1.
Das Rauschen der Flügel wurde lauter. Die bewegte Luft, die nach den Ausdünstungen der riesigen schwarzen Aasvögel ...
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1.
Das Rauschen der Flügel wurde lauter. Die bewegte Luft, die nach den Ausdünstungen der riesigen schwarzen Aasvögel stank, wehte um mein Gesicht. Neben meinem Ohr stieß der erste Vogel ein drohendes Krächzen aus. Ich öffnete die Augen, überrascht darüber, daß noch keiner der Raubvögel mir Wunden geschlagen hatte. Ich sah gerade noch, wie eine mächtige Schwinge an mir vorbeirauschte. Der Vogel kippte über den Flügel und flatterte mit langsamen, schweren Schlägen über den blausandigen Talkessel dahin. Noch lebte ich. Noch beschützte uns das Auge Vestas. Ich holte tief Luft. Die erste Gefahr war knapp vorbeigegangen. Aber die Menge der Rhaags, der pechschwarzen Aasvögel mit den roten Krallen und den blutroten Hakenschnäbeln, nahm zu. Drei oder vier Dutzend kreisten jetzt um die Felsenklippe, zogen ihre Kreise immer enger. Ich drehte den Kopf und sah Meri-Meri an. Sie hing bewußtlos in den Fesseln. Die Spuren des Durstes und der brütenden Hitze zeichneten ihr
Gesicht. Wieder dachte ich daran, daß ich ein Träger dieses seltsamen Juwels war. Ich versuchte, die Vögel zu zwingen, uns in Ruhe zu lassen. Ich konzentrierte mich auf einen der Raubvögel und dachte daran, daß er sich nähern sollte, um mit einem einzigen Biß seines Schnabels meinen rechten Arm zu befreien. Aber während ich dies dachte und mir vorstellte, fuhren die Rhaags mit ihren Angriffen fort. Aber etwas hinderte sie daran, sich auf uns zu stürzen. Sie schwangen sich hoch, wichen einander mit leichten Bewegungen der Flügelenden aus und zogen ihre Kreise. Dann spreizten sie die Schwingen, die Luft rauschte durch die Schwungfedern, und sie streckten gierig die Krallen vor und öffneten die furchtbaren Schnäbel. Im schrägen Sturzflug kamen sie näher, zielten direkt auf Fräulein Honigvogel und mich. Ich erwartete noch immer, daß sich Krallen in meine Schultern bohren und Schnäbel in meinen Körper eindringen würden. Aber wieder schwang sich der Rhaag dicht vor mir zurück in die Luft und schwebte nach wenigen klatschenden Flügelschlägen über den Felsen hinweg. Die Schwungfedern schlugen mir rechts und links ins Gesicht. Der Aashauch aus dem Rachen des Tieres betäubte mich fast. Mein Magen begann zu revoltieren.
Ich zitterte am ganzen Körper. Unablässig fuhr mein Arm aufwärts und abwärts. Das Seil, das meinen rechten Arm dicht an den Felsen preßte, war aufgefasert, aber es konnte noch Stunden dauern, bis ich mit einer Hand frei war. Drohend näherten sich abermals zwei Raubvögel und zogen einen engen Kreis, dicht hintereinander fliegend. Fräulein Honigvogel erholte sich aus ihrer Ohnmacht und schrie leise auf, als sie die Gefahr erkannte. »Fürchte dich nicht, Meri-Meri!« schrie ich verzweifelt. »Sie tun uns nichts!« »Aber ... ich habe Angst, Dragon!« wimmerte sie. »Uns schützt das leuchtende Juwel in meiner Stirn!« sagte ich laut. »Hab keine Angst!« Ich konnte selbst nicht ganz glauben, was ich sagte. Trotz aller Anstrengungen mit den Versuchen, die Fesselung aufzureiben und aller Versuche, die Tiere zu beeinflussen, waren wir noch immer an die Felsen gekreuzigt. Wehrlose Opfer für die Vögel. Die Tiere verhielten sich, als hätten sie mitten in der Wüste ein riesiges sterbendes Tier entdeckt. Ihre scharfen Augen hatten uns bemerkt. Wir hatten sie förmlich magnetisch angezogen. Als die ersten Rhaags ihre Kreise hoch oben in der wolkenlosen Morgenluft zu drehen begannen, hatten andere Vögel diese Vorboten des Todes erspäht und
hatten sich aus ihren hochgelegenen Horsten geworfen. Jetzt waren es fünf Dutzend oder mehr. Sie bildeten einen dichten, schwarzen Schwarm über dem Tal Erthus. Aber noch immer umstrichen sie uns, griffen aber nicht an. Wir trugen keine einzige Wunde. Nur unsere Gesichter und Arme brannten von den Hieben der langen Schwingen. Wieder unternahm ich eine meiner lautlosen Anstrengungen. Ich sah in die lidlosen Augen eines der Vögel, verfolgte ihn mit meinen Blicken und befahl ihm in Gedanken, den Strick zu durchbeißen. Der Vogel, der sich eben nach rechts aufschwang und dann, um Geschwindigkeit zu gewinnen, wieder hinunter ins Tal schwebte, hielt halbwegs inne, bewegte krachend seine Schwingen und kam wieder näher. Er flog in einer bemerkenswert engen Kurve. Wilde Hoffnung erfüllte mich. »Dragon! Er kommt, der Rhaag!« stöhnte Honigvogel. Ich gab keine Antwort und versuchte, den Vogel zu beeinflussen. Hin und wieder, wenn die Schatten der Schwingen von mir hinwegglitten, strahlte das Juwel in der Stirn auf wie ein kleines, funkensprühendes rotes Feuer. Der Rhaag kam näher, krächzte mehrmals schauerlich auf und vertrieb mit einigen Schlägen der Schwingen und Hieben der Krallen seine Artgenossen.
Dann versuchte er, seine Krallen über meiner Schulter in den Stein zu schlagen, aber er rutschte ab und landete auf meinen Schultern und meinem Kopf. Honigvogel schrie gellend auf und schüttelte wie im Fieber den Kopf. Der schwarze Aasvogel schlug um sich, riß mit dem Schnabel meine Kleidung auf und zog vier tiefe Kratzer in meine Brust. Dann kippte er entlang meiner Beine nach unten und versuchte, wild mit den Schwingen schlagend, wieder Höhe zu gewinnen. Fehlgeschlagen! »Sei ruhig!« brüllte ich Meri-Meri an. »Vesta hilft uns! Die Vögel schaden uns nicht!« Sie wimmerte noch immer, erschöpft und am Rand ihrer Fassung. Ich fühlte, wie beißender Schweiß durch meine Brauen in die Augen sickerte und begann zu zwinkern. Ich begann lautlos zu fluchen und riß abermals wütend an der Fessel meines rechten Handgelenks. Im Augenblick war das Geräusch der unzähligen Schwingen, das uns wie eine Art Sturm umgeben hatte, etwas leiser geworden. Mit tränenden Augen starrte ich geradeaus. Ein ganzer Teil des Tales verschwand, hervorgerufen durch die Trübung des Auges, aus meinem Gesichtsfeld. Ein Kreis geradeaus verwandelte sich in eine blinde, neblige Fläche. Ich blinzelte abermals. In der Luft war plötzlich ein Summen wie
von hundert riesigen Bienenschwärmen. Ich schluckte. Ich beugte den Kopf und schüttelte ihn wie wild. Schweißtropfen flogen nach allen Seiten. Plötzlich waren meine Augen klar, aber der Schemen vor mir blieb. »Nein!« flüsterte ich heiser und mußte husten. »Was ist das?« Zwanzig Mannslängen von uns entfernt schwebte in der Höhe der Felsen, also rund fünfzehn Mannslängen vom Hang des blauen Talkessels entfernt, ein Schemen in der Luft. Es war einfach ein unregelmäßiges Loch in dem Bild der Landschaft. Und nun stoben die Vögel nach allen Seiten auseinander und schraubten sich mit krachenden Flügelschlägen höher. Eine riesige Menge sichelförmiger Silhouetten drehte ihre Kreise dort oben, immer kleiner werdend. Ich blickte nach vorn. An dem Bild hatte sich nichts geändert. Doch! Der Schemen sah aus wie ein riesiger Kalkfelsen. Ein unregelmäßig gekanteter weißer Brocken, der in der Luft schwebte und sich verdichtet zu haben schien. Zuerst war er unsichtbar gewesen und hatte nur dadurch, daß er einen Ausschnitt des Tales verdeckte, sich sichtbar gemacht. Jetzt hatte er eine weiße Farbe angenommen, aber um die einzelnen Spalten und Ausbuchtungen lag eine Aura, die heller strahlte als die
Morgensonne. Ich mußte an den Mantel des Namenlosen denken, den ich vorübergehend getragen hatte. Das Summen wurde lauter und eindringlicher. Die Ohren begannen zu schmerzen. Auch der letzte Aasvogel war jetzt in der Luft und kreiste mit den anderen wartend in großer Höhe. Ich fuhr zusammen, als aus dem Summen eine dunkle, wesenlose Stimme sprach. »Wer bist du, Träger von Vestas Auge?« Mit rauher Stimme gab ich zur Antwort: »Ich bin Dragon. Dort in der Stadt nannten sie mich Herr Schwarzer Falke.« War dies Erthu? Oder eine ähnliche Erscheinung wie die Wanderwolke? Ich versuchte, durch das flimmernde Strahlen und die geisterhafte weiße Farbe zu blicken, aber alles, was ich sah, waren schwankende Formen, die sich pausenlos neu erstellten und wieder verschwanden. Jetzt wurde das Strahlen der Aura dunkelgelb oder golden. »Ich bin Vesta. Nur ein kleiner Teil Vestas, aber ich habe deine Rufe gehört, Träger des Juwels.« Ich verstand die Worte, aber ich konnte die Bedeutung nicht recht glauben. Aber der Schemen sprach von Vesta und dem Juwel, wie es auch Akkathos, der Wanderer, vor seinem Tod getan hatte. »Du hast die Aasvögel vertrieben!« sagte ich. »Wir
danken dir dafür!« Meri-Meri hing mit hervorquellenden Augen und bleichem Gesicht in den Fesseln. Sie war völlig überwältigt von den Ereignissen. Offensichtlich verstand sie noch weniger als ich. Wieder fragte die Stimme: »Woher hast du mein Auge? Eines meiner vielen Augen?« »Akkathos, der Sohn des Himur, gab es mir, bevor er starb.« »Du bist bereit, das Vermächtnis des Akkathos zu erfüllen?« »Ich bin bereit und entschlossen!« sagte ich. Ich blickte schnell hinüber zu Meri-Meri. Sie starrte den Schemen an, ihre Blicke verrieten, daß sie kurz davor stand, wahnsinnig zu werden. Die Stimme, die mit uns sprach, schien aus dem Nichts zu kommen, von nirgendwoher und aus keiner besonderen Richtung. Jedenfalls kam der Schall nicht aus dem schwebenden weißen Schemen. »Du brauchst Hilfe, Dragon. Du und deine Begleiterin!« erscholl diese furchtbare Stimme wieder. »Wir brauchen Hilfe!« bestätigte ich laut. »Schnelle Hilfe vor den Aasvögeln!« »Ich bin Vesta, der rechtmäßige Herr der Elemente!« sagte das formlose Etwas vor mir. »Ich helfe dir, auf daß du mir helfen mögest!«
»Ich werde dir so gut helfen, wie ich es kann. Nur deswegen bin ich auf den langen und gefahrvollen Weg gegangen!« erwiderte ich deutlich. »Warte! Zwei Vögel werden dich befreien!« »Ich glaube dir, daß du Macht über die Tiere hast!« gab ich zurück. Ich hoffte es, denn ich hatte gemerkt, daß das Auge Vestas zumindest die tödlichen Angriffe der Rhaags verhindert hatte. »Warte, Dragon!« sagte die Stimme von überall her. Was blieb mir anderes übrig? Ich wartete. Auch Fräulein Honigvogel schwieg, weil sie erschöpft war und der Schrecken sie endgültig überwältigt hatte. Aus großer Höhe stürzten sich zwei der schwarzen Aasvögel herab und näherten sich uns in einem schrägen Sturzflug. Dicht vor dem Felsen breiteten sie die Schwingen aus, begannen wild zu flattern und näherten sich uns ganz langsam. Sie schrien nicht, aber ihre Schnäbel waren weit geöffnet. Einer der Vögel begann auf der Stelle zu flattern und kam ganz langsam, fast vorsichtig, auf die Fessel der rechten Hand zu. Er stützte sich mit einer vorsichtig geöffneten Klaue auf meinen Arm, zielte mit dem Kopf auf das Seil und schlug zu. Ich hörte ein Schnappen, das wie ein Schlag von Metall auf die Felsen klang, dann war meine rechte Hand plötzlich frei. Wieder schlug der Rhaag wie rasend mit den Flügeln und bewegte sich direkt vor
meinem Gesicht nach links. Dort kappte er die Fessel des linken Handgelenks. Ich atmete auf, aber noch immer schwebte dieser kantige Schemen über dem Tal wie der Teil einer fremden Wolke. Unsicher landete ein zweiter Aasvogel zu meinen Füßen, schlug mit den Flügeln, um das Gleichgewicht zu behalten, und mit dem Schnabel hakte er hinter das Seil, zog es straff an und zerschnitt es dann mit einem schwirrenden, harten Geräusch des Hornschnabels. Dieser Vorgang wiederholte sich in großer Schnelligkeit an meinem anderen Fußgelenk. Ich war frei und begann augenblicklich, mich zu bewegen, die erstarrten Glieder zu reiben und wandte mich dabei auf dem schmalen Felsband Meri-Meri zu. »Ich habe dir, Dragon, geholfen! Nachdem deine Freundin frei ist, werde ich dir sagen, wie du mir zu helfen hast!« »Ich bin einverstanden«, sagte ich einfach, ohne den Schemen anzusehen, »aber zuerst müssen wir vom Felsen herunter und uns ein wenig erholen.« Viermal ertönte durch das Geräusch der scharrenden Krallen und der schlagenden Schwingen das Geräusch der Schnäbel, die wie Zangen wirkten und die Fesseln Fräulein Honigvogels lösten. Das Mädchen war restlos erschöpft und sank in sich zusammen. Ich fing sie auf und schleppte sie über das
Sims des Felsens nach links. »Ich warte, Dragon!« sagte die Stimme, die einem Teil von Vesta gehörte. Während wir über Felsblöcke taumelten, uns entlang scharfer Grate bewegten und schließlich erschöpft in den Sand fielen, dachte ich darüber nach, daß ich auf merkwürdige Weise abermals ein Hindernis zwischen dem unbekannten Weltentor und mir erlebte. Dadurch, daß Vestas schemenhaftes Abbild uns gerettet hatte, war ich ihm abermals verpflichtet. »Wir kommen!« antwortete ich, lud mir die vor Erschöpfung schluchzende Meri-Meri auf die Schultern und wankte mit weichen Knien den sanften Hang des Talkessels hinunter. Ich hielt an, als ich die erste kleine Quelle im Schatten der Büsche erreichte. Wir hatten keine Augen für die wunderschönen Blüten, wir rochen den zauberhaften Duft der Blumen nicht, sondern wir ließen uns einfach fallen und tranken das sprudelnde, kalte Wasser. Wir gossen das Wasser über unsere Gesichter und Schultern, dann zog ich Fräulein Honigvogel hoch und sagte halblaut: »Komm, meine Freundin – wir müssen etwas essen. Dort sind Früchte!« »Ja, Dragon. Du hast recht. Ich bin ganz schwach!« murmelte sie. Ich holte ein halbes Dutzend Früchte aus den Zweigen, brach sie auf, und wir machten uns
heißhungrig darüber her. Ganz langsam, in winzigen Schritten, kamen wir wieder zu uns. Der unerträgliche Druck der Angst wich. Schließlich stürzten wir uns nackt in einen der Teiche und schwammen kurz darin. »Bist du jetzt bereit, Erbe des Akkathos, mich zu hören?« fragte der Schemen und veränderte langsam seinen Standort. Er senkte sich tiefer und glitt von den Felsen weg, an die wir gefesselt gewesen waren. Jetzt schwebte der felsengroße Koloß genau über dem ruhigen Spiegel des kleinen Sees, den wir eben verlassen hatten. Wir lagen am Ufer, atmeten keuchend und ließen unsere Haut trocknen. »Ich bin bereit!« sagte ich und biß in eine Frucht. Die schwarzen Vögel hatten sich in die höchsten Luftschichten zurückgezogen und zerstreuten sich langsam. Wir vergaßen langsam unsere Erschöpfung, aber was uns fehlte, war ein ausgedehnter Schlaf. »So höre, Träger meines Auges!« erscholl wieder die rätselhafte Stimme. Niemand hörte oder störte uns. Der Tag inmitten der Wüste wurde heißer, aber wir lagen auf unseren Kleidern auf dem weichen Moos im Schatten. Noch immer hatten sich meine Gedanken nicht geklärt, aber ich war in guter Stimmung. Wir waren frei, und nur das zählte im Augenblick. »Akkeron, dein unbekannter Gegenspieler, ringt gegenwärtig mit Tyde, dem Geist des Wassers.«
Ich schreckte hoch. Also hatte Akkathos Bruder tatsächlich eingegriffen und war daran, seinen wahnwitzigen Plan in die Tat umzusetzen! »Dadurch, daß Akkeron mit Tyde kämpft, ist in dem Wall um mein Gefängnis für kurze Zeit eine Lücke entstanden.« »Deswegen konntest du, Vesta, hier erscheinen und uns retten?« rief ich. »Nicht ich. Es ist nur ein kleiner Teil meines Selbst, Dragon, das durch die Lücke in den Sperren entwischen konnte. Das Inselgefängnis ist sehr gut abgesichert. Aber ich muß wieder zurück. Ich werde dir nun erklären, was du tun sollst.« »Ich will es hören!« sagte ich. Der Felsen schwebte näher an das Ufer heran und schimmerte glühend. »Lege deine Hände an das Amulett. Was ich dir zu sagen habe, darfst nur du hören, Dragon. Denn du sollst für mich streiten.« Ich nickte und preßte meine Handflächen gegen die goldene Scheibe auf meiner Brust. Das Juwel in meiner Stirn schien jetzt in der Nähe eines Teils von Vesta, dem Herrscher der Elemente, förmlich zu glühen. Ich spürte einen feinen Schmerz, einem Insektenstich nicht unähnlich. Plötzlich drang eine Gedankenflut auf mich ein. Ich sah Bilder und hörte Worte, ich begriff den Weg und die vielen zauberischen Möglichkeiten, die mir die
»Bekanntschaft« mit Vesta eröffnete. Auf gedanklichem Weg empfing ich Schritt für Schritt einzelne Anweisungen und Hinweise, wie ich bei meinem Versuch, die Elementargeister zu besiegen und Vesta aus ihrer Herrschaft zu befreien, vorzugehen hatte. Vesta berichtete mir aus der langen, qualvollen Geschichte, die Vesta und die Geister miteinander teilten. Ich erfuhr, wo sich die geheimnisvollen Sitze der verschiedenen Geister befanden, ich erfuhr einiges über die Taktiken und die gescheiterten Versuche Vestas, den alten Zustand wiederherzustellen. Kurz: Ich besaß einen genauen Plan für den schwierigsten und fremdartigsten Kampf, den ich führen sollte. Dieses Wissen, erfuhr ich, gehörte nur mir allein. Niemand, abgesehen von Vesta, besaß es. Und schließlich, am Ende der langen, lautlosen Ausführungen, sagte mir Vesta auch noch etwas, das meine Sorgen beenden konnte – ich erfuhr bestimmte Einzelheiten über das zweite Weltentor, das mich zurück in meine Welt bringen konnte. Der riesige weiße Brocken, der über dem kleinen See schwebte, wechselte jetzt wieder in die hörbare Sprache und schloß: »Ich muß zurück, Dragon. Ich verlasse mich auf dich und werde versuchen, dich zu schützen, wo immer es geht. Beginne deinen Kampf, in dem du nicht nur die
Elementargeister, sondern auch den Akkeron gegen dich hast. Wenn dir der Sieg gelingt, wirst du eine Welt gerettet haben!« Ich schwieg. Atemlos und verschreckt klammerte sich Meri-Meri an mich und sah zusammen mit mir, wie der Schemen immer dünner, immer weniger weiß wurde. Der Koloß verblaßte, der Glanz der silber-goldenen Aura ging zurück, die Spiegelung auf dem Wasser verschwand völlig. Dann gab es nur noch eine felsbrockenförmige Erscheinung, von der die Bäume und die Landschaft verdeckt wurden. Das Summen hörte augenblicklich auf. Vestas Erscheinung war verschwunden. Wieder umgab uns das Schweigen dieses Talkessels, das durch das Murmeln und Gluckern der Quellen nur noch verstärkt wurde. »Wir werden jetzt schlafen, Liebste!« sagte ich leise. »Wir sind müde. Morgen werden wir versuchen, Erthu zu finden.« Meri-Meri nickte schwach. »Du bist der einzige gewöhnliche Sterbliche, mit dem Vesta je gesprochen hat. Du mußt wahrlich ein großer Mann sein, daß dich Vesta eingeweiht hat, wie du als Mensch selbst gegen die Geister der Elemente kämpfen kannst!« Ich streichelte ihre Wangen und erwiderte leise: »Im Augenblick, Meri-Meri, bin ich hauptsächlich
ein sehr erschöpfter Sterblicher!« Wir legten uns im Schatten zurecht, bedeckten uns mit den liegengebliebenen Mänteln und schliefen ein. Dieses Tal war unantastbar und tabu – bis zum letzten Tag der Ausscheidungen im nächsten Jahr. Niemand würde unsere Ruhe stören.
2.
