Deanie Francis Mills
Die Hüter des Bösen
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Deanie Francis Mills
Die Hüter des Bösen
scanned by ab corrected by eboo Wren Cameron ist Lehrerin und hat zwei Kinder. Doch hinter Wrens bürgerlicher Fassade liegt ein Geheimnis: Sie war Mitglied einer radikalen, staatsfeindlichen Gruppe, die von dem charismatischen Hunter geführt wurde. Ihr gelang es jedoch mit Hilfe des FBI, ein neues Leben aufzubauen. Doch Hunter taucht in ihrem Leben wieder auf. ISBN 3-426-60591-0 Titel der Originalausgabe: »The Ordeal« Aus dem Amerikanischen von Fred Kinzel 1997 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Umschlaggestaltung: Agentur Zero, München Umschlagfoto: G + J Fotoservice, Hamburg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Wren Cameron ist Chemielehrerin und hat zwei Kinder, die engelhafte Zoe und den aufsässigen Daniel. Doch hinter Wrens gutbürgerlicher Fassade liegt ein Geheimnis: In den sechziger Jahren war Wren Mitglied einer radikalen, staatsfeindlichen Gruppierung, die von dem charismatischen Hunter geführt wurde. Wren, die schnell in Hunters Bett landete, erkannte bald, daß die Banküberfälle; die die Gruppe verübte, weniger mit politischen Ideen als mit Hunters Habgier zu tun hatten. Wren gelang es, mit Hilfe des FBI unter falschem Namen ein neues Leben aufzubauen. Doch da taucht eines Tages Hunter wieder auf und entführt Wren und Daniel. Die Vergangenheit, die Wren so verzweifelt zu vergessen suchte, hat sie eingeholt, und Wren muß bald um ihr Leben und das ihres Sohnes kämpfen.
Autor Deanie Francis Mills hat acht Spannungsromane geschrieben. Sie ist Mitglied der International Association of Crime Writers, der Mystery Writers of America und der Sisters in Crime. Mills lebt mit ihrem Ehemann Kent auf einer kleinen Ranch im Westen von Texas. Das Paar hat zwei halberwachsene Kinder.
Beweinet nicht die Toten in der kühlen Erde… Weint vielmehr um die teilnahmslosen Massen, Die eingeschüchtert feigen, Die Not und Unrecht dieser Welt erfassen Und dazu schweigen.
Ralph Chaplin (1887-1961)
Dieses Buch ist Russell Galen gewidmet, dem Visionär, Drachenkämpfer, Traumgeber, Agent und Freund in Ehrerbietung, Liebe und Dankbarkeit… … Und meinen Cherokee-Großmüttern, deren Stimmen verschwunden sind. Mögen sie aus diesen Seiten wieder sprechen.
PROLOG: SÜDWESTLICHES LOUISIANA, 1980 Sie hatten nicht mit einem Hinterhalt gerechnet.
Geisterhaft graue Morgennebel hüllten die schwitzenden Mitglieder des SWAT-Teams ein, die sich in kompletten Kampfanzügen mit Panzerung und bewaffnet mit AR-15Gewehren, 9mm halbautomatischen Waffen und Remington 870 Pumpguns lautlos wie Ninjakrieger durch das dichte Unterholz mühten. Sie näherten sich der ›Community‹, einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Survivalisten, die sich seit Monaten mit ihrem charismatischen Anführer im morastigen Dickicht des Sumpfgebietes verkrochen hatten. Sie hatten den Auftrag, dem Anführer einen Durchsuchungs- und Haftbefehl zuzustellen. Da bekannt war, daß er das Lager nie verließ, mußten sie es auf diese Weise tun. Zuverlässige nachrichtendienstliche Quellen hatten von einem Waffenarsenal auf dem Gelände berichtet, und obwohl die Bewohner in Nahkampftechniken und dem Gebrauch von Schußwaffen
ausgebildet waren, wurde kein Widerstand erwartet, wenngleich die Truppe jederzeit in der Lage war, den Verdächtigen auszuschalten, falls er eine Geisel nahm oder auf die Agenten schoß. Fünfzig Meter vom Lager entfernt hielten sie Funkstille ein und sprachen nicht einmal mehr so leise, daß sie sich nur über ihre Ohrstöpsel hörten. Sie teilten sich in zwei Acht-Mann-Gruppen mit jeweils vier Scharfschützen, die in den Bäumen Stellung bezogen, um das Gelände um die windschiefen Gebäude zu kontrollieren. Die Feuchtigkeit war zum Greifen dick; sie tropfte in Form von schwerem Tau von den Blättern und rann als Bäche von Schweiß an den Agenten hinab. Einige der Veteranen in der Truppe erinnerte es an Vietnam. Kein Vogellaut drang durch die unheimliche Stille. Doch gerade dieses Verstummen war wie eine Melodie. Das Kommando erreichte eine Lichtung, die sich fünfundzwanzig Meter rund um ihr Angriffsziel erstreckte. Als sie sich auf Katzenpfoten rasch über die Lichtung bewegten, brach die Hölle los. Sie wurden mit überwältigender Feuerkraft aus gut versteckten Hinterhaltsstellungen angegriffen. Den vorderen Einheiten, die in der tödlichen Schußlinie in der Falle saßen, blieb nur eine Handlungsmöglichkeit: Sie starteten sofort einen Angriff direkt ins innere des Lagers. Die Einheiten in der Mitte und in der Nachhut, die noch von Bäumen geschützt waren, gingen in flankierende Stellungen, um ihnen Feuerschutz zu geben. Die Gruppen übten maximalen Druck auf das Lager aus und hielten den Schwung des Angriffs aufrecht. Sie gaben sich gegenseitig Deckung und setzten den Sturm endlose zwanzig Minuten lang fort, bis sie die wichtigsten 5
Hinterhaltsstellungen überwältigt hatten und sich in voller Stärke auf den Anführer und den engsten Verteidigungsring um ihn stürzten. Er ergab sich fast sofort. Überall war der warme, Übelkeit erregende Geruch von frischem Blut, vermischt mit Schießpulver. Das Gemetzel verfolgte alle, die an diesem Höllenmorgen dabei waren, bis ans Ende ihres Lebens. Manche bezahlten auch so lange dafür - zwei FBIBeamte erlitten Verletzungen, die ihre Laufbahn beendeten; sie blieben nur dank ihrer kugelsicheren Kevlarwesten am Leben. Aber die Survivalisten, die keine Schutzkleidung trugen, bezahlten einen noch viel höheren Preis. Als die Agenten die einzelnen Gebäude nach Opfern durchsuchten, von denen sie immer neue fanden, bereuten viele ihre Fähigkeiten im Gefecht. Entsetzt von dem, was sie vorfanden, verließen einige noch am selben Tag die SWAT. Am Ende wußte niemand genau, wer die Kinder erschossen hatte. Alles, was die Männer gesehen hatten, waren die M-l6s gewesen, die bei ihrem Angriff auf die Gebäude plötzlich aus den Fenstern ragten und genau auf ihre Köpfe zielten.
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TEIL EINS EIN TRAUM IN EINEM TRAUM Was mir scheinen und schaun im Raum ist nur ein Traum in einem Traum. Edgar Allan Poe
Unser Herz wandelt sich, und das ist die größte Ursache des Leides im Leben. Proust
Das Schicksal eines Menschen steht nicht in der Zukunft geschrieben, sondern in der Vergangenheit. Havelock Ellis
Ein Volk ohne Geschichte ist wie der Wind im Büffelgras. Sprichwort der Sioux
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1. Kapitel »Fahr langsamer, Daniel, verdammt noch mal« schrie Wren Cameron und stieß den rechten Fuß in das Bodenblech, als könnte sie den Wagen dadurch aufhalten. »Du bist noch nicht soweit, um schnell fahren zu können. Erst wenn du das Auto zu beherrschen gelernt hast.« Daniel grinste seine Mutter großspurig von der Seite an und verlangsamte den Wagen um vielleicht fünf Meilen in der Stunde. Ein hübscher kleiner Teufel. Seit er die Zahnspangen nicht mehr hatte, wurde er ein richtiger Ladykiller. Eines Tages würde er vielleicht dahinterkommen. Vorläufig war er noch zu schüchtern für Mädchen und hing in seiner gesamten Freizeit nur mit seinen aufsässigen Freunden herum. »Du hast dich in Mister Runds Computerkurs heute wirklich wie ein Blödmann aufgeführt«, sagte sie in ihrem Sei-einmal-ernst-Mutterton. »Er hat mich - wieder einmal - aus meiner eigenen Klasse gezerrt, und ich mußte mich erst mit ihm auseinandersetzen und dann mit Missis Satterwhite, und jetzt darf ich dich einen Monat lang auch noch samstags in die Schule fahren, was bedeutet, daß ich ebenfalls bestraft werde!« Sie funkelte ihn wütend an, obwohl er die Augen verdrehte. Er blickte zur Seite. »Der Rund ist eine kleinkarierte Niete, und ich kann ihn nicht ausstehen«, murmelte er. »Du hast recht, Daniel. Mister Rund ist eine kleinkarierte Niete. Aber er meint, die Nummer, die du mit den Computern abgezogen hast, war - wie sagte er gleich 8
noch? Ach ja, er sagte, es sei vorsätzlich, bösartig und destruktiv gewesen.« »Was? Aber ich…« »Ich weiß. Ich habe ihm erklärt, daß du ein ComputerAnalphabet bist. Und wir sind uns einig, daß er für einen Computerlehrer selbst einer ist. Aber er ist trotzdem dein Lehrer, und du machst gefälligst, was er sagt, und tust zumindest so, als würdest du ihn respektieren. Ich habe es nämlich satt, mich von anderen Lehrern zusammenstauchen zu lassen, weil sich mein eigener Sohn unbedingt wie ein Vorschulkind benehmen muß.« »Das stimmt nicht ganz. Ich war ein ziemlich braves Kind in der Vorschule.« »Sehr witzig.« Wie üblich hätte Wren ihren fünfzehnjährigen Sohn umbringen können, während sie ihn gleichzeitig verteidigte. Wenn er sich nur in Mister Runds Kurs so aufführen würde, hätte sie es sehr viel leichter. Aber es verging keine Woche, in der sie nicht ins Büro der Konrektorin bestellt wurde und sich mit der arroganten Nadine Satterwhite auseinandersetzen mußte, keine Woche, in der ihr nicht ein halbhysterischer Lehrer im Flur auflauerte oder die örtliche Polizei sie sogar aus einer Konferenz holte. Daniels Vergehen waren nie ernsthafter Natur. Er hatte nichts mit Drogen, hielt sich abseits von dem, was man in einer kleinen Stadt in Texas als Banden bezeichnen mochte, und hatte - bis jetzt jedenfalls - auch nicht dem sinnlosen Vandalismus gefrönt, der die Schulen seit ein paar Jahren heimsuchte. Er trieb allerdings seine Lehrer an den Rand des 9
Wahnsinns, schrieb lausige Noten, trotz eines ›überdurchschnittlich bis glänzenden‹ IQs, stritt täglich mit seinen Eltern, brachte seine zwölfjährige Schwester Zoe zu Tränen, hing mit seelisch gestörten Jungs aus zerrütteten Familien herum, trug eine Arroganz wie ein Preisboxer zur Schau und ergötzte sich an Verhaltensweisen wie auf der Ladefläche eines Pickups mitzufahren und Landbriefkästen zu zertrümmern - was ein Vergehen nach Bundesrecht war, wie die Polizei Wren aufgeklärt hatte. Wren und ihr Mann, Harry ›Cam‹ Cameron, ein ProvinzStrafanwalt, hatten alles getan, was zwei Eltern nur tun können, um zu verhindern, daß ihr Sohn auf die schiefe Bahn geriet. Ihre sechzehnjährige Ehe war solide und liebevoll, ihre Erziehung konsequent und bestimmt, und sie hatten soviel Zeit wie möglich mit ihren beiden Kindern verbracht. Daniel, der als Kind hyperaktiv und eigensinnig gewesen war und einen Hang zu theatralischem Benehmen hatte, war nie ausgesprochen leicht zu erziehen gewesen, aber sie waren ihm immer liebevoll zugetan. Und er hatte auch seine liebenswerten Seiten. Er war witzig, geistreich, energiegeladen, phantasiebegabt und wenn er wollte - herzlich. Cam, der sich sein halbes Leben lang mit dem Verbrechen beschäftigt hatte, empfand tiefe Scham und anhaltendes Entsetzen über das Benehmen seines Sohnes und dessen Einstellung zum Leben. Daniels offenkundige Weigerung, an seine ›Opfer‹ zu denken - zur Weißglut gebrachte Lehrer, Familien auf dem Land, deren DreißigDollar-Briefkästen sie zerstört hatten, und andere -, beunruhigte ihn sehr. Seine größte Angst war, daß sich 10
Daniel als nicht besser als die meisten seiner Klienten erweisen könnte. Oder - gräßlicher Gedanke - daß er seinen Sohn eines Tages vielleicht sogar vor Gericht verteidigen mußte. Wren, die ihren Sohn mit den Augen einer Mutter betrachtete, sah Daniel etwas anders. Sie sah einen verängstigten kleinen Jungen, eingesperrt im Körper eines fast ausgewachsenen Mannes, und dieser Junge wollte einfach noch nicht erwachsen werden. Peter Pan beim Versuch zu fliegen. Obwohl sein Benehmen sie auch beunruhigte, glaubte sie tief im Herzen daran, daß Daniel im Grunde ein guter Mensch war, der mit der Zeit und zunehmender Reife wieder auf die rechte Bahn kommen würde. Er schien leicht empfänglich für den Einfluß seiner Freunde zu sein, von denen manche nicht über die innere Kontrolle zu verfügen schienen, die Daniel bislang davor bewahrt hatte, jenen gefährlichen ersten Schritt zum wirklichen Verbrechen zu tun. Mehr als ihr Sohn je erfahren würde, verstand Wren, was es hieß, sich gegen verdummende, Regeln und Vorschriften aufzulehnen. Sie verstand die Frustration ihres Sohnes. Sie wußte auch, wie leicht es war, jenen ersten gefährlichen Schritt zu tun. Nach einem Augenblick unbehaglichen Schweigens sagte Daniel: »Ich schätze, Dad wird total ausrasten.« »Dein Vater macht sich nur Sorgen um dich, mein Sohn«, sagte Wren. »Er möchte, daß du einigermaßen rechtschaffen aufwächst, aber auf dem Weg, auf dem du gerade bist, sieht er nicht, wie das gehen soll.« 11
»Yeah, Mann, wir setzen uns jeden Tag ’nen Schuß«, antwortete er in seinem besten Junkie-Tonfall. »Dann packen wir ein Piece ein und Schlägern in der Gegend rum, wenn du weißt, was ich meine.« Wren rieb sich die Stirn. Schon wieder diese Kopfschmerzen. Sie bekam sie neuerdings jeden Tag, weil sie ständig in dieses Tauziehen zwischen ihrem Sohn und ihrem Mann geriet. Nach einer endlosen Minute gotterbärmlichen Heavy-Metal-Gekreisches im Autoradio sagte sie: »Übrigens, falls ich dich noch einmal dabei erwische, wie du Bier aus dem Kühlschrank stibitzt, halte ich mich raus, Daniel, und lasse deinen Vater tun, was er für angemessen hält.« »Ich habe kein…« »Treib’s nicht auf die Spitze. Laß es einfach.« Sie fuhren in mürrischem Schweigen und dachten beide an den lautstarken Streit, der zwischen Daniel und seinem Vater ausgebrochen war, als Cam das fehlende Bier entdeckte; das Autoradio plärrte dazu. Schließlich sagte Daniel: »Dann werde ich jetzt also für den Rest meines Lebens an die Kette gelegt oder was?« »Schon möglich.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Hängt davon ab, wie du dich von nun an benimmst. Wenn du dich aus Schwierigkeiten raushältst und ein paar gute Noten heimbringst, garantiere ich dir, daß dein Leben verdammt viel leichter sein wird, mein Junge.« »Hm, hm.« Sie hatte das Falsche gesagt. Das Falscheste. Der Junge hatte eine Art Hm, hm zu sagen, daß Wren ihm am liebsten jedesmal eine geknallt hätte. Genaugenommen war es nur das Hm, hm, aber in Wirklichkeit bedeutete es: 12
Leck mich am Arsch. Sie spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. »Jetzt paß mal auf, du kleiner Idiot -« Sie hielt inne. Sie war zu wütend. Sie hatte sich einmal geschworen, den Kindern nie Schimpfnamen zu geben. »Okay, ich hätte dich nicht Idiot heißen sollen, aber du hättest mich auch nicht dazu bringen müssen, Daniel. Aber ich werde dir mal eines sagen -« Sie schaute aus dem Seitenfenster. »Park gleich hier.« Wren deutete auf einen freien Parkplatz und wartete, bis er den Motor abgestellt hatte, dann blickte sie ihren hübschen, schmollenden Sohn an. »Ich weiß, du meinst, du hättest es schwer im Leben, aber glaub mir, der Tag wird kommen, da würdest du alles, alles in der Welt für dein jetziges Leben geben, aber es wird zu spät sein, verstehst du? Zu spät. Und ich garantiere dir, das wird die schlimmste Strafe sein, die du dir nur denken kannst.« Wren ließ ihn mit dem nervtötenden Geräusch seiner sogenannten Musik zurück, um darüber nachzudenken, und ging in den Supermarkt - die Hausarbeit, die ihr am meisten verhaßt war. Auch eine Sache, mit der sich nur Frauen abplagten. Die wenigen Männer, die einkaufen gingen, waren entweder geschieden, verwitwet oder hatten Listen dabei, die ihre Frauen vorbereitet hatten. Die Frauen stellten natürlich die Listen zusammen, weil sie die Mahlzeiten planten und dafür sorgten, daß in den Badezimmern Zahnpasta war, ihre Töchter genügend Tampons hatten und ihren Männern die Rasierklingen nicht ausgingen. Männer waren natürlich nicht fähig dazu, an andere zu denken. Jedenfalls nicht, wenn eine Frau da war, die es für sie erledigte. Sie faltete ihre Liste auseinander und schob den 13
klapprigen Einkaufswagen Richtung Fleischabteilung. Sie stand neben einer Tiefkühltruhe mit Hähnchen und suchte nach den Hähnchenbrüsten ohne Knochen und ohne Haut, einfach so, wie jeden anderen Tag auch, als sich die Erde auftat und sie in einem Stück verschlang, als ihr bisheriges Leben endete, als alles, wofür sie gearbeitet und wovon sie geträumt hatte, zu Bruch ging, als ihr alle, die sie liebhatte, entrissen wurden und sie nackt, ungeschützt und sehr, sehr allein zurückblieb.
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2. Kapitel »Hallo Lissie.« Zwei Worte. Zwei einfache kleine Worte. Und obwohl sie die Stimme, die die Worte sprach, seit mehr als sechzehn Jahren nicht mehr gehört hatte, war sie ihr so vertraut und geläufig wie ihre Tamponmarke. Wie ein Blitz schlug der Schock in ihren Schädel, sauste im Zickzack ihre Wirbelsäule hinunter und sengte ihre Füße am Boden fest. Sie klammerte sich an ihren Einkaufswagen wie an eine Rettungsleine, um nicht in einer Rauchwolke zu verschwinden. Er war hinter ihr gestanden und trat nun vor sie hin, grinsend wie ein Schuljunge, den man bei einem Streich erwischt hat, und, weiß Gott, sein Gesicht, sein Körper, seine Stimme - erotischer und hübscher denn je - zogen sie an und stießen sie gleichzeitig ab, wie zwei Stahlmagneten, die Ende an Ende gelegt werden. Er streckte die Hand aus und ließ eine seidige Strähne ihres Haares durch seine Finger gleiten, und diese Geste, die so zärtlich und sinnlich war, traf sie wie eine Ohrfeige. An seinen Schläfen zeigten sich silbrige Strähnen im dichten, braunen und gelockten Haar, aber das war das einzige Anzeichen des Alterns, das sie entdecken konnte. Obwohl er genauso alt wie Cam war, hatte Jeremiah Hunter immer noch einen Bauch wie ein Waschbrett. Die geäderten Unterarme quollen aus dem gestärkten Tarnhemd, das über die Ellenbogen aufgerollt war, und endeten in großen, feinfühligen Händen, unter deren Berührung sie einst gekeucht hatte. Sein Kinn war kantig, die Lippen wie gemeißelt und diese Augen - sie konnte den Blick nicht von ihnen wenden -, es waren die 15
nämlichen seelenvollen dunklen Augen mit den dichten, borstigen schwarzen Wimpern und den entschlossen gekräuselten Brauen. Einsfünfundneunzig groß ragte Hunter neben Wren auf, und als er lächelte, dachte sie daran, daß Luzifer der schönste von Gottes Engeln gewesen war, bevor er in die Hölle stürzte. »Ich glaube, du bist mit den Jahren sogar noch schöner geworden, Lissie.« Er trat einen Schritt zurück und musterte sie bewundernd. Geh weg! Hau ab! wollte sie schreien. Statt dessen hielt sie sich am Einkaufswagen fest, zwang ihre Zunge dazu, sich im ausgetrockneten Mund zu bewegen, und sagte: »Ich heiße jetzt Wren.« »Ich weiß, ich weiß! War verflucht schwer, dich zu finden. Wie konnte ich auch vergessen, wie gerissen du bist; ich meine, wenn dich das FBI sechzehn Jahre lang nicht gefunden hat, wie konnte ich da annehmen, daß es mir leichtfallen würde? Andererseits haben mich Herausforderungen immer gereizt.« Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Wren blickte sich um, ob jemand in Hörweite war. Ein alter Hispano wühlte in der Hackfleischtruhe. Wren löste ihre Füße vom Boden, schob den Wagen um die Ecke und starrte blind auf Schachteln mit Getreideflocken. Es war die Apokalypse ihres Lebens. Nichts würde je wieder so sein wie früher. Bei allen Alpträumen in den vergangenen Jahren, bei allem Schmerz, den sie auf sich genommen hatte, um ihr Leben neu zu erfinden und der Verhaftung durch das FBI zu entgehen, war ihr nie in den Sinn gekommen, daß Hunter in der Lage sein könnte, sie zu finden. 16
Daß er überhaupt noch einmal aus dem Gefängnis kam. Hatten Gefängnisstrafen denn gar nichts mehr zu bedeuten? Hatten bewaffneter Raub, Mord und versuchter Mord an einem FBI-Beamten nicht mehr als sechzehn lausige Jahre verdient? Ein Aufschrei stieg ihr in die Kehle; sie unterdrückte ihn. Wie bald doch alles auf uns zurückkommt, dachte sie. »Ich schätze, ich war dir ein guter Lehrer«, sagte er mit seiner Schlafzimmerstimme und lächelte. »Als du während des Angriffs damals verschwunden bist, wußte ich, daß sie dich niemals finden würden. Die meisten Leute, die sich eine falsche Identität zulegen, machen irgendeinen dummen kleinen Fehler, rufen zum Beispiel ihre Eltern an, benutzen einen falschen Namen, der ihrem richtigen Namen zu ähnlich ist, oder erfinden eine Sozialversicherungsnummer, die nicht mit ihrem angeblichen Geburtsdatum übereinstimmt. Aber ich wußte, meine Lissie würde die ganze Welt an der Nase herumführen.« »Sprich leise«, sagte sie und verriet damit ihre Nervosität. Eine erschöpfte junge Mutter mit einem Neugeborenen im Einkaufswagen und einem schreienden Kleinkind, das an ihrem Bein zerrte, riß eine Schachtel Cheerios aus dem Regal und kurvte an Wren und Hunter vorbei. Wren wartete, bis die Frau um die Ecke verschwunden war, bevor sie sprach. »Was willst du?« Hunter tat gekränkt. »Was soll das heißen: Was ich will? Ich will natürlich dich. Meine kleine Lissie. Ich will, daß wir wieder Spaß haben wie früher.« Er beugte sich zu ihr, das Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt. »Wir haben ein neues Lager, Lissie. Es ist so viel besser als das letzte. Du glaubst es nicht, wenn du es nicht gesehen hast. 17
Ein Haufen echter, überzeugter Patrioten, die wissen, wofür es sich in dieser Welt zu kämpfen lohnt. Ich habe es seit Jahren geplant.« Seine Stimme bebte vor Aufregung wie früher. Sie erinnerte sich, wie diese Stimme einst von den Dachsparren schallte und ansonsten vernünftige Leute dazu aufhetzte, für… ja, für was eigentlich, zu kämpfen? Den Tod? Sie bemühte sich, ihre von Gefühlen verwirrten Gedanken zu ordnen. »Ich dachte, du seist im Gefängnis.« »Das war ich. Fünfzehn lange, einsame Jahre. Aber das ist nun alles vorbei.« »Bist du geflohen?« Er lachte dieses laute, ansteckende Lachen, das sie einst ebenfalls zum Lachen gebracht hatte. »Nein, nein, nichts dergleichen. Ich wurde bedingt entlassen. Ganz legal. Ich brauchte eine Weile, um alles ins Rollen zu bringen, und noch ein Weilchen länger, um dich zu finden, aber Junge, Junge, die Suche hat sich ehrlich gelohnt!« Er berührte wieder ihr Haar, und sie zuckte zurück. Er runzelte die Stirn. »Was ist los, Schatz?« Wren zitterte heftig am ganzen Leib. Es kostete sie große Selbstbeherrschung, es vor seinem stechenden Blick zu verbergen. »Hunter… Ich bin inzwischen verheiratet. Ich habe Kinder - ein völlig neues Leben. Ich kann nicht einfach alles zurücklassen.« Er nickte. »Ich weiß. Diese Zoe ist ein Püppchen, und Daniel, nun, irgend etwas sagt mir, daß er ziemlich anstrengend ist.« Er grinste. Ihre Eingeweide zogen sich zusammen, als sie die Namen ihrer Kinder über seine Lippen kommen hörte. Woher wußte er das? Er mußte eine Weile um sie 18
herumgeschlichen sein und ihre Familie beobachtet haben. Bei dem Gedanken gaben ihre Knie nach. »Jedenfalls kannst du sie mitbringen, wenn du willst. Wir können sie dort im Lager unterrichten.« Er kicherte. »Ziemlich schlau, Lissie, einen Strafverteidiger zu heiraten. Was für ein Witz.« Er lachte laut auf. In ihren Ohren dröhnte es, und für einen kurzen panischen Augenblick meinte sie, ohnmächtig zu werden. »Nein.« Die Stimme kam von weit her, als ob es nicht ihre eigene wäre, und doch war sie es. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. »Ich kann nicht, Hunter. Jetzt nicht mehr. Diese Zeiten sind vorbei. Ich führe jetzt ein neues Leben. Ich kann nicht… Ich kann einfach nicht.« Er lächelte sie an. Es war ein süßes, trauriges Lächeln, ein wissendes Lächeln. Es bedeutete: Du wirst mich nie im Stich lassen. Eine kalte Hand schloß sich um ihr Herz. Sie zitterte. »Mom? Ich habe keine Lust mehr, im Auto zu warten. Kriegen wir ein paar Windbeutel? Wer ist das?« Wenn Daniel noch klein gewesen wäre, hätte sie in diesem Augenblick ihr Kind in die Arme gerafft und wäre um ihr Leben zum Auto gerannt. Sie hätte ihn mit ihrem Leben verteidigt. Sie hätte bis zum Tod für ihn gekämpft. Aber er war nicht mehr klein. Er war ein schlaksiger Jüngling, einen Kopf größer als sie, der mit offener Neugier auf ihre Vergangenheit starrte und höflich darauf wartete, diesem einen Menschen 19
vorgestellt zu werden, den sie sechzehn Jahre lang geheimgehalten hatte, dem einen Menschen, der die Macht hatte, sie alle zu vernichten. Es ging um eine Lebenslüge. Eins der Dinge, die Daniel am Leben in einer Kleinstadt haßte, war, daß man nie jemand neuen kennenlernte, deshalb war er überrascht, als er in den Supermarkt schlenderte und seine Mutter dabei antraf, wie sie mit diesem… Typ redete. Daniel hatte noch nie jemanden wie ihn gesehen, und er wußte nicht genau, wieso. Vielleicht war es das Tarnhemd, das er trug; es war keins, wie es ein Jäger tragen würde, es waren Aufnäher und so Zeug von der Army drauf. Außerdem war er ein großer, starker Kerl, ohne Frage ein Gewichtheber. »Du mußt Daniel sein«, sagte er und umschloß die Hand des Jungen mit einem Griff, der so kräftig war, daß Daniel ein Schmerzenslaut entfuhr. »Ja, Sir«, sagte er und trug seine besten Manieren zur Schau. »Ich bin Hunter. Ich bin ein alter Freund deiner Mutter.« Daniel sah seine Mutter an. Sie starrte auf ihre Füße. »Kennen Sie sie vom College?« fragte er höflich. Hunter kicherte. »Nöh, das nicht. Früher. Ich habe deine Mutter gekannt, als sie etwa in deinem Alter war.« »Ich war achtzehn«, sagte seine Mutter, und sie klang angespannt. Daniel fragte sich, was er nun schon wieder falsch gemacht hatte. Hunter lächelte auf seine Mutter herab, und Daniel 20
konnte nicht umhin zu denken, daß er wie ein Filmstar oder so aussah. Und die Art, wie er Daniels Mutter ansah, war nicht so, wie ein Kerl normalerweise eine verheiratete Frau mit Kindern ansah. Daniels Freunde machten ihm oft das Leben damit schwer, wie gut seine Mutter aussah. Sie machte Bodybuilding und ging zum Schwimmen, und anders als bei allen Müttern und allen Lehrerinnen, die er sonst kannte, reichte ihr schwarzes Haar bis zur Taille hinab. Sie hatte hohe Wangenknochen und einen dunklen Teint - vor allem im Sommer -, ihre Augen jedoch waren verblüffend blau. Er wußte, daß sie eine indianische Großmutter hatte, eine Cherokee, aber sehr viel mehr wußte er nicht. Ihre Leute waren tot, und sie war in einem Waisenhaus aufgewachsen, deshalb sprach sie nicht viel über ihre Vergangenheit. Selbst Daniel fiel es schwer zu begreifen, was seine Mutter an einem Mann wie Cam Cameron gefunden hatte. Er war nett und alles, aber, bah, der Typ war ein Langweiler! Daniel war jetzt schon größer als sein Vater, der beinahe völlig kahl war, nie Fitneßtraining machte und mit sechsundvierzig - zehn Jahre älter als seine Mutter einen Bauch ansetzte. Alles, was er tat, war arbeiten, um seine heruntergekommenen Klienten rauszuhauen, und Fernsehen schauen. Das war das Problem mit Daniels Eltern. Es war kein Leben in ihnen. Daniels größte Angst war, daß er so werden könnte wie sein Vater. Das Leben mußte einfach mehr Aufregung zu bieten haben. Wenn er mit der Schule fertig war, wollte er zur Army gehen und Fallschirmspringer werden. Oder vielleicht Polizist bei der SWAT. Oder Rennfahrer. Alles, 21
nur kein Provinzanwalt. Alles, nur kein kahlköpfiger Langweiler, der vor dem Fernseher hockte, während seine gutaussehende Frau Schulaufgaben korrigierte. Die Sache war die, daß sein Vater noch nie irgendwas Interessantes gemacht hatte. Er war nicht in Vietnam gewesen, nicht einmal bei der Army, weil er Asthma hatte oder so. Er tat nie etwas Unrechtes. Geriet nie in Schwierigkeiten. Hatte lauter Einser geschrieben. Ging mit einem Stipendium aufs College. Teufel, wahrscheinlich war er einer von den Studenten gewesen, die Aufsicht führten oder so. »Ja«, sagte Hunter und riß Daniels Gedanken zurück in die Gegenwart. »Deine kleine Mom war damals schwer auf Zack.« »Tatsächlich?« Daniel warf ihr einen Blick zu und sah, wie die Muskeln in ihrem Kiefer arbeiteten. Sie war stinksauer über irgendwas. Ihm war nicht wohl dabei. Mit einem plötzlichen Ruck fing sie an, den Einkaufswagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Gang hinunter zu schieben, kurvte um andere Einkaufswagen und warf Sachen hinein. Merkwürdige Sachen. Zum Beispiel fuhr sie an den Pop Tarts vorbei und nahm statt dessen Haferflocken. Daniel haßte Haferflocken. Er schnappte eine Packung Pop Tarts und ließ sie in den Korb gleiten, als sie ihm den Rücken zuwandte. Hunter, der mit den Händen in den Taschen hinter ihnen her schlenderte, grinste Daniel verschwörerisch an und flüsterte: »Das gleiche habe ich bei meiner Mom auch immer gemacht.« Sie warf ihnen einen wütenden Blick über die Schulter 22
zu und eilte den nächsten Gang entlang, direkt an der Milch vorbei, obwohl Daniel haargenau wußte, daß sie keine mehr zu Hause hatten. Scheiße, was hatte er getan? Hatte sie den Joint in seiner Schreibtischschublade gefunden? Es war nämlich gar nicht seiner; er gehörte Eric. Er mochte das Zeug sowieso nicht und verstand nicht, was so toll daran sein sollte, aber er hob ihn für Eric auf. Er hatte doch gleich gewußt, daß er ihn besser hätte verstecken sollen. Sie würden ihm nie glauben, selbst wenn er die Wahrheit sagte. Sein Vater mochte es überhaupt nicht, wenn man log. Im Gang mit den Bieren zog seine Mutter ein Sechserpack Miller Draft heraus. »Als ich in deinem Alter war«, sagte Hunter immer noch lächelnd, »habe ich meinem Dad das Bier immer direkt unter der Nase wegstibitzt.« Daniels Mutter fuhr herum, öffnete den Mund, schloß ihn wieder und drängte energisch weiter. Sie warf Doritos in den Wagen, obwohl Daniel sie ausdrücklich gebeten hatte, Cheetos zu kaufen. Er legte dreist welche zu den Doritos, aber seine Mutter sagte nichts. Daniel sagte zu Hunter: »Haben Sie keinen Ärger bekommen?« »Wegen was?« »Na, weil Sie Ihrem Dad Bier geklaut haben.« Hunter kicherte. »Nöh. Er war immer so blau, daß er es gar nicht bemerkt hat. Ich und meine Freunde müssen den alten Hurensohn ein Vermögen an Bier gekostet haben.« Daniel warf seiner Mutter einen nervösen Blick zu. 23
Wenn sie Hunter gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Es war schwer, sich vorzustellen, daß sie einmal befreundet waren. Der Typ war wirklich cool, und seine Mutter war so gereizt. Er brachte es nicht auf die Reihe. Er folgte ihr zur Kasse. Der Wagen war halbvoll. Daniel bedachte die Situation. Er entschied, daß es nicht der Joint sein konnte, sonst hätte sie schon im Auto was gesagt. Er fragte sich, ob er etwas Falsches zu Hunter gesagt hatte, aber er konnte sich nicht vorstellen, was es gewesen sein könnte. Hunter war ein netter Kerl, und er hatte nur ein bißchen Small talk mit ihm gemacht. Was konnte daran so schlimm sein? »Daniel«, sagte seine Mutter plötzlich, »geh und warte im Wagen.« »Wozu?« »Tu’s einfach.« »Wieso?« »Daniel -« Hunter legte Daniel seine große Hand auf die Schulter. Sein Griff war sacht, aber bestimmt. »Tu lieber, was deine Mom sagt, Dan.« »Er heißt Daniel.« Daniel blickte von seiner Mutter zu Hunter. Was zum Teufel war hier los? Hunter lächelte ihn an. »Hat dich noch nie jemand Dan genannt?« Daniel zuckte Spitznamen.«
die
Achseln.
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»Mom
mag
keine
Hunter warf den Kopf zurück und lachte schallend. Daniel kam beim besten Willen nicht darauf, was so komisch war. Er lächelte unsicher und sah seine Mutter an. Sie lächelte nicht. »Also, Junge, für mich siehst du wie ein Dan aus«, sagte Hunter. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich so nenne, oder?« Er schaute Dan durchtrieben an. Und Daniel, der noch immer grübelte, warum er seine Mutter so wütend gemacht hatte, und doch unwiderstehlich von dem Gedanken angezogen wurde, sie noch mehr auf die Palme zu bringen, lächelte Hunter an und sagte: »Nein.« »Gut.« Hunter drückte seine Schulter. »Dann bleibt’s also bei Dan. Wir sprechen uns wieder, mein Sohn. Ich muß mich sowieso auch auf den Weg machen. Und du läufst jetzt lieber schon mal vor.« Daniel gehorchte augenblicklich, ohne sich noch einmal nach seiner Mutter umzudrehen.
Cam und Zoe lachten zusammen über irgend etwas im Fernsehen, als sie den Wagen in die Garage fahren hörten. Cam stand auf und ging zur Küche, um mitzuhelfen, die Lebensmittel hereinzutragen. Er hörte, wie die Hintertür aufging und seine Frau mit schnellen Schritten durch den Abstellraum kam. Dann platzte sie förmlich in die Küche und raste, weiß im Gesicht, an ihm vorbei.
Sie steuerte direkt auf das Schlafzimmer zu. Mußte wegen Daniel sein. Was zum Teufel hatte der Junge jetzt bloß wieder angestellt? Cam ging sofort in die 25
Garage, wo Daniel sich Tüten mit Lebensmitteln aus dem Kofferraum des Blazer in die Arme lud. »Was hast du mit deiner Mutter gemacht?« fragte Cam. Daniel, der ungefähr fünf Plastiktüten mit Lebensmitteln vor sich her trug und gefährlich nahe dran war, jede einzelne fallen zu lassen, drängte sich in der engen Garage an seinem Vater vorbei. »Sag du es mir, dann wissen wir’s beide«, sagte er in seiner pampigen Art. Cam hob die Augen zur Decke und holte tief Luft. Es war so angenehm gewesen, vor dem Fernseher zu lachen und einen häuslichen Abend mit Zoe, seinem ›braven Kind‹, zu genießen. Zoe bereitete ihm stets nur Freude. Wenn sie nicht wäre, würde Cam an seinen offenkundig niederschmetternden Leistungen als Vater verzweifeln. Statt dessen machte ihm Zoe Hoffnung für Daniel. Manchmal. Aber jedesmal, wenn Daniel zur Tür hereinkam, brachte er eine dunkle Wolke mit, und das Gewitter folgte unweigerlich. Meistens wußte Cam nicht, was er tun sollte. Wenn er sich bei seinem Vater so freche Antworten erlaubt hätte, wie sich sein Junge bei ihm herausnahm, hätte er sich selbst vom Boden aufklauben können. Was zum Teufel war es diesmal? Vandalismus in der Schule? Fahren ohne Führerschein? Noch mehr schlechte Noten? Cam war der Meinung, daß Wren es Daniel in gewisser Weise zu leicht machte. Zu schnell verständnisvoll, wenn sie streng sein sollte. Zu gesprächsbereit, wenn sie strafen sollte. Trotzdem war nicht zu leugnen, daß Daniel ein völliges Rätsel für Cam war, und das machte ihm angst. Er verließ sich 26
weitgehend darauf, daß Wren bei dieser unsicheren Reise durch die Adoleszenz ihres Sohnes seine Kartenleserin war. Er hoffte und betete nur, daß die Reise nicht in einer Sackgasse enden würde. Mit einem tiefen Seufzer betrat Cam den Vorraum und führte einen komischen kleinen Tanz mit seinem Sohn auf, als sie in dem engen Raum um Platz rangelten. Daniel warf den Kopf auf seine unangenehme Art zurück. Der Junge bestand unbedingt auf seiner Frisur mit dem schwachsinnigen Mittelscheitel, die ihn wie einen jungen Hund mit Schlappohren aussehen ließ. Cam war einsachtzig, nicht auffallend klein, aber mit seinen fünfzehn Jahren überragte ihn Daniel bereits um fünf Zentimeter. Er war nicht der einzige Vater in seinem Bekanntenkreis, dessen Sohn größer war. Eine Weile hatte er sogar gehofft, der Junge würde sich für Basketball interessieren, aber natürlich hätte er wissen können, daß Daniel keine Lust auf etwas haben würde, bei dem man sich derartig anstrengen mußte. Es war ihm immer noch seltsam unwohl dabei, zu den dunklen Augen seines Sohnes aufzuschauen. Auf dem Weg durch das Wohnzimmer forderte Cam seine Tochter auf, ihrem Bruder mit den Lebensmitteln zu helfen und die Sachen wegzuräumen, und ging den Flur entlang zu dem Schlafzimmer, das er mit Wren teilte. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, blieb er einen Augenblick im Eingang stehen und betrachtete seine Frau, die in der Embryostellung unter den Laken zusammengerollt lag. Sie war vollständig angezogen, einschließlich der Schuhe. 27
Er eilte ans Bett und blickte auf sie hinab. Unter ihrer dunklen Gesichtshaut war eine krankhafte Blässe, als müßte sie sich gleich übergeben. »Wren? Was ist los, Liebling? Bist du krank?« Wren setzte sich auf, zog die Bettdecke bis ans Kinn und schlang die Arme um die Knie. Sie fing mit einer sonderbaren Schaukelbewegung an. »Er ist hier«, flüsterte sie. »Er hat mich gefunden.« Cam hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon seine Frau sprach, aber ihr Tonfall und ihr Gesichtsausdruck genügten, damit es ihm kalt über den Rücken lief. Er setzte sich auf die Bettkante und ergriff ihre kalte, zierliche Hand. »Wer?« Sie antwortete nicht gleich, so als sei das, was sie zu sagen hatte, zu schrecklich, um damit herauszuplatzen. Dann schloß sie die Augen und sprach den einen Namen aus, von dem Cam gehofft hatte, ihn nie mehr im Leben hören zu müssen: »Hunter.« Dann wandte sie sich ihm zu, in ihrem Blick lagen so viel Angst und Verzweiflung, und Cam wurde in diesem kurzen Augenblick bewußt, daß nichts wieder so sein würde wie früher.
28
3. Kapitel Wren spürte einen wachsenden Druck hinter den Augen und sprang auf, wobei sie die Bettdecke mitschleifte und sich um die Schultern wickelte. Sie durfte nicht weinen. Sie würde auch nicht weinen. Wren weinte nie. Sie erlaubte es sich nicht. Selbst im Kreißsaal, als die Schwestern ihr die Kleinen in die Arme gelegt hatten, hatte sie die Tränen hinuntergeschluckt, weil sie vor den anderen nicht schwach erscheinen wollte. Sie schluckte wieder und zwinkerte ein paarmal, wobei sie Cam den Rücken zuwandte. Als sie sich besser in der Gewalt hatte, drehte sie sich um und sah ihren Mann an. »Er kam im Supermarkt auf mich zu. Einfach so. Er wurde bedingt entlassen.« »Wie hat er dich gefunden?« Sie zuckte die Achseln. »Welche Rolle spielt das jetzt noch? Er hat mich gefunden, das ist alles, was ich weiß.« Er nickte, dann neigte er den Kopf in einer Weise, die sie gut von seinen Auftritten vor Gericht kannte. Die Nachttischlampe spiegelte sich auf seinem nahezu kahlen Kopf, und Wren fühlte sich sehr einsam. Sie brauchte noch einen Augenblick, um ihre aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bringen, dann sagte sie ruhig: »Er hat eine neue Community. Er nennt es allerdings nicht so, er nennt es einfach ein Lager. Aber es sind wieder Survivalisten, genau wie damals.« Cam hob den Kopf und sah sie an, und in diesem Augenblick war er nicht mehr der Rechtsanwalt, sondern ein verletzlicher Mensch, dessen Familie bedroht wird und 29
der noch nicht weiß, wie er sich dagegen wehren soll. »Er will dich zurückhaben… stimmt’s?« Wren biß sich auf die Unterlippe. »Woher wußtest du das?« Er zuckte die Achseln. »Warum sollte er sich sonst so viel Mühe gemacht haben, dich zu finden? Du warst früher einmal sein Eigentum, und nun will er dich zurückhaben.« Wren wurde plötzlich von Panik gepackt. Sie begann hin und her zu rennen, die Bettdecke schleifte sie mit. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, was ich tun soll!« Cam griff nach dem Telefon. »Warte -« Sie berührte seine Hand. »Was hast du vor?« »Ich habe Freunde bei der Polizei. Manche von ihnen sind mir den einen oder anderen Gefallen schuldig.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Er zögerte, dann lehnte er sich zurück. »Wieso nicht?« »Zum einen hat er absolut nichts Gesetzwidriges getan. Er hat mich in keinster Weise bedroht - dafür ist er zu gerissen. Und was das andere angeht, naja, das weißt du so gut wie ich.« »Du hast Angst, daß sie dich melden.« »Ich weiß, daß sie mich melden werden. Was bleibt ihnen anderes übrig?« Er nickte schweigend. Nach einer Weile sagte er: »Wir müssen es den Kindern sagen.« »Nein!« 30
»Wren, das ist eine Frage ihrer Sicherheit. Sie müssen wissen, daß sie sich vor diesem Kerl in acht nehmen müssen.« Sie eilte, noch immer in die Decke gehüllt, hin und her und sagte: »Ich kann nicht.« Er seufzte. »Es tut mir leid.« Als sie den mißbilligenden Blick in seinen Augen sah, schrie sie: »Wie kannst du so etwas von mir verlangen?« »Für sie«, sagte er ruhig. »Du würdest es für sie tun.« »Ich kann sie nicht vor Jeremiah Hunter beschützen! Es schützt sie nicht vor Hunter, wenn wir ihnen die Wahrheit über mich erzählen! Das ist dir doch wohl klar.« Sie stolperte über die Bettdecke, warf sie zur Seite und gab ihr noch einen Tritt obendrein. Wenn sie nur von ihrer Vergangenheit sprach, wenn sie nur daran dachte, drohten ihre Emotionen außer Kontrolle zu geraten. Wren wußte das und konnte es doch nicht aufhalten. »Wren, Liebling -« »Wie kannst du das von mir verlangen?« schrie sie. »Ich kann es nicht! Ich kann es nicht!« »Okay, okay.« Cam sprang auf und streckte die Hand nach ihr aus, aber sie entzog sich ihm. »Beruhige dich. Es ist alles gut.« »Nichts ist gut!« schrie sie. »Pssst. Willst du, daß dich die Kinder hören?« Sie stand zitternd vor ihm, die Augen weit aufgerissen, 31
das Haar wild zerzaust. Mit Grabesstimme sagte sie: »Du kannst nicht von mir verlangen, meinen beiden Kindern zu erzählen, daß ihre Mutter für den Tod von dreizehn Menschen verantwortlich ist darunter zwei Kinder.« Sie streckte die zitternden Hände aus und starrte sie blind an. »Ich werde ihr Blut nie von meinen Händen waschen können.« Dann stürzte sie ins Badezimmer, knallte die Tür zu und erbrach sich so heftig, daß sie am Ende Blut sah. »Wren!« Cam hämmerte an die Tür. »Mach die Tür auf!« »Daddy? Ist mit Mom etwas nicht in Ordnung?« Zoe stand im Eingang zum Schlafzimmer, wie immer feinfühlig für jede Spannung im Haus. »Sie… sie fühlt sich nicht wohl, Kleines. Mach dir keine Sorgen.« Sie sah ihn zweifelnd an. »Es ist alles in Ordnung. Nun geh schon.« Sie wandte sich zum Gehen, und Cam hörte Daniels Stimme hinter ihr: »Was hat er gesagt?« Cam schüttelte den Kopf. Immer schickte Daniel seine Schwester vor, damit sie für ihn spionierte. Er rüttelte am Türknauf und sagte mit etwas ruhigerer Stimme: »Wren, zwing mich nicht, die Tür aufzubrechen. Ich tu es, wenn es sein muß.« Er hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde, und drängte hinein. Wren stand mit dem Rücken zu ihm über das Waschbecken gebeugt und spritzte sich Wasser ins 32
Gesicht. Wenn sie geweint hatte, konnte er es nicht sagen. Sie ließ es ihn nie sehen. Er wußte jedoch, daß ihr schlecht gewesen war, und legte die Hand in ihren verspannten Nacken. »Geht’s dir gut?« Sie nickte, dann drehte sie sich plötzlich um, vergrub das Gesicht an seiner Brust und schlang die Arme fest um seine Mitte. Er hielt sie lange in den Armen, redete ihr gut zu und strich ihr das feuchte Haar aus dem erhitzten Gesicht. »Komm hier rein und leg dich nieder«, sagte er, »während wir überlegen, was wir tun sollen.« Sie nickte und ließ sich zum Bett führen, wo sie sich gegen die Kissen stützte und am Laken zerrte. Er zog ihr die Schuhe aus, dann hob er die Bettdecke vom Boden auf, deckte sie damit zu und stopfte die Decke fest, als wäre sie ein Kind. Er verzog das Gesicht, als er ihren hohläugigen Blick sah, und tadelte sich in Gedanken selbst, weil er sich so hilflos fühlte. Er nahm auf den Kissen neben ihr Platz, legte die Beine übereinander, lehnte sich an das Bettgestell und zog sie in seinen Arm. »Also, was willst du tun? Wegziehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das können wir den Kindern nicht antun. Abgesehen davon findet er mich überall.« »Dann laß mich mit ein paar von meinen Freunden bei der Polizei sprechen. Ich bringe sie schon dazu, mir einen Gefallen zu tun.« »Nein. Sie können niemandem Beistand leisten, der landesweit gesucht wird, Cam, das weißt du sehr gut. Und wenn sie mich melden, kommt das FBI und verhaftet mich. Ich werde vor den Augen der Kinder weggebracht. Wer weiß, wie viele Jahre ich absitzen muß.« 33
Cam sagte nichts. Sie hatten diese Auseinandersetzung schon oft geführt seit dem Tag, an dem er ihr die Ehe vorschlug und sie ihm ihre wahre Identität enthüllte. Er hatte sie trotzdem geheiratet, weil er sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen konnte, dennoch hatte Wrens Vergangenheit einen Schatten über ihrer beider Leben geworfen, wenngleich sie selten darüber sprachen. In den ersten Monaten war sie nervös wie ein Vogel gewesen und hatte sowohl bildlich als auch wörtlich ständig über die Schulter geblickt. Als Hunter in einem aufsehenerregenden Prozeß schuldig gesprochen und verurteilt wurde, schien sie sich etwas zu entspannen, obwohl sie sich in Gegenwart von Fremden immer unbehaglich fühlte und nicht schnell Freundschaften schloß. Die Freunde, die sie hatte, ahnten selbstverständlich nichts. Cam war der einzige Mensch, der es wußte, und das hatte, auf der Grundlage ihres Vertrauens zu ihm, schon früh ein Band zwischen ihnen geschmiedet. Schließlich war sie nicht als Klientin zu ihm gekommen. Sie hatten sich in einem Park kennengelernt, in den er täglich ging, um seinen mitgebrachten Lunch zu essen und vom Büro wegzukommen. Ihre junge Liebe hatte rasch Fortschritte gemacht, hauptsächlich, weil Cam der Typ war, der sich gern um jemanden kümmerte, und Wren so wirkte, als hätte sie jemanden nötig, der sich um sie kümmerte. Hunter hatte schon tiefe Narben auf ihrer Seele hinterlassen, aber der verpfuschte FBI-Angriff auf das Lager der Survivalisten in den Sümpfen von Louisiana, wo er eine Art kleines Königreich unterhielt, und der daraus resultierende gewaltsame Tod von Menschen, mit denen sie gelebt und die sie geliebt hatte, hatten sie endgültig am Boden zerstört, und der Schaden war so 34
beträchtlich, daß Cam bei ihrer Heirat wußte, ein Teil von ihr würde für immer verloren sein. Es war ihm egal. Er wollte sie einfach nur für den Rest seines Lebens jeden Tag ansehen können. Sie hatten sich zusammen ein gutes Leben aufgebaut, ein glückliches sogar, zumindest bis Daniel anfing, in Schwierigkeiten zu geraten. Cam schätzte, sie waren im Lauf der Jahre etwas abgeklärter geworden. Er hatte nicht mehr das Gefühl, daß Hunters Geist mit im Bett war, wenn er mit ihr schlafen wollte. Sie zuckte nicht mehr zusammen, wenn er nur die Stimme hob, und fürchtete sich auch nicht mehr vor seinem Zorn. Jeremiah Hunter war Schweinehund gewesen.
ein
ziemlich
brutaler
Und nun war er wieder da. Was Cam am meisten zu schaffen machte, war, daß seine Frau nicht einfach beunruhigt oder durcheinander war - sie war zu Tode erschrocken. Er hätte sie gern getröstet, aber er wußte nicht, wie. Sie ließ ihn nicht die Polizei rufen, und es bestand, wie er zugeben mußte, sehr wohl die Möglichkeit, daß sie im Gefängnis landete, wenn er es tat. Wer wußte, was diesem Kerl zuzutrauen war? Er war als Terrorist verurteilt worden. Cam konnte nie fassen, wie manche dieser Verurteilten mit dem System spielten, einem Entlassungsausschuß schier das Herz brachen, jedes Benehmen annahmen, das erforderlich war, um für brave Jungs gehalten zu werden - nur damit sie freigelassen wurden und rausgingen, um genau das gleiche zu tun wie vorher. Als Strafverteidiger tat er sein Bestes, um seinen 35
Klienten einen fairen Prozeß zu verschaffen, aber es gab Grenzen, die er nicht überschritt. Er verteidigte keine Kinderschänder und niemanden, der eines Sexualverbrechens verdächtig war. Und er verteidigte keinen, der des Mordes angeklagt war, es sei denn, es gab zwingende Beweise oder zumindest einen sehr starken Verdacht, daß der Mann tatsächlich unschuldig war. Was im wesentlichen darauf hinauslief, daß Cam nicht gerade das große Geld machte. Nicht soviel, wie er hätte machen können, wenn er im Unternehmensrecht tätig gewesen wäre oder die Schuldigen in aufsehenerregenden Prozessen verteidigt hätte. Wo stand er, Harry Cameron, also im Vergleich zu Hunter? Da war auf der einen Seite er, mittleren Alters, außer Form, ein Anwalt, der gegen die Todesstrafe kämpfte, keine Waffe besaß und schon ernsthafte Probleme damit hatte, ein Tier zu töten. Und da war andererseits Hunter, ein gewissenloser Killer, schwer bewaffnet und durchtrainiert und, wie Cam vermutete, muskelbepackt vom jahrelangen Gewichtheben im Kittchen. Was konnten sie tun? Ein kostspieliges Alarmsystem im Haus einbauen lassen? Und wenn sie in der Schule oder in der Arbeit waren? Leibwächter anstellen? Wovon? Soviel Geld hatten sie nicht. »Ich könnte zurückgehen.« »Was?« Cam rüttelte seinen Geist wach. Er hatte geglaubt, daß Wren schlief, weil sie so ruhig auf seiner Brust gelegen hatte. »Ich könnte zu ihm zurückgehen. Dann wären die Kinder in Sicherheit.« 36
Er zog sie fest an sich und hielt sie in den Armen. »Ich würde dich niemals zu diesem Kerl zurückgehen lassen«, sagte er. »Eher sterbe ich.« Cams Worte ließen Wren frösteln, und sie zitterte. »Sag das nicht«, sagte sie. »Sonst kommt der falsche Rabe.« »Der falsche Rabe?« Sie nickte. »Meine Großmutter hat mir erzählt, daß der Rabe in den Sagen der Cherokee ein geistiger Führer und Heiler ist. Aber wenn jemand krank oder in Gefahr ist, nehmen die bösen Geister manchmal die Gestalt des Raben an und kommen, um dem Geschwächten das Leben auszusaugen.« Er drückte sie. »Ich höre gern die Geschichten deiner Großmutter. Ich wünschte, ich hätte sie gekannt.« Es war ein klassischer Trick aus dem Gerichtssaal, ein Ablenkungsmanöver, damit sie nicht ihren grausigen Gedanken nachhing. »Sie war eine außergewöhnliche Frau. Eine faszinierende Geschichtenerzählerin. Ich durfte nur zwei Sommer meines Lebens mit ihr im Cherokee-Reservat in Oklahoma verbringen, als ich noch ein Kind war, und trotzdem sind mir ihre Geschichten immer noch sehr gegenwärtig.« »Du solltest sie an die Kinder weitergeben, Wren. Alles, was ich dich je erzählen hörte, war, wie sie dir deinen Namen gab, ›der kleine Zaunkönig, der den großen Habicht verjagt‹. Es hat ihnen sehr gefallen.« (Wren = Zaunkönig. A. d. Ü.) Sie schüttelte den Kopf. »Stadtkinder. Sie haben nie gesehen, wie diese winzig kleinen Vögel die großen Habichte von ihrem Nest vertreiben. Wie wenn ein Elefant vor einer Maus 37
davonläuft.« »Aber du solltest ihnen mehr erzählen. Es ist auch ein Teil ihres Erbes.« »Ich würde ja gern«, sagte Wren traurig, »aber ich habe Angst, wenn ich auf zu viele Einzelheiten über meine Großmutter eingehe, daß mir rausrutschen könnte, daß Mutter und Dad noch leben und ich sie nicht mehr gesehen habe, seit ich achtzehn war… seit ich mich mit Hunter einließ. Es ist unverzeihlich, daß sie ihre Großeltern nie kennengelernt haben. Ich bin mir sicher, meine Schwester ist inzwischen längst verheiratet. Sie muß schon Kinder haben. Cousins und Cousinen, die sie nicht einmal kennen! Wie könnte ich ihnen das alles erzählen, ohne daß sie herausfinden, warum ich meine Familie nicht mehr gesehen habe?« Sie setzte sich auf und zog sich von ihm zurück. »Wenn meine Kinder je die Wahrheit über mich herausfinden, werden sie mich hassen.« »Sei nicht lächerlich.« »Ganz und gar nicht. Sie wüßten dann, daß alles, was ich ihnen von mir erzählt habe, gelogen war. Wie könnten sie danach je wieder Achtung vor mir haben?« »Wren -« Er streckte die Hand nach ihren Händen aus, aber sie ergriff sie nicht. »Mutter und Dad halten mich sicher schon längst für tot«, sagte sie. »Es ist besser, die Vergangenheit ihre Toten begraben zu lassen.« Sie sagte es und hörte es sich sagen, aber in Gedanken fügte sie hinzu: Bis die Geister auferstehen und dich verfolgen. 38
4. Kapitel Als die Glocke zum Ende des Schultages ertönte, schoß Daniel nicht von seinem Platz hoch, wie es seine Art war. Er war noch nicht dazu bereit, nach Hause zu gehen, und er hatte überhaupt keine Lust, seiner Mutter zu begegnen. Er wünschte, er hätte gewußt, was verdammt noch mal vor sich ging. In der letzten Woche hatte sich seine Mutter total übergeschnappt benommen. Und es wurde immer schlimmer. Richtig paranoid. Sie war schon immer ein bißchen überfürsorglich gewesen, aber das jetzt ging zu weit. Selbst seine Schwester, die Prinzessin, wurde langsam sauer. Er ließ sich sehr viel Zeit, um zu seinem Spind zu gehen. Eric kam vorbei. Seine Haare waren heute purpurn, und es sah echt cool aus. An dem Tag, an dem er sie grün gefärbt hatte, hätte ihn die alte Satterwhite beinahe rausgeschmissen. Offenbar hielt sie Purpur für natürlicher. »Hi, Eric.« »Hi, Kumpel.« »Du mußt mich retten, Mann. Meine Mom dreht total durch, und ich muß mal raus von daheim, bevor es Tote gibt.« Eric grinste. Sein purpurnes Hemd war nicht im selben Purpurton wie seine Jeans, und beide paßten nicht zu den schulterlangen Haaren. Der gute alte Eric. Man konnte sich immer darauf verlassen, daß er einen modischen Akzent setzte. Eric legte Daniel eine Hand auf die Schulter. »Wo liegt das Problem, mein Guter?« »Wenn ich das nur wüßte, verdammt. Sie spinnt total.« 39
»Okay. Hört sich an, als sei eine gute Party genau das richtige.« »Du hast ja so recht. Die Frage ist nur, wie?« »Kein Problem. Überlaß alles mir.« Sie waren oben an der Treppe angelangt und gingen gerade zum Zimmer seiner Mutter hinunter, als sie die Treppe heraufkam. Wie immer in letzter Zeit sah sie stinksauer aus. »Wo warst du?« fragte sie. »Du hättest mich vor fünfzehn Minuten treffen sollen.« Daniel tauschte einen Blick mit Eric. Er schlug die Hacken seiner Turnschuhe zusammen und ließ die rechte Hand zu einem Heil Hitler-Gruß vorschnellen. »Mon Commandant!« rief er. Eric kicherte. Seine Mutter fand es nicht komisch. »Wenn ich drei Uhr dreißig sage, dann meine ich drei Uhr dreißig, Daniel.« Daniel wurde rot. Was war nur los mit der Frau? Sie behandelte ihn wie ein Baby - vor den Augen von einem seiner Freunde. Daniel öffnete den Mund, um auf sie zu fluchen, als Eric vor ihn trat und sagte: »Es war meine Schuld, Missis Cameron. Sehen Sie, ich muß in Geschichte bald eine größere Arbeit abliefern, und ich weiß einfach nicht, wie ich damit anfangen soll. Nachdem Daniel letztes Jahr in Geschichte durchgesaust ist und es heuer wieder belegt, dachte ich mir, er wäre der Richtige, um mir dabei zu helfen.« Daniels Mutter machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe ihn eben gefragt, ob er nach der Schule mit 40
mir in die Bibliothek gehen könnte, damit wir daran arbeiten, aber Daniel sagte, er glaube nicht, daß er mitkommen kann, weil, ähm… Sie sich in letzter Zeit nicht wohl gefühlt haben, und er meinte, Sie würden vielleicht seine Hilfe im Haus brauchen.« Daniel seufzte. Eric fing immer mit so großartigen Vorhaben an, aber dann ließ er sich fortreißen und ging zu weit und verdarb alles. Er schaute seine Mutter an. Sie stand am Treppenabsatz, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah zu ihnen herauf. »Eric, das ist der größte Blödsinn, mit dem du je dahergekommen bist.« Daniel prustete los. Er konnte nicht anders. »Das ist nicht gelogen, Missis Cameron. Ich muß eine Arbeit in Geschichte schreiben. Sie können Coach Thurber fragen, wenn Sie wollen.« Sie schüttelte den Kopf und rieb sich mit einer Hand die Stirn. Sie sah verdammt schlecht aus. Daniel fragte sich plötzlich, ob sich seine Eltern vielleicht scheiden lassen wollten. Die Eltern von allen seinen Freunden waren geschieden. Obwohl die beiden gut miteinander auszukommen schienen, konnte man nie wissen, was im Schlafzimmer von seinen Eltern vor sich ging. Igitt. Er mochte nicht daran denken. »Schon gut, Eric. Ich weiß, daß ihr in Coach Thurbers Klasse eine Arbeit schreiben müßt. Aber ich nehme nicht an, daß Daniel schon damit angefangen hat.« Sie warf ihrem Sohn einen feindseligen Blick zu. Er schüttelte den Kopf. Am besten sagte er jetzt nicht 41
zuviel. Zu seiner Überraschung nickte sie langsam. »Also gut. Also gut. Aber ich bringe euch zur Bibliothek, und ich hole euch wieder ab, ist das klar?« »Ja, Ma’am«, sagten sie gleichzeitig. »Fahren wir. Ich hole euch um halb sechs ab.« »Nein!« rief Daniel. »Die Bibliothek hat doch bis halb neun auf.« »Genau«, ergänzte Eric. »Vielleicht werden wir sogar ganz mit der Arbeit fertig. Man kann nie wissen.« Daniel warf ihm einen finsteren Blick zu. Er strich sich die Haare aus den Augen und murmelte hinter vorgehaltener Hand: »Halt die Klappe, Mann.« Seine Mutter schaute sie mißtrauisch an. »Wo sind eure Hefte?« »Häh?« Das war seine Standardantwort, wenn er Zeit schinden wollte. »Eure Hefte. Ich würde meinen, wenn ihr in die Bibliothek geht, um an einer Arbeit zu schreiben, braucht ihr ein Schreibheft und, ich weiß nicht, vielleicht einen Kugelschreiber?« »Stimmt, ja!« sagte Eric. »Wie dumm von uns. Haben wir glatt vergessen.« Er stieß gegen Daniel, als sie die Treppe hinaufstoben, zurück zu ihren Spinden. Dann schlenderten sie zum Auto seiner Mutter. Niemand sprach viel im Wagen. Normalerweise tolerierte Daniels Mutter seinen Lieblingssender mit Metal 42
aus San Antonio, aber heute - wie an jedem Tag der grauenhaften letzten Woche schien sie wie betäubt. Vielleicht ließen sich seine Eltern tatsächlich scheiden. Daniel war überrascht, wie sehr ihn dieser Gedanke ängstigte. Einerseits hätte er damit etwas mit seinen Freunden gemeinsam. Teufel, Erics Mutter war von drei oder vier sogenannten Papas geschieden. Andererseits… was würde aus ihnen werden? Würde er umziehen müssen? Er hatte sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, und obwohl er es haßte, in einer Kleinstadt zu leben, hatte er doch eine Menge Freunde. Er wollte nicht in einer fremden Schule von vorne anfangen müssen. Er starrte aus dem Wagenfenster und kaute auf einem abgenagten Fingernagel. Zur Abwechslung wünschte er, seine Schwester, die Prinzessin, würde wie üblich von ihren Einsern, ihren Auszeichnungen und daß sie der Liebling der Lehrer war, daherplappern. Alles, wenn es nur das Schweigen brach. Eric furzte. Sie schauten sich gegenseitig an und krümmten sich auf dem Rücksitz vor Lachen, wobei sie verzweifelt prusteten, um nicht einfach loszuheulen. Eric furzte wieder. »Und das ist alles, was ich dazu sagen werde«, brachte er mühsam hervor. Prinzessin blickte vom Beifahrersitz, auf dem sie wie immer saß, über die Schulter. »Eric, das ist sehr unfein«, sagte sie. Sie konnten nicht mehr anders. Sie brüllten los vor Lachen. Daniel schaute zu seiner Mutter. Zu seiner Überraschung 43
bebten ihre Schultern. Er hatte sie seit einer Woche nicht mehr lachen sehen. Als sie vor der Bibliothek aus dem Wagen kletterten, blieb Daniel überaus erleichtert noch einen Moment vor dem Fenster auf der Fahrerseite stehen. »Ähm… bis später«, sagte er. Es war seine Art zu sagen: Ich bin froh, daß es dir bessergeht. Sie lächelte ihn an. Die gute alte Mom. Sie hatte nie Probleme damit, seine Kurzschrift zu übersetzen. »Ich bin um acht Uhr dreißig zurück, auf die Minute«, sagte sie, aber sie sah ihn nicht an. Sie schaute überall herum, die Straße hinauf und hinunter, als erwartete sie, daß jeden Moment ein paar IRA-Terroristen aus den Büschen springen und ihn mit ihren Uzis niedermähen würden. Er und Eric strebten die Stufen zur Bibliothek hinauf. Als sich die Glastür hinter ihnen schloß, schaute Daniel zurück. Seine Mutter saß immer noch da. Er trat einen Schritt zurück, wo sie ihn nicht mehr sehen konnte, und wartete. Es dauerte ungefähr eine halbe Minute, bis sie endlich wegfuhr. Paranoid. »Also los«, sagte Eric und zerrte an seinem Arm. Sie eilten durch die Regalreihen und dann zu einem Hinterausgang hinaus und rannten gleichzeitig los. Auf dem Gehsteig hüpften sie hin und wieder in die Höhe, nur um zu sehen, ob sie mit den Händen bis zu den Bäumen hinaufkamen.
Acht Uhr dreißig. Die Bibliothek war geschlossen, und von Daniel und Eric war keine Spur zu sehen. 44
O Gott, dachte Wren. Ich hätte sie niemals allein lassen dürfen.
Sie hatte angenommen, in der Bibliothek wären sie gut aufgehoben. Sie hatte nicht gedacht, daß Hunter an einem so öffentlichen Ort etwas unternehmen würde. Zwar galt noch die Sommerzeit, aber schon lag der goldene Schleier des feuchtwarmen Altweibersommers über dem Land und ließ die immer noch grünen Bäume des Hügellands wie durchsichtige leere Colaflaschen aufleuchten. Die Wolken waren vom Schein der untergehenden Sonne blutrot gefärbt, wie eine gewalttätige Erinnerung. Sie hatte um vier Uhr dreißig diese blöde Lehrerkonferenz gehabt, dann war um fünf Uhr dreißig Zoes Klavierstunde, und außerdem war sie mit dem Korrigieren weit im Rückstand, weil sie in letzter Zeit so abgelenkt gewesen war, also hatte sie gedacht, sie könne ruhig zu Hause neben Cam arbeiten, solange die Jungs in der Bibliothek waren. Hunter war auf so mysteriöse Weise verschwunden, wie er aufgetaucht war, und sein anhaltendes Schweigen hatte sie nur um so mehr entnervt. Die Versuchung war groß zu glauben - zu hoffen -, er könnte ihre Weigerung, mit ihm zu gehen, für bare Münze genommen und die Stadt verlassen haben. Sie wußte es besser. Vielleicht hatte Cam recht. Vielleicht sollte sie die Polizei anrufen und es mit dem FBI darauf ankommen lassen. Nichts war es wert, das Leben ihrer Kinder in Gefahr zu bringen. 45
Acht Uhr fünfundvierzig. Dumme Kuh! Sie war so dämlich gewesen! Wie hatte sie glauben können, daß sie allein mit dieser Sache fertig würden? Wie hatte sie vergessen können, wie gefährlich Jeremiah Hunter war? Wren sprang aus dem Wagen, hastete die Stufen zur Bibliothek hinauf und rüttelte an der Tür. Nichts. Niemand. Sie rannte wie ein Schwachkopf um das Gebäude herum, als könnten sich die Jungs irgendwo in den Büschen versteckt haben, wie sie es getan hatten, als sie noch klein waren. Dann stürzte sie in den Wagen zurück und fuhr mit Vollgas nach Hause. Cam und Zoe saßen wie üblich vor dem Fernseher. Wren stürmte ins Wohnzimmer. »Sie sind nicht da!« schrie sie. »Sie sind nicht in der Bibliothek!« Zoe schaute über die Schulter und wandte sich dann wieder der Sendung zu. Sie war es gewohnt, daß ihr Bruder nicht dort war, wo er angegeben hatte zu sein, und sah keinen Grund zur Aufregung. Cam stand jedoch sofort auf, warf einen Blick auf Zoe und dirigierte seine Frau in die Küche. »Bist du hineingegangen?« »Um acht Uhr fünfundzwanzig. Ich konnte sie nicht finden, also habe ich etwa zwanzig Minuten draußen im Auto gewartet.« »Hast du mit der Bibliotheksaufsicht gesprochen?« »Ja. Sie sagte, sie seien überhaupt nicht dagewesen.« 46
Cams Gesicht und seine hohe Stirn liefen leuchtend rosa an - ein Warnsignal, wenn es denn eins gab. »Dieser kleine Scheißkerl. In dem Moment, als du mir die Geschichte von der fälligen Arbeit erzählt hast, hätte ich wissen müssen, daß er dich wieder einmal reingelegt hat.« »Cam…« »Er macht mit dir, was er will, Wren. Er spielt auf dir wie auf einer gut gestimmten Gitarre. Was ist das nur zwischen Müttern und Söhnen?« Sie seufzte. »Ich weiß es nicht. Selbst Ted Bundys Mutter hat ihn am Ende geliebt.« Sie rieb sich den schmerzenden Kopf. Er ging mit großen Schritten zum Fenster und zog die Vorhänge auseinander. »Es wird dunkel. Ich glaube, ich mache mich lieber auf die Suche nach ihm.« »Wo willst du suchen?« »Naja, fangen wir an, indem wir Erics Mutter anrufen.« »Na wunderbar. Genausogut kann ich mir die Zeit mit Origami vertreiben.« »Irgendwo müssen wir anfangen.« Wren spülte ein Kopfschmerzmittel mit einem Glas Wasser hinunter, dann rief sie Eric an. Wie erwartet war niemand zu Hause, also hinterließ sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. »Und jetzt?« Keiner von beiden sagte, was sie in Wirklichkeit dachten: Wenn die Jungs in der Stadt herumstreiften, wie 47
sie es gern taten, waren sie eine leichte Beute für den raffinierten Hunter. Wren hatte eine Liste mit Nummern beim Telefon liegen. Die meisten von Daniels Freunden hatten nicht nur ihren eigenen Telefonanschluß, sondern auch ihren persönlichen Anrufbeantworter. Amerika in den Neunzigern. Sie hinterließ drei oder vier Nachrichten. »Sie müssen alle irgendwo zusammenstecken«, sagte sie, und der Gedanke war ein wenig tröstlich. Sie glaubte nicht, daß Hunter etwas so Bizarres tun würde, wie eine ganze Bande Teenager zu kidnappen. Obwohl man nie wissen konnte. »Und jetzt?« »Ich setz mich ins Auto und fahre umher. Vielleicht sehe ich sie irgendwo.« Von Daniels Freunden hatte noch keiner den Führerschein. Sie streiften gern wie ein Rudel junger Hunde durch die Straßen, rempelten sich gegenseitig an, scherzten und waren auf Unfug aus. Einmal hatte Wren einen gewaltigen Vorrat an Toilettenpapier in Daniels Schrank entdeckt. Sie hatte so getan, als bemerkte sie ihn nicht, und gedacht, daß der Junge in weit größeren Schwierigkeiten stecken könnte, als wenn er die Bäume von irgendwelchen Leuten einwickelte. Abgesehen davon war sie halb versucht, Mister Runds Haus eigenhändig einzuwickeln. Cam brach auf, und Wren wartete in steifer Haltung neben Zoe, die hartnäckig die allgemeine Spannung im Haus ignorierte. Sie war die Eskapaden ihres Bruders leid und nicht darauf aus, eine Schimpfkanonade auszulösen, indem sie nach seiner jüngsten Entgleisung fragte. Dennoch hatte ihre Anwesenheit einen beruhigenden 48
Einfluß auf Wren. Mit ihren zwölf Jahren war sie bereits etwas größer als ihre zierliche Mutter, und obwohl sie die gleichen blauen Augen hatten, glich Zoe im Aussehen und dem Temperament nach weit mehr ihrem Vater. Vom Sauberwerden bis zu Schulnoten war bei Zoe alles leichter gegangen. Manchmal war es schon ein Trost, nur in ihrer Nähe zu sein. Wren versuchte sich einzureden, daß sie sich töricht benahm. Schließlich war es weiß Gott nicht das erste Mal, daß sich Daniel so ein Ding leistete. Aber Hunters unerwartetes Auftauchen verlieh selbst dem kleinsten Ausrutscher eine erschreckende Schärfe. Wo Daniels Eltern früher vielleicht mit Enttäuschung und Wut reagiert hätten, war nun ein schwarzes Loch aus Angst. Um halb zehn, als sich eben ein feiner Nebel auf den dunklen Fenstern niederzuschlagen begann, und Wren Cams Auto in die Garage rollen hörte, schlenderte Daniel durch die Vordertür. Sie sprang auf - am liebsten hätte sie ihn gleichzeitig geschlagen und umarmt. Wie ein Wild, das im Wald von Eindringlingen aufgeschreckt wird, sprang Zoe von der Couch und verließ den Raum. Cam betrat die Küche. Einen Augenblick lang standen alle betreten herum. Dann platzte Daniel heraus: »Es tut mir leid, daß ich aus der Bibliothek weggehen mußte, Mom. Weißt du, Eric hat einen von seinen Migräneanfällen bekommen. Ich habe versucht anzurufen, aber du warst nicht daheim, also sind wir einfach gegangen. Er hat eine Arznei genommen, und 49
ich blieb eine Weile bei ihm. Dann ist Meshack vorbeigekommen, und wir haben beschlossen, ein paar Körbe im Park zu werfen. Mann, ich hab gar nicht bemerkt, wie spät es schon war. Ich hatte vorgehabt, rechtzeitig wieder bei der Bibliothek zu sein, um dich zu treffen.« Wren zitterte von Kopf bis Fuß. Sie war sich ihrer Stimme nicht sicher. Wenn Daniel ihr diese Geschichten auftischte, klang er so überzeugend. So ernst. Am Anfang hatte sie ihm oft geglaubt, ihm vertraut. Bis sie über die erste Lüge stolperte. Dann über die zweite. Irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen. Inzwischen tat sie sich schwer, noch irgend etwas zu glauben, was der Junge sagte, und das machte sie ganz krank. Sie wollte ihm glauben, er war schließlich ihr Sohn. Daniel lächelte sie reumütig an. Cam hatte die Fäuste geballt. Mit zitternder Stimme sagte er: »Du lügst, Daniel.« »Nein! Ehrlich! Diese Migräneanfälle sind scheußlich. Er kotzt sich die Eingeweide aus dem Leib.« »Ich sagte, du lügst! Lüg mich nicht an, Daniel. Lüg mich nicht an!« Cam sprach mit Gerichtssaalstimme.
seiner
elektrisierendsten
Am Anfang ihrer Ehe bekam Wren regelmäßig Zustände bei deren Klang. Cam kräuselte wütend die Oberlippe. »Ich habe Meshack im McDonald’s getroffen. Er hat mir erzählt, daß ihr im Billardsalon rumgehangen seid.« Er trat einen Schritt auf Daniel zu. »Ich warne dich, mein Sohn, wag es 50
nicht, mir mit so einem Scheißdreck zu kommen. Mich haben schon genug Angeklagte angelogen.« »Was willst du damit sagen?« schrie Daniel. »Soll das heißen, ich bin wie einer von deinen kranken Angeklagten? Was anderes bin ich doch nicht für dich, oder? Ein Verbrecher.« Cam sagte mit Grabesstimme: »Wenn du dich angesprochen fühlst, mein Sohn -« In Daniels Augen blitzte etwas auf. Wren sah es quer durch das Zimmer. Mit unkontrolliert hoher Stimme kreischte er: »Das ist genau dein Problem, du Scheißkerl! Du hältst alle Leute für Verbrecher! Du hältst mich für einen Verbrecher! Vielleicht benehme ich mich deshalb wie einer.« »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen!« schrie Cam. »Du selbstsüchtiger, verdorbener kleiner Dreckskerl! Du hast ja keine Ahnung, was deine Mutter heute abend wegen dir durchgemacht hat.« Er ging auf seinen Sohn zu, und die beiden standen sich wütend gegenüber. »Wenn dich auf dieser Welt irgend jemand außer dir selbst interessieren würde, dann würdest du sehen, daß sie zur Zeit die Hölle durchmacht.« »Cam«, sagte Wren und ging auf die beiden zu. »Ja, genau! Du sagst es! Alle anderen interessieren mich einen Scheißdreck!« Das Gesicht des Jungen war von unvergessenen Tränen, Enttäuschung und Wut verzerrt. Er wirbelte herum und riß die Haustür mit solcher Gewalt auf, daß der Türgriff ein Loch in die Wandverkleidung schlug. Er stürzte hinaus in 51
die feuchte Nacht. Wren lief zu Cam hinüber und hielt ihn davon ab, ihm zu folgen. »Ich hole ihn«, sagte sie. »Du mußt dich erst mal beruhigen.« Sein Arm zitterte. Sie begegnete seinem verstörten, leidvollen Blick. »Schon gut, Cam«, sagte sie. »Er hat es nicht so gemeint. Er ist im Moment nur völlig durcheinander.« Wren machte sich Sorgen, daß Daniel die Autoschlüssel genommen haben könnte. Sie eilte aus der Haustür und blinzelte in den stärker werdenden Regen. Daniel stapfte auf dem vor Nässe glitzernden Gehsteig davon, die Hände in den Taschen, die Haare bereits platt auf den Hinterkopf geklatscht. »Daniel!« Er blieb nicht stehen. Sie rannte ihm nach und versuchte, ihn am Ellenbogen zu fassen. Er entriß ihn ihr. »Laß mich in Ruhe!« »Daniel, halt! Du darfst zur Zeit nicht allein hier draußen sein.« »Ihr seid ja alle verrückt geworden«, schrie er. »Ich hau ab von hier.« »Nein, Daniel, warte -« Sie bemühte sich, sein ungestümes Schrittempo zu bremsen, was nicht einfach war bei ihrem Größenunterschied. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Wren ein vages Gefühl von Angst gegenüber ihrem Sohn. Sie fragte sich, ob er sie schlagen würde. »Hier draußen bist du nicht sicher. Komm zurück ins Haus.« 52
Er wandte sich zu ihr um, sein Gesichtsausdruck war gequält. »Hörst du dich nicht selbst reden? Merkst du nicht, wie paranoid du klingst? Ich halte es nicht mehr aus.« »Du verstehst nicht. Du mußt mir vertrauen -« Er schüttelte abweisend den Kopf, und Wren war so damit beschäftigt, ihren Sohn dazu zu bewegen, daß er auf sie hörte und ins Haus zurückkam, daß sie den fensterlosen weißen Kombi nicht bemerkte, der langsam an ihnen vorbeikroch. Erst als er stehenblieb und die hinteren Türen aufflogen, drang es in ihr Bewußtsein: GEFAHR. »Daniel -« Sie packte ihren Sohn. Vier große Männer, ganz in Schwarz gekleidet, einschließlich schwarzer Skimasken, strömten aus dem Kombi wie ein böser Zaubertrank. Sie zerrte hilflos an ihrem Sohn, als ob es sie retten würde, wenn sie davonliefen. Daniel stand vor Schreck wie angewurzelt da. Arme wie aus Eisen schlossen sich um ihren Körper; eine Hand legte sich erstickend auf ihren Mund. Zwei Männer überwältigten ihren Sohn. Sie wehrte sich heftig, schrie mit aller Kraft den Namen ihres Mannes, aber die einzigen Geräusche waren das Kratzen der Kombitür, der weiche Aufprall ihrer Körper auf dem Boden des Kombis und das Schhhh der Reifen auf dem nassen Pflaster, als sie immer schneller in der feuchten, düsteren Nacht davonfuhren, während ihr Zuhause und alles, was ihnen lieb war, in weite Ferne entschwand. Alles war in Sekunden vorbei. 53
Während drei der Männer im hinteren Teil des finsteren Kombis Wren und Daniel hastig fesselten und knebelten, kauerte sich einer vor sie und riß sich die Skimaske vom Kopf. Es dauerte einen Augenblick, bis sich Wrens Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Das wenige Licht kam von den Straßenlampen, die vor der regennassen Windschutzscheibe vorbeiglitten. Das Gesicht des Mannes lag im Schatten, aber Wren hätte den Umriß dieses markanten Gesichts überall erkannt, und als er lächelte, schimmerten seine Zähne teuflisch im Dunkeln. Mit triumphierender Stimme sagte Hunter nur ein einziges Wort: »Perfekt.«
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5. Kapitel Nachdem Daniel gegangen war, brauchte Cam weniger als fünf Minuten, bis er dieses flaue Gefühl im Magen spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Zwei Minuten, vielleicht drei. Auseinandersetzungen mit Daniel vernebelten stets Cams Gehirn und drängten alle anderen Überlegungen aus seinem Kopf. Zu jeder anderen Zeit wäre ihm die Tatsache voll bewußt gewesen, daß Wren allein außerhalb des Hauses nichts verloren hatte, selbst wenn sie nur im Vorgarten stand - vor allem nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Er rappelte sich von seinem Sessel hoch, eilte zur Haustür und riß sie auf. Gleichzeitig schaltete er das Licht auf der Veranda ein, das den Regen in silberne Stahlnadeln auf schwarzer Seide verwandelte. Er rief nach seinem Sohn. Dann nach seiner Frau. Keine Antwort. Nunmehr höchst beunruhigt rannte Cam über den Rasen zum Gehsteig und schaute die Straße hinauf und hinunter. Sie waren verschwunden. Panische Gedanken drängten ihn, zum Auto zu hetzen und sich auf die Suche nach ihnen zu machen, aber wie nach einem Tiefschlag ging er auf dem durchnäßten Gras in die Knie. Nein. Er hatte sie verloren. Wegen seiner dummen Wut hatte er sie verloren, wegen seiner dummen Sorglosigkeit, 55
wegen… Er begrub das Gesicht in den nassen Händen, ein Seufzer entfuhr ihm und wurde rasch vom Regen verschluckt. »Es tut mir so leid, Daniel«, schrie er. »Bitte, bitte vergib mir.« Wren. Was würde mit ihr geschehen? Er konnte nicht mehr denken. Konnte sich nicht konzentrieren. Hilfe. Er mußte sich Hilfe besorgen. Ein Name aus der Vergangenheit blitzte in seinem vor Schreck starren und von Kummer gelähmten Geist auf, und er griff danach wie ein Ertrinkender. »Du gottverdammter Idiot«, sagte er zu sich selbst, während er mühsam aufstand. »Wieso hast du daran nicht gleich gedacht?«
Der Bericht sah nicht gut aus. Die Besichtigung der Einrichtungen und Büros des Leatherwood Building in Midland unter den Aspekten Zugangskontrolle. Umzäunung, Beleuchtung, Alarmanlagen und Evakuierungspläne vor allem bei Bombendrohungen las sich wie eine Bedienungsanleitung für Attentäter. Steve Austin, der nach zwanzig erfolgreichen Jahren beim Federal Bureau of Investigation, FBI, seinen Abschied genommen hatte, war ein großgewachsener, attraktiver Schwarzer von etwas über fünfzig. (Er haßte den politisch korrekten Ausdruck ›Afroamerikaner‹, hauptsächlich, weil seine Leute ursprünglich aus Jamaika gekommen waren und weil er so verdammt umständlich auszusprechen, geschweige denn zu schreiben war. 56
Jedenfalls zum Teufel damit.) Austin hatte hohen Blutdruck und eine Frau, die sich zu viel Sorgen machte. Gerade hatte er seine jüngste Tochter verheiratet und freute sich darauf, endlich seinen Ruhestand zu genießen. Irgendwann einmal. Vorläufig jedoch war er noch zu sehr mit der Leitung von Guaranteed Security Associates, Inc., beschäftigt, einem privaten Sicherheitsunternehmen mit Sitz in Dallas, das er vor fünf Jahren gegründet hatte. Guaranteed Security hatte eine kleine, aber sehr exklusive Kundschaft, die aus äußerst wohlhabenden und stark in der Öffentlichkeit stehenden Texanern bestand. Und keiner war wohlhabender und stand mehr im Blickpunkt als Buck Leatherwood. Scheiße. Fast hätte er es vergessen. Austin drehte sich in seinem Stuhl herum, den Bericht hielt er immer noch in der Hand, tastete nach der Fernbedienung auf seinem Schreibtisch und schaltete den kleinen Farbfernseher auf einem Mahagonibücherregal hinter sich an. Das politische Magazin, das seinem berühmten Klienten einen Beitrag widmete, lief bereits. Austin griff nach einer leeren Videokassette, steckte sie in den angeschlossenen Recorder und drückte ›Aufnahme‹ auf der Fernbedienung. »…Buck Leatherwood, der mit spekulativen Ölversuchsbohrungen anfing und es aus eigener Kraft zum Milliardär gebracht hat, ist äußerst risikofreudig und kühn in seinen Entscheidungen — ein Naturtalent als Geschäftsmann. Als alle anderen bei einem Ö1preis von 35 $ pro Barrel ein verschwenderisches Leben führten und mit ihrem beträchtlichen Vermögen in Junkbonds und Immobilien spekulierten, stieg Leatherwood aus und investierte in die Kommunikationsbranche.« 57
Auf dem Bildschirm tauchten einige von Leatherwoods Fernseh- und Radiounternehmen auf, außerdem eine imposante Aufnahme des Leatherwood Building selbst. »Ein paar Jahre später«, fuhr die glatte Sprecherstimme fort, während Aufnahmen von krisengebeutelten Ölunternehmen auf dem Schirm erschienen, »wurde Öl für 11 $ das Barrel gehandelt, die Spar- und Kreditbanken gingen den Bach runter, Land in Texas war nicht loszuwerden, und die Ölmagnaten gaben sich beim Konkursrichter die Klinke in die Hand, während Leatherwood reicher denn je war. Aber das ist nicht der Grund dafür, warum ihn manche Leute umbringen wollen.« Austin zuckte zusammen. Was für ein Alptraum. Jetzt würden sie es auch noch mit Nachahmungstätern zu tun haben. Von deren Drohungen waren einige schlimmer als die ursprünglichen. »- Es ist nicht einmal wegen seiner angeborenen Extravaganz«, sagte der Reporter, und sie zeigten den klassischen Leatherwood in voller Größe: klimpernde Silbersporen an seinen handgefertigten Cowboystiefeln aus Schlangenleder, sportliche Tausend-Dollar-Stetsons und maßgeschneiderte Lammfelljacken im Westernschnitt. Austin erinnerte er an einen Banditen im Wilden Westen, mit seinem buschigen, nach unten gezwirbelten Schnauzer mit den zinnfarbenen Strähnen, seinem zerfurchten Gesicht und dem scharfen Blick. »Auch stören sich die meisten Leute nicht an seinen schrillen Auftritten, wie damals, als er hoch zu Roß mitten in ein feudales Dinner von Lobbyisten auf dem Landsitz des Gouverneurs ritt. Immerhin sind wir hier in Texas.« Austin verzog das Gesicht. 58
»Manchen Leuten kann er, weiß Gott, auf die Nerven gehen«, sagte der Reporter listig und blendete einen von Leatherwoods häufigen Auftritten in Talkshows und Nachrichtenmagazinen ein. Natürlich suchten sie sich den schlimmsten heraus, bei dem Leatherwood von einem der anderen Gäste beinahe eine auf sein großes Maul bekommen hätte. Austin seufzte. In seiner Jugend hatte sich Leatherwood zeitweise als Auktionator bei Viehversteigerungen seinen Lebensunterhalt verdient, und er liebte nichts so sehr, wie sich in wüste Beschimpfungen gegen jemanden zu ergehen, der möglicherweise seine Ansicht nicht teilte, wobei seine Worte so schnell hervorsprudelten und so sehr in ihren Bann zogen, daß alle anderen Stimmen augenblicklich verstummten. »Auch das ist nicht das Problem«, sagte der Reporter. »Manchen Leuten gefällt es im Grunde. Nein, was Buck Leatherwood so zur Zielscheibe prädestiniert, ist, daß er ein Mann mit einer Berufung ist. Einer sehr umstrittenen Berufung.« Austin beugte sich vor. Die Art, wie sein großmäuliger Klient in den Medien dargestellt wurde, hatte einen direkten Bezug zu den Todesdrohungen. Nicht, daß Austin es ihm vorwerfen konnte. Teufel, er hatte selbst Kinder. Die waren nun schon erwachsen, aber er konnte Leatherwood verstehen, und das war ein Grund dafür, warum er diesen wandelnden Kopfschmerz als Kunden angenommen hatte. Das Nachrichtenmagazin zeigte blutrünstige Aufnahmen von dem Gemetzel, das sich vor fünf Jahren zugetragen hatte, als Leatherwoods einzige - und über alles geliebte Tochter in einem Fast-food-Restaurant niedergeschossen 59
wurde, in das sie mit ein paar Freunden nach der Schule auf einen Milchshake gegangen war. Der Angreifer trug einen Kampfanzug und war mit mehreren Sturmgewehren und ein paar tausend Schuß Munition beladen. Als er etwa hundert Kugeln verbraucht hatte - wobei er sich die letzte selbst in den Kopf schoß -, waren siebzehn Leute tot, darunter ein Säugling, eine schwangere Frau und drei kleine Kinder. Der einzige Überlebende, ein Koch, der sich in der Gefrierkammer verbarrikadiert hatte, sagte, der Kerl habe über seine Opfer gelacht, als sie panisch schrien und versuchten, aus dem Lokal zu kommen, ihre Kleinen mit dem Körper schützten oder sich unter den leichten Tischchen versteckten. Melanie Leatherwood wurde in den Rücken geschossen, als sie zu einem Hinterausgang krabbelte. Die Kamera war unnachgiebig. Je nachdem, was er sagte, wenn er den Mund öffnete, konnte das von Vorteil sein. Sie würden weit mehr Sympathiebekundungen erhalten als Todesdrohungen. »Seit dieser Tragödie«, sagte der Reporter, »ist Leatherwood ein rastloser, wenn nicht gar besessener Fürsprecher eines Waffenkontrollgesetzes. Es ist für andere Verfechter der Waffenkontrolle kein Geheimnis, daß Leatherwoods Reichtum und sein beträchtlicher Einfluß sich stark darauf auswirkten, daß das heftig umstrittene Brady Bill und das Crime Bill von 1994 den Congress passierten, ebenso wie das Verbot verschiedener Typen von Angriffswaffen, darunter diejenige, die den Tod seiner Tochter herbeiführte.« Leatherwoods runzliges Cowboygesicht füllte den Bildschirm aus. Aus dem Off fragte der Reporter: »Sind Sie letztendlich zufrieden damit, wie sich die Dinge 60
entwickeln?« Austins Klient schüttelte den Kopf. »Ich bin weit entfernt davon, zufrieden zu sein«, sagte er. »Ich bin nach wie vor überzeugt davon, daß die ansteigende Rate bei Gewalt- und Jugendkriminalität in Amerika direkt mit der leichten Verfügbarkeit von Schußwaffen zusammenhängt. Ich würde es begrüßen, wenn die Behörden ihren Verkauf und Erwerb wesentlich strenger kontrollierten.« »Sie wissen, daß Ihre Gegner unnachgiebig darauf beharren, den Besitz von Schußwaffen als verfassungsmäßiges Recht zu bewahren?« »Natürlich. Ich besitze selbst Schußwaffen. Aber ich glaube nicht, daß die Verfassung uns das Recht gibt, ganze Arsenale anzuhäufen, und der einzige Zweck von Kriegswaffen ist nun einmal der Krieg. Die Massenabschlachtung von Menschen. Sie können mir nicht weismachen, daß die Gründerväter das im Sinn hatten, als sie damals den Leuten erlaubten, ihre einschüssigen Musketen zu behalten.« Die Kamera stellte auf das hübsche Gesicht des jungen Reporters scharf. Er grinste Leatherwood hintertrieben an. »Sie klingen verdächtig nach einem Politiker«, schmeichelte er. Aber Leatherwood biß nicht an. Er zuckte nur die Achseln. »Zeit- und Geldverschwendung«, sagte er. »Dann darf ich also annehmen«, hakte der Reporter nach, »daß Sie es vorziehen, Ihre freundliche Überspanntheit als Masche einzusetzen, um immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema zu ziehen, was natürlich wachsenden Druck auf den Gesetzgeber ausüben wird.« 61
Austins Klient sah den Mann mit einem Blick an, der schon so manchen Naseweis vor ihm vernichtet hatte, und sagte schlicht: »Was immer die Sache erfordert, mein Sohn.« Das Interview ging noch einige Minute weiter, aber der Reporter stellte keine provokanten Fragen mehr. Als es vorbei war, schaltete Austin das Fernsehgerät ab und schwenkte zu seinem Schreibtisch zurück. Leatherwood war unermüdlich. Er warb endlos für seine Sache und lehnte nie einen Fernsehauftritt ab, selbst dann nicht, wenn er den Gastgeber der Sendung haßte. Die meisten Interviewer und der größere Teil der zuschauenden Öffentlichkeit blieben dem trauernden Vater weiterhin wohlgesonnen. Aber er hatte auch Feinde… tödliche Feinde, die fürchteten, daß die Behörden in ihr verfassungsmäßiges Recht auf Besitz von Feuerwaffen eingreifen könnten, und Leatherwood für nichts geringeres als den Satan selbst hielten. Es gab Drohungen, viele Drohungen. Und die Leute, die die Drohungen ausstießen, waren in hohem Maße in der Lage, sie auch auszuführen, soweit Austin das beurteilen konnte. Austin überflog schließlich den Bericht, den Sandra Dodge, seine fähige Assistentin, vorbereitet hatte. »Klient lehnt es ab, ein Sicherheitstraining für alle Angestellten einzuführen, und hält dagegen, daß ein solches Programm die Angestellten verängstigen und ihnen das Gefühl vermitteln könnte, in einer Festung zu arbeiten. Er stimmt einem Programm zur Überprüfung seiner Post und zum Umgang mit Bombendrohungen zu, weigert sich jedoch, ein Programm für Fälle von Geiselnahme in die Wege zu leiten (siehe oben.) In der Unternehmenszentrale lehnt es der Klient ab, einen 62
Metalldetektor am Haupteingang zu installieren. Unseren Bericht über Informationsbeschaffung, die Analyse der Bedrohung durch einheimischen und internationalen Terrorismus und die Etablierung und Aufrechterhaltung einer effektiven Zusammenarbeit mit allen in Frage kommenden Polizeibehörden hat er gelesen. Er ist dazu bereit, einige Maßnahmen aus unserem Reiseschutzprogramm in die Wege zu leiten, weigert sich jedoch, verschiedene neuralgische Punkte zu umgehen. Der Prüfer empfiehlt, den Personenschutz um den Klienten als zusätzliche Maßnahme gegen mögliche Mordanschläge enger zu ziehen, in bezug auf die Sicherheit der Firma sind uns die Hände jedoch gebunden.« Austin wühlte in seinem Schreibtisch herum, bis er ein paar Rolaids fand, und kaute nachdenklich zwei davon. Sicherheitsmaßnahmen setzten die Mitarbeit der Person voraus, die möglicherweise das Ziel eines Anschlags war. Totaler Schutz war unmöglich - er war nicht kosteneffektiv und für den Lebensstil der meisten leitenden Angestellten in Amerika zu einschränkend -, was Leatherwood gern als ›Festungsmentalität‹ bezeichnete. Es würde also immer ein Risiko bleiben, aber Leatherwood würde ihnen ihre Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen, sehr viel leichter machen, wenn er ihnen auf halbem Wege entgegenkäme. So ungefähr das einzige, was sie in dieser Lage tun konnten, um sich selbst zu schützen, war, den Mann dazu zu bewegen, eine Erklärung zu unterschreiben, in der er ihre Haftung ausschloß. Austin konnte ihn verstehen, aber, zum Teufel, wie sollten sie die Sicherheit von jemandem garantieren, der 63
ihre Vorschläge hartnäckig ablehnte? Er hätte Leatherwood als Klienten ganz fallengelassen, wäre da nicht der Umstand gewesen, daß Leatherwood darauf bestand, ihnen das Doppelte des üblichen (gesalzenen) Honorars zu bezahlen. Und es schadete auch nicht, daß er bei weitem ihre beste Reklame war. Das heißt, wenn der Mann am Leben blieb. Austin schaute auf die Uhr. Es ging auf zehn zu. Scheiße. Er würde sich von Patsy wieder anhören müssen, daß er zuviel arbeitete. Sie war immer hinter ihm her, er solle seinen Cholesterinspiegel überprüfen lassen. Als ob ihn das kümmerte. Er stand auf und zwängte sich gerade in sein Jackett, als seine private Telefonleitung läutete. Er nahm den Hörer ab und sagte: »Bin schon unterwegs, Liebling.« Es gab eine kleine Pause, dann sagte eine Stimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam: »Mister Austin? Ihre Assistentin sagte, ich könne diese Nummer wählen, wenn ich einen Notfall hätte.« Man hörte ein unterdrücktes Schluchzen, dann sagte der verzweifelte Mann: »Ich bin Harry Cameron, Sir. Erinnern Sie sich noch an mich?« Während sein Leben sechzehn Jahre zurückspulte, setzte sich Austin steif in seinen Sessel. Er hatte mit den Jahren Fortschritte darin gemacht, die Erinnerung abzublocken, aber Harry Camerons Stimme ließ jenen Tag wieder lebendig werden, den er mehr als jeden anderen in seinem Leben bereute, den Tag, an dem sich in den Sümpfen von Louisiana die dampfenden Eingeweide der Hölle aufgetan hatten und er dem Teufel persönlich Auge in Auge 64
gegenüberstand. Er räusperte sich. »Ja, Mister Cameron. Ich erinnere mich an Sie. Was kann ich für Sie tun?« »Er hat sie«, kam die Antwort in einem Wortschwall, dem er kaum folgen konnte. »Hunter. Er ist draußen, und er hat Wren ich meine, Lissie - und meinen Sohn Daniel. Er hat sie beide, und ich glaube nicht, daß ich sie je wiedersehen werde. Bitte helfen Sie mir.« Mit diesen Worten brach Harry Cameron zusammen und weinte.
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TEIL ZWEI MATERIALISTEN UND VERRÜCKTE Materialisten und Verruchte haben nie Zweifel. G. K. Chesterton
Denn in meinem Volke finden sich Gottlose; Fallen stellen sie auf, um zu verderben, um Menschen zu fangen. Jeremias 5.26
Nichts ist so ausgefallen oder irrational, daß es nicht manche Philosophen für die Wahrheit erklärt hätten. Jonathan Swift
Entsetzen ringsum. Jeremias 6.25
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6. Kapitel Ein Feuerzeug blitzte in dem dunklen Kombi auf und erleuchtete Hunters Gesicht. Wren machte in dem kurzen roten Glühen die Umrisse einer AK 47 in seinem Schoß aus. Sie schaute zu Daniel hinüber. Obwohl ihr noch rote Punkte von der Feuerzeugflamme vor den Augen tanzten, sah sie das Weiße in den vor Schreck geweiteten Augen ihres Sohnes. Wren zog die Füße unter den Hintern und stieß sich dicht neben den Jungen. Das Bein eines Wächters schob sie mit dem Fuß zur Seite, und sie sah ihn trotzig an, bis er Platz machte. Sie drückte sich dicht an Daniel und spürte, wie er zitterte. Hunters Stimme war warm und vertraulich, als er sagte: »Tut mir leid wegen dem Knebel und so, Kleines. Geht nicht anders, bis wir aus der Stadt raus sind. Sobald wir auf die Straße nach Westen kommen, laß ich euch ein bißchen mehr Luft.« Wren drehte sich so, daß sie mit einer Hand trotz der Handschellen Daniels Arm tätscheln konnte. Die Wächter hatten alle die Skimasken abgenommen, und derjenige, der ihr am nächsten saß, hob den Lauf seiner AK 47, so daß er das wäßrige Licht, das durch die Windschutzscheibe kam, reflektierte. Eine deutliche Warnung. Sie starrte dem Mann direkt in die Augen und fuhr fort, den Arm ihres Sohnes mit den Fingerspitzen zu tätscheln. Hunter schüttelte den Kopf. »Was hab ich euch gesagt, Jungs. Sie ist ein richtiger kleiner Drachen, oder?« Der Mann, den Wren anstarrte, verzog keine Miene. Sie ebenfalls nicht. »Mach dir keine Sorgen, Kicker. Sie ist zu schlau, um 67
hier irgendwelche Tricks zu probieren. Sie wird doch nicht das Leben ihres Kleinen in Gefahr bringen wollen, oder?« Hunter grinste hinter der roten Glut seiner Zigarette, streckte eins seiner langen Beine aus und stieß damit an Daniels Fuß. Daniel zog mit einem Ruck sein Bein weg. »Ich glaube, als erstes werden wir uns mal um diese Haare kümmern, was meinst du, Kicker?« Der Mann, der sich Kicker nannte, ließ den Blick von Wren, erwiderte Hunters Grinsen und nickte. Mit der tiefsten Stimme, die Wren je gehört hatte, sagte er: »Womöglich hält ihn sonst noch jemand in der Army für ein Mädchen, oder was.« Die Männer lachten alle. Einer von ihnen fuhr Daniel mit den Fingern durch die Haare, und Daniel versuchte vergeblich den Kopf wegzuziehen. »Vielleicht eine Art Keanu-Reeves-Look. Ihr wißt schon. Wie in dem Film SPEED. Das war ein toller Film, oder, Daniel?« Hunters Stimme war keine Spur drohend. Genausogut hätte er ein Gespräch in einem Zug anknüpfen können. Wren rückte noch näher an ihren Sohn heran und schloß die Finger einer Hand um seinen zitternden Arm. Lieber Gott, dachte sie, ich nahm an, er will nur mich, ehrlich. Wenn ich geahnt hätte, daß eins von meinen Kindern in diese Lage kommt, hätte ich mich dem FBI gestellt und fertig. Heftiger und peinigender als jemals nach dem Sturm auf das Lager in Louisiana wurde sie von Reuegefühlen geplagt. Wenn sie an Cam und Zoe dachte, die allein gelassen und verängstigt zu Hause waren, wäre sie am liebsten gestorben. 68
Es war ihr schon in den Sinn gekommen, daß sich Hunter an eins der Kinder heranmachen könnte, aber immer nur als Trick, um an sie ranzukommen. Sie hatte nie ernstlich in Erwägung gezogen, daß er eins von ihnen mit hineinziehen könnte. Die beißende Bitternis der nachträglichen Einsicht. Sie fragte sich, was Cam unternehmen würde. Sie war sich sicher, daß keiner der Nachbarn in der dunklen, feuchten Nacht etwas gesehen oder gehört hatte. Wie alles, was Hunter machte, war es glatt wie die Schmeicheleien eines Lügners vonstatten gegangen. Sie bezweifelte, daß die ganze Sache mehr als dreißig Sekunden gedauert hatte. Ihre Schuld. Wieder einmal. Alles ihre Schuld. Wren drückte noch einmal Daniels Arm und verlagerte dann ihren Körper, um sich an die Seitenwand des Wagens lehnen, aber trotzdem noch nahe bei ihm sein zu können. Zu ihrer Überraschung beugte er sich herüber und legte seinen zitternden Kopf an ihre Schulter. Sie ließ ihr Gesicht an seinem Kopf ruhen, und nach einer kurzen Weile hörte er schließlich zu zittern auf. Kein großer, böser Junge mehr. Nur ein verschrecktes Kind. O Daniel, es tut mir so schrecklich leid, mein kleiner Junge. Während sie gedankenverloren ihr Kinn am seidigen Haar ihres Sohnes rieb, sah sie ihn auf einmal in seinem Superman-Kostüm vor sich, das sie aus blauen langen Unterhosen, einem Paar roten Kniestrümpfen und einem Stück roten Stoff genäht hatte. Monatelang war er mit dem 69
karmesinroten Fetzen, der in seinem Nacken flatterte, im Garten herumgelaufen und hatte - begleitet von lärmenden Klangeffekten - viele heldenhafte Schlachten gegen die Bösen geschlagen. Damals hatte Daniel-Superman immer gewonnen. Jetzt waren die echten Bösen da, und Wren wußte in ihrem tiefsten Innern, daß es gegen diese Leute nie einen klaren Sieg geben konnte. »Ich kann es kaum erwarten, bis ihr das Basislager seht«, sagte Hunter, als hätten sie schon ein Weilchen miteinander geplaudert. »Es übertrifft das von Louisiana bei weitem. Besser bewaffnet, besser besetzt, besser finanziert. Und unser Versteck ist idiotensicher. Die Schweinehunde werden die Armageddon-Armee niemals finden, stimmt’s, Leute?« Die anderen Männer nickten oder äußerten Zustimmung. »Also, Daniel, die Sache ist die… ich habe deine Mutter freundlich gebeten, mit mir zurückzukommen. Sie sagte nein. Und das verstehe ich auch, nach allem, was damals passiert ist. Wenn du deine Kumpel im Kampf verlierst, willst du nicht unbedingt auf dasselbe Schlachtfeld zurückkehren, stimmt s?« »Du sagst es«, dröhnte es von Kicker. »Amen«, fügte der, den sie ›Preacher‹ nannten, hinzu. Daniel saß aufrecht da, schwankte und starrte seine Mutter an. O Gott, sei ruhig, Hunter. »Aber dieses Lager… warte, bis du es siehst, Lissie.« Seine Stimme tönte ganz mit dem alten Charisma und der 70
alten Kraft. »Ich mußte dich zurückholen. Ich mußte… das verstehst du nicht. Wir werden Rache üben an diesen Arschlöchern, ein für allemal. Für alle unsere toten Kameraden. Rache… du wirst sehen, wie süß sie sein kann. Und du wirst uns dabei helfen.« Hunter strahlte Wren an. Ihr Sehvermögen hatte sich völlig dem Halbdunkel im Wagen angepaßt, und sie konnte das Feuer in seinen Augen deutlich sehen. Als junges Mädchen hatte seine Leidenschaft sie entflammt und bewogen, ihr Zuhause, die Schule, Freunde und alles Vertraute zu verlassen… um mit ihm zu gehen. Das lag ein ganzes Leben zurück. Als Wren über diese vielen Jahre hinweg auf ihren jungen, schmalgesichtigen, zu Tode erschrockenen Sohn blickte, schloß sie die Augen und zwang die Angst hinunter, die ihr in der Kehle hochstieg. Obwohl Jeremiah Hunter auch nicht mehr achtundzwanzig war, so war er doch immer noch eine imposante Erscheinung. Nur daß Wren jetzt, achtzehn Jahre nachdem sie ihren jungfräulichen Blick zum ersten Mal auf diesen charismatischen Mann mit der anziehenden Stimme geworfen hatte, wußte, daß er viel, viel gefährlicher war.
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7. Kapitel »Okay, Mister Cameron. Als erstes müssen Sie Ihre Sinne wieder zusammenbekommen. Beruhigen Sie sich.« »Ich weiß, ich weiß. Ich weiß nur nicht, was ich tun soll.« »Sie haben schon mal das Richtige getan, als Sie mich anriefen. Haben Sie mit der Polizei gesprochen?« »Nein, habe ich nicht… ich wollte nicht, daß sie meine Frau wie eine Art Kriminelle jagen. Ich weiß nicht… Meinen Sie, ich sollte es tun?« Austin zögerte. Die Polizei von Camerons Heimatort hatte keine Chance, ein Chamäleon wie Jeremiah Hunter zu finden. Sie würden das FBI hinzuziehen müssen. Und Cameron hatte recht. Sobald Wren auf ihrer Fahndungsliste auftauchte, würde das FBI wahrscheinlich annehmen, daß sie freiwillig mit Hunter gegangen war. Das könnte sehr gefährlich für sie werden, vor allem, wenn Hunter sich wieder so zur Wehr setzte wie damals in Louisiana. Außerdem war da noch das Problem von Austins Rolle bei der ganzen Geschichte. Da er nicht mehr für das FBI arbeitete, konnten sie ihm disziplinarisch nicht viel anhaben. Aber als pensionierter Agent, der gelegentlich noch beratend für sie tätig war, genoß er mit Hilfe seiner alten Kontakte noch immer einen gewissen Zugang zu den fast uneingeschränkten Einrichtungen des FBI. Sollte seine Rolle bei dieser Sache ans Licht kommen, würde er diesen Zugang garantiert verlieren. Wenn er ein paar Gefälligkeiten einforderte, konnte er 72
Hunters Aufenthaltsort vielleicht allein ermitteln. Möglicherweise konnte er dann eine Art Handel abschließen: eine Mutter von zwei Kindern, die in den letzten sechzehn Jahren ein mustergültiges Leben geführt hatte, nachdem sie als Schlüsselinformantin in einem ihrer aufsehenerregendsten Fälle von Terrorismus im eigenen Land und Bankraub gedient und kein bekanntes Verbrechen gegen den Staat begangen hatte - im Austausch für Hunter. Vielleicht konnte er sie offiziell von der Fahndungsliste streichen lassen. Auf jeden Fall hatte sie eine gute Chance, nicht erschossen zu werden. Sie könnte zu ihrer Familie zurückkehren. Und er und Harry Cameron müßten keine kleinen Geheimnisse mehr miteinander haben. »Mister Cameron, wenn Sie bereit sind, mir zu vertrauen, sollte ich Ihnen helfen können, Ihre Frau zu finden, ohne direkt die Behörden einzuschalten. Aber Sie müssen auch Ihren Teil dazutun…« »Was Sie wollen.« »Sie müssen mit einer überzeugenden Erklärung für die Abwesenheit Ihrer Frau und Ihres Sohnes von der Arbeit und der Schule aufwarten. Glauben Sie, Sie schaffen das?« Es gab eine kurze Stille. »Ich hab nicht mal daran gedacht.« »Können Sie es tun?« »Ja, ich denke schon.« »Ich werde jemanden vorbeischicken, der mit Ihnen spricht. Erzählen Sie alles, woran Sie sich erinnern schreiben Sie es nieder, wenn es sein muß. Ich brauche in 73
jeder Beziehung Ihre volle Mitarbeit.« »Die haben Sie.« Cams kläglicher Eifer tat Austin in der Seele weh. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, was der Mann alles durchmachen mußte. Es weckte den Wunsch in ihm, nach Hause zu gehen und seine Frau zu umarmen. »Ich werde alles tun, um Ihre Frau zu finden, aber ich kann nichts garantieren.« Cameron seufzte. »Ich glaube, das kann niemand, Mister Austin. Nicht, wenn dieses Tier im Spiel ist.« Seine Stimme versagte. »Hey… wenn er sie tot wollte, wäre sie schon tot. Ich glaube, Sie können ziemlich sicher sein, daß sie lebt und daß es ihr soweit gutgeht. Ihrem Sohn auch.« »Glauben Sie?« »Ja, ich glaube es.« »Gott… es ist meine einzige Hoffnung.« »Halten Sie sich daran fest, Mister Cameron. Rufen Sie mich an, falls irgend etwas Außergewöhnliches passiert, einverstanden?« »Okay.« »Und ich rufe Sie mindestens einmal am Tag an, um Sie auf dem laufenden zu halten.« »Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, Ihnen zu danken -« »Vergessen Sie es. Ich mache es für Lissie. Ich bin ihr einiges schuldig.« 74
Eine unangenehme Pause entstand zwischen den beiden Männern. Endlich sagte Cameron: »Ich glaube nicht, daß sie Ihnen jemals einen Vorwurf gemacht hat für das, was passiert ist, Mister Austin. Ich weiß sogar, daß sie es nicht tat. Sie gibt sich selbst die Schuld.« Austin schob seine Brille hoch und rieb sich den Nasenrücken. Komisch. Anscheinend machte sich heute jeder selbst verantwortlich für das, was passiert war, nur der Mann nicht, der es am meisten zu verantworten hatte. »Ich kriege diesen Hurensohn«, sinnierte er vernehmlich, »und wenn es das letzte ist, was ich mache.«
Cam legte den Telefonhörer zurück und vergrub das Gesicht in seine Hände. Austin hatte recht. Er mußte sich zusammenreißen. Sonst war er keine Hilfe für Wren. Er wünschte, es ginge ihm besser, weil er Austin angerufen hatte. Aber es begann ihm zu dämmern, daß dies die Art von Situation war, bei der es ihm niemals bessergehen würde, was er auch tat. Nicht, bis Wren und Daniel sicher zu Hause waren. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß sie sich auf eine lange, zermürbende Wartezeit einstellen mußten. Es hatte fünf oder sechs Jahre aufrichtigen Ehelebens gedauert, bis ihm seine Frau so weit vertraute, daß sie ihm 75
die Einzelheiten des Sturms auf die Community enthüllte, Er erinnerte sich noch immer an ihre Stimme, als sie eintönig und seltsam emotionslos davon erzählt hatte. »Hunter hatte immer Wachposten aufgestellt, vom ersten Tageslicht an bis ungefähr Mitternacht. An diesem Morgen hatte einer der Männer - sie nannten ihn Samson, weil er so stark war und seine langen Haare als Pferdeschwanz trug -, also Samson war im Sumpfgebiet von Louisiana aufgewachsen und kannte jedes Tier und jeden Vogel. Er war wirklich ein liebenswerter Mensch. Ich mochte ihn sehr. An diesem Morgen hatte Samson Dienst, und es fiel ihm sofort auf, als die Vögel still wurden. Er wußte augenblicklich, daß jemand im Wald war. Er brauchte eine Weile, bis er sie fand, aber dann benachrichtigte er umgehend Hunter, und Hunter setzte das gesamte Alarmsystem in Bewegung. Innerhalb von zehn Minuten war das ganze Lager bewaffnet und bereit, wie Jäger im Unterstand. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich war so naiv. So ein dummes Kind. Weißt du, ich war noch sehr idealistisch und hatte die Vorstellung, daß Hunter sich eher ergeben als ein kostbares Leben riskieren würde, wenn er das FBI kommen sah. Ich habe mich getäuscht. Es gab andere Dinge, die ich nicht erkannte, bis es zu spät war. Ich wußte nicht, wie stark die Treue der Community zu Hunter war. Jeden Tag gab es ein Lagertreffen, bei dem er darüber sprach, daß das FBI unser Feind war, daß sie kommen würden und uns die Freiheit, so zu leben, wie wir 76
wollten, nehmen würden, daß sie Teil der großen Weltverschwörung mit dem Ziel seien, uns zu versklaven. So blind verliebt ich auch war in den Kerl, habe selbst ich ihm nicht alles abgenommen, was er sagte. Andernfalls wäre ich nicht fähig gewesen, ihn zu verraten, wie ich es tat. Ich meine, es ist mir einfach nicht in den Sinn gekommen, daß diese Leute bis zum Tod kämpfen würden. Bis zum Tod! Daß sie das Leben ihrer Kinder aufs Spiel setzen würden. Sogar nachdem alle ihre Stellung eingenommen hatten, dachte ich noch, daß Hunter sich auf diese Sache einließ, um einen Vorteil aus der Situation zu schlagen. Er war überaus theatralisch. Ich dachte mir, daß er uns in einer ausweglosen Lage als Tauschobjekt für die Aufmerksamkeit der Medien benutzen würde. Und dann würden alle nach und nach gehen, außer Hunter, und dann würden sie ihn kriegen. Ich weiß, es klingt heute unglaublich, aber es ist das, was ich tatsächlich glaubte. Ich war so jung und töricht, ich dachte wohl, daß Wunschdenken für etwas gut wäre. Außerdem hatte es mir Agent Austin versprochen. Er hatte es mir versprochen! Er sagte, daß niemand verletzt würde. Nur unter dieser Bedingung wollte ich mit ihnen zusammenarbeiten. Nur unter dieser Bedingung wollte ich ihnen die verlangten Informationen über die Banküberfälle, die Hunter verübt, und über das Arsenal, das er in der Community angehäuft hatte, geben. Ohne mich hätten sie es auch nie geschafft, die Leiche zu finden. Allerdings hätte ich nie und nimmer getan, was ich tat, 77
wenn ich die leiseste Ahnung gehabt hätte, was passieren würde. Ich weiß nicht, wer den ersten Schuß abgab. Ich bin mir ziemlich sicher, es war Hunter. Und mir nichts, dir nichts waren wir mitten in einem Krieg! O Gott! Kugeln flogen durch die Gegend, Glas zerbrach, Leute schrien, weil sie getroffen waren. Wenn du nie in einer Schlacht oder nicht einmal bei einer militärischen Übung warst - und ich kritisiere dich nicht, weil du es nicht warst -, ich will damit nur sagen, daß du dir nicht vorstellen kannst, wie laut, verwirrend und entsetzlich es ist. Samson wurde direkt vor mir erschossen. Sein liebes Gesicht explodierte einfach. Überall war Blut, auf mir, im ganzen Raum. Und ich stand einfach da und starrte ihn an. Ich hörte die Kugeln pfeifen. Wenn Kugeln knapp an deinem Kopf vorbeifliegen, kannst du sie nämlich hören. Ich dachte, ich würde nun sterben. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich glaube, ein Teil von mir wollte vielleicht sterben. Wollte getroffen werden. Ich war natürlich bewaffnet, aber ich habe kein einziges Mal geschossen. Wie hätte ich auch schießen können? Damals kannte ich bereits ein paar von den Agenten, die uns stürmten. Hätte ich entscheiden sollen, wer es verdient hatte, zu sterben? Dann hörte ich Richie schreien. Er war im nächsten Raum. Das hat mich irgendwie aus meiner Erstarrung gelöst. Ich rannte in sein Zimmer hinüber, es sah aus wie ein Schlachtfeld. Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder, alle waren tot. Er hielt noch seine Waffe aus dem Fenster 78
gerichtet, und ich zog ihn hinunter, in Sicherheit. Dachte ich jedenfalls. Bis ich das Blut sah. Er hatte einen Schuß mitten in die Brust abbekommen, und…er schrie wie ein Zehnjähriger, der vom Skateboard gefallen ist, verstehst du? Er hatte wohl einen Schock. Ich glaube, es war ihm noch gar nicht bewußt, was mit ihm geschah. Ich versuchte, ihn zu retten. Ich versuchte es so sehr. Ich hielt ihn so fest, daß meine Arme taub wurden, aber das Blut lief immer weiter, und er erstickte daran, ich konnte ihm nicht mehr helfen. Ich wiegte ihn einfach in den Armen, bis er zu atmen aufhörte. Ich wollte sitzen bleiben, bis mich jemand erschießt. Aber plötzlich polterte ein Agent an die Hauswand - er versuchte, durch das Fenster zu klettern. Und da rannte ich. Ich wußte, wo die Falltür zum Tunnel führte. Ich bin mir sicher, daß Hunter vorhatte, ihn selbst zu benützen, aber er saß im Kugelhagel fest. Ich weiß noch, wie ich durch die Falltür schlüpfte und sie über mir zuzog. Es war pechschwarz da drinnen. Ich hatte vergessen, eine Taschenlampe oder so was mitzunehmen, wirklich. Da unten gab es Skorpione, Würmer und Kakerlaken du kannst es dir nicht vorstellen. Aber das war mir alles egal, denn ich hatte überall das Blut von Richie und Samson an mir. Ich konnte es riechen. Es hat sogar den Geruch der Erde überdeckt. Ich kroch dahin wie ein blinder Maulwurf. Ich kroch einfach, bis ich am anderen Ende herauskam, das waren 79
ungefähr fünfzig Meter, glaube ich. Die Scharfschützen haben mich nicht gesehen, weil sie sich auf das Lager konzentrierten, und ich kam hinter ihnen heraus. Ich war voller Blut und Dreck, aber irgendwas ist da unten im Tunnel mit mir passiert. Irgend etwas passierte in meinem Kopf. Denn danach konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nicht, was ich tat oder wo ich hinging. Ich weiß nicht, wie ich Kleidung zum Wechseln auftrieb oder es schaffte, den Behörden zu entgehen. Ich habe versucht, mich daran zu erinnern, aber es ist weg. Wochenlang konnte ich mich nicht mal an den Überfall erinnern. Ich konnte mich an gar nichts erinnern, außer in den Alpträumen. Ich glaube, man nennt das einen Fuguezustand. Im Lauf der Jahre kam es bruchstückweise zurück. Aber ich weiß noch immer nicht, wo ich hinging oder was ich tat, als ich aus dem Tunnel herauskam, wie ein blutiges Monster im Nebel. Ich weiß von nichts, bis ich hier aus einem Bus stieg und im Park spazierenging, während ich auf den nächsten Bus wartete. Und dort warst du. Irgend etwas an dir hielt mich davon ab, weiterzulaufen. Aber ich brauche nur einen Feuerwerkskörper oder die Fehlzündung eines Automotors zu hören… und ich rieche wieder das Blut an meinen Händen.« »Daddy?« Cam schaute hoch, blinzelte als er die Stimme seiner 80
Tochter hörte. Er saß noch immer auf dem Bettrand, von wo er verzweifelt Austin angerufen hatte, die Ellenbogen auf den Knien, das Gesicht in den Händen. Er starrte sein kleines Mädchen ausdruckslos an, das in der Schlafzimmertür stand und ihn mit Wrens Augen anschaute. Wren war in vielen Dingen so stark und so verletzlich bei anderen. Wie würde sie wohl sein, wenn Austin sie fand und wieder nach Hause brachte? Sie würde nicht noch einmal so eine Schießerei überstehen. Und wenn Daniel etwas passierte … es würde sie wahrscheinlich umbringen. »Daddy? Was ist los? Wo sind Mom und Daniel?« Ich will es nicht, dachte er. Ich will diese süße Unschuld nicht zerstören. Ich möchte sie einfach noch ein paar Jahre behütet und geborgen aufwachsen lassen. Aber sie hatten keine paar Jahre mehr. Jetzt nicht mehr. Nicht wie die Jahre, die hinter ihnen lagen. Cam bemühte sich, die äußerste Trostlosigkeit und Verzweiflung zu verbergen, die er auf seinem Gesicht spürte. Er klopfte neben sich auf das Bett. »Setz dich zu mir, Schatz. Wir müssen uns unterhalten.« Ihr starrer Blick schnitt wie ein Skalpell durch seine fragwürdige Selbstbeherrschung. Behutsam, als ob die Bettdecke zerbrechlich wäre, setzte sie sich neben ihn, die Hände in ihrem Schoß gefaltet. Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie näher heran. »Irgendwas stimmt nicht, oder?« sagte sie. »Hatten 81
Daniel und Mom einen schlimmen Autounfall?« Wo in aller Welt soll ich nur beginnen? dachte er. Dann meinte er, Austins Stimme zu hören, scharf und befehlend. Reißen Sie sich zusammen, und fangen Sie einfach an! Nach einem Moment sagte er: »Daniel und Mom werden für eine Weile weg sein.« Sie drehte sich herum, um ihn ansehen zu können, und sagte, »Wollt du und Mom euch scheiden lassen? Daniel hat den Verdacht.« »Was? Nein! Damit hat es überhaupt nichts zu tun, Schatz.« Die Spannung wich aus ihrem Körper wie die Luft aus einem Ballon. »Ich konnte es auch nicht glauben«, sagte sie. »Aber Mom hat sich in letzter Zeit so sonderbar benommen und alles -« Er schüttelte den Kopf. Das Ganze war schwerer, als er gedacht hatte. Schwer zu glauben, daß eine Scheidung noch eine gute Nachricht gewesen wäre im Vergleich zu dem, was er dem Kind nun erzählen mußte. Das einzige, woran er sich klammern konnte, war die Tatsache, daß Zoe ein außergewöhnliches Kind war und sie beide ein besonders gutes Verhältnis hatten. Wren nannte Zoe eine alte Seele. Sie schien den Sinn des Lebens schon erfaßt zu haben, bevor sie mit der Schule begann. Sie war von einer verblüffenden Reife, und ihr größtes Problem in der Schule war, daß sie seelisch und geistig zu alt für ihre Freunde war. Sie hatte sich ihr ganzes junges Leben lang schwer damit getan, Freunde zu finden. Wren und Cam hofften, daß sie ein paar gleichgesinnte Freunde in den höheren Jahrgängen finden würde, wenn sie übernächstes Jahr in die neunte Klasse kam. 82
Sie war weiß Gott sehr viel vernünftiger als Daniel. »Was dann, ist Mom krank oder so? Ariels Mutter hat Brustkrebs.« Sie schaute ihn besorgt an. Er drückte sie. »Nein, sie ist nicht krank. Laß mir einen Moment Zeit, Zoe, damit ich überlegen kann, wie ich es dir erzählen soll.« »Erzähl es einfach«, sagte sie, »und wir klauben es hinterher auseinander.«
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8. Kapitel Er nickte, wie immer verblüfft von ihrem Verständnis. Was anderes konnte er ohnehin nicht tun. Er begann, indem er ihr von einem kleinen, wilden Kind namens Lissie erzählte, und daß frei zu sein alles war, was Lissie je wollte. Etwa zwei Stunden nach der Entführung wurden ihnen die Knebel entfernt. Daniel sah ›geschockt‹ aus, wie es die Sanitäter nennen würden. Sein Gesicht war blaß und verschwitzt, sein Ausdruck starr und benommen. Er saß ausgestreckt auf dem Boden des Wagens und sagte nichts. Wren kroch sofort auf den Knien hinüber, wo Hunter an den Vordersitz gelehnt saß. »Bitte«, sagte sie, gerade so laut, daß er sie hören konnte, wobei sie ihm direkt in die Augen sah. Sie kniete vor ihm, ihre Hände waren noch immer mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. »Laß meinen Sohn gehen.« Er streichelte ihr über das Haar. »Kann ich nicht tun, Baby«, sagte er. Sie wappnete sich, um unter seiner Berührung nicht zusammenzuzucken, und sagte: »Er nützt dir nichts. Er ist noch ein Kind, und er weiß überhaupt nichts. Ich habe ihm nie irgend etwas erzählt.« Er lächelte sein strahlendes Lächeln. »Warum überrascht mich das nicht?« »Hunter… ich werde alles tun. Alles, was du willst. Ich helfe dir, eine Bank auszurauben - es ist mir egal. Aber laß Daniel gehen.« Er warf einen Blick hinüber, wo der Junge unter den aufmerksamen Augen seiner Wächter zusammengekauert 84
an der Seitenwand des Wagens lehnte. »Ich habe große Pläne mit unserem Dan.« »Nein.« Er runzelte die Stirn. »Was meinst du mit Nein?« »Laß ihn in Ruhe.« »Aber schau mal, Lissie, du scheinst nicht zu verstehen. Du hast nicht mehr zu bestimmen, was mit dem Jungen passiert.« Er griff hinter sie und zog an der Kette, die ihre Hände verband. »Er ist nun in meinen Händen.« Er ließ die Kette fallen und legte seine warme Hand auf ihren Arm. Es überlief sie eiskalt. »Oh… Gänsehaut. Ich seh schon, der alte Funke ist immer noch da.« Er zwinkerte ihr zu. Wren kniff die Augen zusammen und sagte langsam und deutlich: »Wenn du meinen Sohn anfaßt, wenn du ihm irgendwie weh tust… bringe ich dich um.« Erschrockenheit vortäuschend, zog er die Hand unter ihrem intensiven Blick zurück und starrte sie ebenfalls einen Moment lang nachdenklich an. Dann wühlte er langsam in seiner Hosentasche - ohne die Augen von ihr zu lassen -, griff hinter ihren Rücken und zog sie heftig zu sich heran. Sie waren sich nahe genug, um sich küssen zu können. Sie spürte die Wölbung seiner Brustmuskeln, als er mit den Handschellen herumhantierte, aber sie verzog keine Miene. Dann ein metallenes Klirren, und ihre Hände waren frei. 85
Sie wich zurück, beobachtete ihn weiter und rieb sich die Handgelenke. Zum Erstaunen aller Anwesenden - und besonders zu Wrens - legte er den Schaft seiner AK47 in ihre Hände. Er hielt die Waffe noch, seine Augen bohrten sich in die ihren, und er sagte: »Tu es.« Gleichzeitig ertönte hinter Wrens Rücken das charakteristische klack, klack, klack, als drei AK47 entsichert wurden. »Hunter«, schrie Kicker. »Was zum T…« Hunter hob abwehrend die Hand. Dann ließ er den Schaft los und überantwortete die Waffe ihrem verschwitzten Griff. »Mom!« Wren wagte nicht, den Blick zu senken. Es war verblüffend, wie vertraut sich die schwere Waffe aus chinesischer Produktion sofort wieder in ihren Händen anfühlte. Sie ließ ihre Hand vor zum Abzug gleiten und befühlte das Magazin. Das halbautomatische Zentralfeuergewehr war mit einem 75-SchußTrommelmagazin und einem Fernrohr ausgestattet. Sie hob es hoch. Natürlich. Für Hunter mußte radikal alles her. Overkill war sein Markenzeichen. Ihr Herz klopfte so heftig, daß ihr ganzer Körper bebte. Hunter sah sie mit dem freudlosen Grinsen an, an das sie sich noch gut erinnerte. »Mach schon«, sagte er. »Du willst mich töten? Tu es.« Sie hob die Waffe, bis sie genau auf seinen Kopf gerichtet war, und machte sich nicht die Mühe, durch das Visier zu schauen. Sie waren sich zu nahe. Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und hielt am 86
Zielfernrohr vorbeischauend seinem Blick stand. Auge in Auge. Ein Schuß. Mehr würde es nicht brauchen. »Tu es.« »Hunter! Mann, du kannst doch nicht…« Er lächelte breiter. Alles, was sie zu tun hätte, war entsichern und abdrücken. Die umständliche Sicherung war rechts oben am Gewehr angebracht. Die mit dem typischen ›klack‹. Sie wäre tot, bevor sie den Abzug betätigen könnte. Und das wäre auch Daniels Tod. Der Schweinehund wußte es ebenfalls. Wren ließ das Gewehr sinken. Ihre Arme schmerzten, mehr vom Adrenalinstoß als vom Gewicht der Waffe. Sie hatte im YMCA schon schwerere Gewichte gehoben. Sie schob das Gewehr in Hunters Arme zurück und wandte sich besiegt ab. Alle drei Wächter hatten ihre Waffen genau auf sie gerichtet. Sie ließen sie erst sinken, als sie sich wieder neben ihren verschreckten Sohn gesetzt hatte. »Seht ihr?« sagte Hunter mit einem arroganten Lachen. »Ich war nie in Gefahr. Und das wußte ich. Dan - das soll deine erste Lektion im Umgang mit Schußwaffen sein. Es geht nur um die mentale Einstellung.« Als er den Blick zu Wren hob, verschwand sein Lächeln, und er sagte mit tödlichem Ernst: »Richte niemals eine Schußwaffe auf 87
jemanden, wenn abzudrücken.«
du
nicht
wirklich
bereit
bist
Sie konnte nicht länger in diese kalten, leeren Augen schauen. Mit einem Blick auf Daniel stellte sie fest, daß er sie ansah, und in seinem Gesicht stand… ja, was? Enttäuschung? Er schüttelte leicht den Kopf und wandte sich von ihr ab. Er glaubt, ich habe eine günstige Gelegenheit sausenlassen, dachte sie. Enttäuschung jagte mit jedem Pulsschlag durch ihren Körper. Er dachte, ich würde wie Rambo handeln und sie mit meiner großen Knarre in Hollywoodmanier alle wegpusten, und wir würden ohne einen Kratzer davonkommen. Aber wie sollte er es auch besser wissen? Es passierte ja dauernd in den Filmen. Was wußte dieses Kind vom Geruch des Blutes und den Schreien von Sterbenden? Sie fühlte Hunters Blick auf sich ruhen und erwiderte ihn unerschrocken, als könnte gespielte Tapferkeit ihre Nervosität und Angst verbergen. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck wie eine Schlagzeile lesen. Du willst dich mit mir anlegen? Du wirst jedesmal verlieren.
