Die Insel der Vögel von William Garnett
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, erwacht aus tiefer Bewußtlosigkeit. In d...
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Die Insel der Vögel von William Garnett
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, erwacht aus tiefer Bewußtlosigkeit. In der wilden Irischen See treibt er auf einem Holzschott - schwer angeschlagen, frierend, hungrig, durstig. Sein Feind ist die See und die Küste. Entweder macht die See ihn fertig, oder die Iren schlagen ihn tot, sobald er festes Land erreicht. Doch .dann landet er auf einer Insel, die unbewohnt zu sein scheint. Für den Seewolf beginnt eine Robinsonade voller Gefahren ...
1. »Ben Brighton!« Philip Hasard Killigrew starrte seinen Bootsmann ungläubig an. »Und ich hatte im stillen bereits eine Totenmesse für dich gelesen!« »Mir wäre es lieber, wenn du mir endlich die Fesseln abnehmen würdest. Irgendein Idiot hat mich heute nacht zusammengeschlagen.« Er blickte Hasard mißtrauisch an. »Warst du das etwa?« Hasard war schon dabei, den Riemen zu lösen, mit dem er Ben Brighton die Hände auf den Rücken gefesselt hatte. Tut mir leid, Ben. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Ich hörte dich schnarchen und ...« »Ich schnarche nicht, Sir«, sagte Ben Brighton empört. Hasard schenkte es sich, darüber zu diskutieren. Sie hatten jetzt andere Sorgen. »Aber man schlägt doch einen Menschen nicht einfach
zusammen, nur weil er friedlich in einer Höhle schläft.« »Ich war überzeugt, daß du ein Ire seist.« »Sehe ich etwa wie ein Ire aus?« Ben Brighton fuhr mit der Hand vorsichtig über seinen schmerzenden Schädel. »Eine Beule wie ein Entenei«, murmelte er und blickte seinen Kapitän vorwurfsvoll an. »Zumindest hättest du dich ein bißchen zurückhalten können.« »Entschuldige, Ben. Aber du wirst nicht daran sterben. Zumindest dein harter Schädel könnte sehr gut irisch sein.« Ben Brighton murmelte etwas vor sich hin, was Hasard glücklicherweise nicht verstand, und stand stöhnend auf. Philip Hasard Killigrew trat zum Eingang der Höhle und blickte nach draußen. Der Sturm hatte nicht nachgelassen. Im Gegenteil, es erschien Hasard, als sei er noch stärker geworden. Dicke, dunkelgraue Wolkenfelder wurden von ihm westwärts gepeitscht, und eine wilde Brandung krachte gegen die dunklen Uferklippen. Hasard starrte hinunter in die schäumende und kochende Gischt. Es war unfaßbar, daß er es in der Nacht geschafft hatte, diese mörderische Brandung lebend zu überstehen. Er ging in die Höhle zurück. Ben Brighton hatte sich auf einen Steinbrocken gesetzt und versuchte, seine verfilzten Haare mit den Fingern in gleichmäßige Strähnen zu harken. »Wie bist du eigentlich davongekommen, als die Pulverladung hochging?« fragte Hasard, als er sich neben ihn hockte. Ben Brighton zuckte mit den breiten Schultern. »Das war gar nicht so schlimm. Du weißt doch, die Iren hatten das Floß mit den Pulverfässern mit dem Ebbstrom auf unsere Schiffe zutreiben lassen und wollten sie durch Schüsse zünden. Du hast dann selbst vorgeschlagen, das schöne Pulver nicht sinnlos hochzujagen, sondern es für uns zu nutzen.«
»Ich weiß. Das war vielleicht etwas riskant. Und ich habe mir auch stundenlang vorgeworfen, daß du durch meine Schuld gestorben seist.« »Aber ich bin ja nicht abgekratzt. Und du konntest schließlich nicht voraussehen, daß die Strömung genau zu dem Zeitpunkt kippen würde, als das Floß mit dem Pulver an der Bordwand der ›Isabella‹ entlangschrammte.« »Schon gut, das wissen wir ja alles«, sagte Hasard etwas ungeduldig. »Also du bist ins Wasser gesprungen, hast das Floß von unseren Schiffen weg zum linken Flußufer hinüber geschoben, und als du dann unter der überhängenden Klippe warst ...« »Ja, da wurde es dann etwas haarig«, unterbrach Ben Brighton. »Ich hatte das Floß gerade zwischen zwei Steinen verankert, damit es nicht weggespült wurde. Wäre doch schade gewesen, wenn ich die ganze Arbeit umsonst getan hätte, nicht?« »Verdammt, kannst du nicht beim Thema bleiben?« sagte Hasard. »Ich will endlich wissen, was du getan hast. Was du dir dabei gedacht hast, interessiert mich jetzt nicht.« »Aye, aye, Sir«, brummte Brighton etwas verstimmt. »Wie du willst.« Er fuhr mit der Hand über sein bärtiges Kinn. »Also, da, wo ich das Floß ans Ufer geschoben hatte, war eine Art Nische. Zwei große, starke Felspfeiler, verstehst du? Ich habe das Floß dazwischengeschoben, weil ich mir dachte ...« Er unterbrach sich und grinste Hasard an. »Verzeihung, aber ich darf ja nicht denken.« Hasard ballte seine mächtige Hand. »Wenn du so weiter herumschwafelst, fängst du dir noch eine zweite Beule.« Ben Brighton grinste noch breiter. »Also, ich schob das Floß mit den Pulverfässern zwischen diese Pfeiler, damit die Explosion schön nach oben losgeht, wo die vielen Iren hockten. Und als ich zur ›Isabella‹ zurückschwimmen wollte, haben mich wohl ein paar von den Brüdern entdeckt.«
Hasard nickte. Er konnte sich noch sehr genau an die vier oder fünf Musketenschüsse erinnern, die Sekunden vor der Explosion fielen. »Ich bin schnell wieder ans Ufer zurück und habe mich in den Klippen versteckt. Ein Stück außerhalb der Nische natürlich.« »Ich verstehe«, sagte Hasard. Die Explosion war von den Randfelsen der Nische wie in einem Kamin festgehalten worden, und die ganze Wucht hatte sich nach oben entladen. Ben Brighton hatte, obgleich er nur wenige Yards vom Detonationszentrum entfernt gewesen war, nichts davon abgekriegt. »Und wie bist du dann auf diese Insel gekommen?« »Och, das war ganz einfach«, erklärte Ben Brighton in seiner etwas schwerfälligen Art. »Weil nun die Iren ja vom Ufer weg waren, dachte ich mir, wozu soll ich schwimmen? Bestimmt haben sie irgendwo einen Kahn oder so was, und wenn man fahren kann, ist es besser als schwimmen.« »Und? Hast du einen Kahn gefunden?« »Ja, schon. Aber erst ein ganzes Stück von der Stelle entfernt. Ein paar Iren waren auch dabei, deshalb dauerte es etwas länger. Ich mußte den Kerlen doch erst mal klarmachen, daß ich den Kahn nötiger hätte als sie. Und als ich endlich das Segel hoch hatte, wart ihr bereits ankerauf gegangen und segeltet durch die Sperre. Ich habe geschrien und gewankt, daß ihr auf mich warten solltet, aber ihr habt mich wohl nicht gesehen.« Doch, fiel Hasard ein. Er hatte ihn gesehen. Deutlich erinnerte er sich an das kleine Boot, das vom Ufer auf die ›Isabella‹ zugehalten hatte, als sie gerade hinter der Sperre war, und an den Mann, der beide Arme wie Windmühlenflügel geschwenkt hatte. Aber er hatte angenommen, daß es ein Ire wäre, der ihnen Verwünschungen nachbrüllte. »Ja, als die ›Isabella‹ und die ›Marygold‹ draußen waren, hatten die Iren Zeit, sich ganz mir zu widmen. Und da dachte
ich, es ist vielleicht gesünder, wenn ich möglichst rasch aus der Gegend verschwinde.« »Und da bist du zu dieser Insel gesegelt?« fragte Hasard. »Nicht direkt. Als ich ein Stückchen draußen war, ging doch die Ballerei los. Ich meine, da hattet ihr euch diese drei Spanier vorgenommen.« »Du meinst, die hatten sich uns vorgenommen«, korrigierte Hasard. Drake und seine Männer hatten dieses eine Mal kein übertriebenes Bedürfnis verspürt, sich mit den drei spanischen Galeonen anzulegen. Ben Brighton nickte. »Ist ja auch egal, wer sich wen vorgenommen hat, jedenfalls sah ich wieder eine Chance, an Bord zurückzukehren, als die ›Isabella‹ angeschossen liegenblieb. Aber dann rückte mir einer von den drei Spaniern unangenehm auf die Pelle, und ich hielt es für besser, abzudrehen und zur Capel-Insel zu laufen. Das war alles.« Er grinste Hasard an. »Jedenfalls bin ich froh, daß du auch hier gelandet bist. Da hat man doch einen, mit dem man reden kann, und überhaupt ...« Hasard wußte, daß diese etwas unbeholfene Formulierung für den verschlossenen Ben Brighton eine maximale Äußerung von Loyalität und Freundschaft war. Aber er hatte jetzt keine Zeit, darüber froh zu sein. Seine Gedanken waren schon weiter geeilt. »Das Boot«, sagte er und packte Ben Brighton an der Schulter. »Wo ist das Boot, Ben?« Ben Brighton zuckte mit den Schultern. »Das ist hin. Ich bin zwar von Lee an die Insel herangelaufen, aber die Brandung war da auch ganz schön hoch, und so ...« Hasard winkte ungeduldig ab. Es interessierte ihn nicht, wie das Boot zum Teufel gegangen war. Er hatte gehofft, sofort nach dem Abflauen des Sturms hier weg zu können, vielleicht schon in der Nacht oder am nächsten Morgen.
»Also gut«, sagte er entschlossen und stand auf. »Dann müssen wir uns für einige Zeit hier einrichten. Über das Wegkommen können wir uns später unterhalten. Vor allem brauchen wir Wasser und etwas zu essen. Und ein Feuer. Noch eine solche Nacht ohne jede Wärme halten wir beide nicht mehr durch.« »Feuer kann ich hinkriegen«, sagte Ben Brighton. »Und wie?« »Wie unsere Altvorderen, durch Reibung.« Er erhob sich ebenfalls. »Es gibt zwar nicht viel Brennbares auf diesem verdammten Felsen, aber ich habe gestern ein paar Sträucher und Krüppelkiefern gesehen.« »Das wird fürs erste reichen. Später können wir nachsehen, ob irgendwo Treibholz angeschwemmt worden ist. Du wirst dich um das Feuer kümmern. Ich sehe mich inzwischen um, was uns die Insel sonst noch bietet.« Es war nicht sehr viel, wie er eine gute Viertelstunde später feststellte. Die Capel-Insel war ein dunkler, kahler Felsen, den eine Laune der Natur etwa eine Meile vor der Küste Irlands geschaffen hatte, Mit ihren hoch aufragenden Türmen an ihren Nord- und Südenden und dem flacheren Mittelteil erinnerte ihre Silhouette an einen spanischen Sattel. Ein eisiger Sturm peitschte die Wellen gegen die Randfelsen, aber es war nicht mehr ganz so kalt wie in der letzten Nacht. Jedenfalls erschien es Hasard so, als er über Felstrümmer und Erosionsgestein kletterte, um sich ein Bild von ihrer derzeitigen Umgebung zu machen. Umkommen würden sie jedenfalls nicht, stellte er nach einer Weile fest. In Höhlungen und Felsnischen hatte sich Regenwasser wie in winzigen Zisternen gesammelt. Nahrung würden ihnen die Tausende von Seevögeln liefern, die bei jedem Schritt, den er tat, krächzend aufflogen und lautstark ihren Besitzanspruch auf die Insel und ihre Brutplätze verkündeten.
»Tut mir leid, ihr Schreihälse, aber es wird eben nächstes Jahr ein paar junge Möwen weniger geben«, sagte Hasard, als er von einem Gelege zum anderen stieg und sich die Jackentaschen mit Möweneiern vollstopfte. Wenn das Wetter sich etwas beruhigt hatte, konnten sie ihre Eiernahrung mit Fischen und Muscheln anreichern, überlegte er. Die Vegetation war mehr als dürftig. Es war überhaupt ein Wunder, daß sich ein paar dürftige Büsche und windzerzauste Krüppelkiefern hierher verirrt und auch gehalten hatten. Für ein paar Tage würde es schon reichen. Als er in die Höhle zurückkam, war Ben Brighton noch immer dabei, nach der Methode der Altvorderen, wie er es nannte, Feuer zu entfachen. Er hockte auf dem unebenen Boden, vor sich einen sorgfältig aufgeschichteten Haufen von Reisig und größeren Ästen, davor ein paar Hände voll trockenem Gras oder Kraut - das war bei dem schwachen Licht nicht genau zu erkennen -, das er zum Entzünden benutzen wollte. Aber bis jetzt war noch nichts zum Entzünden da. Trotz der Kälte standen Schweißperlen auf Bens Stirn, als er verbissen zwei trockene Hölzer aneinanderrieb. »Die Altvorderen haben ein Weichholz und einen harten Quirl dazu genommen«, sagte Hasard und hockte sich neben ihn. »Laß mich mal.« Er preßte eines der Aststücke fest auf einen Stein, um einen größeren Druck ausüben zu können, und begann, das andere Holz rasch darauf zu reiben. Wenig später brach auch ihm der Schweiß aus, aber die Flächen der beiden Hölzer färbten sich allmählich dunkel, wurden schwarz, und ein dünner Qualmfaden stieg auf. »Du hast es gleich geschafft!« schrie Ben begeistert. Gleich waren mindestens noch fünf Minuten, und Hasard war ziemlich ausgepumpt, als endlich Glut auf dem unteren Holz erschien.
»Hier.« Aufatmend drückte er das glimmende Holz in Bens Hand. Der schob es unter das trockene Gras und begann vorsichtig zu blasen, bis eine schwache Flamme aufloderte. »Es brennt!« rief er und grinste dabei wie ein Kind, das sein erstes Weihnachten erlebt. »Ja, es brennt«, sagte Hasard, als die Flammen aus dem aufgeschichteten Holz schlugen. »Und du wirst dafür sorgen, daß es nicht ausgeht, verstanden?« Sie zogen ihre klammen Jacken aus und hielten, sie an das Feuer. »Hier können wir es jetzt eine Weile aushalten, findest du nicht auch?« sagte Ben Brighton und streckte sich zufrieden aus.
Und das war gut so. Denn es dauerte noch über zwei Tage, bis der Sturm nachließ. Am dritten Tag war die See soweit ruhig, daß Hasard auf der Seeseite der Insel ein paar Fische speeren konnte. Er hatte das Messer mit starken Halmen an einen dünnen Ast gebunden. Rohe Möweneier hatten sie zwar vor dem übelsten Hunger bewahrt, aber sie waren doch eine etwas eintönige Kost, stellten beide Männer einmütig fest. Ben Brighton trug ebenfalls zur Bereicherung der Speisekarte bei, als er den »Muschelfelsen« entdeckte. Ein paar Möwen erleichterten sich das Knacken erbeuteter Schalentiere, indem sie die Muscheln aus großer Höhe auf einen runden Felsblock an der Ostseite der Insel fallen ließen. Die harte Schale zersprang, und sie konnten das Weichtier in Ruhe verspeisen. Ben betrog sie darum, indem er gut versteckt wartete, bis eine Möwe ihre Muschel auf den Felsen warf, dann stürzte er hinzu und sammelte sie ein. Es dauerte zwar eine Weile, bis er ein paar Dutzend zusammen hatte, aber sie hatten ja Zeit. Diese kleinen Tricks sicherten ihnen zwar das Überleben,
aber sie halfen ihnen nicht, die Insel zu verlassen. Und Hasard hatte nur ein Ziel: seine Männer aus den Händen der Spanier zu befreien. »Ich glaube, ich weiß, wie wir hier wegkommen«, sagte er am Abend des vierten Tages. »Die Iren werden so freundlich sein, uns von hier herunterzuholen.« »Und wie?« Es lag kein Zweifel in Ben Brightons Stimme. Er hatte sich längst daran gewöhnt, daß sein Kapitän auch scheinbar Unmögliches schaffte. »Wir müssen ein Boot zur Insel locken«, sagte Hasard. Ben Brighton nickte. »Und womit?« »Ein starkes Feuer, das man von Land aus sieht.« Ben Brighton schüttelte zweifelnd den Kopf. Er begriff, was Hasard vorhatte. Es war sicher nicht das erste Mal, daß sich Menschen im Sturm auf die Insel retteten. Wenn jemand das Feuer bemerkte, würde er zur Insel segeln, um die Schiffbrüchigen zu retten. Aber ob selbst ein stark qualmendes Feuer von Land aus zu sehen war? »Ich schlage vor, wir warten, bis ein Boot in der Nähe ist«, sagte Ben Brighton. »Außerdem können wir uns dann die Leute aussuchen, die uns besuchen. Sonst segeln sie noch mit einer ganzen Flotte an.« »Du hast recht«, stimmte ihm Hasard zu, und sie begannen sofort mit den Vorbereitungen ihres Rettungsunternehmens. Hasard fand eine reichliche Menge Treibholz, darunter auch die Reste des Bootes, mit dem Ben die Insel erreicht hatte, und das nasse Holz würde reichlich Qualm entwickeln. Sie schichteten es auf einem etwas erhöhten Plateau in der Mitte der Insel auf, damit der Rauch von allen Seiten zu sehen war. Vom nächsten Morgen an stand immer einer der beiden auf Posten und achtete auf Boote, die von Youghal her auf die Insel zuliefen. Die See war wieder ruhiger geworden. Nach der langen Zwangspause liefen Dutzende von Booten zum Fischen aus.
Aber keines von ihnen hielt auf die Insel zu. Erst gegen Mittag sahen sie ein Schiff, das südwärts steuerte. Aber es war kein Fischerboot. »Eine Galeone!« rief Ben Brighton, der gerade Wache hatte. »Einer von den verdammten Spaniern!« Das Schiff lief vor dem Wind und passierte die Insel an der Südspitze. Hasard starrte mit zusammengekniffenen Augen zu dem Spanier hinüber. Deutlich erkannte er das große Holzkreuz unter dem Bugspriet. Er konnte den Namen der Galeone nicht erkennen, aber er war fast sicher, daß es die ›Santa Ana‹ war. Sie hatte ein paar Tage in Youghal gelegen, um die während des Gefechts erlittenen Schäden auszubessern und Wasser und Proviant für den langen Törn nach Spanien an Bord zu nehmen. Hasard stieß einen wütenden Fluch aus. Er war sicher, daß sich seine Männer auf dieser Galeone befanden, in ein dunkles, dreckiges Verlies gesperrt, auf dem Weg nach Spanien. Dort würde man die gefangenen Engländer zunächst im Triumphzug durch die Straßen treiben - als Lateiner hatten die Dons es von den Römern gelernt, wie man Triumphe auskostet und besiegte Feinde quält und demütigt - und sie dann als Sklaven für sich schuften lassen. »Mach das Feuer an, Ben!« schrie er ungeduldig, sowie die Galeone eine Meile von der Insel abgelaufen war. »Wir müssen hier weg!« Ben Brighton nickte. Er wußte, es hatte keinen Sinn, den Kapitän daran zu erinnern, daß sie eigentlich auf ein geeignetes Opfer warten wollten. Er holte einen flammenden Ast aus dem Feuer und steckte damit den Scheiterhaufen in der Mitte der Insel in Brand. Das nasse Holz erzeugte wirklich einen schönen, dunklen Rauchpilz, der bestimmt zwei Meilen weit zu sehen war. Doch niemand schien ihn zu bemerken. Zwei Stunden später war das Feuer fast heruntergebrannt. Hasard kletterte in den
Uferklippen herum, um neues Treibholz zu suchen, als Ben Brighton schrie: »Ein Boot! Es hält auf die Insel zu!« Hasard raffte das Holz zusammen, das er bis jetzt gefunden hatte, und kletterte zu Ben hoch. Er warf das Holz zu Boden und hockte sich neben Ben Brighton, der hinter ein paar Felsblöcken in Deckung gegangen war, um nicht von den Iren gesehen zu werden, die aufmerksam zur Insel herüberstarrten. Es war ein kleines Fischerboot, mit gedecktem Vorschiff und einem viereckigen Gaffelsegel. Etwas primitiv, aber durchaus seetüchtig. »Genau das, was wir brauchen«, sagte Hasard befriedigt. »Aber die vier Männer brauchen wir nicht«, stellte Ben Brighton sachlich fest. »Die werden wir schon irgendwie loswerden«, sagte Hasard, ohne den Blick von dem Boot zu nehmen, das jetzt die Insel fast erreicht hatte. »Am besten, wir warten, bis sie alle an Land sind. Dann hauen wir einfach ab«, schlug Ben Brighton vor. »Die werden nicht so dumm sein, ihr Boot unbewacht am Ufer liegenzulassen«, sagte Hasard und dämpfte Bens Optimismus. »Aber wir werden sehen.« Sie beobachteten, wie die Männer kurz vor Erreichen des Ufers das Segel herunternahmen und kurz vor den ersten Klippen liegenblieben. »Die erwarten, daß sich jemand zeigt«, sagte Ben Brighton leise. »Klar«, sagte Hasard und starrte zu den vier Männern hinunter, die jetzt aufrecht im Boot standen und aufmerksam herüberblickten. Natürlich erwarteten sie, daß Schiffbrüchige sich meldeten, wenn Hilfe nahte. Sie würden keinen Fuß an Land setzen, wenn sich niemand zeigte. »He!« schrie einer der vier Männer. »Ist da jemand? Warum
kommt ihr nicht herunter?« »Die hauen wieder ab, wenn wir uns nicht melden«, sagte jetzt auch Ben. »Genau. Und darum wirst du dich jetzt sehen lassen.« »Ich?« fragte Ben verblüfft. »Aber wenn die Iren ...« »Du sprichst doch spanisch«, unterbrach Hasard ungeduldig. »Du wirst ihnen sagen, du seist hier gestrandet und brauchst Hilfe.« »So gut ist mein Spanisch nun auch wieder nicht. Die merken doch sofort, daß hier was faul ist.« »Kein irischer Fischer versteht so gut spanisch, als daß du ihn nicht ein paar Minuten hinhalten könntest. Du mußt sie nur an Land locken. Ich werde schon etwas unternehmen.« »Und was?« »Das weiß ich noch nicht. Nun mach schon!« Hasard sah, daß die vier Iren miteinander sprachen. Wahrscheinlich berieten sie, ob sie noch warten oder gleich abdrehen sollten. »Tu so, als ob du verletzt seist«, sagte Hasard und gab Ben einen Stoß. Ben Brighton packte eine zerbrochene Bootsplanke, die Hasard mit dem anderen Treibholz heraufgebracht hatte, klemmte sie wie eine Krücke in seine rechte Achselhöhle und humpelte hinter den Steinblöcken hervor, als die Iren gerade den Bug seewärts drehten und das Segel wieder aufziehen wollten. »Hallo, Amigos!« schrie er ihnen zu und winkte. Dann hinkte er weiter. Er machte es so überzeugend, daß er wirklich wie ein erschöpfter, invalider Schiffbrüchiger wirkte, der seine letzte Chance zur Rettung schwinden sah. »Fahrt nicht weg, Amigos! Nehmt mich mit!« »Ein Spanier!« rief einer der vier Iren erstaunt und fierte das Segel wieder weg. »Und wie kommt der auf die Insel?« hörte Hasard einen anderen mißtrauisch fragen.
»Das können wir ihn nachher fragen.« Der Mann stakte das Boot bereits wieder zum Ufer. »Worauf du dich verlassen kannst«, sagte der andere Mann, und Hasard nahm sich vor, ihn genau im Auge zu behalten. Er schien wachsamer zu sein als die drei anderen. Und gefährlich. Hasard lief geduckt, immer in der Deckung von Felsblöcken, zur Südspitze der Insel und begann, rasch zum Ufer hinabzuklettern. Er mußte beim Boot sein, wenn die Iren an Land gingen. Hoffentlich fiel Ben etwas ein, um sie von Bord zu locken. »Komm runter!« rief einer der vier Männer und unterstrich seine Worte durch lebhafte Gesten. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Ihr werdet euch wundern, wie lange ihr Zeit habt, dachte Hasard und grinste. Er hatte jetzt die Uferklippen unterhalb des Turms erreicht und sah Ben Brighton am Rand des Plateaus stehen. Ben rief den Iren etwas auf spanisch zu und deutete mit einer mitleidheischenden Geste auf seine Krücke. »Na schön, dann werden wir dich eben holen!« schrie einer der Iren ihm zu. »Macht, was ihr wollt«, sagte der mißtrauische Ire, ein Mann mit einem pechschwarzen, struppigen Bart. »Ich bleibe jedenfalls im Boot.« »Ich glaube, du traust nicht mal deiner eigenen Frau«, sagte einer der anderen zu ihm, als sie vom Bug auf die Uferklippen sprangen. »Der schon gar nicht«, sagte der Struppige und zog einen handlichen Knüppel unter dem kurzen Vordeck heraus. Dann starrte er den drei anderen nach, die den Geröllhang zum Plateau hinaufkletterten. Hasard kroch vorsichtig, jede Deckung ausnutzend, näher an ihn heran. Er mußte ihn erledigen und das Boot in seinen Besitz bringen, bevor oben das Theater losging. Er war zwar
überzeugt, daß Ben mit den drei Iren fertig werden würde, aber wenn doch etwas schiefgehen sollte, mußte er das Boot in seinem Besitz haben. Er trat einen Stein los, der polternd die Klippe hinunterkollerte. Hasard duckte sich hinter einen Felsblock und verharrte zehn Sekunden reglos. Dann hob er den Kopf und starrte zum Boot hinüber. Der Struppige blickte noch immer zum Hang hoch. Er schien nichts gehört zu haben. Hasard war dankbar für das Rauschen der Brandung, die alle anderen Geräusche übertönte. Vorsichtig kroch er weiter, immer näher auf das Boot zu. Er hoffte, daß die Wachsamkeit des Iren nachlassen, daß er den Knüppel aus der Hand legen und sich auf die Ducht setzen würde. Aber er wußte, daß der Mann es nicht tun würde. Dieser Ire mit dem struppigen Bart hatte das Mißtrauen und die Ausdauer eines guten Wachhundes. Ben Brighton grinste den drei Iren, die den Hang hinaufstiegen und auf ihn zugingen, freundlich entgegen. Dabei musterte er sie sehr genau und kritisch. Sie waren alle drei keine Schwächlinge, aber der eine, der sich als erster näherte, war ein wirklicher Bulle: fast sieben Fuß groß, ein Kreuz wie ein Kleiderschrank und Hände wie Schaufeln. Aber anscheinend hatte er einen unterentwickelten Verstand, wie Ben an der niedrigen Stirn, den etwas linkischen Bewegungen und dem harmlos-naiven Grinsen erkannte. Diesen Mann mußte er als ersten erledigen, wußte Ben Brighton. Wenn der merkte, was gespielt wurde und seine gewaltige Kraft einsetzte, waren sie erledigt. Die Iren hatten einen ziemlichen Pik auf alle Engländer. Mit Engländern, die sie hereinzulegen versuchten, würden sie nicht gerade zärtlich umgehen. »Na, Don, hast du dich verlaufen?« fragte der Riese gutmütig grinsend, als er das Plateau fast erreicht hatte. Die beiden anderen hatten nicht die Kondition des Riesen. Sie waren auf dem Meer zu Hause. In Felsen herumzuklettern, war nicht ihre Stärke.
Sehr gut. Das ließ sich vielleicht ausnutzen. »So, Spanier, dann wollen wir dich mal da herunterholen.« Der Riese hatte Ben fast erreicht. Grinsend streckte er seine Pranke aus, um ihn zu stützen. Offene Deckung. Eine wunderbare Gelegenheit, ihn mit einem Schlag umzulegen. Aber dann hatte er die beiden anderen nicht in Reichweite. Er mußte alle drei zusammen haben. »Dir ist kalt, was, Spanier?« sagte der Riese. Seine Pranke umspannte Bens linken Arm, und der Griff war wie ein Schraubstock. »Na warte, wir haben eine Pulle Whisky im Boot, guten, irischen Whisky, nicht das labberige Zeug, das die Engländer saufen, das wird dich wieder aufwärmen.« Die beiden anderen waren am Rand des Plateaus stehengeblieben. Es war anscheinend nur Neugier gewesen, was sie herauf getrieben hatte. Jetzt, da es Arbeit gab, hielten sie sich vornehm zurück. »So, immer schön einen Schritt nach dem anderen«, sagte der Riese grinsend und stützte Ben Brighton. »Wenn’s abwärts geht, nehme ich dich auf den Rücken.« Es tat Ben fast leid, diesen hilfsbereiten, gutmütigen Burschen zusammenschlagen zu müssen. Aber in solchen Situationen galten nun einmal andere Gesetze. Die beiden anderen Iren wandten sich um und wollten wieder nach unten klettern. Er mußte etwas unternehmen. Jetzt! Ben Brighton ließ seine primitive Krücke an einem Stein ausrutschen, stürzte mit einem erschrockenen Aufschrei zu Boden und blieb stöhnend liegen. Es war zwar etwas seltsam, daß er dabei die Bohle, die ihm als Krücke diente, fest in der rechten Hand behielt, ihr Ende in Höhe seiner Brust, aber er hoffte, sein »Unfall« würde die Iren so überraschen und schockieren, daß ihr Gehirn auf Sparflamme arbeitete. »Was ist, Don? Hast du dir weh getan?« Das Gesicht des Riesen war ehrlich besorgt, als er sich über Brighton beugte.