Nach einem tiefen Schlaf der Erschöpfung erwachte ich im letzten Licht des Tages. Meine Glieder waren schwer, ich empfand den dumpfen Schmerz der Mattigkeit in allen Muskeln und Gelenken. Langsam und leise, um Meri-Meri nicht zu wecken, erhob ich mich und ging auf den Teich zu, der den gesamten Tag über im Sonnenlicht gelegen hatte. Ich pflückte einige Früchte, aß ihr saftiges, süßes Fleisch und trank den Saft, dann watete ich in das Wasser und schwamm eine halbe Stunde darin. Die Starre wich aus meinem Körper, die Muskeln wurden wieder geschmeidig, schließlich kam ich ans Ufer und löste aus einem Busch einige längliche Früchte, von
denen ich wußte, daß sie bei starkem Druck ein wohlriechendes und heilkräftiges Öl absonderten. Ich rieb mich damit ein und sah, daß die Schrammen und kleinen Wunden sich schlossen. Dann setzte ich mich neben Fräulein Honigvogel und sah in ihr Gesicht. Sie erwachte gerade, rieb sich die Augen und sah mich an, »Es war ein tiefer Schlaf, Dragon. Ich habe von dir geträumt!« sagte sie leise und blickte mich auf eigentümliche Weise an. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen, von denen die Felsen hoch über dem Tal ausgeleuchtet wurden, sah ich in ihren Zügen einen neuen Ausdruck. »Wie war dein Traum, Honigvogel?« erkundigte ich mich und sah mich um, ob es Hilfsmittel gab, mit denen sich ein Feuer entfachen ließ. »Ich träumte, daß wir die Lieblinge Vestas sind. Du bist für mich ein ganz anderer Mann geworden.« Die ersten Sterne erschienen am Himmel, während sich die Schatten der Nacht über den Talkessel senkten. »Zu einem anderen Mann? Wie meinst du das?« fragte ich über die Schulter. Ich war aufgestanden und holte Früchte für Meri-Meri. »Als ich dich sah, Dragon, da begann ich dich zu lieben«, sagte sie und hielt unschlüssig eine Frucht in den Fingern. »Mir war es gleich, ob du mich liebtest oder nicht.« Sie machte eine Pause, biß in die helle Frucht und
sprach weiter: »Ich habe dich geliebt wie ein junges, unerfahrenes Mädchen. Du warst mein Held, der siegreich durch jeden Kampf ging und überdies auch noch ein guter Liebhaber war. Aber an dem Punkt, da du der höchsten Ehrung teilhaftig werden solltest und statt dessen geflüchtet bist, begann ich dich zu verachten.« Ich verarbeitete, was sie gesagt hatte. Dann knurrte ich ungehalten: »Die anderen wußten, was mit ihnen geschah. Aber für mich war der Tod bis dahin etwas Einmaliges. Ich wehrte mich dagegen. Ich wehre mich immer dagegen, getötet zu werden.« Fräulein Honigvogel schüttelte unwillig den Kopf. Sie schien sich nicht vorstellen zu können, daß ich über das Geschehen der vergangenen Tage eine andere Meinung hatte als die Stadtbevölkerung von Merlane. »Ich war verzweifelt!« fuhr sie fort. »Ich konnte dir nicht mehr vertrauen. Du hast versucht, mir alles zu erklären, aber ich habe immer nur die Meinung gehabt, die wir alle in Merlane haben.« »Hat sich das geändert?« fragte ich etwas belustigt, »Seit heute hat sich alles geändert, Dragon!« sagte sie und legte ihre Arme um meinen Hals. »Alles?« »Ja, alles. Ich kenne einen alten Ritter in Merlane. Er hielt mich oft auf seinen Knien und erzählte mir von
Vesta, dem Herrn aller Elemente, also auch dem Herrscher über Erthu. Vesta ist mehr als Erthu. Vesta ist der Herrscher, Erthu der Beherrschte. Du bist dadurch, daß Vesta mit dir gesprochen hat und daß du sein Auge in deiner Stirn trägst, zu einem wahrhaft großen Krieger und Ritter geworden. Nicht nur in meinen Augen, Herr Schwarzer Falke!« »Also ist Vesta euch Merlanern bekannt?« fragte ich. »So ist es, Dragon! Herr Purpurner Stein und sein Sohn sind Anbeter Vestas. Der Kult wird geduldet, aber er hat nur wenige Anhänger. Sie werden dich feiern in Merlane.« »Aber die anderen werden mich verfolgen und jagen!« meinte ich zweifelnd. »Das denke auch ich. Mein Vater, Roter Bär, wird dir die Schmähung nie verzeihen, die du über unser Haus gebracht hast.« »Ich kann es mir denken!« versicherte ich leise. Ich wußte, was sie nun dachte. Für sie hatten sich die Dinge tatsächlich entschieden geändert. Jemand wie ich, mit dem Vesta persönlich sprach und den er vom sicheren Tode rettete, stand mit Sicherheit hoch über jedem Jahreskönig. Also war ich wichtiger und wertvoller geworden. Da Honigvogels ganzer Ehrgeiz darauf gerichtet war, die Frau und Gefährtin des mächtigsten Mannes der Stadt zu sein, hatte ihre
Einstellung zu mir je nach dem Grad meiner Wichtigkeit zugenommen oder abgenommen. Mit jenem geradezu gespenstischen Einfühlungsvermögen einer echten Frau hatte sie damals schon, in der Nacht, erkannt, daß ich siegen mußte. Und aus denselben Gründen würde sie mir solange treu sein und mich mit allen Kräften unterstützen, wie ich erfolgreich war. Das gab mir zu denken, war aber nicht unbedingt neu. Ich grinste in mich hinein und fragte: »Dieser Herr Purpurner Stein ... wird er uns helfen, wenn er erfährt, daß wir die Vertrauten Vestas sind? Wird er dir Glauben schenken?« Sie nickte heftig. »Er vertraut mir. Er wird mir glauben und uns helfen. Was hast du vor?« »Ich weiß es noch nicht genau. Auf alle Fälle muß ich es schaffen, Erthu gegenüberzustehen. Vesta hat mir durch seinen Abgesandten gezeigt, wie ich es schaffen kann.« Sie wurde unruhig und schmiegte sich an mich. »Hat Vesta dir auch gesagt, welche Schwierigkeiten zu überwinden sind, Freund des Ober-Geistes?« »Ja. Es wird ebenso schwer sein wie die Kämpfe der letzten Tage. Ich habe auch sie überstanden.« Während ich Meri-Meri umarmte und küßte, wußte ich, daß sie mir helfen würde. Ich war ihrer Hilfe sicher, aber gleichzeitig ging ich eine weitere
Verpflichtung ein. Ich mußte es schaffen, daß sie, nachdem ich Merlane verließ, ihren Stand wiedererlangte. Das vergrößerte die Anzahl der Schwierigkeiten, die ich in den nächsten Tagen erwartete. Drei Schritte standen uns unmittelbar bevor. Zuerst mußten wir ungesehen die Stadt erreichen, dann brauchte ich bestimmte Waffen und die Bekanntschaft der Familie des Herrn Purpurner Stein oder Amar-Jato, wie er sich auch nannte, und zuletzt mußte ich uns einen Weg in die unterirdischen Höhlensysteme erkämpfen. In die Höhlen, vor denen sich jedermann fürchtete, und die zu betreten jedem verboten war! Wir verbrachten eine ganze Nacht und fast den gesamten darauffolgenden Tag in dem Talkessel. Wir gewannen unsere Kräfte zurück und ruhten uns aus, um das große Abenteuer durchstehen zu können. Wir hoben unsere Köpfe hinter dem Teil der umgebrochenen Säule hoch und beobachteten die Szene, die sich unseren Augen bot. Die Dämmerung war vorbei, die Nacht warf ihre Schatten über Merlane. Wieder sah ich annähernd von derselben Stelle aus, an der ich Merlane zuerst betreten hatte, die Gestalten und die vielen Lichter. Jetzt regierte dort der neue Stadtkönig.
»Wie weit ist der Palast von Herrn Purpurner Stein entfernt?« flüsterte ich. Wir mußten uns hier verbergen. Niemand durfte uns entdecken. Unser Leben war in Gefahr, wenn uns jemand sah, bevor sich die Pforten dieses Palastes hinter uns geschlossen hatten. »Siehst du die Fackeln auf dem schartigen Turm dort, vor den drei großen Sternen?« »Ich sehe sie.« »Das ist der Turm des Hauses.« Ich erinnerte mich an die Ritte und die Läufe und das Klettern in der Ruinenstadt, faßte Meri-Meri an der Hand und stand auf. »Schnell! Dort hinüber!« sagte ich und deutete auf den Schatten eines verfallenen, überwucherten Torbogens. Wir befanden uns gerade an der Grenze, an der die Wüste aufhörte und in die grünen Zonen der Stadt überging. Diese Grenzlinie aber war durch das jäh aufschießende Blumenmeer und Pflanzenwachstum nach dem schweren Gewitter verwischt worden. Wir sprangen auf und liefen auf Zehenspitzen die dreißig Mannslängen über die breite Straße hinweg und tauchten in die Schwärze hinter den Säulen und den lang herunterhängenden Gewächsen ein. »Dragon!« wisperte Honigvogel an meinem Ohr. Wir waren gänzlich schutzlos und ohne Waffen. Ich konnte bestenfalls einen Stein werfen oder mit einem Kiesel zuschlagen.
»Ja?« »Es sind noch zu viele Menschen auf den Plätzen und Straßen.« Ich flüsterte zurück: »Wir werden sie umgehen. Keine Sorge, ich bin kein Selbstmörder!« Mit meinem neuen Wissen, das mir Vesta übermittelt hatte, war ich weitaus klüger und besser gegen Überraschungen und lähmende, schreckliche Erlebnisse gewappnet als je zuvor. Viele Dinge, die mir ohne dieses schweigende Gespräch mit Vesta als Wunder erschienen wären, konnten mich nun nicht mehr überraschen. Ich würde sie erkennen. Wir schlichen uns durch den Schatten vorwärts. Unsere leichten Stiefel glitten über Gras und Pflanzen. Weit vor uns waren die vielen Fackeln und Windlichter, deren Schein undeutlich den Weg beleuchtete. Wir kamen bis an eine verfallene Säulenkolonnade, die sich abseits der Prunkstraße und der größten Plätze erstreckte und irgendwo in der Nacht endete. Langsam umrundeten wir eine Säule nach der anderen. Von fern kamen das Lachen und die Geräusche an unsere Ohren, die Gespräche und das Klingen der Pokale. Ein unsinniger Appetit auf Braten und ein gutes Glas Wein ergriff mich. In einem weiten Bogen schlichen wir uns weiter. Die Fackeln und Lampen auf der Plattform des
Turmes zeigten uns den Weg. Wir kamen durch verlassene Höfe, die von kleinen, raschelnden Tieren voll waren. Wir überquerten Sandflächen ohne jedes Leben. Dann wieder wateten wir durch blühende Gärten voller Unkraut und Blumen, die einen betäubenden Geruch ausströmten. Über uns schwangen sich die bröckelnden Bögen von alten Gängen und Toren. Hin und wieder krachte ein Stein herunter, ein Stück Verkleidung prasselte entlang einer Ruinenwand in die Tiefe und zerschlug, die Büsche, scheuchte die Tiere auf. Einmal flog ein großer Vogel von der Seite gegen meinen Kopf und flatterte aufgeregt kreischend davon. Wir warteten mit angehaltenem Atem und mit heftig klopfendem Herzen darauf, daß uns jemand anrief oder verfolgte. Aber ungehindert kamen wir im Verlauf der ersten Hälfte der Nacht bis an den Rand des hellerleuchteten Platzes, der sich vor dem Tor des Palastes ausbreitete. Wir hasteten lautlos eine Steintreppe hoch und blieben im Schatten zwischen den Säulen eines schmalen, hohen Fensters stehen. Von hier aus sahen wir die Menschen schräg unter uns. Fünfzig Mannslängen trennten uns von dem weit offenen Portal. »Der Mann mit dem runden Zeichen auf dem Mantel! Das ist Purpurner Stein!« flüsterte Meri-Meri in mein Ohr. »Ich sehe ihn. Wir müssen warten, bis sich die
Menge verlaufen hat!« bestimmte ich und setzte mich auf einen Steinbrocken. Wir warteten ungeduldig. Ich sah, wie ein junger Mann, der mit einem Mädchen schäkerte, seinen Schild und sein Schwert unweit des Platzes ablegte, an dem wir später den Rasenplatz betreten würden. Waffen, die ich brauchen konnte! fuhr es mir durch den Sinn. »Es wird spät! Sie beginnen sich zurückzuziehen!« wisperte Honigvogel. Auch sie wußte, daß uns ein jämmerlicher Tod bevorstand, wenn man uns entdeckte. »Es ist besser, wenn wir noch etwas warten!« erwiderte ich. Meine Augen suchten die Fläche vor uns ab. Ich versuchte, genügend Deckungsmöglichkeiten zu finden, die wir in kurzer Zeit brauchen würden. Erst einmal im Palast, würde es nicht sehr schwer sein, Herrn Purpurner Stein zu überzeugen. Und von dort aus konnten wir auch in das Höhlenlabyrinth eindringen. Die Nacht würde uns Schutz bieten. Wir warteten also und sahen zu, wie sich mehr und mehr Gruppen auflösten, wie einer der Spaziergänger nach dem anderen zwischen den Gebäuden verschwand, wie ein Liebespaar hinter sich eine Tür schloß, wie jemand langsam über die Fläche ritt und seine Fackel hochhielt. Nur noch vor dem Tor des Palastes standen ein Dutzend Menschen und
sprachen miteinander. Wir konnten nicht erkennen, um wen es sich handelte. »Noch einmal, Honigvogel«, fragte ich beharrlich, »du bist sicher, daß uns Herr Amar-Jato nicht an deinen Vater ausliefert?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Jedoch nicht, bevor er mich angehört hat. Ich muß ihn überzeugen. Wir müssen also versuchen, schnell in seine Gemächer zu kommen.« »Was bleibt uns anderes übrig?« Ich suchte ihre Finger, drückte ihre Hand, dann machten wir uns an den Abstieg. Vorsichtig, denn mit dem Verschwinden der Stadtbewohner waren auch die meisten Lichter erloschen, tappten wir die brüchigen Steinstufen abwärts. Dann bahnten wir uns einen Weg durch die Büsche eines verwilderten Gartens, stöberten ein paar Vögel auf und kamen, nachdem wir uns in einem Halbkreis zwischen mannshohen Trümmerstücken herumgetastet hatten, am Rand der großen Fläche heraus. Noch immer im Schatten, huschten wir schnell ganz nach rechts und versteckten uns in den Resten eines Kreuzgangs. Ich spähte nach allen Richtungen, lehnte mich an die Mauer und lauschte, bis meine Ohren zu singen begannen. Ich konnte nichts und niemanden hören. Wir sahen uns an, zogen die Kapuzen unserer weiten Mäntel über die Köpfe und versteckten unsere
Gesichter hinter dem weißen Stoff. Dann umarmten wir uns und gingen schnell, wie ein Liebespaar, das sich verspätet hatte, entlang des schier endlosen Korridors. Wir kamen an seinem Ende, das mit der Außenmauer des Palastes zusammenstieß, an eine steinerne Balustrade. Dort entdeckte ich ein Pärchen, das auf dem Marmor saß und sich hingebungsvoll küßte. Als wir uns mit abgewandten Gesichtern daran vorbeischoben, entdeckte ich, daß ich die Waffen vergessen hatte. Ich fluchte lautlos, ging hinaus auf den Platz und steuerte auf das Tor zu, das sich vor unseren Augen schloß. Wir waren auf dem Platz allein. Unsere Körper warfen im Licht einiger vergessen flackernden Lampen oder Fackeln lange Schatten, die sich schnell bewegten und über den Rasen glitten wie Wellen über einen Teich. Vor dem Portal blieben wir stehen. »Wenn ich klopfe, Dragon, öffnet ein Diener, der mich erkennt!« sagte sie. »Wir sollten es im Garten versuchen.« »Kennst du den Raum, in dem sich Amar-Jato aufhält?« »Ich finde den Weg dorthin!« flüsterte sie zurück. Ich mußte mich zwingen, nicht zu rennen. Wie lautlose Schatten glitten wir an der langen Mauer entlang, vorbei an den Vorsprüngen, bis zu einem hohen,
schmalen Durchlaß. Als wir die Quadern passiert hatten, herrschte finsterstes Dunkel. Wir befanden uns in einem kleinen, gepflegten Park. Wir vermochten uns nur zu orientieren, weil sich Wege aus weißen Platten zwischen Büschen und unter Bäumen entlangwanden. Langsam und darauf bedacht, kein einziges Geräusch zu verursachen, liefen wir über die Wege und näherten uns einer steilen, schmalen Treppe, die sich bis zu einer großen Öffnung hinaufschrägte, hinter der roter Lichtschein undeutlich zu erkennen war. »Schnell! Vor mir hinauf!« sagte ich. Meri-Meri und ich, jeweils die rechte Hand an der Mauer, kletterten die schmale Treppe aufwärts. Wir blieben auf dem Absatz stehen, ich umrundete das Mädchen und näherte mich den dicken Vorhängen, durch die der Feuerschein eines Kamins funkelte. Honigvogel nickte und deutete in den Raum hinein ... ich schob vorsichtig den schweren Stoff zur Seite und spähte durch den schmalen Schlitz. Ich hielt den Atem an und sah einen älteren Mann, der vor dem Kamin stand, sich eben den Mantel von den Schultern nahm und auf einen Tisch warf, auf dem seine Waffen ausgelegt waren. Leise griff ich hinter mich, zog das Mädchen zu mir heran und wartete, bis sie die Szene aufgenommen hatte. »Das ist Amar-Jato!« sagte sie so leise in mein Ohr,
daß selbst ich es kaum verstehen konnte. Ich nickte und schlug den Vorhang zur Seite. Wir huschten mit zwei Sprüngen in den Raum hinein. Der Ritter hörte ein Geräusch, fuhr herum und sah uns gerade in dem Augenblick, als sich die breiten Stoffbahnen wieder schlossen. »Wer, bei Vesta ... du, Honigvogel?« stieß er in maßloser Verwunderung hervor. Ich sprang an die Seite des Mädchens und hielt einen Finger an die Lippen. »Keinen Lärm, Herr Purpurner Stein!« sagte ich eindringlich. »Wir kommen, um deinen Schutz zu erbitten!« Er hob abwehrend beide Hände und starrte zur Tür. »Ihr seid wahnsinnig! Wißt ihr nicht, daß ihr geächtet seid? Niemand spricht mehr von euch!« »Man wird wieder mit Ehrfurcht von uns sprechen, wenn man erfährt, daß wir die Freunde des Herrschers über alle Elementargeister sind. Uns hat Vesta geschickt!« erklärte ich leise, aber mit fester Stimme. »Höre erst einmal zu, was Meri-Meri dir zu berichten hat!« Der Ritter war unschlüssig. Er war zwischen verschiedenen Empfindungen hin- und hergerissen. »Setzt euch!« sagte er schließlich und deutete auf die Sessel vor dem lodernden Kaminfeuer. »Ein Trunk guten Weines?«
»Ja, bitte!« sagte ich. Kurze Zeit später hatte Herr Purpurner Stein seine Diener weggeschickt, die Türen verriegelt und die Fenster geschlossen. Er setzte sich zwischen uns und sagte: »Nicht laut sprechen. Die Wände haben Ohren. Bringt mich nicht in Gefahr! Was hast du zu berichten, Honigvogel?« Seine Neugierde hatte gesiegt. Leise begann Honigvogel zu erzählen und unterbrach sich nur, um einen Schluck Wein zu nehmen. Sie begann bei der Schilderung, wie man uns durch den Sand gezerrt und an den Felsen gefesselt hatte und endete, nichts auslassend, bei unserem Versuch, hier einzudringen. Immer, wenn sie von Vesta sprach, schien sie selbst zu erschauern, und diese Stimmung teilte sich augenblicklich Herrn Amar-Jato mit. Er trank seinen Pokal leer und schwieg lange. Von ihm hing alles ab. Was würde er tun? Ich warf einen verstohlenen Blick auf den Tisch, auf dem die Waffen lagen.
3.
Endlich sprach er. Ein Scheit knisterte, einige Funken sprangen aus dem Feuer. Ich saß mit gespannten Muskeln da. »Das alles ist wahr?« fragte Amar-Jato zweifelnd. »Bei der Ehre meines Vaters!« schwor Honigvogel. Ich hob die Hand und beugte mich vor. Ich starrte in das bärtige Gesicht des Mannes, den ich auf mehr als fünfzig Jahre schätzte. »Höre, Ritter!« sagte ich. »Bin ich in deinen Augen ein Feigling?« »Bei Vesta! Nein! Du hast gekämpft wie der beste unserer Ritter und noch besser! Du bist ein sehr mutiger Mann!« Ich fragte bohrend weiter: »Glaubst du, daß ich es nötig habe, mich hinter einer Lüge zu verstecken? Ich, der das Auge Vestas in der Stirn trägt?« »Nein, auch das glaube ich nicht. Aber verstehe mich, Dragon! Du brauchst Waffen ... gut, ich kann sie dir geben, weil ich viele Waffen habe, die nicht mein Zeichen tragen. Du bist der Freund Vestas, das glaube auch ich. Aber ich bin ebenso wenig gewillt wie du, von den Männern der Stadt erschlagen oder lebendig eingemauert zu werden!« »Aber wir brauchen einen Führer, der uns die Eingänge zeigt!« sagte ich. »Vesta wird dich ebenso
ehren wie Honigvogel und ich. Aber um dies zu erreichen, müssen wir in die Eingeweide der Erde hinabsteigen.« »Und wenn sie uns sehen und verfolgen?« Ich zuckte die Schultern und sagte: »Dann werden wir schneller laufen als sie. Vesta schützt uns und führt uns sicher zu Erthu. Dies hat er mir versprochen.« Amar-Jato stand auf und deutete auf einen Wandschirm, der einen anderen Teil des großen Raumes abtrennte. »Ich denke nach. Dort hinten findest du Waffen, Schwarzer Falke!« »Danke!« Ich sprang auf, trank einen letzten Schluck Wein und umrundete den Schirm. Ich sah ein Stück Mauer, in deren Fugen dicke Nägel hineingetrieben worden waren. An den Köpfen der Nägel hingen viele verschiedene Waffen. Ich suchte mir einen schmucklosen Helm heraus, setzte ihn auf und band den Kinnriemen, schnallte mir einen Gürtel mit zwei Dolchen und einem Schwertgehänge um, prüfte einige Schwerter und schob eines schließlich in die Scheide. Dann holte ich einen kleinen, runden Schild vom Nagel und warf ihn über die Schulter. Ich entdeckte noch ein Paar Handschuhe, die mir paßten, dann kam ich wieder zurück zum Feuer.
»Ich danke dir, Ritter!« sagte ich. »Und nun auf den Weg zu Erthu. Je schneller wir dort sind und mit ihm sprechen, desto schneller sind wir wieder hier in der Stadt. Und desto eher sind alle Verwicklungen beendet.« Der Mann rang förmlich mit sich. Er war alles andere als feige, das wußte ich, weil es mir Honigvogel berichtet hatte, aber dies war kein Kampf nach ritterlichen Regeln, sondern ein schwerer Verstoß gegen die Gesetze der Stadt Merlane. Plötzlich drehte sich Herr Purpurner Stein herum und deutete mit der Hand gegen meine Brust. »Du weißt, Dragon, daß alle Zugänge zu Erthus Höhlen in den Kellern oder den Innenhöfen der Paläste liegen?« »Ich weiß es!« bestätigte ich. »Du weißt also auch, daß wir an einigen Wachen vorbeikommen und auch die oberen Höhlen betreten, in denen die Mägde und Diener arbeiten?« »Auch das sagte mir Vesta.« »Wie lange, glaubst du, werden wir brauchen?« »Vesta sagte, daß es in ein, zwei Tagen möglich ist, Erthu zu finden. Wenn es nicht der Geist der Erde vorzieht, sich eher zu zeigen. Die Fallen, die er vor seinen innersten Höhlen aufgebaut hat, werde ich allein bezwingen. Wie ich es machen muß, das sagte mir Vesta.«
Wieder schwieg Amar-Jato. Honigvogel erkannte sein Zögern, ergriff den Krug und füllte die Pokale wieder nach. Sie drückte uns die schweren Trinkgefäße in die Hände und sagte: »Du und dein Sohn, ihr seid Anhänger des geheimen Kults des Vesta. Ihr seid verpflichtet, denke ich, uns zu helfen. Soll ich dich beschämen, Ritter? Ich gehe nämlich mit Dragon dort hinunter!« Unglauben zeichnete sich auf dem Gesicht mit dem kurzen, weißen Bart ab. »Du? Du begleitest Dragon?« fragte er bestürzt. »Ich bin neben ihm beinahe gestorben, mich hat Vesta nach ihm befreit, und er hat mich ausgesucht, seine Helferin zu sein. Wem sollte ich sonst helfen? Mein Platz ist an seiner Seite.« Herr Purpurner Stein hob seine breiten Schultern und ließ sie wieder fallen. Dann, anstelle einer Antwort, stürzte er den Inhalt des Pokals hinunter und stellte das Trinkgefäß mit einem harten Schlag auf den Tisch zurück. Schweigend begann er, seine Waffen anzulegen. »Man muß den Mut haben, auch einmal einen Fehler zu machen«, sagte er brummend und streifte die eisenbeschlagenen, schweren Handschuhe über. Hinter uns schloß sich die schwere Tür. Das Innere des Palasts lag in tiefem Schweigen. Nur
wenige Öllämpchen brannten und verbreiteten ein zitterndes Licht. Amar-Jato führte an, Honigvogel ging in der Mitte, und ich bildete den Schluß. Lautlos gingen wir einen langen Korridor entlang, der sich auf ein mächtiges Treppenhaus öffnete. Es war weit nach Mitternacht; um diese Zeit schlief jeder, hatte der Ritter eben gesagt. Ungesehen erreichten wir die Galerie über den Treppen. Hier oben, im Innern des Palastes, war es am gefährlichsten. Je tiefer wir uns hinabwagten, desto weniger wahrscheinlich war es, daß uns jemand sah. Amar-Jato hob den Arm. Wir hielten an. Ich drehte mich um und blickte den Korridor entlang. Ich hatte hinter uns jede Flamme ausgeblasen, jedes Licht gelöscht. Ich konnte nichts mehr sehen und kein Geräusch außer meinem eigenen Atem hören. »Weiter!« Es war nur ein kurzes Flüstern des Ritters. Wir liefen auf Zehenspitzen auf die Treppen hinaus und nahmen mindestens einhundert Stufen abwärts. Wieder löschte ich drei Kienfackeln und eine Öllampe. Hinter uns herrschte eine undurchdringliche Finsternis. Undeutlich konnten wir die Stufen erkennen, die Absätze und die alten Waffen an den Wänden. Mosaike bedeckten den Boden, aber auch sie waren vom Zahn der Zeit verwüstet. Wir liefen unbehindert abermals zwei lange Treppen abwärts. Schon jetzt merkte ich,
daß wir uns unter dem Boden der Stadt befanden. Es wurde kühler und roch moderiger. »Ist hier kein Wächter?« rief ich unterdrückt hinüber zu dem Ritter, der wie ein junger Mann die Treppen abwärts stob, Honigvogel am Oberarm führend. »Nein. Ich glaube nicht!« Abermals erloschen Lichter. Jetzt dehnte sich auch vor uns ein dunkler Schacht aus. Ich sah nur noch drei kleine Lampen. Wir rannten die letzten Stufen hinunter, schoben uns durch einen dreifachen Vorhang und befanden uns in einem langen Gang, der stufenlos schräg abwärts führte. Nur an seinem Ende, das unendlich weit entfernt schien, erkannten wir eine undeutliche Helligkeit. »Schneller, Freunde!« rief der Ritter und stürmte los. Wir folgten ihm willig. Wenn es stimmte, daß nachts weder Arbeiter noch Diener in den Oberen Höhlen beschäftigt waren, dann würde uns niemand mehr aufhalten oder entdecken. Schweigend liefen wir den Gang entlang, auf die graue Helligkeit zu, dann wurden wir wieder langsamer. Der Ritter drückte sich eng an die Wand, als wir den verwitterten Torbogen erreichten. Vor uns schien sich bereits die erste Höhle auszubreiten. Die Merlaner wurden von einer seltsamen Scheu davon abgehalten, die Höhlen zu betreten. Sie schickten, wenn immer es nötig war, ihre Knechte hier herunter. Aber nötigenfalls
würden sie auch selbst in die Höhlen einsteigen. Sollten wir entdeckt werden, so versicherte der Ritter mit grimmigem Lachen, würden Roter Bär und die neuen Würdenträger nicht zögern, hier nach uns zu suchen. »Wartet!« brummte Herr Purpurner Stein und schob sich um Handbreiten nach vorn. Er spähte um die Ecke, drehte suchend seinen Kopf und blickte in die Höhle, von der ich nur einen schmalen Ausschnitt sah. Das Licht vor uns war so schwach wie das einer nebelverhangenen Abenddämmerung. Ich roch Pflanzen, Wasser und tierische Ausscheidungen. Es war nicht eigentlich kühl, aber die Luft, die uns entgegenschlug, war feuchtigkeitsgesättigt und roch dergestalt, daß ich den Eindruck hatte, in den Höhlen wäre es kalt und klamm. Der Ritter winkte uns und ging geradeaus in die Höhle hinein. »Ich kenne die Höhlen ziemlich gut«, sagte er leise. »Auf meiner Suche nach der Wahrheit bin ich hier oft gewandert. Aber ich scheue mich noch immer, hier herumzurennen.« »Begreiflich«, sagte ich und folgte ihm nach links. Ich hatte versucht, mir die Richtung zu merken, in die wir uns bewegten. Mir schien, als ob wir uns unterirdisch auf die Zone zubewegten, die mit dem Gebiet zwischen der Stadt und rund um den Felsenkessel des blauen Sandes war. Aber ich konnte
auch irren, was sogar wahrscheinlich war. »Alle Menschen, die nicht mit Erntearbeiten beschäftigt sind, scheuen sich, die Höhlen zu betreten!« sagte Meri-Meri. Ich sah mich um, soweit das vage Licht Einzelheiten erkennen ließ. Wir befanden uns in einer großen Höhle, aber sie war durch natürliche Pfeiler und Kammern vielfach geteilt. Auf dem Boden hatte sich eine dicke Schicht Erdreich gesammelt. Darauf wuchsen große Pflanzen mit fleischigen Blättern. Irgendwo hinter basaltenen Pfeilern gurgelte ein breiter Bach. Steinplatten, als Brücken über verschlungene Kanäle gelegt, verbanden die Strecken eines Pfades, auf dem wir uns sehr schnell von dem Ort fortbewegten, an dem wir die Höhle betreten hatten. »Warum diese Scheu?« fragte ich. Hintereinander liefen wir durch ein System von großen Kammern. Die Felswände waren es, die dieses matte Licht verbreiteten. Sie waren von faustgroßen Pilzen bedeckt, die fast überall wuchsen und wucherten, und in denen ich das Material für eine Art Salat wiedererkannte, den ich häufig während meines Aufenthalts im Palast gegessen hatte. Die Knollen dieser Pilze leuchteten wie die Hinterleiber von Glühwürmchen. »Alles im Reich Erthus«, gab Amar-Jato zurück, »ist geheimnisvoll. Dazu kommt, daß sich oft Merlaner hier verirrt haben und sehr spät oder gar nicht mehr
aufgetaucht sind.« Wir liefen abermals auf eine Lichtquelle zu. Viele Höhlenabschnitte, die wir durcheilten, unterschieden sich von den anderen dadurch, daß kleine Treppen oder einfach schräge Flächen tiefer hinunterführten. Hin und wieder sahen wir andere Eingänge, die in Höfe oder Keller von Palästen führen mochten. Nach einer Weile rief der Ritter laut: »Wir werden lange laufen müssen. Und es geht bald tiefer hinunter!« »Ich habe verstanden!« rief ich. Gerade rannten wir aus der ersten Höhlenanlage hinaus in eine zweite hinein. Es war ein gewaltiger Felsendom, wie eine gemauerte Kuppel geformt. Aber hier war das Licht heller. Durch verborgene Öffnungen strömte frische Luft herein. Vor unseren Füßen raschelte es. Ein dunkles, huschendes Etwas stieß scharfe, schrille Pfiffe aus. Wie liefen hinaus in eine freie Fläche. Ich sah undeutlich viele Reihen von Bäumen, in deren Zweigen große Früchte leuchteten wie Öllampen, nur ohne Flamme, mit einem kalten, gelben Strahlen. Gleichzeitig mit dem Schrecken, den wir empfanden, als das Tier pfiff und Meri-Meri gellend »Rattas! Rattas!« schrie, sah ich zwei zahme Sarths, ein Lastgespann und eine Reihe Diener, die auf Leitern in den Zweigen standen und Früchte abpflückten.
