem Schleier verließ eine Anzahl von Musikern die Plätze an der Seite der Bühne und verschwand hinter den Kulissen, um sich den Fliehenden anzuschließen. Mit dem Absinken der Musik vernahm man allmählich den Lärm der Flucht, aber Mütterchen erheischte die Aufmerksamkeit der Wachmannschaft sofort mit wahrhaft königlicher Autorität – um es gelinde auszudrücken. Der vierte Schleier gab ihren Schwanenhals und ihre cremig-süßen Schultern den Blicken des Pöbels frei; der fünfte setzte ihnen die Obertaille aus. Ihr wendiger kleiner Bauch wogte und straffte sich, schob sich vorwärts, ließ den zierlich geschwungenen Nabelzipfel aus seiner winzigen fleischigen Grube hervortreten. Ihre Arme regten sich wild zu den Klängen der Musik, die Hände klatschten, wirbelten über ihr aufgetürmtes Haar empor, fuhren im Gegentakt zum Rhythmus der Musik abwärts. Die Musik verlangsamte sich zur Trägheit von 208
Honig. Mütterchens Halbmondfingerspitzen berührten den Rand des sechsten Schleiers. »Weg damit!« rief die Wachmannschaft im Chor. »Weg damit! Weg damit!« Der Vierfürst torkelte im Kreis um die begehrte Salami, und Captain Frangle war auf die Füße gesprungen und kaute in grenzenloser Lüsternheit auf seinem Schnurrbart. Schließlich, nach einem beträchtlichen Weilchen der Ungewißheit, entfernte sie den Schleier. Ah, welche Schätze gab es am Hofe des Vierfürsten! Die beiden Brüste glichen jungen Zwillingsrehen, die zwischen Lilien weiden. Ein Schleier war noch vorhanden, ebenso ein Musiker – Pluto, der eine Flöte spielte. Mütterchen löste den Knoten an ihrer Hüfte, aber sie ließ den Schleier nicht sinken. Sie schob ihn höher, sie senkte ihn, ruckte ihn nach den Seiten – aber sie ließ ihn nicht fallen. Plötzlich verstummte auch die Flöte, und Pluto trat vor, um wieder in seine Rolle als Sprecher zu schlüpfen. »Und siehe …«, erhob er seine Stimme. »Zeigen!« pflichtete das Publikum ihm gebrüllt bei. »Zeigen!« »… der Täufer sprengte seine Ketten und entwich aus dem Kerker des Vierfürsten, und er kam zur rechten Zeit, um der Prinzessin Salami Keuschheit vor dem wollüstigen Blick des Herodes zu bewahren.« St. Bernhard 209
trat auf, indem er einen schweren hölzernen Wandschirm heranschleppte, den er sechsfach entfaltete. Die Prinzessin Salami verbarg sich züchtig hinter diesem Wandschirm, der links an die Seitenkulisse grenzte. »Du hast deinen Kopf verspielt!« schnauzte ich in der Rolle des Vierfürsten. »Kopf ab!« stimmten die Zuschauer im Tonfall einer dringenden Forderung zu. Einer von ihnen, Frangle persönlich, bevorzugte ein direkteres Vorgehen, er stürzte zum Wandschirm und wollte ihn umwerfen. St. Bernhard stürmte quer über die Bühne, um ihn daran zu hindern, aber er stolperte über sein eigenes Lendentuch. Nur ich, Herodes Antipasto, konnte Frangles sittenwidrige Absicht noch vereiteln. Ich packte ihn rücksichtslos an den Aufschlägen seiner Uniform und zerrte ihn zu seinem Sitz, aber nicht einmal meine überlegene Kraft konnte Frangle zur Vernunft bringen. Er biß und kratzte und fuchtelte und packte Herodes' Schnurrbart … »Major Worthington!« rief er. »Was hat das zu bedeuten?« Zum Glück veranstalteten die Zuschauer genug Lärm, um Frangles verräterischen Ausruf zu übertönen. St. Bernhard half mir, den Captain hinter den Wandschirm zu schleifen, wo wir uns dann gegenseitig dabei halfen, den Captain in den Zustand der Bewußtlosigkeit zu ver210
setzen. Mit jedem der Kleidungsstücke des Offiziers, das wir der Wachmannschaft über den Wandschirm zur Begutachtung zuwarfen, schwoll ihr Gelächter an. Als wir den schlaffen Captain schließlich auf einer Bahre von der Bühne trugen, tobte die Zuschauerschaft vor Entzücken. Nachdem wir diese kleine Einlage abgeschlossen hatten, kehrten wir erleichtert zum Text zurück. »Weiche, Unhold Antipasto!« verlangte St. Bernhard von mir im besten Verdi-Stil. »Nein, du Narr, nun fasse dich, des Todes Antlitz zu erblicken«, entgegnete ich, »denn soll mein Blick nicht fallen auf den köstlichen Rubin, den dieser letzte Schleier ihm verhehlt, so fälle mich dein Schwert!« »Hilfe!« rief Clea und spähte hinter dem Wandschirm hervor. »Hilfe!« »Rübe runter!« begannen die Zuschauer im Sprechchor zu fordern und überlagerten damit die Geräusche, welche die letzten Schoßhunde auf der Flucht verursachten. »Rübe runter!« Ich riß mein spitzes Florett aus der Scheide an meiner Seite und bezog Aufstellung. Obwohl es mit meiner Fechtkunst nicht weit her war, wie man es von einem tollpatschigen, alten fetten Vierfürsten erwarten durfte, hatte ich doch so viel Glück, daß mich St. Bernhard nicht mit der gleichen Leichtigkeit wie vorher meine dreihun211
dert Häscher überwältigen konnte. Dann gelang es mir durch eine geschickte Taktik des Umkreisens, zwischen ihn und den Wandschirm zu kommen. In diesem Moment sprang ich hinüber zu Salami. Mit einem Kreischen lief Clea davon, den letzten Schleier (der sich irgendwie erheblich vergrößert hatte) an ihren Busen und den Unterleib gedrückt. Der Umstand, daß die Spitze meines Floretts in diesem Fetzen festhing, sorgte dafür, daß sie mir nie zu weit voraus war; auf diese Weise rannten wir dreimal um den Hof, verfolgt von St. Bernhard, der wiederholt über sein Lendentuch fiel und uns deshalb nicht einholen konnte. Die Ehre für all diese glänzende Choreographie gebührt Pluto. Letztendlich erreichte Mütterchen wieder den Schutz des Wandschirms. Alles verschwimmt mir vor den Augen, und die Kehle schnürt sich mir zusammen, wenn ich nun gezwungen bin, mich an das heitere Lächeln und den freundschaftlichen Wink meiner Mutter zu erinnern, als sie in die Seitenkulisse und dann hinter die Bühne entschwand. Ihre Rolle war zu Ende, und sie folgte dem Rest der Schoßhunde zum Nadelfelsen. Sie nie, niemals wiedersehen zu dürfen! Wie lieblich war sie in diesen letzten Augenblicken! Wie schwer zu glauben, daß sie die Erde und mich unwiderruflich verlassen hat! Aber ich bekam keine Zeit, um die Einmaligkeit dieses Moments auszukosten, weil St. Bernhard nun unge212
heuer dick auftrug. Er bearbeitete meine gepolsterten Rippen mit seiner Schwertlatte, so daß ich wie irr aufheulte und sinnlos mit meinem Florett fuchtelte, um dann die Flucht rund um die Bühne anzutreten. Nach mehreren solchen Runden lief ich links zur Seitenkulisse hinaus und rannte hinter der Bühne entlang, um von rechts wieder zu erscheinen. Hinter der Bühne hielten sich jetzt bloß noch Palmino und seine vier Spießgesellen auf. Die Schoßhunde waren alle fort. Bis Mitternacht waren es noch fünfzehn Minuten. Durch den Hof, kreuz und quer über die Bühne, dann ein rascher Sprung hinter den Wandschirm (wohinter die Zuschauer noch immer Clea vermuteten), ein Griff nach dem Ende eines Trick-›Schleiers‹, der sich, als ich daran zerrte, zur zweifachen Länge der Bühnenbreite ausdehnte. Aber unsere Scherze nutzten sich ab. Unsere Zuschauer forderten immer lauter St. Bernhards Kopf. Klamauk und Kuddelmuddel sind stets nur bis zu einer gewissen Grenze möglich. Da versetzte mir St. Bernhard, der wohl auf Belebung des Auftritts hoffte, einen Hieb, der nicht meine Polsterung, sondern mich selbst traf. Mit einem Schrei echten Schmerzes taumelte ich rücklings in Herodes' Palast. Nicht einmal Samson unter dem Dach der Philister hatte einen so schnellen Erfolg zu verzeichnen. Das Sammel213
surium von Leinwänden erzitterte, und ein lautes Reißgeräusch ertönte. St. Bernhard zerrte mich aus der Gefahrenzone, ehe mir alles auf den Kopf fallen konnte. Als ob der Vorhang des Tempels es sei, der zerriß, teilte sich Herodes' Palast fein säuberlich an der Mittelnaht und kippte nach rechts und links auseinander, gab den Blick voll auf das Gefängnistor frei, durch das sich sämtliche Schoßhunde davongemacht hatten. Aber die Torflügel klafften beileibe nicht so weit offen wie erwartet, und mit jeder Sekunde verengte sich der Spalt, weil Palmino und seine Kumpane dabei waren, sie zu schließen. Plutos Plan hatte zwar durchaus vorgesehen, das Tor von außen zu schließen und zu verriegeln, aber erst, sobald auch St. Bernhard und ich getürmt waren. Wir hasteten hinüber, um zu verhindern, daß diese Ganoven den Riegel vorschoben, doch zu spät. Palmino hatte uns hintergangen. Die Wachmannschaft, die für Salami das Publikum gestellt hatte, begriff das ganze Ausmaß des Geschehenen, die Unerhörtheit des Betrugs, dem sie aufgesessen war, viel zu langsam, um zu handeln, bevor wir beide den Eingang zum Quartier erreichten. Als sie danach erkannte, daß die übrigen Schoßhunde allesamt auf und davon waren, vergaß die Mehrheit uns beide vollkommen und stürmte zum versperrten Tor, um dagegen zu hämmern und es zu berennen. Eine Gruppe von fünf 214
Männern jedoch verfolgte uns in die Unterkünfte und brüllte herum, wir sollten stehenbleiben. Da sie aber außer Dienst waren und außerdem unbewaffnet, konnten wir es uns leisten, ihre Aufforderung zu mißachten. Es wäre recht leicht gewesen, die Treppen hinauf in Moselys Unterkunft zu fliehen, aus dem unvergitterten Fenster zu springen und zum Nadelfelsen zu entweichen, aber unglücklicherweise stolperte ich. Die fünf Wächter warfen sich auf mich, doch St. Bernhard eilte mir zu Hilfe und drosch mit seiner Schwertlatte auf sie ein. Die allerdings zerknickte gleich darauf am Griff. Ich raffte mich hoch, brach mir die Kittnase ab, entfernte meinen falschen Schnauzbart und befahl den Wächtern, auf der Stelle Haltung anzunehmen. »Wer es wagt, gegen mich eine Hand zu erheben, kommt vors Kriegsgericht!« »Herr Jesus, es ist der Major!« Sie standen unsicher herum, völlig verdattert, weil sie nicht wußten, ob sie sich erneut auf uns stürzen oder gehorchen sollten, und dadurch erhielt St. Bernhard die Gelegenheit, von einer Koje einen vollgepackten Feldkoffer zu ergreifen und ihn unter sie zu schleudern. Bumm! Krach! Rrumms! Meine Güte! Wir flitzten die Treppen hinauf und in Moselys Zimmer. St. Bernhard war im einen Augenblick noch auf der Schwelle und in der nächsten Sekunde bereits zum Fen215
ster hinaus, und ich wäre ihm ohne mein Kostüm ebenso flink gefolgt. Doch ich war zu prall ausgestopft, um ohne weiteres hindurchzupassen. »Rasch!« ermahnte mich St. Bernhard und deutete auf die hintersten, aus der Entfernung gerade noch sichtbaren Gestalten der Masse von Schoßhunden, die sich um den Nadelfelsen gesammelt hatten, auf den nun ein Strahlenkranz aus leicht rosafarbenem Licht herabzusinken schien. »Die Meister sind gekommen!« Ich hatte mich inzwischen des Kostüms und Teilen der Uniform entledigt und befand mich auf dem Fenstersims. Zu spät! Es wimmelte ringsum von Heerscharen der Dingos! Die Soldaten griffen St. Bernhard an, und ich warf ihm zur Verteidigung mein Florett zu. Er focht tapfer gegen ihre elektrischen Ruten an, aber es war von vornherein ein aussichtsloser Kampf. In meinem Rücken wummerten die Wächter des Wiedereingliederungszentrums gegen die Tür. Ein Offizier, der einen Arm in der Schlinge trug (der echte Major Worthington?), wandte sich über ein Megaphon an mich. »Springen Sie lieber von dem Fenster runter, Weißzahn. Wir haben Befehl, Sie lebendig zu fassen. Die Wächter im Gefängnis aber nicht.« In der Ferne, auf der Kuppe des Hügels rings um den Nadelfelsen, begannen sich die ersten befreiten Schoß216
hunde himmelwärts zu erheben. Bald war das ganze nächtliche Firmament mit ihren herrlichen, leuchtenden Gestalten erfüllt. Ein goldener Schein von so überwältigender Schönheit überflutete das wundervolle Ereignis, daß sogar die Dingo-Soldaten sich umdrehen mußten, um es zu bestaunen. Es erinnerte mich an etwas … irgend etwas, auf das ich nicht so richtig kommen wollte. Aber St. Bernhard konnte es. »Das Jüngste Gericht!« Die Meister holten ihre Schoßhündchen auf genau die gleiche Weise heim, wie es Michelangelo sechs Jahrhunderte zuvor an den Wänden der Sixtinischen Kapelle dargestellt hatte. Hinter mir gab die Tür nach, und ich sprang hinunter in die Gefangenschaft.