»Warte, ich helf dir auf.« Ben stöhnte schmerzhaft, als er ihn auf die Füße ziehen wollte. »Nun kommt her und faßt mit an!« rief der Riese den beiden anderen ärgerlich zu. »Steht nicht so dämlich herum. Wir müssen ihn tragen.« Genau das, was Ben beabsichtigt hatte. Unter halbgeschlossenen Augenlidern sah er, wie sich die beiden anderen Iren näherten. Ohne viel Enthusiasmus. Bei den beiden würde es ihm nichts ausmachen, sie für eine Weile auf Eis zu legen. Er wartete, bis die drei sich einig waren, wie sie ihn den Hang hinuntertransportieren sollten. Und auch hier spielte sich alles so ab, wie er vorausgesehen hatte. Der Riese sollte die Hauptlast tragen und griff ihm von hinten unter die Arme. Die beiden anderen packten jeder eins seiner Beine. Ben Brighton war von Natur aus ein bedächtiger, oft sogar lethargisch wirkender Mann. Aber wenn es darauf ankam, konnte er verdammt schnell und präzise sein - so wie jetzt. In dem Moment, als der Riese beide Hände vor seiner Brust verschränkte und ihn anhob, stieß er ihm mit aller Wucht das Ende der Bootsplanke unter das vorgestreckte Kinn. Gleichzeitig riß er die beiden anderen Iren mit den Beinen zu sich heran, und als sie auf ihn fielen, packte er sie bei den Haaren und knallte ihre Schädel gegeneinander. Innerhalb einer Sekunde war alles vorbei. Aber diese eine Sekunde hatte gereicht, daß einer der beiden letzten Iren noch einen erschrockenen Schrei hatte ausstoßen können. Der Mann im Boot packte den Knüppel fester und starrte zum Hang hoch. »Was ist los?« schrie er. Es gab jetzt zwei Möglichkeiten, dachte Hasard, der nur drei Yards entfernt hinter einer Klippe hockte und auf den geeigneten Augenblick wartete. Entweder sprang der Mann an
Land, um selbst nachzusehen, was passiert war, oder er würde, wenn er wirklich so intelligent war, wie Hasard glaubte, das Boot ein Stück von Land wegbringen und abwarten. Hasard hielt das letztere für wahrscheinlicher und richtete sich darauf ein. Der Struppige zögerte. Auch er sah die beiden möglichen Reaktionen auf das Schweigen dort oben. Aber weil er wirklich Verstand hatte, tat er das, was Hasard erwartet hatte: er zog das quadratische Segel hoch. Das heißt, er wollte es aufziehen. Aber weil er dazu beide Hände brauchte und den Knüppel aus der Hand legen mußte, kam er nicht mehr dazu. Hasard schnellte hinter seiner Deckung hervor und war mit zwei, drei Sätzen im Boot. Der Struppige ließ das Großfall fahren, stieß ein wütendes Knurren aus und griff nach seinem Knüppel. Aber bevor er ihn erhoben hatte, traf ihn ein mit voller Wucht geschlagener Kinnhaken und warf ihn rücklings ins Wasser. Hasard sprang ihm nach, damit er nicht ertrank oder von der Strömung weggespült wurde, und zog ihn auf die Uferklippen. Der Mann stöhnte, als Hasard ihn auf die Felsen gleiten ließ. Er würde bald wieder bei Bewußtsein sein, wußte er, und hob die Faust, um die Narkose etwas zu verlängern. Doch dann ließ er sie wieder sinken, riß dem Iren den Gürtel aus der Hose und begann ihm die Hände auf den Rücken zu fesseln. »Ich sehe, du brauchst mich nicht mehr.« Ben Brighton trat hinter einem Felsen hervor. »Nein, der schläft vorläufig.« Hasard zog den letzten Knoten fest und lehnte den Struppigen gegen einen Felsen. »Und deine drei?« »Auf Eis gelegt«, sagte Ben Brighton und stieg ins Boot. »Komm, wir wollen los, bevor der Kerl aufwacht.« »Er ist schon aufgewacht«, sagte Hasard und trat vor den Iren mit dem struppigen Bart, der ihn mit wutverzerrtem Gesicht anstarrte und jetzt an seinen Fesseln zu zerren begann.
»Wer seid ihr?« fragte er wild. »Schiffbrüchige«, sagte Hasard lächelnd. »Engländer!« Der Ire bäumte sich auf und spuckte Hasard vor die Füße. »Verdammte Engländer!« »Allerdings. Aber dennoch Schiffbrüchige. Von der Galeone, die die Spanier vor ein paar Tagen versenkt haben.« Er warf einen raschen Blick hangaufwärts, um zu sehen, ob nicht einer der anderen drei vorzeitig aus seinem Schlaf erwachte. »Dann gehört ihr also zu der Bande, die sie nach Youghal gebracht haben.« Wieder spuckte er Hasard haßerfüllt vor die Füße. »Mach das noch einmal, du irischer Bastard«, sagte Ben Brighton drohend und sprang vom Bug des Bootes auf die Uferfelsen. Hasard schüttelte unwillig den Kopf. Ihm war es nur recht, daß der Ire gereizt und wütend war. »Ja, wir gehören zu der Bande«, sagte er ruhig und mit einem freundlich-überlegenen Lächeln, das den Iren noch mehr reizen sollte. »Und jetzt werden wir mit eurem Boot nach Youghal segeln und unsere Kameraden herausholen. Was sagst du nun?« Der Ire brach in ein schallendes, schadenfrohes Gelächter aus. Sein offener Mund war eine rote Kaverne, in der gelbliche Zahnruinen wie Tropfsteine standen, sein Bartgestrüpp zitterte. »Die könnt ihr lange suchen, ihr englischen Köter, die haben die Dons heute weggebracht - als Sklaven!« Hasard lächelte noch freundlicher als zuvor, und jetzt verneigte er sich sogar vor dem Iren. »Vielen Dank, mein Freund. Das war es, was ich wissen wollte.« Er wandte sich um, stieß das Boot vom Ufer ab und sprang hinein. »Hoch das Segel, Ben. Kurs England.« Sie lachten schallend, als sie die hilflosen, wütenden Flüche des Iren hörten.
»Sieh mal nach, ob Wasser und Proviant an Bord sind«, sagte Hasard, als das Gezeter nicht mehr zu hören war. »Aye, aye, Sir. Und einer der Gentlemen hat etwas von einer Flasche Whisky gesagt, die an Bord sein soll.« Hasard grinste. »Na, auf was wartest du dann noch? Warum hast du sie nicht längst gesucht?« »Aye, aye.« Ben Brighton grinste zurück und verschwand unter dem kurzen Vordeck. Sekunden später tauchte er wieder auf. »Ein Kanten Brot und ein Ende Speck sind da. Wasser wird etwas knapp werden. Aber dafür haben wir ja Ersatz.« Er biß den Korken von einer Kruke mit Whisky und reichte sie Hasard. »Danke, Ben.« Hasard bog den Kopf zurück und nahm einen sehr großzügigen Schluck. Dann gab er die Kruke an Ben zurück, lehnte sich an das niedrige Dollbord der Ruderbank und klemmte die Pinne unter die rechte Kniekehle. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen blickte er in das prall gefüllte Segel und fühlte sich zum ersten Mal seit dem Untergang der ›Isabella‹ wieder glücklich. Das Boot war zwar nur eine winzige Nußschale, aber es hatte ein Segel, das es vorwärts trieb, und ein Ruder, mit dem er es dahin steuern konnte, wohin er wollte. »Schöner Tag heute, was?« Ben Brighton schien wieder mal seine Gedanken zu erraten. »Ist zwar kein Ersatz für die alte ›Isabella‹, aber wir haben wenigstens wieder einen eigenen Kahn unter dem Hintern.« Hasard nickte und nahm ihm die Whiskykruke aus der Hand. »Und wir werden bald auch wieder ein richtiges Schiff haben, Ben, noch größer und schneller als die ›Isabella‹. Das verspreche ich dir.« Sein Lächeln erlosch, sein Gesicht wurde ernst. »Und für noch etwas hast du mein Wort: Auf diesem Schiff werden wieder alle die Männer fahren, die auf der ›Isabella‹ bei uns waren. Und wenn ich sie aus der Hölle holen müßte.«
2. Sie brauchten drei Tage bis nach Plymouth. Der Whisky war schon am ersten Abend zu Ende, obwohl ihnen die Iren einen reichlichen Vorrat überlassen hatten, und am zweiten Tag waren auch das Wasser und die mageren Lebensmittel verbraucht. Aber knapp vierundzwanzig Stunden später hatten sie die Küste Südenglands erreicht und konnten ihre Vorräte auffüllen. Ein freundlicher Bauer überließ ihnen sogar eine alte Pferdedecke. Es war eine wirklich sehr alte Decke, und sie roch sehr stark nach altem Pferd, aber einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul, und das galt auch für die Decke des Gauls, wenn man sie nicht bezahlen konnte. »Was willst du, Hasard, erfroren sind schon viele, im Mief erstickt ist noch keiner«, sagte Ben Brighton, als sie sich in die stark duftende Decke wickelten, bevor sie wieder ausliefen. Hasard mußte ihm recht geben. Sogar mit der Decke wurde es eine verdammt ungemütliche Nacht. Kurz nach elf Uhr setzte ein leichtes Schneetreiben ein, und Hasard sah, wie sich an Dollbord und Leinen feine Eiskristalle bildeten. Als sie gegen Mittag des nächsten Tages in Plymouth einliefen, bedeckte ein dicker Eispanzer den Bug. Die Stadt lag unter einer dicken Schneedecke. »Fröhliche Weihnachten!« rief ihnen ein Mann zu, dem sie die Bugleine zuwarfen. »Mann, das habe ich völlig vergessen!« rief Ben Brighton. »Fröhliche Weihnachten, Sir! Darf ich mir jetzt etwas wünschen?« »Klar, Ben.« »Dann wünsche ich mir eine große Flasche Whisky und ein warmes Bett, und daß mich vierundzwanzig Stunden lang kein
Mensch stört.« »Genau das, was ich mir auch wünsche, Ben.« Hasard grinste. »Nur mit dem Schlafen werden wir etwas kürzer treten müssen. Wollen wir uns auf zwölf Stunden einigen?« Ben Brighton verzog das Gesicht. »Wenn’s unbedingt sein muß.«
Aber Ben schaffte nicht einmal die bewilligten zwölf Stunden. Er war zu sehr daran gewöhnt, schon vor Sonnenaufgang wach zu werden. Hasard schlief noch, als er aufstand, die Sachen Hasards und die eigenen über den Arm nahm und damit zur Küche ging. Die Küchenmädchen kreischten auf und schlugen sich die Schürzen vor das Gesicht, als plötzlich ein behaarter Kerl, nur mit einer knielangen, leinenen Unterhose bekleidet, vor ihnen stand. »Waschen und über dem Herd trocknen«, sagte er knapp, ohne sich um das erschrockene Kreischen zu kümmern, das ohnehin allmählich zu einem albernen Kichern wurde. »In einer Stunde bringt ihr uns den Kram ins Zimmer, geflickt und gebügelt, verstanden? Und in der Zwischenzeit besorgt ihr einen Zuber mit heißem Wasser und ein ordentliches Frühstück.« Eine halbe Stunde später saßen Hasard und Ben Brighton frisch geschrubbt vor einer Riesenportion gebratener Nieren. Hasard hatte darauf bestanden, daß sie sich mit Rücksicht auf die Schamhaftigkeit der Küchendamen die Bettlaken um die Blößen legten. Er überhörte auch vornehm die gemurmelte Frage des Mädchens, das beim Ausleeren des Badezubers wissen wollte, ob die Gentlemen vielleicht ein Schlammbad genommen hätten. »Wo bleiben unsere verdammten Klamotten?« rief Ben
Brighton ihr nach, als sie zur Tür ging. »Wollt ihr sie ungeflickt wieder haben?« rief sie schnippisch zurück. Aber die Mahnung schien doch geholfen zu haben. Zehn Minuten später wurden sie aufs Zimmer gebracht, gewaschen, gebügelt und geflickt, die Stiefel frisch mit Tran eingeschmiert. »Damit können wir uns wenigstens bei Kapitän Drake sehen lassen«, sagte Ben Brighton und gab dem Mädchen einen anerkennenden Klaps auf ihren prallen Hintern.
Drakes Freude, Philip Hasard Killigrew wiederzusehen, war mindestens so groß und so ehrlich wie Hasards, als dieser seinen totgeglaubten Bootsmann Ben Brighton wiedergefunden hatte. Nachdem sie Hasards Auferstehung, wie Francis Drake es scherzhaft nannte, mit einigen Gläsern Whisky gefeiert hatten, ließ sich Drake von den letzten Stunden der ›Isabella‹ und dem Schicksal ihrer Männer berichten. »Ich weiß, daß meine Männer als Gefangene nach Spanien gebracht werden, Sir. Und ich werde sie dort herausholen.« Francis Drake antwortete nicht. Er trat ans Heckfenster der Kammer und blickte über den Hafen. Hinten, in der Werft, lag seine ›Marygold‹, an der die bei dem Seegefecht erlittenen Schäden ausgebessert wurden. In der Zwischenzeit hatte sich Drake auf der ›Santa Cruz‹ einquartiert. »Habe ich Ihre Erlaubnis, meine Männer herauszuholen, Sir?« drängte Hasard. Francis Drake wandte sich ihm zu. »Mister Killigrew, ich freue mich, daß Sie so für Ihre Männer eintreten.« »Dann habe ich also Ihre Erlaubnis?« »Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Drake etwas unwillig. »Wir haben in naher Zukunft sehr wichtige Aufgaben zu
erfüllen.« »Für mich ist das wichtigste, meine Männer aus der Gefangenschaft herauszuholen«, sagte Hasard fast scharf. Und dann murmelte er: »Verzeihung, Sir.« Drake sagte nichts. Eine ganze Weile schwieg er und schien über die Antwort nachzudenken, die er diesem hitzköpfigen Killigrew, genannt der Seewolf, geben sollte. Dann sagte er ernst: »Ich verlasse mich darauf, daß nichts von dem, was ich Ihnen jetzt mitteilen werde, anderen Menschen zu Ohren kommt. Die Königin hat mir den Auftrag erteilt, ein Unternehmen auszurüsten und zu planen, das sehr, sehr weit außerhalb Englands liegen wird. Mehr will und darf ich selbst Ihnen heute nicht sagen, aber Sie sollen wissen, daß dieses Unternehmen lange dauern und aufwendig sein wird.« Er deutete auf einen Stapel von Seekarten, die auf dem Tisch lagen. »Ich kann keinen Mann dabei entbehren, Mister Killigrew. Schon gar nicht einen so guten Kapitän wie Sie.« Hasard und Ben Brighton starrten auf die Seekarten. »In die Neue Welt!« rief Brighton begeistert. »Ins Goldland der Dons!« Hasard blickte noch immer auf die Seekarten. Es war das Material, das er in einem Geheimfach der Kapitänskammer eines gekaperten Spaniers entdeckt und nach England gebracht hatte. »Sie werden zugeben, Sir«, sagte er jetzt und schob sein Kinn herausfordernd vor, »daß dieses große Unternehmen ohne diese Karten unmöglich wäre.« »Zumindest wäre es erheblich schwieriger und riskanter«, gab Drake vorsichtig zu. Er wußte genau, auf was Hasard hinauswollte und lächelte amüsiert. »Dann denken Sie bitte daran, wer Ihnen diese Karten beschafft hat, Sir!« »Dafür bin ich Ihnen auch ehrlich dankbar, Mister Killigrew. Das wissen Sie doch.«
»Nicht ich allein habe Ihnen diese Karten besorgt. Meine Männer hatten mindestens genausoviel Anteil daran wie ich. Ohne sie wäre ich nie ...« »Schon gut, schon gut. Ich weiß, was Sie meinen. Und was wollen Sie nun tun?« »Meine Männer herausholen, das ist alles!« »So, das ist alles.« Francis Drake setzte sich an den Tisch und blickte zu Hasard hoch. Er wußte, daß er im Sitzen besser wirkte als stehend. »Und wie haben Sie sich das vorgestellt?« »Ganz einfach, Sir. Geben Sie mir ein gutes und schnelles Schiff, dann segeln wir nach Spanien und ...« »Und werden beim ersten Schritt an Land sofort festgenagelt. Jetzt schweigen Sie mal für eine Weile«, fuhr er Hasard an, als dieser ihn unterbrechen wollte. »Wissen Sie überhaupt, auf was für einen Wahnsinn Sie sich da einlassen wollen? Ich habe Ihnen doch befohlen, Sie sollen mich nicht unterbrechen!« sagte er, als Hasard ihm wieder ins Wort fallen wollte. »Sprechen Sie spanisch?« »Nein«, gab Hasard widerwillig zu, »aber Ben Brighton kann es ganz gut.« »Ganz gut ist nicht genug, längst nicht genug.« »Es wird schon reichen«, sagte Hasard störrisch. »Auf der Insel hat es schließlich auch gereicht.« »Bei Iren, die kein Wort der Sprache verstehen. Aber nicht bei Spaniern.« »Wir brauchen es doch nur, um uns einigermaßen verständigen zu können, Sir.« »Und wenn Sie jemand fragt, was Ihre Muttersprache ist, was sagen Sie dann?« »Dann sagen wir eben, wir sind ...« Er schwieg und preßte die Lippen zusammen. Dieser schlaue Fuchs hatte es doch wieder verstanden, ihn ins offene Messer rennen zu lassen. »Also, was werden Sie sagen, Mister Killigrew?« bohrte Drake. »Welche Sprache beherrschen Sie so gut, daß Sie
wenigstens einem Spanier einreden können, Sie seien zum Beispiel ein Schwede?« »Ich habe verstanden, Sir«, sagte Hasard etwas kleinlaut. »Aber das wird mich nicht abhalten, meine Männer herauszuholen.« »Immer mit dem Kopf durch die Wand«, sagte Drake und erhob sich. »Sehen Sie denn nicht endlich ein, daß ich Sie nur vor einer Dummheit bewahren will? Benutzen Sie Ihren Kopf doch einmal nicht dazu, um Wände einzurammen, Mister Killigrew. Ich habe Ihnen eben die Möglichkeit aufgezeigt, wie Sie nach Spanien gelangen können, ohne dabei Ihren Hals zu riskieren.« Hasard starrte Drake an. »Ich verstehe nicht ...« »Sie werden eine Sprache büffeln, damit Sie den Dons erklären können, Sie seien Italiener.« »Aber das dauert ja Monate!« protestierte Hasard entsetzt. »Ich gebe Ihnen genau einen Monat Zeit und den besten Sprachlehrer, den ich auftreiben kann. Sie werden sich eben mal wieder ein paar Wochen auf die Hosen setzen müssen.« »Ich auch, Sir?« fragte Ben Brighton niedergeschlagen. »Ihnen wird es auch nichts schaden«, sagte Drake, amüsiert über das ehrliche Entsetzen in Brightons Gesicht. »Du kannst doch spanisch, Ben, da ist es sicher nicht so schlimm«, sagte Hasard tröstend. Er blickte wieder Drake an. »Und dann geben Sie mir ein Schiff?« »Nein. Woher soll ich ein italienisches Schiff nehmen? Und mit einem englischen würden Sie sicher selbst dann Schwierigkeiten haben, wenn Sie sich glaubhaft als Italiener ausgeben könnten. Nein, Mister Killigrew, Sie werden über Land durch Frankreich und die deutschen Fürstentümer nach Italien reisen und sich in Genua einschiffen, wie es jeder normale italienische Kaufmann zu tun pflegt.« Hasard wollte wieder etwas einwenden, aber Ben Brighton stieß ihn verstohlen an, und er ließ es.
»Einverstanden, Sir«, sagte er ohne Begeisterung. »Wann fangen wir mit den Sprachstunden an?« »Morgen früh«, sagte Francis Drake, »und zwar hier an Bord der ›Santa Cruz‹, damit ich Sie ein bißchen im Auge behalten kann.« »Und wenn Sie bis morgen keinen Sprachlehrer gefunden haben, Sir?« fragte Ben Brighton ohne viel Hoffnung. »Verlaß dich darauf, ich finde einen«, versicherte Francis Drake. Als sie über Deck zur Gangway gingen, sagte Ben Brighton vorwurfsvoll: »Ganz so eilig hättest du es auch nicht zu haben brauchen.« Hasard antwortete nicht. Er starrte in das Schneetreiben, das in dicken, nassen Flocken auf Deck und Kai fiel, und dachte darüber nach, was für ein Auftrag sie in der Neuen Welt erwartete. Er hörte, wie Ben Brighton etwas zu ihm sagte, war aber so in Gedanken, daß er es nicht verstand. »Was hast du gesagt?« fragte er. »Hast du den Posten gesehen?« Er deutete auf den Soldaten, der in mehrere Mäntel gehüllt an der Gangway stand und langsam einschneite. »Was ist mit ihm?« fragte Hasard. »Im ersten Augenblick dachte ich, es wäre unser Freund Henry Burton. Dem hätte ich es gegönnt, daß er sich den Arsch abfriert - Verzeihung, ich wollte natürlich Hintern sagen, aber das ist bei einem Arschloch wie Burton eigentlich nicht der richtige Ausdruck, nicht wahr?«
3. Der Italiener nannte sich professore, und schon nach der ersten Stunde war Ben Brighton überzeugt, daß er früher in den
Folterkammern der venezianischen Dogen sein Brot verdient haben müsse. Noch nie in seinem Leben sei er so unmenschlich geschunden worden, versicherte er Hasard immer wieder. Und wenn die Paukerei bei dem professore endlich überstanden war, wollte Hasard bei ihm auch noch spanisch lernen. Am Abend des dritten Tages erwischte der Seewolf Ben Brighton in einer Hafenkneipe in Gesellschaft einer Flasche Whisky und einer üppigen Maid. Er schleppte ihn an Bord zurück, bezog mit ihm eine Kammer im Heck der ›Santa Cruz‹ und verdammte sie beide zu einem fast klösterlich tugendhaften Leben. Während des Unterrichts tauchte immer wieder Francis Drake auf und überzeugte sich selbst von den Fortschritten der beiden. Drake war ein Fuchs, wie Philip Hasard Killigrew sehr richtig erkannt hatte. Er hatte es immer verstanden, andere Menschen für seine Pläne zu gewinnen und einzusetzen. Besonders wenn er den Wünschen anderer nachgab, war äußerste Vorsicht geboten. So hatte er auch jetzt, als Hasard von ihm die Erlaubnis erbat, die Männer der ›Isabella‹ herausholen zu dürfen, sofort eine Möglichkeit gesehen, Hasards Loyalität für seine Zwecke zu nutzen. Für das bevorstehende Unternehmen, das er seit langem plante und nun endlich verwirklichen sollte, brauchte er Männer, die mehr konnten, als nur zur See zu fahren und zu kämpfen. Davon gab es im elisabethanischen England eine ganze Menge. Was ihm fehlte, waren echte Führerpersönlichkeiten, Männer von umfassender Bildung, mit einem weiten Horizont. Beides würden Hasard und Ben Brighton durch ihr Sprachstudium und ihre Reise quer durch Europa erreichen. Drake war auch dabei, als der professore einen knappen Monat später, am 20. Januar 1577, eine Schlußprüfung ansetzte, mit der der Unterricht beendet werden sollte. Schweigend hörte Drake fast eine Stunde lang zu, dann nickte
er zufrieden und sagte: »Sehr gut. Sogar das rollende R haben Sie den beiden beigebracht, professore.« »Und ich hab ein Zittern in der Zunge von dem verdammten R.« Ben Brighton konnte es noch nicht fassen, daß die Schinderei nun wirklich zu Ende sein sollte. Eine Stunde später saßen Hasard und Ben Brighton in Drakes Kammer zu einer letzten Einsatzbesprechung. »Ab heute heißen Sie Loris Modena«, sagte er zu Hasard, »und Ben Brighton heißt Giacomo Oradini. Sie sind Kaufleute aus Genua. Hier sind ein paar Briefe von Geschäftsfreunden in Venedig und Rom, die Sie gegebenenfalls als Ausweise benutzen können. Erstklassige Fälschungen«, setzte Drake lächelnd hinzu, »von unserem professore verfaßt. Stecken Sie sie in die Taschen, damit sie etwas zerknittert wirken. Sie werden eine Kutsche nach Dover nehmen und von dort nach Calais in Nordfrankreich übersetzen. Von dort aus müssen Sie selbst sehen, wie Sie Weiterreisen, zuerst nach Genua und von dort nach Sevilla.« Drake zog einen prallen Geldbeutel aus einem Schubfach und schob ihn Hasard zu. Hasard nahm ihn auf und wog ihn in der Hand. »Das ist doch viel zuviel.Sir. Wir brauchen höchstens ...« »Sie können nicht wissen, wieviel Sie brauchen werden«, unterbrach ihn Francis Drake. »Sie kennen Spanien nicht, und Sie wissen nicht, was Sie dort erwartet. Außerdem, mein Freund, sollen Sie in Spanien großzügig auftreten können. Merken Sie sich eines: Überall auf der Welt wird es sich die Polizei zehnmal überlegen, bevor sie einem Gentleman, der im richtigen Rahmen lebt, auch nur eine unpassende Frage stellt. Einen armen Schlucker, der in einer Kaschemme haust, sperren sie erst mal ein und prügeln alles aus ihm heraus, was sie wissen wollen.« »Ich verstehe, Sir«, sagte Hasard. »Das hoffe ich«, sagte Drake ernst. »Ihr Leben kann davon
abhängen, daß Sie mich jetzt richtig verstehen.« Er schob Hasard einen Zettel zu. »Merken Sie sich Namen und Adresse und werfen Sie den Zettel weg, bevor Sie England verlassen.« »Estoban Rizzio, Callè de los Angeles, Sevilla«, las Hasard halblaut und blickte Drake fragend an. »Senor Rizzio ist englischer Agent«, erklärte Francis Drake »und Ihr Kontaktmann für Ihre Mission. Offiziell gilt er als Teppichhändler. Sie werden ihn in seinem Geschäft aufsuchen und nach einem Kelimteppich fragen. Er wird Ihnen Teppiche dieser Qualität zeigen, und Sie müssen daraufhin sagen, daß Sie ihn nicht gleich mitnehmen wollen, sondern ihn erst am übernächsten Tag abholen werden. Haben Sie das verstanden?« »Natürlich, Sir.« »Davon will ich mich selbst überzeugen, Mister Killigrew. Für Sie hängt alles davon ab, daß dieser Mann Ihnen vertraut und hilft. Also spielen wir die Szene einmal durch. Tun Sie so, als ob Sie in den Teppichladen kämen. Ich bin unser Agent Estoban Rizzio.« Der Seewolf verzog das Gesicht. Diese Geheimnistuerei erschien ihm ziemlich lächerlich. Ben Brighton versuchte vergeblich, ein Grinsen zu unterdrücken. »Also?« Francis Drake blickte Hasard auffordernd an. »Fangen Sie an.« »Guten Tag, Mr. Rizzio«, sagte Hasard widerwillig. »Auf spanisch natürlich!« »Buenas dias, Senor Rizzio«, wiederholte Hasard etwas mürrisch. »Ich möchte einen Kelim kaufen.« »Gern.« Drake sprach ebenfalls spanisch. »Wenn Sie sich hier einen aussuchen wollen.« »Ich bin sicher, daß ich etwas Passendes finde. Leider kann ich ihn heute nicht gleich mitnehmen. Ich werde übermorgen vorbeikommen und ihn ...« »Falsch«, unterbrach Drake.