Gerade, als ich meinen Blick auf einen der Männer richtete, schnitt derjenige eine Frucht ab, deren Leuchten jäh erlosch. Aber zwischen den Arbeitenden stand, deutlich zu erkennen, ein junger Mann. Ein Ritter im weißen Mantel. Er sah uns, erkannte mich und das Mädchen und schrie: »Verräter! Dort sind die Unwürdigen! Diener ... hinauf! Holt sie! Sagt ihnen, der Ausgestoßene und die Verdammten sind hier! Ich verfolge sie!« Zu meiner Überraschung reagierte der Ritter, der uns anführte, mit äußerster Gelassenheit. Er sagte nur: »Verflucht!« und rannte weiter. Ich setzte zu einem schnellen Lauf an und überholte das Mädchen, lief dann an Amar-Jatos Seite. Ich fragte: »Was nun? Entkommen wir ihm?« »Vielleicht. Dort vorn, nach der nächsten Höhle, fängt der Ontryas an, der breite Fluß. Wenn wir ein Boot finden ...« Wir rannten weiter und wurden schneller. Hinter uns ließen die Diener und Knechte die Arbeit fahren und rannten nach allen Seiten auseinander, um an der Oberfläche der Stadt Alarm zu schlagen. In wenigen Augenblicken würden wir eine wütende Meute auf den Fersen haben. Aber der Strecke nach zu urteilen, die wir bereits gerannt waren, mußten wir uns bereits weit hinter den Höhleneingängen der letzten,
wüstennächsten Häuser befinden. Aber vermutlich liefen wir mehr oder weniger im Kreis. »Und wenn wir kein Boot finden?« rief Honigvogel. »Dann kommen wir in Schwierigkeiten!« entgegnete der Ritter. Er hatte sich einmal entschlossen, und jetzt war er gewillt und entschlossen, sein Vorhaben bis zum letzten Atemzug durchzuführen. Ein wahrer Ritter von Merlane, dachte ich, als wir weiterliefen. Zwei Diener und der junge Ritter hefteten sich auf unsere Fersen. Wir hatten jetzt einen Vorsprung von mehr als zweihundert Mannslängen. Noch immer liefen wir durch die Höhle, in der auf Bäumen großes, in allen Gelbtönen leuchtendes Obst wuchs. Wir hasteten den breiten Pfad entlang. Mehrere Tiere, die Meri-Meri Rattas genannt hatte, erschienen. Sie sprangen über den Weg, starrten uns mit riesigen hellen und rötlichen Augen an und pfiffen gellend. Sie waren so groß wie mittelgroße Hunde und bewegten sich auf kurzen, mit Schwimmhäuten versehenen Füßen sehr behend fort. Einmal sah ich ihre Zähne; es waren fast doppelt fingerbreite, weiße Nagezähne in der Mitte der beiden Kiefer. Wenn sie uns in großer Zahl angriffen und nicht dem Auge Vestas gehorchten, würden sie uns binnen Augenblicken zerfleischen können. »Schneller!« rief Honigvogel. Ich warf einen Blick zurück und sah, daß unsere Verfolger nicht aufgeholt
hatten. Wir näherten uns dem Ende dieser Höhle. Eine Galerie aus gerundetem Gestein öffnete sich vor uns. Es sah aus, als sei flüssiges Gestein aus dem Boden gequollen oder habe sich in Form von gedrechselten und gekrümmten Säulen von der Decke ergossen. Wir durchquerten diesen Säulengang und kamen auf eine lange Halde aus weißem Kies. Es waren runde Steine aller Größen, die sich augenblicklich unter unseren Sohlen zu bewegen begannen und uns ausrutschen ließen. »Achtung!« rief der Ritter. Wir glitten aus, fielen auf die Rücken und begannen mit einer rasenden Abwärtsfahrt. Unsere Körper drehten sich, als befanden wir uns auf blankem, gefrorenem Eis. Wir schossen kreiselnd und schleudernd dem Boden der nächsten Höhle entgegen. In das Geräusch der klickenden und prallenden Steine mischte sich ein Rauschen und Gurgeln, das die Nähe eines unterirdischen Stromes ankündigte. Das Gebiet unter der Stadt schien so viele Höhlen zu haben wie ein Schwamm Löcher. Wir rutschten nebeneinander auf einem schmalen Sandstreifen aus und blieben wie betäubt liegen. Ich stemmte mich hoch und kam auf die Beine. Kleine Steine fielen aus meinen Stiefeln, als ich sie in rasender Eile auszog und umdrehte. »Dragon! Dort hinüber! Macht die anderen Boote los
und laßt sie wegtreiben!« rief der Ritter. »Sofort!« Ich sah, was er meinte, und rannte augenblicklich los. Am Ufer des breiten schwarzen Flusses gab es einige Stege und etliche Vorrichtungen, mit denen schwere Netze emporgezogen werden konnten. Etwa fünfundzwanzig Boote schaukelten in den Wellen des Ontyras. Aber ich sah, während das Mädchen und der Ritter durch hüfthohes Gras sich näherkämpften, noch andere Dinge und Einzelheiten, die nicht dazu angetan waren, mich zu beruhigen. Eine Brücke aus Holzstämmen, die auf geradezu künstlerische Weise mit Lianen aneinander befestigt waren, spannte sich über den Fluß. Ich hatte den Steg erreicht und griff ans Schwert und an die Scheide, riß die Waffe heraus und hieb auf die Haltetaue ein. Unter den wuchtigen Schlägen faserten sich die Taue auf und rissen auseinander. Ich begann oben bei dem schwersten Boot und kämpfte mich wie ein Berserker flußabwärts. In der kleinen Höhle dröhnten meine Schläge, wenn ich hölzerne Poller traf. Ein Boot nach dem anderen riß sich los und trieb, langsam kreiselnd, flußabwärts. Jetzt erschienen die Verfolger am oberen Ende des Hanges und stießen, als sie uns sahen, ein Geheul der Wut aus. Flüche schollen über hundert Mannslängen
Entfernung zu uns herüber. Jetzt war der Ritter heran, riß mit erstaunlicher Kraft das Schwert heraus und trennte ebenfalls Seile und Taue auseinander. Dabei rief er: »Das kleine Boot ... hier unten ... achte auf die Ruder, Dragon ... Honigvogel, spring hinein!« Sieben oder acht Boote trieben schaukelnd, sich drehend und halb querschlagend, den Fluß hinunter. Ein Boot war noch übrig. Meri-Meri sprang hinein und ergriff die Ruder. Ich näherte mich von oben diesem Boot, Amar-Jato kam von unten. Einige kleinere Boote lagen noch an den Stegen, als er plötzlich schrie: »Dragon! Her zu mir! Die Brücke – sie kommen!« Als habe er ein Signal gegeben, kamen aus einer dunklen Öffnung mindestens ein Dutzend Stadtbewohner herausgerannt. Ihre Schritte dröhnten wie dumpfer Trommelwirbel auf den Planken der Brücke. Auch die Verfolger, die über die Kiesfläche heruntergerutscht waren, näherten sich uns. Von zwei Seiten rannten der Ritter und ich auf das kleine Boot zu. Meri-Meri saß in seiner Mitte. Wir sprangen mit riesigen Sätzen hinein. Die Verfolger blieben auf der Brücke kurz stehen; ich hörte es am Nachlassen der Schrittgeräusche. Dann ertönten einige Kommandos. Der erste Pfeil heulte durch die Luft und schlug mit einem krachenden Schlag in meinen Schild.
Ich hob den Arm und zielte mit dem Schwert auf das dünne Halteseil. Auch Amar-Jato holte weit aus. Dann waren wir frei. Nach zwei wuchtigen Schlägen, mit denen wir die Taue kappten, schoß das schwer beladene Boot in die Strömung und drehte sich im Kreis. Zwei Pfeile zischten ins Wasser. Ich griff nach einem Ruder, warf das Schwert zwischen meine Füße und schwang mit einem einzigen Ruderschlag das Boot wieder in die günstigste Richtung zurück. Der Ritter, der sich eben im Bug auf die Bank fallen ließ, riß zwei Ruder an sich und setzte sie ein. Dann bewegte sich sein Körper mehrmals ruckartig von vorn nach hinten. Wie ein Pfeil schoß das kleine Boot davon. Hinter uns wurde das Geschrei der Verfolger lauter. Noch vier Boote lagen am Steg. Wir hatten es nicht mehr geschafft, alle Taue zu kappen ...
4.
Aus einem Höhleneingang, der dreißig Mannslängen tiefer lag als die Ebene der inneren Stadt, kamen ungefähr zwanzig Ritter. Sie alle waren flüchtig
angezogen und hatten jene Waffen in den Händen oder über den Schultern, die sie gerade in Reichweite gehabt hatten, als die schrillen Alarmfanfaren die Stadt aufgescheucht hatten. Auf der anderen Seite näherten sich kleine Gruppen, die von den Dienern und Knechten geweckt worden waren. Die Knechte wußten, daß unser Ziel kaum etwas anderes sein konnte als der Fluß. Also würden sich aus vielen anderen Eingängen entlang unseres Weges die Verfolger ergießen. Dann allerdings waren es keine Verfolger mehr, sondern Ritter, die darauf lauerten, daß wir vorbeikamen. Wir passierten mit wuchtigen Ruderschlägen zwei losgerissene, kreiselnde Fischerboote. Also gab es in den Höhlen Erthus sogar einen einigermaßen organisierten Fischfang! »Purpurner Stein?« rief ich und warf einen Blick über die Schulter. Die Verfolger bemannten gerade die Boote, die wir ihnen gelassen hatten. »Was willst du wissen, Dragon?« Unter der Wucht unserer Bewegungen krümmten sich die langen Schäfte der Ruder. Das schlanke Boot schoß in rasender Fahrt dahin und bahnte sich schäumenden Bugs einen Weg durch das wirbelnde Wasser. »Wohin führt der Fluß?«
»Immer abwärts. In vielen Windungen. Dann kommt irgendwann eine Anzahl Stromschnellen. Vor dem Wasserfall müssen wir an Land, sonst werden wir zerschmettert. Hinter dem Wasserfall geht es eine Ebene tiefer, zu den Herden.« »Sind dort Verfolger zu erwarten?« »Vielleicht!« sagte Herr Purpurner Stein zwischen zwei mächtigen Ruderschlägen. »Du mußt wissen, daß es in vielen Häusern und in einigen Innenhöfen einen Schacht gibt, der fünf oder sechs Ausgänge hat. Sie liegen untereinander.« »Verdammt!« sagte ich laut und ließ einen langen Fluch folgen, den ich von Kapitän Jaggar gelernt hatte. Jaggar und Yina, die Maus ... Gestalten aus einem anderen Leben. Ich widmete mich wieder dem Rudern. »Du sagst es, Dragon!« erwiderte Amar-Jato melancholisch. Wieder überholten wir einen Pulk von drei Booten, die sich ineinander verkeilt hatten. Zu der Wut der Merlaner, die uns tot geglaubt hatten, sammelten wir noch den Haß der Fischer auf unsere Häupter, deren Boote in den Stromschnellen und im Wasserfall zu Bruchstücken zerschmettert werden würden. In zahlreichen Windungen kroch der Fluß durch die Höhlen. Zonen großer Helligkeit wechselten ab mit Tunneln, die schwarz waren wie die Gedanken eines unbekehrbaren Sünders.
Vesta hatte mir alles gesagt, was er wußte. Aber ich kannte den Weg nur sehr undeutlich, der in die geheimnisvolle Tiefe von Erthus innerster Höhle führte. Vorläufig würde uns noch Ritter Purpurner Stein führen können, aber später würde ich meinen Weg allein suchen müssen. Eine kurze Zeit lang raste unser leichtes Boot über die Wellen und folgte der Strömung. Wir kamen durch kleinere und größere Höhlen, die noch immer verlassen und leer waren. Nur die Pflanzungen, die hier unter der Obhut des Erdgeists wuchsen und leuchteten, waren vom Fluß aus zu erkennen. Aber noch lange waren wir nicht im Innern Reich, das selbst für die wagemutigsten Stadtbewohner mit Ausnahme der Erwählten und der Jahreskönige tabu war. »Dragon! Wir nähern uns langsam den Höhlen, die leicht von oben zu betreten sind. Die Gefahr nimmt zu!« rief der Ritter vom Bug aus. Ich hob mein Schwert auf und schob es in die Scheide zurück. Der Griff hatte sich in einem Seilbündel verhakt, das an einen kleinen, sechsflunkigen Wurfanker gekettet war. »Werden wir an Land gehen müssen, Amar-Jato?« fragte ich zurück. »Nein, noch nicht. Erst vor dem Wasserfall!« »Ich habe verstanden.« Die Verfolger waren noch immer außer Sicht. Unser
Vorsprung zu Wasser war zu groß, die Geschwindigkeit des kleinen Bootes zu hoch für die bemannten Boote der Ritter. Aber inzwischen würden sie durch die Korridore eilen, die Treppen hinunterrennen und versuchen, uns aufzulauern. Es gab für uns hier tausend Verstecke, aber es gab ebenso tausend Möglichkeiten, uns zu überlisten. Gut, dachte ich voller Sorge, bis zum Wasserfall des Ontyras waren wir noch einigermaßen in Sicherheit. Dann würde es schwierig werden. Wieder tat sich, nachdem wir durch eine schwarze Halbröhre und durch gurgelndes, gespenstisch dunkles Wasser gerudert hatten, eine neue, große Höhle auf. Sie glich einem schrägen Hang, der mit langen Reihen von Pflanzen ausgesteckt war, die Weinreben ähnelten. Die gesamte Decke der Felsenhalle leuchtete in einem kräftigen, sonnengelben Licht. Es war trocken und warm in dieser Höhle. Die Ufer des unterirdischen Flusses, der sich hier entlang von Sandbänken wand und seichter wurde, waren von fetten, dunkelgrünen Gräsern bestanden. Vögel flogen mit trägen Flügelschlägen auf, als wir hastig vorbeiruderten. »Einer der vielen Weinberge, Meri-Meri?« fragte ich laut. Das Mädchen, das ebenfalls von dem geheimnisvollen Schweigen der Höhlen wie gelähmt war, das ständig daran dachte, daß es sich in einer verbotenen Zone bewegte, hob zaghaft die Schultern.
»Ja, einer der Weinberge. Sie ernten, höre ich, das ganze Jahr über.« Es war erstaunlich! Die Wände und die Decken der Höhlen waren von Flechten und Pilzen bedeckt, die genügend hell und warm leuchteten, um Weintrauben zum Reifen zu bringen. Erthu schien auf eine wahrhaft wunderbare Weise für seine rund achttausend Anhänger dort oben in den Ruinen zu sorgen! Vor uns nahm das Rauschen zu, wurde lauter und eindringlicher. Es kündete die Stromschnellen an. Das war für uns gleichermaßen ein Vorteil und ein Nachteil. Wir kamen zwar tiefer hinunter, immer näher an die inneren Höhlen heran, aber die Fahrt durch die Schnellen würde uns auch das Leben kosten können. Ich vertraute auf die Erfahrung und Gewandtheit unseres Anführers und meine eigene Schnelligkeit. »Kennst du die Schnellen, Amar-Jato?« rief ich. »Nicht besonders gut. Aber der Strom hat viel Wasser! Wir werden heil über die Klippen kommen!« Unter ihren Kleidern zitterte Meri-Meri. Ich spürte es, als ich ihr beruhigend die Hand auf die Schulter legte. »Halte dich fest, bleibe in der Mitte des Bootes sitzen. Auch wenn es gefährlich aussieht – wir bringen das Boot durch!« sagte ich. Sie nickte schweigend. Jetzt wurde auch die Strömung stärker, da sich das Wasser zwischen engen Felswänden preßte. Die
Nußschale schaukelte hin und her, bäumte sich auf und fiel krachend und gischtend wieder zurück ins schwarze Wasser. Immer wieder mußten wir mit schnellen Ruderschlägen das Boot genau in die Strömungsrichtung bringen. Ich war aufgeregt und fühlte mein Herz wild schlagen. Das Brausen und Zischen der Stromschnellen wurde abermals lauter, als der Fluß seine Richtung änderte und aus dem scharf eingeschnittenen Tal herausschoß, in geraden Lauf überging und breiter, gleichzeitig wieder flacher wurde. »Dragon! Wir werden scharf rudern und steuern müssen!« »Ich bin bereit!« rief ich. »Haltet euch fest! Wir schaffen es!« Aber ich konnte es selbst nicht recht glauben. Zum Nachdenken blieb keine Zeit, denn die starke Strömung riß uns mit sich. Das Boot schlingerte gefährlich. Die ersten großen Wellen, die sich vor unsichtbaren Felsbrocken und Steintrümmern auftürmten, wurden sichtbar. Sie trugen breite, schäumend weiße Kronen. Jetzt wurden die Geräusche so laut, daß wir nicht einmal mehr die eintauchenden Ruderblätter hörten. Zischend, brodelnd und fauchend erwartete uns eine breite, zweifach gekrümmte Fläche, die in gefährlichem Winkel abwärts führte. Wir hielten mit raschen Ruderschlägen die Nußschale etwa in der
Mitte der Fahrrinne. Die erste Welle hob uns eine Mannslänge weit, hob uns hoch und warf das Boot flach in die Wassermassen zurück. Meri-Meri hielt sich krampfhaft fest, drehte den Kopf zu mir herum und schrie laut. Ich sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten. Der Ritter stemmte sich mit aller Macht gegen die Planken des Bootes und handhabte die Ruder gleichzeitig als Fortbewegungsmittel, als Steuer und als Stangen, mit denen er das Boot von den Felsen wegstieß. Ich tat es ihm gleich. Ich hielt mich mit den Kniekehlen und den Waden am Sitzbrett fest, klammerte mich an die Ruderschäfte, zog einmal den linken Arm an, dann wieder den rechten. Das Boot schwänzelte hin und her, aber noch immer befand es sich im tiefen, wirbelnden Wasser. Es wurde schneller von Augenblick zu Augenblick und raste mit dem Wasser schräg abwärts. Nur wenige breite Bänder von zopfartig herunterhängenden Flechten befanden sich an der Decke und den Wänden der bizarren, gespenstischen Höhle, in der die Schnellen sich eingegraben hatten. Ein Felsen kam uns entgegen, das Boot wurde schräg darauf zugeschaukelt, legte sich zur Seite, aber gleichzeitig reagierten der Ritter und ich. Knisternd und splitternd rammten die Ruder die
Steine, die Schäfte bogen sich gefährlich durch, dann schoben wir das Boot um eine halbe Mannslänge wieder zurück nach links. Es ging weiter. Von beiden Seiten türmten sich uns jetzt Wellen entgegen. Sie markierten eine enge Passage zwischen zwei Felsnadeln, die sich wie Finger mit langen, zersplitterten Nägeln aus dem gischtenden Wasser hoben. Das Boot steuerte gerade darauf zu, tauchte mit dem Heck tief ein, hob seinen Bug und tanzte hilflos auf dem Wasser. In der vagen, phosphoreszierenden Beleuchtung wurde diese Fahrt zu einem Alptraum besonderer Art. Rings um uns die zischende Hölle des bewegten Wassers, die Einsamkeit, die beängstigende Schnelligkeit, mit der alles ablief. Der Ritter zog die Ruder ein, warf eines davon hinter sich und schmetterte es mir beinahe an den Schädel. Ich stieß beide Arme nach vorn und ließ meine Ruder nach hinten treiben, so daß sie wie Steuerflächen wirkten. Dann erhob sich Amar-Jato im Boot und richtete das Ruder wie eine Lanze aus. So erwartete er den Durchgang zwischen den Felsen. Mein Herz schlug hämmernd. Ich spürte den Pulsschlag bis in den Hals. Meine Stirn bedeckte sich mit kaltem Schweiß. Wie ein Pfeil, der sich unbeeinflußbar dem Ziel näherte, schoß das Boot, immer noch schneller
werdend, auf den engen Durchlaß zu. Der Ritter federte in den Knien, Meri-Meri und ich erwarteten das Ereignis festgeklammert am Boot. Dann hob uns die Doppelwelle, kantete das Boot und schleuderte es auf dem Wogenkamm genau durch die Passage. Wir balancierten einen Augenblick lang zwischen den Felsen, die bis auf Handbreite herangekommen waren. Dann erhielten wir einen krachenden Stoß im Heck tauchten nach unten und schwangen mit der Welle abwärts. Das Wasser brach sich und verlor seine zerstörerische Kraft. Vor uns verbreitete sich das Flußbett. Es hatte sich schlagartig in eine schräge Fläche verwandelt, die völlig weiß von schäumendem Wasser war. Dieses Wasser war nur eine Handbreit tief, aber durchsetzt von messerscharfen Steinen und Felsbrocken. Wieder schnellten meine Ruder nach vorn und brachten das Boot, das zum erstenmal mit dem hölzernen Kiel über den Stein schrammte und ruckartig abgebremst wurde, in eine stabile Lage. Auch der Ritter griff wieder zum Ruder, stemmte es in den Boden und hob dadurch, daß er seine Muskeln anspannte und sein Gewicht verlagerte, das Boot vom Grund weg und ein Stück abwärts. Wir rutschten und polterten abwärts. Immer wieder versuchte der Kahn, sich querzustellen, aber wir handelten schnell und änderten den Kurs, ehe es zu
einem Kentern kommen konnte. In einzelnen Behüben, unterbrochen von unseren wütenden Versuchen, die Nußschale nicht aufsitzen zu lassen, ging es die Schrägfläche abwärts. Hier unten, in einer riesigen rollenden Welle und einem Strudel, vereinigten sich die vielen kleinen Wasseradern wieder. Wasserstaub verhüllte das Bild und dämpfte die Geräusche des fallenden, schäumenden und zerstäubenden Wassers. Wieder hämmerte von unten ein Felsen gegen den Bootsboden. Ein Spalt zwischen den Planken öffnete sich und ließ Wasser ins Innere. Und wieder ein Stoß von mir! Und wieder machte das Boot einen Satz und schoß dem Wirbel entgegen. Schließlich, mit einer Anstrengung, die uns beiden das Blut in die Gesichter trieb, schwang das Boot herum und steuerte im letzten Zehntel der Bahn auf den breiten Schaumstreifen zu. Der Ritter ergriff das zweite Ruder, das Mädchen half ihm dabei. Er setzte das Holz ein und fiel wieder schwer in den Sitz zurück. Dann ruderten wir unter Anspannung aller Kräfte. Das Boot wurde schneller, richtete seine Nase auf den Wirbel und schoß mitten hinein. Die Ruderblätter tauchten in Wasser ein und verloren den Halt, wenn sie in die Gischt und den Schaum eindrangen. Mit ruckartigen Stößen, gleichzeitig auf und ab tanzend, passierten wir den
Wirbel, stießen durch den Wassernebel und kamen mit einem ungeheuren Schwung aus einer Mannslänge Höhe ins stille Wasser nach den Stromschnellen. »Gerettet, Dragon!« schrie der Ritter. Ich zitterte am ganzen Körper und konnte nur nicken. Ich schöpfte eine Handvoll Wasser und kühlte damit mein heißes Gesicht. »Und jetzt noch den Wasserfall!« sagte ich dann, nachdem ich mehrmals zum Sprechen angesetzt hatte. »Er ist dicht vor uns!« Ich hob den Kopf, sah mich in der veränderten Umgebung um und entdeckte, daß sich das Bild abermals drastisch geändert hatte. Nun ruderten wir mit einer sehr viel schwächeren Strömung über einen künstlichen See, der unter einer länglichen Höhle lag. Sämtliche sichtbaren Flächen der Höhle waren mit einer Schicht von Gewächsen bedeckt, die selbst leuchteten und aussahen wie winzige Glassplitter oder feine Diamanten. Ihre Farbe war ein eisiges Blau. Diese leuchtenden kristallförmigen Pilze oder Flechten bedeckten jede Handbreit der Felsen, die einen seltsamen Aufbau zeigten. Während wir mit schnellen, rhythmisch abgestimmten Bewegungen ruderten, als gelte es unser Leben, sah ich mich um und entdeckte, daß beide Seitenwände der Höhle, die vierhundert Mannslängen in ihrer Längsausdehnung haben mochte, in Galerien eingeteilt waren. Zwei oder drei
Galerien gab es, jede höher als die vorübergehende, aber alle hinter Felssäulen von unregelmäßiger Dicke und in unregelmäßigen Abständen. Die Felsgeländer, die ebenfalls in dieser kalten Leuchtfarbe schimmerten, waren einen knappen Bogenschuß von unserem Boot entfernt. Das Rauschen und Brausen der Stromschnellen nahm ab. Aber vor uns ertönte bereits wieder das unheilschwangere Zischen des Wasserfalls. Unser Boot zog eine dreieckige Kielspur hinter sich her. Mehr und mehr Wasser drang durch den Spalt zwischen den Planken herein. »Ritter Purpurner Stein! Du warst hervorragend!« sagte ich. »Wir müssen ans Ufer, ehe wir den Fall erreichen.« »Am besten ist es auf einer kleinen Sandfläche dicht unter der Brücke«, sagte er. »Einverstanden.« Viele kleine Vögel flatterten hoch über dem Wasser von einer Wand zur anderen. Sie schienen Nahrung und Höhlen oder Nester zu haben. Es waren Tausende, sie alle schienen weiß oder sehr hell zu sein. Ich blickte weiter um mich. Die galerieartigen Nebenhöhlen störten mich – sie deuteten darauf hin, daß man sie betreten konnte. Plötzlich konnten dort Verfolger auftauchen. Wir ruderten nicht besonders schnell, aber zügig. Ich wurde unruhig. Meine Augen glitten, während
ich arbeitete wie eine Maschine, über die Aussparungen in der Felswand. Ich sah keine Bewegungen, keine Menschen, keine Tiere. Die Stille war in diesem Fall beängstigend. Wo waren die Verfolger? Sie müßten schon längst zu sehen sein. Plötzlich hörte ich ein dumpfes, rasend schnelles Trommeln. »Amar! Hörst du es auch?« Ohne sich umzudrehen, ohne in seinen Anstrengungen nachzulassen, rief der Ritter leise zurück: »Ich höre. Es sind die Hufe von Kampf-Sarths!« Wir hatten zwei Drittel des Sees hinter uns gelassen und steuerten jetzt die Kante an, hinter der das Wasser fünfzig Mannslängen tief senkrecht abstürzte. Der Ritter blickte nach links, ich suchte die rechts liegenden Galerien ab. Und schon sah ich die zweite Gruppe der Verfolger. Sie hatten sich mehr Zeit genommen, um uns wirkungsvoll begegnen zu können. Ich konnte mehr als ein Dutzend zählen, die schwer bewaffnet, aber dennoch nicht voll ausgerüstet waren. Sie alle saßen auf hastig gesattelten und gezäumten Kampf-Sarths. Ich sah, wie sie aus einem Querstollen heraus in eine Galerie hinein galoppierten. Die Hufe der Tiere rutschten aus, und die Reiter hockten vorgebeugt in den Sätteln. Noch hatte uns keiner gesehen, aber es
konnte nur noch Augenblicke dauern. Im gleichen Moment schob sich, nachdem unser Boot eine vorspringende, blauleuchtende Felsnase passiert hatte, die Brücke in unser Gesichtsfeld. Eine doppelt mannsbreite Felsmasse, die sich kühn über das Ende der Schluchthöhle schwang, keine zwanzig Mannslängen von der Abrißkante des Wassers entfernt. Ich dachte blitzschnell nach, und dann beschloß ich, einen wahnwitzigen Plan in die Tat umzusetzen. Gelang er nicht, stürzten wir uns über den Wasserfall zu Tod.
