Strugatzki Die hässlichen Schwäne 1 Irma war hinausgegangen, mager, langbeinig, ein höfliches Erwachsenenlächeln auf ih...
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Strugatzki Die hässlichen Schwäne 1 Irma war hinausgegangen, mager, langbeinig, ein höfliches Erwachsenenlächeln auf ihrem großen Mund mit den leuchtend roten Lippen, die denen der Mutter so glichen. Sie hatte die Tür sorgfältig hinter sich angelehnt. Viktor zündete sich bedächtig eine Zigarette an. Das ist kein Kind mehr, dachte er bestürzt, Kinder sprechen anders. Das ist keine Grobheit bei ihr, das ist Grausamkeit, eigentlich auch keine Grausamkeit, ihr ist einfach alles egal. So als hätte sie uns hier einen mathematischen Lehrsatz bewiesen. Zuerst rechnet sie uns alles vor, analysiert und teilt uns das Ergebnis sachlich mit; dann geht sie in aller Ruhe hinaus und schüttelt ihre Zöpfchen. Viktor fühlte sich unbehaglich. Er nahm sich zusammen und blickte zu Lola. Rötliche Flecken brannten auf ihrem Gesicht. Die roten Lippen bebten, als würde sie im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. Natürlich hatte sie gar nicht vor zu weinen, sie war nur außer sich vor Wut. »Siehst du«, brachte sie mit schriller Stimme hervor, »eine Göre, eine Rotznase... Ein dreckiges Biest! Nichts ist ihr heilig, jedes Wort eine Beleidigung, als wäre ich nicht die Mutter, sondern ein Putzlappen, an dem man sich die Schuhe abwischt. Ich schäme mich schon vor den Nachbarn, so was von gemein und frech.« Ja, ging es Viktor durch den Sinn, mit dieser Frau habe ich also gelebt. Damals gingen wir zusammen in die Berge. Ich las ihr Baudelaire vor; als ich sie berührte, zitterte ich. Ihren Duft habe ich heute noch in Erinnerung... Ich glaube, ich habe mich ihretwegen sogar geschlagen. Bis jetzt ist mir ein Rätsel, was sie sich dachte, als ich ihr Baudelaire vorlas, Nein, ich kann es nicht glauben, daß ich ihr entkommen konnte; es ist unfaßbar. Wieso ließ sie mich ziehen? Wahrscheinlich war ich kein Honiglecken und jetzt vermutlich auch nicht. Damals habe ich mehr getrunken als heute. Außerdem hielt ich mich für einen großen Dichter. »Du hast natürlich andere Sorgen, ganz klar«, sagte Lola. »Das Großstadtleben, deine diversen Tänzerinnen und Schauspielerinnen... Das weiß ich doch alles. Bilde dir bloß nicht ein, daß Wir hier nichts wissen. Daß du in Geld schwimmst und Weibergeschichten und endlose Skandale am Hals hast... Mir ist das egal, wenn du es genau wissen willst. Ich stand dir da nie im Wege. Du hast so gelebt, wie du wolltest...« Das eigentlich Schlimme an ihr ist daß sie so viel redet. Als Mädchen war sie stiller, schweigsam und geheimnisvoll. Es gibt solche Mädchen, die von Geburt ah wissen, wie sie sich geben sollen. Sie wußte es. An sich wäre sie auch heute
nicht übel; wenn sie da so auf dem Diwan sitzt, eine Zigarette raucht, mal nichts sagt und ihre Knie zeigt, oder wenn sie die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sich räkelt. Bei einem Provinzadvokaten müßte das Wunder wirken... Viktor stellte sich einen gemütlichen Abend vor: das Tischchen an den Diwan gerückt, eine Flasche, und in den Gläsern perlender Sekt. Eine Bonbonniere mit Schleifchen, und dann den Advokaten in gestärktem Hemd mit Fliege. Wie bei normalen Leuten eben. Und plötzlich käme Irma herein... Eine Schreckensvorstellung, dachte Viktor. Eine unglückliche Frau ist sie, weiter nichts. »Du mußt selbst verstehen«, sagte Lola, »daß es keine Frage des Geldes ist. Geld ist im Augenblick nicht das Entscheidende.« Sie hatte sich bereits beruhigt, die rötlichen Flecken waren verschwunden. »Ich weiß, du bist auf deine Art ein ehrlicher Mann, zwar unausgeglichen und unbesonnen, aber nicht böse. Du hast uns immer geholfen, und in dieser Hinsicht kann ich dir auch nichts vorwerfen. Jetzt brauche ich aber eine andere Art von Hilfe... Glücklich kann ich mich nicht gerade nennen, aber mich unglücklich zu machen, hast du auch nicht geschafft. Du hast dein Leben und ich das meine. Im übrigen bin ich noch keine alte Frau, ich habe noch viel vor mir...« Das Mädchen muß weg von hier, dachte Viktor. Sie hatte ihre Entscheidung offensichtlich schon getroffen. Wenn Irma im Hause bleibt, wird hier bald die Hölle los sein... So weit, so gut, aber wo stecke ich sie denn hin? Also mal ganz aufrichtig, dachte er, aufrichtig und sonst nichts. Schließlich ist das alles kein Kinderspiel. In dieser Aufrichtigkeit ließ er sein Leben in der Hauptstadt an sich vorbeiziehen. Da schaut es schlecht aus, dachte er. Ich könnte mir natürlich eine Haushälterin nehmen; das würde bedeuten, eine Wohnung auf Dauer zu halten... Aber darauf kommt es ja gar nicht an. Das Mädchen müßte mit mir sein und nicht mit der Haushälterin. Es heißt doch, daß die Kinder die besten sind, die von ihren Vätern erzogen werden. Und abgesehen davon gefällt sie mir auch, wenn sie auch etwas Merkwürdiges an sich hat. Und überhaupt ist es ja meine Pflicht als Ehrenmann und als Vaten Und ich bin schuldig vor ihr. Aber das ist ja alles wie im Roman. Und trotzdem, in aller Aufrichtigkeit, ich habe Angst davor. Sie wird nämlich vor mir stehen, mit ihrem großen Mund lächeln wie eine Erwachsene, und was werde ich ihr schon sagen können? Lies, lies noch mehr, lies jeden Tag, das ist viel wichtiger als alles andere, nur lies! Aber das weiß sie auch ohne mich, und sonst habe ich ihr nichts zu sagen... Deswegen habe ich auch Angst... Aber ich bin immer noch nicht ganz aufrichtig. Ich habe nämlich keine Lust dazu, das ist es. Ich habe mich ans Alleinsein gewöhnt, und ich schätze es sehr. Um ehrlich zu sein: ich will es gar nicht mehr anders haben. Das hört sich abscheulich an, wie jede Wahrheit. Zynisch ist das,
selbstsüchtig und gemein. Ganz ehrlich. »Warum sagst du nichts?« fragte Lola. »Hast du vor, noch länger zu schweigen?« »Nein, nein, ich höre dir ja zu«, sagte Viktor eilig. »Was kannst du mir schon zuhören? Ich warte schon eine halbe Stunde, bis es dir genehm ist, mir zu antworten. Es ist schließlich nicht nur mein Kind. . . « Muß ich mit ihr auch so aufrichtig sein? fragte sich Viktor. Mit ihr habe ich überhaupt keine Lust dazu. Wahrscheinlich hat sie sich vorgestellt, ich würde so eine Frage an Ort und Stelle, so zwischen zwei Zigaretten, lösen. »Begreif doch«, sagte Lola, »ich spreche ja nicht davon, daß du sie zu dir nehmen sollst. Ich weiß, du würdest sie gar nicht nehmen, und Gott sei Dank kann man da nur sagen. Zu so was taugst du überhaupt nicht. Aber du hast doch Verbindungen und Bekanntschaften, immerhin bist du ein berühmter Mann. Dann hilf wenigstens, sie irgendwo unterzubringen. Da gibt es bei uns doch privilegierte Lehranstalten, Internate und Fachschulen. Das Mädchen kann doch was, für Sprachen hat sie Talent, für Mathematik und Musik auch...« »Ein Internat«, sagte Viktor. »Natürlich... Ein Internat. So ein Waisenhaus... Nein, ich mache nur Spaß. Das wäre zu überlegen.« »Was gibt es da lange zu überlegen? Jeder andere wäre froh, wenn er sein Kind in einem Internat oder einer Fachschule unterbringen könnte. Die Frau unseres Direktors...« »Hör zu, Lola!« sagte Viktor. »Das ist ein guter Gedanke. Ich versuche, irgendwas für sie zu tun. Aber so einfach geht das nicht, das braucht Zeit. Selbstverständlich schreibe ich... « »Schreiben?! Das ist alles, woran du denken kannst. Da schreibt man nicht, sondern geht persönlich hin und bittet. Und dann läßt man nicht mehr locker. Du faulenzt hier sowieso nur herum. Nichts als Saufgelage und Weibergeschichten. Sollte es da so schwer sein, für die leibliche Tochter...« O Gott, dachte Viktor, wie soll ich ihr das erklären? Er zündete sich wieder eine Zigarette an, stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Draußen wurde es dunkel. Es regnete immer noch. Die großen, schweren Tropfen fielen ohne Hast. Der Regen wußte um seine Fülle und verriet keine Eile, den Ort zu verlassen. »Ach, wie du mir auf die Nerven gehst!« sagte Lola mit unerwarteter Gereiztheit. »Wenn du das wüßtest...« Es ist Zeit, daß ich gehe, dachte Viktor. Der heilige Zorn einer Mutter, der Groll einer Verlassenen und was sonst noch dazugehört, beginnen sich zu entladen. Heute bekommt sie ohnehin keine Antwort von mir. Und versprechen werde ich ihr auch nichts. »Auf dich kann man sich in nichts verlassen«, fuhr sie fort. »Als Ehemann zu nichts nütze, als Vater ein Versager… Aber ein Schriftsteller, der in Mode ist!
Unfähig, seine eigene Tochter zu erziehen... Jeder dahergelaufene Bauer hat mehr Menschenkenntnis als du! Was soll ich denn jetzt tun? Von dir ist nichts Vernünftiges zu erwarten. Ich stehe allein da, arbeite mich auf für sie und kapn nichts ausrichten. Für sie bin ich eine Null. Jeder von diesen Naßmännern ist ihr hundertmal wichtiger als ich. Aber das macht nichts, du wirst schon noch daraufkommen. Du bringst ihr nichts bei; die tun das an deiner Stelle. Du wirst noch erleben, daß sie dir ins Gesicht spuckt, so wie m i r . . . « »Hör schon auf!« sagte Viktor stirnrunzelnd. »Immerhin hast du irgendwie... Ich bin der Vater, das stimmt. Aber du bist doch die Mutter... Und alle sind bei dir schuldig...« »Hau ab!« sagte sie. »Da haben wir's!« sagte Viktor. »Ich habe nicht die Absicht, mit dir zu streiten. Und Hals über Kopf irgendwelche Entscheidungen treffen will ich auch nicht. Ich lasse mir die Sache durch den Kopf gehen. Und du... « Hochaufgerichtet stand sie da, geradezu zitternd im Vorgefühl einer Anschuldigung, derentwegen sie mit Genuß einen neuen Streit vom Zaune brechen könnte. »Und du«, sagte er ruhig, »versuch mal, dich nicht aufzuregen! Irgendwas werden wir uns schon ausdenken. Ich ruf dich an.« Er ging in den Vorraum und zog sich den Regenmantel über. Der war noch naß. Viktor warf einen Blick in Irmas Zimmer, um sich zu verabschieden, aber sie war nicht da. Das Fenster stand weit offen, der Regen plätscherte auf das Fensterbrett. An der Wand prangte ein Plakat, auf dem mit schönen großen Buchstaben die Aufschrift stand: »Bitte nie das Fenster schließen.« Das Plakat war zerknittert, eingerissen und voller dunkler Flecken, als hätte man es schon öfter abgerissen und wäre mit den Schuhen darauf herumgetrampelt. Viktor lehnte die Tür an. »Auf Wiedersehen«, sagte er. Lola gab keine Antwort. Draußen war es bereits völlig dunkel geworden. Der Regen tropfte auf Schultern und Kapuze. Viktor zog die Schultern ein und steckte die Hände tiefer in die Taschen. In dieser Anlage haben wir uns zum erstenmal geküßt, erinnerte er sich. Dieses Haus stand damals noch nicht, da war eine freie Fläche und dahinter ein Müllplatz; da gingen wir mit Steinschleudern auf Katzenjagd. Damals gab es in der Stadt eine Unmenge Katzen, aber hier habe ich jetzt noch keine einzige gesehen. Einen Teufel haben wir uns damals um Bücher geschert. Aber Irma hat das Zimmer voll mit Büchern. Was war denn zu meiner Zeit schon ein zwölfjähriges Mädchen? Ein sommersprossiges, kicherndes Wesen, Schleifchen, Puppen, Häschen- und Schneewittchenbilder, immer zu zweit oder zu dritt, einander zuwispernd, Bonbontütchen, schadhafte Zähne, Reinlichkeitsfimmel und Gepetze. Die besten von ihnen waren ganz so wie wir: aufgeschürfte Knie, Wildkatzenaugen und eine Leidenschaft fürs
Trittbrettfahren... Sollte eine neue Zeit angebrochen sein? Nein, dachte er. Das ist keine neue Zeit, obwohl es wiederum nicht auszuschließen i s t… Vielleicht habe ich ein Wunderkind. Das soll ja Vorkommen. Ich bin Vater eines Wunderkindes. Ehrenvoll, aber mühsam, mehr mühsam als ehrenvoll, eigentlich überhaupt nicht ehrenvoll... Dieses Gäßchen habe ich immer geliebt, weil es so schmal war wie kein anderes. Schau mal, da hätten wir auch schon eine Schlägerei! So ist's recht, ohne das geht es bei uns nicht, das gehört bei uns einfach dazu. Das ist schon seit jeher so. Und zwei gegen einen... An der Ecke war eine Straßenlaterne. Am Rand der erleuchteten Fläche stand ein Auto mit Planenverdeck, das vor Nässe troff. Daneben waren zwei in glänzenden Regenmänteln, die einen schwarzgekleideten, durchnäßten Dritten auf das Pflaster niederzudrücken versuchten. Angestrengt und schwerfällig tappten sie auf dem Kopfsteinpflaster herum. Viktor blieb zunächst stehen, ging aber dann näher heran. Es war schwer auszumachen, was hier eigentlich vor sich ging. Nach Schlägerei sah es nicht aus, denn keiner schlug den anderen. Nach einer Rauferei aus purem jugendlichen Übermut noch viel weniger, dazu fehlte das hitzige Kampfgeschrei und das wiehernde Lachen... Plötzlich riß sich der dritte los und fieLauf den Rücken. Die beiden in den Regenmänteln stürzten sich sofort auf ihn. Jetzt bemerkte Viktor, daß die Wagentüren weit offenstanden. Entweder hatte man den Schwarzgekleideten vor kurzem von dort herausgezogen, oder man wollte ihn hineinbefördern. Viktor ging dicht heran und schnarrte: »Aufhören!« Die beiden in Regenmänteln wandten sich unvermittelt um und blickten Viktor aus ihren übergestreiften Kapuzen einige Augenblicke lang an. Viktor bemerkte nur, daß es junge Männer waren und daß ihre Münder vor Anstrengung offenstanden. Dann aber tauchten sie blitzschnell in den Wagen, die Türen schlugen zu, der Motor heulte auf, und der Wagen raste in die Dunkelheit. Der Schwarzgekleidete erhob sich langsam. Viktor blickte ihn an und wich einen Schritt zurück. Das war ein Kranker aus dem Leprosorium, ein »Naßmann«, oder ein »Brillentyp«, wie man sie wegen der gelben Ringe um ihre Augen nannte. Die untere Gesichtshälfte war mit einer festen, schwarzen Binde umwickelt. Sein Atem ging quälend schwer. Bei jedem Atemzug zog sich der Rest seiner Augenbrauen schmerzhaft zusammen. Wasser rann über seinen kahlen Schädel. »Was ist passiert?« fragte Viktor. Der Brillentyp blickte an ihm vorbei. Seine Augen traten aus den Höhlen. Viktor wollte sich gerade abwenden, da traf ihn krachend ein Schlag an den Kopf. Als er zu sich kam, merkte er, daß er mit dem Gesicht nach oben unter einer Regenrinne lag. Warmes Wasser überspülte seinen Mund. Es schmeckte nach Rost. Spuckend und hustend rückte er weg, setzte sich auf und lehnte sich gegen die Ziegelmauer. Das Wasser, das sich in der Kapuze angesammelt hatte,
ergoß sich in den Kragen und rann am Körper hinunter. Der Kopf dröhnte. Viktor schien es, als vernähme er dort Glockenläuten, Trompetenschall und Trommelwirbel. Inmitten dieses Lärms gewahrte er ein mageres, dunkles Gesicht. Ein Jungengesicht, das ihm bekannt vorkam. Irgendwo habe ich ihn gesehen. Das war noch, bevor es in meinem Kiefer krachte... Er bewegte seine Zunge und probierte seine Kiefer aus. Die Zähne waren in Ordnung. Der Junge nahm eine Handvoll Wasser und spritzte es Viktor in die Augen. »Es reicht schon, guter Junge«, sagte Viktor. »Mir schien es, als wären Sie noch nicht zu sich gekommen«, sagte der Junge ernst. Viktor langte vorsichtig mit der Hand in seine Kapuze und betastete seinen Nacken. Dort war eine Beule, sonst nichts, keine zersplitterten Knochen, nicht einmal Blut. »Wer hat mich denn da erwischt?« fragte er nachdenklich. »Ich hoffe, nicht du.« »Können Sie allein gehen, Herr Banev?« fragte der Junge. »Oder soll ich jemanden rufen? Mir sind Sie nämlich zu schwer.« Jetzt entsann sich Viktor des Jungen. »Ich kenne dich«, sagte er. »Du bist doch Bol-Kunaz, ein guter Freund meiner Tochter.« »Ja«, sagte der Junge. »Das ist gut. Du brauchst niemanden zu rufen und niemandem etwas zu sagen. Bleiben wir hier ein bißchen sitzen und versuchen wir, uns Klarheit zu verschaffen.« Beim näheren Hinsehen bemerkte Viktor jetzt, daß auch der Junge etwas abbekommen hatte. Über seine Wange zog sich eine frische, dunkle Schramme; seine Oberlippe war angeschwollen und blutete. »Trotzdem werde ich jemanden rufen«, sagte Bol-Kunaz. »Ist das die Sache wert?« »Sehen Sie, Herr Banev, mir gefällt das nicht, wie Ihr Gesicht zuckt.« »Wirklich?« - Viktor befühlte sein Gesicht. Es zuckte nicht. »Das scheint dir nur so... Also. Und jetzt stehen wir auf. Was ist dazu notwendig? Es ist notwendig, die Beine an den Körper zu ziehen...« Er zog die Beine an, aber es schienen ihm fremde Beine zu sein. - »Dann muß man sich leicht von der Wand abstoßen und den Schwerpunkt verlagern...« Es wollte ihm nicht gelingen, den Schwerpunkt zu verlagern; irgend etwas hinderte ihn daran. Womit hat man mir eine draufgegeben? überlegte er. Ein wahrer Meisterschlag... »Sie stehen auf Ihrem Regenmantel«, teilte ihm der Junge mit. Aber Viktor hatte sich mit Armen und Beinen, mit Regenmantel und dem Orchester in seinem Kopf bereits zurechtgefunden. Er erhob sich. Anfangs mußte er sich noch an die Wand stützen, aber dann ging es besser.
»Aha«, sagte er. »Du hast mich also von dort zur Regenrinne geschleift. Danke.« Die Straßenlaterne stand noch da, aber es fehlten der Wagen und der Brillentyp. Niemand war da. Nur der kleine Bol-Kunaz, der mit der nassen Hand vorsichtig über seine Schramme strich. »Wo sind die alle hin?« fragte Viktor. Der Junge gab keine Antwort. »Habe ich da alleine gelegen?« fragte Viktor. »War da sonst keiner mehr da?« »Ich werde Sie begleiten«, sagte Bol-Kunaz. »Wohin gehen Sie jetzt am besten? Nach Hause?« »Wart mal«, sagte Viktor. »Hast du gesehen, wie sie den Brillentyp verschleppen wollten?« »Ich habe gesehen, wie man Sie geschlagen hat«, sagte Bol-Kunaz. »Wer war es denn?« »Das konnte ich nicht erkennen. Er stand mit dem Rücken zu mir.« »Und wo warst du?« »Verstehen Sie, ich lag um die Ecke... « »Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte Viktor. »Entweder ist mit meinem Kopf was los oder... Wieso l a g s t du dort um die Ecke? Wohnst du dort?« »Wissen Sie, ich lag dort, weil ich noch vor Ihnen einen Schlag bekommen habe. Das war nicht der, der Sie geschlagen hat, sondern ein anderer.« »Ein Brillentyp?« Sie gingen langsam weiter und versuchten sich auf der Fahrbahn zu halten, um dem Wasser, das sich von den Dächern ergoß, zu entgehen. »N-nein«, sagte Bol-Kunaz nach einigem Nachdenken. »Soviel ich gesehen habe, waren sie alle ohne Brille.« »O Gott«, sagte Viktor. Er langte mit der Hand unter die Kapuze und betastete die Beule. »Ich spreche doch von den Aussätzigen, die heißen doch Brillentypen oder so. Du weißt, die aus dem Leprosorium. Die Naßmänner.« »Ich weiß nicht recht«, sagte Bol-Kunaz mit Zurückhaltung. »Meiner Meinung nach waren sie alle völlig gesund.« »Na, so was!« sagte Viktor. Irgend etwas beunruhigte ihn, und er blieb stehen. »Willst du mir etwa weismachen, daß dort kein Aussätziger war? Mit einer schwarzen Binde, und überhaupt ganz in Schwarz...?« »Das ist überhaupt kein Aussätziger«, brauste Bol-Kunaz plötzlich auf. »Der ist viel gesünder als Sie... « Zum erstenmal zeigte sich in ihm ein kindlich jungenhafter Zug, der allerdings sofort wieder verschwand. »Mir ist nicht ganz klar, wohin wir gehen«, sagte Bol-Kunaz nach einer Weile. Seine Stimme klang wie früher, ernst, ohne eine Spur von Leidenschaft. »Anfangs hatte ich den Eindruck, Sie würden nach Hause gehen, aber jetzt sehe
ich, daß wir in entgegengesetzter Richtung gehen.« Viktor stand immer noch da und blickte ihn von oben bis unten an. Zweimal zwei ist vier, dachte er. Alles hat er durchgerechnet, analysiert und dann ganz sachlich den Entschluß gefaßt, das Ergebnis für sich zu behalten. Er erzählt mir also nicht, was hier vorgefallen ist. Ich möchte bloß wissen, warum. Sollte das alles ein abgekartetes Spiel sein? Aber so schaut es nicht aus. Und wenn es doch so ist? Es sind ja neue Zeiten angebrochen... Aber das ist ja Quatsch, unsere Kriminellen von heute kenne ich doch... »Das hat schon seine Richtigkeit«, sagte er und setzte sich wieder in Bewegung. »Wir gehen ins Hotel, ich wohne dort.« Der Junge ging neben ihm her, aufrecht, streng und durchnäßt. Nach einigem Zögern legte ihm Viktor die Hand auf die Schulter. Nichts Besonderes geschah; der Junge duldete es. Wahrscheinlich dachte er, seine Schulter würde für einen nützlichen Zweck gebraucht, als Stütze für einen Verwundeten. »Ich muß dir sagen«, sagte Viktor mit vertraulicher Stimme, »Irma und du, ihr habt eine komische Art zu sprechen. In meiner Kindheit haben wir anders gesprochen.« »Wirklich?« sagte Bol-Kunaz höflich. »Wie haben Sie denn gesprochen?« »Na ja, deine Frage jetzt zum Beispiel. Da hätten wir gesagt: >Was?<« Bol-Kunaz zuckte die Achseln. »Wollen Sie damit sagen, daß das besser wäre?« »Bei Gott, nein! Ich wollte nur sagen, daß es so natürlicher wäre.« »Gerade das, was am natürlichsten erscheint«, bemerkte Bol- Kunaz, »ist für den Menschen am wenigsten angebracht.« Viktor wurde es kalt ums Herz. Unruhe befiel ihn, wenn nicht Schrecken. So, als hätte ihm eine Katze ins Gesicht gelacht. »Das Natürliche ist immer primitiv«, fuhr Bol-Kunaz unterdessen fort. »Und der Mensch ist ein komplexes Wesen; die Natürlichkeit paßt nicht zu ihm. Verstehen Sie mich, Herr Banev?« »Ja«, sagte Viktor, »natürlich...« Er spürte eine ungeheure Verlogenheit darin, wie er mit väterlicher Geste seine Hand auf der Schulter eines Jungen ruhen ließ, der kein Junge war. Sogar sein Ellbogen begann zu schmerzen. Vorsichtig nahm er die Hand von der Schulter und steckte sie in die Tasche. »Wie alt bist du?« fragte er. »Vierzehn«, antwortete Bol-Kunaz zerstreut. »Aha... « Jeder andere Junge hätte auf dieses provozierende unbestimmte »Aha« reagiert, aber Bol-Kunaz war nicht so wie die anderen. Er schwieg. Ihn interessierten diese aufreizenden Interjektionen nicht. Er sann über die Beziehung zwischen dem Natürlichen und Primitiven in Natur und Gesellschaft nach. Er bedauerte, daß ihm so ein unintelligenter Gesprächspartner untergekommen war, noch dazu einer, der eine auf den Kopf bekommen hatte.
Sie gelangten auf den Präsidentenboulevard. Hier standen viele Laternen. Eilige Fußgänger waren unterwegs, Männer und Frauen, die durch den unaufhörlichen Regen eine geduckte Haltung angenommen hatten. Hier waren beleuchtete Auslagen, ein Kinoeingang im hellen Neonlicht, wo sich unter dem Vordach einheitlich gekleidete junge Leute unbestimmten Geschlechts drängten. Alle trugen glänzende, bodenlange Regenmäntel. Und über allem erstrahlten durch den Regen hindurch goldene und blaue Beschwörungsformeln: »Der Präsident - Vater des Volkes«, »Der Legionär der Freiheit - ein treuer Sohn des Präsidenten«, »Die Armee - unsere ruhmvolle Macht«... Wie mechanisch gingen sie die Fahrbahn entlang. Ein entgegenkommendes Auto jagte sie mit lautem Hupen auf den Gehsteig und bespritzte sie mit Schmutzwasser. »Und ich dachte schon, du wärest achtzehn«, sagte Viktor. »Was, was?« fragte Bol-Kunaz mit betont widerlicher Stimme. Viktor lachte erleichtert auf. Es war eben doch ein richtiger Junge, ein gewöhnliches, normales Wunderkind, das Heybor, Sursmansor, Fromm verschlungen und sich womöglich gar an Spengler gewagt hatte. »In meiner Kindheit hatte ich einen Freund«, sagte Viktor, »der es sich in den Kopf gesetzt hatte, Hegel im Original zu lesen. Er schaffte es, doch er wurde schizophren. In deinem Alter weißt du ja wohl, was schizophren bedeutet.« »Ja«, sagte Bol-Kunaz. »Und hast du keine Angst?« »Nein.« Sie waren vor dem Hotel angelangt. Viktor sagte: »Willst du nicht reinkommen, damit du trocken wirst?« »Danke. Ich wollte Sie gerade darum bitten. Erstens muß ich Ihnen noch verschiedenes sagen, zweitens muß ich noch telefonieren. Erlauben Sie?« Viktor erlaubte es. Sie gingen durch die Drehtür, vorbei am Pförtner, der vor Viktor seine Schirmmütze abnahm, vorbei an kostbaren Statuen mit elektrischen Kerzen, hinein in das ausgestorbene Vestibül, das von Restaurantgerüchen erfüllt war. Im Vorgefühl des anbrechenden Abends kam in Viktor die übliche Hochstimmung auf. Er würde trinken können und seinen Gefühlen freien Lauf lassen; er würde alle Dinge, die ihm heute noch so quälend zusetzten, auf den nächsten Tag verschieben; er freute sich auf Julius Golem und Dr. Quadriga... Vielleicht werde ich noch jemanden kennenlernen, und vielleicht passiert was, eine Schlägerei zum Beispiel, oder mir fällt was zu einem Roman ein; dann bestelle ich mir noch ein Neunauge, und alles soll schön und gut sein, und mit dem letzten Autobus fahre ich zu Diana. Als sich Viktor den Schlüssel beim Portier holte, wurde er Zeuge eines Gesprächs. Bol-Kunaz sprach mit dem Pförtner. »Was hast du hier drinnen
verloren?« - »Ich habe ein Gespräch mit Herrn Banev.« - »Ich werde dir helfen mit deinen Gesprächen«, zischte der Pförtner. »Was treibst du dich in Restaurants herum?« - »Ich habe ein Gespräch mit Herrn Banev«, wiederholte Bol-Kunaz, »das Restaurant interessiert mich nicht.« - »Das wäre noch schöner, du Knirps, wenn dich Restaurants schon interessieren würden... Und jetzt werde ich dich an die frische Luft setzen.. . « Viktor nahm seinen Schlüssel und wandte sich um. »Sie...«, sagte er. Schon wieder war ihm der Name des Pförtners entfallen. »Der Junge gehört zu mir. Alles in Ordnung.« Der Pförtner gab keine Antwort, aber sein Gesicht drückte Unzufriedenheit aus. Sie gingen aufs Zimmer hinauf. Genußvoll streifte Viktor den Regenmantel ab und bückte sich, um die nassen Halbstiefel aufzuschnüren. Das Blut strömte ihm in den Kopf, und er spürte ein schmerzhaftes Pochen an der Stelle, wo sich die Beule befand. Es war eine mächtige, runde Beule. Sie sah aus wie ein Plätzchen aus Blei. Viktor richtete sich sofort auf, lehnte sich gegen den Türpfosten und zog die Schuhe aus, indem er mit der einen Schuhspitze gegen die Fersenkappe des anderen Schuhs drückte. Bol-Kunaz stand daneben, triefend vor Nässe. »Leg ab!« sagte Viktor. »Häng die Sachen an den Heizkörper! Ich gebe dir gleich ein Handtuch.« »Darf ich telefonieren?« fragte Bol-Kunaz, ohne sich zu rühren. »Mach schon!« Viktor hatte den zweiten Schuh ausgezogen und ging in nassen Socken ins Bad. Beim Auskleiden hörte er den Jungen leise sprechen. Er sprach ruhig, aber die Worte waren nicht zu verstehen. Nur einmal sagte er laut und deutlich: »Ich weiß nicht.« Viktor rieb sich mit dem Handtuch ab, schlüpfte in den Bademantel, zog ein sauberes Badetuch hervor und ging ins Zimmer zurück. »Da hast du was«, sagte er, sah jedoch auf den ersten Blick, daß es sinnlos war. Bol-Kunaz stand nach wie vor an der Tür und seine Kleidung tropfte noch. »Ich danke Ihnen«, sagte er. »Wissen Sie, ich muß nämlich gehen. Ich wollte nur noch...« »Du wirst dir eine Erkältung holen«, sagte Viktor. »Nein, keine Angst. Ich danke Ihnen. Ich wollte nur eine Frage mit Ihnen klären. Hat Ihnen Irma nichts gesagt?« Viktor warf das Tuch auf den Diwan, ging vor der Bar in die Hocke und holte eine Flasche und ein Glas hervor. »Irma hat mir alles mögliche erzählt«, sagte er mürrisch. Er goß einen Fingerbreit Gin ein und füllte etwas Wasser nach. »Hat sie Ihnen nicht unsere Einladung überbracht?« »Nein. Von einer Einladung hat sie nichts gesagt. Da, trink!« »Danke, nein. Wenn Irma es also nicht getan hat, so werde ich es tun. Wir
würden uns gerne mit Ihnen treffen, Herr Banev.« »Wer ist - wir?« »Die Gymnasiasten. Wissen Sie, wir haben Ihre Bücher gelesen und würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.« »Hm«, sagte Viktor unschlüssig. »Bist du sicher, daß das für alle interessant wäre?« »Ich glaube schon.« »Immerhin schreibe ich nicht für Gymnasiasten«, bemerkte Viktor. »Das spielt keine Rolle«, entgegnete Bol-Kunaz mit sanfter Beharrlichkeit. »Wären Sie einverstanden?« Nachdenklich schwenkte Viktor die durchsichtige Flüssigkeit im Glas. »Vielleicht solltest du doch was davon trinken«, schlug er vor. »Das beste Mittel gegen Erkältungen. Nicht? Na, dann trink ich es.« Er leerte das Glas. »Gut, ich bin einverstanden. Nur - keine Plakate, keine Ankündigungen oder so was Ähnliches. Ein kleiner Kreis. Ihr - und ich... Wann soll es sein?« »Wann es Ihnen paßt. Wenn es ginge, noch in dieser Woche. An einem Vormittag.« »Sagen wir übermorgen. Nur nicht zu früh. Wie wär's mit Freitag um elf? Ginge das?« »Ja. Am Freitag um elf. Im Gymnasium. Sollen wir Sie erinnern?« »Unbedingt«, sagte Viktor. »Abendgesellschaften, Festessen oder Bankette, auch offizielle Treffen und Zusammenkünfte versuche ich immer zu vergessen.« »Gut, ich werde Sie erinnern«, sagte Bol-Kunaz. »Und wenn Sie erlauben, gehe ich jetzt. Auf Wiedersehen, Herr Banev.« »Warte, ich gehe mit dir«, sagte Viktor. »Der Pförtner... der könnte dich beleidigen. Heute hat er einen schlechten Tag. Du weißt, was das für ein Volk ist, die Pförtner...« »Vielen Dank. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, wehrte Bol-Kunaz ab. »Das ist mein Vater.« Dann ging er. Viktor goß sich noch einmal einen Fingerbreit ein und ließ sich in den Sessel fallen. So, so, dachte er. Der arme Pförtner. Wie war doch sein Name? Es ist schon peinlich. Alles in allem sind wir doch Leidensgenossen, Kollegen sozusagen. Ich muß mal mit ihm reden und Erfahrungen austauschen. Wahrscheinlich hat er mehr Erfahrung... Was ist das doch für eine seltsame Ansammlung von Wunderkindern in diesem meinem muffigen Heimatstädtchen. Sollte das von der erhöhten Feuchtigkeit kommen? Er warf den Kopf zurück und verzog schmerzlich das Gesicht. Dieses Schwein, ich möchte nur wissen, womit der mich geschlagen hat. Er betastete die Beule. Schaut ganz nach Gummiknüppel aus. Aber woher soll ich denn wissen, wie ein Gummiknüppel wirkt. Die Wirkung eines modernen Stuhls im »Gebratenen Pegasus< weiß ich. Auch was der Kolben eines Maschinengewehrs anrichtet
oder ein Pistolengriff. Mit vollen und leeren Sektflaschen habe ich auch schon Bekanntschaft gemacht... Ich muß Golem fragen... Überhaupt ist das eine merkwürdige Geschichte. Es wäre gut, dahinter zu blicken. Und er begann über den Vorfall eingehend nachzudenken. Er wollte damit die Gedanken an Irma verdrängen, die in ihm hochstiegen. Er wollte nicht daran denken, daß irgendein Verzicht unausweichlich sei, daß er sich irgendwie einschränken, jemandem schreiben oder jemanden um etwas bitten müsse... »Sei mir nicht böse, alter Freund, daß ich mit einer Sache zu dir komme. Meine Tochter ist aufgetaucht; die ist ein bißchen älter als zwölf, ein Prachtmädchen; sie hat aber eine dumme Mutter, und der Vater ist auch nicht eben gescheit. Man müßte sie irgendwo unterbringen, von diesen Dummköpfen weg...« Heute habe ich keine Lust, darüber nachzudenken, ich werde es morgen tun. Er blickte auf die Uhr. Überhaupt, Schluß mit der Grübelei! Schluß! Er erhob sich und begann sich vor dem Spiegel anzuziehen. Der Bauch wächst verteufelt schnell. Woher kommt der überhaupt bei mir? Ich war doch immer so ein hagerer, sehniger Kerl... Das kann man nicht mal Bauch nennen, das ist keine rechtmäßig erworbene, erarbeitete Leibesfülle, ausgelöst durch gleichmäßiges Leben und gute Ernährung, sondern das ist ein widerlicher Wanst, so ein Oppositionellenbauch. Der Herr Präsident hat wohl keinen solchen. Der Herr Präsident hat bestimmt einen vornehmen Bauch, so ein schwarz umwickeltes, glänzendes Luftschiff... Als er sich die Krawatte umband und mit dem Gesicht ganz an den Spiegel heranging, dachte er plötzlich: Was war das doch für ein überzeugtes, entschlossenes Gesicht, so eins, das von bestimmten Frauen so vergöttert wird, so ein unschönes, aber männliches Gesicht eines Kämpfers mit quadratischem Kinn, wie es gegen Ende der historischen Begegnung aussah. Dem Gesicht des Herrn Präsidenten waren ein männlicher Ausdruck und eine gewisse Rechtwinkligkeit nicht abzusprechen. Gegen Ende der historischen Begegnung erinnerte es allerdings, offen gesagt, an einen Wildschweinrüssel. Dem Herrn Präsidenten gefiel es, bis zum äußersten aus sich herauszugehen. Der Keilerrachen geiferte, und ich zog ein Taschentuch heraus und wischte mir demonstrativ die Wange ab. Das war wahrscheinlich die mutigste Tat meines Lebens, wenn man von dem Kampf gegen drei Panzer gleichzeitig absieht. Aber an diesen Kampf kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß davon nur aus Berichten von Augenzeugen. Das Taschentuch jedoch zog ich bewußt hervor und wußte, worauf ich mich da einließ... Die Zeitungen schrieben natürlich nichts darüber. Die Zeitungen teilten dafür freimütig, ja in kühner Direktheit mit, der Schriftsteller Viktor Banev habe dem Herrn Präsidenten für alle Äußerungen und Erläuterungen gedankt, die er im Verlauf des Gesprächs von sich gegeben habe. Seltsam, wie gut ich mich an all das erinnere. Er entdeckte plötzlich, daß Wangen und Nasenspitze weiß waren. Genauso schaute ich damals wohl aus,
so gotterbärmlich kläglich. Der Arme wußte ja nicht, daß es keine Folge von Angst war, es war meine Wut, die mich erbleichen ließ, wie Ludwig den XIV... Aber nach einer Schlägerei soll man seine Fäuste nicht schütteln. Was macht das schon für einen Unterschied, warum ich dort so blaß w a r . . . Gut, lassen wir das. Aber um mich zu beruhigen, um mir ein ordentliches Äußeres zu geben, bevor ich den Leuten unter die Augen trete, um einem häßlichen, aber männlichen Gesicht seine natürliche Farbe wiederzugeben, muß ich anmerken, muß ich Sie, Herr Banev, daran erinnern, daß, hätten Sie dem Herrn Präsidenten nicht Ihr Taschentuch präsentiert, Sie sich jetzt wohlbehalten in unserer herrlichen Hauptstadt befinden würden und nicht in diesem Regenloch... Viktor trank den restlichen Gin aus und ging ins Restaurant hinunter. 2 »Es können natürlich auch Rowdies gewesen sein«, sagte Viktor. »Nur hätte sich zu meiner Zeit kein Rowdy mit einem Brillentyp angelegt. Einen Stein Werfen, das hätte er vielleicht noch getan, aber ihn packen, schleifen, überhaupt anfassen... Wir haben sie wie die Pest gefürchtet.« »Ich sage euch, das ist eine Erbkrankheit«, sagte Golem. »Es ist auf keinen Fall ansteckend.« »Was heißt hier >nicht ansteckend<«, widersprach Viktor. »Von denen bekommt man Warzen wie von den Kröten! Das wissen doch alle.« »Von Kröten bekommt man keine Warzen«, sagte Golem gutmütig. »Von den Naßmännern ebenso wenig. Sie sollten sich schämen, Herr Schriftsteller. Aber die Schriftsteller sind ja ein ungebildetes Volk.« »So wie jedes Volk. Das Volk ist zwar ungebildet, aber weise. Und wenn das Volk sagt, daß Warzen von Kröten und Brillentypen kommen. . . « »Und da kommt auch schon mein Inspektor«, sagte Golem. Pavör kam an den Tisch. Er kam direkt von draußen und hatte noch den nassen Regenmantel an. »Guten Abend«, sagte er. »Ich bin bis auf die Haut naß und muß was trinken.« »Schon wieder stinkt er nach Algen«, sagte Doktor Quadriga empört. Er war aus seinem Rausch erwacht. »Ewig stinkt er nach Algen. Wie im Teich. Entengrütze.« »Was trinken Sie?« fragte Pavor. »Wir?« erkundigte sich Golem. »Ich, zum Beispiel, trinke wie immer Kognak. Viktor trinkt Gin. Und der Doktor - alle der Reihe nach.« »Eine Schande«, sagte Dr. R. Quadriga voller Entrüstung. »Schuppen! Und die Köpfe.« »Einen doppelten Kognak!« schrie Pavor dem Kellner zu. Sein Gesicht war noch naß vom Regen, die dichten Haare waren verklebt, und
von den Schläfen rannen glitzernde Rinnsale über die glattrasierten Wangen. Der hat auch so ein markantes Gesicht, dachte Viktor, da werden ihn viele beneiden. Wie kommt ein Sanitätsinspektor zu so einem Gesicht? Ein markantes Gesicht... In Viktor stieg ein Bild auf. Strömender Regen, Scheinwerfer, hastige, unstete Schatten an nassen Waggons, glänzendes Schwarz überall, sonst nichts, keine Gespräche, kein Geschwätz, nur Befehle, denen sich alle unterordnen... Es mußten keine Waggons sein, vielleicht waren es Flugzeuge auf einem Flugplatz. Niemand wird später wissen, wo er war und woher er kam... Die Mädchen lassen sich rücklings zu Boden fallen, die Männer verspüren plötzlich einen Drang zu heldenhaftem Tun, sie wollen die Schultern straffen und den Bauch einziehen. Golem zum Beispiel würde es nicht schaden, den Bauch einzuziehen, aber das würde kaum gehen, wohin sollte er ihn auch einziehen, wo doch schon alles ausgefüllt ist. Bei Dr. Quadriga wäre es möglich, aber dafür könnte er die Schultern nicht straffen, er läuft schon lange und wohl für immer gebeugt herum. Abends beugt er sich über den Tisch, morgens über das Waschbecken. Am Tag beugt ihn seine verrottete Leber. Ich wäre hier also der einzige, der beides könnte, den Bauch einziehen und die Schultern straffen. Lieber kippe ich heldenhaft einen Gin. »Nymphomanie«, wandte sich Dr. Quadriga bekümmert an Pavor. »Nixomanie. Wasserpflanzen.« »Halten Sie das Maul, Doktor!« sagte Pavor. Er wischte sich mit einer Papierserviette über das Gesicht, knüllte sie zusammen und warf sie auf den Boden. Dann begann er sich die Hände abzuwischen. »Mit wem haben Sie denn gerauft?« erkundigte sich Viktor. »Ein Naßmann hat ihn vergewaltigt«, brachte Dr. R. Quadriga hervor. Er hatte Mühe, seine Augen unter Kontrolle zu halten, die ständig zur Nasenwurzel wanderten. »Vorläufig mit niemandem«, antwortete Pavor und blickte den Doktor durchdringend an, was R. Quadriga jedoch nicht bemerkte. Der Kellner brachte ein Glas Kognak. Pavor leerte es langsam und erhob sich dann. »Ich gehe mich waschen«, sagte er gemessen. »Außerhalb der Stadt ist es beschissen. Alles schwimmt im Dreck.« Dann ging er, wobei er immer wieder an Stühlen hängenblieb. »Irgendwas geht mit meinem Inspektor vor«, sagte Golem. Er schnippte eine zerknüllte Serviette vom Tisch. »Irgendwas im Weltmaßstab. Wissen Sie nicht zufällig, was es ist?« »Sie müssen das besser wissen«, sagte Viktor. »Er inspiziert Sie, nicht mich. Im übrigen wissen Sie ja alles. Woher wissen Sie eigentlich alles, Golem?« »Niemand weiß etwas«, widersprach Golem. »Einige ahnen etwas, aber es sind wenige, die Lust dazu haben. Sicher darf man die Frage nicht so stellen: Woher
ahnen Sie etwas? Da täte man der Sprache Gewalt an. Ebensowenig könnte man fragen: Wohin regnet es? Womit geht die Sonne auf? Würden Sie es Shakespeare verzeihen, wenn er etwas in dieser Art geschrieben hätte? Shakespeare vielleicht schon. Shakespeare verzeihen wir vieles, im Unterschied zu Banev... Hören Sie mal, Herr Belletrist, ich habe eine Idee. Ich trinke meinen Kognak aus und Sie Ihren Gin. Oder sind Sie schon voll?« »Golem«, sagte Viktor. »Wissen Sie, daß ich ein eiserner Mensch bin?« »Ich ahne es.« »Und was folgt daraus?« »Daß Sie Angst haben einzurosten.« »Nehmen wir das mal an«, sagte Viktor. »Aber ich meine etwas anderes. Ich will sagen, daß ich viel und lang trinken kann, ohne dabei gleich mein moralisches Gleichgewicht zu verlieren.« »Ach, darum geht es Ihnen«, sagte Golem und goß sich aus der Karaffe nach. »Na gut, wir werden auf dieses Thema noch zurückkommen.« »Ich kann mich nicht erinnern«, ließ sich plötzlich mit klarer Stimme Doktor Quadriga vernehmen. »Habe ich mich Ihnen vorgestellt, meine Herren, oder nicht? Ich habe die Ehre: Rem Quadriga, Maler, Doktor h. c., Ehrenmitglied... An dich kann ich mich erinnern«, sagte er zu Viktor gewandt. »Wir waren zusammen in der Schule, aber da war noch was... Und Sie, verzeihen Sie...« »Mein Name ist Julius Golem«, sagte Golem lässig. »Sehr-r 'rfreut. Sind Sie Bildhauer?« »Nein, Arzt.« »Ch'rurg?« »Ich bin Chefarzt des Leprosoriums«, erklärte Golem geduldig. »Ah, ja«, sagte Doktor R. Quadriga und schüttelte den Kopf wie ein Pferd. »Natürlich. Verzeihen Sie, Jul... Aber warum verstecken Sie sich nur? Was für ein Arzt sind Sie da überhaupt? Sie züchten ja die Naßmänner... Ich werde Sie vorschlagen. Solche Leute brauchen wir... Verzeihen Sie«, sagte er plötzlich, »ich komme gleich.« Er erhob sich mühsam aus dem Sessel und versuchte, zwischen den leeren Tischen umherirrend, zum Ausgang zu gelangen. Ein Kellner eilte ihm zu Hilfe und Doktor Quadriga umschlang seinen Hals. »Das macht alles der Regen«, sagte Golem. »Wir atmen Wasser. Schon drei Jahre lang atmet die Stadt Wasser. Aber wir sind keine Fische. Entweder sterben wir, oder wir gehen weg von hier.« Ernst und bekümmert blickte er Viktor an. »Der Regen wird auf die verlassene Stadt fallen, das Pflaster unterspülen, durch die Dächer sickern, die schon ganz schimmelig sind, dann wird er alles fortspülen. Die Erde kehrt in den Urzustand zurück, und die Stadt wird sich auflösen. Der Regen aber wird immer noch nicht aufhören. Es wird regnen und regnen...«
»Eine Apokalypse«, sagte Viktor, um irgend etwas zu sagen. »Ja, eine Apokalypse... Es wird regnen und regnen, die Erde wird sich vollsaugen, eine neue, unerhörte Saat wird aufgehen, und es wird kein Unkraut unter den dichten Gräsern geben. Dieses neue All werden wir nicht genießen können, weil wir nicht mehr sein werden ...« Wären da nicht diese bläulichen Säckchen unter den Augen und dieser wabbelige Hängebauch, wäre diese semitische Prachtnase einer topografischen Karte nicht so ähnlich... Obwohl, wenn man es sich überlegt, waren eigentlich alle Propheten Säufer; es ist ja wirklich unbefriedigend: man weiß alles und keiner glaubt einem. Würde man in unseren Behörden die Stelle eines Propheten einrichten, dann sollte sie nicht unter dem Geheimrat eingestuft werden, um dessen Autorität zu stärken. Aber das würde wohl trotzdem nicht helfen... »Wegen systematischem Pessimismus«, sagte Viktor laut, »damit zusammenhängend, Untergrabung der dienstlichen Disziplin und des Glaubens an eine vernünftige Zukunft ergeht folgender Befehl: Geheimrat Golem ist in der Exekutionszelle zu steinigen.« »Hm«, sagte Golem. »Ich bin lediglich Kollegienrat. Und außerdem, wo gibt es noch Propheten in unserer Zeit? Ich kenne keinen einzigen. Lauter Pseudopropheten, kein einziger, richtiger Prophet darunter. In unserer Zeit läßt sich die Zukunft nicht vorhersagen - allein die Formulierung ist eine Vergewaltigung der Sprache. Was würden Sie sagen, wenn Sie bei Shakespeare läsen: "die Gegenwart vorhersagen". Oder kann man etwa einen Schrank im eigenen Zimmer Vorhersagen? - Ah, da kommt ja mein Inspektor. Wie fühlen Sie sich, Inspektor?« »Ausgezeichnet«, sagte Pavor und setzte sich. »Ober, einen doppelten Kognak! Dort im Vestibül sind vier Leute, die unseren Maler festhalten«, teilte er mit. »Sie wollen ihm erklären, wo der Eingang zum Restaurant ist. Ich beschloß, mich nicht einzumischen; er glaubt nämlich niemandem und schlägt sich mit den anderen... Von welchen Schränken ist die Rede?« Spröde stand er da, elegant, ausgeruht und nach Kölnisch Wasser duftend. »Wir sprechen über die Zukunft«, sagte Golem. »Was hat das für einen Sinn, über die Zukunft zu sprechen?« entgegnete Pavor. »Über die Zukunft spricht man nicht, die macht man. Da habe ich ein Gläschen Kognak. Es ist voll, und jetzt mache ich es leer. So. Ein kluger Mann hat einmal gesagt, daß man die Zukunft unmöglich vorhersehen kann, man kann sie jedoch erfinden.« »Ein anderer kluger Mann«, bemerkte Viktor, »hat gesagt, daß es überhaupt keine Zukunft gibt, nur die Gegenwart.« »Ich mag die klassische Philosophie nicht«, sagte Pavor. »Diese Leute konnten
nichts und wollten auch nichts. Sie hatten einfach ihren Spaß am Nachdenken, so wie Golem am Trinken. Die Zukunft jedoch ist eine Gegenwart, die man vorsichtig entschärft hat.« »Ich habe immer so ein ungutes Gefühl«, sagte Golem, »wenn ein Zivilist so militärische Gedankengänge hat.« »Bei Soldaten gibt es keine Gedankengänge«, widersprach Pavor. »Da gibt es nur Reflexe und ein paar Emotionen.« »Wie bei den meisten Zivilisten«, sagte Viktor und betastete seinen Nacken. »Für so etwas hat im Augenblick niemand Zeit«, sagte Pavor, »weder die Soldaten noch die Zivilisten. Jetzt heißt es, mit der Entwicklung Schritt halten. Wenn einen die Zukunft interessiert, dann soll er sie schnell erfinden, ohne lang zu überlegen, und zwar in Übereinstimmung mit seinen Reflexen und Emotionen.« »Zum Teufel mit den Erfindern«, sagte Viktor. Er war beschwipst und in aufgeräumter Stimmung. Die Welt war in Ordnung. Er wollte nirgendwohin gehen, er wollte hierbleiben, in diesem öden, halbdunklen Saal, der keineswegs schon baufällig war, wenn auch die Wände Wasserflecken aufwiesen und die Dielenbretter locker saßen und der Küchengeruch allgegenwärtig war. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, wenn er daran dachte, daß draußen die ganze Welt im Regen versank, das Kopfsteinpflaster und die steilen Dächer, Berge und flaches Land... Irgendwann würde der Regen alles fortspülen, aber das würde nicht so bald geschehen. Allerdings, wenn man es sich recht überlegte, durfte man so etwas gar nicht sagen, daß etwas >nicht so bald geschehen würde<. Ja, meine Lieben, die Zeiten sind lange vorbei, als die Zukunft eine Wiederholung der Gegenwart war, als sich alle Veränderungen irgendwo hinter dem fernen Horizont abspielten. Golem hat recht, es gibt keine Zukunft, sie ist mit der Gegenwart verschmolzen, und jetzt ist schwer zu sagen, wo was ist. »Von einem Naßmann vergewaltigt«, sagte Pavor hämisch. In der Tür des Restaurants erschien Dr. R. Quadriga. Einige Sekunden lang blieb er stehen. Mit träger Sorgsamkeit glitt sein Blick über die leeren Tischreihen. Dann hellte sich sein Gesicht auf, und er strebte heftig schwankend seinem Platz zu. »Warum nennen Sie sie eigentlich Naßmänner?« fragte Viktor. »Sind sie vom Regen naß geworden?« »Und warum sollen wir sie nicht so nennen?« fragte Pavor. »Wie würden Sie sie nennen?« »Brillentypen«, sagte Viktor. »Ein gutes, altes Wort. Schon seit jeher nennen wir sie so.« Doktor Quadriga näherte sich. Vorn war er durchnäßt. Wahrscheinlich hatte man ihn über einem Waschbecken abgewaschen. Er schaute erschöpft und
enttäuscht aus. »Weiß der Teufel, was hier los ist«, sagte er schon von weitem mürrisch. »Das ist mir noch nie passiert: nirgends ein Eingang! Wo ich mich auch hinwende, überall Fenster... Es scheint, ich habe Sie warten lassen, meine Herren.« Er fiel in seinen Sessel und erblickte Pavor. »Ist der schon wieder da?« flüsterte er Golem vertraulich zu. »Ich hoffe, er stört euch nicht... Ich hatte ein erstaunliches Erlebnis. Man hat mich übergossen. . . « Golem schenkte ihm Kognak ein. »Ich danke Ihnen«, sagte R. Quadriga, »aber ich werde wohl besser ein paar Runden aussetzen. Ich muß zuerst trocken werden.« »Überhaupt bin ich für die guten, alten Dinge«, erklärte Viktor. »Sollen die Brillentypen doch Brillentypen bleiben. Meinetwegen braucht sich nichts zu ändern. Ich bin ein konservativer Mensch. Mit jedem Jahr werde ich konservativer, nicht deswegen, weil ich alt werde, sondern deswegen, weil ich darin eine Notwendigkeit sehe. . . « Pavor, der nüchtern war und ein Glas in Bereitschaft hielt, musterte ihn von unten nach oben mit betonter Aufmerksamkeit. Golem aß bedächtig ein Neunauge und Doktor Quadriga war offenbar bemüht, herauszufinden, woher die Stimme kam und wessen Stimme es war. Es war wunderbar. »Die Leute sind von der Lust beseelt, Regierungen wegen ihrer konservativen Einstellungen zu kritisieren«, fuhr Viktor fort. »Sie lieben es, den Fortschritt zu preisen. Das ist eine neue Tendenz, und sie ist dumm wie alles Neue. Die Leute sollten zu Gott beten, er möge ihnen so eine konservative, verknöcherte und konformistische Regierung schenken, wie es sie noch nie gegeben hat.« Jetzt hob auch Golem den Blick und schaute ihn an. Hinter der Theke unterbrach Teddy das Gläsertrocknen und lauschte. Plötzlich begann Viktors Hinterkopf zu schmerzen; er mußte ein Gläschen trinken und die Beule streicheln. »Der Regierungsapparat, meine Herren, betrachtete es zu allen Zeiten als seine Hauptaufgabe, den Status quo aufrechtzuerhalten. Ich weiß nicht, inwiefern das früher berechtigt war. Jetzt aber ist ein solches Bestreben des Staates einfach unabdingbar. Ich würde es folgendermaßen umreißen: mit allen Mitteln die Zukunft daran hindern, ihre Fühler in unsere Gegenwart auszustrecken, diese Fühler abhacken und mit glühendem Eisen ausbrennen... Den Erfindern die Flügel stutzen, Scholastiker und Schwätzer ermuntern... Allenthalben an den Gymnasien die klassische Bildung einführen. Die höchsten Staatsposten sollten alte Männer bekleiden, die mit Familie und Schulden geschlagen sind und mindestens fünfzig Jahre auf dem Buckel haben, damit sie Schmiergelder annehmen und in den Sitzungen schlafen...« »Was reden Sie da für Unsinn, Viktor«, sagte Pavor vorwurfsvoll. »Aber wieso?« sagte Golem. »Es ist außerordentlich angenehm, so gemäßigte,
loyale Worte zu hören.« »Ich bin noch nicht fertig, meine Herren! Begabte Wissenschaftler sollen zu Verwaltungsbeamten mit hohem Einkommen ernannt werden. Alle Erfindungen sollte man ausnahmslos annehmen, schlecht honorieren und dann in der Versenkung verschwinden lassen. Alle Neuerungen bei Waren und in der Produktion sollten mit drakonischen Steuern belegt werden...« Wozu stehe ich eigentlich? dachte Viktor und setzte sich. »Na, was sagen Sie dazu?« fragte er Golem. »Sie haben völlig recht«, sagte Golem. »Bei uns sind sowieso lauter Radikale. Sogar der Rektor des Gymnasiums. Der Konservatismus ist unsere Rettung.« Viktor nahm einen Schluck Gin und sprach mit Bitterkeit: »Rettung wird es keine geben, denn alle schwachsinnigen Radikalen glauben nicht nur an den Fortschritt, sie lieben ihn auch noch, sie bilden sich ein, daß es ohne Fortschritt nicht geht. Denn Fortschritt bedeutet, abgesehen von allem anderen, billige Autos,, Elektronik im Haushalt, überhaupt die Möglichkeit, weniger zu tun und mehr zu bekommen. Deswegen ist jede Regierung gezwungen, mit einer Hand... Das heißt, nicht mit der Hand natürlich... Mit einem Fuß auf die Bremse zu drücken, mit dem anderen Gas zu geben. Wie ein Rennfahrer in der Kurve. Er bremst, um die Kontrolle nicht zu verlieren, und er gibt Gas, damit die Geschwindigkeit nicht absinkt. Sonst stößt ihn irgendein Demagoge, so ein Fortschrittsfanatiker, vom Fahrersitz.« »Mit Ihnen ist es schwer zu streiten«, sagte Pavor höflich. »Dann streiten Sie nicht«, sagte Viktor. »Man braucht nicht zu streiten. Im Streit kommt die Wahrheit ans Licht, aber hol sie der Kuckuck!« Er strich zärtlich über die Beule und fügte hinzu: »Übrigens, das kommt bei mir von der Unwissenheit. Alle Gelehrten sind Fortschrittsfanatiker, ich bin aber kein Gelehrter. Ich bin einfach ein nicht ganz unbekannter Coupletschreiber.« »Was fassen Sie sich eigentlich dauernd an den Hinterkopf?« fragte Pavor. »Irgendein Schwein hat mir eine gedroschen«, sagte Viktor. »Mit einem Schlagring... Kann das sein, Golem? Mit einem Schlagring?« »Meiner Meinung nach schon«, sagte Golem. »Vielleicht auch mit einem Ziegelstein.« »Was erzählen Sie da?« fragte Pavor verwundert. »Mit was für einem Schlagring? In diesem Krähwinkel?« »Da haben Sie es«, sagte Viktor belehrend. »Fortschritt! - Trinken wir noch mal auf den Konservatismus.« Man rief den Ober und trank noch einmal auf den Konservatismus. Die Uhr schlug neun, als im Saal ein allen bekanntes Paar auftauchte. Es bestand aus einem jungen Mann mit dicken Brillengläsern und seinem hageren Begleiter. Sie setzten sich an einen Tisch, knipsten die Stehlampe an und schauten friedlich in die Runde. Dann vertieften sie sich in die Speisekarte. Wie jedesmal
war der junge Mann mit einer Aktentasche gekommen, die er auf den freien Stuhl neben sich gelegt hatte. Er war immer rührend besorgt um seine Aktentasche. Nachdem die beiden die Bestellung beim Ober aufgegeben hatten, setzten sie sich aufrecht hin und blickten schweigend geradeaus. Ein seltsames Paar, dachte Viktor. Erstaunlich, wie wenig die zusammenpassen. Die schauen aus wie in einem defekten Fernglas. Der eine ist scharf eingestellt, der andere verschwimmt, oder umgekehrt. Die reine Unvereinbarkeit. Mit dem jungen Mann mit der Brille könnte man sich über den Fortschritt unterhalten, mit dem Hageren nicht. Der Hagere könnte mir einen mit dem Schlagring verpassen, der Junge nicht... Aber ich werde euch beide jetzt vereinen. Wie müßte ich das anstellen? Nun, zum Beispiel so... Man stelle sich eine Staatsbank vor, Keller... Zement, Beton, Signalsystem; der Hagere wählt auf der Scheibe eine Nummer, der Stahlturm dreht sich, der Weg in die Schatzkammer wird frei, beide treten ein, der Hagere wählt eine Nummer auf einer anderen Scheibe, die Tresortür springt auf, und der Junge vergräbt beide Arme bis zum Ellbogen in die Brillanten. Doktor Quadriga brach plötzlich in Tränen aus und faßte Viktor am Arm. »Übernachten Sie bei mir!« sagte er. »Na, wie wäre das?« Viktor goß ihm unverzüglich Gin ein. Dr. Quadriga leerte das Glas, wischte sich unter der Nase und fuhr fort: »Bei mir! In meiner Villa! Sogar mit Springbrunnen! Na?« »Ein Springbrunnen. Das ist ein guter Einfall von dir«, bemerkte Viktor ausweichend. »Was ist noch da?« »Der Keller«, sagte Dr. Quadriga bekümmert. »Spuren. Ich habe Angst. Es ist so schrecklich. Soll ich sie dir verkaufen?« »Schenk sie mir lieber!« schlug Viktor vor. Dr. Quadriga blinzelte. »Das wäre schade drum«, sagte er. »Geizhals«, sagte Viktor vorwurfsvoll. »Das bist du schon seit deiner Kindheit. Um die Villa ist es ihm schade. Erstick doch an deiner Villa!« »Du liebst mich nicht«, konstatierte Doktor Dr. Quadriga mit Bitterkeit. »Niemand liebt mich.« »Und der Herr Präsident?« fragte Viktor angriffslustig. »Der Präsident ist der Vater des Volkes«, zitierte Dr. Quadriga. Er lebte sichtlich auf. »Ein Bildentwurf in Goldtönen: "Der Präsident in den Schützengräben" Ein Bildfragment: "Der Präsident in den beschossenen Stellungen."« »Was noch?« fragte Viktor interessiert. »Der Präsident im Regenmantel«, sagte Dr. Quadriga bereitwillig. »Ein Paneel. Ein Panorama.« Viktor begann sich zu langweilen. Er schnitt sich ein Stück Neunauge ab und wandte seine Aufmerksamkeit Golem zu.