»Aber Sie haben doch eben gesagt ...« »Ich weiß, es war mein Fehler. Sie müssen den Wochentag nennen. Heute ist Montag, übermorgen wäre also Mittwoch.« Hasard nickte, und diese Probe erschien ihm jetzt gar nicht mehr so überflüssig und lächerlich. »Leider kann ich ihn heute nicht gleich mitnehmen«, wiederholte er den Erkennungssatz. »Ich werde am Mittwoch vorbeikommen und ihn abholen.« »Gut. Dann müssen Sie selbst sehen, wie Sie mit ihm weiter verhandeln.« »Keine Angst, Sir. Wir werden es schaffen. Wann können wir abreisen?« »Morgen früh um fünf«, erwiderte Francis Drake und erhob sich. »Ich habe zwei Plätze für die erste Kutsche nach Dover buchen lassen.« Er streckte seine Hand aus. »Viel Glück, euch beiden.« Als sie an Deck traten, schneite es wieder, und der Gangwayposten sah aus wie ein Schneemann. »Es wäre wirklich schön, wenn ich Henry Burton mal so frieren sehen könnte«, sagte Ben Brighton, als sie an ihm vorbeigingen. »Das Vergnügen werden Sie kaum haben«, sagte der Posten. »Das Schwein ist gleich nach dem Einlaufen desertiert.«
4. Am 15. März 1577 lief die genuesische Karavelle ›Santa Lucia‹ auf die Reede von Sevilla zu. Philip Hasard Killigrew und Ben Brighton hatten sich in der norditalienischen Hafenstadt neu eingekleidet, und keinem Menschen wäre es eingefallen, die Identität der Signori Loris Modena und Giacomo Oradini anzuzweifeln, die in Gegenwart anderer fast nur von den Geschäften sprachen, die sie in Sevilla zu tätigen hofften. Keiner der fünf anderen Passagiere konnte wissen, daß
Hasard diese Gespräche sozusagen als Trainings- und Fortbildungskurs für ihre Italienisch-Kenntnisse angesetzt hatte. Jetzt standen die beiden »Kaufleute« am Steuerbordschanzkleid des Bugkastells und beobachteten fachmännisch und kritisch das Ankermanöver der ›Santa Lucia‹ vor der Sandbank, die der Quadalquivir eine knappe Meile vor der Küste angeschwemmt hatte. Nur Schiffe von weniger als zweihundert Tonnen und besonders flachbodige Küstensegler konnten über die Sandbank direkt in den Hafen laufen. Alle anderen mußten vor der Barriere ankern und wurden von Galeeren geleichtert. Ein gutes Dutzend Schiffe, Spanier, Niederländer und Italiener, lagen vor Anker, umgeben von Galeeren, kleinen Fährbooten und den Kähnen der Händler, bei denen die Seeleute alles kaufen konnten, was Iberien zu bieten hatte, von falschem Goldschmuck bis zu geschmuggeltem Brandy und Freudenmädchen. Wie ein Schwarm Heuschrecken hielt auch ein Dutzend dieser Boote auf die ›Santa Lucia‹ zu, noch bevor sie geankert hatte. Angewidert sah Ben Brighton zu, wie die Händler sich drängten, die ersten an Bord zu sein, um den italienischen Matrosen ihre Heuer abluchsen zu können. Sie warfen Leinen mit kleinen Enterhaken über das Schanzkleid und kletterten wie eine Horde Affen an Bord. Einer dieser scharfkantigen Haken flog dicht an Ben Brightons Schulter vorbei und hakte sich hinter das Schanzkleid. Er riß ihn heraus und warf ihn über Bord. Ein Schwall von Flüchen und Verwünschungen schallte herauf, teilweise so unflätig, daß Bens spanisches Vokabular nicht ausreichte, um sie zu verstehen. Hasard hatte nicht das geringste Interesse an diesen Schmeißfliegen aller Mittelmeerhäfen. Ihn interessierten nur die plumpen Frachtgaleeren, von denen eine jetzt tiefbeladen
an der ›Santa Lucia‹ vorbei zur Flußmündung zog. Die langen, schweren Riemen waren mit je zwei Männern besetzt, auf dem erhöhten Laufgang zwischen den Ruderbänken ging ein riesiger Neger auf und ab, eine zusammengerollte Nilpferdpeitsche in der Hand. Die Fußfesseln der Galeerensklaven konnte er von hier oben nicht sehen, aber er erkannte deutlich die durchlaufende, rostige Kette. »Wahrscheinlich werden wir unsere Männer auf so einer Galeere finden, Ben«, sagte er leise und starrte dem schwerbeladenen Schiff nach, das sich gegen die Strömung des Quadalquivir auf Sevilla zuquälte. »Du hast sicher recht«, erwiderte Ben Brighton. »Morgen wissen wir mehr.« »Heute abend, Ben«, sagte Hasard bestimmt. »Oder meinst du, wir wollen den ganzen Tag vertrödeln?« Sie mußten es zwangsläufig tun, weil Hasard nicht mit der Manana-Mentalität der Spanier gerechnet hatte. Es dauerte noch fast zwei Stunden, bis endlich der kleine Küstensegler längsseits ging, um die Passagiere abzuholen. Hasard kochte vor Ungeduld und wollte einen der schwimmenden Trödler bestechen, sie sofort an Land zu bringen. Aber dann sah er ein, daß sie keine zu große Eile zeigen durften. Der Schlüssel zum Erfolg ihres Unternehmens hieß Unauffälligkeit. Wenn sie auch nur einmal die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf sich zogen, waren sie erledigt. Es war längst dunkel geworden, als sie an der Bootspier im Hafen von Sevilla an Land kletterten. Und auch hier waren sie sofort von einer Horde zwielichtiger Gestalten umdrängt, die ihnen alle nur möglichen Dienste anboten, vom Transport des Gepäcks bis zur gefälligen Benutzung ihrer Schwestern. Ben Brighton sagte ihnen sehr deutlich, was sie mit ihren Schwestern tun könnten und besorgte eine Droschke. Sie ließen
sich in ein Hotel der gehobenen Mittelklasse bringen, auch in diesem Punkt bestrebt, nicht aufzufallen. Es lag an einer weiten Plaza im eleganteren Viertel Sevillas. Trotz der offenen Fenster war der Lärm des Hafenviertels hier kaum noch zu hören. »So, jetzt haben wir endlich unsere Ruhe«, sagte Ben Brighton aufatmend, als der Hausdiener die Tür von außen zugedrückt hatte. »Ich überlege mir, ob wir nicht doch noch diesen Rizzio aufsuchen sollten«, sagte Hasard nachdenklich. »Viel zu spät«, erwiderte Ben Brighton. »Dann klopfen wir ihn eben heraus.« »Könnte auffallen, Hasard. Wir wissen ja nicht, wie seine Lage ist.« »Ach was, Ben, Du bist nur zu faul, das ist alles.« »Stimmt«, gab Ben freimütig zu. »Aber, selbst wenn wir es riskieren, ihn heute nacht noch aufzusuchen, was hätten wir damit gewonnen? Vor morgen früh könnten wir ohnehin nichts mehr unternehmen.« »Du bist ein durchtriebener Halunke, Ben«, sagte Hasard und zog seine Jacke aus - weil er einsah, daß Ben Brighton recht hatte.
Die Callè de los Angeles hieß zwar Straße der Engel, hatte mit himmlischen Dingen aber verdammt wenig zu tun. Es war eine enge, gewundene Gasse, eine Doppelreihe abgeblätterter, schmalbrüstiger Häuser in der Nähe des Fischmarktes am Hafen. Das Kopfsteinpflaster war mit Bergen von Unrat bedeckt. Als Hasard und Ben Brighton sich nach dem Geschäft von Senor Rizzio durchfragten, rief über ihnen eine grelle Frauenstimme: »Guarda!« und im selben Augenblick klatschte
der Inhalt eines Nachtgeschirrs knapp einen Yard vor ihnen auf die Kopfsteine. »Drecksau!« murmelte Ben Brighton wütend und starrte auf ein paar Spritzer, die seine Stiefel abgekriegt hatten. »Verzeihung.« »Schon gut. Aber wenn du schon fluchen mußt, dann wenigstens nicht auf englisch!« Sie gingen weiter, vorbei an winzigen Läden und Gewölben, aus denen die scharfen Düfte von Gewürzen drangen, die spanische und portugiesische Seefahrer von den Gewürzinseln Ostasiens gebracht hatten, und die sogar den eingefressenen Gestank von menschlichem Unrat und Katzendreck überdeckten. »Es gibt fast genau so viele Kneipen wie Läden hier«, sagte Ben Brighton und deutete auf die offene Tür einer Taverne, aus der trunkener Gesang und Gelächter schallten. »Ich möchte wissen, wie die existieren können. In England würden die alle eingehen.« »In Plymouth gibt es auch mehr Hafenkneipen als Schiffe, Ben. Und diese hier sehen so aus, als ob der Weinausschank nur ein Nebenerwerb wäre. Ich möchte nicht wissen, was hier unter dem Tresen alles verscheuert wird.« »Da kannst du recht haben«, stimmte Ben Brighton zu und stieg über ein Hundepaar hinweg, das mitten auf der Gasse eifrig für den nächsten Wurf tätig war, »der Weg von der Reede bis zum Hafen ist lang, da kann leicht mal was verloren gehen.« »Und vom Hafen bis zu den Gewölben der Händler ist es auch noch ein Stück, Ben.« Ben Brighton nickte. »Hier wundert man sich, daß überhaupt etwas von der bestellten Ware ankommt.« »Dort vorn, das könnte Rizzios Laden sein«, sagte Hasard und deutete auf ein altersschwaches Haus, an dessen Front ein Teppich hing. Es war ein uralter, mottenzerfressener Afghan,
mit dem Senor Rizzio sein Gewerbe bekannt gab. Diesen Fetzen hatte er sogar noch mit einer dicken Kette gesichert. In der Straße der Engel hätte selbst ein solches Stück noch Liebhaber gefunden. »Der Agent Ihrer königlichen Majestät wohnt nicht gerade sehr repräsentabel«, bemerkte Ben Brighton, als sie auf das Haus zugingen. »Ich finde die Tarnung sehr gut«, sagte Hasard und trat unter dem wehenden Teppichfetzen hindurch in die offene Ladentür. Der Laden war ein enger, langer Schlauch und stockdunkel, wenn man vom Tageslicht der Straße hereintrat. Erst als sich Hasards Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er die aufgestellten Teppichrollen an beiden Wänden und einen kleinen Stapel schmaler Gebetsteppiche aus den Emiraten Nordafrikas. »Sie wünschen, Senor?« sagte eine Stimme aus dem Dunkel, und erst Sekunden später sah Hasard die Silhouette eines Mannes, der aus dem hinteren Teil des Ladens auf sie zutrat. »Senor Rizzio?« fragte Hasard mit einer leichten Verbeugung und musterte den Mann, der hier als Beauftragter der britischen Krone Informationen und Nachrichten sammelte. Estoban Rizzio war ein Mann von Anfang Vierzig, mit einer schlanken, muskulös wirkenden Figur und einem Gang, der Hasard an die geschmeidige Kraft einer Katze erinnerte. Sein Gesicht war schmal und glatt rasiert, sein schwarzes Haar straff zurückgekämmt. »Ja, der bin ich«, sagte Senor Rizzio und musterte seinerseits die beiden Männer, die so ausdrücklich nach ihm fragten. Einer von ihnen, auffallend groß, mit breiten Schultern und einem scharfgeschnittenen Gesicht, das eine eiserne Willenskraft verriet. Ein Mann, der es gewohnt war, zu befehlen, erkannte Senor Rizzio. Der andere war kleiner und etwas untersetzt, sein Gesicht wirkte etwas gröber und hatte nicht das Charisma, das von dem
anderen ausging. »Ein Freund hat uns Ihre Adresse gegeben«, sagte Hasard. »Wir wollten Sie fragen ...« »Die Senores sind Ausländer?« unterbrach Rizzio und trat noch einen Schritt näher. Er hatte dunkle Augen, sah Hasard jetzt, aber nicht tiefbraun, es war eher ein dunkles, wolkiges Grau. »Genueser«, sagte Hasard mit seinem entwaffnenden Lächeln. »Gestatten Sie, daß wir uns vorstellen, Senor. Das ist Signore Giacomo Oradini«, er deutete auf Ben Brighton, »und ich heiße Loris Modena.« Rizzio verneigte sich leicht, ohne die beiden Besucher aus den Augen zu lassen. »Darf ich auch fragen, wer mich Ihnen empfohlen hat, Senores?« »Ein gemeinsamer Freund.« »Und wer ist ...« »Er hat uns versichert, daß man bei Ihnen Kelimteppiche besonders günstig kaufen kann, Senor«, unterbrach Hasard rasch. Der Mann, der sich Rizzio nannte, musterte ihn zwei, drei Sekunden lang schweigend, und der Blick seiner dunkelgrauen Augen war plötzlich hart und prüfend. Hasard begriff jetzt, warum dieser Mann auf dem wohl wichtigsten und gefährlichsten Beobachtungsposten des englischen Geheimdienstes saß. Hasard wartete vergeblich auf das vereinbarte Stichwort Rizzios, daß sie sich doch nach etwas Passendem umsehen sollten. Also ergriff er selbst die Initiative. »Wir müssen Ihnen aber gleich sagen, daß es uns heute nicht paßt, den Teppich mitzunehmen. Wir werden Freitag wieder vorbeischauen und ihn abholen.« Estoban Rizzio starrte Hasard noch ein paar Sekunden länger an, dann gab er den beiden »Kunden« einen Wink. »Folgen Sie mir bitte.« Er ging mit raschen, energischen Schritten in den hinteren
Teil des Ladens und stieß eine Tür auf. Sie betraten ein kleines, spärlich möbliertes Zimmer. Durch ein rundes, vergittertes Fenster dicht unter der Decke fiel ein Streifen Sonnenlicht auf einen abgestoßenen Tisch. Tausende von Staubteilchen tanzten in dem Licht. Es roch nach ranzigem Öl. »Also, was wollen Sie wirklich?« Senor Rizzio lehnte sich gegen den Tisch und blickte seine beiden Besucher an. Das heißt, er schaute Hasard an. Ben Brighton beachtete er nicht weiter. Hasard zögerte ein paar Sekunden. Aber er sah ein, daß ihm gar nichts anderes übrig blieb, als diesem Mann die Wahrheit zu sagen. »Wir suchen gefangene Engländer«, sagte er entschlossen, »Seeleute von der ›Isabella‹, die von den Spaniern vor Irland versenkt worden ist. Sie sind in Youghal auf die Kriegsgaleone ›Santa Ana‹ gebracht worden. Wir sind überzeugt, daß sie sich in Sevilla befinden.« »Und wann soll das gewesen sein?« fragte Estoban Rizzio, ohne den Blick von Hasards Gesicht zu nehmen. »Das Gefecht war ein paar Tage vor Weihnachten. Die ›Santa Ana‹ müßte also Ende Dezember oder Anfang Januar hier eingelaufen sein.« Estoban Rizzio schob die Unterlippe vor und schien nachzudenken. »Ja, ich glaube, die Galeone ist damals hier eingelaufen.« »Können Sie feststellen, ob die Männer an Bord waren und wohin sie gebracht wurden?« fragte Hasard. Ich möchte nur wissen, warum dieser Kerl mich ununterbrochen anstarrt! dachte er ärgerlich. »Können Sie die Männer näher beschreiben?« fragte Estoban Rizzio. »Mein Gott, wozu denn das?« sagte Hasard ungeduldig. »Es werden hier schließlich nicht jeden Tag englische Gefangene ausgeladen!« Er riß sich zusammen. Was hatte es für einen
Sinn, die Nerven zu verlieren. »Entschuldigen Sie, Senor«, fuhr er leiser fort, »es müssen elf Männer gewesen sein, einer davon ein riesiger Neger, den niemand übersehen kann, ein anderer trägt am rechten Unterarm eine Lederprothese mit einem Haken, und einer ist noch fast ein Kind, ein Junge von sechzehn Jahren.« Der Mann, der sich Estoban Rizzio nannte, nickte schweigend. Er starrte Hasard weiterhin an. »Haben Sie etwas von diesen Männern gehört?« fragte Hasard ungeduldig. Rizzio runzelte die Stirn, und zum ersten Male wandte er den Blick von Hasard. Er drehte sich halb um, blickte auf die Tischplatte, nahm einen ziselierten afrikanischen Dolch zwischen den Papieren hervor, und drehte ihn in den Händen. »Warum antworten Sie mir nicht, Senor Rizzio?« Hasard trat unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu. Ben Brighton blickte aufmerksam auf die gekrümmte Klinge des Dolches in Rizzios Händen. Estoban Rizzio blickte wieder in Hasards Gesicht. »Wer sind Sie, Senor?« fragte er. Hasard schaute ihn verblüfft an. »Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt. Loris Modena, Kaufmann aus ...« Rizzio winkte ungeduldig ab. »Ich will nicht wissen, wie Sie sich nennen, sondern wer Sie wirklich sind.« Hasard wechselte einen raschen Blick mit Ben Brighton. »Was soll das? Ich frage ja auch nicht nach Ihrem richtigen Namen, Senor, oder warum Sie als Tarnung ausgerechnet einen Teppichladen betreiben.« Seine Stimme klang scharf, sein Blick war mißtrauisch und prüfend. »Ich verstehe den Sinn Ihrer Frage nicht, Senor.« Estoban Rizzio schob wieder die Unterlippe vor. Das schien bei ihm eine Geste des Nachdenkens zu sein. »Sie haben völlig recht, Senor«, erklärte er dann überraschend. »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten.« Er
wandte den Kopf und legte den Dolch wieder zwischen die Papiere auf dem Tisch. »Aber Sie können mir glauben, daß ich meine Gründe dafür habe - sehr triftige Gründe.« »Und welche?« Der Mann öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte, dann schüttelte er den Kopf. »Besuchen Sie mich heute abend, dann werden Sie eine Antwort darauf erhalten.« »Und auch auf meine andere Frage?« sagte Hasard sofort. »Vielleicht«, sagte Senor Rizzio. »Wenn wir Glück haben.« Er lächelte - zum ersten Male, seit Hasard und Ben Brighton seinen Laden betreten hatten. »Kommen Sie nicht zu früh, Senores. Sagen wir gegen zehn Uhr.«
5. Sie waren schon vor neun dort. Nicht im Laden, sondern in einer Kneipe schräg gegenüber, von der aus sie den Eingang im Auge behalten konnten. Es war eine von den Kneipen, in denen der Wirt nur ein paar trübe Funzeln aufstellte, um Öl zu sparen. Hasard war das nur recht. Bei dem Halbdunkel war es unwahrscheinlich, daß irgend jemand, der zufällig vorbeiging und einen Blick hineinwarf, sie erkennen würde. »Wein, einen roten«, sagte er, als der Wirt, ein schmieriger, fetter Glatzkopf, an ihren Tisch trat und nach ihren Wünschen fragte. »Wir hätten lieber einen Brandy bestellen sollen«, meinte Brighton. »Der Wein ist todsicher gepanscht.« »Und du meinst, der Brandy nicht?« Hasard schaute sich aufmerksam um. Der Raum war schmal und langgestreckt, genau wie der Teppichladen von Senor Rizzio. Alle Läden in der Straße der Engel waren schmal und langgestreckt, vermutete Hasard, um
möglichst viele von ihnen auf die Straßenfront zu verteilen. Es mochten ein Dutzend Tische sein, die in diesem Schlauch standen. Er war nicht sicher, weil der hintere Teil des Raumes noch sparsamer beleuchtet war als die Frontpartie. Im ersten Drittel befand sich eine schmale Theke, hinter ihr drei Weinfässer und ein Wandbrett mit Flaschen. Es waren nicht viele. Die Gäste dieser Kaschemme schienen nicht sehr wählerisch zu sein. »Drüben brennt noch Licht«, sagte Ben Brighton leise. »Irgend jemand geht im Laden hin und her. Ich sehe seinen Schatten.« Hasard nickte. Natürlich war Rizzio im Laden. Schließlich erwartete er sie. Ihn interessierte nur, ob noch andere Leute vor zehn Uhr ins Haus gingen, vor allem Spanier mit Helmen, Brustpanzern und Hellebarden. Er glaubte zwar nicht, daß Rizzio ein Verräter war, aber seine ausdrückliche Aufforderung, ihn nicht vor zehn Uhr aufzusuchen, hatte ihn mißtrauisch werden lassen. »Ihr Wein, Senores.« Der fette Wirt knallte einen Steingutkrug und zwei Becher auf den Tisch. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Er grinste und zeigte schwärzliche Zahnstummel. »Sie können verschwinden«, sagte Ben Brighton und schenkte beide Becher voll. »Die Senores sind Ausländer, nicht wahr?« Die flinken Rattenaugen huschten vor einem zum anderen. »Für unsere ausländischen Freunde habe ich immer etwas Besonderes zu bieten. Zum Beispiel hübsche Täubchen.« »Warum nur für Ausländer?« fragte Hasard. Der Wirt hob mit theatralischer Gestik beide Hände. Hasard sah, daß nicht nur die Fingernägel vor Schmutz starrten. »Bei Spaniern weiß man doch nie.« »Was weiß man nie?« »Ob sie nicht vielleicht Spitzel sind, Senor.«
»Spitzel von wem?« »Von wem nicht? Alle haben doch hier ihre Spitzel - die Krone, die Kirche, die Casa de Contrataciõn, die Reeder, die Piraten«, wieder die Geste mit den Händen, »einfach jeder.« Er beugte sich vertraulich zu Hasard vor und sagte: »Ich hätte für Sie ein besonders günstiges Angebot. Gerade gestern habe ich einen Posten feinster Chinaseide hereinbekommen. Wenn die Senores interessiert sind, würde ich ihn zu einem Spottpreis ...« Den Rest hörte Hasard nicht mehr, weil drüben ein Mann aus dem Laden trat, sich nach beiden Seiten umsah und dann in ihrer Richtung über die Straße ging. »Interessiert, Senor?« klang wieder die ölige Stimme des Dicken in sein Ohr, und Hasard spürte seinen Atem im Gesicht, der nach Fusel und faulen Zähnen stank. »Ich könnte mit dem Preis sogar noch etwas heruntergehen.« »Später, Amigo«, sagte Hasard. Es kostete ihn Mühe, dem Mann nicht seine Faust in die schmierige Visage zu setzen. Daheim in England wäre das längst passiert. Aber hier konnte es gefährlich sein, sich mit irgend jemandem anzulegen. Vor allem durften sie nicht auffallen. Schon gar nicht hier, direkt vor der Haustür von Estoban Rizzio. »Aber wir könnten doch gleich ein Geschäft abschließen.« »Der Senor hat später gesagt.« Jetzt übernahm Ben Brighton die Aufgabe, den Dicken abzuwimmeln. »Und dann meint er auch später. Oder gar nicht.« Der Dicke wollte noch etwas sagen. »Später«, wiederholte Ben Brighton und blickte den Dicken drohend an. »Halt dich etwas zurück, Ben«, sagte Hasard fast unhörbar, als der Dicke beleidigt abgezogen war. Der andere Mann hatte jetzt fast die Tür der Kaschemme erreicht. Er ging zusammengekrümmt, die Schultern vorgebeugt und etwas hochgezogen, den Kopf gesenkt. Immer
wieder warf er scheue, vorsichtige Blicke nach links und rechts. Angst? Oder schlechtes Gewissen? Eins von beiden, dachte Hasard, als der Mann die matte Lichtschneise erreichte, die aus der Kaschemme auf die Straße der Engel fiel. Er wich bis zur anderen Hauswand aus und wandte das Gesicht ab, als ob er Angst hätte, erkannt zu werden. Als die Lichtschneise hinter ihm lag, trat er wieder mehr zur Straßenmitte und hob den Kopf ein wenig. Man konnte ihm die Erleichterung fast anmerken, die gefährliche Helligkeit hinter sich zu haben. Hasard blickte ihm nach, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde. »Ben«, sagte er dann leise. »Ja?« »Ich gehe jetzt schon hinüber zu unserem Freund. Vielleicht ist es ganz günstig, wenn ich seinen Zeitplan etwas durcheinanderbringe.« »Gut. Gehen wir.« Ben Brighton wollte sich erheben. Hasard packte seinen Arm und hielt ihn fest. »Ich gehe allein. Du bleibst hier und behältst die Ladentür im Auge. Wenn du jemanden siehst, der dir verdächtig erscheint, wenn irgend etwas passiert, was faul riecht, sagst du mir sofort Bescheid, verstanden?« Ben Brighton verzog das Gesicht. »Meinst du nicht, daß ich besser auf dich aufpassen kann, wenn ich mitgehe?« »Nein. Du bleibst hier.« Hasard stand auf. »Die Senores wollen schon gehen?« Der fette Wirt war ihm in den Weg getreten und blickte mißtrauisch von Hasard zu Ben Brighton. »Nur ich gehe für eine Weile. Mein Freund bleibt hier. Oder traust du uns nicht?« Er zog einen Lederbeutel aus der Jackentasche und warf ein Silberstück auf die Tischplatte. Der Fette griff danach, bevor es über den Rand zu Boden kollern konnte. »Gracias, Senor, gracias.« Er verbeugte sich.
»Nichts für ungut, Senor, aber es gibt so viele schlechte Menschen in Sevilla. Schlechte Menschen, schlimme Zeiten.« Seine Stimme verlor sich in unverständlichem Gebrabbel, als Hasard mit raschen Schritten über das Kopfsteinpflaster der Gasse auf die Tür von Rizzios Teppichladen zuging. Der Laden war noch dunkler als am Tag. Zwei trübe Ölfunzeln warfen flackerndes Licht, das die gerollten Teppiche zu groteskem Leben zu erwecken schien. Hasard blieb ein paar Sekunden stehen und blickte mit zusammengekniffenen Lidern in das Halbdunkel. Dann trat er ein. Niemand war zu sehen. Etwa in der Mitte des langgestreckten Raums blieb er stehen. Ein dicker Käfer surrte dicht an seinem Kopf vorbei in die Flamme einer Ölfunzel. Ein leises Zischen ertönte, als er im Feuer versengt wurde und zu Boden fiel. »Hallo! Senor Rizzio!« Hasard schüttelte verwundert den Kopf und trat einen Schritt tiefer in den halbdunklen Laden. »Sie sind früh, Senor Modena«, sagte eine Stimme hinter ihm. Hasard fuhr herum. Estoban Rizzio trat von der linken Wand in die Mitte des Raums. Hasard mußte dicht an ihm vorbeigegangen sein. Wahrscheinlich hatte er sich im tiefen Schatten der Teppichrollen verborgen. »Wo ist Ihr Freund, Senor?« Estoban Rizzio blickte zur Tür. »Er ist verhindert. Außerdem hatte ich ohnehin den Eindruck, daß Sie aus mir unbekannten Gründen nur an mir interessiert sind, und nicht an Signore Oradini.« Das Lächeln im Gesicht Rizzios war nicht zu erkennen, aber Hasard ahnte es und hörte es dann in seiner Stimme. »Zu Ihrer letzten Feststellung: Sie haben recht. Ich bin wirklich nur an Ihnen interessiert.« »Und warum?« fragte Hasard scharf. »Zu Ihrer ersten Feststellung: sie ist eine Lüge. Sie haben
beide seit einer halben Stunde gegenüber in der Taverne gesessen und meine Ladentür beobachtet. Wahrscheinlich sitzt Ihr Freund noch immer dort - als Rückendeckung. Sie trauen mir nicht, Senor?« »Warum sollte ich? Sie bestellen mich ohne jede Erklärung zu einer bestimmten Zeit hierher. Sie zeigen ein etwas eigenartiges Interesse an mir. Tatsächlich weiß ich nicht einmal, ob Sie wirklich der sind, für den Sie sich ausgeben.« »Ich habe mich für niemanden ausgegeben, Senor. Und was das betrifft, so habe ich erheblich mehr Anlaß, mich zu fragen, ob Sie der sind, für den Sie sich ...« Er brach ab, als er erkannte, daß er beinahe den gleichen Fehler beging wie Hasard. »Ich meine, ob Sie der sind, für den ich Sie halten muß. Ob Sie überhaupt Engländer sind, Senor«, setzte er sehr leise, sehr betont hinzu. »Sie zweifeln daran, daß ich Engländer bin?« Dies war eine der wenigen Situationen, in denen Philip Hasard Killigrew die Worte fehlten. »Wir wollen ins Hinterzimmer gehen, Senor Modena. Dort werde ich Ihnen die Erklärung geben.« Hasard blieb stehen, um Estoban Rizzio vorbeizulassen. Doch der wehrte ab. »Gehen Sie voraus, Senor. Sie kennen ja den Weg.« Hasard zögerte ein paar Sekunden. Dann sah er ein, daß er dem Wunsch Rizzios folgen mußte, wenn er etwas erreichen wollte. Außerdem - wenn der Kerl ihm eine Falle stellen wollte, dann war es egal, ob er vor oder hinter ihm in den Raum trat. Hasard blickte aufmerksam nach beiden Seiten, als er tiefer in den Raum auf die Tür des Hinterzimmers zuschritt. Bei jedem Schritt wurde es dunkler. Hasard wußte, daß mehrere Männer zwischen den Teppichrollen stehen konnten und er sie nicht bemerken würde, solange sie sich nicht bewegten. Durch die Ritzen der Tür drang Licht. Jedenfalls war das
Hinterzimmer beleuchtet. Er zögerte etwas, dann stieß er die Tür mit einem Ruck auf und trat rasch ein. Der kleine Raum war leer. Es war alles genauso, wie er es am Vormittag verlassen hatte, mit Ausnahme der Öllampe, die jetzt auf dem Tisch stand, und bis auf eine über zwei Yards hohe Stellage in der hinteren Ecke, die mit einem weißen Tuch verdeckt war. Hasard blickte mißtrauisch auf die Stellage. »Was ist das?« fragte er und wandte sich zu Rizzio um, der gerade eintrat und die Tür hinter sich schloß. »Eine Staffelei.« »Malen Sie, Senor Rizzio?« Rizzio schüttelte den Kopf. »Ich habe etwas für Sie herbringen lassen. Das war der Grund, warum ich Sie bat, nicht vor zehn zu kommen. Ich war nicht sicher, ob ich meinen Freund vor neun Uhr antreffen würde.« Hasard runzelte die Stirn. Was sollte er mit einer Staffelei? Und was hatte ein Freund dieses Senor Rizzio mit der ganzen Sache zu tun? »Was soll das Theater?« fragte er hart. »Wollen Sie mir nicht endlich alles erklären?« »Dazu habe ich Sie ja hergebeten.« Estoban Rizzio nahm die Öllampe vom Tisch, trat an die Staffelei und nahm das Tuch herunter. Hasard sah ein Ölgemälde. Es war das Bild einer jungen Frau. »Nun?« Rizzio blickte ihn erwartungsvoll an. »Was, nun? Was soll die Frage?« Hasard hatte wirklich den Eindruck, daß Rizzio ihn auf den Arm nehmen wollte. »Fällt Ihnen denn gar nichts auf?« Rizzio zog den Docht der Öllampe etwas weiter heraus und stellte sie auf den Rand der Staffelei, so daß ihr Licht voll auf das Gemälde fiel. »Noch immer nicht?« Der Seewolf trat etwas näher heran. Jetzt sah er es. Es war das Gemälde eines Meisters, der das Gesicht einer Frau von
fast überirdischer Schönheit porträtiert hatte. »Kennen Sie die Dame nicht?« hört er Rizzio fragen. Hasard schüttelte verständnislos den Kopf. »Woher soll ich eine Dame in Spanien kennen? Ich sagte Ihnen doch, ich bin ...« Er brach ab, weil er begriff, daß Rizzio ihn anscheinend für jemand anderen hielt, weil er aus irgendeinem Grund annahm, daß er in irgendeiner Beziehung zu dieser Frau stünde. »Bitte, sehen Sie sich das Bild sehr genau an, Senor.« »Wozu? Ich bin völlig sicher, daß ich diese Frau noch nie in meinem Leben gesehen habe.« Dennoch trat er noch einen Schritt näher und starrte auf das Gemälde. Eine wirklich auffallend schöne Frau, stellte er fest. Ein ovales Gesicht von vollkommener Ebenmäßigkeit, schwarzes Haar, das in weichen Wellen auf nackte Schultern fiel, auf der Haut des Brustausschnitts schimmerte eine Kette aus Rubinen und Diamanten, auch der blaue Stoff des Kleides, der Schulter und Brustpartie mußte von erstklassiger Qualität sein. »Eine Dame der Gesellschaft, nehme ich an«, sagte Hasard und wandte sich wieder Rizzio zu. »Der allerbesten sogar«, erwiderte Rizzio und blickte Hasard scharf an. »Sonst haben Sie nichts dazu zu sagen?« »Ich habe bereits betont, daß ich diese Dame noch nie gesehen habe, und ich begreife wirklich nicht ...« Er verstummte und lauschte. Ein leises Geräusch war aus dem Ladenraum zu vernehmen. Jetzt hatte auch Rizzio es gehört. Er sprang zum Tisch, griff nach dem gekrümmten Dolch und preßte sich neben der Tür an die Wand, die Waffe stoßbereit. Hasard postierte sich auf der anderen Seite der Tür, damit sie jeden, der eintrat, in die Zange nehmen konnten. Da, jetzt hörte er das Geräusch wieder - langsame, schleichende Schritte. Schon sehr viel näher. In der Mitte des Ladens, schätzte er. Zu blöde, daß er keine Waffe bei sich
hatte, nicht einmal ein Messer. Aber als harmlose Kaufleute konnten sie schließlich nicht bewaffnet herumlaufen. Die Schritte blieben stehen. Hasard fühlte, wie seine Muskeln sich anspannten, wie sein Puls rascher schlug. »Senor Rizzio?« fragte eine leise Stimme. Hasard warf dem anderen einen raschen, mißtrauischen Blick zu. Estoban Rizzio zuckte schweigend mit den Schultern, um anzudeuten, daß er die Stimme nicht kannte und auch niemanden erwartete. Die Schritte rückten wieder näher, noch langsamer, noch vorsichtiger als zuvor, blieben stehen. »Senor Modena?« fragte die Stimme dieses Mal, und Hasard erkannte sie jetzt. »Mein Freund«, sagte er leise und stieß die Tür einen Spaltbreit auf. »Was ist los?« Ben Brighton trat rasch in den kleinen Raum und war sichtlich erleichtert, daß alles in Ordnung schien. »Warum bist du hier?« fragte Hasard scharf. »Da war ...« Er zögerte und warf Rizzio einen raschen Blick zu. »Du kannst ruhig sprechen«, sagte Hasard. »Senor Rizzio weiß, daß du gegenüber in der Kaschemme warst und den Laden beobachtet hast.« Wieder ein rascher Blick zu Rizzio, dann sagte Ben Brighton: »Ich habe einen Mann beobachtet, der sich ebenfalls für diesen Laden zu interessieren schien. Jedenfalls drückte er sich eine ganze Weile genau gegenüber herum.« »Hast du ihn dir nicht näher angesehen?« fragte Hasard. »Wollte ich, aber als ich die Kneipe verließ und auf ihn zuging, verschwand er in einer Haustür.« Er zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall habe ich ihn nicht mehr entdecken können. Als wenn er sich in Luft aufgelöst hätte.« »Die Häuser hier sind wie Kaninchenbauten«, sagte Rizzio. »Hier gibt es versteckte Türen, Geheimgänge unter der Erde.