5.
Als ich mich bückte, um das Seil hochzuheben, sah ich, daß wir bis zu den Schienbeinen im Wasser standen. Deshalb war also das Rudern immer schwerer gefallen. Wieder erlebten wir, daß das Geräusch fallenden und schäumenden Wassers lauter und deutlicher wurde. Ich bemerkte, daß die Reittiere angehalten wurden. Ich hörte es an den nachlassenden Schlägen der Hufe
auf Fels und Erdreich. Dann folgten unverständliche Schreie und Kommandos. Ich packte das Seilbündel und schlang ein Ende an das fest eingefügte Brett, auf dem ich saß, dann zerrte ich mehrmals prüfend an dem Knoten. »Ritter!« sagte ich hart, während ein Wurfspeer von oben durch die Luft segelte und unweit des Bootes ins Wasser zischte. »Ich höre, Dragon!« »Wir gehen nicht an Land. Wir retten uns dort auf die Brücke! Ich weiß, was ich vorschlage. Sie kommen mit den Tieren nicht dorthin!« »Einverstanden! Aber wirf gut, denn sonst sterben wir.« Das Mädchen war unter der unerträglichen Steigerung sich ständig abwechselnder Gefährdungen zusammengebrochen und lag mit zuckenden Schultern weinend auf der mittleren Bank. Ich stand auf, während die Pfeile um uns herum zischten und mit einem scharfen, tödlichen Geräusch in die Bootswand fuhren oder dicht neben dem Bord ins Wasser. Langsam entrollte ich das Seil und legte es neu in losen Windungen um meinen Arm. Ich packte die kurze Kette hinter dem Anker und begann, den Anker in einem vertikalen Kreisbogen zu schwingen. Er wurde schneller und schneller, seine Spitze berührte bei jeder Kreisbewegung einmal leicht das Wasser.
Während ich den Anker, jetzt zu einem Wurfanker geworden, herumschwang, nahm ich sorgfältig Maß. Ich konnte höchstens dreimal werfen. Der Ritter hatte begriffen, was ich vorhatte, und worum es ging. Er ruderte gegen die Strömung an und verlangsamte das Boot. Wir trieben auf die Kante des Wassers zu. Ununterbrochen schossen die Verfolger ihre Pfeile auf uns ab, aber ein Treffer würde ein Zufall sein. Ich maß den Abstand und den Winkel mit den Augen ab und ließ dann das Seil los. In einer gekrümmten Flugbahn schoß der Anker aufwärts, flog in einem hohen Bogen über den Fels und schlug in den freien Raum jenseits der Felsbrücke. Ich hatte unerwartet viel Glück, denn der Anker wurde von dem eigenen Schwung und der Fliehkraft beschleunigt, das Seil wickelte sich um den Felsen, und nachdem der schwere Anker genau über unseren Köpfen wieder herumschwang, verhakte er sich in dem Seil. Ich grinste schweigend und begann langsam an dem Seil zu ziehen. »Du hast es, Dragon!« knurrte der Ritter. Von derjenigen Galerie, auf der die Verfolger jetzt standen und auf uns schossen, führte ein Pfad auf die Brücke hinauf, den kein Sarth gehen konnte. Wir würden abermals einen großen Vorsprung herausschlagen können.
Jetzt war das Seil straff. Ich schlang einen großen Knoten hinein und machte eine Schlaufe. Dann ließen wir das Boot vorsichtig treiben, bis der Bug des Bootes das Seil gerade und gestrafft hielt. Ich nickte dem Ritter zu und sagte leise: »Nach mir du, und dann ziehen wir das Mädchen hoch.« »Ich helfe dir!« Zwischen dem oberen Rand der Felsbrücke und dem Bord des Bootes war ein Abstand von rund zehn Mannslängen. Ich sammelte meine Kräfte, sprang in die Höhe und faßte das Seil. Ich schlang es um Fuß und Knie und begann, so schnell wie möglich daran hinaufzuklettern. Wütendes Geschrei der Verfolger war die Antwort. Und während sich das Seil drehte, während ich mich Hand um Hand hinaufzog, während das nasse, faserige Seil meine Arme aufriß und an meinen Knien scheuerte, zischten die Pfeile an mir vorbei, schlugen ins Wasser oder gegen den Stein, und aus der Richtung der Stromschnellen kamen laute Schreie. Das erste Boot der Verfolger bahnte sich einen Weg durch Gischt und Wassernebel. Ich griff in die gläsern scheinenden Kristalle, verscheuchte ein paar Vögel und zog mich mit einer letzten Anstrengung hoch. Als ich mich drehte und nach unten blickte, sah ich in Meri-Meris schreckensbleiches Gesicht und in die Züge des Ritters,
die finstere Entschlossenheit ausdrückten. Ich sprang auf die Füße und riß den Schild von den Schultern. Herr Purpurner Stein redete auf das Mädchen ein. Meri-Meri schien zu verstehen, was er meinte, dann kletterte der Ritter am Seil hinauf. Von der einen Seite kamen drei ramponierte Boote voller zorniger Verfolger heran. Sie ruderten wie die Besessenen. Einige der Verfolger, die aus der Galerie hervorgebrochen waren, kletterten im ersten Drittel des Pfades, der zur Brücke hinaufführte. Der Ritter war nicht nur ein furchtloser, entschlossener und wendiger Mann, sondern ein Kletterer, dessen Leistung die meine weit in den Schatten stellte. Er kletterte das Seil, an dessen anderem Ende das Boot hing, rasend schnell hinauf und ergriff meine Hand. Mit einem einzigen Ruck riß ich ihn auf die Füße. »Danke!« knurrte er. Sein Gesicht war schweißüberströmt. »Und nun das Mädchen. Wir müssen sie ziehen!« Fräulein Honigvogel riß den Dolch aus ihrer Kleidung, stellte beide Füße in die Seilschlaufe, während wir das eine Ende des Seiles lockerten. »Schneide ab! Schnell!« rief ich nach unten. Ein Pfeil prallte mit einem häßlichen, kreischenden Geräusch von dem Helm des Ritters ab. Meri-Meri
bückte sich und schnitt unter den Sohlen ihrer weichen Stiefel das Seil durch. Als die Fasern sich auslösten, schwang das Mädchen wie ein Pendel dicht über dem Wasser dahin. Das befreite Boot schoß davon und hatte, während wir das Seil einholten, binnen kurzer Zeit die Kante des stürzenden Wassers erreicht, kippte und entschwand unseren Blicken. Wir zogen ächzend am Seil, hoben Meri-Meri in einer Anzahl kleiner Rucke hoch, schließlich packte ich mit einer Hand an ihren Gürtel, krallte die Finger in das Leder und zog sie hinauf auf das Felsenband. Sie schüttelte sich und stieg aus der Seilschlaufe. »Und nun, mein tapferer Freund«, sagte ich und zog mein Schwert, während ich mit dem linken Arm die Griffe des Schildes suchte und fand, »haben wir einen neuen Gegner vor uns. Dort entlang geht unser Weg.« Ich deutete auf die Sarths, die von einem Mann gehalten wurden. Es waren etwa fünfzehn starke Tiere. Rund vierzehn Männer krochen und kletterten, ihre Waffen mit sich tragend, den Pfad herauf. Drei von ihnen hatten bereits ebenes Gelände erreicht. Ritter Purpurner Stein nickte schwer. »Ich sehe, was du vorhast. Ich stimme mit ein. Zeigen wir es ihnen!« »Weißt du von dort aus den Weg?« fragte ich. Honigvogel sah, ohne etwas zu begreifen, angstvoll von einem zum anderen.
»Eine gute Strecke des Weges kenne ich, fürwahr!« sagte er. Wir befanden uns in der Mitte der Brücke. Die Boote näherten sich, und die Bogenschützen dort legten die Pfeile auf die Sehnen. Sie würden uns treffen, daran bestand kein Zweifel. Andererseits versammelten sich die ersten Verfolger, die den Pfad erklommen hatten, am Ende der Brücke, unter dem breiten Bogen einer der blauleuchtenden Arkaden. Aufgeregte kleine Vögel mit silbernem Gefieder umkreisten uns wie Insektenschwärme. Das Felsenband der Brücke war mehr als eine Mannslänge breit. Der Ritter und ich zogen die Schwerter, nickten uns zu und schoben das Mädchen hinter uns. Wir mußten durchbrechen. »Du warst ein Kampfgefährte, wie ich mir ihn seit langem gewünscht habe!« sagte ich zu Amar-Jato. »Verwandeln wir uns also in eine Lawine aus Felsen und Stahl!« »Wohlan, du Großvater aller Abenteurer!« sagte er und grinste mich mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes an, der seine Geschichte hinter sich wußte. »Gehen wir zu den Sarths!« Wir senkten die Köpfe, rissen die Speere hoch, schwangen die Schwerter und stießen dumpfe Schreie aus. Meri-Meri rannte mit fliegenden Kleidern hinter uns her, als wir losstürmten. Wir liefen nebeneinander
auf dem schmalen Felssims. Unter uns schlugen die Sehnen, die Pfeile heulten schräg hinter unseren Rücken hinweg. Wir warfen uns auf die Verfolger, die jetzt sieben oder mehr Personen waren und uns am Ende des Pfades erwarteten. Der Zusammenprall erfolgte mit der Wucht eines stürzenden Felsens. Unsere Schwerter wirbelten, unsere Körper verwandelten sich in Rammböcke, und selbst die Schilde wurden zu Waffen. Ich schlug zu, deckte mit dem Schild, stellte einen Fuß vor und rammte den ersten Gegner mit dem Schild. Der Mann stieß einen hallenden Schrei aus, verlor das Gleichgewicht und kippte von der Brücke. Augenblicklich sprang ein anderer vor und rannte in einen Schwerthieb des Ritters hinein, der ihm die Beine unter dem Körper wegriß. Wieder stolperte er über meinen Fuß und landete im aufklatschenden Wasser. Langsam wich neben mir der Ritter zurück, aber an der Art seiner Schläge sah ich, daß er fintierte. Ich schrie auf, als ein Schwerthieb meinen Schild traf, und taumelte rückwärts. Die Verfolger setzten nach und schoben sich – es waren jetzt acht Männer! – auf die Brücke hinaus. »Dragon!« »Jetzt!« sagte ich und schnellte mich vorwärts. Ich schoß zwischen zwei Angreifer hinein, breitete die Arme aus, schlug einem den Schild ins Gesicht und
wehrte mit dem Schwert einen Angriff ab. Rechts und links fielen die Männer von der Brücke. Dann kauerte ich mich nieder. Wir hatten uns mit Blicken schnell verständigt. Der Ritter schrie abermals auf wie ein verwundeter Eber, sprang mit einem riesigen Satz über mich hinweg und schob sich wie ein Rammbock zwischen zwei der Kämpfer. Auch er machte eine Bewegung, die zwar seine Deckung entblößte, aber zwei weitere Männer auf den Weg ins Wasser schickte. Gerade kippte ein Boot um. Die Insassen versuchten, den schwer gepanzerten Verteidiger ins Innere zu ziehen, weil er in Todesangst vor dem Wasserfall um sich schlug. Wieder sprang ich auf. Wir kämpften jetzt Seite an Seite, unterstützten uns gegenseitig und gewannen Schritt um Schritt mehr Gelände. Wir betäubten den einen, zerschlugen dem anderen das Schwert, warfen einen dritten ins Wasser, während rund um uns ein Geheul der Wut und Enttäuschung losbrach. Dann, als wir den Streifen Fels gesäubert hatten, waren nur noch die Männer zwischen uns und den Sarths, die sich auf dem Felsenpfad befanden. »Weiter so, Dragon!« »Nur zu, Ritter!« rief ich und rannte auf den schmalen Pfad zu, der in Zickzacklinien abwärts führte. Hinter mir lief der Ritter, der an der Schildhand
das Mädchen mit sich zog. Jetzt war ich im Vorteil. Ich rannte auf den ersten Kletterer zu, hob den Fuß und trat wuchtig auf seinen Helm. Mit einem gurgelnden Schrei löste sich der Kämpfer vom Fels, überschlug sich und rollte, um sich schlagend und die Waffen verlierend, den Hang mit den leuchtenden Kristallen hinunter. Sie schienen seinen Fall zu dämpfen. Der nächste Mann hatte gesehen, was geschehen war. Er stand auf und empfing mich, zum Kampf bereit. Sein Schild war erhoben, sein Kampfbeil in Schlagstellung. Ich ließ mich fallen und schlitterte auf seine Füße zu. Ich rammte meine Schultern zwischen seine Stiefel, riß ihm die Beine auseinander und richtete mich dann auf. Hinter mir schlug der Ritter mit einem einzigen Hieb der breiten Seite des Schwertes den Mann bewußtlos. Wir kamen wie eine Lawine den Hang hinunter. Als der junge Mann, der die Zügel der kleinen Sarthherde hielt, uns heranstürmen sah wie ein zorniges Gewitter, verlor er den Mut und rannte davon. Ich war zuerst bei den Tieren, riß drei Zügelpaare an mich und knotete die anderen zusammen. »Schnell, Freund Amar! In den Sattel. Und du, Honigvogel – für dich sind jetzt alle Schrecken ausgestanden!« rief ich.
Nur einige Augenblicke später, während unter uns Geschrei ertönte und klatschende Geräusche zu hören waren, schwangen wir uns in die Sättel der stärksten Tiere. Wir wendeten die Reittiere, und ich rief: »Du führst an, Amar!« »Es ist beschlossene Sache, Freunde!« gab er dröhnend zurück. »Folgt mir zu dem Inneren Reich des Erthu!« Wir galoppierten los. Ich lenkte mein Tier, aber das Dutzend der reiterlosen Tiere folgte mir auch, weil ich ihre Zügel in der Hand hielt und unbarmherzig an ihnen zerrte. Wir galoppierten die Galerie entlang, durch einen kurzen Stollen, überholten den fliehenden Knappen, der sich schreiend an die Felswand preßte, dann öffnete sich vor uns eine riesige Höhle. »Schneller!« Wir schlugen mit der Hand auf die Kruppen der Tiere ein. Ich konzentrierte die magische Wirkung meines Juwels auf die Sarths, und wieder konnten wir erleben, wie die Tiere von dieser unfaßbaren Macht erfaßt wurden und ihr ebenso gehorchten, als würde sie eine Gefahr oder eine ausweglose Lage dazu bringen. Das Rennen verwandelte sich noch auf dem schmalen Pfad, der aus dem Stollen hinaus in die Höhle führte, in eine gespenstische Raserei. Ich sah mich um und war versucht, die Zügel der mitgeführten
Tiere loszulassen, aber es war noch zu früh. Das Gewitter der rasend trommelnden Hufe wurde leiser, als wir einige zehn Mannslängen in die Höhle hineingaloppiert waren. Jetzt befanden wir uns am Rand einer riesigen Ebene. Die Höhle durchmaß sicher mehr als fünfhundert Mannslängen und war erstaunlich hoch. In der Decke erkannte ich einige runde Löcher, durch die ein helleres, deutlicheres Licht hereindrang, als alle diese leuchtenden Pflanzen zu liefern imstande waren. Wir ritten dahin, wurden schneller und schneller, aber nach kurzer Zeit bog unser Anführer nach links ab und deutete nach vorn. »Dieser Weg dort führt tiefer und sehr weit hinein in das Innere Reich, Dragon!« rief der Ritter. »Ich versteh!« gab ich laut zurück. Weit und breit waren keine Verfolger zu sehen. In der fast völlig geraden Ebene standen nur Gras und einige runde Bauminseln. Ich glaubte, hier und dort kleine Herden von hellhäutigen Tieren zu sehen, die die Größe von Wildrindern hatten. »Ich sehe, daß wir den mannigfachen Gefahren getrotzt haben. Also wird uns unser Glück noch weiterhin treu bleiben!« rief der Ritter laut. Er schien bester Laune zu sein. Wir waren mehrmals dem Tod oder der Gefangenschaft entkommen und schienen jetzt für einige Zeit unsere Verfolger
abgeschüttelt zu haben. »Auch ich hoffe es!« schrie ich zurück. Wir verließen den Weg und ritten querfeldein. Das Gras war abgeweidet. Wieder leuchteten die Decke und die Wände der Höhle, die nur wenige Kammern besaß und nach Tieren und nach feuchten Pflanzen roch. Durch das gespenstische Licht, das um uns war, ritten wir schnell in eine Richtung, die mir unbekannt war. Ich vertraute dem Herrn Purpurner Stein und sicherte im übrigen nach allen Seiten. Vor uns schob sich, langsam weidend, eine Herde über den Weg. »Das sind die Krotts!« rief Meri-Meri, die aus ihrem Traum aus Angst und Schrecken zu erwachen schien. »Sie geben Fleisch, Milch und Häute.« Wir befanden uns also noch immer in dem Gebiet, das den Knechten und Wächtern zugänglich war. Aber sie schienen sich jetzt alle an anderen Orten zu befinden. Als die Herde der hornlosen und weißen Tiere, die tatsächlich Ähnlichkeit mit Wildrindern hatten, unseren Weg fast gekreuzt hatte, ließ ich die Zügel der Sarths los und folgte dem Ritter, der einen Bogen um das Leittier schlug und weiter geradeaus sprengte. Wieder fiel mein Blick auf eine der hellen Öffnungen, die jetzt fast genau über uns waren. Ich schrak zusammen. Ich sah blaue Farbe – es mußte längst Tag sein. Dann, als wir an einem riesigen Haufen vorbeikamen, der an den Rändern stark mit
Unkraut bewachsen, an der Spitze aber unangetastet war, begann ich abermals einen Teil des Lebens von Merlane zu begreifen. Ich zügelte mein Sarth und sah hinüber. Direkt über dem Berg war ein Loch, etwa eine Mannslänge durchmessend. Der Haufen, vor dem die Krotts eine unbewußte Scheu zu haben schienen, war ziemlich groß, aber flach. Rundherum wuchs ungehindert Gras und Unkraut. Die Tiere scheuten sich, in die Nähe zu kommen. Auch mein Sarth wurde unruhig. Ich sah weiße Knochen, die seltsam gebogen waren, als bestünden sie aus Wachs, das in der großen Wärme sich verformt hatte. Auf der Spitze des Berges aus den Knochen der gestorbenen Merlaner sah ich Leichname, die sich in allen Stadien der Verwesung befanden. Wieder blickte ich nach oben. Dann schlug ich dem Tier die Fersen in die Weichen und galoppierte wieder an. Nach kurzer Zeit hatte ich Meri-Meri und den Ritter eingeholt und ritt mit ihnen zusammen in die Richtung von Erthus Innerem Reich. Das waren diejenigen, die »in Erthu eingegangen« waren. Man warf sie nach einer feierlichen Zeremonie in jene brunnenähnlichen Löcher. Sie fielen hier herunter, bildeten im Laufe der Jahre einen Haufen – oder mehrere Haufen, denn es gab viele solcher Löcher in
den Gärten oder abseits der Straßen von Merlane – und verrotteten langsam. Die Gebeine und das modernde Fleisch ergaben einen Nährboden für Pilze und Gräser, für Pflanzen und unzählige kleine Tiere, von denen die größeren Tiere lebten. Ich verscheuchte alle diese Gedanken. Wir ritten nebeneinander, in der Mitte das Mädchen. Und die Höhlendecke begann sich wieder zu senken und in die Wand überzugehen. Weit vor uns konnten wir einen Stolleneingang entdecken. Der Weg zu Erthu war zweifellos weit und beschwerlich. Ich hielt kurz vor dem Eingang, durch den wieder eine breite Straße führte, an und drehte mich im Sattel um. Mit einem langen, intensiven Blick umfaßte ich diese seltsame Landschaft tief in den Eingeweiden dieser merkwürdigen Welt. Zehn oder mehr Herden der weißen Krotts weideten an verschiedenen Punkten im fetten, nassen Gras. Fahrzeuge und riesige Krüge standen auf hölzernen Gestellen. Die Merlaner säten nicht, aber sie ernteten. Um Milch zu bekommen oder frisches Fleisch, gingen die Knechte einfach viele Treppen abwärts und holten sich, was sie und ihre Herren brauchten. Alles andere erledigte Erthu. Ich war sehr gespannt darauf, ihn kennenzulernen. Jedenfalls stellte ich mir die Aufgabe eines Erdgeists anders vor, als ich es hier demonstriert bekam.