»Federal Bureau of Investigation, San Antonio.« »Agent Martinez, bitte.« »Darf ich fragen, wer anruft?« »Steve Austin.« 88
»Einen Moment bitte.« Steve nahm seine Brille ab und legte sie auf den Tisch. Er sah alles im Zimmer verschwommen. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. »Steve Austin, du alter Drecksack! Was ist los bei dir, Mann?« »Nichts Besonderes, Mike. Wie geht es euch da unten in Margaritaville?« »Die typische Irrenhausscheiße. Ich wette, du vermißt es, was?« »Na ja, ich weiß nicht. Als ich noch dort war, war es nicht ein solches Narrenhaus. Damals haben nur Leute mit gesundem Verstand für den FBI gearbeitet. Wir haben alle Verrückten euch übergeben.« Martinez lachte. »Du grauköpfiges Negerlein.« »Mexikanischer Burritofresser.« Martinez hatte Austin endlich zum Lächeln gebracht. Wenn sie in der guten alten Zeit an langwierigen, frustrierenden Fällen zusammengearbeitet hatten, ließen sie oft Dampf ab, indem sie ethische Beschimpfungen austauschten. Es verstand sich von selbst, daß beide jeden anderen umgebracht hätten, der solche Bemerkungen über den anderen machte. Zwei Männer konnten sich nicht mehr respektieren, als sie es taten. »Was kann ich für dich tun, Alter?« »Es ist vollkommen inoffiziell, okay?« »Das versteht sich von selbst.« »Schon, aber das ist nun wirklich inoffiziell. Supermega-inoffiziell.« 89
»Verstanden.« »Ich suche Jeremiah Hunter.« »Tun wir das nicht alle? Er wurde vor ein paar Monaten bedingt aus der Haft entlassen.« »Er macht wieder schlimme Dinge, Mike.« Es folgte eine Pause. »Welche Art von schlimmen Dingen?« »Sagen wir mal, die gleichen schlimmen Dinge wie vorher.« »Du warst der zuständige Agent beim Sturm auf die Community in Louisiana, oder?« »Eine Tatsache, die ich bis an mein Lebensende bereuen werde.« »Hey, hier ist niemand, der mit Steinen wirft.« »Ich muß ihn finden, und zwar schnell.« »Steve, du weißt, daß ich auf deiner Seite bin, aber … hast du vor, mich in eine brenzlige Lage zu bringen?« »Ich glaube nicht. Sonst hätte ich nicht angerufen. Sagen wir mal - nun - es gibt ein beiderseitiges Interesse daran, diesen Kerl zu finden.« »Reden wir wieder von Bankraub, oder ist es vielleicht… ein bißchen Terrorismus? Hast du einen Anhaltspunkt?« »Mein Informant sagt, daß er ein neues Survivalcamp laufen hat.« »Ich habe befürchtet, daß du das sagen wirst. Sollen wir die ATF benachrichtigen?« 90
»Möglicherweise. Jetzt noch nicht.« »Okay. Ich liebe Frage- und Antwortspiele. Gibst du mir einen Hinweis, wo ungefähr?« »Ich weiß es nicht.« »Komm schon, Mann. Ein Bundesstaat? Wie wär’s mit einer Region?« »Das ist alles, was ich weiß.« Martinez stöhnte. »Ich kann’s nicht glauben. Weißt du, was du von mir verlangst?« »Ich habe eine ziemlich gute Vorstellung davon.« »Scheiße, Mann. Es gibt Hunderte von diesen Spinnergruppen im ganzen Land. Sie nennen sich Patrioten.« »Sind sie nicht hauptsächlich auf die Pazifikregion im Nordwesten konzentriert?« »Dort oben gibt es eine Menge von ihnen, wegen der dichten Wälder, aber es gibt mittlerweile schon genauso viele in der Wüste im Südwesten. Auch einige im tiefen Süden und einige im Nordosten.« »Keine im Mittleren Westen?« scherzte Austin. »Nicht viele. Zu flach«, antwortete Martinez voller Ernst. »Paranoid, wie sie sind, befürchten sie, sich in den Prärien nicht vor den bösen Regierungstruppen verstecken zu können, wenn es an der Zeit ist, ihren Bürgerkrieg zu inszenieren.« »Hast du jemanden bei der Aryan Nation eingeschleust?« Das ist die rassistische Dachorganisation für die meisten Survivalistengruppen. 91
»Aber natürlich. Soll das ein Scherz sein?« »Zapf ein paar von deinen Quellen an. Finde heraus, was sie über Hunter gehört haben. Irgendwer versteckt ihn irgendwo.« »Ich sag dir, Mann, es scheint, als ob der Satellit jeden Tag ein neues, gottverdammtes Lager entdeckt. Es jagt mir eine Scheißangst ein. Alle bis an die Zähne bewaffnet, und diese Arschlöcher wissen ihre Feuerkraft auch zu benutzen.« Sie dachten einen Moment schweigend an die Agenten, die diese Lektion auf die harte Tour gelernt hatten. »Mike - hör mal zu. Die Sache muß oberste Priorität haben.« »Was willst du damit sagen, Mann?« »Ich meine damit, daß es eine zweite Community geben könnte, wenn wir die ganze Sache nicht rasch vorantreiben. Es könnte den Sturm auf das Lager in Louisiana wie einen Probelauf aussehen lassen.« »Madre de Cristo«, murmelte Martinez, und Austin wußte, daß er sich bekreuzigte.
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9. Kapitel Ein Ruck und plötzliche Stille rissen Daniel aus einem furchtbaren Alptraum, in dem er gekidnappt wurde von… er öffnete die Augen und blinzelte ins Halbdunkel. Sein Kopf ruhte auf dem Bein seiner Mutter, und mit voller Wucht stürzte die Erkenntnis auf ihn ein, daß er gar keinen Alptraum gehabt hatte, daß alles Wirklichkeit war. Den Knebel hatte man ihm abgenommen, aber seine Hände waren immer noch mit Handschellen gefesselt. Als er sich mühsam aufsetzte, sagte seine Mutter: »Hab keine Angst. Wir halten nur zum Tanken.« Es war unglaublich, wie wohltuend ihre Stimme klang. Er beugte sich nahe zu ihr hinüber und flüsterte: »Mom, ich muß dringend pinkeln.« Sie tätschelte seine tauben Hände. »Hunter«, sagte sie, und ihre Stimme war immer noch vernünftig und ruhig, so wie damals, als sie einmal Zoes Temperatur maß, als Zoe noch klein war, und Zoe hatte ziemliches Fieber, und sie wollte ihr keine Angst machen. »Es war eine lange Fahrt. Wir müssen mal zur Toilette.« Einen Augenblick herrschte angespanntes Schweigen, dann nickte Hunter bedächtig. »Also gut«, sagte er. »Aber ihr geht einzeln. Kicker geht mit. Wenn einer von euch nur den leisesten Versuch macht, Hilfe zu rufen, oder irgendwelche Dummheiten macht, dann töte ich den, der noch hier ist. Verstanden?« »Ja«, sagte sie. »Wir werden keine Dummheiten machen, nicht wahr, Daniel?« Sie funkelte ihn an. Der Schlaf wich langsam aus Daniels Kopf. Für ihn sah das nach einer einwandfreien Gelegenheit zur Flucht aus. 93
Sie drückte sein Handgelenk so fest, daß er beinahe aufgeschrien hätte. Im Halbdunkel des Kombi und in dem öligen Licht der Tankstelle sah ihr Gesicht fast beängstigend aus. Er hatte sie noch nie so gesehen. »Nein… Sir«, sagte er. »Gut.« Hunter gab Kicker ein Zeichen, der sein Sturmgewehr einem anderen Mann namens Smithy gab, eine Hintertür des Kombi ein Stück öffnete und flink und lautlos wie eine Schlange aus dem Spalt glitt. Während Hunter Daniel die Handschellen abnahm, richtete Smithy seine Waffe direkt auf Daniels Mutter. Preacher hatte ein Auge auf alle zusammen. Daniels Hände kamen frei, und er spürte einen Stoß zwischen den Schulterblättern. »Beeil dich«, sagte Hunter, und seine Stimme klang unheimlich in Daniels Nacken. »Und denk an deine Mom.« Daniel war am ganzen Körper steif, als er aus dem Kombi stieg und sich enttäuscht umsah. Es war nicht der gigantische Truckstop, auf den er gehofft hatte - nur eine von diesen Tankstellen auf dem Land, ein Punkt auf der Karte. An der nächsten Zapfsäule lehnte ein Cowboy an einem verdreckten Pickup und wartete darauf, daß der Schlauch heraussprang. Daniel stand von Kicker flankiert an der Rückseite des Kombi und starrte sehnsüchtig auf den Cowboy. Im Geiste schoß er Hilferufe zu dem Burschen hinüber, aber der nickte nur träge in Daniels Richtung, bevor er wieder auf den Schlauch hinunterblickte, der aus seinem Benzintank 94
wuchs. Kicker stupste Daniel am Ellenbogen. Beinahe im Gleichschritt gingen der schwere Mann und Daniel zur Gebäudeseite, wo die Tür zur Herrentoilette nur angelehnt war. Daniel konnte es nicht glauben. Zu jeder anderen Zeit wäre die Tür verschlossen gewesen, und sie hätten um einen Schlüssel hineingehen müssen. Er hatte auch immer Pech. Unter Kickers unsanfter Mitwirkung stolperte er durch die Tür. Als er sie zudrücken wollte, wurde sie von einem großen, bestiefelten Fuß blockiert. »Du brauchst nicht zuzusperren«, knurrte Kicker. »Ich bewache die Tür.« Daniel fummelte mit zitternden Händen am Reißverschluß seiner Jeans herum. Als er seinen Pimmel endlich draußen hatte, tat sich nichts. Er hatte so dringend gemußt, aber es kam nichts. Zum Verrücktwerden. Eric würde sagen: Du hast so viel Schiß, daß dir die Pisse wegbleibt, Mann. Unwillkürlich entfuhr Daniel ein nervöses Lachen, und es lockerte seine Anspannung so weit, daß er sich schließlich erleichtern konnte. Daniels Hirn arbeitete wie rasend, während er sich langsam die Hände wusch. Er wünschte, Eric wäre bei ihm. Eric war der Mann mit den Ideen. Wenn Eric dabei wäre, hätte er längst einen Plan. Einen Weg, um Aufmerksamkeit zu erregen, zu fliehen, die Typen k. o. zu schlagen. Irgend etwas. In dem verschmierten, rostfleckigen Spiegel über dem Waschbecken, schreckte Daniel überrascht vor seinem Spiegelbild zurück. Das flackernde, grünliche Neonlicht von der Decke brachte das Oliv in seiner Gesichtsfarbe zur 95
Geltung und ließ seine Haut krank aussehen. Seine Haare standen in alle Richtungen ab. Aber seine Augen. Sie waren vor Angst beinahe völlig schwarz, und Daniel hielt sie so weit offen, daß ringsum das Weiße zu sehen war. Er bespritzte sie mit kaltem Wasser und klatschte seine Haare fest. Tu irgendwas. »Beeil dich, verdammt noch mal«, schnauzte Kicker. Daniel fuhr zusammen, steckte die zitternden Hände in die Taschen und schlenderte aus der Toilette. Lauf weg. Er könnte es. Während sich Daniel nervös umsah, wobei ihm das Herz bis zum Halse schlug, glaubte er, vielleicht das Weite suchen zu können. Er könnte schreiend zu dem Mann an der Kasse rennen. Er könnte wie ein Verrückter zum Highway sausen, vielleicht jemanden anhalten. Er könnte mit dem Benzin ein Feuer entfachen, die Kerle damit vollsprühen »Denk an deine Mom.« Hunters letzte Worte hallten in seinem Geist wider. Sie würden sie töten, daran zweifelte Daniel nicht. Er konnte das Risiko nicht eingehen. Niedergeschlagen ließ er den Kopf hängen und erlaubte seinem Aufpasser, ihn wieder in den hinteren Teil des Kombi zu verfrachten, wo ihn seine Mutter, sichtlich nervös, mit einer Umarmung überraschte. Nun war sie an der Reihe. Zum ersten Mal war Daniel allein mit Hunter, Preacher und - wie hieß er noch? Smithy im Kombi, während der Fahrer auftankte und sich unter der Kühlerhaube zu schaffen machte. Daniel war nicht darauf gefaßt gewesen, wie… verlassen er sich ohne seine Mutter fühlte. Es war ihm nicht bewußt gewesen, wie sehr er davon abhängig war, daß sie ihn beruhigte. Er starrte auf einen seiner großen Schuhe und kaute auf einem Fingernagel. 96
»Deine Mom meint, du hast wahrscheinlich Hunger«, sagte Hunter. »Stimmt das?« Erstaunlicherweise stimmte es. Dennoch wollte er dem Kerl nicht die Genugtuung geben, es gewußt zu haben. Er zuckte nur die Achseln. Hunter kicherte. »Harter Bursche«, sagte er zu Smithy. Daniel fragte sich, ob seine Mutter irgendwas probieren würde. Sie schien zu wissen, wie man sich diesen Kerlen gegenüber verhielt. Vielleicht würde ihr eine Möglichkeit einfallen, sie hereinzulegen. Vielleicht würde sie entkommen. Aber würde sie ihn im Stich lassen? Du hättest beinahe sie im Stich gelassen, ging es ihm schuldbewußt durch den Kopf. Das ist etwas anderes, dachte er, sie ist meine Mom. Moms verlassen ihre Kinder nicht. Wirklich nicht? Sie war, so schien es, sehr lange weg. Daniel riß sich den Fingernagel bis aufs Fleisch weg, und es begann zu pochen. Was, wenn sie nicht zurückkam? Würden sie ihn umbringen? Würden sie sie umbringen? Ob dieser Kicker mit ihr…? Zum ersten Mal dachte Daniel an seinen Vater. Würde er ihn je wiedersehen? Ein wildes Verlangen durchflutete ihn. Mehr als alles in der Welt wünschte er sagen zu können: Es tut mir leid, Dad. In diesem Augenblick würde er alles geben, was er hatte, nur um wieder zu Hause zu sein. Wenn Du mich nur wieder nach Hause bringst, lieber 97
Gott, betete er, werde ich nie wieder Ärger kriegen. Es polterte an der Rückseite des Kombi, und Daniels Mutter stieg in das Fahrzeug. Er war so froh, sie zu sehen, daß er fast weinte. Mit ihr an seiner Seite kamen hoffnungsvolle Gedanken zurück. Sein Dad würde an der Sache dran sein, das wußte Daniel. Im ganzen Staat würden die Cops nach ihnen suchen. Ihre Fotos würden im Fernsehen sein, und dieser Cowboy würde sie sehen und diese Hotline anrufen, wie sie sie bei Unsolved Mysteries haben, und das FBI würde kommen und sie finden. »Es wird alles gut«, murmelte seine Mutter, und er wünschte von ganzem Herzen, daß sie recht behielt. Die Männer gingen alle abwechselnd zur Toilette, und als Hunter zurückkam, hatte er die Arme voll Coladosen und Schokoriegel, die er auf den Boden des Kombi warf. Sie ließen Daniel und seine Mutter ohne die Handschellen. Alle nahmen sich einen Schokoriegel und eine Coke, während der Wagen auf den Highway zurückrumpelte und Geschwindigkeit aufnahm. Daniel verschlang seinen Riegel. »Hier, nimm meinen«, sagte seine Mutter und drückte ihm ihren ungeöffneten Schokoriegel in die Hand. »Ich will ihn nicht.« »Nein …« »Schon in Ordnung, ehrlich. Meine Linie«, fügte sie an und verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln. Er nahm widerstrebend den Schokoriegel, in der Absicht ihn aufzuheben, aber wie üblich überstimmte sein Magen 98
sein Gehirn, und er aß das meiste davon auf, bestand aber darauf, daß sie zumindest ein wenig davon aß. Sie nahm zwei kleine Bissen und überließ Daniel den Rest. Die Fahrt nahm kein Ende und zog sich die halbe Nacht hin. Daniel döste weg und wachte wieder auf, bis die Räder über etwas knirschten, das ein äußerst holpriger Feldweg sein mußte, so holprig, daß sie sehr langsam fahren mußten, und auch dann wurden sie noch ziemlich durchgeschüttelt. Aus irgendeinem Grund versetzte dieser Teil der Fahrt Daniel mehr in Angst als der Rest. Seine Mutter nahm seine Hand, und er klammerte sich daran fest. Das Holpern und Knirschen schien endlos weiterzugehen. Wo zum Teufel waren sie? Wer sollte sie hier jemals finden? Die ganze Zeit im Kombi - die Männer mit den Waffen, selbst der Stop an der Tankstelle - war ihm irgendwie unwirklich erschienen, aber dieser an den Nerven zerrende Teil der Fahrt hatte etwas Endgültiges an sich. Der vordere Teil des Kombis sackte plötzlich steil ab, und Daniel mußte sich mit den Beinen einstemmen, damit er nicht nach vorn, auf den Fahrersitz zu, rutschte. Dann stabilisierte sich der Kombi und hielt schließlich mit einem Ruck an. Der Fahrer, Hunter und zwei von den Wächtern stiegen aus und überließen es einmal mehr Smithy, sein Gewehr auf Daniel und seine Mutter zu richten. Totenstille. Keine Verkehrsgeräusche. Keine Sirenen in der Ferne. Nach einiger Zeit vernahmen Daniels Ohren ein 99
gedämpftes Trommeln, das er schließlich als den Wind identifizierte, der die Seitenwände des Fahrzeugs peitschte. Die hinteren Türen sprangen plötzlich auf, und Smithy machte seinen beiden Gefangenen mit dem Gewehr ein Zeichen. Daniel kroch steif und unbeholfen zum Heck und hinaus ins Freie. Für die Augen eines Stadtkindes war die Dunkelheit vollkommen. Er war dankbar für die Hand seiner Mutter, als er den Stoß von einem Gewehrlauf im Rücken spürte, und er stolperte vorwärts. »Vor euch ist ein offener Eingang«, brummelte Hunter. »Paßt auf, wo ihr hintretet.« »Bekommen wir eine Taschenlampe?« fragte Daniels Mutter. »Kein Licht. Eure Augen werden sich anpassen. Auf dem Boden liegen zwei Schlafsäcke, und in der Ecke steht ein Eimer als Pott. Bis morgen.« Daniel ging zaghaft hinter seiner Mutter her und betrat das schwärzeste Schwarz seines Lebens, aber bevor er sich umdrehen konnte, hörte er das entschlossene Peng einer Tür, die hinter ihm ins Schloß fiel. Er blieb völlig reglos stehen, schwach und kraftlos. Seine Mutter legte die Arme um ihn, und er erwiderte es. Lange hielten sie sich einfach nur in den Armen. Es schien Daniel, als zitterte sie möglicherweise, aber er konnte es nicht genau sagen, weil er selbst bebte wie ein Kaninchen. »Es tut mir so leid, Daniel«, sagte sie. »Du kannst gar nicht wissen, wie leid mir das tut.« »Was tut dir leid?« 100
»Daß ich dich da hineingezogen habe. Alles.« »Es ist nicht deine Schuld.« »Doch, Schatz, es ist meine Schuld. Es ist alles nur meine Schuld.« Ihre Stimme brach, und Daniel fragte sich entsetzt, ob sie vielleicht weinte. Daniel hatte seine Mutter noch nie weinen sehen, und es brachte ihn völlig aus der Fassung. Es war das gleiche Gefühl, das er während eines Urlaubs in Kalifornien gehabt hatte, als der Boden unter ihm bei einem leichten Erdbeben schwankte. Er wußte nicht, was er tun sollte. Er strich ihr unbeholfen über das Haar. Sie stieß sich plötzlich von ihm weg, räusperte sich und sagte: »Suchen wir die Schlafsäcke und wärmen uns auf.« Verwirrt kauerte er sich neben sie und tastete umher, bis er einen Schlafsack fand, in den er kriechen konnte. »Zieh zuerst deine Schuhe aus«, sagte sie und hatte ihre Stimme wieder unter Kontrolle. »Oh.« Er fummelte an den langen Schnürsenkeln seiner hohen Schuhe herum. »Komm, ich helf dir mit dem Schlafsack.« »Es geht schon, Mom.« »Okay.« Sie stieg in ihren eigenen Schlafsack und rutschte neben ihn. »Hast du’s?« »Ja.« »Dann laß uns ein bißchen schlafen.« Daniel verkroch sich in die warmen Falten des Schlafsacks und brachte seinen Körper erst in die eine 101
Stellung, dann in die andere. Der Boden schien aus Beton zu sein, und er war hart. Und in seinem Kopf jagten sich die Gedanken. »Mom?« »Du kannst nicht schlafen, hm?« »Was ist eigentlich los? Was ist das für eine Geschichte mit diesem Hunter und dir? Was hatte das ganze Zeug zu bedeuten, von dem er im Kombi geredet hat?« Das Schweigen dehnte sich so lange, daß Daniel befürchtete, sie sei eingeschlafen. »Mom?« »Ich bin hier.« »Wo sind wir? Was machen wir hier? Wovon hat er geredet - die Armageddon-Armee? Und was meinte er mit Rache? Wann hast du diesen Kerl gekannt? Ich möchte es einfach wissen.« Sie seufzte. »Ich hatte gehofft, du würdest nie etwas davon erfahren müssen, Daniel.« »Wovon? Und warum hat er dich Lissie genannt?« »Weil… Lissie mein Name ist - oder war.« »Was meinst du damit?« »Ich wurde als Elizabeth Montgomery geboren. Meine Eltern nannten mich Lissie.« »War das, bevor sie starben?« Schweigen. »Mom?« »Daniel… ich möchte, daß du einfach nur zuhörst, 102
okay?« »Okay.« »Du mußt dir klarmachen, daß ich vieles davon selbst nicht verstand, als ich jung war. Ich habe lange gebraucht… Abstand… und viele Jahre… bis ich schließlich begriff, warum meine Mutter so wurde, wie sie war.« »Wie war sie denn?« »Wundervoll. So ziemlich die wundervollste Frau, die ich je gesehen habe.« Daniel schien es, als würde sich die Stimme seiner Mutter von ihrem Körper lösen und in die samtene Nacht entschweben wie Glühwürmchen im Nachtwind, als wäre ihre Stimme unabhängig von ihr und würde aus eigenem Willen sprechen. Es war eine merkwürdige, unheimliche Empfindung, wie Ohnmächtigwerden. »Meine Mutter hieß Margaret. Sie wurde während der großen Depression im Cherokee-Territorium im nordöstlichen Oklahoma geboren. Ihre Mutter war ein Cherokee-Vollblut, ihr Vater Weißer. Damals haßten viele Leute die eingeborenen Amerikaner. Leute wie meine Mutter nannte man Halbblut. An Restauranttüren stand oft: KEINE HUNDE UND INDIANER. Du kennst diese alten Western, die sich dein Vater gern ansieht?« Daniel nickte. »Ja. Er steht auf John Wayne und diese ganzen Machotypen.« »Wenn du achtgibst, stellst du fest, daß die Filme damals die Indianer fast immer als blutrünstige Wilde oder karikaturhafte Hanswurste darstellten. Du kannst dir nicht vorstellen, in welcher Armut meine Mutter aufwuchs. Sie 103
hatten keinen elektrischen Strom, kein fließendes Wasser. Sie mußten Wasser ins Haus schleppen und auf einem Holzofen erwärmen, wenn sie baden wollten. Das Essen bestand oft aus Eichhörnchen oder Kaninchen, was sie gerade im Wald schossen. Die Arbeitsmöglichkeiten für Ureinwohner waren meist auf die allerdreckigsten und schwersten Jobs beschränkt. Es… es machte ihren Geist krank.« »Inwiefern?« »Es führte dazu, daß sie haßte, wer sie war. Sie haßte sich selbst, verstehst du? Dann, als meine Mutter ein Teenager war, siedelte die Regierung ihre Familie von ihrem Land nach Kalifornien um. Man zwang sie, eine rein weiße Schule zu besuchen, wo die anderen Kinder sie auslachten und sich über ihre Kleidung und ihre Sitten lustig machten. Du mußt dir klarmachen, daß sie in der High-School war und nicht einmal wußte, wie man ein Telefon benutzt.« »Du machst Witze.« »Denk mal nach. In Oklahoma hatten sie damals kein Telefon, und auch niemand von ihren engen Freunden und Verwandten hatte eins. Ich will damit nur sagen, daß sie den Kindern in dieser großen, modernen High-School wie ein Wesen aus einer anderen Welt vorkam. Alles was sie hatte, um sich zu wehren, war ihre Schönheit, und die setzte sie dazu ein, um den vielversprechendsten Absolventen der Schule für sich zu gewinnen.« »Deinen Dad?« »Richtig. Daddy stammte aus einer berühmten Familie, und sie waren mit meiner Mutter so wenig einverstanden, daß sie nach Texas zogen, als er sie heiratete. Ich glaube, 104
seine Eltern haben ihn enterbt, denn ich habe sie nie kennengelernt.« »Er muß sie sehr geliebt haben«, unterbrach Daniel. Seine Mutter zögerte. »Du hast recht. Er hat Mutter immer geliebt. Ich glaube, er sah sich gern als ihren Retter, in gewisser Weise. Er rettete sie aus bedrückender Armut und schenkte ihr dieses völlig neue Leben. Er liebte es, etwas für sie zu tun und ihr Dinge zu kaufen. Jedenfalls arbeitete Mutter als Kellnerin, um Daddy durchs College zu bringen, und er ging nach seinem Abschluß ins Bankgeschäft. Sie hat nie jemandem in Texas erzählt, daß sie Halbindianerin war. Von diesem Punkt an tat Mutter alles, was in ihrer Macht stand, um sich selbst neu zu erfinden.« »Was meinst du damit?« »Ich meine damit, daß sie versuchte, etwas zu werden, was sie nicht war.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel High-Society. Es wurde für Mutter extrem wichtig, daß wir in der richtigen Gegend wohnten, die richtigen Schulen besuchten, die richtigen Autos fuhren und überhaupt all die richtigen Dinge taten.« Daniel dachte darüber nach. »Dann war sie also ein Snob?« »Sehr sogar. Aber nicht, weil sie dachte, sie sei besser als die andern.« »Sondern weil sie dachte, sie sei weniger gut.« »Ach, Daniel. Ich wünschte, ich hätte deinen Verstand gehabt, als ich so alt war wie du. Ich habe zwanzig Jahre 105
gebraucht, um das zu begreifen.« »Dann wart ihr also reich?« »Manche Leute würden es wohl so sehen. Ich würde es eher obere Mittelklasse nennen. Aber für Cherokeeverhältnisse waren wir sicherlich reich. Wir lebten in einem Teil von Dallas namens Highland Park, was bis heute eine sehr exklusive Gegend ist.« »Dann war sie also eine soziale Aufsteigerin?« »Oh.« Sie lachte kurz auf. »Ja, so könnte man sagen. Sie wollte, daß ich all die feinen Manieren lerne Gesellschaftstänze, Körperhaltung, Redekunst.« »Ah, ich verstehe. Sie wollte nicht, daß die Leute über dich lachen, so wie sie über sie gelacht haben.« Seine Mutter war eine Weile sehr still. Schließlich sagte sie: »Wie bist du nur so gescheit geworden?« »Es ist leicht, wenn man nicht mittendrin steckt.« »Da hast du recht.« »Und… wann sind deine Eltern gestorben?« Ein tieferes Schweigen setzte ein, so tief, daß Daniel befürchtete, er sei zu weit gegangen. Sie hatten sich nett unterhalten, und er fragte sich, ob er sie verärgert hatte. Die Stille war unheimlich. Es war keine totale Stille, weil der Wind anscheinend nie aufhörte, zu flüstern und dumpf an die Seitenwände des Gebäudes zu schlagen. Es hörte sich an wie die gedämpften Geräusche von jemandem, der versuchte hineinzukommen, ein sehr einsames und angsteinflößendes Geräusch. Er schauderte. Als seine Mutter schließlich sprach, fuhr er zusammen. 106
»Daniel… sie sind nicht tot.« Der Schock fuhr Daniel in alle Glieder. Sein ganzes Leben lang hatte man ihn glauben lassen, seine Großeltern seien tot. »Du meinst… die ganze Geschichte von dem Waisenhaus… war gelogen?« »Dafür schäme ich mich am meisten, mein Sohn. Ich weiß nicht, wie ich es dir anders sagen soll, als daß ich es dir einfach erzähle.« »Wo sind sie jetzt?« »Ich nehme an, sie leben immer noch in Dallas.« »Du meinst, du weißt es nicht?« »Ich meine damit… daß ich seit achtzehn Jahren keinen Kontakt mehr mit ihnen hatte.« Nun war es an Daniel, zu schweigen. Er lag flach auf dem Rücken, starrte hinauf in die Schwärze ihres Gefängnisses und versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, zwei Paar Großeltern zu haben anstatt nur eins. Ein zweiter Ort, wo man im Sommer hinfahren konnte. Mehr Weihnachtsgeschenke. Und angeblich waren sie reich. Eric würde Bauklötze staunen. Seine Mutter begann ein wenig schneller zu reden, ihre Worte nahmen eine Dringlichkeit an, die er nicht ganz verstand. »Ich haßte diese ganzen Gesellschaftsspiele, die meine Mutter spielen wollte. Du kannst dir nicht im entferntesten vorstellen, wie sehr ich sie haßte. Mutter und ich hatten fürchterliche Auseinandersetzungen.« Dann hatte seine Mutter also auch mit ihren Eltern gestritten. Wieso machte sie ihm dann das Leben so schwer? »Was 107
hat dein Dad dazu gesagt?« »Er hielt Kindererziehung für Frauensache. Gewöhnlich kam er von der Bank nach Hause und versteckte sich hinter der Zeitung, während Mutter und ich stritten. In dieser ganzen Zeit war ich nur glücklich, wenn ich bei meiner Großmutter war.« Ihre Stimme wurde warm und glücklich. »Als kleines Mädchen, als ich neun, und dann noch einmal, als ich elf war, durfte ich einen ganzen Sommer bei meiner Großmutter verbringen. Sie hieß Ahw’usti, das bedeutet…« »Kleines Reh. Es sind Geister, die Klugheit und Wissen vermitteln.« Er gähnte. »Daniel - woher weißt du das?« Er zuckte in seinem Schlafsack mit den Achseln. »Du hast es mir einmal erzählt, als ich noch klein war.« Er fing an, sich schläfrig zu fühlen. »Tatsächlich?« »Ich war krank. Du hast mir Geschichten erzählt, damit ich einschlafen konnte.« »Stimmt, das hab ich tatsächlich getan. Hm. Ich hatte es total vergessen.« »Du hast also bei deiner Großmutter in den Wäldern gewohnt?« Daniel begann wegzudösen. »Sie wohnte immer noch in diesem alten Haus ohne Strom und fließendem Wasser. Sie kochte auf einem Holzofen und heizte das Haus damit. Und es war wundervoll. Daniel, ich wünschte, du hättest sie gekannt.« »Ist sie tot?« Daniel konnte den Sarkasmus in seiner 108
Stimme nicht verbergen, und er bereute es augenblicklich, denn als seine Mutter wieder sprach, hörte er, daß es sie verletzt hatte. »Sie starb, als ich ungefähr in deinem Alter war. Aber wenn ich bei ihr war, durfte ich wie ein kleines Wild barfuß durch die Wälder laufen und in den Bächen waten. Überall waren Tiere. Es war wunderschön.« »Kein Fernsehen?« »Schatz … vergiß nicht, es gab keinen elektrischen Strom.« »Oh.« Für Daniel hörte sich das langweilig an. »Aber es war in Ordnung, weil Ahw’usti alles war, was ich an Unterhaltung brauchte.« »Aber ohne Licht -« Du meine Güte! Kein Nintendo. Kein CD-Player. Keine Comic-Hefte. Kein MTV. Das reinste Gefängnis. »Hast du dich nicht gelangweilt?« »Ach, Daniel.« Sie kicherte. »Du bist so ein verdorbenes Stadtkind. Wir benutzten Kerosinlampen. Und beim Schein des Feuers und der Lampen hat sie mir wunderbare Geschichten von den Gebräuchen der Cherokee erzählt, die Sagen und Tiergeschichten und die Mythen von unserem Blut und Erbe - sie war eine richtige Geschichtenerzählerin. Ich saß stundenlang wie in Trance da und habe um noch eine Geschichte gebettelt.« »Warum hat dich deine Mom nicht öfter hinfahren lassen, wenn es dir so gefallen hat?« »Sie meinte, daß mich meine Großmutter verdarb. Ich kam immer mit Füßen zurück, die hart wie Schuhsohlen 109
waren, und mein Gesicht war von der Sonne braun gebrannt. Es war nicht damenhaft. Sie versuchte mich dauernd in diese Rüschenkleidchen zu zwingen, während ich nichts anderes wollte, als draußen Softball zu spielen.« »Kein Wunder, daß du davongelaufen bist.« Daniels Großmutter hörte sich nicht nach einem besonders netten Menschen an. Vielleicht war es ganz gut, daß er sie nicht kannte. »Ich bin nicht weggelaufen.« »Was ist dann passiert?« Daniel gähnte wieder laut. Der Schlaf lockte, er schloß die Augen. »Ich traf Jeremiah Hunter.« Allein der Name des Mannes, laut in der intimen Dunkelheit ausgesprochen, vergiftete die Atmosphäre. Plötzlich war Daniel nicht mehr schläfrig. Er wälzte sich herum und versuchte, das Ende des Schlafsacks zu einem Kopfkissen auf dem harten Boden zu bündeln. Eine Zeitlang war es irgendwie ganz okay hier gewesen, so als wären er und seine Mutter beim Campen oder so. Es fehlte nur noch ein Lagerfeuer. Aber sobald sie den Namen von dem Kerl ins Spiel brachte, fiel der ganze Ernst ihrer Lage mit der Gewalt des Windes, der an das Gebäude hämmerte, über Daniel her. Sie waren nicht campen. Sie waren entführt worden. Sie wurden an irgendeinem gottverlassenen Ort als Geiseln festgehalten. Und er hatte Angst. Seine Mutter fuhr fort, als hätte sie die Veränderung, die in ihm vorgegangen war, nicht bemerkt. »Ich war 110
achtzehn, im ersten Semester an der SMU. Ich wollte eigentlich so weit wie möglich von zu Hause entfernt aufs College gehen, aber Mutter bestand darauf, daß ich dort blieb, wo sie ein Auge auf mich werfen konnte.« Es war kalt. Daniels Schlafsack war warm genug, aber die Angst war ein eisiger Gefährte, und sie breitete sich über ihn wie ein eiskalter Luftzug. Er versuchte seine Gedanken darauf zu konzentrieren, was seine Mutter sagte. Mit der Vergangenheit wurde er fertig. »Die SMU ist in Dallas, stimmt’s?« Er kroch tiefer in den Schlafsack, zog die Knie zur Brust und schloß die Augen. »Der Campus der SMU liegt nur ein paar Blocks von unserem alten Haus entfernt. Mutter wollte sichergehen, daß ich mich bei der richtigen Studentinnenverbindung einschrieb. Zu meinem Glück hatte ich inzwischen eine kleine Schwester, und die liebte das ganze Rüschen- und Bänderzeug…« Daniel riß die Augen auf. »Ich habe eine Tante? Ich meine, auf deiner Seite der Familie?« Die Stimme seiner Mutter klang unendlich müde, als sie sagte: »Abigail. Wir nannten sie Abby. Ich war neun, als sie zur Welt kam - das heißt, sie muß jetzt siebenundzwanzig sein.« »Habe ich irgendwelche Cousins, von denen du mir nichts gesagt hast?« Daniel konnte nicht verhindern, daß Bitterkeit in seiner Stimme mitschwang. »Ich weiß es nicht, mein Sohn. Als ich Abby das letzte Mal sah, war sie neun.« Daniel konnte sich das Leben ohne seine Schwester 111
nicht vorstellen. Die meiste Zeit hätte er sie am liebsten zertreten wie eine Laus, aber sie war seine Schwester, jeden andern, der es versuchte, hätte er aufgemischt. Es ging ihm durch den Kopf, daß er sie vermissen würde, wenn er sehr lange von ihr getrennt wäre. »Mom?« »Ja?« »Vermißt du nie deine Familie? Ich meine, hast du nie Heimweh?« »Jeden Tag meines Lebens, Liebling. Es vergeht nicht ein Tag, an dem ich nicht an sie denke und sie vermisse.« »Warum … rufst du sie dann nicht an? Ich meine, sie wären wütend und alles, aber sie würden sich freuen, von dir zu hören.« »Ich kann nicht.« »Wieso nicht?« Diesmal dauerte das Schweigen sehr lange. Die Luft schien mit Schweigen geladen zu sein, und der Wind klang drängender, wenn er durch den schmalen Spalt zwischen den Wänden und dem Dach des Gebäudes pfiff. Daniel zitterte, aber nicht vor Kälte. »Als ich Hunter kennenlernte, war ich eine dumme, rebellische, ruhelose Erstsemesterstudentin. Ich wollte mich wieder wie dieses Kind fühlen, das barfuß durch die Wälder rannte. Ich wollte den Teil von mir zurückhaben, der unter den Ambitionen meiner Mutter begraben lag. Also besuchte ich eines Abends ein Treffen der Umweltschützer.« »Was ist das?« Daniel setzte sich kerzengerade auf. 112
»Umweltschützer?« »Nein. Dieses Geräusch.« Er flüsterte. Nach einem Augenblick der Stille sagte seine Mutter: »Ich höre nichts.« Daniel horchte angestrengt. »Ich hab was gehört. Ein Geräusch wie… ich weiß nicht, was. Als wäre irgend etwas… da draußen.« Schaudernd zog er sich den Schlafsack über die Ohren. »Wahrscheinlich ist es irgendein Insekt. Wir sind hier auf dem Land.« Eine Art Trostlosigkeit legte sich über sein Gemüt. Noch immer flüsternd sagte er: »Glaubst du, sie haben draußen eine Wache aufgestellt?« Seine Mutter zögerte. »Kann sein.« »Könnte er lauschen?« »Ich bezweifle, daß uns jemand hören kann, Liebling. Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.« Aber es war nicht in Ordnung. Nichts war in Ordnung. Wie konnte sie so etwas sagen? Ihre Hand fand im Dunkeln seinen Kopf und strich ihm übers Haar. Daniel legte sich wieder hin und entspannte sich trotz allem ein wenig. »Ich weiß, es ist unheimlich hier«, sagte sie. »Ich habe auch Angst. Aber niemand wird uns etwas tun.« »Woher weißt du das? Bei jeder Bewegung drohen sie, uns umzubringen. Diese Typen sind total plemplem.« Ihm wurde schon kälter, wenn er nur davon sprach. Sie tätschelte seinen Kopf, und er zog ihn weg. »Ich 113
weiß, es sieht schlimm aus, Daniel. Aber wenn uns Jeremiah Hunter tot sehen wollte, wären wir längst tot. Er hatte etwas anderes im Sinn. Wenn wir tun, was er sagt, geht es uns gut.« »Ich verstehe nicht, wie du dich überhaupt mit einem so widerlichen Kerl wie ihm einlassen konntest«, sagte Daniel. »Das versuche ich dir ja gerade zu erklären.« Ihre Stimme war wieder besänftigend. »Die Umweltschützer, erinnerst du dich?« Er seufzte. Denk an die Vergangenheit, dachte er. Die Vergangenheit kann dich nicht umbringen. Oder doch? Immerhin war es die Vergangenheit seiner Mutter, die sie überhaupt erst in diese Sache hineingebracht hatte. Okay. Er wollte versuchen, es zu verstehen. Es war ohnehin nicht so, daß er etwas anderes zu tun gehabt hätte oder woanders hingehen konnte. »Das war die Zeit der Studentenproteste und dem ganzen Zeug, oder?« fragte er höflich. »Da sprichst du etwas sehr Wichtiges an, Daniel, weil nämlich die ganzen Antikriegsund Bürgerrechtsdemonstrationen zu einer Zeit stattfanden, als dein Dad studierte. Ich kam zehn Jahre später daher. Ende der siebziger Jahre war alles ganz anders. Der Vietnamkrieg war vorbei, John und Bobby und Martin waren tot, Nixon hatte abgedankt, dieser langweilige Jimmy Carter war Präsident, und die ganze Hippieszene war im wesentlichen unter ihrem eigenen Gewicht und zu vielen Drogen zusammengebrochen«, sagte sie verträumt. »Es gab nicht viele Felder, auf denen sich die rebellische Jugend austoben konnte. Keine gute Sache, in die man sich stürzen konnte. Aber in jener Nacht brachte Jeremiah 114
Hunter den Laden zum Kochen.« Die Stimme seiner Mutter klang begeistert, als sie sich daran erinnerte. Irgendwie war Daniel nicht wohl dabei. Er schlug auf seinen Schlafsack. »Was war denn nun so toll an ihm?« »Hunter war achtundzwanzig, ehemaliger Vietnamkämpfer, der über die GI-Bill das College besuchte, und er war so… so stark und viril -« »Was heißt viril?« »Sexy.« »Oh.« Es tat ihm leid, daß er gefragt hatte. »Er ging also aufs Podium und brachte unsere kleine Studentenversammlung zum Rasen. Es war nicht so sehr das, was er sagte daran konnte ich mich ein paar Tage später nicht einmal mehr erinnern -, sondern wie er es sagte.« »Ähm?« »Er war einfach so … kraftvoll. Man würde wohl einfach sagen: männlich.« »Du meinst ein Macho?« »Nicht unbedingt, Daniel. Macho ist für mich ein negativer Begriff für jemand, der vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist. Aber ein männlicher Mann ist einfach … maskulin. Auf eine sehr männliche Art sexy.« »Er war also scharf.« »Ähm… ja. Ich ging nach der Versammlung zu ihm hin, und da war etwas in der Art, wie er seine ganze Aufmerksamkeit auf mich konzentrierte, während ich 115
sprach, als sei jedes Wort, das ich sagte, das Allerwichtigste, was er je gehört hatte. Und seine Augen… sie strahlten eine gewisse Begeisterung aus, und dahinter lauerte ein bißchen Gefahr.« Daniel war sich nicht sicher, ob er das überhaupt hören wollte. Immerhin war es seine Mom, die da sprach. »Er lud mich anschließend auf einen Kaffee ein«, sagte sie, »und er sprach von einem Leben auf dem Land, ungestört von willkürlichen Regeln und Reglementierungen, wo man ein Dasein gestalten konnte, das wahrhaft -« Sie hielt inne. Daniel sagte: »Was ist dann passiert?« »Er hatte diese… Gruppe von Leuten, die buchstäblich ein Leben ›Zurück zur Natur‹ unten im Sumpfgebiet von Louisiana führten. Und so, wie er es schilderte, schien es ziemlich genau das zu sein, wonach ich mein ganzes Leben lang gesucht hatte. Also… verließ ich die Schule und folgte ihm, um dort unten zu leben.« »Wie haben deine Eltern reagiert?« »Was konnten sie schon tun? Sie waren natürlich entsetzt. Mutter hatte keine Ahnung, auf was ich mich da eingelassen hatte, bis es zu spät war. Ich glaube, sie kam dahinter, als sie meine Zeugnisse mit der Post bekamen und herausfanden, daß ich von der Schule geflogen war.« »Du bist von der Schule geflogen?« »Ich bin nicht besonders stolz drauf.« »Ich kann es nicht glauben.« »Das konnten meine Eltern auch nicht.« 116
»Konnten sie nicht kommen und dich holen oder so?« »Ich war achtzehn. Dem Gesetz nach erwachsen.« Daniel dachte darüber nach. Dann sagte er: »Also schön. Es hat nicht funktioniert. Du hast dich von ihnen getrennt. Warum bist du dann nicht zu deinen Leuten zurückgegangen? Sie hätten dir verziehen, oder nicht?« »So einfach war das nicht, mein Sohn. Hunter… er war nicht das, wofür ich ihn gehalten hatte.« »Wieso? Hatte er mit Drogen zu tun oder so was?« »Nein. Aber… sagen wir einfach, er hatte mit ein paar Dingen zu tun, von denen ich nichts wußte, bis es zu spät war. Illegale Dinge.« »Zum Beispiel?« »Das möchte ich lieber nicht sagen.« Ihre Stimme nahm einen schärferen Tonfall an, so wie sie es tat, wenn sie sein Zeugnis betrachtete. »Wieso nicht?« drängte Daniel, dessen Interesse an dem, was sie sagte, plötzlich zunahm. »Ich möchte im Augenblick einfach nicht darüber reden!« brauste sie auf. Daniel, den seine Neugier fast auffraß, hätte ihr gern mehr entlockt, aber er wußte, es würde sie nur wütend machen. Er beschloß, dieses heikle Thema vorläufig ruhen zu lassen. »Was ist dann passiert?« »Das FBI kam. Es gab eine sehr häßliche… Szene. Ich bin weggelaufen.« Daniel setzte sich wieder auf und starrte seine Mutter an. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Ihre 117
Stimme war nicht mehr körperlos, aber ihr Gesicht war geisterhaft. »Du meinst… du wirst vom FBI gesucht?« Sie sagte nichts. »Nach dir wird… bundesweit gefahndet?« »Es ist nicht so, wie du denkst, Daniel.« »Wie ist es dann?« »Ich sagte, ich möchte im Augenblick nicht darüber reden. Es ist schon sehr spät, wir sind beide todmüde -« »War es das, was Hunter meinte, als er von Rache sprach? Will er, daß du ihm hilfst, sich am FBI zu rächen?« »Ich weiß nicht, was er vorhat«, sagte sie ausweichend. »Mom… was hast du getan?« »Ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht, Daniel. Das hab ich getan.« »Aber was genau?« »Ich habe nichts Unrechtes getan. Und das ist alles, was ich im Augenblick dazu sagen werde. Wir müssen ein bißchen schlafen.« Ihr Schlafsack raschelte, als sie sich darin einrichtete, und Daniel erkannte an ihrem Tonfall, daß sie nichts mehr sagen würde. Er legte sich zurück und starrte blind zur Decke. Unglaublich. Er hatte Großeltern auf der Seite seiner Mutter. Eine Tante. Vielleicht ein oder zwei Cousins. Und seine Mom, seine Mom, eine Chemielehrerin an der 118
High-School… wurde vom FBI gesucht. Sie waren von einem Psychopathen entführt worden, den sie früher einmal gekannt hatte, und eine Bande schwerbewaffneter Gangster hatte sie irgendwo ans Ende der Welt verschleppt. Plötzlich erschienen ihm Eric, die Schule und die Arbeit, die er bei Coach Thurber abliefern mußte, wie etwas aus einem anderen Universum. Das Wesen von einem anderen Stern war aber seine eigene Mutter. Und nun begann sich Daniel zu fragen, ob er je wieder nach Hause zurückfinden würde.
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10. Kapitel Das Yippety-yip-yap eines Rudels Kojoten weckte Wren schließlich aus einem unruhigen Dösen in der sonnenlosen Dämmerung ihrer Schlackensteinzelle. Sie klangen beunruhigend nahe. Schwindler, alle miteinander, war ihr erster Gedanke. Sie war vor Angst und Erschöpfung ganz wirr im Kopf, und es dauerte eine Weile, bis sie sich zurechtfand und sich ihrer Lage voll bewußt wurde. Sie konnte Daniel nicht sehen, es war noch zu dunkel, aber sie hörte ihn neben sich im Schlaf atmen. Sie mußte austreten, aber das würde Daniel wecken, und sie war darauf bedacht, ihn so lange wie möglich schlafen zu lassen. Er würde früh genug aufwachen und sich fürchten. Trotz der grauenhaften Lage, in der sie waren, konnte Wren nicht umhin, die vergangene Nacht als einen entscheidenden Durchbruch in ihrer Beziehung zu empfinden. Ihrem Sohn die Wahrheit über ihre Lebenshintergründe zu erzählen war eine gewisse Erleichterung für sie gewesen. Obwohl sie eine ganze Menge ausgelassen hatte. Nachträglich fragte sich Wren, ob sie hätte weitermachen und ihm alles erzählen sollen. Sie hatte mehr aus Sorge um ihn als aus Beschämung gezögert. Immerhin hatte er ein Schocktrauma erlitten, das im wesentlichen noch anhielt. Sie hatte befürchtet, daß er unter dem Druck zusammenbrechen würde, wenn sie ihm zuviel enthüllte. Ich werde ihm rechtzeitig alles sagen, dachte sie, wenn er bereit dafür ist. 120
Vorläufig mußte Wren alle Kraft auf die Gegebenheiten ihrer Lage konzentrieren: Sie wurden in einer abgelegenen Wildnis als Geiseln in einem Lager von Survivalisten festgehalten. Sie kannte diese Leute. Sie waren sicher schwer bewaffnet und gut ausgebildet, und das Lager dürfte bewacht sein. Die Angst hatte alle ihre Sinne in Bereitschaft versetzt, sie war wachsam für die ersten Anzeichen von Gefahr und lauerte auf eine Möglichkeit, von hier wegzukommen. Sie horchte nun nach irgendwelchen unterdrückten Geräuschen außerhalb ihrer kleinen Zelle. Während Daniel schlief, war sie bereits an den Seiten entlanggekrochen, hatte mit den Händen die Ausmaße des Raums gemessen und nach einem Fenster, einem Spalt getastet, irgend etwas, das sie sich zunutze machen konnten. Es hatte sich herausgestellt, daß der Raum massiv gebaut und eben groß genug für zwei Schlafsäcke war. Wren fragte sich, ob Hunter ihn als eine Art Arrestzelle benutzte; als Disziplinierungsmaßnahme, um seine Truppen bei der Stange zu halten. Der Raum war sauber und nackt, ein schlichter Zementbau auf einem Betonfundament. Sie konnte zwar nicht bis zur Decke langen oder sie auch nur sehen, aber sie nahm an, daß es etwas Einfaches war, wie Zinnblech. In dem zwei Zentimeter hohen Spalt unter der Tür und entlang des Daches wurde gerade eine farblose Dämmerung sichtbar, als Wren draußen die ersten Schritte knirschen hörte, begleitet von rhythmischen Stimmen. Sie versuchte angestrengt zu hören, was sie sagten, aber die Leute waren zu weit weg, und sie gingen nur vorüber und kamen nicht auf ihre Hütte zu.
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Schließlich wurde es Wren zu beschwerlich, sie kroch aus dem Schlafsack und zu dem Zwanzig-Liter-Eimer in der Ecke hinüber. Um sich ungestört zu fühlen, konnte sie sich lediglich abwenden und sich darauf verlassen, daß man in der Dunkelheit des Raumes nicht sah, wie peinlich es ihr war, als sie urinierte. Wie erwartet wurde Daniel von dem Geräusch wach. Sie hörte, wie er sich hinter ihr in seinem Schlafsack regte, und beeilte sich, ihre Jeans wieder hochzuziehen. Es gab kein Toilettenpapier. Sie wollten, daß sie darum bitten mußte. Der Raum war nicht beheizt, und sie flitzte zurück in den Schlafsack, um sich aufzuwärmen. »Mom?« »Ja?« »Was werden sie mit uns machen?« Sie zögerte. »Das kann ich nicht genau sagen«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Werden sie uns töten?« Sie hörte die Angst in seiner Stimme mitschwingen, und es gab ihr einen Stich in die Brust. »Das glaube ich nicht, Schatz. Nicht, solange wir uns kooperativ verhalten.« »Meinst du, sie wollen ein Lösegeld oder so was?« Mit anderen Worten: Werden sie mit Dad Kontakt aufnehmen? Werden sie uns wieder gehen lassen? Sie konnte ihn nicht anlügen. »Sie haben uns nicht wegen Geld entführt.« 122
»Er will dich, stimmt’s?« »Ja.« »Warum hat er mich dann mitgenommen?« »Du bist für ihn… ein Mittel, um mich in der Hand zu haben.« »Oh.« »Er weiß, daß ich keine Dummheiten mache, solange er dich hat.« »Dann hätte es also genausogut Zoe erwischen können.« Nein, dachte Wren. Hunter handelt nie so zufällig. Er braucht meinen Sohn zu etwas anderem, und ich ertrage es nicht, auch nur daran zu denken. »Mom?« »Was?« »Wieso braucht er dich, um sich am FBI zu rächen? Kann er das nicht allein? Ich meine, mit Kicker und den anderen?« »Ich weiß es nicht, Daniel.« Wren hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was Hunter von ihr wollte, aber sie war noch nicht soweit, es Daniel zu erklären. Zumindest jetzt noch nicht. Erst wenn er Zeit gehabt hatte, sich an ihre Lage zu gewöhnen. Was Wren nicht wußte, war, woher Hunter Bescheid wußte. Daß er sie überhaupt gefunden hatte, war schon Schock genug gewesen, aber Wren kannte Hunter zu gut, um anzunehmen, daß sein Interesse an ihr rein sentimentaler Natur war. Er mußte wochenlang hinter ihr 123
hergeschlichen sein. Ihr Briefkasten stand am Straßenrand. Während sie alle zur Arbeit oder in der Schule waren, konnte er leicht ihre Post untersucht haben. Anhand der Bücher, Kataloge und Zeitschriften, die sie bestellte, konnte er sich unschwer ausrechnen, daß Wren trotz Namensänderung, Heirat und Mutterschaft gewisse… Faszinationen… aus ihrem früheren Leben nicht völlig aufgegeben hatte. Wren seufzte. Was hatte sie sich eigentlich all die Jahre gedacht? Sie hatte sich eingeredet, daß die Publikationen ihren Unterricht steigerten, ihr Ideen für den Chemieunterricht vermittelten. In der Tat. »Will er, daß du wieder seine Freundin wirst?« Die Frage bestürzte Wren. Der traurige Ton in der Stimme ihres Sohnes drang ihr ins Herz. Sie sagte: »Ich werde nie mehr seine Freundin werden. Dafür liebe ich deinen Vater zu sehr.« »Hast du ihn geliebt?« »Wen?« »Hunter.« »Als ich jung war… dachte ich, ich liebe ihn. Aber es war nicht Liebe, nicht wirklich. Es war mehr die blinde Anbetung eines jungen Hundes. Als ich anfing, erwachsen zu werden, sah ich es als das, was es war. Ich sah ihn als den, der er war. Und dann traf ich Cam. Dein Vater ist zehnmal mehr Mann, als Jeremiah Hunter je sein wird.« Daniel sagte nichts, und Wren fragte sich, ob er die Weisheit dieser letzten Aussage bezweifelte. Er war noch jung. Er würde es lernen, so wie sie es gelernt hatte. 124
Ein dumpfes Geräusch an der Tür ließ sie beide aufschrecken, und als die Tür aufging, wurden sie von dem plötzlich hereinflutenden Licht geblendet. Eine Frau in einem wüstenbraunen Tarnanzug, die Gesichtszüge hart und mißtrauisch, stellte zwei metallene Tabletts neben der Tür auf den Boden und richtete sich rasch wieder auf, die Hand am Griff einer Neun-Millimeter im Halfter. Sie ging ohne ein Wort hinaus und knallte die Tür zu. Der Geruch von Rührei, fettigen Röstkartoffeln und starkem Kaffee überwältigte Wren beinahe, deren Magen rebellierte. Aber sie wußte, daß Daniel hungrig sein würde, deshalb reichte sie ihm eins der Tabletts und nahm sich selbst nur eine Blechtasse Kaffee, der noch erstaunlich heiß und belebend war. »Ißt du nichts?« fragte er, und seine Worte waren zwischen Eiern und Toast kaum zu verstehen. »Vielleicht ein Stück Toast«, sagte sie und knabberte an einem, um ihm einen Gefallen zu tun. »Warum ißt du nicht meine Eier und Kartoffeln?« »Mom, du mußt essen.« Er hatte recht. »Vorläufig nur Toast, Schatz. Du kannst den Rest essen, wenn du magst, ehrlich. Mein Magen ist heute morgen ein bißchen durcheinander, das ist alles.« Sie nahm zwei schlaffe Ecken Toast vom Tablett und gab ihm den Rest. Es war, als würde sie Knetmasse kauen, aber sie zwang sich Daniel zuliebe dazu. Er mußte sich nicht obendrein auch noch um sie Sorgen machen. »Ich dachte, sie würden uns vielleicht hungern lassen«, sagte er mit vollem Mund. »Ich wußte nicht, was sie 125
vorhaben.« »Davon hätten sie nichts«, sagte sie. Egal, was Hunter vorhat, dachte sie, wir werden unsere Kraft dafür brauchen. Und ich werde meine Kraft brauchen, um uns hier rauszubringen. Sie schluckte noch einen halbzerkauten Bissen Toast herunter. Daniel räumte beide Tabletts ab, und sie stapelte sie fein säuberlich neben die Tür. Das schwache Tageslicht, das in den Raum sickerte, schien Daniel zu beruhigen, und sie horchten schweigend auf neue, fremde Geräusche: das Ächzen des Windes, Rufe in der Ferne, als das Lager offenbar die Morgengymnastik absolvierte, Preacher, der die Formeln einer Art Gebet anstimmte, Hunters dröhnende Stimme und die Schreie, die ihm antworteten, als er sie zu einer Zusammenkunft rief, die dem Rhythmus der täglichen Lagerversammlungen zu folgen schien, an die Wren sich von Louisiana erinnerte, das ständige Knattern des Gewehrfeuers vom Schießstand. Während die Stunden vergingen, spürte Wren, wie sich ein Band zwischen ihr und ihrem Sohn entwickelte, das gleichzeitig zerbrechlich und fest war wie die Fäden eines Spinnennetzes. Sie hatte sich Daniel immer näher gefühlt, als Cam es tat, aber durch die Pubertät hatte sich ein Riß zwischen ihnen aufgetan, der bisweilen zu einem Graben zu werden drohte. In vielen schlaflosen Nächten hatte sie nicht nur mit den Bettlaken gekämpft, als sie sich in ihren kleinen Mutterängsten Möglichkeiten ausdachte, die Kluft zu überwinden, bevor sie sich zu einer Schlucht verbreiterte. Manchmal träumte sie, daß sie nach ihrem Sohn griff, und er war immer knapp außer Reichweite. Dann wachte sie keuchend und schweißgebadet auf, weil sie in ihrem 126
Traum irgendwie wußte, daß er sterben würde, wenn sie ihn nicht zu fassen bekam. Welche Ironie, daß erst ihre schlimmste, tiefsitzendste Angst wahr werden mußte, bevor sie ihren Sohn über dieser imaginären Schlucht sichern konnte. Die Frage war nun, wieviel Seil sie ihm geben sollte. Während sich der Tag dahinzog, sprach Daniel über viele Dinge mit seiner Mutter: über den sadistischen Basketballtrainer, der ihm das Spiel verleidete, obwohl er es eigentlich mochte; über die hübsche Blondine, die in Geschichte neben ihm saß, die aber nicht mit ihm ausgehen wollte, weil sie annahm, daß Eric mit dem Purpurhaar Drogen nahm, und er deshalb auch (was er nicht tat, wie er ihr versicherte, ebensowenig wie Eric, obwohl man von Eric wußte, daß er hin und wieder einen Zug Gras nahm); über seine schlechte Angewohnheit, den Mund nicht halten zu können, und über den Kummer eines großen Bruders mit Zoe. Er redete zwanghaft und, wie Wren wußte, von Angst getrieben, aber es wärmte ihr dennoch das Herz. Wir wissen so wenig darüber, was in unseren Kindern vorgeht, sinnierte sie, weil wir einfach zu beschäftigt sind, um uns ruhig hinzusetzen und ihnen eine Weile zuzuhören. Am späten Nachmittag brachte ihnen dieselbe Frau mit dem strengen Gesichtsausdruck ein Tablett mit dem Abendessen und leerte den gelben Eimer aus. Zwei Mahlzeiten am Tag würden kaum reichen, um einen Fünfzehnjährigen bei Kräften zu halten, aber Wren machte es nichts aus, den größten Teil ihres Essens mit ihm zu teilen. Die Wahrheit war, daß sich ihr Magen ständig in Aufruhr befand, ganz so wie bei ihren Schwangerschaften, und sie hatte keine Lust, mehr zu essen, als sie bisher 127
gegessen hatte. Sie nahm sich aber immer gerade so viel, daß sich Daniel keine Sorgen um sie machte. Die Tatsache, daß Hunter sie an diesem ganzen ersten Tag nicht besuchte, machte Wren nur noch nervöser. Es war eindeutig kein Versehen; es mußte ein Plan dahinterstecken, und sie kam sich vor wie eine Schachfigur, die ohne eigenen Willen und ohne zu wissen, welcher Strategie das Spiel folgte, auf einem Brett herumgeschoben wird. Daniel entspannte sich in der zweiten Nacht etwas besser und schlief ein wenig leichter, aber für Wren war die windgepeitschte Einsamkeit der Nacht fast unerträglich. In der tintenschwarzen Dunkelheit spukten die Geister ihrer Familie und ihres Zuhauses umher, und sämtliche Ängste sowohl reale als auch eingebildete - krochen ihr über den Rücken und nisteten sich in ihrem Kopf ein. Am dritten Tag ihrer Gefangenschaft, als sie gerade anfingen, sich an die Monotonie ihres Tagesablaufs zu gewöhnen, stießen zwei Wächter - Kicker und die wortlose Frau, die ihnen das Essen brachte - die Tür zu ihrer Zelle auf. Sie standen als Silhouetten im grellen Sonnenlicht, das durch den offenen Eingang fiel, und verkündeten, daß Daniel und Wren zu den Duschen gebracht würden und frische Kleidung erhielten. Daniel schaute beunruhigt zu seiner Mutter hinüber. Sie verstand seine Besorgnis; als Gefangener hatte er sich an sein Gefängnis gewöhnt. Jede Änderung des Ablaufs oder der Umgebung brachte einen Schub Verunsicherung mit sich. Wren hatte keine solchen Bedenken. Es würde ihre erste 128
Gelegenheit sein, einen Blick auf ihre Umgebung zu werfen, und sie beabsichtigte, es voll auszunutzen. Vor allem wollte sie eine Vorstellung davon gewinnen, wo sie überhaupt waren, und vielleicht die Größe des Lagers abschätzen. Sie nickte Daniel aufmunternd zu und machte ihm ein Zeichen, vor ihr ins Freie zu treten. Ihre Wächter waren beide mit Schrotflinten bewaffnet, außerdem trugen sie ihre Pistolen im Halfter. »Geht zu diesen Gebäuden da rüber«, sagte Kicker. Er deutete vage nach rechts und stieß den Jungen mit seiner Waffe an. »Geh langsam, und wenn du irgendwelche Tricks versuchst, bringe ich dich um.« Wren wartete und versuchte, die plötzlich aufkommende Angst zu unterdrücken, als sie zuhörte, wie die Schritte ihres Sohnes auf der trockenen, harten Erde knirschten und sich von ihr weg zu einem Ort bewegten, den sie nicht erreichen konnte. Sie vermied sorgfältig jeden Ausdruck auf ihrem Gesicht und starrte in die zusammengekniffenen Augen der Frau, bis die ihr ein Zeichen machte, daß sie nun gehen sollte. Wren trat zögernd aus der Tür und blieb beinahe abrupt stehen, als sie ihre Umgebung zum ersten Mal bei Tageslicht sah. Ihr erstes Gefühl war, daß alles in ihrem Innern in einem Morast aus Zweifeln und Trostlosigkeit versank. Das erste Wort, das ihr in den Sinn kam, war Mondlandschaft. Alles, vom weiten wäßrigblauen Baldachin des Himmels bis zu dem kargen Kalkboden unter ihren Füßen, strömte eine kahle, öde Leere aus. Das Lager war in einer felsigen, schüsselartigen Senke versteckt, umgeben von unwirtlichen, baumlosen Hügeln, auf denen kahle Felsbrocken wie Grabsteine aufragten. Stacheldraht zog 129
sich über die Kämme um das Lager, und sie bemerkte zumindest eine bewaffnete Wache zu Pferd auf ihnen. Vom Lauf einer Schrotflinte in den Rücken gestoßen, stolperte Wren beinahe in die Richtung, die ihr Sohn eingeschlagen hatte. Selbst die verkrüppelten Pflanzen waren abweisend; alles, was in der staubigen, trockenen Erde wuchs, hatte gefährliche Dornen oder Stacheln, und selbst die Blätter waren hart und gezackt wie ein Sägemesser. Überall waren Felsen; der Boden selbst war hart wie Stein. Mesquite wuchs auf diesem Boden, aber sie waren zu zwergenhaft, um Bäume genannt werden zu können, und viele sahen abgestorben aus. Das einzige Geräusch über dem unaufhörlichen Krachen vom Schießstand war das Stöhnen des Windes und das einschläfernde Ächzen einer nahen Windmühle. Die Gebäude waren schlichte Zementbauten, die mit einem blassen Gelbbraun mit braunen und grünen Tarnflecken bemalt waren, damit sie sich dem Untergrund anglichen. Selbst die Dächer waren mit großen Tarnnetzen bedeckt. Die erschöpfenden Tarnversuche verwunderten Wren, aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Von ihrer früheren Erfahrung her vermutete sie, daß die verschiedenen Gebäude einen Speisesaal, einen Versammlungsraum, Schlafsäle und kasernenartige Duschen und Latrinen, nach Frauen und Männern getrennt, darstellten. Ein paar Wohnwagen standen auf dem Gelände verstreut, die für verheiratete Paare und natürlich für den exaltierten Führer der Armageddon Armee reserviert sein mußten. Die Duschen waren eine schlichte Angelegenheit, ähnlich denen in Fitneß-Studios 130
oder auf Campingplätzen. Man hatte keine Zugeständnisse an das Schamgefühl gemacht, und Wren versuchte, nicht an die bewaffnete Wächterin zu denken, die auf einem Klappstuhl saß, eine Zigarette rauchte und zusah, wie Wren rasch duschte und ihr langes Haar wusch. Es gab nicht gerade viel Wasserdruck, aber das Wasser war heiß und fühlte sich so gut an, daß Wren beinahe vergaß, wo sie war. Shampoo, Seife, Handtücher und dergleichen lagen zum allgemeinen Gebrauch auf Regalen bereit. Während Wren ihr verfilztes Haar mit einem breitzahnigen Kamm auskämmte, reichte ihre schweigsame Begleiterin ihr einen sauberen WüstenTarnanzug, den sie rasch anzog, ebenso wie ein Paar Schnürstiefel, die ihrer Größe immerhin so nahe kamen, daß sie einigermaßen bequem waren. Auf dem Rückweg zur Hütte fiel Wren etwas auf, das sie zuvor nicht bemerkt hatte: es war überraschend warm für Oktober, und die Sonne brannte unbarmherzig. Zusammen mit der Landschaft stand für Wren damit zweifelsfrei fest, daß sie sich irgendwo in den Wüstengebieten im Südwesten befinden mußten, aber darüber hinaus hatte sie keinen Anhaltspunkt, außer der langen Fahrt, die sie hierher gemacht hatten. Der äußerste Westen von Texas also, oder New Mexico. Vielleicht sogar Mexiko. Das einzige, was sie sicher wußte, war, daß sich Hunter keinen abgelegeneren Flecken für sein Basislager hätte aussuchen können, und diese Erkenntnis riß mehr als alle anderen klaffende Löcher in das zerbrechliche Gebäude der Hoffnung, das sich Wren in den letzten drei Tagen errichtet hatte. Die Frau schob Wren die wenigen verbleibenden Schritte in die Hütte und schlug die Tür hinter ihr zu. Die Stille war beinahe greifbar. 131
Daniel war nicht da. Als er nach ein paar Minuten noch nicht zurück war, begannen die wenigen Stützen, die Wren aufrecht hielten, zu schwanken und drohten einzustürzen. Wie eine Löwin im Käfig ging sie in der winzigen Zelle im Kreis, spürte ihre wachsende Not, und ihre Angst lag bloß und pulsierte wie eine offene Wunde. »Ich werde verrückt«, flüsterte sie. »Ich werde verrückt.« Ihre dichtes Haar trocknete; ebenso der feuchte Fleck, den es auf dem Rücken ihres Tarnhemdes hinterlassen hatte. Die Beine versagten ihr den Dienst, und sie plumpste auf ihren Schlafsack. Sie griff nach Daniels Schlafsack, ballte ihn in ihren Armen zusammen und vergrub ihre Nase in seinen Geruch. Sie konnte nicht atmen. Sie konnte nicht denken. Hin und wieder machte ihr Herz eine Art Purzelbaum in ihrer Brust, und dann stockte ihr vor Schreck der Atem, bis es sich wieder im Griff hatte und in einem zwar schnellen, aber regelmäßigen Rhythmus schlug. Wenn er nicht zurückkam, würde ihr Herz dann ganz aufhören zu schlagen? Ein Poltern an der Tür ließ sie vor Schreck erzittern. Die Tür ging auf, und ein großgewachsener junger Mann, vertraut und doch fremd, trat ein. Das trockene, bleiche Nachmittagslicht beleuchtete ihn von hinten. Man hatte ihm die Haare gänzlich geschoren, bis über die Ohren hinauf und nur oben einen Zentimeter stehengelassen. Er war wie sie mit einem gelbbraunen 132
Tarnanzug und Schnürstiefeln bekleidet. Wäre nicht die unbeholfene, linkische Haltung des Pubertierenden gewesen, hätte sie ihn vielleicht überhaupt nicht erkannt, bevor die Tür geschlossen wurde, und sie wieder im Dunkeln standen. »Sie haben mich wie einen Pudel geschoren«, sagte er, und seine Stimme schnappte bei der ersten Silbe von ›Pudel‹ über. Sie lachte und lachte vor Erleichterung und weil die Spannung nachließ. »Ich seh aus wie eine Bowlingkugel«, klagte er. »Ehrlich gesagt, ich finde, du siehst irgendwie heiß aus«, sagte sie kichernd. »Mom! Was sind denn das für Töne?« »Dummer Junge. Meinst du, Mütter bemerken nicht, wenn ihre Söhne toll aussehen?« Er machte ein wenig schmeichelhaftes Geräusch. »Es gefällt mir, daß man deine Augen wieder sieht.« »Mir nicht.« »Das kommt noch«, sagte sie. »So läßt es sich viel leichter pflegen.« Das sagte sie zwar, aber die neugewonnene Erleichterung war bereits wieder fortgespült und von der alten Angst ersetzt worden. Sie wußte, was los war. Sie wurden ihrer Identität beraubt und zu Ebenbildern ihrer Entführer umgeformt. Daniels Haar zu scheren war nicht nur praktisch; es war auch in hohem Maße symbolisch. Armeen auf der ganzen Welt folgten demselben Prinzip. Die Tat hatte Wren auch eine stumme, aber wirksame Botschaft übermittelt: Ihr kommt hier sowieso nicht weg. 133
Ihr könnt genausogut bei uns mitmachen und euch daran gewöhnen. Eher würde sie sterben. Als sie in dieser Nacht wachlag und nach einem Weg suchte, sich vor dem unbarmherzigen Ansturm von Hoffnungslosigkeit zu schützen, der sie zu überwältigen drohte, beschloß sie, Daniel alles über ihre Vergangenheit zu erzählen. Er mußte es wissen, damit sie es nicht als Waffe benutzen konnten, um ihn zu verletzen. Sie würde bis nach dem Frühstück warten. Er würde ihr besser zuhören können, wenn er nicht hungrig war. Aber bevor sie am Morgen die Gelegenheit hatte, das Thema zur Sprache zu bringen, erlebten sie die nächste Überraschung: ein Besuch von Hunter. Seine Gegenwart erfüllte den engen Raum; er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, während Kicker mit der Schrotflinte vor der offenen Tür wartete. »Na, wie geht’s euch?« fragte er höflich. Daniel saß im Indianersitz auf seinem Schlaf sack, starrte auf seine Stiefel und zuckte die Achseln. Wren sagte: »Wir wissen die Dusche und die saubere Kleidung zu schätzen.« Sie wußte, daß der Preis dafür, sich nicht angemessen dankbar zu zeigen, sehr hoch sein konnte. »Gut«, sagte Hunter, anscheinend geistesabwesend. »Gut.« Er rieb sich das Kinn und sah zu ihr hinüber. »Was hältst du von der Anlage?« Sie dachte rasch nach, dann sagte sie: »Beeindruckend.« Er grinste. »Ich wußte, es würde dir gefallen. Ich führ dich morgen herum. Du wirst dich wundern, wieviel 134
besser es hier ist als in der Community.« Sie achtete darauf, daß ihre Stimme ruhig blieb, und sagte: »Da bin ich mir sicher.« »Dan, warte, bis du deine Mom in Aktion siehst. Dann wirst du merken, was für eine Kanone sie in Wirklichkeit ist.« In Wrens Kopf klingelten sämtliche Warnglocken, Sirenen heulten, und rote Lichter blitzten auf: STOP, STOP, STOP. Daniel schaute von seiner Mutter zu Hunter: »Was?« »Ihr beide hattet hier ja viel Zeit zu plaudern, oder? Viel Zeit, deine Mutter ein bißchen besser kennenzulernen. Ich bin mir sicher, sie hat die Gelegenheit genutzt, um dir alles über sich zu erzählen.« Wren fing Hunters Blick auf und schüttelte in ihrer Verzweiflung warnend den Kopf. Im selben Augenblick wurde ihr bewußt, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Es war die Art von Zeichen, die sie Cam immer über den Kopf der Kinder hinweg machte. Aber Hunter war nicht Cam. »Ja«, sagte Hunter und lächelte sie an, während er zu ihrem verdutzten Sohn sprach. »Ich vermute, sie ist zu bescheiden, um dir zu erzählen, daß sie früher die beste Sprengstoffexpertin war, die ich je gesehen habe.« »Sprengstoff?« Daniel fuhr herum und starrte seine Mutter an. »Oh, Mann - du hättest sie sehen sollen! Dank deiner Mom konnten wir uns einmal mit mehr als fünfundzwanzigtausend Dollar aus diesem angeblich nicht 135
zu knackenden Banksafe aus dem Staub machen! Sie hat das Scheißding einfach in zwei Teile gesprengt - und das Geld hatte noch nicht mal eine Schmauchspur.« Kichernd und mit einem Kopfschütteln setzte er hinzu: »Wir waren ein unschlagbares Team, deine Mom und ich. Aber ich schätze, du hast schon herausgekriegt, wie gerissen sie ist. Sechzehn Jahre auf der Flucht vor dem FBI und diese nette kleine Vorstadtexistenz aufgebaut. Chemielehrerin - meine Seele! Ich mußte laut lachen, als ich das herausgefunden habe. Kein Wunder, daß die blöden Scheißer vom FBI nie einen Verdacht hatten. Ich sag dir, ich bin wirklich froh, sie wieder hier zu haben. Zusammen werden wir diese Hurensöhne ins Jenseits befördern.« Hunters hübsches Gesicht nahm einen nachdenklichen Zug an, und seine Stimme wurde leiser. »Das ist das wenigste, was sie dafür verdienen, daß sie so viele von unseren tapferen und heldenhaften Freunden bei diesem Angriff getötet haben. Der, bei dem sie mich gefangengenommen haben. Fünfzehn Jahre war ich im Gefängnis. Irgendwie, du weißt es zwar nicht, Dan, hast du aber auch Glück gehabt. Wenn deine Mom nichts von der Geheimtür gewußt hätte, wäre sie wahrscheinlich auch umgekommen. Aber sie konnte, Gott sei Dank, fliehen. Glaub mir, das werden sie bis an ihr Lebensende bereuen.« Wren, deren Wangen heiß brannten, wagte einen raschen Blick in die Richtung ihres Sohnes. Er starrte sie mit offenem Mund an. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Ohne die vielen Haare lag sein bestürzter Gesichtsausdruck so bloß und offen wie der eines Kindes, das versehentlich seine 136
Eltern dabei überrascht, wie sie am Heiligen Abend Spielzeug unter den Baum legen, und dem zum ersten und letzten Mal bewußt wird, daß es keinen Santa Claus gibt. Daß es nie einen gegeben hat. Daß alles eine Lüge war. »So, es wird Zeit für unsere tägliche Andacht«, sagte Hunter, und sein Auftreten war wieder leutselig und fröhlich. Er trat lächelnd von der Wand weg und wandte sich zur Tür. »Noch ein paar Tage, und ihr beide macht bei uns mit. Aber vorläufig hoffe ich, ihr habt es bequem. Laßt mich wissen, wenn ihr etwas braucht. Ach, und Dan deine Frisur steht dir ausgezeichnet.« Als sich die Tür schloß, verschwand Daniels Gesicht in der gewohnten Düsternis des Raums. Wren hörte das rauhe Geräusch seines Atems. Es klang, als würde er hyperventilieren. »Ich wollte es dir gerade erzählen«, sagte sie. »Ich hatte vor, dir zu erklären…« »Lügnerin!« Das Wort traf sie wie eine Ohrfeige; ihr blieb die Luft weg. Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte es nicht. »Du sagtest, du hast nichts Unrechtes getan.« »Daniel, laß mich erklären…« »Du hast mir nicht erzählt, daß es einen Angriff gab«, sagte er voller Abscheu. »Du bist weggelaufen.« »Daniel…« »Du hast einen Safe gesprengt, und du hast das Geld geraubt, und als das FBI kam, bist du weggerannt und hast die anderen zurückgelassen, wo sie umgekommen sind.« 137
Er schluchzte und wußte es nicht einmal. »Du hast mich belogen!« »Ich habe dich nie belogen. Ich…« Er sprang auf, voller fehlgeleiteter Energie. »Du Heuchlerin!« Wren versuchte aufzustehen, aber der Schlafsack hatte sich in ihren Beinen verheddert. »Wenn ich mich aus der Bibliothek schleiche, um mit meinen Freunden zusammenzusein, dann führt ihr euch auf, als wäre ich eine Art Verbrecher!« Diese verdammten Stiefel. Diese gottverdammten Stiefel. Sie konnte sich einfach nicht von dem Schlafsack befreien. »Wenn ich mir ein paar Dosen Bier aus meinem eigenen Kühlschrank klaue, dann führt ihr euch auf, als wäre ich Satan persönlich oder wer!« Er keuchte; die Luft knisterte, so wütend war er. Wren strampelte sich von den Fangarmen des Schlafsacks frei und stand auf. Sie wandte ihrem Sohn das Gesicht zu in der unbeleuchteten kleinen Hütte. Sie roch seine Wut, es ließ sie zusammenfahren. »Weiß Dad Bescheid? Weiß er es?« Wren bot ihren letzten Rest Mut auf und sagte: »Ich möchte, daß du dich beruhigst, Daniel. Es gibt noch vieles, was du nicht weißt. Vieles, was ich dir noch nicht gesagt habe.« Er lachte bitter. »O ja, das dürfte zur Abwechslung mal die Wahrheit sein.« Sie konnte im Halbdunkel gerade nur erkennen, wie er 138
den Kopf schüttelte. »Andererseits… was ist die Wahrheit? Hm? Mal sehen… meine Mutter ist eine Bankräuberin, ein Feigling, sie wird vom FBI gesucht, und sie ist eine Lügnerin und Heuchlerin.« Zu Wrens Füßen öffnete sich ein gähnender Abgrund an Verzweiflung. Von allen Katastrophen, die sie befürchtet hatte, hätte keine schrecklicher sein können als die hier. Das zerbrechliche Band zwischen ihr und ihrem Sohn, das von Tag zu Tag stärker geworden war, es war nun zerschnitten. Und sie konnte es nicht mehr erneuern. Sie streckte die Hand nach ihm aus. Als sie mit den Fingern seinen Ärmel streifte, schrie er auf, als hätte sie ihn verätzt, und wich zurück, als sei seine Mutter eine Säure. Ihre Brust schmerzte. Sie konnte nicht atmen. »Weiß Dad es? Und würdest du mir diesmal, bitte, die Wahrheit sagen?« Sie schluckte. Ihre Kehle brannte. »Ja.« Er wandte sich von ihr ab und verbarg sein Gesicht an der Wand. »Daniel, du mußt mich erklären lassen, was passiert ist. Es ist nicht so, wie du denkst. Du mußt mir glauben, Sohn -« Er murmelte etwas zur harten, kalten Wand. »Was?« Schweigen. »Was hast du gesagt? Daniel?« »Ich sagte… es ist zu spät.«
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11. Kapitel Cam stand im Supermarkt im Gang mit dem Knabberzeug und versuchte sich zu erinnern, wer die Doritos mochte, Zoe oder Daniel? Eins von den Kindern mochte Cheetos und eins Doritos, aber er wußte nicht mehr, was zu wem gehörte. Er nahm eine Tüte Cheetos und warf sie in den Einkaufswagen, machte drei Schritte und blieb stehen. Wenn Daniel derjenige war, der die Doritos wollte, dann würde er wieder ewig herumnörgeln und sie alle zur Raserei bringen. Cam nahm die Cheetos aus dem Wagen und legte Doritos hinein. Dann fiel ihm ein, daß Daniel ja gar nicht da war. Er legte die Doritos ins Regal zurück. Und wenn nun Zoe keine Cheetos mochte? Niemand würde sie essen, und das Geld wäre zum Fenster hinausgeworfen. Er legte die Cheetos zurück. Als er ein Sechserpack Cola herausnahm, zögerte er. Trank Zoe nicht Diet Pepsi, oder war das Wren? Ein mächtiger, fast unwiderstehlicher Drang ergriff Besitz von ihm; Cam hätte in diesem Augenblick am liebsten die scharlachroten Dosen aus ihren kleinen Plastikringen gerissen und eine nach der andern so weit den Gang hinuntergeschleudert, wie er konnte. Cam ließ den Einkaufswagen stehen, schlich aus dem Laden, setzte sich in sein Auto und schlug die Tür hinter sich zu. Lange saß er so da, schüttelte seine Verwirrtheit ab und starrte, ohne zu sehen, auf die anderen müden Gestalten - Leute, die einen vollen Arbeitstag hinter sich hatten und trotzdem noch im Supermarkt herumlaufen und Essen suchen mußten, obwohl sie nichts sehnlicher wollten, als daheim vor dem Fernseher zu sitzen. 140
Wren kaufte normalerweise nach der Schule Lebensmittel ein. Da ihr Arbeitstag um halb vier endete, hatte Cam immer angenommen, daß das nicht besonders anstrengend sein konnte. Das war drei - oder waren es schon vier? - Tage her, damals in diesem anderen Leben, als sie noch eine Familie waren. Damals hatte er viele Dinge geglaubt, die er heute nicht mehr glaubte. Fahr heim, schau in den Küchenschränken nach, rede mit Zoe, mach eine Liste, sagte er zu sich selbst. Werde erwachsen. Bis Wren verschwunden war, hatte Cam nicht bemerkt, wie viele kleine Alltagsdinge sie erledigte, damit der Haushalt reibungslos lief, und daß er sich darauf verließ, daß sie es tat. Im anfänglichen Schock von ihrem und Daniels Verschwinden hatten er und Zoe im Grunde aufgehört zu funktionieren. Er nahm sich ein paar Tage frei, und sie blieb von der Schule daheim. Sie klammerten sich aneinander und hechteten jedesmal zum Telefon, wenn es läutete. Im Grunde warteten sie auf ein Wunder. Aber nach drei schlaflosen Nächten und ruhelosen freien Tagen begann die Betäubung nachzulassen. Das Unwirkliche des Alptraums, den sie durchlebten, nahm an den Rändern deutlichere Konturen an. Cam und Zoe mußten der Tatsache ins Auge blicken, daß dies keine Situation war, die sich über Nacht auflösen würde. Daß sie sich möglicherweise überhaupt nicht mehr auflöste, war eine Schreckensvorstellung, die sie noch nicht annehmen konnten, und sie zogen es vor, diese Möglichkeit vorläufig im Hintergrund lauern zu lassen, ohne sich näher damit zu beschäftigen. 141
»Sie müssen Ihr normales Leben wiederaufnehmen«, hatte Steve Austin beim letzten Telefongespräch gesagt. »Die Leute fangen sonst an, Fragen zu stellen.« Aber was war an der Sache normal? Wie konnten sie die Scharade aufrechterhalten? Wie, um Himmels willen, sollte Cam arbeiten, wenn er sich nicht einmal entscheiden konnte, welche Chips er kaufen sollte? Sein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt und sein Schwerpunkt aus dem Gleichgewicht gebracht; er hielt nicht mehr lange durch. Cam drückte auf die Fernbedienung für die Garagentür und wunderte sich, wie er eigentlich nach Hause gekommen war. Er konnte sich nicht erinnern, gefahren zu sein. Alles, woran er noch denken konnte, waren Wren und Daniel und was mit ihnen, mit Zoe und ihm selbst passierte und was sie tun würden. Fahren war eine zweitrangige, gewohnheitsmäßige Angelegenheit; es war ein verdammtes Wunder, daß er das Auto nicht zu Schrott gefahren oder jemanden getötet hatte. Er traf Zoe in der Küche an, wo sie in einer Bratpfanne eine Art Gulasch aus Hackfleisch, Zwiebeln und Bohnen zusammenpanschte. Es roch überraschend gut, und Cam verspürte schuldbewußt, daß er Hunger hatte. Er schämte sich, ans Essen zu denken, ohne zu wissen, ob Wren und Daniel etwas bekamen, aber er aß trotzdem immer. Selbst zu hungern würde zu nichts führen, es würde sie auch nicht früher nach Hause bringen. »Das riecht gut«, sagte er mit aufgesetzter Fröhlichkeit und drückte ihr einen Kuß auf die Wange, die sie ihm hinhielt. »Haben wir noch Tortillas?« Er öffnete die Kühlschranktür und wühlte darin herum. »Ich dachte, du wolltest Lebensmittel kaufen«, warf ihm seine Tochter lächelnd vor. 142
»Ich wußte nicht, was wir brauchen«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Ich mache dir eine Liste, Daddy.« Sie lief geschäftig umher, mit einem Kochlöffel in der einen Hand und einer Flasche scharfer Sauce in der andern. »Die Tortillas sind im untersten Fach, aber Daniel macht nie die Tüte zu, deshalb sind sie inzwischen wahrscheinlich vertrocknet.« Cam fand die Tortillas halb in und halb außerhalb der Tüte; sie waren hart wie Untertassen. Eine Woge der üblichen Verärgerung über Daniel durchrauschte Cam, gefolgt von Schmerz. Ich war ihm ständig wegen dummer, unwichtiger Sachen auf den Fersen, dachte er. Er starrte mit verschwommenen Augen auf die Tortillas in seiner Hand. »Mom sagt, man bekommt sie wieder weich, wenn man ein paar Tropfen Wasser draufspritzt, sie in Papierhandtücher wickelt und kurz in die Mikrowelle legt.« Zoe nahm ihm die Tortillas aus der Hand und legte sie auf die Küchentheke. »Ich kann ein bißchen Käse reiben, falls du Burritos daraus machen willst.« Sie stieß ihn sanft aus dem Weg und wühlte im Kühlschrank herum. »Da ist welcher. O nein! Dieser Blödmann! Es ist nicht zu fassen, daß Daniel den Käse da reingelegt hat, ohne ihn vorher einzuwickeln. Jetzt können wir ihn nicht mehr hernehmen.« Im nächsten Augenblick warf sie den steinharten Käse mit einem lauten Knall in die Spüle und schrie: »Warum muß er immer alles kaputtmachen?« Dann rannte sie aus der Küche, und Cam hörte, wie die Tür zu ihrem Zimmer zugeschlagen wurde. Cam drehte mit einem tiefen Seufzer den Herd ab. Er konnte nachvollziehen, daß Zoe ihrem Bruder die Schuld 143
an ihrer Situation gab. Schließlich war es Daniel gewesen, der sich aus der Bibliothek verdrückt hatte, zu spät nach Hause gekommen war, gelogen und einen Streit provoziert hatte und davongerannt war und seine Mutter hinterher. Für Zoes zwölfjährigen Verstand hatten sie es deshalb Daniel zu verdanken, daß er und Wren entführt wurden. Nach ihrer Denkweise wären sie vor Hunter sicher gewesen, wenn sie alle zusammen gemütlich im Haus geblieben wären. Man konnte von ihr nicht erwarten zu verstehen, daß es keinen Ort gab, an dem man vor Hunter sicher war jedenfalls nicht für Wren. Und anscheinend auch nicht für Daniel. Er würde mit ihr reden müssen. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer kam er durch das Wohnzimmer, wo sorgfältig gefaltete Wäschestapel mit militärischer Präzision auf der Couch aufgereiht waren. Der Staubsauger stand im Flur, und das Bad neben Zoes Zimmer glänzte vor Sauberkeit. Er klopfte an ihre Tür, wartete einen Moment und ging hinein. Er hatte erwartet, es so vorzufinden, wie es normalerweise aussah - als hätte eine Bombe eingeschlagen. Statt dessen war alles zwanghaft aufgeräumt - selbst die Einhorn-Poster hingen richtig, und sie hatte sogar die Bücher im Regal alphabetisch geordnet. Zoe saß mitten auf dem Bett; sie hatte die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, das Gesicht war zur Wand gedreht und hinter einem Vorhang glänzender, kastanienbrauner Haare verborgen. »Das Haus sieht wirklich hübsch aus«, sagte er unbeholfen. Als sie nicht reagierte, sagte er: »Es ist in Ordnung, wenn du wütend über das bist, was passiert ist. Es ist normal, daß du sauer auf Daniel bist, auch wenn es 144
wirklich nicht seine Schuld war, daß er und Mom entführt wurden.« »Sie hätte ihm nicht nachgehen sollen«, murmelte Zoe. »Dann hätte Hunter nur Daniel mitgenommen und nicht sie auch noch.« Cam setzte sich auf die Bettkante. »Ich dachte, wir hätten das durchgesprochen«, sagte er. »Ich dachte, du hättest die Beziehung zwischen deiner Mutter und Hunter begriffen. Du weißt, er will, daß sie ihm für eine Weile wieder hilft. Er wollte Daniel gar nicht, weißt du. Er wollte nur nicht, daß Mom versucht wegzulaufen. Aber es ist schon in Ordnung. Mister Austin wird uns helfen, sie zu finden und wieder nach Hause zu bringen. Du wirst sehen.« »Aber er hat sie noch nicht gefunden«, sagte sie leise und enthüllte damit den wahren Grund für ihre Unruhe. »Warum hat er sie noch nicht gefunden?« »Weil…« Cam zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Er muß das ganze Land absuchen. Das braucht einige Zeit.« »Aber Daniel wird in der Schule zuviel verpassen. Das kann er niemals aufholen!« »Mach dir darüber keine Sorgen. Wir werden ihm helfen, es aufzuholen.« Er strich ihr übers Haar. Mit kaum vernehmbarer Stimme flüsterte sie: »Ich vermisse ihn. Er sagt mir immer, wer die blöden Typen sind, damit ich mich in der Schule nicht mit den falschen Leuten anfreunde.« »Ich weiß. Auf seine verquere Art liebt er dich.« 145
Plötzlich setzte sie sich auf und blickte ihn mit ihren blauen Augen fest an. »Du mußt in den Laden gehen und Diet Pepsis kaufen. Ich will, daß Mom jede Menge Diet Pepsis hat, wenn sie nach Hause kommt.« Mit diesen Worten brach sie in Tränen aus und sank in seine Arme, und sie wurde so heftig von Schluchzen geschüttelt, daß sie fast keine Luft mehr bekam. Hilflose Wut durchflutete ihn, aber er konnte nirgendwohin damit. Er hatte als Beschützer seiner Familie versagt, und nun war er kaum in der Lage, die Überreste zusammenzuhalten. Er hätte von Anfang an nicht auf Wren hören sollen. Er hätte, verdammt noch mal, die Nationalgarde rufen sollen, wenn die nötig gewesen wäre, um sie vor dieser Bedrohung zu schützen. Und er hätte seine Familie nie aus den Augen lassen sollen. Zoes Tränen ließen etwas nach. Mit geschwollenem und unglücklichem Gesicht sagte sie: »Ich glaube, ich möchte jetzt duschen.« »Gute Idee.« Er tätschelte ihre nasse Wange. »Daddy?« Sie kaute auf ihrer Unterlippe und sah weg. »Wird dieser Kerl… sie umbringen?« »Nein, nein! Er braucht sie. Er hatte Pläne mit ihnen. Und hab keine Angst um deine Mom. Du weißt nicht, wie zäh sie ist. Sie hat früher mit diesen Leuten gelebt, und sie weiß, wie sie mit ihnen umgehen muß. Sie wird aufpassen, daß Daniel nichts passiert, bis Mister Austin sie findet.« Er war sich bei alldem nicht so sicher, aber es schien sein verwirrtes kleines Mädchen ein wenig zu beruhigen. Er ließ sie allein, damit sie sich fürs Bad zurechtmachen konnte, ging in Daniels Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich. Bunte Poster von Comic-Helden hingen an den 146
Wänden, ihre unmöglichen Muskeln quollen aus bizarren Kostümen, ihre Gesichter blickten wild über das Zimmer. Auf einem Regal in der Ecke stand seine alte Sammlung von Ninja-Turtle-Figuren; Sammelmappen mit ComicBildchen lagen auf Schreibtisch und Kommode herum. Kleidung und wüste CD-Hüllen waren überall verstreut. Cam hob ein psychedelisches T-Shirt auf, das von der Überlegenheit irgendeiner abscheulichen Heavy-MetalBand kündete. Es roch noch immer nach Daniel. Seine Knie gaben nach, und er ließ sich schwer auf die Kante des zerwühlten Bettes fallen, das zerknüllte T-Shirt in den Händen. Ein geheimnisvoller Knoten unter der Bettdecke weckte seine Neugier, und er tastete herum, bis sich seine Finger um etwas Flauschiges schlossen. Ungläubig zog Cam Daniels arg mitgenommenen alten Stoffbären hervor, dessen Kopf und Arme nur noch an Fäden hingen. Cam hatte Daniel diesen Bären geschenkt, als er zwei Jahre alt war; danach waren sie auf Jahre unzertrennlich gewesen. Cam hatte nicht einmal gewußt, daß Daniel den Bär immer noch hatte, und er hätte sich nie träumen lassen, daß der Junge seinen alten Freund unter der Bettdecke versteckte. Er ist eben doch noch ein großes Kind, dachte er. Und ich habe ihn wie einen Mann behandelt, nur weil er größer ist als ich. Reizender Vater. Er konnte seine eigenen Gedanken nicht ertragen. Cam sprang vom Bett auf und eilte in die Küche, wo er zu Ende kochte, was Zoe begonnen hatte - was immer es sein sollte -, und sich ein paar schlaffe Burritos daraus machte. Das 147
Telefon läutete, und wie immer hatte er vor dem zweiten Läuten abgehoben. »Wie geht es Ihnen, Cam?« »Nicht so gut, Mister Austin«, antwortete er wahrheitsgemäß, »aber wir kommen zu Rande. Wir haben einen weiteren Tag überstanden, und das ist so ziemlich alles, was ich auf einmal schaffe.« Zoe tauchte neben ihm auf, ihre Haare tropften noch von der Dusche, und sie hatte einen fragenden Gesichtsausdruck. Er formte mit den Lippen das Wort Austin, aber als er nach einer Weile nichts Neues zu berichten hatte, machte sie sich einen kleinen Teller Abendessen und ging damit ins Wohnzimmer, um vor dem Fernseher zu essen. »Haben Sie schon mit der Schulleitung gesprochen? Ich meine, in Hinsicht auf eine längere Abwesenheit von Daniel und Wren.« »Bis jetzt nicht.« »Cam, Sie müssen sich darum kümmern.« »Ich weiß.« Er war verlegen. Es war wirklich kindisch, das Unvermeidliche hinauszuschieben, in der abergläubischen Hoffnung, daß das Unmögliche eintreten würde. »Haben Sie sich wenigstens schon entschieden, was Sie ihnen sagen wollen?« »Ich denke schon. Ich meine, ich werde ihnen erzählen, daß wir Eheprobleme haben, die hauptsächlich von der ständigen Spannung wegen Daniel herrühren, und daß Wren ihn aus der Schule genommen hat, damit er eine spezielle Schule für Kinder mit seelischen Problemen 148
besucht.« »Gut. Das klingt gut. Und was ist mit Wrens Abwesenheit? Sie können nicht ständig Ersatzlehrer für sie einspringen lassen.« »Ich werde dem Direktor sagen, daß sie den ersten Monat oder so bei Daniel bleibt, um zu sehen, wie er sich in der neuen Schule macht, und damit wir ein wenig… Abstand gewinnen, glaube ich.« »Nicht: Sie glauben. Sie müssen entschlossen sein. Keine Unschlüssigkeit.« »Okay. Ich werde dafür sorgen, daß sie Wren beurlauben und eine Ersatzlehrerin einstellen, die ihre Aufgaben übernimmt, bis sie zurückkommen kann.« »Was ist mit Zoe?« »Was soll mit ihr sein?« »Sie werden sich fragen, warum Zoe nicht mit ihrer Mutter gegangen ist, meinen Sie nicht?« »Oh.« Cam spürte ein Panikgefühl aufsteigen, dann sagte er: »Ich werde sagen, daß Wren Zoes Leben nicht mehr als unbedingt nötig durcheinanderbringen wollte und sie deshalb hier bei mir gelassen hat, bis wir entschieden haben, wie wir in der ganzen Sache vorgehen.« »Ausgezeichnet. Wissen Sie was? Wir sagen, die Schule ist in Dallas. Ich lasse einen Mitarbeiter anrufen und darum bitten, Daniels Unterlagen an unser Postfach hier zu schicken. Das wird Ihrer Geschichte eine gewisse Glaubwürdigkeit verleihen.« Cam sagte: »Und wenn sie sagen, sie seien in Dallas aufgewachsen oder so, hätten aber noch nie von dieser 149
Schule gehört?« »Erzählen Sie ihnen, daß es eine neue Art Schule ist. Ein Versuchsprojekt. Jedenfalls ein Umgebungswechsel für Daniel.« »In Ordnung.« Cam fühlte sich erstaunlicherweise erleichtert. Sobald sie diese unangenehme Nebensache hinter sich hatten, konnten er und Zoe sich darauf konzentrieren, nun ja, zu überleben. »Mister Austin, ich würde meine Tochter gern psychologisch beraten lassen, damit sie mit der ganzen Geschichte umgehen kann.« Es gab eine Pause. »Ich kann Ihren Wunsch verstehen, Cam, aber ich muß Ihnen vorläufig davon abraten. Die Geschichte klingt zu diesem Zeitpunkt noch weit hergeholt. Ein Berater würde entweder annehmen, daß das Kind die ganze Sache erfunden hat - und in diesem Fall wäre sie tatsächlich gestört -, oder, noch schlimmer, er könnte befürchten, daß Sie Ihre Frau und Ihren Sohn in Stücke gehackt und im Garten oder irgendwo vergraben haben.« »Was?« »Ich will damit nur sagen, daß Ihre Geschichte von der Entführung ohne angemessene Aufmerksamkeit von seiten der Medien einer näheren Überprüfung nie standhalten könnte. Ein psychologischer Berater könnte uns alle möglichen Probleme bereiten.« »Und wenn ich sie begleite und alles erkläre?« »Das würde auch nichts nützen. Und selbst wenn es Ihnen gelänge, einen Therapeuten zu überzeugen, gäbe es immer noch diese starke Versuchung, in einem 150
fehlgeleiteten alarmieren.«
Versuch
zu
helfen,
die
Polizei
zu
»Aber ich dachte, ein Arzt hat Schweigepflicht.« »Sie sind auch nur Menschen, Cam. Ich meine wirklich, daß es unter diesen Umständen am besten wäre, wenn Sie die Lage allein meistern. Vorläufig jedenfalls.« Cam senkte die Stimme und drehte sich vom Wohnzimmer weg. »Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Das alles ist schrecklich für sie.« »Ich weiß. Und es tut mir leid. Aber wenn Sie einfach immer zuhören, wenn sie reden will, sie lieben und ihr viel Unterstützung geben, wird sich wahrscheinlich herausstellen, daß sie widerstandsfähiger ist, als Sie denken.« Cam hörte Schritte hinter sich und wurde von einer einarmigen Umarmung seiner Tochter überrascht, die ihren halbvollen Teller in die Küche zurückgebracht hatte. Er wechselte den Hörer in die andere Hand und legte einen Arm um sie. »Sie ist ein ziemlich tapferes Kind«, sagte er laut. Zoe lächelte zu ihm hinauf und ging zurück ins Wohnzimmer. Er sagte nicht, was er wirklich dachte: daß er ohne Wren nur schattenboxte mit dem Leben, daß mehr von seiner Kraft von ihr stammte, als er sich je vorgestellt hätte, daß er sie mit einer Heftigkeit brauchte, die ihm den Atem nahm, daß er sich nicht vorstellen konnte, ohne sie mit alldem fertig zu werden, daß er krank vor Sorge um sie war und sie vermißte, daß er. Cam, derjenige war, der nicht sehr widerstandsfähig war. 151
12. Kapitel Vierundzwanzig beinahe unerträgliche Stunden lang sprach Daniel nicht mit Wren. Wieder und wieder versuchte sie ihm zu erklären, warum sie ihm nicht von Anfang an alles erzählt hatte, aber er zog sich nur den Schlafsack über die Ohren und beachtete sie nicht. Dann wieder versuchte sie ihre Teilnahme an dem Bankraub zu rechtfertigen, den Hunter erwähnt hatte, aber er zog nur die Schultern hoch und murmelte: »Ja, ja.« Sie hätte am liebsten geschrien. Irgendwann in den brunnenschwarzen Tiefen der Nacht kam Wren in den Sinn, daß ihr Sohn noch immer nicht die ganze Geschichte kannte, daß es das schreckliche klaffende Loch, das Hunter in den Wandteppich ihrer Beziehung gerissen hatte, schließen würde, wenn sie sie ihm begreiflich machen könnte. So wie die Dinge lagen, sah Daniel alles von der Unterseite, als eine verworrene Ansammlung von Fäden und Knoten; wenn sie ihm nur das Bild zeigen konnte, das aus diesen Fäden gewoben war, würde es sein Vertrauen in sie wiederherstellen. Der Beschluß half ihr, ein wenig zu schlafen. Als aber die nächtliche Düsternis ihrer Zelle dem metallischen Grau der Dämmerung wich, stellte Wren fest, daß es ihr merkwürdig widerstrebte, Daniel die vollständige Lösung aller Geheimnisse ihrer Vergangenheit zu enthüllen. Sie wußte nicht genau, wieso. Vielleicht war es der ungewohnte Anblick, den er mit Tarnanzug und Stiftelkopf bot. Vielleicht war es die trotzige Art, wie er sein Kinn vorstreckte. Oder sein anhaltendes Schweigen. Oder vielleicht war es ihre plötzliche Gewißheit, daß nichts mehr, was sie zu ihm 152
sagte, einen Unterschied in seiner Haltung ihr gegenüber bewirken würde; von nun an würde er sie strikt nach ihren Taten beurteilen. Hatten schließlich seine Eltern nicht das gleiche zu ihm gesagt, nachdem er seine Glaubwürdigkeit durch Lügen beschädigt hatte? Bei einer besonders dramatischen Auseinandersetzung mit Daniel hatte Cam seine leere Kaffeetasse auf den Küchenboden geschmettert. Du hast unser Vertrauen in dich zertrümmert, hatte Cam gesagt, so sicher wie diese Kaffeetasse zertrümmert ist. Selbst wenn du sie wieder zusammenkleben würdest, hätte sie noch Sprünge. Wenn du willst, daß wir wieder an dich glauben, mußt du dich durch das beweisen, was du tust, nicht durch das, was du sagst. Sie aßen ihr Frühstück, ohne zu sprechen. Als sie zu Ende gefrühstückt hatten, stattete ihnen Hunter, wieder mit Kicker als seinem Schatten, einen Besuch ab. »Sehen wir uns ein wenig um hier«, sagte er. »Ich möchte euch das Basislager zeigen.« Er machte Platz, damit sie hinausgehen konnten. Kicker, der vor der Tür wartete, trat zur Seite, zog seinen Schulterriemen hoch und klemmte die Flinte unter den Arm. Diesmal warf Wren mehr als nur einen flüchtigen Blick auf Kickers Waffe, wie sie es getan hatte, als sie Daniel bange zur Dusche gefolgt war. Die Waffe sah nach einer Mossberg 500 aus - wahrscheinlich mit einer Kammer für großkalibrigen Schrot versehen - und hatte eine von diesen bösartigen Griffen wie bei Pumpguns, die der Kongreß verboten hatte. Er hatte vermutlich den sogenannten ›Jägerstöpsel‹ herausgenommen, der sie auf drei Patronen beschränkte, so daß sie bis zu acht aufnehmen konnte, was ebenfalls gesetzwidrig war. Ein Mensch konnte nicht so 153
schnell davonlaufen, daß er nicht von dieser Waffe zerfetzt wurde, und Wren stellte sich vor, daß dieser besondere Schütze großes Vergnügen daran finden würde, jemanden zu zerfetzen. Sie schaute auf und begegnete seinem Blick gerade noch rechtzeitig, um ein flüchtiges Grinsen aus seinem Gesicht verschwinden zu sehen. Sadistisches Schwein. »Gehen wir.« Mit einer höflichen Geste zeigte Hunter an, daß sie zum größten Gebäude auf dem Gelände gehen sollten, das sich direkt gegenüber dem winzigen Gebäude befand, das zu Wrens und Daniels Zuhause geworden war. Während der staubaufwirbelnde Wind ihr die langen Haare ins Gesicht peitschte, schaute sich Wren in der öden Landschaft um und bemerkte, daß es nirgendwo größere Menschenansammlungen außerhalb der Gebäude gab. Die Leute bewegten sich eher einzeln oder in kleinen Gruppen. Sie sah keine Schwarzen, keine Hispanos oder Asiaten. Sie kamen an einer Art Pavillon vorbei, der aus einem Maschendrahtdach bestand, das von einem Tarnnetz bedeckt war und auf Pfosten ruhte. Er war nach allen Seiten offen. Eine Gruppe von etwa zwanzig durchtrainierten Männern und Frauen machte unter dem Pavillon ihre Morgengymnastik, angeführt von dem Mann, den sie als Smithy kannte. Es waren nur fünf oder sechs Frauen dabei, aber jede von ihnen trug einen Wüstentarnanzug und hatte das Haar entweder kurz geschnitten oder ordentlich zu einem Zopf oder Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Als sie an dem Pavillon vorbeigingen, betrachtete Wren Smithy genauer. Wie Hunter und Kicker trug er sein Tarnhemd über die muskulösen Arme hochgerollt. An einem Arm, genau über dem hochgerollten Ärmel, 154
bemerkte Wren ein schwarzes Armband. Niemand sonst schien eins zu tragen. Sie schaute durch den Schleier ihrer windzerzausten Haare verstohlen nach Hunter und Kicker. Auch sie trugen schwarze Armbänder. Aus der Nähe erkannte sie die Zeichnung eines goldenen Blitzstrahls auf den Armbändern. Die Kerle, die Daniel und mich entführt haben, müssen also zu einer Art innerem Elitekreis gehören, mutmaßte Wren, wie ein SWAT-Team der Polizei, die Navy SEALS oder Army Rangers. Sie fragte sich, was man tun mußte, um es in diesen inneren Kreis zu schaffen. Sie kamen zu einem Gebäude aus Löschbeton, von der Größe einer Cafeteria in einer großen High-School. Hunter, der stets die Manieren eines Gentleman hatte, hielt Wren und Daniel die Tür auf, während Kicker, dessen Gewehr beiläufig in der Armbeuge ruhte wie ein harmloses Spielzeug, folgte. »Das ist unser Versammlungsraum und unsere Messe«, sagte Hunter. Wren und Daniel blieben gleichzeitig wie gebannt stehen, hypnotisiert von dem wunderschönen, wenn auch grimmigen Wandgemälde, das die rückwärtige Wand bedeckte: Ein Skelett in einer Rüstung, mit leeren Augenhöhlen, die starr aus dem Schädel blickten, saß rittlings auf einem aschgrauen Hengst, dessen Nüstern blutrot leuchteten. Die Augen des Pferdes waren voller Wildheit, und seine Muskeln spielten vor männlicher Kraft. In der einen Knochenhand hielt der Krieger ein flatterndes Banner umklammert, das mit den karmesinroten griechischen Zeichen für Alpha und Omega, getrennt von einem goldenen Blitzstrahl, 155
geschmückt war. In der anderen Hand hielt der Reiter einen zweiten Blitzstrahl wie ein Triumphschwert in die Höhe. Unter dem Bild hatte der Künstler in makelloser Schönschrift in Schwarz die folgende Botschaft ausgedrückt: Sehet ein bleiches Pferd, und der darauf saß, trug den Namen ›Tod‹. Wren unterdrückte ein Schaudern. Etwas an dem Bild beunruhigte sie zutiefst. In der Community hatte es nichts dergleichen gegeben. Die Symbolik war so… kriegerisch. »Ist es nicht herrlich?« sagte Hunter. »Eins von den Mädchen hat es gemalt. Es hat mir so gefallen, daß ich mir eine Tätowierung davon machen ließ.« Er rollte den Ärmel des rechten Arms so hoch über den Ellenbogen, wie er konnte, und zeigte dem erstaunten und offenkundig beeindruckten Daniel die Tätowierung. Daniel tippte schüchtern an Hunters Arm, dort, wo das Banner eintätowiert war, und sagte: »Was bedeutet es?« »Alpha und Omega«, sagte Hunter. »Der Erste und der Letzte. Der ist, der war und der noch kommen wird.« Er grinste über Daniels verwirrten Gesichtsausdruck. »Es ist das Symbol für die Alpha/Omega Strike Force der Armageddon-Armee.« Er rollte den Ärmel ein Stück hinunter und zeigte auf das schwarze Armband. »Die Besten der Besten; besser als alle anderen - hab ich recht, Kicker?« Kicker brummte zustimmend. Daniel vergaß für einen Augenblick, daß er eine Geisel dieses Mannes war, und sagte: »Was tut die Strike Force?« Sein Gesicht, von dem haarigen Vorhang befreit, hatte einen lebhaften Ausdruck. Hunter schob eine Augenbraue hoch, warf einen Blick in 156
Wrens Richtung und sagte: »Spezialaufträge.« Wie zum Beispiel Kidnapping, du Hurensohn, dachte Wren. Irgend etwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht. In der Community hatte es keine ›Strike Force‹ gegeben, und auch nichts Vergleichbares. Zwar hatten sie alle eine paramilitärische Ausbildung erhalten, aber die freundlichen Menschen, an die sie sich aus jenen Tagen erinnerte, waren ihr mehr wie eine Hippiekommune vorgekommen statt hartgesottene Soldaten. Diese sogenannte Armageddon-Armee, und besonders die Strike Force, schienen Wren sehr viel aggressiver zu sein. Während der langen Fahrt nach ihrer Gefangennahme und in den Tagen in ihrem Kerker hatte Wren noch keinen Funken Wärme oder Freundlichkeit in jemandes Blick gesehen - ausgenommen Hunter selbst, und dem traute sie nicht. Sie sah mit Unbehagen, wie er den Bizeps für ihren Sohn spielen ließ, was eine leichte Wellenbewegung des eintätowierten Banners hervorrief und dem Jungen ein Lachen entlockte. Daniel war eindeutig fasziniert vom Fremden und Schönen. Uk’ten, dachte sie. Diese mythische, drachengroße Klapperschlange der Cherokee-Legende, der prächtige Uk’ten, der so hypnotisch wirkte in all seinem Glanz, konnte seine Bewunderer mit Blitzesschnelle packen. Es hieß, auch nur der Spur Uk’tens zu folgen, würde zum Tod führen. In dem Bemühen, Hunter von Daniel abzulenken, täuschte sie Interesse vor und fragte: »Wie viele Mitglieder hat die Strike Force?« 157
»Sieben.« Er sah an ihr hinauf. »Einschließlich mir.« Hunter rollte den Ärmel seines Tarnhemds wieder über den Ellenbogen hinunter und zeigte zur Tür. »Gehen wir zum Schießstand hinunter«, sagte er. Während der allgegenwärtige Kicker die Nachhut bildete, folgten Wren und Daniel Hunter auf einem kaum erkennbaren Pfad durch kratziges Gebüsch, spitze Yuccas und ausgetrocknete, stachlige Feigenkakteen. Der Pfad hing hangabwärts, und sie mußten aufpassen, wo sie auf dem felsigen Untergrund hintraten. Gelegentlich ließ Wren den Blick über die umliegenden Hügel schweifen und versuchte ein charakteristisches Merkmal zu erkennen, das einen der Hügel als Orientierungspunkt ausgezeichnet hätte, aber sie sahen alle gleich aus. Hier draußen, dachte sie, kann ein Mensch verlorengehen, und niemand findet ihn mehr - außer den Geiern. Als der Schießstand in Sicht kam, verschlugen die laute Ballerei und die schlimmen Erinnerungen, die sie hervorrief, Wren den Atem. Sie war früher eine Meisterschützin gewesen, hatte aber seit der Erstürmung der Community durch das FBI keine Waffe mehr angerührt. Allerdings hatte sie die heimliche Angewohnheit, hin und wieder durch Waffenläden zu schlendern, um über die neuesten Fabrikate und Modelle auf dem laufenden zu bleiben. Da die meisten Angestellten in Waffenläden dazu neigten, ihre weibliche Kundschaft zu ignorieren oder herablassend zu behandeln, wurde sie selten angesprochen. Sie hatte Cam nie von diesen Ausflügen in die Welt der Feuerwaffen erzählt. Es war ein Geheimnis, das Schuldgefühle hervorrief, wie alleine zu trinken. Dem 158
Warum dafür tiefer auf den Grund zu gehen hätte nur gewisse Aspekte ihres Wesens enthüllt, die vielleicht besser unerforscht blieben. Zum Beispiel, warum sie sich nach Daniels Geburt entschieden hatte, wieder zu studieren und Chemie als Hauptfach zu wählen, und nicht etwa Elementarerziehung oder etwas in die Richtung. Sie hatte sich damals gesagt, daß ihre früheren Erfahrungen mit den verschiedenen chemischen Bestandteilen in Sprengstoffen ihr das Fach leicht machten. Das hatte sie sich jedenfalls eingeredet. Die Tatsache, daß Sprengstoff sie immer noch faszinierte, war etwas, worüber sie nicht gern nachdachte. Dann waren da die Publikationen in der Untergrundpresse, die sie verfolgte, ganz zu schweigen von bestimmten Infoseiten, die sie im Internet durchsah. Sie behandelten unter anderem die neuesten Entwicklungen bei Sprengstoffen. Falls Cam sich über ihr Abonnement solcher Informationen wunderte, hatte er jedenfalls nie etwas gesagt. Es war, als dächte ihr Mann, wenn er solche Dinge ignorierte, würden sie von allein vergehen. Sie waren aber nicht vergangen. Dafür hatte Jeremiah Hunter gesorgt. Der Schießstand hier war sehr ähnlich aufgebaut wie der, an den sie sich von der Community erinnerte. Der Geruch von Schießpulver war ein Angriff auf Wrens Sinne. Er weckte den Wunsch in ihr, davonzulaufen. Er weckte den Wunsch in ihr, eine von diesen Waffen in die Hand zu bekommen und zu feuern, bis von dem Ziel nichts mehr übrig war. 159
Gegenüber dem seitlich offenen Wellblechunterstand, der wie üblich mit Tarnnetzen bedeckt war, standen einfache, mannsgroße Zielscheiben aus Sperrholz von rechteckiger Form mit aufgesetzten kleineren Rechtecken von der Größe eines Kopfs. Es waren weder Entfernungen markiert, noch waren auf den Zielscheiben Trefferpunkte aufgemalt. Bei dem Schießunterricht hier ging es nicht darum, Schießwettbewerbe zu gewinnen. Es ging ums Töten. Ein halbes Dutzend Männer und eine Frau übten mit einem schwindelerregenden Aufgebot an Waffen, von halbautomatischen Gewehren über den 45er Colt, wie ihn die Armee bevorzugte, bis zu verschiedenen 9mmHandwaffen, dazu eine Anzahl automatischer Waffen, unter denen sie die MP-5 von Heckler and Koch und die gängigen AK47 und M-16 erkannte. Einige der Schützen, die an den unbeweglichen Zielen übten, schauten mit zerstreuter Neugier herüber, dann wandten sie sich wieder dem Schießen zu. Ein großer, muskelbepackter Mann, den Wren bisher nicht gesehen hatte, führte die Aufsicht. Sein kahlgeschorener Schädel glänzte über der verspiegelten Sonnenbrille vor Schweiß. Auch er trug ein schwarzes Armband. »Wir unterrichten hier eine verbesserte Form der Weaver-Stellung«, rief Hunter über den unablässigen Lärm der Waffen hinweg. Auf einem Tisch voller Waffen wählte er eine TEC22T-Pistole mit einem fünfzigschüssigen Magazin - alles auf der Verbotsliste und gab Daniel die Sturmpistole. Sofort blickte Daniel, dem Weinen nahe, zu seiner Mutter. Was soll ich tun? 160
»Schon gut«, sagte Hunter. »Früher oder später mußt du es lernen. Hier, halt sie so.« Wren, die von Kickers wachsamen Augen und einem halben Dutzend geladener Waffen in Schach gehalten wurde, konnte nichts sagen. Sie spürte, wie ihr schier das Herz zersprang, und schrie lautlos: Laß meinen Sohn in Ruhe! Bitte, tu es nicht! Sie flehte Hunter mit den Augen an, aber er beachtete sie nicht. »Sie ist schwer«, sagte Daniel, als sich der Pistolenlauf nach unten senkte. »Halt, halt, halt!« Alle schauten auf, als der große Mann mit dem kahlen Schädel auf sie zuging. »Mensch, Hunter, hast du den Verstand verloren? Siehst du nicht, daß der Kleine hier noch nie eine Waffe in der Hand hatte?« Hunter sah Daniel an. »Stimmt das, Junge?« Daniel schaute wieder zu seiner Mutter. Hunter sagte: »Hat dich dein Daddy nie zur Jagd mitgenommen?« Daniel blickte zu Boden und murmelte: »Nein, Sir.« Kicker schüttelte den Kopf. »Was hat er für ein Problem?« polterte er. »Ist er einer von diesen Waffengegnern oder was?« Hunter zuckte die Achseln. »Ach was, er ist so ein Lappen von Buchhalter oder irgendwas in die Richtung.« Wrens Wangen glühten. Du würdest dich glücklich schätzen, wenn mein Mann deinen Arsch vor Gericht verteidigen würde, dachte sie. Nur schade, daß er zu anständig ist, um das auch nur zu erwägen. 161
»Abgesehen davon ist diese sogenannte Waffe nichts als Scheiße, Hunter. Der einzige Grund, warum du sie herumschleppst, ist, weil sie gemein aussieht, aber sie ist wertlos. Genau wie eine TEC-9 - die taugt auch nichts.« Hunter grinste. »Na, na, John, du brauchst den Geschmack von jemandem, was Waffen angeht, nicht als persönliche Beleidigung aufzufassen.« Er nahm Daniel die Waffe weg und gab ihm eine Armeeausgabe des 45er Colt, die mit einem Laservisier ausgerüstet war. Big John schüttelte den Kopf. »Herrgott noch mal, Mann, laß ihn mit etwas anfangen, das ihn nicht halb zu Tode erschreckt.« Er nahm Daniel die Pistole aus der Hand. Hunter hob die Hände. »Du bist der Experte.« Zu Daniel sagte er: »Dan, das hier ist Big John. Der beste Ausbilder und Waffenschmied, den ich kenne.« Er trat zur Seite. Big John sichtete die Waffen auf dem Tisch und wählte eine 38er Smith & Wesson aus. »Die hier ist mit Blechpfropfen geladen«, sagte er. »Sie hat nicht soviel Kick wie mit Hohlspitzgeschossen.« Hunter verdrehte die Augen. »Das ist eine Kinderpistole, um Gottes willen. Überhaupt keine Durchschlagskraft.« Big John beachtete ihn nicht. »Er muß klein anfangen und sich langsam zu den gemeinen Kalibern hocharbeiten. Aber laß ihn nicht mit dieser Kanone schießen, mit der du herumläufst. Noch nicht. Allein durch den Rückschlag würde er sich auf seinen dürren Arsch setzen.« Kicker kicherte. »Es ist eine Desert Eagle aus rostfreiem Stahl, mit einer 162
Kammer für 50er-Magnum-Patronen«, flüsterte Hunter Wren zu. »Ich hab noch extra einen Vierzehn-Zoll-Lauf mit Zielfernrohr dafür, damit kannst du dann einen Bären umblasen. Wenn ich ihn raushole und dir zeige, kriegst du nur Angst.« Die Männer kicherten. Wren konnte sich gerade noch beherrschen und nicht die Augen verdrehen. Das war so typisch für Hunter. Je größer die Waffe, desto mehr beeindruckte sie ihn. Die Wahrheit war, daß eine 50-Kaliber-Patrone zwar für ein Scharfschützengewehr in Frage kam, aber für die Selbstverteidigung im Nahkampf kaum taugte. Ganz zu schweigen davon, wie schwer eine solche Waffe war. Aber falls mir ein Bär begegnet, dachte sie sarkastisch, werde ich dich bestimmt rufen, du Arschloch! Big John legte die 38er in Daniels Hand. Daniel nickte unsicher. »Wart mal, John, ich kann ihm doch zeigen, wie man mit dieser Erbsenpistole schießt.« Big John trat zur Seite. »Bitte sehr.« »Bist du Rechts- oder Linkshänder?« fragte Hunter. »Ähm… Rechtshänder.« »Gut. Ich tu mich leichter, es einem Rechtshänder beizubringen. Okay. Stell die Füße etwa in Schulterbreite auseinander. So ist gut. Jetzt setz den rechten Fuß zurück nicht so weit zurück, Dan. Du mußt bequem stehen, etwa so, siehst du?« Wren beobachtete das Ganze ungefähr so, wie man die 163
Verschrottung eines Autos verfolgt. Einerseits war sie Big John für sein Eingreifen dankbar - der 38er Revolver war viel kleiner und leichter. Er lag besser in Daniels Hand als die TEC22T und hatte sehr viel weniger Rückstoß als der 45er. Er würde ihm außerdem das nötige Zutrauen vermitteln, das ein Anfänger dringend brauchte. Andererseits wollte sie nicht, daß Daniel hier am Schießstand mitmachte, wie einer von den anderen Kerlen. So fing es immer an. Jedenfalls hatte es bei ihr so angefangen. »So. Halt den Körper in einer Linie über den Füßen. Gut. Jetzt visier das Ziel an. Nein, das Ziel, nicht den Revolver. Okay, nun beugst du dich leicht in der Hüfte nach vorn. Bist du Sportler?« »Nicht ernsthaft.« Hunter kicherte. »Gut. Schaust du viele Filme an?« Daniel zuckte nervös mit den Schultern. »Glaub schon.« »Die Schauspieler in den Filmen machen es oft falsch. Bring die linke Hand nach oben, aber laß den Ellenbogen angewinkelt. Nur der rechte Arm ist ganz durchgestreckt.« Er stellte sich hinter Daniel und faßte ihn sanft an den Schultern, genau wie er es vor so vielen Jahren bei Wren getan hatte. Sie erinnerte sich noch an den Kitzel, den sie dabei empfunden hatte, und bei einem Blick in Daniels Gesicht sah sie die gleiche mühsam beherrschte Aufgeregtheit. »So, jetzt führ den rechten Arm zum linken, aber halt den linken Arm in einem bequemen Winkel zum Körper.« Daniel tat es, mit Hilfestellung von seinem freundlichen Lehrer. 164
»Leg die Hand so um den Griff der Pistole - entspann dich, mein Sohn! Wir üben nur.« Er lachte über den heftig errötenden Jungen. »Leg die Finger der linken Hand in die Kerben der Finger der rechten Hand. Nein, so.« Er nahm Daniel den Revolver aus der Hand und zeigte es ihm, dann gab er ihn zurück. Daniel führte es fehlerfrei aus. »Gut! Du machst das großartig. So, der Trick ist nun, den Revolver auf Augenhöhe zu bringen. Siehst du das Visier hier? Gut, bring es auf eine Linie mit deinen Augen. Du kannst ein Auge zumachen, wenn es dir hilft. Warte - du grapscht am Abzug, als wäre er die Titte von einem Mädchen. Wie ich sagte, du siehst zu viele Filme. Nimm nur die Spitze des Abzugfingers, nicht den ganzen Knöchel. So ist es richtig. Jetzt ziel auf den Körper. Wenn ich das Zeichen gebe, drückst du langsam auf den Abzug nicht ruckartig, okay?« Hunter fischte ein Paar Ohrenschützer von dem Tisch und setzte sie Daniel eigenhändig auf den Kopf. Wren sah mit einer Art makabrer Faszination zu. Der Revolver schwankte in den zitternden Händen des Jungen. Hunter gab Daniel das Zeichen, und die Pistole ging los, wobei der Lauf nach oben ausschlug. Wren fuhr zusammen. Instinktiv schaute sie zu der Sperrholzattrappe. In der oberen rechten Ecke war ein Loch. »Nicht schlecht«, schrie Hunter. »Noch ein bißchen Übung, dann bist du ein Meisterschütze.« Daniel grinste übers ganze Gesicht. Wren zog sich der Magen zusammen, Galle stieg ihr in die Kehle. Sie schluckte mächtig und kämpfte dagegen an, sich zu 165
übergeben. »Das nächste Mal kommst du dran, Lissie«, sagte Hunter, während er den Revolver zusammen mit den Ohrenschützern auf den Tisch zurücklegte. »Du könntest wahrscheinlich sogar bei unserem Fortgeschrittenen-Kurs mithalten«, fügte er hinzu und meinte damit vermutlich die Kurse, bei denen man im Laufen schoß, in der Nacht und auf plötzlich auftauchende Ziele. Er lächelte sie an. Sie hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt. Als sie den Hang hinauf zurück zum Basislager stapften, fragte Daniel Hunter, wo sie all diese Waffen aufbewahrten. Hunter grinste Wren über die Schulter an und sagte: »Geheimverstecke, Dan.« In anderen Worten: Unter der Erde begraben. Es ließ sich nicht feststellen, wie groß das Arsenal war, das er in seiner Zeit mit der sogenannten Armageddon-Armee angehäuft hatte. Oder was er damit vorhatte. Während der Wind ihr Haar zerzauste, verfingen sich Kaktusstacheln und Mesquitedornen in Wrens Kleidung und zerkratzten ihre Stiefel. Sie war widerwillig dankbar für den Kampfanzug, und sie ärgerte sich über dieses Gefühl. Sie waren bereits dabei, von Hunter manipuliert zu werden, und sie konnte absolut nichts dagegen tun. Als der Pfad ebener wurde, fragte Hunter Daniel, ob er gern ein Soda hätte, und die Freude auf dem Gesicht ihres Sohnes ließ Wren noch mehr verzweifeln. Heimweh übermannte sie. Sie betraten die Messe, und Hunter bedeutete ihnen, an einem der Cafeteriatische Platz zu nehmen. Kicker zog einen Klappstuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich rittlings darauf, die Flinte im Schoß. 166
»Was trinkst du, Dan?« rief Hunter von der Küche her. Daniel bat um eine Cola. Hunter brachte die Cola und gab Wren ein Diet-Pepsi. Sie blickte überrascht auf, und er blinzelte ihr zu, als wollte er sagen: Hey, ich weiß alles, was es über dich zu wissen gibt. Sie erwiderte sein Lächeln nicht. »Du fragst dich bestimmt, was das alles eigentlich soll«, sagte Hunter zu Daniel, als wüßte es Wren bereits. Er setzte sich gegenüber von Daniel an den Tisch, ungemütlich nahe neben Wren. »Ich weiß, daß Sie meine Mom für irgend etwas haben wollen«, sagte Daniel und starrte seine Coladose an, als hätte er Angst, seinem Entführer in die Augen zu sehen. »Ich will deine Mom für viele Dinge haben.« Der vertrauliche Ton in seiner Stimme ließ Wren erröten und trug ihr einen raschen Blick von ihrem Sohn ein. Es gab nichts, was sie hätte sagen können. Daniel schaute wieder weg. »Ich brauche deine Mom, Dan, damit sie mit mir in dem Krieg gegen die Verräter von der Regierung kämpft, die ständig über meine Rechte trampelt - und über deine Rechte, so wie die Verfassung der Vereinigten Staaten sie garantiert -, nämlich Feuerwaffen zu tragen, zum Schutz gegen die Räuber, die mich um mein Geburtsrecht betrügen, die in mein Haus kommen, mir die Waffen wegnehmen und mich versklaven wollen. Der zweite Zusatzartikel zur Verfassung garantiert uns das Recht, eine Miliz zu bilden, weil unsere Gründerväter erkannt haben, daß eine bewaffnete Bürgerschaft die beste Abschreckung gegen Totalitarismus ist.« Er lächelte den Jungen an. »Verstehst du, was ich sage, mein Sohn?« 167
Daniel zuckte die Achseln. »Nicht ganz.« »Okay. Laß es mich so erklären. Die verlogenen, diebischen Politiker, dieser Abschaum, sind dabei, sage ich, unsere Rechte an diese Nazis in Ninjakostümen zu verkaufen, die dann in der Maske der Bundesregierung unsere Türen aufbrechen, sich unser Eigentum schnappen und unsere Frauen und Kinder ermorden.« Er beugte sich vor. »Sie spionieren uns nach, weißt du. Die ganze Zeit.« In Daniels Augen flackerte ein Zweifel. »Warum, glaubst du, müssen wir unsere Gebäude tarnen?« Er wartete. Daniel sagte schließlich: »Ich weiß es nicht.« Hunter stieß den Zeigefinger ominös nach oben und flüsterte: »Satelliten.« Wren wandte das Gesicht ab und verdrehte die Augen. »Bei diesem Sturm auf die Community durch FBI und ATF, von dem ich gesprochen habe, da haben sie Kinder umgebracht. Haben sie kaltblütig abgeknallt.« Daniel schaute seine Mutter voller Entsetzen an, als erwarte er, daß sie widerlegte, was Hunter gesagt hatte. Sie wagte es nicht. Sie versuchte ihm ihre Hilflosigkeit mit den Augen zu übermitteln, aber wie die meisten Teenager war er blind für solche Feinheiten. Er schüttelte angewidert den Kopf. »Die fetten Schwuchteln unserer Kasperlregierung verabschieden, unterstützt von ihrer Gestapo, dem FBI 168
und dem ATF, bereits Gesetze in diesen Vereinigten Sozialen Staaten von Amerika, die uns Stück für Stück, Waffe für Waffe, unsere Freiheiten stehlen. Und sie haben ihre Marionetten als Sprachrohr, macht euch da nichts vor. Wie dieses Arschloch, Buckwheat Peckerhead.« Wren war einen Moment lang verblüfft, dann dachte sie: O Gott, er meint offenbar Buck Leatherwood. »Und wenn sie mit Hilfe von Luzifer Leatherwood und seinem schmutzigen Geld dieses Land endlich kaputtgemacht haben, werden sie die Nationalgarde gegen uns einsetzen - glaub ja nicht, daß sie das nicht tun -, und wenn es soweit ist, kannst du sicher sein, daß heilige Krieger bewaffnet und bereit zur Schlacht sein werden, Kämpfer für die Freiheit und Patrioten wie die Armageddon-Armee, die sich nicht vor Ninja-Anzügen fürchten, und du, mein Sohn« - er zielte mit dem Zeigefinger dramatisch auf den faszinierten Jungen -, »wirst verdammt froh sein, daß du auf der richtigen Seite stehst, wenn dieser Tag kommt.« »Amen, Bruder«, rief Kicker. Aber Wren hörte kaum hin. Sie starrte entsetzt auf das hingerissene Gesicht ihres Sohnes während Hunters Predigt. Sie hatte diesen Gesichtsausdruck schon viele Male bei anderen gesehen, die sich in dem klebrigen Netz von Hunters Rhetorik verfangen hatten. Aber die waren jetzt alle tot.
