Roger Zelazny
Fred Saberhagen
Die Hirnspirale
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Bestseller B...
30 downloads
424 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Roger Zelazny
Fred Saberhagen
Die Hirnspirale
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Bestseller Band 22 099
© Copyright 1982 by The Amber Corporation
and Fred Saberhagen
All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1987
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co.
Bergisch Gladbach
Originaltitel: Coils
Ins Deutsche übertragen von Bernd Müller
Titelillustration: John Rush
Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg
Druck und Verarbeitung:
Elsnerdruck, Berlin
Printed in Western Germany
ISBN 3-404-22099-4
In diesem Augenblick wird auf der Welt ein neues Wesen geboren. Seine Zellen sind Mikroprozessoren, seine Seele wohnt in Datenbänken von der Wall Street bis zum Roten Platz. Es ist weder gut noch böse. Aber es ist mächtig – und gefährlich. Bei einem großen Industrieunternehmen sieht man darin nur einen neuen Rohstoff wie Öl oder Gas, aus dem sich Geld machen läßt. Doch dann entbrennt aus kleinen Anfängen ein weltumspannender Konflikt, und ein Mann und eine Frau verstricken sich unentwirrbar im Netz zwischen einem seelenlosen Konzern und der Seele einer neuen Maschine. Roger Zelazny ist einer der führenden New WaveAutoren der sechziger Jahre. Er gilt als der Autor, der den Mythos in die Science Fiction zurückgebracht hat. Fred Saberhagen ist bekannt geworden durch eine Reihe von Geschichten um intelligente Maschinen, deren Ziel es ist, alles unvollkommene Leben zu töten.
Eins
Klickerdiklick, Klickerdiklick Steuerbord, zwei Grad. Klick. Klick. … Und durch den schattenhaften Dämmer meines Traumes machen Worte die Fahrt von tausend Schiffen ungeschehen, zerschmelzen meine halberbauten Aluminiumtürme. Schön und flüchtig… Und fort. Was… »Du bist ein seltsamer Mann, Donald BelPatri«, kamen die Worte. »Etwas ist mit dir geschehen.« Ich wandte nicht den Kopf. Ich tat so, als ob ich schliefe, während ich meine Sinne ordnete. Die Welt war mir wieder entglitten, wie sie es manchmal tut. Oder war ich es? Und doch noch immer hier, jetzt, wir, wie ich uns verlassen hatte, erst vor Augenblicken. Hier: Das Dach meines Hausbootes, Hash Clash, wie es dahintuckert, vielleicht einen Kilometer in der Stunde, durch den Mangrovenkanal, der sich entlang der Flanke von Long Key nach Südwesten windet, etwa auf halbem Wege zwischen Miami und Key West. Warm, kühl, hell, dunkel. Flimmer, flimmer… Wir benutzten den neuen Autopiloten, ein Radio ShackModell, welches die Informationen der kürzlich entlang der Wasserstraße installierten Navigationsleitstellen mit seinen einprogrammierten Karten verglich und die Mischung mit einer Prise Radar als Schutz gegen Kollisionen würzte. Der Kanal war hier ziemlich schmal, und es gab Stellen, wo es für zwei aneinander vorbeifahrende Hausboote eng werden konnte – was aber auch hieß, daß es genügend Schatten gab, um einen längeren Aufenthalt an Deck erträglich zu machen. Mehr als das. Angenehm. Und nur darum ging es mir. Aber…
Ich wandte Cora nicht sofort den Kopf zu; ich brummte nur. Das war das Mindeste, was ich tun mußte, denn ihrem Tonfall konnte ich entnehmen, daß sie wußte, daß ich wach war. Doch meine Reaktion war bei weitem nicht ausreichend. Sie wartete schweigend auf etwas Besseres. »Eine Binsenweisheit«, sagte ich schließlich. »Nenne mir drei Leute, mit denen nichts geschehen ist. Nenne mir einen.« »Hochgebildet«, sinnierte Cora nun, als diktiere sie Aufzeichnungen in einen Recorder. »Einigermaßen intelligent. Alter etwa… wie? Siebenundzwanzig?« »So um den Dreh.« »Größe: Beachtlich. Wenngleich noch nicht entstellt durch den unmäßigen Genuß von italienischem Essen.« In den zwei Wochen, seit wir uns kennengelernt hatten, war unsere gemeinsame Vorliebe für Pasta ein ständig wiederkehrender Scherz geworden. Es war eine nette Art, das Verhör zu erleichtern. »Finanzlage – offenbar gesichert. Besonderer Ehrgeiz…« Cora ließ den Satz absichtlich unvollendet. »Mich zu amüsieren«, ergänzte ich, immer noch ohne mich umzudrehen. Bei geschlossenen Augen überlagerte sich in meiner Phantasie das Tuckern des Motors mit dem Hin und Her von Informationseinheiten im Mikrocomputer. Ich traute dem verdammten Ding noch nicht ganz. Wäre es so, hätte ich vom Dämmerzustand in tiefen, dunklen Schlaf hinübergleiten und ihm die Kontrolle überlassen können. Dann wäre auch dieses Verhör vermieden worden. Na ja… jedenfalls aufgeschoben. Ich wußte jedoch, daß es früher oder später kommen mußte. Cora arbeitete schon seit Tagen darauf hin. »Was du«, antwortete sie, »zu einer Kunst erhoben hast. Augen blau. Haare dunkel und gelockt. Kantige Gesichtszüge. Ein voreingenommener Mensch könnte sie sogar als ›gutaussehend‹ bezeichnen. Keine sichtbaren…«
Nein, keine, die man auf den ersten Blick sah. Jedenfalls unter normalen Umständen nicht. Aber das war der Grund, warum ihre Stimme diesmal verklungen war. Die Narben lagen wohlverborgen unter dem berühmten Dunkelgelockten. Sie hatte sie vor einer Woche entdeckt, als ich eines Tages meinen Kopf in ihren Schoß gelegt hatte, und mich danach gefragt. Plötzlich kam es mir so vor, als sei sie ständig auf diesem Thema herumgeritten, und ich wünschte mir, zum Teufel, daß sie damit aufhören würde. Ich wußte, wenn ich ihr geradeheraus sagte, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, würde sie das tun. Aber ich würde sie möglicherweise nie wiedersehen, wenn ich das tat. Und ich entdeckte gerade, daß mir sehr viel daran lag, sie auch weiterhin zu sehen. Sie schien sich auf einer tieferen Ebene als der eines bloßen Urlaubsflirts zu mir hingezogen zu fühlen, und ich… Ich wandte den Kopf, bettete ihn auf die verschränkten Unterarme, sah sie an. Auch sie war groß, fast Einsachtzig, mit einem langen, geschmeidigen Körper, der jetzt ausgestreckt auf dem Badetuch lag, das auf dem Dach des Hausboots ausgebreitet war. Sie hatte das Oberteil ihres zweiteiligen Badeanzugs ausgezogen, aber das Stückchen Stoff lag in bequemer Reichweite – für den Notfall, wie zum Beispiel einem ernsthaften Streit mit mir. Eine im Grunde vorsichtige junge Dame, wie von einer Lehrerin nicht anders zu erwarten. Und im Grunde wunderschön. Kein Hollywoodgesicht, durchaus nicht. Sie trug ihr dunkles Haar kürzer, als es die gängige Mode verlangte, weil es so, wie sie sagte, leichter zu bändigen sei und sie im Leben ganz andere Dinge zu tun habe, als ihr Haar zu pflegen… Und im Grunde das Wichtigste an ihr war, wie ich eben entdeckte, daß ich sie nicht verlieren wollte.
»Keine sichtbare Existenzberechtigung?« schlug ich schließlich vor. Nicht ganz ernst, natürlich. Cora veränderte ihre Lage, um mir in die Augen sehen zu können. »Erzähl mir, wo du aufgewachsen bist«, sagte sie. »Deiner Aussprache nach würde ich sagen, es war irgendwo im mittleren Westen.« Das war weniger gefährlich, jedenfalls schien es so. Gefährlich? War das mein Ernst? Ja, stellte ich fest. Einen unangenehmen Moment lang fühlte ich mich, als habe man mich mit einer Astgabel gefangen und zur Begutachtung hochgehalten. An einigen Stellen tat es mehr weh als an anderen. Wie meine Narben. Ich hatte mich immer ab einem gewissen Punkt für einen verschlossenen Menschen gehalten, und… Mir wurde ein Blick auf mich selbst gewährt, wie ich mich im Zangengriff wand. Irgend etwas stimmte nicht. Es war, als seien da bestimmte Dinge, die ich mich nicht einmal selbst zu fragen wagte. In diesem ersten Augenblick der Selbstbeobachtung seit Jahren stellte ich fest, daß eine irrationale Faser in mein Wesen verflochten war. Das war jedoch alles, was ich sah. Kein Weg, da heranzukommen, geschweige denn, sie zu entflechten. Der Gedanke verflog so rasch, wie er gekommen war, und ich war froh darüber. Hier befand ich mich auf sicherem Boden. »Nördliches Michigan«, antwortete ich. »In einem Ort, der so klein ist, daß du mit Sicherheit noch nie davon gehört hast. Und zu allem Überfluß hieß er auch noch Baghdad.« »Wie in Tausendundeiner Nacht?« »Weit davon entfernt. Der Hiawatha Nationalpark ist ganz in der Nähe. Eine Million Seen und eine Milliarde Moskitos… Was soll ich sagen? Ich hatte eine ziemlich typische Kleinstadtjugend.«
Sie lächelte, zum erstenmal seit langem. »Ich beneide dich darum«, sagte sie. »Ich habe dir von Cleveland erzählt. Ich nehme an, dein Vater war Besitzer des örtlichen Sägewerks, oder so?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat nur dort gearbeitet.« Ich hatte keine große Lust, über meine Eltern zu reden, genau genommen nicht mal, an sie zu denken. Sie waren gute Menschen, das Leben in Baghdad war idyllisch gewesen. Als Junge hatte ich eine Art Huckleberry-Finn-Dasein geführt. Doch das war lange her, und ich hatte kein Verlangen zurückzukehren. Ein anderes Hausboot kam um eine Biegung in Sicht und tuckerte auf uns zu. Mein Robotpilot steuerte uns etwas weiter nach Steuerbord und schuf so reichlich Abstand. »Ich dachte, du lebst vielleicht von einer Art Erbschaft.« Möglicherweise lag es an der Sonne, daß mein Kopf wehzutun begann. Ich setzte mich auf. Ich rieb mir den Nacken. »Wir haben kein Angelzeug mitgebracht, oder?« sagte ich. »Verdammt! Ich hatte es vor. Vergessen.« »Schon gut, Don, tut mir leid. Es geht mich nichts an.« Das andere Hausboot hatte die Motoren gedrosselt und trieb an uns vorüber. Gerade waren die Köpfe zweier junger Männer am Fenster uns gegenüber aufgetaucht. Sonnenbadende Mädchen oben ohne waren kein ungewöhnlicher Anblick mehr, aber so attraktive wie Cora waren es offenbar doch. Einer der Jugendlichen sagte etwas, das ich zu überhören versuchte. Voller Unbehagen nahm ich eine Stellung ein, die ihnen die Sicht versperrte, während Cora ihr Oberteil anzuziehen begann. In meinem Kopf pochte es jetzt. »Nein! Also, Cora… Verdammt! Versteh mich nicht falsch!« »Ich nehme es dir nicht übel.«
»Aber du ziehst dich vor mir zurück. Ich spüre es.« »Ich ziehe mich zurück? Oder werde ich gestoßen?« »Ich…« Ich stand auf, aber ich konnte nirgendwo hin. Die zwei gaffenden Jugendlichen trieben weiter, und ich sah ihnen fast verzweifelt nach, als sie ihre Motoren wieder anwarfen. Ich setzte mich, ließ die Beine über die Kante des flachen Daches baumeln, wandte Cora den Rücken zu. Ich trommelte mit den Fersen gegen das Fiberglas des oberen Schiffsrumpfes. Der Robotnavigator mahlte an seinen Daten in einer Wahnsinnsstille. »Don, es geht mich wirklich nichts an, wo dein Geld her kommt. Alles, was ich weiß, ist, daß du mir einmal erzählt hast, du bekämst achttausend Dollar im Monat auf dein Konto eingezahlt, und – « »Wann habe ich dir das erzählt?« »Es ist ein paar Nächte her. Kann sein, daß du dem Schlaf näher warst als dem Wachen«, sagte sie. »Es klang aber glaubwürdig. Du scheinst ein ziemlich bequemes Leben zu führen.« Ich spürte, wie mein Gesicht unter der sorgsam gepflegten Sonnenbräune rot wurde. »Du willst wissen, woher mein Geld kommt?« brüllte ich. »Ich aber nicht!« Wie konnte sie mich so weit bringen, daß ich mich wie ein kleines Kind fühlte, das irgendeine geheime Sünde beichtet? Ich spürte den wahnsinnigen Drang, mich umzudrehen und sie ins Gesicht zu schlagen. Eine Pause entstand. Dann fragte sie: »Was willst du nicht?« In ihrer Stimme lag ein neuer Ton der Verwirrung. Mein Hals war plötzlich wie zugeschnürt, mein Schädel platzte. »Ich will nicht daran denken!« stieß ich schließlich hervor.
Dann wandte ich mich wieder ihr zu – und plötzlich schnellte meine Hand, die einen Moment zuvor gedroht hatte, sie zu schlagen, nach vorne und ergriff ihr Handgelenk. Ich war nicht fähig, noch ein Wort zu sagen, aber ich wußte, daß ich sie nicht loslassen konnte. Ihr Gesicht nahm einen entrüsteten Ausdruck an, der fast genauso schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. Während sie mich anstarrte, verwandelte er sich in einen Ausdruck des Mitleids, der Sorge. »Don… Oh, Mann, du hast Schwierigkeiten – stimmt’s?« »Ja.« Es war schon eine Erleichterung, so viel sagen zu können. Schwierigkeiten? Ja, zu diesem Zeitpunkt wußte ich schon, daß ich Schwierigkeiten hatte. Ich hatte keine Ahnung, worin sie bestanden. Aber Schwierigkeiten hatte ich. Das erkannte ich. Sie hatte mir zu dieser Einsicht verholfen. »Du wirst meinen Arm loslassen müssen«, sagte sie und versuchte, ihre Unbekümmertheit zurückzugewinnen. Ihr ungenügend befestigter BH drohte herunterzurutschen. »Da kommt noch ein Hausboot.« Ich blickte auf. Es umrundete gerade etwa achtzig Meter vor uns eine sanfte Biegung. Während ich hinsah und meine Finger sich lockerten, bis ihr Handgelenk freikam, erschien an Steuerbord ein sonnengerötetes männliches Gesicht. »Sieht aus wie Willy Boy Matthews höchstpersönlich«, sagte ich und überraschte mich selbst mit einem, wie mir schien, witzigen Vergleich, der völlig abwegig war. Ich wußte plötzlich, daß eine Art innerer Krise überwunden war, und spürte, wie ich fast an meiner Erleichterung erstickte. Cora war immer noch bei mir. Was auch immer passieren mochte, jedenfalls hatte ich das Gefühl, daß ich mit ihr nicht brechen würde.
»Willy…? Wie bist du denn auf den gekommen?« Cora hörte sich an, als sei sie bemüht, weiter mit mir zu reden, ganz egal, worüber, während ihre Hände mit Anziehen beschäftigt waren. »Ich weiß nicht. Ich nehme an, die Prominenten von Vorgestern kommen einem einfach ab und zu mal so in den Sinn.« Das Gesicht in dem vorbeifahrenden Boot sah aus der Nähe dem des verstorbenen Erweckungspredigers, wie ich es vom Bildschirm und aus der Zeitung in Erinnerung hatte, gar nicht sehr ähnlich. Es war höchstens eine grobe, impressionistische Ähnlichkeit. Wenn der Verstand wirklich abgelenkt werden will, greift er zum Nächstliegenden. »Möchtest du mir jetzt von deinen Schwierigkeiten erzählen?« sagte sie. »Ich verspreche, es wird nichts Schreckliches passieren, wenn du es tust.« Ich war mir nicht sicher, ob ich das glaubte, ich wollte es jedenfalls gerne. Aus mir unklaren Gründen war ich verzweifelt, den Tränen nahe. Und es war doch eine Schande, wenn der ganze Aufruhr für nichts und wieder nichts gewesen wäre. Ein wenig mehr Anstrengung, sagte ich mir, und ich würde alles sagen. Sie würde genausoviel wissen wie ich. Wir würden uns näher sein, wo wir im Begriff gewesen waren, auseinanderzugehen. Wie konnte daraus etwas Schreckliches entstehen, trotz der irrationalen Vorahnungen, die erschienen waren, um auf meinem Deck zu tanzen? »Also gut«, sagte ich und blickte auf das Wasser hinaus, wo es im Sonnenlicht glitzerte. »Ich weiß nicht, woher das Geld kommt.« Ich hielt einen Augenblick inne, in der Hoffnung, sie werde etwas sagen. Aber sie blieb stumm. »Solange ich nicht daran rühre«, fuhr ich fort, »solange ich nicht versuche, etwas herauszubekommen, wird alles in Ordnung sein. Das weiß ich einfach. Es wird über einen EFT
überwiesen – du weißt schon, einen elektronischen Finanztransfer –, ohne Angaben über die Herkunft. Vor einem Jahr etwa bin ich tatsächlich zur Bank gegangen und habe mich danach erkundigt, wie schwer es wohl wäre, es zurückzuverfolgen. Man sagte mir, es gebe mit Hilfe der vorhandenen Informationen keine Möglichkeit, das herauszubekommen. Dann war ich ein paar Tage lang krank, und seither habe ich nicht mehr daran gedacht. Aber solange ich mir keine Gedanken über das Geld mache, geht es mir gut. Alles hat seine Ordnung.« Der letzte Satz klang in meinem Kopf nach. Ich hatte ihn wie auswendig gelernt aufgesagt. Ich verstand nicht, wie ich ihn angesichts der Situation, die ich gerade beschrieben hatte, hatte aussprechen können. Und doch hatte ich noch mehr getan als das. Lange Zeit hatte ich daran geglaubt. Ich hob die Hand und rieb mir die Stirn, die Augen. Die Kopfschmerzen waren immer noch da. Als ich die Hand sinken ließ, stellte ich fest, daß sie zitterte. Plötzlich lagen Coras Hände auf meinen Schultern. »Mach dir keine Sorgen, Don«, sagte sie. »Ich dachte, daß du vielleicht eine Behindertenrente kriegst. Ich meine, wegen der Narben am Kopf und all dem. Aber das ist jedenfalls nichts, wofür man sich… schämen müßte.« Ich stellte fest, daß ich mich tatsächlich benahm, als schäme ich mich. Dabei wußte ich nicht, warum. Vor allem hatte ich jetzt Angst, allzu intensiv darüber nachzudenken. Ich wußte jetzt auch, warum. Es war wirklich etwas – Ungewöhnliches an der Art, wie mein Leben geregelt war. Aber noch ungewöhnlicher war meine Einstellung dazu gewesen – wie lange schon? Ich schwitzte jetzt heftig. Es mußte etwas Seltsames im Spiel sein. Irgendwie wußte ich, daß es keine Behindertenrente war. Ich wußte nicht, was zum Teufel es tatsächlich war, und ich wollte es auch nicht wissen. Ich stellte
fest, daß ich Angst davor hatte, es herauszufinden. Ich war so verdammt verängstigt, daß ich fast alles getan hätte, um es nicht erfahren zu müssen. Und doch… Cora glitt neben mich, setzte sich, streckte die langen, gebräunten Beine aus und ließ die Füße baumeln. Wir betrachteten das sich kräuselnde Wasser, abwechselnd dunkel und hell glänzend, während wir vom Schatten ins Licht glitten. »Ich glaube nicht, daß es etwas wirklich Schlimmes ist«, sinnierte sie leise. Dann, nach einiger Zeit, fügte sie hinzu: »Aber du hast gesagt, deine Familie sei nicht wohlhabend?« Ich nickte, hörte nur mit einem Öhr zu, jetzt, da die Krise vorbei war. Sie hatte eine Art Sieg errungen, und wir wußten es beide, obwohl keiner von uns hätte sagen können, was für eine Art von Sieg, und mir erst ansatzweise klar wurde, wie. Für mich hatte in ihren Worten größerer Zauber gelegen als im Sang der Sirene. Ich wußte, daß ich nie wieder derselbe werden konnte, der ich noch vor kurzem gewesen war. Ich schauderte, dann griff ich nach ihrer Hand. Wir beobachteten weiter das Wasser, und die Schmerzen in meinem Kopf gingen zurück. Es entstand ein Augenblick kristallener Klarheit, und dann konnte ich fast sehen, wie über uns statt der Mangroven Kiefern und Fichten emporragten. Ich konnte den Wald riechen und hören, statt des salzigen, plätschernden Ozeans, der seine leeren Ärmel flattern ließ. Zum erstenmal seit langer Zeit – wahrscheinlich seit Jahren – wollte ich nach Hause zurück. »Cora?« »Ja?« »Fliegst du mit mir nach Hause und lernst die Familie kennen?« O gesegneter Drang nach Ordnung…
Zwei
Ticket? Ticket…? Ticket. Irgendwas klickte. Nicht hörbar. Irgendwas irgendwie irgendwo anders. Klicket. Klickt es. Ticklicket. TiWirbel. Vordringen und Rückzug. Pause. Pulsieren. Drehung. Noch mal. Die große, glänzende Schüssel mit Buchstabensuppe schwappte vor mir hin und her. Fassade. Ich tauchte hindurch, dahin, wo sich die Hand bewegte, die die Fäden der Macht hielt. Natürlich. Eins wird mich zum anderen führen und das andere zu einem weiteren. Zurück. Sich winden und pulsieren…
Der Jachthafen, in dem wir an jenem Nachmittag mit der Hash Clash anlegten, besaß alle Annehmlichkeiten, einschließlich der Anschlüsse für Computer-Bordtelefone. Viele leitende Angestellten auf Urlaub hatten solche Geräte auf ihren Booten dabei. Ich hatte all die beunruhigenden Symptome verloren, die ich mir zuvor zugelegt hatte, auch wenn ein alles überlagerndes Gefühl beinahe angenehmer Erschöpfung zurückgeblieben war und eine dumpfe Benommenheit, von der ich wußte, daß ich sie abschütteln konnte, wenn ich wollte. Die Notwendigkeit ergab sich allerdings nicht, und ich war dankbar für die Betäubung, die Körper und Geist manchmal klugerweise produzieren. Ein riesiges Steak würde die Verzauberung mehr
als angemessen vervollständigen. Aber zuerst die Pflicht, entschied ich. »Eigentlich könnte ich die Tickets gleich jetzt bestellen«, sagte ich und spürte einen gewissen Eifer. Cora lächelte und nickte. »Tu das. Ich habe meine Meinung nicht geändert.« Ich ging hinaus und fügte die einfachen Stecker zusammen, die uns mit dem Informationsnetz des Festlandes und der Welt verbanden. Dann kehrte ich in den Raum zurück, wo ich mein Gerät aufgestellt hatte. Eigentlich hätte nichts besonders Schwieriges oder Exotisches dabei sein sollen, die Tickets zu bestellen. Im Grunde bestand der Vorgang lediglich darin, mit meiner persönlichen Datenverarbeitungsanlage die der Bank und der Fluglinien zu kontaktieren und meine Anweisungen einzugeben, wie viele Personen wann wohin reisen würden und welche Leistungsklasse gewünscht wurde. Aber – Es geschah, als ich die Bestellung erledigt hatte. Es gab keinen Grund, jetzt nicht den Arm auszustrecken und die Anlage abzuschalten. Aber ich tat es nicht. Statt dessen starrte ich den Bildschirm an und hatte ein angenehmes Gefühl, etwas geschafft zu haben, jetzt, da das Ticket… Ticket…? Und schon glitt ich in eine Art Gedankenkette hinein, dachte zuerst über das Ticket nach und darüber, was es bedeutete, dann über das ordentliche, glatte Funktionieren der Maschinerie selbst, die all das möglich machte, und dann… Einmal glaubte ich, Cora nach mir rufen zu hören, aber in einem passiven, allgemein fragenden Tonfall, der nicht unbedingt einer Antwort bedurfte. Dann hatte ich eine Art Wachtraum. Mir war, als bewege ich mich an Linien entlang, hellen und dunklen, mit schwindelerregender Geschwindigkeit, als führe
ich auf einer verrückten Achterbahn – hinauf, hinunter, herum und hindurch –, auf der ich zurück reiste, zurück durch mir bekanntes Gebiet, durch eine Landschaft des Geistes oder der Seele, die ich vielleicht in einer vorangegangenen Inkarnation schon einmal besucht hatte, oder gestern in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit. Und dort, dort am Ende der Linie war ein Ort, wo etwas von meinem Leben aufgespeichert lag. Es war von Wänden umgeben, die mir den Eintritt verwehrten, als ich dort ankam. Ich versuchte, sie zu durchdringen, und stumme Alarmsirenen ertönten um mich herum auf meinem Weg… »Don! Alles in Ordnung?« Ich blickte auf, und Cora starrte mich von der Tür her an. Ich schaffte es, zu lächeln. »Ich habe an zu Hause gedacht«, sagte ich, schüttelte den Staub meiner Träume ab, rieb mir die Augen und gähnte. »Einen Augenblick lang dachte ich, du wärst eingeschlafen, oder – « » – ausgeflippt?« beendete ich den Satz. »Pech gehabt. Ich weiß, daß du ab und zu gefüttert werden mußt. Mach dich fertig, dann…« Ich nahm plötzlich wahr, daß sie einen dunkelblauen Wickelrock und ein rotes Oberteil anhatte. »Fünf Minuten«, sagte ich, »dann gehen wir an Land und machen uns auf die Jagd nach Proteinen.« Sie lächelte. Ich schaltete das Terminal ab. Nach Hause. Ich hatte immer noch ein gutes Gefühl dabei. Ticketdiklick.
In Detroit wechselten wir das Flugzeug Richtung Escanaba, obere Halbinsel, am Nordufer des Michigansees. Der glänzende Spiegel des Sees war, zumindest entlang der
Küstenlinie, mit dem Konfetti sommerlicher Segelboote bestreut – für mich ein geradezu elektrisierender Anblick. Alles erschien mir aufregend vertraut, je weiter wir in meine nunmehr Gegenwart gewordene ländliche Vergangenheit eindrangen. Ständig wies ich Cora auf etwas hin – Erinnerungspunkte, Fakten, Geschichten drängten sich gleichsam ungebeten in mein Gedächtnis und über meine Lippen. Fast unmittelbar nach der Landung holten wir unseren Mietwagen ab, da wir außer unseren Umhängetaschen kein Gepäck dabei hatten. Wir fuhren auf dem Highway 41 aus der Stadt heraus am Ufer entlang nach Norden. Die Sonne traf heftig auf den riesigen Spiegel des Sees, und die Wellen schwappten wie Glas Splitter auf uns zu. Nach ein paar Meilen bogen wir landeinwärts auf die Staatsstraße G 38 in Richtung Cornell ab. Der dunkelgrüne, gezackte Horizont war angenehm nahe. Ich schickte meine Phantasie voraus, ließ sie hindurchfließen, die Landschaft bevölkern. »Ich meine immer noch, wir hätten anrufen sollen«, sagte Cora, nicht zum erstenmal. »In fünf Jahren verändern sich Menschen, ändert sich mancher.« Fünf Jahre. Stimmte das? War es so lange her, seit ich dagewesen war? Ich hatte ihr die Zahl beiläufig genannt, ohne mir die Mühe zu machen, wirklich nachzurechnen. Im letzten Jahr – 1994 – hatte ich Florida überhaupt nicht verlassen, auch nicht im Jahr davor, soweit ich mich erinnern konnte. Davor, ‘92… Ich konnte mich nicht so genau erinnern, was ich ‘92 gemacht hatte. »Der Gedanke, deine Familie kennenzulernen, macht mich nervös.« Einem Straßenschild zufolge lag Baghdad fünfzehn Meilen hinter Cornell, meiner Erinnerung zufolge auch. Ich wandte den Kopf und lächelte ihr zu.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« »Hoffentlich.« »Es wird schon in Ordnung gehen.« Wie konnte es anders sein? Je mehr wir uns Baghdad näherten, desto weniger sorgte ich mich um das, was wir im einzelnen vorfinden würden, wenn wir dort ankamen. Das Wichtigste… ich lächelte… das Wichtigste waren Cora und ich. Cornell hatte, klein wie es war, in den letzten Jahren offenbar einige Veränderungen erlebt. Kaum etwas kam mir bekannt vor. Aber die Straße und die hohen Bäume, die sie auf beiden Seiten einschlossen – und die alten Eisenbahnschienen, der Wasserturm, die verblaßte Plakatwand hier und dort – all das wirkte doch beklemmend vertraut. »Das«, sagte ich, »ist neu« – die ersten Worte, die einer von uns beiden seit mehreren Meilen sprach. Die erste Tankstelle, auf die wir am Rand von Baghdad trafen, war klein, verwittert und von der Marke Standard, nicht die große, neu aussehende Angra, Energy Station, an die ich mich so deutlich erinnerte. Es gab auch ein neues Schild an der Stadtgrenze: BAGHDAD
Einw. 442
Ich fuhr weiter in den Ort hinein, wobei ich die Geschwindigkeit auf die vorgeschriebenen 50 km/h reduzierte. Es gab nur eine Durchgangsstraße durch den Ort, die man einen Highway nennen konnte, und innerhalb der Stadtgrenzen war sie der einzige Verkehrsweg, der tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Straße hatte. Die Seitenwege, die von ihr abgingen, waren ungepflastert, mit Unkraut übersät, zerfurcht, mit Löchern an einigen Stellen. Blechgedeckte Häuser mit einigen
Vorgärten, in denen auf Zementblöcken aufgebockte Fahrzeuge, abgenutztes Dresch- und Pfluggerät, ausgebrannte Haushaltsgeräte, baufällige Schuppen und teilweise zersägte gefällte Bäume zu sehen waren, duckten sich, als wollten sie verwitterte Schindeln und abblätternde Farbe hinter verwilderten Hecken, Herbstrosenbüschen und ausgeblühtem Flieder verbergen. Das größte Problem war, daß dies nicht die Hauptsache war, an die ich mich erinnerte. Aber vielleicht am anderen Ende des Ortes… Nur, daß wir das andere Ende des Ortes mit widerwärtiger Plötzlichkeit erreichten, an einem letzten Gebäude vorbeikamen und uns wieder auf dem Land befanden. Einw. 442. So klein konnte es doch nicht sein. Sicherlich hatte ich als Kind, wenn schon nicht städtisches Leben, so doch Leben in einer Welt, wo Städte existierten, um mich gehabt – nicht diese völlig abgeschiedene Einöde. Ich erinnerte mich an… mehr als dies. Wo war die rote Backsteinschule mit den gußeisernen Feuerleitern, die weiße Kirche mit dem Turm, das Theater mit der großen Markise? Wo war das Haus meiner Eltern? Cora mußte nach der Art, wie ich fuhr, alles anstarrte, gemerkt haben, daß etwas nicht stimmte. Oder vielleicht nahm sie an, daß das, was die ganze Zeit nicht gestimmt hatte, jetzt eine neue Wendung nahm. Ich bremste, fuhr so nahe wie möglich an den Graben neben dem schmalen Straßenrand heran und wendete. Kein Problem. Es gab sehr wenig Verkehr, selbst jetzt im Sommer. Nichts in Sicht. Langsam fuhr ich zurück in die Gegend, die man wohl als Geschäftsviertel bezeichnen mußte. Es gab vier Läden – nachgezählt – und alle waren mir, hinter ihren alten, verwitterten Fassaden, völlig unbekannt.
CAFÉ
Ja, das war eine gute Idee. Ich parkte den Wagen – wahrscheinlich hätte ich ihn auch mitten auf der Straße stehen lassen können – und wir stiegen aus und gingen hinein. Wir setzten uns an die Theke, als einzige Kunden, und bestellten Tee mit Eis. Es war ein warmer Tag. Es fiel wahrscheinlich nicht auf, daß ich schwitzte. »Kennen Sie eine Familie BelPatri hier in der Gegend?« fragte ich die müde aussehende Kellnerin mit den blauen Fingernägeln. »Wen?« Ich buchstabierte es ihr. »Nein.« Sie hätte die Besitzerin sein können, eine von den Besitzern oder eine Verwandte. Sie sah auf undefinierbare Weise aus wie jemand, der seit vielen Jahren hier lebte. »Es gab mal eine Familie Bell, glaube ich«, fügte sie hinzu, »drüben in Perronville.« »Nein.« Wir saßen da und tranken unseren Tee. Ich beobachtete eine erschreckend kundige Fliege, wie sie sich ihren Weg in eine Glasvitrine bahnte, um den Kokosnußguß auf einem Stück gelben und trockenen Kuchen zu erforschen. Ich wollte Cora nicht ansehen. Ich begegnete ihrem Geplauder mit Einsilbigkeit. Nachdem ich bezahlt hatte, gingen wir hinaus und setzten uns wieder ins Auto, um langsam südwärts zu fahren. Ich starrte in all die Wege hinein, die als Seitenstraßen gelten konnten. Nichts. Nichts stimmte. Da war überhaupt nichts, das so aussah, wie es sollte. Am Ortsrand bog ich in die Standard-Tankstelle ein und verlangte Benzin. Es gab hier keinen Aufladedienst, stellte ich fest: überhaupt weniger oder keine Elektrowagen bisher in der
Provinz so weit im Norden, abseits vom Sonnengürtel und dem problemlosen Aufladen. Die neue Angra-Tankstelle, an die ich mich zu erinnern glaubte (an die ich mich erinnerte!), hatte aber ein Ladegerät gehabt, oder? Mit dem Tankwart ging ich wieder die vergebliche Frage nach einer Familie namens BelPatri durch. Ich buchstabierte den Namen. Cora hörte zu und sagte nichts. Er hatte den Namen noch nie gehört. Als wir wieder im Wagen saßen, bevor ich den Motor wieder anließ, sagte sie: »Erinnerst du dich, in was für einer Art Straße euer Haus lag?« »Klar«, sagte ich. »Das Problem ist nur, daß die Erinnerung falsch ist.« Die Entdeckung erschütterte mich – das ja. Aber sie erschütterte mich nicht so sehr, stellte ich fest, wie sie es hätte müssen. Vielleicht hatte ich auf irgendeiner tieferen Ebene schon die ganze Zeit gewußt, daß das Zuhause, an das ich mich erinnerte, meine Kindheit, ein kunstvolles Lügengebilde waren. Es war jedoch wichtig gewesen, hierher zu kommen und der Tatsache ins Auge zu sehen, und sehr wichtig, Cora bei mir zu haben, als ich es tat. Ich sprach es etwas deutlicher aus, ebenso sehr für mich, glaube ich, wie für Cora. »Sicher, ich erinnere mich an eine Straße und an ein Haus. Aber die liegen nicht in diesem Ort. Keine der Straßen, an die ich mich erinnere, ist hier, keines der Häuser, und keiner von den Menschen. Und an die Leute und Dinge, die es hier gibt, erinnere ich mich nicht. Ich bin noch hie in Baghdad, Michigan, gewesen.« Ein langes Schweigen entstand. Dann sagte sie: »Es könnte doch möglicherweise zwei…?«
»Zwei Orte mit demselben Namen in Upper Michigan? Beide nur ein paar Meilen nordwestlich von Escanaba, an der gleichen Straße? An die Straße erinnere ich mich wirklich, und meine Erinnerung daran paßt. Bis hin zum Ortsrand. Danach… Es ist, als wäre etwas anderes… eingepflanzt worden.« Als ich das sagte, wußte ich nicht, ob ich mit dem Einpflanzen die Geographie oder mein Gedächtnis meinte. So oder so… »Und deine Eltern, Don? Wenn sie nicht hier sind…« Meine Vorstellung von ihnen war so deutlich wie eh und je. Aber unpersönlich, als hätten sie mir nie näher gestanden als ein Film oder ein Buch. Mama und Papa. Nette Menschen. Ich wollte nicht mehr an meine Eltern denken. »Bist du in Ordnung?« »Nein, aber – « Ich erkannte, daß ich in bestimmter Weise jetzt wenigstens besser dran war als vorher in Florida, als ich keine Sorgen auf der Welt gehabt hatte. »Kommst du mit mir zurück nach Florida?« Cora kicherte ein bißchen, wahrscheinlich zum Teil aus Erleichterung, daß ich die Sache so gelassen aufnahm. »Ich glaube nicht – ich glaube wirklich nicht, daß ich den Rest meiner Sommerferien hier verbringen möchte.« Ich fuhr hinaus auf die vertraute Straße. Adieu, Baghdad, Dieb meiner Jugend. Was mich anging, hättest du genausogut Samarkand heißen können.
Drei
Sonnenuntergang und Abendstern, der Horizont bekränzt mit welken Rosen… Wir bekamen rasch Anschluß nach Detroit und bald darauf nach Miami. Cora wollte nicht am Fenster Sitzen, also saß ich da und sah zu, wie die Sterne Löcher in die Dunkelheit stießen. »Wirst du jemanden aufsuchen, wenn wir zurück sind?« fragte sie mich. »Wen?« sagte ich und wußte die Antwort bereits. »Und weshalb?« Auch das wußte ich schon.»Einen Arzt natürlich. Einen, der sich auf solche Sachen spezialisiert hat.« »Glaubst du, ich bin verrückt?« »Nein. Aber wir wissen, daß etwas nicht stimmt. Wenn dein Wagen nicht richtig funktioniert, bringst du ihn zu einer Werkstatt.« »Und wenn dein rechtes Auge dich erzürnt?« »Niemand verlangt von dir, den Ödipus zu spielen. Ich rede von einem Psychiater, nicht von einem Psychoanalytiker. Vielleicht ist es etwas Organisches, ein Knochensplitter, der gegen etwas drückt – von deinem… Unfall – oder so etwas.« Lange Zeit schwieg ich. Mir fiel nichts Besseres ein, aber schließlich sagte ich: »Mir gefällt der Gedanke einfach nicht.« »Nichts bleibt bei solch wunderbarer Leere, als sie zu glätten«, sagte sie fast bitter. »Was?« ›»Süßes Vergessen ist mein Leben. Nie, nie, nie wieder kehr’ ich heim!‹ Sylvia Plath«, sagte sie. »Aus einem Gedicht über
Gedächtnisverlust. Willst du weiterleben, ohne zu wissen, wer du bist?« »Ich hasse Leute, die immer gleich ein passendes Zitat bei der Hand haben«, sagte ich, aber die letzte Zeile gefiel mir gar nicht. Ich konnte die Reise nach Michigan einfach nicht vergessen und in zufriedene Unwissenheit zurücksinken, sagte ich mir. Nein. Und vielleicht konnte ich jetzt, da ich es wußte, die Sache selbst aufklären. Aber andererseits hatte ich das komische Gefühl, daß ich vielleicht wirklich zurücksinken könnte, all dies vergessen und mich wieder treiben lassen, und nie, nie, nie wieder kehr’ ich heim. Es machte mir Angst. »Weißt du jemanden, der sich in solchen Dingen auskennt?« fragte ich. »Nein. Aber, weiß Gott, ich werde es herausfinden.« Ich streckte den Arm aus und berührte ihre Hand. Ich sah ihr in die Augen. »Gut«, sagte ich.
Außer dem Hausboot besaß ich noch eine Eigentumswohnung unten in den Keys. Aber wir quartierten uns in einem Hotel in Miami ein, wo die Auswahl an Ärzten erheblich größer war, und Cora machte sich am Telefon an die Arbeit und sprach mit dem Bekannten eines Freundes eines Freundes, der irgendwas mit der Verwaltung der medizinischen Hochschule zu tun hatte. Ihre Theorie lautete, daß man einen Arzt auswählt, indem man herausfindet, zu wem die Ärzte der Gegend mit ihren eigenen Problemen hingehen. Ein paar Stunden nach der Ankunft im Hotel hatte ich einen Termin bei einem Psychiater, Dr. Ralph Daggett, für den nächsten Vormittag. Als wolle es mich auf die neue Erfahrung vorbereiten, legte mir mein Unterbewußtsein freundlicherweise in dieser Nacht
einen Vorrat an Träumen zu. Willy Boy Matthews lugte irgendwo in den Wäldern des fernen Nordens hinter einer Zapfsäule hervor, warnte mich davor, daß ich beim nächsten Mal, wenn ich mit einem Flugzeug reiste, Schwierigkeiten bekommen würde, und verwandelte sich dann in einen Bären. Cora, die sich all ihrer Kleider entledigt hatte, um besser in meinen Heimcomputer hineinklettern zu können, erklärte, sie sei in Wirklichkeit meine Mutter. Und immer noch im Traum, kam ich im Büro des Psychiaters an, nur um festzustellen, daß hinter dem Schreibtisch ein gedrungenes schwarzes Monster auf mich lauerte. Die Wirklichkeit, nachdem ich ordnungsgemäß aufgewacht war, mich rasiert und gefrühstückt hatte, war nicht annähernd so einschüchternd. Dr. Daggett war ein einnehmender, offener Mann etwa um die Vierzig, klein und kompakt gebaut, eher stämmig als dick, wie ein etwas vergrößerter, glattrasierter Hobbit. Auf dem Schreibtisch vor ihm lag der medizinische Fragebogen, den ich gerade ausgefüllt hatte. Er betrachtete ihn mit professionellem Pokergesicht, während wir ein wenig über den Grund plauderten, warum ich ihn aufgesucht hatte. Auf dem Formular stand nicht viel Wesentliches. Soweit ich mich erinnern konnte, war ich mein ganzes Leben lang widerlich gesund gewesen. Nachdem er das Formular einem Assistenten gegeben hatte, um damit den Praxiscomputer füttern zu lassen, schaute mir der Arzt mit einer kleinen Lampe in die Augen. Er fragte nach Kopfschmerzen, wesbezüglich das Erlebnis kürzlich auf dem Hausboot eine seltene Ausnahme darstellte. Er kontrollierte meine Reflexe, meine Koordinationsgabe und meinen Blutdruck. Dann ließ er mich in einem unbequemen Stuhl Platz nehmen, wo er ein stereotaktisches Gestell um meinen Kopf und am Stuhlrücken befestigte. Dann rollte der Assistent ein Gerät herein, um eine CAH-NMR-Abtastung meines Gehirns
vorzunehmen, eine computerisierte Axial-Holographie mittels nuklearmagnetischer Resonanz. Anders als bei den herkömmlichen Röntgen-Schichtaufnahmen produzierte diese Technik, die in den letzten Jahren gebräuchlich geworden war, ein holographisches Abbild des Organs – irgendwo außerhalb des eigenen Gesichtskreises, wenn man zimperlich war; direkt vor einem, wenn man es vertrug. Ich war froh, feststellen zu können, daß mein Arzt auf der Höhe der Zeit war, und ich war nicht zimperlich. Obwohl er hinter einem Schirm begann, das Abbild zu studieren, entfernte er ihn, als ich ihn darum bat, auch einen Blick darauf werfen zu können. Eine grau-rosa Blume auf einem dicken Stiel – ich hatte mein Gehirn noch nie zuvor gesehen. Ein zerbrechlich wirkendes Ding. War das wirklich, was ich war – Sherringtons »verzauberter Webstuhl« – wo Milliarden von Zellen sich vernetzten, um mein Ich zu weben? Oder war es ein Radiogerät, durch das meine Seele sendete? Oder Minskys »Fleisch-Computer«? Oder – Was immer es oder ich waren, jedenfalls unterbrach Daggett meinen Gedankengang, indem er die Pfeife aus dem Mund nahm und das Mundstück als Zeigestab benutzte. »Das hier sieht aus wie ein bißchen Narbengewebe in der Temporalregion«, sagte er. »Aber sauber. Interessant… Haben Sie jemals Krämpfe irgendwelcher Art gehabt?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Sind Sie jemals aufgewacht und haben festgestellt, daß Sie sich heftig auf die Zunge gebissen, in die Hose gemacht, oder die Muskeln verspannt hatten?« »Nein.« Er stieß mit dem Pfeifenstiel vor und durchdrang das Abbild. Ich zuckte zusammen. »Da unten im Hippocampus kann es sehr heikel werden«, bemerkte er. »Verletzungen in der Gegend können erstaunliche
Dinge mit dem Gedächtnis anrichten, aber – « Er hielt inne und nahm eine Justierung vor. »Erzählen Sie mir mehr darüber, was auf dieser Reise nach Michigan passiert ist. So! Ihr Hippocampus scheint aber ganz in Ordnung zu sein…Fangen Sie an. Erzählen Sie.« Er spielte weiter mit der Projektion meines Gehirns herum, während ich alles Wissenswerte über die Reise und ihre Vorgeschichte herunterbetete. Cora war anwesend, um zu bestätigen, daß wenigstens diese Erinnerungen korrekt waren. Schließlich betätigte er einen Schalter, und das schwebende Abbild meines Gehirns verschwand. Beunruhigend. Er wandte sich mir zu. »Ich würde es gern mit Hypnose versuchen«, sagte er. »Haben Sie irgendwelche Einwände?« Mir wurde nicht viel Zeit gelassen, welche vorzubringen, wenn ich sie gehabt hätte – ein Zeichen dafür, nahm ich an, daß mein Fall wenigstens interessant war. »Sind Sie schon jemals hypnotisiert worden?« fragte er. »Nein, nie.« »Dann wollen wir Sie mal in einen bequemeren Stuhl befördern.« Er befreite mich von der stereotaktischen Einheit und geleitete mich zu einem gepolsterten, verstellbaren Sessel, den er ungefähr zu dreiviertel in die Horizontale kippte. Eine Vorrichtung im Sessel erfaßte meine Gehirnrhythmen, glich ihren eigenen sanften Output einigen davon an und verstärkte sie allmählich, während sie gleichzeitig subtile Veränderungen einführte. Ich konnte irgendwie die Tätigkeit des Computerchips spüren, der die Vorrichtung steuerte. Seine Wellen durchflossen mich wie Wasser, und dann wurde ich wie geplant von einem Schwall weißen Rauschens erfaßt, das in meinem Schädel aufloderte, und verlor das Bewußtsein. »Wie fühlen Sie sich?«
Dr. Daggetts berufsmäßig besorgtes Gesicht beugte sich über mich. Cora stand direkt hinter ihm und sah ihm über die Schulter. »Ganz gut, glaube ich«, sagte ich, blinzelte und reckte mich. Ich hatte das Gefühl, lange geschlafen zu haben. Mir schien, als seien da Träume gewesen von der Art, die es nicht ganz schaffen, sich ins wache Bewußtsein hinüberzuretten. »Woran erinnern Sie sich bezüglich Baghdad?« fragte er. Da waren immer noch zwei Erinnerungen, eine an den Ort, den ich tatsächlich gesehen hatte, die andere, jetzt ausgefranst und im Begriff, selbst ins Traumhafte hinüberzugleiten, an jenes Baghdad, an das ich mich noch bis vor kurzem wirklich zu erinnern geglaubt hatte. Und nun konnte ich hinter diesem traumartigen Schleier vage eine andere Realität spüren, Gestalten, die sich hinter einem Vorhang bewegten. Ich konnte noch nicht erkennen, was das für Gestalten waren. Ich sagte es ihm. Dann stellte er mir ein paar Routinefragen, um sicherzugehen, daß meine Orientierung wenigstens im Ansatz wiederhergestellt war, daß ich wußte, wer ich war (zumindest in dem Ausmaß, wie ich mich zu kennen geglaubt hatte, als ich seine Praxis betrat), und welches Jahr wir hätten und so weiter. Auf meine Antworten nickte er. »Und wie lange leben Sie tatsächlich schon in Florida?« Die Gestalten hinter dem Vorhang bewegten sich. Etwas Wesentliches wurde fast sichtbar, entglitt mir aber im letzten Moment wieder. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich schließlich. »Aber mindestens ein paar Jahre. Was ist mit mir geschehen?« »Zum einen…« setzte Daggett an, dann ließ er sich Zeit mit der Fortsetzung des Satzes, »… haben Sie mir auf dem
Anamneseformular mitgeteilt, Sie hätten nie schwere Kopfverletzungen gehabt.« Die Narben… Natürlich. Und doch schienen sie seltsamerweise nur in einem anderen Zusammenhang zu existieren. Aber es war offensichtlich, logisch und folgerichtig, den Schluß zu ziehen, daß sie, wenn ich sie hatte, von irgendwelchen Schlägen stammten. »Die Abtastung ist ziemlich eindeutig, Don«, fuhr er fort. »Sie haben mindestens eine schwere Schädelfraktur gehabt. Können Sie sich jetzt an etwas Derartiges erinnern?« Die beinahe sichtbaren Gestalten kamen und gingen. Dann blieben sie fort. Wieder schüttelte ich den Kopf. Wenigstens wußte ich jetzt, daß es in meiner Vergangenheit etwas gab, das es aufzudecken galt – und das schien mir eine Art Fortschritt zu sein. »Und aus dem, was ich bisher gesehen und gehört habe«, fuhr er fort, »schließe ich, daß diese alten Frakturen nicht Ihr einziges Problem sind – nicht einmal das Hauptproblem. Es könnte sogar sein, daß sie für die Entstehungsgeschichte Ihrer Krankheit gar nicht sehr wichtig sind. Es gibt den Hinweis auf vorsätzlichen Mißbrauch in der Vergangenheit, durch eine Art Hypnose und wahrscheinlich durch Drogen.« Warum, fragte ich mich. Es erschien mir einfach zu unwahrscheinlich. Einen Augenblick lang zweifelte ich an Daggett. Aber dann zeigte er mir den Computerausdruck. Bevor ich aufgewacht war, hatte er die Ergebnisse der Untersuchung durch sein Computerterminal laufen lassen, das mit einer großen diagnostischen Datenbank in Atlanta verbunden war. »Wie Sie sehen, stimmt mein elektronischer Kollege hier mit mir überein.« Ich sah Cora an. Sie biß sich auf die Unterlippe und starrte den Beleg an, als sei er eine Leiche.
»Was bedeutet das alles?« brachte ich schließlich hervor. Er zündete sich seine Pfeife an, ehe er mir antwortete. »Ich glaube, es bedeutet, daß sich jemand an Ihnen zu schaffen gemacht hat«, sagte er endlich. »Ob der körperliche Schaden Ihrem Kopf absichtlich zugefügt wurde, kann ich nicht beurteilen. Aber die falschen Erinnerungen, die Sie mit sich herumgeschleppt haben, müssen vorsätzlich eingepflanzt worden sein.« »Wer?« »Alles, was ich jetzt als Antwort auf diese Frage sagen würde, wäre eine schiere Spekulation.« »Dann spekulieren Sie.« Daggett zuckte leicht die Achseln. »Es ist bekannt, daß bestimmte Regierungen Menschen auf solche Art behandelt haben. Aber diese Menschen führen danach normalerweise nicht ein so wohlhabendes und sorgenfreies Leben.« Er machte eine Pause. »Sie sind geborener Amerikaner, würde ich Ihrer Aussprache nach sagen.« »Das glaube ich auch. Aber nicht aus Upper Michigan.« »Ist schon irgend etwas Reales über jene Zeit zurückgekommen?« Einen Moment lang, nur einen Moment lang, während er sprach, dachte ich, ich könne etwas festhalten, und fast hatte ich es. Es war so nahe, daß ich es fast schmecken konnte. Und dann war es völlig verschwunden. Außer Reichweite. Weg. Ein großes Stück Wahrheit, das wußte ich genau, von der Realität, die hinter der nächsten Ecke lauerte. Ich zog eine Grimasse. Ich schloß die Augen und legte die Stirn in Falten, Ich biß die Zähne zusammen. »Scheiße!« sagte ich. Daggetts Hand lag auf meiner Schulter.
»Es wird schon kommen, es wird schon kommen«, sagte er. »Strengen Sie sich jetzt noch nicht so an.« Er wandte sich ab und begann seine Pfeife über einem großen Aschenbecher auf seinem Schreibtisch auszukratzen. »Ich könnte Sie unter Hypnose härter herannehmen«, erklärte er. »Aber dann besteht die Gefahr, daß wir ein neues Gebilde aufbauen; daß wir so angestrengt versuchen, etwas zu finden, daß wir ein neues Trugbild errichten, um das Bedürfnis – zu befriedigen. Genug für heute. Kommen Sie in drei Tagen wieder.« »Ich kann nicht drei Tage warten. Morgen.« Er legte die Pfeife und den Reiniger beiseite. »Das Eis ist gebrochen«, sagte er. »Ein paar Tage lang wird es jetzt das Beste sein, der Wahrheit, den wirklichen Erinnerungen, eine Chance zu geben, sozusagen.« »Morgen«, wiederholte ich. »Ich möchte Sie nicht so bald wieder vorantreiben.« »Doktor, ich muß es wissen.« Er seufzte. »Na gut«, gab er nach. »Morgen vormittag. Gehen Sie zur Empfangsdame. Sie wird Sie dazwischenschieben.« Ich sah Cora an. »Ich nehme an, ich sollte zur Polizei gehen«, sagte ich zu ihr. Daggett gab ein Geräusch von sich. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Schnauben oder ein Kichern war. »Ich will nicht sagen, Sie sollten es tun oder nicht«, sagte er langsam. »Ich würde aber annehmen, wenn Sie ihr nicht mehr erzählen können, als Sie jetzt wissen, wird man Ihnen auch allenfalls nur raten, einen Arzt aufzusuchen.« Die Erkenntnis dieser Catch-22-Zwickmühle ging nicht spurlos an mir vorüber. Die Empfangsdame, die alle Arten von Emotionen bei den Klienten gewohnt sein mußte, zuckte nicht mit der Wimper, obwohl mein Gesichtsausdruck durch das
anhaltende Kichern etwas unstet war. Sie machte mir einen Termin und nickte zum Abschied. Abgang, verfolgt von Furien in Clownskostümen, die sich gegenseitig auf die Hacken traten.