Dann hob ich die Schultern und ritt weiter meinen beiden Freunden nach. Wieder beschlich mich ein ungutes Gefühl, das nur eines bedeuten konnte: Gefahr!
6.
Bald mußten wir uns dem Inneren Reich Erthus nähern, jenem Bezirk zwischen dem Rand der Stadt und dem blauen Wüstental, das für jeden gewöhnlichen Bürger Merlanes absolut tabu war, außer in Notzeiten und an solchen Tagen, an denen der Jahreskönig einen entsprechenden Befehl erteilte. Ein solcher Tag schien heute zu sein. Wir konnten also nicht damit rechnen, daß die erbitterte Verfolgung an einem Punkt plötzlich aufhören würde. Die Erwählten Erthus, zu denen ich eigentlich auch gehörte, würden auch in den innersten Teil eindringen. Wir sahen, als wir den Tunnel zwischen zwei Höhlen passierten und unsere Tiere abwärts lenkten, keine Wächter und nicht einen einzigen Beschäftigten. Aber nun befanden wir uns, abermals eine Ebene tiefer
und eine gute Strecke weiter, in einem Höhlensystem voller Wunder und von ungewöhnlichem Aussehen. Es bestand aus unzähligen Höhlen, die, hintereinander angeordnet, wie eine verwirrende Kulisse wirkten. Wir hörten wieder das Rauschen und Murmeln kleiner Bäche und Wasserläufe, von denen die Höhlen durchzogen waren. Hatten wir eben die Herden der Krotts passiert, so kamen wir jetzt in eine Landschaft, die aus lauter annähernd runden Abschnitten oder Ausschnitten – alle in Form einzelner durch Wände und Felssäulen getrennter Höhlen – bestand. Die Pflanzen sorgten für das Licht. Viele verschiedenen Pflanzen, Moose, Pilze und Flechten bedeckten Wände und Decken. Sie gaben jeweils Licht verschiedener Tönung ab. Es veränderte sich ebenso wie der Nachhall der Hufe unserer Reittiere, der einmal klapperte, dann wieder dröhnte, schließlich hohl donnerte und dann wieder knisterte. Jede der vielen kleineren Höhlen leuchtete in einem anderen Licht. Rosafarben und weiß, gelblich oder grünlich, bläulich oder in verschiedenen Schattierungen von Rot. »Dies sind die Höhlen der Ganos, Dragon!« rief der Ritter herüber. »Die Ganos sind die kleinen Tiere, von denen wir die Wolle haben, die wir spinnen können!« erklärte
Honigvogel. »Ich sehe keine Gano!« beharrte ich. Ich blickte ununterbrochen, seit wir diese seltsame Reise begonnen hatten, um mich, um mir möglichst viele Einzelheiten einzuprägen und sie mit den Erzählungen und Schilderungen zu vergleichen, die ich von Vesta aufgenommen hatte. »Gleich wirst du sie sehen!« Wir ritten auf einem schmalen Pfad aus festgetretenem Erdreich, der sich durch verschiedene Höhlen schlängelte. Es schien, als würden wir uns auf einem direkten Weg bewegen, von dem aus die Pfade nach den Nachbarhöhlen abzweigten. »Hier sind sie!« schrie Meri-Meri plötzlich, nachdem wir einige weitere Höhlenabschnitte durchquert hatten. Nach meiner Berechnung mußten wir uns inzwischen weit unterhalb der Wüste befinden. Aber je länger wir uns hier aufhielten, desto mehr war ich der Überzeugung, daß unser Weg uns in Schlangenlinien unter der Stadt entlangführte. Eines jedoch war und blieb sicher: Wir kamen immer tiefer, immer weiter hinein in den Bauch dieser Welt. Ich sah, wie sich eine mittelgroße Herde schafsgroßer Tiere über den schrägen Boden einer Nebenhöhle bewegte. Die Tiere grasten friedlich und ließen sich durch unsere dahinrasende Kavalkade nicht
einen Augenblick lang stören. Sie waren mit einem dichten Vlies bewachsen, dessen einzelne Haare oder Fellbüschel sich kräuselten und wellten. Alle Tiere, ausgenommen die wenigen Rattas, die ich bisher gesehen hatte, waren weiß gewesen, hatten einen müden Eindruck gemacht und hatten die Augen von Albinos gehabt. Ausgenommen natürlich die wilden Kampf-Sarths, auf denen wir ritten. Schweigend passierten wir die Höhlen, kamen wieder in einen feuchten, langen Korridor, von dessen Decke einige zopfähnliche Flechten herabhingen und ein düsteres Licht spendeten. »Kennst du den Weg noch, Purpurner Stein?« erkundigte ich mich und zog den Kopf ein, weil die Flechten meinen Helm streiften. »Ja, ich erkenne ihn wieder. Wir kommen jetzt in eine der größten Höhlen. Sie ist vom Palast des Herrn Roter Bär aus zu betreten!« Ich nickte und dachte mir meinen Teil. »Und wo ist die Pforte zu Erthus Innerer Welt?« »Sie kommt nach einem Labyrinth, das von einigen Wächtern bewacht wird, einer kleinen Gruppe eingeweihter Kämpfer.« »Und hinter dieser Pforte?« »Das weiß niemand«, erklärte der Ritter und beugte sich ebenfalls tief über den Hals des Sarths. »Niemand
war jenseits dieser Pforte. Nicht einmal die Erwählten Erthus.« »Eine merkwürdige Welt!« staunte ich. Um die Beine der Reittiere wieselten jetzt, nur undeutlich sichtbar, jene schwarzen Nagetiere. Hin und wieder hörten wir einen hellen Pfiff, der in der Kaverne widerhallte. »Rattas!« stieß Meri-Meri hervor. Sie ekelte sich vor den Tieren. »Rattas sind von uns Steinbeißer genannt worden. Sie nagen sich durch Felsen und alles andere. Sie greifen, wenn sie hungrig sind, Ganos und Krutts an«, erklärte mir der Ritter. »Sie haben sich zu einer wahren Plage in den Höhlen entwickelt, aber nicht immer verlassen sie die dunklen und feuchten Bereiche.« »Bekämpft ihr sie?« erkundigte ich mich. »Ja. Wo immer es geht. Sie richten selbst in den Weingärten große Schäden an. Aber sie kommen niemals in die Keller unserer Paläste. Sie scheuen die frische Luft und die Sonne!« Ich erfuhr, während wir vorübergehend etwas langsamer ritten und die Tiere schonten, daß es niemals Verwirrungen, Massensterben oder Nahrungsmangel in den Höhlen gegeben hatte. Dies bezog sich ebenfalls sowohl auf sämtliche Tiere und auch auf die eßbaren Pilze und alles, was dazwischen lag. Nur die »Steinbeißer« wollten sich nicht an diese
Regeln halten, die wohl Erthu aufgestellt hatte. Sie vermehrten sich zyklisch und brachen dann und wann in die wertvollen Acker und die Plantagen ein und wurden dann – auf Befehl des Jahreskönigs – von allen Männern gejagt und erbarmungslos getötet, wo immer es möglich war. Dann war wieder einige Jahre Ruhe vor den unerwünschten Schädlingen. »Ich sehe«, erklärte ich, als sich der Stollen wieder weitete und das Licht vor uns heller und strahlender wurde, »daß auch das unterirdische Paradies von Erthu nicht vollkommen ist.« »Nichts ist vollkommen!« »Du sprichst die Wahrheit, Ritter!« Eine große Höhle, ein Labyrinth und einige Wachtposten – diese drei Elemente trennte uns noch von Erthu. Nach allem, was ich inzwischen in Merlane erlebt hatte, mußte ich denken, daß Erthu mir etwas oder jemanden entgegenschickte, teilweise deswegen, weil er mich töten wollte – oder vielleicht auch deshalb, weil er mit mir »sprechen« wollte. Ich wußte nicht, was ich von diesem Erdgeist halten sollte. Aber seit dem Erlebnis mit dem Schemen Vestas war ich sicher, daß es einen Erdgeist gab. Wie immer er aussehen und sich verhalten mochte ... Helles Licht schlug uns in die Augen. Wir hielten an. An beiden Seiten unseres Weges
wuchsen riesige Bäume mit glatten, gemasert wirkenden Stämmen in die Höhe. Hoch oben, an die Decke anstoßend, trugen diese Baumriesen hellgrüne, zerzaust wirkende, kugelförmige Kronen. Die Höhle schien ziemlich rund zu sein und fiel von allen Seiten gleichmäßig zur Mitte hin ab. Von hier hatten wir einen hervorragenden Blick auf diese seltsame Landschaft. Ein Kreisring dieser Bäume umgab die riesige, schüsselförmige Lichtung, wobei diejenigen Bäume, die der Höhlenwand am nächsten standen, die größten waren. Je mehr sich der ringförmige Wald dem Zentrum näherte, desto kleiner waren die Gewächse. In unregelmäßigen Abständen und in verschieden großer Ausdehnung fleckten kleine Wäldchen, aus dichten Büschen und kleinen Bäumen bestehend, den Talkessel. Das Gras war kurzgehalten, und ich sah auch sofort den Grund. Sämtliche Gewächse, die Gräser ausgenommen, waren fahlgrün, fast weißlich. Eine Farbe, die keineswegs den Appetit reizte. Auf dem Rasen tummelten sich viele kleine Herden der weißen, wollespendenden Ganos. Ich richtete meinen Blick quer über das Tal hinweg und sah in gleicher Höhe mit uns ein gemauertes Tor. Ein Tor ohne Torflügel, ein riesiger, archaischer Bogen, aus weißem und feuerrotem Gestein gemauert. Die Decke der Halle war mit gelben Pilzen bedeckt, deren größte Exemplare
ein Licht abgaben, das winzigen Sonnen zu entstammen schien. Ich sagte langsam, nachdem ich kurz unsere Lage betrachtet hatte: »Bringen wir es hinter uns, Freund Amar. Ich habe in den Satteltaschen etwas Essen gefunden und eine kleine Blase voller Wein. Passieren wir dieses Tal, dann rüsten wir uns für den letzten Gang. Es dauert alles schon zu lange. Wir sollten zudem an unsere vielen Verfolger denken und das Schicksal nicht unnötig herausfordern.« Langsam nickte Ritter Purpurner Stein. Dann murmelte er in seinen Bart: »Ich glaube, du hast recht, Schwarzer Falke. Sie werden uns schon wieder auf den Fersen sein. Nachrichten verbreiten sich selbst hier unten mit rasender Schnelligkeit. Und überdies werden sie schäumen vor Wut, weil wir viele in den Fluß geworfen haben. Glaube mir, es waren mannhafte Kämpfer unter ihnen!« »Ich weiß es, Amar-Jato«, entgegnete ich. »Ich fürchte ihren Zorn. Wir müssen auch schnell durch den Talkessel hier, denn von jedem Punkt der Höhle aus können wir auf dem Pfad sehr leicht gesehen werden.« Meri-Meri schwieg und schien darüber nachzudenken, was wir vorgeschlagen hatten. Aber sie hatte nun ihre Angst abgelegt und war wieder guten
Mutes. Ich, ihr Held, war wieder einmal Sieger geblieben. Das bestätigte sie in der Meinung, es würde ununterbrochen bis zum Thron Erthus so weitergehen. Sie meinte plötzlich: »Ihr wißt, daß überall hinter den Bäumen Eingänge sind? Sie führen in verschiedene Höfe und Paläste! Ich habe von ihnen sagen hören.« »Ich weiß es!« entschied der Ritter und winkte in meine Richtung. »Wagen wir‘s, Dragon?« »Wir wagen es. Euer Mut ist unbeschreiblich, Freunde!« munterte ich sie auf und setzte mich zurecht. Dann rissen wir an den Zügeln, galoppierten an und preschten den langen Hang abwärts. Der Weg wand sich mit nur unwesentlichen Kurven durch das grüne Gras. Ich konnte keinerlei Unruhe in den weidenden Herden feststellen und wandte abermals, aus Vorsicht und aus immerwährendem Mißtrauen, die magische Kraft des Juwels an. Meri-Meri mochte ängstlich, töricht und nicht besonders klug sein, aber sie war eine hervorragende Reiterin. Sie saß leicht im Sattel, glich die Bewegungen ihres schlanken Körpers den Sprüngen des galoppierenden Tieres an und lenkte das Sarth mit spielerischer Leichtigkeit. Unter dem Einfluß von Vestas Auge begannen die Tiere wieder rasend schnell dahinzujagen. Der Wind ließ unsere Kleider flattern und kühlte unsere schweißbedeckten Gesichter. Eine
Weile ritten wir so dahin, immer dem Weg folgend, nur ab und zu einige Rattas aufscheuchend, die grell pfeifend nach verschiedenen Richtungen flohen und sich im Gras oder in Höhlen versteckten. Dann, ganz unerwartet und überraschend, hob der Ritter den Arm und brüllte aufgeregt los. »Dragon! Eine Falle! Sieh dich um!« Ich drehte den Kopf und blickte nach rückwärts. Eine niederschmetternde Gewißheit ergriff mich. Dort formierte sich, aus drei verschiedenen Wäldchen hervorbrechend, gerade eine weit auseinandergezogene Linie von Reitern. Sie alle waren, soweit ich dies mit einem einzigen Blick erkennen konnte, vollständig gerüstet und trugen lange Reiterlanzen. Ich sah die farbenprächtigen Mäntel im Wind flattern, als die schnellen, gelenkigen Kampf-Sarths den Hang hinunterstoben. »Und auch dort vorn!« dröhnte die aufgeregte Stimme des Verehrers von Vesta. »Und auch von beiden Seiten!« knurrte ich. Es sah hoffnungslos aus. Immer dann, dies schien ein unabänderliches Gesetz meiner eigenen Abenteuer zu sein, wenn alles gewonnen schien, schlug das Verderben abermals hart zu, und meistens war es endgültig. Im Augenblick sah es nicht so aus, als ob wir mit dem Leben davonkommen würden. Hinter uns war eine lange Reihe aus mindestens
dreißig Reitern entstanden, die genau auf unseren Spuren folgte. Aber da unsere drei Tiere in einem rasenden Galopp dahinsprengten, verringerte sich der Abstand keineswegs. Dasselbe aber geschah rechts und links des Pfades. Auch dort wurden plötzlich die Büsche und die Räume zwischen den Baumstämmen lebendig. Reiter bahnten sich Wege durch die Gewächse und galoppierten hangabwärts. Sie steuerten sogar bereits den Punkt an, an dem wir uns beim Zusammentreffen befinden würden. Die größte Massierung aber gab es genau vor uns. Sogar aus dem schwarzen, rechteckigen Schlund des Tores kamen die bunten Reiter in ihrer Rüstung. Ein Zaun von langen Speeren schloß sich enger zusammen. Auch diese dichte, doppelte Kampfreihe schloß sich und ritt uns entgegen. Schätzungsweise hundertzwanzig Reiter hatten hier auf uns gelauert. »Wir sind verloren!« rief der Ritter. »Noch nicht«, sagte ich. »Wir müssen durchbrechen.« »Das ist unser sicherer Tod!« »Es mag schwierig aussehen, aber wir brauchen nur den Augenblick der Überraschung!« rief ich zurück. Wir verlangsamten unser Tempo nicht, aber die vier anderen Gruppen begannen sich nun langsam an den Ecken der Schlachtreihen zu vereinigen und ein
auseinandergezogenes Viereck zu bilden, das mit jedem Sprung der Sarths enger und kleiner wurde. Die Speere senkten sich. Sie deuteten alle in den Mittelpunkt des Vierecks, also auf uns. »Sie werden uns alle niedermachen, Dragon!« schluchzte das Mädchen auf. »Noch leben wir!« sagte ich grob. Aber die Reiter dort vorn, und nur sie waren wichtig, wichen nicht auseinander. Sie schienen sich nicht davor zu fürchten, von drei dahinrasenden Kampf-Sarths niedergerammt zu werden. Die Reiter vertrauten auf die Wirkung ihrer Langwaffen, die ihre gehärteten, schneidigen Spitzen auf uns richteten. Ich wurde schneller und setzte mich an die Spitze. Ich stand in den Bügeln auf, zog mein Schwert und winkelte den Schildarm an. Noch dreißig Mannslängen trennten mich von dem Wall aus Lanzenspitzen, der sich auf mich richtete. Jetzt hatte der Kreis, der sich um uns schloß, den geringstmöglichen Durchmesser erreicht. Die Lenden der Tiere und die Steigbügel berührten einander. Es gab keine Lücke. Ich zögerte, spähte nach einer Möglichkeit, aber ich sah nicht den geringsten Spalt, nicht die letzte, verzweifelte Chance, durchzukommen. Drei Mannslängen vor den heranpreschenden Reitern riß ich mein Tier hoch. Der Sarthhengst schlitterte zwei Mannslängen weit auf den
Hinterbeinen über den Weg, schrie auf, als zöge man ihm ein glühendes Messer durch den Hals, dann kam er wieder auf den Boden. Hinter mir rissen der Ritter und das Mädchen an den Zügeln. Hundertzwanzig Lanzenspitzen richteten sich auf uns. Sie bildeten einen undurchdringlichen Wall. Ich sah dies, als ich mein Tier sich schnell drehen ließ. Ich hatte verloren! »Wirf das Schwert weg!« sagte eine Stimme vor mir. Ich hob den Kopf und sah in das grimmige, versteinerte Gesicht von Herrn Roter Bär. Er hob seine Lanze und steckte sie zurück in den Sattelschuh. »Wir sind hier, um zu Erthu zu kommen. Vesta, der Herr der Elemente, hat uns auf den Weg geschickt!« sagte ich. »Dann wird Vesta dir helfen, nicht zu sterben!« sagte Roter Bär ungerührt. Auch der fernste Hauch einer früheren Freundschaft war aus seiner Stimme und aus seinem Gesicht gewichen. Seine Augen wirkten wie Eisstücke. »Der Herr der Geister wird euch strafen, wenn ihr den Weg nicht freigebt. Warum, glaubst du, sind wir nicht am Felsen verdurstet und von den Rhaags gefressen worden?« erwiderte ich. Aber schon jetzt merkte ich, daß mein Reden fruchtlos bleiben würde. »Ich sage nur dieses, Fremder!« begann Roter Bär. Neben ihm hob sich ein anderer Mann aus dem Sattel.
Ich erkannte den neuen Jahreskönig, der vor mir im Zug der »Erwählten« geritten war und als erster vom Dolch seiner Begleiterin gestorben war. »Was sagst du mir, Ritter? Denke daran, daß Erthu und Vesta deine Worte hören können!« »Wenn sie mich zur Rechenschaft ziehen, dann werde ich mich ihnen stellen. Ihr alle drei habt euer Leben mehrfach verwirkt. Es gibt nur wenige Gesetze in Merlane, die ihr nicht in gröbster Weise verletzt habt. Rede und Gegenrede ist sinnlos! Alles ward schon beschlossen. Freundschaft und Ehre wurden zu Haß und Ausstoß. Aber wir wollen uns nicht mit dem Blut von drei Verfluchten beflecken. Wirf dein Schwert zu Boden, Fremder! Auch du, Ritter Purpurner Stein.« Es war aussichtslos. Ich zuckte die Schultern und warf die Waffe vor die Hufe des Sarths. Ebenso ließ ich den Schild vom Arm gleiten. Er kreiselte wie eine Münze auf der Tischplatte, bis er endlich ruhig dalag. »Auch die Dolche!« Niemand sprach. Das Keuchen der Tiere, knarrendes Leder, klirrende Waffen und schwere Atemzüge. Das war alles, was ich hören konnte. Nackte, unabänderliche Drohung lag in der Luft. Friedlich ästen die Wolltiere auf den Hängen. Ich warf mein Waffengehänge weg und löste auch die Schnallen des Helmbands. Als ich mich umdrehte,
sah ich schweigend, wie mein neuer Freund sich selbst entwaffnete. »Ehe ihr uns mit den Lanzen durchbohrt«, begann ich erneut, »laß mich euch etwas erklären!« »Du wirst von uns keine Antwort mehr erhalten. Alles ist vorbei!« sagte Roter Bär und vermied es, seiner Tochter ins Gesicht zu blicken. In diesem Augenblick bewunderte ich Meri-Meri. Sie war völlig gefaßt. Sie machte sogar einen heiteren Eindruck, als sie ihren Dolch aus dem Kleid zog und ihrem Vater vor die Füße warf. Was hatte er gesagt? Sie wollten sich nicht mit unserem Blut beflecken? Das konnte nur bedeuten, daß sie uns ertränkten! Oder wollten sie uns von stürzenden Felsen erschlagen lassen? Drei Reiter kamen, nahmen die Zügel unserer Tiere und zerrten uns schweigend mit sich. Kurze Zeit später passierten wir das Tor und tauchten in das graue Dunkel ein, mit dem sich der Vorhof des Labyrinths vor unseren Blicken schützte. Dann begann eine fieberhafte Tätigkeit.
7.
Wir gelangten nun in schnellstem Schritt tiefer und tiefer. Das Tor im Felsen lag hinter uns, aber in einer riesigen Spirale bewegten sich die mehr als hundertzwanzig Reiter abwärts. Hier waren die Höhlen voller tropischer Gewächse. Es roch wie in einem Regenwald. Überall standen riesige Bäume mit dunklem Laub und hellen Blüten. Lianen, mit Blättern übersät, hingen von den Felsen herunter und bildeten ganze Vorhänge. Nach wenigen Schritten löste sich die staubige Finsternis auf, und in den Zweigen hingen schwere, große Früchte, die heller als zehn Fackeln strahlten. Unsere Schatten wanderten mit uns, drehten sich und änderten sich. Es ging weiter abwärts. Die vielen Pflanzen verströmten Licht und angenehme Wärme. Unsere Hände waren gefesselt, aber nicht auf dem Rücken. Niemand sprach, es herrschte ein von tödlicher Wut erfülltes Schweigen. Die erste Gruppe hielt an, wir wurden aus den Sätteln gezerrt und landeten unsanft auf dem Boden. »Hier ist die Höhle! Beginnt mit der Arbeit!« rief Roter Bär und deutete auf eine kleine Höhle, die sich zwischen den Baumriesen und den leuchtenden Büschen öffnete. Die Ritter sprangen aus den Sätteln. Sie begannen, schwere Steine aus allen Ecken herbeizutragen und
häuften sie auf. Plötzlich kamen Knechte hinter den letzten Reitern die Schlucht herunter und trugen Säcke und Wannen und Werkzeuge mit sich. »Bringt sie in den finstersten Winkel der Höhle! Dort sollen sie sich überlegen, warum sie niemals mehr das Licht des Tages erblicken werden!« schrie der neue Jahreskönig. Der Ritter und ich wechselten einen langen Blick. Nun wußten wir es. Wir sollten lebendig eingemauert werden. Grobe Hände rissen uns vorwärts und schoben und zerrten uns in die Höhle hinein. »Wir waren nicht schnell genug, Dragon!« murmelte Herr Purpurner Stein. Auch er war vollständig entwaffnet worden. »Die Übermacht war zu groß«, erwiderte ich leise. Zwischen uns wurde Honigvogel in die dunkle, feuchte Höhle gebracht. »Wir müssen lebendig sterben! In der Finsternis! So kurz vor dem Ziel«, sagte sie hoffnungslos. Wir waren wie erstarrt. Ich aber blieb ruhig, denn noch lange hatten sich meine Möglichkeiten nicht erschöpft. Während man uns auf eine Schicht trockener Blätter und abgebrochener Äste warf, holten die Diener Wasser und mischten eine Art Mörtel. Die schweren Steine wurden in ein Mörtelbett gelegt, in rasender Eile kam eine zweite Schicht darauf, dann wurden abermals Steine geschichtet. Der Wall zwischen uns dreien und
den Reitern von Merlane, die regungslos dort draußen standen und schweigend zusahen, wurde immer höher. »Ein schmähliches Ende!« knurrte Amar-Jato. »Deswegen tun sie‘s«, sagte ich. »Sie wollen alle warnen und abschrecken. Niemals wieder soll etwas in der Art geschehen, wie es in den letzten Tagen geschah!« »Du hast recht. Mein Vater hat mich nicht einmal mehr angesehen, Dragon!« schluchzte Meri-Meri. Ich streichelte in der Dunkelheit der Höhle, die immer schwärzer wurde, ihr Gesicht und erwiderte tröstend: »Ich schwöre euch, wir werden nicht in dieser Höhle sterben! Und ich schwöre weiterhin, daß wir alle, nachdem ich bei Erthu war, wieder in größten Ehren in die Stadt zurückkehren!« »Ich kann dir nicht glauben!« schluchzte sie. »Es fällt zumindest schwer, tapferer Dragon«, erklärte der Ritter brummend, »dir zu glauben.« »Ich kann dich verstehen – aber warte, bis wir allein sind!« Die Mauer, drei Mannslängen breit, wuchs höher und höher. Nur die Hammerschläge, mit denen die Steine zurechtgehauen wurden und das feuchte Geräusch des Mörtels waren zu hören, ab und zu das Schnauben eines Sarths. Jetzt konnten wir nur noch das Geäst des wuchernden Dschungels sehen.