»Folgendes, Pavor«, sagte dieser. »Lassen Sie mich in Frieden! Ich wüßte nicht, was ich noch tun könnte. In die Bücher habe ich Ihnen Einsicht gegeben. Ich bin auch bereit, Ihren Bericht zu unterschreiben. Sollten Sie sich über die Soldaten beschweren wollen, dann tun Sie das. Sollten Sie sich über mich beschweren wollen. . . « »Ich will mich doch nicht über Sie beschweren«, beteuerte Pavor und legte die Hand aufs Herz. »Dann tun Sie es nicht!« »Aber geben Sie mir doch einen Rat! Können Sie mir wirklich keinen Rat geben?« »Meine Herren«, sagte Viktor, »es ist zum Gähnen. Ich gehe.« Niemand beachtete ihn. Er rückte den Stuhl zurück, erhob sich und bewegte sich zum Bartisch. Er fühlte sich sehr betrunken. Der glatzköpfige Teddy trocknete Gläser ab und blickte Viktor ohne besondere Neugier entgegen. »Wie immer?« fragte er. »Warte!« sagte Viktor. »Was wollte ich dich doch gleich fragen? - Ja! Wie geht's dir, Teddy?« »Der Regen«, sagte Teddy kurz und goß ihm Schnaps ein. »Ein verfluchtes Wetter ist das jetzt in unserer Stadt«, sagte Viktor und stützte sich auf die Theke. »Was sagt dein Barometer?« Teddy griff mit der Hand unter die Theke und holte sein »Wetterding« hervor. Sämtliche drei Zapfen steckten fest in den glänzenden wie lackiert aussehenden Röhren. »Trübe Aussichten«, sagte Teddy und blickte das Gerät aufmerksam an. »Eine verteufelte Erfindung.« Nach einigem Nachdenken fügte er hinzu: »Aber wer weiß, vielleicht ist das Ding schon lange kaputt. Es regnet ja schon so viele Jahre. Wie soll man das nachprüfen?« »Man könnte in die Sahara fahren«, schlug Viktor vor. Teddy grinste. »Es ist so komisch«, sagte er, »der Herr da, der Pavor, hat mir für dieses Stück 200 Kronen geboten.« »Im Suff wahrscheinlich«, sagte Viktor. »Was sollte er damit schon. . . « »Das habe ich ihm auch gesagt.« Er wendete das Gerät um und hielt es an das rechte Auge. »Das Ding gebe ich nicht her«, erklärte er entschieden. »Soll er sich selber eins suchen!« Er verstaute das Barometer hinter der Theke und schaute zu, wie Viktor sein Glas mit den Fingern drehte. »Deine Diana ist angekommen«, verkündete er. »Schon lange?« fragte Viktor wie beiläufig. »Um fünf ungefähr. Ich habe ihr eine Kiste Kognak raufgegeben. Der Rocheper zecht in einem fort. Er läßt sich vom Personal ständig Kognak bringen, das fette Schwein. Ein schönes Parlamentsmitglied. Hast du nicht Angst um sie?« Viktor zuckte die Achseln. Er sah sie plötzlich neben sich stehen. Sie war im
nassen Regenmantel, die Kapuze zurückgeworfen, an der Theke aufgetaucht. Sie blickte nicht zu ihm her. Er sah nur ihr Profil und wußte, daß sie von allen Frauen, die er gekannt hatte, die schönste war und daß er eine solche wohl auch nie mehr haben würde. Sie blieb stehen, auf die Theke gestützt. Ihr Gesicht war blaß und teilnahmslos. Und doch war sie die schönste. Alles an ihr war schön. Immer. Ob sie nun weinte oder lachte, wütend war, auf alles pfiff oder alles zum Kotzen fand, besonders aber, wenn sie in Stimmung kam... Mensch, bin ich besoffen! dachte Viktor. Ich stinke wahrscheinlich so aus dem Maul wie der Dr. Quadriga. Er schob die Unterlippe vor und blies sich in die Nase. Nichts festzustellen. »Ihr lieben glitschigen Naßmänner«, sagte Teddy. »Lauter Neb e l . . . Und ich sage dir, dieser Rocheper ist bestimmt ein Weiberheld, so ein alter Bock.« »Impotent ist er«, widersprach Viktor und hob das Schnapsglas mechanisch an den Mund. »Hat sie dir das erzählt?« »Hör schon auf, Teddy!« sagte Viktor. »Lassen wir's gut sein!« Teddy blickte ihn durchdringend an und seufzte. Dann ging er grunzend in die Hocke, kramte hinter der Theke, tauchte auf und stellte vor Viktor ein Fläschchen Salmiakgeist und ein angebrochenes Päckchen Tee. Viktor blickte auf die Uhr und beobachtete, wie Teddy bedächtig einen sauberen Pokal hervorholte, Sodawasser eingoß, ein paar Tropfen aus dem Fläschchen hinzufügte und das Ganze ebenso bedächtig mit einem Glasstäbchen vermischte. Dann schob, er den Pokal Viktor zu. Viktor trank aus, kniff die Augen zusammen und hielt den Atem an. Ein frischer und ekelerregender, ekelerregend frischer Strahl drang in das Gehirn und ergoß sich irgendwo hinter die Augen. Viktor sog die Luft, die jetzt unerträglich kalt war, durch die Nase ein und griff mit den Fingern in das Teepäckchen. »Gut, Teddy«, sagte er. »Danke dir. Schreib auf, was ich dir schulde! Die anderen werden es dir sagen, wieviel. Ich gehe.« Teekauend kehrte Viktor an seinen Tisch zurück. Der junge Mann mit Brille und sein hagerer Begleiter schlangen ihr Abendessen hinunter. Vor ihnen stand eine einzige Flasche. Sie enthielt Mineralwasser aus der Gegend. Pavor und Golem hatten auf der Tischdecke Platz gemacht und spielten Würfel. Doktor R. Quadriga hatte seinen ungekämmten Kopf umfaßt und brummte monoton: »Die Legion der Freiheit ist die Stütze des Präsidenten. Ein Mosaik. Am glücklichen Namenstag Seiner Hohen Exzellenz... Der Präsident - Vater der Kinder. Ein allegorisches Bild... « »Ich gehe«, sagte Viktor. »Schade«; sagte Golem. »Übrigens, viel Erfolg!« »Gruß an Rocheper«, sagte Pavor und blinzelte ihm zu. »Parlamentsmitglied Rocheper Nante«, sagte Dr. Quadriga lebhaft. »Ein
Porträt. Preiswert. Brustbild... « Viktor nahm Feuerzeug und Zigarettenpackung und ging zum Ausgang. Hinter ihm erscholl die klare Stimme Dr. Quadrigas. »Ich nehme an, meine Herren, es ist an der Zeit, daß wir uns bekannt machen. Ich bin Rem Quadriga, Doktor honoris causa, wer Sie sind, meine Herren, das ist mir irgendwie entfallen...« In der Tür stieß Viktor mit dem dicken Trainer der Fußballmannschaft zusammen. Der Trainer wirkte sorgenvoll. Er war durchnäßt und ließ Viktor den Vortritt. 3 Der Autobus hielt an, und der Fahrer sagte: »Wir sind da.« »Das Sanatorium?« fragte Viktor. Draußen war dichter, milchiger Nebel. Er schluckte das Licht der Scheinwerfer. Nichts war zu sehen. »Ja, ja, das Sanatorium«, brummte der Fahrer und zündete sich eine Zigarette an. Viktor ging zur Tür und sagte beim Aussteigen: »Das ist ja ein Nebel. Ich sehe überhaupt nichts.« »Sie werden sich schon zurechtfinden«, versprach der Fahrer gleichmütig. Er spuckte zum Seitenfenster hinaus. »Ein schönes Plätzchen haben die sich für ihr Sanatorium ausgesucht. Am Tag Nebel, in der Nacht Nebel...« »Gute Fahrt«, sagte Viktor. Der Fahrer gab keine Antwort. Der Motor heulte auf, die Tür knallte zu, dann wendete der riesige leere Autobus, dessen Glasfronten und Innenbeleuchtung ihn wie ein nächtliches Kaufhaus erscheinen ließen. Das Fahrzeug verwandelte sich augenblicklich in einen trüben Lichtfleck und verschwand in Richtung Stadt. Viktor fühlte nach dem Gitterzaun, fand mit Mühe das Tor und bewegte sich tastend die Allee entlang. Jetzt, da sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er vor sich verschwommen die erleuchteten Fenster des rechten Flügels. Dort, wo sich der linke Flügel befand und wo die vom langen Tag im Regen erschöpften »Verstandesbrüder« schliefen, war es stockfinster. Durch den Nebel drangen wie durch Watte gedämpft die üblichen Geräusche. Eine Musiktruhe spielte. Geschirr klirrte, jemand brüllte mit heiserer Stimme. Viktor bewegte sich vorwärts, ständig bemüht, sich in der Mitte der sandigen Allee zu halten, um nicht gegen eine Gipsvase zu stoßen. Er hielt eine Ginflasche fest gegen die Brust gepreßt. Obwohl er mit größter Behutsamkeit Schritt vor Schritt setzte, stolperte er über etwas Weiches und landete auf allen vieren. Hinter ihm war träges, verschlafenes Fluchen zu vernehmen, man solle doch, verdammt noch mal, das Licht einschalten. Viktor tastete nach der Flasche, preßte sie von neuem gegen die Brust und tappte weiter. Den freien Arm streckte er nach vorn. Bald stieß er gegen ein Auto, bewegte sich tastend herum und stieß gegen ein zweites. Es war wie verhext; offenbar parkte hier eine größere Anzahl von Autos. Fluchend irrte Viktor zwischen ihnen herum wie
in einem Labyrinth. Erst nach längerer Zeit gelang es ihm, zu einem matten Lichtfleck vorzustoßen. Die glatten Seitenflächen der Wagen waren naß vom Nebel. Ganz in der Nähe hörte man Kichern und Schäkern. Da war auch schon der Eingang zum Vestibül. Die Halle war ungewohnt leer. Kein Blindekuhspiel, keine fetten Hinterteile, die sich haschten, keine Schläfer in den Sesseln. Überall lagen zusammengeknüllte Regenmäntel herum. Ein Spaßvogel hatte dem Gummibaum einen Hut aufgesetzt. Viktor stieg die teppichbelegten Stufen zum ersten Stock hinauf. Musik dröhnte. Alle Türen im rechten Korridor, die zu den Appartements des Parlamentsmitglieds führten, standen weit offen. Von dort her drang der Geruch fetter Speisen, Tabakrauchs und schwitzender Leiber. Viktor bog nach links und klopfte an Dianas Tür. Drinnen blieb es still. Die Tür war verschlossen, der Schlüssel steckte jedoch im Schlüsselloch. Viktor trat ein, knipste das Licht an und stellte die Flasche auf das Telefontischchen. Dann waren Schritte zu hören. Viktor blickte auf den Korridor hinaus und sah, wie sich ein hochgewachsener Mann mit weitem, festem Schritt entfernte. Er trug einen dunklen Abendanzug. Am Treppenabsatz blieb er vor dem Spiegel stehen, warf den Kopf zurück und nestelte an seiner Krawatte. Viktor sah einen kurzen Augenblick lang ein dunkles, gelbliches Raubvogelprofil und ein scharfgeschnittenes Kinn. Unversehens ging eine Veränderung mit dem Mann vor. Sein Rücken krümmte sich, der Körper beugte sich leicht nach links, der Mann begann sich widerlich in den Hüften zu wiegen und verschwand in einer der offenstehenden Türen. Dieser eingebildete Affe! dachte Viktor unsicher. Der war beim Kotzen... Er blickte nach links. Dort war es dunkel. Viktor zog den Regenmantel aus, verschloß das Zimmer und machte sich auf die Suche nach Diana. Ich werde bei Rocheper vorbeischauen müssen, dachte er. Wo könnte sie noch sein? Rocheper bewohnte drei Krankenzimmer. Im ersten hatte vor kurzer Zeit ein Freßgelage stattgefunden. Auf den fleckigen Tischtüchern türmten sich schmutzige Teller, Aschenbecher, Flaschen und zerknüllte Servietten. Von einem einsamen, schwitzenden Glatzkopf abgesehen, der neben einer Schüssel mit Sülzfleisch schnarchte, war niemand im Raum. Im benachbarten Zimmer herrschte ein Höllenlärm. Auf dem riesigen Bett Rochepers erblickte Viktor, halbnackte, fremde Mädchen, die mit den Füßen ausschlugen. Sie spielten irgendein seltsames Spiel mit dem Herrn Bürgermeister, dessen purpurrotes Gesicht auf einen Schlaganfall hätte hindeuten können. Doch er wühlte sich unter sie hinein wie ein Schwein in einen Haufen Eicheln, schlug ebenfalls aus und grunzte vor Vergnügen. Außerdem waren anwesend: Der Herr Polizeichef ohne Uniformjacke, der Herr Stadtrichter, der nach Luft rang und dessen Augen aus den Höhlen zu treten schienen, und irgendein flinker, fliederfarben
gekleideter Unbekannter. Diese drei spielten wie besessen ein Kinderbillard, das auf ein Toilettentischchen gestellt war. In der Ecke saß, an die Wand gelehnt, und die Beine gespreizt, der Direktor des Gymnasiums mit einem idiotischen Lächeln auf den Lippen. Seine Uniform war mit Flecken übersät. Viktor wollte gerade Weggehen, als ihn jemand am Hosenbein ergriff. Er blickte zu Boden und prallte zurück. Der Mensch, der da auf allen vieren dahinkroch, war Parlamentsmitglied, Ordensträger, Verfasser des aufsehenerregenden Projekts über die Fischzucht in den Kit- schinganer Stauseen - es war Rocheper Nante. »Hoppe-hoppe-Reiter«, blökte er flehentlich. »Machen wir hoppe-hoppe-Reiter! Ji-i-i-ho!« Er war im Delirium. Viktor befreite sich behutsam und warf einen Blick ins letzte Krankenzimmer. Hier sah er Diana. Zuerst begriff er nicht, daß es Diana war, dann dachte er verdrossen: Wie reizend! Die Leute, irgendwelche ihm nur flüchtig bekannte Männer und Frauen, standen dichtgedrängt im Kreise und klatschten in die Hände. Im Mittelpunkt des Kreises tanzte Diana mit eben dem eingebildeten Affen mit dem Raubvogelprofil. Dianas Augen und Wangen brannten, sie hatte den Teufel im Leib. Das Raubvogelprofil war eifrig bemüht, es ihr gleichzutun. Seltsam, dachte Viktor. Was ist eigentlich los? - Da hat doch was nicht gestimmt. Er tanzt gut, er tanzt einfach wunderbar. Wie ein Tanzlehrer. Er tanzt nicht, sondern zeigt, wie man tanzt... Nicht mal wie ein Lehrer, sondern wie ein Schüler bei der Prüfung. Er möchte gern einen Einser bekommen... Nein, stimmt auch nicht. Hör zu, mein Lieber, du tanzt ja mit Diana! Merkst du das etwa nicht? Viktors Vorstellungskraft begann gewohnheitsmäßig zu arbeiten. Der Schauspieler tanzt auf der Bühne, alles ist gut, alles ist schön, alles geht nach Plan, ohne Stolpern, erst zu Hause kommt das Unglück... Eigentlich nicht unbedingt ein Unglück, man wartet halt, bis er nach nach Hause kommt, und er wartet auch, bis der Vorhang fällt und die Lichter alle verlöschen... Überhaupt ist das kein Schauspieler, sondern irgendein dahergelaufener Mensch, der einen Schauspieler, der selbst einen dahergelaufenen Menschen darstellt, nachahmt... Sollte das Diana nicht spüren? Das ist doch ein Heuchler? Eine Marionette! Da ist kein Funken Vertraulichkeit zwischen ihnen, keine Spur von Verführung, nicht der Hauch eines Verlangens... Da sagen sie einander was, aber was hätten die einander schon zu sagen? Ma chère hin, ma chère her... »Sind Sie nicht in Schweiß geraten?« - »Ja, habe ich gelesen, sogar zweimal.« Jetzt bemerkte Viktor, daß sich Diana durch die Gäste einen Weg zu ihm bahnte. »Komm tanzen!« rief sie ihm von weitem zu. Jemand verstellte ihr den Weg, ein anderer hielt sie am Arm fest, doch sie riß sich lachend los. Viktor versuchte, den Gelbgesichtigen zu entdecken, doch
vergeblich. Dieser Mißerfolg hinterließ ein ungutes Gefühl in ihm. Diana lief zu ihm, faßte ihn am Ärmel und zog ihn zum Kreis hin. »Komm, komm! Lauter liebe Leute hier und alle feuchtfröhlich... Denen zeigst du's mal! Dieses Bürschlein hier hatte ja keine Ahnung. . . « Jetzt hatte sie ihn in den Kreis gezogen. Jemand in der Menge brüllte: »Dem Schriftsteller Banev - ein Hurra!« Die Musiktruhe, die für einige Augenblicke verstummt war, lärmte los, Diana preßte sich an ihn und sprang im nächsten Augenblick von ihm weg. Sie duftete nach Parfüm und Wein, sie war wild, und Viktor sah nur noch ihr erregtes, schönes Gesicht und ihre fliegenden Haare. »Tanze!« schrie sie ihm zu, und er begann zu tanzen. »Fein, daß du gekommen bist.« »Ja, ja.« »Wieso bist du nüchtern? Ewig bist du nüchtern, wenn du es nicht sein sollst.« »Bald bin ich besoffen.« »Heute brauche ich dich so.« »Du wirst mich schon so haben.« »Ich möchte mit dir machen, was ich will. Nicht du mit mir, sondern ich mit dir.« »Gut.« Sie lachte erleichtert auf. Dann tanzten sie schweigend, blind für alles und selbstvergessen. Wie im Traum. Wie im Kampf. So war sie jetzt, wie ein Traum, wie ein Kampf. Diana, wenn sie in Stimmung gekommen war... Ringsum klatschte man in die Hände, man hörte entzückte Schreie, plötzlich schien es, als wolle noch jemand tanzen, doch Viktor stieß den Störenfried zur Seite. Dann erscholl ein langgezogener Schrei Rochepers: »Oh, du mein armes, betrunkenes Volk!« »Ist er impotent?« »Und ob. Ich wasche ihn.« »Und wie?« »Absolut.« »Oh, du meine arme, betrunkene Stadt!« stöhnte Rocheper. »Gehen wir weg von hier«, sagte Viktor. Er faßte ihre Hand und führte sie durch das Gewühl. Man machte ihnen Platz. Es stank nach Alkohol und Knoblauch. In der Tür verstellte ihnen ein junger Bursche mit wulstigen Lippen und geröteten Wangen den Weg. Offensichtlich suchte er Händel. Viktor sagte: »Später, später«, und der Milchbart verschwand. Sie hielten sich an den Händen, liefen den leeren Korridor entlang, dann sperrte Viktor, ohne ihre Hand loszulassen, die Tür auf und verschloß sie von innen, wiederum ohne ihre Hand loszulassen. Es war heiß und schwül, die Hitze wurde immer unerträglicher. Das Zimmer schien zunächst breit und geräumig zu sein, doch dann wurde es eng und schmal, und Viktor stand auf
und öffnete das Fenster. Schwarze, feuchte Luft strömte ihm über den nackten Oberkörper. Er kehrte zum Bett zurück, tastete nach der Ginflasche, trank einen Schluck und reichte die Flasche Diana. Dann legte er sich hin. Von links kam ein kalter Luftstrom, die rechte Seite fühlte sich heiß, seidig und zart an. Jetzt hörte er, daß das Trinkgelage weiterging. Die Gäste grölten im Chor. »Geht das noch lange?« fragte er. »Was?« fragte Diana schläfrig. »Die Singerei da?« »Weiß ich nicht. Was geht uns das an?« Sie drehte sich zur Seite und legte ihre Wange an seine Schulter. »Mir ist kalt«, beklagte sie sich. Mit Mühe krochen sie unter die Decke. »Schlaf nicht«, sagte er. »M-mh«, murmelte sie. »Fühlst du dich wohl?« »M-mh.« »Und wenn ich da hinterm Ohr...« »M-mh... Laß, das tut weh!« »Hör zu, könnten wir hier nicht eine Woche leben?« »Das ginge.« »Und wo?« »Ich will schlafen. Laß eine arme, betrunkene Frau schlafen!« Viktor verstummte und lag unbeweglich. Sie schlief bereits. So werde ich das auch machen, dachte er. Hier wird es schön und ruhig sein. Nur eben abends nicht. Aber vielleicht auch abends. Der wird sich doch nicht jeden Abend besaufen, er ist doch zur Heilung hier... So drei, vier Tage... Fünf, sechs ... Etwas weniger trinken, überhaupt nichts mehr trinken, und arbeiten... ich habe schon lange nicht mehr gearbeitet... Um richtig arbeiten zu wollen, bedarf es der Langeweile, dann bekommt man Lust auf Arbeit... Er war eingenickt und zuckte zusammen. Was Irma betrifft... Ich werde am Roz-Tusov schreiben, das mache ich. Wenn er nur nicht den Schwanz einzieht, der Feigling. Er schuldet mir 900 Kronen... Wenn man auf den Herrn Präsidenten zu sprechen kommt, so spielt das keine Rolle, dann werden wir alle zu Feiglingen. Warum sind wir denn alle solche Angsthasen? Wovor fürchten wir uns eigentlich? Vor Veränderungen. Man könnte nicht mehr in die Schriftstellerkneipe gehen und sich ein Gläschen Schnaps genehmigen... Der Pförtner wird sich nicht mehr verbeugen ... Überhaupt wird es für einen keinen Pförtner mehr geben, man wird selber zum Pförtner gemacht. So ins Bergwerk, das wäre schlimm... Wirklich schlimm wäre das... Aber das kommt ja kaum mehr vor, die Zeiten haben sich doch geändert... Die Gepflogenheiten sind etwas milder geworden ... X-mal habe ich darüber nachgedacht und x-mal bin
ich darauf gekommen, daß im allgemeinen kein Grund zur Angst besteht, und trotzdem fürchte ich mich. Deswegen nämlich, weil es eine stumpfe, unempfindliche Macht ist, dachte er. Es ist furchtbar, wenn man eine stumpfe Macht gegen sich hat, so eine schweinische Macht mit Borsten dran, die irgendwelcher Logik oder Gefühlen unzugänglich ist. Auch Diana gäbe es dann nicht mehr... Er nickte ein, erwachte jedoch wieder. Durch das geöffnete Fenster drang von unten laute Unterhaltung und wieherndes Lachen ins Zimmer. In den Büschen knackte es. »Ich kann sie nicht einlochen«, war die betrunkene Stimme des Polizeichefs zu vernehmen. »Es gibt kein Gesetz dafür.« »Wird es bald geben«, ertönte die Stimme Rochepers. »Bin ich Abgeordneter oder nicht?« »Gibt es ein Gesetz, das einen solchen Infektionsherd bei einer Stadt erlaubt?« schnarrte der Bürgermeister. »Wird es geben«, sagte Rocheper hartnäckig. »Die sind nicht ansteckend«, meckerte die Fistelstimme des Gymnasialdirektors. »Ich meine, in medizinischer Hinsicht...« »Heh, Gymnasium«, sagte Rocheper, »vergiß nicht, die Hose aufzuknöpfen beim Schiffen!« »Und gibt es ein Gesetz, daß man ehrliche Leute zugrunderichten darf?« schnarrte der Bürgermeister. »Darf man ehrliche Leute ruinieren? Gibt es so ein Gesetz?« »Wird es geben, sage ich dir!« sagte Rocheper. »Bin ich Abgeordneter oder nicht?« Wie könnte ich ihnen eine über den Kopf geben? dachte Viktor. »Rocheper!« sagte der Polizeichef. »Bist du mein Freund? Ich habe dich Gauner auf Händen getragen. Ich habe dich Gauner auserwählt. Und jetzt latschen diese ansteckenden Hunde durch die Stadt, und ich kann nichts machen. Da habe ich kein Gesetz zur Hand, verstehst du?« »Wird es geben«, versicherte Rocheper hartnäckig. »Ich sage es dir noch einmal. Im Zusammenhang mit der Verseuchung der Atmosphäre...« »Der sittlichen!« fügte der Gymnasialdirektor hinzu. »Der sittlichen und der moralischen.« »Was? Im Zusammenhang mit der Vergiftung der Atmosphäre, sage ich, und aufgrund der ungenügenden Fischzucht in den umliegenden Wasserreservoiren... Der Seuchenherd muß liquidiert und an einen abgelegenen Ort verpflanzt werden. Ist es recht so?« »Komm, laß dich küssen!« sagte der Polizeichef. »Prachtkerl«, sagte der Bürgermeister. »Und ein kluger Kopf. Ich muß dich auch küssen...«
»Quatsch«, sagte Rocheper. »Das sind doch kleine Fische für mich... Singen wir was? Nein, ich habe keine Lust. Gehen wir noch auf einen Kleinen.« »Richtig. Auf einen Kleinen und dann heimwärts.« Wieder knackte es in den Büschen, in der Ferne hörte man Rocheper sagen »Heh, Gymnasium, du hast vergessen, dich zuzuknöpfen!«, dann wurde es still, Viktor döste ein und besah sich irgendeinen unbedeutenden Traum, als plötzlich das Telefon klingelte. »Ja«, sagte Diana heiser. »Ja, ich bin's...« Sie räusperte sich. »Macht nichts, macht nichts, ja, ich höre... Alles in Ordnung, ich hatte den Eindruck, er war zufrieden... Was?« Quer auf Viktor gestützt, sprach sie weiter. Dann fühlte er plötzlich, wie sich ihr Körper anspannte. »Merkwürdig«, sagte sie. »Gut, ich schaue gleich vorbei... Ja... G ut. . . Das sage ich ihm.« Sie legte den Hörer auf, kroch über Viktor hinweg und knipste das Nachttischlämpchen an. »Was ist passiert?« fragte Viktor verschlafen. »Nichts. Schlaf weiter. Ich bin gleich wieder da.« Durch die halbgeöffneten Lider sah er, wie sie die verstreute Unterwäsche aufsammelte. Ihr Gesicht hatte einen so ernsten Ausdruck angenommen, daß er unruhig zu werden begann. Rasch zog sie sich an und zupfte noch im Hinausgehen ihr Kleid zurecht. Rocheper geht es schlecht, dachte er. Zu Tode hat er sich gesoffen, der alte Trottel. Er lauschte. In dem riesigen Gebäude war es still. Er vernahm deutlich Dianas Schritte im Korridor. Wider Erwarten war sie nicht nach rechts zu den Appartements Rochepers gegangen, sondern nach links. Dann knarrte eine Tür, und die Schritte verhallten. Viktor legte sich wieder auf die Seite und versuchte einzuschlafen, aber er fand keinen Schlaf mehr. Er begriff, daß er auf Diana wartete und daß er nicht eher einschlafen würde, als bis sie zurückkam. Er setzte sich auf und zündete sich eine Zigarette an. Die Beule am Hinterkopf begann im Pulsrhythmus zu zucken, und Viktor verzog sein Gesicht. Diana war noch immer nicht zurückgekehrt. Aus irgendeinem Grunde fiel ihm der gelbgesichtige Tänzer mit dem Raubvogelprofil ein. Was hat der hier verloren? dachte Viktor. Ein Schauspieler, der einen anderen Schauspieler spielt, der einen dritten spielt... Jetzt weiß ich, warum. Der kam nämlich von derselben linken Seite, wohin Diana gegangen ist. Und er ging bis zum Treppenaufgang und verwandelte sich in einen Gecken. Zunächst spielte er einen Salonlöwen und dann einen leichtlebigen Stutzer... Viktor lauschte noch einmal. Es war ungewöhnlich still, alles schlief... Jemand schnarchte. Dann knarrte wieder eine Tür, und Schritte näherten sich. Diana kam ins Zimmer. Ihr Gesichtsausdruck war nach wie vor ernst. Die Vorstellung war
jedoch noch nicht zu Ende, sondern ging weiter. Diana ging zum Telefon und wählte eine Nummer. »Er ist nicht da«, sagte sie. »Nein, nein, er ist weggegangen... Ich auch... Macht nichts, macht nichts, ich bitte Sie... Gute Nacht...« Sie legte den Hörer auf und blickte einige Zeit zum Fenster in die Dunkelheit hinaus. Dann setzte sie sich neben Viktor aufs Bett. In der Hand hielt sie eine zylindrische Taschenlampe. Viktor zündete eine Zigarette an und reichte sie ihr. Sie rauchte schweigend und schien angestrengt nachzudenken. Dann fragte sie: »Wann bist du eingeschlafen?« »Weiß ich nicht, schwer zu sagen.« »Aber nach mir doch?« »Ja.« Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Hast du nichts gehört? Irgendeinen Tumult, eine Schlägerei...« »Nein«, sagte Viktor. »Ich hatte den Eindruck, als wäre alles sehr friedlich. Zuerst sangen sie, dann haben sie unter unserem Fenster ewig gepinkelt, Rocheper und die ganze Gesellschaft, dann bin ich eingeschlafen... Sie waren schon am Auseinandergehen.« Diana warf die Zigarette zum Fenster hinaus und stand auf. »Zieh dich an!« sagte sie. Viktor grinste und langte nach seiner Unterhose. Ich höre und gehorchte, dachte er. Eine gute Sache ist der Gehorsam. Man darf nur eines nicht: Fragen stellen. Er fragte: »Fahren wir oder gehen wir?« »Was? - Erst mal gehen wir, dann sehen wir weiter.« »Ist jemand verschwunden?« »Es scheint so.« »Rocheper?« Plötzlich fing er ihren Blick auf, und der Blick drückte Zweifel aus. Sie bereute offensichtlich ein wenig, daß sie ihn eingeladen hatte. Sie fragte sich: Ist er eigentlich der passende Mensch für so ein Unternehmen?« »Ich bin soweit«, sagte er. Sie zweifelte immer noch und spielte nachdenklich mit der Taschenlampe. »Na gut, gehen wir.« Sie rührte sich jedoch nicht von der Stelle. »Sollte ich mir nicht ein Stuhlbein mitnehmen?« erkundigte sich Viktor. »Oder vielleicht vom Bett...« Diana zuckte zusammen. »Nein, das wäre nicht das Richtige, so ein Stuhlbein.« Sie zog die Tischschublade heraus und entnahm ihr eine gewaltige, schwarze Pistole. »Nimm das!« sagte sie.
Viktor bereitete sich schon auf eine Erklärung vor, doch da sah er, daß es sich um eine kleinkalibrige Sportpistole handelte. Außerdem war das Magazin leer. »Gib mir Patronen!« sagte Viktor. Sie schaute ihn verständnislos an, dann blickte sie auf die Pistole und sagte: »Nein. Patronen brauchen wir nicht. Gehen wir!« Achselzuckend steckte Viktor die Pistole in die Tasche. Sie gingen hinunter ins Vestibül und traten auf die Freitreppe hinaus. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet. Es nieselte. An der Freitreppe standen keine Autos. Diana ging hinunter, dorthin, wo die nassen Sträucher eine Art Allee bildeten, und knipste die Taschenlampe an. Eine blödsinnige Lage, dachte Viktor; Da will man fragen, was eigentlich los ist, und darf nicht. Wenn ich nur wüßte, was ich fragen soll. So auf Umwegen. Nicht direkt fragen, sondern so auf Umwegen. Nicht direkt fragen, sondern eine Bemerkung fallenlassen, die eine Frage enthält. Vielleicht steht mir eine Schlägerei bevor. Keine Lust. Wenigstens heute nicht... Ich werde mit dem Pistolenknauf schlagen. Direkt zwischen die Augen... Und was macht meine Beule? Die Beule befand sich an Ort und Stelle und schmerzte ein wenig. Komische Pflichten haben die Schwestern hier im Sanatorium. Aber Diana war für mich schon immer eine Frau mit einem Geheimnis. Vom ersten Blick an und überhaupt... Ganz schön feucht ist es hier, ich hätte einen Schluck nehmen sollen. Sobald ich zurück bin, hole ich das nach... Bin ich nicht fabelhaft?, dachte er. Ich stelle keine Fragen. Ich höre und gehorche. Sie gingen um den Seitenflügel herum, arbeiteten sich durch den Flieder und gelangten an das Gitter. Diana leuchtete. Ein eiserner Gitterstab fehlte. »Viktor«, sagte sie halblaut. »Jetzt gehen wir den Pfad entlang. Du gehst hinter mir! Schau, wo du hintrittst! Keinen Schritt zur Seite! Verstanden?« »Verstanden«, sagte Viktor folgsam. »Ein Schuß nach links oder nach rechts schon schieße ich.« Diana schlüpfte als erste durch die Öffnung und leuchtete Viktor. Dann bewegten sie sich langsam hangaufwärts. Es war der Osthang des Hügels, auf dem das Sanatorium stand. Ringsum rauschten unsichtbare Bäume im Regen. Einmal glitt Diana aus, und Viktor konnte sie gerade noch an den Schultern fassen. Ungeduldig machte sie sich frei und schritt weiter. Alle Augenblicke wiederholte sie: »Schau, wo du hintrittst... Halte dich hinter mir…« Viktor blickte gehorsam auf den Boden, auf Dianas Beine, die hier und da im dahineilenden Lichtkegel auftauchten. Anfangs erwartete Viktor jeden Moment einen Schlag in den Nacken, mitten auf die Beule, oder irgend etwas von der Art, dann kam er zu dem Schluß, daß das unwahrscheinlich war. Es paßte logisch nicht zusammen. Bestimmt war irgendein Irrer getürmt. Vielleicht war bei Rocheper das Delirium tremens eingetreten, und man mußte ihn zurückholen und ihm die entladene Pistole unter die Nase halten...
Diana blieb unvermittelt stehen und sagte etwas, aber Viktor nahm ihre Worte nicht auf. Im nächsten Augenblick sah er nämlich am Rand des Pfades die Augen eines Menschen. Es waren glänzende, unbewegliche, riesige Augen, die unter der nassen, gewölbten Stirn durchdringend herausstarrten. Viktor sah nur Augen und Stirn, sonst nichts, weder Mund noch Nase, noch Körper. Ringsum lastete die feuchte Dunkelheit, im Lichtkreis unten glänzten ein Paar Augen und eine unnatürlich weiße Stirn. »Diese Banditen«, sagte Diana mit gepreßter Stimme. »Ich habe es geahnt. Diese Schweine!« Sie kniete nieder. Der Lichtkegel glitt am schwarzen Körper entlang, und Viktor erblickte plötzlich einen glänzenden, metallischen Bügel und eine Kette im Gras. Schon kommandierte Diana: »Schneller, Viktor!« Er ging neben ihr in die Hocke und begriff erst jetzt, daß das ein Tellereisen war und daß in dem Tellereisen ein menschlicher Fuß steckte. Mit beiden Händen faßte er die Bügel und versuchte, sie auseinanderzuziehen. Die Bügel gaben nur etwas nach und schlossen sich wieder. »Dummkopf!« schrie Diana. »Mit der Pistole!« Viktor knirschte mit den Zähnen, faßte bequemer, spannte die Muskeln an, daß es in den Schultern knackte, und die Bügel öffneten sich. »Zieh!« sagte er heiser. Der Fuß verschwand, die Eisenbügel schlossen sich erneut und klemmten Viktors Finger ein. »Verflucht!« »Halt die Taschenlampe!« sagte Diana. »Geht nicht«, sagte Viktor schuldbewußt. »Ich bin eingeklemmt. Nimm die Pistole aus meiner Tasche. . . « Fluchend griff sie in seine Tasche. Er zog das Tellereisen noch einmal auseinander, sie klemmte den Pistolenknauf zwischen die Bügel, und Viktor befreite sich. »Halt die Lampe!« sagte sie noch einmal. »Ich schau nach, was mit dem Fuß los ist.« »Der Knochen ist zersplittert«, sagte eine gepreßte Stimme aus der Dunkelheit. »Tragen Sie mich ins Sanatorium und lassen Sie einen Krankenwagen rufen!« »Richtig«, sagte Diana. »Gib mir jetzt die Lampe, Viktor, und nimm ihn auf!« Sie leuchtete. Der Mann saß da, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt. Die untere Gesichtshälfte war mit einer schwarzen Binde umwickelt. Ein Brillentyp, ging es Viktor durch den Sinn. Ein Naßmann. Wie kommt der hierher? »Nimm ihn schon!« befahl Diana ungeduldig. »Auf den Rücken!« »Gleich«, sagte er. Ihm fielen die gelben Ringe um die Augen ein. Seine Kehle war wie zugeschnürt. »Gleich. . . « Er ging neben, dem Naßmann in die Hocke und drehte ihm den Rücken zu. »Fassen Sie mich um den Hals!« sagte er. Der Naßmann war hager und leicht. Er bewegte sich nicht, er schien auch nicht
zu atmen, er stöhnte nicht einmal, wenn Viktor ins Rutschen kam, sein Körper wurde jedoch von Krämpfen geschüttelt. Der Pfad war ungleich steiler, als Viktor erwartet hatte. Als sie beim Gitterzaun anlangten, war er völlig außer Atem. Eine letzte Schwierigkeit tauchte noch auf, als sie den Mann durch die Zaunlücke zwängen wollten, aber auch das schafften sie zu guter Letzt. »Wohin mit ihm?« fragte Viktor, als sie die Auffahrt erreicht hatten. »Vorläufig ins Vestibül«, bestimmte Diana. »Nicht nötig«, sagte der Naßmann. Seine Stimme klang gepreßt wie zuvor. »Lassen Sie mich hier draußen!« »Hier regnet es«, wandte Viktor ein. »Reden Sie keinen Quatsch!« sagte der Naßmann. »Ich bleibe hier.« Viktor gab keine Antwort und begann, die Stufen zu erklimmen. »Laß ihn!« sagte Diana. Viktor blieb stehen. »Zum Teufel, hier regnet es doch«, sagte er. »Machen Sie keine Dummheiten«, sagte der Naßmann. »Lassen Sie mich... Hier...!« Wortlos nahm Viktor drei Stufen auf einmal, erreichte die Tür und betrat das Vestibül. »Idiot«, sagte der Naßmann leise. Sein Kopf fiel auf Viktors Schulter. »Du Schwätzer«, sagte Diana. Sie war ihm nachgerannt und hatte ihn am Ärmel gepackt. »Du tötest ihn, du Dummkopf! Trag ihn sofort raus und leg ihn in den Regen! Aber sofort, hörst du! Was stehst du noch da?« »Ihr seid wohl alle verrückt geworden?« sagte Viktor wütend und verunsichert. Er machte kehrt, stieß die Tür auf und schritt zur Freitreppe. Es war, als hätte der Regen nur darauf gewartet. Eben noch hatte es träge genieselt, jetzt plötzlich goß es wie aus Kübeln. Der Naßmann stöhnte leise auf, hob den Kopf und begann auf einmal, rasch und wie gehetzt zu atmen. »Legen Sie mich hin«, sagte er. »In die Pfütze?« fragte Viktor ärgerlich und spöttisch zugleich. »Das ist egal... Legen Sie mich hin!« Viktor bettete ihn vorsichtig auf die Steinplatten der Treppe. Augenblicklich breitete der Naßmann die Arme aus und streckte sich. Sein rechter Fuß lag seltsam verrenkt da; im Licht der starken Lampe glänzte die mächtige Stirn bläulich-weiß. Viktor setzte sieb neben den Naßmann auf die Stufen. Er wäre gern ins Vestibül gegangen, aber das war nicht möglich. Er konnte einen Verwundeten nicht einfach im strömenden Regen liegen lassen und selbst in die warme Stube gehen. Wie oft hat man mich heute schon einen Dummkopf genannt? dachte er und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Ein bißchen zu oft. Und es hat den Anschein, daß ein Körnchen Wahrheit dran ist. Ein Dummkopf ist nämlich auch
ein Schwätzer, auch ein Idiot und anderes mehr. Ein Dummkopf ist ein Nichtswisser, der in seiner Unwissenheit beharrt. Bei Gott, wer hätte das gedacht: dem tut der Regen gut! Die Augen hat er aufgemacht. So schrecklich sind die nicht mal... Ein Naßmann, dachte er. Doch wohl eher ein Naßmann als ein >Brillentyp<. Wie ist der denn in das Tellereisen geraten? Und wieso liegen hier Tellereisen herum? Das ist heute schon der zweite Naßmann, den ich treffe, und jeder von ihnen hat Unannehmlichkeiten. Sie haben Unannehmlichkeiten, und ich ihretwegen auch... Im Vestibül telefonierte Diana. Viktor horchte zu. »Der Fuß! - Ja... Der Knochen ist zersplittert... Gut... In Ordnung ... So bald wie möglich, wir warten.« Durch die Glastür sah Viktor, wie Diana den Hörer auflegte und die Treppe hinauflief. Eine ungute Situation ist das mit den Naßmännern in unserer Stadt, ich weiß nicht, warum. Es gibt Scherereien mit ihnen. AJ- len sind sie auf einmal lästig, sogar dem Direktor des Gymnasiums. Sogar Lola, fiel ihm plötzlich ein. Sie hat sich, glaube ich, auch sehr abfällig über sie geäußert... Er schaute zum Naßmann. Der Naßmann blickte ihn an. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Viktor. Der Naßmann schwieg. »Brauchen Sie etwas?« fragte Viktor etwas lauter. »Einen Schluck Gin?« »Brüllen Sie nicht so!« sagte der Naßmann. »Ich höre Sie.« »Tut es weh?« fragte Viktor mitfühlend. »Und was haben Sie gedacht?« Ein selten unangenehmer Typ, dachte Viktor. Aber was soll's? Wir treffen uns sowieso nie wieder. Natürlich tut es ihm weh... »Es wird schon gehen«, sagte Viktor, »Halten Sie noch ein paar Minuten aus. Sie werden gleich geholt.« Der Naßmann gab keine Antwort. Seine Stirn legte sich in Falten, die Augen schlossen sich. Wie er so im strömenden Regen dalag, flach hingestreckt und unbeweglich, ähnelte er. immer mehr einem Toten. Plötzlich kam Diana auf die Freitreppe gelaufen, ein Arztköfferchen in der Hand. Sie setzte sich neben den Naßmann und machte sich an seinem verstümmelten Fuß zu schaffen. Der Naßmann ächzte leise. Diana arbeitete schweigend, ohne die tröstlichen Worte, die man in solchen Fällen sagt. »Soll ich dir helfen?« fragte Viktor. Sie antwortete nicht. Er erhob sich. Ohne den Kopf zu wenden, sagte sie: »Warte, geh jetzt nicht weg!« »Ich gehe nicht weg«, sagte Viktor. Er schaute zu, wie sie geschickt eine Schiene anlegte. »Du wirst noch gebraucht«, sagte Diana. »Ich gehe nicht weg«, wiederholte Viktor.
»Eigentlich könntest du hinaufgehen. Mach das! Iß eine Kleinigkeit, solange Zeit ist, und komm dann gleich runter!« »Laß nur!« sagte Viktor. »Ich brauche nichts.« Dann heulte irgendwo hinter der Regenwand ein Motor auf und Scheinwerfer blitzten. Viktor erblickte einen Jeep, der vorsichtig in das Tor einbog. Das Fahrzeug rollte zur Freitreppe. Eine massige Gestalt entstieg ihm - Jul Golem in seinem steifen Regenmantel. Er stieg die Stufen herauf, beugte sich über den Naßmann und faßte nach seiner Hand. Der Naßmann sagte dumpf: »Keine Spritze.« »Gut«, sagte Golem und blickte zu Viktor. »Nehmen Sie ihn auf!« Viktor hob den Naßmann hoch und trug ihn zum Jeep. Golem überholte ihn, öffnete die Wagentür und stieg ein. »Legen Sie ihn hierher!« sagte er aus der Dunkelheit. »Nein, mit den Füßen zuerst... Nicht so zaghaft... Halten Sie ihn an den Schultern...« Schwer schnaufend machte er sich im Jeep zu schaffen. Der Naßmann begann erneut zu ächzen, Golem sagte etwas Unverständliches zu ihm, vielleicht war es auch ein Fluch. Dann kletterte er heraus, schlug die Tür zu und setzte sich ans Steuer. Dann fragte er Diana: »Haben Sie sie angerufen?« »Nein«, antwortete Diana. »Soll ich?« »Jetzt lohnt es sich nicht mehr«, sagte Golem. »Sonst machen die alles dicht. Auf Wiedersehen.« Der Jeep setzte sich in Bewegung, fuhr um das Blumenbeet herum und rollte die Allee entlang. »Gehen wir!« sagte Diana. »Schwimmen wir!« sagte Viktor. Jetzt, nachdem alles vorbei war, verspürte er nur noch Gereiztheit. Im VestibüJ hakte sich Diana bei ihm ein. »Mach dir nichts draus!« sagte sie. »Gleich ziehst du dir was Trockenes an, dann nimmst du noch einen Schluck, und alles ist in Ordnung.« »Das regnet ja wie unter einem nassen Hund«, sagte er wütend. »Und, vielleicht erklärst du mir dann auch, was eigentlich los war!« Diana seufzte müde auf. »Da ist gar nichts Besonderes passiert. Die Taschenlampe hätten wir nicht vergessen sollen.« »Und Tellereisen auf den Wegen. Ist das bei euch so der Normalzustand?« »Die legt der Bürgermeister aus, dieses Schwein...« Sie waren im ersten Stock angelangt und gingen den Korridor entlang. »Ist er verrückt?« erkundigte sich Viktor. »Das ist doch schon kriminell. Oder ist er tatsächlich verrückt?« »Nein. Er ist eben ein Schwein und haßt die Naßmänner. Wie die ganze Stadt.« »Das habe ich auch bemerkt. Wir mögen sie auch nicht besonders, aber
Tellereisen... Was haben die Naßmänner ihnen denn getan?« »Irgend jemanden muß man doch hassen«, sagte Diana. »An einem Ort haßt man die Juden, woanders die Neger, bei uns eben die Naßmänner.« Sie blieben vor einer Tür stehen. Diana drehte den Schlüssel um, betrat den Raum und schaltete das Licht an. »Warte mal!« sagte Viktor und blickte sich um. »Wo hast du mich hingeführt?« »Das ist das Laboratorium«, antwortete Diana. »Ich bin gleich soweit...« Viktor blieb in der Tür stehen und schaute zu, wie sie in dem geräumigen Zimmer umherging und die Fenster schloß. Draußen glänzten dunkle Pfützen. »Was hatte der hier nachts zu suchen?« fragte Viktor. »Wo?« fragte Diana, ohne sich umzuwenden. »Auf dem Pfad. Du hast doch gewußt, daß er dort war.« »Weißt du«, sagte sie, »im Leprosorium hapert es mit den Medikamenten. Manchmal kommen sie zu uns und bitten uns...« Sie hatte das letzte Fenster geschlossen und ging im Laboratorium an den Tischen entlang, wobei sie die dort aufgestellten Geräte und Gefäße in Augenschein nahm. »Widerlich ist das alles«, sagte Viktor. »Das ist vielleicht ein Staat. Wohin man auch kommt, überall ist irgendeine Schweiner e i . . . Gehen wir, ich bin ganz durchgefroren!« »Gleich«, sagte Diana. Sie nahm ein dunkles Kleidungsstück vom Stuhl und schüttelte es aus. Es war der Abendanzug eines Mannes. Sie hängte ihn sorgfältig in den Schrank für Sonderkleidung. Wie kommt der Anzug hierher? überlegte Viktor. Er kommt mir noch dazu bekannt vor. »Na also«, sagte Diana. »Tu, was du willst, ich jedenfalls gehe jetzt in die Badewanne.« »Hör zu, Diana!« sagte Viktor vorsichtig. »Wer war denn der eine da...? Der mit so einer Nase ... der Gelbgesichtige? Mit dem du getanzt hast...?« Diana hängte sich bei ihm ein. »Weißt du«, sagte sie nach kurzem Schweigen, »das war mein Mann. Mein früherer Mann. 4 »Ich habe Sie schon lange nicht mehr in der Stadt gesehen«, sagte Pavor. Seine Stimme klang nach Schnupfen. »So lange ist es auch nicht her«, widersprach Viktor. »Alles in allem zwei Tage.« »Darf ich mich zu Ihnen setzen, oder wollen Sie allein zu zweit bleiben?« fragte Pavor. »Setzen Sie sich zu uns«, sagte Diana höflich.
Pavor setzte sich ihr gegenüber und rief: »Herr Ober, einen doppelten Kognak!« Draußen wurde es dunkel, der Pförtner zog die Stores vor. Viktor knipste die Tischlampe an. »Sie begeistern mich«, wandte sich Pavor an Diana. »In so ei- nem Klima zu leben und sich diese Gesichtsfarbe zu erhalten...« Er nieste. »Entschuldigen Sie. Dieser Regenäst mein Untergang... Was macht die Arbeit?« fragte er Viktor. »Nichts Besonderes. Ich kann bei diesem trüben Wetter nicht arbeiten. Da will ich immerzu trinken.« »Was für einen Skandal haben Sie da beim Polizeichef angezettelt?« fragte Pavor. »Ach, Unsinn«, sagte Viktor. »Ich suchte die Gerechtigkeit.« »Und was war passiert?« »Dieses Schwein von Bürgermeister jagt die Naßmänner mit Tellereisen. Einen hat's erwischt. Sein Fuß ist lädiert. Ich nahm das Tellereisen, ging damit zur Polizei und verlangte eine Untersuchung.« »Aha«, sagte Pavor. »Und was dann?« »In dieser Stadt gibt es merkwürdige Gesetze. Nachdem vom Betroffenen keine Anzeige erfolgte, geht man davon aus, daß kein Verbrechen vorliegt, sondern ein Unglücksfall, an dem ausschließlich der Betroffene die Schuld trägt. Ich sagte dem Polizeichef, daß ich das zur Kenntnis nähme. Er sagte mir darauf, das sei eine Drohung. So sind wir verblieben.« »Und wo ist das alles passiert?« fragte Pavor. »Beim Sanatorium.« »Beim Sanatorium? Was hatte der Naßmann beim Sanatorium zu suchen?« »Meiner Ansicht nach geht das niemanden etwas an«, sagte Diana scharf. »Sicher«, sagte Pavor. »Ich habe mich nur gewundert...« Er runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen und nieste klangvoll. »Hol's der Teufel!« sagte er. »Ich bitte um Entschuldigung.« Er griff in die Tasche und zog ein großes Taschentuch hervor. Dabei fiel etwas klirrend zu Boden. Viktor beugte sich hinunter und erblickte einen Schlagring. Er hob ihn auf und reichte ihn Pavor. »Wozu schleppen Sie das mit sich herum?« fragte er. Pavor hatte sein Gesicht im Taschentuch vergraben und blickte mit geröteten Augen auf den Schlagring. »Alles ihretwegen«, sagte er mit gedämpfter Stimme und schneuzte sich. »Sie haben mir mit Ihrer Geschichte einen Schrecken eingejagt... Übrigens erzählt man sich, daß hier irgendeine hiesige Bande ihr Unwesen treibt. Banditen oder Rowdies, was weiß ich. Und Sie müssen verstehen, daß ich mich nicht gerne schlagen lasse.« »Hat man Sie oft geschlagen?« fragte Diana.
Viktor blickte sie an. Sie saß im Sessel mit übereinandergeschlagenen Beinen und rauchte. Ihr Blick war gesenkt. Armer Pavor, dachte Viktor. Jetzt geht es dir an den Kragen... Er streckte die Hand aus und zupfte sie am Rock über dem Knie. »Mich?« fragte Pavor. »Schau ich so aus wie einer, den man oft geschlagen hat? Das muß richtiggestellt werden. Herr Ober, noch einen doppelten Kognak! - Ja, und am Tag darauf bin ich in die Schlosserei gegangen. Im Handumdrehen haben die mir dieses Ding gemacht.« Zufrieden betrachtete er den Schlagring. »Ein gutes Stück. Hat sogar Golem gefallen.« »Ins Leprosorium hat man Sie also nicht reingelassen?« erkundigte sich Viktor. »Nein, hat man nicht. Und man muß das auch verstehen. Ich habe meine Meinung da geändert. An drei Ministerien habe ich Beschwerden abgeschickt. Jetzt sitze ich da und schreibe einen Bericht. Für welchen Betrag das Leprosorium im vergangenen Jahr Unterhosen bezog, Für Männer und Frauen getrennt. Unheimlich spannend.« »Schreiben Sie rein, daß sie nicht genügend Medikamente besitzen!« riet ihm Viktor. Pavor zog erstaunt die Augenbrauen « hoch. Diana sagte träge: »Am besten lassen Sie Ihre Schreiberei. Trinken Sie lieber ein Glas Glühwein und legen Sie sich hin!« »Ich verstehe«, sagte Pavor mit einem Seufzer. »Ich soll gehen. Wissen Sie, auf welchem Zimmer ich bin?« fragte er Viktor. »Schauen Sie doch mal vorbei!« »Zweihundertdreiundzwanzig«, sagte Viktor. »Bestimmt.« »Auf Wiedersehen«, sagte Pavor und erhob sich. »Ich wünsche einen angenehmen Abend.« Sie blickten ihm nach, wie er zur Theke ging, eine Flasche Rotwein nahm und zum Ausgang schritt. »Du redest ganz schön viel«, sagte Diana. »Ja«, stimmte Viktor zu. »Meine Schuld. Verstehst du, irgendwas gefällt mir an ihm.« »Mir nicht«, sagte Diana. »Dem Doktor R. Quadriga gefällt er auch nicht. Warum wohl?« »Eine widerliche Fresse hat er«, sagte Diana. »Eine blonde Bestie. Die kenne ich. Echte Männer. Ehrlos und gewissenlos. Herrscher über die Dummen.« »Da haben wirs«, wunderte sich Viktor. »Und ich dachte mir, dir müßten solche Männer gefallen.« »Männer gibt es keine mehr heutzutage«, widersprach Diana. »Entweder sind es Faschisten oder Feiglinge.« »Und ich?« erkundigte sich Viktor interessiert. »Du? Du bist viel zuviel in deine marinierten Neunaugen vernarrt. Und gleichzeitig in deine Gerechtigkeit.« »Stimmt. Aber meiner Meinung nach ist das gut.«
»Schlecht ist es nicht. Aber wenn du wählen müßtest, würdest du dich für die Neunaugen entscheiden, und das ist schlecht. Du hast Glück, daß du so talentiert bist.« »Was bist du heute so böse?« fragte Viktor. »Das bin ich von Natur aus. Du bist talentiert und ich böse. Wenn man dir das Talent und mir die Bosheit wegnimmt, dann bleiben sich paarende Nullen übrig.« »Eine Null gleicht nicht der anderen«, bemerkte Viktor. »Du würdest nicht mal eine schlechte Null abgeben. Du wärest so eine ebenmäßige, wohlgestaltete Null. Wenn man dir außerdem deine Bosheit wegnimmt, dann wirst du gut, und das ist auch nicht das schlechteste...« »Wenn man mir die Bosheit wegnimmt, werde ich eine Qualle. Um gut zu werden, müßte man die Bosheit gegen die Güte eintauschen.« »Lustig ist das«, sagte Viktor. »Für gewöhnlich haben Frauen an logischen Gedankengängen keine Freude. Aber wenn sie mal anfangen, dann werden sie erstaunlich kategorisch. Wie kommst du eigentlich drauf, daß in dir nur Bosheit steckt und keinerlei Güte? Das gibt es gar nicht. In dir steckt auch Güte, nur kann man sie vor lauter Bosheit nicht sehen. In jedem Menschen ist ein bißchen was von allem, und das Leben drückt dann irgendeinen Bestandteil dieser Mischung an die Oberfläche…« In diesem Augenblick drängte eine Gruppe junger Leute in den Saal. Es wurde laut. Die neuen Gäste benahmen sich überaus ungezwungen, beschimpften den Ober, schickten ihn nach Bier und setzten sich an einen Tisch in der entfernten Ecke. Von dort erscholl lautes Reden und Gelächter. Ein kraftstrotzender, hochgewachsener Bursche mit wulstigen Lippen und geröteten Wangen ging tänzelnd und mit den Fingern schnalzend zur Theke. Teddy schenkte ihm etwas ein; er nahm das Glas mit zwei Fingern, wobei er den kleinen Finger weggespreizt hielt, drehte sich mit dem Rücken zur Theke, stützte sich mit den Ellbogen auf, kreuzte die Beine und blickte triumphierend in den leeren Saal. »Ein Gruß an Diana!« brüllte er. »Wie geht's?« Diana lächelte ihm gleichmütig zu. »Wer ist dieser Wunderknabe?« fragte Viktor. »Ein gewisser Flamin Juventa«, antwortete Diana. »Der Neffe des Polizeichefs.« »Irgendwo habe ich ihn schon gesehen«, sagte Viktor. »Ach, hol ihn der Teufel!« sagte Diana ungeduldig. »Alle Leute sind Quallen, und andere Bestandteile sind da nicht drin. Ganz selten triffst du auf Leute, die echt sind, die was Eigenes in sich haben, Güte, Talent, Bosheit... Und wenn du ihnen das wegnimmst, bleibt nichts übrig. Sie werden genauso zu Quallen wie die anderen auch. Du hast dir offensichtlich eingebildet, du könntest mir mit deiner Leidenschaft für Neunaugen und Gerechtigkeit imponieren. Quatsch! Du hast Talent, Bücher, du bist berühmt, aber im übrigen bist du genauso ein
träges Faultier wie alle anderen.« »Was du da daherredest«, erklärte Viktor, »ist dermaßen falsch, daß ich nicht mal beleidigt bin. Aber sprich weiter; es ist so interessant, wie sich dein Gesicht beim Sprechen ändert.« Er zündete eine Zigarette an und reichte sie ihr. »Sprich weiter!« »Quallen«, sagte sie mit Bitterkeit, »schleimige, dumme Quallen. Es wimmelt von Quallen. Sie kriechen herum, schießen, wissen selbst nicht, was sie wollen, können nichts, haben nichts wirklich gern... Wie die Würmer im Klo.« »Das ist unanständig, zweifellos ein sehr sprechendes Bild, aber ganz und gar unappetitlich. Überhaupt sind das alles Banalitäten. Liebste Diana, du bist kein Denker. Im vergangenen Jahrhundert und in der Provinz hätte das noch irgendwie Anklang gefunden... Die Gesellschaft hätte es als süßen Schock empfunden, und bleiche Jünglinge mit glühenden Augen hätten sich an deine Fersen geheftet. Heute sind diese Dinge sonnenklar. Heute weiß man überall, was der Mensch ist. Die Frage lautet, was mit dem Menschen zu tun sei. Allerdings, wenn wir ehrlich sind, hängt uns diese Frage auch schon zum Halse heraus.« »Aber was macht man mit den Quallen?« »Wer? Die Quallen?« »Wir.« »Soviel ich weiß, nichts. Konserven vielleicht.« »Na gut«, sagte Diana. »Hast du während dieser Zeit was gearbeitet?« »Natürlich. Ich habe an meinen Freund Roz-Tusov einen rührenden Brief geschrieben. Wenn er Irma nach diesem Brief nicht in einem Pensionat unterbringt, dann tauge ich zu nichts mehr.« »Ist das alles?« »Ja«, sagte Viktor. »Alles übrige habe ich weggeworfen.« »Du lieber Himmel!« sagte Diana. »Und ich habe mich um dich gekümmert, habe versucht, dich nicht zu stören, habe Rocheper mir vom Hals gehalten. . . « »Und in der Wanne hast du mich gebadet«, erinnerte sie Viktor. »Ja, das habe ich gemacht und dir dabei Kaffee serviert...« »Moment mal«, sagte Viktor, »ich habe dich doch auch in der Wanne gebadet...« »Trotzdem.« »Was heißt hier - trotzdem? Glaubst du, es wäre leicht zu arbeiten, wenn ich dich in der Wanne gebadet habe? Ich habe diesen Vorgang in sechs Varianten beschrieben und sämtliche taugen nichts.« »Laß mich lesen!« »Nur was für Männer«, sagte Viktor. »Außerdem habe ich sie weggeworfen. Habe ich dir nichts davon erzählt? Überhaupt war zu wenig Patriotismus und Nationalbewußtsein drin; das hätte ich sowieso, niemandem zeigen können.«
»Sag mal, wie gehst du bei deiner Schreiberei eigentlich vor? Schreibst du zuerst die Geschichte und fügst dann das National- bewußtsein ein?« »Nein«, sagte Viktor. »Zuerst lasse ich mich vom Nationalbewußtsein bis in die Tiefen meiner Seele durchdringen. Zu diesem Zweck lese ich die Reden des Herrn Präsidenten, lerne Heldensagen auswendig und besuche patriotische Versammlungen. Wenn ich dann anfange zu kotzen, nicht wenn es mir erst schlecht wird, sondern beim Kotzen, dann mache ich mich an die Arbeit... Laß uns von was anderem sprechen. Was machen wir zum Beispiel morgen?« »Morgen triffst du dich mit den Gymnasiasten.« »Das ist schnell vorbei. Und dann?« Diana gab keine Antwort. Sie blickte an ihm vorbei. Viktor wandte den Kopf und sah, daß ein Naßmann auf sie zukam, versehen mit allen Attributen seiner Schönheit: schwarz, naß, eine Binde über dem Gesicht. »Guten Abend«, sagte er zu Diana. »Ist Golem noch nicht zurück?« Mit Betroffenheit bemerkte Viktor, daß mit Dianas Gesicht eine Veränderung vor sich gegangen war. Es sah aus wie auf einem alten Bild. Oder eher auf einer Ikone. Jene merkwürdige Starre der Gesichtszüge, bei der man sich fragt, ob sie in der Absicht des Meisters lag oder der Unfähigkeit des Handwerkers zu verdanken war. Diana antwortete nicht. Sie schwieg, und auch der Naßmann blickte sie schweigend am In ihrem Schweigen spürte Viktor keine Verlegenheit. Die beiden gehörten irgendwie zusammen; Viktor und alle anderen gehörten nicht dazu. Das gefiel Viktor überhaupt nicht. »Golem wird wohl gleich kommen«, sagte er laut. »Ja«, sagte Diana, »setzen Sie sich doch und warten Sie auf ihn.« Ihre Stimme klang wie gewöhnlich, und sie lächelte ihr gewohntes, gleichmütiges Lächeln. Alles war wie sonst auch: Viktor war mit Diana, der Naßmann und alle anderen gehörten nicht dazu. »Bitte schön«, sagte Viktor fröhlich und zeigte auf den Stuhl Doktor Quadrigas. Der Naßmann setzte sich und legte seine Hände auf die Knie. Er trug schwarze Handschuhe. Viktor goß ihm Kognak ein. Mit lässiger Geste ergriff der Naßmann das Glas, schwenkte es, als wolle er es wiegen, und stellte es auf den Tisch zurück. »Ich hoffe, Sie haben es nicht vergessen«, sagte er zu Diana. »Nein«, sagte Diana. »Habe ich nicht. Ich bringe es gleich. Viktor, gib mir den Zimmerschlüssel! Ich bin gleich wieder da.« Sie nahm den Schlüssel und ging mit raschen Schritten zum Ausgang. Viktor zündete sich eine Zigarette an. Was ist los mit dir, Freundchen? sagte er zu sich. Du hast ganz schöne Hirngespinste in letzter Zeit. So zartfühlend bist du geworden, so empfindsam... So eifersüchtig. Ist doch Quatsch. Du hast doch gar nichts mit diesen früheren Männern und diesen seltsamen Bekanntschaften zu tun. Diana ist Diana, und du bist du. Rocheper ist impotent. Impotent. Das
müßte dir doch genügen... Er war sich darüber im klaren, daß alles nicht so einfach war, daß er schon etwas von dem Gift geschluckt hatte, aber er sagte sich: das genügt, für heute, für jetzt. Vorläufig war es ihm gelungen, sich selbst zu überzeugen, daß es genug war. Der Naßmann saß ihm gegenüber, unbeweglich und schrecklich wie irgendein ausgestopftes Tier. Ein feuchter Geruch ging von ihm aus, und da war noch ein Geruch nach Medizin. Wer hätte gedacht, daß ich einmal im Restaurant einem Naßmann gegenübersitzen würde? - Der Fortschritt, ihr lieben Leute, hat eine kleine Strecke zurückgelegt. Oder aber wir sind zu Allesfressern geworden: haben wir endlich begriffen, daß alle Menschen Brüder sind? O Menschheit, du mein Freund, ich bin stolz auf dich... Und Sie, mein Herr, würden Sie Ihre Tochter einem Naßmann zur Frau geben? »Mein Name ist Banev«, stellte sich Viktor vor. »Wie geht es dem... Opfer? Dem, der ins Tellereisen geraten ist?« Der Naßmann wandte ihm rasch das Gesicht zu. Der schaut wie aus einer Brustwehr heraus, ging es Viktor durch den Sinn. »Zufriedenstellend«, antwortete der Naßmann trocken. »An seiner Stelle würde ich bei der Polizei Anzeige erstatten.« »Das hat keinen Sinn«, sagte der Naßmann. »Wieso nicht?« fragte Viktor. »Es muß ja nicht bei der örtlichen Polizei geschehen. Man kann sich auch an die Kreispolizei wenden. . .« »Für uns ist das nicht notwendig.« Viktor zuckte die Achseln. »Jedes nicht geahndete Verbrechen bringt ein neues Verbrechen hervor.« »Ja. Aber uns interessiert das alles nicht.« Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte der Naßmann: »Ich heiße Sursmansor.« »Ein berühmter Familienname«, sagte Viktor höflich. »Sind Sie ein Verwandter des Soziologen Paul Sursmansor?« Der Naßmann kniff die Augen zusammen. »Nicht einmal ein Namensvetter«, sägte er. »Ich habe gehört, Banev, daß Sie morgen im Gymnasium auftreten werden. . . « Viktor kam nicht dazu zu antworten. Hinter seinem Rücken wurde ein Stuhl beiseite geschoben, und eine jugendliche Baritonstimme erscholl: »So, und jetzt mach, daß du fortkommst, du stinkendes Stück Aas!« Viktor drehte sich um. Hinter ihnen stand der dicklippige Flamin Juventa oder wie immer man ihn auch nennen mochte, mit einem Wort - der >Neffe<. Viktor hatte ihn noch keine Sekunde angeblickt, als sich seiner eine ungeheure Erregung bemächtigte. »Mit wem sprechen Sie, junger Mann?« erkundigte er sich.
»Mit Ihrem Freund«, teilte Flamin Juventa liebenswürdig mit, um gleich darauf zu schnarren: »Mit dir rede ich, du nasser Balg!« »Einen Moment!« sagte Viktor und erhob sich. Grinsend musterte ihn Flamin Juventa von oben bis unten. Er war wie ein junger Goliath in einer Sportjoppe, an der zahlreiche Embleme prangten. Unser biederer, vaterländischer Sturmführer, eine zuverlässige Stütze der Nation mit seinem Gummiknüppel in der Gesäßtasche, der Schrecken der Linken, der Rechten und der Gemäßigten. Viktor faßte mit der Hand an Flamins Krawatte und fragte mit gespielter Besorgtheit und Neugier: »Was haben Sie da?« Und als der jugendliche Goliath mechanisch seinen Kopf vorbeugte, um der Frage nachzugehen, klemmte ihm Viktor mit Daumen und Zeigefinger kräftig die Nase ein. »He!« schrie der Bursche erschreckt auf. Er versuchte, sich loszureißen, aber Viktor ließ nicht locker. Ausdauernd und mit eisigem Genuß drehte und zog er an dieser anmaßenden, kräftigen Nase und sprach auf ihn ein: »Führ dich anständig auf, du Grünschnabel, du kleiner Neffe, du lausiger Sturmführer, du Schweinehund, du Rüpel!« Viktors Position war außerordentlich günstig. Der jugendliche Goliath schlug verzweifelt um sich, aber zwischen ihnen stand der Stuhl. Der jugendliche Goliath schlug mit den Fäusten durch die Luft, Viktor hatte jedoch längere Arme. Er fuhr fort, an der Nase zu zerren und zu drehen, als wolle er sie herausschrauben. Erst als eine Flasche an seinem Kopf vorbeiflog, blickte er sich um. Er sah, wie sich die ganze Bande lärmend auf ihn zubewegte, Tische wurden auseinandergerückt und Stühle umgestoßen. Es waren fünf, darunter zwei stämmige Burschen. Einen Augenblick lang erstarrte die Szene und glich einer fotografischen Aufnahme: der schwarze Sursmansor, der sich gelassen im Stuhl zurückgelehnt hatte; Teddy, der im Begriff war, über die Theke zu springen; Diana mitten im Saal, ein weißes Bündel unter dem Arm; im Hintergrund in der Tür das wilde Schnurrbartgesicht des Pförtners; dicht bei Viktor schließlich wutverzerrte Gesichter mit aufgerissenen Rachen. Dann hörte die Fotografie auf und der Film begann. Den ersten Bullen erledigte Viktor mit einem gekonnten Schlag gegen den Schädel. Er verschwand und tauchte für längere Zeit nicht mehr auf. Aber der zweite Bulle traf Viktor am Ohr. Jemand schlug ihm mit der Handkante gegen die Wange; offensichtlich hatte er die Kehle verfehlt. Und ein anderer - war es der Goliath, der sich inzwischen befreit hatte? - sprang ihn von hinten an. Es waren brutale Schlägertypen, Stützen der Nation. Boxen konnte nur einer von ihnen, die übrigen waren nicht so sehr auf eine Rauferei aus. Sie wollten vielmehr ihr Mütchen kühlen, ein Auge eindrücken, einen Mund auseinanderreißen, unter die Gürtellinie treffen. Wäre Viktor allein gewesen,
hätten sie ihn zum Krüppel geschlagen. Doch da war schon Teddy, der sich von hinten auf sie stürzte. Er hielt sich eisern an die goldene Regel aller Rausschmeißer, jede Schlägerei im Keime zu ersticken. Von der Flanke her erschien Diana, Diana die Rasende, haßerfüllt und nicht wiederzuerkennen. Statt des weißen Bündels hielt sie eine schwere Korbflasche. Gleichzeitig kam noch der Pförtner, ein älterer Mann zwar, aber seiner Kampfesweise nach zu urteilen ein ehemaliger Soldat. Er bediente sich seines Schlüsselbundes, als wäre es ein Riemen mit einem Bajonett in der Scheide. Als schließlich aus der Küche noch zwei Ober gelaufen kamen, blieb für sie nichts mehr zu tun. Der Neffe war getürmt, unter Zurücklassung seines Transistorgeräts auf dem Tisch. Einer der Schlägertypen lag unter dem Tisch; ihn hatte Diana mit der Flasche gefällt. Die übrigen vier trieben Viktor und Teddy mit den Fäusten vor sich her, wobei sie sich gegenseitig anfeuerten. Sie jagten sie durchs Vestibül und beförderten sie mit Fußtritten in die Drehtür. Ihr eigener Schwung trug sie ebenfalls hinaus. Erst draußen im Regen begriffen sie ihren totalen Sieg und beruhigten sich etwas. »Diese widerlichen Milchbärte«, sagte Teddy. Er zündete zwei Zigaretten an, eine für sich und eine für Viktor. »Die haben sich angewöhnt, jeden Donnerstag hier Krawall zu machen. Das letz- temal habe ich nicht aufgepaßt, schon waren zwei Stühle kaputt. Und wer bezahlt das? Ich!« Viktor betastete sein anschwellendes Ohr. »Der Neffe ist uns durch die Lappen gegangen«, sagte er bedauernd. Ich habe ihn gar nicht so recht zwischen die Finger gekriegt.« »Ist auch gut so«, sagte Teddy lebhaft. »Es ist besser, von dem Dicklippigen die Finger zu lassen. Du weißt, wer sein Onkel ist, und er selbst... die Stütze des Vaterlandes und der bestehenden Ordnung, wie sie sich auch immer nennen mögen... Aber das Raufen hast du raus, Herr Schriftsteller. Ich kann mich noch erinnern, was für ein schwächliches Jüngelchen du warst. Kaum hast du was abbekommen, da lagst du schon unterm Tisch. Respekt!« »Ich habe halt so einen Beruf«, seufzte Viktor. »Ein Produkt des Existenzkampfes. Bei uns ist es doch so - alle gegen einen. Und der Herr Präsident für alle.« »Und das geht bis zur Rauferei?« wunderte sich Teddy. »Und was hast du gedacht? Da schreiben sie einen Artikel über dich voll des Lobes, daß du angeblich von Nationalbewußtsein durchdrungen bist. Du machst dich auf die Suche nach dem Kritiker und findest eine Gesellschaft bei ihm vor, lauter junge, begeisterte Kraftmeier, die Kinder des Herrn Präsidenten. . . « »So was«, sagte Teddy mitfühlend. »Und was weiter?« »Je nachdem. Manchmal so, manchmal so.« In diesem Moment fuhr ein Jeep an die Auffahrt heran. Die Wagentür ging auf
und zwei Männer entstiegen im strömenden Regen dem Fahrzeug. Es waren der junge Mann mit Brille und Aktentasche und sein hagerer Begleiter. Sie hielten einen einzigen Regenmantel über sich gebreitet. Hinter dem Steuer kletterte Golem hervor. Der Hagere beobachtete mit großer, etwas professionell wirkender Aufmerksamkeit, wie der Pförtner den letzten Schlägertyp, der noch nicht so richtig zu sich gekommen war, durch die Drehtür trieb. »Schade, daß der nicht dabei war«, flüsterte Teddy und deutete mit den Augen auf den Hageren. »Der ist ein Meister. Nicht so wie du. Ein Profi, verstehst du?« - »Ich verstehe«, flüsterte Viktor zurück. Der junge Mann mit der Aktentasche und der Hagere trabten vorbei und verschwanden im Eingang. Golem wollte ihnen gemächlich folgen und lächelte Viktor schon von weitem zu. Doch da war Herr Sursmansor mit einem weißen Bündel unter dem Arm. Er stellte sich Golem in den Weg und sagte etwas halblaut zu ihm, woraufhin dieser aufhörte zu lächeln und zum Wagen zurückging. Sursmansor kletterte auf den Rücksitz, und der Jeep fuhr los. »He«, sagte Teddy. »Wir haben den falschen geschlagen, Herr Banev. Da holen sich die Leute seinetwegen blutige Köpfe, und der setzt sich in ein fremdes Auto und fährt weg.« »Da hast du nicht recht«, sagte Viktor. »Das ist ein kranker, unglücklicher Mensch. Heute er, morgen du. Wir gehen jetzt rein und heben einen, und er wird ins Leprosorium gebracht.« »Das wissen wir, wohin er gebracht wird«, sagte Teddy unversöhnlich. »Du hast keine Ahnung von unserem Leben hier, Herr Schriftsteller.« »Hat der Schriftsteller die Verbindung zur Nation verloren?« »Zur Nation oder nicht, fest steht, daß du unser Leben nicht kennst. Leb mal bei uns! Schon das xte Jahr Regen, auf den Feldern alles verfault, die Kinder trotzen... Aber das ist noch nicht das schlimmste. Keine einzige Katze ist in der Stadt geblieben! Wir können uns vor Mäusen nicht retten... O-och!« sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gehen wir schon!« Sie kehrten ins Vestibül zurück. Teddy fragte den Pförtner, der seinen Posten wieder eingenommen hatte: »Na, haben sie viel kaputtgemacht?« »Nein«, antwortete der Pförtner. »Man könnte sagen, daß wir noch einmal davongekommen sind. Eine Tischlampe ist beschädigt, die Wand haben sie beschmutzt, aber dem einen... Dem letzten habe ich das Geld abgenommen. Da hast du's!« Im Gehen das Geld zählend, ging Teddy ins Restaurant. Viktor folgte ihm. Im Saal war wieder Ruhe eingekehrt. Der junge Mann mit Brille und der Hagere langweilten sich bereits. Melancholisch kauten sie das abendliche Stammgericht. Auf dem Tisch stand eine Flasche Mineralwasser. Diana saß an ihrem vorherigen Platz, beschwingt und sehr gut aussehend. Sie lächelte sogar Doktor R. Quadriga in seinem Sessel zu, einem Mann also, den sie sonst nicht
ausstehen konnte. Vor Dr. Quadriga stand eine Rumflasche. Er selbst war jedoch noch nüchtern, was ihm ein ungewohntes Aussehen verlieh. »Viktoria«, begrüßte er Viktor mürrisch. »Ich bedaure, daß ich nicht zumindest als Fähnrich dabei war.« Viktor ließ sich in den Stuhl fallen. »Ein schönes Ohr«, sagte Dr. Quadriga. »Wo hast du das abbekommen? Wie einen Hahnenkamm.« »Kognak!« sagte Viktor mit Nachdruck. Diana goß ihm ein. »Ihr und nur ihr verdanke ich meinen Sieg«, sagte er und deutete auf Diana. »Hast du für die Flasche bezahlt?« »Die Flasche ist heil geblieben«, sagte Diana. »Für wen hältst du mich? Und wie der gefallen ist! Gottvoll, wie der purzelte! Die anderen hätten wir auch so...« »Zur Sache!« sagte Dr. Quadriga finster und goß sich ein volles Glas Rum ein. »Wie eine Puppe hat es den umgehauen«, sagte Diana. »Wie einen Kegel... Viktor, ist alles ganz an dir? Ich habe gesehen, wie sie dich mit den Füßen getreten haben.« »Die Hauptsache ist ganz«, antwortete Viktor. »Ich habe mich da speziell verteidigt.« Doktor Quadriga sog vernehmlich schlürfend die letzten Tropfen Rum aus dem Glas. Es klang so, als würde der Abfluß eines Spülbeckens das vom Geschirrspülen schmutzige Wasser aufsaugen. Die Augen Doktor Quadrigas verschwammen augenblicklich. »Wir kennen uns«, beeilte sich Viktor zu sagen. »Du bist Doktor Rem Quadriga, ich bin der Schriftsteller Banev...« »Hör auf!« sagte Dr. Quadriga. »Ich bin völlig nüchtern. Aber ich ergebe mich dem Trunk. Das ist das einzige, wovon ich im Moment überzeugt bin. Du kannst dir das nicht vorstellen, aber ich bin vor einem halben Jahr als absoluter Abstinenzler gekommen. Ich habe eine kranke Leber, Darmkatarrh und noch was mit dem Magen. Trinken ist mir streng verboten, und jetzt besaufe ich mich rund um die Uhr... Absolut niemand braucht mich. Das ist mir im Leben noch nie passiert. Nicht mal Briefe bekomme ich; die alten Freunde sitzen nämlich und haben Schreibverbot, die neuen sind Analphabeten...« »Keine Staatsgeheimnisse«, sagte Viktor. »Ich bin politisch unzuverlässig.« Dr. Quadriga goß das Glas wieder voll und begann, den Rum schlückchenweise zu trinken wie zu heißen Tee. »So ist die Wirkung größer«, verkündete er. »Versuch's mal, Banev! Vielleicht wirst du's mal brauchen... Und starren Sie mich nicht so an!« wandte er sich plötzlich aufgebracht Diana zu. »Ich möchte doch bitten, daß Sie Ihre Gefühlsäußerungen beherrschen. Und wenn Ihnen das nicht paßt...« »Leise, leise!« sagte Viktor. Dr. Quadriga wirkte auf einmal niedergeschlagen. »Verdammt noch mal, die verstehen mich einfach nicht«, sagte er kläglich.