10. Kapitel Worin eine Exekution mit anschließender Kontroverse stattfindet. Wieder befinden wir uns im Gefängnis der Dingos – nicht im überfüllten, unerfreulichen Loch von St. Cloud (dessen Unannehmlichkeit, bei aller Verwahrlosung und allem geballten Elend, durch die bloße Masse der Gefangenen, die man dort zwischen die Wände gezwängt hatte, sozusagen schon wieder wettgemacht worden war), sondern in einer hohen und einsamen Kammer, aseptisch weiß, geruch- und geräuschlos, ohne Aussicht, unheilvoll. Ich sage einsam, aber ich war nicht allein. St. Bernhard war mit mir in derselben Zelle eingesperrt, aber seine Verfassung widerspiegelte so haargenau meinen eigenen Zustand, daß seine Gesellschaft mein Gefühl der Einsamkeit, den Eindruck, von allem abgeschnitten und verloren zu sein, eher noch vertiefte. Wäre noch eine ganze Blase bei uns in der Zelle gewesen, hätte es sich ebenso verhalten – denn im Vorhof des Todes sind alle Menschen allein. Nie geschieht es, daß Freunde gemeinsam unter den Galgen treten. Die Galgen … Doch nein, diesem Thema will ich noch für ein Weilchen ausweichen. Sprechen wir von … 218
St. Bernhard. St. Bernhard war noch niedergeschlagener als ich. Zumindest äußerte sich seine düstere Stimmung deutlicher. Nachdem er zuerst die Hilfsquelle seiner Leine und dann den Sonnenschein seiner geliebten Clea verloren hatte (und letzteres durch die Machenschaften der niedrigen Dingos), war seine Willenskraft erlahmt. Er reagierte nicht länger auf seine Umwelt; er schmiedete keine neuen Fluchtpläne; er sang nicht einmal mehr. Meine einzige Ablenkung von sorgenvollen Spekulationen (und ich darf es der Phantasie meiner Leser überlassen, auf den Gegenstand zu verfallen, der mich hauptsächlich beschäftigte) bestand darin, durch das einzige Fenster der Zelle hinunter auf die halb verlassene Straße zu starren. Der fünffache Galgen im Vordergrund regte uns zwar nicht zur Zuversicht an, verriet jedoch, daß wir im Gerichtsgebäude von St. Paul einsaßen, über dessen Galgen sich der Wächter im Flugzeug mit solcher Bewunderung geäußert hatte. Die Plattform der Galgen erhob sich ungefähr drei Meter über die Straßenhöhe, und der Hauptbalken, der die Querbalken stützte … Wir kommen noch darauf zurück. Vorerst wollen wir unsere Aufmerksamkeit der Szenerie unterhalb der Galgen widmen. Den ganzen Tag lang kamen Zivil-Dingos am Gerichtsgebäude vorüber – die Frauen in langen, 219
unvorteilhaften Kleidern, die Männer in für die Jahreszeit unvernünftig schweren Anzügen –, aber ihr Treiben war so unabänderlich stumpfsinnig (meistens latschten sie nur langsam geradeaus vor sich hin: links, rechts, links, rechts), daß ich es bald satt war, sie zu beobachten, und statt dessen die Fahrzeuge zu zählen anfing, die vorbeifuhren. Das war nicht so langweilig, wie man annehmen könnte, denn die verschiedenen Lastwagen, Jeeps und Schlepper, die noch bei den Dingos in Gebrauch waren (selten, falls überhaupt, sah man einmal ein gewöhnliches Auto), ermöglichten eine wunderhübsche Studie in vergleichsweiser Verrottung. Sie brummten und tuckerten, spien schwarze Wolken giftiger Gase aus, holperten die löchrige Straße mit ihrer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h entlang, eine Prozession antiker Maschinen, auf die selbst das Genie Rintintin stolz gewesen wäre. (Für jene, die mit seinem Werk unvertraut sind, eine Erläuterung: Rintintin vom Eros ist der größte zeitgenössische Mechanismen-Skulptor. Ich war bei der ersten – und einzigen – Ausstellung seines berühmten Werkes Tod eines Hubschraubers dabei, und es war ein Erlebnis, das ich in meiner Erinnerung immer wie einen Schatz hüten werde – ich würde es hier eingehend schildern, müßte ich nicht befürchten, dadurch erheblich abzuschweifen und an dieser Stelle etwas Unpassendes 220
einzufügen.) Diese Maschinen waren gewöhnlich dienstlicher Art, und die gleichen Zeichen, die ich damals vor dem Zwinger Schröder in die Telefonmasten geschnitzt gesehen hatte, waren auf die Seiten der Lastwagen gemalt, oder man sah sie auf Wimpeln, die an den Antennen der Jeeps flatterten. Ich fühlte mich an die Heraldik eines Kreuzritterheeres erinnert: Statischer Widerstand in Schwarz auf rotem Feld; Inaktive Diode auf viergeteiltem Feld in Weiß und Grün. Ich würde auch gerne ein wenig die Architektur der Dingos beschreiben, aber leider ist es die Wahrheit, daß ich ihr wenig Interesse entgegenbrachte. Vor allem betrachtete ich die Galgen. Die Bauart eines Galgens ist sehr schlicht. Nach zwei Tagen in dieser Vorhölle kam mein erster Besuch. Es war Julchen, aber ein so in ihrer Erscheinung verändertes Julchen, daß ich zunächst glaubte, es sei ein Dingo-Spitzel in Verkleidung. (Im Gefängnis entwickelt man paranoide Tendenzen.) Julchen trug ein bodenlanges Kleid mit langen Ärmeln und hohem Kragen im Dingo-Stil, und ihr schönes Haar war unter einem greulichen Helm aus Kork verborgen, wie ich ihn schon bei mehreren Personen auf der Straße unter meinem Fenster bemerkt hatte. »Julchen!« rief ich. »Was hat man mit dir angestellt?!« »Ich bin wiedereingegliedert worden.« Sie war dazu 221
außerstande, ihren Blick in meine Augen zu heben, und ihr ganzes Verhalten war widernatürlich verkrampft. Ich bezweifelte nicht, daß das auf die Anwesenheit der bewaffneten Posten zurückzuführen sei, die uns durch die geöffnete Tür beobachteten. »Du meinst, man hat dich gezwungen …« »Niemand hat mich zu irgend etwas gezwungen. Ich habe mich freiwillig dafür entschieden, ein Dingo zu werden. Sie sind wirklich viel netter, als wir früher immer dachten. Nicht alle sind so wie Bruno. Und er ist auch nicht so übel, wenn man ihn erst einmal richtig kennengelernt hat.« »Mein Gott, Julchen! Schämst du dich denn nicht?« »Oh, reg dich nicht auf. Das habe ich nicht gemeint. Bruno liebt Roxanna viel zu sehr, um irgendwie an mich zu denken. Außerdem liegt er noch im Krankenhaus.« »Das habe ich auch nicht gemeint.« Doch Julchen ließ sich nicht beirren. »Sie wollen heiraten, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wird. Ist das nicht wundervoll? Bruno hat im Flugzeug, noch auf dem Flug hierher, nachdem du hinausgesprungen warst, im Delirium gelegen und mir alles von sich erzählt. Ich kann nicht sagen, daß ich viel kapiert hätte. Aber kannst du dir vorstellen, daß er dich in Wirklichkeit mag? Ja, so ist es. Er lag auf der Bahre, mit Verbänden umwickelt, und wir alle dachten, das Flugzeug müs222
se im nächsten Moment abstürzen, doch er sagte: ›Gott allein weiß, wann ich zuletzt so fertiggemacht worden bin. Ein toller Kerl! Wir werden uns gut vertragen, Weißzahn und ich.‹ Ich dachte, das läge nur am Delirium, aber er meinte es ernst. Er möchte, daß du ihn und Roxanna besuchst, sobald es geht. Ich habe ihm gesagt, daß das noch lange dauern könnte.« »Falls überhaupt.« »Das sagte auch Roxanna. Und sie für ihren Teil störte sich anscheinend nicht sonderlich daran. Sie ist noch immer sehr sauer auf dich, weil du Bruno weh getan hast.« »Aber ich habe doch bloß versucht, sie zu beschützen!« Die Geschichte, die mir Julchen in ihrer leicht zerstreuten Art berichtete, lautete zusammengefaßt folgendermaßen: Roxanna erkannte plötzlich, als sie mich Bruno mit der Axt hinstrecken sah, daß sie ihren Unhold liebte. Ihre unvermutet entdeckte Liebe war augenblicklich nicht minder leidenschaftlich als ihr noch kurz zuvor zum Ausdruck gebrachter Haß. In der Hitze des Gefechts war sie dermaßen wutentbrannt gewesen, daß sie die Axt gegen mich benutzen wollte, aber Julchen und andere Dingos, die am Schauplatz des Geschehens auftauchten, konnten sie gerade noch daran hindern. 223
Seither hatte sie ihre Rachepläne auf unauffälligere Weise verfolgt. »Und Petite?« fragte ich. »Was hat sie mit Petite gemacht?« »Oh, nichts so Schlimmes, wie ich zuerst befürchtete. Sie hat ihr bloß ewig aus diesem Propagandabuch vorgelesen, das alle Dingos so Klasse finden. Es heißt Das Leben des Menschen. Sie konnte Petite davon überzeugen, daß es sehr unartig ist, ein Schoßhund zu sein, aber das erste, was Petite mich fragte, als sie mich wiedersah, war: ›Wo bleibt meine Leine?‹ Sie kann sich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, daß sie sie nie wieder haben wird.« »Julchen, sag doch nicht so etwas. Natürlich wird sie die Leine wiederbekommen. Wir alle kommen wieder an die Leine. Hast du nicht vom Nadelfelsen gehört? Pluto und Clea befinden sich wahrscheinlich bereits wieder in Schwanensee oder auf Titan, und in einer Woche, vielleicht in zwei Wochen …« Die Erwähnung seiner Heimat entlockte St. Bernhards Lippen ein Stöhnen aus tiefstem Herzen. »Gott! Welch Dunkel hier!« Aufgeregt preßte sich Julchen den Zeigefinger auf die Lippen. »Pst! Davon dürfen wir nicht reden. Die Dingos sind bezüglich dieser Sache sehr empfindlich.« »Was will man mit uns tun, Julchen?« flüsterte ich. 224