Schließlich, nach einer langen Wartezeit, wurde ein großer Stein dicht unter der Höhlendecke hineingeschoben und festgemörtelt. Nur durch winzige Fugen zwischen den Steinbrocken kam einigermaßen frische Luft in die kleine Höhle. Wir konnten so gut wie nichts von dem hören, was draußen vorging. Ich war jedoch sicher, daß sich die Reiter sammelten, ihre Diener und das Gerät mitnahmen und vielleicht noch die Wachen vor dem Inneren Reich Erthus austauschten und verstärkten. Ich mußte gähnen. Außerdem spürte ich Durst und Hunger. Ich sagte: »Es ist besser, wir versuchen, uns zuerst zu befreien. Von den Fesseln, die man uns angelegt hat. Purpurner Stein – ich versuche, deine Handgelenke zu fassen. Streck deine Hände in die Richtung aus, aus der du meine Stimme hörst!« »Hier sind sie.« Wir tasteten in der absoluten Schwärze umher, rutschten über die raschelnden Blätter, und schließlich faßten meine Finger zu. Ich fühlte die dünnen Schnüre und hielt die Handgelenke fest. Dann glitten meine Fingerspitzen, noch immer im Handschuh, über die Knoten und Bänder. Langsam begann ich, die festgezurrten Fesseln zu lösen. Wir verloren das Gefühl für Tag und Nacht, während wir uns gegenseitig die Fesseln lösten. Wir
hatten nichts zu essen, nichts zu trinken, und wir waren von den vorausgegangenen Strapazen erschöpft. Schließlich waren die Fesseln offen. Die Fingerspitzen schmerzten. »Freunde«, sagte ich, »wir werden nicht ersticken! Schlafen wir ein wenig, dann werde ich versuchen, uns hier herauszuholen!« »Bist du ein Halbgott, daß du dies vermagst, Dragon?« fragte die Stimme des Ritters aus der feuchten Dunkelheit. »Nein, aber ich habe ein Amulett und trage das Auge Vestas. Mit ihrer Hilfe vermag ich, denke ich, etwas mehr als ein gewöhnlicher Sterblicher.« Ich breitete meinen Mantel aus, zog Meri-Meri an mich und streckte mich aus. »Wer zuerst wieder erwacht, weckt die anderen, ja?« »Einverstanden!« brummte der Ritter. Nach einigem Rascheln, Gähnen und Stöhnen schliefen wir ein. Als mich Amar-Jato wieder weckte, wußten wir nicht, ob es draußen Tag, Nacht oder Dämmerung war. Man hatte uns unserem Schicksal überlassen. Aber weder Roter Bär noch der Jahreskönig kannten die Wirkungen meines Amuletts. Ich setzte mich auf, streckte meine Glieder und zog dann die goldene Scheibe zwischen der Kleidung hervor. Ich hob sie hoch und preßte sie an das Juwel in meiner Stirn.
Wo waren wir? Befanden wir uns tatsächlich tief unter der Wüste, zwischen der Stadt und dem Talkessel, in dem wir beinahe gestorben wären? Würden meine Gedanken erreichen können, was ich plante? Ich würde es bald wissen. »Dragon?« fragte Amar-Jatos dunkle, heisere Stimme. Der Ritter schien aufzustehen und lehnte sich an die Wand. Wir konnten nichts mehr erkennen. Das Dunkel war vollkommen. »Ja?« knurrte ich, ärgerlich über die Störung. »Was tust du? Was versuchst du?« »Ich will mit Erthu sprechen. Bitte, störe mich nicht!« »Gut.« Ich drückte, indem ich meine Augen schloß, die Scheibe an die Stirn. Dann konzentrierte ich mich und dachte an unsere Lage. Inzwischen hatte ich bereits einige Erfahrungen mit diesen lautlosen Hilferufen. Ich dachte an Erthu, von dem ich nur undeutliche Vorstellungen hatte. Ich schilderte in Gedanken die Lage von uns drei lebendig Eingemauerten und bat um Hilfe. Lange und mehrmals wiederholte ich diese Rufe. Ich dachte an die Höhle, beschrieb den Weg dorthin und drängte auf schnelle Hilfe. Ich sprach in Gedanken von Vesta, dem Herrscher
der Elementargeister, der mich unterstützte und mich hierher geschickt hatte. Ununterbrochen sprach ich mit einem unsichtbaren und schweigenden Partner, bat um Hilfe und wiederholte das alles mehrmals. Ich war erschöpft, als ich schließlich innehielt. Mich hatte etwas abgelenkt. Zitternd drängte sich Meri-Meri an mich und flüsterte mit deutlichem Entsetzen in ihrer hellen Stimme: »Hörst du nichts, Dragon?« Ich erwachte aus meiner innerlichen Starre und drehte den Kopf. Tatsächlich! Die Steine der frisch gemauerten Barriere gaben das Geräusch laut wieder. Es war ein helles, schabendes Scharren. Meri-Meri schrie auf. »Rattas! Sie sind draußen! Sie fressen sich durch die Steine!« »Ruhig!« sagte ich hart. Das Geräusch nahm zu und wurde stärker. Die Steine wirkten ein wenig wie das Fell und wie die Umrandung einer Trommel. Ein deutliches Kratzen erklang. Es kam von einer Stelle mitten in der Mauer. Ich setzte mich aufrecht hin und lauschte. Es schienen tatsächlich Rattas zu sein. Und wenn sie nicht darauf aus waren, uns zu überfallen, dann würden sie uns ebenso retten, wie es die Rhaags auf Geheiß des Vesta-Fragments getan hatten. Ich hatte durch meine
lautlosen Schreie nach Erthu, dem Erdgeist, die Geschöpfe Vestas herbeigerufen. »Ritter?« »Ich höre!« »Habt keine Furcht vor den Rattas. Sie werden uns nichts tun.« »Sie überfallen die Tiere! Sie fressen alles. Sie sind so klug, daß sie schwer zu töten sind!« schluchzte Honigvogel auf. »Sie werden uns befreien!« beharrte ich. Ich glaubte es selbst noch nicht, aber während das Nagen, Kratzen und Schürfen zunahm, kauerte ich mich an die nasse Mauer und preßte das Amulett abermals gegen die Stirn. Diesmal versuchte ich die Tiere, die ich nicht sehen konnte, ebenso zu beeinflussen, wie ich es bei den Sarths mehrmals getan hatte. Ich dachte zielgerichtet daran, daß sie nicht einfach die ganze Mauer angreifen sollten, sondern daß sie sich durch den leichter zu durchnagenden Mörtel fressen sollten. Sie wurden »Steinbeißer« genannt, und, wahrhaftig, das taten sie auch. »Sie kommen näher!« schluchzte Honigvogel. »Das sollen sie tun!« sagte ich. »Wenn sie in der Höhle sind, können wir aus unserem Gefängnis heraus.« »Aber sie ...«
»Sei ruhig, Honigvogel!« sagte der Ritter aus der hintersten Ecke der Finsternis. »Dragon hat bisher immer recht behalten.« Angsterfüllt, mit wenig Hoffnungen, mit angespannten Sinnen und mit knurrenden Mägen und trockenen Lippen warteten wir. Ununterbrochen schlugen die Tiere ihre breiten und scharfen, weit vorstehenden Zähne in die Steine und in die helleren Zwischenräume aus dicken Mörtelschichten. Sie bissen zu, schlossen die Kiefer und schabten einen Span aus dem Stein oder aus dem Mörtel, der kaum weicher war als die Felsen. Es mußten viele Tiere sein, denn das Schaben hörte nicht auf, es war ein einziger Ton, der keinerlei Unterbrechungen aufwies. Wieder »sprach« ich mit den Steinbeißern. Ich konnte mir deutlich vorstellen, wie die walzenförmigen, schwarzen Tiere nebeneinander krabbelten, sich übereinander schoben, immer wieder mit ihren spitzen Schnauzen vorstießen und abermals ein Stück von dem harten Gestein herauskratzten. So ging es weiter, ununterbrochen. Wieviele Stunden verstrichen, wußten wir nicht. Wir hatten jedes Zeitgefühl verloren. Vestas Auge trieb die Rattas zu mehr Eile an. Wieder verging unbestimmte Zeit. Wir warteten. Durst und Hunger nahmen zu, aber in der
feuchtwarmen Höhle konnten wir es noch eine Weile aushalten. Schließlich hörten wir durch den Lärm ein neues Geräusch. Staub und kleine Steine rieselten aus der Mauer und hinunter auf die dürren Blätter. »Wir werden gleich das Licht sehen!« sagte ich leise. »Ich habe Angst!« flüsterte Meri-Meri und klammerte sich an mir fest. Und wieder warteten wir darauf, was als nächstes geschehen würde. Die Geräusche der Nager, von denen man sagte, daß sie sehr klug wären, wurden lauter, dann polterten kleine Steinbrocken auf den Sand und die Mörtelstücke, schließlich sah ich tatsächlich ein winziges Loch, durch das das Licht einer der weiß glühenden Früchte hereinfiel. Aber sofort schob sich wieder ein Tierkörper vor die winzige Öffnung. »Es dauert nicht mehr lange«, sagte ich hoffnungsvoll. »Dann sind wir frei!« Trotzdem rückte auch ich bis an die Wand und blieb sitzen. Ich sah zu, wie die unermüdlichen Tiere das Loch weiter vergrößerten. Aber dann sah ich auch, wie die angrenzenden Steine zu wackeln begannen. Langsam stand ich auf und murmelte: »Sie greifen uns nicht an!« Die Tiere verständigten sich durch jene grellen, kurzen Pfeiflaute, die wir an einigen Plätzen gehört
hatten. Auch jetzt pfiffen die Rattas immer wieder aufgeregt. Ich berührte wieder das Amulett, während ich auf die kleine Öffnung zuging und mit dem Fuß hart gegen einen mittelgroßen Füllstein trat. Der Stein bewegte sich und fiel knirschend aus dem Gefüge heraus – nach außen. Ein Strom frische Luft kam herein, die aber stark nach dem feuchten Fell der Nagetiere roch. Ich sah schräg durch das Loch auf den Boden der Halle. Noch immer konzentrierte ich mich auf die Arbeit der Tiere. Aber dort draußen gab es Hunderte oder Tausende Rattas. Wenn ich mich bewegte, sah ich nur die stumpf schwarzen Fellrücken der Nager. »Glaubst du mir nun, Ritter?« fragte ich, während ich mit einigen wuchtigen Tritten der Ferse weitere Steine lockerte und langsam nach außen schob. »Ich glaube dir. Wir waren nahe daran, getötet zu werden. Das weißt du?« Ich knurrte zurück: »Ich weiß es sehr gut. Aber jetzt wird uns nichts und niemand mehr aufhalten. Wir sind in wenigen Augenblicken draußen.« Das Amulett hatte seine Wirkung gezeigt. Während ich die gelockerten Steine und Felsbrocken mit den Händen schüttelte und das Loch vergrößerte, wichen die Nager zurück. In den unabsehbaren Scharen dort draußen bildete sich eine schmale Gasse. Endlich war
das Loch, dicht über der ersten Felsenreihe, so groß, daß ich mich hindurchschieben und den Kopf hinausstrecken konnte. Ich sah in die großen Augen der Tiere, die mich unruhig anstarrten und einen kleinen Halbkreis vor dem Schutt und dem Staub der zernagten Felsen frei ließen. Ich drehte den Kopf und sah mich um. Nichts. Niemand da. Niemand wartete auf uns. Nur die Rattas. Es waren tatsächlich Tausende, die den gesamten Raum der Höhle bis hinunter zu dem Pfad bedeckten, sich ruhelos durcheinanderschoben, bewegten und teilweise übereinander krochen. Kein sehr schöner Anblick, aber sie hatten uns das Leben gerettet. Ich grinste kurz und arbeitete mich aus dem Loch heraus. »Kommt!« rief ich in die Höhle hinein. Meine Stimme klang hohl aus dem Loch zurück. Zuerst sah ich den Kopf des Mädchens und half ihr ins Freie. Dann arbeitete sich ächzend der Ritter aus der Öffnung. Meri-Meri hielt sich an mir fest und schwieg. Sie zitterte noch immer vor Furcht. Ihre Angst wurde größer, als sie die gewaltige Schar der Steinbeißer sah. Neben mir richtete sich Amar-Jato auf und schüttelte den Kopf. »Das ist unglaublich, Schwarzer Falke!« sagte er. »Sie greifen uns tatsächlich nicht an.« »Ich versprach es euch!« sagte ich.
Wir lehnten gegen die Mauer, sahen die vielen Tiere an, und die Tiere richteten ihre großen, rötlich leuchtenden Augen auf uns, als würden sie etwas erwarten. Ich faßte Meri-Meri um die Schultern und deutete nach vorn. »Gehen wir!« sagte ich. »Es wird Zeit!« Auch hier, im Gefüge dieser korkenzieherartig gewundenen Höhle, die von der höheren Ebene direkt zum Innern Reich führte, konnten wir nicht erkennen, welcher Tag es war, oder ob Nacht herrschte. Wir gingen langsam und vorsichtig, noch immer unsicher und ein bißchen ängstlich, den schmalen Pfad abwärts, der sich in der Masse der Rattas gebildet hatte. Wir blieben auf dem Weg stehen. »Was nun?« fragte der Ritter. »Essen und Trinken!« erwiderte ich. »Das Nächstliegende.« »Einverstanden. Aber wo?« Meri-Meri deutete auf eine Höhle, die weiter abwärts lag und von den Früchten erhellt wurde. Dort sahen wir einen kleinen Bach und jetzt auch Büsche mit leuchtenden Blüten. »Dort werden wir etwas finden. Kommt, Freunde!« Wir liefen langsam den gekrümmten Weg abwärts, gingen eine flache Treppe in die seitliche Höhle hinein und begannen, eßbare Früchte zu sammeln und die schönsten auszusuchen. Mit den Händen schöpften wir
Wasser, wuschen unsere Gesichter und tranken. Schließlich saßen wir kauend und schmatzend auf einigen Steinen. Wir waren waffenlos, aber da der Hunger vertrieben war, schöpften wir wieder neue Zuversicht. »Wenn ich deinen Gesichtsausdruck richtig deute, Ritter Purpurner Stein«, sagte ich halblaut, »dann bist du nicht gerade darüber begeistert, mit mir zusammen ins Innerste Reich einzudringen?« Er nickte und warf eine leergetrunkene Nuß mit gelbem Fleisch ins Gebüsch zurück. »Du hast recht. Eine unerklärliche Scheu hält mich zurück. Aber andererseits warst du mir ein zu guter Kampfgefährte. Ich muß mit dir zusammen gehen.« »Keineswegs!« Ich schüttelte den Kopf. »Auch Meri-Meri fürchtet sich. Bleibt hier in dieser angenehmen Höhle und wartet auf mich. Es wird das beste für uns alle sein!« »Gut. Einverstanden. Aber sage nur ein Wort, dann folge ich dir!« »Vesta hat nur mir den Auftrag erteilt und den letzten Weg gezeigt«, entgegnete ich. »Bleibt also hier und wartet, bis ich zurückkomme. Der Augenblick, an dem ich hier wieder auftauche, wird für uns alle der Sieg sein.« Was immer mir noch bevorstand, es konnte kaum schlimmer sein als das, was ich bisher hier in Merlane
und unter der Stadt in diesem riesenhaften System verschiedener Höhlen erlebt hatte. »Wann willst du aufbrechen?« Ich dachte an die Wächter vor dem Innern Tor und an die vielen Rattas, die dort oben auf mich warteten, weil sie durch die Wirkung des Juwels und des Amuletts an den Ort gebannt wurden. Dann sagte ich: »Jetzt gleich. Ich wasche mir nur noch das Gesicht und die Hände. Was man gleich tun kann, soll man nicht verschieben!« »Ein wahrhaftes Manneswort!« pflichtete mir der Ritter bei. Kurze Zeit später verließ ich Meri-Meri und den Mann, der seinen Glauben an Vesta beinahe mit dem Leben bezahlt hatte. Ich ging langsam, aber entschlossen weiter abwärts, und als ich mich umdrehte, sah ich, daß mir einige Tausend Rattas folgten. Nur hin und wieder stießen einige Tiere schrille Pfiffe aus, deren Echos durch die Höhlen geisterten. Ich trat Erthu ohne jede Bewaffnung entgegen ...
8.
Ich war kein Mann, der sich gern in der Unterwelt
aufhielt. Das merkte ich immer deutlicher. Mit jedem weiteren Schritt, den ich in die Tiefe des Höhlenlabyrinths hinein zurücklegte, stieg mein Abscheu gegen diese Höhlen und Schluchten, in denen es nach verbrauchter Luft roch, und an deren Wänden und Decken Flechten und Pilze ein kümmerliches Licht spendeten. Hinter mir ergoß sich ein ungeheurer Zug von Rattas über den Weg und die an ihn grenzenden Teile des wuchernden Dschungels. Ich war unterwegs, um Erthu zu treffen. Vor mir gab es nur noch einige Posten, die von den Merlanern aufgestellt worden waren – aber sie würden keinerlei Schwierigkeiten machen. Ich hatte vor, meine Möglichkeiten bis zum letzten auszuschöpfen. Erthu, Geist der Erde, dachte ich. Ich, komme! Drei lange Windungen des Weges ging es abwärts. Es war wie ein Gang durch einen fahlen, abendlichen Dschungel. Nur die Tiere fehlten. Ich sah zwar Insekten und Käfer, aber alle die kleinen Tiere, die ich aus zahllosen Wäldern zweier Welten kannte, konnte ich nicht entdecken. Hinter mir pfiffen die Rattas und schoben sich wie langsam fließendes Wasser weiter. Keine einzige wagte es, mich zu überholen. Nicht einmal ein kleines Heer der Ritter Merlanes würde es wagen, sich dieser Menge schwarzer, pfeifender Wesen entgegenzustellen, deren Schnauzen
aufgerissen waren und die furchtbaren Doppel-Nagezähne zeigten. Endlich wurde der Weg gerade, ich trat aus der Mitte heraus und blieb in der Deckung der Pflanzen, als ich die mittelgroße Höhle erkannte, an deren Ende abermals ein Tor den Durchgang versperrte. Bevor ich zum Abschied Meri-Meri ein letztesmal geküßt hatte, konnte ich in ihren Augen und in ihrem Gesicht einen Ausdruck erkennen, der neu war. Sie rechnete in Wirklichkeit nicht mehr damit, mich lebend wiederzusehen. Oder überhaupt wiederzusehen, denn groß und überaus zahlreich waren die Geheimnisse Erthus, den noch niemand jemals gesehen hatte. Ich bog einen Zweig zur Seite und spähte nach vorn. Zweihundert Mannslängen weit entfernt sah ich rechts und links des Tores mit den schweren, gepanzerten Torflügeln eine geradezu idyllische Landschaft. Zwei kleine Häuser standen dort, verkleinerte Abbilder der Ruinenpaläste von Merlane. Ich erkannte ferner zwei Reiter und vier Wachtposten, die zu Fuß waren. Sie verhielten sich, wie sich Posten benahmen, die niemals damit rechnen mußten, angegriffen zu werden oder das, was sie bewachten, verteidigen zu müssen. »Auf, zu Erthu! Durch das Tor!« sagte ich laut zu mir selbst. Ich setzte mich auf einen modernden Baumstamm,
schloß die Augen und konzentrierte mich auf die Tausende von Tieren, die stehengeblieben waren und mich anstarrten. Sie schienen nur auf den Befehl gewartet zu haben, den ich ihnen übermittelte. Ich dachte mehrmals ganz genau an die einzelnen Stufen meines Planes, dann stand ich wieder auf, öffnete die Augen und deutete nach vorn. Auf! Rennt! Greift an! Verwirrt sie! Lockt sie vom Torweg! dachte ich fest und unterstrich alles mit den Vorstellungen an die Vorgänge. Die Tiere begriffen sofort. Schrille Pfiffe ertönten, dann setzte sich die Heersäule in Bewegung. Ich drückte mich an die Felswand und sah schweigend, aber mit deutlichem Erschrecken zu, wie schnell und wendig diese Tiere tatsächlich waren. Sie rannten los, bewegten ihre kurzen Beine unglaublich schnell und brachen wie eine Brandungswoge zwischen den Steinmauern hervor. Sie überfluteten den Weg, der durch Wiesen und über eine Brücke führte, versammelten sich zu einem breiten Strom, an dessen Vorderseite einige scharfe, fingerförmige Ausläufer erschienen. Schneller, mit vielen durchdringenden Pfiffen, die Rachen wurden aufgerissen und die weißen Zähne entblößt. Schnell war der Zwischenraum ausgefüllt. Die breite Kolonne der Rattas erstreckte sich jetzt von hier bis fast auf das Tor. Die sechs einzelnen Finger deuteten jeweils auf einen der Posten..
In diesem Augenblick sahen die Wachen die Gefahr, die auf sie zukam. Erst waren sie wie versteinert, dann flüchteten sie, ohne an Gegenwehr zu denken. Ich verließ meinen Platz und lief hinter den letzten Tieren her. Die Wachen warfen ihre Waffen weg und rannten auf die Häuser zu. Die Sarths gingen vor Entsetzen durch; die Reiter kämpften mit den Tieren, um in den Sätteln bleiben zu können. Sechs Scheinangriffe trieben die Wachen auseinander. Reiterlos floh ein Sarth in den Wald hinein. Krachend schlossen sich die Türen der Häuser, aber die Rattas sprangen durch offene Fenster und jagten die Merlaner wieder zu den Türen oder durch andere Öffnungen hinaus. Ich lief langsam auf das Doppelportal zu und blieb davor stehen. Dicke eiserne Klammern, viele Schrauben und Scharniere, die so breit wie zwei Hände waren. Zwei mächtige Griffe waren rechts und links der Trennlinie angeschraubt, aber als ich probeweise an ihnen riß, bewegten sich die Torflügel nur um winzige Beträge. Ich sah genauer hin und erkannte eine Art Schlüsselloch. Ich kam wieder hoch, eines der weggeworfenen Schwerter in der Hand. Ich war überrascht, als ich es am Griff packte. Es war eine der bestausgewogenen Waffen, die ich je gehalten hatte. Ich sah mich um. Irgendwo mußte es einen Schlüssel geben.