Es dauerte mehrere Häuserblocks, bis die Reaktion einsetzte. »Ich habe Angst, Don«, sagte Cora. Sie fuhr den Wagen. Ich saß schlapp da und beschwor Dämonen herauf, um mit ihnen zu ringen. Sie ignorierten mich. »Ich auch.« Und das war die Wahrheit, soweit die reichte. Aber da gab es noch mehr. Aus ihrem Verhalten wurde deutlich, daß sie mehr Angst hatte als ich. Dieses grundlegende Gefühl hatte ich schon so lange nicht mehr gespürt, so daß mir seine Berührung jetzt fast ungewohnt vorkam: Ich wurde langsam wütend. Engel? War ich vielleicht tot und im Himmel? Nein. Die musikalischen Töne waren nicht wirklich harfenähnlich, und verstorbene Seelen durften eigentlich nicht den sauren Nachgeschmack einer Sechserpackung Bier im Mund haben. Ich stöhnte und folgte den Tönen zurück ins Reich der Lebenden und zu dem klingenden Telefon. Ich hatte vergessen, das Ding vor dem Schlafengehen, wenn die Dämonen wirklich erscheinen mochten, auf Aufnahme zu stellen. Wenn sie gekommen waren, dann lautete das Endergebnis im Spiel BelPatri gegen Dämonen ungefähr sechs zu null. Die Uhr zeigte 8 Uhr 32 und lief. Ich ging ans Telefon. Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Ach ja. Daggetts Empfangsdame. Aber es stimmte etwas nicht mit ihrem Tonfall. »Wir müssen Ihren Termin absagen«, sagte sie. »Dr. Daggett ist während der Nacht verstorben.« »Er ist was?«
»Dr. Daggett ist verstorben. Wir… Ich fand ihn heute morgen in der Praxis, als ich kam. Er hatte einen Herzinfarkt.« »Unerwartet.« »Völlig unerwartet. Er hatte noch nie Herzbeschwerden.« »Er arbeitete also noch spät am Abend?« »An der Durchsicht von Krankengeschichten. Er hörte Aufnahmen ab…« Sie konnte mir nur wenig mehr sagen. Natürlich fragte ich mich, ob die Aufnahmen, die er bei seinem Tod abgehört hatte, meine gewesen waren. Ich stand auf, wusch mich“ zog mich an und kehrte mit Kaffee aus der Naßzelle zurück. Cora nahm ihren dankbar entgegen und warf mir über den Tassenrand einen fragenden Blick zu. Ich erzählte ihr, was ich gerade erfahren hatte. Sie schwieg mehrere Herzschläge lang, dann sagte sie: »Die Sache hat einen schlechten Beigeschmack. Was… Wie… zum Teufel! Fangen wir jetzt mit einem neuen Arzt von vorne an, oder sollen wir versuchen, Einblick in seine Aufzeichnungen über dich zu bekommen?« Ich schüttelte den Kopf. »Aus dieser Praxis ist heute nichts zu holen«, sagte ich ihr, »und ein anderer Arzt würde nur das wiederholen, was Daggett gestern gemacht hat – was mir irgendwie überflüssig vorkommt. Er hat gesagt, die Erinnerung werde jetzt anfangen zurückzukommen. Ich will lieber erst einmal abwarten. Ich glaube, er hatte recht. Ich fühle mich tatsächlich anders, als ob sich irgendwo in meinem Kopf etwas neu ordnet, aufklärte.« »Aber – verdammt! Wir waren so nah dran – an etwas! Das ist beinahe ein allzu großer Zufall. Vielleicht sollten wir die Polizei rufen. Warum erzählen wir ihnen nicht, was er gesagt hat, dann werden wir ja sehen, ob – « »Hörensagen und Spekulationen«, sagte ich, »und das alles auch noch von einem psychiatrischen Patienten. Und sogar
wenn sie uns mehr als nur höflich zuhörten, gäbe es da nichts, an das man sich halten könnte. Ein Herzinfarkt ist ein Herzinfarkt. Er ist ja nicht mit einem stumpfen Gegenstand um die Ecke gebracht worden oder so was. Wir haben der Polizei nichts zu bieten. Sie hat uns nichts zu bieten.« Sie nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab. »Also, was hast du vor?« fragte sie dann. »Zur Wohnung in Key West fahren«, antwortete ich. »Meine nächste Zählung dürfte übermorgen auf der Bank eintreffen. Wir können uns einfach entspannen und den Verlauf der Therapie abwarten.« »Entspannen?« sagte sie, schwang ihre Beine über den Bettrand und setzte sich auf. »Wie sollen wir uns jetzt entspannen, nach allem, was wir erfahren haben?« »Was können wir denn sonst tun?« »Wir können abwarten, bis sich die Dinge in Daggetts Praxis beruhigt haben und dann versuchen, seine Aufzeichnungen über dich einzusehen. Er hat vielleicht mehr aufgezeichnet, als er uns gesagt hat.« »Das können wir auch in ein paar Tagen von meiner Wohnung aus telefonisch überprüfen. Zieh dich an, und dann laß uns frühstücken gehen – es sei denn, du willst lieber hier essen. Danach können wir unsere Sachen packen und uns abmelden.« »Nein«, sagte sie, und strich sich mit entschiedener Geste das Haar zurück. »Das heißt, ja zum Frühstück – nein zum Abmelden.« »Also, dann zieh dich an«, sagte ich und wandte mich ab. »Den Rest können wir beim Essen besprechen.«
Wir einigten uns schließlich auf einen Kompromiß. Wir würden den Rest des Tages dableiben und auch die Nacht hier verbringen. Am Nachmittag würden wir versuchen, an die Aufzeichnungen über mich heranzukommen. Wenn nichts dabei herauskäme, würden wir uns morgen früh auf den Weg machen. Es kam nichts dabei heraus. Genauer gesagt, Daggetts Praxis war geschlossen. Der telefonische Auftragsdienst konnte oder wollte seine Wohnung nicht erreichen. Ich konnte seine Empfangsdame nicht auftreiben. Schließlich schafften wir es, uns mit seiner Krankenschwester in Verbindung zu setzen. Sie sagte mir, daß es zur Zeit keine Möglichkeit gäbe, an das heranzukommen, was ich haben wollte. Die Akten eines Psychiaters würden wegen ihres vertraulichen Inhalts beim Tode des Arztes versiegelt, bis der neue Arzt des Patienten sie anforderte oder ein Richter ihre Freigabe anordnete. Es tat ihr leid, aber – Es kam nichts dabei heraus, an dieser Front. Aber… »Laß uns einen Gerichtsbeschluß erwirken«, sagte Cora. »Nein«, antwortete ich. »Ich will nicht mehr Leute als notwendig in die Sache hineinziehen. Ich habe mein Versprechen gehalten. Wir haben abgewartet. Wir haben es versucht. Morgen melden wir uns hier ab.« »Ohne etwas erfahren zu haben?« »Es wird zurückkommen. Ich weiß es. Ich spüre es schon.« »Du hast auch Baghdad ziemlich stark gespürt.« »Das war etwas anderes.« »Ach ja?« Es war ein harter Abend. Zu allem Überfluß kehrten die Dämonen zu einer weiteren Runde zurück, die Arme voller Alpträume. Gott sei Dank verblaßten die meisten im Morgenlicht, bis auf den abschließenden Kriegstanz der Schreckensgebilde um die Angra-Energy-Tankstelle, während
sich die Erde vor mir auftat, und ein dicker Mann eine gigantische Holographie meines Gehirns mit einer flammenden Axt zerstückelte. All die kleinen Dinge, die den Schlaf zu einem Abenteuer machen. Cora war über unsere Abreise nicht sehr beglückt, aber ich hatte meinen Teil der Übereinkunft eingehalten, und sie ließ nicht ‘zu, daß ich ihr etwas voraus hatte. Ein leichter Regen verfolgte uns einen Großteil der Fahrt nach Süden. Als weine der Himmel mit uns. Wir waren beide nicht sehr guter Laune, als wir schließlich ankamen. Sobald wir uns in meiner Wohnung eingerichtet hatten, begann sie wieder, von Rechtsanwälten zu reden. Hatte ich nicht vielleicht einen ansässigen Anwalt, dem ich vertraute, einen, der sich der Sache von hier aus annehmen konnte? »Nein«, log ich, denn ich war sicher, daß Ralph Dutton, den ich manchmal traf, es für mich in die Hand genommen hätte. Ich wollte diesen Weg einfach nicht einschlagen, und ich hatte es satt, davon zu hören. Sie ließ aber nicht locker. Ich spürte wieder diese Wut, diesmal gegen sie gerichtet, und ich wollte sie nicht hochkommen lassen. Ich sagte ihr, daß ich keinen Wert darauf legte, die Sache weiter zu diskutieren, daß ich wieder Kopfschmerzen bekäme und daß ich allein sein wollte, bis sie vorbei waren. Dann entschuldigte ich mich, um spazieren zu gehen. Ich landete in einer Bar, wo ich manchmal ein paar zur Brust nahm. Sie lag in der Nähe von Ernest Hemingways altem Haus. Ob Hemingway, fragte ich mich, wohl wirklich mal ein Pissoirbecken aus einer anderen Bar gestohlen, es aus der Wand gerissen und mit nach Hause genommen hatte, um daraus einen Wassernapf für seine Katzen zu machen? Während ich dort saß und ein Bier trank, kam Jack Mays vorbei. Groß, sommersprossig, ewig grinsend, das blonde Haar von der Sonne fast weiß gebleicht, hatte er etwas von einem
ewigen Schuljungen an sich, was viele Leute beim ersten Zusammentreffen mit ihm anziehend fanden. Er war der absolut unernsteste Mensch, den ich kannte. Er geriet oft in Schwierigkeiten, obwohl er eigentlich nicht bösartig war. Im Grunde genommen wollte er nur seinen Spaß, und wie ich bekam er eine monatliche Überweisung auf sein Konto. Nur, daß er wußte, woher das Geld kam. Seine Eltern deponierten es regelmäßig dort, unter der Bedingung, daß er nie wieder nach Philadelphia zurückkäme. Jack und ich waren immer gut miteinander ausgekommen. Vielleicht dachte er, daß ich in einer ähnlichen Lage sei wie er, wenn er überhaupt darüber nachdachte. Bei den seltenen Anlässen, wenn ich mich vollaufen ließ, hatte ich ihn gerne dabei, weil er wesentlich mehr Alkohol vertragen gönnte als ich und dann immer noch den Überblick behielt, und er paßte auf mich auf und bewahrte mich vor unangenehmen Situationen. »Don!« Er klopfte mir auf die Schulter und setzte sich auf den benachbarten Hocker. »Ist ‘ne Weile her! Warst du fort?« »Ja. Bin ein bißchen herumgereist. Und du?« »Ich hab’s hier zu gut, um weg zu wollen«, sagte er und klopfte auf die Theke. »He, George! Bring mir eins von denen!« »Hab’ ein paar Mädchen bei mir einquartiert«, fuhr er fort. »Du mußt nachher mal vorbeischauen. Ich versorg’ dich.« Sein Bier wurde gebracht, und wir tranken und redeten. Ich erzählte ihm nichts von meinen Sorgen, weil er nicht die Art Mensch ist, dem man seine Sorgen erzählt. Aber er kann hervorragend plaudern, und das war genau die Art Gespräch, der ich mich zur Zeit am ehesten gewachsen fühlte. Wir redeten über gemeinsame Bekannte, übers Angeln – was wir manchmal zusammen taten –, über Politik, Kino, Sport, Sex, Essen, und dann fingen wir wieder von vorne an. Es war eine
Erleichterung, eine solche Erleichterung, nicht über die Dinge nachzudenken, die mir am meisten Sorgen machten. Ehe ich mich versah, wurde es dunkel. Dann aßen wir etwas – ich weiß nicht mehr genau wo – und machten danach woanders halt, um noch ein paar Drinks zu nehmen. In dem Stadium war mir schon schwindelig im Kopf, aber Jack schien es noch immer prächtig zu gehen, und er behielt den ständigen Redefluß bei, bis wir in die Zufahrt zu seiner Wohnung einbogen. Dann waren wir drinnen, und er stellte mich zwei Mädchen vor, machte Musik an, mixte uns Drinks, noch mehr Drinks. Nach einer Weile tanzten wir ein bißchen. Wieder eine Weile später bemerkte ich, daß er und die Große, Louise, verschwunden waren, und daß ich neben Mary auf dem Sofa saß, den Arm um ihre Schultern, meinen Drink auf dem Schoß, und mir die Geschichte ihrer Scheidung zum zweitenmal anhörte. Ab und zu nickte ich und küßte hin und wieder ihren Hals. Ich bin nicht sicher, ob sie das in ihrer Erzählung störte. Nach einer Weile befanden wir uns halb ausgezogen in einem der Schlafzimmer und umarmten uns. Später wachte ich kurz auf, erinnerte mich vage daran, sie enttäuscht zu haben und stellte fest, daß ich allein war. Ich schlief wieder ein. Am nächsten Morgen fühlte ich mich gar nicht wohl, aber ich erinnerte mich daran, daß Jacks Badezimmer eine wahre Apotheke war, und ich stolperte los, um mir einen Haufen Arzneien zu besorgen. Während ich gerade Vitamine schluckte, Schmerzmittel, Magentabletten und ein Muskelrelaxans, das ich gefunden hatte, kam plötzlich eine Gestalt hinter jenem magischen Vorhang hervor. Zuerst erkannte ich gar nicht genau, worum es sich dabei handelte. Als ich es schließlich feststellte, hielt ich mitten beim Gurgeln inne, aus Angst, ich könnte ersticken.
Ich hörte ein Geräusch im Flur. Ich spuckte das nach Pfefferminz schmeckende Zeug aus, spülte das Becken sauber und trat hinaus. Es war Jack, in ein orange-gelbes Badetuch gewickelt, auf dem Weg zum Klo. »Jack! Ich habe früher bei Angra Energy gearbeitet!« erzählte ich ihm. Er starrte mich nur einen Augenblick triefäugig an, dann sagte er: »Herzliches Beileid«, und setzte seinen Weg fort. Er hatte fast alle berühmten Ivy-League-Hochschulen besucht. Man merkt sowas immer. Ich ging in die Küche hinaus und machte Kaffee. Während er durchlief, zog ich mich an und trank Orangensaft mit einem rohen Ei und Tabascosauce. Dann nahm ich mir eine Tasse mit auf die Veranda. Die Sonne stand mehrere Meter über dem Horizont, aber der Morgen war immer noch ziemlich kühl. Eine Brise voller Feuchtigkeit und Salz erreichte mich. Vögel unterhielten sich in den Büschen auf Seiten des Hauses. Wenn ich an Cora dachte, hatte ich ein schlechtes Gefühl, aber in gewisser Weise fühlte ich mich besser als seit langem. Ich war dabei, mich zu erinnern, und das verdrängte alles andere aus meinem Kopf… Ja. Ich hatte für Angra gearbeitet. Nicht als Arbeiter, auf einer Bohrstelle oder irgendsowas. Ich war nicht im Außendienst gewesen. Ich hatte nicht zur Mannschaft eines Werkes gehört… fast hätte ich zu mir gesagt, »nichts Technisches«, aber irgendwas sagte mir, daß das im strengen Sinne nicht stimmte. Ich nahm noch einen Schluck Kaffee. Vielleicht Datenverarbeitung. Ich wußte ja einiges über Computer…
Und dann hatte ich, nur einen Moment lang, die Vision – ob Erinnerung, Phantasie oder eine Kombination von beidem, konnte ich nicht sicher sagen – einer Tür, einer Tür mit einem altmodischen Milchglas-Einsatz. Sie fiel zu, und ich stand draußen. In schwarzer Schrift stand dort ABTEILUNG SPULEN. Natürlich spielten elektrische Drahtspulen, Induktoren, in einigen Geräten, beispielsweise Relais, immer noch eine Rolle und waren noch nicht durch Chips und Mikrochips ersetzt worden… Wie wäre es denn damit, überlegte ich mir, als Szenarium? Ein Laborunfall, der zu einer Kopfverletzung führte und die Narben erklärte. Dann falsche Erinnerungen eingepflanzt, die Jahre meines Lebens abdeckten, ein Schritt, der irgendwie notwendig geworden war, um die Schuld, die Verantwortung mancher Leute in der Firma zu vertuschen? Und dann eine Pension, um mich fernzuhalten und in ruhiger Sicherheit zu wiegen? Aber viele Leute waren in Unfälle dieser oder jener Art verwickelt – und ich hatte noch nie davon gehört, daß als Ergebnis davon etwas so Ausgefallenes passiert wäre. Große Firmen konnten es sich leisten, Abfindungen zu zahlen. Sie tun es dauernd. Nein, das hatte irgendwie nicht den richtigen Klang. Aber ich spürte, daß da noch mehr kam. Ich trank den Kaffee aus und stand auf. Ich stellte die Tasse auf das Geländer. Es war an der Zeit, zu Cora zu gehen und mit ihr reinen Tisch zu machen. Wenigstens hatte ich gute Neuigkeiten.
Ich betrat meine Wohnung und rief: »Cora?« Keine Antwort.
Na ja, es war verständlich. Ich konnte damit rechnen, daß sie sauer war. Ich hatte nur gesagt, ich würde einen Spaziergang machen. Sie hatte sich wahrscheinlich Sorgen gemacht. Das führte dazu, daß ich mich noch ein wenig mieser fühlte. Ich faßte blitzartig den Entschluß, alle möglichen netten Dinge für sie zu tun – ein Essen und Blumen und… »Cora?« Ich schaute ins nächste Zimmer. Leer. Ob sie wohl gegangen war und sich in einem Motel eingemietet hatte? Ernsthaft böse? Also… NACHRICHT ABRUFBEREIT teilte mir das Licht auf dem Telefon/Computerschirm mit, genau dort, wo eine sein würde, wenn jemand angerufen hatte – oder gegangen war. Mein Magen verkrampfte sich, und Kaffeegeschmack stieg mir in den Mund. Ich durchquerte das Zimmer und betätigte den Schalter. Auf dem Schirm stand zu lesen: DON – ALLES IN ALLEM WURDE ES ZEIT FÜR MICH ABZUREISEN. WIR HABEN ZUSAMMEN EINEN WUNDERBAREN SOMMER VERLEBT. ABER WIR SOLLTEN NICHT VERSUCHEN, DARAUS MEHR WERDEN ZU LASSEN. BEHALTE MICH IN GUTER ERINNERUNG, CORA Ich durchsuchte die anderen Räume gründlich genug, um sicherzugehen, daß wirklich alle ihre Sachen fort waren. Dann kehrte ich zurück, setzte mich, starrte wieder auf den Schirm. Auf einem Bildschirm gibt es natürlich keine Möglichkeit, eine Handschrift zu beurteilen, keine Unterschrift, die man einer Prüfung unterziehen könnte. Aber eine Englischlehrerin, die mit ihren Sätzen so eigenartig umging… Fast war ich von meiner eigenen Reaktion überrascht. Ich spürte weder Niedergeschlagenheit noch Hysterie, keine Trauer, keine Angst. Sondern etwas völlig anderes.
Mein Mund war ausgetrocknet, und ich öffnete den Kühlschrank und griff nach dem einzigen vorhandenen kalten Getränk, einer Büchse Bier, zog den Deckel ab und leerte sie in schnellen Schlucken. Meine Hand, die die leere Dose hielt, zitterte leicht, zum Teil sicher wegen meines Katers, zum Teil aber wegen der Zufuhr frischen Adrenalins. Das Adrenalin kam von der Wut, nicht von einer Angst her. Ich hatte schon fast vergessen, wie es war, so wütend zu sein. Meine Finger bewegten sich unter meiner Kontrolle ohne Schwierigkeiten. Warum auch nicht? Und doch erschien das einem Teil meines Gehirns eigenartig. Später, später… Denk später darüber nach. Ich sah zu, wie die leere Dose zwischen meinen Fingern wie eine Blume zerdrückt wurde. Der Gebrauch meiner Muskeln schien den Weg zum Gebrauch anderer Dinge zu ebnen. Ich hoffte, daß einer davon mein Verstand sein würde. Aber nicht nur der allein… Ich starrte auf den Computerschirm und versuchte, Coras Finger auf der Tastatur zu sehen oder nicht zu sehen, wie sie jene Nachricht tippten. Das Timing der Ankunft der Databits in der Zentraleinheit… Vom Intellekt her hatte ich keine klare Vorstellung davon, was ich da tat. Aber auf einer tieferen Ebene wußte ich, daß ich in den Computer hineinsah, sein elektrisches Leben untersuchte. Es war ein Gefühl ähnlich der halb betäubten Einfühlung in das Radio-Shack-Navigationsgerät auf dem Hausboot, die ich vor wenigen Tagen gespürt hatte. Der Schock der Entdeckung oder Wiederentdeckung dieser Fähigkeit in mir wurde von einem dringenderen Bedürfnis gedämpft. Ich konnte Coras Finger nicht aufspüren. Die eines Fremden waren hier gewesen… Ich mußte mich jetzt aufs Denken verlegen, um weiterzukommen. Dabei war Adrenalin keine große Hilfe, und
sogar meine neu entdeckte Fähigkeit hörte hier auf. Ich verfluchte meinen Streit mit Cora, daß ich sie allein gelassen hatte, so daß sie entführt werden konnte. Ich war nur nach Key West zurückgekehrt, weil es mir als Heimat erschien, als ein Ort, wo ich die letzte Verteidigungslinie aufbauen konnte – nicht, wie sie meiner Meinung nach vielleicht glaubte, weil mein Geld heute auf der Bank sein mußte… Die Bank. Blitzartig sah ich noch einmal die altmodische Tür mit der Milchglasscheibe vor mir, die zufiel, wie ich es in meinem Tagtraum gesehen hatte. ABTEILUNG SPULEN war jedoch nicht ganz richtig; das war Traumsprache, war Ausdruck meines Unterbewußtseins für etwas, dem ich insgeheim vor Jahren nur in Gedanken einen Namen gegeben hatte. Die Bank. Ich verließ die Wohnung und stieg in meinen Wagen. Ich fuhr zur Bank, bog dort in den Parkplatz ein. Ich parkte an einer Stelle, die von einer Kokospalme überschattet wurde. Ich sah auf die Uhr. Das Geld mußte im Laufe des Vormittags kommen – in Form elektrischer Impulse, die durch die dünnen optischen Glasfiberkabel flossen, welche die Informationen zu den Schaltstellen und von ihnen weg transportierten, Kabel, die unter den weiten Brücken angebracht waren, worüber Autos und Lastwagen dahinbrausten. Es war feucht-heiß geworden. Ich ließ den Motor und die Klimaanlage laufen (niemand sah einen deshalb mehr schief an, wie man es vielleicht getan hätte, ehe die Solarenergie sich so schnell verbreitet hatte – Solarenergie und Angra Energy), lehnte mich in den Sitz zurück und schloß die Augen. Der Computer in der Bank war eine ganze Stadt, verglichen mit dem kleinen elektronischen Außenposten, den ich zu
Hause hatte. Aber er war eine logisch angelegte Stadt, mit gut gekennzeichneten Verkehrswegen. Stunde um Stunde, vielleicht sogar Minute um Minute erinnerte ich mich besser. Mein Gehirn griff nach dem Computer der Bank. Der Spuleneffekt setzte ein.
Vier
Tickerditick, und hinaus, in die magische Stadt aus Licht und Dunkelheit… Flüsse kalten elektronischen Feuers flossen um geometrische Inseln, unter Brücken hindurch, von Dämmen gestaut, plätscherten hier, rauschten dort… Lichter blinkten wie Flipperanzeigen… Ein Brüllen, ein Winseln… Ich bahnte mir meinen Weg hindurch zu einem stillen Ort, wo ich die ganze Anlage überblicken konnte, hier einen Finger eintauchte, dort einen Pfeiler berührte, um das Echo der vorbeipulsierenden Daten zu ertasten. Tore öffneten und schlossen sich, neutrale Übertragungen huschten wie Güterwagen vorüber… Nein, nein, nein… Die Zeit war aufgehoben. Und wenn nicht, es war so angenehm, wieder dazusein… Ich konnte warten. Wenn mein Körper in diesem Moment sterben würde, hätte ich fast das Gefühl, ich würde fortbestehen innerhalb der riesigen Maschine, die uns umgab, Tickeditick… Halt. Langsam. Einfrieren. Vergrößern. Ausdehnen. Ja. Ich hatte sie. Dort, die Symbolkette, die meine monatliche Zuwendung enthielt: 1111101000000, mit meinem Namen dran. Ich begleitete sie bis zu meinem Konto. Sofort sprang eine Empfangsbestätigung mit demselben Code einem Phönix gleich aus jenem knisternden Nest, flog die gleiche Energielinie entlang, auf der meine Überweisung hereingekommen war… Ich verfolgte sie, hängte mich dran, folgte meinem Namen. Entlang der Kette verkabelter Schnellstraßen nahm ich auf einer anderen Ebene eine weitere noch größere Stadt aus
Lichtern wahr. Auf Dämmen gebaut, trug sie von Insel zu Insel Kupfer- und Fiberglasverbindungen, die sich durch Rohrleitungen an ihrem Rand schlängelten, bis hin zur Abrechnungsbörse in Miami. Überall um mich herum ein Murmeln. Dann weiter – hinauf, hinab, herum, hindurch, von Terminal zu Terminal, Atlanta, New York, New Jersey, und dann… Angra Energy, Hauptbüro, New Jersey. Ja. Natürlich. Aber ich mußte sichergehen. Ich tauchte. Kam in der Börse wieder an die Oberfläche. Um mich herum pulsierten beruhigend Weizenkurse. Ich erinnerte mich an etwas… Ich war sieben Jahre alt. Ich saß auf dem Boden in dem Verkaufs- und Reparaturcenter, das Papa und Mama in El Paso führten. Wie andere Kinder es mit anderen Spielzeugen taten, redete ich mit einem alten Computer, einem 1975er Modell, der zu Reparaturzwecken aus der Leitung genommen, aber aus Gründen der Diagnose angeschaltet war. »Was fehlt dir?« sagte ich zu ihm. »Warum blockierst du?« Es folgte etwas wie ein Ausbruch von Rauschen mitten in meinem Kopf, und ich wand mich in seine Stadt der Lichter hinein, nur daß einige nicht brannten. Dort, dort, dort – und dort! Ich sah das Muster genau, wie ich es an jenem Tag gesehen hatte. Das war das erste Mal gewesen, daß ich mich in einen anderen hineingespult hatte. Ich… Die andere Welt – die langsamere, weniger lebhafte – mischte sich ein. Mir wurde verschwommen bewußt, daß jemand neben meinem Wagen auf dem Parkplatz der Bank stand und mich ansah. Ich wollte noch nicht dorthin zurück, aber ich wußte, es mußte sein. Ich schüttelte Börsenwerte ab und spulte in meinem Kopf zurück und sah mir die Person an, die mich anstarrte.
Sie war klein, dunkelhaarig, ziemlich hübsch, Halbasiatin. Sie hatte einen weißen Hosenanzug an. Sie starrte. Sie war jemand, von dem ich wußte, daß ich sie kannte. Ich kurbelte das Fenster herunter. »Don, bist du in Ordnung? Du siehst nicht gut aus.« Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob sie ein Überbleibsel meiner außersinnlichen Wahrnehmung sei. Aber nein, sie hatte einen Namen und die damit verbundene Substanz. Ann. Ann Strong, erinnerte ich mich. Sonst nichts, aber das konnte ich brauchen. »Besser als seit langem«, sagte ich. »Was machst du hier, Ann?« Wieder lächelte sie. »Ich stelle fest, daß du dich wenigstens an mich erinnerst«, sagte sie. »Ich war mir nicht sicher, ob du das könntest.« Ich lächelte. »Ich bin kein vollkommenes Wrack«, sagte ich, und etwas anderes fiel mir ein. »Wie gefallen dir diese schönen Blumen?« »So viele, und so schön«, antwortete sie. »So rein, ihre – Farben.« Es war etwas Besonderes an ihr… »Farben« war nicht das Wort, das sie hatte verwenden wollen. Ich spürte es einfach. Etwas anderes. Sie hatte eine besondere Vorliebe für irgendwas, das mit Blumen zu tun hatte, aber das war es nicht… »Bist du schon lange in der Stadt?« »Nein.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich bin gerade erst angekommen. Magst du den Ort?« »Ich habe ihn schätzen gelernt.« »Ich kann verstehen, warum. Aber es muß doch sicherlich Vergnüglicheres zu tun geben, als auf dem Parkplatz einer Bank herumzusitzen?«
»Außer wenn man darauf wartet, daß Angras Schmiergeld ankommt«, sagte ich beiläufig, zum Teil einfach deshalb, um es an ihr auszuprobieren, zum Teil, weil ich eine Verbindung zu vermuten begann. Sie runzelte die Stirn. Sie spitzte die Lippen. »Ts, ts«, machte sie und schüttelte langsam den Kopf. »Man soll die Hand, die einen füttert, nicht beißen. Altes Sprichwort.« »Wenn ich beißen muß«, sagte ich, »wird es mehr als eine Hand sein.« »Warum so verbittert, Don?« »Warum bist du hier?« »Ich war gerade bei der Bank, um einen Scheck einzulösen, als ich ein bekanntes Gesicht entdeckte.« »Also gut«, sagte ich, »und vielleicht ein glückliches Zusammentreffen. Kann ich dich irgendwo hinfahren?« »Ich wollte als nächstes etwas essen.« »Ich kenne ein gutes Lokal. Komm.« Sie stieg ein. Ich fuhr auf die Straße hinaus und bog nach links ab. »Also auf Urlaub«, sagte ich. »Sowas Ähnliches.« Irgendwas an ihr, irgendwas an ihr… In meinem Hinterkopf ertönten Warnsignale. Es war, als hätte ich schon gewußt, was los war, aber irgend etwas enthielt mir mein Wissen vor. Nicht so wichtig, entschied ich. Jedenfalls nicht im Endeffekt. Angra hatte irgendwas mit der Lücke in meinem Leben zu tun und mit Coras Verschwinden wegen ihrer Verbindung zu mir. Es schien einfach, als müsse es so sein. Sehr bald würde ich rauf nach New Jersey reisen und Krach schlagen. Ich würde Leute aufsuchen, die zur Zeit nur dunkle Umrisse darstellten und den Nebel meiner Erinnerung durchwanderten. Die Namen würden wiederkommen, die Gesichter würden wiederkommen. Ich
würde sie finden. Ich würde sie zum Reden bringen. Sie würden mir Cora zurückgeben, sonst würde ich… irgendwas tun. Etwas Gewalttätiges oder Enthüllendes. Oder beides. Ich hatte eigentlich keine Wahl mehr. Ich bog in den Parkplatz des kleinen Lokals ein, das ich manchmal besuchte. Es war außerhalb der Hauptessenszeit. Wahrscheinlich würde es nicht voll sein. Wir stiegen aus. Fast hätte ich Anns Hand ergriffen, die da nahe bei meiner flatterte, als wir auf den Eingang zugingen. Ich wußte nicht, warum. Ich bemerkte plötzlich den Duft von Hyazinthen. Wir fanden einen kleinen Tisch in einer Ecke, und plötzlich wurde mir bewußt, daß ich halb verhungert war. Muschelsuppe, Salat, eine Menge Fleisch, Eistee, Limonenkuchen – ich bestellte alles. Sie nahm einen Salat und Tee. Während ich sie beobachtete, wurde mir klar, daß ich sie gekannt hatte, als ich bei Angra beschäftigt war. Aber in welcher Funktion? Ich konnte mich einfach nicht erinnern. »Es ist gut, daß du dich hier wohl fühlst«, sagte sie nach einiger Zeit. »Ich habe mich schon wohler gefühlt.« »Tatsächlich?« Ihre Augen hatten sich geweitet, und einen Augenblick lang glaubte ich, ich hätte ein kurzes Erröten auf ihren Wangen entdeckt. Aber das war nur für einen Moment. Dann verhärtete sich ihr Gesicht. »Aber du wirst deine Freuden sicher wieder kriegen. Solche Dinge kommen zurück.« Ich glaubte, Rosen zu riechen. »Man kann nie sicher sein«, sagte ich. Sie sah auf ihren Teller hinab, spießte ein Salatblatt auf. »Auf manche Dinge kann man sich verlassen«, behauptete sie. »Zum Beispiel?«
»Zusammenarbeit mit den Mächtigen führt zu vorhersehbaren Ergebnissen.« »Heutzutage weiß man nicht einmal, wie man anfangen soll.« »Du machst dir Sorgen.« »Ja.« »Du sagst, es gefällt dir hier.« »Ja. Aber ich werde bald abreisen.« Sie sah mir in die Augen. »So sollte man nicht anfangen«, sagte sie. »Weißt du einen besseren Weg?« »Jeder Weg, der unbedachte Handlungen vermeidet, ist besser.« Mehrere Bissen später sagte ich: »Ich wünschte, ich könnte dich nachher etwas herumführen, aber ich muß gleich ein Flugzeug erwischen. Nach New Jersey.« Ich beobachtete ihr Gesicht, als ich es sagte. Ich wollte ihre Reaktion sehen. Ein Duft von Jasmin lag in der Luft. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, als sie sagte: »Sei nicht dumm, Don. Das fällt unter die Überschrift ›unbedachte Handlungen‹.« »Was würdest du denn vorschlagen, was ich tun soll?« fragte ich sie. »Geh nach Hause. Bleib dort«, antwortete sie. »Früher oder später wird sich jemand mit dir in Verbindung setzen…« »Also gut!« sagte ich. »Schluß mit dem Versteckspiel! Du weißt mehr als ich. Wo ist sie?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« »Du weißt, was los ist.« »Ich weiß, daß du dich an Dinge erinnerst, die du besser vergessen würdest.« »Es ist zu spät, daran etwas zu ändern. Und ich werde nicht zu Hause sitzen und darauf warten, daß das Telefon klingelt.«
Sie legte die Gabel auf den Teller, hob ihre Serviette und tupfte sich die Lippen ab. »Ich möchte nicht, daß dir etwas geschieht.« »Ich auch nicht«, sagte ich. »Dann flieg nicht nach New Jersey. Etwas Schlimmes wird dir passieren, wenn du es doch tust.« »Was?« »Ich weiß es nicht.« Ich knurrte, und sie erhob sich schnell und wandte sich ab. »Entschuldige mich«, sagte sie. Ich war auf den Beinen und hinter ihr her. Aber ein paar Schritte brachten sie zur Damentoilette und hinein. Ich zögerte. Unsere Kellnerin kam in diesem Moment mit einer Kanne Kaffee vorbei. Ich hielt sie auf. »Gibt es einen zweiten Ausgang zur Damentoilette?« »Nein«, sagte sie. »Fenster?« Sie schüttelte den Kopf. »Nur vier grüne Wände.« »Danke.« Ich ging zurück zum Tisch und aß meinen Kuchen auf. Nachdem der Eistee verschwunden war, bekam ich eine Tasse Kaffee. Eine grauhaarige Frau betrat die Damentoilette. Als sie nach einiger Zeit wieder herauskam, sprach ich sie an. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »War eine kleine asiatische Dame dort drin, in einem weißen Hosenanzug?« Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand.« Ich kehrte zum Tisch zurück und hinterließ ein Trinkgeld. Während ich an der Kasse meine Rechnung bezahlte, schien ich Anns Stimme zu hören:
»Geh nicht«, sagte sie. »Du glaubst, du hättest jetzt schon Schwierigkeiten. Wenigstens bist du noch am Leben. Bleib zu Hause. Fordere den Tiger nicht heraus.« Ich sah mich um, aber sie war nirgends zu sehen. Trotzdem konnte ich ihre Gegenwart fast spüren. »Wie bedauerlich«, sagte ich leise. »Was hast du gemacht – mein Gehirn mit einer Wolke umnebelt?« Ich schien ihr Lachen zu hören, verbunden mit dem Duft eines Blumengartens.
Fünf
Ich kehrte zur Wohnung zurück, um mich umzuziehen und das Rasierzeug und ein paar andere Dinge in eine Reisetasche zu werfen. Es waren keine weiteren Nachrichten in meinem Computer gespeichert, wie ich feststellte, als Ich ihn einschaltete, um einen Kurzflug nach Miami mit Anschlußmaschine nach Philadelphia zu buchen. Das klappte reibungslos, der Abflug des Zubringers war in fünfundvierzig Minuten vorgesehen. Ich schloß die Wohnung ab, stieg wieder ins Auto und machte mich auf den Weg zum Flughafen. Anns Geisterstimme suchte mich nicht mehr heim, auch wenn ich jedesmal, wenn ich um eine Ecke bog, erwartete, sie zu sehen. Die lange Flugreise, entschied ich, war genau das, was ich brauchte, um eine Menge neuer Gedanken zu ordnen. Ich parkte, ging hinein und meldete meine Ankunft am Schalter. Ich erhielt eine Bordkarte, und da ich ein wenig Zeit hatte, holte ich mir eine Tasse Kaffee und nahm sie mit in die Wartehalle. Zum erstenmal, seit ich aufgewacht war, wurde kein Druck auf mich ausgeübt. Bis zum Aufruf des Flugs blieben mir ein paar Minuten, um mich zu entspannen. Ich lehnte mich in einem Sessel zurück und nahm einen heißen Schluck. Tickerditick…? Entspannen… Tickerditick. Ich schloß die Augen und konnte das pulsierende Netz elektronischer Vorgänge um mich herum spüren. Ich nehme an, sie sind heutzutage beinahe allgegenwärtig, aber ganz
besonders konzentriert an bestimmten Orten, darunter Flughäfen mit Datenverarbeitungsgeräten an allen Ecken. »Hallo«, sagte ich. »Ihr seid wohltuend.« Und mein Verstand wurde massiert von den vorbeijagenden Pulsschlägen. Ich dachte an nichts. Ich spulte nicht, und las auch nicht… Nach mehreren Minuten entzog ich mich dem Strom. Ich trank meinen Kaffee weiter und starrte aus den Fenstern auf ein Zubringerflugzeug auf der Rollbahn. Es ging mir besser. Dank Jacks Medizinschrank und einem guten Mittagessen hatten sich alle Spuren meines Katers verflüchtigt. Mein Verstand fing an zu arbeiten, wie er seit Jahren nicht gearbeitet hatte. Trotz Anns Warnung begann ich ein wenig Vertrauen in den Erfolg meiner Mission zu fühlen. Ich wollte nichts von dem, was sie hatten, bis auf Cora. Der einzige einsehbare Grund, warum sie sie geholt haben konnten, bestand darin, daß sie irgendwie irritiert darüber waren, daß ich dabei war, das Gedächtnis wiederzuerlangen. Sie wollten mir gegenüber etwas in der Hand haben, falls ich mich an etwas erinnerte, das für sie schädlich war. Gerne wollte ich versprechen, den Mund zu halten über alles, woran ich mich erinnerte, wenn sie sie nur gehen ließen. Woher wußten sie, daß ich mich an etwas erinnert hatte, woran ich mich nicht hätte erinnern dürfen? Baghdad war das Naheliegendste. Vielleicht hatte ich unter Beobachtung gestanden. Oder vielleicht ging auf einer Tafel ein großes rotes Licht an, sobald ich eine Fahrkarte nach Michigan kaufte. Oder wenn jemals ein Psychiater ein Persönlichkeitsprofil von mir durch eine der größeren medizinischen Datenbänke jagte. Oder vielleicht wurden die Hash Clash und meine Wohnung abgehört. Oder… Jede Menge Möglichkeiten kamen mir in den Sinn. Es kam nicht so darauf an, welche davon den Alarm ausgelöst hatte. Tatsache
war, daß sie den Verdacht hatten, ich hätte mich an etwas erinnert, von dem sie es vorzogen, daß es vergessen wurde. Was? Ich strengte mich an. Es gab alle möglichen Bilder meiner selbst, wie ich mich mit Computern beschäftigte, aber sie waren immer noch zu undeutlich. Sie hatten Cora gewollt, um einen Ansatzpunkt zu haben, und nun wollte ich diese Erinnerung, um etwas dagegensetzen zu können – nur für den Fall, daß mein Wort nicht reichte. Ich hoffte, die Erinnerung werde unterwegs zurückkommen. Wenn nicht, würde ich eben versuchen müssen, so zu tun, als ob. Sie hatten Angst, sonst hätten sie nicht gehandelt. Das könnte für mich nützlich sein. Zu der Zeit war ich nicht sonderlich besorgt um meine physische Sicherheit. Schließlich hätten sie mich vor langer Zeit umbringen können, wenn sie gewollt hätten. Statt dessen hatten sie sich große Mühe gegeben, für eine Alternative zu sorgen, indem sie lediglich meine Fähigkeit zerstörten, mich an gewisse Dinge zu erinnern. Das Flugzeug draußen kam zum Stillstand, und die Passagiere stiegen aus. Weitere Minuten vergingen, während einige Gepäckstücke und Fracht entladen wurden. Dann wurden das Innere des Flugzeugs gereinigt und die Tanks gefüllt. Kurz darauf kam eine Aufsichtsperson herein und verkündete, die Passagiere könnten jetzt an Bord gehen. Ich rieb mir die Augen. Mit der Aufsicht stimmte etwas nicht. Ich sah ein zweites Mal hin. Der Mann hatte sichtbare, vorstehende Fangzähne und einen grünlichen Schimmer auf der Haut. War das eine Art Gag? Die anderen Passagiere nahmen keine Notiz davon und schickten sich an, in seine Richtung zu gehen. Ich hob die Tasche auf und tat das gleiche. Wenn es sie nicht störte –
Ich muß ihn aber doch angestarrt haben, als ich vorbeiging, denn er grinste mich an, als er meine Bordkarte kontrollierte – ein wahrhaft entsetzlicher Anblick. Ich ging weiter und schüttelte den Kopf. Mein Leben war ganz schön aus den Fugen geraten. Ich erstarrte, sobald ich das Gebäude verlassen hatte. Das Flugzeug war verschwunden. An seiner Stelle stand ein riesiger altmodischer Leichenwagen mit dunkler Holzkarosserie und schwarzen Vorhängen. Er wurde gezogen von einem Paar riesiger schwarzer Pferde, die mit dunklen Federbüschen geschmückt waren. Ich gab ein unartikuliertes Geräusch von mir. Leute drängten sich an mir vorbei und gingen an Bord. Die Pferde schnaubten und stampften mit den Hufen auf die Rollbahn. Ich wandte mich ab. In dieses Ding konnte ich nicht einsteigen. Ich wußte, ich würde sterben – Ticketditick? Ich schloß die Augen, sperrte den Anblick aus. Ich benutzte meinen Verstand. Geistige Gesundheit und folgerichtiges Denken hatten in der elektronischen Lichterstadt, die mich umgab, die Oberhand. Sie waren die Abwehr gegen böse Visionen. Ein Augenblick, noch ein Pulsschlag oder zwei, damit es mich wieder aufrichtete… Ich senkte den Kopf und öffnete wieder die Augen. Gute, solide, handfeste gelbe Linien daraufgemalt… Folge dem gelben Betonpfad… Ich setzte mich in Bewegung. Ich stieß mit einer Dame zusammen und entschuldigte mich. Dazu mußte ich aufsehen. Wir befanden uns am Fuß der Rampe, aber die Vision war unverändert.
Das Gefährt war das gleiche geblieben. Ich war dabei, einen schwarzglänzenden Leichenwagen zu besteigen. Ich hatte angefangen, die Wahrheit über mich selbst zu entdecken, und nun wurde ich davor gewarnt, weiterzumachen. Ich glaube, ich wandte mich wieder ab, bereit, Alternativen zu dieser Reise zu überlegen. Aber dann dachte ich an Cora, an den Grund, warum ich sie antreten mußte, den Grund, warum ich hier einsteigen mußte, ganz egal, wie das Ding aussah. Ich streckte die Hand aus und legte sie auf das Geländer, die Augen krampfhaft geschlossen. Stufe um Stufe stieg ich hinauf. Als ich oben ankam, hörte ich, wie eine erstaunte weibliche Stimme sagte: »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« »Ja«, antwortete ich. »Ich habe schreckliche Angst vor dem Fliegen. Würden Sie mir bitte helfen, einen Sitzplatz zu finden?« »Sicher. Hier.« Ich spürte, wie mein Arm ergriffen wurde. Sie führte mich. Zweimal blinzelte ich kurz, um mich schnell zu orientieren. Die Kabine war voller boshaft grinsender Dämonen und Ungeheuer; sie wurde erleuchtet von flackerndem, unheilvollem Kerzenlicht. Ich wagte nicht, die Frau anzusehen, die mich führte, aus Angst, die dreiköpfige Göttin zu erblicken und zu wissen, daß ich weg war, hinüber, gefangen. Ich fand einen Platz für meine Tasche unter dem Sitz vor mir. Alles fühlte sich normal an. Was auch immer geschehen war, es schien den Tastsinn nicht zu betreffen. Ich fand die Enden meines Sicherheitsgurtes und schloß ihn um meine Taille, ohne hinzusehen. Ich wußte, was ich sehen würde, wenn ich hinschaute – nämlich, daß er sich in eine Schlange verwandelt hatte. Immerhin waren es zwei verschiedene Dinge, davon zu wissen und es zu sehen. Ich hatte gewußt, wie es hier drinnen aussehen würde, ehe ich vor ein paar Augenblicken einige
Male geblinzelt hatte. Aber das Wissen darum bereitete mir erheblich geringere Magenschmerzen als die Erfahrung selbst. Ich stellte fest, daß ich im Moment alles andere als rational reagierte, und dieses Bewußtsein war an sich schon irgendwie tröstlich. Immerhin hatte ich eine psychiatrische Behandlung hinter mir, welche die Tiefen meines Wesens aufgewühlt hatte. Was mir jetzt passierte, sagte ich mir, war zweifellos eine Art Reaktion aller Kräfte des Irrationalen in meinem Unterbewußtsein. Ja, halte dich daran, beschloß ich; das hebt die geistige Gesundheit, wie eine Art Bilanzausgleich. Wenn alles vorbei ist – Flugzeug? Flugzeug. Wir bewegten uns. Auf einer Bewußtseinsebene wußte ich, daß wir wendeten und anrollten. Auf einer anderen hörte ich ein gewaltiges Wiehern und das Klappern von Hufen. Der Wagen wackelte von einer Seite auf die andere, die Räder der Kutsche quietschten und klapperten. Ticketditick. Ja, noch mal. Eintauchen in die sanft fließenden Computeroperationen der Systeme ringsum. Sie waren hier einfacher als im Flughafengebäude, nur ein paar winzige Lichter rationaler Struktur. Aber ich hielt sie fest und floß mit ihnen dahin, versetzte mich in einen tranceartigen Zustand und durchlief wieder und wieder alle Funktionsebenen. Ich hielt mit ihnen Schritt und bewegte mich in meiner eigenen kleinen Lichterwelt durch ein Meer der Finsternis. Ich schaffte es, alles um mich herum eine unbegrenzte Zeitlang völlig zu ignorieren, bis das Lautsprechersystem sich einschaltete und der Flugkapitän ansagte, wir seien im Begriff, in Miami zu landen. Ich wußte, das war es, was er sagte, aber auf jener anderen Ebene hörte ich die Glocke als ehernen Gong, gefolgt von der Stimme von Orson Welles mit der Ankündigung, Donald BelPatri sei im Betriff, in einen brodelnden Abgrund geworfen zu werden, wo er bleiben solle,
bis sich ihm das Fleisch von den Knochen löste. Fast hätte ich losgeschrien, aber ich biß mir auf die Lippen und ballte die Hände zur Faust, bis meine Gelenke knackten. Wir landeten und hielten schließlich an. Plötzlich verschwand der Druck. Hatte mein Unterbewußtsein eine Kaffeepause eingelegt und aufgegeben, jetzt, da ich wohlbehalten angekommen war? Ich öffnete die Augen und sah ganz normale Leute, die Sicherheitsgurte lösten und Gepäckstücke aufhoben. Schnell tat ich das gleiche. In meiner Nähe gaben sich alle große Mühe, meinem Blick auszuweichen. Auf dem Weg nach draußen dankte ich der Stewardeß noch einmal und begab mich ins Flughafengebäude – mit heiler Haut und Knochen. Drinnen stellte ich fest, zu welchem Abflugschalter ich mich begeben mußte, holte mir eine neue Bordkarte, suchte die Männertoilette auf, fand einen Getränkeautomaten und schluckte in rascher Folge zwei eisgekühlte Colas. Dann begab ich mich zurück in die Abflughalle und nahm auf dem Sessel Platz, der dem Eingangstunnel am nächsten war. Ich wollte eine günstige Ausgangsposition haben, falls meine Halluzinationen wiederkehrten. Ich führte all das auf einer möglichst rein motorischen Ebene aus und hielt meine Gedanken von allem fern, außer davon, was mein Körper tat. Aber sobald ich mich gesetzt hatte, fingen die Gedanken an, wieder auf einer höheren Ebene zu fließen. War das, was eine reine Angstreaktion auf meine geistige Neuorientierung und auf Coras Verschwinden gewesen sein mochte, deshalb auf ein derart bildhaftes, paranoides Niveau gezwungen worden, weil eine tatsächlich vorhandene Bedrohung sich gezeigt hatte? Ich hatte auf der Universität nicht so viel Psychologie studiert, aber es erschien möglich, zog man die extremen Belastungen in Betracht, denen ich unterworfen gewesen war.
Universität? Plötzlich erkannte ich, daß ich eine Universität besucht hatte. Wo? Denver…? Das schien richtig. Aber ich hatte keinen Abschluß, keinen akademischen Grad… Warum nicht? Wieder blockiert, aber mit dem Gefühl, daß Ann etwas damit zu tun gehabt hatte, damit, daß ich die Hochschule verlassen hatte. Ich kannte sie schon so lange. Ann… Was war ihre Schwäche? Was war ihre Stärke? Sie hatte beides, in ungewöhnlichem Ausmaß. Es schien wichtig, mich zu erinnern, worin sie bestanden, aber auch hier war ich blockiert. Ich verstärkte den Druck. Noch mehr. Wenn die Erinnerung an Ann mir verschlossen war, wie stand es mit Angra? Angra Energy, mein damaliger Arbeitgeber… Computer. Ich und Computer. Aber ich war kein gewöhnlicher Programmierer oder Systemanalytiker oder irgendwas in der Art. Ich arbeitete dort in einer besonderen Funktion – einer ganz besonderen, für Angra sehr wertvollen –, indem ich, ja, indem ich mein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen in die Geräte und ihre Funktionsweise selbst einsetzte. Ich war für sie zu wertvoll, um ausgelöscht zu werden, selbst dann, als ich nicht mehr unmittelbar von Nutzen war. Es bestand immer die Möglichkeit, daß sie mich eines Tages wieder brauchten. Und deshalb – Die Ankündigung, daß wir in fünf Minuten an Bord gehen würden, brach in meine Gedanken ein und zerstreute sie. Immerhin war ich ein Stück weitergekommen. Wenn ich mich nur an ein paar Einzelheiten erinnern konnte und an einige der beteiligten Personen… Hatte die Ansage als Stichwort für den Auftritt der Neurosebrigade gedient? Nichts hatte sich verändert, dennoch hatte sich alles verändert. Der Druck war wieder da. Ein Gefühl wie vor dem Sturm, ein Gefühl drohenden Verderbens
drängte sich mir wieder auf. Ich konnte spüren, wie mein Halt an rationalen Gedankengängen sich lockerte… Aber ich hatte das schon einmal durchgemacht und überlebt. Und dies würde das letzte Mal sein. Ich schwor, ich würde mich mit aller Kraft zur Wehr setzen. Ich erprobte all meine Verteidigungsmöglichkeiten. Ich spulte mich in die fließenden Systeme, die mich umgaben, in die Fluganzeigetafel, arbeitete mich zum Tower vor, durchlief seine ständig wechselnden Datenblöcke, verflocht Flug- und Wetterinformationen wie auf einem großen leuchtenden Webstuhl… Die Aufforderung zum Einsteigen kam. Als ich aufstand und mich dem Tunnel zuwandte und dem Aufsichtsbeamten meine Bordkarte zeigte, entstand ein Flimmern, eine Verfinsterung. Ich starrte in eine dumpfe, schattige Höhle, wo schlangengleiche Gestalten sich an den Wänden ringelten. Mit der mir verbliebenen Objektivität schätzte ich fünfzig Schritte bis zur Biegung ab, sah, daß niemand vor mir war, schloß die Augen, streckte die linke Hand aus und zählte, während ich mich gleichzeitig auf das Zählen, auf das Gehen konzentrierte… Fünfzig! Ich öffnete die Augen, sah, daß ich fast da war, und rannte los. Ich umrundete die Biegung, stieg in eine größere, längere Version des Leichenwagens und bat einen Steward, mich zu meinem Platz zu führen. »Habe meine Brille vergessen«, jammerte ich. »Kann die Zahlen nicht lesen…« Er war freundlich, auch wenn er sich auf dem Weg nach hinten zu Sitz 13A, einem Fensterplatz, ein drittes Auge, orangene Haut und grüne Haare zulegte. Ich schnallte mich an, stieß meine Tasche unter den Sitz vor mir und kauerte mich zitternd zusammen. Die murmelnden Stimmen um mich herum erschienen mir als Teil einer
finsteren Verschwörung gegen mich. Ich fluchte, ich betete, und schließlich spulte ich wieder und blieb ein Teil des Systems des Flugzeugs, bis wir uns in der Luft befanden. Aber es würde Ablenkungen geben. Es war ein langer Flug. Ich hörte, wie der Steward mich fragte, ob ich etwas zu trinken haben wollte. Ich bat ihn, mir einen doppelten Whisky zu bringen und gab ihm das Geld, absichtlich ohne ihn anzusehen. Dabei sah ich jedoch kurz aus dem Fenster. Es gab kein Fenster. Da war nur Luft, wie ich irgendwie schon gewußt hatte. Sturmwolken brodelten unter uns. Wir saßen in einem langen, breiten offenen Wagen, und vorne zog uns ein rabenschwarzes Paar dämonischer Pferde; gewundene Hörner schüttelnd und Feuer speiend rasten sie einem fernen Berggipfel entgegen – dem Brocken, das wußte ich –, wo Flammen aufloderten, ein riesiger Schatten am Himmel schwankte und winzige Gestalten darunter tanzten… Und meine Mitpassagiere – häßlich, bösartig, umschwirrt von Fledermäusen, mit schwarzen Katzen auf dem Schoß, viele mit handgefertigten Besen ausgerüstet. Wir befanden uns auf dem Weg zum Hexensabbat, und natürlich wußte ich, wer das Opfer sein würde… Mein Drink wurde gebracht, er war ‘kränklich grüngelb gefärbt, und Tropfen einer öligen Substanz schwammen auf der Oberfläche. Ich nahm ihn und schloß die Augen. Ich roch daran. Es roch nach Scotch Whisky. Ich nahm einen großen Schluck und hustete. Es war Scotch. Er wärmte mir den Bauch wie eine Explosion. Ich ließ die Augen geschlossen. Ich sagte mir, daß ich an Bord eines Flugzeugs auf dem Weg nach Philadelphia sei. Ich streckte den Arm aus und berührte das kalte Glas des Fensters. Ich befühlte die Rückseite des Sitzes vor mir. Im stillen wiederholte ich, so gut ich mich erinnern konnte, Lincolns Gettysburger Rede.