Traurig schüttelte sie den Kopf und wich meinem eindringlichen Blick aus. »Darüber kann ich nicht sprechen«, antwortete sie. »Es ist mir verboten worden. Ich weiß es ohnehin nicht.« Doch irgendwie vermochte ich ihr nicht zu glauben. Die restliche Dauer ihres Besuchs verwendete Julchen darauf, die Hast zu rechtfertigen, mit der sie sich von den Dingos hatte wiedereingliedern lassen, und da sie keine andere Entschuldigung vorzuweisen wußte als Nützlichkeitserwägungen, war ihre Bemühung eine verdammt schwerfällige Angelegenheit. »Julchen, hör auf damit«, unterbrach ich sie schließlich. »Ich verstehe vollkommen, daß du dich von mir lossagen mußtest. Der Himmel mag wissen, was man mit mir für Absichten hegt, aber es ist selbstverständlich keineswegs nötig, daß dir das gleiche Schicksal widerfährt. Vielleicht will man mich als Geisel verwenden. Vielleicht hat man Schlimmeres mit mir vor. In jedem Fall, du kannst froh sein, daß du mich los bist.« Ich war eben dabei, richtig in Schwung zu kommen, und es hätte sicher nicht lange gedauert, bis mir die Tränen geflossen wären, da fing Julchen auf einmal an zu kichern. Zu kichern! Sie gackerte und prustete und schnaufte wie jemand, der beim Gedanken an einen guten Witz nicht ruhig bleiben kann, und sie ging beim Abschied 225
krampfartig zusammengekrümmt, um ihr Gelächter unterdrücken zu können. Natürlich Hysterie, schlußfolgerte ich. Es war eine traurige Geschichte, das Mädchen, das man liebt, in solch einem Zustand zu sehen, ohne irgendeine Möglichkeit zu haben, ihm zu helfen. Aber ich dachte nicht zu lange darüber nach, denn es war noch viel trauriger, dachte ich an meine eigene Lage. Kurz nachdem Julchen fort war, kam ein Posten in unsere Zelle und fragte, was wir als Henkersmahlzeit wünschten. An unserem letzten Morgen konnte ich bei Sonnenaufgang, der für unser Leben den Sonnenuntergang bringen sollte, durch das Fenster der Zelle erkennen, daß sich um die Galgen bereits eine große Menge von Schaulustigen drängte. Um zehn Uhr kam ein Posten und räumte die beiden Tabletts mit dem Essen ab, das wir nicht angerührt hatten (ehe er auf den Korridor hinaustrat, schlang er die saftigsten Stücke vom Steak hinab), und dann gab uns ein Kaplan apathisch zu wissen, daß wir bei ihm beichten könnten, falls wir es wünschten. »Danke«, entgegnete ihm St. Bernhard. »Ich beichte nur meinem Meister.« Nun, da das Zeremoniell unserer Hinrichtung anlief, vermochte er sich zusammenzunehmen; er kannte die Rolle, die man jetzt von ihm erwartete. 226
Unsere Zelle füllte sich mit Wächtern. Man befahl mir, vom Fenster wegzugehen, und man band mir die Hände auf dem Rücken. St. Bernhard ließ sich friedlich fesseln. »Ich bedauere, daß du meinetwegen in diese Lage geraten bist, St. Bernhard. Ich wollte natürlich nicht, daß die Sache so ausgeht – für keinen von uns.« »Maul halten!« sagte der gefräßige Wächter. »Jetzt ist Schluß mit dem Gequassel.« St. Bernhard lächelte. »Ach, da gibt's nichts zu bedauern, Brüderlein. Was mich betrifft, so bedauere ich nur eines: Ich bedauere, daß ich nur ein Leben besitze, um es für die Meister hinzugeben.« »Maul halten! Warum haltet ihr nicht das Maul, wenn ich sage, ihr sollt das Maul halten?!« Etwa ein Dutzend Dingos eskortierte uns hinunter zum Haupteingang des Gerichtsgebäudes, wo auf uns der Offizier wartete, der unsere Exekution zu leiten hatte. Höflich verbeugte er sich und lächelte ein sparsames, aber durchaus nicht unzufriedenes Lächeln. »Lieutenant Mosely!« rief ich. »Was für eine Überraschung, Sir!« Draußen begann man ein unheilvolles Trommelspiel, die Wächter schwangen die Türflügel beiseite, und die Menge brüllte ihren Beifall hinaus. »Nun dünkt's mich mehr denn je«, donnerte St. Bern227
hards Stimme durch den Lärm, »daß es ein Segen ist zu sterben!« Trotz seiner noblen Anwandlungen wirkte er nicht begieriger danach als ich, die dreizehn Stufen zu den Galgen zu erklimmen. Man stellte uns an unsere Plätze – einen jeden in die Mitte eines Vierecks, das sich von den übrigen Brettern der Plattform deutlich abhob. Als ich sie mit meinem Gewicht prüfte, spürte ich, wie die Falltür wippte. Insgesamt aber stand ich ziemlich ruhig da. Der Kaplan trat nochmals zu uns. »Möchtet ihr noch irgendeine letzte Erklärung abgeben?« »Ja«, sagte St. Bernhard. »Ich weiß nicht, welchen Weg andere wählen mögen, aber was mich angeht – gebt mir die Freiheit oder den Tod!« »Und du?« »Ich bin zu Kompromissen bereit. Ich hätte ganz gern irgend etwas dazwischen. Wie wäre es mit einem Aufschub der Exekution? Mit einem Gerichtsverfahren? Man verweigert mir meine Rechte als Bürger der Vereinigten Staaten.« »Gott verfluche die Vereinigten Staaten!« rief St. Bernhard. »Ich hoffe, daß ich niemals wieder irgend etwas von ihnen sehe oder höre!« »Was für schreckliche Reden«, schalt der Kaplan. »Käme es dazu, es würde dir wahrhaftig recht gesche228
hen, mein Sohn.« Die Erfüllung seines Wunsches blieb St. Bernhard in der Tat versagt, denn die Kapelle, die vor den Galgen aufmarschiert war, begann ausgerechnet in diesem Moment die Nationalhymne zu spielen. Die Männer unter den Gaffern nahmen ihre Kopfbedeckungen ab, die Frauen hielten endlich die Klappe. St. Bernhard sang den Text laut mit seiner wundervollen Tenorstimme. Es war eben eine wirklich einmalige letzte Gelegenheit zum Singen der Nationalhymne. Lieutenant Mosely kam zu uns und bot uns Augenbinden an. Ich lehnte ab, aber St. Bernhard erklärte sich erfreut einverstanden. Mit dem schwarzen Tuch über den Augen sah er noch blendender und heroischer als je zuvor aus. Endlich ergab sich eine bedrohliche Stille, doch erfuhr sie gleich darauf eine barbarische Unterbrechung durch eines der Dingo-Weiber in der vorderen Reihe der Schaulustigen. »Schneidet ihnen erst die Eier ab! Schneidet ihnen die Eier ab!« Ich rümpfte die Nase über diese Kundgebung schlechten Geschmacks und schaute hinunter zu dem blutrünstigen Geschöpf, das hier seinen erbärmlichen Gelüsten Ausdruck verliehen hatte – und man stelle sich meine Verblüffung vor, als ich sah, daß es dieselbe Frau war, die mich, weil ich in Duluth während der Autofahrt den Mantel eines Majors trug, mit Blumen und Küssen 229
überschüttete! Aber vielleicht täuschte ich mich auch; möglicherweise war es nur der gleiche Typ. Ein Posten brachte sie noch vor dem Ende des letzten Trommelwirbels zum Schweigen. Mosely hob eine Hand. »Komm, geh mit mir in das Land«, erhob St. Bernhard zum letzten Mal seine Stimme, »komm, geh mit mir in das Land, komm, geh mit mir in das Land, wohin ich geh, das Land, wohin ich geh …!« Mosely senkte seine Rechte. St. Bernhard baumelte. »Und was ist mit mir?« fragte ich, während mir Tränen des Kummers über die Wangen rannen. Armer, armer St. Bernhard! »Sie bekommen Ihren Aufschub«, gab mir Mosely mürrisch Auskunft. »Es gibt da jemanden, der Sie erst einmal sprechen möchte. Sie werden jetzt zu ihm gebracht.« »Sehr schön … aber würden Sie wohl zuvor diese Schlinge von meinem Hals entfernen. Ah, ja, so gefällt's mir entschieden besser.« Ich konnte nicht sehen, wohin mich die Limousine beförderte, denn hinten im Fahrzeug waren alle Fenster mit Gardinen verdunkelt, aber innerhalb weniger Minuten durfte ich in einer weiträumigen, jedoch hauptsäch230
lich leeren Tiefgarage wieder aussteigen. Nach der Durchquerung eines Labyrinths von Treppen, Korridoren, Posten und Losungswörtern ließ man mich zuletzt vor einem eindrucksvollen Mahagoni-Schreibtisch allein. Der Tisch und alle anderen Gegenstände im Zimmer erlaubten Rückschlüsse auf die Wichtigkeit ihres Besitzers. In einer Unterhaltszwang-Ökonomie wie bei den Dingos ist Luxus ein Statussymbol. Besonders erregte ein Porträt meine Aufmerksamkeit, das über dem Schreibtisch hing. Es war im pseudoprimitiven Stil ausgeführt, der in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beliebt gewesen war, und übertrieb daher die Darstellung jener Eigenschaften des Porträtierten, die am meisten vom Ungehobelten und Barbarischen zeugten. Sein Bauch, obwohl sowieso dick genug, war aus einer Perspektive zu sehen, die seine Wölbung ungeheuerlich steigerte. Das Gesicht wies krude Farben auf, vor allem die Nase, deren kräftiges Dunkelrot den Schnapssäufer verriet. Die leicht bläulichen Lippen waren zugleich zynisch und lüstern. Das Bild stellte den perfekten Archetyp eines Dingos dar. Vielleicht aber nicht ganz perfekt – denn in den Augen schimmerten eine Intelligenz und Gutmütigkeit, die zu dem allgemeinen Eindruck von Roheit im Widerspruch zu stehen schienen. Diese eine Unstimmigkeit ergänzte diesen Archetyp um jenes winzige Stückchen 231
an Individualität, die man nur bei den besten Porträtmalern findet. Ich betrachtete noch immer dieses Gemälde (es übte eine wirklich ganz sonderbare Anziehungskraft auf mich aus), da betrat das lebendige Original den Raum und kam zu mir, um meine Hand zu schütteln. »Entschuldige, daß ich dich warten lassen mußte, aber es ist tatsächlich so, daß ich seit diesen verdammten Sonnenflecken kein bißchen Zeit für mich selbst hatte.« Als er meine Hand zu schütteln aufhörte, ließ er sie nicht sofort los, sondern behielt sie noch für einen Moment in festem Griff, während er mich beifällig musterte. »Du mußt zuerst deinen Namen ablegen, das ist dir ja sicher klar. ›Weißzahn‹ geht heutzutage nicht. Wir Dingos – wie deinesgleichen uns nennt – haben etwas gegen derartige Hundenamen. Dein richtiger Name lautet Dennis Weiß, stimmt's? Fein, Dennis, willkommen in den Reihen der Revolution.« »Danke, aber …?« »Wer ich bin? Ich bin die Große Hochdiode. Wenn dir das lieber ist, kannst du mich mit einem Vizepräsidenten vergleichen. Die Diode kommt gleich nach der Kathode selbst. Interessierst du dich für Politik?« »Schoßhunde haben so was nicht nötig. Sie sind frei.« »Ach, Freiheit!« Die Große Hochdiode vollführte eine 232