»Keiner. Nur du verstehst mich ein bißchen. Du hast mich immer verstanden. Nur bist du grob, Banev, und hast mich immer verletzt. Ich bin ganz verwundet... Jetzt haben sie Angst, mich zu beschimpfen, jetzt loben sie mich nur. Da lobt mich irgend so ein Schwein - schon habe ich eine Wunde. Dann kommt ein anderes Schwein und lobt mich - schon wieder eine Wunde. Aber jetzt liegt das alles hinter mir. Sie wissen es noch nicht... Hör zu, Banev! Eine bemerkenswerte Frau, hast du ... Ich bitte dich ... Bitte sie doch, sie möge in mein Studio kommen... Nein, du Dummkopf! Als Modell doch! Du hast keine Ahnung, so ein Modell suche ich schon zehn Jahre lang...« »Ein allegorisches Bild«, klärte Viktor Diana auf. »Der Präsident und die Ewig Junge Nation...<< »Dummkopf«, sagte Doktor R. Quadriga bekümmert. »Ihr denkt alle, ich würde mich verkaufen... Na ja, es stimmt schon, aber das war einmal! Aber ich male jetzt keine Präsidenten mehr... Das wird ein Selbstporträt! Verstehst du?« »Nein«, gestand Viktor. »Das verstehe ich nicht. Du willst dein Selbstporträt nach Diana malen?« »Dummkopf«, sagte Dr. Quadriga. »Das wird das Gesicht eines* Künstlers sein...« »Mein Hintern«, erklärte Diana Viktor. »Das Gesicht eines Künstlers!« wiederholte Dr. Quadriga. »Du bist doch auch ein Künstler... Und alle, die sitzen und Schreibverbot haben... Und alle, die liegen und Schreibverbot haben... Und alle, die in meinem Haus wohnen, das heißt, die dort nicht wohnen... Du weißt, Banev, daß ich Angst habe. Ich habe dich doch auch gebeten: Komm und wohne ein bißchen bei mir! Ich habe eine Villa. Einen Springbrunnen... Der Gärtner ist mir davon. Der Feigling... Allein kann ich dort nicht wohnen, da ist es im Hotel besser... Du denkst wohl, ich trinke, weil ich mich verkauft habe?! Quatsch, ich bin kein billiger Romanheld... Du brauchst nur ein bißchen bei mir zu wohnen, und schon wird dir alles klar... Vielleicht wirst du sie sogar erkennen. Vielleicht sind es gar nicht meine Bekannten, sondern die deinen. Dann würde ich auch wissen, warum sie mich nicht erkennen... Sie gehen barfuß... Sie lachen. . . « Seine Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Meine Herren!« sagte er. »Welch ein Glück, daß dieser Pavor nicht unter uns ist! Auf Ihre Gesundheit!« »Prost«, sagte Viktor und wechselte einen kurzen Blick mit Diana. Diana blickte Dr. Quadriga verächtlich und besorgt zugleich an. »Niemand hier kann Pavor leiden«, sagte Viktor. »Nur ich bin da so komisch.« »Ein stilles Wasser«, sagte Doktor R. Quadriga. »Und ein hüpfender Frosch. Ein Schwätzer, der immer schweigt.« »Der ist einfach schon hinüber«, sagte Viktor zu Diana. »Da ist nichts Schlimmes dabei...« »Meine Herren!« sagte Doktor R. Quadriga. »Gnädige Frau! Ich halte es für
meine Pflicht, mich vorzustellen. Rem Quadriga, Doktor honoris causa.« 5 Viktor kam am Gymnasium eine halbe Stunde früher als vereinbart an, aber Bol-Kunaz erwartete ihn bereits. Im übrigen war er ein Junge mit Taktgefühl. Er teilte Viktor lediglich mit, daß das Treffen in der Aula der Schule stattfinden würde; dann entfernte er sich unter Hinweis auf dringende Angelegenheiten. Viktor fand sich allein. Er schlenderte die Gänge entlang, warf einen Blick in die leeren Klassenräume, sog den Geruch von Tinte und Kreide ein, den Geruch von Staub, der sich nie absetzen würde, den Geruch von Raufereien bis aufs Blut, den Geruch von aufreibenden Verhören an der Tafel, den Geruch von Gefängnis, von Angst, von Rechtlosigkeit und Lüge, die zum Prinzip erhoben war. Er hoffte immer noch, sein Gedächtnis würde süße Erinnerungen an Kindheit und Jugendzeit, an Ritterlichkeit, Kameradschaft und erste reine Liebe preisgeben, aber nichts von alledem geschah. Er war bereit, bei der erstbesten Gelegenheit in Rührung auszubrechen, doch er bemühte sich vergeblich. Alles war hier gleich geblieben - die hellen, muffigen Klassenzimmer, die zerkratzten Tafeln, die Bänke mit den eingeritzten, farbig ausgemalten Initialen und den apokryphen Aufschriften über die Frau und die rechte Hand, die Kasemattenwände, die bis in halbe Höhe in fröhlichem Grün gehalten waren, und der abgebröckelte Stuck in den Ecken. All das war gleich geblieben, verhaßt, widerlich, und es löste Wut und Hoffnungslosigkeit aus. Er fand sein früheres Klassenzimmer, wenn auch nicht gleich; er fand seinen Fensterplatz, aber die Bank war nicht mehr dieselbe. Lediglich am Fensterbrett prangte immer noch das tief eingeritzte Emblem der "Legion der Freiheit" und Viktor erinnerte sich lebhaft an den Begeisterungsrausch jener Zeit, an die rotweißen Bänder, die blechernen Sparbüchsen für den >Legionärsfond<, die wilden, blutigen Schlägereien mit den Roten, die Porträts in allen Zeitungen, in allen Lehrbüchern, an allen Wänden - jenes Gesicht, das damals bedeutsam und schön erschien und das jetzt schlaff und stumpf wirkte, das an den Rüssel eines Wildschweins und dessen gewaltigen, hauerbewehrten, geifernden Rachen erinnerte. So jung, so grau, so gleichartig waren sie gewesen ... Und so dumm. Und über diese Dummheit konnte man sich nicht freuen, da war keine Freude, daß man inzwischen klüger geworden war, da war nur brennende Scham über jenes graue, beflissene Jüngelchen, das sich so leuchtend, unersetzlich und auserlesen vorgekommen w a r . . . Da war die Scham über jene kindlichen Begierden, den Schauder vor einem Mädchen, dessen man sich bereits so gebrüstet hatte, daß ein Rückzieher einfach nicht mehr möglich war; er entsann sich des folgenden Tages, des ohrenbetäubenden Zornesausbruchs des Vaters und seiner glühenden Ohren. Und all das nannte sich die Zeit des Glücks: Grau in grau, Begierden, Begeisterung...
Die Sache steht nicht gut, dachte er. In fünfzehn Jahren wird sich auf einmal herausstellen, daß auch mein heutiges Ich ebenso grau und unfrei wie in meiner Jugend war, noch schlimmer sogar, weil ich mich jetzt für erwachsen halte, für einen Menschen, der ziemlich viel weiß und erfahren genug ist, um Selbstzufriedenheit und Urteilsvermögen für sich in Anspruch zu nehmen. Bescheidenheit, und sonst nichts, bis zur Selbsterniedrigung... und nur die Wahrheit, niemals lügen, wenigstens sich selbst gegenüber. Aber das war schrecklich. Wie konnte man sich selbst demütigen, wenn es ringsum so viele Idioten, Wüstlinge, habsüchtige Lügner gab, wenn sogar die Besten Flecken auf ihrer Weste hatten, wie Aussätzige... Wollte er nochmals jung werden? Nein. Wollte er noch fünfzehn Jahre leben? Ja. Es war nämlich schön zu leben. Selbst wenn man Schläge abbekam. Solange man nur die Möglichkeit hatte zurückzuschlagen... Genug davon. Man konnte es bei der Feststellung belassen, daß das jetzige Leben eine Existenzform war, die es erlaubte zurückzuschlagen. Aber jetzt war es Zeit zu gehen, zu sehen, was aus ihnen geworden war... Im Saal waren ziemlich viele Kinder. Es herrschte der übliche Lärm, der jedoch sofort verstummte, als Bol-Kunaz Viktor auf die Bühne führte. Viktor setzte sich an einen Tisch, der mit einem rot-weißen Tischtuch bedeckt war. Er fand sich unter einem riesigen Porträt des Präsidenten, einem Geschenk Doktor R. Quadrigas. Dann ging Bol-Kunaz an den Bühnenrand und sagte: »Heute wird mit euch der bekannte Schriftsteller Viktor Banev sprechen, der auch in unserer Stadt geboren ist.« Er wandte sich zu Viktor. »Wie ist es Ihnen lieber, Herr Banev, wollen Sie, daß die Fragen direkt vom Platz aus oder schriftlich gestellt werden?« »Das ist mir gleich«, sagte Viktor leichthin. »Solange nur nicht zu wenig kommen.« »In diesem Fall darf ich Sie bitten.« Bol-Kunaz sprang von der Bühne und setzte sich in die erste Reihe. Viktor kratzte sich an der Augenbraue und blickte in den Saal. Es waren ungefähr fünfzig Kinder, Jungen und Mädchen im Alter von zehn bis vierzehn. Sie blickten ihn ruhig und erwartungsvoll an. Schaut so aus, als wären hier lauter Wunderkinder, dachte er flüchtig. In der zweiten Reihe entdeckte er Irma und lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück. »Ich bin in eben dieses Gymnasium gegangen«, begann Viktor. »Und auf eben dieser Bühne mußte ich einmal die Figur des Ozrik spielen. Ich kannte die Rolle nicht und mußte sie mir ausdenken. Das war das erste, was ich mir in meinem Leben ausgedacht habe, ohne Angst vor einer Fünf haben zu müssen. Es heißt, daß die Schule jetzt schwieriger ist als zu meiner Zeit. Es heißt, daß ihr neue Fächer bekommen habt und daß ihr das, wozu wir drei Jahre brauchten, in einem Jahr schaffen müßt. Aber ihr merkt wahrscheinlich nicht, daß es schwieriger geworden ist. Die Wissenschaftler nehmen an, daß das
menschliche Gehirn in der Lage ist, ungleich mehr Wissen in sich aufzunehmen, als der gewöhnliche Mensch vermuten würde. Die Frage ist nur, wie man sich dieses Wissen eintrichtert...« Aha, dachte er, gleich werde ich ihnen von der Hypnopädie erzählen. In diesem Augenblick jedoch reichte ihm Bol-Kunaz einen Zettel: >Sie brauchen nicht von den Errungenschaften der Wissenschaft zu erzählen, Sprechen Sie mit uns wie von gleich zu gleich. Valerians, 6. Kl.<. »So«, sagte Viktor. »Ein gewisser Valerians aus der sechsten Klasse macht mir den Vorschlag, ich solle mit euch von gleich zu gleich sprechen und ermahnt mich, nicht von den Errungenschaften der Wissenschaft zu erzählen. Ich muß dir sagen, Valerians, ich hatte wirklich die Absicht, jetzt von den Errungenschaften der Hypnopädie zu sprechen. Allerdings gebe ich diese Absicht gerne wieder auf. Trotzdem halte ich es für meine Pflicht, dich davon in Kenntnis zu setzen, daß die meisten mir vergleichbaren Erwachsenen von der Hypnopädie eine höchst verschwommene Vorstellung haben.« Viktor fühlte sich nicht wohl, so im Sitzen zu sprechen; er stand auf und schritt auf der Bühne auf und ab. »Ich muß euch gestehen, daß ich Begegnungen mit Lesern nicht sonderlich mag. In der Regel weiß man nicht im geringsten, welchen Leser man vor sich hat, was er von einem will und was ihn eigentlich interessiert. Deswegen versuche ich, solche Abende in Form von Fragen und Antworten zu gestalten. Manchmal wird es ein ganz lustiger Abend. Laßt mich zuerst fragen. Also... Haben alle von euch meine Werke gelesen?« »Ja«, gaben die Kinderstimmen zur Antwort. »Haben wir... Alle...« »Wunderbar«, sagte Viktor betreten. »Ich fühle mich geschmeichelt, bin aber erstaunt. Na gut, weiter... Will die Versammlung, daß ich die Entstehungsgeschichte irgendeines Romans von mir erzähle?« Es folgte ein kurzes Schweigen; dann erhob sich in der Mitte des Saales ein magerer, pickeliger Junge, sagte »nein« und setzte sich wieder. »Wunderbar«, sagte Viktor. »Schon deswegen, weil entgegen der weitverbreiteten Ansicht Entstehungsgeschichten nicht viel hergeben. Gehen wir weiter... Möchten die verehrten Zuhörer Aufschluß über meine weiteren Schaffenspläne?« Bol-Kunaz erhob sich und sagte höflich: »Vielleicht wäre es besser, Herr Banev, die Fragen, die Ihre Schaffenstechnik betreffen, erst am Ende des Gesprächs zu erörtern, erst dann, wenn sich ein allgemeineres Bild ergeben hat.« Er setzte sich. Viktor steckte die Hände in die Taschen und ging auf der Bühne auf und ab. Die Sache wurde interessant, zumindest ungewöhnlich. »Vielleicht interessieren euch Begebenheiten mit Schriftstellern?« fragte er verstohlen. »Wie ich mit Hemingway auf der Jagd war? Wie mir Ehrenburg einen russischen Samowar schenkte? Oder was mir Sursmansor sagte, als ich ihn in der Straßenbahn traf?«
»Haben Sie wirklich Sursmansor getroffen?« wurde im Saal gefragt. »Nein, ich mache Spaß«, sagte Viktor. »Also, wie schaut es mit literarischen Anekdoten aus?« I
»Darf ich etwas fragen?« sagte der Junge mit dem Pickelgesicht und erhob sich. »Natürlich.« »Was für Menschen sollten wir Ihrer Meinung nach in der Zukunft sein?« Ohne Pickel, fiel es Viktor ein, aber er verscheuchte den Gedanken sofort. Er hatte begriffen, daß es jetzt hart auf hart gehen würde. Die Frage hatte es in sich. Mir sollte auch mal jemand sagen, wie ich mich gerne in der Gegenwart sehen würde, dachte er. Doch er mußte antworten. »Klug«, sagte er drauflos. »Ehrenhaft. G u t. . . Ich möchte, daß ihr eure Arbeit liebt... Und daß ihr nur zum Wohle der Menschen arbeiten werdet...« (Ich schwätze, dachte er. Aber wie sollte es ohne Schwätzen gehen?) »So ungefähr...« Ein leises Raunen ging durch den Saal. Der nächste Fragesteller blieb sitzen. »Sind Sie wirklich der Ansicht, daß ein Soldat wichtiger ist als ein Physiker?« »Ich?!« fragte Viktor betroffen. »In diesem Sinne habe ich Ihre Erzählung >Das Unglück kommt nachts< aufgefaßt.« Gefragt hatte ein weißblonder Knirps von höchstens zehn Jahren. Viktor räusperte sich. Seine Erzählung konnte als schlechtes, aber auch als gutes Buch betrachtet werden, je nachdem. Unter keinen Umständen jedoch war es ein Kinderbuch. Wie wenig es ein Kinderbuch war, ging schon daraus hervor, daß kein einziger Kritiker das Werk begriff. Alle faßten es als pornographischen Schund auf, der Moral und nationales Selbstbewußtsein untergrabe. Das schlimmste war, daß der Knirps Grund zu der Annahme hatte, der Autor der Erzählung halte den Soldaten für wichtiger als den Physiker, in gewisser Beziehung wenigstens. »Es handelt sich darum«, begann Viktor mit Nachdruck, »daß . . . Wie soll ich es dir sagen... Es kommt alles mögliche vor.« »Ich meine jetzt nicht das Physiologische«, widersprach der weißblonde Knirps. »Ich spreche von der allgemeinen Konzeption des Buches. Vielleicht ist >wichtiger< nicht das passende Wort...« »Ich meine das Physiologische auch nicht«, sagte Viktor. »Ich will sagen, daß es Situationen gibt, in denen der Wissensstand bedeutungslos ist.« Bol-Kunaz wurden aus dem Saal zwei Zettelchen gereicht, die er an Viktor weitergab. >Kann ein Mensch anständig und gut sein, der für den Krieg arbeitet?< und >Was versteht man unter einem klugen Menschen?< Viktor begann mit der zweiten Frage; sie war einfacher.
»Ein kluger Mensch«, sagte er, »das ist ein Mensch, der sich seiner Unvollkommenheit und der Begrenztheit seines Wissens bewußt ist, der bestrebt ist, diese Lücken zu füllen, und darin Erfolg h a t. . . Stimmt ihr zu?« »Nein«, sagte ein hübsches Mädchen, das aufgestanden war. »Weshalb nicht?« »Ihre Definition ist nicht funktional. Jeder beliebige Idiot kann sich mit Hilfe Ihrer Definition als klug bezeichnen. Besonders dann, wenn ihn seine Umgebung in seiner Meinung bestärkt.« Ja, dachte Viktor. Ein leichtes Gefühl von Panik ergriff ihn. Du denkst wohl, du kannst mit denen wie mit deinen Schriftstellerkollegen sprechen? »In gewisser Hinsicht haben Sie recht«, sagte er. Zu seiner Überraschung war er zum >Sie< übergegangen. »Aber es geht darum, daß es sich bei den Bezeichnungen >Dummkopf< oder >klug< um historische oder eher noch subjektive Begriffe handelt.« »Das heißt, Sie trauen sich nicht zu, einen Dummkopf von einem Klugen zu unterscheiden?« Das kam aus den hinteren Reihen. Ein dunkelhäutiges Gesicht, biblische Augen, glattrasierter Kopf. »Wieso?« sagte Viktor. »Das tue ich schon. Aber ich bin nicht davon überzeugt, daß Sie mit mir immer einer Meinung sind. Es gibt einen alten Aphorismus: >Ein Dummkopf ist ein Andersdenkender...<« Gewöhnlich rief dieses Bonmot bei den Zuhörern Lachen hervor; hier jedoch wartete der Saal schweigend auf die Fortsetzung. »Oder ein Andersfühlender«, fügte Viktor hinzu. Er spürte förmlich die Enttäuschung des? Saales, aber er wußte nicht, was er noch sagen sollte. In der Regel geht die Zuhörerschaft ohne weiteres zum Standpunkt des Sprechers über, stimmt seinen Überlegungen zu, und allen wird klar, was ein Dummkopf ist, wobei als selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß im Saale sich keine Dummköpfe befinden. Schlimmstenfalls stimmen die Zuhörer nicht zu und offenbaren eine feindselige Haltung, aber auch dann ist es leicht. Da besteht immer noch die Möglichkeit zu sticheln und zu verspotten, zumal es für einen einzelnen nicht schwer ist, mit vielen zu streiten. Die Widersacher sind in sich selbst nicht einig, und man braucht sich nur den Lautesten und Dümmsten herauszugreifen und ihn nach allen Regeln der Kunst an die Wand zu spielen - zum allgemeinen Vergnügen der Zuhörer. »Ich verstehe etwas nicht so recht«, sagte das hübsche Mädchen. »Sie wollen, daß wir klug werden, das heißt nach Ihrem Aphorismus, daß wir so wie Sie denken und fühlen. Ich habe alle Ihre Bücher gelesen und darin aber nur Verneinung gefunden. Keinerlei positives Programm. Andererseits wollen Sie, daß wir für das Wohl der Menschen arbeiten. Das heißt praktisch, für das Wohl
jener schmutzigen, abstoßenden Typen, von denen Ihre Bücher wimmeln. Sie geben doch die Wirklichkeit wieder?« Viktor schien es, als verspürte er endlich wieder festen Boden unter den Füßen. »Seht mal«, sagte er, »Arbeit zum Wohle der Menschen bedeutet für mich, eben diese Menschen in ehrliche, angenehme Menschen zu verwandeln. Dieser Wunsch von mir steht in keinerlei Zusammenhang mit meinem Werk. In meinen Büchern versuche ich alles so darzustellen, wie es ist, ich versuche nicht zu belehren oder zu zeigen, was zu machen wäre. Bestenfalls zeige ich das verbesserungswürdige Objekt und rücke die Dinge ans Licht, mit denen man kämpfen muß. Ich weiß nicht, wie man die Menschen verändern kann. Wenn ich es wüßte, wäre ich kein Modeschriftsteller, sondern ein großer Pädagoge oder ein berühmter Psychosoziologe. Künstlerischer Literatur ist es sowieso untersagt, zu belehren und zu führen, konkrete Wege vorzuschlagen oder eine konkrete Methodologie zu schaffen. Das läßt sich am Beispiel der großen Schriftsteller zeigen. Ich verehre Leo Tolstoj, aber nur solange er seinem einzigartigen Talent entsprechend, der Wirklichkeit einen eigenwilligen Spiegel vorhält. Sobald er mich jedoch ermahnt, barfuß zu gehen und die andere Wange hinzuhalten, packen mich Trauer und Verzweiflung Der Schriftsteller ist ein Gerät, das den Zustand der Gesellschaft darstellt; nur in verschwindend geringem Maße ist er ein Werkzeug zur Veränderung der Gesellschaft. Die Geschichte zeigt, daß man die Gesellschaft nicht durch die Literatur, sondern durch Reformen und Maschinengewehre, jetzt auch noch durch die Wissenschaft, verändert. Die Literatur zeigt höchstens, auf wen man schießen soll und wer veränderungsbedürftig i s t. . . « Er machte eine Pause, nachdem ihm eingefallen war, daß da noch Dostojewski und Faulkner waren. Aber während er noch überlegte, wie er auf die Rolle der Literatur bei der Erforschung der verborgenen Seiten des Menschen zu sprechen kommen könnte, meldete sich jemand im Saal. »Verzeihen Sie, das ist doch alles ziemlich trivial. Es geht ja gar nicht darum. Es geht doch darum, daß die von Ihnen beschriebenen Subjekte gar nicht verändert werden wollen. Und darüber hinaus sind sie dermaßen widerlich, verkommen und hoffnungslos, daß man sie gar nicht verändern möchte. Verstehen Sie, sie sind es nicht wert, verändert zu werden. Sollen sie doch vollends verfaulen, sie spielen ja ohnehin keine Rolle. Für wessen Wohl sollen wir Ihrer Ansicht nach arbeiten?« »Darum geht es euch«, sagte Viktor langsam. Plötzlich begriff er: O Gott, diese Knirpse nahmen allen Ernstes an, er würde alle Menschen für verkommen halten. Sie hatten nichts verstanden. Wie hätten sie es auch verstehen sollen? Es waren ja Kinder, merkwürdige Kinder, krankhaft kluge Kinder, ausgestattet mit kindlicher Lebenserfahrung und kindlicher Menschenkenntnis plus eine Unmenge Lektüre, mit kindlichem
Idealismus und dem kindlichen Streben, alle Erscheinungen säuberlich auf zwei Schubladen zu verteilen, die mit dem Etikett >schlecht< bzw. >gut< versehen waren. Genau dasselbe wie bei seinen Schriftstellerkollegen. »Ich habe mich dadurch täuschen lassen, daß ihr wie Erwachsene sprecht«, sagte er. »Ich habe sogar vergessen, daß ihr keine Erwachsenen seid. Ich weiß, daß es pädagogisch unklug ist, so zu sprechen, aber ich muß es sagen, sonst kommen wir nie ins reine. Der Haken liegt darin, daß ihr offenbar nicht begreift, daß ein unrasierter, hysterischer und ständig betrunkener Mann ein bemerkenswerter Mensch sein kann, den man einfach gern haben muß, vor dem man den Hut zieht, bei dem man es sich zur Ehre anrechnet, seine Hand zu drücken. Er hat nämlich eine Hölle durchgemacht, wie man sie sich schrecklicher nicht vorstellen kann, und ist dabei trotzdem ein Mensch geblieben. Alle Helden meiner Bücher sind für euch Abschaum, aber das ist noch nicht das schlimmste. Ihr denkt nämlich, daß ich zu ihnen genauso stehe wie ihr. Und das ist schlimm, denn auf diese Weise werden wir uns nie verstehen...« Weiß der Teufel, welche Reaktion er auf seine gutmütige Zurechtweisung erwartet hatte. Vielleicht würden sie sich betreten anschauen, vielleicht würde sich auf ihren Gesichtern plötzliches Verständnis malen, vielleicht würde ein leiser Seufzer der Er- leichterung durch den Saal gehen zum Zeichen dessen, daß sich das Mißverständnis glücklich aufgeklärt hatte und man jetzt einen neuen Anfang auf einer neuen, realistischeren Grundlage machen könne... Aber nichts dergleichen geschah. In der hinteren Reihe erhob sich der Junge mit den biblischen Augen und fragte: »Könnten Sie uns sagen, was Fortschritt ist?« Viktor war beleidigt. Gleich werden sie fragen, dachte er, ob eine Maschine denken kann und ob es Leben auf dem Mars gibt. Alles kehrt in seine geregelten Bahnen zurück. »Fortschritt ist die Entwicklung einer Gesellschaft zu einem Stadium hin, in dem sich die Menschen nicht mehr töten, zertreten und quälen.« »Und womit werden sich diese Menschen beschäftigen?« fragte der dicke Junge von rechts. »Sie essen und trinken ihr quantum satis«, murmelte jemand von links. »Und warum auch nicht?« bemerkte Viktor. »Die Geschichte kennt nicht gerade viele Epochen, in denen die Leute ihr quantum satis essen und trinken konnten. Für mich ist Fortschritt die Entwicklung zu einem Stadium hin, wo man sich nicht tötet oder zertritt. Womit sich die Menschen dann beschäftigen werden, das ist meiner Ansicht nach nicht so wesentlich. Für mich müssen, wenn ihr so wollt, die notwendigen Bedingungen für den Fortschritt vorhanden sein; hinreichende Bedingungen dafür ergeben sich dann von selbst.« »Erlauben Sie«, sagte Bol-Kunaz. »Betrachten wir folgendes Schema. Die
Automatisierung schreitet mit der gleichen Geschwindigkeit wie jetzt fort. Das heißt, in einigen Jahrzehnten wird die überwiegende Mehrzahl der arbeitenden Erdbevölkerung aus dem Produktionsprozeß und dem Dienstleistungsbereich ausgegliedert, weil sie nicht mehr benötigt wird. Alles wird gut sein: jeder ist satt, man braucht sich gegenseitig nicht zu zertreten, niemand stört den anderen - und keiner braucht den anderen. Natürlich wird es einige hundert Leute geben, die für das reibungslose Funktionieren der alten Maschinen und die Entwicklung neuer Maschinen sorgen, aber die restlichen Milliarden brauchen sich gegenseitig nicht. Wäre das gut?« »Ich weiß nicht«, sagte Viktor. »So ganz gut an sich nicht. Irgendwie ist es beleidigend... Aber ich muß euch sagen, daß es auf alle Fälle besser wäre als das, was wir im Augenblick sehen. Ein gewisser Fortschritt ließe sich also schon nachweisen.« »Würden Sie selbst gerne in so einer Welt leben?« Viktor dachte nach. »Wißt ihr«, sagte er, »ich kann sie mir nicht so recht vorstellen, aber, um ehrlich zu sein, es wäre nicht schlecht, es auszuprobieren.« »Können Sie sich einen Menschen vorstellen, der es kategorisch ablehnt, in so einer Welt zu leben?« »Natürlich. Es gibt Leute, und ich kenne welche, die sich dort langweilen würden. Staatliche Macht wäre dort überflüssig, niemand wäre herumzukommandieren; zertreten bräuchte man sich auch nicht. Diese Leute würden sich zwar kaum weigern - immerhin wäre es eine günstige Gelegenheit, ein Paradies in einen Schweinestall zu verwandeln - oder in eine Kaserne. Sie würden so eine Welt mit Vergnügen zerstören... Deswegen kann ich mir also doch keinen solchen Menschen vorstellen.« »Und Ihre Helden, die Sie so lieben, würden die so eine Zukunftswelt bauen?« »Natürlich. Und dort bekämen sie dann ihre verdiente Ruhe.« Bol-Kunaz setzte sich, dafür stand der Junge mit dem Pickelgesicht auf. Er nickte bekümmert und sagte: »Genau darum geht es. Nicht darum, ob wir das wirkliche Leben verstehen oder nicht, sondern darum, daß Ihnen und Ihren Helden so eine Zukunft völlig annehmbar erscheint, daß sie in unseren Augen jedoch einer Grabstätte gleichkommt, dem Ende aller Hoffnungen, dem Ende der Menschheit. Einer Sackgasse. Deswegen sagen wir auch, daß wir unsere Kräfte nicht vergeuden wollen, um für das Wohl Ihrer Typen zu arbeiten, Typen also, die nach Ruhe dürsten und so viel Dreck am Stecken haben. Denen kann man keine Energie mehr einhauchen, damit sie zu einem vollgültigen Leben imstande sind. Wie Ihre Absichten auch sein mögen, Herr Banev, aber Sie haben uns in Ihren Büchern - interessanten Büchern, da stimme ich vollkommen zu - keine Menschen gezeigt, die einer Anstrengung unsererseits wert wären, im
Gegenteil, Sie haben uns gezeigt, daß es auf der Welt keine solchen Menschen gibt, zumindest in Ihrer Generation... Sie haben sich selbst aufgefressen, verzeihen Sie bitte den Ausdruck, Sie haben sich verausgabt in Bürgerkriegsscharmützeln, in Lügen und dem Kampf gegen diese Lügen, den Sie führen, indem Sie neue Lügen ausdenken... Wie heißt es so schön bei Ihnen: >Wahrheit und Lüge, so verschieden seid ihr nicht, die Wahrheit von gestern wird heute zur Lüge, die Lüge von gestern verwandelt sich morgen in lautere Wahrheit, in gewohnte Wahrheit... Menschen< bezeichnet!« Der pickelübersäte Redner machte eine verächtliche Handbewegung und setzte sich. Dann stand er nochmals auf und sagte: »Als ich >Sie< sagte, meinte ich nicht Sie persönlich, Herr Banev.« »Ich danke«, sagte Viktor wütend. Er befand sich in höchster Erregung. Dieser Pickelknirps hatte nicht das Recht, so kategorisch zu sprechen! Das war unverschämt und anmaßend. Man sollte ihm eine überziehen und ihn am Ohr aus dem Saal führen. Er fühlte sich verunsichert, denn vieles von dem Gesagten war wahr, und er selbst dachte ebenso; nur war er jetzt in die Lage eines Menschen geraten, der gezwungen ist, etwas Verhaßtes zu verteidigen. Er empfand Ratlosigkeit angesichts der Frage, wie er sich weiter verhalten sollte, ob er das Gespräch fortsetzen sollte und ob das überhaupt der Mühe wert war... Er blickte im Saal umher und sah, daß man auf seine Antwort wartete, daß Irma auf seine Antwort wartete, daß all diese rosawangigen, sommersprossigen Ungeheuer gleich dachten, daß der pickelige Frechling nur die allgemeine Ansicht wiedergegeben hatte, und zwar ehrlich, aus tiefster Überzeugung, und nicht deswegen, weil er gestern eine verbotene Broschüre gelesen hatte. Sie verspürten wirklich nicht das geringste Gefühl von Dankbarkeit, oder sei es auch nur elementarer Achtung, ihm gegenüber, und dabei war er doch damals als Freiwilliger zu den Husaren gegangen, war in der Kavallerieformation gegen Panzer angegangen, war fast an der Ruhr gestorben, als sie eingekreist waren, hatte die Posten mit einem selbstgefertigten Messer erledigt, hatte dann schon in der Zivilzeit einem Sonderbevollmächtigten ins Gesicht geschlagen, als dieser ihm eine
Denunziation zur Unterschrift vorlegte, hatte sich als Arbeitsloser mit einem Loch in der Lunge herumgetrieben, hatte mit Früchten gehandelt, obwohl man ihm einträgliche Tätigkeiten anbot... Aber warum sollten sie mich wegen dieser Sachen eigentlich achten? Deswegen, weil ich mit blankem Säbel gegen einen Panzer anging? Man muß ja ein Idiot sein, wenn man eine Regierung hat, die die Armee zu so einem Zustand verkommen läßt... Hier zuckte er zusammen. Er stellte sich vor, welch gewaltige Denkarbeit diese Küken verrichtet haben mußten, um in völliger Unabhängigkeit zu Schlüssen zu gelangen, zu denen Erwachsene erst fähig waren, wenn sie ihre Haut abgezogen, ihre Seele in eine Ruine verwandelt, ihr eigenes Leben und viele Leben um sich herum zugrunde gerichtet hatten - und es waren bei weitem nicht alle dazu fähig, nur einige, die Mehrheit war bis auf den heutigen Tag der Ansicht, alles sei richtig gewesen, eine prima Sache, notfalls wären sie bereit, erneut anzutreten... War denn wirklich eine neue Zeit angebrochen? Fast mit Schrecken blickte er in den Saal. Es schien, als hätte die Zukunft es trotz allem vermocht; ihre Fühler mitten ins Herz der Gegenwart auszustrecken. Diese Zukunft war kalt, erbarmungslos, sie pfiff auf alle Verdienste der Vergangenheit, seien es nun tatsächliche oder vorgegebene. »Kinder«, sagte Viktor. »Wahrscheinlich merkt ihr es gar nicht, aber ihr seid grausam. Ihr seid grausam aus den besten Beweggründen, aber Grausamkeit bleibt Grausamkeit. Sie kann nur neues Leid, neue Tränen und neue Gemeinheiten bringen. Vergeßt das nicht! Und bildet euch ja nicht ein, ihr würdet was ganz Neues sagen. Die alte Welt zu zerstören und auf ihren Gebeinen eine neue zu bauen, das ist eine ziemlich alte Idee. Und kein einzigesmal noch hat es zu den ersehnten Ergebnissen geführt. Eben das, was in der alten Welt besonders vernichtenswert erscheint, paßt sich dem Zerstörungsprozeß, der Grausamkeit und Unbarmherzigkeit überaus leicht an, es wird zu einem unverzichtbaren Bestandteil dieses Prozesses und bleibt erhalten, es schwingt sich zum Herrn der neuen Welt auf und vernichtet schließlich die kühnen Zerstörer. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, mit Grausamkeit läßt sich Grausamkeit nicht ausrotten. Ironie und Mitleid, Kinder! Ironie und Mitleid!« Plötzlich erhob sich der ganze Saal. Das kam völlig überraschend, und Viktor durchzuckte der verrückte Gedanke, es wäre ihm nun doch gelungen, mit seinen Worten seine Zuhörer zu beeindrucken. Aber schon sah er, daß zur Tür ein Naßmann hereingetreten war, hager, schwerelos, fast körperlos, als wäre er ein Schatten. Die Kinder schauten ihn an, mehr noch, sie strebten zu ihm. Er macht eine gemessene Verbeugung zu Viktor, murmelte eine Entschuldigung und setzte sich an die Seite, direkt neben Irma. Die Kinder setzten sich ebenfalls. Viktor blickte zu Irma und sah, daß sie glücklich war, daß sie
versuchte, es zu verbergen. Aber sie sprühte geradezu vor Freude und Vergnügen. Bevor Viktor sich gesammelt hatte, sprach Bol-Kunaz. »Ich befürchte, Sie haben uns nicht richtig verstanden, Herr Banev. Wir sind keineswegs grausam, und wenn wir es von Ihrem Standpunkt aus auch sind, so ist das nur theoretisch. Wir beabsichtigen nicht im mindesten, Ihre alte Welt zu zerstören. Wir wollen eine neue bauen. Aber Sie sind grausam. Sie können sich den Bau einer neuen Welt nicht ohne die Zerstörung der alten Welt vorstellen. Wir werden Ihrer Generation sogar beim Bau Ihres Paradieses helfen, so daß Sie nach Herzenslust essen und trinken können. Wir wollen nur bauen, Herr Banev, nur bauen. Nichts zerstören, nur bauen.« Viktor riß sich endlich vom Anblick Irmas los und konzentrierte sich. »Ja«, sagte er. »Sicher. Macht schon, baut! Ich bin ganz auf eurer Seite. Ihr habt mich heute erschüttert, trotzdem bin ich auf eurer Seite - vielleicht gerade deswegen. Notfalls verzichte ich sogar auf Essen und Trinken... Aber vergeßt nicht, daß man die alten Welten immer deshalb zerstören mußte, weil sie hinderlich waren - hinderlich beim Bau des Neuen, weil sie das Neue nicht mochten und es unterdrückten. . . « »Die heutige alte Welt«, sagte Bol-Kunaz geheimnisvoll, »wird uns nicht hinderlich sein. Sie wird uns sogar helfen. Die frühere Geschichte hat ihren Lauf eingestellt, man braucht sich nicht mehr auf sie zu berufen.« »Na ja, um so besser«, sagte Viktor müde. »Ich freue mich, daß sich bei euch alles so schön zusammenfügt...« Prachtkinder, diese Jungen und Mädchen, dachte er. Merkwürdig, aber doch Prachtkinder. Leid tun sie mir, das ist es halt... Da wachsen sie heran, kriechen aufeinander, vermehren sich, und dann beginnt die Arbeit ums tägliche Brot... Nein, dachte er verzweifelt. Vielleicht geht es auch ohne das. Sie sind, ganz anders als wir. Vielleicht geht es auch anders... Er nahm die Zettel vom Tisch. Es hatte sich eine Menge angesammelt. >Was ist eine Tatsache?< - >Kann man einen Menschen ehrenhaft und gut nennen, der für den Krieg arbeitet?< >Warum trinken Sie' soviel?.< - >Was halten Sie von Spengler?<... »Ich habe da einige Fragen«, sagte er. »Ich weiß nicht, soll ich überhaupt noch...« Der pickelige Nihilist erhob sich und sagte: »Sehen Sie, Herr Banev, ich weiß nicht, was Sie da noch für Fragen liegen haben; es geht darum, ganz allgemein gesagt, daß das nicht mehr so wichtig ist. Wir wollten doch einfach einen zeitgenössischen berühmten Schriftsteller kennenlernen. Jeder berühmte Schriftsteller bringt die Ideologie der Gesellschaft oder eines Teils von ihr zum Ausdruck. Was wir wissen müssen, ist die Ideologie der modernen Gesellschaft. Wir wissen jetzt mehr als vor der Begegnung mit Ihnen. Vielen Dank.« Der Saal kam in Bewegung, laute Rufe wie »danke . . . danke, Herr Banev . . .«
erschollen, die Zuhörer standen auf und verließen ihre Plätze. Viktor stand da, die Hand mit den Zetteln zur Faust geballt. Er fühlte sich wie ein Schwätzer, er wußte, daß er einen roten Kopf hatte und einen verlorenen, erbärmlichen Anblick bot. Da nahm er sich zusammen, steckte die Zettel in die Tasche und stieg von der Bühne herunter. Das schwierigste war für ihn, daß ihm immer noch nicht klargeworden war, wie er sich diesen Kindern gegenüber verhalten sollte. Sie waren irgendwie unwirklich, es war unmöglich, daß es sie gab. Ihre Aussagen, ihre Stellungnahme zu dem, was er schrieb oder sagte, war in keinerlei Beziehung zu setzen zu den abstehenden Zöpfen, den zerzausten Haarschöpfen, den schlecht gewaschenen Hälsen, den rissigen, mageren Händen, dem piepsenden Stimmengewirr ringsum. Es schien, als hätte irgendeine Macht aus schierem Übermut einen Kindergarten und einen Disput in einem wissenschaftlichen Laboratorium zusammengeführt, das Unvereinbare kombiniert. Ähnlich hatte sich wahrscheinlich jene Versuchskatze gefühlt, der man einen Fisch- happen gab, sie hinterm Ohr kraulte> und der man im gleichen Moment einen elektrischen Schlag verpaßte, vor ihrer Nase einen Knallkörper hochgehen ließ und die man gleichzeitig mit einem Scheinwerfer blendete... Ja, ja, sagte Viktor mitfühlend zu der Katze, deren Zustand er sich jetzt sehr gut vorstellen konnte. Unsere Psyche ist auf solche Schocks nicht vorbereitet, wir beide können bei solchen Sachen draufgehen ... Plötzlich merkte er, daß er festsaß. Man umringte ihn und ließ ihn nicht durch. Einen Augenblick lang ergriff ihn panischer Schrecken. Er hätte sich nicht gewundert, wenn man ihn im gleichen Moment schweigend und routiniert getötet und ihn als Objekt für Ideologieuntersuchungen seziert hätte. Aber man wollte ihn nicht sezieren. Die Kinder streckten ihm aufgeschlagene Büchlein, billige Abreißblocks oder lose Blätter entgegen. Sie plapperten: »Ihr Autogramm, bitte!«, sie piepsten: »Hier, bitte«, sie stotterten: »Seien Sie so freundlich, Herr Banev!« Er holte seinen Füller hervor und schraubte die Kappe ab, wobei er wie ein unbeteiligter Beobachter seinen Empfindungen nachspürte. Er wunderte sich nicht, als er Stolz entdeckte. Das waren Boten der Zukunft, und es war alles in allem ein angenehmes Gefühl, bei ihnen bekannt zu sein.
6 Als Viktor in seinem Hotelzimmer ankam, öffnete er unverzüglich seine Hausbar, goß sich Gin ein und stürzte ihn in einem Zug hinunter wie eine Arznei. Von den Haaren strömte ihm das Wasser übers Gesicht und in den Kragen. Ganz offensichtlich hatte er vergessen, die Kapuze überzuziehen. Die Hosenbeine waren naß bis zum Knie und klebten an den Beinen. Wahrscheinlich war er blindlings nach Hause marschiert, ohne auf die Pfützen zu achten. Er hatte ein unmenschliches Verlangen zu rauchen; anscheinend hatte er während der vergangenen zwei Stunden keine einzige Zigarette geraucht. Beschleunigte Entwicklung, sprach er zu sich selbst, als er den nassen Regenmantel auf den Boden warf, sich umzog und sich den Kopf mit dem Handtuch abfrottierte. Allein eine beschleunigte Entwicklung, beruhigte er sich. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und machte die ersten gierigen Züge. Da haben wir ein Paradebeispiel, dachte er mit Schrecken, als er an die selbstsicheren Kinderstimmen dachte, die ihm so viel Unsinniges einreden wollten. O Gott, rette die Erwachsenen, rette ihre Eltern, erleuchte sie und mache sie klüger, jetzt ist die Zeit... In Deinem eigenen Interesse bitte ich Dich darum, Gott, sonst bauen sie sich einen babylonischen Turm, einen Grabstein für sämtliche Dummköpfe, die Du, ohne die Folgen beschleunigter Entwicklung zu durchdenken, auf diese Erde gesetzt hast, damit sie fruchtbar seien und sich mehren... Ein Einfaltspinsel bist du, Viktor. Er spuckte die Kippe auf den Teppich und zündete, sich eine neue Zigarette an. Weshalb rege ich mich eigentlich so auf? dachte er. Die Fantasie ist mir durchgegangen... Na ja, Kinder, beschleunigte Entwicklung, was soll's, eben frühreif. Als hätte ich noch nie frühreife Kinder gesehen. Wie komme ich darauf, daß sie sich selbst alles ausgedacht haben? Da haben sie in der Stadt allerlei Schund gesehen, irgendwelches Buchzeug verschlungen, alles vereinfacht... Natürlich mußten sie den Schluß ziehen, daß es nötig sei, eine neue Welt zu bauen. Und es sind ja beileibe nicht alle so. Die haben auch ihre Wortführer und Schreihälse. Da ist der Bol-Kunaz... Dieser Pickelige... dann noch das hübsche Mädchen. Das sind die Anstifter. Die übrigen waren Kinder wie andere Kinder auch, die saßen nur da, hörten zu und langweilten sich... Viktor wußte, daß das nicht stimmte. Na ja, nehmen wir mal an, sie langweilten sich nicht, sondern hörten mit Interesse zu. Trotzdem, Provinz, berühmter Schriftsteller ... Wie dem auch sei, ich hätte jedenfalls in diesem Alter keines von meinen Büchern in die Hand genommen. Ich wäre ebensowenig anderswo hingegangen außer in einen Abenteuerfilm oder einen Wanderzirkus, um die Schenkel der Seiltänzerin zu bewundern. Auf die alte Welt pfiff ich, ebenso auf die neue, von der ich keine Vorstellung hatte. Da gab es nur Fußball bis zum Umfallen, irgendwo eine Birne rausschrauben und gegen die Wand schmeißen,
oder irgendeinem Muttersöhnchen auflauern und ihm die Schnauze vollhauen... Viktor legte sich im Sessel zurück und streckte die Beine von sich. Alle erinnern wir uns gerührt an die Bilder einer glücklichen Kindheit und sind überzeugt, daß es seit den Zeiten Tom Sawyers immer so war, noch ist und auch sein wird. So muß es sein. Wenn es nicht so ist, heißt es, das Kind sei nicht normal, es wird mit Abstand betrachtet, zum Objekt geringfügigen Mitleids, bei direkter Konfrontation ruft es den Unwillen des Pädagogen hervor. Und das Kind betrachtet dich mit sanftem Blick und denkt: >Du bist natürlich erwachsen, kräftig gebaut, kannst mich verprügeln, allerdings bist du von Kindheit an ein Dummkopf und wirst es auch bleiben und wirst als Dummkopf sterben. Aber dir genügt das nicht, du möchtest auch aus mir einen Dummkopf machen...< Viktor goß sich nochmals Gin ein und begann darüber nachzudenken, wie alles gewesen war, und er mußte einen hastigen Schluck nehmen, um vor Scham nicht aufzustöhnen. Wie anmaßend und selbstsicher war er vor diese Kinder getreten, alle von oben herab betrachtend, mit welchen Plattheiten und frommen Dummheiten hatte er sogleich begonnen, welch modisches Gesäusel hatte er von sich gegeben; wie hatten sie ihn bestürmt, doch er hatte keine Ruhe gegeben und weiterhin sein schreiendes intellektuelles Unvermögen demonstriert, wie ehrlich hatten sie versucht, ihn auf den wahren Weg zu führen, sogar gewarnt hatten sie ihn, er jedoch hatte weiterhin Banales und Triviales verzapft, in der Vorstellung befangen, ein glücklicher Zufall würde ihm schon aus der Patsche helfen, irgendwie würde es schon gehen... Als man ihm schließlich eine aufs Haupt gegeben hatte, hatte er feige Tränen vergossen und sich beklagt, man würde zu hart mit ihm umgehen... Wie schmachvoll war sein Jubel, als man von ihm Autogramme wünschte... Viktor heulte auf; er hatte begriffen, daß er ungeachtet seiner forcierten Aufrichtigkeit nie und nimmer die Ereignisse des Tages weitererzählen würde, daß er in etwa einer halben Stunde zur Erhaltung seines seelischen Gleichgewichts das Geschehene mit Scharfsinn so hinstellen würde, als sei die ihm zugefügte Ohrfeige der größte Triumph seines Lebens oder wenigstens eine ziemlich alltägliche, nicht allzu interessante Begegnung mit untypischen Wunderkindern gewesen; es waren halt Kinder, was sollte man von ihnen schon erwarten, deswegen kannten sie sich auch so mangelhaft in der Literatur und im Leben aus... Mein Platz wäre im Ministerium für Aufklärung, dachte er haßerfüllt. Solche wie mich hat man dort schon immer gebraucht... Der einzige Trost liegt darin, daß es von dieser Sorte Kindern vorläufig noch sehr wenige gibt; selbst wenn die beschleunigte Entwicklung im heutigen Tempo vonstatten geht, werde ich zu dem Zeitpunkt, da es ihrer viele gibt, mit Gottes Hilfe selig hinscheiden. Eine wunderbare Sache ist das, rechtzeitig zu sterben...! Es klopfte an der Tür. Viktor rief »Ja!«, und Pavor kam herein, einen falschen
Bucharaschlafrock umgehängt, wirr und mit geschwollener Nase. »Endlich«, sagte er mit verschnupfter Stimme. Er setzte sich Viktor gegenüber, zog ein großes, nasses Taschentuch hervor und begann zu niesen und sich zu schneuzen. Er bot einen jämmerlichen Anblick. Vom früheren Pavor war keine Spur mehr zu sehen. »Was heißt - endlich?« erkundigte sich Viktor. »Wollen Sie Gin?« »Ach, ich weiß nicht...«, gab Pavor schniefend und hustend zur Antwort. »Diese Stadt macht mich fertig... Ha-ha-ha-ha- tsch-sch-schi! Ach...« »Gesundheit«, sagte Viktor. Pavor blickte ihn mit tränenden Augen an. »Wo verstecken Sie sich eigentlich?« fragte er herausfordernd. »Dreimal habe ich bei Ihnen geklopft, wollte mir was zum Lesen holen. Ich gehe hier drauf, mache nichts anderes als niesen und schneuzen... Im Restaurant keine Seele. Zum Portier bin ich dann gegangen, und dieser alte Trottel hat mir das Telefonbuch und alte Prospekte als Lektüre vorgeschlagen... >Besuchen Sie unsere sonnige Stadt!< Haben Sie was zum Lesen?« »Kaum«, sagte Viktor. »Zum Teufel, Sie sind doch Schriftsteller! Na ja, ich verstehe, Sie lesen keine anderen, aber Ihre eigenen Sachen werden Sie doch wohl hin und wieder durchblättern... Von allen Seiten tönt es: >Banev, Banev.. .< Wie ist der eine Titel da? >Der Tod nach Mittag >Die Mitternacht nach dem Tod Ich kann mich nicht erinnern...« »>Das Unglück kommt nachts<«, sagte Viktor. »Richtig, richtig. Geben Sie mir's zum Lesen!« »Tue ich nicht. Ich hab's nicht da«, sagte Viktor entschlossen. »Auch wenn ich es da hätte, würden Sie es nicht bekommen. Sie würden es mir vollhusten. Überhaupt würden Sie das Buch nicht begreifen.« »Warum denn nicht?« erkundigte sich Pavor bekümmert. »Es heißt, daß Sie da über das Leben von Homosexuellen geschrieben haben. Was gibt's da nicht zu begreifen?« »Sie sind doch selbst...«, sagte Viktor. »Trinken wir lieber Gin. Wollen Sie ihn mit Soda?« Pavor nieste, räusperte sich, blickte sich verzweifelt im Zimmer um, warf den Kopf zurück und nieste erneut. »Die Birne tut weh«, klagte er. »Hier, an der Stelle... Und wo waren Sie? Man sagt, Sie hätten sich mit Lesern getroffen. Mit den ortsansässigen Homosexuellen.« »Noch schlimmer«, sagte Viktor. »Ich habe mich mit den ortsansässigen Wunderkindern getroffen. Wissen Sie, was Akzeleration ist?« »Akzeleration? Hängt das mit vorzeitigem Reifeprozeß zusammen? Habe davon gehört. Da wurde mal viel Lärm drum gemacht, aber dann hat man in unserem
Ministerium eine Kommission ins Leben gerufen, und die hat nachgewiesen, daß es sich bei alldem um ein Verdienst des Herrn Präsidenten handelt, und zwar um das Ergebnis seiner persönlichen Bemühungen um die heranwachsende Generation von Löwen und Träumern. Damit war alles wieder ins rechte Lot gerückt. Aber ich weiß, wovon Sie sprechen, ich habe diese hiesigen Wunderkinder gesehen. Bewahre uns der Allmächtige vor solchen Löwen, die gehören nämlich ins Raritätenkabinett.« »Vielleicht gehören wir beide dorthin«, entgegnete Viktor. »Kann schon sein«, stimmte Pavor zu. »Nur hat das mit Akzeleration nichts zu tun. Akzeleration ist eine biologische und physiologische Sache. Das Gewicht der Neugeborenen steigt an, dann schießen sie zwei Meter in die Höhe wie die Giraffen, und mit zwölf sind sie schon fortpflanzungsbereit. In unserem Fall liegt der Grund im Erziehungssystem. Die Kinder sind die normalsten der Welt, aber die Lehrer . . .« »Was ist mit den Lehrern?« »Die Lehrer sind ungewöhnlich«, sagte Pavor hämisch. Viktor fiel der Direktor des Gymnasiums ein. »Was ist an den hiesigen Lehrern schon ungewöhnlich?« fragte er. »Vergessen sie etwa, ihre Hosentüre zuzumachen?« »Welche Hosentüre?« fragte Pavor und schaute Viktor bestürzt an. »Die haben doch keine.« »Was noch?« fragte Viktor. »Wie meinen Sie das?« »Was ist noch an ihnen ungewöhnlich?« Pavor schneuzte sich umständlich, Viktor nippte an seinem Gin und schaute ihn mitleidig an. »Keinen blassen Schimmer haben Sie«, sagte Pavor, indem er das beschneuzte Taschentuch betrachtete. »Wie unser Herr Präsident richtig bemerkt: die hervorstechende Eigenschaft unserer Schriftsteller ist die chronische Unkenntnis des Lebens und die Entfremdung von den Interessen der Nation ... Sie sind zum Beispiel schon länger als eine Woche hier. Waren Sie schon irgendwo außer Kneipe und Sanatorium? Haben Sie schon mit irgend jemandem gesprochen außer diesem besoffenen Schwein Quadriga? Weiß der Teufel, wofür Sie Ihr Geld bekommen ...« »Schon gut, lassen wir das«, sagte Viktor. »Genug von mir und von Zeitungen. Ein schöner Kritiker sind Sie mir. Da läuft ihm die Nase und den Lehrern spricht er die Hosentüre ab.« »Ah, das gefällt Ihnen wohl nicht«, sagte Pavor mit Befriedigung. »Dann lassen wir das eben . . . Erzählen Sie mir von Ihrem Treffen mit den Wunderkindern.« »Na ja, was ist da schon viel zu erzählen?« sagte Viktor. »Ganz normale Wunderkinder...«
»Trotzdem.« »Na, ich bin also hingekommen, und die haben mir einige Fragen gestellt. Interessante Fragen, so wie Erwachsene . . .« Viktor schwieg einen Augenblick lang. »Eigentlich, um ganz ehrlich zu sein, haben die mir ein paar auf den Deckel gegeben.« »Was waren das für Fragen?« fragte Pavor. Er blickte Viktor mit aufrichtigem Interesse und, wie es schien, mitfühlend an. »Es waren nicht mal so sehr die Fragen«, seufzte Viktor. »Offen gestanden, am meisten bestürzte mich, daß sie wie Erwachsene waren, und nicht nur das, eigentlich Erwachsene von hohem Format . . . Ein teuflischer, fast krankhafter Widerspruch...« Pavor nickte verständnisvoll. »Mit einem Wort, schlecht ist es mir ergangen«, sagte Viktor. »Ich denke nicht gern daran.« »Das ist begreiflich«, sagte Pavor. »Sie sind nicht der Erste und werden auch nicht der Letzte sein. Ich muß Ihnen sagen, daß die Eltern eines zwölfjährigen Kindes bejammernswert sind, denn sie haben den Buckel voller Sorgen. Die hiesigen Eltern jedoch sind ein Sonderfall. Sie erinnern mich an das Hinterland eines besetzten Gebietes, in dem die Partisanen viele Aktionen durchführen... Na, was hat man Sie nun trotz allem gefragt?« »Die wollten wissen, was Fortschritt ist. Sie haben da eine einfache Auffassung. Uns alle in Reservaten zusammenzutreiben, damit wir ihnen nicht im Weg herumlaufen. Und sie wollen dann ungestört Sursmansor und Spengler lesen. Jedenfalls ist das mein Eindruck.« »Na ja, das kann schon sein, sehr sogar«, sagte Pavor. »Wie der Herr, so der Knecht... Und jetzt kommen Sie und sprechen von Akzeleration und Sursmansor,.. Aber wissen Sie überhaupt, was die Nation dazu sagt?« »Wer, wer?« »Die Nation...! Sie sagt, daß an all dem Unglück die Naßmänner schuldig sind. Die Kinder sind übergeschnappt wegen der Naßmänner...« »Das sagt man nur deswegen, weil es in der Stadt keine Juden gibt«, bemerkte Viktor. Dann fiel ihm der Naßmann ein, der in den Schulsaal getreten war, wie die Kinder aufgestanden waren, und das Gesicht Irmas. »Meinen Sie das ernst?« fragte er. »Das sage nicht ich«, sagte Pavor. »Das ist die Stimme der Nation. Vox populi. Die Katzen sind aus der Stadt geflüchtet, aber die Kinder liegen den Naßmännern zu Füßen, treiben sich bei ihnen Tag und Nacht im Leprosorium herum, trotzen und gehorchen nicht mehr. Sie stehlen Geld von ihren Eltern und kaufen Bücher... Es heißt, die Eltern hätten sich anfangs sehr gefreut, daß die Kinder ihre Hosen beim Zäuneklettern nicht mehr zerrissen haben, sondern mäuschenstill zu Hause saßen und lasen, zumal das Wetter schlecht war. Aber jetzt sehen alle, wozu das geführt und wer das angezettelt hat. Jetzt freut sich niemand mehr. Aber die Naßmänner fürchtet man nach wie vor und schimpft
ihnen nach . ..« "Die Stimme der Nation" dachte Viktor. Die Stimme Lolas und des Herrn Bürgermeisters. Die Stimme kennen wir... Katzen, Regen, Fernsehen. Blut christlicher Kleinkinder ... »Ich verstehe das nicht«, sagte Viktor. »Meinen Sie das im Ernst oder sagen Sie das vor lauter Nichtstun?« »Das sage nicht ich«, wiederholte Pavor eindringlich. »Das spricht man in der Stadt.« »Das ist mir klar, was man in der Stadt spricht«, sagte Viktor. »Aber was denken Sie selbst darüber?« Pavor zuckte die Achseln. »Der Gang des Lebens«, sagte er unbestimmt. »Die Hälfte Geschwätz, die andere Wahrheit.« Er hob seinen Blick über das Taschentuch hinaus zu Viktor. »Halten Sie mich nicht für einen Idioten. Denken Sie lieber an die Kinder! Wo haben Sie sonst noch solche Kinder gesehen? Oder zumindest so viele?« Ja, dachte Viktor. Solche Kinder... Die Katzen sind unerheblich, aber dieser Naßmann da im Saal, das wiegt schwerer als Katzen und Regen zusammen... Es gibt so einen Ausdruck: >das Gesicht, von innen her erleuchtete Genauso ein Gesicht hatte Irma. Wenn sie dagegen mit mir spricht, ist das nur äußere Beleuchtung. Und mit der Mutter spricht sie überhaupt nicht, es sei denn ein paar verächtliche, herablassende Brocken, wobei sie den Mund kaum aufmacht... Allerdings, wenn alles so ist, wenn es Wahrheit und nicht irgendein schmutziges Gerede ist, dann schaut die Angelegenheit alles andere als sauber aus. Was wollen sie von den Kindern? Sie sind doch krank, unheilbar... Und überhaupt, was für eine Schweinerei, Kinder gegen ihre Eltern aufzuhetzen, noch dazu gegen solche Eltern wie Lola und ich. Uns reicht es, Herr Präsident: die Nation steht höher als Familienbande, die Legion der Freiheit ist euch Vater und Mutter, der Junge begibt sich ins nächste Stabsquartier, um dort mitzuteilen, der Vater hätte den Herrn Präsidenten einen merkwürdigen Menschen genannt und die Mutter hätte die Aktionen der Legion als verheerende Unternehmungen bezeichnet. Und zu guter Letzt taucht jetzt noch so ein schwarzer, nasser Onkel auf und erklärt rundheraus, dein Vater sei ein besoffenes hirnloses Stück Vieh und deine Mutter ein dummes, liederliches Frauenzimmer. Angenommen, das träfe alles zu - gleichwohl ist es eine Schweinerei, all das darf nicht so gemacht werden, außerdem geht es sie einen Dreck an, sie sind ja nicht dafür verantwortlich, keiner hat sie gebeten, hier als Aufklärer zu wirken . . . Irgendwie ist das pathologisch ... Wenn es nur Aufklärungsarbeit wäre. Und wenn es schlimmer ist? Schon das Kind beginnt mit rosigen Lippen über den Fortschritt zu plappern, schreckliche, grausame Dinge zu sprechen, ohne zu wissen, was es daherplappert; schon von Kindesbeinen an gewöhnt es sich an intellektuelle Grausamkeit, an die
schrecklichsten Grausamkeiten, die man sich nur ausdenken kann, und diese anderen da wickeln sich schwarze Lumpen um ihre abblätternde Visage, stehen hinter den Kulissen und halten die Fäden in der Hand ... Das würde bedeuten, es gibt gar keine neue Generation, sondern da ist nach wie vor dieses alte, schmutzige Marionettenspiel im Gange... Da war ich heute erst recht ein Esel, mich auf der Bühne so ver- stören zu lassen ... Was für eine perfide Einrichtung ist unsere Zivilisation doch... »... Augen zu haben und zu sehen«, sagte Pavor. »Uns lassen sie ins Leprosorium nicht rein. Stacheldraht, Soldaten, da geht nichts. Aber man kann doch auch in dieser Stadt hier einiges sehen. Ich habe beobachtet, wie Naßmänner mit Jungen sprachen und wie sich diese Jungen dabei benahmen. Die reinsten Engel wurden aus ihnen. Aber frag mal einen nach dem Weg zur Fabrik, mit welch abgrundtiefer Verachtung der dich mustert...« Uns lassen sie nicht ins Leprosorium rein, dachte Viktor. Dafür ist der Stacheldraht da. Aber die Naßmänner spazieren frei in der Stadt herum. Doch das hat nicht Golem ausgeheckt... Dieser Schweinehund, dachte er, Vater der Nation. So ein Drecksack. Also auch das ist sein Werk. Der beste Freund der Kinder... Das ist sehr wahrscheinlich. Ihm sähe das ähnlich. Wissen Sie, Herr Präsident, an Ihrer Stelle würde ich versuchen, etwas mehr Abwechslung in Ihre Methoden zu bringen. Es ist viel zu leicht geworden, Ihre Methoden von denen der anderen zu unterscheiden. Stacheldraht, Soldaten, Passierscheine aha, der Herr Präsident, also ganz sicher irgendeine Schweinerei. . . »Wozu, zum Teufel, brauchen sie den Stacheldraht?« fragte Viktor. »Woher soll ich das wissen?« sagte Pavor. »Früher war nie ein Stacheldraht dort.« »Sie waren also schon dort?« »Wie kommen Sie drauf? Ich war nicht dort. Ich bin ja auch nicht der erste Sanitätsinspektor hier... Es geht auch gar nicht um Stacheldraht. Schauen Sie sich mal in der Welt um, wie viel es davon gibt! Die Kinder läßt man da ungehindert rein und die Naßmänner ungehindert raus, aber wir beide dürfen nicht rein, das ist doch das Merkwürdige.« Nein, da steckt trotz allem nicht der Präsident dahinter, dachte Viktor. Der Präsident und die Lektüre Sursmansors und wohl auch Banevs - das geht irgendwie nicht zusammen. Und diese zerstörerische Ideologie... Hätte ich so was geschrieben, dann hätten sie mich gekreuzigt. Seltsam, seltsam... Und nicht sauber ... Ich werde mal Irma fragen, dachte er. Ich frage sie ganz einfach und werde schon sehen, was sie macht... Übrigens müßte auch Diana einiges wissen... »Hören Sie mir zu?« fragte Pavor. »Verzeihen Sie, ich war ganz in Gedanken.« »Ich sage gerade, es würde mich nicht wundern, wenn die Stadt Maßnahmen
treffen würde, und zwar einschneidende, wie es einer Stadt angemessen ist.« »Ich würde mich auch nicht wundern«, murmelte Viktor. »Es würde mich nicht mal wundern, wenn ich persönlich Lust bekäme, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen.« Pavor erhob sich und schritt zum Fenster. »Ein Wetter ist das«, sagte er niedergeschlagen. »Wegfahren von hier müßte man schleunigst... Geben Sie mir jetzt ein Buch oder nicht?« »Ich habe keine Bücher«, sagte Viktor. »Alles, was ich mitgebracht habe, ist im Sanatorium... Hören Sie, weshalb brauchen die Naßmänner unsere Kinder?« Pavor zuckte die Achseln. »Das sind doch kranke Menschen, wie sollen wir das wissen? Wir beide sind doch gesund.« Es klopfte, und Golem kam herein, massig und durchnäßt. »Fragen wir Golem«, schlug Pavor vor. »Golem, wozu brauchen die Naßmänner unsere Kinder?« »Ihre Kinder?« fragte Golem und studierte das Etikett auf der Ginflasche. »Haben Sie Kinder, Pavor?« »Pavor behauptet«, sagte Viktor, »daß ihre Naßmänner die Stadtkinder gegen ihre Eltern aufhetzen. Was wissen Sie darüber, Golem?« »Hm...«, sagte Golem. »Wo haben Sie ein sauberes Glas? Aha... Die Naßmänner hetzen also die Kinder auf? Nun ja... Sie sind nicht die Ersten und werden auch nicht die Letzten sein.« Er ließ sich, ohne den Regenmantel auszuziehen, auf das kleine Schlafsofa fallen. »Weshalb sollten in unserer Zeit die Kinder gegen ihre Eltern nicht aufgehetzt werden, wenn man die Weißen gegen die Schwarzen aufhetzt, die Gelben gegen die Weißen, die Dummen gegen die Klugen... Was wundert Sie da eigentlich so?« »Pavor behauptet«, wiederholte Viktor, »daß Ihre Kranken sich in der Stadt herumtreiben und den Kindern allerlei seltsame Dinge beibringen. Etwas Ähnliches habe ich selbst bemerkt, will aber vorläufig noch nichts behaupten. Also, ich wundere mich über nichts, aber ich frage Sie: Trifft es zu oder nicht?« »Soviel ich weiß«, sagte Golem und nahm einen Schluck, »hatten die Naßmänner seit jeher völlig freien Zugang zur Stadt. Ich weiß nicht, was Sie meinen, wenn Sie von seltsamen Dingen sprechen, die sie den Kindern beibringen, aber erlauben Sie mir, Sie, einen Ureinwohner dieser Gegend, zu fragen, ob Sie ein Spielzeug mit der Bezeichnung >böser kleiner Wolf< kennen?« »Natürlich«, sagte Viktor. »Hatten Sie so ein Spielzeug?« »Ich natürlich nicht... aber die Jungen hatten es, das weiß ich noch. . . « Viktor schwieg eine Weile. »Ja, wirklich«, sagte er. »Die Jungen sagten, ein Naßmann hätte es ihnen geschenkt. Ist es das, was Sie wissen wollen?« »Ja, genau das. Auch den Wetterapparat und die >hölzerne Hand<...«
»Pardon«, sagte Pavor. »Dürfte ich, der ich ein Zugewanderter aus der Hauptstadt bin, vielleicht erfahren, wovon die Ureinwohner sprechen?« »Das geht nicht«, sagte Golem. »Ich ahne es, weil mir danach i s t. .. Und hören Sie auf zu lügen, Sie haben sich doch bei Teddy nach dem Preis des Wetterapparats erkundigt und wissen ganz genau, was das ist.« »Scheren Sie sich doch zum Teufel!« sagte Pavor gereizt. »Ich spreche jetzt nicht vom Wetterapparat...« »Jetzt warten Sie doch, Pavor«, sagte Viktor ungeduldig. »Golem, Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« »Wirklich? Ich hatte den Eindruck, sie beantwortet zu haben... Sehen Sie, Viktor, die Naßmänner sind Menschen, die schwer und hoffnungslos krank sind. So eine genetische Krankheit ist doch etwas Furchtbares. Aber sie haben Güte und Geist bewahrt, deshalb darf man sie nicht beleidigen.« »Wer beleidigt sie?« »Beleidigen Sie sie etwa nicht?« »Einstweilen nicht. Einstweilen tue ich sogar das Gegenteil.« »Na ja, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Golem und erhob sich. »Fahren wir also.« Viktor riß die Augen auf. »Wohin fahren wir?« »Ins Sanatorium. Ich fahre ins Sanatorium, Sie, wie ich sehe, haben ähnliches vor, und Sie, Pavor, legen sich ins Bett. Hören Sie auf, mit Ihrer Grippe alle anzustecken!« Viktor blickte auf die Uhr. »Ist es nicht zu früh?« fragte er. »Wie Sie wollen. Nur vergessen Sie nicht, daß vom heutigen Tag an der Autobus nicht mehr verkehrt. Wegen mangelnder Rentabilität.« »Wie wär's, wenn wir vorher zu Mittag äßen?« »Wie Sie wollen«, wiederholte Golem. »Ich esse nie zu Mittag. Und Ihnen würde ich auch davon abraten.« Viktor befühlte seinen Bauch. »Ja«, sagte er. Dann blickte er zu Pavor. »Dann werde ich wohl fahren.« »Was geht mich das an?« sagte Pavor. Er war gekränkt. »Bringen Sie mir nur ein paar Bücher mit.« »Bestimmt«, versprach Viktor und begann sich anzuziehen. Im Wagen war es feucht; es roch nach Zigarettenrauch, Benzin und Medikamenten. Als sie unter die feuchte Plane ins Wageninnere gestiegen waren, sagte Golem: »Verstehen Sie Andeutungen?« »Manchmal«, sagte Viktor. »Wenn ich weiß, daß es Andeutungen sind. Wieso?« »Ich darf Sie also darauf hinweisen, daß jetzt eine Andeutung kommt. Hören Sie auf, Quatsch zu erzählen!«
»Hm«, murmelte Viktor. »Wollen Sie mir gütigst erklären, wie ich das auffassen soll?« »Als Andeutung. Hören Sie auf, Unsinn zu verzapfen!« »Mit Vergnügen«, sagte Viktor und verstummte. Er war in Nachdenken versunken. Sie durchquerten die Stadt, vorbei an der Konservenfabrik, durch den verlassenen, verblühten Park, dessen Grün infolge der Feuchtigkeit faulte. Sie rasten am Stadion vorbei, wo die >Verstandesbrüder<, über und über mit Dreck bespritzt, mit aufgequollenen Stiefeln beharrlich auf einen aufgequollenen Ball eindroschen. Dann gelangten sie auf die zum Sanatorium führende Landstraße. Zu beiden Seiten, sich in der Regenwand verlierend, erstreckte sich die morastige Steppe, eben wie eine Tischplatte. Früher einmal war sie trocken gewesen, ausgedörrt und dornig. Jetzt verwandelte sie sich langsam in einen Sumpf. »Ihre Andeutung«, sagte Viktor, »erinnerte mich an ein Gespräch, und zwar an ein Gespräch mit Seiner Exzellenz, dem Herrn Referenten für Staatsideologie des Herrn Präsidenten. Seine Exzellenz lud mich in Ihr bescheidenes Kabinett dreißig mal zwanzig und erkundigte sich: >Victoire, wollen Sie nach wie vor Ihr Stück Brot mit Butter?< Ich antwortete natürlich bejahend. >Dann hören Sie auf zu zupfen!< schnarrte Seine Exzellenz und entließ mich mit einer Handbewegung.« Golem grinste. »Woran haben Sie eigentlich gezupft?« »Seine Exzellenz spielte auf meine Banjoübungen in den Jugendklubs an.« Golem blinzelte ihn von der Seite an. »Wieso sind Sie eigentlich so sicher, daß ich kein Spion bin?« »Da bin ich mir gar nicht sicher«, entgegnete Viktor. »Aber mir ist das ganz einfach Wurst. Übrigens sagt man jetzt nicht mehr >Spion<, das ist doch ein Archaismus. Alle Gebildeten sagen jetzt >Spitzel<.« »Da spüre ich keinen Unterschied«, sagte Golem. »Ich an sich auch nicht«, sagte Viktor. »Wir werden also keinen Unsinn verzapfen. Ist Ihr Patient wieder genesen?« »Meine Patienten genesen nie.« »Einen schönen Ruf haben Sie da! Aber ich frage nach dem armen Kerl, der in das Tellereisen getreten ist. Was macht sein Bein?« Golem schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er: »Welchen von denen meinen Sie denn?« »Ich verstehe nicht«, sagte Viktor. »Den natürlich, der ins Tellereisen getreten ist.« »Da waren vier«, sagte Golem und blickte konzentriert auf die regennasse Fahrbahn. »Einer trat ins Tellereisen, den zweiten haben Sie auf dem Rücken geschleppt den dritten habe ich im Auto abtransportiert und wegen des vierten
haben Sie diese widerliche Rauferei im Restaurant angezettelt.« Viktor schwieg betroffen. Auch Golem schwieg. Geschickt wich er den zahllosen Schlaglöchern im alten Straßenbelag aus. »Na, na, jetzt zerbrechen Sie sich mal nicht den Kopf«, sagte er schließlich. »Ich habe nur Spaß gemacht. Er war allein. Und sein Bein ist noch in derselben Nacht verheilt.« »Ist das auch ein Spaß?« erkundigte sich Viktor. »Ha-ha-ha. Jetzt verstehe ich, warum Ihre Kranken nie genesen.« »Meine Kranken genesen nie - aus zwei Gründen«, sagte Golem. »Zum einen bin ich wie jeder normale Arzt nicht in der Lage, Erbkrankheiten zu heilen. Zum zweiten wollen sie gar nicht genesen.« »Komisch«, murmelte Viktor. »Über Ihre Naßmänner habe ich jetzt schon so viel gehört, daß ich in einem Zustand bin, wo ich alles glaube: die Sache mit dem Regen, das mit den Katzen, oder auch, daß ein zersplitterter Knochen in einer Nacht zuheilt.« »Was war das mit den Katzen?« fragte Golem. »Nun ja«, sagte Viktor, »warum gibt es in der Stadt keine Katzen mehr? Die Naßmänner sind schuld daran. Teddy kann sich vor Mäusen nicht mehr retten... Sie sollten Ihren Naßmännern nahelegen, auch die Mause aus der Stadt zu führen.« »A la Rattenfänger von Hameln?« fragte Golem. »Ja«, sagte Viktor leichthin. »Genauso a la.« Dann fiel ihm ein, wie die Geschichte mit dem Rattenfänger ausging. »Das ist gar nicht so lustig«, sagte er. »Ich war heute im Gymnasium auf einer Diskussion. Ich habe die Kinderchen gesehen und habe auch gesehen, wie sie irgendeinen Naßmann begrüßten. Es würde mich jetzt nicht mehr wundern, wenn eines schönen Tages ein Naßmann mit einem Akkordeon auf den Stadtplatz träte und die Kinderchen ans Ende der Welt entführte.« »Sie würden sich also nicht wundern«, sagte Golem. »Was würden Sie noch tun?« »Ich weiß nicht. . . Vielleicht würde ich ihm das Akkordeon abnehmen.« »Und selber spielen?« »Ja«, seufzte Viktor. »Das stimmt. Ich habe nichts, womit ich die Kinder weglocken könnte. Wieso fühlen sie sich so hingezogen? Das würde mich interessieren. Sie wissen es doch, Golem.« »Victoire, hören Sie auf zu zupfen!« sagte Golem. »Wie Sie wollen«, sagte Viktor. »Ich habe bemerkt, daß Sie geflissentlich und mehr oder weniger geschickt meinen Fragen ausweichen. Dumm von Ihnen. Ich werde die Sachen ohnehin herausfinden, Sie jedoch berauben sich der Möglichkeit, dieser Information eine Ihnen genehme emotionale Färbung zu verleihen.«
»Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht!« erklärte Golem. »Abgesehen davon, ich weiß ja nichts. Ich kann nur ahnen.« Er bremste. Vor ihnen tauchten im Regenschleier drei Figuren auf, die auf der Landstraße standen. Es waren drei graue Figuren und ein grauer Wegweiser mit den Aufschriften: >Leprosorium - 6 km< und >San. Heiße Quellen - 2,5 km<. Die Figuren traten an den Straßenrand. Es waren ein Erwachsener und zwei Kinder. »Halten Sie schon an !« sagte Viktor. Seine Stimme war augenblicklich heiser. »Was ist passiert?« Golem brachte den Wagen zum Stehen. Viktor gab keine Antwort. Er schaute auf die Leute am Wegweiser, einen hochgewachsenen, schwarzen Naßmann im triefenden Trainingsanzug, auf den Jungen, der ebenfalls keinen Regenmantel trug, sondern einen durchnäßten Anzug und Sandalen anhatte, und auf das Mädchen, das barfuß war und dessen Kleidchen am Körper klebte. Mit einem Ruck riß Viktor die Tür auf und sprang auf die Straße. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, so daß er nach Luft schnappen mußte. Rasende Wut hatte ihn befallen, eine Wut, in der man alles zerschlagen möchte, in der man sich bewußt ist, daß man Dummheiten begehen wird, was einen jedoch mit Genugtuung erfüllt. Mit festen Schritten ging er dicht an den Naßmann heran. »Was geht hier vor?« brachte er zwischen den Zähnen hervor. Und dann zu dem Mädchen, das ihn verwundert ansah: »Irma, sofort ins Auto!« Dann erneut zu dem Naßmann: »Der Teufel hole Sie! Was machen Sie denn hier?« Und dann wieder zu Irma: »Marsch, ins Auto! Hörst du nicht?« Irma bewegte sich nicht von der Stelle. Alle drei standen immer noch da, die Augen des Naßmannes über der schwarzen Binde gingen ruhig auf und zu. Dann sagte Irma mit unverständlicher Intonation: »Das ist mein Vater.« Plötzlich wußte Viktor, begriff er intuitiv, daß hier nicht der Ort war, zu brüllen und mit den Händen zu fuchteln, zu drohen, am Kragen zu packen und herumzuschleifen... Überhaupt durfte man jetzt nicht toben. Er sagte ganz ruhig: »Irma, geh ins Auto! Du bist ganz durchnäßt. Bol-Kunaz, an deiner Stelle würde ich auch ins Auto gehen.« Viktor war überzeugt, daß Irma gehorchen würde, und sie gehorchte. Allerdings nicht ganz so, wie er gewollt hätte. Nein, nicht daß sie mit einem Blick den Naßmann um Erlaubnis gebeten hätte, ins Auto steigen zu dürfen, aber es blieb doch ein flüchtiger Eindruck, als wäre da etwas gewesen, ein Gedankenaustausch, eine kurze Besprechung, die die Frage zu seinen Gunsten entschied. Irma rümpfte die Nase und ging zum Auto. Bol- Kunaz sagte höflich: »Ich danke Ihnen, Herr Banev, aber wirklich, ich bleibe lieber hier.« »Wie du willst«, sagte Viktor. Bol-Kunaz beunruhigte ihn wenig. Jetzt war es nötig, diesem Naßmann etwas zum Abschied zu sagen. Viktor wußte bereits im voraus, daß es etwas höchst Dummes sein würde, aber was sollte er machen?