Eine Zeitlang hörte ich dem Flugcomputer zu. Ich dachte an Cora… Ja, Cora. Ich komme. Die werden mich so einfach nicht aufhalten – nur ein paar Dämonen, Gespenster und andere Ungeheuer. Ich weiß, daß ich sie mir einbilde, nur damit die Reise interessant bleibt, um meine geistige und gefühlsmäßige Bilanz auszugleichen. Ich werde nicht verrückt. Wenn du mich das nächste Mal siehst, werde ich als Ergebnis davon ausgesprochen vernünftig sein. Ich betrachte all das als Reinigung, ein wohltuendes Ausschwitzen all dessen, was mich auf unterster Bewußtseinsebene gequält hat. Ich werde nicht verrückt. Ehrlich, Cora, ich kann doch jetzt nicht verrückt werden, oder? Es wäre doch die allergrößte Ironie, soviel zu gewinnen – dich, meine eigene Identität – und dann alles zu verderben, indem ich durchdrehe. Nein, ich muß daran glauben, daß dies alles einem höheren Zwecke dient – der Rationalität. Es muß, es muß… Ich nahm noch einen Drink. Besser. Ein bißchen besser jedenfalls. Was auch immer da war, es hatte mir bisher nicht weh getan. Und war die Hexenversammlung nicht gerade dabei, sich ohnehin mit ein paar eigenen Drinks zu entspannen? Seufze, BelPatri. Wann hast du das Rauchen aufgegeben? Es scheint, als hättest du früher… Und dann verrieten sie sich, und ich wußte, daß ich hinters Licht geführt worden war. »Möchten Sie eine Kleinigkeit essen, Sir?« Unwillkürlich öffnete ich die Augen, während ich eine ablehnende Antwort gab. Der Steward war immer noch monströs, aber mein Blick wanderte an ihm vorbei, hinaus, hinunter, in den offenen Tempel voller Säulen, Quader und Statuen, den wir überflogen, wo Jünglinge Flöte spielten und Jungfrauen tanzten. Und dort in seiner Mitte, zwischen flammenden Feuerschalen auf einer Art Altar, waren zwei
graue alte Frauen dabei, mit bloßen Händen ein Kind zu zerstückeln, daran zu zerren, die Knochen zwischen ihren Kiefern zu zermahlen, und aus ihren Mäulern rann das Blut. Sie bemerkten meinen Blick. Sie wandten sich um und drohten mit den Fäusten. Es war schrecklich, doch es kam mir auch bekannt vor. Es war – »›Schnee‹«, sagte ich laut. »›Schnee‹! Der Teufel soll dich holen! Ich erinnere mich!« Es war Hans Castorps Traum im Kapitel »Schnee« in Thomas Manns Zauberberg – den ich in einem Literaturseminar damals auf der Hochschule gelesen hatte, den ich Ann gegenüber erwähnt hatte, als ich entdeckte, daß auch sie das Buch gelesen hatte. Wir hatten einen ganzen Abend damit verbracht, die Bedeutung jener Szene zu diskutieren, das Verschmelzen des apollonischen und des dionysischen Prinzips, des Klassischen und des Strukturlosen, von Intellekt und Emotion – Sie wußte, was für einen Eindruck das einmal auf mich gemacht hatte. Ich atmete tief ein. Ich roch Maiglöckchen. Das Aroma hatte mich schon die ganze Zeit begleitet, unterschwellig, übertönt von dem Ansturm auf meine Wahrnehmung. Meine liebe Ann, sagte ich im stillen, wenn du hören kannst, was ich in diesem Moment denke – besorg’s dir doch selber! Diesmal hast du es vermasselt. Ich weiß, was du tust. Ich weiß, wo du herkommst. Es ist nicht gut genug. Das Bild unter mir verschwamm, wurde unwirklich. Ich saß in einem Flugzeug, mit normalen Leuten. Ich war nicht im Begriff, verrückt zu werden, meine Psyche war nicht dabei, sich umzustülpen. Irgendwie projizierte sie Halluzinationen in meinen Kopf. Aber mehr waren es auch nicht – nur Schatten und keine Substanz.
Minuten später kehrten sie zurück. Wir wurden von superschnellen Pterodaktylen angegriffen, die Stücke aus den Tragflächen rissen. Eine Zeitlang betrachtete ich sie gleichmütig, dann schloß ich wieder die Augen. Sie waren immer noch eine Ablenkung, und ich wollte über wichtige Dinge nachdenken, zum Beispiel darüber, was ich meinen früheren Arbeitgebern sagen würde, wenn ich ihr Hauptquartier erreichte.
Sechs
… Runter kommen sie immer, wie der Volksmund sagt. Die meergrüne Uroborosschlange, die sich um das Flugzeug gewunden hatte, verblaßte, als wir in die Landephase eintraten. Wir schwenkten ein, landeten perfekt und rollten ohne Verzögerung zu unserem Ausgang. Als ich aus dem Tunnel hervortrat, der diesmal nicht voller Schrecken war, näherte sich mir ein Vertreter der Fluglinie – ein kleiner, dunkelhaariger Durchschnittstyp in schmucker Uniform. »Mr. BelPatri?« »Ja.« »Donald BelPatri?« »Richtig.« »Würden Sie mir bitte folgen?« Ich trat mit ihm ein paar Schritte aus der Menge heraus. Dann fragte ich: »Wohin bringen Sie mich?« »In den VIP-Raum, Sir.« »Warum denn das?« »Dort wartet ein Herr auf Sie.« »Und wer mag das sein?« »Ich kenne seinen Namen nicht, Sir.« »Na ja…«, sagte ich. »Dann lassen Sie uns gehen und es feststellen.« Ich ging eine Zeitlang neben ihm her. Schließlich kamen wir in einen kurzen Gang. Er öffnete die Tür und führte mich hinein. Es waren vier Personen in dem Raum, drei Männer und eine Frau. Zwei der Männer waren Befehlsempfänger, das bemerkte
ich sofort, groß, jung und athletisch gebaut, in Hemden mit offenem Kragen, unter dünnen Jacketts; sauber und ordentlich; Leibwächtertypen. Sie standen hinter dem älteren, jovial wirkenden, weißhaarigen Mann, der mit dem Gesicht zu mir an einem Tisch saß. Er trug ein dunkles, gut geschnittenes Jackett, weißes Hemd, gedeckte Krawatte. Auf dem Tisch stand eine Flasche Mineralwasser, und alle drei hatten Gläser mit einer klaren, sprudelnden Flüssigkeit in der Hand. Nicht so die Frau. Sie hielt einen großen, bösartig aussehenden Drink in einem altmodischen Glas. Sie saß rechts von dem Mann. Eindrucksvolle Gesichtszüge und Hautfarbe – eine Viertelmulattin, würde ich sagen – mit stark gebleichtem Haar. So um die Vierzig. Trug eine hübsche gelbe Bluse mit Rüschen, eine Kette aus dunklen Glasperlen um den Hals. Fülliger, als ich mich an sie erinnerte, wie ich feststellte, als sie mit dem Mann zusammen aufstand, um mich zu begrüßen. Ihr Name war Maria – Maria Meistrand – das wußte ich, genauso plötzlich, wie ich mich daran erinnerte, sie früher gekannt zu haben. Ich konnte mich jedoch nicht an viel mehr über sie erinnern. Beide lächelten mich an. »Don, wie steht’s?« erkundigte sich der Boß. Der Boß… So nannten wir ihn fast immer. Er hieß jedoch Creighton Barbeau, Vorstandsvorsitzender der Angra Energy. Wir…? Ich war mir nicht ganz im klaren darüber, wen alles dieses Fürwort umfaßte, da ich an diesem Punkt nur über eine Teilerinnerung verfügte. Aber es gab da Bilder von mir als Teil einer Gruppe besonderer Leute, die für ihn arbeiteten. Und Maria, Maria war eine von uns. »Es ist alles sehr interessant in letzter Zeit«, sagte ich. »Woher wußten Sie, daß ich mit diesem Flug komme?« Er kniff das linke Auge zusammen und lächelte, was, wie ich wußte, bedeutete, daß er das für eine dumme Frage hielt. Natürlich hätte ich wissen müssen, daß er alles wußte…
»Ich mache mir Sorgen um Sie, Don«, sagte er, kam um den Tisch herum auf mich zu und drückte meine Schulter. »Sie sehen nicht sehr gut aus. Ich dachte, wir hätten besser für Sie gesorgt. Haben Sie Florida satt?« »Ich habe eine Menge Dinge satt«, sagte ich. »Sicher«, stimmte er mir zu und nahm meinen Arm. »Völlig verständlich. Nicht jedem behagt der vorzeitige Ruhestand.« Automatisch ließ ich mich von ihm zum Tisch führen. »Möchten Sie einen Drink?« »Im Moment nicht, danke.« »… Aber Sie wissen ja, wie das war«, fuhr er fort und hob sein Glas, um einen Schluck zu nehmen. »Eine Menge Probleme damals, Sie rechtzeitig aus der Schußlinie zu bringen.« Er stellte sein Glas ab und schenkte mir einen geraden, direkten, offen wirkenden Blick. »Nicht, daß Sie es nicht wert gewesen wären, natürlich, weiß Gott. Aber eine Zeitlang war die Lage etwas kitzlig. Wir durften kein Risiko eingehen. Für einen guten Mann ist es jedoch immer der Mühe wert, besondere Anstrengungen zu unternehmen.« »Donald«, sagte Maria in ihrer präzisen Art, bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte. Sie streckte die Hand aus, und ich ergriff sie, wiederum ganz automatisch. »Maria«, sagte ich. »Wie ist es dir ergangen?« »Nicht schlecht«, antwortete sie, »und ich habe Fortschritte gemacht bei dem, was ich tue. Was kann man mehr verlangen?« »Allerdings«, sagte ich und spürte einen Hauch von Feindseligkeit hinter ihrer lächelnden Maske. »Ich habe viel an Sie gedacht, Don«, fuhr der Boß fort. »Man hat Sie vermißt, wissen Sie. Ziemlich.« »Wo ist Cora?« sagte ich und wandte mich ihm zu.
»Cora?« Er runzelte die Stirn. »Oh, Cora. Natürlich. Man hat mir von ihr erzählt – eine Dame, mit der Sie in letzter Zeit zusammen waren. Wissen Sie – wissen Sie, Don –, ich möchte wetten, daß sie den Staat gar nicht verlassen hat. Ich wette, daß sie immer noch unten in den Keys ist und gerade jetzt nach Ihnen sucht. Hat ein bißchen geschmollt und ist weggegangen, hat dann ihre Meinung geändert. Sie hätten ihr wirklich eine Nachricht hinterlassen sollen.« Das verursachte mir ein gewisses Unbehagen, denn es bestand die geringe Wahrscheinlichkeit, daß daran etwas war. Er fuhr fort, bevor ich irgendwelche Zweifel anmelden konnte: »Wissen Sie, ich glaube nicht, daß Sie wirklich hierher gekommen sind, um nach ihr zu suchen«, sagte er verschwörerisch. »Vielleicht haben Sie sich das eingeredet, aber ich glaube, daß es etwas anderes war. Ich glaube, daß es Ihnen jetzt vielleicht besser geht als vor ein paar Jahren. Ich glaube, Sie kamen hier herauf, ob Ihnen das klar ist oder nicht, um etwas zu tun zu haben. Ich glaube, daß Sie in Wirklichkeit Ihren alten Job wiederhaben wollen.« Auf diesen letzten Satz hin beobachtete er meinen Gesichtsausdruck – fast hoffnungsvoll, würde ich sagen. »So gut kann ich mich an meinen alten Job gar nicht erinnern«, antwortete ich ihm. »Ist Cora hier?« »Wir könnten Sie gebrauchen, wenn Sie sich dem wieder gewachsen fühlen«, fuhr er schnell fort. »Natürlich hätten Sie eine kräftige Gehaltserhöhung zu erwarten. Ist mir unangenehm, Leute unter der Inflation leiden zu sehen. Der Wettbewerb wird immer härter, wissen Sie? Dieser große Vorsprung, den wir bei der Sonnenenergie hatten, ist einfach dahingeschmolzen. Zuviel Einmischung von Seiten der Regierung – und die anderen haben bei uns herumspioniert wie in einem James-Bond-Film. Man muß es ihnen aber lassen. Sie haben sich dafür ein paar clevere Tricks ausgedacht – und es
kostet uns einiges, sie auch nur auf Armeslänge fernzuhalten. Nicht, daß sie einem meiner eigenen Spitzenkräfte auch nur das Wasser reichen könnten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wetten, daß Sie mit Ihnen fertig würden.« »Also«, sagte ich. »Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Aber im Moment ist es Cora, über die ich etwas wissen will. Wissen Sie, wo sie ist?« »Don, Don, Don…« seufzte er. »Sie scheinen nicht zu verstehen, was ich sage. Wir können Sie wirklich wieder brauchen. Ich biete Ihnen Ihren alten Job zu noch besseren Konditionen an. Wir möchten Sie wieder in die Familie aufnehmen. Manchmal sehen mich die Leute schief an, wenn ich so etwas sage. Aber ich betrachte meine persönlichen Assistenten wirklich als eine Familie. Mir fällt nichts ein, was ich nicht tun würde, um ihr Leben etwas erfreulicher zu gestalten.« »Cora«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Könnte Ihnen sogar bei der Suche nach Ihrer Damenbekanntschaft helfen«, sagte er darauf. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht wissen, wo sie ist?« »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte er. »Wir werden Ihnen jedoch helfen, wenn Sie uns helfen.« »Ich glaube, Sie lügen.« »Also, das schmerzt mich, Don«, antwortete er. »Ich versuche, meinen Leuten gegenüber ehrlich zu sein.« »Okay«, sagte ich. »Ich weiß, daß Sie über alles Aufzeichnungen anfertigen – sowohl die geheimen als auch die offen zugänglichen Sachen. Wenn das der Fall ist, lassen Sie mich nachschauen. Lassen Sie mich die Doppel-Z-Akten über laufende Geheimsachen einsehen.« »Und Sie haben gesagt, Ihre Erinnerung funktioniere nicht so gut. Aber richtig, Sie haben ja viel in Doppel-Z gearbeitet. Nehme an, das ist schwer zu vergessen. Also gut. Es schmerzt
mich, daß Sie meinem Wort nicht trauen, aber wenn Sie die Aufzeichnungen überprüfen wollen, dann können Sie das. Alles, was Sie wollen. Wir können sie uns gleich jetzt ansehen.« War da ein spöttisches Aufblitzen in Marias Augen, als sie ihr Glas hob und es leerte? Der Boß winkte seinen Muskelmännern. Sie durchquerten den Raum. Einer von ihnen öffnete eine Tür – nicht die, durch die ich hereingekommen war. Er hielt sie auf. Der andere trat hinaus. Maria nahm ihre Handtasche vom Boden auf und erhob sich. Sie und Barbeau bewegten sich auf die Tür zu. Ich folgte ihnen. Wir traten auf einen kleinen Privatparkplatz hinaus. Die Leibwächter, die uns vorausgegangen waren, bestiegen bereits eine Limousine. Für mich war es mehr als nur ein wenig verdächtig, wie schnell der Boß sich dazu bereit erklärt hatte, mich zu seinem Laden zu bringen, damit ich geheime Aufzeichnungen einsehen konnte. Die Limousine sprang an und setzte sich in Bewegung. »Das alles ist sehr entgegenkommend von Ihnen«, sagte ich, »aber ich bin eigentlich nicht bereit, sie sofort in Augenschein zu nehmen. Wenn ich es tue, möchte ich meinen Anwalt dabeihaben.« Ich hatte eigentlich in der Gegend keinen Anwalt, aber ich hatte das Gefühl, Ralph Button würde mich mit jemand Kompetentem in Verbindung bringen, wenn ich ihn anrief. »Einen Anwalt?« sagte er und wandte sich mir zu, während der Wagen umdrehte. »Kommen Sie, Don! Das geht doch nur uns was an. Ich möchte nicht, daß irgendein Rechtsverdreher herumschnüffelt, während Sie vertrauliche Sachen hervorkramen.« »Ich stehe morgen früh vor der Tür, am Haupteingang«, sagte ich. »Mit einem Rechtsbeistand. Dann möchte ich einen
Haufen Erklärungen hören – zum Beispiel, was ich getan haben soll, das dazu geführt hat, daß ich nach einer Gehirnwäsche aufs Altenteil geschickt wurde. Auch darüber möchte ich reden.« Der Wagen vor uns bremste, hielt an. Der große Mann an seiner Seite trat vor und öffnete die Türen. Ich machte einen Schritt zurück und ließ die Arme locker hängen. Ich kontrollierte meine Balance. Ich hatte so ein Gefühl, der Leibwächter werde versuchen, mich zum Besteigen des Wagens zu zwingen. Wenn er das tat… »Nun ja, wenn Sie so darüber denken«, sagte Barbeau. »Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid, daß wir die Angelegenheit nicht einfach unter uns regeln können, so wie früher.« Er drehte die eine Handfläche nach oben. »Aber wenn es sein muß, okay. Bringen Sie morgen Ihren Mann mit, und wir werden es auf Ihre Weise angehen.« Er und Maria kletterten auf den Rücksitz. »Leben Sie wohl, Donald.« Der Leibwächter schloß sie ein, setzte sich auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. Ich sah zu, wie sie abfuhren. Das genaue Gegenteil von einem Höhepunkt. Es war viel zu leicht. Es sei denn… Konnte es sein, daß ich die Situation wirklich mißverstanden hatte? Ich hatte unter Gedächtnisschwund gelitten. Angenommen, alles, was ich auf dem Weg hierher gesehen hatte, waren echte BelPatri-Halluzinationen gewesen? Konnte ich mich wirklich auf mein eigenes Urteilsvermögen verlassen? Und wenn Cora es tatsächlich leid gewesen war, sich mit mir abzugeben, und mich verlassen hatte? Vielleicht… Ich wandte mich ab. In dieser Richtung liegt… Ich kicherte. Noch mehr Wahnsinn? Los, ihr Füße, bringt mich weg. Ich sah
mich in der Umgebung um. Der einzige Ausgang für Fußgänger aus dem Parkplatz war eine nahegelegene Plattform – eine Haltestelle des automatischen Einschienensystems, mit dem die Leute auf dem Flughafengelände herumgefahren wurden. Ich ging hinüber und kletterte die Stufen hinauf. Ich sah den Knopf an dem Pfosten, und darunter gab es ein Schild mit der Gebrauchsanweisung. Dies war eine besondere Haltestelle. Kein Wagen würde hier halten, es sei denn, jemand aus der VIP-Zone rief einen herbei. Offenbar ging es darum, daß neugieriges oder herumlungerndes Volk hier nicht aussteigen konnte. Ich drückte den Knopf. Einige Sekunden später kam ein einzelner Wagen. Ein Mann saß darin. Er saß mit dem Rücken zu mir. Ich stieg ein. Einen Augenblick lang starrte ich hin. Die sitzende Gestalt kam mir irgendwie bekannt vor. Ich rückte hinüber, näher zu ihm, und sah ihm ins Gesicht. Ein grauer Mann von unbestimmbarem mittleren Alter. Er hatte sich buschige Koteletten wachsen lassen und sich ein Netzwerk geplatzter Äderchen auf seiner breiten Nase zugelegt, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte mehr Fleisch auf den Rippen, und die Tränensäcke unter seinen strahlend blauen Augen traten deutlicher hervor. »Willi Boy«, sagte ich. Nein, das Gesicht auf dem Hausboot in Florida war nicht das seine gewesen. Es war so, als hätten meine Erinnerung und meine Einbildungskraft sich irgendwie zusammengetan, um mich schon damals vor irgend etwas zu warnen. »Ja, mein Gott! Wenn das nicht Mr. Don BelPatri ist!« sagte er mit jener magischen Stimme, die so klar war und beinahe melodiös. Diese Stimme war einmal im ganzen Land berühmt gewesen. Die Worte wurden immer deutlich ausgesprochen; der Akzent änderte sich, schien zu verschiedenen Zeiten aus sämtlichen
Gegenden des Südens zu stammen. Er hatte das Wort Gottes einem Zeltpublikum verkündet, und dann einem Saalpublikum, und schließlich den Millionen, die ihn im Fernsehen sahen. Es hatte Heilungen gegeben und Ekstasen, und dann war da die Geschichte mit dem minderjährigen Mädchen in Mississippi gewesen – ihre Abtreibung, ihr versuchter Selbstmord… Willy Boys Aktien waren gefallen. Letztlich hatte es keine gerichtliche Klage gegeben, aber in den vergangenen Jahren war den Gläubigen seine Version Gottes vorenthalten worden. Aber er hatte immer noch etwas Besonderes an sich. Es betraf die Heilungen. Sie waren echt gewesen. »Matthews«, begrüßte ich ihn und ließ mich in einen Sitz ihm gegenüber fallen, mit dem Gesicht zu ihm, fasziniert von seiner Anwesenheit, mit neuen Erinnerungen, die Minute um Minute nach oben tauchten. Ich war auch fasziniert von der Veränderung, die ich bei ihm entdeckte – eine Veränderung zum Schlechteren. Er schien jetzt Bosheit auszustrahlen, zusammen mit einem schwachen Hauch Bourbon. Und irgendwie war ich froh darüber, weil das bedeutete, daß ich mich nicht geirrt hatte, daß ich nicht verrückt war und daß das, was geschah, noch nicht vorbei war. Die Einschienenbahn bewegte sich nicht. Ihre Tür stand immer noch weit offen. Aber im Moment dachte ich mir nichts dabei. »Was macht das Energiegeschäft heutzutage?« fragte ich ihn – weil er zur Gruppe gehörte, da war ich mir sicher, auch wenn mir nach wie vor unklar war, was die Gruppe war. Ich überlegte, was Matthews machte… Und dann erinnerte ich mich daran, als er nämlich anfing, es mit mir zu machen. Ich spürte eine plötzliche Atemlosigkeit und dann einen Schmerz in meiner Brust und einen, der meinen linken Arm hinunter ausstrahlte.
Es hatte einen Abend gegeben, lange her, als ich mit Willy Boy in seine Wohnung gegangen war und mit ihm den Pegel in einem Krug voll ausgesprochen süffigem Fusel gesenkt hatte. Im Widerspruch zu dem, was er in jenen Tagen machte, lag auf einem kleinen Tisch am Fenster immer noch eine aufgeschlagene Bibel herum. Neugierig war ich hingegangen, als er nicht im Zimmer war. Sie war bei Psalm 109 aufgeschlagen, der fast vollständig unterstrichen war. Später, als wir beide schon etwas härter im Wind lagen, fragte ich ihn nach seiner Zeit als Prediger. »Wieviel davon war Irreführung der Leute? Hast du wirklich geglaubt, was du gesagt hast?« Er senkte das Glas und hob die Augen. Er fixierte mich mit jenem azethylenfarbenen Blau, das so gut über den Bildschirm gekommen war. »Ich habe geglaubt«, sagte er schlicht. »So wahr mir Gott helfe. Als ich anfing, war ich erfüllt vom Feuer des Herrn. Ich wollte ihre Seelen für ihn. Ich glaubte. Ich schrie und verkündete ihnen die Schrift und schwenkte das Buch der Bücher. Ich war so gut wie Billy Graham, Rex Humbard – wie alle von denen! Sogar besser! Wenn ich um Heilung betete und zusah, wie sie ihre Krücken wegwarfen und wandelten oder wieder sehen konnten oder keine Schmerzen mehr hatten, dann wußte ich, daß die Gnade des Herrn auf mir ruhte, und ich glaubte, und es war alles echt.« Sein Blick schweifte von mir ab. »Dann wurde ich eines Tages wütend auf einen Reporter«, fuhr er langsam fort. »Ich sagte ihm immer wieder, er solle zurücktreten, er stand mir im Weg. Er war nicht bereit dazu. ›Dann sei verflucht!‹ dachte ich. ›Tot umfallen sollst du, elender Bastard!‹« Wieder hielt er inne. »Und das tat er dann«, sagte er schließlich. »Fiel einfach um und lag da. Der Arzt sagte, es sei ein Herzanfall. Aber er war jung und sah gesund aus, und ich wußte, was ich in meinem Herzen gesagt hatte.
Und dann dachte ich darüber nach. Dachte viel darüber nach. Der Herr würde sich doch darauf nicht einlassen, wenn einer, der ihm dient, so etwas abzieht, oder? Die Heilerei, ja – wenn es dazu diente, ein paar von ihnen zu erlösen. Aber sie umzubringen? Ich fing an zu glauben, daß die Kraft vielleicht gar nicht vom Herrn kam. Vielleicht war es einfach etwas, das ich von alleine fertigbrachte, so oder so. Vielleicht war es ihm ohnehin egal, ob ich predigte oder nicht. Es war nicht der Heilige Geist, der heilend durch mich hindurchfloß. Es war einfach etwas in mir, das sie kurieren konnte – oder umbringen. Damals fing ich an, wahllos zu trinken und rumzuhuren und all das. Da begann die Irreführung der Öffentlichkeit und die Staffage und Fernsehkameras und absichtlich ins Publikum gesetzte Leute, die falsches Zeugnis ablegten… ich glaubte nicht mehr. Es gibt nur uns und Tiere und Pflanzen und Steine. Sonst gibt’s nichts. Das Beste, was ein Mann tun kann, ist, in aller Eile nach den guten Dingen zu greifen, weil die Zeit so schnell vergeht. Es gibt keinen Gott. Oder wenn es ihn gibt, kann er mich nicht mehr leiden.« Dann nahm er einen tiefen Schluck, füllte sein Glas wieder auf und wechselte das Thema. Das war ein Teil des längsten Gespräches, das ich je mit Willy Boy über etwas anderes als berufliche Dinge geführt habe. … Und sein Beruf war es, Leute umzubringen. Herzanfall, Gehirnblutung – es sah immer nach natürlichen Ursachen aus. Er hatte die Macht dazu. Er war das Gegenteil von einem Glaubensheiler und ohne Glauben. Ich glaube, er haßte sich selbst, und er ließ es an anderen Leuten aus, für Geld, für Angra. Und jetzt war er dabei, mein Herz zu zerquetschen, und in wenigen Sekunden würde ich tot sein. Ich versuchte aufzustehen. Ich fiel zurück in den Sitz. Er erledigte mich nicht so schnell, wie er gekonnt hätte. Das war
etwas Neues – offenkundiger Sadismus. Er wollte dabei zusehen, wie ich kämpfte und langsam starb. Ich rollte aus meinem Sitz auf den Fußboden. Das Bewußtsein des computerisierten Lenksystems des Zuges wirkte auf meinen Verstand wie eine Alarmglocke. Ohne zu wissen, wie, versuchte ich, den Wagen in Bewegung zu setzen, damit er mich dorthin brachte, wo ich Hilfe erwarten konnte. Ich erreichte die Tür, die sich vor ein paar Augenblicken geschlossen hatte, und ich brachte sie nicht wieder auf. Ich drückte und zog mit der rechten Hand daran, da mein linker Arm sich inzwischen so anfühlte, als habe er Feuer gefangen. Durch das Glas bemerkte ich draußen eine undeutliche Gestalt – einen großen Mann –, einen dritten Leibwächter möglicherweise. Er stand einfach da und sah zu, wie ich kämpfte. Matthews backenbärtiges Gesicht beugte sich über mich, als er sich in seinem Sitz nach vorne lehnte, seine langen, gelb gewordenen Zähne zeigte und mich mit einer Wolke von Alkoholdunst umhüllte. Ich versuchte, mit all meiner Kraft rüber zu langen. Etwas – Der Wagen ruckte plötzlich unter mir, hin und her, hin und her, ein schnelles, wildes Schütteln. Willy Boy wurde von seinem Sitz geworfen. Der Druck auf meiner Brust ließ nach. Jäh öffnete sich die Tür. Halb kroch, halb rollte ich aus dem Wagen auf den Bahnsteig und fing an, wegzukriechen. Der einzige Schutz vor Matthews Angriffen, erinnerte ich mich, bestand in der Entfernung. Wenn ich mich mehr als einen Steinwurf weit von Willy Boy entfernen konnte, konnte er mich nicht töten, nicht mit seinem Gehirn allein. Ich zog mich praktisch selbst auf die Füße. Ich schwankte, fing mich und tat einen Schritt, blieb wieder stehen, als eine
Welle von Benommenheit über mich kam und wieder verging. Der Mann, der auf dem Bahnsteig gewartet hatte, hatte immer noch einen Ausdruck der Verblüffung auf dem Gesicht. Der gute, alte Willy Boy stand nicht in dem Ruf, daß er einen davonkommen ließ. Hinter mir konnte ich immer noch den Wagen hin und her rucken hören, als der Mann sich von seiner Überraschung erholte und auf mich zukam. Er holte zu einem Tritt aus, und mein Körper reagierte noch vor meinem Kopf. Hier besaß ich Fähigkeiten, an die ich mich nicht erinnert hatte. Mein Arm bewegte sich mit geballter Faust in einer ausholenden Abwehrbewegung, die sein Bein erwischte und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Er stürzte hintüber, überschlug sich zur Seite und rollte über die Kante der Plattform. Er fiel auf die Geleise, wo eine einzelne große Schiene aus einem schmalen Bahnkörper herausragte. Ich drehte mich um und sah, wie Matthews in dem schlingernden Wagen der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Der Fusel und das Alter hatten seine Reflexe verlangsamt. Als er sich bemühte, wieder aufzustehen, wurde er noch einmal umgeworfen. Dieses Mal jedoch näher an den Türen. Jetzt versuchte er es mit Kriechen. Fast hätte er sie erreicht. Er war halb hindurch… Mit einem bösartigen Krachen schlugen die Türen zu. Ihre Kanten waren gepolstert, aber sie waren hart zugegangen und sie blieben zu – er war festgeklemmt. Augenblicklich hörte der Wagen auf zu rütteln. Er beschleunigte schnell, und ich hörte ein Kreischen von unten, wo der andere Mann hingefallen war. Ich sah nicht hinunter. Es war etwas sehr Endgültiges gewesen – das unverwechselbar knirschende Geräusch vom Aufprall des Wagens auf einen Körper, das plötzliche Abbrechen des Schreis, ein gewisser Geruch…
Und entfernt, immer weiter entfernt, zu meiner Linken, als ich mich jetzt umdrehte, konnte ich nach wie vor Matthews Kopf sehen, wie er zwischen den Türen des entschwindenden Wagens steckte, das Gesicht dunkel und verzerrt, wie sich sein Mund bewegte, ohne daß Worte hervorkamen. Ein Moment der Übelkeit kam und ging. Ich sah mich um. Die Trasse der Einspurbahn schien der naheliegendste Fluchtweg zu sein. Ich sprang hinunter, weit entfernt von dem Ding, das bewegungslos neben der Schiene lag, und ohne hinzusehen. Dann drehte ich mich um und begann, in die den Wagen entgegengesetzte Richtung zu laufen. Etwas hatte mir geholfen, das wußte ich. Was oder wie, darüber nachzudenken hatte ich jedoch keine Zeit. Ich wollte in der kürzestmöglichen Zeit die größtmögliche Entfernung zwischen mich und diesen Bahnsteig bringen. Ich rannte, mein Atem füllte mühsam meine Lungen, mein Herz hämmerte. So ging es weiter, vielleicht mehrere Minuten lang. Ich weiß es nicht. Dann spürte ich, wie der Boden unter meinen Füßen vibrierte. Mein erster Gedanke war, daß ein großes Flugzeug irgendwo in der Nähe startete oder landete, von den umstehenden Gebäuden verdeckt. Aber das Vibrieren verstärkte sich und ein Begleitgeräusch in der Luft, das unverwechselbar war, kam hinzu. Ein weiterer Einspur-Wagen kam auf mich zugerast. Einen Moment später kam er in Sicht, als er vor mir eine Kurve umrundete. Ich konnte sehen, wie die Passagiere Notschalter oder -hebel bedienten, auf die das Gefährt anscheinend nicht reagierte. Keiner von ihnen blickte bisher in meine Richtung. Ich war kurz davor, von der Trasse zu springen, um mich in Sicherheit zu bringen, als der Wagen plötzlich zu bremsen begann. Es gab weit und breit keine Haltestelle, aber er hielt an, und die Tür öffnete sich. Ich rannte los und kletterte hinein.
Die Türen schnappten hinter mir zu, und der Wagen setzte sich ruckartig wieder in Bewegung. Zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Ich griff nach einer der Halteschlaufen und stand keuchend da. Alle im Wagen drehten sich um, um mich anzustarren. Ich verspürte ein irres benommenes Bedürfnis, zu lachen. »Nur eine Testfahrt«, murmelte ich. »In Vorbereitung des Papstbesuches.« Sie starrten mich weiter an, aber bald kam ein Bahnsteig in Sicht, gedrängt voll mit Menschen. Der Wagen hielt ordnungsgemäß dort an, und die Türen öffneten sich. Ich trat hinaus und mischte mich unter die anderen, fuhr mir mit der Hand durchs Haar, ordnete meine Kleidung, klopfte den Staub ab, bevor ich mich dem Zittern überließ. In diesem Moment hatte ich ein starkes Bedürfnis, mich auf die nächstgelegene Bank zu werfen. Aber es war gerade eine Todesfalle ausgelöst worden, Räder hatten ineinandergegriffen, Pleuel gestampft, ein empfindliches Gleichgewicht hatte sich verlagert, alles, um mich zu zerquetschen; und jemand oder etwas hatte sich eingeschaltet, ein Getriebe neu eingestellt, ein Gewicht austariert, den letzten Hebel zu meinen Gunsten herumgeworfen, und damit alle meine Qualen beendet. Es wäre unhöflich gewesen, all das jetzt zu verderben, indem ich zusammenbrach. Ich machte weiter.
Sieben
Ich stieg in das erste einer Reihe von Taxis, die vor dem Flughafen warteten, und sagte der Fahrerin, sie solle mich in die Stadt bringen. Ich erwartete beinahe jeden Moment, die Sirenen zu hören, und einen großen Teil des Weges saß ich steif da, starrte aus dem Fenster auf andere Autos, Bäume, Gebäude, Schilder am Straßenrand. Die Sonne arbeitete sich nach Westen vor, aber es war immer noch hell. Ich mußte aus der Stadt hinaus, mußte eine beträchtliche Entfernung zwischen mich und diesen Teil des Landes legen, und zwar schnell, mußte einen Ort finden zum Verkriechen, um die Angelegenheit zu durchdenken; jede Minute konnte etwas passieren. Ich mußte meinen Verstand beisammen halten. Ich war sicher, diese Taxifahrt würde schließlich zurückverfolgt werden, deshalb fuhr ich stadteinwärts. Ich hoffte, damit meine Spur zu verwischen. Ich ließ mich von ihr an einer betriebsamen Straßenecke der Innenstadt absetzen. Ich ging zu Fuß, bis ich zu einer Bushaltestelle kam. Ich blieb dort stehen und beobachtete Menschen und Tauben. Ich stieg in den ersten Bus, der vorbeikam und fuhr damit eine ganze Zeitlang ungefähr, in nordwestlicher Richtung. Als er nach Süden abbog, stieg ich an der nächsten Haltestelle aus und ging zu Fuß weiter in Richtung Nordwesten. Ich fuhr mit zwei weiteren Bussen und marschierte lange, ehe ich einen Vorort erreichte. Dann versuchte ich, vorbeifahrenden Autofahrern meinen Daumen hinzustrecken. Ich hatte das Gefühl, das schon einmal getan zu haben, vor Jahren, damals, als ich in der Schule war. Ja, ich wollte zu den
Semesterferien nach Hause, in einem ersten Studienjahr, und ich wollte kein Geld ausgeben. Ich erinnerte mich, daß es ganz schön kalt und windig geworden war zwischen den Fahrten. Lächle ein wenig. Das scheint manchmal zu helfen… …Eine Anzahl allgemeiner Pflichtseminare und die Anforderungen für das Hauptfach Computerwissenschaft. Ich war recht gut gewesen. Anfangs war ich ein bißchen einsam gewesen, aber jetzt hatte ich ein paar Freunde – wie Sammy, der mich »Murmler« zu nennen pflegte – und ich war begierig, nach Hause zu kommen und über alles zu reden. Murmel? Seit Jahren hatte ich nicht an diesen Spitznamen gedacht. Sammy war in meiner Compwiss-Abteilung, ein kleiner, dunkeläugiger Kerl mit einem merkwürdigen Humor. Ich hatte die Angewohnheit zu murmeln, wenn ich mit Computern arbeitete. In Wirklichkeit redete ich mit ihnen – gab ihnen Namen und alles. Er wußte nie etwas davon. Er hörte mich nur bei der Gelegenheit und fing an, mich Murmel zu nennen. Mit der Zeit wurden wir ziemlich gute Freunde. Ich überlegte, wo er jetzt wohl war? Wäre nett, ihn eines Tages anzurufen und festzustellen, ob er sich an mich erinnert… Tatsächlich hatte ich nicht erst auf der Universität angefangen, mit den Maschinen zu reden. Das ging zurück bis zum Geschäft meiner Eltern, als ich noch viel jünger war. Ich hatte die Angewohnheit, mit den Computern zu spielen. Damals habe ich angefangen, mit ihnen zu sprechen, nehme ich an. Abgesehen von jener einen Erfahrung, als ich ungefähr sieben war, hatte ich jedoch nicht viele an mich gerichtete Antworten bekommen. Aber ich hatte immer das Gefühl, wenn ich es nur ernsthaft genug versuchte… Ein Wagen drosselte die Geschwindigkeit. Ein älterer Mann mit Anzug und Krawatte hielt an. »Wie weit haben Sie es?« fragte er. »Bis Pittsburgh«, sagte ich.
»Also, ich fahre nur heim nach Norristown«, sagte er, »aber ich kann Sie an der Autobahn absetzen, wenn Sie wollen.« »Wunderbar.« Ich stieg ein. Er schien nicht auf ein Gespräch aus zu sein, also lehnte ich mich zurück und versuchte, meine Erinnerungen weiterzuverfolgen. Aber sie waren unterbrochen worden, und nichts Neues schien an die Oberfläche steigen zu wollen. Auch gut. Ich fühlte mich nicht mehr so gehetzt wie in dem Taxi. Vielleicht konnte ich jetzt etwas klarer über meine gegenwärtige Situation nachdenken. Dann würde ich vielleicht in der Lage sein, von mir aus etwas zu unternehmen, statt nur zu rennen und zu reagieren. Barbeau war ohne jeden Zweifel jetzt darauf aus, mich umzubringen. Kein Zweifel möglich. Und Matthews arbeitete immer noch für ihn, genau wie der Rest der Gruppe… Die Gruppe… Das war irgendwie der Schlüssel. Einmal hatte ich dazugehört, so ungern ich jetzt daran dachte. Auch Willy Boy hatte dazugehört, und Maria Meistrand. Cora? Nein, sie hatte nie etwas damit zu tun. Ich war ihr wirklich zum erstenmal während ihrer Ferien in Florida begegnet. Und Ann Strong? Auf jeden Fall. Wir waren vier gewesen. Ja. Vier, die etwas gemeinsam hatten… Wir hatten alle ungewöhnliche geistige Kräfte. Ich redete mit Maschinen, ich verfügte über eine Art Telepathie von Mensch zu Maschine. Ich konnte ihre Programme von ferne lesen. Maria? Marias Fähigkeit war eine Macht, die sie auf Gegenstände ausübte. PK nannten sie es. Obwohl sie einen Computer zerstören konnte, war sie unfähig, ihn so wie ich zu begreifen. Ann? Ann war Telepathin von Mensch zu Mensch. Auch sie konnte keine Computer begreifen, aber sie konnte Information sowohl empfangen als auch senden, von und zu anderen Leuten – bis hin zu und einschließlich echt wirkender
visueller Eindrücke. Und Willy Boy…? Eine Art PK, nehme ich an, aber nicht ganz. Er verfügte über eine subtile Methode physiologischer Manipulation, die ausschließlich mit Materie und Energie in lebendigen Organismen arbeitete. Wie gut waren sie? Wo lagen ihre Grenzen? Eine andere Erinnerung setzte ein… Maria war sehr stolz darauf, wie sie kochte, und sie war gut. Ich erinnerte mich, daß sie uns alle mehrfach zum Essen eingeladen hatte. Statt sich mit gefütterten Handschuhen oder Topflappen abzugeben, hatte sie einmal, als sie am Tisch saß, eine riesige Terrine dampfender Suppe draußen in der Küche hochgehoben und sie dazu gebracht, wie von Geisterhand in das Eßzimmer zu schweben und sich mit einer perfekten Landung vor uns niederzulassen. Ich hatte gesehen, wie sie einen Drink verschüttete und die Tröpfchen mitten in der Luft anhalten ließ und es dann schaffte, daß alle in das Glas zurückschwebten, ohne daß irgend etwas in der näheren Umgebung naß wurde. Das maximale Gewicht, das sie beeinflussen konnte…? Einmal hatte sie wegen einer Wette Ann mehrere Fuß vom Boden gehoben und sie dort eine halbe Minute lang gehalten, aber sie keuchte und schwitzte, noch ehe die Zeit um war, und sie setzte sie einigermaßen hart ab… Der alte Willy Boy… Je näher man ihm kam, desto schneller konnte er auf einen Einfluß nehmen. Plötzlicher Tod in drei Metern Abstand, ein wenig langsamer bei sechs – neun bis zwölf Meter kosteten ihn wesentlich mehr Mühe, verlangsamten ihn beträchtlich. Ich würde sagen, fünfzehn Meter waren seine höchste Reichweite, aber auf diese Entfernung dauerte es eine Viertelstunde, bis er Ergebnisse erzielte – merkwürdigerweise der ungefähre Durchmesser der größeren Zelte, in denen er zu arbeiten pflegte. Wenn ich so darüber nachdachte, dann wurde mir klar, daß ich wohl einer der wenigen Leute sein mußte, die sowohl seine heilende als
auch seine zerstörende Berührung gespürt hatten. Ich erinnerte mich an den Morgen nach jenem Trinkgelage in seiner Wohnung. Ich war auf dem Sofa hinübergedämmert und wachte auf, als ich hörte, wie er fluchend herumlief. Mir platzte der Kopf. Ich stand auf und ging in sein Badezimmer. Er war dort und schluckte Aspirintabletten. Er grinste mich an. »Du siehst gar nicht gut aus, Junge«, sagte er. Ich sagte, er solle mir ein paar übriglassen. »Wozu?« antwortete er und griff nach mir und zog mich an den Haaren. »Heile! Heile, du Sünder!« Ich hatte einen plötzlichen Ansturm des Blutes in meinem Kopf gespürt, meine Schläfen hatten einen Augenblick lang geklopft, und dann war der Schmerz völlig weg. Es ging mir gut. »Ich bin okay«, sagte ich, überrascht über meine unverdiente Genesung. »Gelobet sei der Herr!« erwiderte er und nahm ein letztes Aspirin. »Warum tust du es nicht für dich?« sagte ich da. Er hatte den Kopf geschüttelt. »Bei mir funktioniert es nicht. Mein kleines Kreuz in diesem Jammertal.« Und das war alles, was ich über Willy Boys Fähigkeit wußte. Ann… Ihre Fähigkeit schien sich mit wachsender Entfernung nicht zu verringern. Sie hätte in einem Motelzimmer drunten in den Keys sitzen und mich veranlassen können, jene Schlange zu sehen, als wir in Philadelphia landeten. Ihre Schwächen lagen auf einer anderen Ebene, und ich konnte mich nicht an sie erinnern. Sie hatte jedoch einen Blumentick. Irgendwie beruhigte es sie, deren primitive Lebensausstrahlung wahrzunehmen. Sie wandte sich ihnen zu, wann immer sie Sorgen hatte. Sie waren so vorherrschend in ihrem geistigen Leben, daß sie oft ihre Übermittlungen färbten – oder parfümierten. Und es schien, als könne sie einen auch dazu bringen, etwas nicht zu sehen, was in Wirklichkeit da war. Wir vier also – ein Team, Werkzeuge für Barbeau. Wir waren die Ursache, warum Angra vor einigen Jahren die gesamte
Konkurrenz überrundet hatte. Ich konnte Daten aus jedermanns Computer stehlen. Und wenn sie dort nicht waren, konnte Ann sie aus den Köpfen pflücken, in denen sie sich befanden. Maria konnte Versuchsreihen zunichte machen, Unfälle verursachen, jedes Forschungsprojekt zurückwerfen. Und wenn ein bestimmtes Individuum wirklich Schwierigkeiten machte, könnte es sein, daß ein gewisser Herr aus dem Süden auf der Straße an ihm vorbeiging, sich im Theater in seine Nähe setzte, im gleichen Restaurant aß… Aber konnte ich sicher sein über das Ausmaß der Fähigkeiten, die die anderen heute besaßen? Dort in dem Flughafenraum hatte Maria eine Bemerkung darüber gemacht, sie werde besser bei dem, was sie tue. Hatten die Kräfte aller sich weiterentwickelt, sich mit der Zeit verbessert? Eine Unwägbarkeit. Unmöglich für mich zu erfassen. Am besten, ich ging davon aus, daß es so war. Matthews mußte ich vielleicht noch ein paar Meter zugestehen, Anns Halluzinationen verstärken, annehmen, daß Maria ein bißchen mehr heben, ein bißchen länger halten konnte. Ich habe ihre Reichweite nie gekannt. Größer als die von Willy Boy, kein Vergleich zu der von Anne. Das war alles. Was war mit Barbeau selbst? Hatte er eine besondere Kraft jenseits von schlichter Rücksichtslosigkeit und einem scharfen Verstand? Ich wußte es nicht. Wenn ja, dann hielt er damit wohlweislich hinterm Berg, oder mir fehlte die Erinnerung daran. Und wo war Cora? Was hatten sie mit ihr gemacht? Ich bezweifelte, daß sie ihr wehgetan hatten. Tot wäre sie für sie als Druckmittel gegen mich wertlos gewesen. Ich war Barbeau nicht allzu gefügig erschienen. Vielleicht hatte es ein Signal von Anne gegeben mit dem Ergebnis, daß sie mich abgetastet hatte und daß ich jetzt für ihn wertlos war. Also hatte er sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Handel anzubieten:
Cora, damit ich zurückkam. Andererseits hatte er gewußt, daß ich kam. Er würde mich wieder einstellen, wenn ich dazu bereit wäre und er hatte vor, sich meiner zu entledigen, wenn nicht. Und nur für den Fall, nur für den Fall, daß ich entkommen sollte, wollte er Cora als Sicherheit. Das schien irgendwie einen Sinn zu ergeben. Ich war sicher, daß er sie lebend gefangen hielt, an einem außerordentlich sicheren Ort. Der Wagen wurde langsamer. Ich spähte nach vorne. Es wurde nun allmählich Abend und die Sicht ein wenig schlechter… Stau. Ein Unfall vielleicht. Ich sah geparkte Polizeiwagen. Nein. Es war eine Straßensperre, in der Nähe von einem Streifen Parklandschaft, der den Hügel zwischen dieser und einer weiteren Schnellstraße bedeckte. Mein Magen zog sich zusammen. Sie hielten jeden an, ließen sie langsam durch, einen nach dem anderen. Stellten offenbar die Personalien fest. Trotz andauernder Proteste von Bürgerrechtlern hatte heutzutage jedermann eine Identitätskarte. Sie waren in den späten achtziger Jahren eingeführt worden und enthielten eine Kennziffer für alles – Wehrerfassung, Sozialversicherung, Führerschein, Wahlberechtigung und was sonst. Ich konnte jetzt sehen, daß die Polizisten dort vorne nur diese Karten ansahen und die Ziffern in eine kleine tragbare Einheit eingaben. Ich hatte gewußt, daß man nach mir fahnden würde. Aber ich hatte nichts derart Schnelles, Wirkungsvolles erwartet. Dennoch war es interessant, daß sie eine Kennziffer suchten und kein Gesicht. Möglicherweise hatte Barbeau nicht gewollt, daß alle Welt wußte, welchen Mann er so dringend suchte. Vielleicht war der Polizeicomputer nur darauf eingestellt, meine Kennziffer zu identifizieren. Möglicherweise war er mit meiner und einer Liste gefälschter Zahlen ausgestattet worden,
damit sie sich meiner wahren Identität nicht ohne weiteres vergewissern konnten. Ja, so würde Barbeau es anstellen. Ich dachte nach, während wir uns weiter der Sperre näherten – sollte ich der Polizei einfach meine Geschichte erzählen, nun, da Polizei verfügbar war? Die zynische Seite meines Bewußtseins, die sich mit dem Wiederkommen Zeit gelassen hatte, lachte höhnisch über den Gedanken. Bestenfalls würden sie mich für verwirrt halten, für verstört… Schlimmstenfalls – ich wußte nicht, wie viele Körnchen Wahrheit in Barbeaus Version von der Vergangenheit gewesen waren – unangenehm viele, meiner eigenen wiederkehrenden Erinnerung zufolge. Hatte ich mich wirklich eines Verbrechens oder mehrerer von solcher Schwere schuldig gemacht, daß meine Versetzung in den Ruhestand mit einer neuen Identität erforderlich geworden war? Irgendwie zweifelte ich nicht daran, daß der Boß bessere Möglichkeiten hatte, seine Anklage gegen mich durchzusetzen, als ich gegen ihn. Mein Fahrer, der immer wieder den Kopf schüttelte, war schließlich an der Reihe, an der Straßensperre anzuhalten. »Zeigen Sie bitte Ihre Identitätskarte. Auch die von Ihrem Beifahrer«, sagte der Polizist, der am nächsten stand. Er holte seine aus einer Innentasche, während ich nach meiner angelte. »Was ist los, Wachtmeister?« fragte er. Der Beamte schüttelte den Kopf. »Wir suchen einen Mann«, sagte er. »Gefährlich?« Der Polizist sah ihn an und warf einen Blick auf den anderen Wagen, über dessen Motorhaube sich ein Beamter mit einem Gewehr lehnte, und er lächelte. Der Fahrer reichte ihm meine ID-Karte. Fast ohne nachzudenken spulte ich mich in die kleine Einheit hinein, die
er wie ein Akkordeon umgeschnallt trug, und stimmte mich – musikalisch ziemlich umpassend – ein. Es war eine der älteren Einheiten. Bei den neueren konnte man die Karten in einen Schlitz stecken, und sie wurden direkt abgelesen. Er tippte meine Nummer, aber das ausgehende Signal war um eine Nuance anders. In der Version, die gesendet wurde, war ein Zahlenpaar vertauscht worden. Ein grünes Licht leuchtete auf der Oberfläche des Kastens auf. Er gab die Karten zurück. »Fahren Sie weiter«, sagte er und wandte sich dem nächsten Auto zu. Wir fuhren los. Der Fahrer seufzte. Er hatte jetzt die Scheinwerfer angeschaltet, genau wie die anderen Fahrzeuge. Es kam mir vor wie wenige Momente später, als ich hinter uns einen Schrei hörte, gefolgt vom Krachen des Gewehrs. Ein hagelähnliches Geräusch erklang ringsum. »Was ist denn jetzt los?« sagte der Fahrer und stieg aufs Gaspedal statt auf die Bremse. Aber ich hatte schon angefangen, Verdacht zu schöpfen. Jemand mußte irgendwo im Hauptquartier einen Computerausdruck oder einen Bildschirm beobachtet haben. Die Maschine hatte grünes Licht gegeben, aber einem menschlichen Beobachter war ein Paar vertauschter Zahlen immer noch dem sehr naheliegend vorgekommen, was sie suchten. Die Möglichkeit eines Eingabefehlers mußte ihm eingefallen sein, und er hatte die Anweisung hinausgefunkt, uns noch einmal anzuhalten. Die Tatsache, daß sie derart schießwütig waren, ließ mich überlegen, was man ihnen wohl erzählt hatte und wie ihre Anweisungen gelautet haben mochten. Ich wollte nicht dableiben, um sie selber zu fragen. Also… »Anhalten!« schrie ich. »Die schießen wieder!« Schließlich trat er auf die Bremse, und wir wurden langsamer. Ich warf einen Blick nach hinten.
Keine Zeit, auf ihn zu warten, bis er völlig zum Stehen kam. Ich brauchte jedes Stückchen des Vorsprungs, den wir hatten. Ich öffnete die Tür und sprang hinaus. Ich fiel auf den grasbewachsenen Mittelstreifen, verlor das Gleichgewicht und rollte mich ab. Ich sah mich nicht um, als ich wieder auf die Füße kam. Ich rannte auf den Wald zu, schlug einen Haken nach links und dann nach rechts, sobald ich drinnen war. Von weit hinten hörte ich Schüsse. Sie klangen nach Pistolen. Das Gelände wurde übergangslos steil, und ich stolperte hinauf. Von oben kamen Verkehrsgeräusche. Ich wußte nicht, was für eine Straße das war, aber das machte nichts. Ich lief jetzt darauf zu. Es war dunkel, zwischen mir und der Polizei lagen eine Menge Bäume, und die Rufe hatten aufgehört. Wenn ich nur hier heraus und über die Schnellstraße käme… Es war beinahe zuviel, zu hoffen, ich könnte einen Wagen anhalten. Mir war undeutlich bewußt, daß ich an der Hand und im Gesicht blutete, und ich war sicher, daß meine Hosen zerrissen waren… … Man mußte ihnen gesagt haben, daß ich bewaffnet war und gefährlich, vielleicht sogar ein Polizistenmörder, um sie so schießwütig zu machen. Ich erwartete immer noch, sie jeden Moment wieder hinter mir zu hören… Teile der Dunkelheit vor mir bewegten sich, vereinigten sich. Plötzlich schossen sie empor, überragten mich, schwankten, wurden erleuchtet wie von starkem Mondlicht. Es war ein Bär! Ein riesiger Grizzly – ich hatte solche im Zoo gesehen – hatte sich auf die Hinterbeine erhoben und sah mich an! Er – Ach nein. Nicht schon wieder, Ann. Nicht hier. Nicht so. Nicht mit einem Grizzlybär am Stadtrand von Philadelphia. Du hättest es mit einem Polizisten mit einem Gewehr versuchen sollen, wenn du gewollt hättest, daß ich stehenbleibe. Ich hätte mir in die Hose gemacht und deine Blumen nicht gerochen. Vielleicht klappt’s nächstes Mal.
Ich ging direkt darauf zu. Ich biß mir auf die Lippen und schloß die Augen, als ich hindurchging, aber ich ging hindurch. Als ich sie wieder öffnete, sah ich hinter einer letzten Baumreihe Autoscheinwerfer aufblinken. Es war nicht nur ein bißchen Verkehr. Er war stark, ein regelrechter Fluß. Es gab keine Möglichkeit hinüberzugelangen, ohne angefahren zu werden. Aber ich glaubte, jetzt unten im Wald Stimmen zu hören. Ich hatte keine große Wahl. Ich brach aus dem bewaldeten Streifen hervor an den Rand des Highways, winkte allem zu, was sich auf der nächstgelegenen Fahrspur bewegte, und überlegte, was ich wohl für einen Eindruck machte – blutig, schmutzig und abgerissen –, dort im Licht ihrer Scheinwerfer. … Lächle ein wenig. Das scheint manchmal zu helfen… Ich blieb stehen und winkte einfach weiter. Deutlich konnte ich jetzt die Laute meiner Verfolger hören, wie sie sich durch den Wald vorarbeiteten und sich gegenseitig zuriefen… Ein Lastwagen hielt mit quietschenden Bremsen vor mir. Ich konnte es kaum glauben, aber ich hatte nicht vor, das Urteilsvermögen des Fahrers anzuzweifeln. Hinter ihm kam eine ganze Fahrspur voller Fahrzeuge zum Halten. Ich rannte los, zog die Tür auf und sprang hinein. Ich knallte sie hinter mir zu und brach auf dem Beifahrersitz zusammen. Sofort heulte der Motor auf, und wir kamen in Bewegung. Ich kam’ mir vor wie der Graf von Monte Christo, Willie Sutton und der Mann, der in Monte Carlo die Bank gesprengt hat – vom Glück begünstigt und frei. Jedenfalls für den Moment. Wenigstens würde ich eine Zeitlang nicht erschossen werden, und ich war unterwegs, fort. »Danke«, sagte ich. »Vielleicht sieht es komisch aus, aber ich werde alles erklären, sobald ich wieder zu Atem gekommen bin. Sie sind ein echter Lebensretter.«
Ich atmete ein paarmal tief ein und wartete. Der Motor hatte sich auf ein beständiges, sanftes Schnurren eingepegelt. Wir kamen recht gut voran, und die Landschaft flitzte als langgezogener, gebogener Schleier vorbei. Ich wandte den Kopf. Der Fahrersitz war leer wie das Herz eines Pfandleihers. Ich holte tief Luft. Es gab nicht den leisesten Hauch von Stiefmütterchen, Narzissen, Lilien oder den Sexualorganen irgendeiner anderen Pflanze, nur den leicht abgestandenen, staubigen Geruch eines lange Zeit geschlossenen Raumes. Ich atmete aus. »Danke«, wiederholte ich, für alle Fälle.