weitschweifige Gebärde, dann ließ sie sich in den Sessel hinter dem Schreibtisch sacken. »Eure Herren versorgen euch mit allem und überlassen euch so vollkommener Freiheit, ja. Nur dürft ihr nichts von jenem Baum kosten, woran Gutes und Schlechtes wächst, denn dann gäbe es nichts, was euch nicht erlaubt wäre.« Mit dramatischem Funkelblick beäugte er mich, und ich hatte Gelegenheit, einen Vergleich mit dem Porträt in seinem Rücken anzustellen. Selbst die wilden Locken schienen dem Mann nach dem gleichen Prinzip um den Kopf zu fallen, nach dem der Maler seinen Pinsel geführt hatte. Meine Bewunderung für ihn (den Maler, nicht den Porträtierten) stieg noch ganz erheblich. »Die Meister kamen vor zwei Dritteln eines Jahrhunderts. Seitdem ist die menschliche Zivilisation buchstäblich untergegangen. Von unseren politischen Institutionen sind nur Trümmer übrig. Unsere Wirtschaft besteht gegenwärtig aus kaum mehr als Notlösungen. Künstler sind so gut wie gar keine vorhanden.« »Unter euch Dingos vielleicht nicht. Aber unter der Herrschaft der Meister blüht die Zivilisation wie nie zuvor in der menschlichen Geschichte. Wenn wir uns über Zivilisation unterhalten wollen, kann ich nur sagen – da stehen die Dingos nicht einmal auf einem Bein.« »Die Kühe waren nie zivilisierter als zwischen unseren Melkmaschinen.« 233
Ich lächelte. »Wortspielereien. So etwas habe ich auch zu bieten.« »Wenn du dich nicht mit mir unterhalten möchtest…« »Ich möchte mich gerne unterhalten. Ich werde gern alles tun, was meine Abwesenheit von den Galgen verlängert. Darunter zu stehen war ein scheußliches Erlebnis.« »Vielleicht kannst du dir den Galgen ganz ersparen. Vielleicht, Dennis, gelingt es mir, dich dahingehend zu überzeugen, daß du ein Dingo wirst?« Die dicken, bläulichen Lippen des Mannes verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen. Seine Augen, in denen, genau wie auf dem Porträt, lebhafte Intelligenz leuchtete, glitzerten nun in einer absonderlichen Art von Heiterkeit. Ich gab mir alle Mühe, meine naturgemäße Abneigung durch eine Anwandlung von Zweifel zu überspielen. »Ist es nicht ziemlich spät, um noch mitzumachen? Das Blutbad muß doch jetzt allmählich vorbei sein. Habt ihr euch noch nicht mit eurer baldigen Niederlage abgefunden?« »Wahrscheinlich werden wir eine Niederlage erleiden, aber davon darf ein guter Revolutionär sich nicht abschrecken lassen. Ein Kampf, mit dem kein Risiko verbunden ist, verdient die Bezeichnung Kampf ja 234
kaum. Das Blutbad ist, wie ich zugebe, eine unglückliche Sache.« »Und ebenso eine ungerechtfertigte Sache. Der arme Sankt Bernhard hatte nichts getan, was …« »Dann werde ich mir die Mühe ersparen, mich mit Rechtfertigungen zu versuchen. Schmutzige Hände sind ein Teil von jenem Preis, den es kostet, wieder Mensch zu werden.« »Kämpft ihr in dieser Revolution bloß, um anschließend Schuldgefühle zu haben?« »Darum – und um die Chance, wieder unsere eigenen Herren zu sein. Schuld, Schweiß und saures Brot gehören alle zum menschlichen Dasein. Domestizierte Tiere werden immer bis zu jener Stufe hochgezüchtet, auf welcher sie für das Leben in der Natur ungeeignet sind. Die Meister haben Menschen gezüchtet.« »Und es besser getan, als Menschen es jemals konnten. Man sehe sich die Unterschiedlichkeit der Resultate an.« »Das, so möchte ich doch bemerken, ist haargenau der Standpunkt eines Dackels.« »Dann will ich für die Dackel ein gutes Wort einlegen. Ich ziehe sie Wölfen vor. Und ich ziehe sie auch Dingos vor.« »So? Lege dich lieber nicht zu übereilt fest – sonst könnte es dich den Kopf kosten.« Und mit dieser Dro235
hung begann mein ungeheuerlicher Inquisitor gedämpft zu lachen. Sein Lachen steigerte sich zu einem Brüllgelächter, und das verwandelte sich in einen Lachanfall. Mir fiel ein, daß es sich bei dem Glimmen in seinen Augen genausogut um Wahnsinn wie um Intelligenz handeln konnte. Plötzlich verspürte ich den dringlichen Wunsch, es hinter mich zu bringen. »Meine Entscheidung steht fest«, sagte ich ruhig, als sein Gelächter verstummte. »Also wirst du eine Erklärung abgeben?« Anscheinend faßte er meine Äußerung genau entgegengesetzt auf. »Warum interessiert es überhaupt jemanden, auf welcher Seite ich stehe?« erkundigte ich mich verärgert. »Weil eine öffentliche Erklärung von dir, dem Sohn Name besitzt –, für die Sache der Freiheit von unschätzbarem Wert wäre.« Ganz gelassen trat ich dicht vor den MahagoniSchreibtisch, wohinter der Mann saß und behäbig lächelte, und ganz gelassen hob ich meine Hand und schlug ihn ins Gesicht. Im nächsten Moment wimmelte es im Zimmer von Posten, die mir die Arme auf den Rücken drehten. Der Mann hinter dem Schreibtisch begann erneut zu kichern. »Du Ungeheuer!« schrie ich. »Du Dingo! Ihr habt den 236
Nerv, meinen Vater zu verschleppen und zu ermorden und es danach zu wagen, von mir eine Erklärung zu fordern, die euch unterstützt! Ich kann es kaum glauben … Meint ihr etwa, daß ich …« Ich wetterte noch für eine Weile weiter. Während ich tobte, wand sich dieser unglaubliche Mann auf seinem Schreibtisch und lachte, bis er nicht länger Luft bekam. »Weißzahn«, brachte er schließlich heraus, »das heißt, Dennis, mein lieber Junge, entschuldige. Vielleicht bin ich ein bißchen zu weit gegangen. Aber weißt du …« Und mit diesen Worten schob er die dichten weißen Locken vom Stummel seines rechten Ohrs. »Ich bin dein Vater und durchaus nicht ermordet worden.«
11. Kapitel Worin ich mich der Philosophie des Dingoismus verschreibe. Die nächste Woche verstrich mit einer Geschwindigkeit, daß es alptraumhaft gewesen wäre, hätte ich nicht soviel Beschäftigung gehabt und mich vor lauter Glück ganz benommen gefühlt. Zuerst einmal heiratete ich nochmals Julchen – diesmal nach den Riten der Dingos. Papi erläuterte mir, daß die Dingos in manchen Angelegenheiten – vor allem Ehen – sehr heikel sein konnten, was die Zeremonien anging, fast so schwierig wie mein Bruder Pluto. Schatzgold, Julchen unterwarf sich dem Geist dieser Dinge mit wahrer Lust am Atavistischen, und heute hege ich den Verdacht, daß die diesbezügliche Hartnäckigkeit meines Vaters zum Teil ihren Ursprung bei meiner zum zweiten Mal erkorenen Braut hatte. Aber es war eine sehr hübsche, feierliche Zeremonie, an der auch Pluto seine Freude gehabt hätte. Hymens Kerzen brannten niemals heller als an jenem Tag, als unsere Hände sich im restaurierten Kraftwerk auf der leuchtenden Vakuumröhre des Altars vereinten. Unseren ersten Streit als Jungvermählte hatten wir eine Stunde später, als Julchen mir erzählte, daß sie schon genau über Papi und die Probe, die er für mich 238
vorbereitete, Bescheid wußte, als sie mich im Gefängnis besuchte. Aber der Streit endete, sobald Julchen erklärte, ich besäße, da ich den Test so gut bestanden hatte, keinen Grund zur Aufregung. Es ist mir jedoch sehr unangenehm, mir auszumalen, was geschehen wäre, hätte ich mich dazu verleiten lassen, eine Verlautbarung jener Art abzugeben, wie Papi sie mir vorschlug. Der Augenblick, der mir das meiste Kopfzerbrechen machte – als ich mich endlich dazu gehalten sah, Papi davon in Kenntnis zu setzen, daß der an meiner Seite hingerichtete Schoßhund ebenfalls sein Sohn gewesen war –, ging vorbei, ohne seinen bemerkenswerten Gleichmut zu erschüttern. Er hatte es – dank Julchen – die ganze Zeit gewußt und dennoch die Exekution angeordnet, um mir – wie er behauptete – ein trauriges Beispiel der menschlichen Sterblichkeit zu zeigen und mich gleichzeitig darauf hinzuweisen, was als wahrscheinlichste Folge jeder Auflehnung gelten durfte. »Aber dein eigener Sohn!« lamentierte ich. »Welches Band kann stärker sein als das zwischen Vater und Sohn?!« »Ja, sicher, das ist irgendwie wahr – aber dies Band ist ein wenig flattrig, wenn man ein paar hundert Söhne hat. Aber berücksichtige, Dennis, er lebte in einem inzestuösen Verhältnis. Selbst wenn man also einmal seine schweren politischen Verbrechen übersieht …« 239
»Papi, du grinst schon wieder so. Ich würde sagen, auch dahinter versteckt sich irgendein Trick.« »Komm, Dennis, wir schauen uns einen Film an. Meinen bloßen Worten schenkst du womöglich keinen Glauben.« Der Film zeigte vier Träger einer Totenbahre (aus ihrem Körperbau und ihrer Nacktheit ließ sich ersehen, daß sie Schoßhunde waren), worauf St. Bernhard heldenmäßig ausgestreckt ruhte. Sie erklommen mit ihrer Last den verwundenen Pfad hinauf zum Nadelfelsen. Auf der Höhe stellten sie die Bahre ab und sahen zu, wie sich über dem aufgebahrten Helden ein Strahlenkranz aus goldenem Lichtschein bildete; St. Bernhards Meister war zum Nadelfelsen gekommen. Die Finger erbebten – und es gibt nichts außer dem Bildnis von Adams Erschaffung in der Sixtinischen Kapelle, womit ich die Schönheit dieses Augenblicks vergleichen könnte –, die Lider zuckten (diese Aufnahmen waren mit Teleobjektiven gemacht worden), die Augen öffneten sich; St. Bernhard, ruhmvoll wiedererweckt, begann Beethovens Neunte zu singen. Dann schwebten die fünf Gestalten langsam empor in die Lüfte, schraubten sich in höchster Freude empor. Angesichts eines solchen glücklichen Ausgangs konnte ich Papi die Scharade der Hinrichtung nicht länger verübeln.