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13. Kapitel Während er die schnittige schwarze Limousine durch den Verkehr steuerte, der sich Stoßstange an Stoßstange durch Dallas wälzte, setzte Steve Austin seinen Ohrhörer ein und sprach ins Funkgerät. »Nummer Zwei, Ihre Lieferung müßte nun jede Minute eintreffen.« »Gut. Wir freuen uns schon darauf, Nummer Eins.« Obwohl es nicht unbedingt nötig war, daß Austin als Inhaber von Guaranteed Security eigenhändig für die Sicherheit seiner illustren Kunden sorgte, arbeitete er gelegentlich gern vor Ort, um sein Personal auf Zack zu halten, den Klienten zu beruhigen und um zu verhindern, daß er durch zuviel Schreibtischarbeit abstumpfte. Er hatte es oft genug erlebt, als er noch beim FBI arbeitete. Ein As von Außenagent verließ das rauhe Straßenpflaster und ging in die Verwaltung, und nachdem er ein paar Jahre lang Ermittlungen vom Schreibtisch aus überwacht hatte, war er zu guter Letzt draußen praktisch hilflos. Austin hatte es vorgezogen, ›einfach nur Agent‹ zu bleiben, hatte einen Wechsel auf lukrative Managementposten ausgeschlagen, um weiter an Fällen zu arbeiten. Als Folge davon hatte er ein ausgedehntes Netzwerk an Informanten aufgebaut, wertvolle Kontakte in jedem Zweig des Gesetzesvollzugs geschaffen, gelernt, wie ein Cop zu denken, eine Menge üble Burschen hinter Schloß und Riegel gebracht und mit einem ganzen Batzen weniger Geld seinen Abschied genommen. Nun machte er mehr Kohle, als er sich je hätte träumen lassen, solange er noch beim FBI war, und er arbeitete viel zuviel, um es auszugeben. Seine Frau war enttäuscht, aber er konnte es nicht lassen. Er liebte es zu sehr. Er würde es 170
wiedergutmachen an ihr. Eines Tages. Die Limousine hielt am Bordstein, und Austin sprang hinaus, seine Augen suchten automatisch die gegenüberliegenden Gebäude nach offenen Fenstern in den oberen Stockwerken ab, in denen ein Attentäter sein Gewehr angelegt haben könnte. Sein Team müßte dieses Gebäude bereits gesichert haben, aber er würde seine Kontrollaufgaben nicht sehr ernst nehmen, wenn er es nicht noch einmal überprüft hätte. Während er mit den Augen den Gehsteig absuchte, um sicher zu sein, daß sich niemand näherte, und zur Eingangstür schaute, um sich zu vergewissern, daß Nummer Zwei dort stand und wartete, öffnete er die hintere Wagentür auf der Gehsteigseite und baute sich als Schild gegenüber der offenen Tür auf. Buck Leatherwood schälte seinen drahtigen Körper aus dem Rücksitz und ging in das Gebäude. Als sie die Eingangshalle betraten, nickte Austin Nummer Drei zu, der geduldig neben dem Aufzug stand und dafür sorgte, daß ihn niemand benutzte. »Mister Leatherwood!« rief eine zierliche, farbige Frau mit scharf geschnittenem Gesicht, die mit ausgestreckter rechter Hand auf sie zukam. Sie war elegant gekleidet und attraktiv, warf Austin einen Blick zu und nahm Leatherwoods Hand. »Ich bin Sabrina Cross, die Produzentin von Dallas Unplugged. Es ist uns eine große Ehre, Sie in unserer Sendung zu haben.« Austin war Cross schon früher begegnet und hatte sie überprüfen lassen. Sie war sauber. »Danke, Miss Cross«, sagte Leatherwood gedehnt. »Es war nett von Ihnen, mich einzuladen.« Er ging durch einen 171
Metalldetektor. Austin zeigte dem gelangweilten Cop, der dabeistand, seine Waffe und den Sicherheitsdienst-Ausweis und folgte seinem Klienten in diskretem Abstand. »Die Maske ist gleich hier unten im Flur«, sagte Cross herzlich und hängte sich bei Leatherwood ein. Austin schaute beim Vorbeigehen in jede offene Tür. Das Studio hier hatte einen ziemlich guten eigenen privaten Sicherheitsdienst, eine Gesellschaft, mit der er schon zusammengearbeitet hatte, aber er blieb gleichwohl wachsam. Seine Frau behauptete, daß er sich nie entspannte, nicht einmal im Schlaf. Als Leatherwood gründlich gepudert war und seinen Cowboyhut sorgfältig wieder aufgesetzt hatte, geleiteten ihn Austin und die kleine Produzentin zum Studio, wo sie über ein Gewirr von Kabeln zu einem schlichten Set gelangten, das aus zwei Stühlen an einem runden Tischchen mit einem Krug Wasser und zwei Gläsern bestand. Hinter den Stühlen hing ein schwerer blauer Vorhang. Austin spähte hinter den Vorhang und winkte Nummer Vier zu, der zur Erwiderung die Hand hob. Während Cross anschließend Leatherwood kurz über den Ablauf der bevorstehenden Sendung unterrichtete, drehte sich Austin um und blickte über etwa hundert leere Sitze, die in leicht ansteigenden Reihen hinter den Kameras aufgebaut waren. Sein Personal würde das Studiopublikum und die Bühnencrew einzeln nach Waffen abtasten, aber das beruhigte Austins Nerven keineswegs. Je mehr Leute mit seinem umstrittenen Klienten in einem Raum zusammen waren, desto weniger konnte er alles kontrollieren. 172
Die meiste Angst hatte Austin vor Sprengstoff. Natürlich hatten sie vorher schon die Hunde hier gehabt und einen routinemäßigen Bomben-Check durchgeführt, aber es gab keinen wirklichen Schutz gegen Sprengstoff - der Lieblingswaffe von Terroristen. Er hatte einen häufig wiederkehrenden Alptraum, der von dem handelte, was er ›Murphy’s Sicherheits-Check‹ nannte, und in dem alles schiefging, was schiefgehen konnte. Entscheidende Leute waren plötzlich nicht da, die Hunde standen nicht zur Verfügung, und der Klient weigerte sich, mitzuarbeiten - und dann, sobald die Lichter angingen für die Rede seines Klienten, für seinen TalkShow-Auftritt oder was immer, entdeckte Austin die Sprengvorrichtung, kurz bevor sie explodierte. Er wachte jedesmal in kalten Schweiß gebadet auf. Die äußerst tüchtige Miss Cross schob Leatherwood freundlich in den ›green room‹, das Künstlerzimmer, und Austin wartete, an der geschlossenen Tür stehend, bei ihm. »Ich frag mich, warum sie die Dinger ›green room‹ nennen?« sinnierte Leatherwood. »Ich war noch nie in einem, der grün war.« Er sah sich in dem kleinen, unpersönlichen Raum um: eine Kunststoffcouch, ein Fernsehgerät und ein Tisch mit einer Kaffeekanne und einer Schachtel Doughnuts. Er fing an, hin und her zu rennen. Austin wußte, daß Leatherwood im Gegensatz zu seiner entspannten Erscheinung auf dem Bildschirm in Wahrheit jedesmal nervös war, wenn er einen Fernsehauftritt zu absolvieren hatte. Er sah sich zuallererst als Geschäftsmann, nicht als Liebling der Medien. Und er vergaß nie - nicht für einen Augenblick - den Grund dafür, warum er überhaupt in 173
einer Sendung auftrat. »Im Kongreß reden sie schon wieder davon, das Verbot von Sturmwaffen aufzuheben.« Er schaute in Austins Richtung. »Die Waffenleute sagen, sie benützen sie gern zur Jagd. Welche Art Tier will jemand wohl mit einer Waffe jagen, die in der Lage ist, Kugeln mit einer Geschwindigkeit von mehr als 700 Meter in der Sekunde abzufeuern und bis zu fünfzig Schuß auf einmal?« Austin zuckte die Achseln. »Menschen.« Leatherwood rückte seine Krawatte zurecht. Es war eine hübsche, marineblaue Seidenkrawatte mit silbernen Streifen und paßte wunderbar zu seinem perlgrauen Veloursjackett im Westernschnitt. Er schüttelte den Kopf »Wenn sie mich mal erwischen, dann wahrscheinlich mit so einem Ding.« »Sie werden Sie nicht erwischen. Nicht, solange wir ein Wörtchen mitzureden haben.« Austin runzelte die Stirn. Leatherwood zeigte Anzeichen von Ermüdung. Dieser Fatalismus sah ihm nicht ähnlich. »Es kommt immer noch Drohpost herein, stimmt’s?« »Ein wenig«, sagte Austin vorsichtig. Wenn Buck Leatherwood je etwas von dem schwachsinnigen Geschwafel und den scheußlichen Drohungen - manche mit Verweisen auf die Bibel ausgeschmückt - zu sehen bekäme, die täglich mit seiner Post eintrafen, könnte er nie mehr ruhig schlafen, »Machen Sie sich darüber keine Gedanken.« Er tat das Thema mit einer Handbewegung ab. »Ich schätze, das ist Ihr Job, richtig?« Leatherwood klimperte mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche. 174
»Richtig.« Als Leatherwood die geschlossene Tür erreichte, wo Austin stand, machte er kehrt und lief in die andere Richtung. »Sie wissen, daß ich in ein paar Wochen in der Doug Richards-Show bin.« »Ich weiß.« Doug Richards war ein weltberühmter amerikanischer Journalist, der eine beliebte Late-NightShow zu aktuellen Themen leitete. »Sie haben Paul Smith, diesen Wichser, ebenfalls dazu eingeladen.« Austin verzog das Gesicht. Richards goß gern Öl ins Feuer. Paul Smith war der etwas über dreißigjährige Präsident einer weithin bekannten christlichfundamentalistischen, politischen Gruppierung, die sich USA nannte, oder Union für ein Stärkeres Amerika. Die Organisation hatte in den letzten Jahren beträchtlichen Einfluß gewonnen, indem sie Millionen von Dollar bei verschiedenen kirchlichen Gruppen und anderen rechtsgerichteten Organisationen gesammelt hatte, um diverse ›Zielpersonen‹ zu Fall zu bringen nämlich liberale Kongreßabgeordnete, Senatoren und Gouverneure. Die Öffentlichkeit hatte es zu einem großen Teil als das Verdienst von USA angesehen, daß die Republikaner 1994 bei den Wahlen zur Mitte der Legislaturperiode einen erdrutschartigen Sieg verbuchen konnten. Ihr Standpunkt in der Frage der Waffenkontrollgesetze war wohlbekannt: Sie waren vehement dagegen. Gut, es würde eine lebhafte Debatte werden. Und es würde Leatherwoods Schmähpost und Todesdrohungen verdoppeln. 175
»Mir wäre dieser kleine Wicht nicht so unsympathisch, wenn er nicht so ein verdammter Frömmler wäre«, klagte Leatherwood. »Er benimmt sich, als würde man schnurstracks in die Hölle wandern, wenn man nicht seine Ansicht teilt.« »Vielleicht haben sich deshalb so viele Leute seiner Organisation angeschlossen«, sagte Austin mit einem leisen Lächeln. »Sie wollen rechtzeitig ihre Schäfchen ins trockene bringen.« Leatherwood blieb vor dem kleinen Tisch stehen und starrte nachdenklich auf die Kaffeekanne. »Ich habe gehört, er hat selbst eine kleine Tochter«, sagte er mit rauher Stimme. »Ich frage mich, wie er über das Thema denken würde, wenn er eines Tages in einer Leichenhalle stünde und auf ihren von Kugeln durchsiebten Körper schaute.« Austin dachte an seine beiden eigenen Töchter und sagte nichts. Austins Mann, der draußen vor der Tür stand, warnte ihn durch den Ohrhörer, daß Sabrina Cross gleich den Raum betreten würde. Die Tür ging auf, ihr lächelndes Gesicht erschien im Eingang. »Brauchen Sie etwas, Mister Leatherwood?« Im Nu hatten sich seine grüblerischen Gesichtszüge zu seinem Markenzeichengrinsen gedehnt. »Nennen Sie mich Buck.« Sie lächelte zurück. »Okay… Buck. Es tut mir leid, daß sich unser Moderator heute verspätet. Er wird in Kürze dasein, um noch ein wenig mit Ihnen zu plaudern, bevor Sie auf Sendung gehen.« 176
Austins Telefon läutete. Mit einem entschuldigenden Blick zu seinem Klienten zog er das Handy aus der Jackentasche und drückte auf den Knopf. »Hallo?« Er drehte sich leicht weg. »Steve? Hier ist Mike Martinez. Ich weiß, du bist beschäftigt, aber die Sache kann nicht warten.« Die Produzentin sprach immer noch mit Leatherwood, der ihr den Kopf in seiner charmanten Art zugeneigt hatte, die nie ihre Wirkung auf Frauen verfehlte. Austin trat einen Schritt zurück, um ungestörter zu sein, und sagte: »Schieß los.« »Ich glaube, wir haben eine Spur, wo sich Hunter verkrochen hat.« Austin wirbelte zur Tür herum, als sei der Gesuchte im angrenzenden Raum. Cross und Leatherwood hörten auf zu reden und starrten ihn an. »Alles in Ordnung«, versicherte er ihnen und versuchte vergeblich, den Adrenalinstoß niederzuhalten, der durch seinen Körper rauschte. Wie sein Klient zuvor, begann er hin und her zu rennen. »Und halt dich fest, Alter«, sagte Martinez. »Es ist ein Knüller.« Leatherwood beobachtete ihn. Austin hörte auf herumzurennen, deckte die Sprechmuschel ab und sagte: »Es geht um einen anderen Fall. Kein Grund zur Aufregung.« Leatherwood nickte ihm zweifelnd zu und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Sabrina Cross, die gerade dabei war, den Moderator der Sendung vorzustellen, ein Pseudo-Journalist namens Wade Garrett, der seine beste Zeit hinter sich hatte und froh sein konnte, eine lokale Talk-Show moderieren zu dürfen, denn seine Chancen, in New York Aufsehen zu erregen, waren längst dahin. 177
Das Geplapper wahnsinnig.
im
Hintergrund
machte
Austin
»Schieß los, alter Bohnenfresser«, murmelte er. »Aber gern, Bimbo.« Austin mußte gegen seinen Willen grinsen. »Okay. Wir haben einen Anruf von diesem Deputy bekommen, mit dem wir schon früher gearbeitet haben. Anscheinend hat er einen Kerl wegen Verletzung von Bewährungsauflagen eingelocht, und der hat behauptet, daß er als Informant für uns arbeitet.« »Und, stimmt das?« »Zu diesem Zeitpunkt nicht. Aber wir haben uns früher seiner bedient, und als der Deputy unser Büro anrief, faßten wir es deshalb als Hinweis dafür auf, daß er etwas für uns hatte. Ein paar von unseren Jungs sind runtergefahren, um mit ihm zu reden, und wir sind auf eine heiße Sache gestoßen, Mann.« Wade Garrett lachte. Es war ein falsches Lachen, das Geräusch ging Austin auf die Nerven. Er machte ein finsteres Gesicht. »Anscheinend hat dieser Bursche Hunter im Knast, unten in Huntsville, kennengelernt. Hunter rekrutierte dort Leute mit kurzen Haftstrafen für ein neues Lager von Überlebenskämpfern, das er aufbauen wollte, wenn er auf bedingt entlassen würde. Unser Mann sagte sich, was soll’s, und machte mit.« »Das gleiche wie letztes Mal?« »Nicht genau, und das ist das Interessante daran. Unser Mann sagt, das Lager ist technisch auf dem neuesten 178
Stand. Waffen, Anlagen - alles vom Feinsten.« »Waffenschmuggel?« »Vielleicht. Drogen, möglicherweise, obwohl sie im Lager keine nehmen dürfen. Nur Bier und Zigaretten.« »Er ist ein richtiger Pfadfinder, was?« »Ja. Aber es hat in Texas und New Mexico eine Flut von Banküberfällen gegeben, die noch nicht aufgeklärt sind.« »Aber euer Mann wußte es nicht bestimmt.« »Noch nicht. Wir lassen ihn vorläufig im Lager und sehen, was er herausfindet.« Austin dachte rasch nach. »Wie oft habt ihr Kontakt mit ihm?« »Einmal in der Woche, wenn er eine Besorgungsfahrt in die Stadt macht.« »Ich muß mit ihm reden.« Martinez zögerte. »Ich brauche dir nicht zu sagen, wie riskant das ist. Du weißt, wie paranoid diese Leute sind. Wenn sie auch nur den Verdacht haben, daß er ein Verräter ist, bringen sie ihn um. Du weißt das.« »Sie werden keinen Verdacht schöpfen.« »Bist du dir sicher?« »Verlaß dich drauf. Mike, ich muß so bald wie möglich mit dem Mann reden. Es ist eine Sache von äußerster Dringlichkeit.« Sabrina Cross lenkte Austins Aufmerksamkeit auf sich und tippte auf ihre Armbanduhr. »Hör zu, ich muß Schluß machen. Wie schnell kannst du die Sache einrichten?« Er 179
nickte Sabrina Cross zu. »Freitag in einer Woche, schätze ich.« Martinez’ Widerwillen sickerte förmlich durchs Telefon. Austin verstand ihn gut. Sie hatten eine heiße Spur bei einem heiklen Unternehmen, und da kam er daher, mischte sich ein und brachte alles durcheinander. »Ich werd’s euch nicht vermasseln«, sagte er. »Das hoffe ich doch«, sagte Martinez. »Wir haben dem Kerl schon zehntausend bezahlt.« »Was?« Austin wußte so gut wie Martinez, daß das FBIBudget für Informanten praktisch unbegrenzt war, aber das hier schien selbst ihm als früherem FBI-Mann extrem viel zu sein. »Wir wollen Hunter unbedingt.« Als sein Klient schon im Begriff war, zusammen mit dem Moderator und der Produzentin der Talk-Show den Raum zu verlassen, sagte Austin: »Nicht halb so sehr, wie ich ihn will, alter Freund, und das ist Tatsache.« Sie kamen überein, die Einzelheiten später zu besprechen. Während Austin Leatherwood ins Studio folgte, hatte er Mühe, sich auf den bevorstehenden Job zu konzentrieren. Das war eine übermenschliche Anstrengung, denn alles, was er wirklich wollte, war, zum Flughafen zu rasen und ein Flugzeug in die finsterste Provinz zu nehmen. Nein. Das stimmte nicht. Alles, was er wirklich wollte, war, Jeremiah Hunter in die Finger zu kriegen, damit er ihn persönlich in Stücke reißen konnte. Und was er dann wirklich, wirklich wollte, war, Harry Cameron anzurufen und zu sagen: »Wir haben sie, und sie 180
kommen nach Hause.« Statt dessen stellte er sich mit dem Gesicht zum Publikum seitlich hinter Buck Leatherwood, so daß ihn die Fernsehkameras gerade nicht mehr erfaßten, und richtete sich darauf ein, zu warten.
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14. Kapitel »Er ist nicht das, wofür du ihn hältst, Daniel.« Es war schon spät, und Daniel war müde, und er versuchte in diesem beschissenen Schlafsack auf dem scheißharten Boden einzuschlafen, und der letzte Mensch, mit dem er reden wollte, war sie. Er drehte sich von ihr weg und sagte nichts. »Du fängst an, ihn für ganz toll zu halten, stimmt’s?« beschwatzte ihn seine Mutter. »Ich meine, ich weiß, das auf dem Schießstand heute war aufregend und alles, aber es ist nicht das, was du denkst. Du darfst das nie vergessen, mein Sohn. Nichts ist das, wofür du es hältst.« »Wie kommt es, daß Dad nie mit mir zur Jagd gegangen ist?« entfuhr es Daniel unwillkürlich. »Alle Väter gehen mit ihren Söhnen zur Jagd.« »Das stimmt nicht, Daniel.« »In Texas schon.« Sie war einen Augenblick still. »Dein Daddy mag Waffen nicht«, sagte sie und fügte hinzu: »Und ich auch nicht.« »Aber Hunter sagte, daß du früher eine gute Schützin warst.« »Früher. Jetzt nicht mehr.« »Ich verstehe nicht, was so schlimm dran sein soll, wenn man auf eine blöde Zielscheibe schießt. Wir bringen ja schließlich niemand um oder was.« »Aber du könntest es eines Tages tun müssen«, sagte sie.
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Er schnaubte verächtlich. »Mom! Du bist so was von paranoid! Es ist einfach zum Lachen. Wir tun nichts weiter, als ein bißchen auf Scheiben zu üben, da ist nichts dabei.« Seine Stimme reflektierte seine Verachtung. Sie lebte anscheinend hinter dem Mond. Er boxte in seinen Schlafsack. Hunter meinte, sie dürften in ein paar Tagen vielleicht raus und sich den anderen anschließen. Vielleicht durfte er dann endlich in einem richtigen Bett schlafen und von einem Tisch essen anstatt vom Boden. Und vielleicht würde er dann auch von ihr wegkommen. Seit dem Tag, an dem Hunter ihm die Wahrheit über seine Mutter erzählt hatte, hatte Daniel jeglichen Respekt vor ihr verloren. Wenn er sich vorstellte, daß sie ihn sein ganzes Leben lang belogen hatte. Wer weiß, was sie sonst noch alles zusammenlog? Er würde nie mehr imstande sein, etwas zu glauben, was sie sagte. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Immer wenn er an die ganzen Strafpredigten dachte, die er sich hatte anhören müssen, über Zeug wie Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit und das Richtige tun - und dabei war alles die ganze Zeit nur Scheiße! -, hätte er am liebsten gekotzt. An diesem Punkt - und Daniel mußte zugeben, daß er ein bißchen Schuldgefühle deswegen hatte - war es ihm fast schon egal, ob sie wieder nach Hause kamen oder nicht, denn er wollte im Moment eigentlich auch seinen Vater nicht sehen. Wenn sein Dad nämlich die ganze Zeit gewußt hatte, daß seine Mom log, dann machte ihn das ebenfalls zum Lügner. »Daniel?« 183
»Was?« »Ich liebe dich, mein Sohn.« »Ja, schon recht.« Hoppla. Damit war er vielleicht ein bißchen zu weit gegangen, aber er war stinksauer. Es interessierte ihn nicht, ob er ihre Gefühle verletzte. Schließlich hatte sie ihn verletzt. Zumindest hätte sie ihm die Wahrheit sagen können, als sie die ersten drei Tage in diesem Scheißloch festsaßen. Er hatte sich bei ihr ausgekotzt, und sie hatte den Mund nicht aufgekriegt. Wenn Hunter nicht gewesen wäre, hätte er vermutlich nie die Wahrheit erfahren. Daniel drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte in die Finsternis hinauf. Er fing an, sich an das ständige Toben und Brausen des Windes zu gewöhnen. Es war gar nicht mal so übel hier draußen. Er mußte nicht in die Schule gehen, und es fing an, ganz interessant zu werden. Sie wurden schließlich nicht gefoltert oder was. Er dachte darüber nach, was Hunter über die Regierung gesagt hatte. Man mußte schon in einer Höhle leben, um nicht von den aufsehenerregenden Schnitzern gehört zu haben, die dem FBI und dem ATF in den letzten Jahren beim Sturm auf Survivalisten unterlaufen waren. Man war allgemein zumindest ein bißchen beunruhigt darüber. Nicht alles, was Hunter gesagt hatte, ergab für Daniel einen Sinn. Er hatte zum Beispiel keine Ahnung, was der zweite Zusatzartikel war. Trotzdem, Hunter hatte gesagt, daß sie Kinder umgebracht hatten, als sie die Community 184
stürmten. Und widersprochen.
Daniels
Mutter
hatte
ihm
nicht
Welche Sorte Menschen tat so etwas? Und wenn es stimmte, sollte sich dann nicht irgendwer, irgendwo… wehren? Soviel angestrengtes Nachdenken machte Daniel müde. Er gähnte, drehte sich auf die Seite und schlief ein. Irgendwann mitten in der Nacht wurde Daniel von einem Aufschrei geweckt. Verschlafen und durcheinander glaubte er zunächst, es sei vielleicht Zoe, aber als er ganz zu sich kam, erkannte er, daß es seine Mutter war, die eine Art Alptraum hatte. Er konnte mit Mühe ausmachen, wie sie sich in ihrem Schlafsack hin und her warf und gemurmelte Angstgeräusche von sich gab. Er langte hinüber und gab ihr einen unbeholfenen Klaps auf den Kopf. »Alles in Ordnung, Mom«, sagte er. »Alles in Ordnung.« Sie setzte sich auf und atmete schwer, als ob sie gelaufen wäre. Ihr Gesicht war geisterhaft in der Dunkelheit ihrer Zelle. »Daniel?« Ihre Stimme war rauh, und sie klang herzerweichend verletzlich. »Alles in Ordnung. Du hast nur schlecht geträumt.« »Geht’ s dir gut?« Was für eine komische Frage. Schließlich war sie es, die den Alptraum gehabt hatte. »Ja. Alles in Ordnung.« Sie ergriff seine Hände und drückte sie an ihre Wange. Sie war heiß, als hätte sie Fieber. Er zog seine Hand nicht weg. 185
Nach einer Weile legte sie sich wieder hin und war still. Daniel hatte seine Mutter noch nie wirklich verängstigt gesehen. Selbst in der Nacht, in der sie gekidnappt wurden, war sie wirklich tapfer gewesen, wie er zugeben mußte. Der Zwischenfall verstörte ihn tief, und es dauerte lange, bis er wieder einschlafen konnte. Am nächsten Morgen, während sie verlegen ihre kleinen Morgenrituale absolvierten, erwähnte Daniels Mutter den Alptraum nicht, und so beschloß er, es ebenfalls nicht zu tun. Vielleicht wußte sie es gar nicht mehr. Nach einem weiteren gezwungenen und schweigend eingenommenen Frühstück tauchte Hunter wieder auf, fröhlich und liebenswürdig wie immer. Daniel empfand es als willkommene Unterbrechung der gespannten Atmosphäre. Er bemerkte, daß Kicker Hunter diesmal nicht begleitete. »Ihr beide habt jetzt genug Urlaub gehabt«, sagte Hunter. »Es gibt jede Menge Arbeit hier, und alle tragen ihren Teil bei. Lissie«, wandte er sich an Daniels Mutter, »du arbeitest mit den anderen Frauen im Garten. Jennifer zeigt dir, wo er ist. Dan, du kommst mit mir.« Daniel blieb nur ein kurzer Moment, um einen Blick in das erschrockene Gesicht seiner Mutter zu werfen, dann schleifte die unfreundliche Hexe, die ihnen immer das Essen gebracht hatte, sie Richtung Messe. Sie tat ihm kurz leid, dann zitterte er seinem eigenen Schicksal entgegen, als er mit Hunter den Bau verließ. Als sie an dem Pavillon vorbeikamen, blieb Daniel stehen und schaute zu der Gruppe von Frauen und Männern, die dort offenbar Nahkampftraining machten. Er hatte es noch nie aus der Nähe gesehen und fand es 186
faszinierend. Hunter war ein paar Schritte vorausgegangen, dann blickte er über die Schulter, sah, daß Daniel zuschaute, und kam zurück. »Sieht interessant aus, wie?« »Klar«, sagte Daniel. »Das wollte ich immer schon lernen.« »Jetzt kannst du es«, sagte Hunter. »Du wirst Selbstverteidigung lernen, du wirst Gewichte heben und dich in Form bringen, und du wirst mehr Zeit unten am Schießstand verbringen.« »Ehrlich?« Daniel konnte den begierigen Tonfall in seiner Stimme nicht verbergen. Ohne daß seine Mutter in der Nähe war und jede seiner Bewegungen beobachtete, spürte er, wie er sich ein wenig entspannte. Hunter schien ein wirklich netter Kerl zu sein. »Toll«, fügte er an. Hunter lachte und schlug ihm auf den Rücken. »Komm«, sagte er. »Ich will dir was zeigen.« Daniel folgte ihm über das öde Lagergelände, seine Stiefel knirschten auf dem Fels und der harten Erde. Ein Minitornado peitschte vorbei und wirbelte eine kleine Trichterwolke aus Kalkstaub auf. In der Ferne hörte er das Knattern vom Schießstand; es war ein Geräusch, das tagtäglich bis zum Einbruch der Dunkelheit anhielt. Fünf oder sechs Männer, die in ihren Wüstentarnanzügen und den Stiefeln wie hartgesottene Soldaten aussahen, joggten vor Daniel vorbei, und er wartete auf sie. Kicker war der letzte, der vorbeitrabte. Er nickte Daniel zu, als sei dieser ein gewohnter Mensch oder so und nicht ein Gefangener. Verblüfft nickte Daniel 187
zurück, während die Männer sich in Richtung der Hügel hinter dem Lager entfernten. Hunter war an einem der Wohnwagen angelangt und winkte Daniel. »Komm rein«, rief er. »Ich zeig dir, wie ich wohne.« Ohne seine Mutter, bei der er abgucken könnte, wie er sich benehmen sollte, war Daniel unsicher. Er zögerte, dann folgte er Hunter die Stufen hinauf in den Wohnwagen. »Fühl dich wie zu Hause«, sagte Hunter. »Ich schau mal, ob Kaffee da ist.« Eine gutaussehende Rothaarige mit einem langen Zopf, der ihr auf den Rücken hing, einer weichen, sommersprossigen Haut und Augen, die durch die kleinen grünen Flecken auf ihrem gestärkten, perfekt sitzenden Tarnanzug noch grüner wirkten, tauchte aus dem hinteren Teil des Wohnwagens auf. »Ich bin fast fertig mit Saubermachen«, sagte sie. Dann bemerkte sie Daniel und setzte ein Lächeln auf, daß ihm die Knie weich wurden. »Wer ist denn dieser hübsche Junge?« fragte sie. »Finger weg!« sagte Hunter lachend. »Auch eine Frau kann wegen Unzucht mit Minderjährigen eingesperrt werden.« Daniel wurde feuerrot bei dieser Bemerkung. Er wäre am liebsten im Boden versunken. »Das ist Dan. Er wird eine Weile bei uns bleiben. Dan, das ist Meghan.« »Hallo, Dan.« Sie streckte ihm die Hand hin. Er wußte, daß seine Hände schwitzten, ganz sicher. Er wischte sich die rechte Hand am Hosenbein ab, nahm ihre kleine Hand und schüttelte sie. Sie hatte einen erstaunlich 188
kräftigen Griff. »Ich denke, ich geh dann mal. Sieht aus, als würdet ihr gern von Mann zu Mann reden. Hunter, laß es mich wissen, wenn ich noch… etwas für dich tun kann.« Sie lächelte Hunter warm und vertraut an. Daniel starrte auf seine Füße. Er hatte riesige Füße. Seine Füße waren eine Schande. Er wünschte, er könnte im Boden versinken. »Keine Angst«, sagte Hunter. »Ich bleib in Reichweite.« Sie lachten beide. Nachdem sie gegangen war, sagte Hunter: »In deinem Alter hab ich mich auch vor Mädchen gefürchtet. Keine Angst, das geht vorbei.« Er ging in die kleine Küche und fing an, mit Schranktüren herumzuklappern. Daniel steckte die Hände in die Taschen und sah sich in dem überfüllten Wohnzimmer um. Direkt neben der Tür hing ein Poster, das einen Mann von der SWAT in voller Montur zeigte, mit Gasmaske und einer Art schwarzem Overall. Er starrte vor Waffen und richtete eine Uzi auf den Betrachter. Auf der Bildunterschrift war zu lesen: »HL Ich bin von der Regierung, und ich bin hier, um euch zu helfen.« Auf dem Fernseher lag ein menschlicher Schädel, der eine grüne Uniformmütze der U. S. Army aufhatte. Zaghaft berührte Daniel den Schädel. Er war nicht aus Plastik. Er fuhr zurück, zwinkerte und blickte hinauf zu dem Bilderrahmen, der an der Wand darüber hing. Er enthielt eine Karte von Vietnam und zwei Springerabzeichen darüber, ein Tuchabzeichen der Special Forces, das einen Totenkopf mit einem grünen Barett darstellte, und darunter die Buchstaben MAC V - SOG, 189
das Abzeichen der Gefechtsinfantrie und andere Insignien, die er nicht kannte. (Die anderen kannte er auch nur, weil einer von Erics Vätern das gleiche Zeug im Arbeitszimmer hängen hatte. Vor der Scheidung.) In einer roten Samtschachtel lagen ein Silver Star und ein Purple Heart. Hatte seine Mutter nicht erwähnt, daß Hunter ein Vietnam-Veteran war? Von dem hier hatte sie allerdings nichts gesagt. Über der Couch Samuraischwerter.
hing
ein
Paar
gekreuzter
Bücher waren in jedem Winkel verstaut. Daniel überflog einige der Titel: Methods of Long-Term Underground Storage, The Survival Armory, The Anarchist Cookbook, How to Build Your Own Bazooka, FUGITIVE: How to Run, Hide, and Survive und Principles of Quick Kill. Es gab viele Bücher über den Vietnamkrieg, Bücher über Sprengstoffe, Nahkampf und alle möglichen Waffen, von Maschinenpistolen bis Nahkampfmesser. Und es gab stapelweise Zeitschriften: Soldier of Fortune, American Survival Guide und Fighting Firearms. Auf einem Tisch an der Wand stand ein Kurzwellensender und daneben ein Computer. Daniel betrachtete gerade einen Playboy-Kalender, der über dem Computer an die Wand geheftet war, als Hunter hereinkam und ihm eine Tasse Kaffee reichte. Er war schwarz. Daniel hatte noch nie Kaffee ohne Milch und Zucker getrunken. Er nahm einen Schluck und gab vor, daß er ihm schmeckte. »Na, was hältst du davon?« fragte Hunter. »Davon?« Daniel zeigte auf den Kalender. Hunter lachte schallend. »Nein. Was du davon hältst, 190
weiß ich. Ich meine, meine Bude. Meine Wohnung. Was hältst du davon?« Es war eine völlig neue Welt, dachte Daniel, aber das konnte er nicht sagen. »Sie ist echt cool. Ich wußte nicht, daß Sie bei den Green Berets waren.« »Ich war einer von den LRRPS«, sagte Hunter, und sein Blick verdüsterte sich. »Was ist denn das?« »LRRP. Steht für Long Range Recon Patrol. Spezialeinsätze. Hab eine Menge Einsätze weit hinter den feindlichen Linien mitgemacht, die Sorte, wo du nicht den Luxus hattest, Artillerieunterstützung anfordern zu können - das ist etwas, wovon die verweichlichten Hippies mit ihrem Protestgeschrei keine Ahnung hatten. Laos, Kambodscha. Hab eine Menge guter Leute verloren.« Er räusperte sich. Dann kramte er in einem Stapel Papiere neben dem Kurzwellensender und zog eine vergilbte Fotografie heraus, die er Daniel gab. »Das war meine Begrüßungsparade, als ich nach Hause kam«, sagte er. Daniel sah sich das Bild an. »Aber… das ist ja nur eine Aufnahme von einem leeren Flughafen-Terminal.« »Genau.« Hunter verzog das Gesicht zu einem traurigen Lächeln. »Ich dachte, du würdest die Ironie dabei vielleicht zu würdigen wissen. Ich war nur ein paar Jahre älter als du, als ich zum ersten Mal drüben war. Wir waren alle nicht viel älter.« Die Fotografie machte Daniel traurig. Er legte sie behutsam auf einen Stapel Zeitschriften. Er sah Hunter schüchtern an. 191
»Was ist? Frag ruhig.« »Ich… ich hab mir gerade überlegt, ob Sie… also… irgend so eine Traumageschichte hatten.« »Ach, du meinst PTSS?« »Was?« »Post-Traumatische Streß-Störung.« »Ja, genau. Der Stiefvater von meinem Freund… hatte ein bißchen Probleme damit.« Hunter nickte verständnisvoll. »Das schlimmste sind die Alpträume. Aber diese Menschen -« er machte eine unbestimmte Geste nach draußen - »diese ArmageddonArmee und die Alpha/Omegas… die haben mir neuen Lebensmut gegeben. Sie haben mir darüber hinweggeholfen. Ich verdanke diesen Leuten mein Leben.« Daniel deutete auf das Samtkästchen. »Sie haben den Silver Star bekommen.« Hunter zuckte die Schultern. »Keine große Sache.« »Was ist passiert? Wollen Sie darüber sprechen?« »Es war nichts, ehrlich. Ich habe einen verwundeten Kameraden zu einer umkämpften Landezone geschleppt und den Feind mit Feuerdeckung zurückgehalten, bis sie ihn in den Sanitätshubschrauber verladen hatten. Hab ein kleines Andenken übrigbehalten.« Hunter zerrte das Hemd seines Drillichs aus dem Gürtel und zog es hoch, um eine häßliche Narbe zu zeigen, die in weißen Zacken über seinem Abdomen lief. »Großer Gott!« keuchte Daniel. »Ich meine… wow! Ich meine…« Er wußte nicht, was er meinte, und überspielte 192
seine Verlegenheit, indem er von dem brühendheißen Kaffee schlürfte. Er hatte noch nie einen echten Kriegshelden kennengelernt. Erics Stiefvater hatte einen Bronzestern, aber er sagte, den bekamen praktisch alle dafür, daß sie dabei waren und am Leben blieben. Mann. Er begann jetzt zu verstehen, was seine Mutter damals an dem Typen gefunden haben mußte. »Ich hab nur meinen Job gemacht«, beharrte Hunter. »Nicht mehr und nicht weniger als alle anderen tapferen Helden dieses Krieges. Wir haben unserem Land gedient, als man uns dazu aufforderte, zu einer Zeit, als schon das Tragen einer Uniform für irgendwelche langhaarigen, kiffenden Hippies eine Einladung bedeutete, uns zu bespucken und Babykiller zu nennen, und wie dankt man es uns?« Daniel wußte es nicht. »Man dankt es uns, indem man uns auf den langen, schlüpfrigen Pfad in die Sklaverei schickt. Man dankt es uns, indem man uns die Freiheiten nimmt, für die wir kämpften und starben.« Er legte die Hand auf Daniels Schulter. »Ich wollte, daß du das siehst, Dan. Das, was wir mit dir und deiner Mom gemacht haben, war zunächst vielleicht schwer zu verstehen, aber ich wollte dir klarmachen, daß ich nicht irgendein Geistesgestörter oder so was bin, okay?« Daniel nickte. »Okay.« »Ich möchte, daß du verstehst, daß dir eine Ehre zuteil wurde.« »Eine Ehre?« 193
»Du bist angeworben. Du bist nun ein Patriot, ein Mitglied der Armageddon-Armee, ein wahrer Kämpfer für die Freiheit. Du gehörst jetzt zur Elite. Deine Ausbildung fängt eben erst an, und du sollst wissen, daß es eine Auszeichnung ist. Ich möchte nicht, daß du es für selbstverständlich ansiehst.« Daniel schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht.« »Gut«, sagte Hunter und drückte Daniels Schulter. »Gut.«
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TEIL DREI »ZWEI WEGE« Man kann zwei Wege nehmen: den einen zurück zum Trost und zur Sicherheit des Todes, den anderen vorwärts ins Nirgendwo. Henry Miller Wir halten die Macht in unseren Händen, allen Kummer zu beenden, und wer zu sterben bereit ist, kann jedem Unglück trotzen. Pierre Corneille, französischer Dramatiker des 17. Jahrhunderts … mit der Übung des Selbstvertrauens werden neue Kräfte erscheinen. Ralph Waldo Emerson Es ist die Sache weniger Menschen, unabhängig zu sein; es ist ein Vorrecht der Starken. Nietzsche
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15. Kapitel Wren entschloß sich zur Flucht, während sie im Garten Steine ausgrub und auf einen großen Haufen am Rand schichtete. Es gab jetzt im Oktober nicht sehr viel Gartenarbeit zu tun; das Eindosen und Einfrieren sowie das Setzen gewisser Winterfeldfrüchte wie Zwiebeln oder Rettiche war bereits erledigt. Hunter wollte sie nur loswerden, damit er mit seiner Gehirnwäsche bei Daniel anfangen konnte. Dürfte nicht allzu schwer sein, dachte sie verbittert, jetzt, wo Daniel nicht mehr mit mir spricht. Es war schlimmer als ihr schlimmster Alptraum. Wren hätte nie für möglich gehalten, wie niederdrückend die Verzweiflung auf ihren Schultern lastete, während sie unter einem weiten Himmel von der Farbe ausgewaschener Jeans geistesabwesend Steine jeder Form und Größe aus dem bewässerten Boden stemmte. Sie hatten ihr ein Paar Arbeitshandschuhe gegeben, aber scharfkantige Grasbüschel stachen in ihre Knie, und es gab schlicht keine Stellung, in der ihr nicht irgendwo etwas weh getan hätte. Während sie schuftete, beobachtete sie möglichst viele Details des Lagers. Zum einen fiel ihr auf, daß sie in all den Tagen im Lager nie das Dröhnen eines Flugzeugs gehört hatte, das über sie hinweggeflogen wäre. Auch gab es keinen Verkehr, außer den Lagerfahrzeugen, auf der einzigen, gut bewachten Straße, die nach draußen führte. Soweit Wren feststellen konnte, kam der Strom über Leitungen, die man entlang der Straße gelegt hatte, wahrscheinlich bevor man die festen Gebäude errichtet 196
hatte. Die Lagerbewohner lasen die Stromzähler selbst ab, das hatte sie auf dem Rückweg von der Dusche einmal bemerkt. Aus ihrer früheren Erfahrung wußte sie, daß Brunnen, die sie gegraben hatten, das Wasser lieferten, der Müll zu einer privaten Deponie gebracht wurde und sanitäre Anlagen durch antiseptische Tanks ermöglicht wurden. Besorgungsfahrten, vermutete sie, wurden einmal in der Woche gemacht und die Post an ein Postfach geschickt, das unter falschem Namen lief. Sie hatte vor Hunters Wohnwagen eine Satellitenschüssel gesehen, was wahrscheinlich bedeutete, daß er den einzigen Fernseher besaß. Die Bevölkerungszahl des Lagers war schwerer abzuschätzen, aber nach denen zu urteilen, die sie bisher gesehen hatte, und nach der Größe der Versorgungseinrichtungen, schätzte Wren ihre Zahl auf etwa fünfzig. Die Versorgungseinrichtungen selbst waren jedoch ein völliges Rätsel für Wren. Die Community war eine ziemlich windige Angelegenheit gewesen, ein baufälliges Durcheinander von Hütten, primitiv, ohne Strom und mit Toiletten im Freien. Möbel und Geschirr hatten die Mitglieder der Community selbst mitgebracht, als sie von zu Hause auszogen. Sie hatten hauptsächlich schrottreife alte Pickups gefahren, und viele von den Waffen, mit denen sie am Schießstand übten und bei der Erstürmung durch das FBI benutzten, waren aus zweiter Hand, gestohlen, schlampig zusammengebastelt oder anderweitig zufällig zusammengetragen. Aber dieses Lager, mit seinen Betonfundamenten, den soliden Zementbauten, den modernen Wasser- und Strominstallationen ganz zu schweigen von den neuen, allradgetriebenen Fahrzeugen, den teuren Kampfanzügen 197
und Tarnnetzen und anderer militärischer Ausrüstung sowie den kostspieligen Waffen -, war offensichtlich sorgfältig geplant und gut finanziert. Wo zum Teufel nahm er das Geld dafür her? Obwohl Hunter keine Drogen nahm und es auch niemandem in seiner Umgebung erlaubte, war sich Wren sicher, daß er sich nicht zu schade wäre, mit ihnen zu handeln. Oder vielleicht war er in ein tödlicheres Geschäft eingestiegen, wie Waffenschmuggel über die mexikanische Grenze. Es könnte auch sein, daß er immer noch Banken ausraubte, aber Wren bezweifelte, daß er nun, da er auf Bewährung draußen war, etwas so Auffälliges und Riskantes probieren würde. Und wem gehörte das Land? Das Stück Wald, in dem die Community gehaust hatte, war ihnen von einem treuen Anhänger vermacht worden. War das hier auch der Fall? Und wenn es so war, gab es dann nicht irgendwo Nachbarn, die sich über das Kommen und Gehen einer Horde kraftstrotzender Männer in Tarnanzügen wunderten? »Machen wir Schluß für jetzt. Zeit zum Mittagessen.« Wren fuhr zusammen. Jennifer, die blonde Fuchtel, die sie bewacht hatte, deutete zum Speisesaal. Sie trug natürlich eine Waffe, ließ sie aber im Halfter stecken, als Wren sich mit steifen Gliedern hochrappelte und den Stein wegwarf, den sie in der Hand hielt. Dann darf ich jetzt also mit den Erwachsenen am Tisch sitzen, dachte sie und steckte sich das verschwitzte Haar hinter die Ohren. »Hier.« Jennifer gab ihr ein mit Stoff umhülltes Gummiband. »Danke«, sagte Wren und hatte lächerlicherweise ein 198
Gefühl von Dankbarkeit, während sie ihr Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Alle, die bisher nicht dazu gekommen waren, wuschen sich in einer Reihe Waschbecken neben der Tür, dann stellte sich Wren mit den anderen in eine Schlange, ignorierte ihre neugierigen Blicke und suchte in der Menge nach Daniel. Weder von Hunter noch von Daniel war eine Spur zu sehen, was Wren so beunruhigte, daß man sie anschubsen mußte, damit sie ein Tablett und Geschirr nahm und sich in der Schlange weiterbewegte, um ihren Rindereintopf, Maisbrot und Pfirsichpastete abzuholen. Es war ein unwirkliches Erlebnis. Im einen Augenblick war sie noch eine Gefangene, und im nächsten war sie schon in der Armee und lud sich im Speisesaal ihr Tablett voll, zusammen mit ein paar Dutzend anderer Leute, die alle gleich angezogen waren. Obwohl Jennifer sie scharf im Auge behielt, blieb sie so ziemlich sich selbst überlassen, als sie Platz nahm. Da außer Wren sämtliche Leute im Raum Schußwaffen verschiedener Größe und Durchschlagskraft im Halfter trugen, war die Botschaft, die man ihr übermittelte, natürlich klar: Jetzt an Flucht zu denken war, wie Daniel sagen würde, total daneben. Sie saß allein an einem langen Cafeteriatisch, inmitten einer kleinen Insel aus Klappstühlen. Niemand kam auf sie zu, niemand sprach mit ihr, und sie ermunterte auch niemanden dazu. Statt dessen benutzte sie ihr Alleinsein, um Gespräche zu belauschen, die um sie herum in Gang waren, wobei sie eine demonstrativ teilnahmslose Miene machte. »Hast du mit Dave und Meredith gesprochen?« fragte ein Frau mit verblüffend roten Haaren Jennifer. 199
»Machst du Witze? Ich habe sie seit zwei Wochen nicht gesehen.« Aus den Augenwinkeln sah Wren, wie die Rothaarige nickte. »Es ist nur, weil Oktober ist, du weißt schon.« »Ja, richtig. Die Jagdsaison kommt voll auf Touren, was?« »Du sagst es. Hirsche, Wapiti, Wachteln.« »Gut. Vielleicht wird Hunter dann ein bißchen lockerer und läßt uns ungehinderter aus und ein gehen.« Wren blies auf ihren Suppenlöffel. Sie meinte, die Rothaarige mit den Achseln zucken zu sehen. »Kommt drauf an. Dave und Meredith kontrollieren ziemlich genau, wer durch das Hauptquartier raus- und reinkommt. Sie wollen nicht die Aufmerksamkeit des Jagdaufsehers wecken.« »Werden ein paar von uns raufgehen müssen und sich als Jäger ausgeben?« »Wahrscheinlich. Ein paar von den Jungs jedenfalls.« Das erklärt es also, dachte sie. Ein glänzender Einfall. Sie gingen zum Schein einem Gewerbe nach, eine Ranch, die Jagdrechte an Geschäftsleute verpachtete. Auf diese Weise würde sich niemand über das Kommen und Gehen von Männern wundern, die staubige Suburbans und Cherokee-Jeeps fuhren und mit Tarnanzügen bekleidet waren. Wren kannte Leute im Hügelland von Texas, die das gleiche gemacht hatten, als das Geld von den Ölfeldern zu versiegen begann. Gelangweilte Jünglinge aus der Stadt flogen auf der Suche nach Abenteuern aus den ganzen Vereinigten Staaten ein und waren total begeistert, wenn sie eine Trophäe mit nach Hause nehmen 200
konnten, und sei es nur von einem Drei-Ender-Bock. Sie bezahlten freudig Tausende von Dollar für dieses Privileg. Konnte daher das Geld kommen? fragte sie sich, dann verwarf sie den Gedanken rasch wieder. Sie hatten zu viele Mühen auf sich genommen, um dieses Lager zu tarnen; Hunter würde es auf keinen Fall riskieren, daß Fremde bei der Jagd zufällig darauf stießen. Sie konnte einen Schauder nicht unterdrücken, als sie sich an den armen Kerl erinnerte, der sich bei der Jagd verlaufen hatte und versehentlich auf das Grundstück der Community geraten war. Das FBI hätte seine Leiche niemals gefunden, wenn… Wren gab sich im Geiste einen Stoß und blendete sich wieder in die Gespräche um sie herum ein, erfuhr aber nichts Neues mehr. Als sie mit ihrem Tablett aufstand, tauchte Jennifer neben ihr auf. »Ich zeig dir dein Bett«, sagte sie, dann fiel ihr Blick auf die Rothaarige. »Meghan? Komm, ich stell dir die Neue vor. Das ist Meghan.« Wren nickte. Meghan lächelte sie aus harten grünen Augen an. »Und wie heißt du?« fragte Jennifer. Während sich die Frauen ihr erwartungsvoll zuwandten, spürte Wren, wie ihre Wangen heiß brannten. Ich bin nicht Wren, dachte sie. Nicht hier. Nicht an diesem Ort. Und ich will verdammt sein, wenn ich unter Lissie laufe. »Weißt du deinen eigenen Namen nicht?« neckte Meghan. »Oder versuchst du dir einen falschen Namen auszudenken?« »Nennt mich Elizabeth«, sagte Wren schließlich, und 201
fast hätte sie gesagt: Nennt mich, wie ihr wollt, verdammt noch mal, aber nennt mich bloß nicht Lissie. »Elizabeth klingt so formell«, beschwerte sich Meghan, als sie den Speisesaal verließen und zur Frauenbaracke gingen. »Wir sollten uns einen Spitznamen für dich ausdenken. Praktisch alle Jungs haben einen, und ein paar von den Mädchen auch.« Was ist bloß los mit dieser blöden Gans, schäumte Wren. Weiß sie denn nicht, daß ich eine Geisel bin? Daß es mich einen feuchten Dreck schert, wie sie mich nennen? Ich will hier nur raus! Sie sah sich überall nach Daniel um, als sie das Gelände überquerten, aber es war nichts von ihm zu sehen. Entweder war er noch bei Hunter im Wohnwagen, oder sie hatten ihn wieder zum Schießstand hinunter gebracht. Während man sie in ein einstöckiges, schlafsaalartiges Gebäude führte, spürte sie den erstickenden Griff der Hoffnungslosigkeit in ihrer Brust. Sie waren von nun an getrennt. Ihr Sohn war im wesentlichen für sie verloren. Jennifer deutete auf ein schmales Bett und den dazugehörigen Spind (als ob sie etwas hätte, das sie hineintun könnte), und Wren spürte einen absurden Anflug von Heimweh nach dem kleinen, fensterlosen Gebäude, in dem sie so viele Tage und Nächte mit ihrem Sohn verbracht hatte. Selbst wenn sie gestritten hatten, waren sie wenigstens zusammengewesen. Sie konnte ihn daran erinnern, daß sie ihn liebte, was auch immer geschah. Er konnte sie trösten, wenn sie einen schlimmen Alptraum hatte - mit seiner pubertär-wütenden Art, ihre Liebe zu erwidern. Egal, was passierte, sie waren zusammengewesen. 202
Aber von diesem Zeitpunkt an würden Mutter und Sohn getrennt bleiben. Dafür würde Hunter schon sorgen. Jennifer warf einen Haufen kratziger Bettwäsche auf den Spind und zog sich in ihre eigene Ecke zurück, wo sie sich in einen Liebesroman vertiefte und darauf wartete, daß Wren ihr Bett machte. Wren preßte die Laken an die Brust und dachte verblüfft: Was es für einen Unterschied macht, wenn man eine Woche mit Jeremiah Hunter zusammen ist. Schon sehnst du dich nach einem gottverdammten Gefängnis, anstatt daran zu denken, wie dein Leben vor, sagen wir, zwei Wochen ausgesehen hat, als du dir über nichts weiter den Kopf zerbrechen mußtest als über zu korrigierende Schulaufgaben und daß Daniel dir nicht zu vorlaut kam. »Willst du den ganzen Tag hier rumstehen oder dich endlich an die Arbeit machen?« fuhr Jennifer sie an. »Hunter sagt, du kommst mit Küchendienst dran, wie alle andern auch.« Also machte sie Küchen- und Wäschedienst beschissene Arbeiten, die größtenteils von den Frauen getan wurden, wie sie bemerkte. Manche Dinge ändern sich nie, jedenfalls nicht bei Survivalisten. Es war eine weiße, angelsächsische, protestantische, paramilitärische und von Männern dominierte Kultur. Die Männer fühlten sich einfach in der Gesellschaft von anderen Männern wohler. Frauen fielen für sie in eine von drei Rollen: Sexobjekt, Ehefrau, Mutter. Obwohl die Frauen in Nahkampf und Überlebenstechniken ausgebildet wurden, erwartete man von ihnen immer, daß sie sich den Männern unterwarfen und sie bedienten und sich um die Kinder kümmerten. Sie erlangten nie eine wirklich einflußreiche Position in der Organisation, außer als die 203
Freundin oder Frau eines einflußreichen Mannes. Die Männer ihrerseits neigten dazu, sich als Beschützer aufzuspielen und den Frauen gegenüber gewisse altmodische Manieren zu pflegen - zweimal am Tag entschuldigten sich Männer bei Wren, weil sie in ihrer Gegenwart derbe Ausdrücke gebraucht hatten. Als Wren und ihre allgegenwärtige Bewacherin Jennifer bei Anbruch der Dämmerung auf dem Weg zum Speisesaal waren, kam Hunter auf sie zu, das hübsche Gesicht zu einem freundlichen Lächeln verzogen. Daniel war nicht bei ihm. »Genau dich habe ich gesucht«, sagte er zu Wren. »Machen wir einen Spaziergang. Ich möchte dir etwas zeigen.« Den ganzen Nachmittag hatte Wren auf die Abendstunde gewartet, in der Hoffnung, zumindest einen Blick auf Daniel zu erhaschen. Nun blieb ihr selbst das verwehrt. Die Enttäuschung traf sie bis ins Mark, ihre Nerven waren dünn wie ein altes Gummiband. Sie hatte den hysterischen Drang, loszurennen und so lange zu laufen, bis jemand sie schließlich erschoß und sie nicht mehr nachdenken müßte. Er nahm ihre Hand sanft in die seine, und mit knapper Not krümmte sie sich nicht zusammen, als er sie durch das Buschwerk und die spröden, abgestorbenen Mesquite führte. Kein Vogel sang, und der donnernde Wind hatte sich zu einem atemlosen Flüstern abgeschwächt. Sie begannen zu klettern, und Hunter fiel hinter sie zurück, als es etwas kniffliger wurde, einen Weg in dem zerklüfteten Hang zu finden. Manchmal gingen sie auf massiven Felsplatten, dann wieder bahnten sie sich ihren Weg um verkrüppelte Wacholdersträucher oder 204
Felsblöcke, die wie unbeschriftete Grabsteine aufragten. Als sie den Kamm der Hügelkette erreichten, war Wren außer Atem. Hunter hielt zwei Stränge Stacheldraht auseinander, damit sie durchgehen konnte, und sie spazierten den Kamm entlang, während die Wolken am Horizont Feuer fingen und das endlose Weiß des alkalischen Bodens sich schrittweise rosa färbte. Dennoch nahm die Landschaft keine weichen Züge an. Während sie auf das Lager hinunterschauten und Hunter von der mächtigen Armageddon-Armee und dem unverwechselbaren Lager schwafelte, auf das er so stolz war, reckte Wren den Hals in alle Richtungen. Schließlich hörte sie auf, so zu tun, als würde sie ihm zuhören, und drehte sich langsam, mit wachsendem Entsetzen um die eigene Achse. Sie kniff die Augen zusammen. Unten durchschnitt die Straße das Tal wie ein Düsenstrahl einen verschleierten Himmel. Aber es gab kein Anzeichen von Zivilisation. Kein Funkeln von beleuchteten Häusern in der Ferne. Keine Autoscheinwerfer auf der Straße. Nicht einmal der weit entfernte Widerschein einer Stadt am Horizont. Vielleicht zwanzig Meilen weit in alle Richtungen, soweit ihre Augen in dem schwindenden Licht sehen konnten, war nichts. War niemand. Endlos erstreckten sich monotone, immer gleiche, gestrüppreiche Hügel. Dort war keine Hilfe zu finden. Nirgendwo.
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16. Kapitel Drei Wochen nach Wrens und Daniels Verschwinden hielt Cam auf dem Heimweg von der Arbeit kurz im Supermarkt. Er hatte eine leere Schachtel Tampons in Zoes Badezimmer bemerkt und wußte, daß sie viel zu schüchtern sein würde, ihn daran zu erinnern, welche zu kaufen. Er würde die Schachteln stillschweigend austauschen und ihr die Peinlichkeit ersparen. Außerdem brauchte er Tomatensauce für die Hähnchenspieße, die er zum Abendessen machen wollte, und Zoes Lieblingskekse waren ausgegangen. Als er mit dem Arm voller Lebensmittel zur Hintertür hereinkam, bemerkte er, daß Zoe wieder zugelassen hatte, daß es im Haus dunkel wurde. Es war eine von vielen kleinen Veränderungen in ihrem Verhalten, die ihn beunruhigten. Während er in dem stillen Haus nach ihr suchte, schaltete er überall das Licht an und fand sie, wie neuerdings üblich, in Daniels Zimmer, wo sie Nintendo spielte. Nachdem ihr Bruder sie immer so schikaniert hatte, wenn sie mit seinem Videospiel spielen wollte, hatte Cam zunächst nichts dagegen gehabt, als sie auf das verbotene Terrain vorstieß. Es schien eine gute Möglichkeit, sich von ihren Problemen abzulenken. Ein- oder zweimal hatte er sogar mit ihr gespielt. Während er nun aber in der Tür von Daniels verdunkeltem Zimmer stand und das angespannte Gesicht seiner Tochter betrachtete, in deren Brille, die sie zu Hause immer trug, sich die grellen Farben des Videos spiegelten, machte sich Cam über die Veränderungen 206
Gedanken, die diese wenigen Wochen bei ihr bewirkt hatten. Zoe schien das Interesse an vielen Dingen zu verlieren, die ihr früher Spaß gemacht hatten. Sie las anscheinend überhaupt keine Bücher mehr, und Fernsehen langweilte sie. Cam vermutete, daß sie direkt in Daniels Zimmer ging, sobald sie von der Schule nach Hause kam. An den meisten Abenden blieb sie dort, bis es Zeit zum Schlafengehen war. »Ich habe heute einen Anruf von deiner Chorleiterin erhalten«, sagte er. Zoe bearbeitete mit den Daumen die Knöpfe des Spiels wie ein Telegrafist, der einen Notruf durchgibt, dazu erklang ein musikalisches Gebräu, das zweifellos in irgendeiner fernöstlichen Folterkammer ausgeheckt wurde. Sie ignorierte ihn. »Zoe. Stell es auf Pause oder so was. Ich muß mit dir reden.« Mit einem schweren, leidvollen Seufzer, begleitet von einem Augenverdrehen, drückte sie auf einen Knopf, der die rasende Action auf dem Schirm einfror, und drehte sich in der plötzlichen, wohltuenden Stille zu ihm um. Ihr Gesicht drückte deutlich Verärgerung aus. »Sie sagt, du hast bei drei Proben hintereinander gefehlt und daß du dein Solo los bist, wenn das so weitergeht.« Zoe gab ein verächtliches Geräusch von sich, das beunruhigend nach Daniel klang. »Ich will kein blödes Solo singen.« »Aber Schatz! Du hast dich so darauf gefreut.« Sie zuckte die Achseln, wobei sie wieder Daniel nachzumachen schien. »So? Ich hab’s mir eben anders 207
überlegt. Was soll’s. Es ist ja nicht so, daß ich deswegen nicht nach Harvard komme oder was.« Sie wandte sich wieder dem Spiel zu. »Mach das verdammte Ding aus! Ich sagte, ich will mit dir reden.« »Was? Wenn ich es ausmachen muß, verliere ich meine Punkte. Was willst du?« Cam kniete sich vor sie hin, so daß sie auf gleicher Augenhöhe waren, und nahm ihre weiche Hand. »Ich will meine alte Zoe zurückhaben«, sagte er. »Ich möchte wissen, was los ist. Das hier paßt nicht zu dir. Es ist nicht einmal gesund. Ein Mädchen in deinem Alter sollte mit ihren Freundinnen telefonieren, sich im Einkaufszentrum herumtreiben, mich um Geld anbetteln. Du solltest nicht hier allein im Dunkeln sitzen, ganz besessen von einem Videospiel. Sprich mit mir. Laß mich dir helfen.« »Du kannst mir nicht helfen, Daddy«, sagte sie mit hölzerner Stimme. »Laß mich einfach in Ruhe.« Sie zog ihre Hand weg. Die Geste tat weh, aber er ließ es sich nicht anmerken. »Schatz… ich weiß, es ist schwer für dich, daß du mit niemandem über Mom und Daniel reden kannst. Ich weiß, daß du krank aus Sorge um sie bist und daß es so aussieht, als würdest du sie nie wiedersehen. Aber sie werden wieder nach Hause kommen, du wirst sehen. Mister Austin wird…« »Mister Austin ist nutzlos, Daddy. Wann wird das endlich in deinen Schädel gehen? Sie sind jetzt schon seit Wochen verschwunden. Wochen! Er hat keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist. Niemand weiß das. Es ist, als ob sie tot wären, und ich kann nicht einmal zu der 208
verdammten Beerdigung gehen.« Cam fuhr zurück, wie von einer Ohrfeige getroffen. Er hat Zoe noch nie so reden hören, sie noch nie so… niedergeschlagen erlebt. »Es wird keine Beerdigung geben«, sagte er mit Bestimmtheit. »Egal, was passiert, wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, hörst du, Zoe?« »Laß mich einfach in Ruhe, Daddy. Ich will nicht mehr darüber reden.« Mit diesen Worten löste sie den ›Pause‹Knopf und fuhr mit ihrem Spiel fort. Ihr Blick war glasig, ihr Körper angespannt, und ihre Daumen flogen. Er wußte nicht, was er tun sollte. Schließlich stand er auf und ging in die Küche, um die Lebensmittel wegzuräumen. Die Spüle war voller Geschirr. Ebenso die Spülmaschine, und niemand hatte sie laufen lassen. Überall lagen zerknüllte Chipstüten und leere Limonadendosen herum. Im Wäscheraum fand er feuchte, zerknitterte Kleidungsstücke im Trockner, klitschnasse Klamotten in der Waschmaschine und Wäschehaufen überall sonst. Cam überprüfte auf Verdacht den Eßzimmertisch, wo Zoe normalerweise ihre Bücher stapelte und nach der Schule ihre Hausaufgaben machte. Jedenfalls hatte sie es in ihrem alten Leben so gemacht. Jetzt waren keinerlei Bücher auf dem Tisch, schon seit mindestens fünf Tagen nicht. Er hätte gern geglaubt, daß seine Tochter, die Einserschülerin, ihre Aufgaben im Klassenzimmer zu Ende machte, aber er begann zu zweifeln. Während er Waschmittel in die Maschine schüttete und sie einschaltete, gingen ihm Zoes Worte nicht aus dem Kopf. In gewisser Weise waren Wren und Daniel tatsächlich tot für sie. Es gab keine Post, keine Telefonanrufe, keine Wochenendbesuche. Es gab nicht 209
einmal einen Hinweis darauf, daß sie noch am Leben waren. Sie hatten sich wie Gespenster in Nichts aufgelöst. Wie konnte er sein kleines Mädchen unter Druck setzen, ein Solo zu proben, das ihre Mutter aller Wahrscheinlichkeit nach nie hören würde? Wie konnte er wegen ihrer Hausaufgaben herumnörgeln, wenn er selbst zwei größere Fälle abgelehnt hatte, weil er schlichtweg nicht in der Lage war, ihnen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienten. Jeden Tag aufs neue hatte er die Klugheit seiner Entscheidung bezweifelt, alles in Austins Hände zu legen und darauf zu bauen, daß der Mann seine Frau fand, ohne daß sie noch mehr Schwierigkeiten mit dem FBI bekam, als sie bereits hatte. Wenn er mit der ganzen Sache gleich an die Öffentlichkeit gegangen wäre, hätte das Netzwerk der Polizei seine Frau und seinen Sohn inzwischen vielleicht gefunden. Zum Teufel, selbst wenn sie verhaftet wurde, sobald man sie fand, wäre sie wenigstens am Leben. Sie wäre zumindest in Sicherheit. Zoe könnte ihre Mutter sehen - wen scherte es, wenn sie im Gefängnis war? Nur seinem außerordentlich großen Vertrauen zu Austin war es zu verdanken, daß er die ganze Sache nicht schon vor Tagen auffliegen ließ. Cam konnte sich nicht vorstellen, daß er es nun tat. Er würde sich noch ein bißchen Zeit lassen, überlegte Cam. Aber nicht ewig. Sein kleines Mädchen konnte nicht so lange warten, das stand fest. 210
Er war sich nicht sicher, ob er es konnte. Es gab noch andere, kniffligere Probleme, Dinge, über die er nicht gern nachdachte, aber seine Lage ließ ihm keine Wahl. Wren erhielt während ihrer Beurlaubung keine Bezahlung. Ohne ihr Einkommen war buchstäblich über Nacht die Hälfte ihres Lebensunterhalts verschwunden. Im Augenblick hatten sie noch ein paar Ersparnisse, mit deren Hilfe er den Schlag abfederte, aber es würde nicht unbegrenzt lange reichen. Dann mußte er entweder das Geld für das College der Kinder angreifen, oder… oder… er wußte nicht, was. Er hatte wirklich keine Ahnung, was sie tun würden eine der beängstigenderen Tatsachen des Erwachsenendaseins. Manchmal war er versucht, sich selbst vor das Nintendo zu setzen und die Dinge einfach laufen zu lassen, aber den Luxus dieser Möglichkeit hatte er nicht. Er machte das Essen und rief Zoe zu Tisch. Die gemeinsame Mahlzeit war ein Ritual, auf dem er bestand, auch wenn ihre Unterhaltung gewöhnlich so faszinierende Höhepunkte erreichte, wie daß er Zoe fragte: »Wie war’s in der Schule?«, worauf sie antwortete: »Schön.« Oder daß er sagte: »Wie geht’s deiner Freundin Missy? Ich hab in letzter Zeit nicht mehr viel von ihr gesehen.« Und Zoe schnauzte zurück: »Missy ist eine dumme Kuh, und ich kann sie nicht mehr riechen, okay? Warum mußt du immer deine Nase in mein Leben stecken?« Diese Art Unterhaltung. An diesem Abend läutete während des Essens das Telefon, aber Cam hechtete nicht mehr los, um abzuheben. Als sich die Nachricht von seiner und Wrens ›Trennung‹ herumgesprochen hatte, war Cam mit Anrufen von 211
wohlmeinenden Freunden bombardiert worden, die ihre Erschütterung und ihr Mitgefühl ausdrückten, ehelichen Rat oder die Nummer eines guten Scheidungsanwalts anboten und fragten, wie sie mit Wren Verbindung aufnehmen konnten. Daniels Freunde waren sogar noch mehr bestürzt; Eric rief jeden Tag an. Deshalb warteten sie nun, bis der Anrufbeantworter eine Nachricht aufnahm, bevor sie entschieden, ob sie rangingen oder nicht. »Cam? Steve Austin hier. Ich habe Neuigkeiten, die Sie inter…« »Hallo? Hier ist Cam.« »Wie geht’s Ihnen denn so?« »Ganz gut soweit. Was für Neuigkeiten?« »Ähm, ich habe mir lange überlegt, ob ich es Ihnen sagen soll, Cam. Wenn es nicht hinhaut -« »Erzählen Sie mir alles. Alles.« Der drängende Ton in der Stimme ihres Vaters ließ Zoe aufblicken. Er versuchte ihr beruhigend zuzulächeln, aber sie ließ sich nicht hinters Licht führen und beobachtete ihn weiter wie eine Katze, die zum Sprung bereit ist. »Okay. Ich glaube, wir haben möglicherweise das Lager gefunden, wo Hunter Lis…, ich meine, Wren und Daniel hingebracht hat.« Cams Herz machte einen Satz; sein ganzer Körper kribbelte, und seine Hände zitterten. »Wo?« sagte er. »Sagen Sie schon.« »Ich möchte lieber noch nicht sagen, wo, Cam. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie es nicht wissen, bis die 212
Sache über die Bühne geht.« »Welche Sache?« Sein Herz schlug so heftig, daß ihm die Brust weh tat. »Wir haben einen Informanten gefunden, einen Mann, der sagt, daß er im selben Survivalist-Camp lebt wie Hunter. Anscheinend hat er Hunter kennengelernt, als sie beide saßen. Ließ sich dort von ihm anwerben. Vor ein paar Tagen hatte ich die Gelegenheit, den Kerl zu befragen. Er war sehr nervös, und als ich ihn nach Ihrer Frau und Ihrem Sohn gefragt habe, wäre er fast auf mich losgegangen. Hat aber nichts zugegeben. Er wollte überhaupt nicht darüber reden. Ich glaube, er hatte irgend etwas mit der Entführung zu tun.« »Dann wollte er sich also nicht selbst mit hineinziehen«, sagte Cam, wobei er die Stimme senkte, damit seine wachsame Tochter nicht mithörte. »Das würde ich auch sagen. Ich meine, wenn er überhaupt nichts darüber gewußt hätte, warum sollte er sich dann so aufregen? Dann hätte er einfach gesagt, nein, ich habe sie nicht gesehen, und das war’s gewesen.« »Was werden Sie also unternehmen? Wissen die Behörden, daß Wren und Daniel da drin sind?« »Noch nicht. Sie planen einen Sturm auf das Lager, aber solche Dinge brauchen Zeit, Cam, das wissen Sie. Sie müssen da Geduld haben.« Cam begann, auf und ab zu rennen, soweit es das Telefonkabel zuließ. »Sie wissen nicht, was Sie verlangen.« »Ich weiß, ich weiß. Aber das ist nicht wie im Fernsehen - das sollten Sie so gut wissen wie nur irgendwer. Die 213
Menschen haben in diesem Land das Recht und die verfassungsmäßige Freiheit, so zu leben, wie sie es für richtig halten, solange sie die Gesetze beachten. Wir brauchen einen konkreten Beweis, daß sie Gesetze verletzen, bevor wir gegen das Lager vorgehen können.« Cam seufzte. »Aber sie brechen doch Gesetze, verdammt noch mal! Sie haben meine Frau und meinen Sohn entführt und halten sie als Geiseln fest.« »Wollen Sie, daß ich ihnen das sage? Ich kann es tun, wenn Sie wollen. Sie lassen die ASAP aufmarschieren, wenn ich es tue. Natürlich müßte ich auch die Identität der Geiseln preisgeben, und ich muß Ihnen leider sagen, daß sich die Sache schlagartig ändern könnte, wenn sie erst herausgefunden haben, daß Ihre Frau vom FBI gesucht wird. Möglicherweise vermuten sie dann sogar, daß sie bei der Entführung bereitwillig mitgemacht hat. Cam, ich weiß, das ist schwierig für Sie und Ihre Tochter. Ich sage Ihnen nur, wie es ist. Aber Sie geben das Signal. Es ist Ihre Familie.« Cam wickelte sich die Telefonschnur um die Hand. »Glauben Sie, es geht ihnen gut? Ich meine, denken Sie, daß dieser geisteskranke Hunter ihnen etwas tut?« Austin zögerte. »Das kann ich Ihnen nicht sicher sagen, um aufrichtig zu sein. Es hängt wahrscheinlich von Ihrer Frau ab. Wenn sie mit ihnen kooperiert, sind sie vermutlich in Ordnung. Sie ist eine sehr gescheite Frau. Ich glaube nicht, daß sie etwas riskiert, wobei dem Jungen etwas geschehen könnte.« »Sie haben recht.« Cam entwirrte die Telefonschnur. »Es ist nur so, daß ich nicht glaube, wir beide können noch sehr viel länger warten.« 214
»Wir reden nicht von Monaten. Das garantiere ich Ihnen. Wir reden von Wochen. Ihre Frau ist sehr stark. Sie hat mit diesen Leuten schon früher zu tun gehabt. Ich denke, sie kann so lange durchhalten, wie Sie es können, meinen Sie nicht?« Cam seufzte. »Schon, aber…« »Es macht Sie wahnsinnig, das kann ich verstehen. Aber vergessen Sie nicht, daß wir das tun müssen, was auf lange Sicht für Wren und Daniel am besten ist. Wenn wir wild schießend reinstürmen wie in einem Western, könnte es mit ihrem Tod enden.« »Okay. Aber eine Frage noch: Was ist, wenn sie dann schließlich tatsächlich reingehen? Wenn sie Wren und Daniel finden, werden sie sicher Fragen stellen -« »Überlassen Sie das nur mir.« Cam nickte. Er hatte das Gefühl, als würden sein Herz, sein Körper, sein Geist - explodieren, verdampfen, aufhören zu existieren in der Zeit, in der Ewigkeit zwischen dieser Nachricht und dem Tag, an dem er seine Frau und seinen Sohn endlich wieder in die Arme schließen konnte. »Ich halte Sie auf dem laufenden«, sagte Austin, und seine Stimme war gleichzeitig beruhigend und mitfühlend - Cams Rettungsleine, das einzige, was verhinderte, daß er verrückt wurde. »Halten Sie durch, okay?« »Okay«, sagte Cam und betrachtete das erwartungsvolle Gesicht seiner Tochter. »Wir werden durchhalten.« Nachdem er aufgelegt hatte, stand Cam einen Augenblick da, starrte seine Tochter an und sah sie doch nicht. Er überlegte, wie er es anstellen sollte, ihr nicht 215
zuviel und nicht zuwenig Hoffnung zu machen. Wie konnte er ihr begreiflich machen, daß diese zerbrechliche Hoffnung in ihren Händen verlöschen und sterben konnte, wenn sie sich zu fest daran klammerten?
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17. Kapitel In dem Augenblick, in dem Steve Austin die verräucherte Bar betrat, bekam er Verlangen nach einer Zigarette. Er rauchte seit fünfzehn Jahren nicht mehr, seit Patsy wegen eines Artikels über die Sterblichkeitsziffer von männlichen Schwarzen mit zu hohem Blutdruck völlig aus dem Häuschen geraten war. Das Rauchen aufzugeben war eines der wenigen Dinge, mit denen er ihr eine Freude machen konnte; es schien ihm eine geringe Gegenleistung für all die Opfer zu sein, die sie über die Jahre für seinen Beruf gebracht hatte. Die meiste Zeit vermißte er nichts; er war ohnehin nie ein starker Raucher gewesen. Aber wenn er einen Raum betrat, in dem alle qualmten, verlangte es ihn unweigerlich danach, sich eine anzustecken. Martinez wartete an einem Tisch in der Ecke auf ihn und winkte ihn zu sich, sein breites mexikanisches Grinsen erhellte die düstere Schäbigkeit des Lokals. Es war keine lärmende Polizistenkneipe, keine laute Singlesbar und kein aufgemotztes Jagdrevier für schicke Yuppies, die Weißwein bestellten. Es war einer von diesen ruhigen, verrauchten, schwer zu beschreibenden Orten, wie sie ernsthafte Trinker aufsuchen, um ihren Kummer zu pflegen, schlechte Musik aus der Juke Box zu hören und in Ruhe gelassen zu werden. Manchmal kamen Nutten mit gefühllosem Blick herein, um sich zwischen zwei Nummern aufzuwärmen und ihre Sinne zu betäuben, und niemand belästigte sie. Es war ein guter Ort, um ein paar Bier zu trinken und seine Angelegenheiten zu besprechen, ohne daß jemand mithörte. Austin rutschte auf die zerschlissene, rote Plastiksitzbank und bestellte ein Budweiser Lite. Die aller 217
Leute überdrüssige Bedienung brachte ihm eine kalte, beschlagene Flasche ohne Glas. Austin nahm dankbar einen Schluck und drückte die Flasche an seine brennenden Augen. »Harter Tag?« fragte Martinez. »Zigarettenrauch.« »Oh, tut mir leid.« Er drückte seine Zigarette aus, bevor Austin protestieren konnte. »Dein Leben kann ja nicht so hart sein. Wieviel streichst du inzwischen so ein? Hunderttausend? Zweihunderttausend?« »Keine Ahnung«, sagte Austin mit einem boshaften Grinsen. »Ich hab nie die Zeit, es zu zählen.« »Bah. Ich würde gern mit dir tauschen.« »So? Renn mal einen Tag hinter Buck Leatherwood her und schau, wie’s dir dann geht.« »Dieser Waffenhasser? Wahrscheinlich hätte ich Lust, ihn selber zu erschießen.« »Komische Ansicht für einen FBI-Mann.« Martinez zuckte mit den Achseln. »Ich mag meine Waffen, wie alle anderen auch. Ich hab meine eigene Sammlung zu Hause. Der einzige Unterschied zwischen mir und den Typen, hinter denen ich her bin, ist der, daß sie meinen, sich nicht an dieselben Gesetze halten zu müssen wie ich, und bereit sind, sich mit den Behörden anzulegen für das Privileg, tun zu dürfen, was ihnen gerade einfällt.« Er nahm wütend einen Schluck Bier. »Versteh mich nicht falsch. Manche von diesen Leuten sind aufrichtig und meinen es gut. Sie sind Wähler, Steuerzahler, 218
Veteranen. Aber manche sind totale Verrückte. Sie sind gefährlich und machen mir eine Scheißangst.« »Apropos. Was gibt’s Neues in unserer Sache?« Martinez winkte frustriert ab, was Austins Mut sinken ließ. »Es geht sehr langsam voran. Der Informant ist total verschreckt, und wir müssen ihm sonstwas versprechen, damit er weiter kooperiert.« »Und?« Austin trank sein Bier aus und gab der Bedienung ein Zeichen, daß er noch eins wollte. »Es scheint, als hätten die ganzen Kürzungen im Militärbereich und die Schließung von Standorten überall im Land zu einer Sicherheitslücke bei Kriegsgerät geführt. Unser Mann glaubt, daß die Leute in diesem Lager gestohlene Militärwaffen und Munition an andere Survivalistengruppen im Land verhökern.« Austin zuckte zusammen. Das zu beweisen dürfte heikel werden. Auf Waffenschauen und in Läden mit überschüssigen Armeebeständen wurden diese Dinge überall zum Verkauf angeboten. Man müßte Seriennummern zurückverfolgen und eine Beweisspur durch das verzweigte Netzwerk der Survivalisten begründen, die clever genug waren, ihre Spuren unter anderem mit Hilfe von Infoseiten im Internet zu verdecken. Möglicherweise hatten sie sogar Sympathisanten beim Militär, die die Spur bereits an der Quelle verwischten. Die Vorstellung einer Langzeit-Operation mit Undercover-Agenten und allem Drum und Dran tauchte in Austins Kopf auf und lähmte ihn fast. 219
»Wenn ihr nicht bald etwas unternehmt«, sagte er vorsichtig, »könnte jemand anderer als euer Informant sterben.« Martinez sah ihn scharf an. »Wer, zum Beispiel?« Austin zögerte. »Sagen wir einfach: unschuldige Außenstehende.« »Du mußt offen mit mir reden, Mann. Du darfst mich nicht weiter so im dunkeln tappen lassen. Das ist nicht richtig, und das weißt du auch.« Martinez zündete sich noch eine Zigarette an. »Ich weiß, und ich werde es rechtzeitig tun. Aber jetzt möchte ich es lieber noch nicht tun.« Martinez schnappte sein Feuerzeug zu, steckte es in die Tasche und sagte: »Warum nicht? Wen schützt du?« Austin zupfte am Etikett seiner Bierflasche. »Sagen wir, einen Klienten.« »Informationen zwischen dir und einem Klienten sind nicht vertraulich, Steve, das weißt du. Du bist kein Psychiater oder Anwalt, verdammt.« Er blies Rauch über ihre Köpfe hinweg. »Ich könnte dich mit deinen Unterlagen von einem Richter vorladen lassen und herausfinden, was ich wissen muß.« »Das weiß ich«, sagte Austin, der versuchte, das plötzliche Rasen seines Herzens zu beruhigen. »Ich vertraue darauf, daß du es nicht tust, okay? Vorläufig.« »Aber du verlangst trotzdem, daß ich eine Operation überstürze, die noch nicht soweit ist. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich die Macht habe, das zu tun. Wir dürfen nicht einfach so loslegen, ohne auf dem Dienstweg um Erlaubnis zu fragen.« 220
»Und da oben gibt es immer irgendein Arschloch, dessen Antwort strikt davon abhängt, welche Auswirkungen es auf seine Karriere hat. Ich weiß. Ich hab’s noch nicht vergessen.« »Dann laß mich die Sache auf meine Weise handhaben.« Austin wollte gerade dazu ansetzen, Martinez alles zu erzählen, von der Entführung bis zurück zum Sturm auf die Community, als Martinez sagte: »Möglicherweise können wir ohnehin in Kürze handeln. Unser Informant sagt, sie erwarten bald eine große Lieferung.« »Wie bald?« »Das weiß ich nicht genau. Nach unserem nächsten Kontakt werde ich mehr wissen. Trotzdem kann es gut sein, daß die Arschlöcher von ganz oben nicht einmal dann etwas unternehmen wollen. Du weißt schon, an den großen Fischen dranbleiben.« »Hast du mal daran gedacht, daß das bereits der größte Fisch sein könnte, den es überhaupt zu angeln gibt?« »Ich schon, ja. Aber für das, was ich denke, kannst du dir nichts kaufen.« »Nicht in New York.« Sie grinsten und die Spannung, die Austin zwischen ihnen gespürt hatte, lockerte sich ein wenig. »Wie hast du damals dein Subjekt überhaupt erwischt?« fragte Martinez plötzlich und achtete, wie Austin, darauf, Hunter in der Öffentlichkeit nicht beim Namen zu nennen. »Ich weiß alles über die Erstürmung, aber ich habe nie erfahren, wie du ihn gefunden hast und woher du wußtest, wann du angreifen mußt.« 221
Es hätte nicht viel gefehlt, und Austin hätte seinem Freund die Zigarette aus der Hand gerissen und einen Zug genommen. In den sechzehn Jahren war kein Tag vergangen, an dem er nicht an den Sturm auf die Community gedacht hatte. Es war irgendwie sogar schlimmer, wenn er sich zu entspannen versuchte und fischen ging oder im Haus herumwerkelte. Dann brütete er nur vor sich hin. Was einer der Gründe war, warum er soviel arbeitete. Selbst dann quälten ihn die Gedanken an diesen Tag, an die verwundeten Agenten, die toten Frauen und Kinder… Sie suchten ihn in seinen Träumen heim. Sie verfolgten sein Gewissen. »Geht’s dir gut? Ich wollte nicht…« »Nein, nein, schon okay.« Eins war sicher: Ohne ein weiteres Bier war er nicht fähig, darüber zu sprechen. Er hob die Hand und machte die Bedienung auf sich aufmerksam. Sie brachte das Bier, und er trank es auf einen Zug halb aus. Es reichte gerade, um leicht besäuselt zu sein, den Schmerz ein wenig einzulullen, seine Zunge ein bißchen zu lockern. »Ohne unseren Informanten hätten wir es nicht geschafft«, sagte er. »Wer war er?« Martinez machte seine Zigarette aus und zündete sich dankenswerterweise keine neue an. »Es war eine Sie. Die Freundin von dem Kerl. Eine sehr junge, sehr tapfere Lady namens Lissie Montgomery.« »Wie hast du sie versprochen? Geld?«
umgedreht?
Ihr
Straffreiheit
Austin nahm die Bierflasche in die Hand und blickte in ihre bernsteinfarbenen Tiefen. »Wir mußten sie nicht umdrehen. Sie suchte uns aus freien Stücken auf. Wollte 222
kein Geld annehmen. Sie sagte, ihr Freund sei nicht das, wofür sie ihn gehalten hatte, als sie sich kennenlernten. Sie sagte, sie hätte gesehen, wie er einen Mann getötet habe, und daß er eine neue Sache plante, bei der es noch mehr Tote geben würde.« Er seufzte, stellte die Flasche auf den Tisch zurück und drehte sie auf dem nassen Ring, den sie auf dem Tisch hinterließ. »Sie sagte, alles, was sie an Gegenleistung wolle, sei mein Versprechen, daß niemandem etwas geschehen würde. Und ich habe es ihr versprochen.« »Großer Gott. Was ist aus ihr geworden?« »Sie ist während des Feuergefechts verschwunden. Wir glauben, daß sie durch eine Geheimtür geschlüpft und durch einen Tunnel hinter den Scharfschützen herausgekommen ist. Ich hatte keine Gelegenheit, ihr zu sagen, daß es mir leid tut. Ich kam nie dazu, ihr zu danken.« »Hey, Mann, es war nicht deine Schuld.« »Wessen Schuld war es dann?« fragte Austin. »Ich war der zuständige Agent. Ich war für den Sturm verantwortlich. Wenn es nicht meine Schuld war, wessen dann, zum Teufel?« Der Schrei seines Herzens, immer und immer wieder. »Naja, da fällt mir auf Anhieb jemand ein.« »Ich weiß.« Austin trank sein Bier aus. Er wollte um ein neues winken, aber Martinez legte ihm die Hand auf den Arm. »Du mußt noch fahren, denk dran. Mach ein bißchen langsamer. Laß uns was essen.« 223
»Das gleiche sagt Patsy auch immer. Welche Gehirnwäsche dieser Kerl bei den Leuten gemacht hat! Wie er sie dazu brachte, den Kampf aufzunehmen.« »Wie wahr.« Martinez rief die Bedienung und bestellte Nachos und Wasser. »Zu schade, daß sie hier kein richtiges Essen haben.« »Aber er hat diese Kinder nicht erschossen«, ließ Austin nicht locker, wobei er seine Stimme zu einem Flüstern senkte. »Das waren wir. Die ballistischen Untersuchungen haben es bewiesen.« »Sie haben auf euch geschossen, stimmt’s? Und soviel ich weiß, wußte niemand, daß es die Kinder waren, die mit den Automatikwaffen feuerten. Es ist vorbei, Mann. Es ist Geschichte. Wir haben alle daraus gelernt, also hör auf, dich fertigzumachen deswegen. Laß die Vergangenheit ihre Toten begraben. Oder heißt es, laß die Vergangenheit die Vergangenheit begraben? Irgend so was.« Aber es ist noch nicht Vergangenheit, protestierte Austin lautlos und plötzlich von Schmerzen gepackt. Er hatte die Biere zu schnell auf leeren Magen getrunken, und ein heftiger Kopfschmerz setzte ein. Es ist nicht Vergangenheit, es ist Jetzt, in dieser Minute. Es ist jeder Tag, an dem Lissie und ihr Sohn von diesem Bastard gefangengehalten werden. Jeder Tag, an dem ihre Familie leidet. Es ist jeder Tag, den ich ihr gestohlen habe, weil ich mein Versprechen brach. Wenn der Sturm auf die Community nicht so blutig verlaufen wäre, wäre sie nicht in Panik geflohen. Und wenn sie nicht geflohen wäre, hätte das FBI sie nicht auf die Liste der Gesuchten gesetzt. Ich hätte ihr Straffreiheit verschafft, obwohl sie nie darum gebeten hat. Sie war der einzige Informant, der mich nie um etwas gebeten hat. Sie hat mir nur vertraut, und wohin 224
hat es sie gebracht? Wenn er sie nochmals enttäuschte… wenn ihr oder ihrem Sohn etwas zustieß, könnte er sich das nie verzeihen. Ihr Blut würde für den Rest seines Lebens an seinen Händen kleben.
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18. Kapitel Nach der vernichtenden Entdeckung, die Wren bei ihrem Abendspaziergang mit Hunter gemacht hatte, fühlte sie, wie sie in Depression versank. Um während der folgenden endlosen Tage und freudlosen Nächte nicht durchzudrehen, spielte sie kleine Fluchtspiele mit sich selbst durch. Ich könnte in diesen Jeep hier springen, dachte sie etwa während der Morgengymnastik, durch die Wachen brechen und volles Rohr Richtung Highway sausen. Ja, kam dann die unvermeidliche warnende Stimme, und wenn sie dich nicht gleich abknallen, warten Dave und Meredith mit ihren Truppen am Paß auf dich. Einmal entdeckte sie auf dem Weg zum Steingarten, wie sie ihn nannte, eine Telefonleitung, die sich aus der Wand von Hunters Wohnwagen schlängelte und in den Boden lief - das einzige sichtbare Anzeichen für ein Telefon, das sie im ganzen Lager bisher gesehen hatte. Danach war sie ein paar Tage lang von der Idee besessen, sich in den Wohnwagen zu schleichen und Hilfe herbeizurufen. Ich könnte in der Vermittlung anrufen, dachte sie, und kurz die Umgebung hier beschreiben, damit sie es an das FBI weiterleiten. Sie würden uns finden und uns retten. So, so, kam die unvermeidliche Stimme der Vernunft, und wie gedenkst du von deinen Wächtern wegzukommen? Sie lassen dich nie aus den Augen. Nie. Und wieso glaubst du, daß Der Führer, Mr. Paranoia persönlich, nicht irgendein Gerät installiert hat, das die Benutzung seines Telefons ohne sein Wissen verhindert? Du weißt ja, Dilettanten werden nicht alt. Damit sie nachts nicht mit dem Zipfel des Kissens im 226
Mund weinte, spielte sie ebenfalls das Fluchtspiel. Ich könnte mich heute nacht rausschleichen, dachte sie etwa, wenn sie auf das leise Schnarchen der anderen Frauen lauschte, das sich mit dem Ansturm des unablässigen Windes mischte. Ich könnte auf die Hügel klettern, durch den Stacheldraht schlüpfen und einfach querfeldein laufen. Sicher, kam die höhnische kleine Stimme, und wohin würdest du gehen? Du hast keine Ahnung, in welcher Richtung die nächste Stadt liegt und wie weit sie weg ist. Du hast keinen Kompaß, keine Vorräte. Du würdest dich in der Wüste verlaufen. Und wenn du nicht stirbst, holen sie dich ein. Sie würden dich töten. Und was ist mit Daniel? Könntest du ihn guten Gewissens zurücklassen? Er würde nicht mit dir gehen, nicht zur Zeit. Daniel. Das war natürlich der Einspruch ihres Herzens. Wenn du fortgehst und dabei umkommst, ist er mit Sicherheit für immer verloren. Solange du bleibst, gibt es eine Chance, ihn zu retten. Oder etwa nicht? Sie war in sich gespalten. Jeden Tag schien es Wren ein bißchen mehr so, als würde ihre Großmutter ihr ins Gewissen reden. Die Tsalagi, wie die Cherokee in ihrer eigenen Sprache heißen, würden sagen, du hast die Krankheit des geteilten Herzens. Du mußt alle Dinge ins Gleichgewicht bringen. Du mußt mit einem Herzen fühlen. Aber während sich die Tage zu Wochen dehnten und ihre Seele ausdörrten, spielte sie das Fluchtspiel, denn wenn sie es nicht spielte, dachte sie an zu Hause, und das bedeutete, daß sie in äußerste Verzweiflung versank. Aber wenn sie nicht an zu Hause dachte, dann dachte sie an 227
Daniel, und an Daniel zu denken hieß, sich am Rande des Wahnsinns zu bewegen. Er war ein Fremder für sie geworden. Ein Herdenmensch, der von Hunters bewußtseinsraubenden Mutanten in Beschlag genommen war. Sie ließen sie nie mit ihm reden, jedenfalls nicht allein. Wenn sie Küchendienst hatte, trainierte er mit seinem neuen Helden. Wenn Daniel, als das jüngste und neueste Lagermitglied, Kartoffeln schälte, wurde sie zur Wäsche eingeteilt. Während der sogenannten Gebetsversammlungen Hunters IndoktrinationsSitzungen - saß Daniel bei Kicker oder einem der anderen Männer, rauchte nun Zigaretten wie ein Großer und wich ihren flehenden Blicken aus. Einmal, als sie im Speisesaal gerade das Abendessen austeilte, war er in der Schlange. Sie wäre am liebsten über alle Tabletts gesprungen und hätte die Arme um ihn geworfen oder sich die Waffe von jemandem geschnappt und um sich geschossen, bis nur noch sie und ihr Sohn übrig waren. Sie wollte über Cam und Zoe und Eric mit ihm reden, über zu Hause, die Schule und ein Leben, wie es ein fünfzehnjähriger Junge führen sollte. »Daniel«, sagte sie und schöpfte ihm absichtlich eine zu kleine Portion Kartoffelbrei auf den Teller. »Es tut so gut, dich zu sehen.« »Hallo.« Er nahm das Tablett. Er nannte sie nicht ›Mom‹. Er sah ihr nicht in die Augen. Er kam allerdings zurück und gab ihr das Tablett wieder. »Gib mir mehr Kartoffeln.« Hunter, der bereits in seinem Wohnwagen gegessen hatte und nur so dabeistand und zusah, sagte: »Dan!« 228
Der Junge fuhr herum, und Wren erwartete beinahe, daß er salutierte. »Hab ein bißchen Respekt vor deiner Mutter, Junge.« Mit einem schüchternen Blick in ihre Richtung murmelte er: »Kann ich bitte ein bißchen mehr Kartoffeln haben, Ma’am.« Er blickte über die Schulter zu Hunter. Hunter nickte zustimmend. »Willst du ein bißchen Bratensaft, Daniel?« fragte sie und stieg in das psychologische Tauziehen um die Aufmerksamkeit des Jungen ein. »Ich weiß, du magst Bratensaft gern.« Es war idiotisch, was sie da redete, aber es hielt ihn ein paar Sekunden länger in ihrer Nähe. Sie sehnte sich verzweifelt nach seiner Nähe. Mit einem kalten, gestelzten Tonfall sagte er: »Ich will keinen Bratensaft, Ma’am. Und nenn mich Dan, Elizabeth.« Er riß ihr das Tablett aus den Händen, drehte sich auf dem Absatz um und schritt zu einem der Tische, wo er sich mitten in eine Gruppe von Männern pflanzte und etwas murmelte. Sie lachten alle. Wren begegnete Hunters Blick. Schieß mir einfach auf der Stelle ins Herz und Schluß, sagte sie im Geist zu ihm. Du hast mich bereits getötet. Er war nicht fähig, dem wilden und anklagenden Blick einer Mutter standzuhalten, der man Unrecht getan hatte, und wandte sich ab. Hätte sie in diesem Augenblick eine Pistole oder ein Messer oder auch nur einen Baseballschläger gehabt, sie hätte ihn umgebracht. 229
Wenn man die ganze Mühe bedachte, die er sich gemacht hatte, um sie hierherzubringen, war es seltsam genug, daß Hunter sich selten persönlich an Wren wandte. Er zog es vor, seine Spielchen mit ihr zu spielen. Wenn er sie dabei erwischte, wie sie ihn anstarrte, fing er an, mit anderen Frauen zu flirten. Manchmal besuchte ihn Meghan in seinem Wohnwagen, und am nächsten Tag zog er dann immer Wrens Aufmerksamkeit auf sich und gab Meghan einen Kuß, als erwartete er, daß Wren eifersüchtig würde. Als wollte er Wren eifersüchtig machen. Unter anderen Umständen wäre die kolossale Arroganz dieses Mannes zum Lachen gewesen. Cam, so schien es, hatte nie irgendwo existiert. Wren sprach seinen Namen oder den von Zoe nie laut aus. Die geliebten Namen an diesem Ort auszusprechen hätte bedeutet, sie zu entweihen. Ihr Verlangen nach ihnen, ihre Sehnsucht nach zu Hause wuchs mit jedem Tag. Kein Büßer hat je so vom Himmel geträumt. Sie wurde zu einem Roboter, einer seelenlosen Maske. Niemand sah in ihre Gedanken. Dort wohnten Cam und Zoe und Daniel, ihr wunderbarer Sohn Daniel, der er einmal gewesen war und, da war sie sich sicher, wieder werden konnte. Es war ein heiliger Ort. Es war in gewisser Weise, als hätte sich Wrens Seele von ihrem Körper gelöst. Ihre Großmutter hätte es uhisoti genannt, eine jenseitige Melancholie, ein gefühlloses Sichtreibenlassen, ein Verlangen nach dem, was sie nicht haben konnte. Ein Teil des Problems war, daß sie schlicht mit purer Langeweile fertig werden mußte. Hunter erlaubte ihr zwar, 230
beim morgendlichen Training mitzumachen, aber sie durfte nicht an Übungen wie Nahkampf oder Ausbildung an der Waffe teilnehmen. Zwar war sie vor sechzehn Jahren gut ausgebildet worden, aber es waren eben doch sechzehn Jahre her. Die Methoden änderten sich. Aber Hunter traute ihr immer noch nicht. Und es gab kaum geistige Anregungen für Wren. Nur wenige vorhandene Bücher hatten nichts mit Survival zu tun, und es gab keine Zeitungen und kein Fernsehen. Also machte sie Gedankenspiele. Als das Fluchtspiel gründlich erschöpft war, begann sie das Warum-bin-ich-hier?-Spiel. Es bestand keine Notwendigkeit für Hunter, ein verängstigtes Kind von der Straße zu zerren, um es zu einem weiteren schwanzwedelnden Kriecher umzudrehen. Von denen hatte er bereits jede Menge um sich herum. Nein, Daniel war nur ein Spielzeug für ihn, ein Zeitvertreib. Für Hunter waren Menschen dazu da, sie zu benutzen. Was war also ihr Nutzen? Eine Mission, hatte er gesagt. Rache für die Gefallenen der Community, oder übersetzt: Rache dafür, daß man ihn gefangen und eingesperrt hatte. Es mußte mehr dahinter sein, da war sie sich sicher. Geld. Selbstverständlich tat Hunter nie etwas, ohne daß es Profit versprach. Jeden Tag versuchte sie dahinterzukommen, was ihre Rolle in dem großen Plan war. Und jede Nacht ließ sie sich auf ein Meer von Sehnsucht 231
hinaustreiben. Eines Abends bauten ein paar von den Männern mittels eines komplizierten Systems von Verlängerungskabeln und anderem elektronischen Kram das Fernsehgerät auf einem Tisch im Speisesaal auf. Die Eßtische wurden weggeräumt, und die Klappstühle so aufgestellt, daß jeder hinsehen konnte. Als Wren mit den anderen hereinkam, reckte sie wie üblich den Hals, um einen Blick auf Daniel zu erhaschen. Er kam mit einigen der Alpha/Omega-Leute hereinstolziert, ein Päckchen Zigaretten im aufgerollten Ärmel seines Kampfanzugs. Sie bemerkte, daß er in den Schultern kräftiger wurde, und er lachte eine Spur zu laut bei dem bemitleidenswerten Versuch, die anderen darauf aufmerksam zu machen, daß er bei der Elite aufgenommen wurde. Wren erinnerte sich daran, wie entsetzt sie gewesen war, als er anfing, die Haare lang zu tragen und Heavy Metal zu hören, weil er die waghalsigen Skateboarder nachäffen wollte, die er bewunderte. Es ist nur eine gewisse Phase, aus der er wieder herauswächst, hatte sie sich gesagt. Kicker sprach mit einer Zigarette im Mundwinkel. Daniel ahmte ihn nach und blinzelte wie Kicker durch den aufsteigenden Rauch. Schau dir das an. Sie hätte ihn am liebsten beim Arm gepackt, ausgeschimpft, nach Hause geschleift und ihm Stubenarrest gegeben. Mit ohnmächtiger Wut beobachtete sie ihren Sohn und bemerkte etwas, das ihr bisher nicht aufgefallen war: Er trug eine Pistole im Halfter. Tief in ihren Knochen setzte eine Kälte ein, pflanzte sich eisig durch ihre Adern fort und kroch als Gänsehaut über 232
ihren Körper. Hunter, du Bastard, jetzt bist du zu weit gegangen! Nein, nicht Hunter. Daniel war zu weit gegangen. Er war durch eine unsichtbare Pforte getreten, hatte sich in eine ScienceFiction-Welt verloren und war über den Punkt hinausgeraten, an dem man ihn noch zurückholen konnte. Er war kein Kind mehr. Er war nun ein Mann. Bewaffnet und gefährlich. Ein Zittern überfiel sie. Sie umfaßte ihre Ellenbogen und preßte sie fest an den Körper. Jemand schaltete das Fernsehgerät ein, aber Wren hatte die Kunst aller Gefangenen gelernt, anwesend und doch nicht anwesend zu sein, ihr Gesicht zu zeigen, aber nicht ihre Gedanken. Die Menge um sie herum drang schließlich durch die Kruste ihres Vertieftseins mit ihren lauten, höhnischen Rufen und Buhs, mit denen sie die Sendung begleiteten. Menschen mit einem geräuschvollen Gang, sagte die Großmutter in ihrem Geist, sind zornige, gefährliche Menschen. Der Buttergeruch von Popcorn wehte durch den Raum; Schüsseln mit Popcorn wurden durch jede Sitzreihe gereicht, bis alle Anwesenden Zugang zu einer hatten. Mechanisch steckte sie sich etwas davon in den Mund. Es war gut, machte sie aber schnell durstig. Sie hörte auf zu essen und konzentrierte sich auf die Sendung. »Hier in unserem Studio in New York möchte ich nun unseren ersten Gast begrüßen, Mister Paul Smith, den Vorsitzenden der populären Basisorganisation USA oder Union für ein Stärkeres Amerika«, sagte der Moderator 233
der Sendung. Sie erkannte ihn als Doug Richards, den preisgekrönten Fernsehjournalisten. Donnernder Beifall ließ den Raum erbeben. »Und in unserem Studio in Midland, Texas, ist Mister Buck Leatherwood zugeschaltet, der in den letzten Jahren dafür berühmt wurde…« Fast augenblicklich wurde Richards’ Stimme von einer Welle Buhs und Rufen wie »Da ist der olle Buckwheat Peckerhead!« übertönt. Leatherwoods Gesicht war bald hinter einem Schneesturm aus Popcorn verschwunden. Jemand brüllte: »Ruhe! Wir verstehen nichts«, und die Menge beruhigte sich langsam. »Mister Smith, wie Meinungsumfragen zeigen, befürwortet eine stattliche Mehrheit Ihrer konservativen Mitglieder die Aufhebung aller vom Kongreß verabschiedeten Bestimmungen zur Waffenkontrolle. Sie haben die Billigung der National Rifle Association und die Unterstützung einer Reihe republikanischer Senatoren und Kongreßabgeordneter sowie einiger konservativer Demokraten. Und doch sind die Verbrechen durch Schußwaffen in den letzten Jahren drastisch angestiegen. Was halten Sie für die Lösung?« Smith lächelte den Moderator gewinnend an, und Wren stellte fest, daß sie den Mann auf den ersten Blick nicht mochte. »Zunächst, Mister Richards, lassen Sie mich Ihre Behauptung richtigstellen, daß die Verbrechen durch Schußwaffen drastisch angestiegen sind. Zwar ist die Zahl der Verbrechen angestiegen, sie wurden jedoch nicht von Schußwaffen verübt, sondern von Menschen, von denen einige Schußwaffen benutzten.« In der darauffolgenden Pause brach die Menge wieder in Jubelschreie und Hurrarufe aus. 234
»Die Probleme, die zu diesen Verbrechen führten, beginnen in der Familie und auf den drogenüberfluteten Straßen. Wir müssen unsere Familien unterstützen und Recht und Ordnung auf den Straßen wieder stärker Geltung verschaffen. Sperrt diese Unmenschen ein und schmeißt den Schlüssel weg.« »Wozu die Mühe? Erschießt sie einfach!« brüllte Kicker, gefolgt von zustimmendem Applaus des Publikums. »Wenn die Regierung darauf beharrt, den Leuten das verfassungsmäßige Recht zum Tragen von Schußwaffen zu nehmen, dann bleiben als einzige die Verbrecher gut bewaffnet, die immer an Waffen herankommen, und die Armee, und das ist genau der Weg, wie man ein Volk beherrscht, wie Ihnen jeder frühere Kommunist bestätigen wird.« Richards nickte nachdenklich, obwohl der Mann nichts Neues gesagt hatte, soweit es Wren betraf. »Was ist Ihre Antwort darauf, Mister Leatherwood?« Leatherwoods abgespanntes und zerfurchtes Texanergesicht wurde neben den matt lächelnden, jugendlich aussehenden Paul Smith eingeblendet. Neben seinem energischen Kontrahenten wirkte Leatherwood kampfmüde. »Ich möchte nur sagen, daß sich diese Probleme in den Familien und mit dem Drogenhandel auf den Straßen nicht allein auf die Vereinigten Staaten beschränken. Es sind weltweite Probleme,« näselte er und klang vage wie sein texanischer Landsmann, der frühere Präsident Lyndon B. Johnson. »Aber unser Land ist von allen westlichen Nationen das liberalste, was den leichten Zugang zu Schußwaffen angeht, und unsere Verbrechensrate, vor allem bei Mord und anderen Gewaltverbrechen, ist um ein 235
vielfaches höher als in jedem anderen Land der Erde. Japan und England, zum Beispiel, haben sehr strenge Waffengesetze, und ihre Verbrechensrate ist sehr viel niedriger als unsere. Die Erlaubnis, ganze Arsenale zur sogenannten Selbstverteidigung anzuhäufen, hat unsere Städte nicht sicherer gemacht.« Einer von den Männern sprang auf. »Du krankes Arschloch!« schrie er. »Du willst meine Waffen? Dann komm doch und hol sie dir!« Tosender Beifall erschütterte den Raum. »Hau doch ab und geh zu deinen widerlichen gelben Schlitzaugen, wenn du dich dort sicher fühlst!« schrie die Frau neben Wren, eine kleine untersetzte Brünette mit muskulösen Beinen, Augen wie Stahl und dem ironischerweise sanften Namen Mary. Sie beugte sich zu Wren und sagte mit immer noch lauter und wütender Stimme: »Die ganze Geschichte mit dem Mord an seiner Tochter ist nämlich nur Schwindel.« Als Wren nichts sagte, fügte sie hinzu: »Das hat sich die Regierung ausgedacht, um Sympathie herzustellen und den Kongreß so einzuschüchtern, daß er es rechtlich absegnet, wenn sie einschreiten und die Macht übernehmen.« »Willst du damit sagen, daß der Anschlag auf das Fastfood-Restaurant nie stattgefunden hat?« Wren konnte sich die Frage nicht verkneifen. Mary zuckte die Achseln. »Entweder er hat nie stattgefunden, und wenn doch, dann war Leatherwoods Kleine nicht betroffen. Die können mit ihren Computergrafiken jetzt allen möglichen Scheiß machen.« Wren schüttelte ungläubig den Kopf (was Mary als Erstaunen auslegte) und schaute sich in der Menge um. 236
Was sie sah, war beunruhigender als alles, wovon sie seit ihrer Ankunft im Basislager der sogenannten ›Armageddon-Armee‹ Zeuge geworden war. Der ganze Raum war mit einer Art Raserei geladen, einer Wut, die in der Luft knisterte und durch ihre schiere düstere Kraft das Licht zu trüben schien. Hinter der Wut, wußte Wren, lauerte deren Schatten: die Angst. Die Diskussion ging weiter, aber es wurde zunehmend schwieriger, etwas zu hören wegen der Flüche und Rufe, die jedes Erscheinen von Leatherwood auf dem Bildschirm begleiteten. Satan persönlich hätte nicht mehr Haß hervorrufen können. Wren lauschte angestrengt. »Es fällt mir schwer, die Feindseligkeit vieler Waffenbefürworter zu verstehen«, sagte Leatherwood. »Vielleicht verstehst du das, Kumpel!« schrie Mary. »… dem früheren Pressesprecher wurde bei einem Attentatsversuch auf Präsident Reagan fast der Kopf weggerissen, und alles, was der Mann will, ist, daß wir uns ein paar Tage Zeit nehmen, um festzustellen, daß jemand nicht geisteskrank oder ein Verbrecher ist, bevor er eine Waffe kaufen darf. Was ist daran so falsch?« »Ich sag dir, was daran falsch ist«, murmelte Big John, der neben Wren saß. »Es ist nur der erste Schritt zur Registrierung aller Schußwaffen. Sobald sie wissen, wer welche Waffe besitzt, wissen sie, wo sie suchen müssen.« Als Wren die Sendung wieder hören konnte, sagte Richards etwas über Todesdrohungen gegen Leatherwood. Ein Filmausschnitt zeigte, wie sich Leatherwood seinen Weg durch eine feindselige Menschenmenge bahnte, die 237
nach einem Talk-Show-Auftritt ein Studio blockierte. Ein großer, gutaussehender Mann mit grau-schwarz melierten Haaren hatte mit seinem Körper einen Keil gebildet und walzte buchstäblich wie ein Schwerlastzug durch die widerlichen Protestierenden. Leatherwood folgte in seinem Schlepptau. Wren kannte diesen Mann. Sie hatte ihn seit über sechzehn Jahren nicht gesehen, aber sie würde ihn bis an ihr Lebensende wiedererkennen. Ein hohes Klingen in Wrens Ohren ließ sie taub werden, gleichzeitig spürte sie, wie ihr das Blut aus dem Kopf schoß und ihre Hände zu kribbeln anfingen. Du wirst gleich ohnmächtig, warnte sie eine Stimme in ihrem Innern, nimm einen Moment den Kopf zwischen die Knie. Sie gehorchte auf der Stelle. Ihr Hörvermögen kehrte zurück, und mit ihm eine Flut von Obszönitäten von verschiedenen Leuten um sie herum. Das Kribbeln ebbte ab. Sie setzte sich auf. Hunter war vor den Fernseher getreten, aber sie sah ihn nicht gleich. Alles, was sie sah, war Steve Austin, der FBIAgent Steve Austin, der vor so langer Zeit den unglückseligen Sturm auf die Community inszeniert hatte. Er hatte ihr versprochen, daß niemandem etwas geschehen würde. Er hatte ihr auch versprochen, sie zu beschützen, aber am Ende hatte er es nicht vermocht. Niemand hatte es vermocht. So wie auch jetzt niemand sie beschützen konnte. 238
Aber hier versuchte er nun, Leatherwood gegen die Kräfte eines so überwältigenden Zornes zu schützen, daß Wren an einer wirksamen Verteidigung zweifelte, denn diejenigen, die ihren eigenen Urängsten hier freien Lauf ließen, Setzten nur eine Waffe ein: Angst. Nötigung durch Gewalt und Terror, das lag allen terroristischen Taten zu Grunde. Sie hatte es einmal nachgeschlagen. »Wir wissen, wer dieser Mann ist!« schrie Hunter in diesem schrillen Kommandoton, den sie so gut kannte. »Er ist ein Handlanger der New World Order, den eine stehende ausländische Armee hergeschickt hat, um unsere Regierung durch Desinformation und Medienmanipulation zu unterwandern. Sie sind nun hier und werden Zeuge ihrer erfolgreichen Gehirnwäsche des amerikanischen Volkes, das schon glaubt, daß Waffen für unsere sogenannte Verbrechensflut verantwortlich sind.« Lauter Jubel folgte seinen Worten. »Wir wissen, daß diese Leute, diese ausländischen Handlanger, sich unter anderem dadurch verständigen, daß sie Zeichen auf der Rückseite von Wegweisern hinterlassen, damit diejenigen, die nicht Englisch können, sich in unserem Land zurechtfinden.« Preacher stand auf und drehte sich zur Versammlung um. »In diesem Augenblick versteckt sich der frühere Führer der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, im Presidio, dem U. S. Center für militärische Aufklärung westlich des Mississippi, und überwacht die Schließung von amerikanischen Militärstützpunkten!« Er setzte sich wieder, begleitet vom Aufschrei seiner Zuhörer. »Die Regierung weiß das«, rief Hunter über den Tumult 239
hinweg. »Doch sie wollen nicht, daß das amerikanische Volk es weiß. Und nicht nur das«, setzte er hinzu und machte eine dramatische Pause, »überprüft mal, was passiert, wenn amerikanische Bürger versuchen, sich zu bewaffnen. Denkt an die Community!« Die Texaner, die sich bei Goliad gegen Santa Anas Truppen sammelten, um ihre Unabhängigkeit von Mexiko zu erstreiten, konnten von dem Ruf Denkt an Alamo! nicht mehr beseelt gewesen sein als Hunters Zuhörer von seinem Schlachtruf. Sie tobten. Wren schaute mit offenem Mund zu, entsetzt darüber, was passierte, wenn eine paranoide Menge sich gestattete, die wildesten Gerüchte und bösartigsten Märchen zu glauben, und sich von einem Verrückten beeinflussen ließ. Hunter machte beschwichtigende Handbewegungen. »Das Ziel dieser New World Order ist klar«, sagte er, und aus seinen Augen leuchtete ein inneres Feuer. »Sie wollen die amerikanische Bürgerschaft ihrer Fähigkeit berauben, sich selbst zu schützen, Waffe für Waffe, Rechtsbeschneidung für Rechtsbeschneidung… und zuletzt werden sie ihre bewaffneten Streitkräfte in unser Land schicken, um uns alle zu beherrschen, unsere Familien und unsere Kinder.« »Ich wußte es«, sagte Mary mit einem wissenden Nicken. »Die New World Order untergräbt bereits das Weltwirtschaftssystem. Bald wird die ganze Chose zusammenbrechen und unsere Wirtschaft ins Chaos stürzen. Die einzige Währung, die dann noch was wert ist, ist Gold.« »Wenn wir jetzt nicht für unsere Rechte kämpfen«, 240
brüllte Hunter über den tumultartigen Radau im Raum, »werden uns keine Rechte mehr bleiben, für die wir noch kämpfen könnten.« »Amen, Bruder«, rief Preacher. »Wenn die Armageddon-Armee nicht zum Handeln bereit ist, dann sind alle unsere Brüder, die in Vietnam und im Irak, auf Iwo Jima und in der Normandie ihr Leben gaben, umsonst gestorben.« Er senkte plötzlich die Stimme, und im Raum wurde es ruhig. »Als ich meinen Siebzig-Pfund-Rucksack über die Schlachtfelder von Vietnam trug, habe ich Kameraden verbluten sehen. Ich hielt sie in meinen Armen, als sie ihr Leben für unser Land aushauchten.« Er hob die Stimme zu einem heiseren Schrei. »Werden wir für eine solche tragische Vergeudung stehen?« »Nein!« schrie die Menge. »Werden wir kämpfen?« »Ja!« »Werden wir kämpfen?« »Ja!« »Werden wir kämpfen?« »Ja!« »Werden wir kämpfen?« »Ja!« Und einen Herzschlag später kam noch eine Stimme, jung und stolz: »Ja, verdammt!« 241
Es war Daniel. Der Raum brach in ein Chaos fanatischer Jubelschreie aus, aber Wren war taub dafür. Alles, was sie hörte, war ihr Sohn, der Fremde. Und alles, was sie sah, war das traurige, abgespannte Gesicht von Buck Leatherwood. Dann plötzlich ergab auf eine verrückte Weise alles einen Sinn für Wren; sie sah alles vor ihrem geistigen Auge: die Hölle und den Haß, den Glanz und den Traum, den Wahnsinn und den Alptraum.
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19. Kapitel Steve Austin nahm die Fernbedienung zur Hand und drückte auf die ›Mute‹-Taste, um einen dieser nervtötenden, schrillen Werbespots für einen Pickup auszublenden. Er fragte sich, ob andere Landesteile mit ebenso vielen Werbespots für Pickups überschwemmt wurden wie Texas. Glaubten die Werbestrategen, daß potentielle Pickupkäufer nur zuhörten, wenn man sie anschrie? »Mister Leatherwood sieht müde aus«, sagte Patsy auf ihrer Seite des Bettes nachdenklich. »Ist er krank?« »Nicht daß ich wüßte«, sagte Austin, schob seine Brille hoch und rieb sich die Druckstelle auf seiner Nase. Nun wurde für ein Fast-food-Lokal Reklame gemacht. Der Spot zeigte, wie jemand in einem Cadillac mit einem Paar riesiger Büffelhörner an der Stoßstange zu dem Laden raste. »Ich glaube, der Mann ist einfach nur müde. Zum einen leitet er diesen multinationalen Konzern, während er gleichzeitig als Lobbyist für Waffenkontrolle tätig ist. Es ist, als hätte er zwei Jobs.« »Warum gibt er dann nicht eins von beiden auf?« Sie gähnte. »Ich glaube, er weiß nicht, wie er das anstellen soll. Anscheinend bin ich nicht der einzige Workaholic.« Er grinste sie an. Selbst nach fünfundzwanzig Jahren erschien ihm seine Frau mit ihrer schokoladefarbenen Haut und dem tiefschwarzen Haar noch immer wie ein Schulmädchen. »Und was die Lobbytätigkeit angeht… du verstehst nicht, was ihn antreibt, wenn du nicht gesehen hast, wie sehr er seine Tochter liebte.« »Wie lange ist sie jetzt tot? Zwei Jahre?« 243
Er nickte. »Ungefähr. Erst vor ein paar Tagen hat er mir erzählt, daß es nur immer schwerer wird mit der Zeit. Er sagte, Melissa sei die einzige reine Seele gewesen, die er kannte.« Sie waren einen Augenblick still, dann sagte Austin: »Und was die Frage der Waffenkontrolle betrifft, es scheint mir fast ein rein akademisches Problem zu sein.« »Wieso?« »Weil zum einen das Bundesgesetz ein Schlupfloch bereithält. Das Verbot nimmt Waffen und Munition aus, die vor Inkrafttreten des Gesetzes hergestellt wurden. Die Waffenfabrikanten haben die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt und Hunderttausende dieser Waffen und ein paar Millionen Schuß Munition produziert, und die Waffennarren haben sehr schnell zugegriffen.« »Du machst Witze!« »Ach woher, das ist noch längst nicht alles. Sobald das Gesetz in Kraft trat, haben sie einfach die gleichen Waffen mit ein oder zwei kleinen Veränderungen hergestellt, so daß es genaugenommen nicht mehr die gleiche Waffe, ihr Verkauf damit aber legal ist.« »Das wußte ich nicht.« »Aber ja. Nimm zum Beispiel die TEC9 Sturmpistole. Die wurde verboten, also haben sie jetzt die AB 10. Weißt du, wofür ›AB‹ steht?« »Ich trau mich kaum zu fragen.« »After the Ban, nach dem Verbot.« »Das ist ja unglaublich!« »Und dann kommen noch alle die Einzelteile dazu, die 244
man auf Waffenschauen kaufen kann. Wenn ein Waffenschmied sie zusammensetzt, werden Waffen daraus, die die Regierung verboten hat.« Sie starrte ihn an. »Und das ist legal?« »Absolut.« »Was soll dann das ganze Theater?« Sie schüttelte ihr Kissen auf. »Das ganze Theater geht um das verfassungsmäßige Recht, Schußwaffen zu tragen, und darum, ob die geringste Kontrolle dieses Rechts durch den Kongreß nur zu noch mehr Kontrolle und noch mehr und noch mehr führen würde… bis sie alle unsere Waffen weggesperrt oder verbrannt haben.« »Dann befürchten sie also, daß Buck Leatherwood ihnen das Recht auf den Besitz von Waffen wegnehmen will, wenn nicht gar die Waffen selbst.« »Richtig. Und der Anstieg der Gewaltkriminalität hat die Waffenenthusiasten genauso erschreckt wie den Rest von uns auch; um so mehr, wenn man ihre Paranoia berücksichtigt. Sie haben tatsächlich Angst, wehrlos gegenüber Verbrechern zu sein.« »Die hab ich auch.« »Ich hab auch Angst um dich, wenn ich nicht da bin, um dich zu beschützen.« Sie schmiegte sich an ihn. »Zumindest habe ich dich heute nacht bei mir, da kann mir also nichts passieren.« »Ich weiß es nicht«, neckte er. »Die zweite Wachschicht kümmert sich heute um den Mann, und sie sind einer zu wenig. Parker fällt mit Grippe aus. Vielleicht sollte ich ein 245
Flugzeug nach Midland nehmen und einspringen.« »Nur über meine Leiche.« Sie küßte ihn, teils aus Spaß und teils aus Leidenschaft. Austin schaute über ihren Kopf hinweg zum Fernseher. Die Sendung lief wieder. Er konnte nicht widerstehen und machte den Ton wieder an. Leatherwoods gedehnte Sprechweise klang durchs Zimmer. Patsy rückte mit einem melodramatischen Seufzer von ihm ab und ließ sich ins Kissen zurückfallen. »Da vergeude ich mit dir die Blüte meiner Jahre«, nörgelte sie. »Ich seh schon, ich muß mir irgendeinen jungen Kerl suchen, der mit mir Schritt halten kann.« Er machte »pst!«. Sie zog sich ein Kissen über das Gesicht und gab erstickte Schreie von sich. Austin drehte die Lautstärke auf. »… glaube ich einfach, daß manche von Ihnen paranoid sind«, sagte Leatherwood. »Ach ja?« sagte der junge Smith. »Ich wette, das haben viele deutsche Juden damals in den Dreißigern auch gesagt. ›Was ist schon dabei, wenn wir uns den Davidstern auf die Kleidung nähen müssen? Das ist kein Grund, das Land zu verlassen. Ihr seid nur paranoid.‹« Er lächelte selbstgefällig in die Kamera. »Sie sind so ein Blödmann!« schrie Leatherwood. »Das hat nichts zu tun mit…« »Au weia«, sagte Austin. »Der Mann vermasselt es.« »Mister Leatherwood, ich glaube nicht, daß Schimpfnamen Ihren Standpunkt deutlicher machen«, warf Richards ein. Das Telefon läutete auf dem Nachttisch. Austin hatte 246
gesehen, was er sehen mußte, um zu wissen, daß es in ein Debakel für seinen Klienten münden würde. Er schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung aus und nahm den Hörer ab. »Austin?« »Mister Austin? Hier ist Sandra Dodge.« »Ja.« Austin schwang die Beine aus dem Bett. »Was gibt’s?« »Hier laufen die Telefone heiß, und ich mache mir Sorgen, wie wir unseren Klienten am besten nach Hause bringen sollen.« »Okay. Umgeht verschiedene heikle Stellen, wie wir es besprochen haben.« »Das wird unserem Klienten nicht gefallen.« »Es ist mir schnurzegal, ob es ihm gefällt oder nicht. Unser Job ist es, den Mann am Leben zu halten, und wenn er solche Scheiße macht, wie einen der populärsten Männer Amerikas im landesweiten Fernsehen einen Blödmann zu nennen, dann wird er sich mit ein paar Unannehmlichkeiten abfinden müssen, während wir seinen Arsch retten.« »In Ordnung, Sir.« »Wenn er sich querstellt, sagen Sie ihm, daß ich es abgesegnet habe. Aber erwähnen Sie bloß nicht, was ich sonst noch gesagt habe.« »In Ordnung.« »Es war richtig, daß Sie angerufen haben, Dodge«, fügte er hinzu. »Danke, Sir.« 247
Er sah sie förmlich lächeln, als er auflegte. Es war Dodges erster Einsatz an der Front, beim richtigen Personenschutz. Bis dahin hatte sie immer nur vorbereitende Arbeiten gemacht, Klientengespräche und so Zeug. Er wußte, daß sie nervös war, er wußte aber auch, daß sie der Sache gewachsen war. Trotzdem würde ihm wohler sein, wenn er das Entwarnungssignal bekam. »Dieser verdammte Leatherwood«, murmelte er, streckte sich auf den Rücken und zog die Bettdecke über die Beine. »Er kann manchmal wirklich ein blöder Hund sein.« Als Patsy nicht antwortete, schaute er zu ihr hinüber. Sie schlief. Immer das gleiche. Als das Telefon wieder läutete, stürzte er sich darauf, damit Patsy nicht aufwachte. »Austin hier«, sagte er mit tiefer Stimme. Es war nicht notwendig, zu flüstern oder den Raum zu verlassen. Seine Frau war daran gewöhnt, daß er zu den unmöglichsten Zeiten Anrufe bekam. »Steve, hier ist Mike Martinez.« »Was tut sich?« »Ich hab den neuesten Stand für dich. Ist die Leitung abhörsicher?« »Nein. Es ist ein tragbares Telefon. Laß mich schnell wechseln. Ruf mich in fünf Minuten unter meiner zweiten Nummer an.« »Deine Büronummer?« »Nein, es ist eine zweite Privatleitung.« »Okay.« 248
Austin stieg aus dem Bett und stapfte in das angrenzende Arbeitszimmer. Er schloß die Tür und trat von einem Fuß auf den anderen, während er wartete. Als exakt fünf Minuten um waren, rief Martinez wieder an. »Es wird immer wüster, Mann.« »Was meinst du?« »Je näher wir der Sache kommen, desto paranoider werden sie, und je paranoider sie werden, desto mißtrauischer werden wir.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel haben wir versucht, einen verdeckten Ermittler einzuschleusen, um unseren Informanten zu unterstützen.« »Und?« »Keine Chance. Wir brachten ihn nicht ins Lager. Dann hatte das SOG vor, einen Tontechniker reinzuschicken, um den Laden zu verwanzen. Bei der Gelegenheit haben wir herausgefunden, daß niemand da reinkommt, Mann. Keine UPS-Leute, keine Stromableser, niemand. Das SOG hat aus ihrem Spielzimmer ein paar High-Tech-Spielzeuge angefordert, mit denen wir gar nicht reinmüssen, aber anscheinend gibt es dafür eine Warteliste, und in diesem Fall wird keine Priorität eingeräumt. Jedenfalls noch nicht.« »Was ist mit dieser Lieferung? Muß die nicht bald kommen? Könntet ihr sie nicht abfangen?« »Die Lieferung ist in einer Woche fällig, aber wir wissen nicht, woher sie kommt. Wir versuchen gerade die Einzelheiten herauszukriegen, aber unser Informant ist verschreckt und verhält sich im Augenblick ruhig.« 249
»Was hat ihn verschreckt?« »Keine Ahnung. herstellen.«
Wir
konnten
keinen
Kontakt
»Und wenn er das nächste Mal in die Stadt kommt?« »Er kommt nicht in die Stadt. Und wenn, dann sagt er es uns nicht.« »Beobachtet ihr ihn denn nicht?« »Sicher, wir beobachten das Lager von außen, aber wir haben speziell unseren Mann seit einiger Zeit nicht gesehen. Wir haben einen toten Briefkasten in der Stadt, und wir hoffen, daß er die notwendigen Unterlagen möglichst bald dort deponiert. Du würdest es nicht für möglich halten, Mann, das Lager ist eine gottverdammte Festung.« »Meinst du, sie haben euch gerochen? Vielleicht haben sie ihn kaltgemacht.« »Könnte sein. Hoffentlich nicht. Wir haben vor, demnächst Flugzeuge mit Thermofotografie einzusetzen, um irgendwelche wärmeren Stellen zu entdecken.« »Wird sie das nicht stutzig machen?« »Die Nationalgarde sagt, daß sie manchmal Übungsflüge in diesem Gebiet macht, deshalb hoffen wir, daß sie nichts merken.« »Was passiert nun als nächstes?« »Wir richten eine Kommandostelle vor Ort ein. Die Losung von ganz oben heißt, daß wir bei der Lieferung zuschlagen, Informant hin oder her. Der ASAC übernimmt. Willst du SSG spielen bei der Sache?« Martinez meinte die Special Support Group aus Leuten, 250
die nicht dem FBI angehören und manchmal bei Nachrichtenoperationen als Berater hinzugezogen wurden. »Mir bleibt keine Wahl.« Austin seufzte erleichtert. Mehr als alles andere wollte er dabeisein, aber er hätte seinen alten Freund nur darum bitten können. Obwohl Austin nicht an der eigentlichen Erstürmung teilnehmen würde, wäre er bei den Befehlshabern in der Kommandostelle - nahe genug, um sich um Wren und Daniel kümmern zu können. »Sag mir, wann und wo.« »In genau sieben Tagen. Nimm dir was zum Schreiben, und ich sag dir, wo.«
Cam und Zoe Cameron saßen nebeneinander auf der Couch im Wohnzimmer und hielten sich an den Händen. »Daddy, meinst du, Mister Austin wird Mom und Daniel wirklich finden und wieder nach Hause bringen?« Cam ließ die Hand seiner Tochter los und legte den Arm um ihre Schultern. »Ich glaube, er arbeitet sehr schwer daran, und ich denke, daß es sehr wohl möglich ist.« Sie seufzte. »Es ist echt schwer, Hoffnung zu haben.« »Wie meinst du das, Schatz?« »Ich weiß es nicht. Wenn du nicht glaubst, daß noch Hoffnung besteht, gibst du irgendwie auf. Du gewöhnst dich an alles, so wie es eben ist. Aber wenn du anfängst zu hoffen, dann haßt du plötzlich alles, wie es ist. Du willst, daß es sofort passiert. Das macht das Warten viel schwerer.« Er drückte ihre Schulter. »Das stimmt.« »Daddy?« 251
»Ja.« Sie zögerte. »Ich wollte nur sagen, daß es mir wirklich, ehrlich leid tut, wie ich mich benommen habe. Ich hatte einfach nur… Angst.« »Ich weiß.« Cam nickte. »Ich meine, ich habe nur an mich selbst gedacht. Ich weiß, du hast es auch schwer und alles. Ich werde versuchen, dir von nun an ein wenig mehr zu helfen, okay?« Er zog sie an sich und brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. »Wir werden uns gegenseitig helfen, meine Kleine.« Cam blickte über ihren Kopf hinweg auf das gerahmte Familienbild, das an der gegenüberliegenden Wand hing, auf dem alle lächelten und glücklich waren, und er sagte: »Wir müssen für Mom und Daniel stark bleiben. Sie brauchen gerade jetzt unsere Kraft.« Sie nickte und sagte: »Ich weiß. Es wäre nicht so toll, wenn sie endlich nach Hause kämen, und wir beide wären nur noch Nervenbündel.« Er kicherte traurig. »Nein.« Als er sie leicht am Kinn stupste, lächelte sie ihn mit den blauen Augen ihrer Mutter an und sagte: »Keine Sorge, Daddy. Wir helfen uns gegenseitig.« Dann hielten sie sich lange umarmt und sagten nichts mehr, während die Dunkelheit in die Winkel ihres Zuhauses kroch und die Schatten der Nacht drohten.