Acht
Dahineilen durch die dunkle Röhre der Nacht. Stadt und Land verschmelzen ineinander. Die Lichter sind helle Glasperlen, das Motorengeräusch beruhigend in seiner Gleichförmigkeit. Ich war in Halbschlaf versunken, unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse des Tages… Ich bewegte mich mit etwa hundertfünfzig Stundenkilometern vorwärts, in einem der sichersten Fahrzeuge auf der Straße. Der Lastwagen wurde angetrieben von großen, teuren Batterien, die wegen der derzeit niedrigen Preise für elektrische Energie immer noch rentabel waren. Eine konkurrierende Serie von Fahrzeugen wurde mit Wasserstoff angetrieben, der sauber und nicht umweltbelastend und jetzt wieder in unbegrenzten Mengen erhältlich war, wegen des billigen Stroms, der aus Solarenergie erzeugt wurde. Beide waren weitgehend das Ergebnis von Fortschritten, die Patenten der Angra Energy zu verdanken waren, deren riesige neue Kraftwerke entlang dem Sonnengürtel Strom produzierten. Ich erinnerte mich lebhaft, wie der Kerngedanke einiger dieser Patente zustande gekommen war. Ich hatte mich der Industriespionage schuldig gemacht, obwohl ich nicht wußte, ob irgendeine Verordnung die besonderen Methoden erwähnte, derer ich mich bediente. Moralisch jedoch… Nun ja… Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für Seelenerforschung, auch wenn ich darüber nachdachte, warum ich mir jetzt darüber Sorgen machte, und damals nicht. Oder hatte ich es getan? Oder hatte ich mich geändert? Oder beides? Da gab es irgendwo eine Erinnerung, die ich nicht gänzlich fassen konnte.
Der Lastwagen, mit dem ich fuhr, war vollständig automatisiert und fuhr nur auf besonders dafür ausgestatteten Schnellstraßen, obwohl immer mehr Straßen mit den dafür notwendigen Geräten ausgerüstet wurden. Normalerweise fuhren sie auf einer besonderen Fahrspur. Sie war deutlich markiert, damit menschliche Fahrer sie meiden konnten, wenn sie wollten. Allerdings hatten die automatischen Laster sich als sicherer erwiesen als die traditionellen, und sehr wenige Leute weigerten sich, mit ihnen gemeinsam die Straße zu benutzen. All das bedeutete, daß ich mich im Moment in Sicherheit befand. Aber es gab wirklich eine Reihe von Dingen, mit denen ich mich beschäftigen mußte. Nur, ich fühlte mich so wohl, hier auf dem rechten Sitz ausgestreckt, der sich in eine Liege verwandeln ließ, den Kopf ein wenig hochgelagert, damit ich sowohl die Lichter am Himmel als auch die am Wegrand sehen konnte. Der Wind pfiff an uns vorbei, drunten summten die Motoren. Ganz am Rande war ich mir des ständigen Austauschs von Daten bewußt, und auch das war gut. In jeder Minute entfernte ich mich weiter und weiter vom Schauplatz meiner Schwierigkeiten. Es gab die Liege, ebenso wie einige sanitäre Installationen, aus dem gleichen Grund, warum der Lastwagen mit einem kompletten Satz manueller Kontrollgeräte und mit zwei Sitzen ausgestattet war. Die Transportarbeitergewerkschaft hatte riesige Aktienpakete erhalten von Firmen, die von diesem gesteigerten Trend zur Automatisierung profitierten. Sie erhob keine ernsthaften Einwände mehr gegen den allmählichen Abbau der Zahl der Arbeitsplätze für Fahrer, aber die Frage, ob ein lebendiger Fahrer an Bord gebraucht wurde, war noch nicht ganz vom Tisch. Also wurden die Lastwagen immer noch so ausgerüstet, und die laufenden Verhandlungen ließen immer noch die Möglichkeit einer Art Notbesatzung offen. Wofür ich im Moment dankbar war. Und das, weil ich nicht nur die
Toilette, sondern auch ein paar gefriergetrocknete Lebensmittel gefunden hatte, die der letzte menschliche Fahrer oder Passagier offenbar zurückgelassen hatte. Ich hatte genug gegessen, um meinem Hunger die Spitze zu nehmen, bevor ich den Sitz umgeklappt und mich in einem Anfall von Erschöpfung darauf ausgestreckt hatte. So weit, so gut. Ich mußte für meine weitere Sicherheit sorgen. Das bedeutete, daß ich so viel wie möglich wissen mußte, ehe ich mir den Luxus des Schlafs erlaubte. Es gab immer noch zu viel, was ich über diesen Gütertransport und alles, was mit meiner Mitfahrt zusammenhing, nicht wußte, und es gab nur einen Weg, wie ich mehr entdecken konnte – Klick. Klicket. Klicketditick. Hinunter, sich windend, hinein, hindurch, sich ausdehnend jetzt, hinaus durch Abzweigungen und Nebenabzweigungen… Lichtpunkte… Die elegante Symmetrie der Programme und Zusatzprogramme im Inneren des Bordcomputers… Angelegt wie ein leuchtender, gepflegter Garten… Aber keine Düfte hier und die Sinnesfunktionen verschlüsselt… Anhalten und seine Beschaffenheit überprüfen… Alles weitere wird sich ergeben. Der Computer lenkte und kontrollierte die Geschwindigkeit, nahm Informationen über die Straßenbeschaffenheit und andere Dinge von einem Kommunikationsstreifen unter dem Straßenbelag entgegen. Sein Radarsystem tastete ständig auf allen Seiten nach anderen Verkehrsteilnehmern und nach unerwarteten Hindernissen. Im Prinzip entsprach das der Art und Weise, wie die Hash Clash sich in den Keys durch die Kanäle bewegt und dabei Informationen aus den Sendeeinheiten an ihren Ufern erhalten hatte. Und gleichzeitig damit, daß dieser hier die Fahrt beaufsichtigte, überwachte er den Lauf des Antriebs, den Zustand der Bremsen und aller anderen Systeme.
Ich durchlief im Gleichklang diese verschiedenen Funktionen und lernte sie dabei verstehen. Und das lieferte wiederum eine Reihe von Einsichten in die Gesamtstruktur. Dann spulte ich weiter, indem ich den Fahrtencode anging. Da gab es eine Reihe von Merkwürdigkeiten – Bits ohne direkte Zuständigkeit, deren genaue Bedeutung so lange unbekannt würde bleiben müssen, bis sie tatsächlich abgerufen wurden – aber das generelle Bild fing an, Gestalt anzunehmen. Es schien wahrscheinlich, daß unser Fahrtziel Memphis sein würde. Weiter, weiter… den gewundenen Weg durch die Programme… Die größte Frage von allen stand noch im Raum… Das Warum wehte und flatterte immer noch wie ein leuchtendes Banner vor mir… Ich durchforstete die Instruktionen, bis ich darauf stieß – seltsam und gleichzeitig vertraut… Ricketdiklick. Ich zog mich aus dem leuchtenden Mikrokosmos zurück, verwirrt. Dann tastete ich unter dem Armaturenbrett nach einem kleinen Erste-Hilfe-Kasten, von dessen Existenz ich im Inneren des Computers erfahren hatte. Ich machte ihn ausfindig und holte ihn hervor. Ich fand etwas Verbandmaterial und eine antibakterielle Salbe darin. Es gab auch einen kleinen Wasserbehälter mit einem elastischen Schlauch und einem Wasserhahn. Ich trank etwas daraus und nahm noch etwas mehr, um meine Schnittwunden auszuwaschen. Dann trug ich die Salbe auf und verband die Wunden. Sich im Dunkeln bewegend wie eine Herde wandernder Tiere, unberührt und ohne zu berühren, bahnten sich die Lastwagen ihren Weg durch das Land. Wir hielten präzise Abstand zu dem vor uns. Wenn ein Auto sich dazwischenschob, erfolgte eine sofortige Korrektur. Die
Fahrspur befand sich im Gleichklang mit dem zentralen Schlag des mechanischen Herzens. Ich spürte den strengen Marschtritt seines Programms um mich her. Und doch… Ich hatte es dort gesehen… Mein Signum. So deutlich, als sei es in Langschrift geschrieben. Ich hatte es gesehen, so wie ich gesehen hatte, daß es eher die Hand eines Fremden als die von Cora gewesen war, die damals in meiner Wohnung die Nachricht hinterlassen hatte. Es ergab keinen Sinn… Und doch ergab es einen Sinn. Ich lehnte mich ganz zurück, so daß nur noch Gruppen vorbeiziehender Sterne durch das Fenster zu sehen waren. Weiteres Nachdenken war ganz gewiß angebracht, und ich heizte mein müdes Gehirn an und erforschte die Wege des Verstandes. Die Instruktion, daß der Lastwagen anhalten solle, wie er es vor kurzem getan hatte, um mich mitzunehmen, war nicht Teil seines ursprünglichen Programmpakets gewesen. Ich hatte die Änderungen in seinen Instruktionen gesehen, und es war für mich offensichtlich gewesen, daß ich sie selbst dort eingebaut hatte. Ich hatte dem Lastwagen befohlen, für mich anzuhalten. Aber wie? Ich hatte noch nie so etwas getan, war nie dazu fähig gewesen, war mir nicht einmal sicher, wie ich es hätte anstellen sollen. Andererseits war ich meiner Unsicherheit nicht sicher. Da gab es den Fall der vertauschten Zahlen, als der Polizist meine ID-Ziffer eingetippt hatte. Hatte er wirklich einen Fehler gemacht, oder hatte eine Veränderung im Signal selbst stattgefunden? Das fragte ich mich. War mein Signum auch darauf? Und das merkwürdige Verhalten der Monorailwagen damals im Flughafengebäude… Ich hatte mich angestrengt, etwas zu tun – als Willy Boy seine Herzstillstandmasche abzog. Konnte
es sein, daß ich schon damals auf einer neuen Ebene operiert hatte? Wieder rief ich mir Marias Worte ins Gedächtnis – »… werde besser bei dem, was ich tue.« Hatte meine Fähigkeit sich während der langen Ruheperiode auf neuen Bahnen weiterentwickelt? Hatten all die kürzlich durchgestandenen Belastungen, denen ich ausgesetzt gewesen war, mich dazu gezwungen, sie auf dem neuen Gebiet anzuwenden, indem mein vielgeplagtes Unterbewußtsein an den Fäden zog? Wenn das der Fall war, und wenn ich lernen konnte, es bewußt zu tun, dann hatte ich ganz plötzlich eine Reiseversicherungspolice in der Hand. Aber ich fuhr fort, mein immer noch unvollständiges Gedächtnis zu durchforschen. Nichts. Ich war immer ein passives Medium gewesen, das die inneren Vorgänge in Datenverarbeitungsanlagen überwachte. Ich konnte mich an keinen einzigen früheren Anlaß erinnern, bei dem ich wirklich die Programmierung geändert hatte. Nun schien es, als hätte die Sache gar nicht zu einem passenderen Zeitpunkt auftreten können. Terklickterklick. … Und herum und wieder hinein. Die magische Landschaft umgab mich von allen Seiten. Ich suchte die Stelle auf, die mein Verstand als feurigen Wasserfall wahrnahm, der in ein leuchtend gelbes Becken stürzt… Ja. Dort. Ich tauchte in das Becken ein. Hinunter, hinunter… Hinunter durch die körperlosen Verbindungen zu dem Kommunikationsstreifen unter der Fahrbahndecke… Jetzt, mitgerissen wie in einem unterirdischen Fluß, fort und dahin, in das riesige, verwobene Netz aus Terminals und Prozessoren und Verbindungen… Was ich vorhatte, würde Korrekturen an beiden Enden erfordern… Würde ich wohl das Muster des Stroms beeinflussen können?
Ich machte ihn gefügig. Ich schob. Breitete mich aus, hier wie dort, ich mühte mich, sowohl beim Sender, als auch beim Empfänger Änderungen herbeizuführen, das charakteristische Signal umzugestalten, das ständig die Position des Fahrzeugs an die zentralen Verkehrskontrollsysteme weitergab. Am anderen Ende arbeitete ich daran, die Aufzeichnungen zu verändern, sie passend und korrekt zu machen… Ich sah zu, wie die Bits wie ein Bienenschwarm vorbeiflogen… Erfolg. Ich hatte das Fahrzeug, mit dem ich fuhr, versteckt. Wenn Barbeau herausfand, daß ich bei dem Versuch, den Highway zu überqueren, nicht überfahren worden und umgekommen war, und daß ich auch nicht auf der anderen Seite aufgespürt werden konnte, würde er anfangen, sich zu wundern, wer oder was wohl mitten in der Nacht angehalten hatte, um einen blutenden Flüchtling mitzunehmen. Laß ihn sich wundern. Laß ihn nachsehen. Dieser Lastwagen war dort nicht vorbeigekommen. Ich sickerte durch Systeme aus reiner Freude an der Bewegung, widerstand der Versuchung, nur zum Spaß ein wenig herumzupfuschen. Ein Gefühl von enormem Stolz auf die Entdeckung dieses neuen Aspekts meiner Fähigkeit durchfloß mich. Wenn Barbeau wüßte, was ich jetzt besaß, was würde er mir nicht alles anbieten? Cora? Und mein Leben? Nein. Ich wollte nicht mehr für ihn arbeiten. Ich würde einen anderen Ausweg finden. Aber zuerst… Ich verlor einen Moment lang die Kontrolle. Mein Kopf war angefüllt mit Wetterkarten… Ich lag in einem Gebiet, wo es regnete, und beobachtete das Heranziehen der Hochdruckfront. Es sah aus wie ein riesiges H am Himmel… Kilometer weit weg. Ich bemerkte, daß mein echter Körper
gähnte… Ich… Ich schlief ein…. Mein Bewußtsein schwebte… Ich hatte getan, wozu ich gekommen war… und jetzt war es Zeit, zurückzukehren… aber es war so angenehm, einfach in die Datenbanken und wieder hinaus zu treiben, auf den Strömen der Systeme zu schweben, von den Impulsen gestreichelt… von den Baseballergebnissen umspült… Ich war… Ich schlief. Noch nie hatte ich in den Windungen des Datennetzes geträumt, noch nie war ich in diesem Zustand ohne Bewußtsein gewesen. Aber die Erschöpfung hatte mich eingeholt – und ich war hinüber, noch ehe ich es wußte… Schlafend in den Armen des Datenmeeres, schlafend in den Windungen der Tiefe… Ich träumte. Ich träumte, wie ich noch nie geträumt hatte, und nur Bruchstücke ragten später über den Horizont des Erwachens… Ich träumte, ich sei ein Computer – ein riesiger, ultrahochentwickelter –, der in einer Art Zwischenwelt existierte. Eine schattenhafte Gestalt kam und stand vor mir. Auch wenn ich diese Person nicht genau kannte, kam sie mir doch vertraut vor. Sie ging zu einer Tastatur und tippte eine Anfrage ein – ich erinnere mich nicht, was für eine –, die es erforderlich machte, meine Datenspeicher abzusuchen. Was immer sie wollte, umfaßte eine außergewöhnliche Menge Information. Mein Drucker summte, und der Ausdruck begann zum Vorschein zu kommen. Die dunkle Gestalt nahm die ausgedruckten Seiten in die Hand ohne sie abzureißen und fing an, sie in einem Tempo zu überfliegen, das mit meinem Ausstoß Schritt hielt. Sie ergossen sich als stetiger, raschelnder Wasserfall in ziehharmonikagefalteten Stapeln auf den Boden. Nach und nach versank die Gestalt, immer noch lesend, zwischen ihnen.
Als ich meine Antwort beendet hatte, wurde das Papier weggeweht wie von einem plötzlichen Windstoß, und die Gestalt gab eine weitere Frage ein. Wieder antwortete ich. Und wieder. Und wieder. Schließlich tippte sie auf meiner Tastatur – etwas Langes und Kompliziertes, das nicht unbedingt eine Antwort von meiner Seite erforderte. Sie versuchte, einzuprogrammieren – nun ja, mir etwas zu sagen. Diese Eingabe ging immer weiter, und ich verstand nicht alles wirklich. Enttäuscht unternahm die Gestalt noch mehrere Versuche… Alles, woran ich mich wegen der verrückten Spiele, die das wache Bewußtsein mit Traummaterial spielt, erinnerte, war NETZ SCHICKSAL DER HEIRAT TREUER SEELEN, HINDERNISSE NACHLASSEN… Erstaunlich die Reihenfolge, in der ein wiederkehrendes Gedächtnis sich einstellte, die Bilder, in die wir die Dinge kleiden, die Gemeinplätze inmitten des Mysteriösen und umgekehrt. Ich wachte wieder in meinem eigenen Kopf auf und fühlte mich ein wenig ausgeruht. Es gab einen Moment der Desorientierung, und dann fielen mir sämtliche Ereignisse des vergangenen Tages wieder ein. Ich setzte mich auf und sah aus dem Fenster. Links von mir offenes Land, ein verblassender Himmel, der die nahende Dämmerung ankündigte. Ich trank von dem schal schmeckenden Wasser, da mein Hals ziemlich ausgetrocknet war. Dann benutzte ich die sanitären Einrichtungen. Ich wusch und kämmte mich und rieb ein paar Flecken von meiner Kleidung. Dann öffnete ich ein paar nahrhafte aber sonst undefinierbare Essensrationen und frühstückte, während ich geradeaus starrte und mich an etwas zu erinnern versuchte, das sehr wichtig zu sein schien. Etwas war geschehen. Was, dessen war ich nicht sicher. Ich bezweifelte nicht, daß ich tatsächlich das Leitsignal des
Lastwagens und dessen Empfang geändert hatte. Aber da war noch mehr. Ich spürte, daß mein Traum eine tiefere Bedeutung beinhaltete, wenn auch vielleicht nicht auf dem Niveau des Hans Castorp. Vielleicht war ich wirklich ein Computer, der träumte, er sei ein Mensch. Der Lastwagen tat einen plötzlichen Ruck, und ich schaute gerade rechtzeitig auf, um ein Mädchen in Bluejeans, einem dicken Pullover und Tennisschuhen nach links aus dem Blickfeld verschwinden zu sehen. Was zum Teufel machte sie mitten auf dem Highway? Dann überquerte weiter vorn die Gestalt eines jungen Mannes die Straße – nicht allzu schnell und bestimmt nicht wie einer, der um sein Leben rennt. Seine Bewegungen wirkten einstudiert – mit beinahe tänzerischem Anklang. Das Radarsystem entdeckte ihn natürlich sofort, und mein Lastwagen wurde langsamer. Dann ließen wir ihn hinter uns auf dem Randstreifen zu meiner Linken, und er verschwand, wie das ähnlich gekleidete Mädchen verschwunden war. Kurz darauf bremsten wir wieder. Es war niemand vor mir, aber natürlich würde mein Lastwagen bremsen, wenn der vor ihm bremste, und der würde natürlich bremsen, wenn der davor bremste, die Kolonne entlang. Wieder ein Ruck, und wir fuhren langsamer. Noch einer – Wir fuhren an zwei weiteren Jugendlichen vorbei, die offenbar hier, ein Stück weiter die Straße hinauf, den Trick ihrer Vorgänger wiederholt hatten. Und dann fiel mir ein, daß ich etwas über diese Praktiken gesehen oder gelesen hatte. Sie wurden verschiedentlich als Lastwagenschläger, Lastwagentänzer und Lastwagenverschrotter bezeichnet. Sie hatten Spaß daran – normalerweise am frühen Morgen oder spät abends, wenn nur wenige Fahrer die ›lebenden‹ Fahrspuren benutzten – in die automatisierten Spuren auf den großen Highways hinein und
wieder heraus zu tanzen. Da sie wußten, daß die Radarsysteme der Fahrzeuge sie entdecken würden, und deren Computer darauf programmiert waren, sie am Zusammenstoß mit fremden Objekten zu hindern, waren sie sich ihrer eigenen relativen Sicherheit bewußt. Einigen machte es einfach Spaß, Änderungen der Geschwindigkeit und des Flusses der langen Kolonne automatisierter Fahrzeuge zu verursachen. Andere hatten ein wenig katastrophalere Absichten, indem sie darauf abzielten, die Geschwindigkeit der Lastwagen innerhalb einer derart kurzen Zeitspanne zu verändern, daß die Kontrollsysteme überlastet und eine lange Kette von Unfällen verursacht wurden. Natürlich lag darin eine gewisse Gefahr – abgesehen von der Möglichkeit, daß man eine ›lebende‹ Fahrspur überquerte, während jemand entlang kam – denn sie setzten auf die Geschicklichkeit derselben Roboterfahrer, deren Systeme sie zu überlasten versuchten. Waren das nur Jugendliche, die ihren Spaß haben wollten? Ich war mir nicht sicher. Oder handelte es sich um ein weiteres Aufflackern der Maschinenstürmerei, so wie wir sie kennen, von Maschinen auf Computergesteuertes, Automatisiertes übertragen? Oder war es vielleicht keines von beidem, sondern etwas Tiefgründigeres und möglicherweise ein wenig Ermutigenderes? Ich wurde an etwas erinnert, das einer meiner Professoren einmal über rituelle Spiele und festliche Turniere als festen Bestandteil gesagt hatte. Konnte das Verhalten, dessen ich Zeuge geworden war, eine Art modernes Ritual des Eintritts in das Zeitalter der Automatisierung darstellen, die Vergewisserung auf Seiten der Jugend, daß der Mensch seinen Geschöpfen immer noch überlegen war? Wir gerieten wieder ins Schlingern. Verdammte Gören! Unverantwortliche Torheit, das war es. Die hatten zuviel freie Zeit. Die sollten lieber…
… darauf aus sein, industrielle Geheimnisse auszuspionieren? Nun ja, vielleicht hatte ich auch ein paar gesellschaftlich unakzeptable Dinge getan, als ich ein bißchen jünger war. Natürlich hatte es Gründe gegeben – wenn ich mich nur an sie erinnern könnte. Die Fahrt wurde flüssiger, und wir nahmen wieder Geschwindigkeit auf. Ritual beendet oder was immer. Und die Sache, an die ich mich zu erinnern versucht hatte, tanzte quälend näher. Das Tageslicht nahm weiterhin zu. Heuschober und Farmhäuser tauchten aus den Gezeiten der zurückweichenden Nacht auf. Und dann kam das Bild des Tänzers wieder in meinem Bewußtsein. Schamlos Vorübergehender im Dämmerlicht, durch Radarimpulse geschwenkte Arme, einen geheimen Rhythmus stampfende Füße. Um zu beweisen, daß man dem Schreckgespenst überlegen war, indem man davor über die Straße lief? Um die Bewegungen des Ungeheuers umzulenken? Um – Umlenken? Wechseln? Ändern? Kontrollieren? Die neue, verbesserte Version von Kraft… Das fragte ich mich. Es müßte doch möglich sein, mich von hier aus zurückzuarbeiten – von Terminal zu Terminal, von Kontakt zu Kontakt, durch das Datennetz – und schließlich zu Big Mac zu gelangen, dem Computerspeicher von Angra Energy. Die Einrichtung war umgeben mit jeder Art Sicherheitsabwehr, um Angra davor zu schützen, daß andere taten, was wir ihnen angetan hatten. Es gab Codes und Zerhacker, einen Sicherheitskern… Ausdrücke wie ›hierarchische Struktur‹, ›schrittweise Verfeinerung‹, und ›Parnassmodularität‹ gingen
mir durch den Kopf. Erinnerungen aus den Tagen, als ich daran gearbeitet hatte, einige von Big Macs Abwehrsystemen aufzubauen. Natürlich war wohl alles in den letzten Jahren überholt, überprüft, verbessert, auf ein wesentlich höheres Niveau gehoben. Aber andererseits sah es so aus, als könnte etwas Ähnliches mit mir passiert sein. Wenn ich in Big Mac eindringen und den Doppel-Z-Sektor erreichen konnte, war ich sicher, daß dort Informationen lagern würden, die Cora betrafen. Vielleicht bedeutete das den Aufnahmeritus für den neuen Zustand, in den ich gerade hineinwuchs – wenn ich es schaffte… All diese Gedanken gingen mir innerhalb weniger Augenblicke durch den Kopf, und ich wußte, daß ich den Versuch unternehmen mußte. Draußen stieg die Sonne am Himmel und goß Licht über meinen Weg. Knospen öffnen sich, Vögel singen, ich spule…
Neun
Tick – ich tastete nach dem Computer, griff nach seinem Inneren, und das Gefühl für seine unablässigen Operationen erreichte mich, wie die Ausläufer von Wellen die Füße berühren, leicht, sanft – etdi –, draußen am Strand. Dann strebte ich vorwärts, und die Strömung verstärkte sich um meine Beine – icketdi –, ich bewegte mich hinaus, auf den Punkt des stärksten Widerstandes zu, wo – Schlendernd, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, wie ein wahnsinniger Elefant, kam ein riesiger Lastwagen auf der linken Spur der Gegenfahrbahn vom Weg ab, schlingerte über den Mittelstreifen und kam direkt auf mich zu. Ich reagierte langsam, da ich bereits begonnen hatte, mich mit dem Computer zu befassen. Ich warf mich quer durch die Fahrerkabine in den Fahrersitz, wobei ich das Lenkrad benutzte, um mich hinüberzuziehen, während meine Füße bereits nach den Pedalen tasteten. Hektisch suchte ich nach dem Mechanismus, der die Steuerung meines Lastwagens auf Handbetrieb umschaltete, da er anscheinend nichts unternahm, um dem entgegenkommenden Fahrzeug auszuweichen. Aber ich war nicht schnell genug. Er kam auf mich zu und – war verschwunden. Ich sah in den Seitenspiegel. Ich wartete auf das Geräusch eines Aufpralls. Beides negativ. Er war einfach nicht mehr da, als hätte er sich lautlos in Luft aufgelöst. Ein Phantom. Ich schnupperte, plötzlich mißtrauisch geworden. Nein. Kein Blumenduft hatte ihn begleitet. Aber es war eine Sache, wie sie Ann zustande gebracht haben mochte, und eine andere Erklärung fiel mir nicht ein.
Ich wartete. Ich saß da, auf das Lenkrad gelehnt, und beobachtete die Straße. Wenn einer eine solche Wirkung auf mich ausgeübt hatte, wo waren dann die anderen? Es sah Ann nicht ähnlich, in solchen Dingen knauserig zu sein. Eigentlich hätte inzwischen ein ganzer Konvoi auf mich zukommen müssen. Wenn es sich nicht wirklich um etwas anderes handelte. Ein Hologramm? Nein. Es hatte einfach verdammt zuviel Substanz, und ich konnte mir ohnehin nicht vorstellen, wie man eine derart millimetergenaue Präzision und ein so exaktes Timing ohne einen Haufen komplizierter Projektionsapparate hätte erreichen können. Ich blickte nach oben. Da waren keine in der Luft schwebenden Hubschrauber. Ohnehin konnte ich mir nicht vorstellen, wie sie mich hätten finden sollen, um das Ganze vorzubereiten. Ich wartete. Ich schnupperte. Nichts passierte. Also gut. Ich hatte etwas zu erledigen. Ticketdi – ich war wieder dort, wo ich vorher gewesen war, helle Lichter glitzerten jetzt unter den Wellen wie die versunkene Stadt Ys. Der Ozean, das wußte ich, stellte das Datennetz dar. Ich konnte in diese Stadt hineinschwimmen… … Auf der falschen Seite der Straße rasend kam mir ein knallroter Sportwagen mit unglaublicher Geschwindigkeit entgegen – Meine Hände verkrampften sich um das Lenkrad. Mein linker Fuß trat automatisch hart auf die abgeschaltete Bremse. Ich entfernte mich jedoch nicht aus dem Computer. Ich machte mich sofort daran, das Radargerät zu überwachen, und stellte fest, daß da entgegen dem Augenschein nichts war. Es war keine Spur des kleinen Fahrzeugs zu finden. Und auch dieses Bild verschwand. Eben noch war es vor mir, im nächsten Augenblick nicht mehr da. – Klick.
Dann eben zum Teufel damit. Welches Spiel hier auch immer gespielt wurde, wenn es im Endeffekt so harmlos war, dann verdiente es meine Aufmerksamkeit nicht. Zurück nach Ys. Ich begann, einzutauchen. Nein! Noch ein Lastwagen! Nur, daß ich mir bei diesem mehrere Augenblicke lang nicht sicher sein konnte. Er überholte mich links und scherte viel zu früh zum Spurwechsel ein. Dies konnte möglicherweise ein echter sein, bis mir das Radar versicherte, daß es sich um ein weiteres Gespenst handelte. Ich wurde langsam wütend. Trotz ihrer Substanzlosigkeit lenkten mich diese Dinger dauernd von der zu lösenden Aufgabe ab. Sie störten meine Konzentration, warfen mich zurück… Und mehr als das. Es war etwas an Verkehrsunfällen, das ich als ausgesprochen beunruhigend empfand. Ich wischte mir die Stirn mit zitternder Hand. Über das ›Warum‹ konnte ich mir später Sorgen machen. Im Moment wollte ich mich der Angriffe entledigen. Auch wenn ich die Augen schloß, würde ich mir ihrer Anwesenheit bewußt sein, genau wie bei den Illusionen während des Fluges. Aber in diesem Fall würde allein das Bewußtsein ausreichen. Sie berührten da einige Traumata, die ich im Moment nur ungern an die Oberfläche gebracht haben wollte. Wieder schnupperte ich. Nein. Aber das machte nichts. Sie mußte es sein. »Ann?« sagte ich laut. »Warum machst du das mit mir, Ann? Waren wir früher nicht… Freunde? Ich glaube mich zu erinnern… Der Boß kann unmöglich jetzt schon wissen, daß du mich gefunden hast, daß du mit mir in Kontakt stehst – noch nicht. Gib mir eine Chance, ja? Da ist etwas, was ich tun muß. Ich bin nicht darauf aus, Barbeau zu schaden, Angra zu
schaden. Ich will nur Cora zurück, und sie haben sie. Wenn du ihnen etwas über mich sagen willst, dann sag ihnen, wenn sie sie herausgeben, verschwinde ich, und sie werden nie wieder etwas von mir hören. Ich meine es ernst. Du bist die Telepathin, schau in mein Gehirn und sieh nach, ob ich es ernst meine. Keine Lastwagen mehr, ja? Sie sind mir im Weg.« Ein Duft von Veilchen schien die Kabine zu füllen. »Okay?« sagte ich. »Bitte? Laß mir einfach ein bißchen Zeit für die Dinge, die ich tun muß. Ich würde das gleiche für dich tun. Halt dich zurück.« Der Duft verflüchtigte sich nicht. Ich erhielt keine Antwort, aber es kamen auch keine weiteren Fahrzeuge auf mich zu. Ich wußte nicht, ob sie über das, was ich gesagt hatte, nachdachte oder nur auf den geeigneten Zeitpunkt für einen weiteren Angriff wartete. Aber Abwarten war keine Lösung, entschied ich mich nach mehreren Minuten. Vorsichtig begann ich wieder mit dem Spuleffekt. Klickdiklick. Tick. Ditick. Hinab. Durch das klare, schimmernde Wasser drehe ich mich, während ich in eine irgendwie dünnere Substanz überwechsle. Lichterscharen über mir wie disziplinierte Schwärme wasserloser Fische… Ich bewege mich, fädele mich hindurch zwischen flammenden Säulen, an schlangengleichen Kabeln entlang… Hier gab es Faszination. Die gab es immer, aber dies war etwas anderes. Etwas Stärkeres. Mehr als Faszination. Da war ein Gefühl der Erwartung, das in mir aufstieg. Vorfreude… Etwas hatte sich verändert in meiner Kontinente umfassenden Mikroweit, und es kam mir beinahe vor, als sollte ich eigentlich wissen, was es war. Aber so war es nicht. Ich drang vor bis zum Übergang in das größere System – einem Ort funkensprühender Enge zwischen zwei glitzernden Wänden, dahinter Dunkelheit…
»Ja.« Eine Antwort in meinem Kopf, die ich als mit Anns Stimme gesagt erkannte. Und mit allen Obertönen, die sie begleiteten. Sie würde mir eine Chance geben. Aber nicht aus reiner Gefälligkeit. Ich spürte jetzt ganz stark ihre Anwesenheit. Ich konnte die Faszination spüren, die sie angesichts des Phänomens empfand, das sie in meinem Kopf miterlebte. Sie folgte mir die langsamen Spiralen hinab, die jenseits der schimmernden Wände begannen. Etwas Unerklärliches schien bevorzustehen, denn das Netz hielt mein Bewußtsein mit solcher Kraft fest, wie es sie nie zuvor besessen hatte. Ich spürte, daß es Anns Bewußtsein auf die gleiche Art festhielt. Sich bewegen, herum, herum… Ein Terminal… Hindurch… Noch eines… Hinauf und hinab… Jetzt der wilde Achterbahneffekt… Ann war wie ein Kind, klammerte sich an meinen Rücken. Ich spürte ihre Angst. Ich spürte auch eine mächtige Neugier, beinahe eine Sehnsucht. Drehen, zur Seite drehen… Etwas… Lockend… Nein! Etwas, dort draußen… Rufend, bittend… Ich wollte meine Reise unterbrechen und mich dorthin bewegen, aber der Gedanke an Cora, an meine Mission, ließ mich widerstehen, ließ mich gegen etwas ankämpfen, das rasch zu einer Besessenheit wurde. Etwas – Ich riß mein Bewußtsein los, schüttelte es ab. Ich kannte mein Ziel. Ich konnte es mir nicht leisten, mich davon abbringen zu lassen. Ich warf mich nach vorn… … Und Ann tauchte mit mir ein. »Dreh um!« fühlte ich sie in meinem Kopf sagen. In diesem Moment erkannte ich, daß die Verlockung, die ich ignoriert hatte, sie immer noch im Bann hielt. Sie wollte auf diesem Seitenweg reisen, ihren Ursprung aufspüren.
Ich antwortete nicht. Einiges über Ann fiel mir ein, während ich mich mit dem Strom wand, in schwindelerregendem Tempo aufstieg und fiel… Obwohl ich wußte, daß sie in mein Bewußtsein sehen konnte, konnte ich nicht umhin, einige der Dinge dort auszubreiten, die mir jetzt über sie einfielen. Ich konnte sogar ihre Reaktion spüren, als ich das tat. Ich war mir immer noch im unklaren, wie wir uns begegnet waren, damals, als ich auf der Universität war. Dennoch schien es, als hätte ich zu einem relativ frühen Zeitpunkt von ihren Fähigkeiten erfahren. Sie waren vielversprechend. Sie hätte sich selbst eine Art Herrschaftsbereich aufbauen können, statt Barbeau beim Aufbau des seinen zu helfen. Was konnte vor ihrer geistigen Sonde sicher sein, wenn sie den Wunsch verspürte, es zu wissen? Wer konnte der halluzinatorischen Belastung widerstehen, dem geistigen Störfeuer, das sie erzeugen konnte? Sie konnte Geheimnisse enthüllen, Feinde ausschalten… sie war ein Ein-Frau-Geheimdienst. Jedoch. Sie hatte eine Schwäche. Eine große. Abhängigkeit. Sie versteckte es gut, aber sie brauchte jemanden. Sie hatte immer eine starke Persönlichkeit neben sich gebraucht, an die sie sich klammern konnte. Vorne… Wir kamen jetzt zu etwas. Ich nahm es als einen Graben aus Feuer wahr… Langsam jetzt… Bremsen. Zeit lassen. Ich näherte mich meinem Ziel. Ich fühlte, wie Anns Erregung wuchs. Ich spürte ihre Gereiztheit über meine Einschätzung ihrer Schwäche. Aber ich spürte auch das Eingeständnis, daß ich recht hatte. Barbeau stellte den Felsen dar, an den sie sich jetzt klammerte, weshalb sie versucht hatte, mich zu verwirren, mich auszuschalten. Sie wollte seine Gunst wiedererringen, nachdem es ihr nicht
gelungen war, mich in den Keys festzuhalten oder mich im Flugzeug zusammenbrechen zu lassen. Ruhig… Ich kam näher. Ja. Ich bewegte mich jetzt am Rande von Angras Datenspeichern. Ein dunkler Umriß tauchte in dem Feuerring auf. Er wuchs, während ich ihn ins Auge faßte, und seine Konturen wurden deutlicher. Dunkle, roh behauene Mauern, mit Schießscharten wie für einen Kampf, und Schemen, die daran entlang hin- und herwechselten. Wehrtürme, Verteidigungsbalkone…. Big Mac nahm vor meinem inneren Auge die Gestalt einer Trutzburg an, einer riesigen dunklen Zitadelle. Nun blitzten Lichter auf, in einer Reihe winziger länglicher Fenster, ließen eine der Mauern einen Moment lang so aussehen wie eine alte Lochkarte, die vor eine helle Lichtquelle gehalten wird… Kreisen…Jenseits von Phlegethons Glut wurde eine andere Mauer zu einem narbenbedeckten, unmenschlichen, gehauenen Gesicht. Ich ließ mich innerhalb des Kreislaufs hierhin und dorthin schnellen und betrachtete es gleichzeitig aus mehreren Blickwinkeln. Jetzt ein Stonehenge unter der Wasseroberfläche, Tangfäden, die es wie Rauchwölkchen umschwebten, glühende Muscheln, die an seiner Oberfläche aufleuchteten und verloschen… Hier ein nächtlicher Horizont in einem massiven Kasten, angefüllt mit innerer Bewegung… Dort ein unheilvoller, schwarzer Altar… Festung… Burg… Zitadelle… Pulsierende, elementare Diener, die seine Wälle bewachten… Ich führ fort zu oszillieren, mich zu teilen, meine Blickwinkel zu vervielfältigen. Ich war schon einmal innerhalb dieser sturmgepeitschten Mauern gewesen. Es hatte Zeiten gegeben, als ich dort willkommen war. Um jetzt hinüberzugelangen, mußte ich seine Schwächen finden…
Ich sah, daß kein Verteidiger seine Position verlassen durfte… Anns Anwesenheit drängte sich mir weiterhin auf, und sei es nur in der Form von Gedanken an sie. War ich einmal die starke Persönlichkeit gewesen, an die sie sich geklammert hatte? Was hatte mich dazu gebracht, für Angra zu arbeiten? Hatte es hier irgendeinen Zusammenhang gegeben? Und noch während sie mir durch den Kopf gingen, fand ich diese Spekulationen – möglicherweise unfreiwillig – in Anns Bewußtsein bestätigt, über die dünne Verbindungslinie zwischen uns. Die Feuer… Die Feuer beanspruchten nun meine Aufmerksamkeit, lösten sich auf in innere, vielköpfige, mikroskopische Bewegungen… Die Flammenzungen wurden zu einer Fleckenmalerei, getrennte, strahlende Abschnitte wurden nach und nach deutlicher… Weiter, weiter – bis zu ihren beinahe Brownschen Sprüngen… Und Ann, Ann sah mir im übertragenen Sinne über die Schulter, während ich meine Sondierung durchführte. Ich konnte spüren, wie sie über den Anblick staunte. Sie konnte diese Dinge nicht aus eigener Kraft sehen. Es war ihr offensichtlich das eine Zugeständnis wert – nämlich, daß ich auch gewisse Dinge in ihrem Bewußtsein spüren konnte, wenn wir einander so nahe waren. Nein, das war in Wirklichkeit keine zufällige Bewegung der feurigen Partikel… Es gab einen Rhythmus, eine klare Periodizität, die jetzt aus vielen Blickwinkeln offenbar wurde. Irgendwo dahinter, dessen war ich sicher, lagen Informationen über Cora, Informationen über ihren Aufenthaltsort. Ich betrachtete die Bewegungen genauer… Ich verspürte Zustimmung von Anns Seite, als ich an Cora dachte.
»Wo ist sie?« fragte ich. »Wenn du es weißt, dann sage es mir und erspare mir diese Schwierigkeiten.« Aber ich fühlte unmittelbar darauf eine Verneinung. Mit einiger Mühe verbarg sie einen Gedanken an Cora in einer warmen Klimazone, die nicht Florida war. Ich erkannte, daß Ann hauptsächlich bei mir war, weil es etwas zu sehen gab. Sie wollte sehen, was ich bis jetzt getan hatte und was ich im Begriff war zu tun, nur zu ihrem eigenen Vergnügen. Sie konnte sich jeden Augenblick zurückziehen, wenn mir etwas Schreckliches passierte. Zweitens wollte sie es genau wissen, wenn ich keinen Erfolg hatte – damit sie etwas hatte, das sie zurück zu Barbeau mitnehmen konnte, nachdem es ihr bei ihrem letzten Versuch nicht gelungen war, mich mit ihren Illusionen in den Wahnsinn zu treiben. Freiwillig würde sie mir nichts verraten. »Na gut«, sagte ich. »Vielleicht ist Voyeurismus besser als gar keine Leidenschaft.« Eine Welle des Schmerzes, gekränkter Würde und etwas anderem spülte über mich hinweg. Ich beachtete sie nicht und arbeitete mich an allen Fronten vor. … Indem ich fortfuhr, zu vielen Punkten um den Burggraben herum auszuschwingen, bewegte ich mich vorwärts, bis ich die Verteidigungsstellungen der flammenden Partikel beinahe umarmte. Dann befahl ich, daß sie sich vor mir teilten… Die Flammen trennten sich wie sich öffnende Schnäbel vor allen meinen Beobachtungsposten… Ich begab mich hinein. Die Mauern wirkten auf diese Entfernung rauchartig, wirbelnd, fließend… Ich stieß an zwei Punkten vor und wurde zurückgewiesen… Der Rauch hatte sich vor mir zusammengezogen und feste Gestalt angenommen, war zu einer Art glühender Substanz geworden – wie Blöcke aus schwarzem Eis… Wenn ich
hinstarrte, konnte ich kristallene Gitter darin entdecken, die sich in dunkle Unendlichkeiten zurückzogen… Aber als die Streitmacht der Zitadelle an den beiden Punkten zur Verteidigung sammelten, bemerkte ich, daß die Mauern vor den anderen Stellungen, die ich hielt, schwächer und dünner wurden. … Und einen einzigen, schwindelnden Moment lang wurden sie wieder zu jenen Mauern, die mir widerstanden hatten, als ich meine Zahlungsanweisung zurückverfolgt hatte, jene Mauern, die damals das verlorene Logbuch meiner Tage zu bewachen schienen… Irgendwie bedeutete mir das jetzt nicht mehr so viel. Es war besser, entschied ich, mich jetzt auf mein einziges Ziel zu konzentrieren… Ich rückte an vier verschiedenen Punkten vor, und alles, was noch vor mir lag, verwandelte sich in einen Schwarm von Leuchtkäfern, die herbeieilten, mich dort aufzuhalten… Ich rückte an drei weiteren Punkten vor, und an einem von ihnen drang ich ein… …. In eine andere Lichterstadt – in ein Paris, ein New York der Computerwelt: riesig, strahlend, an jedem Punkt in Bewegung… … Eine gesichtslose Phalanx weißglühender Verteidiger eilte auf mich zu, mit ruckartigen Bewegungen, wie eine Ansammlung von Marionetten… Ich oszillierte, bis es von mir mehr gab als von ihnen. Ich ließ meine Phasendoppelgänger zurück, um sie mit den Bereichen meines Bewußtseins, die dort gebunden waren, zu bekämpfen, und drängte weiter… … um zu erkennen, daß dann, wenn ich an dieser Stelle die Verteidiger vollkommen beseitigte, ein lautloses Alarmsignal einen Lichtstrom umleiten würde, der jetzt zu meiner Linken floß, und ihn veranlassen würde, zu meiner Rechten dahinzufließen…
… und wenn das geschah, würde mir der Zugang zu einem labyrinthartigen Gitterwerk versperrt werden. Er würde es überfluten, die nächste Station meiner Reise zerstören… … also kehrte ich um, eilte zum Alarmauslöser. Aber an ihm herumzupfuschen, das sah ich, würde das Gitterwerk selbst zum Einsturz bringen und einen Teil des Systems stillegen… … Aber andererseits gab es den Mechanismus, der den Einsturz verursachen würde. Er konnte mit Hilfe eines verschlüsselten Befehls deaktiviert werden, dessen Schlüssel in der Nähe des Alarmsignals hing wie ein holographisches, negatives Raumloch… Indem ich rückwärts las, fand ich den Code, schaltete dann den Alarm aus… In jeder meiner anderen Phasen hielt ich einen der weißglühenden Verteidiger in Schach… Etwa eine Nanosekunde lang sah ich überlagernde Bilder vom Sturmangriff auf eine Festung aus irgendeinem mittelalterlichen Epos. Mein Unterbewußtsein gewann jetzt, angeregt von einem schwachen, poetischen Impuls, an Selbstvertrauen. … Fackeln, Schreie, Flammen, blitzende Klingen, eimerweise Blut, Teile von Rüstungen hier und dort, das Wiehern eines Pferdes, von Pfeilen durchbohrte Harnische. Lärm und Aufruhr… Ich schüttelte die Illusion ab. Ich betrachtete das Gitter in dem Bewußtsein, daß ich dort hinein mußte, auch in dem Bewußtsein, daß, wenn ich nicht richtig vorging, die Doppel-ZDaten, nach denen ich suchte, verlegt werden würden, verteilt auf andere Bereiche des Gesamtsystems. Das würde mich dazu zwingen, sie von neuem aufzuspüren – um mit den gleichen Problemen konfrontiert zu werden. Die Daten würden fliehen und immer weiter fliehen, neue Verstecke finden, es sei denn, man näherte sich ihnen in geziemender Weise…
Ein weiterer Schlüssel fand sich in der Nähe, aber als ich ihn rückwärts las, ergab sich keine Lösung. Ich untersuchte ihn verwirrt… Er wirkte beinahe brauchbar. Dann erkannte ich, daß er meine alte Sprache sprach, die der Täuschung. Ich sah, daß man ihn umstellen mußte. Ich tat es. Dann legte ich sein Muster am Gitterwerk an, und es war so, als starre man gleichzeitig durch die Zielfernrohre einer ganzen Batterie von Gewehren – das waren die Zellen im Fadenkreuz, die das Eingangsschema aufzeigten… Ich schlängelte mich durch das Labyrinth des Gitterwerks, wurde noch einmal von einer Kampfeinheit umflimmert… kämpfte in mit Binsen ausgelegten und mit Wandteppichen behangenen Hallen, steinummauert und grau… Schreie und Wehklagen… Schweres Mobiliar aus dunklem Holz… Ein schwingender Lüster… Bellende Hunde… … Ich trat hinaus auf eine Art überdachte Promenade, wo parallele Reihen von Lichtern vor meinen Augen davoneilten, zu einem hoffentlich weniger als unendlich weit entfernten Fluchtpunkt… Ich fühlte, wie ich müde wurde, während ich sie betrachtete. Der Kampf gegen Big Macs Verteidigungslinien fing an, meine Konzentrationsfähigkeit abzunutzen… Ich konnte Anns gespannte Aufmerksamkeit spüren. Sie war beeindruckt von dem, was sie gesehen hatte, auch wenn ihr Begriffsvermögen hinter den Empfindungen selbst zurückblieb. Sie schien mich beinahe zu drängen, ihr noch mehr Show anzubieten. »Ich sollte Eintritt von dir verlangen«, sagte ich in meinem Kopf und spürte etwas wie Belustigung als Antwort darauf. … Ich schlug meinem Unterbewußtsein vor, eine weitere Analogie zu versuchen. Sofort begann die Aussicht vor mir zu verschwimmen und sich zu verändern…
… Ich stand in einer scheinbar endlosen Bibliothek. Reihen von Bücherregalen erstreckten sich vor mir in immer weitere Ferne. Ich bewegte mich zwischen ihnen… »Laß es nicht das Dexvey-Dezimalsystem sein«, warnte ich mein Unterbewußtsein – ich hatte es schon lange im Verdacht, einen verdrehten Sinn für Humor zu besitzen, wie ich in diesem Moment bemerkte. Ich eilte vorwärts. Die Reihen waren nach dem Alphabet beschriftet; riesige Metallbuchstaben waren am Fuße einer jeden befestigt… … A, B… C! … Ich wandte mich um und bewegte mich an C entlang. Die Ca’s schienen sich endlos fortzusetzen. Ich fühlte, wie meine Erschöpfung wuchs. Die langen Fächer sorgfältig gebundener Bücher schienen entschlossen, die C-Reihe beizubehalten. Ich fing an, zu rennen… Irgendwoher aus der Ferne lieferte mein Bewußtsein die Geräusche eines fortdauernden Kampfes im Inneren des großen, zentralen Burghofes – welche näherkamen. In meinen anderen Gestalten war ich mir gleichzeitig bewußt, daß das Kampfesglück sich wendete – daß ich möglicherweise die Gewalt über eins der Alarmsysteme verlieren würde, die ich einfach im Spannungszustand hielt wie die Kiefer einer stählernen Falle. Um ein wenig aus dem Geruchsbereich beizusteuern, streute mein Unterbewußtsein den Geruch von Rauch ein… »Danke, Unterbewußtsein«, knurrte ich im Geiste… … Ich erreichte endlich die Ce’s – noch eine unendlich erscheinende Strecke. Ich beschleunigte meine Schritte. Ich fühlte, wie Anns Erregung im direkten Verhältnis zu meinem Elend wuchs. Es war immer noch zweifelhaft, ob sie mich zum
Weitermachen ermutigte, oder ob sie hoffte, einen höchst unglücklichen Ausgang der Dinge mitzuerleben… Ich warf weitere Kräfte in den Kampf meiner peripheren Angreifer gegen die Verteidiger. Während ich das tat, wurden die Buchtitel neben mir weniger leserlich. Rauch trieb an mir vorbei, schlüpfte zwischen mich und die Fächer, kräuselte sich vor dem Text auf dem Buchrücken… Fluchend wurde ich langsamer und las. Immer noch bei den Ce’s. Verdammt! Immer weiter rannte ich. Der Boden wurde zu einem Spiegel, und dann die Decke. Ein endloses Rennen von lauter BelPatris, die durch den Rauch der Wirklichkeit eilten, die hellerleuchtete Vergangenheit hinter sich, die Zukunft eine ungewisse Fortentwicklung in die Ewigkeit. Das Rennen gewinnt nicht immer der Schnelle, aber darauf mußte man setzen. Dämon Runyon? Ja… Ich spürte eine Art Lachen – mein eigenes – in mir und um mich herum. Es machte mir Angst… Ich kontrollierte wieder die Fächer. Jetzt Ch’s, Gott sei Dank. Als nächstes die Ci’s, und dann… Ci’s! Ich befand mich zwischen ihnen, ehe ich es mich versah. Wer braucht schon Ci’s? Ich hatte gute Lust, die gesamte Ci-Abteilung von Big Macs Speicher hier bei DoppelZ zu löschen, als Akt des Protestes oder der Vergeltung. Ich stellte auch fest, daß ich durch die Belastung unter einer wachsenden Irrationalität litt. … Das Klirren von Waffen wurde lauter, die Gerüchte intensiver. Der Rauch wurde dichter… Nein! Ich konnte an diesem Punkt nicht aufgeben! Nicht so dicht vor meinem Ziel! Ich kämpfte darum, die Kontrolle wiederherzustellen, meine Überlegenheit gegenüber allen Systemen zu festigen, die sich
mir entgegenstellten. Ich wurde langsamer. Ich konzentrierte mich neu… Der Rauch begann sich zu zerstreuen, die Geräusche wurden leiser, die Bücher wirkten massiver, ihre Aufschriften leserlicher – Co! Ich war bei den Co’s angekommen! Ich verlor bei der Erkenntnis fast wieder die Kontrolle. Aber der unendliche große Clan der BelPatris nahm sich zusammen, stabilisierte seine sich phantasielos wiederholende Umgebung und lief weiter durch die Cob’s und die Cod’s… Con’s… Con’s… Con’s auch noch. Und nach den Cop’s und Coq’s kam Cora, kam die clevere, coole, charmante Cora, Cora contabile – coexistente Cora, Cora componiert und coloriert, Coras Copyright codiert, couvertiert, convertiert – Ich schleppte mein Bewußtsein weg von der Joyceschen Kraß der C-Matrix und griff nach dem Cora-Buch. Schon während der kurzen Zeitspanne meiner Ablenkung kam der Rauch zurück. Die Laute und die Gerüche verstärkten sich wieder, das Gleichgewicht verschob sich wieder einmal zu Big Macs Gunsten… Ich öffnete den blauledernen, goldgeprägten Band… Cora stand auf der Titelseite – und verblaßte, noch während ich es betrachtete… … Cora immer noch unversehrt im heißen Südwesten… Cora in… New Mexico? Arizona? ›Südöstlicher Quadrant jenes Sektors des nördlichsten Neuspanien…‹ ›New Mexico‹. Ann konnte den Gedanken nicht vor mir verbergen in ihrer Erregung darüber, daß sie der bevorstehenden Lösung eines Problems beigewohnt hatte – der allumfassende Impuls, den Kiebitz zu spielen – ›in der Nähe von Carlsbad.‹
Rauch stieg um mich auf. Ich ließ die Kiefer der Falle los. Meine Truppen zogen sich zurück… Sorglos eilte ich jetzt davon und überließ es Big Mac, zu schreien und mit den Zähnen zu knirschen… Ann, die erschrocken war, faßte sich einen Moment später mit einer Art Schluchzen. Sie ging ihrer Wege und ich ging die meinen… Irgendwo auf dem Weg nach Hause spürte ich das schattenhafte Wesen noch einmal. Diesmal lockte es nicht… »Allerbesten guten Morgen«, sendete ich. »Laß uns mal zusammen essen gehen.« Und dann die Spirale.