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Von Anfang an waren Julchen und ich unter den Dingos prominente Persönlichkeiten. Im Lauf einer unablässigen Reihenfolge von Festessen, Empfängen und Bällen spielten wir die Rollen von »aus der Tyrannei der Meister« Erretteten, die »dankbar für die wiedergefundene Freiheit« waren; diese Formulierungen stammen aus einer Rede, die Papi mir für solche Anlässe geschrieben hatte. Dafür bekam ich unweigerlich Beifall. Dingos haben keinen Geschmack. Während ich äußerlich in der Rolle eines vorbildlichen Revolutionärs auftrat, trug sich in meinem Innern ein anderes Drama zu. Wäre es dabei lediglich um ein Ringen zwischen der Anhänglichkeit eines Sohnes und meiner Treue zu den Meistern gegangen, hätte es kein langes Zögern gegeben, denn die Anhänglichkeit eines Sohnes kann man vergessen, wenn besagter Sohn seinen Vater siebzehn Jahre lang für tot gehalten hat. Meiner jedoch war nicht irgendein gewöhnlicher Vater gewesen. Er war Tennyson Weiß gewesen und hatte Ein Hundeleben verfaßt. Nun erfuhr ich, daß es zu diesem Buch eine Fortsetzung gab. Ich las Das Leben des Menschen in einer Sitzung von fünfzehn Stunden. Das war eines der aufwühlendsten Erlebnisse meines Lebens. Tatsächlich vermag ich mich noch in diesem Moment an kein vergleichbares Ereignis zu entsinnen. 241
Wer es gelesen hat, begreift sofort, vor welchen Schwierigkeiten man steht, will man Das Leben des Menschen zu beschreiben versuchen. Es besitzt ein bißchen von allem: Satire, Polemik, Melodrama, Schwank. Nach der klassischen Einheit von Ein Hundeleben überfällt die Fortsetzung die Empfindsamkeit des Lesers wie ein Wasserstrahl aus einer Hochdruckdüse. Sie beginnt mit der gleichen hochgeistigen, trockenen Ironie, dem gleichen unterschwelligen Humor, aber allmählich – es ist schwer zu sagen, wann eigentlich – verschiebt sich der Blickwinkel. Szenen aus dem ersten Roman werden verbatim wiederholt, aber dabei verwandelt sich ihre heitere Schönheit in Schrecknis. Die Allegorie weicht einem rohen, anklägerischen Realismus, und jedes Wort scheint eine Anschuldigung gegen den Leser persönlich zu sein. Nach dem erstmaligen Lesen besaß ich an den Inhalt keine deutlichere Erinnerung als etwa an einen Schlag mit dem Hammer. Und so übersah ich völlig die Tatsache, daß Das Leben des Menschen von der ersten bis zur letzten Seite eine Autobiographie ist. Wie ich schon zuvor anmerkte, gehörte mein Vater Tennyson Weiß zur ersten Generation von Menschen, die außerhalb der Erde aufwuchs. Er verbrachte eine beispielhafte Jugend auf Ceres; dann, als feststand, daß er an Leukämie litt, schickte man ihn in eine zweitrangige Klinik auf der Erde, während die Meister über seine 242
›ungeschickte Lage‹ diskutierten und über sein Schicksal beschlossen. Damals geschah es bereits, daß er sein Vertrauen zu den Meistern verlor, und damals schon entwarf er die Grundzüge für die beiden großen Romane. Und damals nahm Papi auch schon Kontakte mit den Führern der Dingos auf und erarbeitete mit ihnen das Programm einer Revolution. Ein Hundeleben war die Ouvertüre zu diesem Programm. Viele Schriftsteller sind zu allen Zeiten beschuldigt worden, sie würden die Jugend verderben und die gerade verbreiteten Wertvorstellungen mindern. Aber wahrscheinlich ist keiner jemals dabei so vorsätzlich ans Werk gegangen wie Papi. Sein Roman war eine als Osterei getarnte Zeitbombe, die er den Meistern mitten ins Körbchen legte; er war ein Trojanisches Pferd; eine Säure von langsamer Wirkung, die am Bewußtsein der Schoßhunde fraß – zunächst lediglich an einem leichten ästhetischen Prickeln spürbar, bis sie sich tiefer einätzte, ein Schleifmittel, das ihnen Schuld einschrammte. Denn Menschen – soviel besagt jede letzte Analyse – sind nicht dazu geschaffen, wie domestizierte Tiere zu leben. Jene, die den Säuretest dieses Romans bestanden, vermochten zur Erde zu fliehen und sich den Dingos anzuschließen (indem sie – wie Papi – vortäuschten, abgeschlachtet worden zu sein). Die anderen, die den 243
Test nicht bestanden (und bedauerlicherweise war das die Mehrzahl), blieben bei den Meistern und machten die ungeheure Satire von Ein Hundeleben zu ihrem Alltag. Sie verwandelten sich in Hunde. Ein Jahrzehnt nach Veröffentlichung von Ein Hundeleben floh auch Papi zur Erde. Es gelang ihm zu verhindern, daß der Meister auf Ganymed seine Absichten durchschaute – sowohl vor der Publikation wie auch nachher –, indem er seine wahren Empfindungen und klaren Ziele sorgfältig umkehrte und im Durcheinander der schriftstellerischen Gedanken und Einfälle, das unaufhörlich in seiner fruchtbaren Phantasie herrschte, wie in einem Dickicht verbarg. Außerdem führte er seinen Meister dadurch irre, daß er dieses ›Exposé‹ mit solchen Unlustgefühlen oder schaurigen Details umrankte (etwa die Sache mit dem Ohr), daß sein Meister davon absah, ihn auch noch in derartigen Grübeleien zu ermutigen – und auch davon Abstand nahm, ihnen selbst mehr als oberflächliche Aufmerksamkeit zu widmen. Papis Autobiographie verschweigt die Tatsache, daß er zwei seiner Söhne im Stich ließ (um bloß Pluto und mich zu erwähnen), als er zu den Dingos überlief, und er weigert sich noch heute, darüber zu reden. Ich habe stets den Verdacht gehegt, daß er daran zweifelte, wenn vielleicht auch nur in geringem Maß, daß es richtig sei, 244
sich von den Meistern abzuwenden. Doch meines Erachtens war dieser Zweifel immerhin so stark, daß er beschloß, die Entscheidung, ob wir Dingos werden oder an der Leine bleiben wollten, uns selbst zu überlassen. Im Jahre 2024 wimmelte es auf der Erde bereits von Leuten, die der Herrschaft der Meister abtrünnig geworden waren, und die revolutionäre Bewegung – das Revolutionäre Induktanz-Korps oder RIK – stand endlich auf festen Füßen. (Natürlich nannten die Dingos sich selbst nicht ›Dingos‹.) Papis nächste Aufgabe war schwieriger, denn er hatte aus der unorganisierten Masse apathischer Dingos, die niemals die Erde verlassen hatten, eine Armee zu formen. Das Leben des Menschen bewältigte einen Teil dieser Zielstellung, denn dieses Werk zeigte den Dingos, was sie waren: eine amorphe Masse von Unzufriedenen ohne Programm oder gemeinsamen Willen; eine Rasse, die die ersten Schritte zum eigenen Aussterben eingeleitet hatte. Doch leider waren die Dingos keine so bereitwilligen Leseratten wie die Schoßhunde. Nur die Geistvolleren unter ihnen lasen diesen zweiten Roman – und sie hatten es nicht nötig. Mit der Zeit sah Papi ein, daß nicht einmal Berge von Literatur den Zunder in den Herzen der Dingos zu revolutionärer Glut entfachen konnten. Und so kam es – und damit verlassen wir Papis Auto245
biographie und wenden uns der reinen Geschichtsschreibung zu –, daß mein Vater eine Mythologie ausheckte. Die Dingos waren reif dafür. Seit den ersten Kontaktaufnahmen von Seiten der Meister in den 70er Jahren waren die Religionsgemeinschaften zusehends zerfallen. Die Ähnlichkeit der Meister mit den beliebtesten Göttern der Menschen war zu groß, und Menschen mit starken religiösen oder mystischen Empfindungen waren es, die sich als erste freiwillig für die Zwinger meldeten, wo sie an der halb-göttlichen Natur der Meister teilhaben konnten, ohne zugleich die sonst im religiösen Leben verbreiteten Unannehmlichkeiten der Askese erdulden zu müssen. Die Dingos dagegen taten sich dabei schwer, irgendwelche Götter anzubeten, die ihren geschworenen Feinden ähnelten. Papi erkannte, daß die Dingos unter diesen Bedingungen die Bereitschaft zur Anerkennung einer ›Religion‹ aus einem Gemisch von Dämonologie und sympathetischer Magie aufbringen mochten. Wenn die Götter nicht länger taugen, wenden sich die Menschen an Fetische und Totems. Aber Wachspuppen und Teufelsmasken mußten hier versagen, denn die erste Regel der sympathetischen Magie lautet: Gleiches erzeugt Gleiches. Die Meister waren elektromagnetische Phänomene; welchen besseren 246
Talisman konnte es also geben als ein Trockenelement? In jedem grundlegenden Physikbuch fand sich eine wahre Fülle arkaner Überlieferungen, hieratischer Symbole und sogar von Schlachtrufen. Also lehrte man die Kinder die Kirchhoffschen Regeln von der Wiege an, und die Revolutionäre trugen Helme aus Kork, um die Meister abzuschrecken – denn Kork war ein guter Isolierstoff. Das alles war Unfug, aber es war wirksamer Unfug. Das Revolutionäre Induktanz-Korps errang im Rat der Dingos eine überwältigende Mehrheit dank des Slogans: Elektrizität immerdar/Durch das RIK. Papi stieg in der Revolutionsregierung zur Diode auf, nur der Hochkathode selbst unterstellt. Alle waren bereit, mit der Revolution loszulegen, bloß wußte niemand auch nur im entferntesten, wie denn eigentlich. Das zeigt allerdings lediglich, wie gut es ist, für alle Fälle vorbereitet zu sein; da nämlich kam der Zeitpunkt, als die schicksalhaften Sonnenflecken den Meistern das Licht ausmachten. Die Führer der Dingos hatten es verstanden, die Gunst der Stunde zu nutzen, aber der SFTag war nun einen Monat her, und langsam vergewisserten sich die Meister wieder ihrer vorherigen Ansprüche auf die Vorherrschaft. Es gab wieder Elektrizität (doch die Dingos boykottierten die Elektrizität der Meister); die Zwinger befanden sich wieder unter ihren Kraftfeld-Kuppeln; die Meister holten sich ihre gefange247
nen Schoßhunde systematisch zurück (die eindrucksvollste Demonstration dafür war die massenhafte Flucht am Nadelfelsen gewesen). In sehr kurzer Frist würde die Herrschaft der Meister fester als zuvor wiederhergestellt sein, es sei denn, die Dingos fanden einen Weg, um dies zu verhindern. Korkhelme mögen für die Moral ganz gut sein, aber im Ernstfall taugen sie nur ungefähr soviel wie ein Spielzeuggewehr. Wenn die Dingos derzeitig irgendwelche ernsthaften Pläne wälzten, so verriet mir Papi nichts davon. Papi, Julchen und ich hatten fünfzehn Minuten lang im Foyer des Hotels in St. Paul gewartet und während dieser gesamten Zeitspanne keinen einzigen Hotelangestellten oder nur einen Pagen gesehen. Es wohnten nicht einmal Gäste im Haus, denn unter der Herrschaft der Meister war die Erde so entvölkert worden, daß ein Bett und ein Dach überm Kopf jederzeit leicht zu bekommen waren. Was man nirgends finden konnte, waren Arbeitskräfte. Selbst die besten Hotels und Restaurants waren Selbstbedienungseinrichtungen . Endlich waren Bruno und Rocky (dieser Name sollte ihr besser stehen als Roxanna) mit dem Ankleiden fertig und kamen ins Foyer herab. Bruno trug einen ungebügelten Anzug aus Baumwolle und ein Bowling-Hemd 248
mit etwas weiter geöffnetem Kragen, so daß man ein Stück des Verbands um seine Brust sah. Rocky war gekleidet wie zum sexuellen Overkill; im Vergleich zu ihr wirkte Schatzgold, Julchen so solide wie eine Nonne. Aber wenn man erst zwanzig Jahre ist, braucht man sich nicht soviel Mühe zu geben wie mit achtunddreißig. Wir tauschten ein paar Höflichkeiten aus, entschieden uns gemeinsam für ein Restaurant und gingen hinaus, um in Papis Wagen zu steigen – und damit begann der schauderhafteste Abend meines Lebens. Bruno mußte am folgenden Tag zurück zu seiner Dienststelle nach Duluth, deshalb hatten wir ihn nicht länger abwimmeln können. Wochenlang hatte er darauf bestanden, daß wir fünf – die beiden Schwarzkopfs und die drei Mitglieder der Familie Weiß – »einmal einen draufmachen«. Ich fühlte mich in Brunos Schuld; damals hatte ich noch nicht mit Schuldgefühlen zu leben gelernt. Deshalb gab ich nach. Ich hätte gegenüber freundschaftlichen Annäherungen eines Mannes, den ich beinahe totgeschlagen hatte, mißtrauisch sein sollen oder doch wenigstens unterstellen können, daß Bruno, wie die meisten Dingos, hauptsächlich daran interessiert war, mit meinem Vater Bekanntschaft zu schließen. Aber seine ersten freundschaftlichen Äußerungen hatte er getan, ehe er erfuhr, daß mein Vater Tennyson Weiß hieß, und deshalb war 249