Ich rannte auf das rechts stehende Haus zu. Rund um mich wieselten die Rattas umher, vereinigten sich pfeifend zu kleinen Gruppen und trennten sich wieder. Bei keinem der beiden Häuser konnte ich noch die Wächter sehen, aber die Richtung, in die zwei Gruppen der Tiere rannten und strömten, zeigten mir an, daß die Männer in den Wald geflüchtet waren. Ich trat die Tür auf und sah mich in dem Inferno der Verwüstung um. Dann, nach langer Suche, sah ich einen Haken an der Wand, der ungewöhnlich prunkvoll gearbeitet war. Ich erkannte dort einen vergoldeten Stab mit zwei Querplatten an jedem Ende. Er sah einem geraden Anker nicht unähnlich. Auf einem Tisch lagen die Reste einer Mahlzeit. Die Tiere hatten sie nicht angerührt. Ich hielt den Braten fest, der in der Mitte auf einem Holzbrett lag, dann fuhr mein Schwert herunter und säbelte eine doppelt handdicke, doppelt handgroße Scheibe herunter. In einer Hand das Schwert, in der anderen den Braten, den Schlüssel im Gürtel, trat ich vor das Haus und ging auf das Tor zu. Ich stieß das Schwert in den Boden, biß abermals von dem außerordentlich leckeren kalten Braten ab und rammte den Schlüssel in die längliche Öffnung. Er ließ sich schwer bewegen. Ich schlug meine Zähne in die Bratenscheibe, packte
mit beiden Händen zu und drehte den Schlüssel. Knirschend und knarrend bewegte er sich und drehte einen schweren Mechanismus aus den Löchern im Tor oder an der Rückseite. Dann riß ich den rechten Torflügel auf und blickte in strahlende Helligkeit. Was war das? Ich beschloß, systematisch vorzugehen. Ich zog den Schlüssel heraus, warf ihn zu Boden und befahl einigen Tieren, ihn fortzuschleppen und zu vergraben, aber an einer Stelle, die sie mir später wieder zeigen konnten. Dann stemmte ich beide Torflügel auf, bis sie dröhnend wie ein Gong an die gemauerten Felswände schlugen. Ich riß mein Schwert wieder aus dem Boden, biß abermals vom Braten ab und ging langsam und staunend geradeaus. Erthus Inneres Reich. Jetzt betrat ich es. Und vor mir lag eine der ungewöhnlichsten Landschaften, die ich je geträumt hatte. Vor meinen Füßen breitete sich ein See aus. In diesem See, der zwar annähernd kreisrund war, aber in eine unbekannte Anzahl von Buchten auslief, befanden sich mehrere kleine Inseln. Sie waren bewachsen und von kleinen, tempelartigen Bauwerken bestanden. Der See wurde überspannt von einer wunderbar gerundeten Höhlenkuppel aus hellem Stein. Es gab in
dieser hellen, fast gelbweißen Kuppel viele unregelmäßig geformte Öffnungen. Ich war sicher, daß ich mich hier unter dem Sand und den Felsen der Wüste befand, denn das Licht, das durch diese Löcher hereindrang, fiel fast senkrecht in breiten Bahnen nach unten und spiegelte sich im Wasser. Wenn meine Schätzungen stimmten, dann war der Wasserspiegel dieses Sees rund dreihundert Mannslängen vom oberen Scheitelpunkt des Felsendoms entfernt. Dreihundert Mannslängen also befand ich mich unter dem Boden des Planeten. Irgendwo hier in der Nähe mußte das blausandige Tal sein. Aber das Erstaunlichste war der Damm. Ich nannte ihn in Gedanken »Damm«, aber in Wirklichkeit war es ein schnurgerader Felsgrat, der an beiden Seiten fast völlig senkrecht in das Wasser des Sees abfiel. Auch der Grat bestand aus hellem Gestein. Hinter dem offenen Tor verengte sich der Weg zungenförmig und lief direkt in diesen schmalen, allzu schmalen Pfad über. Ich ging vorwärts, aß gedankenlos meinen Braten und blieb dort stehen, wo der Weg am engsten war. Verdammt! Wieder eine solche Höhle, die aussieht, als würde sie eine Galerie der Schrecken und Abenteuer sein. Ich hatte gar keine andere Wahl, als diesem engen Pfad zu folgen und vierhundert oder
mehr Mannslängen weit über dem Spiegel des Sees zu wandern. Wenigstens gab es hier echtes Sonnenlicht und eine wunderbare kühle, reine Luft, die meine Stimmung hoben. Rechts und links des schnurgeraden Pfades ging es zwanzig Mannslängen tief hinunter. Es gab nur wenige Menschen, die einen Sturz aus dieser Höhe aufs Wasser überlebten. Bei einem Fall aus solcher Höhe war das Wasser hart wie Fels. Ich drehte mich um. Hunderte von Rattas bildeten einen Halbkreis um das Tor und riegelten es ab. Ich nickte. Es war gut so. Die geflüchteten Wächter würden mir nichts anhaben können. Was blieb mir übrig? Nichts anderes – ich mußte geradeaus gehen, bis ich den Torbogen am anderen Ende des Steges erreichte, hinter dem ich einen wallenden, nebelartigen Schleier zu erkennen glaubte. Ich gab mir einen Ruck, schulterte das Schwert und ging geradeaus los. Schon nach wenigen Schritten stellte sich das Gefühl ein, einsam und verloren zu sein. Ich begab mich auf den letzten Weg, ich beschritt den Pfad zu Erthu. Dieser verdammte Pfad war nicht viel breiter als mein neues Schwert lang. Ich ließ mir Zeit, denn ich hatte genügend davon; das Sonnenlicht sagte mir, daß es
Mittag war. Schritt um Schritt ging ich weiter, gespannt, aber keineswegs mißtrauisch oder entmutigt. Der Braten wurde kleiner und kleiner, während ich dahinging. An zehn Stellen – das sah ich von hier aus – wurde die schmale Linie des Steges oder Deiches unterbrochen. An diesen zehn Stellen weitete sich der Damm zu einem kreisrunden Gebilde, das wie eine abgesägte Säule aussah. Nach einer kurzen Wanderung, in der Mitte der Strecke zwischen dem Tor und dem ersten Rund, kam ich an der ersten Insel vorbei. Ich sah sie rechts von mir. Ein winziges Inselchen, nicht viel größer als die Bodenfläche eines mittelgroßen Hauses. Einige Bäume standen darauf, es gab den steinernen Steg eines winzigen Hafens, einige Säulen, die ein flachgegiebeltes Dach trugen. Das fette, grüne Gras wuchs bis an die Wasserlinie. Es schien mir in einer flüchtigen Vision, als ob Erthu sich hier eine Art Ersatz für ein Leben geschaffen hatte, ein Traumbild, das er verwirklicht hatte, weil er sich in den Tiefen der Erde einsam fühlte. Ich zuckte die Schultern; wer konnte es wissen? Etwas später, nachdem ich mir die fett gewordenen Handschuhe an der Jacke abgewischt hatte, erreichte ich das erste Rund. Und im gleichen Augenblick sah ich, wie der Schwarze Geier angriff. Wie ein Geschoß fiel ein Vogel von oben schräg auf
mich zu. Es war kein Rhaag, keiner der Großvögel, die ich auf »Danilas Welt« kennengelernt hatte. Es war ein Geier mit pechschwarzem, fast blau leuchtendem Gefieder. Die langen Schwungfedern waren strahlend weiß. Cnossos! Das war unmöglich! War es wirklich unmöglich? Während ich diese Gedanken dachte, handelte ich mit der Übung langer Jahre fast völlig instinktiv. Ich duckte mich, lief bis zum Ende des Rondells und riß das Schwert von der Schulter. Der Geier war jetzt drei Mannslängen von mir entfernt, spreizte seine Schwingen und krächzte laut und heiser. Dann griff er mit Krallen und dem Hakenschnabel an. Mein Schwert beschrieb einen Halbkreis und zischte durch die Luft. Ich traf eine Schwinge. Federn und Teile von Flaumfedern schwebten langsam zu Boden. Die stahlharten Krallen des schwarzen Vogels streiften meinen Arm und rissen von der Schulter bis zum Ellenbogen drei tiefe Schnitte in die Haut. Blut tränkte die Ränder des zerschlitzten Stoffes. Ich warf mich herum und sah, wie der Vogel sich am Felsen vorbei fallen ließ, mit schweren Flügelschlägen wieder Höhe gewann und in der Luft drehte. Dann näherte er sich mir in gerade Flugbahn, strich direkt über die kleine Plattform dahin und schrie abermals. Ich sprang seitlich in die Höhe, ließ mein Schwert herunterkrachen
und traf eine seiner Krallen. Die Schwertspitze riß einen Funkenregen aus dem Stein, der ins Federkleid des Geiers stob. Während das Tier sich zu retten versuchte – ich sah winzige Ringe drunten im stillen Wasser, die mir bewiesen, daß mein Schwert eine blutende Wunde gerissen hatte –, rannte ich geradeaus weiter. Ich verließ das Rondell und hetzte wieder hinaus auf den schmalen Pfad. Klagend und langgezogen schrie der Cnossos-Geier mehrmals auf und strich mit ausgebreiteten Schwingen langsam auf die erste Insel zu. Ich rannte geradeaus. Was war das gewesen? Waren dies die tödlichen Fallen, die vor dem letzten Heiligtum des Erdgeists lagen und Vorwitzige abschrecken oder töten sollten? Was immer dieser erste Zwischenfall zu bedeuten hatte – er war keine Illusion gewesen. Ich sah meinen blutenden Arm, die Wunden und den zerfetzten Stoff. Keine Illusion, sondern brutale Wirklichkeit. Weiter! Geradeaus! Über den schmalen Felsgrat, den ich nicht verlassen durfte! Jeder Fehltritt würde mich ebenso umbringen wie ein geglückter Angriff des vermeintlichen Geiers, der jetzt in einem Baum gelandet war und mir krächzend
nachschrie. Ich erreichte das zweite Rondell, und plötzlich erschien vor mir die Schlange. Sie streckte sich aus dem Wasser bis hier herauf, bildete auf der Rundung einige Windungen ihres schwarzen, mehr als schenkeldicken Leibes und hob ihren dreieckigen, furchtbaren Kopf. Ich sah die dolchartigen und nach hinten gekrümmten Fangzähne. Das feine weiße Netzmuster auf dem schwarzen, nassen und schimmernden Körper war bereits viel zu nahe. Wieder schwang ich das Schwert und starrte schräg nach oben. Der Kopf zuckte herunter wie ein Schmiedehammer. Ich sprang zurück, seitlich konnte ich nicht ausweichen, ohne mich umzubringen. Das Schwert pfiff vor mir auf das Untier zu, ritzte eine lange Wunde in die Haut, der Kopf zuckte zurück und pendelte hoch über mir hin und her. Blutstropfen fielen in schneller Folge herunter. Das Reptil stieß ein langes, ärgerliches Zischen aus, verfolgte mit den großen Facettenaugen und mit der dreigespaltenen, langen Zunge jede meiner Bewegungen und griff dann abermals an. Eine Illusion, gewiß, aber eine tödliche Illusion, die ich töten mußte, um nicht getötet zu werden. Ich blieb stehen, hielt das Schwert in Ausfallstellung und wartete auf das nächste Zeichen des Angriffs. Zwar erfolgte jede Bewegung der Schlange blitzschnell, aber die Zeit, die der Kopf
brauchte, um aus seiner Höhe bis zu mir heruntergeschlagen zu werden, nützte mir. Wieder schoß der dreieckige Kopf herunter, die Zähne schienen nach mir greifen zu wollen. Ich stieß zu, wich aus, stieß abermals zu und versenkte die Schwertspitze eine Handbreit tief in das Auge der Bestie. Wieder zischte die Schlange auf, der lange Hals und der Kopf taumelten aufwärts, und ich machte drei lange Sätze. Der erste trug mich über zwei Windungen des Schlangenkörpers hinweg bis in die Mitte des Rondells, der zweite brachte mich zur Seite, als der Schlangenkopf senkrecht herunterhämmerte und neben meinem linken Stiefel auf das Gestein prallte. Ich wirbelte im Sprung herum, stieß einen Angriffsschrei aus und schlug mit ungewöhnlicher Wucht zu. Während das Schwert durch die Luft zischte, den Hals der Schlange fast zur Hälfte aufriß und spaltete, machte ich den dritten Satz. Er brachte mich aus der Reichweite des Körpers, der sich zusammenringelte und aufbäumte. Als mein Fuß den Steg des Felsens berührte, sank die Schlange in sich zusammen, fiel die Steilwand hinunter und verschwand aufklatschend im Wasser. Ich lief weiter und blieb in der Mitte zwischen zwei Rondellen stehen. Ich sah deutlich die Ringe, die sich von der Aufschlagstelle ausbreiteten. Mein Arm begann zu schmerzen.
Wenn ich in rasendem Lauf versuchte, über das nächste Rondell zu rennen oder zu springen, so überlegte ich, konnte mancherlei geschehen. Entweder prallte ich mit voller Wucht gegen eine der Gestalten aus meinen Träumen oder die Gegner, die ich kannte und gegen die ich gekämpft hatte. Oder aber ich war zu schnell und überlistete die Gedankenbilder und die Abläufe früher einmal erlebter Szenen. Was sollte ich tun? Selbst wenn es Wiederholungen waren, die Erthu aus meinen Erinnerungen stahl – sie würden für mich tödlich sein. So wie für jeden, der sich hierher wagte. Eigentlich brauchte Erthu gar keine Wachen vor dem Tor. Dieser Steg würde nur für einen Giganten keine Schwierigkeiten bilden. Jeder Sterbliche hatte das Glück seines Lebens gehabt, wenn er vor dem Ende des Pfades nicht zerfleischt war oder abgestürzt. Ich machte mich auf eine weitere Vision gefaßt, lief langsam an und vergaß den blutenden Arm. Ich hielt mein Schwert so, daß ich jeden nötigen Schlag damit beginnen und mancherlei Angriffe abwehren konnte. Als ich den dritten Knotenpunkt betrat, erschienen drei Untote vor mir. Ich wurde fast krank, als ich sie sah und blitzschnell angriff. Sie kämpften gegen mich mit der Leidenschaftslosigkeit und mit der Selbstaufgabe von seelenlosen Maschinen, die sie ja waren. Ihre fahle,
zerknitterte Haut, die unnatürlich starrenden Augen, aber die schnellen, zielgerichteten Bewegungen ... mein Schwert schlug vor ihnen einen rasenden Wirbel. Eine unsinnige Wut packte mich. Ich wurde zu einem von ihrer Sorte. Ich schlug dem einen das Schwert aus der Hand und schlug ihm den grinsenden Totenschädel vom Rumpf, mit dem gleichen Schlag spaltete ich den Schulterknochen des anderen Untoten und trat, indem ich den Fuß bis in Augenhöhe hochriß, gegen den Mittelpunkt des Schildes. Der kopflose Rumpf taumelte noch, dann fiel er von der runden Plattform. Der andere Untote kippte nach links. Mein Schwert raste waagrecht durch die Luft und traf den Hals direkt über der Rüstung. Der Schwung trug mich weiter, ich rannte geradeaus, erreichte die nächste Plattform und befand mich drei Spinnenwesen gegenüber, wie sie aus dem Weltentor gekommen und die Stämme des Eislands dezimiert hatten. Jetzt verwandelte mich diese kalte Wut in einen Rasenden, einen Berserker. Ich packte das Schwert fester und schlug zu. Links und rechts, aufwärts und abwärts, in unberechenbaren Wirbeln und funkelnden Schlägen. Ich kappte eines der Beine nach dem anderen. Ich schlitzte die Kiefer und die Zangen auf, schlug tiefe Wunden in die runden, häßlichen Spinnenkörper und wich aus, als das schleimige Blut nach mir spritzte.
Dann nahm ich, zurück auf den Felsen springend, einen Anlauf und rannte, im Zickzack springend, über die im Blut und im Schleim schwimmende Felsfläche. Die drei zuckenden Leiber verschwanden, als meine Sohlen den jenseitigen Streifen berührten. Keuchend blieb ich stehen und sah mich um. Der Eingang in Erthus Wohnraum schien noch in weiter Ferne zu liegen. Inzwischen hatte ich drei weitere Inseln passiert und befand mich etwa in der Mitte des langen Deiches. Noch fünf oder sechs solcher Visionen. Langsam beruhigte ich mich, während ich langsam auf die fünfte Plattform zuging. Ich mußte grinsen, obwohl ich fast krank vor Haß und Wut war und vor Enttäuschung. Eine neue Variante dieses tödlichen Spiels war mir eingefallen.
9.
Zweimal hatte ich Erthus Barrieren besiegt. Ich fand heraus, daß es einen bestimmten Punkt gab. Überschritt ich ihn, erstellte sich die Vision. Wich ich
zurück, verschwand sie wieder. Da die Illusion ihre eigenen Gesetze der Wirklichkeit hatte, verwirrte ich die Gegner ebenso, wie sie mich verwirrten. Die nächste Plattform bevölkerte sich in rasend schneller Folge neunmal mit einem riesigen Krieger, der neunmal wieder verschwand. Ein zehntesmal gab es nicht. Dasselbe Spiel trieb ich mit einem Tier, das wie eine Kreuzung zwischen Löwe und Reptil aussah. Es stürzte sich siebenmal auf mich und verschwand siebenmal wieder. Ich bestand mit sehr viel Glück weitere Kämpfe und näherte mich jetzt der letzten Plattform. Ich setzte meinen Fuß auf den glatten Felsen und sah mich Rauch und erstickenden Gasen gegenüber. Aus dem Nebel, der sich über einer Geröllfläche erhob und meine Lungen zu wildem Husten reizte, erhob sich die Gestalt eines schwer gerüsteten schwarzhäutigen Kriegers. Cnossos! Abermals, dieses Mal als »Herr des Südens« – der Kampf auf dem Vulkan unweit von Kyraces Eiland. Ich versuchte denselben Trick, aber er wirkte nicht. Der Nebel und die schweren Gase blieben. Hinter Cnossos wirbelte blaues und schwefelgelbes Feuer hoch. »Und wieder werde ich dich töten!« sagte ich laut
und erbittert. Der riesige Schwarzhäutige holte aus und schleuderte einen kurzen Wurfspieß gegen mich. Ich sprang zur Seite, mein Schwert schlug zu und traf das Geschoß dicht hinter der geschliffenen Spitze. Die Spitze schrammte mir ein Stück Haut aus der Schulter, aber der Speer ging ins Leere und schlug, als ich in den Nebel eintauchte, ins Wasser. Es war für meinen Gegner zu spät, einen zweiten Speer zu werfen. Ich schlug die Waffe zur Seite, führte einen wilden Schlag gegen den Helm, der mit dem Schild abgefangen wurde. Über uns kreisten schwarze Raubvögel, die heisere Schreie ausstießen. Dann prallten wir in der Mitte des Rondells zusammen. Cnossos oder seine Illusion hatte nicht mehr das Schwert ziehen können, aber er wehrte sich mit dem Schild und dem Dolch. Mir war es gleichgültig, ob ich siegte oder nicht. Ich bewegte mich in einem Halbkreis rechts an ihm vorbei, während ich wie besinnungslos auf den Schild, den Helm und die Dolchhand losdrosch. Aber ich konnte den Boden nicht mehr sehen. Mir war fast alles gleichgültig geworden. Während wir uns einen erbitterten Kampf lieferten, tastete ich mit der Spitze meines Stiefels so lange am Boden umher, bis ich wieder den Felssteg unter mir
spürte. Dann zog ich mich, langsam rückwärtsgehend und mit dem Schwert verteidigend, zurück. Die Illusion verschwand. Die Nebel, das Feuer und der Rauch lösten sich auf. Ich war nur noch zehn Mannslängen von einem riesigen, runden Loch in der hellen Felswand entfernt. Ich ging zehn Schritte, setzte mich auf den Felsen und zog die Knie an. Das Schwert klirrte auf den Stein. Ich legte meine Arme um die Knie und ruhte mich aus. Ich schloß die Augen und atmete langsam ein und aus. Langsam klärten sich meine Gedanken. Noch langsamer erholte ich mich. Die Wut und der eiskalte Haß lösten sich auf wie Nebel unter der Morgensonne. Dann hob ich den Kopf und blickte geradeaus. Ich sah Erthu! Langsam stand ich auf, schob das Schwert in meinen Gürtel und verließ den Steg. Der Felsen verbreiterte sich wieder, und ich blieb genau zwischen dem Felsen des
Durchgangs stehen. Vor mir schwebte in einer kleineren Höhle, die ich nicht deutlich sehen konnte, eine annähernd runde Nebelzusammenballung. Der Nebel war halb durchsichtig und gab den Blick frei auf eine Kugel, auf deren spiegelnder Außenwand viele Dinge unablässig in schneller Folge vorbeizogen und sich abwechselten. Ich erkannte Tiere und Pflanzen, aber es war jetzt nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Ich holte tief Luft und fragte laut: »Du bist Erthu, der Erdgeist?« In meinen Gedanken formulierte sich die lautlose, aber deutlich ausgesprochene Antwort. Ich bin Erthu. Du bist der erste Mann, der seit vielen Jahrhunderten mit mir spricht. Du mußt wahrhaftig ein großer Krieger, ein kluger Mann und ein ungewöhnlicher Mensch sein!
Ich erwiderte laut: »Mich schickt und mir hilft Vesta, der Herr der Elemente! Ich bin hier, um mit dir eine wichtige Unterhaltung zu führen. Beinahe hätten mich deine Todesfällen umgebracht!« Nur wer diese Fallen umgeht oder über sie siegt, ist würdig, mit mir zu sprechen. Sage mir – wer bist du? Woher kommst du? Was ist dein Anliegen? Ich stand dicht vor dem, das sich Erthu nannte. Ich blickte genauer hin und versuchte zu erkennen, was ich sah. Es war eine schnelle Folge rasender, vorbeiziehender Eindrücke. Ein riesiges Etwas, nicht unähnlich dem Teil von Vesta draußen im Tal. Eine neblige Zusammenballung, die sich drehte, wuchs und verkleinerte, bewegte und keinen Augenblick stillhielt. Ich sah Dschungelbäume und leuchtende Blüten, Krutts und Früchte, Büsche und Höhlenausschnitte im Innern des Nebels vorbeirasen, sich brechen, vervielfältigen und wieder ablösen. Leuchtende Pilze, winzige Kristalle, ins Riesenhafte vergrößerte Insekten und Horden von Rattas. Und wieder Höhlen und Lichtschimmer, weidende Herden und den Fluß, ein paar Bäche und die nassen Steine um eine Quelle. Dieses Kaleidoskop kam nie zur Ruhe, bewegte sich, kippte von oben nach unten und wechselte im Ablauf der farbigen Bilder
ununterbrochen seine Richtung. Die gesamte Höhle schien zu irisieren, zu zucken und ein trügerisches Leben zu offenbaren. Ich werde dir zuhören! erinnerte mich Erthu. Er sandte seine Gedanken in meinen Kopf, in meine Überlegungen. Er verkehrte mit mir ebenso wie der Teil Vestas. Ich zog es vor, laut zu sprechen, weil mich der Klang meiner eigenen Stimme davor bewahrte, mich zu einsam und zu verlassen zu fühlen. »Ich bin Dragon. Ich komme aus einer anderen Welt und habe diese Welt durch das Weltentor betreten, das sich hinter mir schloß. Höre meine Geschichte, Erthu ...« Ich berichtete ihm alles, angefangen vom Betreten dieser Welt bis zu dem Versuch, ihn zu treffen und den vielen Abenteuern, bis ich vor ihm stehen konnte. Ich vergaß Akkathos, den Träumer, ebensowenig wie die Geschichte Akkerons, der mit Tyde kämpfte. Ich ließ nichts aus. Ich weiß nicht mehr, wieviel Stunden ich sprach und meine Sätze durch Gedankenbilder unterstützte. Aber schließlich war ich irgendwann fertig und setzte mich erschöpft auf den Felsboden. Und was ist dein Anliegen? Du hast wahrhaftig einen sehr beschwerlichen Weg hinter dir! »Geh zurück unter die Herrschaft Vestas!« sagte ich und deutete auf das leuchtende Juwel in meiner Stirn. Jetzt konnte ich mich ein wenig entspannen. Sofort
begannen meine Wunden und Schnitte wieder zu schmerzen. Vor dem Tod auf diesem seltsamen Deich schien mich Vestas Auge bewahrt zu haben. Unter die Herrschaft Vestas? Weißt du, was du forderst? Wer bist du, daß du dieses Ansinnen an mich stellen darfst? Erthu wußte, wie ich zu dem Juwel gekommen war, auch hatte ich ihm berichtet, daß Vesta, der Herrscher und Gefangene, mit mir gesprochen hatte. Die Namen der Zwillingsbrüder Akkathos und Akkeron waren dem Erdgeist bekannt. »Akkathos hat sein Leben geopfert, um dich zu retten. Alle Menschen auf dieser Welt, die Tiere und selbst die Natur leiden darunter, daß nichts mehr fest ist, daß sich alles verändert, und meist ins Schlechte. Es war damals, vor zweitausend Jahren, gut und leicht, sich Vestas Ratschlüssen zu beugen und dafür zu sorgen, daß diese Welt ein Paradies bleibt. Warum zögerst du, Erthu, Vesta zu helfen und auch jetzt wieder seinem Rat zu gehorchen?« Fasziniert blickte ich auf die dahinrasenden Bilder im Innern der Nebelballung. Vorübergehend schwieg der Erdgeist. Er schien zu überlegen. Ich dachte an die Insel und den Versuch dieses Geflüchteten, der sich zum freiwilligen Gefangenen dieses Ortes gemacht hatte ... eigentlich müßte Erthu sich schnell entschließen können, meinen Plan zu unterstützen.
Du weißt, daß der machtgierige Bruder des Träumers gerade mit dem Wassergeist Tyde kämpft? »Nur deswegen gelang es einem Teil Vestas, mein Leben zu retten, mir alles zu berichten und sich wieder zurückzuziehen. In der Barriere entstand für kurze Zeit eine Lücke!« war meine Erklärung. Ich bin gesonnen, deine Bitte zu erfüllen! »Ich habe nicht so sehr meinetwegen gefragt und gebettelt, sondern um dieser Welt willen!« setzte ich nach. Es ist auch nicht dein Mut, der mich dazu bringt, sondern der Gedanke an alte Zeiten und schöne Jahre! »Sie können schnell wiederkommen. Aber bis dahin sind noch einige Abenteuer zu bestehen. Weniger meine Abenteuer, sondern eure – die Kämpfe der verschiedenen Elementargeister.« Vesta wird helfen. Und ich werde dir ein Versprechen abnehmen. So wie Akkeron gerade gegen Tyde kämpft, sollst du Aerula überzeugen! Ich weiß, daß Tyde unterliegen wird! Er hat im Augenblick schon so gut wie verloren! Die Geister der Natur schienen untereinander wenigstens zeitweilig in Verbindung zu stehen, das erfuhr ich jetzt. Also hatte der herrschsüchtige Bruder des toten Träumers Tyde doch besiegen können. Ich sagte laut: »Erthu! Ich bin allein und nicht mehr als ein ganz
leidlich guter Krieger. Ich bin nicht gewohnt, gegen mächtige Geister zu streiten. Ich brauche nicht nur die Hilfe von Vesta, sondern auch deine Hilfe!« Du wirst bekommen, was du brauchst! Jetzt, wo ich am Ziel war und vor Erthu stand, stellte sich heraus, daß der Versuch, ihn umzustimmen, das leichteste sein würde. Der Weg bis zu diesem Punkt, angefangen mit dem Flug von Odaliks Hirtenstamm bis zu den Kämpfen mit jenem Cnossos aus meinen Erinnerungen, war um ein Vielfaches schwerer und erschöpfender gewesen. Ein neuer, zielgerichteter Gedanke des Erdgeists riß mich aus meinen Überlegungen. Ich bin, wie ich dir sagte, grundsätzlich gewillt, Vesta wieder zu gehorchen und die Ordnung über diese Welt zurückzubringen. Tyde ist gefangen, ist unterlegen. Aber ich kann mich nicht bewegen wie du. Hilfst du mir und Vesta, so helfe ich dir, aber du mußt versuchen, Aerula ebenso zu überzeugen wie mich. Ich weiß nicht, ob Aerula ebenso schnell bereit sein wird wie ich. »Wie komme ich zu Aerula?« So, wie du hierher gekommen bist! Du hast Schwierigkeiten gehabt, deine Wanderwolke zu rufen. Ich werde sie für dich rufen – in Wirklichkeit tue ich dies bereits im Augenblick. Sie hat geantwortet!