So einfach wegzugehen - das hätte er nicht vermocht. Aus Prestigegründen. Und er sagte herablassend: »Sie, verehrter Herr, lade ich nicht ein. Wie man sieht, fühlen Sie sich hier wie ein Fisch im Wasser.« Dann drehte er sich um, schleuderte in Gedanken den Fehdehandschuh von sich und schritt zum Auto. >Nachdem er diese Worte gesprochen hatte<, dachte er voller Abscheu, >entfernte sich der Graf mit Würde...< Irma hatte die Beine auf den Vordersitz gelegt und löste ihre Zöpfe. Viktor kroch nach hinten. Er fühlte sich beschämt, hüstelte etwas, und als Golem anfuhr, sagte er: »>Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, entfernte sich der Graf.< Streck deine Füße hierher, Irma, ich reibe sie dir ab.« »Wozu?« erkundigte sich Irma neugierig. »Willst du eine Lungenentzündung abkriegen? Los, die Füße her!« »Bitte«, sagte Irma, rutschte auf dem Sitz herum und streckte ihm ein Bein hin. Im Vorgefühl, jetzt endlich etwas Natürliches und Nützliches zu tun, faßte Viktor mit beiden Händen das dünne, nasse Mädchenbein, das ihn irgendwie rührte. Er wollte jenes schmutzige, knochige, eiskalte Etwas von Bein, das seit jeher Schnupfen, Grippe, Katarrh der Atemwege und beidseitige Lungenentzündung begleitete, mit seinen rauhen väterlichen Händen abreiben, bis es rot und immer röter würde. Da entdeckte er, daß ihre Hände noch kälter waren. Er machte ein paar mechanische Streichelbewegungen und legte dann behutsam das Bein auf den Sitz. Ich habe es doch gewußt, ging ihm plötzlich durch den Sinn, noch als ich vor ihnen stand, daß da wieder eine Falle ist, daß den Kindern nichts droht, weder Katarrh noch Entzündungen, nur wollte ich das nicht, sondern ich wollte retten, sie den Fängen entreißen, meinem gerechten Zorn Luft verschaffen, meine Pflicht erfüllen... Und wiederum hat man mich um den Finger gewickelt, ich weiß nicht, wie sie das machen, aber sie haben mich jedenfalls wieder drangekriegt, und ich stehe wieder als Dummkopf da, schon das zweitemal... »Nimm dein Bein wieder weg«, sagte er zu Irma. Irma zog ihr Bein zurück und fragte: »Wohin fahren wir denn? Ins Sanatorium?« »Ja«, sagte Viktor. Er blickte zu Golem, um zu sehen, ob dieser seine Blamage bemerkt hatte. Golem saß auf dem Fahrersitz, grauhaarig, lässig, gekrümmt und allwissend, seine massige Gestalt füllte den Raum. Sein Blick war unbeirrt auf die Straße gerichtet. »Und wozu?« fragte Irma. »Du ziehst dir was Trockenes an und legst dich ins Bett«, sagte Viktor. »Das auch noch!« sagte Irma. »Was ist dir denn da eingefallen?« »Schon gut, schon gut«, murmelte Viktor. »Du bekommst Bücher und wirst
lesen.« Wirklich, wozu nehme ich sie um Himmels willen dahin?, dachte er. Da ist Diana... Na ja, das werden wir dann sehen. Keine Trinkerei jedenfalls, und überhaupt. Aber wie bringe ich sie denn zurück? Da schnappe ich mir irgendein Auto und fahre sie weg von dort... Jetzt würde mir ein Schluck gut tun. »Golem...«, begann er, besann sich dann aber. Zum Teufel, unmöglich, das ging doch nicht. »Ja?« sagte Golem, ohne den Kopf zu wenden. »Nichts, nichts«, seufzte Viktor und starrte den Flaschenhals an, der aus Golems Manteltasche herausragte. »Irma«, sagte er erschöpft. »Was habt ihr an dieser Kreuzung gemacht?« »Wir dachten den Nebel«, antwortete Irma. »Was?« »Wir dachten den Nebel«, wiederholte sie. »Über den Nebel nach«, verbesserte Viktor. »Oder an den Nebel.« »Wieso - >über den Nebel nach« fragte Irma. »Denken ist ein intransitives Verbum«, erklärte Viktor. »Es braucht eine Präposition. Habt ihr die intransitiven Verben noch nicht gehabt?« »je nachdem«, sagte Irma. »>Den Nebel denken< ist eine Sache, >über den Nebel nachdenken< eine ganz andere... Und wozu man über den Nebel nachdenken soll, möchte ich auch wissen.« Viktor holte eine Zigarette hervor und begann zu rauchen. »Warte einmal«, sagte er. »>Den Nebel denken<, so sagt man nicht, das ist falsch. Es gibt infinite Verben, z. B. denken, laufen, gehen .. . Sie brauchen immer eine Präposition. Auf der Straße gehen. Denken an. . . irgend etwas. ..« »Dummheiten denken«, sagte Golem. »Na ja, das ist eine Ausnahme«, sagte Viktor etwas aus der Fassung gebracht. »Schnell gehen«, sagte Golem. »Schnell ist kein Substantiv«, sagte Viktor gereizt. »Bringen Sie das Kind nicht durcheinander, Golem.« »Papa, mußt du unbedingt rauchen?« erkundigte sich Irma. Viktor schien es, als hätte Golem irgendeinen Laut von sich gegeben, vielleicht war es auch nur der Motor gewesen, der eine Steigung bewältigen mußte. Viktor drückte die Zigarette aus und zertrat sie mit dem Absatz. Sie fuhren zum Sanatorium hinauf. Seitwärts aus der Steppe wälzte sich eine dichte, weiße Wand dem Regen entgegen. »Da hast du deinen Regen«, sagte Viktor. »Jetzt kannst du ihn denken. Oder auch riechen, laufen und gehen.« Irma wollte etwas sagen, aber Golem unterbrach sie. »Im übrigen«, sagte er, »tritt >denken< als infinites Verb auch in Satzgefügen auf, z. B. >ich denke, daß...<, und so weiter.«
»Das ist eine ganz andere Sache«, widersprach Viktor. Es ging ihm auf die Nerven. Zu gerne hätte er geraucht und etwas getrunken. Sehnsüchtig blickte er auf den Flaschenhals. »Ist dir nicht kalt?« fragte er Irma. Eine unbestimmte Hoffnung erfüllte ihn. »Nein. Und dir?« »Ein bißchen«, gab Viktor zu. »Da ist ein Schluck Gin gut«, bemerkte Golem. »Ja, das wäre was... Haben wir welchen?« »Das schon«, sagte Golem. »Aber wir sind schon fast da.« Der Jeep fuhr durch das Tor. Was sich jetzt abspielte, hatte Viktor in seine Berechnungen nicht einbezogen. Die ersten Nebelschwaden hatten gerade erst begonnen, von draußen durch das Gartengitter zu dringen; die Sicht war noch ausgezeichnet. Auf der Auffahrt lag ein Mensch im durchnäßten Schlafanzug; man hatte den Eindruck, als läge er schon viele Tage und Nächte an diesem Platz. Golem fuhr vorsichtig um ihn herum. Der Wagen rollte an der Gipsvase vorbei, die mit primitiven Zeichnungen und entsprechenden Aufschriften verziert war. Dann reihte sich Golem an die Autos an, die vor der Auffahrt zum rechten Gebäudeflügel dichtgedrängt parkten. Kaum hatte Irma die Wagentür geöffnet, da tauchte aus dem Fenster des nächsten Wagens eine ausgemergelte Fratze auf und röhrte: »Kindchen, wenn du willst, dann gebe ich mich dir hin!« Viktor erstarrte und kletterte aus dem Wagen. Irma blickte neugierig um sich. Viktor packte sie am Arm und führte sie zur Freitreppe. Auf den Stufen saßen zwei Mädchen im Regen. Sie trugen nur Unterwäsche, hielten sich umarmt und sangen mit getragener Stimme vom grausamen Apotheker, der kein Heroin abgibt. Als sie Viktor erblickten, verstummten sie. Als er an ihnen vorbeiging, versuchte eine von ihnen, ihn am Hosenbein zu fassen. Viktor schob Irma ins Vestibül. Hier war es dunkel, die Fenster waren verhängt. In der Luft hing Tabakqualm und irgendein säuerlicher Geruch. Ein Projektor surrte, und auf einer weißen Wand lief ein pornografischer Film. Viktor biß die Zähne zusammen, stieg über Beine und zog Irma, die ständig stolperte, hinter sich her. Hinter ihnen erschollen wütende, obszöne Ausrufe. Dann hatten sie sich den Weg durchs Vestibül gebahnt und stiegen die teppichbelegte Treppe hinauf, wobei Viktor drei Stufen auf einmal nahm. Irma folgte stumm und Viktor wagte es nicht, sie anzublicken. Auf dem Treppenabsatz erwartete ihn mit ausgebreiteten Armen, blau angelaufen und aufgeblasen, das Parlamentsmitglied Rocheper Nante. »Victoire!« schnaufte er. »Freu-eund!« Auf einmal bemerkte er Irma und geriet in helle Begeisterung. »Victoire! Auch du! - Junges, niedliches Blut!« Viktorkniff die Augen zusammen, trat ihm fest auf den Fuß und gab ihm einen Stoß vor die Brust. Rocheper fiel nach rückwärts, wobei er eine Urne umstieß. Schweißgebadet schritt Viktor den Korridor entlang. Irma hüpfte geräuschlos neben ihm her. Er wollte Dianas Tür
aufstoßen, doch die Tür war verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Jetzt hämmerte er wie rasend gegen die Tür. In diesem Augenblick erscholl von drinnen Dianas wutentbrannte Stimme: »Scher dich zum Teufel, du stinkender Schlappschwanz! Du Arschloch, du Scheißhund!« »Diana!« brüllte Viktor. Drinnen wurde es still, und die Tür öffnete sich. Auf der Schwelle stand Diana und hielt einen Importschirm in Bereitschaft. Viktor stieß sie zur Seite, schob Irma ins Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. »Ach, du bist es«, sagte Diana. »Ich dachte, es wäre schon wieder Rocheper.« Sie roch nach Alkohol. »Du lieber Himmel«, sagte sie. »Wen hast du denn da gebracht?« »Das ist meine Tochter«, sagte Viktor mit Überwindung. »Sie heißt Irma. Irma, das ist Diana.« Er blickte Diana fest an. In seinem Blick lagen Verzweiflung und Hoffnung. Gott sei Dank, sie schien nicht betrunken zu sein. Oder sie war augenblicklich nüchtern geworden. »Du bist verrückt geworden«, sagte sie leise. »Sie war ganz durchnäßt«, sagte er. »Zieh ihr was Trockenes an und leg sie ins Bett.. . und überhaupt. . .« »Ich lege mich nicht hin«, erklärte Irma. »Irma«, sagte Viktor. »Sei jetzt so gut und tu, was ich dir sage! Sonst muß ich gleich jemanden verdreschen . . .« »Ja, einige Leute hier müßte man verdreschen«, sagte Irma hoffnungslos. »Diana«, sagte Viktor. »Ich bitte dich!« »Gut«, sagte Diana. »Geh auf dein Zimmer! Wir werden schon alles in Ordnung bringen.« Als Viktor das Zimmer verließ, fühlte er sich ungeheuer erleichtert. Er begab sich schnurstracks auf sein Zimmer, aber auch dort fand er nicht sofort Ruhe. Er mußte zuerst ein unbekanntes Pärchen rauswerfen, das sich dort ungeniert kopulierend eingenistet hatte, ebenso die versaute Bettwäsche. Nachdem er die Tür verschlossen hatte, ließ er sich auf die nackte Matratze fallen und zündete sich eine Zigarette an, die ganz feucht war. Er begann nachzudenken, was er angestellt hatte. 7 Am nächsten Tag wachte Viktor spät auf. Es war Mittagessenszeit. Der Kopf schmerzte zwar etwas, aber Viktors Stimmung war unerwartet gut. Am Abend vorher hatte er eine Packung Zigaretten ausgeraucht und war nach unten gegangen. Mit einer Haarnadel hatte er irgendeinen Wagen geöffnet, hatte Irma durch den Diensteingang hinausgeführt und sie zur Mutter gefahren. Zuerst hatten sie geschwiegen. Viktor hatten die unerfreulichen Geschehnisse des Vortags geplagt, Irma hatte neben ihm gesessen, sauber,
adrett, nach der letzten Mode frisiert (keinerlei Zöpfe) und offensichtlich auch mit angemalten Lippen. Er hatte gern ein Gespräch angefangen, aber dazu hätte er zuerst eingestehen müssen, ein hoffnungsloser Narr gewesen zu sein, und das hatte er aus pädagogischen Gründen verworfen. Es war Irma gewesen, die die Situation klärte. Aus heiterem Himmel hatte sie ihm erlaubt zu rauchen (unter der Bedingung, daß alle Fenster geöffnet würden), hatte dann erzählt, wie interessant es für sie gewesen sei, wie es dem ähnlich gewesen sei, was sie früher in Büchern gelesen, aber nie so recht geglaubt habe, was für ein prima Typ er sei, weil er ihr zu einem so unerwarteten und überaus lehrreichen Abenteuer verholfen habe, daß er überhaupt ein ziemlich guter Mensch sei, keine Langeweile verbreite und keine Dummheiten verzapfe, daß Diana für sie fast »eine der ihren« sei, alle hasse, nur sei es schade, daß ihre Kenntnisse beschränkt seien und daß sie zu sehr an der Flasche hänge, was aber schließlich und endlich nicht allzu schlimm sei, da er, Viktor, auch gern etwas zu viel trinke. Den Kindern habe er auch gefallen, weil er aufrichtig gesprochen und sich nicht als Bewahrer höchster Weisheit aufgespielt habe, was auch richtig sei, er sei nämlich gar kein Bewahrer. Sogar Bol-Kunaz habe gesagt, daß er in der Stadt der einzige brauchbare Mensch sei, wenn man einmal von Golem absehe, doch Golem habe ja an sich mit der Stadt nichts zu tun, außerdem sei er kein Schriftsteller, drücke also keine Ideologie aus. Wie er, Viktor, dazu stehe, brauche man eine Ideologie oder nicht, jetzt seien ja viele der Ansicht, daß die Zukunft der Abkehr von der Ideologie gehöre... Es hatte sich ein wunderbares Gespräch entwickelt, die Gesprächspartner waren von gegenseitiger Achtung erfüllt gewesen, und als er ins Hotel zurückgekehrt war (den Wagen hatte er in einem Hof voll alten Gerümpels abgestellt), war er überzeugt gewesen, daß es keine so undankbare Sache sei, Vater zu sein, besonders wenn man sich im Leben auskenne und in der Lage sei, auch seine Schattenseiten in erzieherischem Sinne auszunüt- zen. Aus diesem Grund hatte er mit Teddy dann getrunken; jener war nämlich ebenfalls Vater und an Erziehungsproblemen interessiert; sein erster war vierzehn Jahre alt »ein schwieriges Umbruchsalter, du wirst mit der deinen noch deine blauen Wunder erleben...«, das heißt sein erster Enkel war vierzehn; seinen Sohn hatte er deswegen nicht erziehen können, weil dieser seine Kindheit in einem deutschen Konzentrationslager verbracht hatte... »Kinder darf man nicht schlagen«, bekräftigte Teddy, »die werden auch ohne dich ihr Leben lang was abbekommen, und wenn du sie schlagen willst, dann hau dir lieber selber eine rein, das ist nützlicher.« Nach mehreren Gläschen jedoch war Viktor eingefallen, daß Irma mit keinem Wort sein unsinniges Verhalten an der Kreuzung erwähnt hatte. Er war zu dem Schluß gekommen, daß das Mädchen schlau sei; und sich bei jeder selbstverschuldeten Sackgasse gleich hilfesuchend an die Geliebte zu wenden,
das war zumindest nicht ehrenhaft. Diese Überlegungen hatten ihn bekümmert, aber da war Doktor R. Quadriga gekommen und hatte wie üblich eine Flasche Rum bestellt, und sie hatten diese Flasche ausgetrunken, woraufhin sich das ganze Geschehen Viktor in freundlicheren Farben dargestellt hatte; es war klargeworden, daß Irma ihn ganz einfach nicht hatte kränken wollen, das heißt, sie ehrte ihren Vater, ja vielleicht liebte sie ihn sogar... Dann war noch jemand gekommen und hatte noch etwas bestellt. Dann war Viktor wahrscheinlich schlafen gegangen... Wahrscheinlich... Es war jedenfalls anzunehmen... Da war zwar noch eine Erinnerung: ein gekachelter Boden, der von Wasser überspült war; aber was das für ein Boden war und was für ein Wasser, daran vermochte er sich nicht zu erinnern. Es war auch besser so... Nachdem er sich zurechtgemacht hatte, ging Viktor nach unten, nahm beim Portier die neuesten Zeitungen mit und unterhielt sich mit ihm über das verfluchte Wetter. »Wie war das mit mir gestern abend?« fragte er beiläufig. »Alles in Ordnung?« »Im allgemeinen schon«, antwortete der Portier höflich. »Teddy wird Ihnen die Rechnung geben.« »Aha«, sagte Viktor. Er verzichtete auf eine nähere Klärung und ging ins Restaurant. Es schien ihm, als hätte die Zahl der Tischlampen abgenommen. Verdammt noch mal, dachte er erschrocken. Teddy war noch nicht da. Viktor nickte dem jungen Mann mit Brille und seinem Begleiter zu, setzte sich an seinen Tisch und entfaltete die Zeitung. In der Welt gab es nichts Neues. Ein Staat hatte die Handelsschiffe eines anderen Staates beschlagnahmt, und dieser andere Staat reagierte mit energischen Protesten. Die Staaten, die dem Herrn Präsidenten, warum auch immer, nicht gefielen, führten Eroberungskriege, ja es handelte sich dabei weniger um Kriege, als um Überfälle von Verbrechern und Banditen. Der Herr Präsident selbst hatte eine zweistündige Rede gehalten, in der er die Notwendigkeit unterstrich, ein für allemal die Korruption zu beseitigen. Außerdem hatte er eine Mandeloperation gut überstanden. Ein bekannter Kritiker - Viktor hielt ihn für ein Schwein - pries ein neues Buch von Roz-Tusov; die Sache hatte einen merkwürdigen Beigeschmack; denn das Buch war gut. Ein neuer, unbekannter Ober kam an den Tisch, empfahl auf liebenswürdige Art Austern, nahm die Bestellung entgegen, fegte mit der Serviette über den Tisch und entfernte sich. Viktor legte die Zeitung zur Seite, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich bequem hin. Er begann, über seine Arbeit nachzudenken... Nach einem guten Glas bereitete ihm das Nachdenken über die Arbeit immer Vergnügen. Jetzt wäre es gut, eine optimistische, fröhliche Erzählung zu schreiben... Über das Leben eines Menschen, der seine Arbeit liebt, kein Dummkopf ist, der seine Freunde liebt und den seine Freunde
schätzen, und darüber, wie wohl er sich fühlt; ein fabelhafter Junge, der Witze reißt und ein paar wunderliche Eigenschaften h a t. . . Aber das Thema fehlt. Das heißt, die Sache wird langweilig. Und überhaupt, wenn man schon so eine Erzählung schreibt, dann muß man auch ergründen, warum sich dieser gute Mensch so wohl fühlt. Unvermeidlich kommt man dann zu dem Schluß, daß er sich nur deswegen so wohl fühlt, weil er seine Lieblingsarbeit verrichtet; auf alles andere pfeift er. Und das soll dann ein guter Mensch sein, der auf alles pfeift außer auf seine heißgeliebte Arbeit? Natürlich konnte er über einen. Menschen schreiben, der den Sinn seines Lebens darin sieht, den Nächsten zu lieben; dieser Mensch fühlt sich wohl, weil er seine Nächsten und seine Sache liebt. Aber über solch einen Menschen hatten bereits vor zweitausend Jahren die Herren Lukas, Matthäus, Johannes und noch einer geschrieben, insgesamt vier. Genauer gesagt, waren es erheblich mehr gewesen, aber nur diese vier hatten wahrheitsgemäß geschrieben, die anderen besaßen teils kein Nationalbewußtsein, teils hatten sie Schreibverbot... und der Mensch, über den sie geschrieben hatten, war bedauerlicherweise schwachsinnig gewesen... Überhaupt wäre es interessant zu beschreiben, wie Christus in der Welt von heute erschiene, nicht so, wie es Dostojewski geschildert hatte, sondern so, wie Lukas und die anderen darüber geschrieben hatten... Christus erscheint beim Generalstab und macht den Vorschlag, man solle doch seinen Nächsten lieben. Dort würde natürlich irgendein Judenhasser sitzen... »Gestatten Sie, Herr Banev«, vernahm er über sich eine angenehme, rollende Männerstimme. Es war der Herr Bürgermeister in eigener Person. Keine Spur jenes dunkelrot angelaufenen, gehirnschlagverdächtigen, verschnittenen Ebers, der auf Herrn Rochepers breitem Sofa spie, weil das Vergnügen über seine Kräfte ging. Vor Viktor stand ein eleganter, rundlicher und würdiger Herr, glatt rasiert und tadellos gekleidet. Aus dem Knopfloch hing ein bescheidenes Ordensband, an der linken Schulter war das Abzeichen der Legion der Freiheit befestigt. »Bitte schön«, sagte Viktor ohne jegliche Begeisterung. Der Herr Bürgermeister setzte sich, blickte um sich und legte die Arme auf den Tisch. »Ich werde mich bemühen, Ihre Aufmerksamkeit so kurz wie möglich in Anspruch zu nehmen, Herr Banev«, sagte er. »Sosehr mir auch daran liegt, Sie bei Ihren Tafelfreuden nicht zu stören, die Frage, mit der ich mich an Sie wenden möchte, ist so akut geworden, daß wir alle, groß und klein, alle, denen die Ehre und das Wohlergehen unserer Stadt am Herzen liegen, bereit sind, unsere Angelegenheiten hintanzustellen, um eben diese Frage so schnell und so effektiv wie möglich zu lösen.« »Was gibt's?« fragte Viktor. »Unser Treffen hier, Herr Banev, trägt eher inoffiziellen Charakter. Da ich weiß,
wie sehr Sie beschäftigt sind, wagte ich es nicht, Sie während Ihrer Arbeit zu behelligen, zumal ich mir der Spezifik dieser Arbeit bewußt bin. Trotz allem wende ich mich jetzt an Sie in meiner Eigenschaft als offizieller Vertreter, sowohl in meinem Namen als auch im Namen der städtischen Selbstverwaltung. . . « Der Ober brachte Austern und eine Flasche Weißwein. Der Bürgermeister stoppte ihn mit erhobenem Finger. »Mein Freund«,, sagte er, »eine halbe Portion Stör und ein Gläschen Pfefferminzschnaps. Den Stör ohne Soße... Also, ich fahre fort«, sagte er und wandte sich erneut Viktor zu. »Ich befürchte sicher mit Recht, daß unser Gespräch kaum die Bezeichnung >Tischunterhaltung< verdienen wird. Es geht nämlich um Dinge und Umstände, die betrüblich, ich würde sogar sagen, unappetitlich sind. Ich habe die Absicht, mit Ihnen über die sogenannten Naßmänner zu sprechen, über jenes bösartige Geschwür also, das jetzt schon seit Jahren unser unglückliches Gebiet zerfrißt.« »Ja, ja«, sagte Viktor. Sein Interesse war erwacht. Der Bürgermeister hielt eine halblaut vorgetragene, gut durchdachte und stilistisch ausgefeilte Rede. Er begann damit, daß zwanzig Jahre zuvor, im Anschluß an die Besetzung, in der Pferdeniederung das Leprosorium errichtet worden sei. Es sei ein Quarantänelager für jene Kranken gewesen, die am sogenannten Gelben Aussatz oder der Augenkrankheit gelitten hätten. Wie Herrn Banev bekannt sei, sei diese Krankheit im Lande schon vor undenklichen Zeiten aufgetaucht, wie spezielle Untersuchungen bewiesen. Seltsamerweise habe sie in besonderem Maße immer die Bewohner der hiesigen Gegend betroffen. Allein dank der Bemühungen des Herrn Präsidenten habe man jedoch begonnen, sich ernsthaft mit dieser Krankheit zu beschäftigen; allein auf seine persönliche Anordnung hin seien diese Unglücklichen, die ohne jegliche medizinische Betreuung über das ganze Land verstreut gelebt hätten, die von seiten rückständiger Bevölkerungsschichten zum Teil ungerechtfertigten Verfolgungen aus- gesetzt gewesen und von der Besatzungsmacht sogar physisch vernichtet worden seien, diese Unglücklichen seien schließlich an einem Ort zusammengeführt worden, der ihnen eine erträgliche Existenzmöglichkeit geboten habe, die ihrer Lage angemessen gewesen sei. Gegen all das gebe es keine Einwände, im Gegenteil, die getroffenen Maßnahmen seien nur zu begrüßen. Nun sei allerdings das eingetreten, was bei uns zuweilen vorkommt, daß sich nämlich die besten und gutgemeintesten Taten ins Gegenteil, das heißt gegen uns, verkehrt hätten. Man werde jetzt nicht nach Schuldigen suchen. Man werde jetzt auch nicht die Tätigkeit Herrn Golems unter die Lupe nehmen, eine womöglich selbstaufopfernde Tätigkeit, die jedoch, wie sich herausgestellt habe, die unangenehmsten Folgen nach sich ziehen könne. Man werde jetzt
auch nicht vorschnell herumkritzeln, obwohl die Einstellung einiger hochgestellter Instanzen, die eingehende Proteste hartnäckig ignorierten, ihm persönlich ein Rätsel sei. Aber jetzt komme er auf die Tatsachen zu sprechen... Der Bürgermeister trank ein Gläschen Schnaps, verzehrte anschließend mit Genuß ein Stück vom Stör, woraufhin seine Stimme noch samtener klang. Es war unvorstellbar, daß dieser Mensch Tellereisen für Menschen auslegte. Mit beredten Worten gab er seiner Hoffnung Ausdruck, Herrn Banevs Aufmerksamkeit nicht allzusehr mit den in der Stadt kursierenden Gerüchten zu belästigen. Er müsse offen zugeben, daß diese Gerüchte dergestalt seien, sofern sie nicht das Ergebnis ungenauer und lückenhafter Erfüllung der Anordnungen des Herrn Präsidenten von seiten aller Ebenen der Verwaltung seien... Er spreche von dem außerordentlich weit verbreiteten Glauben, daß die sogenannten Naßmänner einen verhängnisvollen Einfluß ausübten; man bringe sie in Verbindung mit dem Klimaumbruch, mit dem Ansteigen der Fehlgeburtenrate und der Zahl kinderloser Ehen, dem massenhaften Auszug einiger Haustierarten aus der Stadt und dem Auftreten einer besonderen Abart der Hauswanze, der sogenannten geflügelten Wanze... »Herr Bürgermeister«, sagte Viktor seufzend, »ich muß gestehen, daß ich Ihren langen Ausführungen nur mit Mühe folge. Lassen Sie uns einfach sprechen, so wie es, gute Söhne einer Nation machen. Sprechen wir nicht darüber, worüber wir nicht sprechen, sondern sprechen wir davon, wovon wir sprechen.« Der Bürgermeister warf ihm einen kurzen Blick zu, rechnete sich irgend etwas aus, wägte in Gedanken etwas ab, weiß der Teufel, was, wahrscheinlich bezog er alles mit ein, auch daß er mit Rocheper gesoffen hatte, daß er sich überhaupt gern besoff, und zwar geräuschvoll und vor aller Aügen, daß Irma ein Wunderkind war, daß es eine Diana auf der Welt gab, und bestimmt noch vieles andere, so daß der Herr Bürgermeister zusehends an Glanz verlor und lauthals nach einem Glas Kognak rief. Auch Viktor rief lauthals nach einem Glas Kognak. Der Bürgermeister lachte schallend, blickte sich im leergewordenen Saal um, schlug mit der Faust leicht auf die Tischplatte und sagte: »Na gut, wozu sollen wir uns da herumwinden. In der Stadt läßt es sich nicht mehr leben, bedanken Sie sich bei Ihrem Golem. Wissen Sie übrigens, daß Golem ein verkappter Kommunist ist? Ja, ja, das können Sie mir glauben, da liegt Material vor... Er hängt an einem seidenen Faden, Ihr Golem... Und ich sage, die Kinder werden vor unser aller Augen demoralisiert. Diese Schweine sind in die Schulen eingesickert und haben unsere Kinder schlichtweg verdorben; die Wähler sind unzufrieden, einige verlassen die Stadt, es gärt, schon gibt es Fälle von Lynchjustiz, die Gebietsverwaltung legt die Hände in den Schoß, so ist die Situation bei uns.« Er leerte das Glas. »Ich muß Ihnen sagen, dieses Gesindel hasse ich dermaßen, daß ich es mit den Zähnen zerreißen möchte, aber da würde mir übel. Sie werden es nicht glauben, Herr Banev, aber
es ist so weit gekommen, daß ich Tellereisen auslege... Gut, die Kinder haben sie jetzt verdorben, aber Kinder bleiben Kinder, mag man sie auch noch so viel verderben. Aber das ist denen noch nicht genug. Versetzen Sie sich doch mal in meine Lage. Dieser Regen - auch da haben sie ihre Finger im Spiel, ich weiß nicht, wie sie das machen, aber es ist so. Ein Sanatorium hat man gebaut, Heilquellen sind da, ein prachtvolles Klima. Die reinste Goldader... Bis aus der Hauptstadt reiste man zu uns. Und was war das Ende vom Lied? Regen, Nebel, alle Kurgäste haben Schnupfen. Aber es kommt noch schlimmer. Da kommt ein berühmter Physiker zu uns - seinen Familiennamen habe ich vergessen, Sie kennen ihn bestimmt... Kaum war er zwei Wochen hier, da war's schon aus, Augenkrankheit, ab mit ihm ins Leprosorium. Eine tolle Reklame für das Sanatorium! Dann war noch so ein Fall, dann noch einer; dann war Feierabend. Der Strom der Kurgäste war wie abgeschnitten. Das Restaurant hier kommt in die roten Zahlen, das Hotel macht pleite, das Sanatorium hält sich mit knapper Not. Gott sei Dank hat sich ein Dummkopf von Trainer gefunden und ist mit seinen >Verstandesbrüdern< hierher gekommen. Da trainiert er eine spezielle Mannschaft für Spiele in Regenländern... Und der Herr Rocheper, der trägt natürlich auch sein Scherflein dazu b e i . . . Können Sie mir dies alles nachfühlen? Mit diesem Golem wollte ich eine Absprache treffen, aber da spricht man wie gegen eine Wand. Rot bleibt rot. An die Vorgesetzten habe ich geschrieben - kein Ergebnis. An die nächsthöhere Instanz - auch nichts. Noch höher, aber da kam die Antwort, man habe die Sache zur Kenntnis genommen und auf dem Verwaltungsweg das Nötige veranlaßt... Ich hasse sie wie die Pest, habe mich aber einmal überwunden und bin selbst ins Leprosorium gefahren. Man hat mich eingelassen. Gebeten habe ich, Beweise vorgebracht... Was für widerliche Typen das sind! Da blinzeln sie einen mit ihren haarlosen Augen wie einen Spatzen an, so als wäre man gar nicht da...« Er neigte sich zu Viktor und flüsterte ihm zu: »Ich befürchte einen Aufstand und Blutvergießen. Können Sie mir das alles nachfühlen?« »Ja«, sagte Viktor. »Aber was habe ich damit zu tun?« Der Bürgermeister lehnte sich zurück, entnahm einem Aluminiumröhrchen eine angerauchte Zigarre und entzündete sie. »In meiner Lage«, begann er, »gibt es nur eins: alle Hebel in Bewegung setzen. Öffentlichkeitsarbeit ist vonnöten. Die Stadt hat eine Petition an das Gesundheitsministerium abgefaßt, Herr Rocheper wird unterschreiben, Sie hoffentlich auch, aber das ist nicht weltbewegend. Wir müssen an die große Öffentlichkeit! Einen guten Artikel brauchen wir im Zentralblatt der Hauptstadt, unterzeichnet von einem namhaften Bürger. Und zwar von Ihnen, Herr Banev. Der Stoff ist brennend aktuell, gerade das Richtige für einen Volkstribunen wie Sie. Ich bitte Sie sehr darum. In meinem Namen, im Namen der Stadt, im Namen der unglücklichen Eltern... Wir müssen erreichen, daß das Leprosorium
von hier wegkommt, meinetwegen zum Teufel, ganz egal wohin, nur daß diese nasse Pestilenz hier verschwindet. Das wollte ich Ihnen sagen.« »Ja, ja, ich verstehe«, sagte Viktor langsam. »Ich verstehe Sie sehr gut.« Du bist zwar ein Schweinehund, dachte er, ein verschnittener Eber, aber man kann dich verstehen. Was ist eigentlich mit den Naßmännern passiert? Sie waren so still, so gedrückt, schlichen ^verstohlen umher, man erzählte sich keine so schlimmen Sachen über sie, höchstens, daß sie stinken, daß sie ansteckend sind, daß sie hübsche Spielzeuge und andere Sachen aus Holz machen... Mutter Freda sagte, jetzt fällt es mir wieder ein, sie hätten den bösen Blick, die Milch würde von ihnen sauer, und sie brächten Krieg, Seuchen und Hunger über uns... Jetzt sitzen sie hinter Stacheldraht, und was machen sie da drin? Oh, ganz schön viel. Das Wetter machen sie, die Kinder verführen sie (weshalb?), die Katzen haben sie weggelockt (auch hier: weshalb?), die fliegenden Wanzen haben sie über uns gebracht... »Sie denken wahrscheinlich, wir würden die Hände in den Schoß legen«, sagte der Bürgermeister. »Keineswegs. Aber was können wir schon ausrichten? Ich bereite einen Prozeß gegen Golem vor. Der Herr Sanitätsinspektor Pavor Summan hat sich bereit erklärt, Berater zu sein. Wir werden uns darauf stützen, daß die Frage, inwieweit die Krankheit ansteckend ist, überhaupt nicht geklärt ist und daß Golem als verkappter Kommunist das ausnützt. Das ist das eine. Des weiteren versuchen wir, Terror mit Terror zu beantworten. Da ist die Städtische Legion, unser ganzer Stolz, lauter Prachtkerle, Helden... Aber irgendwie ist das nicht das richtige. Von oben kommen ja keine Anordnungen... Die Polizei befindet sich in einer mißlichen Lage... und überhaupt... Aus diesem Grund behindern wir also, wo es geht. Wir halten Sendungen auf, die an sie gerichtet sind... natürlich nur Privatsendungen, keine Verpflegung und auch keine Bettwäsche, aber zum Beispiel alle möglichen Bücher, und sie bestellen viele... Heute hat man einen Lastwagen angehalten, und irgendwie wird es einem leichter ums Herz. Aber das sind alles Kleinigkeiten, aus der Verzweiflung heraus geboren. Eine Radikalkur bräuchten wir . . . « »So, so«, sagte Viktor. »Die Helden also, die Prachtburschen. Wie hieß er... Flamenda. . . ? Na, der eine da, der Neffe . . . « »Flamin Juventa«, sagte der Bürgermeister. »Genau, mein Stellvertreter in der Legion. Ein Held! Kennen Sie ihn schon?« »Nur flüchtig«, sagte Viktor. »Wozu werden denn Bücher zurückgehalten?« »Was heißt, wozu? - Dummheiten sind das natürlich, aber wir sind halt auch nur Menschen. Und das Faß ist schon zum Überlaufen voll. Außerdem...« Der Bürgermeister lächelte verschämt. »Unsinn natürlich, aber man sagt, daß sie ohne Bücher nicht leben können... So wie normale Menschen ohne Essen und andere Sachen.« Eine Pause trat ein. Viktor stocherte lustlos in seinem Beefsteak herum und
überlegte: Ich weiß wenig über die Naßmänner, und das, was ich weiß, erweckt bei mir keinerlei Sympathien. Vielleicht liegt es daran, daß ich sie von Kindheit an nicht mochte. Den Bürgermeister aber und seine Bande kenne ich gut. Der Speck der Nation, Präsidentenlakeien, Chauvinisten... Nein, wenn ihr etwas gegen die Naßmänner habt, dann muß an ihnen etwas sein... Andererseits könnte ich den Artikel schreiben, einen ganz hemmungslosen sogar, es wird sowieso niemand wagen, mich zu drucken, der Bürgermeister wäre zufrieden, würde mir sogar einen Haufen Geld zukommen lassen, und ich hätte hier ein Leben wie Gott in Frankreich... Wer von den wirklichen Schriftstellern könnte sich eines solchen Lebens rühmen? Ich könnte mich hier häuslich niederlassen, meine Pfründe einstecken, ich könnte zum Beispiel städtischer Inspektor für Freibäder werden und dabei nach Herzenslust der Schriftstellerei frönen... ich könnte darüber schreiben, wie gut es einem Menschen geht, der in seiner Lieblingsbeschäftigung aufgeht... zu diesem Thema könnte ich vor den Wunderkindern sprechen... Ach ja, die ganze Kunst besteht darin, daß man sich abwischen kann. Dir spucken sie ins Gesicht, und du wischst dich ab. Zunächst vor Scham vergehend, dann voller Betroffenheit, aber im weiteren Verlauf beginnst du dich mit einer gewissen Würde abzuwischen, was dir auch noch ein Gefühl der Befriedigung gibt... »Wir wollen Sie natürlich in keiner Weise zur Eile drängen«, sagte der Bürgermeister. »Sie sind ein beschäftigter Mensch und noch einiges. Vielleicht so in einer Woche? Das Material bekommen Sie von uns gestellt, wir könnten Ihnen sogar eine Art Schema geben, so einen kleinen Plan, wie wir das Ganze gern hätten... Sie setzen Ihre erfahrene Feder an und hauchen der Sache Leben ein. Den Artikel würden drei herausragende Söhne unserer Stadt unterzeichnen: Das Parlamentsmitglied Rocheper Nante, der berühmte Schriftsteller Banev und der Staatspreisträger Doktor Rem Quadriga...« Und schon läuft die Sache, dachte Viktor. Eine ganz schöne Beharrlichkeit steckt da dahinter. Wir Linken haben die nicht, keine Spur. Wir würden uns vielleicht in endlosen Gesprächen ergehen, wie die Katze um den heißen Brei herumgehen, um ja niemanden zu verletzen und um nicht zuviel Druck auszuüben, sonst könnte er uns womöglich eigennütziger Motive verdächtigen... Und dabei ist dieses Schwein unerschütterlich davon überzeugt, daß ich den Artikel abfasse und unterschreibe, daß ich gar keine andere Wahl habe, daß der in Ungnade gefallene Banev seine Schriftstellerpfote in Bewegung setzen muß, um sich weiterhin unbehelligt in seinem Heimatstädtchen aufhalten zu können. Und sein Schema hat er mir auch noch diskret anempfohlen... Das Schema kennen wir, und wir wissen auch, wie dieses Schema beschaffen sein muß, damit ein vom Präsidenten bespuckter Banev auch jetzt gedruckt wird. Ja, ja, Herr Banev, für den Kognak bist du zu
haben, für kleine Mädchen auch, marinierte Neunaugen mit Zwiebel schätzt du... Ohne Fleiß eben kein Preis. »Ich werde Ihren Vorschlag überdenken«, sagte Viktor lächelnd. »Das Vorhaben an sich erscheint mir bemerkenswert, bei der Verwirklichung allerdings sehe ich Gewissensnöte auf mich zukommen. Sie wissen ja, wir Schriftsteller sind ein unbestechliches Völkchen, wir lassen uns bei unserem Tun einzig und allein vom Gewissen leiten.« Frech und anzüglich zwinkerte Viktor dem Bürgermeister zu. Der Bürgermeister brach in schallendes Gelächter aus. »Aber natürlich! >Das Gewissen der Nation, das Spiegelbild< und so weiter... Ich weiß, das ist doch sonnenklar. . . « Mit der Miene eines Mitverschwörers beugte er sich zu Viktor hinunter. »Ich bitte Sie, morgen zu mir zu kommen«, gurrte er. »Es kommen nur Freunde. Aber wohlgemerkt - ohne Frauen. Wie wär's?« »Also«, sagte Viktor im Aufstehen, »ich sehe mich gezwungen, Ihren Vorschlag klar und entschieden abzulehnen. Und jetzt erwarten mich dringende Geschäfte.« Wieder zwinkerte er dem Bürgermeister anzüglich zu. »Im Sanatorium.« Sie schieden fast wie Freunde. Schriftsteller Banev war in die Elite der Stadt aufgenommen. Um die durch die unverhoffte Ehre strapazierten Nerven wieder zu beruhigen, mußte er sich ein großes Glas Kognak zu Gemüte führen, sobald der Rücken des Herrn Bürgermeisters hinter der Tür verschwunden war. Ich könnte natürlich in einen abgelegenen Winkel reisen, dachte Viktor. Ins Ausland lassen sie mich nicht, will ich auch nicht, was soll ich dort, ist doch überall das gleiche. Aber auch in unserem Land gibt es ein Dutzend Schlupfwinkel, wo man die Zeit abwarten kann. Vor seinen Augen erstand eine sonnenbeschienene Landschaft, Buchenhaine, ein betörender Duft, schweigsame Bauern, der Geruch von Milch und Honig... und Misthaufen und Stechmücken... und der Gestank des Klosetts, und die Langeweile, jeden Abend Langeweile... und uralte Fernsehapparate, und die örtliche Intelligenz: der Pope, der hurtig den Weibern nachstellte, der versoffene Lehrer, der selbst Schnaps brannte. . . An sich gäbe es schon Plätze, wo man hinfahren könnte. Aber genau das wollen die ja.. . daß ich wegfahre, daß ich ihnen nicht mehr unter die Augen komme, mich in einer Höhle verkrieche, und das alles aus eigenem Antrieb, ohne Zwang. Mich in die Verbannung zu schicken wäre umständlich, würde unnötiges Aufsehen erregen, die Leute würden reden... Das wäre das Dumme an der Sache: die Obrigkeit wäre mit so einer Lösung sehr zufrieden - abgereist, gekuscht, vergessen. Der verzapft keinen Unsinn mehr. .. Viktor bezahlte, holte den Regenmantel aus seinem Zimmer und ging hinaus in den Regen. Er hatte plötzlich ein heftiges Verlangen, Irma zu sehen, mit ihr
über den Fortschritt zu sprechen, herauszufinden, warum er so viel trank (tatsächlich, warum trank er eigentlich so viel?), vielleicht war auch Bol-Kunaz dort, Lola war bestimmt nicht mehr da... Die nassen Straßen lagen grau und ausgestorben, in den Vorgärten starben lautlos die Apfelbäume. Ihnen war es zu feucht. Viktor fiel zum erstenmal auf, daß einige Häuser vernagelt waren. Das Städtchen hatte sich trotz allem stark verändert. Zäune standen schief, unter den Gesimsen breitete sich Mauerschwamm aus, die Farben verblichen. Auf der Straße herrschte der Regen. Der Regen fiel einfach so, er sprühte als Wasserstaub von den Dächern, in den Durchgängen formte er sich zu schemenhaften, sich windenden Säulen, die von Wand zu Wand schwankten, er plätscherte aus rostigen Abflußrohren, er ergoß sich über das Straßenpflaster und floß durch die ausgewaschenen Zwischenräume zwischen den Pflastersteinen. Schwarz-graue Wolken krochen über die Hausdächer. Auf diesen Straßen war der Mensch ein ungebetener Gast, und der Regen hatte kein Erbarmen mit ihm. Viktor begab sich zum Stadtplatz und erblickte dort Leute. Sie standen unter dem Vordach auf der Freitreppe der Polizeibehörde. Viktor sah zwei Polizisten in Uniformmänteln und ein verschmutztes Jüngelchen im speckigen Arbeitskittel. Vor der Treppe, die linken Räder auf dem Gehsteig, stand ein mächtiger klotziger Lastwagen mit Planenverdeck. Einer der Polizisten war der Polizeichef. Er hatte seine gewaltige Kinnlade nach vorn geschoben und blickte seitwärts, während der Bursche mit verzweifeiten Gesten und kläglicher Stimme versuchte, ihm etwas zu erklären. Der zweite Polizist schwieg wie sein Vorgesetzter. Er schien ungehalten zu sein und zog an einer Zigarette. Viktor näherte sich der Gruppe und war noch etwa zwanzig Schritte von der Treppe entfernt, als er die Worte des Burschen unterscheiden konnte. Dieser schrie: »Was habe ich damit zu tun? An die Verkehrsregeln habe ich mich gehalten. Die Papiere sind in Ordnung. Auch die Ladung ist in Ordnung; hier ist der Frachtbrief. Als ob ich zum erstenmal hier unterwegs wäre . . . « Jetzt bemerkte der Polizeichef Viktor, und seine Miene nahm einen unverhohlen feindseligen Ausdruck an. Er wandte sich ab und sprach mit den Polizisten, als würde er den Burschen nicht sehen. »Du bleibst also hier. Schau zu, daß alles in Ordnung ist! Geh nicht in die Kabine, sonst schleppen sie dir alles fort! Und laß niemand an den Wagen heran! Verstanden?« »Jawohl«, sagte der Polizist. Er war sehr unzufrieden. Der Polizeichef kam die Treppe herunter, setzte sich in seinen Wagen und fuhr weg. Der verschmutzte, junge Fahrer spuckte wütend aus und wandte sich an Viktor: »Was würden Sie jetzt sagen: bin ich schuld oder nicht?« Viktor blieb stehen, was den Burschen offenbar ermunterte. »Eine ganz normale Fahrt. Ich bringe Bücher in die Sonderzone. Ich werde angehalten und muß zur Polizei fahren.
Wieso? An die Verkehrsregeln habe ich mich gehalten. Die Papiere sind in Ordnung. Hier ist der Frachtbrief. Den Führerschein haben sie mir abgenommen, damit ich nicht abhaue. Aber wohin sollte ich denn abhauen?« »Hör auf mit deiner Schreierei!« sagte der Polizist. Der Bursche drehte sich rasch um. »Also, was habe ich verbrochen? Bin ich vielleicht zu schnell gefahren? Bin ich nicht. Man zieht mir diese Haltezeit doch ab. Und den Führerschein hat man mir auch abgenommen . . .« »Alles wird sich aufklären«, sagte der Polizist. »Was soll das Gejammer eigentlich? Geh da in die Kneipe und mach dich nicht so wichtig!« »Mensch, Ihr da oben«, schrie der Bursche und schob sich die Schirmmütze mit einer heftigen Bewegung auf den zerzausten Kopf. »Nirgends bekommt man recht! Fährst du nach links, halten sie dich auf. Fährst du nach rechts, halten sie dich auch auf.« Er wollte gerade die Treppe hinuntersteigen, hielt aber inne und wandte sich flehentlich an den Polizisten. »Könnten Sie mir nicht eine Geldstrafe verpassen oder so?« »Jetzt geh schon!« sagte der Polizist. »Aber man hat mir eine Prämie für die Eilzustellung versprochen! Die ganze Nacht fahre ich schon wie verrückt...« »Du sollst gehen, habe ich dir gesagt!« sagte der Polizist. Der Bursche spuckte aus, ging zum Fahrzeug, schlug zweimal gegen die Vorderachse, ließ plötzlich den Kopf hängen, steckte die Hände in die Tasche und trollte sich über den Platz davon. Der Polizist blickte zu Viktor, dann zum Lastwagen, dann zum Himmel. Die Zigarette war ihm ausgegangen. Er spuckte die Kippe aus, schlug die Kapuze zurück und ging ins Amtsgebäude. Viktor blieb einige Zeit stehen und ging dann langsam um den Lastwagen herum. Es war ein bulliges, leistungsstarkes Fahrzeug. Früher war die motorisierte Infanterie mit solchen Fahrzeugen ausgerüstet gewesen. Viktor blickte um sich. Einige Meter vor dem Lastwagen war im Regen ein Motorrad zu erkennen, dessen Vorderrad nach rechts eingeschlagen war. Sonst befanden sich keine Fahrzeuge in der Nähe. Einholen werden sie mich bestimmt, dachte Viktor, aber aufhalten, das schaffen sie nicht. Der Gedanke stimmte ihn heiter. Weshalb, dachte er, mußte der berühmte Schriftsteller Banev in betrunkenem Zustand zum Zeitvertreib ein fremdes Fahrzeug entführen? Glücklicherweise waren keine Opfer zu beklagen . . . Er wußte, daß sich die Sache nicht so einfach verhielt, daß er nicht der erste war, der dem Regime einen willkommenen Vorwand lieferte, einen Unruhestifter einzulochen. Aber er wollte jetzt nicht nachdenken, sondern sich diesem Impuls überlassen. Im Notfall schreibe ich halt diesen Scheißartikel, ging ihm flüchtig durch den Kopf.
Rasch öffnete er die Tür zum Fahrerhaus und setzte sich ans Steuer. Der Schlüssel steckte nicht, und Viktor mußte die Anlasserdrähte kurzschließen. Der Motor sprang an. Bevor Viktor die Tür zuschlug, warf er einen Blick zurück zur Treppe des Gebäudes. Er sah den Polizisten von vorhin. Dieser trug noch immer seine ungehaltene Miene zur Schau und hatte eine Zigarette zwischen den Lippen. Ganz offensichtlich hatte er alles verfolgt, begriff aber nichts. Viktor schlug die Tür zu, fuhr behutsam auf die Fahrbahn, legte den nächsthöheren Gang ein und verschwand in der nächsten Seitenstraße. Es war ein herrliches Gefühl, durch Straßen zu jagen, von denen man wußte; daß sie leer waren, durch tiefe Pfützen zu fahren und Wasserfontänen nach beiden Seiten zu spritzen, sich mit dem ganzen Körper in das schwere Steuer zu legen. Er passierte die Konservenfabrik, den Park, das Stadion, wo die >Verstandesbrüder< wie durchnäßte mechanische Puppen noch immer ihren Bällen nachjagten, kam dann auf die Landstraße, steuerte durch tiefe Fahrrinnen, hopste auf seinem Führersitz und hörte das dumpfe Poltern der nur locker befestigten Ladung. Verfolger waren im Rückspiegel nicht auszumachen, er würde sie bei diesem Regen wohl auch erst spät erkennen. Viktor fühlte sich um Jahre verjüngt und irgendwie betrunken, er spürte, daß er von jemandem sehr gebraucht wurde. Vom Kabinendach her blinzelten ihm Schönheiten zu, die aus Illustrierten ausgeschnitten worden waren, im Handschuhfach entdeckte er eine Zigarettenpackung. Er war in so guter Stimmung, daß er fast eine Kreuzung überfahren hätte, aber er konnte noch rechtzeitig bremsen und bog in die vom Wegweiser angegebene Richtung »Leprosorium - 6 km« ein. Er kam sich wie ein Entdecker vor, denn er war hier noch nie gefahren. Die Straße erwies sich als vortrefflich, ganz im Gegensatz zur städtischen Straße. Zuerst kam ein glatter Asphaltbelag, dann sogar Beton. Als Viktor den Beton sah, fielen ihm gleich der Stacheldraht und die Soldaten ein. Fünf Minuten später sah er sie vor sich. Der Drahtzaun zog sich in einer Linie zu beiden Seiten der Betonstraße hin und verschwand im Regen. Die Straße war durch ein hohes Tor versperrt. Daneben befand sich ein Wachhäuschen, dessen Tür weit geöffnet war. Auf der Schwelle stand ein Soldat in Helm, Stiefeln und einem Regenumhang, aus dem der Lauf einer Maschinenpistole hervorragte. Ein weiterer Soldat ohne Helm blickte durch das kleine Fenster. »Noch nie war ich im Lager«, sang Viktor vor sich hin, »doch sag nicht, Gott sei Dank.« Er ging vom Gas und brachte das Fahrzeug direkt vor dem Tor zum Stehen. Der Soldat kam aus dem Häuschen heraus und ging zum Lastwagen. Es war ein junger, sommersprossiger Soldatenknirps; er mochte an die achtzehn Jahre alt sein. »Guten Abend«, sagte er. »Was kommen Sie denn so spät?« »Na ja, die Umstände«, sagte Viktor und wunderte sich im stillen über den zwanglosen Umgangston.