es kaum möglich, seine Aufrichtigkeit anzuzweifeln. Ich tröstete mich damit, daß er ganz einfach verrückt sei. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und war daher in Brunos Gegenwart ziemlich unbeholfen. Ich vermag mir nicht recht vorzustellen, welche Empfindungen mir wohl Rocky entgegenbrachte. Als sie den Dingos meine Identität verriet, konnte sie nicht gewußt haben, daß mein Vater der Zweithöchste unter ihnen war – nicht, wie sie angenommen hatte, ihr Erzfeind. Nur eingeweihte Mitglieder des inneren Kreises im RIK kannten die Führer, und sein Roman Das Leben des Menschen, der sie von den Ansichten der Dingos überzeugte (soweit das noch nicht Bruno erledigt hatte), war unter einem Pseudonym erschienen. Sie glaubte, mich bald hängen zu sehen, statt dessen hatte sie mir das Leben gerettet. Nun saßen wir nebeneinander auf dem Rücksitz von Papis Limousine und plauderten über alte Zeiten. Als wir ausstiegen, setzte sie mit tödlicher Zielsicherheit ihren spitzen Absatz auf meinen Rist, und einmal, mitten beim Essen, während sie heiter lächelte und unverdrossen plapperte, trat sie mich unter der Tischdekke direkt vors Schienbein. Das Essen hätte nicht länger als bis zum Hauptgang gedauert, wären nicht nahezu alle Bemerkungen Rockys für Bruno unverständlich gewesen. Doch er blieb unerschrocken frohsinnig, und sobald er einmal seine Mit250
teilsamkeit zu entfalten begann, konnte er ohne Aussicht auf Ende reden. Um Rocky zum Schweigen zu bringen (sie konnte einfach nicht genug über unsere Hochzeit erfahren, und sie war ja so froh, daß Petite nicht länger ein Bankert war), befragte ich Bruno nach seiner Jugend, die unerhört schaurig gewesen sein muß – oder jedenfalls kam sie mir so vor. Für die Mehrheit der Dingos ist das Leben ein ausgedehntes Ringen: gegen die Welt, gegen ihre Familien, gegen ihre Lehrer und gegen den Verfall an Geist und Körper. Kein Wunder, daß es sich bei Bruno um einen so aggressiven Flegel handelte. Aber auch diese Erkenntnis machte ihn mir nicht sympathischer. Als das Essen vorüber war und ich dachte, wir könnten uns jetzt möglicherweise absetzen, holte Bruno aus seiner Manteltasche einen Umschlag und verkündete, als erwarte er von uns tatsächlich eine überschäumende Freude, er habe fünf Karten für den Kampf. »Welchen Kampf?« fragte ich. »Den Boxkampf in der Exerzierhalle. Kelly Broughan tritt heute abend an, also ist er wirklich sehenswert. Ich wette, draußen zwischen den Asteroiden sieht man kaum gute Kämpfe, was?« »Stimmt«, sagte ich überwältigt. »So gut wie gar keine.« »Man veranstaltet schöne gymnastische Wettbewer251
be«, bemerkte Julchen. »Und Fechten, aber natürlich wird nie jemand verletzt.« Brunos Lachen glich dem Brüllen eines angestochenen Stiers. Wettbewerb hielt er schon für einen guten Witz; schön gefiel ihm noch besser. »Du bist eine komische Marke, Julchen. Dennis, das Mädchen ist wirklich eine komische Marke.« Rockys Augen glitzerten bösartig, eindringlich auf ihr Opfer gerichtet. »Dennis, du mußt ganz einfach mitkommen, du bist doch selber so ein kleiner Raufbold. Und Sie, Mr. Weiß, dürfen sich das auch nicht entgehen lassen. Ein Mann in ihrer Position braucht gelegentlich etwas Abwechslung. « »Von mir aus, warum nicht«, sagte Papi, »wir gehen alle hin. Und nachher schauen wir uns das Feuerwerk an.« »Ach, Feuerwerk finde ich einfach prächtig«, sagte Julchen mit gezwungener Heiterkeit. Wir erhoben uns vom Tisch wie auf ein verabredetes Zeichen. Bruno und Rocky waren glücklich wie zwei Kinder. Julchen und ich waren mißgestimmt. Und Papi… Papi befand sich so vollkommen in einem Abgrund der Niedergedrücktheit und ohnmächtigen Verzweiflung, daß er das meiste von allem, was rund um ihn vorging, buchstäblich gar nicht wahrnahm. Er wußte – im Gegensatz zu uns –, daß die Meister an diesem Tag 252
den Dingos ein Ultimatum gestellt hatten. Es war entschieden worden, daß man der Menschheit nicht länger die Regelung ihrer Angelegenheiten überlassen könne. In Zukunft sollten alle Menschen in Zwingern leben; der Unterschied zwischen Dingos und Schoßhunden sollte verschwinden. Angesichts dieser Gefahr war die Hochkathode in Panik geraten, und man hatte beschlossen – entgegen Papis eindringlicher Empfehlung, davon abzusehen –, heute abend den Meistern mit den Superwaffen der Dingos einzuheizen. Die Superwaffen der Dingos waren – wie Papi klar war, ihnen aber anscheinend nicht – keinen Pfifferling wert. Sie besaßen bloß Atombomben. Ob es daran lag, daß Bruno den Einlasser kannte, oder daran, daß Papi uns begleitete, weiß ich nicht, aber jedenfalls durften wir, obwohl wir nur Karten für die Allgemeinplätze mitführten, direkt in der vordersten Reihe am Ring Platz nehmen. Im Vergleich zu den Zuschauern in dieser verräucherten Halle hatte sich die Menge bei der Fahrt durch Duluth wie eine Herde von mit Beruhigungsmitteln behandelten Schafen benommen. Eine Frau in unserer Nähe (und ich bin davon überzeugt, daß es dieselbe Person war, die mich in Duluth abküßte und am Galgen Beschimpfungen gegen mich ausstieß) kreischte wie eine Besessene. »Schlag ihn tot! 253
Schlag den Verbrecher kurz und klein!« Und der Kampf hatte noch gar nicht angefangen! Ein Gong ertönte. Zwei Männer, vernünftig nackt bis auf farbige kurze Hosen, näherten sich einander, bewegten in nervösen Rhythmen die Arme, umkreisten sich wachsam. Der eine (in roter Hose) hieb mit der Linken nach dem anderen, eine Finte gegen die Magengrube. Mit der Rechten schlug er nach dem Gesicht des Gegners. Man hörte ein Knackgeräusch, als seine bloße Faust den Wangenknochen des Gegners traf. Die Zuschauer begannen zu schreien. Aus der Nase des Getroffenen schoß Blut. Ich wandte meinen Blick ab. Bruno, offensichtlich in seinem Element, ergänzte den allgemeinen Aufruhr mit einem deutlich heraushörbaren Gebrüll. Rocky beobachtete mich aufmerksam, genoß mein Erbleichen und Winden wie wahre Köstlichkeiten. Papi wirkte gelangweilt, und Julchen hielt ihre Augen während der gesamten Schaustellung geschlossen. Ich hätte das gleiche tun sollen, aber als ich ein erneutes Klatsch! von Knochen und Fleisch sowie ein lautes Krachen vernahm, verdrängte die Neugier meine feinsinnigeren Gefühle, und ich schaute wieder in den Ring. Der Mann mit der roten Hose lag auf dem Rücken, und sein ausdrucksloses Gesicht war von meinem Kopf höchstens einen Meter entfernt. Aus seiner Nase sprudelte noch immer Blut, und 254
Blut füllte ihm die Augenhöhlen. Rocky heulte vor Vergnügen, wogegen Bruno sich anscheinend mehr mit dem Kämpfer in der roten Hose verbunden fühlte. »Steh auf, du Schlappschwanz«, schnauzte er ihn an. Ich erhob mich von meinem Sitz, murmelte irgendwelche Entschuldigungen und wankte aus dem Saal, um mich über einer Hecke auf der Straßenseite gegenüber der Exerzierhalle herzhaft auszukotzen. Ich fühlte mich ermattet, aber ich spürte, daß ich nicht in Ohnmacht sinken mußte. Die Konditionierung unseres Meisters nutzte sich langsam ab! Die Hecke umgrenzte einen Park, dem man zu wuchern erlaubt hatte. Durch das sommerlich dichte Laub konnte ich vom Mondschein erhelltes Wasser schimmern sehen. Ich schlenderte den Abhang hinunter an das Ufer des Teichs. Dort unten verschmolz der Lärm aus der Halle mit den übrigen nächtlichen Geräuschen: dem Quaken der Frösche, dem Rascheln im Blattwerk der Pappeln, dem Gluckern des Wassers. Am Nachthimmel stand ein Vollmond, schön wie das Echo von tausend Gedichten. All diese an die Erde gefesselten Poeten, die für ihre Lyrik die Glut von diesem Mond gestohlen hatten, Jahrhundert um Jahrhundert! Er hatte sie überdauert, aller Historie gegenüber gleichgültig, und er würde mit der Zeit auch mich überdauern. 255
Das ist der Lauf der Dinge, dachte ich, wie er sein soll. Im Herbst müssen die Blätter fallen, im Winter muß es schneien, im Frühling muß das Gras emporschießen, und der Sommer muß kurz sein. Ich erkannte, daß ich der Erde gehörte, und mein Geist belebte sich aus Glück und Zufriedenheit. Es war nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt, um glücklich zu sein – aber ich war's. Julchen und der Mond waren ein Teil der Ursache, aber ebenso die Frösche mit ihrem Gequake, die Pappeln, die Exerzierhalle; Papi, zynisch, strebsam bis zum Untergang; zum Teil auch Bruno und Roxanna, und war's nur um ihrer Lebenskraft willen. All das verschmolz in mir mit der Erinnerung an das alte Farmgebäude, und es schien mir, als könne ich den weinartigen Duft der Äpfel wahrnehmen, die im Gras faulten. Am Himmel wurde es immer heller. Der Mond … Aber war das der Mond? Über dem Teich hatte sich eine Dunstwolke gesammelt und leuchtete immer heller, bis sie den Vollmond im Hintergrund fast unsichtbar machte. Die Leine schloß sich um meinen Geist, und in meinem Innern begann eine freundliche Stimme zu schmeicheln. Weißzahn, mein guter Junge! jetzt ist wieder alles in Ordnung. Wir haben deinen Ruf gehört … (Aber ich hatte überhaupt nicht gerufen! Ich war ganz einfach nur 256
glücklich gewesen!) … und ich bin sofort gekommen. Endlich ist dein Meister hier, um dich wieder zu sich zu holen. Ich schrie auf; es war ein gewöhnlicher Schrei des Schmerzes. Jetzt fortgeholt zu werden. Nur vor ein paar Tagen hatte ich aus Sehnsucht nach dieser Stimme geschrien, und nun … »NEIN!« Ruhig, versuchte sie mich zu besänftigen, nur ruhig, nur ruhig. War es schlimm? War es so schlimm? Diese gräßlichen Dingos haben dich gefangengenommen, aber es wird nie wieder passieren. Sei ruhig, ganz ruhig. Sanft begann die Leine die sensorischen Zonen der Cortex zu streicheln: weicher Pelz schien mich einzuhüllen, parfümiert mit Moschus. Leise Klänge von Harfenmusik (oder waren das die Kräusel auf dem Wasser des Teichs?) unterlegte die Stimme meines Meisters, die trostreiche Worte wie Salbe in eine Wunde in mein Bewußtsein sickern ließ. Dann erinnerte ich mich urplötzlich an Papi. (Denk nicht an deinen armen Vater, bat mich die Leine.) Er wartete auf mich. Julchen erwartete mich. Die Dingos rechneten mit mir. (Wir holen auch Julchen heim. Und nun mach dir keine weiteren Gedanken um diese bösen Dingos. Bald wird es nicht länger Dingos geben, nie wieder wird es Dingos geben.) Verzweifelt versuchte ich, an gar nichts zu denken – 257
oder meine Gedanken wenigstens dermaßen zu verwirren, daß ich nichts von alldem preisgab, das ich inzwischen wußte. Aber die Leine zog sich enger um meinen Verstand zusammen, als sie meinen Widerstand spürte, und sprengte mein dünnes Gewebe der Tarnung. Ich mischte meine Erinnerungen durcheinander wie ein Kartenspiel, und die Leine begann meine Gedankenbilder über meinen Vater mit besonderer Aufmerksamkeit zu begutachten (jedesmal blieb mir gerade noch soviel Zeit, das jeweilige Gedankenbild zu verdrängen). Am Rande meiner Wahrnehmung war ein Laut: Urrp. Er wiederholte sich. Urrp. Es war kein Laut, der von meiner Leine stammen konnte. Die Harfenmusik trillerte einen Moment lang, dann verwandelte sie sich in ein prosaisches Gluckern von Wasser. Ich konzentrierte mich voll auf jenes Geräusch, leistete der Leine Gegenwehr. »Was ist das für ein Geräusch?« fragte ich meinen Meister. Um mir zu antworten, mußte er das Kramen in meinem Gedächtnis einstellen. Nichts. Das ist nichts. Denk nicht daran. Lausche der schönen Musik. Warum lauschst du nicht der wunderschönen Musik? Denk an deinen Vater. Was immer jenen Laut verursachen mochte, es mußte sich unten im Gras befinden. Im Lichtschein, den der Strahlenkranz über meinem Kopf verbreitete, konnte 258
ich deutlich sehen. Ich teilte das Gras zu meinen Füßen, und da sah ich das scheußliche Geschehen. Denk nicht daran! Aus den geweiteten Kiefern einer Wasserschlange ragte der vordere Teil eines Frosches hervor. Als die Schlange mich sah, wand sie sich und zerrte ihr Opfer abseits ins dichtere Gras. Von neuem forderte die Leine mich auf, mir diese greuliche Sache nicht anzuschauen, und ich verspürte tatsächlich auch keinerlei Lust dazu. Der Anblick war zu schaurig, aber ich konnte meine Augen einfach nicht abwenden. Der Frosch hatte seine Vorderbeine nach den Seiten ausgestreckt, um den letzten Schluck zu verhindern, der sein Ende bedeuten mußte. Unterdessen verdaute die Schlange seine hintere Hälfte. Er gab ein weiteres trübsinniges Urrp von sich. Schrecklich, dachte ich. Ach, schrecklich, schrecklich, schrecklich! Hör auf damit. Du … mußt … aufhören … Die Schlange warf ihren Leib hin und her, zog sich langsam zurück. Die Vorderfüße des Frosches packten die Spitzen von Grashalmen. Sein Urrp war sehr schwach geworden. Im Schwinden der Helligkeit geriet mir der Anblick des langwierigen Ringens beinahe in den Schatten des Grases außer Sicht. Ich beugte mich weiter vor. 259
Im Mondschein sah ich an den aufgerissenen Kiefern der Schlange einen dünnen Rand aus weißem Schaum.