Wer sich hier auskennt, wird von niemandem erwischt.« Das ist also der Grund, warum sich Estoban Rizzio in dieser üblen Gasse niedergelassen hat, dachte Hasard. Er wandte sich an Ben Brighton. »Hast du den Mann erkennen können?« Ben schüttelte den Kopf. »Bei der Dunkelheit? Ich habe nur gesehen, daß er einen Bart hatte und ziemlich abgerissen mein Gott, das ist ja ...« Er starrte überrascht auf das Bild und trat einen Schritt näher. »Ja, was ist das?« fragte Rizzio eifrig. »Nun reden Sie schon.« Ben Brighton schaute fasziniert auf das Bild. Er blickte Hasard an, dann wieder das Gemälde. »Eine wirklich schöne Frau«, sagte Brighton. »Das ist alles? Sonst fällt Ihnen nichts auf? Ich hatte eben den Eindruck, Sie wollten noch mehr sagen.« »Nun ja, ich bin ziemlich überrascht«, erwiderte Ben Brighton. »Überrascht? Über was?« »Na, ist es etwa nicht überraschend, wenn man in einer so miesen Gegend ein solches Meisterwerk findet?« sagte Ben Brighton ausweichend. »Das ist alles?« Rizzios Stimme klang enttäuscht, und fast bedauerte es Ben Brighton, ihn anlügen zu müssen. »Was denn sonst?« sagte er, ohne Rizzio anzusehen. Jedes Kind mußte die verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Gesichtszügen Hasards und dieser Frau erkennen. Aber wenn der Seewolf es für richtiger hielt, davon nichts zu erwähnen, dann war es nicht an ihm, Rizzio darauf hinzuweisen. »Ein wirklich schönes Gemälde«, sagte er nur. Rizzio blickte von Hasard zu Ben Brighton und schüttelte den Kopf. Dann merkte er, daß er noch den Dolch in der Hand hielt und legte ihn auf den Tisch zurück. »Ich begreife nicht, warum Sie beide die frappierende
Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und Senor Modena leugnen«, sagte er. »Finden Sie?« fragte Ben Brighton scheinheilig. Hasard blickte Rizzio erstaunt an. Er hatte die Ähnlichkeit tatsächlich noch nicht bemerkt. Schließlich waren Spiegel an Bord von Schiffen überflüssiges Inventar, und so war ihm das eigene Gesicht längst nicht so vertraut wie den Leuten an Land. »Und wer ist diese Dame, mit der ich eine Ähnlichkeit haben soll?« Rizzio hockte sich auf die Tischkante und blickte das Gemälde ein paar Sekunden schweigend an. Dann sagte er: »Graciela de Coria, aus einem der ältesten und vornehmsten Adelsgeschlechter Spaniens. Der Stammsitz der Familie ist bei Cordoba.« »Und? Was ist mit dieser Graciela de Coria?« Hasard blickte prüfend in das Gesicht Rizzios, der immer noch das Gemälde anstarrte. »Kennen Sie diese Dame persönlich?« »Die Dame ist leider tot«, sagte Rizzio. Hasard sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, den Blick von der Leinwand zu lösen. »Schon seit über zwanzig Jahren, wie man sagt.« Er lächelte Hasard an. »Ich bin verliebt in dieses Gemälde. Es gehört einem Freund von mir. Immer wenn ich bei ihm bin, bewundere ich dieses Meisterwerk.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist der Mann nur wegen dieses Gemäldes zu meinem Freund geworden.« Er stand auf und trat einen Schritt auf Hasard zu. »Bitte, sagen Sie mir, wer Sie sind, Sir«, sagte er auf englisch. »Ich muß es wissen, verstehen Sie.« Hasard zögerte. Es widersprach den Grundregeln bei geheimen Missionen, nach den tatsächlichen Namen zu fragen oder sie preiszugeben. Aber dann sah er den fast flehenden Blick in den Augen Rizzios und sagte: »Ich bin Philip Hasard Killigrew.« Rizzio starrte ihn ein paar Sekunden schweigend an, und die
Verblüffung gab seinem Gesicht etwas fast kindlich Hilfloses. »Ein Killigrew?« fragte er. »Ein Verwandter des alten Sir John?« »Ich bin sein Sohn«, sagte Hasard. »Unmöglich.« Das Staunen war wieder aus der Stimme Rizzios verschwunden und einem kaum verhüllten Mißtrauen gewichen. »Ich kenne den alten John Killigrew und auch die Söhne - zwei von ihnen jedenfalls«, schränkte er ein, »und das ist auch schon eine Weile her, aber dennoch, mir ist einiges sehr unverständlich.« »Soll ich Ihnen meinen Alten beschreiben?« sagte Hasard lächelnd. Jetzt, als er wußte, um was es ging, was der Mann von ihm wollte, kehrte seine gewohnte Selbstsicherheit wieder. Mit kurzen, treffenden Worten beschrieb er den Stammsitz der Killigrews auf Arwenak, den immer beutelüsternen Piraten Sir John Killigrew und die genauso grob geschnitzten Söhne. Als er verstummte, blickte ihn Estoban Rizzio eine Weile schweigend an. Aber Hasard sah, daß das Mißtrauen aus seinem Blick gewichen war. »Ja, das stimmt alles«, sagte er schließlich, und wieder wanderte sein Blick von Hasards Gesicht zu dem der Frau auf dem Ölgemälde. »Und dennoch ...« »Glauben Sie mir, er ist ein echter Killigrew«, sagte jetzt Ben Brighton. »Ich weiß, er ist anders als seine verdammten Brüder. Aber darüber können wir nur froh sein.« »Ja.« Rizzio nickte nachdenklich und lächelte dann. »Wahrscheinlich ist die frappierende Ähnlichkeit mit dieser Dame wirklich nur eine Laune der Natur.« »Sicher, Senor Rizzio«, sagte Ben Brighton nachdrücklich. »Bei Kindern weiß man ja nie, was dabei rauskommt. Das ist wie bei den Hunden. Vier oder fünf Stück von einem Wurf sind struppige Bastarde, und dann ist einer dabei, dem man die gute Rasse ansieht. Ja, wie bei den Hunden ist das.« Er scharrte verlegen mit dem Fuß, als er das amüsierte Lächeln auf
Hasards Gesicht bemerkte. »Wobei ich dich natürlich nicht mit einem Hund vergleichen wollte, Hasard.« Hasard antwortete nicht, weil er wieder auf das Bild blickte. Nachdem er wußte, um was es ging, sah er es zum ersten Male mit der Aufmerksamkeit an, um die Rizzio ihn zuvor gebeten hatte. Ja, eine gewisse Ähnlichkeit ließ sich nicht abstreiten - das schmale, ovale Gesicht, der Ansatz des dunklen Haares, der Schwung der Augenbrauen, vielleicht auch die Kinn- und Mundpartie. Nur war sein Kinn breiter und energischer. Seine Lippen waren schmaler, männlicher als der feingezeichnete Mund dieser fremden Frau, seine Augen blau, und nicht braun wie die ihren. Eine gewisse Ähnlichkeit - eine verwirrende Ähnlichkeit. Hasard erinnerte sich wieder an Szenen seiner Kindheit, an die oft gehässigen Fragen von Kindern und Erwachsenen, ob er wirklich ein Killigrew wäre, ob er überhaupt Engländer sei, die hämischen Bemerkungen, wenn andere seinen hohen Wuchs, seine schlanke Figur, sein dunkles Haar mit seinen rotblonden, grobschlächtigen Brüdern verglichen, die Zweifel und die Unsicherheit, die trotz allem in ihm ausgelöst wurden, an die tastenden, unsicheren Fragen an seine Mutter, an ihre beruhigenden Antworten. Vage? Ausweichend? Mit einer heftigen, fast aggressiven Bewegung trat er von dem Gemälde zurück und wandte ihm den Rücken zu. »Wie Sie eben sagten, Senor Rizzio, eine Laune der Natur, mehr nicht.« Er blickte Rizzio in die Augen. »Und damit ist diese Angelegenheit wohl erledigt und Ihr Mißtrauen ausgeräumt, nicht wahr?« Als Rizzio schweigend nickte, fuhr er fort: »Dann können wir also endlich zur Sache kommen. Haben Sie etwas über meine Männer erfahren können?« »Ich warte noch auf genauere Informationen«, erwiderte Rizzio, »aber ich habe bereits Gewißheit, daß Ihre Männer hier sind. Einer meiner - Freunde hat das Einlaufen der ›Santa Ana‹
beobachtet und gesehen, daß englische Gefangene von Bord gebracht und in Ketten abgeführt wurden. Ich habe ihm die Beschreibungen gegeben, die ich heute morgen von Ihnen erhalten habe. Er kann sich zumindest an zwei von den Männern erinnern. Also ist es sicher ...« »An wen kann er sich erinnern?« fragte Hasard hastig. »An den Neger und an den Mann mit der Armprothese.« »Und nicht an den Jungen?« fragte Hasard besorgt. Rizzio schüttelte den Kopf. »Hoffentlich ist Dan unterwegs nichts passiert.« »Dem Kleinen passiert schon nichts«, sagte Ben Brighton beruhigend. »Mit seiner Frechheit kommt der überall durch.« »Der Mann hat natürlich nicht auf jeden einzelnen geachtet«, sagte nun auch Rizzio, der die echte Sorge Hasards um seine Männer erkannte. »Dieser riesige Neger und der Mann mit der Hakenprothese am rechten Unterarm fallen schließlich jedem auf.« Hasard nickte schweigend. Estoban Rizzio hatte recht. »Und wo sind die Männer jetzt?« fragte er. »Eben das versucht mein Mann noch herauszufinden. Bis jetzt hat er lediglich erfahren können, daß sie als Sklaven auf einer der Galeeren sind, die Fracht von den Schiffen auf der Reede nach Sevilla befördern. Aber er weiß noch nicht, auf welcher Galeere.« »Dann müssen wir eben suchen«, sagte Hasard entschlossen. »Das kann doch nicht so schwer sein.« »Senor«, sagte Rizzio lächelnd, »Sie sind anscheinend nicht informiert, welche Warenmengen in Sevilla umgeschlagen werden. Es gibt an die zweihundert Galeeren. Es wäre ein fast unglaublicher Zufall, wenn Sie die entdeckten, auf der sich Ihre Männer befinden.« »Also warten«, sagte Hasard enttäuscht. »Sicher nicht sehr lange«, meinte Estoban Rizzio. »Schauen Sie jeden Tag einmal herein. Wahrscheinlich kann ich Ihnen
sehr bald sagen, wo Sie Ihre Männer finden.«
6. Als Hasard und Ben Brighton wieder auf die Straße der Engel hinaustraten, waren die meisten Häuser schon dunkel. »Merkwürdig, das mit dem Bild«, sagte Ben Brighton und blickte Hasard forschend an. Vielleicht würde er ihm jetzt, ohne Zeugen, sagen, ob er nicht doch in irgendeiner Beziehung zu dieser Frau stand, und warum er die auffallende Ähnlichkeit abgestritten hatte. »Ja, merkwürdig«, sagte Hasard knapp. Auch ihm ging dieses Bild nicht aus dem Kopf. Irgend etwas sagte ihm, daß mehr dahintersteckte als eine zufällige Ähnlichkeit, und dieses Gemälde vielleicht doch eine persönliche Bedeutung für ihn hatte. »Da ist er wieder«, unterbrach er plötzlich seine Gedanken und griff nach Bens Arm. Der Mann, der Rizzios Laden verlassen hatte, ging ihnen auf der anderen Straßenseite entgegen, augenscheinlich auf dem Rückweg zu Rizzio. Wieder schlich er in der gleichen, vornübergeneigten Haltung, die Schultern hochgezogen, den Kopf gesenkt. »Ist das der Mann, den du beobachtet hast?« fragte Hasard leise und blieb stehen. Ben Brighton schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, der andere hatte einen Bart.« »Den kann man nicht sehen, wenn er das Kinn so an die Brust drückt.« »Der andere war größer, kräftiger. Der da drüben ist doch nur eine halbe Portion.« Der Mann hatte einen seiner scheuen, ängstlichen Blicke vorausgeworfen und sie entdeckt. Er blieb stehen, drückte sich
tief in den Schatten der Hauswand und schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Hasard trat auf ihn zu. Der Mann wich zurück, immer im tiefen Schatten. »Warte. Wir tun dir nichts. Wir wollen nur mit dir reden.« Der Mann stieß einen unartikulierten Schrei aus und stürzte davon. »Los, Ben.« Hasard war schon losgelaufen. Der Mann hörte die Schritte seiner Verfolger, wandte sich im Laufen um und stieß wieder den erschrockenen, fast nicht menschlich klingenden Schrei aus. »Halt! So bleib doch stehen!« Der Mann bremste seine kopflose Flucht. Aber nicht, um die beiden anderen herankommen zu lassen. In panischer Angst blickte er nach allen Seiten. Dann lief er zur anderen Straßenseite hinüber und verschwand in einer schmalen Maueröffnung. Ben Brighton wollte ihm sofort nach, doch Hasard hielt ihn zurück. »Hat keinen Sinn, Ben. Wer weiß, wo diese Passage hinführt.« »Aber ich könnte doch ...« »Nein, Ben. Zu riskant. Du hast doch gehört, was Rizzio gesagt hat. Einen Menschen, der sich in diesem Gewirr von Gängen und Querverbindungen auskennt, findet man niemals wieder.« Ben Brighton nickte. »Wahrscheinlich hast du recht. Der Mann ist sicher schon in irgendeiner anderen Gasse und geht auf einem anderen Weg zu Rizzios Laden zurück.« »Ganz bestimmt. Und dort werden wir ihn abfangen.« Sie gingen rasch den Weg zurück, den sie gekommen waren. Auf den Hausdächern schrien sich ein paar Katzen an, und Hasard fluchte leise, als er in einen Haufen Unrat trat. »Er hat noch Licht«, sagte Ben Brighton leise, als sie sich
dem Haus Rizzios näherten. »Warte.« Hasard blieb stehen. »Wir müssen uns irgendwo verstecken. Der Kerl ist jetzt gewarnt und wird verdammt vorsichtig sein.« »Hier, in diesem Hauseingang«, sagte Ben Brighton. »Da können wir die Tür im Auge behalten.« Hasard zog ihn weiter. »Wir wissen nicht, aus welcher Richtung er kommt. Wir müssen genau gegenüber von Rizzios Laden etwas finden.« Sie fanden etwas, einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern, der sich irgendwo im Dunkel verlor. »Hier ist der andere vorhin untergetaucht«, sagte Ben Brighton leise, als sie sich in den tiefen Schatten drückten. Die Tür des Geschäfts von Estoban Rizzio lag genau gegenüber. Sie konnten nach beiden Seiten ein Stück der Straße überblicken. »Der Mann mit dem Bart?« fragte Hasard. »Ja, der mit dem Bart«, bestätigte Ben Brighton. Hasard wandte den Kopf und blickte in den schmalen Gang. Aber es war so stockdunkel, daß er nichts erkennen konnte. Nicht einmal das Ende der Passage zeichnete sich ab. Eine Weile schauten sie schweigend zu Rizzios Laden hinüber. Das Licht brannte immer noch. Hasard drehte sich um und versuchte in dem dunklen Gang etwas zu erkennen. »Mir ist nicht wohl, wenn ich nicht weiß, was hinter mir ist«, sagte er leise, fast entschuldigend. »Geht mir genau so. Ich werde mal nachsehen.« Ben Brighton verschwand lautlos im Dunkel. Hasard mußte seine Aufmerksamkeit jetzt teilen. Die Augen überwachten Ladentür und Straße, seine Ohren lauschten auf irgendwelche Geräusche aus dem Dunkel hinter ihm. Aber es war weder etwas zu sehen noch zu hören. Jedenfalls nichts Wesentliches. Eine fette Ratte huschte aus einem der gegenüberliegenden Häuser, flitzte von einem Dreckhaufen
zum anderen, um zu sehen, ob Verwertbares dabei war, und verschwand wieder. Aus einer Taverne schräg gegenüber drangen hin und wieder Gesprächsfetzen und lautes, betrunkenes Lachen. Dann sah Hasard, wie ein Mann von zwei anderen zur Tür geschleppt und mit einem kräftigen Schwung auf die Straße befördert wurde. Er blieb eine Weile liegen, dann rappelte er sich mühsam auf und torkelte die Straße entlang. Hasard grinste amüsiert. Der hatte ganz schön geladen. Sein Grinsen erlosch, als der Betrunkene auf das Haus von Estoban Rizzio zutaumelte und direkt vor der Tür wieder zusammenbrach. War das der Mann, auf den sie warteten? Spielte er nur Theater, um unangefochten in Rizzios Haus zu gelangen? Hasard drückte sich von der Wand ab und blickte zu dem Mann hinüber, der dort reglos im Straßendreck lag. Er hatte sich den Mann dummerweise nicht sehr genau angesehen und nicht auf seine Haltung sowie seine Figur geachtet. Sollte er hinüberlaufen und ihn stellen? Aber wenn er nicht der war, den sie suchten, sondern wirklich nur ein harmloser Betrunkener, war der andere gewarnt und würde sich heute nicht mehr blicken lassen. Hasard war sicher, daß er irgendwo im Dunkeln lauerte, um sicher zu sein, daß die Luft wirklich rein war. Der Mann auf der Straße stöhnte und richtete sich auf. Auf allen vieren hockte er vor der Tür zu Rizzios Laden, schüttelte den Kopf, als wenn er seine Benommenheit verjagen wollte, und starrte dann auf den Lichtschein, der aus Rizzios Laden fiel. In dieser Stellung konnte Hasard nicht erkennen, ob seine Figur so hager, fast schmächtig war wie die des Mannes, der vor ihnen geflohen war. Angespannt, mit zusammengekniffenen Lidern, blickte er zu ihm hinüber und wartete auf seine nächste Bewegung.
Er hörte ein leises Geräusch aus der Passage - wie ein halb erstickter Ruf aus weiter Ferne. Er fuhr herum und starrte in das Dunkel. Wieder ertönte ein entferntes Geräusch - ein Klirren wie von Waffen. Hasard warf noch einen raschen Blick zur Straße. Der Betrunkene mühte sich, auf die Beine zu kommen. Dabei taumelte er immer weiter auf die Tür von Rizzios Laden zu. Ben Brighton war wichtiger. Hasard lief durch die enge Passage, stolperte über irgendwelche Sachen, die ihm im Weg lagen, und hetzte weiter, ohne sein Tempo zu verlangsamen. Nach dreißig oder vierzig Yards teilte sich der enge Gang. Hasard blieb stehen und lauschte. Nichts. Doch! Aus dem Gang,.der nach rechts abzweigte, drangen leise Stimmen. Hasard lief weiter, jetzt etwas langsamer und vorsichtiger. Die Stimmen wurden lauter, deutlicher. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber sie sprachen spanisch und klangen erregt. Irgendwo krachte ein Fenster auf, und eine schrille Frauenstimme begann zu keifen. Wieder hörte er die erregten Stimmen und auch das metallische Klirren. Er hetzte weiter, um eine scharfe Biegung des Ganges, der kurz dahinter plötzlich zu Ende war und auf ein Kanalufer führte. Mit dem Rücken zum Ufer stand Ben Brighton. Das Klirren stammte von der spanischen Hellebarde, mit der er die Angriffe von zwei Männern abwehrte, die Brustpanzer und Helme trugen. Die Hellebarde hatte Ben dem einen Mann wohl entrissen. Der andere hatte seine noch. Hasard sah, daß er nicht sofort einzugreifen brauchte. Gute Taktik von Ben, dachte er. Mit dem Rücken zum Wasser des Kanals lag es in seiner Hand, den Kampf jederzeit abzubrechen, wenn es brenzlig wurde. Er brauchte sich nur rückwärts ins Wasser fallen zu lassen. Die beiden Dons würden
ihm auf keinen Fall nachspringen. Die Brustpanzer waren für Schwimmer ungeeignet. Der Spanier, dem Ben die Hellebarde abgenommen hatte, drosch besonders wütend auf ihn ein. Der andere schien nur mäßig interessiert. Immerhin hatte er noch seine Hellebarde, und die war für Ben gefährlicher als der Säbel des anderen mit seiner kürzeren Reichweite. Die beiden Dons waren so mit Ben Brighton beschäftigt, daß sie nicht merkten, wie Hasard von hinten auf sie zuschlich. Ben Brightons amüsiertes Grinsen hielten sie anscheinend für Frechheit. Hasard trat dicht hinter den Mann mit der Hellebarde und tippte ihm auf die Schulter. Der Mann fuhr herum. Hasard hob nur den linken Arm, klemmte damit den Holzschaft der Hellebarde fest und schlug mit der Rechten dem Mann einen saftigen Haken in den Spitzbart. Es dröhnte, als der Don mit dem Panzer auf das Pflaster knallte. Eine knappe Sekunde später dröhnte es noch einmal. Ben Brighton hatte dem anderen Spanier den Schaft der Hellebarde ins Genick geschlagen, genau zwischen Helmrand und Panzer. »Es kracht so schön, wenn die zu Boden gehen, wie?« sagte er grinsend und hob den Säbel des Mannes auf. »Man fühlt sich doch gleich viel wohler, wenn man wieder eine Waffe hat.« Er wollte sich den Säbel in den Gürtel stecken. »Bediene dich doch auch, solange der Vorrat reicht.« »Was willst du denn mit dem Säbel, Ben?« Hasard schüttelte den Kopf. »Viel zu unhandlich und auffällig.« Ben zuckte bedauernd mit den Schultern, zog den Säbel wieder aus dem Hosenbund und drapierte ihn dem Spanier auf die Brust. »Nicht mal brauchbare Waffen habe diese Dons«, sagte er verächtlich.