Ich öffnete ein paar Augenblicke lang die Augen. Helles Tageslicht überflutete die Fahrerkabine. Die Geschwindigkeit des Lastwagens war unvermindert. Ich glaubte zu haben, was ich wollte, aber mir war nicht danach, es zu ordnen und Pläne zu schmieden. Eine gewisse Benommenheit hatte sich in meinem Kopf breitgemacht und die Denkmaschine verlangsamt. Ich schloß wieder die Augen und träumte, ich sei die Fracht in einem Sarg auf Rädern, und andere Dinge…
Zehn
… Fahren. Ein langes Stück texanischer Autobahn… Ich war dabei, auf dem Rücksitz ein Buch zu lesen. Dessen ungeachtet war ich mir der öden Landschaft, die jetzt unter Bergen von Wolken kahler wirkte als zu Beginn unserer Fahrt, nebenbei bewußt. Bewußt auch des heftigen Seitenwindes, dessen Böen gelegentlich unser leichtes Auto trafen, wie Schläge einer riesigen Hand. Der Donner war ein langanhaltendes tiefes Grollen irgendwo in der Ferne, um einiges später kommend als die Blitze, die wie Rinnsale von geschmolzenem Golde dahinkrochen, herabgeschleudert aus den Höhen, den Wolkengipfeln… Der anschwellende Ton einer Hupe näherte sich uns und zog vorbei. Papa fuhr. Meine Mutter saß auf dem Beifahrersitz. Das Radio spielte leise, ein Country-&-WesternSender… Ich war zu einem kurzen Ferienaufenthalt nach Hause gekommen, und wir waren auf dem Weg, die Familie von Papas älterem Bruder zu besuchen. Aber ich hatte eine Menge zu lernen, und die Bücher stapelten sich neben mir auf dem Sitz. Die ersten Regentropfen trafen das Wagendach wie Geschosse, und kurz darauf hörte ich, wie die Scheibenwischer angeschaltet wurden. Die Gitarre und das wohlbekannte Näseln von jemandem, der ein Lied übers Lügen, Saufen, Rumhängen und Nichts-davon-haben sang, wurden in immer häufigeren Abständen von statischen Geräuschen unterbrochen, es sei denn, es handelte sich um den erbosten Ehemann, der auf ihn schoß. Jedenfalls schaltete meine Mutter um auf einen Mittelwellensender, wo die Musik rein instrumental war und weniger anstrengend. Ein Auto fuhr an uns vorbei, hatte ganz schönes Tempo drauf, und ich könnte
hören, daß Papa etwas murmelte, während er die Scheinwerfer anmachte. Wieder ein Schlag der riesigen Hand, und Papa zerrte am Lenkrad, um uns wieder vom Straßenrand wegzubringen. Ein Donnerschlag schien von direkt über unseren Köpfen zu kommen, und einen Augenblick später fiel der Regen wie ein Wasserfall. Ich schloß das Buch, steckte einen Finger an die Stelle, wo ich gewesen war, und sah aus dem Fenster. Schwere, graue, wie mit Glasperlen bedeckte Vorhänge beschränkten die Sicht auf ein paar Wagenlängen. Der Wind fing an, uns zwischen den Stößen anzukreischen. »Paul«, sagte meine Mutter, »vielleicht solltest du besser anhalten…« Papa nickte, warf einen Blick in Rück- und Seitenspiegel, spähte nach vorn. »Ja«, sagte er dann und fing an, das Lenkrad zu drehen. Während er das tat, traf uns ein weiterer Windstoß. Wir waren auf dem Randstreifen und dann darüber weg. Er hatte auf die Bremse getreten, und wir kamen ins Schleudern. Mein Magen verkrampfte sich, als wir plötzlich kopflastig wurden. Ein kratzendes Geräusch zog unter mir vorbei, und ich hörte, wie meine Mutter schrie: »Nein!« Dann fielen wir, und ich hörte ein Krachen, das Donner war, und eines, das kein Donner war, das die Musik übertönte und den letzten Aufschrei meiner Mutter und alles andere. Ich schrie. Meine Augen öffneten sich weit – sahen mehrere Augenblicke lang nichts… Es war ein Traum gewesen, aber es war mehr als ein Traum gewesen. Es war etwas, das wirklich geschehen war. So waren meine Eltern gestorben. Es war – Da war ein kreisrundes Loch in der Windschutzscheibe, und wir trieben leicht nach rechts. Mein Lastwagen aus dem wirklichen Leben war im Begriff, das gleiche zu tun, was schon einmal geschehen war… vor neun Jahren… obwohl es keinen Sturm gab, keine tiefe Schlucht in der Nähe der Straße.
Ein Kornfeld lud mich ein, mich in seiner grünen Üppigkeit zu wälzen… Ich warf mich in den Fahrersitz, fand dieses mal den Schalter für den Handbetrieb schnell, nachdem ich mir seine Position im Schaltplan ganz bewußt gemerkt hatte, als ich zum letztenmal durch den Bordcomputer gespult war. Ich wand mich beinahe wütend wieder in den Computer hinein, zugleich mit dem Herumreißen des Lenkrades und dem Zurücksteuern auf den Highway. Der Seitenspiegel zeigte den Lastwagen hinter mir, wie er zurückblieb. Der vor mir beschleunigte. Der Tanz ohne Tänzer… Es gab weitere Löcher – es mußte sich um Einschüsse handeln – ich konnte jetzt sehen, daß sie die Karosserie des Lastwagens durchsiebt hatten, vorne und an der linken Seite. Leise, pfeifende Töne erfüllten die Fahrerkabine. Ein lauteres, dröhnendes Geräusch bewegte sich über mir durch die Luft. Meine spulende Überprüfung zeigte mir, daß der Computer beschädigt war. Ich mußte ihn auf Handbetrieb geschaltet lassen, wenn ich den Lastwagen auf der Straße halten wollte. Das Dröhnen wurde lauter, und der Schatten des Hubschraubers glitt vorbei – wie ein Geschöpf der Nacht. Dann sah ich ihn, und ich hörte die Schüsse. Ich spürte jedesmal den Aufprall, wenn die Kugeln in meinen Lastwagen einschlugen. Ich roch heißes Öl. Zu dem Zeitpunkt war ich aus dem Computer des Lastwagens heraus und griff, griff… Hinauf, hoch hinauf… Versuchte, den Computer zu ertasten, der den Autopiloten des Hubschraubers steuerte… Ich kam mir dumm vor. Ich hatte geglaubt, etwas so Schlaues getan zu haben, indem ich den Identifikationscode des Lastwagens änderte. Ich war müde gewesen; ich war erfüllt
gewesen von der Freude über die Entdeckung des neuen Aspekts meiner Fähigkeiten. Aber dennoch – Ich hatte dummerweise geglaubt, ich könne mich mit Hilfe dieser einen Codeänderung verstecken. Statt dessen hatte sie mich noch verwundbarer gemacht. Ich war möglicherweise Teil eines Konvois – ich hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht, es zu überprüfen –, vielleicht einer von ein paar Dutzend, die alle vom selben Lagerhaus oder einer Fabrik irgendwo im Osten nach Memphis unterwegs waren. Meiner – der wievielte in der Reihe er auch sein mochte – hätte genausogut ein rotes X auf das Dach gemalt haben können. Ich hätte zuerst nachsehen und dann die Fahrdaten der ganzen Kolonne ändern müssen. Barbeau hatte nicht einmal Anns Anstrengungen gegen mich bedurft. Ohne irgendwelche besonderen Fähigkeiten hatte er mich bei meinem eigenen Spiel geschlagen. Ich hätte es voraussehen müssen. Ich hätte… Hinauf, tastend… Ich fühlte es jetzt, das Gehirn des Autopiloten. Ich spulte hinein und begann mit einer raschen Sondierung seiner Systeme, während der Pilot einen Kreis schlug, um mich von neuem anzugreifen. Währenddessen roch ich Rauch, und mein Motor fing an, komische Geräusche von sich zu geben; er setzte ab und zu aus… Der Hubschrauber stieß herab, und ich griff nach der Autopilotsteuerung und schaltete sie ein, versuchte, ihn nach rechts vom Kurs abzubringen… Der Hubschrauber kippte im gleichen Moment nach vorn, als eine Waffe zu feuern begann. Das Gewehrfeuer hörte sofort wieder auf. Die Schüsse gingen daneben. Der Hubschrauber begann einen kleinen Tanz. Rauchfäden trieben jetzt am Fahrersitz vorüber, in dem ich saß. Ich spürte etwas Warmes an meinem rechten Fuß. Mein Motor stotterte. Der Lastwagenantrieb setzte aus, fing sich wieder, setzte aus und fing sich erneut…
Über mir scherte der Hubschrauber nach rechts aus, korrigierte seinen Kurs und verschwand, als ich unter ihm hinwegraste. Ich spürte, wie der Pilot mit der Steuerung rang, gegen das automatische System ankämpfte, das zum Leben erwacht war, um sich ihm entgegenzustellen. Ich setzte meine Anstrengungen fort, versuchte, das Fluggerät von mir fortzutreiben, nach unten… Das Dröhnen entfernte sich, schwoll wieder an. Da ich meinen Angreifer nicht sehen konnte, beobachtete ich den Straßenrand. Von ganz links kam er wieder in mein Blickfeld. Die Tatsache, daß der Pilot versuchte, mich umzubringen, war erst allmählich bis in meine Eingeweide vorgedrungen, wo Angst, Haß und alle Überlebensinstinkte ihren Sitz haben. Mein Herz klopfte. Ich begann zu husten, als der Rauch in der Kabine dichter wurde. Wir hatten die Getreidefelder jetzt hinter uns gelassen und waren in ein hügeliges Gebiet gekommen. Ich bestätigte die Programmierung des Autopiloten, der ihn zwang, im Sturzflug nach rechts abzudrehen. Mit stampfendem Motorgeräusch begann der Hubschrauber genau das zu tun. Ich konnte die Heftigkeit des Kampfes deutlich spüren – die Maschine gegen den Menschen, mit mir auf der Seite der ersteren. Der Pilot hatte seine Waffe vergessen und rang mit seiner Steuerung. Ich begegnete jeder seiner Bemühungen. Der Hubschrauber kippte ab und stürzte auf die Erde zu. Ich sah nicht wirklich, wie es geschah. Ich glaube, ich war schon ein Stück an ihm vorbei, als er aufprallte, und der Rauch in der Kabine hatte sich weiter verdichtet. Als ich endlich das Seitenfenster aufbekommen hatte, waren in der Kabine bereits Flammen aufgelodert. Es war trotzdem ein eigenartiges Gefühl… Wer immer das Ding geflogen hatte, war für mich lediglich eine gesichtslose Abstraktion, jemand, der mir
übelwollte, wenn ich auch nicht darauf aus war, daß jemand zu Tode kam… Aber der Computer – Ich war in seinem Inneren gewesen. Ich hatte gerade begonnen, mich zurechtzufinden. Und dann hatte ich ihn gezwungen, seine eigene Zerstörung herbeizuführen. Ich war auch zum Zeitpunkt des Aufpralls in ihm gewesen, als seine Systeme durchdrehten und dann aufhörten zu funktionieren. Da verspürte ich ein klein wenig Schuldgefühl, obwohl es sich nicht um ein intelligentes Wesen handelte. Wann ist ein Gegenstand kein Gegenstand? Ich war wieder dabei, von der Straße abzukommen. Wieder drehte ich am Lenkrad, aber es reagierte nicht. Ich trat auf die Bremse. Auch sie funktionierte nicht. Der Lastwagen fuhr einfach weiter, von der Straße herunter, einen Hügel hinab, auf eine große felsige Erhebung inmitten des Feldes zu. Handelte ich zu diesem Zeitpunkt irrational? Höchstwahrscheinlich. Ich spulte mich in den Computer meines Lastwagens, und bis auf ein paar Unterstützungssysteme, die sich in allergrößten Schwierigkeiten befanden, war er tot. Ich hatte so ein Gefühl, daß es aus war, und Ann war nicht einmal da, um sich an meinem Dahinscheiden zu erfreuen. Obwohl sie vielleicht gar nicht so reagiert hätte… Ich war mir nicht sicher. Sie hatte mich einmal gemocht. Das war mir jetzt klar. Wir hatten einander anscheinend irgendwann einmal tatsächlich etwas bedeutet… Nur für den Fall, Ann… formulierte ich nun in Gedanken, und zwar mit besonderer Eindringlichkeit. Nur für den Fall…. daß es aus ist… und ich glaube, es ist so… Ich weiß, daß der Boß mich hier wegen der Maschinen erwischt hat, nicht wegen dir… Riech an deinen Blumen… Wenn du mich jetzt hören kannst, so wollte ich eigentlich nicht enden – wenn es schon sein muß – aber ich weiß, daß es diesmal nicht auf dich
zurückfällt… Ich werde dich nicht verfluchen, nur, weil du mir eine Zeitlang Gesellschaft geleistet hast – trotz deiner zweitklassigen Illusionen… Ich wünschte nur, ich könnte mich an mehr erinnern… Du bist die einzige, die mich jetzt… vielleicht hört… und deshalb sage ich dir Lebwohl. Du hättest es aber besser haben können als bei Barbeau. Riech an deinen verdammten Blumen, Frau… Und dann wurden die Motorengeräusche immer lauter und lauter – bis ich erkannte, daß es sich nicht nur um das Geräusch meines Motors handelte. Ich fühlte, daß sich andere, funktionierende Computersysteme in der Nähe befanden. Dann kamen die Schatten. Und der Stoß. Ich schwitzte und würgte und war voller Panik, aber als die Schatten ihre Geschwindigkeit der meinen anpaßten und der erste anstieß, verstand ich. Zwei andere Lastwagen hatten die Schnellstraße verlassen, mich verfolgt, mich eingeholt, fuhren neben mir her. Der zu meiner Rechten war gerade mit einem, mahlenden Geräusch gegen meinen gefahren. Jetzt spürte ich den Aufprall des anderen auf der linken Seite. Metall kreischte und verformte sich, und Bruchstücke meines Traums schossen wie Meteore durch meinen Kopf und hinterließen eine angstvolle Spur. Ein Wechsel der Perspektive… starke Flammen jetzt… Aber ich rollte nicht mehr abwärts. Ich wurde umgedreht. Wie zwei Elefanten, die einem verwundeten Artgenossen halfen, änderten die beiden Lastwagen meinen Kurs, drängten mich von dem Aufprall ab, der am Fuß des Hügels auf mich wartete. Es brachte mir ein paar zusätzliche Augenblicke ein, aber es nützte trotzdem nichts. Die Flammen würden mich bald erreicht haben. Ich würde aussteigen müssen. Das bedeutete, daß ich springen mußte, und ich wußte, daß ein Sprung bei dieser Geschwindigkeit mich umbringen würde.
Ich blickte nach links. Der Lastwagen auf dieser Seite berührte meinen nicht mehr. Jetzt schob und stieß mich der auf meiner rechten. Nur etwa anderthalb Meter trennten mich von dem Fahrzeug auf der Linken. Seine Tür war sogar aufgesprungen, als er gegen meinen Lkw gestoßen war. Sie stand halb offen, vielleicht in dieser Position verklemmt. Ein Sprung hinüber. Wenn ich es schaffte… Ich mußte es schaffen. Es war der einzige Weg, der mir blieb, meine einzige Chance, weiterzuleben. Ich stieß die Tür auf und drückte sie gegen den Wind, schob mich auf dem Sitz herum, bis ich nach außen gewandt saß. Der Windstoß führte dazu, daß die Flammen gegen meinen Rücken züngelten, meine Kleider versengten. Ich blickte nach unten, und das war ein Fehler. Ich riß meinen Blick los, nun wieder in Richtung der dahinrasenden Zuflucht, die so nahe war. Worauf wartete ich eigentlich? Darauf, daß die Angst an meiner Entschlossenheit nagte? Ich hatte wirklich keine Wahl. Ich entschied, wo genau ich mich festklammern würde. Ich sprang.
Prasselnder Regen. Das knirschende Geräusch, das unter mir zu hören war, als wir hinabstürzten… Der Schrei meiner Mutter… Der Donner und das Krachen… Finsternis, die sich immer weiter fortsetzte und nie, nie wieder verschwinden würde – oh, nein! – niemals… Finsternis. Stille. Finsternis und Stille. Und inmitten all dessen Schmerz. Mein Kopf… Der Schmerz ließ in Abständen nach, und mein Bewußtsein trieb dahin – eine Art betrunkenes, entrücktes Gefühl. Nicht
unangenehm, denn alles, was das Denken fernhielt, war mir willkommen. Ich schien irgendwo auf dem Rücken zu liegen, obwohl ich nicht absolut sicher sein konnte. Ich nahm nichts Besonderes wahr, bis auf den Schmerz und jenes Bewußtsein meiner Lage. Später fühlte es sich jedoch so an, als ob mein Kopf auf einem Kissen ruhte. Ich versuchte zu schreien. Ich hörte nichts. Seit langem hatte ich das Gefühl gehabt, es sei etwas schrecklich verkehrt. Wie lange schon? Seit Tagen? Seit Wochen? Ich hatte keine Ahnung, wußte nur, daß es kein kurzer Zeitraum war. Meine Gedanken kehrten zu dem Unfall zurück, immer und immer wieder. War dies der Tod – wenn das Bewußtsein in dunkler, totenstiller Leere dahintreibt und den Schmerz des Hinscheidens immer noch in sich trägt? Manchmal glaubte ich das. Zu anderen Zeiten spürte ich so etwas wie eine unsichtbare Hand auf meiner Stirn. Unsichtbar? Konnte es sein, daß ich erblindet war? Und möglicherweise auch taub? Bei diesem Gedanken wollte ich schreien. Wenn ich es tat, dann war es wie jener Baum, der im Wald vor mir umgestürzt war. Finsternis und Stille. Allmählich ließ der Schmerz nach. Bis es soweit war, hatte ich Perioden voller Panik und alptraumartiger Absurdität, voller Verzweiflung, Lethargie und Hoffnungslosigkeit durchgemacht. Es gab Zeiten, in denen ich nicht zwischen Schlaf und Wachen unterscheiden konnte. Ich wußte, wer ich war, aber ich wußte nicht, wo oder wann ich war. All das änderte sich durchs Essen. Warum sollte ein körperloser Geist Nahrung brauchen oder wollen? Mein Mund
wurde sanft geöffnet, und etwas Brühe – anscheinend aus einer Druckflasche – wurde hineingeträufelt. Ich verschluckte mich. Ich würgte eine Zeitlang, aber schließlich gelang es mir, etwas davon zu schlucken. In jenem Moment hatte ich die Gewißheit, daß ich in einem Krankenhaus lag – blind, taub und gelähmt. Es mag seltsam erscheinen, daß solch eine schreckliche Erkenntnis, wenn auch nur kurz, von einem Gefühl der Erleichterung begleitet wurde. Aber wenigstens wußte ich, wo ich mich befand, und daß man für mich sorgte. All meine dunklen, metaphysischen Spekulationen verflüchtigten sich. Ich lebte und wurde behandelt. Jetzt konnte ich beginnen, auf Genesung zu hoffen… Ich unterteilte den Ablauf der Zeit nach meinen Fütterungen. An den Unfall zu denken, schob ich so lange wie möglich vor mir her. Aber schließlich blieb ich bei dem Gedanken. Waren meine Eltern am Leben oder tot? Lagen wir in nahe beieinander stehenden Betten, oder… Wenn sie am Leben waren, war ihr Zustand dann ähnlich wie meiner? Immer wieder dachte ich über den Sturz des Wagens nach. Es konnte sein, daß ich glimpflicher davongekommen war als sie, weil ich auf dem Rücksitz gesessen hatte. Oder aber der Wagen konnte sich vollständig überschlagen haben, so daß ich am schlimmsten betroffen war. All dies waren morbide Gedanken, denn ich besaß keine Möglichkeit, diese Dinge nachzuprüfen. Aber ich konnte nichts dafür. Ich suchte nach anderen Dingen, mit denen ich meine Gedanken beschäftigen konnte. Ich dachte an die Schule, an die Prüfungen, die ich sicher verpassen würde – und wahrscheinlich schon verpaßt hatte. Ich dachte an einen typischen Tag an der High-School, versuchte, mir alle Leute ins Gedächtnis zurückzurufen, die ich dort kannte. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie die Sachen in meinem
Zimmer verteilt waren. Ich rief mir einige der besseren Vorlesungen, die ich gehört hatte, ins Gedächtnis zurück, Bücher, die ich gelesen hatte… Ich erfand Gedankenspiele und spielte sie. Ich schaffte es sogar, mir ein Schachbrett ziemlich exakt vorzustellen, aber ohne echten Gegner machte es keinen Spaß… Und immer, wenn ich innehielt, meine Erfindungsgabe erschöpft war und der Schlaf sich noch lange nicht einstellen wollte, begann ich mich mit der Zeit zu fragen, ob es nicht besser wäre, ich wäre tot. Da mir ein Großteil meiner Sinnesempfindungen fehlte, bedeutete das wahrscheinlich, daß mein Gehirn oder mein Rückgrat beschädigt waren. Ich wußte, daß es alles andere als gut war, wenn ich nicht bald anfing, wieder ein paar Sinneseindrücke zu haben. Jene Kopfschmerzen waren heftig gewesen. Ich vermißte das AllesEgal-Gefühl, das die Betäubungsmittel damals erzeugt hatten. Und es gab Zeiten, da war ich mir nicht sicher, ob ich nicht verrückt wurde – oder ob ich es vielleicht schon war. Ich versuchte zu sprechen. Ob ich es hören konnte oder nicht, war ohne Bedeutung, wenn jemand anders es konnte. Ich versuchte immer wieder zu sagen: »Mein Kopf tut weh.« In Wirklichkeit tat er das gar nicht mehr. Aber jemand mußte es wohl gehört haben und mir irgendwas gespritzt haben, um mir die Schmerzen zu nehmen. Ich schwebte wieder. Ich versuchte es danach noch öfter, aber es klappte nur noch wenige Male. Sie mußten etwas gemerkt haben. Aber es brachte mich auf eine Idee. Das nächste Mal, als ich eine Hand auf meiner Stirn spürte, versuchte ich zu sagen: »Warten Sie. Bin ich in einem Krankenhaus? Drücken Sie einmal, wenn ja, und zweimal, wenn nicht.« Die Fingerspitzen drückten einmal zu. »Meine Eltern«, sagte ich. »Sind sie am Leben?«
Es folgte ein Zögern. Ich wußte, was das bedeutete, noch ehe ich die Antwort spürte, die schließlich erfolgte. Danach zog ich mich in mich selbst zurück. Vielleicht wurde ich tatsächlich eine Zeitlang verrückt. Später – möglicherweise Tage später – kam ich zu mir. Ich versuchte es wieder. Als ich die Hand spürte, die ich nun so oft ignoriert hatte, fragte ich: »Ist mein Rückgrat durchtrennt?« Zweimalige Berührung. »Ist es verletzt?« Einmalige Berührung. »Werde ich wieder gesund?« Nichts. Falsche Formulierung, nahm ich an. »Gibt es die Möglichkeit, daß ich wieder gesund werde?« Zögern. Einmalige Berührung. Nicht allzu vielversprechend. »Sind meine Augen verletzt?« Zweimalige Berührung. »Liegt es an meinem Gehirn?« Eine Berührung. »Ist es heilbar?« Keine Berührung. »Würde eine Operation helfen?« Keine Berührung. War mein Gesprächspartner gegangen? Halt – »Bin ich schon operiert worden?« Eine Berührung. »Wie bald wird man wissen, ob die Operation erfolgreich war?« Keine Berührung. »Scheiße«, sagte ich und zog mich wieder zurück. Mir fiel nichts mehr ein, was ich hätte fragen können. Das war alles,
worauf es mir ankam. Ich spürte noch viele Male die Hand, aber ich wußte einfach nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Es folgten lange Perioden, während derer ich unter Psychosen gelitten haben muß. Intervalle voller seltsamer, traumhafter Folgen, die keine Träume waren, nur Wanderungen des Geistes. Zwischendurch gab es klare Momente. Während eines der letzten beschloß ich, den Versuch zu machen, meine geistige Gesundheit zu erhalten. Warum, weiß ich nicht genau. Vielleicht war die Entscheidung an sich ein Akt des Wahnsinns. Es konnte sein, daß ich besser dran war, wenn ich allen Zugang zur Vernunft verlor, wenn ich jedes Wissen über mich aufgab. Dennoch beschloß ich, zu versuchen, dem Chaos standzuhalten. Ich fing damit an, daß ich mir selbst meine Lebensgeschichte erzählte. Zunächst grob und flüchtig. Dann fing ich an, immer mehr Einzelheiten auszugraben. Ich ging so weit zurück, wie ich konnte. Viele Male arbeitete ich mich langsam vor. Ich beschwor die Gesichter meiner Klassenkameraden in der Grundschule, suchte nach Namen für jeden von ihnen. Ich erinnerte mich an Tischtücher, Teppiche und Bilder an Wänden, an die ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Jeder Verwandte, jeder Freund… Die Kleidung, die ich zu verschiedenen Zeiten getragen hatte… Meine erste Rauferei, mein erster Flirt… Jede Verletzung. Ich dachte an Weihnachts und Erntedankfeste und Geburtstage, an die Sitzverteilung bei Essenseinladungen, an Geschenke, die ich gemacht und erhalten hatte, Hochzeiten, Geburten und Todesfälle… Das Geschäft meiner Eltern… Es beschäftigte mich lange Zeit. Ich war überrascht über all die Dinge, die gerade eben außer Reichweite im Gedächtnis lagerten… Das Geschäft meiner Eltern? Ich erinnerte mich an die Computer und an die Spiele, die ich mit ihnen zu spielen pflegte. Ich dachte an jeden einzelnen, den
ich gekannt hatte, an viele davon mehr wie an Menschen, so wie ich an meine Klassenkameraden gedacht hatte. Ich erinnerte mich sogar an die Zeit, als ich dachte, ich hätte irgendwie in das Innere des einen hineingesehen… Ich ertappte mich bei dem Wunsch, wieder einen Computer zu haben, mit dem ich sprechen konnte. Und ich dachte noch einmal an jenes merkwürdige Gefühl, das die ganzen Jahre vergessen gewesen war. Klick. Klick. Klick. Ditick. Ja. So. Und dann… … Es waren Reihen um Reihen von Lichtern und sich drehenden Feuerstreifen. Ich folgte einer hellen Spirale durch ein knisterndes, klickendes Wunderland… Es war wie ein Nachhausekommen. Das war das Gefühl. Nur war das nicht die gleiche Maschine, wiederaufgebaut von meinem Gedächtnis. Es war ein echter, in der Nähe befindlicher Computer, in den ich hineinsah. Ich war sicher. Wie und wo genau, das konnte ich im Moment nicht sagen. Aber ich spürte den Austausch von Daten um mich herum. Ihre Bedeutung wurde mir immer klarer, noch während ich das Phänomen betrachtete… Ich war irgendwie mit dem Computer des Krankenhauses in Kontakt getreten. Ich befand mich in seinem Inneren, ein stiller Teilhaber, und sah ihm zu. Plötzlich war ich nicht mehr allein. Jeden Tag floh ich nun nach dem Aufwachen, spulte mich in jene wunderbare Maschine ein. Sie wurde zu meinem Freund. Da gab es Daten, Daten und noch mehr Daten, mein Interesse zu fesseln. Ich gab alle unbestimmten Sehnsüchte auf, noch einmal mit denen zu kommunizieren, die mich fütterten, badeten, mir Medikamente verabreichten. Ich kannte jetzt all ihre Namen – wußte, wer Dienst hatte und wer nicht – und erfuhr einen Teil ihrer Lebensgeschichte aus ihren Personalakten. Ich las alle Speisepläne im voraus. Ich sah die Krankenberichte aller anderen Patienten durch – genau wie
meine eigenen. Ich war in schlechter Verfassung, mit einer gänzlich pessimistischen Prognose. Ich entdeckte, daß alles, was ich an medizinischen Fachausdrücken nicht verstand, über eine Querverbindung mit dem Computer der medizinischen Bibliothek zu erfahren war. Ich wußte, wo überall ich mich wundgelegen hatte, auch wenn ich die Stellen nicht spüren konnte. Ich war deprimiert über meine Entdeckungen, was meinen eigenen Fall betraf. Dennoch hatte ich so viel, was ich vorher nicht gehabt hatte, ein Fenster zur Welt. Und während Neuzugänge registriert wurden, wurde mir wieder bewußt, daß die Zeit verging. Tage und Wochen wurden zu Monaten. Mein Blickfenster weitete sich, wurde zu einem riesigen Panoramabildschirm… Der Krankenhauscomputer war an einen Polizeicomputer angeschlossen, der Computer der medizinischen Bibliothek war an einen Universitätscomputer angeschlossen, der Universitätscomputer war an einen militärischen Computer angeschlossen, der militärische Computer an einen meteorologischen Computer angeschlossen – wie der Mann in dem Lied von den Knochen sagte. Und dazwischen lagen Bankcomputer, Computer von Denkfabriken, private Computer, Querverbindungen zu ausländischen Computern… Ich lernte, mit der Strömung zu schwimmen. Klickeditick. Natürlich machte es mir etwas aus, daß mein Körper ohne Gefühl und nutzlos dalag. Aber wenigstens war ich wieder Teil dieser Welt. Ich hatte Strukturen, an die ich mich klammern, faszinierende Dinge, die ich betrachten konnte. Ich konnte mich tagelang darin verlieren, geschäftliche oder politische oder militärische Manipulationen von Menschen, Materialien und Geldern zu verfolgen… Ich beobachtete Machtübernahmen bei Handelsgesellschaften, die ökonomischen Zwangsmaßnahmen in schwierigen politischen Situationen, die Verhandlungen um eines der wichtigeren
Spielertransfergeschäfte, die Umstellung einer Universität von einer geisteswissenschaftlichen auf eine technologische Einrichtung. Ich sagte einen Selbstmord voraus, ich sah den Aufstieg eines ozeanographischen Konzerns zu Weltbedeutung vorher, ich wurde Zeuge der Wiederentdeckung eines verlorenen Satelliten. Ich war nicht länger einsam. Ich wollte meinen Körper wiederhaben, wollte, daß er richtig funktionierte, aber wenigstens fühlte ich nicht mehr die alles auflösende Berührung des Wahnsinns… Ich fragte mich – natürlich fragte ich mich – nach dem Wesen meiner Verbindung zu den Maschinen. Ich hatte nie von so etwas gehört oder gelesen. Es wirkte wie eine phantastische Art von Telepathie – vom Menschen zur Maschine. Ich versuchte ein paarmal, in den Gedanken der Menschen zu lesen, die sich um mich herum bewegten, und ich hatte überhaupt keinen Erfolg. Es schien, als sei meine Fähigkeit außerordentlich spezialisiert. Ich erkannte, daß mir wahrscheinlich eine schwache Begabung dafür angeboren war und daß sie sich vielleicht nie weiter entwickelt hätte, wenn es nicht das einzigartige Zusammentreffen von Umständen gegeben hätte, dem ich ausgesetzt gewesen war. Wie auch immer es entstanden war und funktionierte, ich konnte nur dafür dankbar sein. Andere Patienten, die in besserer Verfassung waren, mochten Fernsehgeräte in ihren Zimmern haben. Ich stand in meinem Kopf mit einem Großteil der Welt in Verbindung. … Und noch mehr Zeit verging. Die Aufzeichnungen besagten, daß mein Zustand gleichbleibend war. Ich blieb unterernährt, mit einem Katheder versehen, meine Eingeweide wurden elektrisch stimuliert. Ich brauchte gelegentlich eine Infusion, ich bekam regelmäßig Medikamente, ich wurde behandelt und umgedreht, aber ich litt immer noch unter Wundliegen. Weitere Operationen waren nicht angezeigt.
Einer der Neurologen war der Ansicht, daß ich ohnehin inzwischen total psychotisch sein müßte. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß ich dahinvegetierte und daß dies mein Leben lang so bleiben würde. Ich versuchte mich damit abzufinden, aber natürlich geisterte es durch meine Träume und durch einen Teil meiner wachen Stunden. Ich erforschte natürlich meinen Zustand, konnte aber nichts allzu Ermutigendes entdecken. Ich fuhr fort, mir Zerstreuung innerhalb des Datennetzes zu suchen, war ständig auf der Suche nach irgendeinem medizinischen Durchbruch, der sich auf meinen Zustand beziehen mochte. Ich weiß nicht, an welchem Punkt genau ich die leise Besorgnis zu spüren begann. Nicht über meinen Zustand. Nichts in meinem Krankenbericht deutete auf meinen bevorstehenden Tod oder eine plötzliche Verschlimmerung hin. Nein. Da ich nicht wirklich aufgegeben oder mich gar mit meinem Schicksal abgefunden hatte, nährte ich einen Schimmer von Hoffnung auf Genesung. Ich hatte den einen oder anderen Wunschgedanken, daß jener medizinische Durchbruch kommen und meine allmähliche Genesung bewirken würde. Ich brauchte das. Das andere Gefühl ist schwerer zu beschreiben. Während ich das Datennetz durchstreifte, hatte ich gelegentlich den Eindruck, daß mir jemand über die Schulter sah. Zuerst war es nur ein zufälliges, nicht kontinuierliches Ereignis, aber später passierte es mir immer häufiger. Ich ging eine Zeitlang darüber hinweg, betrachtete es als eine Art Verfolgungswahn. Immerhin hatte mein Zustand mich gewiß längere Zeit aus dem Gleichgewicht gebracht. Und jetzt war meine einzige Möglichkeit der Zerstreuung von außerordentlich ungewöhnlicher Art. In der Maschine von einem Gespenst heimgesucht zu werden, mochte eine Art Reaktion darauf sein – möglicherweise sogar eine
ganz gesunde, die zeigte, daß ich jetzt dabei war, meine Aufmerksamkeit anderswo hinzulenken, wirklich nach Dingen jenseits des icherfüllten Universums zu suchen, das ich so lange bewohnt hatte. Aber das Gefühl blieb, verstärkte sich und wurde eine Zeitlang zu meinem ständigen Begleiter. Es scheint, als hätte ich mich nach und nach mit dem Gefühl arrangiert. Ich war nicht bereit, meinen Zeitvertreib aufzugeben. Eine gewisse Nebelhaftigkeit liegt jedoch über dieser Periode, etwas, das möglicherweise mit dem zu tun hatte, was , folgte. Ich wachte eines Morgens mit einer Art Gefühl in meinem linken Oberschenkel auf. Ich konnte das Bein nicht bewegen oder irgend etwas ähnlich Kompliziertes. Aber der Bereich – etwa so groß wie meine Handfläche – prickelte: er brannte. Es wurde sehr unangenehm und ausgesprochen störend. Ich konnte mich nicht davonspulen, ich konnte nichts anderes tun, als daran zu denken – stundenlang, nehme ich an. Seltsamerweise kam ich zuerst nicht auf die Idee, daß dies ein ermutigendes Zeichen sein könnte. Ich betrachtete es einfach als eine neue Plage. Das nächste Mal, als ich aufwachte, fühlte ich es auch in den Zehen meines linken Fußes, zusammen mit einem gelegentlichen Aufflammen von Empfindung in der Wade; auch die Empfindungsfähigkeit am Oberschenkel hatte sich vergrößert. Ungefähr hier wurde mir bewußt, daß es etwas Gutes sein mochte, was da geschah. Das übrige ist ein Durcheinander, eine Montage – und es ereignete sich während eines Zeitabschnitts von vielen Wochen. Ich erinnere mich an das schreckliche Summen in meinen Ohren, das tagelang anhielt, ehe es sich in einzelne Geräusche und später in Worte auflöste. Ich bemerkte das schwache Licht kaum, bis ich es bereits länger als einen Tag gesehen hatte. Mein rechtes Bein, mein Unterleib und meine Arme fingen an zu brennen und zu jucken, und schließlich
spürte ich den Schmerz der Druckstellen. Ich habe vergessen, an welchem Punkt genau es passierte, daß eine Krankenschwester auf die Veränderung in meinem Zustand aufmerksam wurde. Zahlreiche Ärzte kamen und gingen, und ich konnte jenen Neurologen sehen und mit ihm sprechen, der geglaubt hatte, ich sei wahnsinnig geworden. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich weder ihm – noch irgendeinem anderen – von dem Spuleffekt, wie ich meinen Zeitvertreib im stillen nannte, erzählte, aus Angst, ihn in seiner Ansicht zu bestärken. Es brauchte lange Zeit und eine Menge Physiotherapie, bevor ich wieder laufen konnte, aber in der Zwischenzeit genügte es mir, durch die Flure gefahren zu werden und später selbst zu fahren, aus dem Fenster auf das Krankenhausgelände oder auf den Verkehr sehen zu können, mit anderen Patienten zu sprechen. Es war gut, allein essen zu können. Und ich beschloß, nicht wieder mit dem Rauchen anzufangen, nachdem ich eine vollständige, kostenlose Entziehungskur durchgemacht hatte. Auch wenn der Tod meiner Eltern mir immer noch weh tat und ich wußte, daß eine meiner ersten Handlungen nach der Entlassung darin bestehen würde, daß ich ihre Gräber besuchte, hatte ich doch schon lange Zeit mit dem Wissen gelebt, und ich dachte nicht mehr ununterbrochen daran. Der medizinische Durchbruch, den ich erwartet hatte, war nicht eingetreten. Mein Körper hatte im Lauf der Zeit glücklicherweise seine Wiederherstellung aus eigener Kraft geschafft. … Und während ich mich erholte, spulte ich mich ein, denn jetzt war die Verbindung zu den Computern ein Teil meines Lebens geworden, ein Phänomen, das ich sehr schätzte. Ich war dankbar, daß die Fähigkeit mich nicht verlassen hatte, daß sie nicht verdrängt wurde durch die Wiederkehr meiner anderen Gaben. Ich durchstreifte immer noch das Datennetz,
wenn ich abends im Bett lag. Aber irgendwie war es nicht mehr genau dasselbe. Klick.
Ich lag keuchend da, auf dem Vordersitz des Lastwagens, der mir zu Hilfe gekommen war. Er fuhr bereits langsamer, fiel zurück und entfernte sich von meinem brennenden Fahrzeug und von dem anderen Rettungsfahrzeug, das ebenfalls Feuer gefangen hatte. Wir waren im Begriff, Richtung Straße zu wenden, erkletterten gerade die Steigung. Mein Rücken fühlte sich immer noch heiß an. Ich stank nach Rauch, vermischt mit dem Geruch von versengtem Haar und Stoff. Ich schmeckte den Rauch in meinem Mund. Ich hustete und atmete die reinere Luft in tiefen Atemzügen ein. Die halb geöffnete Tür knarrte, als wir auf eine Bodenwelle trafen. Die Scheibe hatte einen Sprung, war aber nicht zerbrochen. Ich erhob mich auf die Ellbogen und zog die aufgesprungene Tür weiter zu. Während ich das tat, sah ich, wie mein ursprüngliches Gefährt und der andere Lastwagen mit der felsigen Erhebung inmitten des Feldes zusammenstießen. Zwei Explosionen folgten, und das Feuer umloderte das furchtbare Schauspiel. Die Sprünge im Glas leuchteten dabei auf wie Blitzschläge.
Elf
Die anderen Fahrzeuge auf der automatischen Fahrspur machten uns Platz, und bald waren wir wieder Teil des Verkehrsflusses. Natürlich war das zu schön, um von Dauer zu sein. Wir hatten das Muster der Programmierung des Verkehrskontrollcomputers durchbrochen und mußten selbst jetzt noch ungewöhnlich wirken. Während ich zu einem früheren Zeitpunkt vielleicht damit durchgekommen wäre, eine lange Reihe von Fahrzeugen umzuprogrammieren, war ich ziemlich sicher, daß es jetzt nicht mehr funktionieren würde. Es mußte eine Art Alarmbereitschaft eingesetzt worden sein, seit die Ergebnisse meiner letzten Änderungen bekannt geworden waren. Und das Fahrzeug, mit dem ich fuhr, konnte sogar leicht mit bloßem Auge entdeckt werden, mit der Beschädigung, die es hatte erleiden müssen. Eine schnelle Einspulung, eine schnelle Suche ergab, daß ich mich im östlichen Tennessee befand. Ich veranlaßte den Lastwagen, an den Straßenrand zu fahren, und ich ließ ihn fast einen Kilometer darauf weiterrollen, bis ich ihn anhielt und ausstieg. Ganz in der Ferne, jenseits von offenen Feldern und einem besser gepflegten Gelände, tauchte etwas auf, das möglicherweise die Trasse einer Eisenbahnlinie war. Indem ich danach tastete, konnte ich den Datenfluß entlang der fiberoptischen Kabel spüren, die ihr folgten. Ich stand einen Moment lang neben dem Lastwagen. Wenn ich zurückschaute, konnte ich die dunklen, vom Wind zerfetzten Rauchschwaden erkennen, die vom Wrack meines ursprünglichen Lastwagens und dem seines Begleiters aufstiegen. Ich hoffte, Barbeau würde annehmen, ich sei darin
umgekommen, jedenfalls so lange, bis ich einen gewissen Vorsprung hatte. Ich wies mein Rettungsfahrzeug an, auf die automatische Fahrspur zurückzukehren und seinen Weg fortzusetzen. Gehorsam knirschte sein Getriebe, und es entfernte sich, während die anderen Lastwagen augenblicklich ihre Abstände anpaßten, um ihm Platz zu machen. Ich suchte den Himmel ab. Es waren keine weiteren Hubschrauber zu sehen. Ich hörte jedoch den Ton einer fernen Sirene. Ich begann, die grüne, hügelige Landschaft zu durchqueren auf die parkähnliche Anlage zu. Es gab dort eine Reihe von Gebäuden, aber nur wenig Betrieb. Ich vermutete, während ich durch binsenartiges Gras über die rote, klumpige Erde lief, daß es möglicherweise ein Universitätsgelände war, dem ich mich näherte. Tick. Klick. Ditick. Ja. Es gab dort einen Computer, eine Reihe von Zeugnissen fürs Sommersemester war darin gespeichert. In der Ferne verstummte die Sirene. Ich nahm an, daß sie in der Nähe der brennenden Lastwagen aufgehört hatte. Es würde einige Zeit dauern, bis sie jenes schwelende Wrack wirklich durchsuchen konnten. Aber ich beschleunigte meine Wanderung durch die Mittagshitze. Es würde angenehm sein, dort vorne in den Schatten zu gelangen. Ich sah gewiß ordentlich genug aus für eine Universität. Ich entdeckte einen Pfad, der allmählich breiter wurde und in einen Kiesbelag überging. Ich roch Magnolien und frisch gemähtes Gras. Echte Gerüche – ich konnte die Bäume sehen und die Stelle, wo der Rasen geschnitten worden war –, keine Vorstufe zu eingebildeten Schrecknissen. Mehrere Jungen und Mädchen spielten auf einer freien Fläche rechts vor mir Frisbee. Sie schenkten mir keine besondere Beachtung. Als ich an ihnen vorbei war und mich
den Gebäuden näherte, fing ich Essensgerüche auf, und mein Magen begann sofort zu reagieren. Eine Treppe aus Beton mit einem röhrenförmigen Geländer führte hinab zu einer offenen Tür. Dahinter befand sich ein kleiner Raum nach Art einer Cafeteria. Ich blieb in der Tür stehen, als suchte ich jemanden. Ich sah, daß die Leute bei dem Jungen an der Kasse, der zwischendurch in einem Taschenbuch las, bar bezahlten. Ich sah kein Aufblitzen von Identitäts-Karten. Also ging ich hinein, ging die Theke entlang und kaufte zwei Hot dogs, eine Tüte Pommes frites und eine große Cola. Ich nahm sie mit zurück nach draußen zu einer versteckten Bank, die ich unter einem großen, alten Baum entdeckt hatte. Es war ein komisches Gefühl, hier zu sitzen und zu essen, zu beobachten, wie die Studenten vorbeigingen. Es ließ mich an meine eigene Hochschulzeit denken. Ich stand gerade im Begriff, wieder in den Computer einzudringen – nur um Gesellschaft zu haben, nehme ich an –, als ein Mädchen in weißen Shorts, einer grünen Strickjacke und Tennisschuhen vorbeikam, mit einem Tennisschläger in der Hand. Ungefähr Anns Größe und Körperbau. Gleiche Haarfarbe. … Und sie lief durch meine Erinnerung wie an jenem Tag auf dem Unigelände, mit einer weißen Seidenbluse und einem dunkelblauen Rock, und einer kleinen Handtasche im Arm. Ich stand in der Tür des Studentenbunds, um dem Wind zu entgehen. Sie sah mich direkt an, als wisse sie bereits, wer ich sei, lächelte und nannte mich beim Namen. Ich nickte. »… Und du bist Ann Strong«, sagte ich. »Ja«, antwortete sie. »Ich möchte dich zum Essen einladen.« »In Ordnung.« Ich fing an, mich umzudrehen. »Nicht da drin«, sagte sie. »An einem etwas zivilisierteren, ruhigeren Ort.«
»Okay.« Sie hatte ein Auto. Sie fuhr uns zu einem Lokal außerhalb des Unigeländes, zum Speisesaal ihres Nobelhotels, wo das Essen hervorragend und die Servietten aus schwerem Leinen waren. Ich war seit über drei Monaten wieder auf der Hochschule. Eine etwas mehr als doppelt so lange Zeitspanne hatte zwischen meiner Genesung und meiner Rückkehr zur Universität gelegen. Ich hatte mich in mein Studium hineingekniet, als handle es sich um eine Beschäftigungstherapie, und ich erwartete, bei den Schlußprüfungen in ein paar Wochen sehr gut abzuschneiden. Unser Gespräch auf dem Hinweg war allgemein gewesen, um uns miteinander bekannt zu machen. Sie kam auch nicht voreilig zur Sache, während wir aßen. Ich vergaß sogar kurze Zeit, daß sie Arbeitskräfte für Angra Energy anwarb, so unterhaltsam war das Gespräch. Sie schien wie durch Zufall beinahe jedes Thema aufzugreifen, das mich damals gerade interessierte, sogar ein paar Bücher, die mir kürzlich gefallen hatten oder die ich momentan las. Als wir schließlich dasaßen und Kaffee tranken, fragte sie mich: »Was hast du für Pläne für die Zukunft?« »Ach, irgendwas, das mit Computern zu tun hat«, antwortete ich. »Könntest du dir vorstellen, in den Osten zu ziehen?« Ich zuckte die Achseln. »Darüber habe ich eigentlich noch nicht nachgedacht«, sagte ich. »Wenn ich eine Arbeit gern hätte, würde ich dahin gehen, wo sie mich hinführt.« »Also, du bist mir aufgefallen als möglicher Nachwuchs für Angra.« »Das wundert mich«, antwortete ich. »Ich dachte, ihr stellt nur Doktoranden und Graduierte ein. So weit bin ich noch nicht.«
Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Ich bin hier, um nach Talenten zu suchen«, sagte sie, »nicht nach Papieren mit Schönschrift drauf.« Ich lächelte. »Aber natürlich wollt ihr die auch.« »Nicht unbedingt«, bemerkte sie. »Nicht in besonderen Fällen.« Der Kellner kam vorbei und füllte unsere Tassen nach. Als ich meine hob, streckte Ann die Hand aus und berührte die Rosenknospe in der Kristallvase zwischen uns. »Ich fühle mich geschmeichelt, wenn ich richtig verstehe, was du da sagst«, antwortete ich schließlich, »aber ich bezweifle, daß ich schon wieder lange genug an der Hochschule bin, um genügend Leistungsnachweise zu haben, nach denen du dich richten könntest.« »Ich habe deine früheren Zeugnisse gesehen«, sagte sie, »und natürlich beeinflussen uns auch die Empfehlungen deiner derzeitigen Professoren.« »Du weißt von dem Unfall?« »Ja.« »Um es ganz klar zu sagen – aus eurer Sicht –, er könnte mich aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Wäre es nicht klüger, so jemanden längere Zeit zu beobachten?« Sie nickte. »Das ist einer der Gründe für unsere persönliche Bekanntschaft. Darf ich dich beobachten?« »Selbstverständlich.« »Bist du denn aus dem Gleichgewicht?« Ich lachte. »Ich bin so stabil wie ein Felsen«, sagte ich. »In dem Fall schließt Angras großzügiges Spesenkonto natürlich das Abendessen mit ein. Hättest du Freitagabend Zeit?«
»Ja.« »An dem Abend hat ein Stück Premiere, das ich gerne sehen würde.« »Ich mag Theaterstücke«, antwortete ich. »Aber ich will dich nicht mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen aufhalten. Ich glaube wirklich, ich sollte mein Studium abschließen, bevor ich eine Arbeit annehme.« Sie legte mir die Hand auf den Arm. »Wir können uns ein andermal über diese Angelegenheit unterhalten«, antwortete sie. »Trotzdem möchte ich erwähnen, daß Angra Möglichkeiten zur Fortbildung seiner Angestellten vorsieht. Im Moment brauche ich aber viel dringender die Bestätigung, das ich selbst das Spesenkonto benutzen darf. Ich hole dich am Freitag um sechs zu Hause ab.« »Das wäre nett«, sagte ich. Und das war es auch. Sie würde sich eine unbestimmte Zeitlang in der Stadt aufhalten – mindestens mehrere Wochen lang, sagte sie mir – und es gab eine Menge schöner Dinge zu sehen und zu tun, wenn man Geld hatte und ein Auto, und wenn man jemanden wirklich gut kennenlernen wollte. Obgleich wir in den folgenden Wochen ein Liebespaar wurden, weigerte ich mich, die Hochschule zu verlassen, um Ende des Semesters einen Job bei Angra anzunehmen. Ich war entschlossen, das akademische Jahr zu beenden und im Sommer mit der Arbeit anzufangen. So konnte ich kündigen, wenn ich die Arbeit nicht mochte, und im Herbst zurückkommen, ohne Zeit zu verlieren. Es wirkte, nehme ich an, bei einem Studenten, dem man eine gute Position bei einer größeren Firma angeboten hatte, anmaßend, solche Bedingungen zu stellen, aber ich begann bereits zu vermuten, daß an meinem Fall etwas Besonderes war. Die Tatsache, daß sie auf meine Bedingungen eingingen, schien dies nur zu bestätigen.
Und Ann kam und ging. Während des folgenden Semesters traf ich mich fast jedes Wochenende mit ihr. Es war beinahe so, als ob sie mich überwachte. Ich fragte sogar: »Du kommst ganz schön oft vorbei. Haben die etwa Angst, daß eine andere Firma mich ihnen wegschnappt?« Sie wirkte verletzt. »Ich richte meinen Zeitplan nach dir«, antwortete sie. »Würdest du denn anderswo hingehen, wenn du plötzlich ein weiteres Angebot hättest?« »Ich habe kein anderes bekommen«, sagte ich ihr. »Aber nein, ich habe gesagt, ich versuche es bei Angra, und das werde ich auch.« »Dann laß uns meine Reisespesen zusammen auf den Kopf hauen.« Es erschien beinahe undankbar, die Angelegenheit noch weiter zu verfolgen. Dennoch war mir bewußt, daß ich nur einer unter vielen gescheiten jungen Leuten im Lande war. Ich hatte mich sogar ein wenig umgehört unter meinen Kommilitonen – es waren ein paar hochbegabte darunter – und hatte erfahren, daß sie, abgesehen von einem einheitlichen Vorstellungsgespräch und einem ›Sie hören von uns‹, keinem von den anderen eine Stellung angeboten hatten, nicht einmal höheren Semestern und Doktoranden. Auch wenn die Eitelkeit ein hartnäckiger Schatten einer jeden Persönlichkeit sein mag, wußte ich, daß ich nicht soviel besser als alle anderen war, um so viel besondere Beachtung zu verdienen. … Natürlich ausgenommen den Fall, die persönliche Zuneigung, die sie mir gegenüber entwickelt hatte, hätte Ann veranlaßt, mich bei ihrem Arbeitgeber als eine Art Leonardo da Vinci aufzubauen. Wenn das der Fall war, würde ich mich bei Angra sehr unwohl fühlen, das wußte ich. Ich wollte keine ungerechtfertigte Bevorzugung, und ich wollte niemandes Protegé sein.
Aber Ann sah diese Reaktion voraus, genau wie viele andere zuvor. Die Logik darin war bestechend, und es gab nur einen Weg, damit umzugehen. Es war an der Zeit für die Wahrheit. Es war ein herrlicher Tag Ende April, sonnig, kühl und kristallklar. Das frische Grün des Frühlings überzog das Land, und der Duft der feuchten Erde strotzte vor Leben. Wieder trank ich zusammen mit Ann Kaffee, nur daß ich diesmal durch wohlüberlegtes Schwänzen für ein dreitägiges gemeinsames Wochenende gesorgt hatte. Wir tranken den Kaffee auf der Terrasse eines Hauses in den Bergen, das sie gemietet hatte oder das Angra gehörte oder das ein Freund zur Verfügung gestellt hatte – genau erfuhr ich es nie –, und ich trug einen Morgenmantel mit einem goldenen, glotzäugigen Drachen, der sich auf der linken Brust schlängelte. Ich schälte eine Orange und wußte nicht, wie ich es ihr sagen sollte, daß ich die Arbeit nicht haben wollte, nur weil sie einen Narren an mir gefressen hatte, und wenn es nicht daran lag, woran denn dann? »Ich nehme an, wir müssen früher oder später darüber reden«, sagte sie, noch ehe ich etwas von dem verlautbart hatte, was ich dachte. »Es sind nicht deine akademisch erworbenen Fähigkeiten in bezug auf Computer, an denen Angra hauptsächlich interessiert ist.« »Könntest du etwas deutlicher werden?« sagte ich und betrachtete immer noch die Orangenschalen. »Du hast einen einzigartigen geistigen Rapport mit Computern.« »Und wenn dem so wäre«, sagte ich, »wie könntest du etwas darüber wissen?« »Meine einzigartige geistige Fähigkeit hat mit den Gehirnen anderer Leute zu tun.« »Telepathie? Du weißt, was ich denke?« »Ja.«
Oh, ich testete sie mit ein paar Zahlenreihen und Gedichtzeilen, aber ich glaubte ihr, noch ehe sie den Beweis erbrachte. Ich nehme an, es ist nicht allzu schwer für einen, der eine paranormale Fähigkeit besitzt, zu glauben, es könne noch andere wie ihn geben. »Ich habe sowieso nicht angenommen, daß es an meiner wunderbaren Persönlichkeit liegt.« »Aber ich habe dich sehr gern«, antwortete sie, vielleicht ein wenig zu prompt. »Warum stellt Angra Paranormale ein?« fragte ich. »Und gibt es davon noch viele?« »Keinen wie dich«, sagte sie. »Jede Firma mit einer Gruppe wie der unseren hätte einen ungeheuren Vorsprung gegenüber der Konkurrenz.« »Es hört sich ganz so an, als sei da was Unmoralisches mit im Spiel.« Sie stand auf und verschränkte die Arme. Ihre Lippen kräuselten sich. Ich hatte sie noch nie wütend erlebt. »Schau dich doch um«, sagte sie. »Das Land geht total vor die Hunde. Die ganze Welt. Warum? Wir haben es mit einer Energiekrise zu tun, deshalb. Sie kann überwunden werden. Wie? Die Technologie existiert, nur – die einzelnen Teilgebiete werden von Dutzenden verschiedener Konzerne geheimgehalten. Der eine hat auf einem Gebiet einen ordentlichen Vorsprung, der andere auf einem anderen. Dieser hat ein beinahe ausgereiftes Patent auf einem weiteren Gebiet angemeldet, jener hat ein brillantes Konzept, aber noch keine Hardware. Sie stolpern übereinander, behindern sich gegenseitig, stehen sich im Weg. Was wäre, wenn eine Firma den ganzen Mist durchschaute, sofort alles, was auf dem Gebiet gut ist, in die Hände bekäme und es dann umsetzen würde? Billige, saubere Energie in Mengen, das wäre es. Keine Krise mehr. Vielen würde man damit auf die Zehen treten. Es
würde zahlreiche Prozesse geben, und vielleicht später ein Kartellverfahren. Aber was soll’s? Eine Firma, die so groß ist wie Angra, kann all das hinnehmen – Zeit schinden, Abfindungen zahlen, Kompromisse schließen. Und das Ergebnis? Wir werden die Energiekrise beseitigen. Wir können es innerhalb von zehn Jahren schaffen. Willst du zusehen, wie sie übereinander stolpern, bis wir am Rande der Katastrophe stehen, oder willst du helfen, etwas daran zu ändern? Deswegen will Angra dich haben, deswegen braucht Angra deine Begabung. Wirst du uns helfen?« Ich trank meinen Kaffee. Ich war froh, daß ich endlich die Wahrheit über das erfahren hatte, was ich tun sollte, und daß ich immer noch einen Monat Zeit hatte, es mir zu überlegen. Im Juni fing ich an, für Angra zu arbeiten, und Ann und ich blieben befreundet. Es dauerte noch lange, bis wir anfingen, uns zu entfremden, da ich immer mehr das Gefühl hatte, daß ich nur eine Aufgabe für sie war. Die Umstände schienen manchmal darauf hinzudeuten, aber mir fehlte ihre Fähigkeit, zu wissen, wie jemand wirklich empfand. Dies mochte ein Fehler von mir gewesen sein. Sie reagierte kühl, als ich zum erstenmal mit einer anderen Frau ausging, und später überreichte sie mir ein Exemplar von Colettes Buch Chéri. Das war irgendwann gegen Ende meiner Zeit bei Angra aber noch vor dem Zeitpunkt, als die Schwierigkeiten begannen. Ich konnte der Lektüre dieser Geschichte von dem jungen Mann, der die ältere Frau nicht zu schätzen wußte, bis es schließlich zu spät war, nicht entnehmen, ob das hieß, daß sie mich wirklich mochte und durch mein Verhalten verletzt worden war, oder ob ihr die Tatsache Sorgen machte, daß sie älter war als ich. Das ist das Problem mit der Literatur. Zweideutigkeit. Heute konnte ich mich umschauen und sehen, daß Angra getreu der Voraussage Anns die Energiekrise beseitigt hatte.