Wren wartete mindestens eine Stunde, nachdem das Licht 252
gelöscht worden war, bis sie sich die Decke um die Schultern zog und aus der Frauenbaracke schlüpfte. Sie mußte nachdenken, und da drinnen konnte sie es nicht. Hinter dem flachen Gebäude lag ein ebenmäßiger, weißer Fels, der frei von Strauchwerk war. Er war verhältnismäßig leicht zu finden im Dunkeln, und dort setzte sie sich hin, zog die Knie an die Brust und wickelte sich zum Schutz gegen die kühle Luft in die Decke. Der imposante Nachthimmel, ungetrübt von den Lichtern einer Stadt, erfüllte sie mit seinem vertrauten Trost. Sie hüllte sich darin ein, wie sie sich in die Decke gehüllt hatte. Die Sichel des Mondes spendete gerade so viel Licht, um die Landschaft gespenstisch leuchten zu lassen. Wolkenschleier spielten Verstecken mit den Sternbildern, aber Wren konnte die Plejaden ausmachen. Die Cherokee glaubten, daß die Menschen erschaffen wurden, als Sternenfrau von den Plejaden, die sie als die Sieben Tänzer bezeichneten, zur Erde fiel. Es war eine reizvolle Geschichte über das Leben und den Tod, über Licht und Dunkel, Gut und Böse. Wren fröstelte. Sie zog die Decke fester und versuchte den Kopf von der Verwirrung frei zu bekommen, die die lärmende Versammlung am Abend mit sich gebracht hatte, als sie alle zugeschaut hatten, wie Buck Leatherwood sich im Fernsehen mit Paul Smith stritt und Hunter seinen Kriegsaufruf gemacht hatte. Je lauter die Stimme, würde Ahw’usti sagen, desto schwächer der Mann. Aber Ahw’usti war jetzt nicht hier. Niemand war hier, um die Bürde von Wrens Wissen mit ihr zu teilen. Es war ihr bei der Versammlung klargeworden. Sie wollten Buck Leatherwood ermorden. 253
Sie würden zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen - den verhaßten Verfechter einer Waffenkontrolle loswerden und Steve Austin demütigen. Oder ihn vielleicht ebenfalls töten. Wren wußte, daß es bei terroristischen Taten weniger darum ging, jemanden tatsächlich zu töten, als vielmehr um das Theater, das es auslöste. Je größer und telegener das Ziel, desto besser. Und hier hatten sie Buck Leatherwood, prominent, umstritten, unanständig reich, ein liberaler Anwalt der Waffenkontrolle und eine Medienpersönlichkeit. Wer könnte sich besser zum Opfer der Armageddon-Armee eignen? Ihre Sache würde doppelt Schlagzeilen machen, wenn die Medien von der Verbindung mit Steve Austin Wind bekamen und Filmausschnitte von dem blutigen Vorfall in der Community von 1980 zeigten. Das mußte Hunter gemeint haben, als er nach der Entführung von Rache gesprochen hatte. Die Tatsache, daß er Wren offenbar dazu brauchte, konnte nur eines bedeuten: Er hatte vor, Sprengstoff zu benutzen. Bomben sind die bevorzugten Werkzeuge von Terroristen. Attentate, vor allem solche mit Bomben, haben gewöhnlich eine gewaltige Medienresonanz zur Folge, was nicht nur der Sache der Terroristen als Forum dient, sondern ihnen auch Macht durch Angst einbringt. Aber in diesem Fall, überlegte Wren, waren sie nicht einfach an irgendeiner Bombe interessiert. Sprengstoff herzustellen war so ein simples Verfahren, daß es jeder Schuljunge könnte. Es mußte mehr dahinter sein. Für
diesen
Auftrag
mußte 254
ganz
besonderes,
fachmännisches Können gefragt sein. Hunter wollte offenbar nicht nur irgendeine primitive Bombe. Er wollte anscheinend etwas… Ausgefalleneres. Womit sie genau an dem Punkt war, um den es Jeremiah Hunter in Wirklichkeit ging: Seine Hauptmotivation war stets Geld. Irgendwie beabsichtigte er einen Batzen Geld aus dieser Situation herauszuschlagen, und er brauchte Wren, damit sie ihm dabei half. Wie, das wußte sie noch nicht. Nur in einem konnte sie sich sicher sein: Unschuldige Menschen würden dabei sterben. Durch eine alptraumhafte Laune des Schicksals fand sich Wren in genau der gleichen Lage wieder wie vor so vielen Jahren. Wenn sie nicht irgend etwas unternahm, irgendwen informierte, würden Menschen umkommen. Sie konnte nicht sagen, wie viele Menschen. Hunter würde sicher kein Mitleid mit Außenstehenden haben. Er und seine Anhänger in dieser sogenannten ArmageddonArmee waren keine sanftmütigen Hippies, die zurück zur Natur wollten. Die meisten von ihnen waren ehemalige Sträflinge, wie sie inzwischen wußte, und die Alpha/Omegas, soviel stand fest, waren mordende, gesetzlose Fanatiker, die wahrscheinlich auf ein Stück des Kuchens für sich selbst aus waren. Menschen würden sterben. Ich kann nicht zusehen und nichts unternehmen. Das alte Dilemma. Einmal schon hatte sie gehandelt, einmal schon hatte sie jemanden informiert. Und trotzdem hatte es Tote gegeben. Du kannst nicht wissen, ob Leute sterben werden, wenn 255
du handelst, aber du kannst dir sicher sein, daß sie sterben, wenn du nicht handelst. Aber was war mit Daniel? Es schien Wren, als bliebe ihr nichts übrig, als allein in die Nacht und über das offene Land zu marschieren, wenn sie Hilfe holen wollte. Vielleicht schaffte sie es, vielleicht nicht. So oder so würde Daniel auf keinen Fall mitkommen. Es macht mir nichts aus, mein eigenes Leben zum Wähle der vielen zu riskieren, dachte sie. Ich habe es früher schon getan, und ich kann es wieder tun. Aber darf ich das Leben meines einzigen Sohnes aufs Spiel setzen? Sobald ihr Fehlen entdeckt wurde, war es sehr wohl möglich, daß Hunter aus Rache Daniel tötete. Ich kann es nicht auf mich nehmen! Aber wenn sie nichts unternahm? Wenn sie nicht nur untätig blieb und zuließ, daß diese Menschen umkamen, sondern tatsächlich an ihrer Ermordung mitwirkte? Daniel würde sehen, was seine Mutter getan hatte, und in seinem Innern würde etwas für immer zerbrechen, das wußte sie genau. Die Tatsache, daß sie es getan hatte, um sein Leben zu retten, würde ihn gleichgültig lassen. Wahrscheinlich würde er ohnehin jung sterben oder den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen. Daniel war in vielerlei Hinsicht bereits jetzt ein verlorenes Schaf. Hunter hatte die Leine durchtrennt, die Daniel mit seinem Zuhause und der Familie verband, mit allem, was gut und anständig im Leben des Jungen war, und er hatte ihn in eine Leere gestoßen, in der sich Daniel nur an 256
Hunter selbst klammern konnte. Es war alles nur geschickte Illusion, Rauch und Spiegel, Zauberei, die zu schnell für das Auge eines Kindes war. Er würde nicht merken, daß es ein Zaubertrick war, bis er unterging. Hunter, der Uk’ten, hatte den Jungen mit einem einzigen raschen Biß vergiftet. Und je mehr sich das Gift in seinen Adern verbreitete, desto verwirrter, getäuschter und blinder würde Daniel werden, bis er schließlich starb. Welche Hoffnung gab es für ihren geliebten Sohn hier in diesem Unuk’sutü, dieser Schlangengrube? Aber ich bin schwach, dachte sie. Ich werde diesen Marsch durch die Wildnis niemals schaffen, ich wüßte nicht, wie. Ich sterbe vielleicht. Und wie kann ich dann meinem Sohn helfen? Wie kann ich dann Mister Austin und diesen Menschen helfen? Leise und sanft wie Distelwolle im Wind schwebte die Stimme ihrer Großmutter in ihren Geist. Du bist nicht schwach. Die Schwäche selbst ist eine Illusion. »Aber ich weiß nicht, was ich tun soll«, flüsterte sie. »Ahw’usti, ich weiß nicht, was ich tun soll!« »Du trägst das Wissen in dir«, kam die ruhige, dünne Stimme, die sie so gern überhört hätte. »Die Furcht ist die Kräuselung, die der Wind der Verwirrung auf dem Teich deiner Seele verursacht.« »Ja… mit der Seele weiß ich es«, keuchte Wren, »aber für meinen Verstand scheint alles so verrückt und hoffnungslos. Wie kann ich da draußen überleben? Ich kenne mich nicht aus; ich habe keine Vorräte. Sie werden mich sicher verfolgen - wie kann ich ihnen entkommen? Und Daniel, mein wunderbarer Junge, wie könnte ich ihn 257
verlassen? Wie?« »Für die Cherokee ist Verstand und Seele eins, Tochter. Das weißt du bereits. Du weißt es.« »Zum Teufel mit der alten Frau!« murmelte Wren, den Kopf in die Hände gestützt. »Wieso geht sie mir nicht aus dem Kopf? Wieso verfolgt sie mich wie der böse Geist eines toten alten Weibs? Es ist ärgerlich!« Sie erhob sich steif, hüllte sich in die Decke und blickte hinauf in den stürmischen Nachthimmel. Der Wind peitschte den langen Zopf, zu dem sie ihr Haar geflochten hatte. Für das Volk ihrer Großmutter bewegten sich Leben und Tod, Geschichte und Neuanfang in einem Kreis durch die Zeit wie die Sichel des Mondes. Die dunkle Seite des Mondes war der Teil des Kreises, der dem Blick verborgen blieb, jene Zeit, die erst noch kommen mußte. Die Reise begann am oberen Ende der Sichel und führte rundherum. Ahw’usti hatte ihre Enkelin gelehrt, daß ein einziger Gedanke die Reise beginnen lassen konnte. »Du weißt es.« »Also gut, du alte Hexe, deine Zauberkraft hat mich verhext. Und ich weiß Bescheid, richtig? Ich weiß es bereits. Gut. Die Frage ist… wann? Du weißt so viel, dann sag mir, wann.« »Sieben ist die heiligste Zahl unseres Volkes.« So sei es denn. In sieben Nächten würde sie aufbrechen. Der Mond tauchte hinter den Horizont, und die Gebäude des Lagers warfen lange, tiefschwarze Schatten im 258
schwachen Licht der Sterne. Aus der Ferne wehte der Wind das Heulen eines einsamen Kojoten zu ihr. Frierend und müde bis auf die Knochen, fühlte sich Wren plötzlich einsamer als je zuvor in ihrem einsamen Leben. Schließlich wandte sie sich den pechschwarzen Umrissen der Gebäude zu, ging wieder hinein und fiel bald in Schlaf.
259
20. Kapitel Die Dienststelle des Sheriffs, die sie für die Lagebesprechung ausgewählt hatten, lag in einer kleinen, abgelegenen Stadt, nicht weit vom Rio Grande. Zwar hatten sie darauf geachtet, sich zwei Bezirke entfernt vom Survivalist-Camp zu treffen, um keine sympathisierenden Einheimischen aufzuschrecken, die die Lagerbewohner warnen könnten, das Büro des Sheriffs war dennoch zu klein als Besprechungsraum. Austin traf Martinez und sein Team am Tag des Sturms auf das Lager in einer abgelegenen Scheune. Es war ein Samstag, der Angriff war für den Abend angesetzt. Viele Besprechungen an einer Reihe anderer Orte waren vorausgegangen: Einsatzbesprechungen für die Forward Observers (ein typisch bürokratischer Ausdruck für Scharfschützen); für das Nachrichtenteam, zu dem Martinez gehörte; für die Teams, deren Aufgabe das ›dynamische Eindringen‹ war; für die Hilfs- und Reservemannschaften, für die Kommandeure und in Washington, D. C., für alle möglichen Direktoren und stellvertretende Direktoren. Die Scheune, in der normalerweise Gerätschaften untergebracht waren, war riesig. Sie hatte einen Betonfußboden und Stromanschlüsse. Ein nahe gelegenes Feld diente als Aufmarschplatz, von dem die verschiedenen Teams aufbrechen würden. Als Austin eintraf, wimmelte die zur Kommandozentrale umgebaute Scheune vor einheimischen Polizeibeamten und FBIAgenten. Überall schlängelten sich dicke Verlängerungskabel zu Computerterminals, Faxgeräten, Kopierern und abhörsicheren Telefonen. Alle Leute sahen fürchterlich beschäftigt aus. Es weckte bittersüße 260
Erinnerungen. Austin erspähte ein paar Männer vom HRT, die er kannte, der Elitetruppe des FBI zur Befreiung von Geiseln, aber sie waren mit irgend etwas beschäftigt, und er beschloß, später mit ihnen zu reden. Offenbar zogen sie es vor, ihren High-Tech-Krimskrams in den Kombis zu verstecken, die er draußen gesehen hatte. Der größte Teil der Reservemannschaften sollte später in getarnten Bussen eintreffen. (Austin erinnerte sich an einige unrühmliche Sturmaktionen, bei denen das gesamte Gefolge in langen Karawanen aus Fahrzeugen des Bundes oder anderer offizieller Stellen vorgefahren war, eine ungewollte Parade, die geradewegs auf ihr ›geheimes‹ Ziel vorstieß.) Wenn es die HRT 1980 schon gegeben hätte, dachte er traurig, wäre die Sache vielleicht anders verlaufen. Martinez stand vor der Bühne und sprach mit einem Agenten, den Austin nicht kannte. Er schaute auf, winkte und kam auf Austin zu, wie üblich unverschämt über das ganze Gesicht grinsend. »Was machst du denn hier, Mann?« rief er. »Hier gibt’s keine Wassermelonen.« »So? Wahrscheinlich haben die verdammten Mexicanos alle geklaut«, sagte Austin. Die beiden Männer schüttelten sich freundschaftlich die Hände. »Was zum Teufel ist hier los?« Martinez verdrehte die Augen. »Es ist wie mit einem Virus, der dich auffrißt, Mann. Eben noch bin ich mit meinem kleinen Team allein im dunkeln getappt, und im nächsten Augenblick kommt die ganze verdammte Regierung eingeflogen, um den Helden zu spielen und uns vor uns selbst zu retten.« 261
»Ich hab die HRT schon bemerkt.« »Das ist noch längst nicht alles. Wir haben noch die SRT«, sagte er, womit er das Special Response Team meinte, eine weitere Eliteeinheit. »Wir haben das CMT…« »O nein! Sie haben das Crises Management Team geholt? Wir sind verloren.« »Dann sind da noch die Bundesmarshalls, die ein ureigenes Interesse daran haben, Mister Hunter zu finden.« »Aha.« Austin schaute zu dem Mann hinüber, auf den Martinez gezeigt hatte. Er kannte ihn nicht. Das war nicht gut. Es war ein unbekannter Faktor in Hinsicht auf die Zukunft von Lissie Montgomery, alias Wren Cameron, die bundesweit gesucht wurde. Er würde seine Strategie sorgfältig planen müssen. »Dann haben wir die TRAC.« »Was zum Teufel ist das?« »Was, du hast noch nie vom Terrorist Research Analytical Center gehört? Wo lebst du, Mann, auf dem Mond? Dann haben wir die verantwortlichen Agenten und ihre Stellvertreter und dumme Handlanger wie mich.« »Und wofür zum Teufel braucht ihr mich dann noch?« »Weißt du das nicht?« Martinez täuschte Entsetzen vor. »Du bist der…« »Ich weiß, ich weiß, der SSG. Wie konnte ich das nur vergessen.« »Ohne dich hätten wir nicht angefangen.« 262
»Ganz bestimmt.« »Dann ist noch die einheimische Gendarmerie hier; der Sheriff, die Deputies, ein paar neugierige Ortspolizisten und natürlich die Texas Rangers, ohne die sowieso nichts läuft.« Austin runzelte die Stirn. »Das glaube ich auch. Wer zum Teufel soll die ganze Bande bloß bei der Stange halten?« Martinez lachte. »Du weißt gar nicht, wie recht du hast.« Austin schüttelte den Kopf. Das hier war klassisch für eine Operation der Bundesbehörden: Deck sie mit überlegener Manpower und Feuerkraft zu. In der Theorie kamen auf diese Weise weniger Leute zu Schaden. Manchmal funktionierte es, manchmal nicht. »Okay, alle herhören!« Ein steif wirkender Mann mit beginnender Glatze stand in einem braunen Anzug auf der Bühne und klatschte in die Hände. Er sah durch und durch wie der stellvertretende Direktor einer High-School aus. »Wir können jetzt mit der Einsatzbesprechung beginnen… Wenn Sie sich alle setzen wollen… Meine Herren? Oh, und die Damen natürlich! Fangen wir an. Kaffee und Doughnuts stehen auf dem Tisch hier… Darf ich um Ruhe bitten!« Jemand reichte ihm ein Mikrophon, auf das er klopfte. Eine schrille Rückkopplung ließ alle zusammenfahren, aber zumindest bewirkte es allgemeine Aufmerksamkeit, und langsam kehrte Ruhe ein. »Ich bin Special Agent Burt English vom Del-Rio-Büro des FBI. Das ist gewissermaßen mein Revier hier. Ich möchte Ihnen den Texas Ranger für diesen Bezirk und den Sheriff vorstellen.« 263
Während der Vorstellung beugte sich Austin zu Martinez hinüber und flüsterte: »Ich wollte immer Agent in einem Außenbüro sein. Fast völlige Unabhängigkeit. Nicht der tägliche Scheiß von oben.« Martinez nickte, aber sie wußten beide, daß in die kleinen Zweigstellenbüros manchmal Agenten strafversetzt wurden, die in einem der Großstadtbüros Mist gebaut hatten, und daß die Versetzung im Grunde eine Stagnation der Karriere bedeutete. Manchen Agenten gefiel es, ihre Kinder in einer Kleinstadt großzuziehen, sie mochten die Autonomie ihrer Situation, oder sie ließen ihre Laufbahn dort ausklingen und überließen den Ehrgeiz den Senkrechtstartern. Aber ebenso viele ärgerten sich über die eher langweiligen Fälle, die es in einem Außenbüro normalerweise gab, und blieben nur, solange sie mußten. Es würde entscheidend sein, zu welcher Kategorie English gehörte; wenn er ein Draufgänger war, hatte er bereits ein Netz von Informanten aufgebaut, eine gut funktionierende Beziehung zur Polizei des Bundesstaats und zur örtlichen Polizei, sauber geschriebene Berichte über jeden Fall, den er bearbeitet hatte, und allgemein ein gutes Gespür für die kriminelle Szene in seinem Bezirk. Er konnte ein sehr wichtiges Verbindungsglied zwischen den Agenten und Beamten sein, die seit Wochen an dem Fall gearbeitet und sich mit dem Informanten abgegeben hatten, und all den Dienststellen von außen, die man für den großen Schlag hinzugeholt hatte. Es war eine Sache, die Fingerspitzengefühl erforderte. Zwangsläufig wurde manches Ego gekränkt. Wenn man jemanden zu sehr beleidigte, konnte ein entscheidendes Beweisstück plötzlich fehlen, oder ein schriftlicher Bericht ließ etwas Wichtiges aus. In einem großen Fall wie diesem 264
konnten schlimmstenfalls ganze Karrieren den Bach runter gehen. Wenn er also ein Arschloch war, dann waren sie alle angeschmiert. Martinez stieß Austin mit dem Ellbogen an. »English ist eine taube Nuß.« Sie waren angeschmiert. »… und ich möchte den verantwortlichen Agenten vorstellen, Special Agent Elliot Sizemore von unserem Büro in San Antonio. Er wird der Kommandant bei dieser Operation sein.« Während Special Agent Sizemore die drei hölzernen Stufen zur Bühne hinaufstieg, murmelte Austin: »Ich dachte, du bist der zuständige Agent für diesen Fall.« »Theoretisch schon. Aber er ist mein Boß, deshalb darf er den Ruhm ernten.« Austin grinste: »Ich spreche sicher im Namen aller ehemaligen FBI-Agenten, wenn ich sage, es ist schön zu wissen, daß sich manche Dinge nie ändern.« Special Agent Sizemore hatte einen Schliff an sich, der von Erfahrung und Ehrgeiz zeugte. Die Versammlung wurde sehr viel aufmerksamer, als er sprach. »Wie viele von Ihnen inzwischen wohl gemerkt haben, hat Washington diesem Fall oberste Priorität eingeräumt. Sie wünschen keine Wiederholung der tragischen Fehler, die in der Vergangenheit bei einigen Sturmangriffen auf Survivalisten gemacht wurden. Es ist meine Aufgabe - und die Aufgabe von Ihnen allen - dafür zu sorgen, daß dies nicht geschieht.« Er sah sein Publikum streng an, als erwartete er abwehrenden Protest, aber niemand sagte etwas. 265
»Okay. Eine gute, solide nachrichtendienstliche Tätigkeit, die sich aus mehreren Quellen speist, berichtet von einer Gruppe gut bewaffneter und gut ausgebildeter paramilitärischer Survivalisten in diesem Lager. Sie sind am Diebstahl von Waffen und Sprengstoff aus verschiedenen Standorten der Armee und der Nationalgarde im ganzen Land beteiligt, nämlich -« er nahm eine Lesebrille aus der Brusttasche, setzte sie auf und zog ein Blatt Papier zu Rate, »C-4, Nervengas, Molotowcocktails, Maschinenpistolen, Gewehre, Munition, Dynamit, Granaten, Mörser und Granatenwerfer.« Gemurmel erhob sich im Raum wie das Schnattern einer Vogelschar in einem Baum. Als sich wieder alle beruhigt hatten, sagte Sizemore: »Während des Überfalls auf ein Waffenlager der Nationalgarde in Louisiana haben Mitglieder dieser Organisation auf eine Wache geschossen und sie leicht an der Hand verletzt. Da die Anführer nie außerhalb des Lagers gesehen werden, wurde eine Erstürmung beschlossen, anstatt sie hinzuhalten und herauszulocken oder zu belagern und zu verhandeln. Aus diesem Grund haben wir unsere Spezialisten für Risikooperationen zu Hilfe geholt.« Er hielt inne, als erwarte er eine Diskussion, und als keine aufkam, fuhr er fort: »Unsere Aufgabe wird es sein, Beweise für folgende Anklagepunkte zu erbringen: umstürzlerische Verschwörung, Transport von gestohlenem Eigentum über mehrere Bundesstaaten, illegaler Besitz bestimmter Automatikwaffen und Mordversuch an einem Bundesbeamten.« Er legte das Papier weg, beruhigte die Zuhörer mit einer 266
Handbewegung, lächelte und sagte: »Außerdem gibt es anscheinend ein obskures texanisches Gesetz, das die Bildung von Privatarmeen verbietet.« Eine Woge nervösen Gelächters schwappte durch den Raum. »Wie auch immer, ich denke, es ist ein gerechtfertigter Schlag.« Als eine erneute Welle von Gesprächen abgeebbt war, sagte er: »Ich möchte Ihnen unsere Terrorismusexpertin vom TRAC vorstellen. Debbie? Kommen Sie bitte hier herauf? Das ist Debbie Wong.« Eine kleine, gepflegte Frau asiatischer Herkunft mit einer unglaublich schmalen Taille, großartigen Beinen und glänzendem schwarzen Haar stieg die Stufen hinauf, nahm das Mikro und stellte es mindestens dreißig Zentimeter tiefer. »Netter Hintern«, murmelte Martinez. Austin runzelte ungehobelt.«
die
Stirn.
»Martinez,
du
bist
»Ich weiß. Primitiv, ungehobelt und gesellschaftlich unmöglich.« »Können Sie mich verstehen? Okay. Ich bin Special Agent Wong«, korrigierte sie Sizemores Fauxpas bei ihrer Vorstellung. »Diese Gruppen bestehen aus geheimen, isolierten Zellen, die über das ganze Land verteilt sind. Ihre Mitglieder nehmen an Guerillataktik, Überlebenstraining, Selbstverteidigung, Waffenschulung und verschiedenen 267
religiösen Aktivitäten teil.« Es wurde sehr still im Raum, als alle Anwesenden bedachten, was diese Aussage für die FBI-Agenten bedeutete, die in der kommenden Nacht ihr Leben aufs Spiel setzten. »Die meisten Leute in diesen Organisationen glauben an etwas, das vage als Christian Identity Movement bezeichnet wird, nämlich daß das Zeitenende gekommen ist, daß die Wiederkunft Christi unmittelbar bevorsteht und rassische und soziale Unruhen diesem Ereignis vorausgehen werden. Ganze Familien leben in diesen Lagern und bereiten sich auf das Armageddon vor. Fairerweise muß man sagen, daß nicht alle Survivalisten Kriminelle sind. Manche von ihnen meinen es gut und kümmern sich größtenteils nur um ihre eigenen Angelegenheiten. Sie sind äußerst unabhängig und glauben, daß sie sich vom eigenen Boden ernähren können.« Während sie sprach, gestikulierte sie anmutig mit ihren hübschen Händen. »Alle jedoch halten die Bundesregierung für ihren Feind. Manche hängen sogar der Theorie an, daß die Regierung der Vereinigten Staaten im Begriff ist, von einer Art ausländischem Kartell entmachtet zu werden, das sie als die ›New World Order‹ bezeichnen.« Sie hielt kurz inne, dann sagte sie: »Was im wesentlichen bedeutet, daß sie Sie töten können und kein schlechtes Gefühl dabei haben.« Unbehagliches Murmeln breitete sich aus. Mike sagte leise: »Manche von diesen Verrückten glauben, daß jede Form von Regierung oberhalb der Bezirksebene gegen die Verfassung ist. Ich meine, da draußen ist jetzt ein ganzer Haufen mehr von denen als zu deiner Zeit beim FBI, Steve. Manche haben Listen mit 268
Zielpersonen für Mordanschläge. Man hat schon gehört, daß sie Finanzbeamte umgebracht haben.« Austin sagte: »Nun ja, wir können ihnen schlecht einen kindischen Irrtum wie diesen vorwerfen, oder?« Mike schüttelte grinsend den Kopf. Special Agent Wong räusperte sich geziert. »Das kürzliche Verbot verschiedener Waffen und so weiter durch den Gesetzgeber ließ viele Möchtegerns die Grenze zur richtigen paramilitärischen Survivalbewegung überschreiten. Sie nennen sich Patrioten, manchmal auch Weiße Patrioten.« »Das Problem ist, daß diese isolierten, bewaffneten Lager eine Brutstätte für Kriminalität sein können. Die Mitglieder beteiligen sich bisweilen an Verbrechen wie bewaffneter Raub, Brandstiftung, Bankraub und Mord, ebenso an Attentaten auf verschiedene Staatsbeamte. Und sie sind felsenfest davon überzeugt, daß alles, was sie tun egal, wie gewalttätig das Verbrechen ist -, nur Notwehr ist und daß sie im Recht dabei sind.« »O Mann«, flüsterte Austin, »und ich hatte ernsthaft vor mitzumachen.« Sie wartete, bis sich die entstandene Unruhe gelegt hatte. »Wenn Sie nun glauben, daß diese Jungs lauter dumme Hinterwäld1er sind, müssen Sie umdenken. Manche sind sehr gebildet. Manche sind Kriegshelden, einige sind Söldner. Uns - nämlich die Vertreter der Bundesbehörden - betrachten sie als ihren Feind, und sie glauben, daß sie sich im Krieg mit uns befinden. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich kann es nicht genug betonen.« »Und sie haben Zugang zu Computern, wie jeder andere auch. Manche dieser Gruppen sind durch Bulletin Boards 269
miteinander verbunden, und gelegentlich helfen sie sich gegenseitig, vor allem wenn eine Bindung an einen charismatischen Anführer besteht. Sie halten sogar Tagungen ab, ob Sie es glauben oder nicht. Die Aryan Nation veranstaltet jedes Jahr eine.« Sie hielt inne. »Gibt es noch Fragen?« Ein ATF-Agent fragte: »Kann man automatisch davon ausgehen, daß alle auf dem Gelände entschlossen sind, für ihre Sache zu sterben?« Wong überlegte ihre Antwort sorgfältig. »Die Terroristen haben einen Spruch: ›Einsteigen kostet nichts, Aussteigen ist unmöglich, außer in einem Sarg.‹« »Das heißt also, sie sind dazu entschlossen?« Wong nickte. »Ich will damit sagen, daß es in einer Gefechtssituation vielleicht nur die Anführer und ein paar extreme Fanatiker sind, die buchstäblich bereit sind, für ihre Sache zu sterben. Die meisten leben so, weil sie auf diese Art Leben stehen, nicht weil sie sich völlig der jeweiligen Sache verschrieben haben, die der Anführer vertritt. Noch weitere Fragen?« »Wer sorgt für den Flankenschutz?« rief jemand aus den hinteren Reihen. Special Agent Sizemore stand rasch auf und wandte sich zu den Anwesenden um. »Ähm, darum kümmere ich mich, Debbie.« Alle im Raum hörten die Herablassung in seinem Ton, aber Austin mußte anerkennen, daß sie keine Miene verzog. »Das HRT wird den Flankenschutz übernehmen«, sagte Special Agent Sizemore. »Sie werden auch eine Bresche 270
in das Lager schlagen und es sichern; das SWAT-Team des FBI-Postens in San Antonio wird sie dabei unterstützen. Dann werden andere Beamte Gelegenheit haben, das Lager zu betreten, um die Anklagepunkte vorzulegen, bei der Durchsuchung der Gebäude zu helfen und Beweismaterial zu sammeln.« Und die Camerons aufspüren, so Gott will, dachte Austin. Es gab noch einige weitere Fragen an Special Agent Wong, dann trat sie das Mikrophon an Sizemore ab. »Ich wollte ursprünglich jemanden von unserer Abteilung für Verhaltensforschung kommen lassen, damit er uns ein Profil des typischen Führers dieser Gruppen gibt, aber dann fiel mir ein, daß der frühere Special Agent Steve Austin hier bei uns ist«, sagte er. »Mister Austin war der federführende Beamte beim Sturm auf die Community und hat Jeremiah Hunter persönlich verhaftet.« Austin witzelte gerade etwas über Möchtegern-Ninjas zu Martinez, als er seinen Namen hörte. Er blickte überrascht auf und hörte gerade noch »… ist inzwischen aus dem Dienst geschieden, aber er kann uns sagen, was wir wissen müssen. Mister Austin? Wo sind Sie?« Widerwillig stand Austin auf. Der Sturm auf die Community war nicht gerade seine größte Ruhmestat beim FBI gewesen, und er war weit entfernt davon, damit angeben zu wollen. Aber er kannte Hunter tatsächlich. Er ging zur Bühne, nahm das Mikro und schaute über die Versammlung, in der einige der aufgewecktesten Polizeibeamten der Welt saßen. »Zunächst möchte ich einmal sagen, daß ich weiß Gott wünschte, einige von euch wären an jenem Tag bei uns gewesen.« 271
Es gab ein dankbares donnerndem Applaus.
Gelächter,
gefolgt
von
»Ähm… ich nehme an, man hat Hunters Kopfbild gefaxt, und ihr habt alle eine Kopie? Okay, dieses Bild ist sechzehn Jahre alt, somit ist Hunter jetzt, wie alt, vierundvierzig? Sechsundvierzig? Ich weiß nicht genau -« Martinez winkte ihm. »Steve? Darf ich?« »Aber gern.« Austin bedeutete Martinez aufzustehen. »Das ist mein guter Freund Special Agent Mike Martinez vom FBI-Büro in San Antonio. Er ist seit Wochen der ermittelnde Beamte in dieser Sache, und er hat den Informanten befragt.« Mike stand auf und wandte sich an die Anwesenden. »Wir warten noch auf die Computerprojektion seines jetzigen Aussehens nach diesem Kopfbild, aber unser Informant hat mit Hunter im Knast gesessen, und er sagt, daß sich der Kerl wirklich nicht sehr verändert hat. Er hat ein paar Krähenfüße und graue Haare bekommen wie wir alle.« Er grinste. »Aber er hat sein Leben lang Gewichte gestemmt und ist in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, es dürfte also nicht schwierig sein, ihn zu erkennen.« »Wie steht’s mit einem Bart?« fragte jemand. Martinez sagte: »Der Informant sagt, er hat keinen.« Er setzte sich wieder. »Danke, Mike.« Austin dachte einen Moment nach. »Okay. Ich denke, das Zweitwichtigste, was Sie über Jeremiah Hunter wissen müssen, ist, daß er ein Feigling ist. Oh, er macht große Sprüche, aber es ist absolut nichts dahinter. Ein reiner Möchtegern, von Grund auf.« 272
Einige der Agenten, die bereits mit Typen wie Hunter zu tun gehabt hatten, nickten. Ermutigt fuhr er fort: »Man darf kein Wort von dem glauben, was der Kerl sagt. Er setzt sich hin und erzählt eine Kriegsgeschichte nach der anderen, und jede einzelne davon ist gelogen. Die Wahrheit ist, daß er nach nur sechs Monaten Dienst unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde und nie in Vietnam war. Und wenn Sie die dreckige Wahrheit hören wollen, eine ganze Menge von diesen sogenannten Survivalisten passen auf diese Beschreibung.« Einige Anwesende sahen überrascht aus. »Aber ja doch. Jeder kann sich Aufnäher und Abzeichen aus Katalogen bestellen, die für die echten Veteranen gedacht sind. Alles, was man braucht, ist eine Kreditkarte, niemand fragt nach dem Kriegsteilnehmerausweis. Und überall im Land bekommt man auf Waffenschauen allen möglichen militärischen Plunder.« Austin schaute in die Menge und sagte: »Tun Sie mir einen Gefallen, wenn Sie diesen Hundesohn festnehmen. Lassen Sie sich den Silver Star zeigen, den er angeblich für Tapferkeit im Gefecht in Vietnam bekommen hat. Die Wahrheit ist, daß er ihn von irgendeinem Obdachlosen gekauft hat.« Austin wartete, bis sich die aufgebrachten Kommentare gelegt hatten. Als es wieder ruhig war, sagte er: »Hunter liebt es, im Mittelpunkt zu stehen, und er kann eine Menschenmenge schneller verführen, als du einer Hure beim Mardi Gras in New Orleans den Slip herunterziehen kannst.« Nachdem das Gelächter vorbei war, sagte Austin: »Ich entschuldige mich bei den Damen.« 273
Einige von ihnen nickten, andere zuckten nur die Achseln. »Er muß immer den größten Schwanz von allen haben oh, nochmals Verzeihung. Zu meiner Zeit gab’ s nicht so viele Frauen beim FBI.« Einige von ihnen lächelten. »Was ich sagen will, es ist alles nur Show. Bei der Verhaftung werden Sie sehen, daß er mit der größten Knarre herumläuft, die er nur auftreiben kann. Ich glaube, er würde mit einer Panzerabwehrrakete herumlaufen, wenn er wüßte, wie er sie tragen soll.« Erneutes Kichern. »Was ist das Wichtigste über Hunter?« rief jemand aus der Mitte. »Sie haben mit dem Zweitwichtigsten angefangen.« »Das Wichtigste, was Sie über Jeremiah Hunter wissen müssen?« Mit einem tiefen Seufzer überflog Austin die Gesichter all der munteren jungen Männer und Frauen, die auf ihn blickten, und sagte: »Das Wichtigste, woran Sie denken müssen, ist… daß er Sie tötet, sobald er Sie zu Gesicht bekommt.«
274
21. Kapitel Der Gedanke an Daniel richtete sie fast zugrunde. Es gab natürlich keine geeignete Möglichkeit, sich von ihm zu verabschieden. Keine Möglichkeit, ihn ihre Gedanken wissen zu lassen. Sie wagte es nicht, ihrem eigenen Sohn zu trauen. Aber sie konnte nicht weggehen, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben. Eine Woche lang lauerte sie auf eine Gelegenheit, aber er war nie allein. Sie war schon dabei zu verzweifeln, als am Abend vor ihrem Aufbruch die anderen Männer an seinem Tisch vor ihm zu Ende gegessen hatten und ihn für einige kostbare Minuten allein ließen. Mit klopfendem Herzen ging sie an seinen Tisch und setzte sich neben ihn. Er sah sie überrascht aber ohne besonderen Unwillen an und aß weiter, als ob sie gar nicht da wäre. Sie bemerkte einen Pickel auf seinem Kinn, und es tat weh zu sehen, daß er in so vielerlei Hinsicht immer noch ein Teenager war. Als sie zu sprechen anhob, wurde sie von einer plötzlichen Gefühlsaufwallung überrascht, und sie hatte Mühe, nicht völlig zusammenzubrechen und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Sie räusperte sich. Sie trank einen Schluck Wasser. Daniel rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und konnte es kaum erwarten aufzustehen. Sie ergriff spontan seine Hand. »Egal was passiert«, sagte sie. »Du sollst wissen, daß ich dich immer lieben werde.« Bevor er etwas sagen konnte, war sie bereits aufgestanden und stürzte zur Tür. Sobald sie draußen war, 275
spurtete sie zu den Waschräumen der Frauen und schloß sich in einem der kleinen Verschlage in der Latrine ein. Sie preßte die Hand fest auf den Mund, damit niemand sie hören konnte, und weinte endlich. Lautlos flossen die Tränen aus ihr, als würden sie kein Ende mehr nehmen. Was hilft dem Jungen die Liebe einer Mutter, wenn Hunter ihn umbringt? dachte sie. Wenn er ihn umbringt, weil sich seine Mutter zur Flucht entschlossen hat. Ich kann es nicht tun. Ich kann es nicht. Wren, die normalerweise ein sehr beherrschter Mensch war, hatte noch nie derart mächtige, überwältigende Gefühlsregungen erlebt. Es war, als würde sie bei lebendigem Leib in Stücke gerissen. Es war beängstigend. Die Versuchung, ihren Plan aufzugeben, war beinahe unwiderstehlich. Schließlich existierte das ganze verrückte Unternehmen bisher nur in ihrem Kopf. Es wäre so leicht, die ganze Sache zu vergessen, die Wasserflaschen und das Dörrfleisch, das sie aus der Messe gestohlen hatte, zurückzubringen, zu duschen und früh ins Bett zu gehen. Niemand würde es je erfahren, und Daniel würde am Morgen noch leben. Selbstverständlich konnte er sowieso überleben, aber es gab nun einmal das sehr reelle Risiko, daß sich Hunter mit dem Leben ihres Sohnes für ihre Flucht rächte. Ob sie Wren schließlich in der Wüste fanden oder nicht, spielte keine Rolle für ihn; für die anderen wäre damit ein Exempel statuiert. Wenn sie blieb, wäre Daniels Überleben gesichert, zumindest vorläufig. 276
Aber Steve Austin, Buck Leatherwood und wer weiß wie viele andere würden sterben, und sie würden wahrscheinlich von ihrer Hand sterben. Während die Tränenflut langsam abebbte, erinnerte sich Wren, daß es nicht Hunters alleiniges Ziel sein konnte, Leatherwood zu töten und Austin zu töten oder öffentlich zu demütigen. Nein, es mußte auch Geld im Spiel sein, kein Zweifel. Jeder von den Männern konnte wahrscheinlich Leatherwood in die Luft jagen, aber nicht jeder konnte einen Safe in zwei Hälften knacken, ohne das Geld auch nur anzusengen. Er brauchte sie. Ohne sie bestand die Möglichkeit, daß er den ganzen Plan über Bord warf. Die Cherokee glaubten, daß alle Menschen, sogar alle Lebewesen durch den gleichen Geist miteinander verbunden sind. Alle lebenden Dinge sind demzufolge eins. Ruhig mit anzusehen, wie andere litten, hieß, sich selbst weh zu tun. Die Umwelt zu schänden hieß, das eigene Nest zu beschmutzen. Wenn du nichts unternimmst und Menschen sterben, kam der Gedanke, hast du kein Recht mehr, um die zu trauern, die beim Sturm auf die Community umkamen. Wren riß eine Handvoll Toilettenpapier ab und schneuzte sich. Um wen weine ich dann? dachte sie. Weine ich um meinen Sohn? Weine ich um mich? Und dann: Du weinst um alle, die das Feuer des Drachens bedroht. Der Drache. Selbst bei den Cherokee ein altes Symbol für die ungezähmten Kräfte menschlicher Angst und Wut. Das Symbol des Bösen. 277
Die Stimme ihrer Großmutter kam erneut zu Wren, während sich die Schatten der Nacht sammelten und die Dunkelheit sich herabsenkte. »Wenn der kleine Zaunkönig sich weigert, den großen Adler von seinem Nest zu vertreiben, wird dieser auch das Nest von anderen plündern. Die Angst existiert nur im Kopf. Hab Mut.« Die Lösung lag daraufhin vor ihr wie ein Geschenk. Friede umgab sie wie die warme Flüssigkeit im Leib einer Mutter. Die Wahrheit war, daß Wren ihren Sohn letzten Endes gar nicht schützen konnte. Nicht mehr. Wenn er ein Mann sein wollte, wurde es Zeit, daß er lernte, sich selbst zu schützen. Sie konnte jedoch das Richtige tun. Selbst kleine Zaunkönige hatten Macht gegen den großen Adler, wenn sie es sich in den Kopf setzen. Wren schlüpfte aus dem dunklen Verschlag, wusch sich an einem der Waschbecken das Gesicht, atmete tief durch und ging zur Baracke, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Von diesem Punkt an schaute Wren nicht mehr zurück.
Der Beobachtungsposten, der nun als Kommandostelle für den Sturmangriff dienen sollte, war als Jagdlager getarnt. Eine Anzahl Kombis und Wohnwagen, viele davon mit Tarnfarbe bemalt, dazu Pickups mit Jagdsitzen und verschiedene andere Fahrzeuge mit Vierradantrieb ballten sich auf dem Gelände. Austin trug Kleidung, die Martinez für ihn aufgetrieben hatte, ausgebeulte Tarnhosen und jacke, eine alberne Mütze und ein T-Shirt, auf dem eine Erdkugel abgebildet war und dazu die Aufschrift: »DIE 278
ERDE HAT VORRANG. Die anderen Planeten nehmen wir uns später vor.« Kurz nach seiner Ankunft hatte Austin ›Bulldog‹ Jeb Porter ausfindig gemacht, den Taktik-Kommandanten der Operation und zuständigen Beamten des HRT, der gerade seine Vorbereitungen traf. Obwohl vorzeitig ergraut, hatte Porter das adlerhafte Aussehen der SWAT-TeamMitglieder und war bemerkenswert fit für einen Mann, der mindestens fünfzehn Jahre älter war als die jungen, gestählten Kerle, die unter seinem Kommando arbeiteten. Austin war ihm einmal in Quantico begegnet, wo sie beide an einem Kurs über die neueste Technologie zur Untersuchung von Tatorten teilgenommen hatten, Dinge wie Fingerabdrücke per Laser zu finden oder den Gebrauch von Luminol, um Blut zu entdecken, das vermeintlich von Möbeln, Fußböden oder Wänden abgewaschen worden war. Glücklicherweise war der Mann alles andere als ein Schwätzer, was man nicht von sehr vielen FBI-Beamten sagen konnte. Porter begrüßte ihn mit einem zerstreuten Händedruck. »Ich muß in einer äußerst dringlichen Angelegenheit mit Ihnen sprechen«, sagte Austin, »und sie ist vertraulich.« Porter musterte ihn lange und durchdringend, dann schickte er alle anderen aus dem Kombi. »Ich arbeite privat für eine Familie«, sagte Austin und wählte seine Worte mit Bedacht. »Die Frau und der Sohn wurden vor einigen Wochen von Jeremiah Hunter entführt, und ich habe allen Grund zu der Annahme, daß er sie in diesem Lager als Geiseln festhält.« »Großer Gott.« Jeb sah ihn aufrichtig entsetzt an. »Vor ein paar Wochen schon, und Sie haben es niemandem vom 279
FBI gesagt?« »Die Familie hatte Angst, daß ihre Lieben in extremer Gefahr wären, wenn auch nur das geringste an die Medien durchsickerte. Wenn man bedenkt, wie paranoid diese Leute sein können -« Austin verzog keine Miene. Es war ja auch nicht gelogen. Porter zog ein kleines Notizheft aus einer seiner vielen Taschen. »Beschreibung.« »Weiblich, weiß, Alter sechsunddreißig, einsfünfundsechzig, siebenundfünfzig Kilo, braune Haare, blaue Augen. Name Wren.« Er wartete, bis Porter die Angaben notiert hatte. »Männlich, weiß, Alter fünfzehn, einsdreiundachtzig, circa achtzig Kilo, braune Haare, braune Augen. Name Daniel.« Austin tastete in der Jackentasche herum und zog ein Schulfoto von Daniel und einen Schnappschuß von Wren hervor. Porter musterte die Bilder. »Nachname?« Austin zögerte. »Cameron.« »Okay.« Porter klappte das Notizheft zu und steckte die Fotos ein. »Ich unterrichte die Männer vom Sturmtrupp und zeige ihnen die Bilder.« Er runzelte die Stirn. »Glauben Sie, Hunter könnte sie in Tarnklamotten gesteckt haben wie die anderen?« »Sehr gut möglich. Ich würde darauf achten, wer nicht bewaffnet ist.« 280
Porter nickte und war bereits auf dem Weg zur Tür. »Ich mache Kopien.« Er schaute noch einmal zurück und sagte: »Ich vermute, die Einsatzleitung weiß nichts davon.« »Sie vermuten richtig. Und auch sonst niemand, was das angeht.« Porter sah Austin lange direkt in die Augen. »Ich lasse es Sie wissen, sobald wir sie haben.« »Danke, Bulldog. Ich wußte, Sie würden das tun.« Nachdem das erledigt war, gab es absolut nichts mehr zu tun für Austin. Er konnte nur warten und versuchen, nicht zuviel zu denken.
Wren wartete volle zwei Stunden nach dem Kommando zum Löschen der Lichter, bis sich das Lager beruhigt hatte und ihre Augen vollständig an die Dunkelheit gewöhnt waren. Dann schlüpfte sie aus der Frauenbaracke in die samtenen Tiefen der nächtlichen Stille, wie der Schatten eines Schattens, ungesehen und ungehört. Da sie wußte, daß eine Wache am Tor stand und eine zweite auf dem Hügelkamm im Osten, führte sie keinerlei Licht mit sich nicht einmal Streichhölzer. Sie bestimmte ihre Position anhand des Polarsterns und suchte sich den Planeten Jupiter aus, um sie aus dem Lager zu führen. Sie konnte einem Stern etwa fünfzehn Minuten lang folgen, bevor er sie aufgrund der Erdumdrehung zu weit von ihrem Kurs abbrachte; daran erinnerte sie sich noch von der Ausbildung im nächtlichen Fährtensuchen, die sie vor vielen Jahren in der Community erhalten hatte. Aber sie hatte so vieles vergessen. 281
Sie hatte vergessen, daß das Fehlen von Licht ihr räumliches Sehvermögen stark beeinträchtigte; schon ihre Füße schienen vom Körper gelöst und weit entfernt zu sein. Felsen erschienen flach. Kahle Äste verschwanden völlig. Und der Lärm. Geräusche wurden in der Nachtluft weit getragen, wie sie sich erinnerte. Jeder Schritt mußte sorgfältig, mit der Ferse zuerst, aufgesetzt werden. Andernfalls konnte sie nicht nur über einen flach aussehenden Stein stolpern, sondern das Knirschen ihrer Schritte könnte auch jemanden auf ihre nächtliche Anwesenheit aufmerksam machen. Aber während sie vorsichtig aus dem Lager in die umliegenden Hügel schlich, kehrte die Erinnerung stückweise zurück. Halte den Kopf in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel zum Boden. Schau um zehn Prozent zur Seite und erfasse die Einzelheiten mit deinem peripheren Sehen. Blick nicht starr, halte deine Augen in Bewegung. Der Neumond bot ihr kein hilfreiches Licht, was andererseits wieder gut war, sonst hätte die Wache auf dem Hügel im Osten sie vielleicht gesehen. Bewegung, fiel ihr ein, war für das Auge am leichtesten zu erkennen. Es war bei weitem kein gerader Pfad. Alle paar Schritte versperrten Felsblöcke, Strauchwerk, Wacholder- oder Mesquitebüsche den Weg. Wenn du um ein Hindernis rechtsherum gegangen bist, dann geh um das nächste linksherum. Andernfalls konnte es passieren, daß sie in einem weiten Kreis ging, wahrscheinlich nach rechts, da sie Rechtshänderin war. Wenn es nur so einfach gewesen wäre. Wenn ein 282
Felsblock wie ein Felsblock ausgesehen hätte und ein Wacholder nur wie ein Wacholder. Aber im Mantel der Dunkelheit wirkten jeder Busch und jeder Fels bedrohlich. Überall lauerten Ungeheuer. Ihre Uhr hatte gottlob ein Leuchtzifferblatt, und als fünfzehn Minuten vorbei waren, wählte sie einen neuen Stern aus ihrer unbegrenzten Auswahl und folgte ihm. Wiederholt überprüfte sie ihre Position anhand des Polarsterns - dem einzigen stabilen Orientierungspunkt am Nachthimmel. Er wurde schnell ihr Freund, das einzige auf der Welt, worauf sie sich verlassen konnte. Bei jedem Schritt drängte es sie, schneller zu gehen. Es war nicht möglich; jedes überstürzte Aufsetzen des Fußes konnte sie stolpern lassen oder das Echo eines fallenden Steins bis zum Fuß der Hügel schicken. Die Stille war vollkommen. In einer Novembernacht gab es kein Summen von Insekten, kein Vogelgezwitscher. Selbst der Wind schien eher zu flüstern als zu heulen. Wren blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Sie hatte nicht daran gedacht, daß sich Objekte selbst im schwachen Licht der Sterne auf dem Kamm eines Hügels als Umriß abzeichnen. Sie mußte dennoch weitergehen. Zumindest im Augenblick gab es wenig, was sie gegen die Möglichkeit tun konnte, als Silhouette vor dem Nachthimmel gesehen zu werden. Alles, was sie tun konnte, war weiterzukriechen und zu hoffen, daß ihr niemand folgte. Sich in dunkler Nacht heimlich über eine offene Landschaft zu bewegen und dabei die Möglichkeit zu berücksichtigen, daß man verfolgt wurde, erforderte äußerste Konzentration. Bald war alles außer ihrem 283
Leitstern und dem nächsten Schritt aus Wrens Denken verschwunden. Daniel lag lange wach und versuchte, eine bequeme Lage in seiner Koje zu finden und nicht an seine Mutter zu denken. Irgend etwas stimmte nicht. Er konnte den Finger nicht drauf legen, aber wie sie heute beim Abendessen zu ihm gekommen war, das war sonderbar gewesen. Das hatte sie noch nie getan. Was meinte sie mit egal, was passiert? Was hatte sie vor? Begleitet von einem kurzen Aufblitzen von Angst fragte er sich, ob seine Mutter daran dachte, sich umzubringen. Sie verstanden sich vielleicht nicht so toll, aber er wollte bestimmt nicht, daß sie so etwas tat. Immerhin war sie seine Mutter. Er wußte, daß sie unglücklich war, aber Hunter meinte, es sei nur eine Frage der Zeit, bevor sie sich an alles gewöhnen und sich beruhigen würde. Er sagte, dieses Unternehmen, das die Alpha/Omegas planten, würde sie begeistern. Daniel entschied, daß seine Mutter absolut nicht der Typ war, der sich das Leben nahm. Als er sich ins Kissen zurückfallen ließ, traf ihn die Antwort wie ein Donnerschlag: Sie hat vor, zu fliehen. Oh, Mann! Was… wie… Es paßte alles zusammen. Aber wie wollte sie es anstellen? Wenn sie eins der Fahrzeuge stahl, würde die Wache am Tor sie erschießen, bevor sie zehn Meter weit kam. Er war mit einer M-1 und jeder Menge Munition 284
bewaffnet. Wollte sie versuchen, zu Fuß zu marschieren? So etwas Verrücktes würde sie doch nicht tun, oder? Sie würde. Er hatte recht, er wußte, daß er recht hatte. Seine Mutter wollte sich in der Nacht wegschleichen; sich quer durch die Wüste davonmachen und… und was? Sie verraten. Natürlich! Genau das würde sie tun! Sie würde laufen, bis sie ein Haus oder einen Laden oder irgendwas fand, und dann würde sie das FBI anrufen! Er wußte es; es wäre ihr egal, ob sie sie verhafteten. Sie würde sie hierherschicken, damit sie sich Hunter holten. Oh, Scheiße. Dann würden sie in ihren dämlichen Ninja-Anzügen hierherkommen, so wie damals in die Community. Hunter sagte, sie hätten nichts Unrechtes getan in der Community, sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert. Er sagte, die FBI-Leute hätten den ganzen Mist von wegen Waffen und so nur erfunden, um ihren Arsch zu retten. Er sagte, der wahre Grund für den Sturm auf die Community sei der gewesen, daß sie einen Haufen High-Tech-Scheiße für die SWAT gekauft hatten und die Ausgabe irgendwie rechtfertigen mußten. Hunter sagte, das FBI wolle einfach nicht, daß irgendwer Waffen besaß, und daß sie Kinder getötet hatten! Es mußte die Wahrheit sein. Seine Mutter hatte nicht gesagt, daß Hunter log, was diese Kinder anging, also nahm Daniel an, daß die ganze Sache stimmen mußte, genau wie Hunter sagte. Hunter war gut zu Daniel gewesen, wie ein Vater. Er hatte Daniel das Schießen beigebracht und wie man sich verteidigte - etwas, das sein sogenannter Dad nie getan 285
hatte! Alles, was der konnte, war nörgeln, nörgeln, nörgeln. Hunter redete mit Daniel, und er hörte wirklich zu, was Daniel zu sagen hatte; er kritisierte nicht dauernd und so. Er akzeptierte Daniel so, wie er war, und versuchte nicht ständig, ihn zu ändern. Scheiße, sie brachte sie vielleicht alle um. Er konnte nicht zulassen, daß sie das tat. Und überhaupt - was, wenn ihr etwas zustieß da draußen? Sie konnte von einer Schlange gebissen werden oder wer weiß was. Sie konnte sich verlaufen. Sie brauchte nicht da draußen zu sein und im Dunkeln herumlaufen. So wie Daniel es sah, blieb ihm keine andere Wahl. Es war zu ihrem eigenen Nutzen, ganz bestimmt. Er würde es Hunter sagen müssen. Sie würden alle aufwecken und nach ihr suchen. Und zwar sofort.
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22. Kapitel In dem überfüllten Kombi, in dem Austin stand und sich mit seiner zu großen Hose und der dämlichen Mütze wie ein Idiot vorkam, war kein Platz zum Hin- und Herrennen, und es machte ihn wahnsinnig. Aber sie hätten ihn nicht einmal mit einer Granate hinausgebracht. Es hatte angefangen, und alle warteten gespannt auf die erste Funkmeldung über eine freigehaltene Frequenz. Martinez hatte es so eingerichtet, daß Austin schon früher einen der zahllosen Probeläufe beobachten konnte, die auf dem militärischen Übungsgelände von Fort Hood durchgeführt wurden (mit Hilfe eines Elitetrupps der Army), deshalb sah er nun vor seinem geistigen Auge, was gerade passierte. (Fort Hood war ausgewählt worden, weil sie dort das Lager einigermaßen gut nachbauen konnten.) Während sie warteten, hatte ein in großer Höhe fliegendes FBI-Flugzeug bereits sieben Elitebeamte des HRT per Fallschirm lautlos abgesetzt. Drei von ihnen sollten die Landezone für den Hubschrauber sichern, während vier Scharfschützen, ausgerüstet mit Nachtsichtgeräten und schallgedämpften Pistolen (die nur ein ersticktes ›Paff‹ hören ließen, wenn sie abgefeuert wurden), alle Wachen ausschalten sollten, die möglicherweise auf den beiden höchsten Hügeln um das Camp der Survivalisten herum postiert waren. Von dort würden sie dann die Zielfernrohre ihrer Hochleistungsgewehre zur Deckung der eindringenden Beamten auf das Lager richten. »Red Team One, hier ist Red Team Six. Over.« Austin fuhr unwillkürlich zusammen. Red Team Six war der Agent, der den östlichen Hügel sichern sollte. 287
»Sprechen Sie, Red Team Six. Hier ist Red Team One. Over.« »Das Paket ist verstaut. Over.« »Roger, Red Team Six. Ende.« Austin stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Durch die Kommunikation der Männer am Boden wußten sie nun, daß ein Hügel gesichert war. Es dauerte etwas länger, bis sie vom anderen Hügel hörten, quälende Augenblicke für alle, die im Kombi warteten. »Red Team One, hier ist Red Team Four. Over.« »Sprechen Sie, Red Team Four. Hier ist Red Team One. Over.« »Niemand daheim. Over.« »Roger, Red Team Four. Ende.« Austin tauschte einen kurzen Blick mit Martinez, der schweigend in einer Ecke gestanden hatte und auf seinen Nägeln herumkaute. Was sie gerade gehört hatten, war interessant. Red Team Four berichtete ihnen, daß auf dem anderen Hügel keine Wache aufgestellt war. »Bulldog, hier ist Red Team One. Over.« Porter, der mit vor Konzentration zerfurchtem Gesicht dem Funkverkehr gelauscht hatte, antwortete rasch. »Roger, Red Team One. Hier ist Bulldog. Over.« »Das Kinderbett ist gemacht. Over.« Nun war die Landezone gesichert. Austin und Martinez blinzelten sich aufmunternd zu. 288
Porter nickte und sagte: »Roger, Red Team One. Bulldog Ende.« Dann sagte er: »Charger, hier ist Bulldog. Over.« Er nahm mit dem Führer des Sturmtrupps Kontakt auf, der im ersten Hubschrauber wartete. »Bulldog, hier ist Charger. Over.« Porter beugte sich angespannt vor und sagte: »Die Wiege ist fertig. Over.« »Roger, Bulldog Wir sind unterwegs. ETA zwo-null. Over.« »Roger, Charger. Viel Glück.« Austin wäre gestorben dafür, auf und ab rennen zu können. Die Hubschrauber brauchten geschätzte zwanzig Minuten bis zur Landezone. »Red Team One, hier ist Charger. Over.« »Sprechen Sie, Charger. Hier ist Red Team One. Over.« »Das Baby ist bettreif. Over.« »Roger, Charger. Schlaflied auf Frequenz zwei. Over.« »Roger, Red Team One. Die Musik ist laut und deutlich. Ende.« So weit, so gut. Die Helikopterpiloten empfingen nun ein Leitsignal, das sie zur Landezone führen würde wie eine Eule, die sich auf eine ahnungslose Feldmaus stürzt. Fünfzehn schweißtreibende, endlose Minuten krochen dahin. Endlich kam das ersehnte Knacken. »Bulldog, hier ist Charger. Over.« 289
»Sprechen Sie, Charger. Over.« »Das Baby wird schläfrig. Over.« Austin hielt es nicht mehr aus. Das hieß, daß vier Hubschrauber vom Typ Huey UH-1H zur Landung ansetzten. In jedem saßen sechs Männer des HRTSturmtrupps, deren Aufgabe es war, das Lager auf der Nordseite zu sichern. Sie flogen mit hoher Geschwindigkeit unterhalb der Kammlinie und kamen mit dem Wind um den Fuß der Hügel herum, um ihr Geräusch so gut wie möglich zu dämpfen. Er dachte an Vietnam… an das Gefühl, wenn sie in eine umkämpfte Landezone einschwebten, angriffsbereit und gefaßt auf wer weiß was, wenn der Boden rascher auf sie zukam, als ihm lieb war, sein Herz in die Hose rutschte und der Magen gleich mit; wie sie auf die Erde sprangen, kurz bevor die Kufen aufsetzten und tiefgebückt von den tödlichen Propellerflügeln wegrannten, wie sein Hirn auf Hochtouren arbeitete, seine Augen in alle Richtungen gleichzeitig schauten in dem Versuch, am Leben zu bleiben… Es war hart, hier zu stehen. »Bulldog, hier ist Charger. Over.« »Sprechen Sie, Charger. Over.« »Das Baby ist im Bett. Sorgen für Deckung aus der Luft. Over.« »Roger, Charger, Bulldog Ende.« Austin fing nun selbst an, auf den Nägeln zu beißen. Jedes von den vier Teams hatte eine andere Farbe als Kennzeichen, und jedes hatte ein ganz besonderes Ziel. Das Blaue Team griff das Auge des Drachen an: den 290
Wohnwagen des Anführers. Gleichzeitig würde das Grüne Team die Baracke der Männer und das Weiße Team die der Frauen sichern. Das Schwarze Team sicherte die Umzäunung und schaltete die Wache an der Straße aus. »Bulldog, hier ist Grey Team One. Wir fahren los. Over.« »Roger, Grey Team One. Bulldog Ende.« Weitere fünfzig Beamte, viele vom SRT, bildeten das Graue Team. Sobald die Hubschrauber aufgesetzt hatten, waren sie in Transportern auf der Straße gestartet, die in das Lager führte. Da sich die Straße über drei holprige Meilen wand, würden sie ungefähr fünf Minuten brauchen, um das Lager zu erreichen. Für die schlafenden Menschen auf dem Gelände war es der Beginn der Apokalypse.
Wren hatte erst wenige Meilen zurückgelegt, als sie etwas hörte, ein Geräusch in der kristallklaren, windstillen Nacht, ein entferntes Brummen wie das Starten eines Fahrzeugs. Sie schaute zurück, aber das Lager war nicht mehr zu sehen von der abgelegenen Seite des nordwestlichen Hügels. Sie hatten ihr Verschwinden entdeckt! Sie suchten bestimmt nach ihr. Anhand der schwarzen Felskolosse, die vor ihr auf dem Kamm der Hügelkette lauerten, wußte Wren, daß eine weitere Schlucht auf sie wartete, möglicherweise ein Bachbett. Sich dort zu verstecken war ihre einzige Hoffnung. Ohne darauf zu achten, ob sie Lärm machte oder Spuren 291
hinterließ, die am Morgen leicht zu finden waren, stolperte sie den Hang hinauf, schürfte sich Hände und Knie auf und blieb mit den Ärmeln ihrer Jacke an Dornenpflanzen hängen. Ihr Herz klopfte wild, ihre Lungen brannten, ihre Hände klammerten, ihre Sinne taumelten. Die Schlucht war tief. Tiefschwarze Gestalten, die dahockten und sie mit der Hand über den Augen beobachteten, stellten sich als Wacholderbüsche und verkrüppelte Mesquitebäume heraus. Sie suchte sich einen dürftigen Pfad im Licht der Sterne aus und rutschte auf dem Gesäß hinab in den Schlund der Bestie. Sie wurde verschlungen. Der Himmel war vollständig verdunkelt, alle Sterne sofort von dem dichten Buschwerk und den verästelten Bäumen verdeckt. Es war eine Welt grenzenloser Dunkelheit und allumfassender, ursprünglicher Angst. Sie stolperte blind dahin und versuchte, nicht zu wimmern wie ein angeschossenes Reh, bis sie sich in ein dichtes Wirrwarr von Zedernästen und Büschen tastete, wo sie sich so klein wie möglich machte und wartete.
Steve Austin, Mike Martinez, Jeb Porter und einige andere Männer rasten über die holprige, kurvenreiche Straße, die das Graue Team eben befahren hatte. Sobald das Gelände gesichert war, würden sie zusammen mit verschiedenen anderen Beamten hineinstoßen. Adrenalin kribbelte in Austins Adern wie Whiskey, und ihm fiel wieder ein, warum er überhaupt zum FBI gegangen war. Der pure Rausch. Außer dem Krieg gab es nichts Vergleichbares, und jeder Veteran, der das nicht zugab, war ein verdammter 292
Lügner. Weißer Kreidestaub wirbelte hinter ihnen auf und leuchtete blutrot im Schein der Rücklichter. Alle hörten in gespanntem Schweigen zu, wie sich die verschiedenen Gruppenführer über Funk bei Bulldog Jeb Porter meldeten. Und dann, fast so schnell wie es begonnen hatte, war alles vorbei. Der Führer des Grauen Teams konnte den Triumph in seiner Stimme nicht verbergen, als er verkündete, was sich später als Bilderbucherfolg bestätigen sollte: unblutig und wirkungsvoll. Anders als die Armee, die die Soldaten dazu ausbildete, zu töten oder getötet zu werden, verfolgte das Geiselbefreiungskommando den Zweck, einen Auftrag mit möglichst wenig Blutvergießen zu beenden. Obwohl sie in hohem Maße in der Lage waren zu töten, war es nicht das vorrangige Ziel. Sie waren dazu da, Haftbefehle zuzustellen, Verhaftungen vorzunehmen und gestohlenes Eigentum sicherzustellen, und sie waren darauf trainiert, nicht zu schießen, es sei denn, sie wurden beschossen oder mußten andere Beamte verteidigen. Der Sturmangriff war absichtlich für die Nacht geplant worden, in der Hoffnung, daß die gut bewaffneten und ausgebildeten Lagerbewohner schlicht nicht genügend Vorwarnzeit haben würden, um wirksam zu reagieren. Sie hatten jedoch keine Zeit zu feiern. Noch mußte Gebäude für Gebäude, Raum für Raum durchsucht und alle versteckten Lagerbewohner herausgescheucht werden. Ein gewaltiges Versteck mit Waffen, die auf die 293
Beschreibung im Haftbefehl paßten, hatten sie bereits entdeckt. Austin aber hatte nur eins im Sinn, als sie endlich durch das Tor gewunken wurden: Die Camerons zu finden. Als hätte er seine Gedanken gelesen, wies Porter den Fahrer an, sie zu dem Wohnwagen zu bringen, wo der Anführer der Organisation unter Bewachung und in Handschellen auf sie wartete. Während sie Gruppen von wie betäubten Lagerleuten passierten, die entweder mit dem Gesicht nach unten auf der Erde lagen oder gerade gefesselt und durchsucht wurden, begann Austin zu zittern. Zum Teil lag das am Adrenalin, gemischt mit Angst, aber größtenteils war es Wut. Wie viele Leben sollte dieser Mann noch zerstören, bevor man ihm das Handwerk legte? Gedanken an Lissie Montgomery gingen ihm durch den Kopf. Sie war so jung gewesen, als er sie zuletzt gesehen hatte, und so verängstigt. Buchstäblich jedesmal, wenn sie ihn traf, riskierte sie ihr Leben. Jedesmal, wenn sie ihnen die Einzelheiten eines geplanten Bankraubs durch die Community umriß, ging sie ein furchtbares Risiko ein. Jedesmal, wenn sie ihnen einen Namen verriet oder die Waffen im Lager beschrieb, spielte sie mit dem Tod. Von Anfang an hatte sie nichts weiter verlangt, als daß niemand verletzt werden dürfe, und doch war sie selbst am tiefsten von allen verletzt worden. Manche FBI-Leute entwickelten im Laufe der Zeit eine gefährliche Sympathie für ihre Informanten. Informanten waren Verbrecher und Lügner, das lag in der Natur der Sache. Sich zu eng mit einem anzufreunden hieß, mit dem 294
Teufel zu flirten. Aber dieses Mädchen war anders; sie war es damals gewesen, und sie war es heute noch. Sie hatte etwas an sich, das Vatergefühle und den Wunsch, sie zu beschützen, in ihm aufkommen ließ. Aber letzten Endes schien es, als hätte niemand vermocht, sie vor Jeremiah Hunter zu schützen. Mehr als alles in der Welt wünschte sich Austin, dieser tapferen Frau die Hand zu schütteln und ihr zu sagen, daß sie nun nach Hause konnte. Austin war natürlich bewaffnet. Er trug die von ihm bevorzugte SIG-Sauer P228 9mm in einem Schulterhalfter. Während sie um die letzte Kurve zum Wohnwagen bogen, hatte er die Phantasie, das Visier seiner Waffe mitten in Jeremiah Hunters arrogantes, gutaussehendes Gesicht zu richten und abzudrücken. Austin stieg als erster aus, aber er wartete, bis Porter sie in den Wohnwagen führte. Seine Ungeduld war zusammengerollt wie eine Kobra, während Porter über Funk letzte Anweisungen an jemanden durchgab. Zwei Männer vom HRT, mit der Remington Modell 870 des FBI bewaffnet, bewachten die Tür. »Gut gemacht, Jungs«, sagte Porter, als er die Stufen hinaufstieg. »Ihr könnt stolz auf euch sein«, stimmte Austin zu, der Porter so dicht auf den Fersen folgte, daß er ihm beinahe drauftrat. Der kleine Aluminiumwohnwagen hatte eine niedrige Tür, und Austin zog beim Hineingehen den Kopf ein. Überall schwarze Ninja-Anzüge. Manche von den Männern hatten immer noch die Kapuze übergezogen, und alle waren schwer bewaffnet. Porter teilte die Menge wie 295
Moses das Meer, als er auf das Sofa zuging, auf dem ein Mann ruhig saß. Austin schob sich neben den Commander. Es war nicht Hunter. »Wer ist der Kerl, Charlie?« fragte Porter einen der schwarzgekleideten Männer. »Ein gewisser Pete Stanley. Ich habe ihn bereits eingegeben, und er tauchte laut und deutlich in den Computern der NCIC und der TCIC auf. Verstöße gegen das Waffengesetz, bewaffneter Raub, Mordversuch - ein nettes Bürschchen.« »Wo ist Hunter?« »Wir fragen herum, seit wir hier sind, Sir«, sagte ein untersetzter Mann in Schwarz, der in der Nähe stand. »Niemand weiß, wovon wir reden. Sie sagen, Hunter war niemals hier. Die meisten haben noch nie von ihm gehört.« »Stimmt das?« »Ja, Sir.« »Danke. Gut gemacht, mein Junge.« »Danke, Sir.« »Also, Mister Stanley, dann wollen wir uns mal ein bißchen unterhalten.« Austin rangelte um einen Platz neben Porter. Pete Stanley war an beiden Armen tätowiert, hatte einen finsteren Ausdruck auf dem häßlichen Gesicht und sah überhaupt wie ein gemeiner Hurensohn aus. »Sie haben Familie, Mister Stanley?« 296
»Ja. Eine Frau und drei Kinder. Sie werden gerade draußen von Ihren Helden terrorisiert.« »Bestimmt werden sie das«, sagte Porter mit einem boshaften kleinen Grinsen. »Möchten Sie sie noch einmal sehen, bevor wir aufbrechen’? Es könnte ansonsten nämlich eine Weile dauern. Sie wissen schon, der ganze Papierkrieg und so. Könnte Tage dauern, vielleicht Wochen.« Stanley schaute zur Tür. Austin betrachtete eine der Tätowierungen; es handelte sich um einen Totenkopf mit einer Schlange, die durch eine der Augenhöhlen kroch. »Sagen Sie mir, wo Jeremiah Hunter ist«, sagte Porter. Der Mann ballte in seinen Handschellen die Faust, und die Schlange machte wellenförmige Bewegungen. »Ich kann Ihnen nur das gleiche sagen wie Ihren mutierten Robotern: Ich habe absolut keine Ahnung, wo Jeremiah Hunter ist. Ich habe ihn vor Jahren kurz im Knast kennengelernt. Aber, selbst wenn ich wüßte, wo er ist, würde ich es euch schmierigen Scheißbullen nicht sagen, nicht einmal, wenn ihr meine Frau und die Kinder umbringt.« Er drehte den Kopf zur Seite und spuckte auf den Boden. Tief in Austin flackerte der erste Zweifel auf. Ihm war, als wüßte er es bereits, wollte es aber noch nicht wahrhaben. Es dauerte ein paar Stunden, bis diese Flamme des Zweifels zu einem verheerenden Feuer wurde, das ihn schließlich verzehrte. Er ließ ihr soviel Zeit. 297
Zeit genug, um jeden Quadratzentimeter des Lagers zu durchsuchen. Zeit genug, um noch und noch Leute zu befragen. Zeit genug, um zu begreifen, daß der Informant, der diesen großen Schlag überhaupt erst ermöglicht hatte, verschwunden war wahrscheinlich etwa zu der Zeit, als Martinez den Kontakt mit ihm verloren hatte. Zeit genug, um herauszufinden, daß sich die Aktion zwar gelohnt, der Informant aber (getreu der Natur der meisten Informanten) in bezug auf Jeremiah Hunter gelogen hatte, sobald er merkte, wie einträglich Informationen über Hunter sein konnten. Zeit genug, um sich klarzumachen, daß Lissie Montgomery und ihr Sohn Daniel nirgendwo in diesem Lager aufzufinden waren, daß sie in Wahrheit nie auch nur in der Nähe dieser Survivalistenenklave gewesen waren. Zeit genug, um der schmerzhaften Tatsache ins Auge zu blicken, daß er Harry Cameron und seiner kleinen Tochter Zoe gegenübertreten und ihnen sagen mußte, daß er es wieder versaut hatte, daß ihre Angehörigen verschwunden blieben und nicht nach Hause kamen. Sie waren verschwunden, verschwunden… und er wußte nicht, wo er sie finden könnte, wußte nicht einmal, wo er suchen sollte. Oder ob sie überhaupt noch am Leben waren. Über alle Maßen enttäuscht und voller ohnmächtiger Wut setzte sich Austin in den kühlen Stunden vor Morgengrauen schließlich auf die Rückbank eines unbenutzten Jeeps. Um ihn herum arbeiteten ermüdete FBI-Beamte, sie unterhielten sich leise und lachten gelegentlich, ohne daß er sie hören konnte. Er saß lange da und starrte ins Leere. Dann legte er seinen müden Kopf an die Rückenlehne des Vordersitzes und weinte. 298
23. Kapitel Daniel war überrascht, daß Hunter nicht wütend wurde, als er ihm von seiner Mutter erzählte. Er verhielt sich, als hätte er es die ganze Zeit erwartet. »Du hast das Richtige getan, mein Sohn«, sagte er. »Und mach dir keine Sorgen - wir finden sie.« Binnen fünf Minuten war das ganze Lager alarmiert, und noch mal fünf Minuten später waren alle im Speisesaal versammelt. Hunter teilte sie in kleine Gruppen von vier Leuten ein und wies ihnen Sektoren zu, in denen sie suchen sollten. Er riet ihnen, sich kleine Stückchen fluoreszierendes Klebeband auf den Rücken zu kleben, damit sie sich im Dunkeln nicht verloren, und sich zu vergewissern, daß ihre Waffen mit Nachtvisieren ausgerüstet waren. Die Alpha/Omegas nahmen allradgetriebene Jeeps mit ZweiWeg-Funk und fuhren jeweils zu zweit. Daniel fuhr mit Hunter. Da sie nicht wußten, ob Wren bewaffnet war oder nicht, nahmen sie alle eine Waffe eigener Wahl mit. Daniel trug nun den 45er Colt, mit dem ihn Hunter an jenem ersten Tag am Schießstand feuern lassen wollte. Die Wahrheit war, daß er ein bißchen mehr Rückschlag hatte, als Daniel lieb war. Nach den Schießübungen taten ihm die Handgelenke immer höllisch weh, aber er wollte sich von den anderen keine Memme nennen lassen. Oder schlimmeres. Obwohl Hunter diese Gleichförmigkeit gar nicht verlangte, trugen die meisten Leute im Lager Colts oder verschiedene 9mm-Pistolen; die Colts, weil sie von der Army mit so viel Erfolg benutzt wurden, und die anderen, 299
weil man notfalls die Munition austauschen konnte, zum Beispiel bei einer Schießerei. Die meisten Mitglieder der Strike Force bevorzugten Gefechtsflinten oder die Heckler & Koch M5-Maschinenpistole. Hunter trug natürlich seinen ›Bärentöter‹. Daniel bemerkte, daß er den Lauf gegen einen längeren ausgetauscht und ein Zielfernrohr aufgesteckt hatte. Hunter hatte außerdem ein Nachtsichtgerät dabei, und Daniel war bei alldem nicht wohl. Er glaubte zwar nicht, daß Hunter seine Mutter wie ein Stück Wild erlegen wollte, aber wozu hatte er dann das ganze Zeug mitgenommen? Daniel wollte Hunter schon danach fragen, während sie in einem Jeep Cherokee mit Vierradantrieb über das unebene Gelände holperten. Aber irgend etwas an der grimmigen Entschlossenheit, mit der Hunter sich aufs Fahren konzentrierte, ließ ihn davon Abstand nehmen. Alle waren angewiesen, nur sehr sparsam Licht zu gebrauchen. Jagdaufseher neigten dazu, unerklärlichen Lichtern in dieser abgelegenen, menschenleeren Gegend nachzugehen. Tatsächlich benutzten sie nachts nicht einmal im Lager Licht, außer sie hatten die Fenster abgedunkelt, und es gab überhaupt keine Außenbeleuchtung an den Gebäuden. Hunter hielt den Jeep an und sagte: »Wir steigen jetzt aus und gehen. Und ich bringe dir ein paar Dinge über Nachtpatrouillen bei.« Er fing an, auf dem Rücksitz nach etwas zu wühlen. Das war ja so cool. Das hier war mit Abstand das Coolste, was er in seinem ganzen Leben getan hatte. Eric, Meshak und die anderen zu Hause schienen so weit weg 300
wie Erinnerungen an die Kindheit. Sein Leben und die Schule hatten ihn so angeödet, Hunter hatte ihn davor gerettet, und dafür war ihm Daniel dankbar. Hunter war in jeder Beziehung sein eigener Herr. Das war eine Sache, die Daniel an dem Typ mochte - er brauchte niemanden. Er wurde mit jeder Situation allein fertig, Mann, so weit hoffte Daniel eines Tages auch zu sein. »Okay, gehen wir.« Hunter und Daniel stiegen aus dem Jeep, und als Daniel die Tür schloß und das kleine Licht am Wagendach ausging, waren sie in plötzliche, unermeßliche Dunkelheit getaucht. Es erinnerte ihn an den kleinen Raum, den er sich mit seiner Mutter in den ersten Tagen im Lager geteilt hatte. Nur, daß dies hier kein kleiner Raum war. Es war ein riesiges und gnadenloses Land. Und seine Mutter war allein hier draußen. Da bekam Daniel zum ersten Mal Angst.
Wren wartete zusammengekauert unter den verschlungenen, stachligen Armen des Wacholders, und es kam ihr wie Stunden vor. Sie wollte gerade aufstehen, als sie hörte, wie Stiefel auf dem Fels knirschten und Zweige an Kleidung streiften. Es klang unglaublich laut, fast als wäre es direkt neben ihr, aber sie wußte, daß ihr die Dunkelheit wieder einmal einen Streich spielte. Sie wagte kaum zu atmen und wartete. Bald hörte sie den unverwechselbaren Krach, als jemand in das trockene Bachbett hinunterrutschte, wahrscheinlich ziemlich genau so, wie sie es getan hatte. Unterdrückte Flüche verrieten 301
ihr, daß es zwei Männer waren, aber sie konnte noch nicht sagen, wer. »Himmel! Hier unten ist es ja schwärzer als in der Muschi einer Hexe.« »Pssst.« »Was?« »Hast du nichts gehört?« Smithy. Einer war mit Sicherheit Smithy. Der andere war ohne Zweifel auch einer von den Alpha/Omegas, da die Elite selten mit dem gemeinen Volk verkehrte. Big John vielleicht. Jedenfalls nicht Kicker. Kickers tiefen Baß hätte sie überall erkannt. Was spielte es auch für eine Rolle? Wenn sie sie sahen, würden sie erst schießen und dann Fragen stellen. Wrens Herz erschütterte bei jedem Schlag den ganzen Körper; sie war überzeugt, daß sie es hören konnten. Plötzlich schien genau rechts von Wrens schützendem Wacholder ein helles Licht auf. Sofort drückte sie fest die Augen zu. »Smithy, du Trottel! Du hast mir mit dem Licht direkt in die Augen geleuchtet, und jetzt bin ich total blind. Mach es aus, du Idiot. Verdammt noch mal!« »Tut mir leid.« »Wir sollen kein Licht ausdrücklich befohlen…«
benutzen.
Hunter
hat
»Ja, und ich hab bemerkt, wie der große Hunter für sich ein paar Nachtsichtgläser mitgenommen hat.« »Wirklich?« 302
»Und ob. Meinst du, der wollte hier im Dunkeln herumstolpern wie der Rest von uns?« Interessant, dachte Wren. Scheint so, ah würde sich da Ärger zusammenbrauen in der Mannschaft. Naja, was weiß ich. »Jedenfalls wollte ich nur helfen.« »Das Licht macht es nur noch schlimmer, du Schwachkopf.« »Machen wir, daß wir hier rauskommen. Hier wird’s mir unheimlich.« »Geh du voran. Elefantengetrampel.«
Ich
folge
Schöne Nachtsuche. Ex-Sträflinge Soldaten ab, dachte Wren sarkastisch.
einfach geben
dem lausige
Unendlich langsam atmete sie aus. Sie zitterte so heftig, daß sie fürchtete, der Baum könnte sie verraten. Als die Männer in dem leeren Bachbett entlanggingen, das die Schlucht geformt hatte, hörte Wren: »… ist ein verdammter Narr, wenn er glaubt, wir finden sie hier draußen in der Pampa, mitten in der Nacht und ohne Licht. Nix wie Scheiße. Dan hätte einfach den Mund halten sollen. Dann hätten wir ihr Fehlen am Morgen bemerkt, und sehr weit kommt sie in der Dunkelheit sowieso nicht.« Sie entfernten sich noch weiter. Wren, der sich der Magen verkrampfte, strengte sich an über den Krach, den sie in den Büschen machten, zu hören, was sie sagten. Sie verstand nur noch: »… der Junge ihm unbedingt in den Arsch kriechen mußte. Ist seine Lebensaufgabe.« »Da kenn ich noch einen…« 303
Schließlich waren sie weg. Wren rührte sich nicht, sehr lange nicht. Es schien ihr einfach nicht mehr der Mühe wert zu sein. Dann zwängte sie sich steif und fröstelnd und in der Seele verwundet aus ihrem Versteck. Ein Schluck Wasser tat ihrem vor Angst trocknen Mund gut. Die Bewegung half gegen die Kälte. Aber es gab keine Medizin gegen Lebensüberdruß. Wren kletterte blind aus der Schlucht, bis sie schließlich keuchend wieder unter dem Nachthimmel stand. Automatisch blickte sie nach oben. Sie mußte den Polarstern wieder finden. Er war wahrhaftig ihr einziger Freund.
Als Cam Steve Austin die Tür öffnete, wußte er im selben Moment, daß es schlechte Neuigkeiten gab. »Sagen Sie mir nur eins«, sagte er, die Hand noch immer am Türgriff. »Sind sie tot?« Für einen Augenblick verschwand die Zeit. Es gab keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur Austins erschöpftes, betrübtes Gesicht. Und dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er zögernd. »Soviel ich jedenfalls weiß, sind sie nicht tot. Ich kann nichts versprechen, aber soviel ich weiß, sind sie noch am Leben.« »Dann waren sie also nicht dort? Was ist passiert?« »Darf ich hereinkommen? Ich finde, wir sollten das im Haus besprechen.« »Natürlich. Ja, natürlich, kommen Sie herein, Mister Austin. 304
Bitte.« Cam trat zur Seite und hielt die Tür auf. Er setzte einen Fuß zurück und hielt mit einer Hand weiterhin die Tür, und Austin trat über die Schwelle, aber nichts davon passierte tatsächlich. Nichts davon war real. Es war ein Traum, nicht die Wirklichkeit. Ein böser Traum. Er würde aufwachen. An einem der nächsten Tage, da war er sich sicher, würde er aufwachen. Zoe kam hastig ins Zimmer, und nach einem Blick in ihr Gesicht wich Cams Betäubung zuerst einem Kälte-, dann einem Hitzegefühl. »Wo sind Mom und Daniel? Ich dachte, Sie bringen sie nach Hause, Mister Austin.« »Kommt mal beide mit hier rein und setzt euch. Ich erzähle euch alles.« Austin machte einen Schritt Richtung Wohnzimmer. »Dad?« In ihrem Gesicht lag alle Hoffnung der Welt, und Cam spürte, wie ihm wieder kalt wurde. Sie wandte sich an Austin. »Mister Austin, was ist los? Sagen Sie’s mir.« »Ich erzähle euch alles, wenn…« »Sagen Sie’s mir jetzt!« schrie Zoe, und ihre Stimme war hoch wie die einer Fünfjährigen. Austin erstarrte. Cam schaute auf seine Füße. »Wir haben deine Mutter und deinen Bruder in dem Lager nicht gefunden«, sagte Austin. »Wir haben die ganze Nacht gesucht. Alles war so, wie der Informant es beschrieben hatte. Wir haben zahlreiche Verhaftungen vorgenommen. Wir haben gestohlene Militärausrüstung 305
konfisziert. Aber Jeremiah Hunter war nicht da. Er war nie dort gewesen. Unser Informant hat gelogen.« »Und Sie haben ihm geglaubt?« sagte Zoe mit einem hysterischen kleinen Lachen. »Ich meine, er ist schließlich ein Verbrecher, oder?« »Zoe…« Austin hob die Hand. »Nein. Sie hat recht.« Er rollte die Augen nach oben. »Aus dem Munde von Kindern…« Nach einem verlegenen Schweigen sagte Cam: »Ich glaube, ich muß etwas mit den Händen tun, Mister Austin. Bitte kommen Sie mit in die Küche, dann mache ich uns Kaffee.« Er und Austin wandten sich zur Tür und hätten beinahe Zoe vergessen, die traurig fragte: »Krieg ich einen Kakao?« Cam nahm sie fest in die Arme. Sie zitterte wie Espenlaub. »Aber sicher, Schatz. Kakao also. Ich mache dir meine Spezialmischung.« Während Austin und Zoe auf Barhockern an der Küchentheke saßen, machte ihnen Cam etwas zu trinken und grub ein paar Kekse aus. Austin redete lange, seine Stimme war von Selbstvorwürfen und Bedauern getrübt. Er tat Cam leid. »Sie haben Ihr Bestes getan, Mister Austin. Ich hätte auch nichts anderes tun können.« »Genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen«, sagte Austin. »Ich glaube, daß ich alles getan habe, was in meiner persönlichen Macht steht, um Ihre Familie zurückzubringen, und es hat nicht gereicht. Ich denke außerdem, daß es jetzt an der Zeit ist, mit der Sache an die 306
Öffentlichkeit zu gehen und die Würfel fallen zu lassen, wie sie fallen. Dann wird das FBI mobil machen, und täglich werden Leute Ausschau halten.« Cam stieß einen Seufzer aus und nickte. »Was meinst du, Zoe? Es sollte auch deine Entscheidung sein.« »Als Mom in Schwierigkeiten war, das ist lange her, und sie hat eigentlich nichts Falsches getan, oder, Mister Austin?« Er zögerte. »Ich muß es dir sagen. Sie hat bei einem Bankraub mitgeholfen. Aber die Bank war zu diesem Zeitpunkt nicht besetzt, und niemand wurde verletzt. Außerdem sollte man ihr Straffreiheit gewähren, weil sie freiwillig und umfassend mit uns zusammengearbeitet hat.« »Dieser Hunter… er hat sie dazu gezwungen, oder?« »Wahrscheinlich.« »Könnten wir uns nicht einen Anwalt nehmen oder so? Jemand, der Mom helfen könnte.« Cam lächelte. »Ja, wir könnten uns einen Anwalt nehmen oder so.« »Aber solange sie bei Hunter ist, könnte er ihr weh tun, stimmt’s? Oder Daniel.« Mit verzerrtem Gesicht sagte Cam: »Möglich.« »Dann machen wir es doch.« Austin sagte: »Sie müssen sich darauf gefaßt machen, daß die Sache viel Aufmerksamkeit erregen wird. Die Medien werden Sie überrennen. Sie können Ihnen das Leben zur Hölle machen.« 307
Cam schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, als es bereits ist.« Zoe fing seinen Blick auf und schenkte ihm ein halbes Lächeln, das besagen sollte: Wir stehen das gemeinsam durch, Dad. »Lassen Sie mich eins fragen«, sagte Cam. »Können Sie nicht eine Menge Ärger bekommen? Ich meine, als ich Wren bat, mich zu heiraten, und sie mir von ihrer Vergangenheit erzählte… es ist schwer zu erklären, warum ich Sie damals angerufen habe. Es ist nicht so, daß ich sie nicht mehr geliebt oder Angst gehabt hätte.« Austin berührte ihn am Arm. »Sie sind ein mutiger Mann, und Sie wissen, daß es manchmal am allerschwersten sein kann, einfach nur das Richtige zu tun.« »Mag sein«, sagte Cam zweifelnd. »Ich habe seit sechzehn Jahren Schuldgefühle deswegen.« »Das kann ich verstehen. Sie ist Ihre Frau, und Sie lieben sie, aber Sie waren gewissermaßen gezwungen, sie zu hintergehen, wenn sie das Richtige tun wollten.« »Sie hat es dank Ihnen nie erfahren. Und ich werde Ihnen bis an mein Ende dankbar sein für das, was Sie getan haben, Mister Austin.« »Finden Sie nicht, daß es Zeit ist, mich Steve zu nennen?« Cam grinste. »Wahrscheinlich.« »Jedenfalls hatte die Kleine die Hölle durchgemacht. Und nicht nur das, ohne sie hätten wir auch Hunter niemals erwischt. So aber haben wir soviel belastendes Beweismaterial auf dem Gelände gefunden, daß wir ihre Aussage gar nicht brauchten, um Anklage zu erheben. 308
Außerdem gab es keinen Hinweis darauf, daß sie während des Sturms auf die Community auf FBI-Beamte gefeuert hat. Ich vermute, daß sie in Panik geriet und schnell in den Tunnel schlüpfte. Alles in allem fand ich also, daß die Vereinigten Staaten in ihrer Schuld standen, verstehen Sie? Sie hatten, was sie wollten. Wren war nie wirklich wichtig, von Anfang an nicht.« »Warum haben Sie sie dann nicht gemeldet, damit sie ihr Glück mit dem Rechtssystem versucht?« Austin zuckte die Achseln. »Sie hatte die Chance auf ein völlig neues Leben, einen neuen Anfang. Ich hatte Angst, daß sie diese Chance wieder verlieren würde, wenn sie für einige Zeit im Gefängnis gelandet wäre. Ich konnte diese Vorstellung einfach nicht ertragen. Nicht, nachdem ich ihr mein Wort gegeben hatte.« »Ich hätte auf sie gewartet«, sagte Cam. »Ja. Jetzt weiß ich das.« »Ich habe mich immer gefragt - was haben Sie Ihren Vorgesetzten erzählt?« »Nichts«, sagte Austin. »Ich habe ihnen nie ein Wort gesagt.« »Dann… haben Sie also jemanden gedeckt und unterstützt, der vom FBI gesucht wurde, obwohl Sie FBIBeamter waren.« »Darauf läuft es ungefähr hinaus, ja.« »Können Sie jetzt nicht Ärger bekommen?« »Ich weiß es nicht. Und es ist mir auch egal inzwischen. Alles, was ich will, ist, diese Frau und ihren Sohn wieder nach Hause zu bringen, wo sie hingehören. Und ich werde 309
alles tun, was in meiner Macht steht, um dafür zu sorgen. Sie haben mein Wort, was immer es wert ist.« »Daran habe ich nie gezweifelt.« Eine Weile sagte niemand etwas. Sie wußten, was jeder zu tun hatte, und jeder fürchtete sich auf seine Art davor. Gleichzeitig wußten sie, daß es die einzige Möglichkeit war, die einzig verbliebene Hoffnung. Und die Zeit wurde knapp.
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24. Kapitel Nach und nach wurde Wren zu einem Geschöpf der Nacht. Wie der Wind sammelte auch sie Kraft für den Morgen. Er umhüllte sie mit seinen mächtigen Schwingen, übertönte ihre Schritte und verwirrte ihre Verfolger mit Phantomgeräuschen. Schließlich ließen sie von ihr ab und kehrten in ihre Betten zurück, sie aber ging weiter, getarnt vom Wind, der nichts so sehr liebte, wie den Räuber mit vermischten Gerüchen und verborgenen Geräuschen zu verwirren. Der Wind war jedoch launenhaft, und man konnte ihm nicht immer trauen. In manchen Nächten tat er genau das Gegenteil. Aber in Wrens erster Nacht in der Wildnis war der Wind ihr Freund und tat sich mit der Dunkelheit zusammen, um ihr Fortkommen zu verschleiern. Zuletzt genügte Wren das Licht der Sterne. Trotzdem mußte sie noch vorsichtig auftreten, denn ein Loch konnte wie ein dunkler Stein oder totes Holz aussehen, und ein verstauchter Knöchel hätte sich in ihrer Lage als tödlich erweisen können. Ihr Marsch fiel in einen Überlebensrhythmus. Zuerst bestimmte sie immer den Kurs nach den Sternen, dann schaute sie zu Boden, um ihre Füße aufzusetzen, anschließend legte sie den Kopf schief und spähte aus den Augenwinkeln nach vorn; wieder zurück zu den Füßen, nach oben, um die Sternenkarte zu überprüfen, hinab zu den Füßen, den Kopf verdrehen und nach vorn blicken. Rechts um dieses Hindernis, links um das nächste. Auf die Uhr sehen, den Polarstern suchen, einen neuen Leitstern wählen. 311
Die Cherokee glauben, daß sehr weise Menschen nach ihrem Tod zu den Sternen eingehen. Wren gefiel der Gedanke, daß ihre Großmutter irgendwo da droben war, sie führte und aufpaßte, daß sie nicht den falschen Stern auswählte. Manchmal dachte sie über die Geheimnisse von DNA und der kosmischen Spirale von Raum und Zeit nach. Waren die Instinkte ihrer Vorfahren in ihre Zellen eingeprägt und lehrten sie lange vergessene Fähigkeiten? Oder lebte der Geist ihrer Großmutter in ihrer Seele fort und sprach in den Augenblicken der größten Not zu ihr? Waren die Antworten in den Sternen zu finden oder in ihrem eigenen Herzen? Dann begannen die Sterne zu ihrer größten Bestürzung zu verblassen. Panik machte sich breit. Was würde sie ohne sie anfangen? Aber es war nur die Dämmerung. Sie beschloß, sich ein Versteck zu suchen, bevor die aufgehende Sonne die Erde beleuchtete und ihre Verfolger zu ihr führte. Dort würde sie eine Weile schlafen. In einer Senke kauerten drei Lärchen zusammen wie tratschende alte Frauen, ihre Äste reichten wie Arme bis zum Boden hinab, als bearbeiteten sie die Erde mit den Fingern. In dem immergrünen Nadelkleid versteckt, entdeckte sie ein weiches Bett - vielleicht die Zuflucht einer Hirschkuh und ihres Kitzes. Sie kroch in den verborgenen Raum und rollte sich zusammen, totes Holz und den Ärmel ihrer Jacke benutzte sie als Kopfkissen. Irgendwie brachte sie es fertig, noch an eine letzte Sache zu denken: Sie legte einen Stock so auf die Erde, daß er nach Norden zeigte. 312
Schließlich ergriff die Müdigkeit von ihr Besitz, und sie gab ihr nach. Beinahe augenblicklich war sie eingeschlafen.
Im Lager der Armageddon-Armee wurde das Frühstück eine Stunde früher serviert, damit die Soldaten beim ersten Tageslicht zur Suche nach Daniels Mutter aufbrechen konnten. Sie erhielten den Befehl, sich auf einen Umkreis von zwei Meilen um das Lager zu konzentrieren und gründlich jeden trockenen Bachlauf, jeden Baum und jedes Loch im Boden, das als Versteck dienen könnte, zu durchsuchen. Dave und Meredith im Hauptquartier waren bereits verständigt. Sofort nachdem Daniel Hunter von der Flucht seiner Mutter erzählt hatte, war die dortige Mannschaft mobilisiert worden. Sie hatten rund um die Uhr Wachen an der Straße zum Highway und bei den Fahrzeugen in dem falschen Jagdlager aufgestellt. Besonderes Augenmerk schenkten sie den Stromleitungen, die vom Lager aus nach Süden zum Highway liefen, für den Fall, daß Wren sie als Wegweiser nach draußen benutzte. Bislang gab es jedoch keine Spur von ihr. Daniel hatte nicht viel geschlafen. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr Sorgen machte er sich um seine Mutter. Er sah nicht, wie sie sich hätte bewaffnen können; Big John führte genau Buch über alle Waffen und wer gerade welche hatte. Daniel wußte ganz sicher, daß manche von diesen Leuten schießwütig waren; sie würden wahrscheinlich erst auf sie schießen und dann nachsehen, ob sie bewaffnet war oder nicht. 313
Und keiner hier würde schießen, um sie nur zu verwunden. Speziell Meghan gab ihm zu denken. Sie war hübsch und lieb und alles, aber er hatte eine düstere Seite an ihr entdeckt. Sie wachte eifersüchtig über ihre Stellung als Hunters Frau; die Tatsache, daß er so viel Mühe auf sich genommen hatte, um eine frühere Freundin ins Lager zu bringen, paßte ihr gar nicht. Sie erwähnte es Daniel gegenüber nie, aber er sah es an ihren Augen, wenn seine Mutter in Hunters Nähe war. Es war komisch, mit anzusehen, daß eine Frau auf seine Mutter eifersüchtig war. Jedenfalls traute er ihr ohne weiteres zu, daß sie seiner Mutter den Kopf wegpustete, wenn sie nur halbwegs die Chance dazu hatte. Wieso mußte seine Mutter so etwas tun? Hunter hatte ihr nichts getan; er war nicht einmal zudringlich geworden. Die Schatten von Zoe und seinem Vater, die jeden Tag ein bißchen größer in einem Winkel seiner Seele sichtbar wurden, flüsterten ihm Schuldgefühle ins Ohr, aber er war noch nicht bereit, sich ihnen zu stellen; er wollte nicht daran denken. Während er seinen Nylonhalfter umschnallte, rief sich Daniel ins Gedächtnis, was ihm Big John gesagt hatte: Wenn Hunter darauf bestand, daß er seine 45er gespannt und verriegelt trug, dann mußte er die Lasche zulassen, um den Spannmechanismus vor Dreck zu schützen. Er tat es, aber er verriegelte die Lasche nicht; man konnte schließlich nicht wissen, was da draußen vielleicht passierte.
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Heftiger Hunger und ein entwaffnender Drang, zu pinkeln, weckten Wren aus einem von Träumen gehetzten Schlaf. Ihr Kopf schmerzte, und die morgendliche Kälte war ihr durch die Kleidung bis in die Knochen gedrungen. Sie spähte aus ihrem Schutz und sah keine Anzeichen dafür, daß jemand in der Nähe war, deshalb kroch sie hinaus, um sich zu erleichtern. Der kalte Wind verschlug ihr den Atem. Nachdem sie in ihren Zufluchtsort zurückgehastet war, nagte sie an einem Stück Dörrfleisch und trank ein wenig Wasser. Dann kämmte sie mit den Fingern ihr Haar und flocht es wieder zusammen. Die Versuchung, in ihrem kleinen Refugium zu bleiben, war groß. Wie ein Kind, das glaubt, daß man es nicht sieht, wenn es sich unter einer Decke versteckt, vermochte sie sich beinahe einzureden, daß sie sie niemals finden würden, wenn sie nur sehr leise war. Aber sie würden sie finden. Sie würden sie aufspüren wie ein Stück Wild. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, weiterzugehen, bis sie ein Telefon oder ein Fahrzeug oder eine Gruppe Jäger erreichte - alles, was Hilfe versprach. Als Wren aus den Wacholderbäumen trat und sich umblickte, sah sie nichts als eine staubige, grüngesprenkelte, gelbbraune Ödnis. Der khakifarbene Boden unter ihren Füßen war hart wie Beton. Es war ein riesiges Niemandsland, gesichtslos wie der ausgebleichte Himmel über ihr. Nachdem sie ihren Stock zu Rate gezogen und sich nach Norden ausgerichtet hatte, machte sie sich auf den Weg. 315
Aus der Nähe betrachtet waren die Felsen nicht alle gleich. Manche waren mit rostigen Flecken wie von vergossenem Blut überzogen. Das Land war übersät mit totem Holz, als hätte ein sorgloser junger Baum es auf dem Weg zu einer Wasserstelle fallen gelassen. Später würde sie ihre Position nach der Sonne bestimmen und weitergehen. Ihre einzige Gesellschaft war das uralte Klagen des Windes und das Knirschen ihrer Füße auf dem kiesigen Boden. Da das Gelände nicht flach war, sondern von sanft gewölbten Hügelketten durchzogen, mußte sie häufig Hänge hinaufstapfen. Sie brach sich deshalb einen langen, glatten Dorn von einem Sotol-kaktus ab, wie ihr Big John erklärt hatte, und benutzte ihn als Wanderstab. Das Wort für die speerförmige Pflanze war spanisch, hatte Big John gesagt, und die frühen Siedler hatten tatsächlich Häuser daraus gebaut, da es kein Holz gab und nicht einmal die Grasnarbe, wie sie die Neuankömmlinge in der Prärie benutzten. Als die Sonne direkt über ihr stand, hielt sie im Windschatten einer Senke, ruhte sich im Schatten eines mächtigen Felsblocks aus und nahm noch etwas Wasser und Dörrfleisch zu sich. Winzige purpurrote und gelbe Blumen schienen hier und da aus dem blanken Fels zu wachsen; es war angenehm, zu wissen, daß selbst in dieser Öde eine gewisse natürliche Schönheit zu finden war. Als sie sich erschreckte, weil sie kurz eingedöst war, rappelte sie sich auf und ging weiter; den Stock setzte sie im Gleichtakt mit dem linken Fuß. Überall mußte sie auf 316
kleine Gefahren achtgeben, besonders auf eine Pflanze, die trefflicherweise ›Alldorn‹ genannt wurde, weil sie nur aus Dornen bestand. Es wäre bestimmt häßlich gewesen, in sie zu stolpern. Gelegentlich stieß sie auf Graspolster, aber sie waren nie grün, sondern immer von graubrauner Farbe. Selbst jetzt im November war die Sonne unbarmherzig, und sie zog eine Schirmmütze mit Tarnmuster aus einer der seitlichen Beintaschen ihres Kampfanzugs und drückte sie tief über die Augen. Schließlich fing sie an zu schwitzen, deshalb zog sie die Jacke aus und band die Ärmel um ihre Taille, aber der Wind war zu schneidend, und sie mußte die Jacke wieder anziehen. Sehr oft blieb sie stehen, um mit zusammengekniffenen Augen den Horizont in alle Richtungen abzusuchen und nach ihren Verfolgern Ausschau zu halten. Erst wenn sie sich überzeugt hatte, daß niemand kam, ging sie weiter. Ein Feldstecher wäre eine gute Idee gewesen, wenn sie daran gedacht hätte. Hunger nagte in ihr, aber am schlimmsten war der Durst zu ertragen; ihre Kehle war ständig ausgetrocknet, ihre Augen gereizt, und die Haut fühlte sich ledrig an. Im Lager hatte es genügend Wasser gegeben, und sie waren ermuntert worden, soviel zu trinken, wie sie konnten, aber sie hatte nur ein paar wenige Flaschen verschwinden lassen können, die in ihre Taschen paßten. Selbst bei sparsamer Einteilung würden sie nicht lange reichen. Als sich die Landschaft zu verdüstern begann, als ihre gezackten Konturen verschwammen und der Horizont sich rosa färbte, hatte Wren bereits angefangen zu torkeln. Von den Stiefeln, die ohnehin ein bißchen zu groß waren, hatte sie Blasen an den Füßen, und sie hatte dummerweise 317
vergessen, ein zweites Paar Socken mitzunehmen. Irgendwo hatte sie gehört, daß es ein Infantrist nicht lange macht, wenn er seine Füße vernachlässigte. Die Begegnung mit Daniel hatte sie abgelenkt; sie hätte sich auf ihr Ziel konzentrieren sollen, nämlich die Flucht in die Zukunft, und sich nicht von der Vergangenheit abbringen lassen. Andernfalls konnte es sein, daß ihr Sohn keine Zukunft hatte. Scheiße, dachte sie, man lernt eben nie aus. Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie schon gekommen war, keine Vorstellung davon, wo sie war und wo sie überhaupt hinging. Was sie brauchte, war eine Rast. Unglücklicherweise fand sie kein nettes kleines Bett wie in der ersten Nacht. Sie hatte zu spät angefangen zu suchen, und die Dämmerung warf eilends tiefe Schatten in die Felsspalten und Höhlen, löschte jeden vertrauten Anblick und verwirrte sie. Schließlich, als ihre Füße fast unerträglich schmerzten, kroch sie in eine höhlenartige Spalte an der Flanke eines Hügels und brach zusammen.
»Was ist los mit euch, Leute?« brüllte Hunter. Er ging mit großen Schritten in der Messe auf und ab, sein Gesichtsausdruck war fuchsteufelswild, die Adern an seinem Hals traten hervor. »Da schicke ich zweiundfünfzig ausgebildete Soldaten los, um eine einzige schwache Frau zu suchen, die allein über offenes Gelände marschiert, und ihr findet sie nicht!« Noch nie hatte Daniel Hunter mit so einer Riesenwut erlebt. Es war beängstigend und vermehrte sein ungutes Gefühl in Hinblick auf seine Mutter. 318
»Hunter?« warf Meghan ein. Sie war die einzige im Raum, die in diesem Augenblick etwas zu sagen wagte. »Vielleicht hätten wir uns nicht auf einen Zwei-MeilenRadius konzentrieren sollen. Vielleicht ist sie letzte Nacht weiter gekommen als zwei Meilen.« Hunter wirbelte auf dem Absatz herum, durchquerte mit zwei Schritten den Raum und stand drohend vor ihr, bis sie sich furchtsam duckte. »Wenn ich deine unbedeutende, nutzlose Meinung hören wollte, dann hätte ich darum gebeten! Habe ich darum gebeten? Was?« schrie er, wobei er seine Worte mit harten Stößen an ihre Brust unterstrich. Daniel fuhr zusammen. Er sah, wie die kleinen roten Locken vor ihrer Stirn und den Schläfen zitterten. »Nein«, sagte sie leise. »Dann halt den Mund!« »Also.« Er stolzierte wieder nach vorn. »Die Alpha/Omegas setzen die Suche während der Nacht fort«, sagte er und ignorierte demonstrativ die Unmutslaute einiger Männer. »Wir verdoppeln die Besatzung pro Fahrzeug auf vier Leute, und wir benutzen Nachtsichtferngläser.« Vier in einem Fahrzeug, dachte Daniel. Das kann nur bedeuten, daß ich auch mitdarf. Unwillkürlich spürte er einen kleinen Nervenkitzel. Er hatte noch nie zu einer Mission der Strike Force mitgedurft. Und jetzt war es soweit, obwohl er nur ein Rekrut war. »Was dagegen, wenn ich eine unbedeutende, nutzlose Frage stelle?« fragte Big John sarkastisch, die mächtigen Arme vor der Brust verschränkt. Hunter hörte auf herumzurennen und sah ihn an. »Was?« 319
»Riskieren wir nicht, uns Ärger einzuhandeln? Es ist Jagdsaison, der Jagdaufseher wird die Augen offenhalten.« »Um so weniger Grund, uns Sorgen zu machen«, sagte Hunter mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck. »Wir haben oben beim Hauptquartier genügend Leute, die als Jäger getarnt sind. Er wird annehmen, daß sie es sind und sich weiter keine Gedanken machen.« Er wandte sich seinem schweigenden Publikum zu. »Wenn die Strike Force sie heute nacht nicht findet«, sagte er, »brechen wir alle morgen beim ersten Tageslicht auf und verstärken die Suche. Und jetzt habe ich noch eine Bekanntmachung für euch. Eine schlechte Nachricht.« Hunter wartete, bis er die Aufmerksamkeit des ganzen Raums hatte, dann sagte er: »Ich glaube, einige von euch kennen Pete Stanley. Letzte Nacht haben die fetten Schweine vom FBI und ihre Sturmtruppen Stanleys Lager gestürmt.« Die Anwesenden schienen kollektiv nach Luft zu schnappen. »Nun behaupten die von der Regierung manipulierten, liberalen Medien zwar, die Aktion sei unblutig verlaufen, aber wir wissen es besser, nicht wahr?« Ein aufgeregtes Geplapper brach los, und Hunter beruhigte seine Truppen. »Das ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie offenkundig der kleine Mann von den Handlangern ausländischer Mächte schikaniert wird. Es weht ein rauher Wind, meine Damen und Herren, und wenn wir diese Ausreißerin nicht finden, hetzt sie uns die Typen auf den Hals, wie alle Dämonen aus der Hölle.« Nachdem er noch eine Weile dramatisch auf und ab marschiert war, die Hände auf dem Rücken verschränkt, 320
sagte er: »Wir werden nicht lockerlassen, bis diese Frau gefaßt ist. Haben das alle verstanden?« Er machte eine Pause, bis genügend Leute mit einem Kopfnicken reagiert hatten. »Die Mitglieder der Strike Force machen eine kurze Pause, um zu Abend zu essen und sich auszuruhen. Wir treffen uns um einundzwanzig Uhr wieder bei meinem Wohnwagen. Abtreten.« Während die Versammlung aufbrach, wurde nur wenig gesprochen. Daniel bemerkte, daß seine Schnürsenkel offen waren, und kniete nieder, um sie zu binden. »Er hätte die beiden erst gar nicht hierherbringen sollen«, knurrte jemand hinter ihm. »Wegen denen gehen wir noch alle drauf.« »Da hast du verdammt recht«, sagte jemand anderer. »Er sagt, er braucht sie für irgendeine besondere Aufgabe, aber ich habe noch nicht gesehen, daß sie irgendwas getan hätten.« »Tja, daran sieht man, was für ’ne Art Aufgabe er sich für Elizabeth the Queen vorgestellt hat. Anscheinend ist ihm Miss Meghan nicht scharf genug.« Während sich die beiden außer Hörweite entfernten, spürte Daniel, daß er rot wurde, daß seine Ohren brannten. Das also dachten die anderen? Das war wirklich ihre Meinung? Weil er es nämlich nicht verdiente. Er hatte, ohne sich zu beschweren, alles getan, was die anderen auch taten, selbst wenn er so müde war, daß er sich am liebsten irgendwo verkrochen und geheult hätte. Und seine Mom mochte vielleicht nicht besonders zugänglich sein, aber sie übernahm ihren Teil am Küchendienst, ohne zu murren. Scheiß drauf, dachte er und stieß die Tür so hart auf, daß sie gegen die Wand krachte. Sie sind nur eifersüchtig, weil 321
ich bei den Alpha/Omegas aufgenommen werde und sie nicht. Wer brauchte sie überhaupt? Einen Haufen Jammerlappen. Er drehte seine Mütze nach Teenagerart mit dem Schild nach hinten und marschierte über das Gelände zur Männerbaracke, um sich für den Nachteinsatz fertigzumachen.
Ein Knurren aus tiefer Kehle riß Wren aus dem Schlaf. Sie war hellwach, ihr Herz klopfte heftig. Sie wußte nicht gleich, wo sie war. Die Dunkelheit war kalt und absolut wie ein Grab. Als sie sich mühsam aufsetzte, hörte sie es wieder. Es ließ ihre Adern gefrieren, durch die das Blut wie in elektrischen Strömen schoß. Ein Urinstinkt ließ sie zum weniger Dunklen streben, das den Ausgang markierte. Es war bekannt, daß wilde Eber diese Gegenden durchstreiften, außerdem Rotluchse, Pumas, Füchse und Kojoten. Ihre Hand ging zu dem Wanderstab, ihrem Speer. Sie umklammerte den Stock und stieß ihn in dem wilden Versuch, sich zu verteidigen, noch bevor sie ganz wach war, nach vorn. Das kehlige Knurren ertönte wieder, diesmal lauter. Als sie gerade zum höhlenartigen Eingang ihres Unterschlupfes krabbelte, dämmerte Wren die Wahrheit: Das war kein Tier. Es war ein Jeep. In einem Anfall von Panik wäre sie fast aus ihrem Versteck gestürzt und um ihr Leben gerannt. Ahme die Tiere nach. 322
Sie stellte den fremden Gedanken nicht in Frage, weil er ein Begreifen nach sich zog, das Klarheit in ihren Kopf brachte. Sofort duckte sie sich zurück in den Felsspalt und drückte ihren Körper, so fest sie konnte, an das Gestein. Sie wagte nicht, ihr weißes Gesicht vorzustrecken, um sich umzusehen. Sie zog die Ärmel des Tarnanzugs über ihre Hände, drückte die Mütze fest auf den Kopf und legte das Gesicht auf die Knie. So verharrte sie reglos und wagte kaum zu atmen. Selbst mit Nachtsichtgläsern wäre es schwer gewesen, ihren Körper von der Umgebung zu unterscheiden. Wie ein Kitz, das von seiner Mutter unter einem sonnengesprenkelten Baum versteckt wird, saß sie vollkommen still. Die Zeit kroch dahin. Kleine juckende Stellen tauchten überall an ihrem Körper auf, aber stoisch ertrug sie diese Marter. Das Brummen kam näher. Dann noch näher. Stop, Start. Anhalten, um umherzuschauen. Wieder losfahren. Die Füße schliefen ihr ein, dann wurden ihre Hände taub. Der Wind trieb Stimmen zu ihr wie Wolken vor den Mond. »…Irgendeine Spur von ihr? … dieser Mesquitegruppe … eine verdammte Hexe oder was? … aus Rühreiern … immer hungrig … im Osten …« Raschelnde, knirschende Schritte aus allen Richtungen 323
kreuzten sich genau unterhalb ihres Verstecks. Dann kamen sie den Hang herauf. Sie öffnete den Mund und machte kurze, flache Atemzüge, damit sie sie nicht atmen hörten. Sie zwang ihr Herz, weniger rasend zu schlagen, damit sie nicht ohnmächtig wurde. Sie fing an zu beten, dann hielt sie inne. Die Cherokee baten in ihren Gebeten um nichts, sondern dankten für das, was war. Schon recht. Soll ich für dieses Schlamassel auch noch dankbar sein? Sie schloß krampfhaft die Augen. »Mom?« Ihr Herz machte einen Satz in ihrer Brust. Es war Daniel, der vielleicht zehn Meter von ihrem Versteck entfernt stand und laut flüsterte: »Mom? Wenn du hier draußen bist, mußt du zurückkommen. Es wird alles gut. Niemand wird dir etwas tun. Mom?« Freude durchströmte sie. Es ging ihm gut. Er lebte noch. Dafür konnte sie dankbar sein. Fast wäre sie zum Ausgang gekrochen. Aber im nächsten Augenblick kam der gleichermaßen mächtige Gedanke: Gut, er lebt, aber sie versteckte sich in einer Höhle vor ihm. Danke, Herr, daß mich mein eigener Sohn verraten hat. Danke, daß ich ihm mein Leben nicht anvertrauen darf, dachte sie bitter und versuchte, die Schauder zu unterdrücken, die sie ergriffen hatten. Er entfernte sich. Es dauerte noch lange, bis die Stimmen schwächer wurden, die Fahrzeuge knatternd ansprangen und sich außer Hörweite entfernten. Als sie glaubte, es riskieren zu können, streckte sie ihre tauben Beine aus und 324
rieb sie, bis das Blut wieder zirkulierte. Sie verließ jedoch bis zum Morgengrauen nicht den Felsspalt.
Bis zum zweiten Morgen nach dem Verschwinden von Daniels Mutter war es mit der Moral im Lager steil bergab gegangen. Mit jedem Tag, den sie unauffindbar blieb, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, daß sie ihnen die Behörden auf den Hals schickte.
Der FBI-Sturm auf das Lager im südlichen Texas hatte alle aufgerüttelt. Hunter hatte das Lager in äußerste Alarmbereitschaft versetzt; sie waren bereit, sich zu verschanzen und einem Angriff mit voller Wucht zu widerstehen, solange es menschenmöglich war. Lebensmittel und Munition wurden streng rationiert; alle Schießübungen waren bis auf weiteres ausgesetzt und die Trainingseinheiten beschränkt. Die Strike Force jedoch hatte Befehl, in einem immer größer werdenden Kreis um das Lager weiterzusuchen. Die Truppen waren nervös. Während des Frühstücks kam es häufig zu kleinen Streitereien, wie Daniel mit trüben Augen und vor Erschöpfung zitternden Händen bemerkte. Die Beschwerden tröpfelten erst durch den Speisesaal, dann ergossen sie sich in einer wahren Flut. Diejenigen, die nicht verstanden, warum Hunter Daniel und seine Mutter überhaupt hergebracht hatte, waren am unzufriedensten mit der Situation; sie hatten das Gefühl, daß ihre Sicherheit ohne guten Grund aufs Spiel gesetzt worden war. 325
Daniel fand sich von der Mannschaft ausgeschlossen, und selbst einige von seinen Kumpeln bei der Strike Force gingen auf Distanz zu ihm. Nach dem Frühstück tauchte Hunter in übelster Laune aus seinem Wohnwagen auf. Als der Riemen eines Fernglases riß, schleuderte er das teure Gerät gegen die Wand, daß die Linse in Scherben ging. Er stapfte wütend in seinen Wohnwagen zurück und tauchte kurz darauf mit einer M-16 mit Hochleistungszielfernrohr wieder auf und warf sie in seinen Jeep. Jemand muß ihn aufhalten, dachte Daniel hilflos. Sonst wird er sie zur Strecke bringen und töten. Aber niemand sagte etwas.