»Was war eigentlich los?« fragte Hasard und überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß die beiden Spanier noch weggetreten waren. »Och, das war so ...«, begann Ben Brighton in seiner etwas umständlichen Art. »Erzähl es mir unterwegs. Wir müssen zu Rizzios Laden zurück.« Sie tauchten wieder in den schmalen Gang und gingen rasch in Richtung Callè de los Angeles. »Also, wie war das mit den beiden Spaniern?« fragte Hasard. »Also, ich bin den Gang entlang, um zu sehen, ob da vielleicht jemand lauert.« »Ja, ja, das weiß ich doch.« »Und wie ich um die Biegung gehe, bin ich plötzlich auf dieser kleinen Plaza, und da stehen auch die beiden Dons.« »Und dann?« »Ja, da waren die Dons ziemlich neugierig. Sie wollten wissen, was ich denn so treibe, mitten in der Nacht. Und wie ich ihnen sage, daß ein freier Bürger doch wohl mal Spazierengehen darf, fragt der eine - das war der, dem ich dann seinen Spieß abgenommen habe -, also der fragt mich, wovon ich denn ein Bürger sei, weil er wohl gemerkt hat, daß mein Spanisch nicht ganz astrein ist. Ja, und so kam es dann zu einer längeren Unterhaltung darüber.« Hasard grinste. Typisch Ben Brighton. Das Reden war nicht seine Stärke, schon gar nicht, wenn er von sich selbst sprechen mußte. »Hast du ihnen nicht gesagt, daß du Italiener bist?« fragte Hasard, als sie kurz vor dem Ende der engen Passage waren. »Nein. Außerdem wäre es auch nicht klug gewesen. Die beiden erstatten bestimmt Meldung, und dann suchen sie in der ganzen Stadt nach zwei Italienern.« Sie erreichten das Ende des Ganges und blieben stehen. Hasard blickte zum Haus Rizzios hinüber. Der Betrunkene war
verschwunden. Das Haus war dunkel. Er nickte enttäuscht. Aber er hatte es eigentlich erwartet. »Schluß der Vorstellung, Ben«, sagte er. Wir treten den Rückmarsch an.« Sie schwiegen eine Weile, als sie die Straße der Engel hinuntergingen. Sie war jetzt völlig dunkel und menschenleer. Ihre Schritte hallten unnatürlich laut durch die Nacht. Bei jedem Schritt hörten sie leise Geräusche, vor sich, dann rechts voraus, dann links. Sie waren ziemlich sicher, daß es nur irgendwelche Tiere waren, Katzen, Ratten oder was nachts hier sonst noch herumstreunen mochte, aber in dieser fremden, feindlichen Umgebung wirkten sie beunruhigend und bedrückend. »Wir hätten doch die Säbel mitnehmen sollen«, sagte Ben Brighton leise. »Wenigstens für den Rückweg.« »Vielleicht.« Auch Hasard wäre wohler gewesen, wenn er jetzt eine Waffe bei sich gehabt hätte, und wenn es nur ein Küchenmesser wäre. »Wir werden uns Waffen besorgen, Ben. Aber solche, die man unauffällig tragen kann. Morgen vormittag kaufen wir uns entsprechende Waffen.« »Kaufen?« Ben Brighton blieb vor Überraschung stehen. »Waffen kaufen? Du meinst für gutes Geld?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist doch Verschwendung, fast eine Todsünde! Überall gibt es Waffen, die wir uns nur unter den Nagel zu reißen brauchen.« »Wir werden sie kaufen, verstanden?« Ben Brighton antwortete nicht. Zum ersten Male in seinem Leben hörte er, daß jemand eine Waffe kaufen wollte. Eine Waffe wurde erbeutet, einem besiegten Feind abgenommen, etwas anderes kannte er nicht. Hasards Worte hatten ihn so erschüttert, daß er bis zum Ende der Callè de los Angeles nichts mehr sagte. Er schwieg auch noch, als sie in die Straße abgebogen waren, die zum Fischmarkt führte. Sie war kaum breiter als die Straße
der Engel und auch nicht sauberer. Aber hier brannten wenigstens, wenn auch in recht großen Abständen, ein paar ölfunzeln an den Hauswänden, die trübes, flackerndes Licht verbreiteten. Hasard war das Schweigen Bens nur recht. Dieser Abend hatte ihm so viel Überraschendes geboten, so viele Fragen aufgeworfen, auf die er keine Antwort fand, daß es ihm wohl tat, für eine Weile mit seinen Gedanken allein gelassen zu sein. Aber die Ruhe sollte nicht lange dauern. »Ein Mann«, sagte Ben plötzlich leise. »Links hinter uns.« Jetzt hörte Hasard auch die Schritte. Als er sich kurz umwandte, sah er einen Mann auf der anderen Straßenseite im Lichtkreis einer ölf unzel. »Wahrscheinlich nur jemand, der auch nach Hause will«, sagte er, obwohl er selbst nicht recht daran glaubte. Um diese Stunde - es mußte lange nach Mitternacht sein - war Sevilla so gut wie ausgestorben. Der Mann ging rasch und zielstrebig auf die Straßenmitte zu. »Der meint uns«, sagte Ben Brighton. »Abwarten.« Wer war der Mann? Oder, vielmehr, was war er? Ein Polizist, ein Mann der Casa, einer der vielen Schnüffler und Spitzel, von denen es in Sevilla wimmelte? Oder nur ein Bandit, der es auf ihre Geldbeutel und ihre elegante, italienische Kleidung abgesehen hatte? »Wahrscheinlich ein Bandit«, sagte jetzt Ben Brighton. »Dann ist er aber nicht allein.« Hasard wußte, daß dieses feige Gesindel nur angriff, wenn es in der Überzahl war. Niemals würde sich ein einzelner Mann mit zwei Männern anlegen, zumal er nicht wissen konnte, ob sie unbewaffnet waren. »Stimmt. Ich kenne die Taktik dieser Burschen von früher her. Die anderen warten irgendwo vorn. Den hinter uns kannst du vergessen. Der ist nur zum Einschüchtern da. Hast du
bemerkt, daß er sich keine Mühe gibt, den Lichtkreis der Lampen zu vermeiden? Er will gesehen werden. Wir sollen seine Schritte hören und merken, daß er langsam immer näher rückt. Er will uns entnerven, damit wir schon fertig sind, wenn uns die anderen plötzlich in den Weg treten. Wahrscheinlich da vorn zwischen den beiden Kreuzungen.« Hasard nickte. Kreuzungen war natürlich ziemlich übertrieben. Es waren Einmündungen von Gassen, in denen bestenfalls ein Eselskarren Platz fand. Der Mann war immer näher gekommen, und ging jetzt auf der Straßenmitte, schräg hinter ihnen. »Je näher er ist, desto besser«, sagte Ben Brighton leise. »Was hast du vor?« fragte Hasard ebenso leise. Ben lachte verhalten. »Wir werden genau das tun, was sie nicht erwarten.« »Und das wäre?« »Der Trick bei diesem Geschäft ist doch, die Opfer so einzuschüchtern, daß sie die Nerven verlieren. Sie sind so auf den Kerl konzentriert, der ihnen auf den Fersen ist, daß sie völlig konsterniert sind, wenn plötzlich die anderen vor ihnen auftauchen. Sie wagen nicht, zurückzuweichen, weil sie auf den Kerl hinter sich fixiert sind.« »Also werden wir zurückweichen, meinst du?« »Wir werden nicht nur zurückweichen, wir werden zurücklaufen wie aufgescheuchte Hasen. Die sollen denken, daß wir uns vor Angst in die Hose machen.« »Damit sie im Schweinsgalopp um die nächste Ecke rasen, hinter der wir verschwunden sind. Und dort stehen wir und nehmen sie in Empfang. War es so gemeint?« Ben Brighton grinste. »Genau so.« Er streckte genüßlich seine kräftigen Finger und ballte dann die Hände zu Fäusten. »Dies ist die Ecke, nehme ich an. Wie geschaffen für unsere Zwecke.«
Das war sie wirklich, stellte Hasard mit einem Blick fest. Eine schmale Gasse, knapp zwei Schritte breit und stockdunkel. Auf dem ungepflasterten Boden lag bestimmt viel Zeug herum, auf dem man leicht ausrutschen konnte. Der Mann war noch näher gekommen. Er war jetzt nur noch zehn, fünfzehn Schritte hinter ihnen, und fast auf ihrer Seite der Straße. »Den lassen wir ruhig links liegen«, flüsterte Ben Brighton. »Der Treiber ist immer der schwächste der Bande. Meistens hat er nicht mal eine Waffe. Braucht er ja auch nicht, weil er im Notfall immer ... Achtung, jetzt geht’s los!« Bens Erfahrung hatte ihn die Taktik der Banditen richtig einschätzen lassen. Knapp zehn Yards voraus tauchten sie plötzlich aus den Schatten und Türnischen zu beiden Seiten der Straße auf und versperrte ihnen den Weg. Der Seewolf und Ben Brighton blieben wie überrascht stehen, unsicher, angstvoll - die normale Reaktion unerfahrener, harmloser Bürger, die sich plötzlich einer solchen massiven Bedrohung ausgesetzt sehen. Der Mann hinter ihnen war stehengeblieben. Die anderen, es waren drei Männer, rissen Messer aus ihren Gürteln und rückten auf sie zu, langsam, selbstsicher, grinsend. »Hört auf zu zittern, wir wollen ja nur euer Scheißgeld«, sagte der in der Mitte und lachte amüsiert. »Los!« flüsterte Hasard und warf sich herum. Ben Brighton gelang es sogar, einen kieksenden Schreckensschrei auszustoßen, als er Hasard folgte. Der Mann, der sie verfolgt hatte, sprang ängstlich zur Seite, als die beiden an ihm vorbeiliefen. »Du machst dich aber gut als Hase«, sagte Hasard grinsend, als sie, ohne das Tempo zu verlangsamen, um die Ecke sausten und dort stoppten. Sie hörten die eiligen Schritte der Banditen. »Los, schneller, Leute! Die haben so viel Schiß, daß sie uns
am Ende noch entwischen!« Die Stimme kannten sie bereits der Mann in der Mitte. Er schien der Anführer der Bande zu sein. »Den schnappe ich mir«, sagte Ben Brighton und stellte sich in Positur. »Du nimmst, was dir geboten wird«, sagte Hasard streng und baute sich seitlich hinter Ben Brighton auf, mit so viel Abstand, daß ein Mann gerade zwischen ihnen hindurchkonnte. Und er kam auch hindurch. Es war der Anführer, der es besonders eilig hatte und den beiden anderen um zwei, drei Schritte voraus war. Wie auf Kommando stellten ihm beide Männer die Beine in den Weg, und als er darüber fiel, schlug ihm Hasard die Handkante ins Genick. Er sah sich dabei nicht einmal um, damit er sich auf die beiden anderen konzentrieren konnte, die jetzt um die Ecke schossen. Einen nahm sich Ben Brighton zur Brust. Und das wörtlich. Mit der linken Hand stieß er ihm den Messerarm nach oben, mit der anderen packte er ihn beim Hals, zog ihn an seinen breiten Brustkasten und knallte ihn ein paarmal mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Hauswand. Der Mann, der auf Hasard losging, hatte den weiteren Bogen, versuchte, seinen Lauf abzubremsen und hob das Messer. Hasard packte ihn beim Arm, riß ihn zu sich heran und brach ihm den Unterarm über seinem Knie. Der Mann schrie gellend auf, ließ das Messer fallen und preßte seinen gebrochenen Arm an die Brust. Hasard erlöste ihn mit einem Kinnhaken von seinen Schmerzen. »Bist du fertig mit deinem?« wandte er sich an Ben Brighton. »Und diese Flaschen wollen Banditen sein. So was könnte bei uns ... Ach je, da ist ja der andere !« Der Mann, der ihnen nachgegangen war und sie in die Falle getrieben hatte, schien sich immer vornehm zurückzuhalten, bis die grobe Arbeit vorbei war. Und deshalb hatte er gerade noch rechtzeitig gemerkt, daß es diesmal schiefgegangen war
und wollte sich eilig absetzen. Hasard lief ihm nach. Er war wirklich der schwächste der Bande. Hasard hatte ihn Sekunden später eingeholt. Als der Mann sah, daß er dem Riesen nicht entwischen konnte, blieb er stehen und hob schützend die Hände über den Kopf. Dabei brabbelte er mit schluchzender Stimme irgend etwas, das Hasard nicht verstehen konnte. Er gab sich auch gar keine Mühe, es zu verstehen. »So, nun komm schon. Die anderen warten auf dich.« Der Mann begann jetzt wirklich zu heulen und sträubte sich wie ein Kind, das Angst vor Strafe hat. »Mitgefangen, mitgehangen, sagt das Sprichwort.« Als der Mann das Wort »mitgehangen« hörte, wehrte er sich noch verzweifelter und begann laut zu schreien. »Halts Maul. Du weckst ja die ganze Gegend auf«, sagte Ben Brighton ärgerlich. Der Mann war so verschüchtert, daß er wirklich aufhörte zu schreien. Aber vielleicht war es auch der Anblick seiner drei Genossen, die reglos und blutend auf dem Boden lagen, was ihm die Stimme nahm. »Jetzt wollen wir mal sehen, was die Herren so alles bei sich haben«, sagte Ben Brighton und sammelte die zu Boden gefallenen Dolche ein. Dann hockte er sich neben die bewußtlosen Banditen und durchsuchte ihre Taschen. Das Ergebnis war nicht sehr befriedigend. Ein paar Kupferund Silbermünzen, das war alles. »Nicht sehr üppig«, sagte Ben. »Dann wollen wir mal feststellen, was dieser Herr alles bei sich hat.« Der Mann begann wieder zu schreien, als Ben Brighton, die drei Dolche in der rechten Hand, auf ihn zutrat. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst das Maul halten!« tadelte Ben und schlug ihm einen Kinnhaken, daß er bewußtlos zusammensackte.
»Sieh mal an, der hat auch ein Messer, und noch dazu ein richtiges Prachtstück.« Er hatte es dem Mann aus dem Gürtel gezogen und betrachtete liebevoll die lange, leicht gebogene Klinge und den ziselierten Griff. »Das wäre was für dich.« Er reichte den Dolch Hasard. »Und jetzt wollen wir noch ...« Auf der anderen Straßenseite krachte ein Fensterladen auf, und ein Mann und eine Frau begannen zweistimmig zu zetern. »Weg hier!« sagte Hasard, als sich Brighton wieder neben die bewußtlosen Banditen hockte. »Sonst wird die ganze Gegend rebellisch.« Jetzt wurden noch ein paar Fensterläden aufgestoßen, und die gestörten Schläfer zeterten im Chor über den Lärm. »Hast du nicht gehört? Was willst du denn noch!« »Ihnen die Hosen ausziehen«, sagte Ben Brighton und begann in aller Ruhe, genau das zu tun. »Aber wozu denn? Was willst du mit den dreckigen Hosen?« »Gar nichts. Die werfen wir nachher in irgendeinen Kanal. Aber ohne Hosen nehmen die sich heute nichts mehr vor«, sagte Ben grinsend. »Und was meinst du, was die von ihren Weibern zu hören kriegen, wenn sie ohne Büx zu Hause erscheinen.« Hasard lachte schallend. Die Leute zeterten immer wütender. Irgend jemand schrie nach der Polizei, und der Inhalt eines Nachtgeschirrs klatschte auf das Pflaster. Das heißt, teilweise. Den anderen Teil empfing der Anführer, der am weitesten in der Gasse lag. »So, das hätten wir«, sagte Ben Brighton gemütlich und richtete sich auf, vier Hosen zu einem Bündel zusammengeknüllt unter dem Arm. »Jetzt können wir uns zurückziehen, sonst nimmt man uns noch wegen Störung der Nachtruhe fest.« Sie gingen ziemlich eilig weiter, bis das Zetern hinter ihnen verklang. »Hier, nimm noch einen«, sagte Ben Brighton nach einer
Weile und streckte Hasard noch einen Dolch hin. »Wenn er dir nicht gefällt, können wir ja später tauschen.« Hasard steckte den zweiten Dolch links in den Gürtel und ließ den langen Schoß der Jacke darüber fallen. »Man fühlt sich doch wieder viel besser, wenn man ein paar Eisen bei sich hat, was, Ben?« sagte er grinsend. »Vor allem, wenn man sie nicht zu bezahlen braucht«, sagte Ben Brighton. »Was habe ich dir vorhin gesagt? Waffen muß man nicht kaufen. So was tut doch kein vernünftiger Mensch!«
7. Das Hotel »Espiritu Santo« lag auf einer Anhöhe im westlichen Teil der Stadt. Es war ein moderner Bau, der vor allem dem mächtigen Klerus viel zu fortschrittlich und zu perfektioniert erschien. Es war eins der höchsten Gebäude der Stadt, drei Stockwerke hoch. An sich hätte es vier Etagen haben sollen, aber dann wäre es um zwanzig Zoll höher geworden als der Turm der benachbarten Kirche »Espiritu Santo«, nach der es benannt worden war. Also mußte es bei drei Stockwerken bleiben. Was die Kirchenväter noch mehr wurmte, war der Umstand, daß es auf einem der besten und teuersten Grundstücke der immer rascher wachsenden Stadt errichtet worden war, auf dessen Besitz sich der Klerus schon fest verlassen hatte. Schließlich hatte man die alte Witwe, der das halbverfallene Haus gehörte, lange genug bekniet, sich durch ein entsprechendes Legat das ewige Seelenheil zu erkaufen. Aber dann hatte sie es doch einem Sohn hinterlassen, den man längst in der Neuen Welt verschollen geglaubt hatte. Und der hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als das Haus abzureißen und mit seinem im Land Eldorado verdienten Geld dieses moderne Hotel darauf zu errichten.
Es war um einen kleinen, atriumartigen Innenhof errichtet worden, auf dem Tische und Bänke standen und die Hotelgäste ihren Wein oder ihren Kaffee zu sich nehmen konnten. Auch das war der Kirche nicht recht. Warum konnten die Menschen ihren Wein nicht vor dem Haus trinken, wie es bei allen anderen Hotels üblich war? Was trieben sie nach Einbruch der Dunkelheit, daß sie sich auf einem ummauerten Hof versteckten? Weil dem Klerus vieles an diesem Hotel unheimlich war und immer noch die Aussicht bestand, den Eigentümer bei irgendeinem Verstoß gegen christliche Sitte und Moral zu erwischen und so das wertvolle Grundstück trotz aller Widerstände für die Kirche zu retten, wurde es ständig von Spitzeln des Klerus von Sevilla beobachtet und kontrolliert. Hasard und Ben Brighton waren an diesem Morgen die ersten Gäste in dem geräumigen Eßsaal des Hotels. Ein verschlafener Schankkellner stellte ihnen ein Frühstück auf den Tisch, das Ben Brighton als Hundefutter bezeichnete, und verzog sich dann wieder, um seinen üblichen Halbschlaf fortzusetzen, aus dem ihn die beiden Ausländer gerissen hatten. »Was trinken diese Leute denn für ein Zeug am frühen Morgen«, fluchte Ben Brighton und spuckte die dunkle Flüssigkeit aus, von der er einen vorsichtigen Schluck genommen hatte. »Das ist Kaffee«, sagte Hasard lachend. »In England ist er so teuer, daß man ihn kaum bezahlen kann. Er wird aus dem Orient importiert.« »Von mir aus können sie ihn behalten. Mein Gott, wenn ich an unseren Whisky denke, kriege ich Heimweh nach England.« Er schob den Becher zurück und dann auch den Teller. »Ich warte lieber bis Mittag. An einem richtigen Stück Fleisch können auch die Spanier nicht viel verderben.« Hasard stocherte noch eine Weile lustlos auf seinem Teller herum, dann schob auch er ihn zurück. »Du hast recht, Ben.
Ein guter Christ muß auch mal fasten.« »Wir könnten uns ja einen Wein bestellen«, schlug Ben Brighton vor. »Ich hatte etwas von Fasten gesagt. Außerdem müssen wir heute einen klaren Kopf behalten.« Er blickte sich um, und als er sah, daß sie allein waren, beugte er sich zu Ben Brighton vor und sagte leise: »Traust du eigentlich diesem Rizzio?« Ben Brighton hob die Schultern. »Wir müssen ihm wohl trauen. Er ist der einzige Mensch, den wir hier kennen.« »Ich habe nicht gefragt, ob wir ihm trauen müssen, sondern ob du ihm traust.« »Nur solange ich ihn sehen kann«, erwiderte Ben Brighton. »Zuerst hat er eigentlich einen recht guten Eindruck erweckt, aber dann folgte diese merkwürdige Geschichte mit dem Gemälde, aus der ich nicht schlau werde.« »Das ist nicht so wichtig. Ich bin sogar sicher, daß alles so ist, wie er behauptet hat. Er hat dieses Bild bei einem Freund gesehen, glaubte, daß die Frau eine gewisse Ähnlichkeit mit mir hat und ...« »Nicht nur eine gewisse Ähnlichkeit. Sie könnte deine Schwester sein. Oder eine Tante vielleicht, wenn man bedenkt, daß sie schon so lange unter der Erde ist.« »So groß finde ich die Ähnlichkeit nun auch wieder nicht«, sagte Hasard und wußte selbst nicht, warum seine Stimme so abweisend klang. »Aber es ist für einen Mann in seiner Position nur natürlich nein, es ist sogar seine Pflicht, mißtrauisch zu sein, wenn ein Mann, der sich als Engländer ausgibt, einer bestimmten Spanierin ähnlich sieht.« Er schwieg eine Weile, als er sich daran erinnerte, daß die Gören ihn als Kind oft »Zigeuner« und »Spanier« gerufen hatten. Aber nur so lange, bis er kräftig genug geworden war, um zuzuschlagen. »Wie gesagt, die Sache mit dem Bild ist für mich erledigt. Was mich stört, ist dieser Mann.«
»Welcher? Der Bärtige oder der andere, der sein Gesicht nicht sehen lassen will?« »Beide«, sagte Hasard nach kurzem Nachdenken. »Der Bärtige könnte jemand sein, der Rizzio beobachtet.« Er runzelte die Brauen. »Bei den vielen verschiedenen Spitzeln hier weiß man ja nie, warum jemand überwacht wird. Es braucht überhaupt nichts mit seiner Tätigkeit für England zu tun zu haben.« »Trotzdem sollten wir uns vorsehen. Wenn man ihn in Verdacht hat und uns bei ihm ein- und ausgehen sieht, sind wir auch mit dran.« »Richtig, Ben. Ich wollte ohnehin vorschlagen, daß wir nicht mehr zusammen zu Rizzio gehen. Dann taucht nicht immer dasselbe Gesicht dort auf, falls man ihn wirklich beobachtet, und es ist auch sicherer für den Fall, daß er doch nicht sauber sein sollte.« »Du meinst wegen dieses anderen Mannes?« Hasard nickte. »Auch für den könnte es natürlich eine ganz simple, harmlose Erklärung geben.« »Vielleicht will er nicht erkannt werden, weil er ein Agent Rizzios ist«, meinte Ben Brighton. Hasard schüttelte den Kopf. »Kein Agent benimmt sich so auffällig, Ben. Nein, da ist irgend etwas anderes im Spiel, und eben deshalb traue ich diesem Rizzio nicht.« Er stand auf. »Ich werde ihn geradeheraus fragen, was mit diesem Mann los ist. Wenn er Ausflüchte versucht, wissen wir, daß unser Mißtrauen berechtigt ist.« »Laß mich zu Rizzio gehen.« Ben Brighton war ebenfalls aufgestanden. »Nein, Ben. Das ist meine Sache.« »Hasard«, sagte Ben Brighton fast flehend. »Wenn etwas
schiefgehen sollte, dann trifft es nur mich. Du mußt unsere Männer befreien und nach England zurückbringen. Deshalb ist es deine Pflicht, keine unnötigen Risiken einzugehen.« Hasard blickte Ben Brighton eine Weile schweigend an. Nicht jeder Kapitän hat solche Männer, dachte er stolz. Und darum werde ich sie auch heraushauen, und wenn die ganze Armada gegen uns antreten sollte. »Gut, Ben. Du hast recht. Aber ich verlange, daß du dich nicht lange aufhältst. Du wirst ihn nur fragen, ob er etwas erfahren hat und sofort zurückkehren. Und du wirst kein Wort von diesem Mann sagen, den wir beobachtet haben, verstanden? Das will ich selbst mit ihm klarieren.« »Aye, aye, Sir«, sagte Ben Brighton strahlend. »Ich werde mich etwas im Hafen umsehen, während du weg bist. In zwei Stunden treffen wir uns wieder hier, in unserem Zimmer.« Hasard überlegte, ob er einen der beiden Dolche, die er gestern erbeutet hatte, einstecken sollte oder nicht, wenn er zum Hafen hinunterging. Er war sicher, daß er sich in keine Situation begeben würde, in der er eine Waffe brauchte. Aber wie oft war er schon in so eine Situation geraten, ohne daß er es gewollt hatte oder auch nur damit rechnete! »Sicher ist sicher«, murmelte er und schob einen der beiden Dolche in den Gürtel. Es war die Waffe, die Ben Brighton dem »Treiber« abgenommen hatte. Ein wirklich schönes Stück mit der leicht gekrümmten Klinge und dem ziselierten Silbergriff. Venezianische Arbeit, schätzte Hasard und fragte sich, wie dieser Waschlappen zu einer solchen Waffe gekommen war. Er ging die Treppe hinunter, durchquerte Eßsaal und Schankstube und trat auf die Straße. Das helle Sonnenlicht blendete ihn sekundenlang. Er blieb stehen, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, dann winkte er eine Droschke heran und stieg ein.
»Zum Hafen«, sagte er. Ein Mann in einem dunklen, fleckigen Anzug, der vor der Hoteltür an einem Karren lehnte, blickte der Droschke nach, bis sie verschwunden war. Dann ging er langsam ins Hotel.
Der Hafen von Sevilla war um diese Zeit, im Jahre 1577, eine der größten Warendrehscheiben der Welt, beherrscht von der Casa de Contrataciõn, die den gesamten Handel zwischen Spanien und seinen Kolonien kontrollierte. Das heißt, Handel war natürlich eine etwas irreführende Bezeichnung, genauer gesagt, wurde hier abgeladen, was Spaniens Konquistadoren und Vizekönige in der Neuen Welt raubten und erbeuteten. Neben Krone und Klerus war die Casa, wie sie kurz genannt wurde, die dritte Macht im Staat, die eigentliche Macht im Staat, wie viele behaupteten. Sie bestimmte, was ein- oder ausgeführt wurde und wer daran verdienen durfte. Natürlich wurde für jede Transaktion eine saftige Steuer erhoben, durch die die Casa ein Riesenvermögen zusammenraffen konnte, und natürlich beanspruchten auch Krone und Kirche ein Stück von dem Kuchen, aber die Geschäfte der Casa waren so vielfältig, so kompliziert und undurchsichtig, daß kein Mensch in der Lage gewesen wäre, auch nur einen Teil zu überblicken, geschweige denn zu kontrollieren. Wie ein mächtiger Krake, dessen Fangarme sich über das ganze spanische Mutterland und bis zu den spanischen Besitzungen in der Neuen Welt und in Ostasien erstreckten, hockte die Casa de Contrataciõn auf Iberien. Und hier, in Sevilla, befand sich der Kopf dieses Kraken, die Zentrale und Hauptverwaltung der allmächtigen Casa. Es sind gar nicht die Spanier, gegen die wir kämpfen, dachte Hasard, als er durch den Hafen von Sevilla schlenderte, es ist die Casa, die den gesamten Welthandel an sich reißen will, das
heißt, das Recht, andere Völker und andere Nationen auszubeuten. Es schien ihm bezeichnend, daß der sogenannte Hafen gar keiner war. An den Ufern des Quadalquivir und an den Kais von Stichkanälen lagen nur kleine Küstensegler, arabische Dhaus und Verkehrsboote. Der Hafen bestand zu fast hundert Prozent aus riesigen, langgestreckten Lagerhäusern, offenen Lagerflächen und halbgedeckten Schuppen, in denen die Beute der Casa ab- und umgeladen wurde. Umgeladen auf vierspännige Wagen, von denen Hasard über hundert in dem riesigen Gelände zählte, und die hochbeladen zu den Gewölben der Händler in der Stadt und im Inneren des Landes fuhren. An einem der Kais hatte gerade eine Galeere festgemacht. Die Ruder an der Landseite waren eingezogen. Die völlig erschöpften Rudersklaven hockten zusammengesunken auf ihren Bänken. Ein Mann mit einem zerfetzten Lendenschurz zog mit einer Segeltuchpütz dreckiges Hafenwasser herauf und kippte es auf die schwitzenden Leiber der Rudersklaven. Hasard trat an den Rand der Kaimauer, auf der eine Rotte von Männern die Säcke und Ballen in Empfang nahm, die aus dem Frachtraum der Galeere heraufgestemmt wurden. Er verzog unwillkürlich das Gesicht, als der Gestank aus dem Ruderdeck der Galeere in seine Nase drang. Selbst die abgeschundenen Esel und Pferde Spaniens lebten nicht unter so unerträglichen Bedingungen, dachte er angewidert, als er die dicken Eisenfesseln sah, mit denen die Füße der Gefangenen an die durchlaufende Kette geschmiedet waren. Bei einigen Männern waren die Fußgelenke wundgescheuert, blutverschmiert und vereitert. Einer der Sklaven hob den Kopf und starrte zu ihm hoch. Sein Gesicht hatte kaum noch etwas Menschliches und war völlig ausdruckslos. Es zeigte nicht einmal mehr Haß, Haß auf die Menschen, die frei waren und für deren Habgier er schuften mußte. Der Blick des Mannes war stumpf, fast leblos, als wenn
er schon gestorben wäre. Und wahrscheinlich war er das auch. Nur der Körper funktionierte noch. »Diese Hunde!« murmelte Hasard und fühlte eine heiße Wut in sich emporsteigen, als er daran dachte, daß auch seine Männer seit Monaten unter so unmenschlichen Bedingungen vegetierten. Er sah sie vor sich, mit grauen, eingefallenen Gesichtern, fast zu Skeletten abgemagert, die Rücken voller blutiger Peitschenstriemen - den kleinen, frechen Dan O’Flynn - den Riesen Batuti, den ernsten, nachdenklichen Al Conroy, Ferris Tucker, den immer zuverlässigen Schiffszimmermann. »Haben Sie Geschäfte hier, Senor?« sagte eine Stimme hinter ihm, und etwas Hartes, Scharfes berührte ihn am Rücken. Hasard fuhr herum und schlug die Hellebarde zur Seite, mit der einer der beiden Soldaten oder Polizisten, oder was diese Männer in Helm und Brustpanzer sonst sein mochten, ihn angestoßen hatte. Es war nur eine harmlose, fast freundschaftliche Geste gewesen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, nach Art des Hauses sozusagen, nach Art der Casa. Aber in seinem jetzigen Zustand schürte diese arrogante, überhebliche Geste seine Wut noch mehr, und unwillkürlich riß er den Schoß seiner Jacke zur Seite, um nach dem Dolch zu greifen. In letzter Sekunde konnte er sich beherrschen, aber es kostete ihn seine ganze Willenskraft, seine Wut auf die Casa nicht an diesen beiden Lohndienern der Gesellschaft auszulassen. »Ich bin italienischer Kaufmann und suche nach einer Warensendung, die ich herschicken ließ«, sagte er und zwang sich, kühl und sachlich zu sprechen. »Italiener, he?« fragte einer der beiden mißtrauisch. »Genuese«, sagte Hasard und zog die Briefe aus der Brusttasche, die Francis Drake und der professore ihnen für solche Zwecke mitgegeben hatten. Der Mißtrauische nahm sie, drehte sie ein paarmal in den Händen und runzelte die Stirn. Der andere blickte ihm
neugierig über die Schulter. »Was soll ich damit?« sagte der Mißtrauische gereizt. »Glauben Sie etwa, ich kann lesen?« Er starrte wieder auf die engbeschriebenen Bögen. »Kommen Sie mit. Der Capitan soll entscheiden, was wir mit Ihnen machen. Der kann lesen, glaube ich.« Hasard überlegte blitzschnell. Sollte er es darauf ankommen lassen, die beiden zusammenzuschlagen, oder hatte er eine bessere Chance, sich bei ihrem Capitan irgendwie herauszureden? »Laß ihn laufen, Pepe«, sagte jetzt der andere Mann. »Du siehst doch, er hat einen teuren Anzug an, und die Briefe sehen echt aus. Der eine hat sogar ein Siegel. Der Senor ist bestimmt nur ein Kaufmann, der seine Ware sucht. Es geht ja so viel verloren hier.« Er lächelte sogar. Der Mißtrauische zögerte noch. Mit gerunzelten Brauen blickte er zwischen Hasard und den Papieren hin und her. »Vielleicht hat der Senor sogar Beziehungen oben in der Casa, und wir kriegen eine Menge Ärger«, sagte der andere wieder. Das schien das richtige Argument zu sein. Wortlos streckte der Mißtrauische Hasard die beiden Briefe hin, warf ihm noch einen letzten, ärgerlichen Blick zu und wandte sich dann brüsk ab. Aufatmend steckte Hasard die beiden Briefe wieder ein. Das hätte leicht schiefgehen können, dachte er und ging rasch weiter. Er hatte es jetzt sehr eilig, den Hafen zu verlassen.