12. Kapitel Worin ich mehr oder weniger die Verantwortung für die Rettung der Welt trage. Die Wolke aus Licht verschwand. Mein Meister war fort, und ich hörte Papi meinen Namen rufen. Ich lief zurück zur Straße. Dort stand er mit Julchen. »Alle Meister!« rief Julchen. »Du hättest nicht so hinauslaufen sollen. Als wir ins Freie kamen und das Licht über dem Teich sahen, dachten wir sofort, sie hätten dich weggeschleppt.« »Fast wäre es auch so gekommen. Mein Meister war hier, und ich war an meiner Leine. Aber dann schlüpfte ich hinaus – und er verschwand einfach. Ich begreife es selber nicht. Papi, bist du wohlauf?« Ich hatte gefragt, weil er aus Erregung merklich zitterte. »Ach, still, still«, sagte er, indem er mich nur flüchtig beachtete. »Ich muß schwer nachdenken.« »Er hatte eine Idee«, erklärte Julchen. »Gleich nachdem du aus der Halle gelaufen warst. So geht's wohl immer mit ihm, wenn er Ideen hat, vermute ich.« Bruno hielt mit der Limousine neben uns und hupte, nicht etwa, weil wir ihn nicht bemerkt hätten, sondern nur so um des Hupens willen. Wir stiegen auf den Rücksitz, und der Wagen jagte mit einer Geschwindigkeit die Straße entlang, die er wohl mindestens seit einem hal261
ben Jahrhundert nicht erreicht hatte. »Rocky erledigt die Anrufe, die Sie ihr aufgetragen haben, Sir«, gab Bruno bekannt. »Schön. So, Dennis, wie war das nun mit deinem Meister?« Ich berichtete, was geschehen war, und schloß mit meiner Beobachtung der Schlange mit ihrem Frosch. Ich hielt sie nicht für bedeutsam, aber sie hatte mich beeindruckt. »Und während du das beobachtet hast, ist dein Meister einfach so verschwunden?« »Ja. Wäre er länger geblieben, so hätte er alles erfahren, was ihn interessierte. Ich hätte ihm nicht standhalten können. Warum er wohl trotzdem abgehauen ist …« »Eine Frage noch – was hast du empfunden, als du das mit dem Frosch sahst? Eine deutliche Antwort, bitte.« »Es war gräßlich. Ich fühlte … Abscheu.« »War das ungefähr so, wie du dich zuvor während des Boxkampfes fühltest?« »Der Boxkampf war auf gewisse Weise schlimm. Die Schlange auf andere Weise.« »Aber beide erzeugten gleichartige Empfindungen: einen Eindruck von Häßlichkeit, dann Abscheu und Übelkeit?« »Ja.« 262
»Dann sind das die Waffen, mit denen wir sie schlagen werden. Dennis, mein Junge, noch ehe diese Nacht vorüber ist, wirst du ein Held der Revolution sein.« »Steht mir keine Erklärung zu? Oder braucht die Revolution ahnungslose Helden?« »Als du dich vorhin vor dem Boxkampf gedrückt hast, hat es mich ein wenig amüsiert. Dennis ist immer noch so ein Ästhetlein, dachte ich mir. Und da fiel mir der alte Spruch ein: Wie der Herr, so der Knecht. Man drehe ihn um, und da haben wir die Formel für unsere Waffen: Wie der Knecht, so der Herr. Die Meister sind nichts anderes als ihre Schoßhunde im Großformat. Allesamt sind sie Ästheten. Und wir sind ihre bevorzugte Kunstform. Das menschliche Gehirn ist die Tonerde, mit der sie arbeiten. Sie formen unseren Geist genauso, wie sie die Nordlichter machen. Darum ziehen sie einen intelligenten, gebildeten Schoßhund einem unbeeinflußten Dingo vor. Die Dingos sind Lehmklumpen, verdorbene Leinwand, fehlerhafter Marmor, Verse ohne Reim.« »Sie haben wahrscheinlich zu den Dingos das gleiche Verhältnis wie ich zu Salvador Dali«, sagte Julchen. Sie versuchte oft, mit mir über Dali zu diskutieren, weil sie wußte, daß er mir wider besseres Wissen gefiel. »Oder wie ich zu diesen Preiskämpfen«, meinte ich. »Oder wie zu jedem Erlebnis«, schlußfolgerte Papi, »das die ästhetischen Empfindungen verletzt. Sie kön263
nen keine Häßlichkeit vertragen.« Wir schwiegen für eine Weile und dachten über diese Einsicht nach. Außer Bruno. »Wart's nur ab, Dennis. Eines Tages wirst du auch deinen Spaß an anständigen Boxkämpfen haben. Kelly war heute abend nicht in Form, das war alles.« Ehe ich antworten konnte, rollte die Limousine über eine Betonrampe hinab in eine hellerleuchtete Tiefgarage. »Die Klinik«, sagte Bruno. Ein Mann in weißem Kittel kam uns entgegen. »Alles ist vorbereitet, Mr. Weiß. Wir haben uns sofort an die Arbeit gemacht, als wir Ihren Anruf erhielten.« »Sind die Rundfunkleute auch hier?« »Befinden sich bereits mit unseren Technikern am Werk. Und Mrs. Schwarzkopf sagte, sie werde sich direkt mit ihrem Mann treffen.« Außerhalb der Garage erhellte plötzlich ein schreckliches Aufzucken von Helligkeit den Nachthimmel. »Die Meister!« schrie ich voller Entsetzen. »Verflucht, die Sprengköpfe!« rief Papi. »Ich hatte sie schon ganz vergessen. Dennis, du gehst mit dem Arzt und richtest dich nach seinen Anweisungen. Ich muß das RIK-Hauptquartier anrufen und dafür sorgen, daß man mit diesem Quatsch aufhört.« »Was versuchen sie denn zu treffen?« »Sie versuchen, einen Atomsprengkopf im Van-Allen264
Gürtel zu zünden. Ich habe alles getan, um ihnen zu verdeutlichen, daß das nichts nützt. Damals, 1984, hat es auch nichts bewirkt. Aber sie sind in Verzweiflung geraten, und ich konnte keinen besseren Plan vorweisen. Womöglich stören wir uns damit die Funkkommunikation, und genau die brauchen wir jetzt. Bruno, Julchen – wartet auf mich im Auto.« Ein Team von Ärzten führte mich die langen emaillierten Korridore entlang in einen Raum mit einer komplizierten Anordnung von elektronischen und chirurgischen Geräten. Der Chefarzt gab mir zu verstehen, ich solle mich auf ein unbequemes Metallgestell legen. Als ich das getan hatte, drückte man an die beiden Seiten meines Kopfes zwei stählerne Klemmen. Der Arzt hielt mir eine Gummimaske über Mund und Nase. »Tief einatmen«, befahl er. Die Anästhesie wirkte schnell. Papi schimpfte mit den Ärzten herum, als ich aufwachte. »Mußten Sie denn eine Betäubung durchführen? Für Zimperlichkeit haben wir jetzt keine Zeit.« »Die Anbringung der Elektroden ist eine sehr heikle Operation. Aber er müßte jeden Moment aufwachen.« »Er ist wach«, sagte ich. Der Arzt kam an mein Lager gestürzt. »Bewegen Sie nicht den Kopf«, warnte er mich. Vollkommen überflüs265
sigerweise, fand ich, denn mein Kopf steckte noch immer zwischen den stählernen Klemmen, obwohl ich nun saß. »Wie fühlst du dich?« fragte Papi. »Beschissen.« »Das ist prachtvoll. So, nun hör zu – der Apparat hinter dir …« ( »Nicht hinschauen«, unterbrach hier der Arzt.) »… ist ein Elektroenzephalograph. Er zeichnet Gehirnwellen auf.« Wieder mischte sich der Arzt ein. »Wir haben Elektroden in sechs verschiedenen Zonen angebracht. Vorhin habe ich Ihrem Vater zu erklären versucht, daß wir uns nicht sicher sind, wo sich die Zentren der ästhetischen Perzeption befinden. Wie ist denn zum Beispiel überhaupt die Beziehung zwischen Schönheit und Freude beschaffen? Der Forschung ist viel Zeit verlorengegangen …« »Später, Doktor, später. Vorerst hat Dennis nichts zu tun, außer zu leiden. Das heißt, eigentlich ist es Weißzahn, der die Leiden erdulden muß. Weißzahn muß schier vor Elend umkommen. Ich habe bereits für einiges an geeigneter Unterhaltung gesorgt, aber wenn es irgend etwas gibt, das du ganz besonders ekelhaft findest, solltest du mir das sofort verraten, damit ich alles Weitere veranlassen kann. Hast du vielleicht irgendeine ganz außergewöhnliche Phobie?« »Bitte, nun erkläre mir erst einmal, was das hier 266
eigentlich alles zu bedeuten haben soll.« »Deine Elektroenzephalogramme werden zu allen Sendern der Stadt gebracht. Die Schwingungsmuster werden verstärkt und über AM und FM ausgestrahlt, Rundfunk und Fernsehen. Jeder Sender im Lande – und jeder Sender auf der ganzen Welt – ist in Bereitschaft, um die Sendung aufzufangen. Morgen abend werden wir den Meistern ein Konzert bieten, wie sie noch nie eines vernommen haben.« Ein Mann in Arbeitskleidung kam mit einer Schiefertafel herein und händigte sie Papi aus. »Doktor, Sie haben kräftigere Fingernägel als ich. Kratzen Sie damit über diese Tafel.« Dabei entstand ein unerträgliches Geräusch, und der Arzt tat das gut eine Minute lang. »Wie sieht das Muster aus?« fragte Papi. »Stärkste Reaktion in den sensorischen Zonen. Woanders allgemeiner, vor allem während der ersten zwanzig Sekunden.« »Na, wir haben ja noch einiges auf Lager. Dennis, sieh dir diese Bilder an. Beachte die Einzelheiten.« Er zeigte mir Bilder aus einem Fachbuch der Pathologie, auf deren Beschreibung ich hier verzichten will. Die Menschen auf diesen Fotografien waren den Möglichkeiten der Medizin längst entzogen. Man konnte für sie nicht einmal mehr Mitleid empfinden. Die Aufnahmen waren nach dem Grad ihrer Gräßlich267