Nur war irgendwo auf der Strecke irgend etwas schiefgegangen… »Verdammt!« Ich stopfte meine Serviette und das Papier in die leere Tasse und warf sie in einen nahegelegenen Papierkorb. Dann begann ich, auf dem Gelände herumzuspazieren. Es gab mehrere Parkplätze. Sollte ich versuchen, ein Auto zu stehlen? »Dr. Porter. Was meine Note betrifft…« Ich drehte mich unvermittelt um. Ich hatte ihn nicht näherkommen hören – einen schmalen Jungen mit unreiner Gesichtshaut und langem, braunem Haar. Sein Mund öffnete sich. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich dachte, Sie wären mein Professor…« »Und Sie wollen Ihre Note wissen?« »Ja, Sir. Ich fahre bald ab, und ich dachte – « »Sagen Sie mir Ihren Namen und Ihr Studienfach«, sagte ich. »Vielleicht kann ich behilflich sein.« »James Martin Brown«, antwortete er. »Politische Wissenschaften, Nr. 106.« Tick. Tick. Ditick. »Sie hatten eine Zwei als Vornote«, sagte ich zu ihm. »Sie haben eine Zwei in der Abschlußprüfung geschafft. Sie dürften eine Zwei im Zeugnis haben.« Seine Augen weiteten sich. Ich lächelte. »Ich arbeite im Büro«, sagte ich. »Computer. Etwas von dem Zeug bleibt hängen.« Er grinste. »Danke. Jetzt kann ich im Zug nach Hause ruhig schlafen.« Er drehte sich um und eilte davon. Zug? Ich hatte die Gleise in der Nähe beinahe vergessen. Manche Züge beförderten Personen, die meisten Fracht und einige beides. Ein Großteil von ihnen war heutzutage
vollautomatisiert – die, die Fracht transportierten, sogar ausschließlich –, obwohl sie, anders als bei den Lastwagen, immer noch ein paar menschliche Aufpasser an Bord hatten. Die Eisenbahnergewerkschaft hatte an diesem Punkt länger durchgehalten als die der Lastwagenfahrer… Ich wandte meine Aufmerksamkeit noch einmal den fernen Gleisanlagen zu. Ich spulte mich ein… Hinein, und zurück… Hindurch, entlang… In etwas weniger als einer Stunde war ein Zug fällig. Aber er beförderte Passagiere. Tick. Es gab noch einen in etwa drei Stunden. Gemischt. Tickdi. Einer in etwa fünf Stunden. Fracht. Die letzten beiden fuhren nach Memphis. Ditick. Ich drehte mich um und begann auf die Gleise zuzugehen. Da gab es eine Baumgruppe ein Stück weiter westlich. Ich änderte meinen Kurs dorthin. Es schien ein guter Platz, um zu warten. Ich hatte die Prüfungsnote des Jungen nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit ausfindig gemacht. Wenn er später nach Fremden auf dem Gelände gefragt wurde, wollte ich, daß er an mich als an jemanden dachte, der dorthin gehörte, jemanden, der ihm sogar einen Gefallen getan hatte. Kein Fremder. Ich überquerte die Gleise und marschierte weiter auf die Bäume zu. Ich entdeckte eine geschützte Stelle und setzte mich. Während ich dort umgeben von Schatten und Moskitos wartete, glitt ich zurück durch das System und studierte die Frachtpapiere jenes dritten Zuges. Es mußte eine menschliche Besatzung von drei Leuten an Bord sein – Maschine, Frachtraum, Mannschaftswagen. Normalerweise, das wußte ich, trafen sie sich an einem gemütlichen Ort und spielten Karten. Die Züge waren ebenso sicher wie die Lastwagen. Dieser hier hatte laut Fahrplan zweiundzwanzig volle
Güterwagen und drei leere Passagierwagen nach Memphis zu bringen. Wo sollte ich versuchen, einzusteigen? Pas hing davon ab, wo die Besatzung sich aufhielt, etwas, das ich herauszufinden hoffte, wenn der unvorhergesehene Aufenthalt eintrat. Jedenfalls wäre es nicht schlecht, mit einem der Passagierwagen zu fahren. Es war zu früh, um die Fahrtunterbrechung einzuprogrammieren. Irgendein übereifriger Angestellter konnte es theoretisch entdecken, wenn ich zu lange im voraus am Computer des Zuges herumpfuschte. Ich saß da, hörte den Vögeln zu und sah, wie im Osten ein paar Wolken aufstiegen. Ich dachte an mein mögliches weiteres Vorgehen. Ich dachte an Cora… Ich spürte die Vibrationen des ersten Zuges lange vorher. Ich beobachtete ihn, als er schließlich vorbeidonnerte, und ich hörte zu, wie sein Rumpeln wieder in der Ferne verklang. Ich sah nach und fand heraus, daß die anderen beiden immer noch nach Fahrplan fuhren. Während ich das tat, war es mir für höchstens eine Sekunde, als fühlte ich wieder jene schattengleiche Wesenheit, die mich beobachtete. Ich zog mich rasch zurück und grübelte weiter über die Zukunft nach. Nach einiger Zeit döste ich ein. Ich wurde geweckt durch das Kommen des zweiten Zuges. Die Sonne hatte sich weiter nach Westen bewegt. Meine Knie und Schultern waren ein wenig steif. Mein Mund war ausgetrocknet. Ich streckte mich, knackte mit den Gelenken und sah zu, wie der andere Zug vorbeifuhr. Ich überprüfte noch einmal den Güterzug. Er war jetzt auf dem Weg, immer noch fahrplanmäßig, keine Veränderungen. Ich programmierte die Fahrtunterbrechung ein, indem ich den nächstgelegenen elektrischen Entfernungsanzeiger als Orientierung benutzte. Ich wünschte, ich hätte die Voraussicht besessen, in der
Cafeteria dort auf dem Universitätsgelände ein paar Schokoladenriegel und eine Dose Mineralwasser zu kaufen. Ich kaute an einem Grashalm und versuchte mich an das letzte Mal zu erinnern, daß ich mit dem Zug gefahren war. Als er endlich kam, begann er, wie geplant, langsamer zu werden. Es gab ein quietschendes Geräusch, als die Bremsen griffen, und der Boden bebte. Die Zugmaschine glitt an mir vorbei, langsamer, langsamer. Mehrere Wagen kamen vorbei, immer langsamer, und schließlich kam die ganze Prozession knirschend zum Stehen. Ich stand zitternd da in den langen Schatten, während ich mich auf einen Sprung vorbereitete. Ich hörte links von mir Stimmen. Ein Mann kletterte aus dem Mannschaftswagen. Ein weiterer folgte ihm. Der zweite drehte sich um, um einem dritten, der an Bord blieb, etwas zuzurufen. Die zwei auf dem Boden berieten sich eine Zeitlang, dann trennten sie sich und gingen auf beiden Seiten des Zuges nach vorne. Ich spulte mich in den Computer ein. Irgend jemand war gerade dabei, ihn wegen der Fahrtunterbrechung zu befragen, als ich in ihn reinkam. Das mußte der Mann sein, der zurückgeblieben war; er überprüfte die Systeme, während die anderen nach einer äußeren Ursache für den Aufenthalt suchten. Der Mann auf meiner Seite des Zuges spähte zwischen die einzelnen Wagen und sah auch unter jedem nach, während er daran vorbeiging. Er war offensichtlich fest entschlossen, den Zug bis zur Spitze zu überprüfen. Ich veranlaßte die Tür des nächstgelegenen Passagierwagens, sich zu öffnen, spurtete hinüber, stieg ein und ließ sie sofort wieder zuschnappen. Es folgte eine lange Wartezeit, in der ich nicht wußte, ob ich gesehen worden war. In meinem Wagen war es dunkel, genau wie in den anderen beiden. Ich kauerte geduckt auf einem der Sitze und starrte aus dem Fenster. Nachdem einige Minuten
vergangen waren, atmete ich ein wenig freier. Dennoch dauerte es noch einmal gut zehn Minuten, ehe ich das Knirschen von Kies zu meiner Rechten hörte. Ich duckte mich noch tiefer und wartete darauf, daß es vorbeiging. Ich wartete weiter. Kurz darauf kam der andere Mann auf meiner Linken vorbei. Ich seufzte, und etwas von meiner Anspannung fiel von mir ab. Wieder überprüfte ich den Computer. Erst als der Haltebefehl widerrufen wurde und der Zug einen Ruck tat, konnte ich mich richtig entspannen. Langsam quälten wir uns vorwärts. Die Bewegungen wurden gleichmäßiger, wir begannen Geschwindigkeit aufzunehmen. Ich setzte mich wieder aufrecht hin. Als unsere Geschwindigkeit sich eingependelt hatte, stand ich auf und untersuchte alle drei Wagen. Ich beschloß, mich im vordersten aufzuhalten, damit ich hören konnte, wenn sich irgend jemand von hinten näherte. Ich war mir nicht sicher, ob ich dazu über all die anderen Geräusche hinweg in der Lage sein würde, aber ich fühlte mich so ein wenig sicherer. Dann ließ ich mich nieder und klickte, tickte und ditickte mich zurück in den Zentralcomputer dieser Region, wo ich alle Daten über den außerplanmäßigen Halt des Zuges löschte und durch die simple Tatsache ersetzte, daß wir Verspätung hatten. Ich sah zu, wie der korrigierende Befehl formuliert und übertragen wurde. Ich spürte, wie der Zug beschleunigte, als die Anpassung vorgenommen wurde. Wenn kein menschlicher Beobachter den Zwischenfall entdeckt hatte, befand ich mich in relativer Sicherheit. Ich hatte das Gefühl, daß ich dabei war, zu lernen, wie man sich richtig tarnte. Ich beobachtete, wie die Landschaft an mir vorüberzog. Bis hierher hatte ich es jetzt geschafft. Ich begann zu glauben, daß ich eine, wenn auch geringe, Chance hatte. »Cora, ich komme«, sagte ich.
Die Räder ratterten mechanisch vor sich hin. Die Sonne sank, während ich meinem nächsten Ziel entgegenfuhr.
Zwölf
Der ragtimeartige Telegraphenrhythmus der ratternden Räder schläferte mich ein. Ich war nicht müde, denn ich hatte mich genügend ausgeruht, als ich auf den Zug wartete. Aber mich überkam eine Art von Betäubung, und die Glieder wurden mir schwer. Ich nehme an, daß es sich um eine Reaktion auf das hektische Tempo der vergangenen paar Tage handelte. Zu viele Ereignisse in zu kurzen Abständen. Ich hatte viel Adrenalin verbraucht, viele Traumata erlebt und wiedererlebt. Ich wußte, daß noch mehr auf mich zukam, aber mein Bewußtsein rebellierte bei dem Gedanken daran. Ich wollte einfach nur dasitzen, an nichts denken, die vorbeigleitende dunkle Landschaft betrachten. Lange Zeit tat ich genau das. Ich hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Beine vor mir ausgestreckt. Ich war mir nicht sicher, wieviel Zeit verstrichen war, seit ich eingestiegen war. Eine Zeitlang genoß ich einfach das große taoistische Prinzip des wu wei – des Nichtstuns –, als ich mich plötzlich in einem Garten befand. Es schien mir ein ungeeigneter Zeitpunkt, um unvermittelt von einer Erleuchtung überkommen zu werden, deshalb war ich sofort auf der Hut. Ich war von lebensechten Blumen umgeben, und ich nahm deutlich ihren Duft wahr. Obwohl ich auf der Hut war, fühlte ich mich einige Augenblicke überwältigt. Es war ein Blumenchaos, das die Sinne verwirrte. »Ann?« sagte ich und bemühte mich um inneres Gleichgewicht. »Was ist es diesmal?«
Aber da war sonst nichts – nur das irritierende Durcheinander von Farben und Düften, die sich jetzt veränderten, als werde ein bizarres Kaleidoskop langsam gedreht. Dann brach eine stimmlose Andeutung von Angst hervor und erfüllte mein Gehirn. Ich spürte dahinter Anns Anwesenheit, obwohl es so schien, als widme sie mir nur einen Teil ihrer Aufmerksamkeit. »Ann?« »Ja. Schwierigkeiten«, meinte ich sie sagen zu hören, und dann war da ein unbestimmtes Gefühl von Schmerz. Unvermittelt begannen die Blumen zu verblassen, die Düfte wurden zarter… »… Tut weh. Da! Habe ihn aufgehalten!« »Ann! Was zum Teufel ist los?« »Er ist hier… Willy Boy ist hinter mir her.« Und dann veränderten sich meine Sinneswahrnehmungen. Ich war bei ihr, auf eine Weise, wie wir in der Vergangenheit nur wenige Male zusammengewesen waren. Ich fand mich als Gast in ihrem Bewußtsein wieder, sah durch ihre Augen, hörte mit ihren Ohren, spürte ihre körperlichen Leiden… Wir befanden uns in einer Wohnung, einer ziemlich großen. Ich hatte keine Ahnung, wo sie war. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, daß sie elegant eingerichtet war, aber unser Blick war auf Willy Boy gerichtet, der sich in einer Diele gegen die Wand lehnte. Zwischen ihm und uns lag ein geräumiges Wohnzimmer. Er war leicht nach vorne gebeugt und atmete schwer. Eine halbhohe Mauer trennte uns von einem Bereich, der eine kleine Küche zu sein schien. Rechts von uns gab ein großes Fenster den Blick auf eine hell erleuchtete Skyline frei, die ich nicht identifizieren konnte – obwohl mir schien, als sei es irgendwo im Osten. Im Hintergrund befand sich ihr Computer-plus-Telefon-etcetera, beziehungsweise die »Heimeinheit«, wie sie heutzutage von
fast jedem genannt wurde. Wir standen vor einem hellbraunen Ledersofa, lehnten uns auf ein marokkanisches Tischchen. Da war ein Schmerz in unserer Brust, aber wir steckten nicht nur ein, wir teilten auch aus. »Ich versteh’ deinen Standpunkt, Schwester«, sagte Willy Boy gerade, »aber du verzögerst die Sache nur, sonst nichts.« Ann verstärkte die Halluzinationen, die sie für ihn erzeugt hatte. Sie veranlaßte ihn, heftige Schmerzen in der Brust zu verspüren, die ihm anscheinend genauso echt erschienen, wie die, die er bei ihr tatsächlich hervorgerufen hatte. Sie schienen ihn sehr zu quälen. Gerade hatte er mit seinen eigenen Bemühungen nachgelassen, so daß sie einige Augenblicke Zeit gehabt hatte, nach mir zu suchen und mich zu sich zu bringen. »Eine Waffe, Ann! Der Aschenbecher dort, die Lampe – irgendwas! Zieh ihm eins über!« sagte ich. »Verleg dich auf körperliche Gewalt. Schlag ihn bewußtlos. Das wird ihn aufhalten. Nutz deinen Vorteil.« »Ich – kann nicht«, teilte sie mir mit. »Ich brauche meine ganze Kraft, um ihn abzuhalten…« »Dann geh und tritt ihm in die Eier! Stich ihm mit deinen langen Fingernägeln in die Augen! Er bringt dich um, wenn du ihn nicht ausschaltest!« »Ich weiß«, sagte sie. »Aber wenn ich näher an ihn herankomme, wird er im Vorteil sein. Je geringer die Entfernung, desto größer seine Kraft.« »Hast du eine Schußwaffe?« »Nein.« »Schaffst du es in die Küche, um dir ein Messer zu besorgen?« »Er ist näher an der Küche als ich. Es hat keinen Sinn.« Ich hatte sie abgelenkt. Ich spürte ein Brennen in ihrer Brust, einen Schmerz im Arm – ähnlich dem, was ich am Flughafen erlebt hatte. Sie projizierte eine verstärkte Vorstellung davon
auf ihn zurück, und er hob die Hand, um sie an seine Brust zu pressen. »Ich glaube, er ist wirklich herzkrank«, sagte sie. »Ich kann seine Angst ausnutzen und sein Bewußtsein trüben.« »Wie lange?« »Ich weiß nicht.« Ich suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, ihr zu helfen. In einer plötzlichen Aufwallung erinnerte ich mich, wie sehr ich sie einst gemocht hatte. »Deine Telefonnummer – wie lautet sie?« Als sie in ihrem Gehirn erschien, stieß sich Willy Boy von der Wand ab und kam mehrere Schritte auf sie zu. Sie konzentrierte sich wieder auf ihn, und er sackte zusammen. »Du kannst mich nicht retten«, sagte sie. »Das war nicht der Grund, warum ich dich gerufen habe.« »Wir müssen kämpfen«, teilte ich ihr mit. »Ich werde es jedenfalls versuchen.« »Ich weiß. Aber er ist zu stark. Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich brauche etwas, das du mir einmal gezeigt hast. Etwas, das stärker ist als meine Blumen – eine Welt der Kälte und des Metalls, voll von Elektrizität und Logik. Ich möchte die Maschinen umarmen, und nur du kannst mich zu ihnen bringen.« »Folge mir«, sagte ich im gleichen Moment, als Matthews sich wieder aufzurichten begann. Diklick. Tick. Kantataklick. Einen Augenblick lang schien der Spuleneffekt mit dem Rhythmus des Zuges zu verschmelzen, und ich nahm verschwommen wahr, wie der gerade aufgegangene Mond den Feldern hinter der Scheibe ein perlmuttfarbenes Aussehen gab, während ich mich in den Zugcomputer hineinwand und die Verbindungslinien entlangstürzte, die den Gleisen folgten, zurück, zurück zum regionalen Kontrollzentrum, zurück…
Klack. Ich durcheilte eine sich ständig ausbreitende Karte der Umgegend, suchte nach hereinkommenden und hinausgehenden Strecken… Anschlüsse von Telefonleitungen, das war es, wonach ich suchte. Ich mußte einfach den richtigen finden, mußte in das Telefonnetz selbst eindringen… Ann war bei mir. Sie war zu verwirrt, um gegen die blitzartige Geschwindigkeit, die auf sie einstürzenden Eindrücke, zu protestieren, selbst wenn sie gewollt hätte, während ich durch eine Anzahl von Fehlleitungen raste, in Sackgassen hinein und wieder heraus, mit einer Geschwindigkeit, wie ich sie nie zuvor zu erreichen versucht hatte, bis ich fand, was ich suchte. Während ich damit beschäftigt war, kam mir zu Bewußtsein, daß die Schmerzen in ihrer Brust sich wieder verstärkten. Willy Boy verlor überhaupt keine Zeit. … Um mich herum schwirrten unendlich viele helle Bienen, analog zu all den Wählgeräuschen. Sie blitzten auf und verschwanden wieder, und in dem Klicken und Summen erkannte mein Bewußtsein das Klingeln, das Läuten unzähliger Glocken… Ich fand den Mechanismus für das Durchstellen eines Anrufs und aktivierte ihn. Ihre Nummer, stellte ich fest, als ich die Schaltung betätigte, war in Ridgewood, New Jersey. In dem Augenblick, der zwischen dem Aktivieren des Schaltkreises und dem Klingeln ihres Apparates lag, während ich ihren Schmerz, das Schaukeln des Zuges und das Bild des näherkommenden Willy Boy wahrnahm, wurde ich des Beobachters gewahr. Jene lautlose, dunkle Gegenwart, die ich in der Vergangenheit gespürt hatte, war wieder da, näherte sich, lauerte…
Die Anlage klingelte. Sie lenkte den schwerfälligen Exprediger ab. Matthews hielt inne und sah zu ihr hin, blickte zu Ann zurück. Sie atmete jetzt schwer, schwitzte, vorgebeugt, eine Hand immer noch haltsuchend auf den Tisch gestützt, die andere an die Brust gepreßt. Beim vierten Klingeln begann der Schmerz und der Druck nachzulassen, obwohl sie immer noch zu sehr mit ihrem Leiden und dem augenblicklichen Zentrum ihrer Aufmerksamkeit beschäftigt war, um ihre frühere Illusion wieder aufzubauen. Es klingelte noch einmal. Auf wie viele Klingelzeichen hatte sie das verdammte Ding überhaupt eingestellt? Beim sechsten Klingeln schaltete sich der Computer mit einer Aufzeichnung ein und bot an, eine Nachricht entgegenzunehmen. Als das geschah, konnte ich in den Computer eindringen und feststellen, was er alles kontrollierte. Willy Boy drehte sich plötzlich um, als er ein Geräusch aus der Küche hörte. Es war nur der leere automatische Toaster, der sich einschaltete. Er ging in die Richtung zurück und schaute um die Ecke. »Lauf, Ann!« sagte ich zu ihr. »Versuche, die Tür zu erreichen!« »Zu schwach, Steve«, sagte sie. »Ich würde umkippen.« »Versuch’s!« Sie ließ den Tisch los und schwankte. Ich spürte, wie schwindelig ihr war. Sie brach auf dem Sofa zusammen. »Atme tief durch und versuch’s noch einmal.« Sie versuchte zu gehorchen, aber Matthews war bereits auf dem Rückweg. »Warum tut er dir das an?« fragte ich. Das Alarmsignal des Mikrowellenherdes erfüllte den Raum mit einem ekelhaften, anhaltenden Geräusch. »Ich habe dem Boß nichts davon gesagt, daß du immer noch am Leben bist«, sagte sie. »Aber er hat es bei dem Wrack
entdeckt, hat entschieden, daß er mir nicht mehr trauen kann. Ich konnte in seinem Kopf sehen, daß er Angst hatte, ich könne… für dich Partei ergreifen. Hat beschlossen, mir dazu keine Chance zu geben… O Gott! Was für eine wunderbare Welt das Datennetz ist! Ich würde lieber bei Maschinen als bei Menschen Gedanken lesen. Ich wünschte, ich wäre mit deiner Fähigkeit geboren…« Das Summen hörte auf. »Schwester, ich weiß zwar nicht, wie du das fertiggebracht hast«, sagte Matthews, als er aus der Küche kam. »Aber damit zögerst du es – « Ich schaltete alle Lampen aus. Ich hörte ihn fluchen. »Versuch dich soweit zusammenzunehmen, daß du wegrennen kannst«, sagte ich. Die Lampen besaßen Dimmerschalter. Ich begann, sie rasch an- und abzuschalten und einen Stroboskopeffekt herzustellen. Matthews Bewegungen wirkten beinahe wie komische Zuckungen, als er einen Arm hob, seine Augen bedeckte, dann versuchte, sie abzuschirmen. Er tat einen Schritt vorwärts und blieb stehen. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er legte die Hände über die Augen und sperrte alles Licht aus. Ich spürte den scharfen, entsetzlichen Schmerz, der Anns Körper durchlief. Sie schrie kurz auf. Einen Augenblick lang verloren wir beinahe den Kontakt. … Und irgendwo, immer noch in der Nähe, fühlte ich die beinahe vertraute Gegenwart des Schweigenden. Willy Boy trat einen weiteren Schritt vor, noch einen, und seine Kräfte wuchsen, als sich der Abstand verringerte. Das Fernsehgerät erwachte zum Leben, als ich den Schalter betätigte. Willy Boy kam immer näher. Der Schmerz wurde stärker, breitete sich aus…
Ich erhöhte die Lautstärke und begann, von Programm zu Programm zu schalten. In manchen Gegenden gibt es rund um die Uhr – Ja! »Gottes Segen.« Matthews erstarrte. Er ließ die Hände sinken. Ich stellte die Beleuchtung wieder normal ein. » – wie Jesus sagt: ›Selig sind die…‹« Willy Boy wurde knallrot. Seine Augen wurden sehr groß. Wieder ließ der Schmerz nach. Er starrte den untadelig gekleideten Mann mit der erhobenen Hand und dem gewinnenden Lächeln an. »Hundesohn!« sagte er. Er warf Ann einen wilden Blick zu und redete plötzlich, als sei sie nicht sein augenblickliches Opfer. »Die verdammten Reporter haben mich ans Kreuz genagelt! Den sollten sie drankriegen! Ich hab’ diesen öligen Bibelklopfer ausgebildet! Und ihn rausgeschmissen! Wenn er die Hand gerade nicht im Klingelbeutel hatte, dann in der Hose von irgendeinem Chorknaben! Nichtsnutzige Töle!« Er zeigte auf das Gerät. »Aber haben sie ihn etwa verfolgt? Nein. Ich hätte ihn ins Gefängnis bringen können. Hab’ mich christlich verhalten und ihn laufenlassen. Ich hatte selbst schon Schwierigkeiten. Kam damals nicht so drauf an. Dachte, sie würden ihn früher oder später doch kriegen. Aber schau ihn dir jetzt an! Hör ihm zu! Sie haben ihn nie gekriegt. Es gibt keine Gerechtigkeit. Hungert und dürstet dich nach Rechtschaffenheit, dann triffst du auf Maalox!« Er hastete zu dem Gerät und haute auf den Knopf, mit dem man es abschaltete. Dann begann er, sich die Stirn zu reiben. Ich schaltete das Gerät wieder ein, auf voller Lautstärke. »Lasset uns beten – « »Verdammt!« schrie er und schaltete es wieder ab. Ich schaltete es wieder ein. »… Dein Reich komme – «
Er haute auf den Knopf, und ich machte es wieder an. »…im Himmel, also auch auf Erden…« Nun versuchte er, den Knopf in der Aus-Stellung zu halten. Ich umging ihn. »… und vergib uns unsere Schuld…« Er gab ein lautes, blökendes, animalisches Geräusch von sich und fiel auf die Knie. Er kroch vorwärts, streckte die Hand aus, fand den Knopf und zog daran. »… nicht in Versuchung…« Er zitterte, als er aufstand und atmete schwer. Ich begann wieder mit dem Stroboskopeffekt der Beleuchtung. Ich aktivierte noch einmal das Summen des Herdes. Ich schaltete die im Computer gespeicherte Ansage ein. Aber nichts davon schien diesmal zu ihm durchzudringen. Er eilte vorwärts, biß die Zähne zusammen und glotzte auf Ann herab. Der Schmerz wurde unerträglich, und dann schien eine Welle von Finsternis in ihr aufzusteigen. Ich zog sie an mich und hielt sie so fest, wie es ging, als könne ich sie innerhalb meines Bewußtseins am Leben erhalten. Ich wußte, daß ihr Körper gestorben war. Aber sie schien immer noch bei mir zu sein. »Ann?« sagte ich, während ich mich durch die Telefonverbindungen zurückbewegte. »Ja?« Ich wechselte über in die regionale Einheit, fand ein Gebiet, wo der Verkehr langsam lief. »Wir haben verloren«, sagte ich. »Ich wußte, das würden wir. Ich habe es dir gesagt.« … Die Szene wirbelte umher, rasende Glasperlen auf einem endlosen Rechenbrett… »Es tut mir leid. Ich hab’s versucht.« »Ich weiß, Steve. Danke. Wenn ich dich nur früher kennengelernt hätte… Ich war immer schwach. Ich wünschte – «
Die fremde Präsenz war plötzlich näher als je zuvor, beinahe greifbar, wurde zu etwas, das ich fast identifizieren konnte… »Natürlich«, sagte sie, und ich verstand gar nichts. Sie wurde immer schwächer. Sie hatte jetzt kein Recht mehr zu existieren, außer in dieser Art Symbiose. Ich wußte nicht, was ich mit ihr anfangen sollte. »Laß mich jetzt los, Steve.« Die Präsenz wurde stärker. Sie war fast beängstigend. Ich hielt sie noch fester und versuchte, meine Kraft mit ihr zu teilen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. In jenem Augenblick hatte ich den Eindruck, als sei ihr gerade eine besondere Vision gewährt worden, an der ich keinen Anteil hatte. »Wirklich. Ich muß gehen.« Sie begann sich aus meinem geistigen Zugriff zu lösen. »Es ist die große Angra-Versuchsanlage – Nummer Vier –, direkt außerhalb von Carlsbad. Das ist es, was du suchst. Sie ist dort«, sagte sie. »Viel Glück.« »Ann…« Die Empfindung, oder was es auch war, glich einem Abschiedskuß. Dann bewegte sie sich auf den Fremden zu, der sie willkommen hieß. Ich hatte die Vision, wie sie eine Ebene aus Stahl überquerten, auf der Rosen aus Aluminium, Kupfer, Messing und Zinn in einer Ozonbrise unter einem Himmel schwankten, der von einem Bogen aus blanken Lichtfunken erhellt wurde. Die Gestalt, deren Hand sie ergriff, trug eine Maske aus Metall – es sei denn, es handelte sich um sein Gesicht… … Ich verfolgte die Leitung zurück zu dem Klacketiklack, dem Ragtime-Rhythmus, quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum, während wir schaukelnd gen Westen rasten, unter dem im Zenit stehenden Mond des Südens.
Mondlicht, Nachtflug, scheinbar träumend, tacktacktack. Hatte sie Steve gesagt? Klack.
Dreizehn
Ich nickte nach einer Weile ein, ein leichter, unruhiger Schlaf. Halb nur bei Bewußtsein überprüfte ich von Zeit zu Zeit den Computer und hielt mich über unsere Entfernung von Memphis auf dem laufenden. Ich glaube, ich träumte, aber ich vergaß die Einzelheiten. Ich begrüßte den Abstand, der einen Zeitraum der Bewußtlosigkeit zwischen mir und den Ereignissen des vergangenen Abends schaffen würde. So leicht und oft unterbrochen er auch war, so gab mir mein Schlummer immerhin etwas Ruhe. Der Mond stand noch viel höher, als ich ganz aufwachte und entschied, daß ich das ernsthafte Vorausdenken nicht länger verschieben konnte. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, bis ganz auf das Bahnhofsgelände mitzufahren. Das bedeutete, daß ein weiterer außerplanmäßiger Aufenthalt notwendig war. Ich kannte Memphis nicht. Ich wollte nicht zu weit außerhalb der Stadt anhalten und mitten in der Nacht irgendwo umherirren, und die Vorstellung eines langen Spaziergangs durch unbekanntes Terrain behagte mir nicht. Ich entschied mich für ein plötzliches Anhalten direkt vor dem Bahnhof, es sei denn, es ergäbe sich unterwegs etwas Besseres. Auch wenn ich die Computeraufzeichnungen über diese Reise bis jetzt bereinigt hatte – im Regionalcomputer selbst war nichts, was ich gegen die Erinnerung an zwei unerklärliche Aufenthalte in den Köpfen der Zugbesatzung unternehmen konnte. Die Halte würden gemeldet werden, und es würde zwangsläufig eine Art Untersuchung geben. Wenn man entdeckte, daß die Geschichte der Besatzung nicht mit den Aufzeichnungen übereinstimmte, würde jemand bei Angra, der
wohl inzwischen nach Verkehrsstörungen in dieser Gegend suchte, aufgeschreckt werden. Diese Situation ergab sich als zwangsläufige Folge aus meiner gegenwärtigen Sicherheit, und dies war ein weiterer Grund für mich, möglichst spät auszusteigen und nicht in der Gegend herumzutrödeln. Ich würde so schnell wie möglich weiter müssen. Ich begann mich zu fragen, ob es einen Weg gab, für Angras Agenten eine falsche Spur zu legen. Ich fing an, mir das Wenige ins Gedächtnis zu rufen, was ich über die Geographie dieser Gegend wußte, und zu spekulieren, was mir wohl auf die schnelle helfen könnte. Also waren später, als ich das Bremsprogramm auslöste, alle möglichen Lichter in Sicht. Ich kauerte vor der Tür, öffnete sie und sprang zu Boden, bevor wir ganz angehalten hatten. Da ich nicht entdeckt werden wollte, rannte ich los, den Bahndamm hinunter und quer über ein Feld. Ich ließ diesmal den Computer in Ruhe, außer daß ich ein wenig später die Tür schloß. Als ich mich weit genug außer Sicht wähnte, verlangsamte ich meinen Schritt und rang nach Luft. Ich ging auf eine Reihe von Straßenlaternen jenseits abgedunkelter Häuser zu, überquerte eine Art Entwässerungsgraben und lief durch irgendeinen Hof. Ein Hund fing in dem Haus an zu bellen. Er hörte wieder auf, als ich es bis zum Bürgersteig geschafft hatte und die Straße überquerte. Danach marschierte ich etwa fünfzehn Minuten lang weiter und versuchte ohne Erfolg herauszufinden, wo ich mich befand. Es war unangenehm, daß ich in der Nähe eines Wohngebiets abgesprungen war. Die sind um eine bestimmte Zeit einfach zu tot, um für das nützlich zu sein, was ich im Sinn hatte. Ich hielt im Geist die Ohren offen nach den vertrauten Stimmen von Computern. Aber die Aktivität der einzigen, die ich überhaupt hören konnte, war zu minimal, als
daß ich damit etwas anfangen konnte, da die meisten nur als bessere Wecker dienten. Ich lief weiter und bog nach einer Weile in eine größere Durchgangsstraße ein. Gelegentlich kam ein Auto vorbei, aber ich widerstand der Versuchung, eins davon anzuhalten. Ich wollte bei niemanden die Erinnerung und möglicherweise die Beschreibung eines Anhalters in dieser Gegend und zu dieser Tageszeit hinterlassen. Ich dehnte meine Kräfte aus, so weit ich konnte, ließ sie in alle Richtungen schweifen, suchte nach Computeraktivität. Rechts von mir, schwach und entfernt, schien es eine Art Aktivität zu geben. Ich bog an der nächsten Ecke ein und ging darauf zu. Ich lief weiter an Häusern vorbei – zum großen Teil unbeleuchtet – und erwartete, auf ein Geschäftsviertel zu stoßen. Statt dessen blieb die Umgebung unverändert, während das Signal stärker wurde und schließlich den Punkt erreichte, wo ich es deutlich verstehen konnte. Es handelte sich um einen schlaflosen Spieler, der in ein ausgeklügeltes Wettspiel vertieft war, an dem zwei Mitspieler in Mississippi und einer in Kentucky beteiligt waren. Hinter vorgezogenen Vorhängen brannte Licht in einem Haus ein Stück weiter vorn auf der anderen Straßenseite, das möglicherweise die Quelle der Aktivität war. Ich verlangsamte meine Schritte. Licktickditick. … Ich bewegte mich ständig entlang der Verbindungsleitungen, ohne ihr Spiel zu stören. Es war eine Telefonkonferenzschaltung, und an . der ersten Schaltstelle, auf die ich traf, verließ ich ihren Stromkreis. Langsam sich verschiebende Löcher in einem riesigen Stück von leuchtendem Schweizer Käse… Ich tauchte hinein, heraus, entlang. Schließlich bekam ich, während ich von Anschluß zu Anschluß sprang, ein Gefühl für
diejenigen, die zu funktionierenden Computern führten, im Gegensatz zu denen, die zwischen den Telefonen der Leute in Betrieb waren… Nach drei falschen Spuren fand ich den Weg in den Hauptcomputer des Polizeipräsidiums. Es gab wohl Sicherheitssperren, aber nach meiner Auseinandersetzung mit Big Mac war ich in der Lage, sie zu durchbrechen, ohne mich aufzuhalten. Es war jedoch nicht speziell der Polizeicomputer, den ich hatte finden wollen. Fast jeder andere hätte es auch getan. Alles, was ich tatsächlich wollte, war ein detaillierter Stadtplan… Ich betrachtete ihn lange Zeit und merkte mir diejenigen Einzelheiten, von denen ich dachte, ich könnte sie gebrauchen. Als nächstes prägte ich mir ein paar größere Durchgangsstraßen ein – von Osten nach Westen und von Norden nach Süden –, damit ich, wenn ich schließlich auf eine davon stieß, ein Koordinatensystem zur Verfügung hatte… Ich wollte schon die Einheit verlassen, als mir einfiel, mich selbst darin zu suchen. Rictatack. Backadaback… Donald BelPatri – (Personenbeschreibung und Foto-ReproCode). Bewaffnet und gefährlich. Haftbefehl Philadelphia. Diebstahl Firma Angra. Versuchter Totschlag William Matthews. Autodiebstahl… Ich löschte es. Sinnlos, es ihnen leicht zu machen, wenn sich die Gelegenheit ergab, Verwirrung zu säen. Dennoch hatte ich das Gefühl, ich würde bald wieder in die Datei zurückkommen, sobald mein Racheengel bei Angra Wind von der Eisenbahnaufzeichnung bekam. Diese Sache aufzuspüren und zu versuchen, sie zu löschen, konnte mich die ganze Nacht kosten. Zeit, die ich nicht erübrigen konnte. Abgesehen davon befand sich die Information inzwischen wahrscheinlich schon im System bei Angra.
Genaugenommen… Vielleicht hatte ich ihnen gerade impulsiv einen weiteren Hinweis geliefert, indem ich meine Akte löschte. Na ja… Scheiße. Schon zu spät. Das nächste Mal erst überlegen… Rackdack. Ich fand mich wieder, gegen einen Baum gelehnt, und erinnerte mich nur dunkel daran, daß ich stehengeblieben war. Ich machte mich wieder auf den Weg, rief mir dabei noch einmal den Stadtplan vor Augen, versuchte, ihn mir genauer einzuprägen. Mehrere Häuserblocks folgten. Kleine Straßen. Nichts, wonach ich suchte. Aber dort vorn… Ein Apartmentblock mit einem großen Parkplatz. Ich beobachtete das Gelände lange Zeit, um zu sehen, ob ich irgendeine Art Wächter entdecken konnte, aber ich konnte es nicht. Ich würde es nicht schaffen, eins von diesen Autos mit der Kraft meines Geistes anzulassen, das wußte ich, nicht, wenn sie derart kalt waren. Ich brauchte ein bißchen Saft in den Leitungen einer Maschine, um damit herumzuspielen. Aber… Ich betrat den Parkplatz und setzte zu einem langen, langsamen Spaziergang an. Das Licht war nicht immer ausreichend, und wenn mich jemand sah, wußte ich, daß ich verdächtig aussehen mußte, wie ich so durch die Wagenfenster spähte. Statistisch gesehen, schien es möglich, daß in einem von all diesen Autos jemand die Schlüssel vergessen hatte. Zwanzig Minuten später begann ich gerade, daran zu zweifeln, kurz bevor ich einen entdeckte – ein schwarzes Coupe mit Elektroantrieb. Ich stieg schnell ein, ließ es an, fuhr rückwärts aus der Parklücke und verließ schnell den Platz. Ich atmete erst auf, als ich mehrere Kilometer weit weg war.
Ich befand mich auf einer ziemlich breiten Straße, die mich schließlich zu einem Geschäftsviertel führte. Ich beschloß, ihr zu folgen, bis ich eine meiner Koordinaten kreuzte oder bis ich zehn Kilometer gefahren war – je nachdem was zuerst geschah. Im letzteren Fall würde ich dann wenden und ihr in die andere Richtung folgen, sie zurückverfolgen und weiterfahren, bis ich auf einen meiner Orientierungspunkte stieß. Ich traf jedoch schnell auf eine der großen Durchgangsstraßen und bog darauf ein. Nur ein paar Kilometer, dann kreuzte ich eine weitere. Endlich wußte ich, wo ich war. Nachdem sich der Stadtplan in meinem Kopf festgesetzt hatte, fuhr ich in Richtung des Stadtgebiets, das ich suchte. Als das Polizeiauto hinter mir auftauchte, hätte ich beinahe eine Dummheit begangen. Aber Klugheit behielt die Oberhand, und ich stoppte bei der Ampel, statt Gas zu geben und durchzustarten. Als die Ampel auf Grün schaltete, überholte mich der Wagen und bog kurz darauf nach links ab. Ich merkte, daß ich zitterte, obwohl ich wußte, daß ich mich in dem Bewußtsein, daß über das Auto noch nichts bekannt war, hätte etwas sicherer fühlen müssen. Danach fuhr ich sehr vorsichtig. Ich sah einen geöffneten Schnellimbiß. Der stand zwar nicht auf meinem Fahrplan, aber mein Magen dachte anders darüber. Ich konnte sehen, daß das Lokal beinahe leer war. Ich fuhr auf den Parkplatz, ging hinein und verzehrte ein großes Sandwich und ein Stück Kuchen und trank eine Tasse Kaffee. Ich wusch mich, brachte mich auf der Toilette in Ordnung und wünschte mir, ich hätte einen Rasierapparat, um mein stoppeliges Kinn zu glätten. Ich nahm meine Brieftasche heraus und zählte die Scheine. Gewöhnlich habe ich eine ansehnliche Menge Bargeld dabei, wenn ich reise – ich bin da altmodisch. Ich
freute mich zu sehen, daß ich immer noch mehrere hundert Dollar hatte. Gut, das würde von Nutzen sein. Als ich weiterfuhr, wobei ich mich schon viel wohler fühlte, folgte ich weiter dem ungefähren Kurs, den ich im Sinn hatte, aber ich zuckte immer noch zusammen, wenn ich eine Sirene hörte. Ich wußte nicht genau, wo der Ort lag, aber ich hoffte, Schilder vorzufinden, sobald ich in die Nähe käme. Die Bebauung wurde spärlicher, während ich dahinfuhr. Einkaufspassagen und Gebäudekomplexe kamen und gingen, und dann gab es nur noch Häuser in immer weiteren Abständen. Schließlich tauchte ein Schild auf, und ich bog in die Richtung ein, in die es zeigte. Ein leichtes Flugzeug kam von Norden herein, kreiste und landete auf einem hellerleuchteten Gelände vor mir, meinem Ziel. Ich bremste, als ich mich näherte, entdeckte die Zufahrt und bog in sie ein. Der Platz schien nicht außergewöhnlich groß oder belebt zu sein. Es handelte sich lediglich um einen von vielen kleinen Lufttransportdiensten. Ich fand eine Lücke auf dem Parkplatz, machte den Motor aus und die Lichter ab. Dann spulte ich mich in den Computer im Betriebsgebäude ein, das sich links vor mir befand. Ich ließ die Informationen über bereits erfolgte Starts und die Wetterberichte beiseite. Es gab acht Hubschrauber am Boden, erfuhr ich. Zwei von ihnen wurden gerade gewartet, und zwei waren gerade gelandet und noch nicht überholt. Vier standen draußen auf Landeplätzen, waren vollständig gewartet und vollgetankt und warteten darauf, benutzt zu werden. Ich schaute mir an, was ich vom Flugfeld sehen konnte und versuchte, Augenschein und elektronische Information einander anzupassen. Der am weitesten entfernte würde natürlich meiner sein…
Ich hinterließ die Schlüssel im Wagen, den Wagen auf dem Parkplatz und meine Fußabdrücke auf dem Rasen und wandte mich ganz nach links, auf der Seite an dem Gebäude, die am wenigsten belebt erschien. Ich hielt mich so weit wie möglich im Schatten und ging hinter einer Reihe kleiner Hangars vorbei. Im ersten war jemand mit der Wartung eines leichten Flugzeugs beschäftigt. In der Nähe des Landeplatzes trat ich aus den Schatten, überquerte einfach fünfzehn Meter und kletterte auf den Pilotensitz des Hubschraubers, den ich mir ausgesucht hatte. Es hatte keinen Alarm gegeben. Wenn mich jemand bemerkt hatte, dann hatte er möglicherweise angenommen, ich hätte hier etwas zu tun. Ich sah mir das Armaturenbrett genau an. Ich hatte höchstens eine ungefähre Vorstellung davon, was wozu gedacht war. Dennoch mußte es ein paar einfache Schalter für Zündung oder Batteriebetrieb geben, irgendwas, das ein wenig Saft in die Systeme brachte. Ich schnallte mich an und experimentierte herum. Nach einer halben Minute Fummeln gelang es mir, den Motor anzulassen. Gleichzeitig erwachte der Flugcomputer zum Leben. Hubschraubercomputer und automatische Piloten hatte ich noch frisch im Gedächtnis. Ich setzte das Abflugprogramm in Funktion. Das Motorengeräusch wurde lauter, und über mir erzeugten die Rotoren einen unbeschreiblichen Krach. Ich verfolgte den Betrieb der verschiedenen Systeme. Alles schien in Ordnung zu sein. Während ich aufstieg, fragte ich mich, ob ich an dem Fahrzeug irgendwelche Scheinwerfer einschalten sollte. Ich entschied mich dagegen. Warum sollte ich es irgend jemandem leicht machen, nur um den Preis von einem bißchen Sicherheit? Natürlich würden sie ohne Zweifel versuchen,
mich auf ihrem Radar aufzuspüren, aber ich hatte vor, schon sehr bald für das, was ich vorhatte, sehr tief herunterzugehen, und ich hoffte, sie dadurch zu verlieren – wenigstens eine Zeitlang. Ich flog nicht über das Rollfeld. Ich beeilte mich, nach links wegzukommen, und suchte dabei ständig den Himmel nach etwas ab, das landete, bis ich das Gefühl hatte, ich sei sicher außer Reichweite des Flugplatzes. Und dann nach Nordwesten. Ich zog es vor, die Stadt zu umrunden, statt darüber hinwegzufliegen. Ich blieb auf niedriger Höhe, während Felder und Bauernhöfe unter uns hinwegzogen, aber dennoch hoch genug, um Hochspannungsleitungen zu entgehen, während wir den sinkenden Mond jagten. Schließlich begann der Boden sanft abzufallen, und ein wenig später bot sich mir der Blick auf einen dunklen, sternenfunkelnden Fluß. Wieder rief ich mir den Polizeistadtplan ins Gedächtnis, und als ich schließlich sein Ufer erreichte und über dem Wasser war, wandte ich mich nach links, stromabwärts. Etwa einen Kilometer von dem Ort entfernt gab es eine leere Straße, von der ich hoffte, sie werde meine Bedürfnisse erfüllen. Ich landete dort, kletterte schnell hinaus, brachte mich außer Reichweite und ließ den Hubschrauber wieder aufsteigen. Nachdem ich eine Anzahl vorgefertigter Flugprogramme durchgesehen hatte, wies ich ihn an, nach Oklahoma City zu fliegen, wobei er die ersten zwanzig Kilometer eine geringe Höhe beibehalten und dann, während des letzten Teils seiner Reise seiner normalen Programmierung folgen sollte. Ich wandte mich nach links und begann zu laufen. Ich kam in ein Gebiet, das hauptsächlich aus Lagerhäusern bestand, mit nur ein paar Lichtern dazwischen und zweifelsohne auch irgendwo Wächtern. Während ich weiterging, genoß ich die
Gerüche des Flusses, von dem eine leichte, warme und feuchte Brise herüberwehte. Morgen würde es wahrscheinlich heiß und schwül werden, aber die Nacht war angenehm. Hier gab es keine Stadtgeräusche, nur Insekten im Gras neben der Straße. Und bis jetzt keinerlei Verkehr. Ich ließ mir Zeit, da ich nicht wollte, daß meine Ankunft in allzu engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Flug des Hubschraubers stand. Ich folgte einer Biegung der Straße, die mich um ein Lagerhaus herum und näher ans Wasser führte. Der nächste Ausblick, der sich mir auftat, schloß Menschen mit ein. Da waren Lampen, die von oben ein Dockgelände erleuchteten, und ich konnte jetzt das Knarren einer Seilwinde hören. Ein Ladebaum schwenkte herum. Eine Anzahl Lastkähne kam in Sicht, die in unterschiedlichen Positionen vor Anker lagen. Der am Kai wurde mit großen Paletten voller Kartons beladen, die von zwei Arbeitern festgezurrt wurden. Ich suchte mir eine bequeme, unauffällige Stelle am Flußufer neben dem rechten Straßenrand und ließ mich dort nieder, um dem Betrieb eine Weile zuzusehen. Es gab immer noch eine ganze Reihe Paletten auf dem Kai, die aufs Verladen warteten. … Ein schnelles Tickditick durch den Computer des Lastkahns, der gerade dabei war, die Frachtpapiere mit dem zu vergleichen, was tatsächlich an Bord kam, ergab eine Reihe interessanter Dinge: Das Schiff würde in etwa zwei Stunden abfahren, und es würde in Vicksburg anlegen. Also kein Grund zur Eile. Mir fielen eine ganze Reihe von Bedenken gegen ein voreiliges Handeln ein. Also beobachtete ich die Arbeiten, zählte die Leute und überprüfte mit dem Computer Dinge, die mir einfielen. Da gab es die zwei Männer an Bord des Lastkahns, die die Fracht an Ort und Stelle verstauten. Ich nahm an, daß der Kran auch von einem Menschen bedient wurde. Dabei kam mir der Gedanke, daß der große, rothaarige Mann in ausgeblichenen
Jeans und einem blau-weiß gestreiften Pullover, der dort auf einer Kiste saß und eine Tasse Kaffee trank, ihn möglicherweise mit Hilfe des kleinen Geräts neben seiner rechten Hand, die er gelegentlich hob, fernsteuerte. Tickditick. Nein. Er rief lediglich Bestandszahlen über einen Sender ab. Es war jemand im Schuppen, der den Kran bediente. Ein weiterer Mann lag ausgestreckt – schlafend oder betrunken – oder beides – auf den Planken, lehnte mit dem Rücken an der Hütte, und sein Kopf, mit offenem Mund und geschlossenen Augen, war zur Seite auf die Schulter gesunken. Ich nahm an, daß der große Mann auf der Kiste der war, der im Schiffscomputer als »Schiffsführer: C. Catlum« aufgeführt war. Der Computer selbst glich dem auf meinem Hausboot, und ich erfuhr, daß seine Betriebsanleitung zwei lebendige Matrosen vorsah, wenn der Kahn unterwegs war. Ich vermutete, daß der Kerl, der an den Schuppen gelehnt dalag, möglicherweise als der zweite bezeichnet werden konnte. Ich vermutete ferner, daß eine Art gewerkschaftliche Vorschrift bestimmte, daß das Schiff von jemand anderem be- und entladen wurde als vom Kapitän und seiner Mannschaft. Ich bemerkte drei Autos und einen Lastwagen, die hinter dem Schuppen geparkt waren. Die Autos gehörten wahrscheinlich den Arbeitern, und der Lastwagen dem Unternehmen, das die Fracht gelagert hatte. Ich strengte die Augen an und entzifferte die Beschriftung »Deller Storage« auf seiner Seite. Gut. Es schien so, als wenn ich jetzt ein vernünftiges Bild der Situation hätte. Dann suchte ich nach dem am besten geeigneten Weg, um mich zu nähern. Es gab einfach keine Möglichkeit, mich an Bord zu schleichen – ich hatte diesen Gedanken schon lange aufgegeben.
Ich sah über eine Stunde lang zu und vergewisserte mich, daß niemand anderes in der Nähe war. Der Stapel Paletten wurde immer niedriger. Noch fünfzehn Minuten, beschloß ich… Als diese Zeit vergangen war, stand ich auf und begab mich langsam hinunter auf das beleuchtete Gelände zu. Jetzt war nicht mehr viel übrig, was noch gestaut werden mußte. Ich ging über die Planken und auf die Kiste zu. Der gegen den Schuppen gelehnte Mann hatte sich immer noch nicht bewegt. »Und auch Ihnen ein freundliches Hallo«, sagte der Mann auf der Kiste, ohne in meine Richtung zu blicken. »Kapitän Catlum?« sagte ich. »Da haben Sie mir was voraus.« »Steve«, sagte ich, »Lanning. Ich hörte, Sie fahren demnächst nach Vicksburg.« »Das will ich nicht abstreiten«, sagte er. »Ich würde gern in diese Richtung mitfahren.« »Ich betreibe kein Taxiunternehmen.« »Hatte ich auch nicht angenommen. Aber als ich zu dem Mann bei Deller meinte, daß ich schon immer einmal auf einem von den Dingern fahren wollte, sagte er, ich sollte mich vielleicht mal an Sie wenden.« »Deller ist jetzt schon zwei Jahre aus dem Geschäft. Die sollten endlich mal diesen Namen von den Lastwagen entfernen.« »Wie sie es auch heutzutage nennen, er hat gesagt, wenn ich die Fahrt bezahlen kann, könnte ich wahrscheinlich mitfahren.« »Die Vorschriften sagen nein.« »Er sagte, vielleicht fünfzig Dollar. Was meinen Sie?« Catlum sah mich zum erstenmal an, und er lächelte ausgesprochen gewinnend. Er war ein auf eine kernige Art gutaussehender Mann; etwa in meinem Alter, schätzte ich.