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25. Kapitel Wrens Füße waren ein Problem. Je weiter sie ging, desto schlimmer wurden sie, bis sie schließlich zu humpeln anfing. Während sich der Tag endlos dahinzog, verschlimmerte sich das Humpeln. Bald raubte ihr der Schmerz jeden Gedanken. Bis ihr das Wasser ausging. Das Dörrfleisch reichte länger als das Wasser, aber sie sah sich nach kurzer Zeit außerstande, es zu kauen, weil sie Probleme hatte, den nötigen Speichel zu produzieren, um es weich zu machen. Bei Einbruch der Nacht pochten ihre Füße so schmerzhaft, daß sie kaum noch stehen konnte. Sie klammerte sich mit beiden Händen an den Sotol und schleppte sich voran wie Quasimodo. Ihre Kehle brannte, ihr Magen krampfte sich zusammen, und ihre Hände waren vom Halten des Stabes wund gerieben. Sie war unfähig, ein gutes Versteck zu suchen, und kroch einfach unter einen dürftigen Wacholder, wo sie keinen Schlaf fand. Die ganze Nacht lockte er sie unbarmherzig, fiel warm und tröstend wie eine Decke über sie, aber Geräusche im Wind, heftige Schmerzen, einsame Kälte und böswillige, teuflische Alpträume, unterbrochen von dem markerschütternden Schrei von Kojoten auf nächtlichem Raubzug, rissen diese Decke immer wieder von ihr. Am Nachmittag des dritten Tages, nachdem sie viele Stunden ohne Nahrung und Wasser über das rauhe Land gewandert war, hatte Wren vergessen, was sie überhaupt in diese Wüste getrieben hatte. Sie wußte nur, daß sie 327
weiter nach Norden gehen mußte, immer nach Norden. Warum, wußte sie nicht. Das einzige, was sie sicher wußte, war, daß sie nicht stehenbleiben durfte und sehr, sehr vorsichtig sein mußte. Wren hatte zwar am Abend zuvor versucht, ihre Stiefel auszuziehen, um ihre Füße zu untersuchen, hatte es aber nicht gekonnt. Ihre Füße waren geschwollen und mit dem Leder verwachsen wie Hufe. Sie schleppten sich plump und schwer dahin, und bisweilen war der Schmerz so stark, als würden sie amputiert. Ein paarmal stieß Wren auf die sonderbaren Schafzäune, die wie Wundnähte durch das öde Strauch- und Felsenland liefen. Anders als bei Zäunen für Rinder oder Pferde, waren die Stränge dieser Zäune zu nur dreißig Zentimeter breiten Quadraten geflochten, die es unmöglich machten, hindurchzukriechen. Da sie fast so hoch wie Wren waren, erschwerten es ihr die Zäune sehr, die Nordrichtung einzuhalten, aber sie mußte sie einfach einhalten, und so fand sie immer einen Weg hinüber. Sie mußte viele Male stehenbleiben und ausruhen. Wenn sie wieder aufstand, wurde ihr schwindlig; dann taumelte sie umher, bis das Schwindelgefühl verging, suchte die Sonne und marschierte weiter Richtung Norden. Ein trockener Wind aus Südwesten trieb sie vor sich her und dörrte alles auf seinem Weg aus. Am späten Nachmittag des dritten Tages schwoll Wrens Zunge an. Sie konnte nicht mehr schlucken. Eine Benommenheit im Kopf ließ sie manchmal Dinge sehen, die nicht da waren. Ein Haus. Wasser. Nichts. Diese Dinge waren alle nichts. 328
Sie selbst war nichts. In der Dämmerung schmückte ein seltsamer und wunderschöner blauvioletter Schleier den zerklüfteten Horizont und verwischte die schroffen Konturen, als hätte ein Pinsel sie mit Wasserfarbe in den Pastelltönen Immergrün, Malve und Violett benetzt. Selbst die dornigsten Pflanzen nahmen eine weiche Corona an, als würden sie für ein offizielles Porträt sorgfältig ausgeleuchtet. Der gelbbraune Boden verwandelte sich in den warmen Ton von poliertem Rosenholz, während sich der Himmel von Puderblau über Ultramarin und Fuchsia zu einem Rubinrot verdunkelte, mit Kathedralensäulen aus Licht, das aus Buntglaswolken strömte. Eine hohe Hügelkette lag genau im Norden auf ihrem Weg. Sie wirkte unüberwindlich; schon der Anblick machte sie schwindlig. Außen herum zu gehen wäre sinnvoller, aber Wren fühlte einen übermächtigen Drang, ihren Gipfel zu erklimmen; es wurde zu einer Obsession, die noch anhielt, als der letzte Tropfen Kraft in ihrem Körper längst vertrocknet war. Den Sotol als Hebel und zur Balance benutzend, kämpfte sie sich über vorspringende Felssimse und achtete nicht auf den Schmerz, der sie unaufhörlich anschrie. Als sie nicht mehr klettern konnte, kroch sie auf Händen und Knien, den Sotol hinter sich herschleifend und ohne sich um Stacheln und scharfe Steine auf ihrem Pfad zu kümmern, immer genau nach Norden. Auf dem Gipfel wurde sie schließlich ohnmächtig, ihre Gliedmaßen gaben unter ihr nach, sie sog die Luft durch ihre geschwollene Kehle wie ein sterbender Asthmatiker, und die Muskeln in ihrem Körper bebten. Durch das 329
Strauchwerk hindurch sah sie das Feuer der untergehenden Sonne. Alles leuchtete blutrot. Und dann sah sie ihn. Zuerst hielt sie ihn für einen Geier, den ihr lebloser Körper angelockt hatte, während sie mit dem Tod rang, aber dann bemerkte sie, daß seine Federn schwarz glänzten, so schwarz, daß sie purpurn schimmerten. Auf einen niedrigen Mesquitestock gestützt, spähte er mit seinen Rosinenaugen nach ihr. Als er zu ihr sprach, war seine Stimme tief und rauh und überhaupt nicht verlockend. »Ich bin Galana, ich bin hier, um dich zu führen. Du hast den steilsten Gipfel erstiegen, den Sanigilagi, aber du hast noch einen weiten Weg vor dir auf deiner Suche.« »Welche Suche?« fragte sie, und ihre Stimme krächzte ganz wie seine. »Du hast dein Wachsein begonnen. Danke für das, was ist.« »Ich glaube, ich sterbe. Ich bin mit meiner Aufgabe gescheitert, und nun sterbe ich. Dafür bin ich nicht sehr dankbar.« »Du mußt den Zwiespalt aus deinem Herzen entfernen, der dein Leben aus dem Gleichgewicht geworfen hat. Solange du nicht fähig bist, zu vergeben, wirst du blind für deine Vision sein, und du wirst bis in die dritte Generation dafür leiden.« Wren dachte darüber nach. Sie nahm an, sie sollte Hunter für das Schlechte, das er getan hatte, vergeben. Und vielleicht sollte sie Daniel verzeihen, daß er sie verletzt hatte. »Ist es das, was du meinst?« fragte sie. »Ich spreche davon, dir selbst zu vergeben.« 330
Dieser Vogel, eine Krähe oder ein Rabe oder was es auch war, redete nur Unsinn. »Ich habe nichts Falsches getan«, sagte sie. »Du hast deine Mutter verraten. Du hast sie verlassen und ihr das Herz gebrochen. Und nun hat dein Sohn das gleiche mit dir gemacht. Und sein Kind wird ihm das gleiche antun, wenn du den endlosen Kreislauf nicht durchbrichst.« Ein Beben, tief im Kern ihres Wesens erschütterte Wren. Ihre Mutter, ihre wunderbare Mutter, das häßliche Entlein, das man verspottet, gehänselt und verlacht hatte, bis sie zu einem stolzen Schwan wurde. Wren hatte viele Jahre gebraucht, um zu begreifen, daß die Fehler ihrer Mutter aus fehlgeleiteter Liebe geschehen waren, nie aus dem Wunsch, zu verletzen. Wren hingegen hatte absichtlich genau das getan, von dem sie wußte, daß es ihre Mutter am tiefsten verletzen würde. Und sie hatte seither viele Male für ihre Sünde bezahlt. »Suche die Quelle des Bösen nie bei anderen«, krächzte der Rabe, »denn die Fähigkeit, Leid zu verursachen, wohnt in jedem von uns.« Wren weinte, aber es kamen keine Tränen; es war nicht genügend Flüssigkeit in ihrem Körper. »Wenn wir unsere Ängste ungehemmt wachsen lassen, verdüstern sie sich zu Schatten, die uns verschlingen können, uns dazu treiben, andere Menschen zu beherrschen und unsere geheiligte Macht zu mißbrauchen.« »Ich vermisse meine Mutter!« schrie Wren. »Es tut mir 331
so leid, daß ich ihr weh getan habe. Wird sie mir jemals vergeben?« Der Rabe hob herausfordernd den Kopf. »Sie ist in die geistige Welt hinübergewechselt, in das Reich des heiligen Himmelsgewölbes, des Gulanlati.« »Nein! Ich möchte sie sehen!« »Sie ist bei den Nunnehi, den Unsterblichen. Sie hat den Schrei deines Herzens gehört und mich geschickt, um dir zu helfen.« Er spreizte seine großen, glänzenden Flügel und flog plötzlich mit langsamen, überheblichen Flügel schlagen auf und immer höher. »Laß mich nicht allein!« »Die Tsalagi sagen, es gibt keine Zufälle. Alles ist, wie es ist. Sei dankbar.« Der Schmerz in Wrens zerschlagenem, geschundenen Körper war der Qualen in ihrer Seele nicht ebenbürtig der Pein, in ihren eigenen Schatten zu blicken. Dunkelheit kroch über sie. Auf dem Rücken liegend suchte sie nach dem Polarstern, aber die Wolken hatten sich verdichtet, und es gab nirgendwo Licht, außer einem feuerroten Streifen am Horizont. Dann war auch der verschwunden. Wren döste am Rande des Wachseins dahin. Der unbekümmerte, launische Novemberwind änderte seine Richtung. Er fiel plötzlich und mit großer Heftigkeit von Nordwesten ein, schüttelte die Mesquitebohnen wie tanzende Skelette und ließ mumifizierte Blätter prasselnd herabregnen. Wren wachte jäh auf. Sie spähte in die Dunkelheit und sagte: »Ist da jemand? Golana? Bist du das?« Sie versuchte, den Kopf zu heben, konnte es aber nicht, 332
deshalb drehte sie ihn zur Seite. Sie war allein. »Ich kann die Sterne nicht sehen«, klagte Wren laut in ihrer Verwirrung. »Ohne sie werde ich mich verlaufen.« »Die Ewigkeit der Sterne ist in dir. Wandere am Himmel entlang.« Der Gedanke war so klar in ihrem Kopf wie eine Stimme, aber als Wren den Kopf wieder drehte, sah sie niemanden. Eine große Traurigkeit ergriff von ihr Besitz. Ein ersticktes Donnergrollen ließ die Erde erbeben. Wren wandte das Gesicht zum Himmel. Die Cherokeesage bezeichnet den Donner als den Herrscher des Himmels und der Erde. Es schien, als stampfte er mit dem Fuß auf. Der Wind wehte den Geruch von feuchter Erde heran. Wren atmete tief ein und entschied, daß es gewiß keinen herrlicheren Geruch auf der Welt gab. Ein dicker, kalter Tropfen klatschte auf Wrens Wange. Überrascht versuchte sie, ihn mit der Zunge aufzuschlecken, aber ihre Zunge war zu geschwollen, um ihn zu erreichen. Ein zweiter Tropfen klatschte ihr ins Auge. Dann noch einer auf die Wange, und dann goß der Herrscher des Himmels sein wunderbares Geschenk des Wassers, sein gesegnetes Wasser so reichlich aus, daß sie den Kopf leicht drehen mußte, um sich nicht zu verschlucken. Als sie kräftig genug war, um den Arm zu heben, nahm Wren ihre Kappe ab und ließ den Regen ihre ausgetrocknete Haut einweichen. Sie trank, soviel sie konnte, dann schraubte sie die Deckel ihrer leeren Wasserflaschen ab und stellte sie auf, um mehr von dem kostbaren Naß aufzufangen. Zitternd, durchnäßt und mit klappernden Zähnen brachte Wren endlich so viel Energie 333
auf, um unter das schützende Dach eines Wacholders zu kriechen, wo sie schließlich einem totenähnlichen Schlaf erlag. Als sie aufwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, und die Wolken waren verschwunden, als wären sie nie dagewesen. Wren erwartete, daß sie von Schlamm besudelt sein würde, aber der durstige Boden hatte jeden Tropfen aufgesaugt wie ein gieriger Säufer und nur kleine Lachen zurückgelassen, die sich in den Felsnischen gesammelt hatten. Sie trank daraus wie ein Tier, dann genehmigte sie sich ein kleines Frühstück vom Dörrfleisch. Obwohl ihr Körper schmerzte und ihre Füße noch immer in einem üblen Zustand waren, fühlte sich Wren von einer Beschwingtheit, die durch ihre Adern pulsierte. Das Morgenlicht leuchtete wie flüssiger Bernstein und schien alles mit einer goldenen Aura zu umgeben. Seltsamerweise klapperte sie weiterhin mit den Zähnen, obwohl ihr heiß war. Die Einzelheiten der vorangegangenen Nacht standen Wren so deutlich vor Augen wie ein lebhafter Traum oder eine Drogenhalluzination, die lange, nachdem der Stoff abgebaut ist, in den Wölbungen des Gehirns nachhallt. Sie zweifelte nicht daran, daß sie dem Tod nahe gewesen war. Die Realität dessen, was geschehen war, war eine andere Sache. In jenen längst vergangenen Tagen, die Wren bei ihrer Großmutter verbracht hatte, hatten die Älteren oft von der Suche nach einer Vision gesprochen. Manche strebten aktiv danach, mit schweren körperlichen Belastungen, langwierigen Meditationen, Stammesgesängen und Tänzen und sogar mit der mächtigen Medizin des peyote. 334
Von einer Vision heimgesucht zu werden, ohne sie erstrebt zu haben, wurde als heilig erachtet. Wren fand ihren Sotolstab wieder, mühte sich auf die Füße und stand auf dem Kamm der Hügelkette am Rande des Himmels. Sie schaute auf die überwältigende Großartigkeit der einzigartigen Landschaft vor ihr und wußte, daß das, was ihr passiert war, in der Tat eine mächtige Arznei war, eine spontane Heilung, eine spirituelle Reinigung. Etwas in ihr hatte sich gedreht, so als würde sie auf eine grundsätzliche Linie mit dem Kosmos gebracht. Das stumpfe Braun der Erde vor dem Regen strahlte nun einen mahagoni-, zinn- und kupferfarbenen Glanz aus, durchsetzt von Büscheln im Jägergrün des Wacholders. Wenn sie den Kopf nur ein wenig neigte, schienen die Pflanzen leichte Glorienscheine zu besitzen. Frische Wüstenluft strich über ihre brennenden Wangen. Aber die Sonne stand nun hoch am Himmel, und Wren konnte nicht mehr feststellen, in welcher Richtung Norden war. Sie wandte sich hierhin und dorthin, aber ihr Kopf war benommen, und nichts schien zu stimmen. Jetzt war sie wirklich verloren. Ein Donnergeräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Horizont hinter ihr. Sie drehte sich neugierig um, denn sie hatte keine Wolken gesehen. Es gab auch keine in dieser Richtung, nicht einmal in weitester Ferne. Sie blinzelte im Schimmern der Morgensonne, setzte die Mütze wieder auf und sah mit freudigem Schock Bäume statt Wolken. Eine winzige, weit entfernte Baumgruppe. Ein Haus. 335
Es gab keine andere Erklärung in dieser baumlosen Weite. Bäume, die in dieser Weise dastanden, waren gepflanzt worden. Man hatte sie bewässert. Kultiviert. Menschen. Genau Richtung Norden. Sie hatte es gewußt. Aufgeregt humpelte Wren los, stürzte die andere Flanke des Hügels hinab. Die Bäume waren meilenweit entfernt; es ließ sich nicht sagen, wie weit genau; aber sie waren da, und das allein zählte. Wenn sie nicht auf den Hügel geklettert wäre, hätte sie die Bäume niemals bemerkt. Sie konnte nicht anders, als ein wahnsinniges Kichern auszustoßen. Trotzdem weigerten sich ihre Füße, festgeklebt an den schweren Stiefeln, so schnell zu gehen, wie sie vielleicht gewollt hätte. Sie hatten ihren eigenen, schmerzerfüllten kleinen Willen. Als Wren einen Fuß vorsichtig auf einen Felssims stellte, ließ ihr ein unverwechselbares Geräusch das Blut in den Adern gefrieren. Es war das tss-tss-tss-tss einer Klapperschlange, die ausgestreckt auf ihrem Pfad lag und ihren sehnigen Körper zu einer Spirale zusammenrollte, als Wren wie versteinert in ihre kalten schwarzen Augen starrte. Tss-tss-tss-tss. Die gegabelte Zunge der Schlange prüfte die Luft, spürte Wrens Wärme nach, damit sie zuschnappen und sie vergiften konnte. Wren lief eine Gänsehaut über den Rücken, denn nichts erschreckte sie mehr als die gewandte und tödliche Klapperschlange. Die hier war gewaltig; gut und gern zwei Meter lang. Klapperschlangen sind in der Lage, mit ihrer gesamten Körperlänge vorzuschnellen. Der hypnotisierende Klang 336
der mächtigen Rasseln erfüllte die Luft. »Wirst du auch sprechen wie die andern?« fragte Wren. Die Klapperschlange fixierte sie mit ihren schwarzen, ausdrucksleeren Augen. Sie würde sie hypnotisieren, wenn sie konnte, und dann zuschlagen. »Dann bist du also echt. Scheiße.« Es schien keine Möglichkeit zu geben, dieser Kreatur zu entfliehen. Das heftige, warnende Rasseln wirkte irgendwie böswillig, feindselig. Die Schlange meinte es nicht gut mit ihr, und sie konnte nicht weglaufen, weil sie mit dem Rücken zur Felswand stand. Sie würde kämpfen müssen, obwohl sie buchstäblich bebte in ihren Stiefeln. Ckerokeekrieger zogen oft mit einer Haut der von ihnen verehrten Klapperschlange in den Kampf, damit sie ihnen Kraft und Schnelligkeit verlieh. Im Laufe ihrer Geschichte waren gewisse tapfere Cherokeefrauen ihren Männern in den Kampf gefolgt und wurden für immer und ewig als Ghigau, Geliebte Frauen, bekannt. Wren trat langsam einen Schritt zurück, hob den zitternden Sotol hoch über den Kopf und ließ ihn mit aller Kraft auf die Schlange hinuntersausen. Aber die vorangegangenen Strapazen hatten sie geschwächt, und der Schlag reichte nicht aus. Die Klapperschlange stieß schnell wie der Blitz zu, genau in dem Moment, als Wren zur Seite sprang, und verfehlte sie um einen Wimpernschlag. Mit seitlichen Windungen ihres peitschenschnurartigen Körpers zog sie sich zurück zu einem zweiten Versuch, aber das kalte Wetter hatte sie so langsam gemacht, daß Wren schneller war. Sie ergriff einen tellergroßen Stein und schmetterte ihn mit einem Schrei aus voller Lunge genau auf den Kopf der Schlange, 337
einmal, zweimal. Der Kopf war abgetrennt. Dennoch peitschte der Körper hin und her, die kräftigen Muskeln zogen sich noch im Todeskampf zusammen, bis sie schließlich zu ihren Füßen lag. Keuchend, zitternd starrte Wren mit hämmerndem Puls auf das Biest. Die Schlange, nur mit der Stiefelspitze zu berühren, ließ sie erschaudern. Sie wäre am liebsten zurückgewichen und davongerannt, aber eine letzte Sache blieb noch zu tun. Sie suchte nach einem anderen Stein, einem schärferen, den sie als Werkzeug benutzen konnte, und hackte die Klappern vom Schwanz der Schlange. Ein Talisman für Kraft und Schnelligkeit. Wren stieß die Faust mit den Klappern darin in die Luft und ließ wieder einen Schrei hören - keinen Schreckensschrei diesmal, sondern einen des Triumphs.
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26. Kapitel Cam und Zoe standen auf dem Rasen vor ihrem Haus und sahen sich einer wahren Armee von Reportern gegenüber, die Wrens Blumenbeet zertrampelten und alle möglichen Kameras, Mikrophone und Kassettenrecorder auf sie richteten. Es war Cam vorher nie bewußt geworden, wie räuberisch diese Leute, von der anderen Seite gesehen, wirken konnten. In der ganzen Straße blockierten Kombis und PKWs von verschiedenen Nachrichtensendern die Gehsteige vor anderen Häusern. Die Geschichte, die schon 1980 landesweit Aufsehen erregt hatte, war nun sogar noch heißer, vor allem im Licht des erfolgreichen gemeinsamen Sturms von FBI und ATF auf das Survivalistenlager im südlichen Texas, der erst vor wenigen Tagen durchgesickert und noch frisch in Erinnerung war. Jemand gab Cam ein Zeichen und sagte: »Sie können jetzt loslegen, Mister Cameron.« »Okay, danke.« Er räusperte sich erst und sagte: »Ähm, bevor ich Fragen beantworte, möchte ich allen Freunden, Verwandten und Leuten, die wir nicht einmal kennen, für die Unterstützung und Ermutigung danken, die wir erhalten haben, seit diese Situation öffentlich wurde. Meine Tochter und ich waren nun mehrere Wochen auf uns allein gestellt, und es war uns nicht bewußt, wieviel stärker wir uns allein dadurch fühlen würden, daß andere Leute Anteil nehmen.« Er blickte zu Zoe hinunter. Sie nickte ruhig. »Okay. Ich denke, ich versuche nun, Ihre Fragen zu beantworten.« Der Ansturm von Stimmen erfolgte nahezu gleichzeitig, aber bald ordneten sie sich zu einer Art Hackordnung. 339
»Wußten Sie, daß Ihre Frau vom FBI gesucht wird, als Sie sie geheiratet haben?« »Ja. Es machte keinen Unterschied für mich.« »Aber sind Sie nicht Anwalt? Könnten Sie nicht aus der Anwaltschaft ausgeschlossen werden oder so?« »So, wie ich es verstehe, haben mich die Behörden von jeder Verantwortung in dieser Sache freigesprochen; ob die Anwaltskammer die Angelegenheit auf einer ethischen Grundlage betrachten möchte, liegt bei ihr.« Puh. Das wurde härter, als sich Cam vorgestellt hatte. Er wußte jetzt, wie sich manche seiner Zeugen fühlen mußten, wenn er sie vor Gericht in die Mangel nahm. »Warum haben Sie so lange gewartet, bis Sie die Behörden verständigten?« Auf diese Frage war er vorbereitet. »Weil wir es mit einer gesetzlosen Bande von paramilitärischen Survivalisten zu tun haben. Mindestens einer von ihnen, Jeremiah Hunter, ist ein Ex-Sträfling und erwiesener Mörder. Wir entschieden damals, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, weil wir um das Leben meiner Frau und meines Sohnes fürchteten. Aus diesem Grund habe ich einen privaten Ermittler beauftragt, die Suche zu beginnen -« »Aber hätten Sie mit dem FBI nicht mehr Erfolg gehabt? Und macht das FBI nicht andauernd verdeckte Operationen?« »Das ist richtig, und Sie haben wahrscheinlich recht. Nachher ist man immer klüger, wie es so schön heißt.« »Ist es denn nicht so, daß Sie das FBI deshalb nicht eingeschaltet haben, weil Sie wußten, daß Ihre Frau 340
gesucht wird, und Sie nicht wollten, daß man sie verhaftet?« Cam zögerte. Es gab nur eine Möglichkeit, in einer Situation wie dieser zu antworten, wenn die Wahrheit verlangt war. »Dazu möchte ich im Augenblick nichts sagen.« »Ihre Frau hat als Chemielehrerin an einer High-School gearbeitet. Wird man sie entlassen?« »Sie ist auf unbestimmte Zeit suspendiert, und die Entscheidung in der ganzen Sache wird in der Schwebe gehalten. Meine Frau ist eine sehr engagierte Lehrerin. Ihre Schüler lieben sie. Offen gestanden würde es mich überraschen, wenn man sie wegen dieser Sache entließe.« »Wie hält sich Ihre kleine Tochter?« Cam drückte Zoes Schulter. »Sie ist enorm tapfer. Ohne sie hätte ich es nicht durchgestanden.« »Aber bei allem Respekt, Mister Cameron, Sie haben von einem Kind verlangt, ein gewaltiges Geheimnis mit sich herumzutragen und gleichzeitig ihren Kummer im wesentlichen vor Freunden und Verwandten zu verbergen. Befürchten Sie keine langfristigen seelischen Schäden?« Wollen Sie mir Schuldgefühle einreden? Nur zu, hätte Cam am liebsten gesagt. Statt dessen sagte er: »Wenn sie nicht der unglaubliche Mensch wäre, der sie ist, dann vielleicht. Wir haben sie allerdings zu einem Psychologen geschickt, der sich auf persönliche Traumata spezialisiert hat, und sie macht sich sehr gut.« »Warum hat sich das FBI entschlossen, mit der Sache an die Öffentlichkeit zu gehen?« Cam trat mit sichtlicher Erleichterung von der Phalanx 341
von Mikrophonen zurück und winkte Sizemore, der seinen Platz einnahm. »Ich bin Special Agent Elliot Sizemore vom San-Antonio-Büro des FBI«, sagte er routiniert. »Ich war der verantwortliche Beamte bei dem Sturm auf das Gelände in Südtexas. Wie Sie vielleicht wissen, wurden Wren und Daniel Cameron vor vier Wochen im Vorgarten ihres Hauses entführt. Wir glauben, daß sie von Jeremiah Hunter in einem Survivalistenlager irgendwo in diesem Land als Geiseln festgehalten werden. Wir werden über das Fernsehen Bilder von Mister Hunter und den Camerons verbreiten, und wir haben die Hoffnung, daß jeder von Ihnen, der diese Leute während des letzten Monats irgendwo gesehen hat, das San-Antonio-Büro des FBI anruft. Sagen Sie bei der Vermittlung, daß Sie Informationen im Fall Cameron haben, und man wird Sie zu den Agenten durchstellen, die mit der Untersuchung befaßt sind. Wir haben bereits sehr viel Zeit verloren in dieser Angelegenheit. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr zu verlieren.« »Special Agent Sizemore, werden Sie Wren Cameron festnehmen, wenn Sie sie finden?« Cam schaute zu dem eindrucksvollen, ernst blickenden Agenten. Das würde ich auch gern wissen, dachte er. »Das ist Sache des Gerichts«, sagte Sizemore, »und hängt zu einem großen Teil davon ab, was die Staatsanwaltschaft zu tun gedenkt. Wir werden es mit ihr durchsprechen und sehr bald zu einer Entscheidung kommen.« »Aber Missis Cameron war nicht an dem Sturm auf die Community beteiligt, oder? Ich meine, sie hat nicht auf Ihre Leute geschossen oder so, richtig?« 342
Cam ertappte sich dabei, wie er den Kopf schüttelte, und hörte auf damit. »Dafür haben wir keinen Beweis, nein, aber das Verbrechen, für das sie gesucht wird, steht nicht in Zusammenhang mit dem Sturm auf die Community.« »Um was für ein Verbrechen handelt es sich?« »Bankraub.« »Welche Bank? Wann?« »Das sind alle Informationen, die ich im Augenblick für Sie habe, meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen.« »War es bewaffneter Raub?« »Haben wir es mit einer ähnlichen Situation zu tun, wie im Fall Patty Hearst?« »Was gibt Ihnen die Gewißheit, daß Jeremiah Hunter sie als Geiseln genommen hat? Es stimmt doch, daß es keine Zeugen für die Entführung gab, oder?« Cam und Zoe schafften es unter dem entschlossenen Geleit von Sizemore und bewacht von einem Trupp Agenten in dunklen Anzügen und Sonnenbrillen heil ins Haus zurückzukommen, trotz des Ansturms von zähen Nachzüglern, die ihre Fragen wie Steine nach ihnen schleuderten. Die Tür zu schließen und abzusperren nützte nichts. Zu Cams Entsetzen machten sie sich an der Seite des Hauses zu schaffen und suchten nach Wegen, mit ihren riesigen Objektiven einzudringen. Er ging durchs Haus und zog alle Vorhänge zu. Vor dem Küchenfenster, das über der Spüle lag, hing ein ziemlich nutzloser Spitzenvorhang, deshalb heftete er ein dickes Handtuch darüber. Er kam 343
sich vor, als würde er von der Invasion der Körperfresser belagert. Er war völlig ausgetrocknet. »Zoe?« Sie kam zu ihm. »Würdest du bitte Kaffee für die Beamten machen, Schatz? Ich kann nicht mal mehr klar denken.« »Natürlich, Daddy. Soll ich die große Kaffeekanne nehmen?« »Ja. Sie ist im Küchenschrank. Warte, ich hol sie dir runter.« Er stellte ihr die Kaffeemaschine hin und ging zu den Beamten, die geschäftig im Wohnzimmer herumliefen und ein Aufzeichnungsgerät an das Telefon anschlossen. Die Invasion, so schien es, fand gleichermaßen drinnen wie draußen statt. »Agent Sizemore, meinen Sie, es wäre möglich, diese Leute dazu zu bewegen, sich ein wenig zurückzuziehen? Ich meine, das ist immerhin mein Grundstück. Zumindest könnten sie draußen auf dem Gehsteig herumstehen und mit dem Versuch aufhören, durch meine Fenster einzubrechen.« Sizemore nickte. »Sagen Sie ihnen, sie sollen vom Haus weggehen«, sagte er zu einem gutaussehenden jungen Beamten. Zu Cam sagte er: »Ich kann sie nicht dazu zwingen, ganz zu verschwinden. Unglücklicherweise haben sie auch ihre Rechte.« »Ich verstehe. Kein Problem. Ich will nur nicht, daß meine Kleine terrorisiert wird, wenn sie ins Bett gehen will.« »Wir müssen noch vieles klären«, sagte Sizemore, als der andere Beamte zur Tür hinausgegangen war. »Ich schlage vor, wir fangen damit an.« 344
»Ich habe Ihnen alle Informationen gegeben, die ich habe«, sagte Cam unsicher. »Das meine ich nicht«, sagte Sizemore mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich rede von Instruktionen, wie Sie es handhaben sollen, wenn Ihre Frau oder Hunter Kontakt mit Ihnen aufnehmen.« Cam zuckte traurig die Schultern. »Bislang haben sie es nicht getan. Warum sollten sie es jetzt tun?« Sizemore beugte sich vor und lächelte Cam pfiffig an. »Weil das jetzt ein völlig neues Spiel ist, Mister Cameron. Diesmal bläst den Jungs der Wind ins Gesicht, und das ändert alles.«
Steve Austin hatte erwartet, in einen Raum mit schlechter Neonbeleuchtung und einem großen, langen Tisch zu kommen, an dem eine Unmenge FBI-Männer sitzen würden, die ihn bis tief in die Nacht hinein durch die Mangel drehten. Er hatte eine Reisetasche mit in das Außenbüro von San Antonio gebracht und Patsy angewiesen, in der Nähe des Telefons zu bleiben; es war gut möglich, daß er einen Anwalt brauchte, bevor der Tag zu Ende war. Dann hatte er ein nervenaufreibendes Treffen mit Buck Leatherwood, bei dem er alles gestand. Der Fall war einfach zu aufsehenerregend. Es war beinahe sicher, daß etwas durchsickerte, und er wollte nicht, daß sein Boß bei den Abendnachrichten irgendwelche Überraschungen erlebte. Er war absolut darauf vorbereitet, den Job abzugeben und Leatherwood dabei zu helfen, eine andere Sicherheitsagentur zu suchen. Er hätte es besser wissen sollen. 345
Leatherwood hatte nur gelächelt, den Kopf geschüttelt und gesagt: »Scheiße, Austin, als ich Sie engagiert habe, wußte ich, daß Sie ein genauso großer Spieler sind wie ich, aber wie ich sind auch Sie kein tollkühner Spieler. Sie gehen nur dann ein Risiko ein, wenn Sie allen Grund zu der Annahme haben, daß Sie erfolgreich sein werden oder von vornherein darauf vorbereitet sind, zu verlieren. Und Sie haben Mut. Das ist genau die Sorte Mann, der ich mein Leben anvertrauen möchte.« Elliot Sizemore hingegen war ein ganz anderer Faktor. Austin hatte einen Blick dafür, ob jemand ein Schreibtischhengst war. Er hatte während seiner ganzen Laufbahn beim FBI mit ihnen zu tun gehabt. Sie glaubten, wenn man alle Regeln befolgte, alle Gesetze beachtete und in jeden Arsch kroch, der über einem stand, konnte einem nie ein Fehler angelastet werden, bekam man nie eine schlechte Beurteilung, wurde man bei keiner Beförderung übersprungen und ging als glücklicher Mensch in den Ruhestand. Daran war einiges richtig, wenn man eine Karriere in der Managementetage anstrebte. Aber für den fußkranken Straßenbeamten trafen solche Feinheiten nicht immer zu. Man mußte hinuntersteigen und sich schmutzig machen und mit genau den Leuten umgehen, die man hinter Gitter bringen wollte. Manchmal war man als Undercoveragent tätig und wurde einer von ihnen. Man mußte manchmal eng mit Cops zusammenarbeiten, die ihre Erfahrungen auf der Straße gemacht hatten, keine Teppichböden und kugelsicheres Glas in ihren Büros hatten und dir nicht allein deshalb trauten, weil sie annahmen, daß du ihnen trautest.
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Man mußte schnelle Entscheidungen treffen, mit den Füßen denken, instinktiv handeln. Es kam vor, daß die gottverdammten Regeln einfach nicht anwendbar waren, basta. Im Laufe seiner langen und erfolgreichen Karriere hatte er von beiden Sorten Agenten viele kennengelernt. Unweigerlich verachteten die beiden Typen einander. In gewisser Weise lehnten sie das, was der andere hatte, ab und beneideten ihn gleichzeitig darum. Und das hier war eindeutig Sizemores Revier. Austin wurde in einen Raum geführt, in dem mehrere unbesetzte Schreibtische standen. An einem davon saß Sizemore und winkte ihn zu sich. Er schüttelte Sizemore die Hand und setzte sich auf einen harten Stuhl gegenüber des Schreibtischs. Alles auf dem Schreibtisch war sauber geordnet, einschließlich der gerahmten Fotografie einer blonden Frau, Typ Cheerleader, und zweier süßer kleiner Mädchen, alle passend zueinander angezogen. Austin unterdrückte ein Stöhnen. »Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte Sizemore. Austin neigte den Kopf und dachte: Als hätte ich eine andere Wahl gehabt. »Ich habe diesen Fall gründlich durchgearbeitet, Mister Austin. Ich habe alle Akten über die Community-Sache ausfindig gemacht und gelesen. Ich habe außerdem Richter Bob Holden befragt, der damals der Staatsanwalt war, und ich habe Carla McGillis befragt, die im Entführungsfall Cameron Staatsanwältin sein wird. Ich habe auch mit den Beamten gesprochen, die zur Zeit des 347
Sturms auf die Community Ihre Vorgesetzten waren, und ich habe mit Agent Mike Martinez bezüglich Ihrer Mitwirkung als SSG an der Razzia in Südtexas gesprochen.« Austin mußte den Mann loben. Die Akten über den Community-Fall waren sehr umfangreich und die beteiligten Agenten längst versetzt, befördert oder ausgestiegen. »Sie haben sich sehr viel Mühe gemacht«, sagte er. Sizemore fuhr fort, als hätte Austin nichts gesagt. »Ich habe Richter Holden eine Abschrift von unserem Gespräch neulich gegeben, und er räumte ein, daß er in der Tat die Absicht hatte, Lissie Montgomery Straffreiheit für ihre Beteiligung an dem Bankraub anzubieten, wenn sie im Gegenzug uneingeschränkt mithelfen würde, Jeremiah Hunter zur Strecke zu bringen und in seinem Prozeß aussagte. Da sie geflohen ist, wurde ihre Aussage jedoch nie verwendet.« Austin seufzte. »Richtig.« »Ich sage Ihnen, was Richter Holden meinte.« Sizemore beugte sich vor. »Er sagte, daß ihre Aussage dank der riesigen Mengen Beweismaterial, die man im Lager fand, nicht gebraucht wurde. Er sagte außerdem, daß die einzige Zeugin, die angab, Montgomery während der Erstürmung selbst gesehen zu haben, vor Gericht aussagte, sie habe gesehen…« »… wie sie eins der sterbenden Kinder in den Armen hielt«, sagte Austin. Er räusperte sich. »Richtig. Wie auch immer, Richter Holden meinte, was ihn anginge, hätte man die Kleine überhaupt nicht erst auf die Fahndungsliste des FBI setzen sollen.« 348
Austin setzte sich gerade. »Was?« »Carla McGillis stimmt dem zu.« Austin sagte: »Es hätte verdammt noch mal nichts geschadet, wenn das damals jemand erwähnt hätte! Ist Ihnen klar, was die Sache der Familie dieser Frau angetan hat? Was sie ihrem ganzen Leben angetan hat?« Bürokratische Arschlöcher. Es erinnerte Austin daran, warum er das FBI vor allen Dingen verlassen hatte. »Ich kann es einfach nicht fassen.« Er hatte Lust, jemanden zu schlagen. Nicht unbedingt Sizemore, einfach irgendwen. Sizemore lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Offenkundig macht es für Jeremiah Hunter keinen Unterschied. Er hätte sie sich früher oder später sowieso geholt. Der einzige Unterschied ist, daß Sie nicht versucht hätten, den Helden zu spielen, und wir die Frau und ihren Sohn inzwischen vielleicht schon wieder nach Hause gebracht hätten.« Er sah Austin stirnrunzelnd an. »In Ordnung. Das hab ich verdient.« »Wenn es nach mir ginge«, sagte Sizemore finster, »würde ich Sie vom höchsten Ast baumeln lassen.« Austin zog es vor, diese versteckte Anspielung auf Lynchen zu ignorieren. »Ich kann nicht nachvollziehen, was Sie sich dabei gedacht haben.« Sizemores Stimme wurde lauter. »Sie hätten diese Menschen umbringen können. Angenommen, sie wären neulich nachts tatsächlich im Lager gewesen? Unsere Leute hätten sie womöglich aus Versehen erschossen!« Unwahrscheinlich, dachte Austin. Er hatte jedoch nicht die Absicht, Bulldog Porter in Schwierigkeiten zu bringen, 349
deshalb sagte er nichts. Sizemore ließ einen Vortrag über das Standardverfahren bei Einsätzen vom Stapel. Berichtigung, dachte Austin. Es ist doch Sizemore, den ich gern schlagen würde. Er blendete ihn aus. Als er ihn wieder einstellte, sagte Sizemore gerade: »… und deshalb haben wir in erster Linie ein Standardverfahren. Es dient unserem Schutz genau so wie ihrem.« Austin unterbrach, wobei er sich Mühe gab, ruhig zu bleiben: »Und wie werde ich nun für die ganze Sache bestraft?« »An höherer Stelle ist man der Ansicht, Sie hätten mangelndes Urteilsvermögen bewiesen, als Sie die Entführung der Camerons nicht früher meldeten. Dem stimme ich zu. Sie glauben aber auch, daß Sie weit und breit derjenige sind, der am meisten zum Thema Jeremiah Hunter weiß. Dem stimme ich zufällig nicht zu.« Sizemore runzelte die Stirn. »Die da droben wollen Sie als Berater für diesen Fall. Werden Sie selbst schlau draus.« »Sie wollen mich als Berater?« Sizemore schüttelte frustriert den Kopf und sagte: »Was sollten sie machen, Sie rausschmeißen? Ich persönlich war der Ansicht, daß irgendeine disziplinarische Maßnahme hier vonnöten wäre, aber ich wurde überstimmt. Es sieht so aus, als hätten Sie ein paar Freunde beim FBI.« Er funkelte Austin an, der nichts sagte. »Sie wollen Sie an Bord. Aber bleiben Sie mir bloß aus dem Weg, Austin, verstanden?« Austin konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Zum ersten Mal seit Tagen hatte er wieder Hoffnung. Das 350
war es sogar wert, mir diesem Kotzbrocken zu reden. Halt durch, Lissie, dachte er, die Kavallerie ist unterwegs.
Während Wrens Marsch zu den Bäumen schien ihr Körper ein Eigenleben anzunehmen, abgesondert von ihrem Geist. Ihr war heiß, aber von Zeit zu Zeit durchlief sie ein unkontrollierbares Zittern. Und irgend etwas mit ihren Augen war merkwürdig; es war, als würde sie alles durch einen Sternfilter sehen. Die Erschöpfung zehrte an ihren schwerfälligen Füßen, aber sie war immer noch in einem Hochgefühl, deshalb drängte ihr Geist weiter, obwohl ihr Körper zusammenbrechen wollte. Ihr Kopf hatte etwas von einem Heißluftballon an sich. Es gab ihr das Gefühl, als sei sie irgendwie losgelöst von ihrer Umgebung und vielleicht sogar von ihrem Körper. Sie mußte also vorsichtig sein - sie wollte nicht in die Luft davonschweben. Sie ging den ganzen Tag. Auf dem Kamm einiger Hügelketten waren die Bäume, die um das Haus standen, zu sehen und halfen ihr, von Zeit zu Zeit ihren Kurs zu korrigieren; sie zogen sie an, wie eine Zielscheibe einen Pfeil anzieht. Zunächst sah es aus, als änderte sich nichts, als kämen die Bäume und das Haus, das sie schützten, nicht näher, egal wie weit sie sich, schwer auf ihren Stock gestützt, schleppte. Sie hätte genausogut in irgendeiner gigantischen Tretmühle dahinstapfen können. Es war entmutigend, aber was sollte sie anderes tun? Sie ging weiter. Dann schienen die Bäume näher zu kommen. Und noch näher. Sie konnte die ersten Einzelheiten ausmachen. Einen 351
Dachfirst. Eine Windmühle. Das bedeutete Wasser. In Wrens Flaschen hatte sich bei dem Schauer in der Nacht zuvor nur ein Fingerbreit Wasser gesammelt, und je weiter sie ging, desto weniger wies irgend etwas darauf hin, daß es überhaupt geregnet hatte. Sie konnte nicht anders, als das Wasser zu trinken sie war am Verdursten! , und ihr Körper fing an, es zu verlangen, wie nur je ein Drogensüchtiger sich nach Stoff gesehnt hat. Am späten Nachmittag, als Wren auf eine weitere Anhöhe in der monotonen, einfarbigen Landschaft taumelte, ließ das Hochgefühl vom Morgen rasch nach; sie hatte große Schmerzen und begann sich zu fragen, ob sie es überhaupt schaffen würde. Und dann war es auf einmal da. Es lag in ein kleines Tal geschmiegt. Emerald City hätte Dorothy nicht verheißungsvoller erscheinen können. Die Gebäude - ein Haus, eine Scheune und ein paar Nebengebäude - waren aus Stein, der zweifellos aus diesem Landstrich stammte, denn sie schienen mit der Umgebung zu verschmelzen, als wären sie ein Teil von ihr. Das Haus hatte eine breite Veranda, ein stehendes Dachfenster und ein Blechdach. Die Bäume waren schlank und hoch und waren als Windschutz für das Haus, die kleine schmutzige Rasenfläche und die Nebengebäude gepflanzt worden. Um das Gehöft war ein Zaun gezogen, mit einem Tor darin, das sich auf einen Pfad zur Scheune öffnete. Die Bäume diese wunderbaren, gesegneten Bäume - hatten ihr Laub noch nicht abgeworfen, und nur deshalb hatte Wren sie sehen können. Ein alter Pickup war außerhalb des Zauns geparkt. 352
Sie sah eine holprige, kalkverkrustete Straße, die vom Haus wegführte und sich durch das Buschwerk schlängelte, bis sie nicht mehr zu sehen war. Und auf den Schwingen des Windes wurde das kostbarste und beruhigendste aller Geräusche zu ihr getragen - das leise Plätschern von Wasser. Keine Oase in der Wüste hatte je einladender ausgesehen. Sie hatte es geschafft. Wren zog die Klapper der Klapperschlange aus ihrer Brusttasche und schüttelte sie ein wenig. Ja, sie hatte es tatsächlich geschafft. Sie stürmte hinunter in das Tal, ohne auf den Schmerz, der in ihren Füßen tobte, und auf das Fieber, das ihre Stirn versengte, zu achten. Sie hatte es geschafft, und das erste, was sie tun würde, bei Gott, war, von dem Wasser zu trinken. Zu diesem Zeitpunkt humpelte Wren nicht mehr. Sie torkelte nun und stolperte über kleine Felsbrocken und Erde, so hart und trocken, daß sie stellenweise glatt war. Das Geräusch von wildem Gelächter drang gackernd an ihr Ohr, und sie war verblüfft, als sie erkannte, daß sie selbst es ausstieß. Es war ihr gar nicht bewußt geworden, daß sie lachte. Und wen kümmerte es auch? Da unten war Wasser, da war Leben, da war Hilfe. Golana, der Rabe, hatte recht. Es gab keine Zufälle. Alles war, wie es war. Sie war nach Norden gegangen, weil dieser Ort, diese Leute auf sie warteten. Wren flüsterte ein Dankgebet und schlurfte weiter, bis sie endlich die Windmühle mit dem hohen, runden Wasserbecken erreichte. Die klapprigen Mühlenflügel ächzten in einem monotonen Rhythmus, im Gleichtakt mit 353
dem Lied des Wassers, das sich aus einem Rohr ergoß und in das Becken plätscherte. Davor lag ein großer, viereckiger Stein, den Wren dankbar als Trittschemel benutzte. Das Wasser floß kalt und frisch in ihre gewölbten Hände, aber es war schwierig, es bis zum Mund zu bringen, deshalb tauchte sie eine der leeren Flaschen in das Becken und nahm einen langen Zug von dem köstlichen Naß. Es war zuviel; ihr Magen rebellierte, aber es kümmerte sie nicht. Sie spritzte sich den lebensspendenden Stoff über das erhitzte Gesicht und den Kopf, bis ihre Hände taub vor Kälte waren. Dann füllte sie ihre Flaschen auf. Wren erwartete halbwegs, daß jemand über sie herfiel und sagte: »Wer sind Sie? Von woher kommen Sie? Ich habe kein Fahrzeug vorfahren gehört.« Nichts dergleichen geschah. Sie sah sich nach dem unvermeidlichen Farmhund um, der von einem Nickerchen unter der Veranda aufwachen und herausstürzen müßte, um Alarm zu schlagen, aber es schien keiner da zu sein. Als sie schließlich glaubte, nun überleben zu können, stieg sie mühsam von dem Stein herunter, umklammerte ihren Gehstock und schleppte sich zu dem kleinen Tor im Zaun. Es ging leicht auf, und sie trat ein, torkelte bis zur Veranda, zuckte zusammen, als sie die Stufen hinaufstieg, wankte über die hölzerne Veranda zu der vergitterten Tür. Als sie eben anklopfen wollte, fiel ihr Blick auf das große Fenster in der Tür, und sie bemerkte, daß keine Vorhänge daran waren. Sie
konnte
der
Versuchung 354
nicht
widerstehen,
hineinzuschauen. Wren schnappte nach Luft. Was sie sah, war ein verlassenes Haus. Die Möbel, die sie erkennen konnte, waren staubige, ausrangierte Art-déco-Tische, -Stühle und -Lampen aus den Fünfzigern, von der billigen Sorte, die damals eigentlich schon niemand haben wollte, und heute erst recht nicht mehr. Ausrangierte Kinderbettmatratzen lehnten an dem kalten Kamin. Der Wind pfiff, hohl und kalt. »Nein.« Wren taumelte mit der Hand über dem Mund rückwärts, warf ihren müden Körper über die Verandabrüstung und umkreiste das Haus, wobei sie in jedes Fenster spähte. Noch mehr Gerümpel. Ein paar Verpackungskisten. »Das kann nicht sein!« schrie sie. »Es muß ein Telefon da sein, irgendwas!« Wütend zertrümmerte sie das dünne Glasfenster in der Küchentür, langte hinein, um sie aufzusperren, und trat ein. Der Boden knarrte unter ihren hinkenden Schritten, als wollte er sagen: »Hau ab, hau ab, hau ab.« Im Haus war es kühler als draußen. Alles war von einer unangenehmen Staubschicht bedeckt, und sie mußte niesen. Es gab kein Telefon, kein Essen, keinen Strom. Wren lief es kalt über den Rücken, als hätte eine Geisterhand sie berührt. Sie fuhr zusammen und schaute hinter sich. Da war nichts. Niemand war da. Sie war allein. Es war das unheimlichste Gefühl, das sie in ihrem ganzen Leben 355
gehabt hatte. Wie konnte es sein, daß ein ganzes Haus… mitten im Nirgendwo… verlassen war? Hatte das Land sie vertrieben? Oder war es der Wind? Moment mal - hatte sie da jemanden lachen gehört? Wren war sich absolut sicher, sie hätte draußen jemanden lachen hören. Sie eilte auf die Veranda und sah sich um. Es war niemand da. Okay, okay. Beruhige dich erst mal, sagte sie zu sich selbst. Entspanne dich und laß es kommen. Die Antworten werden kommen. Dann fiel es ihr ein, und sie kam sich wie ein Idiot vor. Natürlich der Pickup. Als sie sich zu dem Wagen hinüberschleppte, war ihr, als schwebte sie über allem und beobachtete sich selbst, und alle Farben waren explodierende Sterne. Der Pickup war ein 58er Chevrolet Apache, in demselben kreidigen Gelbbraun bemalt wie der Boden, mit zusätzlichen oliven und braunen Tarnflecken. Das Nummernschild war von 1989. Der Außenspiegel war mit Bindfaden festgemacht. Auf die Ladefläche war eine riesige, plump gebaute Schießplattform mit Tarnbemalung geschweißt. Sie enthielt einen Gewehrständer. Es mußte sich um ein Gefährt für Jagdausflüge handeln, vermutete Wren. Die Inneneinrichtung war ganz aus Metall. Die Beifahrertür war ebenfalls mit Bindfaden an das Lenkrad gebunden. Der Schlüssel lag in der Ablage - offenbar war die Gefahr nicht sehr groß, daß Autodiebe herumstreiften, 356
die es nach dem Wagen gelüstete. Er hatte eine Lenkradschaltung - kein Problem für jemand, der sich als Kind im Indianerreservat herumgetrieben hatte. Zur damaligen Zeit wäre das hier ein gutes Gefährt gewesen. Bitte, bitte, laß es ein bißchen Benzin haben, flehte sie, als sie sich auf den zerschlissenen Plastiksitz schob. Sie mußte das Fenster auf der Beifahrerseite öffnen, damit der Sotol hinausragen konnte, und das Fenster auf der Fahrerseite, damit sie den gesprungenen Außenspiegel sah. Die Kupplung zu treten war eine Tortur für ihre blutigen Füße, und das Ding sträubte sich, zu starten. »Bitte, bitte, komm zu Mama«, flüsterte sie. Wren pumpte und schmeichelte und betete, bis zuletzt das furchteinflößende Geräusch eines alten Pickups erklang, der hustend und spuckend zum Leben erwacht. Sie saß ein paar Minuten lang da und machte sich mit der Gangschaltung vertraut, dann legte sie einen Gang ein, ratterte langsam über die Viehweide und bog auf die Straße ein, wo sie eine Staubwolke hinter sich herzog. Ein-, zweimal übermannte sie fast ein Schwindelgefühl, und die Schaltung ging hart, aber das Ding lief, gepriesen sei Gott, es lief! Sie fuhr zu schnell, traf in jedes Schlagloch und wurde fast bis zur Decke geschnellt. Beunruhigt verlangsamte sie - einen platten Reifen konnte sie jetzt nicht brauchen. Aber es war schwer! Sie war beinahe da, beinahe da - sie spürte schon die starken, warmen Arme ihres Mannes, schmeckte seinen Mund, roch das Shampoo ihrer Tochter, mach schnell, mach schnell, bitte, lieber Gott, mach schnell. 357
Die Straße schlängelte sich durch das endlose Buschland, drehte und wand sich in Serpentinen, bis Wren dachte, sie würde verrückt. Noch schlimmer waren die Tore in den Schafzäunen, bei denen sie jedesmal aussteigen und sie öffnen und wieder schließen mußte; ihr Kopf brannte, und sie konnte kaum die Riegel greifen, aber sie blieb nicht stehen, sie wagte nicht, stehenzubleiben, sie war beinahe da. Plötzlich machte die holprige Straße eine scharfe Linksbiegung, und im nächsten Augenblick rollte Wren auf eine Asphaltstraße. Ein Highway! Sie wußte nicht, welcher Highway, und es war ihr auch egal. Wenn sie lange genug fuhr, würde sie irgendwo auf irgendwen stoßen, und wenn ihr das Benzin ausging, würde sie aussteigen und ein Auto stoppen. Trucker, Rancher, Jäger - irgendwer mußte auf dieser Straße fahren. Vielleicht sollte sie überhaupt versuchen, jemanden anzuhalten. Voraus kam ihr ein Fahrzeug entgegen, das Sonnenlicht reflektierte so heftig von der schwarzen Kühlerhaube, daß es blendete. Wren kniff die Augen zusammen und überlegte, was sie tun sollte, dann beschloß sie, nichts zu tun. Schließlich kam ihr der Wagen entgegen. Was konnte sie schon tun? Ihm reinfahren? Der alte Pickup ächzte dahin wie eine betagte Schildkröte, die weiß, wo sie hin will, aber vergessen hat, wieso. Das glitzernde Fahrzeug, ein Cherokee Jeep, rauschte an Wren vorbei. Aber nicht so schnell, daß sie nicht einen Blick auf den kahlen Schädel und die funkelnde Sonnenbrille des Fahrers erhaschen konnte. 358
»Nein! Nein! Nein!« Sie fuhrwerkte mit der Schaltung herum, pumpte die Kupplung und drückte ins Gaspedal; sie wollte die alte Karre zwingen, schneller zu fahren. Im Außenspiegel sah sie, wie der Jeep bremste, herumschleuderte und ihr hinterherbrauste. Sie schaltete zurück und drückte das Gaspedal ins Bodenblech. Jemand lehnte sich aus dem Beifahrerfenster des Jeep und zielte mit einem Gewehr auf den alten Pickup. Sofort riß Wren das Lenkrad hin und her, aber ihr Panzer hatte keine Servolenkung, er konnte nicht so reagieren, wie sie es brauchte, obwohl er es versuchte. Der erste Schuß pfiff am Beifahrerfenster vorbei. Mach schon, mach schon, drängte sie und rutschte mit dem Gesäß nach vorn, als ob das etwas nützen würde. »Mach schon!« Mit dem zweiten Schuß zerplatzte die Heckscheibe. Glassplitter drangen in Wrens Nacken, Schultern und Hände. Aus ihrem Innern drangen kurze panische Schreie. Der dritte Schuß traf ihren rechten Hinterreifen. Mit dem Todeskreischen von altem Gummi rumpelte das schwere Gefährt seitlich von der Straße. Die große Jagdplattform zog es unerbittlich hinunter, und Wren konnte nichts tun, als ihr Gesicht mit den Armen zu bedecken, bis der Pickup erstaunlich sanft auf der Beifahrerseite in einem Graben liegenblieb. Wren landete als zerschundenes und benommenes Häufchen an der Beifahrertür und blickte verwirrt durch das Fenster auf der Fahrerseite in die Mündung von Kickers nickelbeschlagenem 45er Colt.
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27. Kapitel A1s über das Funkgerät im Jeep die Meldung kam, daß man Daniels Mutter gefunden hatte, stieß Hunter einen Kriegsschrei aus und wendete den Jeep sofort Richtung Lager. Daniel war erfreut und begeistert, daß sie offenbar wohlauf war, aber ihm war unwohl, wenn er daran dachte, was nun mit ihr geschehen würde. Er war auch erschöpft und wütend auf sie, weil sie diesen ganzen Ärger verursacht hatte. Sie suchten seit vier Tagen und drei Nächten, hatten sehr wenig geschlafen, und das ganze Lager war nervös. Die Razzia im südlichen Texas hatte alle erschreckt, und der Alarmzustand und die Lebensmittelrationierung hatte alles noch schlimmer gemacht. Daniel war es außerdem leid, daß man ihm die Schuld daran gab, obwohl er überhaupt nichts getan hatte. Als Hunter den staubigen Jeep auf das Gelände fuhr, sah Daniel, daß alle ziellos herumliefen und darauf warteten, wie Wren bestraft würde. Soweit sich Daniel erinnerte, war es das erste Mal, daß er das ganze Lager auf einmal im Freien versammelt sah. Es erinnerte ihn an Bilder von Hinrichtungen durch den Strang im alten Westen, die er gesehen hatte. Hunter stieg aus dem Jeep, Daniel hingegen blieb, wo er war, den Ellenbogen beiläufig auf das offene Fenster der Beifahrertür gelegt. Plötzlich schämte er sich ein bißchen; er wollte seine Mutter eigentlich gar nicht sehen. Er wollte sich nur vergewissern, daß sie in Ordnung war. Die Bestrafung würde er sich wahrscheinlich gar nicht anschauen. Als das Geräusch des Jeeps, der Daniels Mutter zurückbrachte, durch das Gelände hallte, wurde die 360
unruhige Menge still und leise. Daniel sah weg und fing an, auf einem Fingernagel zu kauen. Der Jeep kam polternd zum Stehen, Türen öffneten und schlossen sich. Daniel schaute hinüber. Die Hände seiner Mutter waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Kicker hielt sie an einem Ellenbogen. Daniel war entsetzt über ihr Aussehen. Ihre Wangenknochen traten über hohlen Wangen hervor, und ihre Augen waren in dunkle Ringe versunken. Ihr Haar war eine wilde, schwarze Masse, und ihr schmutziger Kampfanzug hing an ihr, als hätte sie ihn von jemandem geerbt, der größer war. Er sah, daß Kicker sie nicht so sehr festhielt, um sie zu bewachen, sondern damit sie nicht umfiel; sie konnte kaum noch gehen. Während Daniel zusah, schüttelte sie den Griff des Mannes ab und humpelte zu Hunter. Sie stellte sich vor ihn hin, das Kinn trotzig hochgereckt. Selbst vom Jeep aus sah Daniel, wie ihre hellen Augen vor Stolz funkelten. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie war… furchteinflößend. Hunter verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schaute ihr sehr lange in die Augen. Dann wippte er auf den Fersen nach hinten und schritt im Kreis um sie herum. Sie wandte nicht den Kopf. Hunter blieb wieder vor ihr stehen und schürzte die Lippen, als überlegte er, was er sagen sollte. Plötzlich schoß seine Hand nach vorne, und er schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Die Menge hielt den Atem an. Wren taumelte nach hinten, fand ihr Standvermögen wieder und stand gerade. Aus ihrem Mundwinkel lief eine dünne rote Spur. 361
Daniel blieb vor blankem Entsetzen der Mund offenstehen. Er hatte noch nie gesehen, daß ein Mann eine Frau schlug, in seinem ganzen Leben nicht. Selbst von Erics lausigen Vätern hatte keiner je seine Mutter geschlagen. Hunter mußte einfach durchgedreht haben vor Angst und Erschöpfung, wie alle anderen auch. Es mußte so sein. Mom, flehte er lautlos, sag ihm einfach, daß es dir leid tut und daß es nie wieder vorkommen wird. Tu es, bitte. Hunter schlug sie noch mal, fester, der Schlag riß sie fast um, aber sie fiel nicht und sie unterwarf sich nicht. In Hunters Augen funkelte es, und Daniel wußte zu seinem Entsetzen sofort, was nun kommen würde. Hunter ballte plötzlich die Faust und ließ sie auf Wrens Wangenknochen krachen. Sie setzte sich auf den Hintern. Nachdem sie benommen den Kopf geschüttelt hatte, fing sie an, sich wieder auf die Beine zu kämpfen, wie ein angeschlagener Boxer, der sich nicht anzählen lassen will. Jemand muß ihr helfen! schrie Daniel in Gedanken, aber niemand rührte sich. Hunter hatte die Kontrolle über sich verloren. Mit fliegenden Fäusten ging er auf Daniels Mutter los. Im nächsten Augenblick sprang Daniel aus dem Jeep, rannte hinüber, warf sich zwischen Hunter und seine Mutter und schrie: »Hör auf, du Hurensohn! Du bringst sie um!« Ohne daß es ihm bewußt war, hatte er sich auf die Fußballen gestellt, die Knie gebeugt und ließ die Hände vor dem Körper kreisen, bereit, bis zum Tod zu kämpfen, wenn es sein mußte. 362
Hunter machte einen drohenden Schritt auf Daniel zu und sagte ruhig: »Geh mir aus dem Weg, du Würstchen, oder ich reiß dir mit bloßen Händen das Herz heraus.« Daniels Herz arbeitete wie ein Preßlufthammer in seiner Brust, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Er hatte sich Hunter noch nie widersetzt. Sein heranwachsender Körper übte Verrat an ihm, indem er bis zu den Ohren rot wurde. »Laß sie einfach in Ruhe, Hunter! Sie ist in Handschellen - das ist unfair!« Es klang idiotisch, aber es war alles, was ihm gerade einfiel. Hunters Augen verengten sich. »Unfair? Du sagst, ich bin unfair? Nachdem das Lager wegen ihr durch die Hölle gegangen ist? Sie hätte uns alle umbringen können«, tobte er, »und du sagst, ich bin unfair?« Er machte noch einen Schritt. Blitzschnell zog Daniel seine 45er, entsicherte sie mit dem Daumen und zielte genau auf Hunters Herz. Er hörte - und konnte ansonsten spüren -, wie ein Dutzend anderer Pistolen gezogen und auf ihn gerichtet wurden, aber er senkte seine Waffe nicht. Mit einem affektierten Grinsen sagte Hunter: »Hab ich dir nicht alles beigebracht, Junge? Du sollst nie eins von diesen Dingern auf jemanden richten, wenn du nicht bereit bist, es zu benutzen.« »Wenn du meiner Mom noch einmal weh tust«, sagte Daniel gut vernehmbar, »töte ich dich.« Seine Stimme schnappte bei dem Wort ›töte‹ über. Seine Hände zitterten. Er mühte sich, sie ruhig zu halten, während er dieses hilflose Zeitlupengefühl hatte, daß alles außer Kontrolle geraten war, und er es nicht mehr aufhalten konnte. 363
Big John mischte sich ein. »Hey, Mann«, sagte er zu Hunter, »laß gut sein. Sie ist die Mutter von dem Jungen. Wie würdest du dich fühlen?« Nach einem kurzen Augenblick entspannte sich Hunter. Mit einem gleichgültigen Achselzucken sagte er: »Ich schätze, das Miststück hat seine Lektion gelernt«, machte auf dem Absatz kehrt und ging durch die murmelnde Zuschauermenge auf seinen Wohnwagen zu. »Das hier kannst du jetzt wegstecken«, sagte Big John freundlich zu Daniel. »Du mußt dich um deine Mutter kümmern.« Die Pistole schien in Daniels erhitzten Händen festgeschweißt zu sein. Er mußte sie praktisch abschälen, um die Waffe in den Halfter zurückstecken zu können. Selbst dabei fuhr er ein-, zweimal daneben. »Vergiß nicht, sie zu sichern«, sagte John. »Du wirst dich nicht in den Fuß schießen wollen. Mir ist es schon passiert - es ist peinlich.« Daniel schob mit dem Daumen den Sicherungsbolzen zurück. Er schien nicht aufhören zu können, zu zittern. Als er aufschaute, sah er, daß sich alle abgewandt hatten und ihren eigenen Beschäftigungen nachgingen. Seine Mutter hatten sie wie einen Haufen alter Lumpen auf der Erde liegengelassen. Sie helfen ihr lieber nicht, dachte er, weil sie befürchten, daß Hunter sonst wütend wird. Seine Mutter murmelte etwas. Daniel kauerte sich neben sie, schob seine Arme unter ihre Schultern und hob sie in seinen Schoß, aber er verstand nicht, was sie sagte. Sie war über und über voller Blutflecke. 364
»O mein Gott!« kreischte Daniel. »Er hat sie fast umgebracht!« Big John schob die Sonnenbrille auf seinen kahlen Schädel, beugte sich neben Daniel hinunter und untersuchte sie. »Das stammt von der Heckscheibe dieses beschissenen Jägertrucks, den sie irgendwo gestohlen hat«, sagte er mit einem Lächeln in den Augenwinkeln. »Dieser Blödmann von Kicker hat sie herausgeschossen. Ich habe zu ihm gesagt, wenn wir lange genug hinter ihr herfahren, fallt die alte Karre von allein auseinander, aber nein, er mußte sich aufführen, als wären wir bei einer gottverdammten Verfolgungsjagd in einem Hollywoodfilm.« Schwer seufzend fügte er hinzu. »Glas, Junge. Nur kleine Glassplitter, mehr ist es nicht.« Eine häßliche, purpurne Quetschung nahm auf der Wange seiner Mutter Gestalt an, ihre Lippe war geschwollen und blutete, und aus einem Riß über ihrem rechten Auge tropfte Blut. Das stammte auf jeden Fall von Hunter. »Sie ist wirklich sehr heiß«, sagte er zu John. »Was ist nur los mit ihr?« »Vielleicht ist sie dehydriert«, sagte er und legte seine riesige Hand auf ihre Stirn. »Teufel, nein, das ist es nicht. Sie glüht ja vor Fieber!« »Was machen wir jetzt?« »Wir bringen sie ins Krankenrevier.« Daniel blickte erstaunt. »Was ist das?« »Na, du weißt schon, Verbände, Aspirin und so Zeug.« 365
»Ich wußte nicht, daß wir eins haben.« »Doch. Wir haben bloß keine Krankenschwester.« »Kannst du ihr erst die Handschellen aufmachen?« fragte er klagend. Big John schüttelte seinen großen Kopf. »Ich hab keinen Schlüssel, weil ich sie gar nicht gefesselt habe. Jeder Schwachsinnige konnte sehen, daß sie zu kraftlos war, um auch nur einer Fliege etwas anzutun. Warte hier. Ich hole den Schlüssel.« Während Daniel wartete, betrachtete er das Gesicht seiner Mutter. Ihre Verletzungen schwollen rasch an, und obwohl ihre Augen geschlossen waren, murmelte sie dauernd etwas, das er nicht verstand. Daniel war zutiefst verwirrt. Er konnte nicht anders, als sich bis ins Mark zu schämen, aber andererseits verstand er auch, wie enttäuscht und wütend Hunter sein mußte, vor allem nach der Razzia in Südtexas. Er hatte einfach die Beherrschung verloren, da war sich Daniel sicher. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Hunter so etwas vorsätzlich tat. Sie war immer so hübsch, dachte er und unterdrückte den plötzlichen, unangenehmen Drang zu weinen. Aus der Nähe betrachtet, entdeckte er ein paar graue Haare, die an ihren Schläfen sprossen und silbern in der Sonne glänzten. »Mom«, flüsterte er, heftig blinzelnd, »es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Als er das Knirschen von Big Johns Füßen näherkommen hörte, räusperte er sich. 366
Big John brauchte nicht lange, um Daniels Mutter die Handschellen abzunehmen; ihre dünnen Arme fielen schlaff herunter. Daniel mühte sich, sie hochzuheben. Er schaffte beim Bankdrücken inzwischen zweihundert, aber einen leblosen menschlichen Körper aufzuheben war etwas ganz anderes. Big John griff nach ihr. »Laß dir helfen, Junge.« »Ich kann das schon!« fuhr ihn Daniel an. Unbeholfen schaffte er es, aufzustehen, sie sogar in seine Arme zu hieven, aber sie über das Gelände zu tragen, stellte sich als schwieriger heraus, als er gedacht hatte. »Du wirst sie noch fallen lassen. Laß mich sie nehmen.« John entwand ihm seine Mutter und ließ sie in seinen Annen baumeln wie eine Puppe mit losem Kopf. Daniel trottete daneben her. »Es ist in dem Gebäude da drüben«, sagte John und zeigte auf einen Bau, ähnlich dem, in dem Daniel und seine Mutter am Anfang untergebracht waren. »Mach die Tür für mich auf.« Daniel gehorchte, und John legte sie auf ein schmales Feldbett ab. Seine Mutter sagte etwas wie ›Gauner‹. »Was hat sie gesagt?« »Sie ist im Delirium. Das kommt vom Fieber. Wir müssen ihr etwas Flüssigkeit einflößen.« John wühlte in einem hohen Metallschrank herum. »Ist sie krank?« »Ich tippe auf Lungenentzündung. Wir hatten letzte Nacht einen von diesen unberechenbaren Schauern, die auf einen kleinen Fleck niedergehen und dann weiterziehen. Der muß sie erwischt haben.« 367
Lungenentzündung. Ein sehr beängstigendes Wort. Daniel schaute auf seine Mutter hinunter. Sie sah so klein aus, wie ein Kind. Sie war so müde und alles. Er machte sich Sorgen, daß sie nicht die Kraft hätte, dagegen anzukämpfen. »Was können wir tun?« »Sie braucht Penicillin. Ich besorg welches.« »Wie? Die Stadt ist vierzig Meilen entfernt. Und du kannst keinen Arzt rufen.« Big John stieß die Schranktür zu. Seine Arme waren mit einer sterilen Wasserflasche, Mull, Bandagen, Wasserstoffsuperoxid und antibiotischer Salbe beladen. »Ich krieg es, keine Angst.« »Aber wie?« »Ich habe meine Wege. Und jetzt halt den Mund und zieh deiner Mutter die Stiefel aus, während ich versuche, ein bißchen von dem Wasser hier in sie reinzukriegen.« Daniel machte sich an den Schnürsenkeln zu schaffen, dann zerrte er an ihren Stiefeln. Er zog so heftig, daß ihr ganzer Körper auf dem Feldbett nach unten rutschte. »Was zum Teufel machst du da!« brüllte Big John. »Jetzt hab ich das ganze Wasser wegen dir verschüttet.« »Ich krieg ihre Stiefel nicht runter.« John beugte sich hinunter und untersuchte die Stiefel. »Ihre Füße sind bös geschwollen. Wir müssen sie abschneiden.« »Ihre Füße?« kreischte Daniel. »Nein, du Dummkopf, die Stiefel.« Er zog ein brutal 368
aussehendes Messer aus einer Scheide an seinem Gürtel. »Allmächtiger!« stieß Daniel hervor und vergaß für den Augenblick völlig seine Mutter. »Ein Prachtstück, was?« John streckte die Klinge vor, damit Daniel sie untersuchen konnte. »Recon Tanto. Das beste Kampfmesser, das es gibt.« »Wie kommt es, daß die Klinge schwarz ist?« Daniel konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie anzufassen. »Es ist eine Karbon-Fünf-Klinge. Das auf der Klinge ist Schwarzpulverepoxyd. Schützt es vor der Witterung. Faß es nicht an - es schlitzt ein Hanfseil in zwei Hälften. Dein Finger wäre eine Kleinigkeit. Und jetzt geh mir aus dem Weg.« Er ließ die Messerklinge vorsichtig in den Stiefelschaft gleiten, dann schnitt er mit einer ruckartigen Drehung des Handgelenks aufwärts. Das Messer ging durch die schweren ledernen Kampfstiefel wie durch Butter. Rasch erledigte er den zweiten Stiefel, dann steckte er das Messer in die Scheide zurück. Die Stiefel fielen ab und polterten auf den Boden. »Oh, Mann!« Daniel würgte beinahe. Die Socken klebten mit braunem, getrockneten Blut, hellrot von frischem Blut gesprenkelt, an den geschwollenen Füßen seiner Mutter. Big John sagte: »Wir schätzen, daß sie dreißig Meilen gelaufen sein muß.« Sie schauten lange, ohne etwas zu sagen. Dann, als würde er mit sich selbst sprechen, sagte John leise: »Willst du sehen, was Mut ist, Junge? Ich würde sagen, du schaust bis jetzt in die falsche Richtung.« 369
»Was soll das heißen?« John runzelte die Stirn. »Nichts. Denk einfach drüber nach, das ist alles.« Daniel starrte ihn immer noch an, als seine Mutter, klar wie ein Glockenton, sagte: »Schafft diesen räudigen Gauner von Kojoten hier raus!« Sie fuhren beide zusammen und blickten zu ihr hinab. »Was für ein Kojote?« fragte Daniel und schaute im Zimmer umher. »Siehst du ihn nicht? Er steht genau da im Eingang und lacht mich aus!« Ihre Augen funkelten seltsam. Big John legte Daniel die Hand auf den Arm und murmelte: »Sie redet im Fieber, Junge. Sie wird noch viele verrückte Sachen sagen. Ich muß jetzt los und Penicillin für sie holen. Sie braucht es dringend.« »Und… was soll ich tun?« »Säubere alle Wunden mit Wasserstoffsuperoxid. Tränk ein bißchen Mull damit - siehst du? Dan! Hör zu. Siehst du den Mull hier? Du tränkst ihn in Wasserstoffsuperoxid, genau so, siehst du, dann tupfst du ihn auf das getrocknete Blut hier. Mach einfach immer so weiter, dann lösen sich die Socken von der Haut. Versuch nicht, die Socken herunterzuziehen. Nimm die Schere hier.« Daniel unterdrückte seine panische Angst und hörte zu, aber er wollte nicht mit seiner Mutter allein bleiben. Er kannte sich in Erster Hilfe nicht aus. Er wußte nicht, wie er sie verbinden sollte, wie Big John ihm sagte. »… nimm jede Menge antibiotische Salbe. Und gib ihr ständig kleine Schlucke Wasser, soviel sie aufnimmt. Wir haben kein Infusionsgerät hier. Das mußt du machen. Ich 370
bin zurück, so schnell ich kann, okay?« Sein mächtiger Körper verdunkelte den Eingang. »Und Junge… mach dir keine Sorgen. Deine Mom kommt wieder in Ordnung. Sie ist zäher als die Stiefel da drüben. Okay?« Daniel nickte zögernd. »Okay.« Dann war John weg, und Daniel blieb zurück mit dem, was von seiner Mutter übrig war. Das Kaninchen tanzte. Wren wußte, sie hatte Fieber, und sie wußte, daß es sie merkwürdige Dinge sehen ließ, wie in einem Wachtraum, aber vor ihrem inneren Auge sah sie das Kaninchen tanzen. In der alten Tiersage der Cherokee, die ihre Großmutter ihr oft erzählt hatte, hatte ein Rudel Wölfe ein Kaninchen gefangen. In ihrem Wachtraum sah Wren jedoch keine Wölfe, sie sah Kojoten. Gauner. Komische Sache, trotzdem. Kaninchen waren auch Gauner. Die Kojoten hatten vor, das Kaninchen zu fressen, aber das Kaninchen sagte: »Wartet noch einen Moment! Ich habe gerade einen neuen Tanz gelernt. Möchtet ihr ihn sehen?« Nach dieser Geschichte waren Kaninchen nämlich für ihren wunderbaren Tanz bekannt, und so bildeten die Kojoten einen Kreis um das Kaninchen und schauten zu, wie es mit dem Fuß klopfte wie eine kleine Trommel. Dann sprang es im ganzen Kreis herum, tanzte und sang ihr Lied… Ahw’usti hatte das Lied gekannt. Sie hatte es Wren immer vorgesungen, aber Wren konnte sich nicht mehr an 371
die melodischen Tsalagi-Worte erinnern. Es machte sie traurig. Sie ließ sich treiben. Der Kaninchentanz. Irgend etwas war wichtig an dem Kaninchentanz, etwas, woran sie sich erinnern sollte. Aber was war es? Sie döste. Der Kaninchentanz. Ein heftiger Schmerz in einem von Wrens Füßen ließ sie murmelnd erwachen, und dann fiel es ihr ein: Da war das Kaninchen, es sang und tanzte und stampfte mit dem Fuß auf, immer im Kreis herum, bis es plötzlich einen gewaltigen Satz tat und sich über das Feld in die Freiheit davonmachte. »Kaninchen!« schrie sie. »Warte!« Jemand schüttelte sie, es war lästig. »Hört auf«, sagte sie, aber es hörte nicht auf. »Ich versuche gerade mit Kaninchen zu reden…« »Mom. Mom, wach auf. Du fieberst. Hier sind keine Kaninchen.« Daniel schwamm in und aus Wrens Gesichtsfeld. »Es hat genau da drüben getanzt, Daniel«, sagte sie verärgert. Ihre Stimme klang undeutlich, und ihre Lippen taten böse weh. »Bei den Kojoten.« Sie deutete unbestimmt in die Ecke. Daniels Gesicht begann wieder zu verschwimmen. »Hier sind keine Kojoten, Mom. Hör auf, verrücktes Zeug zu reden. Du machst mir angst.« »Es ist nicht verrückt! Sie brauchen die Kaninchen für die Bomben.« 372
»Pssst. Du bist echt müde. Du hast Fieber. Big John ist unterwegs, um Medizin für dich zu holen. Hier, trink ein bißchen Wasser.« »Ah, Wasser. Das klingt wundervoll.« Sie versuchte, den Kopf zu heben, aber er war so unglaublich schwer. Daniel schob seinen Arm unter ihren Nacken und hob sie an. Er hielt ihr eine Wasserflasche an die Lippen. Sie hatte eine kleine Spritzdüse, wie ein Geschirrspülmittel, was es ziemlich leicht machte, daraus zu trinken. Sie trank dankbar drei Schluck, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich bin so müde«, sagte sie. »Warum bin ich bloß so müde?« »Du mußt dich nur ein bißchen ausruhen.« »Daniel… weinst du etwa?« Eine große, runde Träne lief ihm über die Wange. »Mom, es tut mir so leid.« »Wieso?« »Einfach so.« »Schon gut.« Er legte ihren Kopf sanft ins Kissen zurück. »Nein, es ist nicht gut.« Seine Nase begann zu laufen, und er wischte mit dem Ärmel darüber. »Ich wußte nicht, daß Hunter so wütend sein würde. Er hat es nicht so gemeint, Mom. Er hatte nur Angst, wie wir alle. Wir haben befürchtet, du bringst das FBI daher, und sie jagen uns alle fort oder so. Er wollte dir nicht weh tun - ich weiß, daß er es nicht wollte.« Weitere Tränen flossen. Sie spürte, wie eine davon auf ihrer Wange landete wie ein bitterer Regentropfen. Irgendwo schob Wrens Instinkt eine Nachricht durch 373
ihren benebelten Geist: Du kannst ihm immer noch nicht trauen. Kleine, spitze Erinnerungssplitter bohrten sich in ihre Gedanken… die Flucht aus dem Lager… der endlose Marsch durch Gestrüpp und Felsen… die seltsame Nacht auf dem Hügel… der Highway, auf dem sie um ihr Leben fuhr… der Pickup… der Straßengraben… Hunters Gesicht, als er sie schlug… ihr Sohn, der sie in die Arme hob. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte sie erstaunt. »Ich habe ihn nur aufgehalten, das ist alles. Er wußte nicht, was er tat.« Wren suchte das braungebrannte, knochige Gesicht ihres Sohnes - es war so viel älter als je zuvor und doch noch so jung. Hunter hatte den jugendlichen Zorn des Jungen erkannt, hatte die Quelle angezapft und Daniels Energie für seine Zwecke kanalisiert. Während Daniels Eltern versucht hatten, ihn dazu zu bringen, daß er sich seines Zorn bewußt wurde und lernte, ihn zu überwinden, hatte Hunter einen Weg gefunden, ihn zu nutzen… indem er ihn wie einen Mann behandelte, obwohl er noch längst keiner war. Es war eine mächtige Medizin. Nicht einmal seine eigene Mutter kam dagegen an. Was konnte sie jetzt tun? Es machte sie so müde… so furchtbar müde, nur darüber nachzudenken. Jetzt war sie wieder genau dort, wo sie angefangen hatte. Sie wäre am liebsten gestorben! 374
Sie war von Kojotengaunern umgeben. Wie konnte sie jemals hoffen, daß -Tanz den Kaninchentanz. Der Gedanke war kristallklar. Tanz den Kaninchentanz für die Kojoten. Kojoten sehen dem Kaninchen gern beim Tanzen zu. Kojoten tanzen gern mit dem Kaninchen. Tlage situn galt sgi sida ha. Die Worte aus alter Zeit standen plötzlich deutlich vor Wren. Am Feldrand tanze ich umher. Ha, ha, ha. Der Schlaf senkte sich auf sie nieder, und sie wurde immer schwächer, kämpfte aber zum Licht hin. Dieser Einfall… sie wollte ihn nicht verlieren. Wollte ihn nicht im Schlaf verlieren oder zu lange warten und ihn vergessen. Es könnte funktionieren. Sie würde dafür sorgen, daß es funktionierte. Nach Daniels Hand tastend, sagte Wren: »Ich möchte, daß du Hunter für mich holst.« Sein Gesicht wurde bleich vor Angst. »Mom? Was hast du vor?« »Das, was du gesagt hast, leuchtet mir ein. Ich verstehe jetzt, daß du recht hast, mein Sohn. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht, und ich kann begreifen, warum Hunter so aufgebracht war.« Falls die Worte ein wenig mechanisch über ihre unförmigen Lippen kamen, schien Daniel es jedenfalls nicht zu bemerken. Eine gewaltige Erleichterung erhellte seinen Blick. »Ich 375
meine, es ging uns allen so.« »Ich möchte mich bei ihm entschuldigen. Das ist das mindeste, was ich tun kann, nach all der Aufregung, die ich verursacht habe.« Sie schluckte unter Schmerzen. »Und weil ich ihn so wütend auf mich gemacht habe.« »Das ist eine gute Idee, Mom. Dann werden sich alle besser fühlen. Laß mich nur deine Füße zu Ende bandagieren -« Sie schüttelte den Kopf, und die Bewegung machte sie schwindlig. Sie hängte sich zur Unterstützung an seinen Arm, bis das Schwindelgefühl vorbei war. »Du mußt dich jetzt ausruhen«, sagte er besorgt. »Big John sagt, du bist ernsthaft krank. Du kannst morgen früh mit Hunter reden.« »Nein. Ich will jetzt tanzen.« »Was?« Sie zwang sich zu einem Lachen. »Ich Dummkopf. Was einem das Fieber doch für Streiche im Kopf spielt. Ha, ha, ha.«
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TEIL VIER »DIE TOTE VERGANGENHEIT« Trau keiner Zukunft, wie heiter sie auch scheint; Laß die Toten in der Vergangenheit ruhn; Handle - handle im lebendigen Jetzt, Aus dem Herzen und mit Gottes Beistand. Henry Wadsworth Longfellow »A Psalm of Life«
Die Erinnerung daran, was du warst und sein wirst, wohnt im Herzen. Dhuani Vuiahoo »Voices of Our Ancestors: Cherokee Teachings from the Wisdom Fire«
Am totesten von allem war das Lächeln auf deinem Mund gerade stark genug zum Sterben. Thomas Hardy
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28.Kapitel Wren war zu krank und erschöpft, um Angst zu empfinden, als Hunter mit eisiger Ruhe, die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, vor ihr stand. Daniel, dessen Nerven blank lagen, drückte sich am Rande ihres Gesichtsfeldes herum. Sie wußte noch, was für ein Gefühl das war, wie ihre schiere Existenz einst von Jeremiah Hunters Launen abhing. Schlechte Laune bedeutete unmittelbare Gefahr; es war nur eine Frage der Zeit, bis man irgend etwas sagte oder tat, das sein Mißfallen erregte und seine Wut entfachte. Daniels Widerstand gegen Hunter vorhin hatte ihn in eine besonders prekäre Lage gebracht. Sie konnte auf eine distanzierte, losgelöste Weise mitfühlen, war aber unfähig, sich durch den heißen Dunstschleier, aus dem ihr Denken bestand, wirklich einzufühlen. Es war auch gut so, denn auf diese Weise ließ die Angst ihre Gedanken nicht erstarren. »Es war wegen meines kleinen Mädchens«, sagte sie zu Hunter. Ihre Stimme war bestenfalls ein heiseres Krächzen. »Wovon redest du?« Er runzelte mißtrauisch die Stirn. »Ich hatte nicht die Gelegenheit, mich von ihr zu verabschieden«, sagte sie, »und ich machte mir Sorgen um sie. Sie ist noch ein Kind. Ich dachte, wenn ich sie sehen könnte, würde es ihr bessergehen.« Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Daniel rot wurde. Sie fragte sich, ob er überhaupt einmal ein paar Gedanken an seine Schwester vergeudet hatte, seit dieses Martyrium angefangen hatte. 378
Hunter dachte darüber nach, und Wren sah, daß er ihr glaubte. »Warum hast du nichts gesagt?« fragte er. »Scheiße, wir hätten die Kleine jederzeit holen können. Das hab ich dir von Anfang an gesagt.« Er sah sie vorwurfsvoll an, weil sie seine Rücksichtnahme vergessen hatte. Sie schüttelte unter Schmerzen den Kopf. »Nein. Sie ist bei ihrem Vater besser aufgehoben.« Als er protestieren wollte, sagte sie: »Sie würde nicht in das Lager passen. Die ganzen körperlichen Aktivitäten und alles.« »Da hast du recht«, warf Daniel ein. »Sie ist die geborene Stubenhockerin.« Hunter grinste. »Wie der Vater, so die Tochter, was?« Wren, die richtig vermutete, daß Daniel seinen eigenen Vater vor diesem Kerl schlechtgemacht haben mußte, spürte, wie es ihr vor Zorn auf ihren Sohn einen Stich gab, verbarg es jedoch sorgfältig. Allerdings konnte sie es sich nicht verkneifen, einen Blick in Daniels Richtung zu werfen. Er vermied es, sie anzusehen. Sie hätte ihm in diesem Augenblick nur zu gern einen Klaps gegeben - nicht, um ihm weh zu tun, nur, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. »Und woher weiß ich, daß du dieselbe Nummer nicht noch einmal abziehst?« fragte Hunter, blind für das, was unterschwellig zwischen Mutter und Sohn vor sich ging. »Ich bin draußen in der Wüste krank geworden«, sagte sie. Wie um ihre Behauptung zu belegen, begann ihr Körper unkontrollierbar zu zittern. »Und ich schätze, das Fieber hat meinen Geist gereinigt oder so ähnlich. Ich 379
habe begriffen, daß du die ganze Zeit recht hattest.« Ihre Zähne fingen an zu klappern. »Ich bin jetzt bereit, dir zu helfen. Ich werde alles tun, was du willst, sobald ich wieder auf die Beine komme.« Mit zusammengebissenen Zähnen sagte sie: »D-Danke, daß du mich gerettet hast.« Hunter legte ihr die Hand auf die Wange und über ein Ohr. Seine Berührung war zärtlich, und darin lag der ihm eigene Widerspruch. »Großer Gott, du glühst ja richtig«, rief er staunend. »Wenn ich gewußt hätte, daß du krank bist, hätte ich dich vielleicht nicht so hart angefaßt.« Er runzelte die Stirn, als wäre sie selbst schuld. Eine verlogene Entschuldigung, typisch Hunter. Aber du hast dir nicht die Zeit genommen, es herauszufinden, oder, du Hurensohn? Sie lächelte zu ihm hinauf, wobei ihre aufgeplatzte Lippe die Geste abkürzte. Hunter trat einen Schritt zurück und musterte ihren Körper, als würde er sie zum ersten Mal sehen. »Du hast deine Füße aber ganz schön zugerichtet, was?« Sie nickte. »Ich hätte es besser wissen sollen.« »Ja, das hättest du.« Er blickte über die Schulter. »Dan!« »Ja, Sir!« rief der verängstigte Junge. »Du kümmerst dich um deine Mutter, hast du verstanden?« Daniel, der sich ja bereits um sie kümmerte, sah sie konfus an und sagte: »Ja, Sir.« »Bring ihr alles, was sie braucht. Wo ist Big John?« »Er holt Penicillin für sie.« 380
Hunter nickte. »Gut. Je schneller ihr sie wieder auf die Beine bringt, desto besser. Ich brauche sie, und wir haben lange genug herumgegammelt.« Er schaute noch einmal auf Wren hinunter. »Und mach ihr das Gesicht sauber. Sie sieht beschissen aus.«
Die nächsten Tage vergingen wie in einem Nebel mit Schlaf und dem schmerzhaften Wechseln der Verbände an ihren Füßen. Ihre Träume waren größtenteils unzusammenhängend und nicht der Erinnerung wert. Daniel schleppte einen Schlafsack an und pflegte sie mit erstaunlicher Sanftheit. Big John kam häufig zu Besuch und half ihr bei vielen Gelegenheiten ins Bad, bis ihre Füße wieder so kräftig waren, daß sie allein gehen konnte. Penicillin, Aspirin und jede Menge Wasser und Ruhe wirkten Wunder, und nach ein paar Tagen kehrte sie ins Frauenquartier zurück, wo man ihr für die nächsten Wochen leichte Arbeiten gab, die sie im Sitzen erledigen konnte. Während dieser Zeit setzte die seelische Reaktion ein. Sie war gescheitert. Mehr als jeder andere Umstand, verfolgte dieser Gedanke Wren. Sie war mit ihrem Unterfangen gescheitert; sie und ihr Sohn waren immer noch Gefangene, und es würde keine Gelegenheit zur Flucht mehr geben. All die kleinen Fluchtspiele, die sie in den ersten Wochen ihrer Gefangenschaft mit sich selbst gespielt hatte, um sich aufrecht zu halten, waren nichts weiter gewesen als eben Gedankenspiele, Geistesübungen, die zu nichts geführt hatten. 381
Cam und Zoe - und selbst Daniel, so wie er früher gewesen war drangen in ihre Gedanken wie Giftgas und machten sie krank vor Sehnsucht. Sie fragte sich, ob man sie und Daniel wohl schon aufgegeben hatte und für tot hielt, ob Cam und Zoe ihr Leben weiterführten, als würde ihre Familie nie mehr zusammenkommen. Manchmal fragte sie sich, ob das nicht überhaupt das Beste für alle wäre. Es gab ohnehin keine Hoffnung. Eine Zeile aus einem Film, den sie einmal gesehen hatte, kam ihr in den Sinn und setzte sich fest: Ein älterer Strafgefangener hatte zu einem jüngeren Mitgefangenen gesagt: »Hoffnung ist eine gefährliche Sache an einem Ort wie diesem.« Sie verstand nun sehr genau, was es bedeutete. Hoffnung war nur grausam, eine Femme fatale, die mit dir flirtete, obwohl sie nicht die Absicht hatte, dein Verlangen je zu erfüllen. In ihren verzweifeltsten Stunden horchte Wren darauf, daß Worte der Weisheit von ihrer Großmutter sie erreichten; sie sehnte sich danach, aber es kam nichts mehr. Sie hatte einmal gelesen, daß Menschen, die ein Sterbeerlebnis überlebt hatten und von der unaussprechlichen Herrlichkeit des Lebens nach dem Tod geblendet waren, oft in tiefe Depression verfielen, wenn sie wieder gezwungen waren, sich mit den banalen Nebensächlichkeiten des Alltagslebens auseinanderzusetzen. Aber das hier war nicht einmal ihr normales Alltagsleben. Es war eine bizarre Abweichung davon, die kein Ende zu nehmen schien. Sie fragte sich, wie Menschen, die lange Zeit von einem feindlichen Staat als Geiseln festgehalten werden, jeden 382
dieser monotonen Tage überleben, wie Kriegsgefangene am Leben blieben. Eines Nachts, als sie in die Dunkelheit der Frauenbaracke starrte und sich nach Schlaf sehnte, weil er die einzige Fluchtmöglichkeit war, drang eine Stimme in ihren Kopf, und es war ihre eigene. Dein ganzes Leben lang warst du von anderen abhängig, damit sie ihm eine Richtung gaben. Von deiner Mutter über Hunter bis zu Agent Austin und Cam hast du zugelassen, daß andere, die stark waren, deine Stärke bildeten. Jetzt stehst du allein da. Du mußt dich auf dich selbst verlassen, nicht auf deine Großmutter oder sonst jemanden, wenn du nicht nur dich, sondern auch deinen Sohn retten willst. Bei dieser Erkenntnis machte sich tiefe Angst in Wren breit, ein Gefühl der Entmutigung, das an Panik grenzte. Aber wie? widersprach sie. Wie soll ich jemanden retten, wenn ich mich selbst nicht retten konnte? Du hast nun die Kraft, kam zur Antwort. In deiner Seele, deinem Geist und deinem Herzen besitzt du alles, was du brauchst und je brauchen wirst. Du hast überlebt. Du wirst wieder überleben. Es stimmte eigentlich. Noch vor ein paar Wochen hatte der bloße Gedanke, etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen, wie lähmend gewirkt. Aber das war vor ihrer Wüstentour gewesen, die ihr Leben verändert hatte. Sie wußte nun, daß sie fähig war zu tun, was sie tun mußte, ohne zurückzublicken. 383
Das war nicht Hoffnung, es war Entschlossenheit. In diesem Augenblick wurde Wren von einer großen Erleichterung durchflutet, und zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme schlief sie tief und fest, und die Dämonen hielten sich zurück und verloren sich in den Schatten. Ihren ersten Schachzug machte Wren ein paar Tage später, nach der morgendlichen Gebetsversammlung. Sie trat auf Hunter zu und sagte dreist: »Ich möchte das Nahkampftraining wieder aufnehmen. Ich glaube, ich bin jetzt soweit.« Die Versammlung löste sich gerade auf, alle standen noch herum und redeten. Vier oder fünf Leute schauten herüber, um zu sehen, was los war. Hunter, der gerade Big Johns Messer bewunderte, blickte auf und sagte: »Vergiß es.« Das Mädchen, das sie früher war, hätte nun die Segel gestrichen und wäre enttäuscht davongeschlichen, aber Wren, die Frau, wußte, daß kein Tyrann einen Fußabstreifer respektierte. »Ich bin schon zu sehr eingerostet«, sagte sie. »Ohne Training kann ich bei keinem Einsatz mehr mitmachen.« Er blickte finster. »Wie kommst du darauf, daß du bei irgendwas mitmachst?« Sie schaute finster zurück und sagte: »Ich glaube nicht, daß du mich zum Kartoffelschälen hierhergebracht hast.« »Wieso nicht? Du machst das ziemlich gut!« Er lachte, und ein halbes Dutzend andere lachten mit, obwohl die meisten keine Ahnung hatten, worum es ging. Wren
wappnete
sich
gegen 384
die
unvermeidliche
Verlegenheit, die sie ankam, blickte Hunter unverwandt in die Augen und sagte: »Es ist eine Riesenvergeudung von Talent.« Er betrachtete sie kühl. Plötzlich schossen seine Hände vor und packten sie am Hemd. Instinktiv drehte sie sich auf dem linken Fuß und brachte ihr rechtes Knie zu einem harten Stoß gegen die verletzliche Innenseite des Oberschenkels nach oben, aber er war darauf vorbereitet, wich aus und drehte sich hinter sie. Gleichzeitig legte er seinen kräftigen Unterarm mit einem tödlichen Würgegriff an ihre Kehle. Wren wollte schon den Fuß heben, um ihm mit voller Wucht auf den Spann oder vielleicht gegen das Schienbein oder Knie zu treten, aber dann überlegte sie es sich anders und ruderte statt dessen hilflos mit den Armen. Sie war weit genug gegangen, um ihren Standpunkt deutlich zu machen und zu zeigen, daß sie Rückgrat besaß. Noch weiter zu gehen könnte (in seinen Augen) seine Autorität bei der Truppe untergraben. Abgesehen davon war sie tatsächlich schon eingerostet, sonst hätte sie nie zugelassen, daß er hinter sie gelangte. Wenn er ein Messer gehabt und es sich um eine echte Auseinandersetzung gehandelt hätte, wäre sie jetzt tot. Nachdem er sie mit einem unangenehmen Druck gegen den Adamsapfel eine Idee zu lange festgehalten hatte, lachte er und ließ sie los. Die Leute um sie herum lachten ebenfalls. Wren vergaß nicht zu lächeln. Jeder andere Gesichtsausdruck hätte Feindseligkeit signalisiert. »Red mit Smithy. Er ist der Ausbilder. Oder mit Kicker, einer von den beiden.« Er schüttelte den Kopf und sagte an die Zuschauer gewandt: »Armselig, wie sie kämpft, 385
was?« Wren grinste mit den andern, fing Hunters Blick auf und dachte fröhlich: Leck mich, du Arschloch.
Steve Austin versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Er hielt sich eine Hand vor den aufgerissenen Mund und griff mit der anderen nach einem Styroporbecher Kaffee. Einige der Agenten, die sich für das Briefing durch Special Agent Elliot Sizemore versammelt hatten, machten sich Notizen, andere hörten einfach aufmerksam zu, und wieder andere, wie er, starrten teilnahmslos ins Leere und versuchten wach zu bleiben. Im Raum war es zu warm, und Austin war nicht voll bei der Sache. Aus Gründen, die Austin nicht ganz klar waren, fühlte sich Buck Leatherwood zunehmend unbehaglicher, was seine Sicherheit anging. Kürzlich hatte er Austin von einem gräßlichen Traum berichtet. Darin war eine Bombe hochgegangen, als er gerade eine Rede hielt, und er hatte Körperteile von sich herumfliegen sehen. Obwohl Austin ein ganzes Gefolge von Sicherheitsleuten ständig für Leatherwood eingeteilt hatte, schien sich der Mann nur entspannen zu können, wenn Austin persönlich neben ihm stand. Infolgedessen flog Austin immer häufiger mit Southwest Airlines von Dallas nach Midland oder zu anderen Punkten auf der Landkarte, um bei Leatherwood zu sein. Es war ein anstrengender Dienstplan, und einmal hatte ihm Patsy aufgebracht vorgeworfen, er sei der Sklave eines reichen Weißen. 386
Die Bemerkung hatte eine der seltenen Auseinandersetzungen zwischen ihnen ausgelöst, und die Stimmung war immer noch gereizt. Es hatte die Sache nicht gerade besser gemacht, daß ihn nun ein anderer autoritärer Weißer nach San Antonio beorderte. Und je länger er hier saß und zuhörte, wie Sizemore davon schwafelte, wie wichtig es sei, einen hinreichenden Verdacht auf kriminelle Handlungen festzustellen, bevor man Informanten aus verschiedenen Survivalistenlagern sichtete, und wie notwendig eine umfassende nachrichtendienstliche Tätigkeit sei, um eine weitere Razzia aufzuziehen, desto frustrierter wurde Austin. Es stimmte zwar, daß eine Anzahl von Lagern mit Anhängern einer Ideologie von der Überlegenheit der weißen Rasse in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit von FBI und ATF erregt hatten. Austin war jedoch davon überzeugt, daß es Jeremiah Hunter nicht darum ging, ein Reich für weiße Separatisten zu gründen, obwohl er es in gewisser Weise vermutlich bereits getan hatte. Auch glaubte Austin nicht, daß sich Hunter im besonderen mit einer Art konzentriertem Angriff auf Staatsbeamte oberhalb der Bezirksebene befaßte oder Sabotageakte auf Finanzämter plante, wie es einige andere paramilitärische Gruppen taten. Entgegen seiner anderslautenden Rhetorik ging es Hunter, nach Austins Überzeugung, nicht um Ideale, nicht einmal um solche, die von Bigotterie oder Verfolgungswahn entstellt waren. Nein, worum es Jeremiah Hunter ging, war Geld. Austin war sich sicher, daß Hunter die Camerons entführt hatte, weil er wollte, daß Wren ihm bei einem spektakulären Raubüberfall half. Aber welcher Art? Am naheliegendsten war ein 387
Geldtransporter von Brink’s. Es hatte schon erfolgreiche Überfälle auf die gepanzerten Fahrzeuge gegeben, bei denen Millionen von Dollar geraubt und die armen Fahrer beziehungsweise Wachmänner umgekommen waren. Aber bei keinem war in nennenswertem Umfang Sprengstoff benutzt worden. Bankraub war die nächste logische Möglichkeit, aber wo? Wann? Austin hatte bereits einen geduldigen Kollegen von ihm die Datenbank des FBI nach ungeklärten Banküberfällen der jüngsten Zeit durchforsten lassen, die Spuren von Hunters üblicher Vorgehensweise aufwiesen. Er hatte nichts gefunden, was gepaßt hätte. Und wieso, zum Teufel, ließ sich der Kerl überhaupt so viel Zeit? Wren und Daniel wurden jetzt seit sechs Wochen gefangengehalten, und soweit Austin feststellen konnte, hatte Hunter noch keinen Gebrauch von ihnen gemacht. Vielleicht, dachte Hunter mit einem unguten Gefühl, braucht er so lange, bis er mit der Gehirnwäsche fertig ist. Der Fall Patty Hearst hatte gezeigt, daß man selbst Leute aus der Oberschicht zu Verbrechen nötigen kann, wenn man sie lange genug ihrer Freiheit beraubt, hungern läßt und demütigt. Sizemore ließ ein Papier mit einer langen Liste von Survivalistenlagern, die die Besorgnis des FBI erregt hatten, herumgehen. Austin überflog die Liste, dann heftete er einen tödlichen Blick auf Sizemore. Die Camerons wären tot, bis sie sich durch diese Liste gearbeitet hätten. »Das ist lächerlich.« Einen Moment lang wußte Austin 388
nicht genau, ob er es gesagt oder nur gedacht hatte, aber Sizemores Gesichtsausdruck und den Blicken der anderen Agenten nach, mußte er es laut und deutlich gesagt haben. Sizemore verzog die schmalen Lippen. »Auf diese Weise finden wir ihn nie - das ist wie mit der Nadel im Heuhaufen.« »Das ist die normale Vorgehensweise«, sagte Sizemore, der sich keine Mühe gab, seine Verärgerung zu verbergen. Offenbar hatte er eine Menge Arbeit in seinen Vortrag investiert und schätzte es nicht, unterbrochen zu werden, schon gar nicht, wenn man dabei sein Urteilsvermögen in Frage stellte. »Wir sind hier nicht im Wilden Westen, Mister Austin. Wir können nicht irgendwo hineindonnern und drauflosballern, egal, wie sehr manche von uns ein solches Vorgehen genießen würden.« »Ich habe nicht gesagt, daß wir irgendwo reingehen und rumballern sollen, Special Agent Sizemore«, sagte Austin, wobei er sie Silben im Titel in die Länge zog. »Aber meine Freunde von der Marine sagen, wenn man ein UBoot finden will, taucht man nicht den ganzen Ozean ab und jagt es.« »Griffiges Bild, Mister Austin, aber ich sehe nicht…« »Man setzt Tiefensprengladungen ab und zwingt das UBoot, von allein an die Oberfläche zu kommen.« »Desinformation!« schrie ein eifriger junger Agent, der neben Austin saß. Sizemore sah ihn stirnrunzelnd an. »So ist es«, fuhr Austin fort. »Wir setzen irgendeine erfundene Geschichte in die Zeitung, etwas, das fürchterlich beleidigend für Hunter ist… wie, sagen wir, daß er homosexuell ist.« 389
»O Gott, sie hassen Schwule!« sagte der junge Agent. Die anderen Agenten murmelten und nickten zustimmend. Soviel zu den politisch korrekten Neunzigern, dachte Austin bitter. Vielleicht sollten wir sagen, er hat Niggerblut im Stammbaum. Laut sagte er: »Sobald Hunter Wind von der Geschichte bekommt, kommt er garantiert aus seinem Schlupfloch, um die Sache richtigzustellen. Er wird mit irgendwem, irgendwo Kontakt aufnehmen - und dann haben wir eine Verbindung zu ihm.« Alle schauten erwartungsvoll zu Sizemore, der zu Austins Erstaunen den Kopf schüttelte. »Ich kann ein solches Verhalten schlicht nicht gutheißen«, sagte er. »Wie bitte? Wieso nicht?« »Das amerikanische Volk muß wissen, daß es uns vertrauen kann. Wir können nicht Lügen verbreiten.« O Gott, stöhnte Austin innerlich, er ist einer von den verdammten Hoove r-Leuten. Austin dachte rasch nach. »Schauen Sie. Diese Geschichte niemand müßte je erfahren, daß wir sie in die Welt gesetzt haben. Wir haben diese Taktik schon früher erfolgreich angewandt, und es hat dem Ansehen des FBI noch nie geschadet.« »Es gibt immer ein erstes Mal«, sagte Sizemore streng. »Und es wird bei dieser Ermittlung nicht geschehen, solange ich das Sagen habe.« Die Erschöpfung ließ Austins Frustration in Wut umschlagen. Seine Stimme war von eisiger Ruhe. »Es schert mich 390
einen feuchten Dreck, wer das Sagen hat oder ob das FBI in Verlegenheit gebracht wird. Alles, worum es mir geht, ist das Leben von zwei Menschen. Je länger wir hier mit diesem Informantenscheiß unsere Zeit vertrödeln, desto größer ist die Gefahr, daß die Camerons umgebracht werden. Nach meiner Meinung kann man das nicht gleichsetzen.« Aus dem Augenwinkel sah Austin einige Köpfe zustimmend nicken. »Nun, Mister Austin«, sagte Sizemore kühl. »Ich kann mich nicht erinnern, um Ihre Meinung gebeten zu haben.« Austin sprang auf und knallte die Faust auf den Tisch, daß der Kaffeebecher umfiel und der Kaffee in einer großen, braunen Lache über den Tisch floß. »Es geht hier nicht um persönliche Meinungen!« brüllte er. »Das hier ist kein Machtspielchen, Sizemore, hier geht es um Leben oder Tod!« »Es geht vielleicht nicht um Meinungen, aber ganz bestimmt um Autorität. Sie haben keine Autorität in diesem Fall, Mister Austin. Sie sind hier ausdrücklich nur als Berater, und ich sage Ihnen, ich werde eine solche Aktion nicht autorisieren!« Die beiden Männer starrten sich an, dann drehte sich Austin auf dem Absatz um und stürmte aus dem Raum. Sein Kaffee tropfte quälend langsam über den Tischrand auf den Boden.
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29. Kapitel »Mister Cameron? Cam?« Cam sah von seinem Notizblock hoch, auf den er ein dichtes Muster aus konzentrischen Kreisen und schiefen Quadraten gekritzelt hatte. Jane Cooper, seine Assistentin, stand vor seinem Schreibtisch. Ihr gebleichtes, blondes Haar war in den letzten Wochen etwas spröde geworden, und ihr Make-up fing an, ungleichmäßig auszusehen. Sie war schon sehr lange bei ihm; seit sie als junge Frau, kaum zwanzig, direkt nach der Ausbildung zur Anwaltsgehilfin angefangen hatte. Inzwischen war sie dreißig und noch was und geschiedene Mutter von zwei Kindern. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll«, begann sie, und ihre Augen füllten sich schlagartig mit Tränen. Cam stand auf, beugte sich über den Schreibtisch und berührte sie am Arm. »Setzen Sie sich, Jane. Was ist los?« Sie blieb stehen und sagte: »Ich dachte nur, ich sollte Ihnen mitteilen, daß ich angefangen habe, mir eine andere Stellung zu suchen. Ich mußte es tun, Cam, nachdem Sie mich auf Teilzeitarbeit gesetzt haben, und als wir dann in eine billigere Krankenversicherung mit tausend Dollar Selbstbeteiligung wechseln mußten - mit zwei Kindern kann ich es mir einfach nicht leisten…« »Schon gut, Jane, meine Güte, Sie brauchen mir nichts zu erklären. Ich verstehe Sie vollkommen. Ich gebe Ihnen auch ein Empfehlungsschreiben - damit allein müßten Sie einen guten Job finden. Hier, weinen Sie nicht.« Er zog ein weißes Taschentuch heraus. Es war ordentlich gefaltet, aber ungebügelt und verknittert. Sie ließ sich auf einen Stuhl ihm gegenüber fallen, die 392
Tränen rannen in schwarzen Bächen über ihr Gesicht. »Es tut mir so leid, Cam! Ich habe das Gefühl, Sie im Stich zu lassen, wenn Sie mich am meisten brauchen.« »Unsinn.« Er kam um den Schreibtisch herum, drückte ihr das Taschentuch in die Hand und legte seine Hand in ihren Nacken. »Sie haben eine Familie zu ernähren. Sie haben keinen Grund, sich schuldig zu fühlen. Im Laufe der Jahre haben Sie sich zu Tode geschuftet für mich. Sie haben sich nie beschwert, und als es bergab ging, haben Sie länger bei mir ausgeharrt, als es die meisten Gehilfinnen getan hätten.« »Es ist nur… weil ich immer gedacht habe, sie finden sie bald.« »Ich weiß.« »Und jetzt muß ich die ganzen Rechnungen…« »Ich gebe Ihnen eine anständige Abfindung, wenn Sie gehen.« »Nein, nein! So habe ich es nicht gemeint! Ich weiß, Sie können es sich nicht leisten. Sie haben kaum genügend Klienten, um Ihre eigenen Rechnungen bezahlen zu können.« Um Fassung ringend schob sie die Brille hoch und wischte sich mit dem Taschentuch über die Wangen. »Das ist nicht Ihr Problem, Jane. Es ist nur recht und billig.« Cam starrte auf ihren gebeugten Kopf mit dem zerzausten, messingfarbenen Haar und fühlte sich verlassen wie ein Kind. Er wußte wirklich nicht, wie er ohne sie zurechtkommen sollte. Sie schneuzte sich die Nase. »Wenn Sie wieder auf die Beine kommen, wenn Wren und Daniel wieder zu Hause 393
sind und alles, würde ich sehr gern wieder für Sie arbeiten.« »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte er mit gespielter Zuversicht. »Ich habe Ihnen sowieso nie das bezahlt, was Sie wert waren. Bis dahin werden Sie mehr verdienen als ich.« Sie schaute zu ihm hinauf, begegnete mit einem ängstlichen Lächeln seinem Blick und warf spontan wie ein kleines Kind die Arme um seine Mitte. Während er ihre Umarmung erwiderte, dachte er bei sich, daß manche Alpträume nie enden. Sie gehen einfach immer weiter. Da es an diesem Tag nur wenig zu tun gab, schickte er Jane nach Hause und machte sich ebenfalls auf den Heimweg. Der Nieselregen und die Kälte reichten aus, um deprimiert zu werden. Thanksgiving stand vor der Tür; er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er damit anfangen sollte. Seine Eltern bettelten, er solle Zoe mitbringen und über die Feiertage zu ihnen kommen. Sie meinten es gut, aber er wußte nicht, ob er einem Schwall von Fragen gewachsen sein würde, auf die es keine Antwort gab. Nun, da nach dem Ende der Sommerzeit die Uhr wieder vorgestellt worden war und der Winter näher rückte, wurden die Tage kürzer und dunkler. Es kam ihm vor, als wären Wren und Daniel schon seit einem Jahr verschwunden. An diesem Tag kam Cam sogar noch vor Zoe heim, ging durch das Haus und drehte überall das Licht an. Es war die Jahreszeit, die Wren so liebte; sie verteilte immer Duftkerzen, Kürbisse und Mais im Haus. Es roch wundervoll und versetzte alle in Weihnachtsstimmung. Jetzt roch es wie ein alter, feuchter Socken, und weder Cam noch Zoe ertrugen auch nur den Gedanken an 394
Weihnachten. Als er sich so umsah, fiel Cam auf, daß sie beide ein erstaunliches Durcheinander produziert hatten, von herumliegenden Zeitungen, Zeitschriften und Werbepost bis zu Zoes Schuhen, Büchern und allerlei Teenagerkram. Und dabei hatte Wren das Haus immer so in Schuß gehalten und hinter ihnen allen Ordnung gemacht. Wie machte sie das nur? Ein vages Schuldgefühl nagte an Cam, und er begann, planlos Sachen aufzuheben und wegzuräumen. Die Übung hatte einen seltsam therapeutischen Effekt, und er legte sich noch ein bißchen mehr ins Zeug, durchwühlte die Küchenschränke nach Möbelpolitur und zerrte den Staubsauger hervor. Bis Zoe nach Hause kam, hatte er sogar ein paar Kerzen angezündet. Das Haus roch… nun, häuslicher. Beim ersten Ausdruck von Freude, der über Zoes blasses Gesicht huschte, fühlte sich Cam nur noch schuldbewußter. Er durfte nicht einfach alles zusammenbrechen lassen. Er mußte die Dinge für sie zusammenhalten. Während er auf die Rückkehr von Frau und Sohn wartete, war Cams ernsteste Sorge nicht einmal Geld, obwohl er Jane verloren hatte und gerade dabei war, seine und Wrens Ersparnisse zu schröpfen, und ihre Kreditkarten überzog, damit er nicht das Collegegeld für die Kinder plündern mußte. Nein, seine schwerste Last wog kaum hundert Pfund und sah ihm tagtäglich in die Augen. Obwohl Zoe eine tapfere Fassade aufrechterhielt, wußte Cam, daß sie täglich im Treibsand der Depression versank. Zwar suchte sie ein-, zweimal in der Woche einen Psychologen auf, aber ihre Noten wurden immer noch schlechter, und sie kapselte sich mehr und mehr von ihren 395
Freundinnen ab. Zu Hause war sie ungewohnt gereizt und launenhaft. Er versuchte sich einzureden, daß es teilweise an der Pubertät lag, aber die Wahrheit steckte sehr viel tiefer, und er wußte es. Ihr Kummer hatte kein Ende, keine Lösung. Sie konnten aktiv nichts tun, um ihn zu bekämpfen. Sie konnten sich keiner Opferorganisation anschließen, nicht mithelfen, einen Täter der Gerechtigkeit zuzuführen, und nicht einmal Flugblätter ihrer vermißten Angehörigen aufhängen. Es war unwahrscheinlich, daß Wren und Daniel in einem Obdachlosenasyl oder an einem Rastplatz auftauchten. Niemand würde ihnen auf der Straße über den Weg laufen. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Verschwunden. Die Anrufe von Steve Austin wurden immer spärlicher. Cam rief häufig in seinem Büro an, aber Austin rief selten zurück. Austin ging ihm aus dem Weg, weil es schlicht und einfach keine Spuren gab, die sie verfolgen konnten, um den Fall zu lösen. Cams einzige Hoffnung war so bizarr, daß sie fast lächerlich war - wenn Hunter Wren und Daniel tatsächlich entführt hatte, damit sie ihm bei einem aufsehenerregenden Verbrechen halfen, dann konnten sie nichts weiter tun, als darauf zu warten, daß dieses Verbrechen passierte und hoffen, daß die Polizei dabei nicht versehentlich seine Frau und seinen Sohn erschoß! Und als erfahrener Strafverteidiger war Cam nicht völlig überzeugt davon, daß die beiden am Ende nicht selbst als Komplizen bei diesem Verbrechen angeklagt würden. Es war ein Rätsel, für das es keine Lösung gab. 396
Manchmal hatte Cam das Gefühl, verrückt zu werden. Er hatte angefangen, in Daniels Bett zu schlafen. Er wurde von anhaltender Migräne geplagt. Manchmal fing er in unüblichen und peinlichen Augenblicken zu weinen an. Ganze Tage vergeudete er auf Daniels Bett ausgestreckt und starrte auf die Superhelden an der Wand. Er ging auf einem Seil, hoch in der Luft und ohne Netz darunter, wedelte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, kämpfte gegen die Windstöße aus wechselnden Richtungen, betete um das Ende. Und er wagte es nicht, hinunterzusehen.
Der Novemberwind peitschte beißender als sonst um die Ecken der Gebäude, und Wren schlug den Jackenkragen höher, als sie am Speisesaal und dem Steingarten vorbei zum Waffenlager hastete. Von außen unterschied das Waffenlager nichts von allen anderen Gebäuden, außer vielleicht dem Vorhängeschloß an der Tür. Das Vorhängeschloß fehlte, was hieß, daß der Waffenschmied drinnen war. Big John mochte es nicht, wenn man mit seinen Waffen herumspielte, es sei denn, er war dabei und paßte auf. Sie klopfte ein paarmal leise, dann trat sie ein. Der Geruch in der Werkstatt eines Waffenschmieds ist wie kein anderer. Der Duft verschiedener Waffenöle, zusammen mit dem, Erinnerungen wachrufenden, scharfen Geruch von Lederhalftern und dem leicht beißenden Geruch von Schwarzpulver kündigte an, daß man eine einzigartige Welt betrat, eine Welt männlicher Herrschaft und einer gewissen Exklusivität. Entweder man versteht sich auf Waffen und mag und schätzt sie, oder man 397
fürchtet sie. Entweder man genießt den Rausch, den einem das Abfeuern einer Waffe verschaffen kann, oder man schreckt entsetzt davor zurück. Man will entweder selbst eine haben, oder man will es nicht. Wren wollte eine haben. Eingeweide von Waffen waren überall auf Big Johns verschiedenen Arbeitstischen verstreut, wie in einem Schlachthof für Schußwaffen. Es war ein Chaos. Der Raum war übersät mit schmutzigen Lappen, geheimnisvoll aussehenden, öligen Behältern mit diversen Lösungsmitteln, Spezialwerkzeugen und schmalen Bürsten, ähnlich denen, die sie zum Reinigen ihrer Babyflaschen benutzt hatte. Aufhängeplatten an den Wänden stellten beinahe alle Arten von Waffen zur Schau, die sich Wren vorstellen konnte, obwohl sie wußte, daß es noch Tausende andere gab. Oldiemusik schrillte aus einem Ghettoblaster in der Ecke, was zeigte, welche Vorrechte der schwere Mann genoß; es war der einzige Kassettenrecorder, den Wren im ganzen Lager gesehen hatte. Big John saß auf einem Hocker. Er war über eine 45er Browning 1911 gebeugt, die mit der Unterseite nach oben in einen Schraubstock gespannt war. Helles Deckenlicht schien auf seinen kahlen Schädel. Die ominöse verspiegelte Sonnenbrille war nicht mehr da, aber Wren bemerkte, daß er eine normale Brille trug. Als die schwere Metalltür hinter ihr ins Schloß fiel, blickte er auf. Sein konzentrierter Gesichtsausdruck entspannte sich zu einem breiten Grinsen. »Ja, wen haben wir denn da!« Sein Lächeln war ehrlich gemeint. 398
»Nett, daß mich jemand besucht. Schnapp dir einen Stuhl und bleib ein Weilchen.« Wren schlängelte sich durch das Gerumpel, um an die gegenüberliegende Seite des Tisches zu gelangen, an dem er arbeitete. »Was machst du gerade?« »Ach, die Griffschrauben sind zu lang. Sie ragen in den Magazinschacht. Ich wechsle sie nur aus.« Sie nickte und sah zu, wie seine riesigen Hände mit erstaunlicher Geschicklichkeit die winzigen Schrauben auswechselten. Nach einer Weile sagte sie: »Ähm, warum ich gekommen bin … Ich wollte dir für alles danken, was du für mich getan hast, als ich krank war. Daniel wäre ohne dich verloren gewesen. Und ich auch.« Ohne von seiner Arbeit aufzusehen, zuckte er die Achseln. »Ich helf immer gern einer Dame in Not.« Aber Big John hatte mehr ’getan, als ihr zu helfen. Er hatte sich Hunter widersetzt. Hunter hatte das Vergehen dieses Mal zwar durchgehen lassen, aber Wren wußte, daß es einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen hatte. Big John hatte ihretwegen ein Risiko auf sich genommen, und sie wußte es zu schätzen. Sie fragte sich, ob Big John überhaupt wußte, wie gut sie es verstanden hatte. Sie blickte in der Werkstatt umher und sagte: »Ich habe früher einen Teufelskerl von Waffenschmied gekannt. Er hieß Samson. Die Werkstatt erinnert mich sehr an ihn.« »Was ist aus ihm geworden?« Er löste die 45er aus dem Schraubstock, steckte einen Wurstfinger in den leeren Magazinschacht und fühlte darin herum. »Er ist tot.« Wren spürte eine seltsame Atmosphäre an diesem Ort. Es stimmte, sie fühlte beinahe den Geist von 399
Samson und der sorgenfreien Tage, bevor sie wirklich begriff, was eine Schußwaffe einem menschlichen Körper antun konnte. Aber da war noch mehr. Sie stand auf und begann unruhig umherzugehen, befingerte verschiedene Waffenteile, hob einen ledernen Halfter an ihre Nase und beschnüffelte ihn. Wren gestand es sich ungern ein, nach allem, was passiert war - aber sie mochte Waffen. Im Gegensatz zu manchen Leuten, für die es eine verhaßte Arbeit war, nahm sie gern Waffen auseinander und reinigte sie, und sie liebte den Geruch von Waffenöl. Und sie schoß gern. Sie mochte die Selbstdisziplin, die es erforderte, um ein guter Schütze zu sein. Sie mochte es, sich tief in ihr Inneres zurückzuziehen, wo niemand sie störte; sie mochte die Herausforderung, ihr vorhergehendes Ergebnis auf der Zielscheibe zu übertreffen; sie mochte die Macht; sie mochte den Nervenkitzel; sie mochte die pure Aggressivität des Zielens und Abdrückens und zu wissen, daß sie ins Schwarze treffen würde. Und doch hatte sie Samsons Gesicht vor ihren Augen bersten sehen, hatte gespürt, wie sein Blut auf ihre Haut spritzte. Der Gedanke bedrückte sie. Hier kam sie nun gerade mit ihrem indianischen Erbe und der sanftmütigen Weisheit von so vielen seiner Lehren in Berührung. Wie konnte sie das mit… dem hier in Einklang bringen? Wren mußte sich beschäftigen, mußte irgend etwas tun. Sie nahm eine 38er Smith & Wesson, vergewisserte sich, daß sie nicht geladen war, nahm sie auseinander und begann sie zu reinigen, nachdem sie sich gegenüber von 400
Big John gesetzt hatte. »Was machst du da, zum Teufel?« Sie fuhr über die Zurechtweisung zusammen und blickte auf zu ihm, wie er mit ungläubiger Miene ihr gegenübersaß. »Weißt du es nicht? Du bist schon so lange hier, und du weißt es nicht?« »Es tut mir leid. Was weiß ich nicht?« »Weißt du nicht, daß niemand, und zwar wirklich niemand, außer mir meine Waffen anrührt?« Strenggenommen gehörten die Waffen in diesem Gebäude natürlich nicht Big John, aber Wren begriff, daß sie unbefugt privates Terrain betreten hatte. Heiliges Terrain sogar. Sie legte die 38er sofort aus den Händen. »Das wußte ich nicht. Bisher hat mich niemand hierherkommen lassen.« Er hob herausfordernd den Kopf. »Wo hast du so mit Schußwaffen umzugehen gelernt?« »Samson hat es mir beigebracht. In der Community.« »Oh.« Er nickte. »Ich hab fast vergessen, daß du dort mit Hunter warst.« Seine Augen wurden schmäler. »Dann ist dieser Samson also deshalb tot? Das FBI hat ihn umgelegt?« Wren sackte das Kinn herunter. Sie zog den Kopf ein, um die Tränen zu verbergen, die ihr plötzlich in die Augen schossen. Sie weinte nie! Es war nicht ihre Art! Was war los mit ihr? Sie blinzelte heftig, holte tief und bebend Luft und blickte wieder auf. »Er stand neben mir.« 401
Das hatte sie noch keiner Menschenseele erzählt, außer Cam, der es auf seine liebenswerte Art zu verstehen versuchte, obwohl sie beide wußten, daß er es nie wirklich verstehen konnte. Big John sah sie einen Augenblick lang scharf an. »Du redest nicht viel darüber, stimmt’s?« Sie schluckte schwer und schüttelte den Kopf. Samson war plötzlich überall um sie herum und in ihr drin; er war in dem Geruch des Waffenöls; er war in den alten Songs aus dem Kassettenrecorder; er stand wieder neben ihr. Sechzehn Jahre hatten sich in Luft aufgelöst. Und, ach, wie sie ihn vermißte. Wren scharrte mit dem Fuß, verdrehte die Augen zur Decke, tat alles, um eine Träne daran zu hindern, aus ihrem Auge zu kullern. »Ich seh immer gleich, wenn jemand tatsächlich im Gefecht war«, sagte Big John mit sanfter Stimme. Sie schniefte und schluckte, sah ihn aber nicht direkt an. Sie konnte es nicht. Noch nicht. »Sie reden nicht viel darüber«, sagte er. »Echte Erinnerungen… tun zu sehr weh. Wenn sie soviel darüber reden würden wie die Schwindler, würden sie die ganze Zeit heulen.« Sie nickte und begegnete seinem Blick. »Komm her«, sagte er, stand auf und ging zwischen den Tischen entlang. Er nahm eine mattschwarze, halbautomatische Handfeuerwaffe mit kurzem Griff. »Schon mal so eine in der Hand gehabt?« »Sie ist häßlich«, sagte sie. 402
Big John warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Sogar sein Lachen erinnerte stark an Samson. Sie lächelte. »Ich erkenn Waffennarren.«
auch
immer
gleich
einen
echten
Noch immer kichernd, fügte er an: »Traditionalisten mögen sie nicht, weil der Griff nicht so kunstvoll gestaltet ist wie bei manchen anderen Automatiks, ganz zu schweigen von Gravierungen, und was weiß ich. Und sie haben keine Nickelmattierung oder so.« »Samson hat es immer Sex-Appeal genannt.« »Das ist eine gute Bezeichnung dafür. Aber nimm mal die hier, und schau, was du davon hältst.« Nachdem er sich überzeugt hatte, daß der Magazinschacht leer war, gab er sie Wren, mit dem Knauf voran. »Es ist eine 9mm Glock 19 Kompakt.« Sie hatte seit sechzehn Jahren keine Pistole mehr in der Hand gehabt. Sie wiegte sie, wobei sie sie von Big John wegrichtete. »Mein Gott!« rief sie aus. »Die ist ja so leicht!« Er grinste. »Und da hast du auch gleich einen der Gründe, warum diese Pistole bei Polizisten so beliebt ist. Sie ist aus einem Kunststoff namens Polymere.« »Eine Plastikpistole?« Sie runzelte die Stirn. »War da nicht irgendwas, daß diese Pistole durch die Sicherheitskontrollen an Flughäfen kommt?« »Blödes Gerede«, sagte er. »Man sieht sie immer noch auf dem Röntgenschirm.« 403
Sie untersuchte sie. »Es ist unglaublich, wie gut der Griff in meiner Hand liegt, als wäre er speziell für mich gemacht.« »Es ist ein Gummigriff mit Fingerrillen - ich mußte mich erst daran gewöhnen, aber es stimmt, vor allem Frauen mögen die Pistole.« »Wo ist die Sicherung?« »Siehst du das kleine zusätzliche Ding am Abzug?« »Ja.« »Das ist die Sicherung.« »Wow.« Sie tat, als zielte sie auf eine Zielscheibe an der Wand. »Deshalb kannst du sie nicht einfach in den Gürtel deiner Jeans stecken. Du brauchst einen speziellen Halfter.« »Oh.« Scheiße, dachte sie, mir gefällt die Pistole. Wie kann ich sie stehlen, wenn ich auch noch einen Spezialhalfter dafür brauche? »Es ist ein österreichisches Fabrikat. Wer sie mag, schwört darauf. Leute, die sie hassen, beschweren sich, daß sie manchmal Ladehemmung hat, aber ich glaube, das liegt meistens an lausiger Munition.« »Wieviel Schuß hat sie?« »Immerhin fünfzehn.« Er grinste sie an. »Willst du sie ausprobieren?« »Du meinst… unten am Schießstand?« »Wo sonst?« 404
»Aber… Hunter…« Big John nahm eine Schachtel Munition aus einem Regal, streckte die Hand nach der Pistole aus, die sie ihm gab, und ging zur Tür. »Komm«, rief er über die Schulter. »Mit Hunter werde ich schon fertig.« Er warf seine Sehbrille auf den Tisch und holte die verspiegelte Sonnenbrille, sein Markenzeichen, aus einer Brusttasche. Wren, die immer noch tief beunruhigt war, folgte ihm unterwürfig. So oder so hatte sie eine Grenze überschritten. Sie konnte es nicht in Worte fassen, aber sie wußte es einfach. Ein Teil von ihr, den sie fest in der Vergangenheit verstaut geglaubt hatte, kam aus den Nebeln empor und stellte sich ihr entgegen. Es war unheimlich, aufregend und verwirrend. Es war leichtsinnig, ohne Hunters Erlaubnis schießen zu gehen, selbst wenn Big John sie begleitete. Es war riskant für Big John, gefährlich für sie beide. Es war ihr jedoch egal, und das war der Punkt. Es juckte sie, diese niedliche Pistole in die Finger zu bekommen und zu sehen, wie sich damit schoß; zu sehen, ob sie noch traf. Gab es insgeheim einen leichtsinnigen Teil von ihr, den sie nicht sehen wollte? Einen Schatten ihres Lehrer/Mutter-Ichs? Big John schnappte das Vorhängeschloß zu. Während sie ihm auf dem Pfad zum Schießstand hinunter folgte, gab ihr der Gedanke an Daniel plötzlich einen Stich. Vielleicht hatte die Mutter Wren mehr mit ihrem widerspenstigen Sohn gemein, als ihr bewußt gewesen war. 405
Ein schneidender Wind blies von einem blaßblauen Winterhimmel, als Wren und Big John das letzte Stück des kurzen Wegs zum Schießstand zurücklegten. Die Wüstenluft war frisch und machte den Kopf frei. Wren erkundete eine neue Welt, und trotz der Umstände wirkte es belebend. Die Cherokee glauben, daß das Leben eines Menschen im Gleichgewicht sein muß, daß häufig Unglück folgte, wenn es nicht im Gleichgewicht war. Wren wußte, daß sie irgendwie die beiden Seiten ihres Ichs in Einklang bringen mußte. Sie mußte den Teil von sich, in dem ihre Großmutter nachhallte, mit der anderen, unbesonnenen und wilden Seite vermählen. Eine Seite hatte sie bereits erforscht. Nun mußte sie noch die andere erforschen. Und dann mußte die sanftmütige Sternenwandlerin einen Weg finden, mit dem rebellischen Waffennarr auszukommen. Irgendwie wußte Wren, daß sie nie eine Möglichkeit entdecken würde, sich und Daniel zu retten, wenn sie keinen Weg fand, diese beiden Seiten ihrer Natur auszugleichen. Dann würde sie sich nur abstrampeln und immer an den falschen Orten nach Antworten suchen. Sie erreichten den Schießstand und suchten sich einen Platz aus. Wren wartete so gierig darauf, daß Big John eine Kugel nach der anderen in das Magazin steckte und das Magazin in die Pistole schob, damit sie ihren ersten Schuß abfeuern konnte, daß sie gar nicht bemerkte, daß ihr Sohn in der Box neben ihr stand und sie mit offenem Mund anstarrte. Sobald sie die geladene Pistole aus den Händen des Waffenschmieds genommen hatte, sah Wren nur noch das 406
Ziel, das Visier der Pistole und ihre ruhigen Hände, die den Griff umklammerten wie Zwillinge, die nach einer langen Trennung soeben wiedervereint wurden - bereit, zu feuern.
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30. Kapitel Daniel sah zu, wie seine Mutter mit konzentrierter Miene in Stellung ging, anvisierte und fünf oder sechs ziemlich schnelle Schüsse abgab. Wie Big John drehte er sich um und schaute zu der aufrecht stehenden Sperrholzfigur, die gut zehn Meter entfernt stand. Sonnenlicht strömte durch ein einziges großes Loch über dem ›Herz‹ der Zielscheibe. »Sie hat nur einmal getroffen«, platzte Daniel heraus, dann sagte er: »Nicht so schlimm, Mom. Du brauchst nur ein bißchen Übung.« Big Johns Lachen dröhnte über den Schießstand. Anderen, die sich nur scheinbar ihren jeweiligen Beschäftigungen gewidmet hatten, blieb der Mund offenstehen. »Schau dir mal die Größe von dem Loch an, Junge! Meinst du, sie läuft mit Hunters Kanone herum?« Daniel blickte mit zusammengekniffenen Augen zur Zielscheibe. »Das nenn ich zielen, Dan. Alle sechs Kugeln in ein und dasselbe Loch.« Er lachte wieder. Wren lächelte Daniel gequält an. »Nichts dabei.« Zu Big John sagte sie: »Stellen wir es in etwa fünfundzwanzig Meter Abstand auf, plus/minus.« Immer noch kopfschüttelnd gehorchte Big John. Niemand sonst schoß. Sie hatten sich alle in kurzer aber respektvoller Entfernung versammelt und beobachteten Wren. Als Big John zurückkam, zielte sie und feuerte noch fünfmal. 408
Big John sagte: »Lauf, Junge, und hol das Ding her, damit wir es uns aus der Nähe ansehen können.« Daniel steckte seine 45er in den Halfter und spurtete zu der mannshohen Zielscheibe. Über dem Herz war das große Loch von vorhin. Vier kleinere Löcher waren in einem Radius von etwa zehn Zentimeter darum herum angeordnet. Eins stand gut fünfzehn Zentimeter weit nach rechts. Daniel schleppte die Zielscheibe zurück. »Schau dir das an!« schrie seine Mutter verärgert. »Zu tief und zu weit rechts!« »Was soll das heißen?« Big John deutete auf die Figur. »Das ist eine verflucht gute Trefferanordnung für deine ersten Schüsse nach sechzehn Jahren.« »Woher weißt du, daß ich zu Hause nicht jeden Tag geübt habe?« Sie untersuchte ihre Fingerspitzen auf Schießpulver. »Dan sagt, ihr habt keine Waffen im Haus.« Sie sah ihn immer noch nicht an und zuckte die Achseln. »Wegen der Kinder.« »Ja, ja.« Nun endlich schaute Daniels Mutter Big John an, und die beiden tauschten einen Blick, den Daniel nicht ganz begriff. Zuneigung und Respekt lag in diesem Blick, und ein gewisses Verstehen. Als hätten sie eine Art Geheimnis miteinander. Daniel konnte kaum glauben, wie sich seine Mutter seit ihrem Fluchtversuch verändert hatte. Das hier war eine Frau, die er bisher noch nie gesehen hatte. Soweit er wußte, kannte sie so nicht einmal sein Vater. 409
Hunter hatte sie mit Kicker trainieren lassen, und Daniel hatte ein paarmal zugesehen. Es war unglaublich, wieviel sie bereits über den Kampf Mann gegen Mann wußte, und wie schnell sie neue Techniken lernte. Und nun das hier! Sie hatte es sogar geschafft, Big John am Schießstand zu imponieren! Niemand imponierte Big John. Es war so irre. Jedenfalls begann er zu verstehen, warum Hunter sie zurückhaben wollte. »Ich liebe diese Pistole«, sagte sie zu Big John. »Sie ist treffgenau, sie ist leicht, sie ist kompakt - einfach eine hervorragende Schußwaffe.« »Sie gehört dir«, sagte er. »Was?« »Wir müssen dich noch mit einem Halfter ausstatten. Es gibt nur ein paar, die man für eine Glock nehmen kann.« »Wegen der Sicherung am Abzug?« »Ja.« »Was ist denn hier los?« Die ganze Versammlung schien zusammenzufahren. Niemandem war aufgefallen, daß sich Hunter dem Schießstand genähert hatte. Die Leute traten automatisch zur Seite, das Rote Meer, das sich für Moses teilte. Hunter blieb vor Wren und Big John stehen, die Hände in den Hüften. »Big John hat mir Unterricht mit der Glock gegeben«, sagte Wren mit ruhiger Stimme. 410
»Du hast uns gar nicht gesagt, was für ein erstklassiger Schütze sie ist«, fügte Big John lächelnd an. Hunters Gesicht zeigte keine Spur von Belustigung. »Soviel ich mich erinnere, habe ich außerdem nichts davon gesagt, daß du ihr eine Schußwaffe in die Hand geben darfst«, sagte er und streckte die Hand nach der Pistole aus, ohne die granitharten Augen von Big Johns verspiegelter Sonnenbrille zu nehmen. Wren legte ihm die Pistole ohne Widerrede in die Hand. »Wenn sie eine von uns werden soll«, sagte Big John langsam, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, »verdient sie das Recht, sich zu verteidigen.« »Und das ist ein Recht, das ich ihr gebe, John, und das ich nehme. Verstanden?« Daniel schaute von Hunter zu Big John. Noch etwas anderes ging zwischen den beiden Männern vor sich, etwas, das über den Streit um die Glock hinausging. Er konnte nur nicht sagen, was es war. »Sie hat sich das Recht verdient, verdammt noch mal«, sagte Big John. Seine Stirn und seine Glatze waren gerötet von Wind, Kälte und Erregung. »Ich sage, wann es soweit ist.« Daniel sah die Adern an Hunters Hals pulsieren. »Und ich habe noch nichts gesagt. Wenn ich sage, sie darf eine Waffe tragen, dann erst darf sie eine verdammte Waffe tragen.« Hunter war ziemlich groß - so groß wie Big John, aber Big John war viel kräftiger. Er verschränkte die mächtigen Arme vor der Brust und sah Hunter fest in die Augen. »Schön. Wenn du nicht willst, daß sie eine Pistole trägt, ist das deine Sache. Aber wenn ich entscheide, sie zum Schießtraining mitzunehmen, ist das meine Sache. Wenn 411
es dir nicht paßt, kannst du mich ja aufhalten.« Daniel schaute zu seiner Mutter hinüber. Sie starrte auf ihre Füße und sagte nichts. Es gab auch nichts, was sie hätte sagen können; sogar Daniel wußte das. In dieser von Männern dominierten Welt hatte sie keinen Einfluß. Er fragte sich, ob Hunter sie bestrafen würde, entschied aber, daß das hier eine Sache zwischen Hunter und Big John war. Die beiden Männer blickten sich finster an. Keiner verzog eine Miene. Hunter sah als erster weg, zu Daniels Mutter hinunter. »Ich habe nichts dagegen, wenn sie trainiert«, sagte er nach einem kurzen Moment, »aber die Schußwaffe bleibt jederzeit bei dir, ist das klar?« Big John verzog das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen. »Absolut.« Hunters Blick traf wieder auf die verspiegelte Sonnenbrille. »Das Training ist vorbei.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und ging weg. »Hurensohn«, murmelte Big John. »Schon gut.« Wren legte ihm beschwichtigend die Hand auf den muskulösen Unterarm. »Ich muß sowieso zur Küche. Zeit, das Mittagessen vorzubereiten.« »Komm morgen in der Werkstatt vorbei«, sagte er. »Dann trainieren wir wieder.« Sie nickte und wandte sich zum Gehen. »Mom?« Sie drehte sich um. 412
»Das war gut geschossen.« »Danke, mein Sohn.« Sie strahlte ihn an, und Daniel fühlte eine freudige Erregung. Es war so lange her, seit er seine Mutter zuletzt lächeln gesehen hatte. Es war phantastisch, daß sie endlich anfing, sich in das Lager einzufügen. Als er ihr nachsah, wie sie den Hügel zur Messe hinaufging, dachte er, daß sie vielleicht manchmal irgendwelche Sachen zusammen machen könnten. Er hatte nichts dagegen, hin und wieder mit seiner Mom zusammenzusein. Sie war ziemlich cool. Teufel, das könnte Spaß machen.