Vieles wäre anders gekommen, wenn Ben Brighton das Frühstück an diesem Morgen nicht so ungenießbar gefunden hätte. So aber verspürte er einen mordsmäßigen Hunger, als er den
Besuch bei Estoban Rizzio hinter sich hatte und zum Hotel zurückging. Es war schneller gegangen, als er angenommen hatte. In der Callè de los Angeles hatte er ein paar Minuten gewartet und den Laden von Senor Rizzio beobachtet. Erst als er sicher gewesen war, daß sich keiner der beiden Männer, die sie gestern bemerkt hatten, weder der Bärtige, noch der andere, der sein Gesicht versteckte, in der Nähe befand, hatte er den Laden betreten. »Noch nichts Neues«, hatte ihm Rizzio gesagt. »Kommen Sie morgen wieder vorbei.« Rizzio war ihm kühl, fast abweisend erschienen, und auch Ben Brighton hatte keinen Grund zu einem weiteren Gespräch gesehen und war sofort wieder gegangen. Er hielt es für sicherer, nicht denselben Weg zu nehmen wie in der vergangenen Nacht. Vielleicht würden die Banditen, mit entsprechender Verstärkung diesmal, auf der Lauer liegen, um die Schlappe der Nacht auszuwetzen. Er zweifelte nicht daran, daß sie ihn wiedererkennen würden. In dieser miesen Gegend traf man nur selten Menschen, die einen guten, neuen Anzug trugen. Vor einer kleinen Cantina schrieb der Wirt gerade mit Kreide das Tagesgericht auf die Tafel. Chili con carne, las Ben Brighton, und schon bei dem Gedanken an eine Schüssel von diesem köstlichen Gericht lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er blieb zögernd stehen. Sein Gewissen lieferte eine schwere Abwehrschlacht gegen seinen Hunger. Der Hunger siegte, und Ben Brighton betrat die Cantina. »Chili con carne«, sagte er zu dem schwindsüchtig wirkenden Wirt. »Und beeilen Sie sich.« »Sagen Sie dem Feuer, es soll sich beeilen, aber nicht mir.« Der Mann musterte ihn von oben bis unten. Er hatte kleine, stechende Augen, die. eng beeinander am Nasenrücken saßen.
»Ich kann Ihnen ja solange einen Wein bringen.« Er hatte seine Musterung beendet und erkannt, daß dieser Senor Geld in der Tasche hatte. Wieder spielte sich in Bens Gewissen ein kurzer Kampf ab. Aber weil er meinte, noch eine Menge Zeit zu haben, siegte der Hunger zum zweiten Mal. Er setzte sich an einen rohen Tisch, und der Schwindsüchtige stellte einen Krug Wein vor ihn hin. Auf dem Tisch stand ein kleiner Holzteller mit winzigen Stücken Dörrfisch. Oliven und anderen Dingen, die so gut wie nichts kosteten. Zwei dicke Schmeißfliegen krochen über die unappetitlichen Brocken, und Ben Brighton schob den Teller angewidert weiter von sich fort. Am Nachbartisch saß ein blasser, hagerer Junge, und Ben sah, wie er gierig auf den Holzteller starrte. Der Teller auf seinem Tisch war leer. Ben Brighton musterte den Jungen, der seinen Wein schal werden ließ und hungrig auf das ekelhafte Zeug auf Bens Holzteller schaute. Er trug Kleider, die einmal gut gewesen waren und jetzt mit Flicken besetzt und vom vielen Waschen ausgeblichen waren. Er hatte keine Schuhe an den Füßen, das Haar war schulterlang geschnitten, er hatte Hunger in den Augen und war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt. »Wollen Sie das?« fragte Ben Brighton und deutete auf das Zeug auf seinem Holzteller. Die beiden Schmeißfliegen hatten sich inzwischen verzogen, aber appetitlicher war es deshalb trotzdem nicht geworden. »O ja, danke, Senor.« Der Junge sprang auf, griff sich den Teller und begann sofort, das ekelhafte Zeug in sich hineinzustopfen. Der ausgemergelte Wirt starrte ihn verärgert an. Vielleicht war es nicht die Schwindsucht, überlegte Ben Brighton, sondern irgendein Magenleiden. Oder aber er war so habgierig, daß er sich nicht einmal selbst ein richtiges Essen gönnte.
Jetzt trat er an den Tisch des Jungen, deutete auf dessen halbleeren Weinbecher und fragte: »Noch einen?« Der Junge, der gerade den Mund voller Dörrfischstücken hatte, schüttelte den Kopf. Der dürre Wirte blickte ihn böse an. »Du bist mir schon öfter aufgefallen, Bursche. Du erscheinst hier, bestellst dir ein Glas vom billigsten Wein und frißt mir das ganze Lokal leer.« Der Junge zog schuldbewußt den Kopf ein und blickte den Dürren flehend an. »Also, was ist, willst du noch einen Wein, oder soll ich dich auf die Straße werfen!« Das Gesicht des Jungen wurde noch blasser. Ben Brighton sah, wie seine Hände zitterten. Er konnte sich sehr gut vorstellen, was in dem Jungen vorging. Er fühlte sich gedemütigt und verhöhnt, und er hatte noch immer Hunger. Am liebsten hätte er sicher dem Wirt den ganzen Dreck auf dem Holzteller ins Gesicht gekippt. Aber er hatte nicht den Mut dazu. Sein Kopf sank noch tiefer. »Schon gut«, murmelte er, »ich gehe ja schon.« »Darf ich Sie zu einem Glas einladen, Senor?« sagte Ben Brighton spontan. Er hatte es noch nie mit ansehen können, wenn einem anderen Menschen Unrecht getan wurde. Er zog den Lederbeutel aus der Tasche, warf ihn auf den dreckigen Tisch und sagte: »Eine Kanne vom besten Wein, und wenn ich noch ein falsches Wort von Ihnen höre, kriegen Sie den Fraß in die Visage.« Der Dürre blies sich auf. »Was erlauben Sie sich? Sie glauben wohl, nur weil Sie Geld haben, können Sie mir vorschreiben, was ich in meiner eigenen Cantina tun und lassen darf.« »So? Kann ich das nicht?« sagte Ben Brighton gefährlich ruhig. »Soll ich es Ihnen beweisen?« Der Dürre starrte Ben Brighton wütend an. Er sah, daß an Ben mindestens doppelt soviel dran war wie an ihm selbst. Und er sah den Lederbeutel mit dem Geld auf dem Tisch.
Er senkte den Blick und schlurfte hinter seine Theke. »Ich will keinen Ärger«, sagte er und begann, einen Krug voll Wein zu zapfen. Der Junge trat ans Bens Tisch. »Ich danke Ihnen, Senor«, sagte er leise, ohne Ben anzusehen. »Aber Sie sollen wegen mir keinen Ärger haben.« »Ich tue es auch nicht wegen dir, sondern weil mir der Wirt stinkt«, sagte Ben. »Und nun setz dich endlich hin, sonst kippst du noch um.« Der Dürre schlurfte heran und knallte den Weinkrug auf den Tisch. »He, Sie haben etwas vergessen!« rief Ben ihn zurück. »Was denn?« fragte der Dürre giftig. »Einen Becher für den Senor und noch einen Teller mit diesem Fraß.« Er wandte sich an den Jungen. »Ich verstehe gar nicht, daß dir so was schmeckte.« »Es schmeckt mir auch nicht«, sagte der Junge. »Aber was soll ich tun?« »Keine Arbeit?« Ben blickte auf die Hände des Jungen. Sie waren schlank, feingliedrig, gepflegt, ohne Schwielen. »Student«, sagte der Junge. »Ich will Arzt werden.« Er lächelte. »Ich heiße Angelo, Angelo Brosio.« Der Wirt stellte den zweiten Becher und einen Holzteller mit dem »Fraß« auf den Tisch. Es war eine Miniportion, sah Ben Brighton. »Guten Appetit«, sagte er, als der Junge sofort wieder zulangte, und war froh, so der Notwendigkeit enthoben zu sein, auch seinen Namen nennen zu müssen. Er warf ein Silberstück auf den Tisch und schob den Beutel wieder in die Tasche. »Das Chili können Sie vergessen«, sagte er. »Mir ist der Appetit vergangen.« Der Dürre zog sich zurück und murmelte etwas vor sich hin. »Haben Sie etwas zu sagen?« rief Ben ihm nach. Der Dürre starrte ihn wütend an, dann ging sein Blick zur
offenen Tür. Ben wandte den Kopf und sah auf der anderen Straßenseite zwei Soldaten mit Hellebarden. Der Rattenblick des Dürren huschte spekulierend zwischen Ben, der Tür und den beiden Soldaten hin und her. »Na los, hol sie schon herein!« Ben wußte, daß ihn jetzt nur ein harter Bluff retten konnte. »Aber bis du bei der Tür bist, nehme ich dich gründlich auseinander. Na? Auf was wartest du noch?« Der Dürre senkte den Blick und tauchte wieder hinter seiner Theke unter. Ben kippte seinen Wein und verfluchte sich, daß er sich auf diese Sache eingelassen hatte. Es wurde höchste Zeit, ins Hotel zurückzugehen. Aber jetzt mußte er so lange hier sitzen bleiben, bis die beiden Kerle mit den Hellebarden ein Stück weiter weg waren. Er blickte zur Theke. Der Dürre war verschwunden! Ben Brighton sprang auf und lief auf die Straße. »Da ist er!« Der Dürre deutete mit ausgestreckter Hand auf ihn. Die beiden Soldaten liefen auf ihn zu. Ben Brighton spurtete los. »Halt! Stehenbleiben! Im Namen des Königs!« Ein Bettler, der am Straßenrand hockte, hakte ihm seine Krücke zwischen die Beine, und Ben stürzte in den Dreck. Als er aufsprang, griff plötzlich eine Hand nach seinem Arm. »Hier entlang, Senor.« Der Junge Angelo zog ihn in eine Haustür. Sie liefen die enge Stiege hinauf. »Schnell«, drängte Angelo, als von unten polternde, schwere Schritte ertönten, und stieß eine Tür auf. Ben Brighton wußte später nicht mehr, über wie viele Treppen, Gänge und Leitern der Weg geführt hatte, bis Angelo vor einer Kellertür stehenblieb, lauschte und zufrieden nickte, als alles ruhig blieb. Er stieß die Tür auf, schob Ben Brighton in einen engen, feuchten Kellerraum und sagte: »Riegeln Sie die Tür hinter sich zu, Senor. Ich sehe mich draußen um.« Ben Brighton schob den Riegel vor und lehnte sich an die
Wand. Zum Sitzen gab es nichts in diesem lichtlosen Raum, auf dem Boden ein Strohsack, in einer Ecke eine alte Kiste, auf der ein paar Bücher lagen, das war alles. Wahrscheinlich die Wohnung des Studenten Angelo, überlegte Ben. Ein paar Minuten später klopfte es leise an die Tür. »Ich bin es, Angelo.« Ben Brighton schob den Riegel zurück und blickte hinaus. Angelo war allein. »Kommen Sie, die Luft ist rein«, sagte er leise. Der Weg war diesmal kürzer und weniger kompliziert, eine Stiege hinauf, über einen engen Hof und einen Hausflur auf die Straße. »Wo sind wir hier?« fragte Ben Brighton und sah sich um. »Callè die barbiere«, sagte Angelo. »Merken Sie sich den Fischhändler schräg gegenüber, wenn Sie mich suchen. Vielleicht brauchen Sie mich einmal, Senor.« Ben Brighton schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht, Angelo.« Der junge lächelte. »So etwas weiß man nie, Senor.«
8. Hasard ging nervös im Zimmer hin und her, vom Bett zum Fenster und zurück zum Bett. Wo dieser verdammte Ben so lange blieb? Er hatte ihm doch ausdrücklich gesagt, er solle in zwei Stunden hier sein. Hasard ging wieder zum Fenster, blieb dort stehen und starrte hinaus. Wenn er sich ein wenig vorbeugte, konnte er das Zifferblatt der Kirchturmuhr von »Espiritu Santo« sehen. Fast halb zehn. Und um neun Uhr sollte Ben wieder zurück sein. Hasard überlegte, wie lange Ben für den Hin- und Rückweg brauchen würde, wie lange für das Gespräch mit Rizzio. Er hätte längst zurück sein müssen.
Vielleicht war Rizzio nicht in seinem Haus und Ben mußte warten, überlegte er. Na schön, aber wie er Ben kannte, würde der höchstens eine halbe Stunde warten und dann zurückkehren. Wahrscheinlich ist er irgendwo unterwegs hängengeblieben, dachte er. Er kannte Bens Schwäche für gutes Essen und guten Wein, besonders, wenn er hungrig war, und heute hatte er kein Frühstück gehabt. Na, dem würde er etwas erzählen, nahm Hasard sich vor. Aber als Ben eine Viertelstunde später noch immer nicht zurück war, verwandelte sich Hasards Wut in echte Sorge um ihn. Bei einem Glas Wein konnte Ben schon einmal die Zeit vergessen und sich etwas verspäten. Aber nicht um eine ganze Stunde. Nein, es war ihm etwas passiert, dachte Hasard. Also war sein Mißtrauen gegen diesen Rizzio doch berechtigt gewesen. Er war jetzt sicher, daß Rizzio für Bens Verschwinden verantwortlich war. Er steckte den ziselierten Dolch in den Gürtel, schloß die Knöpfe der Jacke und verließ das Zimmer. Er war jetzt so in Eile, daß er nicht einen Blick nach links oder rechts warf, als er auf die Straße lief. Und so bemerkte er auch nicht den Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite an der Hauswand lehnte und ihm jetzt folgte. Es war ein Mann mit einem dunklen, struppigen Bart und einem zerfetzten, verschlissenen Anzug.
In der Callè de los Angeles schien sich zu dieser Stunde die halbe Bevölkerung von Sevilla zu drängen. Straßenverkäufer schoben laut schreiend ihre Karren durch die Gasse, Frauen schleppten schwere Wasserkrüge oder Körbe mit Einkäufen nach Hause, eine Gruppe von Mönchen drängte sich durch die
Menge wie ein Krähenschwarm in ihren schwarzen Kutten. Es war unmöglich, in diesem Gewühl nach verdächtigen Gestalten zu suchen, dachte Hasard, als er schräg gegenüber von Rizzios Teppichladen stehenblieb und sich prüfend nach allen Seiten umsah. Jeder dieser Menschen konnte ein Spitzel sein, ein Geheimpolizist oder ein Häscher der Casa. Er blickte zu dem Laden hinüber. Jetzt traten Rizzio und ein anderer Mann heraus. Unwillkürlich preßte sich Hasard fester an die Hauswand, als er sah, wie Rizzio in seine Richtung blickte. Die beiden wechselten noch ein paar Worte, dann nickte der Mann Rizzio verabschiedend zu und ging in die andere Richtung. Ein Spitzel? Ein Polizist? Oder nur ein Kunde, ein Bekannter? Er würde es nicht herausfinden. Jedenfalls nicht, wenn er hier tatenlos herumstand. Er wartete, bis Estoban Rizzio wieder in seinem Laden verschwunden war, dann ging er über die Straße und betrat den langen, düsteren Raum. Rizzio war nirgends zu entdecken. Hasard blickte auf die Reihen aufgerollter Teppiche, die wie stumme Wächter an beiden Wänden aufgereiht waren. Dieses Mal rief er nicht nach Rizzio. Lautlos ging er auf die Tür des Hinterzimmers zu, blieb davor ein paar Sekunden lauschend stehen und stieß sie dann auf. Estoban Rizzio saß am Tisch über irgendwelchen Papieren. Er fuhr überrascht auf, und seine Hand griff nach dem gekrümmten Dolch, der wie immer auf seinen Papieren lag. Als er Hasard erkannte, warf er ihn zurück und stand auf. »Sie, Senor Modena?« sagte er offensichtlich befremdet. »Ich hatte Sie eigentlich erst morgen erwartet. Ihr Freund war doch vorhin ...« »Wo ist er?« fragte Hasard scharf.
»Wer?« »Mein Freund.« »Aber ich sagte doch eben, er war vorhin hier und ...« »Und wo ist er jetzt?« Rizzio blickte Hasard mit seinen scharfen, dunkelgrauen Augen an. »Verdächtigen Sie mich etwa, Ihren Freund beseitigt zu haben?« »Würde Sie das wundern?« Rizzio lächelte - es war ein bitteres Lächeln - und starrte auf die Tischplatte, auf den Dolch, der auf den Papieren lag. Es war eine schöne Waffe, sah Hasard, mit eingeätzten arabischen Schriftzeichen auf der doppelseitig geschliffenen Klinge, das Heft mit Perlmutt eingelegt. »Haben Sie einen Grund zu diesem Mißtrauen, Senor Modena?« fragte Rizzio jetzt ruhig und blickte Hasard an. »Allerdings.« »Und welchen, wenn ich fragen darf?« »Eine ganze Reihe von Gründen. Würden Sie mir ein paar Fragen beantworten, Senor Rizzio?« »Wenn ich kann, gern.« »Wann war Senor Oradini hier?« »Vor knapp zwei Stunden etwa. Er ist nur ein paar Minuten geblieben. Ich konnte ihm noch nichts sagen und habe ihn gebeten, morgen wieder vorbeizukommen.« »Und Sie sind sicher, daß er nicht mehr in diesem Haus ist?« fragte Hasard scharf und blickte Rizzio in die Augen. »Er ist gegangen, Senor Modena.« Rizzio hielt dem forschenden Blick Hasards stand. »Ist das alles, was Sie wissen wollen?« »Nein, Senor. Was ist mit den beiden Männern?« »Mit welchen Mannern?« Rizzios Verblüffung schien echt. »Wir haben gestern nacht zwei Männer beobachtet, die sich in unmittelbarer Nähe Ihres Hauses aufhielten.« Rizzio zuckte mit den Schultern. »Ich kann keinem Menschen
verbieten, sich in dieser Gegend aufzuhalten. Was waren das für Männer?« fragte er dann, doch interessiert. »Den einen hat nur mein Freund gesehen. Stämmige Figur und ein Bart, das war alles, was er erkennen konnte.« Rizzio schüttelte den Kopf. »Ich kenne zwar mehrere Männer, die einen Bart tragen, aber die würden hereinkommen und sich nicht draußen herumdrücken.« Hasard blickte ihn prüfend an, und Rizzio gab seinen Blick offen und unbefangen zurück. Er schien die Wahrheit zu sagen. »Und der zweite?« fragte Rizzio jetzt. »Hoffentlich ist die Beschreibung dieses Mannes etwas weniger vage als die erste.« »Ich fürchte, sie ist eher noch ungenauer, da dieser Mann es krampfhaft vermieden hat, sein Gesicht sehen zu lassen.« Er bemerkte, wie Rizzio zusammenzuckte. »Und bestreiten Sie bitte nicht wieder, daß Sie ihn kennen. Ich habe ihn gestern nacht Ihr Haus verlassen sehen.« Rizzio schwieg. Er hielt den Kopf gesenkt und starrte wieder auf den Dolch. Dann setzte er sich langsam auf den Stuhl. »Ja, ich kenne ihn«, sagte er leise, ohne Hasard anzusehen. »Wer ist der Mann? Warum schleicht er wie ein Dieb durch die Nacht? Warum verbirgt er sein Gesicht? Warum! Warum! Antworten Sie, Senor Rizzio!« Rizzio schüttelte den Kopf. »Das geht Sie nichts an«, sagte er leise. »Das ist eine rein private Angelegenheit, die nur mich betrifft.« »Nein, Senor Rizzio«, sagte Hasard bestimmt.» Die Situation ist zu ernst, um Rücksicht auf private Angelegenheiten und private Gefühle zu nehmen. Ich verlange Aufklärung. Wer ist dieser Mann? Warum versteckt er sein Gesicht? Und warum schützen Sie ihn?« Estoban Rizzio schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nichts dazu sagen.« »Sie wollen mir nichts dazu sagen.« Hasard fühlte eine flammende Wut in sich aufsteigen. Er
stemmte die Fäuste auf die Tischplatte, brachte sein Gesicht dicht an das von Rizzio und schrie: »Verdammt noch mal, kapieren Sie doch endlich, daß es hier um mehr geht als irgendwelche privaten Dinge! Es geht um das Leben meiner Männer! Und um das meine - vielleicht auch um das Ihre, Senor Rizzio!« Rizzio starrte schweigend zu ihm auf, und in seinem Blick lag der Ausdruck eines gepuälten Tieres. Der Anblick dämpfte Hasards Erregung, und er setzte mit ruhiger, sachlicher Stimme hinzu: »Sie müssen doch einsehen, Senor Rizzio, daß gegenseitiges Vertrauen für uns einfach lebenswichtig ist. Und im Moment vertraue ich Ihnen nicht. Ihr Mangel an Offenheit zwingt mich dazu, Sie für einen Feind zu halten.« Der Blick der dunkelgrauen Augen hielt ihn noch ein paar Sekunden länger fest, dann senkte Rizzio den Kopf und nickte. »Sie haben recht«, sagte er leise. »Aber, glauben Sie mir, Senor, es gibt Situationen, in denen es einem keine Genugtuung ist, im Recht zu sein.« Er stützte sich vom Tisch ab, als er sich schwerfällig wie ein Kranker erhob. »Folgen Sie mir, Senor.« Er stieß die Tür auf, und Hasard folgte ihm in den Laden. Wie immer hatte er ein ungutes, beunruhigendes Gefühl, als sie zwischen den beiden langen Reihen aufgestellter Teppichrollen hindurchgingen. Rizzio selbst hatte ihm einmal demonstriert, daß selbst ein wachsamer, aufmerksamer Mann wie Hasard einen Menschen, der reglos zwischen den Rollen stand, glatt übersehen konnte. »Hier«, sagte Rizzio, nahm eine Wandlampe vom Haken und zog ihren Docht weiter heraus. »Ich bin es«, sagte er leise, als er eine der Teppichrollen zur Seite schob. Hasard sah, daß sich dahinter eine Tür befand. Das heißt, ein schmaler Durchlaß, so eng, daß selbst ein schlanker Mensch
sich seitwärts hindurchquetschen mußte. »Komm heraus, Liebling«, sagte Rizzio und hob die Lampe. Hasard sah einen winzigen, fensterlosen Raum, in dem sich etwas bewegte. Er erkannte die vagen Umrisse eines Menschen, sah den Reflex des Lichts in zwei Augen. Es waren große, dunkle Augen, die ihn angstvoll anstarrten. Wie ein Reh, das vom Jäger gestellt wird und keinen Ausweg mehr sieht. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Rizzio mit einer so weichen, zärtlichen Stimme, wie sie Hasard bei diesem Mann nie vermutet hätte. Zögernd trat die schmale, fast kindliche Gestalt an den engen Durchlaß und zwängte sich hindurch, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde von ihm zu wenden. Im Licht der Lampe erkannte er ein bodenlanges Gewand ein Kleid! »Das ist ja ein Mädchen!« rief er verblüfft. »Ja«, sagte Rizzio knapp. Ein paar Sekunden argwöhnte Hasard, daß Rizzio ihn täuschen wollte. Aber dann erkannte er die schlanke, fast schmächtig wirkende Figur, die schützend emporgezogenen Schultern, wie er sie bei dem Menschen beobachtet hatte, den er für einen Mann hielt. Und auch jetzt hatte sie ihr Gesicht verdeckt. Sie hatte einen breiten Seidenschal über den Kopf gelegt und hielt dessen Ende mit der linken Hand vor ihr Gesicht, wie er es bei arabischen Frauen gesehen hatte. »Zufrieden?« fragte Rizzio, und seine Stimme klang bitter. Hasard nickte. »Fast.« Er blickte in die großen, dunklen Augen des Mädchens, auf die weiße Stirn, die fast ganz von einer tief ins Gesicht gekämmten blauschwarzen Haarwelle verdeckt wurde. »Warum verstecken Sie das Mädchen in diesem Loch, Senor Rizzio? Und warum verbirgt es sein Gesicht?« Er blickte Rizzio an und sah, daß in dessen Gesicht eine
unheimliche Veränderung vor sich ging. Seine Haut wurde totenblaß, in seine Augen trat ein harter Glanz, und seine Lippen begannen zu zittern. Hasard spürte, daß dieser Mann am Ende seiner Nervenkraft war und sich nur noch mit Mühe beherrschte. Und wahrscheinlich nur wegen dieses Mädchens. »Der Senor will dein Gesicht sehen, Ramona«, sagte er leise. »Nein!« Sie wich angstvoll zurück, und ihre Hand tastete zu dem Teppich vor ihrem dunklen Versteck. »Nein!« »Der Senor besteht darauf, Ramona.« Er trat auf das Mädchen zu, das zur Wand zurückwich und ihn mit angstvoll geweiteten Augen anblickte. Hasard wollte ihn zurückhalten. Er wußte nicht, warum das Mädchen sein Gesicht nicht zeigen wollte. Vielleicht war sie Muselmanin und fürchtete sich vor den furchtbaren Strafen im Jenseits, die so ein Verstoß gegen Sitte und Gesetz nach sich zog. Das Mädchen schrie auf, als Rizzio ihr mit einer harten, fast brutalen Bewegung den Schal vom Gesicht riß. Hasard mußte an sich halten, um nicht ebenfalls vor Schreck und Entsetzen aufzuschreien. Da, wo er das Gesicht eines Mädchens vermutet hatte, befand sich eine fast nicht mehr menschliche Fratze. Anstelle der Nase sah er eine flache Grube, mit zwei dunklen Löchern, die direkt in den Rachen zu führen schienen, Kinn, Wangen und Lippen waren eine Kraterlandschaft, durchsetzt von tiefen, grellroten Narben und grünlich-weißen, wie abgestorben wirkenden Hautpartien. Mit dem Schal hatte Rizzio ihr auch die Haarwelle aus der Stirn gerissen, und Hasard sah, daß auch hier die entsetzliche Krankheit bereits ihr Vernichtungswerk begonnen hatte. »Lepra«, murmelte er entsetzt und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Das Mädchen hatte sich jetzt von dem Schock erholt, den ihr das Wegreißen ihres schützenden Schals bereitet hatte.
Sie schlug beide Hände vor das verwüstete Gesicht, flüchtete wie ein verletztes Tier in ihren Unterschlupf, und Hasard hörte ihr lautes, hilfloses Schluchzen. Rizzio sah Hasard nicht an, als er die schwere Teppichrolle wieder vor die Öffnung schob. »Warum tun Sie das?« fragte Hasard nach einer Weile leise. Wie konnte ein normaler Mensch sich freiwillig mit jemandem belasten, der an einer so entsetzlichen und ansteckenden Krankheit litt. »Sie ist meine Tochter«, erwiderte Rizzio. Hasard nickte. Jetzt war ihm klar, warum Rizzio das Mädchen verstecken mußte, warum es das von der Krankheit zerfressene Gesicht verbarg, wenn es ab und zu nachts auf die menschenleeren Straßen ging, um wenigstens für ein paar Minuten der Enge des dumpfen Gefängnisses zu entkommen. Ja, jetzt verstand er. Hasard hatte schon die Horden der Aussätzigen gesehen, die man aus den Stadttoren geprügelt hatte und die dann in Höhlen und Erdlöchern langsam verreckten. »Ich wußte nicht, daß Sie verheiratet sind«, sagte er, eigentlich nur, um das lastende Schweigen zu brechen. »Sie ist tot«, sagte Rizzio tonlos. »Und sie war nicht meine Frau.« »Senor Rizzio, ich möchte mich entschuldigen.« Rizzio schüttelte den Kopf. »Bitte, gehen Sie jetzt«, sagte er leise. Hasard blickte ihn ein paar Sekunden an, wollte etwas erwidern und ließ es dann doch. Was sollte er diesem Mann auch sagen? Was konnte er ihm sagen? Er wußte, daß alles nur noch schlimmer werden würde, wenn er jetzt sprach, daß selbst jedes Wort der Entschuldigung banal wäre, fast beleidigend. Schweigend wandte er sich um und ging hinaus. Er war so sehr mit dem eben Erlebten beschäftigt, daß er seine Umgebung fast nicht wahrnahm, nicht das geschäftige
Treiben auf der Straße der Engel, nicht das Rufen der Händler, nicht das Gewühl der Menschen. Er hätte auch den Bärtigen nicht bemerkt, wenn dieser es nicht so eilig gehabt hätte, sich zu verdrücken, um nicht gesehen zu werden. Hasard fiel unbewußt eine hastige Bewegung auf der anderen Straßenseite auf. Er sah einen Mann in zerlumpter Kleidung, der sich hastig hinter einem Obstkarren versteckte, und hatte den flüchtigen Eindruck eines Gesichts mit einem struppigen, dunklen Bart, von stechenden Augen, die ihn anstarrten, bevor der Mann hinter dem Karren in der Menge verschwand. Hasard hatte das unbestimmte Gefühl, diesen Mann, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Aber der Eindruck war zu kurz, zu flüchtig, um sich wirklich zu erinnern. Seine Gedanken waren noch zu sehr bei dem Mädchen mit dem Lepragesicht, um sofort reagieren zu können.