Der Soldat musterte ihn und gab sich plötzlich einen Ruck. »Ihre Papiere!« sagte er kurz. »Was heißt hier Papiere«, erwiderte Viktor fröhlich. »Ich habe doch gesagt, die Umstände!« Der Soldat preßte die Lippen zusammen. »Was transportieren Sie?« fragte er. »Bücher.« »Haben Sie einen Durchlaßschein?« »Natürlich nicht.« »Aha«, sagte der Soldat und sein Gesicht hellte sich auf. »Ich schaue schon die ganze Zeit... Dann warten Sie mal. Dann müssen Sie warten.« »Ich weise Sie darauf hin«, sagte Viktor mit erhobenem Zeigefinger, »es ist möglich, daß man mich verfolgt.« »Keine Angst, ich mache schnell«, sagte der Soldat. Er hielt die Waffe gegen die Brust gepreßt und pochte lärmend an die Wachstube. Viktor kletterte aus dem Fahrerhaus auf das Trittbrett und blickte zurück. Im Regen war nichts zu erkennen. Daraufhin setzte er sich wieder ans Steuer und rauchte. Die Situation war sehr komisch. Vor ihm, hinter dem Drahtzaun und dem Tor, regnete es gleichermaßen; undeutlich zeichneten sich die dunklen Umrisse irgendwelcher Anlagen ab. Es mochten Häuser oder Türme sein, etwas Genaueres war nicht zu erkennen. Die werden mich doch hoffentlich zur Besichtigung einladen, dachte Viktor. Es wäre eine Schweinerei, wenn sie es nicht täten. Ich könnte natürlich versuchen, über Golem was zu erreichen. Der ist jetzt irgendwo in der Gegend... Das werde ich auch tun, dachte er. Oder sollte ich ganz umsonst den Helden gespielt haben? Der kleine Soldat kam aus der Wachstube, gefolgt von einem alten Bekannten, dem pickeligen Nihilistenjungen; letzterer hatte nur eine Turnhose an, war in fröhlicher Stimmung und zeigte keinerlei Spuren von Weltschmerz. Er überholte den Soldaten, sprang aufs Trittbrett, spähte ins Fahrerhaus, erkannte Viktor, gab einen Laut der Verblüffung von sich und lachte. »Guten Tag, Herr Banev! Sind Sie das wirklich? Toll... Sie bringen doch Bücher? Wir warten und warten hier ...« »Nun, alles in Ordnung?« fragte der dazugetretene Soldat. »Ja, das ist unser Wagen.« »Dann fahren Sie ihn rein!« sagte der kleine Soldat. »Und Sie, mein Herr, müssen aussteigen und warten!« »Ich hätte gern Herrn Golem gesehen«, sagte Viktor. »Den kann man hierher bestellen«, schlug der kleine Soldat vor. »Hm«, sagte Viktor und blickte den Jungen vielsagend an. Dieser hob entschuldigend die Arme. »Sie haben keinen Durchlaßschein«, erklärte er. »Ohne den Schein lassen die
niemand rein. Wenn es nach uns ginge, dann sehr gern...« Viktor blieb nichts anderes übrig, als in den Regen hinauszusteigen. Er sprang auf die Straße, zog die Kapuze über, schaute zu, wie sich das Tor öffnete und der Lastwagen in stotternder Fahrt über die Abgrenzung fuhr. Dann schloß sich das Tor. Im Rauschen des Regens hörte Viktor noch einige Zeit das Aufheulen des Motors und das Quietschen der Bremsen. Dann war nur mehr Rauschen und Plätschern. Das war's, dachte Viktor. Und ich? Er fühlte sich enttäuscht. Erst jetzt wurde ihm klar, daß er seine Heldentat nicht uneigennützig ausgeführt hatte, daß er gehofft hatte, viel zu sehen, viel zu begreifen - sozusagen ins Epizentrum vorzustoßen. Hol euch der Teufel! dachte er. Er blickte die Betonstraße entlang. Bis zur Kreuzung waren es sechs, und von der Kreuzung bis zur Stadt an die zwanzig Kilometer. Es bestand natürlich noch die Möglichkeit, von der Kreuzung zum Sanatorium zu gehen, da waren es zwei Kilometer. Diese undankbaren Schweine... Im Regen... Jetzt bemerkte er, daß der Regen etwas nachgelassen hatte. Ich bin schon dafür dankbar, dachte er. »Ich soll also Herrn Golem holen lassen?«, fragte der Soldat. »Golem?« Viktor lebte auf. An sich war es kein schlechter Gedanke, den alten Knacker im Regen hin und her zu jagen. Und außerdem hatte er einen Wagen. Und eine Flasche. »Na gut, lassen Sie ihn rufen!« »Das geht«, sagte der kleine Soldat. »Wir lassen ihn rufen. Nur wird er kaum kommen. Er sagt bestimmt, daß er beschäftigt ist.« »Das macht nichts«, sagte Viktor. »Sagen Sie, daß Banev ihn sprechen will.« »Banev? Gut, ich werde es ausrichten. Trotzdem kommt er nicht. Na ja, für mich ist es nicht schwer. Banev also ...« Der kleine Soldat entfernte sich. Ein sympathisches, liebes Kerlchen mit einem Sommersprossengesicht unter dem Helm. Viktor zündete sich eine Zigarette an. In diesem Moment erscholl das Knattern eines Motorrads. Aus dem Nebelschleier tauchte mit rasender Geschwindigkeit das Polizeimptorrad mit Seitenwagen auf, schoß bis ans Tor und hielt. Auf dem Sitz saß jener Polizist mit dem ungehaltenen Gesichtsausdruck; im Seitenwagen saß noch einer, bis zu den Augen in eine Plane gehüllt. Gleich geht es los, dachte Viktor und zog die Kapuze noch tiefer. Aber es half nichts. Der ungehaltene Polizist stieg vom Motorrad, ging auf Viktor zu und schnarrte: »Wo ist der Lastwagen?« »Welcher Lastwagen?« fragte Viktor mit gespieltem Erstaunen. Er mußte Zeit gewinnen. »Halten Sie mich nicht zum Narren!« brüllte der Polizist. »Ich habe Sie gesehen. Sie kommen vor Gericht! Entführung eines beschlagnahmten Fahrzeugs!« »Brüllen Sie mich nicht an!« sagte Viktor mit Würde. »Was für eine Unverschämtheit. Ich werde mich beschweren.«
Der zweite Polizist kam heran und wickelte sich im Gehen aus seiner Planenhülle. »Ist es der?« fragte er. »Klar!« sagte der ungehaltene Polizist und zog Handschellen aus der Tasche. »Heh, heh!« sagte Viktor und trat einen Schritt zurück. »Das ist Willkür. Unterstehen Sie sich!« »Vermehren Sie nicht Ihre Schuld durch Widerstand«, riet der zweite Polizist. »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen«, verkündete Viktor dreist und steckte die Hände in die Taschen. »Sie verwechseln mich mit jemand anderem.« »Sie haben den Lastwagen weggefahren«, sagte der zweite Polizist. »Welchen Lastwagen?« rief Viktor aus. »Was soll das Ganze? Ich bin hier, um Herrn Golem, den hiesigen Chefarzt, zu besuchen. Fragen Sie die Wache. Was habe ich mit einem,Lastwagen zu tun?« »Vielleicht war es doch ein anderer?« meldete der zweite Polizist Zweifel an. »Wieso denn ein anderer?« widersprach der ungehaltene Polizist. Er hielt die Handschellen in Bereitschaft und schritt auf Viktor zu. »Komm schon, die Hände her!« sagte er dienstbeflissen. In diesem Augenblick schlug die Tür der Wachbude zu, und eine schrille Stimme schrie: »Die Ansammlung auflösen!« Viktor und der Polizist zuckten zusammen. Auf der Schwelle der Wachbude stand der sommersprossige Soldat und brachte unter dem Umhang die Maschinenpistole zum Vorschein. »Vom Tor wegtreten!« schrie er durchdringend. »Mach kein solches Geschrei!« sagte der ungehaltene Polizist. »Hier ist die Polizei.« »Ansammlungen von mehr als einem Unbefugten am Tor der Sonderzone sind verboten! Nach der dritten Warnung schieße ich! Vom Tor wegtreten!« »Kommen Sie, gehen Sie zurück!« sagte Viktor besorgt und drückte beide Polizisten sachte an der Brust nach hinten. Der ungehaltene Polizist blickte ihn verwirrt an, schob Viktors Hand weg und schritt zum Soldaten. »Hör zu, Bursche, bist du übergeschnappt?« sagte er. »Dieser Typ da hat einen Lastwagen entführt.. .« »Kein Lastwagen«, brüllte der sympathische, liebe Soldatenknirps mit langgezogener, durchdringender Stimme. »Le-etzte Warnung! Zwei von euch zurücktreten bis hundert Meter vor dem Tor!« »Hör zu, Roch!« sagte der zweite Polizist. »Komm, gehen wir lieber zurück! Hol sie der Teufel! Der da kommt uns nicht aus.« Der ungehaltene Polizist, der vor Wut rot angelaufen war, wollte schon den Mund öffnen, als in der Tür der Wachbude ein dicker Sergeant mit
angebissenem Butterbrot in der einen und einem Glas in der anderen Hand erschien. »Soldat Dschura«> sagte er kauend. »Warum eröffnen Sie nicht das Feuer?« Über das Sommersprossengesicht unter dem Helm kam plötzlich ein Ausdruck wilder Entschlossenheit. Die Polizisten rannten zum Motorrad, bestiegen es, wendeten und rasten an Viktor vorbei, der die Haltung eines Verkehrspolizisten eingenommen hatte. Der rotangelaufene Polizist schrie ihm etwas zu, aber seine Worte gingen im Knattern des Motorrads unter. In einer Entfernung von etwa fünfzig Schritt hielten sie an. »Das ist zu nahe«, sagte der Sergeant mißbilligend. »Was schaust du noch? Das ist doch zu nahe.« »Weiter!« schrie der kleine Soldat durchdringend und fuchtelte mit der Maschinenpistole. Die Polizisten fuhren weiter und waren nicht mehr zu erkennen. »Was sich Fremde erlauben, sich am Tor hier anzusammeln«, sagte der Sergeant zum kleinen Soldaten und blickte zu Viktor. »Na gut, mach deinen Dienst weiter.« Er kehrte in die Wachbude zurück. Der sommersprossige Soldat, der sich langsam beruhigte, ging einigemal vor dem Tor auf und ab. Viktor wartete einige Minuten und erkundigte sich dann vorsichtig: »Entschuldigen Sie, wie schaut es mit Doktor Golem aus?« »Nicht da«, brummte der kleine Soldat. »Sehr schade«, sagte Viktor. »Dann werde ich wohl gehen.« Er schaute in die Wand von Nebel und Regen, in der die Polizisten verborgen waren. »Was heißt - Sie gehen?« sagte der kleine Soldat beunruhigt. »Wieso, darf ich nicht?« fragte Viktor, seinerseits beunruhigt. »Es geht nicht ums Dürfen. Ich spreche vom Lastwagen. Sie gehen weg, und was passiert mit dem Lastwagen? Lastwagen dürfen nicht am Tor stehenbleiben.« »Und was habe ich damit zu tun?« fragte Viktor. Seine Unruhe steigerte sich. »Was soll das heißen? Sie haben ihn hierher gefahren, und Sie werden ihn auch wieder... eben ... Das ist doch immer so, oder?« Zum Teufel, dachte Viktor. Wo soll ich hin damit? Hundert Meter weiter hörte man das Knattern des Motorrads, das im Leerlauf lief. »Haben Sie ihn wirklich entführt?« fragte der kleine Soldat neugierig. »Freilich. Die Polizei hat den Fahrer aufgehalten, und ich Esel habe mich entschlossen zu helfen.« »Ja, ja«, pflichtete der kleine Soldat mitfühlend bei. »Ich weiß nicht einmal, wozu ich Ihnen raten soll.« »Und wenn ich mich jetzt zum Beispiel davbnmache?« fragte Viktor verstohlen. »Sie werden doch nicht schießen?«
»Weiß ich nicht«, gestand der kleine Soldat. »An sich ist es nicht vorgesehen. Soll ich fragen?« »Fragen Sie mal!« sagte Viktor. Er überlegte, ob er es schaffen würde, außerhalb der Sichtweite zu entkommen. In diesem Augenblick ertönte ein Hupen hinter dem Tor. Das Tor öffnete sich und aus der Zone rollte langsam der Unglückslastwagen. Er blieb neben Viktor stehen, die Tür ging auf, und Viktor sah, daß am Steuer nicht mehr wie erwartet der Junge saß, sondern ein glatzköpfiger, gedrungener Naßmann, der ihn anblickte. Viktor rührte sich nicht von der Stelle. Der Naßmann nahm nun die Hand mit dem schwarzen Handschuh vom Lenkrad und patschte einladend auf den Beifahrersitz. Wie liebenswürdig . . ., dachte Viktor bitter. Der kleine Soldat sagte freudig: »Dann ist ja alles gut, alles hat sich geregelt. Gute Fahrt!« Viktor durchzuckte ein Gedanke. Wenn der Naßmann schon die Absicht hatte, den Lastwagen selbst in die Stadt oder anderswo hinzubringen, dann könnte er sich jetzt ganz gut verabschieden und sich direkt übers Feld zum Sanatorium durchschlagen und das im Hinterhalt lauernde Motorrad umgehen. »Da vorne wartet die Polizei«, sagte er zu dem Naßmann. »Macht nichts, setzen Sie sich!« sagte dieser. »Die Sache ist die, daß dieser Lastwagen beschlagnahmt war, und ich ihn entführt habe.« »Ich weiß«, sagte der Naßmann geduldig. »Steigen Sie ein!« Die Gelegenheit war verpaßt. Viktor verabschiedete sich höflich und herzlich von dem kleinen Soldaten, kletterte auf den Sitz und schlug die Tür zu. Der Lastwagen fuhr an. Gleich darauf sahen sie das Motorrad. Es stand mitten auf der Straße. Die beiden Polizisten hatten sich daneben postiert und machten Handbewegungen zum Straßengraben hin. Der Naßmann bremste, schaltete den Motor ab und beugte sich zum Fahrerhaus hinaus. »Stellen Sie das Motorrad weg, Sie versperren die Straße!« »Fahren Sie an den Straßenrand!« befahl der ungehaltene Polizist. »Und weisen Sie Ihre Papiere vor!« »Ich fahre zur Polizeibehörde«, sagte der Naßmann. »Vielleicht können wir uns dort unterhalten!« Der Polizist schien zunächst ratlos und brummte so etwas wie: »Euch kennen wir schon.« Der Naßmann wartete ruhig. »Gut«, sagte der Polizist schließlich. »Aber den Lastwagen fahre ich, und der da soll ins Motorrad umsteigen.« »Bitte schön«, stimmte der Naßmann zu. »Aber wenn möglich, fahre ich mit dem Motorrad.« »Noch besser«, knurrte der ungehaltene Polizist. Sein Gesicht hellte sich sogar auf. »Kommen Sie raus!« Sie tauschten die Plätze. Der Polizist schielte mit unheilverkündender Miene zu
Viktor hinüber. Dann begann er, sich auf dem Sitz zu winden und hin und her zu rutschen, um seinen Regenmantel in Ordnung zu bringen. Viktor schaute ihn von der Seite an und beobachtete dann, wie der Naßmann zum Motorrad trottete. Sein Rücken schien noch stärker gekrümmt, so daß er einem riesigen, hageren Affen glich. Er stieg in den Seitenwagen. Der Regen war stärker geworden, und es goß wie aus Kübeln. Der Polizist schaltete die Scheibenwischer ein, und der Konvoi setzte sich in Bewegung. Wissen möchte ich, wie die Geschichte ausgeht, dachte Viktor etwas bedrückt. Seine schwachen Hoffnungen hatte die Absicht des Naßmannes, zur Polizei zu fahren, zunichte gemacht. Die jetzigen Naßmänner waren hemmungslos frech geworden... Eine Geldstrafe werden sie mir wohl aufbrummen, da komme ich nicht dran vorbei. Die Polizei würde nie eine Möglichkeit auslas- sen, einem eine Geldstrafe aufzubrummen... Ich pfeife drauf, ich muß sowieso weg von hier. Alles gut. Wenigstens habe ich mir Luft gemacht... Er zog eine Packung Zigaretten hervor und bot dem Polizisten an. Dieser räusperte sich böse, nahm aber an. Sein Feuerzeug versagte, so daß er sich ein zweitesmal räuspern mußte, als Viktor ihm seines unter die Nase hielt. Man konnte ihn ja verstehen, diesen nicht mehr so jungen Onkel mit seinen fünfundvierzig Jahren oder so, der immer noch auf seine Beförderung wartete... Offensichtlich kam er aus der Schar der früheren Kollaboranten, hatte vermutlich die Falschen eingelocht und beim Arschkriechen auch die Falschen erwischt, wie sollte er sich auch bei Ärschen auskennen, den oder den nicht... Der Polizist rauchte, und seine ungehaltene Miene hellte sich zusehends auf. Er fühlte sich wieder auf dem aufsteigenden Ast. Jetzt wäre eine Flasche gut, dachte Viktor. Ich würde ihm was zu trinken geben, ihm ein paar irische Witze erzählen, über die Obrigkeit herziehen, bei der nur Günstlinge die erste Geige spielen, über die Studenten schimpfen, und schon würde er schmelzen... »So ein Regen«, sagte Viktor. Der Polizist brummte gleichmütig und gar nicht mehr böse. »Und was für ein Klima war hier früher«, fuhr Viktor fort. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Und sehen Sie nur, im Leprosorium regnet es nicht, aber sobald man in Richtung Stadt fährt, beginnt es zu gießen.« »Ja, ja«, sagte der Polizist. »Die haben sich da schlau eingerichtet, in ihrem Leprosorium.« Das Eis war gebrochen. Sie sprachen über das Wetter, wie es einmal gewesen und wie verdammt schlecht es geworden war. Sie entdeckten gemeinsame Bekannte in der Stadt. Sie sprachen vom Leben in der Hauptstadt, von Miniröcken, über die Plage der Homosexualität, über importierten Brandy und geschmuggeltes Rauschgift. Natürlich kamen sie zu dem Schluß, daß keine Ordnung eingetreten sei. Vor dem Krieg sei das ganz anders gewesen oder, sagen wir, gleich nachher. Der Dienst bei der Polizei sei saumäßig, wenngleich
in den Zeitungen zu lesen stehe, Polizisten seien gute und strenge Ordnungshüter und ein unersetzliches Triebrad im Mechanismus des Staates. Das Pensionsalter erhöhe man, für Verwundungen im Dienst werde man mit Groschen abgespeist und jetzt habe man ihnen auch noch die Waffen abgenommen. Wer würde sich angesichts dieser Zustände schon ein Bein ausreißen... Mit einem Wort, die Gesprächsstimmung war so aufgelockert, daß nur ein paar Schlucke gefehlt hätten, woraufhin der Polizist gesagt hätte: »Na gut, Bursche, troll dich! Ich habe dich nicht gesehen und du mich auch nicht.« Aber die paar Schlucke waren eben nicht da, und Viktor hatte auch keine Gelegenheit, ihm einen Schein in die Hand zu drücken, so daß der Polizist, als der Lastwagen bei der Polizeibehörde anlangte, wieder in seine mürrische Stimmung verfallen war. In trockenem Ton forderte er Viktor auf, ihm zu folgen und sich zu beeilen. Der Naßmann weigerte sich, dem Wachhabenden Erklärungen abzugeben, und bestand darauf, daß sie zum Polizeichef vorgelassen würden. Der Wachhabende antwortete, daß der Chef ihn persönlich sicher empfangen würde, daß aber jener Herr da der Entführung eines Fahrzeugs bezichtigt werde, weshalb keine Veranlassung bestünde, daß er zum Polizeichef gehe, vielmehr müsse er verhört und ein entsprechendes Protokoll angefertigt werden. »Nein«, sagte er Naßmann ruhig und entschieden, »das kommt nicht in Frage. Herr Banev wird auf keinerlei Fragen antworten und keinerlei Protokolle unterschreiben. Das ist durch Umstände bedingt, die nur den Herrn Polizeichef betreffen.« Der Wachhabende zuckte gleichmütig die Achseln und ging hinaus, um Meldung zu erstatten. In der Zwischenzeit erschien der jugendliche Fahrer in seinem speckigen Arbeitskittel. Er wußte von dem Vorgefallenen nichts und war stark betrunken, so daß er unverzüglich begann, lautstark über Gerechtigkeit, Unschuld und andere schreckliche Dinge herumzuschreien. Der Naßmann nahm ihm behutsam den Frachtbrief ab, mit dem der Fahrer herumfuchtelte, stützte sich auf die Abgrenzung und unterschrieb das Formular in aller Form. Der Fahrer verstummte vor Verblüffung. In diesem Augenblick wurden der Naßmann und Viktor gerufen. Der Polizeichef empfing sie frostig. Den Naßmann blickte er unwillig an, Viktor überhaupt nicht. »Was wünschen Sie?« fragte er. »Dürfen wir uns setzen?« erkundigte sich der Naßmann. »Bitte sehr«, sagte der Polizeichef nach einigem Zögern. Alle setzten sich. »Herr Polizeichef«, sagte der Naßmann. »Ich bin bevollmächtigt, Protest gegen die abermalige Beschlagnahmung einer an das Leprosorium gerichteten Sendung zu erheben.«
»Ja, ich habe davon gehört«, sagte der Polizeichef. »Der Fahrer war betrunken, wir mußten ihn festhalten. Ich nehme an, daß sich in den nächsten Tagen alles aufklären wird.« »Sie haben nicht den Fahrer, sondern die Ladung zurückgehalten«, widersprach der Naßmann. »Das ist jetzt jedoch nicht so wichtig. Dank der Liebenswürdigkeit von Herrn Banev wurde die Sendung mit nur geringer Verspätung zugestellt, und Sie sollten dem hier anwesenden Herrn Banev dankbar sein, denn eine größere Verspätung der Anlieferung, der Sie, Herr Polizeichef, sich schuldig gemacht hätten, hätte erhebliche Unannehmlichkeiten für Sie zur Folge gehabt.« »Jetzt wird es heiter«, sagte der Polizeichef. »Ich verstehe nicht und will auch nicht verstehen, wovon hier die Rede ist, denn als Amtsperson dulde ich keine Drohungen. Was Herrn Banev betrifft, so ist für diesen Fall das Strafrecht zuständig.« Er vermied es offensichtlich, Viktor anzublicken. »Ich sehe, Sie begreifen Ihre Lage immer noch nicht«, sagte der Naßmann. »Ich bin jedoch bevollmächtigt, Ihnen zur Kenntnis zu bringen, daß sich im Falle einer erneuten Zurückhaltung an uns gerichteter Sendungen General Pferd der Sache annehmen wird.« Eine Pause trat ein. Viktor wußte nicht, wer General Pferd war; dafür schien der Name dem Polizeichef um so mehr bekannt zu sein. »Meiner Auffassung nach ist das eine Drohung«, sagte er unsicher. »Ja«, stimmte der Naßmann zu. »Und zwar eine mehr als reale Drohung.« Der Polizeichef erhob sich brüsk, und auch Viktor und der Naßmann standen auf. »Ich habe alles, was ich heute gehört habe, zur Kenntnis genommen«, erklärte der Polizeichef. »Ihr Ton, mein Herr, läßt sehr zu wünschen übrig. Ich verspreche jedoch den Personen, die Sie bevollmächtigt haben, daß ich alles aufklären und im Falle einer Schuldfindung auch Strafen verhängen werde. Dies betrifft in vollem Maße auch Herrn Banev.« »Herr Banev«, sagte der Naßmann, »sollten Sie im Zusammenhang mit diesem Vorfall Unannehmlichkeiten mit der Polizei haben, so unterrichten Sie unverzüglich Doktor Golem ... Auf Wiedersehen«, sagte er zum Polizeichef. »Alles Gute«, gab dieser zur Antwort. 8 Um acht Uhr abends ging Viktor hinunter ins Restaurant und wollte gerade zu seinem Tisch gehen, wo sich bereits die übliche Gesellschaft versammelt hatte, als ihn Teddy zu sich rief. »Grüß dich«, sagte Viktor und lehnte sich auf die Theke. »Wie geht's?« Plötzlich fiel es ihm ein. »Ach so! Die Rechnung... War's schlimm gestern?« »Lassen wir mal die Rechnung«, knurrte Teddy. »So viel war es auch nicht. Ein
zerschlagener Spiegel und ein herausgebrochenes Waschbecken. Aber kannst du dich noch an den Polizeichef erinnern?« »War da was?« wunderte sich Viktor. »Ich dachte mir gleich, daß du es nicht mehr weißt«, sagte Teddy. »Augen hattest du wie ein gebratenes Ferkel. Völlige Mattscheibe... Du also...« - hier drückte er seinen Zeigefinger gegen Viktors Brust - »hast den armen Sack im Klo eingesperrt, die Tür mit dem Besen verrammelt und ihn nicht rausgelassen. Wir wußten ja nicht wer drin war; er war nämlich gerade erst gekommen, wir dachten, der Quadriga ist drin. Na ja, sagten wir uns, soll er ein wenig sitzen... Dann hast du ihn von dort rausgezogen, geschrien: >Ach, der Arme hat sich ganz beschmutzt, und hast seinen Kopf ins Waschbecken gedrückt. Das Becken ist herausgebrochen und dich haben wir nur mit Mühe fortgezogen.« »Im Ernst?« fragte Viktor. »Na, so was. Deswegen schaut er mich den ganzen Tag schon wie ein Wolf an.« Teddy nickte mitfühlend. »Verdammt, das ist unangenehm«, sagte Viktor. »Ich sollte mich entschuldigen... Wie hat er das alles geschehen lassen? Das ist doch ein kräftiger Mann.« »Ich fürchte, sie hängen dir was an«, sagte Teddy. »Heute früh ist schon ein Spitzel hier rumgeschlichen und hat Indizien fotografiert. . . Paragraph 63 ist dir sicher - beleidigende Handlungen unter erschwerenden Umständen. Vielleicht noch schlimmer. Ein Terrorakt. Weißt du, was da auf dich zukommt? An deiner Stelle würde ich ...« Teddy schüttelte den Kopf., »Was?« »Man sagt, daß heute der Bürgermeister bei dir war«, sagte Teddy. »Ja.« »Was wollte er?« »Ach, Unsinn. Ich soll ihm einen Artikel schreiben. Gegen die Naßmänner.« »Aha!« sagte Teddy und lebte auf. »Dann ist es ja wirklich Unsinn. Schreib ihm seinen Artikel, und alles ist in Ordnung. Sobald der Bürgermeister zufrieden ist, darf sich der Polizeichef nicht mucksen. Du kannst ihn dann jeden Tag ins Klo schubsen. Den hat der Bürgermeister hier drin...« Teddy zeigte seine gewaltige, knochige Faust. »Alles ist in Ordnung. Komm, laß dir auf Betriebskosten was eingießen! Einen Klaren?« »Ist mir auch recht«, sagte Viktor nachdenklich. Der Besuch des Bürgermeisters erschien ihm plötzlich in neuem Licht. Auf diese Weise wollen sie mich also, dachte er. Ja, ja. Entweder scher dich, oder tu, was man dir sagt, oder du wirst deine blauen Wunder erleben! Abhauen dürfte übrigens auch schwierig sein. Bei einem Terrorakt machen sie dich ausfindig. Brüderchen Säufer, du bietest einen widerlichen Anblick. Und ausgerechnet den Polizeichef. Um ehrlich zu sein, nicht schlecht ausgedacht und
durchgeführt. Er erinnerte sich zwar an nichts, außer an den Kachelboden, der mit Wasser überflutet war, aber die ganze Szene konnte er sich gut vorstellen. Ja, Viktor Banev, mein Liebling, mein Bratferkel, du lausiger Westentaschenoppositioneller, Liebling des Herrn Präsidenten . .. ja, man sieht, daß auch.für dich die Zeit gekommen ist, dich sozusagen zu verkaufen . . . Roz-Tusov, ein erfahrener Mensch, sagt hierzu: verkaufen muß man sich leicht und teuer; je ehrlicher deine Feder, um so teurer kommt es den Machthabern zu stehen. Selbst indem du dich verkaufst, fügst du dem Gegner Schaden zu, und es gilt, diesen Schaden möglichst groß zu gestalten . . . Viktor goß den Schnaps hinunter, empfand dabei aber keinen Genuß. »Gut, Teddy«, sagte er. »Danke. Gib mir die Rechnung! Ist es viel?« »Dein Geldbeutel wird es aushalten«, grinste Teddy. Er zog aus der Kasse ein Blatt Papier hervor. »Also, wir bekommen von dir - für den Toilettenspiegel 77, für das große Porzellanbecken 64, zusammen, das wirst du sicher einsehen, 141. Die Tischlampe haben wir bei der Rauferei abgeschrieben... Eins verstehe ich nicht«, fügte er hinzu, wobei er Viktor beim Abzählen des Geldes zuschaute. »Womit hast du den Spiegel zerschlagen? Ein massiver Spiegel war das, zwei Finger dick. Hast du mit dem Kopf dagegengeschlagen?« »Mit wessen?« fragte Viktor mürrisch. »Schon gut, mach dir nichts daraus«, sagte Teddy und nahm das Geld in Empfang. Schreib dein Artikelchen, dann bist du rehabilitiert, steckst ein hübsches Honorar ein, und die Sache hat sich rentiert... Soll ich dir nachschenken?« »Jetzt nicht, später... Ich komme noch mal nach dem Abendessen«, sagte Viktor und ging zu seinem Platz. Im Restaurant war alles beim alten, das dämmrige Licht, die Gerüche, das Geschirrgeklapper aus der Küche, der bebrillte junge Mann mit Aktentasche, Begleiter und Mineralwasserflasche; der gekrümmt sitzende Doktor R. Quadriga; aufrecht und diszipliniert, trotz seines Schnupfens, Pavor; dann Golem, auf dem Stuhl auseinanderfließend, die Nase zerfurcht wie bei einem schlafenden Propheten. Schließlich der Ober. »Neunaugen«, sagte Viktor. »Eine Flasche Bier. Und irgendwas Fleischiges.« »Jetzt haben Sie die Bescherung«, sagte Pavor vorwurfsvoll. »Ich habe Ihnen gesagt: Hören Sie auf mit der Sauferei!« »Wann haben Sie mir das gesagt? Ich kann mich nicht erinnern.« »Was für eine Bescherung?« erkundigte sich Doktor R. Quadriga. »Hat er endlich einen umgebracht?« »Kannst du dich auch an nichts erinnern?« fragte ihn Viktor. »Meinst du wegen gestern?« »Ja, wegen gestern... Ich habe mich wie ein Faß vollaufen lassen«, sagte Viktor,
zu Golem gewandt. »Dann habe ich den Herrn Polizeichef ins Klo getrieben...« »Aha!« sagte Dr. Quadriga. »Lauter Lügen. Das habe ich auch dem Untersuchungsbeamten gesagt. Der war heute früh bei mir. Verstehen Sie, ich mit meinem fürchterlichen Sodbrennen, den Kopf zum Zerspringen, ich sitze da und schaue zum Fenster raus, und da kommt dieser Kerl und will mir da so eine Sache einfädeln . . .« »Wie haben Sie gesagt?« fragte Golem. »Einfädeln?« »Nun ja, einfädeln«, sagte Dr. Quadriga und fuhr mit einem eingebildeten Faden durch ein eingebildetes Nadelöhr. »Nur eben keinen Faden, sondern eine Sache . .. Ich habe ihm rundheraus gesagt: alles erstunken und erlogen. Gestern saß ich den ganzen Abend im Restaurant, alles war ruhig und anständig, so wie immer, keine Skandale, mit einem Wort: langweilig ... Wir werden das Kind schon schaukeln«, sagte er aufmunternd zu Viktor. »Stell dir so was vor! Warum hast du das denn gemacht? Magst du ihn nicht?« »Lassen wir das Thema!« schlug Viktor vor. »Und worüber sollen wir sprechen?« fragte Dr. Quadriga gekränkt. »Die beiden zanken sich ewig, wer wen nicht ins Leprosorium läßt. Endlich mal ist was Interessantes passiert, und gleich sollen wir das Thema wechseln.« Viktor biß eine Fischhälfte ab, kaute und trank etwas Bier. Dann fragte er: »Wer ist General Pferd?« »Ein Gaul«, sagte Dr. Quadriga. »Der Pferd. Oder das.« »Nun«, sagte Viktor, »kennt jemand so einen General?« »Als ich in der Armee diente«, sagte Doktor R. Quadriga, »kommandierte unsere Division seine Exzellenz General der Infanterie Arschmann.« »Na und?« sagte Viktor. »Das Wort bedeutet im Deutschen >Arsch<«, teilte Golem mit, der bisher geschwiegen hatte. »Der Doktor macht Spaß.« »Und wo haben Sie von diesem General Pferd gehört?« fragte Pavor. »Im Büro des Polizeichefs«, antwortete Viktor. »Und was weiter?« »Das ist alles. Also niemand kennt ihn. Auch gut. Ich habe nur so gefragt.« »Und der Feldwebel hieß Buttocks«, verkündete Dr. Quadriga. »Feldwebel Buttocks.« »Englisch verstehen Sie auch?« fragte Golem. »Ja, in diesen Bereichen«, antwortete Dr. Quadriga. »Trinken wir«, schlug Viktor vor. »Ober, eine Flasche Kognak!« »Wozu eine ganze Flasche?« fragte Pavor. »Damit es für alle reicht.« »Wollen Sie wieder einen Skandal anzetteln?« »Ach, hören Sie doch auf, Pavor! Sie sind mir auch ein schöner Abstinenzler!« »Ich bin kein Abstinenzler«, widersprach Pavor. »Ich trinke gern und lasse auch
nie eine Gelegenheit aus, um zu trinken, wie es sich für einen richtigen Mann gehört. Aber ich verstehe nicht, wozu man sich betrinken muß. Und völlig unsinnig ist es meiner Ansicht nach, sich jeden Abend zu betrinken.« »Wieder hockt er bei uns«, sagte Dr. Quadriga verzweifelt. »Wann hat er das geschafft?« »Wir werden uns nicht betrinken«, sagte Viktor und goß allen ein. »Wir trinken ganz einfach. Wie es jetzt auch die halbe Nation tut. Die andere Hälfte betrinkt sich, Gott stehe ihr bei, wir aber trinken nur.« »Genau darum geht es«, sagte Pavor. »Wenn im Lande sich ein jeder besauft, und nicht nur im Lande, sondern auf der ganzen Welt, dann muß jeder ordentliche Mensch vernünftig bleiben.« »Zählen Sie uns ehrlich zu den ordentlichen Menschen?« fragte Golem. »Jedenfalls zu den zivilisierten.« »Meiner Ansicht nach«, sagte Viktor, »haben die zivilisierten Menschen weitaus mehr Grund, sich zu betrinken, als die unzivilisierten.« »Kann schon sein«, stimmte Pavor zu. »Aber ein zivilisierter Mensch ist verpflichtet, sich an Grenzen zu halten. Die Kultur verpflichtet dazu... Wir sitzen hier fast jeden Abend, quatschen, trinken, machen Würfelspiele. Aber hat während dieser ganzen Zeit auch nur einer von uns irgendwas, wenn schon nichts Kluges, so doch wenigstens Ernstes gesagt? Gekicher, Späßchen... das war alles.« »Und wozu etwas Ernstes?« fragte Golem. »Deswegen, weil alles in den Abgrund stürzt, und wir kichern und machen Späßchen. Und halten Gelage während der Pest. Wir sollten uns schämen, meine Herren.« »Schon gut, Pavor«, sagte Viktor versöhnlich. »Sagen Sie uns was Ernstes. Wenn schon nichts Kluges, dann wenigstens was Ernstes.« »Ich will nichts Ernstes«, verkündete Dr. Quadriga. »Ihr Blutsauger. Ihr widerlichen Typen. . . Pfui!« »Still!« sagte Viktor zu ihm. »Schlaf dich aus . . . Richtig, Golem, lassen Sie uns wenigstens einmal über was Ernstes sprechen! Pavor, beginnen Sie, erzählen Sie uns über den Abgrund!« »Soll das wieder ein Späßchen werden?« fragte Pavor bekümmert. »Nein«, sagte Viktor. »Ganz ehrlich. Vielleicht bin ich ironisch, kann sein. Aber das kommt daher, daß ich mir mein ganzes Leben lang schon irgendwelchen Unsinn über Abgründe anhören muß. Alle versichern, die Menschheit würde in den Abgrund stürzen, aber beweisen können sie es nicht. Und bei näherer Betrachtung stellt sich immer heraus, daß dieser ganze philosophische Pessimismus eine Folge familiärer Schwierigkeiten oder von Geldmangel ist. . .« »Nein«, sagte Pavor. »Nein . . . Die Menschheit wird in den Abgrund stürzen, weil sie ihren Bankrott erklären muß . . . «
»Geldmangel«, murmelte Golem. Pavor beachtete ihn nicht. Er wandte sich ausschließlich an Viktor. Er sprach mit gesenktem Kopf und mürrischem Gesichtsausdruck. »Die Menschheit hat biologisch bankrott gemacht; die Geburtenzahlen sinken, Krebs, Schwachsinn, Neurosen breiten sich aus, die Menschen werden rauschgiftsüchtig. Täglich konsumieren sie Hunderte von Tonnen Alkohol, Nikotin, Rauschgift, mit Haschisch und Kokain haben sie begonnen, dann kam das LSD. Wir degenerieren ganz einfach. Unsere natürliche Umwelt haben wir zerstört, die künstliche wird uns zerstören. Auch ideologisch haben wir bankrott gemacht. Alle philosophischen Systeme haben wir durchprobiert und diskreditiert, mit allen denkbaren Moralsystemen haben wir es versucht und sind dabei genauso amoralisch geblieben wie die Höhlenmenschen. Das Schlimmste dabei ist, daß diese graue Masse heutiger Menschen zu eben solchen Schweinereien fähig ist wie eh und je. Ständig verlangt sie und dürstet sie nach Göttern, Führern und nach Ordnung, und jedesmal wenn sie ihre Götter, Führer und ihre Ordnung bekommen hat, wird sie unzufrieden, denn eigentlich braucht sie überhaupt nichts, weder Götter noch Ordnung; was sie braucht, sind Chaos, Anarchie, Brot und Spiele. Im Augenblick sind ihr die Hände gebunden, und zwar durch die eiserne Notwendigkeit, allwöchentlich eine Gehaltstüte in Empfang nehmen zu müssen, aber diese Notwendigkeit ist ihr zuwider, und sie flüchtet sich davor jeden Abend in Alkohol und Rauschgift... Hol sie der Teufel, diese faulende Masse! Schon zehntausend Jahre stinkt sie vor sich hin und ist zu nichts anderem zu gebrauchen. Schrecklich daran ist etwas anderes. Dieser Zerfall ergreift uns nämlich alle, die wir hervorragende Persönlichkeiten sind. Wir sehen diesen Verfall und bilden uns ein, er würde uns nichts angehen, und trotz allem hinterläßt er seine Spuren bei uns; er erfüllt uns mit Hoffnungslosigkeit, schwächt unsere Willenskraft, höhlt uns aus... Ein weiterer Fluch ist die demokratische Erziehung, égalité, fraternité, alle Menschen sind Brüder, alle sind aus einem Teig... Wir stellen uns ständig auf eine Stufe mit der Masse und beschimpfen uns, wenn wir entdecken, daß wir klüger sind als andere und andere Ansprüche und Lebensziele haben. Es ist an der Zeit, das zu begreifen und die nötigen Schlüsse zu ziehen, das heißt, es ist an der Zeit, sich zu retten.« »Es ist an der Zeit zu trinken«, sagte Viktor. Er bedauerte bereits, sich mit dem Sanitätsinspektor auf ein ernstes Gespräch eingelassen zu haben. Pavor bot einen unschönen Anblick. Er hatte sich zu sehr ereifert und begann zu schielen. Er fiel aus der Rolle. Wie alle Verfechter der Abgrundtheorie hatte er lediglich die banalsten Trivialitäten von sich gegeben. So gerne hätte man ihm jetzt gesagt: Blamieren Sie sich nicht, Pavor, drehen Sie sich lieber mit dem Profil zu uns und lächeln Sie ironisch. »Ist das alles, was Sie darauf zu sagen haben?« erkundigte sich Pavor.
»Einen Rat kann ich Ihnen geben, Pavor. Etwas mehr Ironie. Ereifern Sie sich nicht so. Sie können ja trotz allem nichts aus- richten. Und wenn Sie es auch könnten, dann wüßten Sie nicht, was zu tun wäre.« Pavor lächelte ironisch. »Ich wüßte es schon«, sagte er. »Das heißt?« »Es gibt nur ein Mittel, den Verfall aufzuhalten ...« »Ich weiß schon«, sagte Viktor unbekümmert. »Alle Dummköpfe in goldene Hemden stecken und in Marsch setzen. Ganz Europa liegt zu unseren Füßen. Das gab es schon mal.« »Nein«, sagte Pavor. »Das schiebt die Sache nur hinaus. Es gibt nur eine Lösung. Man muß die Masse vernichten.« »Sie sind heute in fabelhafter Stimmung«, sagte Viktor. »Neunzig Prozent der Bevölkerung müßten vernichtet werden«, fuhr Pavor fort. »Vielleicht sogar fünfundneunzig Prozent. Die Masse hat ihre Bestimmung erfüllt; aus ihren Tiefen hat sie die Blüte der Menschheit hervorgebracht - sie hat die Zivilisation geschaffen. Jetzt ist sie tot wie eine verfaulte Kartoffelknolle, die einem neuen Kartoffeltrieb das Leben weitergegeben hat. Und wenn eine Leiche zu faulen beginnt, muß sie zugeschüttet werden.« »O Gott«, sagte Viktor. »Und all das nur deswegen, weil Sie Schnupfen haben und das Leprosorium nicht betreten dürfen. Oder haben Sie vielleicht familiäre Zwistigkeiten?« »Spielen Sie nicht den Dummen«, sagte Pavor. »Warum wollen Sie nicht über Dinge nachdenken, die Ihnen so gut bekannt sind? Weshalb werden die schönsten Ideen korrumpiert? Wegen der dumpfen Trägheit der Masse. Weshalb gibt es Krieg, Chaos und Unordnung? Wegen der dumpfen Trägheit der Masse, die sich jeweils eine Regierung erwählt, die ihrer würdig ist. Weshalb sind wir vom Goldenen Zeitalter ebenso weit entfernt wie anno dazumal? Wegen des Stumpfsinns und der Unwissenheit der grauen Masse. Im Prinzip hatte Hitler recht, unbewußt recht, er spürte, daß es auf der Erde zu viel Überflüssiges gab. Aber er war ein Abkömmling der grauen Masse und hat alles verdorben. Es war dumm, die Vernichtung anhand rassischer Merkmale durchzuführen. Außerdem fehlten ihm die eigentlichen Vernichtungsmittel.« »Und anhand welcher Merkmale wollen Sie vernichten?« fragte Viktor. »Anhand der Unauffälligkeit«, antwortete Pavor. »Ist ein Mensch unbedeutend und unauffällig, so muß er vernichtet werden.« »Und wer entscheidet, ob ein Mensch auffällig ist oder nicht?« »Ach, hören Sie auf, das sind Details! Ich erläutere Ihnen das Prinzip, und das Wer, Was und Wie, das sind Details.« »Und wozu haben Sie sich mit dem Bürgermeister zusammengetan?« fragte Viktor, dem Pavor auf die Nerven ging.
»Wieso?« »Zum Teufel, wozu brauchen Sie das Gerichtsverfahren? Sie Krämerseele! Immer dasselbe mit diesen Übermenschen Ihres Schlages. Da wollen Sie die Welt umpflügen und geben sich mit weniger als drei Milliarden Leichen nicht zufrieden. Zur selben Zeit sorgen Sie sich um Ämter, lassen Ihren Tripper behandeln und helfen um eines kleinen Vorteils willen zweifelhaften Leuten bei ihren zwielichtigen Geschäften.« »Mäßigen Sie sich etwas«, sagte Pavor. Er kochte. »Sie sind doch selbst ein Säufer und Nichtstuer. . .« »Immerhin zettle ich nicht hohle politische Prozesse an und maße mir nicht an, die Welt zu verändern.« »Ja, Banev«, sagte Pavor, »nicht mal dazu sind Sie fähig. Sie sind doch alles in allem ein Bohème, das heißt, kurz gesagt, ein asoziales Element, ein billiger Oppositioneller, eine Scheißnull. Sie wissen selbst nicht, was Sie wollen, und tun nur das, was man von Ihnen will. Sie geben sich, für die Wünsche eben solcher Asozialer wie Sie her und bilden sich daher ein, als freier Künstler das Fundament ins Wanken zu bringen. Dabei sind Sie ein gottverdammter Schreiberling, einer von denen, die sich in öffentlichen Bedürfnisanstalten produzieren.« »Ist alles richtig«, stimmte Viktor zu. »Nur schade, daß Sie das nicht früher gesagt haben. Man mußte Sie erst beleidigen, damit Sie mit diesen Dingen herausrückten. Jetzt erkennt man, was für ein ekelhafter Typ Sie sind, Pavor! Nur einer von vielen. Und wenn man zur Vernichtung schreitet, dann wird man auch Sie vernichten. Nach dem Prinzip der Unauffälligkeit. Ein philosophierender Sanitätsinspektor? In den Ofen mit ihm!« Wie wir wohl von der Seite ausschauen, dachte er. Pavor ist widerlich… Und jetzt noch ein Lächeln! Was ist denn heute mit ihm los? Und Quadriga schläft. Was bekümmern ihn schon Streit, graue Masse und dieser philosophische Quatsch... Und Golem ist ganz aufgelöst, sitzt da wie im Theater, das Gläschen in der Hand, einen Arm hinter der Stuhllehne, wartet, wer wem auf welche Weise eine verpaßt. Was schweigt Pavor so lange? - Ob er Argumente sammelt? »Na schön«, sagte Pavor schließlich. »Das war's. Und jetzt Schluß!« Das Lächeln auf seinem Gesicht war verschwunden, die Augen erinnerten jetzt an die eines Obersturmbannführers. Er knallte seine Kreditkarte hart auf den Tisch, trank aus und verließ ohne Gruß den Tisch. Viktor fühlte sich angenehm enttäuscht. »Trotz allem haben Sie für einen Schriftsteller eine haarsträubende Menschenkenntnis«, sagte Golem. »Das ist nicht mein Metier«, sagte Viktor leichthin. »Sollen sich Psychologen und Sicherheitsorgane bei Menschen auskennen. Meine Aufgabe ist es, mit
dem verfeinerten Gespür des Künstlers Tendenzen aufzuzeigen. Aber wozu sagen Sie mir das? Ist das wieder Ihr >Victoire, hören Sie auf zu zupfen« »Ich habe Sie gewarnt. Lassen Sie die Finger von Pavor.« »Was soll der Quatsch?« sagte Viktor. »Erstens habe ich meine Finger von Pavor gelassen, aber er nicht die seinen von mir. Zweitens ist er ein Schwein. Sie wissen, daß er dem Bürgermeister behilflich ist, Sie vor Gericht zu bringen?« »Ich ahne es.« »Und das läßt Sie so kalt?« »Nein. Aber die können mir nicht gefährlich werden. Das heißt, der Bürgermeister und auch das Gericht.« »Und Pavor?« »Pavor schon«, sagte Golem. »Deswegen sollten Sie vor ihm keinen Unsinn verzapfen. Sie sehen doch, daß ich es vor ihm auch nicht tue.« »Ich möchte gern wissen, vor wem Sie es überhaupt tun«, brummte Viktor. »Vor Ihnen manchmal. Ich habe eine Schwäche für Sie. Gießen Sie mir Kognak ein!« »Bitte schön.« Viktor goß ein. »Vielleicht sollten wir Quadriga wecken. Er hat mich nicht mal gegen Pavor in Schutz genommen!« »Nein, wecken wir ihn lieber nicht. Unterhalten wir uns. Was mischen Sie sich in solche Sachen ein? Wer hat Sie gebeten, den Lastwagen zu entführen?« »Ich hatte Lust dazu«, sagte Viktor. »Eine Schweinerei, Bücher zurückzuhalten. Und dann hat mich der Bürgermeister aufgeregt. Ein Anschlag auf meine Freiheit. Und jedesmal, wenn so was passiert, schlage ich über die Stränge... Übrigens, Golem, kann nicht General Pferd für mich beim Bürgermeister was tun?« »Dem sind Sie mitsamt Ihrem Bürgermeister schnuppe«, sagte Golem. »Der hat andere Sorgen.« »Sagen Sie ihm, er soll sich ruhig für mich einsetzen. Sonst schreibe ich einen vernichtenden Artikel gegen Ihr Leprosorium. Daß Sie das Blut christlicher Kinder zur Heilung der Augenkrankheit verwenden. Sie glauben wohl, ich wüßte nicht, warum die Naßmänner die kleinen Kinder zu sich locken. Erstens saugen sie ihnen das Blut aus, zweitens schänden sie sie. Ich werde Sie vor der ganzen Welt in Verruf bringen. Blutsauger und Wüstling unter der Maske eines Arztes.« Viktor stieß mit Golem an und trank. »Übrigens spreche ich in vollem Ernst. Der Bürgermeister will mich zwingen, einen solchen Artikel zu schreiben. Das wissen Sie natürlich auch.« »Nein«, sagte Golem. »Aber das ist unwesentlich.« »Ich sehe, daß für Sie alles unwesentlich ist«, sagte Viktor. »Die ganze Stadt ist gegen Sie - unwesentlich. Sie kommen vor Gericht unwesentlich. Sanitätsinspektor Pavor ist empört über Ihr Benehmen -
unwesentlich. Der in Mode gekommene Schriftsteller Banev ist gleichfalls empört und bereitet einen scharfen Artikel vor - auch das ist unwesentlich. Sollte General Pferd das Pseudonym für den Herrn Präsidenten sein? Weiß dieser allmächtige General übrigens, daß Sie ein Kommunist sind?« »Und weshalb regt sich der Schriftsteller Banev so auf?« fragte Golem gelassen. »Nur brüllen Sie nicht so, Teddy dreht sich schon um!« »Teddy gehört zu uns«, widersprach Viktor. »Übrigens regt der sich auch auf. Der hat die Nase voll.« Er runzelte die Stirn und zündete sich eine Zigarette an. »Warten Sie, irgendwas wollten Sie von mir wissen... Ah, ja. Ich bin empört, daß Sie mich nicht ins Leprosorium gelassen haben. Immerhin habe ich eine gute Tat vollbracht. Selbst wenn es dumm war - aber alle guten Taten sind ja dumm. Und vorher noch habe ich einen Naßmann auf dem Rücken getragen.« »Und sich seinetwegen geschlagen«, ergänzte Golem. »Genau. Und mich geschlagen.« »Mit den Faschisten«, sagte Golem. »Genau, mit den Faschisten.« »Haben Sie einen Einlaßschein?« fragte Golem. »Einen Einlaßschein... Den Pavor laßt ihr auch nicht rein, und vor aller Augen wurde er zum Menschenfeind.« »Ja, Pavor hat hier kein Glück«, sagte Golem. »An sich taugt er was im Dienst, aber hier klappt nichts bei ihm. Ich warte ständig darauf, wann er beginnt, Dummheiten zu machen. Offenbar hat er schon begonnen.« Doktor R. Quadriga hob seinen zerzausten Kopf und sagte: »Nur fest drauflos. Ich gehe rein, und dann sehen wir weiter. Der Geist ist raus.« Sein Kopf fiel krachend zurück auf die Tischplatte. »Sei es, wie es ist«, sagte Viktor mit gedämpfter Stimme. »Ist es wahr, daß Sie Kommunist sind?« »Soweit ich mich erinnere, ist die Kommunistische Partei bei uns verboten«, bemerkte Golem. »O Gott«, sagte Viktor. »Welche Partei ist bei uns denn erlaubt? Ich frage doch nicht nach der Partei, sondern nach Ihnen.. .« »Wie Sie sehen, bin ich erlaubt«, sagte Golem. »Wie Sie wollen«, sagte Viktor» »Mir ist es gleich. Aber der Bürgermeister ... doch der ist Ihnen scheißegal... Aber wenn es General Pferd erfährt. ..« »Aber wir sagen es ihm doch nicht«, flüsterte Golem vertraulich. »Warum sollte sich der General mit solchen Nichtigkeiten befassen? Er weiß, daß es ein Leprosorium gibt, daß im Leproso- rium ein gewisser Golem sitzt und irgendwelche Naßmänner. Das ist doch gut so.« »Ein merkwürdiger General«, sagte Viktor nachdenklich. »Ein General des Leprosoriums... Übrigens wird er wegen der Naßmänner bald in
Unannehmlichkeiten kommen. Ich fühle das mit dem verfeinerten Gespür des Künstlers. In unserer Stadt sieht es für die Naßmänner böse aus.« »Wenn es nur unsere Stadt wäre«, sagte Golem. »Aber was ist eigentlich los? Das sind doch ganz einfach kranke Menschen, und die Krankheit ist anscheinend auch nicht ansteckend.« »Sie sind ein alter Fuchs, Viktor. Sie wissen genau, daß diese Leute nicht einfach krank sind. Und mit der Ansteckung ist es auch nicht so einfach.« »Das heißt?« »Das heißt, daß zum Beispiel Teddy von ihnen nicht ahgesteckt werden kann. Ebensowenig der Bürgermeister, ganz zu schweigen vom Polizeichef. Ein anderer wiederum kann sich anstecken.« »Sie zum Beispiel.« Golem ergriff die Flasche, hielt sie genüßlich gegen das Licht und goß Kognak ein. »Ich kann es auch nicht. Jetzt nicht mehr.« »Und ich?« »Weiß ich nicht. Im übrigen ist das alles eine Hypothese von mir. Nehmen Sie das nicht so wichtig!« »Tue ich nicht«, sagte Viktor bekümmert. »Was ist eigentlich noch ungewöhnlich an ihnen?« »Was ungewöhnlich an ihnen ist?« wiederholte Golem. »Sie konnten sicher selbst bemerken, Viktor, daß sich die Menschen in drei große Gruppen aufteilen lassen - oder richtiger, in zwei große und eine kleine Gruppe... Es gibt Leute, die ohne Vergangenheit nicht leben können, sie gehen ganz in der mehr oder minder fernen Vergangenheit auf. Sie leben von Traditionen, Gebräuchen und Vermächtnissen, sie schöpfen aus dem Vergangenen Freude und holen sich dort ihre Vorbilder. Nehmen wir den Herrn Präsidenten. Was täte er ohne unsere große Vergangenheit? Worauf könnte er sich berufen und woher sich selbst ableiten? Dann gibt es die Leute, die in der Gegenwart aufgehen und von Vergangenheit und Zukunft nichts wissen wollen. Sie zum Beispiel. Alle Vorstellungen über die Vergangenheit hat Ihnen der Herr Präsident versaut; in welche Epoche der Vergangenheit Sie auch schauen, überall blickt Ihnen eben dieser Herr Präsident entgegen. Was die Zukunft betrifft, so haben Sie davon nicht die geringste Vorstellung und haben auch, glaube ich, Angst, sie sich vorzustellen... Und schließlich gibt es Leute, die in der Zukunft leben. Erst in letzter Zeit lassen sich größere Gruppierungen von ihnen erkennen. Von der Vergangenheit erwarten sie sich völlig zu Recht nichts Gutes, die Gegenwart ist für sie das Material für den Bau der Zukunft, der Rohstoff sozusagen… Eigentlich leben sie schon in der Zukunft... Auf Inseln der Zukunft, die sich in der Gegenwart um sie herum gebildet haben. . . « Golem lächelte seltsam und richtete den Blick zur Decke. »Diese Leute sind klug«, sagte er zärtlich,
»verteufelt klug, im Unterschied zu den meisten Menschen. Sie sind alle talentiert, als entstammten sie einer Auslese. Sie äußern merkwürdige Wünsche, gewöhnliche Wünsche gibt es bei ihnen nicht.« »Was sind gewöhnliche Wünsche? Frauen, zum Beispiel?« »In gewissem Sinn, ja.« »Wodka? Theater?« »Unbedingt.« »Eine schreckliche Krankheit«, sagte Viktor. »Ich will nicht... Und trotz allem verstehe ich nicht... Ich verstehe überhaupt nichts. Daß man kluge Leute hinter Stacheldraht setzt, das verstehe ich. Aber warum man sie herausläßt, aber niemanden hinein. . . « »Vielleicht sitzen nicht sie hinter Stacheldraht, sondern Sie.« Viktor grinste. »Warten Sie«, sagte er. »Da verstehe ich noch was nicht. Wie verhält es sich mit Pavor zum Beispiel? Ich verstehe, mich als Außenstehenden läßt man nicht rein. Aber irgend jemand muß doch den Zustand der Bettwäsche und die sanitären Einrichtungen überprüfen. Vielleicht herrschen bei Ihnen antisanitäre Zustände.« »Und wenn sich Pavor für die sanitären Verhältnisse nicht interessiert?« Viktor blickte Golem verdutzt an. »Machen Sie schon wieder Spaß?« fragte er. »Schon wieder nicht«, antwortete Golem. »Was ist er dann Ihrer Ansicht nach? Ein Spion?« »Spion ist ein zu weitläufiger Begriff«, widersprach Golem. »Moment mal«, sagte Viktor. »Sprechen wir offen! Wer hat den Stacheldraht gezogen und die Wachen aufgestellt?« »Ach, dieser Stacheldraht«, stöhnte Golem. »Wie viel Kleidung ist dort schon zerrissen worden. Und diese Soldaten leiden an chronischem Durchfall. Wissen Sie das beste Mittel gegen Durchfall? Tabak mit Portwein... genauer gesagt, Portwein mit Tabak.« »Gut«, sagte Viktor. »Das heißt, General Pferd. Aha... Und dieser junge Mann mit der Aktentasche... So ist das also. Das heißt, Sie haben hier so eine Art militärisches Laboratorium. Klar... Und Pavor gehört also nicht zum Militär. Dann ist er von einer anderen Behörde. Oder ist er vielleicht kein hiesiger Spion, sondern einer vom Ausland?« »Gott behüte«, sagte Golem erschrocken. »Das würde uns noch fehlen . . .« »Also... Und weiß er, wer dieser Typ mit der Aktentasche ist?« »Ich glaube schon«, sagte Golem. »Und weiß dieser Typ, wer Pavor ist?« »Ich glaube nicht«, sagte Golem. »Und Sie haben ihm nichts gesagt?«
»Was geht mich das an?« »Und General Pferd haben Sie es auch nicht gesagt?« »Ich dachte nicht daran.« »Das ist ungerecht«, sagte Viktor. »Das muß ihm gesagt werden.« »Hören Sie, Viktor!« sagte Golem. »Ich habe Ihnen nur deswegen erlaubt, über dieses Thema zu quatschen, damit Sie erschrecken und Ihre Nase nicht in fremde Sachen stecken. Das hat für Sie keinen Sinn. Sie stehen sowieso schon unter Beobachtung, man kann Sie auslöschen, ohne daß Sie einen Muckser tun.« »Es ist nicht schwer, mich einzuschüchtern«, sagte Viktor seufzend. »Von Kindheit an wurde ich eingeschüchtert. Aber sei es, wie es sei, eine Sache will mir einfach nicht in den Kopf. Was wollen die alle von den Naßmännern?« »Wer - >die alle« fragte Golem müde und vorwurfsvoll. »Pavor. Pferd. Der Mann mit der Aktentasche. All diese Krokodile.« »O Gott«, sagte Golem. »Was wollen in unserer Zeit Krokodile von klugen und talentierten Menschen? Ich verstehe nur nicht, was Sie von ihnen wollen. Weshalb mischen Sie sich in diese Sachen? Haben Sie noch nicht genug von Ihren eigenen Scherereien? Genügt Ihnen nicht der Herr Präsident?« »Das schon«, stimmte Viktor zu. »Ich habe es satt bis oben hin.« »Wunderbar. Fahren Sie ins Sanatorium und nehmen Sie sich einen Stoß Papier mit... Soll ich Ihnen eine Schreibmaschine schenken?« »Ich schreibe nach dem alten System«, sagte Viktor. »Wie Hemingway.« »Ausgezeichnet. Ich schenke Ihnen einen zerkauten Bleistiftstummel. Arbeiten Sie, lieben Sie Ihre Diana. Soll ich Ihnen vielleicht ein Sujet geben? Vielleicht ist Ihre Feder schon erschöpft?« »Das Sujet wird aus dem Thema geboren«, sagte Viktor nachdrücklich. »Ich studiere das Leben.« »Bei Gott«, sagte Golem. »Studieren Sie das Leben, soviel Sie wollen. Nur mischen Sie sich nicht in Prozesse ein.« »Das ist unmöglich«, widersprach Viktor. »Das Gerät beeinflußt den Gang des Experiments. Haben Sie etwa die Physik vergessen? Wir beobachten doch nicht die Welt als solche, sondern die Welt plus Einwirkung des Beobachters.« »Sie haben schon mal eine mit dem Schlagring an den Schädel bekommen. Das nächstemal wird man einfach schießen.« »Na ja«, sagte Viktor, »erstens kann es das nächstemal statt eines Schlagrings ein Ziegelstein sein. Zweitens kann das überall passieren, daß ich eine auf den Schädel bekomme. Man kann mir jeden Moment eine reinhauen. Soll ich deswegen nicht mehr aus dem Zimmer gehen?« Golem biß sich auf die Unterlippe. Er hatte gelbliche Pferdezähne. »Hören Sie zu, Sie Apparat. Sie haben sich kürzlich rein zufällig in ein Experiment eingemischt und prompt eine auf den Deckel bekommen. Wenn Sie
sich jetzt aber bewußt einmischen ...« »Ich habe mich in kein Experiment eingemischt«, sagte Viktor. »Ich kam gerade ganz ruhig von Lola und da sehe ich auf einmal ...« »Sie Idiot«, sagte Golem. »Geht so dahin und sieht auf einmal! Sie hätten auf die andere Seite gehen sollen, Sie hirnverbrannter Vogel!« »Und weshalb soll ich da auf die andere Seite gehen?« »Deshalb, weil einer Ihrer guten Bekannten mit der Erfüllung seiner unmittelbaren Pflichten beschäftigt war. Und da platzen Sie rein wie ein Ochse.« Viktor richtete sich mit einem Ruck auf. »Welcher gute Bekannte? Da war kein einziger Bekannter von mir dabei.« »Der Bekannte kam von hinten mit dem Schlagring. Haben Sie keine Bekannten mit Schlagringen?« Viktor goß den Kognak auf einen Zug hinunter. Mit erstaunlicher Deutlichkeit kam das Bild zurück: Pavor mit geröteter, verschnupfter Nase zog ein Taschentuch aus der Tasche, und ein Schlagring fiel klirrend zu Boden, ein schwerer, mattglänzender, handlicher Schlagring. »Hören Sie doch auf!« sagte Viktor und räusperte sich. »Das ist Quatsch. Pavor kann doch nicht...« »Ich habe keine Namen genannt«, widersprach Golem. Viktor legte die Hände auf den Tisch und studierte seine geballten Fäuste. »Was hat das mit seinen Pflichten zu tun?« fragte er. »Jemand brauchte offensichtlich einen lebendigen Naßmann. Kidnapping.« »Und habe ich sie gestört?« »Sie haben es versucht.« »Sie haben ihn also doch geschnappt?« »Ja, und sind weggefahren. Seien Sie dankbar, daß man Sie nicht geschnappt hat. Damit Sie keine Informationen weitergeben können. Das Schicksal der Literatur bekümmert diese Leute ja nicht sonderlich.« »Also Pavor...«, sagte Viktor langsam. »Keine Namen«, erinnerte ihn Golem streng. »Dieses Schwein«, sagte Viktor. »Gut, wir werden sehen... Und wozu brauchten die einen Naßmann?« »Was heißt - wozu? Information... Woher wollen sie die Information sonst bekommen? Sie wissen doch selbst - Stacheldraht, Soldaten, General Pferd .. .« »Heißt das also, daß man ihn dort jetzt verhört?« sagte Viktor. Golem schwieg lange. Dann sagte er: »Er ist gestorben.« »Hat man ihn erschlagen?« »Nein. Im Gegenteil.« Golem schwieg wieder. »Diese Schwachköpfe. Sie haben ihm nichts zum Lesen gegeben, und er ist verhungert.« Viktor blickte ihn rasch an. Golem lächelte bekümmert. Oder aber er weinte vor
Schmerz. Viktor wurde plötzlich von Schrek- ken und Verzweiflung erfaßt, von dumpfer Verzweiflung. Das Licht der Tischlampe verdüsterte sich. Das sah ganz nach Herzanfall aus. Viktor bekam keine Luft mehr und zerrte mit Mühe an seinem Krawattenknoten. O Gott, dachte er, was für ein Dreckskerl, so ein Bandit, so ein kaltblütiger Mörder... Und danach, eine Stunde später, wäscht er sich die Hände, betupft sich mit Parfüm, überschlägt, wie sich die Obrigkeit erkenntlich zeigen wird, setzt sich neben mich, stößt mit mir an, lächelt mir zu, spricht zu mir wie zu seinem Freund, dieser Schuft, lügt die ganze Zeit, lächelt und lügt, lügt mit Genuß, ist vergnügt, macht sich lustig und lacht sich ins Fäustchen, sobald ich mich wegdrehe, blinzelt sich zu und fragt mich im nächsten Moment voll Mitgefühl, was mit meinem Kopf los sei... Wie durch einen schwarzen Nebel sah Viktor, wie Doktor R. Quadriga langsam den Kopf hob, den ausgedörrten Mund mit lautlosem Schrei öffnete und wie ein Blinder mit zitternden Händen fieberhaft das Tischtusch abtastete. Seine Augen waren wie die eines Blinden, als er den Kopf hin und her wendete, und immer schrie und schrie er, doch Viktor hörte nichts... Ganz recht so, ich bin auch ein Dreck, ein nichtsnutziges, kleines Menschlein, den Stiefel ins Gesicht, die Arme festhalten, damit ich nicht entwische, wer braucht mich schon, verdammt noch mal, ich hätte fester zuschlagen sollen, damit er nicht mehr aufsteht, und ich war wie im Schlaf mit meinen watteweichen Fäusten. O Gott, wozu lebe ich eigentlich, verdammt noch mal, und wozu leben alle? Es ist doch so einfach, von hinten rangehen und ein Stück Eisen über den Kopf zu dreschen, und nichts ändert sich, nichts auf der Welt, denn in derselben Sekunde kommt irgendwo tausend Kilometer von hier eine andere solche Mißgeburt zur Welt... Das fette Gesicht Golems erschien noch aufgedunsener, der Stoppelbart trat schwärzlich hervor, die Augen verschwammen. Wie ein Weinschlauch, mit ranzigem Fett angefüllt, lag Golem im Stuhl, die Finger bewegten sich, als er Glas um Glas nahm, geräuschlos den Fuß des Glases abbrach, die Teile fallen ließ, wieder eins nahm, abbrach und fallen ließ... Niemanden liebe ich und kann Diana auch nicht lieben, ich schlafe ja mit vielen, aber schlafen, das können alle; aber kann man etwa eine Frau lieben, die einen nicht liebt, und eine Frau kann auch nicht lieben, wenn du sie nicht liebst! Und so dreht sich alles in diesem verfluchten, unmenschlichen Kreis, so wie sich eine Schlange dreht, die ihrem eigenen Schwanz nachjagt, wie sich die Tiere paaren und auseinandergehen... nur denken sich Tiere keine Worte aus und verfassen keine Gedichte, sondern paaren sich nur und gehen auseinander... Teddy weinte, die Ellbogen auf die Theke gestützt, das knochige Kinn auf den knochigen Fäusten, seine kahle Stirn glänzte safranfarben im Lampenschein, über seine eingefallenen Wangen liefen unaufhörlich Tränen, die ebenfalls im Lampenschein glänzten. . . Und alles nur deswegen, weil ich ein Dreck bin und kein Schriftsteller; zum Teufel, was bin ich schon für ein Schriftsteller, wenn ich das Schreiben nicht ausstehen kann, wenn
das Schreiben eine Quälerei ist, eine peinliche, unangenehme Beschäftigung, so wie eine krankhafte, physiologische Funktion des Körpers, so wie Durchfall oder das Ausdrücken eines eitrigen Geschwürs... Ich hasse es, eine grauenhafte Vorstellung, das ganze Leben sich damit beschäftigen zu müssen, daß ich schon dazu verdammt bin, daß sie mir nichts mehr erlassen, sondern fordern werden, schreib, schreib, und ich werde es tun, aber jetzt kann ich nicht, nicht mal dran denken kann ich, o Gott, laß mich nicht dran denken, sonst muß ich kotzen... Bol- Kunaz stand hinter dem Rücken Dr. Quadrigas und blickte auf die Uhr. Ein dünnes, nasses Kerlchen, mit einem nassen, frischen Gesicht, mit wundervollen dunklen Augen. Von ihm ging ein frischer Geruch aus, der die drückende, dumpfe Hitze zerriß, ein Geruch von Gras und Quellwasser, ein Duft von Lilien, Sonne und Libellen über dem See... Und die Welt kehrte zurück. Nur eine undeutliche Erinnerung oder ein Gefühl oder die Erinnerung an ein Gefühl blieb zurück, ein verzweifelter Schrei, der abbrach, ein rätselhaftes Knirschen, ein Dröhnen, Klirren von Glas... Viktor fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und langte nach der Flasche. Doktor R. Quadriga lag mit dem Kopf auf dem Tischtuch und murmelte heiser: »Nicht nötig. Versteckt mich! Hol sie...« Golem fegte besorgt Glasscherben vom Tisch. Bol-Kunaz sagte: »Herr Golem, entschuldigen Sie bitte. Ein Brief für Sie.« Er legte einen Umschlag vor Golem und blickte wieder auf die Uhr. »Guten Abend, Herr Banev«, sagte er. »Guten Abend«, sagte Viktor und goß sich Kognak ein. Golem las aufmerksam den Brief. Hinter der Theke schneuzte sich Teddy geräuschvoll in ein kariertes Taschentuch. »Hör zu, Bol-Kunaz«, sagte Viktor. »Hast du gesehen, wer mich damals geschlagen hat?« »Nein«, antwortete Bol-Kunaz und blickte ihm in die Augen. »Was heißt nein?« sagte Viktor stirnrunzelnd. »Er stand mit dem Rücken zu mir«, erklärte Bol-Kunaz. »Du kennst ihn«, sagte Viktor. »Wer war es?« Golem gab einen unbestimmten Laut von sich. Viktor blickte rasch zu ihm. Golem beobachtete ihn nicht. Er zerriß den Zettel in kleine Fetzen und steckte sie in die Tasche. »Sie irren sich«, sagte Bol-Kunaz. »Ich kenne ihn nicht.« »Banev«, murmelte Dr. Quadriga. »Ich bitte dich... Ich kann da nicht allein hin... Geh mit mir... Ich habe einen Schrecken davor. . .« Golem stand auf, suchte etwas in der Westentasche und rief dann: »Teddy! Schreiben Sie auf meine Rechnung... und berechnen Sie mir vier zerbrochene Gläser... Nun, ich gehe«, sagte er zu Viktor. »Denken Sie nach und treffen Sie
eine vernünftige Entscheidung. Vielleicht wäre es das beste, Sie würden wegfahren.« »Auf Wiedersehen, Herr Banev«, sagte Bol-Kunaz höflich. Viktor schien es, als hätte der Junge kaum merklich den Kopf geschüttelt. »Auf Wiedersehen, Bol-Kunaz«, sagte er. »Auf Wiedersehen.« Sie gingen. Viktor trank nachdenklich seinen Kognak aus. Der Ober kam. Sein Gesicht war aufgedunsen und voller roter Flecken. Er begann, den Tisch abzuräumen. Seine Bewegungen waren ungewöhnlich unbeholfen und unsicher. »Sind Sie neu hier?« fragte Viktor. »Ja, Herr Banev. Seit heute morgen.« »Und Piter? Ist der krank?« »Nein, Herr Banev. Er ist abgereist. Er hat es nicht ausgehalten. Ich werde es wahrscheinlich auch tun . . . « Viktor blickte zu Dr. Quadriga. »Bringen Sie den aufs Zimmer!« sagte er. »Selbstverständlich, Herr Banev«, antwortete der Ober. Seine Stimme klang verzagt. Viktor zahlte, winkte Teddy zum Abschied zu und trat ins Vestibül. Dann ging er in den ersten Stock hinauf, blieb vor der Tür Pavors stehen, hob den Arm, um anzuklopfen, stand eine Weile und begab sich, ohne geklopft zu haben, wieder nach unten. Der Portier besah sich in seiner Loge verwundert seine Hände. Die Hände waren naß, Haarbüschel klebten daran; die Livree war ebenfalls mit Haaren übersät, beide Wangen waren von frischen Kratzwunden überzogen und angeschwollen. Er blickte Viktor mit irren Augen an. Aber Viktor durfte diese seltsamen Dinge jetzt nicht bemerken, das wäre taktlos und grausam gewesen, noch weniger durfte er darüber sprechen; er mußte so tun, als wäre nichts passiert, er mußte all das auf später verschieben, auf den nächsten oder vielleicht sogar den übernächsten Tag. Viktor fragte: »In welchem Zimmer wohnt dieser... Sie wissen schon, dieser junge Typ mit Brille, der immer mit einer Aktentasche herumgeht.« Der Portier geriet in Verlegenheit. Wie um einen Ausweg zu suchen, blickte er auf das Schlüsselbrett. Dann rang er sich doch zu einer Antwort durch. »Zimmer 312, Herr Banev.« »Danke«, sagte Viktor und legte ein Geldstück auf das Pult. »Nur haben die es nicht gerne, wenn man sie stört«, warnte der Portier zögernd. »Ich weiß«, sagte Viktor. »Ich habe gar nicht die Absicht, sie zu stören. Ich habe nur so gefragt... Sie wissen schon, ich dachte mir, wenn es eine gerade Zahl ist, dann ist alles gut.« Der Portier lächelte dünn.
»Welche Unannehmlichkeiten können Sie schon haben, Herr Banev«, sagte er höflich. »Alle möglichen«, seufzte Viktor. »Große und kleine. Gute Nacht.« Er ging hinauf in den zweiten Stock, bedächtig, bewußt bedächtig, wie um sich Gelegenheit zu geben, alles zu überdenken und zu erwägen, die möglichen Folgen abzuschätzen, und auf drei Jahre vorauszuplanen. Aber in Wirklichkeit dachte er nur daran, daß der Teppich auf der Treppe schon längst hätte ausgewechselt werden müssen; er war kahl geworden und durchgetreten. Und erst als er an der Zimmertür 312 (ein Luxuszimmer - zwei Schlafzimmer, ein Eßzimmer, Fernseher, Spitzenradiogerät, Kühlschrank und Bar) klopfen wollte, hätte er beinahe laut gesagt: Meine Herren Krokodile! Sehr angenehm. Sie werden sich gegenseitig auffressen. Viktor mußte lange klopfen. Zuerst klopfte er behutsam mit den Fingergelenken; als dann keine Antwort kam, klopfte er entschlossener mit der Faust. Als die Zimmerbewohner immer noch nicht reagierten - Viktor vernahm nur das Knarren des Fußbodens und Schnaufgeräusche im Schlüsselloch drehte er sich mit dem Rücken zur Tür und trat brutal mit den Absätzen dagegen. »Wer ist da?« fragte endlich eine Stimme. »Ein Nachbar«, antwortete Viktor. »Machen Sie einen Augenblick auf.« »Was wollen Sie?« »Ich muß Ihnen ein paar Worte sagen.« »Kommen Sie morgen früh«, sagte die Stimme. »Wir schlafen schon.« »Hol Sie der Teufel!« sagte Viktor böse. »Wollen Sie, daß man mich hier sieht? Machen Sie auf! Wovor haben Sie denn Angst?« Der Schlüssel wurde umgedreht, und die Tür ging einen Spaltbreit auf. In der Öffnung erglänzte das matte Auge des hageren Profis. Viktor zeigte ihm die geöffneten Handflächen. »Ein paar Worte«, sagte er. »Kommen Sie rein!« sagte der Hagere. »Aber keine Dummheiten.« Viktor betrat den Vorraum, der Hagere verschloß die Tür hinter ihm und knipste das Licht an. Der Vorraum war so eng, daß sie zu zweit kaum Platz hatten. »Also, was gibt's?« fragte der Hagere. Er war im Schlafanzug und hatte sich vorn mit irgend etwas bespritzt. Viktor schnupperte verwundert. Der Hagere roch nach Alkohol. Die rechte Hand hielt er in der Tasche verborgen, wie es sich gehörte. »Sollen wir uns hier unterhalten?« erkundigte sich Viktor. »Ja.« »Nein«, sagte Viktor. »Hier werde ich mich nicht unterhalten.« »Wie Sie wollen«, sagte der Hagere.