»Hunter!« Wren holte ihn mit raschen Schritten am Ende des Anstiegs ein. Ohne sich umzusehen oder ihren Ruf zu erwidern, verlangsamte er ein, zwei Schritte, damit sie aufschließen konnte. Aber auch, als sie ihn erreicht hatte, sah er sie noch nicht an. »Sei nicht zu streng mit Big John«, keuchte sie, während sie gleichzeitig um Atem rang und mit ihm Schritt zu halten versuchte. »Ich habe ihm von Samson erzählt, und, nun ja, es hat mir ein bißchen die Kehle zugeschnürt. Er hat mich zum Schießen mitgenommen, um mich aufzuheitern.« Er blieb so abrupt stehen, daß sie in ihn hineinstolperte. Immer noch über sie hinwegsehend, sagte er: »Schläfst du mit ihm?« »Was?« »Du hast mich schon verstanden. Ihr beide scheint in letzter Zeit dicke Freunde geworden zu sein.« 413
Sie starrte ihn an. Das war so typisch für Hunters kleinkarierten Egoismus, daß es ihr einen Augenblick lang die Sprache verschlug. Schließlich sagte sie: »Sei nicht lächerlich. Er ist nicht mein Typ. Zu bullig.« Diesmal senkte er den Blick und betrachtete ihr Gesicht aus konzentrierten, dunklen Augen. »Ach ja? Und was ist dein Typ?« Es gab eine Zeit, als ein solcher Blick sie zu seinen Füßen hätte dahinschmelzen lassen. Und die Jahre hatten es gut mit ihm gemeint. Er war einer der seltenen Männer, die eigentlich besser aussehen, wenn sie älter werden. Die Linien in seinem Gesicht gaben seinen klassischen Zügen Charakter, das Grau in seinem Haar verband jugendliche Großspurigkeit mit ruhigem Selbstvertrauen, seine erotische Ausstrahlung blieb nur angedeutet. Zu schade, daß er immer noch derselbe alte Psychopath war. »Was denkst du hinter diesen wunderschönen blauen Augen?« Sie lächelte ihn an. »Ich habe gerade gedacht, daß du von allen Menschen am besten wissen solltest, was mein Typ ist.« Er lächelte zurück, seine Zähne blitzten weiß und ebenmäßig. »Ich weiß nicht. Kaum war ich von der Bildfläche verschwunden, bist du hingegangen und hast diesen Streber von Buchhalter geheiratet.« Immer noch lächelnd, biß sie sich heftig auf die Zunge. Im nächsten Augenblick schmeckte sie Blut. Schließlich brachte sie heraus: »Sprechen wir nicht von ihm.« 414
»Du hast recht. Lassen wir es.« Er legte ihr die Hand ins Kreuz und sie gingen weiter. »Ich bin so froh, daß du dich langsam hier einfügst. Ich wußte, du brauchst nur etwas Zeit, um dich anzupassen.« Sie sagte nichts. »Dan ist ein großartiger Junge.« »Danke.« »Er ist jung und dumm, aber er strengt sich mächtig an. Ich bin ehrlich stolz auf die Fortschritte, die er gemacht hat.« »Ja.« »Jetzt kommt endlich alles zusammen, genau wie ich es vorausgesehen habe.« Sie hatten die Messe erreicht und blieben vor der Tür stehen. »Aber wir sind erst auf halbem Weg, Lissie«, sagte er mit glänzenden Augen. »Ich habe so viele Pläne.« »Ich kann es kaum erwarten, sie zu erfahren.« Er nickte zerstreut. »Noch nicht gleich. Aber bald.« »Ich glaub, ich muß jetzt an die Arbeit«, sagte sie. »Ich soll beim Mittagessen helfen.« »Warum kommst du heute abend nicht in meinen Wohnwagen?« Nein! Nein! Noch nicht. Ich bin noch nicht soweit. »Hm?« Zeit schinden. »Es gibt einen alten Film über Satellit, der dir gefallen würde. Wem die Stunde schlägt, mit Gary Cooper.« »Ich würde ihn sehr gern sehen, aber ich, ähm, muß heute abend hier sein. Abspülen nach dem Essen, für das 415
Frühstück decken. Ich werde nicht rechtzeitig fertig.« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. Seine dunklen Augen ruhten lange auf ihr. »Dann eben ein andermal«, sagte er. »Sie zeigen die Dinger immer wieder.« »Ich, ähm, würde gern einen Film sehen«, stammelte sie. »Vor allem Gary Cooper in einem Hemingway-Klassiker. Es wäre eine Wonne.« »Da hast du recht.« Er grinste. »Ich sag dir Bescheid, wenn sie ihn das nächste Mal zeigen.« »Klar. Ich freu mich darauf. Ähm, jetzt muß ich aber los.« Sie zog die Tür zum Speisesaal auf. »Bis später.« Sie warf ihm ein Lächeln zu, während sich die Tür hinter ihr schloß. Drinnen entwich alle Kraft aus Wrens Körper, und sie sackte gegen die Tür. Oh, Cam, dachte sie und hielt sich mit zitternden Händen am Türgriff fest, wenn ich das nicht tue, siehst du mich und Daniel nie wieder. Bitte, bitte vergib mir. Erschöpfung bis auf die Knochen zehrte an ihrem Entschluß. Ihr Herz hämmerte, und die Adern an ihren Schläfen pochten in einem hypnotischen Rhythmus, wie Trommeln von Eingeborenen in einer uralten, heiligen Zeremonie. Sie tanzte, so schnell sie konnte, und manchmal schien es, als würde der Trommelschlag nie aufhören.
Die Entscheidung, sich von Hunter verführen zu lassen, hatte sie kalt und berechnend getroffen. Wren wußte, daß ein Mann mit seinem überspannten Ego ihr nie völlig 416
vertrauen würde, solange er sie nicht zu besitzen glaubte. Vertrauen im landläufigen Sinn traf hier eigentlich nicht zu. Wie die meisten paranoiden Menschen traute Hunter niemandem; damit sie aber an die Informationen gelangte, die sie brauchte, mußte Wren Hunter davon überzeugen, daß sie ihm mit Leib und Seele gehörte. Zugegeben, er hatte sie bereits entführt und eingesperrt. Und theoretisch konnte er sie haben, wann immer er wollte, falls er beschloß, die Sache zu erzwingen. Aber Vergewaltigung war nicht Jeremiah Hunters Art; die Waffen seiner Wahl in diesem Machtkampf waren sein filmstarmäßiges Aussehen, Charme, Schmeicheleien und Lügen - ein Verbrecher durch und durch. Sex war für Hunter Macht, ein Abstecken seines Besitzes. Und war das Ziel erst erreicht, dann wurde Sex für ihn zu einem Mittel der Manipulation und Herrschaft. Die jungfräuliche Lissie hatte sehr lange gebraucht, um zu begreifen, daß körperliche Liebe für Hunter immer eine Show war und nie ein Ausdruck wirklicher Liebe. Wren hatte sich in eine Ecke des Speisesaals zurückgezogen und schälte in einsamer Langeweile Kartoffeln, während die anderen bei der Vorbereitung des Mahls Witze machten und sich anrempelten. Gedanken an jene frühe Achterbahnfahrt durch die Karnevalswelt von Jeremiah Hunter drängten und stießen durch die Schale des Vergessens, mit der sich Wren seit langem schützte. Wie sie daran zurückdachte, tat ihr die unschuldige und dumme junge Lissie Montgomery leid. Sie hätte sie gern aufgehalten, bevor sich die Dinge zu weit entwickelten, aber die Ironie bestand natürlich darin, daß Lissie nicht auf sie gehört hätte, hätte sie die Möglichkeit dazu gehabt. Sie hatte damals auf niemanden gehört, außer auf Hunter. 417
Es war schmerzlich, sich nun daran zu erinnern, aber notwendig, wenn sie je darüber hinwegkommen wollte. Wie verschieden dieser erwachsene Mann von den Fummlern aus den Studentenverbindungen gewesen war, mit denen sie auf dem Campus ausging. Wie langsam er sie verführt hatte, mit wieviel Erfahrung. Obwohl sie ihn fast vom ersten Augenblick an begehrte, führte er sie langsam und ging nicht einmal mit ihr ins Bett, bevor sie die Schule verlassen hatte und ihm in das Sumpfgebiet von Louisiana und die Community gefolgt war. Dann liebte er sie die ganze Nacht, langsam, konzentriert und geschickt, daß ihr der Atem wegblieb. Einige Wochen später begann er ihr in düsteren Wutanfällen Sex vorzuenthalten, immer wenn sie etwas getan hatte, was ihm mißfiel - was oft der Fall war. Und einige Monate später begann er offen mit seiner Untreue zu protzen und schlief manchmal, wie sie vermutete, nur mit anderen Frauen, um ihr das Herz zu brechen. Bis dahin war es natürlich zu spät, um wegzugehen. Kartoffelschalen ringelten sich in eine Papiertüte zu ihren Füßen wie die Jahre ihres Lebens. Sie konnte nie Kartoffeln schälen, ohne daran zu denken, wie sehr Cam ihr Kartoffelpüree liebte; wie er immer ankam und Kartoffelstückchen aus dem Topf klaubte, um sie roh zu essen; wie sie ihm dann immer auf die Finger klopfte und ihn verscheuchte. Wie verschieden der sanftmütige Cam von Hunter war. Trotz allem hatte es blaue Flecke gegeben, die für das bloße Auge nicht sichtbar waren, überlegte sie, und es hatte Jahre gedauert, bis sie verheilten. Es brauchte Jahre ihrer Ehe, bis Wren bewußt wurde, 418
daß Cam nicht einfach mit ihr schlief - er liebte sie zärtlich. Selbst jetzt noch konnte sich Wren an den Morgen erinnern, als sie die Augen geöffnet und in das vertraute Gesicht ihres Mannes geschaut hatte - sie waren zu dieser Zeit etwa seit fünf Jahren verheiratet gewesen -, und mit einem heftigen Gefühl der Verwunderung hatte sie gedacht: Dieser Mann wird mir nie weh tun. So lange hatte es gedauert, bis sie fähig war, diesem Mann zu trauen, der sie liebte und nie ein grobes Wort zu ihr sagte. Es war eine richtiggehende Offenbarung gewesen, und ein Wendepunkt in ihrer Ehe. Und nun machte sie Pläne, ihn zu betrügen. Sie war mit den Kartoffeln fertig. Wren stand auf und trug die Tüte mit den Schalen hinter den Speisesaal hinaus, jenseits des Felsengartens, an einen Platz, wo sie für Tiere aus nah und fern leicht erreichbar waren. Dort schüttete sie die Schalen aus. Der Wind war kalt, aber frisch und belebend, und Wren setzte sich eine Weile hin, um ihren Kopf frei zu bekommen, bevor sie in den stickigen, warmen Speisesaal zurückging. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie ein winziges Wildkaninchen, das mit angelegten Ohren aus irgendeinem Versteck gekrochen war, um an den Kartoffelschalen zu knabbern. Wren saß ganz still, und kurz darauf kroch ein zweites Kaninchen heraus, um sich an dem Festschmaus zu beteiligen. Das Kaninchen, dieser Gauner. Tanz, Kaninchen, tanz. Viel zuviel stand hier auf dem Spiel. Ich mache es wie jede gute Hure, dachte sie. Ich kopple mich von meinem Körper ab. Ich betrachte es als einen Job - ein Mittel zum Zweck. Der Schweinehund wird den Unterschied nicht merken. 419
Und ihr geliebter Cam, gelobte sie, würde es überhaupt nie erfahren. Aber auch dann noch, trotz all ihrer sorgfältigen Argumentation und Planung, war es ein Schock für sie, als Hunter gleich am nächsten Abend in die Frauenbaracke kam. Er klopfte an die Tür und kündigte sich höflich an, damit sich alle, die vielleicht nicht angezogen waren, noch bedecken konnten. Es war noch früh am Abend. Manche lasen, manche verrichteten kleinere Hausarbeiten. Wren tat das, was sie üblicherweise tat - sie lag auf dem Bett und dachte nach. Meghan hatte die Koje neben Wren, und sie setzte sich sofort kerzengerade auf, ihre grünen Augen leuchteten. Fehlt nur, daß sie mit dem Schwanz wedelt, dachte Wren traurig. Das war durch und durch wieder Lissie. Aber Hunter war nicht gekommen, um Meghan zu besuchen. Er ging an ihrem Bett vorbei und blieb am Fußende von Wrens Koje stehen. »Wem die Stunde schlägt läuft heute schon wieder«, sagte er. »Willst du mit in meinen Wohnwagen kommen und es dir mit mir ansehen?« Wren spürte, wie sie feuerrot wurde, als sie zu Meghan hinüberschaute, deren schönes, junges Gesicht offen den altvertrauten Ausdruck zeigte: Überraschung, Ungläubigkeit, Enttäuschung, Eifersucht und Wut. Aber es gab nichts, was Wren hätte sagen können, nichts, was sie tun konnte. Wren zwang ein erfreutes Lächeln auf ihr Gesicht, ignorierte die sprachlose Frau, die neben ihr saß, und sagte: »Sicher. Gib mir noch eine Minute, damit ich meine Stiefel wieder anziehen kann.« 420
Dann stand sie auf und beeilte sich, um mit ihrem ehemaligen Geliebten, ihrem Entführer, mitzugehen.
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31. Kapitel Als Steve Austin sein Haus betrat, blieb der Kleidersack, den er an einem Riemen über der Schulter trug, am Türrahmen hängen und zog ihn fast wieder hinaus. Gereizt machte er ihn los, knallte die Tür hinter sich zu und schmiß den Sack auf den Boden in der Diele. Er konnte sich an keine Zeit erinnern, zu der er sich so müde gefühlt hätte, außer vielleicht als Rekrut. Oder in Vietnam, aber in jenen Tagen war er so jung, so unglaublich stark und voller Energie gewesen. Damals mußte er nur eine Nacht richtig ausschlafen, dann konnte es wieder weitergehen. Der junge Mann, der er einmal gewesen war, verfolgte ihn in diesen Tagen. So leichtfüßig, so durchtrainiert und hart. Er war durch und durch hart gewesen, damals. Unbezwingbar. Selbst der Rassismus, dem er in seiner Anfangszeit beim FBI begegnet war - als einer der ersten Vorzeige-Schwarzen, die man angeworben hatte -, hatte ihn kaltgelassen. Er war hart. Sein Geist war hart, sein Körper war hart, selbst sein Schwanz wurde in Null Komma nichts hart. Jetzt war er nur noch müde. Am liebsten hätte er die ganz Zeit geschlafen. Wenn er zu lange stillsaß, bestand die Gefahr, daß er nämlich einnickte, und es machte ihm angst. Er wollte noch nicht alt werden, alt sein, wie ein alter Mensch denken. Er verlor auch schnell die Geduld. Früher hätte er sich von Sizemore, diesem Arschloch, nicht aus der Ruhe bringen lassen. Jetzt schien ihm alles auf die Nerven zu gehen. Rassistische Sprüche, die er früher ignoriert hatte, machten ihn nun stinksauer. 422
Forderungen von Klienten, die er im Vorbeigehen erledigt hätte, empfand er als Zumutung. Er war ständig wütend, und zwar auf die ganze Welt. Er war sogar auf Lissie Montgomery sauer, weil sie sich überhaupt mit einem Roßtäuscher wie Hunter eingelassen hatte, weil sie davongelaufen war, anstatt dem Agenten zu vertrauen, der ihr helfen wollte, weil sie versucht hatte, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, als Hunter wieder auftauchte, weil sie ihre Familie in Gefahr gebracht und sich hatte entführen lassen. Weil sie verschwunden blieb, obwohl sich Austin so verdammt anstrengte, sie zu finden. Weil sie sich und ihren Sohn möglicherweise um das Leben brachte. Und weil er sich wie ein totaler Versager vorkam. Austin ging durch das große, hübsche Wohnzimmer, das Patsy mit afrikanischer Kunst, die sie von mehreren Reisen auf den Kontinent mitgebracht hatten, geschmückt hatte. Ein Feuer knisterte im Kamin, unter dem mit Töpferwaren vollgestellten Sims. Müde schlurfend ging Austin zur Bar hinüber und holte sich ein Bier heraus, dann schaute er in die Küche und sah sich nach seiner Frau um. Die rauhe Stimme von Louis Armstrong erklang aus der Stereoanlage, aber von Patsy war nichts zu sehen. Austins Reise nach San Antonio war nur kurz gewesen, aber lange genug, um einige Dinge zu bedauern, die er während ihres Streits gesagt hatte. Er konnte manchmal ein richtiger Kotzbrocken sein. Patsy hatte ihre Fehler, aber größtenteils hatte sie ihr Leben ihm und den Kindern geweiht. Sie hatte mehr verdient, als sie bekam. Ein besserer Mann hätte wahrscheinlich daran gedacht, 423
Blumen mitzubringen, fiel ihm siedendheiß ein, als er durch das Eßzimmer in den Flur ging, der zum Elternschlafzimmer führte. Er war in diesen romantischen Dingen nie sehr gut gewesen. Als er ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte er für Grambling Football gespielt, aber er war keiner der Stars gewesen. Alle großen Männer auf dem Campus waren auf die schöne Patsy Shepherd scharf gewesen. Einige von ihnen hatten jede Menge Geld und konnten sie anständig ausführen. Austin sah nicht, wie er da mithalten sollte. Als Vietnamveteran, der das College aufgrund der GI Bill besuchte, war er Jahre Jahrhunderte - älter als diese Kinder. Obwohl es eine rein schwarze Schule war, fühlte er sich dennoch ausgeschlossen, blieb für sich und arbeitete schwer an seinen Studien. Zu guter Letzt führte sie ihn aus - und jetzt, mehr als dreißig Jahre später, kam er sich immer noch wie ein Glückspilz vor. Das Schlafzimmer war Patsys Heiligtum, und es reflektierte ihre Eleganz und ihren Geschmack. Während das Wohnzimmer eine rauhe Atmosphäre ausstrahlte, in der sich jeder Mann wohl fühlte, war ihr Schlafzimmer in hohem Maße feminin. Nicht blumig und überladen, sondern … weich. Der weiße, handgearbeitete Spitzenbettbezug, der Stoß üppiger Kissen, die naturfarbenen Spitzenstoffbahnen, die verführerisch von dem Kirschholzbaldachin fielen - alles gab Austin stets das Gefühl, in das Bett seiner Frau eingeladen zu werden. Austin mochte das Gefühl, das ihm das Schlafzimmer vermittelte; es war irgendwie erregend. In letzter Zeit jedoch hatte er in diesem Bett nichts weiter getan als geschlafen. Er seufzte.
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»Bist du das, Steve?« rief Patsy aus der Richtung des Badezimmers. »Ja.« Er ließ sich auf die Kante des federweichen Betts fallen, dem Einschlafen nahe. »Würdest du bitte mal eben hierherkommen? Ich möchte etwas mit dir besprechen.« Steve ächzte. Er hatte wirklich keine Lust mehr zu streiten. »Hat es bis morgen Zeit?« fragte er klagend. »Nein.« Es war das Nein, das besagte: Keine Widerrede, beweg deinen schwarzen Arsch hierher. Gott, er wünschte, er hätte sich nicht hingesetzt. Jetzt mußte er nur wieder aufstehen. Austin lockerte seine Krawatte und stand auf, wobei er ein Stöhnen unterdrückte. Er strampelte die Schuhe von den Füßen, nahm noch einen Schluck Bier und watschelte am Umkleidebereich und den begehbaren Schränken vorbei zum Badezimmer. Kerzenlicht glänzte auf dem schlanken, nackten, tropfenden Körper seiner Frau. Kerzen standen rund um die große, ovale Wanne, die vor Blasen schäumte. Mit einem hinterhältigen kleinen Grinsen stand sie in ihrer ganzen Pracht vor ihm, das glänzende schwarze Haar aus dem Gesicht gestrichen und im Nacken zusammengedreht, die braunen Brüste üppig und einladend, in ihrem krausen Schamhaar hingen noch Blasen. Sie faßte seine Krawatte und zog ihn ins Zimmer, wo sie ihm das Hemd aufknöpfte, die Krawatte abnahm und langsam und vorsichtig seinen Gürtel und Reißverschluß aufmachte, wobei sie seine wachsende Erektion anzüglich übersah. Sie nahm ihm die Bierflasche aus der Hand, setzte ihn auf den Badewannenrand und zog ihm das 425
Hemd aus, einen Ärmel nach dem andern. Dann streifte sie ihm die Hose und Unterwäsche ab und bückte sich vor ihm, um sie von seinen Füßen zu ziehen; ihr Hinterkopf kitzelte seine Hoden. Er folgte ihr in die Wanne, aber als er sie zu küssen versuchte, stieß sie ihn weg, setzte ihn in das heiße Wasser und hockte sich hinter ihn. Dann massierte sie ihm mit einem großen, flauschigen Tuch die verspannten Rückenmuskeln, und er überließ sich dankbar ihren Diensten, verletzlich in seiner Bedürftigkeit. In seinem ganzen Leben hatte nichts annähernd so gutgetan. Sie blieben im Wasser, bis es lauwarm und schließlich kalt wurde, und sie bearbeitete jeden Körperteil, von dem er je auch nur geträumt hatte. Dann trockneten sie sich gegenseitig ab, und er trug sie ins Bett und liebte sie mit einer Leidenschaft, von der er schon befürchtet hatte, daß sie erkaltet sei. Anstatt in die Tiefen des Schlafes zu versinken, der ihn immer noch lockte, begann Austin anschließend zu reden. Er redete und redete, über Lissie Montgomery und die Community, über Cam Cameron und Jeremiah Hunter, über Elliot Sizemore und darüber, wie schrecklich müde er war. »Ach, mein Dummerchen«, sagte sie schließlich, als er stotternd zu einem Ende kam. »Du weißt, ich liebe dich mehr als mein Leben, aber manchmal siehst du die Lösung nicht, wenn du schon mit der Nase draufstößt.« »Wie meinst du das?« Sie schmiegte sich an seine Brust. »Als ich dich kennenlernte, wußte ich, daß du ein ungewöhnlicher Mann 426
bist. Ein ganz besonderer Mann. Ich wußte sofort, daß es keinen anderen für mich geben würde.« Er schielte auf sie hinunter. »Warum bist du dann mit diesen ganzen Sportfritzen ausgegangen?« »Na ja, die haben mich darum gebeten.« Sie kicherte, und er grinste. »Und du hast ein ungewöhnliches Leben geführt, Steve Austin. Was auch kam, du bist dir immer treu geblieben, und das ist nicht immer leicht für einen Schwarzen in einer Welt der Weißen.« Er schaute über ihren Kopf hinweg und streichelte ihr weiches Haar. »Was ich also gern wissen würde, ist, warum du dir jetzt nicht treu bist?« »Patsy, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.« »Wenn du glaubst, du kannst Jeremiah Hunter aus der Deckung locken, warum tust du es dann nicht? Wer hat Elliot Sizemore zu deinem Herrn gemacht?« Zorn stieg heiß in Austin hoch. Das kam ihrem letzten Streit gefährlich nahe. »Er ist der Verantwortliche bei dieser Ermittlung, das weißt du.« »Ja, Schatz, aber er ist nicht verantwortlich für dich. Nicht mehr. Du hast den Dienst beim FBI quittiert. Du kannst verdammt noch mal tun und lassen, was dir paßt, und er kann nichts dagegen machen.« Austin zwinkerte, einmal, zweimal. Die Hitze ließ nach. Patsy hatte recht. Sie hatte vollkommen recht. Sie schob ihr Kinn hoch und blickte ihm in die Augen. »Ich habe recht, oder? Diesmal mußt du es zugeben.« Neue Energie schien durch Austins Adern zu strömen. 427
»Ja, mein Engel, du hast absolut recht.« Er küßte sie. Sie erwiderte seinen Kuß. »Du mußt diese Frau finden. Und du wirst sie finden.« Sie nahm seine Hand und drückte sie. Austin hielt Patsys zierliche Hand lange in der seinen und drehte den Ehering an ihrem schlanken Finger. Kein Zweifel. Er war wirklich ein Glückspilz.
Hunters Wohnwagen sah ziemlich genau so aus, wie Wren ihn sich vorgestellt hatte, und sie versuchte, ihre Nervosität zu verbergen, indem sie Bemerkungen über die Bücher, den Computer und die Poster machte. Solange er im Raum war, zeigte sie keine Neugier an den Blaupausen, die unter einem Stapel Papieren hervorlugten. Und er ließ sie nicht allein im Zimmer. Er hatte nicht gelogen, was den Film betraf, und als er anfing, machte Hunter eine Platte mit Käse, Crackern und Wein und servierte es ihr mit großer Geste. Dann setzte er sich neben sie auf das Sofa und legte einen Arm beiläufig um ihre Schultern. Sie trank das meiste von dem Wein. Ingrid Bergman war glänzend als die schöne Maria, die Gary Cooper als Robert Jordan, der Amerikaner, der mit den spanischen Guerillakämpfern in ihrem Bürgerkrieg gegen den Faschismus kämpfte, ›Häschen‹ nannte. Wren wußte, daß ihre kurze Liebesbeziehung dem Untergang geweiht war, denn sie hatte das Buch viele Male gelesen. Sie hatte sogar die Seite zu Beginn herausgerissen, auf der Hemingway John Donne mit seiner Zeile ›Niemand ist eine Insel‹ zitiert. Sie hatte die Seite eingerahmt: 428
»Verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt für dich.« Sie konnte sich noch an einige von Hemingways Worten erinnern. Robert Jordan sagt in der Geschichte: »Kein Mann hat das Recht, einem anderen Mann das Leben zu nehmen, es sei denn, um zu verhindern, daß anderen Menschen noch Schlimmeres geschieht.« Und er sagt: »Heute ist nur ein Tag von all den Tagen, die noch kommen werden. Aber was an all den anderen Tagen, die noch kommen, passieren wird, kann von dem abhängen, was du heute tust.« Der Spanische Bürgerkrieg war nicht Robert Jordans Kampf. Er schloß sich ihm an, weil der Faschismus alle freiheitsliebenden Menschen bedrohte. Er betrachtete das Böse gegen den einzelnen als böse gegen die Massen. Über Liebe sagt er: »… nichts kann dem einzelnen je geschehen, was nicht den anderen geschehen ist.« Als sie über diese Dinge nachdachte, rückte sie beinahe von ihrem Entschluß ab. Wren entschuldigte sich und ging zur Toilette, wo sie sich auf den Klodeckel setzte und die Arme fest an die Brust preßte. Ihr Mann war nun bei ihr. Er war in ihr; ein Teil von jedem Atemzug. Wenn sie mit Hunter die Grenze überschritt, würde ein feiner und zarter Faden zwischen ihr und ihrem Mann zerreißen, ein kristallines Band, so verschwindend dünn, daß es unsichtbar war; aber es war da, und es würde für immer zerrissen sein. Ob Cam es je erfuhr oder nicht, machte keinen Unterschied. 429
Aber welche Rolle spielte ihr Leid vor dem sengenden Licht von unschuldig Gemordeten? Wenn sie diese Sache nicht tat - bis zur Neige - dann würden Menschen sterben. Wren stand von der Toilette auf und ließ Wasser in das Waschbecken laufen, bis es sehr kalt war. Sie bespritzte sich das Gesicht und ließ es trocknen. Dann flocht sie ihr Haar auf. Sie nahm eine Bürste vom Rand des Waschbeckens und bürstete ihr langes prachtvolles Haar, bis es glänzte. Dann tupfte sie ein wenig Gel auf die Lippen und Wimpern, damit sie funkelten. Zuletzt holte sie dreimal tief Luft, um ihr hämmerndes Herz zu beruhigen. Als sie aus der Toilette zurückkam, hörte sie, daß Hunter ›Woman‹, John Lennons Liebesballade an seine Frau, spielte. 1980 hatte Wren das Album Double Fantasy sehr geliebt. Nach dem FBI-Sturm auf die Community und der nachfolgenden Ermordung Lennons hatte sie es sich nicht mehr angehört. Und hier war es nun wieder, und seine unvergeßlichen Verse und Melodien trieben wie himmlische Gespenster durch den Raum. Lennon hatte die Lieder als Huldigung an die lang verheirateten geschrieben. Die Ironie entging Wren nicht. Sie wußte nicht, ob Hunter sie nicht wahrnahm oder eine Art sadistische Pointe setzen wollte. So oder so versuchte er auf jeden Fall, die Vergangenheit zu beschwören. Er stand in der Mitte des kleinen Zimmers und wartete auf sie. Sie blieb vor ihm stehen und schaute in sein Gesicht. Er nahm eine Strähne von ihrem Haar und ließ sie langsam durch seine Finger gleiten. »Du hast das schönste Haar, das ich je gesehen habe«, flüsterte er. »Ich habe im Gefängnis davon geträumt.« 430
Tief in den dunklen Spiegeln seiner Augen erfaßte Wren den Widerschein von etwas, das ihr einen Schreck einjagte. Bedürfnis. Aus Gründen, die Wren nicht nachvollziehen konnte vielleicht eine Sentimentalität, die der Film bewirkt hatte , hatte Hunter seine übliche Deckung fallengelassen. In diesem kurzen Augenblick wurde Wren zum ersten Mal bewußt, daß sie nicht wegen irgendwelchen Fachwissens, das sie besaß, hier war. Der Grund lag viel tiefer. Viel tiefer sogar als Hunters Verlangen, aller Welt zu zeigen, daß sie ihm gehörte. Er brauchte sie. Wren wußte, daß Hunters Mutter gestorben war, als er noch ziemlich klein gewesen war, und daß sein alkoholsüchtiger Vater ihn schwer vernachlässigt hatte. Sie wußte außerdem, daß die junge Lissie Montgomery diesen Mann - jedenfalls eine Zeitlang - so rein und vollständig geliebt hatte wie nur je ein Heiliger seinen Gott. So unbegründet, unwirklich und von kurzer Dauer diese schlichte Liebe eines unschuldigen jungen Dinges für einen gottgleichen Mann auch gewesen sein mochte, es war genau das, was er nun von ihr ersehnte. Selbst Meghans haustierartige Unterwürfigkeit reichte nicht aus. Was er offensichtlich brauchte, konnte ihm nur Wren verschaffen. Vielleicht hatte sie damals vor vielen Jahren eine Art Nerv berührt. Oder vielleicht hatte er sich in eine künstliche Phantasie hineingesteigert. So oder so war diese neue Erkenntnis von entscheidender Bedeutung. Es bedeutete, daß Wren 431
jedenfalls nicht ganz machtlos war bei diesem gefährlichen Tanz. Die Schritte waren kompliziert ein Stolpern konnte den Tod bedeuten -, aber solange sie sich im Gleichklang mit ihm bewegte, würde sie tatsächlich Macht besitzen. Wren legte eine Handfläche mit einer gebetartigen Geste an seine Wange und sagte sanft: »Ich habe dich vermißt.« Bei diesen Worten riß er sie in seine Arme, wie ein herrischer Rhett Butler eine widerstrebende Scarlett, und trug sie zu seinem Bett.
Obwohl es schon spät war, war Cam noch auf und jonglierte mit Rechnungen, als das Telefon läutete. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt«, entschuldigte sich Austin. »Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, bevor ich anrief.« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich schlafe zur Zeit sowieso nicht viel«, sagte Cam und setzte sich kerzengerade hin, wie immer, wenn er einen der seltenen Anrufe von Steve Austin erhielt. Er betete darum, daß es Neuigkeiten gab - irgendwelche Neuigkeiten. Zu diesem Zeitpunkt hätte er beinahe selbst eine Todesnachricht begrüßt, wenn sie nur dieses fürchterliche Warten beendete. »Was gibt’s?« »Keine neue Entwicklung.« »Oh.« Ein simples Wort, voller Bitterkeit, Verzweiflung und Enttäuschung. »Allerdings habe ich eine Idee, und ich hielt es für angebracht, Sie davon zu unterrichten, weil es etwas ist, das ich unabhängig von den offiziellen Ermittlungen tun 432
würde.« Cams Mund wurde trocken. »Schießen Sie los.« »Ich möchte eine falsche Information an die Presse geben. Über Hunter.« »Welche falsche Information?« »Ich möchte einer Freundin von mir, die bei Associated Press arbeitet, einen anonymen Tip zukommen lassen. Daß Jeremiah Hunter homosexuell ist.« »Jesus!« Das Wort entschlüpfte Cam wie ein Seufzer. »Er wird in die Luft gehen.« »Ja. Es ist ein bewußter Versuch, ihn aus der Deckung zu locken.« »Was sagt Sizemore dazu?« »Sizemore sagt, ich soll mich damit verpissen. Sizemore sagt, wir wollen nicht, daß man schlecht vom FBI denkt, weil es Lügen und Gerüchte verbreitet.« »Was? Sie machen wohl Witze. Sagen Sie, daß Sie nur Spaß gemacht haben.« »Ganz und gar nicht.« Wut, die sich lange in Cams Seele angestaut hatte, brodelte an die Oberfläche. »Wollen Sie damit sagen, daß er mehr in Sorge um das Ansehen seines kostbaren Scheiß-FBIs ist als um meine Frau und meinen Sohn?« »Das ist genau das, was ich sagen wollte.« Mit bebender Stimme fragte Cam: »Was schlägt er vor?« »Mit Informanten zu arbeiten.« »Aber - er müßte das ganze Land abdecken!« 433
»Stimmt.« »Wieso richten sie nicht eine Hotline ein und geben Fotos und alles an die Medien, wie sie es in anderen Fällen machen?« »Weil es sich um eine Entführung handelt, und nicht um einen Bombenanschlag. Das hat geringere Priorität.« »Nicht für mich, verdammt noch mal!« »Aber für das FBI.« »Passen Sie auf.« Cam war bereits aufgesprungen. Nun begann er hin und her zu rennen. »Sie tun das, wovon Sie glauben, daß es meine Frau und meinen Sohn zurückbringt. Tun Sie es sofort. Sie haben meine hundertprozentige Unterstützung.« »Ich habe mir fast gedacht, daß Sie das sagen würden. Wenn das hier ein E-Mail wäre, würde ich Ihnen jetzt einen kleinen Smiley aus Interpunktionszeichen malen.« Cam lachte, was nicht mehr allzu häufig vorkam. Es war ironisch, daß das Thema des Verschwindens seiner Familie die Quelle des Scherzes war, aber was sollte er sonst tun, außer verrückt zu werden? »Steve… ich möchte Ihnen danken, daß Sie mir zur Seite stehen.« »Ach, jetzt nennen Sie mich also Steve. Anscheinend mache ich etwas Richtiges.« Cam konnte nicht anders als grinsen. Austin war erstaunlich guter Laune, und es war ansteckend. Es machte ihm Hoffnung. Vorher schien es so, als sei Niedergeschlagenheit alles, was sie verband. »Wann wird die Bombe hochgehen?« fragte er. 434
»Warten Sie’s einfach ab.« »Was meinen Sie, wird er tun?« »Ich denke, er wird sich mit meiner Freundin, der Reporterin, in Verbindung setzen, die dann wiederum versuchen wird, irgendeine Kommunikation herzustellen ein Interview vielleicht, dem Kerl eine Art Forum anbieten. In der Zwischenzeit werden wir seinen Anruf zurückverfolgen.« »Brauchen Sie dafür nicht einen Gerichtsbeschluß? Und die Kooperation des FBI?« »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Ich habe meine Wege.« »Okay. Gibt es irgend etwas, das ich tun kann? Ich drehe noch durch bei diesem Warten und Nichtstun. Lassen Sie mich irgendwelchen Papierkram erledigen, oder was immer. Ich will einfach nur helfen.« Es gab eine Pause. Cam hörte sein Herz hämmern. »Ich kann es Ihnen nicht verübeln«, sagte Austin schließlich. »Lassen Sie mich darüber nachdenken. Ich versuche hier immer noch, ein Geschäft zu führen, und ich habe zu viele Eisen im Feuer. Sie kennen Ihre Frau besser als irgend jemand sonst. Ich schicke Ihnen ein wenig Zeug zum Durchlesen. Schauen Sie mal, ob Sie ein paar frische Ideen haben.« Cams Herz machte einen Hüpfer. Endlich die Chance, einen Beitrag zu leisten, zu helfen. Er fragte sich, was in Austin gefahren war, aber er wollte keine Fragen stellen. »Ich würde mich über alles freuen, was Sie haben«, sagte er. »Sie wissen gar nicht, wie sehr.« 435
»Ich werde ein oder zwei Tage brauchen, um das Zeug zusammenzustellen, dann schicke ich es Ihnen per Expreß. Was ist besser, nach Hause oder ans Büro?« »Nach Hause. Dort bin ich jetzt normalerweise.« »Halten Sie durch«, sagte Austin. Die beiden Männer verabschiedeten sich und legten auf. Cam, der zu ruhelos war, um auch nur im Haus zu bleiben, ging vor die Tür und starrte lange in den Vollmond hinauf. »Wren, mein Schatz, flüsterte er, bleib am Leben. Hör nicht auf zu kämpfen, egal was du tun mußt. Wir werden dich finden, ich verspreche es dir.« Er hatte ihr das schon die ganze Zeit mitgeteilt, aber diesmal glaubte er es tatsächlich.
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32. Kapitel Bei der ersten Berührung von Jeremiah Hunters Händen stürzte Wren zurück in die Vergangenheit, als Leidenschaft etwas Neues war und jede Erregung ihres Körpers eine Entdeckung. Als er sie auf das Bett niederließ, knöpfte er mit einer Hand ihr Hemd auf, ohne den Kuß auf ihre Lippen zu unterbrechen. Seine andere mächtige Hand lag fest in ihrem Kreuz, während er sie in eine bequeme Stellung auf das Bett hob - etwas, das der kleinere Cam niemals versucht hätte. Es gab keine unbeholfenen Momente im Bett mit Hunter, eine Tatsache, die die unerfahrene Lissie als selbstverständlich angesehen hatte, von der die erwachsene Wren jedoch wußte, daß sie auf jahrelanger Übung mit vielen verschiedenen Partnerinnen basierte. Sie beschäftigte sich damit, sein Hemd und die Manschetten aufzuknöpfen - allgemeine Bewegungen, die nichts mit Erotik zu tun hatten. Sie ermahnte sich, seinen Kuß mit einem gewissen Anschein von Verlangen zu erwidern. Das hier war ein großer Mann, einen ganzen Kopf größer als sie; selbst sein Mund war größer als der von Cam, was seinen Kuß entschieden anders machte, und doch war er noch vertraut durch die Macht der Erinnerung. Natürlich hatte er keine Schwierigkeiten, ihren BH mit einer Hand aufzuhaken, und als seine Finger sanft über ihre Brust glitten, hielt sie den Atem an. »Was ist los?« Er hob den Kopf und blickte prüfend in ihr Gesicht. Ihr Herz zog sich zusammen. Wenn sie es nun vermasselte, vermasselte sie alles. »Nichts. Ich… hatte nur vergessen, wie… gut du bist«, 437
sagte sie ernst und betete, daß ihm die Bemerkung nicht ebenso dumm vorkam wie ihr selbst. Sein Gesicht verzog sich zu einem teuflischen Grinsen. »Dann laß mich deine Erinnerung auffrischen.« Er senkte seinen Mund auf ihre Brust und fuhr mit der Zunge im Kreis um ihre Brustwarze. Zu Wrens Entsetzen reagierte die Brustwarze, indem sie steif wurde, als hätte sie einen eigenen Willen, der völlig von Wrens losgelöst war. Mit diesem Mann zu schlafen, um zu überleben, war eine Sache; es zu genießen war eine andere. Sie wußte nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte. Das heißt, sie wußte es natürlich, aber sie wollte es nicht tun. Sie hatte sich die Sache die ganze Zeit als Vergewaltigung vorgestellt; sobald sie anfing, seinen Körper zu liebkosen, wäre es Kooperation. Sie schob das Unvermeidliche hinaus, indem sie sich mit seinem Gürtel und Reißverschluß abmühte, wobei sie versuchte, nicht an die Erektion zu denken, die wie der Speer eines Kriegers hervorsprang. Er zog ihr die Tarnhose und den Slip mit einer einzigen Bewegung herunter, wobei er ihre Beine beleckte, was er fortsetzte, während er ihr ruhig die Stiefel aufband und auszog. Dann stand er auf und warf seine eigene Kleidung ab und ragte schließlich in all seiner männlichen Pracht und Herrlichkeit vor ihr auf, den Penis wie ein mächtiges Schwert vorgestreckt, rubinrot und glänzend. Der ganze Raum roch nach Sex. Nun gab es kein Zurück mehr, und Wren wußte es. Bevor sie danach fragen konnte, stöberte er in einer Schublade des Nachtkästchens und zog eine Handvoll 438
Kondome heraus. Er gab ihr eins. »Du ziehst es über«, sagte er mit heiserer Stimme. Sie tat es. Langsam, so wie sie wußte, daß er es mochte. An irgendeinem Punkt löste sich Wren von ihrem Körper, fast als wäre eine stellvertretende Persönlichkeit aufgetaucht, die das Heft in die Hand nahm und das tat, wovor sie selbst sich fürchtete. Erinnerung und langjährige Eheerfahrung schalteten sich ebenfalls ein, und während Wren ihre Augen verbarg wie eine errötende Jungfrau, choreographierte diese neue Person jede Bewegung zur Vollkommenheit, hier ein Lecken, dort ein Biß und nun noch ein zärtliches Streicheln. Wenn der Tanz nur eine Probe war, schien Hunter es nicht zu bemerken. Offensichtlich konnte er die mechanischen Bewegungen der gefangenen Kurtisane nicht von den freigebigen Liebkosungen echter Leidenschaft unterscheiden. Wren fragte sich, wie viele Männer das überhaupt konnten. Während mindestens der Hälfte des kleinen Tanzes machte Wren ihren Körper absichtlich taub, bis er nichts mehr spürte und von dem, was er tun wollte, ausgeschlossen war - für eine Geliebte, die man als Geisel hielt, keine allzu schwere Übung. Ihre Vorstellung mußte jedoch überzeugend sein, und das allein bewirkte eine gewisse körperliche Ambivalenz. Als er aber seinen Kopf zwischen ihren Beinen vergrub und die langsamen Schritte zum Nirvana begann, an die sie sich so gut erinnerte, fing ihr Körper an, seine eigenen Forderungen zu stellen, und sie konnte nichts weiter tun 439
als hilflos zusehen, wie die neue Wren sich bei jedem Schritt wand und stöhnte und mit rhythmischen Gegenbewegungen antwortete. Als er sein Glied schließlich in sie rammte, verschloß sie die Ohren vor seinen Schreien, während dieses schamlose neue Wesen in ihr die Finger in seine Haare krallte und die Hüften synchron zu seinen Stößen bewegte. Nachher aber, als er schlief, war es wieder die alte Wren, die in die Dusche kroch, das Wasser laufen ließ, bis es wie stechende Pfeile auf ihren Körper trommelte, und jeden Zentimeter ihrer Haut mit einem rauhen Lappen schrubbte. Sie schrubbte und schrubbte, bis sie wund war, aber es half nichts. Sie war immer noch schmutzig. »Ich möchte, daß du bei mir einziehst«, murmelte er, als sie wieder neben ihm ins Bett schlüpfte, bekleidet mit einem seiner lohfarbenen T-Shirts, das ihr bis zu den Knien hing, und Boxershorts, die sie tief um die Hüften geschlungen hatte. Er nahm sie in die Arme. »Okay«, sagte sie betont gleichgültig. »Wieso hast du das hier an?« beschwerte er sich. »Ich will dich spüren.« »Es ist kalt. Ich friere.« Ihr Zittern war echt. »Dann laß mich dich aufwärmen«, sagte er und zog sie auf sich hinauf, wo sie spürte, wie sich seine Erektion bereits wieder aufbaute. Wren hätte eigentlich nicht überrascht sein dürfen darüber, daß Hunter mehr als einmal in der Nacht Sex haben wollte, aber sie war es. Die alte Wren hatte die neue in der Dusche ausgelöscht, und sie hatten keine Zeit, 440
wieder die Plätze zu tauschen. Dankbar, daß die Schatten der Nacht ihr Gesicht maskierten, legte sie pflichtbewußt ihre Kleidung ab, tastete nach einem neuen Kondom, setzte sich rittlings auf ihn und führte ihn in sich ein. Bevor sie sich besinnen konnte, wurde sie von einer plötzlichen blinden Wut erfaßt, und sie ließ sie an ihm aus, zerkratzte ihn mit ihren Nägeln, biß ihn in die Lippe, als er sie küßte und pumpte rücksichtslos, bis er kam, bevor er fertig war. Wrens Körper glänzte vor Schweiß, und sie keuchte wie ein Langstreckenläufer, die Haare hingen ihr wild ins Gesicht und verbargen weiterhin ihre Gedanken vor ihm. »Wow!« schrie er. »Das war ja ein Wahnsinnsfick! Ich wette, dein schlapper Buchhalter hat dich nie so in Fahrt gebracht.« Hinter ihrem Vorhang aus Haaren waren Wrens Augen zu Schlitzen verengt, sie betrachtete seine Umrisse in der Dunkelheit wie eine Tigerin, die zum Sprung ansetzt, unterdrückte aber den Drang, ihm mit aller Kraft, die sie besaß, ins Gesicht zu schlagen. Sei bloß froh, daß du keinen oralen Sex verlangt hast, dachte sie. Laut sagte sie: »Ich dachte, wir waren uns einig, nicht über ihn zu sprechen.« »Du hast recht. Du hast mich durcheinandergebracht. Ich hab’s vergessen.«
ganz
»Vergiß es nicht noch mal.« Sie wälzte sich trotz seines Protestschreis von ihm herunter und zog sich die Zudecke bis zum Kinn hoch. »Es macht die Stimmung kaputt, 441
okay?« »Okay. Natürlich, du hast ja recht.« Er kicherte. »Jedenfalls scheinst du seit deinen süßen Unschuldstagen ein paar Tricks aufgeschnappt zu haben.« Sie mahlte mit den Zähnen. »Haben wir das nicht alle?« »Wir sind ein Team, Lissie«, sagte er mit dem warmen Charisma seiner Begeisterung in der Stimme, das die Macht hatte, ein Publikum zu beeinflussen, und das Wren einst für Liebe gehalten hatte. »Wie in der alten Zeit. Von nun an sind wir unschlagbar. Ich will dich bei jedem Schritt an meiner Seite haben.« »Okay.« Falls sie gleichgültig klang, bekam er es nicht mit. »Ich wußte, du würdest schließlich doch noch kommen.« »Ich dachte, du und Meghan wärt zusammen«, sagte sie, als würde das erklären, warum sie nicht früher gekommen war. Hunter zuckte die Achseln. »Sie ist ein großes Mädchen. Sie weiß, wann es Zeit ist, ihre Verluste abzuschreiben.« Wren sagte nichts. Er streckte sich, wobei er mit seinen Einsdreiundneunzig den größten Teil des Bettes in Beschlag nahm, und furzte laut. »Der Ruf der Wildnis - Paarungsschrei.« Sie wollte etwas Schlaues sagen, aber das Bleigewicht auf ihrer Brust erstickte sie - die Leiche der alten Wren, die auf ihrem Herzen saß. Hunter schwang seine langen Beine aus dem Bett, ging 442
zur Toilette und schloß hinter sich ab. Wren wußte, daß er die Angewohnheit hatte, sich dort einzuschließen und zu lesen, mindestens fünfzehn Minuten lang, manchmal sogar eine halbe Stunde. Sie hatte den Stapel Soldier of Fortune neben der Toilette gesehen. Nach einer Weile stand Wren auf, zog sich das T-Shirt wieder über und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, durch den vollgepackten Flur, an der kleinen, unordentlichen Küche vorbei zum vorderen Zimmer, wo sie es wagte, Licht zu machen. Sie flitzte sofort zu dem Tisch an der Wand und hob den Papierstapel hoch, der auf dem Satz Plänen lag, die sie zuvor bemerkt hatte. Sie achtete darauf, den Stapel nicht durcheinanderzubringen. Das Gebäude auf den Plänen war in sorgfältiger Architektenschrift mit Leatherwood Building bezeichnet. Wren stockte der Atem. »Oh, mein Gott!« flüsterte sie. Das Gebäude war ein ausgefallener, futuristischer Glasbau in der Form einer Pyramide. Leatherwoods Räume nahmen das gesamte obere Stockwerk ein. Gläserne Aufzüge katapultierten die Leute durch ein offenes Atrium nach oben, das zwei Stockwerke hoch war und in dem es Bäume, Pflanzen und sogar einen funktionierenden Wasserfall gab. Jedes der sieben Stockwerke war einzeln gezeichnet, die Räume beschriftet: Café, Besprechungsraum, Büro, Büro, Ruheraum, Toiletten, Lager. Das zweite Stockwerk war ein offenes Zwischengeschoß, in das man mittels Rolltreppen gelangte. Im Erdgeschoß gab es ein kleines, sehr exklusives Einkaufszentrum, vornehme Restaurants und eine Bank. 443
Eine Bank. Ein Schaudern überlief Wren. Sie schaute auf die Uhr an ihrem zitternden Handgelenk: zehn Minuten. Der dritte Stock bestand aus großen Räumen, die offenbar für Seminare gebucht wurden. Menschen. Es würden überall Menschen sein. Manche Bomben von Terroristen hatten schon ganze Gebäude zum Einsturz gebracht. Wren hatte es wie alle anderen entsetzten Amerikaner in den Nachrichtensendungen gesehen. Aber dafür braucht er mich nicht, sagte sie sich. Wenn er sie sehr lange beschattet hatte, bevor er sie entführte, wenn er ihre Post durchgesehen und vor allem, wenn er sich Zugang in ihr Haus verschafft und ihre Sachen durchsucht hatte, dann wußte er ganz genau, daß sie über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet von Sprengstoffen auf dem laufenden war. Wenn er sich die nötigen Substanzen besorgen konnte und sie zweifelte nicht daran, daß er es konnte -, wußte er, daß Wren chirurgisch genaue Schläge durchführen konnte, die sogar noch spektakulärer waren als die, die sie in den siebziger Jahren gemacht hatte. Buck Leatherwood. Wren hatte das Ausmaß an Haß für den reichen Verfechter der Waffenkontrolle im Lager gesehen. Das hier war seine Zentrale. Er mußte das Ziel sein. Aber was war mit der Bank? Wren kannte Hunters Schwäche für Banken besser als irgendwer sonst an diesem gottverlassenen Ort. Und sie hatte das Gefühl, daß diese Bank das Vermögen einer sehr gehobenen Kundschaft beherbergte. 444
Das Geräusch zusammenfahren.
der
Toilettenspülung
ließ
Wren
Schnell legte sie die Papiere zurück und machte das Licht aus. Sie schoß den Flur entlang wie ein schnellfüßiges Wild, wobei ihre Zehen kaum den Boden berührten, und hechtete ins Bett. Die Bettdecke hatte sich noch nicht ganz herabgesenkt, als die Tür zum Bad aufging und einen Lichtstrahl durch das angrenzende Schlafzimmer, über das Bett und Wrens hingestreckten Körper schickte. Einen wüsten Moment lang, der ihren Mund trocken werden und ihr Herz hämmern ließ, glaubte sie, er habe einen Verdacht, wie er nackt in der Tür stand und sie anschaute. Sie lächelte. »Ich habe dich vermißt.« Sein Gesicht lag im Schatten, aber das Aufblitzen seiner Zähne rief die Erinnerung an jene erste Nacht wach, als sie und ihr Sohn gefesselt und geknebelt auf dem Boden des Kombi lagen, und er »Perfekt« gesagt hatte. Das Licht ging aus, und als er sich neben ihr niederließ, wobei er sich diagonal legte, damit er es bequem hatte, sie aber zusammengerollt auf einer Seite liegen mußte, drehte sich Wren von ihm weg und zog sich die Decke über die Ohren. Ich glaube, es stimmt, dachte sie grimmig. Sie war angespannt wie eine Feder, während sie die blutroten Ziffern der Uhr auf dem Nachttisch umschalten sah und auf das ungewohnte Schnarchen des Mannes neben ihr, der nicht ihr Ehemann war, lauschte. Ich glaube, ich habe wirklich ein paar Tricks aufgeschnappt seit meinen süßen Unschuldstagen. 445
Daniel verließ gerade die Männerbaracke und war, sich den Schlaf aus den Augen reibend, auf dem Weg zur Dusche, als die Tür von Hunters Wohnwagen aufging und seine Mutter heraustrat, dicht gefolgt von Hunter. Als Hunter den Arm um ihre Schulter legte und sie zusammen Richtung Speisesaal gingen, blieb Daniel wie vom Blitz gerührt stehen und sperrte den Mund auf. »Mach lieber den Mund zu, Junge, sonst verschluckst du noch eine Fliege«, neckte Hunter und gab ihm einen Klaps unters Kinn, als die beiden an ihm vorbeigingen. Daniel starrte so gebannt seine Mutter an, daß er die gutgelaunte Geste kaum bemerkte. Er erwartete, daß sie seinen Blick meiden würde, aber statt dessen schaute sie auf und sah ihm voll in die Augen. Er wußte nicht, was er zu ihr sagen sollte. Er wußte nicht, was er denken sollte. Er war ausnahmsweise bis ins Mark erschüttert. Alles, was er tun konnte, war wie ein Idiot dazustehen und zu gaffen. Er versuchte ihren Gesichtsausdruck zu lesen, kam aber zu keinem Ergebnis. Sie sagte nichts zu ihm. Statt dessen schenkte sie ihm ein geheimnisvolles Mona-Lisa-Lächeln, als sie an ihm vorbeigingen. Ihr langes Haar war nicht zusammengebunden, und es wallte in der Morgenbrise hinter ihr her wie eine schimmernde Flagge. Als Daniel ihnen nachschaute, sah er, wie Hunter die Hand hob und über das Haar seiner Mutter strich, fast als würde er es streicheln. Diese simple Geste traf Daniel wie eine Ohrfeige. Er hatte noch nie gesehen, wie ein anderer Mann seine Mutter auf diese Weise berührte. Während er immer noch zusah, 446
legte seine Mutter den Arm um Hunter. Sie hat mit ihm geschlafen! dachte Daniel mit ungläubigem Staunen. Hunter hat meine Mom gefickt! Er spürte, wie etwas in ihm hochstieg. Empörung? Das Bedürfnis, sie zu beschützen? Eifersucht? Zum ersten Mal seit langem wanderten Daniels Gedanken zu Eric. Erics Mutter war fünfmal verheiratet gewesen, und zwischen den Ehemännern hatte es jede Menge Männerbekanntschaften gegeben. Daniels alter Kumpel hatte seine eigene Mutter mit Nieten und prima Typen gleichermaßen ausgehen sehen. Tatsächlich hatte Daniel Eric oft geholfen, eine Beziehung zu sabotieren, wenn dessen Mom mit irgendeinem Armleuchter zusammen war. Und wenn sie einen guten Typen fallenließ, führte sich Eric immer wochenlang auf wie blöd. Aber das hier war etwas anderes. Es war etwas ganz anderes. Und was willst du jetzt machen? fragte er sich, als Hunter und seine Mutter in der Kantine verschwanden. Wieder heimgehen? Heim. Das Wort klang nicht einmal mehr richtig. Er setzte seinen Weg zur Dusche fort und stolperte über seine großen Füße, um ein Haar wäre er der Länge nach auf den Weg gefallen. Hinter ihm lachte jemand laut, und er eilte weiter, den Blick beschämt zu Boden gerichtet. Jetzt wußte das ganze Lager, daß seine Mutter mit Hunter fickte. Als ob er nicht schon genug Probleme hätte. Es mochte ihn ohnehin niemand. Sie glaubten, er hätte sich bei den Alpha/Omegas eingeschleimt. Die Wahrheit war, daß es 447
irgendwie stimmte. Aber wegen Hunter legte sich niemand mit ihm an. Hunter hatte Daniel gewissermaßen adoptiert. Wie ein Vater. Die Duschen waren nicht beheizt. Trotz des heißen Wassers und des Dampfes war es gräßlich kalt, und er duschte sich im Schnelldurchgang, ängstlich darauf bedacht, nicht wieder zum Gegenstand von irgendwelchen Babyschwanzwitzen zu werden. Als er sich abtrocknete und rasch einen sauberen Drillich anzog, dachte er darüber nach, wie es wäre, Hunter zum Vater zu haben. Immerhin waren Hunter und seine Mutter früher verheiratet gewesen. Gewissermaßen. Und jetzt waren sie wieder zusammen. Er mußte zugeben, daß sie gut aussahen zusammen, sie waren ein viel besser aussehendes Paar als Wren und Cam. Er schnitt sich beim Rasieren, fluchte und hielt sich ein Stück Klopapier ans Gesicht. Er hatte sich länger nicht rasiert, und die Wahrheit war, daß er es auch nicht so oft brauchte, und das ging ihm gewaltig auf die Nerven. Er wollte nicht an seinen Vater denken. Er konnte allerdings nicht anders. Daniel hatte nie verstanden, wieso seine Mutter und sein Vater zusammen waren. Sein Vater war ein netter Kerl und alles, aber seine Mom… seine Mom war so hübsch und so. Und sein Vater war so ein Trottel. Was fand sie überhaupt an ihm? Vielleicht brauchte sie nur jemanden, der nett war und sich um sie kümmerte, bis Hunter wieder aus dem Gefängnis kam. Der Gedanke ließ Daniel mitten im Rasieren innehalten. 448
Konnte das wahr sein? Hatte sie Hunter womöglich die ganze Zeit geliebt? Und wenn es stimmte, wieso hatte sie sich dann so heftig gewehrt, als sie hier heraus kamen? Warum hatte sie versucht zu fliehen? Vielleicht hat sie auf Schwer-zukriegen gemacht, dachte er mit einem müden Versuch, sich mit einem Witz aus seiner Verwirrung zu befreien. Er dachte daran, was seine Mutter gesagt hatte, als Daniel gleich nach dem Fluchtversuch zum ersten Mal Hunter zu ihr gebracht hatte, als sie so schwer verletzt war und alles. Sie sagte, sie hätte es wegen seiner Schwester getan. Der bloße Gedanke an Zoe verursachte Daniel in letzter Zeit Gewissensbisse. Er hätte nie gedacht, daß er einmal so denken würde, aber die Wahrheit war, daß er sie vermißte. Sie war immer eine Nervensäge gewesen, aber sie war eben auch immer dagewesen. Als sie noch klein waren, hatten sie die ganze Zeit miteinander gespielt. Sie hatte ihr Puppenhaus aufgebaut, mit all den glücklichen Tierchen, die sie bei McDonald’s gesammelt hatte, und er hatte sie im Tiefflug bombardiert oder das Haus mit seinen Spielzeugdinosauriern angegriffen. Daniel ertappte sich dabei, wie er in den Spiegel grinste. Er straffte sich und fuhr fort, sich zu rasieren. Es war manchmal einsam hier draußen. Immer wenn Daniels Eltern, von denen alles abprallte, nicht dagewesen waren, hatten er und seine Schwester lange Gespräche über alles mögliche geführt. Das vermißte er jetzt. Vielleicht konnte Hunter sie tatsächlich holen. Er fragte sich, ob er seine Schwester oder seinen Vater jemals wiedersehen würde. Daß seine Mutter nun so mit 449
Hunter stand, hatte ihrem Aufenthalt bei der ArmageddonArmee den Stempel des Endgültigen aufgedrückt. Vorher hatte es mehr und mehr wie ein Sommerlager oder so gewirkt. Jetzt wirkte es - wie was? … Ein Zuhause? Daniel wischte sich mit dem Handtuch ab und vergrub sein Gesicht einen Moment lang darin. Schon komisch, da geht man eines Abends zu Bett und stellt beim Aufwachen fest, daß sich sein Leben völlig verändert hat. Diese ganze Geschichte mit Hunter und Daniels Mutter. Sie schienen glücklich zu sein. Es sah aus, als wäre es in Ordnung, wirklich. Aber es war einfach vom Gefühl her nicht in Ordnung.
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33. Kapitel Austin beschloß, Marlene Swackhammer an einem Ort zu treffen, an den sie sich beide noch gut erinnerten und der wundersamerweise immer noch existierte - ein Drive-InRestaurant namens Keller’s, wo überladene Hamburger und Bier in Flaschen immer noch ans Auto gebracht wurden und man so tun konnte, als hätte sich nichts im Leben verändert; als sei die Welt noch nicht verrückt. Als Marlene in demselben alten, verbeulten 68er Mustang angekurvt kam, den sie immer schon gefahren hatte, mußte Austin lachen. Sie stieg aus dem Wagen und sah wie immer zum Anbeißen aus, mit Beinen bis zum Hals und Haaren bis zum Po. Die Tatsache, daß sie auf die Vierzig zuging, hätte jeden überrascht, der sie nicht so lange kannte wie Austin. Sie stieg in sein Auto, zog die Beine herein, beugte sich hinüber und küßte ihn mitten auf den Mund. »Hi, you sexy thing«, sagte sie, und ihre klugen, braunen Augen leuchteten. »Hast du deine kleine Patsy schon satt?« Er grinste und schüttelte den Kopf. »Noch nicht.« »Man kann immer noch ein bißchen was auf der Seite haben«, lockte sie. »Alle tun es.« »Marlene. Gehst du immer noch mit verheirateten Männern aus?« »Das sind die einzigen, die mich nicht einsperren und den Schlüssel wegwerfen wollen.« Sie drückte ein Seitenfenster auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie warf ihm einen Blick zu und zuckte zusammen. »Und jawohl, ich rauche immer noch, was dich aber sowieso 451
nichts angeht.« »Eines Tages kriegst du Falten davon.« »Ach was, so lange lebe ich gar nicht.« »Nicht, wenn du deine schlechten Gewohnheiten nicht ablegst.« »Das Leben ist zu kurz, mein Schatz. Was haben wir denn da? Sieh sich mal einer diese vielen winzigen grauen Haare an. Hast du die anderswo auch noch? Ich kann für dich nachsehen.« »Du bist verdorben.« »Und du, Süßer, bist einfach viel zu engelhaft.« »Und ich wette, du würdest sterben dafür, wenn du mich verderben könntest.« Er winkte der Bedienung, die ans Fenster kam. Jetzt, fast im Dezember, war das Wetter in Dallas rauh, kalt windig und beinahe feucht. Austin war überrascht, daß noch immer Leute hierherkamen, aber es war rappelvoll wie immer. Er ließ den Wagen an und schaltete die Heizung ein. »Zwei Hamburger, mit Pommes -« »Für mich Zwiebelringe«, redete Marlene dazwischen. »Okay. Einmal Pommes, einmal Zwiebelringe, ein Coke -« Er sah sie an. »Was? Spinnst du? Bringen Sie mir ein Bier, Schätzchen.« »Und ein Bier.« Die Bedienung ging weg. Austin fuhr das Fenster hoch und schüttelte den Kopf. »Es ist halb zwölf am Vormittag. Wie kannst du jetzt schon ein Bier trinken?« 452
»Wie schaffst du’s ohne?« Sie zündete sich eine neue Zigarette mit der Kippe der alten an. »Ich schätze, Patsy kocht so ’nen Mist aus Sellerie und Unkraut und solchem Zeug. Du siehst aus, als wärst du ziemlich gut in Form.« »Nicht nach Patsys Ansicht. Sie würde mich umbringen, wenn sie wüßte, was ich zum Lunch esse.« »Ich werd’s ihr nie verraten«, sagte sie mit einem lasziven Grinsen. »Belästigst du jeden Mann sexuell, mit dem du zu tun hast?« Er lehnte sich in die Ecke, damit er einen besseren Blick auf sie hatte. Hmmm. Wenn er jünger wäre, wenn er allein wäre… »Nur, wenn sie verheiratet sind«, sagte sie. Sie legte Austin eine langgliedrige, anmutige Hand mit rubinroten Krallen auf den Schenkel und hob eine Augenbraue zu einer verführerischen Frage. Er bedeckte ihre Hand mit seiner eigenen und legte sie sanft auf den Autositz. »Ich bin zu alt für solche Versuchungen«, sagte er, »und ich bin ohnehin ein lausiger Liebhaber.« »Das bezweifle ich«, sagte sie, dann funkelte sie ihn an. »Austin, du stellst mein Vertrauen in die Menschheit wieder her. Gerade als ich überzeugt war, daß alle Menschen bescheißen, kamst du daher. Patsy ist ein Glückskind.« »Ich weiß.« Er grinste sie an. »Was macht die Arbeit?« fragte er. »Ist sie immer noch dein Lebensinhalt?« »Scheiße. Damals, als wir uns kennenlernten, glaubte 453
ich, ich könnte die Welt in Brand stecken. Ich glaubte, ich könnte die Probleme der Welt lösen. Den Pulitzer-Preis gewinnen. Jetzt ist meine größte Hoffnung, daß die Früchte meiner harten Arbeit nicht dazu dienen, Vogelscheiße in irgendeinem Käfig in einer Vorstadt aufzunehmen.« Sie wandte den Kopf ab, um Rauch aus dem Fenster zu blasen, und es machte Austin traurig, bei so einer reizenden Person solchen Zynismus zu erleben. Trotzdem, es gab keine bessere AP-Reporterin in der Branche. Er hatte Marlene Swackhammer als junge, aufstrebende Journalistin, die frisch von der Schule kam, kennengelernt. Sie war ihm auf den Fersen gewesen wie ein Höllenhund, als er der zuständige Beamte in einem aufsehenerregenden Entführungsfall war. Sie ließ sich nicht von der Presseabteilung abspeisen. Schließlich stellte er fest, daß sie Seltenheitswert hatte - sie war eine integre Journalistin. Inoffiziell hieß inoffiziell. Wenn er sie bat, einer heißen Spur nachzugehen, dann ging sie ihr nach. Von ihm verlangte sie nur die Wahrheit. Sie erwarb sich seinen Respekt, und von da an arbeiteten sie bei mehreren großen Fällen fast wie ein Team zusammen. Die Bedienung brachte die Hamburger, und Austin genoß sein ungesundes Mahl mit Marlene. Wie diese Frau so essen und ihre Figur behalten konnte, war ihm ein Rätsel. Marlene packte alles im Leben mit großem Appetit an. »So, mein Hübscher«, sagte sie und schleckte Krümel von jedem einzelnen Finger. Bei jeder anderen hätte es möglicherweise unappetitlich ausgesehen; bei Marlene sah es unglaublich sexy aus. »Was hast du für mich?« »Wie war’s mit einer Geschichte aus anonymer Quelle, 454
die faustdick gelogen ist?« »Als ob ich je was anderes kriegen würde.« Sie wühlte durch eine riesige, ausgebeulte Einkaufstasche und brachte einen Notizblock und einen Kugelschreiber zum Vorschein. Sobald die Kappe des Kugelschreibers abgeschraubt war, wurde Marlene rein geschäftsmäßig. »Erzähl mir alles. Ich entscheide, wie ich’s rüberbringe.« Er tat es. Er erzählte ihr von Jeremiah Hunter und der Community und von Lissie Montgomery. Er erzählte ihr von Cam, Zoe und Daniel und von Wren und Hunter. Er erzählte ihr von Elliot Sizemore und von seinem Plan. Sie machte sich umfangreiche Notizen in jener bizarren Kurzschrift, die sie vor Jahren erfunden hatte und die jemand anderer unmöglich entziffern konnte. In stillschweigendem gegenseitigen Einverständnis zeichnete sie die Unterhaltung nicht auf Band auf. Marlene wartete, bis Austin fertig war, bevor sie ihn mit Fragen bombardierte. Sie hatte den Fall mit einigem Interesse verfolgt, seit Sizemore die Pressekonferenz im Haus der Camerons gegeben hatte, »aber ich wußte nicht, daß du mittendrin steckst, Austin. Ich hätte es mir denken können.« Sie wollte wissen, warum sich die Ermittler so sicher waren, daß Jeremiah Hunter überhaupt hinter dem Verschwinden von Wren und Daniel Cameron steckte. »Hast du die Datenbank des FBI daraufhin durchgesehen, ob sie in das Profil von, sagen wir, einem Serienkiller passen?« Austin sagte, er hätte es getan. »Und du hast keinen Grund zu der Annahme, daß der Ehemann sie zerstückelt und in den Eisschrank gepackt 455
hat?« »Unwahrscheinlich.« Sie wollte herausfinden, ob es sein konnte, daß Wren bereitwillig von zu Hause weggegangen war. »Cam und ich haben das ausführlich erörtert«, sagte Austin. »Wir halten es beide für ausgeschlossen, genau wie die Freunde und Verwandten, die befragt wurden, nachdem der Fall an die Öffentlichkeit kam.« Sie stellte viele Fragen zu der Razzia, die gestohlene Waffen aber keinen Hunter zum Vorschein gebracht hatte. Irgendwann mußte ihr Austin ein zweites Bier bestellen. Trotz der Unannehmlichkeiten, die sie ihm bereitete, respektierte Austin ihre Gründlichkeit; ihre Fragen waren einsichtsvoll und klug. Sie wollte Informationen über Hunters Familie haben. Austin erklärte ihr, daß Hunters Mutter schon lange tot und sein alkoholsüchtiger Vater vor etwa zehn Jahren gestorben war. »Keine Geschwister, die Verwandtschaft ist weit verstreut. Es gibt keine engen Freunde; schon in der High-School war er ein…« »Sag nichts. Ein Einzelgänger. Ihr Bullen müßt euch eines Tages ein besseres Wort einfallen lassen. Wir Reporter kriegen es langsam satt.« Schließlich schien sie einigermaßen zufrieden, obwohl Austin vermutete, daß eine Draufgängerin wie Marlene nie wirklich zufrieden war mit dem, was sie tat. »Willst du, daß der Artikel namentlich gekennzeichnet ist?« fragte sie, während sie den Notizblock in die überfüllte Einkaufstasche stopfte. »Bitte.« 456
Sie betrachtete ihn einen Augenblick und kaute auf ihrer Lippe. »Du glaubst, er wird Kontakt mit mir aufnehmen?« »Möglicherweise.« Sie nickte. »Schon kapiert.« Sie wühlte wieder in ihrer Tasche. »Marlene -« Sie blickte auf. »Der Kerl ist gefährlich. Das, worum ich dich bitte… könnte gefährlich werden. Wenn du aussteigen willst, ist es okay für mich.« Sie schnaubte. »Meinst du, ich habe Angst vor einem Schlappschwanz wie ihm?« Sie griff in ihre Tasche und zog eine 375er Magnum heraus. »Allmächtiger, Marlene!« »Ich brauche keine sechs Schüsse«, sagte sie. »Ich krieg ihn mit einem.« Sie steckte den schweren Revolver in die bodenlose Tasche zurück, als sei es ein Lippenstift, den sie als nächstes herauszog. Sie klappte die Sonnenblende auf der Beifahrerseite herunter und zog ihren flammenroten Lippenstift nach. Er schüttelte den Kopf. »Du bist ein böses Mädchen, Marlene.« »Das böseste.« Sie beugte sich hinüber und drückte ihm einen großen roten Kuß auf die Wange. »Und denk immer dran.« 457
Dann stieg sie aus dem Wagen, wobei sie dafür sorgte, daß ihr Rock eine Spur zu hoch über die schlanken Beine rutschte, verwirrte ihn mit einem unzüchtigen Lächeln und brauste in ihrem kleinen, schwarzen Mustang davon.
Während Wren dastand und zur Wand schaute, spürte sie ihren Angreifer mehr von hinten auf sie zustürzen, als daß sie ihn sah. Sie machte einen Schritt zur Seite, aber sie war nicht schnell genug, und er überraschte sie; er rammte ihr sein ganzes Körpergewicht in die Seite und schälte den Halfter buchstäblich von ihrem Pistolengurt. Sie konterte, indem sie ihren Schwerpunkt nach unten verlagerte und gleichzeitig seine beiden Hände packte und mit aller Kraft zudrückte. Dabei drehte sie sich um die eigene Achse und bog ihm den Arm nach hinten, während sie beide Daumen in die Handfläche seiner Hand bohrte und ihn zwang, die Finger zu lösen. Sie war im Vorteil. Der nächste Schritt war, sein Gesicht zum Boden zu drücken. Aber er überraschte sie. Er wirbelte herum und drückte den Ballen der anderen Hand an ihr Kinn, so daß es ihren Kopf nach hinten riß, während er mit dem Knie einen schmerzhaften Stoß in ihre Leiste führte. Wren sackte mit einem schrillen Schrei und einem Stöhnen auf die Matte und zog die Beine an den Körper. Sie keuchte und schwitzte. Kicker stand über ihr. Er schwitzte nicht einmal. »Du darfst nicht nur die Bewegungen trainieren«, sagte er. »Das ist nicht wie in der Tanzschule. Du mußt fühlen, was du tust.« »So? Mußte ich dein Knie auch fühlen?« 458
»Unbedingt.« Er streckte die Hand aus und half ihr mühelos auf die Füße. »Nur so erinnerst du dich daran.« Oh, ich werde mich daran erinnern, du sadistisches Arschloch, dachte Wren. Sein Knie hatte genau auf ihren Schamhügel getroffen, was für eine Frau genauso schmerzhaft ist wie ein Schlag auf die Hoden für einen Mann. »Abgesehen davon habe ich dir nicht weh getan. Wenn ich wollte, könnte ich es ernsthaft tun.« Er hielt ihrem Blick einen Augenblick lang stand. Sie sagte nichts. »Also. Dein Fehler war, daß du mich zu nahe hast herankommen lassen. Der Trick ist, daß du meinen Arm gestreckt halten mußt. So.« Er packte ihre Hand und verdrehte ihr das Handgelenk, während er sie zu sich her riß, wie einen widerstrebenden Hund an einer Leine. Sie ging sofort auf die Knie und einen Arm, aber er zog weiter, bis ihre Brüste die Matte berührten. Aber sie hatte auch ein paar Tricks auf Lager. Sie machte eine plötzliche Schulterrolle, sprang auf die Beine, stand ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber und trat ihm heftig in die Leiste. Obwohl er rasch auswich, landete der Tritt noch mit einiger Wucht auf den verletzlichen Muskeln oberhalb seines Knies. »Scheiße!« Er ließ ihre Hand los und faßte sich am Knie. »Du Miststück!« Big Johns dröhnendes Lachen schallte durch den Fitneßraum, in dem Wren mit Kicker trainierte. »Gut gemacht, Mädchen«, rief er. »Du lernst dazu.« Wren bebte vor Wut. Wenn Kicker diese Taktik beibehielt, würde er ihr noch das Handgelenk brechen oder eine andere Verletzung verursachen, die sie 459
wochenlang außer Gefecht setzte. Aber was sollte sie machen? Ihn beim Bundesverband der Kampfsportarten anzeigen? Sie nahm ihren Pistolengurt ab und gab ihn Big John. »Wann üben wir mit richtigen Pistolen?« fragte sie. »Sie müssen schwerer sein als diese Gummidinger.« »Ich weiß es nicht«, sagte er und hielt ihr beim Verlassen des Gebäudes die Tür auf. »Vielleicht läßt dich Hunter auch nie mit einer echten Pistole trainieren. Ich weiß es einfach nicht.« Sie nickte enttäuscht. Sie schlief nun schon seit einigen Tagen mit Hunter, und er hatte sie noch immer nicht hinsichtlich des Einsatzes ins Vertrauen gezogen und Big John nicht gestattet, sie zu bewaffnen. Es war deprimierend. Was für ein Spiel spielte er? Brauchte er einen Sprengstoffexperten oder nicht? Und wenn nicht, was zum Teufel tat sie dann hier? Wren war am ganzen Körper wund. Kicker behauptete, die einzige Methode, Nahkampf zu trainieren, sei, die Schläge so hart auszuführen, daß sie ›deine Aufmerksamkeit wecken‹, und er erlaubte ihnen nicht, eine Schutzpolsterung zu tragen. Sie hatte den Verdacht, daß er ein heimlicher Sadist war, dem es Spaß machte, anderen weh zu tun. Es war ihr sehnsüchtigstes Verlangen, ihm eines Tages so weh zu tun, daß er sie nie wieder anfaßte. »Bist du bereit für einen Besuch am Schießstand?« fragte Big John. »Ich kann die Glock sofort holen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie wär’s mit später? Ich könnte jetzt eine Dusche gebrauchen.« Und ein Aspirin, dachte sie. 460
»Natürlich.« Er lächelte sie an und schlenderte davon. Obwohl Wren niemandem im Lager zu nahe kommen wollte, mußte sie zugeben, daß sich Big John in mehr als einer Hinsicht als Lebensretter erwiesen hatte. Er war nett zu ihr und behandelte sie mit Respekt. Wrens Schießkünste hatten sich herumgesprochen, und die meisten von den anderen begegneten ihr nun mit einem gewissen Respekt - vor allem seit sie bei Hunter eingezogen war -, aber sie konnte niemand als Freund bezeichnen. Und sie wollte es auch nicht. Sie stieg die wackligen Stufen zu Hunters Wohnwagen hinauf und betrat den Hauptraum. Hunter saß am Tisch und arbeitete, die Baupläne waren vor ihm ausgebreitet. Er kritzelte gerade etwas in ein Notizbuch. Auf dem Computerbildschirm war ein Diagramm zu sehen. Er warf ihr einen Blick über die Schulter zu. Wren blieb im Eingang stehen. Er hatte die Baupläne bisher nie vor ihren Augen herausgeholt. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann noch mal gehen und später wiederkommen.« »Nein, nein. Komm nur rein.« Er winkte sie heran. »Es ist Zeit, daß du die Einzelheiten der Mission kennenlernst. Ich werde bald deine Hilfe brauchen.« Sie zögerte. Das war es. Das Netz, das er von Anfang an gesponnen hatte. Ein falscher Schritt von ihr konnte alles zum Einsturz bringen. »Komm rein. Ich beiße nicht.« Sie ging langsam zu ihm und stellte sich neben seinen Stuhl. »Weißt du, was das ist?« Er klopfte auf die Baupläne. 461
»Da steht, es ist das Leatherwood Building.« »Du sagst es. Weißt du, was wir damit machen werden?« »Nein.« »Wir jagen es in die Luft. Das heißt, nicht das ganze Gebäude. Nur die wichtigsten Teile.« Sie schluckte. »Im Ernst?« »Genaugenommen jagst du es in die Luft, meine Liebe.« »Wie meinst du das?« Sie stellte sich dumm, das war immer am besten. »Ich erklär’s dir. Es ist ein glänzender Plan, du wirst sehen. Also, Buckwheat Peckerhead wird hier sein -« er klopfte mit seinem Kugelschreiber auf einen der Seminarräume auf der Nordseite des dritten Stockwerks »und eine Rede über seine faschistischen Vorstellungen von Waffenkontrolle vor, na, etwa hundert Leuten halten.« Er blickte zu ihr auf. Sie nickte. »Und wir, nämlich ich und ein paar Mitglieder der Strike Force, werden hier unten sein, in der Bank, hier auf der Südseite des Erdgeschosses.« Wieder blickte er auf. Wieder nickte sie. »Du - und ein paar Helfer werdet Mister Peckerhead, seine Leibwächter und jeden, der sich zufällig ein bißchen zu nahe am Podium aufhält, in die Luft jagen.« Seine Leibwächter. Das bedeutete Steve Austin. Hunter blickte zu ihr auf. Sie nickte. »Dann, wenn die Kacke am Dampfen ist und das ganze Chaos und Durcheinander ausbricht, weil keine Securityleute da sind, die die Sache in die Hand nehmen, 462
werden ich und die Jungs diese paar Minuten ausnützen und die Bank ausrauben. Ich schätze, wir können in zwei, drei Minuten drinnen und wieder draußen sein. Mit dem Sprengstoff wird es natürlich länger dauern, aber das ist deine Sache.« Er blickte mit leuchtenden Augen wieder zu ihr auf. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Es ist wirklich ein glänzender Plan«, sagte sie. »Aber hast du nicht Angst, daß die Wucht der Explosion die Decke einstürzen läßt und dir das ganze Gebäude auf den Kopf fällt?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist ja das Geniale daran. Ich muß mir deswegen keine Sorgen machen, weil ich dich habe, mein Schatz. Und ich weiß, daß du so deine Methoden hast, die Sache auszuführen, ohne uns gleich mit in die Luft zu sprengen.« »Aber wenn es einen baulichen Schwachpunkt gibt…« Er schüttelte den Kopf. »Na und? Sie sind auf der Nordseite. Ich und die Jungs sind auf der Südseite. Du und deine Mitstreiter warten - wenn du deinen Job richtig gemacht hast - bereits draußen im Kombi. Selbst wenn die Decke eingedrückt wird, fällt sie uns nicht auf den Kopf.« Aber hundert Menschen könnten sterben, dachte sie. Und da waren die nicht mitgezählt, die sich vielleicht in dem Bereich darunter aufhielten - im Zwischengeschoß, der Eingangshalle, dem Restaurant und dem Einkaufszentrum. Sogar Kinder konnten darunter sein. »Ich plane die Sache seit Monaten«, sagte er fröhlich. »Viel Arbeit liegt noch vor uns. Wir müssen es noch genauer planen, alles muß perfekt sein.« Er blickte wieder auf wie ein Kind, das Anerkennung von seiner Mutter erwartet. 463
Wenn Hunter mit seinem Plan Erfolg hatte, würde er einen symbolischen Schlag für jeden Waffenspinner führen, der Buck Leatherwood haßte - ganz zu schweigen von der Angst in den Herzen aller Verfechter einer Waffenkontrolle, die eine öffentliche Stellung innehatten. Er würde außerdem sehr reich dabei werden. Und die ganze Sache lag in ihrer Hand. Wren drehte sich der Magen um. Sie malte ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht und sagte: »Du hast recht. Es ist ein ausgezeichneter Plan.« Es war nur die Art bedeutungsloser Bemerkungen, die sie früher gemacht hatte, wenn ihr die Kinder ihre unbegreifbaren Kreidezeichnungen brachten. Hunter reagierte ganz genauso, wie sie es damals getan hatten: Er schlang einen Arm um ihre Taille, drückte sie und lächelte glückselig auf seinen glänzenden Plan hinab.
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34. Kapitel Cam knallte die Autotür zu und dann die hintere Haustür noch dazu, bevor er ins Wohnzimmer stampfte und seine Taschen in einem Haufen auf den Boden warf. Zoe stand auf, lächelte ihn boshaft an und sagte: »Weiter so, Dad«, bevor sie ihn umarmte. »Wo ist die Nachbarin?« fragte er gereizt. »Du hast am Telefon gesagt, daß du bis zum Abendessen aus New York zurück bist, also ist sie gegangen und sagte, ich soll anrufen, wenn du dich verspätest.« »Was? Sie hat gesagt, sie würde bleiben, bis ich nach Hause komme.« »Daddy, ich bin kein kleines Kind mehr, falls du es noch nicht bemerkt hast.« »Ich weiß, ich weiß.« Er rieb sich die Augen und murmelte: »Ich habe Kopfschmerzen.« »Das ist die Strafe dafür, daß du mitten in der Sendung aus einer landesweit ausgestrahlten Talk-Show gelaufen bist.« »Fang nicht damit an! Ich hab mir schon alles vom Produzenten angehört.« »Ich mach doch nur Spaß. Meine Güte, setz dich erst mal. Ich hol dir ein Aspirin. Hast du schon was gegessen?« Er ließ sich auf die Couch fallen und schüttelte den Kopf. »Dann wärme ich dir ein bißchen Suppe auf.«
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Sie wollte gehen, aber er hielt sie an der Hand fest. Sie verschränkte ihre Finger in die seinen. »Es tut mir leid, Schatz«, sagte er. »Ich schätze, ich hab’s versaut.« »Überhaupt nicht. Dieser Spike Baxter ist ein Schleimscheißer, Daddy! Er hätte dir sagen sollen, daß er diesen Bürgerwehrspinner mit dir auf die Bühne bringt.« »Er hat mir erzählt, es sei eine Sendung über vermißte Personen. Ich dachte, es würde helfen, Mom und Daniel zu finden, wenn ich ihre Bilder im Fernsehen zeige und unsere Geschichte erzähle. Ich hätte nicht so wütend werden dürfen. Ich bin Anwalt. Ich weiß, wie man die Ruhe bewahrt.« Zoe setzte sich auf die Lehne der Couch und sagte: »In diesem Fall warst du kein Anwalt. Du warst ein Mensch.« Er sah seine Tochter an. »Ein Mensch? Soll das heißen, Anwälte sind keine Menschen?« Er spürte, wie sich hinter seinen schmerzenden, brennenden Augen ein Lächeln bildete. Sie grinste. »Dazu verweigere ich die Aussage.« Er seufzte schwach. »Ich bin so müde.« Es war nicht das, was Cam eigentlich sagen wollte. Jedenfalls nicht zu seiner kleinen Tochter. Er mußte stark für sie sein, statt dessen bot er ein Bild der Verwüstung. Sie tätschelte ihn an der Schulter. »Ich weiß, Daddy. Schon gut.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe wie ein Vollidiot ausgesehen in dieser Show. Ich habe geschrien, und dieser Kerl von der Bürgerwehr saß da und sah aus wie der normalste Mensch der Welt. Und Baxter! Ich hätte ihn 466
umbringen können!« »Mach dir keine Vorwürfe, Daddy. Was er getan hat, war unfair. Jedes Kind auf dem Spielplatz merkt, wenn etwas unfair ist. Erwachsene merken es auch. Er wollte dich wütend machen. Alle haben es gesehen.« Ein Mundwinkel von Cam zog sich zu einem halben Grinsen nach oben. »Dann war er also kein Mensch?« »Nee.« Zoe sprang mit der Energie eines Kindes auf und trippelte in die Küche. »Mom hat das Aspirin in der Küche, oder?« rief sie. Hat. Sie hatte hat gesagt, statt hatte oder hatte früher. Cam legte den Kopf zurück, lockerte die Krawatte, schloß die Augen und erlaubte sich nun doch ein kleines Lächeln. Es waren immer die kleinen Dinge, die ihm Hoffnung machten.
»Okay. Hier ist unser Zeug«, sagte Hunter. Wren war ihm ein kurzes Stück vom Lager zu einem Gelände gefolgt, das mit verkrüppeltem Buschwerk bewachsen war. Er führte sie zu einem abgestorbenen Mesquitebaum, unter dem sich ein großer Ballen losen Gestrüpps, vielleicht ein Meter im Durchmesser, festgesetzt hatte. Hunter packte das Gestrüpp an den dornigen Zweigen, zog es heraus und hakte es mit seinen braunen Ranken an der anderen Seite des Baums fest. An der Stelle, wo die Gestrüppkugel gewesen war, lag eine weiße Metallscheibe flach wie ein Kanaldeckel auf dem Boden. Hunter klappte die Scheibe, die an einem Scharnier festgemacht war, zurück. Darunter war ein Stollen, der 467
direkt in die dunkle Erde führte. Er glitt mit den Beinen voran in den Stollen und schaltete irgendwo ein Licht an. Eine Leiter wurde sichtbar. Er stieg nach unten. Wren folgte ihm. Die brunnenartige Röhre, die sie hinunterstiegen, führte etwa fünf Meter unter die Erde. Trotz der Beleuchtung war es äußerst klaustrophobisch. Am Fuß der Leiter knickte die Röhre zur Form eines L, und Wren folgte Hunter, der sich durch den kurzen unteren Teil des L quetschte, um schließlich in einem kuppelförmigen, geschlossenen Bunker wieder aufzutauchen. »Ist er nicht großartig?« keuchte Hunter, während er sich aufrichtete. Die Decke war dicht über seinem Kopf, aber er konnte in voller Größe stehen. »Es ist ein ES 10Katastrophenschutzraum aus Fiberglas«, informierte er. »Geheimeingang, strahlungssicher, keine Radarerfassung, keine nennenswerte thermische Erfassung. Ohne Bodenaufklärung unmöglich zu finden. Bis zu zehn Leute können neunzig Tage lang hier drinnen überleben.« Er strahlte glückselig. »Das ist unglaublich«, sagte Wren wahrheitsgemäß. Sie schaute sich um und sah sofort, daß man das ganze Drum und Dran entfernt hatte, mit dem der Bunker ausgestattet gewesen sein mußte, um Menschen am Leben zu halten. Das hier war kein Schutzraum mehr für Menschen. Es war ein Versteck für Sprengstoff. »Wir haben alles, was du brauchst«, sagte er. »Hier drüben eine halbe Tonne ANFO.« Er deutete auf einen ordentlichen Stapel Kunstdünger in Fünfzig-PfundSäcken. Ammoniumnitrat, übersetzte die Chemikerin in Wren. 468
Alles, was sie noch brauchten, um ein Gebäude zum Einsturz zu bringen, waren Dieselkraftstoff und ein Sprengzünder. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Hunter: »Ich hab kein Diesel da, aber ich kann es dir leicht besorgen.« Sie schüttelte den Kopf. »Zu groß. Zu unkontrollierbar.« »Das hab ich mir auch schon gedacht. Deshalb wollte ich dich hier haben. Nicht nur deshalb, natürlich.« Er blinzelte ihr zu. Sie brachte ein Lächeln zustande. »Wir haben jede Menge Zündkabel«, sagte er und zeigte auf eine Kiste, die neben ein paar Behältern mit Granaten stand. »Und da drüben sind ungefähr fünfzig Pfund C-4. Ich kann noch mehr besorgen, wenn du es brauchst«, fügte er hinzu. Großer Gott, dachte Wren. »Mal sehen… Sprengkapseln… Schwarzpulver… Sprenggelatine - ich habe irgendwo gelesen, das ist besser als das normale Dynamit, wie es das Militär verwendet, weil bei der Lagerung keine Dämpfe entstehen.« »Das stimmt«, sagte sie. Dann fiel ihr ein, wie sehr dieser Mann die Anerkennung durch andere brauchte, und sie fügte an: »Du hast großartige Arbeit geleistet.« Er zuckte mit den Achseln. Eine falsche Bescheidenheit stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Schau mal hier.« Er ging zu mehreren Holzkisten und stemmte von einer den Deckel auf. Wren beugte sich darüber und spähte hinein. Sie waren voller AK-47. 469
»Also, wie sieht dein Plan aus?« fragte er begierig. Seit Hunter ihr die Baupläne des Leatherwood Building gezeigt hatte, hatte sich Wren in einigen schlaflosen Nächten bereits viele Gedanken über ›den Plan‹ gemacht. Auf Zeit spielen und hinhalten waren vorläufig ihre besten Waffen. Je länger sie brauchte, um alles fertig zu haben, desto länger konnte sie überlegen, wie sie aus diesem Alptraum herauskam. Sie schürzte die Lippen, als würde sie sich schwer konzentrieren und wühlte eine Weile in den Dingen herum, dann stellte sie sich in die Mitte des Bunkers, die Hände in die Hüften gestemmt. »Das Zeug ist großartig«, fing sie an, »aber nicht präzise genug.« Er runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Es ist das, was das Militär benutzt.« »Genau. Und was macht das Militär? Es sprengt alles kurz und klein. Brücken, Panzer. Wir aber wollen keinen Panzer in die Luft jagen. Wir versuchen ein Ablenkungsmanöver durchzuführen.« Hunter nickte, wenngleich er immer noch die Stirn runzelte. »Dann nimm einfach kleinere Mengen.« »Immer noch zu wenig voraussagbar. Zu viel Brisanz.« Nach einem Blick auf sein Gesicht fügte sie hinzu: »Es würde draußen zuviel zertrümmern, das meine ich mit Brisanz.« »Das weiß ich!« fuhr er sie an, obwohl er es natürlich nicht wußte. 470
»Okay. Zunächst einmal brauche ich Semtex H, soviel steht fest.« »Scheiße! Du meinst das Zeug, mit dem sie das Flugzeug über Schottland gesprengt haben?« »Genau.« »Aber du hast gesagt, durchschlagskräftiger…«
die anderen hier seien
»Ich sagte unkontrollierbar. Man braucht nicht viel Sprengkraft, um ein Flugzeug zu sprengen. Dafür sorgt der Druckabfall, sobald du ein Loch in die Außenwand gemacht hast.« »Lissie, man muß dieses Zeug aus irgendeinem DritteWelt-Land einschmuggeln.« Sie ignorierte ihn und fuhr fort. »Dann gibt es da noch diesen neuen Stoff, von dem ich gelesen habe. Er heißt Flex-X. Unglaubliches Zeug.« Wren registrierte mit Unbehagen, daß ihre Begeisterung echt war. »Es sieht aus wie Leder. Man bekommt es in allen Farben. Man kann es zurechtschneiden und für alles verwenden - für das Armaturenbrett eines Autos, was immer. Keine Dämpfe. Leicht zu handhaben.« »Und?« »Und… äußerst durchschlagend. Man könnte, ich weiß nicht vielleicht eine Aktentasche damit beziehen.« Sie sah, wie sich sein Gesicht aufhellte. »Dann gibt es noch etwas namens DEXS. Unglaublich… man kann es mit einer Spritzdüse auftragen!« »Machst du Witze?« »Dann haben wir Prima Foam. Es sieht aus wie 471
Rasierschaum, und man kann es in einer entsprechenden Dose tarnen.« Er schüttelte den Kopf. »Mann.« »Methylnitrat ist flüssig. Man kann es in eine Weinflasche oder so gießen.« »Wie ein Molotowcocktail?« »Ach woher. Viel gewaltiger.« Wrens Herz klopfte heftig. Sie rasselte die Namen von Sprengstoffen herunter, die sehr neu waren - einige waren erst kürzlich von anderen Ländern entwickelt worden. Sie würden in den Vereinigten Staaten extrem schwer zu beschaffen sein und unterlagen normalerweise auch in anderen Ländern einer Kontrolle. Hunter würde sich außerhalb seiner kleinen Clique bewegen müssen, wenn er sie beschaffen wollte - und Gefahr laufen, auf Undercoveragenten des FBI zu stoßen. Vernünftigerweise hätte er ihr befehlen müssen, das zu nehmen, was da war, und sich die Sprengstoffe selbst so zurechtzubasteln, daß sie ihre Aufgabe ausführen konnte. Schließlich war ›Größer ist besser‹ seine Devise. Selbst dann konnte es Wochen dauern, bis sie mit gefährlichen Experimenten nach der Versuch-und-Irrtum-Methode soweit war. Aber sie sah, daß sein Interesse geweckt war. Eindeutig gefiel ihm die Vorstellung, die Bombenexperten mit ausgeklügelten Sprengstoffen zu überraschen und ihnen klarzumachen, daß sie es nicht mit einem dummen Bauernburschen zu tun hatten, sondern mit einem Profi. Sie konnte beinahe hören, wie die Rädchen in seinem Gehirn heiß liefen: Möglicherweise würde das FBI sogar 472
glauben, daß ein Ausländer der Täter war! Sie würden unbehelligt davonkommen und könnten sich dem nächsten Ziel zuwenden. »Okay«, sagte er. »Wir besorgen dir, was du brauchst. Mach uns eine vollständige Liste - wir gehen nicht noch mal raus, wenn was fehlt, okay?« »Okay.« Er betrachtete ihr Gesicht. »Wir werden Buckwheat Peckerhead und seinen Nigger-Leibwächter Steve Austin bis zur Hölle und zurück pusten - und jeden, der dumm genug ist, dort zu sein und sich anzuhören, was Peckerhead zu sagen hat.« »Und gleichzeitig werden wir reich«, erinnerte sie ihn. »Es macht mich an, wenn du so redest«, flüsterte er, zog sie an sich und zerrte ihr das Hemd aus der Hose. Dann hob er sie hoch, als hätte sie kein Gewicht, und setzte sie auf eine der Kisten mit Automatikwaffen. Immer noch im Stehen machte er den Reißverschluß seiner Hose auf. Wren fühlte sich wie das Ungeborene der Toten, gefangen im Leib der Hölle. Sie roch das Schwarzpulver und andere scharfe Gerüche der Zerstörung um sie herum, und die runden Wände schienen enger, sargartig zu werden. Und mittendrin tanzte sie mit dem Teufel.
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35. Kapitel »Dieser Plan wird auf gar keinen Fall funktionieren«, stellte Big John kategorisch fest. Hunter hatte die Mitglieder der Alpha/Omega Strike Force und Wren zu einer geschlossenen Sitzung über den beabsichtigten Bombenanschlag auf das Leatherwood Building versammelt. Alle außer Hunter lagen auf den Turnmatten im Kraftraum herum. Hunter stand an der Stirnwand und hob mit einem Laserpfeil Einzelheiten der Stockwerkspläne und Gebäudeansichten auf den Dias hervor, die er vorbereitet hatte. Jedes Dia war ordentlich und genau ausgeführt, alles sauber beschriftet. Offensichtlich hatte er sich sehr viel Mühe gemacht, um dieses kleine Programm zusammenzustellen, und Big Johns Bemerkung gefiel ihm nicht. Im Licht des Projektors, das Hunters Gesicht ausleuchtete, war sein Mißfallen deutlich zu sehen. »Erstens«, fuhr Big John fort, ohne auf Hunters finsteren Blick zu achten, »schickst du uns auf den Schwarzmarkt hinaus, um diese verbotenen Sprengstoffe aufzutreiben High-Tech-Zeug, das förmlich nach terroristischen Aktivitäten riecht. Wir haben eine gute Chance, daß wir auf Widerstand von Undercoveragenten des FBI stoßen.« Abgesehen vom Brummen des Projektors war es äußerst still im Raum. Big John schien es nicht zu bemerken, oder wenn er es bemerkte, war es ihm egal. »Zweitens erfordert dein Plan ein sekundengenaues Timing, wenn er gelingen soll. Wenn zu irgendeinem Zeitpunkt irgend etwas schiefgeht, und sei es nur um ein oder zwei Minuten, sind wir im Arsch.« 474
Wren saß vollkommen reglos da. Big John hatte absolut recht, aber Wren würde nicht so dumm sein, in Hunters Gegenwart etwas dazu zu sagen. Offenbar war auch sonst niemandem danach. Niemand aus dem kleinen Publikum meldete sich zu Wort. »Drittens kann man, bei allem Respekt für unsere Sprengstoffexpertin hier, unmöglich genau vorhersagen, was bei diesen Sprengstoffen passieren wird. Overkill ist so gut möglich wie zu geringe Sprengkraft. Selbst ein Timer könnte nicht funktionieren, und die ganze Sache wäre vermasselt.« Hunters Gesicht war wie versteinert. Bei der unheimlichen Beleuchtung von unten erinnerte es Wren an einen Wasserspeier. »Und viertens…« »Was geht hier vor?« fragte Hunter. »Ich meine, was geht hier in Wirklichkeit vor?« Seine Stimme war tödlich ruhig. »Wovon redest du?« fragte Big John. »Das möchte ich dich fragen, John. Wovon redest du? Du weißt so gut wie ich, daß ein Spezialeinsatz, wenn man ihn hundertmal probt, reibungslos funktionieren sollte. Alle Eventualitäten berücksichtigen und einen Ausweichplan zur Hand haben. Ich habe das bereits getan. Dieser Plan ist idiotensicher.« Kein Plan ist idiotensicher, vor allem, wenn Sprengstoff im Spiel ist, grübelte Wren. »Ich glaube, hier geht etwas anderes vor sich«, fuhr Hunter fort. »Etwas Ernsteres.« 475
Übelkeit erfaßte Wren. Ihr Mund wurde pelzig. Nein, dachte sie. Bitte, tu es nicht. »Ich hatte immer den Verdacht, daß hinter dem, was uns in der Community passiert ist, ein Verräter steckte, ein Lump in unserer Mitte - einer von uns, wohlgemerkt -, der uns an das FBI verraten hat.« In Wrens Adern gefror das Blut. Paranoia griff nach ihr: Hatte er einen Verdacht? Wußte er Bescheid? Lockte er sie in eine Falle? Sie wurde von einem Zittern befallen, das sie nur mühsam unterdrücken konnte. »Bist du ein Verräter, John?« fragte Hunter rundheraus. »Verkaufst du uns für dreißig Goldstücke, mein Freund?« Big John stand langsam auf, ein schwerfälliges Schattenmonster in dem verdunkelten Raum, »Nennst du mich einen Zinker?« attackierte er. »Ich nenne dich gar nichts«, entgegnete Hunter ruhig. »Aber ich frage dich.« »Was fragst du mich?« schrie Big John. »Ich versuche nur, dir zu helfen, den besten Plan aufzustellen…« »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Du könntest auch versuchen, uns einen Bombenanschlag auszureden, damit dein Mitverschwörer, dieser ausländische Agent Buckwheat Peckerhead, nicht in die Luft gejagt wird. Dafür könnte ein Mann einen verfluchten Orden kriegen, oder?« fügte er, an die anderen Mitglieder der Strike Force gewandt, hinzu. Ein frostiges Murmeln ging durch den Raum, wie ein scharfer Wind, der über ein trockenes Getreidefeld streicht. Wren schauderte. 476
»Ich möchte nämlich nur einmal festhalten, daß die gerechte Strafe garantiert auf dem Fuß folgt, wenn ich je einen Stein umdrehe und einen Verräter in unseren Reihen finde.« Bei diesen Worten richtete Hunter den Laser auf Big Johns Kopf. Der rote Punkt erschien mitten auf dessen Stirn und erinnerte sofort an das Schwarze im Laservisier einer Waffe.
Das Essen war an diesem Abend eine unbehagliche Angelegenheit. Obwohl Wren bereits vorher im Wohnwagen für Hunter gekocht hatte, war sie in den Speisesaal gekommen, um in einem zweiten Teller Essen zu stochern und ein wenig Zeit mit Daniel zu verbringen. In den letzten Tagen schien er ihre Beziehung mit Hunter akzeptiert zu haben und ihr sogar ein bißchen nähergekommen zu sein. Es machte sie traurig. Zog es ihn zu ihr als seiner Mutter - der Mensch, der sie immer gewesen war? Oder zog es ihn zu diesem verzerrten Bild von ihr, das sie nun vermittelte? Tatsächlich hatte sie sich in letzter Zeit ein paarmal dabei ertappt, wie sie sich mit den anderen Frauen vermischte und ihre Grausamkeit, ihren Zynismus, ihre kaum unterdrückte Wut und offenkundige Paranoia, ihren schwarzen Humor und ihre Unterwürfigkeit gegenüber den Männern als eigene Charakterzüge annahm. War sie die talentierteste und schlaueste Schauspielerin hier? Sie wollte es gern glauben. Beunruhigender war der Gedanke, daß sie unbewußt zu dem wurde, was sie am meisten haßte, das genaue Gegenteil von dem, was ihre sanftmütige Großmutter ihr beigebracht hatte. »Was ist mit den Alpha/Omegas los?« platzte Daniel mitten in ihre Gedanken. »Alle sind schlecht gelaunt, und 477
keiner gibt sich mit Big John ab.« »Es gab eine… Meinungsverschiedenheit bei der Versammlung der Strike Force«, sagte sie vorsichtig und schaute dabei zu Big John hinüber, der allein saß und sich mürrisch Essen in den Mund schaufelte. »Wegen was?« Daniel stopfte sich fast ein ganzes Brötchen auf einmal in den Mund. Was immer ihm seine Mutter an Tischmanieren beigebracht haben mochte, es schien zu Hause, in der wirklichen Welt, zurückgeblieben zu sein. »Ich darf es nicht sagen«, sagte sie. »Es geht um den Spezialeinsatz, stimmt’s?« flüsterte er laut, und seine Augen glänzten. »Alle wissen darüber Bescheid.« »Was wissen alle?« Eine Alarmglocke schrillte tief in ihr. »Daß ihr einen Bombenanschlag auf das Leatherwood Building plant.« Wren starrte sprachlos auf ihren Sohn, der die Hälfte von einem Brötchen abbiß. »Niemand kennt irgendwelche Einzelheiten«, sagte er, »aber ich finde es cool.« Entsetzen. Horror. Heftige Angst. Eins nach dem anderen mußte sie die Gefühle, die durch ihre Seele schnitten, hinter ihrem blassen, ruhigen Gesicht verbergen. Sie brauchte zwei Anläufe, bis sie etwas sagen konnte. »Cool? Wieso cool?« »Es wird Peckerhead zeigen, daß er sich nicht mit uns anlegen darf.« 478
Wrens Geist raste, die Gedanken stoben auseinander wie Billardkugeln auf einem leeren grünen Tisch. »Wieso Leatherwood dann nicht gleich ermorden?« fragte sie. Entsetzen zeichnete sich in das Gesicht des Jungen. »Ihn ermorden!« schrie er. Mehrere Leute drehten sich um und schauten herüber. »Pssst!« mahnte sie. »Sprich leise.« »Warum willst du ihn ermorden, Mom?« fragte Daniel klagend. »Ich meine, ein Haus in die Luft sprengen ist eine Sache. Einen Menschen zu töten ist eine andere. Mann, du hast dich wirklich verändert.« Er schüttelte angewidert den Kopf. Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete Wren. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie beschäftigte sich mit ihrem Essen, um sie zu verbergen. Mein süßer Junge, dachte sie. Er ist noch nicht ganz verdorben! Es steckt immer noch ein wenig Unschuld in ihm. Der dumme Kerl glaubt, Hunter beabsichtigt ein leeres Gebäude zu sprengen, um eine politische Aussage zu machen. Fast hätte sie vor Freude aufgeschrien. »Du hast natürlich recht«, sagte sie ruhig. »Ich glaube, ich habe mich hinreißen lassen. Du weißt, mein Sohn, ein Menschenleben ist ein kostbares Gut.« »Ich weiß.« Er trank sein Teeglas aus und schwenkte das Eis einen Moment lang darin herum, dann füllte er sich den Mund mit Eis und fing an, es laut knirschend zu kauen. »Das mußt du mir nicht erst sagen«, fügte er an. Wren starrte ins Leere. »Wenn du für den Verlust eines Menschenlebens verantwortlich bist«, sagte sie 479
nachdenklich, »bekommst du das Blut nie mehr von deinen Händen. Nie mehr.« »Erde an Mom. Erde an Mom. Was ist heute bloß los mit dir?« Sie tätschelte seinen Arm und ließ ihre Hand ein paar Sekunden daraufliegen. »Nichts. Ich glaube, ich bin nur müde.« »Du schläfst nicht sehr gut, was?« Wren sah ihren Sohn an. Er schaute weg und begann unruhig zu werden. Sie spürte seine langen Beine unter dem Tisch auf und ab hüpfen. Zum ersten Mal kam Wren in den Sinn, daß, so wie niemand ihre wahren Empfindungen sah, sich auch bei Daniel unter der Oberfläche mehr abspielen könnte. Sehr viel mehr. Jetzt wußte sie sicher, daß die dunklen Ringe unter seinen Augen nicht von einem Wachstumsschub herrührten, sondern von schlaflosen Nächten. Offenbar hatte er sich nicht so gut an ihre Lage angepaßt, wie sie immer angenommen hatte. Hatte er etwa gar… Heimweh? »Ich habe Probleme mit dem Einschlafen«, sagte sie sanft und legte ihre Hand wieder auf seinen Arm. Ein Ausdruck nackter Verwundbarkeit huschte über sein Gesicht. »Ich auch«, sagte er. »Manchmal… vermisse ich… manche Leute.« »Mir geht’s genauso«, ermunterte sie ihn vorsichtig. Sie waren so nahe dran, eine Verbindung herzustellen. Wenn sie den Jungen irgendwie dort berühren könnte, wo er 480
lebte, an diesem Ort der quälenden Zweifel und den Schlaf raubenden Schuldgefühlen, dann konnte sie ihn retten, dessen war sie sich sicher. »Mom?« »Ja?« Sie mußte sich zurückhalten, ihn nicht Baby zu nennen. »Denkst du manchmal an…« Die Tür zum Speisesaal flog mit solcher Wucht auf, daß die amerikanische Flagge an der Wand daneben sich an einer Ecke löste und schief und unwirklich herunterhing. Wren und Daniel sprangen beide fast von ihren Stühlen hoch, die Gespräche im Raum ebbten stotternd ab. Jeremiah Hunter stand rasend vor Wut im Eingang, seine Halsadern traten hervor wie purpurne Stricke. Er hielt eine halbzerknüllte Zeitung in der Hand. »Ich bringe denjenigen um, der mir das angetan hat!« brüllte er. Wren spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Ihre Finger umklammerten Daniels Arm wie Klauen. Lieber Jesus, hilf mir, betete sie. Der Trommelschlag ihres Herzens pulsierte in ihrem Hirn, und sie wußte, wie sich ein Kaninchen fühlt, wenn es in einer Schlinge gefangen wird. »Wer zum Teufel hat einer Reporterin von AP erzählt, daß ich schwul bin? Er soll lieber gleich reden, denn wenn ich es erst herausfinden muß, wird er dafür bezahlen!« Wren blinzelte. Ihr Verstand schien unfähig zu sein, zu begreifen, was ihre Ohren ihm soeben übermittelt hatten. »Autsch.« Daniel löste vorsichtig seinen Arm aus ihrem 481
Griff. Immer noch dröhnte der Trommelschlag. Hunters glühender Blick schweifte durch den Raum. Kein Mensch rührte sich. »Schön«, sagte er. »Der erbärmliche Feigling zieht es also vor, sich nicht zu erkennen zu geben. Ich werde die verdammte Reporterin anrufen und herausfinden, wer Lügen über mich an die Presse verbreitet.« Big John stand schwerfällig auf. »Mensch, Hunter, krieg dich wieder ein. Siehst du nicht, was hier abläuft? Du darfst diese Reporterin nicht anrufen - das ist genau das, was das FBI im Sinn hat! Es ist so offensichtlich, Mann. Es ist eine bewußte Desinformation. Sie wollen, daß du Kontakt mit ihr aufnimmst, damit sie deine Spur hierher zurückverfolgen können.« Hunter verschränkte die Arme vor der Brust, die Muskeln spannten das Gewebe seines Kampfhemds. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du willst mir sagen, was ich tun darf und was nicht?« »Jemand muß es tun!« schrie Big John. »Du verlierst den Durchblick, Mann. Wenn du dabei bleibst, sind wir alle im Arsch.« Hunter grinste affektiert. »Weißt du, John, ich war mir sehr sicher, daß du irgend so etwas sagen würdest. Mir scheint, du hast eine fürchterlich intime Kenntnis davon, wie das FBI denkt. Mir gefällt vor allem dieses Wort: Desinformation. Die meisten Leute würden falsche Information sagen. Desinformation klingt genau wie etwas, das ein FBI-Mann sagen würde.« Wrens Herz zog sich vor Angst um Big John zusammen. 482
Sie bezwang das Verlangen, ihn anzubrüllen, er solle den Mund halten und sich hinsetzen. Niemand hier in der sogenannten Armageddon-Armee hatte bislang das volle Ausmaß von Hunters Wahnvorstellungen gesehen. Niemand hatte bislang gesehen, wie er kaltblütig einen Mann ermordete, der um sein Leben flehte. Sie schaute zu Daniel hinüber. Verwirrung und Bestürzung, seine Zuneigung zu Big John und seine Loyalität gegenüber Hunter kämpften alle zusammen um die Vorherrschaft in seinem Gesichtsausdruck. Sie legte ihre Hand wieder auf seinen Arm und drückte ihn sanft und beruhigend. »Tatsächlich«, fuhr Hunter unheilvoll ruhig fort, »würde es mich nicht im geringsten überraschen, herauszufinden, daß du der Hurensohn warst, der der Reporterin Lügen über mich erzählt hat.« »Was?« Big Johns Augen traten hervor. Seine Sonnenbrille steckte in der Brusttasche. »Wer hat schließlich ungehinderten Zugang zur Stadt? Wer macht normalerweise die Fahrten, um die Post abzuholen und unsere Vorräte aufzustocken?« Alle im Raum wußten, daß jedes Mitglied der Strike Force für die Fahrten in die Stadt in Frage kam; sie wußten außerdem, daß Big John die lästige Arbeit öfter übernahm als andere. »Und ich wollte dich schon lange fragen, John. Wo genau hast du dein Wissen und deine Fertigkeiten in bezug auf Schußwaffen aufgegabelt?« Eine heiße Röte überzog Big Johns kahlen Schädel. Seine Stimme schäumte vor kaum verhüllter Wut. »Beim 483
Militär, Mann! Im Krieg! Genau wie du.« Hunter zuckte die Achseln. »Was Fünfundvierziger, M16s und M14s angeht, vielleicht. Aber nicht bei Neunmillimeterpistolen und den anderen Waffen, die wir hier haben.« Die Anwesenden begannen Big John mit demselben Mißtrauen im Blick zu mustern, wie es sich auf Hunters Gesicht spiegelte. Nur Daniel schien vollkommen verwirrt. Wren ertrug es nicht mehr. Sie starrte auf den Tisch, auf das kalte Essen, auf alles, nur nicht auf die beiden Männer. Der Trommelschlag hämmerte in ihren Schläfen. »Und was ist mit den ganzen Fahrten zur Jagdhütte? Dort gibt es Telefon.« »Ich war an der Reihe, Mann, das weißt du genau.« »Natürlich. Immer im Dienste der Mannschaft, mein Freund! Du machst sogar kleine Sonderfahrten, nur um behilflich zu sein.« »Sonderfahrten -?« »Wie damals, als du freiwillig Penicillin für Lissie geholt hast. Sie brauchte kein Penicillin, John. Sie ist ein kräftiges Mädchen. Alles, was sie brauchte, war Ruhe.« Wren spürte, wie sich Big Johns gepeinigter Blick auf sie richtete. Sie stand Seelenqualen aus. Sie schluckte schwer, kämpfte gegen ihre Benommenheit und schaute gerade lange genug auf, um mit den Augen Vergib mir zu flehen. Irgend etwas an ihrem Gesichtsausdruck signalisierte 484
Big John, daß er in weit größeren Schwierigkeiten steckte, als er gedacht hatte. Zum ersten Mal kroch der schwarze Schatten der Angst über seine Augen. Hunter legte die Hände an die Hüften und betrachtete den großen Mann über die Köpfe der schweigenden Menge hinweg. »Vertrauen ist ein zerbrechliches Ding. Ich dachte immer, ich kann dir trauen, John, ehrlich. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« »Wovon redest du, Mann?« John schaute sich voller Unbehagen um. »Kommt schon, Leute. Ich bin’s, wißt ihr noch? Ich war von Beginn an dabei. Von Anfang an, seit dem Knast. Ich bin kein Bulle. Denkt darüber nach. Es ergibt keinen Sinn. Es ist ver…« »Morgen bei Tagesanbruch werden wir ein Tribunal abhalten«, verkündete Hunter. »Nur die Alpha/Omegas werden Richter und Geschworene dieses Mannes sein. Die letzte Entscheidung liegt bei mir. Kicker, Preacher - werft ihn in den Bau.« Die beiden Männer sprangen auf. Big John wehrte sich, als sie seine Arme packten. Er strampelte und trat, Stühle, Tabletts, Essen, selbst ein Tisch krachten zu Boden. Andere Männer sprangen auf, um ihn zu bändigen, während er brüllte wie ein frisch kastrierter Bulle. Während sie den Schreienden aus dem Raum schleiften, stieg Galle in Wrens Kehle hoch, und sie schluckte, um sich nicht zu übergeben. »Mom?« Sie schaute auf. Unter der Sonnenbräune war Daniels Gesicht gelblich blaß. »Was geht hier vor?« Sie schüttelte den Kopf. Was sollte sie sagen? Wie konnte sie ihn darauf vorbereiten? 485
Sie hätte wissen müssen, daß so etwas passieren würde. Es paßte ins Muster. Es war genau wie in der Community. Genau wie der unglückliche Jäger in Louisiana stellte Big John nun eine Bedrohung für Jeremiah Hunter dar. Big John war ein toter Mann. Und genau wie damals würde nichts mehr so sein wie vorher, wenn Hunter seine jähe und schreckliche Macht ausübte, wenn er über Leben und Tod eines anderen Menschen bestimmte, wenn er anfing, die anderen durch Angst statt durch Begeisterung zu beherrschen.
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36. Kapitel Elliot Sizemore erreichte Steve Austin zu Hause in seinem Arbeitszimmer, wo er eine Aktentasche voll Drohbriefe für Buck Leatherwood sortierte. »Sie Hurensohn«, sagte Sizemore. Austin grinste. »Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Meine Mama war keine Hure.« »Sie sind hergegangen und haben hinter meinem Rücken diese Geschichte über Hunter in die Welt gesetzt.« »Ich kann das weder dementieren noch bestätigen.« »Bastard.« »Das hatten wir schon.« »Für wen zum Teufel halten Sie sich?« brüllte Sizemore. »Ich habe Ihnen ausdrücklich gesagt…« »Schauen Sie, Sizemore. Erstens können Sie mich zwar anschreien, soviel Sie wollen, aber was wollen Sie tun? Hm? Mich rausschmeißen? Und zweitens, da Sie so besorgt um den Ruf Ihres geliebten FBI sind - diese Sorge habe ich Ihnen abgenommen. Ich stehe in keiner Verbindung mehr zum FBI, und Marlene würde ohnehin eher ins Gefängnis gehen als preiszugeben, von wem der Tip stammt.« »Ich brate mir Ihre Eier zum Abendessen, Austin! Ich werde…« Austin legte behutsam den Hörer auf die Gabel zurück. Er war nicht mehr beim FBI. Er mußte sich diese Scheiße nicht mehr anhören.