Sie ist weit entfernt, aber sie kommt her. In einigen Tagen wirst du sie über der Stadt Merlane treffen. Wie findest du die Stadt? Sie lebt nur von mir und durch mich. Eine schöne Stadt, nicht wahr? Ich lachte kurz und erwiderte: »Eine verrückte Stadt voller Menschen, die nur in der Erinnerung der alten Zeiten leben. Es wird faszinierend sein, Merlane zu erleben, wenn die Stadt wieder zu der Handelsmetropole geworden ist, die sie vor zwei Jahrtausenden war!« Du sagst es. Dafür besteht Hoffnung, wenn es dir gelingt, Aerula ebenso zur Mitarbeit zu bewegen wie mich! Zwei Teile meines Vorhabens schienen bewältigt zu sein. Aerula-thane, meine schnelle und zuverlässige Wanderwolke, war auf dem Weg hierher, und mit ihr konnte ich die Stadt verlassen, in der ich als Ausgestoßener und Verfluchter galt. Der Erdgeist war bereit, sich wieder Vestas Herrschaft zu unterstellen. Und nun hatte ich noch ein paar mehr oder weniger persönliche Dinge zu regeln. Ich schrie leise vor Schmerzen auf, als ich mich bewegte. Was hast du, Dragon? »Deine Phantasiefallen haben mich verletzt. Ich leide Schmerzen!« sagte ich und versuchte ein Grinsen.
Warte! Entspanne dich. Komme näher an mich heran. Ich kann dich heilen. Vielleicht wirst du einschlafen, aber nachher bist du ohne Schmerzen! Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Erthu«, sagte ich. »Klären wir zuerst die anderen Dinge. Wie leicht oder schwer wird es sein, Aerula zu finden und diesen Geist zu bitten und zu beeinflussen?« Es wird schwerer sein als dieses Abenteuer, Dragon! Ich bin sicher, daß du alle deine Kraft und Schnelligkeit brauchen wirst. Ja, ich bin überzeugt, daß es wesentlich schwerer sein wird, Aerula zu gewinnen. Möglich, daß dir die Wanderwolke helfen kann! Ich nickte. »Was weißt du über die Weltentore? Wie ich dir erzählte, bin ich nicht aus dieser Welt. Ich betrat sie durch ein Weltentor bei den Himmelsbergen, das verschüttet und unpassierbar ist. Wo ist das zweite Weltentor?« Auch diese Antwort hätte ich erwarten müssen. Trotzdem erhielt ich einen heftigen Schock. Ich bin der Erdgeist. Ich bewege mich nicht wie der Blitz hin und her über der Welt. Ich weiß, daß es mehr als ein Weltentor gibt, aber was sollte ich dir antworten, wenn nicht einmal Aerula-thane dieses zweite Tor kennt? Erinnere ich mich recht, dann müßte es fern von hier im Westen sein. Aber ich weiß es nicht.
Wüßte ich es, würde ich es dir sagen. Wirst du versuchen, Aerula zu überzeugen? »Ja«, sagte ich. Dann werde ich dir in allem und bei allem helfen. Nun zu deinen anderen Problemen. Was brauchst du von mir? Ich holte Atem und berichtete ihm von Meri-Meri und den Vorkommnissen der letzten Tage. Ich sagte ihm, daß es mein unbedingtes Anliegen war, diesen beiden Freunden ihren vorherigen Stand wiederzugeben. »Ich werde nicht eher gehen, ehe Meri-Meri und Amar-Jato in allen Ehren in ihren Palästen sind. Und deine Aufgabe sollte es sein, auch mich wieder zum Freund der Stadtbewohner zu machen. Ist dir das möglich?« Ohne erkennbare Regung erwiderte der Erdgeist: Zuerst werde ich alle Auserwählten hierher rufen. Dann werde ich euch drei als meine Freunde, Auserwählte und Günstlinge präsentieren und den Leuten von Merlane sagen, daß euer Kampf viel wichtiger war und viel ehrenvoller als die Ausscheidungskämpfe für das Amt des Jahreskönigs. Du wirst, wenn du scheidest, als Freund und beinahe als mächtigerer Mann als der Jahreskönig in die Geschichte der Stadt und in die Erinnerung ihrer achttausend Bewohner eingehen.
»Das war, was ich wollte«, sagte ich. Komm nun zu mir. Ich werde dich heilen und alles tun, was ich versprochen habe – und noch einig es dazu! »Ich danke dir, Erthu. Der Weg zu dir war eine Marter, aber du entschädigst mich für alles!« sagte ich. Ich meinte es durchaus ehrlich. Langsam näherte ich mich dem kreisenden Nebel, in dem sich die Bilder und Bildfetzen jagten. Der Nebel hüllte mich ein und machte mich müde und halb bewußtlos. Ich hörte das Klirren des Schwertes, das aus meiner Hand fiel. Als letztes vernahm ich die Gedankenstimme des Erdgeists, die zu mir sprach: Wenn du aufwachst, ist alles so geschehen, wie ich es dir versprochen habe. Du hast unendliche Mühe auf dich genommen, um das Erbe des Träumers zu erfüllen. Das soll belohnt werden! Ich verlor das Bewußtsein. Ich schlief ein und begann zu träumen. Es waren wunderschöne, leuchtende Träume.
10.
Ich schaffte es sonst nur mitten in der Gefahr, wenn
mich das heisere Röcheln eines Raubtieres aus dem Schlaf schreckte oder der Tritt eines angreifenden Mannes auf einen dürren Ast mich hoch jagte. Ich war, als ich erwachte, sofort hellwach, gespannt und voller Aufmerksamkeit. Und ich fühlte mich wie ... wie neugeboren. Jetzt verstand ich, warum die Auserwählten sich von ihren Helferinnen so bereitwillig den Dolch ins Herz jagen ließen. Als sie aus der Mulde des blauen Sandes stiegen, fühlten sie sich ebenso wie ich. Sauber und ausgeruht, ausgeschlafen und wie gebadet, gesalbt und neu gekleidet. Sämtliche Schmerzen, alle Erschöpfung und jeder Rest von Müdigkeit waren vollkommen verschwunden. Eine Hochstimmung, wie ich sie selten im Leben gefühlt hatte, erfüllte mich. Ich öffnete die Augen. Ich lag im hellen Sonnenschein. Also schien ich rund vierundzwanzig Stunden geschlafen zu haben. Ich merkte, daß ich auf prächtigen Felldecken lag. Als ich mich aufrichtete, hörte ich ein fröhliches Gelächter. »Endlich ist er wach!« sagte eine wohlvertraute Stimme. Ich fuhr herum und sah Honigvogel, die auf einem prächtigen Sessel saß und gerade Wein aus einem Krug in einen Pokal goß. Neben ihr sah ich Ritter Purpurner Stein, der mich mit einem breiten Grinsen begrüßte.
»Also hat Erthu Wort gehalten!« sagte ich leise und sah mich um. Noch immer lag ich in Erthus Höhle, aber der Erdgeist in seiner nebligen Form hatte sich zurückgezogen. Die Nebelmasse schien kleiner geworden zu sein. »Hier, trink, mein Liebling! Das wird dich richtig wecken!« Ich sprang auf und nahm den Pokal aus Meri-Meris Hand. Ein tiefer Schluck des würzigen, alten Rotweins hob meine Laune beträchtlich. Dann setzte ich mich in den dritten Sessel und sagte: »Erthu hat lange mit mir gesprochen und mir alles erklärt. Wie seid ihr hierhergekommen ?« Der Ritter hob die Hand und erklärte ruhig: »Erthu sprach auch mit uns. Plötzlich war eine Stimme in unseren Köpfen. Wir folgten ihr, kamen an den Rattas und dem weit offenen Tor vorbei und gingen bis hierher. Dann warteten und schliefen wir. Inzwischen ist draußen einiger Lärm entstanden. Ich glaube, es sind die ›Auserwählten‹, die uns abholen.« Es ist so, wie er sagt!, erklärte Erthu lautlos. Wie es der Erdgeist fertiggebracht hatte, konnte ich nur ahnen. Aber auch Meri-Meri, die sich mir lachend an den Hals warf, und der Ritter, der seine Ruhe und Herzlichkeit wiedergefunden hatte, schienen sich prächtig von allem erholt zu haben. Jedenfalls war weder Angst noch Unzufriedenheit zu spüren.
Ich lachte auf und sagte nach einem weiteren Schluck: »Habe ich euch nicht versprochen, für einen ehrenvollen Abschluß zu sorgen? Erthu hat alles zum besten gewendet.« »Ja. Ich werde, wenn wir wieder in meinem Palast um das Kaminfeuer sitzen, alles erfahren?« fragte Ritter Purpurner Stein und legte mir die Hand auf die Schulter. »Noch ein paar Tage bin ich euer Gast!« versprach ich. »Natürlich mehr Fräulein Honigvogels Gast als deiner, Amar-Jato!« »Es ist leicht, damit einverstanden zu sein. Ein mannhafter Ritter braucht auch die Minne!« dröhnte er und schlug mir zwischen die Schulterblätter. Wir gingen nebeneinander aus der Höhle hinaus, auf die Quellen des Lärmens zu. Was wir dann sehen konnten, erfüllte selbst mich mit großer Verwunderung. Als ich, vom letzten Kampf halbblind und erschöpft, in die Höhle getaumelt war, hatte ich übersehen, daß rechts vom Höhleneingang eine breite, geschwungene Treppe nach unten zum See führte. Jetzt blieben wir auf der ersten Stufe stehen und blickten schräg abwärts. Dort lag, leicht schaukelnd, eine lange, schlanke Barke mit hochgezogenem Heckdeck und ebensolchem Bug, den ein Frauenkopf mit wirrem Haarschopf krönte.
Zwei Reihen Ruderer saßen in dem Boot und hielten ihre Ruder senkrecht in die Höhe. Von den Ruderblättern tropfte das Wasser. Dünne weiße Taue verbanden die Barke mit steinernen Pollern. Neun Männer kamen die Treppe herauf. Sie waren unbewaffnet. Ich konnte Herrn Roter Bär und den neuen Jahreskönig erkennen, also handelte es sich um die Auserwählten Erthus, die mächtigsten Männer der Stadt. Ihr Gesichtsausdruck war undeutbar. Sie wußten nichts, aber Erthu hatte sie gerufen und ihnen wohl aufgetragen, alles für einen triumphalen Zug in die Stadt zu tun. Daher das kleine Prunkschiff, das offensichtlich sehr selten benutzt wurde, denn außerhalb dieses Sees gab es keine Verwendung dafür. Wieder eines der Spielzeuge Erthus, mit denen er sich selbst einen Ausschnitt aus der normalen Welt vorgaukelte? »Ich grüße euch, Männer der Stadt!« sagte ich. »Erthu hat euch kommen lassen, um euch zu sagen, was geschehen soll!« Roter Bär blieb stehen, starrte seine Tochter an, dann mich, schließlich stahl sich ein leichtes Lächeln in sein Gesicht. »Erthu wird uns sagen, was geschehen ist. Ich sehe, ihr seid frei. Es ist wahrscheinlich besser so.« »Zumindest denken wir so!« pflichtete ihm
Purpurner Stein bei. Die Männer sahen uns an, nickten uns schweigend zu und gingen durch den Eingang in die Höhle hinein. Wir warteten und blieben etwa eine halbe Stunde allein. Der Jahreskönig kam zuerst heraus, blieb vor mir stehen und streckte mir die Hand entgegen. »Wir wußten nicht, Dragon, was deine Aufgabe war. Wir dachten, du wüßtest alles und würdest in der Stadt bleiben wollen. Wir konnten auch nicht ahnen, daß dein Weg und dein Vorhaben andere Gesetze hatten als die Gebote der Stadt Merlane. Vergessen wir alles, was zwischen uns vorgefallen ist.« Mit einer grimmigen Freude ergriff ich seine Hand, schüttelte sie und griff unbarmherzig zu, bis ich sah, wie sich sein Gesicht schmerzhaft verzog. Wir lachten beide. »Ich vergesse nicht alles!« erklärte ich. Vorwurfsvoll hoben sich seine Augenbrauen. »Nein?« »Nein. Ich vergesse nicht die Gastfreundschaft in euren Palästen, nicht die Liebe dieses Mädchens, nicht die Gespräche, die Feste und die Kämpfe, in denen Edelleute gegen Edelleute kämpften, nach guten und ehrlichen Regeln!« Herr Silberner Stern – dieses Zeichen war auf
seinem Wams und dem Mantel – lachte laut auf und begriff. »Das sollst du auch nicht vergessen! Wir werden jetzt in feierlichem Zug an die Oberfläche zurückkehren. Bleibst du unser Gast?« »Bis zu dem Augenblick«, bestätigte ich, »an dem die Wolke erscheint, die mich von Erthu zu Aerula bringen wird.« Er nickte, umarmte das Mädchen und schüttelte Herrn Purpurner Stein beide Hände. Der Friede war wieder hergestellt. Alle Irrtümer waren vergessen. Als nächster kam Fräulein Honigvogels Vater, Herr Roter Bär, aus dem Felsportal und eilte auf seine Tochter zu. Sie fielen sich in die Arme, und alle Anwesenden drehten sich taktvoll zur Seite. Es war die Stunde, in der sämtliche Fehler, Irrtümer und falschen Worte aufgeklärt und berichtigt wurden. Eine weitere Anzahl erhebender Momente, die trotz allem einer gewissen ritterlichen Würde nicht entbehrten, brach über uns alle herein, nachdem Erthu sämtlichen anderen Männern berichtet hatte, wie die Zusammenhänge lagen. Ich beschloß, der Unsicherheit ein Ende zu machen und breitete die Arme aus. Ich rief: »Hört bitte alle her!« Elf Gesichter blickten mich neugierig an. »Ich habe Sehnsucht nach Sonnenlicht und frischer
Luft. Kehren wir zurück nach Merlane. Wir können uns in den nächsten Tagen alles erzählen. Hinunter ins Boot, Freunde!« Und dir, Erthu, fügte ich hinzu, danke ich noch einmal für alles. Hilf mir bitte weiterhin so, wie du es in der letzten Zeit getan hast. Dann werden sich unsere Wünsche erfüllen. Ich werde das Weltentor finden, und diese Welt wird wieder die gewollte und richtige Ordnung spüren können. Erthu schickte mir eine letzte Antwort nach. So werden wir es halten, Dragon! Alles Glück für dich auf deinem Weg. Während du schliefst, habe ich eine Anzahl Gedanken und einige Höhlen voll Wissen in dir gespeichert. Du wirst dich ebenso daran erinnern wie an Vestas Auskünfte, wenn es an der Zeit ist und du dieses Wissen und diese Kenntnisse brauchst. Lebewohl! Ich hob die Hand, und niemand wußte, warum ich dies tat. Dreißig Ruderer, fünfzehn der stärksten Knappen der Stadt auf jeder Seite der Barke, setzten die Ruder ein. In einer Anzahl kleiner Rucke bewegte sich die Barke vorwärts. Sie war unendlich kostbar geschmückt. Jetzt erst, als die Barke auf das erste Tor zuglitt und hinter sich eine lautlose Spur zog, konnte ich sehen, daß der Felsendamm in Wirklichkeit eine Brücke aus
gewachsenem Stein war. Mindestens fünfzehn riesige Bögen unterbrachen die glatten Wände. Wir passierten den ersten Bogen, und plötzlich war diese riesige, stille Felsenhalle von einer überirdischen Musik erfüllt. Ich lehnte mich auf die gepolsterte Bank des Hecks zurück, schloß die Augen und hörte zu. Es klang wie Wind, der an offenen Felslöchern vorbeistrich und dort eine Luftsäule zum Schwingen anregte. Im alten Atlantis hatten einige Mitglieder der raumfahrenden Händlervölker solche Instrumente benutzt. Sie hatten sie Orgeln genannt; große Instrumente, die um richtig zu klingen, einen großen Raum brauchten. Erthu schien eine Melodie zu meinem Abschied zu spielen, indem er Luftströme aus den Höhlen oder in die Höhlen hinein rhythmisch umleitete, anhielt oder verstärkte. Die Barke nahm einen Kurs, der sie im Wechsel an den Inseln vorbeiführte, unter den Brückenbögen hindurch und dem jenseitigen Ende des unterirdischen Sees entgegen. »Als ich hierher kam«, sagte ich halblaut, »hatte sich diese Höhle in eine Kampfstätte verwandelt.« »Und jetzt ist sie ein Bild des Friedens!« stimmte Meri-Meri zu. Wir unterhielten uns mit den Auserwählten und erfuhren, daß unsere Irrfahrt im Untergrund mittlerweile sieben Tage gedauert hatte;
heute würde der siebente Tag der Herrschaft des neuen Jahreskönigs enden. Schließlich, nach mehreren Stunden, gingen wir die zweite Treppe wieder hinauf, passierten das Tor – kein einziges Ratta war mehr zu sehen! – und stiegen in die Sättel der schnellen Sarths. Die Musik aus den Schächten begleitete uns und hörte erst auf, als wir eine beträchtliche Strecke zurückgelegt hatten. In leichtem Galopp ritten wir eine endlose Höhle aufwärts. Der Weg führte nach Art der Wendeltreppe in dauernden Kreisen aufwärts. Den Tieren wurde es nicht zuviel, aber wir begannen, schwindlig zu werden. Aber kaum fühlten wir dies, schlug uns die frische Luft eines Merlane-Nachmittags entgegen. Wir erreichten die Stadt durch eine lange, gekrümmte Schrägfläche, die mitten in einem Park endete, den ich nicht kannte. Aber in der Nähe waren der Ruinenturm des Palasts von Purpurner Stein und die mächtige verzierte Wand des Palastes von Roter Bär, dem einstigen Jahreskönig. Wir hatten endgültig das Höhlenreich verlassen. Eine riesige Menschenmenge erwartete uns und jubelte uns zu. Der Ritter wurde in sein Haus eskortiert, und Roter Bär, Meri-Meri und ich verabschiedeten uns von ihm und gingen langsam auf den Palast zu. Es war wie ein Geschenk; aufgetaucht aus den dunklen Tiefen der Höhlen und wieder im Tageslicht, an der Luft, die wir
alle gewohnt waren. Unter dem Jubel der Bevölkerung schlossen sich die Pforten des Palasts. Sieben Tage lang blieb ich in Merlane. Sieben Tage. Ich berichtete unsere Abenteuer, wurde in die prächtigsten Ruinenpaläste eingeladen, liebte Meri-Meri und wurde von ihr geliebt. Es gab kaum ein Haus, in dem ich nicht Geschenke erhielt, die ich nicht zurückweisen konnte, weil ich sonst die vielen neuen Freunde tödlich beleidigt hätte. Seltsame Schmuckstücke, Goldarbeiten von unschätzbarem Wert, kostbare, funkelnde Steine und Waffen. Im Haus von Roter Bär wurde mein Reiseproviant vorbereitet; ich hätte eine kleine Armee mit diesen Delikatessen ernähren können. Einen erstaunlichen Effekt riefen Amar-Jato und ich zusätzlich hervor: Die heimlichen Anhänger Vestas wagten sich nun uneingeschränkt unter die Bevölkerung, die Erthu verehrte. Beide Gruppen lebten offenkundig friedlich miteinander, wenigstens jetzt, unter dem Eindruck dessen, was ich ihnen von Vesta berichtet hatte. Zwei Tage vor meiner Abreise erschien die Wanderwolke und lagerte sich über dem Tal des blauen Sandes. Schließlich brachten mich dieselben Männer, die
mich aus Erthus Höhle abgeholt hatten, hinaus zur Wanderwolke.
Honigvogel und ich standen am Morgen des achten Tages, den ich in der Stadt war, auf dem Pfad, der zum blausandigen Tal führte – und zur Wolke, die über dem Felsenkessel schwebte. Ein Schlangenarm aus Wolkenmasse hatte mein umfangreiches Gepäck vom Boden geholt und auf der Oberfläche Aerula-thanes abgesetzt. »Ein kurzer Abschied ist der beste Abschied!« sagte Meri-Meri und legte die Arme um meinen Hals. »Ich weiß nicht«, sagte ich, bevor ich sie zum letztenmal küßte, »ob ich jemals wieder nach Merlane zurückkomme. Aber ich werde dich niemals vergessen, Honigvogel. Du bist eine der schönsten Erinnerungen an die Zeit der wilden Abenteuer.« Wir küßten uns lange. Dann flüsterte das Mädchen: »Ich kann dich nicht vergessen, Dragon! Ich werde jeden anderen Mann mit dir vergleichen, und er wird diesen Vergleich nicht bestehen.« Ich strich zärtlich über ihr Haar und entgegnete leise: »Die Zeit heilt alle Wunden. Sie wird auch machen, daß die Erinnerung an mich verblaßt. Und es gibt viele gute Männer in Merlane, die jeden Vergleich mit mir
aushalten.« Sie nickte, dann sah sie mich noch einmal an, drehte sich um und lief schnell auf die Gruppe der wartenden Männer zu. Ich blieb stehen und sah ihr nach, bis ihr Roter Bär in den Sattel half. Dann hob ich meinen Arm und winkte. Alle Ritter zogen die Schwerter und schlugen damit hämmernd auf die Schilde, die in der Morgensonne blitzten. Bist du bereit, Dragon? fragte die Wanderwolke. Ich freue mich schon, wieder mit dir zu reisen! Hole mich zu dir, Aerula-thane. Ich bin bereit! sagte ich. Aus der Wolkenmasse bildete sich, während die Ritter weiterhin an die Schilde schlugen und die Sarths hochsteigen ließen, ein langer Tentakel. Ebenso, wie kurz vorher die Ausrüstung, die Waffen und die Nahrungsmittel, die ledernen Taschen voller Geschenke und die kleinen Säckchen voller Edelsteine den Weg auf die Wolke angetreten hatten, schwebte ich jetzt durch die Luft, wie von einer Schlange umarmt und hochgehoben. Aerula-thane setzte mich inmitten der Ausrüstung an ihrem Bug ab und sagte: Du bist als ihr Freund verabschiedet worden? Ja. Wir reisen nach Nordwesten, mächtige Freundin! Sie hob sich schnell vom Tal hoch, bildete ein Segel und drehte sich langsam auf den neuen Kurs. Wir begannen, auf die Stadt zuzusegeln. Ich sah unter mir
die kleine Karawane der Reiter. Mit einigem Abstand lief ein einzelnes Sarth. Ich erkannte Fräulein Honigvogel, die mit gesenktem Kopf im Sattel saß. Weinte sie? Ich konnte es nicht sehen, denn die Wanderwolke kletterte in der kühlen Morgenluft höher und höher, warf ihren riesigen Schatten auf die Ruinentürme und auf die verdorrenden Blüten und Blumen, die jenes Gewitter hervorgezaubert hatte. In die Richtung, in der Aerula, der Luftgeist, den Sitz und das Versteck hat? Ja. Ich wußte nicht, ob ich wegen des Abschieds trauern, wegen der neuen Abenteuer aufgeregt sein oder deswegen, weil jedes Abenteuer auch ein Spiel mit dem Tod war, Angst haben sollte. Ja! In diese Richtung. Nach Nordwesten! Zu Aerulas Versteck! Wir waren auf direktem Weg in ein neues Abenteuer. Vielleicht trafen wir auch jemanden, der mir den Weg zum Weltentor und zurück in meine Welt zeigen konnte. Ich lehnte mich zurück und überließ mich dem Gefühl des Schwebens. ENDE Erthu, der Erdgeist, zeigte sich einsichtig – und die Merlaner ebenfalls. Dragon, der Träger von Vestas Auge, wird als Beauftragter des auf der Insel des
Namenlosen gefangenen Herrn der Elemente anerkannt. Erthu erklärt sich auch bereit, Vesta wieder Gehorsam zu leisten und das durch Akkeron drohende Chaos abwenden zu helfen – unter der Bedingung jedoch, daß es Dragon auch gelingt, Aerula, den Luftgeist, zu überzeugen. Und so macht sich der Atlanter weiter auf den Weg – IM NAMEN VESTAS ... IM NAMEN VESTAS das ist auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Der Roman wurde von Ernst Vlcek geschrieben.