»Wie Sie wollen«, sagte Viktor. »Mich betrifft es ja nicht.« Sie schwiegen. Der Hagere musterte jetzt Viktor unverhohlen. »Ist Ihr Name nicht Banev?« sagte er. »Es scheint so.« »Aha«, sagte der Hagere mürrisch. »Wie können Sie dann ein Nachbar von uns sein? Sie wohnen im ersten Stock.« »Ein Hotelnachbar«, erklärte Viktor. »Aha... Mir ist aber nicht klar, was Sie eigentlich wollen.« »Ich muß Ihnen einiges mitteilen«, sagte Viktor. »Es gibt Informationen. Aber ich überlege mir jetzt, ob es der Mühe wert ist.« »Schön«, sagte der Hagere. »Also kommen Sie ins Badezimmer.« »Wissen Sie«, sagte Viktor, »ich glaube, ich gehe wieder.« »Warum wollen Sie denn nicht ins Bad? Was sind das für Launen?« »Wissen Sie«, sagte Viktor, »ich habe es mir anders überlegt. Schließlich und endlich ist das nicht meine Sache.« Er machte eine Bewegung. Der Hagere ächzte bereits. Er war hin- und hergerissen. »Sind sind doch Schriftsteller«, sagte er. »Oder verwechsle ich Sie?« »Nein, nein, ich bin Schriftsteller«, sagte Viktor. »Auf Wiedersehen.« »Nein, warten Sie! Das hätten Sie gleich sagen sollen. Kommen Sie! Hier geh t's rein.« Sie betraten das Eßzimmer. Überall hingen schwere Vorhänge, rechts, links, und auch am riesigen Fenster in der Mitte. Der mächtige Fernsehapparat in der Ecke strahlte ein farbiges Bild aus, der Ton war abgeschaltet. In der anderen Ecke saß im weichen Sessel unter einer Stehlampe der bebrillte junge Mann und blickte Viktor über die aufgeschlagene Zeitung hinweg an. Auch er war im Schlafanzug und hatte Pantoffeln an. Auf einem Zeitungstischchen neben ihm standen eine viereckige Flasche und ein Siphon. »Guten Abend«, sagte Viktor. Der junge Mann nickte schweigend. »Das betrifft mich«, sagte der Hagere. »Kümmere dich nicht!« Der junge Mann nickte abermals und vergrub sich in seine Zeitung. »Kommen Sie bitte hierher!« sagte der Hagere. Sie gingen nach rechts ins Schlafzimmer, und der Hagere setzte sich aufs Bett. »Hier ist ein Stuhl«, sagte er. »Setzen Sie sich und erzählen Sie mal!« Viktor setzte sich. Im Schlafzimmer hing ein schwerer Geruch von abgestandenem Tabakrauch und Offizierskölnischwasser. Der Hagere saß auf dem Bett und blickte unverwandt auf Viktor, ohne die Hand aus der Tasche zu nehmen. Im Eßzimmer raschelte die Zeitung. »Gut«, sagte Viktor. Er hatte seinen Widerwillen zwar nicht völlig überwunden, aber wenn er schon einmal hier war, mußte er sprechen. »Ich kann mir ungefähr vorstellen, wer Sie sind. Vielleicht irre ich mich, und dann ist alles in
Ordnung. Sollte ich mich jedoch nicht irren, dann wäre es für Sie von Nutzen zu wissen, daß man Sie beschattet und versucht, Sie zu behindern.« »Angenommen«, sagte der Hagere. »Und wer beschattet uns?« »Ein Mann mit Namen Pavor Summan hat an Ihnen großes Interesse.« »Was?« sagte der Hagere. »Der Sanitätsinspektor etwa?« »Er ist kein Sanitätsinspektor. Das ist an sich alles, was ich Ihnen sagen wollte.« Viktor erhob sich, doch der Hagere rührte sich nicht von der Stelle. »Angenommen«, sagte er nochmals. »Und woher wissen Sie das eigentlich alles?« »Ist das so wichtig?« fragte Viktor. Der Hagere überlegte einige Zeit. »Nehmen wir mal an, es ist nicht wichtig«, sagte er. »Es liegt an Ihnen, die Sache nachzuprüfen«, sagte Viktor. »Mehr weiß ich nicht. Auf Wiedersehen.« »Aber wohin wollen Sie denn? Warten Sie«, sagte der Hagere. Er beugte sich zum Nachttischchen und holte eine Flasche und ein Glas hervor. »Sie haben so reingewollt und jetzt wollen Sie schon gehen . . . Macht es Ihnen was aus? Ich habe nur ein Glas.« »Kommt darauf an, was«, sagte Viktor und setzte sich wieder. »Schottischer«, sagte der Hagere. »Ist es Ihnen recht?« »Echter schottischer?« »Echter Scotch. Da, nehmen Sie!« Er reichte Viktor das Glas. »Ein Leben haben manche Leute«, sagte Viktor und trank aus. »Und Schriftsteller erst«, sagte der Hagere und trank ebenfalls. »Trotzdem sollten Sie mal vernünftig mit der Sprache raus. . . « »Hören Sie auf damit!« sagte Viktor. »Sie bekommen Geld dafür. Ich habe Ihnen Namen und Adresse gesagt, das wissen Sie selbst; jetzt nehmen Sie sich der Sache mal an. Um so mehr, als ich tatsächlich nichts weiß. Es sei denn. . . « Viktor hielt inne und tat so, als hätte er eine Erleuchtung. Der Hagere biß sofort an. »Na?« sagte er. »Na?« »Ich weiß, daß er einen Naßmann geschnappt hat und dabei mit den städtischen Legionären zusammengearbeitet hat. Wie hieß er doch... Flamenta... Juventa . . . « »Flamin Juventa«, kam ihm der Hagere zu Hilfe. »Genau.« »Und das mit dem Naßmann, stimmt das?« fragte der Hagere. »Ja. Ich versuchte einzugreifen, und der Herr Sanitätsinspektor schlug mich mit dem Schlagring auf den Kopf. Während ich am Boden lag, transportierten sie ihn mit dem Auto ab.« »So, so«, sagte der Hagere. »Das war also Summan... Hören Sie, Banev, ein
toller Bursche sind Sie! Wollen Sie noch Whisky?« »Bitte«, sagte Viktor. Wie er sich auch zuredete, wie er sich auch wand und versuchte, in Stimmung zu kommen, es ekelte ihn. Na schön, dachte er. Auch gut, daß ich wenigstens als Spitzel ungeeignet bin. Keinerlei Anzeichen von Genuß, wenngleich die jetzt anfangen werden, sich aufzufressen. Golem hatte recht; es war dumm von mir, mich in diese Sache einzumischen ... Oder sollte Golem schlauer sein, als ich denke? »Bitte sehr«, sagte der Hagere und reichte ihm das gefüllte Glas.
9 »Wie spät ist es?« fragte Diana verschlafen. Viktor schabte sorgfältig mit der Rasierklinge einen Schaumstreifen vom linken Backenknochen, blickte in den Spiegel und sagte: »Schlaf noch, Kleine, schlaf noch! Noch früh am Tag.« »Tatsächlich«, sagte Diana. Der Diwan knarrte. »Neun Uhr. Und was machst du dort?« »Ich rasiere mich«, antwortete Viktor und schabte den nächsten Schaumstreifen fort. »Ich wollte mich plötzlich rasieren. Los, sagte ich mir, rasier dich!« »Du verrücktes Huhn«, sagte Diana gähnend. »Gestern abend hättest du dich rasieren sollen. Du hast mich ganz zerkratzt mit deinen Stacheln, du Kaktus.« Im Spiegel sah er, wie sie zum Sessel stelzte, die Beine anzog und ihn betrachtete. Viktor blinzelte ihr zu. Sie war wieder ganz anders, sanft, weich und zärtlich, zusammengeringelt wie eine satte Katze, gepflegt, gestreichelt, geneigt - eine ganz andere als die, die am Abend vorher zu ihm ins Zimmer gestürzt war. »Heute bist du wie eine Katze«, verkündete er. »Oder besser gesagt, wie ein Kätzchen, ein kleines Kätzchen ... Warum lächelst du?« »Nicht über dich. Mir ist nur was eingefallen...« Sie gähnte und reckte sich mit Behagen. Sie versank in Viktors Schlafanzug. Aus der formlosen Seidenmasse im Sessel schaute nur ihr wundervoller Kopf und die feinen Hände heraus. Wie aus einer Welle. Viktor rasierte sich schneller. »Beeil dich nicht«, sagte sie. »Du schneidest dich noch. Ich muß sowieso schon fahren.« »Deswegen beeile ich mich ja«, wandte Viktor ein. »Nein, so mag ich es nicht. So mögen es nur die Katzen . . . Was machen meine Klamotten?« Viktor streckte die Hand aus und befühlte ihr Kleid und ihre Strümpfe, die über dem Heizungsgitter hingen. Alles war trocken. »Wohin beeilst du dich?« fragte er. »Ich habe dir doch gesagt, zu Rocheper.« »Irgendwie kann ich mich an nichts erinnern. Was war mit Rocheper?« »Er hat sich doch verletzt«, sagte Diana. »Ach ja!« sagte Viktor. »Ja, ja, du hast davon gesprochen. Er ist irgendwo rausgefallen. Hat er sich tüchtig angeschlagen?« »Dieser Trottel«, sagte Diana, »plötzlich wollte er mit sich Schluß machen und stürzte sich aus dem Fenster. Wie ein Stier mit dem Kopf voran. Hat den Fensterrahmen rausgebrochen. Er vergaß nur, daß er im Erdgeschoß wohnt. Er hat sich am Knie verletzt und gebrüllt. Jetzt liegt er.« »Was war denn los mit ihm?« fragte Viktor gleichmütig. »Säuferwahnsinn?«
»So was in der Art.« »Moment mal!« sagte Viktor. »War das seinetwegen, daß du zwei Tage lang nicht zu mir gekommen bist? Wegen dieses Ochsen?« »Nun ja! Der Chefarzt hat angeordnet, ich müsse bei ihm bleiben. Er, das heißt Rocheper, konnte ohne mich nichts tun. Einfach nichts, das ist alles. Nicht mal pinkeln. Ich mußte Wasserrauschen nachmachen und ihm vom Pissoir erzählen.« »Was verstehst du denn davon?« murmelte Viktor. »Du verbreitest dich über Pissoirs, und ich plage mich hier allein rum; ich konnte auch nichts tun, keine einzige Zeile habe ich geschrieben. Weißt du, im allgemeinen schreibe ich nicht gern, und in letzter Zeit. . . Überhaupt ist mein Leben in letzter Zeit...« Er hielt inne. Was hat sie damit zu tun? dachte er. Sie haben sich gepaart und gehen auseinander. »Ja, hör zu. .. Wann, sagst du, ist Rocheper in die Tiefe gehopst?« »Vorgestern«, antwortete Diana. »Abends?« »M-hm«, sagte Diana und biß vom Kuchen ab. »Um neun Uhr abends«, sagte Viktor, »zwischen neun und elf?« Diana hörte auf zu kauen. »Stimmt«, sagte sie. »Woher weißt denn du das? Hast du ne- krobiotische telepathische Verbindung mit ihm aufgenommen?« »Warte noch!« sagte Viktor. »Ich werde dir jetzt was Interessantes erzählen. Aber sag mir zuerst, was du in diesem Augenblick getan hast!« »Was ich getan habe? - Ah, ja. Ich erinnere mich. An diesem Abend hatte ich meinen moralischen. Ich habe Binden aufgewik- kelt, und plötzlich war ich so niedergeschlagen, der Kopf dröhnte mir. Es war zum Aufhängen. Ich habe die Nase in die Binden gesteckt und losgeheult, so geheult, wie seit der Kindheit nicht mehr. . .« »Und plötzlich war alles vorbei«, sagte Viktor. Diana dachte nach. »Ja... Nein... Plötzlich hat Rocheper auf der Straße losgebrüllt. Ich bin so erschrocken und rausgelaufen. . . « Sie wollte noch etwas sagen, aber jetzt klopfte es an die Tür; man rüttelte an der Klinke, und im Gang erscholl die heisere Stimme Teddys: »Viktor! Viktor, wach auf! Mach auf, Viktor!« Viktor erstarrte, das Rasiermesser in der Hand. »Viktor!« krächzte Teddy. »Mach auf!« Er rüttelte wie von Sinnen an der Klinke. Diana sprang auf und drehte den Schlüssel um. Die Tür ging auf, Teddy stürzte durchnäßt und verstört ins Zimmer. In der Hand hielt er einen Stutzen. »Wo ist Viktor?« brachte er mit heiserer Stimme hervor. Viktor kam aus dem Bad. »Was ist los?« fragte er. Sein Inneres krampfte sich zusammen. Verhaftung... Krieg...
»Die Kinder sind weg«, sagte Teddy schwer atmend. »Komm schnell! Die Kinder sind weg!« »Moment!« sagte Viktor. »Welche Kinder?« Teddy schleuderte den Stutzen auf den Tisch mitten in einen Haufen beschriebener, ausgestrichener oder zerknüllter Blätter. »Die Kinder haben sie fortgelockt, die Schweine!« brüllte er. »Fortgelockt, diese Säue. Jetzt reicht's! Jetzt habe ich genug... Jetzt reicht's!« Viktor begriff nichts, er sah nur, daß Teddy außer sich war. So hatte er ihn nur einmal gesehen, als man bei einem Tumult im Restaurant heimlich seine Kasse erbrochen hatte. Viktor kniff ratlos die Augen zusammen. Diana schnappte sich von der Stuhllehne ihre Wäsche, huschte ins Bad und verschloß die Tür. In diesem Moment klingelte durchdringend und beunruhigend das Telefon. Viktor hob ab. Es war Lola. »Viktor«, kam es klagend aus dem Hörer, »ich verstehe überhaupt nichts mehr, Irma ist verschwunden, hat mir einen Zettel hinterlassen, daß sie nie wieder zurückkehrt, und alle hier sagen, die Kinder wären aus der Stadt gegangen... Ich habe so Angst! Tu was ...« Sie war nahe am Weinen. »Schon gut, schon gut, gleich«, sagte Viktor. »Laßt mich die Hose anziehen.« Er warf den Hörer auf die Gabel und schaute sich nach Teddy um. Der Barmann saß auf dem zerwühlten Bett. Er goß sich die Reste aus allen Flaschen in ein Glas zusammen, wobei er schreckliche Flüche murmelte. »Warte!« sagte Viktor. »Keine Panik! Ich bin gleich da.« Er kehrte ins Bad zurück und machte sich hastig daran, das eingeseifte Kinn fertigzurasieren, wobei er sich vor lauter Eile einigemal schnitt. Diana war inzwischen unter der Dusche hervorgekommen und raschelte hinter ihm mit ihrer Kleidung. Ihr Gesicht hatte einen harten, entschlossenen Ausdruck, als bereitete sich sich auf eine Schlägerei vor. Sie war jedoch völlig ruhig. ... Die Kinder gingen in endloser, grauer Kolonne die grauen, ausgewaschenen Straßen entlang, stolperten, glitten aus und fielen im strömenden Regen hin, gingen gebeugt, durchnäßt, in blaugefrorenen Händchen kümmerliche, durchnäßte Bündel haltend, kleine hilflose, verständnislose Wesen, weinend, schweigend, sich umblickend, sich an den Händen oder am Gürtel haltend; zu beiden Seiten schritten finstere, schwarze, gesichtslose Gestalten, anstelle des Gesichts waren da schwarze Binden, über den Binden blickten kalt und erbarmungslos unmenschliche Augen; die Hände, die in schwarzen Handschuhen steckten, hielten Maschinenpistolen umfaßt, und der Regen strömte über den brünierten Stahl. . . Unsinn, dachte Viktor, Unsinn! Das war doch was anderes, das ist nicht jetzt, das habe ich schon gesehen, aber vor langer Zeit, jetzt ist es ganz anders... ... Sie gingen freudig, der Regen war ihr Freund, mit ihren heißen, bloßen Füßen tappten sie fröhlich durch die Pfützen, sie plauderten fröhlich und sangen, sie
blickten sich nicht um, denn sie hatten bereits alles vergessen; es gab nur eine Zukunft für sie, sie hatten für immer ihre im Morgengrauen schnarchende, schwer atmende Stadt vergessen, diese Ansammlung von Wanzennischen, dieses Nest voller lächerlich kleiner Leidenschaften und Wünsche, geschwängert mit grauenvollen Untaten und verbrecherische Vorsätze gebierend, einem Spinnenweibchen gleich, das unaufhörlich Eier legt; so gingen sie fort, plappernd und schwatzend, und verschwanden im Nebel, während wir betrunken, an abgestandener Luft erstickend, von grauenhaften Alpträumen heimgesucht werden, die sie nie gesehen haben und nie sehen werden... Viktor schlüpfte gerade in die Hose und hüpfte auf einem Bein, als die Scheiben erklirrten und ein dumpfes, mechanisches Geheul an sein Ohr drang. Teddy stürzte ans Fenster, und auch Viktor lief dazu, aber draußen sah man nur den Regen, die leere, nasse Straße und einen einsamen Radfahrer, der sich wie ein nasser Planensack mühevoll vorwärts bewegte. Immer noch zitterten und klirrten die Scheiben, und das tiefe, jammernde Heulen hielt an. Eine Minute später gesellten sich abgerissene, klagende Huptöne dazu. »Gehen wir«, sagte Diana. Sie stand im Regenmantel vor ihnen. »Nein, warte noch!« sagte Teddy. »Viktor, hast du was zum Schießen? Irgendeine Pistole, eine Maschinenpistole oder so was?« Viktor gab keine Antwort. Er ergriff seinen Regenmantel, und sie stürzten zu dritt die Treppe hinunter ins Vestibül, das bereits leer war, kein Pförtner oder Portier war zu sehen. Es schien, als wäre im Hotel kein Mensch zurückgeblieben. Nur im Restaurant saß Dr. Quadriga, blickte verständnislos um sich, offenbar in längerer Erwartung seines Frühstücks. Sie liefen auf die Straße und kletterten in Dianas Lastwagen, alle drei ins Fahrerhaus. Diana setzte sich ans Steuer, und sie fuhren durch die Stadt. Diana schwieg, Viktor rauchte und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, Teddy gab immer noch halblaut die unwahrscheinlichsten Schimpfwörter von sich. Nicht einmal Viktor kannte die Bedeutung vieler Ausdrücke, weil nur Teddy solche Ausdrücke kennen konnte, Teddy, ein Waisenkind, in Hafenslums aufgewachsen, Rauschgifthändler, Rausschmeißer im Bordell, Soldat in einem Begräbniskommando, Bandit und Plünderer und dann Barmann, Barmann, Barmann und wiederum Barmann. In der Stadt sahen sie kaum Leute. Nur an der Ecke der Sonnenstraße hielt Diana kurz an und ließ ein ratloses Ehepaar auf die Ladefläche steigen. Das tiefe Geheul der Luftabwehr und das piepsende Tuten der Fabrik hielten an. Etwas Apokalyptisches lag in diesem mechanischen Stöhnen über der ausgestorbenen Stadt. Alle Menschen rückten in den Räumen zusammen, wollten entfliehen und sich verbergen oder schießen; die >Verstan- desbrüder< im Stadion jagten dem Ball ohne die übliche Begeisterung nach; einige von ihnen gafften nach allen Seiten, als wollten sie wenigstens etwas von allem begreifen.
Auf der Landstraße am Rand der Stadt begegneten ihnen immer häufiger Menschen. Einige gingen zu Fuß, verschluckten sich im Regen, jämmerliche, verschreckte Gestalten, die sich kaum bewußt waren, was sie taten und wozu. Andere fuhren auf Fahrrädern, und auch sie rangen nach Luft, zumal sie gegen den Wind ankämpfen mußten. Einigemal fuhren sie an verlassenen Autos vorbei, die entweder mit einer Panne liegengeblieben oder in der Eile nicht aufgetankt worden waren. Ein Wagen war in den Straßengraben gefahren. Diana hielt ständig an, um Leute aufzunehmen. Bald war die Ladefläche voll mit Mitfahrern. Viktor und Teddy räumten ihre Plätze einer Frau mit Säugling und einer halbverrückten Alten und stiegen auf die Ladefläche, die bereits überfüllt war. Diana fuhr nun weiter, ohne anzuhalten. Der Lastwagen raste dahin und überholte und übergoß mit Wasserfontänen Hunderte von Menschen, die sich zum Leprosorium bewegten. Einigemal überholte Diana Personenwagen, die alle mit Menschen vollgestopft waren, und Motorräder. Ein Lastwagen holte sie ein und hängte sich an. Diana war gewohnt, mit ihrem Lastwagen Kognak für Rocheper heranzuschaffen oder mit dem leeren Fahrzeug zum eigenen Vergnügen durch die Umgebung der Stadt zu rasen; daher hatten die Mitfahrenden auf der Ladefläche bange Minuten zu überstehen. Kaum jemand konnte sitzen, dafür war es zu eng. Die Stehenden klammerten sich aneinander und an die Köpfe der Sitzenden, und jeder versuchte, sich möglichst fern vom Rand zu halten. Niemand sprach. Jeder keuchte und fluchte, eine Frau weinte ununterbrochen. Es regnete, und Viktor hatte noch nie so einen Regen erlebt, er hätte sich nicht vorstellen können, daß es auf der Welt so einen Regen gab, es war wie ein tropischer Regenguß, aber kein warmer, sondern ein eisiger Regenguß, halb Regen, halb Hagel. Ein starker Wind peitschte ihn schräg von vorn gegen das Fahrzeug. Die Sicht war gleich Null, fünfzehn Meter nach vorn und fünfzehn Meter nach hinten. Viktor hatte Angst, Diana könnte jemanden auf der Landstraße umfahren oder gegen ein bremsendes Auto prallen. Das hätte noch gefehlt. Aber alles ging gut. Nur Viktors Bein wurde schmerzhaft gedrückt, als alle zum letztenmal aufeinanderfielen und der Lastwagen am Leprosorium anlangte, vor dessen Tor sich eine gewaltige Ansammlung von Fahrzeugen staute. Wahrscheinlich hatte sich hier die ganze Stadt versammelt. Es regnete nicht mehr, und es schien, als hätten sich die Einwohner vor der Sintflut hierher gerettet. Links und rechts der Landstraße und entlang der Stacheldrahteinfassung hatte sich, so weit das Auge reichte, eine vieltausendköpfige Menge angesammelt, in der einige verstreute, verlassene Autos förmlich ertranken; es waren luxuriöse, längliche Limousinen, ramponierte Personenwagen mit Planenverdeck, Lastwagen, Autobusse Und sogar ein Autokran, auf dessen Ausleger einige Menschen saßen. Über der Menge lag ein dumpfes Summen, manchmal ertönten schrille Schreie.
Sie sprangen von der Ladefläche. Im nächsten Augenblick hatte Viktor Diana und Teddy aus den Augen verloren. Um sich herum sah er nur fremde Gesichter, düstere, erbitterte, ratlose, weinende, schreiende Gesichter, in Ohnmacht verdrehte Augen, entblößte Zähne ... Viktor versuchte, zum Tor vorzudringen, blieb nach wenigen Schritten jedoch hoffnungslos stecken. Die Menschen standen wie eine feste Mauer, keiner wollte seinen Platz räumen. Man konnte stoßen, treten oder schlagen, die Menschen drehten sich nicht einmal um. Sie zogen den Kopf ein und strebten nach vorn, näher ans Tor, näher zu ihren Kindern, sie stellten sich auf Zehenspitzen, reckten die Hälse, und nichts war in der wogenden Masse von Kapuzen und Hüten zu sehen. »Gott im Himmel, wofür? Was haben wir gesündigt?« »Diese Schweine! Längst hätte man sie abschlachten müssen. Gescheite Leute haben doch gesagt...« »Wo ist der Bürgermeister? Was, zum Teufel, macht er? Wo ist die Polizei? Wo bleiben diese Fettwänste?« »Sim, man erdrückt mich ... Sim, ich ersticke! Och, Sim . . . « »Was hat man ihnen verweigert? Was war uns zu schade für sie? Wir haben von unserem gegeben, wir sind barfuß gelaufen, nur damit sie was zum Anziehen hatten . . . « »Alle brauchen nur einmal kräftig zu drücken, und das Tor ist a u f . . . « »Ich habe ihm nie ein Härchen gekrümmt. Ich habe gesehen, wie Sie den Ihrigen mit dem Riemen geschlagen haben; bei uns zu Hause gab es das nie.« »Habt ihr die Maschinengewehre gesehen? Heißt das, daß sie in die Leute reinschießen, die wegen ihrer Kinder gekommen sind?« »Munitschka! Munitschka! Munitschka! Mein Munitschka!« »O Gott, was ist nur los? Das ist doch Wahnsinn! Wo hat es so was schon gegeben?« »Keine Angst, die Legionäre werden ihnen schon zeigen ... Sie kommen aus dem Hinterhalt, verstehst du? Sie machen das Tor auf, und wir drängen nach. . . « »Hast du die Maschinengewehre nicht gesehen? Das ist es ja . . .!« »Laßt mich durch! Laßt mich doch durch! Meine Tochter ist dort!« »Sie hatten es schon lange vor, ich habe es gemerkt, nur hatte ich Angst zu fragen.« »Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm. Oder haltet ihr sie etwa für wilde Tiere? Das sind doch keine Besetzer, trotz allem, man hat sie doch nicht an die Wand gestellt oder ins Krematorium geführt.« »Zerreißen werde ich sie!« »Ja, ja, tief sind wir gesunken, wenn uns die eigenen Kinder zu diesen Hunden davonlaufen . .. Hör bloß auf, die sind von allein gegangen, niemand hat sie mit Gewalt weggetrieben . . . «
»He, wer hat ein Gewehr? Rauskommen! Wer ein Gewehr hat, frage ich! Zu mir kommen, hierher, hier bin ich!« »Um Himmels willen, das sind meine Kinder, ich habe sie zur Welt gebracht und mache mit ihnen, was ich für richtig halte!« »O Gott, wo nur die Polizei bleibt!« »Man sollte ein Telegramm an den Herrn Präsidenten schik- ken! Fünftausend Unterschriften, das ist kein Pappenstiel!« »Ihr habt eine Frau erdrückt! Auf die Seite, du Scheißkerl! Siehst du nicht?« »Mein Munitschka! Munitschka, Munitschka!« »Diese Petitionen sind für die Katz! Bei uns liebt man die Petitionen nicht. So einem schlägt man die Petition um die Ohren. . . « »Das Tor auf, zum Teufel noch mal! Ihr verfluchten Naßmänner! Ihr Schweinehunde!« »Das Tor!« »Macht das Tor auf!« Viktor bewegte sich zurück. Es war schwierig, ein paarmal wurde er getreten, dann hatte er sich bis zum Lastwagen durchgekämpft. Er bestieg die Ladefläche. Über dem Leprosorium hing Nebel. Jenseits der Einfassung betrug die Sicht knapp zehn Meter. Das Tor war fest verschlossen. Davor war ein Freiraum; dort standen mit gespreizten Beinen, die Maschinenpistole im Anschlag, etwa zehn Soldaten des Innendienstes. Sie hatten die Helmvisiere über die Augen gezogen. Auf der Treppe der Wachbude stand ein Offizier, der vor Aufregung auf den Zehenspitzen wippte. Aufs äußerste erregt schrie er in die Menge, aber niemand hörte ihn. Über dem Dach der Wachbude ragte wie ein riesiges Gestell ein hölzerner Wachturm in den Nebel. Auf der Plattform waren ein Maschinengewehr und ein Gewimmel grauer Uniformen zu erkennen. Mit kaum hörbarem metallischem Knirschen fuhr ein Panzerspähwagen an der Einfassung entlang, hüpfte etlichemal auf den Unebenheiten und verschwand im Nebel. Beim Anblick des Panzerspähwagens verstummte die Menge, so daß sogar die sich überschlagende Stimme des Offiziers hörbar wurde (»... Ruhe ich habe den Befehl... in die Häuser...«), dann setzten Lärm und Getöse wieder ein. In die Menge vor dem Tor kam Bewegung. Zwischen den dunklen, blauen und grauen Mänteln und Umhängen blitzten die sattsam bekannten Kupferhelme und goldenen Hemden auf. Sie ähnelten Lichtpunkten in der Menge. Sie arbeiteten sich zum leeren Vorplatz durch und verschmolzen zu einer goldgelben Masse. Es waren kräftige Burschen in goldenen, bis zum Knie reichenden Hemden, um die sie Offiziersgürtel mit schweren Schnallen trugen, in blitzenden Kupferhelmen, derentwegen man die Legionäre einfach Feuerwehrleute nannte, mit kurzen, massiven Schlagstöcken ausgerüstet. Jeder von ihnen war mit den Emblemen der Legion über und über dekoriert - Emblem
an der Schnalle, Emblem am linken Ärmel, Emblem auf der Brust, Emblem auf dem Schlagstock, Emblem auf dem Helm, Emblem in der Fresse, in der sportlichen, muskulösen Fresse mit ihren Wolfsaugen... und dann die Abzeichen, ganze Sternbilder von Abzeichen, das Abzeichen Ausgezeichneter Schütze< und Ausgezeichneter Fallschirmspringen und Ausgezeichneter Tauchen, dann Abzeichen mit dem Porträt des Herrn Präsidenten, und seines Schwiegersohns, des Gründers der Legion, und seines Sohnes, des obersten Chefs der Legion . . . jeder hatte eine Tränengasbombe in der Tasche, und sollte auch nur einer dieser Schwätzer in einem Anfall frechen Mutwillens so eine Bombe werfen, dann würde das Maschinengewehr auf dem Turm feu- ern, die Maschinengewehre des Panzerspähwagens, die Maschinenpistolen der Soldaten, und sie würden in die Menge und nochmals in die Menge feuern, und nicht auf die goldenen Hemden. Die Legionäre stellten sich Schulter an Schulter vor den Soldaten auf, und vor der Reihe schritt Flamin Juventa, der Neffe, auf und ab und fuchtelte mit dem Schlagstock. Viktor blickte verzweifelt in die Runde und wußte nicht, was er tun sollte. In diesem Moment brachte man dem Offizier ein Megaphon aus der Wachstube, und der Offizier freute sich außerordentlich darüber, er lächelte sogar ein wenig, und dann erscholl seine Donnerstimme, doch er kam nur dazu, die Worte »Alles herhören! Ich bitte die Versammelten . . .« zu sprechen, als das Megaphon allem Anschein nach einen Defekt hatte. Der Offizier erbleichte, hörte Juventa sprechen und begann dann mit doppeltem Eifer hin und her zulaufen und das Megaphon zu schwenken. Plötz-v lieh schwoll das Getöse der Menge drohend an, es schien, als schrien alle zugleich, sowohl diejenigen, die schon vorher geschrien hatten, als auch diejenigen, die vorher geschwiegen oder sich unterhalten oder geweint oder gebetet hatten, und Viktor schrie auf, schreckensstarr bei dem Gedanken, was sich jetzt abspielen würde: »Fort mit den Maulhelden!« schrie er. »Jagt die Feuerwehrleute fort! Das ist der Tod! Nicht, Diana!« Es war nicht festzustellen, wer was geschrien hatte, jedenfalls geriet die Menge, die bis dahin unbeweglich gestanden hatte, in gleichmäßige, schwankende Bewegung, wie eine riesige Schüssel mit Sülze; der Offizier, auf dessen kalkweißem Gesicht rote Flecken hervortraten, ließ das Megaphon fallen und stürzte in die Wachbude; die Gesichter der Soldaten verzerrten sich zu einer wilden Fratze, oben auf dem Turm war jede Bewegung erstarrt; man hatte die Waffen in Anschlag gebracht und zielte. In diesem Augenblick ertönte die Stimme. Sie kam über die Menge wie ein Donnerschlag, erscholl von allen Seiten gleichzeitig und übertönte sofort alle anderen Geräusche. Sie klang ruhig, sogar melancholisch, eine unendliche Langeweile schwang mit, eine ungeheure Herablassung, als spräche ein allmächtiges, verächtliches, hochmütiges Wesen, mit dem Rücken zur lästigen Menge gewandt, über die Schulter sprechend, als hätte es sich einer ärgerlichen Lappalie wegen für einen kurzen Augenblick von
wichtigen Angelegenheiten losreißen müssen. »Hört endlich zu schreien auf!« sagte die Stimme. »Hört auf herumzufuchteln und zu drohen! Ist es wirklich so schwierig, die Quatscherei einzustellen und einige Minuten in Ruhe nachzudenken? Ihr wißt doch sehr gut, daß eure Kinder auf eigenen Wunsch von euch weggegangen sind, niemand hat sie gezwungen, niemand hat sie am Kragen gepackt und mitgenommen. Sie sind deswegen weggegangen, weil sie euch einfach nicht mehr aushalten konnten. Sie wollen nicht mehr so leben, wie ihr lebt und wie eure Vorfahren gelebt haben. Ihr richtet euch gern nach der Lebensweise eurer Vorfahren und haltet das für ein Zeichen menschlicher Würde, eure Kinder jedoch nicht. Sie wollen nicht als Säufer und Wüstlinge, als, kleinliche Spießbürger, Sklaven und Konformisten groß werden, sie wollen nicht, daß aus ihnen einmal Verbrecher werden, sie wollen eure Familien nicht und auch nicht euren Staat.« Die Stimme verstummte für eine Minute. Während dieser Minute war es totenstill, nur irgendein Rauschen war zu hören, das wie ein Nebel am Boden entlangkroch. Dann sprach wieder die Stimme. »Um eure Kinder braucht ihr keine Angst zu haben. Sie werden es guthaben, besser als mit euch, und viel besser, als es euch selbst geht Heute können sie euch nicht empfangen, aber von morgen an könnt ihr sie besuchen. In der Pferdeniederung wird ein Haus der Begegnung errichtet; nach 15 Uhr könnt ihr kommen, sei es auch jeden Tag. Täglich werden vom Stadtplatz drei große Autobusse abgehen. Das wird nicht ausreichen, zumindest morgen. Soll sich euer Bürgermeister um zusätzliche Transportmittel bemühen.« Die Stimme schwieg. Die Menge stand starr wie eine Mauer, als hätten die Menschen Angst, sich zu bewegen. »Auf eines ist allerdings hinzu weisen«, fuhr die Stimme fort. »Es wird von euch allein abhängen, ob sich eure Kinder mit euch treffen wollen. In den ersten Tagen können wir sie noch dazu veranlassen, zum Treffen zu gehen, selbst wenn sie nicht wollen, später jedoch... seht selbst! Und jetzt geht auseinander. Ihr stört uns, die Kinder und euch selbst. Und ich gebe euch den guten Rat: Denkt nach, versucht darüber nachzudenken, was ihr euren Kindern geben könnt! Haltet euch einen Spiegel vor! Ihr habt sie zur Welt gebracht und verkrüppelt sie nach eurem Vorbild. Denkt darüber nach und geht jetzt auseinander!« Die Menge verharrte regungslos. Vielleicht versuchten die Menschen nachzudenken. Auch Viktor versuchte es. Es waren Gedankenfetzen, nicht einmal Gedanken, sondern bruchstückhafte Erinnerungen, Sätze aus Gesprächen, das dumme, geschminkte Gesicht Lolas... Vielleicht wäre eine Abtreibung besser? Wozu können wir so was jetzt brauchen? Der Vater mit wutbebenden Lippen... Ich werde aus dir einen Menschen machen, du verdammter Grünschnabel, das Fell werde ich dir über die Ohren ziehen... Ich
habe eine zwölfjährige Tochter; kannst du sie nicht irgendwo anständig unterbringen? Irma betrachtet neugierig diesen Schlappschwanz von Rocheper... nicht den Rocheper, sondern mich... Mir ist es peinlich, aber was versteht die Rotznase schon? Fort, auf deinen Platz! Da hast du eine Puppe, eine schöne Puppe... Du bist noch zu klein, wenn du größer bist, wirst du alles erfahren... »Was steht ihr noch herum?« sagte die Donnerstimme. »Geht auseinander!« Ein kalter Windstoß schlug den Menschen ins Gesicht und legte sich wieder. »Geht jetzt!« sagte die Stimme. Wieder fegte ein Windstoß heran; wie eine schwere, nasse Hand schlug er ins Gesicht, stieß und verschwand wieder. Viktor wischte sich über die Wangen und sah, daß die Menge zurückwich. Jemand schrie laut auf, verunsicherte Ausrufe erschollen, um Autos und Autobusse bildeten sich kleine Wirbel. Von allen Seiten kletterten die Leute auf die Ladefläche des Lastwagens, und alle beeilten sich, stießen einander zur Seite, drängten sich in die Autos, entwirrten hastig die Fahrräder, die sich mit den Lenkstangen ineinander verhängt hatten, Motoren wurden angelassen. Viele gingen zu Fuß, wobei sie sich ständig umblickten, jedoch nicht nach den Maschinenpistolen, dem Maschinengewehr auf dem Turm öder dem Panzerspähwagen, der mit metallischem Klirren herangefahren kam und vor aller Augen mit geöffneter Luke stehenblieb. Viktor wußte, warum sich die Leute ständig umwandten und sich beeilten. Seine Wangen brannten, und wenn er vor etwas Angst hatte, dann davor, daß die Stimme noch einmal >Geht jetzt!< sagen und noch einmal eine schwere, nasse Hand ihm voll Abscheu ins Gesicht schlagen könnte. Die Ansammlung der Dummköpfe in den goldenen Hemden stand noch unschlüssig vor dem Tor; es waren freilich schon weniger geworden. Auf den Rest schritt der Offizier zu, achtunggebietend, entschlossen und im Bewußtsein, eine angenehme Pflicht zu erfüllen. Er herrschte sie an, und auch sie wichen zurück, drehten sich dann um und trollten sich fort, wobei sie im Gehen verstreut liegende graue, blaue und schwarze Regenmäntel aufsammelten. Die goldenen Flecken verschwanden plötzlich. Autobusse und Personenwagen fuhren vorbei. Die auf der Ladefläche versammelten Menschen wurden unruhig, blickten ungeduldig um sich und fragten laut nach dem Fahrer. Dann tauchte von irgendwoher Diana auf, Diana die Wilde. Sie stieg aufs Trittbrett, blickte zur Ladefläche und schrie wütend: »Nur bis zur Kreuzung! Der Wagen fährt zum Sanatorium!« Niemand wagte aufzubegehren, alle waren ungewöhnlich still und mit allem einverstanden. Teddy tauchte nicht auf; er mußte mit einem anderen Wagen gefahren sein. Diana wendete, und sie fuhren auf der bekannten Betonstraße zurück, wobei sie Gruppen von Fußgängern und Radfahrern überholten. Sie selbst wurden von überladenen Personenwagen überholt, die schwer auf den Stoßdämpfern lagen. Es war
neblig, und ein feiner Sprühregen ging nieder. Der Regen setzte ein, als sich der Lastwagen der Kreuzung näherte. Die Leute stiegen ab, und Viktor setzte sich ins Fahrerhaus. Sie schwiegen den ganzen Weg bis zum Sanatorium. Dort angekommen, begab sich Diana sofort zu Rocheper (so sagte sie wenigstens), Viktor warf den Mantel von sich, ließ sich aufs Bett fallen, zündete sich eine Zigarette an und starrte zur Decke. Eine Stunde lang, vielleicht auch zwei, rauchte er ununterbrochen, wälzte sich hin und her, stand auf, ging im Zimmer umher, schaute geistesabwesend zum Fenster hinaus, zog die schweren Vorhänge zu und wieder auf, trank Wasser aus der Leitung, weil ihn Durst quälte, und warf sich wieder aufs Bett. ... Eine Demütigung, dachte er. Ganz klar. Ohrfeigen haben sie ausgeteilt, die Menschen als Gesindel bezeichnet und wie einen Bettler verjagt. Trotz allem waren es Väter und Mütter, trotz allem liebten sie ihre Kinder, schlugen sie zwar, hätten aber ihr Leben für sie gegeben, haben sie nach ihrem eigenen Vorbild verdorben, nicht in bewußter Absicht, sondern aus Unwissenheit .. . Die Mütter haben sie unter Schmerzen geboren, die Väter haben sie ernährt und gekleidet, und sie waren doch stolz auf ihre Kinder und prahlten voreinander mit ihnen, haben sie auch manchmal verflucht, hätten sich aber ihr Leben ohne sie nicht vorstellen können ... Und jetzt ihr Leben ganz verödet, nichts ist ihnen geblieben. Welches Recht hat man, mit ihnen so grausam, so verächtlich, so kalt und so sachlich umzuspringen und ihnen zum Abschied noch eine zu servieren? ... Ist denn wirklich alles, was der Mensch vom Tier hat, abstoßend? Mutterschaft, Madonnenlächeln, zärtliche, weiche Hände, die dem Säugling die Brust reichen... Natürlich, da ist der Instinkt, und eine ganze Religion haben sie auf dem Instinkt aufgebaut. . . Wahrscheinlich ist das Übel darin zu suchen, daß man versucht, diese Religion auch auf die Erziehung auszuweiten, wo die Instinkte nicht mehr funktionieren, und wenn sie doch funktionieren, dann nur zum Schaden... Denn die Wölfin sagt ihren Jungen: >Beißt, so wie ich<, und das genügt, und die Häsin sagte ihren Jungen: »Haut ab, so wie ich<, und das genügt auch, aber der Mensch lehrt seine Kinder: »Denkt, so wie ich<, und das ist schon ein Verbrechen... Und wie machen es die da, die Naßmänner, diese Schweinehunde, diese Saukerle, was auch immer, nur keine Menschen, diese Übermenschen, wie machen es die? Zuerst heißt es: »Schau, wie man vor dir dachte, schau dir die Folgen an, die sind schlimm, weil das da und das da eingetreten ist, es muß aber so und so sein. Klar? Und jetzt denk selber nach, überlege dir, wie man es. anstellen muß, damit sich nicht das da und das da ergibt, sondern damit es so und so wird.< Nur weiß ich nicht, was dieses »das da< und dieses »so und so< eigentlich ist; überhaupt haben wir das alles schon mal gehabt, das alles hat man schon erprobt, einige gute Leute sind bei der
Sache rausgekommen, die eigentliche Masse ist jedoch den alten Weg weitergegangen, ohne abzubiegen, wie es unsereiner eben macht, auf die simple Weise... Wie soll einer auch sein Kind erziehen, wenn ihn sein Vater nicht erzogen, sondern nach dem Motto abgerichtet hat: »Beiß, so wie ich<, und »Versteck dich, so wie ich<; ebenso hat den Vater der Großvater, den Großvater der Urgroßvater abgerichtet, und so reicht; das zurück bis ins Höhlenzeitalter, zu den haarigen Speerwerfern und Mammutfressern. Mir tun sie ja leid, diese unbehaarten Nachfahren, leid deswegen, weil ich mir selbst leid tue, aber denen - denen ist das scheißegal, wir sind überflüssig für sie, sie haben nicht vor, uns umzuerziehen, sie haben nicht mal vor, die alte Welt in die Luft zu jagen, nein, die alte Welt interessiert sie nicht, sie haben ihre eigenen Angelegenheiten, von der alten Welt verlangen sie nur eins - daß sie sich nicht einmischt. Jetzt ist das möglich geworden, jetzt kann man mit Ideen handeln, jetzt gibt es mächtige Ideenkäufer, jetzt werden sie dich beschützen, die ganze Welt hinter Stacheldraht jagen, damit die alte Welt nicht stört, sie werden dich füttern und pflegen... auf die zuvorkommendste Weise werden sie das Beil schärfen, mit dem du den Ast abschlägst, auf dem sie, mit Stickereien und Orden geschmückt, thronen... ... Und, hol's der Teufel, in seiner Art ist das grandios; alles ist schon ausprobiert worden, aber dies eine noch nicht: eine kalte Erziehung ohne rührseligen Rotz und Tränen... Aber, was rede ich für einen Unsinn, woher will ich wissen, was für eine Erziehung sie durchführen... Gleichwohl, es lassen sich Grausamkeit und Verachtung feststellen... Nichts wird bei ihnen rauskommen, denn ... na ja, Verstand, denkt nach, lernt, analysiert, alles schön und gut, aber wo ist der Platz für die Hände der Mutter, für die zärtlichen Hände, die den Schmerz stillen und warme Geborgenheit in die Welt bringen? Und für die stacheligen Bartstoppeln des Vaters, der Krieg und Tiger spielt, zeigt, wie man boxt, der der stärkste ist und mehr weiß als alle anderen? Das war doch auch dabei! Nicht nur das schrille (oder leise) Gezänk der Eltern, nicht nur der Stock und das besoffene Lallen, nicht nur die so gemein in die Länge gezogenen Ohren, auf die so plötzlich und unbegreiflich Bonbons oder Kleingeld fürs Kino folgten... Aber wie will ich das wissen, vielleicht haben sie irgendeinen Ausgleich für das Gute, das Mutterschaft und Vaterschaft entspringt. . . wie hat Irma diesen Naßmann angeschaut! - Wer muß man sein, um so angeschaut zu werden... und bestimmt werden weder Bol-Kunaz noch Irma, noch jener pickelige Nihilist und Entlarver je goldene Legionärshemden überstreifen. Ist das etwa nichts? Verdammt noch mal, ich habe genug von den Leuten! Moment, sagte er sich. Versuch, das Eigentliche herauszufinden! Bist du für oder gegen sie? Eine dritte Möglichkeit gäbe es auch noch: mir ist alles scheißegal, aber das ist es mir nicht. Wenn ich wenigstens Zyniker wäre! Wie leicht, einfach und herrlich lebt es sich als Zyniker! - Man muß bedenken, mein
ganzes Leben will man aus mir einen Zyniker machen, müht sich ab, wendet gigantische Mittel auf, verschwendet Kugeln, schöne Worte und Papier, nichts ist zu schade, weder Fäuste noch Leute, nur damit ich ein Zyniker werde, aber keine Spur davon! So schon, so gut. Trotzdem, bin ich dafür oder dagegen? Natürlich bin ich dagegen, ich kann Menschenverachtung nicht ausstehen, ich hasse Eliten, ich hasse jegliche Ungeduld, und ich ertrage es einfach nicht, wenn man mir ins Gesicht spuckt und mich fortjagt... Und dafür bin ich deswegen, weil ich kluge, begabte Menschen schätze und Dummköpfe, Stumpfsinn, goldene Hemden und Faschisten hasse... Ganz klar, auf diese Weise komme ich natürlich zu keinem Schluß. Ich weiß zu wenig über sie, aber bei den Dingen, die ich weiß und die ich selbst gesehen habe, fallen eher die schlimmen Sachen ins Auge wie Grausamkeit, Verächtlichkeit, Unmenschlichkeit, und schließlich auch physische Häßlichkeit. . . Welches Bild ergibt sich also: dafür sind Diana, die ich liebe, Golem, den ich auch mag, Irma, die ich liebe, dann Bol-Kunaz, der pickelige Nihilist. . . Und wer ist dagegen? Der Bürgermeister, ein altes Schwein, ein Faschist und Demagoge, dann der Polizeichef, ein korrupter Typ, Rocheper Nante, die dumme Lola, eine Bande goldener Hemden, Pavor ... Andererseits sind wiederum der hagere Profi und ein gewisser General Pferd dafür, Generäle kann ich zwar nicht ausstehen... Aber dagegen ist auch Teddy, und bestimmt viele, die so sind wie er... Mit Stimmenmehrheit kann man hier keine Entscheidung treffen. Das ist so wie bei freien, demokratischen Wahlen: die Mehrheit ist immer für den Schweinehund... Gegen zwei Uhr kam Diana, Diana die normal Fröhliche; sie hatte sich einen weißen Morgenmantel umgebunden und war geschminkt und frisiert. »Was macht die Arbeit?« fragte sie. »Ich brenne«, sagte er. »Ich verbrenne wie ein leuchtendes Vorbild.« »Ja, viel Rauch hast du hier. Das Fenster hättest du wenigstens aufmachen können ... Willst du was essen?« »Ja, verdammt noch mal!« sagte Viktor. Ihm war eingefallen, daß er nicht gefrühstückt hatte. »Dann gehen wir, verdammt noch mal!« Sie gingen in den Speisesaal. An langen Tischen saßen wohlgesittet und schweigend die >Verstandesbrüden und löffelten ihre Diätsuppe. Ihre Gesichter waren dunkel vor Müdigkeit. Der mit einem blauen Pullover bekleidete dicke Trainer ging hinter ihrem Rücken auf und ab, patschte sie auf die Schultern, zauste ihre Haare und blickte aufmerksam in die Teller. »Ich werde dich gleich mit einem Menschen bekanntmachen«, sagte Diana. »Er wird mit uns zu Mittag essen.« »Wer denn?« erkundigte sich Viktor unwillig. Er wollte beim Essen nicht sprechen.
»Mein Mann«, sagte Diana. »Mein früherer Mann.« »Aha«, sagte Viktor. »Aha. Na ja ... sehr angenehm.« Was ist ihr denn da eingefallen, dachte er verstimmt, wozu ist das nötig? Flehend schaute er Diana an, aber da wurde er von ihr schon zum Diensttisch in der entfernten Ecke geführt. Dort erhob sich ein Mann bei ihrem Erscheinen. Er hatte ein gelbliches Gesicht mit Hakennase, trug einen dunklen Anzug und schwarze Handschuhe. Er reichte Viktor nicht die Hand, sondern verbeugte sich leicht und sagte halblaut: »Guten Tag, ich freue mich, Sie kennenzulernen.« »Banev«, stellte sich Viktor mit falscher Herzlichkeit vor, die ihn immer beim Anblick von Ehemännern befreundeter Frauen befiel. »Eigentlich kennen wir uns schon«, sagte der Mann. »Ich bin Sursmansor.« »Ah, ja«, rief Viktor aus, »natürlich. Ich muß Ihnen sagen, mein Gedächtnis ist leider etwas ...« Er verstummte. »Moment«, sagte er. »Welcher Sursmansor?« »Pavel Sursmansor. Wahrscheinlich haben Sie mich gelesen, neulich sind Sie sogar im Restaurant sehr energisch für mich eingetreten. Überdies haben wir uns noch an einem anderen Ort getroffen, ebenfalls unter unglücklichen Umständen .. . Setzen wir uns doch.« Viktor setzte sich. Na ja, dachte er. Meinetwegen. Ohne Binde schauen sie also so aus. Wer hätte das gedacht? Moment mal, wo ist denn seine >Brille Sursmansor, aus irgendeinem Grund der Mann Dianas, dann jener hakennasige Tänzer, der einen Tänzer spielte, der einen Tänzer spielt, der eigentlich ein Naßmann ist, oder gleichzeitig vier Naßmänner oder fünf 'sogar, den im Restaurant eingerechnet; dieser Sursmansor hatte keine >Brille<, als wäre sie zerlaufen und hätte dem Gesicht eine gelbliche, lateinamerikanische Hautfarbe verliehen. Diana schaute merkwürdig mütterlich lächelnd bald auf ihn, bald auf ihren Mann. Ihren früheren Mann. Es war unangenehm; Viktor verspürte so etwas wie Eifersucht die er früher im Umgang mit Ehemännern nie gekannt hatte. Die Bedienung brachte die Suppe. »Irma läßt sie grüßen«, sagte Sursmansor und brach sich ein Stück Brot ab. »Sie bittet darum, in Ruhe gelassen zu werden.« »Danke«, sagte Viktor mechanisch. Er nahm den Löffel und aß die Suppe, ohne etwas zu schmecken. Sursmansor aß ebenfalls und blickte Viktor von unten herauf an, ohne ein Lächeln, aber mit einem belustigten Gesichtsausdruck. Die Handschuhe hatte er nicht abgestreift, aber darin, wie er den Löffel hielt, wie dezent er das Brot brach und wie er sich der Serviette bediente, spürte man die gute Erziehung. »Sie sind also doch jener Sursmansor«, sagte Viktor, »der Philosoph.« »Leider nicht«, sagte Sursmansor und betupfte seine Lippen mit der Serviette. »Leider habe ich im Augenblick zu jenem berühmten Philosophen eine höchst entfernte Beziehung.«
Viktor wußte nicht, was er darauf sagen sollte, und beschloß, mit dem Gespräch abzuwarten. Schließlich habe nicht ich diese Begegnung veranlaßt; mein Anliegen ist unerheblich; er wollte mich kennenlernen, soll er auch anfangen ... Der zweite Gang wurde aufgetragen. Viktor schnitt das Fleisch auf, wobei er sich aufmerksam beobachtete. An den langen Tischen lärmten die >Verstandesbrüder< mit Messern und Gabeln und schmatzten brüderlich und treuherzig. Aber ich bin hier ja der Dümmste der Dummköpfe, ging es Viktor durch den Sinn. Wie so ein >Verstandesbruder<. Sie liebt ihn doch bestimmt auch heute noch. Er wurde krank, sie mußten sich trennen, sie wollte nicht, wie sonst hätte sie sich in dieses Loch hier begeben, um Rochepers Schüsseln rauszutragen ... Und sie sehen sich häufig, er taucht im Sanatorium auf, nimmt die Binde ab und tanzt mit ihr .. . Er erinnerte sich, wie sie getanzt hatten, wie zwei lustige Freunde ... Trotzdem. Sie liebt ihn. Was interessiert mich das? Aber irgendwas ist da. Irgendwas ist an der Sache, nur was? Die Tochter haben sie mir genommen, aber ich bin auf sie nicht wie ein Vater eifersüchtig. Sie haben mir die Frau genommen, aber, was Diana betrifft, so bin ich auf ihn nicht wie ein Mann eifersüchtig... Zum Teufel, welche Worte! Die Frau genommen, die Tochter genommen ... Eine Tochter, die mich zum erstenmal als Zwölfjährige gesehen hat... oder ist sie schon dreizehn? Eine Frau, die ich noch keine Ewigkeit lang kenne. . . Aber, ich bitte zu bemerken, ich bin eifersüchtig, und dies weder als Vater noch als Mann. Es wäre doch viel einfacher, wenn er jetzt sagen würde: >Verehrter Herr, mir ist alles bekannt, Sie haben meine Ehre verletzt. Wie steht es mit der Satisfaktion?< »Was macht die Arbeit am Artikel?« fragte Sursmansor. Viktor blickte ihn verdrießlich an. Nein, es war kein Spott. Und auch keine höfliche Frage, um ein Gespräch anzuknöpfen. Diesen Naßmann interessierte es offenbar wirklich, wie die Arbeit am Artikel vorankam. »Nichts«, sagte er. »Ich würde ihn ganz gern lesen«, teilte Sursmansor mit. »Wissen Sie etwa, was das für ein Artikel sein muß?« »Ich kann es mir vorstellen. Aber so einen Artikel werden Sie doch nicht schreiben.« »Und wenn man mich zwingt? General Pferd wird mich nicht verteidigen.« »Sehen Sie«, sagte Sursmansor. »So ein Artikel, wie ihn der Herr Bürgermeister erwartet, wird Ihnen ja doch nicht glücken. Selbst wenn Sie sich anstrengen. Es gibt Leute, die automatisch und unabhängig von ihren Wünschen eine beliebige Aufgabe, die ihnen gestellt wurde, auf ihre Weise umwandeln. Zu dieser Art Leute gehören Sie.« »Ist das gut oder schlecht?« fragte Viktor.
»Von unserer Sicht aus gut. Über die menschliche Persönlichkeit ist wenig bekannt, sofern man den Bestandteil außer acht läßt, der aus einer bestimmten Anzahl von Reflexen besteht. Es stimmt natürlich, daß der Massenmensch über wenig mehr als das verfügt. Aus diesem Grund sind jene sogenannten schöpferischen Persönlichkeiten besonders wertvoll, die die Informationen über die Wirklichkeit individuell verarbeiten. Vergleicht man eine bekannte und gut erforschte Erscheinung mit der Widerspiegelung dieser Erscheinung im Werk dieser Persönlichkeit, so läßt sich viel über den psychischen Apparat, der Informationen verarbeitet, erfahren.« »Und es scheint Ihnen nicht, daß das beleidigend klingt?« sagte Viktor. Sursmansor verzog sein Gesicht auf merkwürdige Art und blickte Viktor an. »Ach so, ich verstehe«, sagte er. »Ein Schöpfer, und kein Versuchskaninchen... Aber sehen Sie, ich habe Ihnen nur einen Umstand erläutert, der Sie für uns so wertvoll macht. Andere Umstände sind allgemein bekannt; das sind die wahrhafte Information über die objektive Wirklichkeit, die Emotionsmaschinerie, das Mittel zur Anregung der Fantasie, die Befriedigung des Bedürfnisses nach Mitgefühl... An sich wollte ich Ihnen schmeicheln.« »In diesem Falle fühle ich mich geschmeichelt«, sagte Viktor. »Nur haben all diese Gespräche mit der Abfassung einer Schmähschrift überhaupt nichts zu tun. Man nimmt die letzte Rede des Herrn Präsidenten und schreibt sie vollständig ab, wobei man die Worte >Feinde der Freiheit durch die Worte >sogenannte Naßmänner< oder >Patienten eines Blutdoktors< oder >Vampire aus dem Leprosorium< ersetzt. Mein psychischer Apparat wird an dieser Geschichte keinen Anteil nehmen.« »Das scheint Ihnen nur so«, widersprach Sursmansor. »Sie werden diese Rede durchlesen und zuallererst die Entdeckung machen, daß sie unter aller Kritik ist. In stilistischer Hinsicht, meine ich. Sie machen sich daran, den Stil zu verbessern, treffendere Ausdrücke zu suchen, die Fantasie beginnt zu arbeiten, Ihnen wird schlecht von den abgedroschenen Wörtern. Sie wollen Leben reinbringen, Sie wollen die Staatslügerei durch aktuelle, aufrüttelnde Tatsachen ersetzen, und Sie beginnen, die Wahrheit zu schreiben, ohne es zu bemerken.« »Kann schon sein«, sagte Viktor. »Jedenfalls habe ich jetzt keine Lust, so einen Artikel zu schreiben.« »Und hätten Sie Lust, etwas anderes zu schreiben?« »Ja«, sagte Viktor und blickte Sursmansor in die Augen. »Ich würde mit Vergnügen über den Auszug der Kinder aus der Stadt schreiben. Über einen neuen Rattenfänger von Hameln.« Sursmansor nickte befriedigt. »Ein ausgezeichneter Gedanke. Schreiben Sie!« Schreiben Sie! dachte Viktor bitter. Verdammt noch mal, wer wird das schon drucken? Du vielleicht?
»Diana«, sagte er. »Gibt es hier nichts zu trinken?« Diana erhob sich schweigend und ging weg. »Und außerdem würde ich noch mit Vergnügen über die Stadt schreiben, die dem Untergang geweiht ist. Und über das unbegreifliche Spektakel um das Leprosorium. Und über die bösen Zauberer.« »Haben Sie Geld?« fragte Sursmansor. »Vorläufig schon.« »Ich weise Sie darauf hin, daß Sie aller Voraussicht hach Literaturpreisträger des Leprosoriums für das vergangene Jahr werden. Zusammen mit Tusov sind Sie in die Endausscheidung gekommen. Aber Tusov hat weniger Chancen, das ist offensichtlich. Geld werden Sie also haben.« »Hm«, sagte Viktor, »so etwas ist mir noch nicht passiert. Viel Geld?« »Ungefähr dreitausend ... Ich weiß es nicht mehr genau . . . « Diana kam zurück und stellte schweigend eine Flasche und ein Glas auf den Tisch. »Noch ein Glas«, bat Viktor. »Ich trinke nicht«, sagte Sursmansor. »Eigentlich habe ich ... Hm . . . « »Ich trinke auch nicht«, sagte Diana. »Ist der Preis für >Das Unglück.. .« fragte Viktor und goß sich ein. »Ja. Und für die >Katze<. Also für drei Monte sind Sie versorgt. Oder weniger?« »Für etwa zwei Monate«, sagte Viktor. »Aber darum geht es nicht. Es geht darum, daß ich gern einmal bei Ihnen im Leproso- riurn gewesen wäre.« »Unbedingt«, sagte Sursmansor. »Den Preis werden Sie auf alle Fälle dort überreicht bekommen. Aber Sie werden enttäuscht sein. Wunder wird es nicht geben. Es wird an einem Ruhetag sein. Ein Dutzend Häuschen und der Gebäudekomplex für die Heilung.« »Für die Heilung?« wiederholte Viktor. »Wer wird denn bei Ihnen geheilt?« »Menschen«, sagte Sursmansor mit seltsam veränderter Stimme. Er lächelte, und plötzlich ging mit seinem Gesicht etwas Gräßliches vor. Das rechte Auge wanderte zum Kinn hinunter, der Mund nahm eine dreieckige Form an, die linke Wange und das linke Ohr schienen sich vom Schädel trennen zu wollen und hingen schlaff herunter. Das Ganze dauerte einen Augenblick. Diana ließ den Teller fallen, Viktor blickte sich automatisch um, und als er sich wieder Sursmansor zuwandte, war dieser wie vorher, gelbgesichtig und höflich. Pfui, pfui, pfui, pfui, sagte sich Viktor. Weiche von hinnen, unreiner Geist! Oder habe ich alles geträumt? Hastig zog er eine Zigarettenpackung hervor, zündete sich eine Zigarette an und schaute ins Glas. Die >Verstandesbrüder< standen lärmend vom Tisch auf und strebten unter lauten Zurufen dem Ausgang zu. Sursmansor sagte: »Wir würden es an sich sehr gerne sehen, wenn Sie sich unbesorgt fühlen
würden. Sie haben nichts zu befürchten. Sie ahnen sicher, daß unsere Organisation eine bestimmte Stellung einnimmt und mit bestimmten Privilegien ausgestattet ist. Wir leisten viel, daher ist uns auch vieles erlaubt. Wir dürfen Klimaversuche durchführen und unsere künftige Ablösung auf ihre Aufgaben vorbereiten... und so weiter. Das brauche ich jetzt nicht ausführlicher zu erläutern. Einige Herren sind der Meinung, wir würden für sie arbeiten; na ja, wir belassen sie in diesem Glauben.« Er schwieg eine Weile. »Schreiben Sie, worüber Sie wollen und wie Sie wollen, Banev, kümmern Sie sich nicht um die bellenden Hunde. Sollten Sie Schwierigkeiten mit den Verlagen oder in finanzieller Hinsicht haben, werden wir Sie unterstützen. Notfalls werden wir alles selbst herausgeben. Ihre Neunaugen bleiben Ihnen also erhalten.« Viktor trank aus und schüttelte den Kopf. »Klar«, sagte er. »Schon wieder werde ich gekauft.« »Wenn Sie so wollen, ja«, sagte Sursmansor. »Hauptsache, Sie sind sich bewußt, daß es einen Wenn auch nicht sehr umfangreichen Leserstamm gibt, der an Ihren Arbeiten sehr interessiert ist. Wir brauchen Sie, Banev, allerdings so, wie Sie sind. Wir brauchen Banev nicht als unseren Anhänger und Barden. Zerbrechen Sie sich deswegen auch nicht den Kopf, auf wessen Seite Sie stehen. Stehen Sie auf Ihrer eigenen Seite, wie es schöpferischen Persönlichkeiten angemessen ist. Das ist alles, was wir von Ihnen brauchen.« »Das sind ja ausgesprochene Vorzugsbedingungen«, sagte Viktor. »Carte blanche und einen Stapel von Neunaugen als Perspektive. In der Perspektive und in der Senfsoße. Welche Witwe würde da >nein< sagen? - Hören Sie, Sursmansor, haben Sie schon mal Seele und Feder verkaufen müssen?« »Sicherlich«, sagte Sursmansor. »Und damit Sie es wissen, die haben lächerlich wenig bezahlt. Aber das ist tausend Jahre her und war auf einem anderen Planeten.« Er schwieg wieder. »Sie tun uns Unrecht«, sagte er. »Wir kaufen Sie nicht. Wir wollen nur, daß Sie sich selbst treu bleiben; wir befürchten nämlich, daß man Sie zum Schweigen bringt. Das hat man doch schon mit vielen gemacht... Moralische Werte lassen sich nicht kaufen, Banev. Man kann sie zerstören, aber sie sind nicht käuflich. Ein gegebener moralischer Wert ist immer nur für eine Seite wichtig, ihn zu stehlen oder zu kaufen ist sinnlos. Der Herr Präsident ist der Meinung, er hätte den Maler Dr. Quadriga gekauft. Das ist ein Irrtum. Er hat den Pfuscher Dr. Quadriga gekauft, der Maler ist ihm zwischen den Fingern zerronnen und gestorben. Und wir wollen nicht, daß der Schriftsteller Banev zwischen irgend jemandes Fingern zerrinnt, selbst wenn es unsere sind, und stirbt. Wir brauchen Künstler und keine Propagandisten.« Er erhob sich. Viktor stand ebenfalls auf. Er empfand Verlegenheit und Stolz, Ungläubigkeit und Erniedrigung und Enttäuschung und Verantwortungsbewußtsein und noch etwas, worüber er sich einstweilen nicht klar war.
»Es war sehr angenehm, sich mit Ihnen zu unterhalten«, sagte Sursmansor. »Ich wünsche Ihnen erfolgreiche Arbeit.« »Auf Wiedersehen«, sagte Viktor. Sursmansor machte eine knappe Verbeugung und ging erhobenen Hauptes mit weiten und festen Schritten hinaus. Viktor blickte ihm nach. »Genau dafür liebe ich dich«, sagte Diana. Viktor ließ sich in den Stuhl fallen und langte nach der Flasche. »Wofür?« fragte er zerstreut. »Dafür, daß sie dich brauchen. Dafür, daß solche Leute dich Lustmolch, Säufer, dich liederlichen, skandalumwitterten Typ brauchen.« Sie beugte sich über den Tisch und küßte ihn auf die Wange. Das war jetzt Diana, die Verliebte, mit großen, trockenen Augen, Maria Magdalena, Diana-Von-Unten-Nach-Oben-Schauend. »So was«, murmelte Viktor. »Intellektuelle ... Die neuen Kalifen auf Zeit...« Aber das waren nur leere Worte. In Wirklichkeit war es nicht so einfach. 10 Am nächsten Tag kehrte Viktor nach dem Frühstück ins Hotel zurück. Zum Abschied hatte ihm Diana ein Körbchen aus Birkenrinde in die Hand gedrückt. Aus den städtischen Treibhäusern hatte man Rocheper acht Kilo Erdbeeren geschickt, und Diana war mit gesundem Menschenverstand zu dem Schluß gekommen, daß Rocheper bei all seiner außergewöhnlichen Gefräßigkeit mit so einer Menge von Beeren nicht allein fertig, würde. Der finstere Pförtner öffnete Viktor die Tür, Viktor bot ihm von den Erdbeeren an, der Pförtner nahm einige Beeren, steckte sie in den Mund, kaute sie wie Brot und sagte: »Und da stellt sich heraus, daß mein Kleiner bei denen so was wie'n Rädelsführer war.« »Na ja, so dürfen Sie nicht sprechen«, sagte Viktor. »Sie haben einen Prachtjungen. Ein kluger Kopf und gut erzogen.« »Das Fell habe ich ihm über die Ohren gezogen!« sagte der Pförtner. Er lebte auf. »Ich habe mich so bemüht...« Seine Miene verdüsterte sich wieder. »Die Nachbarn ärgern sich schon«, sagte er. »Aber was kann ich dafür? Ich hatte doch keine Ahnung . . .« »Pfeifen Sie auf die Nachbarn«, riet Viktor. »Das ist reiner Neid. Ihr Junge ist wunderbar. Ich zum Beispiel bin sehr froh, daß meine Tochter mit ihm befreundet ist.« »Na«, sagte der Pförtner lebhaft. »Da werden wir vielleicht mal Verwandte.« »Nun«, sagte Viktor, »das kann leicht passieren.« Er stellte sich Bol-Kunaz vor. »Warum auch nicht...« Beide mußten über diese Aussicht lachen.