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Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens rief er Cam an. »Ich hab Sie bei Spike erwischt«, sagte er mit einem teuflischen Grinsen. »O Gott. Ich habe wie ein Idiot ausgesehen. Forrest Gump auf Steroiden.« »Ach was, so schlimm war es nicht.« »Ich würde den Kerl gerichtlich belangen, wenn ich glauben würde, daß ich gewinnen kann.« »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich hab mich ein bißchen umgehört. Die Anrufe beim Sender stehen zwei zu eins zu Ihren Gunsten.« »Tatsächlich? Wie haben Sie das herausgekriegt?« »Ich bin eben so gut.« Cam kicherte. »Danke. Ich habe mir die ganze Zeit Vorwürfe gemacht wegen dieser Sache.« »Das hab ich mir schon gedacht. Das wichtigste ist, daß sich das mit Ihrer Frau und Ihrem Sohn herumspricht. Das haben Sie erreicht, und alles andere zählt nicht.« »Ich habe mich nur so… ohnmächtig gefühlt. Wie ein totaler Schlappschwanz, der im Haus herumläuft und die Hände windet. Ich halte es nicht mehr aus. Ich muß eine Möglichkeit finden, mich einzubringen, mitzuhelfen, so gut ich kann, um sie zu finden. Ich kann mich selbst nicht mehr ertragen, wenn ich es nicht tue.« »Hören Sie. Jedesmal, wenn ich bei Ihnen zu Hause war, habe ich eine ausgeglichene, strahlende junge Dame beobachtet, die ziemlich bemerkenswerten Mut zeigt. Sie haben nicht nichts getan. Ich möchte nicht, daß Sie es so 488
sehen.« »Ich weiß nicht…« »Ich habe Familien erlebt, die in einer solchen Situation auseinandergebrochen sind. Ich habe andere Kinder, vor allem Teenager, erlebt, die Abneigung gegen das fehlende Kind empfanden, weil es die ganze Aufmerksamkeit stahl. Dann haben sie Schuldgefühle, weil sie so empfinden. Bevor man sich umsieht, spielen sie verrückt und kommen in alle möglichen Schwierigkeiten. Sie waren ein sicherer Halt für Ihr Kind und haben dafür gesorgt, daß sie ausgeglichen blieb. Irgendwie haben Sie sie wissen lassen, daß auch sie ihren Wert hat. Sie haben das unglaublich gut gemacht, Cam, wirklich.« Es gab eine beträchtliche Pause. Schließlich sagte Cam: »So habe ich es noch nie gesehen.« »Jetzt haben Sie es.« »Danke. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihre Hilfe zu schätzen weiß.« »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Sagen Sie, haben Sie den kleinen Artikel über Hunter in der Zeitung mitgekriegt?« »Ja. Er wird in die Luft gehen. Ich hoffe nur, er läßt es nicht an Wren oder Daniel aus.« »Keine Angst. Ich habe das Gefühl, daß sie nicht diejenigen sein werden, gegen die sich seine Wut richtet.« So sagte es Austin zwar zu dem besorgten Ehemann und Vater, in Wahrheit aber war er ein Risiko eingegangen mit dieser erfundenen Geschichte, ein großes Risiko. Aber wenn er die Alternativen bedachte, die sie zu diesem Zeitpunkt hatten, war das Risiko gerechtfertigt. 489
Daniel begriff nicht, was im Lager vor sich ging. Nie zuvor hatte er die anderen so erregt gesehen. Fast alle, die er kannte, waren wütend und aufgebracht gewesen, als seine Mutter weggelaufen war, aber diesmal war es schlimmer. Viel schlimmer. Als er an diesem Abend im Bett lag und zu der dunklen und kalten Decke hinaufstarrte, dachte er drüber nach. Als seine Mutter geflohen war und das FBI dieses Lager in Südtexas gestürmt hatte, waren alle vereint gewesen, verbunden in dem Bemühen, sie zurückzuholen und sich auf einen möglichen Angriff des FBI auf ihr eigenes Lager vorzubereiten. Diesmal jedoch war es anders. Die Sache mit Big John hatte die Leute gespalten. Manche fingen sofort an nachzuplappern, was Hunter gesagt hatte, und verbreiteten Gerüchte, daß Big John wahrscheinlich ein Informant des FBI war, und so Zeug. Andere, wie Daniel, konnten nicht glauben, daß Big John jemals so etwas tun würde. Wenn Big John nicht gewesen wäre, wäre Daniels Mutter vielleicht gestorben. Er glaubte keine Sekunde, daß Big John diese einsame Fahrt zur Stadt, um Penicillin zu holen, als Vorwand dafür benutzt hatte, sich mit dem FBI zu treffen. Daniel hielt das für verrückt, und er verstand nicht, warum es nicht alle so sahen. Andererseits hatten nicht alle gesehen - jedenfalls nicht aus der Nähe -, wie krank seine Mutter war. Zum Beispiel hatte niemand außer Daniel und Big John ihre vereiterten, blutigen Füße gesehen. Das heißt, Hunter hatte sie gesehen. Daniel verstand nicht, was Hunter so wütend gemacht 490
hatte. Big John hatte nur versucht, ihn davon abzuhalten, in seiner Wut loszustürmen und etwas zu tun, was er hinterher bereuen könnte. Er hatte nur Sachen in der Art gesagt, die Daniels Vater immer zu ihm sagte, wenn er - Der Gedanke ließ Daniel innehalten. Einen kurzen, überwältigenden Augenblick lang spürte er die Gegenwart seines Vaters so stark, daß er halbwegs erwartete, ihn am Fußende seines Bettes stehen zu sehen. Der Gedanke war ihm unheimlich. Er wälzte sich auf die Seite und boxte in sein Kissen, aber er schaute nicht zum Fußende des Bettes hinunter. Die Wahrheit bei der ganzen Sache war, daß Daniel seinen Vater vermißte. Er vermißte seine ruhige Stärke und seinen unaufdringlichen, gesunden Menschenverstand. In letzter Zeit waren die Leute hier halb kopflos durch die Gegend gelaufen. Sie waren alle so paranoid. Am Anfang hatte Daniel alles geglaubt, was sie ihm erzählten, über Computerchips, die man neugeborenen Babys einpflanzte, damit die Behörden jeden Schritt von ihnen verfolgen konnten, während sie aufwuchsen. Von raffinierten Maschinen, mit denen sie feststellen konnten, wieviel Geld jemand besaß, indem sie einfach nur am Haus vorbeifuhren. Vom bevorstehenden Angriff der UN auf das Land, wie sie in riesigen, schwarzen Hubschraubern kommen und alle zusammentreiben würden, wie sie ihnen alle Waffen wegnehmen und die Leute in Arbeitslager stecken würden. Er hatte alles geglaubt. Bis zu Big John. Das konnte er nicht glauben. Was Daniel wirklich angst machte, war, wie schnell alle, oder jedenfalls die meisten, bereitwillig alles zu glauben 491
schienen, was Hunter sagte oder was sie voneinander hörten. Monatelang hatten sie mit Big John gelebt und gearbeitet und waren am Schießstand von ihm ausgebildet worden - schon lange, bevor Daniel hier lebte -, und doch weigerten sie sich, etwas in Frage zu stellen, von dem sie in ihrem Herzen wußten, daß es falsch war. Warum nur? Er konnte es nicht begreifen. Nur ein paar von den Männern der Strike Force, Daniel selbst und vielleicht seine Mutter hatten Angst um Big John. Sie machten sich Sorgen, daß die Gerüchte außer Kontrolle geraten könnten. Daniel war sich nicht sicher, was passieren würde, wenn sie es taten. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er verbrachte eine unruhige, von Träumen geplagte Nacht und wachte lange vor Tagesanbruch auf. Als er nicht mehr einschlafen konnte, sich aber immer noch erschöpft fühlte, beschloß er, eine Dusche zu nehmen. Draußen war es eisig kalt, und der Wind heulte von den Hügeln herunter wie ein verwundeter Kojote. Daniel hängte sich seine Jacke über die Schultern, packte einen frischen Tarnanzug, Unterwäsche und Socken zusammen und trat hinaus in die stürmische Dunkelheit. Auf dem Pfad von der Männerbaracke zur Dusche kam er an dem kleinen Gebäude vorbei, in dem er und seine Mutter ihre ersten Nächte verbracht hatten. Als er daran vorbeieilte, trug der schneidende Wind ein Geräusch zu ihm. Er blieb stehen und griff unter seine Jacke, um seinen Halfter aufzumachen. Er lauschte mit klopfendem Herzen. Das Geräusch kam aus dem Gebäude. Daniel zog seine 45er aus dem Halfter, ging näher heran 492
und neigte den Kopf, damit er im Wind besser hören konnte. Er schauderte. Es war das Schluchzen eines Mannes. Kältewellen krochen unter Daniels Jacke, sie krochen ihm den Rücken hinauf und verursachten eine Gänsehaut. Er versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Das Schluchzen hörte augenblicklich auf. Am ganzen Körper zitternd sagte er: »H-hallo?« »Daniel?« Die Muskeln in Daniels Nacken entspannten sich, er steckte die 45er in den Halfter zurück. »Big John? Ich wußte nicht, daß du hier drinnen bist.« »Du solltest nicht hier sein, Junge. Du könntest Ärger bekommen. Sie werden glauben, du versuchst, mich herauszuholen oder so was.« »Ich würde es tun, wenn ich könnte«, sagte Daniel tapfer. »Das weiß ich, Junge, aber lauf lieber weiter.« »Big John? Was werden sie mit dir machen?« Daniel wartete. »Ich weiß es nicht genau, Junge, aber was immer es ist du mußt mir etwas versprechen.« »Natürlich, Big John. Was?« »Du mußt mir versprechen, daß du dich nicht einmischst. Versuch sie nicht aufzuhalten, egal, was sie tun.« »Ich verstehe nicht.« 493
»Versprich es mir.« Daniel zögerte. »Okay.« Er fühlte sich äußerst unbehaglich. »Noch etwas.« Daniel nickte, ohne daran zu denken, daß Big John ihn nicht sehen konnte. »Paß auf deine Mutter auf. Okay? Bleib in ihrer Nähe und tu, was sie sagt. Okay?« »Ja, Sir«, sagte Daniel und kämpfte mit dem plötzlichen Drang zu weinen. »Was tust du hier, du Würstchen?« Daniel fuhr zusammen und schnellte von der Tür weg. Preacher stand genau vor ihm und richtete eine AK-47 auf seinen Bauch. »N-nichts. Ich habe nur mit ihm geredet.« »Mach bloß, daß du wegkommst, bevor ich dir die Rübe wegpuste.« Das ließ sich Daniel nicht zweimal sagen. Er rannte den ganzen Weg bis zur Dusche. Aber wie lange er auch unter dem heißen Wasser stand, er konnte anscheinend nicht aufhören zu zittern. Bis er sich rasiert und angezogen hatte, war eine drohend graue Dämmerung über die silberüberzogenen Hügel gekrochen. Daniel eilte zur Messe hinüber, die man zu einer Art Gerichtssaal umgebaut hatte. Die Tische waren zusammengeklappt und lehnten an der Wand, und alle Stühle waren in Reihen mit Zwischengängen angeordnet. Der Raum füllte sich schnell. Es gab Kaffee, aber kein Frühstück. Mit knurrendem Magen schenkte sich Daniel 494
eine Tasse ein, gab großzügig Sahne und Zucker dazu und ging seine Mutter suchen. Er fand sie auf einem Stuhl in der letzten Reihe, direkt an der Wand kauernd, die Lippen fest zusammengepreßt, purpurne Ringe unter den Augen. Als er sich neben sie setzte, schien sich ihr Gesicht aufzuhellen. Das Wissen darum, wie sehr sie ihn liebte, machte Daniel manchmal traurig, denn ihm war klar, daß er normalerweise ein ziemlich beschissener Sohn war. Er streckte die Hand aus und tätschelte unbeholfen ihre Schulter. Sie zog die Schulter hoch und preßte seine Hand kurz gegen ihre Wange. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl von Verlust bei dieser Geste, ohne zu wissen, warum. Hier, bei der Armageddon-Armee hatte Daniel zum ersten Mal im Leben das Gefühl gehabt, tatsächlich irgendwo hinzugehören. Sein ganzes Leben hatte er sich als Außenseiter gefühlt, aber hier war es, als hätten sich alle Außenseiter dieser Welt versammelt, aus einem gemeinsamen Grund und zu einem gemeinsamen Zweck. Manche Dinge waren auch aufregend, etwa, mit der Alpha/Omega Strike Force zusammenzusein. Ihnen bei ihren Kriegsgeschichten zuzuhören. Zu lauschen, wenn sie über Spezialeinsätze sprachen. Mehr als alles in der Welt wollte er eines Tages bei der Strike Force sein. Und Hunter? Hunter war fraglos der coolste Kumpel, den Daniel je gekannt hatte, ohne Ausnahme. Er war ein Kriegsheld, und er konnte einfach alles. Manchmal gab er Daniel das Gefühl, er selbst könne auch alles schaffen. Aber dieses Tribunal - was immer zum Teufel das sein 495
sollte ergab für Daniel einfach keinen Sinn. Er verstand beim besten Willen nicht, wie Hunter diese Dinge über Big John hatte sagen können. Und ihn ganz allein in der Kälte und Dunkelheit in diesen, diesen Bau zu werfen und eine bewaffnete Wache aufzustellen. Was hatte das alles zu bedeuten? Daniel war schrecklich verwirrt. Er schaute zu seiner Mutter hinüber, aber ihr Gesicht war ausdruckslos. Es kam ihm in den Sinn, daß ihr Gesicht in letzter Zeit fast immer ausdruckslos war. Die einzigen Gelegenheiten, bei denen er sie lächeln sah, waren, wenn er mit ihr sprach. Ansonsten zeigte ihr Gesicht normalerweise überhaupt keine Regung. Als er sich in Erinnerung rief, wie sie gewesen war, bevor sie in dieses Lager gekommen waren, fiel ihm erst auf, wie sonderbar das war. Während er noch darüber nachdachte, fing das Tribunal an. Ein Cafeteriatisch stand längsseitig vor der Versammlung. Sieben Stühle waren in einem Halbkreis, mit Blick zu den Zuhörern, um ihn herum aufgestellt. Hunter saß in der Mitte. Ein Stuhl stand schräg zum Tisch. Die Tür ging auf, und zwei schwerbewaffnete Mitglieder der Strike Force brachten Big John herein, seine Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Sie führten ihn zu dem Stuhl, und er setzte sich, immer noch in Handschellen. Er trug seine verspiegelte Sonnenbrille. Die Wächter nahmen neben Hunter und den anderen Männern der Strike Force Platz. Hunter schlug mit einem Holzhammer auf den Tisch, wie ein Richter, und alle Anwesenden wurden still und aufmerksam. »Das Verfahren ist hiermit eröffnet. Preacher wird als Schriftführer fungieren. Die Anklage gegen Big John lautet wie folgt: Hochverrat, Verschwörung mit dem 496
Feind, Spionageabwehr gegen die eigenen Truppen, vorsätzliche Gefährdung der Mitglieder dieses Lagers für seinen persönlichen, finanziellen Vorteil. Was hast du zu dieser Anklage vorzubringen, John?« »Ich habe vorzubringen, daß du garantiert verrückt bist, du Arschloch. Sie hätten dich nie aus dem Gefängnis lassen sollen.« »Gib zu Protokoll, daß John Fritz, auch bekannt als Big John, seine Verteidigung selbst wahrnimmt.« »Nimmst du das hier wahr, du Hurensohn?« Daniel reckte den Hals, um einen Blick auf Big John zu werfen. Todsicher zeigte er Hunter hinter dem Rücken den Finger. »Meine Herren Richter, ich denke, wir können an diesem Punkt feststellen, daß John keine Reue für seine Verbrechen zeigt.« »Wenn das Gericht erlaubt«, sagte Kicker. »Du darfst sprechen.« »Haben wir Beweise für diese Behauptungen?« »Die haben wir.« Daniels Blick sprang gerade rechtzeitig zu Big John hinüber, um zu sehen, wie dem großen Mann das Kinn herunterklappte. Er sah seine Mutter an. Sie starrte auf die Hände in ihrem Schoß. Hunter stand auf und holte eine Aktentasche hervor, die er öffnete. »Gib ein Adreßbuch zu Protokoll, das nach seiner Inhaftierung in seinem Spind konfisziert wurde.« Er 497
hielt ein kleines, billiges Büchlein hoch. Es war schwarz. »Darin befinden sich die Namen, Adressen und Telefonnummern von bekannten FBI-Agenten«, sagte er, wobei er die Stimme dramatisch hob. »Du verlogener Schwanzlutscher!« schrie Big John und sprang auf. »Du willst mich reinlegen!« Zwei Alpha/Omegas standen auf, jeder packte einen von Johns gewaltigen Armen. Sie kämpften ihn wieder auf den Stuhl nieder, dann standen sie keuchend über ihm. Big Johns Gesicht war krebsrot - bis hinauf zur schweißnassen Kuppel seines Schädels. »Kicker?« sagte Hunter laut und betont. »Würdest du den ersten Namen in diesem Buch vorlesen?« Immer noch stehend und ohne die Augen von dem empörten Big John zu wenden, gab er das Buch weiter. Kicker nahm es und blätterte bei A. Nachdem er den ersten Eintrag studiert hatte, wechselte sein Gesichtsausdruck von Ungläubigkeit zu Erstaunen. Er blickte in die Menge. »Steve Austin«, sagte er. »Hier steht eindeutig Steve Austin.« Ein Tumult brach aus. Alle Anwesenden wußten, wer Steve Austin ist. Dafür hatte Hunter gesorgt. »Lügner!« brüllte Big John. »Du verfluchter Lügner!« Er strampelte heftig, um von seinem Stuhl hochzukommen. Der Stuhl kippte um und krachte auf den Boden. »Mom?« Daniel drehte sich entsetzt und verwirrt zu seiner Mutter um. Sie beobachtete die ganze Sache mit ihrem üblichen ausdruckslosen Gesicht. Was war los mit ihr? »Mom? Stimmt das?« 498
Fast ohne die Lippen zu bewegen, murmelte sie: »Psst. Sag nichts.« Was zum Teufel sollte das wieder bedeuten? Wenn er Big John nicht dieses Versprechen gegeben hätte, dann… dann… er wußte nicht genau, was er tun würde. Warum mußte er dieses blöde Versprechen geben? Aber seine Mutter hatte gesagt, er solle den Mund halten. Er hatte Big John versprochen, er würde alles tun, was sie sagte, also hielt er eben seinen Mund, verdammt noch mal. Er verschränkte die Arme vor der Brust, sank auf seinen Stuhl zurück und schaute zu. »Preacher?« sagte Hunter. »Würdest du bezeugen, daß es sich tatsächlich um Big Johns Adreßbuch handelt?« Preacher nahm das Buch von Kicker und blätterte es durch. »Es ist seins, ganz bestimmt«, sagte er. »Er hat es mir gezeigt, gleich als wir hierherkamen. Er hat ein System von Sternen für Mädchen, die… Ich wollte sagen, es ist seins.« Ohne den Blick von Big John zu wenden, sagte Hunter: »Gib es bitte herum, damit alle im Tribunal es uneingeschränkt prüfen können.« Während alle Mitglieder der Strike Force das Adreßbuch studierten und darin blätterten, wurde es so still im Raum, daß man nur noch das rauhe Keuchen von Big John hörte, den sie wieder sicher auf seinen Stuhl gesetzt hatten, eine 45er an der Kehle. Als alle das Buch untersucht hatten, sagte Hunter: »So. Wenn du dich zivilisiert benimmst und auf deine Ausdrucks weise achtest, John, da auch Damen bei diesem Verfahren anwesend sind, gebe ich dir noch einmal Gelegenheit, zu deiner Verteidigung zu sprechen. Was 499
sagst du?« Big Johns Brust hob und senkte sich, seine Kiefermuskeln arbeiteten, und die Venen an seinen Armen traten hervor, aber seine Stimme war anders, als er nun sprach. Sie war klagend, beinahe flehend. »Hunter, Mann, es stimmt, das ist mein Adreßbuch. Aber ich habe keine Adressen von FBI-Beamten hineingeschrieben - ich schwöre bei Gott, daß ich es nicht getan habe! Ich schwöre es bei meinem Leben! Du mußt mir glauben, Mann. Ich würde euch nie verraten. Kein Geld der Welt könnte mich je zu einem Verräter machen. Das mußt du doch wissen, Mann. Wir haben zusammen gesessen, weißt du noch? Zellengenossen. Du hast nie gesehen, daß ich dort jemanden verpfiffen hätte, oder?« »Natürlich nicht, John. Deshalb habe ich dich auch eingeladen, dich der Armageddon-Armee anzuschließen. Aber Menschen ändern sich. Sie werden korrupt. Die Schweine vom FBI haben unbegrenzte Mittel. Sie blechen ungezählte Steuermillionen für alle Verräter, die bereit sind, zu reden. Ich glaube, sie haben sich an dich herangemacht. Es macht mich krank.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich…« Hunter hob eine Hand. »Du hast gesagt, was du zu sagen hattest. Jetzt ist das Tribunal an der Reihe. Männer, ich glaube, es ist Zeit, ein Urteil zu fällen. Preacher, deine Meinung?« »Schuldig.« »Kicker?« »Schuldig.« 500
Und so weiter, die ganze Reihe entlang. Daniel schaute hilflos zu, wie sich Big Johns engste Freunde einer nach dem andern von ihm abwandten. Daniel war der Sohn eines Rechtsanwalts, eines Mannes, der jeden Tag Burschen wie Big John verteidigte, und wenn Daniel etwas sicher wußte, dann, daß dies hier kein Gerichtsverfahren war und Hunter kein Richter. Zum ersten Mal in seinem Leben glaubte Daniel seinen Vater zu verstehen und warum er tat, was er tat. Wenn Dad hier wäre, dachte er verzweifelt, würden sie damit nie durchkommen. Aber sein Vater war nicht da. Sein Vater würde nie an einem Verfahren wie diesem hier mitwirken, weil das hier nicht einmal ein richtiger Prozeß war. Daniel beugte sich sehr nahe zu seiner Mutter und flüsterte: »Mom, das hier ist ein Femeprozeß. Er ist nicht echt. Können sie das machen? Ich meine, Big John ist immerhin Amerikaner, oder?« Mit einem scharfen »Psst« packte ihn seine Mutter am Arm und drückte ihn, bis er leise aufjaulte. Er verstand die Botschaft und sagte nichts mehr. Plötzlich war der Urteilsspruch da, und er war einstimmig. Schuldig. Immer noch stehend verkündete Hunter dem Publikum den Schuldspruch. »Es schmerzt mich sehr, dieses Urteil verkünden zu müssen. Wie alle hier im Raum, habe auch ich diesen Mann geliebt. Aber ich denke, wir sind uns alle einig, daß Verrat mit dem vollen Ausmaß des Gesetzes bestrafbar sein muß, denn weniger hinzunehmen könnte in diesem Fall zum Tod aller führen, die heute hier sitzen.« 501
Daniels Blick brannte sich in die Gesichter der Alpha/Omegas. Nicht einer von ihnen sah Big John an. Hunter schlug mit dem Hammer auf den Cafeteriatisch. Es war ein Geräusch, das Daniel in seinen Alpträumen bis ans Lebensende verfolgen sollte. Hunter sagte: »Tod durch Erschießen.« »Neiiin!« Irgendwie war Daniel plötzlich auf den Beinen. »Das kannst du nicht machen! Nicht mit Big John!« Jede Silbe war von Seelenqual durchdrungen. Ein Lichtreflex fiel ihm ins Auge, und er schaute zu Big John hinüber. Der war mit seinem Stuhl herumgeschwenkt und sah geradewegs zu Daniel. Seine Brille reflektierte die verurteilenden Blicke der Leute, die ihn anstarrten. Daniel erinnerte sich an das Versprechen, das er dem schweren Mann vor Morgengrauen gegeben hatte. Er setzte sich und sagte nichts mehr. Nach einem finsteren Blick in Daniels Richtung sagte Hunter: »Ich werde diesen Ausbruch dieses eine Mal entschuldigen, weil Dan noch jung ist und es nicht besser weiß. Ich vertraue darauf, daß seine Mutter ihn im Zaume hält.« Alles weitere geschah in einem surrealen Zeitmaß superschnelle Zeitlupe, falls so etwas existiert. Bevor Daniel Zeit hatte, nachzudenken oder gar zu reagieren, hatten sie Big John zum Schießstand - ausgerechnet geführt und an einen der Pappkameraden gebunden. 502
Obwohl Massenversammlungen im Freien normalerweise verboten waren, liefen diesmal alle unterwürfig hinter der Strike Force her, als Hunter sie zum Schießstand führte und Befehle brüllte wie ein Feldwebel. Daniel konnte nicht glauben, was da geschah. Es war zu unwirklich. Er dachte die ganze Zeit, es würde noch etwas passieren, das allem ein Ende setzte, aber nichts passierte. Niemand sagte etwas, nicht einmal seine Mutter. Wäre sein Versprechen an Big John nicht gewesen, er hätte irgend etwas getan - sich vor seinen Freund geworfen, was immer -, um diesen Wahnsinn zu stoppen. Eine Weile glaubte er inbrünstig, daß seine Mutter Hunter aufhalten würde, aber sie versuchte es nicht einmal. Daniel wußte nicht, warum Big John ihm das Versprechen abgenommen hatte, seiner Mutter zu gehorchen; wie konnte er sie überhaupt noch respektieren, wenn sie gewillt schien, tatenlos zuzusehen, wie ein guter Mann für nichts starb? Sie nahmen Big John die Sonnenbrille ab und wollten ihm die Augen verbinden, aber er ließ sie nicht. »Ich möchte euch Hurensöhnen allen in die Augen schauen«, sagte er. »Und ich hoffe bei Gott, daß ihr es nie mehr vergeßt.« Dann spuckte er auf den Boden. Hunter war im Begriff, den Alpha/Omegas das Kommando zu geben. »Sieh nicht hin«, murmelte Daniels Mutter und zupfte an seinem Ärmel, aber Daniel konnte nicht anders; er hoffte verzweifelt, daß sie vielleicht danebenschossen oder so; daß Hunter vielleicht Platzpatronen in die Pistolen getan hatte, weil er Big John nur einen bösen Schreck einjagen wollte; daß er vielleicht in letzter Sekunde Halt schreien würde; irgend etwas. 503
Aber am Ende schossen alle Kugeln aus allen Pistolen, und sie fanden alle ihr Ziel, wie es ihnen der schwere Mann so gut beigebracht hatte. Es klang wie ein Schuß. Und als das Echo von den kahlen Hügeln zurückhallte, sackte Big John tot an seinem Pfosten zu Boden. »Begrabt ihn«, befahl Hunter der Strike Force, während er sich zum Gehen wandte. »Irgendwo, wo man ihn nicht findet, und tief genug, damit ihn die Kojoten nicht ausgraben.«
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37. Kapitel In der Nacht nach Big Johns Ermordung erschien Wrens Großmutter, Ahw’usti, ihr im Traum. Sie saßen in Ahw’ustis Haus in Oklahoma und bastelten Puppen aus Büffelgras. Wren liebte es zwar, Ahw’ustis Geschichten zu lauschen, sie haßte es jedoch, Puppen aus Büffelgras zu machen. Die Arbeit war langweilig und ermüdend, und Wren fand die Puppen albern. Ahw’usti wollte unbedingt, daß Wren diese Kunst lernte, denn sie fürchtete, sie könnte mit den älteren Cherokee aussterben. »Es ist wichtig, daß du die alten Bräuche lernst«, erklärte Ahw’usti ihrer Enkeltochter. »Ohne die alten Bräuche stirbt unser Volk.« »Ach, Ahw’usti«, sagte Wren, »das Volk wird nicht sterben, nur weil niemand mehr diese albernen Puppen macht.« »Aber ein Teil von ihm wird sterben. Es ist derselbe Teil, der sich danach sehnt, unter den Sternen zum Schlag der Trommel zu tanzen.« »Ich möchte nicht vom Tanzen reden«, brauste Wren auf. »Ich habe das Tanzen gründlich satt.« Ahw’usti war entsetzt. »Wie kannst du vom Lied der Schildkröte genug haben?« rief sie aus. Sie bezog sich auf die Sitte der Cherokee-Tänzerinnen, sich mit Kieseln gefüllte Schildkrötenpanzer an die Beine zu schnallen, wegen der rhythmischen Geräusche, die sie machten, wenn die Frauen tanzten, eins-zwei, eins-zwei, während schwebende Funken die Zuschauer hypnotisierten und der 505
Rauch vom Feuer sich geheimnisvoll in den Nachthimmel kräuselte. Wren schmiß die Puppe hin, an der sie gerade arbeitete. »Ich habe genug von alldem! Ich habe getanzt und getanzt, und ich möchte einfach nur aufhören!« Sie sprang auf und ging mit großen Schritten durch den Raum, um hinauszugehen. »Una tse lidv-u nato tivhi!« schrie Ahw’usti. »Du meinst, du bist allein, weil niemand sonst tanzt? Das stimmt nicht. Una tse lidv-u nato tivhi - wir müssen mit unseren Köpfen denken, nicht mit unseren Füßen!« Wren blieb stehen und schaute Ahw’usti an. »Ich kann den Kojoten nicht austanzen. Er hat große Macht, und ich bin nur eine Frau.« Ahw’usti schüttelte den Kopf. »Seine Macht ist nigvnhdiha.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er legt sie jeden Tag mit seinen Pistolen an. Deine Kraft ist adanvto; sie fließt aus dir heraus wie ein großer uweyv. Wer kann den Fluß aufhalten?« »Er kann es«, sagte Wren und ließ den Kopf unglücklich hängen. »Das stimmt nicht!« beharrte Ahw’usti. »Wie kannst du diese Lügen glauben? Du siehst nur deine große Angst. Es gibt einen Grund für diese große Angst. Sie kommt daher, daß du in der Nähe eines schrecklichen usonvi bist. Aber es ist nicht dieser böse Feind, der dir angst macht.« Sie faltete die Hände im Schoß, als wäre dies alles, was zu diesem Thema zu sagen war. »Er ist gadaha!« fauchte Wren. »Ich vermag mich von seinem Schmutz nicht reinzuwaschen.« Sie schauderte. 506
»Wenn du seinen Haß annimmst, wirst du selbst schmutzig«, sagte die alte Frau ruhig. Wren schaute Ahw’usti blinzelnd an. »Wenn du ihn bekämpfen willst, mußt du die innere Ruhe finden, um anständig in Wahrheit zu leben«, sagte sie und hielt beide Handflächen nach oben. »Versuche nicht, mit seinen Lügen zu leben; er legt sie mit seinen Pistolen an.« Ahw’usti sah Wren mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich lebe nicht mit seinen Lügen!« schrie Wren abwehrend. »Jeden Tag lege ich die adutivtodi an!« Sie bezog sich auf das stoische Gesicht der Cherokee, die Maske, die sie trugen, um in Zeiten des Schmerzes ihre Gefühle zu verbergen. »Und er wird nicht über mich herrschen. Er wird niemals über mich herrschen!« »Du lebst mit seinem Zorn«, sagte Ahw’usti, ohne auf Wrens Hysterie zu achten. »Diese schreckliche Wut kann eine große Last auf deiner Seele sein, meine Kleine. Dieser Zorn kann deine agowadvdi vernebeln, so daß du nicht mehr siehst, welchen Weg du gehen sollst. Dann kann seine angenommene Macht dich beherrschen, verstehst du das nicht? Oder hat dein eigener Zorn dich blind für die Wahrheit gemacht?« »Es kümmert mich nicht mehr!« heulte Wren. »Du bist blind, alte Frau! Ich bin müde! Ich bin so müde!« Wren begann zu laufen. Aus irgendeinem Grund hatte Ahw’ustis Haus viele, viele Zimmer und einen sehr langen Flur. Obwohl Wren lief und lief, schien sie nicht aus dem Haus ihrer Großmutter herauszukommen. Schließlich stieß sie eine Tür auf, nur um sich im selben Raum wie zuvor 507
mit ihrer Großmutter wiederzufinden. Aber als sie sich umdrehte und hinausstürzen wollte, befahl ihre Großmutter: »Gatogv!« Bleib stehen. Wren gehorchte. »Wenn du über diesen bösen Feind triumphieren willst, mußt du stillstehen. Erlaube dem Großen Geist in der Stille zu dir zu sprechen. Du wirst diesen Kampf gegen das Böse nicht mit deiner Kraft gewinnen, sondern mit deinem Verstand.« »Er ist böse«, sagte Wren kraftlos. »Er plant den Tod.« Ahw’usti schüttelte den Kopf. »Nicht das Böse ist dein Feind, mein Kind. Es ist deine eigene Furcht! Erst wenn du dich diesem Feind, dem Feind in dir, stellst, magst du ein Triumphgeschrei erheben.« Dann machte Wrens Großmutter etwas Merkwürdiges. Sie sprang auf wie ein junges Mädchen und begann im Kreis zu tanzen und zu singen: »Tlage situn gali sgi sida ha; Ha nia lil! lil! Ha nia lil! lil!« Am Rande des Feldes tanze ich. »Ha nia lil! lil! Ha nia lil! lil!« »Ha nia! Wach auf, wach auf, Lissie!« Jemand schüttelte sie. Sie wehrte sich eine Weile, aber das Schütteln hörte nicht auf. Als käme sie aus großer Tiefe, stieg sie an die Oberfläche und öffnete langsam die Augen. Der Schatten von Jeremiah Hunter ragte über ihr auf. »Herrgott noch mal«, sagte er gereizt. »Du hast mich 508
geweckt, weil du im Schlaf wirres Zeug geredet hast.« Er ließ sich zurück ins Kissen fallen. »Sei still. Ich brauche meinen Schlaf.« Für Wren würde es in dieser Nacht jedoch keinen Schlaf mehr geben. Als Hunter sein Schnarchen wiederaufgenommen hatte, schlüpfte sie aus dem Bett und sperrte sich im Bad ein - der einzige Ort, wo sie allein und einigermaßen sicher sein konnte, daß er nicht aufwachte, mißtrauisch wurde und nachsehen kam, was sie trieb. Ihr Geist war kristallklar, fast übernatürlich klar. Ihre Großmutter würde sagen, der stehende Bach war einem frischen, klar fließenden Strom begegnet. Tod zu Leben. Big Johns Tod hatte Wren mehr bestürzt und mit einem größeren Gefühl des Verlustes zurückgelassen, als sie für möglich gehalten hätte. Noch mehr entkräftete sie das Entsetzen, das sie auf Daniels Gesicht gesehen hatte - der Schreck, die Verzweiflung, die fürchterliche Enttäuschung, als sie nichts unternahm, um den Tod seines Freundes zu verhindern. Was ihr junger Sohn nicht wußte - nicht wissen konnte -, war, daß die Armageddon-Armee am Beginn eines neuen Zeitabschnittes stand. Wenn die Pandorabüchse des Mißtrauens erst einmal geöffnet war, würde keiner mehr sicher sein. Und nachdem Hunter seinen völligen Mangel an Achtung für das menschliche Leben unter Beweis gestellt hatte, wagte niemand mehr, ihn herauszufordern. Überwältigt von Gefühlen, taub von ihrer eigenen Ohnmacht, war Wren durch den Rest des Tages getaumelt, mit keinem anderen Wunsch als zu schlafen. 509
Nun glaubte sie zu wissen, wieso. Trotz der Gefühlsregungen, die immer noch in ihrem Herzen aufund abebbten, war ihr Verstand klar, rein und stark. Im Morgengrauen, vierundzwanzig Stunden nach dem Todesurteil gegen Big John, hatte Wren einen handfesten Plan. Im Laufe der nächsten Wochen fanden Veränderungen im Lager statt, manche subtil, andere weniger subtil. Das Fehlen von Big John war natürlich die einschneidendste. Niemand sonst im Lager hatte auch nur annähernd sein Fachwissen über Schußwaffen; wenn nun bei einer Waffe ein Problem auftauchte, das einer Reparatur bedurfte, wurde sie normalerweise mit all den anderen nicht reparierten Waffen in der Rüstungskammer liegengelassen und durch eine funktionierende ersetzt. Kicker war nun für das Waffenlager zuständig, aber er hatte wenig Interesse dafür und war oft nachlässig. Wren nutzte seine Nachlässigkeit zu ihrem ersten Schachzug aus; sie stahl die Glock 19, die Big John für sie beiseite gelegt hatte. Später holte sie sich einen Spezialhalfter dafür und ein andermal eine Schachtel Munition und einen Ladestreifen zur Reserve. Es erwies sich als leichter, zu stehlen, was sie brauchte, als es anschließend zu verstecken. Sie stand zwar nicht mehr unter Bewachung und wurde nicht einmal mehr sehr genau beobachtet, dennoch war das Lager kein Ort, an dem es eine Privatsphäre gab. Das beste Versteck, das sie zustande brachte, war eine Aushöhlung unter einem großen Stein im Felsengarten; die Glock hatte sie in Plastikfolie gepackt. Es war schwerlich wetterfest, aber zum Glück für Wren war die Glock als besonders witterungsunempfindlich bekannt, 510
und Regen war in dieser rauhen Gegend ohnehin nur selten ein Problem. Das Fehlen von Big John hatte noch andere, weniger sichtbare, indirekte Folgen, die allesamt für Wren nicht überraschend kamen. Was die einfachen Mitglieder an idealistischer Unschuld gehabt haben mochten, war mit Big John gestorben. Angst und Mißtrauen - ohnehin ein Kennzeichen der Gruppe - wurden nun tödlich. Die Gemütsruhe, mit der Hunter ein geschätztes Mitglied der Strike Force ins Jenseits befördert hatte, diente ein für allemal als Warnung, daß jeder der nächste sein konnte. Deshalb wagte es niemand mehr, Hunter zu widersprechen oder sonst irgendwie die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nicht alle in der Armageddon-Armee waren so schnell in der Verurteilung von Big John gewesen wie die Strike Force, und manchen von ihnen war insgeheim noch immer schwindlig davon. Aber die ›Armee‹ bestand ja auch nicht nur aus hartgesottenen Sträflingen, wie es für eine Mitgliedschaft in der Elite der Alpha/Omegas Vorbedingung gewesen zu sein schien. Wren vermutete, daß Hunter diesen gesamten inneren Zirkel noch im Gefängnis rekrutiert hatte. Infolgedessen hatten sie eine sogar noch gesündere Furcht vor den Konsequenzen einer Verhaftung, weniger Achtung vor dem menschlichen Leben, und - was am wichtigsten war - sie waren habgierig, sehr habgierig. Die meisten Mitglieder der Strike Force machten des Geldes wegen bei der ganzen Sache mit, wie Wren beobachtet hatte. Zwar traf es auch zu, daß sie Hunters paranoider Philosophie anhingen, der wahre Grund aber, warum sie 511
sich mit ihm abfanden, war der, daß sie ihren Schnitt machen wollten. Und wie die meisten Kriminellen waren sie süchtig nach dem Nervenkitzel, den Verbrechen ihnen verschafften, und nichts war spannender als der letzte Große Raubzug. Jeder wahre Verbrecher, hatte Wren herausgefunden, lebte für den Großen Raubzug. Es war ihre alles verzehrende Phantasie. Was Hunter anging, war sein Verhalten ebenso voraussagbar; Wrens Déjà-vu-Erlebnisse waren manchmal beinahe unheimlich. Als er sich immer mehr mit der Planung des Verbrechens befaßte, die Einzelheiten endlos mit seinem Team besprach, an Karten und Plänen, Kalendern und Uhren arbeitete, probte und so weiter, begann Hunters Benehmen in einige vertraute Muster zu passen. Der Mord an Big John war der Höhepunkt des ersten Verhaltensmusters: Hunter sah jede Kritik an seinem Plan als unmittelbare Bedrohung seiner Macht an. Deshalb hatte Hunter nach Big Johns Tod alle Freiheit für seine Pläne, ohne daß sie ihm jemand über den Haufen warf, indem er auf Schwächen oder Fehler hinwies. Als dann der Plan konkretere Formen annahm, bemerkte Wren, wie das nächste Element einsetzte - Hunters absoluter, ungebremster Optimismus, daß sie Erfolg haben, damit durchkommen und zu größeren und besseren Verbrechen weitergehen würden. Es war ein Rausch, der so süchtig machte wie jede Droge, und er war ansteckend. Das ganze Team wurde mit jedem Tag zuversichtlicher. Außer Wren natürlich. Andererseits hatte sie ihre eigenen Sorgen. 512
Zum Glück für sie begann sich ein anderer Aspekt von Hunters Wesen zu manifestieren. Während er sich mehr und mehr mit seinem Plan befaßte, verlor er nach und nach jedes Interesse an Sex. Die Erleichterung darüber, aus einer Lage befreit zu sein, die auf tägliche Vergewaltigung hinausgelaufen war, gab Wren die Freiheit, sich voll und ganz auf ihren eigenen Plan zu konzentrieren. Anders als Hunter quälte sie die Möglichkeit des Scheiterns. Am meisten machte Wren in diesen Tagen nach Big Johns Tod jedoch die Auswirkungen auf ihren Sohn zu schaffen. Daniel zog sich mürrisch und schweigsam in sich selbst zurück, wo weder Wren noch sonst jemand ihn erreichen konnte. Mehr als alles sehnte sie sich danach, den Jungen zu trösten. Sie wußte, daß die Dinge, die er an jenem Tag gesehen hatte, das traumatischste Ereignis seines Lebens waren. Sie wußte, er mußte darüber reden, mußte es mit jemand verarbeiten, dem an ihm lag. Sie sorgte sich täglich um die langfristige seelische Stabilität ihres Sohnes, aber sie konnte nichts tun. Sie konnte einfach nicht riskieren, daß an diesem Punkt etwas schiefging. Zu viele Menschenleben hingen von ihr ab, und Daniels, so kostbar es auch war, war nur eins davon. So erwachte Wren also jeden Tag in Hunters Bett, machte Hunter das Frühstück und half ihm bei seinem Plan, das Leatherwood Building in die Luft zu sprengen, und jeden Tag legte sie ihr adutivtodi an, ihre Maske. Niemand, der in ihr Gesicht blickte, konnte in ihre Seele schauen und die bittere Wahrheit lesen, die dort wohnte. »Okay, dann hört mal her, Männer«, sagte Wren. »Ich 513
arbeite jetzt seit mehreren Tagen mit diesen Sprengstoffen.« Sie stand neben dem Overheadprojektor im Fitneßraum. Die Strike Force, einschließlich Hunter, hatte sich auf den Matten vor ihr verteilt. Sie hielt etwas in die Höhe, das an ein Stück braunes Vinyl erinnerte. »Dieses Flex-X ist phantastisch«, sagte sie. »Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen. Ursprünglich hatte ich vor, eine Aktentasche damit zu beziehen und sie irgendwo in der zweiten Reihe abzustellen. Manchmal läßt jemand nach einem Seminar seine Aktentasche stehen.« »Gib es herum«, sagte Hunter. »Kann es explodieren?« Kicker krümmte sich förmlich bei dem Gedanken. »Nicht ohne Zünder.« Sie reichte Hunter das Material, der es untersuchte. »Aber soviel ich weiß, hat einmal ein Mafiaboß eine kleine Überraschung erlebt, als er mit seinem neu gepolsterten Wagen fahren wollte«, fügte sie an. Alle Anwesenden brachen in Gelächter und Freudenschreie aus. Wren grinste durchtrieben. »Jedenfalls habe ich diesen Plan aus mehreren Gründen verworfen. Erstens ist Steve Austin zu gerissen, um etwas so Offensichtliches wie eine Aktentasche zu übersehen. Zweitens habe ich nicht die Absicht, aus der Sache ein Selbstmordkommando zu machen.« Hunter kicherte, zwinkerte ihr zu und reichte das Flex-X an Preacher weiter. »Und drittens habe ich einfach nicht das Werkzeug hier, um eine Aktentasche so zu beziehen, daß es professionell aussieht. Ich habe es versucht. Es sah aus wie eins von Daniels Technikprojekten in der dritten Klasse.« 514
»Und was machen wir dann damit?« fragte Hunter. »Das Zeug ist schweineteuer, und es ist unglaublich, was ich alles anstellen mußte, um es in die Finger zu kriegen.« »Keine Angst. Wir heben es auf und warten einfach, bis irgendwann der richtige Moment dafür kommt. Man kann nie wissen.« Hunter stützte sich auf die Hände und nickte zustimmend. Wren fuhr fort. »Okay. C-4 ist zweifellos ein starkes Zeug, aber das Gute an Semtex-H ist, daß die Formel RDX in Pulverform, PETN und Weichmacher enthält, allerdings…« »Was ist RDX und PETN?« fragte Hunter, der ihr immer auf die Nerven ging, ihre Gelehrsamkeit in Chemie vorzuführen, damit die anderen sahen, wie schlau es von ihm gewesen war, sie hierherzubringen. »PETN steht für Pentraerythrit-Tetranitrat, ein äußerst wirkungsvoller Sprengstoff«, sagte sie auf Hunters Stichwort. »RDX steht eigentlich für Zyklonit. Es wird normalerweise in Verbindung mit PETN verwendet. Jedenfalls haben die Tschechen Semtex-X entwickelt, wie ich schon sagte. Was es von anderen Sprengstoffen unterscheidet, ist, daß sie der Formel gewöhnliches Salatöl hinzugefügt haben. Es ist wie eine Art Gelee. Man kann es hinschmieren, wo man will.« »Weshalb es auch fast unmöglich ist, es in die Hand zu bekommen«, fügte Hunter wichtigtuerisch an. Wren griff nach dem Flex-X, das gerade zu ihr zurückgereicht wurde. »Ich habe daran gedacht, eine von diesen kleinen Lederboxen zu nehmen, wie man sie bei Radio Shack für Stereoanlagen bekommt, ihr wißt schon. 515
Man sieht sie normalerweise unter dem Podium. Ich wollte sie aushöhlen und den Sprengstoff hineinpacken.« »Und den alten Peckerhead bis zum Jüngsten Gericht befördern!« schrie Preacher. »Das gefällt mir.« »Mmmm. Das Problem ist wiederum Steve Austin. Das Leatherwood Building ist sein Tummelplatz. Es ist schließlich Leatherwoods Zentrale. Und das Podium ist eine sehr verwundbare Stelle - der Secret Service nimmt sogar jedesmal sein eigenes Podium mit, wenn der Präsident eine Rede hält. Es ist mit Kevlar beschichtet.« »Wie eine kugelsichere Weste?« rief Kicker. »Genau. Und ich bin mir sicher, daß Austin, wie der Secret Service, Männer im Bereich des Podiums aufstellen wird. Es ist ausgeschlossen, daß wir eine zusätzliche Box einschmuggeln können. Er würde sie auf der Stelle bemerken.« Die Männer nickten sich gegenseitig zu. »Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, wie wir unsere Leute einschleusen könnten, zum Beispiel, daß wir am Kaffeeautomaten arbeiten oder so was, aber auch das ist zu offensichtlich. Dann bin ich auf etwas gekommen, das nicht so ins Auge springt.« Sie machte eine effektvolle Pause. »Topfpflanzen.« »Was?« Hunter runzelte skeptisch die Stirn. »Topfpflanzen. Die um die ganze Bühne und das Podium herum aufgestellt werden, Austin wird ohnehin irgendwelche Topfpflanzen um das Podium aufstellen, das ist ganz selbstverständlich.« »Woher weißt du das?« fragte einer der Männer. 516
»In einem Halbkreis um das Podium aufgestellte Pflanzen dienen als Barriere zwischen dem Redner und dem Publikum. Falls irgendwer versucht, sich dem Redner zu nähern, ist es unbequem und augenfällig genug, um die Sicherheitsmannschaft auf den Plan zu rufen. Es sieht aus wie eine Dekoration, aber es gehört zum normalen Verfahren bei Personenschutz.« »Was weißt du darüber?« murmelte Kicker gerade so laut, daß es alle hören konnten. Hunters Stimme schnitt wie eine Peitsche durch die Luft. »Sie liest, du Arschloch. Und sie ist ein ganzes Stück gescheiter als du. Mach weiter, Lissie.« Wren räusperte sich. »Den Sprengstoff packen wir unter die Pflanzenerde, damit Austin nichts Verdächtiges sieht, falls er zufällig in die Töpfe schaut.« »Ich habe eine Frage«, sagte Kicker. »Was ist mit den Hunden?« »Du hast recht, und ich habe daran gedacht. Ich bin mir sicher, daß Austin vor jeder wichtigen Rede die örtliche Polizei anruft und die Sprengstoffhunde kommen läßt, damit sie den Raum kontrollieren - vielleicht sogar das ganze Gebäude. Deshalb legen wir zum Schein eine Bombe am Flughafen. Irgendwas relativ Harmloses, und wir stellen den Zeitzünder Stunden voraus, damit sie nicht hochgeht. Die Absicht ist, niemanden zu verletzen.« »Was ist die Absicht?« fragte Preacher und unterdrückte ein Gähnen. Wren ignorierte ihn. »Wir machen folgendes: Wir geben eine telefonische Bombenwarnung durch. Kurz bevor wir die Pflanzen in den Konferenzraum schaffen wollen. Logischerweise wird die Polizei damit reagieren, daß sie 517
die Hunde zum Flughafen bringt. Die Hunde finden den Sprengstoff. Die Sprengstoffexperten kümmern sich darum.« Sie grinste. »Aber wir haben ihnen gesagt, daß es sich um drei oder vier Bomben handelt, nicht nur um eine. Die Hunde werden stundenlang beschäftigt sein. Die Polizei wird Austin sagen, daß er warten muß, aber die Rede ist angesetzt. Die ersten Leute kommen. Es ist zu spät, oder? Ich denke, sie werden im Programm weitermachen. Ohne daß die Hunde vorher herumgeschnüffelt haben.« Einen Augenblick lang herrschte andächtiges Schweigen, dann stand Hunter auf und applaudierte langsam. Sie verbeugte sich. Nachdem sich Wren zu den anderen gesetzt hatte, sagte Hunter: »Okay, Leute. Ich glaube, es ist Zeit für den Probelauf.« Seine Worte waren für alle ein Schock und eine Überraschung, aber für niemanden mehr als für Wren. Natürlich wußte sie, daß zu jedem ›Spezialeinsatz‹ - oder Verbrechen - ein Probelauf vor Ort gehörte. Aber sie hatte das Lager nicht mehr verlassen, seit man sie und Daniel auf der Straße gepackt, gefesselt und geknebelt und als Geiseln hierher verschleppt hatte. Nun war Hunter der meistgesuchteste Verbrecher im Land; alle suchten auch nach ihr und Daniel. Wren wußte das von den CNNNachrichten, die sie einmal heimlich über Satellit empfangen hatte, als Hunter unter der Dusche stand. Es war leichtsinnig. Es war Wahnsinn. Es war typisch Hunter. Und natürlich wagte niemand zu widersprechen. »Ich werde im Kombi sein«, sagte Hunter, ohne auf das 518
verblüffte Schweigen zu achten, das seiner Ankündigung gefolgt war. »Wren wird sich verkleiden. Ihr werdet alle Busineßanzüge und Aktentaschen tragen. Hier ist ein Katalog von Spiegel.« Er warf ihn auf den Boden. Wren hob ihn auf. »Sucht euch aus, was ihr tragen wollt, und ich rede von seriösen Busineßanzügen. Ich brauche die genaue Größe von euch allen. Ihr müßt top aussehen. Ich lasse euch nicht in ein solches Klassegebäude marschieren wie eine Horde Bauerntrampel.« Wren blätterte den Katalog durch. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft im Lager, daß sie wieder Frauenkleider sah. Es war, als würde sie eine Broschüre anschauen, die für Raketenflüge zu einem fremden Planeten warb. Sie wußte nicht einmal, ob sie die Sprache noch verstand. »Kicker und Preacher - ihr begleitet Lissie hinauf zu dem Konferenzraum, in dem Leatherwood seine Rede hält.« »Wird uns da niemand bemerken?« fragte Preacher zweifelnd. »Austin wird überall seine Sicherheitsleute haben, oder nicht?« »Ich habe einen Tag ausgesucht, an dem Leatherwood nicht in der Stadt sein wird - nicht einmal im Bundesstaat«, sagte Hunter mit seiner üblichen Großspurigkeit. »Austin wird wahrscheinlich bei Leatherwood sein oder in seinem Büro in Texas. Die Sicherheitsvorkehrungen werden minimal sein. Ihr bekommt alle Funkgeräte. Wenn etwas schiefgeht, könnt ihr es mich wissen lassen. Okay. Ihr andern vier 519
kundschaftet die Bank aus. Und ich meine alles - auch den Tresorraum.« »Wie sollen wir denn das machen?« fragte einer. Hunter lächelte. »Ganz einfach, du eröffnest ein Wertdepot, du Dummkopf. Der Rest von euch merkt sich die Positionen von allen Überwachungskameras, Kassierern, Angestellten, eben alles. Ich möchte in der Lage sein, einen detaillierten Plan zu fertigen. Wir beobachten das Gebäude außerdem ein, zwei Tage lang, um den normalen Ablauf der Bank mitzukriegen. Noch Fragen?« Natürlich gab es Fragen. Hunderte von Fragen. Aber niemand stellte sie. Wren paßte ohnehin nicht sehr auf. Sie blätterte den Katalog durch, sah sich fröhliche Winterkostüme in karmesinroter Wolle und schwarzem Leder an, Kaschmirpullover und seidene Pyjamas in den Festfarben Beerenrot und Kieferngrün, Wildlederstiefel und schwarze Strümpfe mit verführerischen Strapsen und passende BHs für ein möglichst großes Dekollete. Weihnachten. Wann hatte die Weihnachtszeit begonnen? Hatte der Nordwind sie hereingeweht? War sie an den Zedern gehangen wie Büschel von Mistelzweigen? Trieb sie über den Winterhimmel wie Rauch vom Kamin der Jagdhütte? Wren betrachtete die lächelnden Models. Sie hatte Zoes dreizehnten Geburtstag verpaßt, der gleich nach Thanksgiving kam. Wren kämpfte eine Woge der Verzweiflung nieder, die sie zu überfluten drohte, und dachte statt dessen an die Menschen im Leatherwood Building. Das Gebäude würde voller Männer und Frauen wie die 520
im Katalog hier sein, die zu den Klängen von Weihnachtsliedern in dem geschäftigen Einkaufszentrum herumhasteten, Festkörbe mit duftenden Pinienzapfen und Zimt kauften, Einkaufstaschen mit Spielzeug und anderen bunt verpackten Annehmlichkeiten füllten, in der Bank vorbeischauten, um noch mehr Geld zu holen, in den kleinen Restaurants Glühwein und heißen Kakao tranken… während der Tod mitten in ihre Fröhlichkeit kroch, in Busineßanzüge gekleidet und mit braunen Lederaktentaschen in der Hand.
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38. Kapitel »Daddy, werden wir bald umziehen müssen?« Zoe platzte mit dieser Frage an Cam heraus, als er ausgestreckt unter der Küchenspüle lag und die Schrankleiste in seinen Rücken drückte. Er versuchte ein neues U-Stück an einem undichten Rohr zu befestigen, im Dunkeln, wo es nicht genügend Platz gab, um seine beiden Ellenbogen unterzubringen, und noch viel weniger für den Schraubenschlüssel. Warum sie die schwierigsten Themen immer dann anschneiden mußte, wenn er gerade von etwas anderem völlig in Anspruch genommen war, würde Cam wohl nie begreifen. »Sofort, Schatz. Ich bin hier fast fertig. Würde es dir etwas ausmachen, diese Taschenlampe bitte ein wenig tiefer zu halten? Genau hierher. So ist es gut. Danke.« Der schwere Schraubenschlüssel rutschte ab und knallte schmerzhaft gegen einen seiner Knöchel. Blut vermischte sich mit Schweiß, und es fing an zu brennen. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte er. »Was?« »Nichts. Zoe, du mußt die Taschenlampe stillhalten, ja? Das ist verdammt noch mal kein Stroboskop!« »Ich halte sie doch still!« Ich hasse dreizehn, dachte er. Warum können sie dreizehn nicht einfach auslassen und direkt von zwölf auf vierzehn springen? Wobei das auch nicht sehr viel besser ist. Das Telefon läutete. Zoe sprang davon, um abzuheben und nahm die Lampe mit. 522
Ich hasse Installationsarbeiten. Ich hasse Rohre, ich hasse Spülen, ich hasse Toiletten und hasse es, wenn das Zeug kaputtgeht, wenn ich gerade zu pleite bin, um jemanden zu bezahlen, der es repariert. Nach einem letzten Ruck mit dem Schraubenschlüssel rief er Zoe, damit sie den Wasserhahn für ihn aufdrehte. Aber Zoe war nicht in der Nähe, und Cam blieb nichts übrig, als sich unter der Spüle hervorzuquälen und sich steif aufzurichten. Dann mußte er das Wasser aufdrehen und wieder unter die Spüle kriechen, um nachzusehen, ob die Rohre hielten. Wundersamerweise taten sie es. Cam war zu schlechter Laune, um seinen eigenen Saustall aufzuräumen; er ließ alles liegen und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Sein Rücken hatte bereits ungefähr die Form des Rohres, das er gerade ausgewechselt hatte, und er fühlte, daß gigantische Kopfschmerzen im Anmarsch waren. Die Wahrheit war, daß Zoes Frage ihn mehr erschreckt hatte, als er zuzugeben wagte, sogar vor sich selbst. Vor drei, vier Monaten hätte er über die Frage gelacht, sie beruhigt und das Thema gewechselt. Aber vor drei, vier Monaten hatte er auch noch eine Frau, die einen großen Batzen des Familieneinkommens nach Hause brachte. Sie bezahlten immer die Hypothek und einige der größeren Rechnungen von ihrem Gehaltsscheck, weil er regelmäßig und voraussagbar war. Da Cam selbständig war, kam der größte Teil seines Einkommens, nach Abzug der laufenden Geschäftskosten, häufig in einem Schub und mit Verzögerung. Wenn die Anwaltskanzlei gut lief, legten sie etwas zur Seite oder gaben es hemmungslos für neue Anschaffungen oder Urlaubsreisen aus. Wenn in der Kanzlei Flaute war, 523
sahen sie zu, wie sie über die Runden kamen. Aber das war drei oder vier Monate her. Das Geld, das sie beiseite gelegt hatten, war so ziemlich aufgebraucht, und Cam hatte vor kurzem die Hypothek neu belasten müssen. Wenn Wren in den nächsten Monaten nicht zurückkam, sah er sich der sehr realen Möglichkeit gegenüber, das Haus zum Verkauf anbieten zu müssen. Cam betrachtete sein abgespanntes Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken und fragte sich, ob die stets besorgte Zoe selbst auf dieses Szenario gekommen war oder ob er ihr das wahre Ausmaß ihrer Lage irgendwie enthüllt hatte. Er hatte sich Mühe gegeben, es nicht zu tun, aber Zoe war ein sensibles Kind. Daniel, den hätte er zum Narren halten können. Das zerstreute Lächeln, das über sein Gesicht huschte, dauerte nur kurz. Cam starrte in den Spiegel, aus dem seine müden Augen ausdruckslos zurückstarrten. Es hatte eine Zeit gegeben, da zählte er praktisch die Tage, bis der Junge von zu Hause auszog, um aufs College zu gehen. Oder in die Besserungsanstalt. Je nachdem, was zuerst kam. Nun vermißte er seinen Sohn mit einer niemals erwarteten Heftigkeit. Er vermißte seinen unabhängigen Geist und sein schiefes Grinsen, seinen ausgefallenen Humor, seine großen Füße und seine doofen Freunde. Er vermißte sein Talent zum Schauspielern; wie oft hatten er und Wren fluchtartig den Raum verlassen, nachdem sie Daniel wegen irgendeines Schulvergehens gescholten hatten, nur um sich draußen halbtot zu lachen über seine ins Schwarze treffende Imitation des beleidigten Lehrers? Als die Tage ohne ein Wort von den Vermißten vergingen, spürte Cam Wut in seiner Kehle hochsteigen, die alles 524
erstickte, außer dem blinden Verlangen, denjenigen weh zu tun, die ihn seiner Familie beraubt hatten. Jede Nacht, in der er wachlag und seine Tochter im Zimmer nebenan schluchzen hörte, hätte er sich am liebsten irgendwo eine Pistole besorgt, sie geladen und sich auf die Suche nach den Schweinehunden gemacht, die ihr süßes, zärtliches Herz gebrochen hatten. Die Tat eines Egomanen hatte ihr Leben zerstört. Wenn Cam seine Anwaltskanzlei verlor - und er war in Gefahr, sie zu verlieren - und sie gezwungen waren, in eine Mietwohnung oder ein kleines Haus zu ziehen, dann hätten sie wirklich alles verloren. Vielleicht nicht alles. Cam und Zoe hatten immer noch einander. Er glaubte nicht, daß er durchgehalten hätte, hätte er Zoe auch noch verloren. Cam beugte sich vor und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete sich ab, sammelte seinen Gesichtsausdruck und machte sich auf die Suche nach seiner Tochter. Er fand sie ausgestreckt auf ihrem Bett liegend und in einem Heft mit Teenageridolen blättern. Und obwohl ihr Lieblingsschauspieler auf der Titelseite abgebildet war, schien sie keinen der Artikel zu lesen. Er setzte sich auf den Bettrand und tätschelte ihre Schultern. Sie waren steif und angespannt. Auch Zoe zahlte einen körperlichen Preis für den Streß, in dem sie lebten. »Es tut mir leid, daß ich dich angeschnauzt habe.« »Schon gut, Daddy.« Sie blätterte ein paar Seiten weiter. »Ich hasse Installationsarbeiten.« »Ich weiß es. Aber wir können uns keinen Installateur 525
leisten.« »Nein.« Er seufzte. »Hör zu, ich möchte nicht, daß du dir Sorgen machst, wir könnten das Haus verlieren.« »Wieso nicht? Mein Freund Rudy mußte in eine Mietwohnung ziehen, nachdem sein Vater seinen Job verloren hatte. Er fand keinen neuen, und das Arbeitslosengeld lief aus.« Cam runzelte die Stirn. »Ich dachte Rudys Vater arbeitet wieder.« »Tut er auch. Draußen beim Golfplatz. Er pflegt den Rasen. Aber früher war er Ingenieur und hat Militärflugzeuge gebaut, und jetzt bauen sie einfach nicht mehr so viele Militärmaschinen wie früher. Was anderes hat er nicht gefunden. Rudy sagt, sie waren einmal ziemlich reich, aber jetzt sind sie arm.« »Naja, sie sind nicht direkt arm, aber ihr Lebensstandard hat sich beträchtlich verringert. So was kommt vor.« »Wird uns das auch passieren?« Sie betrachtete aufmerksam das Foto eines Rockstars in dem Heft, als sei die Frage überhaupt nicht wichtig. Cam zögerte. Zu diesem Zeitpunkt konnte er dem Kind nichts versprechen. Er konnte ihr nicht einmal versprechen, daß sie ihre Mutter und ihren Bruder je wiedersehen würde. »Zoe… ich arbeite sehr schwer, damit es nicht passiert. Ich habe mich beim Bezirksgericht als Pflichtverteidiger eintragen lassen. Es ist nicht viel Geld damit zu verdienen, aber es ist regelmäßige Arbeit. Das müßte helfen.« »Wirst du genug verdienen, um das Haus behalten zu können?« 526
»Ich weiß es nicht, Schatz, um ganz ehrlich zu sein. Aber wir werden sicher bis zum Frühling hierbleiben können. Ich will einfach nicht, daß du dir jetzt schon Sorgen deswegen machst. Laß uns nur von einem Tag zum andern blicken.« »Frühling?« Sie richtete sich auf und nagelte ihn mit ihrem Blick fest. »Soll das heißen, daß Mom und Daniel vielleicht noch nicht einmal bis zum Frühling zurück sind?« Bei jedem Wort stieg ihre Stimme an. »Nein, nein! So habe ich es überhaupt nicht gemeint! Ich wollte nur sagen…« »Ich dachte, sie würden Weihnachten zurück sein!« heulte sie. Ihre Augen verschwammen in Tränen. »Sie werden nicht einmal Weihnachten zu Hause sein?« »Vielleicht.« Cam bemühte sich um eine ruhige Stimme. Er hatte herausgefunden, daß auf sie einzugehen das Schlimmste war, was er tun konnte, wenn sie so aufgebracht war wie jetzt. »Man kann nie wissen. Vielleicht sind sie zurück.« »Warum sagst du mir nie die Wahrheit? Sie werden überhaupt nie mehr nach Hause kommen!« Zoe sprang vom Bett und stürzte aus dem Zimmer. Sie knallte die Tür so heftig zu, daß es wie ein Schuß klang, und ließ ihren müden Vater mit den Einhörnern und Teddybären allein, nach einer Aderpresse tastend, die er an die klaffende Wunde in seinem Herzen anlegen könnte. Obwohl erst Anfang Dezember war, hatte man das Leatherwood Building bereits für Weihnachten herausgeputzt, als unterhielte Santa Claus persönlich ein 527
Büro in dem Gebäude. Sehr unweihnachtlicher texanischer Sonnenschein flutete durch die bronzegetönten Glaswände bis hinauf zum dritten Stock und tauchte alles in ein warmes, goldenes Licht. Der zweite Stock war ein offenes Zwischengeschoß, in das man entweder per Rolltreppe oder mit einem der beiden gläsernen Aufzüge gelangte; der Wasserfall sprudelte munter aus einer geheimnisvollen Quelle direkt unter dem Zwischengeschoß. Silbrige Hintergrundmusik, Weihnachtslieder, auf Harfe, Mandoline, akustischer Gitarre und Flöte gespielt, harmonisierten mit dem fröhlichen Geplätscher und Spiel des Wassers. Winzige Glühlampen glitzerten überall wie Sternenstaub. Der Christbaum, eine imposante, sieben Meter hohe Blautanne, beherrschte die Eingangshalle. Weiße Lampen schimmerten wie funkelnde Stecknadeln zwischen dem Weihnachtsschmuck: der gesamte Baum war mit Hunderten von handgeschnitzten viktorianischen Engeln geschmückt; der ganze Effekt war glänzend. Die Ironie der Weihnachtsengel entging Wren nicht, als sie verblüfft stehenblieb und mit offenem Mund auf die prächtige Szenerie schaute, die so angelegt war, daß sie den Blick himmelwärts zog. Wren und ihre beiden ›Assistenten‹ hatten das Gebäude vor den anderen betreten, die gestaffelt in die Bank schlendern würden. Die ständige visuelle Diät aus graubrauner Wüstentarnung und eintöniger Landschaft hatte Wren regelrecht abgestumpft. Sie hungerte nach Farben, nach Musik, war gierig nach Zeugnissen beflügelten menschlichen Geistes. Wenn sich die Seele von Angst, Haß und Wut ernährt, so hatte sie gelernt, werden alle Farben nach und nach zu Grau, die Musik verklingt und die Luft selbst wird schwer und höllisch. Ein dergestalt 528
verkrüppelter Geist trocknet mangels Betätigung bald aus, trudelt abwärts und zerfällt. In einer solchen Umgebung vergaß man leicht den Glanz und die Ausstrahlung des unbeschränkten menschlichen Geistes. Man übersah leicht, welche Fülle an Mitgefühl in der menschlichen Seele wohnt, das ansteckende Geschenk der Freude. Hier in Buck Leatherwoods Gebäude wurde sie nun daran erinnert, das Gebäude, in dem ihre Begleiter tödliche Pläne schmiedeten. Sollte Wren den Plan in vollem Umfang ausführen, würde sie in einem einzigen Augenblick des sprachlosen Entsetzens alles hier zum Einsturz bringen und in einen riesigen Haufen aus zerbrochenem Glas, rauchendem Schutt, Leichen, Blut und Engeln verwandeln. Ein heftiger Stoß von Kicker in ihre Rippen brach den Zauber. Wren ging auf wackligen Absätzen unsicher zur Rolltreppe und kämpfte gegen den beinahe übermächtigen Drang, sich am Kopf zu kratzen. Es juckte wie verrückt unter der kurzen, blonden Perücke, in die sie ihr üppiges, dunkles Haar gestopft hatte. Eine schwarze Sonnenbrille verdeckte im Stil von Jackie O. den größten Teil ihres Gesichts. Sie schaute auf ihre Füße und vermied jeglichen Augenkontakt. Am Ende der Rolltreppe angelangt, schlenderten Wren und ihre elegant gekleideten Kollegen lässig die Wandelhalle entlang, verschwanden hinter einer Notausgangstür und nahmen die Treppe zum dritten Stock hinauf. Preacher erkundete den Korridor hinter der Tür des Treppenhauses, dann traten sie nacheinander ein. Die Lage der Räume war genau so, wie sie es von den Plänen her in 529
Erinnerung hatte. Es dauerte nicht lange, bis sie Konferenzraum C gefunden hatten. Die Tür war verschlossen. Kicker drehte sich um und schirmte Wren und Preacher mit seinem Körper ab; gleichzeitig hielt er Ausschau. Es herrschte wenig Betrieb, und Wren stand mit einer offenen Aktentasche bereit, die sie mit bedeutungslosen Papieren vollgestopft hatte und fallen lassen konnte, falls jemand zufällig vorbeikam und sich wunderte, warum sie hier zusammenstanden. Preacher zog aus der Innentasche seines Mantels einen Elektrodietrich, dessen Futter er am Griff einer elektrischen Zahnbürste befestigt und auf diese Weise handlich und wiederaufladbar gemacht hatte. Er schirmte seine Hände mit dem Körper ab, führte den Dietrich in das Schloß ein, brachte einen kleinen Stellschlüssel an und schaltete ein. Es gab ein fürchterliches, brummendes Geräusch, als der Motor die Nadel in heftigen und schnellen Bewegungen gegen den Boden der Zuhalter trieb. Im selben Augenblick drehte er den Stellschlüssel mit der Fingerspitze um etwa ein Achtel Zoll. Mit einem Schraubenzieher anstelle des Stellschlüssels zog er rasch den Riegel zurück. Die Tür sprang auf. Wren und Preacher schlüpften in den Raum und schlossen hinter sich ab. Von den schrägen, raumhohen Fenstern flutete bernsteinfarbenes Licht herein. Dicker, kupferfarbener Teppich schluckte das Licht und ihre Schritte, als sie zur Bühne gingen. Wren hatte das Gefühl, in einer Flasche Champagner zu gehen. Es machte sie schwindlig. Es war ein sehr großer Raum, der ohne weiteres 530
mindestens hundert Leute fassen konnte. Auf Tischen mit weißen Leinentischdecken an der Rückseite standen große, glänzende Kaffee- und Teemaschinen, die für diese Anzahl Leute ausreichten. Die Bühne war auf der einen Seite von der amerikanischen Flagge flankiert, auf der anderen von der texanischen. Eine Wandverkleidung aus Mahagoni hinter der Bühne verlieh dem Raum die düstere Atmosphäre eines Gerichtssaals. Der einzige Richter würde jedoch Wrens Gewissen sein. Zwei Stufen führten auf die kleine Bühne, die ungefähr drei Meter im Quadrat maß. Das Rednerpult war Standard, die Lautsprecherbox darunter, wie Wren es vorausgesehen hatte. Wenn sie eine andere Box benutzt hätte, wäre sie dem Sicherheitspersonal bestimmt aufgefallen. »Weiß schon jemand, wann Hunter die Party hier steigen lassen will?« fragte Wren. Preacher schüttelte den Kopf. »Okay. Wenn es noch vor Weihnachten ist, stellen wir Weihnachtsstern um das Rednerpult. Wenn es nachher ist, nehmen wir irgendwelche anderen Zimmerpflanzen. Viel Grün jedenfalls.« »Keine Blumen?« »Nein. Zu empfindlich. Wir müßten sie irgendwo kühl halten, und sie könnten verwelken, bevor wir sie hierhergeschafft haben.« Die erste Stuhlreihe war unangenehm nahe an der Bühne, nur etwa drei Meter entfernt. Das machte Wren Sorgen. Damit ihr Plan funktionierte, brauchte sie noch eine Art Schutzschild, der die größte Wucht der Explosion abfing. Der Schutzschild mußte sorgfältig gewählt sein, 531
sonst würde er selbst zum Geschoß werden. Preacher sah, wie sie nachdachte. »Was ist?« »Ähm, ich brauche noch ein Requisit hier«, sagte sie. »Für den Rückstau.« »Zum Beispiel?« »Ich weiß noch nicht«, sagte sie. »Vielleicht ein Möbelstück.« Preacher ging durch den Raum und rief aus der hintersten Ecke: »Wie wär’s mit dem hier?« Er stand neben einem mannshohen Fernsehgestell auf Rollen. Es war aus Metall, mit einer massiven Rückwand, und enthielt in drei verstellbaren Fächern das TV-Gerät, einen Videorecorder und andere Ausrüstung. Wren ging hin und untersuchte das Gestell. »Kannst du es nach vorn zur Bühne schaffen, sagen wir auf die rechte Seite rüber? Vielleicht will er sowieso ein Propagandavideo zeigen. Und hier in der Wand ist auch eine Steckdose.« »Klar.« Er schob das sperrige Gestell den Mittelgang entlang zur Bühne und parkte es ein Stück an der Seite. »So?« »Kannst du es ein bißchen drehen? Diagonal zur Bühne?« Er rückte es hin und her. »So?« Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Wren. »Ja!« rief sie und fügte an: »Perfekt.«
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39. Kapitel »Der Probelauf war ein uneingeschränkter Erfolg!« verkündete Hunter der Mannschaft zwei Tage nach ihrer Rückkehr aus Midland bei einer Versammlung im Fitneßraum. »Andererseits war mir das schon vorher klar.« Die Stimmung im Raum war überschwenglich, euphorisch… und gefährlich überoptimistisch. Jedenfalls sah Wren es so, als sie zuhörte, wie die Männer um sie herum den endgültigen Plan diskutierten, das Leatherwood Building zu sprengen, den verhaßten Buck Leatherwood umzubringen, tödliche Rache an Steve Austin zu nehmen und sich mit einem Vermögen aus dem Staub zu machen. »Aufgepaßt, Leute«, sagte Hunter. »Ich werde jetzt das Zieldatum enthüllen.« Augenblicklich senkte sich gespannte Stille über den Raum. »Stichtag: 15. Dezember. Damit bleiben uns noch zwei Wochen.« »Zwei Wochen!« schrie Wren. »Bis dahin bin ich unmöglich fertig!« Alle Augen wandten sich ihr zu, und das Schweigen, das ihrer Bemerkung folgte, war ein unbehagliches. Hunter lächelte sie auf eine Art an, die sie sehr gut kannte, ein Lächeln, das nicht bis in seine Augen drang. »Aber meine Liebe«, sagte er. »Leatherwoods Propagandarede für die Waffenkontrolldeppen ist nun mal für diesen Tag angesetzt. Punkt. Du mußt ganz einfach fertig sein. Und du wirst fertig sein.« 533
Sie zitterte. Es war ausgesprochen typisch für das Arschloch, die ganze Sache an Sprengstoff aufzuhängen und seinem Sprengmeister nicht zu sagen, wann er fertig sein mußte. (Oder sie, in diesem Fall.) Hunters zwanghaftes Bedürfnis, uneingeschränkt das Sagen zu haben, konnte den ganzen Plan zunichte machen; das heißt, falls er ein Scheitern zulassen würde, was er natürlich nicht tat. In Wahrheit machte sie sich keine Sorgen um Hunters Plan - sie machte sich Sorgen um ihren eigenen. Wenn sie jetzt nicht alles hatte, was sie brauchte, blieb keine Zeit mehr, es zu besorgen. Sie würde einfach improvisieren müssen. »Schön«, sagte sie und sah ihn frech und grimmig an. »Wenn du mir eine solche Zeitbeschränkung auferlegst, mußt du in anderen Bereichen lockerlassen.« »Zum Beispiel?« Er hob herausfordernd den Kopf. »Zum Beispiel, indem du mir im unterirdischen Bunker freie Hand läßt.« Er preßte die Lippen zusammen. »So wie es jetzt ist, muß ich warten, bis du zur Verfügung stehst, um mich zu begleiten, oder zumindest eine Wache auftreibst. Du mußt mich ein- und ausgehen lassen, wie ich es brauche. Und ich muß vielleicht noch spät nachts dort unten sein, nach dem Zapfenstreich. Ich brauche die Freiheit, meine Arbeitszeit selbst festzulegen und allein und in Ruhe zu arbeiten.« Ohne den Blick von ihm zu nehmen, fügte sie an: »Andernfalls werde ich unmöglich fertig. Punkt.« Sie wußte, sie hatte ihn am Wickel. Wie die Dinge lagen, waren sie ohne Big John mit Personal knapp. Die anderen 534
wurden für die erschöpfenden Proben gebraucht, die Hunter so gern aufführen ließ, und ebenso für ihre üblichen Pflichten im Lager. »In Ordnung.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Begeisterung verbergend, fügte Wren an: »Und ich muß nach Midland fahren.« »Ausgeschlossen. Bist du verrückt oder was?« »Nicht allein, natürlich. Das verstehe ich. Aber ich muß Blumentöpfe kaufen. Massenweise. Ich muß mit verschiedenen Wandstärken experimentieren, um zu sehen, in welchem ich den Sprengstoff am besten unterbringe, und außerdem muß noch Platz für die Pflanzen bleiben. Von mir aus fahren wir nach Odessa, das ist mir egal. Aber in der nächsten Kleinstadt haben sie bestimmt nicht, was ich brauche. In einem großen Gartencenter schon. In der Stadt würden wir leicht eins finden.« »Was soll das für einen Unterschied machen?« brauste er gereizt auf. »Ein Topf ist ein Topf. Du steckst verflucht noch mal eine Bombe hinein. Es ist doch völlig egal, wie dick er ist.« Sie sah ihn furchtlos an. »Willst du eine optimale Wirkung oder nicht? Willst du, daß die Wucht der Explosion nach oben geht oder hinaus ins Publikum? Wenn du sowieso alles besser weißt, dann fahr du doch die verdammten Töpfe kaufen!« Niemand außer Big John hatte so mit Hunter zu reden gewagt, und alle im Raum wußten, was aus Big John geworden war. Aber Wren war dadurch geschützt, daß Hunter für den Erfolg des Unternehmens von ihr abhängig war. Es ging schlicht nicht ohne sie. 535
Nach einer langen Pause voll knisternder Spannung sagte er: »Fahr nach Odessa. Aber ich hoffe für dich, daß du dort alles bekommst, was du brauchst, denn du wirst nicht nach Midland fahren. Und du wirst auf Schritt und Tritt von Kicker und Preacher begleitet, verstanden?« Sie nickte. »Ein falscher Schritt, und ich bringe dich eigenhändig um, ist das klar?« Es war ein Bluff, um sie unter Kontrolle zu halten und vor den anderen seine Macht wiederherzustellen. Wren wußte, daß sie mindestens bis zu der Operation in Sicherheit war. Außer natürlich, sie jagte sich selbst in die Luft. »Völlig klar«, sagte sie. In den Tagen nach dieser Auseinandersetzung befand sich Wren in einem ständigen Alarmzustand. Ihre Hände waren ruhig, aber ihre Nerven lagen blank. Trotz der Gefahr dort, zog sie es vor, im unterirdischen Schutzraum zu arbeiten, wegen der Ruhe und Ungestörtheit. Hunter hielt Wort und ließ sie allein. Er schickte zwar Mitglieder der Strike Force zu Überraschungskontrollen, aber das stellte kein Problem für Wren dar, da sie nur rudimentäre Kenntnisse von Sprengstoff hatten. Sie waren leicht zum Narren zu halten. Wren waren Grenzen gesetzt, was Anzahl und Stärke der Explosionen anging, die sie zu Übungszwecken durchführen konnte. Sie hatte zwar genügend Material, um jeden Felsbrocken in Sichtweite in die Luft zu sprengen, aber sie konnte nicht 536
das Risiko eingehen, die Aufmerksamkeit eines wachsamen Jagdhüters oder Deputys zu erregen. Glücklicherweise konnte sie nach Herzenslust Blumentöpfe sprengen; niemand wohnte nahe genug, um ihre kleineren Erfindungen zu hören oder zu spüren. Hunter besuchte sie nur einmal in ihrem Labor (er hatte wahrscheinlich Angst, in die Luft gesprengt zu werden), um sie zu bitten, jede Menge Stahlnägel und andere scharfe Gegenstände in den lehmartig verformbaren Sprengstoff zu packen, damit sich ein möglichst großer Schrapnelleffekt ergab. Als sie ihm versicherte, daß sie es tun würde, klatschte er in die Hände wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Im Schutz der Dunkelheit verlegte Wren ihre Pistole und die Munition in ein leichter zugängliches Versteck, und sie kroch im Lager herum wie bei einem Kommandounternehmen, um andere überzählige Dinge, die sie brauchte, zusammenzutragen. Das vertrackteste waren die Zünder. Da Hunter genug über Sprengstoff wußte, um ihr in hohem Maße gefährlich werden zu können, mußte sie überzeugende Sprengzünder einbauen. Funkleitstrahlen oder Schmelzsicherungen waren nicht praktisch. Und obwohl sie wußte, wie man die Sprengladungen so einrichtete, daß eine die andere binnen einer Millisekunde zündete, wollte sie genau das nicht tun. Sie mußte es jedoch so aussehen lassen, als sei das die Absicht. Nach ihrem Verständnis blieben damit nur elektrische Zünder als einzige Möglichkeit. Sie zu montieren war kein Problem - die Timer waren es, 537
die ihr angst machten. Jeder davon mußte in den einzelnen Töpfen auf die vereinbarte Zeit für die Explosion eingestellt werden. Aber Wrens Plan beinhaltete ein sehr heikles und schwieriges Verfahren - die Timer so zu manipulieren, daß sie nicht zur vereinbarten Zeit losgingen, sondern viel später, lange nachdem das Gebäude geräumt war und das Bombenkommando sie hoffentlich weggeschafft und in explosionssicheren Fässern eingeschlossen hatte. Noch beängstigender war Hunters Entschlossenheit, den Bankraub erst nach der Explosion zu starten. Er und das Team für die Bank wollten draußen im Kombi auf die Rückkehr von Wren, Preacher und Kicker warten. Dort würden sie dann alle warten, bis sich der Konferenzraum gefüllt und die Rede begonnen hatte. Sofort nach der Explosion würden sie die Bank stürmen, ausgenommen Hunter selbst, der zurückbleiben wollte, um den ›Einsatz zu koordinieren‹, indem er den Funkverkehr überwachte. Er würde außerdem den Fluchtwagen fahren und ein Auge auf Wren haben. Es mußte also irgendeine Art von Explosion geben. Wenn es keine gab, würden sie Wren mit Sicherheit an Ort und Stelle töten, wodurch Daniel allein im Lager zurückblieb und Hunters Gnade ausgeliefert war. Sie zermarterte sich das Gehirn, wie sie die erforderliche Explosion zustande bringen konnte, ohne jemanden zu verletzen. Schließlich mußte Wren der simplen Wahrheit im Zusammenhang mit Sprengstoff ins Auge sehen: Es gibt keine Garantien. Sie würde das Risiko eingehen müssen, daß jemand verletzt wurde, vielleicht sogar schwer. Sie wollte es nicht, 538
aber es schien ihr keine andere Wahl zu bleiben. Sie konnte nur alles daran setzen, daß es nicht passierte, und alles weitere dem Großen Geist anvertrauen. Sie legte ein großes Stück Holz in einen Topf, der dicker war als die anderen und somit dazu beitragen würde, daß die Wucht der Explosion nach oben gelenkt wurde, weg von den Leuten, und schmierte gerade so viel Semtex auf das Holz, daß es aussah, als sei das ganze Ding aus Semtex. (Natürlich keine Nägel.) Dann fügte sie nur ein wenig Schwarzpulver hinzu. Sie legte zwei Zünder in den Topf und verkabelte sie miteinander, damit einer funktionierte, falls der andere versagen sollte, und stellte den Timer auf die ›echte‹ Zeit. Zuletzt fuhr sie den Rand des Topfes mit einem schwarzen Filzstift nach, damit sie beim Aufstellen keinen Fehler machte. Dieser Topf war der Weihnachtsstern, der rechts von der Bühne auf den Boden gestellt werden sollte, genau hinter dem schweren, metallenen TV-Gestell. Mehr konnte Wren nicht tun. Sie war überzeugt davon, an alles gedacht zu haben. Wenn alles nach Plan verlief, sollte sie in der Lage sein, ihre Bewacher außer Gefecht zu setzen, bevor sie das Gebäude durch einen Hinterausgang verließ, wo man sie vom Kombi aus nicht sehen konnte. Sie dachte viel darüber nach, wie sie ein Telefon auftreiben und einen Notruf durchgeben oder einen Wachmann alarmieren konnte. Das Problem dabei war, daß nach Plan alle genötigt waren, nach dem Aufstellen der Weihnachtssterne einige Zeit zu warten, bis sich der Raum füllte und Leatherwood ans Rednerpult trat. Die Explosion selbst würde dann das Signal zum Sturm auf die Bank sein. Wenn sie zu früh 539
anrief, und die Polizei eintraf, solange alle noch im Kombi saßen, war es durchaus denkbar, daß die Strike Force davonkam. Und selbst wenn das nicht der Fall war, hätten sie zu diesem Zeitpunkt noch kein Verbrechen begangen, es sei denn, man konnte ihnen irgendwie Verabredung zur Verübung einer Straftat nachweisen. Wren war nicht gewillt, das Risiko einzugehen, daß Hunter auf irgendeine Weise freikam, um sich an ihr und ihrer Familie zu rächen. Sie mußten auf frischer Tat gefaßt werden. Wenn Wren und ihre Bewacher nicht zum festgesetzten Zeitpunkt zum Kombi zurückkamen, konnte Hunter mißtrauisch werden und jemanden als Kundschafter ins Gebäude schicken. Wren zerbrach sich lange den Kopf darüber, aber schließlich entschied sie, daß dies ein Risiko war, das sie eingehen mußte. Immerhin mußte sie noch zwei bewaffnete, durchtrainierte Kampfsportler außer Gefecht setzen. Auf eins konnte sie allerdings zählen, was sich als nützlich erweisen konnte, und das war die kollektive Gier aller Beteiligten. In ihrem Eifer, das Verbrechen des Geldes wegen zu begehen, würden die, die im Kombi warteten, wohl kaum gewillt sein, vom Plan abzuweichen, egal was schiefging. Vor allem Hunter würde unter keinen Umständen bereit sein, den Einsatz abzubrechen. Bis sie das Signal zum Sturm auf die Bank hörten, sollte Wren bereits in irgendeinem gestohlenen Auto auf dem Weg zum Lager sein und, falls alles gutging, Zeit haben, Daniel herauszuholen, bevor die anderen erkannten, daß in Midland alles schrecklich danebengegangen war. (Dieser Teil des Plans stand ebenfalls noch auf etwas wackligen Beinen, aber sie hatte noch Zeit, daran zu arbeiten.) 540
Es war ein guter Plan, und Wren hatte an alles gedacht. Unglücklicherweise hatte sie einen Faktor in ihrer Gleichung vernachlässigt: Jeremiah Hunter. Er brachte Daniel mit. Die anderen im Team waren genauso verblüfft wie Wren. »Ausgeschlossen!« schrie Kicker. »Er ist noch ein Kind! Er wird alles vermasseln.« »Das werde ich nicht«, behauptete Daniel. »Und ich bin auch kein Kind mehr.« »Er wird bei mir im Kombi sein«, sagte Hunter. »Ich halte ihn aus allen Schwierigkeiten raus.« Wren stand vor Schreck wie angewurzelt da, während die anderen beim Einladen der Waffen und Weihnachtssterne in den Kombi aufgebracht untereinander tuschelten. Sie war so entsetzt, daß sie nicht einmal versuchte, es zu verbergen. »Er ist noch zu jung«, sagte sie mit verzweifelter Stimme. »Er wird in Panik geraten, jemand könnte umkommen wegen ihm.« »Ich habe doch schon gesagt, er bleibt bei mir im Kombi«, sagte Hunter. Seine Augen waren ein Rätsel hinter der dunklen Sonnenbrille. »Wie soll er da in Panik geraten? Der Junge kriegt die ganze Aktion nicht mal mit.« Während die anderen hinter ihr weiter murrten, wußte Wren, daß sie Hunter nie würde umstimmen können. Sie hätte es wissen müssen. Hunter hatte ihr zwar freie Hand mit dem Sprengstoff gelassen, aber er sorgte dafür, daß er letztendlich die Kontrolle über sie behielt. Weiter war Daniel nichts: eine Versicherungspolice. Wenn Wren irgend etwas tat, um die Operation zu sabotieren, war Daniel so gut wie tot. Und Hunter wußte, daß sie es wußte. 541
Sie wandte sich schweigend ab. Wren hatte zwei Möglichkeiten: die Timer heute nacht im Motel so instand zu setzen, daß Hunters Plan reibungslos ablief, und dadurch zu verhindern, daß Hunter Daniel tötete; oder weiter ihren eigenen Plan zu verfolgen und das furchtbare Risiko einzugehen, daß sie ihren eigenen Sohn opferte, damit andere weiterlebten. Der Entschluß war natürlich bereits gefaßt; sie hatte sich schon damals entschieden, als sie ihren Fluchtversuch unternahm. Aber damals war Daniels Leben geschont worden, und irgendwie hatte sie sich eingeredet, daß es auch diesmal der Fall sein würde. Alles war möglich erschienen. Jetzt schien nichts mehr möglich. Ihr ganzer Sabotageplan wirkte verrückt; zuviel hing von Timing und Glück ab. Sie würde sterben, Daniel würde sterben. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, schien es nun, als seien sie endgültig verloren. Hunter hatte zuletzt doch gewonnen. Ein kalter, bösartiger Wind tobte direkt aus Nordwesten von einem metallfarbenen Himmel und kündigte mit jedem wütenden Windstoß drohend Schnee an. Aber das Wetter war noch zahm, verglichen mit den wirbelsturmartigen Turbulenzen, die sich in Wrens Innerem abspielten. Sie fahren in zwei Fahrzeugen nach Midland. Hunter fuhr natürlich nicht den Kombi voller Sprengstoff und Waffen. Das überließ er zwei anderen Männern, denen er die strenge Anweisung gegeben hatte, alle Verkehrsvorschriften peinlich genau zu befolgen. Wren, Daniel und die anderen fuhren mit Hunter in 542
einigem Abstand zum Kombi in einem Suburban. Wren wußte, daß die Sprengkörper nicht aus Nitroglyzerin waren; sie würden nicht einfach durch einen Stoß oder Erschütterung hochgehen, sondern benötigten einen Befehl von einem Zünder. Sie war angewidert von Hunters Ignoranz, bis ihr einfiel, daß er schlicht nicht mit dieser geballten Feuerkraft erwischt werden wollte, falls der Kombi aus irgendeinem Grund von einer HighwayStreife angehalten wurde. Der Mann hatte für alles vorgesorgt. Die Stimmung am Abend im Motel war euphorisch. Als sich die Männer erst einmal daran gewöhnt hatten, daß Daniel dabei war, vergnügten sie sich damit, Pizza zu bestellen, fernzusehen und andere Ablenkungen zu genießen, die sie so lange entbehrt hatten. Hunter führte Pfadfinderleiter.
die
Aufsicht
wie
ein
gütiger
Eine nervöse Erschöpfung zehrte an Wrens Kräften. Kopfschmerzen vorschützend, ging sie früh zu Bett, starrte an die Decke und lauschte, wie die Männer in den Nachbarzimmern bis zum frühen Morgen redeten und lachten. Obwohl sie sich beschwerte, weigerte sich Hunter, die Tür zu schließen, da er sie nur ungern mit einem Telefon allein lassen wollte. Irgendwann vor Morgengrauen ließ der Wind nach, ohne seine Drohung mit Schnee wahrgemacht zu haben. Die Morgensonne schien jedoch nur zaghaft und tat wenig, um die bis auf die Knochen gehende Kälte zu vertreiben. Als einige Männer weggingen, um Doughnuts und Kaffee zu holen, entdeckte Wren ihren Sohn allein in einem der Zimmer, wie er gerade Zeichentrickfilme anschaute. 543
Wie oft hatte sie ihn, als er noch klein war, genau so am frühen Morgen angetroffen, wenn er geduldig auf eine Schüssel Cerealien wartete, während die übrige Familie noch schlief. Manchmal hatte sie sich mit ihm auf die Couch gekuschelt, und sie hatten sich die Zeichentrickfilme zusammen angesehen. Sie setzte sich neben ihn. Nach einer Weile sagte sie: »Heute ist nicht Samstag. Wieso laufen Zeichentrickfilme?« »Kabel«, antwortete er. Wren reckte den Hals, um zu sehen, ob Hunter in der Nähe war, aber er schien noch unter der Dusche zu sein. »Daniel…« Obwohl er fortfuhr, in den Fernseher zu starren, als hätte er sie nicht gehört, war sie sich ziemlich sicher, daß er ihr zuhörte. Er hatte seit Big Johns Tod kaum mehr mit ihr gesprochen. »Schatz… wir konnten nichts für Big John tun. Er verstand das. Er hätte es nicht gewollt.« »Ich weiß es.« Seine Stimme schnappte über. Er war eben doch noch ein Teenager. »Du weißt es?« Ehrlich überrascht beugte sie sich näher zu ihrem Sohn. »Wie…?« »Er hat es mir gesagt. An jenem Morgen.« »Du hast ihn gesehen?« »Ich habe mit ihm gesprochen. Sie hatten ihn in demselben Bau, wo… wir zuerst waren.« »Oh.« Sie dachte darüber nach. »Daniel… ich wollte dir nur sagen, wie furchtbar leid mir das alles tut.« Er sah sie an. »Ich dachte, es sei dir egal.« 544
»Ach, Daniel. Du weißt gar nicht, wie wenig egal es mir ist. Ich wünschte…« »Was?« »Ich wünschte nur, alles wäre anders.« »Mom?« »Ja.« »Wir führen diesen… Auftrag heute nicht aus, oder?« »Doch. Wieso?« Er glotzte sie an. »Mit Leuten drin?« »Pssst. Nicht so laut.« Ihre Gedanken waren ein Chaos. Was konnte sie ihm sagen? Wren nahm die Fernbedienung und stellte den Fernseher lauter. Dann beugte sie sich sehr nahe zu ihrem Sohn und flüsterte: »Daniel, weißt du noch, was ich dir am allerersten Abend im Lager gesagt habe?« Er runzelte die Stirn. »Nein.« Sie spähte durch den Türspalt in den anderen Raum, um sich zu vergewissern, daß Hunter nicht in der Nähe war, und sagte: »Ich habe dir gesagt, daß nichts so ist, wie es aussieht.« »Wovon redest du? Du wirst dieses Gebäude voller Leute sprengen!« Wren nahm das Gesicht ihres Sohnes zwischen beide Hände und zwang ihn, ihr direkt in die Augen zu sehen. »Daniel. Ich sagte: Nichts ist so, wie es aussieht. Denk daran, und wenn du alles andere vergißt.« Dann küßte sie ihn spontan, sprang auf und verließ das Zimmer, damit Hunter sie nicht allein mit ihrem Sohn entdeckte. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich das Hämmern ihres 545
Herzens verlangsamte. Noch länger dauerte es, bis Wren jede Gefühlsregung weggeschlossen hatte, so daß sie sich völlig auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren konnte. Sie sprach nicht wieder zu ihrem Sohn. Nachdem die Ereignisse in Gang gekommen waren, gab es kein Zurück mehr. Im Flughafen setzten sie eine Reisetasche ab, die eine Sprengvorrichtung enthielt. Von einer Telefonzelle gaben sie eine Stunde später die Bombendrohung ab. Nach einem vereinbarten Zeitabstand trugen Kicker und Preacher, die mit grünen Overalls mit der Aufschrift Friendly Flowers und passenden Mützen bekleidet waren, die Weihnachtssterne hinein. Wren trug eine krause rote Perücke, eine dunkle Sonnenbrille und einen breitschultrigen schwarzen Blazer (in dem sich die Glock gut verstecken ließ) über Jeans, einem weißen T-Shirt und schwarzen Lederstiefeln. Sie wartete zunächst im Kombi und später am Fuß der Rolltreppe auf das Startzeichen, dann mischte sie sich unter die Leute und schlüpfte in Konferenzraum C. Sie stopfte ihre Angst in dieselbe dunkle Ecke, in der sie die Liebe zu ihrem Sohn aufbewahrte, und arrangierte blitzschnell die Weihnachtssterne, wobei sie den letzten vorsichtig auf den Boden hinter dem TV-Gestell plazierte. In ihrer Tasche war eine kleine Schere versteckt. Falls die Männer sie allein ließen, hatte sie vor, die Zünddrähte an allen Bomben abzuzwicken, außer der hinter dem Fernsehgestell. Sie wagte allerdings nur, die Drähte an zwei davon abzuzwicken, die dem Rednerpult am nächsten standen gerade noch rechtzeitig, bevor Preacher zurückkam, 546
nachdem er seinen Overall abgelegt hatte. Darunter trug er Jeans und ein Flanellhemd. Kicker trug Jeans und ein Sweatshirt der University of Texas. »Machen wir, daß wir hier rauskommen«, sagte er. Sie verließen den Konferenzraum C und schlenderten durch den Flur zum Treppenhaus. Vor ihnen bog Steve Austin um die Ecke. Die beiden Männer erkannten ihn nicht sofort, aber Wren erkannte ihn. Bevor Austin sie sehen konnte, packte sie beide Männer und verdrückte sich mit ihnen in eine Putzkammer. »Hast du den Verstand verloren?« schrie Preacher und griff nach der Türklinke. »Mach ruhig die Tür auf«, flüsterte Wren. »Und wenn du hinausgehst, machst du Bekanntschaft mit Steve Austin, persönlich und aus der Nähe.« »Scheiße.« »Fliegen wir hier drin mit in die Luft?« flüsterte Kicker nervös. »Sei nicht kindisch. Die Bomben sind so eingestellt, daß sie erst losgehen, wenn der Raum voll und Leatherwood am Rednerpult ist.« »Laß uns hier abhauen«, jammerte Preacher. »Ich habe Platzangst.« »Wir können nicht!« flüsterte sie. »Wir müssen warten, bis Leatherwood eintrifft. Dann wissen wir, daß Austin bei ihm ist.« Im Grunde hatte Wren bereits entschieden, daß dies der beste Weg war, ihre eigenen Probleme zu lösen. Mit kaum vernehmlicher Stimme sagte sie: »Sag Hunter, daß wir den Funkverkehr für eine Weile abbrechen müssen, und er soll 547
sich keine Sorgen deswegen machen.« Kicker nickte und murmelte die Nachricht in sein verstecktes Mikrophon. »Und jetzt schaltet sie ab«, flüsterte Wren. »Diese Art Geräusche können wir nicht riskieren.« Kicker und Preacher, gewohnt Befehlen zu folgen, taten es. Nach einigen endlosen Minuten sagte Preacher: »Großer Gott, Kicker, schon mal was von ’nem Zeug namens Deodorant gehört? Ist eine neue Erfindung. Du solltest es mal ausprobieren.« »Halt den Mund«, sagte Kicker, ein Mann, der nicht viele Worte machte. »Ich hasse das hier. Können wir jetzt gehen?« »Halt den Mund«, sagte Wren. Ihr Verstand galoppierte in der engen Dunkelheit der Kammer, suchte ungestüm nach einer Möglichkeit, die beiden Ex-Sträflinge loszuwerden, die sie inzwischen nur noch für Flaschen hielt. »Bist du dir sicher, daß die Bomben richtig eingestellt sind?« fragte Kicker besorgt. »Woher sollen wir wissen, daß sie nicht aus Versehen hochgehen?« »Sie gehen nicht aus Versehen hoch«, murmelte Wren. »Und überhaupt: Wenn sie es tun, mußt du dir nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen.« »Genau, Kicker. Dann mußt du dir über gar nichts mehr den Kopf zerbrechen, nicht mal über Deodorant«, sagte Preacher kichernd. 548
»Halt den Mund.« Wren tastete in dem vollgestellten Raum nach einer Art Waffe herum. Die Glock war ihre letzte Zuflucht, die sie nur in Notwehr benutzen wollte. Sie wollte niemanden töten; nur wegkommen. Abgesehen davon würde es zuviel Lärm machen. Nach einigen weiteren nervösen Minuten fragte Kicker: »Wie spät ist es?« »Es ist fünf Minuten später als das letzte Mal, als du gefragt hast«, sagte Wren. »Du bist schlimmer als ein kleines Kind.« »Auf welche Zeit sind sie eingestellt?« »Entspann dich. Wir haben noch eine gute halbe Stunde.« »Sehr gut. Dann geht’s mir ja gleich viel besser.« »Halt die Klappe, Kicker«, sagte Preacher. »Warum zum Teufel können wir nicht einfach rausgehen?« »Warum zum Teufel kannst du nicht einfach den Mund halten!« flüsterte Wren laut, während ihre Hände über ein Regal tasteten. »Wir müssen Austin gar nicht in die Arme laufen - er muß nur dem Radau nachgehen und die Tür selbst aufmachen!« Ihre Hand schloß sich um eine Sprühdose. »Ich verstehe nicht, warum wir nicht einfach rausgehen können«, wiederholte Kicker. »Er weiß doch nicht, wer wir sind.« »O doch, das weiß er«, log Wren. »Eure Bilder sind 549
dauernd in den Nachrichten.« Sie ließ die Dose in ihre Tasche gleiten. Nach dieser Ankündigung herrschte ein verblüfftes Schweigen in dem engen Raum. »Ich seh manchmal CNN in Hunters Wohnwagen«, sagte sie. Sie erwärmte sich langsam für ihre Lüge. »Die gesamte Strike Force ist auf der FBI-Liste der meistgesuchten Verbrecher.« »Im Ernst?« sagte Preacher. »Du meinst, wir sind berühmt?« »Die Bundesbehörden halten euch dafür.« »Cool.« »Du Trottel!« schrie Kicker. »Weißt du nicht, was das bedeutet?« »Es bedeutet, daß wir schlimme Jungs sind.« »Nein, du Strohkopf, es bedeutet, daß uns die Bullen ohne Warnung erschießen.« »Ach was«, sagte Preacher. »Sie verhaften uns nur, das ist alles.« »Da sieht man mal, wie du bei unseren Versammlungen aufgepaßt hast. Die Schweine vom FBI wollen nicht, daß ihre Verschwörung mit ausländischen Agenten aufgedeckt wird. Meistgesucht ist so gut wie tot.« »O Scheiße.« »Ich sag euch was«, sagte Wren. »Ich bin diejenige, die verkleidet ist, stimmt’s? Ich meine, sie suchen nicht nach einer Rothaarigen.« »Stimmt«, sagten sie zweifelnd. 550
»Warum schau ich mich dann nicht ein bißchen um? Nur ein kurzer Blick. Wenn ich sehe, daß die Luft rein ist, gebe ich euch ein Zeichen.« »Ich weiß nicht recht«, sagte Preacher mißtrauisch. »Hunter würde es nicht gefallen.« »Hunter steht auch nicht gerade neben einem Raum voll Sprengstoff, oder?« sagte Wren. »Und mir ist aufgefallen, daß er Wert darauf legte, draußen im Kombi zu warten, wo niemand sein Gesicht sehen und ihn erkennen kann.« »Sie hat recht, Preacher«, sagte Kicker. »Er läßt uns das ganze Risiko tragen.« Wren wartete, bis das Gehirn der beiden den Gang einlegte. Ihr Herz hämmerte. »Okay«, sagte Kicker. »Nur ein kurzer Blick.« »Ich bin sofort wieder da«, versprach sie. Langsam öffnete sie die Tür der Putzkammer einen Spalt. Als sie niemanden sah oder hörte, streckte sie den Kopf hinaus und schaute sich um. Schließlich schlüpfte sie hinaus und schloß die Tür gerade fest genug, um das Klick des Türschlosses zu übertönen. »Trottel«, flüsterte sie. Sie wußte, daß die beiden einen Mordskrach schlagen würden, sobald sie merkten, daß die Tür verschlossen war - oder würden sie es nicht tun? Immerhin hatte sie keine Ahnung, ob Preacher diesen schrecklichen Elektrodietrich eingepackt hatte. Er könnte sie in ungefähr zehn Sekunden dort rausbringen. So oder so, Vorsprung war Vorsprung. Während sie den Korridor entlangeilte, schaute sie auf 551
die Uhr. Noch fünf Minuten bis zur Explosion. Sie riß die Tür zum Treppenhaus auf und hastete die Treppe hinunter. Als sie gerade den ersten Absatz erreicht hatte, knallte oben die Tür gegen die Wand. »Du Miststück!« schrie Kicker. »Du wolltest uns dort drinnen verbrennen lassen!« Zu Wrens Entsetzen sprang er mit zwei langen Sätzen die Treppe herab, die Arme ausgestreckt, um sie zu packen. Sie wich ihm aus und sprühte ihm Desinfektionsmittel genau in die Augen. Brüllend hielt er die Hände vor die Augen. Preacher hatte dieselbe Stufe erreicht wie Kicker. Bevor sie ihn besprühen konnte, hatte er ihr die Dose aus der Hand geschlagen, aber sie war vorbereitet, holte die Glock heraus und knallte ihm den Visierschieber der Waffe an den Kopf. Als er taumelte, schlug sie ihm noch einmal mit aller Kraft an die Schläfe, daß die Haut platzte. Er fiel um wie ein Sack. Kicker hatte sich ein wenig von dem Desinfektionsspray erholt und stürzte sich auf sie. Wren verlagerte ihr Gewicht zur Seite und nutzte seinen Schwung aus, um ihn hart nach vorne zu stoßen. Er fiel auf die Knie, und Wren sprang praktisch über ihn hinweg auf die Treppe. Eine Hand schloß sich um ihr Fußgelenk und brachte sie beinahe zu Fall. Sie griff mit der rechten Hand nach dem Geländer, aber in der hielt sie die Glock, und sie mußte sich damit begnügen, ihren Ellenbogen zwischen Geländer und Wand zu quetschen, um Halt zu finden. Dann wirbelte sie herum und beantwortete Kickers 552
Maßnahme mit einem harten Tritt direkt in sein Gesicht. Sie spürte, wie ihre Stiefelspitze gegen sein Kinn krachte. Sein Kopf schlug nach hinten, und er löste den Griff um ihr Fußgelenk. Sie zog den Fuß mit einem Ruck weg, hastete ein paar Schritte die Treppe hinunter, riß die Glock herum und zielte auf seinen Kopf. Er fing an zu weinen. »Bitte, bitte töte mich nicht«, stammelte er schluchzend und kauerte sich mit den Händen über dem Kopf in die Ecke. »Bitte!« »Der große, große Mann«, sagte sie angewidert und senkte die Pistole ein Stück. »Ihr Maulhelden seid doch alle gleich.« Dann trat sie ihm noch einmal hart gegen das Kinn, und er sackte bewußtlos zu Boden. Mit pochendem Herzen und bebender Brust steckte Wren die Glock zurück in den Halfter. »Wie soll ich sagen, Kicker?« fragte sie. »Du mußt fühlen, was du tust.« Zitternd schlüpfte sie durch den Notausgang in das Zwischengeschoß im zweiten Stock. Sie ging schnell, während sie die rote Perücke glattstrich. Die Zeit lief ihr davon. Sie sah sich verzweifelt nach einem Telefon oder jemandem vom Sicherheitsdienst um, fand aber weder das eine noch das andere. Ein rascher Blick auf ihre Uhr sagte ihr, daß sie noch zwei Minuten bis zur Explosion hatte. In nunmehr offener Eile bahnte sich Wren ihren Weg die Rolltreppe hinunter und verließ schnell das Gebäude. Draußen rannte sie los, Richtung Kombi. Plötzlich ließ ein leichtes Beben das Gebäude erzittern, und Wren hörte Schreie und das Bersten von Glas. Genau in dem Moment, als sie beim Kombi ankam, gingen die Türen auf, die Strike Force sprang heraus und stürmte ins 553
Gebäude, obwohl einige Leute heraushasteten. Wren sauste hinten um den Kombi herum, riß die Fahrertür auf und rammte die Glock unter Jeremiah Hunters Kinn. »Laß Daniel raus!« befahl sie. »Mom!« Immer mehr Leute quollen aus dem Gebäude. »Sofort!« Über den Funkverkehr, den Hunter überwachte, hörte Wren laut und deutlich Steve Austins Stimme. »Positiv, Weiter mit Code Red. Das war Nummer eins.« Hunter schielte zu ihr hin. »Du lausige, widerliche Schlampe«, sagte er. »Du hast uns alle reingelegt, was? Ich hätte es wissen müssen.« Seine Augen waren kalt wie der Tod. Ohne den Pistolenlauf von Hunters Kehle zu nehmen, schrie Wren: »Daniel! Steig aus! Beeil dich!« »Zu spät, du Schlampe«, sagte Hunter. Dann brachte er seine linke Hand vom Lenkrad nach oben und schlug so heftig an die Innenseite von Wrens Handgelenk, daß es nicht nur die Pistole von seinem Gesicht wegschob, sondern Wrens Abzugsfinger sich unfreiwillig streckte. Bevor sie reagieren konnte, hatte er ihr die rechte Faust ins Gesicht geschlagen. Sie ging zu Boden. Dann trat er das Gaspedal durch, duckte seinen Kopf unter das Fenster und legte den Gang ein. Der Kombi schoß die Straße entlang. Bei einem letzten Blick auf ihren Sohn sah Wren sein verwirrtes Gesicht, das gespenstisch 554
aus dem Beifahrerfenster starrte, als der Wagen mit quietschenden Reifen um die Ecke bog und verschwand. Sirenen heulten in der Ferne. Wren rappelte sich hoch und duckte sich hinter parkende Autos. Im Gebäude brach eine Schießerei los. Wren rannte los.
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40. Kapitel Die Erschütterung durch die Explosion holte Steve Austin an seinem Platz an der Rückseite der Bühne von den Beinen. Seine Ohren klangen, sein Geist sagte immer noch: »Häh?«, als sein Körper - durch viele Jahre des Trainings auf sofortigen Reflex konditioniert - bereits reagierte. Innerhalb der ersten zwei Sekunden nach der Explosion war Austin aufgestanden, hatte sich über die auf dem Bauch liegende Gestalt Buck Leatherwoods geworfen und sich darauf vorbereitet, seinen Klienten aus dem Raum zu schaffen. Leatherwood war zwar benommen, schien ansonsten aber in Ordnung zu sein. Zwei andere aus der Truppe zum Schutz Leatherwoods waren bereits dabei, in der Menge nach Hinweisen im Verhalten zu forschen, die den Angreifer offenbaren konnten, oder jeden, der möglicherweise zu weiterer Gewalt gegen ihren Schützling geneigt war. Innerhalb der nächsten zwei Sekunden erkannte Austin, daß die Panik im Raum in keinem Verhältnis zur Größe der Bombe stand. Ein feines weißes Puder aus den aufgeplatzten Deckenfliesen und Steintafeln staubte alles ein. Eins der großen Fenster, direkt bei der Bühne, war herausgesprengt worden, vermutlich mehr durch herumfliegende Splitter als durch den Druck der Explosion selbst. Der größte Teil des Glases lag drei Stockwerke tiefer auf dem Gehsteig, nicht auf den Leuten in der Nähe. Das tragbare Rednerpult war von der Bühne auf den 556
Boden geschleudert worden, aber das Fernsehgestell neben der Bühne schien die Hauptwucht der Explosion aufgefangen zu haben. Es lag hochkant da, und der Fernseher, der Videorecorder und andere elektronische Ausrüstung waren wie Kinderspielzeug auf dem Boden verstreut. Einige Stühle in der ersten Reihe waren umgefallen, aber alle Leute, die Austin sah, waren bewegungsfähig sie konnten ihre Stühle selbst umgeschmissen haben, beim panischen Versuch, hinauszukommen. Alle drängelten zum Ausgang an der Rückseite. Niemand stürmte die Bühne, zog eine Waffe oder schoß auf seinen Klienten. »Hier Nummer Eins!« rief er in sein Funkgerät. »Notfall, Code Black durchführen! Ich wiederhole, an alle, Code Black!« Austins nächster Schritt war, zusammen mit seinen Mitarbeitern Leatherwood aufzuheben und hinauszubringen. Fünf Sekunden nach der Explosion hatte Austin Leatherwood auf die Beine gezerrt, sich als Schutzschild zwischen Leatherwood und dem Tumult hinter ihm geschoben und ihn in der Hüfte nach vorn gebeugt, wobei er Leatherwoods Kopf buchstäblich mit einer Hand nach unten drückte. Er und drei aus seiner Mannschaft stürmten mit Leatherwood aus einem nichtöffentlichen Notausgang hinter der Bühne, den Korridor entlang zu einem vorbereiteten Ausgang. Andere Sicherheitsleute rannten neben ihnen her, sie hatten ihre Waffen gezogen und nach hinten Richtung Konferenzraum gerichtet, und wieder andere hatten eine nichtöffentliche Treppe gesichert (Aufzüge sind nach einem Bombenanschlag zu anfällig) und standen Spalier bei Leatherwoods benommenem Sturmlauf die Treppe hinunter. 557
Weniger als zwei Minuten später, als sie zur Limousine stürzten, krächzte Austins Funkgerät. »Nummer Eins! Hier Nummer Sechs. Empfehle Code Red. Ich wiederhole. Empfehle Code Red.« Die Ankündigung von Code Black bedeutete, daß Polizei und Feuerwehr alarmiert werden sollten, und die gesamte Sicherheitsmannschaft mit der Evakuierung des Gebäudes zu beginnen hatte. Code Red zeigte die Möglichkeit einer Schießerei an. Austin blieb sofort stehen und gab seine Anweisungen. »Positiv«, sagte er, während sein Gefolge durch die offene Tür der Limousine kletterte. »Weiter mit Code Red. Das war Nummer Eins.« Normalerweise hätte sich Austin nun im Wagen praktisch auf Leatherwood geworfen, während sie mit qualmenden Reifen davonbrausten. Die Ankündigung von Nummer Sechs setzte sofort Plan Zwei in Kraft, was bedeutete, daß Sandra Dodge die Evakuierungsmannschaft übernahm und Leatherwood in Sicherheit brachte. Wie die meisten Mitglieder der Truppe war sie ausgebildete Sanitäterin und mehr als qualifiziert, alle Verletzungen zu behandeln, die nicht lebensbedrohlich waren. Das letzte, was Austin sah, als die Limousine mit quietschenden Reifen abfuhr, war Dodge, die ihm über Leatherwoods Kopf hinweg zuwinkte. Kühl wie ein Eisberg, die Frau. Während Austin zum nichtöffentlichen Notausgang des Gebäudes spurtete, sagte er: »Nummer Sechs, hier Nummer Eins. Geben Sie mir eine Lokalisierung.« »Hier Nummer Sechs. Raum Eins-A.« Austins Herz setzte einen Schlag aus. Raum Eins-A war 558
der Sicherheitscode für die Bank. Mit der Waffe in der Hand stieß er die Tür auf und rannte im Laufschritt durch den Korridor zur Eingangshalle. Anders als die Cops im Fernsehen oder Kino trug Austin die Pistole nicht im rechten Winkel zum Kopf, zur Decke gerichtet, wo sie die ohnehin schon verängstigten Leute, die aus dem Gebäude zu kommen versuchten, womöglich noch mehr erschreckt hätte. Wie viele Polizisten trug er sie gefahrlos unten am Oberschenkel, den Arm ausgestreckt, aber entspannt, die Waffe auf den Boden gerichtet und bereit, im Bruchteil einer Sekunde zu zielen, falls nötig. Er tauchte in eine Eingangshalle im Chaos. Erschreckte Kunden, von denen die meisten keine Ahnung hatten, was eigentlich passiert war, sondern nur gehört hatten, daß es um eine Bombe ging, drängten zu den Eingangstüren. Das einzige, was eine Massenpanik verhinderte, war sein schwer arbeitender Sicherheitstrupp, der alle Leute sicher hinausführte und diejenigen, die in Panik waren, notfalls auch mit körperlicher Gewalt bändigte. Während sich Austin durch die Menge drückte, entdeckte er Nummer Sechs, Mohammed Fusch, und seine drei Teammitglieder, die sich an den Banktüren verteilten, die zur Eingangshalle führten. Sie hatten ihre Waffen gezogen, hielten sie aber so, daß die vorbeiströmenden Menschenmassen sie nicht sehen konnten. Austin bezog neben ihnen Stellung und sah, daß ein Banküberfall im Gange war. Alle Bankangestellten lagen mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Manche weinten. Alle Räuber waren mit Automatikwaffen ausgerüstet. »Scheiße«, flüsterte er Mohammed zu. Mohammed murmelte: »Sie haben bereits die Kameras 559
ausgeschossen.« »Schießt vorläufig nicht«, sagte Austin leise. »Zu viele Menschen. Sie könnten durchdrehen mit ihren Automatiks und Zivilisten töten.« Die Teammitglieder nickten. Austin betrachtete die Gesichter seiner Mannschaft. Alles erfahrene Profis. Manche Angestellten seiner Firma waren ehemalige FBI- oder Secret-Service-Leute. Mohammed war früher Agent bei Israels erstklassigem Geheimdienst, dem Mossad, gewesen. Sie waren das Beste, was man für Leatherwoods Geld bekommen konnte, und Austin war heilfroh, sie nun alle hier versammelt zu haben. »Wie viele?« formte Austin mit den Lippen. Mohammed hielt vier Finger in die Höhe. Austin zählte drei Räuber. Er hob fragend die Augenbrauen. Mohammed deutete zum Tresorraum. Austin nickte. Gerade in diesem Augenblick ging einer der Räuber zu dem vierten in den Tresorraum. In der Ferne heulten Sirenen. »Scheiße!« schrie der Räuber, der am nächsten zur Tür stand. »Die Bullen, jetzt schon!« Er brüllte in seine Brusttasche. »Hunter! Die Bullen! Hunter!« Ein anderer schaute aus dem Fenster. »Er ist weg!« schrie er. »Der Hurensohn ist weg!« Der an der Tür rannte ans Fenster, um selbst nachzusehen. 560
»Scheiße! Was machen wir jetzt?« Er spurtete zum Tresorraum und schrie: »Wir müssen hier weg! Hunter ist abgehauen!« Beide Männer fuchtelten wild mit ihren geladenen Waffen herum; die Situation wurde mit jedem Augenblick unberechenbarer. Austin konnte nicht absehen, ob sie aus lauter Frust und Rachelust auf die Bankangestellten schießen würden, wenn sie rausgingen, oder - noch schlimmer - vorhatten, Geiseln zu nehmen. Er spürte, wie die Situation rasch außer Kontrolle geriet. Die beiden anderen tauchten aus dem Tresorraum auf, schwer beladen mit Plastikmüllsäcken, die Waffen unter die Achsel geklemmt. Sie gesellten sich zu den beiden anderen Räubern; es folgte ein lauter Streit. Austin drückte sich flach an die Wand und sagte, so deutlich er zu sprechen wagte: »Nummer Eins an alle Einheiten. Notfall. Bankraub in Gang. Holt alle auf den Boden. Schnell! Schnell!« Bis die Antworten zurückplätscherten gab es einige Augenblicke Verwirrung, aber dann begannen die Hunderte von Menschen, die noch auf dem Weg ins Freie waren, sich in einer Wellenbewegung zu Boden zu werfen. Es gab Schreie und ein wenig Panik, aber Austins unerschrockene Sicherheitsleute brachten alle zum Hinlegen, einen nach dem andern, Gruppe für Gruppe, was sie selbst nur noch mehr einem etwaigen Streufeuer aussetzte. Der Streit in der Bank erreichte einen Höhepunkt. Einer der Räuber schrie: »Scheiß drauf, Mann!« Er wirbelte herum und feuerte zweimal in die Decke. Die Menschen 561
auf dem Boden machten sich klein. »Ich habe nichts zu verlieren, Mann«, brüllte er, »und ich nehme Geiseln!« Austin nickte seinem Team zu. »Wir können nicht auf die Polizei warten«, murmelte er. »Auf mein Kommando.« Er hielt drei Finger in die Höhe, dann zwei, dann einen. Das Fünf-Mann-Team, Austin eingeschlossen, brach in der klassischen FBI-Manier des ›Schnellen Eindringens‹ durch die Türen der Bank: Zwei stürmten hinein und blieben mit gezogenen Pistolen an der Tür stehen; drei stolperten hinterher. Als Austin schrie: »Security! Laßt die Waffen fallen!«, begannen die beiden Teammitglieder an der Tür die Räuber in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel zu umkreisen, während die anderen im Zickzack in den Raum stürmten. Die Räuber eröffneten das Feuer. Austin sah, wie die Mündungen ihrer Maschinenpistolen Flammen ausstießen; er rollte seitlich in Deckung und erwiderte das Feuer. Er hörte die Schreie der entsetzten Menschen, die sich vor ihm auf dem Boden der Bank krümmten und hinter ihm auf dem Boden der Eingangshalle. Die Schreie mischten sich mit dem schauderhaften Krachen von berstenden Fensterscheiben, und über allem lag das ohrenbetäubende Getöse des Automatikfeuers und das gräßliche Klatsch von Kugeln, die zu nahe einschlugen. Mohammed bekam einen Treffer ab und ging zu Boden, ebenso wie zwei der Räuber, die beide in die Beine getroffen worden waren. Austin brauchte einige blutige Augenblicke, bis er kapierte, daß die Räuber kugelsichere Westen trugen. »Sie sind gepanzert!« schrie er seinem Team zu, aber niemand hörte ihn. Er sah wie eine andere Mitarbeiterin Cindy Thomas zu Boden taumelte. Ein heißer Schürhaken 562
stieß in Austins linken Arm, riß ihn nach hinten. Ohne auf den Schmerz zu achten, krabbelte er hinter einen Schreibtisch und sprang nur auf, um in Sekundenschnelle zu zielen: ein Schuß in die Leiste. Er feuerte zweimal, dann duckte er sich wieder hinter den Schreibtisch, aber seine Beine waren zu lang; er hatte unbewußt eins davon seitlich vom Schreibtisch herausgestreckt, und ein zweiter brennender Hitzestoß fuhr in das freiliegende Bein. Und dann war es vorbei. Zwar schrien noch Leute, aber der Feuerhagel hatte aufgehört. Durch den Pulverdampf hindurch sah Austin einen der Räuber als kleines Häufchen auf dem Boden kauern; die Hände hatte er erhoben. Die schwere Tüte, die er umklammert hatte, war von Kugeln durchsiebt. »Nicht schießen! Nicht schießen! Nicht schießen!« schrie er. Schwankend erhob sich Austin ein bißchen höher hinter dem Schreibtisch. Einer der Räuber lag quer über dem flach hingestreckten, aber offenbar unverletzten Körper eines Bankkunden. Der Kopf des Räubers war nur noch eine blutige Masse. Die beiden anderen schrien vor Schmerz und hielten die bluttriefenden Hände auf ihre Wunden. Ein paar Leute begannen aufzustehen. Pedro Rodriguez aus Austins Team schrie: »Legt euch hin! Alle!« Alle drei überlebenden Bankräuber warfen sich gleichzeitig mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. 563
Austin wechselte einen Blick mit Pedro. Unter anderen Umständen hätte es vielleicht komisch ausgesehen. Als er aufstand, knickte sein linkes Bein unter ihm weg, und er mußte sich am Schreibtisch festhalten. Die meisten Leute hatten aufgehört zu schreien, aber nun erfüllte das Heulen der Sirenen die Luft. Während ein Teammitglied, Eric Stoltz, die Räuber in Schach hielt, kickte Pedro ihre Waffen zur Seite und eilte umher, um nach seinen Kollegen zu sehen, die am Boden lagen. »Nehmt die Hände hinter den Nacken«, kommandierte Austin und fügte trocken hinzu: »Ich meine die Bankräuber. Ich schwöre bei Gott, daß ich euch den Schädel wegpuste, wenn ihr auch nur einen Muskel rührt.« »Ich bin verletzt!« schrie einer. »Ich blute.« »Tja, tut mir leid, wenn ich nicht vor Mitleid zerfließe«, polterte Austin. Er hörte, wie mehrere Leute, die immer noch flach auf dem Boden lagen, kicherten. Wenn man beinahe umgekommen wäre, läßt irgendwas daran den Wunsch aufkommen, gleichzeitig zu lachen, zu weinen und Sex zu haben, dachte Austin. »Ich glaube, Mohammed kommt wieder in Ordnung«, berichtete Pedro, der Austins verwundete Mitarbeiter untersuchte. »Bei Cindy bin ich mir nicht sicher. Sie hat bereits sehr viel Blut verloren.« Er riß sich den Gürtel herunter, schob ihren Rock hoch und band den Gürtel fest um ihren Oberschenkel. Austin schrie Befehle an seine Leute draußen ins Funkgerät, die Polizei und Sanitäter sofort ins Gebäude zu schicken. »Hier ist Nummer Sieben. Was ist mit den Leuten hier 564
draußen am Boden, Sir?« Austin sagte: »Vergewissern Sie sich, daß niemand verletzt ist, dann lassen Sie sie vorläufig liegen, wo sie sind. Wir müssen unsere Verwundeten schleunigst rausschaffen, und ich kann keinen massiven Stau an den Eingangstüren brauchen. Nummer Eins Ende.« »Verstanden.« Zu den Leuten in der Bank sagte Austin: »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herrschaften, würde ich es begrüßen, wenn Sie einfach bleiben, wo Sie sind, bis die Polizei Ihnen zu gehen erlaubt. Wir haben hier ein paar Schwerverletzte, und wir müssen sie ins Krankenhaus bringen. Die Ambulanz ist bereits hier. Und die Polizei wird Ihre Aussagen aufnehmen wollen, bevor Sie gehen. Mir ist klar, daß Sie die Hölle durchgemacht haben, und ich weiß Ihre Kooperation zu schätzen.« Eine der Prokuristinnen der Bank wandte den Kopf und sagte: »Danke, daß Sie uns das Leben gerettet haben.« »Gern geschehen«, sagte Austin, dann brach er zusammen. Wren wußte, wie man ein Auto kurzschließt. Sie hatte es nicht von ihren paramilitärischen Entführern gelernt, sondern von einem bösen Buben in der Verwandtschaft, der sich gern vor ihr aufspielte. Die Straße im Geschäftsviertel, in der sie sich befand, war noch so nahe beim Leatherwood Building, daß sie hörte, wie anscheinend sämtliche Polizeiautos in der Stadt mit heulenden Sirenen vorbeibrauste. Sie wußte, wonach sie suchte: ein unverschlossenes Fahrzeug älteren Baujahrs, das wahrscheinlich nicht mit elektronischer Wegfahrsperre und anderem High-Tech-Zeug ausgerüstet war, mit dem 565
Kriminelle wie sie abgehalten werden sollten. Sie entschied sich für einen blauen 79er Buick Skylark, kroch hinter das Steuerrad, duckte sich unter das Armaturenbrett und machte sich an die Arbeit. Es dauerte nur ein paar Sekunden, den Wagen anzulassen. Noch war es mitten am Tag, deshalb wartete sie kurz, bevor sie wegfuhr, um sich zu vergewissern, daß sie nicht beobachtet wurde. Noch mehr Polizeiautos und ein Wagen vom Fernsehen sausten vorbei. Sie fuhr mit vernünftiger Geschwindigkeit in die Gegenrichtung. Das Bild von Daniels Gesicht, wie es angstverzerrt aus dem Kombi geschaut hatte, als Hunter wegfuhr, war allgegenwärtig. Wren konnte ihm nicht entrinnen, aber sie durfte sich auch nicht den Kopf davon vernebeln lassen, deshalb blickte sie an dem Gesicht vorbei, so gut es ging, und versuchte zu überlegen, was sie als nächstes tun sollte, und gleichzeitig ihren schmerzenden Wangenknochen zu ignorieren. Vor Verlassen des Lagers hatte Wren ein paar hundert Dollar aus Hunters Privatvorrat im Wohnwagen gestohlen, aber damit würde sie nicht sehr weit kommen. In einem gestohlenen Wagen war sie zu sehr gefährdet, ohne Kreditkarte konnte sie jedoch keinen mieten. Busfahrkarten waren zu leicht nachzuverfolgen. Wren konnte sich nur einen Ort vorstellen, an dem sich Hunter nun sicher fühlen würde. Dorthin war jedoch ein weiter Weg, in einen anderen Bundesstaat, und die Reise barg die Gefahr, von der Polizei erwischt zu werden. Wren war sich sicher, daß Hunter einer Verhaftung entgehen konnte, solange er wollte; um sich selbst machte sie sich Sorgen. Sie befürchtete, daß man sie erwischen könnte, bevor sie dort hinkam, um Daniel zu retten. 566
Sie mußte diejenige sein, die ihn rettete - daran bestand kein Zweifel. Jede polizeiliche Maßnahme würde Daniels Tod bedeuten, Punkt. Sie war die einzige. Aber eine Rettungsaktion erforderte Planung und Material. Mehr als sie sich für zweihundert Dollar leisten konnte. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Eins hatte Wren in ihrer Zeit mit Kriminellen gelernt, nämlich daß es in fast jeder Stadt Orte gab, an denen niemand Fragen stellte, Orte, an denen die Leute keine Vergangenheit und keine Zukunft hatten; Orte, an die sich die Cops ungern wagten, wenn sie nicht dazu eingeladen wurden. Midland war eine Stadt, die sich vom Zusammenbruch der Ölpreise nie mehr ganz erholt hatte. Es gab massenhaft schäbige Hotels, die weit abseits von Finanzmekkas wie dem Leatherwood Building lagen. Durchreisende mieteten vorzugsweise für eine Woche Zimmer in diesen Hotels, und sie bezahlten mit zerknitterten Geldbündeln. Selten blieben sie lange genug, um sich häuslich niederzulassen, sie zogen weiter auf der Suche nach Jobs oder einer billigeren Unterkunft, nach Zielen für ihre kriminellen Jobs oder einer anderen Atempause für ihre rastlos wandernden Seelen. Wren nahm sich ein Zimmer in einem dreckigen, billigen Hotel. Es kostete zehn Dollar die Nacht. Als sie sich unter einem falschen Namen einschrieb, sorgte sie dafür, daß die Glock unter ihrem Blazer zu sehen war, eine Gewohnheit, die sie beibehielt, wann immer ihr jemand zu nahe kam. Niemand belästigte sie. Nach dem Einchecken ging Wren als erstes zu einer 567
öffentlichen Telefonzelle außerhalb des Hotels und rief Cam an. Als sich in seinem Büro niemand meldete, obwohl es mitten an einem Werktag war, war sie beunruhigt. Ihre Finger zitterten, als sie die Nummer von zu Hause wählte… Sie durfte nur kurz sprechen. »Hallo?« Seine Stimme, fest und stark wie immer, klang, als stünde er einen Meter neben ihr. Eine mächtige Woge von Gefühlen schwappte über Wren; ihre Knie wurden weich, und sie schwankte in ihrem Entschluß. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre in Schluchzen ausgebrochen. »Cam?« »Wren! Mein Gott, wo bist du?« »Ich kann nicht lange sprechen, Darling. Bitte hör aufmerksam zu.« »Okay.« »Hunter hat uns gezwungen, an dem Banküberfall bei Leatherwood teilzunehmen.« »Welcher Banküberfall?« »Schalt die Nachrichten ein, nachdem wir aufgelegt haben, dann wirst du es sehen. Jedenfalls hat die Polizei die meisten anderen erwischt, aber Hunter ist mit Daniel entkommen.« »Wie bist du weggekommen?« »Das ist eine lange Geschichte. Erzähl ich dir am besten später.« Wren fror. Sie klemmte sich den Hörer in die Halsbeuge, 568
rieb die Hände aneinander und steckte sie unter die Achseln. »Wo bist du?« »Das kann ich dir nicht sagen, Schatz. Ich wollte dich nur wissen lassen, daß ich Daniel finden und nach Hause bringen werde.« »Ruf Steve Austin an. Er arbeitet für mich, Wren.« »Tatsächlich?« »Ja. Ruf ihn an. Er wird wissen, was zu tun ist.« »Ich kann nicht, Cam. Wenn die Polizei auch nur auf fünf Meilen in Hunters Nähe kommt, wird er Daniel umbringen, daran gibt es keinen Zweifel.« »Woher weißt du, daß er dich nicht umbringen wird?« Sie zögerte. »Mir passiert schon nichts.« »Wren…« »Vertrau mir. Bitte, bitte vertrau mir.« Nun zögerte Cam. »In Ordnung.« »Du sollst wissen, daß ich alles getan habe, was in meiner Macht stand, damit im Leatherwood Building niemand verletzt wird. Sie hatten Daniel. Sie wollten, daß ich das ganze Gebäude in die Luft sprenge, aber ich habe es nicht getan. Ich habe die Bomben so manipuliert, daß sie nicht hochgingen. Ich hoffe und bete, daß niemand verletzt wurde.« »Wovon redest du?« »Ich muß aufhören. Ich liebe dich mehr als das Leben selbst.« 569
»Ich liebe dich auch«, sagte er mit versagender Stimme. »Geht es Zoe gut?« Er räusperte sich. »Der geht es prima. Mach dir keine Sorgen um uns. Sei ja vorsichtig.« »Mach ich. Bitte sag ihr, daß ich sie liebe. Und Cam -« »Ja?« »Nichts.« »Was?« »Ich… ich wünschte nur, wir hätten die Möglichkeit zu Flitterwochen, weißt du.« »Die werden wir haben. Wenn du heimkommst.« »Bis dann«, sagte sie und wollte gerade aufhängen, als sie Cam schreien hörte: »Warte!« Sie nahm den Hörer wieder ans Ohr. »Was?« »Wenn du Daniel siehst, sag ihm… sag ihm einfach, wie stolz ich darauf bin, daß er mein Sohn ist, okay? Und daß ich ihn liebe.« Es war schwer, aufzuhängen. Sie lehnte den Kopf gegen die kalte Scheibe der Telefonzelle. Ein Schwindelgefühl überkam sie, und sie setzte sich mitten in der Telefonzelle auf den Boden. 0 Cam, betete sie, ich hoffe, du hast meine Nachricht verstanden. Sie hoffte außerdem, daß sie aufgelegt hatte, bevor das FBI eine Spur hatte - das heißt, falls es sie überhaupt noch soweit interessierte, sie und Daniel zu finden, um Anrufen nachzuspüren. Auf dem Band war nichts, (sie war sich 570
sicher, daß sie Cam alle Telefonate aufzeichnen ließen), was Daniel in Gefahr bringen konnte. Es lag an Cam, den Geheimcode zu entschlüsseln. Wren holte tief Luft, um ihr klopfendes Herz zu beruhigen, und dachte darüber nach, was Cam gesagt hatte, daß Austin für ihn arbeitete. Ruf ihn an, hatte er gesagt. Es gab nur einen Ort, wo Steve Austin jetzt sein konnte. Wren stand spontan auf, rief zuerst die Auskunft an und wählte dann die Nummer. Das Telefon läutete sehr lange. »Hallo?« Es war eine männliche Stimme, außer Atem. Offenbar niemand vom Empfang. »Ist dort das Leatherwood Building?« »Ja.« Mißtrauisch. »Ich möchte bitte Steve Austin sprechen.« »Das dürfte nicht so einfach werden«, sagte die Stimme, nun wütend. »Die Ambulanz bringt ihn gerade ins Krankenhaus. Er wurde angeschossen. Wer spricht denn da?« Wren hängte sofort ein. Wie blind tastete sie sich zurück in ihr Zimmer, schloß sich in dem kalten Halbdunkel ein und verriegelte sämtliche Schlösser, die sie fand. Sie strampelte die Stiefel von den Füßen und kroch unter die übelriechenden Decken, wo sie sich endlich den Luxus aller Verzweifelten und Verängstigten gestattete: einige hoffnungslose Seufzer und die endlose Wiederholung jenes universellen Schreis des menschlichen Herzens, auf den es selten eine Antwort gibt: Warum?