9. Ben Brighton hatte sich auf eine gründliche Abreibung eingerichtet, und er sah ein, daß er sie auch verdient hatte. So war er völlig verwirrt, als Hasard, dessen Temperament bei solchen Gelegenheiten leicht mit ihm durchging, nur schweigend zuhörte, als Ben ihm von seinen Erlebnissen berichtete. Als er ihm dann doch vorwarf, daß er leichtsinnig und verantwortungslos gehandelt hätte, sprach er ruhig, fast väterlich, so wie ein Erwachsener einem Kind erklärt, daß es sich nicht gehört, auf dem Heimweg zu bummeln, weil die Eltern sich sorgen. Ben Brighton starrte seinen Kapitän konsterniert und fast sorgenvoll an. »Ist was mit dir? Bist du etwa krank?« Ben Brighton hatte das ungute Gefühl, daß mit dieser milden
Lektion noch nichts bereinigt worden war. Er hatte sich innerlich auf seine Abreibung eingestellt und war beunruhigt und fast enttäuscht, als sie ausblieb. Die Temperamentsausbrüche Hasards waren wie Gewitter, bei denen man nur den Kopf einziehen und sie über sich ergehen lassen konnte. Aber genau wie bei einem Gewitter war danach die Atmosphäre geklärt, die Luft rein und frisch. Und das fehlte Ben jetzt. Er spürte, daß noch alles in der Luft hing, daß etwas passiert war, was der Seewolf nicht mit einem Donnerwetter erledigen konnte. Ben Brighton blickte Hasard ein paar Sekunden an und wartete, ob er sprechen würde. Als er es nicht tat, verließ Ben schweigend das Zimmer. Er kannte seinen Kapitän gut genug, um zu wissen, daß Drängen keinen Sinn hatte. Hasard gehörte zu den Menschen, die mit einem Problem erst einmal selbst fertig werden müssen, bevor sie es mit einem anderen teilen. Er würde reden, wenn er soweit war, wußte Ben Brighton. Hasard erzählte es Ben an diesem Abend. Sie hatten gegessen und waren anschließend auf ihr Zimmer gegangen. Ben Brighton wußte, daß Hasard nun sprechen würde, aber auch jetzt drängte er ihn nicht. Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt und blickte schweigend zu Hasard auf, der langsam, mit nachdenklich gerunzelter Stirn, im Zimmer auf und ab ging. Er ging auch weiter auf und ab, als er Ben von seinem Erlebnis im Laden von Estoban Rizzio berichtet. »Ich habe mich selten in meinem Leben so scheußlich gefühlt wie in diesen Minuten«, bekannte er dann, blieb vor Ben stehen und blickte ihn an. »Kannst du das verstehen, Ben?« Ben nickte schweigend. »Weißt du, ich hatte das Gefühl, als ob ich diesem Mädchen die Kleider vom Leib gerissen und es vergewaltigt hätte. Und in gewisser Weise habe ich das ja auch.« »Du konntest schließlich nicht wissen ...« Ben Brighton verlor den Faden und setzte neu an. »Und es war dein gutes
Recht, Aufklärung zu verlangen.« Hasard nickte. »Du hast völlig recht, Ben. Aber dennoch bin ich irgendwie schuldig.« Es klopfte an die Zimmertür. Die beiden Männer wechselten einen raschen Blick. »Wer ist da?« rief Hasard. »Der Hausknecht, Senor. Eine Nachricht für Sie.« Hasard gab Ben Brighton einen stummen Wink, zu öffnen. Er selbst stellte sich neben die Tür an die Wand, die Hand am Messerheft. Ben Brighton zog die Tür auf und trat sofort einen Schritt zur Seite. Der Hausknecht, ein grauhaariger, etwas buckeliger Mann, versuchte, an ihm vorbei in das Zimmer zu blicken. »Nun gib schon her.« Ben Brighton griff ungeduldig nach dem versiegelten Papier, das der Mann in der Hand hielt. Der Hausknecht zog es zurück. »Es ist für den anderen Senor, für Senor Modena«, sagte er zögernd. »Wir sind Geschäftspartner.« Ben fummelte eine kleine Kupfermünze aus der Tasche und drückte sie dem Mann in die Hand. »Was für ihn ist, geht uns beide an.« »Wenn Sie meinen.« Zögernd reichte er Ben das Papier. »Danke«, sagte Ben und drückte die Tür ins Schloß. »Bitte, Senor Modena«, sagte er grinsend und reichte Hasard das Papier. Hasard brach das Siegel auf. Auf dem Bogen stand nur ein einziger, kurzer Satz. »Kelim kann sofort abgeholt werden«, las Hasard laut, knüllte den Bogen in die Tasche und ging zur Tür. »Los, Ben. Rizzio hat Nachricht, auf welcher Galeere unsere Männer sind.« Natürlich war ausgerechnet jetzt keine Droschke vor dem Hotel, und sie mußten eine halbe Meile laufen, bevor sie eine fanden. Sie ließen sich am unteren Ende der Callè de los Angeles
absetzen und gingen das letzte Stück zu Fuß. Die Straße war um diese späte Stunde wieder menschenleer und verlassen. Unwillkürlich sah sich Hasard nach einer schmächtigen, scheuen Gestalt um, die mit ängstlich abgewandtem Gesicht für ein paar Minuten aus ihrem Gefängnis entfloh und jede Sekunde der Freiheit mit unvorstellbarer Angst bezahlte. Aber er konnte sie nirgends entdecken. Matter, gelblicher Lichtschein fiel aus der Tür des Ladens. Hasard wußte, daß jetzt nur die beiden Lampen im hinteren Teil brannten. Hasards Blick ging unwillkürlich zu der Stelle, an der er den versteckten Eingang zu dem Schlupfwinkel des Mädchens Ramona wußte. Aber eine Teppichrolle sah genauso aus wie die andere, nur klobige, gestaltlose Schatten in dem flackernden Licht der beiden Öllampen. »Er wird im Hinterzimmer sein.« Unwillkürlich hatte Hasard die Worte geflüstert. Sie traten zur Tür. Hasard nickte Ben Brighton zu. Er hatte richtig vermutet. Deutlich hörten sie das Rascheln von Papier. »Senor Rizzio«, sagte Hasard und klopfte leise an die Tür. Das Erlebnis des Nachmittags hatte ihn gelehrt, zurückhaltend zu sein und nicht einfach hineinzustürzen. Keine Antwort. Aber das Rascheln brach ab. »Ich bin es, Modena«, sagte Hasard und drückte auf die Klinke. Im selben Augenblick wurde die Tür von innen aufgestoßen, und zwar mit solcher Wucht, daß Hasard, der darauf nicht vorbereitet war, zur Seite geschleudert wurde. Ein Mann stürzte heraus und an ihnen vorbei. Hasard sah zerlumpte, in Fetzen hängende Kleider, ein wut- und angstverzerrtes Gesicht mit einem struppigen Bart. Und jetzt wußte er, wo er dieses Gesicht gesehen hatte. »Burton!« rief er entgeistert. »Halt ihn fest, Ben!« Ben Brighton war schon gestartet. Burton hörte ihn, stieß
einen ängstlichen Schrei aus und warf ihm eine der Teppichrollen in den Weg. Ben stolperte und verlor kostbare Sekunden, bevor er weiterhetzte. Hasard trat ins Hinterzimmer und blickte auf Estoban Rizzio hinunter, der mit ausgestreckten Armen auf der Tischplatte lag. Aus seinem Rücken ragte der mit Perlmutt eingelegte Griff seines arabischen Dolchs. Die Papiere auf dem Tisch waren durchwühlt und teilweise auf dem Boden verstreut. Hasard trat zu Rizzio und berührte seine Schulter. Es war eine absichtslose Geste, ein Kontakt des Mitgefühls, der Kameradschaft. Aber er fühlte, wie die Schulter Rizzios unter der Berührung zuckte. Er lebte noch! »Senor Rizzio!« Hasard hockte sich neben ihn und hob seinen Kopf an. Die matten Augen des Sterbenden hatten Mühe, ihn zu erkennen. Blut rann aus einem Mundwinkel und tropfte in die rote Lache, die sich auf den Papieren gesammelt hatte. »Sie-hatten recht-Mann-mit Bart ...« »Wie heißt die Galeere, Senor Rizzio?« Hasard wußte, daß er nur noch Sekunden Zeit hatte. »Tor-Tortuga - sagen Sie - Ramona ...« Die Augen brachen, der Unterkiefer sank schlaff herab. Vorsichtig ließ Hasard den Kopf des Toten auf die Tischplatte gleiten und richtete sich auf. »Gott sei seiner Seele gnädig«, sagte er und bekreuzigte sich. Ein leises Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. In der offenen Tür sah er für den Bruchteil einer Sekunde einen wehenden Schal, ein von Lepra verwüstetes Gesicht. Er vernahm einen gellenden, fast nicht mehr menschlichen Schrei von Angst und Entsetzen. Dann war das Mädchen verschwunden, und er hörte sie in das Dunkel des Ladens zurücklaufen.
»Ramona!« Er stürzte ihr nach. Sie war verschwunden. Hasard trat ein paar Schritte in den Laden. Er sah, daß die Teppichrolle, die den Eingang zu ihrem Schlupfwinkel tarnte, umgeworfen worden war. »Ramona«, sagte er noch einmal und ging auf die dunkle Öffnung zu. Dann sah er ein, daß es sinnlos war. Es hatte keinen Sinn, dieses Mädchen trösten zu wollen. Womit konnte er sie denn darüber hinwegtrösten, daß der einzige Mensch, der sie am Leben erhalten hatte, nun tot war? Und vielleicht glaubte sie sogar, daß er ihren Vater umgebracht hatte. Nein, im Moment konnte er ihr nicht helfen. Vielleicht später. »Hasard.« Ben Brighton kehrte in den Laden zurück. »Der Hund ist entwischt. Ich hätte ihn beinahe gehabt, da rannte er durch eine Tür und ...« Er brach ab und starrte auf die rechte Wand. »Mein Gott!« flüsterte er. Hasard starrte in das Halbdunkel. Und jetzt sah er ebenfalls die leblose Gestalt, die zwischen zwei Teppichrollen hing. »Vielleicht lebt sie noch!« Ben Brighton riß das Messer aus dem Gürtel und griff nach dem Seidenschal, mit dem sich das Mädchen Ramona an einem Haken aufgehängt hatte. »Nein, Ben!« Hasard packte seinen Arm und hielt ihn fest. »Aber vielleicht können wir sie noch retten!« protestierte Ben. Ja, vielleicht. Sie hatte sich ja nicht im Fall das Genick gebrochen, sondern sich nur in die Schlinge ihres Schals geworfen und die Beine angezogen. »Nein, Ben, wir können sie nicht mehr retten«, sagte Hasard leise und zog Ben Brighton mit sich ins Hinterzimmer, in dem der tote Estoban Rizzio lag. »Sie ist gestorben, als Burton ihren Vater ermordete. Er hat auch ihr Leben vernichtet - das bißchen, was davon noch übrig war ...«
10.
Die Droschke hielt vor dem Hotel. Hasard drückte dem Kutscher ein paar Münzen in die Hand, und sie stiegen aus. Die Granitstufen des Eingangs glänzten im Mondlicht, hinter der halboffenen Tür verbreitete die Flamme einer flackernden Öllampe mattes, unruhiges Licht. Hasard war einen halben Schritt voraus und hatte schon die Treppe erreicht, als Ben Brighton ihn plötzlich am Arm packte. »Burton!« flüsterte er scharf. Hasard fuhr herum und sah eine zerlumpte Gestalt aus dem Schlagschatten des gegenüberliegenden Hauses treten. »Den kaufe ich mir!« zischte Ben Brighton und wollte davonstürzen. Hasard hielt ihn zurück. »Laß das, Ben. Wir dürfen jetzt nicht auffallen.« Es gab gewisse, seltene Gelegenheiten, da Ben Brighton seinem Kapitän nicht gehorchte. Dies war eine davon. Mit einem wütenden Knurren riß er sich los und stürzte auf Burton zu. Aber bevor er zehn Schritte weit gelangt war, deutete Burton mit ausgestrecktem Arm auf sie und schrie: »Das sind sie, die Mörder!« Im selben Augenblick sah Hasard Brustpanzer und Helme im Mondlicht schimmern. »Ben!« Brighton stoppte so heftig wie ein Schiff, das gegen eine Kaimauer prallt, und sah sich nach beiden Seiten um. Die Straße war von Männern in Panzern und Helmen abgeriegelt. Von beiden Seiten rückten sie mit gefällten Hellebarden auf ihn zu. »Ins Hotel!« Hasard wartete ein, zwei Sekunden, bis er sah, daß Ben Brighton losspurtete. Dann hetzte er die Stufen hinauf und den
halbdunklen Korridor entlang. Auf der Treppe holte ihn Ben Brighton ein. Gleichzeitig hörte er die Soldaten unten den Korridor entlang poltern. Ben Brighton wollte zu ihrem Zimmer. Hasard riß ihn zurück. »Da suchen sie uns doch zuerst. Wir müssen Zeit gewinnen.« Er zerrte ihn in die andere Richtung und drückte im Vorbeilaufen auf die Türklinken. Die dritte war unverschlossen. Sie hörten den spitzen Aufschrei einer Frau, als sie in das Zimmer eindrangen und den Riegel vorschoben. Eine Frau, die gerade dabei war, sich auszuziehen, starrte sie entsetzt an. »Keine Angst, Senora«, sagte Hasard und lächelte beruhigend. »Wir tun Ihnen nichts.« Er trat ans Fenster und stieß es auf. »Haltet die Mörder!« hörten sie jemanden schreien. »Mörder?« Die Frau starrte mit weit aufgerissenen Augen von Ben Brighton zu Hasard. »Das stimmt nicht, Senora«, sagte Ben und trat auf sie zu. »Wir haben nur die Zimmertür verwechselt.« Die Frau griff mit der Hand nach ihrem üppigen Busen, stieß einen leisen Seufzer aus und fiel in Ohnmacht. »Die ist wenigstens aus dem Weg«, murmelte Ben Brighton und trat neben Hasard ans offene Fenster. Sie sahen, wie Soldaten das ganze Hotel umstellten. Nach drei Seiten grenzte es an breite Straßen. An der vierten befand sich eine schmale Gasse, die das Gebäude von der Kirche »Espiritu Santo« trennte. »Was jetzt?« fragte Ben Brighton leise. »Abwarten.« Hasard trat vom Fenster zurück und lauschte. Irgendwo knallte eine Tür gegen die Wand. »Jetzt werden sie in unserem Zimmer sein«, kommentierte Ben. Sie hörten schwere Schritte auf dem Korridor, dann dröhnten
Faustschläge gegen eine Tür. .Aufmachen! Im Namen des Königs!« »Ob der davon weiß?« fragte Ben leise. »Wer?« »Der König. Ich meine, ob der weiß, was so alles in seinem Namen geschieht?« »Im Namen des Königs!« dröhnte wieder eine Stimme, und dann wurde eine Tür auf gestoßen. »Hoffentlich wacht die Frau nicht so bald wieder auf. Wenn die anfängt zu schreien, ist der Teufel los.« Hasard warf einen kurzen, abschätzenden Blick auf die recht füllige Dame, deren Proportionen von einem leinenen Unterhemd zeltartig verhüllt wurden. »Reifes Mittelalter«, sagte Hasard, »die bleibt erst mal eine Weile weg.« »Na, ich bin nicht sicher«, sagte Ben Brighton mit einem mißtrauischen Blick auf die Frau, die zwischen Bett und Fenster zusammengesackt war und reglos auf dem Boden lag. »Und wenn sie aufwacht, wird sie klugerweise so tun, als ob sie noch ohnmächtig sei«, sagte Hasard für den Fall, daß sie schon wieder bei Bewußtsein war. »Sie weiß schon, was gut für sie ist.« Den letzten Satz sagte er mit harter, fast drohender Stimme. »Aufmachen! Im Namen des Königs!« Das war jetzt zwei oder drei Türen weiter. Sie hörten das wütende Schimpfen eines Mannes und die keifende Stimme einer Frau. »Jetzt wird’s Zeit«, sagte Hasard und trat zum Fenster. »Los, Ben.« In den gegenüberliegenden Häusern waren zwei oder drei Fenster erleuchtet. Sie sahen die dunklen Umrisse von Menschen, die neugierig herausstarrten. Aber sie schauten nach unten auf die Straße, wo die Soldaten ihre Hellebarden spazierentrugen.
Niemand blickte hoch, als Hasard und Ben Brighton aus dem Fenster kletterten. Ein schmales Sims führte unter dem Fenster an der Hauswand entlang. »Hoffentlich hält das Ding«, flüsterte Ben mißtrauisch, als er sich von der Fensterbank heruntergleiten ließ. Es hielt. Die Männer preßten sich zu beiden Seiten des Fensters an die Wand. »Scheiße«, fluchte Hasard plötzlich. »Was ist?« »Ich habe vergessen, die Tür aufzuriegeln. Wenn denen niemand öffnet, wissen sie doch, daß etwas faul ist.« »Ich gehe rasch noch mal zurück«, sagte Ben Brighton und trat einen Schritt zur Fensterbank. »Du bleibst hier!« sagte Hasard scharf. »Wenn die kommen, während du im Zimmer bist ...« Sie waren schon da. »Öffnen! Im Namen des Königs!« schrie eine Stimme, und Faustschläge donnerten gegen die Tür. »Jetzt haben wir den Mist«, fluchte Hasard. »Ich glaube, wir müssen uns sehr rasch verdrücken.« Mußten sie nicht. Sie hörten, wie Schritte zur Tür gingen, dann vernahmen sie das metallische Knacken des Riegels. Hasard grinste zufrieden. Er hatte die Dame also richtig eingeschätzt. Sie wußte, was gut für sie war. Sie wußte es auch jetzt. »Was wollen Sie hier?« hörte er sie empört fragen. »Wir müssen das Zimmer durchsuchen«, sagte eine Männerstimme. »Das Zimmer einer Senora?« sagte die Dame scharf. »Was erlauben Sie sich! Ich werde mich beschweren.« »Sie können sich gern bei unserem Capitan beschweren, Senora. Wir führen nur Befehle aus.« Eine andere Stimme. Also waren sie zu zweit. »Wir suchen zwei Mörder.«
»Mörder?« Hasard bewunderte ihre schauspielerische Leistung. Das Erschrecken klang wirklich echt. »Ja, zwei Mörder. Und sie müssen hier im Haus sein.« »Aber doch nicht in meinem Bett!« rief die Dame empört. »Tut mir leid, Senora, aber wir müssen überall nachsehen.« Sie hörten eine Tür knarren. Wahrscheinlich sahen die beiden jetzt in dem Kleiderschrank nach. »In Ordnung, Schlafen Sie gut, Senora.« Schritte, die zur Tür gingen. Und dann eine Stimme: »Ich komme gleich nach, Roberto. Ich will nur mal nach draußen sehen.« Rasche, klirrende Schritte, die zum Fenster gingen. Dann erschien ein Kopf, ein spitzbärtiges Gesicht unter einem Eisenhelm schaute aus dem Fenster. Hasard hielt die Luft an. Aber der Mann blickte nur auf die Straße hinunter. Dann zog er den Kopf wieder zurück. Hasard wollte gerade erleichtert aufatmen, als der Blick des Mannes im letzten Moment zur Seite glitt. Sein Unterkiefer klappte vor Überraschung herunter, er starrte Hasard entsetzt an. Bevor er sich von seinem Schock erholen konnte, trat ihm Hasard mit dem Fuß unter das Kinn. Die Wucht des Trittes riß ihm den Helm vom Kopf. Das Ding segelte in steiler Kurve drei Stockwerke tief auf die Straße. Es schepperte, als der Helm auf das Kopfsteinpflaster fiel, genau vor die Füße zweier Soldaten, die sich an ihren Hellebarden festhielten. Sie traten unwillkürlich einen Schritt zurück, als ihnen der Eisenhelm vor die Füße knallte, und glotzten ihn ein paar Sekunden verblüfft an. Aber dann blickten sie an der Wandfront hoch, um zu sehen, woher er gekommen war - und entdeckten die beiden Männer auf dem Sims.