»Haben Sie die Schießerei gestern nicht gehört?« fragte der Pförtner. Viktor horchte auf. »Nein«, sagte er. »Was war denn los?« »Das kam so«, sagte der Pförtner, »als wir dort nämlich auseinandergingen, gab es einige Leute, die das nicht machten; ein paar Hitzköpfe fanden sich zusammen, schnitten den Stacheldraht durch und krochen in die Zone. Und die mit ihren Maschinengewehren mitten in sie rein.« »Verdammt«, sagte Viktor. »Selbst habe ich es nicht gesehen«, sagte der Pförtner. »Aber die Leute haben es erzählt.« Er blickte sich verstohlen um, winkte Viktor zu sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Unser Teddy war auch dabei, und er hat was abgekriegt. Aber es war nicht so schlimm. Jetzt liegt er zu Hause und erholt sich.« »Eine Schande«, murmelte Viktor verstimmt. Er gab dem Pförtner nochmals von den Erdbeeren, nahm den Schlüssel und ging auf sein Zimmer. Ohne sich auszuziehen, wählte er die Nummer Teddys. Die Schwiegertochter Teddys teilte ihm mit, alles sei nicht so tragisch, er hätte eine Fleischwunde, liege auf dem Bauch, fluche und schlürfe Schnaps. Sie selbst würde sich heute zum Haus der Begegnung aufmachen, um den Sohn zu besuchen. Viktor bat sie, Teddy schöne Grüße zu bestellen, versprach vorbeizukommen und hängte auf. Eigentlich hätte er noch Lola anrufen müssen, aber als er sich das Gespräch vorstellte, die Vorwürfe, Aufschreie usw., da verzichtete er. Als er den Regenmantel abnahm, fiel sein Blick auf die Erdbeeren. Er ging in die Küche und holte sich eine Flasche mit süßem Rahm. Als er auf sein Zimmer zurückkam, saß Pavor da. »Guten Tag«, sagte er mit strahlendem Lächeln. Viktor ging zum Tisch, schüttete die Erdbeeren in eine Schale, goß Sahne darüber und streute Zucker darauf. Dann setzte er sich. »Schon gut, guten Tag, guten Tag«, sagte er mürrisch. »Was gibt's?« Er hatte keine Lust, Pavor anzublicken. Erstens war Pavor ein Schwein, zweitens war es offenbar peinlich, einen Menschen anzuschauen, den man denunziert hatte. Selbst wenn es ein Schwein war, selbst wenn man es mit den lautersten Absichten getan hatte. »Hören Sie, Viktor!« sagte Pavor. »Ich bin bereit, mich zu entschuldigen. Wir beide haben uns dumm aufgeführt, ich aber besonders. Das kommt alles vom beruflichen Ärger. Ich bitte Sie aufrichtig um Entschuldigung. Es wäre mir verdammt unangenehm, wenn wir uns wegen eines solchen Unsinns zerstreiten würden.« Viktor verrührte mit dem Löffel Erdbeeren und Rahm und begann zu essen. »Ich habe aber auch in letzter Zeit Pech, bei Gott«, fuhr Pavor fort. »Die ganze Welt könnte ich verfluchen. Und kein Funken Mitgefühl von den Leuten, keine moralische Unterstützung . . . Dieses Schwein von Bürgermeister hat mich da in eine unsaubere Sache
reingezogen . . . « »Herr Summan«, sagte Viktor. »Hören Sie doch auf mit Ihrer Komödie! Theater spielen können Sie vorzüglich, aber ich habe Sie zum Glück durchschaut, und es bereitet mir keinerlei Vergnügen, Ihren künstlerischen Darbietungen beizuwohnen. Verderben Sie mir nicht den Appetit und gehen Sie!« »Viktor«, sagte Pavor vorwurfsvoll. »Wir sind doch erwachsene Menschen. Wer wird denn diese albernen Tischgespräche so ernst nehmen? Sie haben doch nicht im Ernst geglaubt, der Quatsch, den ich da verzapft habe, wäre meine eigene Meinung. Sie wissen doch, Migräne, Scherereien, Schnupfen ... Ich bin auch nur ein Mensch, was wollen Sie da verlangen?« »Ich verlange, daß mir kein Mensch von hinten mit einem Schlagring auf den Schädel schlägt«, erklärte Viktor. »Und wenn es nun schon mal passiert ist, es können ja solche Umstände ein- treten, dann sollte dieser Mensch nachher nicht den guten Freund spielen.« »Ach, das meinen Sie«, sagte Pavor nachdenklich. Sein Gesicht fiel förmlich ein. »Hören Sie, Viktor, ich werde Ihnen alles erklären. Das war reiner Zufall. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie es waren. Und dann ... Sie sagen ja selbst, daß Umstände vorliegen können.« »Herr Summan«, sagte Viktor, während er den Löffel abschleckte, »Leute mit Ihrem Beruf konnte ich noch nie ausstehen. Einen habe ich sogar schon erschossen. Im Stab war er sehr mutig, als er die Offiziere bezichtigte, nicht loyal zu sein. Aber als man ihn dann an die vorderste Linie schickte. . . Wie dem auch sei, scheren Sie sich!« Pavor indessen dachte nicht daran. Er zündete sich eine Zigarette an, schlug ein Bein über das andere und lehnte sich im Sessel zurück. Es war klar, er war ein starker Kerl, konnte bestimmt Judo und hatte auch einen Schlagring... Jetzt wäre es gut, einen Wutanfall zu bekommen. Was verdirbt er mir eigentlich die Freude an meinen leckeren Erdbeeren. »Ich stelle fest, daß Sie vieles wissen«, sagte Pavor. »Das ist schlecht. Ich meine, für Sie. Na ja, so weit, so gut. Aber jedenfalls wissen Sie nicht, daß ich Sie aufrichtig verehre und schätze. Jetzt verziehen Sie mal nicht Ihr Gesicht und tun Sie nicht so, als ob Ihnen jeden Moment schlecht würde. Ich spreche in vollem Ernst. Ich bin gern bereit, Ihnen wegen des Vorfalls mit dem Schlagring mein Bedauern auszusprechen. Ich gebe sogar zu, daß ich wußte, wen ich schlage, aber ich hatte keine andere Wahl. Um die Ecke lag ein Zeuge, plötzlich mischten Sie sich ein... Na ja, das einzige, was mir übrigblieb, war, Ihnen so behutsam wie möglich eine auf den Kopf zu geben, was ich auch tat. Dafür entschuldige ich mich aufrichtig.« Es folgte eine aristokratische Geste Pavors. Viktor verspürte sogar etwas Neugier, als er ihn ansah. An dieser Situation war etwas Neues dran, etwas, was außerhalb seiner Erfahrung lag und was schwer vorstellbar war.
»Mich allerdings dafür entschuldigen, daß ich ein Mitarbeiter einer Ihnen bekannten Behörde bin«, fuhr Pavor fort, »das kann ich nicht, will ich eigentlich auch gar nicht. Denken Sie bitte nur nicht, wir wären dort eine Ansammlung von Unterdrückern freier Gedanken und von schäbigen Karrieremachern. Es stimmt, ich bin bei der Spionageabwehr. Eine schmutzige Arbeit. Aber Arbeit ist immer schmutzig, es gibt keine saubere Arbeit. In Ihren Romanen enthüllen Sie das Unterbewußte, Ihre verdammte Libido, na ja, ich mache es anders ... Einzelheiten kann ich Ihnen nicht erzählen, aber Sie können sich das sicher alles ganz gut vorstellen. Es stimmt, ich beobachte das Leprosorium, ich hasse diese nassen Kreaturen, ich fürchte sie. Aber ich fürchte nicht nur für mich, ich fürchte für alle, die auch nur ein bißchen was taugen. Zum Beispiel für Sie. Sie begreifen ja überhaupt nichts, verdammt noch mal! Sie sind ein freier Künstler, schwelgen in Ihren Ah-und Oh-Gefühlen, das ist aber auch alles. Dabei geht es um das Schicksal des Systems. Wenn Sie so wollen, um das Schicksal der Menschheit. Sie zum Beispiel verdammen den Herrn Präsidenten. Ein Diktator, ein Tyrann, ein Dummkopf, sagen Sie... Und dabei kommt eine Diktatur auf uns zu, die ihr freien Künstler euch nicht in den schwärzesten Träumen vorstellen könnt. Neulich im Restaurant habe ich eine Menge Unsinn verzapft, aber der Hauptgedanke stimmte: Der Mensch ist ein anarchistisches Tier, und die Anarchie wird ihn auffressen, sofern da nicht ein eisernes System waltet. Und eben diese eiserne Härte versprechen Ihre liebenswürdigen Naßmänner. Da wird für den gewöhnlichen Sterblichen kein Platz mehr sein. Sie verstehen das nicht. Sie denken, wenn mal einer Sursmansor oder Hegel zitiert, dann ist das ein Klassemensch. Und eben dieser Mensch wird Sie anschauen und in Ihnen einen Dreckhaufen sehen. Sie tun ihm nicht leid, denn Sie sind sowohl nach Hegel als auch nach Sursmansor Dreck. Dreck per definitionem. Und was über den Rahmen dieser Definition hinausgeht, interessiert ihn nicht. Der Herr Präsident ist von Natur aus beschränkt; deswegen schnauzt er Sie an, na ja, im Höchstfall schickt er Sie hinter Gitter, aber anläßlich eines Feiertages amnestiert er Sie im Überschwang der Gefühle und lädt Sie noch zum Mittagessen zu sich ein. Sursmansor hingegen betrachtet Sie im Vergrößerungsglas und klassifiziert wie folgt: Hundedreck, unnütz; und dann wird er Sie nachdenklich, angesichts der Größe seines Geistes, im Namen der allgemeingültigen Philosophie, mit einem schmutzigen Lappen in den Dreckkübel wischen und vergessen, daß es Sie einmal gegeben hat...« Viktor hatte zu kauen aufgehört. Ein seltsames, unerwartetes Schauspiel bot sich ihm. Pavor war erregt, seine Lippen zuckten, das Gesicht war rot angelaufen. Er rang nach Luft. Ganz offensichtlich glaubte er an seine Worte. Aus seinen Augen sprach das Grauen vor der Vision einer Schreckenswelt. Na, na, rief sich Viktor warnend ins Gedächtnis, das ist doch ein Feind und ein
Schwein dazu. Er ist ein Schauspieler und wickelt dich so mir nichts, dir nichts um den Finger. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er sich mit Gewalt Pavor zu entziehen versuchte. Das ist doch ein Staatsdiener, vergiß das nicht. Es liegt in seiner Bestimmung, sich keine Gedanken machen zu müssen. Die Obrigkeit befiehlt, und er arbeitet für eine Sonderzulage. Sollte er morgen den Befehl erhalten, die Naßmänner zu verteidigen, so würde er auch das machen. Ich kenne diesen miesen Typ, der ist mir öfters begegnet... Pavor nahm sich zusammen und lächelte. »Ich weiß, was Sie denken«, sagte er. »An Ihrem Gesicht kann ich ablesen, wie Sie sich abmühen und verstehen wollen, wieso sich so ein Typ wie ich Ihnen aufdrängt, was er von Ihnen braucht. Stellen Sie sich vor: nichts brauche ich von Ihnen. In aller Aufrichtigkeit möchte ich Sie warnen, möchte, daß Sie die Zusammenhänge begreifen, damit Sie sich auf die richtige Seite schlagen...« Er machte eine nervöse Mundbewegung und entblößte seine Zähne. »Ich will nicht, daß Sie zu einem Verräter der Menschheit werden. Und wenn es Ihnen dann wie Schuppen von den Augen fällt, wird es zu spät sein... Ich will nicht einmal davon sprechen, daß es für Sie überhaupt ratsam wäre, von hier zu verschwinden. Ich bin nämlich deswegen zu Ihnen gekommen, um darauf zu bestehen. Schwere Zeiten kommen auf uns zu; die Obrigkeit hat einen Anfall von Diensteifer; gewissen Leuten wurde angedeutet, sie würden schlechte Arbeit leisten; meine Herren, es herrscht keine Ordnung... Das aber, doch lassen wir das, das ist Quatsch, da unterhalten wir uns mal später. Ich will, daß Sie das Wesentliche erkennen. Das Wesentliche ist nicht der morgige Tag. Morgen werden Sie noch hinter ihrem Stacheldraht sitzen und diese Schwachsinnigen werden sie beschützen...« Wieder entblößte er seine Zähne. »Aber lassen Sie mal zehn Jahre vergehen. ..« Viktor hatte keine Gelegenheit mehr, zu erfahren, was nach zehn Jahren sein würde. Die Zimmertür öffnete sich geräuschlos und zwei Männer in gleichförmigen grauen Regenmänteln traten ein. Viktor begriff sofort, wer das war. Wie immer in solchen Situationen spürte er, wie er sich innerlich zusammenkrampfte. Widerstandslos erhob er sich. Übelkeit und Schwäche stiegen in ihm hoch. Aber man sagte zu ihm: »Setzen Sie sich!« zu Pavor sagte man: »Stehen Sie auf! Pavor Summan, Sie sind verhaftet.« Pavor war erbleicht; seine Gesichtsfarbe erinnerte an weißlich-blaue Magermilch. Er stand auf und sagte mit heiserer Stimme: »Die Order.« Man zeigte ihm irgendein Papier. Während er es noch mit verständnislosen Augen betrachtete, faßte man ihn an den Ellbogen, führte ihn hinaus und schloß die Tür. Viktor blieb sitzen. Er war wie erschlagen. Er starrte auf ein zum Teeservice gehöriges Spülgefäß, wobei er unablässig vor sich hin murmelte: »Sollen sie sich auffressen, sollen sie sich doch auffressen ....« Er horchte auf ein Motorengeräusch, auf Türenschlagen, aber er wartete vergeblich. Dann
zündete er sich eine Zigarette an und ging hinaus auf den Korridor. Er spürte, daß er hier nicht länger sitzen konnte, daß er mit jemandem sprechen, sich zerstreuen oder wenigstens- mit jemandem einen Schnaps trinken mußte. Ich möchte gern wissen, wie die darauf kamen, daß er bei mir war. Aber eigentlich interessiert mich das nicht. Kein bißchen interessant ist das... Am Treppenabsatz ging der hagere Profi hin und her. Viktor war so verblüfft, ihn allein zu sehen, daß er sich umblickte und prompt den Jüngeren sah. Er saß in der Ecke auf ei- nem Diwan mit seiner Aktentasche und blätterte in einer Zeitung. »Aha, da ist er ja selbst«, sagte der Hagere. Der Jüngere blickte zu Viktor, stand auf und begann, die Zeitung zusammenzufalten. »Wir waren gerade zu Ihnen unterwegs«, sagte der Hagere. »Aber wenn es sich nun mal so ergeben hat, dann gehen wir zu uns, da ist es sogar ruhiger...« Viktor war es egal, wohin es ging, und trottete gehorsam in den zweiten Stock. Der Hagere brauchte lange, um Zimmer Nr. 312 aufzusperren. Er hatte einen gewaltigen Schlüsselbund und probierte offenbar alle Schlüssel durch. Viktor und der junge Mann mit Brille standen derweil daneben. Das Gesicht des jungen Mannes drückte Langeweile aus, und Viktor stellte sich vor, was passieren würde, wenn er ihm jetzt eine auf den Kopf schlagen, ihm die Aktentasche entreißen und den Gang entlangflitzen würde. Kaum hatten sie das Zimmer betreten, als der Jüngere im linken Schlafzimmer verschwand. Der Hagere sagte zu Viktor: »Eine Minute« und entfernte sich in das rechte Schlafzimmer. Viktor setzte sich an den Tisch aus rötlichem Holz und begann, mit dem Finger an den rauhen Ringen entlangzufahren, die große und kleine Gläser an der polierten Oberfläche hinterlassen hatten. Es gab eine beträchtliche Menge solcher Ringe. Mit dem Tisch war man nicht eben sorgsam umgegangen, hatte sich nicht darum geschert, daß er aus rötlichem Holz war, man hatte glühende Zigaretten daraufgelegt und mindestens einmal einen Füller darüber ausgeklopft. Jetzt tauchte aus seinem Schlafzimmer der junge Mann auf, diesmal ohne Aktentasche und Jacke, in Hauspantoffeln, in der einen Hand eine Zeitung, in der anderen ein gefülltes Glas. Er setzte sich in seinen Sessel unter der Tischlampe. In diesem Augenblick erschien aus seinem Schlafzimmer der Hagere mit einem Tablett, das er sogleich auf den Tisch stellte. Auf dem Tablett standen eine angebrochene Whiskyflasche, ein Glas und eine große quadratische, mit blauem Saffianleder bezogene Schachtel. »Zuerst zu den Formalitäten«, sagte der Hagere. »Das heißt, warten Sie, zuerst ein zweites Glas.« Er blickte sich suchend um, nahm vom Schreibtisch ein für Bleistifte gestimmtes Glas, warf einen Blick hinein, pustete es aus und stellte es auf das Tablett. »Nun die Formalitäten«, sagte er. Er nahm stramme Haltung an, legte die Hände an die Hosennähte und blickte streng. Der junge Mann legte die Zeitung beiseite und erhob sich ebenfalls. Er schaute gelangweilt an die Wand. Jetzt stand auch Viktor auf.
»Viktor Banev!« verkündete der Hagere mit offiziellem, gehobenem Tonfall. »Gnädiger Herr! Im Namen und auf besondere Anordnung des Herrn Präsidenten überreiche ich Ihnen das Silberne Dreiblatt Zweiter Klasse< als Anerkennung für die besonderen Verdienste, die Sie sich um die Behörde erworben haben, die hier zu vertreten ich die Ehre habe!« Er öffnete die blaue Schachtel, entnahm ihr feierlich die Medaille, die an einem weißen Moireband hing, und begann, sie an Viktors Brust zu befestigen. Der junge Mann klatschte höflich Beifall. Dann überreichte der Hagere Viktor die Verleihungsurkunde und die Schachtel, drückte ihm die Hand, trat einen Schritt zurück, schaute befriedigt und klatschte ebenfalls in die, Hände. Viktor klatschte auch. Er fühlte sich wie ein Idiot. »Jetzt müssen wir die Sache begießen«, sagte der Hagere. Alle setzten sich. Der Hagere goß Whisky ein und ergriff das Bleistiftglas. »Auf den Dreiblattkavalier!« sagte er feierlich. Alle erhoben sich erneut, lächelten einander zu, tranken und setzten sich. Der junge Mann mit Brille griff sofort nach der Zeitung und verschwand dahinter. »Die Dritte Klasse hatten Sie schon, glaube ich«, sagte der Hagere. »Jetzt fehlt Ihnen noch die Erste, und dann sind Sie ein vollgültiger Kavalier. Freifahrtschein und so. Wie sind Sie zur Dritten gekommen?« »Ich weiß nicht mehr«, sagte Viktor. »Irgendwas war da; wahrscheinlich habe ich jemanden umgelegt... Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Das war für den Frontabschnitt bei Kitschigan.« »Oh!« sagte der Hagere und goß wieder ein. »Ich war gar nicht im Krieg. Es kam nicht dazu.« »Glück gehabt«, sagte Viktor. Sie tranken. »Unter uns gesagt, ich verstehe nicht, weshalb man mich mit diesem Ding da bedachte.« »Ich habe ja gesagt: für besondere Verdienste.« »Für Summan, nicht wahr?« sagte Viktor und lächelte bitter. »Hören Sie doch auf!« sagte der Hagere. »Sie sind doch eine wichtige Person. Sie sind doch in diesen Kreisen . ..« Er deutete mit seinem Finger irgendwo hin, an seinem Ohr vorbei. »Was für Kreise?« fragte Viktor. »Das kennen wir«, rief der Hagere verschmitzt aus. »Wir wissen alles. General Pferd, General Pukki, Oberst Bambarch... Alle Achtung.« »Höre ich zum erstenmal«, sagte Viktor nervös. »Der Oberst hat die Sache eigentlich in Gang gebracht. Keiner widersprach damals, das werden Sie verstehen. Das wäre ja noch schöner! Na ja, dann war General Pferd zur Berichterstattung beim Präsidenten und hat Sie so beiläufig vorgeschlagen ...« Der Hagere lachte auf. »Es soll sehr spaßig gewesen sein. Der Alte soll gebrüllt haben: >Was für ein Banev? Der Coupletsänger? Kommt nicht in Frage!< Aber der General sagte ihm ganz brutal: >Es muß sein, Eure
Exzellenz!< Na ja, irgendwie ging's dann. Der Alte brach in Rührung aus: >Gut<, sagte er, >ich vergebe ihm.< Was war denn das für eine Sache zwischen Ihnen?« »Halt so«, sagte Viktor unwillig. »Es gab Streit über die Literatur.« »Schreiben Sie wirklich Bücher?« fragte der Hagere. »Ja. Wie der Oberst Lawrence.« »Und zahlen die anständig?« »Ja.« »Ich muß das auch mal versuchen«, sagte der Hagere. »Nur habe ich eben nie die Zeit dazu. Da kommt mal dies, mal jenes .. .« »Ja, die Zeit fehlt«, stimmte Viktor zu. Bei jeder Bewegung baumelte die Medaille und schlug gegen die Rippen. Es war ein Gefühl, als trüge er ein Senfpflaster. Er müßte es nur abnehmen und dann wäre es gleich besser. »Wissen Sie was?« sagte er und stand auf. »Ich gehe. Die Zeit.« Der Hagere sprang sofort auf. »Natürlich«, sagte er. »Auf Wiedersehen.« »Ich habe die Ehre«, sagte der Hagere. Der junge Mann mit Brille ließ die Zeitung etwas tiefer hängen und nickte. Viktor ging auf den Korridor hinaus und riß sich im gleichen Augenblick die Medaille ab. Er verspürte ein heftiges Verlangen, sie in den Abfallkorb zu werfen, beherrschte sich aber und steckte sie in die Tasche. Dann begab er sich hinunter in die Küche und ließ sich eine Flasche Gin geben. Als er zurückging, sprach ihn der Portier an: »Herr Banev, der Herr Bürgermeister hat Sie angerufen. Schon zweimal. Sie waren nicht im Zimmer, und ich . . .« »Was will er?« fragte Viktor mürrisch. »Er bat, Sie möchten ihn sofort zurückrufen. Gehen Sie jetzt aufs Zimmer? Wenn er noch mal anruft...« »Sagen Sie ihm, er kann mich mal«, sagte Viktor. »Ich werde jetzt das Telefon bei mir abstellen, und wenn er Sie anruft, dann richten Sie ihm folgendes aus: >Der Herr Bürgermeister kann den Träger des Dreiblatts Zweiter Klasse am Arsch lecken.« Er schloß sich im Zimmer ein, stellte das Telefon ab und legte noch ein Kissen darüber. Dann setzte er sich an den Tisch, goß sich Gin ein und leerte, ohne das Getränk zu verdünnen, das ganze Glas in einem Zug. Der Gin brannte in Kehle und Speiseröhre. Viktor ergriff einen Löffel und machte sich über die Erdbeeren in Sahne her. Er spürte weder einen Geschmack, noch wußte er, was er tat. Es reicht mir, dachte er. Ich brauche nichts, keine Orden, keine Honorare und auch keine Almosen von euch. Ich brauche weder eure Aufmerksamkeiten, noch euren Zorn, noch eure Liebe. Laßt mich allein, ich bin bis oben voll von mir selbst, zieht mich nicht in eure Geschichten rein... Er faßte sich mit beiden
Händen am Kopf, um nicht das bläulich-bleiche Gesicht Pavors und die grauen, unbarmherzigen Visagen in den Einheitsmänteln zu sehen. General Pferd ist mit euch, General Buttocks, General Arschmann mit euren ordensstarrenden Umarmungen, und Sursmansor, bei dem sich das Gesicht ablöst... Er versuchte zu verstehen, was eigentlich vor sich ging. Er schlürfte noch ein halbes Glas aus und begriff, daß er sich auf dem Boden eines Schützengrabens versteckte und sich vor Schmerzen krümmte. Unter ihm drehte sich die Erde, ganze geologische Schichten, gigantische Massen von Granit, Basalt, Lava drückten gegeneinander, zermalmten einander, ächzend vor Anspannung, schwollen an, wölbten sich und schoben ihn, so ganz nebenbei, nach oben, immer höher, drückten ihn aus dem Schützengraben heraus, schubsten ‘ihn über die Brustwehr; es waren zudem schlimme Zeiten, die Behörden hatten in einem Anfall von Diensteifer jemandem angedeutet, er würde schlechte Arbeit machen, und er... ja, da war er ja, unter der Brustwehr, nackt, die Hände auf die Augen gepreßt, sichtbar für alle. Auf dem Grund liegen, dachte er. Ganz unten auf Grund liegen, damit sie einen weder hören noch sehen. Ich mach's wie ein U-Boot, ich liege auf Grund, dachte er, und jemand flüsterte ihm zu: >Dann können sie mich nicht orten.< Ja, ja, ich mach's wie ein U-Boot, ich liege auf Grund, dann können sie mich nicht orten. Und keinem Menschen Bescheid sagen. Ich bin nicht da. Einfach nicht da. Ich schweige. Schaut selbst, wie ihr zu Rande kommt. O Gott, warum gelingt es mir nicht, Zyniker zu sein? Ich mach's wie ein U-Boot, ich liege auf Grund, dann können Sie mich nicht orten. Ich mach's wie ein U-Boot, ich liege auf Grund, bekräftigte er, und werd' keine Rufzeichen funken. Er spürte bereits einen Rhythmus, und es lief von allein: Ich habe es satt... mir wird es zu bunt... Ich will weder trinken noch schreiben. Er goß sich Gin ein und trank das Glas leer. Ich will weder trinken noch schreiben. Ich habe es satt, das Trinken und Schreiben. Wo ist das Banjo? überlegte er. Wo habe ich das Banjo hingelegt? Er langte unter das Bett und zog das Instrument hervor. Ich pfeife auf euch, dachte er. Und wie ich auf euch pfeife! Ich mach's wie ein U-Boot, ich liege auf Grund, dann können sie mich nicht orten. Er strich rhythmisch über die Saiten. In diesem Rhythmus begann zunächst der Tisch, dann das ganze Zimmer, dann die ganze Welt zu stampfen und mit den Achseln zu zucken. Alle Generäle und Obersten, alle Naßmänner mit Gesichtern, die abfielen, alle Staatssicherheitsbehörden, alle Präsidenten und Pavor Summan, dem man die Arme verdreht und das Gesicht zerschlagen hatte... Ich habe es satt, mir wird es zu bunt... zum Singen, da fehlt's mir an Worten ... ich werde der Lieder schon überdrüssig, eigentlich bin ich es schon. Es fehlt mir an Worten, so ist es... ich mach's wie ein U-Boot, ich liege auf Grund, dann können sie mich nicht orten. Unterseeboot... Wodka macht tot... alles im
Lot... Denk ich ans Lager, dann seh ich schon rot... Na endlich, das läuft ja ... Schon lange wurde an die Tür geklopft, immer lauter und lauter, und Viktor wurde endlich darauf aufmerksam. Er erschrak jedoch nicht, denn es war nicht jenes ganz bestimmte Klopfen. Es war das normale, wohltuende Klopfen eines friedlichen Menschen, der böse ist, weil man ihm nicht öffnet. Viktor öffnete ihm die Tür. Es war Golem. »Sie feiern hier«, sagte er. »Pavor haben sie verhaftet.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Viktor fröhlich. »Setzen Sie sich und hören Sie zu...« Golem setzte sich nicht, aber Viktor achtete nicht darauf. Er strich über die Saiten und sang: »Ich habe es satt, mir wird es zu bunt, zum Singen, da fehlt's mir an Worten. Ich mach's wie ein U-Boot, ich liege auf Grund, dann können sie mich nicht orten ... Weiter habe ich noch nicht gedichtet«, rief er aus. »Da kommt dann Wodkatod.. . beim Lager seh ich rot... Und dann hören Sie weiter: Mit Weibern, da kommst du ganz schnell auf den Hund ; umsonst hab ich Wodka getrunken. Ich mach's wie ein U-Boot, ich liege auf Grund, und werd' keine Rufzeichen funken ... Ich habe es satt, ich will keine Stund' bei Spiel und bei Schnaps mehr verweilen. Ich mach's wie ein U-Boot, ich liege auf Grund, und mögen sie noch so viel peilen. Das war's!« schrie er und schleuderte das Banjo aufs Bett. Er spürte eine ungeheure Erleichterung in sich, als hätte sich etwas geändert, als würde er dort, über der Brustwehr, gebraucht, für alle sichtbar; er riß die Hände von den zusammengekniffenen Augen und schaute über das graue, schmutzige Feld, auf den rostigen Stacheldraht, auf die grauen Säcke, die früher einmal Menschen gewesen waren, auf dieses schale, ehrlose Theater, das früher einmal Leben geheißen hatte, und von allen Seiten tauchten über der Brustwehr Menschen auf, blickten sich um und einer nahm den Finger vom Abzug .. . »Ich beneide Sie«, sagte Golem. »Aber wäre es nicht an der Zeit, sich an den Artikel zu machen?« »Ich denke nicht daran«, sagte Viktor. »Sie kennen mich nicht, Golem. Ich pfeife auf alle. Zum Teufel noch mal, setzen Sie sich doch! Ich bin besoffen, und Sie werden sich auch besaufen! Ziehen Sie den Regenmantel aus... Ausziehen, sage ich!« brüllte er. »Und jetzt setzen Sie sich! Da haben Sie ein Glas, trinken Sie! Sie begreifen nichts, Golem, auch wenn Sie ein Prophet sind. Und ich werde es Ihnen auch nicht erlauben. Nicht zu begreifen, das ist mein Vorrecht. In dieser Welt begreifen alle bereits viel zu gut, was sein muß, was ist und was sein wird. Und es herrscht größer Mangel an Leuten, die nicht begreifen. Überlegen Sie mal, wieso ich einen Wert darstelle. Doch nur deswegen, weil ich nicht begreife. Vor mir breitet man Zukunftsperspektiven aus, aber ich sage:
Nein, unverständlich. Man will mich mit unglaublich einfachen Theorien zum Narren halten, aber ich sage: Nein, ich begreife das nicht... Eben deswegen werde ich gebraucht... Möchten Sie Erdbeeren? Allerdings habe ich alle schon aufgegessen. Dann rauchen wir also. . .« Er stand auf und wanderte im Zimmer auf und ab. Golem, ein Glas in der Hand, beobachtete ihn, ohne den Kopf zu wenden. »Ein erstaunliches Paradoxon ist das, Golem. Es gab mal eine Zeit, da begriff ich alles. Ich war sechzehn Jahre alt, ich war Oberritter der Legion, ich begriff absolut alles, aber niemand brauchte mich! Bei einer Schlägerei schlug man mir den Schädel ein, ich lag einen Monat im Krankenhaus, und alles ging seinen normalen Gang - die Legion schritt siegreich voran, der Herr Präsident avancierte unerbittlich zum Herrn Präsidenten, und auch das ohne mich. Alle kamen wunderbar ohne mich aus. Dasselbe wiederholte sich dann im Krieg. Ich war Offizier, heimste Orden ein und, was ganz natürlich war, ich begriff alles. Ich bekam einen Brustdurchschuß, landete im Lazarett, und wenn ich nun glaubte, jemand wäre voller Sorge um mich, würde nachfragen, wo Banev sei, wo unser Banev abgeblieben sei, unser tapferer, alles begreifender Banev, so irrte ich mich gewaltig. Nichts dergleichen passierte. Erst als ich daraufhin aufhörte, alles, was auch immer, zu begreifen, änderte sich die Lage. Alle Zeitungen wurden auf mich aufmerksam. Ein Haufen von Behörden nahm mich plötzlich zur Kenntnis. Der Herr Präsident persönlich beehrte mich mit seiner Aufmerksamkeit... Na? Können Sie sich den Seltenheitswert eines Menschen vorstellen, der nicht begreift? Man kennt ihn, Generäle und Oper... äh... Obersten sind um ihn besorgt, für die Naßmänner wird er unentbehrlich, man schätzt ihn als Persönlichkeit! Zum Verrücktwerden! Und weshalb? Deshalb, meine Herren, weil er nichts begreift.« Viktor setzte sich. »Ich bin ganz schön besoffen, nicht wahr?« fragte er. »Nicht ohne«, sagte Golem. »Aber das ist unwichtig. Fahren Sie fort!« Viktor breitete hilflos die Arme aus. »Das war's«, sagte er schuldbewußt. »Die Quelle ist versiegt... Soll ich Ihnen was Vorsingen?« »Singen Sie!« stimmte Golem zu. Viktor griff nach dem Banjo und begann zu singen. Er sang >Wir sind kühne Burschen^ dann >Die Uranmenschem, dann >Über den Hirten, dem der Stier ein Auge ausstach und der deswegen die Staatsgrenze verletztem dann >Ich habe es satt<, dann "Die gleichgültige Stadt", dann >Über Wahrheit und Lüge<, dann wieder >Ich habe es satt<, dann >Ach, was für Beine sie hat< nach der Melodie der Nationalhymne. Er hatte aber den Text vergessen, brachte die Strophen durcheinander und legte das Banjo zur Seite. »Wieder ein Quell versiegt«, sagte er bekümmert. »Sie sagen also, daß man Pavor verhaftet hat. Ich weiß davon. Er saß gerade zufällig bei mir, da, wo Sie
jetzt sitzen ... Und wissen Sie, was er sagen wollte, wozu er aber nicht mehr kam? Daß in zehn Jahren die Naßmänner auf der Erde herrschen und uns alle erdrücken werden. Was meinen Sie dazu?« »Kaum«, sagte Golem. »Warum sollten sie uns erdrücken? Das schaffen wir allein.« »Und die Naßmänner?« »Vielleicht werden Sie uns am Erdrücken hindern ... Schwer zu sagen.« »Vielleicht helfen sie uns dabei«, sagte Viktor und lachte beschwipst. »Wir sind doch nicht mal zum Erdrücken fähig. Zehntausend Jahre erdrücken wir schon und sind immer noch nicht am Ende... Hören Sie, Golem, weshalb haben Sie mich angelogen und gesagt, Sie würden sie heilen? Die sind doch gar nicht krank, die sind doch gesund wie wir beide, nur eben etwas gelb. . . « »Hm«, sagte Golem. »Woher haben Sie diese Informationen? Ich wußte gar nichts davon.« »Schon gut, schon gut, ich lasse mich von Ihnen nicht mehr reinlegen. Ich habe mit S u s . . . mit Su. . . mit Sursmansor gesprochen. Er hat mir alles erzählt. Vom Geheiminstitut... vom Anlegen der Binden zum Zweck der Erhaltung... Wissen Sie, Golem, die bilden sich da bei Ihnen ein, sie könnten General Pferd bis in alle Ewigkeit nach ihrer Pfeife tanzen lassen. In Wirklichkeit sind sie Kalifen auf Abruf. Wenn er ausgehungert ist, wird er sie zusammen mit ihren Binden und Handschuhen fressen . .. Pfui, bin ich besoffen, alles schwimmt...« In Wirklichkeit spielte Viktor auch ein wenig Komödie. Deutlich sah er vor sich das dicke, bläuliche Gesicht und die kleinen, nun ungewöhnlich aufmerksamen Augen. »Und Sursmansor hat Ihnen auch gesagt, er sei gesund?« »Ja«, sagte Viktor. »Im übrigen weiß ich das nicht m e h r . . . Eher wohl nicht. Aber man kann doch sehen . . .« Golem kratzte sich mit dem Glasrand am Kinn. »Schade, daß Sie betrunken sind«, sagte er. »Aber vielleicht ist es auch gut so. Ich bin heute in Stimmung. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen alles, was ich über die Naßmänner ahne und denke.« »Raus mit der Sprache!« sagte Viktor. »Aber ohne blauen Dunst!« »Die Augenkrankheit«, sagte Golem, »ist eine höchst merkwürdige Sache. Wissen Sie, wer von der Augenkrankheit befallen wird?« Golem verstummte. »Nein, nichts werde ich Ihnen erzählen.« »Was soll das?« sagte Viktor. »Sie haben doch schon angefangen.« »War auch dumm von mir, anzufangen«, entgegnete Golem. Er blickte zu Viktor und grinste. »Stellen Sie doch Fragen !« sagte er. »Sofern es dumme Fragen sind, werde ich gern antworten... Los, los, sonst überlege ich es mir wieder anders!« . An der Tür ertönte ein Klopfen.
»Gehen Sie zum Teufel!« schnarrte Viktor. »Ich bin beschäftigt. »Verzeihen Sie, Herr Banev«, ließ sich die schüchterne Stimme des Portiers vernehmen. »Ihre Gattin hat Sie angerufen.« »Alles Lüge! Ich habe keine Gattin... Übrigens, Pardon. Ich habe ganz vergessen. Gut, ich werde sie gleich anrufen, danke.« Er ergriff das Glas, schenkte bis zum Rand voll, hielt es Golem hin und sagte: »Trinken Sie und lassen Sie das Denken. Ich bin gleich soweit.« Er steckte das Telefonkabel ein und wählte Lolas Nummer. Lola verkündete ihm trocken: »Entschuldige, daß ich dich gestört habe. Ich habe vor, Irma zu besuchen. Geruhst du nicht, dich anzuschließen?« »Nein«, sagte Viktor, »ich geruhe nicht. Ich bin beschäftigt.« »Es handelt sich trotz allem um deine Tochter. Oder bist du etwa zwischenzeitlich so weit runtergekommen . . .« »Ich bin beschäftigt«, sagte Viktor grob. »Machst du dir keine Sorgen, was mit deiner Tochter los ist?« »Hör auf, die Einfalt zu spielen!« sagte Viktor. »Du wolltest doch Irma loswerden. Jetzt bist du sie losgeworden. Was brauchst du noch?« Lola begann zu weinen. »Hör auf!« sagte Viktor stirnrunzelnd. »Irma geht es dort gut. Besser als im besten Pensionat. Fahr hin und überzeuge dich selbst...« »Du grobes, herzloses, egoistisches Schwein«, verkündete Lola und hängte ein. Viktor flüsterte ein paar Flüche, stellte das Telefon ab und kehrte an den Tisch zurück. »Hören Sie, Golem!« sagte er. »Was machen Sie dort mit den Kindern! Sollten Sie dort Ihre Ablösung vorbereiten, so bin ich dagegen.« »Welche Ablösung?« »Was heißt hier, welche... Das frage ich Sie doch.« »Soweit mir bekannt ist«, sägte Golem, »sind die Kinder sehr zufrieden.« »Was Sie nicht sagen... Das weiß ich auch ohne Sie, daß sie zufrieden sind. Aber was machen sie dort?« »Haben sie Ihnen das etwa nicht gesagt?« »Wer?« »Die Kinder.« »Wie hätten sie es mir sagen sollen, wenn ich hier und sie dort sind?« »Sie bauen eine neue Welt«, sagte Golem. »Aha... Ja, das haben sie mir gesagt. Aber das ist ja nur so eine Philosophie... Sie belügen mich schon wieder, Golem. Was für eine neue Welt kann es hinter Stacheldraht geben? Eine neue Welt unter dem Kommando von General Pferd? - Und wenn sie dort angesteckt werden?« »Womit?« fragte Golem. »Mit der Augenkrankheit natürlich!«
»Ich wiederhole Ihnen zum sechstenmal, daß Erbkrankheiten nicht ansteckend sind.« »Zum sechsten, zum sechsten...«, murmelte Viktor. Er hatte den Faden verloren. »Was ist das überhaupt für eine Krankheit, diese Augenkrankheit? Was tut da eigentlich weh? Oder ist das vielleicht ein Geheimnis?« »Nein, das wurde überall veröffentlicht.« »Also, erzählen Sie!« sagte Viktor. »Aber ohne Fachausdrücke.« »Es beginnt mit einer Veränderung der Haut. Pickel, Bläschen, besonders an Armen und Beinen... Manchmal sind es auch eitrige Geschwüre. . . « »Hören Sie, Golem! Ist das jetzt so wichtig?« »Wofür?« »Für das Eigentliche.« »Für das Eigentliche nicht«, sagte Golem. »Ich dachte, es würde Sie interessieren.« »Ich möchte das Eigentliche begreifen«, sagte Viktor mit Nachdruck. »Das Eigentliche werden Sie nicht begreifen«, sagte Golem mit leicht gehobener Stimme. »Warum nicht?« »Erstens, weil Sie betrunken sind . . . « »Das ist noch lange kein Grund«, sagte Viktor. »Und zweitens, weil sich das nicht erklären läßt.« »Das gibt es nicht«, erklärte Viktor. »Sie wollen nur nichts sagen. Aber ich bin nicht böse auf Sie. Schweigeverpflichtung unterschrieben, ausgeplaudert, Kriegstribunal. . . Pavor haben sie damit geschnappt. . . Tun Sie, was Sie wollen! Ich verstehe nur nicht, wieso ein Kind eine neue Welt in einem Leprosorium bauen muß. Hat sich kein anderer Platz gefunden?« »Hat sich eben nicht«, antwortete Golem ruhig. »Im Leprosorium leben die Architekten und die Leute, die die Sachen ausführen.« »Mit Maschinenpistolen«, sagte Viktor. »Ich habe es gesehen und begreife nichts. Jemand von euch lügt. Entweder Sie oder Sursmansor.« »Sursmansor natürlich«, entgegnete Golem kaltblütig. »Vielleicht lügt ihr beide. Ich glaube beiden von euch, weil da irgendwas in euch i s t. . . Sagen Sie mir nur, Golem, was diese Leute wollen. Aber ganz ehrlich.« »Das Glück«, sagte Golem. »Für wen? Für sich?« »Nicht nur.« »Und auf wessen Kosten?« »Für sie ist diese Frage sinnlos«, sagte Golem langsam. »Auf Kosten des Grases, auf Kosten der Wolken, auf Kosten des fließenden Wassers... auf Kosten der Sterne.«
»Genau wie wir«, sagte Viktor. »Aber nein«, widersprach Golem. »Überhaupt nicht so.« »Wieso denn nicht? Wir machen doch auch . . .« »Nein, wir treten nämlich das Gras nieder, zerstreuen die Wolken, halten das Wasser an. . . Sie haben mich allzu wörtlich genommen. Es war eine Analogie.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Viktor. »Ich habe Sie gewarnt. Ich selbst verstehe vieles nicht, aber ich ahne einiges.« »Gibt es Leute, die das verstehen?« »Weiß ich nicht. Wohl kaum. Vielleicht die Kinder... Aber selbst wenn sie etwas verstehen, dann nur auf ihre Art. Sehr sogar auf ihre Art.« Viktor nahm das Banjo und berührte die Saiten. Die Finger gehorchten nicht, und er legte das Banjo auf den Tisch. »Golem«, sagte er. »Sie sind doch Kommunist. Was, zum Teufel, machen Sie im Leprosorium? Warum stehen Sie nicht auf den Barrikaden? Warum sind Sie nicht auf der Versammlung? Moskau wird Sie nicht gerade loben.« »Ich bin ein Architekt«, sagte Golem ruhig. »Was sind Sie für ein Architekt, wenn Sie keinen blassen Schimmer haben? Und überhaupt, weshalb führen Sie mich an der Nase herum? Eine geschlagene Stunde bekriegen wir uns schon, und was haben Sie mir gesagt? Da saufen Sie Gin und machen mir blauen Dunst vor. Sie sollten sich schämen, Golem. Und lügen tun Sie unaufhörlich.« »Was heißt unaufhörlich?« sagte Golem. »Ein wenig haben Sie allerdings recht. Die Leute dort haben keine eitrigen Geschwüre.« »Geben Sie das Glas her«, sagte Viktor. »Sie sind schon voll.« Er goß sich aus der Flasche ein und trank aus. »Der Teufel soll sich bei Ihnen auskennen, Golem! Wozu das alles? Was sollen diese Spielchen? Wenn Sie erzählen können, dann tun Sie es; wenn es Geheimnis ist, dann hätten Sie nicht anfangen sollen.« »Das hat eine ganz einfache Erklärung«, sagte Golem gutmütig und streckte die Beine aus. »Ich bin doch ein Prophet. Sie selbst haben mich als solchen bezeichnet. Und die Propheten befinden sich alle in der gleichen Lage: sie wissen sehr viel und sie möchten erzählen, mit einem angenehmen Gesprächspartner plaudern, ein wenig prahlen, um, an Ansehen zu gewinnen. Und wenn sie anfangen zu erzählen, fühlen sie sich auf einmal unbehaglich und verlegen... Und so machen sie es wie der liebe Gott, als man ihn wegen des Steins fragte.« »Wie Sie wollen«, sagte Viktor. »Ich fahre zum Leprosorium und werde dort ohne Sie alles erfahren... Nun, prophezeien Sie mal irgendwas.« Interessiert verfolgte er, wie Arme und Beine gefühllos wurden, und dachte, ein Glas noch, dann wäre die Sache abgerundet, dann könnte er schlafen und dann aufwachen und zu Diana fahren. Es würde sich alles gar nicht so schlecht fügen.
Überhaupt war alles nicht so schlimm. Als er sich noch vorstellte, daß er Diana vom U-Boot Vorsingen würde, hatte er wieder Oberwasser. Er ergriff das nasse Ruder, das im Heck lag, und stieß vom Ufer ab. Das Boot schaukelte dahin. Kein Regen, nicht einmal Wolken waren zu sehen. Die Sonne ging rot unter, und er ruderte geradewegs auf den Sonnenuntergang zu, die Ruder rissen sich von den Wellenkämmen los. Auf Grund liegen... Er hätte sich gern gelegt, aber das wäre peinlich gewesen, denn über seinem Ohr erscholl die träge Stimme Golems: »... Sie sind doch noch so jung, alles liegt noch vor ihnen, vor uns liegen nur sie. Natürlich wird der Mensch das Weltall beherrschen, aber das wird kein rotwangiger Muskelprotz sein; natürlich wird der Mensch auch sich selbst in den Griff bekommen, doch wird er zuvor sich verändern... Die Natur betrügt nicht, sondern sie erfüllt ihre Versprechungen, allerdings nicht so, wie wir dachten, und bisweilen nicht so, wie wir das gerne hätten.« Sursmansor, der im Bug des Bootes saß, wandte den Kopf, und man konnte sehen, daß er kein Gesicht hatte; das Gesicht hielt er in den Händen, und das Gesicht blickte Viktor an. Es war ein gutes, ehrliches Gesicht, aber es verursachte Übelkeit. Und Golem konnte kein Ende finden, und seine Stimme leierte fort und f o r t. . . »Legen Sie sich schlafen!« murmelte Viktor und streckte sich auf dem Boden des Bootes aus. Die Spanten drückten ihm in die Seiten, und es war sehr unbequem, aber er hatte schon ein zu großes Schlafbedürfnis. »Legen Sie sich schlafen, Golem!« 11 Beim Erwachen entdeckte er, daß er in einem Bett lag. Es war dunkel. Regen trommelte an die Fensterscheiben. Mit Mühe hob er den Arm und streckte ihn zur Nachttischlampe aus, aber seine Hand stieß gegen eine kalte, glatte Wand. Seltsam, dachte er, wo ist denn Diana? Oder sollte ich etwa nicht im Sanatorium sein? Er versuchte, sich über die Lippen zu lecken, aber die angeschwollene, pelzige Zunge gehorchte ihm nicht. Er hätte gern geraucht, aber rauchen durfte er auf keinen Fall... Aha, eigentlich möchte ich trinken. »Diana!« rief er. Vielleicht war er doch nicht im Sanatorium. Im Sanatorium war die Nachttischlampe rechts, und hier war rechts die Wand... Das ist ja mein Zimmer! stellte er mit Begeisterung fest. Wie bin ich hierher gekommen? Er lag unter der Decke und war bis auf die Unterwäsche entkleidet. Irgendwie kann ich mich nicht erinnern, daß ich mich ausgezogen habe, dachte er. Irgend jemand hat mich ausgezogen. Aber vielleicht habe ich es auch selbst getan... Wenn ich die Schuhe anhabe, so habe ich mich selbst ausgezogen ... Er rieb seine Füße aneinander. Aha, barfuß. Verdammt noch mal, wie meine Hände jucken. Da habe ich so Bläschen. Die
züchten hier Wanzen in den Zimmern. Ich werde runterfahren. Wohin bin ich mit dem Boot doch geschwommen? - Aha, das war Pavor, der hat mir die Wanzen aufgehängt.... Plötzlich fiel ihm Pavor ein. Er wollte sich aufsetzen, doch alles begann sich zu drehen, so daß er sich wieder auf den Rücken legte. Lange habe ich mich nicht so vollaufen lassen, obwohl... Pavor... Das silberne Dreiblatt... Wann war das? Gestern? Er verzog das Gesicht und kratzte mit den Fingernägeln seine linke Hand. Ist jetzt Morgen oder Abend? Wahrscheinlich Morgen... Kann auch sein, daß es Abend ist. Golem! erinnerte er sich. Wir haben zu zweit eine ganze Flasche geleert, ohne das Zeug zu verdünnen. Und davor habe ich mit dem Hageren eine halbe Flasche ausgetrunken. Und noch vorher habe ich auch irgendwo getrunken... Oder war das gestern? Einen Augenblick, haben wir jetzt heute oder gestern? Ich sollte aufstehen und was trinken, dies oder jenes... Nein, sagte er standhaft, zuerst muß ich mir Klarheit verschaffen. Golem hat irgendwas Interessantes erzählt. Er ist zu dem Schluß gekommen, daß ich besoffen bin und nichts verstehe und daß er deswegen mit mir offen sprechen kann. Im übrigen war ich wirklich besoffen, aber ich weiß noch, daß ich alles verstand. Was habe ich denn verstanden? - Wie wahnsinnig rieb er den rechten Handrücken an der Decke. >Schwere Zeiten kommen auf uns zu. . .< Nein, das stammte von Pavor... Aha, jetzt habe ich was von Golem: »Alles liegt noch vor ihnen, vor uns liegen nur sie<. Und dann das mit der Erbkrankheit... Nun ja, durchaus möglich. Irgendwann muß es ja mal passieren. Vielleicht passiert es schon seit langer Zeit. Innerhalb der Art entsteht eine neue Art, wir nennen das Erbkrankheit. Die alte Art unter bestimmten Bedingungen, die neue Art unter anderen. Früher waren mächtige Muskeln, Fruchtbarkeit, Widerstandsfähigkeit gegen Kälte, Aggressivität und sozusagen Sinn fürs Praktische erforderlich... Jetzt ist das alles vermutlich auch vonnöten, aber eher aus Gründen der Trägheit. Da könnte man eine Million mit dem Sinn fürs Praktische umlegen, und nichts Wesentliches würde sich ereignen. Das steht fest und ist vielmals erprobt worden. Wer hat gesagt, man brauchte aus der Geschichte nur einige Dutzend - na ja, sagen wir vielleicht einige hundert Menschen entfernen, so wären wir im Nu in die Steinzeit zurückgeworfen? Sollen es einige tausend sein... Was sind das für Menschen? Lieber Freund, das sind ganz andere Menschen! Es ist gut möglich, daß Newton, Einstein und Aristoteles Mutanten waren. Die Umwelt war sicherlich nicht gerade günstig für sie, und es kann leicht sein, daß eine Menge solcher Mutanten starb, ohne sich selbst entdeckt zu haben, wie jener kleine Junge in der Erzählung Capeks... Bei ihnen handelte es sich natürlich um besondere Menschen. Sie hatten weder praktische Fähigkeiten noch normale menschliche Bedürfnisse... Oder scheint uns das vielleicht nur so? Vielleicht ist die geistige Seite bei ihnen auf Kosten aller anderen Seiten übermäßig entwickelt. Aber so komme ich nicht weiter. Einstein sagte, am
besten wäre es, als Leuchtturmwärter zu arbeiten; das spricht doch für sich selbst... Man müßte sich einmal vorstellen, wie in unserer Zeit der Homo super geboren würde. Das Wäre aufschlußreich und ein guter Stoff... Verdammt, es ist nicht auszuhalten, wie die Hände jucken. . . Man müßte so eine Utopie im Stile Orwells oder Bernhard Wolfs schreiben. Es ist sicher schwierig, sich so einen Supermenschen vorzustellen: ein mächtiger, kahler Schädel, verkümmerte Arme und Beine, impotent... Lauter Banalitäten. Aber an sich müßte er so ähnlich ausfallen. Auf jeden Fall werden die alten Bedürfnisse abgelöst: kein Schnaps nötig, ebensowenig irgendein besonderes Fressen; kein Luxus und im allgemeinen auch keine Frauen... höchstens mal zur Beruhigung und zum Zweck größerer Konzentration. Ein ideales Ausbeutungsobjekt: ein eigenes Büro, Tisch, Papier, ein Stoß Bücher ... . eine kleine Allee für peripatetische Gedankengänge; für das alles liefert er Ideen . . . Daraus wird keine Utopie — die Militärs schnappen ihn sich, das ist die ganze Utopie. Sie machen ein Geheiminstitut auf, verfrachten alle diese Supermenschen dorthin, stellen einen Wachtposten auf, das ist alles ... Viktor erhob sich ächzend, ging mit nackten Füßen auf dem kalten Boden ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und trank in vollen Zügen, ohne Licht zu machen. Die Vorstellung, Licht zu machen, war grauenhaft. Dann kroch er wieder ins Bett, kratzte sich längere Zeit und verfluchte die Wanzen. An sich war die Sache als Thema reizvoll: Geheiminstitut, Wachtposten, Spione... der Patriotismus der patriotischen Putzfrau Klara... So ein schöner Schundroman. Die Schwierigkeit besteht darin, sich ihre Arbeit, ihre Ideen, ihre Fähigkeiten vorzustellen. Das geht über meine Möglichkeiten ... Und es ist sowieso unmöglich. Ein Schimpanse kann keinen Roman über Menschen schreiben. Wie soll ich einen Roman über einen Menschen schreiben, der ausschließlich geistige Bedürfnisse hat? Sicher läßt sich einiges vorstellen. Die Atmosphäre. Der Zustand ununterbrochener schöpferischer Ekstase. Das Gefühl seiner Allmacht, seiner Unabhängigkeit... Das Fehlen von Komplexen, die völlige Furchtlosigkeit. Ja, um so ein Ding zu schreiben, müßte man sich eine Portion LSD zu Gemüte führen. Überhaupt dürfte die emotionale Sphäre dieses Supermenschen vom Standpunkt des normalen Menschen aus eher pathologisch anmuten. Eine Krankheit... Das Leben ist eine Krankheit der Materie, das Denken - eine Krankheit des Lebens. Die Augenkrankheit, fiel ihm ein. Und plötzlich sah er alles klar vor sich. Das also hat Golem gemeint! dachte Viktor. Klug und ausnahmslos talentiert... Welcher Schluß ließe sich also ziehen? Doch nur der, daß es sich bei x ihnen um keine Menschen mehr handelt. Sursmansor hat mir ganz einfach die Ohren vollgequatscht. Es hat also begonnen ... Nichts läßt sich verheimlichen, dachte er befriedigt. Und so eine Sache erst recht nicht. Ich gehe zu Golem, er braucht aus sich keinen Propheten
zu machen. Wahrscheinlich haben sie ihm viel erzählt... Verdammt das ist ja die Zukunft eben diese Zukunft, die ihre Fühler in das Herz der Gegenwart ausstreckt! Wir haben nur sie vor uns ... Viktor befiel eine fieberhafte Erregung. Jede Sekunde war geschichtsträchtig. Wie schade, daß er gestern nichts davon gewußt hatte, denn gestern, vorgestern und auch vor einer Woche war jede Sekunde geschichtsträchtig gewesen... Er sprang auf, knipste das Licht an und tastete nach seiner Hose. Die Helligkeit schnitt in seine Augen, so daß er das Gesicht vor Schmerz verzog. Er fand seine Kleidung zunächst nicht, doch dann hatten sich seine Augen an das Licht gewöhnt, und er griff nach seiner Hose, die über dem Kopfteil hing. Plötzlich erblickte er seinen Arm. Der Arm war bis zum Ellbogen mit rotem Ausschlag und fahl-weißlichen Knötchen bedeckt. Einige Knötchen bluteten infolge des Kratzens. Der andere Arm bot den gleichen Anblick. Was, zum Teufel, ist das? dachte er. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, denn er wußte bereits, was das war. Es fiel ihm auch schon ein: »Veränderung der Haut, Ausschlag, Bläschen, manchmal eitrige Geschwüre...< Eitrige Geschwüre waren vorerst nicht zu sehen. Kalter Schweiß brach ihm aus, und die Hose entglitt seinen Händen. Er setzte sich aufs Bett. Das kann nicht sein, dachte er. Ich auch. Ich etwa auch? Vorsichtig strich er mit der Handfläche über die körnige Haut. Dann schloß er die Augen und horchte in sich hinein. Dumpf und langsam klopfte das Herz, in den Ohren summte das Blut, sein Kopf erschien ihm riesig und leer, er spürte weder Schmerz noch jene wattegleiche Schwere im Gehirn. Dummkopf, dachte er und mußte lächeln. Was hoffe ich denn zu bemerken? Das müßte wie der Tod sein. Vor einer Sekunde warst du noch ein Mensch, ein Zeitquant verstreicht, und du bist ein Gott, und du weißt es nicht und wirst es nie erfahren, so wie ein Dummkopf nicht weiß, daß er ein Dummkopf ist, und ebensowenig wie ein kluger Mensch, wenn er wirklich klug ist, weiß, daß er klug i s t. . . Wahrscheinlich ist das passiert, als ich schlief. Auf jeden Fall hatte ich vor dem Einschlafen nur eine höchst verschwommene Vorstellung vom eigentlichen Wesen der Naßmänner; jetzt dagegen sehe ich alles außerordentlich klar; und geschafft habe ich das mit der nackten Logik, sogar ohne es zu bemerken... Glückerfüllt lachte er auf, stellte sich auf den Boden, spannte seine Muskeln an und ging ans Fenster. Meine Welt, dachte er, als er durch die regenverwaschene Scheibe blickte; die Scheibe verschwand, in der Ferne ertrank die vor Schrecken gelähmte Stadt im Regen, das riesige, nasse Land und dann alles ringsum bewegte sich fort, schwamm weg, und übrig blieb nur eine kleine, himmelblaue Kugel mit einem langen, himmelblauen Schweif, und er erblickte die gigantische Linse der
Galaxis, die schief und tot im schimmernden Nichts hing, er sah Fetzen strahlender Materie, die von Kraftfeldern eingedreht wurden, und bodenlose Abgründe dort, wo kein Licht war, und er streckte die Hand aus und tauchte sie in den angeschwollenen weißen Kern. Er spürte leichte Wärme, und als er die Faust zusammenpreßte, quoll die Materie wie Seifenschaum zwischen den Fingern hervor. Er mußte wieder lachen, gab seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe einen Nasenstüber und strich zärtlich über die Knötchen der geschwollenen Haut. »Darauf muß ich einen trinken«, sagte er laut. In der Flasche war noch ein Rest von Gin verblieben. Der arme, alte Golem war nicht fähig gewesen, die Flasche zu leeren, dieser arme, alte Pseudoprophet... nicht deswegen ist er ein Pseudoprophet, weil seine Prophezeiungen unwahr sind, sondern weil er alles in allem nur eine sprechende Marionette ist. Ich werde dich immer gern haben, Golem, dachte Viktor, du bist ein guter Mensch, auch ein kluger Mensch, aber eben nur - ein Mensch. Er goß den Flüssigkeitsrest ins Glas und kippte mit gewohnter Bewegung den Schnaps in die Kehle. Doch noch ehe er geschluckt hatte, stürzte er ins Bad. Er mußte sich übergeben. Verdammt, dachte er, was war das für ein scheußliches Zeug! Im Spiegel erblickte er sein Gesicht. Es war zerknittert und leicht bekleckert. Die Augen waren unnatürlich groß und schwarz gerändert. Da hätten wir's, dachte er, da hätten wir's! Viktor Banev, Saufbold und Prahlhans. Du wirst nie mehr trinken und auch keine Lieder mehr brüllen, du wirst nie mehr über Dummheiten lauthals loslachen oder mit hölzerner Zunge Unsinn verzapfen, nie mehr raufen, Unfug treiben oder herumpöbeln, keine Fußgänger mehr erschrecken, du wirst weder die Polizei jemals mehr beschimpfen noch mit dem Herrn Präsidenten streiten, du wirst nie mehr mit einem grölenden Haufen junger Verehrer eine Nachtbar stürmen... Er ging zum Bett zurück. Zum Rauchen hatte er keine Lust. Zu nichts hatte er Lust, von allem wurde ihm übel. Traurigkeit befiel ihn. Das Gefühl eines Verlustes, das er zunächst nur flüchtig, kaum merklich wie die Berührung einer Spinnwebe, verspürt hatte, verstärkte sich, düstere Stacheldrahtzäune wuchsen zwischen ihm und der Welt empor, der Welt, die er so geliebt hatte. Alles hat seinen Preis, dachte er, nichts bekommt man umsonst, und je mehr man bekommen hat, um so höher ist der Preis. Für das neue Leben muß man mit dem alten Leben bezahlen ... Wie rasend kratzte er seine Arme und riß die Haut auf, ohne es zu bemerken. Diana war ins Zimmer getreten. Sie hatte nicht angeklopft. Sie warf ihren Regenmantel ab und blieb mit einem verführerischen Lächeln vor ihm stehen. Dann hob sie die Hände und machte ihre Haare zurecht. »Ich bin ganz erfroren«, sagte sie. »Ist es gestattet, sich hier aufzuwärmen?« »Ja«, sagte er, ohne recht zu verstehen, was sie gesagt hatte.