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Wie beim Werwolf, der sich jedesmal bei Vollmond in eine wilde und unbarmherzige Kreatur verwandelt, war hinter der freundlichen Maske von Jeremiah Hunter schließlich sein zweites Ich zum Vorschein gekommen und enthüllte einen von Dämonen besessenen Mann, der nur noch furchtbare Rache an Daniels Mutter üben wollte. Etwas anderes schien ihn nicht mehr zu interessieren. »Diese kleine Schlampe hat mich schon beim ersten Mal verarscht«, schnarrte er. »Ich hätte es sehen müssen! Ich hätte es wissen müssen!« Während er auf dem Freeway ständig ein- und ausscherte, sagte Hunter: »Sie hat wahrscheinlich die ganze Zeit für das FBI gearbeitet, vom ersten Tag an, seit ihr beiden ins Lager gekommen seid.« Er sah Daniel mit ungehemmter Paranoia an. Daniel zog es vor, ihn nicht daran zu erinnern, daß sie ihn und seine Mutter entführt hatten. »Was wird aus den Alpha/Omegas werden?« fragte er ängstlich, nur um Hunter abzulenken. Hunter zuckte die Achseln. »Sie sind Profis. Die landen wieder auf den Füßen.« Das ergab für Daniel nicht den geringsten Sinn, aber er fürchtete sich, noch mehr zu sagen. Hunter fand einen Radiosender, der aus dem Leatherwood Building berichtete. »… offenbar keine ernsthaft Verletzten durch die Explosion, die sich genau in dem Augenblick ereignete, als Buck Leatherwood, der umstrittene Verfechter einer Waffenkontrolle, eine Rede halten wollte. Leatherwood wurde nicht verletzt. Jedoch wurde ein Banküberfall, der offenbar mit dem Anschlag in Verbindung stand, von Sicherheitskräften des Gebäudes vereitelt. Bei einem 572
wahren Feuerhagel, wie Zeugen berichten, wurde einer der Bankräuber getötet und zwei weitere verletzt. Drei Sicherheitskräfte wurden ebenfalls verwundet. Wie ein Polizeisprecher am Tatort…« Sie sausten über den Interstate 20, auf einem öden Teilstück, das Midland mit ihrer Schwesterstadt Odessa verbindet. Hunter riß das Lenkrad scharf herum und fuhr an den Rand des Highway, riß die Tür auf, sprang hinaus und begann gegen den Wagen zu treten und zu schlagen. Er schrie und fluchte, und sein Gesicht war so wutverzerrt, daß Daniel es praktisch nicht wiedererkannte. »Ich bringe sie um!« schrie er. »Ich bringe sie alle um!« Einen Augenblick lang sah er Daniel durch die Windschutzscheibe an, daß dem Jungen das Blut stockte, ging dann vorne um den Kombi herum, riß die Beifahrertür auf, packte Daniel am Kragen und zerrte an ihm, als wollte er ihn auf der Stelle aus dem Wagen schleifen und totschlagen. Aber der Sitzgurt hielt Daniel fest, und als ein vorbeikommende!; Auto abbremste und seine Insassen gafften, ließ Hunter los. Als er zurücktrat hatte er allerdings Daniels 45er in der Hand. »Du bist zu jung, um mit Pistolen zu spielen«, sagte er. »Du könntest dir weh tun.« Daniel wurde mit Entsetzen bewußt, daß er die Waffe völlig vergessen hatte. Er hätte möglicherweise fliehen können, aber er hatte nicht einmal daran gedacht. Ein schöner Krieger war er. Schwer atmend stand Hunter eine kurze Weile im eisigen Wind und schien zu einem Entschluß zu kommen. Als er wieder in den Kombi stieg, sagte er: »Wir müssen diesen Kombi stehenlassen. Das FBI hat ihn in Null 573
Komma nichts aufgespürt.« Dann fuhr er über den unbefestigten Streifen Erde, der die 1-20 Ost von der 1-20 West trennte, und raste in die Gegenrichtung. Daniels Hals schmerzte dort, wo Hunter ihn gepackt hatte. Alles passierte so schnell, daß er es kaum aufnehmen konnte. »Wo fahren wir hin?« fragte er. Hunter würde ihn möglicherweise schlagen, weil er fragte, aber er mußte es wissen. Hunter lächelte Daniel an. Es war ein unheimliches Lächeln, und Daniel überlief es kalt. Hunter sagte: »Ich bin gerade draufgekommen, wie wir deine Mom am besten finden.« Plötzlich fiel es Daniel schwer zu atmen. Noch immer lächelnd sagte Hunter: »Wir statten einfach deinem Dad einen kleinen Besuch ab.« »Dort wird sie nicht sein!« schrie Daniel mit vor Verzweiflung schriller Stimme. »Sie weiß genau, daß sie dort nicht hindarf!« Hunter zuckte die Achseln. »Mag sein. Aber sie kann unmöglich der Versuchung widerstehen, ihn anzurufen.« Mit einem erneuten Blick auf Daniel sagte er: »Er wird wissen, wo sie ist, verlaß dich drauf. Und er wird es mir sagen; dafür sorge ich schon.« Er langte neben sich und streichelte die Desert Eagle, die unschuldig auf dem Sitz des Kombi lag. Dann nahm er sie nach einem mißtrauischen Seitenblick auf Daniel und legte sie auf das Bodenblech zwischen seinen Füßen. Die 45er hatte er sich beim Fahren unter ein Bein gesteckt. Nie gekanntes Entsetzen stieg in Daniels Kehle hoch und würgte ihn. Er bekam keine Luft mehr. Er glaubte, ohnmächtig zu werden. 574
In der Nacht, in der sie entführt wurden, hatte er sehr viel Angst gehabt, aber verglichen mit jetzt war die Entführung nichts weiter als ein Probelauf gewesen. Allerdings war damals natürlich seine Mutter bei ihm. Wie mutig sie die ganze Zeit gewesen war. Allein der Gedanke daran brachte Daniel den Tränen nahe. Denk dran, nichts ist so, wie es aussieht, hatte sie ihm wieder und wieder gesagt. Aber er war zu borniert, zu unreif gewesen, um zu begreifen, was sie meinte. Er hatte Hunter, diesen Kerl, für tapfer gehalten. Wie hatte er nur so dumm sein können? Tapfere Männer machen sich nicht aus dem Staub und überlassen ihre Kameraden dem Tod. Traurig fragte sich Daniel, wer von der Strike Force umgekommen war. Vermutlich mußte er der Tatsache ins Auge blicken, daß sie alle Lumpen waren, aber das hieß nicht, daß sie nicht auch ihre liebenswerten Seiten hatten. Daniel versuchte sich zu beruhigen, indem er tiefe Atemzüge machte und an seinen Vater und Zoe dachte. Wenn er sie nur irgendwie warnen könnte! Wenn er Hunter irgendwie aufhalten könnte! Aber er hatte Angst; er wußte nicht, was er tun sollte. Gott, was für ein Waschlappen er doch war. Alle Leute in der Armageddon-Armee, all die Typen mit ihren großen Knarren, ihren Uniformen und ihren Kriegsspielen… Daniel hatte sie alle für Helden gehalten. Mit der Bitterkeit der nachträglichen Einsicht erkannte er nun, daß Tapferkeit nichts mit der Größe der Waffe eines Mannes zu tun hatte. 575
Es hatte mit der Größe seines Charakters zu tun. Klingt, als könnte es von Dad sein, dachte er wehmütig. Und ich würde ihm nicht zuhören. Er schaute unglücklich aus dem Beifahrerfenster. Was würde Mom tun? fragte er sich plötzlich. Was würde sie jetzt von mir erwarten? Er wußte nicht, was sie im Leatherwood Building getan hatte, aber er war sich sicher, daß sie die ganze Sache sabotiert hatte, so daß niemand verletzt wurde. Zum ersten Mal dachte er an Kicker und Preacher. Sie waren bei ihr gewesen. Was war mit ihnen passiert? Sie muß sie irgendwie losgeworden sein, dachte er und unterdrückte ein grimmiges Lächeln. Gut gemacht, Mom. Sie ließ sie nie wissen, was sie dachte; soviel hatte er immerhin bemerkt. Weder vor ihrer Flucht noch vor dem Spezialeinsatz. Okay. Soviel brachte er auch zustande. Und sie dachte alles genau durch, sie geriet nicht in Panik. Er konnte es versuchen. Sie wartete auf günstige Gelegenheiten. Das konnte er auch tun. Und sie zeigte den Scheißkerlen nie, wieviel Angst sie in Wirklichkeit hatte. Das würde schon sehr viel schwerer werden. Es war nämlich so, daß Daniel in der Nacht, in der sie entführt wurden, hauptsächlich um sich selbst Angst gehabt hatte. Jetzt (er schämte sich, es sich eingestehen zu 576
müssen) hatte er zum ersten Mal Angst um andere. Er hatte Angst um seine Familie - um alle, auch um seine Mutter, die sich irgendwo da draußen versteckte. Und diese Art Angst - die Angst um jemanden, den man liebt war sehr viel schlimmer als die nur um sich selbst. Wenn Hunter Daniels Vater oder Zoe etwas antat, würde es sich Daniel nie verzeihen. Irgend etwas würde ihm noch einfallen. Vom westlichen Texas, wo sie sich gerade befanden, bis zu Daniels Zuhause in der Nähe von San Antonio fuhr man sechs Stunden. Zweimal während der Fahrt wechselte Hunter den Wagen und stahl einen neuen. Während eines Diebstahls bemerkte Daniel, daß Hunter die Desert Eagle im Wagen vergaß. Natürlich hatte er nicht die Absicht, ihn darauf aufmerksam zu machen; immerhin hatte Hunter noch ein halbautomatisches Gewehr und Daniels 45er. Einmal sauste eine Highway-Patrouille vorbei. Sie fuhr in die Gegenrichtung, und Daniel konnte nichts weiter tun, als zuzusehen, wie sie verschwand. Ein andermal fuhren sie durch ein Drive-In von McDonald’s. Daniel wollte dem jungen Angestellten verzweifelt ein Zeichen geben, in welch fürchterlicher Gefahr er war, aber er traute sich nicht. Hunter saß immer noch auf der 45er. Daniel wußte, daß er nicht zögern würde, jeden zu erschießen, der sich ihm in den Weg stellte. Die Winterdämmerung legte sich auf die Äste der Immergrünen Eichen, als sich Daniel und Hunter der kleinen Stadt näherten, die Daniel sein ganzes Leben lang seine Heimat genannt hatte. Sie sah nun wie ein fremder Planet für ihn aus. Als sie über den Stadtplatz fuhren, der bereits verlassen dalag, obwohl erst früher Abend war, schaute Daniel auf die Weihnachtsbeleuchtung, die alle 577
Straßenlaternen schmückte, aus den Zweigen der alten Bäume funkelte und alle Geschäfte umrahmte. Er hatte sich hier so gelangweilt, rief er sich in Erinnerung. Er hatte die Stadt für ein richtiges Kaff gehalten. Eric und er hatten es nicht erwarten können, wegzukommen. Sie hatten immer mit Steinen nach den Straßenlampen geworfen und versucht, die Lichter kaputtzuschmeißen. Waren vor den Scheinwerfern der Streifenwagen davongerannt und über Gartenzäune gesprungen, um sich zu verstecken. Alles für ein bißchen Abenteuer. Was würde Daniel jetzt nicht für einen dieser Tage von damals geben. Er wußte in seinem Innern, daß sie für immer vorbei waren, und dieses Wissen hinterließ ein gähnendes Loch, als wäre jemand, den er liebte, gestorben. Sie fuhren an der Anwaltskanzlei seines Vaters vorbei. Ein plötzliches Gefühl von Panik riß Daniel aus seinem Dämmerzustand. Sie waren beinahe da! Sie waren fast bei seinem Haus, und er hatte noch immer keinen Plan! Er schaute zu Hunter hinüber. Dessen Gesichtsausdruck hatte sich während der ganzen Fahrt nicht verändert; er war ihm eingebrannt wie ein gräßlicher Geburtsfehler: der Haß, der Wahnsinn, die Mordlust. Der Chevy, den Hunter nun fuhr, bog boshaft langsam in eine ruhige, von Bäumen gesäumte Straße und kroch auf ihr dahin, ein stahlverkleidetes, wildes Tier, das sich an seine Beute pirschte. Sie waren zwei Blocks von Daniels Haus entfernt. Tu etwas! Verzweifelt hielt Daniel nach einem der Streifenwagen 578
Ausschau, die Eric und ihn immer so genervt hatten, aber natürlich war keiner in der Nähe. Hunter bog in die Gasse hinter Daniels Haus, er fuhr langsam, suchte nach der richtigen Adresse. Daniel entdeckte den Volvo seines Vaters, der in der Auffahrt hinter dem Haus stand. Hunter sah ihn im selben Moment und hielt dahinter, ohne in die Auffahrt selbst zu biegen besser für eine schnelle Flucht. »Neiinnn!« schrie Daniel und hechtete über den Sitz, um Hunter an die Gurgel zu gehen, um die 45er zu erwischen - was immer er zu fassen bekam. Instinktiv riß Hunter den Arm hoch, um den Angriff abzublocken, und Daniel knallte mit der Nase dagegen. Daniel spürte, wie ihm Blut über das Gesicht lief, aber er kümmerte sich nicht darum. Er schlug und trat wie ein Besessener, landete Schläge, wo immer er konnte. Hunters Kopf stieß gegen das Seitenfenster; Daniel hörte das Glas springen. Er rammte den Ellenbogen in Hunters Weichteile - kein sehr fester Schlag auf dem beengten Raum, aber dennoch wirkungsvoll. Hunter brüllte auf. Der Wagen schaukelte bei dem Kampf der beiden Männer, ihre Schreie wurden von den geschlossenen Fenstern und der Winterkälte unterdrückt, bei der alle Nachbarn zurückgezogen in ihren warmen Häusern blieben. Daniel tastete nach der Pistole, aber Hunter war schneller; er schaffte es, Daniels Ohr in die eine Hand zu bekommen und die Pistole in die andere, mit der er wild auf Daniels Kopf einschlug. Laut brüllend versuchte Daniel den Schlägen auszuweichen, aber Hunter hatte einen guten Griff an seinem Ohr. Schließlich zog Daniel seinen Kopf mit einem Ruck weg. Er spürte, wie etwas riß und das Blut 579
seitlich an seinem Kopf hinunterfloß. Schluchzend vor Schmerz, Enttäuschung und hysterischer Angst hob Daniel zaghaft die Hand, um den Schaden zu untersuchen. Das Ohr war teilweise weggerissen - nichts Ernstes, nur einen Zentimeter ungefähr, aber es tat höllisch weh, und Daniel wußte, er war besiegt. »Du kleines Arschloch«, sagte Hunter. »Ich sollte dich auf der Stelle erschießen. Der einzige Grund, warum ich es nicht tue, ist, weil du ein Köder bist, kapiert? Ein Köder. Weil dort, wo dein kleiner, blanker Arsch ist, da ist deine Mama auch nicht weit.« Er stieß die Wagentür auf. Die 45er auf Daniels Kopf gerichtet, stieg er rückwärts aus dem Auto und machte Daniel ein Zeichen, über den Sitz zu rutschen und herauszukommen. Tränen, vermischt mit Blut, strömten Daniel übers Gesicht. »Bitte, tu meinem Dad nicht weh«, bettelte er. »Bitte, tu niemandem weh. Ich mach alles, was du sagst, aber laß sie in Ruhe.« »Was bist du nur für ein armseliger Hosenscheißer«, sagte Hunter. »Schau dich doch an, du flennst wie ein kleines Mädchen. Du widerst mich an.« Er schob Daniel mit der Pistole vorwärts. »Jetzt halt verdammt noch mal den Mund und bring uns ins Haus, bevor ich dir deinen weinerlichen Kopf wegblase.« Daniels Füße waren bleischwer, und er taumelte aus irgendeinem Grund dauernd nach rechts. Das Garagentor stand offen. Als sie hineingingen, mußte er die Hand ausstrecken und sich an der Sportjacke seiner Mutter ausbalancieren. Er hatte ständig das Gefühl, nach rechts zu kippen, so als stünde er auf einem sinkenden Schiff. 580
In gewisser Weise tat er das auch. Die Hintertür war nicht verschlossen. Natürlich. Sie lebten in einer kleinen Stadt, jeder kannte jeden, und die große böse Welt war weit weg, zum Beispiel in der Großstadt oder in anderen Ländern. Aber nicht hier. Alle Gerüche waren vertraut. Sie hüllten Daniel in einer Wolke der Erinnerung ein. Nach langer Zeit war er wieder zu Hause, und es brach ihm das Herz. Sie gingen durch den Abstellraum, wie es Daniel schon hundert-, wenn nicht tausendmal getan hatte. Verwegen suchte er überall, wo sie vorbeikamen, nach einer Art Waffe, aber da war nichts. Selbst die Reinigungsmittel waren ordentlich in einem Schrank verstaut. In die Küche. Durch das Eßzimmer. Und da waren sie, genau wie immer; sie saßen Seite an Seite mit dem Rücken zur Tür auf der Couch und sahen fern. So ausgeliefert. So verwundbar. »Dad!« schrie Daniel. »Du hättest die Tür abschließen sollen! Du hättest wissen müssen, daß er kommt!« »Was?« Cam und Zoe sprangen beide auf, fuhren herum und sahen Daniel und Hunter an. Cams Gesicht wurde starr vor Schreck. »Daniel! Mein Gott, Junge, was ist mit dir passiert?« Hunter sagte: »Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung im Wagen. Dan schien nicht zu wollen, daß wir Ihnen einen Besuch abstatten. Aber ich habe ihn überzeugt, daß Sie sehr gastfreundlich sein werden. Trotzdem hat der Junge recht. Sie hätten die Tür abschließen sollen. Es hätte mich allerdings auch nicht 581
aufgehalten.« Cam ignorierte Hunter. »Bist du in Ordnung, Junge? Du bist voller Blut. Dein Ohr -« »Ich bin in Ordnung, Dad.« Daniel machte eine beruhigende Handbewegung. Es war nicht das Wiedersehen mit seiner Familie, das er sich vorgestellt hatte. Gegen seinen Willen wurde er wieder von Tränen überwältigt. »Es tut mir so leid, Dad. Es tut mir so leid.« Er schluchzte hemmungslos. »Halt den Mund, Herrgott noch mal!« brüllte Hunter. »Ich habe dein jämmerliches Geheule satt!« »Es gibt nichts, was dir leid tun muß, mein Sohn«, sagte Cam mit fester Stimme. Er streckte eine Hand aus und schob Zoe hinter seinen Rücken. »Du hast nichts Falsches getan.« Daniel mühte sich um Selbstbeherrschung, er fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, daß er hoffte, es wären ein paar Leute vom FBI da, die ein Auge auf seinen Vater hatten. Irgend jemand, der Jeremiah Hunter aufhalten konnte. Irgend jemand, der seine Familie beschützen konnte. »Was wollen Sie, Hunter?« Sein Vater stand sehr aufrecht da und fixierte Hunter mit einem stählernen Blick. »Sie ist nicht da, falls Sie das angenommen haben.« »Aber Sie wissen, wo sie ist, oder?« sagte Hunter fordernd. Cam verzog keine Miene. »Nein. Ich habe keine Ahnung.« 582
»Sie lügen.« Sein Vater log tatsächlich; Daniel sah es. Dennoch verriet er keine Nervosität oder Selbstzweifel. Er hielt dem Blick seines Todfeindes wie ein Mann stand. Er war großartig. Er ist doch kein Trottel, wunderte sich Daniel. Sieh mal an! Er läßt sich nicht unterkriegen, egal was kommt. Daniel war noch nie so stolz gewesen. Einen endlosen, spannungsgeladenen Augenblick lang standen sich die beiden Männer auf etwa drei Meter gegenüber. Was Daniel betraf, hätten es drei Meilen sein dürfen. Jeremiah Hunter hatte nicht einmal das Recht, im selben Raum mit seinem Vater zu sein, und das war die schreckliche Wahrheit. Dann sagte Hunter: »Schön. Wenn Sie es so haben wollen.« Und er schoß Cam ohne mit der Wimper zu zucken mit Daniels 45er in die Brust. Zoes hoher, klagender Entsetzensschrei war das letzte Geräusch, das in Daniels Ohr hämmerte, als Hunter ihn mit aufgesetzter Pistole hinaus zum Wagen schleifte. Das letzte, was er sah, war das Blut seines Vaters, dessen Leben sich in rotschimmernden Lachen auf den Wohnzimmerboden ergoß.
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TEIL FÜNF »PERSÖNLICHE GEHEIMNISSE« Alle persönlichen Geheimnisse haben den Effekt von Sünde oder Schuld. Carl Jung
He! Hayuya haniwa. »In Wahrheit wurdest du empfangen.« Sprichwort der Cherokee
Der Tod kommt immer zur unpassenden Zeit. Omaha-Häuptling Big Elk
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41. Kapitel Wren erwachte mitten in der Nacht mit einem gräßlichen Gefühl des Unbehagens, einer Vorahnung, die anders war als alles, was sie im Lager erlebt hatte. Nein. Keine Vorahnung. Gewißheit. Irgendwo lief etwas fürchterlich falsch, aber sie wußte nicht, was, bei wem oder wo. Alles, was sie wußte, war, daß sie Jeremiah Hunter finden mußte und daß sie ihn schnell finden mußte. Daniels Zeit wurde knapp. Sie würde in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, daß es Mitternacht war. Ihr Magen knurrte; sie hatte den ganzen Tag lang nichts gegessen. Ein paar Türen weiter stand ein Süßigkeitenautomat. Wren kramte in Hunters Geld und klaubte ein paar Vierteldollarmünzen zusammen. Sie schlüpfte aus dem Zimmer und ging in der Eiseskälte über den Flur. Die Automaten standen in einer dunklen Nische um die Ecke, wo es nach Urin stank. Der Ort verursachte ihr eine Gänsehaut. Eilig warf sie ein paar Vierteldollar ein und versuchte irgendeinen Schacht zu finden, der sich herausziehen ließ, als sie eine Hand in ihrem Nacken spürte. Eine kehlige, schmierige Stimme sagte höhnisch: »Hallo, schöne Frau. Ich glaube, du hast einen Fehler gemacht, ganz allein hierherzukommen. Ein Junge wie ich will nämlich ein bißchen Spaß.« 585
Wren wirbelte nach rechts herum, stieß dem Mann mit aller Kraft ihren Ellenbogen in die Rippen und rammte ihm das Knie mit voller Wucht in die Leiste. Als er nach vorne einknickte, führte sie einen harten Ellbogenstoß an seinen Hinterkopf. Der Mann ging zu Boden. Bis er sich umgedreht hatte, hatte sie die Glock gezogen und drückte sie an seine Stirn. »Und ein Mädchen wie ich will nur einen Schokoriegel, du Arschloch«, fluchte sie. »Das Baby hier ist gespannt, und es hat keine Sicherung, und ich bin schlecht gelaunt. Los, gib mir einen Vorwand.« »Nicht schießen! Es tut mir leid«, wimmerte er, die Handflächen demütig nach oben gedreht. »Wirst du noch mal arme, wehrlose Frauen belästigen, denen nichts anderes übrigbleibt, als spätnachts allein unterwegs zu sein?« »Nein! Nein! Ich schwöre es!« »Wir sind nämlich in den Neunzigern. Du kannst nie wissen, wem du da draußen begegnest.« Der Mann zitterte am ganzen Leib. Wren ging vorsichtig rückwärts um die Ecke, die Pistole hielt sie weiter auf den Mann gerichtet. Bevor sie ihr Zimmer erreicht hatte, hörte sie, wie Snickers auf den Boden prasselten. Zum Teufel damit, dachte sie. Ich verschwinde von hier. Als sie den gestohlenen Wagen über dunkle Straßen lenkte, die aus der Stadt führten, ging Wren durch den Kopf, daß es vielleicht eine Weile dauern würde, bis sie sich wieder an normale Umgangsformen gewöhnt hatte. Unter
Vermeidung
der 586
Interstate
fuhr
sie
auf
Nebenstraßen bis zur Kleinstadt Big Spring, die Jon Voight 1969 mit dem mutigen Film Midnight Cowboy berühmt (oder berüchtigt) gemacht hatte. Der andere Star des Films, Dustin Hoffman, hatte gesagt, Voights größtes Problem sei es gewesen, einen texanischen Akzent nachzumachen, aber andererseits hatte Wren noch nie einen nachgemachten texanischen Akzent gehört, der nicht nachgemacht klang. In Big Spring verschlang sie im örtlichen McDonald’s einen Big Mac und Pommes frites. An einem Truck Stop tankte sie den Wagen auf und wusch ihn. Dann parkte sie ihn in einer einigermaßen hübschen Wohngegend, wo es wahrscheinlicher war, daß man ihn meldete statt plünderte. Nachdem sie ihn abgesperrt hatte, ging sie zu Fuß weiter - es war ihre Art zu sagen: »Tut mir leid, daß ich mir Ihren Wagen ohne Erlaubnis borgen mußte. Ich habe versucht, ihn pfleglich zu behandeln. Danke fürs Leihen.« Mit Hilfe eines Stadtplans, den sie an dem Truck Stop gekauft hatte, ging Wren gute drei Meilen zu Fuß zur Bushaltestelle. Der kraftvolle Spaziergang verhinderte, daß sie fror, aber der unbarmherzige Wind quälte sie mit beinahe teuflischer Wut. Sie mußte sogar die blonde Perücke festhalten, die sie nun trug, damit sie nicht davongeweht wurde. Zu ihrer Enttäuschung mußte sie feststellen, daß der Busbahnhof geschlossen war. Sie hatte vergessen, daß sie in einer Kleinstadt war. Zwei Stunden lang blieb ihr keine Wahl, als sich im Windschatten des Gebäudes in ein Gebüsch zu setzen. Als das Gebäude endlich öffnete, war Wren blau gefroren und so steif, daß sie sich kaum bewegen konnte. Sie machte sich in der Toilette zurecht 587
und setzte die dunkle Brille auf. Dann kaufte sie ein Ticket und einen Becher Kaffee, mit dem sie sich in den wärmsten Winkel des Gebäudes zurückzog, den sie finden konnte. Sie glaubte nicht, daß sie sich je wieder warm und geborgen fühlen würde. In einer Ecke hatte man ein Fernsehgerät aufgestellt, um die wartenden Fahrgäste zu beruhigen. Wren starrte blind darauf, schlürfte ihren Kaffee und überlegte, was sie als nächstes tun mußte. Sie hatte zwar das Ticket schon gekauft, aber noch war Zeit, es sich anders zu überlegen. Selbst nach allem, was sie durchgemacht hatte, fürchtete sie sich vor dem, was sie nun vorhatte, am allermeisten. Mit jedem Schritt darauf zu wuchs ihre Angst. Wren wußte allerdings, daß sie es sich nicht anders überlegen würde. Die Wahrheit war, daß sie verzweifelt war. Sie konnte schlicht nirgendwo anders hin. »… wurde vor den Augen seiner entsetzten Tochter in seinem Haus von dem Flüchtigen angeschossen. Hunter gilt als bewaffnet und extrem gefährlich, und es wird angenommen, daß er mit einer Geisel unterwegs ist. Die Bundesbeamten suchen außerdem nach dieser Frau, Wren Cameron, die sie als potentielle Zeugin befragen möchten. Wenn Sie eine dieser Personen sehen, unternehmen Sie nichts. Rufen Sie die folgende gebührenfreie Nummer an und melden Sie Ihre Beobachtung den Behörden.« Während Wren in dem Busbahnhof in Westtexas saß und ungläubig die Nachrichtensendung verfolgte, füllte ihr Bild plötzlich den Schirm. Sie hatten ein Bild aus dem Jahrbuch der High-School genommen, an der sie unterrichtete. Es war kein sehr schmeichelhaftes Foto, 588
aber sie war gut zu erkennen. Wren war von der Nachricht über Cam noch so benommen und so begierig darauf, etwas über seinen Zustand zu erfahren, daß sie kaum auf den Schock reagierte, sich selbst als gesuchte Flüchtige im landesweiten Fernsehen zu sehen. Es war zuviel, um alles sofort aufzunehmen. Sie fror immer noch und wagte nicht, die anderen Leute anzusehen, aus Angst, man könnte sie erkennen. Niemand achtete auf sie. Auf Beinen, die vor Angst und Nervosität schlotterten, ging Wren zum Kartenverkäufer, um ihn zu bitten, auf einen anderen Kanal zu schalten. Sie wollte sehen, ob eine andere Fernsehstation eine umfassendere Berichterstattung bot - es war die einzige Möglichkeit herauszufinden, was mit Cam geschehen war. Wrens Bus fuhr eben in den Bahnhof ein, als sie erfuhr, daß Cam auf der Intensivstation eines Krankenhauses in San Antonio lag, und sein Zustand als kritisch eingestuft wurde. Die Busfahrt nahm kein Ende. Sie hielten in jedem kleinen Kaff auf der Strecke und nahmen mehr Pakete auf als Fahrgäste. Wrens Mitreisende waren genau die Sorte Leute, die man in einem Überlandbus erwartet, Leute, auf denen herumgetrampelt wurde, müde und mit den Sorgen beschäftigt, die verhinderten, daß sie sich ein Flugzeug leisten konnten; dazwischen gelegentlich ein Soldat oder ein rotbackiger Collegeschüler. Bei jedem Halt sorgte sich Wren um die Möglichkeit, von jemandem entdeckt und verhaftet zu werden. Es passierte nie. Die meisten Menschen - selbst Polizisten 589
sehen sich Gesichter nicht genau genug an, um jemanden in einer so bühnenreifen Verkleidung zu erkennen, wie Wren sie hatte. Kreischende Harpyien der Seelenqual zupften mit jedem Mittelstrich des Highways, den der Bus aufschleckte, an ihrer Fassung. Wren war im Streit mit sich selbst, ob sie nun, da Cam dem Tode nahe in einem Krankenhaus lag, ihren Entschluß aufrechterhalten sollte, Daniel zu suchen. Der innere Kampf dauerte die ganze Fahrt über an. Die Gewißheit, daß sie das tat, was Cam gewollt hätte, war das einzige, was verhinderte, daß sie verrückt wurde. Als Wren schließlich steifbeinig aus dem Bus kletterte, nahm sie ein Taxi, das sie in eine gepflasterte Einkaufszone im Zentrum der Stadt brachte. Inzwischen war es später Nachmittag. ›The Little Drummer Boy‹, in der Aufnahme des Mormon Tabernacle Choir, schwoll aus einer Verstärkeranlage, während die Winterdämmerung die Festbeleuchtung Licht für Licht anspringen ließ. Schaufenster feierten die Freuden der Jahreszeit; einige stellten Hannukah menorahs aus, andere Elfen, Weihnachtsmänner und altes Spielzeug, alles ausgebreitet im viktorianischen Glanz von weinrotem Samt, durchwirkt mit Gold. Die Häuser, die diese Geschäfte beherbergten, waren stattlich; sie flüsterten von altem Reichtum, sozialem Rang, Würde, Bigotterie und Snobismus. Doch der fabelhafte Lichterprunk, der sie zierte, verwandelte diese Enklave von Reichtum und Geschmack in ein regelrechtes Märchenland. Wenn es dunkel war, fuhren Autos voller Kinder aus der ganzen Stadt vorbei, nur um zu schauen und sich zu erfreuen. 590
Es war ein perfekter Vorwand für Wren, um sich Zeit zu lassen und mit jedem Schritt langsamer zu werden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und je näher sie kam, desto mehr Mühe hatte sie, zu schlucken oder auch nur zu atmen. Gespenster tanzten auf dem Grab ihrer Vergangenheit. An dem gesuchten Haus angelangt, konnte Wren nicht weitergehen als bis zum Gehsteig davor. Sie befürchtete, ohnmächtig zu werden, und setzte sich an den Stamm eines prächtigen Pecanobaums, dessen köstliche Nüsse noch immer ringsum im Gras lagen. Keine Geräusche der Vorstadt störten den ruhigen Winterabend zur Essenszeit. Rauch aus verschiedenen Häusern trieb in den Nachthimmel, während die Strahlung der festlichen Beleuchtung die Passanten wärmte. Leute führten größtenteils reinrassige Hunde spazieren; sie lächelten Wren an und nickten ihr zu, als gehörte sie zu ihrer intimen Bruderschaft der Privilegien und der Sicherheit. Mit zitternden Händen nahm Wren die blonde Perücke und die Kappe darunter ab und befreite ihr üppiges Haar, das wallend über ihre Schultern fiel. Sie packte die Verkleidung in eine der tiefen Seitentaschen des Blazers und massierte erleichtert mit den Fingerspitzen ihre Kopfhaut, dann suchte sie nach einer weiteren Möglichkeit, das Unvermeidbare hinauszuschieben, aber es gab keine. Sie mußte sich nicht nur dem stellen, was sie gewesen war, sondern auch dem, was sie getan hatte. Wren stemmte sich langsam hoch und überquerte den ausgedehnten Rasen zur Eingangstür. Das Herz pochte ihr in den Schläfen, ihre Wangen glühten, während ihre Finger so taub waren, daß sie den Druck auf die Türglocke 591
kaum spürte, obwohl sie ihren melodischen Glockenklang tief in dem großen Haus hörte. Er machte selbst auf. Einen atemlosen Augenblick lang betrachteten sie sich über das Ödland von Zeit und Raum hinweg, von Schmerz und Schuldbewußtsein und schmerzlichem Verlust, denn er war nun ein alter Mann und sie über ihre Jahre hinaus gealtert. Sie fanden keine Worte, und keiner von ihnen tat etwas, um diese Spanne zu überbrücken. Jedenfalls nicht gleich. Zwanzig Jahre hatten seine Haare weiß werden lassen und tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Strahlend blaue Auge, nun starr vor Schreck, blickten auf sie herab. Sie kannte diese Augen, denn es waren ihre eigenen, aber sie konnte nicht in ihnen lesen. Gefährliche Tränen drängten in Wrens mühsam bewahrte Fassung. Sie wagte nicht zu weinen, sie würde nicht weinen, aber wie sollte sie sprechen, ohne daß sie Gefahr lief, es zu tun. Sie vermochte es nicht. Schließlich sagte Wren über den Aufruhr zu vieler aufwühlender Gefühle hinweg: »Daddy, bitte vergib mir. Ich… ich weiß, daß ich kein Recht habe, hier zu sein.« Es war zu spät; sie konnte nichts dagegen tun, die Tränen flossen über ihre heißen Wangen, obwohl sie sich so viel Mühe gab, sie zurückzuhalten. »Ich habe kein Recht, dich um Hilfe zu bitten, und ich verstehe es, wenn du mir nicht helfen willst. Aber… aber ich kann sonst nirgendwohin, und ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.« 592
Und dann stand sie da, zitternd im kalten Wind ihrer eigenen Fehler, während hinter ihr Autos voller glücklicher Familien ziellos vorbeifuhren.
Daniel, der unter seelischem Schock stand, sprach kein einziges Wort während Hunters riskanter Fahrt über den Interstate Highway. Das ganze Land suchte zwar nach ihnen, aber Hunter hatte Kontakte im düsteren Unterweltnetzwerk der Survivalisten, die ihn mit Lebensmitteln, Benzin, Munition und ›sicheren‹ Autos für die lange Fahrt versorgten. Manche stellten keine Fragen; andere akzeptierten seine Erklärung, daß ihn das FBI in eine Falle gelockt hätte, um die Flamme des Hasses gegen Milizen und alle unabhängig denkenden Menschen im Lande zu schüren, die die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika liebten. Die ländlich schlichte Frau von einem dieser Männer nähte Daniels Ohr mit einer Art derben Sanftheit, während drei Kinder am gleichen Küchentisch saßen und ihre Hausaufgaben machten. Sie gab ihm eine Flasche Aspirin gegen den Schmerz mit. Als sie fragte, was passiert sei, erzählte ihr Hunter, Daniel sei von einem FBI-Mann angeschossen worden, aber Gott sei Dank habe ihn die Kugel nur gestreift. Als sie ihn über die Meldungen ausfragte, daß Hunter auf Daniels unbewaffneten Vater geschossen hätte, versicherte er ihr, es sei eine gottverdammte Lüge, die die liberalen Medien erfunden hätten, um die öffentliche Meinung zugunsten einer Waffenkontrolle zu beeinflussen. Nachdem Daniel keinen Versuch unternahm, Hunters Version der Ereignisse zu bestreiten, glaubte man ihm. Manche erboten sich, Hunter und Daniel für unbegrenzte 593
Zeit aufzunehmen, aber Hunter überzeugte die wohlmeinenden, wenn auch fehlgeleiteten Leute, daß sie weiterziehen müßten, daß sie sich an einem vorbestimmten Ort mit Daniels Mutter treffen würden. Zu keiner Zeit machte Daniel irgendeinen Versuch, sich einen Bundesgenossen auf seine Seite zu ziehen. Hunters Überzeugungskraft war zu groß, sein Ruhm zu verleitend, und überhaupt fürchtete Daniel um das Leben von jedem, der sich dem Mann in den Weg stellte. Überhaupt war er unfähig zu denken; er hatte sich in einen traumartigen Zustand zurückgezogen, als hätte sich sein Geist plötzlich von seinem Körper gelöst und triebe irgendwo über ihm, von wo er beobachtete, wie sich Daniel durch eine unwirkliche Welt bewegte. Wieder und wieder lief das Video ab: der ohrenbetäubende Knall des Schusses, der Blutstrahl, als sein Vater zusammenbrach, der durchdringende Schrei seiner kleinen Schwester, während Hunter Daniel hinausschleifte und sie zurückließ, um ihren Vater sterben zu sehen. Daniel wußte, daß sein Vater tot war; vielleicht nicht auf der Stelle, aber bald danach. Hunter hatte tödlich gezielt, und die 45er war eine scheußlich durchschlagskräftige Waffe. Sein Vater konnte so eine fürchterliche Verletzung unmöglich überleben, und nun war er tot - oder würde es bald sein -, und er war gestorben, bevor Daniel ihm sagen konnte, wie sehr er ihn liebte und wie sehr, sehr er ihn brauchte. Der letzte Abschnitt der Reise war eine sich windende Folge von Haarnadelkurven, hinauf in die Ozark Mountains, zu einer Hütte, wo ein Onkel von Hunter früher illegal Whiskey gebrannt und mit Hunderudeln Hirsche gewildert hatte. Inzwischen verflog der Schock 594
langsam. Daniel wurde sich seiner Umgebung mehr und mehr bewußt, und es machte ihm mehr und mehr angst. Hunter fuhr tief ins Hillbilly Country. Dichter Wald drängte sich bis unmittelbar an die Straße, undurchdringlich für jeden, der sich nicht auskannte. Was an Häusern zu sehen war, waren praktisch Hütten, von wenig mehr zusammengehalten als Henkeldraht und Kaugummi. Die Höfe, in denen Unkraut wucherte, waren übersät mit Schrottautos, alten Reifen, Möbeln, aus denen die Polsterung quoll, Puppen ohne Kopf und zu vielen Kindern mit ausdruckslosem Blick und anderen Überbleibseln der menschlichen Seele, schäbig geworden durch Armut und Hoffnungslosigkeit. Hier lebten die wahren Hinterwäldler; es war vielleicht die Geburtsstätte von Argwohn und Mißtrauen, wo die großen Entscheidungen des Lebens oft nur auf purem Aberglauben fußten und wo Fehden zwischen Nachbarn gerne mittels einer Flinte oder dem Streichholz eines Brandstifters entschieden wurden. Im Gefängnis zu sitzen war in vielen Familien Tradition. Nachts war es in den Wäldern dunkler als auf dem Grund eines Brunnens. Überall streiften Gespenster umher, rastlose, unbefriedigte Geister, die sich nach einem Zuhause sehnten, und es hieß, daß sich ein Mensch dort verirren konnte, und man fand ihn nie wieder. Daniel wußte das alles, weil Hunter ihn in vielen Nächten im Lager mit den Geschichten aus seiner Kindheit in den Bergen gefesselt hatte. Geschichten davon, wie er zum Bellen der Hunde auf der Blutspur eines nicht jagdbaren Bocks durch die Wälder gerannt war; Geschichten von der besonderen Tollheit, sich mit schwarzgebranntem Schnaps zu besaufen, von 595
Spritztouren in schnellen Autos und zu dicht am Rand der Welt, Geschichten vom Schließen einer Faust über dem Puls des Lebens in den gespenstisch blauen Strahlen eines Vollmonds, vom Gefühl, das Leben enden zu spüren, vom Nervenkitzel dieses ersten Mordes. Diese Geschichten hatten wie der Ruf des Abenteuers in Daniels Ohren geklungen, hatten sein Knabenherz zu der Annahme verleitet, dieser Mann käme von einem magischen Ort. Und daß dieser Ort ihn irgendwie selbst zum Magier gemacht hatte. Jetzt wußte Daniel, daß es ihn nur geisteskrank gemacht hatte. Sie fanden die vergessene Hütte an einer einspurigen Holzfällerstraße, die so ausgefurcht war, daß das Chassis des Pickups laut gegen jede tiefliegende Wurzel stieß, während Hunter mit dem Lenkrad kämpfte und die Scheinwerfer an feindseligen Baumstämmen vorbeihuschten, die die Straße wie ein Zaun säumten. Handgemalte Holzschilder, die gelegentlich an einen Baum genagelt waren, verkündeten schrill BETRETEN VERBOTEN oder KEINE DURCHFAHRT!!! Sie kamen zu einem baufälligen, windschiefen Gebäude, mit einem verrosteten Blechdach und Wänden, die noch nie einen Malerpinsel gesehen hatten. Die Hütte gehörte schon so lange diesem Wald, daß Kletterpflanzen sie auf zwei Seiten vollständig bedeckten. Die Fäulnis hatte bereits vor langer Zeit die Veranda einstürzen lassen. Daniel war sehr froh, daß Winter war, denn er konnte sich gut vorstellen, wie hier die Insekten hausten. Das heißt, bis er das Außenklo entdeckte. 596
Hunter hatte mehrere Kerosinlampen mitgebracht, und als er eine davon anzündete, kam plötzlich Leben in vergilbte Zeitungsseiten, die mit Reißzwecken an den Wänden des Hauptraums angebracht waren. Sandy Koufax hilft Dodgers die Yankees mit 4:0 zu schlagen und Schockierende Nacktfotos von Liz & Richard in ihrem Cleopatra-Liebesnest! Daniel hatte noch nie von Sandy Koufax gehört, aber er nahm an, daß Eric ihn kannte, da er Baseballkarten sammelte. Aber er wußte, wer Präsident Kennedy war, und als eine der kleinen Schlagzeilen eine bevorstehende Pressekonferenz des Präsidenten am Freitag nachmittag ankündigte, wurde ihm bewußt, wie alt die Zeitungen waren. Die Hütte war bitterkalt, so kalt, daß Daniel seinen Atem sah. Es gab einen rußgeschwärzten Holzofen, aber als Hunter versuchte, ihn anzumachen, füllte sich der Raum mit beißendem Rauch. Sie waren gezwungen, in Schlafsäcke zu kriechen, die der Survival-Untergrund großzügig zur Verfügung gestellt hatte, aber es reichte nicht, und Daniel schien nicht zu zittern aufhören zu können. Er hörte immer noch diesen Schuß, sah das Blut, lauschte dem Schrei seiner Schwester. Als er in einen unruhigen Halbschlaf sank, träumte er nur alles wieder von vorn. Daniel sah nicht, wie seine Mutter sie hier jemals finden sollte, und er glaubte nicht, daß er es überhaupt wollte. Ein Elternteil mit eigenen Augen sterben zu sehen war genug. Hunter hatte den Schlüssel für den Pickup und beide 597
Waffen. Er schien nichts dagegen zu haben, daß Daniel allein zu dem arschkalten Außenklo ging. Offenbar hatte er keine Angst, daß Daniel einen Versuch unternehmen würde, allein aus diesen Wäldern hinauszufinden. Irgendwann mitten in der Nacht begann es zu regnen. Wenn das Dach gar nicht existiert hätte, hätte es auch nicht mehr hereinregnen können. Es war die Sorte Winterregen, die durch die Seele schneidet und am Morgen gefriert, und das unaufhörliche, monotone Tröpfeln bewirkte etwas in Hunters Geist - es machte ihn noch verrückter, falls das überhaupt möglich war. Jede Kleinigkeit konnte ihn in rasende Wut versetzen. Mit seinem Drei-Tage-Bart und dem wilden Blick sah er nun endlich aus wie der Terrorist, der er war. Kein Wunder, daß Daniels Mutter ihren Namen geändert und sich all die Jahre versteckt hatte; es war nicht das FBI, vor dem sie Angst hatte, es war dieser Mann. Nichts ist so, wie es aussieht, hatte sie ihm gesagt - oder es zumindest versucht -, aber er war viel zu neunmalklug gewesen, um ihr Beachtung zu schenken. Am Nachmittag des dritten Tages fand Hunter den schwarzgebrannten Schnaps. Bis es Nacht wurde, sah er hinter jedem Baum FBILeute, fuhr bei jedem Plip von Regentropfen in eine Blechpfanne zusammen, schoß auf Schatten und schwadronierte von der New World Order. »Junge!« brüllte er, obwohl sein Gesicht nur Zentimeter von Daniels entfernt war. »Weißt du nicht, daß sie alles sehen können, was wir tun? Schau dir das an, schau nur!« Er beugte sich vor. zog seine Hose herunter und deutete auf sein weißes Hinterteil. 598
»Siehst du das? Das ist ein Computerchip, den sie mir operativ in den Hintern gepflanzt haben, als ich in der Army war.« Er zog die Hose unbeholfen wieder hoch, verfehlte ein Gürtelloch und flüsterte laut: »Auf diese Weise wissen sie, wo ich bin. Sie kommen mich holen, aber sie kriegen mich nicht lebend, und weißt du, warum?« Daniel schüttelte den Kopf. Er kauerte noch in derselben Ecke auf dem schmutzigen Boden, in die er sich in der ersten Nacht verkrochen hatte, den Schlafsack bis zum Kinn hinaufgezogen. Er hatte seit dem Tod seines Vaters nicht mehr gesprochen. Er fürchtete sich davor, irgend etwas zu tun oder zu sagen, was Hunter wütend machen könnte, aber das nun… das machte ihm mehr angst als alles, was er bisher gesehen hatte. Hunter setzte den Lauf der 45er direkt an Daniels Schläfe und zog den Hahn zurück. Das Geräusch ließ Daniel zusammenzucken. Trotz der Kälte schwitzte er, und er roch seine eigene Angst. »Sie werden mich nicht kriegen«, sagte Hunter. Sein Atem roch übel, und seine Augen waren so wirr, daß Daniel wegsehen mußte. »Weil ich nämlich eine Geisel habe. Und wenn deine Mama herkommt, habe ich zwei Geiseln. Und wenn ich beschließe, abzutreten, dann nehm ich ALLE mit, verstehst du, Junge?« Mit geschlossenen Augen und zugeschnürter Kehle nickte Daniel. Hunter drückte ab. 599
Daniel sprang auf. Lachend deutete Hunter mit der rauchenden 45er auf ein klaffendes Loch in der Wand. Daniel hatte ein erbärmliches Gefühl zwischen den Beinen und sah an sich hinab. Er hatte sich naß gemacht. Noch immer heftig zuckend rannte er in den unablässigen Regen hinaus und fragte sich, ob er nicht vielleicht doch gestorben und geradewegs in die Hölle gekommen war.
Die Jahre dehnten sich zwischen ihnen wie der dünne, zarte Faden, den eine Spinne zwischen den Ästen von zwei Bäumen gesponnen hat und der von den schweren Tautropfen einer langen Nacht hinuntergezogen wird, die das Band jeden Augenblick zu zerreißen drohen. Die Augen ihres Vaters verurteilten sie weder, noch vergaben sie ihr, aber sein Schweigen war schrecklicher als alle Worte, die er hätte sagen können. Wrens Tränen demütigten sie. Sie hob das Kinn mit dem letzten Rest von Stolz, den sie aufbieten konnte, und wandte sich zum Gehen. »Lissie! Warte!« Sie drehte sich um. »Komm doch aus der Kälte, um Himmels willen«, sagte er. Sie zögerte. »Bist du dir sicher?« »Aber ja doch, natürlich. Es ist eiskalt hier draußen. Wo ist dein Mantel? Hast du keinen Mantel?« »Nein, Daddy, ich habe keinen Mantel«, sagte sie und 600
stapfte durch die Tür wie ein altes gebeugtes Weib. Ihr Vater schloß die Tür hinter ihr, und sie sah sich in dem hübschen Raum um. »Hier ändert sich nie etwas«, sagte sie. »Es ist genauso, wie ich es in Erinnerung habe.« Ihr Magen krampfte sich nervös zusammen, und sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Plötzlich berührte ihr Vater sie unbeholfen an der Schulter, und im nächsten Augenblick lag Wren in seinen Armen, und er hielt sie fest, und sie heulten beide wie kleine Kinder. »Mutter ist tot, nicht wahr?« Er machte ein erstauntes Gesicht. »Woher hast du das gewußt?« Sie zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht erklären.« Er nickte, schüttelte beinahe im selben Moment den Kopf und sagte wie zu sich selbst: »Du hattest immer diese unheimliche Art an dir.« Der Schatten eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Margret hat es immer das Wissen genannt.« Wren lächelte unwillkürlich zurück, aber es war ein trauriges Lächeln der beiden. »Der Krebs hat sie dahingerafft«, sagte er sanft. »Ich habe ihr wieder und wieder gesagt, sie solle das Rauchen aufgeben, aber sie hatte Angst, daß sie zunehmen würde, wenn sie es tat.« Er zuckte resigniert die Achseln. »Hört sich ganz nach Mutter an.« Sie schien ihn immer noch nicht direkt ansehen zu wollen. »Daddy… es tut mir so leid. So schrecklich leid. Alles.« »Ich weiß. Mir auch.« 601
»Ich wollte euch nie weh tun. Und ich wollte zurückkommen… sehr oft.« »Ich weiß. Solche Dinge passieren eben. Manchmal muß man im Leben Dinge tun, die andere nicht immer verstehen.« Seine Bemerkung kam völlig überraschend für Wren. Das letzte, was sie von ihrem Vater erwartet hätte, war teilnahmsvolles Verständnis. Trotzdem spürte sie den Zwang, sich zu erklären. »Wenn ich noch mal von vorn anfangen könnte -« Sie starrte quer durch den Raum. »Ich würde alles ganz anders machen.« »Nein, das würdest du nicht«, sagte er. »Du hattest einen Weg, dem du folgen mußtest.« Sie spürte, wie ihr die Kinnlade hinunterklappte, und glotzte den alten Mann unwillkürlich an. Er zuckte wieder die Achseln. »Was mich betrifft, finde ich, daß du für alle Fehler schon genug bestraft worden bist, als du noch ein dummes kleines Mädchen warst.« Sie betrachtete ihn lange. »Daddy, ich verstehe dich nicht. Ich dachte, du würdest sehr wütend auf mich sein.« »Das war ich auch, am Anfang. Aber nachdem dieser FBI-Agent mit mir gesprochen hatte, da verstand ich.« »Welcher Agent? Was hast du verstanden?« »Agent… Houston? Hieß er so? Er hat mir von dem Bankraub erzählt.« »Du meinst Agent Austin?« »Ja. So hieß er. Austin.« 602
»Er hat es dir erzählt?« »Ja.« »Wußte es Mutter?« Ihr Vater schüttelte den Kopf. Sie schaute ihn unter den Wimpern heraus an und sagte: »Hätte auch keinen großen Unterschied gemacht, wenn sie es gewußt hätte, oder?« »Ich befürchte nein, Kleines.« »Ach, Daddy«, sagte sie und warf ihm die Arme um den Hals. »Es ist so lange her, seit mich jemand Kleines genannt hat.« Sie aßen eine Dose Campbells Hühner-Nudel-Suppe zusammen (mit Milch angemacht, genau wie sie es als Kind gemocht hatte), dazu Salzcracker. Es war ein Festschmaus. Anschließend zogen sie sich ins Wohnzimmer zurück und setzten sich vor den Kamin, während eine alte Katze, die er Macy nannte, friedlich in seinem Schoß döste. Sie erzählten sich stundenlang Familiengeschichten, dann kamen sie auf das schaurige Thema zu sprechen, die ernste Angelegenheit, die Wren schließlich wieder nach Hause geführt hatte. »Ich brauche Geld, ein Auto und Vorräte«, sagte sie. »Einen Rucksack und eine Campingausrüstung. Und Munition. Für das hier.« Sie griff in ihre Jacke und zog die Glock heraus. Ihr Vater schauderte zurück. »Du weißt, daß ich keine Pistolen mag, Lissie«, sagte er streng. »Mir gefällt der Gedanke nicht, daß du eine trägst.« 603
»Daddy, das hier ist nicht das gleiche, wie wenn ich mich in der Zeit an der High-School aus dem Bett geschlichen und mir John Belushi und Dan Ackroyd in Saturday Night Life angeschaut habe. Es geht um Leben und Tod. Du scheinst nicht zu verstehen, in welcher Gefahr ich bin.« »Doch, ich verstehe. Und nach meinem Verständnis ist die Polizei dafür zuständig. Wieso läßt du dir nicht von ihr helfen?« Sie seufzte. Sie blickte ins Feuer und sagte: »Wie kann ich es dir nur begreiflich machen? Dieser Mann… er ist verrückt, Daddy. Extrem paranoid. Wenn er nur den Verdacht hat, daß das FBI oder sonst jemand da draußen in den Wäldern ist, bringt er Daniel auf der Stelle um. So einfach ist das.« »Und woher weißt du, daß er dich nicht umbringt, Kleines?« Sie hielt die Pistole hoch. »Dafür ist die hier da.« Er fuhr zusammen. »Steck das Ding weg. Weißt du, wie man sie benutzt?« »Ja, Daddy. Ich weiß, wie man sie benutzt.« »Das ist nämlich alles, wofür eine Schußwaffe taugt, weißt du.« Er schniefte. »Der böse Kerl kann sie dir wegnehmen und gegen dich verwenden.« »Er wird sie mir nicht wegnehmen. So nahe laß ich ihn nicht kommen.« »Meine Güte, du bist aber ein eingebildetes Ding geworden.« 604
Sie reagierte nicht auf diesen Vorwurf, aber er belustigte sie dennoch. Eingebildet. Naja, vielleicht. »Es gefällt mir trotzdem nicht, Lissie. Du bittest mich, dir bei etwas zu helfen, was dich das Leben kosten könnte, und ich…« »Und wenn du mir nicht hilfst, verspreche ich dir, daß du nie Gelegenheit haben wirst, deinen Enkel kennenzulernen. Hunter wird ihn umbringen, das schwöre ich dir.« »Ich weiß nicht«, sagte er besorgt. »Bist du dir sicher, daß du dich in den Bergen zurechtfindest? Du könntest dort oben erfrieren. Du könntest dich in den Wäldern verlaufen.« »Ich werde mich nicht verlaufen.« Sie grinste. »Nicht, wenn du mir einen Kompaß kaufst.« Wren wußte, daß dieses ganze Gerede, durch die Wälder zu streifen, für ihren Vater beunruhigend klang. So ziemlich das Äußerste, was er in seinem Leben an Wildnis gesehen hatte, war das Rough am Rande des Golfplatzes in seinem Club. Und sie wußte, daß ihn der Gedanke an Waffen ängstigte. »Daddy, ich weiß, daß dir vieles an der ganzen Sache - an mir - fremd ist…« »Das kannst du laut sagen.« »Aber ich brauche wirklich deine Hilfe, bitte. Du mußt darauf vertrauen, daß ich weiß, was ich tue.« Sie warf ihm einen koketten Blick zu. »Ich bin jetzt nämlich erwachsen.« »Ich weiß«, murmelte er, und es klang fast wie ein Seufzer. 605
»Ich mache dir eine vollständige Liste«, sagte sie. »Die Verkäufer werden dir helfen.« Sie biß sich auf die Lippe. »Daddy, die Sache ist die: Ich muß morgen aufbrechen, und ich werde gehen, ob du mir hilfst oder nicht. Und wenn ich nackt durch den Schnee kriechen muß.« Er betrachtete sie lange, dann runzelte er die Stirn. »Nun, soweit werden wir es bestimmt nicht kommen lassen, oder?«
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42. Kapitel Es war neun Uhr. Eine der Schwestern auf der Intensivstation und Sandy, die unmittelbare Nachbarin der Camerons, hatten versucht, Zoe zu überreden, nach Hause zu gehen - oder zu Sandy hinüber - und ein bißchen zu schlafen, aber Zoe war weitaus kampfbereiter, als die beiden erwartet hatten. Sie stemmte die Füße ein, verschränkte die Arme vor der Brust und weigerte sich, von der Stelle zu weichen. »Ich lasse meinen Daddy nicht allein«, sagte sie. »Ich kann hier, im Familienwarteraum, schlafen. Wenn Sie ihn mich nur jede Stunde fünf Minuten sehen lassen wollen, dann wecken Sie mich eben jede Stunde, damit ich meine Zeit bei ihm verbringen kann.« »Du kannst ihm nicht helfen, Herzchen«, sagte Sandy, eine untersetzte Mutter von drei Kindern, die tagsüber bei sich zu Hause auf Kinder aufpaßte. Sie war der mütterliche Typ, nicht so kühl wie Zoes Mutter. »Er ist im Koma. Er weiß nicht, was vor sich geht.« »Doch, das weiß er. Nur weil sein Körper nicht aufwacht, ist noch lange nicht gesagt, daß sein Gehirn nicht aufwacht.« Sie streckte resolut das Kinn vor. »Wenn er nichts von mir hört, wird er sich Sorgen um mich machen.« An die Schwester gewandt fügte sie hinzu: »Wir kümmern uns umeinander, jetzt wo meine Mom und mein Bruder nicht da sind.« Die Schwester und Sandy tauschten einen Blick. Sandy sagte: »Meinen Sie, sie kann allein hierbleiben?« »Ich werde ein Auge auf sie haben«, sagte die Schwester, eine hübsche, junge Blondine, auf deren Namensschild Maria stand. 607
»Meine Schicht endet um sechs, und ich werde mit Sam reden, wenn er mich ablöst.« »Sind Sie sich sicher?« Sandy war jemand, der sich ständig Sorgen machte, aber ihre Kinder waren auch noch klein. Sie waren es gewohnt, daß Sandy in jeder wachen Minute ihres Lebens in der Nähe war und für sie sorgte. »Ich komm schon zurecht«, sagte Zoe. »Gehen Sie ruhig.« Sandy wühlte in ihrer riesigen Geldbörse. »Brauchst du ein bißchen Geld? Hier sind zehn Dollar. Vielleicht willst du mal in die Cafeteria gehen und dir etwas zu essen holen. Aber geh nicht allein runter. Geh mit einem Sanitäter oder einer Schwester oder so jemandem. Und sprich nicht mit Fremden. Und…« »Schon gut«, sagte Zoe geduldig. »Danke für das Geld. Ich zahle es Ihnen zurück.« »Ach, du dummes Kind.« Sandy betupfte sich mit einem feuchten, zerknüllten Kleenex die Augen. Sie schloß Zoe in ihre schwammigen Arme und drückte sie fest an ihren üppigen Busen. »Armes, armes Kind.« Sie war wirklich nett, aber Zoe vertrug sie nur in kleinen Dosen; wenn sie zuviel Zeit in Sandys Nähe verbrachte, fühlte sie sich erstickt. Sie hätte es lieber gehabt, wenn ihre Großmutter hiergewesen wäre, aber die Eltern ihres Vaters waren außer Landes auf einer Kreuzfahrt, und sie wollte sie nicht belästigen, es sei denn - nun, sie wollte sie nicht belästigen. Ihr Vater hatte ihr erzählt, daß sie ungefähr Jahrhunderte auf diese spezielle Kreuzfahrt für Senioren gespart hatten. Es sollte eine Big Band an Bord sein und lauter so kitschiges Zeug. Sie wollte ihnen die 608
Reise nicht verderben, es sei denn - nun, sie wollte ihnen die Reise nicht verderben. Sandy ging schließlich, nicht ohne Zoe vorher noch eine Coke, einen Schokoriegel, Kaugummi und ein Heft von Seventeen zu bringen. Sie war wirklich eine nette Frau, aber Zoe war erleichtert, als sie weg war. In der Zeitschrift waren viele tolle Artikel, die Zoe interessierten, wie »Neidisch auf die beste Freundin«, »Wie flirtet man mit den coolsten Jungs« und »Quiz: Wie schüchtern bist du?« Aber als sie das Heft aufschlug, ergaben die Worte keinen Sinn, und sie mußte denselben Absatz immer wieder von vorn lesen. Zoe warf die Zeitschrift auf den Boden und streckte sich mit einem gestärkten weißen Krankenhauskissen unter dem Kopf auf der Couch aus. Mehr als alles andere wünschte sie, sie hätte Flaff Dawg bei sich. Flaff Dawg war der abgerissene alte Stoffhund, mit dem sie schon seit ihrem dritten Geburtstag schlief, aber es war Zoe zu peinlich gewesen, es vor Sandy zuzugeben, deshalb hatte sie nicht um ihn gebeten. Sie versuchte ein bißchen zu schlafen, aber immer wenn sie eindöste, stahlen sich die gleichen grusligen Gedanken in ihr Gehirn: Was ist, wenn er stirbt? Was ist, wenn er stirbt, und du bist ganz allein? Was ist, wenn Daddy stirbt und Daniel stirbt und Mom stirbt, und du hast niemanden mehr auf der ganzen Welt? Was ist, wenn deine gesamte Familie stirbt, und du mußt aus dem Haus ausziehen und vielleicht aus der Stadt wegziehen, weil du bei Oma und Opa wohnen mußt, die wirklich nett sind, aber ihr Haus riecht komisch, und sie hatten seit ewigen Zeiten keine Teenager mehr bei sich? Was wirst du ohne deine Familie anfangen? Was machst du, wenn du ganz allein auf der 609
Welt bist? Nicht einmal Seventeen weiß darauf eine Antwort. Dann mußte Zoe sich eine Ohrfeige geben, im Geiste jedenfalls, und sich sagen: Schluß damit! Daddy braucht dich, und das ist alles, was im Augenblick zählt. Denk über das andere später nach. Denk morgen darüber nach. Vielleicht wurde sie verrückt. Vielleicht hatte sie dieses posttraumatische Zeug, von dem sie im Fernsehen dauernd redeten. Vielleicht kannte Maria jemanden, mit dem sie reden konnte. In Krankenhäusern gibt es wahrscheinlich eine Menge Leute, die bei solchem Zeug helfen können. Zoe setzte sich hoch, schüttelte das Kissen auf. Sie nahm die Zeitschrift wieder zur Hand und blätterte noch ein wenig darin. Maria erschien in der Tür. »Hallo, Zoe«, sagte sie lächelnd. »Da ist ein Anruf für dich.« »Wirklich?« Zoe runzelte die Stirn. Keine von ihren Freundinnen würde sie hier im Krankenhaus in San Antonio anrufen, denn von ihrer Stadt aus war das ein Ferngespräch. »Von wem?« »Deine Tante Lissie. Die Telefon Vermittlung hat den Anruf in die Schwesternstation gelegt.« »Aber ich habe keine Tante… O mein Gott! Es ist Mo… meine Tante Lissie!« Noch während sie das stammelte, stürzte Zoe aus dem Zimmer, sprang den Flur hinunter wie ein Reh auf der Flucht, schlitterte an der Schwesternstation vorbei, machte kehrt und landete atemlos an der Theke. 610
»Langsam, junge Dame«, sagte die Schwester hinter der Theke lächelnd. »Die Böden hier können furchtbar rutschig sein. Komm hier rüber - du kannst den Anruf hier hinten im Büro entgegennehmen.« »Danke, danke, danke!« schrie Zoe und stürmte an der verwirrten Schwester vorbei zu dem mit Papieren übersäten Schreibtisch. Sie nahm den Hörer auf, war aber zu sehr außer Atem, um sprechen zu können. »Zoe? Mein Liebling! Wie geht es dir?« »Mir geht’s gut!« piepste Zoe, und dann brach sie zu ihrem Entsetzen in Tränen aus. »W-wirklich g-ggut«, schluchzte sie. »Mein tapferes, tapferes Mädchen! Du warst so allein, stimmt’ s?« Zoe weinte, hilflos gegenüber ihrem Mangel an Beherrschung, wütend auf sich selbst, weil sie ihre Mutter nicht beunruhigen wollte. »Wie geht es Daddy? In den Fernsehnachrichten kommt nichts mehr über ihn.« »Er liegt im K-K-Koma.« Zoe schniefte. »Sie lassen mich nur jede Stunde für fünf Minuten zu ihm. Sie haben ihn schon operiert, und sie sagten, die Kugel hat sein Herz nur um einen halben Zentimeter verfehlt.« »O mein Gott.« »Und er hat geblutet und geblutet, und deshalb geht es ihm jetzt so schlecht, sagen sie.« »Ist jemand bei dir, Schatz?« Die Stimme ihrer Mutter, die geliebte Stimme ihrer Mutter, sie war so beruhigend. »Sandy war hier, aber ich habe sie heimgehen lassen. 611
Die Schwestern haben gesagt, ich kann hier schlafen.« »Gut. Ich weiß, daß es dir dann bessergeht. Dein Daddy kann nämlich spüren, daß du da bist. Er reagiert vielleicht nicht auf dich, aber er weiß es.« »Das habe ich Sandy auch gesagt. Sie hat mir nicht geglaubt.« »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Mach einfach weiter alles so, wie es dir dein Herz sagt, mein Mädchen.« Zoe unternahm eine herkulische Anstrengung, ihre Beherrschung zurückzugewinnen. Sie wußte nicht, wann sie wieder die Gelegenheit haben würde, mit ihrer Mutter zu sprechen, und sie wollte es nicht verpatzen. »Mom? Dieser Hunter, der hat Daniel wirklich übel zugerichtet.« »O nein!« »Er hat überall geblutet, und sein Ohr hing irgendwie runter.« »Was?« »Okay, okay, es hing nur ein bißchen runter. Aber es hat mächtig geblutet.« »Du weißt, warum, oder?« »Warum es geblutet hat?« »Nein. Ich meine, warum Hunter Daniel geschlagen hat.« »Nein.« Zoe nahm ein Papiertaschentuch aus der Schachtel auf dem Schreibtisch und schneuzte sich die Nase. »Das heißt, Hunter hat irgendwas gesagt, daß Daniel nicht wollte, daß sie uns einen Besuch abstatten.« »Er hat wahrscheinlich gegen Hunter gekämpft, um ihn 612
von dir und deinem Dad fernzuhalten. Er liebt euch beide sehr, weißt du. Er vermißt euch.« »Ich vermisse ihn auch«, sagte Zoe traurig. »Mom… wann kommst du zurück?« »Sobald ich kann, Liebes. Ich hole Daniel morgen.« »Wirklich?« »Oder übermorgen. Nicht später.« »Weißt du, wo sie sind?« »Ich kann es mir ziemlich genau vorstellen. Paß auf, Zoe, du mußt ein paar Dinge für mich tun.« Zoe setzte sich aufrechter. Ihre Mutter brauchte sie. »Ja, Ma’am.« »Okay. Weißt du, ob dein Daddy ein kleines Gerät am Telefon hat, mit dem er Gespräche aufzeichnen kann?« »Ja! Er hat mir das Band von deinem Anruf vorgespielt. Da ging es mir gleich viel besser.« »Schatz… hat Daddy irgend etwas von Geheimcode zu dir gesagt? Auf dem Band?«
einem
»Geheimcode? Nein! Davon hat er nichts gesagt! Was für ein Geheimcode?« »Das habe ich befürchtet«, sagte Wren nachdenklich. »Gut. Was du für mich tun mußt, ist, Mister Steve Austin zu erwischen -Daddy sagte, er arbeitet für euch oder so?« »Ja. Ich habe seine Telefonnummer, aber er ist im Krankenhaus. In Midland.« »Ich weiß. Ich weiß. Du mußt jetzt sehr schlau sein. Du mußt ihn irgendwie erwischen. Ich glaube nicht, daß er so 613
schwer verletzt ist, und er wird das wissen wollen. Spiel ihm das Band vor, und er wird sich den Rest selbst zusammenreimen.« »Mom? Kannst du mir nicht einfach sagen, was es ist, und wir sparen uns die ganze Mühe?« »Ich wünschte, ich könnte es, Liebes, aber man weiß nie, wer vielleicht zuhört.« Zoe dachte darüber nach. Es ergab keinen Sinn für sie. »Also. Das zweite, was du tun sollst«, sagte ihre Mutter. »Naja, es ist ein wenig geistig.« »Geistig?« Sie waren seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen. »Willst du, daß ich bete?« »Das auch, Schatz. Es kann nicht schaden, aber ich möchte, daß du bei jeder Gelegenheit mit deinem Vater sprichst und ihm sagst, daß es mir gutgeht und daß ich Daniel bald nach Hause bringe.« »Ach, das! Mom, das tue ich sowieso schon.« »Das tust du schon?« »Jede Stunde. Ich sage ihm immer wieder das gleiche ins Ohr. Ich sage: Daddy, alles wird gut. Mom ist in Ordnung, und sie bringt Daniel bald heim.« Sie wartete auf eine Antwort, und als sie keine bekam, sagte sie: »Mom?« »Ich bin hier, Liebes. Du überwältigst mich manchmal einfach. Ich habe dich mehr vermißt, als du dir vorstellen kannst.« »Doch, das kann ich.« Zoe kicherte wehmütig. »Mein tapferes Mädchen. Du hast so viel durchgemacht. Du bist eine richtige Heldin, weißt du das?« 614
»Eine Heldin? Ich?« »Und wie. Eine Superheldin.« Zoe wunderte sich darüber. »Ich hör jetzt lieber auf, Schatz. Ich liebe dich so sehr.« »Ich dich auch.« Mehr konnte Zoe nicht sagen; die Tränen waren schon wieder zu dicht an der Oberfläche. »Ich seh dich bald.« »Okay. Mom?« »Ja?« »Sei vorsichtig. Du bist auch ziemlich tapfer.« »Was soll ich sagen? Wir stammen von einer ziemlich guten Familie ab. Wenn ich heimkomme, erzähle ich dir alles.« Und dann war es vorbei. Die Stimme ihrer Mutter - ihre Rettungsleine - war weg, und sie war wieder allein. »Danke«, sagte sie höflich zu den Schwestern, als sie auf bleiernen Füßen zurück in den Warteraum ging. Sie lächelten in ihre Richtung, aber sie waren beschäftigt. Sie waren alle beschäftigt. Einer der Patienten hatte ein Problem. Zoe schaute zum Bett ihres Vaters hinüber. Er schien friedlich zu schlafen, wie es sich für einen Mann im Koma gehört. Er war es also nicht, der das Problem hatte. Sie schaute wieder zu den Schwestern. Sie hatten ihr alle den Rücken zugewandt. Zoe kroch an den Piepsern, Monitorsignalen und den anderen Lebensadern vorbei, die Patienten in kritischem 615
Zustand mit ihren Beobachtern verbinden, und schlich auf Zehenspitzen um das Bett ihres Vaters herum. Sie ging tief gebückt, damit sie nicht gleich gesehen wurde, und legte ihren Kopf neben dem Ohr ihres Vaters auf das Kissen. »Daddy, hier ist Zoe wieder«, flüsterte sie. »Es wird alles gut. Mom geht es gut - wirklich. Ich sage das diesmal nicht bloß. Ich habe mit ihr gesprochen, und sie bringt Daniel bald nach Hause. Deshalb mußt du stark sein, und du mußt kämpfen, damit wir alle wieder Zusammensein können. Ich liebe dich, Daddy.« Zoe war so vertieft in ihren Psalm, ihr Mantra für ihren kranken Vater, daß sie nicht bemerkte, wie Maria auf ihre Beine starrte, die in Jeans steckten und unter dem Bett zu sehen waren. Maria warf einen Blick auf Mister Camerons Monitore; der Blutdruck ging hoch, die erste positive Reaktion, die sie bisher beobachtet hatte. Nach einer Weile wandte sich Maria ab und tat so, als hätte sie nichts gesehen.
Nach dem Telefongespräch mit Zoe war Wren völlig erledigt. Ihre ganze sorgsam aufgebaute Abwehr stürzte in dem Augenblick einfach in sich zusammen, als sie die tapfere, tränenerstickte Stimme ihrer Tochter hörte. Aber Zoe zählte auf sie - alle zählten auf sie -, und sie hatte nicht vor, sie zu enttäuschen. Wren schlief in dieser Nacht in ihrem alten Zimmer. Ihre Mutter hatte es schon vor langer Zeit in ein Gästezimmer verwandelt, eines von diesen unpersönlichen Zimmern im Stil des Southern Living, die mehr Geschmack als Persönlichkeit widerspiegelten. 616
Aber der Blick aus dem Fenster war der gleiche, das Knarren im Gebälk des alten Hauses und die kaleidoskopartigen Weihnachtsfarben, die von der Festbeleuchtung in der Straße über die Decke tanzten, waren wie früher. Es war seltsam, wie alles so gleich war und doch ganz anders. Seltsam, sich so fremd in einem Haus zu fühlen, das früher den Mittelpunkt ihres Universums gebildet hatte. Seltsam, ihren Vater zu kennen und doch nicht zu kennen. Es gab jedoch etwas, das Wren wußte und das ihr Kraft gab. In der Mondsichel, die den Pfad ihres Lebens bildete, hatte sie die dunkle Seite durchschritten und war wieder ins Licht getaucht; ihr Leben war nun im Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit. Sie fühlte nun Frieden in ihrer lange gequälten Seele, und trotz der schwierigen Reise, die ihr bevorstand, strömte eine neue Kraft durch ihre Adern, eine Kraft, die nicht nur von ihren Vorfahren und von Gulanlati stammte, sondern aus der Richtigkeit ihrer Lebensentscheidungen kam. Wren hatte entdeckt, daß die Mutigen ein Geheimnis kennen, das die Feiglinge nie erfahren: daß ein Opfer, das man für die Masse brachte, ein Opfer war, das man für den einzelnen brachte. Das Netz des Lebens, das uns alle verbindet, wird mit jeder selbstlosen Tat kräftiger, und mit jedem Sichgehenlassen wird ein Teil von uns für immer zerstört. Zum ersten Mal seit vielen Wochen schlief Wren gut in dieser Nacht. Am nächsten Morgen, nachdem ihr Vater weggegangen war, um die Besorgungen für sie zu machen, fand sie auf der Veranda die glitzernde Feder eines Raben. Der Rabe, galana, war den Cherokee heilig. Daß Raben zu 617
dieser Jahreszeit in dieser Gegend von Texas massenhaft anzutreffen waren, tat ihrem Glauben keinen Abbruch. Sie nahm die Feder als einen glücksbringenden Talisman und steckte sie zu der Rassel der Klapperschlange in ihre Tasche. Die Reisevorbereitungen dauerten länger, als Wren gehofft hatte, aber es war wichtig, daß sie nichts vergaß. Sie vermutete, daß Hunter Daniel zumindest so lange am Leben ließ, bis sie eintraf, und es konnte in einer Katastrophe enden, wenn sie nicht vorbereitet war. Immerhin ging sie zum Unuk’sutü, dem Ort der Diamantklapperschlange, einen Ort, an dem jemand wohnte, der so böse war, daß es schon zum Tod führen konnte, wenn man nur seiner Fußspur folgte. Aber sie war nicht mehr das zitternde Kind Lissie; sie war nun Ghigau, die geliebte Frau, eine selbständige Kriegerin. Sie würde gegen Uk’ten kämpfen, und sie würde ihn besiegen, denn sie war nicht irgendeine Kriegerin; sie war der wilde kleine Zaunkönig, bereit bis zum Tod zu kämpfen, um den bösen Falken von seinem Nest zu vertreiben. Und sie würde die Taktik ihres Feindes gegen ihn anwenden. Als alles fertig und die Zeit zum Aufbruch gekommen war, umarmten sie und ihr Vater sich. Wie seltsam auch, daß Wren lernen sollte, sich auf ihren Vater zu verlassen, da sie gerade erst gelernt hatte, auf eigenen Beinen zu stehen. In einer Familie sollte man sich aufeinander verlassen können, dachte sie, während sie seinen vertrauten Geruch einatmete; und so sollte es auch in der Menschheitsfamilie sein. »Feiere Weihnachten mit uns, bei uns zu Hause«, sagte 618
sie zu ihm. »Dann lernst du den Rest deiner Familie kennen.« »Ich freue mich darauf«, sagte er und wischte sich die Augen aus. Er gab ihr die Schlüssel für seinen Cadillac. »Mach keine Beule in das Auto.« Die Fahrt war sehr lang, aber ihr Transportmittel war luxuriös. Zum ersten Mal seit Verlassen des Lagers konnte sich Wren entspannen und mußte sich nicht so viele Sorgen machen, daß eine Highway-Streife sie entdecken könnte. Sie hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und bemühte sich, nicht jedesmal in Panik zu geraten, wenn einer der auffälligen Streifenwagen am Straßenrand lauerte. Bis zu den Bergen war es einfach. Die Hütte von Hunters Onkel tief in den Wäldern zu finden war sehr viel schwieriger. Vor vielen Jahren, in der Anfangszeit ihrer Liebschaft, hatte Hunter Wren versprochen, daß sie eines Tages ihre Flitterwochen in dieser Hütte verbringen würden. Es war ihm natürlich nicht in den Sinn gekommen, daß eine junge Braut eine verfallene, alte Jagdhütte in den Wäldern nicht gerade als das Paradies auf Erden ansehen könnte. Dennoch hatte sich sogar Wren für seine begeisterten Beschreibungen von nahen Gebirgsbächen, der verlassenen alten Kirche mit ihrem unheimlichen Friedhof und anderem rauhen Zauber erwärmt. Obwohl sich, wie die meisten von Hunters Versprechungen, auch diese bei Lichte besehen in Nichts 619
aufgelöst hatte, erinnerte sich Wren noch an vieles, das er ihr von der Gegend erzählt hatte. In einer Touristenfalle an der Straße kaufte sie eine topographische Karte; Kartenlesen war eine der vielen Fertigkeiten, die sie sich bei ihrer paramilitärischen Ausbildung erworben hatte. Wren traute sich nicht, nach dem Weg zu fragen; selbst wenn sie als Nachbarn im Streit lagen, hielten die Leute in den Bergen zusammen, sobald es um Fremde ging. Zweifellos wäre auch die beiläufigste Frage irgendwie über das Nachrichtensystem in den Wäldern weitertelegrafiert worden und hätte Hunter vor ihrem baldigen Eintreffen gewarnt. Nachdem sie bei einem dicken, saftigen Grillsandwich die Karte studiert hatte, fragte Wren nach dem Wetter. Leute auf dem Land reden immer gern über das Wetter. Sie erfuhr, daß es nach mehreren Regentagen aufgeheitert war, aber eine vordringende Kaltfront die Berge in jene Art Nebel hüllte, der die Schauermärchen über Tod und Zerstückelung tief in den dunklen Wäldern hervorbrachte. Wren fragte sich, ob sie ihr angst machen wollten, ob sie sich einen Spaß auf Kosten der Städterin machten, aber als die Dunkelheit sich vor den beschlagenen Fenstern des Cafés sammelte, war sie sich nicht mehr so sicher. Das Fahren wurde mehr und mehr zu einem gespenstischen Alptraum; sie war gezwungen, im Schneckentempo dahinzukriechen, weil sie nicht über ihre eigenen Scheinwerfer hinaussah, und als sie tief in den Wald abbog, kam es ihr vor, als würde sie verschluckt. Dennoch ließ sich Wren nicht einschüchtern. Ihr Rucksack war reichlich gefüllt, ihr Vater hatte keine Kosten gescheut. Und ihr Sohn war irgendwo da draußen, in dem verschleierten Dickicht der Wälder, allein mit 620
einem Wahnsinnigen, der auf Rache erpicht war. Wie damals in der Wüste ging sie weiter. Außerhalb des komfortablen Autos ihres Vaters war es höllisch dunkel. Gedanken an Sunoyi anedohi Nachtwanderer, die über die Schutzlosen herfallen - und Gruselgeschichten ihrer Großmutter von den verirrten Seelen der unbegrabenen Toten lauerten in Wrens Hinterkopf, aber sie schüttelte sie ab, so gut sie konnte, denn sie brauchte alles, was sie an Konzentration aufbieten konnte, um sich zurechtzufinden. Einmal glaubte sie den Schrei der Eule zu hören. In der indianischen Tradition kündigt ein solcher Schrei immer das Nahen des Todes an. Wren hatte von den Leuten ihrer Großmutter viele Geschichten über die Eule gehört; selbst diejenigen, die behaupteten, nicht daran zu glauben, wußten von Beispielen zu erzählen, bei denen sie kurz vor einer großen persönlichen Tragödie Eulen gesehen oder gehört hatten. Sie sagte sich, daß es nur Einbildung war. Bei ihrem nächsten Schritt blieb sie mit der Spitze ihres Stiefels an etwas Massivem im Boden hängen und fiel der Länge nach hin. Wren schirmte ihre Stablampe mit der Hand ab und spähte durch den gespenstischen Nebel, um zu sehen, was sie zu Fall gebracht hatte. Es war ein zerbrochener Grabstein. Der Name auf dem Grabstein war Daniel. Nun, zum ersten Mal seit Tagen, wurde Wren von ihrer neugewonnenen Zuversicht verlassen und blieb ganz allein und sehr verängstigt zurück.
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43. Kapitel Austin verlagerte sein Gewicht in dem harten Krankenhausbett. Er hatte bereits festgestellt, daß es keine bequeme Position gab, aber er war zu dickköpfig, um das verschriebene Schmerzmittel zu nehmen, weil es sein Gehirn vernebelte. Er lernte auf die harte Tour, daß Tylenol zwar großartig bei gelegentlichem Kopfweh half, bei Schußwunden jedoch einen Dreck wert war. Austin hatte andere Gründe für seine düstere Stimmung. Cindy Thomas war auf dem Operationstisch gestorben; sie ließ einen vierjährigen Sohn zurück. Als er sie anstellte, hatte sie ihm erzählt, daß sie den Secret Service und das Bewachungskommando des Präsidenten vor allem deshalb verließ, um mehr Zeit für ihren Jungen zu haben. Und was hat sie getan? dachte Austin. Sie hat bei mir angefangen und kam dabei ums Leben. Er war tief betrübt und voller Schuldgefühle. Ned Thomas, Cindys junger Ehemann, hatte ihn im Krankenhaus besucht, um ihm zu sagen, daß Cindy kein anderes Leben hätte führen wollen und auch keine andere Art zu sterben gewählt hätte. Er sagte, Austin solle sich keine Vorwürfe machen - und dann hatte der Mann die Größe, Cindys Organe zu spenden, damit andere weiterleben konnten. Das Gespräch mit Cindys Mann hatte ihm zweifellos geholfen. Ohne dieses Gespräch wäre Austin vielleicht in den schwarzen Abgrund der Depression gefallen. Aber es brachte die Mutter dieses kleinen Jungen nicht zurück, und Austin wußte, daß kein Tag seines Lebens vergehen würde, ohne daß er daran dachte. 622
Buck Leatherwood hatte ein Treuhandvermögen für die Collegeausbildung des Jungen angelegt und Cindys Lebensversicherung Dollar für Dollar aus der eigenen Tasche aufgedoppelt. Er übernahm auch die Krankenhausrechnungen, die nicht von der Versicherung abgedeckt waren, für alle drei verwundeten Mitglieder der Sicherheitsmannschaft, trotz Austins Protesten, daß er seine eigenen selbst bezahlen konnte. Leatherwood lehnte es taktvollerweise ab, Austin die Schuld an dem zu geben, was passiert war, und sagte, wenn Attentäter den Präsidenten der Vereinigten Staaten erwischen konnten, dann konnten sie auch ihn erwischen. Er revidierte auch seine harte Linie in bezug auf verschiedene Sicherheitsmaßnahmen, wie die Berichte von Guaranteed Security, Inc. sie vorgeschlagen hatten. Metalldetektoren und andere Geräte wurden bereits installiert. »Es hat keinen Sinn, daß unschuldigen Leuten der Kopf weggepustet wird, nur weil ich öffentlich den Mund aufreißen muß«, sagte er wütend. »An der Sache habe ich genausoviel Schuld wie Sie. Wenn ich von Anfang an getan hätte, was Sie gesagt haben, wäre das alles nicht passiert.« Austin war sich da nicht so sicher, aber er wußte die Geste zu schätzen und war erleichtert, daß nun bessere Sicherheitsmaßnahmen für das Leatherwood Building ergriffen wurden. Mike Martinez hatte vorbeigeschaut und Austin eine vollständige Übersicht über die Sprengkörper gegeben, die die ATF unschädlich gemacht hatte. »Es war komisch, Steve«, sagte er. »Die beiden Sprengsätze in unmittelbarer Nähe von Leatherwood waren bereits unbrauchbar 623
gemacht. Die anderen waren manipuliert - und das ist das Komische daran. Die Timer waren so eingestellt, daß es aussah, als würden sie zur selben Zeit losgehen wie die Bombe hinter dem Fernsehgestell, aber die Zünder waren in Wirklichkeit auf viel später eingestellt. Mit anderen Worten, selbst ein Bombenexperte hätte angenommen, daß die Dinger scharf und startklar waren, aber nachdem diese kleine Sprengladung hochging, blieb genügend Zeit, um das Gebäude zu räumen und das Bombenkommando einzuschalten, bevor Schlimmeres passierte. Und noch etwas. Sie haben gesagt, so wie der kleine Sprengkörper der hinter dem Fernsehgestell, der tatsächlich losging angebracht war, das muß Absicht gewesen sein.« »Ich bin mir sicher, es war bei allen Absicht«, sagte Austin müde. »Nein, ich meine, er war hinter eine Ablenkplatte gelegt.« »Was ist das?« »Es ist eine Art Hindernis, ein Schutz - so, wie wenn man beim Röntgen einen Bleischild trägt. Auf diese Weise konnte niemand verletzt werden. Die Feuerwerkjungs sagen, die ganze Anordnung war das Werk eines Genies, Mann.« Nein, dachte Austin. Es war das Werk von Lissie Montgomery. Oder Wren Cameron. Oder wer zum Teufel sie ist. Schwer seufzend griff Austin zur Fernbedienung für das Bett und verstellte die Kopfhöhe ein bißchen. Vielleicht würde das gegen die Schmerzen helfen. »Kann ich dir etwas bringen, Schatz«, fragte Patsy besorgt. 624
»Nein, danke, ich hab alles.« Er starrte an die Decke. Lissie war immer noch da draußen. Und Hunter auch - mit Daniel. Der arme Junge - nicht auszumalen, was er mit einem Psychopathen wie Hunter durchmachte. Nachdem seine kleine Party vereitelt war, und wenn er erst herausgefunden hatte, daß Daniels Mutter dafür verantwortlich war - Austin schauderte bei dem Gedanken, was Hunter als nächstes tun würde. »Du machst dir Sorgen um diese Frau, hab ich recht?« fragte Patsy. »Und um ihren Sohn.« Austin zählte weiter die Fliesen an der Decke. Er nickte. Das Telefon läutete. Natürlich stürzte sich Patsy darauf. Sie schirmte ihn vor Telefonaten ab und überwachte seine Mahlzeiten, und es machte ihn langsam wahnsinnig. Als sich ihr Gesicht zu einem breiten Lächeln verzog, entspannte er sich. Sie sagte: »Die Vermittlung meint, eine von deinen Töchtern ist am Telefon. Ich habe ihr gesagt, daß du das Gespräch annimmst.« »Hallo?« Er hörte ein Klicken. »Mister Austin?« sagte die schrille Stimme, die nicht einer seiner erwachsenen Töchter gehörte. »Hier ist Zoe Cameron.« »Zoe!« Er setzte sich auf. »Autsch. Hab mich gerade vergessen. Okay, so ist es besser. Also, wie geht es deinem Vater?« »Er liegt im Koma. Sie sagten, die Kugel hat sein Herz um einen halben Zentimeter verfehlt.« »0 Gott. Es tut mir so leid, Kind.« 625
»Sein Zustand hat sich nicht verändert, aber er ist auch nicht schlechter geworden, also nehmen wir es als gute Nachricht.« »Das ist es auch! Dein Vater ist ein zäher alter Knochen. Er schafft es.« »Wie geht es Ihnen?« fragte sie höflich. »Ich habe gehört, Sie wurden auch angeschossen.« »Ach, Unkraut vergeht nicht«, sagte er. »Ich glaube, die Ärzte sind fast soweit, mich hier rauszuschmeißen.« Er lächelte. »Ich bin so froh, daß du anrufst.« »Ich soll Ihnen eine Nachricht geben. Von meiner Mutter.« »Von deiner Mutter?« »Sie hat mich angerufen. Hier im Krankenhaus. Und sie hat meinen Dad angerufen. Ich meine, bevor er angeschossen wurde. Daddy hat das Gespräch aufgezeichnet, und Mom möchte, daß Sie es sich anhören.« »Hat sie gesagt, warum?« »Sie sagte, daß ein Geheimcode drauf ist und daß Sie ihn verstehen würden.« Austin runzelte die Stirn. Er fragte sich, ob die viele Zeit, die Lissie gezwungenermaßen mit dieser paranoiden Bande verbracht hatte, ihre Spuren hinterließ. Sie schien selbst paranoid zu werden. »Hat sie sonst noch etwas gesagt. Über mich, meine ich.« »Nein, das heißt… Ich glaube, sie denkt, daß Sie ihr helfen können, Mister Austin. Sie hat Angst, die Behörden 626
einzuschalten, wegen dem, was in der Community passiert ist.« Aber ich war damals für die Erstürmung verantwortlich, dachte Austin. Warum traut sie mir? Vielleicht, weil niemand sonst den sogenannten ›Geheimcode‹ verstand. Vielleicht, weil er Cam geholfen hatte. Wer weiß? Er war jedenfalls froh darüber, weil es ihm die Gelegenheit gab, dabeizusein, etwas zu tun, Wiedergutmachung für die Sünden der Vergangenheit zu leisten. Austin machte mit der rechten Hand eine Geste des Schreibens zu Patsy. Sofort tauchten ein Notizblock und ein Kugelschreiber auf. Er warf ihr eine Kußhand zu. »Okay, Schatz, Wortwahl.«
schieß
los.
Hoppla!
Schlechte
Sie kicherte. Ein gutes Zeichen. Und dann hörte er diese Stimme, diese klare und kräftige texanische Stimme, an die er sich von früher so lebhaft erinnerte. Es war so erstaunlich, sie einfach nur wieder zu hören, daß er den größten Teil des Gesprächs nicht mitbekam und Zoe bitten mußte, es noch mal abzuspielen. Diesmal machte er sich Notizen. »So so, ein Geheimcode«, sagte er gequält. »Was denkt sie, wer sie ist, ein code talker?« »Was ist ein code talker?« Austin kicherte. »Im Zweiten Weltkrieg ließen sie Männer vom Volk der Navaho wichtige Kommuniques über die Truppenbewegungen der Alliierten in der 627
Navahosprache übermitteln. Die Japaner konnten den Code nie knacken.« »Cool! Hat Mom das hier gemacht?« »Wohl kaum«, sagte Austin. »Hör zu, ich weiß das hier sehr wohl zu schätzen.« Es war die Wahrheit. Es ließ schon sein Blut wieder zirkulieren, daß er etwas Konkretes zu tun hatte, einen Beitrag leisten konnte. »Kümmere du dich um deinen Daddy. Ich komme ihn besuchen, sobald ich aus diesem Puff hier raus kann.« »Sobald Sie was?« »Sobald ich aus dem Krankenhaus komme. Du bist eine tapfere junge Dame«, fügte er ernst hinzu. »Es war mir eine Ehre, eure Familie kennenlernen zu dürfen.« »Na ja, vielleicht ändern Sie Ihre Meinung ja noch«, sagte sie. »Sie kennen Daniel noch nicht.« Austin lachte. Sie legten auf. Instinktiv klopfte er auf seine Pyjamataschen. »Ich brauche mein Adreßbuch. Wo ist mein Adreßbuch?« Patsy schüttelte den Kopf und rollte die Augen himmelwärts. »Ganz sicher nicht in deinem Pyjama, Dummerchen«, sagte sie. »Es ist in der Tasche von diesem blutigen Anzug, den die Schwestern dir vom Leib schneiden mußten, als sie dich total durchlöchert hierhergebracht haben.« »Ach was, so schlimm war es auch wieder nicht.« Er streckte seine gesunde Hand aus, und sie legte die ihre hinein. Er schloß seine Hand um ihre und sagte: »Wie hältst du es nur mit mir aus, Frau?« 628
»Das frage ich mich selbst manchmal.« Grinsend brachte sie ihre andere Hand zum Vorschein, in der sie das taschengroße Adreßbuch hielt. »Jetzt mach dich mal an die Arbeit und finde diese Frau. Du liegst schon viel zu lang untätig in diesem Bett herum.«
Den Friedhof der alten, aufgegebenen Bergkirche hatten schon seit langem Kletterpflanzen, Unterholz und Kiefernbäumchen erobert. Vandalen hatten die meisten der Grabsteine umgestoßen und einige sogar gestohlen. Alle Gräber waren mindestens hundert Jahre alt; nachdem sich Wren gezwungen hatte, hinzusehen, erfuhr sie, daß Daniel Jenkins, der Bergbewohner, über dessen Grabstein sie gestolpert war, im Jahr 1854 gestorben war, gefolgt von schlicht ›Ehefrau‹ 1855. Von der Kirche selbst war nichts übrig als die ausgebrannten Grundmauern. Sie vermutete, daß Vandalen dafür verantwortlich waren. Wenn es passiert wäre, als hier noch Leute beteten, hätten sie alle möglichen Opfer gebracht, um sie wieder aufzubauen, die Kirche war der Nabel des Gemeindelebens in Gebieten an der Siedlungsgrenze. Sie fragte sich, ob sie zu viele geworden und hinunter ins Tal an einen geräumigeren und zivilisierteren Ort gezogen waren. Nebel waberte um sie, als sie im Dunkeln den Platz erforschte. Obwohl der Schock, den Namen ihres Sohnes auf einem Grabstein zu sehen, sie beinahe erledigt hätte, dämmerte ihr langsam, daß dieser Friedhof ein entscheidender Orientierungspunkt war, nach dem Wren eifrig gesucht hatte. Wie sie von Hunters Beschreibungen noch wußte, lag die Hütte seines Onkels nur wenige hundert Meter 629
östlich. Nach einer kurzen Rast, um ihre Nerven zu beruhigen, brach Wren Richtung Osten auf. Mitten in einer nebelverhangenen Nacht durch den Wald zu streifen war sehr viel anstrengender, als die Wüste zu durchqueren. Trotz anderer Härten bot einem die Wüste Ausblicke, einen Horizont; sie war größtenteils flach, und die Schlangen warnten einen rücksichtsvollerweise, bevor sie zustießen. Giftige Waldschlangen waren lautlos und tödlich, nicht wie die dreiste Klapperschlange mit ihrem arroganten Gerassel. Natürlich half es, genügend Wasser dabeizuhaben, wenn man sich in der Wüste aufhielt, dachte sie bitter. Die Armageddon-Armee und früher die Community waren ein guter Lehrmeister für Wren gewesen. Sie bewegte sich mit langsamer Präzision und großer Heimlichkeit. Die Veteranen, die tatsächlich Kampfeinsätze in Vietnam erlebt hatten (aus einer Fernsehsendung, die sie im Haus ihres Vaters gesehen hatte, wußte sie, daß Jeremiah Hunter nicht zu ihnen gehörte), hatten viel gelernt, indem sie die Taktik der mutigen Guerillakämpfer des Vietcong studierten. Man wird eins mit der Nacht. Man wartet und wartet und beobachtet. Und dann taucht man an unerwarteten Stellen auf. Wren hatte nicht die Absicht, die Hütte wild um sich schießend anzugreifen. Tatsächlich hatte sie nicht die Absicht, für die nächsten mindestens vierundzwanzig Stunden überhaupt irgend etwas zu tun - bis sie die Szenerie ausreichend erkundet hatte. Sie würde den Ablauf und die Bewegungen der beiden sowohl bei Tag als auch bei Nacht beobachten. 630
Der Auftrag war klar: Daniel heil herauszubringen. Es war nicht ihr Ziel, Hunter zu töten, es sei denn in Notwehr - so gern sie es vielleicht tun würde. Jeder Versuch, sich an Hunter zu rächen, würde nur ihre eigentliche Mission gefährden - Daniel sicher nach Hause zu bringen. Jede überraschende Begegnung mit dem Feind auf dessen eigenem Gelände würde sie ernsthaft in Gefahr bringen und nicht dazu beitragen, ihre Mission zu erfüllen, vor allem, wenn Daniel dabei verletzt wurde. Ein Hinterhalt war denkbar, deshalb mußte sie sich rechtzeitig darauf einstellen. Es ist ja nicht so, daß ich die Artillerie zu Hilfe rufen könnte, dachte sie grimmig. Andererseits, falls Zoe zu Steve Austin durchkam, und Austin das Band hörte und die Maßnahmen ergriff, die er nach Wrens Meinung ergreifen würde. - Aber Wren konnte nicht auf diese hoffnungsvolle Möglichkeit warten. Nicht wenn Hunter den schwarzgebrannten Schnaps entdeckte, was sehr wahrscheinlich der Fall war. Das Zeug machte ihn unzurechnungsfähig, und er wußte es auch. Es war ihm nur egal. Armer Daniel. Ein drängendes Gefühl nagte in Wrens Hinterkopf, aber sie weigerte sich, ihm nachzugeben. Wenn sie übereilt handelte, würde sie irgendeinen Fehler machen, der sie beide das Leben kosten konnte. Es begann gerade hell zu werden, als Wren es schließlich bis zu der Lichtung geschafft hatte, auf der die alte Hütte stand. Wren nutzte das zunehmende Licht, um sich eine gute Stelle mit ausreichender Deckung zu sichern. Dann machte sie es sich so bequem wie möglich und richtete 631
sich auf eine lange Wartezeit ein.
Nachdem der schwarzgebrannte Schnaps ausgegangen war, tobte Hunter nicht mehr herum oder schoß auf imaginäre FBI-Beamte, statt dessen wurde seine Stimmung grimmig und wachsam. Die 45er trug er stets im Halfter am Gürtel; die Schlüssel für den Pickup hatte er in der Hosentasche, und er schlief mit der Flinte im Arm, so daß Daniels Möglichkeiten begrenzt waren. Von Zeit zu Zeit kam es Daniel in den Sinn, daß er sich davonstehlen könnte, während Hunter schlief. Schließlich war der Mann keine Maschine; er war ein Mensch, wenn auch ein verrückter. Und obwohl Daniel keine Ahnung hatte, wohin er gehen mußte, um Hilfe zu bekommen, hielt er es für möglich, daß sein Survivaltraining ausreichte, um zumindest so lange am Leben zu bleiben, bis er zufällig irgendwo auf irgendwen stieß, der helfen konnte. Das Problem war Daniels Mutter. Hunter schien überzeugt davon zu sein, daß sie von der Hütte wußte und nach ihr suchen würde, um Daniel zu retten. Und Daniel mußte zugeben, daß zumindest in dieser Hinsicht der Verrückte wahrscheinlich recht hatte mit seinem Geleiere. Daniels größte Angst war, daß seine Mutter tatsächlich erschien und auf der Suche nach ihm ums Leben kam. Er durfte dieses Risiko einfach nicht eingehen. Es blieb ihm seiner Ansicht nach nicht viel übrig als zu warten, die Augen nach seiner Mutter offenzuhalten und sich vielleicht mit ihr davonzuschleichen, wenn Hunter schlief oder so. Während er wartete, versuchte er sich vorzustellen, was seine Mutter tun würde. Er glaubte nicht, daß sie nach der 632
Katastrophe in der Community die Polizei mitbringen würde. Wahrscheinlich kam sie allein. Er wußte, daß sie nun bewaffnet war, aber er wußte nicht, ob sie eine zweite Waffe mitbringen würde, damit er notfalls aushelfen konnte. Eine Flinte wäre das beste, aber es war unwahrscheinlich, daß sie eine so schwere Waffe durch den Wald schleppte. Was Daniel wirklich Sorgen machte, war, wie seine Mutter einen solchen Kraftakt ohne Hilfe schaffen wollte. Sie war so allein da draußen, besonders nun, da Daniels Vater… Er hatte erst vor kurzem die bittere Erkenntnis gewonnen, daß es in Ordnung war, sich hin und wieder auf andere Menschen zu stützen, solange man alleine seinen Mann stand, wenn es darauf ankam. Schließlich brauchte Hunter nie jemanden, und wohin hatte es ihn gebracht! Jedesmal, wenn Daniel über sein eigenes Verhalten während der letzten Wochen nachdachte, hätte er am liebsten ein großes Loch gegraben und seinen Kopf hineingesteckt. Was war er nur für ein Volltrottel gewesen. Manchmal, wenn der Regen in die Pfannen tropfte, die sie aufgestellt hatten, und Daniel umherging und das alte Regenwasser ausleerte, um Platz für neues zu machen, packte ihn der große Jammer. Es fing damit an, daß er an Big John dachte, und dann wurde er immer sehr traurig. Big John mochte das eine oder andere Verbrechen begangen haben, und er mochte sich gerade an der Planung eines neuen beteiligt haben, aber er war nicht nur schlecht gewesen. Er hatte mitgeholfen, das Leben von Daniels Mutter zu retten, und Daniel würde ihm das nie vergessen. Niemals. 633
Eins stand fest: Big John wäre nicht davongefahren und hätte die anderen Alpha/Omegas zurückgelassen. Daniel faßte einen Entschluß. Falls er je lebend hier rauskam, würde er dafür sorgen, daß man Big John ausgrub und ihm ein anständiges Begräbnis auf einem richtigen Friedhof gab. Dann fragte sich Daniel immer, ob das Begräbnis für seinen Vater schon stattgefunden hatte, und an diesem Punkt war es immer aus mit ihm. Dann mußte er zum Klo hinausgehen, sich über das stinkende Scheißloch setzen und heulen. Es war die einzige Rückzugsmöglichkeit, die er hatte, und überhaupt, wenn Hunter gewußt hätte, daß Daniel da draußen saß und weinte, hätte er ihn wahrscheinlich einfach erschossen und die Sache wäre erledigt gewesen. Als der Regen endlich nachließ, legte sich dieser furchtbar unheimliche, kalte Nebel um die Hütte. Er zermürbte Daniel sogar noch mehr als der Regen und trieb Hunter dazu, auf jedes kleinste Geräusch da draußen in der sonnenlosen Düsternis der nebelverhangenen Wälder zu schießen. Diesmal war es nicht Schnaps, der ihn schießwütig machte, wie Daniel beobachtete, sondern schlichte Niedertracht. Die Männer von den Milizen hatten Hunter buchstäblich Hunderte von Schuß Munition für die 45er und das Gewehr gegeben, und er lief nicht Gefahr, daß sie ihm ausging. Etwas anderes an Hunter, das Daniel mit einiger Überraschung bemerkte, war, daß er nervös zu sein schien. Ängstlich. Er hatte Angst vor Daniels Mutter! Er lief in der Hütte umher, von einem Fenster zum andern, und spähte mit zusammengekniffenen Augen hinaus in die Schatten. Manchmal hörte ihn Daniel leise Dinge murmeln 634
wie: »Ich weiß, daß du da draußen bist, Lissie, du kleines Luder. Kriechst herum wie die Schlange, die du bist. Warum bewegst du deinen Arsch nicht hinaus ins Freie und kämpfst wie ein Mann?« Der große, starke Mann. Eins war sicher: Hunter sah nicht mehr so gut aus wie vorher. Sein Stoppelbart war größtenteils grau; er sah aus wie Yassir Arafat, und seine Augen glühten wie im Fieber. Es ängstigte Daniel zu Tode, ihn nur anzusehen, und er wagte keinen Augenkontakt. Hier galt das Gesetz des Dschungels; selbst ein Blick konnte als direkter Angriff interpretiert werden. Daniels Aufgabe bestand darin, auf ihrem kleinen Bunsenbrenner das Essen zu kochen, zu tun, was man ihm sagte, bevor man es ihm sagte, und Hunter bloß nicht in die Quere zu kommen. Wie ein mit Schlägen gefügig gemachter Hund lernte er bald, den Schwanz einzuziehen und genau das zu tun. Am späten Nachmittag des dritten Tages begann Daniel zu bezweifeln, daß seine Mutter sie überhaupt finden würde. Er glaubte nicht, daß sie schon einmal hiergewesen war. Es wäre ein Wunder, wenn sie diesen Ort aufgrund von Bemerkungen finden würde, die Hunter vor zwei Jahrzehnten gemacht hatte. Daniel wußte nicht, was er tun sollte. Nach dem Zwischenfall, bei dem Hunter ihm beinahe in den Kopf geschossen hätte, lebte er in ständiger Furcht vor dem Mann. Hunter war inzwischen völlig sprunghaft und konnte sich jederzeit in den Kopf setzen, Daniel abzuknallen und dazu etwas zu sagen wie: »Hoppla. Eigentlich habe ich auf die Tür dort gezielt.« Daniel lauerte beständig auf eine Gelegenheit, das 635
Gewehr in die Finger zu bekommen. Einmal abdrücken, und er wäre frei. Und seine Mutter wäre außer Gefahr. Aber es gab keine Möglichkeit. Hunter steckte das Gewehr mit in den Schlafsack, wenn er schlief, und wenn er wach war, nahm er es mit, wenn er rausmußte. Während Daniel an diesem Abend Bohnen für ihre Mahlzeit kochte, begann Hunters Schweigen, das schon den ganzen Tag angehalten hatte, ihn plötzlich nervös zu machen. Es war unheimlich. Er machte sich Sorgen, daß Hunter Selbstmordgedanken haben könnte - und er wußte, daß Hunter ihn auf keinen Fall zurücklassen würde, falls er beschloß, sich das Leben zu nehmen. Als Hunter die 45er herausholte und damit zu spielen anfing, indem er so tat, als sei sie ein Sechsschüsser und er ein Cowboy, der alle diesen tollen Tricks beherrschte, wurde Daniel flau im Magen. Zweimal ließ Hunter die Pistole auf den Boden fallen, und Daniel hätte sich fast wieder in die Hosen gepinkelt. Dann sagte Hunter: »Ich weiß, du bist ein FBI-Agent.« Daniel sagte nichts. Er hatte nicht mehr zu Hunter gesprochen, seit der Daniels Vater umgebracht hatte; abgesehen davon war es auf diese Weise sicherer. Er rührte die Bohnen um. Langsam und sorgfältig. »Ich weiß, daß du und deine Mama, die Schlampe, euch in die Armageddon-Armee geschlichen habt, um uns zu vernichten. Sie ist nur deshalb zu mir ins Bett gekrochen, weil sie mich so besser überwachen konnten. Mit Hilfe von diesem Chip in meinem Hintern.« Plötzlich wurde Daniel von dem absurden Verlangen zu lachen überfallen. Von einem hysterischen Verlangen zu 636
lachen. Was für eine Art, abzutreten, dachte er. Ich starb lachend. O Gott, o Gott… jetzt würde er gleich hier vor dem Bohnentopf sein Leben beenden. Er klopfte den Löffel am Rand der Pfanne ab, legte ihn auf den Boden und ging langsam hinaus zum Waldrand. (Zum Pinkeln benutzten sie das Außenklo nicht.) Aber er machte seinen Reißverschluß nicht auf. Statt dessen stand er mit dem Rücken zur Hütte, legte beide Hände über den Mund und lachte, bis ihm die Tränen kamen. Nachdem er sich wieder unter Kontrolle hatte, wischte er sich übers Gesicht und murmelte: »O Mann, du hast vielleicht eine Schraube locker. Es war fast schon wieder komisch, wenn es nicht so erbärmlich wäre.« Dann räusperte er sich und ging zurück in die Hütte.
Wren konnte nicht glauben, was sie soeben gesehen hatte. Daniel stand keine zwei Meter von ihr entfernt, aber sie wagte es nicht, ihm ihre Anwesenheit zu enthüllen, denn es war immer noch hell, und sie waren zu nahe an der Hütte, um ungefährdet wegzukommen, bevor Hunter sie verfolgte. Sie mußte ihren Zug im Schutz der Dunkelheit machen. Die zunehmende Verschlechterung von Hunters Geisteszustand war eine Quelle großer Sorge für Wren. Er war zu unberechenbar. Aber sie wußte, er war mit Waffen ausgerüstet, die sie nicht auf einem langen Nachtmarsch durch die Wälder hätte tragen können. Soweit sie wußte, hatte er eine AK 47 da drin. Sie mußte ihr Glück mit Warten versuchen, und es war der längste 637
Tag ihres ganzen Lebens. Sie hatte ihren Jungen auf dem Klo schluchzen gehört, und es hatte ihr das Herz zerrissen, aber ihn nun zu sehen, erfüllte sie mit großem Stolz. Nur die wahrhaft Mutigen sind in der Lage, den Humor in einer lebensbedrohlichen Situation zu sehen; mehr als ein Kriegsheld hatte das Leben seiner Kameraden gerettet, indem er sie angesichts der Gefahr zum Lachen brachte. Diese Prüfung hatte mit Sicherheit einen Mann aus Daniel gemacht. Es machte sie trauriger, als sie mit Worten sagen konnte, denn es war viel zu früh dafür, aber sie sah auch die Möglichkeit, daß diese Situation ihren Sohn in einer Weise reifen ließ, wie es manche Männer in ihrem ganzen Leben nicht tun. Er würde ein anderer Junge sein, wenn sie ihn nach Hause brachte, und Wren sah, daß es nicht notwendigerweise nur schlecht sein mußte. Als die Dunkelheit über die Lichtung kroch, begannen die Nebelfetzen sich um die Hütte und den umgebenden Wald zu hüllen wie ein wallendes Leichentuch. Die vordringende, tiefe Finsternis hatte etwas Verderbtes, Bösartiges an sich, als würde Satans Gefolge persönlich in den Bäumen hocken und die stickige Luft mit ihrer Gier nach Blut vergiften. Die Erschöpfung spielte Wrens Gehirn Streiche. Einoder zweimal glaubte sie, Daniel aus der Hütte kommen zu sehen, nur um zu entdecken, daß es Hunter war. Sie sah an seinen Bewegungen, daß er nun nüchtern war. Wäre er noch betrunken gewesen, würden seine Reaktionen vielleicht langsamer sein. Wie die Dinge lagen, wirkte er nervös und wachsam. Wren wurde sehr unbehaglich zumute. Von nun an konnte jeder Fehler, den sie machte, tödlich sein. 638
Die einbrechende, mondlose Nacht ließ alles undeutlich werden. Bald sah Wren überhaupt nichts mehr. Ihre Haut prickelte. Gänsehaut. Und dann hörte sie es, diesmal war sie sich ganz sicher: Der Schrei der Eule. Sie bildete sich alles nur ein. Sie hörte es wieder. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Dummer Aberglaube. Indianische Märchen. Eulen jagen nun mal nachts. Kein Grund zur Aufregung. Laß dich nicht ablenken. Eine undeutliche Gestalt polterte auf die eingeknickte Veranda hinaus. Wren lauschte angestrengt. Der teuflische Nebel verdunkelte alles Licht, das vom Nachthimmel auf die Lichtung hätte fallen können. Ein Stapfen im Schlamm. Direkt auf sie zu. Ihr Puls hämmerte im Kopf. Daniel? »Ich weiß, daß du da draußen bist, Lissie. Ich werde deinen kleinen Jungen umbringen und sein Blut trinken. Was hältst du davon?« Sie öffnete den Mund, damit er sie nicht atmen hörte. Kurze, keuchende Atemzüge. Ein Hirsch, der dem dumpfen Bellen der Hunde lauscht. Erschieß ihn, schrie es in ihrer Seele. Blas ihm seinen verfluchten Schädel weg! Den Riegel zurückzuschieben, um eine Glock zu spannen, war eine geräuschvolle Angelegenheit. 639
Glücklicherweise hatte Wren daran gedacht, bevor sie das Auto verließ, obwohl es damit gefährlicher war, die Waffe zu tragen. Sie zog die Pistole nun aus dem Halfter an ihrer Hüfte und umklammerte sie mit zitternden Händen. Tu es. Plötzlich quälten sie Zweifel. Was, wenn etwas schiefging und sie ihn verfehlte? Was würde dann aus Daniel werden? Das Herz klopfte ihr wie rasend im Hals, sie zögerte. Ein Stapfen. Er war weg. Sie konnte nicht tief durchatmen. Sie wollte es, konnte es aber nicht. Schwitzte in der Kälte. Zitterte. Ich habe es verpatzt, quälte sie sich. Ich hatte meinen Versuch, und ich habe es verpatzt. Er hatte recht. Hunter hatte von Anfang an recht. Eine Waffe auf jemanden zu richten, war eine Sache. Abzudrücken, um ein Menschenleben auszulöschen, war eine andere. O Gott, dachte sie. Als es drauf ankam, hatte ich nicht den Mumm. Was wird jetzt aus uns? Sie mußte Daniel irgendwie rausholen. Es war ihr einzige Chance. Komm raus, Daniel. Ich glaube nicht, daß er dir noch eine Nacht gibt. Die unbarmherzige, nebelgetränkte Nacht zog sich dahin. Sie wartete und wartete. Döste ein. Das Geräusch von fließendem Wasser ließ Wren aus 640
dem Schlaf schrecken. Die Glock war ihr aus der Hand geglitten und mit dem Lauf nach unten im Schlamm gelandet. Sie riß sie hoch und fragte sich angsterfüllt, ob sie Ladehemmung haben würde, wenn sie abdrücken mußte. Denn wenn sie abdrücken mußte, reichte Ladehemmung, und sie und Daniel waren tot.
eine
Das Wasser hörte auf. Sie spähte angestrengt in die zum Verrücktwerden dunkle Nacht. »Mom?« Das Flüstern jagte Wren Schauder über den Körper. Sie bewegte sich nicht. Es konnte eine Falle sein. »Bist du da draußen, Mom?« War es Daniel? War er es? »Daniel.« Der Name rutschte Wren fast gegen ihren Willen heraus. Sie umklammerte die Glock fester in ihren schweißnassen Händen und streckte sie blind vor sich hin. Schritte im Schlamm. »Wo bist du?« kam das Flüstern. Mit pochendem Herzen stand Wren auf. Jetzt oder nie. Mit äußerster Vorsicht schlüpfte sie aus ihrem Versteck. Sie hielt die Glock bereit und machte einen Schritt, der sich für ihre überempfindlichen Ohren wie ein Pistolenschuß anhörte. Er stolperte auf sie zu, und da wußte Wren, daß es bestimmt Daniel war, denn wäre es Hunter gewesen, hätte er einfach einen Schuß in ihre Richtung abgegeben. Sie 641
tasteten nacheinander, und dann drückten seine Arme, die jetzt so männlich und stark waren, sie so heftig in eine Umarmung, daß sie keine Luft mehr bekam. Er zitterte von Kopf bis Fuß. »Du bist gekommen«, murmelte er in ihr Ohr. »Du hast mich gefunden. Du bist gekommen.« Wren legte warnend einen Finger an die Lippen, drückte ihn ebenfalls und fragte sich, wie zum Teufel sie ihn und sich hier rausbringen sollte. Plötzlich wurde Wren von einem grellen, gelben Licht geblendet. Das Herz blieb ihr fast stehen; sie sprang zur Seite und stieß Daniel in die andere Richtung. Ein Schuß zerriß die Stille, Schlamm spritzte in Wrens Gesicht, brannte in ihren Augen. Das Licht ging aus; sie war wieder in Dunkelheit getaucht. »Ich finde dich, du Schlampe, und ich bringe dich um, und dann bringe ich dein Balg um, und dann suche ich dein anderes Balg und bringe es auch um! Und weißt du, warum? Weil du es nicht geschafft hast, die wichtigste Regel zu lernen: Richte nie eine Waffe auf jemanden, wenn du nicht bereit bist, sie zu benutzen!« Ein dämonisches Lachen hallte zwischen den Bäumen, und das Licht blitzte wieder auf, mitten in ihr Gesicht, aber sie war bereit. Diesmal war sie, bei Gott, bereit; sie hatte ihre Sonnenbrille auf, und alles, was sie tun mußte, war die Glock genau auf den grellen, gelben Kreis zu richten, abzudrücken und zu beten, daß sie losging, denn sie hatte nur diese eine einzige Chance. 642
BLAMBLAMBLAMBLAMBLAM; wie oft hatte sie geschossen? Hatte sie den Hurensohn erwischt oder nicht? Wren keuchte schwer, ihre Hände zitterten heftig. Sie stemmte sich auf die Knie und hielt die Glock vor sich gestreckt, bereit, das ganze verfluchte Magazin zu entleeren, denn sie hatte nun wirklich genug von Jeremiah Hunter. Stille. Ein rauhes Keuchen. Das war wohl ihr eigenes. Schlucken, die Beherrschung zurückgewinnen, die Haare aus dem Gesicht schütteln, warten. Es war schließlich doch nicht so schwer gewesen abzudrücken, als das Leben ihres Sohnes auf dem Spiel stand. Gurgeln. Das letzte Röcheln eines sterbenden Mannes. Eine letzte Bemerkung. »Scheiße. Ich hätte nicht gedacht, daß du den Mumm hast.« Sie konnten die Schlüssel für den Pickup nicht finden, und Daniel befürchtete, daß Hunter sie in das Scheißloch geschmissen hatte. Er wollte unbedingt weg von hier. »Daniel.« Seine Mutter stand neben ihm, während er in Hunters Schlafsack wühlte. Er drehte sich um und sah sie an. Im schwachen Schein der Kerosinlampe wirkte sie wieder jung. »Ich wollte dir nur sagen« - sie schaute über seinen Kopf hinweg ins Leere - »wie furchtbar leid es mir tut.« Er wippte auf den Fersen. »Was?« 643
Sie seufzte. »Ich habe mir geschworen, daß es keine Geheimnisse mehr zwischen uns geben darf. Soviel bin ich dir schuldig.« »Mom -« »Nein. Laß mich das hinter mich bringen, bevor ich wieder kneife.« »Mom, warte! Ich weiß, was du mir sagen willst.« »Das glaube ich nicht, mein Sohn.« »Du willst mir sagen, daß Hunter mein richtiger Vater war.« Sie schnappte nach Luft, als hätte er ihr einen Messerstich versetzt. »Du hast es gewußt?« Er zuckte die Achseln. »Ich habe es mir langsam zusammengereimt, als ihr beide im Lager… zusammen wart. Irgendwas daran hat mich zum Nachdenken gebracht.« »Ich wollte dich eigentlich all die Jahre nicht belügen. Ich wußte nur nicht, wie ich es dir beibringen sollte, wer Hunter war. Und Cam war so gut…« »Hat er es gewußt?« Die Frage kam schärfer heraus, als Daniel beabsichtigt hatte. Wren nickte. »Von Anfang an. Ich war im vierten Monat schwanger, als wir uns kennenlernten.« Sie lächelte schwach. »Wir haben ein bißchen an unserem echten Jahrestag gedreht.« Daniel blickte auf seine Hände. Sie berührte ihn am Kinn und zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen. »Was deinen Daddy betraf, Schatz, 644
warst du von Beginn an sein Kind.« »Er hat mich nicht gehaßt?« fragte Daniel mit tränenerstickter Stimme. »Ach, Daniel.« Wren ging in die Knie, damit sie ihm direkt in die Augen sehen konnte. »Warum sollte er dich hassen? Du bist ein eigenständiger Mensch. Nur weil Hunter schlecht war, mußt du nicht auch schlecht sein.« »Er hat immer befürchtet, daß ich mal straffällig werde oder so.« Sie lächelte ihn an. »Das lag in deinem Verhalten begründet, nicht in deinem Erbe. Außerdem glaube ich, daß du ziemlich tief in den Genpool der Montgomeries getaucht bist. Darüber habe ich dir viele aufregende Dinge zu erzählen. Du bist immerhin zu einem Achtel Cherokee.« Daniel wandte sich von seiner Mutter ab und legte die Hand über die Augen. »Was ist los? Was ist?« »Der einzige echte Vater, den ich je hatte, war Harry Cameron«, murmelte Daniel, »und jetzt ist er tot, und ich kann ihm nicht einmal -« »Aber er ist nicht tot, Daniel. Er ist schwer verletzt, aber er ist nicht tot.« Adrenalin schoß mit der Heftigkeit eines Stromschlags durch Daniels Körper. »Dad ist nicht tot? Er ist nicht tot?« Freudestrahlend schüttelte sie den Kopf. »Wir fahren zu ihm. Sobald wir die Schlüssel für den Pickup gefunden haben.« »Das ist ja großartig! Das ist phantastisch! Er ist nicht 645
tot! Er ist nicht tot!« Daniel sprang auf, umarmte seine Mutter ungestüm und wirbelte sie herum. »Ich finde die Autoschlüssel!« rief er, rannte aus der Tür und machte einen Satz über die zerbrochene Veranda. Als er neben Hunters Leiche auf die Knie ging, schlossen sich eiserne Arme um seinen Körper, und eine Stahlfaust hielt ihm den Mund zu. Bevor er reagieren konnte, wurde er hochgehoben und wie ein Bündel Feuerholz in den Wald getragen. Er wehrte sich mit aller Macht, auch noch, als eine tiefe Stimme in sein Ohr sagte: »Ich bin ein Freund, Junge, ein Freund! Beruhige dich. Wir sind hier, um dir und deiner Mutter zu helfen. Hör auf! Ich bin ein Freund.« Mit bebender Brust, Luft durch die Nasenlöcher saugend, schaute er mit wilden Augen auf den Mann, der vor ihm stand. Er war von Kopf bis Fuß mit Tarnung bedeckt, einschließlich Gesichtsbemalung. Unheimlich. Er sah allerdings nicht wie ein FBI-Mann aus. »Steve Austin hat uns geschickt«, murmelte der Mann. »Wir sind hier, um dich und deine Mom zu retten. Ich bin Pedro. Das ist Eric.« Daniel hatte sich beruhigt. Der andere Mann, Eric, nahm zögernd seine Hand weg, und Daniel grinste Pedro an. »Tut mir leid, Amigo«, sagte er. »Aber ich fürchte, ihr kommt zu spät.«
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44. Kapitel Gedämpfte Geräusche bewegten sich hin und her, raus und rein. Manchmal ergaben sie keinen Sinn, manchmal ergaben sie zuviel Sinn. Jemand sagte Dahinvegetieren und jemand sagte Blutdruck und jemand sagte Mom kommt heim. Er war so müde. So schwer. So müde. Schlafen. Wachen. Alles das gleiche. Wollte sprechen. Versuchte es. So müde. Unruhe, Lärm, Kreischen, pssst!
Durcheinander,
durchdringendes
»Cam, mein Liebling, wir sind zu Hause, und wir sind in Sicherheit.« »Dad. Hier ist dein Sohn, Daniel. Ich liebe dich, Dad.« Ein kräftiger Griff an jeder Hand. Einer groß und stark. Einer klein und stark. Sicherheit. Liebe. Er erwiderte den Griff.
Die Ärzte sagten, Cams Genesung sei wie ein Wunder. Er bekam mit, daß Steve Austin für viele Wohltaten verantwortlich war, die den Camerons zuteil wurden. Zum Beispiel hatte Leatherwoods Learjet Wren und Daniel von 647
Arkansas zurückgebracht, während Austins Männer den Cadillac ihres Vaters nach Hause fuhren. Es gab so vieles, was er aufnehmen mußte, die meiste Zeit schlief er nur. Er schlief, wenn er nicht schlafen wollte, und er schlief, wenn er es wollte. Am schlimmsten war es, wenn er mitten in einer Unterhaltung einschlief. Aber er wurde jeden Tag ein wenig kräftiger und schlief ein bißchen weniger. Als sie seine Medikamente umstellten, wurde er viel wacher. Wren und Daniel mußten viel öfter weg sein, als sie wollten. Die Bundesbehörden hatten einen unerschöpflichen Vorrat an Fragen für sie. Cam war überzeugt davon, daß das FBI ohne Steve Austins gute Beziehungen viel mißtrauischer gewesen wäre, was Wrens Rolle bei dem Bombenanschlag auf das Leatherwood Building anging. Trotz der Tatsache, daß niemand in unmittelbarer Nähe ernsthaft verletzt wurde, und obwohl Buck Leatherwood es ablehnte, Anzeige zu erstatten, hatte sie doch bei dieser Aktion mehrere Gesetze verletzt darunter immerhin Verabredung zur Verübung von Mord und war eine leichte Beute für die Staatsanwaltschaft. Glücklicherweise war ihre Zeugenaussage gegen die Bankräuber dem FBI viel wichtiger als ihre Haut, und sie konnte einen Tauschhandel herausschlagen, der ihr Strafregister ein für allemal tilgte. Immer noch sorgten überall im Land die Nachrichten für Wirbel, die den Geldfluß zur Unterstützung von Hunters Lager durch ein kompliziertes Labyrinth aus Briefkastenfirmen und betrügerischen Bankangestellten zur Quelle zurückverfolgt hatten: die rechtsextreme, politisch-religiöse Gruppe Union für ein Stärkeres Amerika. Paul Smith, der pausbäckige Wunderknabe, der 648
die Organisation leitete, bestritt jegliches Vergehen und nahm sich einen der berüchtigtsten Strafverteidiger im Land. Dennoch ließen die politischen Auswirkungen die Organisation ernsthaft geschwächt zurück. Austin war noch beunruhigt wegen der restlichen Mitglieder der sogenannten Armageddon-Armee, die nach dem Tod ihres furchtlosen Anführers und der Gefangennahme der Strike Force in alle Winde geflohen waren. Er sprach mit Wren und Cam darüber, ob sie sich ins Zeugenschutzprogramm des FBI aufnehmen lassen wollten, aber Wren weigerte sich, es auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie sagte, sie habe genug davon, wegzulaufen. Cam war mehr wegen seines Sohnes als wegen seiner Frau besorgt. Wren war stark, sie konnte sich um sich selbst kümmern, aber Daniel war ein Kind, das ein wochenlanges, ununterbrochenes Trauma durchgemacht hatte. Cam beunruhigten die Langzeitauswirkungen, die das auf den Jungen haben würde. Aber Wren tat seine Befürchtungen mit einem Achselzucken ab. Sie gab den Jungen zwar zu einer Beratungsstelle für Posttraumatischen Streß und engagierte einen Nachhilfelehrer, damit er aufholte, was er in der Schule versäumt hatte, aber sie versicherte Cam, daß Daniel robuster war, als er sich überhaupt vorstellen konnte. Eins war sicher, Cam hatte den Jungen noch nie so liebevoll erlebt. Er vermutete, daß manche Kinder eben von Zeit zu Zeit einen kleinen Schock brauchen, damit sie schätzen lernten, was sie hatten. Bedauerlicherweise blieb die Freundschaft mit Eric auf 649
der Strecke. Daniel erzählte Cam, daß er seinem alten Freund entwachsen sei. Aber es blieb noch eine unangenehme Sache zu erledigen, vor der sich Cam am meisten fürchtete. Der Kreis mußte sich schließen; er wollte nie wieder etwas vor seiner Frau geheimhalten, selbst wenn sie nie mehr mit ihm sprach. Seiner Frau sein Geheimnis zu gestehen, war das Schwerste, was Cam je getan hatte. »Du mußt es wissen«, begann er eines späten Abends zögernd, als sie endlich ungestört waren. »Ich habe es dir die ganzen Jahre verschwiegen. Ich hatte Angst, daß du mich hassen würdest -« Sie legte ihre warme, weiche Hand auf seine Wange. »Ich könnte dich nie hassen. Ich glaube, ich kann nicht einmal mehr wütend auf dich sein.« »Ich werde daran denken, wenn ich das nächste Mal die Klobrille oben lasse.« Sie lächelten sich an, dann sagte Cam: »Als wir am Anfang zusammen waren… ich meine… als du mir zum ersten Mal gesagt hast, wer du bist -« Er hielt inne. Seufzte. Fing von vorn an. »Ich bin Anwalt. Ich verteidige die ganze Zeit die Verfassung, oder zumindest Leute, deren verfassungsmäßige Rechte verletzt wurden. Ich konnte… ich konnte dich nicht heiraten, ohne - Es war wichtig, daß ich - Ich mußte einfach das Richtige tun, Wren. Gott, ist das schwer. Hör auf, mich so anzusehen.« »Ich weiß wegen Steve Austin Bescheid, Cam. Ich weiß, daß du ihn angerufen und von mir erzählt hast, bevor wir heirateten. Daß du wüßtest, wo er mich finden kann, wenn er wollte - obwohl ich schwanger war. Und ich weiß, daß 650
du es mir die ganzen Jahre verschwiegen hast, weil du dachtest, ich würde mich hintergangen fühlen.« Er nickte und wich dem Laserblick ihrer Augen aus. »Ich dachte, du würdest mich hassen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen.« »Willst du ein Geheimnis wissen?« Er sah sie an. »Es ist mir völlig egal. Ich habe dich beinahe verloren, Cam. Wir haben einander beinahe verloren, unsere Familie - Nichts kann so wichtig sein, wie daß wir zusammen sind, du und ich, unsere kleine Familie. Jetzt und für immer.« Sie küßte ihn. »Das ist ein ziemlich gutes Geheimnis«, sagte er, und sein ganzes Gesicht entspannte sich, als ein Lächeln durch die Wolken brach. »Ich denke, ich behalte es.«
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45. Kapitel Es war der fünfzehnte Januar - der Weihnachtsabend der Familie Cameron. Sie hatten einmütig beschlossen, ihre Feier aufzuschieben, bis Cam nach Hause durfte und es ihm so gutging, daß er sie genießen konnte. Wren saß auf der Couch vor dem Kamin, je eins der Kinder auf jeder Seite. Der Großvater der Kinder, Robert, saß neben ihnen in einem bequemen Schaukelstuhl. Cam saß in einem Meer von Kissen an den Kamin gelehnt. »Ich erzähle euch jetzt etwas, das ich aus meinen Halluzinationen erfahren habe«, sagte sie, wobei sie anmutig mit den Händen gestikulierte, gemäß der uralten Tradition des Geschichtenerzählens, die sie zu Füßen ihrer Großmutter kennengelernt hatte. »Das elo der Cherokee, ihre Lebensphilosophie«, erklärte sie, »besteht darin, so zu leben, daß man anderen Gutes tut und die Welt in Harmonie ordnet. In dieser Welt sind wir alle miteinander verbunden, wie ein zartes Spinnennetz. Wenn man an einem Faden zieht, erzittert das ganze Netz.« »Hab ich das nicht schon irgendwo gelesen?« fragte Zoe. »Irgend so was? Es wird Chief Seattle zugesprochen, aber man weiß nicht genau, ob er es wirklich gesagt hat.« »Führ dich nicht auf wie ein wandelndes Lexikon«, beschwerte sich Daniel bei seiner Schwester. »Zumindest kann ich eins lesen, du Blödmann.« »Eine Angeberin bist du wohl gar nicht, was?« »Kinder.« Wren tauschte einen Blick mit Cam, der besagen sollte: Ist es nicht großartig, sie wieder streiten 652
und sich Schimpfnamen geben zu hören? Cam zwinkerte ihr zu. »Also.« Wren nahm einen kleinen Schluck Eierflip ohne Alkohol. »In dieser Welt hängen wir alle voneinander ab, wenn wir deshalb als einzelner ein Unrecht sehen und nichts dagegen tun - dann schadet das Unrecht uns allen.« »Es ist nicht so einfach, das Richtige zu tun, wenn alle um einen herum Unrecht tun«, sagte Cam. »Es ist nicht einmal einfach, das Richtige zu tun, wenn es sonst niemand tun will. Und es ist wirklich nicht einfach, das Richtige zu tun, wenn man weiß, daß es jemanden verletzen könnte, den man liebt.« Er lächelte Wren an. Das knisternde Feuer hinter ihm warf einen rötlichen Schein auf sein Gesicht. Wren nickte. »Manchmal muß man sich dafür selbst vergeben. Ich mußte mir für die Menschen vergeben, die in der Community starben.« »Na ja, so unschuldig waren die nicht, Mom«, sagte Daniel. »Immerhin waren sie bewaffnet und haben auf FBIBeamte geschossen und versucht, sie zu töten. Selbst die Kinder. Die Agenten wußten das nicht.« »Aber die Menschen in meiner Bank wären nicht bewaffnet gewesen«, fügte Robert an. »Als ich erfuhr, wie tapfer deine Mutter Hunter davon abgehalten hatte, meine Bank zu überfallen, da habe ich mir Vorwürfe gemacht, daß ich nicht mehr für sie dagewesen bin, als sie aufwuchs.« »Aber wir müssen alle die Verantwortung für unsere 653
Taten übernehmen, Daddy«, sagte Wren mit einer entschlossenen Geste. »Die Fehler, die ich gemacht habe, waren nicht deine Schuld.« Ein Holzscheit zerplatzte und fiel um, und ein Funkenregen stob auf. »Ich habe auch etwas gelernt«, meldete sich Zoe in die darauffolgende Stille. »Ich hatte keine Halluzination oder was, aber ich habe gelernt, daß wir, auch wenn wir voneinander abhängen, manchmal alleine stark sein müssen. Sonst können wir nicht das Richtige tun, wenn wir es müssen.« »Das ist das Wichtigste, was ich euch mitteilen wollte«, sagte Wren eifrig. »Jedesmal, wenn wir uns an einem Scheideweg des Lebens befinden und nicht wissen, wie wir richtig handeln sollen, oder uns davor fürchten… dann ist Ahw’usti - oder Gulanlati, der Große Geist - oder Gott, oder wie immer wir es nennen, genau hier«, sagte sie und klopfte sich an die Brust, »in uns und gibt uns Klugheit und Mut.« »Davon hat Zoe auf jeden Fall eine gute Portion abbekommen«, sagte Cam mit einem ernsten Lächeln. »Hätte sie nicht die Klugheit und den Mut gehabt, die Blutung aufzuhalten, bis der Krankenwagen eintraf, wäre ich jetzt nicht hier.« »Das hab ich Fernsehen gesehen«, sagte Zoe. »Notruf 911.« Alle lachten, es hallte als vertrauter Familienchor von einer Ecke des Raumes zur anderen. Es war ein gutes Geräusch. 654
DANK Nicht jeder, der bei diesem Buch geholfen hat, wußte, daß er half. Die Aufgabe des Schriftstellers ist es, zu beobachten; in der Zeit, die ich bei paramilitärischen Survivalisten verbrachte, tat ich genau das. Jedes Wort in diesem Buch, abgesehen von der Handlung, trifft genau zu und basiert auf monatelangen Gesprächen mit Menschen, die an solchen Aktivitäten beteiligt sind, und ihren Sympathisanten. Ebenso habe ich mich durch das riesige Netzwerk aus Mitteilungsblättern, Zeitschriften, Büchern und anderen Kommunikationsmitteln gelesen, die von diesen Untergrundmilizen zur Verfügung gestellt werden. Was ich las, hörte und in eigenproduzierten Videos sah, hat mich sehr beunruhigt; ich stellte fest, daß es eine ansteigende Welle der Wut, der Angst und des Hasses gibt, die von jenen genährt wird, die mit Sicherheit davon profitieren, und ich befürchtete die Auswirkungen von alldem auf jene Mitglieder unserer Gesellschaft, die Rhetorik nicht von Fakten unterscheiden können und die, offengestanden, vielleicht nicht einmal ganz normal sind. Mourn not the Dead war zu zwei Dritteln fertig, als diese grauenhafte Explosion das Behördengebäude in Oklahoma City zum Einsturz brachte und den Tod von fast zweihundert Menschen, darunter ein Dutzend Kinder, verursachte. (Während ich dies schreibe, befinden sich zwei Tatverdächtige in Haft, und ein Prozeß steht bevor). Wie viele Amerikaner habe auch ich getrauert, als hätte ich selbst Angehörige in diesem Gebäude verloren, und in gewisser Weise, denke ich, haben wir das auch alle. Viele meiner Fragen hinsichtlich der Vorgehensweise wurden von Freunden, die Agenten beim FBI sind, 655
beantwortet. Sie baten darum, an dieser Stelle nicht konkret genannt zu werden, und ich respektiere diese Bitte. Nach der Tragödie in Oklahoma City hörte ich auf, Fragen zu diesem Thema zu stellen, da ich nicht wollte, daß sich jemand kompromittiert fühlte. Ich erhielt einige technische Unterstützung von meinem Freund, Texas Ranger John Billings, der das Manuskript gelesen und mich davor bewahrt hat, mich zum Narren zu machen. Ich bin ihm zutiefst dankbar. Ich möchte ebenfalls Wilma Mankiller danken, die bis vor kurzem der erste weibliche Principal Chief nicht nur des Volkes der Cherokee, sondern aller großen Stämme eingeborener Amerikaner war. Sie gab dem Projekt ihren Segen und wurde so zu einer Schwester im Geiste. Ich bin ihr dankbarer, als ich mit Worten sagen kann. Dieses Buch hätte nicht geschrieben werden können ohne die großzügige Unterstützung durch meinen Vater, Ken Henderson, United States Marine Corps, Vietnamveteran, früherer Sicherheitsexperte und Naturliebhaber. Er ist nicht ohne Sympathie für die Klagen der gemäßigteren Elemente unter den Survivalisten und Milizen und hat mir mehr als jeder andere geholfen, die logischen Pfade zu verstehen, die zu extremistischen Ansichten führen können. Seine Sachkunde hinsichtlich Sprengstoffen, einheimischem Terrorismus, Waffen, Nahkampf und Überlebenstechniken waren absolut unschätzbar für mich. Ich bete den Mann schlichtweg an. Danke, Dad. Mehr als ich zurückgeben kann, schulde ich auch meinem guten Freund und Cyber-Kumpel John Bailey von der Interagency Task Force in Klamath Falls, Oregon, für seine sorgfältige Durchsicht des Manuskripts, seine 656
ausgezeichneten Vorschläge in technischen Fragen bezüglich Personenschutz, Waffen, Kampfsport usw. und für seine grinsenden E-mail-Nachrichten. Mein Mann stammt aus einer Familie mit einer stolzen und hervorragenden militärischen Tradition. Sein Vater, Leroy Mills, diente im Zweiten Weltkrieg im Pazifik bei der Navy. Sein älterer Bruder, Travis W. Mills, diente bei den Special Forces in Vietnam (ein echter Kriegsheld, im Gegensatz zu den Jeremiah Hunters dieser Welt). Sein jüngerer Bruder, Lieutenant Colonel Richard W. Mills, steht zur Zeit noch in Diensten der Special Forces und wird bald einen Posten beim War College annehmen. Und mein Mann, Kent Mills, Mitglied der 101. Luftlandedivision, diente als Zugführer in Vietnam und brachte einen Bronzestern nach Hause. Der Blickwinkel dieser Männer im allgemeinen, und meines Ehemannes im besonderen, befähigten mich, in eine Welt einzutreten, die mir zunächst sehr fremd war: die Welt der Kriegsveteranen und wahren Militaristen. Ohne die Hilfe meines Mannes hätten einige Szenen in diesem Buch nicht stattfinden können. Mein Mann, mein Vater und die Männer in der Familie meines Mannes haben mich die wahre Bedeutung dessen gelehrt, was es heißt, ein Mann zu sein, und welchen Mut es jeden einzelnen Tag erfordert… einfach das Richtige zu tun.
Deanie Francis Mills Januar 1996
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