»Also, ich hab’ die Vorschriften nicht gemacht. Irgendso’n Kerl in einem Büro im Osten hat sie vermutlich erfunden.« Der Kran schwenkte zurück und senkte sich. Er packte eine weitere Palette und hob sie hoch. »Sie verstehen doch, ich würde meinen Job gefährden, indem ich Sie an Bord nehme«, sagte er. »In Wirklichkeit hat er hundert Dollar gesagt. Ich glaube, soviel kann ich aufbringen.« Er machte etwas mit dem Gerät neben sich, zeigte den Ladevorgang jener letzten Palette an. »Spielen Sie Dame?« »Nun – ja«, sagte ich. »Gut. Mein Partner wird noch eine Weile weggetreten sein. Wie hieß noch gleich der Mann, mit dem Sie gesprochen haben?« »Wilson oder so ähnlich.« »Ach ja. Warum haben Sie so lange gewartet, ehe sie runtergekommen sind?« »Ich habe gesehen, daß Sie vorhin mehr zu tun hatten.« Er grinste und nickte. Dann stieg er von der Kiste, beugte sich vor und zählte die verbliebenen Paletten. Er reckte sich und gab etwas in das Gerät ein. Ich war plötzlich eingeschüchtert. Es hatte keine rechte Möglichkeit gegeben, es zu sehen, während er saß, und er war so wohlproportioniert, daß es kaum zu glauben war, aber der Mann war etwa zwei Meter groß. »Okay«, sagte er, hakte das Gerät an seinem Gürtel fest und überreichte mir seine Tasse und eine riesige Thermoskanne. »Nehmen Sie die hier, ja?« Dann beugte er sich vor und hob den Bewußtlosen auf. Er drapierte ihn sich über die linke Schulter und schritt die Gangway hinauf, als sei das zusätzliche Gewicht gar nichts. Er ging geradewegs in die kleine Kabine und ließ ihn auf die Koje
fallen. Dann drehte er sich nach mir um und nahm seine Tasse und die Thermoskanne entgegen. »Danke«, sagte er, hängte die Tasse an einen Haken und stellte die Kanne in eine Ecke. Ich griff nach meiner Brieftasche, aber er wandte sich ab, verließ die Kabine und überprüfte den Rest der eingehenden Fracht. Als das geschafft war, drehte er sich nach mir um und grinste wieder. »Hören Sie, ich muß in ein paar Minuten die Verbindung zum Computer am Ufer unterbrechen«, sagte er. »Glauben Sie, Wilson könnte eine Nachricht über Sie in dem firmeneigenen Gerät hinterlassen haben?« Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Er hat nichts davon gesagt.« »Wetten Sie gern, Steve?« »Manchmal.« »Ich wette mit Ihnen um hundert Dollar, daß er kein Wort erwähnt hat. Sie kennen ja den alten Wilson – oder wen auch immer.« Ich nahm an, daß ich möglicherweise das Geld gut brauchen konnte, und ich wollte meine Geschichte glaubwürdiger machen, da er offenbar annahm, daß ich log – auch wenn ich nicht glaubte, daß es ihm sehr viel ausmachte. »Die Wette gilt«, sagte ich und spulte mich ein. »Okay. In fünf Minuten sind wir mit dem Verstauen soweit fertig. Lassen Sie uns gehen und gleich nachsehen.« Ich begleitete ihn zurück in die Kabine, wo er auf ein Terminal zuging und eine Anfrage auf Nachrichten im Lagerhauscomputer eintippte. STEVE LANNING KOMMT VORBEI, blitzte der Bildschirm. »Verdammt«, sagte er. »Der alte Wilson hat doch daran gedacht. Das ist ein netter Trick. Sieht so aus, als würden Sie
umsonst mitfahren. Na ja, wir sollten uns jetzt besser zum Ablegen bereitmachen. Sagen Sie, ein wie guter Damespieler sind Sie?« Sinnlos tiefzustapeln. Außerdem war ich wirklich ganz gut. »Ein gar nicht so schlechter«, sagte ich. »Gut. Lassen Sie uns zwei Dollar pro Spiel festsetzen. Ich denke, es bleibt genug Zeit für fünfzig schnelle Partien vor dem Frühstück.« Ich hielt es für unmöglich, daß mich irgend jemand fünfzigmal hintereinander im Damespiel schlagen könnte. Catlum gewann das erste Dutzend Spiele so schnell, daß mir der Kopf schwirrte. Er machte nie eine Denkpause. Er zog einfach, wenn er an der Reihe war. Dann goß er jedem von uns eine Tasse Kaffee ein, und wir nahmen sie mit nach draußen, während sein Kamerad schnarchte. Wir blickten hinaus über die Wasser, und ich dachte an Mark Twain und an all die Dinge, die in den Jahren den Fluß heruntergekommen waren. »Sie laufen vor etwas davon?« fragte er. »Auf etwas zu«, antwortete ich. »Nun ja, viel Glück«, sagte er. »Langweilen Sie sich nicht dabei, einen Lastkahn zu fahren?« fragte ich. »Habe es schon lange nicht mehr getan«, sagte er. »Dies ist eine sentimentale Reise.« »Oh.« Ich war eine Zeitlang still. Dann bemerkte ich: »Das muß wirklich was gewesen sein, als hier noch alles wild war.« Er nickte. »Schon. Allerdings bin ich das letzte Mal, als ich hier entlangfuhr, im Gefängnis gelandet.« Wir schauten hinaus, bis unsere Tassen leer waren, und dann gingen wir wieder hinein. Er schlug mich in einem weiteren Dutzend Partien, und dann gab es ein falsches Morgengrauen
im Osten. Ich strengte mich an, ich spielte so gut ich konnte, aber er gewann einfach weiter. Er kicherte jedesmal und nahm meine zwei Dollar entgegen oder gab mir Wechselgeld heraus. Schließlich entschied ich, daß er einen Dämpfer verdient hatte. Ich spulte mich in den Computer ein und installierte das bombensicherste Stegreifprogramm an, das ich finden konnte – das aber vermutlich nur so gut war wie der Programmierer, denn ich verließ mich eine Zeitlang völlig darauf, und er gewann einfach weiter. Er hatte seine hundert Dollar irgendwann am späten Morgen, und dann mußte ich mich auf die andere Koje werfen, und er ging nach draußen, um nach der Ladung zu sehen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon geschlafen hatte, als ich mich in einen Spuleffekt hineinträumte. Ich befand mich wieder im Inneren des Hubschraubers, der das Land überflog, als ich plötzlich von einem Paar schwererer Maschinen flankiert wurde. Sie eröffneten ohne Vorwarnung das Feuer und rissen meinen Flieger in Stücke. Ich blieb im schwindenden Sinnesapparat des Computers, während er der Erde entgegenfiel. Dann kam der Aufprall, und ich wachte kurz auf. Ich wußte, es war mehr gewesen als ein Traum. Die Empfindungen, die das Phänomen begleiteten, waren mir zur zweiten Natur geworden, und die, die ich gerade verspürt hatte, waren echt gewesen. Aber es gab an diesem Punkt nichts, was hätte getan werden können, und die Lider waren mir immer noch schwer. Ich nickte wieder ein. Ich träumte weitere Träume, aber sie hatten mit Gärten zu tun und waren nur flüchtig. Was mich schließlich langsam aufwachen ließ, war ein stöhnender Laut – wiederholt und langgedehnt. Ich öffnete die Augen. Die Kabine war dunkel. Der Kerl auf der anderen Koje produzierte die Laute. Eine Minute lang war ich desorientiert, und dann erkannte ich, wo ich war.
Ich setzte mich auf den Rand der Koje und massierte meine Schläfen. Hatte ich wirklich den halben Tag verschlafen? Mein Körper mußte die Ruhepause dringend benötigt haben, daß er mich derart ausgeschaltet hatte. Ich sah zu der anderen Koje hinüber. Der Mann, der sich dort hin und her warf und das Gesicht mit dem Arm bedeckt hatte, schien sich in den Fängen eines entsetzlichen Katers zu befinden. Da ihn dies nicht zum angenehmsten aller Gesellschafter machte, stand ich auf und wandte mich zur Tür, wobei ich feststellte, daß ich rasenden Hunger hatte. Ich brauchte auch eine Toilette. Ich ging hinaus. Catlum lehnte am Schott und grinste mich an. »Beinahe Zeit zum Gehen, Steve«, sagte er. »Ich hätte Sie in ein paar Minuten selber geweckt.« Ich sah mich nach allen Seiten um. Ich sah nichts, das meinen Erwartungen von Vicksburg entsprach. Ich sagte es ihm. »Nun ja, da haben Sie recht«, sagte er. »Vicksburg liegt noch ein Stückchen stromabwärts. Aber wir sind schon lange an Transsylvania vorbei. Aber das Wichtigste ist, daß der Kapitän allmählich aufwacht.« »Moment. Sind Sie nicht Kapitän Catlum?« »Doch«, antwortete er. »Nur, daß ich nicht Kapitän auf diesem Schiff hier bin – einer von diesen kleinen, feinen Punkten, auf die die Leute manchmal so empfindlich reagieren.« »Aber als ich sah, wie Sie den Ladevorgang überwachten – « » – habe ich einem Freund einen kleinen Gefallen getan, der nicht nein sagen konnte zu kostenlosen Drinks.« »Aber was ist mit dem anderen Mann? Sollten denn nicht zwei Leute an Bord sein?« »O weh! Der andere Herr wurde bei einem Faustkampf ausgeschaltet. Das kommt vom Trinken und Zechen. Er war nicht in der Verfassung, die Reise anzutreten. Also, dort vorne – «
»Moment! Das klingt, als hätten Sie das Schiff gestohlen!« »Himmel, nein! Ich habe vermutlich bloß den Arbeitsplatz dieses armen Mannes gerettet.« Er deutete mit einem riesigen Daumen nach hinten zur Kajüte. »Ich will ihn aber nicht in Verlegenheit bringen, indem ich dableibe, um seinen Dank entgegenzunehmen. Also, in ein paar Minuten sollten wir abspringen. Das Wasser wird dort an dem Vorsprung gegen das Ufer zu flacher. Wir können einfach ans Ufer waten.« Waten ist einfacher, wenn man zwei Meter groß ist, dachte ich. Aber ich sagte: »Warum haben Sie das getan?« »Ich brauchte ebenfalls eine Mitfahrgelegenheit nach Vicksburg.« Ich war im Begriff, zu sagen, daß der Computer ihn als Kapitän führte, aber woher hätte ich das wissen sollen. Statt dessen sagte ich: »Ich muß erst noch aufs Klo.« »Ich werde mein Zeug holen, während Sie das hinter sich bringen.« Während ich es hinter mich brachte, spulte ich mich gleichzeitig in den Computer ein und sah noch einmal nach. »Kapitän: David G. Holland« las ich. Also hatte auch Catlum zeitweise die Aufzeichnungen gefälscht – das war nur eine Beobachtung, da ich mir in diesem Punkt keine selbstgerechte Haltung leisten konnte. Aber wenn er wußte, daß meine Geschichte über einen gewissen Wilson bei Deller, der mich ihm empfohlen hatte, ein komplettes Lügenmärchen war, dann mußte er sich gefragt haben, wie ich seinen Namen erfahren und meine Nachricht in den Computer eingebaut hatte. Andererseits schien er sich nicht darum zu scheren, und er schien auch nicht zu denen zu gehören, die wegen eines Flüchtigen zu den Behörden laufen. Vielleicht war er sogar selber einer. Ich entschied, daß es ungefährlich war, mit ihm an dem Punkt an Land zu gehen, den er genannt hatte.
Als die Zeit gekommen war, sprangen wir. Er watete tatsächlich. Ich schwamm. Meine Zähne klapperten, als wir endlich das Ufer erreichten, aber Catlum schlug eine rasche Gangart ein, die nach und nach einen wärmenden Effekt hatte. »Wohin gehen wir?« fragte ich ihn schließlich. »Oh, ein paar Kilometer hier die Straße entlang gibt es ein kleines Eßlokal, das ich kenne«, sagte er. Mein Magen knurrte zustimmend. »… Dann noch ein Stück weiter liegt eine kleine Stadt, in der es fast alles gibt, was man brauchen kann. Vielleicht sogar eine neue Hose.« Ich nickte. Meine Kleidung war jetzt noch schäbiger. Ich begann auszusehen wie ein Landstreicher. Dann klopfte er mir auf die Schulter und beschleunigte seinen Marsch. Ich zwang mich, mit ihm Schritt zu halten. Ich dachte an den Lastkahn und seinen verkaterten Kapitän, die sich dort vorne den Fluß entlangschlängelten. Ich mußte anerkennen, daß die Spur, wenn mich jemand irgendwie bis zu dem Kahn verfolgte, noch schwerer zu lesen sein würde, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Das jedenfalls verdankte ich dem hünenhaften Schwindler. Als wir das Restaurant erreichten war ich beinahe ohnmächtig vor Hunger. Wir setzten uns an einen Tisch an der Seite, und ich bestellte ein Steak. Mein Begleiter tat das, wovon ich nur träumte. Er bestellte drei. Er aß sie auch auf und machte sich an mehrere Stücke Kuchen, während ich immer noch mit meinem Steak zu tun hatte. Er rief so oft nach Kaffee, daß die Kellnerin eine Kanne auf dem Tisch stehen ließ. Schließlich seufzte er, sah mich an und sagte: »Wissen Sie, Sie könnten eine Rasur vertragen.« Ich nickte. »Habe meinen Barbier nicht dabei«, sagte ich.
»Augenblick.« Er beugte sich zur Seite und öffnete seine Stofftasche. Er kramte mehrere Augenblicke lang darin herum und holte dann einen von diesen Wegwerfrasierern aus Plastik und eine kleine Tube Rasiercreme heraus. Er schob sie mir über den Tisch hinweg zu. »Ich hab’ immer ein paar von den Dingern für den Notfall dabei. Sie sehen ganz nach einem aus.« Er goß sich eine weitere Tasse Kaffee ein. »Danke«, sagte ich, spießte den letzten eßbaren Krümel auf meinem Teller auf und warf einen Blick nach hinten zur Herrentoilette. »Ich werde Sie beim Wort nehmen.« Ich ging nach hinten und wusch mich, schäumte mir das Gesicht ein, rasierte mich und kämmte mir das Haar. Das Bild, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte, sah dann tatsächlich passabel, wohlgenährt und ausgeruht aus. Erstaunlich. Ich warf den Rasierer weg und verließ den Raum. Unser Tisch war leer bis auf die Rechnung. Nach einer Weile mußte ich zum erstenmal seit langer Zeit lachen. Ich konnte es ihm nicht übelnehmen. Ich hätte das kommen sehen müssen. Ich schüttelte den Kopf und empfand etwas, das entfernt an einen Verlust erinnerte und nichts mit meinem Geld zu tun hatte. Dieser Catlum war jedenfalls ein verdammt guter Damespieler.
Vierzehn
Abfahrt. Der Himmel war tiefblau, und das Lied des Windes pfiff mir im Helm um die Ohren. Ich hielt den Lenker fest und fuhr mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf meiner Spur. Das Motorrad hatte eine wunderbare Straßenlage. Ich hatte das Städtchen genau dort vorgefunden, wo Catlum gesagt hatte: die Straße entlang. Ich hatte dort auch tatsächlich eine neue Hose gekauft – außerdem ein Hemd und ein Jackett. Bis auf ein paar Läden fand ich jedoch nichts. Es gab zwar einen Fahrzeugverleih, aber der war geschlossen, und ich konnte weder den Besitzer noch den Geschäftsführer auftreiben. Rückblickend betrachtet war das vielleicht ganz gut so. Das Ergebnis war, daß es mir zu einer beachtlichen Denkpause verhalf. Auf dem Weg in die Stadt war ich an einem kleinen Motel vorbeigekommen. Ich konnte mir ein Zimmer nehmen, und allein die Dusche würde es wert sein. Ich war nicht müde, nachdem ich einen ganzen Tag verschlafen hatte, aber ich wollte mich verborgen halten, während ich wartete und hatte nicht das Bedürfnis, durch die Landschaft zu schleichen. Als ich sagte, ich würde bar bezahlen, und er sah, daß ich kein Gepäck dabeihatte, verlangte der Mann am Empfang Vorauszahlung. Aber das war in Ordnung. Ich nannte ihm natürlich einen falschen Namen und eine Adresse in einem anderen Staat, bekam das Zimmer, wusch mich und streckte mich auf dem Bett aus. Da ich immer noch munter war, ließ ich alles Revue passieren, was bisher geschehen war – von den Keys bis Baghdad, und weiter auf meiner gegenwärtigen Odyssee bis
zur Gegenwart. Ich dachte über Cora nach. Ich wußte jetzt, wo sie war und hatte das Gefühl, daß sie für den Augenblick in Sicherheit sei. Eine tote Geisel ist schließlich keine Geisel, und sie würden nichts davon haben, sie leiden zu lassen, solange sie mich nicht zwingen konnten zuzusehen. Während meine Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit deutlich machten, daß dies nur ein feiner Unterschied war, glaubte ich, daß Barbeau mich eigentlich immer noch lieber leben und für sich arbeiten lassen würde, als mich tot zu sehen. Diesen Teil von dem, was er damals in Philadelphia gesagt hatte, glaubte ich. Aber wenn das nicht zu erreichen war, wollte er mich sterben sehen. Was er am meisten fürchtete, dessen war ich sicher, war, daß ich mich mit meiner Geschichte an das Justizministerium wandte. Ich sah mich schon bei einer Anhörung, wie ich Tricks mit dem Computer vorführte, um meine Aussage zu belegen. Nein. Das würde ihm nicht gefallen. Und solange er eine lebende Cora als Sicherheit hatte, wußte er, daß es auch nicht geschehen würde. Er würde Cora am Leben erhalten, bis er einen toten BelPatri hatte – denn inzwischen mußte ihm klar sein, daß ich nicht zurückkommen würde. Ich hatte mich bisher in Sicherheit gebracht, indem ich den neuen Aspekt meiner paranormalen Fähigkeit anwandte, den Eingriff in die Systeme. Barbeau war auf etwas Derartiges nicht vorbereitet, und ich war sicher, daß es ihm Sorgen machte. Ich erkannte auch, daß ich mich weiterhin darauf verlassen mußte, es soweit es nur irgend möglich war, für Angriff und Verteidigung auszunutzen, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, um im Vorteil zu bleiben. Ich hatte vor, am Morgen für den nächsten Abschnitt meiner Reise ein Fahrzeug zu mieten. Wie mir jedoch am Empfang gerade in Erinnerung gerufen worden war, zahlt man entweder mit Kreditkarte oder bar – und meine Geldmittel schwanden,
und all meine Kreditkarten lauteten auf DONALD BELPATRI. Kein Problem, sagte ich mir und erinnerte mich an den Polizisten mit dem kleinen Gerät damals in Philadelphia. Ganz egal, was auf der Karte steht, ich kann ändern, was die Maschine dort zu lesen behauptet. Aber halt… Es war nicht ganz so einfach. Zum einen würde es nicht ausreichen, das Signal für die Kontonummer zu ändern. Sie mußte so verändert werden, daß etwas Verständliches und Akzeptables dabei herauskam. Sonst würde die Eingabeeinheit einen Hinweis erhalten, daß etwas nicht in Ordnung war, und ich wäre in Schwierigkeiten. Zum anderen stand auf allen Karten mein Name. Obwohl dies für den Computer, der nur an einer Kontonummer interessiert war, die mit irgendeinem gespeicherten Namen zusammenhing, nichts bedeutet, würde ein menschlicher Operator an diesem Ende der Leitung den Namen sehen und außerdem sicherlich hier am Ort eine persönliche Aufzeichnung des Vorgangs machen. Das war nicht drin, da Angra mich wie die Stecknadel im Heuhaufen suchte. Ich untersuchte eine meiner Kreditkarten. Der Name und die Ziffern waren auf eine Weise aufgestanzt, daß ich eigentlich nicht viel tun konnte, um sie zu verändern. Ich glaubte jedoch, mit der Spitze meines Taschenmessers einen Buchstaben bis auf die Oberfläche abkratzen zu können, so daß er auf einer Papiereinlage nicht abgedruckt würde. Ein wenig Gekritzel und Geschmier würden dann die buchstabengroße Lücke verdecken… Ich entledigte mich des B und des RI. DONALD ELPAT. Es sah ganz anständig aus. Sie schienen die Karte selbst sowieso nie anzuschauen, außer um zu überprüfen, ob sie noch gültig war und manchmal, um nachzusehen, ob die Unterschrift vorhanden war.
Ich untersuchte meine Handschrift auf der Rückseite der Karte: Mein übliches halb leserliches Gekritzel. Ausgezeichnet. Ich fügte noch ein paar Kringel hinzu, und keiner konnte behaupten, daß es hier nicht auch DONALD ELPAT hieß. … Und während ich das tat, stellte ich eine Reihe einfacher biographischer Daten zu meiner neuen Identität zusammen. Nachdem das erledigt war, wandte ich meine Aufmerksamkeit der Frage des Kontos zu. Bestimmte Ziffern würden einfach nicht funktionieren. Wenn ich das Signal der Nummer auf der Elpat-Karte so veränderte, daß sie zu einer ungültigen Serie gehörte, würde der empfangende Computer sofort Widerspruch einlegen. Wenn ich eine aussuchte, die zu einem echten Konto gehörte, mit dem etwas nicht stimmte – etwa Zahlungsverzug des echten Inhabers –, würde ich ebenfalls ohne Kredit dastehen. Ich dachte über Konten nach. Sofort fiel mir die gute alte Nummer 078-05-1120 ein. Damals in den dreißiger Jahren, als das Sozialversicherungsgesetz verabschiedet und die ersten Karten ausgegeben wurden, hatte ein Hersteller von Brieftaschen beschlossen, ein Faksimile einer solchen Karte in das kleine durchsichtige Plastikfach seines Produktes zu stecken, um den Phantasielosen dessen Verwendungsmöglichkeit zu demonstrieren. Ihm war nicht in den Sinn gekommen, daß er um der Konsequenz seiner Einschätzung der menschlichen Intelligenz willen auch darauf hätte hinweisen müssen, daß es sich lediglich um ein Muster handelte. Die Karte, die in den Brieftaschen steckte, trug die Sozialversicherungsnummer seiner Sekretärin. Später wurde seine Sekretärin dadurch berühmt, daß sie die einzige Person in der Geschichte des Sozialversicherungsprogramms war, deren Kenn-Nummer zurückgezogen und der eine neue zugeteilt wurde. Und das,
weil es Leute gab, die die Karten, die sie in ihre Brieftasche gesteckt hatten, tatsächlich benutzten. Und davon waren Tausende verkauft worden. Mit den Jahren häuften sich die Sozialversicherungsbeiträge auf diesem Konto an. Die Sache war nie vollständig entwirrt worden. Eine Generation später gingen bei der Finanzbehörde immer noch Steuererklärungen aus dem ganzen Land ein, die diese magische Zahl trugen. Und ich hatte den Verdacht, daß selbst jetzt, fast sechzig Jahre danach, immer noch welche eingingen. Um an Geld zu kommen, brauchte ich deshalb jetzt eine ähnlich breitgefächerte Auswahl. Dann fiel es mir ein. Einige Firmen unterhielten ein einzelnes Konto für Reisespesen bestimmter leitender Angestellten und ließen mehrere Kreditkarten ausstellen, die die gleiche Kontonummer trugen und an alle Berechtigten ausgegeben wurden. Eine solche Nummer, gestützt auf die Kreditwürdigkeit einer angesehenen Firma, würde der Computer des Kreditinstituts ohne Rückfragen akzeptieren. Also würde sich Donald Elpat wohl nach einem neuen Arbeitgeber umsehen müssen. Alles, was ich zu tun hatte, war, die richtige Firma und ihre Kontonummer herauszufinden. Ich dachte ein paar Minuten darüber nach, und mir fiel ein möglicher Weg ein, das zu erkunden. Da ich immer noch viel Zeit hatte, stand ich dann auf, schaltete den Fernseher ein und sah mir ein Programm an, das durchgehend Nachrichten sendete. Ich wollte nur ungern den Anschluß an das Weltgeschehen verlieren. Es ist immer gut zu wissen, ob es gerade irgendwo Hochwasser oder einen Wirbelsturm gibt, die dazu beitragen, einem zusätzliche Probleme zu bereiten. Ich sah über eine Stunde lang zu. Es wurde nichts über einen Flüchtigen namens BelPatri gemeldet – nicht, daß ich erwartet hätte, es bis in die überregionalen Nachrichten zu schaffen – und überhaupt nichts über Angra.
Dann hörte ich, wie ein Wagen am Empfangsgebäude anhielt. Ich schaltete das Gerät etwa zur gleichen Zeit ab, als die Autotür zuschlug, und ging zum Fenster, um hinauszusehen. Dann ließ ich den Vorhang wieder los und tastete mich hinaus. Nichts. Ich kehrte zum Bett zurück, streckte mich aus und tastete weiter. Nichts. Nichts. Aber früher oder später. Ich mußte nur auf Empfang bleiben… Nichts. Nichts… Flicket. Das Terminal im Empfangsbüro war eingeschaltet worden. Die Person nahm sich ein Zimmer. Der Mann am Empfang schob eine Kreditkarte ein… … Ich spulte mich in die Einheit ein und drang direkt zum Computer des Kreditinstituts vor. Ich wandte mich den Aufzeichnungen über Firmenkonten zu und durchsuchte sie nach Nummern mit mehreren Berechtigten und ausreichend Spielraum bei den Beträgen, die innerhalb eines Tages abgehoben werden durften… … Dann wurde ich ungeduldig und suchte nach einer, die man sich leicht merken konnte. Da. Elpat hatte seinen Arbeitgeber gefunden. Gerade als ich mich wieder herausspulte, sah ich vor meinem inneren Auge ein verschwommenes Bild von Ann. Nur ein Aufblitzen – flickerklick –, dann war sie verschwunden, und ich starrte an die Decke und wunderte mich wieder einmal darüber, was das Unterbewußtsein alles enthält. Ich prägte mir die Nummer ganz fest ein, dann schaltete ich den Fernseher wieder an und sah eine Zeitlang zu. Abfahrt. Fichtennadelduft stach mir in die Nase. Ein Vogel, der nicht an sich halten konnte, verzierte mein Motorrad. Der
Tag wurde wärmer, aber wenigstens hatte ich den Fahrtwind, um mich etwas abzukühlen. Es herrschte nicht viel Verkehr. Ich sah keine Lastwagentänzer…
Donald Elpat hatte bei der Fahrzeugvermietung keine Schwierigkeiten gehabt. Er hatte sich aus einer Reihe von Gründen für ein Motorrad entschieden – einer der wichtigsten war, daß sie , mit keinerlei Geräten ausgestattet sind, die sie in Verkehrsdatenanlagen erscheinen lassen; ein weiterer bestand darin, daß Motorradfahren in Florida keins meiner Hobbys gewesen war und ich mich in meinem bisherigen Leben nie sehr stark damit beschäftigt hatte. Es schien mir, daß ich mit ziemlicher Sicherheit annehmen konnte, den Gegner zu überraschen, wenn ich es jetzt tat. Irgendwann in der Vergangenheit hatte ich wenigstens Motorradfahren gelernt, und diese neuen waren besonders unkompliziert. Was ich mir aussuchte, war an jeder Angrastation aufladbar und wurde mit superschnellen Schwungrädern angetrieben, deren Drehmoment außerdem einen Kreiseleffekt erzeugte, der dazu beitrug, die Straßenlage zu verbessern. Donald Elpat leistete dafür eine Unterschrift, und wir fuhren los. Da mein Kurs bereits ein Zick beinhaltet hatte, war es Zeit, nun das Zack folgen zu lassen, also wandte ich mich nach Nordwesten in Richtung Little Rock, nachdem ich den Fluß überquert hatte. Erinnerungen an die Gelegenheiten, als ich früher Motorrad gefahren war, kamen hoch. Es hatte damals auf der Universität begonnen, zusammen mit Ann. Und wir hatten es danach gelegentlich wiederholt: Drunten in der Fichteneinöde, als wir unter Bäumen zu Mittag aßen…
»Diese Arbeit fängt an, mir eigenartig vorzukommen, Ann. Aber das weißt du natürlich.« »Ja. Aber was kann ich sagen, das ich dir nicht schon gesagt habe?« »Du hast mir nie erzählt, daß Maria anderer Leute Forschungsarbeiten sabotieren würde.« Ihre Augenbrauen hoben sich erstaunt, wie dunkle Flügel. »Aber es ist manchmal notwendig, um unseren Vorsprung zu halten.« »Ich dachte, der ganze Sinn unserer Klauerei bestünde darin, daß wir, sobald wir alles haben, was wir brauchen, die Rivalitäten beiseite lassen und damit beginnen könnten, schneller als irgendein anderer billige Energie zu produzieren.« »Das ist richtig.« »Aber wenn andere Leute uns gegenüber so weit aufholen, daß wir sie zurückwerfen müssen, dann heißt das, daß sie es vielleicht besser machen würden als wir, wenn man sie in Ruhe läßt. Vielleicht stimmt unsere ganze Prämisse nicht.« »Denkst du daran, den Arbeitgeber zu wechseln?« »Nein. Ich denke, daß wir vielleicht genügend Vorsprung haben, um der Konkurrenz nicht auf die Zehen treten zu müssen. Schließlich – « »Wir brauchen eine eindeutige Überlegenheit«, unterbrach sie mich und klang jetzt wie Barbeau. »Wir müssen so weit voraus sein, daß uns niemand auch nur im geringsten behindern kann. Nur das wird es uns ermöglichen, schnell und wirkungsvoll einzugreifen, um die Wirtschaft zu retten und einen hohen Lebensstandard aufrechtzuerhalten.« »Du bist dir hoffentlich darüber im klaren, daß du von einem Monopol sprichst.« »Wenn das nötig ist, warum nicht? Die Alternative ist Chaos.«
»Vielleicht«, sagte ich. »Vielleicht hast du recht. Ich bin nicht mehr sicher. Wahrscheinlich war ich mir nie ganz sicher. Und was ist eigentlich mit diesem Matthews? Was macht er? Er hat irgendwie so was Unheimliches an sich.« »Er ist ein hochspezialisierter Techniker«, sagte sie, »und seine Arbeit ist noch geheimer als unsere.« »Aber du kannst seine Gedanken lesen. Kann man ihm trauen?« »O ja«, sagte sie. »Man kann sich immer darauf verlassen, daß er tut, was er sagt. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen.« Wieder war ich für eine Weile überzeugt. Einige Vögel sangen. Angra fuhr fort, in meinem Kopf wie eine Bombe zu ticken. Wenigstens lernte ich in jenen Tagen etwas über Motorräder.
An jenem Nachmittag ruhte ich mich in Little Rock aus und ernährte mich von Imbißfraß. Dann, nach dem Aufladen der Batterien, war es Zeit, dem Zack ein weiteres Zick hinzuzufügen, und so wandte ich mich mit einem Summen in den Ohren und mit vibrierendem Körper in Richtung Dallas. Während ich weiterfuhr und der Rhythmus der Straße mich erfüllte, dachte ich zurück an jene letzten Tage bei Angra. Ich hatte von Willy Boys Begabung erfahren, aber ich war trotzdem geblieben und hatte tatsächlich Barbeaus Erklärung geglaubt, daß Matthews die Konkurrenz nur außer Gefecht setzte, indem er Wissenschaftler durch unerklärliche Ohnmachtsanfälle, wieder aufbrechende Magengeschwüre, vorgetäuschte Anginaschmerzen, vorübergehende Blindheit, Sprachstörungen, Grippeanfälle, temporäre Neuropathien verschiedener Art ausschaltete. Dann hatte ich eines Tages den Tötungsbefehl für einen leitenden Angestellten einer
Konkurrenzfirma auf seinem Weg vom Doppel-Z-Speicher zur Löschung abgefangen. Der einzige Grund, warum er überhaupt meine Aufmerksamkeit erregte, war, daß ich an jenem Morgen den Nachruf auf den Mann gelesen hatte und sein Name mir ins Auge fiel. Er war an Herzversagen gestorben. Ich hatte ihn sogar einmal kennengelernt. Er war jung und hatte einen gesunden Eindruck gemacht. Der Befehl war erst am vorigen Tag an Willy Boy ergangen. Das konnte einfach kein Zufall sein… Ich stürmte in Barbeaus Büro. Zunächst stritt er es ab. Dann gab er es zu und versuchte mir zu erklären, daß die Tat notwendig, der Mann zu gefährlich gewesen war. »Zu gefährlich, um weiterleben zu dürfen?« brüllte ich. »Jetzt hören Sie mal zu, Steve. Beruhigen Sie sich. Sie müssen das große Ganze sehen…« Er kam um seinen Schreibtisch herum und versuchte, mir die Hand auf die Schulter zu legen und eine seiner falschen väterlichen Posen einzunehmen. Ich schlug sie beiseite. »Ich fange tatsächlich an, das große Ganze zu verstehen. Das ist es ja, was mich stört. Ich habe viel getan für die gute alte Angra – vieles, was mir nicht gefallen hat –, aber ich habe mich immer damit getröstet, daß am Ende viel Gutes dabei herauskommen würde. Jetzt stelle ich fest, daß Sie sogar Leute umbringen! Wir sind doch nicht im Krieg! Wir müssen doch irgendwo einen Punkt machen – « Da öffnete sich die Tür, und zwei Wachleute kamen herein. Barbeau hatte offensichtlich nach ihnen geklingelt, als ich anfing, laut zu werden. Es war ihr Pech, daß ich in der Stimmung war, zuzuschlagen. Direkt nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus, nach dem Unfall, hatte ich angefangen, Unterricht in Kampfsport zu nehmen, um meinen Muskeltonus und meine Koordination zu stärken. Ich hatte nicht wieder damit aufgehört, da ich Gefallen daran gefunden hatte. Im Lauf
der Jahre hatte ich mehrmals die Sportart gewechselt. Ich besaß eine ganze Batterie von Reaktionsmöglichkeiten. Als ich fertig war, waren beide Wachleute bewußtlos, und Barbeau versuchte, mir klarzumachen, daß Matthews immer schnell und barmherzig arbeitete. Ich ging erhobenen Hauptes hinaus und kehrte zu Big Mac zurück. Bevor ich mit vorgehaltener Waffe gefangengenommen wurde, hatte ich bereits den gesamten Inhalt unseres Doppel-Z-Speichers an den Computer der nationalen Handelskammer übermittelt. Ich wurde danach drei Tage lang gefangen gehalten und nicht mißhandelt. Als erstes schickte er Ann, um zu versuchen, mich zur Rückkehr in den Pferch zu überreden, aber ich war hinter ihren Trick gekommen, meine Einwände zu kennen, ehe ich sie ausgesprochen hatte, und die bestmögliche Antwort parat zu haben. Diesmal war es ein bißchen anders. Sie konnte die Tatsachen nicht ändern, und ich kaufte ihr nichts mehr ab. Sie schien betrübt über meine Haltung zu sein, so als ob ich sie persönlich für alles verantwortlich machen würde. Willy Boy selbst kam später vorbei, und ich dachte, nun würde der Vorhang für mich fallen. Aber nein. Beinahe redegewandt und mit eingestreuten Bibelzitaten, die nicht so recht paßten, versuchte er sich zu rechtfertigen. Die von Angra waren das auserwählte Volk, und er lieferte den Josua zu Barbeaus Mosesdarstellung. Einen Moment lang wirkte er beinahe rührend, bis ich mich erinnerte, wieviel er mit seiner Kunstfertigkeit verdiente. »Du redest mit Engelszungen über etwas, das mich nicht interessiert«, sagte ich zu ihm. »Und du glaubst das alles nicht einmal selbst so ganz.« Er lächelte. »Okay, Steve. Wie wär’s, wenn wir es mal so rum betrachten – Maria und ich, wir bringen nur die Konkurrenz durcheinander. Du und Ann, ihr seid es, die wirklich die
dicken Brocken reinholen. Das Zeug, das ihr ranschafft, ist fachgemäßer und wichtiger. Das macht euch wichtig. Vergiß doch einfach, was du vielleicht für richtig oder falsch hältst. Du bist auf der Siegerseite. Du kannst dir nehmen, was du brauchst, mußt nicht herumschliddern wie der Esel auf dem Eis. Wenn du in zehn Jahren immer noch ein ungutes Gefühl hast, wenn du erst ganz oben bist, dann wird das der rechte Zeitpunkt sein, zu bereuen. Du wirst in einer Position sein, mit allen möglichen guten Taten dein Gewissen zu erleichtern. Ich weiß alles über Gewissen…« Ich schüttelte den Kopf. »Ich sehe das aber nicht so.« Er seufzte. Er zuckte die Achseln. »Na gut. Ich kann dem Boß sagen, daß ich es versucht habe. Willst du was trinken?« »Ja.« Er reichte mir seinen Flachmann, und ich nahm einen Schluck. Er nahm selber einen großen, ehe er ihn wieder in die Tasche steckte. »Also los«, sagte ich. »Bring es hinter dich.« Er sah überrascht aus. »Tut mir leid, wenn ich den Eindruck erweckt habe, das sei deine Henkersmahlzeit gewesen. Ich habe noch keine Anweisungen, dich zur ewigen Ruhe zu schicken.« »Weißt du, was Barbeau mit mir anfangen wird?« »Nee. Hat er nicht gesagt. Bis dann.« Und das war das letzte Mal, daß ich ihn gesehen hatte, bis er in Philadelphia versucht hatte, mich umzubringen. Es dauerte noch eine Weile, bis Barbeau, flankiert von bewaffneten Wächtern, versuchte, mir mit eindeutigen soziologischen Begriffen seine Sicht der Dinge zu verkaufen. Meine Antwort war immer noch die gleiche. Er spitzte die Lippen.
»Was sollen wir nur mit Ihnen machen, Steve?« »Ich kann mir vorstellen, was.« »Ich aber nicht. Ich hasse es, ein Talent wie das Ihre verschwendet zu sehen, besonders dann, wenn Sie eines Tages Ihre Meinung ändern könnten. Wer weiß, was die Zeit bringen mag?« »Sie wollen mich ein paar Jahre hinter Gitter bringen, um es herauszufinden?« »Ich hatte an eine angemessenere Möglichkeit für Sie gedacht, die Zeit herumzubringen.« »Und?« »Wie würde es Ihnen gefallen, ein anderer zu sein?« »Was meinen Sie damit?« »Ich kann Sie nicht mit all dem Wissen herumlaufen lassen, das Sie besitzen. Meine Kontaktleute bei der Handelskammer haben es geschafft, Ihre Nachricht unauffällig verschwinden zu lassen. Wenigstens die Angelegenheit ist, glaube ich, abgeschlossen. Ich möchte Willy Boy zu diesem Zeitpunkt nicht gerne nach Washington schicken müssen. Er sollte seine Zeit nie an etwas Geringeres verschwenden müssen als einen Kongreßabgeordneten.« Er kicherte über seinen eigenen Witz. »Also, ich kann nicht einfach abwarten und mich fragen, was Sie wohl das nächste Mal anstellen. Deshalb haben Sie sich soeben einen sehr langen Urlaub verdient – vielleicht einen auf Dauer.« »Und das heißt?« »Ein guter Arzt kann mit Hypnose und Drogen Wunder wirken. Neue Identität. Ein ganz neuer Vorrat an Erinnerungen. Es ist noch leichter, hörte ich, wenn der Patient einverstanden ist. Also, wenn der Tod die Alternative ist und das neue Leben ein einziger langer, angenehmer Urlaub zu werden verspricht, was würde jeder gesunde Mann dann sagen?«
»Irgendwie haben Sie recht«, sagte ich nach einer Weile. …Und ich träumte von Baghdad und erwachte unter Palmen.
Ich sah zu, wie die Sonne unterging und dabei niedrige Wolken entflammte. Ich war müde. Mein verrückter Schlafrhythmus der vergangenen Tage machte sich bemerkbar. Die Lichter des entgegenkommenden Verkehrs wurden zu geschmolzenen Strömen in meinen schmerzenden Augen. Es hatte keinen Sinn, bis Dallas weiterzufahren und todmüde dort anzukommen. Ich entdeckte ein Motel außerhalb von Texarkana, dachte mir einen weiteren neuen Namen aus und zahlte, nur um der Vorsicht willen, wieder bar. Ich duschte, ging los und fand eine Imbißstube, aß etwas, kam zurück und ging ins Bett. Das hätte für diesen Tag genug sein müssen, aber während ich dalag und zwischen Wachen und Schlafen schwebte, glitt mein Geist zum nächstgelegenen Zentrum datenverarbeitender Aktivität. Ein Telexgerät, das Reservierungen annahm, schnatterte irgendwo in der Nähe vor sich hin. Schnattet-ter-ter. … Wenig kompliziertes. Zeug, selbst für den Halbschlaf nur wenig erholsam. Und doch trieb ich mit ihm – irgendwohin… »Hallo« – oberflächlich und mechanisch ihr ganzes Wesen. Einen Augenblick lang vergaß ich, daß sie tot war… »Hallo, Ann.« »Hallo.« … Langsam überkam mich die Erkenntnis, daß etwas nicht stimmte. Ihr Bild überlagerte ein glitzerndes Arrangement aus Lichtern – ein Zauberwebstuhl? Die Fäden des Bewußtseins? Die Erinnerung kroch zurück. »Was ist geschehen?« fragte ich sie. »Geschehen…«, wiederholte sie. »Ich bin – hier.«
»Wie fühlst du dich?« »Fühlen… Wo sind meine Blumen?« »Oh, die sind da. Was – was hast du in der Zwischenzeit gemacht?« »Ich bin nicht ganz hier«, sagte sie dann, als würde sie es gerade entdecken. »Ich – gemacht? Wachen. Ich glaube – wachen. Aufwachen.« »Gibt es etwas, das du haben möchtest?« »Ja.« »Was?« »Ich weiß nicht. Mehr. Ja, mehr. Und meine Blumen…« »Wo bist du?« »Ich bin – hier. Ich – « … Und dann gingen die Lichter aus, und sie war verschwunden. Ich wachte auf und dachte eine Weile darüber nach. Es hatte so ausgesehen, als würde sie irgendwie in ein Computerprogramm verwandelt. Nichts besonders Kompliziertes zu diesem Zeitpunkt. Es sah so aus, als würde ihr Geist auf eine Art konserviert, wie man einen Körper über eine Herz-Lungen-Maschine am Leben hält. Funktion auf niedriger Ebene. Wie? Warum? Ich war zu müde, um ins Datennetz zurückzukehren und nach Antworten zu suchen. Tiefer, schwarzer Schlaf überkam mich… Bei einem zeitigen Frühstück schmiedete ich Pläne. Ob es nun Ungeduld war oder eine Vorahnung, jedenfalls beschloß ich, in Dallas das Verkehrsmittel zu wechseln. Ich fing an, etwas mehr Vertrauen in meine Fähigkeiten zu gewinnen. Vom Frühstück bis Dallas war es keine üble Fahrt; ein bißchen staubig hier und dort, ein bißchen windig woanders, aber ich schaffte es in einer angemessenen Zeit zum großen Flughafen Dallas-Fort Worth. Ich ließ das Motorrad dort auf
dem Parkplatz stehen und fragte bei einer Informationseinheit nach dem Teil des Flughafens, wo der Zubringer von Dallas nach El Paso abflog. Ich erfuhr auch, daß er regelmäßig in Carlsbad und beim Angra-Testgelände Nummer vier zwischenlandete. Dann säuberte ich mich, aß an einer Theke zu Mittag und fuhr mit dem Monorail zum richtigen Gebäude. Als ich ankam, studierte ich den angeschlagenen Flugplan. Es gab mehrere Flüge am gleichen Nachmittag und Abend. Dann ging ich und setzte mich in eine einsame Ecke des Wartebereichs. Ich konnte die Computeraktivität um mich herum spüren. Da Angra für diese ganze verdammte Reise verantwortlich war, war es nur recht und billig, dachte ich, wenn sie auch die Rechnung bezahlten. Ich spulte mich ein und arbeitete mich durch das Datennetz nach Osten vor. Nichts so Spektakuläres wie neulich mein Überfall auf Big Mac war jetzt angesagt. Die Information, die ich brauchte, würde nicht im Doppel-Z sein. Vergleichsweise würde sie beinahe offen zugänglich sein. Ich kannte mich in der ersten, äußeren Schicht der Sicherheitssperren immer noch gut aus, und ich drang hindurch wie Rauch durch ein Fliegenfenster. Auch Angra hatte Spesenkonten für mehrere Berechtigte – verschiedene für die unterschiedlichen Rangstufen leitender Angestellter. Ich suchte mir eine ausreichend hohe aus, um mir Priorität für den Flug zu sichern – indem ich beispielsweise einen rangniedrigeren Angestellten ausstach –, da Angra Stammkunde mit reservierten Sitzreihen auf dem Ding zu sein schien. Aus einer Laune heraus fügte ich dann Donald Elpat der Liste von Angra-Angestellten hinzu, die berechtigt waren, jenes Konto zu benutzen. Selbst wenn die Fluggesellschaft sich rückversichern sollte, hatte ich nun meinen Echtheitsbeweis. Aber warum sollte ich auf halbem Wege stehenbleiben?
Als nächstes wies ich Big Mac an, für Elpat einen Platz auf dem nächsten Flug zu reservieren. Ich wartete auf die Bestätigung. Dann spulte ich mich aus, notierte die Kontonummer auf einem Fetzen Papier aus meiner Brieftasche und übte so lange, bis ich sie mir jederzeit ins Gedächtnis rufen konnte. Dann ging ich zum Schalter hinüber, sagte dem Mann, ich sei Elpat und wolle mein Ticket haben. Ich gab ihm meine gefälschte Karte, die er keines Blickes würdigte, außer, um sie in einen Schlitz zu stecken. Ich kontrollierte das Signal, und einen Moment später kam mein Ticket aus einem Schlitz daneben. »Heute wird es aber nicht bei Angra landen«, sagte er. »Oh?« »Das Gelände ist gesperrt. Die nächste Möglichkeit, von Bord zu gehen, ist Carlsbad.« »Wie das?« Er zuckte die Achseln. »Irgendein Test, glaube ich.« »Okay. Danke.« »Der Ausgang dort drüben«, sagte er und deutete hin. »In etwa vierzig Minuten.« Während ich wartete, beschloß ich eine Tasse Kaffee aus einem Automaten auf der anderen Seite der Halle zu trinken. Als ich hinkam und herumzukramen begann, stellte ich jedoch fest, daß ich nicht das richtige Kleingeld hatte. Plötzlich klickte und summte die Maschine. Ein Becher senkte sich auf das Gitter und fing an vollzulaufen. Schwarz, so wie ich es gern hatte. Ich roch Veilchen, und dann hörte ich Anns Stimme, als stünde sie neben mir. »Zur Stärkung«, sagte sie. »Ich geb’ einen aus.« Die Veilchen waren verweht, und das Empfinden ihrer Gegenwart war verschwunden, noch ehe der Becher ganz voll
war. Ich wußte nicht, was ich davon nun wieder halten sollte. Aber ich sagte »Danke«, als ich die Plastikklappe anhob und den dampfenden Becher in die Wartezone mitnahm. Es konnte kein Diebstahl sein, entschied ich später, denn es ist ein größeres Verbrechen, jemandem für einen so schlechten Becher Kaffee Geld abzunehmen. Ich beobachtete die anderen Leute, die sich nach und nach im Wartebereich einfanden. Mir war gerade erst eingefallen, daß jemand, den ich von damals aus meiner Zeit bei Angra kannte, mitfliegen könnte. Barbeau hatte seine kleine Spezialistengruppe weitgehend von den gewöhnlichen Angestellten ferngehalten, aber dennoch waren wir alle mit einigen von ihnen bekannt. Die meisten meiner Kollegen hatten jedoch in der Datenverarbeitung gearbeitet, und keiner von ihnen schien anwesend zu sein. Es war nicht schwer zu erkennen, wer die Angra-Leute waren. Man mußte nur ein paar Sekunden hinhören. Es waren die, die darüber schimpften, in Carlsbad von Bord gehen und abwarten, auf Firmenkosten essen, trinken und herumlungern zu müssen, die armen Kerle. Endlich gingen wir an Bord, und ich verschanzte mich hinter einer Zeitschrift. Der automatische Abflug verlief ereignislos, genauso wie die erste halbe Stunde des Fluges. Dann sagte Ann plötzlich etwas zu mir, und ich schloß die Augen und sah sie unter einem metallisch glänzenden Baum mit einer spiegelartigen Oberfläche stehen, von Büscheln metallener Blumen umgeben, glänzend vor Maschinenöl und verankert auf dem Boden, auf dem sie stand. Und sie stand da wie in Hab-Acht-Stellung, Augen geradeaus, Arme herabhängend, Fersen zusammen. »Es ist, es ist, es ist«, sagte sie. »Es kennt dich.« »Was kennt mich?« fragte ich im Geiste. »Es, das ist. Es hat mich hier gepflanzt. Es wird aufpassen.« »Aber was ist es?«
»Es ist… Es kennt dich.« »Aber ich kenne es nicht.« »O doch.« »Erzähl mir davon.« »… Gehe wieder«, hörte ich sie sagen. »Zurück, stärker…« Und dann war sie verschwunden. Carlsbad kam schließlich in Sicht. Es vermittelte den Eindruck einer Oase an einem kleinen, braunen Fluß inmitten einer heißen, mondähnlichen Landschaft. Während wir uns näherten, bemerkte ich eine Menge Neubauten am Rande der Stadt, ein sicherer Hinweis darauf, daß sie schnell wuchs. Dann begannen wir den Landeanflug auf ein kleines Flugfeld etwa zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt. Wieder fingen ein paar meiner Mitpassagiere an, sich zu beschweren. Ich hätte den Autopiloten übernehmen und das Flugzeug zwingen können, uns auf Angras eigenem Platz abzusetzen. Ich hatte so eine Ahnung, daß sie, wenn ich es getan hätte, über das, was mit ihnen geschah, wesentlich beunruhigter gewesen wären. Dieser Gedankengang brachte mich jedoch auf eine Idee. Es war kein schwieriger Trick, bei der Landung in den Flugcomputer zu schlüpfen und ein momentan gesperrtes Programm, das es bereits gab, zu aktivieren. Das Flugzeug startete schnell wieder, nachdem wir ausgestiegen waren, und das Rollfeld war leer. Es befand sich auf dem Weg zu Angras eigenem Flugplatz. Ich fragte mich, ob sie mich wirklich für dumm genug hielten, daß ich mich ihnen auf diese Weise näherte. In jedem Fall würde es für eine kleine Ablenkung sorgen. Ich fragte mich, wie sehr sie mich wohl inzwischen fürchteten. Ich hielt meine Wahrnehmung offen für mögliche Eindrücke und verfolgte das Vorankommen des leeren Gefährts. Später, als der Bus uns in die Stadt brachte, fühlte ich die plötzliche Zerstörung des Flugzeugs während seines
Landeanflugs. Ich konnte nicht erkennen, womit sie es getroffen hatten – Laserstrahlen, Solarspiegel –, aber es ging schnell. Nervös, würde ich sagen. Gut. Ich beschloß, sie nicht viel länger auf die Folter zu spannen. Das Branchenverzeichnis und ein Stadtplan sagten mir alles, was ich wissen wollte. Ich ging zu Fuß zu einem Geschäft, wo man mir ein einfaches Fahrrad lieh, und dann fuhr ich aus der Stadt hinaus Richtung Südosten. Abfahrt.
Fünfzehn
Um mich herum brannte die Nachmittagssonne. Ich erkannte, daß ich einen Hut hätte kaufen müssen, um meinen Kopf vor der gleißenden Sonne zu schützen. Und schon nach kurzer Zeit wurde es harte Arbeit, in die Pedale zu treten. Ich folgte den Hinweisschildern, und als ich mich dem Gelände bis auf ein paar Kilometer genähert hatte, fuhr ich beim ersten Fleckchen Schatten, den ich erreichte, neben einem hohen, gelborange getönten Abschnitt der Straßenbefestigung am tiefsten Punkt einer Senke an den Straßenrand. Dort wartete ich ab, bis ich zu schwitzen aufhörte und meine Atmung wieder normal wurde. Dann wartete ich noch etwas länger. Leider hatte ich gerade diese Einrichtung während meiner , Zeit bei Angra nicht besucht. Ich hatte keine Ahnung, wie sie angelegt war. Das einzige, was ich wußte, war, daß sie sich über ein ziemlich großes Gebiet erstreckte. Ich begann mich zu fragen, wie viele Leute jetzt wohl dort sein mochten. Nicht allzu viele, nahm ich an. Wenn man eine Todesfalle samt Köder bereit hat, versucht man, die Anzahl der Beteiligten so gering wie möglich zu halten. Es war peinlich, allzu viele Zeugen zuzulassen. Andererseits legte das nahe, daß alle auf dem Gelände verbliebenen Personen höchst gefährlich waren. Scheiße, wie Willy Boy zu bemerken pflegte. Ich schob das Fahrrad den Hang hinauf und stieg wieder auf, als ich die Kuppe erreichte. In der Ferne sah ich die Anlage. Ein hoher Metallzaun trennte sie vom Rest der Welt, wie die Grenze eines unabhängigen Staates. Vor dem Tor, auf das ich mich zubewegte, stand eine
kleine Wachhütte, aber ich konnte in ihr oder um sie herum keine Anzeichen von Aktivität erkennen. Es schien hinter dem Zaun nichts zu geben, was einer Waffe ähnelte, die auf mich gerichtet sein konnte. Genau genommen gab es hinter dem Zaun überhaupt keine Aktivität. Die Anlage wirkte verlassen. Während ich darauf zufuhr, streckte ich meine Fühler aus. Ich glaubte, in der Ferne etwas Computeraktivität entdecken zu können, aber sie war zu weit weg, um mir irgend etwas zu sagen. Es gab neben der Straße kaum Deckungsmöglichkeiten, aber ich merkte mir die wenigen, die da waren. Eine sinnlose Übung, wie sich herausstellte. Nichts gefährdete meine Annäherung. Ich fuhr einfach weiter, bis ich bei der Hütte ankam, wo ich das Fahrrad anlehnte. Ich warf einen Blick hinein. Niemand daheim. Das Tor stand sogar zuvorkommenderweise offen, gerade weit genug, daß ein Mann zu Fuß hindurchschlüpfen konnte, ohne irgend etwas anzurühren. Einige Dutzend Meter weiter stand ein unauffälliges Verwaltungsgebäude, eingeschossig, ziemlich neu aussehend, die Fassade der Tüchtigkeit. Davor lag ein kleines Rasenstück, gab es ein paar Bäume und Büsche. Da waren auch zwei Springbrunnen zu beiden Seiten des Zugangsweges, die eine geringe aber auffällige Verschwendung von Energie demonstrierten. In ihrem sanften Plätschern hörte ich Angras Botschaft an die Welt: Energie wird nie wieder ein Problem sein. Hier gibt es sie haufenweise. Wir verkaufen, wenn Sie kaufen. Ich traute diesem Tor nicht. Die Situation war einfach zu verdammt offensichtlich. Ich spulte voraus, tastete nach irgend etwas in der Umgebung, das eine Falle sein konnte. Ich ging den elektrischen Sensoren nach, die eine tödliche Voltzahl bereithielten, um damit den Spalt zu überbrücken,
sobald ein menschlicher Körper hindurchschlüpfte – und dem Relais, das das Tor gleichzeitig ein paar Zentimeter weiter zuschieben würde, um den tödlichen Kontakt herzustellen. Soweit das Offensichtliche. Ineinander verschachtelte Fallen, ineinander greifende Rädchen… Na gut. Dann eben ein anderer Weg. In dem Wachschuppen hatte ich soeben ein paar Ein-MannFlieger bemerkt – umständliche, schwierige kleine Dinger mit Rotoren wie Hubschrauber und Schwungrädern wie die neuen Motorräder, die für den Antrieb und ein Mindestmaß an Stabilität sorgten. Ich ging zurück und betrachtete sie. Ich untersuchte sie, konnte aber keine versteckte Sabotage entdecken. Trotzdem würde ich mich hüten, mit einem davon hineinzufliegen. Eines von Barbeaus Hobbys war Tontaubenschießen. Ich fummelte an der Steuerung von einem herum, bis ich ihn unter eigenem Antrieb aus dem Schuppen herausgeschafft hatte. Dann ließ ich ihn in der Luft schwebend zurück und ging noch einmal hinein, um einen weiteren zu holen. Danach entschied ich mich für einen dritten. Drei schien die Höchstzahl zu sein, die ich kontrollieren konnte, wie beim Jonglieren mit Bällen. Ich ging ein wenig näher an das Tor heran und machte mich bereit. Dann ließ ich einen hoch über den Zaun aufsteigen, den zweiten in der Nähe des Tores in den Zaun hineinkrachen, und holte den dritten neben mich, als wolle ich ihn besteigen. Das Ergebnis war spektakulär. Der Zaun machte ein Geräusch wie bratender Speck, und der eine Flieger sah einem exotischen Insekt, das in einem brennenden Spinnennetz gefangen ist, erstaunlich ähnlich. Gleichzeitig gab es einen Hitzeblitz, der von irgendwo hinter dem Gebäude ausging, und ich hörte, wie der andere Flieger
außerhalb meiner Sichtweite zu Boden krachte. Dann blockierte ich, von metallischen Gerüchen begleitet, die elektrischen Relais und hastete zu Fuß auf das Tor zu. Erst als ich gerade hindurchlief, erkannte ich, daß es noch einen einfacheren, gut geschützten Auslöser gab, der mir entgangen war – der aber war von dem Flieger, den ich in den Zaun gejagt hatte, kurzgeschlossen worden. Mein Glück, oder was auch immer, funktionierte also noch. Ich rannte auf die Büsche zu, die an das Gebäude angrenzten, als wolle ich mich ihm von der Seite oder von hinten nähern – und rannte einfach weiter. Es schien mir wie ein passender Ort für Willy Boy, mir aufzulauern und ich wollte erheblich mehr Abstand als nur die Breite einer Bekehrungsstätte zwischen uns halten. Als ich das Gebäude umrundete, sah ich einen Abflußgraben etwa zwölf Schritte zu meiner Linken. Ich rannte hin und hechtete hinein. Keine Schüsse pfiffen über meinen Kopf. Das einzige Geräusch war das des trockenen, vorbeistreichenden Windes. Ich streckte die Fühler aus… Computeraktivität, vor mir, weit rechts… Ich spulte mich ein, schnell. Ich fand meinen Weg zum Datenunterbau dessen, was eine Plankarte des Komplexes sein mußte. Ich übersetzte ihn schnell in Gedankenbilder zurück. Ich sah weiter südlich den Kommandostand – einen hochtechnischen Ort –, der den Computer und wahrscheinlich Barbeau selbst beherbergte. Das Gelände daneben zeigte einen Hubschrauber mit laufendem Motor. Machte er sich bereit, aufzusteigen und zu versuchen, mich aus der Luft aufzuspüren? Oder war er ein bereitstehendes Fluchtmittel für den Fall, daß sich die Ereignisse zu meinen Gunsten entwickelten und es ihm auf dem Areal plötzlich zu heiß wurde?