Sie knipste das Licht aus, und er sah sie nicht mehr. Er hörte nur, wie der Schlüssel im Schlüsselloch gedreht wurde, wie sie ihr Kleid aufknöpfte, das gleitende Rascheln des Stoffs und das Plumpsen der Schuhe, die auf den Fußboden abgeschüttelt wurden. Dann war sie neben ihm, warm, seidenglatt, duftend ... Er hatte nur den einen Gedanken, daß jetzt alles zu Ende war - der ewige Regen, die düsteren Häuser mit den durchlöcherten Dächern, die fremden, unbekannten Menschen in der nassen, schwarzen Kleidung, mit nassen Gesichtsbinden ... jetzt würden sie die Binden, die Handschuhe und die Gesichter abnehmen, alles in speziellen Schränkchen verstauen. Ihre Arme würden sich mit eitrigen Geschwüren überziehen. Eine einzige Qual, Schrecken und Einsamkeit.. . Diana schmiegte sich an ihn, und er umarmte sie, wie er es immer tat. Sie war die gleiche, doch er war nicht mehr der frühere, er konnte nicht mehr, weil er nichts mehr brauchte. »Was ist mit dir, Kleiner?« fragte Diana zärtlich. »Ein Glas zuviel?« Behutsam loste er ihren Arm von seinem Hals. Schrecken hatte ihn erfaßt. »Warte«, sagte er. »Warte!« Er stand auf, ertastete den Schalter, knipste das Licht an und blieb einige Sekunden mit dem Rücken zu ihr stehen. Er konnte sich nicht entschließen, sich umzudrehen, doch dann überwand er sich. Diana war wunderschön. Sie war wahrscheinlich noch schöner als sonst, aber das war sie immer. Heute jedoch war sie wie ein Bild. Das flößte Stolz auf das Menschengeschlecht ein, der Betrachter war hingerissen von dieser menschlichen Vollkommenheit. Aber das hatte jetzt nichts mehr zu bedeuten. Sie blickte ihn an, hob erstaunt die Augenbrauen, erschrak dann offensichtlich, denn sie setzte sich ganz plötzlich hin, und er sah, daß sich ihre Lippen bewegten. Sie sagte etwas, aber er hörte es nicht. »Warte«, wiederholte er. »Das kann nicht sein. Warte!« In fieberhafter Eile zog er sich an und murmelte unablässig: »Warte, warte«, aber er dachte nicht mehr an sie, es ging ja nicht nur um sie. Er rannte in den Korridor hinaus, prallte gegen die verschlossene Zimmertür Golems, war zunächst ratlos, wohin er sich wenden sollte, dann stürzte er hinunter ins Restaurant. Ich brauche das nicht, sagte er immer wieder, ich brauche das nicht. Ich habe nicht darum gebeten. Gott sei Dank befand sich Golem am gewohnten Platz. Er saß da, einen Arm hinter der Stuhllehne, und hielt ein Glas Kognak gegen das Licht. Doktor R. Quadriga, rot angelaufen und aggressiv, schrie beim Anblick Viktors über den ganzen Saal: »Diese nassen Schweine. Fort damit!« Viktor ließ sich auf seinen Stuhl fallen, und Golem goß ihm wortlos Kognak ein. »Golem«, sagte Viktor. »Ach, Golem, ich habe mich angesteckt!« »Spülungen!« verkündete Dr. Quadriga. »Mir auch.«
»Trinken Sie den Kognak aus, Viktor!« sagte Golem. »Und regen Sie sich wieder ab!« »Hol Sie der Teufel!« sagte Viktor und blickte ihn schreckerfüllt an. »Ich habe die Augenkrankheit. Was soll ich tun?« »Schon gut, schon gut«, sagte Golem. »Trinken Sie trotzdem mal.« Er hob den Finger und rief dem Ober zu: »Sodawasser! Und noch etwas Kognak.« »Golem«, sagte Viktor verzweifelt. »Sie begreifen nicht. Ich kann nicht. Ich bin krank, sage ich Ihnen. Ich habe mich angesteckt! Das ist unfair... Ich wollte nicht... Sie haben doch gesagt, daß es nicht ansteckend ist...« Er erschrak bei dem Gedanken, daß er wirres Zeug sprach, daß Golem ihn nicht verstehen könnte und denken würde, er wäre ganz einfach besoffen. So streckte er Golem seine Arme unter die Nase. Das Glas kippte um, rollte über den Tisch und fiel zu Boden. Golem prallte zuerst zurück, dann blickte er genauer hin, nahm Viktors Hände an den Fingerspitzen und betrachtete die zerkratzte, pustelübersäte Haut. Seine Finger waren kalt und fest. Jetzt ist es aus, dachte Viktor, das war die erste ärztliche Untersuchung, weitere Untersuchungen würden folgen, ebenso verlogene Versicherungen, es gebe noch Hoffnung, Beruhigungsmixturen. Dann würde er sich abfinden, es würden keine Untersuchungen mehr durchgeführt werden, und man würde ihn ins Leprosorium bringen, seinen Mund mit einem schwarzen Lappen umwickeln, und das wäre das Ende. »Haben Sie Erdbeeren gegessen?« fragte Golem. »ja«, antwortete Viktor gehorsam. »Gartenerdbeeren.« »Und da haben Sie wohl zwei Kilo verdrückt, was?« »Was haben die Erdbeeren damit zu tun?« schrie Viktor und riß seine Hände los. »Unternehmen Sie was! Unmöglich, daß es schon zu spät ist. Es hat gerade erst angefangen ...« »Hören Sie mit Ihrem Geschrei auf! Sie haben Nesselausschlag. Eine Allergie. Sie dürfen Erdbeeren nicht in solchen Unmengen fressen.« Viktor begriff noch nicht. Er betrachtete seine Arme und murmelte: »Sie haben doch selbst gesagt... Bläschen ... Ausschlag . . . « »Bläschen kommen auch von Wanzen«, sagte Golem belehrend. »Gegen einige Substanzen sind Sie überempfindlich. Und Ihre Fantasie übersteigt Ihre Verstandeskräfte. Wie bei den meisten Schriftstellern. So mir nichts, dir nichts ein Naßmann. Daß ich nicht lache . . .« Viktor lebte auf. Noch einmal davongekommen, durchzuckte es ihn. Ich glaube, ich bin davongekommen. Sollte das stimmen, weiß ich nicht, was ich tun werde. Ich höre mit dem Rauchen a u f . . . »Und Sie belügen mich auch nicht?« fragte er mit kläglicher Stimme. Golem grinste. »Trinken Sie einen Schluck Kognak!« schlug er vor. Bei Allergien ist Kognak zwar
verboten, aber trinken Sie trotzdem! Sie bieten einen jammervollen Anblick.« Viktor ergriff sein Glas, kniff die Augen zusammen und trank es aus. Gar nicht so schlimm; so eine leichte Übelkeit, aber das kommt wohl von meinem Kater. Das geht gleich vorbei. Und so war es auch. »Mein lieber Schriftsteller«, sagte Golem. »Um Architekt zu werden, genügen einige Bläschen nicht.« Der Ober stellte Kognak und Sodawasser auf den Tisch. Viktor seufzte tief und frei auf, sog den bekannten Restaurantgeruch in sich ein und roch wundervoll aromatischen Tabakrauch, marinierte Zwiebel, angebranntes Fett und gebratenes Fleisch. Das Leben kehrte zurück. »Mein Freund«, sagte er zum Ober. »Eine Flasche Gin, Zitronensaft, Eis und vier Portionen Neunaugen auf Zimmer 216. Und zwar rasch. . . Ihr Alkoholiker«, sagte er zu Golem und Dr. Quadriga. »Ihr verdammten Restaurantratten. Hol euch der Teufel, ich gehe zu Diana!« Er hätte sie abküssen mögen. Golem sagte, ohne sich an jemanden zu wenden: »Armes, wunderbares Entchen!« Einen Augenblick lang empfand Viktor Bedauern. Die Erinnerung an irgendwelche gewaltige, verpaßte Möglichkeiten stieg hoch in ihm und verschwand. Aber er lachte nur, gab dem Stuhl einen Stoß und schritt zum Ausgang. 12 Ein Jahr nach Kriegsende wurde Oberleutnant B. wegen Verwundung aus der Armee entlassen. Man hängte ihm die >Victo- ria-Medaille< um, speiste ihn mit einer monatlichen finanziellen Zuwendung ab und überreichte ihm einen Karton mit einem Geschenk des Herrn Präsidenten: eine Flasche eines erbeuteten Schnapses, zwei Blechkonserven mit Straßburger Gänseleberpastete, zwei Stangen geräucherter Pferdewurst sowie erbeutete Seidenhöschen für das Familienglück. Als er in die Hauptstadt kommt, läßt der Oberleutnant den Kopf nicht hängen. Er ist ein guter Mechaniker; man würde ihn jederzeit in den Universitätswerkstätten anstellen, von wo er sich als Freiwilliger gemeldet hat. Aber er läßt sich Zeit. Er frischt alte Bekanntschaften auf, knüpft neue an und vertrinkt in der Zwischenzeit den Plunder, den er beim Feind als Reparation konfisziert hat. Auf einer Party trifft er eine Frau mit Namen Nora, die Diana sehr ähnlich ist. Beschreibung der Party: ausgeleierte Vorkriegsschallplatten, Spiritus aus Küchenabfällen, eingewecktes Fleisch aus Amerika, Seidenblusen auf nackter Haut und Karotten aller Art. Der Oberleutnant verjagt mit Hilfe seines Medaillengescheppers im Handumdrehen verschiedene Zivilpersonen, die Nora unablässig gekochte Karotten anbieten, und leitet eine ordnungsgemäße Belagerung ein. Nora verhält sich seltsam. Einerseits ist sie offenbar gar nicht abgeneigt; andererseits gibt sie ihm zu
verstehen, daß es gefährlich sei, sich mit ihr einzulassen. Der durch den Spiritus erhitzte Exoberleutnant will von nichts wissen. Sie verlassen die Party und begeben sich zu Nora. Die nächtliche Nachkriegshauptstadt: vereinzelte Laternen, schlaglochübersäte Fahrbahnen, abgesperrte Ruinen, der unvollendete Zirkusbau, in dem sechstausend Gefangene unter der Bewachung von zwei Invaliden schmachten, in einer stockdunklen Gasse ein Straßenraub. Nora wohnt in einem alten zweistöckigen Haus. Die Treppe ist verunreinigt, an einer Tür eine Kreideaufschrift: »Hier wohnt ein deutscher Schäferhund.« In einem langen Gang, der durch allerlei Gerümpel verstellt ist, drücken sich abgerissene Gestalten in den Schatten. Nora rasselt mit einer Vielzahl von Schlüsseln, sperrt ihre Tür auf, die wie durch ein Wunder ihren glänzenden Lederbeschlag bewahrt hat. Im Vorzimmer spricht sie nochmals eine Warnung aus, doch B., in der Annahme, es handle sich um irgendeine krumme Sache, antwortet darauf lediglich, er habe in einer Kavallerietruppe gegen Panzer gekämpft. Die kleine Wohnung macht einen für die damalige Zeit sauberen und gemütlichen Eindruck und ist mit einem gewaltigen Diwan ausgestattet. Nora blickt den Oberleutnant mit einem gewissen Mitgefühl an, entfernt sich für kurze Zeit und kehrt in höchst verführerischem Aufzug mit einer angebrochenen Kognakflasche zurück. Es stellt sich heraus, daß sie nur eine halbe Stunde zur Verfügung haben. Nach Ablauf dieser Zeit verläßt der Oberleutnant befriedigt und in der Hoffnung auf ein erneutes Treffen die Räumlichkeit. Am Ende des Gangs erwartet man ihn bereits. Es handelt sich um zwei der abgerissenen Gestalten aus dem Schatten. Widerlich grinsend stellen sie sich ihm in den Weg und schlagen ein Gespräch vor. Der Oberleutnant beginnt ohne überflüssige Worte Schläge auszuteilen und erringt einen unerwartet leichten Sieg. Die zu Boden Geschlagenen erläutern dem Oberleutnant unter Weinen und Kichern seine Lage. Der Exoberleutnant habe seine Freunde geschlagen. Alle seien sie jetzt Freunde. Nora sei nicht nur eine verführerische Frau, sondern auch die Königin der Hauptstadtwanzen. »Jetzt ist es aus mit Ihnen, Herr Offizier; wir treffen uns dann im >Atakam<, alle kommen wir dort zusammen, jede Nacht. Gehen Sie heim, und wenn Sie es nicht mehr aushalten, kommen Sie, wir haben bis zum Morgen geöffnet!« Am westlichen Stadtrand wohnt in einem einträglichen Haus neben einer chemischen Fabrik der mit Kinderreichtum gesegnete Titularrat B. Absichtlich detaillierte und absichtlich langweilige Beschreibung der Lebensumstände des Helden: drei Zimmerchen, Küche, Vorzimmer, abgearbeitete Frau, fünf grünliche Kinder, stämmige alte Schwiegermutter, die aus dem Dorf hierhergezogen ist. Die chemische Fabrik verbreitet Gestank, Tag und Nacht ragen verschiedenfarbige Rauchsäulen in den Himmel; der giftige Gestank läßt Bäume absterben und Gras welken, und verursacht bizarre Mutationen bei den Fliegen. Einige Jahre schon führt der Titularrat eine Kampagne mit dem Ziel, die
Fabrik zu bändigen. Er überhäuft die Verwaltung mit zornigen Forderungen, schickt rührselige Petitionen an alle Instanzen, veröffentlicht vernichtende Feuilletons in allen Zeitungen und versucht vergeblich, am Werkeingang Streikposten zu organisieren. Die Fabrik steht unerschütterlich wie eine Bastion. An der Uferstraße vor der Fabrik brechen Wachtposten infolge Vergiftung tot zusammen; Haustiere gehen ein; ganze Familien verlassen ihre Wohnungen und ziehen wie Landstreicher herum, in den Zeitungen erscheint ein Nekrolog auf den vor der Zeit verschiedenen Fabrikdirektor. Die Frau des Titularrats B. stirbt, die Kinder erkranken, eins nach dem anderen an Bronchialasthma. Eines Abends, als er in den Keller geht, um Holz zu holen, entdeckt der Titularrat einen Granatwerfer und gewaltige Minen Vorräte, die noch aus der Zeit des Widerstands stammen. In derselben Nacht schleppt er alles auf den Speicher und öffnet das Dachfenster. Die Fabrik liegt ausgebreitet vor ihm: im grellen Licht der Scheinwerfer eilen Arbeiter hin und her, rollen Loren, schweben gelbe und grüne Schwaden giftigen Rauchs. »Ich werde dich vernichten«, flüstert der Titularrat und eröffnet das Feuer. An diesem Tag erscheint er nicht zum Dienst, ebensowenig am nächsten Tag. Er schläft und ißt nicht mehr; er sitzt in der Hocke vor dem Dachfenster und schießt. Von Zeit zu Zeit legt er eine Pause ein, damit sich das Rohr des Granatwerfers abkühlen kann. Er ist taub von den Schüssen und blind vom Pulverrauch. Manchmal scheint es ihm, als wäre der chemische Gestank schwächer geworden. In diesen Augenblicken lächelt er, fährt sich mit der Zunge über die Lippen und flüstert: »Ich werde dich vernichten.« Dann fällt er erschöpft zusammen und schläft ein. Beim Aufwachen sieht er, daß die Granaten fast aufgebraucht sind. Drei Stück sind noch übrig. Er feuert sie ab und schaut zum Fenster hinaus. Der großflächige Fabrikhof ist mit Granattrichtern übersät, zerschossene Fenster gähnen ihn an, an den Seiten der gigantischen Gasbehälter sind dunkle, eingebeulte Stellen erkennbar. Der Hof ist mit einem komplizierten System von Schützengräben durchzogen. In diesen Gräben bewegen sich die Arbeiter in kurzen Sprüngen. Die Loren fahren schneller als früher, die Fahrer der Elektrokarren sind durch Eisenplatten geschützt, und wenn der Wind die giftigen Dampfschwaden forttreibt, wird an der Ziegelwand der Fabrikverwaltung eine frische, weiße Aufschrift sichtbar: »Achtung! Bei Beschuß ist diese Seite besonders gefährdet!« Viktor las sich die letzte Seite durch, zündete sich eine Zigarette an und schaute auf den Bogen, der in die Schreibmaschine eingespannt war. Dort standen nur anderthalb Zeilen zu lesen: »Als der Journalist B. die Redaktion verließ, wollte er ein Taxi nehmen, überlegte es sich jedoch anders und stieg zur U-Bahn hinunter.« Viktor wußte ganz genau, was mit dem Journalisten B. anschließend geschehen würde, aber er konnte nicht mehr schreiben. Die Uhr zeigte
dreiviertel drei. Viktor stand auf und öffnete weit das Fenster. Draußen war es stockfinster und der Regen glitzerte in der Dunkelheit. Viktor rauchte die Zigarette zu Ende, schnippte die Kippe in die Nacht hinaus und rief den Portier an. Eine unbekannte Stimme meldete sich: Viktor erkundigte sich, welcher Wochentag es sei. Die unbekannte Stimme teilte zögernd mit, es sei jetzt die Nacht von Freitag auf Samstag. Viktor kniff die Augen zusammen, legte den Hörer auf und riß entschlossen den Bogen aus der Schreibmaschine. Er hatte genug. Zwei volle Tage saß er nun bereits ohne Unterbrechung gekrümmt da, ohne jemanden zu sehen oder zu sprechen, mit abgestelltem Telefon, ohne auf Klopfen zu reagieren, ohne Diana, ohne Alkohol, und, wie ihm schien, auch ohne Essen. Er legte sich lediglich von Zeit zu Zeit ins Bett, um im Traum die Wanzenkönigin zu sehen, wie sie über dem Türrahmen saß und ihren schwarzen Schnurrbart bewegte... Ich habe genug... Der Journalist B. wartet am Bahnsteig, bis sein Zug mit dem Schild >Nicht einsteigen< einfährt. Nichts passiert ihm. Und wir wollen erst mal eine Kleinigkeit zu uns nehmen, das haben wir verdient, bei Gott... Viktor räumte die Schreibmaschine weg, versteckte das Manuskript im Tisch und tastete die leere Bar ab. Dann kaute er eine frische Semmel mit Marmelade und machte sich bittere Vorwürfe, daß er am Vortag eine halbe Flasche Brandy in den Ausguß geschüttet hatte, um Versuchungen vorzubeugen. Er freute sich, daß er den Zyklus »Hinter den Kulissen einer großen Stadt< trotz allem begonnen hatte. Es war kein schlechter Beginn, sogar ein wunderbarer Beginn. Alles in allem zufriedenstellend. Allerdings würde er es sicher umschreiben müssen. Merkwürdig ist es trotzdem, dachte er, warum sind mir diese Erzählungen gerade jetzt von der Hand gegangen? Warum nicht vor einem Jahr oder vor zwei Jahren, als ich sie mir ausdachte? Jetzt müßte ich über einen Gestorbenen schreiben, der sich einbildet, ein Supermann zu sein. Ich hatte ja auch damit begonnen. Aber das ist mir schon öfter passiert. Und wenn ich es mir recht überlege und mich gut erinnere, dann ist es immer so. Und eben deswegen ist es unmöglich, auf Bestellung zu schreiben. Da fängt man an, einen Roman über die Jugendjahre des Präsidenten zu schreiben, und heraus kommt ein Werk über eine unbewohnte Insel, auf der seltsame Affen leben, die sich nicht von Bananen, sondern von den Gedanken Schiffbrüchiger ernähren... Hier besteht natürlich, sagen wir, nur eine oberflächliche Beziehung. Aber woher denn, eine Beziehung besteht immer. Man muß nur tief genug schürfen; doch wer hätte schon Lust dazu, wenn er nach zweitägiger Enthaltsamkeit einen trinken will. Ich gehe jetzt runter; beim Portier findet sich immer was Flüssiges. Ich esse das noch auf und gehe runter... Viktor zuckte plötzlich zusammen und hörte zu kauen auf. Aus dem schwarzen Abgrund hinter dem Fenster drang durch das Regengeplätscher ein Geräusch
zu ihm, als würde man mit einem Hammer auf ein Brett schlagen... Da wird geschossen, dachte Viktor verwundert. Einige Zeit horchte er gespannt zu. ... Schön und recht, aber was wollte der Autor mit seinen Werken ausdrücken? Wozu mußte er die schwierigen Nachkriegszeiten wieder erstehen lassen, als vereinzelt noch Wanzen und leichtlebige Frauen anzutreffen waren? Vielleicht wollte der Autor den heldenhaften und festen Charakter der Hauptstadt zeigen, die unter der Führung Seiner Exzellenz... Daraus wird nichts, Herr Banev! Das lassen wir nicht zu! Alle Welt weiß, daß auf direkte Anordnung des Herrn Präsidenten den Eigentümern chemischer Fabriken, die die Luft verunreinigen, eine Geldstrafe auferlegt wird, und zwar allein in der Hauptstadt in Höhe von... Daß dank des persönlichen und unermüdlichen Bemühens des Herrn Präsidenten mehr als hunderttausend Kinder aus der Hauptstadt jährlich in Lager aufs Land fahren... daß gemäß der Rangliste Beamte, die rangmäßig unter dem Hofrat stehen, nicht das Recht haben, Unterschriften für Petitionen zu sammeln... In diesem Augenblick ging das Licht aus. »He!« sagte Viktor laut. Die Lampe leuchtete wieder auf, aber nur mit halber Kraft. »Was soll das?« fragte Viktor, aber es wurde nicht heller. Er wartete eine Weile und rief dann den Portier an. Niemand meldete sich. Man sollte das Elektrizitätswerk anrufen, aber zu diesem Zweck müßte man das Telefonbuch finden, und wo sollte man mit der Suche beginnen, und überhaupt war es Zeit, sich hinzulegen. Jetzt tastete jemand mit den Händen über die Tür. Dann begann man, gegen die Tür zu schlagen. »Wer ist da?« fragte Viktor. Er erhielt keine Antwort. Es war nur Schlagen und Schnaufen zu hören. Viktor wurde es unheimlich. Die von einem rötlichen Zwielicht erleuchteten Wände erschienen ihm fremd und sonderbar, in den Ecken hatten sich zu viele Schatten zusammengebraut und an der Tür machte sich etwas Großes, Plumpes und Widersinniges zu schaffen. Womit könnte ich ihn. . . ? dachte Viktor und blickte sich suchend um. Doch da flüsterte es heiser hinter der Tür: »Banev, he, Banev! Bist du da?« »Idiot«, murmelte Viktor halblaut, ging in den Vorraum und drehte den Schlüssel im Schloß. Ins Zimmer stürzte Dr. Quadriga. Er war im Schlafrock; die Haare hingen ihm wirr durcheinander, seine Augen flogen. »Gott sei Dank, daß wenigstens du hier bist«, sprudelte es aus ihm hervor. »Sonst wäre ich vor Angst schon verrückt geworden... Paß auf, Banev, wir müssen abhauen... Komm, gehen wir weg von hier, Banev!« Er packte Viktor am Hemd und zog ihn auf den Korridor hinaus. »Gehen wir, länger kann man hier nicht...« »Du bist übergeschnappt«, sagte Viktor und riß sich los. »Geh schlafen, alter Knacker! Es ist drei.«
Quadriga faßte ihn erneut am Hemd. Viktor stellte zu seiner Verwunderung fest, daß der Doktor honoris causa vollkommen nüchtern war. Nicht einmal eine Fahne hatte er. »Schlafen geht jetzt nicht«, sagte Quadriga. »Aus diesem verfluchten Haus müssen wir abhauen. Du siehst doch, was mit dem Licht los ist. Hier gehen wir d r a uf . . . Überhaupt müssen wir aus der Stadt raus. Ich habe in meiner Villa einen Wagen. Gehen wir! Ich würde auch allein fahren, aber ich habe Angst rauszugehen ...« »Warte, und lang mich nicht an!« sagte Viktor. »Beruhige dich erst mal!« Er zog Quadriga ins Zimmer zurück, drückte ihn auf einen Stuhl und ging dann ins Bad, um ein Glas Wasser zu holen. Quadriga sprang sofort auf und lief hinterher. »Wir beide sind hier allein, kein Mensch ist mehr hier«, sagte er. »Golem ist weg, der Pförtner ist weg, der Direktor auch . . . « Viktor drehte den Wasserhahn auf. Im Rohr gurgelte es, und ein paar Tropfen kamen heraus. »Was brauchst du denn?« fragte Quadriga. »Wasser? Gehen wir zu mir, ich habe eine ganze Flasche! Nur schnell! Und zusammen!« Viktor rüttelte am Wasserhahn. Ein bißchen Wasser tropfte heraus, und das Gurgeln verstummte. »Was ist los?« fragte Viktor. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. »Ist Krieg?« Quadriga machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was heißt hier Krieg ... Abhauen müssen wir, bevor es zu spät ist, und der redet da von Krieg . . . « »Warum abhauen?« »Darum«, sagte Quadriga mit idiotischem Kichern. Viktor schob ihn mit dem Ellbogen weg, ging zum Zimmer hinaus und begab sich nach unten zum Portier. Quadriga trippelte hinterher. »Hör zu!« murmelte er. »Laß uns durch den Hintereingang... Nur raus! Dort habe ich einen Wagen. Ich habe vollgetankt und gepackt... Als ich spürte... Trinken wir ein Schnäpschen und fahren wir!« Hier ist nämlich kein Tropfen übriggeblieben. . . « Düster wie rote Zwerge schimmerten die Deckenleuchten im Korridor; im Treppenhaus brannte überhaupt kein Licht, ebensowenig im Vestibül. Nur über der Portiersloge flackerte ein Lämpchen. Dort saß jemand, aber es war nicht der Portier. »Gehen wir, gehen wir!« sagte Quadriga und zerrte Viktor zum Ausgang. »Nicht dorthin, dort ist es unheimlich . . . « Viktor machte sich los und schritt zur Portiersloge. »Was ist das hier für ein Saustall?« begann er und verstummte. In der Loge saß Sursmansor und kritzelte in ein dickes Heft.
»Banev«, sagte er, ohne den Kopf zu heben. »Das wär's, Banev! Leben Sie wohl! Und vergessen Sie unser Gespräch nicht!« »Ich habe nicht vor, zu verreisen«, widersprach Viktor. Seine Stimme schwankte. »Ich möchte wissen, was mit dem Strom und dem Wasser los ist! Ist das Ihre Arbeit?« Sursmansor hob sein gelbes Gesicht. »Nein«, sagte er, »Wir arbeiten nicht mehr. Leben Sie wohl, Banev!« Er streckte Viktor seine behandschuhte Hand hin. Viktor ergriff sie mechanisch, spürte einen Druck und erwiderte ihn. »So ist das Leben«, sagte Sursmansor. »Die Zukunft wird von dir geschaffen, aber nicht für dich. Das haben Sie sicher schon begriffen. Oder Sie werden es bald begreifen. Das betrifft Sie mehr als uns. Leben Sie wohl!« Er nickte und begann wieder zu schreiben. »Gehen wir!« zischte Quadriga an Viktors Ohr. »Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte Viktor überlaut ins Vestibül hinein. Er wollte sich nicht als Nebenperson betrachten. Nicht er war hier nebensächlich, und wozu saß Sursmansor um drei Uhr nachts in der Portiersloge? »Sie brauchen mich nicht einzuschüchtern, ich bin kein Quadriga . . . « Aber Sursmansor hörte nichts, oder wollte nichts hören. Viktor zuckte demonstrativ die Achseln, drehte sich um und schritt zum Restaurant. An der Tür blieb er unvermittelt stehen. Der Saal wurde vom trüben Licht der Tischlampen, vom trüben Licht des Lüsters und vom trüben Licht der Wandleuchter erhellt. Der Saal war voll besetzt. An den Tischen saßen Naß- märiner. Sie sahen alle gleich aus und unterschieden sich nur in der Sitzhaltung. Die einen lasen, die anderen schliefen; viele blickten gleichsam erstarrt ins Leere. Die nackten Schädel schimmerten. Es roch nach Nässe und Medikamenten. Die Fenster standen weit offen, auf dem Fußboden stand dunkles Wasser. Kein Laut war zu hören; nur von draußen drang das Plätschern des Regens in die Stille... Vor Viktor tauchte Golem auf. Er wirkte erschöpft, besorgt und alt. »Wieso sind Sie noch da?« fragte er halblaut. »Gehen Sie, hier dürfen Sie nicht bleiben.« »Was heißt hier, ich darf nicht?« sagte Viktor gereizt. »Ich will was trinken.« »Leiser«, sagte Golem. »Ich dachte, Sie wären schon weg. Ich habe bei Ihnen angeklopft. Wo wollen Sie jetzt hin?« »Auf mein Zimmer. Ich hole mir eine Flasche und gehe aufs Zimmer.« »Hier gibt es keinen Alkohol«, sagte Golem. Viktor deutete wortlos auf die Bar, wo Flaschenreihen matt glänzten. Golem wandte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Leider.« »Ich will was trinken!« wiederholte Viktor hartnäckig.
Aber er fühlte keine Festigkeit in sich. Trotzdem spielte er den Tapferen. Die Naßmänner blickten zu ihm herüber. Die Lesenden ließen die Bücher sinken, die Erstarrten drehten ihm ihre Schädel zu, nur die Schlafenden schliefen weiter. Dutzende glänzender Augen blickten ihn an, als würden sie frei im rötlichen Dämmerlicht hängen. »Gehen Sie nicht aufs Zimmer!« sagte Golem. »Verschwinden Sie aus dem Restaurant. Gehen Sie zu Lola ... oder zum Doktor in die Villa ... Nur daß ich weiß, wo Sie sich befinden. Ich hole Sie ab ... Hören Sie, Viktor! Seien Sie nicht so halsstarrig! Tun Sie, was ich Ihnen sage! Zum Erzählen ist jetzt keine Zeit. Es wäre auch anstößig. Schade, daß Diana nicht da ist, sie würde das bestätigen...« »Wo ist Diana?« Golem blickte wieder um sich und schaute auf die Uhr. »Um vier... oder um f ü nf . . . sie wird um diese Zeit an der Autostation bei der Sonnenpforte sein.« »Wo ist sie jetzt?« »Jetzt hat sie zu tun.« »So«, sagte Viktor und schaute ebenfalls auf die Uhr. Er wäre gern gegangen. Es war unerträglich, hier zu stehen und die Aufmerksamkeit dieser lautlosen Versammlung auf sich gerichtet zu sehen. »Vielleicht um sechs«, sagte Golem. »Gehen Sie in die Villa und warten Sie dort!« »Ich habe den Eindruck, Sie wollen mich ganz einfach hinauskomplimentieren«, sagte Viktor. »Ja«, sagte Golem. Plötzlich schaute er Viktor interessiert ins Gesicht. »Victoire, sollten Sie etwa nicht die geringste Lust verspüren, von hier wegzukommen?« »Schlafen will ich«, sagte Viktor lässig. »Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen.« Er faßte Golem an einem Knopf und zog ihn ins Vestibül. »Schon gut, ich gehe«, sagte er. »Aber was ist das für eine Dämonen Versammlung? Habt ihr euren Kongreß hier?« »Ja«, sagte Golem. »Oder habt ihr euren Aufstand gemacht?« »Ja«, sagte Golem. »Oder ist vielleicht der Krieg ausgebrochen?« »Ja«, sagte Golem. »Ja, ja, ja. Scheren Sie sich endlich fort von hier!« »Gut«, sagte Viktor. Er wandte sich zum Gehen, hielt aber inne. »Und Diana?« fragte er. »Ihr droht keine Gefahr. Jedenfalls bis sechs. Vielleicht bis sieben.« »Sie sind mir für Diana verantwortlich«, sagte Viktor leise. Golem zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Hals. »Ich bin für alles verantwortlich«, sagte er. »Ja? Mir wäre es lieber, wenn Sie nur für Diana verantwortlich wären.«
»Sie gehen mir auf die Nerven«, sagte Golem. »Mensch, wie Sie mir auf den Wecker fallen, Sie schönes Entlein! Diana ist bei den Kindern. Diana droht nicht die geringste Gefahr. Und gehen Sie jetzt! Ich habe zu tun.« Viktor drehte sich um und ging zur Treppe. Sursmansor war nicht mehr in der Portiersloge. Nur das Lämpchen flackerte über dem dicken Wachstuchheft. »Banev«, rief Dr. Quadriga aus einer dunklen Ecke. »Wohin willst du? Gehen wir!« »Ich kann doch nicht in meinen Pantoffeln in den Regen raus«, gab Viktor wütend zur Antwort, ohne sich umzudrehen. Rausgesperrt haben sie uns, ging ihm durch den Sinn, aus dem Hotel rausgesperrt. Vielleicht haben sie uns auch aus dem Rathaus rausgesperrt. Oder vielleicht aus der Stadt... Und wie soll es weitergehen? Im Zimmer zog er sich rasch um und warf den Regenmantel über. Quadriga stolperte ihm ständig zwischen die Beine. »Du willst also im Schlafrock gehen?« fragte Viktor. »Der ist warm«, sagte Quadriga. »Und zu Hause habe ich noch einen.« »Quatschkopf! Geh und zieh dich um!« »Ich gehe nicht«, sagte Quadriga fest. »Gehen wir zusammen«, schlug Viktor vor. »Nein. Auch zusammen nicht. Keine Angst, das geht schon... Ich bin dran gewöhnt...« Quadriga war wie ein Pudel, der darauf brennt, spazierenzugehen. Er hüpfte umher, blickte in die Augen, schnaufte vernehmlich, zerrte an der Kleidung, lief zur Tür und kam zurück. Es war zwecklos, ihn zu überzeugen. Viktor gab ihm seinen alten Regenmantel und überlegte. Er zog aus der Tischschublade Papiere und Geld heraus, verstaute alles in seinen Taschen, schloß das Fenster und löschte das Licht. Dann ergab er sich dem Willen Quadrigas. Der Doktor honoris causa zog den Kopf ein und zerrte Viktor energisch den Korridor entlang, die Diensttreppe hinunter, an der dunklen, kalten Küche vorbei, und stieß ihn durch die Türe in den strömenden Regen und die rabenschwarze Nacht. Er selbst folgte. »Gott sei Dank, wir sind draußen«, sagte er. »Laufen wir!« Aber laufen konnte er nicht. Er geriet in Atemnot, und es war zudem so dunkel, daß sie sich nur tastend an Mauern und Wänden entlang bewegen konnten. Die ungefähre Richtung ließ sich allenfalls an den Straßenlaternen erkennen, die nur mit halber Kraft brannten; und dann drang noch vereinzelt rötliches Licht durch Vorhangritzen auf die Straße. Es goß ununterbrochen, doch die Straßen waren nicht völlig menschenleer. Vereinzelt sah man Menschen, die sich halblaut unterhielten; irgendwo krähte ein Säugling; ein paarmal fuhren schwere Lastwagen vorbei; ein Fuhrwerk rollte mit eisenbeschlagenen Rädern lärmend über den Asphalt. »Alle machen sich aus dem Staub«, murmelte Quadriga. »Alle hauen ab. Nur wir trödeln...« Viktor schwieg. Unter den Füßen
gluckste es. Die Schuhe waren bald durchnäßt; über das Gesicht lief lauwarmes Wasser. Quadriga hing an Viktor wie eine Zecke. Es war ein hirnverbranntes, dilettantisches Unterfangen, und sie mußten noch durch die ganze Stadt. Viktor stieß gegen ein Abflußrohr, etwas knirschte, Quadriga mußte loslassen und schrie jämmerlich über die ganze Straße: »Banev! Wo bist du?« Während sie in der Dunkelheit sich tastend suchten, ging über ihnen ein Fensterchen auf, und eine gedämpfte Stimme fragte: »Nun, was hört man?« »Dunkel ist es«, antwortete Viktor. »Genau!« stimmte die Stimme begeistert zu. »Und kein Wasser... Gut, daß wir eine Wanne voll gesammelt haben.« »Und was wird sein?« fragte Viktor und hielt den weiterdrängenden Quadriga fest. Nach kurzem Schweigen sagte die Stimme: »Die Evakuierung werden sie verkünden, nichts anderes... Ein Leben ist das!« Und das Fensterchen schlug zu. Sie schleppten sich weiter. Quadriga, der sich mit beiden Händen an Viktor festhielt, begann einen verworrenen Bericht darüber, wie er vor Schrecken erwacht sei, sich nach unten begeben habe und des Hexensabbats ansichtig geworden s ei . . . Sie stießen in der Dunkelheit gegen einen Lastwagen, bewegten sich tastend um ihn herum, und stießen gegen einen Menschen, der eine Last trug. Quadriga brüllte erneut los. »Was ist denn?« fragte Viktor wütend. »So ein Schlägertyp«, teilte Quadriga gekränkt mit. »Direkt in die Leber. Mit einem Kasten.« Auf den Gehsteigen standen kreuz und quer Fahrzeuge, Kühlschränke und Topfpflanzengestrüpp. Quadriga landete in einem offenstehenden Spiegelschrank, dann verhedderte er sich in einem Fahrrad. In Viktor begann es zu kochen. An einer Straßenecke wurden sie angehalten und mit einer Taschenlampe angeleuchtet. Nasse Soldatenhelme erglänzten, dann schnarrte eine grobe Stimme mit südlichem Akzent: »Militärpatrouille. Ihre Ausweise!« Quadriga hatte natürlich keinen bei sich, und er begann sofort zu schreien, er sei Doktor, sei Laureat, kenne persönlich ... Die grobe Stimme sagte verächtlich: »Lausige Zivilisten. Laßt sie durch!« Sie überquerten den Stadtplatz. Vor der Polizeibehörde stauten sich Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern. Goldbehemdete Jünglinge liefen wie sinnlos durcheinander, und ihre kupfernen Feuerwehrhelme blitzten. Laute, unverständliche Kommandos erschollen. Das Zentrum der Panik lag allem Anschein nach hier. Der Widerschein der Scheinwerfer erleuchtete noch kurze Zeit die Straße, dann wurde es wieder dunkel. Quadriga hatte aufgehört, vor sich hin zu murmeln. Er keuchte und stöhnte nur
noch. Einigemal fiel er hin, wobei er Viktor mitriß. Sie waren verdreckt wie Schweine. Viktor war völlig abgestumpft und fluchte nicht mehr. Schicksalsergebenheit und Apathie hatten sein Bewußtsein eingehüllt. Er mußte nur gehen, heute gehen und morgen gehen, Entgegenkommende wegstoßen, Quadriga ständig aufs neue am Kragen seines wasserschweren Morgenrocks auf die Beine stellen. Was er nicht durfte, war stehenbleiben und schon gar nicht zurückgehen. Eine verschwommene Erinnerung ging ihm durch den Sinn, etwas lange Zurückliegendes, Schändliches, Bitteres, Unwahrscheinliches. Es war damals Sonnenuntergang. Die Straßen quollen über vor Menschen, in der Ferne polterte und krachte es; dann lag der Schrecken hinter ihnen, um sie herum standen verlassene Häuser mit vernagelten Fenstern, Asche trieb ihnen ins Gesicht, es roch nach verkohltem Papier, und auf die Freitreppe eines wunderschönen Einfamilienhauses mit riesiger Nationalflagge schritt ein hochgewachsener Oberst in der Paradeuniform eines Leibhusars, nahm die Mütze ab und erschoß sich, und wir zerlumpte, blutverschmierte, getreue und verkaufte Gestalten, zwar noch in Husarenuniform, aber keine Husaren mehr, schon fast Deserteure, wir begannen zu pfeifen, wiehernd und höhnisch zu lachen, und einer stieß seinen abgebrochenen Säbel in die Leiche... »Halt da!« flüsterte es aus der Dunkelheit. Ein bekannter Gegenstand wurde Viktor an die Brust gedrückt. Er hob mechanisch die Arme. »Wie können Sie sich unterstehen!« ertönte die schrille Stimme Dr. Quadrigas hinter seinem Rücken. »He da, Ruhe!« sagte die Stimme. »Wache!« brüllte Quadriga. »Still, du Dummkopf!« sagte Viktor zu ihm. »Ich ergebe mich«, sagte er in die Dunkelheit hinein, dorthin, woher der Lauf der Maschinenpistole kam und wo schwerer Atem zu hören war. »Ich werde schießen«, warnte die Stimme erschrocken. »Nicht nötig«, sagte Viktor. »Wir haben uns doch ergeben.« Seine Kehle war wie ausgedörrt. »Los, ausziehen!« befahl die Stimme. »Was soll das heißen?« »Die Schuhe ausziehen, den Mantel, die Hose . . . « »Wozu?« »Schnell, schnell!« zischte die Stimme. Viktor blickte scharf in die Dunkelheit, ließ die Arme sinken, tat einen Schritt zur Seite, faßte die Maschinenpistole und riß den Lauf nach oben. Der Räuber stieß einen piepsenden Laut aus, zerrte an der Waffe, aber unterließ es aus irgendeinem Grunde zu schießen. Beide keuchten vor Anstrengung und versuchten, sich gegenseitig die Waffe zu entwinden. »Banev! Wo bist du?«
schrie Quadriga in höchster Verzweiflung. Der Mann mit der Maschinenpistole war dem Geruch nach ein Soldat und schien sich auch so anzufühlen. Einige Zeit zerrte er noch an der Waffe, aber Viktor war bedeutend stärker. »So, das hätten wir«, stieß Viktor zwischen den Zähnen hervor. »Keinen Muckser, sonst kriegst du eine!« »Aber lassen Sie mich los!« piepste der Soldat. Er leistete kaum noch Widerstand. »Wozu brauchst du meine Hose? Wer bist du?« Der Soldat keuchte nur. »Viktor!« schrie Quadriga bereits aus weiter Entfernung. »Ah- a-a-a!« Um die Ecke tauchte ein Auto auf, seine Scheinwerfer erleuchteten für einen Augenblick ein bekanntes, sommersprossiges Gesicht und schreckgeweitete Augen unter einem Helm, dann war das Auto vorbeigerast. »He, dich kenne ich doch«, sagte Viktor. »Wann bist du denn unter die Räuber gegangen? Die Maschinenpistole her!« Per Soldat hielt den Helm fest und streifte gehorsam den Riemen ab. »Wozu brauchst du meine Hose?« fragte Viktor. »Bist du desertiert?« Der Soldat schnaufte schwer. So ein kleines, sympathisches, sommersprossiges Soldatchen. »Warum rückst du nicht mit der Sprache raus?« Der kleine Soldat begann leise zu weinen und zu schluchzen. »Ich werde jetzt sowieso...«, murmelte er. »Ganz klar werde ich erschossen. Ich habe meinen Posten verlassen. Fortgelaufen bin ich, alles stehen- und liegengelassen, wo soll ich denn jetzt hin... Sie lassen mich doch frei, oder? Ich habe es ja nicht böse gemeint, ich bin doch kein Verbrecher. Sie verraten mich doch nicht, oder?« Er schluchzte und schneuzte sich und wischte sich wahrscheinlich in der Dunkelheit den Rotz mit dem Ärmel des Uniformmantels ab. Er bot ein Bild des Jammers wie alle Deserteure, war verschreckt wie alle Deserteure und zu allem bereit. »Gut«, sagte Viktor. »Du gehst mit uns! Wir verraten dich nicht. Was zum Anziehen wird sich schon finden. Los geht's, aber Schritt halten!« Er ging voraus, der kleine Soldat humpelte immer noch schluchzend hinterher. Dem Hundegeheul folgend stießen sie auf Quadriga. Viktor hatte die Maschinenpistole um den Hals hängen, an seinen linken Arm klammerte sich krampfhaft der kleine, schluchzende Soldat, an seinen rechten Arm der leise heulende Quadriga. Es war wie ein verrückter Traum. Natürlich hätte er die Maschinenpistole entladen, sie dem Knirps zurückgeben und ihn mit einem Fußtritt entlassen können. Aber er tat ihm leid, der Knirps, und die Maschinenpistole konnte ihnen womöglich noch gute Dienste leisten... Wir haben uns mit dem Volk beratschlagt, und es herrscht die Meinung, es sei noch
verfrüht, die Waffen abzuliefern. Die Maschinenpistole konnte in künftigen Kämpfen noch wertvolle Dienste leisten... »Hört auf mit eurer Heulerei, ihr beide!« sagte Viktor. »Die Patrouillen laufen zusammen.« Sie wurden leiser. Als fünf Minuten später die schemenhaften Lichter der Autostation auftauchten, zog Quadriga Viktor nach rechts und murmelte freudig. »Wir sind da! O Herr, ich danke Dir...« Den Gartentorschlüssel hatte Quadriga natürlich im Hotel in seiner Hose vergessen. Fluchend überkletterten sie die Einzäunung, verfingen sich im nassen Fliederstrauch, waren um ein Haar in den Springbrunnen gefallen, arbeiteten sich schließlich zur Einfahrt vor, schlugen die Tür ein und stolperten in die Eingangshalle. Der Lichtschalter knackte und die Halle war in rötliches, dämmriges Licht getaucht. Viktor ließ sich in den nächsten Sessel fallen. Während Quadriga auf der Suche nach Handtüchern und trockener Kleidung im Haus herumlief, zog sich der kleine Soldat rasch bis auf die Unterwäsche aus, rollte die. Uniform in ein Bündel zusammen und schob es unter das Sofa. Daraufhin beruhigte er sich etwas und hörte zu schluchzen auf. Dann kam Quadriga zurück. Sie rieben sich lange und wie die Wilden mit den Handtüchern ab und zogen sich um. In der Eingangshalle herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Alles war auf den Kopf gestellt, zerwühlt oder verschmiert. Bücher, verstaubte Lumpen und Rollen von Leinwand lagen kreuz und quer. Unter den Schuhen knirschte Glas, ausgequetschte Farbtuben lagen zerstreut, der Fernseher glotzte sie mit leerer, rechteckiger Bildröhre an, der Tisch war vollgestellt mit schmutzigem Geschirr und faulenden Essensresten. Es sah aus, als wären nur die Zimmerecken mit abgestelltem Kram verschont geblieben, aber das konnte auch eine Täuschung sein, da in der Dunkelheit nichts zu erkennen war. Das Haus war von einem unbeschreiblichen Geruch erfüllt, so daß Viktor es nicht mehr aushielt und das Fenster aufriß. Quadriga begann im Hause zu wirtschaften. Zuerst faßte er den Tischrand und hob ihn hoch, woraufhin die abgestellten Gegenstände klirrend zu Boden fielen. Dann wischte er den Tisch mit seinem nassen Schlafrock ab, lief weg und kehrte mit drei prachtvollen, alten Kristallpokalen und zwei quadratischen Flaschen zurück. Vor Ungeduld von einem Bein aufs andere tretend, zog er die Korken heraus und füllte die Pokale. »Auf euer Wohl. . .«, murmelte er in sich hinein, ergfiff seinen Pokal und setzte ihn gierig an die Lippen, wobei er im Vorgefühl des Genusses die Augen verdrehte. Viktor verzog seinen Mund zu einem bschätzigen Grinsen, drückte seine feuchte Zigarette aus und beobachtete ihn. Auf Quadrigas Gesicht malten sich
plötzlich ungläubiges Erstaunen und Verärgerung. »Hier auch ...«, sagte er mit Abscheu. »Was ist denn los?« fragte Viktor. »Wasser«, meldete sich schüchtern der kleine Soldat. »So wie kaltes Wasser.« Viktor nahm einen Schluck aus seinem Pokal. Es war tatsächlich Wasser, reines, kaltes, offenbar sogar destilliertes Wasser. »Was gibst du uns denn zu trinken, Quadriga?« fragte er. Wortlos ergriff Quadriga die zweite Flasche und nahm einen Schluck. Sein Gesicht verzerrte sich. Er spuckte aus, sagte: »O Gott!« und schlich gebückt und auf Zehenspitzen zum Zimmer hinaus. Der kleine Soldat begann wieder zu schluchzen. Viktor warf einen Blick auf die Flaschenetiketten: >Rum< und >Whisky<. Es war ein regelrechter Teufelsspuk. Irgendwo begannen plötzlich Dielenbretter zu knarren, unter dem durchdringenden Blick unbekannter Augen lief es ihnen kalt den Rück hinunter. Der kleine Soldat versteckte seinen Kopf im Kragen des riesigen Quadrigapullovers und ließ seine Arme tief in den Ärmeln verschwinden. Seine Augen waren ganz rund und blickten Viktor unverwandt an. Viktor fragte mit heiserer Stimme: »Na, was glotzt du so?« »Und Sie?« flüsterte der kleine Soldat zurück. »Ich doch nicht, aber weshalb reißt du deine Augen so auf?« »Eben so, aber Sie... komisch wirkt das irgendwie... Machen Sie das bitte nicht...« Ruhe, redete sich Viktor ein. Da ist gar nichts Schreckliches dabei. Das sind doch Supermenschen. Die können noch ganz andere Sachen. Die können alles, das sage ich dir. Wasser in Wein, und Wein in Wasser. Da hocken die in aller Gemütlichkeit im Restaurant und verwandeln. Die Basis untergraben sie, das Fundament... Diese verdammten Abstinenzler... »Na, hast du den großen Schrecken bekommen?« sagte er zu dem kleinen Soldaten. »Du Hosenscheißer.« »Es ist so unheimlich«, sagte der kleine Soldat und lebte auf. »Sie haben ja keine Ahnung, aber was ich dort durchgemacht habe... Da steht man nachts auf Posten, und da fliegt dner aus der Zone raus, starrt dich von oben an und fliegt weiter... Ein Korporal bei uns hat sogar in die Hose gemacht... Der Hauptmann sagte uns immer wieder: >Ihr werdet euch schon daran gewöhnen; denkt an euren Eid... <Einen Dreck kann man sich daran gewöhnen. Neulich kam auch so einer geflogen, hockte sich auf das Dach der Wachbude und schaute nur... die haben doch keine Menschenaugen, sondern so rote, die leuchten. Und wie der nach Schwefel roch . . . « Der kleine Soldat streckte die Hände aus den Ärmeln heraus und bekreuzigte sich. Aus den Tiefen der Villa tauchte Quadriga auf, immer noch gebückt und auf Zehenspitzen.
»Lauter Wasser«, sagte er. »Komm, Viktor, hauen wir ab! Der Wagen steht in der Garage, der Tank ist voll, wir hocken uns rein, und los geht's! Na?« »Keine Panik«, sagte Viktor. »Abhauen können wir immer noch . . . Im übrigen mach, was du willst! Ich fahre jetzt nicht. Fahr du, und nimm den Kleinen mit!« »Nein«, sagte Quadriga. »Ohne dich fahre ich nicht.« »Dann hör gefälligst auf zu zittern und bring uns was zu essen«, befahl Viktor. »Oder hat sich bei dir das Brot schon in Stein verwandelt?« Das Brot war noch nicht zu Stein geworden. Die Konserven waren Konserven geblieben, dazu noch gute Konserven. Sie aßen, und der kleine Soldat erzählte, welche Schrecken er in den letzten zwei Tagen durchgemacht hatte; er berichtete von fliegenden Naßmännern; von einer Regenwürmerinvasion, von kleinen Jungen, die innerhalb von zwei Tagen erwachsen wurden, von seinem Freund, dem gemeinen Soldaten Krupman, einem Jungen von zwanzig Jahren, der sich vor lauter Schrecken selbst erschoß... und noch davon, wie man das Mittagessen in die Wachbude trug, es zum Erwärmen auf die Herdplatte stellte, wie es zwei Stunden darauf stand, ohne warm zu werden, und wie sie es kalt essen mußten ... »Und heute trat ich meinen Posten um acht Uhr abends an; es regnete und graupelte durcheinander, über der Zone strahlten Lichter, was eigentlich nicht sein durfte, eine irrsinnige Musik war, und eine Stimme sprach und sprach, ohne aufzuhören, aber kein Wort war zu verstehen. Und dann kamen aus der Steppe wirbelnde Säulen und nichts wie rein in die Zone. Und kaum waren sie verschwunden, da ging das Tor auf, und der Herr Hauptmann rast mit seinem Wagen heraus. Ich hatte gar keine Zeit mehr, das Gewehr zu präsentieren, ich sah nur, daß der Herr Hauptmann auf dem Rücksitz saß, ohne Mütze und Mantel, dem Fahref gegen den Hals trommelte und brüllte: »Vorwärts, du Schweinehund! Los!< In mir riß etwas, so als hätte man mir gesagt: Lauf, was das Zeug hält, sonst kannst du deine Knochen numerieren! Ich rannte los. Aber nicht an der Straße entlang, sondern direkt in die Steppe rein, durch Schluchten, beinahe wäre ich im Sumpf steckengeblieben, meinen Umhang habe ich irgendwo dort gelassen, einen ganz neuen, erst gestern hatten sie ihn ausgegeben. Ich kam dann zur Stadt durch, aber dort waren Patrouillen. Das erstemal bin ich ihnen gerade noch entgangen, das zweitemal auch noch, dann schlug ich mich bis hierher zur Autostation durch. Da sah ich das Volk laufen; Zivilisten ließen sie so rein, aber unsereinen nicht, einen Ausweis wollten sie sehen. Na ja, da habe ich mich entschlossen...« Als er seinen Bericht beendet hatte, rollte sich der kleine Soldat im Sessel zusammen und schlief augenblicklich ein. Quadriga, der widerlich nüchtern war, begann erneut seine alte Lerer. Abhauen müßten sie, und zwar sofort... »Das ist ein Mensch«, sagte er und deutete mit der Gabel auf den schlummernden Soldaten. »Der begreift sie Sache... Und du, Banev, bist ein
Rindvieh, ein unverbesserliches Rindvieh. Wie kannst du das nicht spüren! Ich spüre es direkt physisch, wie es vom Norden her drückt... Glaub mir... Ich weiß, daß du mir nicht glaubst, aber glaub mir jetzt, ich sage euch ja schon lange, daß man hier nicht mehr bleiben kann... Golem hat dir den Kopf verdreht, diese Säufernase... Kapier doch, jetzt ist die Straße frei, alle warten auf das Morgengrauen, dann verstopfen sie alle Brücken, wie damals neunzehnhundertvierzig ... Du starrköpfiges Rindvieh, Banev! Immer schon bist du so gewesen, schon auf dem Gymnasium . . .« Viktor sagte ihm, er solle entweder schlafen oder sich zum Teufel scheren. Quadriga 'schmollte, aß dann die Konserve leer, verzog sich auf das Sofa und hüllte sich in eine Mohairdecke. Einige Zeit wälzte er sich noch herum, ächzte und murmelte apokalyptische Warnungen. Dann wurde es still. Es war vier Uhr morgens. Um 4.10 Uhr begann das Licht zu flackern und erlosch dann. Viktor streckte sich im Sessel aus, deckte sich mit trockenen Fetzen zu und lag ruhig. Er blickte in das dunkle Fenster und lauschte. Der kleine Soldat stöhnte leise im Schlaf, der angeschlagene Doktor h. c. schnarchte. Irgendwo, wahrscheinlich an der Autostation, heulten Motoren auf, erscholl unverständliches Stimmengewirr. Viktor versuchte zu begreifen, was geschehen war, und kam zu dem Schluß, daß sich die Naßmänner trotz allem mit General Pferd zerstritten hatten, ihn aus dem Leprosorium ausgesperrt und ihre Residenz leichtfertig in die Stadt verlegt hatten. Sie mußten sich einbilden, daß sie dank ihrer Fähigkeit, Wasser in Wein zu verwandeln und den Menschen Schrecken einzujagen, auch einer modernen Armee die Stirn bieten konnten... Aber was heißt hier >einer Armee< - einer modernen Polizei. Solche Idioten. Die Stadt werden sie kaputtmachen, selbst dabei umkommen, und die Leute werden kein Dach über dem Kopf haben. Und die Kinder... die Kinder gehen doch drauf durch diese Schweinehunde! Und wozu? Was wollen sie eigentlich? Geht es nicht wieder ganz einfach um die Macht? Ach, ihr seid mir auch welche, und Supermenschen wollt ihr sein, klug und talentiert - dabei genau derselbe Dreck wie wir. Noch eine neue Ordnung, und je neuer die Ordnung, desto schlimmer, das kennen wir, Irma... Diana... Er zuckte zusammen, tastete in der Dunkelheit nach dem Telefon und nahm den Hörer ab. Das Telefon war stumm. Wieder haben sie was nicht teilen wollen, und wir, die wir weder die einen noch die anderen nötig haben, die wir nur in Ruhe gelassen werden wollen, wir sollen uns wieder losreißen, einander niedertrampeln, fliehen, uns retten oder, was schlimmer ist, uns auf eine Seite schlagen, ohne zu begreifen, ohne zu wissen, jedem Wort glaubend, oder weiß der Teufel was noch... Wir sollen aufeinander schießen, uns gegenseitig auffressen... Der übliche Gedankenstrom. Tausendmal habe ich das schon gedacht. Sie sind
geschult, mein Herr. Schon von klein auf, mein Herr. Endweder >Hurra-hurra< oder >Schert euch alle zum Teufel, keinem von euch glaube ich<. Sie verstehen nicht zu denken, Herr Banev, das ist es. Und deswegen vereinfachen Sie. Welche komplexe soziale Bewegung Ihnen auch in die Quere kommen mag, Sie streben zunächst einmal danach, die Sache zu vereinfachen. Entweder durch Glauben oder durch Zweifel. Und wenn Sie mal daran glauben, dann glauben Sie so hingegeben, daß Sie wie ein winselndes Hündchen in heiligen Schauern erstarren. Und wenn Sie nicht glauben, dann begeifern Sie mit Wollust alle Ideale, seien es nun falsche oder wahre. Perry Mason pflegte zu sagen: die Beweisstücke an sich sind nicht schrecklich, schrecklich ist vielmehr ihre fälschliche Auswertung. Das gilt auch für die Politik. Dieses Gesindel da oben interpretiert so, wie es ihm gerade in den Kram paßt, und wir Einfaltspinsel greifen diese fertige Interpretation auf. Wir sind nämlich nicht imstande, selbst zu denken. Wir können und wollen es auch nicht. Und wenn nun der Einfaltspinsel Banev, der im Leben außer politischem Gesindel niemanden gesehen hat, sich selbst ans Interpretieren macht, dann fällt er wieder auf die Schnauze. Er ist nämlich Dilettant, niemand hat ihm je richtiges Denken beigebracht, und deshalb ist es offenkundig, daß ihm zur Interpretation nur die Gesindelterminologie zur Verfügung steht. Neue Welt, alte Welt... und dazu gleich die Assoziation: neue Ordnung, alte Ordnung .. . Gut, lassen wir das. Aber der Einfaltspinsel Banev ist doch nicht den ersten Tag auf der Welt, er hat doch schon einiges gesehen und gelernt. Er ist doch noch nicht gänzlich altersschwach. Da sind doch noch Diana, Sursmansor, Golem. Warum muß ich dem Faschisten Pavor glauben oder einem dahergelaufenen Dorftrottel oder dem nüchternen Quadriga? Warum müssen unbedingt Blut, Fäule oder Dreck im Spiel sein? Ziehen die Naßmänner jetzt gegen Pferd ins Feld? Wunderbar! Sollen sie ihn zum Teufel jagen. War schon längst Zeit... Und den Kindern werden sie kein Härchen krümmen, das sieht ihnen nicht ähnlich ... Und sie werden sich nicht die Haare raufen, sie werden nicht an das Nationalbewußtsein appellieren, sie werden keine schlummernden Instinkte wecken ... Das, was am natürlichsten ist, ist dem Menschen am wenigsten angemessen. Richtig, Bol- Kunaz, gut gesagt... Und es kann durchaus sein, daß es eine neue Welt ohne neue Ordnung ist; Ist das so schlimm? Oder ungemütlich? Aber so muß es sein. >Die Zukunft wird von dir, aber nicht für dich geschaffene Wie ich mich wand und krümmte, als ich mich von den Flecken der Zukunft bedeckt sah! Wie ich flehte, zurückgelassen zu werden, zu den Neunaugen, zum Wodka... Eine widerliche Erinnerung, aber so mußte es ja sein. Ja, ich hasse die alte Welt. Ich hasse ihre Dummheit, ihre Gleichgültigkeit, ihre Ignoranz, ihren Faschismus... Und was bin ich ohne dies alles? Das ist doch mein Brot und mein Wasser. Reinigt die Welt um mich herum, macht sie so, wie ich sie sehen will, aber dann geht es mit mir zu Ende. Preisen kann ich
nicht, Lobhudelei ist mir verhaßt, aber da wird nichts sein, was man verfluchen oder hassen könnte. Ein wahrhaft freudloses Dasein, das Ende . . . Die neue Welt wird streng, gerecht, klug, steril sauber sein; sie braucht mich nicht, für sie bin ich eine Null. Sie brauchte mich, als ich für sie kämpfte . . . aber sobald sie mich nicht braucht, brauche ich sie auch nicht, aber wenn ich sie nicht brauche, wozu kämpfe ich dann für sie? - Ach, die guten, alten Zeiten. Da war es noch möglich, sein Leben für den Bau einer neuen Welt hinzugeben, aber noch in der alten Welt zu sterben. Die beschleunigte Entwicklung, das ist überall das gleiche .. . Aber muß man dann nicht gegen sie kämpfen, wenn man schon nicht für sie kämpft? Na ja, wenn man Bäume fällt, dann bekommt der Ast, auf dem man sitzt, am meisten ab, darauf läuft es wahrscheinlich hinaus . . . . . . Irgendwo in der riesigen, öden Welt weinte ein kleines Mädchen und wiederholte mit kläglicher Stimme: »Ich will nicht, ich will nicht, das ist ungerecht und grausam, sicher könnte alles mögliche besser sein, aber meinetwegen nicht, sollen sie doch bleiben, sollen sie doch mit uns sein, sollte man es wirklich nicht so einrichten können, daß sie bei uns bleiben? Wie dumm und sinnlos . . .« Das ist doch Irma, dachte Viktor. »Irma!« schrie er und erwachte. Quadriga schnarchte. Draußen hatte der Regen aufgehört. Es schien heller geworden zu sein. Viktor hielt die Uhr vor die Augen. Die Leuchtzeiger standen auf dreiviertel fünf. Viktor spürte einen dumpfen, kalten Luftzug. Er sollte aufstehen, um das Fenster zu schließen, aber ihm war inzwischen warm geworden, und er hatte keine Lust, sich von der Stelle zu bewegen. Die Lider fielen wie von selbst zu. War es im Traum, war es in Wirklichkeit, aber irgendwo in der Nähe bewegten sich Fahrzeuge, schleppten sich die schmutzige, aufgerissene Landstraße entlang, über das endlose, schmutzige Feld, unter einem grauen, schmutzigen Himmel, vorbei an schiefen Telegrafenmasten mit abgerissenen Drähten, vorbei an einer zerquetschten Kanone mit hochgezoge- nem Rohr, vorbei an einem verkohlten Ofenrohr, auf dem wohlgenährte Krähen saßen, und die dumpfe Kälte drang durch die Plane, unter den Mantel, und er hätte zu gern geschlafen, aber er durfte nicht schlafen, denn Diana mußte ja vorbeifahren, das Tor war verschlossen, die Fenster waren dunkel, sie muß gedacht haben, daß ich nicht da bin, und weitergefahren sein. Er sprang aus dem Fenster und rannte, so schnell er konnte, dem Wagen nach. Er schrie, daß ihm die Adern zu zerspringen drohten, aber da fuhren gerade Panzer vorbei, lärmend und klirrend, er hörte seine eigene Stimme nicht, und Diana fuhr geradewegs auf den Flußübergang zu, dorthin, wo alles brannte, wo man sie töten würde, und er würde allein bleiben, und jetzt erscholl das schrille, durchdringende Heulen einer Bombe, es drang in den Schädel, direkt ins Hirn. Viktor sprang in einen Graben und stürzte aus dem Sessel.
Dr. Quadriga kreischte. Er krümmte sich vor dem offenstehenden Fenster, starrte zum Himmel und kreischte wie ein altes Weib. Es war hell, aber das war kein Tageslicht. Auf dem unratübersäten Boden zeichneten sich regelmäßige helle Rechtecke ab. Viktor lief zum Fenster und schaute hinaus. Er sah einen eisigen, kleinen, blendend hellen Mond, und irgend etwas an ihm flößte unerträgliches Grauen ein. Was es war, begriff er nicht sogleich. Der Himmel war wie vorher mit Wolken überzogen, und in diese Wolken hatte jemand ein exaktes Quadrat geschnitten, und im Zentrum dieses Quadrates war der Mond. Quadriga kreischte nicht mehr. Das Kreischen hatte ihn erschöpft, und er brachte nur noch schwache, krächzende Töne hervor. Viktor holte mühsam Atem und fühlte plötzlich, wie Wut in ihm hochstieg. Was soll das, spielen die Zirkus mit uns? Für wen halten die mich eigentlich? Quadriga krächzte immer noch. »Hör auf!« herrschte ihn Viktor haßerfüllt an. »Hast du die Quadrate nicht gesehen? Du lausiger Maler! Du Kriecher!« Er packte Quadriga an der Mohairdecke und schüttelte ihn mit aller Kraft. Quadriga stürzte zu Boden und erstarrte. »Gut«, sagte er plötzlich mit unerwartet klarer und deutlicher Stimme. »Mir reicht's!« Er erhob sich auf alle viere und rannte, wie ein Läufer beim Start, hinaus. Viktor blickte wieder aus dem Fenster. Im stillen hatte er gehofft, nur geträumt zu haben, aber alles war gleich geblieben. Jetzt konnte er in der rechten unteren Ecke des Quadrats sogar einen winzigen Stern erkennen, der im Schimmer des Mondes fast unterging. Die nassen Fliedersträucher waren jetzt klar und schön zu sehen, ebenso der stillgelegte Springbrunnen mit dem allegorischen Marmorfisch, das Tor mit dem Ziergitter und dahinter das schwarze Band der Straße. Viktor setzte sich aufs Fensterbrett und zündete sich eine Zigarette an, wobei er sich bemühte, das Zittern seiner Finger unter Kontrolle zu bringen, Mit einem flüchtigen Seitenblick überzeugte er sich, daß der kleine Soldat nicht mehr da war, sei es, daß er sich davongemacht hatte, oder sei es, daß er sich unter das Sofa verkrochen hatte und starr vor Schrecken dort lag. Die Maschinenpistole befand sich jedenfalls am vorherigen Platz. Viktor brach in ein hysterisches Kichern aus, als er dieses lächerliche Stück Eisen mit den Kräften verglich, die ein quadratisches Loch in die Wolken geschnitten hatten. Na, machen die Kunststückchen! Nein, auch wenn die neue Welt draufgehen sollte, mit der alten wird man auch abrechnen ... Trotzdem ganz gut, daß eine Maschinenpistole bei der Hand ist. Zwar dumm, aber es beruhigt irgendwie. Aber wenn man es sich recht überlegt, ist es gar nicht so dumm. Es ist doch klar, man erwartet die große Flucht, das liegt ja in der Luft, und wenn so eine große Flucht im Gange ist, dann ist es besser, sich zu verziehen und eine Waffe zur Hand zu haben ...
Im Hof heulte ein Motor auf, um die Ecke schoß die mächtige, unendlich lange Limousine Quadrigas (ein persönliches Geschenk des Herrn Präsidenten für uneigennützigen Dienst mit ergebenem Pinsel), fuhr quer durch den Garten auf das Tor zu, drückte es krachend durch, raste auf die Straße, bog ein und verschwand. »Hat er sich doch davongemacht, das Schwein«, murmelte Viktor nicht ohne Neid. Er kletterte vom Fensterbrett, hängte sich die Maschinenpistole um, warf sich den Mantel über und rief den Soldaten. Niemand meldete sich. Viktor warfeinen Blick unter das Sofa, aber dort lag nur das graue Bündel mit der Uniform. Viktor zündete sich noch eine Zigarette an und ging in den Hof hinaus. In den Fliederbüschen neben dem losgerissenen Tor entdeckte er ein Bänkchen, seltsam geformt, aber sehr bequem; vor allem hatte man von dort einen ausgezeichneten Blick auf die Straße. Viktor setzte sich, schlug die Beine übereinander und hüllte sich fester in den Mantel. Zunächst lag die Straße verlassen, dann kam jedoch ein Fahrzeug vorbei, dann ein weiteres, dann wieder eins. Viktor begriff, daß die Flucht eingesetzt hatte. Die Stadt platzte auf wie ein Geschwür. Zuerst flohen die Erwählten, Magistrat und Polizei, Industrielle und Kaufleute, Richter und Steuerbeamte, Finanzfachleute und Lehrer, Post- und Telegrafenbedienstete; die Goldhemden flohen. Alles floh, in Wolken von Benzingestank, im Geknatter von Auspuffrohren und einem hysterischen Hupkonzert. Die Menschen waren wirr, aggressiv, erbittert und niedergeschlagen; es flohen Wucherer, Habsüchtige, Diener des Volkes und Stadtväter. Getöse lag über der Straße. Aus dem gigantischen Furunkel quoll und quoll es heraus. Als der Eiter ausgeflossen war, trat das Blut aus, das eigentliche Volk. Man floh auf überladenen Lastwagen, in Autobussen, die am Umkippen waren, in vollgepackten Kleinwagen, auf Fahrrädern, Fuhrwerken, zu Fuß; man schob Leiterwagen, man ging gebeugt unter Traglasten oder mit leeren Händen, mürrisch, schweigsam, hilflos; man ließ seine Häuser zurück, seine Wanzen, sein biederes Glück, ein eingerichtetes Leben, Vergangenheit und Zukunft. Nach dem Volk floh die Armee. Langsam fuhr ein Geländewagen mit Offizieren vorbei, ein Mannschaftspanzerwagen, zwei Lastwagen mit Soldaten und unsere in der ganzen Welt einzigartigen Feldküchen. Als letzter fuhr ein Schützenpanzer mit rückwärts gerichteten Maschinengewehren. Es dämmerte, der Mond verblaßte, das unheimliche Quadrat verschwamm, die Wolken schmolzen. Der Morgen brach an. Viktor wartete noch etwa fünfzehn Minuten, aber es kam niemand mehr. Da ging er zum Tor hinaus. Auf dem Asphalt lagen schmutzige Lappen verstreut, ein zerquetschter, teurer Koffer, der offensichtlich einer hochstehenden Persönlichkeit entfallen war, ein Kutschenrad und in einiger Entfernung die Kutsche selbst mit einem alten, durchgescheuerten Diwan und einem Gummibaum. Ringsum lag alles verlassen. Viktor warf einen Blick zur Autostation, aber auch dort waren weder
Fahrzeuge noch Menschen zu sehen. In den Gärten zwitscherten die Vögel, die Sonne ging auf, die Viktor seit einem halben Monat und die Stadt seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber jetzt war niemand mehr da, der sie hätte anschauen sollen. Da erscholl erneut Motorengebrumm, und hinter einer Biegung tauchte ein Autobus auf. Es waren die >Verstandesbrüder<. Sie fuhren vorbei, und alle wandten Viktor ihre gleichgültigen, ausdruckslosen Gesichter zu. Das war es also, dachte Viktor. Jetzt könnte ich was zum Trinken vertragen. Wo nur Diana ist? Langsam trottete er in die Stadt zurück. Die Sonne schien von rechts. Manchmal verbarg sie sich hinter den Dächern der Einfamilienhäuser, dann blickte sie aus den Zwischenräumen hervor, oder sie leuchtete mit warmem Licht durch die Zweige der halbverfaulten Bäume. Die Wolken waren verschwunden, und ein wundervoll klarer Himmel wölbte sich über dem Land. Vom Boden stieg leichter Nebel auf. Es herrschte völlige Stille, und Viktor wurde auf einmal seltsamer, fast unhörbarer Geräusche gewahr, die aus dem Boden zu dringen schienen. Es war wie ein leichtes Knacken, Rascheln oder Knistern. Aber dann hatte er sich an das Geräusch gewöhnt und vergaß es. Ein nie gekanntes Gefühl von Ruhe und Sicherheit überkam ihn. Er ging wie trunken dahin, und sein Blick hing fast ständig am Himmel. Auf dem Präsidentenboulevard hielt ein Jeep neben ihm. »Setzen Sie sich!« sagte Golem. Golem war grau vor Müdigkeit und wirkte niedergeschlagen. Neben ihm saß Diana, auch erschöpft, aber trotz allem schön, die Schönste aller erschöpften Frauen. »Die Sonne«, sagte Viktor und lächelte ihr zu. »Schaut, was für eine Sonne!« »Er fährt nicht weg«, sagte Diana. »Ich habe Sie gewarnt, Golem!« »Warum sollte ich nicht wegfahren?« fragte Viktor verwundert. »Ich fahre schon weg. Aber wozu sich beeilen?« Er konnte nicht anders und blickte wieder zum Himmel. Dann schaute er zurück auf die verlassene Straße und dann nach vorn auf die verlassene Straße. Alles war in Sonnenlicht getaucht. Irgendwo draußen in der Ebene hasteten die Flüchtlinge, lärmte die abziehende Armee, floh die Obrigkeit; dort staute sich alles, dort wurde geflucht, dort wurden sinnlose Kommandos und Drohungen ausgestoßen; vom Norden her rückten die Sieger gegen die Stadt vor, und hier war ein leerer Streifen der Ruhe und ein paar Kilometer Leere, und in der Leere ein Wagen und drei Menschen. »Golem, kommt da die neue Welt?« »Ja«, sagte Golem. Er blickte Viktor aus geschwollenen Lidern fest an. »Und wo sind Ihre Naßmänner? Gehen die zu Fuß?« »Es gibt keine Naßmänner«, sagte Golem. »Wieso denn nicht?« fragte Viktor. Er schaute zu Diana. Diese wandte sich schweigend ab.
»Es gibt keine Naßmänner«, wiederholte Golem. Er sprach mit gepreßter Stimme, und Viktor schien es plötzlich, als würde er im nächsten Augenblick zu weinen beginnen. »Wenn Sie so wollen, hat es nie welche gegeben. Und es wird auch keine geben.« »Sehr schön«, sagte Viktor. »Gehen wir spazieren!« »Fahren Sie jetzt nun weg oder nicht?« fragte Golem matt. »Ich würde schon fahren«, sagte Viktor lächelnd. »Aber zuerst muß ich ins Hotel, meine Manuskripte holen... und überhaupt muß ich mich umsehen. . . Wissen Sie, Golem, mir gefällt es hier.« »Ich bleibe auch«, sagte Diana unvermittelt und stieg aus dem Wagen. »Was soll ich dort?« »Und was wollen Sie hier?« fragte Golem. »Weiß ich nicht«, sagte Diana. »Ich habe jetzt doch niemanden mehr außer diesem Menschen.« »Na gut«, sagte Golem. »Er versteht nichts. Aber Sie verstehen doch. . .« »Aber ansehen muß er sich die Sache doch«, wandte Diana ein. »Er kann doch nicht einfach wegfahren, ohne was gesehen zu –haben -..« »Eben«, schaltete sich Viktor ein. »Wie, zum Teufel, soll ich nützlich sein, wenn ich mir das nicht angesehen habe? Das ist doch mein Spezialgebiet, das Ansehen.« »Hört mal zu, Kinder!« sagte Golem. »Wißt ihr, was auf euch zukommt? Viktor, man hat Ihnen doch gesagt, bleiben Sie auf Ihrer Seite, wenn Sie nützlich sein wollen. Auf Ihrer!« »Ich stehe das ganze Leben auf meiner Seite«, sagte Viktor. »Hier wird das nicht möglich sein.« »Das werden wir sehen«, sagte Viktor. »O Gott«, sagte Golem. »Als ob ich nicht bleiben möchte. Aber man muß doch klar denken! Zum Teufel noch mal, man muß doch deutlich unterscheiden, was man möchte und was man muß...« Es schien, als wolle er sich selbst überzeugen. »Ach, ihr... ihr... Na, dann bleibt eben. Ich wünsche angenehmen Zeitvertreib.« Er legte den Gang ein. »Wo ist das Heft, Diana? Ach, da ist es. Ich nehme es also mit. Sie brauchen es doch nicht mehr.« »Ja«, sagte Diana. »Er wollte es so.« »Golem«, sagte Viktor, »und warum fliehen Sie? Sie wollten doch diese Welt.« »Ich fliehe nicht«, sagte Golem streng. »Ich fahre. Von dort, wo ich nicht mehr gebraucht werde, dorthin, wo man mich noch braucht. Im Gegensatz zu euch. Lebt wohl!« Er fuhr. Diana und Viktor faßten sich an der Hand und gingen den Boulevard des Herrn Präsidenten hinauf, in die leere Stadt hinein, den anrückenden Siegern entgegen. Sie sprachen nicht, sie sogen in vollen Zügen die ungewöhnlich saubere, frische Luft ein, blinzelten in das Sonnenlicht, lächelten
sich zu und hatten keine Angst. Die Stadt blickte sie aus leeren Fenstern an. Es war eine wunderliche Stadt, vermodert, glitschig, faulig, als hätte sie ein Ekzem ausgezehrt, als hätte sie lange Jahre auf dem Meeresgrund geruht und man hätte sie der Sonne zum Gespött an die Oberfläche geholt, und die Sonne hätte sich zuerst ausgeschüttet vor Lachen und sich dann angeschickt, sie zu zerstören. Die Dächer zerfielen dampfend, Blech und Dachziegel dampften rostig und lösten sich vor den Augen auf. Auf den Wänden breiteten sich Löcher wie eisfreie Stellen aus, flossen auseinander und gaben den Blick auf abgewetzte Tapeten, abgezogene Betten, schiefstehende Möbelstücke und verblichene Fotografien frei. Die Straßenlaternen knickten sanft ein und zerschmolzen, Kioske und Litfaßsäulen lösten sich in Luft auf, alles ringsum knackte und zischte leise, wurde porig, durchsichtig, verwandelte sich in Schmutzhügel und verschwand. In der Ferne veränderten sich die Umrisse des Rathausturms, verschwammen und lösten sich in der Bläue des Himmels auf. Einige Zeit hing noch die alte Turmuhr allein am Himmel, dann verschwand auch sie. Meine Manuskripte sind dahin, dachte Viktor fröhlich. Um sie herum war bereits keine Stadt mehr. Hier und da ragte noch ein kärglicher Strauch in die Höhe, sieche Bäume und grüne Grasflecken waren noch zu sehen. Nur in der Ferne im Nebel ahnte man noch Gebäude, Gebäudereste, Gebäudeschemen. Unweit der früheren Fahrbahn saß auf einer steinernen Freitreppe, die nirgendwohin führte, Teddy. Er hatte ein Bein, das offenbar verletzt war, ausgestreckt und die Krücken neben sich gelegt. »Sei gegrüßt, Teddy«, sagte Viktor. »Bist du auch geblieben?« »Hm«, sagte Teddy. »Und wie kam das?« »Ach, soll sie doch ...«, sagte Teddy. »Zusammengepfercht haben sie sich wie die Heringe in der Büchse. Mein Bein konnte ich nirgends ausstrecken. Da sage ich zur Schwiegertochter: >Wozu brauchst du denn den Geschirrschrank?< Und sie fällt über mich her ... Da habe ich auf alles gepfiffen und bin geblieben.« »Kommst du mit uns?« »Nein, geht nur!« sagte Teddy. »Ich bleibe hier schon sitzen. Zum Gehen tauge ich nicht mehr. Auf mein Schicksal habe ich keinen Einfluß . . .« Sie gingen weiter. Es wurde heiß; Viktor warf den überflüssigen Regenmantel auf die Erde und schleuderte die verrosteten Maschinenpistolenteile von sich. Er lachte vor Erleichterung. Diana küßte ihn und sagte: »Gut so!« Er widersprach nicht. Sie gingen und gingen unter einem blauen Himmel, unter einer heißen Sonne, auf einer Erde, aus der bereits junges Gras sproß, und gelangten zu der Stelle, wo das Hotel gestanden hatte. Das Hotel war nicht völlig verschwunden. Es stand als riesiger, grauer Würfel aus grobrissigem Beton da, und Viktor dachte, daß das nun ein Denkmal war, vielleicht auch ein
Grenzstein zwischen der alten und der neuen Welt. Kaum hatte er das gedacht, als hinter dem Betonklotz ein Düsenjäger mit dem Legionsschild am Flugzeugrumpf auftauchte, geräuschlos über ihre Köpfe flog und immer noch geräuschlos irgendwo neben der Sonne abschwenkte und verschwand. Erst jetzt erreichte sie das höllische, pfeifende Getöse, brandete in ihre Ohren, ins Gesicht, in ihre Seele ... Aber da kam ihnen schon Bol-Kunaz entgegen, gereift, breitschultrig, mit einem sonnengebleichten Schnurrbart im gebräunten Gesicht. In einiger Entfernung hinter ihm ging Irma, auch schon fast erwachsen, barfuß, in einem schlichten, leichten Kleid, einen Stecken in der Hand. Sie blickte dem Düsenjäger nach, hob den Stecken, zielte und machte: »K-ch-ch!« Diana lachte. Viktor schaute sie an und sah, daß es noch eine andere Diana gab, eine ganz neue, so eine hatte er noch nie erlebt und wäre nicht einmal auf den Gedanken gekommen, daß so eine Diana möglich war - die Glückliche Diana. Und da drohte er sich mit dem Finger und dachte: Das ist alles wunderbar, aber ich darf nur nicht vergessen, daß ich zurückgehen muß...