»Da sind sie! Da oben sind die Mörder!« Sie waren nicht mehr beim Fenster. Noch als der Helm in der Luft war, hatten sie begonnen, sich auf dem schmalen Sims entlang zur nördlichen Hauswand vorzutasten. Hasard mußte dabei am offenen Fenster vorbei. Er sah den helmlosen Don ausgestreckt neben seiner Hellebarde liegen und vage die Gestalt der üppigen Dame. »Vielen Dank, Senora«, sagte er galant, als er am Fenster vorbeikletterte. »Da oben! Da oben!« hörte er mehrere Stimmen schreien und sah die hellen Flecke der Gesichter, die zu ihnen heraufstarrten. »Holt sie runter! Aufs Dach!« schrie jemand. »Unsinn! Die entwischen uns nicht! Das Haus ist umstellt!« »Jetzt sind sie verschwunden!« schrie einer der Zuschauer des Spektakels enttäuscht. Sie waren um die Hausecke auf die Nordseite geklettert, die im tiefen Schlagschatten des Mondlichts lag. Auch die schmale Gasse drei Stockwerke unter ihnen lag in tiefem Dunkel. Nur der Turm der Kirche »Espiritu Santo«, der direkt auf der anderen Seite der Gasse lag, zeichnete sich als dunkle Silhouette gegen den Sternenhimmel ab. Auf dem Kreuz der Kirchturmspitze, die das Dach des Hotels um zwei, drei Yards überragte, lag silbernes Mondlicht. »Da müssen wir hin«, flüsterte Hasard und deutete mit einer Kopfbewegung zu dem Turm. »Du bist verrückt!« fuhr es Ben Brighton heraus. »Verzeihung, aber das ist doch Wahnsinn.« »Der einzige Ausweg, Ben.« »Vielleicht könnten wir in ein offenstehendes Fenster klettern und abhauen.« Er wußte, daß es sinnlos war, aber wenn er daran dachte, drei Yards weit über einen pechschwarzen Abgrund segeln zu müssen, war ihm jeder noch so dürftige Strohhalm recht. »Wir müssen aufs Dach«, sagte Hasard entschlossen. »Wir
müssen!« Er preßte sich hart an die Hauswand, als ein paar Yards voraus ein Fenster aufgestoßen wurde. »Ist doch Unsinn, was wir hier tun«, hörte er eine Männerstimme sagen. »Glaubst du etwa, die hängen hier noch an der Wand wie verdammte Fliegen?« »Wo sollen sie denn sonst sein?« fragte eine andere Stimme. »Wenn du mich fragst, die sind in irgendein Fenster gekrochen und verstecken sich in einem der Zimmer, das wir schon durchsucht haben. Da fühlen sie sich sicher.« »Dann sollten wir vielleicht alle Zimmer noch einmal durchsuchen«, sagte der andere. »Gute Idee. Wir fangen beim Eckzimmer an, wo die temperamentvolle Senora wohnt. Hast du gesehen, wie schön fett die ist? Mit der würde ich gern mal ...« Die Stimme verlor sich. »Ben?« flüsterte Hasard. »Sir?« Er wußte, was folgen würde, die Floskel war nur dazu gedacht, etwas Zeit zu schinden. »Schieb ein bißchen nach, wenn ich mich hochziehe.« »Hoffentlich hält die Traufe.« Hasard lachte leise. »Das wissen wir erst, wenn ich dran hänge.« Aber sehr wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, daß es wirklich so war. »Fertig, Ben?« Er fühlte Ben Brightons tastende Hände an seinem Körper und starrte zu der Kupferrinne hinauf, die an der Dachkante entlanglief. Bei seiner Größe und Reichweite war es nur ein Sprung von knapp zwei Fuß. Aber das Dach ragte über Mauer und Sims hinaus, und er mußte nach außen springen. Er kauerte sich zusammen, spannte die Muskeln an und zwang sich, nicht daran zu denken, daß die Traufe abreißen konnte und drei Stockwerke tiefer hartes Kopfsteinpflaster war. »Los!«
Er schnellte sich ab. Im selben Moment, als seine Hände sich in die Traufe krallten, packte ihn Ben Brighton an den Beinen und gab seinem Körper einen zusätzlichen Schwung. Das Kupferblech dehnte sich knackend unter der plötzlichen Belastung, aber es brach nicht. Zwei Sekunden später hockte Hasard auf der Dachschräge und blickte sich rasch um. Das Dach lag im hellen Mondlicht. Hier oben hatten sie also nicht den Schutz des Schlagschattens wie an der Nordwand. Sie mußten sich beeilen. Er rutschte zum Rand des Daches, stemmte sich mit den Knien in der Traufe fest und streckte eine Hand nach unten. »Los, Ben.« Er sah ihn nicht. Er hörte nur ein kurzes Durchatmen, und dann hing Bens Gewicht an seinem Arm. Wieder das ominöse Krachen und Knacken des Kupfers, als Ben sich heraufschwang. Er atmete erleichtert auf, als er sich neben Hasard an den Dachrand hockte. »Ich bin nur froh, daß wir das nicht jeden Tag machen müssen«, flüsterte er und starrte zu dem Kirchturm hinüber. Sie befanden sich jetzt fast auf gleicher Höhe mit dem breiten Fenster, hinter dem er die Umrisse der riesigen Glocken sah. »Wir müssen nach oben«, sagte Hasard leise. »Später haben wir genug Zeit zum Ausruhen.« Es war ihr Glück, daß die Baumeister dem Dach nur eine sehr mäßige Schräge gegeben hatten, um auch die oberen Räume besser nutzen zu können. So hatten sie keine Schwierigkeiten, zum First hinaufzuklettern. Nur einmal trat Hasard einen lockeren Dachziegel los. Sie warteten mit angehaltenem Atem, ob er, wie vorhin der Helm, auf die Straße krachen würde. Zu ihrem Glück wurde er irgendwo festgehalten. Dicht unterhalb des Firsts blieb Hasard liegen, eng auf die schräge Ziegelfläche gepreßt, und lauschte nach unten. Es war jetzt etwas ruhiger geworden. Die erste Aufregung hatte sich gelegt, und er wußte, daß die Soldaten ihren Dienst jetzt nur
noch als lästige Routine durchführten und der anfängliche Jagdinstinkt erlahmt war. Dennoch war es möglich, daß jemand hinaufblickte und sie im hellen Mondlicht entdeckte, wenn sie sich aufrichteten. »Ben?« »Ja?« Ben Brighton starrte zu der Kirchturmspitze hinüber. Er wußte, daß die Gasse zwischen Hotel und Turm nur drei Yards breit war. Aber jetzt kam es ihm wie eine halbe Meile vor. »Wir springen in die Fenster. Siehst du sie?« »Ja.« Natürlich sah er die breiten Fensterhöhlen, hinter denen sich die Umrisse der Glocken abzeichneten. Sie lagen jetzt etwas unterhalb ihres Standortes. Der geschnitzte Holzrahmen bot eine gut Möglichkeit, sich festzukrallen. Vielleicht war es doch nicht so gefährlich, wie er befürchtete. »Du bleibst unten, in Sichtdeckung, bis ich drüben bin, verstanden«, sagte Hasard leise. »Erst unmittelbar vor dem Sprung aufrichten und auf den First steigen.« »Verstanden.« Ben sah, wie Hasards Körper sich sprungbereit zusammenzog, wie seine Füße nach einem festen Halt tasteten. Dann atmete er tief ein und stieß die Luft mit einem pfeifenden Geräusch aus den Lungen, als er mit einem Satz auf den First sprang und sich abschnellte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Ben ihn mit ausgestreckten Armen durch die Luft segeln, dann wurde er von der Dunkelheit verschluckt, und Ben hörte ein patschendes Geräusch. »Sir?« rief er leise, besorgt. »Alles in Ordnung, Ben. Komm jetzt, ich fange dich auf.« »Aye, aye.Sir.« Ben Brighton mußte fast zehnmal durchatmen, bevor er sich dazu zwang, auf den Dachfirst zu springen und loszuschnellen. Er sah die ausgestreckten Hände Hasards schräg unter sich und das tiefe, bodenlose Dunkel, in das er hineinstürzte. Dann
schoß die breite Öffnung des Fensters auf ihn zu, seine Hände krallten sich in das Holz des Rahmens. Hasards Hände packten seine Arme und rissen ihn herein. Noch bevor Ben richtig aufatmen konnte, hörte er von unten eine Stimme schreien: »Da ist einer vom Dach gesprungen!« »Du spinnst wohl. Dann müßte er doch inzwischen hier unten gelandet sein.« »Aber ich habe es ganz deutlich gesehen!« verteidigte sich der andere. »Er ist auf den Kirchturm gesprungen!« »Unsinn. Glaubst du, der ist eine Fledermaus?« Und dann eine dritte Stimme, vermutlich die eines Offiziers: »Wahrscheinlich war es wirklich eine Fledermaus, die du gesehen hast. Aber wir wollen kein Risiko eingehen. Durchsucht den Kirchtum.« »Mist«, sagte Hasard mit Gefühl. »Los, vielleicht schaffen wir es noch, zu verschwinden.«
11. Sie schafften es nicht. Bevor sie die schmale Holzstiege gefunden hatten, die von dem Rundgang um die drei riesigen Glocken in die Tiefe führte, hörten sie unten die Tür knarren, dann polterten schwere Schritte herein. »Wir bleiben hier unten«, hörten sie eine Stimme sagen, »ihr beiden steigt zum Glockenstuhl hoch und seht euch da um. Achtet besonders auf das Uhrwerk und das Turmdach. Wenn sie hier sein sollten, stecken sie bestimmt oben.« Aber der Ton der Stimme verriet, daß er selbst nicht daran glaubte. Sie hörten Schritte die steile Stiege herauf poltern. »Was jetzt?« flüsterte Ben Brighton fast unhörbar. Er sah wirklich keinen Ausweg mehr. Auch Hasard mußte eine lange Reihe von Sekunden fieberhaft überlegen, bis er die einzige Möglichkeit erkannte,
vielleicht doch noch einmal davonzukommen. »In die Glocken«, flüsterte er. Die Glocken befanden sich etwa in gleicher Höhe mit der Balustrade. Sie brauchten sich nur vorfallen zu lassen, um die schweren Bronzeklöppel packen zu können. Hasard nahm sich die größte und kletterte am Klöppel wie an einer Stange hoch, bis er sich mit beiden Händen in der ringförmigen Halterung festklammern konnte. Ben Brighton nahm so viel Schwung, daß er mit dem Klöppel fast an den anderen Rand der Glocke geschlagen wäre. Er konnte den Alarm gerade noch mit der vorgestreckten Hand abbremsen. Trotzdem hatten die beiden Spanier, die jetzt fast auf gleicher Höhe waren, etwas gemerkt. »Sei mal still«, sagte der eine. Sie blieben stehen. »Was ist denn?« »Hast du nichts gehört?« Ben Brighton hielt den Atem an und hatte das Gefühl, sie müßten seinen Herzschlag hören. Er sah die Schatten der beiden Manner knapp zwei Yards unter sich auf der steilen Treppe. »Was soll ich denn gehört haben?« fragte jetzt einer der beiden. »Sei doch mal still.« Sie standen reglos und schwiegen. Die einzigen Geräusche in der Stille waren der langsame, regelmäßige Schlag des riesigen Pendels der Kirchturmuhr über dem Glockenstuhl und ein gelegentliches trockenes Knacken im Holz. »Ich höre nichts«, sagte der Mann jetzt wieder. »Das wird die Uhr gewesen sein.« »Nein, das war etwas anderes«, sagte der andere hartnäckig. »Dann vielleicht eine Ratte. In jeder Kirche gibt es Ratten. Mann, wir wollen sehen, daß wir den Quatsch hinter uns
kriegen. Ich bin zum Umfallen müde.« Sie stiegen höher. Gott sei Dank hatten sie keine Lampen dabei, dachte Ben Brighton, als er ihre Helme unmittelbar neben seiner Glocke auftauchen sah. Dennoch, wenn sie nur einigermaßen gute Augen hatten, müßten sie Hasard und ihn entdecken. Plötzlich hörte er unmittelbar neben sich ein lautes, metallisches Schnarren, und dann hatte er das Gefühl, in einer explodierenden Pulverkammer zu sitzen. Die Glocke, in der er hing, vibrierte und dröhnte, als das Hammerwerk der Kirchturmuhr dagegenschlug zwölfmal ...! Die letzten Schläge hörte er nicht mehr, er spürte nur noch das Vibrieren und klammerte sich an dem Klöppel fest aus Angst, den Halt an diesem bebenden Stück Bronze zu verlieren. Die beiden Spanier flüchteten vor dem Dröhnen der Stundenschläge ein Stück tiefer. Als der letzte Schlag allmählich verklang, hörte Hasard einen der beiden sagen: »Los, Schluß für heute. Wenn die da oben wären, hätte der Krach sie herausgescheucht. Das hält doch kein Mensch aus.« Hasard atmete erleichtert auf, als er sie die Treppe hinunterpoltern hörte. »Ben?« flüsterte er. Ben Brighton antwortete nicht. Vorsichtig kletterte er ein Stück an seinem Klöppel herab, bis er unter den Rand der kleinen Glocke blicken konnte und einen Fuß auf dem Wulst des Klöppels erkannte. »Ben.« Keine Antwort. Der Fuß blieb reglos. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis die Spanier sich unten darüber geeinigt hatten, daß es wohl doch eine Fledermaus gewesen sein müsse, die einer vom Hausdach zum Kirchturm hatte segeln sehen, und bis endlich die Tür zuknarrte. »Ben.« Hasard stieg auf die Balustrade und berührte Ben
BrightonsFuß. Ben ließ sich am Glockenklöppel herabgleiten und schwang sich über die Balustrade. »Kann nichts hören«, sagte er und deutete auf sein rechtes Ohr. »Habe mich nicht zu reden getraut, weil man ja nicht weiß, wie laut man spricht. Sind die Dons weg?« Hasard nickte. Sein Gehör hatte auch etwas gelitten durch das infernalische Dröhnen der Stundenglocke. Aber in einer halben Stunde würden sie sich beide davon erholt haben. Dennoch war es verdammt heikel, daß es ausgerechnet jetzt passieren mußte, da sie jeden ihrer Sinne brauchten. Auf jeden Fall waren sie hier eine Weile sicher. Die Dons hatten den Turm durchsucht und sie nicht gefunden. Wahrscheinlich würden sie sowieso bald aufgeben und abziehen. Wenn er selbst für die Suche verantwortlich wäre, würde er für den Rest der Nacht nur ein paar Posten aufziehen und die Suche bei Tageslicht fortsetzen lassen. Gut, das würde er tun. Aber er konnte sich nicht darauf verlassen, daß auch die Dons so handeln würden. Sie mußten auf jeden Fall damit rechnen, daß das Hotel überwacht wurde. »Vier Uhr«, sagte er leise und hob vier Finger in die Höhe. »Du meinst, um vier Uhr hauen wir ab?« fragte Ben. Hasard nickte. Kurz vor Tagesanbruch war erfahrungsgemäß die Aufmerksamkeit der Posten erlahmt. Um vier Uhr war auch der Mond untergegangen. Es würde stockdunkel sein, also der günstigste Zeitpunkt, um ungesehen zu verschwinden. »Wir können eine Runde schlafen«, sagte er und machte es wieder durch eine Geste deutlich. »Gut. Ich übernehme die erste Wache.« Ben Brighton trat seitlich neben das Fenster und blickte hinaus. Hasard war überzeugt, trotz seiner Müdigkeit nicht schlafen zu können. Es war zuviel geschehen an diesem Abend. Er saß auf dem rohen Bretterboden, den Rücken gegen die Außenwand des Turms gelehnt, und vor seinen geschlossenen
Augen zogen, wie in einem Kaleidoskop, die Ereignisse der letzten Stunden vorbei: ein strahlend schönes Madchengesicht, das ihn anlächelte und plötzlich, innerhalb weniger Sekunden, zu einer verwüsteten, faulenden Leprafratze wurde, ein Mann, der mehr Menschlichkeit und Güte besaß, als überhaupt zumutbar war - aus dessen Rücken der Perlmuttgriff eines arabischen Dolches ragte, das von Angst und Haß verzerrte Gesicht des Mörders Isaac Henry Burton, die reglose Gestalt eines Mädchens, das sich mit dem eigenen Seidenschal aufgehängt hatte. Stimmen, die von irgendwoher aus dem Nichts zu schweben schienen: »... es gibt Situationen, da es einem keine Genugtuung bereitet, im Recht zu sein ...« »... der Senor besteht darauf, Ramona ...« »... Lepra ...« »... sie ist tot - und sie war nicht meine Frau ...« »… Mann mit Bart ... Tortuga-Tortuga-Tortuga …« Hasard schreckte hoch. Ben Brighton stand über ihn gebeugt und rüttelte ihn an der Schulter. »Du hast geträumt.« Hasard schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gar nicht geschlafen, Ben.« »Und wie. Dauernd hast du im Schlaf gesprochen. Zuletzt so laut, daß ich Angst hatte, die Dons könnten es hören.« »Dann scheinen deine Ohren ja wieder in Ordnung zu sein«, sagte Hasard erleichtert und stand auf. »So gut wie neu. Nur ein Bienenschwarm scheint sich irgendwo eingenistet zu haben.« Ben Brighton klopfte grinsend mit der flachen Hand gegen seinen Kopf. »Der fliegt sicher weg, wenn du eine Runde schläfst, Ben.« Hasard reckte die Arme. »Wie spät ist es eigentlich?« »Die Sterne stehen auf halb vier oder so«, sagte Ben mit einem Blick aus dem Turmfenster. »Zum Schlafen langt es
nicht mehr.« »Warum hast du mich nicht eher geweckt?« sagte Hasard scharf. Er haßte es, wenn Ben ihn wie einen kleinen Jungen behandelte, dem man alles Unangenehme abnehmen muß. Ben Brighton zuckte mit den Schultern. »Die Zeit verging so schnell«, sagte er, ohne Hasard anzusehen. »Ich hab’s einfach vergessen.« Hasard blickte ihn ärgerlich an. Dann sah er ein, daß es keinen Sinn hatte, mit Ben zu argumentieren. »Also gut. Dann werden wir jetzt versuchen, hier zu verschwinden. Wir müssen sehen, daß wir uns irgendwo verkriechen können. Am besten in der Hafengegend.« »In diesen feinen Klamotten?« sagte Ben Brighton zweifelnd. »Wir haben nun mal keine anderen«, erwiderte Hasard ungeduldig. »Ich sehe die Schwierigkeit genauso gut wie du. Morgen werden wir uns etwas anderes besorgen.« »Morgen kennt uns jeder«, wandte Ben Brighton ein. »Morgen früh weiß jeder Hellebardenknecht, jeder Spitzel, wie wir aussehen und was für Klamotten wir anhaben.« »Das können wir nicht ändern. Oder hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?« Ben Brighton blickte wieder zu den Sternen hoch. »Wir könnten Angelo besuchen«, sagte er. »Ich habe die ganze Zeit überlegt, was wir tun könnten, und da fiel mir Angelo ein.« »Angelo? Ach ja, dein Freund aus der Cantina.« Hasard grinste Ben an. »Manchmal ist Nachdenken auch bei dir ganz nützlich, was?« Es war wirklich eine gute Idee. Es war überhaupt die Lösung. Bei Bens Freund Angelo konnten sie zunächst einmal unterkriechen, und Angelo konnte ihnen auch neue Klamotten besorgen. »Ben, erinnere mich daran, dich öfter mal nachdenken zu lassen«, sagte Hasard und klopfte Brighton anerkennend auf die Schulter. »Also, dann los.«
Die Stufen knarrten, als sie die steile Stiege hinunterkletterten. Immer wieder blieben sie lauschend stehen. Aber es war nichts zu hören als der Pendelschlag der Kirchturmuhr. »Warte«, flüsterte Hasard, als sie die Tür erreicht hatten. Vorsichtig stieß er sie auf und wartete bei jedem leisen Knarren mehrere Sekunden, bevor er wagte, sie weiterzubewegen. Er streckte den Kopf aus dem schmalen Spalt und blickte nach beiden Seiten. Vor dem Hotel sah er etwas aufblitzen - die Reflexion von Sternenlicht auf Eisen. Dann entdeckte er den Soldaten, der zusammengesunken auf den Stufen der Freitreppe hockte. Ein zweiter stand an der Ecke, den Kopf gesenkt, auf seine Hellebarde gestützt. Hasard grinste. Auf die alte Postenregel konnte man sich doch immer verlassen. Um vier Uhr morgens konnte man die Burschen wegtragen, ohne daß sie es merkten. »Los, Ben.« Sie drückten sich durch den offenen Spalt und gingen nach rechts, vom Hotel fort, im Schatten des Kirchenschiffs. Die ersten hundert Yards gingen sie auf Zehenspitzen und hatten dennoch das Gefühl, daß man ihre Schritte bis zum anderen Ende Sevillas hören müsse. Aber hinter ihnen blieb alles still. Sie sahen keinen Menschen auf der Straße, und nach einer Minute begannen sie daran zu glauben, daß sie es wirklich geschafft hatten. Viel größere Schwierigkeiten bereitete es ihnen, die Callè die barbiere zu finden. Ben war zwar erst gestern dort gewesen. Aber weil er nicht geglaubt hatte, wirklich einmal, und schon so bald, Angelos Angebot wahrnehmen zu müssen, hatte er nicht genau auf den Weg geachtet, als er zum Hotel zurückgegangen war. »Hier muß es doch irgendwo sein«, sagte er immer wieder,
wenn er einsah, daß sie sich, zum dritten oder vierten Mal, verlaufen hatten. Dann waren sie wieder zum letzten bekannten Punkt zurückgegangen, um nicht die Orientierung zu verlieren. Im Osten dämmerte bereits der neue Tag herauf, als er endlich triumphierend sagte: »Hier ist es! Siehst du den Fischladen da drüben? Gegenüber wohnt Angelo.« Die Stadt begann wieder zum Leben zu erwachen. Fensterläden knallten auf, verschlafene Gesichter starrten heraus, der Inhalt von Nachtgeschirren klatschte auf das Pflaster. Zwei Frauen mit Wasserkrügen gingen die enge Straße hinunter und blickten die beiden Männer, deren elegante, wenn auch etwas strapazierte Kleidung so gar nicht in diese Umgebung paßte, mit unverhohlenem Mißtrauen an. »Warte, bis sie verschwunden sind.« Hasard hielt Ben Brighton zurück, der zielstrebig auf den Hauseingang von Angelos Wohnung zuging. »Du hast recht«, sagte Ben Brighton. »Wenn die erfahren, daß zwei Ausländer als Mörder gesucht werden, erinnern sie sich bestimmt an uns.« Sie schlenderten am Hauseingang vorbei, und als Hasard sich nach den Frauen umblickte, sah er, daß sie stehengeblieben waren und heftig gestikulierend miteinander sprachen. Die beiden Männer gingen bis zur Einmündung einer schmalen Gasse weiter, bogen hinein und warteten zwei, drei Minuten. Als sie wieder heraustraten, sahen sie, daß die beiden Frauen verschwunden waren. »Jetzt aber schnell, bevor die ganze Gegend wach wird«, sagte Hasard. Vor dem Hauseingang blickten sie sich noch einmal nach beiden Seiten um. Niemand schien sie zu beobachten. Dann tauchten sie im Dunkel des Hauseingangs unter. »Da drüben«, sagte Ben Brighton leise, als sie auf den schmalen Hinterhof traten, und deutete auf eine Steintreppe, die zum Keller hinunterführte.
Sie traten in einen engen, dunklen Gang. Als sich ihre Augen an das matte Licht gewöhnt hatten, sahen sie vier Türen, die von dem Gang abführten. »Welche?« flüsterte Hasard. Ben Brighton blickte unsicher von einer Tür zur anderen. Verdammt, wenn er nur geahnt hätte, wie nötig sie diesen Angelo einmal brauchen würden, hätte er sich jede Einzelheit genau gemerkt. Aber so ... »Die da - glaube ich«, sagte er nach einer Weile und trat auf eine der Türen zu. Er zögerte ein paar Sekunden, bevor er an das Holz klopfte. »Angelo?« sagte er leise. Keine Antwort. Ben blickte Hasard verlegen an. »Vielleicht ist es doch diese hier«, sagte er und trat an die benachbarte Tür. Wieder klopfte er. »Angelo?« Diesmal fragte eine verschlafene Stimme: »Was ist denn?« »Angelo?« fragte Ben Brighton, etwas lauter. »Ja. Wer sind Sie denn? Was wollen Sie?« »Ich bin der Mann aus der Cantina. Erinnerst du dich? Du hattest mir gestern doch gesagt ...« Die Tür wurde aufgezogen. Angelo Brosio starrte ihn an. »Ach, Sie sind es, Senor.« Er schien gar nicht richtig gehört zu haben, was Ben eben gesagt hatte. »Treten Sie ein.« Jetzt entdeckte er Hasard, der hinter Ben Brighton stand. »Ein Freund«, sagte Ben rasch. »Wir brauchen deine Hilfe, Angelo.« »Bitte.« Er öffnete die Tür weiter, und sie traten in den engen, fensterlosen Raum, in dem der Student Brosio wohnte und arbeitete. »Warten Sie, ich mache Licht.« Sie sahen Funken aufsprühen, als der Feuerstahl gegen den Feuerstein schlug, Zunder glimmte auf, wurde angeblasen, und
dann brannte der Docht einer Öllampe. »Wir brauchen deine Hilfe, Angelo«, sagte Ben Brighton noch einmal. Angelo nickte schweigend. »Wir brauchen andere Kleidung.« »Warum? Ihre Anzüge sind doch sehr gut?« fragte der Junge verwundert. »Angelo«, mischte sich jetzt Hasard in das Gespräch, »wir brauchen Seemannskleidung, möglichst gebraucht und abgerissen.« Er sah, daß der Junge wieder etwas sagen wollte und fuhr rasch fort: »Ich weiß, es klingt etwas seltsam, aber wir haben unsere Gründe dafür.« Er blickte Angelo in die Augen. »Und wir möchten dich bitten, uns nicht danach zu fragen.« Der Junge schaute von Hasard zu Ben Brighton, dann nickte er. »Ich kenne ein paar Trödler hinter dem Fischmarkt«, sagte er. »Da könnte man so etwas auftreiben.« »Gut, Junge. Und beeil dich.« Hasard drückte ihm zwei Goldstücke in die Hand. »Das ist viel zuviel«, protestierte Angelo. »Außerdem würde es auffallen, wenn jemand wie ich Gold in der Tasche hat.« »Du hast recht«, sagte Hasard und war wütend, daß er nicht selbst daran gedacht hatte. »Sieh mal nach, was du noch an kleinen Münzen hast, Ben.« Sie kramten das Kleingeld aus den Taschen und drückten es Angelo in die Hand. »Lauf los, Junge.« »Schieben Sie den Riegel vor, Senor.« Er drückte die Tür zu. Sie setzten sich auf den Strohsack und warteten. Hasard sah die Bücher auf der alten Kiste liegen, rutschte näher heran und nahm sie auf. »Anatomie des menschlichen Körpers«, las er, »Die Wirkung von Kräuterextrakten und anderen Essenzen«, und »Atlas der medizinischen Kunst«, alle drei zerlesen, abgegriffen, aus zehnter oder zwölfter Hand, und Hasard wußte, wieviel Hunger, Entbehrung und Willenskraft diese drei
Bücher den Studenten Angelo Brosio gekostet haben mußten. »Wir werden dem Jungen ein paar Goldstücke geben«, sagte er, als er die Bücher auf die Kiste zurücklegte. »Das wollte ich auch vorschlagen«, sagte Ben Brighton. Nach einer Weile setzte er hinzu: »Jetzt könnte er eigentlich bald zurück sein. Der Fischmarkt ist nur ein paar Minuten von hier.« »Vielleicht muß er warten, bis einer der Trödler aufmacht.« »Mag sein. Sicher ist es auch nicht einfach, Klamotten in deiner Größe zu finden.« Sie wußten beide, daß sie nur versuchten, den anderen zu beruhigen - und sich selbst. Sie hatten sich schließlich diesem Jungen, den sie überhaupt nicht kannten, absolut ausgeliefert. Noch dazu einem Jungen, der ein ehrgeiziges Ziel hatte - und Hunger. Beides waren die größten Verführer, wie Hasard wußte, um einen Menschen zu korrumpieren, ihn Dinge tun zu lassen, die seinem Wesen sonst völlig fremd waren. Sie warteten schweigend, weil jedes Wort sinnlos war, und mit jeder Minute, die verging, wurden sie nervöser und unruhiger. Schließlich hielt Hasard es nicht mehr aus. Er sprang auf und begann, auf und ab zu gehen. Die Flamme der Öllampe flackerte, wenn er an ihr vorbeischritt. »Verdammt! Wo bleibt der Bengel? Jetzt müßte er längst alles erledigt haben! Er hörte Schritte auf der Treppe, die Schritte nur eines Menschen! Dennoch stellte er sich seitlich hinter die Tür, als es klopfte und eine Stimme sagte: »Ich bin es, Angelo.« Ben Brighton öffnete die Tür und verriegelte sie sofort wieder, als sich Angelo hereingezwängt hatte. Er hatte ein Bündel Kleider unter dem Arm. »Hoffentlich passen sie«, sagte er und drückte sie Ben in die Hand. Ben war schon dabei, die Jacke auszuziehen. Hasard drehte prüfend eine reichlich geflickte Hose in der Hand, die so aussah, als ob ihre Grundfarbe einmal braun gewesen sei.
»Das habe ich übrigbehalten«, sagte Angelo und streckte Hasard ein paar Silber- und Kupfermünzen hin. »Behalte es«, sagte Hasard. »Sie werden es brauchen«, erwiderte der Junge. »Wenn Sie in dieser Kleidung mit Gold bezahlen, wird man aufmerksam.« Er hatte recht. Hasard nahm die Münzen und schob sie in die weite Tasche der geflickten Hose. Sie war in den Beinen zu kurz und am Bauch zu weit. »Muß einem Koch gehört haben«, meinte Ben Brighton und grinste. Hasard schnallte den Gürtel um und steckte den Dolch hinein. Die Jacke war in den Ärmeln ebenfalls zu kurz. Er krempelte sie auf. Sie waren ohnehin ausgefranst und speckig. Er räumte die Taschen seines Anzugs aus. Die Briefe des professore knüllte er in die Hosentasche. Er würde sie später in den Fluß werfen. Sie hatten ihren Zweck erfüllt. In diesem Aufzug würde ihnen kein Mensch abnehmen, daß sie ehrbare genuesische Kauf leute waren. »Weißt du, wie du aussiehst?« sagte Hasard grinsend zu Ben. »Wie ein sizilianischer Pirat.« Ben Brighton grinste zurück. »Du solltest dich mal im Spiegel sehen.« Hasard zog den Geldbeutel mit den Goldstücken aus der Tasche der Jacke. Er war jetzt erheblich leichter als zu dem Zeitpunkt, als er ihn von Kapitän Francis Drake erhalten hatte. Bevor er ihn in die Hosentasche schob, zog er die Schnur auf und griff hinein, um ein paar Goldstücke für Angelo herauszuholen. »Übrigens«, sagte der Junge, »in der ganzen Stadt wird davon gesprochen, daß zwei Ausländer gesucht werden. Wegen Mordes.« Hasard stand reglos, den Geldbeutel in der Hand, und blickte den Jungen aufmerksam an. Ben Brighton trat wie unabsichtlich zwei Schritte zur Seite, so daß er zwischen
Angelo und der Tür stand. »Sie sollen einen Teppichhändler und seine ganze Familie ermordet haben«, fuhr Angelo fort. »Gestern sollen sie entwischt sein, aber man hat eine genaue Beschreibung der beiden, vor allem weiß man, daß sie elegant gekleidet sind. Die Trödler haben Anweisung, auf die beiden zu achten. Man vermutet, daß sie ihre Kleidung wechseln werden.« Er blickte auf die italienischen Anzüge Hasards und Ben Brightons, die sie auf den Strohsack geworfen hatten. »Was willst du?« fragte Hasard hart. »Geld?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, Senor. Ich weiß, daß Sie keine Mörder sind. Sie können töten, ja. Wahrscheinlich haben Sie schon getötet. Aber kaltblütig morden? Nein.« »Wir haben niemanden getötet, Angelo«, sagte Ben Brighton. »Aber wir kennen den Mörder. Deshalb hat er die Garde auf uns gehetzt. Wir geben dir unser Wort darauf.« »Ich glaube Ihnen auch so«, sagte der Junge. »Und warum hast du uns dann so ausführlich berichtet, was in der Stadt gesprochen wird?« Hasards Mißtrauen war noch nicht besänftigt. Der Junge mußte doch irgendeinen Grund dafür haben, ihnen das so haarklein zu erzählen. »Sie sollen wissen, daß ich es weiß«, erwiderte Angelo Brosio und blickte Hasard offen an. »Sie sollen mich nicht wie einen kleinen Jungen behandeln, dem man noch nicht sagen kann, wie das Leben wirklich ist.« Und leiser: »Oder wie einen möglichen Verräter, der Sie für Geld ans Messer liefert.« Hasard nickte, und Ben Brighton räusperte sich verlegen. »Sie sollen es nur wissen, das ist alles«, sagte der Junge noch einmal. »Gut, wir wissen es jetzt«, sagte Hasard und zog die Hand aus dem Geldbeutel. Es wäre beleidigend gewesen, Angelo jetzt Geld anzubieten. Schweigend steckte er den Beutel in die Hosentasche. »Ach, noch etwas«, sagte Angelo. »Vor drei Tagen ist die
neapolitanische Karavelle ›Isola Verde‹ ausgelaufen. Ich meine, Sie sind doch Italiener, und es könnte vielleicht jemand fragen, zu welchem Schiff Sie gehören.« »Danke, Junge.« Hasard legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es ist schade, daß wir uns nicht an einem anderen Ort und unter anderen Umständen getroffen haben. Ich wäre stolz darauf, dich zum Freund zu haben.« »Aber wenn sich alles aufgeklärt hat, können Sie doch ...« Angelos Augen leuchteten auf. »Ich habe eine Idee, Senores. Nennen Sie mir den Namen des wirklichen Mörders. Ich werde dem Präfekten sagen, daß seine Männer die falschen suchen und dieser Mann der Mörder ist.« Hasard schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, Junge. Das ist unsere Angelegenheit. Den Mörder werden wir selbst finden und selbst richten.« Er gab Ben einen Wink, und sie gingen zur Tür. »Ich würde Ihnen so gern helfen, Senores«, sagte der Junge und versuchte, sie zurückzuhalten. Hasard schüttelte schweigend den Kopf. »Dann werde ich Sie nicht Wiedersehen?« Angelos Gesicht verriet seine Enttäuschung - und echte Trauer. »Es ist besser so«, sagte Hasard lächelnd. »Glaub mir, es ist wirklich besser für dich.« Er drückte die Tür auf, und sie gingen hinaus. Sie fühlten die Blicke Angelo Brosios in ihren Rücken, bis sie den dumpfen Keller verlassen hatten.
»Es sind heute noch mehr Hellebarden unterwegs als sonst«, sagte Ben Brighton, als sie durch die Straßen in Richtung Hafen gingen. Hasard nickte schweigend. Es waren wirklich überall Garden und Polizisten in Brustpanzer und Helm, die Hellebarde auf der
Schulter, zu zweien und auch in größeren Gruppen. »Wir scheinen wirklich sehr prominent zu sein«, sagte Ben Brighton grinsend. Immer wieder hörten sie im Vorbeigehen Menschen über den Mord und die Jagd nach den beiden Mördern sprechen. Aber weder die Polizisten noch die Bürger beachteten die beiden Seeleute in ihrer abgetragenen, geflickten Kleidung, die offenbar eine Nacht bei den Mädchen verbracht hatten und nun an Bord zurückkehrten. Hasard und Ben Brighton erreichten eine kleine Plaza, von der eine Straße zum Ufer des Quadalquivir hinabführte. Hasard blieb stehen und blickte von der Anhöhe auf Fluß und Hafen hinab. Er sah die kleinen Schiffe an den Kais, die riesigen Areale der Schuppen und Lagerhallen und den silbern glänzenden Fluß, der draußen in den Atlantik mündete. Zwischen Reede und Hafen bewegten sich ein Dutzend oder mehr Galeeren - wie plumpe Wasserwanzen, die mit ihren Beinen gegen den Strom rudern. Und eine davon war die ›Tortuga‹ - die Schildkröte.
ENDE
Männer in Ketten von John Curtis
Philip Hasard Killigrew und Ben Brighton wissen, was die Stunde geschlagen hat. Sie sollen als Mörder von Estoban Rizzio verhaftet werden. Mit knapper Not entgehen sie den Soldaten, die Isaac Henry Burton, der alte Todfeind des Seewolfs, auf sie gehetzt hat.
Ganz Sevilla ist eine Falle. Nur ein Trick verhilft den beiden zur Flucht. Ihren Plan, die elf Engländer von Bord der ›Tortuga‹ zu holen, können sie nicht verwirklichen, denn dazu brauchen sie Schlechtwetter, - aber verdammt noch mal - in Spanien scheint unentwegt die Sonne ...