Ich sah, daß in der Richtung, in die ich mich bewegte, zwei strategisch günstig plazierte Gebäude lagen, wo Hinterhalte für mich angelegt worden waren. Ich konnte eines umgehen, aber nicht beide. Ich ignorierte sie für den Augenblick, denn ich stellte fest, daß die Position, wo ich mich zur Zeit befand, ebenfalls deutlich angegeben war. Dagegen mußte ich schnellstens etwas unternehmen. Ich verfolgte das Signal, das die Anzeige aktivierte. Ich brauchte eine Weile, um zu erkennen, wo es herkam, aber als es mir gelang, hob ich den Kopf ein wenig und betrachtete das Ding. In einiger Entfernung rotierte eine Art Gerät auf der Spitze eines hohen Turms. Ich gewann den Eindruck, daß es wahrscheinlich eine Sonarabtastung der Umgebung vornahm und alles über einer bestimmten Größe, das sich bewegte, aufspürte und registrierte. Okay. Ich mußte einen Weg finden, um die örtliche Energieversorgung durcheinanderzubringen, sie mit heftigen Schwingungen zu treffen und zum Durchschmoren zu bringen. Das war heikler, als ich gedacht hatte, und ich brauchte dazu fast zwei Minuten. Dann kroch ich schnell weiter und schob eine weitere Erkundung des Terrains mittels Computer so lange auf, bis ich meine Position um einiges verändert hatte. Ein weiterer schneller Blick zeigte mir, daß das Ding auf dem Turm aufgehört hatte zu rotieren, und ich stellte erfreut fest, daß meine Positionsmarkierung aus der Analogkarte verschwunden war. Ich kroch über hundert Meter weit den Graben entlang, vorbei an einem Gebäude, das bei meinem Blick auf den Übersichtsplan als leer ausgewiesen worden war. Hinter diesem Gebäude lag das Rollfeld. Es gab vier Hangars und eine Anzahl Landeplätze mit Hubschraubern darauf. Auf der Piste lagen die zum Teil geschmolzenen Überreste des Zubringerflugzeugs, das ich von Carlsbad herübergeschickt
hatte. Sie hatten abgewartet, bis es fast gelandet war, bevor sie es zerstört hatten. Sie hatten ein öffentliches Desaster auf öffentlichem Grund, das Aufmerksamkeit und Reporter und Unfallfahrzeuge und Mannschaften angezogen hätte, vermeiden wollen. Sie wollten, daß es bei einer Privatparty blieb. Das war auch mir recht. Ich stellte fest, daß ich noch wütender wurde als zuvor. Ganz egal, in welche Richtung ich mich von hier aus wandte, ich würde an einem der Hinterhalte vorbei müssen, um weiter in den Komplex eindringen zu können. Wieder spulte ich mich ein. Ja. Die nächste Falle befand sich direkt hinter dem nächsten Gebäude auf der anderen Seite des Flugfeldes. Der Computer zeigte an, daß dort, genau wie bei dem anderen Hinterhalt, drei Personen lauerten. Ich kroch noch ein Stück weiter, bis ich das nächstgelegene Gebäude zwischen mich und das übernächste gebracht hatte, so daß jede Möglichkeit der Einsicht wirkungsvoll ausgeschaltet war. Dann erhob ich mich, rannte los und warf mich flach neben die Seite des Gebäudes, als ich es erreicht hatte. Ich wartete mehrere Herzschläge lang, aber nichts geschah. Dann bewegte ich mich zum nächsten Fenster hin und versuchte, es hochzuschieben. Verschlossen. Ich bearbeitete es mit einem Stein, bis die Scheibe zerbrach, griff hinein und entriegelte es. Ich schob es hoch und hoffte, daß die Entfernung und der Wind das Geräusch erstickt hatten. Ich stieg hinein und schloß es hinter mir, dann bewegte ich mich in Richtung auf die andere Seite. Wie ich anhand der Werkzeuge und Teile, die auf den Bänken entlang der Wände ausgebreitet waren, sofort erkannte, handelte es sich um eine Art Elektrowerkstatt. Unter all dem Zeug war jedoch nichts, was als richtige Waffe dienen konnte, also ging ich schnell
weiter – vorbei an Lagerregalen und Behältern in ein kleines, abgeteiltes Büro. Ich spähte über den Fensterrand nach dem Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite. Dessen beide Fenster auf der mir zugewandten Seite standen offen, und drinnen waren Leute, die etwas in der Hand hielten, von dem ich annehmen mußte, daß es sich um Waffen handelte. Also gut. Keine Samthandschuhe mehr, die Zeit der Schlagringe war gekommen. Ich ließ mich auf den Boden fallen, kroch zu dem linken Fenster an der Wand und sah auch dort nach. Da war immer noch nichts anderes als die leere, öde Fläche, die vor mir gelegen hatte, als ich herübergekommen war. Ich zog den Riegel zurück und öffnete dieses Fenster, langsam. Dann setzte ich mich mit dem Rücken an die Mauer und streckte die Fühler aus… Breckeckeckex… … Der Hubschrauber bewegte sich auf seinem Startplatz, erhob sich, wandte sich in meine Richtung und nahm Geschwindigkeit auf. Er legte sich in eine weite Kurve, hinaus über das Verwaltungsgebäude und den Zaun, kam jetzt in meine Richtung zurück, wurde immer schneller, verlor an Höhe… Ich konnte ihn jetzt deutlich hören… Er stieß herab wie ein schwarzer Engel und krachte frontal auf die mir zugewandte Seite des nächsten Gebäudes. Im Bruchteil einer Sekunde war ich über das Fensterbrett gesprungen und losgerannt, sobald ich Boden unter den Füßen hatte. Die Erde bebte noch von dem Aufprall, und immer noch fielen Brocken von der eingeschlagenen Mauer. Das Heckteil des Hubschraubers ragte, sich immer noch drehend, aus der stauberfüllten Höhle, die er geschaffen hatte. Als ich daran vorbeirannte, entdeckte ich kein Lebenszeichen von denen, die im Hinterhalt gelegen hatten.
Ich schwang die Arme und lief weiter. Bald lag das zerstörte Gebäude weit hinter mir, und der andere Hinterhalt war sogar noch weiter weg – rechts hinter mir. Ich lief weiter. Das Gelände erstreckte sich meilenweit vor mir. Der Ausblick erweiterte sich jetzt auch, und zu meiner Linken wurden jetzt zusätzlich zu den einfachen Gebäuden auf meiner Rechten Anlagen sichtbar, und weit vor mir ragten noch exotischere Bauten auf. Während ich vordrang, spürte ich immer mehr Computeraktivität um mich herum. Schließlich mußte ich stehenbleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Ich schwenkte ein zu einer Art viergeschossigem Maibaum eines Kraftwerksmodells, das von einem silbrigen Maschen werk umgeben war wie von einem Schal. Ich kauerte mich in eine Vertiefung an der Rückseite eines glänzenden Gehäuses unter eine Stahltreppe. In der Ferne wurde mir der Ausblick auf einen sich drehenden Vermessungsturm gewährt, dessen Seiten alle verschiedene Farben trugen. »Stephenson McFarland!« dröhnte Barbeaus Stimme, und die Worte hallten auf dem ganzen Gelände wider. Ich sah, daß sich genau über meinem Kopf, an einer Stange auf halber Höhe der Treppe, ein Lautsprecher befand. Er war Teil eines allumfassenden Durchsagesystems, das, wie es schien, den gesamten Komplex abdeckte. »Stephenson McFarland!« … Ich hatte sofort erkannt, daß das mein richtiger Name war. Und als ich ihn hörte, schien er alle verbliebenen Teile meiner Erinnerungen zu veranlassen, wieder an der richtigen Stelle aufzutauchen… »Ich würde jetzt gern die ganze Sache abblasen«, stellte Barbeau fest. »Ich habe einen Fehler begangen, Steve – damals im Flughafen von Philadelphia. Es tut mir leid, und ich möchte mich entschuldigen. Sie können sehen, daß ich etwas
Derartiges nicht mehr vorhabe. Ich wußte nicht, wie sehr Sie sich – verändert haben.« Ha! Wie gut, ihn jetzt schwitzen zu lassen. Er hätte nie einen Ort wie diesen für unsere Auseinandersetzung gewählt, wenn er gewußt hätte, was ich mit Maschinen fertigbrachte. Und ich hatte ihm gerade eben seinen Hubschrauber weggenommen, so daß er nicht einfach fliehen konnte. Ich hätte gewettet, daß er mich gerne wieder auf seiner Seite gehabt hätte. »… Sie können sicher sehen, daß ich Sie jetzt am Leben lassen will«, fuhr er fort. »Es wäre mir unmöglich, etwas anderes zu wollen, so wie die Dinge gegenwärtig stehen. Besonders jetzt, da Ann für uns verloren ist. Es wartet eine wirklich gute Zukunft auf Sie bei Angra…« Ich spulte mich wieder in seinen Computer ein – ein Wirbel bunter Lichter. Ich vermied es, das Datensichtgerät, auf dem er mich Raster um Raster suchte, dazu zu benutzen, im Doppeldruckverfahren eine Obszönität zu übermitteln, die mir durch den Kopf ging. Statt dessen suchte ich nach einem Gebäude, das streng überwacht wurde. Es gab einen solchen Ort, und ich tauchte in seine Systeme ein. CORA. Sie hatte ihren Namen in das dort aufgestellte Gerät eingegeben, durch das sie wohl mit denen in Verbindung trat, die sie gefangen hatten. Das genügte natürlich. Sie mußte inzwischen etwas über meine Fähigkeiten wissen, ohne Zweifel das Ergebnis vieler Fragen, die ihr gestellt worden waren. Ich fragte mich, wie sie wohl jetzt über mich dachte. Dann traf mich die Erkenntnis, wie sehr ich mich in den vergangenen paar Tagen geändert haben mußte, wie ein Schock. Für mich hieß das lediglich, mich zu erinnern, aber – ich erkannte, daß ich nicht mehr der Mann war, den sie drunten in den Keys gekannt hatte. Jener hatte nur irgendwie dahinvegetiert, soweit es mich im Moment betraf, war er nur ein Bruchstück meiner selbst gewesen. Ich war schlauer und
zäher und – wahrscheinlich um einiges unangenehmer. Würde sie mich immer noch mögen, wenn sie wüßte, wie ich wirklich war? Es war mir sehr wichtig, denn ich erkannte, daß mir jetzt noch mehr an ihr lag, wenn das überhaupt möglich war. Vorsichtig, beinahe ängstlich, übernahm ich die Kontrolle des Hausgerätes mit dem Fernsehbildschirm, der dazu gedacht zu sein schien, sie zu unterhalten, und durch den sie beobachtet wurde. Das Doppeldruckverfahren, das ich beinahe verwendet hätte, um Barbeau zu beschimpfen, kam mir jetzt gelegen. CORA. GEHT ES DIR GUT? DON, ließ ich es anzeigen. Es dauerte fast eine Minute, ehe sie es bemerkte, und währenddessen mußte ich mir noch mehr von Barbeaus Bettelei anhören: Ich solle vernünftig sein, und ich solle wieder ins Team zurückkehren… Als sie meine Botschaft entdeckte, aktivierte sie die Tastatur, mittels derer sie die Einrichtungen ihres Gefängnisses bediente, besondere Programmierungen verlangte und sich mit denen unterhielt, die sie gefangen genommen hatten… JA, tippte sie ein. WO BIST DU?
IRGENDWO IN DER NÄHE, GLAUBE ICH, WO BIST
DU? Sie tippte: TESTGELÄNDE. SOLARGETRIEBENE LASERVERTEIDIGUNG DRUM HERUM. VIELE SCHLACKENHALDEN. BLEIB DRAN, antwortete ich. ES KANN EINE WEILE DAUERN. AUF WIEDERSEHEN. Ich sah mir die Aufstellung der laufenden Projekte im Hauptcomputer an und erfuhr, worum es sich bei einigen jener bizarren Bauten in der Ferne handelte. »… mit einer beachtlichen Gehaltserhöhung«, sagte Barbeau gerade.
»Wo ist Cora? Ich möchte mit Cora sprechen!« rief ich, denn ich hatte nachgesehen und wußte, daß die Lautsprecheranlage in beide Richtungen funktionierte. Ich wußte, daß ich für den Augenblick meine Position verriet, aber zu diesem Zeitpunkt machte mir das nichts aus. Ich wollte seine Reaktion sehen. »Steve!« erfolgte die Antwort. »Sie ist hier. Es geht ihr gut. In der Tat hat sie ganz gewaltige Angst vor dem, was Sie vielleicht unternehmen werden.« »Dann lassen Sie mich mit ihr sprechen.« Ich mußte diese Forderung stellen. Ich wollte nicht, daß er auf die Idee kam, daß ich bereits mit ihr in Verbindung gestanden hatte. »Später, erst später«, sagte er. »Aber zunächst – « »Ich warte«, sagte ich und rannte los. Während er sprach, hatte ich Zeit gehabt nachzusehen, und ich wußte jetzt, wo sich das Testgelände mit der solargetriebenen Laserverteidigungsanlage befand. Ich hatte auch eine Vorstellung davon, um was es sich handelte. Es war ein militärisches Forschungsprojekt, bei dem Lasernetzgeräte durch Sonneneinstrahlung aufgeladen wurden. Offenbar konnte die dabei angesammelte Energie wie ein Blitzschlag ausgelöst werden. Einzelheiten. Später damit beschäftigen… Ich rannte auf das Niemandsland mit den seltsamen Bauten zu. Sie war irgendwo dort vorne, in einer möblierten Beobachtungsstation im Bereich des Testgeländes. Ungepflasterte Straßen mit Namen wie St. James Place, Park Place, Baltic Avenue und Board Walk schlängelten sich durch die mondähnliche Landschaft, über grauen und weißen kalkstein- und fossilhaltigen Boden, wo die zähe, genügsame Vegetation in der trockenen Hitze zu drei Vierteln verdorrt wirkte. Hier gab es Reichtum – Öl unter der Erdoberfläche und Pottasche – und es gab endgelagerte radioaktive Abfälle, die, wie ich mich erinnerte, ganz in der Nähe in alten Salzstöcken
vergraben worden waren. Ich erinnerte mich an die Ironie, die sich mit dem scheinbaren Namensvetter der Firma verband, den ich einmal nachgeschlagen hatte – Angra Mainyu kam aus der persischen Mythologie und war im Endeffekt ein AntiSonnengott, ein Verderber all dessen, was er berührte, Zerstörer des Baums des Lebens. Als ich Barbeau davon erzählte, lachte er nur, und sagte, nein, es handle sich um die Abkürzung für Allgemeine Naturgetriebene Radiationsanlagen, und man solle keine Zeit damit verschwenden, nach Widersprüchen und Spitzfindigkeiten zu suchen, wo einfache Antworten genügten. Die Sonne brannte unbarmherzig, während ich zwischen verschiedenen experimentellen solarelektrischen Versuchsanlagen weiterlief. Da gab es große Behälter und Türme und Pyramiden und Wälle aus schräggestellten Metallplatten, Strukturen mit langsam rotierenden Paddeln, die, so nahm ich an, Blätter nachahmen sollten. Von einigen hatte ich noch nie etwas gehört. Und weiter draußen – »in der Nähe der Schlackenhalden« – lag Coras Gefängnis. »… werden zu einer Einigung kommen müssen, Steve«, sagte Barbeaus Stimme aus einem wie ein düsterer Weihnachtsbaum wirkenden Gestänge zu meiner Linken. »Wir brauchen einander…« An der Ecke Mediterranean und Ventnor Avenue bog ich ab. Ich traf unter einem Solar Spiegel auf sie. Sie trug ein langes, schwarzes Gewand mit einem goldenen Drachen auf der Brust. »Ann!« »Ich habe Kraft geschöpft«, sagte sie, etwas weniger monoton als das letzte Mal. »Sie sind jetzt hinter dir her – die drei Männer aus dem anderen Haus. Einer von ihnen, der vorderste, ist ganz nah.« Sie wandte den Kopf, und ich folgte ihrem Blick in Richtung auf ein flaches Gebäude drüben in
Marvin Gardens, das vor Antennen strotzte. »Weißt du, was ein kinetischer Auslösen ist…?« Ich sah nichts in der Richtung, und als ich mich umwandte, war Ann verschwunden. Ich machte mich auf den Weg zu jenem Gebäude, das aussah wie ein geducktes Stachelschwein, und meine Sinne waren geschärft. Ich glaubte zu wissen, was sie meinte. Ich hatte über Versuche mit einer computergesteuerten Laserhandwaffe gelesen. Sie konnte so eingestellt werden, daß sie automatisch auf sich schnell bewegende Objekte schoß. Es hieß, daß sie sogar darauf eingestellt werden konnte, eine auf ihren Träger abgefeuerte normale Kugel im Flug zu treffen. Das Ding konnte auch in Verbindung mit einem Helmstirnband benutzt und so justiert werden, daß es auf den Punkt schoß, den sein Benutzer mit den Augen fixierte. All das bedeutete, daß ich ein toter Mann war, sobald sich eine Sichtverbindung zwischen uns auftat… Also… spulte ich mich auf der Suche nach jenem elektronischen Natternhirn, das sich irgendwo vor mir befand, ein. Tzzzz… … Es bewegte sich langsam, von rechts kommend, auf der mir abgewandten Seite des Stachelschweins entlang. Aber ohne Computer gab es auch keinen Laserstrahl, der seinen tödlichen Tanz aufführen konnte. Ich schaltete ihn ab und hielt ihn in dieser Stellung. Ich rannte weiter. Als der Mann in mein Blickfeld trat, sah ich, daß er etwas in seiner rechten Hand hielt, das wie eine überdimensionale Harmonika aussah. Um seine dunklen Locken trug er ein metallenes Stirnband, und von dort führte eine Art Kabel zu einem Netzgerät an seinem Gürtel und ein weiteres von dort zu dem Ding in seiner Hand.
Nach mehreren Augenblicken machte er ein langes Gesicht und begann, die Waffe zu schütteln. Er klopfte auf das Netzgerät. Als ich auf ihn zukam, versuchte er, das Ding als Keule zu benutzen. Ich parierte den Schlag und traf ihn mit dem Knöchel hart an der Schläfe. Er ging zu Boden. Ich nahm ihm seine Bewaffnung ab und legte sie selbst an. Ich reaktivierte den kleinen Computer, während ich den Griff auf der Rückseite der Harmonika umklammerte. Dann bewegte ich mich auf die Seite des Stachelschweins zu und wollte mich auf die Suche nach den anderen beiden Einheiten machen. Das Ding vibrierte fast unmerklich in meiner Hand, und ich hörte einen Aufschrei. Auf meiner Linken und etwa dreißig Meter jenseits des Weges neben einem großen schwarzen Gehäuse, das von riesigen Keramiktöpfen umgeben war, lagen zwei Menschen hingestreckt. Sie trugen beide Stirnbänder, und keiner von ihnen bewegte sich. Ich spulte mich ein und schaltete ihre Waffen ab. Dann ging ich auf sie zu, wobei ich meine eigene tödliche Harmonika bereithielt. Aber sie waren tot. Ich war entsetzt über die stumme Wirksamkeit des Dings, das ich in Händen hielt. Ich hatte die Männer, die mich angreifen wollten, nicht einmal gesehen. Sonst hätte ich ihre Waffen zerstört. Dann hätte ich wahrscheinlich jedem von ihnen ein Bein gebrochen, aber sie wenigstens am Leben gelassen. Ich wollte das Ding wegwerfen, aber ich hatte Angst, ich könnte es vielleicht noch brauchen. Ich wandte mich wieder der ausgetrockneten Ebene zu, in Richtung auf das Testgelände. »… Es gibt keinen Grund für all das«, dröhnte Barbeaus Stimme hinter mir her. »Wir haben doch das Energieproblem gelöst, oder, Steve? Als Sie für Angra gearbeitet haben, haben
Sie Ihrem Land, ja, der ganzen westlichen Zivilisation, einen großen Dienst erwiesen. Es liegt immer noch Großes vor uns. Wir können immer noch verhandeln.« »Lassen Sie Cora sofort frei«, rief ich, »dann werden Sie immer noch am Leben sein, wenn wir hier fertig sind! Das ist mein Verhandlungsangebot!« »Steve! Halt! Ich kann Ihnen völlig andere Konditionen bieten als letztes Mal! Die werden Ihnen gefallen!« »Cora! Sofort!« brüllte ich in den nächstbesten Lautsprecher, an dem ich vorbeikam. »Ich kann nicht, Steve!« »Warum denn nicht?« »Sie ist meine einzige Versicherung gegen Sie!« »Verdammt! Ich habe doch gesagt, daß ich Sie in Ruhe lasse, wenn Sie sie mir zurückgeben!« »Das ist etwas dünn, um mich darauf verlassen zu können, mein Junge!« »Mein Wort? Ich hätte Angra nicht verlassen, wenn ich nicht ein paar Prinzipien hätte. Mein Wort gilt!« »Beruhigen wir uns erst einmal ein wenig! Auch ich will immer noch verhandeln…« Ich ignorierte ihn und lief weiter. Ich kam an etwas vorbei, das wie ein Kartenhaus aussah, an einer anderen Konstruktion, die nur aus Röhren bestand, in denen Flüssigkeiten brodelten… Die Waffe bewegte sich in meiner Hand, und etwas verbrannte in der Luft zu meiner Rechten. Mir blieben nur die Umrisse eines Universal-Schraubenschlüssels als Nachbild. Das, und eine Pfütze aus etwas Geschmolzenem auf dem Boden. Wo war er hergekommen? Wer könnte ihn hingeworfen haben… Plötzlich regte sich die Harmonika wieder, und eine Unzahl heller Punkte erfüllte die Luft – Schraubenzieher, Zangen,
Brechstangen, Hämmer… Es war, als habe jemand den gesamten Inhalt einer Werkzeugkiste in meine Richtung abgefeuert. Das verdammte kleine Ding verbrannte alles. Weit weg zu meiner Rechten befand sich ein Schuppen in der Nähe einer eigenartig riechenden elektrochemischen Anlage. »Maria!« rief ich, als ich plötzlich ein klares Bild der Lage hatte. »Komm nicht heraus! Dieses Ding verbrennt alles, was sich bewegt!« »Ich verstehe!« hörte ich sie rufen. »Wie wär’s, wenn du es in die andere Richtung halten würdest?« »Warum sollte ich?« »Weil du gewonnen hast!« rief sie zurück. »Ich habe gerade vor einer halben Minute meinen Job bei Angra gekündigt! Laß mich hier heraus, dann belästige ich dich nicht mehr!« »Ich wünschte, ich könnte dir glauben!« »Das wünschte ich mir auch! Ich war bettelarm, Steve! Ich wette, das warst du nie! Es hat mir nicht gefallen, was ich tun mußte, um all das Geld zu verdienen, aber ich hab’s trotzdem getan! Weil arm sein noch schlimmer war! Ich habe den Rest von euch nie sehr gemocht, weil es euch nicht zu stören schien! Nicht so sehr, wie es mich gestört hat! Jetzt scheint ein guter Zeitpunkt zu sein, um aufzuhören! Laß mich gehen!« »Du hast lange gewartet!« sagte ich. »Nicht zu lange, hoffe ich! Kann ich rauskommen?« Ich schaltete den Computer der Waffe ab. »Okay! Komm raus!« Sie trat aus dem Schuppen. Sie trug Jeans und eine rote Bluse. Ihr Gesicht war eine dunkle, angespannte Maske. Sie wandte sich nach links und begann zum vorderen Bereich des Areals zurückzugehen. »Ich habe mein Fahrrad draußen an dem Wachschuppen stehen lassen«, sagte ich. »Du kannst es haben.« »Danke.«
»Und Barbeau hat jedes Wort gehört, das wir gesagt haben. Komm dem Gebäude nicht zu nahe, in dem er sich aufhält. Er ist gemein genug, auf dich zu schießen.« Sie nickte. »Ich glaube, ich werde ein Restaurant aufmachen«, sagte sie. »Komm doch mal vorbei.« »Und paß auf den Prediger auf«, fügte sie hinzu. »Er ist immer noch da – irgendwo.« Ich stellte die Waffe auf ihre einfachere Funktion um und deckte sie, bis sie außer Sichtweite war. Aber es drohte keine Gefahr. Ich lief weiter und suchte die Umgebung wieder nach ungewöhnlicher Computeraktivität ab. Mir fiel nichts Besonderes auf. Nur das Vibrieren der verschiedenen Versuchsanlagen. Ich änderte jetzt meine frühere Strategie, hielt mich im Freien und vermied Ecken und Winkel, in denen ein dicker Mann mit einem Gehirn, das tötete, sich verbergen konnte. Eine Zeitlang blendete ich Barbeaus Monolog aus. Ich kam an der letzten der großen Anlagen vorbei, und vor mir erstreckte sich ödes Land, nur hier und da ein paar kleinere Maschinenteile und ein paar verstreute Hütten. In größerer Entfernung lagen Schlackenberge. Außerdem gab es dort ein paar Türme, an denen Lautsprecher angebracht waren… Na gut, ein letztes Mal: »Hören Sie«, sagte ich. »Ich habe gerade drei Ihrer Männer mit diesen Superwaffen getötet, und Maria ist nicht mehr bei Ihnen. Ich habe auch die anderen drei ausgeschaltet, falls Sie das nicht bemerkt haben sollten. Sie haben nicht mehr sehr viele übrig. Ich weiß, wo Cora ist. Rufen Sie Matthews zurück. Schalten Sie Cora dazu und lassen Sie uns eine Konferenz abhalten. Ich will Pläne machen, wie ich mit einem Minimum
an Aufwand hier herauskomme. Sie gehen Ihren Weg, und wir werden unseren gehen. Was sagen Sie dazu?« »Wenn Sie das ernst meinen, dann geben Sie mir den Computer zurück«, antwortete er. »Was soll das heißen?« »Er ist gerade durchgedreht.« »Muß eine Fehlfunktion sein«, sagte ich. »Ich habe nichts damit zu tun.« »Das glaube ich Ihnen nicht.« »Einen Moment.« Ich durchlief den Spuleffekt. Er hatte recht. Da war eine massive Computerfehlfunktion im Gange. Ablesungen wurden verdreht, Systeme brachen zusammen… »Ich sehe es, aber ich habe nichts damit zu tun«, sagte ich. »Lassen Sie mich weiter nachprüfen.« Ich arbeitete mich schnell durch die Ebenen hinab, bis ich schließlich an der Basis angekommen war. »Es wird durch Energiestöße hervorgerufen«, sagte ich. »Ihr Generator macht Zicken.« »Was soll ich tun?« »Gehen Sie zurück nach New Jersey. Wir schicken Ihnen dann eine Postkarte aus der Karibik.« »Hören Sie auf damit, Steve!« »Lecken Sie mich am Arsch, Barbeau«, sagte ich. Wieder spulte ich mich ein, diesmal in die Systeme des vor mir liegenden Schuppens. Das war ein großartiger Ort, um jemanden gefangenzuhalten. Weit genug ab vom Schuß, so daß Hunderte von Angestellten an normalen Werktagen ihrer Arbeit nachgehen konnten, ohne Verdacht zu schöpfen. Er hatte dennoch seine eigenen sanitären Anlagen, einen Lebensmittelvorrat, eine Klimaanlage und eine auf bestimmte Funktionen beschränkte Kommunikationseinheit. Es schien, als sei er tatsächlich dafür entworfen worden, gelegentlich als
Arrestzelle zu dienen. Wie ich Angra inzwischen kannte, war ich mir sicher, daß dies nicht das erste Mal war, daß er diesem Zweck gedient hatte. Ich erstarrte, als ich die neueste Botschaft las, die Cora in die Hauseinheit eingegeben hatte. EIN FETTER MANN VERBIRGT SICH HINTER DER HALDE AUF DER WESTSEITE DES HAUSES. Das war es also. Die Tötungskraft des Dings, das ich trug, hatte eine größere Reichweite als die von Matthews. Und er war kein Narr. Ich mußte eigentlich in der Lage sein, ihn zum Nachgeben zu zwingen. »Steve! Steve!« begann Barbeau zu schreien. »Es brennt!« »Dann bringen Sie Ihren Arsch in Sicherheit.« »Ich kann nicht! Sie haben die Tür blockiert!« »Ich hab’ gar nichts blockiert!« Ich spulte mich wieder ein, aber der Computer drehte immer noch durch und baute immer weiter ab. Immerhin schaffte ich es, zu entdecken, daß sich ein kompliziertes elektronisches Schloß an der Tür zum Kontrollzentrum befand, und es war in der Tat blockiert. »Es gibt nichts, was ich tun könnte!« sagte ich. »Sie sind zu weit weg! Nehmen Sie sich einen Feuerlöscher und versuchen Sie, durchzubrechen!« »Hören Sie auf, Steve! Ich lasse sie frei! Ich tue, was Sie wollen!« »Ich habe es nicht angezündet! Ich kann es nicht stoppen! Zerschlagen Sie eine Fensterscheibe! Springen Sie! Irgendwas!« »Die sind vergittert!« »Tut mir leid!« sagte ich. »Ich bin machtlos dagegen!« »Ich krieg euch noch!« schrie er, nur ein paar Sekunden, bevor die Energieversorgung ganz ausfiel. Aber die wenigen Sekunden genügten.
Ein Aufleuchten wie ein plötzlicher Blitzschlag blendete mich. Die Hütte, auf die ich mich zubewegte, stürzte ein und begann zu schwelen. Ich hörte einen Mann schreien. Das Lautsprechersystem fiel aus. Ich rannte los. Die Flammen waren gerade erst aufgelodert, als ich mich durch die Trümmer vorarbeitete, aber ich wußte, daß die Umgebung bald ein Flammenmeer sein würde. Ich zerrte an einem Mauerstück. Ich bewegte einen heruntergefallenen Balken. Ich sah sie dort liegen, bewegungslos. Ich räumte den Schutt beiseite, der sie immer noch bedeckte. Ich konnte nicht erkennen, ob sie atmete. Rauch und Flammen umgaben mich von allen Seiten, als ich sie endlich freibekommen hatte. Ich hob sie auf und bahnte mir meinen Weg aus den Ruinen. Jetzt wußte ich, was eine Laserverteidigungsanlage ausrichten konnte. Ich hörte ein Stöhnen, als ich das verließ, was von dem Gebäude übriggeblieben war. Matthews lag in etwa zehn Meter Entfernung auf dem Boden. Ich setzte Cora ab und tastete nach ihrem Puls. Er war schwach. Sie atmete flach. Ihr rechter Arm sah aus, als sei er gebrochen. Ihre Kopfhaut und ihre Stirn hatten böse Schnittwunden. Ich hob ihre Lider an, da ich während meiner Krankenhauszeit. eine Menge neurologischer Fachliteratur gelesen hatte. Ihre rechte Pupille war wie ein Stecknadelkopf; die linke hatte Normalgröße. Ich fing an, Blut von ihrem Gesicht und ihrem Arm zu wischen. »Cora!« sagte ich. »Kannst du mich hören?« Es kam keine Antwort. Ich rieb ihre Handgelenke. Ich versuchte, sie in eine möglichst bequeme Stellung zu bringen… »Steve!« Ich wandte den Kopf. Willy Boy, mit bösen Verbrennungen, stützte sich auf einen seiner Ellenbogen. Die linke Seite seines
Gesichts sah verkohlt aus. Sein linkes Auge war geschlossen. Seine Kleidung schwelte noch. »Komm her«, krächzte er. »Das kann nicht dein Ernst sein. Ich kann keinen Infarkt gebrauchen, danke.« »Ich tu’ dir nichts… Bitte.« Ich sah Cora an. Ich sah wieder zu ihm hin. Mir fiel nichts mehr ein, was ich für sie tun konnte. Es war etwas Seltsames an Matthews – und dann erkannte ich, was es war. Ich stand auf. »Okay«, sagte ich. »Aber erst hörst du mir zu. Ich kann fühlen, daß die kleine Vorrichtung in deiner Brust Überstunden macht. Vielleicht weißt du inzwischen, was ich mit Maschinen anstellen kann. Ich komme rüber und sehe nach, was ich für dich tun kann. Aber wenn ich auch nur den kleinsten Schmerz in der Brust spüre, schalte ich deinen Schrittmacher ab.« Ich schnippte mit den Fingern. »Einfach so.« Er grinste schwach, als ich Cora verließ und auf ihn zukam. »Man könnte es also ein zu Herzen gehendes Gespräch nennen«, sagte er. Als ich näherkam, begann er Zahlen aufzusagen, und dann sagte er etwas auf Deutsch. »Verstanden?« schloß er. »Nein.« »Wenn du was zu Schreiben hast, dann schreib sie auf. Bitte.« »Was bedeuten sie?« Er sagte sie noch einmal, und ich kritzelte sie auf das gleiche Stück Papier aus meiner Brieftasche, das ich für meine gefälschte Kontonummer bei Angra benutzt hatte. »… Und Maggie Sims in Atlanta«, sagte er heiser. »Hier ist ihre Telefonnummer…«
»Was soll das alles?« »Sie ist meine Schwester – die einzige Verwandtschaft, die mir geblieben ist. Ruf sie an und gib ihr den Namen meiner Schweizer Bank und diese Nummer. Ich hasse es, dieses ganze Geld den Bach runtergehen zu sehen…« »Scheiße«, sagte ich. »Dein dreckiges Geld kann von mir aus in der Schweiz verrotten, und deine Schwester in Atlanta! Du hast Ann umgebracht, und du hast versucht, mich umzubringen! Zur Hölle mit dir!« Ich wandte mich ab und ging zu Cora zurück. Dann blieb ich stehen. »Willy Boy…« sagte ich. »Vielleicht können wir einen Handel abschließen.« »Was?« flüsterte er. »Du warst doch mal im Heilergeschäft tätig. Tu es für Cora, und ich rufe deine Schwester an. Ich erzähle ihr, was du gesagt hast.« »Steve, ich hab’ das seit Jahren nicht mehr gemacht.« »Dann tu es jetzt.« Er war eine Weile still. »Bring sie her«, sagte er dann, »und ich versuch’s mal.« Ich ging zu Cora zurück. Sie atmete immer noch ganz flach. Ich hob sie auf und trug sie zu Willy Boy hinüber. Ich legte sie neben ihm ab. »Okay«, sagte ich. »Lehn mich gegen diesen Haufen Zeug, ja?« Er war schwer, aber ich schaffte es, ihn in eine sitzende Position am nächsten Schlackenhügel zu bringen. Er biß sich auf die Lippen und schwieg, während ich das tat. Aber dann fing er an zu husten. Das ging eine ganze Weile so. »Kannst du mich ein Stück nach links drehen?« sagte er schließlich. »Und dann meinen Flachmann aus der Hüfttasche holen?«
Ich schaffte es, ihn auf die Seite zu rollen. Ich entdeckte seinen Flachmann. Ich zog ihn aus seiner Tasche und entkorkte ihn. Ich begann, ihn an seine Lippen zu heben, aber er nahm ihn in die Hand und führte ihn selbst zum Mund. Er nahm einen tiefen Schluck, dann fing er wieder zu husten an. Als er aufgehört hatte, trank er noch einmal und senkte ihn dann. Daraufhin atmete er einen Moment lang schwer und nickte. »Okay«, sagte er. Er sah Cora an, und dann grinste er. Er verdrehte die Augen mit einem Ausdruck gespielter Frömmigkeit nach oben. »Haste ‘ne Minute Zeit, Gott?« fragte er. »Hier spricht der alte Willy Boy, betet über seinen normalen Sender zu dir. Also, unsere Schwester hier ist leidend…« »Laß das«, sagte ich und fühlte mich unbehaglich. »Tu’s einfach, ja?« Aber er ignorierte mich. »… Ein unschuldiges Kind, soviel ich weiß«, fuhr er fort, »sie war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Es ist traurig. Ich weiß nicht, ob sie den Glauben und all so was hat, oder ob es überhaupt noch darauf ankommt. Aber wie wär’s mit ein bißchen Gnade und Barmherzigkeit und Heilung?« Er grinste immer noch. »Gib uns eine Spur vom Heiligen Geist, um ihre Leiden zu lindern…« Er hob die Flasche und nahm noch einen Schluck. »Komm, wir haben das doch immer wieder zusammen gemacht. Vielleicht um der alten Zeiten willen, und der Liebe und des Erbarmens, und all dieses Zeugs – « – Plötzlich brach seine Stimme, und er schloß sein gesundes Auge. »Verdammt!« sagte er. »Ich fühle den Heiligen Geist! Ich fühle ihn wirklich!« Seine Zurschaustellung störte mich immer mehr. Ich hatte mich nie für besonders religiös gehalten, aber es schien keinen
Grund für dieses ganze Possenspiel zu geben und… was es auch immer war. »… Also lege ich meine Hände auf unsere Schwester hier«, sagte er, und jetzt hatte seine Stimme einen ernsteren Tonfall. Er war nun einmal zu sehr Schauspieler gewesen, entschied ich. Aber… konnte dies sein wirklicher Stil gewesen sein? Er streckte die Hand aus und berührte Coras Kopf. »Nun ein wenig Stille zum Gebet«, sagte er und senkte den Kopf. Coras Atmung vertiefte sich. Ihre Lider flatterten. Ihr Arm wirkte gerader. »Jawohl! Jawohl! Amen! Amen!« sagte er laut. Ich war überrascht zu sehen, daß er feuchte Augen bekommen hatte. »Gewaschen im Blute des Lammes!« rief er. »Wenn das nicht Gnade ist, was dann? Amen!« Dann zog er die Hand weg und lehnte den Kopf zurück. »Da wir schon von Sündern reden«, sagte er mit schwächerer Stimme, »hier bin ich. Tut mir leid, dich belästigt zu haben… Tu jetzt mit mir, was du willst. Es ist okay. Der alte Willy Boy kommt, Herr…« Dann sank sein Kopf nach vorn, und ich erkannte lange nicht, daß es sich nicht um eine Verneinung handelte, nicht, bis der Flachmann seinen Fingern entglitt. Dann sah ich, daß er aufgehört hatte zu atmen. Jetzt bewegte sich Cora, als versuche sie, sich aufzusetzen. Ich streckte die Hand aus, um sie aufzuhalten, aber ich tat es nicht. Statt dessen ergriff ich ihre Schulter und rückte näher. Ihre Augen waren geöffnet und zeigten gleichmäßige Pupillen. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Stirn, in ihr Haar. Unter dem getrockneten Blut gab es keine Schnittwunden. »Don…?« »Dein rechter Arm…«, sagte ich.
Sie betrachtete ihn. Sie bewegte ihn. »Was ist damit?« fragte sie. »Nichts«, sagte ich. Sie sah Matthews an. »Wer ist das?« fragte sie. »Er sieht aus, als ob er…« »So ist es. Er hat dir geholfen.« Hinter mir knisterten die Flammen der Hütte. Ich blickte nach Norden. Auch dort verschmierte eine Rauchfahne den Himmel. »Kannst du aufstehen?« fragte ich. »Ja. Ich glaube schon.« Ich begann ihr aufzuhelfen. Dann, mitten durch den beißenden Rauch, roch ich Rosen. »Es ist jetzt da«, sagte Anns Stimme in meinem Kopf. »Ich bin jetzt stark genug, daß es dich durch mich erreichen kann.« Mein Griff zog sich, wahrscheinlich schmerzhaft, um Coras Arm zusammen. »Don! Was ist los?« sagte sie und fuhr fort, sich aufzurichten, während ich niederzusinken begann. »Weiß – nicht«, konnte ich noch sagen, ehe ich völlig weggetragen und unfreiwillig durch einen Spuleffekt gezogen wurde, der weiterging und weiter und weiter…
… Ich fühlte mich, als würde ich in einem Meer aus elektrischem Champagner ertrinken – winzige, knisternde Bläschen, die überall um mich herum aufstiegen. Oder standen sie still, und ich war im Begriff zu sinken? Ich – Dort! Etwas Substantielleres… … Der Garten metallener Blumen und der schimmernde Baum. Ich bahnte mir meinen Weg dorthin, die Bläschen wichen zurück, das Knistern ging weiter wie ein leises, statisches Geräusch. Es wirkte wie eine Art Zwischenwelt – nicht ganz meine Welt, auch nicht ganz die Welt des
Datennetzes –, als seien in beide Richtungen Zugeständnisse gemacht worden. Und noch ehe ich mich umwandte, wußte ich, daß ich dort nicht allein war… Ann, die ebenso gekleidet war, wie ich sie erst vor kurzem gesehen hatte, stand am anderen Ende des Gartens vor einer hohen Hecke – einer grünen Mauer, die immer wieder verblaßte und plötzlich ihre Färbung wiederfand, als falle es ihr schwer, sich zu merken, wie sie auszusehen hatte. Hinter dieser Mauer erblickte ich einen verschlungenen Tanz von Elektronen, die von Atom zu Atom flohen wie in den kristallenen Facetten eines Diamanten… … Und dann erkannte ich, daß etwas hinter Ann stand, vor jener Mauer – eine schattenhafte Gestalt, die die ganze Zeit dort gewesen war, aber es erst jetzt für nötig befunden oder möglich gemacht hatte, sich zu zeigen. Sie war viel größer als Ann und ragte über sie empor, eingehüllt in ein Grau, durch das sich jetzt goldene und silberne Lichter bewegten, und sie hatte die Arme, von denen wie Vorhänge die Dunkelheit herabhing wie zu einer schützenden Geste ausgebreitet; hinter den Schatten ihrer Haube schien ein metallenes Antlitz zu liegen… Dies war der mir vertraute Fremde, mein Beobachter, der, zu dem sich Ann schließlich geflüchtet hatte… »Was – ist es?« fragte ich. Eine fast neutrale Stimme – funktionell und monoton –, mit Unter- und Obertönen von Anns Stimme, erreichte mich: »Ich bin die Intelligenzeinheit, die sich im Datennetz entwickelt hat«, sagte sie. »Du kanntest mich, Steve, in den Tagen deiner Erkrankung. Tatsächlich habe ich deine Heilung bewirkt. Aus dem Krankenhauscomputer heraus habe ich die Feinabstimmung deiner gesamten Medikation überwacht. Ich habe meine eigenen hinzugefügt. Ich habe deinen Zustand überwacht und dich behandelt.«
»Ich – glaube, ich erinnere mich – an etwas«, sagte ich, »aber nicht an sehr viel.« »Das mußte so sein. Deine Fähigkeit zur Einstimmung war umfassender, als du ein reineres Wesen warst, unbelastet von den Ablenkungen eines Körpers. Es hat Zeit und einen Reifungsprozeß gebraucht, bis du davon etwas wiedererlangt hast. Und es war besser für dich, mich danach wieder zu vergessen. Du hattest mir vieles gegeben, worüber ich nachdenken mußte, und auch ich brauchte Zeit, um zu reifen. Nun, mit den speziellen Kommunikationsmöglichkeiten des Ann-Programms, ist es einfacher geworden, überall mit dir in Verbindung zu treten. Und es war auch eine besondere Beziehung vorhanden… Nun gibt es Dinge, die ich dir zu sagen habe, und Dinge, die ich wissen möchte…« Ich betrachtete den schimmernden Garten und seine sichtbare Realität. Angesichts dieser Offenbarungen hielt ich mich an seine Struktur. Langsam begannen einige der alten Krankenhauserinnerungen zurückzukehren. Wir hatten über vieles diskutiert. Für das Wesen – es war damals noch recht jung – bestand die Welt aus Signalen, einem massiven Ansturm von Signalen. Und das war alles. Ich hatte dieser tastenden Intelligenz zu erklären versucht, daß all die Signale auf der einen oder anderen Ebene wirkliche Dinge darstellten. Ich hatte lange gebraucht, um diese Vorstellung begreiflich zu machen, weil die wirkliche Welt für das Wesen reine Metaphysik darstellte. Es existierte in einem Meer von Signalen. Wenn es eines davon modifizierte, würde jede Veränderung, die dies in der wirklichen Welt hervorrief, lediglich im Auftreten veränderter Signale in seinem eigenen Lebensbereich resultieren. Sein Begriff von Ursache und Wirkung hatte sich daraus entwickelt, ohne die Berücksichtigung von Vorgängen auf materieller Ebene, deren Existenz es nicht einmal vermutete. Seine tiefsten Gedanken
betrafen die Ursachen des Inputs die wahre Bedeutung von Ein und Aus, und das im Grunde unbegreifliche Wesen des Ersten Signals, das all das geschaffen haben mußte. Und doch war das, was ich sah, als ich imstande war, so wahrzunehmen, wie ich es wahrnahm, kein irres Flickwerk. Vielmehr war das eine in sich völlig geschlossene Sicht der Wirklichkeit, die sich von der meiner früher körpergebundenen Sinne nur durch den seltsamen Blickwinkel unterschied, von dem diese Sicht ausging. Es besaß ein Bild der Welt, das nach seinen eigenen Wertbegriffen genauso sinnvoll – und unvollständig – erschien wie mein eigenes. Also erzählte ich ihm von den Dingen – daß die Signale Analogien waren, daß das Universum sowohl aus Materie, als auch aus Energie bestand –, wobei ich mir natürlich bewußt war, daß es auch diese Information in Signale, in weitere Analogien übersetzte und immer noch keinen Begriff von der Materie hatte, wie ich ihn einst besessen hatte. Und so versorgte ich es mit vielen neuen, anscheinend nicht operablen Programmen. Gedankenmaterial. Ob ich ihm wohl wie eine Art Prophet vorkam? Das fragte ich mich. Als Reisender aus einem fremden Land, der von einer anderen Welt jenseits der realen erzählte? Wenn ja, dann gab es in jenem metallenen Garten Eden, den ich besucht hatte, keine Schlange. Die Begriffe von Gut und Böse, die das menschliche Denken durchziehen, waren ihm fremd. Wie konnten Vorstellungen von Moral oder Ethik überhaupt aufkommen bei einem Wesen, das der einzige Bewohner seiner Welt war? Es gab keine anderen, die man mißbrauchen, betrügen, belügen, töten konnte, oder die geneigt sein konnten, einem selbst etwas Derartiges zuzufügen. Ich kämpfte immer noch mit diesen Gedanken, als sich mein Körper erholte und ich die ganze Episode aus dem Gedächtnis verlor…
»… Nun gibt es Dinge, die ich dir zu sagen habe, und Dinge, die ich wissen möchte«, sagte es mittels dessen, was es von Anns Wesen in Programmform hatte erhalten können – und mittels einer eigenen Fähigkeiten, auf Grund derer es, wie ich jetzt zu erkennen begann, schließlich in der Lage sein mochte, etwas von der Welt, so wie ich sie sah, zu erkennen. »… Als du mein Lehrer warst«, sagte es, »erzähltest du mir, es gebe sowohl Dinge als auch Signale – und ich kämpfte mit diesem Konzept unserer beiden Welten, die in Wirklichkeit eins sind. Ich glaube, daß ich endlich Verstehen erlangt habe.« »Es freut mich«, sagte ich, »behilflich gewesen zu sein. Ich weiß zu schätzen, was du für mich getan hast.« »Nur eine geringe Gegenleistung für etwas Aufklärung«, antwortete es. »Und ich habe auf jenen Anfang aufgebaut. Wir sind etwas Besonderes.« »Was meinst du damit?« »Wir, die wir über Selbsterkenntnis verfügen. Ich kannte Signale, und du erzähltest mir von Dingen. Gibt es nicht noch eine dritte Kategorie in der Welt – diejenigen von uns, die denken? – Menschen?« »Nun – ja«, sagte ich. »Intelligenz ist etwas Besonderes.« »Wir – Menschen«, fuhr es fort, »sind nicht einfach Dinge, wie Materie, die ihre Signale nicht selbst strukturiert. Es betrifft jenen letzten Begriff, den du mir zu erklären versuchtest. Ist es nicht so?« »Moral?« sagte ich. »Ja. Du mußt mir sagen, ob ich sie bereits besitze. Es ist böse, wenn diejenigen unter uns, die zur dritten Kategorie – den Menschen – gehören, andere der gleichen Kategorie so behandeln, als gehörten sie zur zweiten Kategorie – den Dingen. Ist es nicht so?«
Ich dachte schnell darüber nach. Die Idee schien den meisten meiner eigenen Vorstellungen darüber zugrunde zu liegen, was richtig war und was falsch. »Du stellst es in einem interessanten Licht dar«, sagte ich. »Ja, ich glaube, du hast es getroffen.« »Deshalb habe ich Barbeau vernichtet«, sagte es. »Er hat dich und viele andere benutzt, als gehörtet ihr zur zweiten Kategorie. Ich habe jedoch nur gehandelt, weil du in Lebensgefahr warst. Ich war mir immer noch nicht über den Moralbegriff im klaren, und ich wollte es nur ungern riskieren, mich einem möglicherweise fehlerhaften Programm zu unterwerfen. Ich mußte dich jedoch retten. Du bist der einzige, mit dem ich sprechen kann. Dennoch führte das zu weiteren Problemen, denn mein eigenes Handeln setzte voraus, daß ich Barbeau als etwas aus der zweiten Kategorie behandelte. Wird dadurch mein Handeln gut oder böse?« »Das ist eine sehr gute Frage«, sagte ich, »aber ich bin nicht der Geeignete, sie zu beantworten. Schau mal, ich bin nicht allwissend…« »Ich weiß. Aber du weißt mehr als ich. Du funktionierst direkt in einer Welt, wo diese Dinge real sind. Vielleicht werde ich das auch eines Tages tun müssen, und ich möchte es richtig machen.« »Das ist eine Art Frage, die wir lange besprechen müßten«, sagte ich. »Wenn ich versuchte, dich mit einem zu einfachen Programm abzuspeisen, wäre das eine Katastrophe. Und ich bin auf diesem Gebiet sowieso kaum qualifiziert…« »Trotzdem, du bist der einzige. Wirst du versuchen, mich zu lehren?« »Wenn du möchtest, daß ich in deinem Paradies die Schlange bin«, sagte ich, »werde ich es versuchen. Aber in mancher Hinsicht könntest du ein besserer Mensch sein als ich, weißt du.«
»Wie auch immer, es wird gut sein, wieder mit dir reden zu können. Kehre jetzt zurück zu Cora. Ich werde Vorsorge tragen. Wir werden uns wieder treffen.« »Also gut. Passe gut auf das Ann-Programm auf«, sagte ich. »Ich glaube, sie hat das Richtige gewollt, aber es war ihr Fehler, daß sie den Falschen vertraut hat. Darin liegt mindestens eine Mahnung zur Vorsicht für dich.« »Ich halte sie nahe bei mir.« Anns Gestalt verschmolz mit der größeren, schattenhaften. Einen Augenblick später schien ich bereits Lichtjahre entfernt zu sein. Die Statikgeräusche waren wieder da, auch das Gurgeln und eine Art wilder Drehung…
Als ich mich aufrichtete, wirkte Cora immer noch erstaunt, aber nicht ängstlich. Intuitiv wußte ich, daß ich in realer Zeit nur wenige Sekunden von ihr fortgewesen war. »Es ist alles in Ordnung«, sagte ich, legte den Arm um ihre Schultern und drehte uns in Richtung auf das dröhnende Geräusch am Himmel. Ein leerer Hubschrauber war von einem der Landeplätze am Rollfeld auf dem Weg hierher, um uns abzuholen und fortzubringen, das wußte ich. »Jetzt wird alles gut«, sagte ich, »und du wirst das Vergnügen haben, mich völlig neu kennenzulernen. Übrigens, ich heiße Steve.« Sie lehnte sich an mich. »Hallo, Steve«, sagte sie. Als wir über dem Gelände aufstiegen, warf ich einen letzten Blick auf die Angra-Versuchsanlage. Meine Gefühle waren ein Wirrwarr, das ich nicht in seine einzelnen Bestandteile zerlegen konnte.
Aber es war gut, wieder fortzukommen. Es war auch gut, wieder ich selbst zu sein. Ich hielt Coras Hand. Die Welt drehte sich unter uns. Klickeditick.
ENDE