keit geordnet, und zum Schluß kam ein großes Farbfoto von … »Nehmt das weg!« »Die Reaktion ist nun stärker und dauerhafter. Sehr schöne Trennschärfe.« Papi hielt mir eine Phiole voll Formaldehyd unter die Nase. Es roch scheußlich. Eigentlich war es mehr eine Bauchflasche und darin … Ich schrie. »Hervorragend«, sagte der Arzt. »Wirklich verblüffende Kurven, muß man sagen.« »Herein mit der Band«, befahl Papi. Eine Gruppe von vier Männern mit mir unbekannten Musikinstrumenten betrat den Raum (später erfuhr ich, daß es eine Elektro-Gitarre, eine Singende Säge, ein Akkordeon und eine Tuba waren). Sie trugen die denkbar groteskesten Klamotten: aufgemotzte Arbeitsanzüge in abscheulichen Farben, verziert mit allen Arten von Klimbim aus Leder und Metall. Auf ihren Köpfen saßen lächerliche, grelle Hüte. »Außergewöhnlich!« bemerkte der Arzt. »Er reagiert schon.« singen. Irgendwie war es durchaus so ähnlich wie Singen. Ihre ungestimmten Instrumente erzeugten überlaut eine stupide Eins-zwei-drei-eins-zwei-drei-Melodie, die sie mit dem 268
wiederholten durchdringenden Schrei »Ihr habt es so gewollt/Daß man den Käse zum Bahnhof rollt!« begleiteten. Als ich bereits den Eindruck hatte, diese neue Attacke gegen meine feinsten Empfindungen habe die Grenze des Erträglichen erreicht, sprang plötzlich Papi auf, der mich bis dahin nur aufmerksam beobachtet hatte, begann mit den Füßen auf dem Boden zu stampfen und stimmte in den schauderhaften Gesang ein. Papi hat eine schreckliche Stimme, wenn er singt. Sie krächzt. Aber seine Stimme entsetzte mich weniger; sein Verhalten war es, das mich auf die Palme brachte. Mitansehen zu müssen, wie ein Mann von so natürlicher Würde sich dermaßen erniedrigt, und dazu auch noch der eigene Vater! Doch das war ja genau die Reaktion, worauf Papi abzielte. Als dieser grobschlächtige Auftritt beendet war, bat ich um eine kurze Verschnaufpause. Papi schickte die Band fort und gab dem Akkordeonspieler seinen Cowboy-Hut zurück. »Wir sollten ihn nicht zu stark bearbeiten, bis wir eine gewisse Vorstellung von seiner Belastbarkeit gewonnen haben«, riet der Arzt. »Außerdem möchte ich mich zwischendurch mal in den Stationen umsehen. 269
Diese Fotos haben mir einen Gedanken eingegeben. Es sind hier einige Patienten, die …« »Hast du dir auch etwas ausgedacht, Dennis?« »Gewissermaßen, ja. Ist Bruno noch in der Nähe?« »Er müßte unten sein.« »Er könnte mir erzählen, welche Dinge ihm am besten gefallen … die schlimmsten dieser Dinge. Auf lange Sicht dürften ihm mehr Greuel einfallen als dir. Sie scheinen mit ihm in einem natürlichen Zusammenhang zu stehen.« »Vorzüglicher Einfall. Ich lasse ihn sofort kommen.« »Rocky auch, falls sie unten ist. Ich habe mich gerade daran erinnert, wie sie mich während des Boxkampfs angesehen hat. Sie müßte meines Erachtens hier eine große Hilfe sein.« Als Papi den Raum verließ, kam der Arzt zurück; er führte eine Prozession von Rollstühlen und Bahren an. Auf diese Art und Weise ging es stundenlang weiter, und jede Minute schien mir ärger als die vorherige zu sein. Bruno verfügte über ein schrankenloses Vorstellungsvermögen, vor allem, wenn ihn Alkohol und seine Frau anheizten und ermutigten. Anfangs erzählte er mir von seinen Lieblingskampfarten. Danach plauderte er aus, was er gerne mit Schoßhunden zu treiben pflegte – und was er noch alles mit ihnen anstellen würde, fände er nur dazu die Zeit. Dann ließ er sich weitschweifig 270
über die Geheimnisse der Liebe aus, ein Thema, zu dem sich auch Rocky sehr gesprächig zeigte. Nach zwei Stunden dieser und anderer Vergnügungen bat ich um Kaffee. Rocky ging hinaus und kam mit einem Becher wieder, aus dem es dampfte, und ich nahm durstig einen großen Schluck, ehe ich bemerkte, daß darin kein Kaffee war. Rocky hatte sich meiner besonderen Empfindlichkeit gegenüber Blut erinnert. Sobald man mich mit Riechsalz wieder zur Besinnung gebracht hatte, geleitete Papi weitere Unterhaltungskünstler herein. Sie waren direkt von ihrem letzten Kampf in der Exerzierhalle ins Krankenhaus gekommen. Aus irgendeinem Grund kann ich mich jedoch an alles, was ich von diesem Zeitpunkt an sah und hörte, nicht länger entsinnen.
Wir standen auf der völlig mit Fliesen verarbeiteten Terrasse der Klinik: Papi, Julchen und ich. Unter uns lag der Mississippi wie ein schwarzes Gewässer unbekannten Ausmaßes. Vor einer Stunde war die Sonne untergegangen, und der Mond war noch nicht sichtbar. Die einzige Helligkeit kam aus dem Norden, wo die riesigen auroralen Flutlichter vom Horizont über die nördlichen Sternbilder emporwaberten. »Noch fünf Minuten«, sagte nervös Papi. 271
In fünf Minuten würden alle Sender auf der Erde meine Leistung vom Vorabend ausstrahlen. Ich hatte ein akustisches Äquivalent meines Elektroenzephalogramms gehört und verspürte daher nicht die leiseste Unsicherheit. In einem Krieg, dessen Grundlage die Ästhetik war, mußte diese Aufzeichnung eine Weltuntergangswaffe sein. »Hast du noch Kopfschmerzen?« fragte Julchen und strich mit federleichter Hand über meinen Verband. »Nur wenn ich mich an gestern abend zu erinnern versuche.« »Laß dich küssen, dann verschwindet der Schmerz ein für allemal.« »Noch drei Minuten«, sagte Papi. »Hört auf damit. Ihr macht mich nervös.« Julchen zupfte ihre Bluse zurecht, die aus so einem wunderbaren, puren, knistrigen Nylon bestand. Stellenweise hatte die Verwendung von Kleidungsstücken meine Bewunderung zu erregen begonnen. Wir beobachteten die Nordlichter. In der gesamten Stadt waren die Lichter ausgeschaltet worden. In der ganzen Welt beobachtete jedermann die Nordlichter. »Was wirst du jetzt anfangen, da du Hochkathode bist?« fragte Julchen, um die Zeit zu vertreiben. »In ein paar Minuten dürfte die Revolution vorüber sein«, gab Papi zur Antwort. »Ich bezweifle, daß Verwal272
tungsarbeit mir liegt. Nicht nach diesen aufregenden Zeiten.« »Du wirst zurücktreten?« »Sobald man mich läßt. Es juckt mich, ein bißchen mehr zu malen. Habt ihr schon mitbekommen, daß ich male? Das Porträt hinter meinem Schreibtisch stammt von mir selber. Ich finde, es ist ziemlich gut geworden, aber ich müßte es noch besser können. Auf jeden Fall ist es Tradition, daß Generäle im Ruhestand malen. Und dann kann ich meine Memoiren schreiben. Ich habe mir dafür bereits einen Titel ausgedacht: Die Ästhetische Revolution.« »Oder du könntest sie Viva Dingo! nennen«, schlug Julchen vor. »Noch zehn Sekunden«, bemerkte ich. Wir starrten an den nördlichen Horizont. Die Nordlichter waren ein Schleier bläulichen Lichts, durch den Bänder und Streifen in grellem Weiß tanzten und gaukelten. Zuerst ließ sich gar kein Unterschied feststellen. Das Schauspiel bot die gleiche seltene Schönheit, die ihm seit undenklichen Zeiten zu eigen war, aber heute abend glich seine Schönheit einem düsteren, allein für uns gespielten Dies irae. Dann verschwand eines der weißen Bänder, die vom Horizont hochwallten, mit der Plötzlichkeit einer abgeschalteten Lampe. Der Vorgang wirkte unnatürlich ab273
rupt; aber ich war nicht sofort sicher, richtig gesehen zu haben. Für ein merkliches Weilchen geschah nichts Weiteres. Doch als am Himmel fünf Lichterscheinungen zugleich erloschen, da wußte ich, daß der Exodus der Meister begonnen hatte. »Elefantiasis, möchte ich wetten.« »Was meinst du, Dennis?« »Das letzte Bild des Stapels, den du mir gezeigt hast. Daran erinnere ich mich noch deutlich.« Die Helligkeit der Nordlichter war bereits um die Hälfte vermindert, als die Hillbilly-Band an die Reihe kam. Bloß um mich zu vergewissern, schaltete ich das Radio ein. Durch all das Röhren und Kreischen und Pfeifen meiner Neuralschwingungen hörte man einen unverkennbaren Rhythmus: Ump-ta-ta, ump-ta-ta. Als die Ausstrahlung der Wirkung von Rockys unaussprechlichem Trank anfing, stieg ein fürchterliches Dröhnen den Himmel empor. Für einen Augenblick war das gesamte nächtliche Firmament weiß gefleckt. Das Weiß verschwand. Dann bestand das Nordlicht bloß noch aus einem trüben blau-weißen Flackern am nördlichen Horizont. Es wies kaum noch einen Funken Schönheit auf. Seine Pracht war zu einem bedeutungslosen, blind zufälligen Zucken heruntergekommen. Die Meister hatten die Erde verlassen. Sie konnten das Gebell nicht länger ertragen.
Die Herrschaft der Fremden
Dennis Weiß wird zum Chronisten der Unterdrükkung der Menschheit und ihres nahezu hoffnungslosen Freiheitskampfes. Energiewesen aus dem All haben die Menschen unterjocht und halten sie wie Haustiere. Mit herkömmlichen Waffen sind sie nicht zu schlagen … »Die Herrschaft der Fremden« ist ein weiterer spannender Roman von Thomas M. Disch, der sich durch »Camp Concentration« und »Die Duplikate« einen Namen gemacht hat.